Das Andere der Vernunft als ihr Prinzip: Grundzüge der philosophischen Entwicklung Schellings mit einem Ausblick auf die nachidealistischen Philosophiekonzeptionen Heideggers und Adornos 9783110878783, 9783110144000

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Das Andere der Vernunft als ihr Prinzip: Grundzüge der philosophischen Entwicklung Schellings mit einem Ausblick auf die nachidealistischen Philosophiekonzeptionen Heideggers und Adornos
 9783110878783, 9783110144000

Table of contents :
VORWORT
EINLEITUNG
1. KAPITEL. SCHELLINGS PHILOSOPHISCHE FRÜHSCHRIFTEN: PHILOSOPHIE ALS VERNUNFTSYSTEM AUS UNVORDENKLICHEM PRINZIP
I. Die philosophische Problemlage der nachkantischen Philosophie
II. Das frühphilosophische Programm Schellings
III. Formschrift: Das Problem der prinzipientheoretischen Letztbegründung der Philosophie
1. Prinzipienreflexion und Systemgedanke
2. Ableitung der drei Grundsätze der Fichteschen Wissenschaftslehre als “Urform” der Philosophie
3. Die Begründung der Kantischen Kategorien und Urteilsformen aus der Urform der Philosophie
IV. Ichschrift: Ontologisierung der Transzendentalphilosophie
1. Philosophische “Konstellationen” der Ichschrift
2. Auslegung des Haupttextes der Ichschrift
V. Briefe: Der praktisch-ästhetische Ansatz
1. Die Wendung ins Praktische
2. Systematische Rekonstruktion der Kantischen Philosophie in einer “Ethik à la Spinoza” und Kritik an der Tübinger Orthodoxie
3. Die praktizistische ’Lösung’ des Rätsels der Welt
4. Die Dogmatismus-Kritizismus-Kontroverse
5. Die Wendung ins Praktisch-Ästhetische: Die Tragödie als Paradigma von Schellings Philosophiekonzeption
VI. Die Aporie der Frühphilosophie
2. KAPITEL. TRANSZENDENTAL- UND NATURPHILOSOPHIE: DAS ABSOLUTE ALS SELBSTBEWUSSTSEIN ODER SUBJEKT-OBJEKT DES GEISTES
I. Transzendentalphilosophie
1. Das Prinzip der Realität des Wissens als Selbstbewußtsein oder Subjekt-Objekt des Geistes
2. Dialektik und Geschichtlichkeit des Absoluten qua Geist
3. Die Aporie der Transzendentalphilosophie
II. Grundzüge der Naturphilosophie Schellings
1. Entwicklung und philosophische Bedeutung von Schellings Naturphilosophie
2. Die Aporie in der Begründung der Naturphilosophie
3. KAPITEL. DAS SYSTEM DES TRANSZENDENTALEN IDEALISMUS: VOM SELBSTBEWUSSTSEIN ZUR ABSOLUTEN IDENTITÄT
I. Das Selbstbewußtsein als Prinzip des transzendentalen Idealismus
1. Das Verhältnis von Transzendental- und Naturphilosophie im Transzendentalsystem 1800
2. Die Etablierung des Prinzips als Selbstbewußtsein durch intellektuelle Anschauung
3. Transzendentale Begründung der Geschichte des absoluten Selbstbewußtseins
II. Dialektik der Geschichte des Selbstbewußtseins in Theorie und Praxis und Einbruch der absoluten Identität
1. Die ’Epochen’ der theoretischen Philosophie
2. Die ’Epochen’ der praktischen Philosophie
3. Die Kunst als Organon zweier aufeinander verweisender Strukturtypen der Philosophie
III. Die Aporie des Transzendentalsystems 1800
4. KAPITEL. IDENTITÄTSPHILOSOPHIE: DAS VERNÜNFTIGE ABSOLUTE
I. Der Weg vom Transzendentalsystem 1800 zur Identitätsphilosophie
II. Die philosophische Grundlegung der Identitätsphilosophie
1. Monistische Identität
2. Intellektuelle Anschauung als Form des Absoluten
3. Das Absolute selbst als Wesen
4. Schellings Auslegung der ’Grundformel’ des Absoluten
III. Das Identitätssystem als Alleinheitslehre
1. Die Herleitung der Totalität aus der Selbstaffirmation Gottes
2. Schellings identitätsphilosophische Auslegung der traditionellen Alleinheitslehre
3. Übergang zur Theorie der Endlichkeit
IV. Schellings Theorie der Endlichkeit
1. Der erste Teil der Endlichkeitstheorie: Das Verhältnis der endlichen Dinge zur Totalität in der Ideenlehre
2. Zweiter Teil der Endlichkeitstheorie: Potenzenlehre
V. Die Aporie der Identitätsphilosophie
VI. Überlegungen zum Übergang von der Identitätsphilosophie zur Freiheits- und Weltalterphilosophie
5. KAPITEL. FREIHEITS- UND WELTALTERPHILOSOPHIE: VERNUNFTSYSTEM, FREIHEIT UND GESCHICHTE
A. Die Freiheitsschrift: Vernunftsystem und menschliche Freiheit
I. Der philosophische Ansatz der Freiheitsabhandlung
1. System und Freiheit
2. Systemfrage und Pantheismus und Schellings Beantwortung dieser Frage mit Hilfe des “Gesetzes der Identität” und der “Copula”
3. Die Grenze von Idealismus und Naturphilosophie
4. Schellings Begriff der spezifisch menschlichen Freiheit: die Freiheit zum Guten und Bösen
II. Die für Schellings Freiheitsabhandlung grundlegende Unterscheidung des Wesens in Grund und Existenz als Ermöglichung des Bösen und damit der menschlichen Freiheit
III. Der Ansatz der schöpfungstheologischen Anthropologie
IV. Die Aporie der Freiheitsschrift: Der Ungrund als Indifferenz oder das Ganze des Systems der menschlichen Freiheit
B. Die Weltalter: Das geschichtliche Absolute
I. Gegenstand und Methode der Weltalter
II. Der Ansatz der Weltalterphilosophie im Fragment von 1811
III. Der Äon der Vergangenheit nach der Weltalterfassung von 1814/15
1. Die Notwendigkeit oder Natur Gottes
2. Die Freiheit Gottes
3. Die Geschichte der Offenbarung Gottes
4. Resümee
5. Die Aporie des Weltalteransatzes
6. KAPITEL. DIE ERLANGER VORLESUNG: VOM GESCHICHTLICHEN ABSOLUTEN ZUM ABSOLUTEN ALS UNVORDENKLICHEM DABSEIN
I. Dialektik und Ekstasis
a) Dialektik als Propädeutik
b) Emphatischer Freiheitsbegriff als Prinzip des Systems
c) Das Problem der menschlichen Erkenntnis der ewigen Freiheit
d) Der epistemische Zugang zum Prinzip per Ekstasis
e) Die ekstatische Inversion des menschlichen Bewußtseins: docta ignorantia
II. Schellings Erlanger Systementwurf
1. Theogonie
2. Kosmogonie
3. Überlegungen zum Übergang zur Spätphilosophie
7. KAPITEL. SPÄTPHILOSOPHIE: VERNUNFTSYSTEM UND UNVORDENKLICHES DAßSEIN
I. Der philosophische Ansatz der Spätphilosophie
II. Die negative Philosophie
1. Die spätphilosophischen Schriften zur negativen Philosophie
2. Begriff und Methode der negativen Philosophie
3. Anfang, Gang und Ende der negativen Philosophie
4. Die Aporie der negativen Philosophie
III. Die positive Philosophie
1. Die Methode der positiven Philosophie
2. Die religionsphilosophische Gestalt der positiven Philosophie
3. Gottesgedanke, Schöpfungslehre, Mythologie, Offenbarung und Geschichtsphilosophie
4. Die Aporie der positiven Philosophie
8. KAPITEL. PERSPEKTIVEN: AUSBLICK AUF DIE DIALEKTIK DER VERNUNFT UND IHRES ANDEREN IN DER NACHIDEALISTISCHEN PHILOSOPHIE AM BEISPIEL VON HEIDEGGERS UND ADORNOS PHILOSOPHIE- KONZEPTION
A. Heideggers Philosophiekonzept in Was ist Metaphysik? (1929) als Theorie der Befindlichkeit
I. Die philosophische Problematik von Heideggers Schrift Was ist Metaphysik?
II. Heideggers befindlichkeitstheoretische Begründung der Metaphysik in der Vorlesung Was ist Metaphysik?
1. Heideggers Entfaltung der metaphysischen Frage nach dem Nichts in seiner Wissenschaftskritik
2. Heideggers stimmungstheoretischer Ansatz in Was ist Metaphysik?
3. Die metaphysikkritische Funktion der Frage nach dem Nichts
4. Die Aporie von Heideggers existenzphilosophischer Begründung der Philosophie
III. Die Aporien von Heideggers seinsphilosophischem Neuansatz im Nachwort zur Vorlesung Was ist Metaphysik?
B. Adornos kritisches Vernunftkonzept als “Konstellation”
1. Problemstellung: Neue Theorie vom Einzelding
2. Konstellation
3. Zur Genese von Adornos Konzept der Konstellation
a) Konstellation in der Wissenschaft, Konstellation und Musik
b) Adornos Transformation des klassischen Vernunftbegriffs über seine Benjamin-Rezeption
4. Die Aporie von Adornos Konstellationskonzeption
LITERATURVERZEICHNIS
ZEITTAFEL

Citation preview

Christian Iber Das Andere der Vernunft als ihr Prinzip

w DE

G

Christian Iber

Das Andere der Vernunft als ihr Prinzip Grundzüge der philosophischen Entwicklung Schellings mit einem Ausblick auf die nachidealistischen Philosophiekonzeptionen Heideggers und Adornos

1994 Walter de Gruyter · Berlin · New York

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsauf nähme Iber, Christian: Das Andere der Vernunft als ihr Prinzip : Grundzüge der philosophischen Entwicklung Schellings mit einem Ausblick auf die nachidealistischen Philosophiekonzeptionen Heideggers und Adornos / von Christian Iber. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1994 ISBN 3-11-014400-X

© Copyright 1994 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Für Monika

Vorwort Dieses Buch sollte eigentlich keines werden. Es wurde als Teil einer umfassenderen Studie über Metaphysik und Metaphysikkritik in Antike, Neuzeit und Gegenwart aus diesem ganzen Projekt abgetrennt und als solcher zu einer selbständigen Untersuchung ausgearbeitet. Gleichwohl bildet die nachfolgende Erörterung ein in sich geschlossenes Ganzes, das aus sich selbst verständlich ist, denn sie orientiert sich an den entscheidenden Stationen der Schellingschen Philosophie. Andererseits gibt es einige Hinweise, die auf den ursprünglichen Plan verweisen. Davon zeugt nicht zuletzt das Abschlußkapitel dieser Arbeit. Schelling bildet nicht nur das entscheidende Verbindungsglied zwischen Kant und Hegel, sondern auch den Schnittpunkt zwischen dem nachkantischen Idealismus und der nachidealistischen Philosophie und ist deshalb von besonderer Wichtigkeit. In seiner Philosophie gehen Vernunftspekulation und über den Idealismus hinausgehende Motive ineinander. Den Autor hat dieser Schnittpunkt der Philosophiegeschichte in einer Weise gefesselt, daß er mehr und mehr zur Überzeugung gelangte, ihn in seiner Untersuchung nicht weiterhin marginalisieren zu dürfen. In einer Zeit der schnellebigen Medienkultur hält der Verfasser auch nichts von überbordender philosophischer Quartantliteratur und muß sich von daher selbstkritisch eingestehen, daß vorliegende Abhandlung sehr umfangreich geraten ist. Dieser Umstand scheint ihm allerdings aus der Logik der zu behandelnden Sache zu erwachsen. Schellings Philosophie erstreckt sich in ihren verschiedenen Phasen über ein ganzes Menschenalter. Er hoffit gleichwohl, daß ihm mit diesem Buch die philosophische Standortbestimmung der Philosophie Schellings im Grundriß gelungen ist. Wenn ich im Verstehen der Schellingschen Philosophie und des nachkantischen Idealismus weitergekommen bin, so verdanke ich dies wesentlich den Teilnehmern einer Schellingarbeitsgruppe und meinen Studenten. Das Buch ist aus Berliner Diskussionen hervorgegangen. Die Teilnehmer/innen in der ehemaligen Schellingarbeits-

Vili

Vorwort

grappe waren: Lore Hühn, Brigitte Gensch, Thomas Oser, Christoph Kurt, Christian Kupke, Martin Ârker und Markus Hattstein. Von den vielen Studentinnen und Studenten, die mich in meinen Seminaren in Sachen Schelling angeregt haben, seien hier nur genannt: Sonja Asal, Ulrich Bergmann, Gudrun von Düffel, Patricia Hucke, Susanna Kahlefeld und Romano Pocai. Mein besonderer Dank gilt Professor Michael Theunissen, der die Entstehungsgeschichte der Arbeit kennt und sie von Anfang an betreut hat. Danken möchte ich auch Hinrich Fink-Eitel und Georg Lohmann, die mir als Kollegen und Freunde in vielen Gesprächen Hinweise und Informationen gegeben und mir zu wesentlichen philosophischen Anregungen verhelfen haben. Nicht zuletzt gilt mein Dank Monika, ohne deren Unterstützung die Arbeit nicht zustande gekommen wäre.

Inhalt VORWORT

VII

EINLEITUNG

1

1. KAPITEL SCHELLINGS PHILOSOPHISCHE FRÜHSCHRIFTEN: PHILOSOPHIE ALS VERNUNFTSYSTEM AUS UNVORDENKLICHEM PRINZIP

I. II.

13

Die philosophische Problemlage der nachkanti sehen Philosophie

13

Das frühphilosophische Programm Schellings

15

III. Formschrift: Das Problem der prinzipientheoretischen Letztbegründung der Philosophie

18

1.

Prinzipienreflexion und Systemgedanke

18

2.

Ableitung der drei Grundsätze der Fichteschen Wissenschaftslehre als "Urform" der Philosophie

24

Die Begründung der Kantischen Kategorien und Urteilsformen aus der Urform der Philosophie

25

IV. Ichschrift: Ontologisierung der Transzendentalphilosophie

30

3.

1.

Philosophische "Konstellationen" der Ichschrift

30

a)

Der Einfluß Jacobis

30

b)

Ethik à la Spinoza

32

X

Inhalt

2.

Auslegung des Haupttextes der Ichschrift a) b)

Etablierung und Erörterung der Binnenstruktur des Absoluten Die Grundformen des absoluten Ich: absolute Identität, absolute Freiheit, intellektuelle Anschauung

Exkurs: Schelling und Hölderlin ß)

V.

37

Die Deduktion der Formen des absoluten Ich . . . . 40 α)

c)

37

40 43

Deduktion der untergeordneten Formen des absoluten Ich

.45

Das Scheitern der Herleitung des Endlichen aus dem Absoluten

46

Briefe: Der praktisch-ästhetische Ansatz

52

1.

Die Wendung ins Praktische

53

2.

Systematische Rekonstruktion der Kantischen Philosophie in einer "Ethik à la Spinoza" und Kritik an der Tübinger Orthodoxie

55

3.

Die praktizistische 'Lösung* des Rätsels der W e l t . . . . .58

4.

Die Dogmatismus-Kritizismus-Kontroverse

59

5.

Die Wendung ins Praktisch-Ästhetische: Die Tragödie als Paradigma von Schellings Philosophiekonzeption

64

VI. Die Aporie der Frühphilosophie

68

2. KAPITEL TRANSZENDENTAL- UND NATURPHILOSOPHIE: DAS ABSOLUTE ALS SELBSTBEWUSSTSEIN ODER SUBJEKT-OBJEKT DES GEISTES

71

I.

73

Transzendentalphilosophie 1.

Das Prinzip der Realität des Wissens als Selbstbewußtsein oder Subjekt-Objekt des Geistes

73

II.

Inhalt

XI

2.

Dialektik und Geschichtlichkeit des Absoluten qua Geist

79

3.

Die Aporie der Transzendentalphilosophie

83

Grundzüge der Naturphilosophie Schellings

86

1.

Entwicklung und philosophische Bedeutung von Schellings Naturphilosophie

86

2.

Die Aporie in der Begründung der Naturphilosophie

88

a) b)

Die erste Phase der Naturphilosophie: Transzendentale Begründung der Naturphilosophie

89

Die zweite Phase der Naturphilosophie: Etablierung einer selbständigen Naturphilosophie

90

3. KAPITEL DAS SYSTEM DES TRANSZENDENTALEN IDEALISMUS: VOM SELBSTBEWUSSTSEIN ZUR ABSOLUTEN IDENTITÄT

I.

II.

Das Selbstbewußtsein als Prinzip des transzendentalen Idealismus

95

95

1.

Das Verhältnis von Transzendental- und Naturphilosophie im Transzendentalsystem 1800

95

2.

Die Etablierung des Prinzips als Selbstbewußtsein durch intellektuelle Anschauung

98

3.

Transzendentale Begründung der Geschichte des absoluten Selbstbewußtseins

102

Dialektik der Geschichte des Selbstbewußtseins in Theorie und Praxis und Einbruch der absoluten Identität

107

1.

Die 'Epochen' der theoretischen Philosophie

109

2.

Die 'Epochen' der praktischen Philosophie

115

XII

Inhalt

3.

Die Kunst als Organon zweier aufeinander verweisender Strukturtypen der Philosophie

122

III. Die Aporie des Transzendentalsystems 1800

126

4. KAPITEL IDENTITÄTSPHILOSOPHIE:

133

I. II.

DAS VERNÜNFTIGE ABSOLUTE

Der Weg vom Transzendentalsystem 1800 zur Identitätsphilosophie

133

Die philosophische Grundlegung der Identitätsphilosophie

139

1.

Monistische Identität

139

2.

Intellektuelle Anschauung als Form des Absoluten . . . 142

3.

Das Absolute selbst als Wesen

145

4.

Schellings Auslegung der 'Grundformel' des Absoluten

147

III. Das Identitätssystem als Alleinheitslehre 1. 2. 3.

Die Herleitung der Totalität aus der Selbstaffirmation Gottes

150

Schellings identitätsphilosophische Auslegung der traditionellen Alleinheitslehre

151

Übergang zur Theorie der Endlichkeit

154

IV. Schellings Theorie der Endlichkeit 1.

150

Der erste Teil der Endlichkeitstheorie: Das Verhältnis der endlichen Dinge zur Totalität in der Ideenlehre a) b) c)

154

154

Die Herleitung der Dinge als Ideen und Erscheinung

155

Die Herleitung der Reflexionsbegriffe des natürlichen Denkens

160

Das Reale am Ding = Reflex des Absoluten

163

2.

Inhalt

XIII

Zweiter Teil der Endlichkeitstheorie: Potenzenlehre

165

a) b) c) V.

Ableitung des realen und idealen Alls (Natur/Geist)

166

Vernunft- und Verstandesansicht von realem und idealem All

167

Die Vermittlungsfunktion der Potenzen

170

Die Aporie der Identitätsphilosophie

VI. Überlegungen zum Übergang von der Identitätsphilosophie zur Freiheits- und Weltalterphilosophie

176

178

5. KAPITEL FREIHEITS- UND WELTALTERPHILOSOPHIE: VERNUNFTSYSTEM, FREIHEIT UND GESCHICHTE

A. I.

II.

181

Die Freiheitsschrift: Vernunftsystem und menschliche Freiheit

182

Der philosophische Ansatz der Freiheitsabhandlung

182

1.

System und Freiheit

183

2.

Systemfrage und Pantheismus und Schellings Beantwortung dieser Frage mit Hilfe des "Gesetzes der Identität" und der "Copula"

184

3.

Die Grenze von Idealismus und Naturphilosophie . . . 188

4.

Schellings Begriff der spezifisch menschlichen Freiheit: die Freiheit zum Guten und Bösen

189

Die für Schellings Freiheitsabhandlung grundlegende Unterscheidung des Wesens in Grund und Existenz als Ermöglichung des Bösen und damit der menschlichen Freiheit

191

III. Der Ansatz der schöpfungstheologischen Anthropologie

192

XIV

Inhalt

IV. Die Aporie der Freiheitsschrift: Der Ungrund als Indifferenz oder das Ganze des Systems der menschlichen Freiheit

196

B.

Die Weltalter: Das geschichtliche Absolute

201

I.

Gegenstand und Methode der Weltalter

203

II.

Der Ansatz der Weltalterphilosophie im Fragment von 1811

207

III. Der Äon der Vergangenheit nach der Weltalterfassung von 1814/15

214

1.

215

Die Notwendigkeit oder Natur Gottes a)

Die Dualität der Prinzipien: Egoität und Liebe . . 215

b)

Identitätstheorie des Urteils

216

c)

Potenzenlehre

218

d)

Die Theorie vom rotatorischen Umtrieb

222

Die Freiheit Gottes a) Der unerklärliche Übergang vom Chaos zur Ordnung

223

b)

Die Identitätsformel der Weltalter

226

3.

Die Geschichte der Offenbarung Gottes

227

4.

Resümee

229

5.

Die Aporie des Weltalteransatzes

232

2.

223

6. KAPITEL DIE ERLANGER VORLESUNG: VOM GESCHICHTLICHEN ABSOLUTEN ZUM ABSOLUTEN ALS UNVORDENKLICHEM DABSEIN

235

I.

Dialektik und Ekstasis

235

a)

Dialektik als Propädeutik

235

b)

Emphatischer Freiheitsbegriff als Prinzip des Systems

238

c) d) e) II.

Inhalt

XV

Das Problem der menschlichen Erkenntnis der ewigen Freiheit

240

Der epistemische Zugang zum Prinzip per Ekstasis

242

Die ekstatische Inversion des menschlichen Bewußtseins: docta ignorantia

245

Schellings Erlanger Systementwurf

247

1.

249

Theogonie a)

Das Absolute als ewige Freiheit und die Potenzen seines Werdensprozesses

249

b)

Potentielle und aktuelle Einheit

253

c)

Der Übergang vom "Seinkönnenden" zum Sein: Die ΎβΗνίΙιηπ^δΙΙιβοπβ' des Absoluten α) Die Dialektik des "Gesetzes" des Absoluten: "Begehre nicht des Seins" ß) Finalerklärung des Übergangs

255 258

γ)

261

d)

Die Erotik des Absoluten

255

Der Streit der Potenzen und seine Auflösung . . . 264

2.

Kosmogonie

268

3.

Überlegungen zum Übergang zur Spätphilosophie . . . 272

7. KAPITEL SPÄTPHILOSOPHIE: DABSEIN

VERNUNFTSYSTEM UND UNVORDENKLICHES 277

I.

Der philosophische Ansatz der Spätphilosophie

277

II.

Die negative Philosophie

280

1.

Die spätphilosophischen Schriften zur negativen Philosophie

280

2.

Begriff und Methode der negativen Philosophie

282

3.

Anfang, Gang und Ende der negativen Philosophie . . .287

4.

Die Aporie der negativen Philosophie

295

Inhalt

XVI

III. Die positive Philosophie

299

1.

Die Methode der positiven Philosophie

299

2.

Die religionsphilosophische Gestalt der positiven Philosophie

305

Gottesgedanke, Schöpfungslehre, Mythologie, Offenbarung und Geschichtsphilosophie

307

Die Aporie der positiven Philosophie

322

3. 4.

8. KAPITEL PERSPEKTIVEN: AUSBLICK AUF DIE DIALEKTIK DER VERNUNFT UND IHRES ANDEREN IN DER NACHIDEALISTISCHEN PHILOSOPHIE AM BEISPIEL VON HEIDEGGERS UND ADORNOS PHILOSOPHIEKONZEPTION

A. I. II.

325

Heideggers Philosophiekonzept in Was ist Metaphysik? (1929) als Theorie der Befindlichkeit

326

Die philosophische Problematik von Heideggers Schrift Was ist Metaphysik?

326

Heideggers befindlichkeitstheoretische Begründung der Metaphysik in der Vorlesung Was ist Metaphysik?

331

1. 2.

Heideggers Entfaltung der metaphysischen Frage nach dem Nichts in seiner Wissenschaftskritik

331

Heideggers stimmungstheoretischer Ansatz in Was ist Metaphysik ?

341

a) b) c) 3. 4.

Die Rolle der Affekte in Heideggers befindlichkeitstheoretischem Ansatz

341

Die Stimmung der Langeweile und die Grundstimmung der Angst

343

Nichts, Transzendenz und Endlichkeit

346

Die metaphysikkritische Funktion der Frage nach dem Nichts

349

Die Aporie von Heideggers existenzphilosophischer Begründung der Philosophie

352

Inhalt

III. Die Aporien von Heideggers seinsphilosophischem Neuansatz im Nachwort zur Vorlesung Was ist Metaphysik? B.

XVII

355

Adornos kritisches Vernunftkonzept als "Konstellation" . . .363 1.

Problemstellung: Neue Theorie vom Einzelding

365

2.

Konstellation

367

a)

Konstellation und Wahrheit als Evidenz

369

b)

Konstellation und Sprache

370

c)

Konstellation und Geschichte

376

d)

Praktisches, metaphysisches und utopisches Moment der Konstellation

378

Konstellationen und Modelle

379

e) 3.

Zur Genese von Adornos Konzept der Konstellation . . 380 a) b)

4.

Konstellation in der Wissenschaft, Konstellation und Musik

380

Adornos Transformation des klassischen Vernunftbegriffs über seine Benjamin-Rezeption . . . 381

Die Aporie von Adornos Konstellationskonzeption . . . 384

LITERATURVERZEICHNIS

387

ZEITTAFEL

403

"Will man einen Philosophen ehren, so muß man ihn da auffassen, wo er noch nicht zu den Folgen fortgegangen ist, in seinem Grundgedanken" (XIII, 60) Schelling

Einleitung

Schelling ist eine ganz besondere Gestalt in der Philosophie. Das geht schon aus seinen Lebensdaten hervor. Er wurde als Sohn eines protestantischen Pfarrers 1775 im schwäbischen Leonberg geboren. Mit 10 Jahren kam er auf die Lateinschule nach Nürtingen. Bald darauf wurde er jedoch "privat" unterrichtet, weil der Frühreife in der Schule nichts mehr lernen konnte. 15jährig kommt er an die Universität Tübingen (1790) und studiert Theologie und Philosophie. Er studierte fünf Jahre, drei Theologie und zwei Philosophie, zusammen mit den wesentlich älteren Hölderlin und Hegel, mit denen er in einem Zimmer im Tübinger Stift wohnte; er verließ auch früher als diese die Universität. Piaton, Spinoza, Leibniz, Kant, Fichte und Jacobi gehörten zu seinen Lieblingsphilosophen. Geistig und kulturell wurde das Klima in Tübingen von der Französischen Revolution, der Philosophie Kants und Fichtes und dem durch Jacobis Schrift über Spinoza ausgelösten Pantheismusstreit bestimmt. Von dieser Konstellation ist maßgeblich Schellings Frühphilosophie geprägt. Nach der Universität wurde Schelling Hauslehrer in Leipzig, wo er nebenbei naturwissenschaftliche Studien betrieb, die die naturphilosophische Ausgestaltung seiner Transzendentalphilosophie begleiteten. 1798 wurde Schelling mit 23 Jahren auf Anregung Fichtes und auf Betreiben Goethes Professor in Jena. Ein philosophischer Höhepunkt der Jenaer Zeit ist das System des transzendentalen Idealismus (1800), das zur Identitätsphilosophie überleitet.

2

Einleitung

Schon in der Tübinger Stiftszeit ist Schelling philosophisch produktiv. In seinen philosophischen Frühschriften legt er bereits seine philosophischen Grundgedanken nieder, die ihn bis in seine Spätzeit begleiten. Ja man kann sagen, Schelling hat sein philosophisches Fundament zwischen seinem neunzehnten und einundzwanzigsten Lebensjahr gelegt. Die Jenaer Zeit (1798 - 1803), die Zeit der Identitätsphilosophie, ist die persönlich glücklichste - er heiratet Caroline Schlegel - und beruflich fruchtbarste in Schellings Leben. Jena war in vielerlei Hinsicht ein Glücksfall in Schellings Biographie. Er lehrte mit Fichte, bekam Kontakt zu Goethe und Schiller, dem Schlegel-Kreis, zu Novalis, Tieck und Schleiermacher sowie Steffens und dem Physiker Ritter. 1803 geht Schelling nach Würzburg, wo er aber nur kurz blieb, um 1806 nach München zu gehen, wo es noch keine Universität gab. Schelling wurde Mitglied und Generalsekretär der Akademie der bildenden Künste. Als solcher bezog er ein beinahe auflagenfreies Gehalt. Überschlug sich Schellings Publikationstätigkeit in seinen frühen Jahren, so hat er nach der Freiheitsschrift (1809) fast vierzig Jahre nichts wirklich Bedeutendes mehr veröffentlicht. Auch seine Lehrtätigkeit hat Schelling lange Jahre unterbrochen. Er blieb - außer einer kurzen Unterbrechung in Erlangen von 1820 - 1827 - bis 1841 in München, wo er dann auch nach der Verlegung der Universität Landshut nach München 1826 sogleich einen Ruf an die 'neue' Universität erhielt. Die philosophischen Früchte der Erlanger Zeit die Erlanger Vorlesung (1820/21) - bilden den Übergang von der dunklen Weltalterphilosophie der Münchener Zeit zur Spätphilosophie der Berliner Zeit. In der Zeit nach Jena ereignet sich eine Wende in Schellings denkendem Leben. Er verläßt die Identitätsphilosophie und begibt sich zu neuen Ufern der Freiheits- und Weltalterphilosophie und der Geschichte des Absoluten. Es ist die Zeit der Suche und Neuentdeckungen, nicht mehr die der scheinbar idealistischen Vollendung. Mitten in tiefer Trauer - 1809 stirbt Schellings Frau Caroline - beginnt er mit dem Unternehmen der Weltalter. Während der Arbeit an den Weltaltern verheiratet sich Schelling mit Pauline Götter, einer der Freundinnen von Schellings erster Frau, die bis zu Schellings Tod

Einleitung

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dessen Ehefrau blieb. Eine Darstellung beider Ehen gibt Kahn-Wallerstein (1959).i Nach dem Tode des mittlerweile berühmt gewordenen Hegel in Berlin 1831 wurde der Plan ausgeheckt, Schelling nach Berlin zu berufen, doch erst im Jahre 1841, nach dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelm IV., kam es dazu. Weil er in seinen Vorlesungen über Philosophie der Mythologie und der Offenbarung immer weniger Anklang fand, zog er sich von aller öffentlichen Tätigkeit zurück und lebte und lehrte bis zu seinem Tode 1854 privatissime. Eine auch philosophisch interessante Schelling-Biographie hat A. Gulyga (1989) vorgelegt. Es gibt ein unausrottbares, auf eine Polemik Hegels zurückgehendes (vgl. Hegels Werke 20, 420-454) Vorurteil: Man sagt oft von Schelling, er sei der "Proteus der Philosophie", also einer, der dauernd seinen Standpunkt ändert. Doch die Wahrheit ist, daß er von Anfang an einen eigenen Grundgedanken hatte, der sich durch alle Umbrüche seines Denkens hindurchzieht, aber verschiedene Abwandlungen erfahren hat. Schellings Philosophie ist, um an eine berühmte Interpretation zu erinnern, "Une philosophie en devenir" (Χ. Tilliette (1970)), d.h., sie entwickelt sich wie ein lebendiger Organismus, dessen innere und äußere Veränderungen nie dessen Grundstruktur zerstören. - Hegel veröffentlichte erst mit 37 Jahren sein erstes großes Werk, war aber da bereits mit seinen Gedanken im Reinen. Hegel urteilt über den philosophischen Werdegang Schellings: "Schelling hat seine philosophische Ausbildung vor dem Publikum gemacht" (Hegels Werke 20, 431). Eine Interpretation der Philosophie Schellings hat sich daher notgedrungen mit den verschiedenen Entwicklungsphasen seines Denkens auseinanderzusetzen. Schellings Grundgedanke entwickelt sich aus einer philosophischen Konstellation, deren Elemente mit den Namen Piaton, Spinoza, Kant, Jacobi, Reinhold und Fichte benannt sind. Schelling verknüpft philosophische Strömungen, die bis dato strikt getrennt nebeneinander herliefen, antike Ontologie, neuzeitliche Metaphysik und moderne Subjektphilosophie. Der Jacobische Gedanke des Absoluten als Unbedingten soll zugleich Anfang und Prinzip eines von ihm ausgehenden Vernunftsystems sein, dessen Idee Schelling von Spinoza aufgreift, welches die Gehalte der kritischen Philosophie Die Nachweise der Primär- und Sekundärliteratur erfolgen durchgehend nach den im Literaturverzeichnis angeführten Abkürzungen. Von der Sekundärliteratur wird der Verfasser, das Erscheinungsjahr der Publikation und die Seitenzahl angegeben.

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Kants nur dann systematisch zu rekonstruieren in der Lage ist, wenn es durch Fichtes subjektphilosophischen Letztbegründungsgedanken des Ich prinzipiiert wird. Die generelle Schwierigkeit dieses bereits in seiner Frühzeit entwickelten Programms einer Philosophie des Absoluten besteht darin, daß es sich zwischen Vernunfttranszendenz und Vernunftimmanenz bewegt. Wie kann die vernünftige Explikation des der Vernunft vorausliegenden unvordenklichen Absoluten als Unbedingten stattfinden, ohne daß dieses nicht beständig in die Vernunftimmanenz zurückfällt? Das Problem eines der Vernunft zuvorkommenden Prinzips der Vernunft bewegt Schellings Philosophie von Anfang bis Ende. Dieses Problem läßt sich mit dem Widerspruch, daß hier das Andere der Vernunft ihr Prinzip sei, auf den Begriff bringen. Schellings Weg des Denkens läßt sich als ein mäanderisierendes Thematisieren und Entwerfen von immer neuen Systemen des Absoluten charakterisieren, in denen er sein Programm einer vom Absoluten als Unbedingten ausgehenden Philosophie einzulösen versucht. Die Widersprüchlichkeit dieses philosophischen Programms läßt immer neue Aporien entstehen, die die Folgen seiner philosophischen Konzeptionen in jeweils kritischer Selbstüberbietung als Folgen von Aporien auf den Weg bringen. Jede Phase seines Philosophierens ist die Kritik der vorherigen, ohne den grundlegenden Widerspruch des Programms selbst zu beheben. Schelling hat zwar die Aporien seiner Philosophiekonzepte bemerkt, hat sie aber wenn nicht verdeckt, so jedenfalls nicht begriffen, eben weil er den basalen Grundwiderspruch nicht als solchen wahrgenommen hat. Schellings Selbstinterpretation seiner Entwicklung muß daher strikt von der tatsächlichen Logik der Entwicklung seines Denkens abgehoben werden. Schelling hüllt den Grundwiderspruch seines philosophischen Ansatzes geradezu in den Schein von Unzulänglichkeiten, Mängeln und Problemen, die zu lösen die Fort- und Weiterfuhrung dieses Programms notwendig mache. Nur die konsequente Fortschreibung des Programms könne die Defizite in der Realisierung des Programms beheben. Was als Widersprüchlichkeit in der Erscheinung auftritt, wird als Einheit im Wesen des Programms ausgegeben, wie sich in Abwandlung eines berühmten Marxschen idealismuskritischen Diktums sagen ließe. Die widersprüchlichen Erscheinungsformen als Erscheinungsformen des basalen Grundwiderspruchs des philosophischen Programms aufzuweisen, wird Aufgabe der Untersuchung sein. Vorliegende Arbeit knüpft damit an das kritische Unternehmen B. Sandkaulen-Bocks (1990) an, Aporien in den Epochen der Philosophie Schellings freizu-

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legen, und führt es, mit der Intention es zu vertiefen, weiter aus. Im Unterschied zu Sandkaulen-Bock sind für den Verfasser aber nicht nur die unterschiedlichen Realisierungsformen des philosophischen Programms in den einzelnen Perioden der Philosophie Schellings aporetisch, insofern sie hinter den Intentionen des ursprünglich in Ansatz gebrachten philosophischen Programms zurückbleiben bzw. diesen nicht gerecht werden, sondern das philosophische Programm selbst widersprüchlich. Schellings Bildungsweg vollzieht sich auf Basis und als Variation seines Grundgedankens. Obgleich Schelling in der Forschungsliteratur nicht mehr als "Proteus der Philosophie" gehandelt wird, trifft Hegels Urteil zu, daß die Reihe von Schellings Schriften "nicht eine Folge der ausgearbeiteten Teile der Philosophie nacheinander, sondern eine Folge seiner Bildungsstufen" darstellt (Hegels Werke 20, 421). Daher treffen auch Untersuchungen, die die Rede von einer Proteushaftigkeit Schellings strikt ablehnen und statt dessen von einer vollkommen bruchlosen Entwicklung Schellings ausgehen, wie etwa W. Schulz (1954) und B. Loer (1974), die volle Wahrheit nicht. Schellings Philosophie ist eine im wahrsten Sinn des Wortes sich entwickelnde Philosophie. Einer Philosophie in beständiger Entwicklung kommt notwendig so etwas wie eine 'proteische' Natur zu. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie wie die Hegeische Unendlichkeit in ihrer Ungleichheit sich selbst gleich ist. Die vorliegende Untersuchung beansprucht, eine kritische Darstellung von Schellings Philosophie, wenn auch nur in ihren Grundzügen, so doch im ganzen zu sein. "Darstellung" bedeutet, daß Schellings Philosophie in ihren Hauptmomenten - sowohl was ihre grundlegenden Gedankenführungen als auch was einzelne Ableitungen betrifft - anhand von exemplarischen Textinterpretationen wesentlicher Werke dem Leser tatsächlich vor Augen geführt werden soll. Ziel des Unternehmens ist nicht zuletzt eine Einführung in das Denken Schellings. "Kritisch" ist die Darstellung, indem sie versucht, Schwierigkeiten, Widersprüche oder Aporien in den einzelnen Phasen der Philosophie Schellings herauszuarbeiten. Sie folgt dabei der Idee immanenter Kritik, insofern sie Schellings Philosophie nicht an Maßstäben mißt, die nicht die ihren sind, sondern nur die von ihr selbst formulierten Ansprüche und Intentionen gegen sie geltend macht. Den Maßstab der Kritik entnimmt sie also zunächst dem Kritisierten selbst. Transzendierend wird die Kritik paradoxerweise in dem Moment, in dem sie Schellings Grundgedanken an ihrer immanenten Konsistenz mißt. Sie kann sich deshalb nicht in erster Linie auf die

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Kritik stützen, der Schelling seine jeweiligen Entwürfe selbst unterzieht, sondern muß in eigenständigem theoretischen Zugriff die jeweiligen Ansätze prüfen. Zudem muß sie der Tendenz Schellings entgegentreten, sein späteres Denken als geradlinige und konsequente Fortsetzung seines früheren Denkens darzustellen. Es gilt also, das Proprium der jeweiligen Phasen der philosophischen Entwicklung Schellings und damit diese in ihrer Differenz gegen ihre nachträgliche nivellierende Umdeutung in eine geradlinige Entwicklung herauszustellen. Schellings philosophische Entwicklung läßt sich in sieben Phasen oder Perioden einteilen, denen die sieben Schelling-Kapitel dieser Arbeit zugeordnet sind und die sich folgendermaßen kurz charakterisieren lassend (1) Schellings Frühschriften (1794 - 1795/96) formulieren das an Piaton, Spinoza, Jacobi, Kant und Fichte orientierte Programm einer Ontologisierung der Transzendentalphilosophie, die auf eine Revision und Vollendung der Kantischen Philosophie abzielt. Schelling ist von einer ungeheuren schreiberischen Leidenschaft. Im Kontrast zu Fichte fällt vor allem der Schelling ganz eigene, elegante Stil seiner philosophischen Prosa auf. Doch die glanzvolle Form vermag die inhaltlichen Schwierigkeiten nicht zu verbergen. Es ist nicht zu übersehen, daß aus dem in Ansatz gebrachten absoluten, in sich differenzlosen Ich endliche Wirklichkeit in keiner Weise herleitbar ist. Die Aporie des frühphilosophischen Programms führt Schelling zur Transformierung des Prinzips eines primär ontologisch fundierten Absoluten zu einem subjektivitätstheoretisch prinzipiierten Absoluten.

Die Phaseneinteilung von Schellings Denken wird in der Literatur unter dem Stichwort der "Periodisierung" diskutiert, ein Titel, der über die bloße Gruppierung der Schellingschen Schriften hinaus, vom Konzept einer dem Werk in Bruch und Kontinuität zugrundeliegenden - wie auch immer interpretierten · einheitlichen Entwicklung ausgeht. Zum Problem der "Periodisierung" vgl. Tilliette (1970), Bd. I, S. 21-58; H J . Sandkühler (1970), S. 81-84; A. Bausola (1975), S. 6568. J.-F. Marquet (1973) deutet im Anschluß an X. Tilliette die verschiedenen philosophischen Positionen Schellings als Stufen einer einheitlichen Entwicklung, die ihm zufolge zwischen den beiden Paradigmen 'Freiheit' und 'Existenz' verläuft. B. Loer (1974) versteht die Entwicklung von Schellings Denken als stets scheiternde Versuche, aus dem Begriff des Absoluten die Welt "abzuleiten". B. Sandkaulen-Bock (1990) interpretiert Schellings Entwicklung als stets in Aporien führende Versuche eines Denkens, welches das Programm einer vom Absoluten als dem Unbedingten ausgehenden Philosophie einzulösen versucht. Vorliegende Untersuchung ist den kritischen Intentionen der beiden letztgenannten Autorinnen verpflichtet und versucht, sie in einigen wesentlichen Punkten zu präzisieren und weiterzutreiben.

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(2) Die Schriften zur Natur- und Transzendentalphilosophie (1796 - 1799) gehen von einem neuen Prinzip, dem Prinzip des SubjektObjekt oder des Selbstbewußtseins, aus. In dieser Zeit beginnt sich Schelling sehr stark an Fichtes Wissenschaftslehre anzunähern, was die Grundlegung der Philosophie betrifft. Aus dem Subjekt-ObjektPrinzip des Selbstbewußtseins gelingt es Schelling tatsächlich, die Wirklichkeit prozessual herzuleiten. Die Selbstbewußtseinsphilosophie krankt allerdings daran, daß in ihr das Absolute mit der Abstraktion vom Selbstbewußtsein der Subjektivität zusammenfällt, also nicht wirklich die Grenzlinie des subjektiven Selbstbewußtseins überschreitet. Die Selbstbewußtseinsphilosophie, die mithin in einem unausgewogenen Verhältnis zum Absoluten steht, kommt im (3) System des transzendentalen Idealismus (1800) in eine Krise, die im Rückgriff auf das Absolute, wie es die Frühschriften formulieren, in der (4) Identitätsphilosophie (1801 - 1809) überwunden wird. Gleichwohl bildet das Transzendentalsystem 1800 den Gipfelpunkt der Selbstbewußtseins- oder Subjekt-Objekt-Philosophie. Die Vollendung der Selbstbewußtseinsphilosophie ist zugleich ihr Ende. Die inhaltliche Abkehr von Fichte beginnt nicht erst mit Schellings Identitätssystem, sondern bereits mit seinen naturwissenschaftlichen Studien und naturphilosophischen Entwürfen. Die Einbeziehung der Naturphilosophie in den Idealismus - der Gedanke einer idealistischen Naturphilosophie ist ein Novum in der neuzeitlichen Philosophie - brachte den durch Fichte begründeten nachkantischen Idealismus, welcher wesentlich Ich-Philosophie war, in einen ganz anderen Bereich und den Idealismus überhaupt auf eine neue Bahn. Er bildet die Basis für den Umbruch von der Selbstbewußtseinsphilosophie zur Identitätsphilosophie. Schellings naturphilosophische Überlegungen sind aber nur Vorbedingungen für das Identitätssystem, zudem werden sie von den Aporien der im Selbstbewußtsein fundierten Transzendentalphilosophie tangiert. Schellings Durchbruch zum objektiven Idealismus der Identitätsphilosophie ist wesentlich durch metaphysische Grundlagenreflexionen über den Gedanken des Absoluten vermittelt. Schellings Identitätsphilosophie ist seine erste eigene, gegenüber Fichtes Wissenschaftslehre profilierte Philosophie. Aber auch ihre Lösung des Problems, vom Absoluten als dem Unbedingten aus zugehen, ist nicht überzeugend und bleibt nicht das letzte Wort. In ihr wird das allem, also auch der Vernunft vorausliegende Sein des Absoluten zugleich nur in der Vernunft und durch sie expliziert. Der akosmistische Vernunftmonismus der Identitätsphilo-

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Sophie schlägt beständig in den abstrakten Dualismus von Absolutem und Endlichem um. Absolute Identität und Differenz, intellektuelle Anschauung oder absolute Vernunft und Verstandesdenken kommen nicht zum Ausgleich. Die Aporien der Identitätsphilosophie fuhren Schelling zur (5) Freiheits- und Weltalterphilosophie (1809 - 1820), in der das Problem von menschlicher Freiheit und Vernunftsystem, von Geschichte und Absolutem im Kontext der Philosophie des Absoluten aufbricht. Schelling versucht, die Geschichte des nunmehr in sich distinkten, in Grund und Existenz, in Natur und Freiheit unterschiedenen Absoluten auch unabhängig von der Vernunft darzustellen, und greift zu diesem Zweck auf Mythen und Bilder zurück. Daher sein Rekurs auf Theosophie und Mythologie. In der mittleren Phase kommt Schellings Philosophie als Vernunftphilosophie in eine Krise. Die Aporie eines geschichtlichen Absoluten, die wesentlich die Absolutheit des Absoluten tangiert, wird in der (6) Erlanger Vorlesung (1821/22) manifest und verarbeitet. Dieses späte System der Weltalter leitet mit der Antizipation der Idee einer absoluten Freiheit Gottes zur Spätphilosophie über. Die Unterscheidung von positiver und negativer Philosophie in der (7) Spätphilosophie (1822 ff.) impliziert ein Doppeltes: Erstens versucht Schelling, mit der Idee einer positiven Philosophie sein in den Jugendjahren entwickeltes Letztbegründungsprogramm, vom Absoluten als dem Unbedingten auszugehen, ein letztes Mal einzulösen. Zweitens versucht Schelling, sich mit Hilfe der nachträglichen Stilisierung seiner früheren Philosophie als Teil der negativen Philosophie Rechenschaft darüber abzugeben, warum die früheren Versuche, dieses Programm einzulösen, scheiterten. Als negative Philosophie deutet Schelling die gesamte Tradition der Subjekt- und Vernunftmetaphysik seit Piaton und Aristoteles, zu der er sowohl seine eigene Selbstbewußtseins- wie auch seine eigene Identitätsphilosophie rechnet. Sofern die negative Philosophie, deren Argumentationsstruktur Schelling im Rekurs vornehmlich auf Aristoteles' Metaphysik entwickelt, eine notwendige "Leiter" zur positiven Philosophie bildet, erfahren die Subjekt- und Vernunftphilosophie - und damit seine eigenen früheren Entwürfe - sogar wieder eine gewisse Rehabilitierung. Gleichzeitig verschiebt sich Schellings philosophisches Interesse von der Theogonie theosophischer Prägung und von dem Hesiodschen Weltfanatismus, d.i. von der Kosmologie, zur Auslegung des wesentlichen Bestandes christlicher Glaubensinhalte. Schellings Programm, vom Absoluten als dem Unbedingten auszugehen, endet mit der im wirklichen Gott des Christentums prinzipiier-

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ten Vernunft, die sich in einer "philosophischen Religion" verwirklicht. So sehr Schellings Intention, über die Vernunft hinauszugehen, ohne sie selbst preiszugeben, zu begrüßen ist, so sehr wird man Schellings Anspruch, das Andere der Vernunft zu ihrem Prinzip zu erheben, als einen unaufgelösten Widerspruch wahrnehmen müssen. Es wird zu zeigen sein, daß die Aporien der Spätphilosophie nur die letzten Erscheinungsformen des grundlegenden Widerspruchs des Programms von Schellings Philosophie darstellen. Die einzelnen Epochen der Philosophie Schellings sind in unterschiedlich intensivem Grad bearbeitet, wenn sich der Verfasser auch bemüht hat, Gerechtigkeit walten zu lassen. Die unterschiedliche Behandlungsart gründet aber auch in der Sache. Die frühphilosophischen Schriften sind recht ausführlich systematisch durchinterpretiert. Ein solches Vorgehen liegt nahe, weil dieses Anfangskapitel grundlegend für das Folgende ist. Die Schriften zur Transzendentalund Naturphilosophie, die zum System des transzendentalen Idealismus hinführen, werden nur in ihrem systematischen Kernbestand erörtert. Etwas weitläufiger wird der Höhepunkt der Subjekt-Objektoder Selbstbewußtseinsphilosophie im System des transzendentalen Idealismus behandelt, auch deswegen, weil hier der Einbruch des identitätsphilosophischen Prinzips der absoluten Identität stattfindet. Das Identitätssystem wird in seinem allgemeinen metaphysischen Grundlegungsteil detailliert besprochen und auf seine Aporien zugespitzt. Die Freiheitsschrift und die Weltalter werden zusammen im 5. Kapitel erörtert. Der Umbruch von der Identitätsphilosophie zur Freiheits- und Weltalterphilosophie ist besonders kraß, weil sich der Leser auf eine veränderte Begrifflichkeit Schellings einstellen muß. Die Freiheitsschrift wird in ihrem inhaltlichen Grundbestand dargestellt. Hier ergibt sich die Aporie erst am Ende des Textes. Bei der Behandlung der Weltalter stehen die Methode der Weltalter und die Differenz zwischen dem philosophischen Ansatz des WeltalterFragments von 1811 und dem von 1814 im Vordergrund. Die Darstellung ist so aufgebaut, daß die Philosophie der Weltalter anhand der Interpretation des Fragments von 1811 nur kursorisch behandelt wird, um dann anhand der Interpretation des Fragments von 1814 eine philosophisch vertiefte Behandlung zu erfahren. Nach Herausstellung der grundlegenden Aporie der Weltalterphilosophie wird das spätere System der Weltalter nach der Erlanger Vorlesung, das in der bisherigen Forschungsliteratur mehr am Rande behandelt wird, intensiv und textnah erörtert. Es bietet in zentralen Gedanken den

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Übergang von der Weltalter- zur Spätphilosophie. Etwas mehr systematisch und weniger textnah wird die Spätphilosophie in ihren beiden Teilen negative und positive Philosophie dargestellt. Ein Grund für dieses Vorgehen besteht darin, daß die Textlage bei der Spätphilosophie besonders unübersichtlich ist. Bei der Masse von Texten ist es besonders schwer, die philosophische Problemlage angemessen zu orten und zur Darstellung zu bringen. Den Weg zum spekulativen Idealismus findet Hegel in Kritik und Wegbewegung vom Jenenser Schelling. Er h a t die Mängel vor allem in der Begründungsstruktur der Schellingschen Philosophie erkannt und dadurch zu beheben versucht, daß er die philosophische Letztbegründung zur reflexiven Selbstbegründung der Vernunft transformiert. Allerdings zahlt Hegels Vernunftphilosophie in der Behebung der Begründungsmängel der Philosophie den Preis, daß sie das Andere der Vernunft verdampfen läßt bzw. in nur noch unangemessener Weise berücksichtigt. In der nachidealistischen Philosophie kommt es zur Ausbildung von philosophischen Konzeptionen, die die Vernunft nicht nur auf ihr Anderes hin überschreiten, sondern Vernunft als solche negieren. Während Schellings Philosophie die Vernunft auf ihr Anderes hin transzendiert, versuchen die philosophischen Ansätze im Gefolge der irrationalistischen Metaphysiken Schopenhauers und Nietzsches eine positive Gegeninstanz zur Vernunft zu entwickeln. Dem alles auflösenden Absolutheitsanspruch der Vernunft vor allem im spekulativen Idealismus Hegels setzen sie ein Prinzip entgegen, das nicht nur das Andere der Vernunft wie z.B. Gott (Schelling), die Materie, Empfindung (Feuerbach), Praxis (Marx) etc. ist, sondern vielmehr AntiVernunft: Existenz, Leben, Wille. Die prinzipielle Inkonsistenz all dieser Ansätze, die in Schopenhauers Willensmetaphysik und in Nietzsches Lebensphilosophie ihr Modell haben, besteht in dem Widerspruch, in rationalem, vernünftigem Diskurs ein an sich Positives, das Leben etc., gegen eine als negativ empfundene Verabsolutierung der Vernunft auszuspielen. So berechtigt die Aversion gegen eine absolut gesetzte Vernunft auch ist, so unbefriedigend sind die nachidealistisch einsetzende Kritik am Idealismus der Vernunft und die daraus erwachsenden positiven (Gegen)-Konzepte. Die Dialektik der Vernunft und ihres Anderen in der nachidealistischen Philosophie, in die Intentionen der Vernunftkritiker Schopenhauer, Nietzsche und Kierkegaard eingehen, kommt paradigmatisch in Heideggers und Adornos Philosophiekonzeptionen zur Darstellung. Das Kapitel über Heidegger und Adorno tritt allerdings nicht mit dem Anspruch voll-

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ständig durchgeführter Interpretationen auf. Die Ansätze beider Philosophen werden anhand exemplarischer Interpretationen nur noch fernperspektivisch ins Auge gefaßt. Das Philosophiekonzept Heideggers wird anhand einer skizzenhaften Interpretation von Was ist Metaphysik'?, das Philosophiekonzept Adornos wird ausschließlich von methodologischer Seite über eine Problematisierung seines Konstellationsbegriffs exponiert. Die vorliegende Untersuchung möchte sich der Euphorie der Schelling-Interpretation nicht nur der letzten Zeit entgegenstellen. Nicht erst seit Heidegger scheint ein Denken attraktiv geworden zu sein, das auf Verstandes- und Vernunftansprüche verzichtet und das sich auf Schelling berufen zu können meint. Andererseits scheint ein Denken wieder aktuell zu sein, das - wie das Adornos - angesichts einer übermächtig gewordenen Rationalität berechtigterweise des Unvordenklichen eingedenk ist, ohne rationaler Argumentation verschlossen zu sein. Allerdings muß gerade um willen der Wahrheit dieser philosophischen Intention hier daran festgehalten werden, daß eine Philosophie, die das Andere der Vernunft zu ihrem Prinzip erhebt, inkonsistent ist. Während die nachidealistische Philosophie, wie Adorno richtig erkannt hat, zu wenig idealistisch ist, vollzieht sich Schellings Überschreitung der idealistischen Philosophie innerhalb des Idealismus, ist also noch zu idealistisch. Eine nachidealistische Vernunftphilosophie, die ihres unvordenklichen Anderen, ihrer nichtrationalen Quellen, eingedenk ist, ohne sie zugleich zu ihren Prinzipien zu stilisieren, wäre ein Desiderat der Philosophie. Angesichts der gegenwärtigen Katastrophen, die einem verfehlten Konzept gesellschaftlicher, ökonomischer und politischer Rationalität geschuldet sind, hat die Philosophie heutzutage allen Anlaß, ihr Vernunft-Verständnis neu zu überdenken, was hier von fundamentalphilosophischer Seite aus ein Stück weit versucht wurde.

1. Kapitel Schellings philosophische Frühschriften: Philosophie als Vernunftsystem aus unvordenklichem Prinzip I. Die philosophische Problemlage der nachkantischen

Philosophie

1. Die Auseinandersetzung mit der Frühphilosophie Schellings gibt zugleich Einblick in Ursprung und Gang der nachkantischen idealistischen Philosophie und ist auch nur in deren Horizont hinreichend zu verstehen. Durchaus bemerkenswert und zu einer Erklärung drängend ist das rapide Aufkommen und der eruptive Gang der nachkantischen idealistischen Philosophie. Innerhalb verschwindend kurzer Zeit, in den beiden Jahrzehnten am Ausgang des 18. Jahrhunderts, entsteht das Gebäude des spekulativen Idealismus. Von Fichte ausgehend wenden sich die philosophischen Entwürfe sogleich gegen ihn und gehen über ihn hinaus. Zuerst wird diese Kritik von Hölderlin in seinem berühmten Fragment Urtheil und Seyn, dann von Schelling in seinen frühphilosophischen Schriften, später von Novalis und Hegel formuliert. Henrich hat diese Entwicklung der klassischen Deutschen Philosophie mit der "Explosion einer Supernova" verglichen (Henrich (1991), S. 208).1 Es gibt nichts vergleichbares in der Geschichte der Philosophie. Hauptsächliche Schwierigkeit bei der Interpretation der frühen Schriften Schellings ist es, das intellektuelle Kräftefeld und die "Konstellationen" (Henrich) der nachkantischen idealistischen Philosophie zu entfalten. Denn nur eine Verbindung von detaillierter argumenta-

Das vor kurzem erschienene Buch von D. Henrich "Konstellationen" enthält eine Zusammenstellung seiner früheren Aufsätze zur Entstehungsgeschichte der idealistischen Philosophie und einen Bericht über das bayerische Forschungsprogramm zur Entstehung der idealistischen Philosophie nach Kant im Jena der Jahre 1789-1795. Henrichs These ist, daß die Globalauskünfte der Geschichtstheorien mit ihren vorgeprägten Epocheneinteilungen nichts bringen. Es muß Konstellationsforschung betrieben werden, um die philosophischen Problemlagen zu ermitteln, die die nachkantische Philosophie ermöglichten. Dieses Programm, das Henrich primär um Hölderlin zentriert, müßte auf Schelling erweitert werden.

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Vernunftsystem aus unvordenklichem Prinzip

tionsanalytischer Textinterpretation und philosophischer Konstellationsforschung vermag ein Licht auf das theoretische Potential zu werfen, das die frühen Texte Schellings erschließen. 2. Schellings Frühphilosophie erhellt vor dem Hintergrund folgender wesentlicher theoriegeschichtlicher Voraussetzungen der nachk an ti sehen idealistischen Philosophie. Zum einen ist da die Heraufkunft des Paradigmas "Selbstbewußtsein" in der Philosophie der Neuzeit zu nennen. Descartes entdeckt in der Selbstgewißheit des denkenden Ich das nicht wegzuschaffende fundamentum inconcussum der Philosophie. Von Rousseau und Kant wurde das Selbstbewußtsein als strukturgebend für die Verfassung unseres Wissens ausgegeben, von dem Kantianer Reinhold wurde es zum ersten Mal in seiner Struktur zu erklären versucht. Eine weitere geistesgeschichtliche Voraussetzung dieser Zeit, die ja die Zeit des Übergangs zur bürgerlichen Gesellschaft war, ist die Überzeugung, daß das Bewußtsein der Freiheit, das Freiheitsbewußtsein, zu rechtfertigen ist und daß eine wesentliche Aufgabe der Philosophie in dieser Rechtfertigung besteht. Schelling versteht jedenfalls seine Philosophie von Anfang an als Theorie der Freiheit. Eine dritte wichtige Voraussetzung ist die Krise der Theologie des transzendenten Gottes, vor dem man vormals eine nur begrenzte menschliche Freiheit eingeräumt wußte. Es wuchs die Überzeugung, daß sich Gott - in der Terminologie der Idealisten: das Absolute - nur im eigenen Denken und Leben vergewissern und erfahren läßt und nicht durch fremde Instanzen. Man kann sagen, daß Schellings frühe Philosophie von der Antinomie zwischen Freiheitsbewußtsein und Determination durchs Absolute ausgeht und diese zu verarbeiten versucht. Aus der skizzierten theologisch-philosophischen Problemlage erwuchs das Bedürfnis nach einer grundsätzlichen Neuorientierung über Denkweise, Begriffsform und Theoriegestalt der Philosophie in Anknüpfung an, aber auch in Gegenwendung zu Kant - eine Theoriegestalt, die mit dem wirklichen Leben kompatibel sein sollte. Die Theorieentwürfe der nachkantischen idealistischen Philosophie ergaben sich auch und wesentlich in Verbindung mit neuen Lebensproblemen der sich herausbildenden bürgerlichen Gesellschaft. Die frühen Schriften Schellings lassen sich nur vor dem Hintergrund folgender Problemzusammenhänge, die in die damalige philosophische Diskussion eingegangen und in der Position der eigentlich idealistischen Philosophie wirksam geworden sind, verstehen: 1. Da sind die Versuche zu erwähnen, Kants Theorie des Freiheitsbewußtseins zu einer konsistenten Theorie zu entfalten, 2. Jacobis Spinoza-

Frühphilosophisches Programm Schellings

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kritik und seine eigene Theorie von der Gewißheit des Unbedingten und 3. die Diskussion über die Methode der Philosophie in der Zeitschrift Philosophisches Journal hrsg. von Niethammer ausgehend von Reinholds Elementarphilosophie und Fichtes Wissenscfiaftslehre. 4. Der neue Skeptizismus Schulzes und Maimons, der gegen die Kantische Philosophie auftrat, war für die Idealisten eine große Herausforderung. 5. Die neue Piatoninterpretation des Jenaer Kantianers Tennemann, 6. die Diskussion über die Religionsphilosophie Kants, die Tübinger orthodoxe Theologie und 7. die Diskussion der Probleme einer Grundlegung der Ästhetik im Anschluß an Schillers Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschen sind weitere wichtige Elemente, die im nachkantischen Idealismus wirksam geworden sind. Dieses Gewirr von Problemzusammenhängen bildet die philosophische "Konstellation", in der Schellings Philosophie entsteht.

II. Das frühphilosophische

Programm

Schellings

Schellings philosophischer Aufbruch ist von der Überzeugung geleitet, daß der Gehalt der kritischen Philosophie Kants nur durch die Ergänzung der ihr fehlenden Prämissen gesichert werden kann. Schelling schreibt 1795 an Hegel: "Die Philosophie ist noch nicht am Ende, Kant hat die Resultate gegeben: die Prämissen fehlen noch. Und wer kann Resultate verstehen ohne Prämissen?"2 Für Schelling ist Kants Kritik der reinen Vernunft der unhintergehbare Ausgangspunkt der Philosophie, deren prinzipientheoretische Letztbegründung allerdings noch aussteht. Mit Kants Resultaten war Schelling einverstanden, er hielt sie indes für mangelhaft fundiert. Schelling kam zur Einsicht, daß das Problem der Letztbegründung im Rahmen von Kants eigenem Denken nicht gelöst werden konnte. An den Resultaten dieses Denkens festhaltend und es dennoch überbietend, versucht Schelling eine Ableitung derselben. Deduziert wird aus Prämissen, in letzter Instanz aus einem Prinzip. Schellings Rekonstruktionsversuch der Kantischen Philosophie aus einem Prinzip bedient sich des Auslegungstopos von "Geist" und "Buchstabe" - ein Begriffspaar, das auf Paulus zurückgeht (vgl. 2. Korinther 3, 6: "Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig"): In der Ichschrift schreibt Schelling: "hingegen glaube ich, gegen sol-

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Brief Schellings an Hegel, 6. Januar 1795, in: Schelling (Briefe), Fuhrmans (1962), Bd. Π, S. 57.

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Vernunftsystem aus unvordenklichem Prinzip

che Anhänger Kants, die voraussetzen, daß er selbst schon die Principien alles Wissens aufgestellt habe, bemerken zu dürfen, daß sie wohl den Buchstaben, aber nicht den Geist ihres Lehrers gefaßt haben [...]" (I, 153).3

Kant hatte bereits das Selbstbewußtsein für den "höchste[n] Punkt" der Philosophie (K.d.V., Β 134) erklärt. Allerdings war es ihm noch nicht gelungen, ein einheitliches Erklärungsprinzip für alle drei Teile seiner Philosophie zu finden. Das Selbstbewußtsein war Kant das Deduktionsprinzip der Kategorien in der theoretischen Vernunft, nicht Prinzip der Sinnlichkeit, dem anderen Stamm unseres Geistes. Zudem bestand ein eigentümlicher Mangel in Strukturbeschreibung und Begründung dieses obersten Prinzips der Philosophie. Kant beklagt die "Unbequemlichkeit" (Kd.V., Β 404; A 346), daß beim Denken des Ich dieses immer schon vorausgesetzt sein müsse. Ein Prinzip als "höchstetr] Punkt" der Philosophie verträgt sich nun schwerlich mit einer solchen Beschreibung von der Art eines circulus virtuosus. Die Frage der Idealisten lautet daher: Gibt es ein Prinzip, aus dem die gesamte Philosophie fließt? Läßt sich ein Prinzip konsistent aufweisen, aus dem die Resultate aller drei Kantischen Kritiken abgeleitet werden können? Mit dieser Frage ist die Demarkationslinie bezeichnet, die zwischen Kantischer Kritik und Idealismus verläuft (vgl. M. Frank (1985), S. 28). Die Rekonstruktion der Kritischen Philosophie aus einem Prinzip geschieht zugleich in Auseinandersetzung zweier gegnerischer Positionen, gegen die Kant verteidigt werden soll, den Skeptizismus einerseits und den Tübinger orthodoxen Kantianismus andererseits. Während der Skeptizismus durch eine letztbegründete Fundierung der theoretischen Philosophie, die an die Grundsatzphilosophie Reinholds und Fichtes anknüpft, zurückgewiesen wird, kommt in der Auseinandersetzung mit der Tübinger Orthodoxie das Verhältnis von Kants theoretischer und praktischer Philosophie in den Blick. Die Prinzipienlegung wird auf das Ganze der kritischen Philosophie ausgeweitet. Dabei ergibt sich wie bei Fichte ein Vorrang des Praktischen vor dem Theoretischen. Schellings Kritik an der Tübinger Or3

Vgl. M. Boenke (1990). Sie begreift Kants Vernunftkritik als den ursprünglichen Bezugspunkt der frühen Philosophie. Anders als der Verfasser der vorliegenden Untersuchung rekonstruiert sie die frühen Schriften Schellings als weitgehend konsistente Entwicklung zu seinem eigenen, Kant überholenden Standpunkt hin. Obgleich es zweifellos Boenkes Verdienst ist, die Beziehung zwischen Kant und Schelling, die in der Forschung bislang unterbelichtet geblieben ist, näher untersucht zu haben, reduziert sie notwendigerweise die gesamte Komplexität der philosophischen Konstellation, in der sich Schellings Philosophie ausbildet.

Frühphilosophisches Programm Schellings

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thodoxie, die sich am "Buchstaben" orientiert und die zugleich strukturelle Defizite der Kantischen Philosophie selbst offenbart, erfolgt im Bewußtsein ihres "Geistes", der als System rekonstruiert werden soll und die Orientierung am bloßen "Buchstaben" als unwahr erweist. Die Frühphilosophie Schellings ist gekennzeichnet erstens durch einen prinzipientheoretischen, zweitens durch einen ontologischen und drittens durch einen praktisch-ästhetischen Ansatz. Während die Formschrift an die prinzipientheoretische Problemstellung Reinholds und Fichtes anknüpft, diese aber ontologisch überformt, vollzieht sich in der Ichschrift und den Briefen vor dem Hintergrund des Tübinger Kantianismus endgültig eine ontologische durch die über Jacobi vermittelte Spinozarezeption inspirierte Wende. Die Briefe etablieren in bezug auf ihren Grundgedanken der Priorität des Praktischen vor dem Theoretischen in Auseinandersetzung mit Hölderlins rein ästhetischer Konzeption eine praktisch-ästhetische Konzeption. Wichtig ist, daß Schellings Versuch einer ontologisch fundierten Prinzipiierung der Philosophie auf Basis der Vernunftkritik Jacobis in Gang kommt. In der Kritik an der Tübinger Orthodoxie vollzieht sich mit Hilfe von Jacobis Vernunftkritik eine radikale Umorientierung des Denkens auf ein der Vernunft vorausliegendes Absolutes, das zugleich Prinzip der Vernunft sein soll. Das Originelle an Schelling ist, daß er auf Grundlage von Jacobis Vernunftkritik gegen Jacobis Absicht Fichtesche und Spinozistische Momente in seinen Ansatz integriert. Schelling verknüpft, was Jacobi strikt getrennt hält, Unmittelbarkeit bzw. das Unbedingte und das Vernunftsystem. Der Gedanke des Unbedingten soll zugleich Anfang und Prinzip eines von ihm ausgehenden Vernunftsystems sein. Schelling verbindet also Jacobis Vernunftkritik und Spinozas Gedanke des Vernunftsystems, dessen Ausführung er aber in Gestalt von Fichtes Alternative aufnimmt. Insofern kann man in bezug auf Schellings Ansatz von einer über Jacobis "Unphilosophie"4 vermittelten Ontologisierung der Transzendentalphilosophie sprechen. Das philosophische Programm Schellings enthält zwei grundlegende Schwierigkeiten, die Schelling zeitlebens begleiten und die er nicht wirklich beheben konnte: 1. Wie kann die Vernunft ihr Prinzip etablieren, das ihr prinzipiell jenseits ist? 2. Wie kann eine vernünftige Explikation des Unbedingten stattfinden, ohne daß dieses wieder der Vemunftimmanenz preisgegeben wird? Die Verknüpfung entge4

So Jacobi 1799 an Fichte. Vgl. Jacobis Werke Bd. III, S. 9.

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Vernunftsystem aus unvordenklichem Prinzip

gengesetzter philosophischer Konzepte stellt sich als interner Widerspruch von Schellings philosophischem Programm dar.5

III. Formschrift: Das Problem der prinzipientheoretischen Letztbegründung der Philosophie 1. Prinzipienreflexion und Systemgedanke Schelling geht es in seiner ersten philosophischen Abhandlung Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt6 um eine prinzipientheoretische Letztbegründung der Philosophie, die dadurch zur Wissenschaft wird. Dieser Gedanke steckt hinter der Formulierung 'Ermöglichung einer Form der Philosophie überhaupt'. Dabei geht Schelling von einer philosophischen Konstellation aus, die durch Kant, Reinhold und Fichte einerseits und den Skeptizismus Aenesidemus-Schulzes und Maimons andererseits gekennzeichnet ist. 5

Die innere Verfugung von Schellings und Jacobis Philosophie hat mit aller Gründlichkeit B. Sandkaulen-Bock erkundet (vgl. Sandkaulen-Bock (1990), S. 13ff.). Ihre zentrale These ist, daß Jacobi filr Schelling wesentlich über seine Rolle als Spinoza-Vermittler hinaus von Bedeutung ist. Allein Jacobis eigene Philosophie des Unbedingten liefere Schelling den Schlüssel zu seinem philosophischen Standpunkt. Sandkaulen-Bock erkennt, daß sich Schelling mit dem Leitmotiv seines Denkens "Vom Unbedingten muß die Philosophie ausgehen" in die unauflösliche Aporie verwickelt, daß einerseits das Absolute nicht aus den Bedingungen des Denkens zu erschließen ist, sondern ihm als Un-bedingtes vorausliegt, daß andererseits das Absolute in der Philosophie nur vernünftig explizierbar ist, also wieder der Vernunft anheimfällt. Die immer wieder in Aponen führenden Ansätze der Texte zwischen 1794 und 1802 enthüllen die Entwicklung der Philosophie Schellings als ein stets neues Scheitern, das auf die Spätphilosophie vorausweist. Ob allerdings die immer wieder zu Aporien führende Realisierung von Schellings Programm nur eine unzureichende Ausführung desselben darstellt oder auf die Aporie des Programms selbst verweist, ein Vernunftsystem aus unvordenklichem Prinzip zu entwickeln, ist bei Sandkaulen-Bock nicht ganz klar (vgl. Sandkaulen-Bock (1990), S. 7fT., 179). Plausibel scheint ihr der Grundgedanke Schellings zu sein, daß das Absolute ein dem Denken vorausliegendes Unbedingtes sein müsse. Erst die Vernunftrealisierung des Absoluten scheint ihr problematisch. Vorliegende Untersuchung, die Sandkaulen-Bocks Schelling-Buch Vieles verdankt, vertritt jedenfalls die These, daß nicht erst die jeweiligen Durchführungen, sondern bereits das Programm selbst aporetisch ist. - Auch das neue Buch von R.-P Horstmann (1991) behandelt vornehmlich die Rezeption der Kantischen Philosophie durch Jacobi und den Deutschen Idealismus. Auch er geht der Verfugung des Deutschen Idealismus und der Philosophie Jacobis nach. Er arbeitet ein wesentliches Motiv von Schellings philosophischen Anstrengungen heraus, nämlich über die nur unvollkommene Aufklärung der Vernunft über sich selbst durch Kant hinauszukommen.

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Geschrieben 1794, veröffentlicht Tübingen 1795.

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Unhintergehbarer Ausgangspunkt für die Frage nach der Prinzipiierung der Philosophie sind für Schelling die Schwierigkeiten und Dunkelheiten in Kants Kritik der reinen Vernunft (vgl. I, 87). Kant habe zwar die Form aller Philosophie zu begründen versucht, ohne dabei aber ein Prinzip aufzustellen, durch das die Urform und aus dieser der Zusammenhang mit allen untergeordneten Formen hergeleitet werden könnte. Unter Form ist die methodische bzw. wissenschaftliche Struktur der Philosophie zu verstehen. Mit "Urform" ist die grundlegende Bewußtseinsstruktur des menschlichen Wissens gemeint, die von Reinhold im berühmten Satz des Bewußtseins zusammengefaßt wurde.7 Die von ihr abhängigen untergeordneten Formen sind die Kategorien des Denkens. Reinholds Versuch, die Philosophie über den obersten Grundsatz des Bewußtseins zu begründen, scheitert, da er nur die Möglichkeit des Inhalts, nicht aber die Möglichkeit der Form der Philosophie begründen könne, weil die Form mit diesem Satz als gegeben unterstellt sei (vgl. I, 88). Fichte und Schelling suchen nach einem Prinzip auch der Form des Bewußtseins. Schelling entwirft sein Programm der prinzipientheoretischen Letztbegründung der Philosophie im Gegenzug zur skeptizistischen Kritik Aenesidemus-Schulzes und Maimons an der Fortführung Kants durch Reinhold. Schulze bezweifelt, daß Reinhold mit dem Satz des Bewußtseins einen notwendigen Zusammenhang zwischen Form und Inhalt des Bewußtseins herstellen kann. Das Begründungsproblem der Philosophie wird in der Philosophiegeschichte zumeist vor dem Hintergrund des Skeptizismus virulent. 8 Mit Fichte zeichnet sich eine Lösung des Letztbegründungsproblems ab. Zweck seiner Schrift Über den Begriff der Wissenschafts7

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Reinholds Satz des Bewußtseins lautet: "Im Bewußtsein wird die Vorstellung durch das Subjekt vom Subjekt und Objekt unterschieden und auf beide bezogen" (K. L. Reinhold (1794), Bd. 1, S. 167). Reinholds Theorie der Vorstellung, die auf jenem Satz als oberstem Grundsatz fußt, hatte die Absicht, alle weitere Erkenntnis, Vernunft und Wille etc. von diesem ausgehend abzuleiten. Die Grundsatzphilosophie Reinholds enthält das erste Herleitungsprogramm der Vernunft, das insofern eine erste neue Wendung in der nachkantischen Philosophie darstellt. So wurde Kants transzendentaler Deduktionsversuch der Kategorien mit Blick auf Hilmes Skeptizismus ins Auge gefaßt. Auch die höhere Stufe transzendentaler Reflexion bei Fichte ist vermittelt durch den Skeptizismus Aenesidemus-Schulzes (vgl. Fichtes "Aenesidemus'-Rezension, in: Fichtes Werke I, 3-25, bes. 3). In diese Frontstellung der Transzendentalphilosophie gegen den Skeptizismus reiht sich Schellings philosophischer Erstlingsversuch ein. Daß der Skeptizismus einer Transzendentalphilosophie notwendig vorausgehe und diese die Antwort auf ihn darstelle, ist eine der Grundbehauptungen von V. Hösles Untersuchung zur Struktur der Geschichte der Philosophie (vgl. Hösle (1984)).

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Vernunftsystem aus unvordenklichem Prinzip

lehre (1794) sei nichts Geringeres, als "endlich eine Auflösung des gesammten Problems über die Möglichkeit der Philosophie überhaupt herbeizuführen" (I, 88). In der Begründung der Philosophie als skepsisimmuner Wissenschaft wird Schelling also durch Fichte angeregt.9 Tatsächlich gehört Fichtes Begriffsschrift, die man als Programmschrift des Deutschen Idealismus bezeichnen kann, zu den bedeutendsten Texten der Philosophiegeschichte. Seine Idee der Philosophie als oberster Wissenschaft, die alle einzelnen Wissenschaften begründet, und sein Interesse an der Letztbegründung der Philosophie hat den gesamten Deutschen Idealismus maßgeblich beeinflußt. Schelling und Hegel sind von Fichtes Philosophiebegriff aufs entschiedenste geprägt. Schellings Beitrag zur Auflösung des Letztbegründungsproblems ist zwar Fichte verpflichtet, weicht aber in entscheidenden Punkten in der Durchführung von Fichtes transzendentalem Ansatz ab. Die Darstellung des Problems und die Deduktion der Grundsätze sind maßgeblich durch Schellings Jacobi-Rezeption und seine Interpretation des platonischen Philebos im Timaios-Kommentar vermittelt. Schelling entwickelt Fichtes transzendentalphilosophischen Ansatz zu einer ontologisch tingierten Philosophie des Absoluten fort. Schauen wir uns die Formschrift etwas genauer an. In einem ersten Schritt wird im methodischen Verfahren einer Begriffsanalyse des Problems der Letztbegründung der Philosophie deren formales Erfordernis mit dem Begriff des unbedingten Grundsatzes dargetan, der dann in einem zweiten Schritt mit dem Ichbegriff verbunden wird. Schelling verknüpft hier Jacobis Begriff des Unbedingten mit Fichtes Ichbegriff. Ausgangspunkt ist die Form-Inhalts-Bestimmtheit der Philosophie als Wissenschaft. "Die Philosophie ist eine Wissenschaft, d.h. sie hat einen bestimmten Inhalt unter einer bestimmten Form" (I, 89). Schelling erwähnt neben der Begriffsschrift auch die Recension des Aenesidemus von 1792 (vgl. I, 87). Man kann davon ausgehen, daß Schelling zur Abfassungszeit der Formschrift Fichtes Wissenschaftslehre von 1794 noch nicht in schriftlicher Form gekannt hat. Vgl. Schellings Brief an Hegel vom 6. Januar 1795: "Nun erhalte ich den Anfang der Ausführungen von Fichte selbst, die 'Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre' [...] Ich las und fand, daß mich meine Prophezeiungen nicht getäuscht hatten" (Schelling (Briefe), Fuhrmans (1962), Bd. Π, S. 59). Vgl. den editorischen Bericht von W.G. Jacobs zur Formschrift (Jacobs (1976), S. 249261). Die neuere Schellingforschung hat zwar daraufhingewiesen, daß Schelling ursprünglich mit den Schriften Fichtes wenig vertraut gewesen sein dürfte. Das darf aber nicht über wesentliche Übereinstimmungen auch hinsichtlich philosophischer Grundintentionen hinwegtäuschen. Fichtes Vorlesungstätigkeit hatte seine Wirkung bereits getan.

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Unter Inhalt versteht Schelling den Gegenstand, unter Form die Methode der Wissenschaft. Das Problem besteht nun darin, den Zusammenhang von Form und Inhalt als notwendig, d.h. als der Willkür entzogen zu begründen. Nur ein "gemeinschaftliche!!·] Grund" (I, 89), durch den Form und Inhalt sich wechselseitig herbeiführen, garantiert einerseits Skepsisimmunität, weil Form und Inhalt nicht mehr wechselseitig bezweifelt werden können, andererseits die Idee einer Philosophie (vgl. I, 90). Wie Fichte geht Schelling davon aus, daß Wissenschaft nur durch einen "Grundsatz" möglich ist (I, 90), und wie Fichte behauptet er, daß dieser Satz "nur Einer" (I, 91) sein könne. Anders als bei Fichte organisiert der Grundsatz aber keinen Gewißheitszusammenhang, sondern als Bedingung von bedingten Sätzen die Einheit der Wissenschaft. Schelling betont den Einheits- und Systemcharakter der Vernunft, der schon von Kant entdeckt wurde. Kant zufolge ist das System die "Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee" (K.d.V., Β 861; A 832). Im Unterschied zu Kant ist Schelling der Auffassung, daß sich nur von einem obersten Grundsatz ausgehend das gesamte Wissen systematisch argumentativ erschließen läßt. Die Systemidee geht davon aus, nichts unbegründet zu lassen. Also muß die Philosophie auch ihren eigenen Ansatz begründen. Der oberste Grundsatz der Philosophie muß an sich selbst "schlechthin-unbedingt" (I, 91) sein, da er aus keinem höheren Satz deduzierbar sein darf, soll ein infiniter Regreß vermieden werden, und fundiert so die Philosophie als oberste Metawissenschaft, als "Theorie (Wissenschaft) aller Wissenschaft" oder als "Urwissenschaft" (I, 92). Schelling faßt seine Überlegungen wie folgt zusammen: "Kurz, [...] die Philosophie muß, wenn sie überhaupt eine Wissenschaft seyn soll, durch einen schlechthin absoluten Grundsatz bedingt werden, der die Bedingung alles Inhalts und aller Form enthalten muß, wenn er sie wirklich begründen soll" (I, 92). In der prinzipientheoretischen Letztbegründung geht es also einerseits um die prinzipielle Fundierung der einzelnen Zweige der Philosophie, andererseits um die Selbstbegründung der Philosophie selbst. Durch "bloße Entwicklung des Begriffs eines obersten Grundsatzes" (I, 94) ergibt sich, daß der oberste Grundsatz unbedingt sein muß. Die entscheidende Differenz zu Fichtes Begriffsschrift besteht in folgendem: Während Fichte von der absoluten Gewißheit dieses Grundsatzes ausgeht - ein absolut gewisser Satz muß durch sich selbst begründet sein, d.h., bei ihm müssen Form und Inhalt überein-

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stimmen (vgl. Fichtes Werke I, 49) -, geht Schelling von dessen nicht weiter zu begründender Unbedingheit aus und kommt von da aus zur Beschreibving seiner Form-Inhalts-Struktur. Das Postulat der prinzipiellen Unableitbarkeit des ersten Grundsatzes enthält das Problem, ob Schellings Philosophie letztlich nicht doch dogmatische, unbewiesene Züge aufweist. Diesem Vorwurf könnte mit dem Hinweis auf die Selbstbegründungsstruktur des Grundsatzes begegnet werden. Daß der oberste Grundsatz einer ist, der sich nur selbst begründen kann, zeigt sich daran, daß er nicht geleugnet werden kann, ohne ihn immer schon vorauszusetzen. Kritisch gegen Schelling muß allerdings gesagt werden, daß er dieses Argument nicht entwickelt. Aus dem Begriff der Unbedingtheit des Grundsatzes folgt, daß auch sein Inhalt und seine Form unbedingt sein müssen, was wiederum nur zutrifft, wenn sie sich gegenseitig begründen. An der Formseite unterscheidet Schelling die "innere Form" des "Bedingtseyns durch sich selbst" (I, 93) von Inhalt und Form des ersten Grundsatzes, durch den die "äußere Form" (ebd.) des "unbedingten Gesetztseyns" (ebd.) erst möglich würde. Das bedeutet erstens, das oberste Prinzip muß eine sich selbst begründende Struktur besitzen. Den Beweis seiner Unbedingtheit jenseits bloßer Evidenz ist Schelling allerdings schuldig geblieben. Ein solcher Beweis müßte wie in jedem Fall einer unhintergehbaren Struktur negativ über den Aufweis der Inkonsistenz ihrer Negation geführt werden. Schelling steht jedoch in einer noch bei Jacobi wirksamen Tradition, die auf Piaton zurückgeht. Nach Jacobi ist das Unbedingte nicht aus der Kette der Bedingungen zu erschließen, sondern nur unmittelbar gewiß. Es ist von größerer Gewißheit als alles Bedingte. Da die Vorstellung des Bedingten das Unbedingte begrifflich und real voraussetzt, muß die Philosophie von ihm ihren Ausgang nehmen. Die Sentenz "Vom Unbedingten muß die Philosophie ausgehen", wird zum früh formulierten Diktum der Schellingschen Philosophie. Auch Schelling hebt hervor, daß das Unbedingte nicht in einer "regressiven Untersuchimg" (I, 96) im Ausgang vom Bedingten erfaßbar ist, sondern uns einen "ganz andern Weg" (ebd.) weist, nämlich die Begriffsanalyse des Unbedingten an ihm selbst. Das Unbedingte, wie es Schelling auffaßt, ist also nicht wie bei Kant eine notwendige Idee der Vernunft und damit das aufzufindende Letzte, sondern wie bei Jacobi das aufzustellende Erste. Es hat nicht regulative, sondern konstitutive Funktion.

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An der internen Unterscheidung der Formseite des Unbedingten wird aber noch ein anderes Problem virulent, nämlich das Problem der Doppelbödigkeit des Absoluten. Das Absolute selbst hat einen inneren Kern, der nicht in die Dialektik der Grundsätze eingeht, die wesentlich durch die äußere Form in Gang gebracht wird. Diese Doppelbödigkeit des Absoluten schlägt sich auch in der Unterscheidung von Inhalt und Form des ersten Grundsatzes nieder. Auch die inhaltliche Bestimmung des obersten Grundsatzes ergibt sich aus der weiteren Analyse des Unbedingtseins. Ein schlechthin unbedingter Satz muß auch einen unbedingten Inhalt haben, der durch nichts außer ihm bestimmt, sondern "schlechthin gesetzt" ist, "sich selbst (durch absolute Causalität) setzt" (I, 96). Das sich selbst Setzende ist nichts anderes als das Ich. Der oberste Grundsatz lautet also: "Ich ist Ich" (I, 97), dessen Inhalt, das Ich, und dessen (innere) Form, die absolute Kausalität des Sichselbstsetzens, einander wechselseitig begründen. Dieser "Kreis" (I, 97) sei die notwendige Bedingung der absoluten Evidenz und Gewißheit des obersten Grundsatzes. Schellings Theorie des Unbedingten läßt sich mithin als Metabegründung der absoluten Gewißheit des obersten Grundsatzes bei Fichte interpretieren. Das Ich, von dem Fichte behauptet, es sei absolut gewiß, ist dies aufgrund dessen, weil es das Unbedingte ist. Es ist nun charakteristisch für die Formschrift - und hierin schlägt sich die erwähnte Doppelbödigkeit des Absoluten nieder -, daß Schelling nicht so sehr die inhaltliche Seite des absoluten Grundsatzes, das Ich, sondern die "Form des absoluten Gesetztseyns" (I, 97), die sich auch als "allgemeine Form des imbedingten Gesetztseyns (A = A)" (ebd.) ausdrücken läßt, die "Form der Unbedingtheit" (I, 101), betont. Der tiefere Grund liegt darin, daß die Dialektik der Grundsätze nur über die äußere Form der Unbedingtheit, nicht aber über die unmittelbar in sich zurücklaufende Struktur der inneren Form des Bedingtseins durch sich selbst in Gang kommt. In Schellings Theorie des Absoluten ist also von Anfang an von der Form der Unbedingtheit das Unbedingte selbst zu unterscheiden, welch letzteres sich der Dialektik der drei Grundsätze nach Art einer negativen Theologie entzieht. In der Ichschrift wird es darum gehen, das Unbedingte als Ich inhaltlich genauer zu explizieren. Während Fichtes Ichbegriff einen transzendentalphilosophischen Gehalt aufweist, intendiert Schellings Rede vom Ich von vorneherein einen ontologischen Gehalt. Seine Orientierimg am Absoluten als dem Unbedingten, mit der er in der Formschrift einsetzt, ermöglicht ihm diese andere Deutung des Ich.

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Vernunftsystem aus unvordenklichem Prinzip

2. Ableitung der drei Grundsätze der Fichteschen Wissenschaftslehre als "Urform" der Philosophie In einem weiteren Schritt geht es Schelling um die Vermittlung von Unbedingtem und Bedingtem. Neben dem ersten Grundsatz nimmt Schelling wie Fichte zwei weitere Grundsätze an, die freilich nicht gleichrangig mit jenem ersten Satz sein können: Inhalt oder Form müssen vom höchsten Satz bedingt sein. Die Deduktion der drei Grundsätze, aus der sich eine Synthesis ergibt, ist allerdings nur oberflächlich an Fichte orientiert und verweist vielmehr auf Jacobi und Piatons Philebos, mit dessen Hilfe Schelling im (noch unedierten) Timaios-Kommentar Kants Kategorienlehre zu interpretieren versucht hat. io Schelling wendet auf die Fichteschen Begriffe Ich und Nicht-Ich die Jacobischen Terme "unbedingt" und "bedingt" an und gibt ihnen dadurch einen anderen Sinn. Durch das Nicht-Ich des zweiten Grundsatzes wird die Form der Bedingtheit begründet. Der dritte Grundsatz stellt die Verbindung beider, die "Form der durch Unbedingtheit

bestimmten Bedingtheit" (I, 99) dar.

Das Eigentümliche von Schellings Ableitung der drei Grundsätze besteht m.E. in drei Punkten: a) Schellings eigener Akzent in der Deduktion der drei Grundsätze liegt in deren Formreflexion, die an ontologischen Grundbegriffen orientiert ist, die Piaton im Philebos erörtert. Piaton nimmt vier Grundkategorien des Seienden an: 1. Das Unbegrenzte (ápeiron), 2. die Grenze (péras), 3. das aus beiden Zusammengesetzte (koinón) und 4. die Ursache dieser Verbindung (aitia) (vgl. Piaton, Philebos 23cff.). Diese platonischen ontologischen Grundkategorien werden hier in der Interpretation der Bewußtseins- oder Urform der Philosophie appliziert. Da Schelling mit Piaton auf die Synthese von Unbedingtem und Bedingtem aus ist, nimmt er zugleich eine Korrektur an der Jacobischen dualistischen Verwendungsweise von Unbedingtem und Bedingtem vor. Nach Jacobi ist das menschliche Bewußtsein durch zwei ursprüngliche Vorstellungen gekennzeichnet, die eines Bedingungszusammenhangs und die des Unbedingten, die nicht auseinander herleitbar und nicht miteinander vermittelbar sind. Schelling geht es dagegen um eine Vermittlung von Unbedingtem und Bedingtem.

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Zur Differenz zwischen Fichte und Schelling in der Formschrift (1975), S. 221f.

vgl. H. Holz

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b) Schelling kritisiert implizit, daß Fichte im dritten Grundsatz mit dem Begriff der Teilbarkeit nicht wirklich eine Synthese von Ich und Nicht-Ich gedacht hat. Im Unterschied zu Fichte zielt Schelling im dritten Grundsatz mit Piaton auf eine echte Synthesis von Unbedingtem und Bedingtem. Diese Gedankenfigur der Einheit von Unendlichem und Endlichem steht am Anfang des nachkantischen, über Fichte hinausgehenden Idealismus. Schelling stellt die Ableitung der drei Grundsätze der Fichteschen Wissenschaftslehre in einen platonischen und d.h. ontologischen Kontext. Seine anfängliche Fichte-Rezeption ist also dadurch gekennzeichnet, daß er sich auf Fichte in einem Zusammenhang zubewegt, der nicht der Fichtes ist. c) Mit der von Fichte modifiziert übernommenen Dialektik der drei Grundsätze alles Wissens ist nicht nur die "Urform aller Wissenschaft" deduziert, die Schelling als "Form der Unbedingtheit, der Bedingtheit und der durch Unbedingtheit bestimmten Bedingtheit" (I, 101) näher charakterisiert, sondern auch der ursprünglich gegebene Inhalt allen Wissens, der sich aufgrund des Wechselverhältnisses von Form und Inhalt aus den drei Grundsätzen als Ich, Nicht-Ich und Produkt beider bestimmen läßt (vgl. I, 110). Schelling kann also trotz seiner Wende zum Ontologischen mit der von Fichte modifiziert übernommenen Dialektik der drei Grundsätze den transzendentalphilosophischen Gehalt von Reinholds "Theorie des Bewußtseyns und der Vorstellung unmittelbar begründe[n]" (I, 99). Während Reinhold die Struktur des Bewußtseins als gegeben voraussetzt, läßt Schelling sie aus der Dialektik der Urform entstehen.

3. Die Begründung der Kantischen Kategorien und Urteilsformen aus der Urform der Philosophie In einem letzten Schritt wird die "Urform" als Prinzip der Kategorienlehre Kants vorangestellt. Schelling versucht also, sein Vorhaben einer Prinzipiierung von Kants theoretischer Philosophie einzulösen. Die Urform gibt den Kantischen Kategorien zugleich einen ontologischen Sinn.u 11

Auf Ontologisierung zielte schon die Auslegung von Kants Kategorien mit Hilfe platonischer Begriffe im Timaios-Kommentar. Er beschreibt dort den subjektiven Erkenntnisakt als Weltschöpfung im Sinne einer Synthesis von Form und Materie, von péras und ápeiron, wobei er einerseits Piatons Begriffe von einer substantialen Auslegung bewahren möchte, andererseits den Kategorien Kants eine neue, objektive Struktur gibt. Das ápeiron ist ihm zufolge nicht mit der Materie, dem

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Durch diesen Beweisgang ist Kants "metaphysische Deduktion" (K.d.V., Β 159) der Kategorien aus den Formen des Urteils durch eine letztbegründende Prinzipiierung transformiert und überschritten. Boenke spricht von einer "Metabegründung der metaphysischen Deduktion Kants" (Boenke (1989), S. 177). Bevor Schelling an die konkrete Ableitung der Kategorien geht, bringt er die von ihm entwickelte Urform ins Verhältnis zur Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen. Die Form der Unbedingtheit wird mit der analytischen Form oder dem Satz vom Widerspruch, die Form der Bedingtheit mit der synthetischen Form oder dem Satz vom Grund, die Form der durch Unbedingtheit bestimmten Bedingtheit mit der Verbindung von analytischer und synthetischer Form oder dem Satz der Disjunktion identifiziert (vgl. I, 104). Schellings Deduktionsversuch der Kategorien unterläuft die auf Leibniz zurückgehende und von Kant bekräftigte Unterscheidung von analytischen und synthetischen Urteilen. Er ist um eine Synthetisierung der beiden Methodenfundamente der neuzeitlichen Philosophie - den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch und den Satz vom zureichenden Grund - bemüht. Kant habe weder die dritte Form des Denkens aufgestellt noch die Kategorien durch diese Urform prinzipiiert (vgl. I, 105). Er habe vielmehr die Urform als Prinzip in eine Reihe mit den übrigen Kategorien gestellt, erstens weil er mit der Urform selbst noch nicht im Reinen gewesen sei und zweitens, weil er sie zu sehr spezialisiert habe, so daß er sie nicht als Prinzip erkennen konnte (vgl. I, 107). Schelling zeichnet die Kantische Kategorie der Relation aus, indem er sie mit der Urform identifiziert, weil in ihr die Gegensatzvermittlung von Unbedingtem und Bedingtem im Hinblick auf die Form des Gesetztseins zum Ausdruck kommt. Damit erhält die Kategorie der Relation den Status eines Prinzips. Kant - so Schellings These - hat zwar kein Prinzip angegeben, aber faktisch eine Kategorie gedacht, Substrat, identisch, vielmehr ist es genauso ein 'Grundbegriff wie péras, koinón und aitía, die der Welterklärung dienen. Mit diesem Kunstgriff - auch die hyletische Mannigfaltigkeit ist eine Form - überwindet er die Kantische Trennung von Verstand bzw. Kategorien und Sinnlichkeit. Zugleich konzipiert Schelling eine Synthesis, die aus der Vermittlung des Grundgegensatzes von péras, Qualität bzw. Einheit, und ápeiron, Quantität bzw. Realität, entsteht. Die Synthesis erfolgt im koinón als Kategorie der Kausalität, die mit dem Terminus "Realität durch Quantität bestimmt" (vgl. Sandkaulen-Bock (1990), S. 21) begriffen werden kann, der auf den Ausdruck "die Form der durch Unbedingtheit bestimmten Bedingtheit" (I, 99) in der Formschrift vorverweist. Mit diesem Gedanken hat Schelling eine Dialektik von Vernunftbegriffen etabliert, die den Hiatus von Sinnlichem und Gedanklichem in der Synthesis der Urform 'aufhebt'.

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die zum Prinzip erhoben werden kann. Die dialektische Anordnung der Kategorien ist mithin durch die Urform prinzipiiert. Die drei Kategorien der Relation sind identisch mit den drei Urformen im Hinblick auf die Form ihres Gesetztseins. Urformen heißen sie, weil sie unmittelbar aus den Grundsätzen der Wissenschaftslehre hervorgehen und allen übrigen Kategorien zugrunde liegen. Die Urformen sind also mit den Relationskategorien identisch, weil sie unmittelbar aus dem dritten Grundsatz, der die Relation von Ich und Nicht-Ich definiert, hervorgehen. Sie spezifizieren den dritten Grundsatz in drei Sätze oder Kategorien, den kategorischen, den hypothetischen und den disjunktiven Satz, welche Sätze die Verbindung der einzelnen Kategorien in den Kategorienklassen herstellen. So gilt z.B. fur die der Relation subordinierten Kategorien der Quantität, daß die Kategorie der Einheit unter der Form des unbedingten Gesetztseins, die der Vielheit unter der Form der bedingten, von der Einheit abhängigen Form des Gesetztseins und die Kategorie der Allheit unter der Form der durch Unbedingtheit bestimmten Bedingtheit bzw. durch Einheit bestimmten Vielheit steht. Was die Kategorienklassen selbst betrifft, so folgen sie unmittelbar aus dem obersten Grundsatz Ich = Ich. Die Analyse des Ich auf seine kategorialen Bestimmungen hin ist Gegenstand der Ichschrift. - Die Relationskategorien haben also deshalb einen prinzipiierenden Sonderstatus, weil sie als logische Explikationsmittel die Analyse der Beziehung der übrigen Kategorien untereinander ermöglichen. Diese dialektische Grundeinsicht Schellings bringt die Ausbildung der spekulativen Begriffsform im nachkantischen Idealismus auf den Weg und wird erst in Hegels Wissenschaft der Logik in die Tat umgesetzt. Schellings Prinzipiierung der Kategorienlehre Kants ist zugleich kritische Darstellung derselben. Er kritisiert, daß Kant keine Methode hat, durch die er die Kategorien entwickeln kann. Schelling geht es um die innere Logizität dieser Kategorien, deren Wesen er im dargestellten dialektischen Dreischritt erblickt. Der von Kant gegen Aristoteles erhobene Vorwurf, er raffe die Kategorien bloß "rhapsodistisch" (K.d.V., Β 107; A 81) auf, fällt damit auf Kant selbst zurück. Während Kant die Kategorien bloß formal in Beziehung zum "Ich denke" setzte, sind sie nach Fichte und Schelling aus dem Ich regelrecht abzuleiten. Später wird die Prinzipiierung von der theoretischen auf die praktische Philosophie ausgeweitet. Den von Schelling bei Kant vermißten "dritte[n] Modus der Urform" hat Kant zwar im Ideenkapitel zugrundegelegt. Die dort entwickelte Urteilstheorie hat er aber nicht für die Herleitung der Kate-

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Vernunftsystem aus unvordenklichem Prinzip

gorien relevant gemacht. Kant hat überhaupt die begründende Funktion der Vernunftideen für die Verstandeserkenntnis nur als regulativ betrachtet. Mit dem Beweis, daß die Relationskategorien mit den Urformen in ihren drei Erscheinungsformen identisch sind, hat Schelling den Kantischen Dualismus von Vernunft und Verstand im Ansatz aufgehoben. Damit leitet er eine Revision der Prämissen der Vernunftkritik ein. Nur durch eine solche Prinzipiierung von Reinholds Satz des Bewußtseins durch die Urform kann auch der Skeptizismus wirksam zurückgewiesen werden: "Gerade durch eine solche vollständige Deduktion der gesammten Form des Subjekts, des Objekts und der Vorstellung wären beinahe alle übrigen Einwürfe des Aenesidemus abgeschnitten gewesen" (I, llOf.). Damit erreicht Schelling im Ausgang vom Unbedingten am Ende der Formschrift noch einmal die bewußtseinstheoretische, subjektive Dimension des Ich, wie sie bei Reinhold und Fichte vorliegt, nun aber begründungstheoretisch eingeholt. Ziel der über den Begriff des Unbedingten versuchten Letztbegründung der Philosophie als oberster Wissenschaft ist "die Aussicht auf eine endlich zu erreichende Einheit des Wissens, des Glaubens und des Wollens - das letzte Erbe der Menschheit" (I, 112), also die Begründung eines Systems der Philosophie, wodurch die Möglichkeit eröffnet werde, "die Uebel der Menschheit [...] [zu] heilen" und "auf die Schicksale unsers ganzen Geschlechts" (I, 112) Einfluß zu nehmen. Die Letztbegründung und die Systemform der Philosophie ist also nicht Selbstzweck, sondern verfolgt ein über sie hinausgehendes Ziel; sie verweist auf die Praxis als Prozeß der Realisierung des Absoluten, wie sie in den Briefen k o n z i p i e r t i st. 12 Fassen wir zusammen: Bereits in der Formschrift zeichnen sich "zwei Grundtypen des Unbedingten" (Sandkaulen-Bock (1990), S. 28) ab, die das Grundproblem von Schellings Theorie des Absoluten überhaupt markieren. Das Unbedingte als solches steht der dialektischen Gegensatzvermittlung von Unbedingtem und Bedingtem gegenüber. Den herausgehobenen Status des Unbedingten als Ich in der Form Ich = Ich hebt Schelling dadurch hervor, daß er die Identität deutlich von der durch die Form der Unbedingtheit in Gang kommenden Dialektik der drei Grundsätze abgrenzt: "nicht die Form 12

Im Übergang von Schellings frühesten theologischen Schriften (1792-93) zu den frühen philosophischen Schriften sieht W. Jacobs eine gleichbleibende philosophische Geschichtskonzeption (W. Jacobs (1977), S. 165-170). Das geschichtsphilosophische Motiv in den philosophischen Frühschriften betont auch Baumgartner (1975), S. 45-57.

Prinzipientheoretische Letztbegründung der Philosophie

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der Identität", sondern die des "unbedingten Gesetztseyns überhaupt" (I, 109) ist die Urform der Wissenschaft, die die kategoriale Synthesis prinzipiiert. Damit ist bereits in der philosophischen Erstlingsschrift Schellings das Grundproblem seiner Philosophie des Absoluten angeschnitten, wie die beiden von ihm konzipierten Modelle des Absoluten als reiner Identität und als dialektischer Differenzeinheit miteinander zu vermitteln sind.13 Schelling hält in der Formschrift beides auseinander, indem er das Ich als Inhalt und das Ich als Bestimmung der Form unterscheidet. In der Ichschrift wird die Aporie dieses Lösungsversuchs offenbar. Schellings Interesse am Programm einer Philosophie als Wissenschaft gilt in der Formschrift der Letztbegründung der Philosophie als oberster Metawissenschaft und der Prinzipiierung der theoretischen Philosophie Kants. Mit Fichte stellt Schelling die Grundsatzüberlegungen Reinholds unter die Perspektive des Ich, das aber nicht wie bei Fichte auf der unhintergehbaren Gewißheit, sondern auf der Form der Unbedingtheit beruht. Die Prinzipienreflexion, die im wesentlichen aus einer Analyse von Jacobis Begriff des Unbedingten besteht, wird ergänzt durch die Deduktion der Kategorien, in welcher Piatons Begriffe ápeiron und péras aus dem Philebos, Fichtes Ich und Nicht-Ich und Kants Unterscheidung von "analytisch" und "synthetisch" miteinander verknüpft werden. Fichtes Begriffsschrift vermittelt Schelling die Einsicht, daß das Ich durch seine absolute Selbstsetzung einerseits der Jacobischen Forderung nach Unbedingtheit entspricht, andererseits die Dialektik der Grundsätze in Gang bringt. Obgleich Schelling mit der Verknüpfung von Unbedingtheit und Ich auf eine ontologische Dimension abzielt, wird dem Ich dann im Hinblick auf die Synthesis von Subjekt und Objekt in Reinholds Satz des Bewußtseins die subjektive Dimension, die es bei Fichte noch hat, nicht bestritten. Dieser Fichteanismus wird in der Folge überwunden. In einer Anmerkung wird bereits das durch das absolute Ich bestimmte Ich als Nicht-Ich angesprochen (vgl. I, 100).

13

Sandkaulen-Bock hat diese Problematik klar herausgearbeitet: "Während die Identität eine Struktur darstellt, die als Bedingtsein durch sich selbst unmittelbar in sich selbst zurückläuft, ist die Dialektik als Gegensatzvermittlung in einer Struktur begründet, die als unbedingtes Gesetztsein sich den Gegensatz des bedingten Gesetztseins erschließt bzw. sich diesem öffnet" (Sandkaulen-Bock (1990), S. 27).

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Vernunftsystem aus unvordenklichem Prinzip

Darin liegt aber zugleich das Grundproblem von Schellings Absolutheitsphilosophie begründet, wie Identität und Differenz bzw. Dialektik miteinander zu vermitteln sind. IV. Ichschrift:

Ontologisierung der

Transzendentalphilosophie

1. Philosophische "Konstellationen" der Ichschrift Eine der Hauptaufgaben der Interpretation der Ichschrift ist es ausfindig zu machen, wie sich Jacobiismus, Spinozismus und Kritizismus (Kant, Fichte) in Schellings Programm einer "Ethik à la Spinoza" zueinander verhalten. Wie sieht die philosophische Hauptkonfrontationslinie aus? Die Schwierigkeit in Schellings Programm ist, daß er zusammenzwingen will, was sich extrem entgegengesetzt ist. a) Der Einfluß Jacobis Für Schelling ist von Jacobi zu lernen, daß Philosophie gerade auch in ihrer abstrakten Grundlagenreflexion Verständigung über das "Leben" ist. Schelling formuliert überhaupt sein philosophisches Programm in der Ichschrift in der Terminologie Jacobis: Die Begriffe vom Unbedingten, vom Sein, Dasein, Unmittelbarkeit und Vermittlung sind genuin Jacobische. Er rekurriert auf Jacobis Formel vom zu enthüllenden und zu offenbarenden Dasein (vgl. I, 156, 186) und erklärt ihn zum Geistesverwandten Piatons (vgl. I, 216). Schelling schätzt Jacobi als Kritiker der die Aufklärung leitenden Vernunftvorstellung. Der Rationalitätsstandard, der den Vernunftbegriff der Aufklärung bestimmt, geht von der methodischen Maxime aus, daß die diskursive, kausal-beweisende Vernunft unhintergehbar sei. Von dieser Prämisse her wird einerseits das Unbedingte zu einem leeren, realitätslosen Jenseitigen, andererseits können von ihr her die Realität der Freiheit und die des lebendigen Organismus nicht erfaßt werden. Wenn Jacobi den "Geist des Syllogismus" (Jacobi, Werke Bd. IV, 1, S. 32) verbannen will und die Grenzen der Realität nicht mit den Grenzen der diskursiven Vernunft identifizieren will, dann kritisiert er die restriktive Auffassung der Realität in der diskursiven Vernunft der Aufklärung. Es ist dieser Kontext, in welchem Jacobi gegen Kants theoretische Philosophie den Vorwurf des

Ontologisierung der Transzendentalphilosophie

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"Nihilismus" erhebt. Die Realität ist nach Jacobi nur in einer Transzendierung der diskursiven Vernunft zu eruieren. Jacobis eigene Position ist dadurch gekennzeichnet, daß er einerseits Kants Prämissen preisgibt, andererseits alternative Rationalitätsstandards zur Aufklärung formuliert. Jacobis Hauptthese ist, daß alle menschliche Erkenntnis von Offenbarung und vom Glauben ausgeht. Neben Offenbarimg und Glaube gesellt sich die These von der Realität des Unbedingten. Da Jacobi "Natur" als den "Inbegriff des Bedingten" ansieht, identifiziert er das Unbedingte mit dem Übernatürlichen (vgl. Jacobi, Werke Bd. IV, 2, S. 155). Offenbarung und Glaube als die letzten Quellen der Erkenntnis erschließen uns den Zugang zu dem, was auch dem durch Syllogismen demonstrablen Wissen zugrunde liegt, ohne über dieses beweisbar sein zu können. Es ist das, was diskursiver Vernunft prinzipiell verschlossen bleibt. Seine positiven Überzeugungen gewinnt Jacobi nicht primär in Auseinandersetzung mit Kant, sondern mit der Spinozistischen Philosophie. In seinem Spinozabüchlein stellt er zunächst Spinozas Lehre in seiner eigenen Begriffssprache dar. Sie ist es, die wesentlichen Einfluß auf die spekulative Begriffstheorie des Deutschen Idealismus hatte. Jacobis Hauptkritikpunkt an Spinoza ist, daß sich von seinen Prämissen aus in Wahrheit kein Übergang vom Unendlichen zum Endlichen, also Schöpfimg denken läßt. Da aber das Unendliche denknotwendig ist, kann es nur als dem Endlichen immanent gedacht werden. Es ist zu denken als "Seyn" in allem Dasein. Der erste Gedanke ist das reine unmittelbare Bewußtsein von diesem "Seyn". Jacobi entwickelt seine eigene Position vor allem in der Beilage zur 2. Auflage seines Spinozabüchleins, insbesondere in der Vorrede und in der Beilage VII. Nach Jacobi ist das menschliche Bewußtsein durch zwei ursprüngliche Vorstellungen gekennzeichnet, die eines Bedingungszusammenhangs und die des Unbedingten. Dieses Unbedingte ist nun erstens notwendige Voraussetzung für alles Bedingte, insbesondere das Kausalitätsverhältnis und zweitens das, was nicht erkannt werden kann, weil, was gewußt werden kann, als bedingt anzusehen ist. Jacobi zieht daraus die Konsequenz, daß das Unbedingte nur Gegenstand eines Glaubens sein kann. Jacobis These ist Ergebnis der Überlegung, daß die Möglichkeit der Gültigkeit der kausal-mechanistischen Erklärungsart die Realität von Etwas voraussetzt, das selbst nicht diesem Prinzip unterliegt. Hier zeigt sich auch deutlich Jacobis Differenz zu Spinoza. Während Spinozas Ursein dem Endlichen immanent ist, ist das unmittelbare Unbedingte Jacobis dem Endlichen gegenüber vorgängig. Es ist

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letztlich als der transzendente persönliche Gott zu begreifen. Anders als Spinoza leitet Jacobi das endliche Dasein (Attribute, Modi) auch nicht aus dem Absoluten ab und zweitens gibt er den Anspruch preis, es über einen Beweis einzuführen. Das Verdikt gegen das deduktive Vernunftsystem hat bei Jacobi den Dualismus von Unbedingtem und Bedingtem zum Resultat. Schelling teilt zwar die Voraussetzung, daß das Unbedingte etwas ist, das nicht durch Bedingungen vermittelt ist, also etwas Unmittelbares ist, doch möchte er nicht zugleich dafür mit dem irrationalistischen Preis zahlen, das Unbedingte ohne jeden Bezug zum Wissen denken zu müssen. Schelling versucht in der Ichschrift, dem Skeptizismusproblem durch die Konzeption einer philosophischen Theorie beizukommen, die auf der Herstellung einer nicht-trivialen Beziehimg zwischen Unbedingtem und Wissen beruht. Die Frage ist also die nach einer Instanz, die die Beziehung zwischen Unbedingtem und Wissen herstellt und trägt. b) Ethik à la Spinoza Zwischen der Formschrift einerseits und der Ichschrift und den Briefen andererseits findet eine entscheidende ontologische Verschiebung statt, und zwar durch Schellings über Jacobi vermittelte Spinoza-Rezeption. Schelling stellt das Ich als inhaltliches heraus und gelangt von der Form der Unbedingtheit zum Unbedingten selbst. Bereits in der Formschrift gerät die Letztbegründung in eine ontologische Perspektive, die Fichtes transzendentalphilosophisches Anliegen einer Letztbegründung als Selbstbegründung der Philosophie verformt. Im Briefwechsel mit Hegel im Jahre 1795 und in der Ichschrift entfernt sich Schelling noch ein Stück weiter von Fichtes Intention. Das Ich wird zur Alternative des orthodoxen Gottes und zum Prinzip einer Ethik à la Spinoza. Aufschluß über Schellings Spinoza-Rezeption geben seine Briefe an Hegel. Am 6. Januar 1795 schreibt Schelling an Hegel: "Nun arbeite ich an einer Ethik à la Spinoza - sie soll die höchsten Principien aller Philosophie aufstellen, in denen sich die theoretische und praktische Vernunft vereinigt" (Plitt (I), S. 74).H Schelling hat sich in der 14

In der Vorrede zur Ichschrift kommt Schelling auf die brieflich geäußerte Absicht zurück: "[...] und hoffen darf ich es, daß mir noch irgend eine glückliche Zeit vorbehalten ist, in der es mir möglich wird, der Idee, ein Gegenstück zu Spinozas Ethik aufzustellen, Realität zu geben" (I, 159). Am 22. Januar 1776 schließlich

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Formschrift auf die Fundierung der theoretischen Philosophie beschränkt. Mit der Kant-Rezeption der Tübinger Orthodoxie15, die vor allem die Kantische Postulatenlehre in den Dienst der Offenbarung stellte, wurde die Reflexion auf die Einheit der Kantischen Philosophie unausweichlich. Die Tatsache, daß die Tübinger Orthodoxie die Offenbarungstheologie mit Mitteln der Kantischen Philosophie legitimierte, ließ es Schelling zwingend erscheinen, die Grundlegung seiner Kritik an ihr nicht direkt aus Kants Werk, sondern aus einer neuen philosophischen Grundlegung desselben zu gewinnen. Ging es Schelling anfangs um die Aufgabe, die fehlenden Prämissen der Kantischen Philosophie zu ergänzen, so steht jetzt die Überprüfung der Kantischen Philosophie im ganzen an. In der Einleitung zur Ichschrift formuliert Schelling sein Vorhaben folgendermaßen: "Endlich gesetzt auch, daß die theoretische Philosophie Kants überall den bündigsten Zusammenhang behauptete, so ist doch seine theoretische und praktische Philosophie schlechterdings durch kein gemeinschaftliches Princip verbunden, die praktische scheint bei ihm nicht Ein und dasselbe Gebäude mit der theoretischen, sondern nur ein Nebengebäude der ganzen Philosophie zu bilden, das noch dazu beständigen Angriffen vom Hauptgebäude aus bloß gestellt ist, dagegen, woferne das erste Princip der Philosophie gerade wieder ihr letztes ist, wenn das, womit alle, auch theoretische, Philosophie anfängt, selbst wieder letztes Resultat der praktischen ist, in dem sich alles Wissen endet, die ganze Wissenschaft in ihrer höchsten Vollendung und Einheit möglich werden muß" (I, 154). Die Ichschrift ist also ein weiterer, aber umfassenderer Versuch der Letztbegründung der Realität des Wissens. Hat die Formschrift in der durch das Ich begründeten dialektischen Urform der Philosophie das Prinzip von Kants theoretischer Philosophie aufgestellt, so geht es in der Ichschrift darum, den Geltungsbereich des Prinzips auf die praktische Philosophie auszudehnen, um die Einheit beider zu gewährleisten. Schellings Kritik des orthodoxen Kantianismus, der sich am "Buchstaben" der Kantischen Philosophie orientiert und somit einen Mangel bei Kant selbst indiziert, betrifft das Denkmodell, wonach teilt Schelling Niethammer in einem Brief mit: "Das nächste, was ich unternehme, ist, ein System der Ethik, (ein Gegenstück zu Spinoza), ein Werk, dessen Idee mich schon längst begeisterte, und das schon begonnen ist" (Schelling (Briefe), Fuhrmans (1962), Bd. I, S. 61). 15 Es handelt sich dabei vor allem um die Professoren Gottlob Christian Storr, Johann Friedrich Flatt sowie die Repetenten am Tübinger Stift Gottlieb Süsskind und Georg Christian Rapp.

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das Absolute ein durch diskursive Vernunft aus den Bedingungen der Endlichkeit ermitteltes Resultat darstellt, das Objekt sei es des Wissens oder des Glaubens ist. Nach Jacobis Vernunftkritik ist dieses ganze Vernunftmodell unwahr. Gott ist nicht Gott, wenn er nur als diskursiv ermitteltes Resultat oder als Objekt der Vernunft auftaucht. Das Absolute ist nur durch Transzendierung der diskursiven Vernunft zu eruieren.16 Die Kritik an der diskursiven Vernunft, an der die Orthodoxie festhält, soll zugleich den "Geist" der Kantischen Philosophie retten. Mit Hilfe von Jacobis radikaler Vernunftkritik begegnet Schelling der Annexion von Kants Philosophie durch die Orthodoxie mit einem Gegenkonzept, das deutlich macht, daß in der orthodoxen Annexion ein der Wahrheit direkt entgegengesetztes Denken am Werke ist. Die Prämissenergänzung der Kantischen Philosophie wird zur Transzendierung der Vernunft, indem in einer radikalen Umkehrbewegung der Denkweg vom Endlichen zum Unendlichen abgeschnitten und das Prinzip der Philosophie als wahrer Anfang gesetzt wird. Schellings Programm einer "Ethik à la Spinoza" stellt sich somit als Gegenprogramm zum Tübinger Kantianismus dar. Es basiert auf der Einsicht, daß das Prinzip die Einheit der Philosophie nur sichern kann, wenn es ontologisch fundiert ist. Dem orthodoxen 'Gott am Ende' als Resultat des Beweisverfahrens der sich 'praktisch' verbrämenden, gleichwohl diskursiv verfaßten Vernunft, wird ontologisch der 'Gott am Anfang* entgegengesetzt. 16 Jacobi unterscheidet zwei Philosophien, die negativ von Bedingungen zu Bedingungen fortschreitende (Vernunft)-Philosophie und die positive vom Unbedingten ausgehende (Glaubens)-Philosophie. Genau diese Unterscheidung greift die Spätphilosophie Schellings auf. Aber schon die Frühphilosophie enthält den Keim der Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie, allerdings nicht wie bei Jacobi als Hiatus zwischen Vernunftsystem und Unmittelbarkeit, sondern als Differenz zwischen einer vom Endlichen zum Unendlichen fortgehenden Philosophie, die das Absolute als Resultat hat, und einer solchen, die vom Unbedingten als dem Anfang ausgeht, um von hier aus das Bedingte abzuleiten, ohne daß diese Herleitung Projektion einer Vernunft ist. In der "Einleitung" zu den Briefen stellt Schelling das Verhältnis zur Spätphilosophie selbst her, indem er erklärt, daß "die in dem neunten Briefe enthaltenen Bemerkungen über das Verschwinden aller Gegensätze widerstreitender Prinzipien im Absoluten die deutlichen Keime späterer und mehr positiver Ansichten" sind (I, 283). In seiner Vorlesung über die Philosophie der Offenbarung von 1841/42 sagt er: "Aber mir war es seit dem Studium der Kantischen Philosophie klar, daß diese nicht die ganze Philosophie seyn könne. Schon in den Briefen über Dogmatismus und Kritizismus (1795) behauptete ich, daß, dem Kritizismus gegenüber, auch ein mächtigerer, herrlicherer Dogmatismus sich erhebe; und das war nichts Anderes als die positive Philosophie. So lange Zeit schreibt sich bei mir die Ahnung einer positiven Philosophie her" (Paulus, 137, vgl. auch XI, 374).

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Wie verhalten sich nun Jacobiismus, Spinozismus und Kritizismus (Kant, Fichte) in Schellings Programm einer "Ethik à la Spinoza" zueinander? Die ontologische Stoßrichtung des Systems ist durch Schellings Spinozismus bezeichnet, der seine Kehrtwendung gegen die Orthodoxie beschreibt. Das Prinzip ist kein persönlicher Gott, sondern das Absolute vor aller Subjekt-Objekt-Trennung.17 Schellings Fichteanismus besteht darin, daß er in Spinozas Absolutes Fichtes Ich einzeichnet. Schelling löst allerdings die Alternative von Ich und Welt nicht zugunsten des Ich auf. Das Ich ist nicht wie für Fichte absolute Subjektivität, sondern bezeichnet ontologisch den Ort des Absoluten vor aller Entgegensetzung von Subjekt und Objekt. Schellings Prinzip sprengt daher die Dimension des Bewußtseins von Anfang an.is Er folgt also Fichtes Kritik an Spinoza nicht, wonach dieser ungerechtfertigter Weise über die Bewußtseinssphäre hinausgegangen sei (vgl. Fichtes Werke I, 101). Wo aber verbleibt der positive Bezug auf den "Geist" der kritischen Philosophie Kants und Fichtes? Schellings Ethik à la Spinoza war ja nicht als affirmative Reproduktion von, sondern als "Gegenstück" zu Spinozas Ethik geplant; doch wollte Schelling kein dieser entgegengesetztes System entwickeln, sondern die dieser zugrundeliegenden Prinzipien im Sinn des Kritizismus neu deuten, so daß sie für eine Philosophie der Autonomie und Freiheit der Subjektivität akzeptabel sind. Schellings ontologisch begründete Absolutheitsphilosophie will also zugleich eine Philosophie der Freiheit sein. So erschließt sich durch das ontologische Denken Spinozas Schelling die Revision und Vollendung von Kants Vernunftsystem. 19

17 Vgl. Schellings Brief an Hegel vom 4. Februar 1795: "Persönlichkeit entsteht durch Einheit des Bewußtseins. Bewußtsein aber ist nicht ohne Objekt möglich, fìir Gott aber, d.h. fìlr das absolute Ich giebt es gar kein Objekt, denn dadurch hörte es auf absolut zu sein. - Mithin giebt es keinen persönlichen Gott, und unser höchstes Bestreben ist die Zerstörung unserer Persönlichkeit, Uebergang in die absolute Sphäre des Seins, der aber in Ewigkeit nicht möglich ist - daher nur praktische Annäherung zum Absoluten, und daher - Unsterblichkeit" (Plitt, S. 77). 18 Auch Hölderlin glaubte im Besitz eines Arguments zu sein, das ihm den "Schritt über die Kantische Gränzlinie", die mit dem Bewußtsein gezogen ist, gestattet (Brief an Naufler vom 10.10.1794, StA VII, S. 137). 19

In der ausdrücklichen Verbindung von "Spinozismus" und "Freiheit" sieht M. Wegenast das Originelle an Schellings frühphilosophischem Ansatz (vgl. M. Wegenast (1990), S. 65fT.). Schelling schließe damit ω die Sturm-und-Drang-typische Version des Spinozismus an, die durch Goethes "Prometheus"-Ode vermittelt ist. Die Amalgamierung des Autonomie-Ideals mit der Spinozistischen Philosophie, in der Spinoza-Debatte des Sturm-und-Drang noch diffus, gewinne in Schellings Ansatz an Konturen, indem er einerseits an Jacobi, andererseits an Kant anknüpft

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Schelling geht von einem Grundgedanken Jacobis aus. Das Absolute kann nicht Resultat des Denkens sein, es ist in Wahrheit vielmehr das Unbedingte, das allem diskursiven Denken vorausliegt. Die Art und Weise, wie Schelling auf Spinoza und Fichte zugeht, ist durch die Rezeption Jacobis vermittelt. Nicht allein die Übermittlung Spinozas, sondern Jacobis eigene Philosophie des Unbedingten bildet Schellings Ausgangsposition. Schelling hat sich allerdings in zwei Punkten grundsätzlich von Jacobis Position unterschieden. Erstens macht er Jacobis Identifizierung des Unbedingten mit dem persönlichen Gott nicht mit. Die Konzeption eines solchen wird gerade in der Kritik der Orthodoxie zurückgewiesen. Zweitens verwirft er das mit dem Unbedingten verbundene Systemverdikt Jacobis. Das Unbedingte wird für Schelling das Wahre, das Absolute, von dem philosophisch-systematisch auszugehen und das Endliche, Bedingte herzuleiten ist. Für Jacobi war dagegen das Unbedingte nicht vernünftig explizierbar, unbegreiflich und nur dem Gefühl oder dem Glauben zugänglich.20 Die grundlegende Aporie im Programm der Schellingschen Philosophie ergibt sich daraus, daß es Jacobi und Spinoza zusammenzwingen will. Sie besteht darin, daß einerseits das Prinzip der Vernunft in einem unvordenklichen Unbedingten angesetzt wird, andererseits der Anspruch der Herleitung der Welt aus dem Absoluten und durch beide zu einer Vollendung Spinozas in einem "prometheischen" Spinozi smus des absoluten Ich in den Briefen komme. 20

Die Konstellation von Jacobiismus, Spinozismus und Kritizismus in Schellings philosophischem Ansatz erhellt schlagend aus folgender Passage in Schellings Brief vom 4. Februar 1795 an Hegel: "Ich bin indessen Spinozist geworden! Staune nicht. Du wirst bald hören, wie? - Spinoza'n war die Welt (das Objekt schlechthin, im Gegensatz gegen das Subjekt) - alles; mir ist es das Ich. Der eigentliche Unterschied der kritischen und dogmatischen Philosophie scheint mir darin zu liegen, daß jene vom absoluten (noch durch kein Objekt bedingten) Ich, diese vom absoluten Objekt oder Nicht-Ich ausgeht. Die letztere in ihrer höchsten Konsequenz fuhrt auf Spinozas System, die erstere aufs Kantische. Vom Unbedingten muß die Philosophie ausgehen. Nun fragt sich's nur, worin dies Unbedingte liegt, im Ich oder im Nicht-Ich. Ist diese Frage entschieden, so ist alles entschieden. - Mir ist das höchste Prinzip aller Philosophie das reine, absolute Ich, d.h. das Ich, inwiefern es bloßes Ich, noch gar nicht durch Objekte bedingt, sondern durch Freiheit gesetzt ist. Das A und O aller Philosophie ist Freiheit. - Das absolute Ich befaßt eine unendliche Sphäre des absoluten Seins, in dieser bilden sich endliche Sphären, die durch Einschränkung der absoluten Sphäre durch ein Objekt entstehen (Sphären des Daseins - theoretische Philosophie). In diesen ist lauter Bedingtheit, und das Unbedingte führt auf Widersprüche. - Aber wir sollen diese Schranken durchbrechen, d.h. wir sollen aus der endlichen Sphäre hinaus in die unendliche kommen (praktische Philosophie). Diese fordert also Zerstörung der Endlichkeit und führt uns dadurch in die übersinnliche Welt" (Briefe von und an Hegel), J . Hoffmeister, (1969), Bd. I, S. 22).

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nur durch die Vernunft selbst eingelöst werden kann. Das unvordenkliche Absolute schlägt also immer wieder in Vernunftimmanenz um. Fassen wir zusammen: Im Ausgang von Jacobis Unbedingtem geht Schelling auf Spinozas Ontologie des Absoluten zu, die er für eine Philosophie des Unbedingen hält, und verknüpft diese mit transzendentalphilosophischen Motiven, indem er der inhaltlichen Bestimmung des Prinzips als Ich folgt. Die Aporie im Schellingschen Programm der Philosophie schlägt sich auch in der Verbindung der ontologischen Frage nach dem Absoluten und seinem Verhältnis zur Endlichkeit mit der transzendentalphilosophischen Frage nach dem möglichen Wissen um dieses Absolute nieder, in dessen Horizont dieses Verhältnis überhaupt nur thematisierbar ist, ohne es im Begreifen zugleich zu verstellen.21

2. Auslegung des Haupttextes der Ichschrift a) Etablierung und Erörterung der Binnenstruktur des Absoluten Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Analyse des Wissensbegriffs (vgl. I, 162). Da wesentliches Merkmal des Wissens sein Realitätsbezug ist, erhebt sich die Frage, welche Instanz imstande ist, diesen Realitätsbezug zu sichern. Die Notwendigkeit eines letzten Realgrundes unseres Wissens ergibt sich aus der Kritik des infiniten Begründungsregresses im Wissen. Dem "Kreislauf' (I, 162) des Begründens kann nur dadurch begegnet werden, daß ein Prinzip angenommen wird, das ein festes und absolutes Fundament bildet. Die Etablierung eines letztbegründenden Prinzips der Realität des Wissens setzt Schelling als probates Mittel gegen jeglichen Skeptizismusverdacht ein, der auf Mängel in Kants transzendentaler Deduktion zurückgeht. Das gesuchte absolute Prinzip ist durch zwei Bedingungen charakterisiert: 1. "Das Absolute kann nur durchs Absolute gegeben werden" (I, 163). Diese Bestimmung der absoluten Kausalität erinnert einerseits an Spinozas causa sui, andererseits an Fichtes Selbstsetzung des Ich. 2. Schelling bestimmt das absolute Prinzip als eines, das der 21

Sandkaulen-Bock formuliert diese Aporie folgendermaßen: "[...] ein Unbedingtes, das der diskursiven Vernunft vorausliegt, einerseits und seine Darstellung im System, mithin seine Funktion als Prinzip andererseits" (Sandkaulen-Bock (1990), S. 37).

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Subjekt-Objekt-Relation schlechthin enthoben ist, "kurz, bei dem das Princip des Seyns und des Denkens zusammenfällt" (1,163). Die geforderte Konvertibilität von Denken und Sein ist eine entscheidende kritische Überbietung Kants durch Jacobi. Während bei Kant das Einheitsprinzip der Vernunft eine bloße Idee ist, der kein Sein korrespondiert und die nur von regulativer Funktion ist, bestreitet Schelling für das Prinzip der Philosophie die Differenz zwischen Denken und Sein. Schelling benutzt zunächst die Termini Jacobis "bedingt" und "unbedingt", um zum Absoluten aufzusteigen und dessen interne Struktur auszumachen. Im Unterschied zu Fichte, der von der absoluten Selbstgewißheit des Ich ausgeht, geht Schelling das Skeptizismusproblem in der Aufnahme der Jacobischen Behauptung von der die diskursive Vernunft notwendig transzendierenden Realität des Unbedingten an. Insofern das Absolute das Bedingende alles Bedingten ist, muß es "allem, was noch in die Sphäre des Bedingten fällt, in Rücksicht auf das Princip seines Seyns geradezu entgegengesetzt, d.h. nicht nur unbedingt, sondern schlechthin unbedingbar seyn" (I, 164). Schelling bezieht also mit Jacobi den Standpunkt des Unbedingten, "das schlechterdings nicht als Ding gedacht werden kann" (I, 166), das also niemals Objekt eines diskursiven Wissens sein kann. Für Schelling ergibt sich diese Konsequenz zwingend aus einer Bedeutungsanalyse der Terme "unbedingt" und "bedingt", wie § 3 zeigt (vgl. I, 166).22 Da das Unbedingte ohne inneren Widerspruch weder als Objekt wie im Dogmatismus Spinozas, da dieses notwendig als bedingt gedacht werden muß, noch als Subjekt wie im Kritizismus Kants, Reinholds und Fichtes, da dieses zwar nicht notwendig bedingt, aber doch als bedingbar gedacht werden muß, definiert werden kann, kann es nur in dem, "was gar kein Ding werden kann, d.h. wenn es ein absolutes Ich gibt, nur im absoluten Ich liegen. Das absolute Ich

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An diesem Punkt findet sich eine Übereinstimmung in Schellings und Novalis Begriff vom Absoluten. Für das, was nicht "Gegenstand" ist, gebraucht Novalis allerdings nur selten den Begriff des Absoluten, häufiger dagegen die eigenwilligen Termini "Zustand" und "Gegensatz" (vgl. Novalis Schriften 2, S. 202, Fr. 284). Sie "verhalten sich als komplementäre Negationen des Wortes Gegenstand" (Menninghaus (1987), S. 75). Zustand reflektiert das "Gegen", Gegensatz referiert auf "Stand" im Wort Gegenstand. Wie wir später sehen werden, ist es Novalis und Hölderlin gemeinsam, daß sie das Absolute und dessen Sein vom Ichbegriff ablösen. Für beide ist der Ichbegriff nur sinnvoll im Hinblick auf die Subjekt-ObjektDifferenz (vgl. Novalis Schriften 2, S. 104, Bemerkungen 1). Der Überstieg zum Absoluten kann nicht innerhalb des Subjekts vollzogen werden.

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wäre also vorerst als dasjenige bestimmt, was schlechterdings niemals Objekt werden kann" (I, 167). Schelling hat also den Nachweis geführt, daß das Unbedingte nur als absolutes Ich gedacht werden kann, das jede Subjekt-Objekt-Relation überhaupt transzendiert. 23 Schellings Suche nach einem Prinzip, das die Realität des Wissens sichert, führt ihn zu einer Analyse des Ich als der letztlich die Beziehung zwischen Unbedingtem und Wissen tragenden Instanz. Das absolute Ich liegt "außer aller Sphäre objektiver Beweisbarkeit" (I, 167). Das Wesen des Ich besteht in der absoluten Kausalität seiner Selbstsetzung, die primär Seinssetzung ist. Das absolute Ich kommt daher im "Ich bin", nicht im "Ich denke" zum Ausdruck. Das absolute Ich besteht in der Unmittelbarkeit des reinen Seins einer Selbstbeziehung. Schelling verbindet Jacobis These von der Unvermitteltheit des ersten Grundes mit Fichtes Ichbegriff, den er auf seine spinozistischen Motive hin auslegt. Er ersetzt den übernatürlichen und persönlichen Gott Jacobis durch das Sein des Jacobischen Spinozismus. Das Unbedingte als absolutes Ich liegt also allem Vernunftdiskurs voraus. Schellings Analyse des Satzes "Ich bin, weil Ich bin" (I, 167) zeigt, daß er mit dem Ich Assoziationen und Implikationen verbunden hat, die "spinozistisch" oder "mystisch" genannt werden können. Das methodische Verfahren der Ichschrift besteht wie das der Formschrift in der Begriffsanalyse des Jacobischen Grundgedankens vom Unbedingten, durch die sich Schelling der Binnenstruktur des Unbedingten als absolutem Ich versichert.2-» Sie soll die grundsätzliche Verständigung über das leisten, was das Absolute an sich selbst und nicht für ein Subjekt ist. Sie folgt darin Schellings Anweisung, daß das Absolute niemals Objekt sein darf. Genau in diesem Verfahren ist eine methodische Aporie der Ichschrift verborgen, die erst die Briefe explizit machen (vgl. Sandkaulen-Bock (1990), 40f.). Die Aporie besteht darin, daß vom Absoluten nicht gesprochen werden kann, ohne es wenigstens zum "logischen Objekt" (I, 168) des Wissens zu machen. Dieser Sachverhalt widerspricht jedoch dem Standpunkt des Absoluten, der der Standpunkt objektloser Unmittelbarkeit ist, der 23

Auch Gott kann nicht das Unbedingte sein, insofern er als Objekt der theoretischen Philosophie angesetzt wird (vgl. I, 168 Anm.). Vgl. zu Schellings Kritik der Tübinger Orthodoxie in der Ichschrift (I, 20 lf., 209 Anm.). 24 Wieland (1975), S. 246f. und im Gefolge Sandkaulen-Bock (1990), S. 40f. haben darauf aufmerksam gemacht, daß die hier von Schelling angewandte Methode nicht wie bei Fichte eine transzendentale Reflexion auf die Bedingungen des Bewußtseins, sondern vielmehr eine Begriffsanalyse des Unbedingten darstellt. Sie gibt Antwort auf die Frage, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, um sinnvoll von einem Unbedingten reden zu können.

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jegliches Sprechen über es verbietet. Die Thematisierung des Absoluten verläßt also eodemque actu den Standpunkt des Absoluten. Schellings Prinzipiierung des Wissens im Unbedingten als absolutem Ich bringt die Differenz zwischen dem Wissen und seinem Grund aporetisch zur Geltung: Es gibt nur zwei Perspektiven: Die Binnenperspektive des Prinzips, die sich nur für den ergibt, der sich auf den Standpunkt der absoluten Unmittelbarkeit begibt, was für das Wissen unmöglich ist und die Perspektive des Wissens, die aber nicht minder aporetisch ist, weil diesem das Prinzip unzugänglich und unbestimmbar ist. Für das Wissen sinkt das Prinzip entweder zurück ins reine Nichts oder es wird als Objekt gesetzt und damit aufgehoben.

b) Die Deduktion der Formen des absoluten Ich Nachdem die inhaltlichen Grundbestimmungen des Unbedingten gewonnen sind, werden die weiteren Implikationen des Ich entwikkelt. Alle Attribute des absoluten Ich - sowohl die Grundformen als auch die untergeordneten Formen - entsprechen den Bestimmungen der spinozistischen Substanz. Die an Spinoza orientierte Prädikation des absoluten Ich bringt zum Ausdruck, daß Schelling das Ich nicht wie Fichte in seiner Ichheit, sondern in seiner Absolutheit betrachtet. Nicht die Ichheit, sondern die Absolutheit gestattet es, dem absoluten Ich als Prinzip des Wissens und dem spinozistischen Nicht-Ich dieselben Bestimmungen zukommen zu lassen. Die Auslegung des absoluten Ich mit den ontologischen Bestimmungen der spinozistischen Substanz läßt sich als konkrete Durchführung der Ontologisierung der Transzendentalphilosophie interpretieren. Schelling schlägt damit eine Brücke zwischen "Dogmatismus" und "Kritizismus", zwischen Ontologie und Transzendentalphilosophie. α) Die Grundformen des absoluten Ich: absolute Identität, absolute Freiheit, intellektuelle Anschauung (1) Das absolute Ich hat als unmittelbare Selbstbeziehung die Form der absoluten Identität. Diese Grundform des Ich hat eine wichtige Funktion. Die endlichen Dinge bekommen durch sie ihren "Bestand" und "Unwandelbarkeit" (I, 178). Mit der Urform des Ich meint Schelling offensichtlich, Mängel in der Kantischen Begrün-

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dung der Objektivität der Erscheinungswelt beheben zu können. Kritisch ist anzumerken, daß Schelling nicht erkennt, daß auch der Gedanke der absoluten Identität, mit dem er die Subjekt-Objekt-Differenz überhaupt transzendieren will, Differenz impliziert, daß es also eine solche einfache, absolute Identität gar nicht geben kann. (2) Aus der Begriffsanalyse der Unbedingtheit des Ich ergibt sich in einem weiteren Schritt der Begriff der Freiheit. Schelling führt die Kantische und Fichtesche Revolution der Philosophie, die wesentlich in der Explikation des Freiheitsbegriffs bestand, weiter fort, indem er ihn noch tiefer begründet, nämlich im Begriff einer absoluten Freiheit. Aber auch der Begriff der absoluten Freiheit enthält ein Problem. Denn nur dem "alles Nicht-Ich ausschließenden Ich" (I, 179) wird Freiheit zugeschrieben. Der Freiheit des absoluten Ich steht "die beschränkteste Sphäre" (ebd.) schroff gegenüber, in der "seine Freiheit und Selbständigkeit verschwindet" (ebd.). Auch die Bestimmung der Freiheit des Ich reproduziert damit den unüberbrückbaren Hiatus zwischen Absolutem und Endlichem. Gemäß dieser Kluft unterscheidet Schelling die absolute Freiheit des absoluten Ich von der Unfreiheit des empirischen Ich, das absolute Ich vom Ich als Selbstbewußtsein (vgl. I, 180). (3) Die absolute Freiheit des Ich schließt nach Schelling alles Bewußtsein aus, weil sie Bedingung alles Bewußtseins ist. Das absolute Ich ist daher weder beweisbar noch durch Begriffe faßbar, noch demonstrierbar. Die Seinsart des absoluten Ich ist mithin die Unmittelbarkeit des reinen Seins einer Selbstbeziehung, die sich nur einer intellektuellen Anschauung erschließt, die sich einerseits von der sinnlichen Anschauung raum-zeitlicher Bestimmungen, andererseits vom Begriff unterscheidet, der sich nur mittelbar auf das von ihm Begriffene bezieht. "Das Ich also ist für sich selbst als bloßes Ich in intellektualer Anschauung bestimmt" (I, 181).25 Die gleichwohl einzuräumende Differenz zwischen Anschauendem und Angeschautem ist Relikt der Subjekt-Objekt-Relation und verdeutlicht die Mühe, mit der sich Schelling in dieser mit Sprach- und Distinktverbot belegten Sphäre des Absoluten halten kann. Intendiert ist die intellektuelle Anschauung als Medium unmittelbarer, objektloser Vergewisserung des Absoluten, in welchem Subjekt und Objekt relationslos in absoluter Identität zusammenfallen. Tatsächlich aber bricht 25

In der Ichschrift wird zum ersten Mal in Schellings Werk der für die Schellingsche Philosophie entscheidende Begriff der intellektuellen Anschauung thematisch. Er macht im Laufe von Schellings Entwicklung mehrfache Wandlungen durch, an denen sich Schellings philosophische Umbrüche' ablesen lassen.

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die Theorie der intellektuellen Anschauung nicht wirklich mit den zwei Polen Subjekt und Objekt. Frank konstatiert jedenfalls: "Bei genauerer Analyse stellt sich freilich heraus, daß die Formel von der intellektuellen Anschauung ungeeignet ist, diese vollkommene Nichtunterschiedenheit von Bewußtem und dem, was Bewußtsein hat, einsichtig zu machen. Die Formel unterscheidet sehr deutlich zwischen einem Bewußtseinsobjekt und einem Bewußtseinssubjekt" (Frank (1987), S. 115). a) Schellings Begriff der intellektuellen Anschauung ist denkbar weit von dem Kants, aber auch Fichtes entfernt. Zu Kants Leugnung der intellektuellen Anschauung bemerkt Schelling, daß dieser die intellektuelle Anschauung überall vorausgesetzt habe. Tatsächlich hat Kant in einer Anmerkung im Paralogismus-Kapitel (vgl. K.d.V., Β 422f.) von der intellektuellen Anschauung des Ich gesprochen, in welcher dieses sich des eigenen "Ich bin" als einer Tatsache inne werde. Doch Kant hat diesen Umstand der (empirischen) Selbstgewahrung des Ich für die Durchführung seiner transzendentalen Deduktion nicht genutzt. b) Für Fichte ist intellektuelle Anschauung der ursprüngliche Bewußtseinsmodus des Selbstbewußtseins. Fichte unterscheidet anders als Schelling das unmittelbare Bewußtsein des Selbstbewußtseins vom vermittelten Objektbewußtsein. Dementsprechend hat das Ich Fichtes die Dimension des Subjektiven. Bei Schelling geht das absolute Ich über die Subjekt-Objekt-Beziehung überhaupt hinaus. Das führt dazu, daß Schelling dem absoluten Ich den Bewußtseinscharakter abspricht, was Fichte nie eingefallen wäre. Intellektuelle Anschauung ist bei ihm daher paradoxerweise kein Bewußtseinsmodus mehr. Schelling geht von einer denkbar scharfen Kluft zwischen der Unmittelbarkeit der intellektuellen Anschauung und dem durch Objektbeziehung bestimmten diskursiven Wissen aus. 26 Die Kluft zwischen Absolutem und Endlichem wird also auch durch das Theorem der intellektuellen Anschauung zementiert. c) Anders als bei Reinhold und Fichte meint intellektuelle Anschauung bei Schelling auch nicht die Möglichkeit der Deduktion der 26

Es gibt zwei 'Verschränkungen' von Jacobi und Spinoza, an die Schelling anknüpft: Zum einen bezeichnet Jacobi Spinozas Substanz als Sein, zum anderen differiert Jacobis Konzept der unmittelbaren Gewiflheit oder des Glaubens kaum von Spinozas amor dei intellectualis. Beides wird von Schelling emphatisch aufgenommen. Er verknüpft Jacobis Unbedingtes mit dem Sein des Spinoza und läßt es in der intellektuellen Anschauung offenbar werden. Auf diese Konstellation macht Sandkaulen-Bock aufmerksam (vgl. Sandkaulen-Bock (1990), S. 17f.). Vgl. auch Hegels Werke 8 (Enz. § 76) und Henrich (1991), S. 239).

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Kategorien und der Synthesis, sondern nur das Gegebensein des Absoluten an sich selbst. Der Begriff der intellektuellen Anschauung kommt daher weder in der Formschrift noch im Timaios-Kommentar vor, wo es Schelling primär um die Deduktion der Kategorien und der Synthesis geht. Exkurs: Schelling und Hölderlin Hölderlins Ausführungen über das absolute Ich in einem Brief an Hegel vom 16. Januar 1795 weisen große Übereinstimmungen zu Passagen aus der Ichschrift Schellings auf und lassen bereits den Punkt seiner Fichtekritik in Urtheil und Seyn sehr genau erkennen: "Anfangs hatt' ich ihn [Fichte] sehr im Verdacht des Dogmatismus; er scheint, wenn ich mutmaßen darf, auch wirklich auf dem Scheidewege gestanden zu sein, oder noch zu stehn - er möchte über das Faktum des Bewußtseins in der Theorie hinaus, das zeigen sehr viele seiner Äußerungen. [...] - sein absolutes Ich (= Spinozas Substanz) enthält alle Realität; es ist alles, u. außer ihm ist nichts; es gibt also für dieses abs. Ich kein Objekt, denn sonst wäre nicht alle Realität in ihm; ein Bewußtsein ohne Objekt ist aber nicht denkbar, und wenn ich selbst dieses Objekt bin, so bin ich als solches notwendig beschränkt, sollte es auch nur in der Zeit sein, also nicht absolut; also ist in dem absoluten Ich kein Bewußtsein denkbar, als absolutes Ich hab' ich kein Bewußtsein, und insofern ich kein Bewußtsein habe, insofern bin ich (für mich) nichts, also das absolute Ich ist (für mich) Nichts" (StA VI, S. 155f.). Hölderlin hat dann in seinem berühmten Fragment Urtheil und Seyn vom Frühjahr 1795 seine Fichtekritik konkretisiert. Er hat Fichtes Identifizierung des Prinzips mit dem Ich mit dem Argument zurückgewiesen, daß das Ich Selbstbewußtsein impliziert. Die Identität von Subjekt und Objekt ("Ich ist Ich") enthalte immer zugleich eine Differenz. Das Ich liegt der Trennung also nicht voraus, sondern ist der Punkt der "Ur-theilung", der ihrerseits die schlechthinnige Einheit des "Seyns" vorausliegt. Was genau ist Gemeinsamkeit und Differenz von Hölderlin und Schelling? Strukturell kommen Hölderlins "Seyn" und Schellings absolutes Ich in der Idee einer irreflexiven, allem Wissen und Bewußtsein vorausliegenden Einheit, die jede Unterscheidung und Objektbeziehung ausschließt, überein. Auch Schelling faßt das absolute Ich ontologisch als absolutes Sein (vgl. I, 180). Hölderlin hat aufs ent-

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schiedenste die intellektuelle Anschauung dem Akt der Urteilung (und also dem Bewußtsein) entgegengesetzt. Auch darin kommen beide überein. Sowohl das "Seyn" Hölderlins als auch das absolute Ich Schellings sind keine Gegebenheiten für das Bewußtsein. Anders aber als Fichte und Schelling sind fur Hölderlin Unmittelbarkeit und Selbstbeziehung des Idi unvereinbare Gedanken. Daher löst Hölderlin den Begriff des Absoluten vom Ichbegriff ab. Der Grund, warum Schelling im Unterschied zu Hölderlin diese Einheit "Ich" nennt, liegt darin - und in dieser Hinsicht ist Schelling Fichteaner geblieben -, daß er vom Unbedingten als absolutem Ich ausgehend ein System des Wissens begründen will. Dieses Vorhaben der Ableitung der Totalität des Wissens schließt die strikte Trennung von Urteil und Sein bei Hölderlin, die der schroffen Unterscheidung von Unbedingtem und Bedingtem bei Jacobi nachgebildet ist, aus. So sehr sie in der strukturellen Grundlegung übereinstimmen, so sehr weichen sie in der Funktionsbestimmung des Prinzips voneinander ab. Richtig scheint mir die Feststellung von Sandkaulen-Bock zu sein, "daß Hölderlins und Schellings gemeinsamer Ausgangspunkt Jacobi ist" (Sandkaulen-Bock (1990), S. 44 Anm.). Während aber bei Hölderlin das Absolute allein in der Kunst seine adäquate Darstellung erfährt, soll es für Schelling Prinzip der Philosophie sein, d.h., aus ihm muß das System des Wissens herleitbar sein. Konsequenterweise ist Hölderlin nicht Philosoph, sondern Dichter geworden. Aus der Kontroverse, die beide in bezug auf die Grundlegungsfrage der Philosophie hatten, erwuchs eine, welche die Beziehung zwischen Kunst und Philosophie betraf. Sie wird von Seiten Schellings in den Briefen geführt.

Zwischen Hölderlin und Schelling lassen sich Etappen größerer und geringerer geistiger Nachbarschaft erkennen. Im Frühjahr 1796 berichtet Hölderlin in einem Brief an Niethammer vom 24. Februar, daß der geistige Einklang mit Schelling gestört sei: "Wir sprachen nicht immer accordirend mit einander". Der Grund für diesen Mißklang liegt darin begründet, daß Schelling weitgehend Fichteaner geblieben ist und sich Hölderlins Denkweg nicht angeschlossen hat, ja er hat sich zwischen 1797 - 1801 um eine Annäherung an die Fichtesche Position bemüht. Erst in der identitätsphilosophischen Zeit hat Schelling wieder zu seinem Ausgangspunkt zurückgefunden, den er früher mit Hölderlin geteilt hat.

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β) Deduktion der untergeordneten Formen des absoluten Ich Nachdem die inhaltlichen Grundbestimmungen des Unbedingten gewonnen sind, werden die weiteren, an Spinoza orientierten Implikationen des absoluten Ich entwickelt. Die untergeordneten Formen des absoluten Ich versucht Schelling in Anwendung der Kantischen Kategorienlehre (Quantität, Qualität, Relation, Modalität) auf das Prinzip der Philosophie herzuleiten. Was Schelling hier macht, ist eine weitere "Freilegung" der in Fichte selbst wirksamen spinozistischen und mystischen Motive und Anstöße. Welche untergeordneten Formen des Ich führt Schelling an? Das absolute Ich ist nach § 9 absolute Einheit im Unterschied zu Vielheit und empirischer Einheit. Mit dieser Bestimmimg reiht sich Schellings Ichphilosophie ein in die Tradition der monistischen Metaphysik, die auf Parmenides zurückgeht und von Spinoza in der Neuzeit wiederbelebt wurde. Als solche teilt sie auch die Probleme und Aporien dieser Tradition, vornehmlich den Umschlag von abstraktem Monismus in Dualismus. Das absolute Ich ist nach § 10 Inbegriff aller Realität, die nicht selbst als Objekt gedacht werden kann, soll sie doch die Objektwelt allererst ermöglichen. Schellings Realitätsbegriff ist also von dem der Welt der Objekte strikt unterschieden. Der Inbegriff der Realität, der selbst kein Objekt ist, wird in § 12 spinozistisch als absolute Substantialität ausgelegt, die im Gegensatz zur abgeleiteten empirischen Substantialität steht. In § 13 nimmt Schelling Spinozas These von der immanenten Kausalität der Substanz in seine Ichtheorie auf und expliziert sie in § 14 als absolute Macht. Absolute Macht versteht Schelling in zweierlei Weise: als alles endliche Freiheitsstreben überbietende Realisierung von Freiheit und als totale Glückserfüillung. Von diesem Standpunkt des Absoluten gibt Schelling eine kritische Darstellung von "Moralität" und "Glückseligkeit", wie sie bei Kant bestimmt sind. Für Schelling sind sie Erzeugnisse der Trennung und des Widerstreits von Ich und Nicht-Ich, die aufzuheben, um die Einheit mit dem Absoluten zu realisieren, Aufgabe der Praxis ist. Diese spinozistische und ontologische Überbietung der Moralität und Glückseligkeit ist allerdings in sich fragwürdig, weil sie die Spannung zwischen Endlichem und Absolutem, die für den Menschen kennzeichnend ist, nicht auszuhalten gewillt ist. Ihre Fragwürdigkeit zeigt sich an der Inkonsistenz des Begriffs einer absoluten Macht, der "nichts Widerstrebendes" (I, 201) gegenübersteht, die also gar nicht Macht über etwas

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Bestimmtes ist. Eine solche monistisch verabsolutierte Macht ist keine Macht; sie kippt um in absolute Ohnmacht. Die an Spinoza orientierten Prädikationen des absoluten Ich, die in die Identität von Freiheit und innerer Notwendigkeit münden, werden zusammengefaßt im emphatischen Begriff des "absolute[n] Seyn[s]" unterschieden von allem "Daseyn" (I, 209). Das absolute Ich "enthält" in sich "ein Seyn", das allem Denken und Vorstellen vorausgeht (I, 167). Wie W. Szilasi betont, geht es bereits dem frühen Schelling um den Überstieg der Vernunft ins absolute Sein (vgl. W. Szilasi (1954), S. 52). Das allem Objekt und Subjekt vohergehend gedachte Absolute ist also ontologisch fundiert. Die Ontologisierung der Transzendentalphilosophie enthält das (widersprüchliche) Programm einer radikalen Vernunftkritik, die zugleich die Ermöglichung der Vernunft garantieren soll. Das dem Wissen vorausliegende Prinzip soll sich als Prinzip des Wissens erweisen. Während bei Jacobi die Etablierung des Unbedingten die restlose Selbstpreisgabe des von Bedingtem zu Bedingtem fortgehenden Wissens erfordert, hat Schelling vor, die Kluft zwischen Unbedingtem und Bedingtem zu überwinden. Abschließend erwähnt Schelling die Geistesverwandtschaft Jacobis und Piatons in der Frage der Unterscheidung von absolutem, unwandelbarem Sein und bedingter, wandelbarer Existenz (vgl. I, 216). Dieser jakobisch-platonische Dualismus wird jedoch überblendet durch den spinozistischen Monismus. Die Identifizierung des Unbedingten mit dem absoluten Sein zeigt, daß Schelling Jacobis Vernunftkritik mit Spinozas causa immanens in eins setzt. Das Unbedingte ist nicht vom Dasein abgetrennt. Der Intention nach soll damit Jacobis Dualismus von Unbedingtem und Bedingtem über Spinozas Monismus der Substanz korrigiert werden. Schelling hat es allerdings nicht geschafft, Monismus und Dualismus in konsistenter Weise zusammenzudenken. Beide schlagen vielmehr unvermittelt ineinander um.

c) Das Scheitern der Herleitung des Endlichen aus dem Absoluten Nachdem das Prinzip im Unbedingten als dem absoluten Ich gefunden ist, fangen allerdings die eigentlichen Schwierigkeiten erst an. Dem Programm der Ichschrift zufolge ist es nämlich mit der Etablierung und Erörterung des Unbedingten als Prinzip nicht getan. Vielmehr muß nun von ihm der Ausgang zur Deduktion des ge-

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samten Systems des endlichen Wissens genommen werden. An dieser Stelle drängt sich die Vermutung auf, daß die spinozistisch-jakobische Konstruktion des absoluten Ich zu einem letztlich unüberbrückbaren Hiatus zwischen Prinzip und System, zwischen dem im Überstieg über das diskursive Wissen begriffsanalytisch etablierten Absoluten und dem endlichen, diskursiven Wissen fuhrt. Schelling gelingt es nicht, mit Hilfe Spinozas den Jacobischen Dualismus von Unbedingtem und Bedingtem zu überwinden, und zwar paradoxerweise wegen seiner Orientierung an Spinozas Substanzdenken. Schelling stellt das absolute Ich vollständig exklusiv der Synthesis von Ich und Nicht-Ich voran, das daher kein Relat dieser Synthesis sein kann. Diese Vorrangstellung des absoluten Ich ist Resultat der Anwendung der Jacobischen Begriffe des Unbedingten und Bedingten auf die Fichteschen Begriffe Ich und Nicht-Ich. Schelling reformuliert die Fichtesche Dialektik von Ich und Nicht-Ich von den Prämissen der Jacobischen Grundbegriffe aus. 27 Das Unbedingte liegt notwendig außerhalb der Sphäre des Bedingten, welcher alles Endliche und auch das empirische Subjekt angehört. Während das empirische das kantisch gedachte, auf Objekte bezogene Subjekt des Bewußtseins des "Ich denke" ist, das seine Identität nur in der Einheit der Vielheit der Vorstellungen bewahren kann (vgl. I, 180), steht das Schellingsche Ich als "reine Identität" (I, 177) und "absolute[r] Selbstmacht" (I, 179) in "gänzliche[r] Unabhängigkeit, ja sogar als gänzliche Unverträglichkeit mit allem Nicht-Ich" (ebd.). Soll das absolute Ich aber als Prinzip des Wissens fungieren können, so muß es doch im menschlichen Wissen vorkommen. Es entsteht das Problem, wie von der alles Bedingte ausschließenden Unbedingtheit des absoluten Ich zum empirischen, bedingten Ich zu gelangen sei. In der Herleitung des Endlichen sind zwei Stufen zu unterscheiden. Diese Zweistufigkeit macht der Interpretation am meisten zu schaffen. Schelling unterscheidet eine erste "Synthesis überhaupt" (I, 224) von einer zweiten "bestimmtein] Synthesis" (ebd.). Die erste Synthesis ist eine absolute oder eine Synthesis im Absoluten, die zweite ist die von jener ermöglichte endliche Synthesis. Die absolute Synthesis bzw. die Synthesis im Absoluten ist gleichsam das Vorbild und 27

Für Fichte geht das absolute Ich instanten über in die Dialektik von Thesis, Antithesis und Synthesis. Das absolute Ich Schellings wird dagegen streng abgehoben vom Ich, insofern es vom Nicht-Ich bedingt ist. Letzteres ist nur ein relatives, also nicht das Ich selbst oder noch drastischer formuliert, selbst ein Nicht-Ich: "Auch das Ich, das in der Vorstellung durchs absolute Ich bedingt ist, wird deßwegen, und auch nur deßwegen ein Nichtich" (I, 100 Anm.2).

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der Ermöglichungsgrund der bestimmten Synthesis der Endlichkeit. Das Endliche ist also im Absoluten vorstrukturiert. Schelling weist der Zeit bei der Ableitung beider Synthesisformen eine zentrale Funktion zu (vgl. I, 228). Bemerkenswert ist, daß Schelling bereits in der frühen Ichschrift Zeit nicht nur der Endlichkeit zuordnet, sondern versucht, Zeit im Absoluten selbst zu begründen, ein Versuch, den er später in den Weltaltern zu einer umfassenden Zeitmetaphysik ausweitet.28 Das Dilemma der systematischen Darstellung des Endlichen besteht darin, daß die in der Formschrift aus Piaton und Fichte entwikkelte endliche S y n t h e s i s 2 9 aus Ich und Nicht-Ich die absolute Identität des Absoluten aufhebt, somit jene aus dieser nicht hergeleitet werden kann.30 Der Hauptgrund für die Vermittlungsschwierigkeit von Absolutem und Endlichem liegt in dem dem Endlichen radikal entgegengesetzten Absoluten selbst begründet. Dazu kommt ein Problem des Wissens: Die Etablierung des absoluten Prinzips erfordert einen Überstieg des Wissens, das seinen Ort in der durch die Synthesis bestimmten Sphäre der Endlichkeit hat. Auch das Theorem der intellektuellen Anschauung zementiert die Kluft, denn sie ist vom diskursiven Wissen strikt unterschieden. Diese Problemverdoppelung ergibt sich aus der Zweiheit der Perspektiven auf das Absolute, die Schelling unterscheidet, die Binnenperspektive des Prinzips und die erkenntnistheoretische Zugangsweise zum Prinzip. Die Ichschrift expliziert die Aporien, die sich aus der Binnenperspektive des Absoluten, die Briefe diejenigen, die sich aus der Perspektive des Wissens ergeben. Auf Grundlage der radikalen Entgegensetzung von Absolutem und Endlichem versucht Schelling in der Ichschrift auf zweierlei Weise eine Vermittlung beider, wobei die zweite die Thematik der Briefe vorwegnimmt: Zum einen durch die versuchte theoretische Herlei28

In der folgenden Darstellung soll auf die Differenz von absoluter und endlicher Synthesis keine Rücksicht genommen werden.

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Die Synthesis hat bei Schelling über den epistemischen Charakter, den sie bei Kant, Reinhold und Pichte hat, hinaus ontologisches Format. Sie steht daher nicht nur für die Sphäre des Bewußtseins, sondern für die des Endlichen überhaupt, der das Bewußtsein zugehört.

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Die Schwierigkeit der Verknüpfung von Unbedingtem und Bedingtem reflektiert sich in folgendem von Schelling nicht aufgelösten Widerspruch: Zu Beginn der Ichschrift heißt es: "Wie kommt das absolute Ich dazu, aus sich selbst herauszugehen und sich ein Nicht-Ich schlechthin entgegenzusetzen?" (I, 175). Am Ende der Schrift notiert Schelling: "Das absolute Ich geht niemals aus sich selbst heraus" (I, 217). Vgl. auch Briefe (I, 313ff.).

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tung der endlichen Synthese aus dem Absoluten als Prinzip, zum anderen durch das praktische Streben des Endlichen zum Absoluten. a) Schelling gelingt es nicht, aus der absoluten, alles Nicht-Ich ausschließenden Identität Differenz und Entgegensetzung herzuleiten, ohne die absolute Identität in Mitleidenschaft zu ziehen. Er formuliert diese Schwierigkeit, ohne sie als solche wahrzunehmen: "Insofern nämlich das Ich sich ursprünglich ein Nicht-Ich entgegensetzt (dasselbe nicht bloß ausschließt, wie das absolute Ich), setzt es sich selbst als aufgehoben" (I, 189). Setzt sich das absolute Ich im Hinblick auf die Synthesis als Thesis und damit sich ein Nicht-Ich entgegen, so ist es als absolutes bereits zerstört. Die Dialektik der Synthesis kommt also nur in Gang um den Preis der Preisgabe des absoluten Ich. Die Synthesis kann also nicht wirklich aus dem absoluten Ich deduziert werden, gleichwohl wird an diesem festgehalten. Hier zeigt sich wieder Schellings Grundproblem von Identität und Differenz bzw. Dialektik, das er zeitlebens nicht zu lösen in der Lage ist. Er hat keine Theorie, wie absolute Identität und Synthesis bzw. Dialektik, unvordenkliches Sein und diskursive Vernunft miteinander vereinbar sein können, ohne daß sie sich gegenseitig aufheben. Schelling setzt der absoluten Identität des Absoluten ohne weitere Begründung eine dieser widerstreitende "Synthesis des Ichs und Nicht-Ichs" (I, 222) im Absoluten selbst gegenüber, wodurch sich die "absolute Unmöglichkeit" (I, 226 Anm.) des Nicht-Ich in eine "objektiv-logische Möglichkeit" (I, 226) verwandeln soll. Der Versuch einer vom Absoluten als dem Unbedingten ausgehenden Deduktion der endlichen Synthesis verstrickt sich damit in folgende unauflösliche Aporie: Entweder besteht das Absolute in seiner absoluten Identität mit Ausschluß von allem Nicht-Ich, dann ist es "logisch unmöglich" (I, 223), eine ursprüngliche, immer schon vollbrachte (vgl. I, 222) Synthesis zu setzen; oder es werden "absolutes Seyn" und "absolutes Nicht-Seyn" (I, 226) und die "Synthesis des Seyns und Nichtseyns" (I, 223) als im Absoluten vorhanden gedacht, dann wird das Absolute als absolute Identität aufgehoben. Die Verwandlung der unbedingten Unmöglichkeit alles Bedingten in bedingte Möglichkeit führt also zur Zerstörung des Absoluten (vgl. B. Loer (1974), S. 152). Die Aporie entsteht aus der schroffen Entgegensetzung von Absolutem und Endlichem, der durch die Doppeldeutigkeit im Begriff der Entgegensetzung - Entgegensetzung im Sinne von Ausschließung

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und im Sinne von Setzung des Gegenteils - nur verschleiert wird.3i Obgleich Schellings Versuch, das Bedingte aus dem Absoluten herzuleiten, in der Ichschrift gescheitert ist, hält er daran fest, daß man ein Absolutes annehmen müsse, um die endliche Wirklichkeit erkennen zu können. Die Erörterung der Frage, auf welche Weise das Absolute Ursache und Grund der Endlichkeit werden könne, bestimmt also weiterhin die Ausbildung von Schellings Theorie des Absoluten. b) Während die vom Absoluten ausgehende theoretische Herleitung des Endlichen das Absolute aufhebt und damit scheitert, erfährt das Absolute auf dem umgekehrten Wege in der vom Endlichen ausgehenden praktischen Vermittlung von Absolutem und Endlichem eine Bestätigung. Das unendliche "Streben" des Endlichen nach dem Unendlichen beschreibt Schelling als Aufgabe des praktischen Handelns, die Bedingungen des Endlichen, also die Entzweiung, aufzuheben, um in der Einheit mit dem Absoluten die Trennung zu überwinden. Die praktische Darstellung des Absoluten in der Endlichkeit ist allerdings zugleich die Vernichtung des Endlichen: "Der letzte Endzweck des endlichen Ichs sowohl als des Nicht-Ichs, d.h. der Endzweck der Welt ist ihre Zernichtung, als einer Welt, d.h. als eines Inbegriffs von Endlichkeit (des endlichen Ichs und des Nicht-Ichs)" (I, 200f.). Das Problem der theoretischen Vermittlung von Absolutem und Endlichem führt uns also auf die Probleme der praktischen Philosophie. Der in der 'Zernichtung' des endlichen Ich liegende spinozistische Heroismus absoluter Freiheit ist nur die (fragwürdige) Kehrseite des monistischen Begriffs vom Absoluten. Ob er ein sinnvoller Begriff von Freiheit ist, ist zumindest fraglich. Was für das endliche Ich "Moralgesetz" ist, ist für das absolute "Naturgesetz" (I, 198). Seine Kausalität aus Freiheit ist absolute Macht, "nur für das endliche Ich gibt es ein Sollen" (I, 232). Oberstes Ziel des endlichen Ich ist die eigene Vernichtung, also die Aufhebung des Sollens und der Moralität: Das "höchste Gesetz für das endliche Wesen ist demnach dieses: Sey abso31

B. Sandkaulen-Bock sieht Schellings Schwierigkeiten in der Ichschrift darin begründet, daß er nicht in der Lage ist, "Setzen im Sinne von Ausschließen und Entgegensetzen in eins zu denken" (Sandkaulen-Bock (1990), S. 49). Den Grund fiir die Kluft von absolutem Ich und der Dialektik von Thesis, Antithesis und Synthesis und damit für die Aporie erblickt J.F. Marquet in der Identifizierung des Ich mit der Substanz Spinozas (vgl. J.F. Marquet (1973), S. 48f.).Die spinozistisch-ontologische Auslegung des Ich hat ihre negative Kehrseite: Sie verunmöglicht, was sie bezweckt, die Herleitung der endlichen Synthesis aus dem Absoluten. Schellings spinozistisch-jakobischer Ansatz erweist sich als ein ganzes "Nest von Widersprüchen'.

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lut - identisch mit dir selbst" (I, 199). Während vom Standpunkt des absoluten Ich die Vereinigung von "Sein" und "Sollen" zwanglos und ein natürlicher Ausgangspunkt ist, stellt sie für das endliche Ich ein Ziel dar, das im Zustand der Trennung entsteht und nach Überwindung der Trennung strebt. Damit wird fur das endliche Ich die "Forderung des Seyns" (I, 199) zu einer "Forderung des Werdens" (ebd.) herabgesetzt. "Streben ist nur in der Zeit möglich, mithin ist ein Streben, sich außer alles Zeitwechsels zu setzen, ein Streben in aller Zeit" (I, 200). Die zeitliche Realisierung des Absoluten ist also auch eine Realisierung des Absoluten in der Zeit. Diesem auf Einheit von Absolutem und Endlichem zielenden Gedanken widerstreitet der andere, daß "der Endzweck der Welt [...] ihre Zernichtung, als einer Welt, d.h. als eines Inbegriffs von Endlichkeit" (I, 200f.) ist. Am Ende der Ichschrift kommt Schelling auf Kants dritte Kritik, die Kritik der Urteilskraft,32 und damit auf die Einheit der ganzen Kantischen Philosophie zu sprechen, deren Prinzipiierung er sich vorgenommen hat. Kant erblickt die Bedingungen des endlichen theoretischen und praktischen Vermögens in der Differenz zwischen Sein und Sollen, Wirklichkeit und Möglichkeit, Mechanismus und Zweckmäßigkeit, die allein im Grenzbegriff des intellectus archetypus nichtig gesetzt ist. Schelling identifiziert nun den intellectus archetypus mit dem absoluten Ich, das er nicht mehr als Grenzbegriff, sondern als konstitutives Absolutes interpretiert (vgl. I, 23Iff. u. I, 241f.) Somit ist die Einheit der drei Kantischen Disziplinen durch das Absolute gesichert, wobei sich ein Primat des Praktischen vor dem theoretischen, wie er dann in der Folge hervortritt, abzeichnet. 33

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Daß Schellings frühe philosophische Entwicklung von Anfang an unter dem Eindruck der Kritik der Urteilskraft stand, heben sowohl M. Gueroult (1954), bes. S. 6 als auch K. Schilling (1934) hervor. Zu ihr hat sich Schelling in der Ichschrift folgendermaßen geäußert: "Vielleicht aber sind nie auf so wenigen Blättern so viele tiefe Gedanken zusammengedrängt worden, als in der Kritik der teleologischen Urtheilskraft §.76. geschehen ist" (I, 242). Zu Schellings Alternative von Kants Lösung der Zusammenstimmung von Mechanismus und Technik der Natur vgl. Horstmann (1991), S. 137ff.

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Kondylis hat Recht in der Annahme, daß Schellings Erarbeitung der Einheit von theoretischer und praktischer Philosophie in der Ichschrift noch in theoretischer Perspektive erfolgt. Eigentümlicherweise meint er, daß dieser "eindeutige Vorrang des Theoretischen" (Kondylis (1979), S. 539) in den Briefen noch untermauert wird. Er sieht nicht, daß das starke Hervortreten der theoretisch ansetzenden Naturphilosophie erst nach der im Primat des Praktischen endenden Frühphilosophie eintritt.

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V. Briefe: Der praktisch-ästhetische Ansatz Schelling möchte in den Briefen34 vor allem die "Grenzen, welche die Kritik der reinen Vernunft zwischen Dogmatismus und Kriticismus gezogen hat", "schärfer" ziehen (I, 283), wobei er den kritizistischen "Dogmaticismus" (I, 302) der Tübinger Orthodoxie vom dogmatischen Spinozismus, dessen Hauptvertreter hier vermutlich Hölderlin ist, unterscheidet. Beidem setzt Schelling wie in der Ichschrift sein Projekt einer kritizistischen "Ethik à la Spinoza" entgegen. Die Stoßrichtung seiner Kritik ist also eine doppelte: Zunächst richtet sie sich gegen die Tübinger Orthodoxie und deren Bedingungen der Möglichkeit in Mängeln der Kantischen Philosophie. In einem weiteren Schritt richtet sie sich gegen den dogmatischen Spinozismus und seine ästhetische Ausprägung. Diese doppelte Stoßrichtung der Kritik wird dadurch etwas verschleiert, daß Schelling zunächst die Strategie fährt, den mit "Sie" angesprochenen Freund, also Hölderlin, bewußt dazu einzusetzen, die pseudo-Kantianischen Freunde ironisch-parodistisch zu entlarven. Die gemeinsame Front gegen den "heimlichen Feind [...] in unserer Mitte" (I, 292) darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß Schelling auch von Anfang an den Standpunkt des "Sie"-Freundes kritisiert, wenn er ihn auch am Ende in sein Philosophiekonzept zu integrieren versucht. Schelling übernimmt diese Argumentationsstrategie gegenüber seinem Freund von Jacobis Spinoza-Interpretation. Dessen scheinbar neutrale Darstellung Spinozas galt ebenfalls der Kritik. Schelling wählt die Briefform, weil sie alle anderen "Formen" an "Deutlichkeit" (I, 284) übertrifft. Mit Deutlichkeit meint Schelling das nachdrückliche engagierte Eintreten für einen bestimmten in populärer Form erörterten philosophischen Standpunkt. Zahlreiche Zeitgenossen Schellings wählen die Briefform. Zu nennen sind Flatt, Jacobi, Reinhold, Herder und Schiller. Schillers Ästhetische Briefe, die 1795 in Tübingen ebenfalls anonym erscheinen, haben stark auf die Tübinger Stiftler gewirkt. Das zeigt nicht nur das Älteste Systemprogramm, das höchstwahrscheinlich von Schelling stammt, sondern 34

Die Briefe erscheinen in der von Niethammer herausgegebenen Zeitschrift Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrter im November 1795, dem letzten Stiftsjahr Schellings, und zwar anonym, weil Schelling befürchten mußte, daß seine heftige Kritik an den Tübinger Theologen dazu führt, vom Examen ausgeschlossen zu werden. Die ersten vier Briefe dürften unmittelbar im Anschluß an die Ichschrift und gleichzeitig mit der theologischen Dissertation De Marcione entstanden sein. Der zweite Teil der Briefe erschien im April 1796. Vgl. dazu den "Editorischen Bericht" der Briefe von A. Pieper (1976), S. 5-44.

Praktisch-ästhetischer Ansatz

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auch das Vorhaben Hölderlins, Neue Ästhetische Briefe zu schreiben (vgl. Brief Hölderlins an Niethammer 24. Februar 1796). 1. Die Wendung ins Praktische Die Briefe nehmen eine Wendung ins Praktische. Die praktische Perspektive der Briefe ergibt sich aus der Aporie, in die sich der Herleitungsversuch des Endlichen aus dem Unendlichen in der Ichschrift verstrickte. Mit dem praktischen Ansatz der Briefe wird allerdings das Problem der Ichschrift nicht eigentlich gelöst, vielmehr die Herleitung des Endlichen aus dem Absoluten faktisch als philosophisch unlösbar beiseite geschoben. Die Briefe gehen von der Einsicht aus, daß der Standpunkt des Absoluten nicht identisch ist mit dem der Philosophie, vielmehr die Philosophie und der Streit der philosophischen Systeme Dogmatismus und Kritizismus da anhebt, wo das Absolute nicht mehr ist. Diese Einsicht erwächst aus der Erfahrung, daß mit der philosophischen Frage nach dem Absoluten das Absolute bereits verlassen ist. Die Briefe machen damit die Aporie explizit, die in der Ichschrift noch versteckt war, daß nämlich das Absolute nicht philosophisch thematisiert werden kann, ohne es zugleich zum Objekt zu machen, was Schellings Anweisung widerspricht, daß das Absolute niemals Objekt sein darf. Da mit der Frage nach dem Absoluten als Prinzip dieses zugleich verlustig geht, andererseits die Philosophie die endliche Welt nur im Horizont eines Absoluten zu deuten vermag, das Absolute also als Prinzip vorausgesetzt ist, ist dieses nicht am Anfang zu haben, sondern nur noch am Ende als Telos wiederzugewinnen. Dem endlichen Subjekt erwächst die unendliche Aufgabe, die Schranken des Endlichen aufzuheben und das Absolute praktisch zu realisieren. Hauptsächlicher Gegenstand der Briefe ist die Kontroverse der beiden philosophischen Systeme Dogmatismus und Kritizismus, deren Vertreter Spinoza und in seinem Gefolge Hölderlin einerseits und Kant bzw. der orthodoxe Kantianismus andererseits sind. Das Absolute als solches ist das gemeinsame Gebiet aller dieser Systeme. Einigkeit besteht zunächst zwischen allen philosophischen Positionen über die Definition des Absoluten, "weil über das Absolute selbst als solches kein Streit möglich ist" (I, 308). "Hätten wir bloß mit dem Absoluten zu thun, so wäre niemals ein Streit verschiedener Systeme entstanden. Nur dadurch, daß wir aus dem Absoluten heraustreten, entsteht der Widerstreit gegen dasselbe" (I, 293); denn "über das Ab-

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solute würden wir alle einig seyn, wenn wir seine Sphäre niemals verließen" (I, 294). Das Problem der Philosophie "betrifft nämlich nicht das Seyn eines Absoluten überhaupt [...] Denn im Gebiete des Absoluten selbst gelten keine anderen als bloß analytische Sätze, hier wird kein anderes Gesetz als das der Identität befolgt, [...] kurz, hier ist alles begreiflich" (I, 308). Vom Standpunkt des Absoluten sind die durchaus entgegengesetzten Systeme des Dogmatismus und Kritizismus gleich möglich und können nebeneinander bestehen. Die Kontroverse bricht erst mit dem Übergang vom Absoluten zur endlichen Welt auf. Die entscheidende Frage lautet also, "wie das Absolute aus sich selbst herausgehen und eine Welt sich entgegensetzen könne" (I, 310) bzw. "Wie komme ich überhaupt dazu, aus dem Absoluten heraus und auf ein Entgegengesetztes zu gehenT (I, 294); anders

formuliert: "warum gibt es überhaupt ein Gebiet der Erfahrung?" (I, 310). Wenn der "Uebergang vom Unendlichen zum Endlichen das Problem aller Philosophie, nicht nur eines einzelnen Systems ist" (I, 313f.), dann besteht das "Hauptgeschäft aller Philosophie [...] in Lösung des Problems vom Daseyn der Welt" (I, 313). Aus der Aporie, in welche der Ableitungsversuch des Endlichen aus dem Unendlichen in der Ichschrift geführt hatte, schließt Schelling, daß sich diese Frage weder vom Dogmatismus noch vom Kritizismus theoretisch beantworten läßt. Jede Antwort, die die theoretische Philosophie zu geben vermag, ist zirkulär, denn sie "setzt das Daseyn einer Erfahrungswelt selbst schon voraus" (I, 310), deren Hervorgehen aus dem Absoluten sie doch gerade zu erweisen hätte. Der Grund für den hermeneuti sehen Zirkel in der Ableitung des Endlichen aus dem Absoluten besteht darin, daß mit dieser Frage das Endliche und die Trennung von Subjekt und Objekt immer schon gegeben ist, der das Absolute unerreichbar vorausliegt. Weil das Wissen an die Unterscheidung von Subjekt und Objekt gebunden ist, kann es nicht hinter sie in eine unvordenkliche Einheit zurückgehen. Es entsteht die paradoxe Situation, daß das Erklärungsbedürftige das Dasein der Welt - immer nur dann gegeben ist, wenn es gerade nicht erklärt werden kann, sondern in der Subjekt-Objekt-Relation vorausgesetzt ist und im Überstieg in seinen Einheitsgrund selbst verschwindet. Um also die Frage nach dem Dasein der Welt "beantworten zu können, müßten wir vorerst das Gebiet der Erfahrung verlassen haben: hätten wir aber einmal jenes Gebiet verlassen, so würde die Frage selbst wegfallen" (I, 310). Folglich fuhrt "das Problem aller Philosophie [...] nothwendig auf eine Forderung, die nur außerhalb aller Erfahrung erfüllbar" (I, 311), also durch keine theo-

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retische Erkenntnis einlösbar ist. Die theoretische Vernunft stößt am Absoluten auf eine unauflösliche Grenze. Die Frage nach dem Hervorgehen der Welt aus dem Absoluten verschiebt sich auf die nach der praktischen Realisierung des Absoluten. Die Verschiebung der Fragestellung ergibt sich aus der Einsicht, daß die Philosophie das Absolute immer schon verlassen hat und sich im Bereich des Endlichen bewegt, wenn sie nach ihm fragt. Da die theoretische Vernunft von der Subjekt-Objekt-Differenz ausgeht, im Absoluten aber Subjekt und Objekt "absolut identisch" (I, 298) sind, übersteigt der Anspruch, das Absolute zu erkennen, das Vermögen der theoretischen Vernunft. So "geht" hier "die Philosophie in das Gebiet der Forderungen, d.h. in das Gebiet der praktischen Philosophie über" (I, 299). Damit übernimmt Schelling von Kants Kritik der reinen Vernunft die Einsicht, daß das theoretische Wissen einer Welt "an sich" nicht möglich ist, und verbindet sie mit dem Standpunkt der praktischen Vernunft, daß der Entwurf eines Systems letzter Wahrheiten nur als Postulat menschlichen Handelns gelten kann. Die Wendung ins Praktische vollzieht Schelling am Leitfaden einer spinozistisch überbotenen Kantischen Philosophie. Die Wendung ins Praktische gibt der Philosophie des Absoluten eine andere Gestalt. Während die Ichschrift eine philosophische Theorie über das Absolute vom Standpunkt des Absoluten betreibt, sagen die Briefe, daß das Absolute vom Standpunkt des Endlichen ausgehend nur praktisch zu realisieren sei. Dennoch - trotz dieser Wendung ins Praktische - bleiben die Grundprobleme der Frühschriften Schellings auch in den Briefen die gleichen: ein monistischer Begriff des Absoluten, die scharfe Kluft von Absolutem und Endlichem und daher Umschlag von Monismus in Dualismus und schließlich die Tendenz zur Negativierung des Endlichen.

2. Systematische Rekonstruktion der Kantischen Philosophie in einer "Ethik à la Spinoza" und Kritik an der Tübinger Orthodoxie Von Anfang an hat Schelling versucht, die Kantische Philosophie von ihren fehlenden Prämissen her systematisch zu reformulieren. In der Ichschrift geht er von der Prämissenlegung zur Überprüfung der Kantischen Philosophie in ihrem Zusammenhang selbst über. In den Briefen erkennt er, daß Kants Resultate nicht ohne weiteres mit dem System identisch sind, das sie rekonstruiert, sondern nur methodologischer, d.h. vorläufiger, propädeutischer Natur sind. Vom Stand-

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punkt eines vom Absoluten ausgehenden Systems wird Kants Kritik der reinen Vernunft nurmehr der Status einer bloßen "Methodologie" (I, 301) für das philosophische System zuerkannt. Nicht nur die fehlenden Prämissen müssen aufgestellt, sondern das Ganze der Kantischen Philosophie muB in seinem Zusammenhang neu gefaßt werden. Die systematische Rekonstruktion insbesondere des Kantischen Zusammenhangs von Erkenntniskritik und praktischer Philosophie muß sich vor allem der orthodoxen Interpretation dieses Zusammenhangs als Zusammenhang von "Vernunftschwäche" und notwendiger Annahme eines "moralischen Gottes" entgegenstellen. Schellings Hauptvorwurf an die Kantianer lautet, daß für sie "nicht der Dogmatismus, sondern höchstens nur die dogmatische Philosophie gestürzt" ist (I, 291), indem in der Idee eines moralischen Gottes die theoretisch-diskursive Vernunft nur scheinbar aufgehoben, in Wahrheit nur praktisch verbrämt wird. Während für Schelling der Fluchtpunkt der Kantischen Vernunftkritik darin liegt, das Objektive überhaupt aufzuheben, wird sie von den Kantianern als "Vernunftschwäche" interpretiert, das Objektive bloß nicht erkennen zu können und in der Annahme eines moralischen Gottes dennoch an ihm festzuhalten. Die moralische Idee Gottes überwindet die Subjekt-Objekt-Differenz keineswegs, sondern verhilft dem theoretisch nicht erkennbaren Gegenstand - Gott - zur praktischen Legitimation, die strukturell theoretisch, weil objektbezogen bleibt.35 Die Briefe enthalten eine systematische Rekonstruktion der Kantischen Philosophie in einer allerdings nie voll zur Ausführung gelangten "Ethik à la Spinoza", die durch den Dreischritt Absolutes, endliche Synthesis und absolute Thesis gekennzeichnet ist: "Synthesis überhaupt nämlich ist nur unter zwei Bedingungen denkbar: Erstens, daß ihr eine absolute Einheit vorangehe, die erst in der Synthesis selbst, d.h. wenn ein Widerstrebendes, eine Vielheit, gegeben ist, zur empirischen Einheit wird. Zu jener absoluten Einheit kann zwar eine bloße Kritik des Erkenntnißvermögens nicht emporsteigen, denn das Letzte, wovon sie anfangt, ist selbst schon jene Synthesis: desto gewisser aber muß das vollendete System [!] von dort ausgehen. Zweitens ist keine Synthesis anders als unter der Voraussetzung, daß sie sich selbst wieder in einer absoluten Thesis endige, denkbar: der Zweck aller Synthesis ist Thesis. Diese zweite

35

Im Zuge seiner Kritik an der Tübinger Orthodoxie und ihrer Begründung der Offenbarungstheologie durch die praktischen Postulate lehnt Schelling auch Kants Postulatenlehre ab (vgl. Düsing (1973), S. 53-90, bes. S. 60ÍT.).

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Bedingung aller Synthesis fällt allerdings in die Linie, die eine Kritik des Erkenntnißvermögens durchlaufen muß, weil hier von einer Thesis die Rede ist, von der die Synthesis nicht ausgehen, sondern in die sie sich endigen soll" (I, 296f.). Ausgangspunkt und Prinzip der vollendeten kritischen Ethik ist das Absolute. Das eigentliche Problem der Philosophie ist aber nicht das Absolute, sondern das, was Schelling "Synthesis" nennt. Kants Problem, wie synthetische Urteile a priori möglich sind, formuliert Schelling um in die Frage: "Wie komme ich überhaupt dazu, aus dem Absoluten heraus und auf ein Entgegengesetztes zu gehenT (I, 294). Im systematischen Aufbau der Ethik muß das Absolute der endlichen Synthesis vorangehen, die sich wiederum in der absoluten Thesis vollendet: "Der Zweck aller Synthesis ist Thesis" (I, 297). Bemerkenswert ist, daß Schelling in den Briefen die Antithesis übergeht. Dies hat seinen Grund darin, daß der Ursprung der endlichen Synthesis aus dem Absoluten mit der Aporie der Ichschrift unbegreiflich geworden ist. Konsequenterweise fällt in den Briefen die Ableitung der endlichen Synthesis über die Dialektik der Entgegensetzung von Ich und Nicht-Ich weg. Der Übergang vom Absoluten zur Synthesis ist ein unerklärliches Geschehen. Deshalb fordert Schelling von der Philosophie, sie solle den als ungangbar eingesehenen Weg aufgeben und auf dem umgekehrten Weg fortschreiten, indem sie die Synthesis in Richtung Thesis zu überwinden sucht. Wie zeichnet Schelling nun Kants Philosophie in dieses System des Absoluten ein und was kommt damit zum Vorschein? Daß die Philosophie Kants die Subjekt-Objekt-Relation in Form eines Übergangs vom Theoretischen ins Praktische überhaupt aufheben will, sieht nur der, der die ganze Bewegung der Kantischen Philosophie von der ihr zugrundeliegenden Einheit her begreift. Die Philosophie des Absoluten - vor der die Kantische Philosophie zur Propädeutik herabsinkt, weil sie das Absolute nicht als Prinzip thematisiert - rekonstruiert den Fortgang vom Bedingten zum Unbedingten, von der Synthesis zur Thesis vor dem Hintergrund eines dem Wissen vorausliegenden Unbedingten. Die Kritik der reinen Vernunft bewegt sich ausschließlich im Rahmen der endlichen Synthesis, also in der Trennung von Subjekt und Objekt. Die kritische Ethik à la Spinoza rekonstruiert den Kantischen Zusammenhang von Vernunftkritik und praktischer Philosophie, indem sie sie in die Gesamtkonstellation des Dreischritts von unbedingter Einheit, endlicher Synthesis und absoluter Thesis einzeichnet. In der Rekonstruktion gerät der von Kant methodologisch postulierte Übergang vom Theoretischen ins Prakti-

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sehe zu einem System und wird dadurch vor der Annexion der orthodoxen Kant-Auslegung gerettet, daß er im Rekurs auf ein Absolutes begriffen wird. Die praktische Realisierung durch das Endliche geht so gewissermaßen in theoretischer Antizipation vom Absoluten aus und zugleich vom Endlichen aus praktisch auf es zu (vgl. I, 312f.). Die Bestimmung des Absoluten erfährt in den Briefen gegenüber der Ichschrift eine entscheidende Modifikation: Das Absolute wird so radikal gefaßt, daß seine Bestimmung als absolutes Ich oder absolutes Nicht-Ich nicht mehr diskutiert wird, weil es dann bereits vom Standpunkt der Entzweiung in Augenschein genommen wird. Das Absolute ist an ihm selbst vielmehr das "absolute Sein", "die heiligste Idee des Alterthums" (I, 309 Anm.), ohne weitere Bestimmung. Schelling reduziert bereits in den Briefen die spinozistische Bestimmung des Absoluten auf seine parmenideischen Ursprünge. Und zwar wird das Absolute sowohl in seiner Anfangsbestimmung als der der Synthesis vorausliegenden Einheit als auch in seiner Zielbestimmung als die die Synthesis überwindende absolute Thesis als absolutes Sein und absolute Identität beschrieben. Das Absolute hat die Struktur eines absolut identischen Seins, das an sich selbst weder Subjekt noch Objekt ist. In dieser Fassung des Absoluten ist die Identitätsphilosophie bereits angelegt.

3. Die praktizistische 'Lösung' des Rätsels der Welt Nachdem Schelling gezeigt hat, daß weder Kritizismus noch Dogmatismus auf dem Feld der theoretischen Philosophie eine Antwort auf das Problem des Übergangs vom Unendlichen zum Endlichen geben können, kommt er auf die Behauptung des spinozistischen Dogmatismus zu sprechen, es gebe keinen Übergang vom Unendlichen zum Endlichen, weil es keine transzendente, sondern nur eine immanente Ursache der Welt gebe. Diese Lösung folgt notwendig aus den Prämissen des monistischen Substanzbegriffs Spinozas. Insofern Schelling Spinozas Substanzbegriff zu seinem Ichbegriff transformiert, ist dessen Lösung auch für Schelling annehmbar, ja sogar die einzig mögliche Lösung, die allerdings einer anderen, nicht dogmatischen Deutung bedarf (vgl. I, 311).36 Aus dem praktizistischen Neuansatz der Philosophie des Absoluten in den Briefen ergibt sich eine Neubestimmung des Verhältnisses zu Spinoza (vgl. I, 308ΙΓ.). Schelling scheint die Aporie, in die er sich in der Ichschrift verwickelt hat, zu bemerken. Seine Kritik am Spinozismus ist so formuliert, daß sie deutlich auch ihn

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Schelling nimmt hier Jacobis Darstellung und Kritik der causa immanens aus den Spinozabriefen auf (vgl. I, 313) und gibt ihr eine überraschende Wendung. Während der "blinde[n] Dogmatismus" (I, 314) der Tübinger Orthodoxie an der Forderung festhält, es soll einen Übergang vom Unendlichen zum Endlichen geben, deutet Schelling Spinozas These von der immanenten Kausalität nicht mehr als Resultat einer theoretischen Demonstration, sondern als praktische Forderung: "es soll keinen Uebergang vom Unendlichen zum Endlichen geben" (I, 314). "Dogmatismus und Kriticismus vereinigen sich hier in demselben Postulate" (I, 314). Das Postulat, keinen theoretischen Übergang vom Unendlichen zum Endlichen zu gestatten, impliziert die praktische Forderung, vom Endlichen zum Unendlichen überzugehen: "Damit es keinen Uebergang vom Unendlichen zum Endlichen gebe, soll dem Endlichen selbst die Tendenz zum Unendlichen beiwohnen, das ewige Streben, ins Unendliche sich zu verlieren" (I, 314f.). Der Immanenzgedanke Spinozas entgeht also Jacobis Kritik, wenn er die Aufhebung der theoretischen Vernunft in Richtung einer Praxis anzeigt, die die Verstrickungen in die SubjektObjekt-Trennung lösen soll, durch die das Absolute verdunkelt ist. Die Deutung der Immanenz als "praktisches Postulat" (I, 311) setzt die Einsicht voraus, daß das Absolute Prinzip des Endlichen nur als dessen Telos sein kann. Das Absolutwerden des endlichen Ich, als das die praktische Realisierung verstanden werden muß, ist dementsprechend kein transzendentes, sondern immanentes Sich-Überschreiten des Ich auf das Absolute hin.

4. Die Dogmatismus-Kritizismus-Kontroverse Gemeinsam ist Dogmatismus und Kritizismus, daß für sie das Absolute nur praktisch zu realisieren ist. Ihre Differenz offenbart sich nur in der Weise der Realisation des Strebens, nicht im Ziel selbst. Von der Warte des Ziels selbst, der absoluten Thesis, aus betrachtet, ist es ohne Belang, ob wie im Dogmatismus das Objekt absolut gesetzt wird oder umgekehrt wie im Kritizismus das Subjekt. Im Absoselbst trifft. Wenn das Rätsel der Welt immer dann zum Rätsel wird, wenn die Einheit des Absoluten verlassen ist, Vernunft aber den Widerstreit von Subjekt und Objekt im Endlichen nur konstatieren kann, dann sind alle theoretischen Bemühungen zur Auflösung dieses Rätsels hinfallig. Schelling übt Kritik am Ansatz der Ichschrift, wenn er sagt: "Kein Philosoph also wird sich einbilden, durch bloße Aufstellung der höchsten Principien alles gethan zu haben" (I, 313) (vgl. Sandkaulen-Bock (1990), S. 53 Anm.).

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luten ist der Widerstreit von Subjekt und Objekt vollständig aufgehoben. "Denn alle Philosophie [...] ist nur durch absolute Identität denkbar. Beide Systeme gehen dabei nothwendig auf absolute Identität" (I, 327f.). Die Deutung des Absoluten als Ich oder Nicht-Ich wird erst relevant, wenn sie den Modus der praktischen Systemrealisierung bestimmen soll. In diesem Zusammenhang nimmt Schelling eine entscheidende Modifikation im Begriff der intellektuellen Anschauung vor: Die intellektuelle Anschauung ist nicht mehr nur unmittelbare, objektlose Vergewisserung des Absoluten jenseits des diskursiven Wissens, sie ist vielmehr Medium des praktisch zu realisierenden Wegs vom Endlichen zum Unendlichen. Sie ist die geforderte praktische "durch Freiheit hervorgebrachtte]" Einswerdung mit dem Absoluten (I, 318). Sie markiert die "Aufhebung der Trennung aus der Trennung" (Sandkaulen-Bock (1990), S. 60), die das Subjekt des Kritizismus als seine Vernichtung erfahrt. Sie ist durch Aufhebung des Selbstbewußtseins und der Persönlichkeit und damit durch Aufhebung der Möglichkeit eines objektiven, erfahrbaren Wissens charakterisiert (vgl. I, 311, 327). Intellektuelle Anschauung ist daher für Schelling von Anfang an im Unterschied zu Fichte kein Bewußtseinsmodus; sie verbürgt vielmehr einen Zustand über allem Bewußtsein. Schelling vergleicht sie dementsprechend mit "dem Zustande des Todes" (I, 325), aus dem wir nur durch "Reflexion, d.h. durch abgenöthigte Rückkehr zu uns selbst", erwachen (I, 325), d.h. durch Bezug auf Objekte, durch die sich das Subjekt allererst als Subjekt erfährt (vgl. auch I, 318, 319). Gleichwohl ist sie für Schelling eine unserer ursprünglichsten und unmittelbarsten Erfahrungen, von der all unser Wissen ausgeht und in der die Wahrheit des Lebens begründet ist. Mit Jacobi sagt Schelling: "Dieses Princip - Anschauung und Erfahrung - allein kann dem todten, unbeseelten Systeme Leben einhauchen; selbst die abgezogensten Begriffe, mit denen unsere Erkenntniß spielt, hängen an einer Erfahrung, die auf Leben und Daseyn geht" (I, 318f.). Zugleich ist sie Fundament einer Ästhetik des Schönen. Diese "Aesthetik (das Wort im alten Sinne genommen)"37 wird "empirische Handlungen aufstellen, die nur als Nachahmungen jener intellektualen Handlung erklärbar sind, und schlechterdings nicht begreiflich wären, hätten wir nicht - um in Piatons Sprache mich auszudrücken - irgend einmal in der intellektualen Welt ihr Vorbild angeschaut" (I, 318). Dieser

In diesem Sinne verwendet Sinclair den Begriff: "[...] ein höheres Setzen als das Setzen fiir ein Ich ist [...], [...] eine Aesthetik" (zit. nach H. Hegel (1971), S. 254).

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Gedanke Piatons im Phaidros war auch für Hölderlins Begründung seiner spinozistischen Ästhetik von zentraler Bedeutung. Dogmatismus und Kritizismus unterscheiden sich erstens durch die Art und Weise, wie sie das praktische Streben verwirklichen und zweitens durch die Weise der Realisierung ihres praktisch anvisierten Ziels. Während der Dogmatismus Spinozas das Absolutwerden des endlichen Subjekts als Streben nach Identität mit dem absoluten Objekt zu realisieren suchtse, lautet der kategorische Imperativ des Kritizismus, für den Schelling plädiert: "Strebe nicht dich der Gottheit, sondern die Gottheit dir ins Unendliche anzunähern" (I, 335 Anm. 2). Die immanente Realisierung des Absoluten durch das endliche Ich stellt sich einerseits als Postulat der Aufhebung des Subjektiven ins Objektive, andererseits als das der Aufhebung des Objektiven ins Subjektive dar. Jenes ist Grundlage einer dogmatischen Moral, die die Realisierung des Absoluten als eines vom Ich verschiedenen Objekts fordert, dieses Basis einer kritischen Moral, die die Realisierung des Absoluten in uns fordert. Der Gegensatz zwischen dogmatischem und kritischem Moralsystem ist für Schelling die "ursprünglichste Antithese aller philosophirenden Vernunft": "Die Vernunft muß entweder auf eine objektive intelligible Welt, oder auf subjektive Persönlichkeit, auf ein absolutes Objekt, oder auf ein absolutes Subjekt - auf Freiheit des Willens - Verzicht thun" (I, 338). Gegen die Spinozistische Deutung des praktischen Postulats, vom Endlichen zum Unendlichen überzugehen, erhebt Schelling folgenden Einwand: Die Vorstellung, "im absoluten Objekt untergegangen zu seyn", beruht auf einem Fehlschluß (I, 319). So oft wir nämlich die Aufhebung "unseres eigenen Ichs" denken, so oft legen wir dieser Vorstellung stets wieder unser Selbst als 'Substrat' zugrunde (I, 320 Anm.). Schelling verdeutlicht dies am Beispiel des extremsten Falls unseres Nichtseins, am Gedanken an den eigenen Tod. Selbst hier stößt das Ich unweigerlich auf den widersprüchlichen Gedanken, sein eigenes Nichtsein nur denken zu können, indem es sich selbst zugleich als existierend denkt. 39 Den Tod stellt sich das Ich daher 38

Vgl. Spinoza: Ethik, V. Teil, Lehrsatz 36 mit Beweis, Zusatz u. Anm. Es ist bemerkenswert, daß Schelling Spinozas Philosophie mit der "Schwärmerei" vergleicht, weil hier wie dort die Gottheit an Stelle des eigenen Ich gesetzt wird (vgl. I, 315).

39

Kant hat Schellings Argumentation schon vorweggenommen in einem Hinweis auf die "Natur des Denkens, als eines Sprechens zu und von sich selbst. Der Gedanke: ich bin nicht, kann gar nicht existieren; denn bin ich nicht, so kann ich mir auch nicht bewußt werden, daß ich nicht bin. Ich kann wohl sagen, ich bin nicht gesund [...]; aber in der ersten Person sprechend das Subjekt selbst verneinen, wobei alsdann dieses sich selbst vernichtet, ist ein Widerspruch" (Kant, Anthropologie (II), S. 465f.).

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nicht als ein wirkliches Nichtsein, sondern vielmehr als ein "Daseyn auch nach dem Nichtseyn" (ebd.) vor. Der Grund für das Unvermögen von sich abzulassen, besteht darin, daß das Ich nicht von sich abstrahieren kann, ohne sich bereits vorauszusetzen. "Das Subjekt, als solches, kann sich nicht selbst vernichten; denn um sich vernichten zu können, müßte es seine eigene Vernichtung überleben" (I, 315). Nicht das absolute Objekt, sondern allein das absolute Ich ist das schlechthin Unhintergehbare, wie schon Fichte erkannte. Infolgedessen fällt Schellings Entscheidung zwischen Dogmatismus und Kritizismus zugunsten des letzteren aus. Dem Subjekt wird im Dogmatismus eine Praxis zugemutet, die alle Subjektivität und Freiheit aufhebt. Die Selbstnegation des Ich im Absoluten ist jedoch ohne Selbstwiderspruch nicht denkbar. Der Grund, warum Spinoza diesen Widerspruch nicht durchschaut, besteht Schelling zufolge in einer notwendigen Täuschung über die Natur der intellektuellen Anschauung, die Spinoza mit aller schwärmerischen Philosophie teilt. Spinoza "objectivisirt" (I, 319) die intellektuelle Anschauung, d.h., er deutet die Anschauung seiner selbst als Anschauung eines absoluten Objekts, in welchem das Subjekt untergegangen ist. Das dogmatische Vergessen der eigenen Subjektivität, die eine unaufhebbare Bedingung für das Absolutwerden des Ich darstellt, ist der Hauptkritikpunkt an Spinoza ebenso wie an der antiken Philosophie. Ein weiterer Differenzpunkt zwischen Dogmatismus und Kritizismus betrifft die Weise der Realisierung ihres Ziels. Während das Absolute wie entweder im Dogmatismus der Kantianer als realisiert und damit als "Objekt des Wissens" (I, 331) und nicht als "Objekt der Freiheit" (I, 332) gedacht wird oder wie im Dogmatismus Spinozas als realisierbar sich vorzustellen ist, ist das Ziel für den Kritizismus niemals erreicht oder erreichbar, sondern allein "Gegenstand einer unendlichen Aufgabe" (I, 331). Das Absolutwerden des Ich ist für den Kritizismus kein abschließbarer Prozeß. Der Unterschied zwischen Dogmatismus und Kritizismus betrifft also den "Geist ihrer praktischen Postulate" (I, 333), der Schelling für den Kritizismus Partei ergreifen läßt. Während beide im "Ziele unsrer Bestimmung" (I, 332) übereinstimmen, hat der Kritizismus darin Vorrang vor dem Dogmatismus, daß er von der für Schelling weit dringenderen Frage nach unserer "Bestimmung" (I, 333) nicht abstrahiert. "Meine Bestimmung im Kriticismus nämlich ist - Streben nach unveränderlicher Selbstheit, unbedingter Freiheit, uneingeschränkter Thätigkeit. Sey! ist die höchste Forderung des Kriticismus" (I, 335). In bezug auf die "Be-

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Stimmung" des Menschen ist das absolute Autonomiestreben des Kritizismus mit Endlichkeit behaftet. Während der Dogmatismus ein moralischer Absolutismus ist, ist der Kritizismus ein moralisches Streben nach Absolutem, das sich der Endlichkeit als "Bestimmung" des Menschen bewußt ist. Schelling entwickelt in den Briefen die Idee eines Moralsystems, das vom Fundament her die gleichen Prinzipien hat wie Spinozas Ethik, die aber zugleich so gedeutet werden, daß sie mit der grundlegenden Kategorie der Moderne, der Freiheit, zusammenstimmen können. Die Konzeption der Praxis freier Subjektivität, in sich das Absolute zu realisieren, hat Schelling von Fichte übernommen. Offensichtlich versucht Schelling in den Briefen eine Vermittlung zwischen Spinoza und Fichte, eine Neubestimmung der Philosophie Spinozas durch Fichte in einem heroischen Spinozismus des absoluten Ich.40 Die Differenz zu Fichte besteht darin, daß dieser ein neben dem Kritizismus gleichberechtigtes dogmatisches System nicht anerkannte. 4 !

40

Auch für die Zeit der Briefe gilt, daß Schelling in bezug auf Fichtes Grundlage der Wissenschaftslehre (1794) eher mit dem Geist als mit dem Buchstaben vertraut war. Allerdings deutet er diesen Geist spinozistisch um. Fichte stellt in der Grundlage der theoretischen Einschränkung des Ich durch das Nicht-Ich die praktische Einschränkung des Nicht-Ich durch das Ich gegenüber (vgl. Fichtes Werke I, 125ÍT.). Aber auch die praktische Philosophie Fichtes kann den Gegensatz von Ich und Nicht-Ich, die Notwendigkeit des Nicht-Ich und damit die Endlichkeit des Ich nicht überwinden. Das praktische Ich ist Streben nach Unendlichkeit, welches die Endlichkeit als notwendige Bedingung und damit das Nicht-Ich impliziert: "Das Ich ist unendlich, aber bloss seinem Streben nach; es strebt unendlich zu seyn. Im Begriffe des Strebens selbst aber liegt schon die Endlichkeit, denn dasjenige, dem nicht widerstrebt wird, ist kein Streben. Wäre das Ich mehr als strebend, hätte es eine unendliche Causalität, so wäre es kein Ich, es setzte sich nicht selbst, und wäre demnach Nichts" (ebd., S. 270). Schellings praktische Philosophie ist dagegen eine Philosophie des Absolutwerdens des endlichen Ich, sie zielt ab auf eine absolute Aufhebung des Nicht-Ich. Sie geht auf absolute Autonomie, die spinozistisch als Überbietung jedes endlichen Autonomiestrebens gedacht wird.

41

"Der Dogmatismus ist [...] gar keine Philosophie, sondern nur eine ohnmächtige Behauptung und Versicherung" (Fichtes Werke I, 438). Die Auseinandersetzung Fichtes mit Schelling erfolgt im Anschluß an die Briefe in den beiden Einleitungen in die Wissenschaftslehre (1797). Fichte hat die Gleichmöglichkeit beider Systeme zurückgewiesen. Die "Wahl" zwischen beiden Systemen bestehe nur für den, der die theoretische Überlegenheit des Kritizismus nicht erkennt. Fichte wirft Schelling vor, sowohl Kant als auch die Wissenschaftslehre nicht verstanden zu haben (vgl. Lauth (1967), S. 366, Görland (1973), S. 3, Sandkaulen-Bock (1990), S. 62).

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5. Die Wendung ins Praktisch-Ästhetische: Die Tragödie als Paradigma von Schellings Philosophiekonzeption I. Schelling thematisiert im 1. und 2. Brief die ästhetische Seite der praktischen Vermittlung der Subjekt-Objekt-Gegensätze und damit die ästhetische Seite der Auseinandersetzung der philosophischen Systeme. Das Erhabene, das durch die Selbstmacht, d.h. die Fähigkeit des Subjekts zum "Kampf gegen das Unermeßliche" (I, 284), repräsentiert wird, ist das ästhetische Moment des Kritizismus, das Schöne, das durch den Untergang, die "stille Hingabe meiner selbst ans absolute Objekt" (I, 284), repräsentiert wird, ist die ästhetische Seite des Dogmatismus.42 Unverkennbar skizziert Schelling mit dem ästhetischen Dogmatismus die ästhetische Konzeption Hölderlins in jener Zeit. Schelling spricht im 1. Brief davon, daß der Dogmatismus "eine reinästhetische Seite" (I, 284) habe. Tatsächlich hat Hölderlin Schellings Konzeption einer praktisch-ästhetischen Vermittlung der Subjekt-Objekt Gegensätze abgelehnt und eine rein ästhetische Lösung vorgeschlagen, wie sie in der endgültigen Fassung des Hyperion zum Ausdruck kommt. In einem Brief an Niethammer vom 24. Februar 1796 schreibt er: "In den philosophischen Briefen will ich das Prinzip finden, das mir die Trennungen, in denen wir denken und existiren, erklärt, das aber auch vermögend ist, den Widerstreit verschwinden zu machen, den Widerstreit zwischen dem Subject und dem Object, zwischen unserem Selbst und der Welt, ja auch zwischen Vernunft und Offenbarung, - theoretisch, in intellectualer Anschauung, ohne daß unsere praktische Vernunft zu Hilfe kommen müßte. Wir bedürfen dafür ästhetischen Sinn" (StA VI, S. 203). Für Hölderlin ist Schellings Betonung der Praxis Folge seiner "neuen Überzeugungen", seiner Begeisterung für Fichte. Hölderlin trennt das, was Schelling zusammennimmt, Praxis und Ästhetik. 42

Henrichs Schillerkritik scheint sich aus diesen frühen Einsichten Schellings zu speisen: "Wenn Schönheit als Freiheit in der Erscheinung das volle Phänomen der vernünftigen Sittlichkeit anschaulich vergegenständlichen soll, so muß in ihr beides, die Harmonisierung und die Entgegensetzung des Willens, sichtbar werden. [...] Die Kantische Ästhetik hatte die Schönheit allein aus der theoretischen Vernunft deduziert, und lediglich der Erhabenheit eine ursrüngliche Beziehung auf Sittlichkeit zugestanden. Schiller nimmt den gesamten Bereich des ästhetischen Genusses als ein Widerspiel des menschlichen Wesens, das in seinem Grundzuge sittlich ist. Schon die Konsequenz dieses Ansatzes hätte Schiller dazu fììhren sollen, die Phänomene von Schönheit und Erhabenheit in eins zusammenzudenken" (Henrich (1957), S. 545f.). Das hier von Henrich bei Schiller eingeklagte Desiderat ist von Schelling bereits 1795 eingelöst worden.

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II. Im 10. Brief versucht Schelling mit dem Begriff der Tragödie, die beiden philosophischen Systeme Dogmatismus und Kritizismus auf ästhetischer Ebene zu synthetisieren. Die Tragödie wird dadurch zum Paradigma der philosophischen Auseinandersetzung, daß sie in sich die ästhetischen Prinzipien der beiden sich widerstreitenden philosophischen Systeme enthält, das Erhabene und das Schöne. Paradigmatisch ins Werk gesetzt erscheint das Erhabene und das Schöne in der Darstellung des Kampfes und des Untergangs des Helden in der griechischen Tragödie, die dadurch den Status des Kunstwerks par excellence erhält.43 Der tragische Kampf des Helden, dessen willentlicher Untergang als Manifestation der Freiheit des Subjekts zu interpretieren sei, sei in keinem System des Handelns, sondern nur in der Kunst darstellbar (I, 338). Damit verlagert Schelling die philosophische Auseinandersetzung von der Sphäre des Praktischen in die der Kunst bzw. Ästhetik. Die praktische Vermittlung der Subjekt-Objekt-Gegensätze findet ihre adäquate Darstellung allein in der Kunst. 44 Schellings Tragödienkonzeption ist eine zur "exzentrischen Bahn" des Menschen bei Hölderlin alternative ästhetische Konzeption, die beiden anscheinend unvereinbaren Momente von "Selbstmacht" und "Hingabe" ans Absolute, von "Selbstheit" und "Liebe" zu verbinden. Es trifft keineswegs zu, daß Schelling sich einseitig für einen rein praktisch ausgerichteten prometheischen Spinozismus der verabsolu-

43

D e r Begriff der Tragödie taucht erst im 10. Brief auf. Doch Schelling läßt hier keinen Zweifel daran, daß er sich mit dem zusammenfassenden Ausgang seiner Briefe auf den Anfang, die Ausgangspassagen zum "Kampf gegen das Unermeßliche" und zur "Hingabe ans Unermeßliche" (I, 284) bezieht. Die Bedeutung der Briefe als erste spekulativ-theoretische Auseinandersetzung mit dem Tragischen arbeitet P. Szondi heraus: "Mit dieser Deutung des König Ödipus und der griechischen Tragödie im allgemeinen beginnt die Geschichte der Theorie des Tragischen" (P. Szondi (1961), S. 158). Zur Bedeutung der Briefe für die weitere Entwicklung von Schellings ästhetischer Theorie vgl. auch F.-J. Courtine (1988), S. 211-136. Schellings Kunstphilosophie um 1800 braucht hinsichtlich der Tragödientheorie nur die wesentlichen Einsichten und Argumente der Briefe neu zu sortieren; - sie werden in den Briefen nahezu vollständig vorgelegt (vgl. V, 639ÍT.).

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Schelling orientiert sich in seiner Tübinger Zeit an der tragischen Gestalt des "Prometheus". Prometheus, der das Geschlecht, das er gebildet hat, zu gottähnlicher Vollkommenheit erheben wollte, duldet, an den Fesseln angeschmiedet, alle die Leiden, die sein Geschlecht erdulden mußte. An seinem Felsen angekettet stellt er in seiner Person gleichsam das ganz Menschengeschlecht dar. Der Geier, der an seiner wachsenden Leber nagt, ist das Bild ewiger Unruhe und rastloser Begierden nach höheren Dingen, die die Sterblichen peinigen. Schelling spricht von einem "Titanengeschlecht" (I, 338) als einzig möglichem Protagonisten einer tragischen Ethik.

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tierten individuellen Autonomie entscheidet, wie Wegenast meint (vgl. Wegenast (1990), S. 119). Die Tragödie verweist auf ein philosophisches Desiderat. Im tragischen Kampf und Untergang des Helden wird einerseits die Macht des absoluten Objekts, auf die der Dogmatismus aus ist, andererseits die Freiheit des Subjekts, auf die sich der Kritizismus stützt, manifest. Freiheit und objektive Macht absoluter Kausalität, das Schicksal, sind in ihr anschaulich vermittelt. Erst der tragische Kampf der Prinzipien der Systeme, der adäquat nur in der Kunst zur Darstellung kommt, setzt die Potentiale des menschlichen Geistes frei, denen ein philosophisches System Rechnung zu tragen hat. Obgleich Schelling Kritizismus und Dogmatismus unterschiedlich gewichtet, konzipiert er seine eigene Philosophiekonzeption im wesentlichen als 'Synthese* beider. Schellings in den Briefen entwickelte philosophische Theorie zielt auf ein durch den tragischen Konflikt der Subjektivität mit der Objektivität, auf welchen die Entzweiung der Endlichkeit zuläuft, vermitteltes und realisiertes Absolutes ab, das in seiner Struktur als absolute Einheit vor seiner relativen Deutung als Subjekt oder Objekt in den beiden philosophischen Systemen zu stehen kommt. III. Schelling benützt den Gegensatz der philosophischen Systeme, die "ursprünglichste Antithese aller philosophirenden Vernunft" (I, 338), auf diese Weise als 'Weckmittel der Vernunft', um zu einer Synthese von Kritizismus und Dogmatismus auf ästhetischer Ebene zu gelangen. Während Schelling auf ästhetischer Ebene eine Synthese versucht, bleibt es auf dem Felde des Theoretischen wie Praktischen bei der Unentschiedenheit der Systeme. Auch praktisch erweist sich der Dogmatismus als unwiderleglich für die, die "ihn selbst praktisch zu realisieren" vermögen, denen "der Gedanke erträglich ist, an seiner eignen Vernichtung zu arbeiten [...]" (I, 339). Aus der Gleichmöglichkeit beider Systeme ergibt sich, daß Schellings praktische Option für den Kritizismus dezisionistisch ist. Die Priorität des einen Systems vor dem anderen ist allein in der praktischen Freiheit und in dem Vermögen begründet, das eine oder andere in sich realisieren zu können. Gleichwohl ist die Entscheidung für die Priorität des Kritizismus nicht grundlos. Für sie spricht erstens, daß der Dogmatismus, der den Übergang vom Endlichen zum Unendlichen als praktisch realisiert behauptet, Subjektivität und Freiheit, die Grundkategorien der Moderne, immer schon voraussetzt, die er in seinem System durchstreicht, und zweitens damit der praktischen Perspektive der

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Briefe, die das Absolute nicht als Anfang, sondern nur als Ziel zu vergegenwärtigen vermag, insgesamt widerspricht, indem er mit seiner Behauptung, das Absolute sei realisiert, dieses wieder an den Anfang setzt, und damit wieder einen theoretischen Standpunkt einnimmt. In dieser Stellung zum dogmatischen Spinozismus zeigt sich ein ungeheurer Respekt für Hölderlins Position. Der philosophische Anspruch der Briefe realisiert sich in einer "Esoterik", in einem "Bund freier Geister" (I, 341), in den auch der "Freund" als Vertreter eines konsequenten Dogmatismus miteinbezogen ist. Der pathetische Schlußakkord der Briefe weist mit der Vorstellung einer philosophischen Elite auf die intendierte Gemeinschaft mit Hölderlin hin. Innerhalb dieser Gemeinschaft entscheidet sich Schelling gleichwohl für den Kritizismus, gegen die "Selbstlosigkeit" für "Selbstheit", gegen die "Schwärmerei der Vernunft" für die "Freiheit des Willens" (I, 339). Schelling nimmt in den Briefen eine Zwischenstellung zwischen der praktisch-kritizistischen und der ästhetisch-dogmatischen Lösung der Grundfrage der Philosophie ein. So bleibt Schellings Position in den Briefen letztlich zweideutig.45 Wie das wahrscheinlich im Sommer 1795 verfaßte Gedicht Hölderlins An die Natur zum Ausdruck bringt, ist das Absolute nicht im Geist, sondern in der Natur zu suchen. Die Verschmelzung mit der Natur ist der absolute Urzustand, aus dem heraustretend das Bewußtsein anhebt. Bewußtwerdung geschieht also im Übergang vom göttlichen Traum der intellektuellen Anschauung in das öde Reich der Trennungen und der Reflexion.4^ Am Ende der Briefe kommt Schelling zu dieser "Aussicht" (I, 340) zurück, die der Freund eröffnet hat. Der Zustand der Spekulation, den Schelling hier mit dem reflexiven Denken gleichsetzt, sei "unnatürlich" und sei mit "Unruhe" eines "unbefriedigten Geistes" (I, 341) verbunden, d.h. mit dem Zustand des Herausgetretenseins aus dem Absoluten.

45

Wie in den Briefen so bringt auch das Älteste Systemprogramm Schellings damalige zweideutige Übergangsposition zum Ausdruck und zugleich den Punkt der Abweichung von Hölderlin. Der erste Teil geht von einer Priorität des Praktischen aus, der zweite Teil entpricht der Grundauffassung von Hölderlins Vereinigungsphilosophie in der Schönheitsidee. Zur Urheberschaft Schellings vgl. Kondylis (1979), S. 544 Anm. In einem Brief an den Bruder vom 4. Juni 1799 hebt Hölderlin hervor, daß der Kunsttrieb ("mit allen seinen Modifikationen") als "Dienst" an der Natur zu beschreiben sei. Kunst sei die "Priesterin der Natur". Das verbinde Kunst mit der Philosophie (StA VI, S. 329).

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Vernunftsystem aus unvordenklichem Prinzip

In Hölderlins dreifacher Auslegung des spinozistischen hén kaí pân ist deutlich die dogmatische Position herauszuhören, die Schelling ein bißchen kritizistisch korrigieren möchte: "Eines zu seyn mit Allem, das ist Leben der Gottheit, das ist der Himmel des Menschen. Eines zu seyn mit Allem, was lebt, in seeliger Selbstvergessenheit wiederzukehren in's All der Natur, das ist der Gipfel der Gedanken und Freuden, das ist die heilige Bergeshöhe, der Ort der ewigen Ruhe, wo der Mittag seine Schwüle und der Donner seine Stimme verliert und das kochende Meer der Woge des Kornfelds gleicht. Eines zu seyn mit Allem, was lebt! Mit diesem Worte legt die Tugend den zürnenden Harnisch, der Geist des Menschen den Zepter weg, und alle Gedanken schwinden vor dem Bilde der ewig einigen Welt, wie die Regeln des ringenden Künstlers vor seiner Urania, und das eherne Schicksal entsagt der Herrschaft, und aus dem Bunde der Wesen schwindet der Tod, und Unzertrennlichkeit und ewige Jugend beseliget, verschönert die Welt" (StA III, S. 9). VI. Die Aporie der Frühphilosophie In Schellings Frühphilosophie zeichnet sich ein immer größer werdender Widerspruch zwischen einem der Vernunft vorausliegenden Absoluten einerseits und der diskursiven Vernunft bzw. dem Endlichen andererseits ab. Die Schilderung des Absoluten als absolut identisches Sein geht einher mit einer radikalen Reflexion auf den Ort der Philosophie in der Entzweiung bzw. Endlichkeit. Die darin sich manifestierende Kluft von Absolutem und Endlichem findet ihren Ausdruck in einer doppelten Aporie, die kennzeichnend ist für die gesamte Frühphilosophie (vgl. auch Sandkaulen-Bock (1990), S. 63ff.). Die Aporie betrifft zum einen das Absolute, das zwar das Endliche überhaupt transzendiert, dessen Entstehung aus ihm aber nicht begreiflich zu machen ist; zum anderen betrifft sie das Wissen, das im Subjekt-Objekt-Gegensatz der Endlichkeit befangen, seinen Grund nicht wissentlich einholen kann. Das endliche Subjekt kann die Welt' nur praktisch, nicht theoretisch überwinden - in einer Praxis, die nur in der Kunst adäquat darstellbar ist. Dementsprechend verschiebt sich die Verständigimg über die Implikationen der Kantischen Philosophie von der theoretischen zu einer ontologisch-praktischen und schließlich zu einer ästhetischen Dimension.

Aporie der Frühphilosophie

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Sollen die Schwierigkeiten der Philosophie des Absoluten behoben werden, muß der Hiatus von Absolutem und Endlichem überwunden werden. Dafür schlägt Schelling hintereinander zwei Wege ein: Einerseits wird das Absolute derart neu konzipiert, daß seine Identität den Gedanken der Synthesis und den des Werdens nicht länger ausschließt. Andererseits wird in das absolut identische Sein des Absoluten ein Wissen integriert, das das Absolute nicht mehr vom Standpunkt des Endlichen befragt. Die Konzeption eines im Indifferenzverhältnis zum Absoluten stehenden absoluten Wissens vermag die vernünftige Explikation des Endlichen aus dem Sein des Absoluten zu begründen. Die erste Option führt zur dynamistisch verfaßten Subjekt-Objekt- oder Selbstbewußtseinsphilosophie, zu der auch die Naturphilosophie zählt, die zweite zur Identitätsphilosophie.

2. Kapitel Transzendental- und Naturphilosophie: Das Absolute als Selbstbewußtsein oder Subjekt-Objekt des Geistes Die Aporie der Frühschriften fährt Schelling zu einem philosophischen Neuansatz beim Absoluten als Selbstbewußtsein oder SubjektObjekt, der mit den Abhandlungen 1796/971 beginnt und mit der Schrift Über den wahren Begriff der Naturphilosophie und die richtige Art ihre Probleme aufzulösen (1801)2 endet. Der philosophische Neuansatz ist dadurch ausgezeichnet, daß das transzendentale Selbstbewußtsein als epistemische Voraussetzung des neu gefaßten Absoluten auftritt, während die Frühphilosophie die inhaltliche Bestimmung des Absoluten mit Hilfe einer BegrifTsanalyse des Unbedingten auf direkte Weise gewonnen hat. 3 Das sich in der freien Handlung der Abstraktion von der Welt konstituierende Selbstbewußtsein des Ich ist als Selbstbewußtsein der Subjektivität unterschieden vom Absoluten, das weiterhin ontologisch und nicht transzendental zu verstehen ist. Die Subjekt-ObjektStruktur des Absoluten läßt sich indes nur im Ausgang vom Selbstbewußtsein, das sich im Akt der intellektuellen Anschauung selbst Objekt ist, erreichen. Andererseits geht Schelling mit der im Selbstbewußtsein der Subjektivität zu vergewissernden Subjekt-ObjektStruktur des Absoluten hinter das wesentlich als praktisch gedachte

1

Die in der zweiten Auflage seiner Frühschriften 1809 veröffentlichten Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre erschienen ursprünglich unter dem Titel Allgemeine Uebersicht der neuesten philosophischen Literatur im Jahre 1797 in Niethammers und Fichtes Philosophischem Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrter.

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Geschrieben 1800, erschienen Ende Januar 1801.

3

Zu Recht sind Schellings Abhandlungen in der Forschung als ein unter dem Eindruck fortschreitender Fichte-Lektüre stehender Neuansatz betrachtet worden, der die Metaphysik des Absoluten an die transzendentalphilosophische Reflexion auf die konstitutive Bedeutung der Subjektivität zurückbindet. Vgl. X. Tilliette (1970) (I), S. 122, W. Schulz (1962), S. XVIII, M. Frank (1985), S. 72, M. Boenke (1990), S. 284f., B. Sandkaulen-Bock (1990), S. 66ff.

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Das Absolute als Selbstbewußtsein

Selbstbewußtsein des Ich zurück und gewinnt so den eigentlichen Anfang des Systems im Absoluten "jenseits des Bewußtseyns" (1,442). Schelling geht es um eine durch das transzendentale Prinzip des Selbstbewußtseins fundierte Metaphysik des Absoluten. Er verbindet also das ontologische Absolute spinozistisch-jacobischer Provenienz mit dem Ich Fichtes, das er nun aber als transzendentalphilosophische Begründungsinstanz einsetzt. Während Schelling in den Frühschriften Fichtes Philosophie nur oberflächlich und nur unter seinem eigenen metaphysischen Blickwinkel rezipiert hat, wendet er sich ihm zwischen 1796 und 1800 erst eigentlich zu. Das ambivalente Verhältnis zu Fichte versucht Schelling in der Differenz von Wissenschaftslehre einerseits und System andererseits zu fassen. Die epistemische Fundierung des Absoluten im Prinzip des Selbstbewußtseins der Subjektivität markiert die Legitimität der Wissenschaftslehre. Doch der eigentliche Anfang des Systems liegt hinter dem Prinzip des subjektiven Selbstbewußtseins im absoluten Geist. Die größere Nähe zum Ichbegriff Fichtes, die Schellings Ichbegriff nun aufweist, macht auch eine größere Abstoßbewegung vom Fichteschen Ich bei Etablierung des Absoluten notwendig. Während das Ich der Frühschriften mit dem Absoluten identisch war (das absolute Ich) und als reine Identität in Differenz zum Selbstbewußtsein stand, wird es jetzt als Selbstbewußtsein begriffen, das aber nicht mehr unmittelbar mit dem Absoluten in eins zu setzen ist.·* Das Absolute als solches ist "Geist", der der Trennung von Subjekt und Objekt vorausliegt und so die frühere Kluft zwischen Unendlichem und Endlichem, Identität und Synthesis überbrückt. Seine ursprüngliche bewußtlose Selbstanschauung - die wohl zu unterscheiden ist von der intellektuellen Anschauung des subjektiven Selbstbewußtseins - begründet einen genetischen Prozeß, in dem der unendliche Geist die durch seine Selbstobjektivierung hervorgerufenen Widersprüche austrägt, dadurch seiner selbst bewußt und damit endlich wird. Der Geist strebt in seiner Geschichte, in welcher er zunächst die Natur produziert, nach dem reinen Selbstbewußtsein, das er im Akt der Abstraktion von seinem Produkt - der Natur - er4

Schellings Pichte-Studium wird in dieser Zeit - angeregt durch Hölderlin - intensiver. Er rezipiert einerseits den praktischen Teil der Grundlage der Wissenschaftslehre von 1794, andererseits die Erste und Zweite Einleitung der Wissenschaftslehre von 1797, in der Fichte die im praktischen Teil der Grundlage sich abzeichnende Neufassung des Selbstbewußtseins auszuarbeiten beginnt. Dies betrifft, vornehmlich den Umstand, das Selbstbewußtsein von vorneherein als selbstreflexiv zu verstehen. Das Ich des Selbstbewußtseins wird als Einheit von Anschauung (Unmittelbarkeit) und Begriff (Vermittlung) gefaßt.

Transzendentalphilosophie

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reicht. Darin holt er seine epistemische Voraussetzung als Resultat seiner Genese wieder ein. Die Selbstbewußtseins- oder Subjekt-Objekt-Philosophie bewegt sich also in einem (fehlerhaften) Zirkel. Einerseits setzt das Selbstbewußtsein der Subjektivität das Absolute naturgeschichtlich voraus. Es ist Resultat von dessen Genese. Andererseits hat das Absolute als Geist im Selbstbewußtsein der Subjektivität seine epistemische Voraussetzung. Das Absolute verbleibt somit in der Immanenz des selbstbewußten Ich, das zirkulär in sich zurückläuft (vgl. B. Sandkaulen-Bock (1990), S. 67f.). Die beiden Seiten des Zirkels verteilt Schelling auf zwei Grundtypen der Philosophie: Die epistemische Fundierung des Absoluten im reinen Selbstbewußtsein der Subjektivität begründet die Transzendentalphilosophie, die genetische Herleitung des Ich der Subjektivität führt zur Naturphilosophie. Die Abhandlungen verabsolutieren die eine Seite des Zirkels: Sie stellen die Prinzipiierung des Absoluten durchs Selbstbewußtsein der Subjektivität dar. Die Überlegungen zur eigenständigen Naturphilosophie konkretisieren die andere Seite des Zirkels - die naturgenetische Herleitung des Selbstbewußtseins, die jedoch zum Verlust der epistemischen Basis des Systems führt. Die Aporie, durch die Transzendental- und Naturphilosophie gekennzeichnet sind, mündet zunächst in das Transzendentalsystem 1800. Erst in der Schrift Über den wahren Begriff der Naturphilosophie (1801) entwirft Schelling ein vollständiges System aus dem Prinzip des Selbstbewußtseins, das die Naturphilosophie durch das Denkmodell von dessen Depotenzierung zu prinzipiieren versucht.

I.

Transzendentalphilosophie

1. Das Prinzip der Realität des Wissens als Selbstbewußtsein oder Subjekt-Objekt des Geistes Die Abhandlungen gehen nicht mehr wie die Briefe davon aus, daß die Erfahrung der endlichen Trennung von Subjekt und Objekt die ursprüngliche ist, sondern die ihrer fundamentalen Übereinstimmung, denn "wir halten selbst unsre Erkenntniß nur insofern für

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Das Absolute als Selbstbewußtsein

real, als sie mit dem Gegenstand übereinstimmt" (I, 365).5 Während die Frühphilosophie die endliche Trennung von Subjekt und Objekt aus der Identität des Absoluten herleiten wollte, wird jetzt umgekehrt die Übereinstimmung beider in der Erfahrung aus dem in sich distinkten Subjekt-Objekt-Prinzip des Absoluten begriffen. Die Frage nach der Übereinstimmung von Gegenstand und Vorstellung, von Anschauung und Begriff6, hebt diese gerade auf. Die auf die Übereinstimmung reflektierende Philosophie setzt somit notwendig mit einer trennenden Unterscheidung ein. Während die "wahre Philosophie" (II, 14) in der Trennung das Prinzip der Einheit gewinnt, vergißt die "Reflexionsphilosophie" über der Trennung die Einheit und kann den Gegensatz von Subjekt und Objekt nur noch "mechanistisch" durch Begriffe und Schlüsse vermitteln. Die reflexionsphilosophische Erklärung der Erkenntnis hält gegen die ursprüngliche Einheit am Gegensatz von Subjekt und Objekt fest und kann deren Beziehung nur nach Maßgabe von Ursache und Wirkung f a s s e n . 7 Entweder wird wie im Realismus das Ich auf den passiven Effekt einer Einwirkung der Außenwelt reduziert oder wie im idealistischen Nihilismus die Wirklichkeit zu einem bloßen "Schein" (I, 362) herabgesetzt, wodurch sich die Welt in "ein Spiel von Begriffen" (II, 19) verwandelt. Obgleich Schelling Jacobis Kritik an Kants Dingan-sich teilt (vgl. II, 17)8, nimmt er Kant gegen die Konsequenzen βίε

Mit der Frage, was "denn am Ende das Reale in unsern Vorstellungen" (I, 353) sei, rehabilitiert Schelling den theoretischen Teil der Philosophie, der in den Briefen zugunsten der praktischen Philosophie vernachlässigt worden war.

6

Schelling hebt den Abstraktionscharakter des Begriffs hervor. Begriffen werden wir uns nur "im Gegensatz gegen die Anschauung" (I, 371) bewußt, also durch Abstraktion von der Anschauung. Das Vermögen der Abstraktion ist in der Fähigkeit des endlichen Subjekts begründet, "die ursprüngliche Handlungsweise [des Geistes] in der Anschauung frei zu wiederholen" (I, 370). Der Begriff ist mithin "nur die nachgeahmte Anschauung" des Geistes (I, 393). "Indem ich die ursprüngliche Handlungsweise des Geistes in der Anschauung frei wiederhole, d.h. indem ich abstrahire, entsteht Begriff" (I, 371).

7

Vgl. Schellings Kritik der Reflexion als "eine[r] Geisteskrankheit des Menschen" (II, 13) in der Einleitung zu den Ideen (1797). Schellings Wendung zur Natur liegt für W. Wieland in Schellings Kritik des reflektierenden Denkens begründet (vgl. W. Wieland (1975), S. 261).

8

Die Einsicht in die Inkonsistenz des Kantischen Begriffs vom Ding-an-sich ist eines der wichtigsten Argumente für den Übergang von Kants Transzendentalphilosophie zum Idealismus Fichtes, Schellings und Hegels. Sie wurde wesentlich durch Jacobi mit auf den Weg gebracht. Nach Jacobi ist die Theorie des Ding-ansich von Kants eigener Konzeption her ebenso notwendig als auch unhaltbar, ein Widerspruch in sich. Einerseits soll die Affektion der Sinne durch das Ding-ansich verursacht sein, andererseits gehört die Kategorie der Ursache zur Verías-

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nes idealistischen Nihilismus in Schutz. Gegenüber der idealistischen Verwandlung der Welt in bloßen Schein ging es Kant darum, "die Realität unsers Wissens zu sichern" (I, 363), und das ist das, "was er meiner Einsicht nach wollen mußte, wenn seine Philosophie in sich selbst zusammenhängen sollte" (I, 375). Schelling verfolgt also weiterhin das Ziel, Kants Philosophie bzw. dessen "Geist" zu vollenden. Die Widerlegung des erkenntnistheoretischen Dualismus in der Frage nach der Realität des Wissens, die zunächst gegen unter dem Titel "Schüler Kants" zusammengefaßte Autoren gerichtet ist, macht es jedoch erforderlich, auch dasjenige Argument Kants zu widerlegen, das trotz dessen Kritik am Dualismus doch in diese Richtung weist, nämlich das Argument vom ursprünglich unsere Sinne affizierenden "Dinge an sich". Schelling entlarvt es im Rückgriff auf Jacobi als "Hirngespinst" (I, 357).s Schellings Kritik am erkenntnistheoretischen Dualismus ist an Jacobis Verdikt des Wissens als eines bloßen Mechanismus orientiert. Gegen den reflexionsphilosophischen Mechanismus macht Schelling Jacobis These von der Gleichursprünglichkeit von Weltund Ichbewußtsein geltend, die der Erfahrung ihrer unmittelbaren Übereinstimmung Rechnung trägt.™ Während sie für Jacobi unbegreiflich, weil reflexionsphilosophisch nicht faßbar ist, versucht sie Schelling aus einem Prinzip zu erklären, ohne jedoch in den Mechanismus zurückzufallen. Schellings Idealismus versucht also, Jacobis Fundamentalglaube philosophisch einzuholen. Im Unterschied zur mechanistischen Reflexionsphilosophie gewinnt Schelling das vorläufige Prinzip der Einheit im Fürsichsein des Selbstbewußtseins, das mit dem Akt der Abstraktion des Subjekts sung des Subjekts, kann sich daher nur auf Erscheinungen beziehen, nicht aber darauf, wie die Dinge an sich selbst sind: "Ich muß gestehen", erklärt Jacobi, "daß dieser Umstand mich bey dem Studio der Kantischen Philosophie nicht wenig aufgehalten hat, so daß ich verschiedene Jahre hintereinander die Kritik der reinen Vernunft immer wieder von vorne anfangen mußte, weil ich unaufhörlich darüber irre wurde, daß ich ohne jene Voraussetzung in das System nicht hineinkommen, und mit jener Voraussetzung darin nicht bleiben konnte" (Jacobi, Werke Bd. II, S. 304). 9

Auch die Kritik des Idealismus als eines Nihilismus einschließlich der Rede von den "Gespenstern" geht auf Jacobi zurück (vgl. Jacobi, Werke Bd. II (David Hume), S. 216f.). "Friedrich Heinrich Jacobi hat den Verdacht geäußert, Fichtes Ich sei ein Gespenst" (D. Henrich (1966), S. 204).

10 Vgl. dazu Jacobi, Werke Bd. II (David Hume): "Ich erfahre, daß ich bin, und daß etwas außer mir ist, in demselben untheilbaren Augenblick; [...] keine Vorstellung, kein Schluß vermittelt diese zwiefache Offenbarung [...]" (S. 175), "[sondern nur] das Wort Glauben" (S. 146). Glaube steht bei Jacobi also für ein präreflexives Selbst- und Weltverhältnis.

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Das Absolute als Selbstbewußtsein

vom Objekt, im Sicherheben über die unmittelbare Erscheinungswelt zum Vorschein kommt (vgl. I, 365f.). Schelling schließt sich damit Fichtes Deutung des Ich als Selbstbewußtsein an. Doch läßt er sich auf Fichtes Theorie wie in der Frühphilosophie nur ein, um seine systematischen Probleme zu lösen, die nicht im IchbegrifF als solchem, sondern in dem des Absoluten liegen. Mit Fichte erfolgt die Etablierung des Prinzips im selbstbewußten Ich der Subjektivität, so wie es sich in der Abstraktion von der Erscheinungswelt konstituiert. Anders aber als für Fichte ist für Schelling das Selbstbewußtsein nicht unhintergehbare Bedingung des Bewußtseins des Objekts, das somit nur vom Ich aus gedacht werden kann. Der Gegensatz von Ich und Nicht-Ich, der nach Fichte nur aus der Perspektive des Ich interpretiert werden kann, begründet den "Zirkel" der Wissenschaftslehre, "dass der endliche Geist nothwendig etwas absolutes ausser sich setzen muss (ein Ding an sich) und dennoch von der anderen Seite anerkennen muss, dass dasselbe nur für ihn da sey (ein nothwendiges Noumen sey) [...]" (Fichtes Werke I, 281). Auch Fichtes Theorie ist unaufgehobener Dualismus. Diesen später von Schelling im System 1801 als "Standpunkt der Reflexion" (IV, 109) bezeichneten Fichteschen Standpunkt will Schelling bereits in den Abhandlungen überwinden. Vom Selbstbewußtsein der Subjektivität als dem bewußten Ich ausgehend erschließt sich Schelling in einem zweiten Schritt die Struktur einer ursprünglichen Selbstanschauung als Subjekt-ObjektIdentität, die als Absolutes allem Bewußtsein vorausliegt, und die Schelling im Unterschied zum Ich, dem notwendig ein Nicht-Ich gegenübersteht, "Geist" nennt (vgl. I, 366f.). Mit dem Geistbegriff knüpft Schelling an das Absolute der Frühschriften an, gibt ihm aber eine andere Interpretation. Als Subjekt-Objekt-Identität ist es nicht das identische Sein, das alle Beziehung von sich ausschließt, vielmehr hat es die Struktur des Selbstbewußtseins, das als Beziehung auf sich zustande kommt, also von reflexiver Wesensstruktur ist. Vom Prinzip des Selbstbewußtseins übernimmt das Absolute als Geist also die Subjekt-Objekt-Struktur. Aus dieser folgt weiterhin, daß das Absolute als Tätigkeit, als Aktivität zu fassen ist. Es besteht nicht im Verhältnis eines ruhenden Seins, sondern muß als "Handeln" (I, 367) bzw. "ewiges Werden" (ebd.) verstanden werden. "Der Geist also soll für sich selbst Objekt - nicht seyn, sondern - werden" (ebd.). Das ursprüngliche Selbstbewußtsein des Absoluten oder sein Werden ist als unendlicher Prozeß aufzufassen. Das Neue an den

Transzendentalphilosophie

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Abhandlungen ist also der Begriff des Absoluten als "Geist" und seine dynamische Subjekt-Objekt-Struktur. In welchem Verhältnis steht nun das Absolute qua Geist zum bewußten Ich? Die ursprüngliche bewußtlose Selbstanschauung, die unmittelbar Objektanschauung ist, weil das Subjekt im Produzieren seiner Objekte nur sich selbst produziert, ist zwar gewonnen aus dem Prinzip des selbstbewußten Ich, dann aber in den vorbewußten Geist verlegt, dessen Genese zunächst identisch mit der Natur ist. Letztere "ist selbst nur eine fortgehende Handlung des unendlichen Geistes, in welcher er erst zum Selbstbewußtseyn kömmt" (I, 361). Das Selbstbewußtsein der Subjektivität ist also nicht identisch mit dem Geist, der jenem vielmehr als ursprüngliches Selbstbewußtsein vorausliegt. Das Selbstbewußtsein der Subjektivität faßt Schelling terminologisch als "reine[s] Selbstbewußtseyn" (I, 382). Zu ihm strebt der Geist im Verlauf seiner Naturgenese, um es schließlich im Akt der Abstraktion von der Natur zu erreichen und in ihm zum Bewußtsein seiner selbst zu gelangen. Dieser genetischen Betrachtungsweise steht jedoch die epistemische entgegen: Da die Vergewisserung des Absoluten nur im Akt des "Ich bin" gewonnen werden kann, das Absolute in dieser Hinsicht also mit dem bewußten Ich zusammenfallt, kann die Unterscheidung von Selbstbewußtsein der Subjektivität und Selbstbewußtsein des Geistes, durch die das System in seiner Genese allein in Gang kommt, nicht aufrechterhalten werden. Das größte Problem des neuen Prinzips besteht also im Problem seiner Vergewisserung. Die Notwendigkeit der epistemischen Vergewisserung des Absoluten im Akt des Selbstbewußtseins zeigt, daß Schelling den Standpunkt jenseits des Bewußtseins bzw. jenseits des Rahmens der Wissenschaftslehre noch nicht ausweisen kann. Die Umdeutung des Absoluten der Frühschriften nach dem Leitfaden des Selbstbewußtseins läßt Schelling in den Abhandlungen kein vom Selbstbewußtsein unterschiedenes Absolutes festhalten. Auf der anderen Seite ist es deutlich Schellings Intention, hinter das Bewußtsein und damit hinter das Fichtesche Ich zurückzugehen und seine Struktur einem Absoluten qua Geist zuzusprechen, dessen Bewußtwerdung sich als genetischer Prozeß entfaltet, der bis zum Akt der Abstraktion von der Natur mit der Natur identisch ist. Der transzendentalphilosophische Einsatz der Philosophie beim Selbstbewußtsein steht dem geistmetaphysischen Einsatz beim Absoluten qua Geist schroff gegenüber. Entweder ist das Absolute immer schon vom Selbstbewußtsein her vermittelt oder umgekehrt. Es fragt sich, nach welcher Seite sich die

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Das Absolute als Selbstbewußtsein

wechselseitige Vermittlung von Absolutem und Selbstbewußtsein auflöst. Das neue Prinzip führt zu weiteren Modifikationen. Wird das Fürsichsein als Akt begriffen, in dem das Selbstbewußtsein zustande kommt, kann ich des Prinzips nur inne werden, wenn ich mich selbst als Selbstbewußtsein "construirte]". Darin ist das Prinzip Postulat (I, 449f.). Die Deutung des Prinzips als Postulat wird von Schelling gegen die Grundsatzphilosophie Reinholds und Fichtes ins Feld geführt (vgl. I, 444ff.), nach deren Vorbild er in der Frühphilosophie das Prinzip selbst als Grundsatz gefaßt hat. Die Neufassung des Prinzips als Postulat, die dem Tätigkeitscharakter des Ich Rechnung trägt, macht den früheren Ichbegriff rückgängig." Das Ich als absolut-identisches Sein wird abgelöst vom Ich als synthetischer Handlung und Tätigkeit. Der dynamische Tätigkeitscharakter des Seins impliziert zugleich eine Absage an den Substantialismus Spinozas, mit dem Schelling in bezug auf das Sein des Absoluten einig war. Nicht zufällig kommt Schelling zu Beginn der Identitätsphilosophie auf Spinoza zurück, denn in dem Moment, in dem das Absolute nicht mehr nach dem Modell des Selbstbewußtseins interpretiert wird, verliert es auch seinen Tätigkeitscharakter und erstarrt erneut zu eleatischem Sein. Mit dem neuen Prinzip geht weiterhin eine Modifikation der intellektuellen Anschauung einher. Die intellektuelle Anschauung wird eindeutig der Konstitution des Selbstbewußtseins zugeordnet, worin der Geist in Abstraktion von seiner vorbewußten Natur zum 11

Schellings Strategie, das neue Prinzip als Postulat mit dem früheren Prinzip als Grundsatz kompatibel erscheinen zu lassen, muß als mißlungen angesehen werden, zeigt aber sein Bedürfnis nach Kontinuität (vgl. seine Antikritik zu einer Rezension der Ichschrift (I, 242ff.)). - Schelling war nur kurze Zeit Anhänger der Philosophie aus einem Grundsatz. Bereits in der Ichschrift ist die Grundsatzidee nicht mehr anzutreffen. Die Kritik an der Grundsatzphilosophie verstärkt sich in den Briefen und führt in den Abhandlungen zur Behauptung, die Philosophie dürfe nicht von einem Grundsatz ausgehen, sondern ihr Prinzip müsse Postulat sein. - Die Grundsatzidee in der nachkantischen Diskussion geht auf Reinhold zurück (vgl. Horstmann (1991), S. 104ff.). Diskutiert wurde sie in Niethammers Philosophischem Journal. Diese Zeitschrift hatte die Absicht, die Diskussion über die Methode der Philosophie und über die Schwierigkeiten einer Grundsatzphilosophie fortzuführen. Fichte war es, der in seiner Begriffsschrift Reinholds Grundsatzphilosophie wiederaufnahm. Möglicherweise ist Schelling durch Niethammer von der Grundsatzidee abgekommen (vgl. Henrich (1991), S. 245ff.). Über Hölderlin, dessen Mentor Niethammer in Jena war, kann diese Kritik Niethammers an der Grundsatzphilosophie an Schelling übermittelt worden sein. Der tiefere Grund fiir diesen Meinungswechsel dürfte in der veränderten Auffassung über die Struktur des Absoluten liegen. Seit den Abhandlungen betont Schelling die dynamische Tätigkeitsstruktur des Absoluten.

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Bewußtsein seiner selbst gelangt. Als unmittelbare Selbstvergewisserung des Ich kann sie nicht die ursprüngliche bewußtlose Selbstanschauung sein, in der der Geist mit der Natur identisch ist. Schelling kommt hier in größte Nähe zu Fichte. Die intellektuelle Anschauung, vormals die bewußtlose Versenkung in das relationslose Sein des Absoluten, die daher gerade kein Bewußtseinsmodus des Ich ist, wird qua Selbstanschauung des sich bewußtwerdenden Ich zu einem Bewußtseinsmodus, was den Standpunkt jenseits des Bewußtseins ausschließt und sich nur gegen ein Nicht-Ich profilieren kann. Die intellektuelle Anschauung der Abhandlungen ist also nicht mehr das Moment des Untergangs des Bewußtseins, sondern "intellektuelle Anschauung seiner selbst" (I, 401).

2. Dialektik und Geschichtlichkeit des Absoluten qua Geist Aufgrund der neuen Struktur des Absoluten ist das Ausgangsproblem der Frühschriften gelöst. Dadurch, daß der Geist aufgrund seiner Selbstobjektivierung "die ursprüngliche Vereinigung von Unendlichkeit und Endlichkeit" (I, 367) darstellt, wird die vormalige Kluft von Unendlichem und Endlichem überbrückt. Angesichts des Scheiterns der Versuche in der Ichschrift, das Endliche aus dem Unendlichen herzuleiten, ist der ins Praktische gewendete Immanenzgedanke Spinozas in den Briefen die einzig plausible Erklärung für das Rätsel der Welt. Diese Umdeutung des spinozistischen Immanenzgedankens stand gleichzeitig für die Unmöglichkeit, systematisch vom Absoluten auszugehen, und für die Möglichkeit, nur praktisch vom Endlichen zum Unendlichen zu streben, ohne es jemals zu erreichen. Die Praxis hat die Kluft zwischen Endlichem und Unendlichem, die der Immanenzgedanke unterstellt, nur scheinbar überbrückt. Mit der Konzeption der Dialektik des Geistes widerruft Schelling die praktisch interpretierte Immanenz. Damit entfällt auch der Rekurs auf Spinoza, dem er mit Jacobi vorwirft, das Dasein der Welt in Wahrheit nicht erklären zu können. Die Frage nach dem Übergang vom Unendlichen zum Endlichen findet sich nämlich nur da, wo von einem das Endliche überhaupt transzendierenden Absoluten ausgegangen wird, kann aber von einem solchen aus gerade nicht beantwortet werden. In der Herausarbeitung der Struktur des Geistes als einer Unendlichkeit und Endlichkeit in sich vereinigenden Indivi-

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Das Absolute als Selbstbewußtsein

dualität greift Schelling in der Folge auf die Monadenlehre von Leibniz zurück (vgl. I, 357), der die Nachfolge Spinozas antritt. Die Vereinigung von Unendlichkeit und Endlichkeit, die der Geist darstellt, ist in sich dialektisch und dynamisch strukturiert. Sie wird zum Movens der geschichtlichen Genese des Selbstbewußtseins, weil sie einen Widerspruch in Form zweier "entgegengesetzte^ Handlungsweisen" (I, 368) des Geistes in sich enthält, "deren eine ursprünglich unendlich, die andere ursprünglich endlich" (I, 368) ist. Die ursprüngliche Handlung der Selbstanschauung, wodurch der Geist sich beständig selbst zum Objekt wird, versetzt ihn in einen Widerstreit mit sich selbst, den er zugleich aufzuheben versucht. Im Verlauf seiner Genese entstehen auf diese Weise die Gegenstände seiner Selbstanschauung als synthetische Produkte seiner Tätigkeit, mit denen er solange identisch ist, als er sie nicht als Produkte von sich unterscheidet. Zum Bewußtsein seiner selbst kommt er im reinen Selbstbewußtsein der Subjektivität, das sich in der Abstraktion von der Erscheinungswelt konstituiert. Auf dem Weg zum reinen Selbstbewußtsein sind die Produkte die notwendige Vergegenständlichung seiner selbst. Die Welt ist mithin "nichts anders, als unser schaffender Geist selbst in unendlichen Produktionen und Reproduktionen" (I, 360). Der Geist - ein ursprünglich Nicht-Objektives - steht unter dem Gesetz der Selbstobjektivierung: Er "wird Objekt nur durch sich selbst, durch sein eigenes Handeln" (I, 367), welches für die Vorstellung "Unabhängigkeit von unserem Handien, Selbstdaseyn" (I, 370) besitzt. So enstehen in der Objektivierung der Handlungsweise des Geistes Objekte und Vorstellungen von diesen Objekten. Die Selbstobjektivierung des Geistes entfaltet sich in einer unendlichen Reihe von Handlungen, die Schelling als "Geschichte des Selbstbewußtseins" (I, 382) begreift, deren Telos das reine Selbstbewußtsein ist. 12 Wie später in der Naturphilosophie und im Transzendentalsystem 1800 in ausführlicher Weise kennzeichnet Schelling bereits in den Abhandlungen die Geschichte des Geistes in aufeinander aufbauenden "ZuständeM' (I, ebd.) (später "Epochen") von Materie, Empfindung, 12 Hatte Fichte nicht ebenfalls die Gegenstandssetzung, die er in seiner Vorstellungstheorie entwickelte (vgl. Fichtes Werke I, 216-291), als unbewußte und transzendentale Tätigkeit verstanden und die Reihe der Denkformen als "pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes" (ebd., 222) bezeichnet? Schellings "Geschichte des Selbstbewußtseins", die er zunächst im transzendentalen Rahmen entwirft und dann geistmetaphysisch verankert, unterscheidet sich von der "pragmatischen Geschichte" Fichtes durch ihren ontologischen Anspruch, in dem sie mit dem früheren jacobisch-spinozistischen Programm verbunden bleibt.

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Sukzession, mechanischer Bewegung und schließlich Organismus. Damit ist bereits das ganze Programm des "transcendentalen Idealismus" (I, 427) benannt. Die dialektische Geiststruktur, die die transzendentale Geschichte des Selbstbewußtseins begründet, markiert eine deutliche Differenz zu Fichte und Kant einerseits und zu Schellings eigener Frühphilosophie andererseits. In einer platonisierenden Kantauslegung versucht Schelling die Kantische Erkenntnistheorie, die im Gegensatz von Subjekt und Objekt befangen bleibt, über sich hinauszutreiben. In die synthetische Selbstkonstruktion des Geistes integriert Schelling wieder die im Timaios-Kommentar anhand des Platonischen Philebos entwickelten dialektischen Grundkategorien ápeiron, péras, und koinón, indem er sie auf die entgegengesetzten Handlungsweisen und deren Einheit verteilt (vgl. I, 356f.). Die Genese der Erkenntnis aus der "ursprünglichen, transcendentalen Synthesis der Einbildungskraft in der Anschauung" (I, 357) kommt so ohne Rekurs auf das Kantische Theorem vom Ding-an-sich aus. Die Einheit von Form und Materie, von Subjekt und Objekt, hebt die Kantische Dualität von Ich und Ding-an-sich auf und gibt der Erkenntnistheorie zugleich ontologische Bedeutung (vgl. I, 358). Fichtes "Standpunkt der Reflexion" löst Schelling durch den der "Produktion" ab (vgl. IV, 109). Die Unterscheidung von Ich und Nicht-Ich ist keine irreduzible, sondern eine aus der Produktion selbst abgeleitete. Daher kann Schelling auf den "Anstoß" (Fichtes Werke I, 210) verzichten. Die Subjekt-Objekt-Dialektik des Geistes bzw. des Selbstbewußtseins entfaltet sich vollständig autonom. Mit der Subjekt-Objekt-Dialektik des Geistes löst Schelling auch die Aporie der Ichschrift, die in der Kluft zwischen absoluter Identität einerseits und Nicht-Ich andererseits begründet lag, indem sie ihre Momente nicht länger zwischen diesen beiden Polen aufteilt. Die Handlung der Einschränkung ist die eigene Subjekt-Objektivierung des Geistes selbst, wodurch er unendlich und endlich zugleich ist. Hatte Schelling in den Briefen aufgrund der Aporie der Ichschrift auf die Dialektik der Synthesis zugunsten der einfachen Identität verzichtet, so wird in den Abhandlungen Dialektik wieder rehabilitiert und in das Absolute integriert. Mit der Epoche des Organismus ist der theoretische Teil der Geschichte des Selbstbewußtseins abgeschlossen (vgl. I, 395). Die Handlung, die dem Geist zum reinen Selbstbewußtsein verhilft, ist aus der theoretischen Geschichte des Geistes nicht ableitbar; sie ist vielmehr die Handlung, "wodurch der Geist vom Objekt sich losreißt"

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(I, 394), um sich seines Handelns unmittelbar bewußt zu werden, "was wieder nicht geschehen kann, ohne daß er schlechthin handle" (I, 395), also genau die, die die ursprüngliche Handlung der Trennung von Ich und Welt, die das freie Fürsichsein konstituiert, wiederholt. Sie bezeichnet Schelling als "Selbstbestimmung" (I, 394) des Geistes oder als "Wollen" und ist wesentlich praktischer Natur. "Schlechthin Handeln aber heißt Wollen. Also wird der Geist nur im Wollen seines Handelns unmittelbar bewußt" (I, 395). Das reine Selbstbewußtsein des Geistes setzt also Freiheit und diese die Aufhebung der Identität von Geist und Natur voraus. War der Akt der Abstraktion zunächst vorausgesetzt, um in ihm die Subjekt-Objekt-Struktur von Selbstanschauung überhaupt zu gewinnen, so ist er jetzt eingeholt von der Geschichte als Resultat, indem er zugleich in seinem praktischen Charakter zur Darstellung kommt. Indem die Selbstanschauung als Selbstbestimmung die Handlung ist, die die theoretische und praktische Philosophie im Übergang von Natur zur Freiheit verbindet, wird sie zum Prinzip des ganzen Systems: "Der Geist ist ein ursprüngliches Wollen" (I, 395): "Dieß ist nun diejenige Handlung, welche wir gleich anfangs gesucht haben, die Handlung, welche theoretische und praktische Philosophie vereinigt" (ebd.). "Wollen" ist theoretisch und praktisch zugleich, wobei "Selbstanschauung" den theoretischen Aspekt, "Selbstbestimmung" den praktischen Aspekt des Prinzips abgibt. Das auf dem Prinzip des Selbstbewußtseins basierende System des absoluten Geistes vereinigt also in sich theoretische und praktische Philosophie. Während die theoretische Philosophie die "Realität des menschlichen Wissens" (I, 375) zu erweisen hat, macht die praktische Philosophie die Realität der Wirklichkeit, "die wir nicht erdacht noch erschlossen haben" (ebd.) zu ihrem Gegenstand. Schon in Kants Philosophie sieht Schelling "die ursprüngliche Synthesis theoretischer und praktischer Philosophie ausgedrückt" (I, 397). So wie "die theoretische Philosophie in ihren ersten Principien schon die praktische" voraussetzt, ebenso "setzt auch praktische Philosophie die theoretische voraus" (I, 399). Diese wechselseitige Voraussetzung ist nach Schelling nur möglich, weil beide "von einem absoluten Zustand des menschlichen Geistes ausgehen [...], in welchem er weder theoretisch noch praktisch ist, aus welchem es aber einen gemeinschaftlichen Uebergang in das Gebiet des Theoretischen sowohl als des Praktischen geben muß" (I, 399). Ein solcher Übergang kann nur im "Selbstbestimmen des Geistes" (ebd.), d.h. als absolutes Wollen gedacht werden. Hatte Fichte in der Verhältnisbestimmung von

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theoretischer und praktischer Philosophie einen Primat des Praktischen vor dem Theoretischen ausgemacht (vgl. Fichtes Werke I, 126), so unterlegt Schelling beiden Teilen der Philosophie im Rückgriff auf Leibniz' Monadenlehre eine Willensmetaphysik. Mit Leibniz wird "(die Autonomie des Willens) zum Princip der gesammten Philosophie erweitert" (I, 409), die dadurch "mit Recht die höhere Philosophie heißen kann, weil sie ihrem Geist nach weder theoretisch noch praktisch allein, sondern beides zugleich ist" (ebd.). Die Abhandlungen lösen somit den "heroischen" Spinozismus des absoluten Ich durch eine ontologische Willensmetaphysik des absoluten Geistes ab.

3. Die Aporie der Transzendentalphilosophie Schellings Konzept der Transzendentalphilosophie erweist sich als aporetisch, weil es zweierlei nicht zur Deckung bringt: das transzendentale Prinzip des Selbstbewußtseins und den geistmetaphysischen Ausgang beim Absoluten qua Geist. Zwar vermeidet Schelling den Zirkel der Transzendentalphilosophie Fichtes, indem er hinter das Prinzip des Selbstbewußtseins auf ein Absolutes qua Geist zurückgeht, das der Trennung von Ich und Nicht-Ich vorausliegt, gerät aber in einen anders gearteten Zirkel: Einerseits ist das Selbstbewußtsein der Subjektivität, so wie es in der Abstraktion von der Natur im Übergang von der theoretischen zur praktischen Philosophie zustande kommt, vermittelt und ermöglicht durch das Absolute als Geist, das ihm als Bewußtloses vorausliegt und in Form einer "Geschichte des Selbstbewußtseyns" (I, 382) im Rücken liegt. Andererseits muß der Ausgangspunkt notwendig im bewußten Ich liegen, denn nur hier ist die Struktur des Geistes als Subjekt-Objekt-Identität gewiß, nach deren Muster die Genese des Absoluten von der Natur bis zum reinen Selbstbewußtsein allein begriffen werden kann. Nach dieser Seite erweist sich das System des absoluten Geistes als immanenter Entwurf des bewußten Ich, als eine Projektion des Selbstbewußtseins.13 In der beschriebenen Zirkelstruktur kommt die Aporie eines doppelten Prinzips zum Ausdruck: Das Prinzip ist einerseits das transzendentalphilosophische Prinzip des Selbstbewußtseins, anderer13

Bereits I. Gärland (1973) hat die Zirkelstruktur wenngleich begriflslos benannt. Einerseits ist fiir sie der Geist das Prinizip (vgl. S. 11), andererseits das philosophierende Ich (vgl. S. 134). Es bleibt ein Verdienst der Interpretation von B. Sandkaulen-Bock, den fehlerhaften Zirkel im Konzept der Abhandlungen in aller Klarheit herausgearbeitet zu haben (vgl. Sandkaulen-Bock (1990), S. 67, 78f., 90).

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seits das ontologische des ursprünglich bewußtlosen Geistes. Solange das Selbstbewußtsein die epistemische Basis abgibt, solange bleibt Fichtes Wissenschaftslehre verbindlicher Rahmen fur Schellings System, so daß es das über das Selbstbewußtsein hinausgehende Absolute als Natur nur als beständige Grenzüberschreitung realisieren kann, die prinzipientheoretisch nicht abgesichert ist. Der ontologische Standpunkt jenseits des Bewußtseins ist in den Abhandlungen nicht ausgewiesen. Wie im Ausgang vom Prinzip des Selbstbewußtseins eine vom Ich unabhängige Naturphilosophie möglich sein soll, ist noch nicht abzusehen. So läßt sich als Resultat der Abhandlungen folgendes zusammenfassend festhalten: Im Bemühen, im transzendentalphilosophischen Prinzip des Selbstbewußtseins das Absolute der Frühschriften zu reformulieren, und so den Ausgang vom Unbedingten epistemisch zu fundieren, ist die Konzeption der Selbstbewußtseins- oder SubjektObjekt-Philosophie in die Kollision zwischen transzendetalphilosophischem Begründungsanspruch durchs Selbstbewußtsein und ontologischer Intention, den Ausgang vom Absoluten als dem Unbedingten zu nehmen, geraten, die letztere in Frage stellt. Wie lassen sich die Grenzen, die dem Absoluten im Selbstbewußtsein der Subjektivität gezogen sind, durchstoßen? Angesichts des gewissen Einschnitts in der philosophischen Entwicklung Schellings, der mit den Abhandlungen zutage tritt, soll eine kurze Zusammenfassung des bisher Dargelegten gegeben werden. Schellings anfängliche philosophische Bemühung war davon geleitet, den Gehalt der kritischen Philosophie Kants durch die Ergänzung der ihr fehlenden Prinzipien zu sichern. Schelling realisiert dieses Vorhaben mit dem philosophischen Programm einer "Ethik à la Spinoza", das Jacobi, Spinoza und Fichte zu synthetisieren versucht. Schellings Philosophie aus unvordenklichem Prinzip geht vom Absoluten als dem Unbedingten aus, um von da aus das gesamte, in der kritischen Philosophie Kants niedergelegte Wissen als System zu deduzieren. Von Jacobi übernimmt Schelling die Zweifel an der Ursprünglichkeit und Unhintergehbarkeit der diskursiven Vernunft. Bereits in den ersten Anfängen seiner Philosophie ist die Tendenz zu spüren, die letzte Instanz der Philosophie, die Vernunft selbst, noch einmal auf ihren unvordenklichen Ursprung hin zu ergründen. Daß das absolute Prinzip nicht Objekt für ein Wissen sein könne, hatte Kant bereits gezeigt. Daß es dieses Prinzip aber dennoch geben könne, und zwar im Subjekt selbst in Gestalt eines zur absoluten Gewißheit erhobenen Ich, diese Möglichkeit hatte Fichte aufgewie-

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sen. Bei näherer Bestimmung des Ichbegriffs zeichnet sich jedoch eine grundlegende Differenz zwischen Schelling und Fichte ab. Fichtes Ich ist als absolute Subjektivität konzipiert, während Schellings absolutes Ich von Ánfang an die Subjekt-Objekt-Relation insgesamt transzendiert. Schellings Ichbegriff erhält die ontologische Bedeutung der spinozistischen Substanz. Seine Frühphilosophie kulminiert somit in einer Vollendung Spinozas zu einem heroischen Spinozismus des absoluten Ich. Die Frühphilosophie steht vor dem Dilemma, einerseits die endliche Form aus dem absoluten Ich zu deduzieren und damit das Ich mit der Endlichkeit in Verbindung zu bringen, andererseits das Ich als absolutes, die Endlichkeit transzendierendes Sein behaupten zu müssen. Weder das eine noch das andere gelingt ihr. Auch das praktische Streben des Endlichen zum Unendlichen überbrückt die Kluft zwischen Endlichem und Unendlichem nur scheinbar. Selbst die intellektuelle Anschauung bietet hier keinen Ansatzpunkt. Als Theorie des 'Sichverlierens' im Absoluten bleibt sie unbrauchbar für die Konstitution eines 'lebendigen' Vernunftsystems. Das Ziel, eine konsistente Synthese von Jacobi, Spinoza und Fichte, erreicht die Frühphilosophie nicht. Mit dem Neuansatz der Selbstbewußtseins- oder Subjekt-ObjektPhilosophie wird das Absolute der Frühschriften im transzendentalphilosophischen Prinzip des Selbstbewußtseins reformuliert. Das relationslose Sein des absoluten Ich löst sich in die dynamische Subjekt-Objekt-Struktur des Selbstbewußtseins auf, nach dessen Muster auch das Absolute qua Geist zu denken ist, das die ganze Welt aus sich generiert und im reinen Selbstbewußtsein zu sich kommt. Da sich die Subjekt-Objekt-Struktur des Absoluten nur in bezug auf das seiner selbst bewußte Ich erschließen läßt, bleibt der Standpunkt jenseits des Bewußtseins allerdings nur eine Projektion des Selbstbewußtseins der Subjektivität. Dieser Rückblick zeigt, daß in Wahrheit das von Schelling erstrebte Absolute als Einheit von Subjekt und Objekt bloß im Rahmen eines subjektiven Idealismus verbleibt, solange Objektivität lediglich der Status eines bloß durchs Subjekt zu Objektivierenden zukommt. Sollten Subjekt und Objekt eine wirkliche Einheit bilden, so müßte derselbe Prozeß des Subjekt-Objekt ebenso für das Objekt gelten und als Prozeß der Subjektivierung des Objekts verstanden werden können. Dieselbe "Stufenfolge", die der Geist unter der transzendentalphilosophischen Perspektive des Subjektiven vom unbewußten zum

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be wußten Subjekt-Objekt im reinen Selbstbewußtsein durchschreitet, müßte umgekehrt die Natur unter der Perspektive des Objektiven durchlaufen, indem sie sich von der ersten anorganischen Materie bis hin zum Menschen 'organisiert'. Dieser Gedanke ist der Ursprung von Schellings Naturphilosophie. II. Grundzüge der Naturphilosophie Schellings 1. Entwicklung und philosophische Bedeutung von Schellings Naturphilosophie Schelling beschäftigt sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten mit Naturphilosophie. In der Entwicklung von Schellings Naturphilosophie lassen sich drei Phasen unterscheiden. Die von 1795 bis 1798 erschienenen Schriften sind als angewandte theoretische Philosophie konzipiert und stellen dementsprechend einen integrativen Teil der Transzendentalphilosophie dar. Hier steht Schelling noch stark in Abhängigkeit vom transzendentalphilosophischen Ansatz Fichtes, den er geistmetaphysisch abwandelt. In der zweiten Phase wird die Naturphilosophie als eigenständige Wissenschaft begründet und durchgeführt. Hier steht die Naturphilosophie der Transzendentalphilosophie gegenüber. In der identitätsphilosophischen Phase ab 1801 wird die Naturphilosophie verbunden mit der Transzendentalphilosophie in das Identitätssystem als dessen realphilosophische Teile integriert. 14 Der Sache nach knüpft Schelling in der Naturphilosophie an Kants Zwei-Kräfte-Modell zur Erklärung der Materie in der Schrift Metaphysische Anfangsgründe der Natur an, versteht also wie Kant die Phänomene der Natur aus dem Gegensatz zweier ursprünglicher Kräfte. Er modifiziert allerdings Kants Lehre in zwei Punkten: Erstens bemüht er sich, über die Mechanik hinaus auch Chemie und Biowissenschaften zu integrieren, um auch Chemie, Physiologie und Medizin naturphilosophisch erfassen zu können. Zweitens baut er Kants Zwei-Kräfte-Lehre in das Konzept einer "Selbstorganisation" der Natur ein, die dem Modell der Natur als natura naturans und natura naturata folgt. Ziel der Naturphilosophie ist es, den gesamten Kosmos als "Organismus" zu deuten, wobei die Entwicklung von der anorganischen zur 14 Vgl. H. Krings (1981), S. 73-98, bes. S. 73.

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organischen Natur nach dem Prinzip einer dynamischen "Selbstorganisation" erfolgt, das das Subjekt-Objekt-Modell des Geistes auf die Natur überträgt. Schelling behauptet ein 'Verschwinden" des Gegensatzes von Mechanismus und Organismus derart, daß der Organismus den Mechanismus als Moment in sich aufhebt. Damit macht er Newtons bzw. Kants Naturbegriff rückgängig und stellt die qualitativ gestufte Naturphilosophie der Aristoteliker wieder her. Eine der Hauptschwierigkeiten, die die naturphilosophischen Schriften Schellings dem heutigen Leser bereiten, liegt in der empirischen Haltlosigkeit seiner naturphilosophischen Spekulationen. Die naturwissenschaftlichen Disziplinen seiner Zeit sah Schelling zwar als mit seinen Vorstellungen kompatibel an. Doch hat er tatsächlich über keine gründliche Kenntnis und kein gründliches Verständnis der empirischen Wissenschaften seiner Zeit verfügt.' 5 Sein Ziel, die Welt als "Organismus" zu konstruieren, mit der Tendenz, das mechanistische Moment verschwinden zu lassen, konnte er deshalb verhältnismäßig schnell erreichen. Aus Schellings Auffassung, daß 'dynamische' Verhältnisse der Natur nicht mathematisierbar seien, erwächst eine gewissen Mißachtung der "gewöhnlichen" Mathematik empirisch arbeitender Physiker. Daneben findet sich eine Hochachtung vor der Idee einer "mathesis universalis", einer pythagoreischqualitativen Mathematik, hinter der allerdings die Idee einer rein apriorisch konstruierenden Naturphilosophie steht, die die empirischen Ergebnisse aus allgemeinen Prämissen formallogisch abzuleiten versucht. In seinen naturphilosophischen Anfängen (1795 - 1800) hat sich Schelling dennoch bemüht, an naturwissenschaftlich-empirischen Befunden anzuknüpfen. Diese empirische Basis wird erst in der meta-

Daß beispielsweise Schellings Kenntnisse in der Physik des 18719. Jahrhunderts rudimentär waren, hat jüngst H.-D. Mutschier in einer umfassenden Untersuchung zu Schellings Naturphilosophie gezeigt (vgl. Mutschier (1990), S. 93-107). Er kommt zu dem vernichtenden Urteil: "Wer immer als gebildeter Naturwissenschaftler sich die Ausführungen der Schellingschen Naturphilosophie genau ansieht, muss vor der Leichtfertigkeit erschrecken, mit der Schelling die empirischen Wissenschaften behandelt" (ebd., S. 15). "Schellings materiale Unkenntnis in Sachen Physik/Mathematik ist übrigens selbst bei Philosophen unbekannt, die viel über seine Naturphilosophie publizieren" (ebd., S. 95 Anm.). Mutschier stellt auch klar, daß die Aktualisierung von Schellings Naturphilosophie, wie sie z.B. HeuserKeßler (1986) versucht, die dessen Selbstorganisationsgedanke in Beziehung setzt zum Paradigma der Autopoiesis in den Naturwissenschaften, begrenzt ist (vgl. Mutschier (1990), S. 174fT.). Auch B.-O. Küppers kommt zu dem Urteil, daß solche Deutungsversuche weder aus philosophischer noch naturwissenschaftlicher Sicht haltbar sind (vgl. B.-O. Küppers (1992)).

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physischen Spekulation der Identitätsphilosophie verlassen. Während Erfahrung in den Schriften vor 1801 noch bestätigende Funktion hat, verliert sie diese in der Identitätsphilosophie. Die Empirie wird dann rein apriorisch konstruiert. Die identitätsphilosophische Tendenz zum Ákosmismus, der jede Vermittlung aufhebt und Endlichkeit vernichtet, hat fatale Folgen für die Naturphilosophie. Die identitätsphilosophische Vernunft durchschaut die Natur wie ein Kristall, dessen mathematische Struktur im wesentlichen ideale Strukturen sind, die durchs Konkrete-Empirische nur ihre Reinheit verlieren, das damit aus dem Reich der Spekulation verwiesen wird. Für den Naturbegriff bedeutet dies die Auflösung der Empirie in Spekulation. Die Begrenzung des Anspruchs, rein apriorisch deduzieren zu wollen, ergibt sich später aus der Analyse des Freiheitsbegriffs und religionsphilosophischen Spekulationen, die den christlich-personalen Gott zu erfassen suchen. Freiheit und Persönlichkeit existieren nur in Verbindung mit einer von ihnen "unabhängigen Basis" (VII, 394). Schelling erkennt, daß die identitätsphilosophische Konstruktion menschliche und göttliche Freiheit zugleich aufhebt. Philosophie ist wieder auf Erfahrung verwiesen. Was die Naturphilosophie betrifft entwickelt Schelling allerdings auch später kein wirkliches Verständnis für den Eigenwert empirischer Forschung. So läßt sich zusammenfassend sagen: "Die Ortlosigkeit empirischer Wissenschaft ist in Schellings Spekulation ein schwerwiegender Mangel seiner Naturphilosophie" (Mutschier (1990), S. 52).

2. Die Aporie in der Begründung der Naturphilosophie Mit der Unterscheidung von Transzendental- und Naturphilosophie, die Schelling seit 1795 vornimmt, versucht er, die Immanenz des Selbstbewußtseins zu sprengen und dem zum Durchbruch zu verhelfen, was die Transzendentalphilosophie als ihre Basis begreift den Geist als ursprünglich identisch mit der Natur. Die Problematik der Unterscheidung der Transzendental- und Naturphilosophie besteht darin, daß Schelling die Naturphilosophie in der ersten Phase als Teil der Transzendentalphilosophie, in der zweiten Phase "als das Entgegengesetzte der Transcendentalphilosophie" (III, 273), d.h. als selbständige Wissenschaft begreift. Die Schwierigkeit einer Verhältnisbestimmung beider Wissenschaften beruht dabei auf der ambiva-

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lenten Stellung, die das Prinzip des Selbstbewußtseins begründungstheoretisch einnimmt.16 Die "prinzipielle Zweideutigkeit" (M. Frank (1985), S. 81), in der sich anfangs Schellings naturphilosophisches Unternehmen hält, wird in der Forschungsliteratur unterschiedlich beurteilt: Die Überordnung der Transzendental- über die Naturphilosophie in der ersten Phase wird mit dem Argument gerechtfertigt, daß bei Schelling eine Übertragung des transzendentalphilosophischen Subjekt-Objekt-Gedankens auf die Natur vorliege.17 Die Selbständigkeit der Naturphilosophie in der zweiten Phase wird damit gerechtfertigt, daß Schelling das Ich des Bewußtseins selbst nur als Stufe im Prozeß der sich entwickelnden Natur ableitet.18 Der Übergang von der ersten zur zweiten Phase wird von der materialistischen Richtung als Kritik Schellings am transzendentalphilosophischen oder idealistischen Standpunkt begrüßt 19 , wohingegen die nicht-materialistische Forschung ihn entweder als Widerspruch zur transzendentalphilosophischen Grundposition oder als Fortsetzung und Ausweitung des subjektiven zu einem objektiven Idealismus versteht. 20

a) Die erste Phase der Naturphilosophie: Transzendentale Begründung der Naturphilosophie Die Einleitung zu den Ideen (1797) ist gemäß dem in den Abhand-

lungen entwickelten Standpunkt nicht Naturphilosophie selbst, sondern der Transzendentalphilosophie zugeordnet, die als Einleitung in die Naturphilosophie die übergeordnete Wissenschaft bildet. Wie die Abhandlungen das Außenweltbewußtsein aus dem Prinzip des 16

Die beiden unterschiedlichen Phasen in der Begründung der Naturphilosophie arbeitet M. Boenke heraus (vgl. M. Boenke (1990), S. 304ff.). 17 Die Übertragungsthese vertritt D. Jähnig (1966) a), S. 34f. 18 W. Schulz hat gezeigt, daß der Standpunkt der Transzendentalphilosophie, daß die Natur das Zusichkommen des Geistes sei, die Umkehrung impliziert, daß Natur an sich selbst unbewußter Geist sei, und damit die Selbständigkeit der Naturphilosophie in der ersten Phase bereits vorgezeichnet ist (vgl. W. Schulz (1962), S. XXI). 19 Zur materialistischen Schellingdeutung zählen H. J. Sandkühler, W. Förster, H. H. Holz, deren einschlägige Studien finden sich in dem Sammelband: Natur und geschichtlicher Prozeß. Studien zur Naturphilosophie Schellings, hrsg. v. H. J. Sandkühler, Frankfurt/M. 1984. 20 Zur transzendentalphilosophischen bzw. idealistischen Richtung gehören Autoren wie Krings, Spaemann oder Löw.

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Selbstbewußtseins des Geistes allererst deduzieren, ist es Aufgabe einer Einleitung in die Naturphilosophie, den Beweis zu führen, warum die Idee einer zweckmäßigen Natur "ursprünglich und nothwendig allem, was unser Geschlecht über Natur von jeher gedacht hat, zu Grunde liegt" (II, 55). Schelling zeigt, daß der Gedanke von Organisation und Zweckmäßigkeit zu den notwendigen, in der Struktur des menschlichen Geistes angelegten Kategorien gehört, die die Welt der erscheinenden Dinge bestimmen. Es handelt sich also nicht um willkürlich durch Reflexion an die Gegenstände herangetragene Begriffe, sondern ein organisches Wesen ist selbst die "Einheit des Begriffs", welche überhaupt "nur in Bezug auf einen Geist vorstellbar" (II, 42) ist. In der transzendentalphilosophischen Begründung der Naturphilosophie wird wie in den Abhandlungen der erkenntnistheoretische Dualismus Kants von Erscheinung und Begriff geistphilosophisch überwunden und die Kategorien der Natur aus dem Prinzip des Selbstbewußtseins des Geistes entwickelt: "Das System der Natur ist zugleich das System unseres Geistes" (II, 39).

b) Die zweite Phase der Naturphilosophie: Etablierung einer selbständigen Naturphilosophie In der zweiten Phase stellt Schelling heraus, die Naturphilosophie sei grundlegende, erste Philosophie. Die Wandlung von der ersten zur zweiten Phase macht sich auch in einer Modifikation der Terminologie Schellings bemerkbar, der zunächst von einer "Philosophie der Natur" und ab 1778/99 von einer "Naturphilosophie" spricht.21 Die Naturphilosophie basiert auf einer grundlegenden methodologischen Reflexion, in der der Begriff der "Construktion", definiert als "absolutes Selbsthervorbringen der Erscheinungen" (III, 276), die führende Rolle spielt. Im Entwurf {1799) ist die Naturphilosophie absolut-apriorische Konstruktion der Natur, welche aus dem Prinzip der natura naturans die Erscheinungen der natura naturata deduziert. Der selbständigen Naturphilosophie kommt also eine eigenständige spekulative Subjekt-Objekt-Struktur zu: "Insofern wir das Ganze der Objekte nicht bloß als Produkt, sondern nothwendig zugleich als produktiv setzen, erhebt es sich für uns zur Natur, und diese Identität des Produkts und der Produktivität, und nichts anderes, ist selbst im gemeinen Sprachgebrauch durch 21

Vgl. X. Tilliette (1970) (I), S. 161.

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den Begriff der Natur bezeichnet. Die Natur als bloßes Produkt (natura naturata) nennen wir Natur als Objekt (auf diese allein geht alle Empirie). Die Natur als Produktivität (natura naturans) nennen wir Natur als Subjekt (auf diese allein geht alle Theorie)" (III, 284). Schellings naturphilosophischer Grundbegriff einer Synthese von natura naturans und natura naturata als objektives Subjekt-Objekt korrespondiert in den Abhandlungen die Erkenntnisbegründung aus dem subjektiven Subjekt-Objekt des Selbstbewußtseins. Beide haben die gleiche Struktur, ohne daß Schelling einen systematischen Übergang zwischen Transzendentalphilosophie und Naturphilosophie entwickeln könnte. Die Schwierigkeit einer den Rahmen der Transzendentalphilosophie verlassenden und insofern wirklich unabhängigen Naturphilosophie besteht darin, daß sie ihres epistemischen Fundaments verlustig geht, und die Subjekt-Objekt-Struktur der Natur zu einer nicht begründeten, willkürlichen Voraussetzung wird: "Die Naturwissenschaft geht von der Natur, als dem zugleich Produktiven und Producirten willkürlich aus, um das Einzelne aus jenem Begriff abzuleiten" (III, 373). Dies hätte die transzendentalphilosophisch tödliche Konsequenz, daß das Selbstbewußtsein in der Naturphilosophie nicht mehr Prinzip sein könnte, womit Schelling in krassen Widerspruch zu seiner bisherigen Philosophie geraten würde, zu einer Position, die dem in den Briefen kritisierten blinden "Dogmaticismus" (I, 302) an Blindheit um nichts nachgestanden hätte. Schelling hätte damit die beiden Seiten der Aporie, in der sich die Selbstbewußtseins- oder Subjekt-Objekt-Philosophie nach den Abhandlungen bewegt, konsequent auf zwei verschiedene Wissenschaften verteilt, dergestalt, daß die Vermittlung durch das Selbstbewußtsein als das Eigentümliche der Transzendentalphilosophie gilt, während der Standpunkt jenseits des Bewußtseins zum unmittelbaren, nichtbegründeten Anfang der Naturphilosophie wird. Obgleich die Naturphilosophie faktisch mit der sich selbst produzierenden Natur unmittelbar anfängt, muß ihre Kategorialität im Rahmen der Selbstbewußtseinsphilosophie epistemisch vermittelt sein, soll der Dogmatismusvorwurf vermieden werden. In Entsprechung zur Vergewisserung der Subjekt-Objekt-Struktur des Geistes im reinen Selbstbewußtsein durch intellektuelle Anschauung in den Abhandlungen erfordert die Begründung der Naturphilosophie die Einnahme desselben prinzipialen Standpunktes der intellekuellen Anschauung, nun aber nicht um die Genese des bewußten Ich aus dem vorbewußten Subjekt-Objekt des Geistes, sondern um die Er-

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scheinungsformen der Natur aus dem Prinzip der natura naturans abzuleiten. Um sich der mangelnden epistemischen Fundierung der Naturphilosophie zu versichern, nimmt Schelling zwei Anläufe, die jedoch nicht wie in den Abhandlungen zu einer Identifikation des Absoluten mit dem subjektiven Selbstbewußtsein führen dürfen: Das Transzendentalsystem 1800, das sich im reinen Selbstbewußtsein der Subjektivität ihres Prinzips gewiß ist, wendet sich in seinem theoretischen Teil in seine naturphilosophische Voraussetzung zurück und läßt die Genesis des Bewußten aus dem Bewußtlosen und damit die Kategorien der Natur im Rahmen der Transzendentalphilosophie entstehen. Damit ist die Naturphilosophie der Transzendentalphilosophie nicht mehr entgegengesetzt, sondern verläuft "parallel" zu ihr. Die Naturphilosophie ist wie in der ersten Phase wieder in die Transzendentalphilosophie integriert (vgl. III, 332). Hierin kommt aber der Immanenzzirkel des Prinzips des Selbstbewußtseins nur in potenzierter Form zum Ausdruck. Das Transzendentalsystem 1800 gibt den Vorzug der Transzendentalphilosophie, denn allein sie vermag den Beweis des "Parallelismus der Natur mit dem Intelligenten" (III, 331) zu führen, indem ja nur sie über die kategoriale Subjekt-ObjektStruktur verfügt, die auch der Naturphilosophie zugrunde liegt. Erst in der Schrift Über den wahren Begriff der Naturphilosophie (1801), welche in Auseinandersetzung mit Eschenmeyer den Standpunkt der Naturphilosophie erneut darlegt, hat Schelling das Prinzip der Naturphilosophie im "Denkmodell der Depotenzierung" (Sandkaulen-Bock (1990), S. 68) aufgestellt, indem er dazu auffordert, "sich von dem Subjektiven der intellektuellen Anschauung loszumachen" (IV, 87). 1799 etabliert Schelling die Naturphilosophie der Transzendentalphilosophie gegenüber als eigenständige Wissenschaft. Dazu mußte er ihr ein eigenes epistemisches Fundament geben, um nicht in blinden Dogmatismus zurückzufallen. 1801 versucht Schelling, den Begriff einer "intellektuellen Anschauung der Natur" (IV, 97) zu bilden, der dadurch entstehen soll, daß vom "Anschauenden in der Anschauung abstrahiert wird": "Ich fordere zum Behuf der Naturphilosophie die intellektuelle Anschauung, wie sie in der Wissenschaftslehre gefordert wird; ich fordere aber außerdem noch die Abstraktion von dem Anschauenden in dieser Anschauung, eine Abstraktion, welche mir das rein Objektive dieses Aktes zurückläßt, welches an sich bloß

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Subjekt-Objekt, keineswegs aber = Ich ist [...] (IV, 87f.).22 Diese Denkfigur der Depotenzierung, der Abstraktion von der Subjektivität der intellektuellen Anschauung wird dann im System von 1802 dazu beitragen, das Identitätssystem zu begründen (vgl. IV, 360). Die grundsätzliche Schwierigkeit in Schellings Gesamtkonzeption der Selbstbewußtseins- oder Subjekt-Objekt-Philosophie, die zugleich die Naturphilosophie und die Transzendentalphilosophie in ihrer Selbständigkeit und wechselseitigen Verschränkung reflektiert, besteht darin, daß beide aus dem "Nullpunkt" der intellektuellen Anschauung die Konstitution ihres Gegenstandes leisten. In ihr wird die Aporie einer Philosophie des Selbstbewußtseins, die zugleich das Denkmodell der Depotenzierung des Selbstbewußtseins in Anspruch nimmt, manifest. Das transzendentale Selbstbewußtsein ist Prinzip der Naturphilosophie in Abstraktion von sich selbst. Diese Aporie der Selbstbewußtseins- oder Subjekt-Objekt-Philosophie kommt in dem Zirkel zum Ausdruck, in dem Natur- und Transzendentalphilosophie zusammengeschlossen sind. Einerseits habe "ich" bei der philosophischen Konstruktion der Natur "durchgängig nur mit meiner eignen Construktion zu thun" (IV, 91). Umgekehrt ist die Naturphilosophie der Transzendentalphilosophie insofern vorgängig und primäre Wissenschaft, als mit der Deduktion des bewußten Ich nicht ihr Anfang, sondern ihr Ende erreicht ist: "Die Aufgabe ist: Das Subjekt-Objekt so objektiv zu machen und bis zu dem Punkte aus sich selbst herauszubringen, wo es mit der Natur (als Produkt) in Eines zusammenfällt; der Punkt, wo es Natur wird, ist auch der, wo das Unbegrenzbare in ihm sich zum Ich erhebt, und wo der Gegensatz zwischen Ich und Natur, die im gemeinen Bewußtseyn gemacht wird, völlig verschwindet, die Natur = Ich, das Ich = Natur ist" (IV, 91). Was Anfang ist, das Selbstbewußtsein der Subjektivität, ist in Wahrheit Resultat und umgekehrt, was Resultat ist, ist in Wahrheit Anfang. Erst wenn die Vernunft diese zirkuläre Subjekt-Objekt-Dialektik in einer absoluten Identität zum Stillstand gebracht hat, wird das Prinzip des Selbstbewußtseins abgelöst durch einen neuen philo22

Auf die Frage, wie wir zu einem selbständigen Naturbegriff kommen, antwortet Schelling, "daß wer sich durch Abstraktion zu dem reinen Begriff der Natur erhebe, einsehen werde, wie ich zur Construktion nichts voraussetze, als was der Transscendental-Philosoph gleichfalls voraussetzt. Denn was ich Natur nenne, ist mir eben nichts anderes als das rein-Objektive der intellektuellen Anschauung, das reine Subjekt-Objekt, was jener = Ich setzt, weil er die Abstraktion von dem Anschauenden nicht macht, die doch nothwendig ist, wenn eine rein-objektive, d.h. wirklich theoretische Philosophie zu Stande kommen soll" (IV, 90).

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sophischen Ansatz. Transzendental- und Naturphilosophie, die im Konzept 1799/1800 im Prinzip des Selbstbewußtseins miteinander verknüpft sind, sind dann in den Schriften ab 1801 in absoluter Identität zusammengezogen. Die Schwierigkeiten der Selbstbewußtseins- oder Subjekt-ObjektPhilosophie sind letztlich darin begründet, daß sie eine dualistische Subjekt-Objekt Struktur ins Absolute hineinbringt, die die Absolutheit des Absoluten in Gefahr bringt - sei es, daß es dadurch der Immanenz eines subjektiven Selbstbewußtseins, sei es, daß es dadurch dem unendlichen Prozeß der Naturgenese überantwortet wird. Den auftretenden Dualismus im Absoluten wird Schelling aufzuheben suchen in der Konstruktion einer die Zweiheit erst begründenden absoluten Identität, ohne doch deren Priorität eigentlich recht begründen zu können.

3. Kapitel Das System des transzendentalen Idealismus: Vom Selbstbewußtsein zur absoluten Identität In Schellings zweiter Philosophiekonzeption wird das Selbstbewußtsein zum Prinzip der Philosophie, die gleichwohl noch Philosophie des Absoluten sein will. Die Aporie, in die Schelling hier gerät, besteht darin, daß das Absolute, von dem als dem Unbedingten auszugehen sei, epistemisch nur vom Standpunkt des Selbstbewußtseins zu ermitteln ist. Im Transzendentalsystem 1800 kommt Schellings Programm, eine Ontologie des Absoluten auf Basis der Fichteschen Wissenschaftslehre zu entfalten, definitiv in eine "Krise" (Vgl. Sandkaulen-Bock (1990), 99ff.). Es geht zwar vom Prinzip des Selbstbewußtseins aus, kehrt aber zur Struktur des Absoluten als absoluter Identität zurück, wie wir sie aus den Frühschriften kennen. Das Transzendentalystem 1800 macht also, ohne daß es darüber Rechenschaft ablegen würde, den Übergang vom Prinzip der Subjekt-ObjektPhilosophie qua Selbstbewußtsein zum Absoluten qua absoluter Identität. Wir wollen uns daher diese Schrift etwas genauer anschauen. ι

I. Das Selbstbewußtsein als Prinzip des transzendentalen

Idealismus

1. Das Verhältnis von Transzendental- und Naturphilosophie im Transzendentalsystem 1800 Wie in den Abhandlungen besteht die "Hauptaufgabe der Philosophie" (III, 342) nach Schellings einleitenden Bemerkungen zum "Begriff der Transcendental-Philosophie" (III, 339) darin zu klären, wie es zur Übereinstimmung von Subjekt und Objekt kommt. Schelling

1

Eine komprimierte Darstellung des Transzendentalsystems 1800 geben X. Tilliette (1970), Bd. 1, S. 185-?^3 und D. Korsch (1980), S. 72-100.

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greift die traditionelle Definition der Wahrheit als adaequatio rei et intellectus auf, weil er der Auffassung ist, daß das traditionelle Subjekt-Objekt-Modell des Wissens, das von der Differenz beider ausgeht, nicht erklären kann, wie es zur Übereinstimmung beider kommen kann.2 Bei der Erklärung des wahren Wissens ist umgekehrt auszugehen von der ursprünglichen Einheit von Subjekt und Objekt. Mit dieser 'Umkehrung* des traditionellen Subjekt-Objekt-Modells hebt wie bereits die Abhandlungen das Transzendentalsystem 1800 an. Doch: "Indem ich diese Identität erklären will, muß ich sie schon aufgehoben haben" (III, 339). Die Philosophie muß also an der Trennung die Einheit erweisen. Daß der Gedanke der ursprünglichen Trennung von Subjekt und Objekt unhaltbar ist, ergibt sich für Schelling aus folgender Überlegung: Sind nämlich Subjekt und Objekt als die Elemente des wahren Wissens voneinander getrennt, so zeigt sich deren Einheit dadurch als ursprünglich, daß das Subjektive das Objektive und umgekehrt hervorbringt. Ihre Einheit zeigt sich also als primär dadurch, daß die Getrennten gar nicht für sich bestehen können, sondern sich wechselseitig aufheben und erzeugen. Kann der Inbegriff des Objektiven als Natur, der Inbegriff des Subjektiven als Intelligenz bezeichnet werden, so wird die Bewegung vom Objektiven zum Subjektiven von der Naturphilosophie, die vom Subjektiven zum Objektiven von der Transzendentalphilosophie betrachtet (III, 340fF.). Über der Aufgabe, den Begriff des wahren Wissens aufzuklären, hat sich der Begriff der Transzendentalphilosophie als "das alternative Komplement der Naturphilosophie"3 ergeben. Die Überlegungen zur Wahrheit führen sogleich zu einem Philosophiekonzept, in welchem die Transzendentalphilosophie zum die Naturphilosophie integrierenden System schlechthin erweitert ist. Doch verliert damit die Naturphilosophie ihre apostrophierte Selbständigkeit. Schelling behauptet, das Transzendentalsystem 1800 habe in seinem theoretischen Teil "ganz gleiche Realität" (III, 331) mit der Naturphilosophie. Diese wird damit zum theoretischen Teil des Transzendentalsystems depotenziert. Da die im Wissen implizierte urspüngliche Einheit von Subjektivem und Objektivem den unhintergehbaren Ausgangspunkt der 2

Tugendhat hält Schellings Wahrheitstheorie fiir "umwerfend primitiv" vgl. E. Tugendhat (1976), S. 251 u. 264; ders. (1979), S. 316/7. Daß Schellings Wahrheitstheorie so "primitiv" gar nicht ist, geht schon daraus hervor, daß er die traditionelle Übereinstimmungstheorie der Wahrheit fiir unzureichend hält, Wahrheit zu explizieren.

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D. Korsch (1980), S. 73.

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Philosophie bildet, der Transzendentalphilosoph also das "Princip des Wissens innerhalb des Wissens" (III, 355) sucht, ist die Transzendentalphilosophie Schellings prinzipiell vom realistischen Dogmatismus unterschieden, der den Grund des Wissens in ein transzendentes Ding an sich legt. Schellings transzendentaler Idealismus teilt also den epistemischen Ausgangspunkt der Fichteschen Wissenschaftslehre von 1794. Gleichzeitig geht er aber über diese hinaus, indem er die vom Objektiven ausgehende Naturphilosophie in sich aufnehmen will. Der Ausgang von der unhintergehbaren Einheit von Subjekt und Objekt trennt die Transzendentalphilosophie nicht nur vom realistischen Dogmatismus, sondern ebensosehr vom subjektivistischen Idealismus. Auch dieser tritt aus jener Einheit heraus und erklärt sie sich aus der reinen Subjektivität. Schelling kritisiert solchen subjektiven Idealismus, "der die ursprüngliche Begrenztheit frei und mit Bewußtseyn hervorbringen ließe" (III, 408), als zerstörerisch für die Realität. Wie aber kann der transzendentale Idealismus die Begrenztheit des Ich erklären, ohne in den realistischen Dogmatismus zurückzufallen? Schelling beharrt zwar darauf, daß die Begrenztheit des Ich durch den Akt des Selbstbewußtseins entstehe, allerdings mit dem Unterschied zum transzendenten Idealismus, "daß der Akt, wodurch das Ich objektiv begrenzt wird, ein von dem, wodurch es für sich selbst begrenzt wird, verschiedener Akt ist" (III, 408). Der Ausgang von der ursprünglichen Erfahrungs-Einheit von Subjekt und Objekt setzt die Transzendentalphilosophie also in einen Gegensatz zu den angeführten alternativen philosophischen Konzeptionen. Während die Briefe vom Gegensatz der beiden Systeme des Idealismus und des Realismus ausgehen und ihn in einem Höheren, dem Absoluten als Telos, zu vereinigen suchen, tritt in den Abhandlungen an die Stelle zweier Systeme ein einziges, nämlich das System des absoluten Geistes, das in der synthetischen Struktur des Selbstbewußtseins sein Prinzip hat, das Idealität und Realität ursprünglich in sich vereinigt und einen kontinuierlichen Gang von der Theorie zur Praxis, von der Natur zur Freiheit vollzieht. Diesen Ansatz scheint das Transzendentalsystem 1800 zunächst weiterzuführen. Der Begriff des Transzendentalsystems in seiner doppelten Gestalt als Transzendental- und Naturphilosophie ergab sich aus der Analyse der Einheit des wahren Wissens, von der daher auszugehen ist. Worauf gründet nun aber die Einheit des wahren Wissens selbst? Der Begriff des Wissens, aus dem sich die Unterscheidung in Tran-

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szendentalphilosophie und Naturphilosophie ergab, ist also nicht schon identisch mit dem Prinzip der Philosophie.4 2. Die Etablierung des Prinzips als Selbstbewußtsein durch intellektuelle Anschauung Besteht die Aufgabe der Philosophie darin, das wahre Wissen über sein Wesen aufzuklären, dann stellt sich das Problem, worin das Prinzip der Wirklichkeit dieses Wissens und worin die Vergewisserung dieses Prinzips besteht. Daraus muß sich auch die Möglichkeit der Selbstthematisierung des Wissens ergeben. Schelling fragt zunächst danach, welche Bedingungen das Prinzip der Philosophie erfüllen muß, um höchster Garant der Einheit des Wissens sein zu können. Die erste Bedingung ist die, daß es selbst ein Wissen, und zwar ein im Unterschied zu allem anderen Wissen ausgezeichnetes Wissen sein muß (vgl. III, 353f.). Zweitens muß es als schlechthin identisches Wissen gedacht werden können - in der Form eines Satzes ausgedrückt als ein Satz, in dem das Subjekt mit dem Prädikat identisch ist. Drittens muß es sich um ein synthetisches Wissen handeln, also um eines, das ein vom Subjekt auch unterschiedenes Prädikat von demselben aussagt, denn das Prinzip soll ja auch ein mit ihm selbst nicht identisches Wissen begründen können. Die genannten drei Bedingungen werden vom Begriff des Selbstbewußtseins erfüllt (vgl. III, 365). Erstens ist das Selbstbewußtsein ein unbedingtes und schlechthin gewisses Wissen, von dem im Unterschied zu allem anderen Wissen nicht abstrahiert werden kann, ohne es zugleich vorauszusetzen. Zweitens ist es ein identisches Wissen, denn es weiß nur von sich selbst. Drittens ist es ein synthetisches Wissen, denn das identische Wissen des Selbstbewußtseins spaltet sich unmittelbar in Erkennendes und Erkanntes, Subjekt und Objekt. "Das Selbstbewußtseyn ist der Akt, wodurch sich das Denkende unmittelbar zum Objekt wird, und umgekehrt, dieser Akt und kein anderer ist das Selbstbewußtseyn" (III, 365). Die von Schelling angewandte Methode zur Auffindung des Prinzips ist nicht deduktiv wie in Fichtes Wissenschaftslehre von 1794, "Das Prinzip der Philosophie, durch das die Voraussetzung, von der bisher Gebrauch gemacht wurde, von dem Schein einer willkürlichen Setzung befreit und auf einen unerschütterlichen Grund zurückgeführt wird, muß also höher liegen als der Begriff des Wissens im allgemeinen" (D. Korsch (1980), S. 75).

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sondern analytisch regressiv. Es werden Bedingungen angeführt, denen das Prinzip der Philosophie genügen muß, soll es für den Begriff des Wissens zureichen. Darüber hinaus ergibt sich das Problem, daß dieses Prinzip nicht theoretisch demonstrabel, sondern nur subjektiv zugänglich bzw. nachvollziehbar ist. Das bedeutet, daß das Prinzip des Selbstbewußtseins nur ursprünglich-spontan durch uns selbst hervorgebracht werden kann. Nur insofern es gedacht wird, ist es, und außer diesem (subjektiven) Akt ist es nicht: "Der Begriff des Ich kommt durch den Akt des Selbstbewußtseyns zustande, außer diesem Akt ist also das Ich nichts, seine ganze Realität beruht nur auf diesem Akt und es ist selbst nichts als dieser Akt. Das Ich kann also nur vorgestellt werden als Akt überhaupt, und es ist sonst nichts" (III, 366). Entweder man vollzieht den praktischen Akt des Selbstbewußtseins, wodurch das Prinzip zustande kommt, oder nicht, dann kommt auch das Prinzip nicht zustande. Als Anfangsgrund der theoretischen und praktischen Philosophie hat es wie in den Abhandlungen den Charakter eines praktischen "Postulats" (vgl. III, 370): es ist etwas, "das man fordern und anmuten kann" (III, 370), das aber erst durch den Akt wirklich wird. Die unmittelbare Gewißheit des "Ich bin" im identisch-synthetischen Charakter des Selbstbewußtseins kann aber nur im Akt der Trennung und Abstraktion von der Welt erfolgen. Deshalb unterscheidet Schelling das bloß empirische Bewußtsein des "Ich denke", das nach Kant "alle Vorstellung begleitet und die Continuität des Bewußtseyns zwischen ihnen unterhält" (III, 367), vom "reinen" Bewußtsein des "Ich bin". Denn "wer zu sich selbst Ich sagen kann, erhebt sich dadurch über die objektive Welt und tritt aus fremder Anschauung in seine eigne" (III, 374).5 Die Reflexion auf die Bedingungen seiner Erzeugung zeigt das Selbstbewußtsein als Prinzip der Freiheit: "Was jeder, der uns bisher aufmerksam gefolgt ist, von selbst einsieht, ist, daß der Anfang und das Ende dieser Philosophie Freiheit ist, das absolut Indemonstrable, was sich nur durch sich selbst beweist" (III, 376). Damit markiert Schelling das Grundthema seiner Philosophie: Freiheit. Bereits in der Ichschrift hat er emphatisch ausgerufen: "Der Anfang und das Ende aller Philosophie ist - Freiheit" (I, 177). Doch war damals die Freiheit des Absoluten und nicht die Freiheit des Selbstbewußtseins 5

Die Etablierang des Selbstbewußtseins als Prinzip spricht sich im "Ich bin" aus: "Macht man aber von allem Vorstellen sich frei, um seiner ursprünglich bewußt zu werden, so entsteht - nicht der Satz: Ich denke, sondern der Satz: Ich bin, welches ohne Zweifel ein höherer Satz ist" (ΙΠ, 367).

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gemeint. Das Thema der Freiheit wird Schelling bis ans Ende seiner philosophischen Bemühungen in immer anderen Variationen begleiten. Das Problem des transzendentalen Idealismus besteht darin, wie durch das Prinzip des Selbstbewußtseins das gesamte System des Wissens begründet werden kann. Wie in den Abhandlungen markiert Schelling die Differenz seiner eigenen Position zu derjenigen Fichtes mit der Unterscheidung von System und Wissenschaftslehre. Das Prinzip des Wissens, das Selbstbewußtsein, sei zwar nur auf Basis der Wissenschaftslehre zu gewinnen, doch sei dieses zu einem "System des gesammten Wissens" (III, 330) zugleich zu erweitern. Die Differenz des Schellingschen Idealismus zur Wissenschaftslehre Fichtes ist nicht nur darin zu sehen, daß im Ausgang vom Prinzip des Selbstbewußtseins das gesamte System der Vorstellungen bzw. der Natur abzuleiten versucht wird, sondern auch darin, daß genau diese Aufgabe unter Verzicht auf den "Anstoß", den Fichte noch als irreduzibel in Gestalt des Nicht-Ich festgehalten hatte, erfolgen soll (vgl. Brief Schellings an Fichte vom 19. November 1800).6 Dem naheliegenden Vorwurf eines transzendenten Idealismus entgeht Schelling durch eine Differenzierung im Begriff des Selbstbewußtseins, von der das gesamte Unternehmen der Transzendentalphilosophie abhängt. 7 Schellings Selbstbewußtsein, aus dem Natur und Geschichte "ohne irgend eine äußere Affektion" (III, 378), d.h. ohne Zirkel des Ansich-Fürsich entwickelt wird, ist nicht identisch mit dem Fichteschen Ich. Das Ich ist kein transzendentales, sondern 6

Die Auffassung, daß das Prinzip zu einem System erweitert werden muß, impliziert die Forderung, nichts unbewiesen zu lassen, d.h., alles zu begründen, und führt notwendig zu einer idealistischen Position, in der auf dem höchsten Punkt Subjekt und Objekt zusammenfallen. Bei Schelling heißt es im Transzendentalsystem 1800: "Es scheint den Dogmatikern nie auch von ferne beigegangen zu sein, daß in einer Wissenschaft wie die Philosophie keine Voraussetzung gilt, daß vielmehr in einer solchen eben diejenigen Begriffe, welche sonst die gemeinsten und geläufigsten sind, vor allen andern deduziert zu werden verlangen. So ist die Unterscheidung zwischen etwas, das von außen, und etwas, das von innen kommt, eine solche, die ohne Zweifel einer Rechtfertigung und Erklärung bedarf. Aber eben dadurch, daß ich sie erkläre, setze ich eine Region des Bewußtseins, wo diese Trennung noch nicht ist, und innere und äußere Welt ineinander begriffen sind. So gewiß ist es, daß eine Philosophie, die nur überhaupt sich zum Gesetz macht, nichts unbewiesen und unabgeleitet zu lassen, gleichsam ohne es zu wollen, und durch ihre bloße Consequenz Idealismus wird" (ΠΙ, 429).

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Mit dem Gedanken, daß in der Identität des Selbstbewußtseins eine Differenz einbeschrieben ist, mit der identisch-synthetischen Struktur des Selbstbewußtseins, geht Schelling bereits in den Abhandlungen über seinen frühphilosophischen Begriff vom absoluten Ich ebenso wie über Fichtes Ichbegriff hinaus.

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ein synthetisch weltproduzierendes. Wie in den Abhandlungen hat das Ich des Selbstbewußtseins faktisch den Charakter eines Absoluten, das dem Ganzen von Natur und Geschichte zugrunde liegt. Damit ist jedoch keineswegs bereits das Absolute der Frühschriften reformuliert, denn es behält die synthetische Subjekt-Objekt-Identität des Geistes wie in den Abhandlungen. Wie sieht das urspüngliche Wissen des Selbstbewußtseins aus? Es kann sich nur um eine einzigartige Gestalt des Wissens handeln, denn es kann kein solches sein, das sich oder seine Objekte vor sich hinstellt, also kein vorstellendes Bewußtsein von etwas. Es muß erstens ein unmittelbares Wissen sein und zweitens ein unhintergehbares. Ein unmittelbares Wissen ist ein "Anschauen". Ein Anschauen, das unhintergehbar ist, kann aber kein sinnliches Anschauen sein. Also kann es nur eine "intellektuelle Anschauung" (III, 369) sein. Die intellektuelle Anschauung ist das unmittelbare Bewußtsein des Ich von sich selbst, wodurch das Selbstbewußtsein zustande kommt. Sie hat hier also wie in den Abhandlungen den Charakter des sich bewußtwerdenden Ich, was wieder einen Standpunkt jenseits des (Selbst)-Bewußtseins auszuschließen scheint.8 Im Akt der intellektuellen Anschauung wird das Selbstbewußtsein des Ich als Prinzip der Transzendentalphilosophie konstituiert. Die intellektuelle Anschauung ist darin produktiv und rezeptiv zugleich (vgl. III, 350f.). Hieraus erhellt, inwiefern die intellektuelle Anschauung Organ und Substrat der Transzendentalphilosophie ist (III, 350, 369f.). Im subjektiven Akt der intellektuellen Anschauung des Philosophen kommt zugleich das absolute Selbstbewußtsein als Prinzip des transzendentalen Idealismus zustande. Anders als in den Abhandlungen reflektiert Schelling im Transzendentalsystem 1800 explizit auf die Differenz zwischen dem Einsatz im Selbstbewußtsein der Subjektivität, wie es in der intellektuellen Anschauung hereinkommt, und dem absoluten Selbstbewußtsein als wahrem Prinzip des

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Mit seinem Begriff der intellektuellen Anschauung im Transzendentalsystem 1800 kommt Schelling wieder in ganz große Nähe zu Fichte, weil er ihn dem Bewußtseinsmodus des sich wissenden Ich vindiziert. Fichte stellt im Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797) die These auf: "Alles Bewusstseyn ist bedingt durch das unmittelbare Bewusstseyn unserer selbst" (Fichte Werke I, 521). Der frühe Schelling geht, anders als Fichte, von der Unvereinbarkeit von intellektueller Anschauung und Bewußtsein aus. In den Briefen bestimmt er sie als Moment des Untergangs' des Bewußtseins: "Der höchste Moment des Seins ist fiir uns Uebergang zum Nichtseyn, Moment der Vernichtung. [...] Wir erwachen aus der intellectualen Anschauung, wie aus dem Zustande des Todes" (I, 324f.).

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Systems. Doch verbleibt auch hier das absolute Selbstbewußtsein in der Zirkelstruktur der letztlich nicht zu transzendierenden Immanenz des Selbstbewußtseins der Subjektivität. Die intellektuelle Anschauung ist zwar Anfang und Basis der Philosophie, umfaßt jedoch nicht das Telos der Philosophie. Gleichwohl ist sie als der einzige Schlüssel zu dessen Verständnis anzusehen. Die ganze Aufgabe der Philosophie besteht nun darin, die subjektive intellektuelle Anschauung zum "Erscheinen" zu bringen, sie objektiv, d.h. intersubjektiv mitteilbar zu machen. Schellings ganzes Konzept des transzendentalen Idealismus basiert auf dieser Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver Anschauung. Mit dieser Konzeption tritt Schelling wieder in Distanz zu Fichte. Dieser Weg von der subjektiven zur objektiven Anschauung ist aber nicht zu denken ohne den Prinzipienwechsel vom Selbstbewußtsein oder Subjekt-Objekt in ein ganz anders zu fassendes Absolutes, durch das das Selbstbewußtsein überhaupt zu einem abgeleiteten wird. Unter der Hand schleicht sich auf diesem Weg ein Absolutes ein, das in Spannung zum Selbstbewußtsein überhaupt tritt, und das Schelling in letzter Konsequenz wie in den Frühschriften als absolute Identität denkt. 9 Die Spannung zwischen subjektivem Selbstbewußtsein einerseits und absolutem andererseits verlagert sich zu der zwischen absolutem Selbstbewußtsein einerseits und dem absolut Identischen andererseits. 3. Transzendentale Begründung der Geschichte des absoluten Selbstbewußtseins Das Transzendentalsystem 1800 umfaßt als theoretische und praktische Philosophie Natur einerseits und Geschichte andererseits. Beides führt Schelling auf den "Mechanismus ihres Enstehens aus dem inneren Princip der geistigen Thätigkeit" (III, 378) des Ich zurück. Die Ableitung dieses Mechanismus fällt in den Bereich einer "höheren Philosophie, welche theoretisch und praktisch zugleich ist" (III, 379), und nicht das Selbstbewußtsein der Subjektivität, sondern das absolute Selbstbewußtsein zum Gegenstand hat, für das in den 9

Eine weitere Differenz zwischen Schelling und Pichte erhellt aus Schellings Schrift: Über den wahren Begriff der Naturphilosophie (1801), wo Schelling fordert, aus dem in intellektueller Anschauung gegebenen Selbstbewußtsein durch Abstraktion von sich selbst herauszukommen, um das unbewußte Subjekt-Objekt der Natur zu konstituieren (vgl. IV, 84ff.).

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Abhandlungen der Begriff des Geistes einstand. Sie hat die Aufgabe zu klären, wie Theorie und Praxis systematisch im "reinen Selbstbewußtseyn" (III, 378) begründet sein können. Die Struktur des absoluten Selbstbewußtseins, aus dem das Objektive entstehen soll, muß das Gesetz der Objektivierung in sich selbst tragen (vgl. III, 374). Der leitende Grundsatz für dieses Gesetz lautet: "durch den Akt des Selbstbewußtseyns wird das Ich sich selbst zum Objekt" (III, 380). Aus dem Gedanken der Objektivierung eines ursprünglich Nichtobjektiven ergibt sich der Gedanke der Einheit zweier widersprüchlicher Tätigkeiten - einer unbegrenzten, ins Unendliche gehenden Tätigkeit und einer begrenzenden Tätigkeit. Beide - obgleich einander entgegengesetzt - setzen sich wechselseitig voraus. Um sich selbst als ein Wirkliches bewußt zu werden, muß sich die unendliche Tätigkeit des Selbstbewußtseins eine andere beschränkende Tätigkeit entgegensetzen. Diese begrenzt die unendliche Tätigkeit, die durch diese Brechung auf sich selbst zurückgestoßen wird. Schelling nennt diese zweite Tätigkeit die "ideelle" (III, 386), weil sie dem Selbstbewußtsein zum Bewußtsein verhilft.io "Reell" (ebd.) heißt dagegen die sich ins Unendliche verlierende Tätigkeit. Schelling nennt sie auch die unbewußte Tätigkeit, denn sie wird bewußt nur durch die Brechung, die ihr von der ideellen oder begrenzenden Tätigkeit widerfährt und sie auf sich selbst zurückwirft. Alles Bewußtsein ist so an das Zusammenspiel zweier einander entgegengesetzter Tätigkeiten gebunden.11 Die Aufgabe der Philosophie besteht darin, die Begrenztheit des Ich, die wir faktisch vorfinden, als Selbstbeschränkung aus der ursprünglich nur als anonyme Begrenzung wahrgenommenen Einschränkung der unendlichen Tätigkeit nachzuweisen. Die sukzessive Selbstaneignung der Beschränkung als Selbstbeschränkung nennt Schelling "Epochen" auf dem Wege der Selbstobjektivierung des Geistes. Die Einheit der beiden entgegengesetzten Tätigkeiten bewußt zu machen, ist Ziel der Philosophie. Die Entwicklung geht von einer unbewußten Einheit von objektiv-reeller und subjektiv-ideeller Tätigkeit zu einer bewußten fort. Dabei soll die Philosophie dem an10

Wenn Schelling hier von Bewußtsein im Unterschied zum Selbstbewußtsein spricht, meint er das explizite Bewußtsein von etwas.

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Mit dem Gedanken der "Wechselbestimmung" und der gegenläufigen Richtungen der Ich-Tätigkeit (Aus-sich-Herausgehen und In-sich-Zurückkehren) übernimmt Schelling Bestimmungen aus der Fichteschen Wissenschaftslehre von 1794, indem er sie zugleich transformiert. Das Zusammenspiel der beiden Tätigkeiten erfolgt bei Schelling ohne unableitbaren "Anstoß".

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fangs anonymen absoluten Selbstbewußtsein zu einer immer gründlicheren Selbsterkenntnis verhelfen. Der entscheidende Unterschied zwischen dem absoluten Selbstbewußtsein und dem Selbstbewußtsein der Subjektivität ist, daß ersteres noch kein Bewußtsein von sich selbst hat und daher eine Geschichte sukzessiver Selbsterkenntnis vor sich hat. Da das absolute Selbstbewußtsein in sich bewußtlose und bewußte Tätigkeit, Natur und Freiheit, Realität und Idealität, Sein und Wissen vereinigt, setzen sich Theorie und Praxis genauso voraus wie reelle und ideelle Tätigkeit. Der innere Mechanismus des transzendentalen Idealismus ergibt sich aus der dem Selbstbewußtsein immanenten Gegensätzlichkeit der beiden Tätigkeiten. Um als Bewegung gegenläufiger Momente in "Erscheinung" zu treten, müssen sie aus der Einheit des Selbstbewußtseins heraustreten, in der sie in ursprünglicher Indifferenz waren. In diesem Problem finden wir nur die neue Formulierung jener früheren Frage vor: "Wie komme ich überhaupt dazu, aus dem Absoluten heraus und auf ein Entgegengesetztes zu gehen!",12 Das Selbstbewußtsein ist ein Akt der Synthesis von Entgegengesetzten. Neben den beiden entgegengesetzten Tätigkeiten muß es darum "eine dritte aus beiden zusammengesetzte Thätigkeit" (III, 391) geben. "Diese dritte zwischen der begrenzten und der begrenzenden schwebende Thätigkeit, durch welche das Ich erst entsteht, ist, weil Produciren und Seyn vom Ich eins ist, nichts anderes als das Ich des Selbstbewußtseyns selbst. Das Ich ist also selbst eine zusammengesetzte Thätigkeit, das Selbstbewußtseyn selbst ein synthetischer Akt" (III, 391). Das Selbstbewußtsein hat nur so lange Bestand, als jener Widerstreit virulent ist (vgl. III, 392). Ist aber der Widerstreit im Wesen des Ich ursprünglich, dann kann das Selbstbewußtsein als diese synthetische Einheit selbst nur ein unendlicher Akt sein, der eine unendliche Reihe von Handlungen zusammenfaßt (vgl. III, 393f.). "Die Philosophie ist also eine Geschichte des Selbstbewußtseyns, die verschiedene Epochen hat, und durch welche jene Eine absolute Synthesis successiv zusammengesetzt wird" (III, 399). Diese Geschichte des Selbstbewußtseins, die noch Hegels Phänomenologie des Geistes (1807) prägt 13 , findet sich erstmals in Schellings transzendentalem Idealismus.

12 Vgl. Briefe, I, 294. 13 Zur Korrespondenz von Schellings Transzendentalsystem Phänomenologie des Geistes vgl. W. Marx (1977), S. 77-101.

1800 und Hegels

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Das Selbstbewußtsein als absolute Synthesis ist zu unterscheiden vom Selbstbewußtsein der Subjektivität, das in der intellektuellen Anschauung des Philosophen in Abstraktion von allem Objekt zustande kommt, der es aus Freiheit hervorbrachte und damit den Anfang der Philosophie stiftete. 14 Denn das synthetische Selbstbewußtsein ist "der absolute Akt, durch welchen für das Ich alles gesetzt ist" (III, 395), der aber, "weil er Bedingung alles Begrenzt- und Bewußtseyns ist, selbst nicht zum Bewußtseyn kommt" (ebd.). Diese Differenz zwischen dem absoluten Selbstbewußtsein und dem subjektiven Selbstbewußtsein des Philosophen, das freilich aufgrund des sich in ihm aus sprechenden Bewußtseins nur "eine höhere Potenz des ursprünglichen" (ebd.) ausmachen soll, markiert das absolute, sich selbst noch unbewußte Selbstbewußtsein als den Ausgangspunkt einer Entwicklung, deren Ziel die vollständige Selbsterkenntnis des Selbstbewußtseins ist. Die Differenz zwischen dem Selbstbewußtsein der Subjektivität und dem ursprünglichen Akt des absoluten Selbstbewußtseins führt nun notwendig in Vergewisserungsprobleme des Absoluten. Die Schwierigkeit des Transzendentalsystems 1800 besteht darin, wie ein vom Postulat des seiner selbst bewußten Ich verschiedener Anfang beim Absoluten jenseits des Bewußtseins zu ermitteln ist. Um vom Selbstbewußtsein des Ich zum Absoluten zu kommen, bedient sich Schelling der Methode des Rückschlusses, wobei es sich um einen Schluß vom Bewußten auf das Unbewußte handelt, indem das sich seiner selbst bewußte Ich auf den ursprünglichen Akt des absoluten Selbstbewußtseins als dem ursprünglichen Entstehen des Bewußtseins jenseits des Bewußtseins zurückgreift: "Nun entsteht aber die Frage, wodurch der Philosoph sich jenes ursprünglichen Akts versichere, oder um ihn wisse. Offenbar nicht unmittelbar, sondern nur durch Schlüsse. Ich finde nämlich durch Philosophie, daß ich mir selbst in jedem Augenblick nur durch einen

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Mit dieser Unterscheidung knüpft Schelling an Fichtes Programm der Wissenschaftslehre an, das ein doppeltes methodisches Verfahren bzw. die Etablierung zweier Ebenen impliziert: Die eine Stufe oder "Reihe" besteht in der Reflexion des Philosophen auf die Handlungen des Ich. Die andere Stufe oder "Reihe" ist die des "Lebens", worunter die notwendigen Handlungen des Ich selbst zu verstehen sind (vgl. Pichte, J.G., Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, in: Fichtes Werke I, 454). Allerdings transformiert Schelling die Wissenschaftslehre zugleich in ein System des Absoluten, indem er die Differenz zwischen dem im Postulat der Anschauung konstruierten Ich und dem ursprünglichen als dem absoluten herausstellt. Daraus entsteht fìlr Schelling das Verçje wisse rungsproblem, das Fichtes Wissenschaftslehre so nicht hat (vgl. Fichte ebd., 460).

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solchen Akt entstehe, ich schließe also, daß ich ursprünglich gleichfalls nur durch einen solchen entstanden seyn kann" (III, 395f.). Im Unterschied zu den Abhandlungen, die im Moment der Vergewisserung Absolutes und Subjektivität identifizierten, unterscheidet das Transzendentalsystem 1800 die Etablierung des Prinzips des Selbstbewußtseins und seiner unmittelbaren Gewißheit in der intellektuellen Anschauung und den ursprünglichen, unbewußten Akt des absoluten Selbstbewußtseins, der aus jenem allererst epistemisch gewonnen werden soll. Allerdings erhebt sich hier die kritische Frage, ob auch hier nicht das Absolute in der Zirkel struktur der letztlich nicht zu transzendierenden Bewußtseinsimmanenz verbleibt. Das Dilemma dieses Ansatzes scheint zu sein, daß das Absolute immer nur auf der Folie des Bewußtseins zu gewinnen ist. Den Schluß auf den ursprünglichen Akt des absoluten Selbstbewußtseins faßt Schelling schließlich als "Nachahmung". Die Vergewisserung des Absoluten vollzieht sich "durch die freie Nachahmung dieses Aktes, mit welcher alle Philosophie beginnt" (III, 396). Dabei impliziert die Nachahmung, daß der subjektive Akt des Selbstbewußtseins den Gehalt des Absoluten nicht bestimmen kann. Mit Hilfe der Nachahmung will sich die Philosophie an den Ausgangspunkt begeben, der "selbst nicht zum Bewußtseyn kommt", so daß sie hinsichtlich des Gehalts des Absoluten vom Standpunkt des Bewußtseins, d.h. von der höheren Potenz des Postulats gerade absehen muß. "Das philosophische Talent besteht nun eben nicht allein darin, die Reihe der ursprünglichen Handlungen frei wiederholen zu können, sondern hauptsächlich darin, sich in dieser freien Wiederholung wieder der ursprünglichen Notwendigkeit jener Handlungen bewußt zu werden" (III, 397f.).i5

15 In der Denkfìgur der Nachahmung des ursprünglichen Akts des absoluten Selbstbewußtseins in der intellektuellen Anschauung läßt sich bereits das "Denkmodell der Depotenzierung" (Sandkaulen-Bock) des Selbstbewußtseins der Subjektivität innerhalb der Transzendentalphilosophie erkennen, das dann fïtr die Naturphilosophie in der Schrift Über den wahren Begriff der Naturphilosophie (1801) konstitutiv wird.

Geschichte des Selbstbewußtseins und Einbruch der absoluten Identität

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II. Dialektik der Geschichte des Selbstbewußtseins in Theorie und Praxis und Einbruch der absoluten Identität Wie sieht die Dialektik der Geschichte des Selbstbewußtseins im einzelnen aus? Warum kann sich der Geist nicht im Nu objektivieren, warum benötigt er eine Schrittfolge sukzessiver Selbstaneignung, die Schelling "Epochen" (III, 399) nennt? Die Objektivierung des Geistes setzt Endlichkeit und Beschränkung voraus. Das zur Erscheinung zu bringende Selbstbewußtsein ist dagegen ein Unendliches, Unerschöpfliches. Wenn das Gesetz der Objektivierung an Endliches und Beschränktes gebunden ist, es gleichwohl das Unendliche ist, das sich entfaltet, so kann dieses sich nur in der sukzessiven Setzung und Aufhebung der gesetzten Schranken realisieren. Der Ausgangspunkt und die Bewegungsform der Entwicklung des Selbstbewußtseins ergibt sich aus folgender Überlegung: 1. Wenn sich das ursprüngliche Selbstbewußtsein zunächst unter dem Schema der reellen und unendlichen Tätigkeit darstellt, muß es alle Realität in sich befassen (vgl. III, 377).16 2. Als solches kann es sich nicht als Objekt erscheinen, denn alles Objekt ist endlich. Um sich selbst als Gegenstand bewußt werden zu können, muß sich die unendliche Tätigkeit begrenzen. 3. Das Selbstbewußtsein muß seiner reellen und unendlichen Tätigkeit eine begrenzende Tätigkeit entgegensetzen. Durch diese Begrenzung verwandelt das Ich seine eigene Tätigkeit selbst in ein Bewußtseinsobjekt für sich selbst. Doch setzt Begrenzung Unbegrenztheit voraus. Zwar ist jede Bestimmung partielle Aufhebung der absoluten Realität, also Negation - omnis determinado est negatio -, doch die Negation eines Positiven kann nicht als reine Privation gedacht werden. Sie verlangt als ihr Komplement etwas Reelles (III, 380f.). Daraus entsteht das Widerspiel von Selbstschaffung und Selbstbegrenzung, das die Entwicklung des Geistes vorantreibt. Schelling hat dieses Entwicklungsgesetz des Geistes mehrfach durch ein arithmetisches Schema veranschaulicht, nämlich durch die Reihe 1 - 1 + 1 (usf.). π

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"Ist nun der Satz: Ich bin, Princip aller Philosophie, so kann es auch keine Realität geben, als die der Realität dieses Satzes gleich ist" (ΠΙ, 377). 17 "Aber Negation eines Positiven ist nicht möglich durch bloße Privation, sondern allein durch reelle Entgegensetzung (z.B. 1 + 0 = 1, 1 - 1 = 0)" (ΠΙ, 381). Schelling hat dieses Schema eines Wechselspiels von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung zum ersten Mal im Entwurf (1799) entwickelt (vgl. ΠΙ, 15). Dort vergleicht er dieses als Natur-Widerstreit gedachte Schema mit dem "ursprünglichen Streit des Selbstbewußtseyns" (ΠΙ, 20).

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Vom Selbstbewußtsein zur absoluten Identität

Einmal eingetreten in den Gegensatz des Unendlichen und Endlichen, entsteht ein Widerspruch im Inneren des Ich selbst. Einerseits kann das Ich nur als begrenztes sein, was es ist, also nur im Gegensatz zu einem Nicht-Ich. Andererseits hebt der Bestand eines NichtIch seine unendliche Realität auf. Der Widerspruch der Unbegrenztheit und Begrenztheit des Ich läßt sich nach Schelling nur aufheben, wenn man annimmt, das Ich könne allein durch Begrenzung seine Unendlichkeit darstellen, und umgekehrt beschränkt nur werden, wenn es seinem Wesen nach unendlich ist (vgl. III, 382).18 Verzichtete man auf seine Unendlichkeit, höbe man das Ich als Ich auf. Verzichtete man auf seine Verendlichung, so verzichtete man auf das Bewußtsein des Ich. Der Widerspruch läßt sich also nur aufheben, wenn das Ich unter das Schema des Werdens gestellt wird, als ein Widerspiel von Hemmung und Streben, von Produktion und Überschreitung des Produzierten. Der vom Selbstbewußtsein ausgelöste Prozeß seiner Selbstobjektivierung genügt also gleichermaßen den Erfordernissen seiner Unendlichkeit und seiner Endlichkeit.19 Wann ist nach den Regeln der Schellingschen Dialektik das Ziel erreicht? Die unendliche Tätigkeit, bestrebt, aus den Grenzen der Sinnenwelt herauszutreten, wird diese Epoche um Epoche immer weiter aufheben, bis ein Moment eintritt, wo die ursprüngliche Struktur des Selbstbewußtseins erneut durch alle Schranken durch-

Genau diese Geiststruktur liegt der Ironie-Konzeption Friedrich Schlegels zugrunde. Die Ironie-Konzeption ist die Transformation eines ursprünglich erkenntnistheoretischen Problems, nämlich der widersprüchlichen Struktur des Selbst in eine Struktur künstlerischer Darstellung. Der endliche Menschengeist schwankt nach Friedrich Schlegel zwischen "Selbstschöpfung" (Witz) und "Selbstvernichtung" (Allegorie) (vgl. F. Schlegel (1985), S. 11). Gesucht wird eine Identität, in der dieser Widerspruch als solcher aufgehoben wäre. Ironie ist das Hin- und Heimgehen zwischen witziger Verbesonderung und grenzensprengender Allegorie und als solche Vorschein der undarstellbaren Identität beider (vgl. M. Frank (1989), S. 380ff.). 19

Hegel kommentiert in seiner Darstellung von Schellings Transzendentalsystem 1800 die Auflösung dieses Widerspruchs folgendermaßen: "Der Streit solcher entgegengesetzten Richtungen, der Richtung des Ichs in sich und nach außen, wird scheinbar so gelöst, daß er nur im unendlichen Progreß gelöst wird. Wenn vollständig, so müßte die ganze innerliche und äußerliche Natur in allem ihren Detail dargestellt werden. Die Philosophie kann nur die Hauptepochen aufstellen" (Hegels Werke 20, 431f.). Aufgrund seines Widerspruchs kann die "Selbstdarstellung des absoluten Ich" nur in einem Vierden geschehen; zu dieser grundlegenden Gedankenfigur vgl. M. Frank (1985), S. 90ff.u. D. Jähnig, (1966 u. 1969), Bd. 1, S. 127.

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scheint und das Selbstbewußtsein für sich sein wird, was es zuvor für den Philosophen nur an sich w a r . 2 0 . 1. Die 'Epochen' der theoretischen Philosophie Der theoretische Teil der Transzendentalphilosophie befaßt sich mit der Abfolge der Formen des durch Objekte bestimmten Ich, also mit der Rekonstruktion der unwillkürlichen Verstrickung des Ich in seine je eigenen Produkte. Ziel der Untersuchung ist "die Erklärung des Selbstbewußtseyns" (III, 455). Doch solange die anschauende, ideelle Tätigkeit in die Produktion selbst eingebunden bleibt, vollzieht sich die progressive Selbstanschauung des Ich nur in der Anschauung seiner Produkte, so daß es nicht zur tatsächlichen Anschauung seiner selbst gelangt. Das ist der generelle Grund dafür, warum das Selbstbewußtsein in der theoretischen Philosophie nicht zum vollständigen Bewußtsein über sich selbst kommen kann (vgl. III, 401). Um sich einen Eindruck von der ungeheuren Materialfulle von Schellings Transzendentalsystem 1800 machen zu können, seien hier die wichtigsten Stationen der Entwicklung des Geistes in der theoretischen Philosophie angeführt: Die 1. Stufe der ersten Epoche ist die der "Empfindung". Empfindungen bilden gleichsam die Grundsteine der Erkenntnis. Schon diese 1. Stufe der Entwicklung des Selbstbewußtseins ist eine Synthese der beiden antagonistischen Tätigkeiten des Ich. Während der Philosoph in dieser grundlegenden Synthese eine substantielle Einheit von Subjekt und Objekt sieht, sieht das Ich in dieser nur in einem "Dritten" sich vollziehenden Vereinigung eine Grenze, ohne freilich über deren Herkunft Auskunft geben zu können. Sie ist für das Ich eine "Empfindung", in der es sich aber nicht selbst als Empfindendes weiß, denn in der unmittelbaren (rezeptiven) Anschauung, die die Empfindung darstellt, kann sich das Ich nicht selbst empfinden. Die Aufgabe der theoretischen Philosophie besteht nun in der Beantwortung der Frage, 1. wie das Ich sich als empfindend und 2. 20 z u r Methode von Schellings Transzendentalphilosophie vgl. III, 450, 479, 480. Das Ziel des Systems ist an dem Punkt erreicht, wo das Selbstbewußtsein vollkommenen Aufschluß über sein Wesen erlangt hat. Dieser Zielbeschreibung des Systems entspricht die Aufgabenbestimmung, "den natürlichen Menschen auf den philosophischen Standort hinzuführen" (W. Schulz (1957), S. XXXII). Darin liegt unverkennbar eine Parallele zu Hegels Phänomenologie des Geistes.

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wie es sich als produktiv, d.h. die Grenze setzend, bewußt werden könne.21 Bereits auf der 1. Stufe der Entwicklung des Geistes zeigt sich das der Entwicklung zugrundeliegende Prinzip. Was für den Philosophen grundsätzlich als Wesensgleichheit von Subjekt und Objekt existiert, tritt für das sich entwickelnde Ich als Zweiheit von Reflektierendem und Reflektiertem oder als Beziehung von einem Subjekt auf ein Objekt auf, das durch eine notwendige Täuschung als ein dem Subjekt fremdes erscheinen muß. Die substantielle Identität ist keine für das Subjekt, keine Tatsache des Bewußtseins. Das Ich muß in einer Reihe von Schritten die Grenze überwinden, die ihm durch die Handlungen seiner Selbstvergegenständlichungen erwachsen, bis ihm das zu Bewußtsein kommt, was es an sich in seinem Wesenskern ist, nämlich Einheit von Subjekt und Objekt. Der Übergang zur 2. Stufe, der Stufe der "Materie", ergibt sich aus der Beantwortung der Frage, wie sich das Ich als empfindend bzw. als Grenze setzend bewußt wird. Die Anschauung (Setzen) der Empfindung faßt Schelling als Anschauung (Setzen) der Grenze auf. In der zweiten Potenz der Anschauung als Bestimmung oder Setzung der Grenze trennen sich die beiden Momente, die die Grenze konstituieren, und werden je für sich zum Gegenstand der Anschauung: Die ideelle oder begrenzende Tätigkeit erscheint dem aktuellen Ich als "Ding an sich" (III, 417) (das, was die Grenze setzt), die begrenzte oder reelle Tätigkeit als "Ich an sich" (III, 423) (das Empfundene). Sind beide Tätigkeiten in die Position von Gegenständen der Anschauung eingetreten, kann das Ich sich ihrer nicht mehr als Tätigkeiten inne werden. Nun können die beiden hier getrennten Momente nur angeschaut werden, wenn sie eine gemeinsame "Grenze" bilden. Sie werden durch die Anschauung zweiter Potenz zu einem Produkt synthetisiert, das zwischen dem Ich an sich und dem Ding an sich in der Mitte "schwebt". Dieses Anschauungsprodukt ist die "Materie" als Synthesis von reeller und ideeller Tätigkeit, die auf dieser Stufe als Expansivkraft und Attraktivkraft auftreten (vgl. III, 440ff.). Die beiden ersten Stufen in der Entwicklung des Ich repräsentieren die erste Epoche des Selbstbewußtseins, die von der Überwindung der ursprünglichen Synthese der Empfindung durch die anDie Bedeutung des Ausdrucks "Empfindung" verdeutlicht, was die Philosophie hier zu erklären hat. Einerseits bezeichnet er die Erfahrung einer von außen uns widerfahrenden Bestimmung, andererseits meint er die Findung von etwas in uns selbst. Novalis spricht von "Selbst-innen-Findung" (vgl. M. Frank (1985), S. 80).

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schauende Tätigkeit bis zur neuen Synthese der Materie reicht. In der zweiten Epoche werden die Formen der sinnlichen Anschauung, Raum und Zeit, und die Kategorien Kausalität, Wechselwirkung und Organismus entwickelt. Schelling orientiert sich an der Deduktion der Kantischen Erkenntnisstrukturen in Fichtes Wissenschaftslehre. Indem sich die ideelle Tätigkeit des Ich auch von der zweiten Synthese wieder losreißt, muß sich das Ich auch in der Anschauung der Empfindung als produzierend erkennen und nicht nur der Materie als seinem Produkt äußerlich gegenüberstehen. In der zweiten Epoche des Selbstbewußtseins geht es also darum, "zu erklären, wie das Ich dazu komme, sich selbst als produktiv anzuschauen" (III, 456). Der erste Lösungsversuch dieser Aufgabe besteht darin, daß die anschauende Tätigkeit aus ihrem Produkt Materie heraustritt und sich die produktive Tätigkeit als ihr Produkt gegenübersetzt. Der Philosoph erkennt in einer Analyse dieser Gegenüberstellung, daß sich hier eine einfache (anschauende) und eine zusammengesetzte (produktive) Tätigkeit einander gegenüberstehen, die aber nur teilweise unterschieden sind, weil die zusammengesetzte die einfache Tätigkeit in sich enthält. Der Philosoph erkennt also auch auf dieser Stufe die wesensmäßige Identität von Subjekt und Objekt. Dem Ich selbst jedoch ist dieser Sachverhalt nicht einsichtig, weil es in der Entgegensetzung seines neuen Objekts dessen Genese nicht mehr erinnern kann. Diese liegt als "transzendentale Vergangenheit"22 hinter ihm. Das neue Objekt ist dem aktuellen Ich scheinbar vorgegeben, obgleich es durch eine vergangene Tätigkeit des Ich konstituiert wurde. Gegenüber seinem neuen Objekt etabliert sich das hier tätige Ich als Individualität. Dem anschauenden Ich erscheint die komplexe Gegenüberstellung von einfacher, anschauender Tätigkeit und zusammengesetzter, produktiver Tätigkeit als das einfache Gegenüber von innerem und äußerem Sinn, d.h., das Ich wird sich in dieser Entgegensetzung als "zeitlich" bewußt, und das Objekt erscheint ihm gegenüber als "räumlich" bestimmt.

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Schelling hat den Gedanken einer transzendentalen Vergangenheit des zu sich gekommenen Ich erstmals in den Abhandlungen (1796/97) entwickelt: "Erst durch mein freies Handeln, insofern ihm ein Objekt entgegengesetzt ist, entsteht in mir Bewußtseyn. Das Objekt ist jetzt da, sein Ursprung liegt für mich in der Vergangenheit, jenseits meines jetzigen Bewußtseyns, es ist da, ohne mein Zulhun. (Daher die Unmöglichkeit, vom Standpunkt des Bewußtseyns aus den Ursprung des Objekts zu erklären)" (I, 370f.).

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In der 2. Stufe der zweiten Epoche werden die Verstandeskategorien des Substanz-Akzidenz-Verhältnisses, des Kausalitätsverhältnisses, der Wechselwirkung und des Organismus entwickelt. Für den Philosophen ist das Objekt der 2. Stufe der 2. Epoche mehr als nur räumlich bestimmt, denn es ist ja durch zusammengesetzte Tätigkeit entstanden. Im Objekt selbst, so erkennt der Philosoph, sind räumliche und zeitliche Bestimmung zu unterscheiden, die sich wie Substanz und Akzidenz zueinander verhalten. Wie erscheint nun diese Differenz im Objekt für das Ich selbst? Das Ich wird sich der Differenz zwischen Substanz und Akzidenz bewußt, indem es sich verschiedene Objekte entgegensetzt, die sich voneinander unterscheiden. In ihrem substantiellen, räumlichen Charakter kommen sie überein, im Hinblick auf ihren zeitlich-akzidentellen Charakter sind sie verschieden. Aufgrund der an ihnen gesetzten Differenz zwischen Substanz und Akzidenz beziehen sich die Objekte aufeinander in einer sukzessiven Ordnung, dem Kausalitätsverhältnis. Da das Kausalitätsverhältnis von Ursache und Wirkung ad infinitum geht, droht das Objekt der Anschauung verloren zu gehen, wenn es nicht in sich zurückläuft und sich damit zur Wechselwirkung transformiert. Die vollständige Wechselwirkung erscheint in ihrer Totalität allerdings nur in einem Produkt der organischen Natur. Mit dem Organismus ist auch die Frage geklärt, wie das Ich dazu komme, sich als produktiv anzuschauen (vgl. III, 488ff.). Das Ich kann sich nur in einem Organismus, in welchem sich nach Schelling das ganze Universum der Welt spiegelt, produktiv a n s c h a u e n . 2 3 Die Intelligenz erscheint uns notwendig als organisches Individuum. Ihre Individualität ist ihr organischer Leib. Die dritte Epoche umfaßt die Entwicklung von der Verstandesreflexion bis zum Willen. In der vorangehenden Epoche konnte sich das Ich wieder nur als produzierend in einem Produkt anschauen, d.h. in vergegenständlichter Form. Die Frage dieser Epoche, wie sich das Ich als produzierend anschauen könne, ist also immer noch nicht beantwortet. Der Grundgedanke der dritten Epoche ist nun, daß sich das Ich nur dann als produzierend bewußt werden kann, wenn es sich von der ganzen Sphäre der Produktion losreißt, um in der Sphäre der Reflexion zum Bewußtsein seiner selbst zu gelangen. Die Bedingungen dieses Sichlosreißens, die in der dritten Epoche untersucht wer-

Was Schelling meint, erhellt aus folgender Sentenz: "Man kann sagen, die organische Natur fìihre den sichtbarsten Beweis für den transcendentalen Idealismus, denn jede Pflanze ist ein Symbol der Intelligenz" (ΙΠ, 490).

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den, sind mit dem Terminus "Abstraktion" u m s c h r i e b e n . 2 4 In der Epoche der Verstandesreflexion wandelt sich auch die Methode der Untersuchung. War sie bisher produktiv-synthetisch, ist sie jetzt reflexiv-analytisch. Dieser Wandel entspricht dem Abstraktionscharakter der Verstandesreflexion. In der 1. Stufe der Epoche der Verstandesreflexion ist die empirische Abstraktion thematisch. Durch die empirische Abstraktion kommt es zur Unterscheidung zwischen dem produktiven Handeln und seinem Produkt. Dadurch entsteht der Begriff im Unterschied zur produktiven Anschauung. Begreifen setzt also Abstraktion voraus. Im Urteil wird getrennt, "was bis jetzt unzertrennlich vereinigt war, der Begriff und die Anschauung" (III, 507). Da im Urteil Begriff und Anschauung auch wieder aufeinander bezogen sind, muß ein Medium gesucht werden, innerhalb dessen diese Beziehung stattfinden kann. "Diese Beziehung ist aber bloß durch Anschauung möglich" und heißt "Schematismus" (III, 508). Der Gedanke des Schemas bringt zum Ausdruck, daß auf der 1. Stufe der Abstraktion Begriff und Anschauung immer noch eins sind. Die empirische Abstraktion gelangt nicht wirklich dazu, daß sich die Reflexion vom Objekt losreißt, denn im Schematismus sind Begriff und Objekt wieder vereinigt. Daß die Unterscheidung von Begriff und Anschauung überhaupt möglich ist, geht auf ein höheres Abstraktionsvermögen zurück. Die "transcendentale Abstraktion" (III, 516) unterscheidet die begriffslose Anschauung vom anschauungslosen Begriff. Sie gibt sich auf diese Weise als Bedingung der empirischen Abstraktion zu erkennen. Aber auch diese höhere Abstraktion kann nicht ohne Vermittelndes gedacht werden. Als transzendentales Schema, das am ursprünglichsten inneren und äußeren Sinn vermittelt, tritt die Zeit auf. "Nur auf jener Eigenschaft der Zeit, dem äußeren und dem inneren Sinn zugleich anzugehören, beruht es, daß sie das allgemeine Vermittlungsglied des Begriffs und der Anschauung, oder das transcendentale Schema ist" (III, 517). Mit dem Gedanken des transzendentalen Schemas ergibt sich aber auch auf der Stufe der transzendentalen Abstraktion wieder eine Vereinigung von Begriff und Anschauung. Auch die transzendentale Abstraktion kann sich nicht selbst begründen. Sie setzt daher als ihre Möglichkeitsbedingung ein noch höheres Abstraktionsvermögen voraus, das, soll es alles andere begründen können, ein absolutes Abstraktionsvermögen sein muß. Da 24

"Als die erste Bedingung der Reflexion erscheint also die Abstraktion" (ΙΠ, 506).

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diese absolute Abstraktion aus keiner Produktion der Intelligenz erkennbar ist, kann sie nur als "absolute Forderung" (III, 524) aufgestellt werden. Damit kommt die theoretische Philosophie an ihr Ende ("[...] so reißt hier die Kette der theoretischen Philosophie ab" (ebd.)). Schelling orientiert sich beim Übergang von der theoretischen zur praktischen Philosophie ganz am analogen Übergang in Fichtes Wissenschaftslehre von 1794. Auch Fichte spricht dem absoluten Abstraktionsvermögen den entscheidenden Stellenwert für diesen Übergang zu. "Man kann gar nichts denken, ohne sein Ich, als sich seiner selbst bewusst, mit hinzu zu denken; man kann von seinem Selbstbewusstseyn nie abstrahiren" (Fichtes Werke I, 97), dessen Selbstidentität daher "das einige absolute Fundament unseres Wissens" sei (ebd., 107). Von da schlägt Fichte eine Brücke zum Ende des zweiten Teils der Wissenschaftslehre von 1794, der "Grundlage des theoretischen Wissens". Hier bezeichnet er die 'Abstrahierbarkeit' von allem geradezu als differentia specifica des Nicht-Ich in Abgrenzung vom Ich: "Das Ich aber ist jetzt als dasjenige bestimmt, welches, nach Aufhebung alles Objects durch das absolute Abstractionsvermögen, übrig bleibt; und das Nicht-Ich als dasjenige, von welchem durch jenes Abstractionsvermögen abstrahirt werden kann: und wir haben demnach jetzt einen festen Unterscheidungspunct zwischen dem Objecte und dem Subjecte" (Fichtes Werke I, 244; vgl. 227).25 Im Hinblick auf die angestrebte Selbsterkenntnis des Selbstbewußtseins ist das Resultat der theoretischen Philosophie zunächst negativ. Der Übergang von der widersprüchlichen Einheit von reeller und ideeller Tätigkeit des Selbstbewußtseins zur Abtrennung der Reflexion von der Produktion ist ebenso nötig wie innerhalb der theoretischen Sphäre unmöglich. Positiv bleibt festzuhalten, daß die Notwendigkeit der Forderung einer absoluten Abstraktion einsichtig gemacht werden konnte, nachdem zuvor das ganze Feld der Produktion der Intelligenz durchschritten wurde. Aber auch im Wende- und Umschlagpunkt von der theoretischen zur praktischen Philosophie, wo das Ich die theoretische Rezeptivität durchbricht und praktisch wird, kann es nicht seine substantielle Identität mit dem ihm entgegengesetzten Objekt erkennen. Zwar kommt im Übergang von der Theorie zur Praxis das Ich selbst als zugleich ideell-reelle Tätigkeit zum Vorschein. Es ist ja "dieselbe Thätigkeit, welche im freien Handeln mit Bewußtseyn produktiv ist, 25

Zur Bedeutung der "Abstraktion" in Fichtes Philosophie und im ganzen Deutschen Idealismus vgl. W. Schulz (1963), S. 20f.

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im Produzieren der Welt ohne Bewußtseyn produktiv sey" (III, 348). Allerdings ist die Identität von bewußter und unbewußter Tätigkeit an dieser Stelle nur dem Philosophen gegenwärtig. Denn das praktisch gewordene Ich gelangt zur Anschauung des Ich als Ich nur um den Preis des Verlustes des bewußtlosen Ich. Das Ich steht als Reich der Freiheit dem Nicht-Ich als dem Reich der Notwendigkeit, der von den Kategorien des Verstandes in Fesseln gehaltenen Sinnenwelt, gegenüber. Die natürliche Welt, die durch das bewußtlose Produzieren entstanden ist, fallt mit ihrem Ursprung gleichsam hinter das Bewußtsein. Das sich selbst bewußte praktische Ich ist gerade aufgrund seines 'vollständigen Bewußtseins' defizitär. Darum muß in einem letzten und entscheidenden Schritt auch die Sphäre der praktischen Philosophie überschritten werden. Das Ich muß die Schranken aufheben, die zwischen ihm selbst und der Welt durch den Akt der Abstraktion von der Natur errichtet wurden. Das unterscheidet das Transzendentalsystem 1800 von den Abhandlungen, die im Akt des praktischen Wollens den Geist zum "reinen Selbstbewußtseyn" seiner selbst und damit die Geschichte des Geistes an ihr Ziel gelangen lassen.

2. Die 'Epochen' der praktischen Philosophie Im praktischen Teil der Transzendentalphilosophie geht es "nicht etwa um Moral-Philosophie, sondern vielmehr um die transcendentale Deduktion der Denkbarkeit und Erklärbarkeit der moralischen Begriffe überhaupt" (III, 532). Schelling geht es hier um die transzendentalphilosophische Interpretation moralischer Begriffe, rechtlicher Institutionen, geschichtlicher und religöser Entwicklungen und ästhetischer Phänomene. Die Entwicklung der praktischen Philosophie umfaßt genau 7 Stufen: 1. Stufe: Wollen überhaupt, 2. Stufe: Wollen und Intersubjektivität, 3. Stufe: praktisches Wollen, 4. Stufe: moralisches Wollen, 5. Stufe: Recht und Geschichte, 6. Stufe: Religion und Offenbarung und schließlich 7. Stufe: Teleologie und Ästhetik. Alle Realitätsbereiche, in denen sich die Subjektivität praktisch auslegt, sind Gegenstand der praktischen Philosophie. Die 7. Stufe der praktischen Philosophie bildet zugleich einen dritten Teil des Transzendentalsystems: Teleologie und Kunst als Vereinigungspunkt von theoretischer und praktischer Philosophie.

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Zu Beginn der praktischen Philosophie rekurriert Schelling auf die am Ende der theoretischen Philosophie geforderte "absolute Abstraktion". Diese kann nicht mehr negativ in bezug auf anderes, sondern nur noch positiv als absolutes Selbstbestimmen gedacht werden: "Jenes Selbstbestimmen der Intelligenz heißt Wollen in seiner allgemeinsten Bedeutung des Worts" (III, 533). Dadurch, daß die Intelligenz kraft absoluter Abstraktion sich ganz auf sich selbst bezieht, tritt sie sich selbst als dem unbewußt produktiv Anschauenden gegenüber. Das absolute Selbstbestimmen oder das Wollen ist somit identisch mit dem Anfang des Bewußtseins: "Die absolute Abstraktion, d.h. der Anfang des Bewußtseyns ist nur erklärbar aus einem Selbstbestimmen oder einem Handeln der Intelligenz auf sich selbst" (III, 532).2β Zugleich ergibt sich mit dem Übergang von der Theorie zur Praxis eine neue Vermittlungsstruktur von absolutem Selbstbewußtsein und Selbstbewußtsein der Subjektivität. Ergab sich anfangs das absolute Selbstbewußtsein als Transzendierung des Selbstbewußtseins der Subjektivität im Akt der nachahmenden intellektuellen Anschauung, so geht das absolute Selbstbewußtsein hier in das Selbstbewußtsein der Subjektivität über, das sich so als in jenem begründet erweist. Der Akt des absoluten Selbstbestimmens oder des Wollens ist zwar inhaltlich identisch mit dem ersten Akt des Selbstbewußtseins, unterscheidet sich aber dadurch von ihm, daß das Ich hier nicht nur an sich, sondern für sich selbst Subjekt und Objekt zugleich ist: "Der Willensakt ist also die vollkommene Auflösung unseres Problems, wie die Intelligenz sich als anschauend erkenne. Die theoretische Philosophie wurde durch drei Hauptakte vollendet. Im ersten, dem noch bewußtlosen Akt des Selbstbewußtseyns war das Ich SubjektObjekt, ohne es für sich selbst zu sein. [...] Erst im Wollen wird auch diese [die Selbstanschauung des Ich d.V.] zur höheren Potenz erhoben, denn durch dasselbe wird das Ich als das Ganze, was es ist, d.h. als Subjekt und Objekt zugleich, oder als Producirendes sich zum Objekt" (III, 534). Die Differenz zwischen dem ursprünglichen Akt des absoluten Selbstbewußtseins und dem der Selbstbestimmung im Wollen stellt sich dar als Verhältnis zwischem dem, "was selbst nicht zum Bewußtseyn kommt" und der "höheren Potenz" des Bewußtseins. Zugleich wird im seiner selbst bewußten praktischen Ich von

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Schelling greift hier auf Fichtes These in der Wissenschaftslehre (1794) zurück, daß die praktische Philosophie die theoretische fundiert, also einen Erklärungsprimat hat.

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der unbewußten Produktion der Natur abstrahiert. Das zum bewußten Ich gewordene absolute Selbstbewußtsein läßt einen Teil seiner Wahrheit hinter sich. Dadurch gewinnt die Unterscheidung von Reflexion und produktiver Anschauung solche Festigkeit, daß die Reflexion nicht wieder mit ihr zusammenfallt. Mit dieser festen Unterscheidung wird eine neue Phase des Produzierens in der Geschichte des Selbstbewußtseins eröffnet. Anstatt bewußtlos zu produzieren wie in der theoretischen Philosophie, beginnt es nun mit Bewußtsein zu produzieren. Die bewußten Produktionen des Ich etablieren über der objektiven Welt der Natur eine "zweite Natur" (III, 537). Eine weitere Differenz beider Akte ergibt sich daraus, daß der ursprüngliche Akt des absoluten Selbstbewußtseins außerhalb aller Zeit erfolgte, während der absolute Wissensakt als "empirischer Anfang des Bewußtseyns" (ebd.) notwendig "in einen bestimmten Moment der Zeit fällt" (ebd.). Damit ist ein Widerspruch zwischen absoluter Selbstbestimmung und der Forderung der Erklärung im Sinne der Rückführbarkeit auf anderes gegeben (vgl. III, 538). Der Willensakt geht einerseits allein aus einer Handlung des Ich hervor, andererseits muß er erklärt werden aus einem bestimmten Nichthandeln des Ich bzw. einem bestimmten Handeln eines anderen Ich. Der Widerspruch läßt sich nur beheben durch Einführung der Kategorie der Intersubjektivität.27 Das Wollen ist vermittelt durch die Anschauung einer anderen Intelligenz außer mir. Schelling erläutert diese "indirekte Wechselwirkung" (III, 540) zwischen den Subjekten durch drei Punkte: 1. Ein fremdes Handeln wird nur dann Grund meines Wollens, wenn mir aus ihm der Begriff einer Forderung erwächst, also wenn es Aufforderungscharakter hat. 2. Die Möglichkeit der wechselseitigen Einwirkung der Intelligenzen ergibt sich aus der Analyse der Notwendigkeit der Intelligenz. Alle Subjekte sind einander gleich hinsichtlich ihrer Vorstellungen von der Außenwelt und im Hinblick auf ihre allgemeine Individualität; unterschieden sind sie in ihrer konkreten Individualität. In der Bestimmtheit seiner individuellen Existenz liegt sowohl eine ursprüngliche Beschränktheit, aber auch Freiheitspotential. 3. Weil die Bestimmtheit der Individualität Negation bestimmter anderer Tätigkeiten ist, ist das Wollen immer ein bestimmtes und bestimmbar. Das bedeutet, daß der absolute Willensakt in der Form der Individualität gedacht werden muß. Mit 27

Schelling folgt hier in der Ableitung der Intersubjektivität Fichte, der der erste in der Neuzeit ist, der einen Intersubjektivitätsbeweis versucht hat.

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der Bestimmung des absoluten Willensaktes durch die Intersubjektivität ist nun auch die Antwort auf die letzte Frage der theoretischen Philosophie gefunden, wie das Ich sich als produktiv anschauend bewußt werden könne: "Das Wollen [...] ist die Handlung, wodurch das Anschauen selbst vollständig ins Bewußtseyn gesetzt wird" (III, 557). Zur weiteren Stufe des praktischen Wollens führt die Frage, wie das Wollen selbst objektiv wird (ebd.). Die Bestimmungen des praktischen Wollens ergeben sich daraus, daß der Wille zunächst auf ein sinnliches Objekt bezogen ist, das er nicht hervorgebracht hat, sondern nur arbeitend modifizieren kann. Die Beziehung zwischen dem Wollen und dem sinnlichen Objekt vermittelt die Einbildungskraft, die als Tätigkeit der Vermittlung Ideen als Zielbestimmungen der Vermittlung produziert, die in der konkreten Beziehung auf die Objekte zu handlungsanleitenden Idealen werden, die ihrerseits durch den Trieb realisiert werden (vgl. III, 557ff.). Die philosophische Reflexion deckt die substantielle Identität von praktischem Wollen und theoretischer Anschauung auf, aus der sich auch erklärt, warum das freie Handeln die Naturgesetze nicht überspringen kann. Das praktische Wollen weist einen spezifischen Mangel auf: Mit der Vollendung der Realisierving des Ideals des Willens ist der Wille als Wille im Objekt aufgegangen und erloschen. Die Beziehung des praktischen Wollens ist also nicht schon die Objektivierung des ganzen Wollens. Das Wollen wird sich erst dann wirklich objektiv, wenn das Sichselbst-Wollen des Willens Gegenstand des Ich ist. Die Forderung, nichts anderes zu wollen als die reine Selbstbestimmung oder den freien Willen "aber ist nichts anderes als der kategorische Imperativ, oder das Sittengesetz" (III, 573f.). Damit sind wir in den Bereich des moralischen Willens eingetreten, der die 4. Stufe der praktischen Philosophie darstellt. Die Objektivierung des Wollens ist eine zweifache: Zum einen die Realisierung des Ideals des Wissens in Objekten, zum anderen die Objektivierung des Wollens selbst. Im Wollen gibt es demnach zwei Tendenzen: den objektgebundenen Natur- und Glückseligkeitstrieb und den objektiv freien Willen zur reinen Selbstbestimmung. Da dieser Gegensatz die Bedingung ist, unter der allein der absolute Wille des Ich zum Gegenstand werden kann, hat er notwendig die Erscheinungsform der "Willkür" (III, 376), die die Wahl hat zwischen beiden Alternativen. An sich sind zwar beide Aspekte des Willens im absoluten Willen vereint, aber so, daß sie nur in ihrer Trennung gegenständlich werden. Bliebe diese Trennung das letzte Wort, so müßte die Adäquanz von Sittengesetz und Glückseligkeit der Willkür über-

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lassen bleiben. Diese negative Folge ließe sich vermeiden, ließe sich ein Einheitsgarant finden, der sie objektiv in Übereinstimmung bringt. Dies fuhrt uns auf die 5. Stufe von Recht und Geschichte. Die praktische Philosophie überwindet die Sphäre der Moralität auf der Suche nach einem objektiven Garanten der Übereinstimmung von Sittengesetz und Glückseligkeitstrieb. Gesichert kann diese Übereinstimmung nur durch das Rechtsgesetz werden, das als "Naturgesetz zum Behuf der Freiheit" (III, 583) eine objektive Einspruchsinstanz gegen die Abweichung des eigennützigen Triebs vom Sittengesetz, die sich als "Eingriff in fremde Freiheit" (ebd.) vollzieht, darstellt. Das Recht hat aber nur als Resultat des Gesamtwillens der menschlichen Gattung objektive Gültigkeit. Es existiert daher nur als "Rechtsverfassung" (ebd.) eines Staates, die sich auch als 'internationales Recht' über die einzelnen Staaten hinweg ausbreiten kann (vgl. III, 587). Schelling denkt hier in Anlehnung an Kant an eine "Föderation aller Staaten", der "gegen jedes einzelne rebellische Staatsindividuum die Macht aller übrigen zu Gebot steht" (III, 587). Die Herausbildung der allgemeinen Rechtsverfassung erscheint als Resultat und Endzweck der Geschichte, in der Freiheit im Einzelnen und in der Realisierung von Handlungen und Notwendigkeit im Ganzen und im Resultat der Handlungen vereinigt sind. Die Übereinstimmung von Freiheit und Notwendigkeit wird durch eine "prästabilirte Harmonie" (III, 600) gesichert, die ihrerseits nur "durch etwas Höheres, was über beiden ist" (ebd.) möglich ist, das für Schelling die "absolute Identität" von Subjekt und Objekt ist, "in welcher gar keine Duplicität ist, und welche eben deßwegen, weil die Bedingung alles Bewußtseyns Duplicität ist, nie zum Bewußtseyn gelangen kann" (ebd.). Aufgrund dieser ihrer Verfassung kann die absolute Identität nicht gewußt, sondern nur geglaubt werden. Der Glaube Ein die absolute Identität ist Voraussetzung fur freies Handeln in der Geschichte. Damit hat sich die 6. Stufe des praktischen Teils der Transzendentalphilosophie ergeben, die Stufe von Religion und Offenbarung. Genau an dieser Stelle, auf dem Höhepunkt der praktischen Philosophie, gibt Schelling den Rekurs auf das absolute Selbstbewußtsein als Identität von Subjekt und Objekt, Freiheit und Notwendigkeit, bewußte und bewußtlose Tätigkeit etc. preis und macht den Durchbruch auf eine diese Identität und Harmonie noch fundierende absolute Identität. Damit geht im Transzendentalsystem 1800 unter der Hand ein alles entscheidender Prinzipienwechsel einher, der die ursprüngliche Konzeption der Selbstbewußtseinsphilosophie insgesamt

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in Frage stellt. Die postulierte "Harmonie" von Freiheit und Notwendigkeit gründet zunächst nach den Regeln der Selbstbewußtseinsphilosophie in einer ursprünglichen Identität von bewußter und bewußtloser Tätigkeit. In einem zweiten Schritt wird aber diese wiederum prinizipiiert, und zwar in einer "absoluten Identität", "in welcher gar keine Duplicität ist" und "nie zum Bewußtseyn gelangen kann" (III, 600). Mit der Etablierung einer absoluten Identität übersteigt Schelling den bisherigen Bezugsrahmen der Selbstbewußtseins- oder Subjekt-Objekt-Philosophie. Er kehrt zurück zu dem Absoluten, das er in den Frühschriften entworfen hat. Mit dem absolut Identischen, von dem alle "Duplicität" ausgeschlossen ist, nimmt Schelling einen Prinzipienwechsel vor und durchbricht die Zirkularität der an Fichtes Wissenschaftslehre angelehnten Selbstbewußtseinsphilosophie auf ein transzendetes Absolutes im Sinne des Neuplatonismus hin. 28 Mit der Unterscheidung von absoluter Identität, "die weder Subjekt noch Objekt, auch nicht beides zugleich" ist, und die Grund des Selbstbewußtseins als Identität von Subjekt und Objekt ist, bahnt sich die Konzeption der Identität als Einheit von Wesen (absolute Identität) und Form (Identität von Subjekt und Objekt), von absolutem Sein und absoluter Erkenntnis an, wie sie schließlich der Identitätsphilosophie zugrunde liegt. Allerdings erreicht das Transzendentalsystem 1800 diese Konzeption noch nicht, weil es die Formseite der absoluten Erkenntnis noch nicht kennt. 29

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Das absolut Identische evoziert ganz unweigerlich den ontologisch-spinozistischen Charakter des absoluten Ich der Frühschriften, denn frei von jeder Subjekt-Objekt-Duplizität fehlt ihm auch jede Tätigkeitsstruktur. In der Identitätsphilosophie kehrt Schelling zum statischen parmenideisch-spinozistischen Identitätsbegriff zurück. 29 Daß diese Stelle die Geburt der Identitätsphilosophie ist, geht aus einer Bemerkung Schellings in den Ferneren Darstellungen (1802) hervor, wo er auf sie Bezug nimmt: "Ohne bestimmen zu wollen, was es in irgend einer besonderen Form des Idealismus mit der Subjekt-Objektivität überhaupt und mit der Idee des Absoluten für eine Bewandtniß haben möge, sey es hinreichend zu bemerken, daß der Idealismus als Philosophie ausdrücklich - nicht sowohl von aller SubjektivitätObjektivität im Absoluten abstrahirt, als vielmehr in der Idee desselben, diesen Gegensatz absolut vertilgt, und es als dasjenige erkennt, was weder Subjekt noch Objekt, ebensowenig beides zugleich, sondern die Einheit davon in solcher Art ist, daß es beide in Bezug auf die reflektirte Welt schlechthin vereinigt, ohne selbst von dem einen oder andern etwas in sich zu haben. (S. System des transscendentalen Idealismus, S. 433ff.)." (IV, 376). Es ist das Verdienst B. Sandkaulen-Bocks, auf diese Einsatzstelle der Identitätsphilosophie im Transzendentalsystem 1800 aufmerksam gemacht zu haben (vgl. Sandkaulen-Bock (1990), S. 133ff.).

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Nach dem vollzogenen Prinzipienwechsel vom absoluten Selbstbewußtsein zur absoluten Identität stellen sich die weiteren Gestalten in der Zweiheit der Objektivation der Identität von Subjekt und Objekt einerseits und der Erscheinungsform der absoluten Identität andererseits dar. So ist die Religion nicht nur die sukzessive Offenbarung der geheimen Harmonie zwischen Freiheit und Notwendigkeit. Auch der letzte Grund dieser Harmonie - die absolute Identität selbst -, die nicht als solche objektiv werden kann, wenn anders die Realität der Freiheit als Selbstbewußtsein nicht aufgehoben werden soll, muß sich offenbaren, wenn auch nur sukzessive. "Die Geschichte als Ganzes ist eine fortgehende allmähliche sich enthüllende Offenbarung des Absoluten" (III, 603). In der nicht abschließbaren Sukzession der Offenbarung lassen sich drei Perioden unterscheiden. Die erste Periode des Schicksals, in der die absolute Identität als "völlig blinde Macht" (ebd.) herrscht, geht über in die Periode der Natur, in der die absolute Identität sich als Natur offenbart, und in der sich die Freiheit nach einem "Naturplan" (III, 604) vollzieht. In der dritten Periode der Geschichte, die noch nicht abgeschlossen ist, wird die absolute Identität als "Vorsehung" (ebd.) entwickelt und offenbar werden. Sie ist die Periode der erfüllten Zeit, der vollendeten Einheit, in der "Gott seyn" (ebd.) wird. Von ihr her empfangen die vorhergegangen Perioden ihren Sinn und ihr Ziel. Die zum Zwecke des Handelns vorauszusetzende prästabilierte Harmonie gründet also im Glauben an die absolute Identität, der in der Religion zum Ausdruck kommt, und der den Fortschritt zur Freiheit in der Geschichte garantiert. 30 Es ist bemerkenswert, daß ab der Religion die Gestalten des Transzendentalsystems 1800 nicht mehr primär auf die Figur des Selbstbewußtseins, sondern die der absoluten Identität rekurrieren. Die in der Religion erscheinende prästabilierte Harmonie, die nur im Glauben an die absolute Identität wahrgenommen werden kann, kann nicht den Abschluß der Transzendentalphilosophie bilden, da die absolute Identität in der Geschichte nur in der Trennung existiert. Motiviert wird der Fortgang jedoch durch die Grundstruktur des absoluten Selbstbewußtseins: Die Identität des Bewußten und 30

Schon im System des transzendentalen Idealismus erscheint die Theorie des Absoluten als Freiheitstheorie. Das "höchste" Problem besteht in der Vereinigung von Freiheit und Notwendigkeit (vgl. III, 594). Dieses Problem wird uns noch weit über die Identitätsphilosophie hinaus von der Freiheitsschrift über die Weltalter bis zur Spätphilosophie verfolgen.

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Unbewußten muß noch eine andere Erscheinungsform haben, die nicht die Trennung beider Momente wie in der Geschichte voraussetzt, weil sie im Ich selbst von Anfang an als dessen Wesen verankert war. Die weitere Aufgabe ist also, "zu erklären, wie das Ich selbst der ursprünglichen Harmonie zwischen Subjektivem und Objektivem bewußt werden könne" (III, 605). Zur Beantwortung dieser Frage bedarf es einer weiteren Stufe der Entwicklung des Geistes, der Stufe der Teleologie und der Ästhetik. 3 ! 3. Die Kunst als Organon zweier aufeinander verweisender Strukturtypen der Philosophie Auch Teleologie und Ästhetik haben die Zwiespältigkeit an sich, einerseits das Wesen des Ich im Sinne des absoluten Selbstbewußtseins, andererseits das absolut Identische selbst zur Darstellung zu bringen. Bei der Erörterung der Teleologie geht Schelling zunächst vom Selbstbewußtseinsparadigma aus: Da die Identität des Bewußten und Unbewußten, des Subjektiven und Objektiven, weder unmittelbar selbst Objekt werden kann, noch "in dem Objektiven der zweiten Ordnung" (III, 606), der Geschichte also, zur Darstellung kommt, so muß nach einem "Objekt der zweiten Ordnung" (ebd.) Ausschau gehalten werden, das nicht bloß mechanischen Gesetzen gehorchen darf, sondern "das zweckmäßig ist, ohne zweckmäßig hervorgebracht zu sein" (ebd.). Ein solches Objekt ist die organische Natur. "Denn das Eigentümliche der Natur beruht eben darauf, daß sie in ihrem Mechanismus, und obgleich selbst nichts als blinder Mechanismus, doch zweckmäßig ist" (III, 608). Zwar erkennt der Philosoph in der Natur die bewußtlose Produktion und die bewußte Anschauung in vollkommener Harmonie miteinander, doch erkennt das Ich selbst darin (noch) nicht sein eigenes Wesen. "Die Natur in ihrer blinden und mechanischen Zweckmäßigkeit repräsentiert mir allerdings eine ursprüngliche Identität der bewußten und der bewußtlosen Thätigkeit, aber sie repräsentirt mir jene Identität (doch) nicht als eine solche, deren letzter Grund im Ich selbst liegt. Der 31 Nicht nur mit dem Gedanken einer Naturphilosophie als eigenständigem Bereich der Philosophie, auch und zumal mit dem Gedanken einer Ästhetik als höchstem Verständigungsbereich über das Absolute, geht Schelling im System des transzendentalen Idealismus über Fichtes Wissenschaftslehre hinaus. Vgl. auch Hegels Kritik am Fehlen einer eigenständigen Ästhetik bei Fichte in der Differenzschrift, in: Hegels Werke 2, 90ff.

Geschichte des Selbstbewußtseins und Einbrach der absoluten Identität

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Transcendental-Philosoph sieht es wohl, daß das Princip derselben (dieser Harmonie) das Letzte in uns ist, was schon im ersten Akt des Selbstbewußtseyns sich trennt und auf welcher das ganze Bewußtseyn mit allen seinen Bestimmungen aufgetragen ist, aber das Ich selbst sieht es nicht. Nun war ja die Aufgabe der ganzen Wissenschaft eben die, wie dem Ich selbst der letzte Grund der Harmonie zwischen Subjektivem und Objektivem objektiv werde" (III, 610). Hier wird in der Rede vom "letzten Grund" und vom "Princip der Harmonie" deutlich, daß Schelling implizit den Prinzipienwechsel von der Identität von Subjekt und Objekt zu der sie prinzipiierenden absoluten Identität vornimmt. Das läßt vermuten, daß mit der Kunst die ganze Zwiespältigkeit des Prinzips zum Tragen kommt. Nach den Gesetzen der Transzendentalphilosophie muß das, was der Philosoph erkennt, auch für das Ich selbst bewußt werden. Es muß also ein Gegenstand gefunden werden, in welchem "das Ich für sich selbst bewußt, und bewußtlos zugleich ist" (ebd.). Schelling geht also zunächst vom 'alten' Prinzip aus. Dieser Gegenstand muß für das Ich selbst das Wesen des Ich zur Erscheinung bringen: "Die postulate Anschauung soll zusammenfassen, was in der Erscheinung der Freiheit, und was in der Anschauung des Naturprodukts getrennt existirt, nämlich Identität des Bewußten und Bewußtlosen im Ich und Bewußtseyn dieser Identität" (III, 612). Bestand der Vorzug des Naturprodukts darin, daß in ihm die Identität von Bewußtem und Unbewußtem in einem anschaulichen Produkt zur Darstellung kam, so ihr Defizit darin, daß es Resultat unbewußter Produktion ist. War es der Vorzug des Freiheitsprodukts, daß es mit Bewußtsein begleitet ist, so war es jedoch nicht in einem anschaulichen Produkt realisiert. Das im Übergang von der Teleologie zur Ästhetik geforderte Produkt muß sich dadurch auszeichnen, daß es bewußt vom Ich hervorgebracht wird und zugleich anschaulich die gesuchte Identität von Bewußtem und Unbewußtem zur Erscheinung bringt.32 Das postulierte Produkt muß Resultat freien und absichtsvollen Handelns sein, wobei sich jedoch das Gelingen des Produkts nicht unter das zweckbestimmte Handeln subsumieren läßt, sondern über es hinausschießt: "Das postulirte Produkt ist kein anderes als das Geniepro-

32

"Die Produktion also ist zu Beginn frei, das Produkt dagegen erscheint als absolute Identität [!] der freien Thätigkeit mit der nothwendigen", heißt es im Zusatz zu Schellings Handexemplar (ΠΙ, 614 Anm. 2). Im Terminus der absoluten Identität wird das 'neue' Prinzip eingeblendet.

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dukt, oder da das Genie nur in der Kunst möglich ist, das Kunstprodukt" (III, 616).33

Bezogen auf das Selbstbewußtseinsparadigma bildet die Kunst also den Abschluß des Transzendentalsystems 1800, weil sie das Wesen des Ich, die Identität von bewußter Aktivität und unbewußter Produktivität für das Bewußtsein des Ich selbst als Objekt zur Darstellung bringt. Vom Naturprodukt unterscheidet sich das Kunstwerk darin, daß es Resultat bewußter Produktion des Ich ist, von Geschichte und Religion dadurch, daß in ihr als anschauliches Ergebnis einer bewußten Aktion des Ich auftritt, was dort nur im Glauben als vorauszusetzende Leitlinie des Handelns der Menschengattung in der Geschichte zur Geltung kommen konnte. Während die organische Natur noch mehr das 'alte' Prinzip des absoluten Selbstbewußtseins zur Darstellung bringt, reflektiert die Kunst mehr das 'neue' Prinzip der absoluten Identität, so daß mit ihr die Zwiespältigkeit des Prinzips erst richtig deutlich wird. "Das Kunstwerk nur reflektirt mir, was sonst durch nichts reflektirt wird, jenes absolut Identische [!], was selbst im Ich schon sich getrennt hat; was also der Philosoph schon im ersten Akt des Bewußtseyns sich trennen läßt, wird, sonst für jede Anschauung unzugänglich, durch das Wunder der Kunst aus ihren Produkten zurückgestrahlt" (III, 625). "[...] so ist die Kunst die einzige und ewige Offenbarung, die es gibt, und das Wunder, das, wenn es auch nur Einmal existirt hätte, uns von der absoluten Realität des Höchsten [!] überzeugen müßte" (III, 618). Es ist allein die Kunst, die durch die Unausschöpflichkeit ihres Seins adäquat repräsentiert, was als solches sich dem Bewußtsein entzieht: das transzendente Absolute im Sinne der absoluten Identität. 34 Die Abhebung der absoluten Identität und deren Objektivwerden in der ästhetischen Anschauung von der Trennung im Ich deutet programmatisch auf die Konzeption der Identitätsphi33

Zu Schellings Thematisierung des Kunstwerks im Transzendentalsystem 1800 vgl. D. Jähnig (1966 u. 1969), Bd. 2; H. Paetzold (1978) und W.Ch. Zimmerli (1978). Schellings spektakuläre Theorie der Kunst in ihrem Verhältnis zur Philosophie im System, des transzendentalen Idealismus verweist zurück auf seine frühere Schrift Über Mythen, historische Sagen und Philosophie der älteren Welt (1793) und natürlich auf Grundgedanken des sog. Ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus (um 1796).

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Wenn M. Frank hervorhebt, daß Schellings System des transzendentalen Idealismus "das erste in der abendländischen Philosophie [ist], in welchem der Kunst die Bolle zufallt, die Objektivität des in der intellektuellen Anschauung Antizipierten - also die Realität ihres Prinzips - darzutun" (M. Frank (1989), S. 151), so reflektiert er nicht auf die Doppelbödigkeit dieses Prinzips im Transzendentalsystem 1800.

Geschichte des Selbstbewußtseins und Einbruch der absoluten Identität

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losophie, die das Prinzip des Selbstbewußtseins zugunsten der absoluten Identität aufgibt. Wenn Schelling abschließend das Verhältnis von Prinzip der Philosophie und Kunst als Verhältnis von intellektueller und ästhetischer Anschauung diskutiert, dann hat sich der Prinzipienwechsel vom absoluten Selbstbewußtsein zur absoluten Identität endgültig vollzogen: "Die ganze Philosophie geht aus, und muß ausgehen von einem Princip, das als das absolut Identische [!] schlechthin nichtobjektiv ist. Wie soll aber dieses Nichtobjektive doch zum Bewußtseyn hervorgerufen und verstanden werden, was notwendig ist, wenn es Bedingung des Verstehens der ganzen Philosophie ist?" (III, 624). Mit dem Prinzipienwechsel hat sich auch der Sinn der intellektuellen Anschauung geändert. Sie wandelt sich von der Anschauung der als Akt gefaßten Identität von Subjekt und Objekt zur Anschauung des absolut Identischen selbst. Von diesem gewandelten Sinn der intellektuellen Anschauung aus vergegenwärtigt sich Schelling ihren Zusammenhang mit der ästhetischen Anschauung. Die intellektuelle Anschauung ist zwar die höchste unmittelbare Gewißheit der absoluten Identität, aber darum noch kein Wissen und Bewußtsein von ihr. Das Objektivwerden und damit zum Bewußtseinkommen der ursprünglich präreflexiven absoluten Identität gelingt erst im Kunstwerk. Das Kunstwerk ist die Objektivierung der intellektuellen Anschauung, die dadurch intersubjektiv zugänglich und mitteilbar wird. Darum ist die Kunst "das einzig wahre und ewige Organon zugleich und Document der Philosophie" (III, 627). Sie macht objektiv und damit intersubjektiv kommunizierbar, was vordem nur in der Antizipation der Philosophie existierte: das neue Prinzip des Absoluten als absoluter Identität. In der Kunstanschauung vereinigen sich philosophisches (nunmehr identitätsphilosophisches) und öffentliches Bewußtsein. Schelling beschließt sein Transzendentalsystem 1800 mit der Apotheose der Kunst und der Dichtung und mit der Verkündigung einer neuen Mythologie: "Wenn es nun aber die Kunst allein ist, welcher das, was der Philosoph nur subjektiv darzustellen vermag, mit allgemeiner Gültigkeit objektiv zu machen gelingen kann, so ist, um noch diesen Schluß daraus zu ziehen, zu erwarten, daß die Philosophie, so wie sie in der Kindheit der Wissenschaft von der Poesie geboren und genährt worden ist, und mit ihr alle diejenigen Wissenschaften, welche durch sie der Vollkommenheit entgegengeführt werden, nach ihrer Vollendung als ebensoviel einzelne Ströme in den allgemeinen Ozean der Poesie

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zurückfließen, von welchem sie ausgegangen waren. Welches aber das Mittelglied der Rückkehr der Wissenschaft zur Poesie sein werde, ist im allgemeinen nicht schwer zu sagen, da ein solches Mittelglied in der Mythologie existirt hat, ehe diese, wie es jetzt scheint, unauflösliche Trennung geschehen ist. Wie aber eine neue Mythologie, welche nicht Erfindung des einzelnen Dichters, sondern eines neuen nur Einen Dichter gleichsam vorstellenden Geschlechts sein kann, selbst entstehen könne, dies ist ein Problem, dessen Auflösung allein von den künftigen Schicksalen der Welt, und dem weiteren Verlauf der Geschichte zu erwarten ist" (III, 629). III. Die Aporie des Transzendentalsystems 1800 Fassen wir das Ergebnis der Untersuchung von Schellings Transzendentalsystem 1800 zusammen: 1. Schelling folgt im Aufbau des Transzendentalsystems im großen und ganzen den drei Kritiken Kants, den er zugleich überbieten möchte. Er beansprucht, Kants kritische Philosophie zu einem "System" der Metaphysik35 zusammenzuschließen, wie sich deutlich im Versuch zeigt, in der theoretischen Philosophie die Formen der sinnlichen Anschauung und die Verstandeskategorien, in der praktischen Philosophie den kategorischen Imperativ, das Recht und die Gesetzmäßigkeiten einer auf Freiheit ausgerichteten Geschichte herzuleiten. Wie in den Frühschriften ist Schelling darauf aus, die "fehlenden Prämissen" der Kantischen Philosophie freizulegen. Wieder geht er wie in den Frühschriften hinter die Restriktion der Kantischen Erkenntnistheorie zurück auf ein Absolutes als Prinzip, aus dem Theorie und Praxis entfaltet werden können, die ihren Vereinigungspunkt in Teleologie und Kunst finden. So sehr das Transzendentalsystem 1800 aus einem Guß zu sein scheint, so sehr hat es sich als 'um-brüchig' erwiesen. Zunächst drängt sich der Verdacht auf, daß das System nicht wie beansprucht in seinen Anfang, das Selbstbewußtsein, zurückkehrt: "Ein System ist vollendet, wenn es in seinen Anfangspunkt zurückgeführt ist. Aber eben dies ist der Fall mit unserem System" (III, 628). Denn der 36

H. Holz spricht zu Recht davon, daß es sich bei Schellings System des transzendentalen Idealismus um eine "transzendentale[n] Metaphysik" handelt (H. Holz (1977), S. 127). Dieser Begriff bringt prägnant den Überstieg von der Transzendentalphilosophie zur Identitätsphilosophie zum Ausdruck, der sich im Transzendentalsystem 1800 vollzieht.

Aporie des Transzendentalsystems 1800

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Anfang des Systems war nur in der Vermittlung des Selbstbewußtseins der Subjektivität zu gewinnen und selbst als absolutes Selbstbewußtsein gefaßt, während der Verlauf des Systems am Ende ein Absolutes als absolute Identität freisetzte, was ganz offensichtlich mit dem Prinzip des Selbstbewußtseins nicht zusammenfällt. Wenn Schelling davon spricht: "Die ganze Philosophie geht aus, und muß ausgehen von einem Princip, das als das absolut Identische, schlechthin nichtobjektiv ist" (III, 624), dann läßt sich dies rückblickend so deuten, daß er am Ende den Anfang identitätsphilosophisch uminterpretiert. Der Widerspruch zwischen der grundlegenden Differenz zwischen Ausgang und Ende und der behaupteten Bestimmung einer 'Rückkehr in den Anfang' nötigt zu dem Schluß, daß wir es im Transzendentalsystem 1800 mit der "Krise" (Sandkaulen-Bock) der Selbstbewußtseins- oder Subjekt-Objekt-Philosophie und dem Übergangspunkt zur Identitätsphilosophie zu tun haben. Zwar versucht Schelling noch, das absolut Identische in das Transzendentalsystem zu integrieren, aber dieser Versuch bleibt aporetisch. Das Originelle am System des transzendentalen Idealismus ist, daß sich hier die philosophische Reflexion von der Existenz der absoluten Identität nur durch die Existenz von Kunst und Genie überzeugen kann. Die ästhetische Anschauung des Genies übersteigt das Erkenntnisvermögen des Philosophen. Die Kunst übernimmt die Rolle, die Objektivität des in der intellektuellen Anschauung Antizipierten darzutun. Das unterscheidet das Transzendentalsystem von der Identitätsphilosophie, wo das Absolute auch der Vernunft zugänglich wird. Indem Schelling so das Wahre und Gute in der Schönheit begründet und diese an das Absolute zurückbindet, überwindet er die Grenzlinie der Kantischen Philosophie. Schelling führt damit modifiziert Kants und Schillers systematische Konzeptionen fort, wonach Ästhetik zugleich Theorie der Verbindung von Natur und Freiheit ist. Die Philosophie der Kunst vereinigt hier Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie in einer Weise, die auf die Identitätsphilosophie hinausweist. 2. Dieser sich im Transzendentalsystem vollziehende Umbruch zur Identitätsphilosophie ist in der internen Zirkularität der Selbstbewußtseinsphilosophie begründet, zu der - was ihren Anfang anbetrifft - auch noch das Transzendentalsystem 1800 rechnet. Fichte hat im sich selbst setzenden Ich das letztbegründete Prinzip der Philosophie erkannt. Schelling nimmt diese Prinzipienreflexion zu Beginn des Systems des transzendentalen Idealismus auf, gibt dem Prinzip aber zugleich einen etwas anderen Sinn, indem er es ins Absolute

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wendet. Gemeinsam ist Fichte und Schelling der Begriff des Ich oder des Selbstbewußtseins als Konstitutionsprinzip des transzendentalen Idealismus. Dodi während für Fichte das Absolute mit dem Ich zusammenfallt, dem unableitbarer Weise ein Nicht-Ich entgegengesetzt wird, ist für Schelling das Absolute das über das Selbstbewußtsein des Ich hinausgehende absolute Selbstbewußtsein36, dem zudem eine interne Differenz von reeller und ideeller Tätigkeit einbeschrieben ist, die in der Lage ist, Anfang und Gang der Philosophie immanent zu begründen. Die Durchführung des Systems durch die "Epochen" des Selbstbewußtseins zeigt, wie die Identität von bewußter und unbewußter Tätigkeit des Ich dem Ich selbst bewußt wird und wie ihm auf dem Weg dieser Bewußtwerdung das ganze System des Wissens entsteht. Letztbegründung des Wissens in einer Prinzipienreflexion ist Fichtes und Schellings gemeinsamer idealistischer Grundgedanke, während es zu einer systematischen Entfaltung des Wissens im Ausgang von einem transzendental begründeten Absoluten nur bei Schelling kommt. Aber genau in diesem über Fichte hinausgehenden Ansatz der Transzendentalphilosophie liegen auch die Probleme: Wahrer Ausgang des Transzendentalsystems 1800 ist der ursprüngliche Akt des absoluten Selbstbewußtseins nicht das Selbstbewußtsein als Postulat, letzteres ist vielmehr die "höhere Potenz" jenes Aktes, welche sich in dem in ihm aussprechenden Bewußtsein manifestiert, und daher von jenem abgeleitet ist. Das Selbstbewußtsein als Postulat setzt also das absolute Selbstbewußtsein als unaufhebbaren Grund voraus. Umgekehrt ist dieses nur nach dem Muster des Selbstbewußtseins des Ich entworfen. Dadurch verbleibt das absolute Selbstbewußtsein in der nicht zu transzendierenden Immanenz des selbstbewußten Ich. Es ist nur ein Entwurf der intellektuellen Anschauung des Philosophen. Auch im Transzendentalsystem 1800 besteht also zwischen absolutem Selbstbewußtsein und Selbstbewußtsein der Subjektivität ein fehlerhaft zirkuläres Voraussetzungsverhältnis, das im Zirkel der Subjektivität verbleibt. Diese Befangenheit des Absoluten in der Immanenz des Selbstbewußtseins wird im zweiten Teil partiell mit dem Durchbruch zur absoluten Identität überwunden. 36

Zu Recht notiert M. Frank, daß Schelling das Ich im Unterschied zu Fichte als "Manifestation eines (ihm) Zuvorbestehenden und Höheren" deutet, "das er bald Identität, bald (mit Jacobi) Sein, bald das Absolute genannt hat" (M. Frank (1985), S. 49). Allerdings verändert sich im Verlauf von Schellings Philosophie das, was jeweils das dem Ich zuvorbestehende Absolute ist. Schellings Philosophie ist ein mäanderierendes Thematisieren des Absoluten.

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Aufgabe der Identitätsphilosophie ist es, das neue Prinzip zu einem sich selbst tragenden System zu entfalten. 3. Der Entwicklung der theoretischen Philosophie liegt zwar an sich die substantielle Identität von Subjekt und Objekt zugrunde, so aber, daß hier die Seite der unbewußten Produktionen des Ich (Objekt) über die Seite des Bewußtseins und der Reflexion (Subjekt) herrscht. Diese kann sich nur schrittweise aus den Schranken des Objekts befreien, ohne sich aber seiner ursprünglichen substantiellen Identität mit dem ihr Entgegengesetzten versichern zu können. Die theoretische Philosophie endet mit der bloßen Forderung einer absoluten Reflexion. 4. Die absolute Reflexion, die aller theoretischen Verstandesreflexion zugrunde liegt, wird zu Beginn der praktischen Philosophie auf den Akt des Wollens zurückgeführt. Im Wollen wird sich das Ich als Einheit von produktiver und reflexiver Tätigkeit bewußt, durchbricht seine theoretische Rezeptivität und wird praktisch, indem es seine Produkte bewußt hervorbringt. Doch der Freiheit steht das Reich der Notwendigkeit gegenüber, die von den Verstandeskategorien bestimmte Sinnenwelt der unbewußten Produktion. Das objektbezogene Wollen steht dem reinen Sich-selbst-Wollen gegenüber, so daß auch hier die gesuchte Identität nicht gefunden wird, sondern nur als prästabilierte Harmonie im Glauben vorausgesetzt werden kann. Die Identität des Subjektiven und Objektiven findet erst im Kunstwerk ihren adäquaten gegenständlichen Ausdruck. Hier erkennt Schelling, daß er nicht auf die Identität des Subjektiven und Objektiven aus ist, sondern auf die absolute Identität als solche, denn nur diese kann jene prinzipiieren, ohne daß sie beständig in die Struktur des subjektiven Selbstbewußtseins zurücksinkt. Mißt man das Transzendentalsystem 1800 an der von Schelling am Ende vorgenommenen identitätsphilosophischen Uminterpretation, so zeigt sich, daß die absolute Identität noch nicht auf eigenen philosophischen Füßen steht: "Ein System ist vollendet, wenn es in seinen Ausgangspunkt zurückgeführt ist. Aber eben dies ist der Fall mit unserem System. Denn eben jener ursprüngliche Grund [!] aller Harmonie des Subjektiven und Objektiven, welcher in seiner ursprünglichen Identität nur durch die intellektuelle Anschauung [!] dargestellt werden konnte, ist es, welcher durch das Kunstwerk aus dem Subjektiven völlig herausgebracht und ganz objektiv geworden ist, dergestalt, daß wir unser Objekt, das Ich selbst, allmählich bis auf den Punkt geführt, auf wel-

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chem wir selbst standen, als wir anfingen zu philosophiren" (III, 628f.). Die Wahrheit über das System des transzendentalen Idealismus liegt im Verhältnis von intellektueller Anschauung des Philosophen und der ästhetischen Anschauung des Genies bzw. des öffentlichen Ich begründet. Beim Philosophen bleibt die intellektuelle Anschauung des Absoluten bloß innerlich. Sie wird realisiert allein in der ästhetischen Anschauung der Kunst. Der Philosoph kann sich vom Absoluten nur subjektive Gewißheit verschaffen, d.h., er kann sich von der Realität des Absoluten nur über Kunst und Genie überzeugen. Damit fallen intellektuelle Anschauung des Philosophen und ästhetische Anschauung der Kunst auseinander. Das System kehrt nicht wie beansprucht in seinen Anfang zurück. Das bedeutet, daß die Philosophie nicht in der Lage ist, sich selbst zu begründen, sondern ihren Selbstbegründungsanspruch delegieren muß an die Ästhetik. Die Philosophie verweist ihren Selbstbegründungsanspruch an ein ihr Anderes, die Kunst. 37 5. So ergibt sich folgendes Resultat: Die Intention, aus dem Prinzip des Selbstbewußtseins eine Selbstbegründung der Philosophie zu gewinnen, ist das Motiv Schellings, im Anschluß an die Wissenschaftslehre Fichtes von 1794 diese zugleich zu einem System des transzendentalen Idealismus weiterzuentwickeln. Schelling erweitert die Zweiteilung der Wissenschaftslehre Fichtes in theoretische und praktische Philosophie durch einen dritten Teil, die Philosophie der Kunst. Die in Fichtes Wissenschaftslehre im praktischen Teil der Philosophie nur im 'unendlichen Streben' approximativ zu realisierende absolute Einheit des Ich, sollte durch die Konzeption der ästhetischen Anschauung der Kunst überwunden werden. Doch bricht in Schellings System mit der Spannung von intellektueller Anschauung und ästhetischer Anschauung die intendierte Einheitskonzeption Gerade darin kommt Schelling seiner Forderung einer "transzendentalen Konstruktion des zentralen Gegenstandes der Philosophie und zugleich der Philosophie selbst, d.h. des Ich oder des Absoluten", wie sie H. Holz formuliert, nicht nach (H. Holz (1970), S. 84). Daß die Kunst den Begründungsanspruch übernimmt, bedeutet allerdings keineswegs eine ästhetizistische Selbstaufgabe der Philosophie, sondern daß Philosophie aus philosophischen Gründen über sich hinausgetrieben wird. Das ist jedenfalls die dem frühen Schelling und den Frühromantikern gemeinsame provokante Behauptung. Philosophie hat Gründe dafür, warum die Kunst sie überflügelt (vgl. M. Frank (1989), S. 231ff.). Die Rede von einer "Poetologisierung der Transzendentalphilosophie" (H. Freier (1976), S. 167) scheint daher nicht angemessen zu sein. Dennoch kann dieses Resultat für das Begründungsproblem der Philosophie nicht befriedigend sein. Die Identitätsphilosophie ist ein Versuch, atas dieser Sackgasse herauszuführen.

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wieder auseinander in das absolute Selbstbewußtsein als Prinzip der Philosophie und in das über das Selbstbewußtsein hinausgehende absolut Identische, das sich jeder philosophischen Reflexion entzieht und nur in der Kunst des Genies objektiv werden kann.

4. Kapitel Idev titätsphilosophie: Das vernünftige Absolute I. Der Weg vom Transzendentalsystem 1800 zur Identitätsphilosophie Der Gedanke der absoluten Identität ist im Transzendentalsystem 1800 noch nicht voll entwickelt; er steht noch unvermittelt neben dem Prinzip als Selbstbewußtsein oder Subjekt-Objekt. Er allein genügt auch nicht, den philosophischen Neuansatz zu begründen. Erst das Zusammenspiel von absoluter Identität und absoluter Erkenntnis ermöglicht den Einstieg in die identitätsphilosophische Konzeption. Die Darstellung des Absoluten erfolgt nicht mehr durch die Kunst; dieses ist vielmehr dem spekulativen Denken zugänglich geworden. Diese neue Konzeption Schellings ist wesentlich durch den Einfluß Hegels auf den Weg gebracht worden. Schellings Wandlung zur Identitätsphilosophie, die im Hinblick auf die Prinzipienfrage erfolgt, läßt sich aus den Wandlungen im Begriff der intellektuellen Anschauung ablesen. Die postulierte intellektuelle Anschauung der Subjektivität, die zwar begrifflich nicht demonstrierbar, aber als Handlung dodi jedem angesonnen werden kann, ebenso wie die intellektuelle Anschauung der Natur in der Depotenzierung des Selbstbewußtseins werden abgelöst von der intellektuellen Anschauung des Absoluten. Die Anschauung des Absoluten unterscheidet sich von den vorhergehenden Anschauungsformen dadurch, daß ihr Gehalt vom Absoluten bestimmt ist. Das Absolute ist nicht mehr das, was mit der Abstraktion von der Subjektivität zusammenfällt wie noch in der Schrift Über den wahren Begriff der Naturphilosophie (1801), in der Schelling zum letzten Mal ein vollständiges System aus dem Prinzip des Selbstbewußtseins entwirft. Das Absolute fordert vielmehr von sich aus eine Erkenntnisform, die ihm adäquat ist. Daß es sich beim Identitätssystem um einen Neuansatz handelt, der im Transzendentalsystem 1800 zwar in Umrissen gegenwärtig, aber nicht explizit gemacht ist, wird durch Schellings Interpretati-

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Das vernünftige Absolute

onsbemühungen zugleich verstellt. Schelling versucht stets, seine philosophischen Umbrüche durch Scheinkontinuitäten zu verschleiern und sie als nahtlose Folgeerscheinungen von Vorhergehendem darzustellen. In der "Vorerinnerung" zum System 1801 schreibt er: "[...] denn das System, welches hier zuerst in seiner ganz eigenthümlichen Gestalt erscheint, ist dasselbe [!], was ich bei den ganz verschiedenen Darstellungen desselben immer vor Augen gehabt, und woran ich mich, für mich selbst, in der Transcendental- sowohl als Naturphilosophie beständig orientirt habe" (IV, 108). Um den Neuansatz der Identitätsphilosophie deutlich zu machen, sei daher die Differenz zur Selbstbewußtseins- oder Subjekt-Objekt-Philosophie nochmals herausgestellt, ι Im Begriff der Naturphilosophie (1801) kommen die Aporien des alten Paradigmas des Selbstbewußtseins geballt zum Ausdruck. Natur- und Transzendentalphilosophie sind hier im Prinzip des Selbstbewußtseins zusammengeschlosssen. Resultiert die Intention, dem Absoluten den Charakter des Selbstbewußtseins zuzusprechen, in der Etablierung einer eigenständigen Naturphilosophie, so bleibt deren epistemische Basis andererseits angewiesen auf die Transzendentalphilosophie, weil sich nur in ihr die Vergewisserung des epistemischen Prinzips aus dem Ich findet, dieses sich aber nur in Abstraktion von sich selbst auf den mit der Natur identischen bewußtlosen Anfang zurückwenden kann. Das Verhältnis von Transzendental- und Naturphilosophie reduziert sich somit auf den dem Von einem Neuansatz der Identitätsphilosophie gegenüber dem Transzendentalsystem spricht Schelling selbst ausdrücklich in einem Brief an Eschenmayer vom Juli 1805: "Nun habe ich seit dem Augenblick, da mir das Licht in der Philosophie aufgegangen ist, seit 1801, wo ich die bekannten Aphorismen erscheinen ließ, ja früher schon, gegen das Ende meines Systems des Idealismus mit aller mir möglichen Deutlichkeit behauptet, daJ3 die Philosophie keineswegs in einem Objectiviren des Urbildes, d.h. in einem (insofern subjectiven) Setzen des Urbildes oder Absoluten als eines Objectiven bestehe; daJ3 vielmehr das Setzen in der Vernunft kein Setzen des Menschen (des Subjects), und wie dasjenige, wovon die Vernunft das Setzen ist, weder ein subjectives, noch ein objectives, sondern eben ein absolutes sei" (Plitt (D, S. 60f.). Eine Unsicherheit hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen neu gefaßtem Absolutem und veränderter Wissensform verrät die Schrift Allgemeine Deduktion des dynamischen Processes oder der Kategorien der Physik (1800). Hier unterscheidet Schelling die absolute Identität von der ins Unendliche strebenden Tätigkeit des Ich und der Subjekt-Objekt-Dialektik. Die absolute Identität wird nicht als Tätigkeit, sondern als deren "Grund" (IV, 34) gedacht. Erkennbar ist Schellings Bemühen, die absolute Identität von dem Paradigma des Selbstbewußtseins oder des Subjekt-Objekts freizuhalten. Die Schwierigkeiten des neuen Ansatzes bekunden sich hier darin, daß er die Erkenntnisform der absoluten Identität noch nicht adäquat faßt. Zum Umbruch vom Transzendentalsystem zum Identitätsystem vgl. auch B. Sandkaulen-Bock (1990), S. 146ff.

Vom Transzendentalsystem 1800 zur Identitätsphilosophie

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System des Selbstbewußtseins oder des Subjekt-Objekts eigenen Widerspruch, daß das zum Bewußtlosen depotenzierte Ich gleichwohl noch als Ich genommen wird (vgl. IV, 88), obgleich die Intention ein nicht erschlossenes Absolutes, ein allem vorausliegendes Sein verlangt. Insofern Schellings Selbstbewußtseins- oder Subjekt-Objekt-Philosophie den "Standpunkt des Bewußtseins" voraussetzen muß, um das Prinzip des absoluten Subjekt-Objekts als Natur zu gewinnen, bewegt sie sich im Rahmen von Fichtes Wissenschaftslehre. Allerdings ist im Begriff der Naturphilosophie (1801) die Wissenschaftslehre nicht die "Philosophie selbst", sondern nur deren notwendige Voraussetzung. Das System selbst entsteht nämlich durch Abstraktion vom Selbstbewußtsein der Subjektivität. Darin macht sich die Schelling von Anfang an bewegende Idee geltend, die Fichtesche Beschränkung auf die Ebene des Bewußtseins zugunsten eines Absoluten zu überschreiten. Doch trotz der Unterscheidung von Wissenschaftslehre und System hält Schelling an einem argumentativen Zusammenhang zwischen Wissenschaftslehre und System fest. Das System entsteht durch die Abstraktion von der Wissenschaftslehre, einer Abstraktion, die sich am Denkmodell der Depotenzierung des seiner selbst bewußten Subjekt-Objekt orientiert, so wie es sich in der intellektuellen Anschauung des Selbstbewußtseins konstituiert, zum bewußtlosen Subjekt-Objekt der Natur, das sich allerdings als "reines SubjektObjekt [...] in der Potenz 0" (IV, 87) vom bewußten Ich strikt unterscheidet. Schelling geht es also im Begriff der Naturphilosophie (1801) um eine epistemische Basis fiir das Absolute als Subjekt-Objekt der Natur, deren Voraussetzung die Abstraktion des Selbstbewußtseins der Subjektivität von sich selbst darstellt. Diese ist mithin noch nicht als Schritt zur Identitätsphilosophie zu verstehen. Vielmehr bekundet sie die zirkuläre Begründung des Subjekt-Objekt-Systems. Die Umdeutung des Selbstbewußtseins in ein dem Ich vorausliegendes Subjekt-Objekt, mit der eine rein naturphilosophische Überbietung Fichtes einhergeht, kommt nur auf Basis der Subjektivität zustande. Das Absolute bleibt immanenter Entwurf der Subjektivität, indem es mit der Abstraktion des Subjekts von sich selbst zusammenfällt. Daß das Selbstbewußtsein der Subjektivität andererseits selbst Resultat des absoluten Prozesses ist, läßt den Ansatz nicht aus der zirkulären Immanenz dieser Konzeption herauskommen, vielmehr wird die zirkuläre Begründung des Selbstbewußtseins- oder Subjekt-Objekt-Systems dadurch nur bestätigt.

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Das vernünftige Absolute

Die Neuorientierung am absolut Identischen, die die Abhängigkeit des Absoluten vom Prinzip des Selbstbewußtseins oder des SubjektObjekts überwindet, folgt dem Anspruch auf ein Absolutes als einem Unbedingten, von dem die Philosophie ausgehen soll. Die Identitätsphilosophie ist also ein Neuansatz Schellings, der sich aus den Problemen der Subjekt-Objekt-Philosophie notwendig ergibt, derart, daß er gegen sie sein Programm einer Philosophie aus dem Unbedingten in Ansatz bringt. Schelling kommt bereits in seinen philosophischen Anfängen zu seiner Systemkonzeption, der das Absolute Prinzip und nicht Resultat ist, indem er Jacobis Begriff des Unbedingten und die von Jacobi in seiner Spinozakritik selbst exponierte Systemidee der Philosophie miteinander verknüpft. Die erste Konzeption Schellings führt in die Schwierigkeit, daß von einem identischen Sein - gedeutet als absolutes Ich - die systematische Explikation des Wissens bzw. der Welt nicht wirklich plausibel gemacht werden kann. Der Neuansatz der Abhandlungen verabschiedet mit Spinoza das Sein des Absoluten als absolute Identität. An seine Stelle tritt die Konzeption der Handlung eines sich selbst konstituierenden Subjekts, das als Selbstbewußtsein Subjekt und Objekt zugleich ist, damit eine Synthesis darstellt, der Differenzierung inhäriert, und als genetischer Prozeß zunehmender Selbsterkenntnis konzipiert ist. Während diese genetische Prozeßkonzeption der Subjekt-Objekt-Philosophie das Ausgangsproblem der ersten Konzeption löst, indem sie eine Welt aus sich selbst zu generieren in der Lage ist, hat sie selbst die Schwierigkeit, daß sie nur auf Basis der Selbstanschauung des Bewußtseins möglich ist, obgleich ihr wirklicher Anfang in einem Absoluten jenseits des Bewußtseins angesiedelt ist. Indem das Absolute mit der Abstraktion des Subjekts von sich selbst zusammenfällt, verbleibt es in der Immanenz des bewußten Ich des Philosophen befangen. Der identitätsphilosophische Ansatz ergibt sich aus der Intention, die Aporien beider Konzeptionen zu überwinden. Er macht einerseits ein allem Denken vorausliegendes Absolutes gegen seine Auflösung in die Immanenz des Selbstbewußtseins geltend, andererseits die Notwendigkeit von dessen Differenzierung und Explikation in einer absoluten Erkenntnisform, als die jetzt die intellektuelle Anschauung auftritt, die von nun an mit der absoluten Vernunft zusammenfällt. Aus dieser Konstellation resultiert die eigentümliche Gestalt einer 'zweistelligen Konstruktion' des Absoluten aus Wesen und Form oder Sein und Erkennen, die im Modus der Indifferenz einander verbunden und so ein und dasselbe sind. In Ansatz wird also eine In-

Vom Transzendentalsystem 1800 zur Identitätsphilosophie

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differenz von absoluter Identität und Identität von Subjekt und Objekt, von Wesen und Form gebracht. Ist jeder Gegensatz zwischen Erkenntnis und Erkenntnisgegenstand getilgt, "so ist alsdann das Ideelle (das Erkennen) selbst wieder das Reale, und (ein für die folgende Construktion wichtiger Satz) die Indifferenz in der Form (d.h. eben jene Einheit des Denkens und Seyns) ist auch wieder die Indifferenz der Form und des Wesens, und beide sind unzertrennlich voneinander" (System 1802, IV, 380). Mit dieser Konzeption glaubt Schelling, sein Programm einer Philosophie des Absoluten aus dem Unbedingten realisieren zu können. Von Anfang an hatte Schelling diesen einen Grundgedanken, der sich durch alle Umbrüche seines Denkens hindurchzieht, aber verschiedene Abwandlungen erfahren hat. Es erweist sich das Diktum, Schelling sei der "Proteus der Philosophie", der seinen Standpunkt dauernd ändert, erneut als Vorurteil. Der identitätsphilosophische Neuansatz reflektiert sich vornehmlich in Schellings Auseinandersetzung mit Fichte. Während Schelling vor der identitätsphilosophischen Wende Nähe und Distanz zu Fichte dadurch zum Ausdruck bringt, daß er die ontologische Umdeutung des Prinzips des Selbstbewußtseins mit Hilfe der Unterscheidung von Wissenschaftslehre und System zu begründen versucht, wird die Stoßrichtung der Fichte-Kritik auf dem Boden der Identitätsphilosophie unversöhnlich, weil das System sich endgültig vom Prinzip des Selbstbewußtseins emanzipiert hat. In der identitätsphilosophischen Konzeption eines vernünftigen Absoluten wird ein allem vorausliegendes Absolutes in Ansatz gebracht, das sich in der absoluten Erkenntnis restlos offenbart. Schellings Identitätsphilosophie ist somit seine erste eigene, gegenüber Fichte profilierte Philosophie. Mit ihr steht Schelling auf eigenen philosophischen Füßen. Wurde bisher die Wissenschaftlslehre als notwendige Vorausssetzung des Systems erachtet, sinkt sie nun zur bloßen Propädeutik herab. Die Philosophie hat sich aus dem Paradigma des Selbstbewußtseins grundsätzlich herausgelöst. Es ist Aufgabe dieses Kapitels, diesen gegenüber Fichte selbständigen Ansatz in seiner eigentümlichen Gestalt zu begreifen. In der Zeit der Identitätsphilosophie finden wir Schelling in seiner philosophischen Betrachtungsweise auf einem Höhepunkt seiner Entwicklung. Schelling scheint in sich gefestigt und überlegen, und zwar so, daß er sich gestattet, sich ganz der Ausarbeitung des Systems und auch der Analyse von Einzelheiten zu widmen. Jede seiner Abhandlungen baut er in dieser Zeit wie ein kleines Kunstwerk auf. Voraussetzung dafür ist natürlich, daß alles in einem inneren Zusammenhang mit der gesamtsystematischen Betrachtung steht.

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Das vernünftige Absolute

Schelling hat mit dem Identitätssystem solche Freiheit und Überlegenheit in der philosophischen Betrachtung erlangt, daß es scheint, es mußte der Abschluß seiner Philosophie sein. Tatsächlich hat Schelling nach der Freiheitsschrift (1809) nichts Wesentliches mehr veröffentlicht. Der 45jährige Zeitraum seines Schweigens bis 1854 zu seinem Tode erklärt sich aus den Schwierigkeiten und der Neuartigkeit der philosophischen Problemstellung, die das Identitätssystem und seine Weiterentwicklung in der Freiheitsschrift letztlich sprengten. Was in dieser Zeit denkerisch vor sich ging, kann man an den 90 Vorlesungen abschätzen, die aus dem Nachlaß überliefert sind. Schelling hat es nicht mehr fertiggebracht, die verschiedenen Tendenzen seiner Philosophie, die sich zu Aponen schürzen, in einem in sich konsistenten System zusammenzubringen. Heidegger spricht von einem "großen Scheitern großer Denker" (Heidegger (1971), S. 4), das Schelling z.B. mit Nietzsche teile. Weitere Aufgabe des Kapitels ist es zu untersuchen, an welchen Aponen Schellings Identitätsphilosophie schließlich scheiterte. X. Tilliette spricht vom Identitäts system als von einem "fragment gigantesque" (Tilliette (1970), Bd. 1, S. 416). Zu den Grundlegungsschriften der Identitätsphilosophie gehören folgende Schriften: Darstellung meines Systems der Philosophie von 1801, dann Bruno oder über das göttliche und natürliche Prinzip der Dinge von 1802 und Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie von 1802, Philosophie und Religion von 1804 sowie das aus dem Nachlaß veröffentlichte System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie ν«η 1804. Die letztere Schrift halte ich für die ausgereifteste Darstellung des Systems (vgl. auch M. Frank (1985), S. 112f.). Sie vereinigt die verschiedenen Problemstellungen und Erörterungen der vorausgehenden Schriften in sich. Sie soll deshalb der vorliegenden Interpretation zugrunde gelegt werden. Da das Absolute dem spekulativen Denken zugänglich geworden ist, hat die systematische Explikation von dessen Grundbestimmungen ihren Ort in einer allgmeinen, ontologisch ausgerichteten Metaphysik. Dementsprechend gliedert sich das Identitätssystem in drei Teile: Dem allgemeinen Grundlegungsteil einer Vernunft-Metaphysik des Absoluten folgt die Entwicklung der Potenzen der anorganischen Natur und des Organischen in der Naturphilosophie sowie die Entwicklung der Potenzen des realen Selbstbewußtseins in der Transzendentalphilosophie. Der allgemeine Grundlegungsteil, auf dessen Interpretation wir uns beschränken, besteht wiederum aus drei Teilen: Im 1. Teil geht es um die Erkenntnis des einen Absoluten von der

139

Grundlegung der Identitätsphilosophie

Struktur der absoluten Identität von Subjektivität und Objektivität in der intellektuellen Anschauung und um die Explikation von dessen Bestimmungen. Der 2. Teil entwickelt das Absolute im Hinblick auf die endlichen Dinge als Totalität. Der 3. Teil schließlich enthält die Theorie der Endlichkeit, in der Schelling den Übergang von der absoluten Totalität zur "Erscheinung" der endlichen Dinge vollzieht.

II. Die philosophische

Grundlegung der

Identitätsphilosophie

Der allgemeine Grundlegungsteil der Identitätsphilosophie umfallt die §§ 1-19 des Systems 1804. Die Grundlegung der Theorie des Absoluten im engeren Sinne entwickelt Schelling in den §§ 1-8, in den §§ 9-19 thematisiert er die eigentlichen Charaktere des Absoluten. Da in den §§ 1-8 alles Entscheidende passiert, seien sie hier näher betrachtet. 1. Monistische Identität § 1 des Systems 1804 verlangt als erste Voraussetzung alles Wissens eine Identität von Wissendem und Gewußtem (vgl. VI, 137). Jedes Wissen ist eine Synthese aus den Relata Wissen und Gewußtes und ihrer Relation, die selber auf einer Identität aufruht, so Schellings These. Wenn Schelling von der Identität von Wissendem und Gewußtem als erster Voraussetzung des Wissens spricht, so scheint er wie in den Abhandlungen

und dem Transzendentalsystem

1800 auf Fichtes

Prinzip des Selbstbewußtseins zurückzugreifen, das dieser als unmittelbare Identität von Subjekt und Objekt (Ich = Ich) faßt. Schelling geht jedoch mit § 1 über die Fichtesche Grenzlinie des Selbstbewußtseins hinaus, weil er die Identität von Wissendem und Gewußtem nicht mehr relational oder prädikativ, sondern ontologisch-substantial, d.h. prärelational denkt. Schelling hat die über Fichte hinausgehende These, daß die absolute Gewißheit des Ich = Ich auf der Präemanenz der Identität vor den Relata Wissen und Gewußtes beruht. Das Sein, die Identität des Selbstbewußtseins, muß diesem selbst vorgängig gedacht werden. Schelling greift hier auf Hölderlins Fichtekritik zurück und verbindet dessen transreflexiven Seinsbegriff mit dem Seinsbegriff des Parmenides, der ja das Sein bereits als einfache Identität auslegt und so zum Begründer der Ontologie und

140

Das vernünftige Absolute

der Logik geworden ist (vgl. Parmenides, Fr. 8. 29). Schellings Gedanke der absoluten Identität von Wissendem und Gewußtem, der den Bereich des Gegensatzes von Subjekt und Objekt durchbricht, restituiert das parmenideische Prinzip der Dieselbigkeit von Denken u n d Sein.2

Da diese präreflexive Identität von Wissendem und Gewußtem erste und absolute Voraussetzung alles Wissens ist, kann von ihr kein direkter Beweis geführt werden, ohne in eine petitio principii zu kommen. Sie kann nur indirekt und negativ durch Aufzeigen der Unmöglichkeit des Wissens unter jeder möglichen anderen Voraussetzung bewiesen werden. Schelling zeigt das Scheitern jedes alternativen Erklärungsmodells des Wissens auf, die alle auf der Subjekt-Objekt-Differenz beruhen. Zweck der Übung ist zu zeigen, daß das Wissen in keiner Weise weder aus den Relata Wissendes-Gewußtes noch aus dem Geschehen der Relation zu erklären ist. Schelling überschreitet damit bereits mit § 1 die Sphäre der Reflexion und die Grenzlinie des (Selbst)-Bewußtseins. Die 'mechanistische' Verstandesreflexion des Wissens ebenso wie die Transzendentalphilosophie Fichtes setzen mit der (Identitäts)-Relation von Wissen und Gewußtem die Differenz beider voraus. Aus der vorausgesetzten Differenz aber ist die Identität nicht zu erklären. Schelling erläutert den von ihm gemeinten Sinn der Identität in der Anmerkung zu § 5, indem er eine "formelle" und eine "absolute" Betrachtungsweise des Identitätssatzes unterscheidet. Während die formelle Betrachtung von den Relata ausgeht und in der Abstraktion von ihrer Differenz zu ihrer Identität gelangt, geht die absolute Betrachtung auf die Gleichheit selbst und betrachtet die Relata als bloß fundierte Momente. Aus der absoluten Betrachtung ergibt sich Schellings Grundthese von der gänzlichen und absoluten Unabhängigkeit der Identität von ihren Relata. Schelling stellt dem abstrakten (formellen) Begriff von Identität einen wirklichen, affirmativen, ewigen Identitätsbegriff gegenüber, der dadurch seine absolute Selbständigkeit erhält, daß er eine ontologische Fundierung erfährt. Konfrontiert man Schellings These von der absoluten Identität mit Hegels Schelling-Kritik in der Wesenslogik, so zeigt sich, daß Schelling den Gedanken der absoluten Identität nur rechtfertigen und begründen kann, indem er ihn ontologisch fundiert. Aus dem bloßen Begriff der Identität ergibt sich auf jeden Fall keine absolute Parmenides, Fr. 3: "Denn dasselbe kann gedacht werden und sein".

Grundlegung der Identitätsphilosophie

141

Selbstgenügsamkeit der Identität. Hegel weist in der Wesenslogik nach, daß dem Begriff der Identität die Abstraktion vom Unterschied wesentlich, somit nichteliminierbar mit demselben verbunden ist.3 Deshalb kann es für Hegel keinen vom Unterschied unberührten absoluten Identitätsbegriff geben. Mit der Aufnahme der Kategorie des Einen in den Kontext des Problems des Wissens in § 2 wird 1. die ontologische Hypostasierung der Identität unterstrichen und 2. Schellings Position auf einen Monismus hin zugespitzt. Wichtig an Schellings Begriff des Einen ist, daß es nicht das Eine unter Vielen, sondern im Sinne des einzig Wirklichen ist. Der Monismus der Identitätsphilosophie ist primär eine ontologische Doktrin, eine Ontologie der Nicht-Differenz. Sie behauptet, daß alle Differenz zwischen Wirklichem (Subjekt/Objekt, Wissendes/Gewußtes) nicht der originale Ausgangspunkt der Verständigung über es ist. Die Diflferenten werden zwar nicht geleugnet, sind aber in radikaler Weise abgeleitet. Sie sind nur an oder in demselben Einen und in diesem Sinne dasselbe. Das Spezifische von Schellings Grundlegung seiner Identitätsphilosophie ist mithin die Verbindung des Gedankens der Identität mit dem monistischen Grundgedanken des Einen. Dazu kommt ein Weiteres: Wie die §§ 9-12 deutlich machen, legt der Monismus der einen Identität einen Monismus des Absoluten grund, dessen ontologisches Fundament der spinozistische Gedanke der einen Substanz ist. Der Rückgriff auf Spinozas Substanzbegriff gehört also zur ontologischen Fundierung des Identitätsbegriffs in der Identitätsphilosophie. Wenn Schelling sagt, daß das Eine nur sich selbst gleich ist, so bezieht er sich auf die Charakterisierung des eón bei Parmenides, dem Ahnvater des philosophischen Monismus. Gleichheit nur mit sich bedeutet: das Fehlen jeder äußeren Determination und totale innere Unstrukturiertheit. Das Eine ist strukturlose Einfachheit. Schellings Identitätsphilosophie restauriert die unbewegte Welt des eleatischen Seins, in der Bewegung, dynamische Verhältnisse, Prozessualität etc. nichts als Schein sind. Sie steht damit in starkem Kontrast zur vorherigen Prozeßphilosophie des Subjekt-Objekt. Monismus ist eine philosophische Position, die nur ein einziges selbständiges Wirkliches zuläßt. Als philosophisches Programm ist er von den Eleaten aufgestellt worden. Spinoza hat ihn zum System weiterentwickelt. Jacobi hatte ihn in seiner Kritik am Dualismus in 3

Vgl. Hegels Werke 6, S. 27f., dazu: Chr. Iber (1990a), S. 296.

142

Das vernünftige Absolute

Kants Philosophie auch der Transzendentalphilosophie bzw. dem Idealismus als Programm vorgegeben. Im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts sind monistische Systeme entstanden, die sich bemühen, die transzendentalphilosophischen BegrifFsbildungen mit der spinozistischen Substanzontologie zu verbinden, und die es erlauben, den monistischen Grundgedanken - nur Eines ist - zur konkreten Weltinterpretation auszubauen. Zu ihnen zählen die Identitätsphilosophie Schellings, Fichtes Ich- und Spätphilosophie und Hegels Geistphilosophie. Jeder philosophische Monismus hat ein internes Problem, weil er im Widerspruch zum natürlichen Weltverständnis steht, das von der Pluralität des Wirklichen ausgeht. Daraus erwächst die Aufgabe der monistischen Philosophie: Sie muß eine konkrete Weltinterpretation aus dem Absoluten wiedergewinnen, die das normale Weltverständnis übertrifft. An der Bewältigung dieser Aufgabe ist der Monismus der Schellingschen Identitätsphilosophie zu messen.4 2. Intellektuelle Anschauung als Form des Absoluten In den §§ 3 und 4 nimmt Schelling eine Bestimmung der absoluten Erkenntnisform vor und leitet dann über die Konstruktion der Zweiheit von Form und Wesen zum Absoluten selbst über (§§ 5, 6). Die allgemeine Grundlegung der Identitätsphilosophie findet schließlich ihre Zusammenfassung in der Theorie der intellektuellen Anschauung (§ 7). In den §§ 3 und 4 bestimmt Schelling die "höchste Erkenntnis" als Selbsterkennen der ewigen Gleichheit von Subjekt und Objekt. Indem er die absolute Erkenntnis als Selbstverhältnis der Gleichheit auslegt, nimmt er ihr jeden Schein von Subjektivität und unterstreicht damit die ontologische Hypostasierung der Identität von Wissendem und Gewußtem von § 1 zu einem anfangstiftenden Prinzip. Im absoluten Erkennen als der Form der absoluten Identität wird der Ausgang der Philosophie vom Absoluten als dem Unbedingten möglich. Alle Philosophien, denen das Absolute zum Resultat gerät,

4

Vgl. zum Begriff des Monismus D. Henrich (1982), S. 144ff.

Grundlegung der Identitätsphilosophie

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verfallen der Kritik: Dogmatismus, Kritizismus und Transzendentalphilosophie 5 Die Dogmatismus-Kritik Schellings ist dabei ganz an Jacobis Vernunftkritik angelehnt, allerdings mit dem Unterschied, daß die mechanistische Verstandesreflexion fur ihn nicht identisch ist mit Wissen überhaupt wie für Jacobi, dieser vielmehr die intellektuelle Anschauung als absolutes Wissen entgegensteht. Der Dogmatismus macht das Absolute in seiner mechanistischen Denkbewegung zum Resultat, kann also in Schellings Augen überhaupt nicht als Philosophie gelten, die vom Unbedingten ausgeht. Das Absolute wird - wie etwa im kosmologischen Gottesbeweis - ans Ende einer unendlichen Reihe endlicher Bedingungen gestellt. Der Kritizismus Kants ist einerseits Kritik am Dogmatismus, andererseits in falscher Abhängigkeit von ihm, weil er - ohne eigene positive Prämissen - in dessen bloßer Negation verbleibt und somit die dogmatische Art der Philosophie als wahre, positive Philosophie voraussetzt. Schelling wiederholt im System 1802 seine bereits in der Frühphilosophie an Jacobi orientierte Kantkritik. Die Postulatenlehre ist einerseits nichts anderes als Ausdruck einer sich auf Negation beschränkenden Philosophie, andererseits hat das dennoch festgehaltene Positive die Form eines aus dem Endlichen Erschlossenen, ist also strukturell vom Dogmatismus kaum zu unterscheiden. Konsequenterweise führt dies bei den "Kantianern" zur Rückübersetzung der kritischen Philosophie in "Dogmaticismus", wie bei der Tübinger Orthodoxie, die Schelling bereits in den Briefen kritisiert. Das Prämissenlegen der Kantischen Philosophie hat für Schelling also nicht nur die Bedeutung des bloßen Voraussetzens eines Prinzips, sondern impliziert eine radikale Umkehr des Denkens, das nicht vom Bedingten, sondern vom Unbedingten auszugehen hat. Zwar geht Fichte vom Ich als einem Unbedingten aus, beschränkt sich jedoch auf die Dimension des Bewußtseins, so daß er das Unbedingte wieder preisgibt. Schelling kritisiert 1., daß sich bei Fichte die Subjektivität in einen nicht aufzulösenden "Cirkel" (VI, 144) verstricke, und 2., daß sie damit unfähig sei, das Ansich oder das Absolute zu erkennen. Der Begriff des Ansich unterliege somit dem Widerspruch, einmal in unserem Wissen und andererseits unabhängig 5

Vgl. zu dieser Kritik vornehmlich das System 1802, IV., 348ff. Schellings Bestimmung der Vernunft ist damit auch der späteren Hegels diametral entgegengesetzt. Während Hegel sie aus der Selbstbeziehung eines Negativen als Resultat entspringen läßt, faßt Schelling sie als Selbstverhältnis eines Positiven und damit nicht als Resultat, sondern als Offenbarung des Absoluten.

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Das vernünftige Absolute

von demselben zu sein. Dieser Widerspruch löse sich auf, indem die Bindung des Absoluten an das Prinzip der Subjektivität des Erkennens aufgegeben wird. Der Standpunkt der absoluten Erkenntnis bzw. der Vernunft wird durch die "Vernichtung" der subjektiven Erkenntnis erreicht. Auch die Etablierung des absoluten Erkennens, das nach § 8 als intellektuelle Anschauung gilt, vollzieht sich als "Abstraktion", doch mit dem Unterschied, daß das Resultat nicht das reine Subjekt-Objekt darstellt wie in Über den wahren Begriff der

Naturphilosophie

(1801), sondern die differenzlose Einheit des Absoluten. Die für die Identitätsphilosophie wesentliche intellektuelle Anschauung hebt Schelling ausdrücklich gegen die intellektuelle Anschauung bei Fichte ab, der sie auf die subjektive Selbstanschauung des Ich beschränkt. Intellektuelle Anschauung verliert jetzt bei Schelling ganz ihren subjektivitätstheoretischen Sinn. Sie ist nicht Selbstanschauung des Ich, sondern absolute Erkenntnis, Erkenntnis des Absoluten. Sie ist der Punkt, wo das Wissen um das Absolute und das Absolute selbst eins sind. Diese Kritik ist auch selbstkritisch gemeint, war doch intellektuelle Anschauung im Transzendentalsystem 1800 auch bei Schelling noch mit dem Selbstbewußtsein verknüpft. Erst im Übergang zur Identitätsphilosophie verliert sie diese Konnotation. Später setzt Schelling für die intellektuelle Anschauung den Begriff der "Ekstasis" ein. Die Ekstase ist das Außersichgesetztwerden des Subjekts in der Erkenntnis des Absoluten und damit ein nicht mehr nur theoretischer Zugang zum Absoluten. Die Theorie der intellektuellen Anschauung ist für Schelling der Punkt, an dem sich die Identitätsphilosophie sowohl von der traditionellen dogmatischen Metaphysik als auch von der Glaubenstheologie etwa Eschenmeyers unterscheidet. Allerdings ist erstens zu fragen, ob sie nicht nur eine unbegründete Erkenntnisart durch eine andere ersetzt, und zweitens, ob sie über das unmittelbare Wissen Jacobischer Provenienz hinausgeht. In Schellings Grundlegung der Identitätsphilosophie nimmt die Kritik des reflektierenden Verstandes breiten Raum ein. Die Identitätsphilosophie, die in der Zeit der Freisetzung der Subjektivät und des methodischen Denkens hervortritt, stellt sich gern als Restitution ältester Menschheitsgedanken dar. Dennoch gehört sie zur modernen Kritik am modernen reflektierenden Verstand. Allerdings hat Schelling es im Gegensatz zu Hegel versäumt, eine wirkliche "Umgestaltung" der Verstandeslogik in Angriff zu nehmen. Während für Hegel das Absolute nichts anderes als die Selbstreflexion der subjek-

Grundlegung der Identitätsphilosophie

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tiven Verstandesreflexion ist - die subjektive Reflexion erkennt in ihrer SeZftsi-Reflexion das Absolute, stellt Schelling das Absolute abstrakt gegen die Subjektivität und die Reflexion. Schelling muß die Verstandesreflexion vernichten, um zum Absoluten zu gelangen, Hegel transformiert sie, ohne sie zu eliminieren.6 Insofern Schellings Theorie des Absoluten die schroffe Jacobische Gegenüberstellung von Unbedingtem und Bedingtem reproduziert, schlägt ihr Monismus tendenziell in einen unaufgehobenen Dualismus um.'

3. Das Absolute selbst als Wesen § 6 stellt die Überleitung von der Vernunft zum Absoluten selbst dar. Der Übergangsgedanke ist folgender: Der Identitätssatz kann nur dann über das absolute Erkennen hinaus allgemeine Gültigkeit haben, wenn auch das Wesen aller Dinge Identität ist. Dieses Wesen allen Seins kennzeichnet Schelling mit der Formel: "das Affirmirende und das Affirmirte von sich selbst" (VI, 148), welches die Grundformel des Absoluten ist. Die universale Gültigkeit des Identitätsgesetzes setzt also dessen ontologische Fundierung voraus. § 6 bestätigt somit die Deutung, daß die Identität nur selbstgenügsam besteht, wenn sie eine ontologische Fundierung erfährt. Der bisherige Gedankengang war folgender: Vom Begriff der Vernunft oder der absoluten Erkenntnisform ausgehend wird vermöge ihres immanenten Gesetzes der Identität A = A die absolute Identität erkannt. Die Identität ist aber nur dann wirklich absolut, wenn sie das Wesen aller Dinge ausmacht, welches das Absolute selbst ist. Die Identität ist also nicht nur Vernunftgesetz (Form), sondern auch ontologisches Prinzip und als solches das Absolute selbst (Wesen).8 "Das Affirmirende und das Affirmirte von sich selbst" ist die Formel des Absoluten, die für alle weiteren Ableitungen in der Identitätsphilosophie grundlegend ist. Wie ist dieser Ausdruck zu verstehen? Affirmierendes und Affirmiertes sind nur dann identisch, wenn 6

Zu Hegels spekulativem Begriff der absoluten Reflexion als Kritik am traditionellen Reflexionsbegriff und zu Hegels Kritik an Schellings Theorie des Absoluten vgl. Chr. Iber (1990a), S. 13 Iff., 142ff.

7

Vgl. Hegels Jacobikritik in der Enzyklopädie·. Hegels Werke 8, §§ 68-78.

8

Die absolute Identität, die durch Wesen und Form hindurchgeht und dem Übergang von der Vernunft zum Absoluten zugrunde liegt, ist die ontologische Fassung der im System 1802 entwickelten entscheidenden Bestimmung der "Indifferenz" von Wesen und Form im Absoluten (vgl. IV, 380).

146

Das vernünftige Absolute

es ein und dasselbe Wesen ist, welches von sich das Affirmierende und Affirmierte ist - Relata, die der Form angehören. Das, was affirmiert, und das, was affirmiert wird, ist ein und dasselbe. Mit diesem Ausdruck ist im Wesen des Absoluten jede Spur von Differenz getilgt. Hierin erbt sich das absolut Eine von § 2 fort. Es ist das selbstgenügsam bestehende Eine, welches das sich selbst affirmierende und von sich selbst affirmierte ist. Diesen Gedanken braucht Schelling, um die Formdiííerenzen als radikal abgeleitet denken zu könnend Die Zweiheit von Vernunft (Form) und dem Absoluten selbst (Wesen) zeigt, daß Vernunft bei Schelling nicht wie bei Hegel die Selbstproduktion des Absoluten ist, sondern nur die ideale Reproduktion des Absoluten selbst darstellt. Die Vernunft "wiederholt" (VI, 151) nur den Selbstvollzug des Absoluten in seiner Selbstaffirmation. Schelling steht mit dieser Auffassung von der Vernunfterkenntnis Gottes in der griechischen Tradition, die im ganzen eine theologische Tradition ist. Das gilt nicht nur für Empedokles und Piaton, sondern auch für Aristoteles. Schelling legt theoria als Anschauung und diese wesentlich als göttliche Schau aus. Damit folgt er der falschen Ethymologisierung von theoria bei den Griechen. Diese haben theoria falsch, aber verständlich von theós anstatt richtig von theorós (theáomai, horáo: schauen) hergeleitet. Theorie, die Erkenntnis Gottes, ist ein Herausgerissenwerden aus dem endlichen Zusammenhang. Die Anschauung Gottes ist ein Niederschlag Gottes. Der endliche Mensch geht eigentlich in der Erkenntnis Gottes zugrunde. Diese ist in Wahrheit die Selbsterkenntnis Gottes.10 Am Ende von § 8 wird Schellings Position der Identitätsphilosophie besonders deutlich. Sie läßt sich als Affirmativismus bezeichnen, der sich - in der Tradition des parmenideischen Monismus - gegen den von Hegel emphatisch aufgenommenen Grundgedanken eines selbständigen Negativen richtet. Nichtsein, Negativität hat keine Selbständigkeit, wie es Piaton und Hegel annehmen, sondern ist selbst nichtig. Was allein unabhängigen Bestand hat, ist absolute Affirmation, deren Ausdruck die Identität ist. Damit restauriert Schelling die parmenideische These, daß nur Seiendes ist, nichts dagegen 9

Die Grundformel für das Absolute im System 1804 ist die Nachfolgebestimmung für die im System 1801 und im System 1802 entwickelte zentrale Denkfigur der SelbstofTenbarung des Absoluten in der Form der "Identität der Identität" (IV, 121) bzw. der "Einheit der Einheit" (IV, 413), gibt ihr allerdings m.E. eine noch stärker ontologische Wendimg.

10 Auch Jacobi steht in dieser Tradition. Vgl. Jacobi, Spinozabriefe, S. 422: "hat der Mensch Vernunft; oder hat Vernunft den Menschen?"

Grundlegung der Identitätsphilosophie

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überhaupt nicht. Er verbindet diese parmenideische These mit der von Leibniz gestellten Grundfrage der Metaphysik: "warum ist nicht nichts, warum ist etwas überhaupt?" (VI, 155) und beantwortet sie damit, daß das Sein seine Begründung in der absoluten Affirmation Gottes habe. Nach der Grundlegung der Identitätsphilosophie thematisiert Schelling in den §§ 13-17 die eigentlichen Charaktere des Absoluten. Hier wird sozusagen der 'archaische' Ausgangspunkt des Monismus ausgeleuchtet. Der Monismus der Identitätsphilosophie wird in ontologischer und metaphysischer Hinsicht näher erläutert, ohne daß wirklich Neues hinzukommt. Das Absolute ist als die eine Substanz 1. zeitlos ewig, 2. zeitlos vorangehend bzw. vergangen und 3. in sich homogen, einheitlich und daher affektionslos, 4. schlechthin unendlich und damit 5. unentstanden und ungeworden. Diese Bestimmungen sind unübersehbar an Parmenides' Charaktere des Seienden angelehnt. Das Seiende des Parmenides ist 1. ungeworden und unvergänglich, 2. ganz und eines und 3. affektionslos und "nicht unvollendet" (Parmenides, Fr. 33). Schelling reformuliert den archaischen Monismus der parmenideischen Ontologie im Rahmen des Idealismus. Die Gleichsetzung von absolutem mit absolut zeitlosem Sein bringt Schelling schließlich auf den Begriff der Negation alles Entstehens und Werdens in § 17. Schellings Idee des Absoluten knüpft an die Tradition der parmenideisch-platonischen Welt des unveränderlichen, ewigen, unentstandenen eón an, das getrennt vom Werden und Vergehen der endlichen Dinge ist. Dabei radikalisiert er diesen parmenideisch abgestützten Piatonismus noch, weil für ihn vom Standpunkt der Vernunft Endlichkeit überhaupt negiert ist. Das Absolute transzendiert nicht nur faktisch das Endliche, sondern ist dem Endlichen überhaupt transzendent (vgl. VI, 161).

4. Schellings Auslegung der 'Grundformel' des Absoluten Entscheidend für den Fortgang der Identitätsphilosophie ist Schellings Auslegung der Grundformel des Absoluten in den §§ 18, 19 und 23, in der sich drei Schritte unterscheiden lassen: 1. Die Grundformel bringt zum Ausdruck, daß das Absolute keine Differenz zwischen Form und Wesen in sich hat. Das Absolute ist das absolut eine Wesen, das das Affirmierende als solches und das Affirmierte als solches als an sich nichtige, nur ideelle Formmomente instantiiert. - Dieser prärelationale, ontologisch fundierte Gedanke des

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Das vernünftige Absolute

Absoluten ist gegen Hegels Bestimmung des Absoluten in der Differenzschrift von 1801 gerichtet. Ihr zufolge ist es die Aufgabe der Philosophie, das Absolute in der Reflexion für das Bewußtsein zu konstruieren (vgl. Hegels Werke 2, 30). Gleichwohl läßt sich auch Schellings ontologisch fundiertes Absolutes nur in und durch die absolute Vernunft explizieren. Die Auslegung der Programmformel ist alleinige und höchste Aufgabe der absoluten Vernunft. 2. Jedes Relat der absoluten Identität von Aflirmierendem und Affirmiertem ist je in sich das ganze Absolute, selbst schon die Identität des Bejahenden und Bejahten. Mit diesem Gedanken ist die Entfaltung der Totalität aus der absoluten Identität grundgelegt. Die Fortentwicklung im Identitätssystem geschieht nicht durch Aufhebung der Identität und Setzung der Differenz, sondern durch Verdoppelung der Identität. Diese Grundeinsicht der Identitätsphilosophie, nämlich daß jedes Relat des Absoluten je in sich das ganze Absolute darstellt, geht auf Piatons Timaios zurück, auf den Gedanken der substantialen Identität des "schönen" Bandes mit dem Verbundenen (Timaios, 31c-32c). Die Timaiosexegese, deren Spuren sich bis auf den 1791 oder 1792 verfaßten Timaios-Kommentar des jungen Schelling zurückverfolgen lassen, scheint eine große Bedeutung auch für die Ausbildung der Natur- und Identitätsphilosophie gehabt zu haben. Die Rolle des Timaios-Kommentars und der kantianisierenden Piatondeutung für die Ausbildung von Schellings Idealismus ist - wie wir gesehen haben jedenfalls beträchtlich. 3. Die tatsächliche Vernunftableitung der Totalität bzw. des Alls in § 23 geschieht mit Hilfe einer erneuten und erweiterten Auslegung der Programmformel: Die Selbstaffirmation des Absoluten ist nicht nur Identität des Affirmierenden und Affirmierten überhaupt, sondern unmittelbar zugleich wieder die Affirmation der Identität des Affirmierenden und Affirmierten. Darin steckt der Keim der unendlichen Iteration der Selbstaffirmation, aus der die Totalität entsteht. Es ist dies der Gedanke der unendlichen Potenzierung der affirmativen Selbstbeziehung. Gott bezieht sich auf sich selbst (bzw. weiß sich selbst) als auf einen, der sich auf sich bezieht (bzw. der sich selbst weiß). Der Gedanke der unendlichen Selbstaffirmation Gottes ist die Konsequenz der Grundeinsicht Schellings, wonach jedes Relat der absoluten Identität je in sich das ganze Absolute ist. Hier ergibt sich jedoch eine Schwierigkeit: Wie kann Schelling behaupten, daß, wenn "alles wahre Wissen, d.h. alles Vernunftwissen, [...] unmittelbar auch wieder das Wissen dieses Wissens" ist, das

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Wissen sich also in "unendlicher Wiederholung affirmirt", darin "aller Regreß ins Unendliche aufhört" (VI, 173)? Gerät Schellings Konstruktion der Selbsterkenntnis Gottes in der absoluten Vernunft nicht in die Nähe der unendlichen Iteration von Wissenspositionen in der Reflexionstheorie des Selbstbewußtseins? Fällt er nicht faktisch hinter Fichte zurück? Schelling versteht die unendliche Iteration der Identität in der Selbstaffirmation Gottes nicht in der Weise des unendlichen Regresses von Wissenspositionen wie in der Reflexionstheorie des Selbstbewußtseins. H Das Reflexionsmodell beruht auf der unaufgehobenen Differenz von Subjekt und Objekt, wodurch es zu keiner Identität von Wissendem und Gewußtem kommen kann. Die Selbstaffirmation Gottes geht, anders als das Reflexionsmodell, von der absoluten Identität von Subjekt und Objekt aus. In der unendlichen Selbstaffirmation wiederholt sich nur diese ursprüngliche absolute Identität in einer beständigen Selbstoffenbarung. Der Einsatz der Philosophie ist in der Identitätsphilosophie nicht mehr das Selbstbewußtsein, sondern der Selbstvollzug des Absoluten in der Vernunft, aus dem die Totalität hervorgeht. Aus dem neuen Konzept des Absoluten ändert sich zugleich das System selbst. Bildet das System vorher eine kontinuierliche Stufenfolge aus dem Prinzip des reinen Subjekt-Objekt, die als geschichtliche Bewußtwerdung auf dem Weg von der Natur zum Geist zu verstehen ist, und präsentiert sich die Philosophie in der Rekonstruktion dieser Genese als selbst genetisch, so tritt diese dynamische Konstruktion der Natur- und Transzendentalphilosophie zugunsten einer statischen Vernunftkonzeption zurück. Das System beschreibt nicht das geschichtliche Werden des Absoluten, sondern bildet dessen Struktur der Verdoppelung der Identität in der Totalität und schließlich in der Welt der Erscheinung ab. Die Selbstoffenbarung des Absoluten ist weder als Handlung noch als Differenzierung (vgl. VI, 170) noch als Widerspruch mit sich selbst gefaßt, in dem das Werden des Absoluten als Geist zuvor seinen Ausgang nahm. Die Verdoppelung der Identität hat nicht die Gestalt einer Geschichte (vgl. VI, 292), sondern ist Spiegelbild und Reflex des Absoluten. Die Folgeordnung der Idee Gottes und des Alls der Dinge ist nicht als ein "Entstehen oder Werden der Dinge" (VI,

11 Eine schlagende Kritik der traditionellen Reflexionstheorie des Selbstbewußtseins gibt Pichte in seiner Schrift Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797) (vgl. Fichtes Werke I, 519-534).

150

Das vernünftige Absolute

170) zu denken. Die Totalität ist "unmittelbare" (VI, 169) Folge der Idee des Absoluten im Sinne von 'sine alia interveniente'. Daher kann Schelling sagen, daß das All der Dinge und die Idee Gottes "gleich ewig" (VI, 170) sind. Das Identitätssystem ist damit Widerruf der dynamisch-genetischen Gestalt der zweiten Konzeption von Schellings Philosophie.12 III. Das Identitätssystem als Alleinheitslehre 1. Die Herleitung der Totalität aus der Selbstaffirmation Gottes § 23 behandelt vornehmlich das Problem der Folgeordnung von Absolutem und absolutem All und sodann die konkrete Herleitung des absoluten Alls aus der Struktur der unendlichen Selbstaffirmation des Absoluten. In § 24 exponiert Schelling schließlich seinen spezifischen Totalitätsbegriff. Aus der unendlichen Selbstaffirmation folgt nicht nur "überhaupt unendliche Realität", sondern unendliche Realität "auf unendliche Weise" (VI, 174), so daß jeder Teil von der Natur des Ganzen ist. Jedes der unendlichen Momente der Realität hat dieselbe unendliche Struktur der Identität des Affirmierten und Affirmierenden. Schellings Metaphern dafür sind: "Unendliches quillt aus Unendlichem hervor", so wie im Organismus "Organisches aus Organischem hervorquillt" (VI, 174). Das absolute All hat deshalb nicht nur die negative Bestimmung, daß nichts außer ihm ist, sondern die positive, wonach in ihm alle Möglichkeit Wirklichkeit ist. Alles, was ist, ist nicht nur möglich, so daß es auch nicht gegeben sein kann. Nichts ist im absoluten All auf kontingente Weise. Dies ist ein zentraler Gedanke Giordano Brunos: Das absolute All ist eine Einheit, in der Alles in Allem ist. 13 Dieser Gedanke geht auf Parmenides zurück. Nach Parmenides "leidet" das Seiende "keinen Mangel" (Parmenides, Fr. 8. 34). Wichtig ist noch die Bestimmung, daß das All bei Schelling nicht "Welt" bedeutet, sondern Kosmos. Die 12

Im System 1801, im System 1802 und in Philosophie und Religion (1804) spricht Schelling von der "Subjekt-Objektivierung" des Absoluten, durch die es zur Totalität wird. Diese Formulierung kann als terminologisches Relikt der Subjekt-Objekt-Philosophie angesehen werden. 13 Der Gedanke des Absoluten als absoluter Totalität hat eine sachliche Nähe zu Piotine Gedanken, daß in der Hypostasis des noûs "Alles in Allem" sei. Von Plotin übernimmt ihn Bruno. Nicht minder ist er noch in Leibniz' Gedanke präsent, daß jede einzelne Monade in sich das Ganze (All) der Monaden spiegele (vgl. dazu: W. Beierwaltes (1973), S. 242-266).

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"Welt", das erscheinende All, wird vor dem Hintergrund des Kosmos, des absoluten Alls, betrachtet. Es ergibt sich somit folgendes Resultat der Herleitung der Totalität: Aus der absoluten Selbstaffirmation des Absoluten folgt unmittelbar der Gedanke der Identität von Absolutem und absoluter Totalität. Die ganze Herleitung ergibt sich aus einem einzigen Grundsatz. Für Schelling ist dies ein Vorzug gegenüber Fichte, der von drei Grundsätzen ausging. Mit der Herleitung der Totalität aus der Idee des Absoluten ist der Monismus der Identitätsphilosophie als Alleinheitslehre bestimmt. Der Monismus hat sich zum Universalismus fortbestimmt. 2. Schellings identitätsphilosophische Auslegung der traditionellen Alleinheitslehre Schelling entfaltet seine pantheistische All-Einheitslehre in den §§ 25-28, indem er dem spezifischen Sinn des Begriffs des Einen und des Begriffs des Alles nachgeht. - Das Alles ist Eines nicht in numerischem Sinne, sondern im Sinne der absolut einfachen Substanz. Alles ist Ein-Alles im Sinne der allumfassenden Substanz, wie sie Spinoza gedacht hat. Schelling denkt diese substantial fundierte All-Einheit als absolut in sich homogene Einfachheit, als absolute Kontinuität, in der es kein räumliches Auseinander und zeitliches Nacheinander gibt. Der Begriff der All-Einheit als einem absolut teillosen Ganzen, das allem selbständigen Einzelnen vorangeht, ist Kritik jeder Ontologie der Einzeldinge, der individuellen Substanzen, und an der metaphysischen Vorstellung vom All als dem Inbegriff aller endlichen Dinge. Schelling wendet sich daher gegen den Gedanken der Teilbarkeit, der Zusammensetzung und der unermeßlichen Vielheit in der All-Einheit. Das, was im "erscheinenden All" als Vieles erscheint, ist, insofern es im absoluten All gedacht wird, in seiner Verschiedenheit inexistent. Damit ist der Dominanz des Einen in der All-Einheit Genüge getan. Die All-Einheit ist eine unendliche Realität. Als solche enthält sie keine Negation und Differenz in sich. Für Schelling ist das Absolute in kosmotheologischer Hinsicht das absolute All, in welchem die natürliche Welt der endlichen Dinge, das Individuelle und Besondere verschwindet. Das Endliche ist in der an sich positiven Totalität als negiert gesetzt. Schellings Identitätsphilosophie ist Pantheismus, denn sie besagt, daß Alles in Gott ist. Der Pantheismus ist sowohl gegen die ortho-

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doxe Position des Theismus gerichtet, der der Welt einen souveränen Schöpfergott gegenüberstellt, als auch gegen den Deismus der englischen Aufklärung, wonach Gott gleichsam wie eine Maschine der Welt nur den Anstoß gegeben hat, sich aber dann zurückhält. Der Pantheismus ist der Überzeugung von der Transzendenz Gottes gegenüber der Totalität des Kosmos entgegengesetzt, denn er behauptet die Immanenz alles dessen, was ist, in Gott und die omnipräsente Wirkung Gottes im Kosmos. Schelling wendet sich zugleich gegen den Vorwurf Jacobis, Pantheismus sei Atheismus, indem er sich gegen einen falsch verstandenen Pantheismus abgrenzt, wonach alles in dem Sinne in Gott ist, daß alle Dinge in ihrer Zusammenfassung Gott sind. In dieser Auffassung ist Gott nur die Summe aller endlichen Dinge, d.h. Gott selbst ist nichts. Dem entspricht, daß in Schellings Auslegung der All-Einheit das Eine als Einzigkeit dominant ist. 14 War Spinozas System in der Einleitung zu den Ideen (1797) das "unverständlichste, das je existirt hat" (II, 36), und hatte Schelling der Statik der absoluten Substanz Spinozas den Tätigkeitscharakter der Leibnizschen Monadenlehre entgegengesetzt, so kommt es in der dritten Philosophiekonzeption zur Rehabilitierung Spinozas. Wie nimmt Schelling in der Identitätsphilosophie Spinozas Substanzontologie auf? Der Substanzbegriff Spinozas ist der Grundbegriff für Schellings Pantheismus, der den Monismus zu einem Universalismus erweitert. Durch den Begriff des Universums bekommt das Absolute kosmologische Bedeutung. Mit der Integration der spinozistischen Substanzphilosophie in die Identitätsphilosophie ist diese nicht nur ontotheologische Doktrin, sondern zugleich kosmotheologische Lehre. Schelling hat auch in der Identitätsphilosophie ein nicht durchgehend affirmatives Verhältnis zu Spinozas Substanzontologie. Positiv übernimmt er die Theorie der einen Substanz als causa sui ebenso wie die Theorie der omnis determinatio est negatio. In drei Momenten wandelt Schelling die Philosophie des Spinoza ab. Anders als Spinoza ist die absolute Substanz für Schelling rein als solche und unabhängig von den Attributen erkennbar, während sie für Spinoza nur über die Attribute erkennbar ist. Ferner wird die Lehre von den unendlich vielen Attributen, die bis auf zwei unerkennbar sind, nicht übernommen. Für Schelling sind die Attribute ausschließlich Denken

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Zum Spinozismusstreit vgl. H. Timm (1974). Schelling nimmt den Pantheismusstreit in der Freiheitsschrift (1809) wieder auf, freilich unter veränderten Umständen.

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und Ausdehnung. Eine weitere wichtige Differenz ist, daß für Schelling Spinoza zwar zeigen kann, daß die endlichen Dinge im Unendlichen ewig und beständig sind, nicht aber wie aus der einen Substanz die Zweiheit der Attribute und die Vielheit der Modi, also die wesentlichen und zufalligen, besonderen Bestimmungen, die endlichen einzelnen Dinge, hervorgehen.15 Deutlich ist, daß Schelling neben der Substanzontologie Spinozas auch Giordano Brunos spekulativen Materialismus aufnimmt. Der als pantheistischer Monismus deklarierbare Gedanke, daß alles Seiende der Substanz nach Eines ist, der Gedanke also des Ein-Alles, hén kaí pân, ist vor allem von Bruno im Rückgriff auf die Henologie des Neuplatonismus entwickelt worden. Es sind vor allem Brunos henologische und kosmologische Grundsätze, die Schelling hier aufnimmt.! 6 Schellings Herleitung der Totalität aus der Selbstaffirmation des Absoluten reformuliert die Umformung neuplatonischer Denkformen durch Bruno. Die von Plotin und von Cusanus emphatisch gedachte Transzendenz Gottes oder des Einen hebt Bruno auf, insofern er nicht primär das Insichsein Gottes, sondern dessen omnipräsentes Wirken im Universum zu explizieren sucht. Für Cusanus ist die Welt Selbstbeschränkung, für Bruno Selbstschöpfung Gottes. Brunos Auffassung leitet zu einem Pantheismus und Naturalismus über, der Cusanus fremd war. Für Cusanus kann die Natur nicht ebenso unendlich sein wie Gott, die Rückkehr zu Gott kann nur der Geist sein, die Natur ist das negative Moment wie später bei Hegel. Bruno steht genau zwischen Plotin, Cusanus und Spinoza, in dessen SubstanzbegrifF vieles von ihm eingeht. Schellings Affinität zu neuplatonischen Gedanken ist durch seine Hinwendung zu Bruno vermittelt, also nicht direkt. Bestimmte Philosopheme Plotins und des Cusanus sind von Bruno aufgenommen und umgewandelt worden. In dieser Gestalt werden sie von Schelling rezipiert.

Ie

Zum Spinozismus der Schellingschen Identitätsphilosophie vgl. K. Düsing (1980), S. 25-44. 1β Auch Schellings Bruno-Rezeption ist durch Jacobi vermittelt. Schelling kannte Bruno über Auszüge aus Brunos Schrift De la Causa, Principio e Unio, die Jacobi als Beilage zu den Briefen Über die Lehre des Spinoza veröffentlichte. Jacobi bezeichnet die Philosophie Brunos als die "Summe der Philosophie des εν και παν". Schwerlich könne man "einen reineren und schöneren Umriß des Pantheismus im weitesten Verstand geben, als ihn Bruno zog" (vgl. Jacobi, Werke IV/2, S. 5-46, bes. 43f.).

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Das vernünftige Absolute

3. Übergang zur Theorie der Endlichkeit Wie läßt sich der Übergang von der Alleinheitstheorie zur Theorie der Endlichkeit rekonstruieren? Identität, Absolutes, Totalität sind sinnlose Ausdrücke, wenn nicht auch Mannigfaltiges, Vieles gedacht werden kann, in Beziehung auf das die All-Einheit des absolut Einen als Identität allein zu definieren ist. Obgleich der Gedanke des Absoluten als Alleinheit die Differenz als originale Form der Wirklichkeit dementiert, muß dennoch die Differenz und damit die Mannigfaltigkeit der endlichen Dinge in seinen Begriff mit aufgenommen werden. Damit ist die Hauptschwierigkeit des monistischen Ansatzes ausgesprochen: Wie nämlich die Mannigfaltigkeit der natürlichen Welt, wie sie sich auch dem normalen Denken präsentiert, im Ausgang vom Absoluten verständlich gemacht werden kann. Wenn also das Absolute absolute Totalität ist, so ergibt sich nun die weitere Frage, wie sich aus dem absoluten All das erscheinende All der endlichen Dinge ausformt. In bezug auf das Viele und Mannigfaltige gibt es zwei Positionen des Monismus: Einmal, daß die unterschiedenen vielen Dinge in Wahrheit gar nicht Vieles, sondern nur Eines sind, daß sie also Erscheinung sind, zweitens aber die davon wohl zu unterscheidende Auffassung, daß das Viele in Wahrheit überhaupt nicht ist, sondern nur Schein ist. Wir müssen sehen, welche Position Schellings Monismus einnimmt. Ein wirklich von seinem archaischen Ausgangspunkt freigewordener Monismus kann sinnvoll nur die erste Position einnehmen.

IV. Schellings Theorie der

Endlichkeit

1. Der erste Teil der Endlichkeitstheorie: Das Verhältnis der endlichen Dinge zur Totalität in der Ideenlehre Der 1. Teil der Endlichkeitstheorie, der das Verhältnis der Dinge zum All (= Gott) (§§ 29-40) behandelt, ist in drei Abteilungen untergliedert. In der 1. Abteilung geht es um die Herleitung der Dinge als Ideen und als Erscheinung (§§ 29-36), in der 2. Abteilung um die Herleitung der konkreten Dinge und um die Ableitung der Reflexionsbegriffe des natürlichen Denkens, das sich auf konkrete Dinge bezieht (§§ 37-40). Die 3. Abteilung bestimmt das "Reale am Ding" als "Reflex des Absoluten" (§ 41).

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a) Die Herleitung der Dinge als Ideen und Erscheinung Zunächst soll vor dem Hintergrund des Ansatzes der Endlichkeitstheorie (§§ 29-32) die Grundproblematik der Endlichkeitstheorie ermittelt werden, die sowohl die Schwierigkeiten von Schellings Ideenund Erscheinungsbegriff als auch die von Schellings Programm der Ableitung der Reflexionsbegriffe des Verstandes aus dem relativen Nichtsein der Dinge erhellen. Abschließend soll erörtert werden, ob Schelling mit seiner These vom Realen am Ding als Reflex des Absoluten das Grundproblem seiner Endlichkeitstheorie zu bewältigen in der Lage ist. Der Ansatz der Endlichkeitstheorie ergibt sich aus der Beantwortung dreier Fragen: 1. Warum kann es für Schelling keine qualitative, sondern nur quantitative Differenz geben? 2. Warum ist für Schelling das, was als quantitative Differenz gesetzt ist, als relatives Nichtsein gesetzt? 3. Was ist der Status des relativen Nichtseins der quantitativen Differenz und damit des Endlichen? Ist es im Absoluten ontologisch fundiert, oder ist es ein willkürliches Produkt der Verstandesabstraktion? 1. Der Ausschluß der qualitativen Differenz ergibt sich aus der Unteilbarkeit der Substanz bzw. aus der Unaufhebbarkeit der absoluten Identität von Affirmierendem und Affirmiertem (vgl. § 29). Beides kann nicht dem Wesen nach unterschieden sein. Die Differenz beider kann nur durch die Art der Verteilung des Affirmierenden und Affïrmierten markiert sein. Es kann also nur eine quantitative Differenz geben, weil sie allein die unteilbare Substanz des Absoluten, die absolute Identität von Affirmierendem und Affirmiertem nicht tangiert. 2. In § 31 radikalisiert Schelling diesen Gedanken der quantitativen Differenz noch, indem er behauptet, daß in Ansehung des Alls selbst als solchem auch quantitative Differenz undenkbar ist. Schelling begründet dies damit, daß in beziig auf das All als solches nicht von einem Überwiegen des einen oder anderen gesprochen werden kann. Das absolute All als solches ist eben nur absolute Identität. Es ist somit der Standpunkt des "erscheinenden Alls" vom Standpunkt des absoluten Alls als solchem zu unterscheiden. Aus der Undenkbarkeit der quantitativen Differenz in bezug auf das absolute All als solches ergibt sich, daß alles, was als quantitative Differenz gesetzt ist, als relatives Nichtsein gesetzt ist. 3. Die Frage nach dem ontologischen Status der quantitativen Differenz ist direkt die Frage danach, wodurch das Endliche den Status

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Das vernünftige Absolute

eines Nichtseins erhält. Schelling unterscheidet zwei Charaktere des Endlichen: das Sein und das Nichtsein. Deutlich wird im Zusatz zu §31, daß diese beiden Charaktere des Besonderen im Absoluten ontologisch, d.h. unabhängig von der Verstandesreflexion, fundiert sind, also nur durch die spekulative Vernunft expliziert werden können. Ganz zentral für die Endlichkeitstheorie ist nämlich das doppelte Verhältnis, das das Absolute zum Besonderen unterhält. Die beiden Charaktere des Besonderen sind in diesem doppelten Verhältnis des Absoluten zum Besonderen begründet. Das Besondere ist, insofern es vom All durchdrungen ist, und es ist nicht, insofern es etwas für sich ist. Das Sein und das relative Nichtsein - für Schelling der "Keim der gesammten Endlichkeit" (VI, 181) - ist also im Absoluten fundiert. Die quantitative Differenz, das relative Nichtsein des Besonderen, ist mithin kein Produkt willkürlicher Verstandesabstraktion. Sie ist vielmehr der im Absoluten fundierte Seinstyp des Besonderen in seiner Besonderheit. Noch vor der Thematisierung von Idee und Erscheinung wird somit das Grundproblem der Endlichkeitstheorie deutlich. Dieses Grundproblem ist das des unauihebbaren Dualismus der beiden Charaktere des Endlichen, in welchem sich der Chorismos von Absolutem und Endlichem widerspiegelt. Während das Besondere als Besonderes ein relatives Nichtsein in bezug auf das absolute All als solches ist, also nicht im All enthalten ist, ist im All das Besondere nur als aufgelöstes. Diese Auflösung faßt Schelling als wahre Identität des Endlichen mit dem Unendlichen, als das wahre Sein des Besonderen, das nur der intellektuellen Anschauung zugänglich ist. Der Verstand bleibt in dem relativen Nichtsein verstrickt, ohne je zum wahren Sein zu kommen. Die Einbezogenheit der Besonderheiten in das Absolute bleibt also dem Verstand verborgen. Daraus ergibt sich eine unaufhebbare Kluft zwischen der Verstandesansicht und der spekulativen Ansicht der endlichen Dinge. Dieser gnoseologische Dualismus wurzelt im ontologischen: So wie es vom relativen Nichtsein der Dinge keine Brücke zum Sein des Absoluten gibt, so gibt es umgekehrt keine Brücke vom Sein des Endlichen, das das Sein des Absoluten ist, zum Nichtsein des Endlichen. Was Schelling fehlt, ist eine Theorie, die Sein und Nichtsein der Dinge, Differenz und Identität, Schein und Wahrheit miteinander verbindet. Was Schelling fehlt, ist von seiten der Endlichkeit her gesehen eine Theorie des Scheins, die diesen über sich selbst hinaustreibt. Der Grundfehler von Schellings Theorie ist von seiten des Absoluten aus gesehen, daß die Negativität des Endlichen im Sein des Absoluten nicht eingeschrieben ist.

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Der Dualismus zwischen Absolutem und Endlichem besteht also in der Kluft zwischen der Positivität des Absoluten und der Negativität des Endlichen. Es ist die Frage, ob Schelling im weiteren Verlauf der Endlichkeitstheorie Ansätze zur Überwindung dieses Dualismus entwickelt. Die platonische Unterscheidung von Sein und relativem Nichtsein der endlichen Dinge als Idee und Erscheinung und die Fassung dieses Verhältnisses als Verhältnis des absolut Einen und empirisch Vielen läßt indes befürchten, daß dieser Dualismus nicht überbrückt, sondern nachgerade befestigt wird. Damit reproduzieren sich in der Identitätsphilosophie die Aporien der Frühphilosophie, deren Ausgangsdilemma Schelling in den Abhandlungen und der Einleitung zu den Ideen ausdrücklich auf Spino-

za projiziert hat, um ihm die Prozeßphilosophie Leibniz' entgegenzusetzen. Schellings Philosophiekonzepte bewegen sich in der Alternative zwischen einem in die prozessuale Endlichkeit der Subjekt-ObjektDialektik hineingezogenen Absoluten und einem in einfacher Identität zusammengezogenen Absoluten, das dem Endlichen schroff gegenübersteht. Die Unterscheidimg von Idee und Erscheinung in § 33 dient der näheren Bestimmung des Besonderen in seinen Grundcharakteren und seiner Beziehung zum Absoluten. Die Momente des Besonderen sind "Sein" und "relatives Nichtsein". Das wahre Sein der Dinge expliziert Schelling mit Hilfe des Ideenbegriffs. Das Charakteristikum des Besonderen, das relative Nichtsein, wird durch den Erscheinungsbegriff näher bestimmt. Schelling versteht unter Ideen nicht wie in der rationalistischen Metaphysik seit Descartes und im englischen Empirismus den "bloßen Modus des Denkens" (VI, 183), sondern das wahre Sein der Dinge im Sinne der platonischen Ontologie. Die Frage, ob die Ideen subjektiver oder objektiver Natur sind, fallt für Schelling ganz in die Verstandesreflexion. Die Logik des Verstandes erzeugt das "Mißverständnis der platonischen Ideenlehre", die Ideen entweder nur als "bloß logische Abstrakta" oder als "wirkliche, physisch-existirende Wesen" (VI, 185) zu nehmen. Kant hat nach Schelling die Idee wieder dem Vernunftbegriff vindiziert, jedoch mit der Einschränkung, daß nur die sittlichen Ideen absolute Realität haben. Mit Piaton geht Schelling über Kant hinaus. Der ontologische Status des Schellingschen Ideenbegriffs ist also platonischer Natur. Durch die Ideen sind die endlichen Dinge einbezogen in die absolute Totalität. Die Dinge sind als Ideen "Repräsentanten" des einen Absoluten, und dies deshalb, weil sie als Ideen das im Unendlichen

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aufgelöste Endliche sind. Schelling definiert die Idee als Identität des Besonderen mit dem Allgemeinen, eine Identität, in der das Besondere als Besonderes aufgelöst ist. Die Dinge sind also als Idee im absoluten All in ihrer Besonderheit aufgelöst. Die endlichen Dinge in ihrer Besonderheit fallen als "Nichtsein" und "Erscheinung" außerhalb des absoluten Alls. Die wahre Philosophie ist für Schelling die Wissenschaft der Ideen, der Identität des Besonderen mit dem Allgemeinen, d.h. Darstellung der Dinge im Absoluten. Die Verstandesreflexion stellt die Dinge so dar, wie sie außerhalb des Absoluten sind. Sie geht vom Gegensatz des Allgemeinen und Besonderen aus, indem sie trennt, was im Absoluten eins ist. Allgemeines und Besonderes sind in der Verstandesreflexion als "zwei relative Negationen" (VI, 185) gesetzt, als Relate, die ihres Seins beraubt sind. In der Verstandesreflexion gibt es daher nur leere Abstraktionen, die die wahre Realität verschleiern. Es ist die Aufgabe der Erscheinungslehre, die Abstraktionen des Verstandes aus dem ontologischen Charakter des "Nichtseins" der endlichen Dinge herzuleiten. Hier wird auch deutlich, daß Schelling die Gattungsallgemeinheit des Verstandes von der Ideenallgemeinheit unterscheidet. Die Verstandesallgemeinheit beruht auf der Trennung von Allgemeinem und Besonderem; die Ideenallgemeinheit gründet in der Auflösung des Besonderen als Besonderes in der Allgemeinheit, also in der Identität des Besonderen mit dem Allgemeinen. Schelling nimmt Piatons Ideenlehre in durch Giordano Bruno vermittelter neuplatonischer Einfärbung auf. Dies macht sich in zweierlei Art bemerkbar: 1. Innerhalb des platonischen Ideenkosmos der Vielheit der Ideen erblickt Schelling den Gedanken des einen Absoluten. Die pluralistische, antimonistische Ideenlehre Piatons wird von ihm also auf einen Monismus des Absoluten zurückbezogen.17 Die 17

Im Bruno-Dialog (1802) spricht Schelling davon, daß der "einzige Gegenstand der Philosophie" das Absolute als die eine "Idee der Ideen" sei (vgl. IV, 243). In den Bruno-Auszügen Jacobis ist von der "aller Form Form" und in Anspielung auf Piatons Timaios von der einen "Seele der Welt" die Sede. - Die Ideen sind als Einheiten schon bei Piaton als numerisch Einsseiende, als Monaden zu denken (vgl. Philebos, 15a - b). Wie bei Piaton das Verfahren der Dihairesis zu unbegrenzt vielen átoma eíde fährt, so bei Leibniz die unendliche Teilbarkeit des räumlichen Universums zu unräumlichen, einfachen, unteilbaren Einheiten, den Monaden, als dem wahrhaft Seienden. Die Ideenlehre Piatons begründet somit die Tradition der Monadenmetaphysik, die über den christlichen Piatonismus über Bruno zu Leibniz führt. Es ist dies eine dem Monismus entgegenstehende Traditionslinie des Intellektualismus. In der zweiten Philosophiekonzeption hat Schelling diese aufgenommen, weil deren Prinzip lautet, alles Existierende ist in Wahrheit Idee und im Geist vorhanden. Der Pluralismus der Ideen und Monaden wird in der Identitäts-

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Ideenlehre Piatons ist also monistisch umformuliert. 2. Die eine Idee aller Ideen, das Absolute, ist für Schelling nicht wie für Piaton das transzendente Gute, sondern die nichttranszendente "Einheit" "der Schönheit und der Wahrheit selbst" (Bruno-Dialog, IV, 243). Schelling folgt damit einem ästhetischen Piatonismus, wie ihn teilweise die neuplatonische Renaissance-Philosophie vertritt (z.B. Ficinus). Auch Hölderlin und Hegel sind von einem solchen teilweise beeinflußt (vgl. K. Düsing (1981), S. 101-117). Durch die Verwandlung der Dinge in Ideen verleiht das Absolute dem Besonderen ein "gedoppeltes Leben" (VI, 187): 1. ein Leben im Absoluten, das Leben der Idee, wonach es im Absoluten aufgelöst ist, und 2. ein Leben in sich selbst, das aber getrennt vom Leben im Absoluten ein "Scheinleben" (ebd.) ist. Dieser Doppelaspekt des Besonderen reflektiert sich im Verhältnis von Absolutem und Endlichem in der doppelten Beziehung, die das Absolute zum Endlichen hat. Es ist hinsichtlich des Endlichen Konstituieren und Aufheben, Setzen und Negieren in einem. Das Absolute läßt dem Endlichen keine Selbständigkeit gegen sich zu. Das Endliche ist selbständig nur im Absoluten. Aus dem Doppelleben des Besonderen läßt sich die Fundierung des Seins des Endlichen im Absoluten erkennen. Das Endliche hat keinen Bestand in sich. Das Sein des Endlichen ist das Sein des Absoluten, ein vom Absoluten geliehenes Sein. In sich selbst ist das Endliche "Nichtsein". Dieser Aspekt des "Nichtseins" des Endlichen wird von Schelling in der Erscheinungslehre entwickelt. Schelling erläutert den Terminus "Erscheinung" in § 34, indem er auf den Sinn des "relativen Nichtseins" des Besonderen reflektiert. Das Nichtsein des Besonderen ist nur ein relatives, weil das Besondere nicht in jeder Beziehung, sondern nur seinem eigenen Leben nach negiert ist. Das Nichtsein ist also nicht etwas, was es überhaupt nicht gibt. Auch das Nichtsein hat ein Sein, allerdings kein absolutes. Der Parmenideische Gedanke, nur Seiendes sei, Nichtseiendes dagegen überhaupt nicht, trifft also nur auf den ersten Seinsbereich, das

philosophie dagegen auf eine monistische Metaphysik zurückgeführt, die Schelling im Rückgriff auf Bruno und Spinoza entwickelt. Alle Ideen und Monaden sind letztlich im Absoluten oder Gott, wobei er auch die von Leibniz benutzte neuplatonische Metapher aufnimmt, daß die Ideen "Fulgurationen" (VI, 187) Gottes sind. Der pluralistische, antimonistische Intellektualismus Piatons und Leibniz' ist so auf einen substanzontologischen Monismus zurückbezogen, der aber nicht in der realistischen Ausgestaltung bei Spinoza genommen wird, sondern in einem höherentwickelten Intellektualismus, dem Idealismus, fundiert ist. Zu diesen philosophiehistorischen Bezügen der Identitätsphilosophie vgl. K. Düsing (1988), S. 136ÍT.

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Absolute, zu. In bezug auf die Erscheinung hält Schelling an Piatons Einsicht, daß auch Nichtseiendes ist, fest. Das in bezug auf das All definierte relative Nichtsein des Besonderen, kann also auch als Sein bezeichnet werden, das nur nicht wahres, sondern unwahres Sein ist; darin unterscheidet es sich von bloßem Schein. Die Einheit von relativem Sein und relativem Nichtsein macht das Besondere zur "Erscheinung". Das relative Nichtsein macht also das Besondere nicht zu bloßem Schein, sondern zur scheinhaften Erscheinung. Mit dem Begriff der "Erscheinung" hebt Schelling keineswegs die Kluft zwischen dem wahren Sein der Ideen und der Erscheinungswelt der endlichen Dinge auf. Insofern im Begriff der Erscheinung primär scheinhafte Erscheinung zu denken ist, die hinter dem Absoluten zurückbleibt, ist dieser Dualismus vielmehr verstärkt. Die Einführung der platonischen Unterscheidung zwischen Idee und Erscheinung vertieft nur den Chorismos zwischen Absolutem und Endlichem. b) Die Herleitung der Reflexionsbegriffe des natürlichen Denkens In unmittelbarem Zusammenhang mit dem Erscheinungsbegriff steht die Ableitung des konkreten einzelnen Dings aus dem relativen Nichtsein des Besonderen (§ 36) und der Ableitung der Reflexionsbegriffe des Verstandes aus dem relativen Nichtsein der konkreten Dinge (§ 37), welche in der Herleitung des Seinsgesetzes des Endlichen, der "Kausalität", gipfelt (§§ 39, 40). Die fortschreitende Entfaltung der ontologischen Struktur der Endlichkeit erweist sich als fortschreitende Explikation der Negativitätsstruktur des Endlichen. Der Fortgang kulminiert in Schellings These in § 41, das Nichtsein der endlichen Dinge sei der "Widerschein oder Reflex" (VI, 197) des Absoluten. Gelingt es Schelling in diesem Zusammenhang, den Dualismus der Endlichkeitstheorie zu beheben? Nach § 36 leitet die Vernunft das konkrete, wirkliche Ding aus dem relativen Nichtsein des Besonderen ab. Was die Verstandesreflexion als positive Bestimmungen des Dings ansieht, sind in Wahrheit nur Ausdrücke seines relativen Nichtseins. Die Reflexion haftet am Schein der erscheinenden Welt und nimmt diesen Schein positiv, während ihn die Vernunft als Schein zur Darstellung bringt. Daraus ergibt sich für Schelling das Programm, die Reflexionsbegriffe, mit denen der Verstand umgeht, nicht nur "voraus[zu]setzen"

Schellings Theorie der Endlichkeit

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oder "aus der Reflexion auftzulnehmen" (VI, 190), sondern sie aus dem spekulativen Begriff des einzelnen Dings als solchem abzuleiten. Schelling geht es also um eine spekulativ-vernünftige Herleitung der Verstandesbegriflfe aus dem ontologischen Begriff des Nichtseins des Besonderen. Sie macht klar, daß die Reflexionsbegriffe keine willkürlichen Abstraktionsprodukte des Verstandes sind, sondern in der ontologischen Struktur des Endlichen gründen. Was die vernünftige Herleitung der VerstandesbegrifTe zu leisten beansprucht, ist, das Verstandesdenken besser zu verstehen, als es sich selbst versteht. Die Deduktion des Begriffs des einzelnen Dings geschieht wie folgt: Was bezogen auf das Absolute absolut nicht ist, kann, nicht bezogen auf das Absolute, d.h. an ihm selbst, nicht absolut nicht sein, aber auch nicht absolut sein. Das relative Nichtsein des Besonderen schließt also ein relatives Sein ein. Es ist daher ein "Gemischtes von Realität und von Negation, es ist ein Limitirtes, ein Etwas, ein Concretes, Einzelnes, oder nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch Wirkliches" (VI, 190). Die endlichen Substanzen und ihre kategoriale Struktur (Schelling nimmt hier Kants Kategorien der Qualität auf) sind also ein radikal Abgeleitetes.18 Obgleich also die Welt des Konkreten und Wirklichen, das sich in seiner Mannigfaltigkeit dem natürlichen Denken als Gegebenes bzw. Positives darbietet, für Schelling absolut geschieden vom absoluten All ist, beansprucht er ihre Gesetzmäßigkeit im philosophischen Erkennen, das über die Verstandesreflexion hinausführt, zu erklären, indem er unter ihrer scheinbaren Positivität ihre Negativität offenlegt. Damit charakterisiert er die Verstandesreflexion als Schein erzeugendes Denken, als ein Denken, das das Nichtsein der endlichen Dinge positiv nimmt. Gelingt es Schelling mit der Ableitung der Verstandesbegriffe die Kluft zwischen den Dingen als Ideen (Sein) und den endlichen Dingen qua scheinhafter Erscheinung (Nichtsein) zu überwinden? Offensichtlich nicht! Die Einbezogenheit der erscheinenden Welt in das absolute All bleibt dem Verstand verborgen und kann nur im absoluten Erkennen, das allein das Sein der Dinge in ihrer absoluten Identität erfaßt, eingesehen werden. Der Verstand bleibt ewig in den Schein relativer Negationen verstrickt, aus dem es für ihn keinen wie auch immer gearteten Ausweg gibt. Was Schelling fehlt, ist eine Theorie der Endlichkeit, die das Endliche und den Verstand an ihnen selbst aus ihrer Unwahrheit herausführt. Schellings 18

Vgl. Hegels analoge Ableitung des "Etwas" als Einheit von Realität und Negation in der Daseinslogik (Hegels Werke 5, 122ΓΓ.).

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Theorie der Verstandesreflexion ist eine elitäre, sich dem Verstand nicht mitteilende Kritik des Verstandes. Für Schelling gibt es zwei Betrachtungsweisen der Welt, die der einzelwissenschaftlichen Verstandesreflexion und die der spekulativen Philosophie, wobei er beide nicht zusammenbringt, sondern in ein Konkurrenzverhältnis zueinander setzt, derart, daß er den Verstand durch die spekulative Vernunft ersetzt. Während der Verstand keine Wahrheit für sich beanspruchen kann, kommt der spekulativen Vernunft alle Wahrheit zu. 19 Schelling möchte die Bestimmungen und Gesetze der endlichen Dinge, wie sie vom Verstand als gegeben hingenommen werden, im Rekurs auf die ontologische Struktur des Nichtseins der endlichen Dinge verständlich machen. Damit hat er jedoch noch keineswegs den Dualismus von Sein und Nichtsein der endlichen Dinge überbrückt. Aufgabe bleibt also, die Besonderheit und damit das Nichtsein der endlichen Dinge aus dem Sein des Absoluten herzuleiten, eine Aufgabe, die Schelling mit der Potenzenlehre in Angriff nimmt. Die Ableitung der Verstandeskategorien aus dem Nichtsein der endlichen Dinge kulminiert in der Kategorie der "Kausalität" (§ 39), die sich als das Seinsgesetz des Endlichen erweist. Nach § 39 hat das einzelne Ding als solches seinen Daseinsgrund nicht in sich selbst; das aber heißt - wie Schelling in § 40 ausführt -, daß es nur ist, insofern es bezogen ist auf ein anderes einzelnes Sein, das ebensosehr seines unabhängigen Seins beraubt und daher ein Relativum ist und so ad infinitum. Aus dem Umstand, daß das einzelne, endliche Ding die Negation des Absoluten ist, folgt, daß es nur im negativen Bezug zu allen anderen endlichen Dingen ist. Das Endliche ist also Negation des Absoluten und zugleich Negation jedes anderen endlichen Dings. Die Kausalität als das Seinsgesetz der endlichen Dinge, besagt freilich nichts Positives über sie. Es ist vielmehr "die höchste Negation des endlichen Seyns" (VI, 194) bzw. "der höchste Ausdruck der Negation, des Nichtseyns der einzelnen Dinge" (VI, 195). Als solches ist es "die vollendete Verneinung des wahren Seyns" (VI, 194). Die Relativität der Kausalität erweist sich somit als die vollendete Negativität der Endlichkeit; sie spricht die Negation als eine "unendliche" 19 Dies hat für die Naturphilosophie die prekäre Konsequenz, daß sie das Empirische zugunsten der spekulativen Konstruktion ganz aus den Augen verliert: "So ist die Construktion durchaus eine Erkenntnis absoluter Art und Wesens, und hat (eben daher) mit der wirklichen Welt als solcher nichts zu schaffen [!], sondern ist ihrer Natur nach Idealismus" (System 1802, V, 408).

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(VI, 196) aus, denn ein unendliches Sichanfügen eines Nichtseienden an ein anderes Nichtseiendes in der Kette von Ursache und Wirkung ergibt niemals ein Sein. Das wahre Sein der Dinge kann immer nur (per Spekulation) vorausgesetzt werden und hat seinen Grund außerhalb der negativen Kausalitätsreihe. Da das Kausalitätsgesetz nur das Nichtsein, nicht aber die wahrhafte Realität der Dinge betrifft, kann der Verstand nicht das "Wesen" der Dinge erklären. Die Verstandesbetrachtung ist eine "inadäquate Betrachtungsweise" (VI, 196), da sie nur die "Dinge in ihrem Nichtseyn" (ebd.) erkennt. Das wahre Sein der Dinge bleibt dem Verstand ewig verborgen, und kann nur im absoluten Erkennen, in der intellektuellen Anschauung, eingesehen werden. Auch hier zeigt sich wieder der unaufgehobene Dualismus der Endlichkeitstheorie.20

c) Das Reale am Ding = Reflex des Absoluten Kausalität ist für Schelling die Grundkategorie der Endlichkeit, die im infiniten Regreß, der Rückführung eines Seienden auf ein anderes, die kein Ende hat, zum Ausdruck kommt. Substantialität steht dagegen für Schelling für das Absolute, die er mit dem idealistischen Gedanken der Bewegung der Rückkehr aus einem Anderen verknüpft. Den Übergang von der einen in die andere Dimension versucht Schelling mit seiner These in § 41 plausibel zu machen, daß das Nichtsein der endlichen Dinge nichts anderes als der Reflex des Absoluten sei. Kann Schelling mit dieser These das Grundproblem

20

Von hier aus lassen sich die Aponen von Schellings Naturphilosophie bis in ihre spekulativen Prämissen hinein verfolgen. Schelling versucht, die zwei gegensätzlichen Naturkonzeptionen von "Mechanismus" und "Organismus" in eine einheitliche Theorie zusammenzuzwingen. Dabei verfolgt er die Methode, den Mechanismus als zu vernachlässigenden Grenzfall des Organismus zu entwickeln, mit der Tendenz, ihn ganz verschwinden zu lassen, um den gesamten Kosmos als Organismus konstruieren zu können. Der Übergang von der einen zur anderen Perspektive mißlingt freilich, weil er sich in Widersprüche verwickelt. Dem der Sphäre reiner Endlichkeit angehörenden relationalen Kausalzusammenhang der Dinge setzt Schelling die spekulative Deutung der Naturprodukte als Weise der absoluten Identität, d.h. außerhalb der Kausalität gegenüber und setzt gemäß seiner fundamentalphilosophischen Endlichkeitstheorie den Mechanismus zum Scheine herab. In der Weltseele spricht Schelling vom "Scheine des Mechanismus" (II, 350). Dies wäre möglich, wenn Kausalität tatsächlich ein wesenloser, zu entlarvender Schein der Natur wäre. Da letzteres nicht plausibel anzunehmen ist, bleibt Schelling beim unaufgelösten Widerspruch zwischen "Absolutheit" und "Relativität" stehen (vgl. auch H.-D. Mutschier (1990), S. 72f.).

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Das vernünftige Absolute

seiner Endlichkeitstheorie, den Dualismus von Idee und Erscheinung, von Sein und Nichtsein etc. überbrücken? Zur Verdeutlichung seiner These rekurriert Schelling wieder auf das doppelte Verhältnis des Absoluten zum Endlichen. Das Absolute ist im Verhältnis zum Endlichen Setzen und Vernichten. Das aber bedeutet, daß das Besondere und Endliche nicht bloß einfach Nichtsein, sondern als Nichtsein gesetzt ist. Dadurch, daß das Nichtsein des Endlichen als solches gesetzt ist, kommt aber nichts anderes als das Sein des Absoluten zum Vorschein. Hier zeigt sich: Vom Endlichen aus, d.h. für den Verstand, gibt es keine Brücke zum wahren Sein der Dinge. Nur vom Absoluten aus kann Schelling eine Brücke zwischen dem Sein des Absoluten und dem Nichtsein des Endlichen schlagen, freilich um den Preis jeglicher Eigenständigkeit des Endlichen. Das Nichtsein ist "Reflex", "Widerschein" und damit "Erscheinung" des alleinigen Seins des Absoluten.21 Der Dualismus von Absolutem und Endlichem - vom Absoluten aus unterlaufen - schlägt um in einen abstrakten Monismus des Absoluten. Die Rettung vor dem Dualismus von Absolutem und Endlichem erfolgt durch Vernichtung des Endlichen. Der Monismus der Identitätsphilosophie vollendet sich in einem Akosmismus, der die Eigenständigkeit (Autonomie) von Endlichem in keiner Weise denken kann. Hat das Problem der Vermittlung von Absolutem und Endlichem in der Frühphilosophie (vgl. Ichschrift, I, 200f.) zur praktischen Vernichtung des Endlichen geführt, so führt es in der Identitätsphilosophie zur spekulativ-theoretischen Auflösung des Endlichen. Als Quintessenz von Schellings Endlichkeitstheorie ergibt sich folgendes: 1. Der Gedanke des Endlichen ist für Schelling unhaltbar. Es hat in sich keinerlei Bestand; es läßt sich keinen Augenblick gegen das Absolute festhalten. Seine Wahrheit ist nicht seine Selbstau/7iebung, sondern seine Vernichtung durchs Absolute. 2. Das Einzige, auf das wir wirklich zu zählen Grund haben, ist das Absolute. Genau diese identitätsphilosophische Theorie der Endlichkeit liegt der romantischen Ironiekonzeption zugrunde.22 Durch das Stilmittel der Ironie wird die endliche Welt und das In-der-Welt-Sein des Men21

Erst an dieser Stelle ist die doppelte Bedeutung des ErscheinungsbegrifTs in der Endlichkeitstheorie eingeholt ("und hiermit ist denn zuerst die ganze Bedeutung der Erscheinung ausgesprochen" (VI, 197)): Erscheinung ist zum einen scheinhafte Erscheinung, die hinter dem Absoluten zurückbleibt (Dualismus), zum anderen Manifestation des Absoluten (Monismus). Beide Erscheinungsbegriffe schlagen unvermittelt ineinander um.

22

Auf diesen Zusammenhang macht M. Frank (1985), S. 132 aufmerksam.

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sehen in ihrer Begrenztheit und Nichtigkeit aufgewiesen. Die Ironie zeigt die Unmöglichkeit auf, an irgendeiner Position der Endlichkeit festzuhalten. Die ironische Vernichtung ist jedoch kein Selbstzweck, sowenig das Endliche in sich gegründet ist, sie gibt vielmehr den Blick frei aufs Unendliche: sie ist "epideixis der Unendlichkeit" (Friedrich Schlegel).

2. Zweiter Teil der Endlichkeitstheorie: Potenzenlehre Die Aufgabe des zweiten Teils der Endlichkeitstheorie erörtert Schelling in § 42. Während der erste Teil der Endlichkeitstheorie das allgemeine Verhältnis der endlichen Dinge zum Absoluten in der Ideenlehre entwickelt hat, erörtert der zweite Teil die Frage, wie das Besondere nicht dem allgemeinen Erscheinungsdasein nach, sondern der besonderen Art nach aus der Idee des Absoluten folgt. Zur Beantwortung dieser Frage greift Schelling wieder auf die Programmformel des Absoluten zurück, wonach das Absolute die unendliche Affirmation seiner selbst, die absolute Identität des Affirmierenden und Affirmierten ist. Bisher wurde aus dieser Formel des Absoluten a) das absolute All als solches in seinen unendlichen Folgen (All-Einheits-Lehre) und b) die allgemeinen ontologischen Charaktere der endlichen Dinge in der erscheinenden Welt, das Sein und relative Nichtsein der endlichen Dinge (Idee und Erscheinung), abgeleitet. Jetzt geht es um die Frage, welche Arten von besonderen, endlichen Dingen gibt es und auf welche besondere Weise folgen sie aus der Idee des Absoluten. Mit diesem Schritt geht die allgemeine Metaphysik der Identitätsphilosophie in Realphilosophie über. Dabei geht es Schelling vor allem um die Erkenntnis des "Gesetzes", wie die besonderen Dinge in je besonderer Weise aus der Idee des Absoluten hervorgehen. Nach Schelling muß sich das "Gesetz" der Ableitung der besonderen Dinge in ihrer Besonderheit aus einer weiteren Reflexion auf die Grundformel des Absoluten ergeben, weil sie es allein ist, aus der sich die Möglichkeit und schließlich die Wirklichkeit der Differenz ergeben kann. Es gibt nun bei Schelling zwei besondere Arten des Endlichen: das reale All der Natur und das ideale All des Geistes. Die Potenzenlehre hat nun die Aufgabe zu erklären, wie diese beiden Grundformen der erscheinenden Welt aus dem Absoluten hervorgehen. Sie hat mithin die Brücke zu schlagen zwischen dem absoluten Sein des Absoluten und dem nichtigen Endlichen. Die Frage ist also

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Das vernünftige Absolute

auch hier wieder: Kann die Potenzenlehre den Dualismus zwischen Absolutem und Endlichem überwinden? Der zweite Teil der Endlichkeitstheorie läßt sich in drei Abschnitte untergliedern: a) Ableitung des realen und idealen Alls im Rückgriff auf die Grundformel des Absoluten (§§ 43-45), b) Unterscheidung zweier Betrachtungsweisen der beiden Grundformen der Realphilosophie (§§ 46-49): Darstellung der absoluten Identität von realem und idealem All in der Vernunft (1. Betrachtungsweise) und Darstellung der quantitativen Differenz und Indifferenz von realem und idealem All in der philosophischen Verstandeskonstruktion im Unterschied von ihrer absoluten Identität in der Vernunft (2. Betrachtungsweise) (§§ 50-53), und c) Erörterung der Vermittlungsfunktion der Potenzen (§§ 54-61).

a) Ableitung des realen und idealen Alls (Natur/Geist) Schelling greift in § 43 zur Ableitung des realen und idealen Alls auf die Grundformel des Absoluten zurück, derzufolge das Absolute "unendliche Affirmation seiner selbst" (VI, 201) ist. Diese Ableitung aus einer weiteren Auslegung der Grundformel des Absoluten stellt sich folgendermaßen dar: In der absoluten Selbstaffirmation des Absoluten sind zwei Grundformen impliziert, die im Bereich des Absoluten in ihrer Differenz nur der Möglichkeit nach gesetzt sind: das reale und ideale All. Um diese als Grundformen der erscheinenden, endlichen, nicht-absoluten Welt verständlich machen zu können, muß Schelling das Zustandekommen quantitativer Differenzen in der Totalität erklären können. Indem in den beiden Grundformen der Iterierung der Selbstaffirmation Gottes jeweils ein Moment, das Affirmieren oder das Affirmiertsein, das subjektive oder objektive, den Akzent trägt, ergibt sich ein quantitatives Übergewicht dieses über das andere. Im realen All hat das Affirmierte, im idealen All das Affirmierende das Übergewicht. Aus dem quantitativen Übergewicht erklärt sich das Auftreten quantitativer Differenzen, die die absolute Identität beider Momente nicht tangiert. Mit dem realen und idealen All ist das erreicht, was wir "Welt" nennen: die Welt der natürlichen und geistigen Dinge. Die Frage ist, was ist das "Wesen" der Welt.23 Für Schelling ist das, was Welt ist, in 23

Schelling ist einer der Philosophen, die Welt als solche thematisieren. Die metaphysische Betrachtung der Welt hat Schelling z.B. mit Schopenhauer gemeinsam.

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radikaler Weise abgeleitet. Vom Standpunkt des philosophischen Monismus ist Welt nicht das primäre oder wahrhaft Seiende, sondern mit Unwahrheit und Schein behaftete Erscheinung. b) Vernunft- und Verstandesansicht von realem und idealem All In den §§ 46-49 thematisiert Schelling die spiegelbildlichen Entsprechungsverhältnisse bzw. die vollständige Parallelität des realen und idealen Alls. Dem Affirmierten im realen All entspricht in jeder Hinsicht eine gleiche Weise des Affirmierens im idealen All. Aber nicht nur im Ganzen herrscht Gleichgewicht, auch intern sind reales und ideales All im Gleichgewicht. Schellings Identitätsphilosophie präsentiert sich als "Philosophie des absoluten Ausgleichs" (H. Plessner (1975), S. 414). Die Konstruktion der Entsprechungsverhältnisse ist als Kritik der Ichphilosophie Fichtes zu verstehen, in der eine starke Asymmetrie zwischen Geist und Natur vorliegt. Im Reflexionsmodell von Geist und Natur bei Fichte beruht das Verhältnis beider auf einer Subjekt-Objekt-Spaltung. Schelling geht noch einen Schritt weiter, indem er aufzeigt, daß das universale Entsprechungsverhältnis von Natur und Geist letztlich darauf beruht, daß beide in Wahrheit ein und dasselbe All, d.h. absolut identisch sind. In der Folge unterscheidet Schelling zwei Betrachtungsweisen des realen und idealen Alls. Zum einen wird das reale und ideale All als absolut dasselbe begriffen, zum anderen in ihrer Differenz "als solche". In der Differenz beider Betrachtungsweisen macht sich der Dualismus zwischen Absolutem und Endlichem auch im zweiten Teil der Endlichkeitstheorie bemerkbar. Beide Betrachtungsweisen dokumentieren das dualistische Verhältnis von Positivität und Negativität im zweiten Teil der Endlichkeitstheorie. Nur insofern sie im absoluten All dasselbe sind, sind reales und ideales All affirmiert. Als solche in ihrer Differenz sind sie negiert. Besonders in der 2. Betrachtungsweise kommt der Negativitätsaspekt des Endlichen im realen und idealen All zum Ausdruck. Beide können in ihrer Differenz nur durch das Nichtsein der endlichen Dinge erscheinen. Die beiden konkreten Bereiche des Endlichen, Natur und Geist, führen wie das Endliche überhaupt ein Doppelleben, ein Leben im absoluten All und ein Leben in sich selbst, das getrennt vom Absoluten ein nichtiges Scheinleben ist. In den §§ 50-53 wird die Dualität beider Betrachtungsweisen fortgeführt und auf den Begriff gebracht. Die 1. Betrachtungsweise wird

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Das vernünftige Absolute

als metaphysische Vernunftbetrachtung der 2. Betrachtungsweise als philosophische Verstandeskonstruktion des realen und idealen Alls in ihren Differenzen mittels Potenzen gegenübergestellt. Im einzelnen thematisiert Schelling in den §§ 50-53 dreierlei: 1. Die Art und Weise, wie sich reales und ideales All in der Vernunft darstellen (§§ 50, 52), 2. die genaue Situierung der Vernunft zwischen absolutem All und erscheinender Welt (§ 51) und 3. die Unterscheidung zwischen absoluter Identität und Indifferenz in § 53, welch letztere der 2. Betrachtungsweise zugeordnet ist und zum Potenzbegriff überleitet. 1. Das reale und ideale All kommen in der Vernunft zur Darstellung, insofern sie zur absoluten Identität zusammenfließen, also als solche aufgehoben sind. Die Vernunftbetrachtung zeigt, daß reales und ideales All keinen Bestand in sich haben. Vom Standpunkt der Vernunft sind reales und ideales All als solche in Wahrheit nicht, sondern nur ihre absolute Identität. Deutlich wird hier, daß die Vernunftbetrachtung der erscheinenden Welt Weltverneinung ist. Was in Schellings Identitätsphilosophie affirmiert wird, ist nur das Absolute bzw. das absolute All, nicht die erscheinende Welt. Schelling greift hier auf die Bestimmung der Vernunft in § 17 zurück, wonach "vom Standpunkt der Vernunft aus überhaupt keine Endlichkeit sey" (VI, 161), bestimmt nun aber ihre Funktion in der konkreten Weltinterpretation. Wie läßt sich aber der Zusammenhang zwischen Vernunft und Potenzenlehre rekonstruieren? Da die erscheinende Welt zwar durch die Vernunft negiert, nicht aber geleugnet werden kann, muß sie als solche in ihren Differenzen erklärt, d.h. apriorisch konstruiert werden. Diese Aufgabe übernimmt die Potenzenlehre im Unterschied zur Vernunft. Nur beides zusammen, vernünftige Weltverneinung und Welterklärung in apriorischer Verstandeskonstruktion, ergibt für Schelling eine nicht-positivistische Weltinterpretation. Für die Gegenstände der konkreten Welt bedeutet dies die Auflösung der empirischen Gegenstände in Spekulation und philosophische Konstruktion. 2. Die Vernunft ist bei Schelling anders als bei Hegel nicht durch sich selbst. Nach §§ 6-8 ist sie die ideale Reproduktion des Absoluten. In § 51 wird deutlich, daß die Vernunft durch das absolute All als der unmittelbaren Folge Gottes vermittelt ist. Sie ist der "Reflex der Gottheit" (VI, 207) bzw. das Gegenbild zum Urbild des Absoluten. Die Vernunft ist also nicht in der erscheinenden Welt angesiedelt, sondern im Bereich des absoluten Alls bzw. nur insofern in der erscheinenden Welt, als die absolute Identität in der Erscheinung präsent

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ist. Im Zusatz 2 zu § 51 wird die Folgeordnung zwischen absolutem All, Vernunft und erscheinender Welt besonders deutlich: Nur das absolute All als solches ist eine unmittelbare Folge Gottes, während das reale und ideale All eine mittelbare, durch das absolute All vermittelte Folge darstellt. Zwischen absolutem All und erscheinender Welt ist die Vernunft angesiedelt, die in die erscheinende Welt hineinscheint. Eine Gemeinsamkeit in Schellings und Hegels Vernunftbegriff besteht darin, daß für beide Vernunft ein objektiver Begriff ist, die Differenz besteht darin, daß für Schelling sich Vernunft nicht selbst konstituiert. Sie hat ihren Grund außerhalb ihrer selbst im Absoluten. Gleichwohl können sowohl das Absolute selbst wie auch Totalität und Erscheinung in ihren ontologischen Strukturen nur durch und in der Vernunft expliziert werden. 3. § 53 nimmt die Unterscheidung der beiden Betrachtungsweisen nochmals auf und leitet zum Potenzbegriff über. Vom Standpunkt der erscheinenden Welt gibt es nur quantitative Differenz oder quantitative Indifferenz, nicht aber absolute Identität. Wo absolute Identität zur Darstellung kommt, sind reale und ideale Welt als solche verschwunden, verlieren beide ihren Charakter, Natur oder Geist zu sein. Absolute Identität ist wesentliche, qualitative Einheit, also prärelationale, ontologisch fundierte Einheit ohne Differenz. Indifferenz ist aufgehobene Differenz. Indifferenz ist bloß quantitatives Gleichgewicht von Natur und Geist, in der beide noch als solche unterscheidbar bleiben. Die Indifferenz dependiert also noch von der quantitativen Differenz. In den §§ 43-53 hat Schelling die Momente zusammengetragen, die für die Einführung des Potenzbegriffs von Wichtigkeit sind. Dreierlei ist zu unterscheiden: Einmal die absolute Identität in der Vernunft selbst, die prärelational die Ausdifferenzierung des idealen und realen Alls ontologisch fundiert und von dieser nicht tangiert wird. Sodann das wechselseitige quantitative Übergewicht und schließlich die quantitative Indifferenz der beiden Faktoren (Affirmierendes/Affirmiertes) in der philosophischen Verstandeskonstruktion. Die drei Momente bringt Schelling folgendermaßen zusammen: Im System 1801 § 31 heißt es: "Die absolute Identität ist nur unter der Form der absoluten Indifferenz des Subjektiven und Objektiven (und also auch des Erkennens und Seyns)" (IV, 128). Kondylis interpretiert das "ist" in diesem Satz so, daß es als "zum Sein kommen" zu verstehen ist (vgl. Kondylis (1979), S. 611f.). Das bedeutet: Die absolute Identität des Absoluten existiert nur dann wirklich, d.h. in und durch die philosophische Konstruktion, wenn eine quantitative Diffe-

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Das vernünftige Absolute

renz gedacht wird und diese in quantitativer Indifferenz erlischt. Die absolute Identität existiert also nur im Durchgang durch alle drei Formen. Das Absolute existiert nur im Vernunftsystem.

c) Die Vermittlungsfunktion der Potenzen In den §§ 54-61 wird 1. expliziert, wie der Potenzbegriff in die Ableitung der realen und idealen Welt hereinkommt und wie er selbst zu verstehen ist (§§ 54, 55), 2. wird das Potenzenschema der Ableitung der erscheinenden Welt aus dem Absoluten aufgestellt (§ 56), 3. wird untersucht, in welchem Seinsbereich die Potenzen angesiedelt sind und in welchem Verhältnis die Potenzentheorie zur Ideentheorie steht (§§ 57-59), und 4. kommt abschließend die generelle Funktion der Potenzen in der Identitätsphilosophie zur Sprache. Hier muß sich zeigen, ob die Potenzentheorie den aporetischen Dualismus zwischen Absolutem und Endlichem zu beheben in der Lage ist (§§ 60-61). 1. Nach § 54 kann das reale und ideale All nur durch die Besonderheit der endlichen Dinge erscheinen, die entweder auf dem wechselseitigen Überwiegen des einen Faktors über den anderen (quantitative Differenz von A und B) oder auf dem Gleichgewicht beider (quantitative Indifferenz von A und B) beruhen. Alle Verschiedenheit und damit alle Besonderheit der endlichen Dinge sind durch diese drei Konstellationen bestimmt, die Schelling sogleich "Potenzen" (§ 55, VI, 210) nennt. Während das Absolute durch den Identitätssatz A = A zum Ausdruck kommt, wird das Endliche durch den Satz A = Β charakterisiert. Dieser Satz beruht auf dem Identitätssatz in der ursrünglichen Form, da das Β vom A nicht qualitativ, sondern nur quantitativ verschieden ist. Hieraus ergibt sich der spezifische Sinn des Potenzbegriffs in der Identitätsphilosophie: Potenzen sind die mathematischen Grundprinzipien der philosophischen Konstruktion der Besonderheit der endlichen Dinge aus bloß quantitativen Differenzen bei gleichbleibender qualitativer Basis. Die Differenzen im realen und idealen All werden nach § 55 durch Potenzen des einen Faktors ausgedrückt; im realen All durch die Potenz des idealen, im idealen All durch die Potenz des realen Faktors. Das reale All ist mit dem Ausdruck Β = A gesetzt. Im realen All, in dem das Affirmierte (B) gleich dem Affirmierenden (A) werden soll, in dem sich also eine Subjektivierungsbewegung vom objektiven Subjekt-Objekt zum subjektiven Subjekt-Objekt vollzieht, ergibt sich

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für A, den idealen Faktor des realen Alls, eine dreifache Potenz: A1 gibt das Überwiegen des Affirmierten über das Affirmierende an, A2 bezeichnet das Überwiegen des Affirmierenden über das Affirmierte und A3 die quantitative Indifferenz der beiden Faktoren. Im idealen All werden die Potenzen zu B, dem realen Faktor im idealen All, gesetzt, weil hier A = 6 werden soll. Im idealen All findet also eine Objektivierungsbewegung statt. Nehmen wir Natur und Geist zusammen, so ergeben sich 6 Potenzen: Natur Affirmiertes (Al), Natur Affirmierendes (A2) und Natur Indifferenz (A3) und Geist Affirmiertes (Bi), Geist Affirmierendes (B2) und Geist Indifferenz (B3). Da die Differenzen der endlichen Dinge mathematisch nur durch drei Potenzen ausgedrückt werden können, ist die Triplizität der Potenzen die notwendige Erscheinungsweise des realen und idealen Alls. 2. Schelling gibt in § 56 das "wahre Schema" (VI, 211) der Ableitung der endlichen, erscheinenden Welt aus dem Absoluten an: Das Absolute selbst ist absolute Identität, in der die ideale und reale Welt als unmittelbare Folge in ihrer Identität als negierte einbegriffen sind. Andererseits: Die unmittelbare Folge beider Welten als solche sei die Indifferenz des Affirmierenden und Affirmierten, die einen gedoppelten Ausdruck finde, einmal im Realen und einmal im Idealen. Aus der Indifferenz folge dann in absteigender Reihe das Affirmierende oder Ideale in quantitativem Übergewicht über das Affirmierte oder Reale und umgekehrt. Dieses "Schema" könne sich "ins Unendliche wiederholen" (VI, 211). So ist mit der Potenzentheorie das "Gesetz" gefunden, nach welchem aus dem Absoluten Unendliches auf unendliche Weise folgt (vgl. § 56 Anm.). Im System 1804 führt Schelling die Ableitung des Potenzensystems nicht weiter aus. Aus den Darstellungen im System 1801 und im System 1802 läßt sich folgendes Schema ermitteln: Das Absolute Das absolute All Die Ideen

A A=A (B = A; A = B)

Die Potenzen: Β = A (reales All)

Α=Β

Β = A3

A=B3

(org. Natur)

Β = Αϊ

Α = Β (ideales All)

Β = Α2

(unorg. Materie) (org. Materie) (3 Potenzen)

(Kunst) A = B i A = B2 (Wissen) (Handeln) (3 Potenzen)

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Das vernünftige Absolute

3. In § 57 spricht Schelling deutlich aus, daß die Potenzen keine Bestimmungen des Wesens, sondern des Nicht-Wesens sind, und nur durch die endlichen Dinge ausdrückbar sind. Potenzen sind Bestimmungen des "Nichtseins" der endlichen Dinge, das außerhalb der Totalität fällt. Darüber hinaus ist der Potenzbegriff ein Relationsbegriff; durch ihn werden die endlichen Dinge relativ auf andere und relativ auf das Ganze gefaßt. Dem entspricht, daß sie eine Konstruktion des Verstandes sind. Schelling hebt auch in anderen Schriften den Konstruktionscharakter der Potenzentheorie ab. Während im System 1801 der Eindruck entsteht, daß die Potenzen für die innere Strukturiertheit des Absoluten stehen, hebt das System 1804 hervor, daß das Potenzensystem allein der erscheinenden Welt zugeordnet ist. Die Potenzentheorie ist die Entfaltung der 2. Betrachtungsweise des realen und idealen Alls. Es ist aber zu betonen, daß sich der Verstand in der Potenzentheorie als "Organ" und nicht als "Gegenspieler" der Vernunft wie in der Verstandesbetrachtung der Kausalität betätigt.24 Die Potenzen sind also wohl zu unterscheiden von den Ideen. Die Ideen bringen die endlichen Dinge zur Darstellung, insofern sie im Absoluten aufgelöst sind. Die Potenzen dagegen erklären die endlichen Dinge in ihrer Besonderheit. Dabei ist hervorzuheben, daß die Potenzentheorie die endlichen Dinge nicht affirmiert. Insofern wahres Wissen für Schelling Affirmation ist, gibt es von der erscheinenden Wirklichkeit kein wahres Wissen. Wie die Vernunft, die im absoluten All angesiedelt ist, die Wahrheit der absoluten Identität teilt, so teilt die Potenzentheorie, die in der Sphäre der scheinhaften Erscheinung der endlichen Welt angesiedelt ist, deren Halbwahrheit. 24

Schelling unterscheidet zwei Verstandesbegriffe, den abstrakten Verstand der Kausalität, der im Schein der endlichen Erscheinung befangen ist, und die philosophische Verstandeskonstruktion, die positiv für die Welterklärung in Anspruch genommen werden kann. Diese Unterscheidung korrespondiert mit der zweifachen, gegensätzlichen Bedeutung, die die Mathematik in der Identitätsphilosophie bei Schelling hat. Einerseits restituiert Schelling hier eine qualitativ-pythagoreische Mathematik, der er eine positiv-philosophische Bedeutung zuspricht. Hinter ihr steht die Idee einer rein apriorisch-konstruierenden Philosophie, die Idee einer Totalmathematisierung von Geist und Natur. Die philosophische Verstandeskonstruktion mittels Potenzen, die ja mathematische Bedeutung haben, ist nichts anderes als die reale Umsetzung dieser Idee. Diese "mathesis universalis" bzw. diese Methode "more geometrico" setzt Schelling in ein Konkurrenzverhältnis zur "gewöhnlichen" Mathematik empirisch arbeitender Physiker, der er eine gewisse Mißachtung entgegenbringt, weil er der Auffassung ist, daß 'dynamische' Verhältnisse der Natur nicht mathematisierbar seien. Die Diskreditierung der "gewöhnlichen" Mathematik in der Naturphilosophie entspricht der Totalnegativierung des abstrakten Verstandes der Kausalität in der Fundamentalphilosophie.

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Der Zuordnung der Potenzen zur erscheinenden Welt entspricht, daß das Absolute potenzlos und außerhalb der erscheinenden Welt angesiedelt ist. Damit ist aber ausgesprochen, daß auch die Potenzen den Dualismus von Absolutem und Endlichem nicht überbrücken können. 4. Die Funktion der Potenzen besteht § 60 zufolge darin, den Grad der Realität, d.h. der Substantialität und Absolutheit, die jedes einzelne Ding fur sich hat, aufzuweisen, indem sie das Verhältnis seiner Annäherung an und seines Abstandes von der absoluten Identität beschreiben. Die Potenzen messen so den Grad des Seins und Nichtseins der endlichen Dinge. Schellings Aussagen zielen darauf ab, daß A3, also die Indifferenz im realen All, mehr Positivität zum Ausdruck bringe als A2 oder Al. Demnach verweist die Indifferenz mehr auf die absolute Identität als die quantitative Differenz. Implizit verknüpft Schelling hier die philosophische Verstandes-Konstruktion der Endlichkeit mit Hilfe der Potenzen mit der Vernunftbetrachtung der Endlichkeit, wenn er hier die Differenzen der endlichen Dinge im Hinblick auf die absolute Identität betrachtet. Die Potenzen verweisen auf die Vernunft bzw. zeigen ein Moment von Vernunft an den endlichen Dingen und erlauben somit ihre Klassifizierung nach dem Grad der Realität (Identität) an ihnen. Der Verstand klassifiziert die Seinsbereiche nach ihrem Vernunftgehalt und fungiert so ganz im "Dienst" der Vernunft. Indem der Verstand das Endliche ganz auf das einzig Wirkliche dessen, was ist, das Absolute, hin durchsichtig macht, wird die Kluft zwischen Absolutem und Endlichem jedoch nur um den Preis der Vernichtung des Endlichen aufgehobenes Der Dualismus zwischen Absolutem und Endlichem schlägt um in den Akosmismus eines abstrakten Monismus. Maßgebend für die Verwendung des Potenzbegriffs in Schellings Identitätsphilosophie ist die mathematische Operation der Potenzierung, die fortgesetzte Vervielfältigung eines mit sich Identischen, die quantitative Steigerung bei gleichbleibender Basis. Mit Hilfe der Potenzen konstruiert der philosophische Verstand apriorisch Seinsstufen verschiedener Ordnung, eine Stufung, die keine qualitative Differenz enthält. In dieser mathematischen Deduktion alles Endlichen wird alles Empirisch-Konkrete aus der Philosophie verwiesen. Die Entwicklung von Natur zum Geist in der erscheinenden Welt ist so in 25 Die Potenzen vermitteln so das Absolute über das Nichtsein des Endlichen. Sie haben bei Schelling einen ähnlichen Status wie beim esoterischen Piaton die Mathematika, die zwischen dem Seinsbereich der Ideen und dem der sinnlichen Dinge angesiedelt sind und diese im Hinblick auf den Eidosbereich strukturieren.

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Das vernünftige Absolute

Wahrheit nur die stufenförmige "Darstellung" des einzig Wirklichen, des Absoluten. Die apriorische Potenzenkonstruktion des Endlichen arbeitet im Dienste des akosmistischen Absoluten. Darüber hinaus enthält die Potenzenlehre nur einen Schein von Dynamik und Entwicklung. In Wirklichkeit ist sie ein Dokument einer sich gleichbleibenden Schematik.26 Die Potenzenlehre leistet also die Erklärung gleichzeitiger qualitativer Identität und quantitativer Differenz zwischen verschiedenen Stadien der SelbstdarStellung des Absoluten in der Erscheinung. § 61 gibt eine Darstellung der Potenzen der Realphilosophie: Die Natur ist nur die Identität des Reellen und Ideellen unter dem Exponenten des Reellen, der Geist ist dieselbe Identität unter dem Exponenten des Ideellen. Der Naturprozeß selbst unterteilt sich in 3 Potenzen: 1. die Materie, 2. den dynamischen Prozeß mit den Kräften Magnetismus, Elektrizität, Chemismus, Klang, Licht und Wärme, 3. die organische Natur. Die erste Potenz des Geistes ist das "Wissen", die zweite das "Handeln" und die dritte die "Kunst". Dies ist Schellings allgemeine Idee der wissenschaftlichen, rein apriorischen Konstruktion von Natur und Geist mittels Potenzen in der Realphilosophie. Allerdings muß hier dem Eindruck entgegengetreten werden, als sei im Identitätssystem die Kunst als die dritte Potenz wirklich der höchste Ausdruck des Absoluten in der Erscheinung wie noch im Transzendentalsystem 1800.27 Das "Letzte[n] [...], worin sich die ganze Philosophie schließt, das Potenzlose" (VI, 574), ist vielmehr 26

Hegel behauptet zu Recht, daß Schellings PotenzbegrifT wesentlich der Kategorie der Quantität angehört und vom aristotelischen dynamis-Begriff zu unterscheiden ist (vgl. Hegels Werke 5, 384f.). Für ihn ist es eine "Unsitte", quantitative Bestimmungen auf spekulative Verhältnisse anzuwenden, die wesentlich von qualitativer Natur sind. Nach Hegel gehört die Potenzenlehre daher in die mathematisch-geometrische Methode der apriorischen Konstruktion der Wirklichkeit, die Schelling von Spinoza übernimmt. Sie sei durch Formalismus, leere Form der Triplizität und äußerlich angebrachten Schematismus gekennzeichnet, der alle qualitativen Bestimmungen totschlage (vgl. Hegels Werke 3, 21f, 48ff., Hegels Werke 20, 444ff.).

27

Diese Auffassung vertritt M. Frank, der die Identitätsphilosophie und die Philosophie der Kunst als "ein merkwürdiges Zwielicht zwischen Romantik und absolutidealistischer Spekulation" (M. Frank (1989), S. 200) begreift, und damit die eindeutige Überordnung des Erkenntnisvermögens des Philosophen vor der ästhetischen Anschauung des Genies in Schellings vierter Philosophiekonzeption verkennt. Das Gerücht, daß auch in der Identitätsphilosophie das Absolute nur in der Kunst zur Darstellung komme, geht auf Hegels Erörterung der Identitätsphilosophie in den Vorlesungen über Geschichte der Philosophie zurück (vgl. Hegels Werke 20, 454). Gegen diesen Vorwurf wehrt sich der späte Schelling in seiner Hegel-Kritik (vgl. Paulus, 134).

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objektiv der Staat und subjektiv die Philosophie. Das System 1804 schließt mit einer Verherrlichung des öffentlichen Lebens als einer sittlichen Totalität und deren Selbstreflexion in der Philosophie: "§ 326. Was der Staat objektiv, ist subjektiv - nicht die Wissenschaft der Philosophie, sondern - die Philosophie selbst als harmonischer Genuß und Theilnahme an allem Guten und Schönen in einem öffentlichen Leben. Wie der Staat objektiv potenzlos, so ist die Philosophie subjektiv. Vernunft: Weltbau = Philosophie: Staat. Die Philosophie in diesem Sinne ist das Ziel aller Wissenschaft der Philosophie, obschon auch Philosophie nur in den Schranken der Wissenschaft und nur als Wissenschaft, nicht an sich selbst leben kann, solange es an dem öffentlichen Leben fehlt, in dem sie sich anschauen könnte" (VI, 576). In der Identitätsphilosophie verliert die Kunst die Funktion eines Organons der Philosophie, die sie im Transzendentalsystem 1800 noch hatte und für die Frühromantiker behalten sollte. Kunst spielt jetzt nur noch die zweite Rolle. In der Philosophie der Kunst (1802 1804)28 sagt Schelling: "[...] anstatt daß die Philosophie die Ideen wie sie an sich sind, anschaut, schaut sie die Kunst real an", sie schaut "das Absolute" nicht im "Urbild", sondern im "Gegenbild" (V, 369f.). In der Zurücknahme der Privilegierung der Kunst und in der Behauptung der Erkennbarkeit des Absoluten macht sich der starke Einfluß Hegels auf Schellings Denken in der Phase der Identitätsphilosophie bemerkbar.

28

Schellings Vorlesungen über die Philosophie der Kunst, die erste systematisch fundierte und materialreich entfaltete Ästhetik der abendländischen Philosophie, stellen den Versuch dar, die in der Identitätsphilosophie entwickelte Idee und Methode der Philosophie auf eine konkrete Wissenschaft anzuwenden. Im Vorwort sagt Schellings Sohn K.F.A. Schelling: "Ihm [Schelling d.V] konnte die Philosophie der Kunst n u r als ein Versuch gelten, den er zunächst f ü r sich selbst machte, die Ideen und die Methode seiner Philosophie auf die Wissenschaft der Kunst anzuwenden, und etwa durch diese Anwendung bei seinen Zuhörern ein lebendiges Verständniß und erhöhtes Interesse filr ein System zu wecken, durch das allerdings zum erstenmal das vielgestaltige, für den Laien schwer zu begreifende Wesen der Kunst in bestimmte, einfache und u n t e r sich harmonirende Construktionen gefaßt war" (V, VII).

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V. Die Aporie der Identitätsphilosophie Die Aponen der Identitätsphilosophie ergeben sich aus der Konzeption eines allem diskursiven Denken vorausliegenden, rein ontologismi fundierten Absoluten, das gleichwohl einer intellektuellen Anschauung zugänglich und zugleich nur in der Immanenz der Vernunft explizierbar ist, und betreffen zum einen das Absolute selbst, zum anderen das Verhältnis von Absolutem und Endlichem. 1. Die Etablierung der Identitätsphilosophie wird ermöglicht durch die Verknüpfung von absoluter Identität und absoluter Erkenntnisform. Schellings grundlegende Voraussetzung der Identitätsphilosophie ist, daß das Absolute spekulativem Denken zugänglich ist. Intellektuelle Anschauung ist nicht mehr Vergewisserung eines sich bewußt werdenden Ich, sondern die des Absoluten selbst, wobei intellektuelle Anschauung unmittelbare Vernunftanschauung bedeutet, in der Reflexion keine Rolle spielt. Die Konzeption der intellektuellen Anschauung ist dadurch motiviert, daß eine unmittelbare Vernunftanschauung gewissermaßen ihren Gegenstand in einer voraussetzungslosen, weil nicht hintergehbaren Weise umfaßt. Es ist deutlich zu sehen, daß die Unmittelbarkeit dieser absoluten Erkenntnisform eine Unmittelbarkeit ist, die ebenso dogmatisch und unbegründet ist wie das Gefühl Jacobis oder der Glaube Eschenmeyers. Indem sie sich der Vernichtung subjektiver Reflexion verdankt, setzt sie sich dieser schroff gegenüber und reproduziert so den Jacobischen Dualismus von Unbedingtem und Bedingtem. In der intellektuellen Anschauung des Absoluten schlägt der Intellektualismus in Dogmatismus und Affirmatismus und der identitätsphilosophische Monismus des Absoluten in den Dualismus von Absolutem und Endlichem um. Die Unmittelbarkeit der absoluten Erkenntnisform enthält unübersehbar einen weiteren Mangel: Die Kategorien des Absoluten, die Schelling lemmatisch aus der Tradition aufliest, sind weder an und für sich legitimiert noch werden sie in einen systematischen Ordnungszusammenhang gebracht. Der absoluten Vernunft fehlt die logische Form und Methode zur immanenten Entwicklung der Kategorien. Der Fortgang vom Absoluten zur absoluten Totalität über die Figur der Identität der Identität in der Auslegung der Programmformel des Absoluten ist und bleibt zudem rein analytisch-tautologisch. Ist die Vernunftanschauung des Absoluten einerseits eine bloße Setzung, nicht begründet, so läßt sich andererseits aus der einfachen,

Aporie der Identitätsphilosophie

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absoluten Identität kein System mit geordneter Mannigfaltigkeit weiterer Bestimmungen des Absoluten entwickeln. 2. Schelling gewinnt seinen Identitätsbegriff als Grundbegriff seiner dritten Philosophiekonzeption, indem er die Identität mit dem monistischen Grundgedanken des Einen im Sinne des einzig selbständigen Wirklichen verbindet. Das Absolute ist in seiner Präponderanz vor aller Reflexivität nicht durch das Prinzip des Selbstbewußtseins, sondern rein ontologisch begründet. Andererseits soll dieses allem Denken vorausliegende Sein des Absoluten nur durch und in der absoluten Vernunft explizierbar sein. Hieraus erwächst die Aporie des ontologisch fundierten Monismus der absoluten Vernunft: Kann die Identitätsphilosophie nur im Überstieg über die Immanenz des Selbstbewußtseins etabliert werden, so wird in ihrem Fortgang die Transzendenz des Absoluten beständig in die Immanenz der Vernunft überführt. Stieß Schellings Intention, vom Absoluten als dem Unbedingten ausgehen zu wollen, in der zweiten Philosophiekonzeption auf die Grenze im Prinzip des Selbstbewußtseins, so nun an die Grenze der Vernunftimmanenz. 3. Die Aporie des monistischen Absoluten reproduziert sich schließlich auch im Verhältnis des Absoluten als Totalität zur Welt der Erscheinung der endlichen Dinge. Schelling versucht, das Problem dieses Verhältnisses auf ganz verschiedene Weise zu lösen, einmal mit Hilfe der Platonischen Ideenlehre, zum anderen mit der Potenzenlehre. Dadurch, daß Schellings Philosophie des Absoluten der absoluteste Monismus ist, der je gedacht wurde, ist sie zugleich der größte Dualismus der Philosophiegeschichte. Der Monismus des Absoluten schlägt sich nieder in der unüberbrückbaren Kluft zwischen Absolutem und Endlichem, Sein und Nichtsein, Identität und Differenz. Eine Vermittlung zwischen dem Absoluten als absoluter Identität und der Erscheinung der Vielheit der endlichen Dinge kann es nicht geben bzw. gibt es nur um den Preis der Vernichtung des Endlichen. So schlägt der Dualismus von Absolutem und Endlichem in abstraktesten akosmistischen Monismus um, was zur Auflösung alles Endlich-Empirischen in Spekulation und apriorischer Verstandeskonstruktion fuhrt. Der Welt der Erscheinung der endlichen Dinge kann in einer solchen von der intellektuellen Anschauung angeleiteten Konstruktion nicht Genüge getan werden. Es ist das Problem aller rein positiven ontologischen Metaphysik, die Kluft zwischen abstraktem Absolutem und Endlichem nur durch Vernichtung des Endlichen zu überbrücken. Diese Grundantinomie tritt erstmals bei Parmenides auf und zeigt sich wieder bei Spinoza und Schelling.

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Das vernünftige Absolute

VI. Überlegungen zum Übergang von der Identitätsphilosophie zur Freiheits- und Weltalterphilosophie Für die Identitätsphilosophie hat sich folgende grundsätzliche Aporie ergeben: Einerseits überwindet sie das Problem der Selbstbewußtseins-Philosophie, die das Absolute mit der Abstraktion von der Subjektivität identifiziert und so letztlich in rein subjektiver Bewußtseinsimmanenz verbleibt, indem sie den Gedanken eines allem Selbstbewußtsein vorausliegenden Absoluten in Ansatz bringt, das einem absoluten Erkennen zugänglich ist, andererseits hält sie an einem Gedanken fest, der der Bewußtseinsimmanenz der Selbstbewußtseins-Philosophie entspricht: Sie kann das als unvordenkliches Sein angesetzte Absolute nur in der Immanenz der absoluten Vernunft entfalten. Die auf das 'Rätsel der Welt' zielende Differenz des Absoluten ist lediglich im Modus einer rein apriori verfahrenden Verstandeskonstruktion zu gewinnen. So wie die Identitätsphilosophie die 'Grenzlinie des Bewußtseins' überschreitet, muß der Neuansatz die 'Grenzlinie der Vernunft' transzendieren, will er der philosophischen Intention des Ausgangs vom Unbedingten gerecht werden. Die identitätsphilosophische Entdekkung der absoluten Vernunft erzeugt also neue Schwierigkeiten, die auf die grundsätzliche Problematik von Schellings philosophischem Programm verweisen, einerseits von einem über das Denken hinausgehenden Unbedingten ausgehen zu wollen, dieses aber nur im philosophischen Denken realisieren zu können. Es ist dies der grundsätzliche, fehlerhafte, weil nicht unhintergehbare Zirkel des Schellingschen Denkens. In der identitätsphilosophischen Phase, die durch Hegel mit auf den Weg gebracht wurde, trennen sich zugleich Schellings und Hegels Wege. Während Hegel die Aporie des Programms in seiner Logik der Vermittlung des absoluten Geistes überwindet, die das Unbedingte als reflexive Selbstbewegung des Denkens faßt, hält Schelling am Gedanken des unvordenklichen Seins eines ontologisch fundierten Absoluten fest. Schelling entwickelt seinen Ansatz weiter, ohne sein ursprüngliches Programm aufzugeben. Aus der philosophischen Konstellation, die zwischen Schelling und Hegel um 1800 in Jena bestand, und die dadurch gekennzeichnet ist, daß die Philosophie des Absoluten zwar von Hegel eingeleitet, von Schelling aber zur selbständigen Position gegenüber Fichte ausgearbeitet wurde, ging zugleich die Begriffsform von Hegels Logik und damit zugleich Hegels eigener spekulativ-dialektischer Idealismus

Von der Identitätsphilosophie zur Freiheits- und Weltalterphilosophie

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hervor. Die begrifflichen und theoretischen Zusammenhänge, die die Entwicklung von Schelling zu Hegels reifem spekulativem Idealismus zwischen 1802 und 1804 bestimmen, werden in Henrichs Skizze Andersheit und Absolutheit des Geistes (vgl. Henrich (1982), S. 142172) herausgearbeitet. Schelling hat zur eigentlichen Entwicklung des spekulativen Idealismus nach der Identitätsphilosophie keinen weiteren Beitrag zu geben vermocht. Seine spätere Philosophie tritt mit den für ihre Grundlage wesentlichen Zügen in den Theoriekreis zurück, der schon Schellings Frühphilosophie bestimmte. Das entscheidende Problem der Identitätsphilosophie ist, daß die Differenz des Absoluten in sich, aus der die Welt prinzipiiert werden soll, eine reine Vernunft- bzw. Verstandeskonstruktion ist, die die Welt dann nur als eine das Absolute nicht tangierende "quantitative Differenz" ihrer selbst denken kann. Die Ablösung der Identitätsphilosophie in der mit der Schrift Philosophie und Religion (1804) einsetzenden Phase erfolgt nicht primär aufgrund einer defizitären Statik, die sie dann im übrigen ihrerseits überwindet, sondern aufgrund der Einsicht, daß in der Identitätsphilosophie die Wirklichkeit nur durch und in der apriorischen Vernunft expliziert werden kann. Gefordert ist der Gedanke eines in sich distinkten Absoluten, das die Wirklichkeit ohne Rekurs auf die sie explizierende Vernunft zu prinzipiieren in der Lage ist. Schelling löst diese Forderung in der Freiheitsschrift mit der grundlegenden Unterscheidung von "Grund" und "Existenz", in der Weltalterphilosophie mit der Unterscheidung von "Natur" und "Freiheit" Gottes ein. Dabei greift Schelling auf die Distinktionsmomente der Subjekt-Objekt-Philosophie ebenso zurück wie auf die Genesis und die Dynamik, die nun aber in einem personalen Gottesbegriff verankert sind, dessen Voraussetzung wiederum das unvordenkliche Sein qua Indifferenz darstellt. Der Umbruch von Schellings Identitätsphilosophie, der in jener grundsätzlichen Aporie begründet liegt, macht sich vornehmlich in religionsphilosophischen Überlegungen über das Wesen des Absoluten bemerkbar, die sich nicht 1 ¿Inger in den vernunftmetaphysischen Ansatz der Identitätsphilosophie integrieren lassen. In der Schrift Philosophie und Religion (1804), die gemeinhin zur Umbruchszeit gerechnet wird, betont Schelling den Gedanken des "Abfalls" des Endlichen, dessen Möglichkeit in einem in sich differenten Absoluten gründet. In seinen späteren Schriften: Freiheitsschrift, Stuttgarter Privatvorlesungen, Weltalter, Erlanger Vorlesung und Philosophie der Mythologie und der Offenbarung findet eine immer stärkere Verschmelzung von idealistischer Spekulation und christlicher Theologie

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statt. Die Probleme sind: Die spezifisch menschliche Freiheit in ihrem Verhältnis zu Gott; der spezifisch christliche Gottesbegriff; die Geschichtlichkeit Gottes und seiner Freiheit gegenüber der Welt etc.29 Durch die immer mehr einsetzenden theosophischen Spekulationen wird schließlich in der Weltalterphilosophie der ganze vernunftmetaphysische Ansatz der Identitätsphilosophie und seine Weiterentwicklung in der Freiheitsschrift zurückgenommen. Mit der Konzeption des Absoluten als unvordenklichem Daßsein der Vernunft in der Spätphilosophie tritt das Rätsel der unvordenklichen Wirklichkeit in den Vordergrund. Schellings Philosophie klingt in einer positiven Philosophie und d.h. in einem metaphysischen Empirismus aus.

29

Über den Themenwechsel im Übergang von der Identitäts- zur Freiheits- und Weltalterphilosophie schreibt X. Tilliette: "Ce que appelle maintenant positif, positivité, c'est la vie, la personnalité, avec ses drames, ses conflits, ses contrariétés, la vitalité puissante qui bouge et agit, patit et réagit à la maladie, se déploie et se régénère - la vie tumultouse et ardente. Ce n'est plus l'organisme harmonieux des Idées, la béaté immuable, la tranquillité dans l'ordre, le contour précis de la forme parfaite" (X. Tilliette (1970), Bd. 1, S. 532). Und weiter heißt es: "L'impulsion est donnée [in der Freiheitsschrift] à une philosophie qui se regroupe sur les termes jusqu'alors latéreux (dans l'exécution): l'homme, l'histoire, la personnalité, la volonté, la vie, l'amour" (ebd., S. 536).

5. Kapitel Freiheits- und Weltalterphilosophie: Vernunftsystem, Freiheit und Geschichte In der mittleren Philosophie Schellings in der Zeit von 1809 - 1827 brechen die internen Schwierigkeiten des Identitätssystems auf, und zwar in einer Weise, daß das Ganze der Schellingschen Philosophie in Gefahr gerät. Wir sind Zeugen von gigantischen Bemühungen Schellings um ein in sich konsistentes System, die Schelling aber immer wieder an den philosophischen Abgrund bringen. Zuerst finden wir in der Freiheitsschrift einen neuen Systementwurf, der zunächst durch die nebensächliche und vereinzelt dastehende Frage nach der spezifisch menschlichen Freiheit motiviert scheint, aber wesentlich damit zusammenhängt, daß mit der menschlichen Freiheit das Problem des Bösen und dessen Vereinbarkeit mit dem göttlichen System gegeben ist. Das Problem der Integration des Bösen in das göttliche Vernunftsystem zeigt, daß das Ganze des Vernunftsystems nicht mehr innerhalb dieses Systems erfaßt werden kann. In der Philosophie der Weltalter, der Geburtsstätte der Spätphilosophie, kommen neue Überlegungen zu Wesen und Aufgabenbestimmung der Metaphysik herein, in denen die Vernunft als das Prinzip der Philosophie mehr und mehr ihre Gültigkeit verliert. Vernunft wird auf ihren irrationalen, inkonsistenten, ja wahnhaften Grund transparent gemacht. Das Nebeneinander von Vernunft, Wissenschaft, Dialektik und intellektueller Anschauung wird abgelöst durch den Vorrang der Ekstasis - dem Nachfolgebegriff der intellektuellen Anschauung - vor der Vernunft und der Dialektik. In der Erlanger Vorlesung tritt schließlich die Ekstase vollständig an die Stelle von Vernunft und Dialektik. Damit stellt sich aber die Frage, wie sich angesichts dieses Befundes Philosophie noch argumentativ ausweisen kann. Schellings Lösungsversuch dieses Problems fuhrt zu seiner Spätphilosophie.

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Α. Die Freiheitsschrift: Vernunftsystem und menschliche Freiheit I. Der philosophische Ansatz der Freiheitsabhandlung Der allgemeine Zweck von Schellings Schrift Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809) ist es, das Wesen der spezifisch menschlichen Freiheit zu begreifen. Dieses Vorhaben ist etwas ganz Neues in der Tradition des Deutschen Idealismus. Die Freiheitsabhandlung versucht vornehmlich, den Mangel der unzureichend ausgearbeiteten Endlichkeitstheorie in der Identitätsphilosophie zu beheben. Es gibt keine Schrift, in der Schelling dem Negativen des Endlichen so intensiv ins Auge sieht wie in der Freiheitsabhandlung. Mit dieser Thematik verschiebt sich der Kern und die Mitte von Schellings Philosophie insgesamt um ein weiteres Mal. Obgleich Schelling seinen leitenden Grundgedanken nicht aufgegeben hat, erscheint seine Philosophie im ganzen und in ihren Grundzügen wiederum in einem veränderten Licht. Hegels Urteil über die Freiheitsschrift - "Eine besondere Abhandlung über die Freiheit ist tiefer spekulativer Art; aber sie betrifft nur diesen einen Punkt" (Hegels Werke 20, 444) - trifft daher nicht zu. Hegel verkennt, daß mit der Freiheitsproblematik, die hier zunächst nur die menschliche Freiheit anzugehen scheint, Schellings Philosophie - wieder - vom Freiheitsgedanken im ganzen erfaßt wird. Nach Abhandlung der menschlichen Freiheit überträgt Schelling den Freiheitsgedanken in den Weltalterentwürfen und in der Erlanger Vorlesung auf das Kerntheorem seiner Philosophie, auf die Theorie des Absoluten. Daß beides zusammengehört, geht schon aus dem "Vorbericht" der Freiheitsabhandlung hervor. Schelling knüpft hier die Untersuchung der Freiheitsabhandlung an ein Problem der Schrift Philosophie und Religion (1804), das in dieser "undeutlich" geblieben war. Ohne Zweifel ist damit die Lehre vom "Abfall" gemeint, die nun als Theorie der menschlichen Freiheit expliziert wird. Ebenfalls im "Vorbericht" gesteht Schelling ein, daß er "ein fertiges, beschlossenes System" bis jetzt nicht aufgestellt hat (VII, 334). Diese Selbstkritik ist ein deutliches Indiz dafür, daß sich Schelling seiner Schwierigkeiten in systematischer Hinsicht deutlich bewußt war. In der Freiheitsabhandlung bemüht sich Schelling, nun "über das Ganze des Systems tiefere Aufschlüsse als alle mehr partiellen Darstellungen" (VII, 334) bisher zu gewinnen. Dabei nimmt der Begriff der menschlichen Freiheit einen "der herrschenden Mittelpunkte des Systems" (VII, 336) ein. Offen-

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sichtlich scheinen Schelling seine bisherigen Systementwürfe nicht befriedigt zu haben.

1. System und Freiheit Für die Untersuchung über das Wesen der menschlichen Freiheit stellt sich Schelling in der Einleitung (VII, 336-357), deren Zweck die Berichtigung wesentlicher Begriffe der Philosophie ist, zunächst zwei Aufgaben: Erstens soll der Begriff der Freiheit angegeben werden und zweitens soll der Zusammenhang dieses Begriffs mit dem "Ganzen einer wissenschaftlichen Weltansicht" (VII, 336) angeführt werden, welches für Schelling ein "System" (ebd.) ist. Und zwar kann der Begriff der Freiheit nur im Ganzen des Systems bestimmt werden, erstens weil dies bei allen Begriffen der Fall ist, und zweitens weil der Begriff der Freiheit ein spezifischer Begriff ist. Bei der Erörterung dieser Aufgaben ergibt sich das Problem, daß Freiheit und System unvereinbar zu sein scheinen, ein System der Freiheit also unmöglich ist. Denn entweder wird am System festgehalten, dann entfällt Freiheit, oder es wird an der Freiheit festgehalten, dann ist auf das System zu verzichten. Ob ein System der Freiheit möglich ist, ist eine der Hauptschwierigkeiten der Freiheitsabhandlung. Sie wird in der Einleitung auseinandergelegt, d.h. wesentliche Begriffe und Schwierigkeiten erhalten hier ihre erste Klärung. System und Freiheit müssen nur dann vereinbar gemacht werden, wenn sie mit gleicher, unabweisbarer Notwendigkeit angenommen werden müssen. Trotz bzw. wegen ihrer Widersprüchlichkeit müssen sie dann vereinigt werden. Der Widerstreit von Freiheit und System (Notwendigkeit) ist für Schelling der innerste Antrieb der Philosophie, wobei der Gegensatz von Freiheit und System die höhere Formel für die Freiheitsproblematik ist als der traditionelle neuzeitliche Gegensatz von Freiheit und Natur (vgl. den Beginn des "Vorberichts" (VII, 333)).1 Bereits die Frühphilosophie und dann die Identitätsphilosophie haben diesen neuzeitlichen Gegensatz aufgelöst mit dem Nachweis, daß die Natur geisthaft und der Geist naturhaft ist, daß also zwischen beiden Entitäten kein prinzipieller Gegensatz besteht. Die philosophische Frage nach dem Verhältnis der Freiheit zu ihrem

Die Geschichte der Freiheitsfrage in der neuzeitlichen Philosophie seit Descartes bis zum Deutschen Idealismus ist durch den descartesschen Gegensatz von res extensa und res cogitane geprägt.

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Anderen wandelt sich jetzt zur theologischen Frage, wie die innere Unabhängigkeit des Menschen von Gott zu begreifen ist. Freiheit rückt ganz aus dem Gegensatz zur Natur heraus und wird in den Bereich des Verhältnisses Mensch-Gott gestellt. 2. Systemfrage und Pantheismus und Schellings Beantwortung dieser Frage mit Hilfe des "Gesetzes der Identität" und der "Copula" Die Frage nach der Möglichkeit des Systems der Freiheit wird von Schelling in Ansatz gebracht, indem er verschiedene Formen des philosophischen Pantheismus thematisiert. Ausgangspunkt dieser Erörterung ist die pantheismuskritische Behauptung Jacobis, das konsequente System sei Spinozismus, dieser sei in sich Pantheismus und Pantheismus sei gleichbedeutend mit Fatalismus. Schellings Kritik der Jacobischen Pantheismuskritik sichtet zunächst verschiedene Deutungsmöglichkeiten des Pantheismus, wobei Schelling vornehmlich einen "rechtverstandenen" von einem "mißverstandenen" Pantheismus scheidet.2 Die allgemeine Grundbestimmung eines jeden Pantheismus ist die Behauptung der Immanenz der Dinge in Gott (Gott ist Alles). Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Grundbestimmung des Pantheismus stellt Schelling seine These auf, daß Freiheit um den Preis des Widerspruchs nicht außerhalb Gottes gedacht werden kann. Das "lebendigste Gefühl der Freiheit" (VII, 339) fordert Pantheismus; darin besteht nach Schelling das eigentliche Wesen des Pantheismus und seine Notwendigkeit.3 Schelling geht von der landläufigen Vorstellung der Freiheit aus, die die "meisten" haben. Freiheit bedeutet danach die "unbedingte Macht" der Spontanität, d.h. die Fähigkeit, eine Handlung von selbst anfangen zu können. Neben dieser Freiheit qua "unbedingter Macht" 2

Die Differenz zwischen Jacobi und Schelling, wie sie im Streit von 1811/12 öffentlich ausgetragen wird (vgl. F.W.J. Schellings Denkmal der Schrift von den göttlichen Dingen etc. des Herrn Friedrich Heinrich Jacobi (1812) (VIII, 19-136)) erörtern F. Wolfinger (1981), M. Brüggen (1967/68) und W. Weischedel (1969). Schellings Disput mit Jacobi vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, daß er seine philosophischen Grundgedanken über ihn gewonnen hat.

3

Gegen den promethischen Spinozismus individueller Selbstverabsolutierung der Frühschriften (vgl. Briefe) hebt Schelling in der Freiheitsschrift erneut auf die ethische-praktische Verifikation eines authentischen Spinozismus ab, wie M. Wegenast hervorhebt (vgl. M. Wegenast (1990), S. 122).

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gibt es aber noch eine andere Tatsache, die "Allmacht" Gottes. "Die meisten, wenn sie aufrichtig wären, würden gestehen, daß, wie ihre Vorstellungen beschaffen sind, die individuelle Freiheit ihnen fast mit allen Eigenschaften eines höchsten Wesens im Widerspruch scheine, z.B. der Allmacht. Durch die Freiheit wird eine dem Princip nach unbedingte Macht außer und neben der göttlichen behauptet, welche jenen Begriffen zufolge undenkbar ist. [...] Absolute Kausalität in Einem Wesen läßt allen andern nur unbedingte Passivität übrig" (VII, 339). Die Freiheit in ihrer Unbedingtheit negiert Gott in seiner Unbedingtheit und umgekehrt. Nun aber ist Gott also negiert sich die Freiheit in ihrer Unbedingtheit selbst. Wenn sich nun beides nicht begreifen läßt, beides aber behauptet werden muß, so bleibt nur ein "Ausweg" (VII, 339), daß der Mensch nicht "neben" (praeter) oder "außerhalb" (extra) Gottes frei ist, sondern nur in Gott. Die pantheistische Immanenz der Dinge in Gott stellt sich als Erfordernis des durchdachten Widerstreits zwischen menschlicher Freiheit und göttlicher Allmacht dar. Die Freiheit des Menschen soll erhalten, aber zugleich in das göttliche Wesen hineingenommen werden. Diesem Gedanken liegt letztlich der spekulative Gedanke von Einheit und Differenz von Gott und Welt/Mensch zugrunde. Als Freiheit ist die Freiheit etwas Unbedingtes. Als Freiheit des Menschen etwas Endliches. Menschliche Freiheit läßt sich mithin mit der Formel 'endliche Unbedingtheit' umschreiben. Die Frage ist also die nach der Möglichkeit einer bedingten Unbedingtheit, nach einer abhängigen Unabhängigkeit. Schellings Begriff dafür ist: der "Begriff einer derivirten Absolutheit" (VII, 347). Der Grundsatz des Pantheismus lautete: Gott ist alles oder alle Dinge sind in Gott. Daraus können zwei weitere verschiedene Auffassungen entstehen. Die atheistische Version des Pantheismus behauptet die Identifikation Gottes mit den Dingen in der doppelten Form a) Alles ist Gott und b) jedes einzelne Ding ist Gott. Wenn Alles Gott ist, bedeutet das, daß die einzelnen Dinge in ihrer Zusammenfassung gleichgesetzt werden mit Gott. Gott ist dann nur die Summe der endlichen Dinge, d.h., Gott selbst ist eigentlich nichts. Nach Schelling widerstreitet diese Auffassung deutlich der Spinozas, dem sie zugeschrieben wird. Dabei ist er wesentlich an einer Korrektur der üblichen Interpretation Spinozas interessiert. Spinoza habe die endlichen Dinge von Gott "toto genere" (VII, 340) geschieden; ihm zufolge seien die Dinge, was sie sind, nur als nach einem Anderen, als Folge des Grundes. Aus einer bloßen Zusammenfassung von lauter Abgeleitetem ließe sich jedoch nichts Ursprüngliches gewinnen. Die-

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se Version des Pantheismus ist also inkonsistent. Seit dem Pantheismusstreit gilt der Spinozismus als der klassische Pantheismus und daher ist, wo Spinozismus gesagt wird, Pantheismus gemeint. Schelling will gerade an Spinoza zeigen, daß nicht so sehr der Pantheismus in ihm, sondern die zugrundeliegende Ontologie die Gefahr des Fatalismus, der Leugnung der Freiheit, mit sich bringt (vgl. VII, 349). Die Auffassung, wonach jedes einzelne Ding selbst Gott ist, nennt Schelling eine "noch abgeschmacktere". Jedes Ding ist da ein "modificirter [...] Gott" (VII, 341). Bei dieser Version des Pantheismus handelt es sich um einen primitiven Fetischismus, bei dem zumeist verkannt wird, daß ja schon mit der Bestimmung "modificirter", "abgeleiteter" Gott Gott selbst geleugnet und an dessen Stelle endliche Dinge gesetzt werden. Die akosmistische Version des Pantheismus, die behauptet, die Dinge seien alle Nichts, führt zur Aufhebung aller Individualität. Auch diese Deutung ist inkonsistent. Wenn alle Dinge nichts sind, dann ist es erstens unmöglich, sie mit Gott zu vermischen, und zweitens verflüchtigt sich der ganze Begriff in nichts, da er sich selbst auflöst. Wenn Gott Alles sein soll und Alles nichts ist, dann ist Gott selber nichts. - Alle drei Deutungen mißverstehen den Pantheismus. Die beiden ersten zersetzen den Gottesbegriff, so daß in keinem Sinne mehr von einem Theismus gesprochen werden kann. Die dritte Deutung beseitigt alles Seiende außer Gott, so daß von daher die Rede vom Pantheismus sinnlos erscheint. Schellings entscheidendes Argumentationspotential gegen den mißverstandenen Pantheismus findet sich in der Zwischenbetrachtung über das Identitätsgesetz und das Wesen der Kopula.·* Der tiefere Grund dafür, daß der Pantheismus mißdeutet wird, liegt "in dem allgemeinen Mißverständniß des Gesetzes der Identität oder des Sinnes der Copula im Urtheil" (VII, 341). Wieder erscheint als entscheidender Angelpunkt der Philosophie die Spekulation über das Wesen der Identität. Das Gesetz der Identität erweist die menschliche Freiheit als "derivirtetn] Absolutheit" (VII, 347).

Die Kopula-Theorie der Freiheitsschrift findet sich im Ansatz schon in den Aphorismen über die Naturphilosophie (1806) (VII, 212). Mit der neuen Konzeption von Identität als Vermittlung reagiert Schelling auf Hegels Kritik an der identitätsphilosophischen absoluten Identität in der Phänomenologie des Geistes (vgl. Hegels Werke 3, 22). Die Analyse des menschlichen Freiheitsbegriffs nötigt Schelling dazu, eine "unitas multiplex" zu denken.

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Der Sinn der Kopula im Urteil wird von Schelling als Identität von Subjekt und Objekt ausgelegt. Daher ist das Identitätsgesetz wesentlich zur Erörterung der Kopula. Schelling vertritt also eine Identitätstheorie des Urteils. Diese Identität muß aber richtig verstanden werden. Der unzureichende Begriff der Identität, so betont Schelling, ist der der "Einerleiheit", "Selbigkeit" oder "Gleichheit". Der richtig verstandene Begriff der Identität meint die Zusammengehörigkeit von Verschiedenem in Einem, die Einheit von Differenten, wobei das "ist" als das Eine von Schelling zugleich als "Grund" der Möglichkeit des Verschiedenen als seiner "Folge" gedeutet wird. Dies läßt sich als Ontologisierung von Denk- und Urteilsverhältnissen auffassen. 5 Schelling greift hier die Urteilstheorie von Leibniz auf, die sich als Inklusionstheorie darstellt. Das Verhältnis von Subjekt und Prädikat wird da als ontologisches Verhältnis von Subsistenz und Inhärenz bzw. von Antecedens und Consequens gefaßt. In dem Satz "das Vollkommene ist das Unvollkommene" ist der Sinn folgender (vgl. VII, 341): Das Vollkommene ist der Grund der Existenz des Unvollkommenen. Die Identität im Verhältnis von Subjekt und Prädikat wird von Schelling als Verhältnis von Grund und Folge interpretiert. Der Identitätssatz ist in seinem ontologischen Kern daher der Satz des Grundes. Das "ist" ist Träger einer subsistierenden Bewegung des 'Abfalls' des Subjekts in das mindere Sein des Prädikats. Sie zeichnet das schöpferische Verhältnis Gottes zum Endlichen n a c h . 6 Daher 5

Heidegger benennt diese Ontologisierung in seiner Schrift Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Rückgriff auf Leibniz' Urteilstheorie folgendermaßen: "das Sein des mit dem Prädikat Gemeinten [ist enthalten] in dem mit dem Subjekt gemeinten Seienden" (M. Heidegger (1978), S. 44).

6

Schöllings Überlegungen zur Identität/Kopula knüpfen in variierender Form an die Bandtheorie der Fichtestreitschrift von 1806 an, in der das Verhältnis des Absoluten zum Endlichen auf die Formel gebracht wird: "dieses Band eines Wesens als Eines mit ihm selbst, als einem Vielen" (VII, 55). In den Stuttgarter Privatvorlesungen von 1810 nimmt Schelling seine Identitätsspekulationen mit der Theorie der Duplizierung des Absoluten, der Verdoppelung der Identität, wieder auf (vgl. VII, 424ff.). Im Weltalterentwurf von 1811 analysiert Schelling erneut die Urteilsstruktur als eine Identität der Identität und Nichtidentität (vgl. WA I, 28). Die absolute Identität selbst erscheint hier als Identitätspunkt der Prinzipien, im reinen A=B, in welchem weder A noch Β überwiegen. Das Urteil Ά ist B' besagt: "das, was A ist, ist das, tuas auch Β ist, wobey sich zeigt, wie das Band sowohl dem Subjekt als dem Prädikate zu Grunde liegt" (ebd.). Die Kopula liegt sowohl dem Subjekt als auch dem Prädikat zugrunde. Das Urteil lautet daher eigentlich: Dasselbe ist Subjekt und Prädikat. Vollständig müßte das Urteil Ά ist B' also folgendermaßen lauten: Ά ist X und X ist B, also A ist B\ Im Urteil ist somit schon der Schluß vorgebildet. Die Spekulationen über die Identität hat Schelling nie systematisiert und zum Abschluß gebracht. Eine eingehende Erörterung dieser Thematik ist ein Desiderat der Forschung.

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muß das Gesetz der Identität in höherem Sinne verstanden werden und seine Anwendung auf die Gegenstände der Metaphysik, Gott, Welt und Mensch, finden. Hier zeigt sich: Gott läßt als Grund den Menschen als Folge sein. Damit ist der Mensch abhängig. Das Abhängige hängt von seinem Grund aber nur nach der Seite seines Werdens ab, nicht in dem, was es wird. Denn wäre das Abhängige kein Selbständiges, sondern ginge in der Relation 'Abhängigkeit' auf, wäre ja die Abhängigkeit ohne Abhängiges, eine Folge ohne Folgendes, was widersprechend ist. Das Abhängige kann also nur ein frei handelndes, eigenständiges, insichseiendes Wesen sein. Diese Überlegung macht deutlich, daß das abhängige Unabhängige, die "derivirte[n] Absolutheit", nicht widersprechend ist, sondern den "Mittelbegriff der ganzen Philosophie" (VII, 347) ausmacht.

3. Die Grenze von Idealismus und Naturphilosophie Der rechtverstandene Pantheismus kann in Schellings Augen nur Idealismus sein, denn nur der Idealismus kann als "System der Freiheit" gedacht werden. Der Idealismus als System, der durch Fichtes Wissenschaftslehre begründet und von Schellings Naturphilosophie ergänzt wurde, ist in Schellings System des transzendentalen Idealismus und im Identitätssystem zur Ausführung gelangt. Die naturphilosophische Ergänzung des Idealismus führt dazu, daß die Natur als ein in Stufen Zu-sich-selbst-Kommen der Freiheit verstanden wird. Der Satz 'Ichheit ist Alles' erfährt seine Umkehrung in dem Satz 'Alles ist Ichheit' (vgl. VII, 350f.). Die Natur ist nichts Totes, sondern lebendig, in sich verschlossene, unentfaltete Freiheit. Die Naturphilosophie ist innerhalb der ganzen Philosophie der "reelle Theil" (VII, 350) der Philosophie, die Transzendentalphilosophie, die Philosophie des Geistes, der "ideelle Theil" (ebd.). Beide bilden im Identitätssystem eine Einheit, "Wechseldurchdringung des Realismus und Idealismus war die ausgesprochene Absicht seiner Bestrebungen" (ebd.). Aber das erreichte Identitätssystem bleibt grundsätzlich Idealismus. Schelling geht in der Freiheitsschrift zunächst dadurch über den Intellektualismus der Identitätsphilosophie hinaus, daß er der Ontologie im Rückgriff auf Leibniz' Monadologie eine Trieb- und Willensmetaphysik unterlegt: "Es gibt in der letzten und höchsten Instanz gar kein anderes Seyn als Wollen. Wollen ist Urseyn" (ebd.). Sein ist in seinem Wesenskern Wollen. Mit dem ontologischen Wollensbegriff

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wird der Begriff der Freiheit zu einer allgemeinen Bestimmung erweitert, die sich auf Natur und Geist erstreckt. Schelling geht damit eine Synthese zwischen recht verstandenem Spinozismus und von Leibniz inspirierter Willensmetaphysik ein und löst damit den statischen Substantialismus der Identitätsphilosophie wieder in Tätigkeitsstrukturen auf. Naturphilosophie und Idealismus sind zwar Systeme der Freiheit, haben aber nur den allgemeinen und formellen Freiheitsbegriff erreicht und noch nicht die Tatsache der menschlichen Freiheit begriffen. Mit der Frage nach der menschlichen Freiheit kommt der Idealismus in seiner bisherigen Ausführung an seine Grenze: "Um also die specifîsche Differenz, d.h. eben das Bestimmte der menschlichen Freiheit, zu zeigen, reicht der bloße Idealismus nicht hin" (VII, 352). 4. Schellings Begriff der spezifisch menschlichen Freiheit: die Freiheit zum Guten und Bösen "Der Idealismus gibt nämlich einerseits nur den allgemeinsten, andererseits den bloß formellen Begriff der Freiheit. Der reale und lebendige Begriff aber ist, daß sie ein Vermögen des Guten und des Bösen sey" (VII, 352). Und Schelling fügt hinzu: "Dieses ist der Punkt der tiefsten Schwierigkeit in der ganzen Lehre von der Freiheit" (ebd.). Schelling bestimmt die spezifisch menschliche Freiheit als Vermögen zum Guten und Bösen. Damit nimmt der Freiheitsbegriff eine andere Wendung. Freiheit ist nicht nur libertas est propensio in bonum, wie Descartes sagt; es kommt das Vermögen zum Bösen hinzu. Das Böse kommt nach Schelling aber nicht zum Freiheitsbegriff hinzu, um ihn zu ergänzen, vielmehr ist der Zwiespalt zwischen Gut und Böse das, was die menschliche Freiheit wesentlich ausmacht (vgl. Heidegger (1971), S. 116ff). Der negative Begriff des Bösen wird damit zum Leitbegriff für den Hauptteil der Untersuchung. Eine Metaphysik des Bösen ist die Grundlegung zu einem onto-theologisch verfaßten System der menschlichen Freiheit, denn sie gibt den Anstoß für die Frage nach dem göttlichen Sein. Wie kann die Negativität des Bösen mit dem göttlichen Sein zusammenstimmen? Der Skandal des Bösen muß philosophisch verarbeitet werden. Zunächst erörtert Schelling verschiedene philosophische Möglichkeiten des Zusammenstimmens des Bösen in philosophischen Systemen 1. der Immanenz, 2. des Concursus (Begleiterschaft Gottes) und

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3. der Emanation. Das Ergebnis der Untersuchung ist, daß die bisherigen Systeme nicht in der Lage sind, bei Anerkennung des Bösen ein konsistentes System zu begründen. Damit wird auch der Pantheismus im bisherigen Sinne fragwürdig. Es entsteht für Schelling also die Aufgabe eines Systems, das das Böse ohne Abstriche einbegreift, und das somit die spezifisch menschliche Freiheit ermöglicht und erklären kann. Neben der Frage, wie die Wirklichkeit des Bösen mit dem System in Einklang zu bringen ist, stellt sich die Frage nach der Wirklichkeit des Bösen selbst. In der traditionellen Metaphysik wird das Böse als Mangel, als ein Fehlendes bzw. als ein "geringere[r] Grad der Perfektion" (VII, 354), als Nicht-Gutes, kurz: als Nichtseiendes gefaßt. Diese Bestimmung erklärt nach Schelling das Böse nicht. Man könnte nun sagen (vgl. VII, 345), daß das Positive, das von Gott kommt, die Freiheit selbst ist, die gegenüber dem Bösen und dem Guten indifferent sei. Doch die Freiheit zum Guten und Bösen ist nicht libertas indifferentiae, eine Freiheit, die gegenüber beidem indifferent, unentschieden wäre, vielmehr ist die menschliche Freiheit die Entschiedenheit und das Verurteiltsein zum Guten und Bösen. Menschliche Freiheit wird von Schelling in all ihrer Negativität ausgelotet. Die Frage nach dem Ursprung des Bösen führt zur Gefahr eines Dualismus von gutem und bösem Prinzip: "[...] denn ist die Freiheit ein Vermögen zum Bösen, so muß sie eine von Gott unabhängige Wurzel haben" (VII, 354). Diese Gefahr einer "Selbstzerreißung und Verzweiflung der Vernunft" (ebd.) wird von Schelling abgewendet mit dem Hinweis auf den Charakter der Vernunft als dem Vermögen zur Einheit. Wurde bisher gesagt, daß der richtig verstandene Pantheismus Freiheit miteinschließt, und der Ursprung der Freiheit aus Gott aufgezeigt, so wird mit der Realität des Bösen ein so verstandener Pantheismus fragwürdig. Die Lösung des Problems liegt offenbar in folgender philosophischer Überlegung: Wenn Freiheit als Vermögen des Bösen eine von Gott unabhängige Wurzel haben muß, andererseits Gott selbst der Grund von Allem ist, dann kann der von Gott unabhängige Grund des Bösen nur in Gott selbst sein. Es muß also in Gott etwas geben, was nicht Gott selbst ist. - Gegen den Gott der Idealisten will Schelling Gott ursprünglicher begreifen: "Gott ist etwas Realeres als eine bloß moralische Weltordnung, und hat ganz andere und lebendigere Bewegungskräfte in sich, als ihm die dürftige Subtilität abstrakter Idealisten zuschreibt" (VII, 356). Gegen den idealisti-

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sehen Gott als 'actus purus' des Geistes, geht es Schelling um die Wirklichkeit Gottes.7 Die Polemik gegen einen bloß moralischen Gott stand schon im Mittelpunkt der Briefe, nur daß er ihn jetzt generell dem Idealismus zuordnet, zu dem er auch sein eigenes Identitäts system zählt. II. Die fur Schellings Freiheitsabhandlung grundlegende Unterscheidung des Wesens in Grund und Existenz als Ermöglichung des Bösen und damit der menschlichen Freiheit Leitfrage der Hauptteils der Freiheitsschrift ist die Frage nach der Möglichkeit des Bösen. Die Metaphysik des Bösen übernimmt die Aufgabe einer Grundlegung des ontotheologischen Systems der menschlichen Freiheit. Dabei ist die Freiheitsabhandlung nicht nur Ontotheologie, sondern gleichsam eine Einheit von Theologie (Gott), Ontologie (Welt) und Anthropologie (Mensch) - eine ontotheologisch begründete Anthropologie. Die Ermöglichung des Bösen wird erhellt im Rückgang auf die universalontologische Unterscheidung des (göttlichen) Wesens in Existenz und Grund der Existenz. Um diese Unterscheidung zu verstehen, müssen wir eine Begriffsklärung von Wesen, Grund und Existenz vornehmen. "Wesen" ist hier nicht gemeint im Sinne von begrifflichem Wesen einer Sache, sondern im Sinne von "Lebewesen", "Hauswesen"; es ist die in sich Bestand habende Substanz des Seienden. An jedem substanzhaften Seienden muß unterschieden werden sein "Grund" und seine "Existenz". "Grund" ist hier nicht im Sinne von ratio, von logischem Grund mit dem Gegenbegriff der logischen Folge gemeint. Schelling nimmt hier die antike Denkweise auf. Grund bedeutet hier Grundlage, Unterlage, Basis (hypokeimenon). Auch Existenz hat hier nicht die übliche Bedeutung von Vorhandenheit. Existenz ist das Existierende in der Bedeutung des Aussichheraustretenden, Sich-Offenbarenden. Als Existierendes ist das Seiende es selbst. Existenz hat hier also die Bedeutung von "Subjektivität".8 7

Hervorzuheben ist, daß Schelling damit gegen das Höchste des Idealismus, den idealistischen Gott als reinem Geistwesen, der dem aristotelischen Gott als "sich selbst denkendem Denken" korrespondiert, polemisiert.

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Schelling verbindet hier die antike und die moderne Denkweise von Subjekt. Die Antike denkt Subjekt als das hypokeimenon, als das, was zugrunde hegt, die Grundlage (lat.: subiectum). Die Moderne versteht das Subjekt seit Descartes als "Ich", so daß Schelling dem antiken Begriff des Subjekts qua hypokeimenon den

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Beide universalontologische Momente sind zugleich die Gesetze des Werdens Gottes zu seinem Gottsein. Es ist einer der Grundgedanken Schellings ab der Freiheitsabhandlung, daß die Wirklichkeit Gottes in seiner Persönlichkeit nicht von Anfang an ist, sondern genetisch begründet ist.9 Wie gehören Grund und Existenz im Falle des Werdens Gottes zusammen? Das Vorhergehen des Grundes vor der Existenz ist weder ein zeitliches noch ein logisches Prius, insofern besteht wechselseitige Priorität. Der Grund ist vielmehr dem Range nach niedriger als die Existenz, die aber des Grundes zu ihrem Sein bedarf. Die Wirklichkeit Gottes hat also eine innere Geschichte hinter sich. Gott als der Existierende ist der absolute Gott oder Gott als "Er Selbst" (VII, 359), Gott selbst. Gott als Grund seiner Existenz 'ist' noch nicht Gott als er selbst. Trotzdem ist Gott auch Grund. Der Grund in Gott ist zwar ein Unterschiedenes von Gott, aber doch ein "unabtrennliches" (VII, 358). Es ist der Grund zu seinem Selbstsein. Dieser Grund ist die "Natur" (ebd.) in Gott. Gott als Grund übernimmt die Aufgabe, in der Weise der Natur das Selbstsein Gottes zu begründen. "[...] Natur im allgemeinen ist daher alles, was jenseits des absoluten Seyns der absoluten Identität liegt" (VII, 358). Mit dem Grundbegriff hat Schelling den identitätsphilosophischen Hauptbegriff der absoluten Identität auf einen fundamentaleren hin transzendiert. Beide Monente sind die Gesetze der Genese Gottes zu seinem Gottsein und gehören untrennbar zusammen. Gott oder das Absolute ist fortan in sich distinkten Wesens.

III. Der Ansatz der schöpfungstheologischen Anthropologie Das Gottesgeschehen ist unterschieden in die Momente: a) das innere Leben in Gott, b) den Schöpfungsprozeß selbst, c) die Menschwerdung, d) die Unterscheidung von Eigenwillen und Universalwillen als Möglichkeitsbedingung des Bösen im Menschen und e) die Darstellung der Wirklichkeitsbedingung des Bösen in der Erhebung

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dernen Begriff von Subjekt qua Existenz und Subjektivität gegenüberstellt. Beide Begriffe von Subjekt sind unterschieden, jedoch auch 'identisch'. Vgl. zu Schellings Unterscheidung von "Grund" und "Existenz" auch die erhellenden Ausführungen Heideggers (Heidegger (1971), S. 128ff.). Solche metaphysischen Spekulationen um die geschichtliche Genese Gottes bzw. des Absoluten bilden das zentrale Kernstück der Weltalterphilosophie ab 1811. Sie sind Zeugnis von Schellings Hinwendung zur Theosophie Böhmes und zur Theogonie Hesiods. Schon in der Freiheitsschrift spricht er weitgehend die Sprache der Theosophie.

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des Eigenwillens über den Universalwillen. Diese Ausführungen gehören zu den dunkelsten, aber auch zentralsten der ganzen Schrift, weil in ihnen das Zusammenspiel von "Grund" und "Existenz" entwickelt wird. Sie seien daher in ihrer Systematik dargestellt.10 a) Der Grund der Existenz macht sich in Gott als "Sehnsucht" (VII, 359) bemerkbar. Die Sehnsucht sehnt sich nach der Einheit von Grund und Existenz. Gleichursprünglich mit der Sehnsucht des Grundes tritt die innere reflexive Vorstellung Gottes ein. Die Vorstellung begreift Schelling als das "Wort", das "Aussprechliche" der Sehnsucht. Sie "ist das erste, worin Gott, absolut betrachtet, wirklich ist, obgleich nur in sich selbst" (VII, 361). Aufgrund seiner reflexiven Vorstellung ist Gott "ewiger Geist". Gott "empfindet" in sich das "Wort" und zugleich die "ewige Sehnsucht". Geist ist also nicht nur reine Intelligibility, sondern Einheit von Grund und Existenz Gottes. Zum Geist gehört auch der NaturGrund. Andererseits ist auch der Geist nicht das Höchste. Er ist von der "Liebe" bewogen. Die Liebe ist das im Geist waltende Wesen. Schelling nimmt in seinen Geistbegriff ein Hölderlinsches Moment auf, das ihn intersubjektiv erweitert. Der von der Liebe bewogene Geist "spricht das Wort aus" (VII, 361). So ist er das "Ausgesprochene". Mit dem Aussprechen des Wortes erhebt sich der dunkle NaturGrund, das Regellose zur Einheit. Im Willen des Geistes geht der Wille des Grundes, welcher der Gegenwille zum Willen des Verstandes ist, eine Einheit ein. Schelling gestaltet den Geistbegriff mit Begriffen der Willensmetaphysik aus. In dem Zusammentreffen des einheitstiftenden mit dem in sich zurückstrebenden Willen des Grundes entsteht ein "freischaffender und allmächtiger Wille" (VII, 361). Der Wille wird ein "bildender". Mit dem schaffenden Willen des Geistes beginnt die Schöpfung als Welterzeugungsprozeß. b) Der Schöpfungsprozeß stellt sich als Wirklichkeit des principiums individuationis dar. Die Schöpfung hebt an mit dem "Aussprechen des Wortes" in die regellose Natur des Grundes. Das bewirkt die "Scheidung der Kräfte" (VII, 361) und die Entfaltung der im Grunde verborgen enthaltenen Einheit und Differenz von Licht des Verstandes und Dunkel des Grundes. Die Expansion des Verstandes bewirkt eine Kontraktion des Grundes. Der Grund strebt immer mehr in sich



Heidegger zufolge ist der Schöpfungsprozeß das metaphysisch Wichtigste der ganzen Abhandlung (vgl. M. Heidegger (1971), S. 159). Hier deutet sich die Thematik der Weltalter- und Spätphilosophie an.

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zurück. Dieser Wechselprozeß von Kontraktion des Grundes und Expansion des Verstandes bewirkt wiederum eine Besonderung, die im Konstrast zum Licht des Verstandes zur 'Bestimmtheit' wird. Die Bestimmtheit genannte Besonderung bewirkt die Vereinzelung des Einzelnen. Der Schöpfungsprozeß ist daher nichts anderes als die Erweckung der im Grunde der Sehnsucht noch verborgenen Einheit die "Ein-Bildung" (VII, 362) des Verstandes in den Grund. Die Einheit, die sich aus dem Grund durch die "Scheidung der Kräfte" erhebt, wird immer bestimmter, je mehr sich der Grund verschließt. Diese Einheit, die Schelling als "Copula" oder als "Band" von Grund und Existenz versteht, ist zunächst die Seele im Unterschied zum Geist bzw. Verstand. Die Seele ist im Unterschied zum Geist die Einheit von Grund und Existenz, die sich noch nicht ausspricht. Sie verbleibt im Bereich der noch sprachlosen, wenn auch gestalteten Natur. Die durch die Schöpfung eingeleitete Entwicklung der Natur erfolgt in einer Reihe von Stufen, deren höchste der Mensch ist. c) Worin besteht die Differenz zwischen Gott und Geschöpf? Die 'geschaffenen Naturwesen' sind in bezug auf den Grund von Gott verschieden. Der Grund in Gott ist die Sehnsucht. Der Grund im 'geschaffenen Naturwesen' ist Begierde und Eigenwille. Der Eigenwille steht dem Willen des Verstandes als Universalwillen gegenüber. Während in der Natur der Partikularwille dem Universalwillen untergeordnet ist, kommt es im Geist zur Möglichkeit ihrer Verkehrung. d) Dem höchsten Zuriickstreben des Grundes entspricht die höchste Erhebung des Grundes in das Licht des Verstandes, so daß Universalwille und Partikularwille 'ineinanderschlagen'. Im Menschen ist der "tiefste Abgrund" (VII, 363) in den "höchste[n] Himmel" (ebd.) erhoben. Dadurch, daß der Mensch die in sich verschlossene Sehnsucht des Grundes ergriffen hat, entsteht er aus dem von Gott selbst unabhängigen Grund. Im Menschen kommt es zum völligen Aussprechen des Wortes. Der Mensch ist eine andere Einheit der Prinzipien als das Tier; er ist die Einheit, die den Willen des Grundes und den Willen des Verstandes zu beherrschen vermag: Geist. Allerdings ist der Mensch auch radikal geschieden von Gott. Weil im Menschen die Eigensucht eine in den Verstand erhobene ist und beide in der Einheit des Geistes sind, ist der menschliche Geist als solcher "Selbstheit" (VII, 364). Als selbstischer Geist kann sich der Mensch zur Eigensucht entschließen gegen den Allgemeinwillen. Der selbstische Geist des Menschen ist die Möglichkeit des Bösen. Und zwar ist es die Zertrennlichkeit der

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Prinzipien (Partikularwille/Universalwille) im selbstischen Geist des Menschen, die die Möglichkeit des Bösen impliziert. Die Einheit der Prinzipien ist im Menschen eine 'freie', keine 'notwendige' wie in Gott. Die Frage nach der Möglichkeit des Bösen entpuppt sich als die Frage nach dem metaphysischen Sinn des Menschseins. e) Weil der Eigenwille in der Einheit des Geistes ist, kann dieser Wille sich an die Stelle des Universalwillens setzen. Das Böse ist die "Erhebung des Eigenwillens" (VII, 365) über den Universalwillen. Diese Erhebung ist eine grundlegende Weise des menschlichen Geistes.11 Daß der "Abfall" vom Absoluten die Herkunft des Endlichen ist, hatte Schelling bereits in der letzten identitätsphilosophischen Schrift Philosophie und Religion (1804) erklärt (vgl. VI, 38). Diese Erklärung des Endlichen ist aber nicht zureichend für die Erklärung des Bösen: "Wir leugnen nicht, daß auf diese Art die metaphysische Endlichkeit sich begreiflich machen lasse; aber wir leugnen, daß die Endlichkeit für sich selbst das Böse sey" (VII, 370). Die Herkunft und der Charakter des Bösen übersteigt also die Fragestellung nach der Herkunft und dem Charakter des Endlichen in der Identitätsphilosophie. Worin besteht die Bosheit des Bösen? In der "Erhebung des Eigenwillens" vollzieht sich eine Verkehrung der göttlichen Welt, in der der Wille des Grundes und der Universalwille in Einklang stehen. Diese Verkehrung ist als "Geist der Zwietracht" (VII, 365) die Umkehrung der göttlichen Ordnung. Sie ist das zur Herrschaft gekommene Negative. Um die wahre Bedeutung des Bösen zu verstehen, muß man daher den Begriff des Positiven und Negativen richtig verstehen (vgl. VII, 370ff.). Das Böse ist nicht bloß Einschränkung, Übel, Mangel oder Beraubung, sondern das zur Herrschaft gekommene qualitative Negative. Auch das Positive ist nicht nur das Positive im Sinne Kants, das Vorhandene, Gegebene, sondern die Zusammenstimmung des Ganzen in seiner Einheit, das Positivwertige im affirmativen Sinne, das, wozu man ja sagen kann. Das Positive in diesem Sinne ist das Seinsollende der göttlichen Ordnung. Das Nega11

"Das Böse kommt nicht aus der Endlichkeit an sich, sondern aus der zum Selbstseyn erhobenen Endlichkeit" (VII, 370). Da, wo "Selbstheit", statt als Existenzgrund zu dienen, sich zum Herrschenden erhebt, entspringt das Böse. Das Böse ist für Schelling also nicht identisch mit der "Selbstheit" als solcher, sondern mit der autarkistischen Selbstermächtigung, also mit der 'aktivierten Selbstheit'. Schellings Subjektkritik betrifft nicht dessen Autonomie, sondern nur seine verselbständigte Autarkie. - Ein wesentlicher Punkt von Schellings Theorie des Bösen ist, daß zur Bosheit Geist gehört. Da das Böse ein Geistiges ist, gehört es in den Bereich der Geschichte.

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tive des Bösen ist dagegen die "falsche Einheit" (VII, 371), die durch die Verkehrung der Prinzipien entsteht, "Zertrennung des Ganzen, Disharmonie, Ataxie der Kräfte" (VII, 370), das 'falsche Leben' im Sinne des Schlechten, das sich in negativen Fakten ankündigt. 12 Das Böse ist das qualitative Negative, das eine positive Natur aufweist, das Negativwertige im Sinne des Nichtseinsollenden. Nicht nur überhaupt liegt im Bösen ein Positives, sondern das Positivste der Natur selbst: der "Urwilletn] des ersten Grundes" (VII, 369) ist hier das Negative in Gestalt des Bösen. Bei Schelling sind das Böse und die Sünde nicht identisch. Die Sünde läßt sich nur theologisch innerhalb der christlichen Theologie verstehen. Sünde ist christlich gedeutetes Böses. Schelling faßt das Böse jedoch nicht als Sünde, zu ihm gehören vielmehr alle negativen Fakten (z.B. Krankheit).« IV. Die Aporie der Freiheitsschrift: Der Ungrund als Indifferenz oder das Ganze des Systems der menschlichen Freiheit 14 Schellings Anspruch ist, das Böse in das göttliche System des Seins einzubegreifen. Dennoch ist die Negativität des Bösen nicht zu leugnen, die das göttliche System in Frage stellt. 15 Seine Möglichkeitsbedingung lag in der universalontologischen Unterscheidung des Wesens in Grund und Existenz. Schelling kommt am Ende der Frei12

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Schelling nennt die Beispiele Krankheit, Wahnsinn, Häßlichkeit. Heidegger erhebt die Frage, ob Schelling den theologischen Begriff der Sünde verweltlicht oder ob er die Frage nach dem Bösen auf die christliche Dogmatik ausrichtet (vgl. M. Heidegger (1971), S. 174fT.). Beides hält Schelling strikt auseinander: Er betreibt weder eine Verweltlichung des theologischen Begriffs der Sünde noch die Verchristlichung des metaphysischen Begriffs des Bösen.

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Wir übergehen Schellings Lehre von der "transzendentalen Tat", da sie in gewissem Sinne einen Rückfall in den Transzendentalidealismus darstellt (vgl. M. Theunissen (1965), S. 174-189). Jedenfalls hätte eine Interpretation zu zeigen, wie Schellings These, daß das Wesen des Menschen "seine eigene That" (VII, 385) ist, die die bloß formelle Freiheit abdeckt, mit seiner anderen These zusammenstimmen kann, wonach die spezifisch menschliche Freiheit das Vermögen zum Guten und Bösen ist.

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Der Grund ist notwendig, damit das Seiende ein Existierendes sein kann. Während aber Gott den Grund als seine Bedingung in sich hat, kann die geschaffene Natur dagegen den Grund nie in ihre volle Gewalt bekommen. Sie bricht sich an ihm und wird von seiner Schwere überwältigt. Daher der "Schleier der Schwermuth, der über die ganze Natur ausgebreitet ist, die tiefe unzerstörliche Melancholie alles Lebens" (VII, 399).

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heitsabhandlung auf "den höchsten Punkt der ganzen Untersuchung" (VII, 406) zu sprechen, der den Zusammenhang dieser beiden seit der Freiheitsschrift grundlegenden Bestimmungen betrifft. Eine erste Schwierigkeit ergibt sich aus Schellings Behauptung, daß das göttliche System im göttlichen Verstände, dagegen Gott selbst kein System, sondern Leben sei: "In dem göttlichen Verstände ist ein System, aber Gott selbst ist kein System, sondern ein Leben" (VII, 399). Das göttliche System, Gott, Welt und Mensch, die Gegenstände der Metaphysik, in welchem das Böse seinen notwendigen Platz hat, ist nur im "Verstände" Gottes, Gott selbst ist nicht mehr das System; er ist das 'Andere' des Systems. 16 "Leben" und "Liebe" gehen über das Vernunftsystem hinaus, ohne daß Schelling an dieser Stelle angeben kann in welchem Sinne. Die Auseinandersetzung mit dieser Schwierigkeit führt Schelling auf seine weiteren Denkwege. In den Weltalterentwürfen wird deutlich, daß die interne Genese des Absoluten nicht mehr in ein metaphysisches Vernunftsystem integriert werden kann. Eine weitere Schwierigkeit ist, daß entweder die universalontologische Unterscheidung des Wesens in Grund und Existenz einen "gemeinsamen Mittelpunkt" (VII, 406) hat, oder das System in "Dualismus" (ebd.) auseinanderdriftet. Schelling behauptet, daß das Ganze des Systems als Einheit von Grund und Existenz der Ungrund als Indifferenz sei. Was heißt Ungrund? Was heißt Indifferenz? Die Indifferenz ist das eine Absolute, in dem das Ganze des Systems zusammengezogen ist, welches aller Differenz und Zweiheit von Grund und Existenz vorhergeht, da in ihm nichts zu unterscheiden ist. "[...] wie können wir es anders nennen als den Urgrund oder vielmehr Ungrund?" (VII, 406). Die Indifferenz ist deshalb auch nicht die "absolute Identität" aller Gegensätze, das "Ein[e] Wesen für alle Gegensätze", sondern das "Verschwinden aller Gegensätze". Sie entsteht im Prozeß der Indifferentiierung aller Gegensätze und Bestimmtheiten, d.i. im Vernichten derselben. Die Indifferenz ist also weder "Produkt der Gegensätze", noch sind diese in ihr als Momente "implicite" enthalten (ebd.). "[...] sie ist ein eigens von allem Gegen-

"Das ist die Schwierigkeit, die in den späteren Bemühungen Schellings um das Ganze der Philosophie immer schärfer heraustritt, die Schwierigkeit, an der er scheitert" (Heidegger (1971), S. 194). Heidegger kann allerdings nicht genau den Punkt angeben, an dem Schellings Bemühungen tatsächlich scheitern. Geht Schelling mit der Unterscheidung von Grund und Existenz über die absolute Identität der Identitätsphilosophie hinaus, dann ist es die weitere Aufgabe seiner Philosophie zu zeigen, wie beide Bestimmungen ineinander verschränkt sind.

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satz geschiedenes Wesen, an dem alle Gegensätze sich brechen, das nichts anderes ist als eben das Nichtseyn derselben" (ebd.). Das einzige Prädikat, das ihr zugesprochen werden kann, ist das der Prädikatlosigkeit. Sie ist "Nichts" in dem Sinne, daß von ihr keine Aussagen gemacht werden können, aber nicht in dem, daß sie das Nichtige wäre. Vielmehr ist das Sein der Indifferenz die Nichtigkeit des Endlichen als auch die von Grund und Existenz. Die Indifferenz ist "weder gut, noch bös", "noch auch beides zugleich" (VII, 407); sie ist gegen beides gleichgültig. Indifferenz ist völlige Unbestimmtheit, Ununterschiedenheit, Nichtbestand der Differenz. Absolute Gleichgültigkeit ist das Wesen der Indifferenz. Umgekehrt: Ohne Indifferenz, ohne Ungrund gäbe es nicht die Differenz von Grund von Existenz und Existenz. Die Unterscheidung von Grund von Existenz und Existenz "bricht" "unmittelbar" aus der Gleichgültigkeit der Indifferenz "hervor" (VII, 407). Die Differenzierung der Indifferenz beschreibt Schelling mit der organologischen Metapher des Hervorbrechens. So unversehens wie an einem warmen Frühling die Knospen am Stamm hervorbrechen, so plötzlich bricht die Differenz der Prinzipien aus der Indifferenz hervor. Diese Differenz ist grundlos, imbegreiflich; was wir allein begreifen, ist ihre Grundlosigkeit. Schelling kann daher nicht erklären, aus welchem Grunde das ursprüngliche Absolute "in zwei gleich ewige Anfänge auseinandergeht" (VII, 408). Da aber allein dieser Akt des Absoluten als Indifferenz und nicht die Dualität der Prinzipien in Gott - die Bedingung sowohl der Verwirklichung Gottes als auch der Möglichkeit und Wirklichkeit der menschlichen Freiheit und ihres Hangs zum Bösen erklären kann, bleibt das Ganze des Systems der menschlichen Freiheit letztlich unerklärlich. Der Hinweis darauf, die Indifferenz teile sich in Grund und Existenz, damit der Wille der Liebe in seiner Entschiedenheit hervortreten kann, genügt ebensowenig wie die Versicherung, die Setzung der Dualität werde im Absoluten nicht "verhindert" (VII, 407). Die Notwendigkeit der Entzweiung des Absoluten in den Dualismus der Prinzipien ist nicht erwiesen.17 17 B. Loer bringt die Aporie der Freiheitsschrift auf den Begriff, wenn sie sagt: "Die hier eigentlich zu beantwortende Frage, wodurch das Entspringen der Zweiheit des Absoluten, weit entfernt, verhindert zu werden, vielmehr geradezu bewirkt wird, wird von Schelling in den "Philosophischen Untersuchungen..." nicht einmal gestellt, und erst von der Ausbildung der Philosophie der "Weltalter" an wird Schelling dieses Problem, das eine der Hauptschwierigkeiten in der ein geschichtliches Absolutes voraussetzenden Strukturtheorie des Absoluten ausmacht, reflektieren und zu lösen versuchen" (Loer (1974), S. 200).

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Der Gegensatz von Gut und Böse muß von der menschlichen Freiheit bewältigt werden. Die menschliche Freiheit ist der Mittelpunkt der Philosophie, weil sich in und mit ihr der Kampf des Guten mit dem Bösen abspielt. Die Endabsicht der Schöpfung ist, daß die Liebe "Alles in Allem" (VII, 408 (vgl. Paulus 1. Kor. 12,6)) ist und die Welt als Verwirklichung der Güte Gottes zu Gott zurückkehrt. Es ist bemerkenswert, daß Schelling in der Freiheitsschrift Subjektivität und Geist mit dem Intersubjektivitätsideal der Liebe überbietet. Damit kehrt er in gewissem Sinne zu Hölderlin zurück. 18 Wenn sich der von der Liebe bewogene Geist alles unterworfen hat, den Grund durch "gänzliche Scheidung" (VII, 408) endgültig von der "Finsternis" (ebd.) verbannt hat, dann existieren Grund und Existenz in "absolute[r] Identität" (ebd.). Das Endziel der Schöpfung ist der Freiheitsschrift zufolge aber weder der Ungrund als Indifferenz dieser ist nur der höchste Ausgangspunkt - noch die absolute Identität des Geistes, sondern die "Liebe", "die allgemein gegen alles gleiche und von nichts ergriffene Einheit, das von allem freie und doch alles durchwirkende Wohlthun" (VII, 408). "[...] das Geheimniß der Liebe" ist, "daß sie solche verbindet, deren jedes für sich sein könnte und doch nicht ist, und nicht sein kann, ohne das andere" (ebd.). Die Liebe ist das 'selige Band', das ohne Zwang beieinander zu lassen, was sonst die Verbindung verkettet. Sie ist die Wahrheit, die alle Stricke lösen würde, von der Hölderlin in seinem Gedicht "Der Rhein" spricht: "Wer war es, der zuerst Die Liebesbande verderbt Und Strike von ihnen gemacht hat?" (StA II, S. 142)

Die Liebe ist nur zwischen selbständig Seienden die Bedürftigkeit derer, die nicht aufeinander angewiesen sind, weil sie auch je für sich sind.19 Als Endzweck der Schöpfung ist sie das Andere des Geistes. 18 Hölderlins Wendung zur Intersubjektivität in seinem Spätwerk kann als Folge einer Überwindung der Subjektphilosophie Fichtes verstanden werden. Doch erstens spielt sich Hölderlins Kritik an Fichte anders als die Schellings größtenteils im Medium der Dichtung ab, und zweitens bleibt Hölderlins Intersubjektivitätsbegriff ein negativer. Am Scheitern intersubjektiver Beziehungen bei seinen Helden ist abzulesen, daß Hölderlins IntersubjektivitätsbegrifT a poretisch ist. 19

Schelling meint hier dasselbe, was Adorno satztheoretisch über die Kopula sagt: "In Wahrheit tritt jedoch die Prädikation nicht hinzu, sondern ist, indem sie beide [Subjekt und Prädikat, d.V.] verkoppelt, auch das, was sie an sich schon wären, wenn dies "wäre" ohne die Synthesis des "ist" irgend sich vorstellen ließe" (ND, S. 108). Die Wahrheit des "ist" ist das "wäre", die Aufhebung der Synthesis des "ist".

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Die menschliche Freiheit ist der Angelpunkt einer Philosophie, in der das Vernunftsystem über sich selbst hinausweist. Sie ist letztlich das, was zukünftig realisiert werden soll, die Verwirklichung des Niedagewesenen - von Leben und Lieben. Sie enthält in sich einen utopischen Gehalt, der das identitätsphilosophische Vernunftsystem sprengt. Auch methodisch in bezug auf Wissenschaft und Dialektik geht die Freiheitsabhandlung über das metaphysische Vernunftsystem hinaus. Wissenschaft und Dialektik haben in der Freiheitsschrift die Funktion, das göttliche System zur Erkenntnis zu bringen; insofern machen sie die Basis des Systems aus: "Dieß kann nur durch Scheidung geschehen, also durch Wissenschaft und Dialektik, von denen wir überzeugt sind, daß sie allein es seyn werden, die jenes [...] da gewesene, aber immer wieder entflohene, uns allen vorschwebende und noch von keinem ganz ergriffene System festhalten und zur Erkenntniß auf ewig bringen werden" (VII, 414). Andererseits gibt es einen höheren Begriff als das Vernunftsystem, das Leben Gottes und der Ungrund als das Ganze des Systems. Dieser verborgene Grund des Systems ist Wissenschaft und Dialektik nicht mehr zugänglich. Schelling verwendet den Systembegriff in der Freiheitsschrift doppeldeutig. Einerseits ist das System das, was dem Leben untergeordnet ist. Andererseits ist er als das "wahre" System das Leben selbst. Im Hinblick auf das "wahre" System sagt Schelling ganz am Ende der Untersuchung: "Das einzig wahre System der Religion und Wissenschaft würde [...] in dem vollen Glänze der Wahrheit und Natur erscheinen" (VII, 416). Das "wahre" System enthält also nicht nur Wissenschaft und Dialektik, sondern auch Religion, zudem erscheint es nur in der "Wahrheit der Natur", denn: "Wir haben eine ältere Offenbarung als jede geschriebene, die Natur" (VII, 415). Das durch Wissenschaft und Dialektik zu explizierende Vernunftsystem ist das Ganze bis auf Eines, den dunklen Naturgrund, der außerhalb des Vemunftsystems fällt, aber zu einem "wahren" System dazugehört. Damit ist das großartige Thema der Philosophie der Weltalter angeschlagen. Ein Jahr nach der Freiheitsabhandlung erwähnt Schelling im Dialog Über den Zusammenhang der Natur mit der Geisterwelt zum ersten Mal den Begriff "Ekstase". Eine der Personen im Dialog sagt: "Besonders aber Ein Geheimniß wollen die meisten nicht begreifen, daß eine solche Gabe [d.i. das Vermögen, ins Innere einzugehen d.V.]

Das geschichtliche Absolute

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nie dem Wollenden zu Theil wird, daß Gelassenheit und Ruhe des Willens die erste Bedingung dazu ist" (IX, 105). Diese Gelassenheit des Willens ist die Ekstase, d.h., "außer sich gesetzt und entzückt" (IX, 87) sein. Damit ist das Hauptthema der Erlanger Vorlesung angeschlagen, die Ekstase als das Sich-Aufgeben des Eigen-Willens zugunsten des sonst Unfaßlichen, das zugleich unser innerstes Wesen ist. Damit wird das in der Freiheitsabhandlung ausgeblendete Problem des epi stemi sehen Zugangs zum Absoluten zum Thema.

B. Die Weltalter: Das geschichtliche Absolute Die Fragment gebliebenen Weltalterentwürfe sind ein weiterer Versuch Schellings, ein groß angelegtes System der Metaphysik zu erstellen, der sich an den Systementwurf der Freiheitsschrift anschließt.20 Es ist bemerkenswert, daß die Thematik der Weltalter da anknüpft, wo die Freiheitsschrift endet: "Schon das Phänomen der menschlichen Freiheit zeigt die Notwendigkeit, das dem Ganzen unterliegende Urwesen als das schlechthin Bestimmungslose des Ungrundes gelten zu lassen, ein Gedanke, den Schelling in den "Weltaltern" keineswegs aufgibt, sondern zum Ausgangspunkt seines Systems machen will" (Lawrence (1989), S. 165f.). Die Freiheitsschrift hatte ja das Problem offen gelassen, wie aus dem Ungrund der absoluten Indifferenz die Dualität der Prinzipien "Grund" und "Existenz" und damit das Leben des Absoluten hervorgeht. Während die Weltalterfragmente von 1811 den Ursprung der Dualität der Prinzipien im Absoluten zu eruieren versuchen, lassen die darauf folgenden Entwürfe dieses Problem als ungelöst zurück. Erst die noch zur Weltal20

Von den Weltalterentwürfen sind drei aus den Jahren 1811, 1813 und 1814 oder 1815 erhalten. Der dritte Druck Rndet sich in Band VIII der von Schellings Sohn veröffentlichten sämtl. Werke. Die ersten beiden Drucke wurden von Manfred Schröter veröffentlicht. Sie stammen aus dem im 2. Weltkrieg zerstörten Münchner Nachlaß. Die Entstehungsgeschichte der Weltalter umfaßt den Zeitraum 18101833, die sich seit 1826 mit der Entstehungsgeschichte der Spätphilosophie überlappt. Zur Entstehungsgeschichte der Weltalter vgl. A. Lanfranconi (1992), S. 59ff. Lanfranconi gibt zugleich eine ausRlhrliche affirmative Interpretation des Weltalterprojekts, die sich um den Gedanken der "Krisis", der "Scheidung von sich selbst" konzentriert (ebd., S. 115ff.). Lanfranconi unterscheidet zwischen frühen und späten Weltalter-Texten, je nachdem sie als Fassungen allein des 1. Buches der Weltalter ("Vergangenheit') oder als Fassungen des 'Systems der Weltalter* dienen (ebd., S. 80). Zu den späteren Weltalter-Fassungen gehören das LoerFragment, die Enderlein-Nachschrift der Erlanger Vorlesung (1819/20), ebenso die Lasaulx-Nachschrifl der Münchner Vorlesung von 1827/28 und die Holmes-Nachschrift der Münchner Vorlesung vom WS 1832/33, SS 1833.

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terzeit gehörende Erlanger Vorlesung macht zu diesem Problem einen neuen Vorschlag. Die Weltalter sind nicht zu verstehen einerseits ohne Schellings Weg dorthin, den wir verfolgt haben, und andererseits ohne Schellings Scheitern am Weltalterprojekt zu berücksichtigen. Im folgenden sollen die Gründe für dieses Scheitern ermittelt werden. Darüber hinaus soll die philosophische Bedeutung dieses Werkes argumentativ rekonstruiert werden. Absicht der Weltalterphilosophie ist es, das Ganze des Seienden durch eine Darstellung der Zeitdimensionen des göttlichen Wesens, d.h. der Epochen der vorweltlichen, weltlichen und nachweltlichen Zeit, zu fassen. 2 ! Schelling versucht hier, durch eine Metaphysik der Zeiten das Wesen des Seins zu erhellen. Eigentliches Thema ist die "Geschichte der Entwickelungen des Urwesens" (WA I, 10). Die Weltalter enthalten somit eine spekulative Geschichtstheorie des Absoluten. Die Konzeption eines geschichtlich strukturierten Absoluten differiert entschieden vom vernünftigen Absoluten in der Identitätsphilosophie.22 Vom umfassenden Programm der Weltalter hat Schelling allerdings nur den ersten Teil unter dem Titel "Vergangenheit" realisiert. Dieser Umstand ist auf das Scheitern des Systementwurfs zurückzuführen. Die Vergangenheit der Weltalter ist der ontologischkosmologische Urzustand, aus dem die gegenwärtige Welt erklärt werden soll. "Wie vermöchten wir auch nur das Gegenwärtige zu erkennen ohne Wissenschaft des Vergangenen" (WA I, 12). Dieses haben wir uns in einer erinnernden Wiederholung zu erschließen. Diese Aufgabenbestimmung ist nicht identisch mit der der traditionellen Metaphysik, der systematischen Entwicklung des vernünftigen Inhalts von Gott, Mensch und Welt. Die Wissenschaft erfüllt hier ihre 21

Schelling ließ sich zu seinem Weltalter-Konzept von Dante inspirieren. Die Tatsache, daß Dantes Divina Comedia die poetische Repräsentation des Gesamtsinns ihrer Zeit war, ist es, die sie Schelling als Paradigma für das spekulative Epos der neuen Zeit erscheinen ließ. W. Hogrebe weist darauf hin, daß Dantes Gedicht in mehrerer Hinsicht in Schellings Weltalter strukturbildend ist (W. Hogrebe (1989), S. 34fF.). Die Trichotomie der Divina Comedia bildet das Vorbild fiir die Zeitentrias der Weltalter. Die Vergangenheit entpricht dem inferno, die Gegenwart dem purgatorio, die Zukunft dem paradiso. Die Vergangenheit, von der Schelling spricht, ist die Vor-Zeit als ewige Vergangenheit, aus der sich die Zeiten entbinden. Die Vor-Zeit bleibt als ein bloß Verdrungenes' stets präsent.

22

Fuhrmans bemerkt zum Übergang der Identitätsphilosophie zur Weltalterphilosophie: "Seiendes im Ganzen ist ihm [Schelling d.V.] nicht mehr wie in den Jahren 1800-1806 ein einfach vom Absoluten Gesetztes, sondern ist von Grund auf geschichtlich, ist das Gefüge dreier wesenhafter Weltalter des In-Gott-seins, des Aus-Gott-seins und der Rückkehr zu ihm" (H. Fuhrmans (1955/56), S. 190).

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Aufgabe nur, wenn sie hinter die traditionellen Gegenstände der Metaphysik zurückgreift auf deren Genese. Gegenstand einer Metaphysik im Sinne der Weltalter ist das "Wesen" der Welt im Sinne des Weltgeheimnisses, das, 'was die Welt im Innersten zusammenhält' (Faust). Das 1. Buch der Weltalter zielt auf ein Erstes in Ansehung aller Entwicklung, auf "das Wesen, dem kein anderes vorangeht, also das älteste der Wesen" (WA I, 3). Das Erste und der absolute Anfang in aller Entwicklung ist - wenigstens nach der Weltalterfassung von 1814 - etwas Physikalisches, die Natur Gottes, die älter als das physikalische Universum ist. Die historische Theorie dieses ältesten Wesens hat daher den Charakter einer metaphysischen Physik oder Protophysik. Ihr Stoff ist das, aus dem die metaphysischen Gegenstände Gott, Welt und Mensch, das Ganze von Natur und Geist, allererst entstanden sind. "Der Gährungsprozeß dieses Entstehens ist Gegenstand der Weltalter".23

I. Gegenstand und Methode der Weltalter In der Einleitung, die in allen Weltalter-Texten ein gemeinsames argumentatives Grundgerüst aufweist, erörtert Schelling Methode und Charakter der Wissenschaft. Schon die Anfangssätze machen deutlich, daß der Zeitlichkeit des Seins eine Zeitstruktur der Wissenschaft entspricht. Die Art und Weise, wie etwas epistemisch zugänglich ist, hängt von seiner zeitlichen Bestimmung ab: "Das Vergangene wird gewußt, das Gegenwärtige wird erkannt, das Zukünftige wird geahndet. Das Gewußte wird erzählt, das Erkannte wird dargestellt, das Geahndete wird geweissagt" (VIII, 199). Die epistemischen Formen der Weltalter sind also Wissen, Erkenntnis, Ahndung, die sich in Erzählung, Darstellung und Weissagung artikulieren. Dies sind die konstitutiven Elemente einer Biographie des Urwesens. Die Vergangenheit wird gewußt, das Gewußte erzählt. Schelling strebt eine mythologische Erneuerung der Philosophie an, und dies auch in formaler Hinsicht. Als Darstellungsform der spekulativen Geschichtswissenschaft bietet sich das Erzählen an. Allein das Erzählen ist die gegenstandsadäquate Form der Philosophie. Dementsprechend stellt Schelling die spekulative Geschichtswissenschaft der 23

Zum philosophischen Programm der Weltalter vgl. W. Hogrebe (1989), S. 80. Hogrebe, der dieses Programm im Lichte des Zusammenhangs von Metaphysik und Prädikation beleuchtet, widmet allerdings den internen Schwierigkeiten dieses Programms wenig Aufmerksamkeit.

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bloß reinrationalen Begriffsdialektik gegenüber. Geradheit und Einfalt sind die Hauptcharaktere des Erzählstils historischen Philosophierens. Die philosophische Historie muß aber sowohl dem Anspruch nach Darstellung objektiver Realitât als auch der Forderung sinnerschließender Interpretation Genüge tun. Sinnerschließendes Prinzip der Darstellung ist die "Erinnerung" (VIII, 200) aller Dinge, durch die uns jenes überweltliche Wesen gegeben ist. Die "Versetzung des Menschen in sein überweltliches Princip" (VIII, 203) wird als Charakteristikum der Theosophie bezeichnet. Durch dieses dem Urwesen gleiche Prinzip hat der Mensch "eine Mitwissenschaft der Schöpfung" (VIII, 200), durch die wir Zeugen des ältesten Geschehens werden.24 In die anamnetische Grundstruktur der Historiogenese geht wesentlich Schellings Theorem der intellektuellen Anschauung ein. Die natürliche Einstellung der empirischen Anschauung und des Verstandes muß durch intellektuelle Anschauung abgelöst werden, die allein den absoluten Anfang und damit das Sinnfundament (Prinzip) der Historiogenese zu erschließen vermag. Die ekstatische Unmittelbarkeit der Erinnerung muß allerdings verknüpft werden mit einer mitteilungsfähigen Artikulationsform. Daher ist die Wissenschaft auf argumentative Kontrolle durch die "Dialektik" angewiesen. Im Reflexionszeitalter kann auch das Erzählen nicht die einzige Artikulationsform sein. Das Vergangene ist uns in einer Weise entrückt, daß es nicht mehr einfach erzählt werden kann. Das Zeitalter des Mythos ist vorbei. Die Wissenschaft der Dialektik wird notwendig angesichts der Verblendung des gegenwärtigen Zeitalters. Die Dialektik ist aber nach Schelling zu unterscheiden von der Wissenschaft im eigentlichen Sinn, deren Ideal es ist, sich in bloßer Narration zu erschöpfen ("eben das Daseyn und Nothwendigkeit der Dialektik beweist, daß sie noch keineswegs wirkliche Wissenschaft ist" (VIII, 202)). Letztes Ziel der Wissenschaft ist also die Selbstaufhebung der dialektischen Argumentation in neomythische Narration.25 24

Mitwissenschaft lat. conscientia, Schelling leitet das Bewußtsein von Mitwisserschaft. ab.

25

In der Freiheits- und Weltalterphilosophie findet eine Rehabilitierung des Verstandes statt, der eine Hervorhebung von Wissenschaft und Dialektik entspricht: "Es findet sich so bei Schelling ab 1809 eine Rehabilitierung der Reflexion, die fiir die ganze Folgezeit bedeutsam bleibt" (Durner (1975), S. 75). Allerdings ist diese Rehabilitierung nicht ohne Widersprüchlichkeit. Dialektik wird zur Explikation der Geschichte des Absoluten eingesetzt mit der Tendenz, sie zugleich zu negativieren. Die Rehabilitierung der Dialektik steht im Zusammenhang von Schellings Programm einer philosophischen Reflexion der "Theosophie" in den Vieltaltern.

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Damit haben sich drei methodische Momente der Weltalterphilosophie herausgeschält: 1. Die Rückführung der Philosophie auf das Prinzip der intellektuellen Anschauung, für die hier Erinnerung einsteht, 2. die hermeneutische Aneignung des Gegenstandes in dialektisch-argumentativer Form und 3. die poetische Aufhebung der Dialektik in neomythische Narration. 26 Schelling versucht in den Weltaltern theosophische Vernunftintuition, Dialektik und mythologische Symbolisation zu synthetisieren. 27 Dieser Methodenpluralismus ist aber das entscheidende Problem. An dem linausgetragenen Zwiespalt zwischen Dialektik und ekstatischer Erinnerung einerseits und dem zwischen Dialektik und Neomythologie andererseits scheitert schließlich das Unternehmen der Weltalter von der methodischen Seite aus. Es ist nicht zu übersehen, daß es Schelling nicht vermocht hat, die verschiedenen methodischen Stränge so miteinander zu verknüpfen, daß daraus ein einheitliches Ganzes entsteht. Was das Spannungsverhältnis zwischen Dialektik und ekstatischer Erinnerung betrifft, so löst Schelling es im Laufe der Weltalter einseitig zugunsten der Ekstase auf. Am Ende der Weltalter muß die Wissenschaft vor dem lebendigen Wesen verstummen: "[...] wie weit näher, als die Meisten wohl begreifen können, ich jenem Verstummen der Wissenschaft bin, welches dann nothwendig eintreten muß, wenn wir erkennen, wie alles so unendlich persönlich zugeht, daß es unmöglich ist, irgend etwas eigentlich zu wissen" (WA I, 103). Mit dem Verstummen der Wissenschaft tritt die Ekstase an die Stelle der Dialektik. Das Verstummen wird als positives Zeichen wahrer Erkenntnis verstanden. Damit bewegen sich die Weltalter in Richtung

26 27

Was in der Theosophie unmittelbar anvisiert wird, wird in der Philosophie "dialektisch" entwickelt. Auf die Dreiheit dieser methodischen Momente weist P.L. Oesterreich hin (vgl. P.L. Oesterreich (1985), S. 70-85). H. Fuhrmans (1954) Weltalter-Interpretation, die erste Weltalter-Monographie überhaupt, geht von einer problematischen Entgegensetzung von christlicher Theosophie und idealistischem Denken aus. Er spricht von einer "fast sklavischen Abhängigkeit" Schellings von Jakob Böhme (ebd., S. 325). Fuhrmans übersieht, daß "Dialektik" in den Weltaltern geradezu die Vermittlung zwischen dieser Alternative darstellt und Schelling auf eine Synthetisierung verschiedener Elemente abzielt. Die trennende Alternative zwischen Theosophie und Idealismus ist diesem Werk Schellings durchaus unangemessen. Nicht zufällig erläutert Fuhrmans an keiner Stelle, was "Dialektik" eigentlich in den Weltaltern meint. Ebenso unangemessen ist die Leugnung jeglicher Bedeutung von Jakob Böhme sowie der Theosophie durch H. Holz (1970). Holz wendet sich gegen die von Tilliette geprägte Traditionslinie der Interpretation, die sich auf den "Einfluß" von Theosophie und Pietismus in Schellings mittlerer Philosophie konzentriert, und macht die neuplatonische Traditionslinie stark.

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Theosophie, von der sich Schelling anfangs noch durch Dialektik abheben wollte (vgl. WA I, 7f.). In der Erlanger Vorlesung von 1821 verzichtet Schelling dann ganz auf das dialektische Moment der Wissenschaft. Wahres Wissen geht allein aus der Ekstase des Philosophen hervor, wo sich der Wille zum Wissen aufgibt. Dialektik wird konsequent aus dem philosophischen System ausgeschlossen und zur bloßen Propädeutik herabgesetzt.28 Was den Zwiespalt zwischen Dialektik und Neomythologie betrifft, so ist Schellings Tendenz unverkennbar, dialektische Argumentation durch neomythische Narration aufzuheben, wenn nicht zu ersetzen. Die Weltalter enthalten nicht nur das Programm einer neuen Mythologie, sondern stellen durchaus noch den Versuch von dessen Verwirklichung dar. Dies läßt sich ablesen an der metaphorischen Sprache, die den philosophischen Diskurs vielerorts durch eine orgiastische Bildlichkeit sprengt. Die Weltalter sind in einem rhetorischen Stil verfaßt, im dem rein begriffliche und rein poetische Darstellung, Narration und Argumentation miteinander verquickt sind. Er korrespondiert mit der von Friedrich Schlegel propagierten frühromantischen Idee einer rhetorica nova, in der sich Poesie, Philosophie und Rhetorik zu einer neuen Einheit verbinden. In ihrem historico-poetischen Charakter stellen die Weltalter einen eigenständigen Typus von Idealismus d a r . 2 9 Hogrebe hat herausgestellt, daß die ursprüngliche Programmatik des Deutschen Idealismus, wie sie in dem Ältesten Systemfragment niedergelegt ist, in gewissem Sinne ihre Realisierung in den Weltaltern erfahren hat (vgl. Hogrebe (1989), S. 28ff.). Dem frühidealistischen Systemfragment liegt die Idee von der Vollendung der Philosophie in der Form eines spekulativen Epos zugrunde. Dieses Programm einer poetischen Metamorphose der philosophischen Wissenschaft soll der Überwindung der Kluft zwischen esoterischer Philosophie und exoterischer Alltagssprache der Allgemeinheit dienen und so zur Rückkehr des Denkens aus seiner rationalistischen Artifizialität zur objektiven 'Natürlichkeit' führen. Auch wenn Schelling bereits im Vortrag Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Na28

29

Im Schwanken zwischen Dialektik und Ekstase sieht R. Ohashi das Scheitern von Schellings Weltalterphilosophie begründet (vgl. R. Ohashi (1975), S. 57). Nach L. Zahn (1956) sind die Weltalter an der Aufgabe gescheitert, in Form einer Erzählung "BegrifF und "Bild" in Einheit hervortreten zu lassen: An diesem "Sprachproblem" zerbreche Schellings Denken (ebd., S. 57), das ihn "an die Grenzen seines Verstummens [führt], das dort eintritt, wo die Philosophie in die Erfahrung des persönlichen Gottes hineinwächst" (ebd., S. 180).

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tur von 1807 zur Einsicht in die Unmöglichkeit einer Verschmelzung von Philosophie und Poesie kommt, scheint in die Weltalter von diesem Projekt einer neuen Mythologie als Verschmelzung von Philosophie und Poesie noch vieles einzufließen. Definitiv formuliert Schelling die Absage dieses Projekts erst in der Erlanger Vorlesung: "Warum ist Philosophie nicht, wie dem Worte, so dem Sinne nach blos Geschichte? (historei) oder Erzählung? - Das wäre die langgeahnte goldne Zeit, wo auch d. Fabel zur Wahrheit wird". Und dann heißt es abrupt: "Allein dieß ist unmöglich" (E, 49). - Der dargestellte doppelte Zwiespalt zur Dialektik ist wesentlich der Grund dafür, daß die Weltalter ein in der Durchführung gescheitertes Unternehmen sind. Das vernachlässigte, aber für die (idealistische) Philosophie unhintergehbare Moment der Dialektik, kommt erst wieder in Schellings Spätphilosophie herein.

II. Der Ansatz der Weltalterphilosophie im Fragment von 1811 Im ersten Weltalter-Fragment von 1811 geht es Schelling noch um das in der Freiheitsschrift ungelöste Problem, wie im ursprünglich identischen Absoluten selbst eine Dialektik der Prinzipien entstehen kann, aus deren Vermittlung das Leben und die Wirklichkeit des Absoluten erzeugt wird.30 Der Aufweis des Entspringens einer Dualität von Prinzipien im Absoluten muß zugleich der Gefahr begegnen, das Absolute in der Entgegensetzung der beiden Prinzipien aufgehen zu lassen. Das eine Absolute und nicht die Zweiheit von Prinzipien soll die Basis der Herleitung der Wirklichkeit sein. Ausgangspunkt der Historie des Absoluten ist im Weltalter-Fragment von 1811 ein "urerster unbedingter Zustand über allem Seyn" (WA I, 14). In diesem Zustand ist das Absolute selbst über Gott erhaben (vgl. WA I, 43) und bleibt frei von aller Dualität. Prinzip des Weltaltersystems ist "die wahre, die ewige Freyheit" (WA I, 14), "die absolute Einheit von Subjekt und Objekt" (WA I, 15f.), von "Seyendem" und "Seyn" (WA I, 14), die selbst "über aller Zeit ist, und in al30

Schelling hat das Problem der Erzeugung der Wirklichkeit des Absoluten seit den Stuttgarter Privatvorlesungen von 1810 vornehmlich im Zusammenhang mit der Problematik des Uebergangs von der Identität zu Differenz" (VII, 424) behandelt. Als Übergang vom "Wesen" zur "Existenz" des Absoluten wird die Entwicklung des Absoluten bereits in den Stuttgarter Privatvorlesungen als Zur-ExistenzKommen des göttlichen Wesens, somit als Theogonie beschrieben. Grundsätzlich behält Schelling auch in der Weltalterphilosophie das identitätsphilosophische Theorem der Verdoppelung der Identität bei.

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1er Entwicklung sich offenbaren will" (WA I, 14). Die ewige Freiheit ist als "Nichts" das Vermögen, 'alles' zu sein, und als solches "der Wille, der nichts will" (WA I, 15). Dieser Begriff der ewigen Freiheit ist der Zentralbegriff der Weltalterphilosophie, der bis in die Spätphilosophie hineinreicht. Im Gegensatz zum Weltalter-Druck von 1814, wo Schelling von der Notwendigkeit oder Natur Gottes in ihrem Gegensatz der Prinzipien ausgeht, ist Ausgangspunkt der Weltalter von 1811 die über allem Sein und Gegensatz schwebende "ewige Freiheit", welche außer aller Entwicklung und Wirklichkeit ist. In ihr läßt sich "noch nicht einmal die Möglichkeit eines Anfangs" (WA I, 49) der Wirklichkeit denken. Daher kann das Absolute "auch nicht anderem thätig vorausgehen, noch der Anfang zu Etwas seyn" (WA I, 17), sondern kann vielmehr "allem Folgenden nur der Möglichkeit nach vorangehen" (WA I, 77). Der Anfang der Wirklichkeit fällt also nicht zusammen mit dem Absoluten. Schelling reformuliert hier einen Aspekt seiner früheren Absolutheitstheorie, wonach das Absolute nicht aus sich heraus kann. Da die ewige Freiheit "Einfalt des Wesens" (WA I, 16), absolute Identität ist, ist es unmöglich, daß sie "je aus sich heraustreten, umöglich, daß sie etwas von sich absondere, ausstoße, oder daß sie überhaupt nach außen wirke" (WA I, 17). Wird daher "der Wille, der nichts will, als das Höchste, zugestanden, so wird es aus ihm keinen Uebergang" (WA I, 77) in das Wollen geben, das Etwas will. Das so gefaßte Absolute schließt jeden Gegensatz von sich aus. Schelling beschreibt hier die absolute Identität des Absoluten mit dem nichts wollenden Willen so, daß ihm der "Willen zur Existenz" (WA I, 17), der etwas wollende Wille, nur unvermittelt gegenübertreten kann. Da das ursprüngliche Absolute, der "Wille, der nichts will" (WA I, 15) und auch "Nichts" ist (ebd.), selbst keine wirkende Kraft ist, muß die Möglichkeit eines Anfangs der Wirklichkeit "sich selbst erzeugen, absolut entspringen" (WA I, 77). Das Prinzip der Wirklichkeit, der Wille zur Existenz, entsteht zwar im Absoluten, aber nicht durch das Absolute. Mit der Selbsterzeugung des Willens zur Existenz ist - wie Schelling selbst eingesteht - "der erste, aber noch zarteste und reinste Dualismus" (WA I, 89) im Absoluten vorhanden. Während das Absolute als ewige Freiheit allen Gegensatz von sich ausschließt, absolute Einheit ist, ist der Wille, der Etwas will, "Gegensatz und zwar Gegensatz schlechthin" (WA I, 20), denn in ihm eröffnet sich die Differenz zwischen Wollendem und Gewolltem.

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Auch im Weltalter-Fragment von 1811 gibt es keinen Übergang von dem einen Absoluten zur Dualität der Prinzipien. Der andere Wille erzeugt sich selbst und ist somit ebenso absolut wie der Wille, der nichts will (vgl. WA I, 17). Schellings Ansatz in Druck I ist mithin in der Aporie befangen, einerseits die ewige Freiheit als absolute Einheit in Ansatz zu bringen, die "aber zugleich der Möglichkeit nach jenen andern Willen" (WA I, 26), den Willen zur Existenz, enthält, und auf diese Weise ein dualistisches Prinzip im Absoluten zugibt, dessen Vorhandensein der Konstruktion des Absoluten in der "Einfalt seines Wesens" (WA I, 16) widerspricht. Solange der Wille zur Existenz nicht aktualiter, sondern nur der Möglichkeit nach wirkt, stellen beide Willen nur entgegengesetzte Aspekte eines und desselben Wesens dar, welches die Einheit oder Indifferenz der absoluten, einfachen Einheit und des Gegensatzes darstellt. Tritt dieser Wille in Wirkung, so stellt sich diese Einheit der Einheit und des Gegensatzes als Widerspruch dar. Der sich im Absoluten selbsttätig erzeugende Wille zur Existenz, in dem sich die Möglichkeit des Anfangs manifestiert, ist zugleich "das erste Setzende der Möglichkeit der Zeit" (WA I, 18) in der Ewigkeit. Eine solche Zeit in der Ewigkeit nennt Schelling "ewige Zeit" (WA I, 77). Diese im Ewigen "verborgene Zeit" (WA I, 77) ist entscheidend für die "Geschichte der Entwickelungen des Urwesens" (WA I, 10). In keinem Weltalter-Fragment geht Schelling so weit, zur Begründung der Geschichtlichkeit des Absoluten wenigstens der Möglichkeit nach "im Ewigen schon eine innre Zeit" (WA I, 77) anzunehmen. Deren Wirklichkeit als Perioden der Weltalter (vorweltliche) Vergangenheit, (weltliche) Gegenwart und (nachweltliche) Zukunft wird erst mit der Selbstverwirklichung des Absoluten in der Zeugung offenbar. Das Geschehen im Absoluten hat also "wie alles Leben seine Zeiten und Perioden der Entwickelung" (WA I, 83). Vergangenheit (Sein), Gegenwart (Seiendes) und Zukunft (Geist als Einheit beider) sind im Absoluten vorgebildet. Gleichwohl bleibt im Dunkeln, wie die innere Zeit in der Ewigkeit anders entsteht als durch den dualistischen Akt des zweiten sich selbst erzeugenden Willens zur Existenz. Zudem zeigt sich hier in Ansehung des Phänomens der Zeit das Kernproblem der Weltalterphilosophie. Die Konstruktion einer vorweltlichen Zeit im Absoluten begründet zwar die Möglichkeit der Perioden und Weltalterzeiten seiner Verwirklichung, andererseits bleibt unbegreiflich, wie ein solches zeitlich seiendes Absolutes noch absolut sein kann. Solange das Absolute "nichts Seyendes" ist, ist es "der bejahende Begriff der Ewigkeit oder dessen, was über aller Zeit

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ist" (WA I, 14). Aber dank des Willens zur Existenz als dem Setzenden aller Zeit im Absoluten ist das Absolute jäh aus seiner zeitlosen Ewigkeit ausgestoßen. B. Loer sagt daher zu Recht: "Nicht mehr das Absolute also bewirkt erst zeitliche Wirklichkeit, sondern die Folge der Zeiten ist verabsolutiert, Geschichte selbst wird zum absolutum; Philosophie der Geschichte und Strukturtheorie des Absoluten fallen ineins, weil die Geschichte das Absolute ist" (B. Loer (1974), S. 217). Vom Ansatz der Weltalter von 1811 soll hier nur noch kursorisch die Entwicklung über die Herleitung des "ersten Wirklichen", über das "Rad der Geburt" bis zur "Zeugung" und der Entbindung der Zeiten skizziert werden. Schelling nimmt zunächst eine terminologische Veränderung vor, die entscheidend zur Dynamisierung des Absoluten beiträgt (vgl. Lafranconi (1992), S. 301). Von der ewigen Freiheit, von der bisher gesagt wurde, daß sie "ewig nur in sich selbst bleibe" (WA I, 17), wird nunmehr gesagt, daß sie im Gegensatz zum anderen Willen, der "einschränkender, verneinender Natur" (WA I, 19) sei, "unendliches Ausquellen" (WA I, 18), und als solches der bejahende Wille, die "reinste Liebe" sei (WA I, 19). Beide Willen nehmen die Prinzipien Kontraktion und Expansion vorweg. Den Anfang seiner Selbstverwirklichung erfährt das Absolute jedoch nicht von sich selbst, der ewigen Freiheit her, sondern von dem zweiten Willen, dem Willen zur Existenz, dem kontrahierenden Prinzip. Da der Wille zur Existenz außer dem Absoluten nichts vorfindet, schafft er - sich selbst und den nichts wollenden Willen ergreifend - "Einen aus beyden zusammengewachsenen Willen", "den ersten wirkenden Willen" bzw. "das erste Wirkliche" (WA I, 22). Dieses im Absoluten entstandene erste Wirkliche ist ein duales Wesen, ein Doppelwesen, "zu dem das Seyende als Subjekt, das Seyn als Objekt gehört" (WA I, 33). "In dem Willen, der nichts will, war keine Unterscheidung, weder Subjekt noch Objekt, sondern höchste Einfalt. Der zusammenziehende Wille aber, der der Wille zur Existenz ist, scheidet beydes in ihr" (WA I, 22), und das erste Wirkliche wiederum "läßt sich als Einheit der Einheit und des Gegensatzes aussprechen" (WA I, 63). Das erste Wirkliche hat als eine bereits differente Einheit die Struktur der Indifferenz oder Identität von absoluter Identität und Gegensatz, Subjekt und Objekt. Die Dualität der Prinzipien, die die Wirklichkeit des Absoluten ausmacht, ist schon im Weltalterentwurf von 1811 ein e gegebene, nicht in ihrem Entstehen begriffene. Mit dieser logischen Struktur des Urwesens beginnt die Weltalterfassung von 1814/15.

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Bei der Einheit oder Indifferenz von absoluter Einheit und Gegensatz kann es nicht bleiben, weil durch den ersten wirkenden Willen die absolute Freiheit in Mitleidenschaft gezogen wird. Das Absolute als "im ersten wirkenden Willen zur Existenz gekommen" (WA I, 34) empfindet diese als seiner ursprünglichen Struktur widersprechend und strebt nach Scheidung der Bestimmungen im ersten Wirklichen, um "weder Subjekt noch Objekt zu seyn, sondern frey zu werden" (WA I, 34) und "als die sanfte stille Einheit auszugehen von beyden" (ebd.). Dem widerstreitet der Wille zur Existenz, der "fürchtet, daß die Existenz verloren gehen möchte" (WA I, 35). So überträgt sich das 'Verlangen nach Scheidung" auf den wirkenden Willen und es entwickelt sich in diesem selbst "der Widerstreit; ein Wechsel von Expansion und Contraction, indem ihn die Liebe zur Scheidung, der eigen Wille zur Anziehung treibt" (WA I, 35). Damit ist an der Einheit der Einheit und des Gegensatzes der Widerspruch gesetzt. Da der wirkende Wille jedoch zugleich wesentlich beides ist, Scheidung und Anziehung, "entsteht unmittelbar aus der Expansion wieder Contraction" (ebd.), daraus aber "eine unwillkürliche Bewegung, die einmal angefangen sich immer von selber macht" (ebd.). Die Rotation von Scheidung und Einung erzeugt das "wie wahnsinnig in sich selbst laufende Rad der anfänglichen Natur" (WA I, 42), das "Rad der Geburt" (WA I, 43), das als "der ewige Keim Gottes" (ebd.) die "Priorität des Physischen [...] in Gott" (WA I, 44) erweist und "noch jetzt das Innerste aller Dinge" (WA I, 43) ausmacht. Die Weltalter von 1811 lassen also von der absoluten Freiheit ausgehend diese aufgrund des Dualismus im Absoluten an den Widerstreit der Prinzipien und die in sich kreisende Bewegung der Natur in Gott anheimfallen. Bemerkenswert ist, daß Schelling 1811 die für die rotatorische Bewegung erforderliche dritte Kraft noch nicht kennt. Er faßt "den Streit zwischen Scheidung und Einung auch als einen Streit zwischen den zwey [ersten] Dimensionen" (WA I, 38). Dieser Streit hat erstens die "Auflösung der erst geschlossenen Einheit des Seyns in das Chaos" (WA I, 37)31 zur Folge und zweitens versetzt dieses die ewige Freiheit in das Gefühl unermeßlicher "Angst", in der sie "alle Schrecknisse" (WA I, 41) ihres Wesens empfindet. Die im ersten Wirklichen eingeschlossene und von daher unfreie und mit der Notwendigkeit in Gegensatz gebrachte absolute Freiheit hat nun die Aufgabe, "diesen chaotischen Zustand allein und 31

Mit dem ChaosbegrifTnimmt Schelling einen Grundbegriff der Hesiodschen Theogonie auf, der orientalischen Ursprungs ist (vgl. Hesiod, V. 116fF.).

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für sich [zu] durchkämpfen" (WA I, 43), um ihre innere Angst und die rotierende Bewegung zu überwinden, d.h., "um wirkliche Freiheit zu werden und als solche durchbrechen zu können" (WA I, 95). Paradoxerweise ist es gerade der Widerstreit der Natur, der die Einheit der ewigen Freiheit aufzulösen droht, der diese aus ihrem Verwickeltsein in den wirkenden Willen erlöst: "Im Verhältnis aber, als die Kräfte im Seyn und damit Seyn und Seyendes selber geschieden werden, bricht aus dem Mittelpunkt derselben die Freyheit oder das Wesen der uranfönglichen Lauterkeit in einem verzehrenden Glänze hervor, nicht anders als im elektrischen Prozeß, je mehr die getrennten Kräfte in Brunst gegen einander gerathen, in der Scheidung selbst das elektrische Feuer als Blitz erscheint" (WA I, 41). Der 2. Teil der Weltalter von 1811 beginnt mit der Frage: "Wodurch ist dieser [chaotische] Zustand zur Vergangenheit geworden?" (WA, 53). Die Beilegung des in das Chaos führenden Widerstreits wird nach Schelling durch die "Zeugung Gottes" möglich, in der sich das ganze Urwesen in die beiden Prinzipien des wirkenden Wollens (Kontraktion und Expansion) einbildet, die so je in sich das Ganze sind: "Also Zeugung, Selbstverdoppelung des [...] Wesens wäre die endliche, die einzig mögliche Auflösung des höchsten Widerstreits" (WA I, 56). Der Widerstreit in der "Einheit der Einheit und des Gegensatzes" (WA I, 63) wird also durch die Scheidung oder Entgegensetzung von "Einheit" und "Gegensatz" abgelöst, aber nur, damit "das Ewige sich durch sie offenbare als Einheit der Einheit und des Gegensatzes" (ebd.). Letztere ist eine "dritte Art der Einheit" (WA I, 65), eine prinzipiell "zukünftige" (WA I, 66). Die "Zeugung Gottes" ist zugleich eine "Genealogie der Zeit", insofern sie die wahre Zeit oder das System der Weltalter setzt. In keinem Weltalterentwurf ist der Abschnitt über Zeit so ausführlich wie in dem von 1811. Die wahre Zeit entwickelt sich aus der bereits kritisch problematisierten, bloß möglichen, inneren und vergangenen Zeit (vgl. WA, 73-87). In diesem Keim der Zeit sind die drei Zeitmodi 'Vergangenheit', 'Gegenwart' und 'Zukunft' noch ununterschieden in eins gesetzt. In ihrer Simultanität sind sie mit einem Widerspruch behaftet, dessen Auflösung die Entwicklung der wahren Zeit oder des Systems der Weltalter selbst ist. In ihr wird die "Einheit", der "Gegensatz" von "Einheit" und "Gegensatz" und die "Einheit der Einheit und des Gegensatzes" in verschiedenen Zeiten und dennoch zumal gesetzt. Das 'Zumal' der Zeiten erklärt sich aus folgendem Umstand: Der Vater ist, aufgrund der im Anfang eingetretenen Zeugung des Sohnes, immer schon als Vergangenheit gesetzt. Auf diese Weise bil-

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det er den potentiellen Zustand Grottes vor der Zeugung. Der Vater ist als Vater nur früher als der Sohn augrund ihrer Gleichzeitigkeit in der Zeugung, die den wirklichen Anfang macht. Die Zeugung ist ein "vorzeitlicher Akt" (WA I, 78), ein "ewiger Anfang" (ebd.), durch den "in jedem Augenblick Zeit [entsteht], und zwar die ganze Zeit, als Zeit, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dynamisch auseinander gehalten, aber eben damit zugleich verbunden sind" (WA I, 74).

Die Genealogie der Zeit, die im theogonischen Prozeß zunächst die göttliche Trilogie bestimmt, stellt sich zugleich als Ausgangspunkt der Kosmogonie dar. Thema der Weltalter ist also erstens der theogonische Werdensprozeß Gottes und zweitens der kosmogonische Entstehungsprozeß des Universums in der Genealogie der Zeit.32 Denn diese ist "auch ein Anfang der Welt inwiefern diese die jedesmalige Gestalt des göttlichen Lebens nicht an sich zwar, aber in seiner Offenbarung ist" (WA I, 78). Die Kosmogonie wird in den Weltaltern von 1811 allerdings nur angekündigt, nicht ausgeführt. Schelling nimmt also in den Weltaltern philosophische Motive auf, die auf Hesiods Theogonie und Böhmes Theosophie zurückgehen, um sie dialektisch zu entwickeln.33

32

Die "erste Contraction, die Gott als eine ewige Natur in sich erzeugt und auch der Schöpfung mitteilt, darf nicht verwechselt werden mit jenem anderen Prozeß des Einschrumpfens, durch den Gott in sich, weil er im Anfang nichts außer sich haben kann, der Welt buchstäblich seinen Platz einräumt; das ist die Contraction als Schöpfungsakt" (J. Habermas (1969); S. 121). "Im Anfang ist das Absolute der in seinem eigenen Sein eingeschlossene Gott - eine Art erste Schöpfung Gottes durch sich selbst" (ebd., S. 126).

33 Mit diesem Programm nimmt die Weltalterphilosophie die Intention der Theosophie Jacob Böhmes auf, "das Hervorgehen der Dinge aus Gott als einen wirklichen Hergang zu begreifen. Dieß weiß nun aber Jacob Böhme nicht anders zu bewerkstelligen, als indem er die Gottheit selbst in eine Art von Naturproceß verwickelt" (ΧΠΙ, 121). Die Spätphilosophie unterscheidet sich von der Weltalterphilosophie genau darin, daß sie dieses theosophische Programm zurücknimmt: "Das Eigentümliche der positiven Philosophie besteht aber gerade darin, daß sie allen Proceß in diesem Sinne verwirft, in welchem nämlich Gott das nicht bloß logische, sondern wirkliche Resultat eines Processes wäre" (ebd.). - Der Hinwendung zur Theosophie Böhmes entspricht eine Abwendung von Spinoza, die bis zur Spätphilosophie reicht. Spinozas System ist ein bloß "logisches", wobei vor allem der innergöttliche Prozeß unerörtert bleibt. Mit dem Gedanken des geschichtlichen Absoluten stößt Schelling konsequent auf das Problem der Zeit. Die logischen Systeme kannten im Grunde das Problem der Zeit nicht. In der Identitätsphilosophie war das Absolute zeit- und geschichtslos. Bleibt auch in der Spätphilosophie 'Geschichte' ein wesentlicher Gedanke, so tritt die Kosmogonie zugunsten der Religionsgeschichte in den Hintergrund. Schellings Hesiodscher Weltenthusiasmus tritt zurück.

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III. Der Äon der Vergangenheit nach der Weltalterfassung von 1814/15 Die Erörterung des Ansatzes der Weltalter von 1811 hat uns einen ersten Überblick über Thema und Problembestand der Weltalterphilosophie geliefert. Beides soll anhand der Thematisierung der Weltalter von 1814 vertieft werden. Im Unterschied zu den Weltaltern von 1811 verzichten die Weltalter von 1814 darauf, das Absolute als absolute Freiheit der Entwicklung voranzustellen und beginnen stattdessen nach dem Hinweis auf die Unterscheidung von Notwendigkeit und Freiheit in Gott mit dem "Nothwendigen" oder der "Natur Gottes" (VIII, 210). Im Unterschied zu 1811 wird die 'Sache selbst' auch sogleich als "Gott" angesprochen. Dieser Titel, bei dessen Einführung sich Schelling auf den "milesischen Thaies" (VIII, 209) beruft, kann offenbar gefahrlos verwendet werden, weil Schelling sich darüber im klaren ist, daß "der Begriff Gottes [...] von großem, ja von allergrößestem Umfang, und nicht so mit einem Wort auszusprechen" (VIII, 209) ist, also erst noch zu entwickeln ist. Ausgangspunkt ist die Etablierung der beiden Prinzipien Egoität und Liebe, in die sich das Naturwesen Gottes auseinanderlegt. Der der Dualität dieser Prinzipien vorausliegende nichts wollende Wille entfallt. Dieser Ansatz der Weltalter-Fragmente von 1811 hat ja zum Dualismus eines zweiten von selbst anfangenden Willens zur Existenz im Absoluten geführt. Argumentative Grundlage der Verknüpfung beider Prinzipien in der Natur Gottes in Druck III bildet der Abschnitt über die Urteilsspekulation. Zentrales Lehrstück ist wieder die Theorie des rotatorischen Umtriebs, die sowohl den theogonischen als auch den kosmogonischen Entstehungsprozeß erklärt. Diese Theoriestücke sollen nun anhand einer Interpretation von Druck III auf ihre philosophischen Gehalte hin untersucht werden. Dabei sollen zugleich die spezifischen Widersprüche freigelegt werden, in die sich die Weltalter von 1814 verstricken. Das ewige in sich kreisende Rad begreift Schelling als den "protoontologischen Energiespender" (Hogrebe (1989), S. 80) für den Werdensprozeß Gottes und des Universums. Dieses schreckliche, angstauslösende, irrwitzige Geschehen ist die "bleibende irrationale Voraussetzung der rationalen Sphäre, das gärende Chaos in der Tiefe aller Ordnung" (ebd.).34 In 34

Th. Oser hat herausgestellt, daß in Hesiods Theogonie das Chaos bei der Konstitution der (olympischen) Ordnung genau die Bestimmung hat, als überwundener zugleich bleibender dunkler Grund derselben zu sein. Er zeigt zum einen, "wie die Chaos-Mächte infolge der Überwindung des schicksalhaften Generationenstreits

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der Weltalterphilosophie überwindet Schelling nicht nur die identitätsphilosophische defizitäre Statik, sondern auch den Gedanken der bloß vernünftig zu explizierenden Wirklichkeit. Zur Entwicklung eines in sich distinkten Absoluten greift Schelling auf Momente der Subjekt-Objekt-Philosophie zurück, verankert sie aber jetzt in einer theosophisch fundierten, mit schrecklichen 'Abgründen' versehenen Personalität Gottes, von der aus auch der Entstehungsprozeß der Welt als Schöpfungsprozeß zu verstehen ist.

1. Die Notwendigkeit oder Natur Gottes a) Die Dualität der Prinzipien: Egoität und Liebe Auch die Weltalter von 1814 umfassen vom metaphysischen System der Zeiten nur die 'Erzählung der Vergangenheit'. Die Vergangenheit stellt das Wesen Gottes vor der Offenbarung und der Schöpfung der Welt dar. Gott ist durch die beiden Momente "Notwendigkeit/Natur" und "Freiheit" gekennzeichnet, wobei die Notwendigkeit der Freiheit vorausliegt, weil Freiheit nach den Weltaltern von 1814 nur auf dem Boden von Notwendigkeit erwachsen kann. Die Analyse beginnt daher mit den Momenten der Notwendigkeit Gottes. Aus der behaupteten Priorität der 'Natur Gottes' vor der 'Freiheit' werden sich alle Schwierigkeiten dieser Weltalterfassung ergeben. Der Grundfehler der Weltalter von 1814 besteht in der "Identifikation des absolut Ersten mit der absoluten Notwendigkeit" (B. Loer (1974), S. 229). Die Notwendigkeit oder Natur Gottes besteht aus zwei gleichursprünglichen, d.h. nicht auseinander ableitbaren, aber aufeinander angewiesenen Prinzipien: Bejahung und Verneinung oder Egoität und Liebe, deren abstrakter Ausdruck Sein und Denken ist. Gott ist einerseits die reinste Liebe, die aber nicht aus sich selbst zum Sein gelangen kann, ohne das zweite Moment der Egoität, die allein der Liebe als eigenes Wesen Bestand geben kann (vgl. VIII, 210). "Also sind schon im Nothwendigen Gottes zwei Principien; das ausquellende, ausbreitsame, sich gebende Wesen, und eine ebenso ewige Kraft der Selbstheit, des Zurückgehens auf sich selbst, des in-sichSeyns. Beide, jenes Wesen und diese Kraft, ist Gott ohne sein Zuthun ihren Charakter qualitativ verändern; zum anderen, wie das politische Handeln der olympischen Götter durch die Unilberwindbarkeit des mit dem Chaos hervortretenden Negativen bestimmt ist" (Th. Oser (1992), S. 29).

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schon von sich" (VIII, 211). Schelling geht also von der Dualität zweier Prinzipien aus, ohne zu versuchen, sie herzuleiten. Was Schelling mit diesen Prinzipien auf den Begriff bringt, findet sich in den alten Mythen, in denen die Mitwisserschaft des Anfänglichen noch unverstellter zum Ausdruck kommt, die die Genealogie dessen zum Inhalt haben, "was bei uns als Licht und Finstemiß, Männliches und Weibliches, Geistiges und Leibliches erscheint" (VIII, 212). Schelling wendet sich gegen die aufklärerische Tendenz, den Gegensatz reduktiv zu glätten, indem die verneinende Kraft verleugnet wird. Diese Tendenz sieht er manifest werden im Idealismus seiner Zeit: "Der Idealismus ist das allgemeine System unserer Zeiten, der eigentlich in der Leugnung oder Nichtanerkennung jener verneinenden Urkraft besteht" (VIII, 212)35

b) Identitätstheorie des Urteils Um der Gefahr zu entgehen, daß die Dualität der Prinzipien in einen ursprünglichen abstrakten Dualismus abdriftet, stellt Schelling Spekulationen über die Kopula im Urteil an. Diese zeigen, daß es sich bei den beiden Prinzipien um eine ursprüngliche Duplizität eines und desselben Wesens handelt. Die argumentative Grundlage der Weltalter wird von Schelling also wie in der Freiheitsschrift aus urteilstheoretischen Überlegungen entwickelt. Anders allerdings als in der Freiheitsschrift vertritt er hier nicht mehr die Inhärenztheorie, sondern eine Identitätstheorie des Urteils. Das, auf das das Subjekt zutrifft, ist dasselbe, auf das das Prädikat zutrifft: "Der wahre Sinn jedes Urtheils, z.B. das A ist B, kann nur dieser seyn: das, was A ist, ist das, was Β ist, oder das, was A, und das was Β ist, ist einerlei" (VIII, 213). Die Kopula "ist" faßt Schelling hier wieder als Identität. Nur kommt es auf den spezifischen Sinn dieser Identität an. Wieder wendet sich Schelling gegen die Auffassung der Identität als Einerleiheit. Das Urteil Ά ist B* meint nicht, daß A mit Β zusammenfällt, sondern: es gibt ein X, das einerseits A und andererseits Β ist. Die Schellings Überlegungen zu den beiden Prinzipien Liebe und Egoität gehen wesentlich auf die Theogonie Hesiods, auf Parmenides Ontologie und auf Empedokles Naturphilosophie zurück. Nach Hesiod hat der kosmogonische Eros maßgeblich auf die Entstehung des Kosmos aus dem Chaos hingewirkt (vgl. Hesiod, V. 120ff, vgl. auch Parmenides, Fr. 13). Empedokles hat neben den Eros als zweites Formprinzip die zerstörende Macht des Hasses (neîkos) gestellt. Die kosmologischen Prinzipien Liebe und Selbstheit tauchen dann wieder in der Theosophie J. Böhmes auf, bei dem sie die ersten Attribute Gottes sind.

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Identität ist das prärelationale X, das A und Β nicht aufeinander reduziert und sie doch nicht unabhängig voneinander bestehen läßt. X ist somit das wahre Subjekt des Urteils, A und Β seine Prädikate. Diese identitätslogische Urteilsstruktur ist fiir Schelling zugleich die metaphysische Welt-Struktur, die den Charakter einer Identität von Reellem und Ideellem hat. 36 Jedes Urteil hat somit eine Doppelstruktur. Es besteht seinerseits aus zwei Urteilen. Das erste ist "X ist A", das zweite "X ist B". Daraus folgt das dritte Urteil als Urteil von Urteilen, das den Charakter eines Schlusses hat: "A ist B". Der Schlußcharakter des Urteils "A ist B" ergibt sich aus Schellings identitätslogischer Bestimmung des Urteils. Sie bringt zum Ausdruck, "daß das Band im Urtheil das Wesentliche, allen Theilen zu Grunde Liegende ist, daß Subjekt und Prädicat jedes für sich schon eine Einheit sind, und was man insgemein das Band nennt, nur die Einheit dieser Einheiten anzeigt. Ferner, daß im einfachen Begriff schon das Urtheil vorgebildet, im Urtheil der Schluß enthalten, der Begriff also nur das eingewickelte, der Schluß das entfaltete Urtheil ist [...]" (VIII, 214). Obgleich für Schelling "Dialektik" für sich betrachtet keineswegs die höchste Wissenschaft ist (vgl. VIII, 204f.), ist die Logik unabdingbare argumentative Grundlage der Weltalter-Spekulation, die ja primär "Erzählung" sein soll. Zu Recht stellt Hogrebe fest, "daß Schelling jedem Obskurantismus, der auf Logik in der Spekulation glaubt verzichten zu können, eine klare Absage erteilt" (Hogrebe (1989), S. 82). Fassen wir zusammen: Der Gegensatz von Sein und Denken, von Egoität und Liebe, wird in seiner Einheit gefaßt. Um diese Einheit zu charakterisieren, werden Spekulationen über das Wesen der Kopula im Urteil angestellt. Die allen Urteilen zugrundeliegende Identität ist die Koinzidenz von X mit sich selbst. Sie ist eine "Einheit, welche eine Einerleyheit des Subjekts, nicht der Prädikate ist" ( WA I, 27). Die Kopula ist also nicht Einerleiheit von Subjekt und Prädikat, sondern die Einheit des Wesens, das Entgegengesetztes umfaßt. Damit hat Schelling die logische Struktur des Natururwesens auf den Begriff gebracht. Es ist jenes X, für das sowohl A als auch Β gel36

Den methodischen Sinn der Weltalter erschließt sich Hogrebe über den Zusammenhang von Prädikation und Metaphysik. "Metaphysik buchstabiert die Struktur des singulären Urteils (Fa) als Struktur der Welt" (Hogrebe (1989), S. 41), dabei untersucht die Metaphysik nicht wie die Sprachanalyse die Verwendungsbedingungen, sondern die ontologischen Geltungsbedingungen der generellen Verwendung der Termini. Hogrebes Interpretation ist ein Beispiel dafür, daß Schellings Philosophie der Weltalter auch einem sprachphilosophisch ausgerichteten Philosophen etwas sagen kann.

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ten kann. A bezeichnet Schelling auch als ursprüngliche Verneinung und Β als ursprüngliche Bejahung. Verneinung ist 'Selbstheit', 'Eigenheit', 'Absonderung* und 'In-sich-Sein'; Bejahung 'Liebe', das 'Nichts der Eigenheit'. Daß beide Prinzipien nicht aufeinander zu reduzieren sind, zeigt auch die Urteilstheorie. c) Potenzenlehre Im Hinblick darauf, daß es "in der That ein und dasselbe ist, das die Bejahung und die Verneinung ist, das Ausbreitende und das Anhaltende" (VIII, 212f.), tritt in der Natur des Absoluten am Gegensatz beider Prinzipien der Widerspruch hervor, den Schelling für die notwendige Bedingung und Quelle alles lebendigen Seins erklärt: "Ohne Widerspruch also wäre keine Bewegung, kein Leben, kein Fortschritt, sondern ewiger Stillstand, ein Todesschlummer der Kräfte" (VIII, 219). Hier ist Schellings Bemühen erkennbar, in die Absolutheitsphilosophie der Weltalter-Konzeption das vormalige Widerspruchsparadigma der Subjekt-Objekt-Philosophie einzubauen. Auf diese Weise hält er die Weltalter-Spekulation von der identitätsphilosophischen Statik frei und kehrt zu einem Dynamismus der Kräfte zurück. Wie kommt es zum Widerspruch von verneinender Kraft und bejahender Potenz? Warum tritt die anfängliche Duplizität des einen Naturwesens in einen Widerspruch? Das Problem spitzt sich insofern zu, als für Schelling der Übergang von der ursprünglichen Einheit zum Widerspruch imbegreiflich in dem Sinne ist, daß er sich nicht motivieren läßt, während umgekehrt der Übergang vom Widerspruch zur Einheit sehr wohl verständlich sei (vgl. VIII, 219). Der Übergang von der Einheit zum Widerspruch kann nur als blindes Ereignis gefaßt werden. Der Aufbruch der indifferenten Einheit geschieht urplötzlich als eine Art "Urexplosion" (Hobrebe (1989), S. 87), die nur "im Gedränge zwischen der Nothwendigkeit und der Unmöglichkeit zu seyn, durch eine blindlings die Einheit brechende Gewalt geschehen kann" (VIII, 220). Damit ist ein grundlegendes Problem der Weltalter von 1814 markiert. Am Gegensatz tritt der Widerspruch hervor, der nicht wirklich durch eine übergreifende Einheit, das Absolute als absolute Freiheit, vermittelbar ist. Die stabile Struktur einer Einheit der Einheit und des Gegensatzes ist also durch die identitätslogische Urteilstheorie nicht sichergestellt. Der duale Gegensatz in einem und demselben

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Naturwesen läßt dieses an den Widerstreit anheimfallen. Schelling hat in den Weltalterentwürfen das Problem, um jeden Preis einen Dualismus im Absoluten zu vermeiden, indem er dem Absoluten wie in der Urteilstheorie absolute Identität zuspricht, obwohl ihm durchaus bewußt ist, daß es eines Gegensatzes, einer Zweiheit der Prinzipien bedarf, um Wirklichkeit zu erklären. Während Schelling in den Weltaltern von 1811 dem Absoluten zwar "Einfalt des Wesens" (WA I, 16) attestiert, diese einfache Einheit "aber zugleich der Möglichkeit nach jenen andern Willen" (WA I, 26) enthaltend diesen anderen Willen zur Existenz zuläßt, und auf diese Weise ein Dualismus im Absoluten vorkommt, dessen Vorhandensein seiner Konstruktion des Absoluten widerstreitet, sucht er in der Theorie des Absoluten der Weltalter von 1814 diesen Dualismus zu vermeiden. Im Versuch von der Zufälligkeit des Dualismus, der sich in Druck I in die Theorie des Absoluten hinterrücks eingeschlichen hat, auszuweichen, beginnt Schelling in Druck III paradoxerweise explizit mit einer Zweiheit der Prinzipien in der Natur Gottes, dessen Vorhandensein die Möglichkeit der Verwirklichung begründet, ohne sie an die übergreifende Einheit des Absoluten als absolute Freiheit zurückbinden zu können. Von einer der Dualität der Prinzipien in der Notwendigkeit oder Natur Gottes vorhergehenden Einheit ist in Druck III nurmehr in Form der identitätslogischen Urteilstheorie die Rede. Deren Aufweis der Zusammengehörigkeit der dualen Prinizipien in einem und demselben Urwesen läßt dieses sich sogleich in einen Widerspruch verstricken. Die Notwendigkeit oder Natur Gottes besteht 1814 aber damit nicht nur in einer Zweiheit von Prinzipien, sondern ist "gleich ursprünglich in drei Mächte gewissermaßen zersetzt" (VIII, 217). Denn aus der aufgrund des Widerspruchs jäh erfolgten Zersetzung des einen Naturwesens in die zwei untergeordneten Formen entstehen drei Potenzen, die sich nun wie "das verneinende Princip, das bejahende und wieder die Einheit beider" (ebd.) verhalten. "Der wahre Sinn jener anfangs behaupteten Einheit [der 'Natur Gottes'] ist daher dieser: ein und dasselbe = χ ist sowohl die Einheit als der Gegensatz; oder die beiden Entgegengesetzten, die ewig verneinende und die ewig bejahende Potenz und die Einheit beider machen das Eine unzertrennliche Urwesen aus" (ebd.). Fassen wir zusammen: Hat einmal jene "Urexplosion" stattgefunden, so tritt am Gegensatz der Prinzipien der Widerspruch hervor, wodurch sogleich der Widerstreit dreier Potenzen gesetzt ist, weil jede der drei Protenzen - Verneinung, Bejahung und die Einheit bei-

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der - "gleichen Anspruch [hat], Gott oder das Seyende zu seyn" (VIII, 218): "Ist die Einheit das Seyende, so kann der Gegensatz, d.i. jedes der Entgegengesetzten, nur das nicht Seyende sein, und hinwiederum ist eines der Entgegengesetzten und damit der Gegensatz seyend, so kann die Einheit nur in das nicht Seyende zurücktreten" (VIII, 218). "Also findet sich, daß die erste Natur von sich selbst ein Widerspruch ist, [...] der also genau gesprochen ihr Wesen selbst ist" (VIII, 219). Die Potenzenlehre in den Weltalterfragmenten ist eine Theorie der Anfangspotentiale der Entwicklung des Absoluten, eine "Protodynamik" (Hogrebe (1989), S. 89) des absoluten Urwesens.37 Erste, zweite und dritte Potenz verhalten sich - wie Hogrebe richtig erkannt hat - als Start-, Fortbestimmungs- und Strukturpotentiale zueinander (ebd., S. 88f.). Da sich der Anfang notwendig gegen die Sache, die beginnt, verneinend verhält, ist die Anfangspotenz notwendig die ursprüngliche Verneinung. "Denn überhaupt nur in der Verneinung liegt der Anfang" (VIII, 224). Schelling zeigt diesen Gedanken am Beispiel der Bewegung auf: Der Anfang der Bewegung ist die Verneinung der Bewegung, die Bewegung selbst ist die Überwindung der anfänglichen Verneinung der Bewegung. Die erste Potenz ist also das ewige Nein, die Verneinung dessen, was zu existieren beginnt. Aber das Existierende bleibt darauf angewiesen, daß ein Anfang gemacht ist, an dessen Uberwindung es Halt gewinnen kann. Daß das Seiende sich als "werkthätig erweist, sich offenbart als das Seyende, davon liegt der Grund in der verneinenden Potenz. Wäre das Nein nicht, so wäre das Ja ohne Kraft. Kein Ich 37

Die dialektische Erörterung der Potenzenlehre ist im Weltalter-Druck ΙΠ am vollkommensten begrifflich durchgearbeitet. Sie leitet über zur Potenzenlehre der Erlanger Vorlesung und der Spätphilosophie. Die Potenzenlehre der Weltalter unterscheidet sich in zweierlei von der der Identitätsphilosophie: Erstens setzt Schelling den Begriff der Potenz nicht nur für die Endlichkeitstheorie ein, sondern bereits zur Entwicklung des uranfänglichen Lebens des Absoluten. Der Potenzbegriff findet seine Anwendung also nicht nur auf das Endliche, sondern auch auf das Absolute. Zweitens wird die mathematische Begriffsbestimmung des Potenzbegriffs, wie sie in der Identitätsphilosophie vorherrschte, ergänzt durch seine ursprüngliche dynamistische Bedeutung der "Kraft" und ihrer Bewegung. Der Punktions- und Ortswechsel der Potenzenlehre findet zum ersten Mal in den Stuttgarter Privatvorlesungen (1810) statt, wo Schelling vom "Weltsystem" (VII, 179-181) spricht, dessen zwei Prinzipien Potenzen in Gott sind. In den V/eltaltern sagt Schelling auch: "Dieselben Stufen, die sich [...] als Potenzen des Seyns betrachten lassen, erscheinen [...] als Perioden des Werdens und der Entwicklung" (WA I, 25). Die Veränderungen im Potenzbegriff entsprechen Schellings Tendenz der Absetzung vom Identitätssystem und der Integration des früheren dynamistischen Subjekt-Objekt-Paradigmas in die neue Theorie des Absoluten.

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ohne Nicht-Ich, und insofern ist das Nicht-Ich vor dem Ich" (VIII, 227), wie Schelling in ironischer Wendung gegen Fichte betont. Die zweite Potenz verhält sich als "Fortsetzungspotential" des Anfangs, der ohne das ursprüngliche Ja sofort ersterben würde. Die zweite Potenz ist also eine weitere Bedingung, daß das Naturwesen zum Sein gelangt. Das setzt weiter voraus, daß die erste der zweiten Potenz untergeordnet wird, d.h. als Verneinung selbst verneint wird. Die daraus entstehende wechselseitige Verneinung ist der Urantagonismus der beiden Potenzen, der vorerst nicht wegzubringen ist. Dieser Antagonismus muß durch eine dritte Potenz - ein "Strukturpotential" - verträglich gemacht werden. Die dritte Potenz ist die Verträglichkeits- bzw. Einheitsstruktur: "Wie die ursprüngliche Verneinung der ewige Anfang, so ist dieses Dritte das ewige Ende. Es ist von der ersten Potenz bis zur dritten unaufhaltsame Fortschreitung, eine nothwendige Verkettung. Die erste Potenz gesetzt, ist nothwendig auch die zweite, und diese beiden erzeugen ebenso nothwendig die dritte. Damit sodann ist das Ziel erreicht; nichts Höheres ist in demselben Fortgang zu erzeugen" (VIII, 228).

Sind die ursprünglichen Kraftenergien der beiden Potenzen in der dritten Potenz miteinander verträglich gemacht, so kommt es nach Schelling an sich zur Einheitsstruktur des Geistes. Allerdings ist die erreichte Struktur von Grund auf labil, denn die drei Potenzen erheben weiterhin den Anspruch, das ganze Seiende zu sein. Gegen diesen Anspruch ist die erreichte Ordnung auf dem gegenwärtigen Stand noch ohnmächtig: "Aber in ihrem Gipfel angekommen, geht die Bewegung von selbst zurück auf ihren Anfang. Denn jedes von den Dreien hat gleiches Recht das Seyende zu sein; jener Unterschied und die daraus hervorgehende Unterordnung ist nur ein Unterschied des Wesens, der aber die Gleichwichtigkeit in Ansehung des seyend-Seins, oder wie wir es kürzer ausdrücken, die existentielle Gleichheit nicht aufzuheben vermag" (VIII, 228). Wie erklärt sich die Ohnmacht der nur punktuell erreichten Ordnung? Der Kollaps der erreichten Struktur wird nur vor dem Hintergrund des Gedankens verständlich, daß die Ontogenese, der Prozeß der Seinswerdung, nicht stillgestellt werden kann, solange das Urwesen Naturwesen ist. Andernfalls würde das Naturwesen in eleatisches bzw. spinozistisches statisches Sein verwandelt werden und der theogonische Prozeß jäh zum Stillstand kommen. Der Zusammenbruch der erreichten Struktur trägt der Notwendigkeit des Wer-

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dens Rechnung. Schelling setzt in den Weltaltern einen naturphilosophischen Heraklitismus an die Stelle seines früheren Eleatismus und Spinozismus in der Identitätsphilosophie.38 Die Biographie einer Geschichte des absoluten Urwesens ist nicht mehr mit den theoretischen Mitteln der Identitätsphilosophie zu leisten. d) Die Theorie vom rotatorischen Umtrieb Bisher wurde der Prozeß der Seinswerdung Gottes in seiner Allgemeinheit analysiert. Soll der theogonische Prozeß nicht stillgestellt werden, so muß das Werden fortgeschrieben werden. Die Fortschreibung des Werdens kann nur als dessen Wiederholung stattfinden. Der Notwendigkeit des Werdens wird also durch seine Iteration Rechnung getragen. Die Unausweichlichkeit der Iteration hat etwas Beängstigendes an sich. Schelling beschreibt sie als "eine Art von Zirkel, da das Unterste immer in das Oberste, und das Oberste wieder in das Unterste läuft", als "beständigen Umtrieb", als "ein unablässiges Rad, eine nie stillstehende rotatorische Bewegung, in der keine Unterscheidung ist" (VIII, 229). Der Versuch, den Gegensatz von ursprünglicher Verneinung und ursprünglicher Bejahung durch eine dritte Potenz auszugleichen, führt zu einer beständigen Rotation, in der die dritte Potenz auf den Gegensatz von Verneinung und Bejahung zurückstürzt, sich wieder aufbaut und wieder zusammenbricht. Schellings Weltalterphilosophie stellt sich als "Philosophie des ewigen Anfangs" (Lawrence) dar, weil in der Iteration des Werdens der Anfangsprozeß beständig in seinen Anfang zurückläuft. Dieses ewige in sich kreisende Rad begreift Schelling als den protoontologischen Motor für den Werdensprozeß Gottes und des Universums. Mit dem rotatorischen Umtrieb haben wir hier zunächst "den vollkommenen Begriff jener ersten Natur" (VIII, 229) erreicht. Die innere Natur Gottes ist ein irrationaler, inkonsistenter Rotationsprozeß, der auf seine Auflösung harrt. 39 38

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In der Schrift Über die Gottheiten von Samothrake - einem Anhang zu den Weltaltern - ebenso wie in der Erlanger Vorlesung wird Heraklit mehrfach erwähnt. Die Differenz der Weltalter von 1811 und 1814 besteht darin, daß Schelling 1811 nur zwei Grundkrafte der Verwirklichung des Absoluten in Ansatz bringt, Kontraktion und Expansion, und die für den Gedanken eines in sich kreisenden "Rads der Geburt" (WA I, 43) benötigte dritte Potenz noch nicht kennt. Richtig stellt B. Loer fest, eine "kreisförmig gedachte Bewegung erfordert, um ausgebildet werden zu können, über den Konflikt zweier Elemente hinaus notwendig ein Drittes, das als punktuelle Einheit beider aus dem Widerstreit zwischen Expansion und

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Der durchdrehende Prozeß ist das uns unheimliche Gottes- und Weltgeheimnis im Abgrund der Vergangenheit, die wir nur mit Entsetzen zur Kenntnis nehmen können. Es sind Kräfte eines "inneren unaufhörlich sich selbst gebärenden und wieder verzehrenden Lebens, das der Mensch nicht ohne Schrecken als das in allem Verborgene ahnden muß, ob es gleich jetzt zugedeckt ist und nach außen ruhige Eigenschaften angenommen hat" (VIII, 230). Die Weltalter geben den Blick frei auf den Bereich, vor dem Sinn, Verstand und Vernunft ohnmächtig sind. Sie lassen uns die Erfahrung einer ursprünglichen theogonischen und kosmogonisehen Inkonsistenz machen.40 Schelling führt hier gleichsam einen indirekten Beweis für das geordnete Leben Gottes und des Universums. Der rotatorische Prozeß ist als überwundener der bleibende Grund und die Energiequelle des Lebens Gottes und der Welt. Gibt es einen Weg, der aus der durchdrehenden, blinden Rotation zu einer bleibenden Struktur herausführt? "Wie und wodurch wurde das Leben von diesem Umtrieb erlöst und in die Freiheit geführt?" (VIII, 232). 2. Die Freiheit Gottes a) Der unerklärliche Übergang vom Chaos zur Ordnung Wie läßt sich die irrwitzige Rotation der drei Potenzen abbremsen? Fest steht für Schelling, daß dies nur von innen, aus dem Prozeß selbst heraus, geschehen kann. Schelling stellt die Forderung auf, daß die Potenzen darauf 'freiwillig' verzichten müssen, das Seiende selbst zu sein. Wie aber können die Potenzen zu diesem freiwilligen Verzicht motiviert werden, repräsentieren sie doch das absolut Notwendige (vgl. VIII, 233)? Da es keine der Potenzen selbst sein kann, muß es nach Schelling also doch "das an sich Potenzlose" (VIII, 234) über ihnen sein, das für die im Rotationsprozeß befindlichen Potenzen das Bleibende, weil Unbewegliche ist. Das Höhere, gegenüber dem die drei Potenzen verzichten, das Seiende zu sein, ist die "ewige Freiheit" (VIII, 234), die Schelling mit Piaton und dem Neuplatonis-

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Contraction auszubrechen und, insofern es nur in der Bewegung wirklich sein kann, die Rotation der Wirklichkeitsformen im Absoluten zu begründen und zu erhalten vermag" (B. Loer (1974), S. 213). Schon Piaton hebt die Inkonsistenz der Flußontologie Heraklits hervor (vgl. Pia-

ton, Theaitetos 183b).

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mus auch das Überseiende nennt. "[...] nur über dem Seyn wohne die wahre, die ewige Freiheit" (VIII, 234). Allein im Hinblick auf diese also in Wahrheit bereits vorausgesetzte ewige Freiheit kann der durchdrehende Verdrängungsprozeß der drei Potenzen abgebremst werden und so feste Struktur gewinnen: "Um also mit dem Ueberseyenden in Bezug zu kommen, muß die ewige Natur in sich selbst jene Verfassung annehmen, daß, was in ihr das Freie ist, über das andere sich erhebt und zum unmittelbaren Subjekt wird des an sich unergreiflichen Geistes, von den beiden anderen Principien aber jedes sich niederläßt an den ihm angemessenen Ort, dergestalt daß die erste Potenz den tiefsten, die zweite den mittleren, die dritte aber den obersten Ort einnehme" (VIII, 240). Die Möglichkeit der Lösung vom rotatorischen Umtrieb verlangt also in zweierlei Hinsicht nach Freiheit: 1. Nur im Verhältnis zum "an sich Potenzlosen" (VIII, 234) der ewigen Freiheit vermögen die Potenzen darauf zu verzichten, das Seiende zu sein. 2. In der absolut notwendigen Natur muß selbst "Freiheit" liegen. Die Unterstellung einer derartigen Freiwilligkeit in der notwendigen Natur widerspricht allerdings der in Ansatz gebrachten absoluten Notwendigkeit, mit der im Weltalterentwurf von 1814 begonnen wurde. Die Geburt der Freiheit aus dem absolut Notwendigen ist undenkbar und bleibt ein Geheimnis. Im absolut Notwendigen kann keinerlei Form von Freiheit vorliegen, sie kann sich auch nicht von sich aus zur potenzlosen Freiheit hinwenden, es sei denn, die Freiheit ist in der Notwendigkeit bereits vorausgesetzt, was allerdings nur dann sein kann, wenn die absolute Freiheit wie im Weltalterentwurf von 1811 auch absolutes Prinzip aller Entwicklung ist. Nur die aus ewiger Freiheit entstandene notwendige Natur in ihrem Widerstreit ist aus sich eben kraft der in ihr fortwirkenden Einheit der Freiheit zur Wandlung zur ewigen Freiheit fähig. Während in den Weltaltern von 1811 die absolute Freiheit aufgrund des Dualismus im Absoluten der ewig kreisenden Bewegung anheimfällt, setzen die Weltalter von 1814 der rotatorischen Bewegung, die sich auf das absolut Notwendige beschränkt, die völlige Unbeweglichkeit der ewigen Freiheit als das ganz Andere abstrakt-dualistisch gegenüber, mit der Prätention, sie zugleich aus der Selbstüberwindung der Natur herzuleiten. Durch das nach den Prämissen von 1814 unerklärliche Geschehen der freiwilligen Hinwendung der absoluten Notwendigkeit zur potenzlosen Freiheit nimmt der theogonische Prozeß Gestalt an, bleibt aber als "inkonsistente Vergangenheit des Konsistenten" (Hogrebe (1989), S. 103) der unheimliche Urgrund Gottes. Der strukturbil-

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dende Prozefl ist die Subjektinstantiierung des Geistes, der "jenes in einem beständigen Cirkel umlaufende Leben nur als eine ewige Vergangenheit in sich" (VIII, 261) hat. Der Instantiierung des Geistes korrespondiert die mysteriöse "Sehnsucht" der Natur, aussprechlich zu werden, aus der blinden Rotation zur verständlichen Struktur befreit zu werden. Diese Sehnsucht ist (wiederum andererseits) die "Magie" des Überseienden. Das schlechthin überseiende Eine wird magisch Alles (hén kaí pân). Damit ist die Biographie des ältesten Wesens zu einem vorläufigen Abschluß gekommen. Sie trägt den Schönheitsfehler des Widerspruchs der Konstruktion einer aus absoluter Notwendigkeit stammenden ewigen Freiheit an sich. Soll Gott aber dennoch ewige Freiheit sein, so wird solche Freiheit als zweites Prinzip nur "außer und über der ewigen Natur" Gottes (VIII, 239), völlig getrennt von aller Notwendigkeit, bestehen können.^ Es folgt die kosmogonische Präfigurierung der Potenzen zu Prinzipien der äußeren Natur und des Geistes im theogonischen Prozeß, die in der freien Schöpfungstat Gottes von der Möglichkeit zur Wirklichkeit übersetzt werden. So wie die erste Potenz in ihrem spezifischen Verhältnis zur zweiten Potenz zum Prinzip der äußeren Natur wird, so die zweite in ihrem spezifischen Verhältnis zur ersten zum Prinzip des Geistes. Die dritte Potenz als Einheit beider bildet das Prinzip der Seele und damit das "Band" (VIII, 335) zwischen Welt und Gott. Das Werden des Absoluten bildet seine Struktur in der Welt der Erscheinung (Natur/Geist) ab. Wie sich in der Konzeption der Subjekt-Objekt-Philosophie die kontinuierliche Stufenfolge des aus dem Prinzip des reinen Subjekt-Objekt entworfenen Systems als dessen geschichtliche Bewußtwerdung entwickeln ließ und die Philosophie als Rekonstruktion dieser Genese selbst genetisch war, so ist die Darstellung in den Weltaltern "nur der Weg zu Gott, die ewige Bewegung, von welcher Natur der Anfang ist, der Intention nach nur eine fortschreitende Verwirklichung des Höchsten, wo jede folgende Stufe der lautem Gottheit näher ist als die frühere" (VIII, 249).

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Schelling weist explizit darauf hin, daß im Gegensatz zu den früheren Weltalterfassungen in einer 'geschichtlichen' Darstellung nicht mit der potenzlosen Freiheit begonnen werden dürfe. Damit würde der Superiorität statt der Priorität zum Ausdruck verhelfen und es drohe unbegründet zu werden, weshalb überhaupt "die an sich naturlose Gottheit [...] Natur angenommen" (VIII, 255) habe. Diese Stelle zeigt, daß sich Schelling der konzeptuellen Schwierigkeiten, die sich in einer solchen 'Umstellung" der ewigen Freiheit ergeben, nicht bewußt war. A. Lafranconi affirmiert unkritisch Schellings Selbstinterpretation der "Umstellung" (vgl. Lanfranconi (1992), S. 331, 339).

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Schelling nimmt also die genetische Prozeßphilosophie, die er in der identitätsphilosophischen Phase verabschiedet hat, wieder auf. b) Die Identitätsformel der Weltalter In den Weltaltern wandelt Schelling die Identitätsformel des Systems zu einer Formel mit folgender plastischer Gestalt ab: A2 = (A = B)

(vgl. VIII, 312).

Diese Formel markiert haargenau die Differenz der Weltalterphilosophie gegenüber der Identitätsphilosophie. Die Formel innerhalb der Klammer hat Schelling schon in seiner Spekulation über das Wesen der Identität entwickelt: Identität hat nicht die Bedeutung, daß A und Β zusammenfallen, sondern daß dasselbe, was A ist, auch Β ist. Die so gefaßte Diesselbigkeit ist A2. Die Zusammengehörigkeit von Diesselbigkeit (A2) und Verschiedenheit von A und Β markiert A3. Diese Formel entspricht der identitätsphilosophischen Konzeption der Indifferenz von Wesen und Form, von absoluter Identität und Identität von Subjekt und Objekt, von absolutem Sein und absolutem Erkennen. Der Identität (A3), die für das Ganze steht, steht hier aber entgegen, daß sie durch das mit A identifizierte Moment Β bedroht ist. Das Identitätssystem ist so auf "Alles bis auf Eins" (Hogrebe (1989), S. 112) modifiziert. Hogrebe faßt die Sache prägnant, wenn er sagt: "Das Wahre ist so das Ganze bis auf Eins, dafür steht das Β neben dem Klammerausdruck" (ebd.). Die Formel bezeichnet so das Identitätssystem auf irrationalem Naturgrund. Identität, Geist und Bewußtsein bleiben auf einen dunklen Naturgrund angewiesen. Der Geist bedarf einer ständigen Energiezufuhr, die er nicht aus sich zu nehmen vermag. Die verneinende Kraft (B) ist der prärationale Stachel des Rationalen. Von Anfang an war Schellings Monismus unverträglich mit einem weltinternen Dualismus von Natur und Geist, der zu unüberwindlichen Transformationsproblemen beider führen würde. Die Natur muß so beschaffen sein, daß sie das Bewußtsein über sich selbst erzeugen, also Geist werden kann. Der weltinterne Monismus ist aber durchaus verträglich mit einem weltexternen Dualismus von Grund und Existenz (Freiheitsschrift) oder Notwendigkeit (Natur) und Freiheit Gottes (Weltalter). Dies hat wiederum seinen Grund darin, daß die Begründungsmöglichkeit von Welt unabhängig von einer sie ex-

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plizierenden Vernunft den Gedanken eines in sich dualen Absoluten erfordert - ein Gedanke, den Schelling seit der Freiheitsschrift zu entwickeln versucht. Aber genau in diesem dual gefaßten Absoluten liegen auch die philosophischen Probleme der Weltalter. 3. Die Geschichte der Offenbarung Gottes Gott hat sich kraft seiner lauteren Freiheit als Einheit dreier Momente erwiesen; er ist das ewige Nein, das ewige Ja und die Einheit beider. Die Lehre von der Offenbarung steht unter zwei Bedingungen: Erstens ist die Schöpfung eine "freie" Tat und zweitens muß sie motiviert sein. Die Anfangsschwierigkeit der Offenbarung besteht in dem Problem, wie Gott aus einer Dimension vor aller Zeit, d.h. aus Ewigkeit in aller Freiheit, die Zeiten konstituieren und das Universum und die Welt schöpfen kann. Schon die Freiheitsschrift (1809) hat das Problem der Schöpfung aufgenommen, allerdings noch nicht das Problem der Freiheit Gottes zur Schöpfung erörtert. Schelling hat mit der Einführung der Freiheit, und zwar der Freiheit Gottes, sein Denken in neue Dimensionen vorangetrieben, die schließlich zur Spätphilosophie führen. Für die Initiation und Motivation des Schöpfungsprozesses steht nichts anderes bereit, als was sich als Resultat des theogonischen Prozesses ergeben hat. Gott muß sich "frei" offenbaren als das, was er ist, als "das gleich ewige Nein und das gleich-ewige Ja" (VIII, 300). Hier tut sich zunächst ein Widerspruch auf. Gott kann nicht zugleich und in derselben Hinsicht das Sein, durch das er sich offenbart, bejahen und verneinen. Dieser "höchste denkbare Widerspruch" (VIII, 301) läßt sich nach Schelling durch die Unterscheidung von Grund und Existenz lösen. "Allgemein ausgesprochen also löst sich das Verhältniß des Widerspruchs durch das des Grundes, wonach Gott als das Nein und als das Ja seyend ist, aber das eine ist als Vorausgehendes, als Grund, das andere als Folgendes, Begründetes" (ebd.). Dieser bereits für die Freiheitsschrift wesentliche Gedanke wird jetzt ergänzt durch die Dimension der Zeit. Da also offensichtlich ist, "daß Gott als das Ja und Gott als das Nein nicht das Seyende derselben Zeit sein können" (VIII, 302), entbindet die Identität der Ewigkeit die verschiedenen Zeiten, damit die Verträglichkeit Gottes mit sich selbst bestehen bleibt. Gott als das Ja und als das Nein können nicht das Seiende zur selben Zeit sein, wohl aber zu verschiedenen Zeiten, und dennoch zugleich, denn Vergangenes und Zukünftiges sind zwar

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nicht das Gegenwärtige, aber mit dem Gegenwärtigen mit-gegenwärtig. "So ist es also nur der Widerspruch in der höchsten Steigerung, der die Ewigkeit bricht und statt der Einen Ewigkeit eine Folge von Ewigkeiten (Aeonen) oder Zeiten setzt. Aber eben diese Folge von Ewigkeiten ist es, das wir insgemein die Zeit nennen. In dieser Entscheidung also schließt sich Ewigkeit in Zeit auf' (VIII, 302). Mit der Lehre von der freien Weltschöpfung hängt also die Lehre von der Schöpfung der Welt in der Zeit zusammen. Die Zeit ist nicht erst mit der Welt, sondern die Welt ist in der Zeit entstanden. "Die Lehre, daß Gott die Welt in der Zeit erschaffen, ist eine Stütze des echten Glaubens" (VIII, 307f.). Die göttliche Offenbarung etabliert ein "System der Zeiten", von denen die menschliche Zeit nur ein Moment darstellt. Zum umfassenden religionsmetaphysischen Begriff der Zeit gehört die "vorweltliche Vergangenheit", die "weltliche Gegenwart" und die "nachweltliche Zukunft". Während die menschliche Zeit eine Sukzessionszeit ist, ist die wahre Zeit die Folge von Äonen, Perioden oder Weltaltern, die in sich Einheiten sind, die sich am Ende in ihren Anfang wieder zurückschlingen. Das einzelne Zeitalter bekommt seinen Sinn nur im Zusammenhang des Ganzen der Zeit. Die Gesamtheit der Zeit ist daher als ein Organismus" (VIII, 310) zu betrachten. Die Möglichkeit von Zeit überhaupt erwächst mithin aus der Selbstoffenbarung Gottes in seiner Schöpfungstat, wodurch die Ewigkeit selbst als eine Zeitperiode, als "Vergangenheit' gesetzt wird. Die Konstitution der wahren Zeit begründet also erst Weltschöpfung. Mit der Schöpfung in der Zeit hängt auch die Freiheit der Schöpfungstat zusammen. Damit die Schöpfungstat eine freie sein kann, ist ein Mittelglied zwischen Ewigkeit und Welt nötig, welche für Schelling "nicht Zeit in der Ewigkeit selbst, sondern ihr coexistirende Zeit" (VIII, 306) ist. "Diese Zeit außer der Ewigkeit ist jene Bewegung der ewigen Natur, da sie vom Untersten aufsteigend immer ins Höchste gelangt, und von diesem aufs neue zurückgeht, um wieder aufzusteigen. Nur an dieser Bewegung erkennt sie sich selbst als Ewigkeit; an diesem Uhrwerk zählt und mißt die Gottheit - nicht die eigne Ewigkeit [...], sondern nur die Momente der beständigen Wiederholung ihrer Ewigkeit, d.h. der Zeit selbst, welche, wie schon Pindaros sagt, nur das Scheinbild der Ewigkeit" (VIII, 306f.) ist. Die Möglichkeitsbedingung der Differenz zwischen Ewigkeit und Schöpfungstat und damit für die Freiheit derselben ist also die Zeit: "Jene Entschließung Gottes, sein höchstes Selbst nach Zeiten zu offenbaren, kam aus der lautersten Freiheit. Eben darum behält Gott Macht, gleichsam Zeit und Stunde dieser Offenbarung zu bestimmen, und

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das, was ganz Werk seines freiesten Willens war, auch allein nach seinem Wohlgefallen zu beginnen" (VIII, 307). Für die gesamte Weltalter-Epoche und Spätphilosophie gilt, daß Schelling die Schöpfung der Welt als wirklich uranfängliche freie Tat begreifen möchte, um damit sein frühes Programm, vom Absoluten als dem Unbedingten auszugehen, endlich einzulösen. Am Anfang der Offenbarung steht die ewige Freiheit, der als das eigentlich zu Offenbarende in den Weltaltern jedoch die notwendige Natur Gottes vorausgehen muß. Die Schöpfung gründet zwar in einer die göttliche Natur aus ihrem Chaos erlösenden Entscheidung, aber diese geschieht nicht mit völliger Freiheit, sondern ist eine Freiheit, die selbst Notwendigkeit ist. Gottes Offenbarung ist in den Weltaltern eine Tat der Freiheit, die, weil in sich selbst gegründet, eins ist mit der Notwendigkeit. Sie wird daher von Schelling verglichen mit der grundsätzlich unbewußten Urtat des Menschen, durch die er in seinem "Charakter" bestimmt ist, wie sie in der Freiheitsschrift als "transzendentale Tat" beschrieben wird: "Mithin erkennt das allgemeine sittliche Urtheil in jedem Menschen eine Freiheit, die sich selbst Grund, sich selbst Schicksal und Nothwendigkeit ist" (VIII, 304). Die Forderung nach einer absoluten Freiheit Gottes zur Weltschöpfung wird erst in der Spätphilosophie realisiert. Mit der Tat der Offenbarung Gottes beginnt "die Geschichte der Verwirklichung oder der eigentlichen Offenbarungen Gottes" (VIII, 305), die als Folge von Potenzen zugleich eine Folge von Zeiten ist, und die Entstehung des Universums, der äußeren Natur und des Geistes, darstellt. Hier erst bekommen die theogonischen Potenzen kosmogonische Funktion, obgleich Schelling in den Weltaltern beide Funktionen noch nicht wirklich voneinander unterscheidet.

4. Resümee Halten wir zunächst fest, was als Positives an Schellings Weltalterphilosophie festzuhalten ist: Schellings Grunderfahrung in der Weltalterperiode ist, daß Konsistenz, Bewußtsein, Verstand und Vernunft beständig durch ihr Anderes bedroht sind, das zugleich Bedingung ihrer Genesis ist. Die Entstehung von Natur und Geist vollzieht sich in einem Werdensprozeß, in dem sich Energien der Inkonsistenz und der Konsistenz, blinder Wille und lautere Einheit in einem aufwühlenden Gedränge gegenüberstehen. Die inkonsistente herakliteische Energie wird von der platonischen Bedingung der Mög-

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lichkeit der Konsistenz, dem überseienden Einen, stimuliert, mit dem Effekt, daß die absolute Inkonsistenz des rotatorischen Umtriebs gebrochen wird. Absolut inkonsistente Energien sind nicht aus sich heraus fähig, sich zu konsistenten Formationen zu transformieren. Die mentale Selbstorganisation der Natur würde andererseits ohne inkonsistente Potenzen, aber auch ohne deren Orientierung an reiner Konsistenz sofort zusammenbrechen. Die Weltalterfragmente zeigen sich als ein Versuch, den herakliteischen Irrationalismus mit platonistischem Rationalismus zu verknüpfen. Spekulatives Anliegen der Weltalter ist die Darstellung sowohl des theogonischen als auch des kosmogonischen Prozesses, der ihrer Meinung nach ohne irrationale und rationale Potenzen nicht auskommt. Dasselbe gilt auch für den Menschen. Der menschliche Geist ist Geist aus irrationalem, inkonsistentem Grund. Der Vernunft liegt das Plasma von Wahnsinn voraus. Mit dem dionysischen Mythos entwirft Schelling ein dramatisches Bild der Phase vor der Entstehung von Rationalität: "Nicht umsonst haben die Alten von einem göttlichen und heiligen Wahnsinn gesprochen. So sehen wir ja auch die schon in freier Entfaltung begriffene Natur in dem Verhältniß, als sie dem Geist sich annähert, gleichsam immer taumelnder werden. Denn es befinden sich zwar alle Dinge der Natur in einem besinnungslosen Zustand; jenes Geschöpfe aber, die der Zeit des letzten Kampfes zwischen Scheidung und Einung, Bewußtseyn und Bewußtlosigkeit angehören und in den Schöpfungen der Natur unmittelbar dem Menschen vorangehen, erblicken wir in einem der Trunkenheit ähnlichen Zustande dahinwandeln. Nicht umsonst wird der Wagen des Dionysos von Panthern oder Tigern gezogen; denn es war dieser wilde Taumel der Begeisterung, in welchen die Natur vom Anblick des Wesens geräth, den der uralte Naturdienst ahndender Völker in den trunkenen Festen bacchischer Orgien gefeiert. Wogegen jene innere Selbstzerreißung der Natur, jenes wie wahnsinnig in sich selbst laufende Rad der anfänglichen Geburt und die darin wirkenden furchtbaren Kräfte des Umtriebs in anderem schrecklicherem Gepräng uralter götterdienstlicher Gebräuche, durch Handlungen einer sich selbst zerfleischenden Wuth, wie Selbstentmannung (es sei um die Unerträglichkeit der drückenden Kraft oder ihr Aufhören als zeugender Potenz auszudrükken), durch Herumtragen der zerstückelten Glieder eines zerrissenen Gottes, durch besinnungslose rasende Tänze, durch den erschütternden Zug der Mutter aller Götter, auf dem Wagen mit ehernen Rädern, begleitet von dem Getöse einer rauhen, theils betäubenden

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theils zerreißenden Musik, abgebildet. Denn nichts ist jenem inneren Wahnsinn ähnlicher als die Musik, die durch das beständige excentrische Ausweichen und Wiederanziehen der Töne am deutlichsten jene Urbewegung nachahmt und selbst ein drehendes Rad ist, das, von Einem Punkt ausgehend, durch alle Ausschweifungen immer wieder in den Anfang zurückläuft" (VIII, 337f.). Die Pointe von Schellings Gedanken besteht darin, daß der ursprüngliche Wahnsinn von der menschlichen Vernunft nicht so überwunden wird, daß er getilgt ist, sondern als 'verdrungen' zugleich bleibende Voraussetzung und wirksame Energiequelle der Vernunft ist. Schelling wendet sich vornehmlich gegen alle idealistischen Harmonie- und Verharmlosungsversuche dieser erschütternden Entdekkung: "[...] wären sie aber fähig, die Außenseite der Dinge zu durchdringen, so würden sie sehen, daß der wahre Grundstoff alles Lebens und Daseyns eben das Schreckliche ist" (VIII, 339). Das aber bedeutet, daß die menschliche Vernunft immer gefährdet bleibt. Schelling unterscheidet zwei mentale Stellungen zu diesem ursprünglichen Wahnsinn: "Die eine, die ihn beherrscht und eben in dieser Ueberwältigung die höchste Kraft des Verstandes zeigt; die andere, die von ihm beherrscht wird, die eigentlich Wahnsinnigen. Man kann streng genommen nicht sagen, daß der Wahnsinn bei ihnen entstehe; er tritt nur hervor als etwas, das immer da ist (denn ohne beständige Sollicitation dazu wäre kein Bewußtseyn), und das jetzt nur nicht niedergehalten und beherrscht ist von einer höheren Kraft" (VIII, 339). Für Schelling ist der Geist nicht nur aus unverfügbarem Grund. Es ist ein wahnhafter Grund, den der Geist immer in Anspruch nimmt, ohne ihn zu erzeugen. Nur der "Ekstase" tritt die wahnhafte Komponente unserer mentalen Verfassung in den Blick: "Den Menschen hindert das In-sich-gesetzt-seyn; ihm hilft das Außer-sich-gesetztwerden, wie es unsere Sprache herrlich bezeichnet [...]" (VIII, 296). Diese ekstatische Wahnkomponente bildet die Grundlage und den Ausgangspunkt für den Systementwurf der Erlanger Vorlesung und für die Existenzauffassung der Spätphilosophie. Der Abstand der Weltalterphilosophie zur Identitätsphilosophie ist an Schellings wieder einsetzender Spinoza-Kritik abzulesen. Die Verabschiedung Spinozas bedeutet die Verabschiedung des statischen Seins als absoluter Identität, an seine Stelle tritt die Konzeption des Streits der beiden Grundkräfte des absoluten, mit sich identischen Wesens, durch die das System mit "Leben" und "Fortschreitung" (VIII, 340) erfüllt wird.

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5. Die Aporie des Weltalteransatzes Eine Aporie ist bereits im theogonischen Verwirklichungsprozeß Gottes enthalten. Hogrebe hebt hervor, daß Schellings Etablierung der vierten Dimension des überseienden Einen, die dem Verdrängungsprozeß der drei Potenzen eine strukturverträgliche Form verleiht, die größten Verständnisschwierigkeiten bereitet (vgl. Hogrebe (1989), S. 105). Der Grund liegt darin, daß der freie Geist nur als unabhängiger die wilden Verhältnisse der Rotation der Naturpotenzen zu bändigen imstande ist, andererseits aber nicht unabhängig von der inkonsistenten chaotischen Vergangenheit sein kann, insofern er nur durch deren Überführung in Ordnungszustände Subjektcharakter bekommt. In welchem Verhältnis steht also das überseiende Eine zur Rotation der Potenzen der Natur und wie wird durch dieses Verhältnis das Chaos zur Ordnung? Daß sich die Potenzen der dritten Potenz als ihrer Verträglichkeitsstruktur bleibend unterordnen, ist die Wirkung der vierten Instanz. Nur in Beziehung auf das überseiende Eine wird das Chaos der irrwitzigen Rotation fähig, sich selbst zu überwinden und zu einem Kosmos zu organisieren. Die ewige, potenzlose Freiheit setzt die Gesetzmäßigkeit von außen, die die chaotischen Verhältnisse in Ordnungszustände überführt. Die ewige, potenzlose Freiheit ist also in Wahrheit dem ganzen Naturgeschehen systematisch vorausgesetzt, obgleich die notwendige Natur genetisch vor der Freiheit zu stehen kommt. Schelling hat in Druck III aber die notwendige Natur sowohl genetisch als auch systematisch vor der Freiheit angesiedelt. Umgekehrt ist die Empfänglichkeit für Einheit und Freiheit die Voraussetzung der Selbstorganisation der Natur. Dies würde implizieren, daß die Freiheit bereits in der Natur vorausgesetzt ist, was sie in Druck III explizit nicht ist. Die systematische Priorität der Freiheit macht sich hinter dem Rücken Schellings geltend: Die Orientierung auf Freiheit bezeichnet Schelling als "Sehnsucht" der Natur (VIII, 239). Sie ist selbst die "magische" Wirkimg der Freiheit: "durch seine bloße Gegenwart, ohne alle Bewegung [...], gleichsam magisch weckt das Höhere in ihm [dem anfänglichen Leben, d.V.] das Sehnen nach Freiheit" (VIII, 239). Schellings widersprüchliche Konzeption der "Construktion der Idee Gottes" (VIII, 269) mit ihren Instanzen absolute Freiheit und absolut notwendige Natur Gottes, läßt ihn in eine mystische Bildersprache verfallen: Ein unwiderstehlicher Zauber des überseienden

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Einen erlöse die Natur von ihrem irrationalen Umtrieb und gibt so den strukturbildenden Prozeß frei. Das selbständige und selbstgenügsame überseiende Eine ist "jenes Naturlose, dessen die ewige Natur begehrt, kein Wesen, kein Seyendes, obwohl auch nicht das Gegenteil" (VIII, 236). So wie am rotatorischen Umtrieb der Potenzen versagt auch an diesem eigenschaftslosen Einen Denken und Sprache. Schelling vollbringt in den Weltaltern die Leistung, das Dunkel des sich dem sprachlichen Diskurs entziehenden Heraklitismus mit der Helligkeit eines Piatonismus zu verbinden, an dessen oberstem Prinzip ebenfalls die Sprache abgleitet. Wie Piaton vergleicht Schelling das oberste Prinzip des Einen mit dem Nichts: "Ja wohl ist es ein Nichts, aber wie die lautere Freiheit ein Nichts ist, wie der Wille, der nichts will, der keine Sache begehrt, dem alle Dinge gleich sind, und der darum von keinem bewegt wird. Ein solcher Wille ist nichts und alles" (VIII, 235).*2 Dem Dualismus von platonistischem und herakliteischem Prinzip sucht Schelling dadurch zu entgehen, daß er dem unvordenklichen Einen unbestreitbar den Vorrang einräumt, auf dessen Basis der naturphilosophische Heraklitismus in die Theorie des Absoluten integriert werden soll. Dem steht aber entgegen, daß die lautere Freiheit nur auf dem Boden des rotatorischen Umtriebs der Notwendigkeit oder Natur Gottes in den Blick kommt, die das Prius ist und aus der die Freiheit allein genetisch erklärt werden soll, ein Versuch, der zum Scheitern verurteilt ist. Dem entspricht, daß Schelling in den Weltaltern das Absolute nur historisch, nicht systematisch entwickelt: "Es scheint [...], daß auch auf dem andern Wege (da man von der lautern Geistigkeit ausgeht) auf eben jenen Begriff von der Gottheit zu kommen sey. Allein dieser Weg oder diese Verbindung würde doch höchstens eine dialektische, niemals aber eine historische, d.h. eigentlich wissenschaftliche, seyn können" (VIII, 258f.). Doch auch der historische Weg bleibt im unaufgehobenen Dualismus zwischen dem Streit der Kräfte in der Natur und lauterer Freiheit befangen. Dieser einseitigen historischen Darstellung wird Schelling in seinem nächsten Systementwurf entgegen 42

Die überseiende Einheit nennt Schelling auch den "Willen, der nichts will". Mit diesem Begriff als Nachfolgebestimmung der absoluten Identität, der hier am Ende der Entwicklung hereinkommt, beginnt die Darstellung in Druck I. Diesem nichts wollenden Willen wird der sich selbst zeugende oder der Wille zur Existenz, der etwas wollende Wille, gegenübergestellt. Dieser etwas wollende Wille ist Index eines Mangels; er ist der Vorläuferbegriff der verneinenden Kraft. Dagegen ist der nichts wollende Wille selbstgenügsamer, lauterer Wille, der die Wahl hat zu sein oder nicht zu sein (vgl. WA I, 14ff.). Dieser Gedanke weist auf die Bestimmung des Absoluten als Können in der Erlanger Vorlesung voraus.

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zu arbeiten versuchen, indem er der ewigen Freiheit Gottes (wieder) den Vorrang vor der Notwendigkeit einräumt. Unübersehbar schlägt sich in der Tendenz zur rein historischen Darstellung der Weltalter von 1814 der Grundwiderspruch der Weltalterentwürfe zwischen Absolutheit und Geschichtlichkeit des Absoluten nieder, an dem die prozessuale Theorie der wirklichen "Geschichte des Absoluten" scheitert.« Warum bekommt die Zeit in den Weltaltern einen solchen ausgezeichneten Stellenwert? Daß etwas existiert, heißt in den Weltaltern, daß der Anfang als Anfang nicht mehr existiert. Der Anfang bleibt in allem Existierenden 'verdrungen'. Die Zeit entsteht mit der Überwindung des Anfangs in allem Existierenden. Auch dem Absoluten kommt in diesem Sinne ein zeitliches Schicksal zu. Das Absolute ist der Herrschaft der (ewigen) Zeit unterworfen, insofern seine Natur als 'ewige Vergangenheit' gesetzt werden muß. Schelling verdeutlicht diesen Stellenwert der Zeit für das Absolute wie immer in den Weltaltern anthropomorphisch: "Der Mensch, der nicht sich selbst überwunden, hat keine Vergangenheit, oder vielmehr kommt nie aus ihr heraus, lebt beständig in ihr" (VIII, 259). Zeit wird gesetzt durch Selbstunterscheidung: "Nur der Mensch, der die Kraft hat sich von sich selbst (dem Untergeordneten seines Wesens) loszureißen, ist fähig sich eine Vergangenheit zu erschaffen" (ebd.). Ausgenommen von der Herrschaft der Zeit ist allein jene höchste "Lauterkeit", die Schelling die "ewige Freiheit" nennt. An diesen Gedanken wird Schelling in der Erlanger Vorlesung anknüpfen.

J. Habermas bringt die Aporie der Weltalterphilosophie auf den Begriff, wenn er sagt: "Der geschichtliche Gott ist zwar geschichtlich, aber kein Gott, und der ewige Gott ist zwar ein Gott, aber nicht geschichtlich" (J. Habermas (1954), S. 372f.). Für das eigentliche Scheitern der V/eltalter ist also für Habermas der Umstand verantwortlich, daß Zeit und Ewigkeit bzw. Geschichte und Absolutheit nicht zu vereinbaren sind. Doch wird man das nicht der Geschichte oder dem Absoluten selbst anlasten dürfen, sondern Schellings Konstruktion.

6. Kapitel Die Erlanger Vorlesung: Vom geschichtlichen Absoluten zum Absoluten als unvordenklichem Daßsein I. Dialektik und Ekstasis a) Dialektik als Propädeutik In der Erlanger Vorlesung - zehn Jahre nach dem ersten Weltalterentwurf - versucht Schelling erneut einen Systementwurf. Man sollte diesen Entwurf aber eher als Vollendung der Weltalter-Periode denn als Anfang der positiven Philosophie betrachten, genauer gesagt, er bildet die Brücke zwischen der mittleren und der späten Phase der Philosophie Schellings.1 Die uns vorliegende Nachschrift der Erlanger Vorlesung "Initia Philosophiae Universae"2 bezieht sich auf die erste Vorlesungstätigkeit Schellings in Erlangen vom 4. Januar 1821 bis zum 21. März 1821.3 Sie umfaßt 36 Vorlesungen. Davon machen den ersten Teil mit

1

"Erlangen war ein Zwischen, war es auch im Schaffen, war eine Mitte im Weg von der "Weltalter"-Spekulation zur positiven Philosophie" (H. Fuhrmans (1966), S. 20). Ahnlich urteilt auch Tilliette: "Le cours d'Erlangen clot plutôt une période qu'il n'en ouvre une autre" (X. Tilliette (1970), Bd. 2, S. 137). Da die Erlanger Vorlesung in der Literatur bisher stiefmütterlich behandelt wurde, soll sie hier etwas ausführlicher zu Wort kommen.

2

Fuhrmans merkt zum Titel der Erlanger Vorlesung "Initia Philosophiae Universae" in der Einleitung zu seiner Edition an: "Ich habe der Vorlesung den Titel der lateinischen Vorlesungsankündigung gegeben, weil Schelling bei "Initia" sicher an die Initial-Weihen der Mysterienreligionen gedacht hat" (E, XVIII, Anm. 10).

3

Die Nachschrift, die Fuhrmans, was den ersten Teil anbelangt, synoptisch mit dem von Schellings Sohn in dem SW Bd. IX, S. 209-246 herausgegebenen Partien anordnet, stammen von Friedrich Leonard Enderlein und wurden 1962 von der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart erworben. Sie ist keine eigentliche Vorlesungsnachschrift, sondern offensichtlich eine Abschrift einer solchen und daher ein durchaus problematischer Text. Anders verhält es sich mit dem von Schellings Sohn herausgegebenen Text. Obwohl seine Authentizität nicht gesichert ist, stammt er eventuell von Schellings Hand. E r könnte aus eigenen Notizen und herangezogenen Nachschriften kompiliert sein. Diese ungesicherte Text-

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Geschichtliches Absolutes / Absolutes als unvordenkliches Daßsein

dem Titel Über die Natur der Philosophie als Wissenschaft ungefähr ein Drittel, nämlich ingesamt 11 Vorlesungen aus, die Überlegungen zur Methode der Philosophie enthalten, während der zweite Teil in 26 Vorlesungen Schellings neuen Systementwurf beinhalten. Der erste Teil befaßt sich mit der Frage, "wie können wir jene ewige Freiheit [...] wissen" (E, 22). Der zweite Teil beantwortet die Frage: "Wie können wir sagen, daß die ewige Freiheit ist" (E, 69).4 Bei der Erörterung der Methode der Philosophie steht das Verhältnis von Dialektik und Ekstasis im Vordergrund. Hier fallt sofort auf, daß für Schelling das dritte methodische Moment der Weltalter, die neomythische Narration, keine Rolle mehr spielt. Das Programm einer neomythologischen Realisierung der Philosophie hat Schelling offenbar aufgegeben. Es überlebt später in abgewandelter Form in der Philosophie der Mythologie. Ausgangspunkt der Erlanger Vorlesung ist die erkenntnistheoretische Frage nach der Erkenntnis des Absoluten. Diese Frage ergibt sich hier aus Schellings Einsicht, daß das menschliche Wissen nicht unmittelbar und von sich aus beim Absoluten ist. Die Frage nach der Möglichkeit eines epistemischen Zugangs zum Absoluten setzt die Klärung der Vereinbarkeit des durch den Gegensatz von Subjekt und Objekt gekennzeichneten menschlichen Wissens mit der jeglichem Gegensatz enthobenen Absolutheit des Absoluten voraus. Bevor aber die Frage der Vereinbarkeit von menschlichem Wissen und Absolutem beantwortet werden kann, muß das menschliche Wissen selbst näher betrachtet werden. Das menschliche Wissen ist in einer Anzahl sich widerstreitender philosophischer Systeme niedergelegt, worunter Schelling die neuzeitlichen Systeme seit Descartes versteht. Schelling beschäftigt sich daher mit Kennzeichen, Anspruch und Erfordernissen systematischer Philosophie (vgl. 1. - 3. Vorlesung). Angesichts des Widerstreits der Systeme - ein Motiv, das Schelling seit den Briefen verfolgt - bleibt dem menschlichen Wissen zunächst nichts anderes übrig, als seine widersprüchliche Verfassung einzuselage setzt dem gedanklichen Nachvollzug der Erlanger Vorlesung erheblichen Widerstand entgegen. In inhaltlicher wie in terminologischer Hinsicht weist der Hauptteil der Nachschrift Übereinstimmungen mit dem Weltalter-Fragment auf, das B. Loer 1974 aus den Berliner Nachlaßbeständen Schellings herausgegeben hat. 4

Der erste Teil der Erlanger Vorlesung nimmt die "Einleitungen" in die Spätphilosophie vorweg, die unter dem Titel "negative Philosophie" firmieren. Die Entwicklung des absoluten Subjekts oder des Prinzips der Philosophie erscheint bereits in der Erlanger Vorlesung in der Entgegensetzung einerseits der 'idealen' Selbstbewußtwerdung andererseits der 'realen' Selbstkonstitution.

Dialektik und Ekstasis

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hen. Die einander widersprechenden Systeme des Wissens sind nur die äußerliche Manifestation des widersprüchlichen Charakters des menschlichen Wissens selbst. Paradigmatisch für die endliche Struktur des menschlichen Wissens ist der Gegensatz zwischen Idealismus und Realismus, zwischen Primat des Subjekts und Primat des Objekts für das Zustandekommen des Wissens. Die Darstellung der Notwendigkeit des Widerspruchs im menschlichen Wissen und die Verfolgung seiner Verlaufsformen durch die verschiedenen philosophischen Systeme hindurch ist Aufgabe der Dialektik. Sie verfolgt den Widerspruch im menschlichen Wissen "von den ersten Wurzeln an durch alle seine Verzweigungen bis zur Verzweiflung [...], wo dann der Mensch gleichsam gezwungen ist, die Idee jenes höheren Ganzen zu fassen, in welchem die widerstreitenden Systeme durch ihr Zusammenbestehen jenes höhere Bewußtseyn erzeugen, in dem er wieder frei ist von allem System, über allem System [!]. Dieses Geschäft ist eigentlich das der bloßen Dialektik, welche keineswegs die Wissenschaft selbst, wohl aber die Vorbereitung zu ihr ist" (E, 14). Lassen sich die verschiedenen philosophischen Systemkonzeptionen - von denen Schelling Spinoza, Leibniz und Kant nennt - in ihrer Widersprüchlichkeit auf die generelle Widerspruchsstruktur des menschlichen Wissens zurückführen, dann kann mit den Mitteln der Dialektik kein System als das die anderen Systeme überbietende ausgewiesen werden. Der durch die Dialektik dargestellte Widerstreit der Systeme läßt sich durch die Dialektik nicht schlichten. Die Dialektik hat somit ein nur negatives Resultat. Obgleich Schelling Dialektik nicht völlig negiert - eine völlige Negation der Dialektik liefe auf die Vernichtung des Wissens hinaus und lieferte die Philosophie dem Dogmatismus aus -, nimmt er eine deutliche Depotenzierung der Dialektik vor. Der Bereich der Dialektik wird hier außerordentlich eingeschränkt. Er wird von der Prinzipiierung einer den Streit der Systeme schlichtenden Philosophie ausgeschlossen und erhält den Stellenwert einer bloßen "Propädeutik" (E, 14). Es gibt wohl keine Schrift Schellings, in der der Dialektik eine so geringe Bedeutung beigemessen wird. Aufgabe einer über die Dialektik hinausgehenden Prinzipiierung der Philosophie ist es, den Aufgabenbereich der Dialektik in der Weise zu bestimmen, daß ein 'Zusammenbestehen' der Systeme (vgl. E, 13) möglich ist. Damit ist der Nachweis verbunden, daß der Grund der Geltung der Dialektik außerhalb ihrer Reichweite liegt. Schelling faßt seine Ausführungen über Dialektik zusammen: "Ich habe bisher von dem äußern Grund des Systems oder dem Bestreben gesprochen, das menschliche Wis-

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Geschichtliches Absolutes / Absolutes als unvordenkliches Daßsein

sen im System - im Zusammenbestehen zu sehen. Dieser äußere Grund ist der an sich unauflösliche Widerstreit im menschlichen Wissen" (E, 14). b) Emphatischer Freiheitsbegriff als Prinzip des Systems Ein System des menschlichen Wissens kann dann alle philosophischen Systeme in einen planmäßigen und systematischen Zusammenhang bringen, wenn ein "Princip" (E, 15) gefunden wird, das durch alles hindurchgeht. Die beiden Voraussetzungen eines solchen Prinzips des Systems sind die Idee der Bewegung und die Idee des einen Subjekts (vgl. E, 15). Dieses Prinzip der Philosophie läßt sich zunächst nur via negationis bestimmen als das sich aller Bestimmung Entziehende, als "das Indefinible, das Unfaßliche, das Unendliche" (E, 20). Dieses Subjekt als das Indefinible, welches "auch ein Definibles werden könnte" (E, 20), ist weder Gott noch nicht Gott, weder ein Seiendes noch ein nicht Seiendes.5 Seit der Freiheitsschrift betont Schelling den Unterschied zwischen Absolutem und Gott selbst (VII, 357ff., WA I, 16, 43, 92 u.a., VIII, 236): "Nämlich das absolute Subjekt ist nicht nicht Gott, und es ist doch auch nicht Gott, es ist auch das, was Gott nicht ist. Es ist also insofern über Gott, [...] und das wird ausdrücklich hier bemerkt, damit nicht etwa das Absolute - jenes absolute Subjekt - geradezu mit Gott verwechselt werde" (E, 18).6 Der Mangel dieses negativen Begriffs vom absoluten Subjekt ist in einem zweiten Schritt gleichsam durch Negation der Negation aufzuheben. Der positive Begriff des absoluten Subjekts bestimmt dieses als absolute Freiheit, die darin besteht, frei zu sein, sich aufs Endliche einlassen und zugleich alle Endlichkeit abstreifen zu können. Mit diesen beiden Schritten soll die Unabhängigkeit des Prinzips oder des Absoluten gegenüber allem Endlichen überhaupt zum Ausdruck gebracht werden. In dieser Doppelbestimmung als das "Überseiende"

5

In der Freiheitsschrift hatte Schelling die "Indifferenz" des "Ungrundes" mit dem "Prädicat" der "Prädicatlosigkeit" (VII, 406) zu beschreiben versucht. Jetzt wird deutlich, daß das Indefinible so gedacht werden muß, daß es als Ermöglichung von Bestimmtheit fungieren kann.

6

Schellings spätere Philosophie nimmt durchaus eine Wendung ins Christliche. Dies ist aber nicht so zu verstehen, daß sich die Philosophie ans Christentum akkommodiert. Es geht Schelling wenigstens der Intention nach vielmehr um eine philosophische Explikation des Christentums. Dazu dient die Differenz von Absolutem und Gott.

Dialektik und Ekstasis

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und als das "Seinkönnende" ist das absolute Subjekt oder die ewige Freiheit der Grund des Systems der Systeme.7 Wenn Schelling das absolute Subjekt als ewige Freiheit bestimmt, dann hebt er auf dessen absolute Substanzlosigkeit ab. Er beschreibt das substanzlose Wesen des Subjekts wunderschön als ein "durch alles durchgehen und nichts seyn, nämlich nichts so seyn, daß es nicht auch anderes seyn könnte" (E, 16). "Ich möchte es aber nicht so ausdrücken: es ist das, was frei ist, Gestalt anzunehmen. Denn so würde diese Freiheit als Eigenschaft erscheinen, die ein von ihr noch verschiedenes und unabhängiges Subjekt voraussetzt - sondern die Freiheit ist das Wesen des Subjekts, oder es ist selbst nichts anderes als die ewige Freiheit" (E, 21). Nirgends im Deutschen Idealismus ist der Freiheitsbegriff mit solcher Emphase verwendet worden. Schellings Verknüpfung des Freiheitsbegriff mit dem des Absoluten stellt eine radikale Kritik aller Seins- und Substanzmetaphysik dar. Er unterscheidet sich von dem Hegels dadurch, daß die Freiheit über die Freiheit des begrifflichen Denkens weit hinausgeht. Freiheit meint hier nicht bloße Autonomie. Freiheit ist hier absolute Losgelöstheit von allem Endlichen und zugleich souveräne Mächtigkeit zum Selbstanfangenkönnen, zum Aussichherausgehen oder Insichbleiben - ein substanzloses Nichtfestgelegtsein. Dieses Nichtfestgelegtsein bringt Schelling mit der Wendung zum Ausdruck, das Absolute sei nichts und "auch nichts nicht, d.h. es ist alles" (E, 17). Schellings Verbindung von Freiheit und Absolutem in der Erlanger Vorlesung nimmt Anleihen am frühromantischen Ironiebegriff. Das Absolute ist die substanzlose Federleichtigkeit, ja Schwerelosigkeit, auf die die frühromantische Ironie, die über dem Ganzen des Kunstwerks schwebende, alles vernichtende, alles überschauende und sich auf alles einlassen könnende Heiterkeit, abzielt. Wie wir sehen werden, geht in Schellings Freiheitsbegriff noch eine weitere romantische Implikation ein, nämlich die spezifisch romantische Verbindung von ironischer Negativität und Sympathie und Sehnsucht nach Einfachheit. Die absolute Freiheit impliziert keineswegs die Notwendigkeit, an sich zu halten. Aber ebensowenig ist sie die Notwendigkeit, sich in

7

Angesichts dieses Prinzips der Freiheit gilt das, was Schelling, ein letztes Mal Dante (in eigener Übersetzung) zitierend, warnend anführt: "Was Dante an der Pforte des Infemum geschrieben seyn läßt, dieß ist in einem andern Sinn auch vor den Eingang zur Philosophie zu schreiben: "Laßt alle Hoffnung fahren, die ihr eingeht". Wer wahrhaft philosophiren will, muß aller Hoffnung, alles Verlangens, aller Sehnsucht los seyn, er muß nichts wollen, nichts wissen, sich ganz bloß und arm fühlen, alles dahingehen, um alles zu gewinnen" (E, 19).

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Geschichtliches Absolutes / Absolutes als unvordenkliches D aß sein

Gestalt einzuschließen und sich so festzulegen. Die ewige Freiheit ist frei, die Freiheit zu sein und nicht die Freiheit zu sein: "Denn wäre es [das absolute Subjekt, d.V.] nur so die Freiheit, daß es nicht auch Nicht-Freiheit werden könnte, daß es Freiheit bleiben müßte, so wäre ihm die Freiheit selbst zur Schranke, selbst zur Nothwendigkeit geworden, es wäre nicht wirklich absolute Freiheit" (E, 22). Die Freiheit ist zwar frei zur Setzung und Nichtsetzung des Endlichen. Ist das Endliche aber gesetzt, dann ist die Freiheit allerdings nicht mehr frei hinsichtlich des Gesetzten. Der hier entwickelte Freiheitsbegriff steht in Kontinuität mit den Weltaltern von 1811, wo Schelling mit dem Begriff eines lauteren, nichts wollenden Willens einen solchen Freiheitsbegriff entwirft, und verweist zugleich auf die Spätphilosophie, derzufolge die Setzung des Endlichen eine absolut freie und souveräne Tat ist, die nicht begriffen und begründet werden kann.«

c) Das Problem der menschlichen Erkenntnis der ewigen Freiheit Die ewige Freiheit soll nun aber nicht nur durch doppelte Negation begrifflich "konstruiert' werden, sondern wirklich erkannt werden. "Aber wie können wir jene ewige Freiheit innewerden, wie jene Bewegung wissen? Das ist jetzt die nächste Frage" (E, 22). Der Versuch der Erkenntnis der ewigen Freiheit mündet jedoch zunächst in eine Aporie: Die absolute, der Subjekt-Objekt-Relation entnommene Freiheit müßte gegenständlich werden, um erkannt zu werden, wäre dann aber nicht mehr das Intendierte: "Es ist ein Widerspruch darin, daß die ewige Freiheit erkannt werden soll. Sie ist absolutes Subjekt = Urständ; wie kann sie denn Gegenstand werden?" (E, 29).9 Schelling faßt die Erkenntnis des Absoluten wie in den Weltaltern als "Mitwissenschaft, conscientia" (E, 23) des Menschen an der Bewegung des Absoluten. Wie ist eine solche Mitwisserschaft möglich? Wodurch 8

Daß der Freiheitsbegriff der Erlanger Vorlesung eine Brücke zwischen den Weltaltern und der Spätphilosophie schlagt, betont M. Durner (1979), S. 57.

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Ahnlich wie Schelling bestimmt Novalis das Absolute als die sich dem vorstellenden Denken entziehende Freiheit des absoluten Gegensatzes: "Der Gegensatz aller Bestimmung ist Freyheit. Der absolute Gegensatz ist Freyheit - Sie kann nie Gegenstand werden, sowenig, wie der Gegensatz, als solcher - Alles Substrat des Gegensatzes kann Gegenstand werden, ist aber eben darum nicht eigentlicher Gegensatz. Alle Bestimmung des Gegensatzes, selbst seine Bestimmung, als Gegensatz, ist er eigentlich nicht selbst" (Novalis Schriften 2, S. 202, Fr. 284). An diesem Vergleich mit Novalis' Freiheitsbegriff zeigt sich wieder Schellings Nähe zur Frühromantik in seinem späteren Denken.

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können wir Zeugen des Geschehens werden, das sich im Absoluten abspielt? Im Rückgriff auf die "uralte Lehre, daß Gleiches nur von Gleichem erkannt werde" (E, 23), die auf den Skeptiker Sextus Empirikus zurückgeht, entwirft Schelling zunächst eine dreigliedrige Bewegung der Selbsterkenntnis des Absoluten. 10 Im ersten Stadium existiert die absolute Freiheit erkenntnislos als ein "ruhende[s]" bzw. "nicht wissendes Wissen" (E, 24), im zweiten erkennend und wissend, aber nicht sich selbst, im dritten Stadium endlich fallen Erkenntnis und Erkenntnisgegenstand in einem "wissende[n] Nichtwissen" zusammen (E, 25). Dabei wird die Bewegung des Absoluten nicht nur in Termini des Wissens gefaßt. Nicht transitives Können und nicht transitives Wollen, Wollen in Indifferenz, sind weitere Kennzeichnungen des Absoluten. Beide Bestimmungen werden mit den Termini "Magie" (E, 25) und "Weisheit" (E, 26) - Termini der esoterischen theosophischen Philosophie - zusammengefaßt.11 Durch den dreigliedrigen Prozeß ruhendes Wissen - Wissen - wissendes Nichtwissen entsteht die göttliche "Wissenschaft" (E, 25), ein Wissen, das seine Objekte selbsttätig produziert, ein magisches Wissen, das Schelling auch "das freie Denken" (E, 52) nennt. "In der ursprünglichen Magie liegt [...] mehr als bloßes Wissen, nämlich objektive Hervorbringung" (E, 26). Die menschliche Erkenntnis der ewigen Freiheit setzt also den Begriff von deren eigener Selbsterkenntnis voraus. Wie steht es aber mit der Möglichkeit der menschlichen Erkenntnis derselben selbst? Schelling hebt zunächst die Differenz zwischen göttlichem und menschlichem Wissen hervor. Das menschliche Wissen kann nur die ideale Reproduktion, "bloß ideales Nachbilden" (E, 27) der göttlichen Weisheit s e i n . 12 Die Suche nach der göttlichen Weisheit von seiten des menschlichen Wissens setzt aber voraus, daß sich die göttliche 10 Auf diese Lehre, daß Gleiches von Gleichem erkannt werde, rekurriert Schelling seit der Freiheitsschrift (VII, 337), ohne sie aber bisher zum Ani aß genommen zu haben, weitläufigere epistemische Überlegungen über den Zugang zum Absoluten anzustellen. 11 Auch Novalis frühromantisches Konzept des magischen Idealismus ist durch diese Begriffe maßgeblich bestimmt. 12 Schon in der Identitätsphilosophie kann die Vernunft das Absolute nicht herstellen, sondern nur ideal reproduzieren. Vernunft, verläßt bei Schelling die Stelle des absoluten Prinzips und fällt als ideale Reproduktion des Absoluten hinter dieses selbst zurück. In der Erlanger Vorlesung radikalisiert Schelling diesen Standpunkt: "Hieraus [aus der Vorgängigkeit des Absoluten vor der Vernunft, d.V.) erhellt die potentielle, die bloß leidende Natur der Vernunft, aber eben daraus auch, daß die Vernunft nicht das thätige Princip der Wissenschaft seyn kann" (E, 53). In der Spätphilosophie unterscheidet Schelling die nicht-tätige Vernunft als weiblich vom tätigen Verstand als männlich (vgl. ΧΠΙ, 75).

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des menschlichen Wissens setzt aber voraus, daß sich die göttliche Weisheit im menschlichen Wissen "sucht" (ebd.). Denn in der Natur kann sich die ewige Freiheit nicht fassen - Natur ist "Hemmung" (E, 28) der Weisheit -, allein das menschliche Wissen ist der Ort des Zusich-selbst-Kommens der ewigen Freiheit. Die Frage nach der Erkenntnis des Absoluten stellt sich hier wieder, um die gesamte Theorie nicht dem Vorwurf des irrationalistischen Dogmatismus auszusetzen. Die Erlanger Vorlesung ist die Fortsetzung und Radikalisierung des Programms der intellektuellen Anschauung, indem sie die Erkenntnis der überseienden Freiheit durch die Konstruktion einer Entsprechung der Freiheit Gottes und der Freiheit des Menschen begründet. Erkenntnis der ewigen Freiheit durch den Menschen kann es nur geben, wenn der Freiheit des Absoluten die Freiheit des Menschen korrespondiert, wenn das menschliche Bewußtsein und die Selbsterkenntnis Gottes an einem gewissen Punkt koinzidieren. Dem absoluten Indifferenzpunkt Gottes korrespondiert die relative Indifferenz des Menschen: "Nun könnt man sagen: hier (im Ende) ist die ewige Freiheit also als absolutes Subjekt erkennbar. Ja, aber nur für sich selbst. Die ewige Freiheit kann daher überhaupt nur sich selbst erkennen; es gibt überhaupt keine Erkenntniß von ihr, als in welcher dasselbe dasselbe erkennt. Also für den Menschen scheint es keine Erkenntniß der ewigen Freiheit zu geben. Nun fordern wir aber doch eine solche, und zwar unmittelbare Erkenntniß. Die einzige Möglichkeit einer solchen wäre, wenn jenes Selbsterkennen der ewigen Freiheit unser Bewußtseyn, also umgekehrt unser Bewußtsein ein Selbsterkennen der ewigen Freiheit wäre" (E, 32).

d) Der epistemische Zugang zum Prinzip per Ekstasis Neben der objektiven Bewegung der Selbsterkenntnis des Absoluten ist eine weitere Voraussetzung der Erkenntnis der ewigen Freiheit die Tat des 'Abfalls' vom Absoluten, in der der Mensch die absolute Freiheit, die nur für Gott reserviert ist, selbst will und sich unterordnet. Indem der Mensch in seiner Selbstermächtigung die absolute Freiheit als seine ergreift, hebt die Geschichte des Bösen, des Irrtums und der Widersprüche an, die das menschliche Dasein in eine immer größer werdende "Krisis" (E, 50) hineintreibt, die Schelling mit einer "wirbelnden Bewegung" (E, 52) vergleicht. Wie kann die Trennung des Menschen vom Absoluten aufgehoben und damit

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die "Krisis" überwunden werden? Die bisherige idealistische Philosophie hat den Ausweg in der Philosophie als Wissenschaft erblickt. Die Wissenschaft führt uns vom endlichen Wissen zur Einsicht in das Absolute. Diesen Weg hat Hegel in der Phänomenologie des Geistes (1807) eingeschlagen. Mit dem wissenschaftlichen Weg ist für Schelling aber ein von Hegel nicht durchschautes Problem des Zugangs zur absoluten Freiheit markiert. Dieses Problem besteht in dem Zirkel, daß wir zur Erkenntnis der ewigen Freiheit nur durch Wissenschaft geführt werden können, andererseits diese Wissenschaft schon von der Einsicht in jene Freiheit ausgehen muß: "[...] so müssen wir in das Wissen dieses Wissens erst wieder geführt werden durch Wissenschaft. Allein die Wissenschaft hat dazu auch keinen andern Weg, kann es nicht leisten, als indem sie von der ewigen Freiheit ausgeht·, von dieser kann sie aber nicht ausgehen, ohne von ihr zu wissen. Hier ist also ein offenbarer Cirkel. Wir müßten das Resultat der Wissenschaft schon haben, um die Wissenschaft nur anfangen zu können" (E, 36). Der Zirkel bringt das Problem zum Ausdruck, womit in der Philosophie angefangen werden soll. Wie kann dieser Zirkel gelöst werden, ohne durch Inanspruchnahme von Glauben und Devination die Philosophie dem Dogmatismus auszuliefern? Der Zirkel entsteht im Wissen-Wollen. Das Wissen-Wollen der ewigen Freiheit verunmöglicht deren Erkenntnis (vgl. E, 29). Diese wird ermöglicht durch den Entschluß zur Selbstnegation des menschlichen Wissens. In diesem Zusammenhang weist Schelling das für ihn fundamentale Mißverständnis zurück, Philosophie sei eine "demonstrativein] Wissenschaft" (E, 37), die von einem Gewußten ausgeht und zum nächsten Gewußten fortschreitet, wodurch das Wissen in einen unendlichen Progreß von Bedingtheiten gerät, wie Jacobi sagen würde. Philosophie konstituiert sich vielmehr durch eine "freie Geistesthat; ihr erster Schritt ist nicht ein Wissen, sondern vielmehr ausdrücklich ein Nichtwissen, ein Aufgeben alles Wissens für den Menschen" (E, 38). Der Zirkel kann nur durchbrochen werden, wenn das Wissen von sich läßt. Das 'Lassen des Wissens' ist eine Selbstnegation des Wissens, durch die das menschliche Subjekt sich selbst "verliert" und seine Freiheit "außer sich gesetzt ist" (E, 39). Dieses Außer-sich-Setzen seiner Freiheit und seiner Subjektivität nennt Schelling "Ekstase" (ebd.).13 Das absolute Subjekt kann nur durch 13 Schelling versteht das Wort Ekstasis primär in einem rein ethymologischen Sinne, d.h. als Entfernung oder Entsetzung von einer Stelle. "Quel que soit l'arrière-plan mystique, c'est la signification conceptuelle qui intéresse Schelling, et le mot est choisi pour sa valour expressive" (X. Tilliette (1970), Bd. 2, S. 42). Schelling ersetzt

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Ekstase erfaßt werden, denn allein sie transzendiert die Subjekt-Objekt-Relation, an die das menschliche Wissen gebunden ist. Aus dem unauflösbaren Widerspruch des vergegenständlichenden Wissens gibt es keinen anderen Ausweg als den 'Sprung*. Nur die den Widerspruch transzendierende Tat der Ekstase führt zur wahren Einsicht in die ewige Freiheit. Nicht Dialektik, sondern allein Ekstasis konstituiert die Wissenschaft als Einheit von Selbsterkenntnis des Absoluten und menschlichem Wissen. Damit verschwindet der methodische Zwiespalt von Dialektik und Ekstasis, wie er noch in den Weltaltern bestand, in der Erlanger Vorlesung, weil das philosophische System ausschließlich durch Ekstasis begründet ist und der durch Dialektik gekennzeichnete Bereich als Propädeutik zum System von diesem selbst ausgeschlossen ist.14 Der in der Freiheitsschrift (1809) außer das Vernunftsystem gelegte vernunftlose Ungrund der Indifferenz wird hier zum Prinzip des Systems selbst. Das damalige Vernunftsystem bleibt hier außer dem System als dessen Propädeutik, das zum reinen System der Ekstase wird. Offensichtlich gelingt es Schelling nicht, beides, Dialektik und Ekstase, in ein System zu integrieren. In der Erlanger Vorlesung wird definitiv festgestellt, daß das Absolute nicht durch dialektische Wissenschaft faßbar ist. Dies widerspricht aber ganz offenkundig der Durchführung der Theorie des Absoluten, die durchaus dialektisch verfährt. Die Entwicklung des absoluten Subjekts ist nur durch dialektische Strukturen zu begreifen. Schelling gelingt es nicht, ein reines System der Ekstase durchzuführen. Gegen Schellings Selbstverständnis ist also festzuhalten, daß das System der Ekstasis ohne Dialektik, und zwar nicht nur als Propädeutik, sondern als wesentliches Moment der Entwicklung des Absolu-

den Begriff der intellektuellen Anschauung in der Erlanger Vorlesung durch den der Ekstase, weil er den Sachverhalt des Selbstverlustes in der Anschauung besser zum Ausdruck bringt (vgl. E 39). Zudem - und das ist entscheidend - weist er eine über die rein theoretische Dimension der intellektuellen Anschauung hinausgehende praktische Dimension auf. W. Beierwaltes erkennt zwar die Gemeinsamkeit zwischen intellektueller Anschauung und Ekstasis, übersieht aber diesen entscheidenden Unterschied. "Der Terminus "Ekstasis" tritt bei Schelling an die Stelle von "intellektueller Anschauung", meint aber denselben [!] Sachverhalt" (W. Beierwaltes (1973), S. 250 Anm. 43). Mit der Ekstasis-Konzeption setzt Schelling sich deutlich von Hegel ab, der in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes negativ von der Ekstase spricht und ihr die Arbeit des Begriffs gegenüberstellt (Hegels Werke 3,66). 14 Obgleich sich Schelling mit der Ekstasis-Theorie von der unio mystica der Theosophie distanzieren möchte (vgl. E, 59f.), kommt er mit ihr in gefährliche Nähe zu dieser.

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ten, nicht auskommt. Es ist diese Einsicht, die Schellings Schritt zur Spätphilosophie motiviert (vgl. R. Ohashi (1975), S. 6 Iff). e) Die ekstatische Inversion des menschlichen Bewußtseins: docta ignorantia Durch die Ekstasis tritt der dem Menschen bisher unbewußte Prozeß der Selbsterkenntnis des Absoluten ins menschliche Wissen ein. Die Bewegung der Selbsterkenntnis des Absoluten gibt so das Gerüst für das ekstatische System der menschlichen Erkenntnis ab. Wie reflektiert nun das menschliche Wissen die Selbstoffenbarung des Absoluten? An der Bewegung der Selbsterkenntnis Gottes im menschlichen Wissen lassen sich mehrere Stadien unterscheiden (vgl. E, 41ff.). Mit dem Akt der Ekstasis reflektiert das menschliche Wissen jede dieser Selbstoffenbarungsphasen des Absoluten. Von der vergegenständlichenden Struktur des menschlichen Wissens befreit, befindet sich das Subjekt zunächst im Zustand des Nichtwissens. Aber es muß ins Wissen übergehen. In der ersten Phase des ekstatischen Wissens entspricht dem Ansichsein des Absoluten das menschliche Nichtwissen. In der zweiten Phase geht das ansichseiende Absolute in das Nichtwissen seiner selbst über. Dem entspricht, daß das menschliche Nichtwissen zum vergegenständlichenden Wissen des Absoluten wird, dem sich das Absolute zugleich entzieht. In der dritten Phase kehrt das Absolute als sich wissendes Absolutes in sich selbst zurück. Dem entspricht ein wissendes Nichtwissen im Menschen, das eine docta ignorantia instantiiert. Bei ihr muß sich das menschliche Bewußtsein bescheiden. Mit der Ekstase beginnt die Wissenschaft der Philosophie, die in Einheit mit der göttlichen Weisheit sich bekundet, die sich aber nur als sokratisches Nichtwissen, als docta ignorantia realisieren kann. Sie bildet das entscheidende Glied der subjektiven Ergänzung zur objektiven Selbsterkenntnis des Absoluten. Schelling faßt diesen dreigliedrigen Prozeß des ekstatischen menschlichen Wissens auch in Termini von Innerlichkeit und Äußerlichkeit. Indem das Absolute seine Innerlichkeit veräußerlicht oder vergegenständlicht, verwandelt sich das per Ekstasis entäußerte, nichtwissende Bewußtsein in Wissen, kehrt gleichsam in seine Innerlichkeit zurück. Infolge der Umkehrung verhält sich das Subjekt wieder gegen die absolute Innerlichkeit, die jenem gegenüber wieder zum Äußeren wird. In der dritten Phase kehrt das Absolute aus sei-

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ner Veräußerung wieder in sein Inneres zurück. Das menschliche Bewußtsein reflektiert diesen Vorgang notwendig als erneute Veräußerung, als Umwandlung von Wissen in Nichtwissen. Im Unterschied zum anfanglichen Nichtwissen ist es jedoch nicht mehr lautere "Selbstaufgegebenheit" (E, 47), sondern "wissendes Nichtwissen" (E, 45). "[...] als aus dem Wissen zurückgebracht, ist es nicht mehr schlechthin Nichtwissen, sondern es ist wissendes Nichtwissen" (ebd.). In der dritten Phase zeigt sich die docta ignorantia als die wahrhafte Weise, wie das menschliche Bewußtsein die ewige Freiheit erinnert. Am Ende des ekstatischen Prozesses hat sich das menschliche Wissen die absolute Freiheit wieder innerlich gemacht. "Daher die uralte Lehre, daß alle Philosophie nur in Erinnerung bestehe" (E, 45). Die Wiedererinnerung der ewigen Freiheit durch das menschliche Bewußtsein vollzieht sich also in einer doppelten Entäußerung des Wissens.15 Im ekstatischen Prozeß geht es also um das Verhältnis von Absolutem und menschlichem Wissen. Absolutes Subjekt und Wissen stehen im Verhältnis des "Rapportisi" (E, 45); "beide sind Correlate" (E, 46), die im Verhältnis der "Reflexion" (E, 48) zueinander stehen. Eine Pointe von Schellings Erlanger Vorlesung ist die Freisetzung der ursprünglichen Wortbedeutung von "Reflexion". Der Ausdruck bezeichnet nicht nur die Umwendung des Wissens auf sich, sondern die spiegelbildliche Verkehrung ursprünglicher Verhältnisse: "Daher braucht man den Ausdruck Reflexion. Wie sich der Gegenstand im Wasser abspiegelt, gerade so steht das absolute Subjekt im umgekehrten Verhältniß zum Bewußtseyn" (E, 44). Und weiter notiert Schelling: Die "jedesmalige Gestalt" des menschlichen Wissens "ist nur der Reflex (das Umgekehrte, daher Reflexion!) von der in der ewigen Freiheit" (E, 47f.). Das Wissen reflektiert die Veräußerung des Inneren des Absoluten als Erinnerung seiner Äußerlichkeit, also spiegelverkehrt. Erst durch "Wiederumwendung" (E, 64) erreicht es

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Di e ekstatische Inversion des menschlichen Bewußtseins, durch die das menschliche Bewußtsein zur Einsicht in das Absolute gelangt, entspricht dem ordo-inversus-Gedanken, dem Gedanken der reflexiven Verkehrung der verkehrenden Reflexion, in Novalis Bewußtseinstheorie. Auch Novalis Theorie ist eine Art "docta ignorantia" (vgl. M. Frank (1989), S. 255). Das ist ein weiterer Beleg dafür, daß sich Schelling in der späteren Phase seines Denkens auf Grundgedanken von Hölderlin und Novalis besinnt.

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den ursprünglichen Zustand des selbstlosen Außer-sich-Seins wieder, in dem es allein der ewigen Freiheit inne werden kann. Weniger vom Theosophismusverdacht, wohl aber vom Dogmatismusverdacht ist Schelling dadurch entfernt, daß er auf den Urzustand des Bewußtseins und nicht bloß auf das bewußtseinstranszendente Absolute reflektiert. Einerseits manifestiert sich das Absolute nur im menschlichen Bewußtsein, andererseits unterliegt das menschliche Wissen im ekstatischen Prozeß dem Einfluß einer sich ihm entziehenden Aktivität. Im selben Maße, wie sich das Wissen in der Ekstase zugunsten des Absoluten zurücknimmt, gewinnt das absolute Subjekt an Realität (vgl. E, 47). Die Philosophie der Ekstasis ist ein weiteres Dokument von Schellings idealismuskritischer Grundthese, daß das Absolute nicht aus dem Wissen selbst heraus begründet werden kann. Anhand der Inversionsstruktur des menschlichen Wissens hat Schelling erstens gezeigt, daß das Wissen die Bewegung der Selbsterkenntnis des Absoluten nur ideal reproduzieren kann und zweitens, daß das Wissen sich zwar selbst als unhintergehbarer Anfang behaupten muß, aber nur um sich zu entäußern. Diese letztlich notwendige Täuschung des Wissens, daß es von sich auszugehen habe, wird korrigiert, indem in der ekstatischen Bewegung des Wissens schrittweise die Priorität der ewigen Freiheit gegenüber dem Wissen als Wahrheit einleuchtet. Im Faktum des Sündenfalls des menschlichen Wissen-Wollens gründet letztlich die Notwendigkeit der Philosophie, deren Zweck es ist, in der Ekstasis die verlorene, ursprüngliche Weisheit wiederzuerlangen. Wiedererinnerung der ewigen Freiheit durch Ekstasis ist das Hauptziel der Philosophie: "Denn nur dem Reinen offenbart sich das Reine" (E, 68). Schelling resümiert: "Soviel im Allgemeinen. Es ist dieß der Grundriß einer eigentlichen Theorie der Philosophie" (E, 46).

II. Schellings Erlanger Systementwurf Im zweiten Teil der Erlanger Vorlesung (12.- 33. Vorlesung) geht es um die Exposition des eigentlichen Systems als einer "Geschichte des Absoluten". Es handelt sich insofern noch um einen Systementwurf der Weltalterphilosophie, der als solcher aber zugleich Gedanken entwickelt, die für die Konzeption der Spätphilosophie maßgebend werden. Das Programm der Philosophie Schellings bleibt immer dasselbe: die Begründung des Systems des Wissens in einem absoluten, unvordenklichen Prinzip; was sich ändert, sind die verschie-

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denen Realisierungsweisen dieses Programms. Wurde in der Identitätsphilosophie das der Vernunft vorausliegende Absolute nur durch die Vernunft expliziert, wird es in der Weltalterphilosphie in seiner eigenen Geschichtlichkeit gefaßt, die sich dem Vemunftdiskurs entzieht. Aber auch die Weltalterkonzeption des Absoluten führt in eine Aporie. Der Widerstreit von Geschichte und Absolutheit des Absoluten ist es, der Schellings Philosophie über die Weltalter-Phase hinaustreibt. Manfred Durner, der als einziger eine eingehende Interpretation der Erlanger Vorlesung nach der Enderlein-Nachschrift vorgelegt hat, bringt die Aporie der Weltalterphilosophie auf den Begriff, wenn er sagt: "Das große Unternehmen aller bisherigen Philosophie, eine "Geschichte des Absoluten" a priori zu konstruieren, die dann auch aposteriorische Gültigkeit besitzt und sowohl der Absolutheit als auch der Geschichtlichkeit des Absoluten gerecht wird, ist zum Scheitern verurteilt" (Durner (1979), S. 253). Thema des Erlanger Systementwurfs ist wie das der WeltalterFragmente erstens der theogonische und zweitens der kosmogonische Prozeß des Absoluten. Ersterer umfaßt drei große Momente, die sich zu den drei Phasen des ekstatischen Prozesses im ersten Teil der Vorlesung in Beziehung setzen lassen. Denn die Möglichkeit der apriorischen Rekonstruktion der "Geschichte des Absoluten" im philosophischen Denken gründet in der "Ekstase" des Ich. Der durch die Ekstasis vermittelte Ausgangspunkt dieses Prozesses ist in Wiederaufnahme des Ansatzes der Weltalter von 1811 die "ewige Freiheit", in der sich die Potenzen als Möglichkeitsbedingungen und Gestaltungskräfte des Seins des Absoluten noch nicht in Trennung und Wirksamkeit befinden, sondern in einer aller Differenz enthobenen Einheit. Die Einheit des Absoluten wird sodann doppelt bestimmt als potentielle und aktuelle Einheit. Dementsprechend wird zunächst die Natur des Absoluten als absolute Indifferenz und die Potenzen seines Werdensprozesses, sodann das Verhältnis der potentiellen zur aktuellen Einheit des Absoluten behandelt. Schelling versucht, mit der Erlanger Vorlesung Schwierigkeiten zu überwinden, in die er während der Ausbildung der Weltalterphilosophie geraten war. B. Loer führt drei Widersprüche der Absolutheitstheorie der letzten Weltalter-Fassung an, die den Ansatz der Erlanger Vorlesung motivieren:

1. Nicht das absolut Notwendige, nur allein absolute Freiheit kann auch den absoluten Anfang des Werdensprozesses des Absoluten ausmachen, weil nur Freiheit als Bedingung der Möglichkeit des Verwirklichungsprozesses des Absoluten fungieren kann. Das

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schließt ein, daß das "Rad der Geburt" nicht allein auf die notwendige Natur Gottes appliziert, sondern auch der absoluten Freiheit zugeordnet werden muß. 2. Der in den Weltaltern von 1814 vorgängig und ursprünglich angesetzte Dualismus der Prinzipien Egoität und Liebe verunmöglicht deren Vermittlung und widerspricht dem Begriff des Absoluten. D.h., die absolute Freiheit muß als absolut anfängliche gedacht werden. Sie muß der Notwendigkeit vorausgedacht werden und vor dem Widerstreit von Freiheit und Notwendigkeit und vor dem Übergang von Notwendigkeit in Freiheit angesiedelt sein. Aufgabe einer Theorie des Absoluten, deren Ausgangspunkt die absolute Freiheit sein soll, ist es, einsichtig zu machen, auf welche Weise der Werdensprozeß des Absoluten einsetzt. Es gilt also, den "Uebergang von der Einheit zum Widerspruch" (VIII, 219) zu konstruieren, den zu denken Schelling noch im dritten Weltalterentwurf für unmöglich gehalten hat. Indem Schelling also statt der absoluten Notwendigkeit die absolute Freiheit zum Subjekt der Bewegung macht, muß er erstens das Entstehen der Bewegung neu begründen und zweitens die Momente der Bewegung in ihrem Aussehen verändern. Die Potenzen dürfen vom Absoluten selbst als ewiger Freiheit nicht abzutrennen sein. Die Potenzenlehre wird also ein weiteres Mal modifiziert. 3. Schelling ist es in den Weltaltern nicht gelungen, über die Darstellung des theogonischen Prozesses des Absoluten hinauszugelangen, obgleich er sich die Erzählung des kosmogonischen Prozesses vorgenommen hatte. Die Absicht, die Wirklichkeit der Welt als in der "Geschichte des Absoluten" fundiert aufzuweisen, scheitert. Schelling kommt über Andeutungen nicht hinaus (vgl. WA I, 53-102; VIII, 325ff.). Die Erlanger Vorlesung versucht ein weiteres Mal, eine in sich konsistente, der erfahrenen Natürlichkeit und Geschichtlichkeit des Seienden angemessene Theorie des Absoluten zu entwickeln (vgl. B. Loer (1974), S. 232-235).

1. Theogonie a) Das Absolute als ewige Freiheit und die Potenzen seines Werdensprozesses 1. Schelling nimmt in der Erlanger Vorlesung mit dem Begriff der ewigen Freiheit den leitenden Prinzipbegriff aus der Weltalterphilosophie von 1811 wieder auf. Zunächst geht es um die Frage, wie der ursprüngliche ontologische Status der "ewigen Freiheit" zu denken

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ist, die den systematischen Ausgangsbegriff des Erlanger Systementwurfs darstellt. Die ewige Freiheit ist in ihrer Uranfänglichkeit kein "Etwas", sondern die Freiheit, ein Seiendes sein und nicht sein zu können. Schelling verdeutlicht diese Bestimmung an zwei Beispielsätzen: "Das absolute Subjekt ist seiend" und "Das absolute Subjekt ist" (E, 69). Im ersten Satz findet sich eine Differenz zwischen Subjekt und Prädikat, im zweiten Satz wird durch die Prädikatlosigkeit jedes gegenständliche Sein negiert. An die Stelle des Prädikats wird das Subjekt selbst gesetzt. Dem absoluten Subjekt in seiner reinen Substantialität kann kein prädikatives Sein beigelegt werden; es ist "Sein an sich" (E, 70). In der ansichseienden ewigen Freiheit sind "Freiheit", "Wille" bzw. "Können" und "Sein" ununterschieden. Der gegensatz- und gegenstandslose "Wille an sich" ist "voll von sich selbst" und damit "gelassener", "nicht wollendefr] Wille" (E, 70f.), wie Schelling in der Terminologie des ersten Weltalterfragments (Druck I) sagt. Das Absolute ist sich auf diese Weise noch nicht seiner selbst bewußt. Der Wille weiß noch nicht um sein Sein; daher gilt: "Sein, als wäre man nicht; und haben, als hätte man nicht" (E, 72). Der Ausgangspunkt der Bewegung des Absoluten entspricht dem ersten Stadium des ekstatischen Prozesses des menschlichen Bewußtseins, in dem das Wissen das Selbsterkennen der ewigen Freiheit darstellt, ohne sich selbst als solches zu wissen: nichtwissendes Wissen. Das ursprüngliche Sein der ewigen Freiheit präsentiert sich als "Existenz der Nichtgezweitheit" bzw. als "Nichtexistenz der Gezweitheit" (E, 72). Die ewige Freiheit ist zwar faktisch Nichtentzweitheit, aber zugleich mehr als das: Sie ist die "Möglichkeit", sich zu entzweien bzw. etwas anderes zu werden. Schelling purifiziert und totalisiert den traditionellen (aristotelischen) Möglichkeitsbegriff und 'überwindet' ihn somit. Der Sache nach knüpft er an Kants Theorie des transzendentalen Ideals an, die im Grundsatz der durchgehenden Bestimmung zum Ausdruck kommt, wonach ein Gegenstand stets nur durch eines von zwei kontradiktorischen Prädikaten weiterbestimmt werden kann. Nach Ausscheidung aller defizitären Prädikate bleibt ein einziger Gegenstand übrig, das "Ideal der reinen Vernunft", das als "Inbegriff aller Möglichkeiten" sozusagen der Protogegenstand aller Gegenstände der Prädikation ist, die "omnitudo realitatis", der umfassende Gegenstand aller Prädikation, der in jedem Prädikat mit angesprochen, aber nie ausgesprochen ist. Schelling nimmt den kritischen Gesichtspunkt Kants auf, daß wir über die Existenz des Gegenstandes des Ideals der reinen Vernunft nichts ausmachen

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könnend 6 Dabei interpretiert er Kants "Inbegriff aller Möglichkeiten" so, daß für alle Möglichkeiten raum-zeitlicher Existenz gilt, daß sie nicht ursprünglich sind, d.h., daß sie aus einer vorausgesetzten 'tieferen' Möglichkeit schöpfen. Schelling versucht also, den Inbegriff aller Möglichkeiten Kants als Inbegriff einer ursprünglichen Möglichkeit zu fassen, die die der absoluten Freiheit ist. Sie wird bestimmt als "Können" und liegt aller realisierten Möglichkeit als "Prinzip" zugrunde.17 2. Die absolute Indifferenz von "ewiger Freiheit" und "Sein an sich" ist unter zwei Formen zu denken: erstens als eine "Gleichgültigkeit des Könnens gegen das Sein, was wir mit A = (A) ausdrücken wollen", und zweitens als eine "Gleichgültigkeit des Seins gegen das Können [...] (A) = A" (E, 74). Beide Formen sind wiederum Einheit von Können und Sein, einmal unter der Bestimmtheit des herrschenden Faktors Können, einmal unter der Bestimmtheit des herrschenden Faktors Sein. Diese beiden Formen begründen zwar keine wirkliche Differenz im ursprünglichen Absoluten, stellen aber die Möglichkeit der Entzweiung, des Sich-anders-Werdens der "ewigen Freiheit" dar: Sie sind die "Potenzen" des Werdensprozesses des Absoluten. Schelling unterscheidet in der Erlanger Vorlesung drei Potenzen des Absoluten: das "Seinkönnende", das "Seinmüssende" und das "Seinsollende" - das Ermöglichungs-, das notwendige Durchgangsund das Zielpotential des Prozesses. Diese Terminologie behält Schelling in der Spätphilosophie bei. Dadurch, daß Schelling die drei

1® Kant entwickelt unter dem Titel "Von dem transzendentalen Ideal" den dem ens perfectissimum äquivalenten Begriff des ens realissimum als das der Vernunft zugrundeliegende All der Realität: "Es ist [...] durch diesen Allbesitz der Realität der Begriff eines Dings an sich selbst, als durchgängig bestimmt, vorgestellt, und der Begriff eines entis realissimi ist der Begriff eines einzelnen Wesens, weil von allen möglichen entgegengesetzten Prädikaten eines, nämlich das, was zum Sein schlechthin gehört, in seiner Bestimmung angetroffen wird" (Kant, K.d.V.; Β 604, A 576). Nun versteht es sich nach Kant "von selbst, daß die Vernunft zu dieser ihrer Absicht, nämlich lediglich die notwendige durchgängige Bestimmung der Dinge vorzustellen, nicht die Existenz eines solchen Wesens, das dem Ideale gemäß ist, sondern nur die Idee desselben voraussetze" (ebd., Β 605f.; A 577f.). Durch die Demonstration des Begriffs des ens realissimum hat Kant die Diskussion über das Dasein Gottes auf eine ganz neue Stufe gestellt. Auch in der Spätphilosophie knüpft Schelling an das ontologische Argument kritisch an (vgl. XIII, 155-174). 17 Mit dem Begriff der absoluten Möglichkeit der ewigen Freiheit, zu sein und nicht zu sein, nimmt Schelling in potenztheoretischer Terminologie einen Gedanken des Identitätssystems wieder auf: Die absolute Identität ist nicht nur einfache Identität, sondern als "Identität der Identität" gesetzt. In der Verdoppelung der Identität ist die Differenz der Möglichkeit nach enthalten.

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Potenzen als Potenzen der ewigen Freiheit faßt, verhindert er den Dualismus im Absoluten, der sich in den Weltalterentwürfen einstellte. Die Kraft zu ihrer Verwirklichung kommt der ewigen Freiheit jetzt selbst zu. Die erste Potenz des Seinkönnenden ist ambivalent bestimmt: Sie ist a) sein könnend (positiv) und b) nicht sein könnend (negativ) (vgl. E, 75). Diese doppelte Bestimmung ist nicht fur das Absolute selbst, sondern nur für uns. Für es selbst ist es "reines Können" (ebd.). Das bedeutet, die erste Potenz hat selber noch den status potentialis. Als solche hat sie die Bestimmung, "der wesentliche Hunger des Seins" (E, 77) zu sein. In diesem Zusammenhang unterscheidet Schelling ein ursprüngliches, natürliches oder magisches "Anziehen" des Seins, dem der willenlose Wille zugrunde liegt, weil vor allem Wissen und Wollen, und ein sekundäres "Anziehen", das mit Wissen und Wollen geschieht (vgl. E, 78). Die erste Potenz wird mit dem natürlichen Anziehen des Seins parallelisiert. Da das Können als Seinkönnen ein von allem Können freies Sein voraussetzt, steht der ersten Potenz das Seinmüssende als zweite Potenz gegenüber. Beide Potenzen, die sich als Freiheit und Notwendigkeit zueinander verhalten, sind nur verschiedene Formen des Absoluten. Die Einheit der beiden Potenzen ist als das Seinsollende die dritte Potenz, und damit das, was im Prozeß der Seinswerdung eigentlich gewollt wird. Auch die dritte Potenz befindet sich noch "über dem Begriff des Seins" (E, 79). Die Potenzen sind vielmehr die Möglichkeitsbedingungen des Seins bzw. der Wirklichkeit des Absoluten. Sie müssen in der Denkbewegung der philosophischen Reflexion, die nach dem Ursprung des Seins fragt, notwendigerweise gedacht w e r d e n d e Die Potenzen sind hier nicht kosmologische Prinzipien des weltlichen Seins, sondern immanente Bestimmungen des Absoluten. Das Absolute selbst ist jedoch nicht identisch mit der dritten Potenz als der Einheit der beiden ersten, sondern die absolute, selbst 18 Die Potenzen werden auch als verschiedene Formen des Willens gedacht, die erste Potenz als sich selbst wollender, die 2. Potenz als gelassener, nicht wollender Wille (Dies entspricht spiegelverkehrt der Willenskonstellation am Anfang der Wellalter von 1811). Das Seinmüssende ist "das nicht sich Nehmende, sondern das sich Gebende" (E, 81). In den Potenzen der Erlanger Vorlesung klingen zugleich die Prinzipien "Egoität" und "Liebe" der Weltalter 1814/15 an. Das Seinsollende verbindet die einseitigen Willensstrebungen des Seinkönnenden und Seinmüssenden: Es ist "besonnene[r] Wille" (E, 107). Besonnenheit, Frei-sein, Bei-sich-selbst-sein, sich selbst nicht verlieren kommt nach Schelling dem zu, was wir "Geist" nennen. Auch in der Freiheitsschrift und in den Weltaltern war "Geist" die wesentliche Einheit zweier entgegengesetzter Prinzipien (Vgl. VII, 375, 395, 400, 404; WA I, 71,82).

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potenzlose Einheit, die durch alle drei Potenzen hindurchgeht, aber keine derselben ist. Auf ihrer anfanglichen Ununterscheidbarkeit von den Potenzen beruht ihre Verschlossenheit' und 'Unaussprechlichkeit' (vgl. E, 8Of.). Die uranfangliche, lautere Einheit der absoluten Freiheit wird doppelt bestimmt: Zum einen als "potentielle Einheit", die durch die Ununterscheidbarkeit der Potenzen charakterisiert ist und mit ihrer Trennung zerstört wird. Im Prozeß der Seinswerdung des Absoluten erweist sich die "potentielle Einheit" als scheinbares Prinzip, das sich als solches nicht erhält, sondern zum Prinzipiierten herabgesetzt wird. Zum anderen als "aktuelle Einheit", die auch in der Trennung der Potenzen nicht negiert wird, sondern sich als unauflösliche manifestiert. Sie ist das wahre "Prinzip" und damit der "Geist" als solcher. - Der im ersten Teil der Vorlesung entwickelte Begriff der absoluten Freiheit als Prinzip des Seienden schlechthin und seine Präzisierung als reiner "Geist" im zweiten Teil ist auch für das Denken der Spätphilosophie konstitutiv.

b) Potentielle und aktuelle Einheit 1. Die absolute Einheit, die die ewige Freiheit ist, ist zunächst potentielle oder "blos scheinbare Einheit" (E, 86), die Schelling mit "-A*" ausdrückt: die "nicht als solche[n] seiende ewige Freiheit" (E, 84), deren Charakter tiefe Verschlossenheit (vgl. E, 80) und "Unaussprechlichkeit" (E, 81) ist. Sie besteht nur so lange, als sich die ewige Freiheit selbst nicht weiß und will. Sie geht verlustig, sobald die Potenzen als Potenzen in Wirksamkeit gesetzt werden. Sie entspricht dem Gedanken der spinozistischen Substanz (vgl. E, 89). Ist die potentielle Einheit die nicht als solche seiende Freiheit, so die aktuelle Einheit die "als solche seiende ewige Freiheit" (E, 89), die

Schelling mit "+A*" bezeichnet. Die aktuelle Einheit ist als "Abgeschiedenes von den 3 Potenzen" (E, 86) deren unaufhebbare, wirkliche Einheit. Sie entspricht dem theosophischen Prinzip der Persönlichkeit. Zwischen beiden Einheiten besteht ein "absolut ausschließende[s] Verhältniß" (E, 88), denn die potentielle Einheit erlischt mit dem Eintritt der aktuellen. Während die potentielle Einheit in der Trennung der Potenzen aufgehoben wird, bleibt die aktuelle Einheit in der Entzweiung erhalten. Die nicht als solche seiende ewige Freiheit ist die Einheit der drei Potenzen so, daß sie nicht auseinandergebracht sind. Sie ist so alles

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in potentia. Die als solche seiende Freiheit ist dagegen alles in actu. Sie weiß sich selbst als "Anfang" und "Ende", weil sie die Potenzen auseinander- und zusammenhält, was die Möglichkeitsbedingung von "Wissen" ist (vgl. E, 85). Die als solche seiende ewige Freiheit ist daher "die sich selbst wissende ewige Freiheit" (E, 84). Und noch ein Weiteres kommt hinzu: Während die aktuelle Einheit als "wirkliche Ewigkeit" (E, 85) personalisiert "der Ewige" (E, 85) ist, ist die potentielle Einheit nicht die Ewigkeit selbst, sondern nur "scheinbare Ewigkeit", "das Ewige" (ebd.). 2. Die potentielle Einheit ist bloß "Nominal- nicht Realeinheit" (E, 86) der drei Potenzen. Mit der Realisierung der Einheit in +A' wird die aktuelle Einheit "ein Abgeschiedenes von den 3 Potenzen" (ebd.). Das Potentielle ist die notwendige "Leiter" zum Aktuellen: "Da nun das Höchste nur in der Abscheidung von dem, was das Potentielle ist, sichtbar wird, so müssen wir das potentielle als Unterlage gebrauchen, um das Höchste entwickeln zu können. Das Höchste ist das Höchste, weil es von allen Tiefen ausgeschlossen ist. Das Tiefere wurde gesetzt vermöge der absoluten Denknotwendigkeit" (E, 87). Mit dem Wirksamwerden der Potenzen findet die Selbstaufhebung der potentiellen Einheit statt, so daß diese per Selbstausschluß die aktuelle Einheit setzt. Dabei faßt Schelling die potentielle Einheit als Subjekt im Sinne von Grundlage, die aktuelle Einheit als Objekt im Sinne von Existenz. Potentielle und aktuelle Einheit sind mithin Nachfolgebestimmungen von "Grund" und "Existenz" bzw. der Weltalterdistinktion von "Natur" und "Freiheit" Gottes. Die nicht als solche seiende ewige Freiheit ist die ewige Vergangenheit, von der her die als solche seiende ewige Freiheit zu interpretieren ist. "Denn es gibt keine Ewigkeit ohne Vergangenheit" (E, 92). Auch in dieser Bestimmung reflektiert sich Gedankengut der Weltalter. Das Verhältnis von potentieller zu aktueller Einheit wird als Subjekt-Objektivierung verstanden, in der ein "Subjectum primum" zu einem "Subjectum secundum" (E, 89) wird. Das Ganze stellt sich als "die Notwendigkeit der Bewegung dar, die Notwendigkeit der Aufhebung der bis jetzt gesetzten Einheit" (E, 90). Der Übergang vom Potentiellen ins Aktuelle wird als Heraustreten der ewigen Freiheit aus dem Verborgenen, Dunklen interpretiert. Dahinter steckt Schellings These, daß der wirkliche, sich selbst durchsichtige Geist nur aus unaussprechli-

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chem, unvordenklichem und damit unverfügbarem substantiellem Grund ist.is c) Der Übergang vom "Seinkönnenden" zum Sein: Die 'Verfuhrungstheorie' des Absoluten Das Hauptproblem der Erlanger Vorlesung ist, wie von der absoluten Indifferenz zur Differenz, von der Einheit zur Entzweiung und damit von der potentiellen Einheit zur aktuellen Einheit des Absoluten zu gelangen ist. Schelling löst dieses Problem auch hier nicht wissenschaftlich-dialektisch, sondern führt verschiedene Theorien an, deren zentrale die metaphorische 'Verführungstheorie' des Absoluten ist. α) Die Dialektik des "Gesetzes" des Absoluten: "Begehre nicht des Seins" Zunächst ist das Absolute "im Zustande der gänzlichen Verzükkung in die Potenzen" (E, 105). In diesem Zustand fließen die Potenzen ununterscheidbar ineinander und sind nur "im Begriff' (ebd.) auseinanderzuhalten. In diesem Stadium ist sich die ewige Freiheit nicht selbst bewußt. Obgleich sie in diesem "Zustand der Unbewußtheit" (E, 105) nicht bleiben kann, sieht Schelling zunächst in ihr selbst keinen Grund zu einer Veränderung. Da die ewige Freiheit nicht durch sich selbst ihres Seins bewußt werden kann, muß sie "also durch etwas außer ihr ihres Seins inne werden" (E, 106). Da es weder ein Seiendes noch die ewige Freiheit selbst sein kann, kann es nur "etwas sein, das noch weiter vom Sein oder noch mehr über das Sein erhaben ist als die ewige Freiheit" (ebd.). Schelling bestimmt es als "Gesetz" (ebd.) der ewigen Freiheit. Die Begründung für das Vorhandensein einer Macht außer der absoluten Freiheit, die gleichwohl die Freiheit selbst sein soll (E, 106), ist unzureichend, weil gerade letzteres nicht erwiesen wird. (vgl. Loer (1974), S. 241, 246). Die Annahme eines zweiten Prinzips in der Erlanger Vorlesung reproduziert den Dualismus in der Theorie des Absoluten der Weltalter nur in pois

Die "ewige Freiheit ist das Undenkliche" (E, 92), weil sie "vor allem Denken war" (ebd.); daher ist sie "nicht Gegenstand, sondern Terminus a quo unseres Denkens", und alle Philosophie ist folglich "Dastellung der Selbstaufhebung der absoluten Einheit" (ebd.), d.h. der Verwirklichung des unvordenklichen Absoluten.

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tenzierter Form. Die Vermeidung des Dualismus im Absoluten führt Schelling in eine weitere, die Absolutheit des Absoluten zerstörende Dualität der absoluten Freiheit und des ewig außer ihr bleibenden Gesetzes. Das Gesetz entspricht in gewisser Weise dem sich selbst erzeugenden Willen zur Existenz der Weltalter von 1811. Schelling steht hier also wieder wie in den Weltaltern vor der Anfangsschwierigkeit, wie das Absolute aus einer Dimension vor aller Zeit, d.h. aus der Ewigkeit zu sich kommen kann. Wieder sieht er die Initiation des Prozesses in einem Widerspruch begründet. In ihrem anfänglichen Zustand widerspricht die ewige Freiheit ihrem eigenen Gesetz, das besagt: "Jedes soll, was es ist, mit Freiheit sein" (E, 106), also mit Bewußtsein sein. Das aber gilt von der ewigen Freiheit nicht: "sie ist nicht freie, sondern notwendige Freiheit" (E, 107). Das Gesetz verlangt also, daß die ewige Freiheit, das, was sie ist, das Seinkönnende, nicht unbewußt und zufällig, sondern bewußt, mit Willen und entschieden sei und deshalb auf das Sein, auf objektive Verwirklichung freiwillig verzichte.20 Das Gesetz erweist sich, eben weil bislang die absolute Freiheit im Zustand der Unbewußtheit und Zufälligkeit ist, als absolute Notwendigkeit, als Nemesis, "allem Seinkönnenden abhold, das nur das Allgewaltige ist in dem Nichtwissen seiner selbst" (E, 112).2i Indem das Gesetz die Freiheit auffordert, vom Sein zu lassen, sollizitiert es aber gerade den Willen, das Sein anzunehmen. "Eben dieser Widerspruch ist der Hauptpunkt, worin der Grund des notwendigen Fortschreitens liegt" (E, 107). Der notwendige Übergang des Absoluten ins Sein und damit aus der potentiellen Einheit geschieht im Namen des Freiheitsgesetzes, das Schelling das "Gesetz der Wissenschaft" (E, 108) nennt. Die Dialektik der Gesetzesforderung ist mithin die wissenschaftliche Version des Übergangs ins Sein. Das Gesetz kann sich aber nicht auf das überschwengliche Absolute selbst richten, denn dieses ist jenseits aller "Versuchung" (E, 109), sondern nur auf ein Moment in ihm, und zwar auf "jenes Nichtseiende", "welches in der Tiefe des Absoluten

20

Die Forderung an das Absolute, nicht in das Sein überzugehen, ergeht nicht deshalb, weil es in der unbewußten Potentialität verharren soll, sondern weil es durch den Verzicht auf die objektive Verwirklichung unmittelbar in "die ewige Glückseligkeit selbst" (E, 114) eingehen soll.

21

Schelling vergleicht die Nemesis mit dem nömos der Alten (E, 111) bzw. mit der anánke (E, 112) und beschreibt das Gesetz als pánta krinôn, als "das alles Richtende, Entscheidende und in Krisis Setzende" (E, 116). Damit ist der ewigen Freiheit wieder eine absolute Notwendigkeit vorgeordnet, die ja in den Weltaltern von 1814 Schwierigkeiten verursachte.

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verborgen liegt" (ebd.)·22 Dieses Nichts ist das bloß Seinkönnende, das nodi kein Seiendes ist. Aber das bloß Seinkönnende erschöpft nicht das Absolute, also muß der "Begriff' weitergehen zum Seinmüssenden und zum Seinsollenden. Da auch diese Potenzen das Absolute nicht erschließen, so ist das Absolute selbst als das Seiende zu setzen. Hier zeigt sich: "Das ursprüngliche Sein des Absoluten oder der ewigen Freiheit beruht lediglich und allein auf der Potenzialität, der Nichtwirklichkeit der Potenzen" (E, 110). Der Grund dieser Potentialität wiederum ist die "Potenzialität des sich selbst nicht wissenden Seinkönnenden" (ebd.). Dies ist das eigentliche Subjekt des Ganzen und der Grund dafür, daß das Sein des Absoluten zunächst nur potentiell ist. In dieser Potentialität muß aber zugleich begründet liegen, daß das Absolute in das Seiende übergeht. Dieser Verzauberungszustand der bewußtlosen potentiellen Einheit widerspricht dem Gesetz der Freiheit, welches fordert, "daß alles Unbestimmte sich bestimme; alles klar, rein und entschieden hervortrete" (E, 109). Er ist das mè ón Piatons, weil "das allein Irrende" (E, 111) und damit das eigentliche "Skandalon" (E, 112), das die Philosophie überwinden muß. Wie die Weltalter-Schriften urteilt auch die Erlanger Vorlesung, daß der ursprüngliche Zustand des Absoluten nicht bleiben kann, und zwar deswegen nicht, weil sich das Absolute in seiner Uranfänglichkeit seiner selbst nicht bewußt ist. Im Moment des Nicht-Wissens liegt auch die Zufälligkeit begründet, in der sich das anfängliche Absolute befindet. 23 Die Frage nach dem Übertritt der ersten Potenz ins Sein erarbeitet die Erlanger Vorlesung so ausführlich wie keine Weltalter-Schrift. Dabei zeichnet Schelling in die Erörterung dieser Frage eine Theorie vom "Sündenfall" ein, die den Aufbruch des Realen im uranfanglichen Absoluten, die Differenzierung der Potenzen und die Scheidung Gottes von seiner "Natur" plausibel machen soll.

22

Der Begriff des Absoluten ist also dadurch ausgezeichnet, daß er seiner Möglichkeit, das Sein anzunehmen, zuvorkommt. "Dieß ist der HauptbegrifT des Absoluten, daß es gleich in seinem ersten Sein etwas involvirt, einwickelt, zudeckt" (E, 108). Das Absolute ist somit das absolut Transzendente in Ansehung seiner Potenzen.

23

Schelling verwendet in der Erlanger Vorlesung den Begriff der Zufälligkeit in zweierlei Sinne: Erstens bezeichnet er die Beschaffenheit des Absoluten vor seiner Bewußtwerdung in seiner lauteren Freiheit, wonach es sein kann und nicht sein kann, also frei ist von aller Bestimmbarkeit; zweitens meint er pejorativ gewendet das Nichtseinsollende, vom Absoluten Abgefallene (vgl. B. Loer (1974), S. 99 Anm. 112).

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Die Reflexion auf den Sinn der Gesetzesforderung "Begehre nicht des Seins" (E, 113) fördert den Widerspruch zutage, daß das Gesetz die ewige Freiheit zur sich, selbst wissenden macht und dennoch fordert, sie soll sich nicht als solche betrachten, sondern als bloße Potenz und damit im bewußtlosen Zustand verbleiben. Das Gesetz fordert also die ewige Freiheit auf, sich bewußt so zu verhalten, wie sich die bewußtlose "Ureinheit" (E, 114) verhält. "Es wäre dieselbe Anziehung wie früherhin, nur mit dem Unterschied, daß die frühere eine magische, bewußtlose, diese aber eine bewußte ist, die in freiwilliger Selbstentsagung besteht" (ebd.). Die vom Gesetz geforderte bewußte Realisierung der bewußtlosen Einheit ist nicht wirklich geworden, was die Existenz der Welt beweist. "Davon überzeugt uns der Anblick der Wirklichkeit, das Leben, die Zeit und unser eigenes Suchen nach Wissenschaft" (E, 115). Die Tatsache, daß das Absolute den Imperativ nicht erfüllt, sondern in das wirkliche Sein übergeht, läßt sich freilich begrifflich nicht erklären oder herleiten. Hier stößt auch der Begriff der Deduktion und der Dialektik systemintern an seine Grenze (vgl. E, 116). Allerdings ist er nicht unmotiviert: Erstens sollizitiert das Gesetz, welches das Absolute auffordert, nicht ins Sein überzugehen, eben dadurch das Bedürfnis nach diesem Übertritt. So wie in der Bibel geschrieben steht, daß das Gesetz, das die Sünde untersagt, sie bewirkte (vgl. E, 117). Zweitens führte die Befolgung der Gesetzesforderung in die Aporie, daß sich das Absolute mit Bewußtsein in den Zustand der Bewußtlosigkeit versetzt. "Es wäre also in dieser ganzen Bewußtlosigkeit das vollkommenste lauterste Bewußtsein gesetzt" (E, 114), eine contradictio in adjecto. Unmittelbar in "die ewige Glückseligkeit selbst" einzugehen (E, 114) ist daher unmmöglich. Drittens muß, wie die Existenz der Welt beweist, die absolute Freiheit aus sich herausgegangen sein.

ß) Finalerklärung des Übergangs Die Grundfrage ist, warum ist die Forderung des Gesetzes nach der "bewußten" ursprünglichen Einheit der Potenzen nicht Wirklichkeit geworden bzw. warum ist das Seinkönnende ins Sein übergetreten. Obgleich Schelling erklärt, daß der Übertritt ins Sein keine begriffliche Ableitung zuläßt, soll er gleichwohl als "sinnvoll" einsichtig gemacht werden. Dazu dient die Finalerklärung, die nicht mehr fragt, was "an sich" sein soll, sondern, was "letztlich" sein sollte. Vom Ende her gesehen erscheint es besser und sinnvoller, wenn das Sein-

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könnende gleich anfangs ins Sein übertritt, also die Forderung nicht erfüllt. Diese Betrachtung ist aber nur plausibel unter der Voraussetzung, daß das Gesetz als solches immer bestehen bleibt, am Ende also erfüllt werden muß. Schellings These also ist, daß der Intention des Gesetzes mehr Genüge getan wird, wenn seiner Forderung nicht unmittelbar, sondern auf vermittelte Weise - durch das Gegenteil hindurch - erfüllt wird (vgl. E, 118ff.). Zur Stützung der Plausibilität dieser These werden von Schelling zwei "Hauptpunkte" (E, 118) angeführt: 1. Es ist besser, daß gleich anfangs der Übergang ins Sein wirklich wird, denn das Seinkönnende würde sich nur aufgrund seiner "Selbstverleugnung"(E, 118) als reines Können erhalten, so daß nie absolut gesichert sein kann, daß es nicht jederzeit ins Sein übertritt. 2. Mit dem Übergang ins Sein wäre eine größere "Entfaltung der Einheit und des ganzen Lebens" (ebd.) verbunden. In der ursprünglichen Einheit treten die Potenzen nicht auseinander. Erst mit dem Übergang können sie sich als solche in ihrer Selbständigkeit entfalten. Und diese Entfaltung ist eine Forderung des Gesetzes. Mit dem Auseinandertreten der Potenzen wird das Absolute auch erst als aktuelle Einheit gesetzt werden. Neben diesen Plausibilitätsgründen "im Allgemeinen" (E, 119) werden folgende weitere Gründe "im einzelnen" (ebd.) dargelegt: 1. Wenn das "Seinkönnende" gleich anfangs die Gesetzesforderung erfüllte, wäre nur die eine Möglichkeit, nämlich die Freiheit nicht zu sein, hervorgetreten, nicht aber die andere, die Freiheit zu sein. Das Seinkönnende offenbart aber erst sein ganzes Können mit dem Übertritt ins Sein. 2. Wenn sich das Seinkönnende gleich anfangs als Nichtseiendes erkannte, so machte es sich zum Nichtsein als Nichtseiendes. Kehrt es aber nach dem Übertritt ins Sein zum Nichtsein zurück, so macht es sich als das Seiende zum Nichtsein. Nur im letzten Fall handelt es sich um ein wirkliches Seinsopfer, was ein "weit größeres Opfer ist", damit auch "eine weit höhere, freiwilligere Einheit" (E, 119). Zu diesem Punkt gehört auch, daß erst mit dem Übertritt in das Sein das Absolute die als solche seiende Freiheit "wirklich" ist. Erst in diesem Fall hat sich das Absolute als das, was es ist, als ewige Freiheit mit aller "Entschiedenheit" (ebd.) bewährt. 3. Von Seiten des Wissens betrachtet war das Seinkönnende am Anfang das "lautere Wissen von allem andren" (E, 120), das sich aber selbst nicht weiß, nichtwissendes Wissen, das der ersten Phase des ekstatischen Prozesses im ersten Teil der Vorlesung entspricht. Mit dem Übertritt ins Sein gelangt es per Selbstobjektivation zum Wissen seiner selbst analog der zweiten Phase des ekstatischen Prozesses. In diesem Wi-

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derspruch - als Wissendes und Gewußtes zugleich - kann es jedoch nicht stehenbleiben, so daß sich das Seinkönnende in seiner Selbsterkenntnis wieder zur Potentialität herabsetzt, zu einem "wissendein] Nichtwissen" - die dritte Phase im ekstatischen Prozeß. Schelling resümiert, daß "diese ganze Bewegung des Seinkönnenden" über seine Selbstentfremdung "nichts anderes ist als das vollständigste Zusichselbstkommen, das vollständigste Bewußtwerden seiner selbst" (E, 120). Die Trennung von der Einheit und die Wiedergewinnung der Einheit bezeichnet Schelling als die "große umdrehende Bewegung" der "Zeit", in der die Geschichte des Absoluten erfolgt und in der die Herrschaft des "Seins" erfahren wird (vgl. E, 12 lf.). Die durch den Prozeß der Selbstentfremdung vermittelte Einheit der Potenzen ist weitaus "lebendiger" und "vollständiger" (ebd.) als die ursprüngliche Einheit, weil die Einheit erst dadurch als das Seinsollende in ihrer Normativität gesetzt ist (vgl. E, 122). Aber nicht nur in bezug auf die erste Potenz des unmittelbar Seinkönnenden, sondern auch in bezug auf "eine weit größere Verherrlichung des ganzen Lebens" (E, 123), also betreffs der anderen Potenzen ist es besser, daß das Seinkönnende gleich anfangs ins Sein übertritt. - Auf das Entwickelte wendet Schelling die Aussage Augustine von der "felix culpa" an: ""Glücklich die Schuld", wenn dieses anders Schuld zu nennen ist, die Übertretung, die eine so vollkommene Entfaltung, Befreiung und Erlösung des Lebens zur Folge gehabt hat" (E, 124). 4. Schließlich fuhrt Schelling noch einen weiteren, letzten Grund für den Übergang ins Sein an, der sich jedoch weniger einem "wissenschaftlichen" als einem "menschlichen Standpunkt" (E, 124) verdankt. Die sofortige Erfüllung des Gesetzes ließe keinen Raum für das "geschöpfliehe Dasein" (ebd.). Der Übertritt des Seinkönnenden ins Sein ist somit oberste Bedingung der "Schöpfung", die diesen Übergang nur auf anderer, kosmologischer Ebene wiederholt. Dabei versteht Schelling "Schöpfung" in Anlehnung an die 2. Hypothese des platonischen Parmenides als Vervielfältigung des Einen. - Als Resultat der Finalerklärung ergibt sich, daß es besser und sinnvoller ist, wenn die vom Gesetz geforderte be wußte Einheit nicht unmittelbar, sondern durch die Vermittlung des "Streits der Potenzen" hindurch, wie er durch den Übertritt des Seinkönnenden ins Sein entfacht wird, realisiert wird.

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γ) Die Erotik des Absoluten Nach der Erörterung der Finalgründe erklärt Schelling, daß diese unzureichend seien, denn "wir wollen in Ansehung des Seinkönnenden selbst wissen, wie es dazu gebracht worden ist, wirklich ins Sein überzugehen" (E, 125f.). Nach der Erklärung der Möglichkeit und der Zweckmäßigkeit dieses Übergangs steht nun die Erklärung seiner Wirklichkeit an. Bevor diese in der 30. Vorlesung ausgeführt wird, wird in der 29. Vorlesung das "unmittelbar Vorhergehende" (E, 132) dieses Übergangs analysiert: die Entzweiung des Willens in den Gegensatz des actu Nichtseienden, das des Seins ermangelt, und dem begehrten Sein, wodurch jene "Imagination" (E, 128) des lauteren, nichts wollenden Willens, das "Bild des Seins" (ebd.) entsteht. Zur Erklärung der Wirklichkeit des Übergangs knüpft Schelling also wiederum an den mit der Gesetzesforderung "Begehre nicht des Seins" eintretenden Widerspruch an, daß mit der Aufforderung der Verleugnung des Seins die Begehrlichkeit nach diesem gerade geweckt wird. "Das unmittelbar Bestimmende" (E, 132) für den Übergang der Wirklichkeit nach liegt aber darin, daß der Wille "sich als das Absolute, Allesseiende sieht und also meint, als dies Alles sein zu können" (ebd.). Genau das ist aber nicht der Fall. Mit dem Übertritt ins Sein verschwindet die Macht und Herrlichkeit des Seinkönnenden. Es unterliegt also im Hinblick auf das Wesen seiner Freiheit einem Irrtum und der Übertritt ins Sein ist bewirkt durch eine "notwendige unvermeidliche Täuschung des lautern Willens oder Selbstbetrug desselben, daß er glaubt, als solcher sein zu können. Ohne diesen Selbstbetrug wäre ein solcher Übertritt nicht möglich. Denn aller Anfang ist überhaupt nur möglich durch Täuschung, durch Verleitung" (E, 132). Die Erklärung des "letzteM Schritttes]" (E, 132) des Übergangs erfolgt durch eine 'Verführungstheorie' des Absoluten, mit der Schelling zugleich die "Genesis der Sünde" (ebd.) nachzeichnet. Die Verführung des Absoluten besteht nach Schelling in einem "Hineingezogen· oder Betörtwerden des Willens durch die Lust" (ebd.). Sie wird konkret so beschrieben, daß der Wille durch das "Bild des Seins" aus der "Gleichgültigkeit seines Nichtwollens" (ebd.) herausgezogen wird, so "daß er endlich durch eine Art Überraschung, Blendung und Betörung wirklich dazu gebracht wird, das Sein zu wollen" (E, 132f.).24 24

Die 'Verführung' des Absoluten sollizitiert den Eros des Absoluten. Piatons Symposion zufolge ist der Eros die elementare Lebensmacht, ein elementarer Tätig-

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Schelling erklärt sich den Übertritt aus einer Art Willensschwäche des Absoluten, einer "zwischen Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit schwankenden Art" (E, 133) des Wollens, das in seiner Besinnungslosigkeit nicht weiß, was es tut, und nicht eigentlich will, was es tut. Letztlich ist für Schelling dieser Übergang "natürlich" (E, 134), denn der nichts wollende Wille ist in gewissem Sinne "das Übernatürliche" (E, 133).25 "Im Sich-selbst-Begehren [aber] liegt eigentlich der Anfang aller Natur" (ebd.). Die Bestimmung der Natürlichkeit führt Schelling durch eine Analogie zwischen erstem Willen und menschlichem Willen aus, ein Verfahren, das er seit der Freiheitsschrift anwendet. In den Spätschriften spricht er in diesem Zusammenhang, unter Berufung auf d'Alembert, von der "Malheur de l'Existence", der "Unseligkeit alles Seyns" (X, 267; vgl. XII, 33). Abschließend bestimmt Schelling den Übertritt ins Sein als "unwillkürlich" (E, 134), was besagt, daß der Wille ohne Besinnung war, so "daß die Tat dem Willen zuvorkam, ihn überraschte" (E, 135). Der Begriff der Unwillkürlichkeit wird als "Mittelbegriff' (ebd.) zwischen Freiheit und Notwendigkeit verstanden. Die unwillkürliche Handlung ist weder frei noch bloß notwendig. Über ihr waltet "eine Art von Verhängniß" (ebd.), das in der "Verstrickung der Freiheit" (ebd.) besteht, durch die es zu nicht beabsichtigten Folgen der Handlung kommt.

keits- und Erkenntnistrieb. Nach Darstellung der Diotima ist Eros der Abkömmling der pénia ("Mangel") und des ptíros ("Wegfinder") (vgl. Piaton, Symposion, 203b 6). Durch Eros findet der "Mangel" einen "Weg". Der Übergang des Absoluten ins Sein wird also nach Schelling durch eine 'Erotik' des Absoluten bewirkt. Und wie Piaton stellt Schelling die Negativität des Eros heraus. In ausdrücklicher Wendung gegen den androgynen Mythos, den Piaton dem Aristophanes in den Mund legt, schreibt Schelling in den Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie: "Wäre nicht jedes ein Ganzes, sondern bloß ein Theil eines Ganzen, so wäre nicht Liebe: darum aber ist Liebe, weil jedes ein Ganzes ist, und dennoch nicht ist, und nicht seyn kann ohne das andere" (VII, 174). Die 'Verfilhrungstheorie' des Absoluten wandelt natürlich den platonischen ErosbegrifT ins Biblische ab. 25

Die These von der Natürlichkeit des Übergangs erscheint als genaue Umkehrung des in der Weltalter-Fassung von 1814 Entwickelten: "Unbegreiflich ist einUebergang von der Einheit zum Widerspruch. Denn wie sollte, was in eins, ganz und vollkommen ist, versucht, gereizt und gelockt werden, aus diesem Frieden herauszutreten? Der Uebergang vom Widerspruch zu der Einheit dagegen ist natürlich, denn weil er allem unleidig, wird alles, das sich in ihm findet, nicht ruhen, bis es die Einheit gefunden, die ihn versöhnt oder überwindet" (VIII, 219). So wie Schelling in der Weltalter-Fassung von 1814 den Übergang von der Einheit zum Widerspruch nicht motivieren konnte, so konnte er auch nicht aufzeigen, wie die dem absolut Notwendigen inhärierende Rotatation aus der Innerlichkeit des Notwendigen selbst heraus abgebremst werden und zur ewigen Freiheit übergehen konnte. Der Übergang vom Widerspruch zur Einheit war in Druck III also keineswegs "natürlich".

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Mit dem Übertritt ins Sein ist das Seinkönnende aber seiner ursprünglichen Lauterkeit verlustig gegangen. Das aktuierte Seinkönnende ist sich selbst entfremdet, mit sich selbst entzweit. Es ist zum "Zufalligseiende[n]" (E, 136) geworden, das sein und auch nicht sein kann, ohne daß aber diese Möglichkeit in seiner Macht stünde. Was entstanden ist, ist ein "Mittelwesen zwischen Können und Sein" (ebd.), ein widersprüchliches Wesen, ein Wesen, "welches jetzt zuerst mit sich selbst behaftet ist, sich selbst zur Last, zum eigentlichen Vorwurf wird" (E, 136f.), bei dem also nicht stehengeblieben werden kann. Fassen wir die Argumentation in bezug auf den Übergang vom Seinkönnenden ins Sein zusammen: Schelling macht einen dreifachen Versuch, den Übertritt des Seinkönnenden ins Sein zu erläutern. Der Übergang wird in der Dialektik der Gesetzesforderung in seiner Möglichkeit, in der Finalerklärung in seiner teleologischen Zweckmäßigkeit und in der Verführungstheorie des Absoluten in seiner Wirklichkeit hergeleitet. Ausgangspunkt der Überlegung ist, daß aus der Indifferenz des Absoluten die Setzung der Differenz von Können und Sein in keiner Weise logisch deduzierbar ist. Daraus ergibt sich, daß sich die Erklärung des Übergangs keiner streng wissenschaftlichen bzw. dialektischen Argumentation verdankt, sondern mit Hilfe von Metaphern und bildhaften Analogien aus dem menschlichen Erfahrungsbereich erläutert wird. An dieser entscheidenden Argumentationsstelle zeigt sich, daß die Erlanger Vorlesung eine Zwischenstellung zwischen Weltalterphilosophie und Spätphilosophie einnimmt. Daß die Setzung der Differenz aus keiner Notwendigkeit ableitbar ist, ist ein wesentlicher Gedanke der Spätphilosophie. Dem steht jedoch die ausgeführte Theorie in der Erlanger Vorlesung entgegen, die über das außer dem Absoluten befindliche "Gesetz" begreiflich machen soll, "wie das Seinkönnende dazu gebracht worden ist, in das wirkliche Sein überzutreten" (E, 116). Insofern ist die Erlanger Vorlesung als letzter Weltalterentwurf zu interpretieren. Hier wird nochmals der Versuch einer apriorischen von der Geschichte des Absoluten ausgehenden Konstruktion des wißbaren Kosmos unternommen. Die 'Ekstase des Ich' hat sich noch nicht zur 'Ekstase der Vernunft' fortbestimmt, die das Reich der Begriffe wirklich transzendiert. Die Erlanger Vorlesung unterscheidet noch nicht den (dialektischen) Begriff der absoluten Freiheit von dessen (unvordenklicher) Wirklichkeit und damit noch nicht zwischen negativer und positiver Philosophie.

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Als Resultat von Schellings Überlegungen läßt sich folgendes festhalten: Das ursprüngliche Sein, der Verzückungszustand des Absoluten war davon abhängig, daß die erste Potenz nicht als Potenz wirkt, d.h. auf ihr "Sein" Verzicht leistet. Dabei wird das Seinkönnende von Schelling willenstheoretisch personifiziert. Das ist der Anknüpfungspunkt für anthropomorphe Erläuterungen. Differenz ist nur möglich, indem die erste Potenz ihr Sein annimmt und damit die uranfängliche Verzückungseinheit der Potenzen auflöst. Der Übertritt ins Sein hat für das Seinkönnende die nicht intendierte Folge, daß es seiner ursprünglichen Freiheit und Macht verlustig geht, eine Entfremdung von sich selbst erfährt, wodurch es zum "Streit der Potenzen" (E, 141) kommt.

d) Der Streit der Potenzen und seine Auflösung 1. Aus der Selbstentfremdung des Seinkönnenden der ewigen Freiheit entsteht der "Streit der Potenzen", denn mit der Aktivierung der ersten Potenz werden auch die anderen Potenzen aus der ursprünglichen potentiellen Einheit heraus ins Sein gesetzt und streben nun zur Wiederherstellung der Einheit in einem beständigen Verdrängungswettbewerb - "eine wirbelhafte Bewegung, \yo jede Gestalt mit der anderen kämpft" (E, 141). Schelling beschreibt sie wie zuvor in den Weltalter-Fragmenten in theosophischer Begrifflichkeit. In diesem beständigen Widerstreit der drei Potenzen manifestiert sich die "Natur" Gottes, "aber die "Natur" in ihren ersten Geburtsschmerzen, wo sie sich gebären will, aber nicht kann" (E, 142). Die rotatorische Bewegung der Natur Gottes entspricht in der Geschichte des Absoluten der "Zeit, die beständig die Zeit zu gebären sucht, aber noch nicht kann und daher Ewigkeit ist" (ebd.). Diese im Zustande des Widerstreits befindliche Natur ist ein "Mittelding zwischen Sein und Nichtsein" (E, 141), noch kein "wahres Leben, sondern ein abwechselndes Leben u. Sterben" (ebd.): "Dieses ist der erste klopfende Punkt, gleichsam das noch blosgelegte Herz [der Gottheit, ja] des Universums. Es ist in diesem Ganzen eine beständige Systole u. Diastole. Es ist ein Leben, das schlechterdings in sich selbst keine Ruhe findet" (E, 142). Diesen Zustand des höchsten Widerspruchs in der göttlichen Natur faßt Schelling wie in den Weltaltern (vgl. WA I, 63, 67; VIII, 228ff.) im Begriff des "Radfs] der Geburt" (E, 142) zusammen. Schelling selbst führt diesen Begriff auf den neutestamentarischen Jakobusbrief zurück, von wo er auf die Theosophie und von da

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auf die neuere Philosophie überging. Tatsächlich nimmt Schelling mit dem Begriff einer rotatorischen Bewegung, in der nichts einen selbständigen Bestand haben kann, wie schon in den Weltaltern eine Kernthese der Naturphilosophie Heraklits auf. Die rotatorische Bewegung der Natur Gottes ist herakliteischen Wesens. Das Werden Heraklits geht letztlich auf den Chaosbegriff in Hesiods Theogonie zurück. Obgleich der Widerstreit der Potenzen ein notwendiges Moment in der Geschichte Gottes ist, kann er nicht das letzte Wort, sondern nur "notwendiger Übergangspunkt" (E, 141) sein. Das Moment des Widerstreits der Potenzen in der göttlichen Natur entspricht im ekstatischen Prozeß des menschlichen Bewußtseins, der im ersten Teil der Vorlesung zur Darstellung kam, dem 'Abfall' vom Absoluten und der daraus resultierenden "Krisis", die schon damals als "rotatorische Bewegung" bezeichnet wurde (E, 42). Wie schon in den Weltaltern stellt sich nun die Frage, wie jener Widerstreit gelöst werden bzw. wodurch diese schreckliche Natur Gottes zur "Vergangenheit" 'verdrungen' werden kann. 2. Die Lösung des Widerstreits der Potenzen kann nur durch die Selbstnegation und Selbstüberwindung des "Seinkönnenden" erfolgen, denn nur durch dessen Aktivierung kam es zum Verdrängungswettbewerb der Potenzen. Das Seinkönnende muß seinen Willen aufgeben, das Ganze bzw. das Seiende selbst zu sein. Die Überwindung seiner selbst ist jedoch nur möglich, wenn ihm im Akt der Selbstaufgabe zugleich ein Anderes wird, in bezug auf das es sich als (relativ) Nichtseiendes setzen kannte Das Andere kann keine der Potenzen sein, die ja alle im Widerstreit verwickelt sind, sondern nur das Absolute selbst, das über aller Potenz liegt. Die Instanz, der gegenüber das "Seinkönnende" und die göttliche Natur zu relativ Nichtseienden werden, ist die naturlose "als solche seiende ewige Freiheit", die "aktuelle Einheit", die nicht in den Streit der Potenzen involviert ist und als das schlechthin Eine außer aller Bewegung bleibt. Hier kommt wie schon in den Weltaltern - zur Lösung des wahnwitzigen Umtriebs die platonistisch gefaßte Freiheit als Gegenpol zur herakliteischen Natur herein. Die Selbstüberwindung der Natur kann aber von der absoluten Freiheit nicht erzeugt, sondern nur motiviert werden. Der Übergang von der im "Widerstreit befangenen Natur" zur absoluten 26 Es ergibt sich hier ein weiterer Begriff des "Nichtseienden", der besagt, "daß etwas zwar seiend ist, aber nicht das Seiende selbst" (E, 143). Schelling beruft sich bei seinen Differenzierungen im Begriff des Nichtseienden vornehmlich auf Piatons Sophistes (vgl. E, 144, 130; VII, 163, 194; X, 236; XI, 393).

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Freiheit ist hier weniger aporetisch als in den Weltaltern von 1814, weil diese nur in der Selbstdarstellung und Selbstentfremdung der ewigen Freiheit als Produkt ihrer Selbstentfremdung hereinkommt. Daher stellt die Überwindung des Widerstreits der Natur eine Art Selbstbefreiung der ewigen Freiheit dar. In der Hinwendung zur ewigen Freiheit entdeckt die Natur ihre eigenen Freiheitspotentiale. Schelling gibt der Lösung des Widerstreits auch eine existentielle Wendung: Unmittelbarer Anlaß zur Selbstaufgabe der Natur ist die in der rotatorischen Bewegung zum Ausdruck kommende "Not ihres Innern" (E, 145), die Schelling auch als "Angst ihres Lebens" (ebd.) faßt. Die immer größer werdende Angst macht die Natur geneigt, sich selbst aufzugeben, wodurch sich die "Sucht in Sehnsucht" (ebd.) verwandelt, die der erste Modus der Hinwendung der Natur auf ihr höheres Selbst ist, wodurch dieser die Möglichkeit gegeben wird, "sich selbst zu sprengen" (E, 146) und sich diesem Höheren hinzugeb e n d Durner hebt hervor, daß die Lösung des Widerstreits durch den Akt der Selbstüberwindung der Natur eine Analogie darstellt zur Aufhebung der Krisis des menschlichen Bewußtseins, wie sie im Einleitungs-Teil der Erlanger Vorlesung in der Ekstasis-Theorie erörtert wird. Durch die "Ekstase des Ich" entledigt sich das menschliche Bewußtsein des Wissen-Wollens, vergegenwärtigt sich die ewige Freiheit und stellt so die bewußte Einheit von menschlichem Bewußtsein und ewiger Freiheit her (vgl. M. Durner (1979), S. 207)28 Mit dem Akt der Selbstverneinung wird die göttliche Natur zur eigentlichen Natur, d.i. zur Gegeninstanz des Geistes. Die potentielle Einheit ist der aktuellen ungleich geworden; sie sinkt zum untergeordneten Sein der aktuellen Einheit herab und damit zum "Grund der Existenz des wahren Absoluten" (E, 146). Damit haben wir wieder den von Schelling seit der Freiheitsschrift entwickelten Gedanken des in Grund und Existenz unterschiedenen Absoluten vor uns, aus dem die Welt ohne Rekurs auf die Vernunft prinzipiiert werden soll. Mit der Selbstüberwindung der aktivierten ersten Potenz findet die rotatorische Bewegung ihr Ende. Die so gewordene äußere Potentialität der Natur unterscheidet sich dadurch von der vormaligen inneren der ersten Potenz, daß sie sich nicht mehr selbst in die Aktua27

Die Lösung der Krisis der "Natur" Gottes ist vergleichbar mit der "Erzählung von der Zersprengung des Welt-Eies" (E, 146), die dem Umkreis der orphischen Mythologie entstammt. 28 Auch an dieser Stelle steht der platonische Eros-Gedanke bei Schelling im Hintergrund: Eros als ekstatisches Verlangen nach der Rückkehr zur ursprünglichen Einheit (Piaton, Symposion 131d 5ff.).

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lität erheben kann, sondern der "aktuellen Einheit" der als solche seienden ewigen Freiheit bedarf, um zur Wirksamkeit zu gelangen. Das Chaos der rotatorischen Bewegung gestaltet sich zur Ordnung eines organisch gewordenen Ganzen, das Schelling mit dem Begriff der "Totalität" (E, 149) belegt. Die Einheit des Absoluten ist zur Allheit geworden (hén kaí pân): "Das Ganze, jetzt Entstandene, ist überhaupt bildliches Leben; es ist die Idee, die Uridee, das Urbild, die idea kat' éxochén, der Inbegriff aller Urbilder" (ebd.). Den ganzen Prozeß der Realisierung des Absoluten durch den Streit der Potenzen und dessen Überwindung faßt Schelling als eine "Umkehrung des Einen (Uni-versio) und das Produkt derselben als das umgekehrte oder herausgewendete Eine = Uni-versum" (E, 149). Das Universum entsteht durch eine Verkehrung und Umkehrung des Einen (Seinkönnenden).29

Der Sinn der ganzen Bewegung des Absoluten ist der theogonische Prozeß der Gottwerdung der ewigen Freiheit, der wesentlich ontologischen Charakter hat. Denn durch ihn wird die ewige Freiheit, die für sich weder seiend noch nichtseiend, sondern echt platonisch 'überseiend' ist, gegen das ihr untergeordnete Sein beziehungsweise seiend gesetzt. Durch diese ontologische Subjektinstantiierung der ewigen Freiheit wird die Freiheit zu Gott. Damit sind auch die Potenzen von rein immanent geistigen zu göttlichen Mächten geworden. Anders als in der Weltalterphilosophie begreift Schelling den Vermittlungsprozeß der göttlichen Natur nicht als "Werden in Gott selbst", sondern nur als ein Werden "außer ihm" (E, 150); andernfalls hörte er auf, das Uberseiende zu sein. Damit wird die Konzeption des geschichtlichen Absoluten abgelöst durch die des "relativ gesetzte[n] Absolute[n]" (E, 151), die vorausweist auf die spätphilosophische Konzeption von Gott als "Herr des Seyns" (XI, 566). Gott ist keineswegs das spinozistische schlechthin Absolute, sondern in Beziehung zu seinem Anderen, der Natur. Durch dieses Sich-Unterscheiden und Sich-Beziehen kristallisiert sich Gott allererst als personales Wesen heraus. Das spinozistisch gefaßte Absolute in seiner Substantiality wird abgelöst durch den personalen Gottesbegriff. Das Sein der göttlichen Natur bildet sich zu einem Ideenkosmos aus, indem die zur äußeren Potentialität der Natur herabgesetzte erste Potenz durch Gott selbst wieder aus ihrer Ohnmacht befreit wird. Unter der Leitung Grottes eröffnet sich erneut ein schöpferisches Spiel der Potenzen, durch die sich die "Uridee" zu einem Ideen-Kos29 Vgl. auch den Gedanken des "universio" in der Spätphilosophie (XIII, 304).

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mos wandelt, in dem die Welt mit all ihren Gestalten präfiguriert ist. Gott als die aktuelle Einheit unterscheidet sich vom Seinkönnenden der potentiellen Einheit dadurch, daß er nicht zur Entscheidung gezwungen ist. Er ist nicht wie das erste Seinkönnende durch die Gesetzesforderung "zwischen ein Entweder-Oder gestellt" (E, 154), sondern entscheidet sich in vollkommener Freiheit, das Sein außer sich zu affirmieren oder zu negieren. Der Lehre von der Ideen-Erzeugung kommt sowohl in den Weltalterentwürfen als auch in der Spätphilosophie systematische Bedeutung zu. Während in den Weltaltern die Aktivierung der Potenz des Realen urplötzlich geschieht und somit die Konstitution des IdeenKosmos a priori deduzierbar ist, ist sie in der Spätphilosophie ganz dem freien, unableitbaren Willen Gottes unterstellt. Das für die Weltalter wesentliche Gedankengut der Theosophie verliert an Bedeutung. Diese Verschiebung der Konzeption macht sich schon in der Erlanger Vorlesung bemerkbar. Die Erlanger Vorlesung antizipiert den für die Spätphilosophie konstitutiven Gedanken des uranfänglichen Prinzips als lauterer, reiner Geist. Andererseits unterscheidet sie sich von der Spätphilosophie dadurch, daß sie noch im Gefolge der Weltalter versucht, den Übergang von der ewigen Freiheit zu Gott a priori zu deduzieren. Der Spätphilosophie zufolge ist die Gottheit des a priori seienden Geistes nur a posteriori aufzuweisen (vgl. XIV, 350). Begriff und Existenz des Absoluten fallen auseinander und demzufolge eine negative und eine positive Philosophie.

2. Kosmogonie Der Erlanger Systementwurf endet mit der Schöpfungskonzeption. Die Schöpfung der Welt soll im Hinblick auf drei Problembereiche untersucht werden: 1. Gottes Freiheit zur Schöpfung, 2. Sinn und Zweck der Schöpfung und 3. Gang der Schöpfung. 1. Für die gesamte Weltalter-Epoche und Spätphilosophie gilt, daß Schelling die Schöpfung der Welt als wirklich uranfängliche freie Tat begreifen möchte. Dem steht in den Weltalterentwürfen jedoch entgegen, daß die Schöpfung zwar in einer die göttliche Natur aus ihrem Chaos erlösenden Entscheidung gründet, diese aber nicht in völliger Freiheit vollzogen wird, sondern in einer Freiheit, die selbst Notwendigkeit ist (vgl. VIII, 305). Vor allem in den Weltaltern von 1811 drängt der Ideenkosmos als Möglichkeitsentwurf der Schöpfung von selbst auf seine Verwirklichung in der realen Welt. Theogonische und

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kosmogonische Funktion der Potenzen werden noch nicht geschieden. Das hat seinen Grund darin, daß dort der Ideen-Kosmos vor dem Streit der Potenzen in der 'Spielphase' der Willensgestaltungen angesetzt wird (vgl. WA I, 30-33). Erst im dritten Weltalterentwurf wird die "Geschichte des Absoluten" so durchgeführt wie in der Erlanger Vorlesung, daß die Welt der Ideen nach der rotatorischen Bewegung und deren Lösung situiert ist. Von da an unterscheidet Schelling zwischen der Entscheidung, wodurch die innere Natur Gottes zur Vergangenheit herabgesetzt, und der, wodurch der Stoff zur Schöpfung der realen Welt herausgesetzt wird. Bis zur Etablierung des IdeenKosmos ist der göttliche Prozeß ein in sich notwendiger. Die Schöpfungstat selbst ist frei. Daran schließt die Erlanger Vorlesung an. Deshalb beginnt mit der Setzung der realen Welt eine neue Periode in der Geschichte Gottes (vgl. E, 161). Doch ist auch in der Erlanger Vorlesung der volle Begriff einer absoluten Freiheit zur Weltschöpfung nicht erreicht. Dieser wird erst in der Spätphilosophie realisiert. Mit Recht weist Durner darauf hin, daß das grundsätzliche Problem auch der Erlanger Vorlesung ist, daß sie den Grundgedanken der absoluten Freiheit nicht wirklich konsequent genug zu Ende führt. Sie scheitert an der Schwierigkeit, daß die Absolutheit des Absoluten der Geschichtlichkeit des Absoluten widerspricht. Erst die Spätphilosophie übersteigt den (dialektischen) Begriff der absoluten Freiheit auf deren (unvordenkliche) Wirklichkeit hin (vgl. M. Durner (1979), S. 258). Noch in einer weiteren Hinsicht unterscheidet sich die Erlanger Vorlesung von den Weltaltern. Während die Weltalter den Gedanken der "creatio ex nihilo" ablehnen, versucht ihn die Erlanger Vorlesung zu integrieren. Die Potenzen werden zum "Stoff der Schöpfung nicht ohne Einwirkung Gottes, die man "ein Erschaffen aus Nichts nennen" (E, 152) könnte. Die Integrationsbemühungen dieser Lehre werden in der Spätphilosophie fortgesetzt. Ihr zufolge ist die Schöpfung eine absolut freie Tat Gottes aus dem "Nichts" (vgl. X, 282). Mit der Lehre von der freien Weltschöpfung hängt in der gesamten Weltalterperiode die Lehre von Schöpfung der Welt in der Zeit zusammen. Daß die Zeit nicht erst mit der Welt, sondern die Welt in der Zeit entstanden ist, ist der Erlanger Vorlesung "ein wahrer Artikel des theistischen Systems" (E, 160). Die Geschichte Gottes ist ein "System von Zeiten", von dem die menschliche Zeit nur ein Moment darstellt. Wenn Schelling in der Erlanger Vorlesung auf die Unterscheidung von wahrer, metaphysisch umfassender Zeit (vorweltliche Vergangenheit, weltliche Gegenwart, nachweltliche Zukunft) und

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scheinbarer, menschlicher Sukzessionszeit zurückkommt, dann kann nur die wahre Zeit gemeint sein, wenn behauptet wird, die Welt sei in der Zeit erschaffen. Damit die Schöpfung eine freie sein kann, ist ein Mittelglied zwischen Ewigkeit und Welt (Scheinzeit) nötig, welches für Schelling die inner-göttliche Zeit ist, "die der Ewigkeit coexistirt" (E, 160). Nur weil mit der Schöpfung "eine ganz neue Reihe von Zeit" (E, 161) beginnt, ist sie "ein schlechthin freier Anfang" (ebd.) und beginnt mit ihr "eine völlig neue Bewegung, ein eigentlich zweiter Anfang" (ebd.). 2. Der Akt der Weltschöpfung ist nicht nur ein freier, sondern muß auch als sinnvoller gerechtfertigt werden. Schelling hat sich von Anfang an zwei tiefe metaphysische Fragen gestellt: 1. Warum gibt es überhaupt eine Welt? Wieso bleibt das Absolute nicht in sich beschlossen? 2. Warum ist die Welt so, wie sie ist. Für Schelling sind diese Fragen unabweisbar, und es war ihm klar, daß sie im Prinzip beantwortbar sein müssen. Seine Versuche, das schwierige Verhältnis von Absolutem und Welt zu klären, führt in der Weltalter- und Spätphilosophie dazu, die philosophische Substanz des Christentums zu explizieren. Der kosmogonische Prozeß gewinnt seine Bedeutung in der Verwirklichung und seinen Sinn in der "immerwährenden Verherrlichung Gottes" (E, 170), der in ihm seinen Ideen-Kosmos realisiert. Er beginnt, indem die gewordene äußere Potentialität von neuem aktuiert wird, damit die Potenzen in Wirksamkeit gesetzt werden, bis die ursprüngliche innere Potentialität wiederhergestellt ist. Der eigentliche Zweck der Schöpfung erschließt sich Schelling vom Ende her: von der Kreatur, die ohne Welt nicht wäre. Der kosmogonische Prozeß, der die weltliche Zeit konstituiert, vollendet sich im "Menschen", in welchem Gott in der Wirklichkeit zur Darstellung kommt. In der Spätphilosophie verschärft sich die Frage nach Sinn und Zweck der Schöpfung, weil die Freiheit Gottes absoluten Charakter annimmt. Ausdrücklich verabschiedet Schelling die idealistische Vorstellung, daß das Motiv zur Schöpfung in Gott selbst liegen kann. Gott will die Welt, weil diese den Menschen hervorgebracht hat, in dem Gott sein Ebenbild erkennt; das Absolute ist der letzte Grund, warum es überhaupt eine Welt gibt. Es gibt eine Welt, weil und damit das Absolute existiert. Und dies tut es, wenn es im Menschen sein Ebenbild erkennt. Wenngleich Schelling niemals eine Theorie des Absoluten um ihrer selbst willen konstruierte, sondern stets um die Wirklichkeit der Welt ableiten zu können, ist andererseits diese nicht zu begreifen, ohne ein Absolutes in Ansatz zu brin-

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gen. Nicht die Welt, allein das Absolute hat unabhängigen Bestand (vgl. B. Loer (1974), S. 249, 280). 3. Im Unterschied zur nichtdeduzierbaren freien Schöpfungsentscheidung ist Struktur und zeitlicher Verlauf der Schöpfung selbst a priori durch die immanente Dialektik der Potenzen bestimmt, die in ihrer kosmogonischen Funktion wie in den Weltaltern von 1814 die Bedeutung von Verneinung, Bejahung und Einheit beider haben. Der kosmogonische Schöpfungsprozeß hebt an, indem Gott die erste Potenz in Wirkung setzt bzw. seine ganze Natur unter die Dominanz der ersten Potenz aus sich heraussetzt. Schelling faßt die Schöpfung als "Werk der Entäußerung Gottes" (E, 162). Mit der Aktivierung der verneinenden Potenz, des kontraktorischen Willens, beginnt die dunkle "Urzeit" der Welt (vgl. E, 162). Die mitaktivierten beiden anderen, der ersten Potenz entgegengesetzten Potenzen dringen auf Expansion, Aufschließung, Formung und Vergeistigung der Natur. Der Widerstreit der Potenzen führt wiederum zu einem nunmehr kosmogonischen 'Rad der Geburt'. In dem Streit der Kräfte entsteht die anorganische Natur, und zwar zunächst die körperliche Materie, aus deren Zerschlagung die "Massen", der "Raum" und die "Weltkörper" (vgl. E, 165ff.) entstehen. Die anfängliche Wirkungsweise Gottes ist eine unfreie und unbewußte, die durch ein freies und bewußtes Wirken abgelöst wird (vgl. E, 164, 168). Der Übergang von der chaotischen zur freien Schöpfung geschieht dadurch, daß die erste Potenz sich aufgibt, sich selbst als (relativ) nichtseiend setzt, damit die zweite Potenz als ein anderes, gleichartiges Wesen aus sich heraussetzt und dabei doch sie selbst bleibt. Die zweite Potenz als "versöhnende Kraft" (E, 168) drängt die verneinende immer mehr zurück. Damit ist die dritte Potenz als Einheit von blindem und freiem Willen gesetzt. Die dritte Potenz als Einheit von Notwendigkeit und Freiheit wird nach Schelling besonders in organischen Gebilden sichtbar, wobei er auf § 76 von Kants Kritik der Urteilskraft verweist (vgl. E, 169). Der weitere Gang des Naturprozesses beruht auf dem Zusammenspiel der drei Potenzen, in dem das dem Schöpfungsgeschehen zugrundeliegende Prinzip stufenweise überwunden wird. Mit seiner völligen Überwindung kommt die Schöpfung an ihr Ende, indem die Potenzen in ihre Einheit zurückkehren. Der Ort der Umwendung von Natur zum Geist ist der Mensch, "wo die lautere Freiheit wiederhergestellt wird, welche die aus der Wirkung in die Ruhe zurückgebrachte, die sich selbst erkennende u. wissende Freiheit ist" (E, 169). Der Naturprozeß ist die Zeit der "Verwachsenheit" und "Verschlos-

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senheit Gottes in der Natur" (E, 173). Erst durch den "Sündenfall" kommt es zur Etablierung einer gott-entfiremdeten Welt. Er bedingt zugleich "die Zeit im engsten Sinne, die eigentlich zeitliche Zeit, die menschliche Zeit" (ebd.) und damit menschliche Geschichte als neue Zeitfolge der Schöpfung. Davon abzuheben ist die zukünftige Zeit, in der die Verwirklichung Gottes vollendet sein wird - die Zeit, "in der keine Zeit mehr ist, die nachzeitliche Zeit, der siebente Tag, der große Sabbath, an dem Gott ruhet von seiner Arbeit" (ebd.). Auch diese Überlegungen zum Sündenfall sind Antizipationen spätphilosophischen Gedankenguts. Während die Zeit des Naturprozesses die pantheistische Urzeit ist und die geschichtliche Zeit durch den Dualismus von Natur und Gott bestimmt ist, stellt die eschatologische Zeit eine neue Einheit von Gott und Natur wieder her. Die drei Perioden der Weltschöpfung vergleicht Schelling mit den philosophischen Systemen des Pantheismus, Dualismus und dem System der Freiheit (vgl. E, 171). Schelling versteht seine eigene Philosophie also als Verkündung eines neuen Zeitalters. Die Interpretation des Weltprozesses als trinitarisches Geschehen wird ergänzt durch eine letzte Steigerung des Potenzbegriffes in seiner Anwendung auf die göttliche Trinität selbst: Gott-Vater, Sohn und heiliger Geist (vgl. E, 172). Die schon im ersten Weltalterentwurf (WA I, 105ff.) angestellten Spekulationen über das christliche Trinitätsdogma werden hier allerdings nur ganz kurz aufgegriffen und nicht weiter ausgeführt; sie lassen überdies die spätphilosophischen Trinitätsspekulationen anklingen. Die Analyse des Schöpfungsprozesses deduziert die Welt aus Prinzipien, die erklären, wie sie aus christlicher Sicht beschaffen ist, als Natur- und Geschichtsprozeß und als zukünftige Erfüllung und Vollendung. Schelling beansprucht, mit seiner Theorie des geschichtlichen Absoluten die philosophische Substanz der christlichen Schöpfungslehre expliziert zu haben.

3. Überlegungen zum Übergang zur Spätphilosophie Schellings Spätphilosophie versteht sich als endgültige Einlösung des frühen Programms, vom Absoluten als dem Unbedingten auszugehen (vgl. B. Sandkaulen-Bock (1990), S. 174ff.). Den Neuansatz der Spätphilosophie versucht Schelling dadurch von seinen früheren Versuchen abzugrenzen, daß er sowohl seine Philosophie aus dem Prinzip des Subjekt-Objekts als auch die Identitätsphilosophie in die

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Struktur einer negativen, rein rationalen Vemunftphilosophie, die das Absolute nicht als Anfang, sondern nur als Resultat faßt, übersetzt. Diese Selbsteinschätzung ist wesentlich das Resultat der Auseinandersetzung mit der Philosophie Hegels, die er seiner eigenen identitätsphilosophischen Phase zuordnet. Eigentümlich ist, daß er auch der Identitätsphilosophie die positive Philosophie gegenübersetzt. Schelling unterschlägt dabei, daß sich die Identitätsphilosophie gegenüber der Selbstbewußtseinsphilosophie dadurch auszeichnete, daß sie auf der Basis des allem vorausliegenden Seins schlechthin etabliert wurde, das sich dann erst in der Vernunft als seiner Form offenbarte. Genauso wie er das Transzendentalsystem 1800 als vom Bedingten zum Unbedingten schreitende Propädeutik umdeutete und die Identitätsphilosophie als Philosophie aus dem Unbedingten darstellte, wird nun die Identitätsphilosophie selbst zur negativen Philosophie der Vernunftimmanenz. Schelling wendet in der Münchner Vorlesung die Bestimmung einer bloßen Propädeutik, die die Identitätsphilosophie gegen das Transzendentalstem 1800 richtete, noch einmal gegen diese selbst. So wird ihr Platz für die positive Philosophie frei (vgl. X, 123ff.). Die Überbietung der philosophischen Ansätze folgt dem gleichen Muster: Dem als mangelhaft erkannten Versuch, vom Unbedingten auszugehen, wird die legitime Stellung einer negativen Philosophie zugesprochen, während dem jeweiligen Neuansatz ein positives Verhältnis zum Absoluten gegeben wird. Das kann nur gelingen, wenn die Intention des jeweiligen Ansatzes geopfert wird. Aus der Warte der Spätphilosophie erfährt die Identitätsphilosophie eine völlige Verkehrung ihrer Absicht30, ja sie wird Schelling zur bloßen systematischen Ausgestaltung des in Kant angelegten Rationalismus. Er un-

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In Philosophie und Religion (1804), einer der identitätsphilosophischen Schriften, schreibt Schelling: "Es ist wahr, daß es [das Prinzip der Reflexion, d.V.], als Princip der gesammten Wissenschaft, nur eine negative Philosophie zum Resultat haben kann, aber es ist schon viel gewonnen, daß das Negative, das Reich des Nichts vom Reiche der Realität und dem einzig Positiven durch eine schneidende Grenze geschieden ist" (VI, 43). Deutlich setzt Schelling die Identitätsphilosophie als positive der negativen Philosophie Fichtes gegenüber. In der ersten Berliner Vorlesung von 1841/2 heißt es dagegen: "Man mag die Identitätsphilosophie in ihrem Anfang oder in ihrem Ende betrachten; sie erscheint in jedem Falle als der bestimmte Gegensatz des Spinozismus. Dem Spinoza ist Gott Prinzip, Anfang; ihr sollte Gott bloß Ende sein. Dem Spinoza sind die Dinge logische Emanationen der göttlichen Natur; der Identitätsphilosophie ist die Idee Gottes die höchste Emanation des bloß logischen Prozesses" (Paulus, S. 120). Der Grundgedanke der Identitätsphilosophie und der Spätphilosophie erwächst aus der gleichen Intention, den Ausgang von einem der Vernunft vorausliegenden Absoluten zu nehmen.

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terstellt sie der Kantischen Idee des Unbedingten, die in die Postulatenlehre mündet, und setzt ihr Jacobis Unbedingtes gegenüber, das eine Vernunftkritik impliziert, der eine Kantische Philosophie ohne "Prämissen" immer schon für bloß negative Philosophie galt. Der identitätsphilosophischen Konzeption wurde zunächst die der Freiheits- und Weltalterphilosophie gegenübergestellt, die von der absoluten Substanz zum personalen Gott fortgeht und in dieser Unterscheidung die Wirklichkeit der Welt zu begreifen sucht, ohne sie in Vernunft aufzulösen. Doch wurde ihr Prinzip noch nicht als unvordenkliche Wirklichkeit absolute r Freiheit und als reines Daß gefaßt, das keinerlei Notwendigkeit hat, ins weltliche Sein überzugehen (vgl. X, 28 lf.). In der Spätphilosophie ist die Schöpfungstat Gottes keine Tat a priori, sondern eine a posteriori und damit ein nur empirisch Erkennbares. Das Denken kann die Tat des Absoluten nicht logisch begreifen oder irgendwie herleiten, sondern nur hypothetisch voraussetzen und sie als je immer schon Geschehenes rekonstruieren. Das Spezifische der Spätphilosophie liegt darin, daß sie jede Konzeption verwirft, in der "Gott das nicht bloß logische, sondern wirkliche Resultat eines Processes wäre. Positive Philosophie ist insofern vielmehr in direktem Gegensatz mit allem und jedem theosophischem Bestreben" (XIII, 121). Damit setzt sich Schelling nicht nur von Hegel und damit von seiner Identitätsphilosophie, sondern auch von der Theosophie Böhmes und damit seiner eigenen Weltalter-Konzeption ab. Der Gott der Spätphilosophie "bewegt sich nicht, er handelt" (ebd. 125).31 Die Lehre von der göttlichen Geburt aus dem Rad der Natur, also die 'eigentliche Theogonie', verhindert, eine freie Weltschöpfung zu denken. Mit dem Übergang vom Begriff zur Wirklichkeit der absoluten Freiheit kommt es zur Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie. Die negative Philosophie erfaßt die absolute Freiheit als Prinzip nur im Begriff, um von ihm aus das System der Wissensinhalte genetisch zu deduzieren. Die positive Philosophie weist den in der negativen Philosophie im Denken gewonnenen Begriff Gottes in seiner "Existenz" auf. Die Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie gewinnt Schelling wieder in Auseinandersetzung mit Jacobi. Ihm entnimmt er die Idee, im Ausgang vom Unbedingten als dem unvor31

Es ist bemerkenswert, daß Schelling in der Spätphilosophie die Theosophie Böhmes und seine eigene Weltalterphilosophie auf die Seite des spinozistisch-hegelschen Rationalismus setzt (vgl. ΧΙΠ, 124f.).

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denklichen Sein einer Philosophie zum Durchbruch zu verhelfen, ohne jedoch zugleich den Anspruch auf Wissen, auf Explikation der Welt aus Gott, preiszugeben. Insofern verknüpft auch die Spätphilosophie Jacobi und Spinoza, indem sie die Konsequenz beider 'schlechten Pantheismus' einerseits und 'schalen Theismus' der Schöpfung andererseits - vermeidet. Die Spätphilosophie ist der letzte Versuch, ausgehend von der auf dem unvordenklichen Sein gegründeten Personalität Gottes die Geschichte der Schöpfung der Welt zu begreifen, ohne daß das Absolute wie in der Weltalterphilosophie über der Geschichtlichkeit verloren geht oder wie in der Identitätsphilosophie nur in der Vernunft gewonnen werden kann. Doch auch die Spätphilosophie fällt Widersprüchen anheim, indem sie im 'Begreifen des Unbegreiflichen' (vgl. Paulus, 161) Hegel und Jacobi zusammenzwingen will. Darin liegt, daß sich das philosophische Projekt Schellings selbst - und nicht nur seine verschiedenen Realisierungsweisen - der Aporie letztlich nicht entziehen kann. Schelling weigert sich, die Aporie der vom Unbedingten ausgehenden Letztbegründung der Philosophie durch den Hegeischen Gedanken des in der Selbstbegründung des Denkens fundierten absoluten Geistes zu beheben. Er insistiert auf das aporetische Konzept eines dem Denken vorausliegenden Seins, das als Unbedingtes zugleich Prinzip des Denkens und Wissens sein soll.

7. Kapitel Spätphilosophie: Vernunftsystem und unvordenkliches Daßsein I. Der philosophische Ansatz der

Spätphilosophie

Das Vorhaben der Spätphilosophie1 ist deutlich durch die Letztbegründungsabsicht der Philosophie bestimmt. Schelling reflektiert ein letztes Mal das Verhältnis von Vernunftsystem und Prinzip. Dessen Etablierung wird in zwei Schritten in Angriff genommen: 1. Es soll ein letzter Grund für das Denken ausgemacht werden, der die Letztbegründung für die Vernunft leistet. 2. Dieser letzte Grund wird als Gott des Christentums bestimmt, der eine "philosophische Religion" begründet, die letztes Ziel der Philosophiegeschichte ist. Diese doppelte Bestimmung im Letztbegründungsprogramm der Spätphilosophie findet ihren Ausdruck in Schellings Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie. Das Originelle der Konzeption der Spätphilosophie wirft zugleich das Problem auf, ob es eine systematische Einheit der Spätphilosophie gibt oder ob diese in einen inkonsistenten Dualismus auseinanderbricht.2 Diese Einheit steht von vornherein in Frage, weil der philosophische Letztbegründungsge-

1

2

Der Beginn der Spätphilosophie im engeren Sinne läßt sich um 1826/27 ansetzen, d.h. mit Beginn des zweiten Münchener Aufenthalts Schellings. H. Fuhrmans gibt als die "Geburtsstunde" der Spätphilosophie einen Brief Schellings an Cousin vom 16.4.1826 an (vgl. H. Fuhrmans (1940/41), S. 265-276, bes. S. 265; vgl. weiter H. Fuhrmans (1956/ 57), S. 302-323, bes. S. 309). S. Peetz zufolge bildet die Vorlesung über das System der Vf eltalter von 1827/28 "- auch in Schellings Selbstverständnis - den Auftakt zu seiner Spätphilosophie" (S. Peetz (1990), S.XXIV). Schelling selbst hat seine Spätphilosophie von den Weltaltern formal immer mit der Unterscheidung von System und Fragment abgehoben. Schelling äußert sich zu dieser Frage widersprüchlich: Einerseits behauptet er, daß es "doch nur Eine Philosophie" gebe (ΧΙΠ, 152), andererseits geht er von der absoluten Selbständigkeit der positiven Philosophie aus (vgl. ΧΠΙ, 92f., 154f.). Schellings Spätphilosophie ist generell kein homogenes Gebilde. Es ist ein bleibendes Desiderat der Schellingforschung, die einzelnen Transformationen des spätphilosophischen Systems nachzuzeichnen, das die vorliegende Arbeit naturgemäß nicht einlösen kann.

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Vernunftsystem und unvordenkliches Daß sein

danke durch die eben genannte Zweistufigkeit charakterisiert ist. Diese Doppelung ergibt sich daraus, daß für Schelling Letztbegründung der Vernunft keine Selbstbegründung sein kann. Das Denken kann sich nicht reflexiv selbst begründen, sondern ist auf eine Instanz verwiesen, die gerade nicht Denken ist, nämlich auf Gott. Schellings Spätphilosophie versteht sich geradezu als Kritik der Selbstbegründung der autonomen Vernunft. Sie zielt damit ab auf eine "Aufhebung des Idealismus"3. In Schellings Spätphilosophie kommt eine Umorientierung der Philosophie vom Idealismus zum Realismus zum Tragen, die als Tendenz in der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzt, und ist selbst als zeitgenössischer Beitrag zu diesem Umbruch zu interpretieren. Die Aporien der Schellingschen Spätphilosophie stellen nicht nur den Beginn der Endphase des Deutschen Idealismus dar, sondern bilden die Transformation des Idealismus in einen neuen Philosophietyp. Selbst Walter Schulz, der die Spätphilosophie dem Idealismus zuordnet, zweifelt daran nicht: "Diese Selbsteingrenzung der Vernunft ist zeitgeschichtlich betrachtet der Übergang vom Idealismus zum Nachidealismus" (Schulz (1975), S. 335). Gemäß der Zweistufigkeit des Letztbegründungsgedankens vollzieht sich die Spätphilosophie in zwei Etappen: Die negative Philosophie behandelt die Frage, welche Reflexion das Denken anstellen muß, um seine Begründungsinstanz zu erreichen. Die positive Philosophie geht davon aus, daß diese Begründungsinstanz Gott ist und untersucht die Frage, wie Gott gedacht werden muß, um unvordenkliches Prinzip zu sein.* Im folgenden soll die aporetische Bewegung der negativen und positiven Philosophie in ihren Grundzügen kritisch dargestellt werdend 3

Vgl. M. Theunissen (1976). Theunissen versteht Schellings Spätphilosophie wesentlich als Kritik speziell des Hegeischen Idealimus der absoluten Vernunft, und zwar im Sinne einer "Aufhebung" des Idealismus.

4

Zum philosophischen Programm der Spätphilosophie vgl. die ausgezeichnete Arbeit von K. Brinkmann (1976), S. 118ff.

5

Der grundsätzliche Gegensatz in der Auslegung der Spätphilosophie Schellings ist geprägt von der christlichen und idealistischen Deutung, für die einerseits H. Fuhrmans, andererseits W. Schulz einstehen. Nach H. Fuhrmans ist "die Unvereinbarkeit von idealistischem und christlichem Denken [...] die Grundvoraussetzung der Schellingschen Spätphilosophie" (H. Fuhrmans (1940), S. 59). Fuhrmans versteht den philosophischen Neuansatz der positiven Philosophie als schroffe, unvermittelte Entgegensetzung zur idealistischen Philosophie der Vernunft und setzt sie in die Nähe des sog. Spätidealismus von I. H. Fichte und Ch. H. Weiße. Diese Interpretation hat die Schwierigkeit zu erklären, inwiefern auch in der positiven Philosophie Vernunft immanent sein kann. Sie verkennt damit die aporeti-

Der philosophische Ansatz der Spätphilosophie

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Die Weltalterphilosophie einer wirklichen "Geschichte des Absoluten" scheiterte am Grundwiderspruch von Absolutheit und Geschichtlichkeit des Absoluten. Das grundsätzliche Problem bestand darin, daß die Weltalter bzw. die Erlanger Vorlesung ihren Grundgedanken der absoluten Freiheit nicht wirklich konsequent genug durchführten. Das zweistufige Letztbegründungsprogramm der Spätphilosophie erwächst aus einer Korrektur des geschichtlichen Absoluten der Weltalterphilosophie. Wie bereits angedeutet, nimmt die Spätphilosophie Schellings Abstand von jeder Konzeption, in der Gott Resultat eines logischen oder wirklichen Prozesses ist. Sie bildet daher nicht nur gegenüber seiner Identitätsphilosophie, die er nachträglich mit Hegels Standpunkt parallelisiert, sondern auch gegenüber seiner Weltalterphilosophie einen Neuansatz. Der wirkliche Gott ist nicht Resultat eines logischen Prozesses. Der Gott der Spätphilosophie ist "das unzweifelhaft Existirende[n]" (XIII, 158), das "vor und außer allem Denken ist " (XIII, 126). Ebensowenig ist er Resultat eines objektiven, notwendigen (Natur)-Prozesses wie in den sich an die Theosophie J. Böhmes anlehnenden Weltalter-Fragmenten. Die Philosophie, die die Bewegung des Absoluten rekonstruiert, hat rein logischen Charakter. Im Absoluten selbst liegt keinerlei Grund der Notwendigkeit zu einer sehe Umorientierung der Philosophie vom Idealismus zum Nachidealismus. W. Schulz, dem sehr tiefdringende Analysen zur Spätphilosophie Schellings zu verdanken sind, stellt heraus, daß in ihr die Letztgestalt des idealistischen Grundproblems der Letztbegründung zur Darstellung kommt, in der sich die sich selbst reflektierende Vernunft in ihrer "Vollendung" dialektisch selbst überwindet (vgl. W. Schulz (1955), S. 7f., 272). Diese Selbstüberbietung des Idealismus setzt er in die umfassende geschichtsphilosophische Perspektive einer sich selbst überwindenden Subjektivität und Vernunft, an deren Ende die Existenzphilosophie Heideggers steht. Schulz unterschätzt m .E. die aporetische Abtrennung der negativen von der positiven Philosophie und damit die positivistische Selbständigkeit der letzteren. Während H. Czuma (1969) Fuhrmans Interpretation zu vertiefen versucht, hat sich M. Theunissens (1976) Untersuchung W. Schulz weitgehend angeschlossen. Der Interpretationsrichtung H. Fuhrmans folgt dagegen die Arbeit neueren Datums von Th. Buchheim (1992). In einer ins Detail gehenden Auslegung eines Textes der negativen Philosophie - der Darstellung des Naturprozesses von 1843/44 - kommt Buchheim zu einer Totalaflirmation der positiven Denkform in Schellings Spätphilosophie. W. Kasper (1965) und H. Holz (1970) versuchen zwischen den extremen Interpretationen zu vermitteln, freilich um den Preis, den aporetischen Problemzusammenhang harmonistisch zu glätten. X. Tilliette nimmt eine unkritische Mittelstellung ein, weil er nur entwicklungsgeschichtliche und biographische Aspekte geltend macht. Trotzdem muß hervorgehoben werden, daß die verwickelte Geschichte der Spätphilosophie Schellings bei Tilliette am besten beschrieben wird (vgl. X. Tilliette (1970), Bd. 2, S. 70-96). Unter systematischem Gesichtspunkt betrachtet, sind beide alternativen Interpretationsrichtungen nur unbegriffener Ausdruck der aporetischen Bewegung von Schellings Spätphilosophie.

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Bewegung, einer Entäußerung oder einem Anderswerden. Nur die Philosophie projiziert eine solche Notwendigkeit ins Absolute um der Ableitung der Totalität alles Wißbaren aus einem Prinzip willen (vgl. X, 152). Der leitende Gesichtspunkt der Konstruktion des absoluten Prozesses "ist doch immer der terminus ad quem, die wirkliche Welt, bei welcher die Wissenschaft zuletzt ankommen soll" (X, 132). In der Spätphilosophie nimmt das Absolute eine absolute Vorrangstellung gegenüber der Geschichte bzw. jeglicher Prozessualität ein. Daraus erwächst die Notwendigkeit der Zweiteilung der Philosophie: Die negative Philosophie erfaßt das Absolute als Prinzip nur im "Begriff", um von ihm aus das System der Wissensinhalte genetisch zu deduzieren. Die positive Philosophie weist den in der negativen Philosophie im Denken gewonnenen Begriff des Absoluten in seiner "Existenz" auf. Das Absolute muß dann in einem zweiten Schritt in seiner Wirklichkeit als persönlicher Gott erwiesen werden. Beides wurde in der Erlanger Vorlesung noch zusammengenommen.

II. Die negative Philosophie 1. Die spätphilosophischen Schriften zur negativen Philosophie Schelling hat dem System seiner späteren Philosophie stets eine 'Einleitung^ als Vorspann vorangeschickt. Sie expliziert die Notwendigkeit der Konzeption einer vom Absoluten als dem Unbedingten ausgehenden positiven Philosophie. Diese wird abgegrenzt gegenüber der sog. negativen Philosophie, die das Absolute als Resultat faßt. Zu ihr zählt Schelling die seit Descartes geschichtlich in Erscheinung getretenen Systeme (Spinoza, Leibniz, Kant und Fichte), insbesondere seine eigene frühere Philosophie sowie die Hegeische Philosophie. Die Einleitung endet mit der Darstellung des regressiven (d.h. zu Gott zurückschreitenden) Empirismus und der Ekstasis der Vernunft, die sich des Faktums der Selbstoffenbarung des Absoluten im unvordenklichen Sein versichert. Zu unterscheiden ist die 'große Einleitung* in der ersten Münchener Zeit von der Tdeinen Einleitung" in der letzten Münchener und der ersten Berliner Zeit. Von der großen Einleitung haben in die von Schellings Sohn herausgegebenen Sämtlichen Werke einzig die (falsch datierten) Fragmente Geschichte der Philosophie seit Descartes sowie Darstellung des philosophischen Empirismus, die vermutlich Bruchstücke der Vorlesung aus dem WS 1833/4 sind, Einzug er-

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halten (vgl. Frank (1977), S. 44). Die Ersetzung der 'großen' durch die Ideine Einleitung* hat zur Folge, daß der historische Teil mit Kant beginnt und die Darstellung des philosophischen Empirismus zugunsten einer Rehabilitierung der negativen Philosophie eingeschränkt wird. Dokumentiert ist diese 'neue Einleitung* in der Berliner Einleitung von 1842/3, veröffentlicht in Sämtliche Werke, Bd. XIII, S. 3-174. Die davon etwas abweichende Paulus-Nachschrift der Berliner Vorlesung von 1841/2 ist eine wichtige Ergänzung dazu. Schelling beschränkt seine kritische Skizze in der 'neuen Einleitung' auf die idealistische Epoche im strengen Sinne, also auf die Entwicklung seit Kant, weil erst der nachkantische Idealismus die Intention auf reine Rationalität realisiert (vgl. XI, 374f.). Die negative Philosophie stellt zunächst eine idealtypische Rekonstruktion der eigenen Früh- bzw. Identitätsphilosophie dar, die Schelling in die Struktur des in der Schrift Über den wahren Begriff der Naturphilosophie (1801) erweiterten, sich am Selbstbewußtseins- bzw. SubjektObjekt-Paradigma orientierenden Transzendentalsystems 1800 einzeichnet, sodann ist sie wesentlich Kritik der Hegeischen Philosophie, in der der Idealismus gipfelt.6 Die negative Philosophie ist also ein Konstrukt, das nicht mit bestimmten historischen Systemen identisch ist. Sie umfaßt im Grunde die ganze europäische Metaphysik platonisch-aristotelischer Herkunft, die sich in Hegels Philosophie vollendet. Schelling hat sich in seinen letzten Lebensjahren wiederholt mit der negativen Philosophie beschäftigt, ohne sie aber zu einem befrie-

Einerseits interpretiert Schelling sein eigenes frühes Denken als Philosophie des über das Denken hinausgehenden ontologischen Prinzips, von dem als dem Unbedingten im Gegensatz zur Philosophie Hegels, die das Absolute als Resultat faßt, positiv auszugehen ist. Andererseits sieht er in seiner frühen Prozeßphilosophie des Selbstbewußtseins den Vorläufer der Hegeischen Philosophie, die deren Fehler lediglich vergröbert habe. Wohl aus diesem Grund beschreibt Schelling diese im Tagebuch als "parasitäres Monstrum" (F.W J . Schelling (Tagebuch 1848), S. 129). Eine zusammenfassende Kritik Schellings an Hegel findet sich in der Münchner Vorlesung Zur Geschichte der Philosophie (X, 126-164). Eine weitere Auseinandersetzung findet sich in der Paulus-Nachschrift (Paulus, 121-139). In Schellings Hegel-Kritik lassen sich zwei Ebenen unterscheiden. Von der Detailkritik des Anfangs der Hegeischen Logik, der Diskussion über Sein, Nichts und Werden, und der Kritik an der dialektischen Methode der Logik hebt sich eine prinzipiellere Ebene der Hegel-Kritik ab, die die Systemstruktur der Hegeischen Philosophie betrifft: die Kritik an der Entgegensetzling von Logik und Natur, die Kritik am Charakter der Logik als bloßer Begriffslehre und die Kritik am Übergang von der Logik zur Natur. Die Einwände zu diesem Übergang bilden die systematische Mitte von Schellings Hegel-Kritik (vgl. Brinkmann (1976), S. 143-187; Horstmann (1991), S. 245-268).

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digenden Abschluß bringen zu können. Wir sind also mit einer dritten Gestalt der negativen Philosophie konfrontiert. D. Korsch ist der Auffassung, daß das, was uns als ausgearbeitete Gestalt der negativen Philosophie vorliegt, die Philosophische Einleitung in die Philosophie der Mythologie oder Darstellung der reinrationalen Philosophie (XI, 253-572) ist, ein auf 14 Vorlesungen (Nr. 11-24 der Philosophie der Mythologie) verteiltes Konglomerat, in das neben anderen nicht mehr identifizierbaren Texten 5 Berliner Akademieabhandlungen der Jahre 1847 - 1852 eingegangen sind. Trotz der Uneinheitlichkeit des Textes glaubt Korsch dort die "Grundstruktur und Gesamtplan einer vollständigen negativen Philosophie" zu finden (D. Korsch (1980), S. 256).7 Unsere Darstellung der negativen Philosophie wird sich im wesentlichen auf die Berliner Fassung der Einleitung konzentrieren.

2. Begriff und Methode der negativen Philosophie Die negative Philosophie präsentiert sich als reine "Vernunftwissenschaft" oder "reinrationale[n] Philosophie" (vgl. XIII, 57; XI, 253). Diese unterscheidet sich von den anderen Wissenschaften, für die die Differenz zwischen Erkenntnis und Gegenstand konstitutiv ist, dadurch, daß in ihr die Vernunft Erkennendes ebenso wie das Erkannte ist. Gegenüber den Wissenschaften kommt ihr die Funktion zu, Gegenständlichkeit überhaupt als vernunftbestimmt zur Einsicht zu bringen (vgl. XI, 293f.). Die Vernunftwissenschaft hat also die doppelte Aufgabe: in bezug auf sich selbst die Einheit von Form und Inhalt, in bezug auf die Wissenschaften die Differenz als notwendig, aber im Erkennen überbrückbar herzuleiten. Schelling bezeichnet die Vernunftwissenschaft als Erste Philosophie, próte philosophie (vgl. XI, 367), die er nach dem Vorbild der aristotelischen Metaphysik als Einheit von Seinswissenschaft und Theologie versteht (vgl. Aristoteles, Met. 1026a 29-32). Inhaltlich besteht eine weitgehende Identität zwischen dem Gang der negativen Philosophie und der aristotelischen Metaphysik. Hier wie dort geht es darum, den Begriff des in der Erfahrung vorgefundenen Seienden 7

Zu derselben Einschätzung in dieser Frage kommt A. Franz (1992), S. 49. Die beste Beschreibung des Problems der negativen Philosophie liefert X. Tilliette (1970), Bd. 2, S. 29-96. Nach ihm kommt der positiven Philosophie eine wichtige Funktion für die Neugestaltung der negativen Philosophie zu. Vgl zu diesem Problem auch M. Frank (1977).

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mit dem theologisch verstandenen höchsten übersinnlichen Prinzip zu verbinden. 8 Die Erste Philosophie fragt, was das Seiende ist und das heißt für Schelling nach dem "Princip" des Seienden (XI, 297). Das Prinzip wird als diejenige Instanz verstanden, die unterschieden vom Seienden dieses allererst ermöglicht. Die Differenz zwischen Prinzip und Begriff des Seienden ist konstitutiv für die negative Philosophie. 9 Da das Prinzip den Anfang zu einer Letztbegründung darstellen soll, muß es ein unbedingtes Prinzip sein. Die Erste Philosophie zeichnet nun die Reflexion des Denkens nach, die zu dieser Begründungsinstanz führt. Der "Weg zum Princip" (XI, 297) unterliegt zwei Bedingungen: 1. Da die Erste Philosophie "höchste Wissenschaft" (XI, 296) ist, kann ihr durch keine andere Wissenschaft das Prinzip gegeben werden, sie muß daher eine eigene Methode ausbilden, die zum Prinzip führt. 2. Da die Methode erst zum Prinzip gelangt, kann sie nicht deduktiv verfahren, sondern muß induktiv "vom Besonderen zum Allgemeinen" (XI, 297) gehen. Schelling bezeichnet sie als "dialectische Methode" (XI, 323; zur Dialektik vgl. XI, 322-336). Die Induktion geht aber nicht wie üblich von der Erfahrung aus, sondern vollzieht sich "im reinen Denken" (XI, 302). Die negative Philosophie läßt sich als induktiver Apriorismus bezeichnen. Apriorisch verfährt sie, weil die Vernunft sich vor aller Erfahrung nur mit sich selbst beschäftigt. In8

Auf die Wichtigkeit der Aristoteles-Rezeption Schellings für seine Spätphilosophie weist bereits Tilliette (1970), Bd. 2, S. 295f. hin. Marks/Pechmann (1991) stellen heraus, daJ3 Schellings Erarbeitung der negativen Philosophie von einer ungewöhnlich intensiven und textnahen Rezeption der aristotelischen Philosophie begleitet war. A. Franz versteht die Piaton- und vor allem Aristoteles-Rezeption als "Schlüssel" zum Verständnis der reinrationalen Philosophie (vgl. A. Franz (1992), S. 105ff.). Auf den ersten Blick scheint Schellings Hinwendung zu Aristoteles auf seine Konkurrenz mit Hegel zurückzugehen, der nach dem Diktum von K.F. Bachmann in seiner Rezension der Phänomenologie des Geistes von 1810 als "deutscher Aristoteles" gehandelt wurde. In Wahrheit kommt darin ein Umbruch der Philosophie vom Idealismus zum Realismus zum Ausdruck. Die philosophische Problemlage der Zeit Schellings in Berlin ist zum einen von der Beeinflussung der Philosophie durch die neu entstandenen historisch-philologischen Wissenschaften, zum anderen durch ein traditionsorientiertes, an der aristotelischen Logik und Metaphysik ausgerichtetes Wissenschafts- und Philosophieverständnis ausgzeichnet. Führender Repräsentant des Aristotelismus war A. Trendelenburg, der einlöste, was Schelling als Aufgabe zugedacht war: die Vertreibung des Hegelianismus aus Berlin. Einen informativen Uberblick über die damalige "Konstellation" der philosophischen Problemlage im allgemeinen gibt Köhnke (1986).

9

J.-F. Marquet hebt den tragenden Unterschied zwischen "Seiendem" und "Seiendem selbst" hervor, der hier dem zwischen Begriff und Prinzip des Seienden entspricht, welchen W. Schulz vernachläßigt (J.-F. Marquet (1973), S. 556).

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duktiv geht sie vor, weil sie nicht vom Prinzip ausgeht, sondern erst zu ihm gelangt. Das Spezifische der sich im reinen Denken abspielenden Induktion ist, daß sie den Inhalt der Vernunft in seiner Vollständigkeit entfalten kann. Das immanente Gesetz des Denkens ist durch den Satz des Widerspruchs bezeichnet (vgl. XI, 304f.), den Schelling als "Grundsatz des sich nur zu sich selbst verhaltenden Denkens" (XI, 270) versteht. In diesem Gesetz findet Schelling die Fähigkeit des Denkens formuliert, unter gegensätzlichen Bestimmungen an einem Identischen festzuhalten. Demgemäß bestimmt sich der Gang der Vernunftwissenschaft so, daß die erste Bestimmung zu einer zweiten fortgeht und beide erst in einer dritten zur Ruhe kommen. Die dialektische Methode entfaltet Schelling als Potenzenlehre (vgl. XI, 288ff., 302ff., 387ff.; XIII, 76ff.). Die im reinen Denken gewonnenen Potenzen machen die notwendigen Momente der Totalität des Seienden aus. Sie sind die Grundbegriffe der reinen Vernunft, die als reine Denkbestimmungen zugleich Seinsbestimmungen sind.i° 10

Die Potenzenlehre hat in Schellings philosophischer Entwicklung mehrfach eine Veränderung erfahren. In der Natur- und Identitätsphilosophie wird der Begriff der Potenz insgesamt in einem mathematischen Sinne gebraucht. In der Freiheitsund Weltalterphilosophie sind es "Mächte" und "Kräfte". Mit der Aufnahme der Theosophie Böhmes wird der PotenzbegrifT dynamisiert. In der Spätphilosophie nimmt Schelling eine weitere Modifikation des Potenz be griffs vor. Die Potenzen werden einerseits als Prinzipien des Denkens, andererseits als Ursachen des Seins ausgelegt. Deshalb interpretiert Schelling sie auch aristotelisch als causa materialis, formalis und finalis (XI, 391-397). Das ausdrückliche In-Beziehung-Setzen seiner Potenzenlehre auf die aristotelischen Grundbegriffe dynamis und enérgeia ist offensichtlich durch die Kritik Hegels hervorgerufen worden, der in seiner Wissenschaft der Logik erklärt, daß Schellings Potenzen nicht an Aristoteles dynamisBegriff orientiert sind, sondern "oberflächliche Bestimmungen" seien, die in die "Kindheit des Philosophierens" gehörten (Hegels Werke 5, 385). Potenzen sind in der Spätphilosophie also keine bloß logischen Prinzipien. Sie treten wie auch in den Weltaltern als Potentiale realer Prozesse auf. Drei Hauptfunktionen der Potenzen lassen sich unterscheiden: 1. An entscheidenden Stellen der Spätphilosophie (Anfang der negativen und Anfang der positiven Philosophie, Lehre von der realen Schöpfung), werden die Potenzen als Mittel eingesetzt, die den logisch motivierten Fortgang der Theorie absichern sollen. 2. Sie dienen wie in der Erlanger Vorlesung dazu, einen Freiheitsbegriff aufzustellen, der vom Möglichkeitsbegriff her gedacht ist. 3. In der positiven Philosophie finden sie ihre Anwendung auch in realen Prozessen. Hier erhalten sie theologische, kosmologische und anthropologische Funktion. In der Philosophie der Mythologie und der Offenbarung treten sie sogar in personifizierter Form etwa als Dionysos und Christus auf. Eines der Hauptprobleme der Spätphilosophie besteht darin, daß sie keine ihren Zusammenhang herstellende Kategorienlehre entwickelt. Da Schelling die Potenzenlehre sowohl in der negativen als auch in der positiven Philosophie verwendet, hätte er mit ihrer Hilfe den übergreifenden Zusammenhang seiner Spätphilosophie erhellen können. Dieses nicht getan zu haben, hält Theunissen für den "schwersten Mangel seiner Spätphilosophie" (M. Theunissen (1976), S. 29).

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Das reine Denken der Vernunftwissenschaft ist also das Denken auf kategorialem oder spekulativem Standpunkt, der die Identität von Sein und Denken zum Ausdruck bringt. Die von Schelling behauptete Kategorialität des Denkens unterscheidet sich allerdings erheblich von Hegels Verständnis der Kategorialität. Schelling und Hegel beantworten die Frage, wodurch das Denken berechtigt sei, den spekulativen Standpunkt einzunehmen, d.h. die Kategorialität der Vernunft zu behaupten, in je verschiedener Weise. Während Hegel das Problem durch den Gedanken der absoluten Reflexivität, der Selbstbegründung und Unhintergehbarkeit der Vernunft löst - die Vernunft ist, weil sie ist, sie konstituiert sich selbst -, erscheint Schelling dieser Begründungsgedanke in Form der beiden Fragen: "[...] warum ist überhaupt etwas? warum ist nicht nichts?" (XIII, 7) und: "[...] warum ist denn Vernunft und nicht Unvernunft?" (XIII, 247). Damit ist schon an dieser Stelle klar, daß Schelling einen der Vernunft externen Grund ansetzt. Die Warum-Frage der Metaphysik taucht schon in Schellings frühen Schriften auf. Bereits in den Briefen sagt Schelling, das "Hauptgeschäft aller Philosophie" sei die "Lösung des Problems des Daseyns der Welt" (I, 313). In der Frühphilosophie aber auch in der Identitätsphilosophie (vgl. VI, 155) bezog sich die Warum-Frage auf das Sein der endlichen Dinge und war eine vom Verstand gestellte Frage, auf die die Vernunft die Antwort gibt: das Absolute. Die Entwicklung von Schellings Denken führt in der Freiheits- und Weltalterphilosophie zu einem neuen Systementwurf. Auch dieser Entwurf löst die Intention nicht ein zu erklären, wie das Absolute aus sich herausgehen und sich eine Welt entgegensetzen könne. Er führt in den Weltaltern zum "Verstummen der Wissenschaft" (WA I, 103) und damit zu einer Krise der Vernunft selbst. Diese kommt in der nun gültigen Fassung der Warum-Frage zum Ausdruck: "Warum ist denn Vernunft, warum ist nicht Unvernunft?" (X, 252). Die erneut in der Spätphilosophie gestellte Warum-Frage bezieht sich auf die absolute Vernunft selbst und ist nur von dem unvordenklichen Sein Gottes her zu beantworten. Die Antwort auf die Warum-Frage ist also wieder Gott, aber nicht wie in der Identitätsphilosophie im Sinne des absoluten "Wesens", sondern im Sinne des "wirklichen" Gottes. In der Spätphilosophie führt der Letztbegründungsgedanke also über die Vernunft hinaus. Darin liegt die grundlegende Differenz zwischen ontologischem Prinzip und vernünftigem Begriff des Seienden in der negativen Philosophie begründet. Die Momente des Begriffs des Sei-

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enden stellen sich als Möglichkeiten des Seienden dar. Sie sind das, was das Seiende sein kann, daher der Ausdruck Potenzen. Da das Prinzip der Vernunft sich nur durch die Bewegung dreier Potenzen hindurch bestimmen läßt, ist es als Prinzip von der sich selbst reflektierenden Vernunft nicht zu begründen. Das bedeutet, daß sich der intendierte Inhalt der Vernunft der autonomen Vernunft entzieht. Modell für die Potenzenlehre der negativen Philosophie ist Schellings frühere Selbstbewußtseins- bzw. Subjekt-Objekt-Philosophie. Die erste Bestimmung der Vernunft wird als bloßes Subjekt bestimmt, bei dem von allem Seienden abgesehen wird und von dem her das Seiende allein gedacht werden kann. Als bloßes Subjekt ist es das, was "das Seyende seyn kann" (XIII, 76), das "bloße seyn Könnende" (III, 77). Wie in der Erlanger Vorlesung ist dieses die erste Potenz und der absolute Anfang des ganzen Prozesses.11 Als Grund und Ermöglichungsinstanz des Seienden ist die erste Potenz nur an sich das Seiende: "Eine Beraubung also ist mit dem bloßen Subjekt gesetzt" (XI, 288). Das bloße Subjekt erfordert daher seine Negation, das "rein seyende" oder "Objekt" (XIII, 77). Dieses ist die zweite Potenz. Das wechselseitige Ausschließen von Subjekt und Objekt macht eine dritte Potenz notwendig, die die Einheit der Totalität des Seienden als "Subjekt-Objekt" oder "Geist" (ebd.) darstellt. Die Entwicklungsprinzipien der negativen Philosophie sind also diese drei Potenzen, durch die das reine Denken das Seiende vollkommen bestimmt. Die Stufenfolge der drei Potenzen stellt sich als Prozeß sukzessiver Selbstbestimmung des Seienden dar. Die ontologische Kluft zwischen dem Prinzip des Seienden und dem vernünftigen Begriff desselben begründet auch die spezifische Bewegungsform der negativen Philosophie. Nicht die Bewegungsform von Hegels Logik, der Gang einer freien Notwendigkeit im Element des Ewigen, kennzeichnet die Vernunftbewegung, sondern ohnmächtige Unfreiheit, die den Charakter der unerbittlichen Notwendigkeit eines Schicksals an sich trägt. Die Organisationsform der Seinsbestimmungen im vernunftwissenschaftlichen Denken beschreibt Schelling auch als ein haltloses "Weichen" (Paulus, 139) einer Bestimmung vor einer anderen, bis sie sich im Idealfall zu einer vollständigen Beschreibung des Seienden integrieren. Bemerkenswert ist, daß es Schelling mit der herakliteischen Unbeständigkeit alles Seienden vergleicht (vgl. Paulus, 139). Die Vernunft stürzt in der ne11

Zu Recht bestimmt K. Hemmerle die erste Potenz des Seinkönnenden als "systematische Mitte der Spätphilosophie" (K. Hemmerle (1968), S. 172).

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gativen Philosophie von Bestimmung zu Bestimmung fort, bis es zum "Umsturz der Vernunft" (XIII, 152) selbst kommt. 3. Anfang, Gang und Ende der negativen Philosophie Als Einheit von Denken und Sein ist der spekulativen Vernunft das Problem des Anfangs gegeben. Soll die Vernunft sich selbst erfassen, kann sie keinen Standpunkt außerhalb ihrer einnehmen. Ebensowenig kann sie sich bzw. ihren Inhalt unmittelbar-intuitiv erfassen, denn sie ist bestimmendes Denken (vgl. XI, 364ff.). In bezug auf ihren spekulativen, kategorialen Standpunkt bestimmt Schelling die Vernunft als die "unendliche Potenz des Erkennens", deren ursprünglicher Inhalt die "unendliche Potenz des Seyns" (vgl. XIII, 62-67) ist. Der Inhalt der Vernunft ist also nur durch Gedanken zu erfassen. Was aber ist der erste Gedanke? "Der unmittelbare Inhalt der Vernunft" ist "der unmittelbare Begriff des Seyns selbst" (XIII, 64). Der kategorialen Vernunft eignet aber nicht nur die Fähigkeit, sich der Totalität des Seins innezusein; als "das ursprüngliche, nichts außer sich bedürfende, von sich aus vermögende Erkennen" (XI, 266) vermag sie auch allen bestimmten Inhalt aus ihren eigenen Prinzipien zu entwickeln. Neben ihrem Ausgriff aufs Ganze eignet ihr also auch vollkommene Autonomie. Indem die Vernunft "von ihrem eigenen urspünglichen Inhalt" (XIII, 62) ausgeht, geht sie nämlich, wie Schelling hervorhebt, nur "von sich aus" (XIII, 57): "Die Vernunft gibt dem Inhalte nach alles, was in der Erfahrung vorkommt [...]" (XIII, 61). Ist mit den Potenzen und ihrer Bewegung das Prinzip der negativen Philosophie schon gefunden? Wir haben zwar das Prinzip, aber nicht als Prinzip (vgl. XI, 364ff.). Das fundamentale Problem der negativen Philosophie besteht in dem durch und durch problematischen Prinzip-Prinzipiat-Verhältnis. Das reine Denken muß, um zum Prinzip zu gelangen, vom Seienden ausgehen. In der induktiven Methode erscheint also nicht das Prinzip, sondern das Seiende als das Erste. Das Prinzip als Prinzip ist aber nur als wirklicher Anfang gegeben. Aufgabe der Ersten Wissenschaft ist es, diesen zu ermitteln. Kommen wir noch einmal auf Schellings Verständnis des kategorialen oder spekulativen Charakters des Denkens in der negativen Philosophie zu sprechen. Das reine Denken denkt die Seinsbestimmungen als Denkbestimmungen, also kategorial. Die Kategorialität des Denkens hat bei Schelling jedoch nur hypothetischen Charakter, denn die Seinsbestimmungen gelten dem Denken nur als Potenz, als

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etwas, was nur sein kann. Entsprechend wird das Denken selbst als Potentialität, als Möglichkeit dessen, was sein kann, bestimmt. Denken ist "Entwurf (XI, 291) des Seienden. Vernunft ist also in ausgezeichneter Weise das, was die erste Potenz ist, unendliches Seinkönnen (vgl. XIII, 63f.) Das bedeutet, daß ihr nicht das zugänglich ist, was ist, sondern nur das, was sein kann. Mit dem PotenzbegrifF restauriert Schelling die antike Ontologie, der er die Begriffe wie "Potenz" und "Actus" entnimmt, "die bei Aristoteles die alles zusammenhaltenden sind" (XI, 384), um sie zur Reformulierung und zugleich zur Kritik des idealistischen Vernunftbegriffs zu benutzen. Die Konsequenz der restaurativen Zurücknahme des idealistischen Vernunftbegriffs in den Potenzbegriff der antiken Ontologie ist dies, daß die Vernunft von der Wirklichkeit des Absoluten getrennt wird und damit von Wirklichkeit überhaupt. Im Potenzbegriff selbst ist somit die negative Dialektik von Macht und Ohnmacht enthalten, der die Vernunft in der negativen Philosophie unterworfen wird. Potenz ist zwar als Macht, aber nicht als von sich selbst ausgehende, aus sich selbst quellende Macht zu verstehen. Potenz ist keine wirkliche Ursprungsmacht, sondern im Gegenteil Menetekel der Ohnmacht der Vernunft, die auf das ihr Andere verwiesen ist. Die Spätphilosophie unterscheidet "Was" und "Daß", "Wesen" und "Existenz", "Möglichkeit" und "Wirklichkeit", "quid" und "quod" (vgl. XIII, 57f.). Basierend auf dieser aristotelisch-scholastischen Unterscheidung entwickelt Schelling anknüpfend an Kant einen weiten und einen engen Vernunftbegriff. Der weite schließt Erfahrung ein, der enge aus (vgl. XIII, 55ff.). Das Seiende hat an sich selbst einen Unterschied; es hat zum einen eine der Vernunft zugängliche Seite (Was), in seiner faktischen Existenz (Daß) ist es jedoch nur der empirischen Erfahrung zugänglich. Vernunft erkennt am Seienden nur das quid, hat dasselbe nur im Begriff; nicht aber erkennt sie die Wirklichkeit des Wirklichen, d.h., ob Seiendes ist bzw. daß es ist. Die empirische Erfahrung wird so zur "Begleiterin" (XIII, 62) der Wissenschaft. Doch geht die negative Philosophie anders als die positive Philosophie nur von der Erfahrung aus, nicht auf sie zu. Erfahrung hat in ihr lediglich bestätigende, nicht erweisende Funktion, die sie erst in der positiven Philosophie hat (vgl. XIII, 126-129). Im Unterschied zur negativen Philosophie ist also die Erfahrung für die positive Philosophie selbst konstitutiv. Hier zeigt die Erfahrung auf, daß

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und warum das von der Vernunft als möglich eingesehene Seiende als "Folge" der Existenzsetzung Gottes tatsächlich existiert.! 2 Daraus erhellt Schellings Differenz zu Hegel in bezug auf den spekulativen Standpunkt der Kategorialität des Denkens. Auch Schelling leugnet keineswegs die Identität von Denken und Sein. Wie für Hegel sind fur ihn Denkbestimmungen solche, die das Wirkliche als Vernünftiges, d.h. als durch die Kategorien Begriffenes aussagen. Die Eigentümlichkeit von Schellings spekulativem Standpunkt besteht im Unterschied zu Hegels Vernunftverständnis darin, daß die Aufstellung der Denkbestimmungen, die zugleich Seinsbestimmungen sind, nicht damit zusammenfällt, daß das begriffene Wirkliche auch ist, d.h. daß es Seiendes gibt, das die Kategorie erfüllt. Die Faktizität der Existenz des Wirklichen kann nicht durch die Vernunft, sondern nur durch die Erfahrung ermittelt werden. Die Vernunft bedarf der Vergewisserung, daß ihr Entwurf keine "Chimäre" (XIII, 62) ist. Die Erfahrung - "eine von der Vernunft unabhängige Quelle" (XIII, 61) - dient der "Controle": "Denn daß das Construierte wirklich existirt, dieß sagt eben nur die Erfahrung, nicht die Vernunft" (XIII, 62). Nach Schellings hypothetischer Auffassung der Kategorien kann es also so etwas wie eine leere Kategorie geben, bzw. die Erfülltheit der Kategorie ist für sie selbst nicht von Bedeutung. Nach Hegels Kategorienverständnis bin ich mir der Identität von Denken und Sein im Begriff sicher. Demgegenüber ist Schelling der Auffassung, daß allein das Andere der Vernunft, das für das Denken Irreduzible, das begrifflich nicht darstellbar ist, die Identität von 12

In der 7. Vorlesung der Einleitung in die Philosophie der Offenbarung (ΧΙΠ, 115146) unterscheidet Schelling drei Stufen des Empirismus. 1. Die erste Stufe des Empirismus geht von der sinnlichen Erfahrung aus. 2. Die zweite Stufe ist die übersinnliche Erfahrung des "mystischen Empirismus" (XIII, 115), wie sie von Jacobi behauptet wird. Dieser stützt sich auf die innere Tatsache des Gefühls. 3. Der Empirismus dritter Stufe stellt die Philosophie der Ekstase, die Theosophie, dar (vgl. ΧΙΠ, 119). Die positive Philosophie fallt nun keineswegs mit der Theosophie zusammen. Sie linterscheidet sich sowohl nach der rationalen als auch nach der empirischen Seite von Theosophie. Die positive Philosophie ist erstens philosophisch-rationale Entwicklung der 'theosophischen Systeme'. Was die Theosophie in ihrem 'Zungenreden' trifft oder nicht trifft, entwickelt sie dialektisch. Zweitens gibt es auch für die positive Philosophie einen sie begleitenden spezifischen Empirismus. Anders als der metaphysische und mystische Empirismus geht die positive Philosophie nicht von der Erfahrung aus, sondern auf sie zu, um somit a posteriori zu erweisen, was das absolute Prius ist. Die Begleiterin der negativen Philosophie ist der sog. 'regressive', d.i. zu Gott aufsteigende Empirismus, die der positiven Philosophie der 'progressive', d.i. das absolute Prius als wirklichen Gott erweisende Empirismus. Die positive Philosophie ist damit "eigentlicher Empirismus" (ΧΙΠ, 130). Zur unterschiedlichen Bolle der "Erfahrung" in der negativen und positiven Philosophie vgl. die erhellende Arbeit von Chr. Wild (1968), S. 116fF.

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Sein und Denken und damit die Erfülltheit der Kategorie garantiert. Während für Hegel die Herstellung der Einheit von Sein und Denken die spezifische Vemunftleistung ist, kann die Vernunft für Schelling ihrer Kategorialität nicht aus sich sicher sein, weil alles, was sie entwirft, nur hypothetischen Charakter hat. Nur das unvordenkliche Prinzip kann die Kategorialität des Denkens verbürgen. Schelling denkt dieses Prinzip als jene Instanz, die dem Seienden Wirklichkeit verleiht, Existenz setzt. Dieses Seiende, das den ermöglichenden Grund von Wirklichkeit darstellt, wird als das "wahrhaft Seyende" (XIII, 67), das "Seyende selbst" (XIII, 70) bzw. als "das-Seyendeseyende" (XI, 313) bezeichnet. Es ist das ontologische, über die Vernunft hinausgehende Absolute, das die Vernunft allererst ermöglicht. Die ganze negative Philosophie beschreibt den Weg, um zu diesem unvordenklichen Prinzip zu gelangen. Schellings spätphilosophischer Grundgedanke eines vom Denken und der Vernunft prinzipiell nicht einholbaren wahrhaft Seienden ist erheblichen Bedenken ausgesetzt. Denn auch das ganz Andere des Denkens ist eine Kategorie. Die Behauptung einer prinzipiellen Unerkennbarkeit des Wirklichen ist ein Widerspruch, denn das prinzipiell Unerkennbare wird ja als solches erkannt, kann also nicht unerkennbar sein. Es wird ja durch die Kategorie des (reinen) Seins als das für das Denken Fremde und Andere verstanden, damit jedoch kategorial erfaßt. Daraus folgt, daß es prinzipiell Unerkennbares nicht geben kann. Das Schellingsche unvordenkliche Absolute verstrickt sich in analoge Widersprüche wie das Kantische unerkennbare Ding-an-sich. Auf Basis dieser ursprünglichen Einsicht Hegels ist Kritik auch an Schellings Spätphilosophie anzumelden. Die Behauptung der Kategorialität des Denkens führt - und diese Konsequenz hat Hegel gezogen - zum Gedanken der Absolutheit des Denkens. Die Kategorialität des Denkens, die Identität von Denken und Sein verbürgt das Denken und nicht das, was nicht Denken ist. 13 Bisheriges Resultat der negativen Philosophie war die Ungeschiedenheit der Potenzen. Die negative Philosophie kommt bis zur "Indifferenz" als der "Gleichmöglichkeit des außer dem Princip gesetzten Seyenden (des außergöttlichen Seyns) und des außer dem Seyenden gesetzten Principe - der rein in sich seyenden Gottheit" (XI, 366). Darin ist enthalten, daß die negative Philosophie den Begriff von allem Möglichen, von Gott (Prinzip) und Welt (Seiendem) enthält. Doch 13

Zur Kritik des Ansatzes der Spätphilosophie vgl. K. Brinkmann (1976), S. 131; D. Wandschneider (1985), S. 340; Chr. Iber (1990b), S. 187.

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ist es um die Wirklichkeit des Prinzips und des weltlich Seienden zu tun: "Das Princip, das im reinen Denken nur so Ist, daß es das Seyende ist, und inwiefern es dieses ist, soll uns von demselben frei und für sich seyn, zu diesem Ende soll alle Möglichkeit, die in dem Seyenden verborgen ist, offenbar, ins Wirkliche geführt und dadurch vom Princip ausgeschieden werden" (XI, 386). Der wieder in Unmittelbarkeit bzw. Indifferenz zusammengezogene Inhalt der Vernunft enthält so das Prinzip ungeschieden vom Seienden. Gesucht aber war das Prinzip als Prinzip (vgl. XIII, 78f.). Erst wenn das Prinzip für sich gesetzt ist, kann sein Prinzipcharakter offenbar werden. Das fiirsichseiende Prinzip ist als das wahrhaft Seiende in seiner Freiheit zu denken. Der auch für die Philosophie der Offenbarung zentrale Freiheitsbegriff bahnt sich somit schon in der negativen Philosophie an. Aufgabe der negativen Philosophie ist es, das Prinzip aus seiner unmittelbaren Einheit mit dem Seienden auszuscheiden (vgl. XIII, 71). Als "negativ" bezeichnet Schelling die Erste Philosophie vor allem aufgrund dieser hinwegschaffenden Funktion ihrer Bewegung und zweitens im Hinblick darauf, daß sie nur zum Begriff des "Seyenden selbst" kommt (vgl. XI, 562). Die negative Philosophie beschreibt gleichsam eine Bewegung der Negation der Negation ohne Affirmation, an deren Ende das, was nicht das ist, was nicht das Seiende selbst ist, steht. 14 Indem die Vernunft also ihren Inhalt thematisiert, geht sie durch die ihr zu Gebote stehenden Möglichkeiten hindurch, um deren Prinzip negativ-ausgrenzend ("via exclusionis" (XIII, 71)) zu erreichen, is Die negative Philosophie stellt sich so als Theorie der Totalität alles Wißbaren dar (vgl. XIII, 150). Sie begründet eine Philosophie, in der sich die Vernunft ihrer bedingten, hypothetischen Kategorialität Ausdruck gibt. Sie ist sich darüber bewußt, daß die Explikation des Seienden nur im Begriff statthat (vgl. XIII, 66). Die ausführlichste Darstellung des Ganges der negativen Philosophie gibt die Philosophische Einleitung in die Philosophie der Mythologie - oder Darstellung der rein rationalen Philosophie (XI, 386-572). 14

"Es zeigt sich unzweideutig, daß der Übergang zur positiven Philosophie nach idealistischer Methode vorgenommen wird: durch Negation der Negation" (W. Schulz (1954), S. 69), - freilich ist der Idealismus dieses Übergangs dadurch gebrochen, daß die doppelte Negation ohne Affirmation bleibt. Die Kluft zwischen dem Ende der negativen und dem Anfang der positiven Philosophie kann nicht durch das Denken überbrückt werden.

15

"Die negative Philosophie will gar nichts anderes als alles bloß Hylische oder Potentielle hinwegschaffen, um zum reinen A zu gelangen" (Schelling (Tagebuch 1848), S. 110).

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Sie soll hier in aller Kürze zusammengefaßt werden. Einzelne Aspekte der VernunftWissenschaft, etwa die uns heute skurril anmutenden Ausführungen zu Mineralogie, Geologie und Völkerkunde, sind hier nicht von Bedeutung. Die drei Potenzen konstituieren eine ideelle "Welt von Dingen" (XI, 399) oder Ideen, und zwar zunächst die der natürlich seienden Gegenstände von Physik, Chemie und Biologie. Die Natur wird als teleologisch bestimmter Evolutionsprozeß gedacht, der von der Materie über das Anorganische, die Flora und Fauna bis hin zum Menschen verläuft. Vermittelt ist die Ideenkonstitution durch ihren Bezug auf das absolute Prinzip, das seine Repräsentanz in der "Seele" (XI, 402) ("tò tí ên eînai" (XI, 403)) des Menschen findet, die von Schelling als eine vierte Potenz veranschlagt wird. Diese ist der Punkt der Verbindung von absolutem Prinzip und außergöttlicher Ideenwelt. In den Vernunftinhalten scheint also das Absolute selbst auf. Mit dem Sichwollen der Seele in der Erhebung des Geistes zum Prinzip des Ich tritt die Seele aus ihrer Potentialität gegenüber dem absoluten Prinzip heraus, was zur Folge hat, daß die außergöttliche Ideenwelt zur realen-außergöttlichen Erscheinungswelt herabgesetzt wird (vgl. XI, 422). Mit der damit gegebenen Möglichkeit des Wissens als Beziehung zwischen Idee und Erscheinung tritt die negative Philosophie als Prinzipiierung der empirischen Wissenschaften (Naturwissenschaften) auf. Da der sich wissenwollende Geist prinzipiell die erscheinende Natur durch wissenschaftliche Erkenntnis zu durchdringen vermag, hebt er deren Fremdheit auf und wird dadurch frei für sich selbst (vgl. XI, 527). Unter der Voraussetzung des sich als Selbstzweck wollenden Ich ergibt sich der Ubergang vom theoretischen zum praktischen Wissen. Es ist bemerkenswert, daß sich der Gang der negativen Philosophie in vielem dem in der Schrift Über den wahren Begriff der Naturphilosophie (1801) erweiterten Transzendentalsystem 1800 anschließt. Im Zentrum der praktischen Philosophie steht der Begriff der 'Selbsterhaltung' (vgl. XI, 528). Indem sich das sich als Selbstzweck wollende Ich notwendig anderen entgegensetzt, findet es sich in einem Konkurrenzzusammenhang selbstsüchtiger Interessen vor, den es gerade nicht gewollt hat, weil er zugleich als seinem Selbsterhaltungswillen hinderliches "Vernunftgesetz' (vgl. XI, 532) auf den Plan tritt, das nur durch Beschneidung der Selbsterhaltung deren Bedingungen sichern kann. "Diese äußere mit zwingender Gewalt ausgerüstete Vernunftordnung ist der Staat" (XI, 533). Das sich wollende Ich und das Vemunftgesetz des Staates stehen in einem fundamentalen Wider-

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streit, dessen Unlösbarkeit das Ich aus der Sphäre des Praktischen hinausfuhrt. Während das Ich die erscheinende Natur erkennend bewältigen kann, findet es an dem Vernunftgesetz des Staates seine Grenze. Dem Negationsverlangen des Gesetzes entspricht das Ich insofern, als es sich selbst als praktisches aufhebt, sich also selbst negiert (vgl. XI, 551-556). Auf diese Weise kommt das Ich in Berührung mit dem absoluten Prinzip in Kunst, Religion und kontemplativer Wissenschaft (vgl. XI, 555). Indem sich der Geist aus dem Dualismus von Idee und Erscheinungswelt in sich zurückzieht, ergibt sich die Möglichkeit der Kontemplation der Ideen und damit die der negativen Philosophie selbst. Hier ist mithin der Ort, wo sich die negative Philosophie selbst prinzipiiert. Damit ist das Ziel der negativen Philosophie erreicht. Das Ich hat das absolute Prinzip "in völliger Abgeschiedenheit" (XI, 560) von allem Seienden in der Erkenntnis. Im Ausgang von der Indifferenz von absolutem Prinzip und Seiendem und im Durchgang durch die durch das vom absoluten Prinzip losgerissene Ich-Prinzip vermittelte Zerissenheit des Dualismus von Idee und Erscheinung erweist sich die Erkenntnis des absoluten Prinzips als letzte Möglichkeit der negativen Philosophie. Mit dem Ziel der negativen Philosophie ist jedoch keineswegs ihr Ende erreicht. Denn es ist zwar das Prinzip (Gott) erkannt, aber nicht wie er wirklich ist, also nicht so, wie er zu denken ist, um Schöpfergott zu sein, der im Anfang Himmel und Erde schuft 6 Schelling gibt dem systematischen Gang des Letztbegründungsgedankens eine existentielle Schilderung, indem er das Ende der negativen Philosophie mit der Verzweiflung am bloßen Vernunftgott und der Hinwendung zum wirklichen Gott des Christentums parallelisiert. "Das Verlangen nach dem wirklichen Gott und nach Erlösung durch ihn ist, wie Sie sehen, nichts anderes, als das lautwerdende Bedürfniß der - Religion. Mit diesem endet die von dem Ich verfolgte Bahn" (XI, 568). Die Forderung nach Religion ist dementsprechend das Verlangen nach einer durch die Vernunft nicht zu vollbringenden

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"Die Begründung, welche wir allerdings von Seite der negativen (aber nicht der positiven) Philosophie anerkennen, ist nicht so zu nehmen, als wäre das Ende der negativen Philosophie der Anfang der positiven. So ist es nicht. Jene überliefert ihr Letztes an sie nur eis Aufgabe nicht als Princip" (ΧΙΠ, 92f.). Im Tagebuch 1848 notiert Schelling: "In der negativen Philosophie ist Gott nur das Trans-, die positive hat ihn als das Super-mundanum" (F.W J . Schelling (Tagebuch 1848), S. 129).

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"Umkehrung" (XI, 570) von Prinzip und Prinzipiat und damit der Übertritt in die positive Philosophie.17 In systematischer Hinsicht hat sich folgendes ergeben: Ziel der negativen Philosophie ist es, das Prinzip als das zu denken, was allein wahrhaft ist. Doch die Vernunft, die die Seinsbestimmungen als Denkbestimmungen entfaltet, erfaßt nur das Was, das Wesen des Seienden, und kann sich nicht sicher sein, daß ihre Konstruktion der Wirklichkeit entspricht. Der hypothetische Charakter der kategorialen Vernunft verwehrt dieser prinzipiell zu erkennen, was das "Seyende selbst" (XIII, 70) ist. Das wahrhaft Seiende wird im Gegensatz zur Potentialität der Vernunft als "Actus" bestimmt (XI, 563). Auch im letzten Begriff der Vernunftwissenschaft ist dieser Ermöglichungsgrund der Wirklichkeit des Wirklichen nur scheinbar eingeholt, denn die Vernunft kann sich ihres ontologischen Fundaments, welches doch ihr Prinzip ist, nur im Begriff versichern, aus dem sie nicht herauskommt. Die Vernunft, deren Unselbständigkeit im Hinblick auf das unvordenkliche letztbegründende Prinzip behauptet wird, bleibt in der negativen Philosophie das logische Prius für das wahrhaft Seiende, mithin die begründende Instanz (vgl. XI, 562). Da die Vernunft nach Schelling aber nicht darüber befinden kann, ob etwas ist oder nicht, insbesondere nicht über ihre eigene Faktizität, muß das wahre Prinzip-Prinzipiat-Verhältnis von Vernunft und Prinzip noch hergestellt werden. Daraus erwächst die Notwendigkeit des Übergangs zur positiven Philosophie.

17 Der Begriff der "Umkehrung" verweist uns zurück auf den ordo-inversus-Gedanken in der Erlanger Vorlesung, der die Destruktion der verkehrten Bewußtseinsstellung des Begriffs gegenüber dem Prinzip zum Inhalt hat. Während dort die Inversion das endliche Wissen betraf, betrifft die 'TJmkehrung" hier die absolute Vernunft selbst. - Präzisiert wird der Gedanke der Umkehrung der Vernunft im Vortrag Über die Quellen der ewigen Wahrheiten (XI, 573ff.). Hier entwickelt Schelling die Selbstvoraussetzung des Seins durch das Denken und damit den prinzipiellen Vorrang des Seins vor dem Denken als höchstes Gesetz des Denkens. Dieses bezeichnet für ihn die unersetzliche Leistung und zugleich unaufhebbare Grenze der Vernunft. Die positive Philosophie ist nichts anderes als die Konsequenz dieses aporetischen Gesetzes. Vgl. auch den zweiten Konstruktionsansatz in der Schrift Andere Deduktion der Prinzipien der positiven Philosophie (XIV, 335356).

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4. Die Aporie der negativen Philosophie Die Vernunft hat in der negativen Philosophie ein für sie aporetisches Resultat. Sie hat das Prinzip als Prinzip, das "Seyende selbst", erreicht, aber so, daß es von der Vernunft ausgeschlossen werden muß: "Gott ist jetzt außer der absoluten Idee [...] und in seiner Idee" (XI, 562). Die Aporie, die die Vernunft im ganzen betrifft, zeigt, daß durch die Vernunftwissenschaft der Übergang zur positiven Philosophie nicht argumentativ begründet werden kann, denn die Existenz setzende Instanz, das "actu Actus Seyende" (XI, 563), ist nicht durch die Vernunft zu fassen. In der Tat gibt es keinen argumentationslogischen Übergang von der negativen zur positiven Philosophie und es kann keinen geben. Die Wissenschaft muß "ab[zu]brechen" und die positive Philosophie "ganz von vorne" anfangen (XIII, 159). Um mit der positiven Philosophie anfangen zu können, muß der Begriff Gottes fallen gelassen werden, "um von dem bloß Existirenden, in dem gar nichts gedacht ist als eben das bloße Existiren" (XIII, 158), ausgehen zu können. Gott als der Grund des Seienden ist das "Ueberseyende" (XIII, 128), das alles Denken und alle Erfahrung übersteigt, "außer und über der Vernunft" (XI, 567) ist, die nur das Seiende begreifen kann. Der aus der "Umkehrung" (XI, 570) der Vernunft gesetzte Anfang gerät zum "absolut außer dem Denken befindlichen Seyn" (XIII, 127), zu einer Wirklichkeit, die Schelling undialetisch als "schlechterdings transcendentefs] Seyn" (ebd.) bezeichnet. Die Vernunft kann Gott als "das schlechterdings transcendente Seyn" (ebd.) nur inne werden, wenn sie sich selbst aufgibt, in "Ekstase" tritt. Mit dem Begriff der Ekstase beschreibt Schelling das Sich-außer-sich-Setzen der Vernunft als letztbegründender Instanz. "Die Vernunft kann das Seyende, in dem noch nichts von einem Begriff, von einem Was ist, nur als ein absolutes Außer-sich setzen" (XIII, 162f.). Die Ekstase der Vernunft zeigt sich somit als Ermöglichung der positiven Philosophie.18 18 Deutlich markiert X. Tilliette die "Ekstasis" als Übergangspunkt zwischen der negativen und der positiven Philosophie: "H y a donc un point mort, un instant vide, un silence redoutable, pendant lequel tout est en suspens. Appertient'il à la philosophie négative? Oui, puisqu'il en sanctionne l'echec et la fin, et que la "pure réalité" brillant sur le désert des possibilités, n'a qu'une "relation négative" à la raison. Appertient'il à la philosophie positive? Oui encore, puisqu'il en est le commencement extatique" (X. Tilliette (1970), Bd. 2, S. 59). Den Übergang über die Sphäre der reinen Vernunft vollzieht Schelling auch in einem argumentlosen Rekurs auf das Bedürfnis und die Entscheidung des Willens: "Die positive Philosophie könnte möglicherweise rein fiir· sich anfangen, mit dem bloßen Ausspruch:

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Die Ekstase der Vernunft in der Spätphilosophie ist durch eine entscheidende Differenz zur Ekstase des Ich in der Erlanger Vorlesung markiert. 19 Bedeutete dort die Ekstase des Ich den Eintritt des endlichen Wissens in das absolute Wissen, das die Geschichte Grottes a priori rekonstruierte, vermag die Ekstase der Vernunft nur eine hypothetische Möglichkeit wahren Wissens zu erlangen, nicht einen gewissen Grund für eine a priorische Konstruktion. In der Spätphilosophie hat sich die Ekstase des Ich zur Ekstase der Vernunft fortbestimmt, die das Reich der Begriffe wirklich transzendiert. War in der Erlanger Vorlesung mit Ekstase die Überwindung des Selbstbewußtseinsstandpunkts gemeint, so in der Spätphilosophie die Transzendierung der Vernunft im ganzen. Fassen wir die Aporie der negativen Philosophie zusammen: Das Resultat der Analyse der negativen Philosophie ergibt die von Schelling behauptete Unmöglichkeit der Letztbegründung der Philosophie als einer Selbstbegründung der Vernunft. Die Aporie der negativen Philosophie besteht darin, daß ein Prinzip der Vernunft gedacht werden soll, das prinzipiell undenkbar ist. Zwar ist nicht zu bestreiten, daß der Vernunft und dem Denken manches unzugänglich ist - und Schelling hat solche Phänomene vornehmlich in seiner Weltalterphase zur Genüge beschrieben (Wahnsinn, Böses etc.). Inkonsistent scheint mir aber der Gedanke, daß das der Vernunft Andere Prinzip der Vernunft sein soll. Die Annahme eines solchen Prinzips führt in einen Widerspruch der Vernunft mit sich selbst. Das Prinzip der Vernunft kann nach Schelling seine Begründungsfunktion nur erfüllen, wenn es als Undenkbares aus der Vernunft "ausgestoßen" (XI, 565) wird. In der "Ausstoßung des Inhalts der Vernunft aus ihr selbst" (W. Schulz (1955), S. 124), kann dieser nicht mehr als der ihre beansprucht werden. Dieser Widerspruch der Vernunft sprengt die Einheit der Spätphilosophie. Die Aporie im Gedanken der Letztbegründung der Philosophie, die Schelling selbst und viele seiner Interpreten positiv nehmen20, ist "Ich will das, was über dem Seyn ist"" (XI, 564). Nicht das Denken, sondern allein der Wille wird zum Grund dafür, daß der Vernunft ein unvordenkliches Daßsein vorausgesetzt wird (vgl. XI, 569; XIII, 93). Das Fundament der positiven Philosophie ist dementsprechend auch nichts weiter als der praktisch-voluntative Akt des Glaubens (vgl. K. Düsing (1987), S. 109-136, bes. S. 131f.). Darin setzt sich die über reine Theorie hinausgehende praktische Dimension der Ekstasis fort, die sich bereits in der Erlanger Vorlesung angedeutet hat. 19 Zum Begriff der Ekstasis in der Erlanger Vorlesung vgl. E, 39. 20 W. Schulz, dem wegweisenden Interpreten der Spätphilosophie Schellings, ist die dargestellte Aporie wohl bewußt (W. Schulz (1955), S. 39, S. 234), er interpretiert

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keine befriedigende Lösung des Problems der Letztbegründung, um die es im ganzen Deutschen Idealismus von Anfang an g i n g . 2 1 Sie schlägt sich in widersprüchlichen Aussagen Schellings zum Verhältnis von negativer und positiver Philosophie nieder. Schelling beharrt einerseits auf der Einheit der Spätphilosophie. Andererseits bricht diese in Dualismus a u s e i n a n d e r . 2 2 Die negative Philosophie wird einmal als "unentbehrlich" (XI, 562) ausgegeben. Die Vernunftwissenschaft endet mit dem Begriff Gottes und der Forderung einer zweiten Wissenschaft. Andererseits sagt Schelling, daß die positive Philosophie "ganz für sich anfangen" könnte, "wenn auch keine rationale Philosophie vorausginge" (XIII, 161; vgl. auch XI, 564). D. Korsch faßt das Verhältnis von negativer und positiver Philosophie so, daß nicht die negative Philosophie die positive in ihrer Notwendigkeit begründet, sondern umgekehrt die positive die negative (D. Korsch (1980), S. 273ff.).23 Dieser Gedanke folgt nahtlos aus der Tatsache, daß Schelling die Letztbegründung der Philosophie nicht als Selbstbegründung der Vernunft, sondern durch ein ihr vorausgesetztes unvordenkliches Daßsein faßt, welches der Anfang der positiven Philosophie ist. Das bedeutet, die positive Philosophie muß ihre Methode und Inhalte selbst erarbeiten. Dem steht allerdings entgegen, daß die Prinzipien der negativen Philosophie auch in der positiven gelten. Aus dem 'umgekehrten' Verhältnis von negativer und positiver Philosophie ergibt sich jedenfalls, daß das Wissen um sie aber positiv als Resultat der an ihre Grenzen gelangenden Selbstreflexion der Vernunft, die zu einer Selbstkritik der Vernunft fuhrt. Irritierend ist, daß er diese Aporie der Vernunft idealistisch - und weil über Hegel hinausgehend - sogar als Vollendung des Idealismus deutet (ebd., S. 187-270). Das Problem der Spätphilosophie besteht m. E. eher in einer "Preisgabe des Idealismus' (M. Theunissen (1976), S. 24) und einer unkritischen Trennung von Vernunft und Wirklichkeit. M. Frank folgt W. Schulz in der Auflassung, dal] Schelling die Aporie der Selbstbezüglichkeit der Vernunft in der negativen Philosophie erkennt und, um sie zu lösen, die positive Philosophie konzipiert habe (M. Prank (1975), S. 751T.; S. 120160). Diesem Gedanken ist mit Habermas entgegenzuhalten, daß eine absolute Vernunftkritik einen performativen Widerspruch enthält (vgl. J. Habermas (1985), S. 144ff.). 21 Zu diesem Urteil kommt auch die hervorragende Arbeit von R. Brinkmann (1976), S. 141. 22 M. Theunissen spricht in diesem Zusammenhang in Anlehnung an die Untersuchung von J. Habermas (1954) von der "Zwiespältigkeit" (M. Theunissen (1976), S. 21) der Spätphilosophie. 23 Korschs Gedanke, daß so, wie die positive Philosophie die negative notwendig macht, die negative die positive ermöglicht, verdeckt allerdings die Aporie in der "Idee zweier im Salto mortale sich scheidender Philosophien" (B. Sandkaulen-Bock (1990), S. 179), welche ursprünglich eine Idee Jacobis ist.

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das unvordenkliche Prinzip der Vernunft allein in der positiven Philosophie erworben werden kann. Die positive Philosophie entwickelt die letztbegründende Instanz der Vernunft als Gott des Christentums. Die Vernunft der negativen Philosophie ist also von der "phiΊοsophische[nJ Religion" (XI, 568) letztbegründet. Bevor wir zur positiven Philosophie überleiten, sei auf einen wichtigen Aspekt des Ansatzes der Spätphilosophie hingewiesen. Den systematischen Angelpunkt für den Begriff der Spätphilosophie Schellings in ihrer Zweiheit von negativer und positiver Philosophie bildet der Gedanke der Umkehrung des ontologischen Gottesbeweises (vgl. D. Henrich (1967), S. 220ff. und D. Korsch (1980), 28ff.). Bereits in der Münchener Vorlesung über Geschichte der Philosophie (1827 bzw. 1833) wird im Zusammenhang der Erörterung des letztbegründenden Prinzips der Philosophie der cartesische ontologische Gottesbeweis diskutiert (vgl. X, 14ff.). Auch in der Berliner Einleitung von 1842 wird im Anschluß an den Übergang von der negativen zur positiven Philosophie der ontologische Gottesbeweis thematisiert (vgl. XIII, 155-174). Im Unterschied zu Descartes, der den Beweis als den des ens perfectissimum auffaßt, insistiert Schelling auf dem ens neccessarium als der Pointe dieses Beweises. Eine Kluft besteht ihm zufolge zwischen dem Prädikat der Notwendigkeit und der Existenz des ens perfectissimum. Schelling konstatiert eine doppelte Bestimmung der Notwendigkeit: Der prädikativen, relativen Notwendigkeit des Denkens steht die nicht-prädikative absolute Notwendigkeit der Existenz gegenüber. Die darin zum Ausdruck kommende These von der absolut notwendigen Existenz ist nichts anderes als die Behauptung der absoluten Freiheit Gottes (vgl. X, 22). Gefordert ist die Verbindung von absolut notwendiger Existenz und der absoluten Freiheit Gottes. Während die negative Philosophie mit der rein logischen Bestimmung des Begriffs Gottes als neccessarium endet, soll die positive Philosophie als System der absoluten Freiheit gelten, die das Primat der Existenz als das der absoluten Freiheit Gottes entschlüsselte "Dieß ist, wie man sieht, der gerade umgekehrte Weg von dem des ontologischen Arguments" (XIII, 168). Nicht die Existenz Gottes, 24

"Ein System der Freiheit - aber in ebenso großen Zügen, in gleicher Einfachheit, als vollkommenes Gegenbild des Spinozischen, - dieß wäre eigentlich das Höchste", sagt Schelling bereits in der Münchener Vorlesung (X, 36). Anders als die Frühphilosophie versucht die Spätphilosophie eine Philosophie der Freiheit unter nicht spinozistischen Bedingungen zu etablieren. Der Heroismus individueller Freiheit ist einem Freiheitsheroismus Gottes gewichen.

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sondern die Gottheit des "bloß Existirenden" ist zu erweisen: "Ich kann also zwar nicht vom Begriff Gott ausgehen, um Gottes Existenz zu beweisen, aber ich kann vom Begriff des bloß unzweifelhaft Existirenden ausgehen und umgekehrt die Gottheit des unzweifelhaft Existirenden beweisen" (XIII, 159). Schelling macht eine starke Differenz zwischen christlicher und positiver Philosophie und will damit das spezifisch Philosophische der positiven Philosophie herausstellen. Ausgangspunkt der positiven Philosophie ist nicht die Religion, sondern das unvordenkliche Sein als absolutes Prius. Von diesem Sein ausgehend soll "erst der wahre Begriff und Inhalt der Religion gefunden" (XIII, 134) werden. Schelling profaniert das absolute Prius also explizit. Daher kann er sagen: "der Inhalt unserer Philosophie würde nicht Philosophie sein, wenn er nicht unabhängig vom Christentum da wäre" (Paulus, 148). Die positive Philosophie konstituiert sich also basal nicht als Religionsphilosophie, auch wenn sie sich in der Folge als solche allein verwirklicht, sondern durch den genuin philosophischen Gedanken des unvordenklichen Seins. Dies läßt eine weitere Folgerung zu: Zwar diagnostiziert Schelling das unvordenkliche Sein als von der Natur Gottes, doch ist nicht ausgeschlossen, daß es anders gedeutet werden kann. Zunächst also ist das schlechthin transzendente Sein noch gar nicht Gott, sondern erst das "unzweifelhaft Existirende" (XIII, 158). Erst die positive Philosophie muß dieses als Gott erweisen. Dabei muß die Philosophie aber begrifflich verfahren. Damit wird jedoch das absolut Transzendente wieder der Vernunft immanent gemacht. Doch die nachträgliche Inthronisierung der Vernunft kann das Manko der Vernunft angesichts ihrer transzendenten Letztbegründung nicht wieder gutmachen. Damit ist bereits das Problem der positiven Philosophie angeschnitten.

III. Die positive Philosophie 1. Die Methode der positiven Philosophie Aufgabe der negativen Philosophie ist es, das wahre Prinzip, "das Seyende selbst" (XIII, 70), zu eruieren, und zwar indem alles, was nicht dieses wahre Prinzip ist, aber zu sein scheint, ausgeschlossen wird. Die Potenzen des Absoluten werden hier wie in der Erlanger Vorlesung in Wirkung gesetzt und damit eine Welt konstituierend

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gedacht. Die Aktuierung der Potenzen in der Vernunft geschieht, um zum wahrhaft Seienden selbst zu gelangen. Ziel der Vernunftwissenschaft ist, Gott als das Seiende selbst "frei vom Seyenden in völliger Abgeschiedenheit und für sich zu haben" (XI, 413). Vom wahren Prinzip gewinnt die Vernunft aber nur den "negativen Begriff' (XIII, 70), weil sie das, was an sich reiner Akt ist, überhaupt "nur im Begriffhat" (XI, 563). Während die negative Philosophie "alles erkennt, wie es unabhängig von aller Existenz in reinen Gedanken ist", geht die positive Philosophie "von der Existenz aus, von der Existenz d.h. dem actu ActusSeyn des in der ersten Wissenschaft als nothwendig existirend im Begriff (als natura Actus seiend) Gefundenen" (XI, 563f.). Die positive Philosophie nimmt also ihren Ausgang von der reinen Wirklichkeit, die aller Möglichkeit vorangeht. Das wahre Prinzip ist ihr nicht mehr Resultat, sondern absoluter Anfang der Wissenschaft, nicht mehr "höchste Idee", sondern das "wirklich Existirende" (XIII, 150). Der aus der "Umkehrung" der Vernunft per Ekstasis gesetzte Anfang gerät zum "absolut außer dem Denken befindlichen Seyn", zu einer Wirklichkeit, die Schelling als das "schlechterdings transcendente Seyn" bezeichnet (XIII, 127). Wie wir gesehen haben, gibt es keinen kontinuierlichen, argumentationslogischen Ubergang von der negativen zur positiven Philosophie. Der Übergang wird nicht durchs Denken, sondern allein durch den praktischen Akt des freien Wollens vollzogen, den Schelling als voluntativen Akt des Glaubens faßt. Schelling spricht sogar von einem "Bankerott der Vernunft" (XIII, 154). Der Anfang der positiven Philosophie ist aber nicht der personale Gott als Prinzip, sondern das durch die Ekstasis begründete begriffslose "reine Daß" (XIII, 173) "ohne alles Was" (XIII, 161) oder das "wirklich Existirende" (XIII, 150). Die Aufgabe der positiven Philosophie besteht darin, ausgehend von diesem reinen Daß wieder zum Begriff zu kommen. Sobald Rationalität gefordert ist, muß das Denken als Instanz der Theoriebildung wieder zugelassen werden.25 Die positive Philosophie hat ihr Prius als persönlichen Gott, als "Herrin] 25

Das Verhältnis von positiver zur negativen Philosophie kann als Verhältnis von Unmittelbarkeit und Vermittlung verstanden werden. In Schellings Spätphilosophie verschiebt sich dieses Verhältnis zugunsten der Unmittelbarkeit. Czuma bestimmt den philosophischen "Standpunkt" der Spätphilosophie als "Standpunkt der Unmittelbarkeit" (Czuma (1969), S. 16, 48f.), der durch den Namen "Gott" bezeichnet werde (S. 86) und der durch einen von der Vernunft uneinholbaren "Sprung" einzunehmen sei (S. 187). Czuma verkennt, daß der Standpunkt der Unmittelbarkeit ohne interne Vermittlung nicht auskommt. Schelling reproduziert damit in seiner Spätphilosophie die Widersprüche seiner Frühphilosophie.

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der Seyns" (XI, 566) und damit als Schöpfer der Welt zu erweisen. Dieser Schritt von der reinen Transzendenz wieder zurück zur Vernunftimmanenz kann vom Denken ebenfalls nicht a priori begründet werden, sondern nur a posteriori anhand der frei gesetzten Fakten diagnostisch nachvollzogen werden.26 Betrachten wir die Methode der positiven Philosophie etwas genauer. Schelling entwickelt sie und ihr Verhältnis zum Empirismus in der 7. Vorlesung der Einleitung in die Philosophie der Offenbarung (XIII, 115ff.). Das Prius der positiven Philosophie kommt weder im Denken noch in der sinnlichen Erfahrung vor. Als das "schlechterdings transcendente Seyn" ist es "ebensowohl auch über aller Erfahrung [...], als es allem Denken zúvorkommt" (XIII, 127). Es hat an sich selbst keine Notwendigkeit, ins (weltliche) Sein überzugehen. Dieser Übergang kann nur Folge einer absolut freien Tat sein, die "nichts a priori Einzusehendes, sondern nur a posteriori Erkennbares ist" (XIII, 127). Die Gottheit des unvordenklichen Prinzips wird also indirekt an den Folgen seiner freien Handlung bewiesen. Die positive Philosophie ist also nicht Empirismus in dem Sinne der negativen Philosophie, daß sie von der Erfahrung ausgeht, um das Prinzip zu bestimmen, sondern auf sie zugeht, um die Vernunfthypothese zu erweisen. Erfahrung ist nicht mehr nur Kontrollinstanz der Vernunft, sondern Erweisungsinstanz: "Nicht das absolute Prius selbst soll bewiesen werden, [...] sondern die Folge aus diesem, dieses muß faktisch bewiesen werden, und damit die Gottheit jenes Prius - daß es Gott ist und also Gott existirt" (XIII, 129). Der Gedanke des umgekehrten ontologischen Gottesbeweises - nicht die Existenz Gottes, sondern die Gottheit des bloß Existierenden wird bewiesen -, den Schelling Beweis per posterius nennt, weil auf die Gottheit des Existierenden durch "Folgen" geschlossen wird, bildet den systematischen Angelpunkt für den Begriff der Spätphilosophie in ihrer Zweiheit von negativer und positiver Philosophie. Schelling faßt die Argumentation in dem Dreischritt einer Schlußform zusammen: 1. "Das Prius, dessen Begriff dieser und dieser (der des Ueberseyenden) ist, wird eine solche Folge haben können (wir werden nicht sagen: es wird 26 Die positive Philosophie ist ein weiterer Versuch, ein neues System der Freiheit zu entwickeln (vgl. Fuhrmans (1956/57), S. 308f. und Kasper (1965), S. 118-132). Bracken sieht das Verhältnis von negativer und positiver Philosophie als das von "Kausalität" und "Freiheit" (Bracken (1972), S. llOf.). Erst die positive Philosophie ist "die eigentlich freie Philosophie" (ΧΙΠ, 132). Bracken betont die Zwiespältigkeit der positiven Philosophie: einerseits sei sie notwendige "Folge" der negativen Philosophie, andererseits einer freien "Handlung Gottes oder des Menschen in der Geschichte" (ebd., S. 122).

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nothwendig eine solche Folge haben, denn da fielen wir wieder in die nothwendige, d.h. durch den bloßen Begriff bestimmte Bewegung zurück, wir werden nur sagen dürfen: es kann eine solche Folge haben, wenn es will, die Folge ist eine von seinem Willen abhängige)". 2. "Nun existirt aber diese Folge wirklich (dieser Satz ist nun der auf Erfahrung beruhende Satz; die Existenz einer solchen Folge ist ein Factum, eine Thatsache der Erfahrung)". 3. "Also zeigt uns dieses Factum - die Existenz einer solchen Folge zeigt uns, daß auch das Prius selbst so existirt, wie wir es begriffen haben, d.h. daß Gott existirt" (XIII, 129). Hier zeigt sich, daß sich die als "verselbständigte Wirklichkeitswissenschaft" (Theunissen (1976), S. 22) ansetzende positive Philosophie in eine Aporie verstrickt, weil sie den Ansatz bei der begriffslosen Positivität des "bloß Existirenden" gar nicht durchhalten kann. Denn ihre Absicht auf eine Umkehrung des ontologischen Gottesbeweises kehrt sich ihrerseits um. Die positive Philosophie fällt zurück in den Beweis der Existenz Gottes. Zu diesem Rückfall in den traditionellen Gottesbeweis kommt es, weil Schelling dem "bloß Existierenden" von vornherein Göttlichkeit hypothetisch durch die Vernunft zusprechen muß, deren Existenz erst "per posterius" durch die "Folge" der faktisch bestehenden Welt erwiesen werden soll. Wenn Schelling auch bemüht ist, die Welt aus der freien Schöpfungstat Gottes hervorgehen zu lassen, so widerstreitet die positive Philosophie der Unterscheidung, wonach Gott nicht eine Sache des Denkens, sondern reine Faktizität sein soll. In Wahrheit hat Schelling von Anfang an die Tatsache der Welt als Folge aus Gott bzw. der Schöpfung verstanden. Schelling verstrickt sich in den Zirkel, daß er die Existenz Gottes aus der Tatsache der Welt glaubt herleiten zu können, obgleich er diese bloß als Folge aus Gott bzw. der Schöpfung versteht. Die positive Philosophie wird zum reinen Positivismus, der begriffslos die Vernunfthypothese durch eine Deutung der vorgegebenen Wirklichkeit bestätigt. Ihre Reduktion auf Positivismus verbindet sie, wie schon Constantin Frantz feststellte, mit dem "Cours de la philosophie positive" von Comte (vgl. Frantz (1880), S. 277ff). Schelling argumentiert wie folgt: Die in der negativen Philosophie der Möglichkeit nach in der Vernunft bestehende Welt kann nicht anders als eine "Folge" des Absoluten begriffen werden. Existiert nun die Welt tatsächlich, so darf darauf geschlossen werden, daß auch das Absolute existiert: "[...] wenn das nothwendig Existirende Gott ist, so wird diese und jene Folge - wir wollen sagen, so wird a, b, c u.s.w. möglich; nun existiert aber unserer Erfahrung zufolge a, b, c usw.

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wirklich, also - der nothwendige Schluß - ist das noth wendig Existirende wirklich Gott" (XIII, 169). Die Beweisführung verläuft hier zirkulär einerseits von der ontologischen Ursache im Begriff vorwärts zu den erfahrbaren Wirkungen in der Welt, andererseits rückwärts von den Wirkungen - der sichtbaren Welt - zu ihrer ontologischen Ursache - dem unsichtbaren Absoluten.2? Die Folgen, wodurch die Gottheit des absoluten Prius bewiesen wird, umfassen "die gesammte Erfahrung von Anfang bis Ende" (XIII, 130), also die Totalität der Welt. Die positive Philosophie ist somit "nichts anderes als der fortgehende, immer wachsende, mit jedem Schritt sich verstärkende Erweis des wirklich existirenden Gottes, und weil das Reich der Wirklichkeit, in welcher er sich bewegt, kein vollendetes und abgeschlossenes ist [...], so ist auch der Beweis nie abgeschlossen, und damit auch diese Wissenschaft nur Philo-sophie" (XIII, 131). Der Beweis für die Gottheit des Existierenden bzw. die Existenz Gottes ist ein "durch die ganze Zeit des Menschengeschlechts hindurchgehender [Prozeß]..., der insofern nicht ein abgeschlossener, sondern immer fortgehender ist, und ebenso in die Zukunft unseres Geschlechts hinausreicht, als in die Vergangenheit desselben zurückgeht. In diesem Sinne vorzüglich auch ist die positive Philosophie geschichtliche Philosophie" (XI, 571). Im Unterschied zur negativen Philosophie ist die positive Philosophie kein abschließendes System, sondern ein in die Vergangenheit und die Zukunft hin offenes System. Nach dieser Seite führt die Spätphilosophie die Konzeption des geschichtlichen Absoluten der Weltalterphase in modifizierter Weise weiter fort. Entsprechend der Doppelung von logischer Vernunftkonstruktion und Erfahrung beruht die positive Philosophie methodisch auf zwei Ebenen: Der logischen Priorität der hypothetischen Vernunfkonstruktion des Absoluten geht ein ontologischer Primat der Erfahrung einher dergestalt, daß qualifizierte Erfahrung von Wirklichkeit die Hypothese als wahre Erkenntnis des Absoluten ausweist. Mit der Erfahrung wird bewiesen, daß das Absolute über seine "Folgen" in der Welt existiert, wie es ursprünglich von der Vernunft hypothetisch be27

Der die negative Philosophie begleitende Empirismus war "apriorischer Empirismus" (ΧΙΠ, 102). In der positiven Philosophie bezieht sich der Empirismus auf das Empirische des Apriorischen und ist als solcher "empirischer Apriorismus" (ΧΙΠ, 130), denn die positive Philosophie geht vom absoluten Prius als dem Überempirischen aus zum Empirischen fort. Präzisierung findet der Begriff des metaphysischen Empirismus der positiven Philosophie im Vortrag Quelle der ewigen Wahrheiten (XI, 573fF.). Vgl. auch den zweiten Konstruktionsansatz in der Schrift Andere Deduktion der Principien der positiven Philosophie (XIV, 335-356).

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griffen wird, als Gott. Zentrale Punkte dieser positivistischen Wirklichkeitswissenschaft sind die freie Schöpfungstat Gottes und die Offenbarung Grottes in Christus, die den Charakter eines absoluten Faktums haben, wofür also kein zureichender Vernunftgrund angegeben werden kann. 'Begreifen' kann die Philosophie nur die 'objektiven Folgen' der Tat. Die Theorie des Absoluten ist also keine a priorische Vernunftkonstruktion mehr, sondern nur die Folgen a posteriori nachzeichnende Beschreibung der vom Denken uneinholbaren freien Akte.28 In der positiven Philosophie wiederholt sich die Aufhebung des Idealismus unter verschärften Bedingungen, denn erst die positive Philosophie negativiert Vernunft vollständig. Der totalen Negativierung der Vernunft entspricht die totale Positivierung der Wirklichkeit. "Aber gegen dieses nun, gegen das reine Daß erhebt sich unmittelbar das Denken, und fragt nach dem Was oder nach dem Begriff. Dieß ist denn auch der Gang der positiven Philosophie" (XIII, 173). In der positiven Philosophie kommt es also zur Restitution der Vernunft. Nach einer Phase der Demütigung der Vernunft folgt offenbar eine Phase ihrer Wiederauferstehung. Während in der negativen Philosophie "nur der beständige Umsturz der Vernunft" (XIII, 152) erfolgt, "ist es gerade die positive Philosophie, welche die in der negativen gebeugte Vernunft wieder aufrichtet" (XIII, 153). Auch die positive Philosophie bedarf etwa der logischen Strukturen der Potenzen, die der negativen Philosophie entnommen werden, um den faktischen Ereignissen der Geschichte philosophischen Sinn und Bedeutung zu geben. Die Wiederaufrichtung der Vernunft beginnt allerdings paradoxerweise mit ihrer Totalunterwerfung unter das Unvordenkliche am Anfang der positiven Philosophie. Die nachträgliche Inthronisierung der Rationalität und der Vernunft kann das Manko der Vernunft angesichts ihrer Totalnegativierung nicht wieder wettmachen. Obgleich insofern die negative Philosophie und die Vernunft in der positiven Philosophie "triumphiert" (XIII, 153), ist diese eine über die 28

Wie Th. Buchheim hervorhebt, wandelt sich die Vernunft in der positiven Philosophie zur "Diagnose" einer Wirklichkeit, die das Denken 'andonnert' ("quasi attonita" (Xm, 165)): "Die Vernunftwissenschaft verändert sich damit zu einer Wissenschaft, die einer Erfahrung gerecht zu werden hat, und die von daher getrost Erfahrungswissenschaft genannt werden kann. Einer Erfahrung gerecht werden wollen, stellt aber vor die Theorie (in Ausagen der Form 'solches ist solches') immer, sei es schwächer oder vorrangiger, das Problem der Diagnose (Aussagen der Form 'ein gewisser Umstand in einer vor der und der Art'), das nur innerhalb von lang bewährter Tradition zu einer selbstverständlichen Kompetenz subsumierender Urteilskraft entschärft werden kann" (Buchheim (1992), S. 180).

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VernunftWissenschaft hinausgehende Art von philosophischer Wissenschaft, eine die Vernunft zur Hypothese herabsetzende und damit eine die Vernunft depotenzierende "verselbständigte Wirklichkeitswissenschaft" (Theunissen (1976), S. 22). 2. Die religionsphilosophische Gestalt der positiven Philosophie Die positive Philosophie verwirklicht sich als Religionsphilosophie, die sowohl die Philosophie der Mythologie als auch die der Offenbarung umfaßt. Erst in der positiven Philosophie kommen wir "in das Gebiet der Religion und der Religionen, und können auch jetzt erst erwarten, daß uns die philosophische Religion entsteht, um welche es bei dieser ganzen Darstellung zu thun ist, d.h. die Religion, welche die wirkliche Religion, die mythologische und die geoffenbarte, reell zu begreifen hat" (XI, 568f.). Die negative Philosophie bzw. die Vernunftwissenschaft erweist sich als 'Einleitung* in die Religionsphilosophie. Die Differenz der spätphilosophischen Religionsphilosophie zur Theosophie der Weltalter besteht darin, daß nicht mehr die Theogonie und Kosmogonie, sondern das christliche Offenbarungsgeschehen im Zentrum steht. Beides wird von der Philosophie der Mythologie behandelt, die Voraussetzung der Philosophie der Offenbarung ist. In der 10. und 11. Vorlesung der Einleitung in die Philosophie der Mythologie erläutert Schelling den Begriff der "philosophischen Religion" (XI, 228-276). Das Konzept der "philosophischen Religion" ist durch den Versuch der Rettung und Wiedergewinnung des Christentums durch die Philosophie gekennzeichnet. "Die philosophische Religion, wie sie von uns gefordert ist, existirt nicht. Aber sofern sie durch ihre Stellung die Bestimmung hat, die begreifende der vorausgehenden, von Vernunft und Philosophie unabhängigen Religionen zu sein, insofern ist sie Zweck des Processes von Anfang, also das nicht heut oder morgen, aber doch gewiß zu Verwirklichende und nie Aufzugebende, das so wenig als die Philosophie selbst unmittelbar, sondern auch nur in Folge einer großen und langdauernden Entwicklung erreicht wird" (XI, 255). Die philosophische Wiedergewinnung der christlichen Religion in der "philosophischen Religion" setzt das "Begreifen" der vorhergehenden Religionen voraus. Daher teilt sich die Religionsphilosophie in Philosophie der Mythologie und Philosophie der Offenbarung. "Die mythologische Religion mußte vorausgehen. In der mythologischen ist [...] die unfreie, die ungeistige Reli-

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gion. Die Offenbarung [...] vermittelt [...] die freie Religion, die Religion des Geistes, die [...] nur als philosophische sich vollkommen verwirklichen kann" (XI, 255). Philosophie stellt sich in den Dienst des Christentums. Die positive Philosophie, die im ganzen Religionsphilosophie ist, ist nicht nur ein theoretischer Rechtfertigungsversuch des Christentums, sondern zielt auf die praktische Wiedergewinnung des sich seit dem 10. Jahrhundert zunehmend im Niedergang befindlichen Christentums ab. Insofern ist philosophische und politische Wirkabsicht dem Spätwerk Schellings z u z u s p r e c h e n . 2 9 Während Hegels Philosophie den Versuch einer Übersetzung des christlichen Glaubens in eine begriffliche Form darstellt, die mit dem Gedanken der Autonomie der Vernunft vereinbar ist, ja diese sogar zum großen Teil begründet, ist Schellings Spätphilosophie dadurch gekennzeichnet, daß sie glaubt, das Christentum nur dadurch rechtfertigen \ind retten zu können, daß sie den an sich unaufgebbaren Autonomieanspruch der Vernunft preisgibt. Allerdings betrifft die Erschütterung der Vernunftautonomie beim späten Schelling nicht die Vernunft im ganzen. Gegenüber den irrationalistischen Metaphysiken seit Schopenhauer, die die Vernunft als solche negieren und eine positive Gegeninstanz zur Vernunft entwickeln, hält Schelling an der Vernunft als Theorieinstanz fest. Schellings Spätphilosophie hat den Übergang zum Nachidealismus noch nicht vollzogen. Sie ist vielmehr Ausdruck eines philosophischen Umbruchs, einer Transformation in einen neuen Philosophietypus.

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Wenn bezüglich der letzten Lebensjahre Schellings darauf verwiesen wird, daß Schelling sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und sich nur noch in der Berliner Akademie geäußert habe, so ist zu bedenken, daß er dort vor einem durchaus kompetenten und einflußreichen Publikum vortrug. Anläßlich eines Vortrage Über die ursprüngliche Bedeutung der dialektischen Methode notiert er in einem Tagebuch für den 13. Juli 1848: "Anwesende: Böckh, Enke, Lachmann, Ritter, Gerhard, v. d. Hagen, W. Grimm, Trendelenburg, Karsten, Mitscherlich, Creile, Dirichlet, Rose, Jacobi, Dove, Poggendorf, Magnus" ( Schelling (Tagebuch 1848), S. 99f.). Schellings Versuche, eine Theorie des Absoluten zu entwerfen, die den traditionellen religiösen Gottesbegriff aus seinen Widersprüchen zu befreien und konsistent zu rekonstruieren vermag, waren allerdings nicht nur rein philosophisch problematisch, sondern teils untauglich, teils zu differenziert und kompliziert und dem unmittelbaren religiösen Gefühl zu fremd, als daß sie von einer breiteren Masse zur Kenntnis genommen werden konnten.

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3. Gottesgedanke, Schöpfungslehre, Mythologie, Offenbarung und Geschichtsphilosophie In seinen letzten Vorlesungen, d.h. in der "Philosophie der Mythologie. Zweiter Band" (XII) und in der "Philosophie der Offenbarung. Zweiter Theil" (XIV), gibt Schelling eine umfassende Darstellung des religionsphilosophischen Gehalts der positiven Philosophie. Was ist der Inhalt der positiven Philosophie? Den ersten Hauptteil des Systems der positiven Philosophie bildet die Gottes- und Schöpfungslehre, deren erster Teil der Selbstkonstitutionsprozeß des Absoluten als Gott im Ausgang von einem im zweiten Schritt reflexiv angeeigneten und in einem dritten Schritt in die Einheit des "absoluten Geistes" eingebundenen "unvordenklichen Seins" darstellt. Als christlicher Gott muß Gott Person sein. Das reine Daß des Anfangs muß also als konkreter "Einzelner" begriffen werden. Der zweite Teil besteht in der schöpfungstheoretischen Verwandlung der Urexistenz in die Weltexistenz in der Suspension des unvordenklichen Seins des Absoluten. Schellings Grundgedanke ist, daß Gott als absoluter Schöpfer gedacht werden muß, der in völliger Freiheit darüber entscheidet, ob überhaupt etwas sein soll oder nicht vielmehr nichts. Daraus folgt: Die Existenz der Welt ist absolut kontingent. Die schöpfungstheoretische Herauswendung der 'vorseienden Einheit* in die drei weltschaffenden Potenzen vollendet sich im "Menschen", in dem Gott aufgrund der im menschlichen Bewußtsein wiederhergestellten Einheitsstruktur der Potenzen sein Ebenbild erblickt.30 Den zweiten Hauptteil bildet die Philosophie der Mythologie. Der Prozeß der Mythologie wird initiiert durch den "Abfall" des Menschen von Gott und besteht wesentlich in der unter den Bedingungen der Entzweiung von der wiederherzustellenden Einheit mit Gott hervorgerufenen Ermächtigung der Potenzen, die im menschlichen BewußtInnerhalb dieser Ebenbildlichkeit differenziert Schelling, der Tradition entsprechend, zwischen einer Gottebenbildlichkeit (imago) und einer Gottähnlichkeit (similitude), welch letztere durch den "Sündenfall" des Menschen verlustig geht. Daß die similitude nur mit Hilfe der Person Christi wiedergewonnen werden kann, ist ebenfalls ein Gemeinplatz der Theologie. Seit der Freiheitsschrift ist Schelling der Auffassung, "daß nur Persönliches Persönliches heilen" (VII, 380) kann. Den drei Hauptetappen der Schellingschen Philosophie - Früh- und Identitätsphilosophie, Freiheits- und Weltalterphilosophie und Spätphilosophie - entsprechen drei Modelle der Bestimmung des Menschen - der Mensch als Mikrokosmos, als Mikrotheos und als Ebenbild Gottes. Gemeinsame Gedankenfigur ist die Analogie zwischen Mensch und Gott, die jeweils'eine andere Färbung annimmt: "L'homme ou plutôt la relation de Dieu à l'homme - L'incarnation de l'Absolu - devient le pivot, et bon gré mal gré, le rest doit s'y ordonner" (X. Tilliette (1970), Bd. 2, S. 13).

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sein ein Eigenleben führen. Beendet wird er durch die Rückkehr der 'universio' in die göttliche Einheit. Mit der Abfallslehre versucht Schelling, das Theodizeeproblem zu lösen. Gott steht in keinem unmittelbaren Verhältnis zur Welt. Die reale Schöpfung, der eine ideelle vorangeht, muß daher durch die Freiheit des Menschen Zustandekommen, die sich im Abfall des Menschen von Gott bekundet. Damit ist Gott aber auch in seiner absoluten Freiheit von den Übeln der Welt entlastet. Der dritte Teil des Systems, die Philosophie der Offenbarung, ist der Darstellung des göttlichen Offenbarungsgeschehens gewidmet. Im Zentrum steht eine Interpretation des Lebens Jesu. Von da aus wird die Weltgeschichte als Heilsgeschichte rekonstruiert. Auf diesem Weg sind diffizile und ausgedehnte Konstruktionen nötig. Mit der Aufnahme schließlich des göttlichen Heilsplans ist der Glaubensbestand der christlichen Lehre in die Philosophie eingebracht und die positive Philosophie zur philosophischen Religion geworden. Die Hauptintention von Schellings positiver Philosophie besteht darin, die christlichen Glaubensinhalte so zum Gegenstand der philosophischen Diskussion zu machen, daß sie dabei nicht den Charakter von christlichen Glaubenswahrheiten verlieren. Genau dies geschieht Schelling zufolge in der sog. Vernunftreligion, die die reale Religion der Vernunft subordiniert. 1. Da das absolute Daß bzw. das notwendig Existierende als solches unerkennbar ist, beginnt die positive Philosophie mit einer Reihe von Vernunfthypothesen, die die Umstände der Verwirklichung des Daß, die zugleich die Bedingungen seiner Erkenntnis sind, entwickeln. Der erste Schritt der positiven Philosophie besteht in der Konstruktion eines (im Schema des Sicherkennens trinitarischen) Gottesgedankens in Relation zum vorausgesetzten, von Gottes Selbstsein unterschiedenen Daß. Das reine Daß bzw. das notwendig Existierende wird von Schelling auch mit den Termini "Ursein", "Urexistenz" bzw. "unvordenkliches Sein" oder das "Blindseiende" belegt (vgl. Paulus, 154ff.).3i Das "unvordenkliche Seyn" ist von Ewigkeit her grundlos einfach da. Die Urexistenz ist als das anfangsund grundlos bestehende Erste selbst für Gott unergründlich und von ihm einfach hinzunehmen. In und neben der Urexistenz findet sich "Gott enthält in sich nichts als das reine Daß des eigenen Seyns; aber dies, daß er Ist, wäre keine Wahrheit, wenn er nicht Etwas wäre" (XI, 587). Mit diesem "Etwas" ist das unvordenkliche Sein Gottes gemeint. Mit "Etwas" aber, das Gott nicht in eigener Person ist, muß er Zusammensein, soll er selbst in vollem Sinne, d.h. in "Wahrheit" sein.

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das Absolute aber auch als "freies Können" vor, das durch einen Akt der Selbstbefreiung das Urseyn, das ipso facto "Vergangenheit" wird, als "ein Überwundenes" "hinter sich" (Paulus, 161) läßt. Dadurch macht das Absolute das "unvordenkliche Seyn" "zu einem Moment von sich"; "sein Wesen davon befreiend" setzt es sich dadurch als "Geist" (Paulus, 191). Im Akt der Selbstbefreiung unterscheidet sich das als Ursein vorfindliche Absolute kraft seines freien Könnens sein eigenes Sein als Übersein von seiner Existenz im Daß und kommt damit zum Bewußtsein seiner selbst.32 So wird das Absolute Gott. Zentral ist auch für die Spätphilosophie der Gedanke Gottes als "Herr des Seyns" (XI, 566). Als 'Herr des Urseins' ist Gott zugleich über der Urexistenz. Er ist in diesem Sinne das "Überseiende" oder "Geist". Wenngleich die "Urexistenz" den Nachfolgebegriff für den Naturbegriff in der Weltalterphilosophie darstellt, besteht das Spezifische der Spätphilosophie darin, daß der Gottesbegriff nicht mehr einem dunklen Naturgrund des Absoluten abgerungen werden muß, sondern sich im Akt der freien Selbstunterscheidung vom reinen Daß konstituiert. Allerdings ist die Selbstbefreiung des Absoluten vom unvordenklichen Sein wie in der Erlanger Vorlesung einem "Gesetz" (Paulus, 168) unterstellt. "Das Gesetz ist in dem Sinne über Gott, daß das Gesetz Gott erst in Freiheit setzt gegen sein unvordenkliches Sein" (ebd.). Im spätphilosophischen Gottesbegriff reproduziert sich insofern der Dualismus von Absolutem und Gesetz, wie er in der Erlanger Vorlesung hereinkam. 2. Während die negative Philosophie den Aufstieg von der Welt zu Gott als Prinzip nachvollzieht, folgt in der positiven Philosophie in umgekehrter Schrittfolge ein Abstieg von Gott hin zur Welt. Schelling versucht hier aufzuklären, wie es Gott überhaupt möglich sein konnte, eine Welt zu schaffen. Wem verdankt die Welt ihre Existenz? Die Antwort auf die Frage "warum ist überhaupt etwas? warum ist nicht nichts?" ist für Schelling "unstreitig ein dringendes, ja ein 32 Die Paulus-Nachschrift macht den anfanglichen Gottesgedanken der positiven Philosophie unter dem Titel "Das "unvordenkliche Sein" und die Möglichkeit, von ihm aus weiter zu schreiten" (Paulus, 160) am deutlichsten. M. Frank sieht im spätphilosophischen Gottesgedanken Schellings den existenzphilosophischen Grundgedanken des Sichlosreißens vom Sein prftformiert ("Selbst der Mensch muß von seinem Sein sich losreißen, um ein freies Sein anzufangen" (Paulus, 170)): "Man könnte vom existentialphilosophischen Paradigma sprechen, durch welches Schelling den hegelianisch-spinozistischen Diskurs durchbricht und die Grundzüge einer material fundierten Dialektik skizziert, deren Erben die Autoren von Sein und Zeit und L'être et le néant sind. [...] die Radikalisierung des Seinsgedankens zumal den der Freiheit [...] ist ein Zug der Schellingschen Spätphilosophie" (Frank (1977), S. 67).

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nothwendiges Verlangen, ein Verlangen, nicht dieses oder jenes Individuums, sondern der menschlichen Natur selbst" (XIII, 7). Die Frage ist, ob diese metaphysische Frage erstens überhaupt sinnvoll, d.h. altemativelos ist und zweitens, ob Schelling sie selbst in der positiven Philosophie befriedigend beantwortet hat. Schelling war der Auffassung, daß die negative Philosophie den christlichen Gott und damit das Christentum nicht adäquat erfassen kann. Den Grund dafür erblickte er darin, daß sie Existenzsetzung und Existenz nicht erklären kann. Neben der Aberkennung der Kategorialität der Logik Hegels - eben dies, daß für Hegel Denkbestimmungen zugleich Seinsbestimmungen sind - besagt Schellings Hegelkritik vor allem, daß Hegel die Existenz der wirklichen Welt bei der die Theorie anzukommen habe, nicht erklären könne und deshalb das Ergebnis der Hegeischen Philosophie unbefriedigend bleibt. Tatsächlich ist es so, daß eine kategoriale Theorie keine Antwort auf die metaphysische Frage, warum überhaupt etwas ist, geben kann und will. Aus der Warte einer kategorialen Ontologie ist es unsinnig, zugestandene bekannte Inhalte unter einem genetischen Aspekt daraufhin zu befragen, wie oder warum sie entstanden sind, welche historischen oder sonstigen 'realen* Entwicklungen sie durchlaufen haben. Ihr ist es allein darum zu tun, die Bestimmungen einer Sache in eine solche Prinzipienstruktur zu bringen, die sie auf den 'Begriff bringt. Schellings späte Metaphysik ist Kritik und Alternative zu diesem Hegeischen Rekonstruktionsgedanken. Während Hegel ein Verständnis philosophischer Inhalte durch die Kategorienlehre einer Ontologie genügt, hat Schelling ein weiterreichendes philosophisches Interesse. 33 Wenn die Welt "gleichsam in die Netze des Verstandes oder der Vernunft" eingefangen ist, so ist die Frage, "wie sie in diese Netze gekommen sey" (X, 143f.). Schellings Lösungsvorschlag für die Beantwortung dieser Frage ist allerdings, wie wir anhand der Interpretation der negativen Philosophie gesehen haben, aporetisch geblieben. Hat Schelling nun von seiner eigenen Warte aus betrachtet, eine befriedigende Antwort auf die metaphysische Frage gegeben? Nach Schelling ist das letztbegründende Prinzip der Existenzsetzung Gott. Dabei nimmt er an der vom jüdisch-christlichen Schöpfungsgedanken inspirierten Theologie der mittelalterlichen Scholastik und des neuzeitlichen Rationalismus eine interessante Umdeutung vor. Ihm zu33

Vgl. K. Brinkmann (1976), S. 205f. Brinkmann bringt die Positionen Hegels und Schellings auf die Alternative "kategoriale Ontologie" oder "positive Philosophie".

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folge schafft Gott nicht die Existenz der Welt aus dem Nichts. Diese nimmt er vielmehr aus sich selbst, wo sie als unerschaffene immer schon von Ewigkeit her vorliegt. Von einer "creatio ex nihilo" könne nur im Hinblick auf die absolute Freiheit der Schöpfungstat gesprochen werden (vgl. X, 282fî.). Schelling unterscheidet die Möglichkeit der Schöpfung von ihrer Wirklichkeit und dementsprechend die Existenz einer möglichen Welt von der einer wirklichen Welt. Jene in Gott anzutreffende Existenz geht noch Gott selbst voraus und wurde mit dem Terminus "Urseyn" bezeichnet. Die Möglichkeit der Schöpfung muß zeigen, daß das unvordenkliche Sein Gottes noch ein anderes Sein einschließt und daß die Schöpfung selbst nicht den Charakter der Notwendigkeit hat. "Diese Möglichkeit erscheint dem Sein als etwas zuvor nicht Dagewesenes, Neues, Unerwartetes, erst nach dem Sein" (Paulus, 163). Von dem unvordenklichen Sein aus ergibt sich also die Möglichkeit eines anderen Seins, über die Gott als "Herr des Seins" frei verfügen kann. Die Schöpfung der Welt ist nichts anderes als der Akt der Verwandlung der Urexistenz in Weltexistenz, zu dem Gott durch nichts genötigt ist. Schelling bezeichnet sie als "Suspension" (Paulus, 177) des unvordenklichen Seins des Absoluten. Aus der absoluten Freiheit der Weltschöpfung ergibt sich die absolute Kontingenz der Existenz der Welt. Sie bräuchte nicht zu sein. Gott hätte die Urexistenz nicht zur Weltexistenz verwandeln müssen. Über die Existenz als solche selbst kann Gott allerdings nicht verfügen, sie bleibt auch für ihn ein Rätsel. Schellings spätphilosophische Schöpfungslehre kann im Kontrast zur späten Philosophie Fichtes erhellt werdend Fichte führt in der Wissenschaftslehre von 1804 sowohl das Was als auch das Daß der Welt auf das absolute Wissen zurück. Das absolute Wissen ist "der eigentliche Weltschöpfer" (Fichtes Werke V, 454). Es selbst aber existiert nicht durch sich selbst. Das absolute Wissen erfährt sein Daß als ein von einem unverfügbaren Absoluten Gesetztes. Sowohl die Welt als auch das absolute Wissen sind nach Fichte keine Realitäten, sondern nur Erscheinung. "Real ist nichts, denn Gott" (Fichtes Werke XI, 50). Für Fichte ist die Welt Erscheinung der Vernunft bzw. der Subjektivität, die ihrerseits Erscheinung des unbegreiflichen göttlichen Absoluten ist. Nicht die Welt, sondern die weltsetzende Vernunft ist Fichte ein Rätsel.

Zum Strukturvergleich der Spätphilosophie Fichtes und Schellings etwa: Th. Buchheim (1988), S. 95-106 und F. J. Wetz (1991), S. 78-92.

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Nach Schelling kann die Vernunft in der negativen Philosophie die Gesamtheit der Dinge als ihren a priorischen Gehalt aus sich entwickeln. Die Existenzsetzung der Dinge selbst fällt allerdings nicht in ihre Zuständigkeit. Der Ursprung der Existenz der Welt ist die Suspendierung der Urexistenz des Absoluten. Fichte bleibt auch in seiner Spätphilosophie ein Philosoph der Subjektivität. Nicht die Existenz der Welt ist ihm ein Rätsel, sondern die sie hervorbringende Subjektivität, deren Ursprungsdimension ein sie übersteigendes göttliches Absolutes ist. Schelling bleibt dagegen auch in der Spätphilosophie objektiver Idealist. Subjektivität und Vernunft sind fiir ihn nicht das Existenzsetzende. Da die Vernunft die Welt nur der Möglichkeit nach erfassen kann, wird die Existenz der Welt von der Vernunft als etwas Rätselhaftes erfahren. Aber auch der positiven Philosophie geht die Rätselhaftigkeit der Existenz der Welt nicht verloren. Indem die Vernunft die Existenz der Welt als suspendierte Urexistenz des Absoluten begreift, die diesem grundlos vorgängig ist, bestimmt sie nicht nur, daß sie selbst, sondern auch das göttliche Absolute die Existenz herzuleiten nicht in der Lage ist. Die Existenz der Welt bleibt auch der Spätphilosophie ein Rätsel. Schellings metaphysische Ausgangsfrage, "wie das Absolute aus sich selbst herausgehen und eine Welt sich entgegensetzen könne" (I, 310), hat der späte Schelling in den reinen Dezisionismus des Absoluten aufgelöst. Zeit seines Lebens hat Schelling also auf diese Frage keine befriedigende Antwort gegeben. Die Rekonstruktion der Entwicklung des Schöpfungsprozesses im einzelnen müssen wir uns ersparen. Der Prozeß der Schöpfung ist einerseits ein natürlicher Prozeß, andererseits mündet er in ein übernatürliches Resultat: "Während [...] alle anderen Geschöpfe das Werk der bloßen, noch nicht als göttliche Persönlichkeiten erkannten Potenzen sind, wird der Mensch dargestellt als das Geschöpf, an welches diese Persönlichkeiten selbst Hand gelegt haben, aber eben damit ist er auch, wie leicht einzusehen, aus der Herrschaft, aus dem Reich der bloß kosmischen Mächte hinweggerückt in den unmittelbaren Rapport zu dem Schöpfer, d.h. zu Gott als solchem, und damit zugleich zur Freiheit erhoben" (XIII, 344f.). Die Schöpfung vollendet sich also in der Freiheit des Menschen, in der Gott sein Ebenbild erblickt. Diese ist aber als "derivirte[n] Absolutheit" (Freiheitsschrift, VII, 347) zugleich die Bedingung der Möglichkeit ihrer Selbstpreisgabe: "Die Schöpfung war vollendet, aber sie war auf einen beweglichen Grund - auf ein seiner selbst mächtiges Wesen - gestellt. Das letzte Erzeugniß war ein absolut Bewegliches, das sofort wieder um-

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schlagen konnte, ja gewissermaßen unvermeidlich umschlagen mußte" (XIII, 359). 3. Die Durchführung des Programms der positiven Philosophie vollzieht sich als Religionsphilosophie in der doppelten Gestalt von Philosophie der Mythologie und der Offenbarung. Was Schelling linter der Philosophie der Mythologie versteht, sei kurz angedeutet. Die Freiheit des Menschen in ihrer unmittelbaren Einheit mit Gott geht gerade aufgrund der Selbstbetätigung dieser Freiheit verlustig und begründet die Notwendigkeit der Mythologie. Das Selbstseinwollen des Menschen in seiner Freiheit wird als "unvermeidliche Täuschung" (XIII, 349) und als schuldhafter Verstoß gegen das Wesensgesetz des Menschen verstanden, "das ihm sagt, daß er den Grund der Schöpfung nicht wieder bewege" (XIII, 358).35 Schelling vermeidet mit dieser Begründung der Mythologie - wie schon in der Freiheitsschrift - die traditionellen Aporien des Theodizeeproblems: Dualismus und Mitverantwortung Gottes für das Böse.

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Dj e Verfilhrungstheorie, mit der Schelling in der Erlanger Vorlesung den Übergang vom Absoluten zur Welt erklären wollte, wird in der Spätphilosophie vom Absoluten auf den Menschen übertragen: "Jetzt erst ist die Versuchung keine kosmologische Notwendigkeit mehr, der Mensch wird vom Gesetz in die Entscheidung gestellt und vom positiven Gesetz Gottes zugleich über die Folgen der Sünden aufgeklärt. Jetzt erst konnte es sich um wirkliche Tat handeln" (Kasper (1965), S. 309). In einem Brief an Maximilian II. vom 16. Januar 1854 äußert sich Schelling über die Verfiihrbarkeit des Menschen folgendermaßen: "Unter allen Seelen ist die des Menschen die einzige, die ein ursprüngliches Verhältniß zu Gott (dem über der Natur stehenden) hat. Dieses Verhältniß ist ursprünglich ein Verhältniß des nicht-selbst-Seins gegen Gott, der bloßen Potentialität oder Passivität und eben dieses gegen Gott nicht selbst, also außer ihm, sondern nur in ihm zu sein, ist der Seele (der menschlichen) als Gesetz auferlegt, aber eben mit dem Gesetz ist gegeben, daß sie außer Gott sein könne ("ich wüßte nicht von der Lust, wenn nicht das Gesetz sagte: laß dich nicht gelüsten, Worte des Apostels, Rom. 7,7"). Das Gesetz gibt also dem bloß potentiell (als Möglichkeit) Gesetzten den Anlaß, aus der Potentialität gegen Gott herauszutreten, zum Actus des Selbstoder fiir-sich-Seins sich zu erheben. Dieser Actus ist Geist (Geist also das ursprünglich ruhende, aber activ gewordene Selbst der Seele, das dem Thiere fehlt)" (Erhardt (1989) [Briefwechsel], S. 254). Der Mensch setzt durch seine Urtat eine wirklich außergöttliche Welt, eine Welt, die "eine überwiegende Menge von Unvernunft" enthält. Die Welt ist also durch eine "dämonische Freiheit des Menschen" geschaffen (zit. nach H. Fuhrmans (1981), S. 229). Ironisch bemerkt Schelling: "In diesem Sinne hat Fichte Recht, [...] der Mensch ist das Setzende der Welt; er ist es, der die Welt außer Gott, nicht bloß praeter, sondern extra Deum gesetzt hat" (ΧΙΠ, 352). Vgl. auch XIV, 23, wo Schelling den zu hohen Anspruch Hegels auf die Vernünftigkeit der Welt stark kritisiert: "Was heutige Philosophie danach nur noch tun kann, ist "Auf-klärung"; Aufklärung über die heutige Welt, daß sie nicht Gottes Welt ist, sondern unsere Welt, die die dämonische Freiheit des Menschen heraufgefiihrt hat" (Fuhrmans (1981), S. 229).

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Vernunftsystem und unvordenkliches Daßsein

Da der Mensch mit der Aktivierung der Potenzen die Herrschaft über diese verloren hat, spielt sich der nun ablaufende Prozeß als Geschichte der Fremdbestimmung der Potenzen ab. Mythologie ist die Geschichte der Notwendigkeit. Mit dem Abfall von Gott fällt der Mensch einem Prozeß anheim, der in seinem Bewußtsein den theogonischen Prozeß wiederholt, wodurch die Welt ursprünglich erschaffen wurde (vgl. XII, 122f.; 164-169). Die "Mythologie erzeugende Bewegung" im Bewußtsein ist folgendermaßen bestimmt: "Das Bewußtseyn selbst vermag nichts über sie; es sind vom Bewußtseyn selbst [...] unabhängige Mächte, welche die Bewegung erzeugen und unterhalten; also die Bewegung ist im Bewußtseyn selbst doch eine objektive" (XII, 123, Anml.). Ausgangspunkt des mythologischen Prozesses ist die seine eigene Unfreiheit erzeugende Freiheitstat des Menschen, die ihn unter die Herrschaft der erneut wirkenden Potenzen bringt. Ziel des Prozesses ist es, durch sukzessive Eliminierung der objektiv vorgestellten Fremdbestimmung des Bewußtseins auf die Rückgewinnung des Bewußtseins als Prinzip hinzuwirken (vgl. XIII, 378).36 Obgleich das menschliche Bewußtsein in der griechischen Mysterienlehre eine gewisse Unabhängigkeit von den Potenzen durch deren Verinnerlichung gewinnt, bleibt es an diese Mächte gebunden und kann den wahren Gott, zu dem es ein freies Verhältnis eingehen kann, nur erhoffen. So wie das 3. Buch der Philosophie der Offenbarung mit der freien Schöpfungstat Gottes beginnt, so das 2. Buch der Mythologie mit der freien Urtat des Menschen; und so wie der Beginn der Mythologie ein abolutes Faktum, die Urtat des Menschen, ist, ist ihr Ende von einem solchen bestimmt, der Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Die Übergänge in der positiven Philosophie sind mithin durch unvordenkliche Freiheitsakte vermittelt. Die Methode der Philosophie der Mythologie entwickelt Schelling im 1. Buch des "Monotheismus" (XII, 3ff.). Hier führt Schelling den Nachweis der Notwendigkeit einer philosophischen Auslegung der Mythologie.37 Im 2. Buch des "Monotheismus" wird versucht, "die Wirklichkeit einer solchen (theogonischen) Bewegung des Bewußtseyns an der Mythologie selbst nachzuweisen. Das Letztere wird erst

36

Zum mythologischen Prozeß und seiner Grenze vgl. die Darstellung der Mythologie in der Philosophie der Offenbarung (XIII, 382-530).

37

Vgl. dazu Kasper (1965), S. 327-361, Schöpsdau (1972), S. 245-275 und Korsch (1980), S. 213ff.

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die unmittelbare Erklärung, es wird die Philosophie der Mythologie selbst sein" (XII, 10)38 Schelling geht es um eine prinzipientheoretische Rekonstruktion der historischen Aufeinanderfolge der Mythen und ihres Stellenwerts. Dabei ist ein Rekurs auf das überlieferte Material unerläßlich. In der Philosophie der Mythologie besteht daher ein untrennbarer Zusammenhang von philosophischer Prinzipienentwicklung und historisch-philologischer Tatsachenfeststellung. Die Konstruktion aus Prinzipien ist auf faktisches Vorstellungsmaterial angewiesen, wie umgekehrt das mythologische Überlieferungsgut der philosophischen Erklärung aus Prinzipien bedarf. Insbesondere kann die Feststellung mythologischer Fakten das Faktum der Mythologie selbst nicht erklären. Schelling macht in der Philosophie der Mythologie also den Versuch, die 'Balance' zwischen der Systemkonstruktion der idealistischen Philosophie und der in seiner Zeit neu entstandenen philologischen Altertumsforschung und Mythologie zu halten. Er beharrt auf einem doppelten Zugang zur historischen Wirklichkeit, einem an den historisch-empirischen Wissenschaften orientierten und einem philosophischen. Schellings Kritik an der zeitgenössischen Mythenforschung richtet sich gegen drei unzureichende Verfahrensweisen in der historischen Mythenforschung: 1. gegen die empiristische, bloße Philologie, die nur die mythologischen Fakten feststellt, 2. gegen die "rationalistische" Mythologie, die die Mythen als Poesie (J.H. Voß) oder als Naturphilosophie (Chr. G. Heyme, G. Hermann) interpretiert, und 3. gegen die Forschungsrichtung, die zwar die Mythologie als religiöses Phänomen erkennt, sie aber nicht wie F. Creuzer in ihrem inneren historischen Fortgang, d.h. für Schelling als einen theogonischen Prozeß faßt (vgl. die 2. bis 4. Vorlesung der Historisch-kritischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie (XI, 26-93)). 38

Schellings Philosophie der Mythologie ist unter verschiedenen Gesichtspunkten interpretiert worden. Volkmann-Schluck hat Schellings Philosophie der Mythologie in Verbindung mit einer Ontologie der Sprache gebracht (vgl. VolkmannSchluck (1969), S. 111-152). Frank vergleicht sie mit dem strukturalistischen Konzept der Mythologie (vgl. Frank (1977), S. 62). Richtig dürfte die Feststellung der älteren Literatur sein, daß Schellings Philosophie der Mythologie das Grundanliegen der Weltalter in veränderter Form fortsetzt (vgl. Dekker (1930), S. 71 und Jankélevitsch (1933), S. 3). Das mythologische Werk Schellings hat in der philosophisch orientierten Literatur auch neuerdings wieder stärkere Beachtung gefunden vgl. Frank (1982), Oesterreich (1984), Tilliette (1984) und Marks (1986). Die mythologischen Schriften Schellings werden von diesen Autoren vor dem Hintergrund der Hinwendung zu Historismus und Philosophiegeschichte in den zeitgenössischen Geisteswissenschaften interpretiert.

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Vernunftsystem und unvordenkliches D aß sein

Der Sinn der Mythologie erschließt sich Schelling aus dem religiösen Bewußtsein. Sie ist notwendiges Mittelglied auf dem Weg zum Christentum. Die Mythologie entsteht "durch einen (in Ansehung des Bewußtseyns) nothwendigen Proceß, dessen Ursprung ins Uebergeschichtliche sich verliert und ihm selbst sich verbirgt" (XI, 193). Der Prozeß der Mythologie im ganzen ist von religionsphilosophischer Substanz, insofern "dieselben Potenzen, die in ihrem Zusammenwirken und in ihrer Einheit das Bewußtseyn zum Gott-setzenden machen, [werden] in ihrem Auseinandergehen die Ursachen des Processes [sind], durch den Götter gesetzt werden, also Mythologie entsteht" (XI, 208). Als von den allgemeinen Prinzipien geprägt ist die Mythologie adäquat also nur durch die (Religions)-Philosophie zu begreifend 4. Auch die Philosophie der Offenbarung besteht aus zwei Teilen, deren erster die Grundlage des zweiten ist. Sie verteilen sich auf das 2. und 3. Buch der Philosophie der Offenbarung. Das 1. Buch umfaßt die "Einleitung" in die Philosophie der Offenbarung, gehört also zur negativen Philosophie. Im 2. Buch wiederholt Schelling die Grundgedanken der Philosophie der Mythologie. Erst im 3. Buch wird das Leben Jesu und die Geschichte der Kirche philosophisch interpretiert. Während die Mythologie ein notwendiger Prozeß innerhalb des sich selbst überlassenen menschlichen Bewußtseins ist, ist die Offenbarung ein Geschehen außer dem menschlichen Bewußtsein, das auf der Freiheit Gottes beruht: "Obgleich nämlich die Principien, welche der Mythologie zu Grunde liegen, [...] auch Principien der geoffenbarten Religion seyn müssen [...], so muß doch der große Unterschied beider erkannt werden, daß die Vorstellungen der Mythologie - Erzeugnisse eines nothwendigen Processes sind, einer Bewegung des

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Der "Historismus" der Geisteswissenschaften löst nach 1830 die Philosophie als Leit- und Orientierungswissenschaft weitgehend ab. Schellings philosophischer Werdegang ist tief in diesen Prozeß der geistigen Umorientierung eingebunden, an dem er durch eigene historisch-philologische Arbeiten zur Mythologie teilnimmt. Obgleich stets Außenseiter geblieben, ist er an der von der Wolf- und Herrmannschule geprägten Altertumswissenschaft orientiert. Angefangen mit seiner Erstlingsschrift Über Mythen, historische Sagen und Philosophien der älteren Welt (1793), vor allem aber im Kontext der um 1810 begonnenen Arbeit zu den Wellaltern, und schließlich in der Philosophie der Mythologie hat er philologische Untersuchungen und antike Quellen rezipiert und mit seinem philosophischen Ansatz konfrontiert. Herausragendes Beispiel der historisch-philologischen Arbeit ist die Schrift Die Gottheiten von Samothrake (1813). Schellings Schriften zu diesem Thema stießen größtenteils auf Ablehnung bei den Mythologieforschern. Einen Überblick über die Rezeptionsgeschichte der mythologischen Schriften Schellings gibt X. Tilliette (1984), S. 63, 75f.

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natürlichen, bloß sich selbst überlassenen Bewußtseyns, auf welche, wenn sie einmal gegeben ist, keine freie Ursache außer dem Bewußtseyn einen weitern Einfluß hat, während die Offenbarung ausdrücklich als etwas gedacht wird, das einen Actus außer dem Bewußtseyn und ein Verhältniß voraussetzt, das die freieste Ursache, Gott, nicht nothwendig, sondern durchaus freiwillig sich zum menschlichen Bewußtseyn gibt oder gegeben hat" (XIV, 3). Die philosophischen Interpretamente der Philosophie der Offenbarung sind also dieselben wie in der Philosophie der Mythologie, doch sind sie anders strukturiert: "Die Wissenschaft, indem sie von der Mythologie zur Offenbarung übergeht, geht also damit in ein völlig anderes Gebiet über. Dort hatte sie mit einem nothwendigen Proceß zu thun, hier mit etwas, das nur da ist in Folge eines absolut-freien Wollens" (XIV, 4). Die Philosophie der Offenbarung erkennt erstens, daß die Mythologie mit ihrem Resultat der Unmöglichkeit der Selbstbefreiung des Menschen notwendige Voraussetzung der Offenbarung ist, und zweitens, daß die Offenbarung selbst ein vermitteltes Handeln Gottes ist: "Der Vater hat nicht unmittelbar, sondern durch den Sohn die Welt erschaffen" (XIV, 29). Die Philosophie der Offenbarung konzentriert sich daher auf die Person Christi, die zu begreifen ihr alleiniges Ziel ist (vgl. XIV, 35).40 Vor der expliziten Christologie wendet sie sich gegen eine dreifache Fehlinterpretation der Offenbarung: 1. Die Scholastik liquidiert den Begriff der Offenbarung, weil sie Christus a priori konstruiert. 2. Die Theologie, die sich nur an den Grundsatz 'sola scriptura' hält, verzichtet auf das philosophische Verständnis der Offenbarung. 3. Die Mystik geht zwar auf die Sache der Offenbarung selbst, kann sie aber nicht für die Vernunft explizieren (vgl. Rosenau (1985), S. 118). Schellings Christus-Interpretation ist weder von der kirchlichen Orthodoxie geprägt noch an Entwürfen des deutschen Idealismus orientiert. Christus tritt in mehreren weltgeschichtlichen Gestalten auf. 1. Christus existiert vor der Erschaffung der Welt in Gott-Vater. 2. Mit der Schöpfung der Welt tritt der Sohn aus Gott heraus, um im 'Heidentum' eine Brücke zwischen Gott und Mensch zu schlagen. Der 4°

Während die philosophische Schelling-Forschung der Christologie wenig Bedeutung beimißt (vgl. W. Schulz (1954, S. 252), spielt sie in der theologischen Schelling-Forschung naturgemäß eine größere Rolle. Für H. Rosenau ist die Christologie sogar das eigentliche Zentrum der Spätphilosophie (Rosenau (1985), S. 125). Schöpsdau (1972), S. 307f. und Korsch (1980), S. 2881T. arbeiten das widersprüchliche Verhältnis von philosophischer und theologischer Gewichtung heraus. Vorliegende Arbeit bezieht diese Widersprüchlichkeit auf den Widerspruch in der Grundkonzeption der positiven Philosophie.

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Sohn ist nicht mehr in Gott, aber auch noch nicht Mensch, sondern in außergöttlicher-göttlicher Gestalt (in der morphê theoû). 3. Die dritte Gestalt Christi ist Jesus als der Mensch gewordene Gott, der durch den Kreuzestod stellvertretend für die Menschheit stirbt.41 Erst in dieser dritten Bestimmung kommt Schelling mit der traditionellen, Paulinischen Kenosis-Theologie ü b e r e i n . 4 2 Schellings Christus-Interpretation ist Resultat einer Wende zur Geschichtsphilosophie und zur Potenzenlehre. Die Mythologie zeigt, daß die Freiheit Gottes in schroffem Gegensatz zur Freiheit des Menschen im "Abfall" steht. Dieser Widerspruch wird durch die Offenbarung Gottes versöhnt, in der sich zugleich die Freiheit Grottes im Menschen verwirklicht. Subjekt der Versöhnung in der Offenbarung ist die zweite Potenz des Sohnes, die, durch die im mythologischen Prozeß freigesetzte erste Potenz beherrscht, in ihrer außergöttlichen Stellung auch das Moment der Selbständigkeit erworben hat. Die "Grundidee des Christenthums" lautet nun folgendermaßen: "Der Sohn konnte unabhängig von dem Vater in eigner Herrlichkeit existiren [...]. Diese Herrlichkeit aber, die er unabhängig von dem Vater haben könnte, verschmäht der Sohn, und darin ist er Christus" (XIV, 37). Die Tat der Offenbarung besteht darin, daß die zweite Potenz des Sohnes ihre Macht nicht ausnutzt, sondern sich Grottes Freiheit gehorsam unterordnet. Die Versöhnung kommt also durch eine kontingente Willensentscheidung zustande (vgl. XIV, 58), 41

42

Schelling stellt sein dreifaches Christusverständnis in einer Auslegung des Prologs des Johannes-Evangeliums heraus (vgl. 27. u. 28. Vorlesung der Philosophie der Offenbarung (XIV, 74-118)). Im Unterschied zur ungeschichtlichen philosophischen Auslegung dieses Prologs durch Fichte in seiner Schrift Anweisungen zum seeligen Leben (Fichtes Werke V, 476ff.), kommt es Schelling auf die Konvergenz von neutestamentarischer Uberlieferung und philosophischer Prinzipialität an (vgl. XIV, 99-104). Zur Diskussion des Verhältnisses von Schellings Auslegung dieser Bibelstelle zur heutigen Exegese vgl. U. Browarzik (1971). "Die von Schelling vertretene Kenosis-Christologie bringt den formalen und materialen Aspekt seiner Christologie in einen engen Zusammenhang: Der heilsamen Ekstase der Vernunft, verstanden als Aufgabe von Selbstsucht und Selbstbescheidung vor dem unvordenklichen Sein des Absoluten, entspricht die Kenosis, die Selbsterniedrigung Christi, die das Versöhnungsgeschehen begründet" (H. Rosenau (1985), S. 144). Den Zusammenhang zwischen Ohnmacht der Vernunft' und der Hinwendung zur Vermittlung durch Christus' in der Spätphilosophie Schellings zeigt Rosenau ebenfalls auf: "Wenn die soteriologische Macht der Vernunft und damit verbunden die Abschätzung der Christologie als rein episodisch im Ausdruck "intellektuelle Anschauung" zusammengefaßt werden kann, die soteriologische Ohmacht der Vernunft dagegen "Ekstase" heißt, so kann am Wechsel dieser Zentralbegriffe, der dem von der Unmittelbarkeit zur Vermittlung entspricht, der Wechsel von der episodischen zur konstitutiven Christologie abgelesen werden" (Rosenau (1985), S. 99).

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kraft welcher die Unterwerfung vollzogen wird, und worin die göttliche Gesinnung des selbständig gewordenen Sohnes zum Ausdruck kommt. Das Geschehen der Offenbarung beschreibt Schelling als Geschichte des Gehorsams und der Erniedrigung des Sohnes, wodurch dieser Anteil an der Gottheit gewinnt. Alle Bestimmungen der Christologie sind Voraussetzungen und Folgen dieser Tat (Inkarnation, Tod, Auferstehung etc.). Die Offenbarung hat demnach den Charakter eines absoluten Faktums, weil sie eine unableitbare Tat im Modus der Freiheit ist. Dem entspricht ihr Charakter der historischen Faktizität im Unterschied zur Mythologie (vgl. XIV, 174, 230). Die Offenbarung ist wesentlich durch zwei Bestimmungen gekennzeichnet: Erstens wird durch sie der menschliche Widerspruch zu Gott durch Gott selbst überwunden, zweitens realisiert sich durch sie die Übereinstimmimg von Vater und Sohn in dem sie verbindenden Geist. Die Versöhnung von Gott und Mensch ist mithin ein Aspekt im Leben Gottes selbst. Erst durch die Offenbarung wird der christliche trinitarische Begriff der Gottheit erreicht (vgl. XIV, 65, 237). Insofern ist der christliche Gottesbegriff durch ein absolutes Faktum konstituiert. Gegen die faktische Grundlegung des christlichen Gottesgedankens macht sich die Notwendigkeit geltend, das göttliche Geschehen denkend vorauszusetzen. Die Offenbarung steht nämlich durchaus im Zusammenhang mit dem Dreier-Schema der Vernunftprinzipien, das, zwar dem absoluten Daß der Urexistenz untergeordnet, sowohl den anfänglichen Gottesgedanken als auch die Idee der Schöpfung und ihre Folgen hypothetisch konstruiert. Es ist bezeichnend, daß das absolute Faktum des Christentums keine Veränderung der Potenzenstruktur hervorruft; das "allgemeine Gesetz des Fortschreitens" wird durch die Offenbarung nicht verändert (XIV, 236). Das absolute Faktum erscheint von dieser Warte aus nur als Verwirklichung des allgemeinen Potenzenschemas der Vernunft. "Das Christenthum [...] ist nur die Ausführung des schon in den Verhältnissen der Weltprincipien selbst liegenden Gedankens" (XIV, 332). Der Widerspruch im Konzept der positiven Philosophie besteht mithin darin, daß sie die Grundlegung des christlichen Gottesgedankens durch das von der Vernunft uneinholbare absolute Faktum der Offenbarung behauptet, dieses aber andererseits darstellt als den entfalteten Gottesgedanken der reinen Vernunft. Hier macht sich Schellings systematisches Dilemma der positiven Philosophie wieder geltend. Sobald rationale Deutung gefordert ist, muß das Denken als Instanz der Theoriebildung wieder eingesetzt werden. Die Umkehrung des Primats des Denkens gegenüber dem Sein zu-

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gunsten des Seins läßt sich also nicht durchhalten. Andererseits wird die hypothetische Vernunft einer von ihr abgetrennten Wirklichkeit unterstellt.« 5. Der Vollzug der Versöhnung ist für Schelling ein Weg zunehmender Vergeistigung (vgl. XIV, 221), in dessen Verlauf auch die durch den "Fall" herrührende Zerissenheit der Natur besiegt wird. Ziel ist die vollkommene Realisierung der Freiheit Gottes in der natürlich-geistigen Seinsweise des Menschen inmitten einer versöhnten und nach Gottes Willen geordneten Natur. Insofern das sich selbst in seinen Voraussetzungen und Folgen verifizierende Faktum der Offenbarung beansprucht, die Totalität der Wirklichkeit im ganzen neu zu begründen, konstituiert sie zugleich die Geschichte als Heilsgeschichte. Heilsgeschichtlichen Charakter nimmt die Geschichte an als Geschichte der universalen Realisierung der in der Person Christi schon zum Durchbruch gelangten Freiheit Gottes. Im Horizont der Weltgeschichte ist die "Kirche" der Ort sich realisierender Freiheit zunächst nur in beschränkter Form. Diese Beschränkung der Kirche wird zum Zwecke der Verallgemeinerung des Bewußtseins der Freiheit aufgehoben durch ihren Eintritt in die äußere Weltgeschichte, wodurch sie geschichtliche Kirche wird (vgl. XIV, 298). Da das Ziel der philosophischen Religion, die universale Realisierung der Freiheit Gottes, noch aussteht, besteht die Aufgabe der Religionsphilosophie darin aufzuzeigen, daß die zunächst partikulare Wahrheit der Offenbarung sich zur Allgemeinheit der Vernunft erhebt, so wie umgekehrt die Vernunft nur durch ihre Prävenierung durch die Realbewegung der Religion ihren Grund der Wirklichkeit erhält. Ziel ist die allgemeine Einheit von Vernunft und Religion, wobei die Realbewegimg der Religion als die Idealbewegung der Vernunft prinzipiierend gedacht wird. Der Aufbau der Religionsphilosophie entspricht nun keineswegs dem Programm dieser Konvergenz. Einerseits versteht Schelling die universelle Ausbreitung der christlichen Wahrheit als Folge des absoluten Faktums. Die Stufen der Verallgemeinerung werden durch Gott selbst bestimmt: "Das Erwünschteste wäre, wenn der Herr selbst diese Unterschiede ausgesprochen, oder sie für eine künftige 43

Vgl. zu diesem und auch den nachfolgenden Kritikpunkten die Kritik an Schellings positiver Philosophie durch D. Korsch (1980), S. 288ff. Wüstenhube (1988), S. 232ff. teilt die Kritik von D. Korsch an der Christologie. Die Aufnahme des Tatsächlichen und Geschichtlichen in die philosophische Konstruktion leiste nicht, was sie verspreche, die Freiheit, auf die die Spätphilosophie abziele, als wirklich zu erweisen, weil sie die Freiheit dem Potenzenprozeß unterwerfe (ebd., S. 237f.).

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Wahrnehmung zum voraus bezeichnet hätte" (XIV, 298). Dem entspricht, daß Schelling die faktische, aus der Tradition des Lebens Jesu aufgenommene Reihenfolge der Jünger Petrus, Jakobus und Johannes zur kontingenten Bestimmung dreier Leitfiguren für Epochen der Kirchengeschichte erklärt. Jesus habe die Bewegungsgesetze der Kirche vorherbestimmt durch die Berufung von drei Aposteln. Da die Figur des Jakobus keiner kirchengeschichtlichen Epoche zugeordnet werden kann, wird willkürlich Paulus an die Stelle des Jakobus gesetzt (vgl. XIV, 302f.). Paulus läßt sich nämlich als antithetische Gestalt zu Petrus und als Repräsentant des Protestantismus gegen den petrinischen Katholizismus verstehen. Schelling nimmt also am historischen Material aus systematischen Gründen Veränderungen vor.44 Darin kommt zweierlei zum Ausdruck. Erstens zeigt sich die relative Gleichgültigkeit der historischen Faktizität für den systematischen Aufbau der philosophischen Religion. Zweitens löst der Philosoph damit die Verwirklichungsquelle der Vernunft aus dem absoluten Faktum und versetzt sie in die systematisch verfahrende Vernunft. Damit widerspricht die philosophische Konstruktion der Kirchengeschichte der programmatischen These, daß das Christentum selbst die treibende Kraft zur Konvergenz von Wirklichkeit und Vernunft sei, auf die es die philosophische Religion abgesehen habe. Schelling muß eingestehen, daß das kontingente Geschehen des Lebens Jesu keine endgültige Maßgeblichkeit für die Philosophie haben kann. Die philosophische Religion kann den Anspruch der positiven Philosophie nicht einlösen. Immer wieder fällt die gestaltende Kraft des religiösen Inhalts in die Immanenz der Vernunft. Schelling konzipiert die Idee einer philosophischen Religion, die die Religion der Kirche des Johannes ist, in der der Gegensatz von Katholizismus und Protestantismus und damit der Mangel der Reformation aufgehoben ist. In ihr ist das Bewußtsein der Freiheit, das in der Offenbarung begründet und von der Vernunft erkannt wurde, allgemein geworden. Insofern die allgemeine Durchsetzung der philosophischen Religion erst noch zukünftig zu realisierendes Ziel ist, begreift sich Schellings Spätwerk als Beitrag zu dieser Aufgabe. Diesem Ausgriff auf Zukunft steht entgegen, daß Schelling die Kirche seiner Gegenwart als unmittelbar vor der geschichtlichen Verwirklichung der Freiheit, also kurz vor der Epoche des johanneischen Christentums stehend ansah. Hier wird der antikritische, positivistische 44

D. Korsch hebt die haltlose Argumentation und den willkürlichen Umgang mit Texten bei dieser Konstruktion Schellings hervor (vgl. D. Korsch (1980), S. 250f.).

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Grundzug der Spätphilosophie besonders deutlich. Sie erwartet die Durchsetzung der Freiheit nicht von einer philosophischen Kritik an der Unvemünftigkeit der bestehenden Welt - eine Kritik, die die Unaufgebbarkeit der Vernunftautonomie unterstellt -, sondern hält sie durch die Kirche bereits realisiert. Darüber hinaus wird die Realisierung von Freiheit nur in der Kirche und nicht in Gesellschaft und Staat angesiedelt. Die philosophische Religion wendet sich polemisch gegen alle Theorien, die die Herstellung von Freiheit als Resultat politischer Praxis begreifen, gegen bürgerlichen Liberalismus und Sozialismus. Nicht von ungefähr affirmiert die Spätphilosophie Schellings die Staatsform der Monarchie (vgl. XI, 540, 590). Die der philosophischen Religion entsprechende politische Auffassung gibt sich als objektiv reaktionär zu erkennen. Zu Recht sieht H.J. Sandkühler Schellings politisches Denken der Spätzeit, vornehmlich seine affirmierende Legitimation der Monarchie, als Konsequenz der ontologischen Theorie des absoluten Seins und seines Vorrangs vor dem Denken an (vgl. Sandkühler (1968), S. 238). "Politischer Konservatismus und philosophischer Positivismus stellen sich als Zerfallsprodukte einer inkonsistenten Theorie des Absoluten dar" (Korsch 1980), S. 297). Am Ende der Philosophie der Offenbarung sagt Schelling: "Das Höchste ist allerdings Gott im Geist erkennen und anbeten, aber daß dieß auch in Wahrheit geschehe, wie Christus fordert, dazu gehört, daß es der wirkliche, durch Thaten geoffenbarte Gott, nicht irgend ein abstraktes Idol sey, den wir verehren" (XIV, 332f.). Die positive Philosophie mündet schließlich in die Selbstaufhebung der Philosophie in Religion. In ihr gehen Glauben und Wissen eine Einheit ein, die von Seiten des Glaubens fundiert ist. Verliert die Vernunft ihre prinzipiierende Funktion, dann verflüchtigt sich Philosophie in vorgegebene, tradierte religiöse Überzeugungen. 4. Die Aporie der positiven Philosophie Das Konzept der positiven Philosophie bestimmt die Urexistenz und schließlich die reale Religion und in ihr die Offenbarung als die Instanz, durch die die Vernunft prinzipiiert wird. Der Widerspruch in dieser Konzeption läßt die Idee nicht unberührt, daß die Urexistenz bzw. die Religion tatsächlich diese Funktion erfüllen kann. Die positive Philosophie lehrt die Aporie, daß der Vernunft eine 'Wirklichkeit' vorausgesetzt werden müsse, die der Vernunft prinzipiell entzogen,

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aber zugleich ihr Prinzip ist. Die Vernunft könne sie beschreiben, ohne sie umfassen oder begründen zu können. Die religiöse Wirklichkeit realisiert sich in einer Sequenz von Gestalten, deren Strukturprinzipien aber ohne systematische Vernunft nicht zur Darstellung kommen können. Die positive Philosophie suggeriert, mit dem intendierten Prius des absoluten Daß zugleich über die Möglichkeit zur kategorialen Bestimmung der religiösen Wirklichkeit zu verfugen. In Wahrheit - so hat sich gezeigt - fällt beides auseinander. Ist Kategorialität gefordert, dann muß Denken als Instanz der Theoriebildung und die Vernunft als prinzipiierend auftreten. Die faktische Durchführung der Religionsphilosophie hat gezeigt, daß sich die Umkehrung des Primats des Denkens gegenüber dem Sein zugunsten des Seins nicht durchhalten läßt. Da die Vernunft aber nur hypothetisch bleibt, kann sie sich andererseits nur positivistisch an der vorgegebenen Wirklichkeit orientieren. Der Widerspruch in der Konzeption der positiven Philosophie zerstört die intendierte Einheit von positiver und negativer Philosophie, vornehmlich die behauptete Prinzipiierung der negativen (Vernunft) durch die positive Philosophie (Religion), auch von seiten der positiven Philosophie. Hat die negative Philosophie herausgestellt, daß die Vernunft ihr Prinzip als Prinzip nicht erfassen kann, und besteht die positive Philosophie in dem Versuch, ihr im absoluten Daß einen unvordenklichen Grund zu legen, so zeigt die in dieser Konzeption der Letztbegründung implizierte Aporie, daß Vernunft und unvordenklicher Grund weder zu harmonisieren noch zu synthetisieren sind. Die positive Philosophie behauptet zwar, diese Synthese sei geleistet, aber nur um den Preis des Auszugs der Vernunft aus der Wirklichkeit. Der Widerspruch der positiven Philosophie kann als hinreichendes Argument für die Unmöglichkeit der ihrer Auffassung zufolge notwendigen Selbstüberschreitung der Vernunft in einen unvordenklichen Grund gelten. Fassen wir das aporetische Resultat des Letztbegründungsprogramms der Spätphilosophie Schellings zusammen: In einer aporetischen Bewegung wird der Vernunftimmanenz der negativen Philosophie eine Transzendenz der unvordenklichen Faktizität als ihre Begründungsinstanz gegenübergestellt. Umgekehrt wird die postulierte Selbständigkeit der positiven Philosophie, die als Religionsphilosophie die Wirklichkeit und Verwirklichung der Vernunft legitimieren soll, in einer aporetischen Bewegung beständig in die Immanenz der Vernunft überführt. Indem die positive Philosophie im Begreifen des Unbegreiflichen Hegel und Jacobi zusammenzwingen will, fallt sie

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der selbsterzeugten "Verwirrung des Positiven und Negativen" genauso anheim, wie es die Spätphilosophie direkt von Spinoza und damit indirekt von der Identitätsphilosophie kritisch behauptete (vgl. XIII, 85; Paulus, 120).

8. Kapitel Perspektiven: Ausblick auf die Dialektik der Vernunft und ihres Anderen in der nachidealistischen Philosophie am Beispiel von Heideggers und Adornos Philosophiekonzeption

Wie Schellings Spätphilosophie zeigt, erwächst der Paradigmenwechsel zum Anderen der Vernunft als (deren) Prinzip aus einem genuin idealistischen Problem - dem Problem der Faktizität, dem 'Daß' der Vernunft, also noch innerhalb des Idealismus. Die nachidealistische Philosophie beginnt auf der einen Seite mit einer stark geistesgeschichtlich, historisch ausgerichteten realistischen Philosophie (Bolzano, Brentano, Trendelenburg; Neuscholastiker), andererseits mit einer mehr anthropologisch, gesellschaftskritisch ausgerichteten Neubesinnung von Theorie und Praxis, die der Praxis Vorrang vor der Theorie einräumt: Feuerbach und Marx; diese nimmt ihren Ausgang gleichfalls vom Aufbrechen des reinen idealistischen Vernunfttheoretizismus des Hegeischen Idealismus bei Schelling. Diese Traditionslinie führt in den Marxismus und schließlich zur Kritischen Theorie. Eine Besonderheit der nachidealistischen Philosophie besteht allerdings darin, daß es zur Etablierung von Systemen kommt, die die Vernunft als solche verneinen. Die irrationalistischen Metaphysiken Schopenhauers und Nietzsches beschränken sich nicht nur auf das, was die Vernunft nicht ist, das Andere der Vernunft, wie Materie, Empfindung, Praxis, Klassenbewußtsein (Feuerbach, Marx), sondern versuchen, die Vernunft durch eine positive Gegeninstanz zu kontrastieren, nicht mehr nur das Andere der Vernunft, sondern Anti-Vernunft: Faktizität der Existenz, Leben, Wille, Wille zur Macht, amor fati. Prinzipien, die in letzter Konsequenz zum Nihilismus führen, werden dem idealistischen Vernunftbegriff entgegengestellt. Es ist das bleibende Verdienst von Walter Schulz, in der Spätphilosophie Schellings die Naht- und Einbruchstelle dieses mit der Romantik, einer der größten Krisen der abendländischen Geistesgeschichte, ein-

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Dialektik der Vernunft und ihres Anderen

tretenden irrationalistischen Traditionsstranges in der modernen Philosophiegeschichte ausgemacht zu haben, der von Schopenhauer und Nietzsche bis Freud und von Kierkegaard zu Heidegger führt (vgl. W. Schulz (1955), S. 271ff.). Von den Hauptströmungen der modernen Philosophie, dem Marxismus, dem Szientismus, dem kritischen Rationalismus, der Sprachanalyse, der Hermeneutik und der Existenzphilosophie soll zunächst das Philosophiekonzept des Hauptvertreters der Existenzphilosophie in Deutschland, das Philosophiekonzept Martin Heideggers, etwas näher unter die Lupe genommen werden. Es ist wesentlich von Schellings Denken, insbesondere von der Spätphilosophie Schellings geprägt.

A Heideggers Philosophiekonzept in Was ist Metaphysik? (1929) als Theorie der Befindlichkeit Die Verständigung über Heideggers Schrift Was ist Metaphysik? ist zugleich Verständigung über Heideggers Philosophie selbst und im ganzen. Dies hat einen einfachen Grund. Heideggers Freiburger Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? bildet ein wichtiges Scharnierstück zwischen dem philosophischen Ansatz von Sein und Zeit und dem späteren Seinsdenken, das sich hier im Nachwort und der Einleitung niederschlägt. Unsere Schrift lotet also die Spannung zwischen den beiden grundlegenden philosophischen Ansätzen Heideggers aus und bildet quasi deren Verbindungsglied. Die Problematik von Heideggers Philosophiekonzept läßt sich daher gut von dieser Schrift aus entwickeln. I. Die philosophische Problematik von Heideggers Schrift Was ist Metaphysik? Zu Heideggers Schrift Was ist Metaphysik? gehören eigentlich drei Abhandlungen, zum einen die Freiburger Antrittsvorlesung von 1929 mit dem Titel "Was ist Metaphysik?", zum anderen das Nachwort von 1943 zu dieser Vorlesung und die Einleitung von 1949. An diesen drei Abhandlungen läßt sich die Bewegung von Heideggers Denken im ganzen ablesen. In der Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? gibt Heidegger Rechenschaft über das, was er unter 'Metaphysik' versteht. Und zwar geht er bei der Behandlung dieser Frage durchaus noch von den

Heideggers Philosophiekonzept in Was ist Metaphysik?

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existentialontologischen Prämissen seines Ansatzes von Sein und Zeit aus, demzufolge die Frage nach dem Sein ihren Ausgang von der Daseinsanalyse, also von der existentialen Analyse des Menschseins zu nehmen habe. Insofern die Vorlesung den Versuch macht, die "Ausarbeitung der Seinsfrage" (SuZ, 436) in Angriff zu nehmen, zu der Sein und Zeit nicht mehr gekommen war, läßt sie sich als Herausarbeitung des "metaphysischen Horizonts" (W. Schulz (1953/54), S. 79) von Sein und Zeit interpretieren. Zugleich bereitet diese Vorlesung die "Kehre" zum späteren Seinsdenken vor, ohne aber diesen Umschwung selbst zu vollziehen, ι 1. Die Vorlesung läßt sich in drei Teile untergliedern: 1. die Entfaltung der metaphysischen Frage nach dem Nichts in Auseinandersetzung mit dem Wesen der modernen Wissenschaften, 2. die Ausarbeitung der Frage und 3. die Beantwortung der Frage. Der Erörterung über das Wesen der Wissenschaften erwächst die spezifisch metaphysische Frage, und zwar in Gestalt der berühmt-berüchtigten Frage nach dem Nichts. Die Frage, was Metaphysik ist, mündet also in Heideggers Vorlesung sogleich in die Frage, was das Nichts sei. Die Frage nach der Negativität des Nichts steht überhaupt im Zentrum der Vorlesung und ist das Problematischste der Sache überhaupt. Die Frage nach dem Nichts steht deshalb im Vordergrund, weil sie für Heidegger Einblick in das gibt, was Metaphysik der Sache nach ist. Sie ist deshalb die genuin metaphysische Frage, weil mit ihr das Hinausgehen über das Seiende im Ganzen verbunden ist, welches die Grundbewegung der Metaphysik ist. Heidegger nimmt den Terminus 'Metaphysik', der bekanntlich bei Aristoteles selbst nicht auftaucht und erst von dem Aristoteliker Andronikos von Rhodos als der Begriff eingeführt wurde, der die Schriften von Aristoteles nach den Büchern zur Physik bezeichnet, wörtlich als tà metà tà physiká, also als Überstieg über das Seiende als solches. Im 2. Teil der Vorlesung, der der Ausarbeitung der Nichtsfrage gewidmet ist, geht es zunächst um die Erörterung des Verhältnisses von dem sog. Nichts zu dem, was wir gewöhnlich Verneinung nennen. Diese Erörterung hat bei Heidegger zum Resultat, daß die Frage

Die Herausarbeitung des "metaphysischen Horizonts" von Sein und Zeit findet sich noch in anderen Schriften aus dieser Zeit. Die Schriften Vom Wesen des Grundes (1928) und Vom Wesen der Wahrheit (1930) sind zusammen mit Was ist Metaphysik? Schriften hin zur "Kehre". Zu nennen sind daneben auch Heideggers Vorlesungen Kant und das Problem der Metaphysik (1929) und die Grundbegriffe der Metaphysik (1929/30), die ebenfalls die metaphysischen Implikationen von Sein und Zeit zum Thema haben und Schritte in Richtung "Kehre" unternehmen.

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nach dem Nichts weder von der Logik noch überhaupt vom begrifflichen Denken richtig angegangen werden kann. Heidegger macht hier den Übergang zu einer Theorie der Gefühle, der sog. Stimmungen, zu dem, was er in Sein und Zeit "Befindlichkeit" (vgl. SuZ, § 29) nennt. Das Nichts - so ist Heideggers These - ist allein in der Stimmung der Angst erfahrbar. Wenn Heidegger der Befindlichkeit allein den Zugang zum Nichts und damit zum Überstieg über das Seiende im Ganzen zutraut, dann liegt darin zumindest die starke These und der fundamentalphilosophische Anspruch, Metaphysik affekttheoretisch zu begründen, insofern Heidegger sich über die Analyse der Erfahrung des Nichts in der Angst einen Zugang zu dem, was er "Sein überhaupt" nennt, verspricht. Für Heidegger ist Metaphysik nicht mehr wie bei Hegel in der sich selbst begründenden Vernunft, im sich selbst denkenden Denken begründet, sondern in einer Radikalisierung des Schellingschen Ansatzes gleichsam im 'Anderen' der Vernunft, in Stimmungen und Befindlichkeiten. Mit Heideggers Wissenschaftskritik, der Kritik am begrifflichen Denken und der Kritik an der traditionellen Vernunftmetaphysik geht eine scharfe Kritik neuzeitlicher Subjektivität einher, die zugleich in einem Zusammenhang mit einer spezifischen Kulturbzw. Gesellschaftskritik steht. Es ist dieser kritische Zusammenhang, der Heideggers Metaphysik-Diskurs philosophisch interessant macht. Im 3. Teil der Vorlesung, in dem es um die Beantwortung der Frage nach dem Nichts geht, mündet der Gedankengang zunächst in eine eigentümliche Theorie des Zerfallsprodukts des Absoluten qua Nichts, die einhergeht mit einer zutiefst fragwürdigen Theorie heroischer Subjektivität. Beides läßt sich unter den an Schellings Freiheitsschrift angelehnten Titel "Über das Wesen' des Nichts und die damit zusammenhängenden Gegenstände" bringen. Das geheimnisvolle Nichts hat jedenfalls den Heidegger-Interpreten stets Kopfschmerzen bereitet. Am Ende der Vorlesung wird deutlich, daß für Heidegger allein das "Nichts" und die "Transzendenz" das Hinausgehen über das Seiende im Ganzen und damit die "Metaphysik" ermöglicht. Die Vorlesung wird beschlossen mit der sog. Grundfrage der Metaphysik 'Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?' Heideggers reines Nichts wird damit zur Instanz, woraus alles Seiende als Seiendes erschlossen wird. Zugleich aber deutet sich an, daß der reine Begriff des Nichts nicht Heideggers letztes Wort ist. Vielmehr

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entsteht aus ihm ein quasi neues Absolutes, ein quasi neuer Gott, und zwar in Gestalt des reinen, von allem Seienden unterschiedenen Seins, und damit eine neue Art von Ontologie, das sog. Seinsdenken. 2. Im Nachwort zur Vorlesung von 1943 kommt es zu einer eigentümlichen Perspektivenverschiebung. Die Frage "Was ist Metaphysik?" wird nicht mehr als metaphysische Frage nach dem Nichts, sondern als "Überwindung der Metaphysik" thematisiert. Hier wohnen wir dem Phänomen bei, daß Heidegger dasselbe Thema der Vorlesung von einem sich wandelnden philosophischen Standpunkt aus behandelt. Im 2. Teil des Nachworts legt Heidegger seine Karten auf den Tisch. Hier entwickelt er die grundlegenden neuen Prämissen seines Ansatzes, die Momente des sog. Seinsdenkens. Heidegger hat bei der Ausarbeitung seiner Seinslehre nicht von ungefähr vornehmlich auf Schellingsches Gedankengut zurückgegriffen. Mit Schelling geht Heidegger sogar auf die neuplatonische Tradition zurück. Mit dem seinsphilosophischen Ansatz hat Heidegger den noch subjektphilosophischen Ansatz von Sein und Zeit überwunden. Interessant ist nun, daß mit dem neuen Ansatz des Seinsdenkens auch eine Veränderung in Heideggers Wissenschafts-, Kultur- und Gesellschaftskritik einhergeht. 3. In der Einleitung von 1949 hat Heidegger die Wendung zur Seinsphilosophie endgültig vollzogen. Hier erscheint auch die Frage "Was ist Metaphysik?" erneut in einem anderen Licht, nämlich als sog. "Rückgang in den Grund der Metaphysik" - so der Titel der Einleitung. Nicht mehr die Prämissen von Sein und Zeit, sondern das Seinsdenken nach der "Kehre" legt hier die Perspektive fest, innerhalb deren Heidegger Kritik an der traditionellen Metaphysik übt. Unter dem Titel "Seinsvergessenheit" findet eine Erweiterung und Radikalisierung sowohl der Metaphysik- als auch der Wissenschafts-, Subjekt- und Kulturkritik statt. So radikal diese Kritik aber auch ausfällt, so fragwürdig ist sie m.E. unter den Prämisssen der Seinsphilosophie. Es darf ja nicht übersehen werden, daß Heideggers Denken von Anfang an mit Tendenzen rechtsradikaler Kultur- und Gesellschaftskritik verquickt ist, und auch philosophisch relativ nahtlos ist Heidegger zum feurigen Verfechter des Nationalsozialismus geworden. Da die Prämissen des Seinsdenkens bereits anhand des Nachworts genügend freigelegt werden können, können wir hier auf eine Interpretation der Einleitung verzichten. Im 2. Teil der Einleitung gibt Heidegger eine Selbstinterpretation von Grundbegriffen von Sein und Zeit und seiner "Kehre" zum Seins-

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denken. Heidegger ist sozusagen sein eifrigster Interpret. Er nimmt des öfteren methodisch Stellung zu seinem eigenen Denken und dessen Entwicklung. Auch die Wendimg zum Seinsdenken wird von ihm selbst kommentiert. Dabei ist unverkennbar seine Tendenz zu bemerken, die er mit Schelling gemeinsam hat, sein späteres Denken als geradlinige und konsequente Fortsetzung seines früheren Denkens darzustellen. Dieser Tendenz muß m.E. eine Interpretation entgegenarbeiten, die es auf das Proprium der philosophischen Ansätze Heideggers abgesehen hat. Eine abschließende philosophische Ortsbestimmung von Heideggers Metaphysik und Metaphysikkritik hätte vor allem auf die Verschiebung zu reflektieren, die die Frage "Was ist Metaphysik?" von der metaphysischen Frage nach dem Nichts über die seinsphilosophisch motivierte "Überwindung der Metaphysik" bis hin zum seinsphilosophisch vollzogenen "Rückgang in den Grund der Metaphysik" gemacht hat. Mit der Wendung zum Seinsdenken findet ein Übergang von der inneren Überbietung zur Überwindung und schließlich zur Verabschiedung der Metaphysik statt, - eine Distanzierung, die zur Verleugnung der rationalen Potentiale der traditionellen Metaphysik und damit zur "Unterwanderung des okzidentalen Rationalismus" (Habermas (1985), S. 158) führt, wie Habermas sagt.2 Eine solche abschließende Ortsbestimmung von Heideggers Denken beanspruchen nachfolgende perspektivisch angelegten Überlegungen allerdings nicht.

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Verharmlosend ist etwa die Heidegger-Interpretation von P. W. von Herrmann (1964), der der Auffassung ist, dai] sich mit der "Kehre" nur die Art und Weise der 'Grundlegung1 der Metaphysik verändert; der transzendental begründete Metaphysikbegriff des frühen Heidegger - Metaphysik hat ihren Grund der Möglichkeit in der transzendentalen Verfassung des Menschen - werde abgelöst von einem seinsgeschichtlich begründeten Metaphysikbegriff - Metaphysik hat ihren Grund der Möglichkeit im Seinsgeschehen. So richtig diese Feststellung auch immer sein mag, sie blendet das entscheidende Problem aus, nämlich die interpretatorische Bewertung von Heideggers Stellung zur traditionellen Metaphysik und die Bewertung ihres Wandels.

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II. Heideggers befindlichkeitstheoretische Begründung der Metaphysik in der Vorlesung Was ist Metaphysik? 1. Heideggers Entfaltung der metaphysischen Frage nach dem Nichts in seiner Wissenschaitskritik Die Schwierigkeit bei der Interpretation von Heideggers Verhältnis zur Wissenschaft in dieser Vorlesung besteht zunächst darin, daß Heidegger von der Wissenschaft kritisch und affirmativ zugleich spricht. Hebt sich Metaphysik von der Wissenschaft kritisch ab, dann stehen wir vor der Aufgabe, in Heideggers affirmativer Beurteilung der Wissenschaften das Kritische herauszuschälen. Dabei ist eine Oberflächenkritik' von einer 'Wesenskritik' der Wissenschaften zu unterscheiden. Heidegger kritisiert die "zerfallene Vielfältigkeit" der Wissenschaften, die gegründet ist im Verlust der "Verwurzelung" aller Wissenschaften in einem gemeinsamen "Wesensgrund" (WM?, 25). Hier bezieht sich Heideggers Kritik auf den Kontrast der zerfallenen Vielfalt der Wissenschaften mit dem Ganzheitsbezug der Metaphysik. Mit einem "und doch" (WM?, 25) stellt Heidegger dieser Zerfallenheit eine Gemeinsamkeit aller Einzelwissenschaften gegenüber, mit deren Hilfe man dem "Wesensgrund" der Wissenschaften auf die Spur kommen kann. Die Wissenschaften haben als Wissenschaften ein 'Eigenstes'(vgl. WM?, 25), und zwar in ihrem Absehen, wobei das Absehen in seiner Doppelung von Absehen auf... und Absehen von... festzuhalten ist. Dem Wesen der Wissenschaften kommen wir auf die Spur, wenn wir das Absehen primär als Absehen von...lesen. Das würde bedeuten: Das Wesen der Wissenschaft und damit das entscheidende Unterscheidungsmerkmal der Wissenschaften von Metaphysik ist die begriffliche Abstraktion. Für die These, daß Heideggers Wissenschaftskritik primär als Kritik der Abstraktion zu verstehen ist, lassen sich drei Argumente anführen: 1. Die Abstraktion läßt sich in allen drei Kennzeichnungen der Wissenschaft aufweisen: a) Im ausgezeichneten Weltbezug der Wissenschaften zum Seienden selbst wird das Seiende als Gegenstand der Untersuchung aus seinem Alltagszusammenhang isoliert. Das je thematische Seiende wird gewonnen in Abstraktion von allem übrigen. Das 'Seiende selbst' ist das Residuum des von den Wissenschaften geleisteten Abstraktionsprozesses aus dem Ganzen des Seienden. Der Gegenstand

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der Wissenschafken, das Seiende selbst, ist also wohl zu unterscheiden vom Ganzen des Seienden, das die Metaphysik vor sich hat. Das Seiende selbst taucht nur im Lichte des wissenschaftlichen Entdekkungsprozesses auf, der wesentlich Abstraktionsprozeß ist. b) Auch in der vom Wissenschaft treibenden Subjekt geforderten Haltung der Sachlichkeit ist unschwer Abstraktion zu erkennen. Sachlichkeit ist nämlich eo ipso durch Abstraktion des Subjekts von seiner jeweiligen Besonderheit und "Befindlichkeit", d.h. von sich selbst gekennzeichnet. Ebenso wie der Gegenstand der Untersuchung wird das erkennende Subjekt aus seinem alltäglichen Lebenszusammenhang isoliert. Die Abstraktion, die sich sowohl auf seiten des untersuchten Objekts als auch auf Seiten des untersuchenden Subjekts niederschlägt, läßt sich als Zerschlagung des konkreten lebensweltlichen Zusammenhangs durch die Wissenschaften interpretieren. c) Diese Zerschlagung des lebensweltlichen Zusammenhangs in der isolierenden Abstraktion findet ihren zusammenfassenden Ausdruck in der dritten Bestimmung der Wissenschaft, im "aufbrechende[n] Einbruch" (WM?, 26). Die Abstraktion der Wissenschaft ist einerseits der "Einbruch" des Menschen in das Ganze des Seienden, der zum 'Aufbruch' des Seienden andererseits führt, das in diesem Abstraktionsprozeß "allererst zu ihm selbst" (ebd.) findet. Das 'Seiende selbst' erhält hier den Doppelsinn von 'selbst' als je eigenstes Wesen unter Ausschließung alles anderen. Nur um diesen Preis des Ausschlusses findet das Seiende im Abstraktionsprozeß der Wissenschaften zu ihm selbst. Der entscheidende Unterschied zwischen Metaphysik und Wissenschaft besteht dann im Kontrast zwischen der ganzheitlichen Konkretheit der Metaphysik und der isolierenden Abstraktion der Wissenschaft. 2. Die Interpretation der Wissenschaftskritik Heideggers als Kritik der Abstraktion kann nahtlos an die Wissenschaftskritik in Sein und Zeit anknüpfen. Wissenschaftliche Welterklärung, die auf der Subjekt-Objekt-Differenz beruht, ist ein ganz und gar abgeleitetes Phänomen des ursprünglich als kronkretes 'In-der-Welt-sein' zu denkenden Daseins, dessen basale Welt- und Selbstbezüge nicht Erklären, sondern Verstehen und Befindlichkeit sind. Erklären setzt die Abstraktion von unserer ursprünglichen Verstehens- und Befindlichkeitsstruktur voraus, in der die Welt im ganzen immer schon 'erschlossen' ist. Insbesondere ist die Wende vom 'Zuhandenen' zum ^ r h a n d e n e n ' im vergegenständlichenden Blick, wodurch das 'Zuhandene' aus seinem lebensweltlichen Zusammenhang herausfällt, Bedingung aller Wissenschaft. Ursprünglicher Weltbezug ist für Hei-

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degger das 'Hantieren' mit 'zuhandenem Zeug'. Die 'Objektivität' des Dinges ist erst eine Abstraktionsleistung, wodurch das Zuhandene zum Vorhandenen wird. 3. Das dritte Argument ist ein philosophiehistorisches, die Affinität Heideggers zu Schelling: Das Verhältnis von Wissenschaft und Metaphysik, wie es Heidegger hier bestimmt, entspricht dem Verhältnis von negativer und positiver Philosophie beim späten Schelling. 3 Wie die Wissenschaften bei Heidegger richtet sich die negative Philosophie nur negativ, d.h. nur begrifflich auf das Seiende. Dieses erscheint als Resultat von begrifflichen Negationen und Abstraktionen. Dagegen will sich die positive Philosophie des Seienden positiv als wahren Anfang versichern, nicht mehr bloß als Resultat der Abstraktionsbewegung des Begriffs. Dazu muß die Philosophie per Ekstasis aus dem Begriff und der Vernunft heraustreten. Auch Heidegger will sich einen positiven Zugang zum Sein verschaffen, der nicht mehr den Umweg über die Abstraktion der Wissenschaft nimmt. Der metaphysische Zugang zum Sein erfolgt bei Heidegger nicht mehr primär über den Begriff, sondern über die Befindlichkeit. Nach der Erörterung des Wesens der Wissenschaft geht Heidegger dazu über, die Frage nach dem Nichts aus eben diesem Wesen zu gewinnen. Das Problem der Gewinnung der metaphysischen Frage nach dem Nichts besteht wesentlich in der Gewinnung des substantivischen Nichts aus dem adverbialen 'nichts'. Vom adverbialen 'nichts', wie es in der dreimaligen Wendung "das Seiende selbst - und sonst nichts" (WM?, 26) die negative Abgrenzung des Titels 'das Seiende' markiert, geht Heidegger sogleich zum Substantiv 'das Nichts' über. Ist dieser Übergang einsichtig? Läßt sich die Ableitung des großen Nichts aus dem bisher erörterten Wesen der Wissenschaft rechtfertigen?*

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Auf den Bezug zur Spätphilosophie Schellings in Heideggers Vorlesung Was ist Metaphysik? weist J . Taubes (1975), S. 15 lf. hin.

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Ich möchte hier diesen Übergang unter Außerachtlassung des bereits historischen literarischen Streits um dieses Problem diskutieren. Den logischen Widersinn der Deduktion der Frage nach dem substantivischen Nichts hat zuerst Rudolf Carnap (1931/32), S. 219-241 zum Anlaß genommen, den Text insgesamt zu verwerfen. E. Tugendhat (1970), S. 152ff. vertritt die These, das Nichts, so wie es Heidegger ausspreche, sei als Begriff unhaltbar, ein KunstbegrifT ohne sinnvollen Inhalt. J. Taubes (1975), S. 144 behauptet dagegen, Heideggers Absicht sei es, den Gewaltstreich des Parmenides am Anfang der abendländischen Metaphysik, sein Verdikt gegen das Nichts, das als Nichts ebensosehr nichts sei, sein Verbot, es irgend überhaupt zu denken, durch die positive Gewinnung der Frage nach dem Nichts mit eben einem solchen Gewaltstreich zu 'beantworten*.

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In einem dreifachen Durchlauf faßt Heidegger das Wesen der Wissenschaften dahingehend zusammen, daß diese auf "das Seiende selbst - und sonst nichts" (WM?, 26) gehen. Wir müssen also das "sonst nichts" betrachten, wie es dreimal die negative Abgrenzung des Gegenstandes der Wissenschaften markiert. Was kann mit dem "sonst nichts" gemeint sein? Nach dem von Heidegger über das Wesen der Wissenschaften Gesagte kann das "sonst nichts" auf jeden Fall nicht "das Nichts" (was immer das sein mag) sein, sondern allenfalls das, wovon abstrahiert wird, sofern man Wissenschaft treibt. Das, wovon man abstrahiert, wird nicht "preisgegeben" (WM?, 26) - wie Heidegger sagt - als das, "was 'es nicht gibt'" (WM?, 27), sondern als das, was nicht interessiert. Die Wissenschaften konstituieren sich durch den Akt der Abstraktion, durch Abgrenzung des je anderen Seienden aus ihrem Gegenstandsbereich. Natürlich hat Heidegger recht, wenn er sagt, daß die Wissenschaften, wie sie sich ihres 'Eigensten' (WM?, 26) versichern, implizit "von einem Anderen" (WM?, 26) sprechen. Er hätte auch sagen können: von "allem anderen". Das abstrahierende Absehen von einem oder allem anderen führt jedoch noch lange nicht zu 'dem Nichts'. Indem etwas Thema wird, gerät alles andere aus dem Blick. Der rationale Sinn des "und sonst nichts" kann also nur darin bestehen, daß die Wissenschaften das je thematische Seiende und sonst nichts anderes untersuchen. E. Tugendhat hat auf die weite Bedeutung des Wortes "Seiendes" bei Heidegger hingewiesen, das über raumzeitliche Dinge hinaus auch Ereignisse, Sachverhalte, Angelegenheiten etc. bezeichnet (vgl. E. Tugendhat (1970), S. 158 Anm.). Konsequenterweise führt die Betrachtung über das Wesen der Wissenschaften zunächst nicht zu 'dem Nichts', sondern zu dem Satz: "erforscht werden soll nur das Seiende und sonst - nichts" (WM?, 26), wo weder von einem noch von dem Nichts die Rede ist, sondern das Wort in seiner adverbialen (synkategorematischen) Funktion ("nicht etwas") steht. "Etwas" oder "Seiendes" und "nichts" im Sinne von "nicht etwas" bildet auch für das gesunde, philosophisch unverbildete Sprachgefühl die korrekte Gegenüberstellung und nicht die Zusammenstellung von "etwas" bzw. "Seiendes" und "das Nichts". 'Das Nichts' wird also weder von der Wissenschaft preisgegeben noch im Preisgeben implizit zugegeben, es erscheint gar nicht in deren Horizont. Daher ist auch die konkrete Deduktion der Frage nach dem Nichts aus dem "Widerstreit" (WM?, 27) der Wissenschaften,

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dasjenige in Anspruch zu nehmen, was sie verwerfen, völlig unbegründet und uneinsichtig. Eher schon ist Heidegger darin zuzustimmen, daß die Wissenschaften von diesem ominösen Nichts "nichts wissen wollen" (WM?, 27), weil sie über dessen Sinn nichts auszumachen vermögen. Darüber hinaus tut Heidegger so, als spricht er hier von 'dem Nichts' wie von etwas allen Bekanntem, was gar nicht der Fall ist. Das Mißlingen der Ableitung des substantivischen Nichts darf uns allerdings nicht dazu verleiten, die Realität dessen, was Heidegger mit 'dem Nichts' bezeichnet, allsogleich mit in Frage zu stellen. Heideggers Kunstbegriff 'das Nichts', der ohne Entsprechung in der natürlichen Sprache ist, tritt ja mit dem Anspruch auf, Realität - wenn auch nicht sinnliche - zu bezeichnen, und zwar die Realität einer spezifischen Form von Negativität. Unser weiteres Problem im Text wird es sein, der Realität dessen, was da 'das Nichts' heißt, nachzugehen. Als aporetisch hat sich uns zunächst allein die Deduktion der metaphysischen Frage nach dem Nichts aus dem Wesen der Wissenschaften gezeigt. Über die Berechtigung dieser metaphysischen Frage selbst ist dadurch noch nichts ausgemacht. Zusammenfassend lassen sich folgende Thesen aufstellen: 1. Die Charakterisierung der Wissenschaften in ihrer völligen Zersplitterung einerseits und ihrer Gemeinsamkeit in ihrem abstraktiven Gegenstandsbezug andererseits, wie richtig sie auch für sich sein mag, ist unvereinbar mit der eigentlichen Intention Heideggers an dieser Stelle, der Gewinnung des Begriffs und der Frage nach dem Nichts. 2. Das Problem der Ableitung des Nichts ist scharf zu trennen von der Frage nach dem Nichts selbst und der Realität dessen, was der Titel 'das Nichts' bei Heidegger bezeichnet. Tatsächlich führt Heideggers Frage nach dem Nichts zum Themenkomplex 'Negativität'. Zu diesem Themenkomplex sei ein kurzer Rückgang in die Philosophiegeschichte vorgenommen. Der erste Zugang zur Negativität war ein Weggang von ihr. Parmenides, der Begründer der abendländischen Metaphysik, lehrte die Notwendigkeit des Seins (eón) und die Unmöglichkeit von dessen Nichtsein; jedes Prädikat, das mit Nichtsein, und d.h. für Parmenides mit Veränderung, Zeitlichkeit, Verschiedenheit und Vielheit zu tun hat, muß ihm abgesprochen werden. Das Sein des Parmenides ist frei von jeder Negativität, die eben nicht existiert: das Nichtseiende ist nicht, medèn d'ouk éstin (Parmenides, Fr. 6, 2) lautet die Formel des Parmenides. Das Nichtseiende ist, eben weil es nicht wahrnehmbar, erkennbar und denkbar ist, überhaupt nicht. Die Unentschiedenheit der Rede,

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die sowohl Seiendes kennt als auch Nichtseiendes für sinnvoll hält, sei der Weg der Unwahrheit (vgl. Parmenides, Fr. 1, 30). Der Unterschied von Sein und Nichtsein ist also für Parmenides der von Wahrheit und doxa. Piaton kommt im Sophistes nicht umhin, ΎβίβπηοΓά' zu begehen, die Position der parmenideischen Metaphysik in Frage zu stellen. Er sieht sich gezwungen anzunehmen, "daß sowohl das Nichtseiende in gewisser Hinsicht ist als auch das Seiende wiederum irgendwie nicht ist" (Platon, Sophistes 241d), denn anders scheint ihm das Problem des Scheins, der Trugbilder der Unwahrheit und falscher Vorstellungen, also das Problem der Sophistik nicht lösbar. Das Denken von etwas Falschem kann kein Denken von Seiendem sein, aber auch nicht von schlechthin Nichtseiendem. Also muß es ein Denken von Nichtseiendem sein, das doch irgendwie ist. Das Negative des Falschen ist nicht das schlechthin Nichtseiende, sondern ein Nichtseiendes, das ein Sein hat. Die metaphysische Tradition von Parmenides über Piaton bis zu Hegel faßt das Problem der Negativität noch innerhalb des rationalistischen Bereichs der ontologischen Fundierung von Wahrheit und Unwahrheit, wobei sie mit den Begriffen Sein/Nichtsein, Seiendes/ Nichtseiendes bzw. Positives/ Negatives arbeitet. Das Negative wird hier vom Nichtseienden aus verstanden und hat die Bedeutung von Unwahrem, Falschem, Inkonsistentem. In der Moderne, und zwar wesentlich beginnend mit Schelling und dann in der Existenzphilosophie, tritt das Problem der Negativität aus dem rational-metaphysischen Rahmen heraus. Heidegger sieht das Thema Negativität in dieser rational-metaphysischen Tradition gefangen in der Fassung des Negativen als eines solchen, das nur denkend zum Gegenstand gemacht werden kann. Er möchte das Thema der Negativität dieser Tradition entwinden. Sein Grundgedanke ist: Die Tradition hat die Negativität nicht tief genug durchdacht, nicht bis zum Nichts durchdrungen. Das Heideggersche Nichts kann weder sein, noch ist es Gegenstand des Denkens. Für dieses ist es in keiner Weise gegeben. Insofern gibt er Parmenides recht gegen Piaton. Piaton ist für Heidegger ein Rationalisierer der Negativität. Piaton entschärfe das Problem des Nichtseienden, indem er es ontologisch fundiert, und damit auf Andersheit zurückführt (vgl. Piaton, Sophistes 257b2 - 257c3). Das Nichtseiende muß in seiner ganzen Schärfe als das Nichts gefaßt werden. Dieses ist für Heidegger das radikale Gegenteil des Denkens, nur der Stimmung der Angst gegeben. Das Denken vermag diesem ihm selbst nicht, sondern nur der

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Befindlichkeit der Angst gegebenen Nichts nur nachzuspüren. Kann dieser existenzphilosophische Schritt über den rational-metaphysischen Bereich plausibel gemacht werden, dann ließe sich unser Text auf Kosten des Abschnitts über die Deduktion des Nichts aus dem Wesen der Wissenschaft retten. Die Frage nach dem Nichts, die über den rationalen Diskurs der traditionellen Metaphysik hinausgeht, finden wir zuerst bei Kierkegaard, der vom "tiefe[n] Geheimnis der Unschuld", die das Nichts (entet) sei, das die Angst gebäre, spricht (Kierkegaard (1984), S. 42). An Kierkegaard knüpft Heidegger an, wenn er das Nichts als das nicht dem Denken, sondern nur der Befindlichkeit der Angst Begegnende thematisieren will. Das Nichts ist bei Heidegger die nur über die Befindlichkeit der Angst hereinbrechende Erfahrung, daß wir uns an nichts mehr halten können, was für uns Bedeutung oder Sinn hat. Auch für den Existenzphilosophen Sartre geht die Negativität des Nichts über den rationalistischen Rahmen der traditionellen Metaphysik hinaus. Die Subjektivität des Menschen konstituiert sich ihm zufolge wesentlich als Nichtung des Nichts, die im Sichlosreißen vom Sein besteht, womit Sartre an einen zentralen Gedanken der Spätphilosophie Schellings anknüpft (vgl. Sartre (1962), S. 64). Ein Vorwurf bleibt Heidegger aber nicht erspart: Er fällt gewiß einem Mangel an Problembewußtsein gegenüber dem Thema der Negativität in der Tradition zum Opfer. Darin verlängert er dieses Defizit der gesamten Philosophiegeschichte. Unsere weitere Aufgabe wird es sein, der Realität dessen nachzugehen, was Heidegger unter der Negativität des Nichts versteht. Vorläufig läßt sich dazu festhalten, daß das Nichts Heideggers Titel fur den Erfahrungsgehalt einer ausgezeichneten Form von Negativität darstellt, der sich als Verlust aller Dinge von Bedeutung und Sinn umschreiben läßt. Das Nichts ist also der Inbegriff der Erfahrung des Sinn- und Bedeutungsverlustes von Welt. Mit der scheinbar größten Selbstverständlichkeit, mit der Heidegger den Terminus 'das Nichts' verwendet, behandelt er auch den Begriff des Seins. Sein erscheint heute in der Vierfachheit der Bedeutung von 'Existenz', Wahrheit', 'Identität' und kopulativem 'Ist' - Unterscheidungen, die die Rede von dem Sein als etwas Einheitlichem schwerlich als sinnvoll erscheinen lassen. Die Einheit von Sein scheint uns heute nicht mehr gegeben zu sein. Aber auch bei Heidegger zerbröselt diese Einheit. Das Grundproblem seines Denkens ist die sog. ontologische Differenz von Sein und Seiendem, die für ihn so entscheidend ist, daß das Sein, als das in

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keiner Weise Seiende, als das Nichtseiende, hier über das Nichts zugänglich werden soll. Die Differenz von Sein und Seiendem wird Heidegger zum Gegensatz schlechthin. Im Abschnitt "Die Ausarbeitung der Frage" (WM?, 27ff.) geht es Heidegger um die Realität dessen, was das Nichts heißt. Heideggers Kunstbegriff, der ja ohne Entsprechung in der natürlichen Sprache ist, tritt auf mit dem Anspruch, Realität zu bezeichnen. Hat das Nichts Realität, dann muß es auch erfaßt werden können. Die Ausarbeitung der Frage nach dem Nichts soll uns in die Lage versetzen zu beurteilen, ob eine Beantwortung dieser Frage möglich ist oder nicht. Bevor Heidegger seinen eigenen Ansatz präsentiert, zeigt er die Unmöglichkeit der Frage und Antwort nach dem Nichts unter Voraussetzung der Herrschaft des Verstandes auf. Die Was-Frage des verständigen Denkens und die Antwort auf diese sind gleichermaßen in sich widersprüchlich, weil sie das Nichts zu einem Etwas vergegenständlichen, was es von Hause aus nicht ist. Daraus ergibt sich, daß die Frage nach dem Nichts nicht nur von der Wissenschaft, sondern auch von der Logik zurückgewiesen werden muß. Da alles Denken für Heidegger vergegenständlichendes Denken ist, kann kein anderes Denken, sondern nur etwas anderes als Denken die Unmöglichkeit der Frage nach dem Nichts umgehen. Heidegger versucht die Befreiung des Nichts von der Herrschaft des Verstandes durch einfache 'Umkehrung' der Abhängigkeit des Nichts von der Verneinung und dem Verstand. Der durch nichts begründeten Unterwerfung des Nichts unter die Verneinung durch den Verstand setzt er die ebenso unbegründete Abhängigkeit der Verneinung und des Verstandes vom Nichts entgegen. Damit glaubt er, das Nichts den Fängen der Verstandeslogik entrissen zu haben. Gegen Heideggers Strategie ist festzuhalten: Das "Nichts", das logisch nicht faßbar ist, begegnet uns weder alltäglich noch unternimmt die Logik den Versuch, es zu bestimmen. Die Logik hat das Nichts so wenig definiert wie das Sein. Die Unmöglichkeit der Frage nach dem Nichts hat Heidegger der logischen Denkweise zugesprochen und dementsprechend der Logik das Recht abgesprochen, als Entscheidungsinstanz über die Frage nach dem Nichts zu fungieren. Halten wir an der Frage dennoch fest, so müssen wir auf die Grunderfordernis allen Fragens reflektieren, das in der Vorhandenheit des Befragten besteht. Diese Reflexion führt uns in die Dialektik des Suchens und Findens (vgl. WM?, 29). Während dem gewöhnlichen Suchen immer die Vorwegnahme der

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Vorhandenheit des Gesuchten entspricht, erfordert die Suche nach dem Nichts aufgrund von dessen Ungegenständlichkeit ein reines Finden ohne Vorwegnahme des Gesuchten. Das Nichts findet sich nur in einer 'unverhofften Begegnung", die eine Erfahrung der wirklichen Andersheit des Änderen darstellt, die unsere eingeschliffenen Verstandesperspektiven jäh zerreißt. Aller Logikkritik zum Trotz entnimmt Heidegger den "Fingerzeig" in die Richtung, aus der das Nichts begegnen kann, wieder der logischen Definition des Nichts als "die vollständige Verneinung der Allheit des Seienden" (WM?, 29). Heidegger wiederholt also sein fragwürdiges Verfahren, die Herrschaft der Logik zu bestreiten und sie dennoch aus sich selbst heraus über sich hinausweisen zu lassen. Doch der wiederholte Rückgriff auf die Logik erfolgt unter gewandelten Umständen. Heidegger übernimmt die logische Definition des Nichts nur unvollständig. Sein Anknüpfungspunkt ist die Allheit des Seienden, nicht die für die logische Verneinung maßgebliche Verneinung dieser Allheit. Heidegger geht also den Weg zum Nichts nicht direkt, sondern über die Allheit des Seienden, um in der Thematisierung der Zugangsweisen zum Seienden die Unterscheidung zwischen Erfassen und Sichbefinden zu explizieren, aus der der für die Erfahrung des Nichts wichtige Begriff der Stimmung hervorgeht (vgl. WM?, 30). Der Umweg über die Erfahrung der Allheit des Seienden ist also dadurch motiviert, daß das Seiende immer schon zugegeben ist und auf nicht so fragwürdige Weise wie das Nichts. Der Weg zum Nichts führt uns also zunächst zur Thematisierung der Allheit des Seienden. Heidegger expliziert den Unterschied zwischen Erfassen und Sichbefinden, um darüber den Übergang zu seinem affekttheoretischen Ansatz zu vollziehen. Wie in Schellings negativer Philosophie ist das Erfassen des Ganzen des Seienden im Denken für Heidegger nur approximativ als "Idee" (WM?, 30) möglich, wodurch das Ganze seinen Realitätsgehalt einbüßt und zur Imagination ("das so Eingebildete in Gedanken" (ebd.)) wird. Das hat seinen Grund im vergegenständlichenden Charakter des Denkens. Indem das Denken das Ganze des Seienden vorstellt, stellt es sich dieses als Objekt gegenüber und vergißt, daß es selbst ein Teil des Seienden ist, daß es somit unmöglich das Ganze außerhalb seiner selbst haben kann. Der Erfassung des Ganzen des Seienden im Denken entspricht die Verneinung dieser Allheit nur im Gedanken, aus der sich nur der "formale[n] Begriff des eingebildeten Nichts" (WM?, 30) ergibt. Wir sind also dem "'eigentlichen' Nichts" (ebd.) noch keinen Schritt näher gekommen.

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Wir müssen aus dem Bereich der logischen Kategorialität der Allheit und des Nichts herauskommen. Heidegger kontrastiert dem Erfassen des Ganzen des Seienden im Denken das "Sichbefinden inmitten des Seienden im Ganzen" (WM?, 30). Als Sichbefinden inmitten des Seienden im Ganzen befindet sich das Dasein inmitten des Seienden gestellt, von dem es allseitig und unbegrenzt umgeben ist, statt daß es ihm als äußerlicher Gegenstand gegenübersteht. Mit diesem Terminus rekurriert Heidegger auf den Begriff der Befindlichkeit in Sein und Zeit als einer Grundart der "Erschlossenheit",6 die als Kopräsenz präreflexiven Welt- und Selbstverhältnisses definiert werden kann, dessen Horizont das Ganze des Seienden ist. Als ungegenständliche Ganzheitserfahrung steht die Befindlichkeit im Kontrast zur Subjekt-Objekt-Differenz im Denken. Befindlichkeit hat neben der räumlichen Bedeutung des an einem bestimmten Ort in der Welt Befindens auch die des Sich-so-oder-so-Befindens im Sinne des so oder so gefühlsmäßigen Gestimmtseins. Befindlichkeit wird also durch Stimmungen realisiert. Heideggers These ist nun, das "Sichbefinden inmitten des Seienden im Ganzen" wird in ausgezeichneter Weise durch die Stimmung der tiefen Langeweile realisiert, weil in dieser Stimmung das Ganze des Seienden nicht nur als äußerer Gegenstand wie im Denken noch als "schattenhafl[er]" (WM?, 30) Horizont wie im alltäglichen Leben, sondern als solches gegeben ist. Die Langeweile konfrontiert uns unmittelbar mit dem Ganzen des Seienden. Die Frage ist, wie sie das tun kann.

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Der Terminus "Erschlossenheit" ersetzt bei Heidegger den traditionellen Begriff des Bewußtseins. Erschlossenheit ist gleichsam der offene Spielraum, in dem oder durch den irgendetwas überhaupt begegnen kann, wodurch für den Menschen all das "da" ist, was ihm gegeben werden kann. "Da"-sein ist daher wesentlich Erschlossenheit. Es gibt drei gleichursprüngliche Weisen der Erschlossenheit, Verstehen, Rede und Befindlichkeit, wobei der Befindlichkeit eindeutig der Primat zukommt. Die Gleichurspnlnglichkeit meint zum einen die Nichtableitbarkeit der drei Weisen voneinander, zum anderen ihre grundsätzliche Nichttrennbarkeit (vgl. SuZ §§ 28, 29). Zum stimmungstheoretischen Ansatz von Heideggers Philosophie in seinem frühen Hauptwerk Sein und Zeit vgl. H. Fink-Eitel (1992), S. 27-44 undR. Pocai (Diss. 1993), S. 29-130. Beide Autoren verfolgen das Ziel, im Verfahren einer immanenten Kritik des Befindlichkeitskonzepts von Sein und Zeit wichtige produktive philosophische Potentiale gegen ihre defizitäre Ausführung zur Geltung zu bringen. Das entscheidende Defizit von Sein und Zeit erblicken sie im transzendentalphilosophischen bzw. machttheoretischen Ansatz von Heideggers Hauptwerk, der entscheidende Momente der Erschlossenheit als Befindlichkeit überforme.

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2. Heideggers stimmungstheoretischer Ansatz in Was ist Metaphysik? a) Die Rolle der Affekte in Heideggers befindlichkeitstheoretischem Ansatz Heidegger unterscheidet Affekte als Gefühle von Affekten als Stimmungen. Gefühle sind gerichtete, objektbezogene Affekte, Stimmungen sind nicht objektbezogene, ungerichtete, affektive Gesamtdispositionen. Stimmungen sind schon in Sein und Zeit ein ausgezeichneter, weil primärer Weltentdeckung dienlicher Modus der Erschlossenheit.6 In Was ist Metaphysik? wird das existentialontologische Befindlichkeitskonzept von Sein und Zeit 'metaphysisch' erweitert, indem Heidegger den Stimmungen metaphysische Erschließungskraft zum Seienden im Ganzen zuspricht. Wenn Heidegger den Stimmungen den Zugang zum Strukturganzen des Seins überhaupt zutraut, liegt darin der Anspruch, Ontologie und Metaphysik affekttheoretisch zu begründen.? Heideggers befindlichkeitstheoretischer Ansatz stellt zugleich einen erkenntnistheoretischen Paradigmenwechsel in der metaphysischen Tradition dar: Der Primat des Kognitiven (Idealismus) und der des Voluntativen (Schelling, Marx) wird auf einen affekttheoretischen Monismus hin transzendiert. Stimmungen erschließen ursprünglicher und umfassender als andere intentionale Akte und sollen diese sogar transzendental ermöglichen (vgl. auch SuZ, 134). Philosophiehistorisch benäht der affekttheoretische Paradigmenwechsel auf zwei Voraussetzungen: Erstens die philosophische Erfahrung der Ohnmacht der Vernunft, die vornehmlich in der Spätphilosophie Schellings reflektiert wird. Die innere Ohnmacht der Vernunft manifestiert sich in der Faktizität der Existenz, die zuerst bei Kierkegaard in den Blick kommt. Die Existenzphilosophie, die diesen Bereich thematisiert, hat die Tendenz, im Gefolge von Schopenhauer und Nietzsche das Paradigma der Vernunft als solches zu verabschieden. An diese philosophische Tradition knüpft Heidegger 6

Zum grundsätzlichen Unterschied zwischen Gefühlen und Stimmungen vgl. H. Fink-Eitel (1986), S. 533ff.

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Die bemerkenswerte Untersuchung R. Pocais über Heideggers Philosophie als Befindlichkeitstheorie versucht, den nicht mehr transzendentalphilosophisch verkürzten befindlichkeitstheoretischen Ansatz von Was ist Metaphysik? en détail interpretatorisch aufzuschlüsseln (vgl. R. Pocai (Diss. 1993), S. 132-310). An ihre Einsichten anknüpfend gelange ich gleichwohl zu anderen Konsequenzen.

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an. Die zweite Voraussetzung ist die realgeschichtliche Grunderfahrung der nachhegelschen Moderne: die Erfahrungen der Indifferenz und der Entfremdung der Menschen gegenüber der Welt und sich selbst. Diese Grunderfahrungen melden sich deutlich im existentiellen Fundament von Was ist Metaphysik?·, einerseits in der Indifferenzerfahrung der tiefen Langenweile und andererseits in der Unheimlichkeitserfahrung der Angst als Befremdlichkeit des Seienden im Ganzen. Die Grenze der Reichweite von Heideggers stimmungstheoretischem Ansatz besteht in zweierlei: Erstens ist der transzendentale Begründungszusammenhang, den Heidegger zwischen den Stimmungen und bestimmten kognitiven etc. Akten konstatiert, aufgrund ihrer Unbestimmtheit nicht begründbar. Heidegger hat gewissermaßen "regionalontologische" Reflexionen über die Befindlichkeit als Grundart der Erschlossenheit ungerechtfertigt fundamentalontologisch überhöht. Metaphysik läßt sich also nicht affekttheoretisch begründen. Obgleich Stimmungen keine fundamentalontologische Begründungsfunktion haben können, stellen sie doch die Frage nach dem Ganzen der Erfahrung. Aber eine Antwort auf diese Frage geben sie nicht, weil sie sich nicht auf eindeutig bestimmbare Weise artikulieren lassen. Sie verlangen ihrerseits nach einer ästhetischen Artikulation oder einer philosophischen Interpretation. Auch in dieser Hinsicht wäre der philosophische Vorrang der Stimmungen zu relativieren, wenn man davon ausgeht, daß es eine prinzipielle Überlegenheit der Interpretation über das Interpretandum gibt.8 Der Umstand, daß Heidegger die Erschließungskraft der Stimmungen nicht seinerseits philosophisch reflektiert, führt bei ihm zweitens dazu, daß er unbegründete Positivierungen negativer Stimmungen vornimmt. Es ist nicht zu übersehen, daß Heidegger sich vornehmlich an lastenden, negativen Stimmungen orientiert, diese aber so beschreibt, als wären sie neutral. Er gibt sich keine Rechenschaft darüber, warum es gerade negative Stimmungen sind, die uns das Ganze des Seienden erschließen. Insbesondere reflektiert er nicht auf die realhistorischen Voraussetzungen dieses Umstandes, wodurch er sich jeder Möglichkeit einer kritischen Haltung gegenüber der Erfahrung der Negativität der modernen Welt beraubt. Er 8

R. Pocai (1992) hat über H. Fink-Eitels Überlegungen zu "Befindlichkeit und ästhetische Artikulation" (Fink-Eitel (1992), S. 41) hinausgehend den interessanten Versuch unternommen, der ästhetischen Artikulation von Stimmungen anhand einer Interpretation von Georg Büchners "Lenz" nachzugehen.

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gelangt schließlich zur positivistischen Verkehrung des negativistischen Ansatzes bei der tiefen Langeweile und der Angst und zur Ontologisierung realer Fremdheit und Negativität. Adorno macht Heidegger daher zu Recht den Vorwurf einer Ontologisierung des On tischen' (vgl. ND, S. 125ff.). b) Die Stimmung der Langeweile und die Grundstimmung der Angst So wie Heidegger die objektbezogene Langeweile von etwas von der tiefen Langeweile als 'es ist einem langweilig1 unterscheidet, so differenziert er Furcht als objektbezogenen Affekt von Angst als ungerichtete bzw. unbestimmt gerichtete Stimmung - eine Unterscheidung, die von Kierkegaard in die philosophische Diskussion eingeführt wurde (vgl. Kierkegaard (1984), S. 42). Dabei werden tiefe Langeweile und Angst zunächst einander angeglichen: Beide sind durch absolute Unbestimmtheit und durch Gleichgültigkeit charakterisiert. Doch während der Stimmungscharakter der Langeweile der der absoluten Indifferenz ist, hat die Angst den Stimmungscharakter der "Unheimlichkeit" (WM?, 32f.): die beklemmende Unbestimmtheit einer den Menschen überkommenden Unvertrautheit mit dem Seienden im Ganzen. Der spezifische Unterschied von Angst und tiefer Langeweile läßt sich am unterschiedlichen Charakter der sie beide kennzeichnenden Gleichgültigkeit festmachen. In der tiefen Langeweile haben wir es mit einem 'Zusammenrücken aller Dinge und einem selbst in eine Gleichgültigkeit' zu tun, also gewissermaßen mit einer statischen Gleichgültigkeit, wobei Gleichgültigkeit die Bedeutung von Wertund Sinnlosigkeit hat (vgl. WM?, 31). Die Angst enthält dagegen eine dynamische, dialektische Vergleichgültigung. Angst ist für Heidegger wie fur Kierkegaard eine in sich gegenläufige Bewegung von sympathetischem und antipathetischem Streben (vgl. Kierkegaard (1984), S. 42). Das antipathetische Moment besteht im Wegrücken, Versinken bzw. Entgleiten der Dinge in Gleichgültigkeit, das sympathetische Moment darin, daß sich das Seiende in seinem Wegrücken in Gleichgültigkeit uns als solches zugleich 'zukehrt' (vgl. WM?, 32). Damit kommt hier eine neue Bedeutung von Gleichgültigkeit herein, die der Fremdheit. Wie verhalten sich Wegrücken und Zukehren zueinander? Heideggers These ist offensichtlich folgende: Auf Basis des Fremdwerdens des alltäglich-vertrauten Seienden, erfahren wir dieses in ganz neuer

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Weise. Die Stimmung der Angst löst also eine Entfremdungsbewegung von der uns vertrauten Welt aus, durch die wir allererst ein 'eigentliches Seinsverständnis' gewinnen. Die Angst unterscheidet sich von der tiefen Langeweile also darin, daß sie 1. eine umfassend erfahrene Fremdheit ist, und daO sie 2. eine in sich gegenläufige Bewegung ist, ein dialektisches Wegrücken der Dinge in Gleichgültigkeit, das zugleich ein Zukehren ist. 3. Während in der tiefen Langeweile das intentionale Seinsverständnis zum Stillstand kommt, enthält die Angst den Umschlag in ein neues, tieferes Seinsverständnis, das allerdings kein intentionales ist. Während uns die tiefe Langeweile vor das Seiende im Ganzen stellt, führt uns die Angst vor das Nichts. Hier erhebt sich die Frage, wie sich die Unbestimmtheit und Bestimmungslosigkeit des Seienden im Ganzen von der des reinen Nichts unterscheidet? Wie verhalten sich das in der Angst begegnende Nichts und das sich in der Langeweile offenbarende Seiende im Ganzen zueinander? Offensichtlich ist die tiefe Langeweile eine unbestimmte Totalitätserfahrung und die Angst eine unbestimmte Verlusterfahrung von Totalität. Das Vordas-Seiende-im-Ganzen-Gestelltsein in der tiefen Langeweile kontrastiert mit dem Entgleiten des Seienden im Ganzen in der Angst. In der tiefen Langeweile werden wir vom Seienden im Ganzen erdrückt (Überdrußerfahrung), in der Angst erfahren wir, daß wir uns an "nichts" mehr halten können (Unsicherheitserfahrung). Tiefe Langeweile und Angst verhalten sich geradezu in entgegengesetzter Weise zueinander. In der tiefen Langeweile 'umdrängt' uns das "Ganze" des Seienden, in der Angst "Nichts". Das Entgleiten des Seienden im Ganzen in der Angst, das uns das Nichts offenbart, läßt uns "mitentgleiten" und versetzt uns in den Zustand des "Schwebens" (WM?, 32), in dem sich die Verwandlung des "seienden Menschen" in "das reine Da-sein" (ebd.) vollzieht. Angst ist die Erfahrung absoluter Bodenlosigkeit. Für das Schweben steht später der Begriff der Transzendenz" (WM?, 35). In der Angst wird das menschliche Dasein auf sich selbst in seinem nackten Dasein zurückgeworfen, ein Vorgang, den Heidegger in Sein und Zeit als "Vereinzelung" (SuZ, 188) beschreibt. Die Angst versetzt uns zudem in ein "Schweigen" (vgl. WM?, 32f.). Wie läßt sich dieses Angstschweigen interpretieren? Die Angst verschließt uns zum einen vor der Sprachlichkeit des 'Ist'-Sagens. Das würde bedeuten, daß sich eine der wichtigsten Bedeutungen von Sein dem Gestimmtsein entzieht: die kopulative, sprachliche. Die Sprachlosigkeit der Angst ist Heidegger zufolge offensichtlich zugleich als

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Möglichkeitsbedingung gelingender Rede zu fassen, wie Heidegger am Ende des Nachworts andeutet (vgl. WM?, 52). Mit der Abweisung der Sprache in der eigentlichen Existenzweise der Angst ist auch Intersubjektivität aus der Eigentlichkeit ausgeschlossen. Wir haben somit drei Aspekte des Angstbegriffs in Was ist Metaphysik! vor uns: 1. Das "Versinken", "Entgleiten" bzw. "Wegrücken" des Seienden im Ganzen in die "Gleichgültigkeit" (WM?, 32), 2. das im Fremd werden erfahrene Zukehren dieses Seienden im Ganzen als eines solchen und 3. der Zustand des Schwebens, in dem sich die Verwandlung des seienden Menschen in das nackte, reine Da-sein vollzieht. Während Punkt 1 u. 2 auf den Überstieg über das nicht daseinsmäßige Seiende verweisen, betont Punkt 3 den Überstieg über das spezifisch daseinsmäßige Seiende. Zum Schluß der Analyse des Angstbegriffs in Was ist Metaphysik? stellt sich die Frage: Wie verhält sich die Angstanalyse von Sein und Zeit zu der in Was ist Metaphysik? Von den drei Angsttypen von Sein und Zeit - Weltangst, Daseinsangst und Freiheitsangst - kommen in Was ist Metaphysik? alle drei vor, aber so, daß deutlich eine Priorität der Weltangst zu verzeichnen ist. 9 Insbesondere gibt Heidegger in Was ist Metaphysik? die fragwürdige Identifikation der drei Angsttypen in Sein und Zeit auf, die er vorgenommen hat, um das komplexe Angstphänomen - mit Kierkegaard - auf selbstbezügliche Freiheitsangst reduzieren zu können. In Sein und Zeit verfehlt Heidegger das Phänomen der ohnmächtigen Angst, weil er das Angstphänomen noch von einem Subjekt- bzw. transzendentalphilosophischen Ansatz aus angeht. Latent ist dieser Umschlag von der Freiheits- zur Weltangst bereits in Sein und Zeit angelegt. Heidegger bringt hier nämlich die Unheimlichkeitserfahrung der Angst auf den dem transzendentalen Weltbegriff gegenläufigen und insofern in die transzendentale Konzeption von Sein und Zeit nicht mehr zu integrierenden Begriff des "Un-zuhause" (SuZ, 189). Daß Heidegger diesen Mangel beheben wollte, ist daraus zu ersehen, daß die Angstanalyse von Was ist Metaphysik? beginnt, womit sie in Sein und Zeit endet, mit der Unheimlichkeitserfahrung. io 9

Zur Differenzierung der Angst in Sein und Zeit in Welt-, Daseins- und Freiheitsangst vgl. H. Fink-Eitel (1993), S. 81f. und R. Pocai (Diss. 1993), S. 103ff. 10 Die Schwachstelle der Angstanalyse von Sein und Zeit arbeitet R. Pocai als "Widerstreit von Selbstmächtigkeit und Unvertrautheit" (R. Pocai (Diss. 1993), S. 103) heraus, in der sich die "interne Zerissenheit der Heideggerschen Befindlichkeitstheorie" (ebd., S. 126) in Sein und Zeit widerspiegele. Pocai mar-

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Auch der Begriff des Nichts wird in Sein und Zeit vorbereitet. Die Unbestimmtheit des Wovor der Angst wird in Sein und Zeit als Ausdruck der Unbedeutsamkeit des innerweltlich Seienden interpretiert und mit dem Ausdruck "Nichts von Zuhandenem" (SuZ, 187) belegt, das jedoch noch "kein totales Nichts" (ebd.) ist, vielmehr gemäß der transzendentalen Konzeption "im ursprünglichsten 'Etwas' in der Welt" (ebd.), im Dasein gründet. Das Nichts von Was ist Metaphysik? ist das totalisierte 'Nichts der Welt' von Sein und Zeit. Tritt das nunmehr zum 'totalen' gewordene Nichts in Was ist Metaphysik? als Subjekt der Angsterfahrung auf, so läßt sich daran die Uberwindung der Philosophie der Subjektivität von Sein und Zeit ablesen.

c) Nichts, Transzendenz und Endlichkeit 1. Welchen Status und Funktion hat nun das geheimnisvolle Nichts in Heideggers befindlichkeitstheoretischem Ansatz? Heidegger sagt, das Nichts begegnet in der Angst "in eins mit" (WM?, 33) dem entgleitenden Seienden im Ganzen. Was versteht Heidegger unter der Wendung "in eins mit"? Das Nichts begegnet so in eins mit dem entgleitenden Seienden im Ganzen, daß es weder als Seiendes noch als Gegenstand noch als abgeleitetes Resultat dieses Prozesses, sondern in seiner Bestimmung als Entgleitenlassendes, als das (heimliche) Subjekt dieses Prozesses in seiner ursprünglichen Aktivität der "Nichtung" (WM?, 34) zum Vorschein kommt, die im Unterschied zur Verneinung und Vernichtung als "abweisende Verweisung auf das entgleitende Seiende im Ganzen" (ebd.) definiert ist. Das substantivierte Nichts ist der Titel für das negierte metaphysische Absolute, das Sicherheiten stiftete und auf das das Seiende im Ganzen in der traditionellen Metaphysik zurückging. Das Nichts tritt an die Stelle des traditionellen Absoluten. Es ist das Vakuum, die Leerstelle, das das Schwinden des Absoluten hinterlassen hat. Ist das Absolute das Sicherheit stiftende Subjekt, so das Nichts das Unsicherheit stiftende Entfallensein dieses Subjekts. Das Residuum des Zerfalls des traditionellen Absoluten ist das Nichts in seiner Unsicherheit stiftenden substratlosen nichtenden Aktivität als quasi kiert auch im Ubergang zu Was ist Metaphysik? den Umschlag in den Vorrang des Weltbezugs vor dem transzendentalen Selbstbezug des Daseins. (Vgl. ebd., S. 142ff.) Allerdings versäumt er den Preis von Heideggers Preisgabe des transzendentalphilosophischen Ansatzes in Was ist Metaphysik?, die schließlich zum totalitären Seinsdenken führt, kritisch zu diskutieren.

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Subjekt. In seiner Funktion als Nachfolgebestimmung des traditionellen Absoluten liegt m.E. die Legitimation der affirmativen Verwendung des sustan ti vierten Nichts-Begriffs bei Heidegger begründet. Das nichtende Nichts wird von Heidegger als Medium und Agens der in der Angst erfahrenen Entfremdungsbewegung des uns vertrauten Seienden im Ganzen interpretiert, durch die wir allererst ein 'eigentliches Seinsverständnis' gewinnen, das dadurch ausgezeichnet ist, daß es uns das Seiende in seiner puren Faktizität - daß es ist - erschließt. Die Normalform des Seinsverständnisses ist stets nur am Was des Seienden orientiert. Das Nichts läßt das Seiende dagegen in einer augezeichneten Weise offenbar werden. Normalerweise ist das Seiende in den Schleier der Selbstverständlichkeit des Was gehüllt. Erst wenn dieser Schleier fällt, zeigt sich das Seiende als Seiendes, in seiner Seiendheit, d.i. Daßheit. Hier zeigt sich wieder Heideggers erstaunliche Affinität mit Schellings Spätphilosophie. Schelling unterscheidet ja in seiner Spätphilosophie zwei Erkenntnisarten: Die, die auf das "Was" des Seienden, und die, die auf das "Daß" des Seienden geht. Die Vernunft erkennt am Wirklichen nur das "Was", hat dasselbe nur im Begriff; nicht aber erkennt sie die Wirklichkeit des Wirklichen, d.h. daß Seiendes ist. Die Faktizität des Seienden kann nicht durch Vernunft ermittelt werden, sondern nur durch eine Erfahrung, die eine Ekstasis der Vernunft voraussetzt. Heideggers Angstbegriff ist der existenzphilosophische Nachfolgebegriff von Schellings Ekstasis der Vernunft. Die entscheidende Differenz zwischen Schelling und Heidegger besteht darin, daß für Schelling das unvordenkliche Wirkliche identisch mit dem Absoluten ist, während es für Heidegger in einem radikalen Sinne Endliches und Kontingentes ist. 2. Die Offenbarung des Nichts in der Angst begründet die "Transzendenz" (WM?, 35), das Hinaussein über das Seiende im Ganzen, als wesentliche Bestimmung des Daseins, die Heidegger als "Hinausgehaltenheit in das Nichts" (ebd.) definiert. Der Transzendenzbegriff ist eigentümlich ambivalent bestimmt. Neben der passiven Hineingehaltenheit des Daseins in das Nichts findet sich das aktive Sichhineinhalten des Daseins in das Nichts. Die passive Transzendenz dokumentiert die basale Ohnmacht des Daseins in Was ist Metaphysik? Dieser steht unvermittelt die Selbstmächtigkeit des Daseins gegenüber dem Nichts gegenüber. Wie läßt sich diese ambivalente Bestimmung der Transzendenz interpretieren?

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Von der Warte der Theorie des Nichts, das die eigentliche aktive Rolle spielt, läßt sich die These aufstellen, daß die passive Transzendenz, die in ausgezeichneter Weise allein in der unverfügbaren Angsterfahrung eintritt, Ermöglichung und Voraussetzung aller aktiven Transzendenz ist. Unter aktiver Transzendenz versteht Heidegger die uneigentlichen Existenzweisen. Beispiel für uneigentliche Existenzweisen sind die logische Verneinung, d.h. die Wissenschaft, die "Härte des Entgegenhandelns", die "Schärfe des Verabscheuens", die "Herbe des Entbehrens" etc., also die verschiedenen Formen des "nichtenden Verhalten[s]" (WM?, 37). Heideggers These in Was ist Metaphysik? ist, daß die aktive Transzendenz die passive nur in uneigentlichen Existenzweisen realisieren kann, und zwar so, daß das aktive Verhalten hoffnungslos hinter der passiven Transzendenz als unverfügbarem Geschehen der "Hineingehaltenheit in das Nichts" (WM?, 35) zurückbleibt. Sie bringen sie zwar zum Ausdruck, machen sie aber nicht thematisch. Die eigentliche Existenzweise realisiert sich also nur in der passiven Transzendenz der Angst. Die basale passive Transzendenz in Was ist Metaphysik? markiert die entscheidende Differenz zu Sein und Zeit, das nur die aktive Transzendenz kennt. In ihr liegt eine Zurücknahme des transzendental- und subjektphilosophischen Ansatzes von Sein und Zeit, der Einsatz zur Überwindung der Philosophie der Subjektivität. Heidegger faßt seine Ausführungen über das Wesen des Nichts dahingehend zusammen, daß ohne das Nichts und die durch es vermittelte Transzendenz kein Seins- und Selbstverhältnis und daher keine "Freiheit" (WM?, 35) existieren würde, wobei Freiheit sowohl die negative Bedeutung des Sichloslösens von Seiendem als auch die positive des Zugehens und Eingehens auf Seiendes hat. Ist die Freiheit aber in der passiven Transzendenz der Hinausgehaltenheit ins Nichts fundiert, so steht sie selbst nicht in der Verfügbarkeit und Macht des Daseins. 3. Aus Heideggers Theorie des absoluten Nichts erwächst eine ganz radikale Endlichkeitstheorie. Endlichkeit ist die ontologische Grundbestimmung von Was ist Metaphysik?, und zwar bestimmt Heidegger sowohl das Sein des Seienden überhaupt als auch das Dasein als "endlich" (WM?, 38). Endlichkeit hat die primären Bedeutungen von Geworfenheit, Zufälligkeit, Kontingenz und Vergänglichkeit von Welt und Selbst. Diese Bedeutungen manifestieren sich in der Ohnmacht des Daseins. Die spezifische Endlichkeit des Menschen, die Heidegger aus der passiven Transzendenz der "Hineingehaltenheit des Daseins in das

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Nichts" (WM?, 38) herleitet, hat wesentlich die Bedeutung von Ohnmacht, der eine Macht korrespondiert: 1. Zum einen wird die Ohnmacht der Transzendenz herausgestellt und ihre Abkünftigkeit behauptet: der Mensch kann sich nicht durch eigenen Beschluß und Willen vor das Nichts bringen. 2. Die Ohnmacht der passiven Transzendenz gründet in einem Geschehen von "Verendlichung", die uns unverfügbar ist. Die Ohnmacht der Transzendenz, das Sich-Versagen der eigensten und tiefsten Endlichkeit für die menschliche Freiheit basiert auf der Macht der "Verendlichung", die "abgründig" in unserem Dasein "gräbt" (WM?, 38), und zurückzuführen ist auf das absolute Nichts. Heideggers Konzept in Was ist Metaphysik? ist das einer totalisierten Endlichkeit, das einer Absolutsetzung der Endlichkeit des Seienden im Ganzen und des Daseins. Er praktiziert damit einen metaphysischen Kult des Endlichen, das er in seiner ganzen Freiheit vergottet und vor dem er sich bescheiden verneigt.11

3. Die metaphysikkritische Funktion der Frage nach dem Nichts Im 3. Teil seiner Vorlesung expliziert Heidegger die metaphysischen Implikationen der Frage nach dem Nichts. Wie hängt die Frage nach dem Nichts mit der Metaphysik zusammen und was versteht Heidegger unter dem Titel "Metaphysik" überhaupt? Heidegger leitet den Metaphysikbegriff aus der griechischen tà metà tà physiká ab (vgl. WM?, 38). Ursprünglich Titel für die Bücher des Aristoteles, die der Physik nachfolgen, wird er für Heideggger Titel für alle Philosophie, die über das Seiende als solches hinausgeht. Heideggers These ist, daß die Frage nach dem Nichts uns in ausgezeichneter Weise Einblick in das gibt, was die Metaphysik der Sache nach tut. Die Verknüpfung der Frage nach dem Wesen der Metaphysik mit der metaphysischen Frage nach dem Nichts zielt ab auf eine Neubegründung der Metaphysik, die eine Infragestellung des Ganzen der traditionellen Metaphysik impliziert. 11

Als Theorie totalisierter Endlichkeit liest auch R. Pocai Heideggers Vorlesung (vgl. R. Pocai (Diss. 1993), S. 181fF.), allerdings gewinnt er ihr mehr positive Seiten ab als der Verfasser es tut, insbesondere die idealismuskritische, gegen Hegels angebliche Eliminierung des Endlichen gerichtete Stoßrichtung. Er versteht sie als Gegenentwurf zur Hegeischen Aufhebung von Endlichkeit in Unendlichkeit (ebd., S. 206ff.). Zwar sieht er die Grenze der Reichweite von Heideggers Befindlichkeitskonzept, ohne allerdings den Grund dieses Defizits in der prinzipiellen Inkonsistenz einer absolut gesetzten Endlichkeit zu erkennen. Vgl. zur Inkonsistenz weiter unten S. 352 Anm. 12 dieser Arbeit.

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Heidegger gibt dann eine kritische Darstellung des Ganzen der traditionellen Metaphysik. Heideggers Erörterung der Art und Weise, wie in der philosophischen Tradition das Nichts und das Sein gedacht wurden, ist verbunden mit der These, daß erst mit der Problematisierung des Nichts als solches auch "die eigentlich metaphysische Fragestellung nach dem Sein des Seienden" (WM?, 39) erwacht. Heidegger faßt seine Ausführungen zur traditionellen Metaphysik dahingehend zusammen, daß diese das Nichts als bloßen "Gegenbegriff' zum "eigentlichen Seienden, d.h. als dessen Verneinung" (WM?, 39) begreift. Indem das Sein des Seienden noch vom Seienden verhüllt ist, tritt dieses als Unhintergehbares und Unhinterfragbares auf. Heideggers neues Verständnis des Nichts als "Problem" zeigt dieses nicht als "unbestimmtes Gegenüber" (WM?, 40) zum Seienden, sondern dem Sein des Seienden "zugehörig" (ebd.). Unter Berufung auf Hegel wird diese Zugehörigkeit von Sein und Nichts als Identität ausgelegt. Hegel hat zwar diese Identität ausgesprochen, sie aber nur in der Unbestimmtheit und Unmittelbarkeit des Denkens erblickt. In Abgrenzung zu Hegel bestimmt Heidegger die Identität von Sein und Nichts dahingehend, daß das Sein endlichen Wesens, das Nichts die Macht der Verendlichung ist. Das Nichts ist zwar verendlichenden Wesens, aber nicht selbst endlich. Es ist das, in dessen Horizont sich das Sein in seinem endlichen Wesen offenbart. Die Endlichkeit des Seienden und die des Daseins sind im Nichts fundiert. Unter den Bedingungen der Infragestellung der traditionellen Metaphysik gibt Heidegger der alten Formel: ex nihilo nihil fit einen neuen Sinn, den er auch in einer eigenen Formel zusammenfaßt: "ex nihilo omne ens qua ens fit" (WM?, 40), und die seine Hauptthese vom Begründungsverhältnis zwischen dem Nichts und der Endlichkeit des Seienden zum Ausdruck bringt. "Im Nichts des Daseins kommt erst das Seiende im Ganzen seiner eigensten Möglichkeit nach, d.h. in endlicher Weise [!], zu sich selbst'TWM?, 40). Mit dem Zerfall des Absoluten in das Nichts wird das Endliche absolut gesetzt. Heidegger schreibt mit der Fundierung der Endlichkeit im Nichts die Endlichkeit im Gegensatz zu Hegel als Wahrheitskategorie schlechthin fest. Er macht damit die idealistische Aufhebung des Endlichen in die Absolutheit des Geistes nicht mit. Die metaphysische Frage nach dem Nichts gipfelt Heidegger zufolge in der "Grundfrage der Metaphysik" "Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?" (WM?, 42) Die Philosophie steht seit jeher vor zwei schwierigen Aufgaben. Einerseits muß sie zu ver-

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stehen suchen, warum die Welt so ist, wie sie ist. Es muß also gezeigt werden, wie und aufgrund welcher Prinzipien die Welt annähernd so ausfallen mußte. Davon zu unterscheiden ist die zweite, schwierigere Aufgabe, warum es überhaupt eine Welt gibt. Beide Aufgaben gehören für Leibniz zum Theodizeeproblem und sind von Schelling in extenso erörtert worden. Auch Heidegger nimmt mit der Grundfrage der Metaphysik die zweite Aufgabe der Philosophie auf. Tatsächlich ist sie noch grundsätzlicher als die erste. Die Grundfrage der Metaphysik wurde in der traditionellen Metaphysik so beantwortet, daß sie das Seiende zurück auf ein höchstes Seiendes als Grund alles Seienden führte. Indem Heidegger die Grundfrage der Metaphysik aus der Frage nach dem Nichts gewinnt, also das "und nicht vielmehr Nichts" in der Frage einen ausgezeichneten theoretischen Stellenwert einnimmt, schneidet er den Weg zu einem höchsten, nicht in Frage zu stellenden Seienden ab. Die metaphysische Frage nach dem Nichts stellt alles Seiende - auch das Absolute - in Frage. Sie impliziert einen radikalen metaphysischen Skeptizismus. Heidegger betreibt eine Metaphysik ohne Absolutes, eine Metaphysik der metaphysischen Obdachlosigkeit. Es gibt keinen tragenden Grund mehr für das Seiende. Dieses ist vielmehr vor das Nichts gestellt. Das fundierende Absolute der traditionellen Metaphysik ist verschwunden; es hat sich aufgelöst in das Nichts, an dem das Seiende im Ganzen und das Dasein als absolut kontingentes und endliches erfahrbar wird. Alle traditionellen Sicherheiten sind entfallen. Heideggers Konzept eines metaphysischen Nihilismus ist gleichsam eine radikalisierende Überschreitung und Überbietung aller bisherigen Metaphysik. Mit der Auflösung des Absoluten in das Nichts ist die traditionelle Metaphysik an ihr Ende gekommen. Das Ende der traditionellen Metaphysik ist "Nihilismus". Aus ihm entsteht jedoch ein quasi neues Absolutes, ein quasi neuer Gott, und zwar in Gestalt des reinen, von allem Seienden unterschiedenen Seins, und damit eine neue Art von Ontologie, das sog. Seinsdenken. Mit dem Wegfall eines gründenden Absoluten ist die metaphysische Warum-Frage nicht mehr auf klassische Weise beantwortbar. Die Grundfrage der Metaphysik bekommt dann die einzige Antwort, die diese Frage überhaupt noch bekommen kann: Auf 'Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?" folgt nicht mehr wie noch bei Schelling: "Weil das Absolute sich dazu entschlossen hat', sondern 'Weil es ist'. Das Seiende hat keinen Grund, es ist auf Nichts gestellt. Heidegger will diese Antwort nicht als Tautologie verstanden wissen, sondern als wirkliche Antwort, und zwar deshalb, weil

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ihm das 'ist' nicht einfach als Existenzaussage gilt, sondern sich in ihr die hinter dem faktisch-zufallig Seienden steckende Qualität 'Sein' verbergen soll. Damit ist ausgesprochen, daß das Seiende in all seiner Kontingenz, Zufälligkeit und Endlichkeit eine höhere Notwendigkeit hat. Es ist das Sein, welches das Seiende als seine Manifestation hervorbringt und im Sein hält. Der Sinn der Aussage 'das Wesen des Seienden ist das Sein' besteht eben darin, daß man die endliche Wirklichkeit als solche, als ein höheres vom Denken und Wollen nicht erreichbares notwendiges Wesen anzusehen habe. Das Seiende ist, weil das reine Sein in ihm 'west'. - Heideggers metaphysischer Nihilismus schlägt um in positivistische Seinslehre. Die Umkehr von der "Hineingehaltenheit in das Nichts" zur "Übereignung an das Sein" geschieht eux dem Punkt der Überwindung der traditionellen Metaphysik, da, wo die Philosophie der Subjektivität, die im Idealismus immer auch eine Philosophie des Absoluten war, überwunden ist.

4. Die Aporie von Heideggers existenzphilosophischer Begründung der Philosophie Heideggers Position einer Metaphysik der absolut gesetzten Endlichkeit ist unhaltbar, denn der Satz 'alles ist vergänglich' ist dialektisch inkonsistent; ist alles vergänglich, so auch der Satz, daß alles vergänglich ist; er bestreitet sich selbst und gibt somit dem Unendlichen wieder Raum. 12 Der Absolutsetzung der Endlichkeit in Was ist MetaphysikÌ korrespondiert in Sein und Zeit eine ontologische Ausweitung der Begriffe von Zeitlichkeit sowie von Geschichtlichkeit, die Heidegger auf die Zeitlichkeit zurückführt. Heidegger gelingt damit zwar eine tiefere philosophische Begründung von Diltheys Historismus. Aber auch die Ausweitung von Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit fuhrt zu einer dialektischen Inkonsistenz: Es ist unmöglich, jede Erkenntnis für geschichtlich zu halten, ohne daß sich damit auch diese Erkenntnis als geschichtlich und damit als im Prinzip schon überholt erweist. Das Fehlen eines verbindlichen Wahrheitsbegriffs ist Kennzeichen für den Historismus und für Heideggers Philosophie. Heideggers Frage nach dem Nichts, die die eigentlich metaphysische Frage nach dem Sein als solchem erst wirklich stellt, stellt mit 12

Vgl. Hegels Kritik an der VerstandesaufTassung der Endlichkeit in der Daseinslogik (Hegels Werke 5,139ff.).

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der traditionellen Metaphysik vor allem die Herrschaft der Logik in der traditionellen Metaphysik in Frage, weil sie zugleich das Problem des Ursprungs der logischen Verneinung aus dem Nichts angeht, wodurch die Logik ihre Begründungsfunktion in der Metaphysik verliert. In der ersten Auflage fügt Heidegger hinzu, daß damit die Logik als "Ursprung der Kategorien" in Frage gestellt wird. Die Neubegründung der Metaphysik über die Frage nach dem Nichts impliziert die Erschütterung der ontologischen und logischen Grundfesten der traditionellen Metaphysik. Heidegger kritisiert den inneren Zusammenhang zwischen traditioneller Metaphysik und Logik und setzt den Kampf gegen den metaphysischen Intellektualismus als Infragestellung des durch Wissenschaft bestimmten Daseins fort. Die intellektualistischen Strukturmerkmale der traditionellen Metaphysik haben sich nämlich auf die modernen Wissenschaften übertragen. Der durch das Nichts eröffnete positiv-metaphysische Zugang zum Seienden, der sich in der (neu begründeten) Metaphysik ergibt, scheint für Heidegger Grundlage und Ermöglichung für den begrifflichen Zugang zum Seienden zu sein, wie er in der Wissenschaft existiert: "Nur weil das Nichts offenbar ist, kann die Wissenschaft das Seiende selbst zum Gegenstand der Untersuchung machen" (WM?, 41). Heideggers Kritik richtet sich gegen die szientifische Verkürzung der Wissenschaften und auf eine metaphysische Prinzipiierung der Wissenschaft. "Nur wenn die Wissenschaft aus der Metaphysik existiert" (ebd.), könne sie mehr sein als eine positivistische Ansammlung und Ordnung von Kenntnissen, nämlich die auf dem Boden des existentiellen Seinsverständnisses sich vollziehende "Erschließung des ganzen Raumes der Wahrheit von Natur und Geschichte" (ebd.). Dieses an das Konzept der idealistischen Philosophie von der Prinzipiierung der Wissenschaften der Natur und des Geistes erinnernde Programm Heideggers läßt sich wohl kaum von einer in der Transzendenz des (endlichen) Daseins fundierten Metaphysik der absolut gesetzten Endlichkeit in Angriff nehmen. Heideggers ontologische Ausweitung der Endlichkeit - in Sein und Zeit von Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit - wird kaum dem Sein der Naturgesetze und damit den Naturwissenschaften, aber ebensowenig Normen und Werten gerecht, die in ihrem Grundbestand unter keinen Umständen als endlich und zeitlich zu interpretieren sind. Naturwissenschaft und Ethik hat Heidegger konsequenterweise im wesentlichen ignoriert. Aber auch theologische Fragestellungen sind Heideggers Denken verschlossen.

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Heideggers existenzphilosophische Begründung der Metaphysik unterscheidet sich erheblich von der idealistischen Begründung, die die Metaphysik im Denken und der Vernunft fundiert, wodurch die Seinsfrage a priori durch die Vernunft entfaltet und geklärt wird. Während der Idealismus einen apriorischen Zugang zur Seinsfrage vorzieht, entscheidet sich Heidegger für einen gleichsam induktiven Weg im Ausgang vom endlichen Dasein. Die Frage nach dem Nichts und die nach dem Sein als solchem konnte Heidegger zufolge nicht auf dem Weg des logischen Denkens entfaltet werden. Logisches Denken ist geradezu als Hindernis für die Entfaltung der metaphysischen Frage nach dem Nichts zu betrachten. Metaphysik gründet nach Heidegger in der transzendentalen Verfassung des Daseins, seiner Hinausgehaltenheit in das Nichts, die in ausgezeichneter Weise in der Stimmung der Angst erfahren und realisiert wird. Dem anthropologisch begründeten Ansatz der Metaphysik ist freilich der Vorwurf zu machen, daß der Ausgang vom Dasein kein adäquater Weg ist, die Seinsfrage zu beantworten. Die Bestimmungen des Daseins - (zudem in einseitiger Verendlichung fixiert) und die Erscheinungsweise alles Seienden für das Dasein als Endliches, also Bestimmungen einer in sich schon fragwürdigen Regionalontologie werden unbegründet mit fundamentalontologischen Ansprüchen belastet. - Am Ende gesteht Heidegger ein, daß Metaphysik in seinem Sinne in einen Abgrund führt, aus dem sich ihre Zweideutigkeit zwischen "Wahrheit" und "tiefste[m] Irrtum" (WM?, 41) ergibt. Hatten Hegel und Schelling noch Philosophie und Metaphysik als Wissenschaft begründen wollen, so rückt Heidegger die Metaphysik völlig weg von der "Idee der Wissenschaft" (ebd.). Zwischen der Vorlesung und dem Nachwort liegen gut 13 Jahre, in denen Heidegger seinen philosophischen Ansatz verändert hat. Heidegger vollzieht den Weg zu seinem philosophischen Neuansatz in den Jahren von 1930-1949. Die 1929 gehaltene Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? ist noch ganz von Sein und Zeit beeinflußt. Mit der Veröffentlichung von Vom Wesen der Wahrheit 1930 beginnt der Neuansatz von Heideggers Denken, das Denken der sog. "Kehre", die die sog. "Wahrheit des Seins" zum Ziel hat. Der Titel "Wahrheit des Seins" ist der Leitbegriff für Heideggers Seinsphilosophie, die über die traditionelle Metaphysik hinaus sein will. 1947 erscheint der Humanismusbrief mit Selbstkommentierung, 1947 die Einleitung zu Was ist Metaphysik? ebenfalls mit Selbstkommentierung. Dazwischen liegen die Vorlesungen über Nietzsche, über die Metaphysik,

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das Nachwort zu Was ist Metaphysik? und die Hölderlininterpretationen. Das Nachwort und die Einleitung der Vorlesung Was ist Metaphysik? sind deshalb von ausgezeichneter Bedeutung, weil hier der Gedankengang der Vorlesung, der noch im Horizont des Ansatzes von Sein und Zeit steht, aber zugleich über ihn hinausführt, von der gewandelten Fragestellung des seinsphilosophischen Neuansatzes aus erneut beleuchtet und das dort Dargestellte in den gewandelten Ansatz hineingetragen wird. Während das Nachwort auf Basis des Neuansatzes diesen Übergang vollzieht, bemüht sich die Einleitung um die Explikation des Neuansatzes. III. Die Aporien von Heideggers seinsphilosophischem Neuansatz im Nachwort zur Vorlesung Was ist Metaphysik? Heidegger vollzieht im Nachwort einen seinsphilosophischen Neuansatz seiner Metaphysikreflexion. Die Frage "Was ist Metaphysik?" wird nicht mehr über die Frage nach dem Nichts und im Ausang vom Dasein, sondern als "Überwindung der Metaphysik" und im Rückgang zur nicht mehr metaphysisch zu denkenden Dimension der "Wahrheit des Seins"13 thematisiert. Es handelt sich also von nun an um eine seinsphilosophische Interpretation der Geschichte der Metaphysik. Heidegger unterscheidet im Nachwort drei Dimensionen: Die neuzeitliche Wissenschaft, die durch den "Willen zum Willen" (WM?, 43) und damit durch die losgelassene, nur auf sich gestellte Subjektivität des Selbstbehauptungswillens bestimmt ist, macht alles Seiende durchgängig zum Gegenstand der Verfügbarkeit und bleibt so beim Seienden stehen. Sie impliziert zwar ein "Wissen vom Sein" (WM?, 44), thematisiert dieses aber nicht. Die Metaphysik dagegen denkt das Sein des Seienden, nicht aber das Sein selbst und seine Struktur, und zwar deswegen nicht, weil sie das Sein nur vom Seienden aus denkt. Erst die Seinsphilosophie bedenkt die "Wahrheit des Seins" (WM?, 44) und versteht diese als den unverfiigbaren Grund und An13 Der Begriff "Wahrheit des Seins" ist als Grundbegriff von Heideggers Seinsphilosophie zu verstehen. E. Tugendhat weist die Problematik und Pragwürdigkeit von Heideggers Wahrheitsbegriff an seinem in Sein und Zeit (§ 44) entwickelten apophantischen Wahrheitsbegriff auf. Seine These ist, daß Heidegger "dadurch, daß er das Wort Wahrheit zu einem Grundbegriff- macht, das Wahrheitsproblem gerade übergeht" (E. Tugendhat (1969), S. 296; vgl. ders., (1967)).

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fang der Metaphysik, der von dieser von Anfang an systematisch verstellt worden ist. Der Seinsphilosophie Heideggers geht es um eine Wiedergewinnung des Bezugs zu diesem unverfügbaren Grunde der Metaphysik und damit um einen 'anderen Anfang" der Philosophie insgesamt. 14 Der fur die Heideggersche Spätphilosophie grundlegende Gegensatz ist: das beim Seienden ansetzende Verfügen einerseits und andererseits das Sein als unverfügbares Geschehen, an dem alles menschliche Denken und Trachten festzumachen ist. Der Verfügung über Seiendes steht die Unverfügbarkeit des Seins gegenüber. Heidegger geht es um eine Kritik der Überschätzung der menschlichen Möglichkeiten des Denkens, Handelns und Machens, die in sich die Gefahren birgt, die die Moderne kennzeichnen. Diese Gefahren will Heidegger in der traditionellen Metaphysik, der neuzeitlichen Wissenschaft und der Technik aufspüren; sie haben ihre Ursache in der Verkennung des die europäische Geschichte tragenden, aber unverfügbaren Grundes. Das Nachwort läßt sich anhand der Diskussion der drei Einwände gegen die Vorlesung in drei Sequenzen gliedern: 1. Reinterpretation des Nichts, 2. Reinterpretation der Angst und 3. Reinterpretation der Wissenschafts- und Logikkritik der Vorlesung in den neuen seinsphilosophischen Ansatz. Zunächst überführt das Nachwort das in das Nichts hinausgehaltene Dasein in die "Wahrheit des Seins". Während die Vorlesung vom Geschehen des Daseins aus denkt, denkt das Nachwort von der "Wahrheit des Seins" aus, versucht aber zu zeigen, daß das "Sein" durch das Nichts hindurch vom Dasein aus "erfahren" (WM?, 46) wird. Aus dem Nichts der Vorlesung, dem Zerfallsprodukt des (seienden) Absoluten der traditionellen Metaphysik, läßt Heidegger ein quasi neues Absolutes, einen quasi neuen Gott in Gestalt des reinen, von allem Seienden unterschiedenen Seins entstehen. Heideggers These ist: Das Nichts der Vorlesung ist notwendiger Durchgangspunkt auf dem Weg zum Sein, und zwar deshalb, weil dieses als das schlechthin Andere zu allem Seienden ein Nichtseiendes ist. Das Nichts ist der Punkt, worin sich Seiendes und Sein unterscheiden. Es ist der Träger* der ontologischen Differenz zwischen Sein und Seiendem. Heideggers Grundoperation besteht in der Abtrennung des 14

Die Wurzelbodenmetaphorik spielt bei Heidegger eine bedeutende Rolle: Das Sein als Grund kann auch als Erde, Heimat, Boden etc. eingesprochen werden. Heidegger hat von da aus immer wieder Verbindungslinien zur nationalsozialistischen Ideologie gezogen.

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Seins, das immer als Sein des Seienden gedacht wurde, vom Seienden. Geht es bei der Reinterpretation des Nichts darum aufzuzeigen, daß das Sein vom Dasein durch das Nichts hindurch erfahren wird, so in einem zweiten Schritt darum, wie dies geschieht. So wie in der Vorlesung über die Angst das Nichts und über das Nichts die Offenbarkeit des Seienden als solchem, d.i. als Endlichem erfahren wird, so wird im Nachwort über die Angst das Sein und über das Sein das "Wunder aller Wunder" (WM?, 47) erfahren, "daß Seiendes ist" (WM?, 47). So wie in der Vorlesung in die Metaphysik wird hier in die Seinsphilosophie affekttheoretisch eingeführt. Allein der "Mut zur wesenhaften Angst" (WM?, 47) ermöglicht die Erfahrung der "Wahrheit des Seins". Und so wie in der Vorlesung die Endlichkeit des Seienden durch das Nichts wird im Nachwort die Endlichkeit des Seienden durch die Unverfügbarkeit des Seins begründet. Heidegger revidiert also die radikale Endlichkeitstheorie der Vorlesung keineswegs, ergänzt sie jedoch durch eine neue Theorie des Absoluten. Endlichkeit bezieht er in seinem philosophischen Neuansatz zurück auf das Sein als neues Absolutes. Während die Angst den "Bezug des Seins zum Menschen" (WM?, 47) offenbart, läßt die Scheu bzw. die Furcht als Flucht oder Angst vor der Angst den Menschen beim Seienden verharren. Die Angstflucht ist aber nicht mehr wie in Sein und Zeit Flucht vor sich selbst an die Welt, sondern Flucht vor dem Sein. Angstflucht - die Grundstruktur der Uneigentlichkeit - wird als "Seinsverlassenheit" (WM?, 46) interpretiert. Auch die Wissenschaftskritik reformuliert Heidegger im Nachwort. Zunächst wird in Gegenüberstellung von "exaktem" und "strengem Denken" die Logik von einer ihr äußerlichen Warte kritisiert, um dann in einem zweiten Schritt den Versuch einer immanenten Kritik des "exakten Denkens" zu starten. Das exakte Denken, als dessen Inbegriff Heidegger das mathematisch-rechnerische Denken versteht, wird seiner schlechten Unendlichkeit und seines selbstdestruktiven, (sich selbst) verzehrenden Charakters im Dienste der Verfügbarmachung alles Seienden für die materielle Selbsterhaltung überführt (vgl. WM?, 48f.). Heideggers Kritik ähnelt hier tatsächlich Adornos und Horkheimers Kritik der instrumentellen Vernunft, die im modernen Weltbild mit verabsolutierter materieller Selbsterhaltung zusammengeht. Heidegger verschenkt allerdings die Stärke seiner Kritik, weil er sie nicht als kritische Selbstreflexion des exakten Denkens, sondern als dessen schlichte Destruktion versteht. Er hat vielmehr - wie die bornierte Aufklärung - die Vernunft zum Verstand

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und damit zur instrumentellen Vernunft nivelliert und diesem abstrakt das Seinsdenken gegenübergesetzt, das durch Totalnegation von Diskursivität charakterisiert ist. Der Gedanke der Selbstreflexion der instrumentellen Vernunft gehört für Heidegger selbst noch in die Epoche der neuzeitlichen Subjektivität, die er überwinden möchte. Heideggers undifferenzierte Rationalitätskritik begreift nicht, daß die pauschale Diffamierung von Rationalität nicht nur keine Probleme des neuzeitlichen Denkens löst, sondern sogar noch verschärft. Der Hauptfehler von Heideggers Rationalitätskritik ist, daß er nicht begreift, daß es verschiedene Formen der Rationalität gibt. Heidegger hat vor allem die klassische Unterscheidung von Verstand und Vernunft weder systematisch noch philosophiehistorisch begriffen und so auch nicht für seine eigene Philosophie fruchtbar machen können. Das "wesentliche Denken", das Heidegger dem "abstrakten Denken" abstrakt gegenüberstellt, ist gekennzeichnet durch Prädikate unhinterfragbarer Autorität: "Unberechenbarkeit", "Unheimlichkeit", "rätselhafte Unkenntlichkeit" (WM?, 49) sind Begriffe, die seine geheimnisvolle Unverfügbarkeit ausdrücken, die durch rationales Denken nicht zu fassen ist. Heidegger faßt den Zusammenhang zwischen Denken und Sein als Opferzusammenhang. Er spricht dem Sein als maßgebliche Modalität die Notwendigkeit zu, die daher einen absoluten Vorrang vor der Freiheit hat. Dem europäischen Denken, das sich als Emanzipation von Schicksal und Notwendigkeit und damit als Freiheitsbewußtsein begreift, wird eine Absage erteilt. Freiheit und Notwendigkeit vertauschen wieder ihre Stellen. Freiheit ist nicht Begründung von Notwendigkeit wie noch beim frühen Schelling, sondern das aufopferungsvolle Ja zur höheren Notwendigkeit des Seins ohne alle Einsicht. Das Sein entpuppt sich als absolute neo-mythische Macht, der wir in absoluter, blinder Selbstaufopferung zu entsprechen haben. Im Begriff des totalen Opfers kulminiert die radikale Endlichkeit der Vorlesung unter den Bedingungen der neuen Theorie des Absoluten qua reinem Sein im Nachwort. Heideggers Seinsdenken kann man als Remythologisierung der Philosophie begreifen. Das wesentliche Denken besteht in der Aufgabe subjektiver Autonomie zugunsten einer 'metaphysischen Gefolgschaft'. Dabei ist es fur Heidegger charakteristisch, daß er den verschwenderischen Exzeß der sich selbst überschreitenden Subjektivität im Bereich des Militärischen aufsucht. Das ist ein entschei-

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dendes Verbindungsglied von Heideggers Seins-Mystik zum NS-Denken.i5 Das wesentliche Denken ist ein mystisches Sonderwissen, das in aufopferungsvoller "Umkehrung der subjektphilosophischen Denkmuster" (J. Habermas (1985), S. 190) einen privilegierten Zugang zur Wahrheit in Anspruch nimmt und explizit auf Argumentation verzichtet. Heideggers These, daß dem Sein gegenüber Argumente unangemessen sind, könnte vielleicht richtig sein, wenn sie nicht offenkundig selbstwidersprüchlich wäre. Die ganze Seinsphilosophie will ja als Philosophie ein Argument gegen das Argumentieren sein. In dieser contradictio in adjecto bewegt sich der seinsphilosophische Ansatz. Wäre Heidegger kosequent geblieben, hätte er die Philosophie aufgegeben, er hätte entweder gedichtet oder sein Denken dadurch zur Vollendung gebracht, daß er geschwiegen hätte. Und tatsächlich bemerkt Heidegger selbst, daß er mit dem Konzept des Seinsdenkens an die Grenzen der Philosophie stößt. Das Sein läßt sich wahrhaft nur durch "Dichtung" oder durch "Schweigen" erschließen (vgl. WM?, 51f.). In der Rede von der Ankunft oder Advent des Seins trägt die Seinsphilosophie Heideggers eschatologische Züge. Doch der Inhalt des Erwarteten ist wesentlich das Gegenteil dessen, was in der traditionellen Metaphysik angepeilt wurde, die Ankunft des Niedagewesenen, Neuen. Das beschworene Sein wäre vielmehr die Wiederkunft des Allerältesten, nämlich dessen, was am Anfang der abendländischen, immer uneigentlicher werdenden Metaphysik liegt. Es wäre der wiederhergestellte Bezug zum unverfügbaren Grund der Metaphysik. Heideggers Eschatologie ist keine Emanzipations-, sondern eschatologisch gewendete Ursprungsphilosophie: Resurrektion des Ursprungs. Auch die Erklärung des seinsphilosophischen Ansatzes aus der Philosophiegeschichte enthält einen Widerspruch. Es ist schlicht unerklärlich, wie es zu Heideggers genialer Philosophie nach zweitausendjähriger Verfallsgeschichte des Denkens kommen kann. Die These von der fortschreitenden Verfallsgeschichte der Philosophie ist ebenfalls offenkundig dialektisch inkonsistent. Ist diese These richtig, dann ist sie falsch. Eine ähnliche dialektische Inkonsistenz enthält Adornos These vom universalen Verblendungszusammenhang. 16

Eine eher anarchistisch zu nennende Anknüpfung an die Spätphilosophie Heideggers unternimmt Bataille, der ebenfalls "Verschwendung" bzw. unproduktive Formen der Verausgabung als wahre Subjektivität versteht, diese aber im Erfahrungsbereich des Erotischen aufsucht (vgl. Bataille (1974)).

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Heidegger arbeitet mit der der Romantik, vornehmlich Hölderlin entliehenen Denkfigur des 'abwesenden Gottes', um das Ende der Metaphysik als 'Vollendung' und damit als untrügliches Anzeichen eines 'anderen Anfangs' begründen zu können. Dieser abwesende Gott ist für die Romantiker wie auch für Nietzsche der Halbgott Dionysos, der der gottverlassenen Moderne durch seine 'Entfernung' zu verstehen gibt, was ihr mangelt. Als Brücke zwischen dem Dionysosgedanken und der seinsphilosophischen Metaphysikreflexion dient Heidegger der Gedanke der ontologischen Differenz. Erst das vom Seienden abgetrennte Sein kann die Rolle des abwesenden Gottes spielen. Den Entzug des Seins arbeitet Heidegger als das Geschehen der Verweigerung heraus, die vom Sein selbst ausgeht. Heideggers dionysischer Messianismus unterscheidet sich von dem Nietzsches, der noch Spielraum für das Bedrängen des Heils läßt, durch die apokalyptische Erwartung des katastrophischen Eintritts des Alten-Neuen.·6 Von da aus kommt Heidegger zu seiner These, daß die totale Seinsverlassenheit der Moderne darin besteht, daß das Negative der Seinsverlassenheit nicht einmal mehr empfunden wird. Daß die Verborgenheit des Seins sich uns ereignet, wenn wir uns dem Sein qua wesentlichem Denken öffnen, daß wir vom Sein und seiner Verborgenheit aber nichts merken, wenn wir uns diesem Ereignis nicht öffnen, ist offensichtlich ein tautologischer Gedanke, eine petitio principii. Er setzt voraus, was zu erweisen wäre. Ebendeswegen schlägt Heideggers Objektivismus des Seinsgeschehens in den ungeheuersten Subjektivismus um, den die Philosophie des 20. Jahrhunderts hervorgebracht hat. Wer dem geistigen Führer Heidegger nicht folgen und auf das Sein hören will, der ist eben nicht zu retten und dem ist ebensowenig zu helfen. Die Seinsphilosophie enthält eine Neubegründung des Wesens der Sprache. Gegen die Sprache als Instrument der Weltbemächtigung, wie sie im vergegenständlichenden Denken auftaucht, setzt Heidegger seine These, daß die Sprache 'das Haus des Seins' ist. Erst wenn die Sprache des Menschen aus dem "Wort der lautlosen Stimme des Seins" (WM?, 50) entspringt, erhält sie ihren rechten Sinn; sie erhält die Funktion des Kultes des irrationalen, sprachlosen Seins. Dazu bedarf es einer Umfunktionierung der metaphysisch strukturierten Normalsprache. Die Normalsprache orientiert sich am Aussagesatz, ist Sprache über Seiendes, und als solche ohne Geheimnis. Die Spra16

Bekannt ist Heideggers Ausspruch im Spiegel-Gespräch Nr. 23/1976: "Nur noch ein Gott kann uns retten".

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che, die vom Sein spricht, ist ein bewegtes, geheimnisvolles Sprechen, das nicht mehr durch die Grammatik der Subjekt-Prädikat-Aussage bestimmt sein kann. Die Seinssprache ist keine Satz-Sprache, sondern eine Wort-Sprache; und diese Wort-Sprache ist durch die Struktur der "Wahrheit des Seins", die Heidegger als "Un-verborgenheit" versteht, bestimmt. Dadurch wird die Sprache ihrer logisch-metaphysischen Fixiertheit an die Subjekt-Prädikat-Struktur entbunden und als parataktische Wortzusammenstellung in die geheimnisvolle Bewegtheit des Seins hineingenommen. Diese Transformation begründet sie als das Dichterische, dessen Charakter das "Geheimnisvolle" ist." Heidegger knüpft an seine Theorie vom Ursprung der Sprache Überlegungen zum Zusammenhang von "Bedenken" und "Bedanken" und fuhrt sie auf das "Denken" der "Wahrheit des Seins" zurück (vgl. WM?, 50). Solche ethymologische Herleitungszusammenhänge, die sich bei Heidegger vornehmlich in Interpretationen von Gedichten und archaischen Philosophemen finden, sind zumeist rationaler Kontrolle unzugänglich. Mit einer willkürlichen Wortanknüpfungsmethode sollen wesentliche Zusammenhänge suggeriert werdende Die Determination der Wort-Sprache durch die Grammatik der Wahrheit des Seins erhellt auch den Zusammenhang zwischen Sprache und Sprachlosigkeit der Seinssprache. So wie das Wesen der Unverborgenheit die Verborgenheit ist, so ist das Wesen der Sprache nicht die Aussprache, sondern die Sprachlosigkeit, sozusagen beredtes Schweigen. Für Heidegger kommt das Wesen der Sprache bei dem Dichter zum Ausdruck, der ihm zufolge das Wesen der Sprache und der Dichtung gedichtet hat, bei Hölderlin. Am Ende stimmt uns Heidegger mit einem Sophokles-Zitat in den Umgang mit der pseudo-sakralen Macht des Seins ein. Dieses Zitat enthält eine philologisch unhaltbare Sophoklesübersetzung der Stelle:

17 Zu Heideggers Sprachmystik vgl. D. Sinn (1967), S. 114ff. 18 Vgl. die treffende Kritik von K. Weimar u. Chr. Jermann (1984), S. 113-157.

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αλλ' άποπαύετε μηδ' επί πλείω ΰρηνον εγείρετε' πάντως γαρ εχει τάδε κυροςίβ Mit diesen Worten bringt der Chor am Ende des Sophoklesstückes "Ödipus von Kolonos" zum Ausdruck, daß es frevelhaft und unfromm sei, nach einem so huldreichen Tode, wie ihn Ödipus erfahren hat, allzu lange zu klagen. Im Tod erfahrt der Held Ödipus nämlich seine Versöhnung. Trauer über den Tod und Freude über die Versöhnung sind hier unmittelbar miteinander verquickt. Die Freude in der Trauer ist hier deshalb so bedeutsam, weil der Tod des Ödipus am Ende der letzten antiken Tragödie auf den Tod des großen Dichters, ja auf das Ende der klassischen antiken Kultur selbst verweist. So jedenfalls interpretiert Hegel in der Ästhetik den Tod des Ödipus: "Diese Verklärung im Tode ist seine und unsere erscheinende Versöhnung in seiner Individualität und Persönlichkeit selbst. Man hat einen christlichen Ton darin finden wollen, die Anschauung eines Sünders, den Gott zu Gnaden annimmt und das Schicksal, das an seiner Endlichkeit sich ausließ, im Tode durch Seligkeit vergütet" (Hegel Werke 15, 551). Daß Heidegger ebenfalls den Tod des Ödipus mit dem Ende der griechischen Kultur verknüpft, geht daraus hervor, daß er von diesem Sophoklesstück als von der "letzte[n] Dichtung des letzten Dichters im anfänglichen Griechentum" (WM?, 52) spricht. Zugleich möchte Heidegger hier den "ersten Anfang" des Denkens im "anfanglichen Griechentum", das mit Sophokles sein Ende erreicht hat, auf den zweiten hin entwerfen, zu dessen Augur er sich selbst aufwirft. Das Ende der antiken Kultur, das mit dem Tod des Ödipus besiegelt ist und das von Heidegger zum Ende des Abendlandes schlechthin stilisiert wird, "verwahrt ein Entscheid der Vollendung" (WM?, 52) (vgl. die Fehlübersetzung), der uns dereinst den 'ersten Anfang' des Denkens wiedergewinnen läßt, nun nicht im Christentum, sondern im Seinsdenken.

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Heidegger übersetzt: "Doch laßt nun ab, und nie mehr filrderhin Die Klage wecket auf; Uberallhin nämlich hält bei sich das Ereignete verwahrt ein Entscheid der Vollendung" (WM?, 52).

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Zum Abschluß ein Wort zum Übergang vom Nachwort zur Einleitung: Im Nachwort interpretiert Heidegger die Frage "Was ist Metaphysik?" nicht mehr im Hinblick auf die Frage nach dem Nichts, sondern als Rückgang in den Grund der Metapyhsik, also als eine Frage, die schon über die Metaphysik hinausweist. Mit dem Schritt zurück in den "Grund" der Metaphysik wandelt sich das Denken vom metaphysischen zum "wesentlichen Denken". Im Nachwort wird dieser Übergang zur "Wahrheit des Seins" noch negativ als Übergang vom Nichts zum Sein gedacht. Das Nichts zeigt sich als "Schleier des Seins" (WM?, 52). In der Einleitung von 1949 hat Heidegger die Wendung zur Seinsphilosophie endgültig vollzogen. Hier thematisiert er die "Wahrheit des Seins" als den "Grund" der Metaphysik positiv. Es geht hier auch nicht mehr um eine Reinterpretation der Vorlesung in den philosophischen Neuansatz, sondern um eine andere, seinsphilosophische Befragung der Metaphysik. Von hier aus wird deutlich, daß und warum der "Grund" für die Metaphysik "vergessen" ist. Da wir von Heideggers seinsphilosophischem Neuansatz genug in den Blick gebracht haben, können wir hier die Einleitung übergehen.

B. Adornos kritisches Vernunftkonzept als "Konstellation" Die Kritische Theorie, deren negativer Ansatz in Adornos Negativer Dialektik negativistische Züge aufweist, teilt mit der Existenzphilosophie, ja mit der Philosophie des 20. Jahrhunderts insgesamt, der Lebensphilosophie, der philosophischen Anthropologie und der analytischen Philosophie im Resultat die Beschränkung auf die Endlichkeit und die Frontstellung gegen die metaphysische Vernunfttradition. Was sie aber von der Existenzphilosophie unterscheidet, ist, daß sie die Rationalitätspotentiale des Idealismus für das Konzept einer kritischen Vernunft zu retten versucht. Adornos philosophische Intention, die stark vom Schellingschen Denken geprägt ist, richtet sich darauf, durch den Begriff hindurch das Nichtbegriffliche, Begriffslose, Einzelne, Besondere etc. aufzutun. "Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen" (ND, 21). Adornos so beschriebene Intention wehrt zwei Alternativen ab: die idealistische, daß das Begriffslose endlich doch begriffen werde, im Begriff aufgehe, und die andere, die den Begriff zugunsten des Außerhalb des Begriffs verab-

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schiedet. Beiden Gefahren ist auch Adorno selbst ausgesetzt, und nicht immer gelingt es ihm, diesen Gefahren auszuweichen. Adornos Intention kann nur dadurch realisiert werden, daß der Begriff sich ändert, nämlich dadurch, daß er seinen Äußerlichkeitsund Herrschaftscharakter aufgibt, und dies geschieht wiederum dadurch, daß der Begriff sein Anderes in sich integriert. Demnach ist zweierlei festzuhalten: Einerseits soll über den Begriff hinausgegangen werden, der Begriff auf sein Anderes transzendiert werden - die Bewegung allen philosophischen Denkens nach Hegel und seit Schelling -, andererseits muß zugleich am Begriff festgehalten werden. Der Begriff darf sich nicht so ändern, daß er sich preisgibt. Die Initiative zur Veränderung der Philosophie darf nicht dazu führen, daß am Ende etwas anderes als Philosophie steht. Die Frage nach der Erfüllbarkeit von Adornos Intention hat über die Reformulierung seiner Absichtserklärung hinauszugehen. Sie muß herausbringen, wie das methodisch aussehen soll und worin die Bedingungen der Möglichkeit liegen, "das BegrifTslose mit Begriffen aufzutun". Die in Adornos Philosophie liegende Ambivalenz läßt sich an seiner Bestimmung des Verhältnisses von Kunst und Philosophie ablesen. Adornos Philosophie ist bekanntlich durch folgende gegenläufige Tendenzen beherrscht: Zum einen hat sie die Tendenz, ihre Erkenntnis-Kompetenz an Kunst und Ästhetik abzutreten. Die Philosophie tritt in den Dienst der Kunst, indem sie in Ästhetische Theorie aufgeht. Zum anderen hat sie die Tendenz, das Ästhetische umgekehrt in den Dienst einer Veränderung der philosophischen Sprache und des Begriffs zu nehmen. Können wir die Frage entscheiden, auf welche Seite Adorno sich schlägt? In der Negativen Dialektik geht es Adorno sicher um die zweite Tendenz. Adorno wehrt sich erstens strikt dagegen, daß Philosophie zur Kunst werde. Ästhetizismus wäre die Ohnmachtserklärung der Philosophie: "Die Affinität der Philosophie zur Kunst berechtigt jene nicht zu Anleihen bei dieser, am wenigsten vermöge der Intuitionen, die Barbaren für die Prärogative der Kunst halten" (ND, 26). Darüber hinaus muß Adorno zweitens den Verdacht entkräften, daß Philosophie nur noch als Ästhetische Theorie möglich ist, als philosophische Interpretation von Kunstwerken. Auch in diesem Fall hätte die Kunst gegenüber der Philosophie die Führung übernommen. Philosophie wäre zur Magd der Kunst geworden. Damit ist die Frage nach der spezifischen Differenz gestellt: Was macht Adornos Zugangsweise zu einer spezifisch Philosophischen? Diese Frage kön-

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nen wir an Ort und Stelle nicht zureichend klären. Festhalten läßt sich nur folgendes: Adorno geht es um ein neues Konzept von Philosophie. Mit der Hereinnahme ästhetischer Momente in ein Konzept der Philosophie sollen im philosophischen Begriff ästhetische und begriffliche Momente dialektisch zusammentreten. Adorno erwähnt in der "Einleitung" zur Negativen Dialektik als ästhetische Verfahrensweisen: Spiel, Mimesis, Komposition, Konstellation, Insistieren aufs Qualitative etc. All dies sind der Kunst entlehnte Momente, die der Begriff in sich hineinnehmen soll, ohne selbst ästhetisch zu werden oder in Ästhetische Theorie überzugehen. In der Sache geht es Adorno um einen philosophischen Begriff, der die Sachen nicht äußerlich subsumiert, sondern sich mimetisch anschmiegend sie von innen aufschließt. Dieser von Adorno anvisierte neue philosophische Diskurs soll die Elemente zusammentragen, die für einen neuen, kritischen Vernunftbegriff erforderlich sind. Adornos Philosophiekonzept einer kritischen Vernunft kommt man am ehesten über dessen Konstellationsbegriff auf die Spur. Hier laufen die Fäden und Intentionen zusammen, die sein Theorieprogramm methodisch begründen. Unsere Darstellung von Adornos kritischem Vernunftkonzept als "Konstellation" setzt an einem Punkt der Negativen Dialektik ein, wo Adorno im wesentlichen das Programm seiner Traditionskritik an Existentialismus, Kantischer Transzendentalphilosophie und Deutschem Idealismus inhaltlich absolviert hat und somit zur Methodenreflexion übergehen kann.

1. Problemstellung: Neue Theorie vom Einzelding Nach der Kritik am Primat des Subjekts und der Identität und der darin implizierten Wendung zum Vorrang des Objekts als dem tóde ti, womit Adorno sein Programm einer Kritik des idealistischen Totalitätsanspruchs der Vernunft meint eingelöst zu haben, stellt sich die Frage, wie dennoch nicht vor der "Unauflöslichkeit des Objekts" (ND, 163) kapituliert zu werden braucht. Adorno entwickelt sein erkenntnistheoretisches Konzept der Konstellation, indem er zunächst eine Theorie der Einzeldinge entwirft, wonach diese an ihnen selbst in ein Beziehungsgeflecht eingebunden sind. Er meint, sich dabei vor allem auf ein Ergebnis der Hegeischen Logik berufen zu können. Jedes Einzelding sei "nicht schlechthin für sich", sondern "in sich sein Anderes und Anderem verbunden" (ND, 164). Darin sei es 'mehr' als es bloß 'ist', überschreite seine bloße Einzelheit und sein bloßes Die-

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ses-da. Auch das Einzelding ist daher kein Letztes, das allein aus sich selbst heraus verständlich wäre. Um das Einzelne, Individuelle und Besondere zu verstehen, muß man auf den Kontext reflektieren, in dem es steht. Das Einzelne ist kein absolut Einzelnes, vielmehr so etwas wie ein Spiegelbild seiner Beziehungen; es verhält sich zu Anderem und drückt dieses Sichverhalten selbst in sich aus. Das Wesen des Dinges, "die eigene Identität der Sache" (ebd.), ist die "Nichtidentität", die Beziehung auf Anderes, seine Identität nur mit sich ist von außen oktroyiert. Von daher bestimmt Adorno das "Innerste des Gegenstandes" als die sich im Einzelnen kristallisierende "Kommunikation mit Anderem" (ND, 164), durch die es vermittelt ist. Dieser Auffassung liegt in letzter Perspektive der Gedanke einer gleichsam universalen Kommunikation aller Einzelgegenstände untereinander zugrunde. Adorno kommt so zu einer Bestimmung des Dings, die seine Identität, sein Fürsichsein zwar nicht in Verhältnis, Beziehung bzw. Kommunikation auflöst, aber nur im Hinblick darauf zu erschließen ist. So erfolgt die Thematisierung der Relationsweisen nur, um die Einzeldinge in ihrem wahren Wesen zu verstehen. Adornos Philosophie bleibt daher noch am Bewußtsein von Einzeldingen orientiert und löst diese nicht wie etwas Hegel in absolute Relationalität auf. Die neue Theorie der Einzeldinge führt zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Innen und Außen, von Allgemeinem und Besonderem. Das Innere der Dinge ist diesen "auswendig" (ND, 164). Und das Allgemeine ist dem Besonderen, dem "Zentrum der individuellen Sache" (ebd.), immanent. Adorno setzt sich in zweifacher Weise von der metaphysischen Tradition ab: Diese geht davon aus, daß das, was die Sache in sich, d.h., was sie selbst ist, auch "in ihr" ist. Tatsächlich kann von Selbstheit der Sache nach Adorno nur gesprochen werden im Blick auf ihr Verhältnis zu dem, was sie nicht ist. "Das Innere des Nichtidentischen ist sein Verhältnis zu dem, was es nicht selber ist und was seine veranstaltete, eingefrorene Identität mit sich ihm vorenthält" (ND, 165).20 Adorno verweist auf den "Hegelsche[n] Gebrauch des Terminus konkret, demzufolge die Sache selbst ihr Zusammenhang, nicht ihre pure Selbstheit ist" (ebd.). Das Wesen der Sache ist ihr 'Bewandtniszusammenhang' (Heidegger), d.h. ihr Verflochtensein mit anderem. Zweitens versucht Adorno aus der Alternative zwischen bloßem Einzelding als tóde ti und Allgemeinem herauszuspringen 20

Die Kritik metaphysischer Immanenz findet sich bereits bei Kant (K.d.r.V. Β 322) und Hegel (Hegels Werke 6, 179f.).

Adornos kritisches Vernunftkonzept

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und damit die Alternative zwischen Positivismus und Idealismus zu überwinden. Adorno geht den dritten Weg zwischen Hegel und Jacobi, den schon Schelling gehen wollte. Dieser dritte Weg ist der Negativen Dialektik eigentümlich (vgl. ND, 168).

2. Konstellation Die neue Theorie vom Einzelding leitet über zur Konstellationsproblematik. Es stellt sich nämlich die Frage, wie das so aufgefaßte Wesen des Einzeldings erkennbar und die immanente Allgemeinheit des Individuellen darstellbar ist. Das Spezifische der Sache ist weder auf deduktivem Wege noch auf spekulativ-dialektischem Wege der Hegeischen Negation der Negation zu gewinnen, sondern allein dadurch, daß die Begriffe in Konstellation treten. Konstellationen sind das Gegenstück zum klassifizierenden Verfahren. Während dieses einem deduktiven Begriffszusammenhang folgt, kommt die Konstellation eher dem induktiven Verfahren näher. Die Konstellation der Begriffe ist die positive Alternative zum identifizierenden Begriff. Mit ihr macht Adorno den paradoxen Versuch, das Innere der Dinge in ihrer Betrachtung von außen interpretatorisch zu erschließen. Dieser Versuch kann gelingen, weil ja nach Adornos Dingkonzeption das Innere der Dinge nicht "innen", sondern ihre Kommunikation mit und ihr Beziehungsgeflecht zu anderem ist. Also muß auch die Erkenntnis die Sache von außen, d.h. von ihrer Kommunikation mit Anderem her, in der sie steht, nehmen. "Konstellationen allein repräsentieren, von außen, was der Begriff im Innern weggeschnitten hat, das Mehr, das er sein will so sehr, wie er es nicht sein kann. Indem die Begriffe um die zu erkennende Sache sich versammeln, bestimmen sie potentiell deren Inneres, erreichen denkend, was Denken notwendig aus sich ausmerzte" (ND, 164f.). Die Konstellation der Begriffe, die die Sache von außen umstellen, bringt das "Innere des Nichtidentischen" zur Erscheinung. "Das Objekt öffnet sich einer monadologischen Insistenz, die Bewußtsein der Konstellation ist, in der es steht: die Möglichkeit zur Versenkung ins Innere bedarf jenes Äußeren" (ND, 165). Die Konstellation der Begriffe erweist sich als die Art und Weise, wie Adornos Intention, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzutun, realisiert werden könnte. Treten Begriffe und Worte in Konstellation zueinander im Blick auf die allein als Konstellation lesbare Sache, die in Wahrheit ein Sachverhalt ist, dem keine fixierbare Definition, sondern nur eine

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Gedankenbewegung nachzugehen vermag, dann kann die Wahrheit des Gedankens nicht mehr in der Adäquanz von Denken und Sache bestehen. Die Korrespondenztheorie der Wahrheit setzt eine bleibende und identisch feststellbare Sache voraus. Ist der Gedanke immer nur Moment eines Zusammenhangs, so kann seine Wahrheit nur im Sichaufeinandereinspielen des konstellativen Begriffszusammenhangs mit dem Sachzusammenhang bestehen. Adornos Konzept der Konstellation ist also nur mit einer Kohärenztheorie der Wahrheit vereinbar. "Gedanken, die wahr sind, müssen ünablässig sich aus der Erfahrung der Sache erneuern, die gleichwohl in ihnen sich erst bestimmt [...] Wahrheit ist werdende Konstellation" (AN, 16). Adorno denkt Wahrheit kohärenztheoretisch als Konstellation. Die Wahrheit als Konstellation zu verstehen, heißt, in der Adäquanz von Begriff und Sache eine Nichtadäquanz aufzeigen. Das gibt rückblickend Aufschluß über Adornos anfängliche Dialektik-Definition in der "Einleitung": "Ihr Name sagt zunächst nichts weiter, als daß die Gegenstände in ihrem Begriff nicht aufgehen, daß diese in Widerspruch geraten mit der hergebrachten Norm der adaequatio" (ND, 16f.). Die Negative Dialektik ist dadurch immanente Kritik des korrespondenztheoretischen Identitätsdenkens, daß sie die Inadäquanz in der behaupteten Identität und ihrem Absolutheitsanspruch aufzeigt. Allerdings muß auch eine Theorie der Wahrheit als Konstellation einen Identitätsbegriff positiv in Anspruch nehmen, der sich mit Hegel als "Identität der Identität und der Nichtidentität" formulieren ließe. Indem Adorno auch diesen Identitätsbegriff im Sinne von Konsistenz verwirft, leugnet er, was er notwendig voraussetzen muß. Der Konstellationsbegriff wird von Adorno vor dem Hintergrund noch weiterer Problemkomplexe verdeutlicht: der Auffassung von Wahrheit als Evidenz, der Bedeutung der Sprache und der Bestimmung des Seienden als eines geschichtlich Gewordenen. Damit kommt eine historisch-gesellschaftskritische Dimension in den zunächst erkenntnistheoretisch angesetzten Konstellationsbegriff.21 Schließlich ist eine utopische bzw. metaphysische Intention im erkenntnis- und gesellschaftskritischen Konstellationsbegriff zu verzeichnen. Indem wir die einzelnen Momente des Konstellationsbe-

21

Das Changieren zwischen Erkenntnis- und Gesellschaftskritik ist konstitutiv für die Kritische Theorie Adornos: "Kritik an der Gesellschaft, ist Erkenntniskritik und umgekehrt" (SuO, 158).

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griffs durchgehen und in 'Konstellation' bringen, wird der Konstellationsbegriff in seiner Überkomplexität deutlich.

a) Konstellation und Wahrheit als Evidenz In der Schrift Die Aktualität der Philosophie betont Adorno, daß das Spezifische des Gegenstandes eine spezifische, einzig ihm zugehörige Konstellation bedinge. Dabei setzt die ganze Konzeption der Konstellation die hermeneutische Annahme voraus, daß die gesellschaftliche Wirklichkeit eine trümmerhafte, sinnentleerte ist (vgl. ΑΡΗ, 334, 339). Konstellationen werden als immer wieder veränderbare Versuchsanordnungen verstanden, die urplötzlich zur lesbaren "Figur" zusammenschießen, die die "Rätselgestalt" der Wirklichkeit aufhebt (vgl. ΑΡΗ, 335). Nicht die Einzelelemente der Wirklichkeit, sondern nur das durch Konstellation zusammengestellte Gesamtbild der Elemente könne noch Grund von Evidenz sein. Der synthetisch hergestellte Sinn ist genau dann evident, wenn die Konstellation der Begriffe die Struktur eines lesbaren Textes angenommen hat. Diese experimentelle Versuchsanordnung kann aber auch scheitern. Die Versuchsanordnungen der Elemente können immer wieder zu unlesbaren Texten führen. In der Negativen Dialektik wird diese Seite des Konstellationsbegriffs nicht mehr so deutlich ausgesprochen. Hier wird nur noch festgestellt, daß in der Konstellation das "Nichtidentische[s] von sich aus seine Verschlossenheit" "transzendiert" (ND, 165). Während für den identifizierenden Begriff das Nichtidentische das individuum ineffabile ist, bringt die Konstellation es zur Evidenz und interpretatorischen Präsenz. Darin bewahrt die Methode "die Idee von Unmittelbarkeit Treue nur durchs Vermittelte hindurch" (Essay, 29): "Als Konstellation umkreist der theoretische Gedanke den Begriff, den er öffnen möchte, hoffend, daß er aufspringe etwa wie die Schlösser wohlverwahrter Kassenschränke; nicht nur durch einen Einzelschlüssel oder eine Einzelnummer, sondern eine Nummernkombination" (ND, 166). Das philosophische Denken in Konstellationen ist unter Bedingungen sinnentleerter Wirklichkeit, letztlich einem noetischen Erkenntnisziel verpflichtet, also mit einer Evidenztheorie der Wahrheit vereinbar. Die evidenztheoretische Seite des Wahrheitsbegriffs aber ist nur ein Moment von Adornos komplexem Wahrheitsbegriff. Das Konzept der Konstellation legt vielmehr basal eine Kohärenztheorie der Wahrheit nahe, wie wir gesehen haben.

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Kohärenz ergibt Wahrheit als Evidenz. Adorno hat allerdings diesen Zusammenhang seines Wahrheitsbegriffs letztlich nicht wirklich durchschaut. b) Konstellation und Sprache 1. "Modell" für die Konstellation der Begriffe ist die Sprache, wobei sich Adorno für das nicht signifikative Ausdrucksmoment der Sprache interessiert, das sie an der Sache selbst teilhaben läßt. Begriffliche Darstellung, die sich ihrer sprachlichen Gestalt bewußt ist, "definiert" nicht ihre Begriffe, sondern gewinnt ihre "Objektivität" durch die Art und Weise, wie sie ihre Begriffe, "zentriert um eine Sache" (ND, 164), in Beziehung zueinander setzt. Die radikale Kritik Adornos an der Sprachreflexion Hegels - "[...] die Dialektik Hegels war eine ohne Sprache, während der einfachste Wortsinn von Dialektik Sprache postuliert" (ND, 165) - verweist auf einen emphatischen Begriff von Sprache, der in vielem Benjamin verpflichtet ist. "Durch die Sprache löst es [das Nichtidentische, d.V.] sich aus dem Bann seiner Selbstheit" (ND, 165). Welche Funktionen erfüllt die Sprache nach Adorno? Welche Charaktere und Sprachformen unterscheidet Adorno an der Sprache und wie gehen sie in die Konstellation ein? 2. Bei der Exposition seines Methodenideals der Konstellation in der "Einleitung" (ND, 61f.) rekurriert Adorno auf Benjamins mimetische Theorie der Sprache.22 Zentralen Stellenwert hat in Benjamins Sprachtheorie die Metaphysik des Namens. Für Benjamin hat die göttliche Sprache ausschließlich onomatopoetischen Charakter. Er begreift sie als Namen. Der Name ist im Zusammenhang von Benjamins Theorie der Übersetzung der Inbegriff einer spezifischen Relation zwischen der Sprache der Dinge und der Sprache der Menschen. Zum einen hat die Form des Namengebens - dies gilt besonders für die göttliche oder adamitische Sprache - eine ausgezeichnete Funktion von Erkenntnis. In ihr wird das Wesen der Dinge mimetisch nachgeahmt. Im Namen fallen Begriff und Sache zusammen. Mit ihm wird also in einer einzigen Begriffsform ausgedrückt, was die Sache als solche ist. Zum anderen wird im Benennen der Dinge das innerste Wesen der Sprache selbst zum Ausdruck gebracht. Benjamins Metaphysik des Namens umfaßt zweierlei: Im Namen realisiert sich ei-

Zu Benjamins Sprachtheorie vgl. seine Schrift: Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen (1916); vgl. auch W. Menninghaus (1980).

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nerseits die Ausdrucksbewegung der Sprache, in der die Sprache sich selbst mitteilt. Dies wiederum bringt Benjamin zusammen mit dem mimetischen Vermögen des Namens, Ähnlichkeiten wahrzunehmen und zu reproduzieren. Beides faßt Benjamin unter dem Titel "Magie" der adamitischen Namenssprache. 3. Adomo nimmt zugleich eine Transformation von Benjamins Metaphysik des Namens vor. Er rekurriert zwar um willen einer "ungeschmälerte[n] Erkenntnis" (ND, 61) auf die mimetische Kraft des Namens, distanziert sich aber zugleich von ihr. Denn Erkenntnis will das, "was die Namen abblenden, die zu nahe daran sind" (ND, 61). "Erkenntnis" orientiert sich am mimetischen Vermögen der Namen, aber so, daß es zugleich negiert und korrigiert wird.23 Das einzelne Wort und der einzelne Begriff fungiert zwar als "unabdingbares Moment" (ND, 63) in der Sprache, kann fur sich allein aber keine wahrheitsfahige Rede konstituieren. Die Namen werden der Intention der Erkenntnis nicht gerecht, weil sie in einem zu engen Verhältnis zur Sache stehen. Adornos Konstellationen sind durch Verknüpfung mehrerer Begriffsformen gekennzeichnet, unter denen sowohl die "Namen" (singuläre Termini) als auch Klassifikationsbegriffe (generelle Termini) sein müssen. Dabei enthält die Charakterisierungsfunktion der Begriffe eine Kritik der nennenden Ausdrücke, um die Nennfunktion auf höherer Ebene, d.h. im Zusammenhang der Verwendung klassifizierender Ausdrücke, wiederherzustellen. Adorno unterstellt also die Konstellation nur dem von Benjamin adaptierten Motiv der "Hoffnung des Namens" (ND, 62). Die "Namen" sind das sprachliche Ideal und der Leitfaden für die Verwendungsweise aller anderen Begriffe. Deren Verwendung ist zwar immer schon in der weiten Perspektive der Nominalfunktion eingesetzt, kann aber nicht durch sie ersetzt werden. Die klassifizierenden Begriffe werden dem Ideal der Namen unterstellt, und die Nennfunktion wird durch die Klassifikationsfunktion ergänzt. 24 Der Intention nach hält Adorno also am Vorrang des begrifflichen Denkens fest. 23

Die Bedenken gegen die Restitution der Namensprache drückt Adorno in einem Brief an Benjamin aus: "Man kann es auch so ausdrücken: das theologische Motiv, die Dinge beim Namen zu nennen, schlägt tendenziell um in die staunende Darstellung der bloßen Faktizität. Wollte man drastisch reden, so könnte man sagen, die Arbeit [gemeint ist ein Aufsatz Benjamins, d.V.] sei am Kreuzweg von Magie und Positivismus angesiedelt. Diese Stelle ist verhext. Nur die Theorie vermöchte den Bann zu brechen" (Benjamin, W.: Briefe Bd. 2, S. 786).

24

Vgl. die aufschlußreichen sprachanalytischen Präzisierungen und Ergänzungen von Adornos Konstellationstheorie durch U. Müller (1988), S. 147ff.

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Der tatsächlichen Restaurierung bzw. Etablierung einer Namenssprache steht Adorno äußerst skeptisch gegenüber. Er begreift sie als philosophische Regression. So wird Heidegger vorgeworfen, er wolle "durch ein Ritual des Nennens die Gewalt des Namens wiederherstellen" (ND, 117). An die Stelle "jeglicher kritischen Instanz fürs Sein rückt die Wiederholung des puren Namens" (ND, 79). Heideggers Sprachmystik zieht sich nach Adorno auf eine sprachliche "Archaik" zurück, wobei das "dialektische Moment" mißachtet werde, "daß Sprache zugleich als ein Anderes ihren magischen Ursprüngen sich entringt" (JE, 441). Die Sprache des wesentlichen Denkens besitzt bei Heidegger - wie wir gesehen haben - "Sage"-Struktur, keine Prädikationsstruktur. Sie ist eine Wort-, keine Satz-Sprache. Heidegger verleugnet somit das andere Moment der Sprache, ihre Signifikanzfunktion. 4. Die sprachliche Darstellung der Konstellation ist am Ideal des stringenten Ausdrucks orientiert, womit keine logisch-semantische, sondern sprachlich-diskursive Stringenz gemeint ist, die wir als "konzentrierte Darstellung" bezeichnen können. Diese geschieht durch die "Genauigkeit in der Wahl der Worte"(ND, 61). Adorno interessiert an der Sprache, was in ihr über die bloße Bezeichnung begrifflichen Denkens hinausgeht, vornehmlich ihre Ausdrucksfunktion. Sprachliche Darstellung erhält so bei Adorno eine Doppelfunktion: Neben der diskursiv-begrifflichen hat sie eine mimetisch-expressive Darstell u n g s f u n k t i o n . 2 5 Adorno geht eine Gratwanderung zwischen "Mimesis" und "Rationalität". Die Konstellation verbindet die getrennten Sprachmomente der begrifflich-diskursiven Stringenz und des mimetischen Ausdrucks. Die Auffassung, daß Sprachlich-Mimetisches und Begrifflich-Diskursives aufeinander angewiesen sind, entspricht in gewissem Sinne dem berühmten Postulat Kants, wonach begriffslose Anschauungen "blind" und Begriffe ohne Anschauungen "leer" sind. Die Konstellation vereint so die beiden wesentlichen Momente des Kantischen "Schematismus" in sich: Anschaulichkeit und IntellekDie mimetisch-expressive Ausdrucksfunktion der Sprache läßt sich am ehesten mit Benjamins Begriff der "unsinnlichen Ähnlichkeit" erläutern. Sie drückt eine Art Wahlverwandtschaft zwischen den sprachlichen Avisdrücken und den Sachen aus. Der Begriff "unsinnliche Ähnlichkeit" verschränkt zwei Seiten: E r ist gegen die Arfoitraritätsthese der Sprache - denn er behauptet "Ähnlichkeit"- als auch gegen die onomatopoetische physei-These der Sprache gerichtet - denn er ist nicht "an den geläufigen Bereich der sinnlichen Ähnlichkeit" (vgl. Benjamin I, 207) gebunden. Der Begriff der "unsinnlichen Ähnlichkeit" korrespondiert mit dem Begriff der "Übersetzung". Vgl. auch Walter Benjamins Schrift Die Aufgabe des Ubersetzers.

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tualität. Adornos Konstellationstheorie läßt sich damit als Reformulierung von Kants Lehre vom Schema auffassen, der eine ähnliche Problemstellung zugrunde liegt: Wie ist es möglich, daß Denkformen verbindlich auf Gegenstände Bezug nehmen können, ohne abstrakt über sie hinwegzugleiten? (vgl. U. Müller (1988), S. 95). Welchen Stellenwert hat für Adorno die mimetisch-expressive Ausdrucksfunktion der Sprache? Durch die rhetorische Qualität des "Ausdrucks" versucht Adorno in der "Einleitung", die dem Denken immanente Historizität, seine Traditionsgebundenheit, zu thematisieren. Einerseits kann sich das Denken durch den sprachlichen Ausdruck selbst geschichtlich ausweisen und lokalisieren. Andererseits ist es in Stand gesetzt, die durch den Ausdruck charakterisierten Gegenstände historisch zu spezifizieren. Durch den Einsatz der Ausdrucksfunktion der Sprache macht Adorno den Versuch, "Sache und Ausdruck bis zur Indifferenz einander zu nähern" (ND, 66), was eine Umschreibung dafür ist, eine Sache ihrem historischen Stellenwert nach vollständig zu erklären. Audruck, Darstellung und Mimesis haben also die Funktion der historischen Spezifizierung des Gegenstandes. Dem Sprachausdruck inhäriert immer schon ein spezifisch historischer Gehalt, den das überlieferte Sprachmaterial aufgenommen hat. Mit diesem Konzept geht bei Adorno eine Historisierung des philosophischen Denkens einher. Mit der Reflexion auf die Sprachgestalt des Denkens in der Konstellation kommt ein Schleiermachersches Moment von Dialektik herein: "Dialektik, dem Wortsinn nach Sprache als Organon des Denkens [...]" (ND, 66). In den Konstellationen kommuniziert das begriffliche Denken mit den Elementen konkreter Geschichte, die sich nicht in Gedanken auflösen lassen. Über die Sprache kommt das begriffliche Denken in ein Gespräch mit seinen Gegenständen. Es ist "dialektisch" im antiken Sinne einer Unterredungskunst, indem es sich mit den nicht in begriffliches Denken aufgehenden Phänomenen auseinandersetzt. Die Konstellationen Adornos sind also durch eine Verknüpfung verschiedener sprachlicher Formen gekennzeichnet. Sie enthalten nennende Einzelworte, abstrakte Begriffe und Ausdruck, Darstellung bzw. Mimesis. Dazu kommt ein Weiteres, was die Konzeption der Konstellation zur spezifischen Form kritischer Erkenntnis macht. Mehrere Begriffsformen desselben Typs beziehen sich kritisch aufeinander. Solche reflexive Rückwendung der Begriffsformen auf sich selbst führt zur ständigen Korrektur des Gedachten und Gesagten durch neues kritisches Denken. "Selbstreflexivität", eine der Haupt-

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kategorien der Negativen Dialektik, ist Wesensmerkmal der Konstellation, die die Verabsolutierung von Erkenntnisformen verhindert. Sie hält zugleich den Gedanken skeptisch offen auf das bisher nicht Gedachte an der zu denkenden Sache (vgl. U. Müller (1988), S. 97). Fassen wir zusammen: Die Idee der Konstellation bzw. der Konfiguration besagt, daß sich die verschiedenen sprachlichen Begriffsformen in einer Art Versuchsanordnung wechselseitig korrigieren und kritisierend um die Sache, die sie "bedeuten", gruppieren, ohne sie wie der traditionelle Begriff auf Identität als das Denkbare an ihnen festzulegen. Was Adorno an Benjamins Theorie des Namens kritisiert, ist ihr "Anspruch unmittelbarer Wahrheit" und die "Ideologie positiver, seiender Identität von Wort und Sache" (ND, 63). Die Konstellationen sind somit kritische Transformationen der bloß nominalistischen Nennfunktion der Worte durch Ergänzung verschiedener nicht-instrumenteller begrifflicher Erkenntnisweisen, die 'der Sache selbst' zum stringenten Ausdruck verhelfen. An dieser Stelle kommt in der "Einleitung" das Motiv der Erkenntnis als ein trosas iásetai herein (vgl. ND, 62). Adorno betont hier das relative Recht dieses Mythos. Aus dem begrifflichen Denken - der Negation des Namens - ist nicht dekretorisch herauszukommen. Die Konstellation ist für Adorno die konkrete Verlaufsform, wie durch den Begriff hindurch das Nichtbegriffliche aufgetan werden kann, ohne es dem Begriff gleichzutun. Mit dem Konzept der Konstellation hat die Negative Dialektik den Weg vorgezeichnet, auf dem für sie allein die Erfüllung ihrer philosophischen Intention zu liegen scheint. 5. Adornos Konzeption der Erschließung der Einzeldinge durch Konstellationen verschiedener sprachlicher Ausdrücke und Erkenntnisformen kulminiert im Begriff des Textes. Nicht das einzelne Wort, audi nicht der einzelne Satz, sondern der Text bildet die Bezugseinheit des hermeneutischen Verstehens. Dabei ist der Text von komplexerer Struktur als die lineare Abfolge einzelner Sätze. Dieser komplexe Textcharakter der Konstellation geht hervor aus Adornos Vergleich mit der "Komposition" und der "Schrift": "Aber es dürfte um die in Rede stehenden Kompositionen ähnlich bestellt sein wie um ihr Analogon, die musikalischen. Subjektiv hervorgebracht, sind diese gelungen allein, wo die subjektive Produktion in ihnen untergeht. Der Zusammenhang, den sie stiftet - eben die 'Konstellation' -, wird lesbar als Zeichen der Objektivität: des geistigen Gehalts. Das Schriftähnliche solcher Konstellationen ist der Um-

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schlag des subjektiv Gedachten und Zusammengebrachten in Objektivität vermöge der Sprache" (ND, 167f.). Das Wirkliche wird von Adorno als "Zeichen", "Figur", "Rätsel", "Chiffre" aufgefaßt, die durch subjektive Denktätigkeit erst in einen lesbaren Text verwandelt werden müssen. Mit Text sind keineswegs die heiligen Texte der theologischen und philosophischen Tradition gemeint, sondern Adorno will den Text der historisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit selbst entziffern. Es geht Adorno also um eine kritische Darstellung moderner gesellschaftlicher Wirklichkeit in der Suche nach deren verlorenem Sinn über die Erstellung ihres Textes. Der objektive Sinn der Konstellation wird durch die sprachliche Gestalt des Textes, die Schrift, gestiftet. Der subjektiv bedeutungsverleihende Vorgang soll zwar in der von ihm hervorgebrachten Bedeutung untergehen, ist jedoch keineswegs identisch mit ihr. Objektiver Sinn wird letztlich erst durch die Kraft der Sprache selbst gestiftet, die nicht mit der subjektiven Synthesisleistung identisch ist. Der Ermöglichungsgrund der synthetisch hergestellten begrifflichen Konstellationen ist bei Adorno nicht die synthetische Einheit des Bewußtseins, die synthetische Einheit der Apperzeption, sondern die der Sprache eigene Fähigkeit objektiver Sinnstiftung. Die Einheit des Bewußtseins, die Ermöglichung von Objektivität bei Kant, wird von Adorno in die Sprache verlegt. Sie überlebt - auf ein "einigende[s] Moment" (ND, 164) reduziert - in der Textstruktur der Sprache. Die synthetische Einheit des Textes übersteigt die des subjektiven Bewußtseins in einem strukturalistischen objektiven Sinne. Die denkende Hervorbringung von Sinn und Bedeutung ist zwar für Adorno wie für Kant Funktion menschlicher Subjektivität, gegen Kant fordert Adorno allerdings, daß die Subjekte in ihrer Produktion verschwinden sollen. Er erläutert dies an den nicht-begrifflichen Synthesen der musikalischen Komposition, in denen die subjektive Intention des Komponisten vollkommen in objektive Struktur und Prozesse untergegangen ist. Zusammenfassend läßt sich sagen: Bei Adorno geht das Konstituens der philosophischen Deutung der Wirklichkeit vom transzendentalen Subjekt an die sprachliche Textstruktur der Konstellation über. Insofern steht Adornos kritische Transformation des transzendentalen Vernunftbegriffs durch sprachliche Sinnkritik in das Konzept der Konstellation unter dem Vorzeichen des "linguistic turn". Die Theorie der Konstellation enthält Adornos bescheideneres, begrenztes, kritisches Vernunftkonzept, das sich als Alternative zum unbedingten Autonomieanspruch der Vernunft und des rein begrifflichen Denkens

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im Idealismus versteht. Adornos konstellativer Vernunftbegriff ist durch das Zusammenwirken von begrifflichen und anschaulich-expressiven, logischen und ästhetischen Momenten charakterisiert. Die diskursive Sprache des rein begrifflichen Denkens wird durch eine mimetische, nichtsignifikative der Intention nach nur erweitert, nicht aber widerrufen. c) Konstellation und Geschichte Die dem Einzelnen immanente Allgemeinheit, sein geistiger Gehalt, stellt sich als die in ihm "sedimentierte Geschichte" (ND, 165.) dar. Daraus ergibt sich ein weiterer Aspekt des Konstellationsbegriffs. Die Konstellation hat die in den Dingen aufgespeicherte Geschichte freizulegen. Adorno folgt dabei der hermeneutischen Regel, wonach die Erkenntnis eines Gegenstandes identisch ist mit der Erklärung dafür, wie der Gegenstand geworden ist. Geschichte hat dabei die Doppelbedeutung: Zum einen meint sie die innere Geschichte der Dinge, zum anderen den den Dingen äußeren, sie umgreifenden historischen Prozeß, worin sie ihren Ort haben. Dem entspricht eine zweifache Aufgabe des Konstellationsbegriffs: Die geschichtliche Konstellation zu erkennen, in der eine Sache steht, heißt, den geschichtlichen Prozeß zu entziffern, den die Sache als Gewordene in sich trägt. Andererseits kann sie die sedimentierte Geschichte im Gegenstand nur freilegen, wenn sie "auch den geschichtlichen Stellenwert des Gegenstandes in seinem Verhältnis zu anderen gegenwärtig hat" (ND, 165). In der wechselseitigen Erhellung von innerer und äußerer Geschichte geht es um die "Aktualisierung und Konzentration eines bereits Gewußten" (ebd.), wodurch dieses allererst in seiner spezifischen Relevanz deutlich wird. Wie verhalten sich "immanente Geschichte" und "umgreifende Geschichte" zueinander? Die Lokalisierung des thematisierten Gegenstandes innerhalb der ihn umgreifenden Geschichte bildet gewissermaßen die Möglichkeitsbedingung für die Beschreibung der dem Objekt immanenten Geschichte. Insofern ist sie in jedem Fall das Umfassendere gegenüber der immanent-geschichtlichen Struktur des Gegenstandes. Die Freilegung der dem Objekt immanenten Geschichte, die sich in ihm als Struktur sedimentiert, bedarf also seiner historischen Lokalisierung im ihn umgreifenden zeitlichen Prozeß der Geschichte. Insofern ist "der Chorismos von draußen und drinnen" Adorno zufolge "seinerseits historisch bedingt" (ND, 165).

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Die Konstellation dechiffriert die Diachronie im Rekurs auf die Synchronie. Es findet also eine Verräumlichung von Zeitlichem statt. Das Vertrauen in die Wahrheitsfahigkeit der Konstellation gründet in Adornos erkenntnistheoretischem Optimismus, "das Geheimnis der Zeit enthülle sich im Raum" (Theunissen (1983), S. 52). In der Tendenz geht der Konstellationsbegriff · seine ursprüngliche astrale Bedeutung als Sternbild unterstreicht dies - auf die Verräumlichung der in der Sache aufgespeicherten Geschichte durch die Konstellation, in der sie steht. Zeit und Raum stehen im Verhältnis von Innerem und Äußerem der Dinge; und so wie nach Adorno das Innere der Dinge nur im äußeren Verhältnis zur Darstellung kommt, so die Zeit nur im Raum. In der Konstellation sind ein dynamisches und ein statisches Moment zugleich präsent, eine zeitliche und räumliche Komponente untrennbar fusioniert. Die Kontaminierung des Werdens und des Seins im Gewordensein einer Sache bezeichnet eine genuin Hegeische Gedankenfigur, die am Anfang der Seinslogik im Übergang vom Werden zum Dasein auftritt: "Das Werden, so als Ubergehen in die Einheit des Seins und Nichts, welche als seiend ist oder die Gestalt der einseitigen unmittelbaren Einheit dieser Momente hat, ist das Dasein" (Hegels Werke 5, 113). Fassen wir zusammen: Wirklich verstehbar ist das Einzelne nicht für sich allein, nicht ausschließlich aus sich heraus. Verstehbar wird es erst aus seinem Beziehungskontext, in dem es steht. Diesen hat die Konstellation darzustellen. Dazu gehört insbesondere das Bewußtmachen des zeitlichen Umfeldes und des historischen Kontinuums, in dem das Einzelne steht. Unabdingbare Voraussetzung einer genauen Bestimmung des Verhältnisses des Einzelnen zu anderem Einzelnen ist seine geschichtliche Lokalisierung. Ziel der Konstellation ist die historische Spezifizierung des Gegenstandes. Diese besteht in der Freilegung seiner immanenten Entstehungsgeschichte, die zugleich seine Lokalisierung im gesamten Geschichtsverlauf erfordert. In Die Aktualität der Philosophie beschreibt Adorno die Bildung von Konstellationen als experimentelles Konstruieren "von Bildern aus den isolierten Elementen der Wirklichkeit" (ΑΡΗ, 335), die auch "geschichtliche Bilder" (ΑΡΗ, 341) genannt werden.

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d) Praktisches, metaphysisches und utopisches Moment der Konstellation 1. Adorno unterstellt die Konstellation letztlich dem praktischen Ziel der Veränderung bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse. In ihrem projektiven, vorgreifenden Charakter ist sie zugleich als praktischer Eingriff in die Realität gedacht. Diesen projektiv-praktischen Aspekt hat Adorno im Auge, wenn er über die Möglichkeitsbedingung für die Konstruktion einer lesbaren Konstellation schreibt: "Metaphysik [...] als lesbare Konstellation von Seiendem [...] muß [...] sich auf das Wünschen verstehen [...]. Aber Denken, selber ein Verhalten, enthält das Bedürfnis - zunächst die Lebensnot - in sich. Aus dem Bedürfnis wird gedacht, auch, wo das wishful thinking verworfen ist. Der Motor des Bedürfnisses ist der der Anstrengung, die Denken als Tun involviert" (ND, 399). 2. Ist Metaphysik nur noch als als lesbare Konstellation von Seiendem möglich, so transformiert sich Metaphysik in "Mikrologie". Die Gegenstände öffnen sich allein einem Blick, der sieht, was sie sein könnten. Allein der Zugang zum Wesen der Dinge über die Konstellation eröffnet ihre metaphysische Dimension, läßt Transzendenz in ihnen aufscheinen. Obgleich Adornos Wahrheitsbegriff immer geschichtlichen Charakter hat, oder, wie Adorno im Anschluß an Benjamin sagt, einen "Zeitkern" besitzt, soll Adornos Intention nach Wahrheit nicht in Geschichte aufgehen. Der Bezug auf Geschichte ist vielmehr nur notwendige Bedingung dafür, daß man so etwas wie Objektivität der Wahrheit überhaupt erreichen kann, die in ihrem Wesen "metaphysisch" sei. Es ist allerdings fraglich, ob Adorno den Wahrheitsbegriff in der Durchführung seiner Theorie der Historisierung und Soziologisierung des philosophischen Denkens wirklich entziehen kann. 3. Die utopische Tendenz ist angelegt in Adornos Vergleich mit der Schrift: "Das Schriftähnliche solcher Konstellationen ist der Umschlag des subjektiv Gedachten und Zusammengebrachten in Objektivität vermöge der Sprache" (ND, 167f.). Der Hegeische Gedanke des Umschlags des Negativen ins Positive wird hier so gewendet, daß, "ohne Negation der Negation" (ND, 164), vermöge eines durchs Subjekt vermittelten Objektiven, der Sprache, Objektivität sich herstellt. Im letzten Aphorismus der Minima Moralia wird dieser bezeichnende Begriff des Umschlags des Subjektiven ins Objektive ins Utopische gewendet. So wie "die Begriffe um die zu erkennende Sache sich versammeln" (ND, 164), so schieße "die vollendete Negativität, einmal

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ganz ins Auge gefaßt, zur Spiegelschrift ihres Gegenteils" (MIMO, 334) zusammen. Über das Schriftbild erfolgt der Umschlag von Subjektivität in Objektivität, von Negativität ins Positive und von der schlechten gegenwärtigen Wirklichkeit ins Utopisch-Zukünftige. Allerdings steht in Frage, ob der sinnstiftende Text in dieser komplexen Funktion nicht hoffnungslos überlastet ist. Ihm spricht Adorno quasi mythische Kraft zu. Die theoretische Spiegelung der Negativitität der Wirklichkeit wird als ihre partielle Überwindung ausgegeben. Adornos kritische Darstellung des Negativen der bestehenden Welt krankt daran, daß sie ohne Voraussetzung eines positiven Maßstabs der Kritik auskommen zu können glaubt.

e) Konstellationen und Modelle Adorno erweitert seine Konstellationstheorie, indem er die Konstellation als methodische Verfahrensweise in eine noch umfassendere Form integriert, in die Theorie des Modells, das den Konstellationen einen Theoriestatus sichert, der über die Verbindlichkeit der Erkenntnis in bezug auf eine einzelne Sache hinausgeht. Die konstellativ erkannte einzelne Sache wird mit einer ebenso konstellativ erkannten anderen Sache in einem Modell verbunden. Die Verbindlichkeitsform der Modelle reklamiert Adorno für den philosophischen Diskurs schlechthin. Die dem Modelldenken immanente Systematizität stellt Adorno dem idealistischen Systemdenken gegenüber. Von dessen deduktiv-nomologischer oder spekulativ-dialektischer Methode unterscheidet es sich durch die induktiv-experimentelle Methode und durch die Differenz in der Form des Denkens. Adorno erläutert sie durch die Unterscheidung von "esprit de système" und "esprit systématique" (ND, 35). Modelldenken hat die Form der Enzyklopädie. Es vereint in sich spezifische Sachnähe, kritische Selbstreflexion des Denkens und Systematizität, deren Kern um die Spiegelung der herrschenden Negativität zentriert ist. - Adornos Theorie der Konstellation und der Modelle zeigt, daß die Negative Dialektik nicht nur ein weiterer Fall einer spezifischen philosophischen Praxis darstellt, sondern eine (Meta)-Theorie des in den materialen Arbeiten praktizierten philosophischen Diskurses, insofern 'prinzipientheoretischen' Charakter aufweist.

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3. Zur Genese von Adornos Konzept der Konstellation a) Konstellation in der Wissenschaft, Konstellation und Musik Adorno erläutert das Verfahren der Konstellation mit M. Webers Modell der Idealtypenbildung und an Benjamins metaphysischer Untersuchung Ursprung des deutschen Trauerspiels. Es war Benjamin, der den Begriff der Konstellation (auch: Konfiguration) von Ideen in die philosophische Terminologie einführte. Darüber hinaus erläutert Adomo die Konstellation anhand nicht-begrifflicher Formen von Synthesen, den musikalischen Kompositionen, in denen die subjektiven Intentionen des Komponisten vollkommen in Strukturen und Prozesse eingegangen sind. Die Sprache der Philosophie orientiert Adorno am Modell der Musik. Vor allem der Schönbergschen Kompositionspraxis kommt nach U. Müller eine prototypische Funktion für Adornos Philosophiebegriff zu. 26 Wesentliche Anregungen für sein methodisches Konzept der Konstellationsbildung scheint er überhaupt erst von Schönberg erhalten zu haben. Adorno überträgt insbesondere die Formkonzeption Schönbergs auf philosophische Texte. Deren konstellative Erkenntnisform ist der Struktur der Schönbergschen Zwölftonreihe darin ähnlich, daß sie kein ausdifferenziertes System deduktiven oder klassifikatorischen Charakters bilden. Beide Formvorstellungen richten sich kritisch gegen jedes monistische Gestaltungsprinzip. Beide favorisieren eine radikale De-zentrierung. Nicht systematische Geschlossenheit im ganzen, sondern der immanente Zusammenhang der einzelnen Elemente einer Komposition bzw. Begriffskonstellation bezeichnet die wesentliche Eigenschaft von Adornos und Schönbergs Formkonzeption, die die kritische Darstellung der Negativität im Sinne einer Spiegelung der Negativität sichern soll, ohne auf Positives zurückgreifen zu müssen. Adorno kritisiert an Schönberg, daß die konsequente Anwendung der Zwölftontechnik partiell wieder zur Geschlossenheit eines formalen System tendiere und so in Positivität umschlage. Um das ungewollte Resultat zu korrigieren, revidiere Schönberg seine Methode in einer partiellen Rückkehr zur harmonischen Komposition. Nach U. Müller beruht diese Kritik Adornos in einer Fehleinschätzung, denn Schönberg könne durchaus dem seriellen Verfahren selbst Expressivität und antithetischen Charakter verleihen. Adornos Mißverständ26

Vgl. zum folgenden U. Müller (1988), S. 192fr.

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nis sei durch die Struktur seines eigenes Denkens begründet: der Gefahr, daß das als Anti-System konzipierte Konstellationsverfahren wieder zum System wird (vgl. U. Müller (1988), S. 197). U. Müller ist in seiner Korrektur an Adornos Schönbergkritik sicher Recht zu geben. b) Adornos Transformation des klassischen Vernunftbegriffs über seine Benjamin-Rezeption Adorno nimmt mit seinem Konzept der Konstellation eine kritische Transformation und Revision des klassischen Vernunftbegriffs vor, der seine Wurzeln in der Antike hat. U. Müller konstatiert eine grundlegende Affinität zwischen Piaton und Adorno (vgl. U. Müller (1988), 80ff.). Tatsächlich läßt sich die Begriffskonstellation Adornos als negativ-dialektisches Äquivalent der späten Platonischen Ideenlehre verstehen, die ja ein relationales Ideengefüge darstellt. U. Müller ist der Auffassung, daß der späte Piaton jene negative Dialektik, die Adorno intendiert, schon präformiert. Dazu muß er allerdings die skeptisch-aporetische Lesart Piatons bevorzugen. Nur wenn man den Spätdialogen Piatons ihren spekulativen-esoterisehen Hintergrund nimmt, läßt sich sagen, daß sie für ein unvermitteltes Nebeneinander-Stehenlassen der Gegensätze in der Dialektik eintreten. Der unaufgelöste Widerspruch ist für den Dialektikbegriff des exoterischen Piaton als auch für Adornos Dialektikbegriff konstitutiv. Die Differenz zwischen Piaton und Adorno besteht in zweierlei: 1. Während der esoterische Piaton in gut idealistischer Art das dialektisch Andere auf spekulative Vernunft hin transzendiert und darin auflöst, verläßt Adorno Dialektik nach Ausschöpfung aller zur Verfügung stehenden Denkmittel auf das Andere des Denkens hin. 2. Adorno weist eine Gemeinsamkeit mit dem exoterischen Piaton und eine Differenz zum esoterischen auf. So wie der exoterische Piaton beim negativen Ergebnis dialektik-immanenter Überlegungen, dem Konstatieren von Gegensätzen, stehenbleibt und das positiv-metaphysische Ergebnis nur aporetisch-negativ durchscheinen läßt, meint Adorno nicht nur in begründeten Fällen in Widersprüchen denken, sondern auch beim Stehenbleiben in unaufgelösten Widersprüchen eine kritische Beendigung der dialektischen Denkpraxis herbeiführen zu können. Adomo weigert sich, den vorausgesetzten positiven Maßstab der Kritik zu entwickeln. Die Differenz Adornos zum späten Piaton betrifft die Fähigkeit zur Selbstreflexion und Selbstkritik, die

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über den immanenten Vernunftbereich hinausführt, und so den dialektischen Begriff mit seinem Änderen komplettiert. Das philosophische Verbindungsglied zwischen Piaton und Adorno ist Walter Benjamin. Adorno entnimmt Begriff und Konzeption der Konstellation nicht direkt der Platonischen Ideenlehre, sondern Benjamins unorthodoxer Platon-Interpretation in der "Erkenntnistheoretischen Vorrede" seines Trauerspielbuchs. Benjamin geht es hier um eine philosophische Theorie der Erfahrung der Wahrheit, die Elemente der Lehren Kants und Piatons verbindet. Die Erfahrung der Wahrheit ist möglich als "Darstellung der Idee". Unter dem Terminus Idee versteht Benjamin wie Piaton das "wahre Sein" der Phänomene. Wie verhalten sich Idee und Phänomene zueinander? Zwischen den Ideen als dem wahren Sein der Phänomene und deren empirischem Sein vermittelt der Begriff. Aufgabe des Begriffs ist die Zergliederung der Phänomene in ihre Formelemente. Um die Ideen darstellen zu können, müssen die Elemente zunächst aus den Phänomenen begrifflich ausgesondert und dann in einem zweiten Schritt miteinander verknüpft werden. Erst durch beide Schritte zusammen kommen Ausdruck und Erfahrbarkeit der sie prägenden Idee zum Vorschein. Die Ideen kommen also durch spezifische Synthesen, durch nicht-additive "Konfigurationen" von Formelementen der Phänomene zur Darstellung. Benjamin vergleicht sie mit der "Konfiguration von Sternen", die zur Darstellung bringen, was in ihnen auch als Summe nicht enthalten ist: das "Sternbild". Durch die Synthesis der analysierten Formelemente der Phänomene vollbringt der Begriff ein Doppeltes: "die Rettung der Phänomene und die Darstellung der Ideen" (Trauerspielbuch, S. 17). Der Charakter der Konstellation ist der des 'intentionslosen Seins', des diskontinuierlichen, unmittelbaren und plötzlichen Zusammentretens der Elemente in Konfiguration, in die das Verhalten des Subjekts eingeht und verschwindet. "Die Wahrheit ist der Tod der Intention" (Trauerspielbuch, S. 18). Benjamin unterscheidet das "Haben" und den Besitzcharakter der Verstandeserkenntnis von Gegenständen und die "Darstellung" der Ideen (vgl. Trauerspielbuch, S. 11). Mit dieser Unterscheidung transformiert er die Kantische von Verstand und Vernunft. Der von Benjamin exponierte emphatische Wahrheitsbegriff hat nichts mehr mit der klassischen Wahrheit als adaequatio von Begriff und Sache zu tun. Das Wesen der Wahrheit ist das "Sich-Darstellen" der Idee, die von der subjektiven Form der Darstellung nicht vollständig erreicht

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werden kann. Die sich darstellenden Ideen bilden bei Benjamin also wie bei Piaton eine Welt für sich, die in der subjektiven Darstellung nur punktuell und transitorisch zu interpretativer Präsenz kommen können. Die subjektiven Darstellungsformen der Konstellation "Mosaik" und "Traktat" sind wegen ihrer unsystematischen Verfahrensweisen prädestiniert für eine Annäherung an die sich darstellende Wahrheit. So kommt also alles darauf an, daß durch konstellative Anordnungen die Formelemente der Phänomene über ihren "Besitzerstatus" hinaus die Funktion eines Mittels für die Darstellung des nicht als Besitztum zu habenden Seins der sich darstellenden Ideen erfüllen können. Benjamins Lösung des "Darstellungsproblems" - der Darstellung der nicht als Besitztum zu habenden Ideen in einer Konstellation begrifflicher Zerteilungen der Phänomene - hat frühromantische Spekulationen zum Vorläufer. Der Benjaminsche Darstellungsbegriff ist eine Art Ausweg aus der Alternative von diskursivem Denken und intellektueller Anschauung. Schon zuvor hat er am frühen Friedrich Schlegel die Intention wahrgenommen, "zwischen dem diskursiven Denken und intellektueller Anschauung eine Vermittlung zu suchen" (Benjamin I, 47). Benjamins unorthodoxe Platon-Interpretation hat auf Adorno größten Einfluß ausgeübt. Während es Benjamin aber primär um die Darstellung bereits vorhandener Ideenkonstellationen geht, ist Adorno wesentlich an der subjektiven Leistung der Konstruktion von Konstellationen und Versuchsanordnungen orientiert. Auch die platonistische Zweiweltentheorie von Phänomen und Idee trennt Benjamin von Adorno, der eine Materialisierung der Idee vornimmt. Beide setzen die "Begriffe" als Vermittlung zwischen Ideen- und Dingwelt ein. Während aber bei Benjamin die überempirischen Ideen durch begriffliche Konstellationen nur empirisch veranschaulicht und damit durch defizitäre Darstellungsformen vergegenwärtigt werden, stellt Adorno die Idee auf empirisch-begrifflichem Wege überhaupt erst her. Adorno nimmt eine materialistische Umkehrung der idealistischen Ideenlehre Piatons vor. Während es Benjamin auf die platonische Interpretation der Phänomene durch die Kraft der ewigen Idee ankommt, geht es Adorno um die philosophische Deutung der Realität auf der Basis des Materiellen, mit dem Ziel, die Idee aus der Konstellation der empirisch-begrifflichen Elemente der Dinge zu konstituieren. Adornos Theorie der Konstellation enthält somit das Programm einer materialistischen Erkenntnistheorie. Sie ist eine materialistisch umgewendete Ideenlehre. Diese ist allerdings vor der Gefahr der Historisierung der Wahrheit nicht gefeit.

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4. Die Aporie von Adornos Konstellationskonzeption Obgleich Adorno in seinem Philosophiekonzept der Konstellation sowohl den Widerspruch, dem Schelling unterliegt, das Andere der Vernunft zu dessen Prinzip zu machen, als auch die Inkonsistenz des Heideggerschen Philosophiekonzepts, das positive Gegenprinzip zur Vernunft zum Prinzip der Philosophie zu machen, vermeidet, hat er sie nicht zu einer tragfähigen Theorieform ausarbeiten können. Das hat mehrere Gründe. Adornos Konstellationsbegriff leidet erstens an einer Überkomplexität. Ähnlich wie Schellings Weltalterphilosophie bricht die Konstellation in einen Methodenpluralismus auseinander, dessen Elemente in relativer Unverbundenheit nebeneinanderstehen. Jedenfalls können sie in keine methodisch irgendwie kontrollierbare Einheit überführt werden. Der zweite Grund dürfte darin bestehen, daß Adorno seine Intention auf Vorrangstellung des argumentativen, begrifflichen Denkens in der Konstellation in der Durchführung seiner Theorie nicht durchhalten kann. Von diesem Vorrang bleibt letztlich nur noch der Gestus des Anspruchs zurück. Überhaupt bleibt Adornos Theorie größtenteils in der Beschreibung ihrer Intentionen stecken. Drittens hat Adomo einen unzureichenden Wahrheitsbegriff, da er den Identitätsbegriff im Sinne der Konsistenz verwirft, und zudem wird der Wahrheitsbegriff zwar "metaphysisch" verankert, der Tendenz der materialistischen Historisierung aber nicht wirklich entzogen. Dem entspricht, daß Adorno es in der Theorie mit der theoretischen Spiegelung der herrschenden Negativität glaubt, bewenden lassen zu können, und auf die Explikation eines positiven Maßstabs der Kritik verzichtet. In der durchgeführten Theorie schlägt Adornos philosophisch richtig in Ansatz gebrachte Intention, den Vernunftbegriff auf sein Anderes hin zu transzendieren, ohne ihn in seinem philosophischen Vorrang zu opfern, ins Gegenteil um. Adornos Konstellationsbegriff ist letztlich ungeeignet zur Erfüllung seiner Intention, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzutun. Es ist daher ein bleibendes philosophisches Desiderat der Moderne, eine Philosophiekonzeption zu entwickeln, in der unter Einbeziehung eines zureichenden Wahrheitsbegriffs ein konsistentes Verhältnis von argumentativem, begrifflichem Denken (klassisch: Vernunft) und seinem Anderen zu stehen kommt. Ein solches Philosophiekonzept wurde im Ausgang des Deutschen Idealismus von Schelling ins Auge gefaßt, wenn auch nur unbefriedigend, weil widersprüchlich realisiert. Die Philosophiekonzepte Heideggers und

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Adornos haben im 20. Jahrhundert unter veränderten Bedingungen einen neuen Anlauf genommen, dieses Erfordernis der nachidealistischen Philosophie einzulösen. Während Heidegger im Gefolge von Schopenhauers und Nietzsches Vernunftkritik und im Gefolge des Paradigmenwechsels der Existenzphilosophie Kierkegaards zu einem inkonsistenten Monismus der Befindlichkeit kommt, hält Adorno zwar an der Unhintergehbarkeit von Rationalität fest, doch scheitert audi sein Programm, sie auf andere Dimensionen zu erweitern, ohne sie in ihrer Einheitlichkeit und Vorrangigkeit als solche preiszugeben. In der Nachfolge Adornos scheint am ehesten Habermas ein Vernunftkonzept erarbeitet zu haben, das dem Kriterium einer nichtmonistischen Einheit standhält. Es setzt nicht nur den "lingustic turn", die Reflexion auf Gesellschaft, Geschichte und Sprache voraus, sondern die Transzendierung des Subjekt-Objekt-Modells der Vernunft auf das Paradigma der Intersubjektivität hin, dessen nicht rationale, expressive, basal erotische Komponente allerdings nicht vernachlässigt werden darf. Wie sich in einer immanenten Kritik am platonischen Erosbegriff zeigen ließe, entspricht Eros seinem Begriff und ist insofern 'vernünftig' strukturiert, als sich an ihm eine dialogische Dimension aufweisen läßt. Gelingende, affirmative Intersubjektivität ist wesentlich von einem dialogischen Eros mitgetragen. Festzuhalten bleibt, daß eine konsistente Kritik am traditionellen Vernunftbegriff einen eigenen Vernunftbegriff voraussetzt, der erstens die Einheit seiner aufeinander nicht reduzierbaren Momente zu explizieren vermag und sich zweitens seiner nichtrationalen Quellen zu versichern weiß.

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ZIMMERLI,

Zeittafel 1775

27. Januar: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling in Leonberg (Württemberg) geboren

1790

18. Oktober: Eintritt ins Tübinger Stift. Philosophiestudium in Tübingen. Wohnen und Studieren zusammen mit Hölderlin und Hegel.

1791/92

Timaioskommentar [nicht ediert]

1792

Antiquissimi de prima malorum humanorum origine philosophematis Genes. III. explicandi tentamen criticum et philosophicum [philosophische Magisterarbeit]. Beginn des Theologiestudiums

1792/93

Römer und Galaterbrief [nicht voll entziffert]

1793

Über Mythen, historische Sagen und Philosopheme der ältesten Welt Juni: Begegnung mit Fichte bei dessen Aufenthalt in Tübingen

1794

Mai: Weitere Begegnung mit Fichte September: Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie Hölderlin und Hegel verlassen das Tübinger Stift

1795

März: Vom Ich als Prinzip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen Juni: De Marcione Paulinarum epistolarum emendatore [theologische Examensdissertation] November: Stellung als Hofmeister bei Baron von Riedesel

1795/96

Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kritizismus Neue Deduktion des Naturrechts

1796

März, April: Übersiedlung von Stuttgart nach Leipzig. Naturwissenschaftliche Studien

1796/97

[Das älteste Systemprogramm des dt. Idealismus] Allgemeine Übersicht der neuesten philosophischen Literatur [= Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre, in: I, 343-473]

404

Zeittafel

1797

Frühjahr: Ideen zu einer Philosophie der Natur und Einleitung zu den Ideen zu einer Philosophie der Natur Mai: Bekanntschaft mit August Wilhelm Schlegel 28. Mai: Begegnung mit Goethe in Jena

1798

Von der Weltseele, eine Hypothese der höheren Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus August bis Oktober: Aufenthalt in Dresden Begegnung mit Novalis, den Schlegels und Fichte Oktober: Berufung als außerordentlicher Professor in Jena auf Empfehlung Goethes und Beginn der Lehrtätigkeit in Jena. Umgang mit Fichte, Goethe, Schiller, Ritter, G.H. Schubert, Steffens etc. WS: Die Elemente des transzendentalen Idealismus: Philosophie der Natur

1799

Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie und Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie Fichte verläßt Jena aufgrund des "Atheismusstreits". F. Schlegel, D. Veit und L. Tieck kommen nach Jena Engeres Techtelmechtel mit Caroline Schlegel SS: Allgemeines System der transzendentalen Philosophie WS: Erste Vorlesung zur Philosophie der Kunst Winter: Gedicht: Epikurisch Glaubensbekenntnis Heinz Widerporstens

1800

System des transzendentalen Idealismus Im Frühjahr beginnt die von Schelling herausgegebene Zeitschrift für spekulative Physik zu erscheinen Allgemeine Deduktion des dynamischen Prozesses Medizinische Studien Schellings in Bamberg Juli: Tod von Auguste Böhmer, Tochter Carolines Oktober: Rückkehr nach Jena

1801

Januar: Hegel kommt nach Jena. Zusammenarbeit von Schelling und Hegel. Entfremdung von Fichte Über den wahren Begriff der Naturphilosophie und Darstellung meines Systems der Philosophie SS: Philosophische Propädeutik WS: Allgemeines System der Philosophie

1802

Bruno oder über das göttliche und natürliche Prinzip der Dinge Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie Das zusammen mit Hegel herausgegebene Kritische Journal der Philosophie erscheint Ehrendoktorwürde der Medizin der Universität in Landshut

Zeittafel

405

Scharfe Angriffe gegen die Naturphilosophie von Franz Berg in Lob der allerneuesten Philosophie 1803

Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums Juni: Heirat mit Caroline Schlegel Berufung nach Würzburg WS: Allgemeine Methodologie und Enzyklopädie der Wissenschaften Schelling-Kritik von Fr. Koppen: Schellings Lehre oder das Ganze der Philosophie des absoluten Nichts, als Beilage drei Briefe verwandten Inhalts von F.H. Jacobi

1804

Immanuel Kant Philosophie und Religion System der gesammten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere (Würzburger System) Antikritiken Schellings

1805

Schelling gibt zusammen mit Marcus die Jahrbücher der Medizin als Wissenschaft heraus

1806

Schelling in München: Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Bis 1820 keine Lehrtätigkeit Aphorismen über die Naturphilosophie Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichte'schen Lehre, dadurch öffentlicher Bruch mit Fichte

1807

Hegels Schelling-Kritik in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes. Dadurch Entfremdung beider voneinander Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur: Rede vor der Akademie der Wissenschaften

1808

Generalsekretär der Akademie der bildenden Künste in München Reise mit Caroline in die bayerischen Alpen

1809

Mai: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände 7. September: Tod Carolines. Ernste Existenzkrise

1810

Stuttgarter Privatvorlesungen, Beginn der Arbeit an den Weltaltern Über den Zusammenhang der Natur mit der Geisterwelt. Ein Gespräch

406

Zeittafel Briefwechsel mit Eschenmeyer bezüglich der Abhandlung Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit

1811

April: Die Weltalter. Erstes Buch. Die Vergangenheit. Druck I (Korrekturen)

1812

F. W.J. Schilling's Denkmal der Schrift von den göttlichen Dingen etc. des Herrn Friedrich Heinrich Jacobi Mai: Verlobung mit Pauline Gotter. 11. Juni: Heirat Oktober: Aufenthalt in Nürnberg. Begegnung mit Hegel 5. Oktober: Tod des Vaters

1813

Die Weltalter. Erstes Buch. Zweite Fassung (Korrekturen) 17. Dezember: Geburt des Sohnes Paul Herausgeber der Allgemeine[n] Zeitschrift von Deutschen für Deutsche

1814/15

Die Weltalter. Dritte Fassung (Korrektur)

1815

Über die Gottheiten von Samothrake 2. August: Geburt des Sohnes Friedrich

1816

Januar: Berufung als Professor nach Jena

1818

3. Juli: Geburt der Tochter Clara 8. Juli: Tod der Mutter Schellings

1820

Im Spätherbst als Honorarprofessor nach Erlangen

1821

4. Januar: Erste Vorlesung: Einführung in die Philosophie SS: Philosophie der Mythologie 20. Juli: Geburt der Tochter Julia

1822

Vorlesung: Zur Geschichte der neueren Philosophie (Erstfassung, Umarbeitungen in München)

1826

Berufung an die neugegründete Münchener Universität

1827

Mcu: Ernennung zum Konservator der wissenschaftlichen Sammlungen des bayerischen Königshauses. August: Ernennung zum Präsidenten der Akademie der Wissenschaften WS: Allgemeine Methodologie des akademischen Studiums. Das System der Weltalter

1828

SS und WS: Allgemeine Methodologie des akademischen ums. Philosophie der Mythologie

Studi-

407

Zeittafel 1829

SS: Philosophie der Mythologie WS: Freisemester August: Begegnung mit Hegel in Karlsbad

1830

SS: Einleitung in die Philosophie WS: Philosophie der Mythologie

1831

SS: Philosophie der Mythologie WS: Philosophie der Offenbarung

1832

28. März: Akademierede über die Entdeckung der elektomagnetischen Induktion durch Faraday

1833

SS: System der Weltalter WS: Geschichte der philosophischen

1834

Systeme

SS: Philosophie der Mythologie Sommer: Vorrede zu einer philosophischen Victor Cousin WS: Philosophie der Offenbarung

Schrift des Herrn

1835

Bis 1840 Lehrer für Philosophie des Kronprinzen, späteren Königs Maximilian II. SS: Freisemester WS: Philosophie der Mythologie

1836

SS: Einleitung in die Philosophie WS: System der positiven Philosophie

1837

SS: Philosophie der Mythologie WS: Grundlage der positiven Philosophie. Philosophie der Mythologie

1838

SS: Über das Studium der Philosophie. Philosophie der Mythologie WS: Philosophie der Offenbarung

1839

SS: Allgemeine Einleitung in die Philosophie WS: Freisemester

1840

SS: Freisemester August: Berufung nach Berlin WS: Einleitung in die Philosophie. Philosophie der Mythologie September: Reise nach Venedig

1841

15. November: Erste Vorlesung in Berlin WS: Philosophie der Offenbarung

1842

SS: Philosophie der Mythologie WS: Philosophie der Mythologie

408

Zeittafel

1843

H.E.G. Paulus veröffentlicht eine Mitschrift über die Vorlesung Philosophie der Offenbarung vom WS 1841/42. Schelling verliert den Prozeß gegen Paulus

1844

SS: Philosophie der Offenbarung WS: Philosophie der Mythologie

1845

SS und WS: Philosophie der Mythologie

1846

April: Vorwort zu H. Steffens nachgelassenen Schriften Schelling beendet seine Vorlesungen an der Berliner Universität und hält nur noch Vorträge vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften bis 1852

1854

20. August: Schelling stirbt während einer Kur in Bad Ragaz (Schweiz)

Christian Iber

Metaphysik absoluter Relationalität Eine Studie zu den beiden ersten Kapiteln von Hegels Wesenslogik Groß-Oktav. XVIII, 529 Seiten. 1990. Ganzleinen ISBN 3-11-012438-6 Der Autor begreift die beiden ersten Kapitel von Hegels Wesenslogik als ontologiekritische Grundlegung einer universalen Relationsmetaphysik. Diese Perspektive holt er durch eine Binneninterpretation ein, die den Text zugleich durch externe Gesichtspunkte erschließt, indem sie ihn als Beitrag zur Standortbestimmung der Moderne vorfuhrt und an ihn die Wahrheits frage stellt.

Walter de Gruyter

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Karl Rosenkranz Briefe 1827 bis 1850 Herausgegeben von Joachim Butzlaff Groß-Oktav. VIII, 539 Seiten. 1994. Ganzleinen ISBN 3-11-014373-9 (Quellen und Studien zur Philosophie, Band 37) Edition von 380, zur Hälfte bisher noch unveröffentlichten Briefen von Karl Rosenkranz (1805—1879), Literaturhistoriker und Hegel-Forscher in Halle und Königsberg. Zu den Empfängern gehören der ältere Sohn und die Gattin Georg Wilhelm Friedrich Hegels, Immanuel Hermann Fichte, Arnold Ruge, Arthur Schopenhauer und Johann Wolfgang von Goethe. Auszug aus dem Brief Nr. 177 an Marie Hegel (Königsberg, d. 2.4.1840): [Rosenkranz' Hegelbiographie entstand nicht zuletzt aus Ehrfurcht demjenigen gegenüber,] dem man sein geistiges Leben [verdankt] ... Ich glühe vor Enthusiasmus, das große Werk, Hegels Leben, zu schreiben, mit aller Kraft des Geistes und mit Gottes Hilfe zu vollbringen ... Ich fühle die ungeheure Verpflichtung, die ich für die Nachwelt habe, ich fühle, wie gerade diese Biographie Hegels Philosophie der Welt erst noch recht aufschließen kann; ich jauchze im stillen über die Kombinationen und Wendungen die sich mir auftun und wünschte, ein klassisches Werk zu liefern. Ach, es gibt nichts Seligeres als den Ruhm eines großen Menschen apostolisch zu verkünden, um andere zu seiner Nacheiferung, zur Erkenntnis ihres Lebens im seinigen zu entzünden ...

Walter de Gruyter

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