Die Selbsterhaltung der Vernunft: Kant und die Modernität seines Denkens 3465046196, 9783465046196

How can we find our bearings in the world without losing ourselves, how can we preserve our rational abilities and capac

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Die Selbsterhaltung der Vernunft: Kant und die Modernität seines Denkens
 3465046196, 9783465046196

Table of contents :
Front Cover
Impressum
Inhalt
Vorwort
1. Prolog
2. Aufklärung als Epoche und Haltung
3. Jenseits der Aufklärung
4. Dialektik der Vernunft
5. Dialektik der Unmündigkeit
6. Eine Zwischenüberlegung
7. Aufklärung durch Vernunftkritik
8. Der Mensch stellt Fragen, seine Vernunft antwortet
9. Ferien von der Vernunft
10. Gesunde Vernunft
11. Selbstdenken und Aufklärung
12. Humanität und Tugend
13. Denkfreiheit
14. Pause
15. Krankheit und Gesundheit
16. Freiheit und Widerstand
17. Epilog
Hinweis zu Editionen von Kants Schriften
Personenregister

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Heiner F. Klemme Die Selbsterhaltung der Vernunft

RoteReihe Klostermann

Kant und die Modernität seines Denkens

Heiner F. Klemme  ·  Die Selbsterhaltung der Vernunft

Heiner F. Klemme Die Selbsterhaltung der Vernunft Kant und die Modernität seines Denkens

KlostermannRoteReihe

In Erinnerung an meine Eltern

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © Vittorio Klostermann GmbH · Frankfurt am Main · 2023 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des Nachdrucks und der Übersetzung. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Werk oder Teile in einem photomechanischen oder sonstigen Reproduktions­verfahren oder unter Verwendung elektronischer Systeme zu verarbeiten, zu vervielfältigen und zu verbreiten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Marion Juhas, Frankfurt am Main Druck: docupoint GmbH, Barleben Printed in Germany ISSN 1865-7095 ISBN 978-3-465-04619-6

Inhalt Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1.

Prolog. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

2.

Aufklärung als Epoche und Haltung . . . . . . . . . . . . . . . 25

3.

Jenseits der Aufklärung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

4.

Dialektik der Vernunft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

5.

Dialektik der Unmündigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

6.

Eine Zwischenüberlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

7.

Aufklärung durch Vernunftkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

8.

Der Mensch stellt Fragen, seine Vernunft antwortet. . . 49

9.

Ferien von der Vernunft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

10. Gesunde Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 11. Selbstdenken und Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 12. Humanität und Tugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 13. Denkfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 14. Pause. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 15. Krankheit und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 16. Freiheit und Widerstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 17. Epilog. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Hinweis zu Editionen von Kants Schriften. . . . . . . . . . . . . . . 117 Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

Vorwort „Die Menschen haben Vernunft, aber es kommt darauf an, wie sie sich derselben bedienen.“ (Immanuel Kant, Vorlesung über Anthropologie, 1781/82)

Kant ist der Philosoph der reinen Vernunft und des kategorischen Imperativs. Dass er darüber hinaus der Philosoph des richtigen, guten und gesunden Vernunftgebrauchs ist, dass er ein vitales Interesse an der Frage nimmt, wie wir uns in dieser Welt ohne Selbstverlust zu orientieren vermögen, ist dagegen weniger bekannt. Dabei sind es gerade diese Fragen, die den Fluchtpunkt seines gesamten Philosophierens bezeichnen. Die Frage nach dem Menschen und seiner Bestimmung ist für ihn immer auch eine Frage nach den Bedingungen, unter denen wir unsere rationalen Fähigkeiten und Vermögen erhalten können. Zwar hat sich Kant zum Verhältnis von Theorie und Praxis in den Bereichen von Ethik und Recht auch dahingehend geäußert, dass die richtige Theorie schon selbst für ihre eigene Praxis sorgen wird. Doch die Thematik der Selbsterhaltung der Vernunft weist über die praktische Philosophie (die „Philosophie über die praxis“1) hinaus. Sie betrifft unser gesamtes Leben, strahlt in alle Bereiche unseres Denkens, Fühlens und Wollens aus. Die von Kant entfalteten Dimensionen der Selbsterhaltung 1   AA 19: 107 (Reflexion 6608); vgl. AA 19: 171 (Refl. 6817) u. AA 16: 781 (Refl. 3327). Kants Schriften werden hier und im Folgenden nach der Akademie-Ausgabe (Sigel AA) der Gesammelte(n) Schriften (hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften u.a., Berlin 1900 ff.) unter Angabe des Bandes und der Seitenzahl zitiert. Die Kritik der reinen Vernunft (1781, 2. Auflage 1787) wird nach der Originalpaginierung (A/B) zitiert. Die Orthographie wird leicht modernisiert. Siehe auch unten den Abschnitt „Hinweis zu Editionen von Kants Schriften“.

8

Die Selbsterhaltung der Vernunft

werden im Folgenden im Ausgang zum einen von der aus der Antike auf die Neuzeit überlieferten Thematik der Selbstsorge und zum anderen von der Frage nach der Relevanz der Philosophie der Aufklärung für unsere Gegenwart interpretiert. Damit sind Kontexte benannt, an die jedoch nur perspektivisch und selektiv erinnert werden kann. Die Kontextualisierung der Philosophie Kants steht allerdings nicht im Dienste ihrer historisierenden De-Legitimierung. Im Gegenteil ist sie ein Mittel, ihrer Modernität auf die Spur zu kommen. Aus diesem Grunde wird vor allem in den ersten Abschnitten die pointierte Auseinandersetzung mit Philosophinnen und Philosophen gesucht, die sich in ihren überwiegend aus dem 20. Jahrhundert stammenden Arbeiten in der Regel kritisch bis ablehnend auf Kant beziehen. Am Ende aller Tage wollen wir nicht nur verstehen, welche Positionen Kant aus welchen Gründen vertreten hat. Am Ende wollen wir wissen, ob uns seine Aussagen über die Selbsterhaltung der Vernunft in unserer Gegenwart verlässlich zu orientieren vermögen. Würde es mit den nachfolgenden Überlegungen gelingen, eine erste Orientierung über Kants Konzeption der Selbsterhaltung der Vernunft zu geben und die philosophische Debatte über sie zu befördern, hätten sie ihr Ziel erreicht. Die in diesem Buch vorgetragenen Überlegungen haben von Diskussionen und Gesprächen profitiert, die ich in den letzten Jahren im Rahmen von Vorträgen und Lehrveranstaltungen an in- und ausländischen Universitäten führen durfte. Allen Beteiligten sei hierfür herzlich gedankt. Für Hinweise und Kritik zu früheren Fassungen des Textes danke ich namentlich den beiden Mitarbeitern des am Seminar für Philosophie der Martin Luther-Universität durchgeführten Projekts „Kants Begriff der (Un)Mündigkeit in historischer und systematischer Perspektive“2 Gabriel Rivero und Daniel Stader sowie John Walsh, Falk Wunderlich (Halle) und Thierry Schütz (Zürich). Halle (Saale), im Herbst 2022

Heiner F. Klemme

  Das Projekt wurde gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 388570675. 2

1. Prolog „Freilich wird die Theorie ohne Versuche u. Beispiele nicht praxis.“3

Dass wir uns um uns selbst sorgen, ist eine Trivialität. Wir essen und trinken, arbeiten und schlafen, vertreiben uns die Zeit, so gut es eben geht. Ob es uns gelingt, wir selbst zu bleiben? Oder gefällt uns der Gedanke, eine andere Person zu werden? Den Dingen ihren Lauf zu lassen, vielleicht einfach nur in Ruhe abzuwarten, inwieweit wir uns mit den Zeiten ändern werden? Keiner von uns ist darauf vorbereitet, morgens rücklings vor dem Bett liegend ungelenk die Beine von sich zu strecken, von anderen nicht mehr erkannt und unschuldig als Bedrohung wahrgenommen zu werden. Das kann eine bittere Erfahrung sein. Schauen uns die Menschen plötzlich scheel an, könnten wir verzweifeln. Doch der Bruch mit der bisherigen Biographie kann im Gegensatz zu dem grausamen Schicksal, welches Gregor Samsa in Franz Kafkas (1883–1924) Erzählung Die Verwandlung (1915) erleiden muss, auch befreiend wirken. Gerne wollen wir etwas Neues wagen, das Unerwartete als Chance begreifen, solange es uns nicht um den Verstand bringt, solange wir unabhängig und bei uns selbst zu bleiben vermögen, solange uns der Ekel der anderen nicht verletzt oder ihr Hass uns gar tötet. Unsere Sorge um uns selbst ist grenzenlos. Radikale Sorglosigkeit bedeutet finale Selbstaufgabe. Es ist schwer, allgemeine Aussagen über den Menschen zu treffen. Aber in seiner im Detail wie auch immer zu bestimmenden Sorge um sich selbst scheint es sich um einen kleinsten gemeinsamen Nenner unserer Lebensführung zu handeln. Sie ist universell menschlich. 3

  Kant, AA 23: 136.

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Die Selbsterhaltung der Vernunft

Einige sorgen sich, im Laufe der Zeiten ihre Identität zu verlieren. Andere können es nicht erwarten, sich als ein anderes Selbst zu entwerfen, ein Selbst, das frei ist von äußeren Zwängen und inneren Nöten. Kein Wunder, dass sich die Thematik der Selbstsorge wie ein roter Faden durch die abendländische Philosophie zieht, der zwar gelegentlich aus den Augen verloren wird, aber niemals reißt. Bereits antike Philosophen beschäftigen sich intensiv mit der Selbstsorge (gr. epimeleia heautou, lat. cura sui). Berühmt ist die im platonischen Dialog Alkibiades von Sokrates (469–399 v.Chr.) entwickelte Auffassung, dass die Sorge um sich selbst die Voraussetzung für die Sorge um andere ist. Als äußerst einflussreich hat sich auch die Auffassung der Stoiker erwiesen, wonach die ‚Selbsterhaltung‘ oder ‚Selbstaneignung‘ (gr. oikeiosis) unsere erste Sorge sein sollte. Der römische Staatsmann und Philosoph Marcus Tullius Cicero (106–43 v.Chr.) übersetzt oikeiosis ins Lateinische als „prima commendatio“,4 d.h. als „erster Ratschlag“ oder als „erste Empfehlung“. Die Neuzeit ist eine Blütezeit von Selbsterhaltung und Selbstsorge. In seinem epochalen Leviathan (1651) führt Thomas Hobbes (1588–1669) aus, dass das natürliche Recht (lat. ius naturale) die Freiheit eines jeden ist, „seine eigene Macht nach seinem Willen zur Erhaltung seiner eigenen Natur, das heißt seines eigenen Lebens, einzusetzen und folglich alles zu tun, was er nach eigenem Urteil und eigener Vernunft als das zu diesem Zweck geeignetste Mittel ansieht“.5 Für Baruch de Spinoza (1632–1677) ist das „Bestreben, sich selbst zu erhalten, […] das eigentliche Wesen des Menschen“ sowie das „Wesen des Dinges selbst“. Dieses Bestreben oder Streben (lat. conatus) ist „die erste und einzige Grundlage der Tugend“.6 Nach Ansicht des englischen Philosophen John Locke (1632–1704) bezeichnet die 4  Cicero, De finibus bonorum et malorum, 2, 35. Zur Geschichte der Selbsterhaltung (mit marginalem Kant-Bezug) siehe Martin Mulsow, „Art. ‚Selbsterhaltung‘“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Darmstadt 1996, Sp. 393–406. 5   Thomas Hobbes, Leviathan, hg. von I. Fetscher, Frankfurt a.M. 1984, Teil I, Kapl. 1, S. 99. 6   Baruch de Spinoza, Ethik/Ethica, (lat./dt.), hg. von J. Stern, Stuttgart 1977, Teil 4 (Lehrs. 22 u. 26), S. 485, 491 u. 487.

1. Prolog

11

Selbstsorge ein zentrales Merkmal unserer personalen Identität. Für Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) besteht „der Zweck der politischen Vereinigung“ in der „Erhaltung“ (frz. la conservation) und im „Gedeihen ihrer Glieder“.7 Rousseau richtet hier sein Augenmerk auf das politische Selbst des Menschen, welches in seiner Freiheit bestehe. Der Philosoph Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) spricht später im Kontext seiner Theorie radikaler Selbstwahl, Selbständigkeit und Unabhängigkeit vom „höchsten Interesse“, welches wir an uns selbst nehmen: „Das höchste Interesse und der Grund alles übrigen Interesses ist das für uns selbst. So bei dem Philosophen. Sein Selbst im Räsonnement nicht zu verlieren, sondern es zu erhalten und zu behaupten, dies ist das Interesse, welches unsichtbar alles sein Denken leitet.“8 Im 20. Jahrhundert rückt Edmund Husserl (1859–1938) die „Selbsthabe“9 in das Zentrum seiner Philosophie. Der französische Intellektuelle, Kritiker und Philosoph Michel Foucault (1926–1984) entwickelt in seiner Spätphilosophie eine „Hermeneutik des Selbst“, in der er den Fokus auf die Sorge um sich selbst legt: „Die Sorge um die anderen ist nicht vor die Sorge um sich zu stellen; die Sorge um sich ist ethisch vorrangig, so wie die Beziehung zu sich ontologisch vorrangig ist.“10 Auf die Frage, was als erstes zu tun ist, weil es für uns Menschen am wichtigsten ist, geben Sokrates und Cicero, Hobbes und Locke, Fichte und Foucault und viele andere Philosophinnen und Philosophen die gleiche Antwort: sich um sich selbst zu kümmern und zu erhalten. Doch was ist dieses Selbst, dem 7   Jean-Jacques Rousseau, Du contrat social / Vom Gesellschaftsvertrag (1762), (fr./dt.), hg. von H. Brockard, Stuttgart 2010, S. 186/187. 8   Johann Gottlieb Fichte, Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre (1797), zitiert nach Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung. Deutscher Idealismus, hg. von R. Bubner, Stuttgart 1978, S. 137. 9   Edmund Husserl, Grenzprobleme der Phänomenologie (= Husserliana XLII), hg. von R. Sowa u. Thomas Vongehr, Dordrecht u.a. 2014, S. 388. 10   Michel Foucault, Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, hg. von D. Defert (u.a.), Frankfurt a.M. 2007, S. 261 sowie ders., Hermeneutik des Subjekts. Vorlesungen am Collège de France (1981/82), Frankfurt a.M. 2004.

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Die Selbsterhaltung der Vernunft

unsere Sorge gilt? Beschränken wir uns auf die europäische Neuzeit. In ihr finden sich im Umfeld der Selbstsorge- und Selbsterhaltungsdebatte bemerkenswerte Antworten auf diese Frage. Die meisten von ihnen kreisen um den Begriff der Vernunft.11 So behauptet Thomas Hobbes, dass das Selbst des Menschen sein Körper sei. Der Mensch ist Materie in Bewegung. Um sich als Lebewesen zu „erhalten“ (engl. to preserve), bedarf der Mensch jedoch der Vernunft. Das Wesen der Vernunft besteht im Rechnen. Wer sich verrechnet, wird untergehen. Christian Wolff (1679–1754) erinnert sein Publikum nicht nur daran, dass der Mensch von Gott „nichts vortrefflicheres empfangen“ hat „als seinen Verstand“.12 Er ist auch der Auffassung, dass jeder einzelne von uns „Herr über sich selbst ist“,13 wenn er seiner Vernunft folgt. Die Vernunft macht uns frei, sie macht uns unabhängig von unseren Affekten und sogar von Gott. Folgen wir blind unseren Affekten, machen wir uns zu Sklaven. Wir können nicht nur vernünftig sein, wir sollen es auch. „Vervollkommne dich!“ (lat. „Perfice te!“) lautet der Imperativ, mit dem uns Wolff zum Kampf gegen Skeptizismus und Fatalismus aufruft. Jahrzehnte nach Wolff findet der Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) deutliche Worte zur Sonderstellung des Menschen in der Welt: „Das Ich gibt einem jeden den Vorzug, sich zum Mittelpunkt der Welt zu machen.“14 Von einem Vernunftwesen kann nicht gefragt werden, wozu es 11   Die einflussreichste Ausnahme ist Friedrich Nietzsche (1844–1900), der beispielsweise in Jenseits von Gut und Böse (1886) das Selbsterhaltungsprinzip durch die Begriffe des Lebens und des Willens zur Macht erläutert: „Leben selbst ist Wille zur Macht –: die Selbsterhaltung ist nur eine der indirekten und häufigsten Folgen davon.“ Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: ders., Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, hg. von G. Colli u. M. Montinari, München 1999, S. 27. Vgl. umfassend zur Vor- und Entwicklungsgeschichte Hannah Maria Rotter, Selbsterhaltung und Wille zur Macht. Nietzsches Spinoza-Rezeption, Berlin, Boston 2019. 12   Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von den Kräfften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche, Halle 1713, Vorrede. 13  Wolff, Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen (= Deutsche Ethik), (1720), 4. Auflage Frankfurt u. Leipzig 1733, § 185. 14  Kant, Anthr.-Menschenkunde, AA 25: 1034.

1. Prolog

13

existiert. „Sein Dasein hat den höchsten Zweck in sich.“15 Der Mensch existiert aufgrund seiner Freiheit und Autonomie als Endzweck der Welt. Ohne ihn wäre die Welt wertlos. Dies sind nur einige wichtige Beispiele. Das überragende Interesse neuzeitlicher Philosophen an der Erhaltung und Kultivierung unserer Vernunft ist oft bemerkt worden. Hans Blumenberg (1920–1996) stellt es in seinen Arbeiten zum neuzeitlichen Säkularisierungsprozess in das Zentrum seiner Überlegungen zur „Legitimität der Neuzeit“. Blumenberg spricht von „Selbsterhaltung“,16 vor allem aber von der „Selbstbehauptung der Vernunft“. Sie ist für ihn der „Inbegriff der die Epoche konstituierenden Antriebe“.17 Selbstbehauptung ist nach Blumenberg ein „Daseinsprogramm, unter das der Mensch in einer geschichtlichen Situation seine Existenz stellt und in dem er sich vorzeichnet, wie er seine Möglichkeiten ergreifen will“.18 Blumenberg ist davon überzeugt, dass sich die vernunftaffine Neuzeit als Ganze vor die Aufgabe gestellt sieht, sich gegenüber dem theologischen Absolutismus des Mittelalters zu legitimieren. Ob seine ideengeschichtliche Großthese der Moderne zutrifft, mag leise bezweifelt werden. Freundlich grüßen Carl Schmitt (1888–1985) und das historisierende Denken am Wegesrand. Denn von der ‚Selbstbehauptung‘ ist es nur ein Katzensprung zur ‚Selbstermächtigung‘ (die Schmitt in das Zentrum seiner politischen Theologie stellt) und zum Narrativ eines die Geltung von Normen und Verbindlichkeiten relativierenden historisierenden Kontextualismus. Die Geltung einer Aussage beruhe nicht auf Einsicht und Gründen, sondern wer Kant, Kritik der Urteilskraft (1790), AA 5: 435.   Siehe Hans Blumenberg, Selbsterhaltung und Beharrung. Zur Konstitution der neuzeitlichen Rationalität, Mainz 1970. Siehe auch die Beiträge in Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diskussion der Moderne, hg. von H. Ebeling, Frankfurt a.M. 1976, sowie die informative Sammelrezension von Maximilian Forschner, „Vernunft und Selbsterhaltung“, in: Philosophische Rundschau 28 (1981), S. 228–247, u. Klaus Müller, „Selbsterhaltung. Ein stoisches Korrektiv spätmoderner Kritik am modernen Subjektgedanken“, in: Philotheos 7 (2007), S. 80–89. 17  Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit. Erweiterte Ausgabe, 6. Aufl., Frankfurt a.M. 2012, S. 154. 18   ebd., S. 151; vgl. S. 157. 15 16

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Die Selbsterhaltung der Vernunft

de durch Glauben, Tradition und Praxis geschaffen.19 Träfe dies zu, Aufklärung wäre eine Laune der Geschichte, nicht das Ergebnis einer Selbstentdeckung und eines Lernprozesses, nicht ein in der Natur des Menschen selbst gegründetes Ziel. Will (oder muss) Vernunft sich selbst ermächtigen, um Autorität zu erlangen und Herrschaft auszuüben, spielt der Begriff der Rechtfertigung für sie keine Rolle. Sie kann nicht auf Einsicht und Gewissheit verweisen, die aus der Erkenntnis der Dinge selbst folgt. Sie vermag nicht aus sich heraus zu überzeugen, sondern muss irrationale Mächte bemühen, muss sich inszenieren, muss (wie bei Schmitt) souverän zwischen Freund und Feind unterscheiden. Doch auf die Plausibilität speziell von Blumenbergs Säkularisierungsthese kommt es uns hier letztlich gar nicht an. Als viel wichtiger ist der Umstand zu bewerten, dass sich Blumenbergs Werk in eine Reihe von Arbeiten einreiht, die sich den in der Neuzeit geführten Selbsterhaltungsdebatten nicht einfach nur mit historischer Neugier nähern. In diesen Arbeiten werden diese Debatten mit Blick auf die jeweilige Gegenwart und den Stand der philosophischen Diskussionen immer auch bewertet und eingeordnet. Um nur drei Beispiele zu nennen: Dieter Henrich (1927–2022) weist im Rahmen seiner die Philosophie der Subjektivität rehabilitierenden Kritik an Martin Heid­eggers (1889–1976) Kritik der Moderne darauf hin, dass ihr „Schlüsselwort“, 20 die Selbsterhaltung, in der Tradition der Stoa steht und nicht (wie Heidegger meint) auf Selbstbewusstsein reduziert werden kann. Hans Blumenberg dagegen möchte quasi 19   Steffen Martus vertritt in seinem vielgelobten „Epochenbild“ der deutschen Aufklärung die Ansicht, dass uns die Aufklärer vergeblich zur „rationalen Ermächtigung“ aufrufen. Wir sollten „uns unsere Unmündigkeit“ eingestehen und „produktiv“ mit ihr umgehen (Martus, Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert - ein Epochenbild, Hamburg 2015, S. 19). Der Leser fragt sich verwundert: Wie kann man „produktiv“ mit der eigenen Unmündigkeit umgehen? Wäre das dann nicht ein mündiger Umgang mit der Unmündigkeit? Zu Martus‘ problematischer (parteiischer) Kant-Deutung siehe die Rezension seines Buches von Klemme in: Scientia Poetica 25, no.1, 2021, S. 459–466. 20   Dieter Henrich, „Die Grundstruktur der modernen Philosophie“ (zuerst 1976), in: ders., Selbstverhältnisse, Stuttgart 1982, S. 98.

1. Prolog

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über die Köpfe der Akteure hinweg über die Bedingungen und Voraussetzungen der Aufklärung metaphernanalytisch aufklären. Demgegenüber erörtern Max Horkheimer (1895–1973) und Theodor W. Adorno (1903–1969) die Aufklärung unter dem Banner der „Dialektik der Aufklärung“ als Glied einer Kausalität, die in den Holocaust führen wird: von der reinen Vernunft zur reinen Rasse, von der reinen Rasse in den Genozid. Ein zentraler Bezugspunkt in diesen Interpretations-, Rekonstruktions- und Diagnoseversuchen von Säkularisierung und Moderne ist die Philosophie Kants. Ohne Kantbezug kommt keine ernstzunehmende Diagnose der Moderne aus. Dass für Kant der Gedanke der Selbsterhaltung oder der Selbstbehauptung der Vernunft eine zentrale Rolle spielt, liegt auf der Hand. Sein Hauptwerk, die Kritik der reinen Vernunft (1781, 2. Auflage 1787), dient dem Nachweis, dass die reine Vernunft sich dem skeptischen Sog des Irrationalismus entziehen kann, die in der „Dialektik der reinen Vernunft“ ihren sinnfälligen Ausdruck findet. Erkennt die reine Vernunft die Quellen, den Umfang und die Grenzen ihres Wissens, kann selbst der alte Traum der Philosophen verwirklicht werden, Metaphysik als Wissenschaft zu etablieren. Im Übrigen liegt der spezifisch moderne Charakter von Kants kritischer Philosophie nicht so sehr in ihrer Zielstellung, auch nicht darin, altehrwürdige Versprechen der Philosophen einzulösen. Er erklärt sich vielmehr dadurch, dass die Einsicht und Erkenntnis gründende „reife Kritik“21 methodisch und institutionell auf Streit, auf den Austausch von Perspektiven und auf die Mitteilung von Gedanken angewiesen ist. Wird der öffentlich ausgetragene Streit mit Argumenten behindert oder sogar in toto verwehrt, werden wir getäuscht und belogen, wird es schwer, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Adorno spricht mit Blick auf Kant zutreffend vom Streit als dem „Lebenselement der Vernunft“. 22 Und wenn sich Jürgen Habermas (geb. 1929) in seiner Theorie des kommunikativen Handelns auf den „eigentümlich zwanglosen  Kant, KrV A 747/B 775.   Theodor W. Adorno, Kants „Kritik der reinen Vernunft“ (1959), hg. von R. Tiedemann, Frankfurt a.M., 1995, S. 98.

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Die Selbsterhaltung der Vernunft

Zwang des besseren Arguments“23 bezieht, handelt es sich um eine diskurstheoretisch pointierte Re-Formulierung von Kants „zwangloser Vernunft“. 24 Ohne verständigungsorientierten Streit kommt die Kritik nicht in Bewegung, kann sich die Vernunft nicht über sich selbst aufklären und wir Menschen uns nicht als Vernunftwesen erhalten. Im Anschluss an Blumenberg hat sein Schüler und Nachlassverwalter Manfred Sommer (geb. 1945) die These aufgestellt, „daß das, was Kant die ‚Selbsterhaltung der Vernunft‘ nennt, Grundprinzip seiner eigenen Philosophie ist“. 25 Sommer hat Recht. Kants Philosophie dreht sich um die Idee der ‚Selbsterhaltung der Vernunft‘. Allerdings orientiert sich Sommer bei aller Eigenständigkeit gegenüber Blumenberg dann doch zu sehr an dessen Interpretation der „Selbsterhaltung als Beharrung“. 26 Dem Gesamtverständnis von Kants Philosophie ist das nicht zuträglich. Zwar ist Selbsterhaltung von Kant immer auch als „conservatio sui oder perseveratio“27 gemeint. Zutreffend ist auch, dass „Erkennen und Handeln […] gleichermaßen zuunterst getragen und zuinnerst geformt [sind] von einer Rationalität des sich-Erhaltens, der Identitätswahrung, der Bestandssicherung“. 28 Aber dies ist eben nur die eine Bedeutung von   Jürgen Habermas, „Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz“, in: Jürgen Habermas u. Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt a.M. 1971, S. 101–141, hier: S. 137. 24  Kant, KrV, A 746/B 774. 25   Manfred Sommer, Identität im Übergang: Kant, Frankfurt a.M. 1988, S. 91; vgl. Sommer, Die Selbsterhaltung der Vernunft, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, S. 16. Reinhard Brandt weist darauf hin, dass „Bestimmung, Selbstbestimmung, sodann Selbsterhaltung, Selbstgefühl, Selbstbewusstsein […] die Signalwörter“ sind, „die die oikeiosis charakterisieren und die für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts so zentral werden“ (Brandt, Die Bestimmung des Menschen bei Kant, Hamburg 2007, S. 151). Zur natürlichen und moralischen Selbsterhaltung bei Kant siehe auch Axel Hutter, Das Interesse der Vernunft. Kants ursprüngliche Einsicht und ihre Entfaltung in den transzendentalen Hauptwerken, Hamburg 2003, S. 175–159, 176–181 u. 188. 26  Sommer, Identität, S. 91–92. 27   ebd., S. 90. 28   ebd., S. 91. 23

1. Prolog

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Selbsterhaltung. In seiner Tugendlehre der Metaphysik der Sitten (1797) nennt sie Kant auch „moralische Selbsterhaltung“. 29 Sie besteht in der Befolgung negativer Pflichten. Ich erhalte mich selbst, wenn ich nicht gegen meine Pflichten verstoße. Es gibt eine zweite Bedeutung von Selbsterhaltung (und der mit ihr verwandten Begriffe). Hier steht Selbsterhaltung für eine bestimmte Haltung oder Einstellung, die sich an Zwecken und Zielen orientiert. Sie kann einen stark ethisch-moralischen Fokus haben, wenn Kant der natürlichen Selbsterhaltung (der Erhaltung meiner selbst als eines Naturwesens) „eine Selbsterhaltung von ganz anderer Art“ (die „Menschheit in unserer Person“30 soll nicht erniedrigt werden) gegenüberstellt. Sie kann sich aber auch auf alle unsere Freiheitsäußerungen im Denken und Wollen beziehen, für deren Bestimmung und Realisierung Vernunft vonnöten ist. Als freiheits- und vernunftfähiges Subjekt muss sich der Mensch in der Welt orientieren. Der kategorische Imperativ (das Moralgesetz) dient ihm als „Kompass“.31 Doch ist er oft als Orientierungsinstrument nicht hinreichend. Aus diesem Grunde muss sich die Vernunft selbst (als Vermögen der Regeln und als Urteilskraft) in der Welt bilden, um sich in Gegenden orientieren zu können, für die der kategorische Imperativ nicht ausgelegt ist. Die Vernunft selbst also muss sich ausprobieren. Sie bedarf der „Versuche, Übung, Unterricht, um von einer Stufe der Einsicht zur anderen allmählich fortzuschreiten“,32 um sich in unserer Welt verwirklichen und orientieren zu können. So gesehen beruht Kants Philosophie nicht „wesentlich auf Erhaltungssätzen“.33 Gerade dort, wo Selbsterhaltung in Kants Schriften explizit thematisch wird, rücken Sätze über Ziele und Zwecke, 29   Sie gehört nach Kant „zur moralischen Gesundheit (ad esse) des Menschen“ (Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, AA 6: 419). 30  Kant, Urteilskraft, AA 5: 261. 31  Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA 4: 404. Fragen der Ableitung konkreter Pflichten aus dem kategorischen Imperativ und ihrer Anwendung werden im Folgenden nicht behandelt. Sie sind einer separaten Studie vorbehalten. 32   Kant, „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ (1784), AA 8: 19. 33  Sommer, Identität, S. 91.

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über Bildung und Entwicklung, über die Überwindung der Unmündigkeit 34 in den Fokus. Die Vernunft will sich in dieser Welt als das verwirklichen, als was sie sich von Anbeginn an immer schon versteht. Als Gesetzgeberin in den Reichen von Natur und Freiheit, als Spontaneität, als ein Vermögen, Verbindungen zwischen Vorstellungen und Begriffen zu stiften und als eine Quelle von Ideen, mit denen das Große und Ganze gedacht werden und sich der Mensch vor Ort orientieren kann. Unsere Vernunft ist keine Substanz, die von Anfang an immer schon da ist. Sie muss gebildet, ausgebildet, erzogen und gepflegt werden. Sie muss richtig und gut gebraucht35 werden, sie muss sich orientieren und ihre Erkenntnisse erweitern. Gerade in seiner auf Funktionen und Tätigkeiten gerichteten Vernunftauffassung erweist sich Kant als ein moderner Theoretiker. Sommers Auffassung nach gibt es einen „systematischen Zusammenhang zwischen der Verwendung von Metaphern und der Selbsterhaltung einer Vernunft, die mit der Defizienz ihrer primären Mittel zu ihrem Zweck fertig werden muß.“36 So unbestritten die Präsenz von Metaphern vor allem in der Kritik der reinen Vernunft37 auch sein mag, kann ich dem Leisten der Metaphorik, über den Kants Philosophie der Selbsterhaltung hier in toto gezogen werden soll, wenig abgewinnen. Während Sommer ausdrücklich auf den rein deskriptiven Charakter seiner Ausführungen hinweist, verstehen sich die nachfolgenden Überlegungen als Beitrag zum Selbstdenken, so wie Kant es versteht. Der Skeptizismus gegenüber unserer Vernunft ist, wie David Hume (1711–1776) einst sinngemäß bemerkte, eine feine Sache. Aber es wäre doch vernünftiger, wenn wir skeptisch 34   Zu diesem Begriff und seinem philosophischen Kontext siehe Daniel Stader, Unmündigkeit. Kant und die Dynamik der Herrschaft, Hamburg 2023 (im Erscheinen) 35   „Der richtige Gebrauch des Verstandes und Vernunft: Logic. Der richtige Gebrauch des reinen Verstandes und Vernunft: Metaphysic. Der gute Gebrauch des reinen Verstandes und Vernunft: Moral.“ (AA 19: 171; Refl. 6816). 36  Sommer, Selbsterhaltung, S. 16. 37   Eine Gesamtschau der Gerichtsmetaphorik bei Kant findet sich in Diego Kosbiau Trevisan, Der Gerichtshof der Vernunft, Würzburg 2018.

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gegenüber unserem Skeptizismus sind. Im Resultat vertreten wir dann einen durch Vernunft gemäßigten Skeptizismus oder einen durch Skepsis gemäßigten Rationalismus. Die zweite Option finden wir bei Kant. Vernünftig zu sein, ist für die sich um sich selbst sorgenden Menschen eine feine Sache. Aber wir sollten nach Kant skeptisch sein, wenn uns die Vernunft als ein Orakel angepriesen wird, welches auf alle unsere Fragen eine passende Antwort bereithält. Inakzeptabel sind Positionen, die Rationalität auf Kalkül reduzieren oder Unmündigkeit zum Programm 38 erheben. Worum geht es Kant? Woran will er sich messen lassen? Es ist der Mensch, der sich als Vernunftwesen erhält, indem er sich zu dem macht, wozu er Kants Vorstellung nach als Vernunftwesen bestimmt ist: frei und selbsttätig, selbstbestimmt und mündig, aufgeklärt und verständig. Selbsterhaltung ist nicht nur und sicherlich nicht ‚wesentlich‘ Beharrung. Sie meint, wie erwähnt, auch Hervorbringung und Verwirklichung dessen, was sein könnte und sollte. Die Vernunft ist keine Substanz. Sie ruht nicht in sich selbst. Vernunft bezeichnet im weitesten Sinne des Wortes das Vermögen, die Fähigkeit des Menschen, frei, d.h. aus Einsicht denken (urteilen) zu können.39 Der reale Vernunftgebrauch findet in der Welt der Möglichkeiten statt, nicht hinter den hohen Mauern einer festen Burg. Der Mensch passt im Prinzip in die Welt, er muss nur lernen, seine eigene Vernunft zu gebrauchen. Der Mensch sorgt sich tätig um sich selbst, wenn er sich um seine Vernunft sorgt. An ihr nimmt er ein Interesse, sobald sie sich bei ihm meldet, sobald der Mensch den Unterschied zwischen Freiheit und Despotie, zwischen eigenem Denken und fremder Autorität am eigenen Leib spürt. Friedrich Schiller (1759–1805) hat den Gedanken eines Selbst, das wir durch eigenes Tun zu verwirklichen vermögen, in ei  Siehe Heiner F. Klemme, „Unmündigkeit als Programm. Ein Versuch über Heidegger und seine Kritik der Moderne“, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 70. Jahrgang, Heft 800, 2016, S. 5–23. 39   Vernunft ist „das Vermögen, nach der Autonomie, d.i. frei (Prinzipien des Denkens überhaupt), zu urteilen“ (Kant, Der Streit der Fakultäten, AA 7: 27). 38

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nem Brief vom 8. März 1790 an seinen früheren Mitschüler und Freund Wilhelm von Wolzogen so formuliert: „Es wäre mir leid, wenn Du Deinen Plan aufgäbst, blos die Standhaftigkeit und Beharrlichkeit besiegt Hindernisse und macht uns zu dem, was aus uns werden kann.“40 Schöner als Schiller hätte auch Kant den neostoischen Grundgedanken seiner Selbsterhaltungsphilosophie nicht zu formulieren vermocht. Kant hat ihn persönlich sehr ernst genommen. In einem Brief an Moses Mendelssohn (1729–1786) vom 8. April 1766 schreibt er: „In der Tat werden Sie auch niemals Ursache haben, diese Meinung von mir zu ändern, denn was es auch vor Fehler geben mag, denen die standhafteste Entschließung nicht allemal völlig ausweichen kann, so ist doch die wetterwendische und auf den Schein angelegte Gemütsart dasjenige, worin ich sicherlich niemals geraten werde, nachdem ich schon den größesten Teil meiner Lebenszeit hindurch gelernet habe, das meiste von demienigen zu entbehren und zu verachten, was den Charakter zu korrumpieren pflegt und also der Verlust der Selbstbilligung, die aus dem Bewußtsein einer unverstellten Gesinnung entspringt, das größeste Übel sein würde, was mir nur immer begegnen könnte, aber ganz gewiß niemals begegnen wird.“41 Hat Kants Idee einer Vernunft, die sich im Gebrauch, den der Mensch von seinen Erkenntnisvermögen macht, erhalten will, heute noch eine Chance, philosophisch ernst genommen zu werden? Ergibt es für den Menschen im dritten Jahrhundert nach Kant noch Sinn, sich um sich selbst auf eine Weise zu bemühen, wie sie von dem Philosophen aus Königsberg skizziert worden ist? Ob Kant einen interessanten Beitrag zur Frage   Siehe www.friedrich-schiller-archiv.de   AA 15: 69. Hannah Arendt sieht ganz richtig, warum Kant in seinen moralphilosophischen Schriften „die Pflichten, die der Mensch sich selbst gegenüber hat, vor diejenigen [stellt], die er gegenüber Anderen hat […]. Es geht bestimmt nicht um die Sorge für den Anderen, sondern um die Sorge für das Selbst, nicht um Demut, sondern um menschliche Würde, ja menschlichen Stolz. Maßstab ist weder die auf irgendeinen Nachbarn gerichtete Liebe noch die Selbst-Liebe, sondern die Selbstachtung.“ (Arendt, Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, hg. von Jerome Kohn, München, Zürich 2007, S. 35) 40 41

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nach der Erhaltung unserer selbst zu geben vermag, hängt auch ein wenig davon ab, wie wir uns zu seinen Kritikern verhalten. Sind ihre Argumente plausibel? Treffen sie Kant? Sind die von ihnen vorgetragenen Alternativen alternativlos? René Descartes (1596–1650) schreibt zu Beginn seines Discours de la Méthode (dt. Abhandlung über die Methode, 1637), dass es nicht genügt, „einen gesunden Geist zu haben, vielmehr ist es die Hauptsache, ihn richtig anzuwenden“. Auch diesen Gedanken hätte Kant nicht besser formulieren können. Der richtige, weil unser Selbst zugleich erhaltende und entfaltende Gebrauch unserer Vernunft und unseres Verstandes weist in das durch Aufklärung42 und Mündigkeit markierte Zentrum seiner Philosophie. Zwar kann auch einmal die Natur (Gefühl und Instinkt) einspringen, um uns als Menschen zu erhalten, so wenn wir auf ein ungebührendes Verhalten uns gegenüber mit dem Affekt der „Entrüstung“43 reagieren (natürliche Selbsterhaltung). Doch Kants Hauptaugenmerk gilt der selbstreflexiven rationalen Aktivität des Menschen: sich als Vernunftwesen durch seine vernünftigen Lebensäußerungen zu erhalten und zu fördern. „Der Mensch ist aber dazu bestimmt, dass sich nach und nach in ihm Vernunft entwickele; dann muss der Instinkt wegfallen, damit die Vernunft mehr Macht über ihn erhält.“44 Die durch die Vernunft selbst vorangetriebene Kritik erweitert den Horizont ihrer eigenen Tätigkeit. Vernunft drückt sich in ihren unterschiedlichen Ausdrucksformen (reine Vernunft, Verstand, Urteilskraft) in den unverrückbaren apriorischen Gesetzen der Logik, der Natur und vor allem der Freiheit (Moral, Recht und Ästhetik) aus. Aber in vielen Bereichen ist sie auf   Speziell zu Kants Aufklärungsbegriff siehe die Beiträge in Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung, hg. von H. F. Klemme, Berlin, New York 2009. 43   „Die Entrüstung macht den Menschen entschlossener und stärker, sich zu erhalten. Die Natur selbst hat deshalb diesen Trieb in viele Tiere gelegt, weil es ein Affekt der Selbsterhaltung ist. Sobald aber die Vernunft anfängt, die Herrschaft zu bekommen, müssen wir zwar diesen Trieb der Selbsterhaltung beibehalten, aber verhindern, daß diese Bewegungen des Gemüts niemals in Affekt ausbrechen.“ (Kant, Anthr.Menschenkunde, AA 25: 1124) 44  Kant, Anthr.-Menschenkunde, AA 25: 1124. 42

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„Versuche, Übung und Unterricht“ angewiesen, um sich selbst zu finden. Dann drückt sie sich in informellen Formen der Verständigung und im ästhetischen Spiel aus. Die Erweiterung unserer Begriffe gelingt nur im öffentlichen Raum des Austauschs von Meinungen und Positionen, die geäußert und widerrufen, die kritisiert und gebilligt werden. Die Vernunft ist nicht nur die Quelle von apriorischen Gesetzen; sie ist auch die Vernunft von Menschen, die sich in einer Welt voller Unwägbarkeiten und Verstrickungen orientieren müssen. Können wir uns als Menschen in der Welt nicht erhalten, ist auch die Vernunft verloren. Wesentlich für ihre Erhaltung und Entfaltung ist die Zwanglosigkeit, mit der wir uns über sie verständigen. Zwang und Autorität sind vernunftwidrig, wenn sie das Geschäft der Kritik beenden, bevor es begonnen hat. Vernünftig kann der äußere, auf die Befolgung äußerer Handlungsgesetze zielende Zwang nur dann sein, wenn er für die Erhaltung der Freiheit notwendig ist. Er ist dann freiheitsfunktional, wie Kant in seiner Rechts- und politischen Philosophie zu zeigen versucht. Es hat sich bereits angedeutet: Sich selbst als Vernunftwesen zu erhalten hat bei Kant einen doppelten Sinn. Wir erhalten uns im Sinne von „conservare“, wenn wir so zu bleiben versuchen, wie wir sind. Wir erhalten uns im Sinne von „obtinere“, wenn wir uns zu dem Selbst machen, welches wir unserer Möglichkeit nach sein sollten. Vielleicht können wir die beiden lateinischen Verben als „Bewahren“ und „Verwirklichen“ unseres Selbst substantivierend ins Deutsche übersetzen. Dabei schließt das Bewahren das Verwirklichen ein. Ohne Fortschritt keine Selbsterhaltung. „Der Mensch ist durch seine Vernunft bestimmt, in einer Gesellschaft mit Menschen zu sein und in ihr sich durch Kunst und Wissenschaften zu kultivieren, zu zivilisieren und zu moralisieren.“45 Die Kultivierung betrifft „eigentlich nur die Person, die Zivilisierung betrifft die Gesellschaft, die Moralisierung das allgemeine Weltbeste“,46 heißt es in einer Vorlesungsnachschrift über diese drei Arten von Fortschritt. Der Mensch ist dazu bestimmt, in der Gesellschaft sei Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), AA 7: 324.  Kant, Anthr.-Menschenkunde (1781/82), AA 25: 1198.

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ne Rohheit durch Kultur seiner Anlagen, seine Wildheit durch Erziehung und seine Bosheit durch den Erwerb einer weltbürgerlichen Gesinnung zu überwinden. Ohne ästhetische Freiheit und Spiel, ohne Geselligkeit und Verständigung mit anderen verkümmert die Vernunft und der Mensch verzweifelt an seiner Existenz. Die Idee einer monologisch verfassten Vernunft, so wie wir sie in Descartes‘ Meditationen (1641) ausgedrückt finden, mag uns heute rätselhaft erscheinen. Aber das bedeutet nicht, dass sich eine intersubjektiv informierte und weltaffine Vernunft nicht auch deliberierend auf sich selbst beziehen können muss, will sie sich selbst nicht verlieren. Der Philosophie Kants jedenfalls wenden wir uns in der Hoffnung zu, in ihr eine Konzeption der Selbsterhaltung der Vernunft zumindest ansatzweise entfaltet zu finden, die zugleich eine Konzeption der Selbsterhaltung des Menschen in einer Pluralität von Lebensäußerungen ist. Kants Blick richtet sich nicht über Gebühr nach innen. Innerlichkeit und Weltverachtung sind für ihn keine Optionen. Sein Denken kreist um ein Subjekt, welches seine Selbständigkeit, Mündigkeit und Unabhängigkeit in einer Welt zu erhalten versucht, von der es sich zugleich in vielfältiger Weise als abhängig erlebt. Von der es sich aber auch in Freiheit zeitweise zu distanzieren vermag, beim Spiel und im Theater, mit Scherz, Ironie und Satire, bei einem Spaziergang durch Feld und Flur oder im launigen Gespräch über dies und das mit Freunden bei einem Glas Wein.

2. Aufklärung als Epoche und Haltung Ist die Philosophie der Aufklärung, die eine Philosophie der (im weiteren Sinn so zu verstehenden) Vernunft ist, relevant für unser heutiges Denken? Oder erschöpft sich ihre Bedeutung in ihrer historisch bedingten Frontstellung gegen zeittypische Ausdrucksformen von Aberglauben und Schwärmerei? Leistet sie einen epochenübergreifenden Beitrag für die Verständigung über die Bedingungen unseres Wissens? Oder steht sie nolens volens im Dienste eines (uns) kolonialisierenden Denkens? Die systematische Frage nach der Relevanz des Vernunftbegriffs verweist uns auf eine Epoche, in der sie Kultstatus hatte. Die Aufklärung ist zeitlich, methodisch und inhaltlich allerdings nicht einfach auf den Punkt zu bringen. Sie ist kein Eigenname, dessen Bedeutung ein bestimmter Gegenstand wäre. Beginnt sie mit Francis Bacon (1561–1626), der unsere Idole überwinden will, damit wir Macht über die Natur gewinnen? Oder mit René Descartes, der den methodischen Zweifel einsetzt, um Gewissheit zu erlangen? Ist John Locke ihr Urheber, da er die Grenzen unserer Erkenntnis ebenso ernst nimmt wie ihre Gewissheit? Oder weil er als erster Freiheit, Gleichheit und Besitz zu angeborenen Eigentumsrechten jedes Einzelnen erklärt? Sind Thomas Hobbes und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) mustergültige Aufklärer, weil sie Denken als Rechnen definieren? Oder sollten wir nur dann von Aufklärung sprechen, wenn sich ihre Protagonisten auch dieses Wortes (und seiner fremdsprachlichen Äquivalente) bedienen, um ihr Anliegen und ihr Selbstverständnis auszudrücken? In einem Punkt jedenfalls scheinen sich die Aufklärungsphilosophen einig zu sein: Sie schätzen unsere Vernunft. Selbst die Skeptiker unter ihnen (denken wir an David Hume) zügeln ihre Vernunftskepsis mit Verweis auf die Bedeutung von allgemeinen Regeln (Prinzipien) für unser Denken. Sie berufen sich

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auf die Vernunft, wenn sie gegen Vorurteile und Aberglauben oder religiösen Enthusiasmus und Schwärmerei ins Feld ziehen. Auch Christian Thomasius (1655–1728), der Begründer der deutschsprachigen Aufklärung, möchte trotz beißender Kritik an Aristotelismus und Cartesianismus nicht auf seinen Verstand verzichten. Der Verstand folgt dem Willen, wohin ihn dieser führt. Ohne den Willen bliebe der Verstand passiv, würde nicht in den mühevollen Prozess des Nachdenkens eintreten. Aber ohne Nachdenken könnten wir unsere Vorurteile nicht überwinden. Der Wille jagt, so Thomasius, dem Guten nach, der Verstand hilft ihm, es durch seine Erkenntnis zu erhalten. Man muss kein Vollblutrationalist sein, um sich als Aufklärungsphilosoph auf die Seite der Vernunft zu schlagen. Denn die Vernunft begründet ihrem Verständnis nach einen Unterschied zwischen Wahrheit und Falschheit, zwischen Recht und Unrecht, zwischen Tugend und Laster, zwischen Freiheit und Knechtschaft, zwischen guter und schlechter Regierung, zwischen wahrem und scheinbarem Glück. Vernunft zielt auf das Allgemeine und Notwendige, das Zuträgliche und Wahrscheinliche. Sie zielt auf Verständigung, wo immer sie sinnvoll ist, und auf den Austausch der Perspektiven, sie fordert Unparteilichkeit und Mündigkeit. Sie fragt nach Gründen und Ursachen, verlangt Einsicht und besteht auf Erklärungen. „Kein Mensch ist verpflichtet, alles zu wissen.“ (John Locke) Das weiß auch die Vernunft. Aber Ignoranz ist eben auch keine Alternative. Denken ohne Begriffe und Argumente befriedigt sie nicht. Einige Aufklärer gehen (wie Pierre Bayle, 1647–1706) eine Allianz mit dem (religiösen) Glauben ein, der alle Vernunft übersteigt. Andere bekämpfen ihn im Namen der Wahrheit (wie Voltaire, 1694–1778) oder versuchen den Nachweis zu erbringen, dass uns die Vernunft zum Glauben führt. Letzteres hat Kant zu zeigen versucht. Wir können die Existenz von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit weder unmittelbar erkennen noch förmlich beweisen. So viel steht für Kant fest. Doch er entdeckt, was keiner vor ihm bedachte. Die reine Vernunft postuliert deren Existenz, vermag sie aber förmlich nicht zu erkennen. Wir können eine durch unsere Vernunft subjektiv gerechtfertigte Überzeugung haben, obwohl sie objektiv un-

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zureichend ist. Kant nennt diese Art des Fürwahrhaltens (der Überzeugung) Glauben und grenzt sie vom Meinen und vom Wissen47 ab. Wie immer die Aufklärungsphilosophen das Verhältnis von Vernunft und Glauben bestimmt haben mögen, sie wollen alle vernünftig sein. Auf der Standarte der Aufklärung leuchtet das Wort Ratio in grellen Farben. Es verbindet die Philosophen, selbst wenn sie sich ansonsten nicht riechen können. Aufklärung (im weitesten Sinne des Wortes) finden wir immer dort, wo in konstruktiver und apologetischer Absicht um die Sache der Ratio gestritten wird. Aufklärer wollen sich mitteilen, nicht sich mit sich selbst beschäftigen. Sie wollen nicht überreden, sondern überzeugen. Sie wollen klug und mündig werden. Sie wollen Entdeckungen machen und uns etwas Neues präsentieren, was wir als hilfreich und gut begrüßen. Wer sich an ihren Debatten nicht beteiligt, weil ihn die Probleme der Vernunft nicht interessieren, wer nicht bei der Sache ist oder Flausen im Kopf hat, gehört nicht dazu. Als Haltung, Programm und Projekt ist die Aufklärung nicht auf Neuzeit und Moderne beschränkt. In Europa finden wir sie bereits in der Antike. Auf diesem Kontinent ist sie multilingual, spricht griechisch, lateinisch und arabisch, lernt moderne Sprachen. Sie unternimmt große Anstrengungen, in den Volkssprachen verstanden zu werden. Sie lässt bis zum heutigen Tag nicht locker. Nur als Epoche und zeittypische Leitidee ist die Vernunft der Aufklärung heute Geschichte. Ihre Blütezeit fällt in das 17. und 18. Jahrhundert, die – philosophisch gesehen – verschwistert sind. Wenn Kant 1781 vom „Zeitalter der Kritik“48 und 1784 vom „Zeitalter der Aufklärung“49 spricht, stehen ihm recht kurze Zeitspannen vor Augen. Christian Wolff, der Fürst der deutschen Frühaufklärung, repräsentiert für Kant schon ein vergangenes Zeitalter; Moses Mendelssohn versteht sich in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts als letzter Vertreter der mit Wolffs Tod schon alt gewordenen Schulphi  Siehe Kant, KrV, A 820ff./B 848ff.  Kant, KrV, A X Anm. Vgl. A 755/B 783: „durch Kritik aufgeklärte Vernunft“. 49  Kant, Aufklärung, AA 8: 40. 47

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losophie. Im „Zeitalter der Aufklärung“ nimmt die Zeit an Fahrt auf. Ideen, die gestern noch wie Goldmünzen gehandelt wurden, sind heute schon entwertet. Mit der Aufklärung als Epoche beginnt die Moderne, und die Aufklärung ist der Wesenskern der Moderne.

3. Jenseits der Aufklärung Politisch wird das Ende der Epoche der Aufklärung mit den Guillotinen der französischen Revolution eingeläutet, philosophisch (in den deutschen Ländern) vielleicht mit Kants früherem Schüler Johann Gottfried Herder (1744–1803), der 1769 eine Schiffsreise50 antritt, um über verlorene Lebensjahre klagend sich über seine persönliche Bestimmung Klarheit zu verschaffen und seinen Geist zu befreien, mit empfindsamer Feder den ‚Sturm und Drang‘ vorbereitend. Oder mit Schiller, der in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) Natur und Freiheit im Konzept des „ästhetischen Staats“51 versöhnt und den Geschmack zum Prinzip (universal-)gesellschaftlicher Harmonie erhebt. „Die Schönheit allein beglückt alle Welt, und jedes Wesen vergißt seiner Schranken, so lange es ihren Zauber erfährt.“52 Ganz bestimmt aber endet diese Epoche im Tübinger Stift. Hinter dessen Mauern entwerfen Friedrich Hölderlin (1770–1843), Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1774–1854) um 1796/97 ein Systemprogramm, dessen Motto ‚Mehr Mythos wagen‘ hätte lauten können. Unter ihrem gelehrten Talar hat die Vernunft der Aufklärung Patina angesetzt. Sie ist müde geworden. Das Tübinger Triumvirat aber will die Jugend, das Leben und die Freiheit feiern. Nichts ist unmög50   Siehe Johann Gottfried Herder, Journal meiner Reise im Jahre 1769, hg. von K. Mommsen, Stuttgart 1976. Kant wäre wohl nicht auf die Idee gekommen, eine lange Schiffsreise zu unternehmen, da sie uns abstumpft: „Bei den Seeleuten findet sich bei der langen Seereise ein Phlegma, ihr Temperament mag sonst beschaffen sein wie es immerhin will.“ (Anthr.-Parow, AA 25: 220–221) 51   Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, hg. von St. Matuschek, 2. Auflage, Frankfurt a.M. 2018, S. 121 52  Schiller, Erziehung, S. 122.

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lich. Sogar der Physik will es ‚Flügel‘ verleihen. Mit berechnender Vernunft und kritischer Methode ist das nicht zu machen. Doch die bittersten Stunden stehen der Aufklärung noch bevor. Friedrich Nietzsches (1844–1900) Irrationalismus wirkt bis in unsere Zeit. In seiner grundständigen Zurückweisung der modernen Philosophie tritt Heidegger das Erbe des Irrationalismus an. Als ein Beispiel für ein zumindest zwiespältiges Verhältnis zur Aufklärung kann das Denken von Michel Foucault gelten. Ein wirkmächtiges Dokument von Heideggers Abgesang auf die Philosophie der Neuzeit und Aufklärung stellt seine Schrift Über den Humanismus (verfasst 1946)53 dar. Heidegger fragt in ihr nach der „Menschlichkeit des Menschen“54 und zeigt sich davon überzeugt, dass der Humanismus diese Frage weder kennt noch versteht. Er lässt den Menschen um seine Subjektivität kreisen und macht ihn damit zu einem Ausgestoßenen „aus der Wahrheit des Seins“.55 Die „Menschlichkeit des Menschen“ liegt außerhalb des Menschen begründet. Sie muss vom Sein her verstanden werden. Aus diesem Grunde muss sich der Mensch um das Sein sorgen, von dem er „in die Wahrheit des Seins ‚geworfen‘“56 ist. „Der Mensch ist nicht der Herr des Seienden. Der Mensch ist der Hirte des Seins.“57 Da sich das Sein dem Menschen „zuschickt“, kann sich der Mensch ursprünglich erfahren. Kümmert er sich dagegen wie die Philosophen der Neuzeit um sich selbst und seine Subjektivität, schickt sich ihm das Sein nicht zu. Übt er mittels seiner Vernunft Herrschaft über die Dinge aus, macht er sich zu einer Sache. Nur wer den Humanismus überwindet, wer sich „aus der Herrschaft der Subjektivität befreit“, entkommt dem summum malum unseres Daseins: dem „Kulturbetrieb“, der „Diktatur der Öffentlichkeit“, der „Verknechtung an die Öf-

53   Martin Heidegger, Brief über den Humanismus (1947), 11. Auflage, Frankfurt a.M. 2010. 54   ebd., S. 11. 55   ebd., S. 34. 56   ebd., S. 22. 57   ebd., S. 34.

3. Jenseits der Aufklärung

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fentlichkeit“, der „Weltnot“.58 Das wesentliche Denken findet nach Heidegger diesseits von Wissenschaft und Moral, diesseits von „europäischer Kultur und Vernunftwelt“ 59 statt. Das Sein allein kann uns vor der Banalität der Dinge und ihrem unerhörten Herrschaftsanspruch retten. Heideggers Verachtung gegenüber der liberalen Welt der Moderne verdankt sich seiner Auffassung, nach der der Mensch nicht sich selbst gehört. Er gehört dem Sein und damit mittelbar denjenigen irdischen Mächten, die ihm ein Haus bereiten wollen, die sich als Geschickte dieses Seins verstehen. Deutlicher kann man sich im Rahmen einer Kritik des Humanismus nicht von der Philosophie der Aufklärung distanzieren. Ganz anders die Perspektive von Michel Foucault. Er will das Menschliche weder vom Menschen noch vom Standpunkt des auf die Ankunft des Seins wartenden Menschen her verstehen. Foucault radikalisiert Heidegger. Für Foucault kann der Mensch schon deshalb kein Hirte des Seins sein, weil es den Menschen gar nicht gibt. Der Ruf des Seins bleibt unerhört. Denn der Mensch ist nach Foucault eine Erfindung des 17. und 18. Jahrhunderts, das Produkt einer bestimmten Auffassung von Vernunft, Wahrheit und Wissen. Seit der Renaissance befindet sich die „europäische Ratio“ in einer ununterbrochenen Bewegung, die sich gegen sie wenden wird. Sobald „unser Wissen eine neue Form gefunden haben wird“,60 verschwindet vermutlich auch der Mensch. Ändern sich die Dispositionen unseres Wissens, ändert sich unser Denken über das, was es gibt. „Wenn diese Dispositionen verschwänden, so wie sie erschienen sind, wenn durch irgendein Ereignis, dessen Möglichkeit wir höchstens vorausahnen können, aber dessen Form oder Verheißung wir im Augenblick noch nicht kennen, diese Dispositionen ins Wanken gerieten, wie an der Grenze des achtzehnten Jahrhunderts die Grundlage des klassischen Denkens es tat,   ebd., S. 9.  Heidegger, Anmerkungen I-IV, Schwarze Hefte 1942–1948 (= Gesamtausgabe, Bd. 97), hg. von P. Trawny, Frankfurt a.M. 2005, S. 237. 60  Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften (frz. 1966), Frankfurt a.M., 1971, S. 2. 58 59

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dann kann man sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.“61 Dass das künftige Denken eine neue Ordnung des Wissens stiften und den Menschen zum Verschwinden bringen könnte, ist eine These, die das Resultat von Foucaults Kritik an allen normativen Strukturen und Verbindlichkeiten ist, die zeitlose Geltung beanspruchen. Modern zu denken bedeutet für Foucault, sich als ein Subjekt zu begreifen, welches durch die Art und Weise konstituiert und konstruiert wird, durch die es regiert wird (und sich selbst regiert). In der „permanenten Kritik unseres geschichtlichen Seins“62 finden wir quasi unsere Bestimmung. Während Heidegger gelassen in die Zukunft blickt, auf den Ruf des Seins wartend, ist Foucault ein Denker der Aktualität, der Gegenwart: „Wer sind wir in diesem ganz bestimmten geschichtlichen Augenblick? Diese Frage analysiert uns und unsere aktuelle Situation.“63 Zu diesem Pathos der Gegenwart, das sich im Partikularismus und Nominalismus (unser grammatikalischer Eigenname steht für eine Praxis der Freiheit ohne identischem Gegenstand) unseres Selbstverständnisses ausdrückt, gesellt sich ein Verständnis der Moderne, welches auf Begriffe wie Befreiung und Emanzipation bewusst verzichtet. „Diese Modernität befreit nicht den Menschen zu seinem eigenen Sein; sie nötigt ihn zu der Aufgabe, sich selbst auszuarbeiten.“64 Foucault will verstehen, wie wir wurden, was wir heute sind, um die Chancen zukünftiger Selbstkonstruktionen zu ergründen. Wie man „sich selbst“ ausarbeiten kann, ohne ein Selbst zu sein, bleibt bei ihm allerdings ein wenig im Dunkeln. Sicherlich macht Foucault mit seinem Machtbegriff verständlich, warum Menschen Widerstand gegen die Art und Weise ausüben, wie sie ‚regiert‘ werden. Doch unklar bleibt, wie aus dem Faktum von Machtbeziehungen und den aus ihnen entspringenden Formen des Widerstandes gegen sie normative Aussagen abgeleitet werden können. Denn genau das macht Foucault, ohne es jedoch zu begründen. „Wir müssen nach   ebd., S. 462.  Foucault, Ästhetik der Existenz, S. 182. 63   ebd., S. 91. 64   ebd., S. 182; vgl. S. 178. 61

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neuen Formen von Subjektivität suchen und die Art von Individualität zurückweisen, die man uns seit Jahrhunderten aufzwingt.“65 Foucaults Aufruf zur Neukonstruktion seines Selbst ist nur für Personen plausibel, die sich dazu entschließen, sich selbst immer wieder neu zu erfinden. Nun dürfen wir mit guten Gründen Vorbehalte gegen Versuche ernst nehmen, Wissenschaft à la Descartes aus dem Standpunkt eines um sich selbst wissenden Subjekts zu begründen. Aber leuchtet es ein, das Zeitalter der Vernunft mit dem Marquis de Sade (1740–1814) zu beenden und ihn als Ausgangspunkt eines neuen Denkens zu interpretieren? Foucault allerdings ist davon überzeugt: von de Sade an „werden Gewalt, Leben und Tod, Verlangen, Sexualität unterhalb der Repräsentation eine immense, schattige Schicht ausbreiten, die wir jetzt so, wie wir können, wieder in unseren Diskursen, in unsere Freiheit, und unser Denken aufzunehmen versuchen.“66 Zweifellos: Foucaults Idee einer Genealogie diskursiver Praktiken ist enorm erfolgreich. Teile der Geistes- und Kulturwissenschaften haben sich ihr verschrieben und sie sogar radikalisiert,67 gerade an den Orten akademischer Wissensgenerierung und des Wissenstransfers, an Universitäten und Schulen. Die (wenn wir sie noch einmal so nennen wollen) Humanwissenschaften haben ihren Gegenstand verloren, ohne einen neuen gefunden zu haben. Der Orientierungsverlust ist dramatisch. Irrlichternd probieren sie sich an neuen Praktiken aus. Ein rettendes Ufer ist nicht in Sicht. Das ist verständlich. Denn mit dem Menschen als Gegenstand ihrer Forschungen haben die Humanwissenschaften ihr Sujet verloren. Begreifen sich die Menschen nicht mehr als selbständige Subjekte ihres Denkens,   ebd., S. 91.  Foucault, Ordnung der Dinge, S. 264. 67   Dies geschieht unter anderem unter Rückgriff auf Überlegungen, die aus den postcolonial studies stammen. Wie mit ihrer Hilfe eine Selbstaufklärung der Aufklärung (und nicht etwa ihre historisierende Abwicklung oder Überwindung) möglich sein soll, leuchtet mir nicht ein. Siehe jüngst aus theologischer Perspektive Friedemann Stengel, „Diskurstheorie und Aufklärung“, in: Neue Zeitschrift für Systema­ tische Theologie und Religionsphilosophie 2019, 61(4), S. 453–489. 65

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fällt der Abschied vom Menschen als Gegenstand unseres theoretischen Wissens und unserer praktischen Sorge nicht schwer. Der Verlust des Menschen ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg in das posttheoretische Zeitalter der Philosophie. Der Verzicht auf Theorie und die begriffliche Aneignung von Wirklichkeit ist die Rückseite des Partikularismus, so wie er in identitätspolitischen Debatten zum Ausdruck kommt, wo Bekenntnis und Verkündigung den Austausch von Argumenten und Kritik ersetzen. Die hiermit einhergehende Immunisierung gegen Einsprüche kann sich auf den späten Heidegger berufen, der die Dichtung an die Stelle der Philosophie setzt, aber eben auch auf Foucault. Foucault versteht Wahrheit (mit Ausnahmen in den exakten Wissenschaften) als Produkt von Machtpraktiken und das Subjekt (wie er in seinen späten Schriften herausstellt) als Produkt von „Selbsttechniken“.68 Bin ich aber das Produkt meiner selbst, dann droht die externe Kritik auch nur an Teilen dieses Produkts als Angriff auf seine ganze Existenz wahrgenommen zu werden. So wie der Künstler keine Distanz zu seinem Werk einzunehmen vermag, wenn er sich ganz in ihm zum Ausdruck gebracht sieht, verhindert die Selbstkonstitutionskonzeption (die Foucault natürlich nicht als Theorie verstanden wissen will) im Extremfall die Einnahme einer kritischen, einer ironischen Distanz zu sich selbst. Das Subjekt ist – wie das moderne Kunstwerk – deskriptiv inkommensurabel und normativ selbstreflexiv.

 Foucault, Ästhetik der Existenz, S. 217.

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4. Dialektik der Vernunft In seinem 1941/42 für eine Festschrift für Walter Benjamin (1892–1940) verfassten Aufsatz „Vernunft und Selbsterhaltung“ identifiziert Max Horkheimer die Selbsterhaltung der Vernunft als Leitprinzip der bürgerlichen Philosophie seit Descartes. Die bürgerliche Philosophie stellt sich als Wissenschaft „in den Dienst der herrschenden Produktionsweise“.69 Ihre idealistischen Positionen entpuppen sich zunehmend als Illusionen. Die Vernunft kann nur gerettet werden, wenn sie sich der „gesellschaftlichen Situation“70 anpasst und sie rechtfertigt. Aus diesem Grunde schlägt Vernunft in Unvernunft um, persönliche Beziehungen werden zur Ware. Die bürgerliche Vernunft produziert ihren eigenen Widerspruch, wendet sich in ihrer Rumpfform als technokratische (instrumentelle) Vernunft gegen sich selbst. Die Vernunft der Selbsterhaltung unterwirft sich den Mechanismen des Marktes. Statt zu herrschen, biedert sie sich den Verhältnissen an. „Am Ende behalten die Menschen als rationale Form der Selbsterhaltung die freiwillige Fügsamkeit übrig, die so indifferent gegen den politischen wie gegen den religiösen Inhalt ist. Durch sie verliert das Individuum die Freiheit, ohne sie das Dasein im totalitären Staat. Die Autonomie des Individuums entfaltet sich zu dessen Heteronomie.“71 Nach Horkheimer führt ein direkter Weg von Descartes in die „faschistische Ordnung […], in der Vernunft selber als Unvernunft sich enthüllt“.72 Beispiel Kant: Sein Eherecht ist für Horkheimer ein Dokument „inhumaner Nüchternheit“,73 die 69   Max Horkheimer, Vernunft und Selbsterhaltung, Frankfurt a.M. 1970, S. 61. 70   ebd., S. 49. 71   ebd., S. 54. 72   ebd., S. 72. 73   ebd., S. 65.

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der Eugenik der Nationalsozialisten Vorschub geleistet habe. Der „Herrschaft der durchrationalisierten Welt“ und damit der Bindung an das Prinzip der Selbsterhaltung können die Menschen nur entkommen, wenn sie sich „des Ichs entschlagen, in welchem wie alle Klugheit auch die Dummheit der historischen Vernunft und all ihr Einverständnis mit der Herrschaft bestand. Am Ende des Fortschritts der sich selbst aufhebenden Vernunft bleibt ihr nichts mehr übrig, als der Rückfall in Barbarei oder der Anfang der Geschichte.“74 So ähnlich sieht das übrigens auch Hannah Arendt (1906– 1975). In ihrer Hamburger Lessingrede von 1960 behauptet sie, dass Kants Ethik unmenschlich sei. Zur Begründung führt sie an, dass Kant nicht bereit gewesen sei, die Pflicht „unbedenklich der Menschlichkeit, der Möglichkeit der Freundschaft und des Gesprächs zwischen Menschen“ zu opfern, da die Pflicht als etwas Absolutes „über den Menschen steht“.75 Arendt ist davon überzeugt, dass Kants Begriff der Pflicht das Denken verhindert. Doch ohne Denken kann es angesichts der Relativität aller zwischenmenschlichen Beziehungen keine „Freundschaft“, keine „Weltoffenheit“ und keine „echte Menschenliebe“76 geben. „Man könnte wohl sagen, daß die lebendige Menschlichkeit eines Menschen in dem Maße abnimmt, in dem er auf das Denken verzichtet und sich den Resultaten, den bekannten oder auch unbekannten Wahrheiten anvertraut und sie ausspielt, als seien sie Münzen, mit denen man alle Erfahrungen begleichen kann.“77 Wodurch zeichnet sich das von Arendt eingeforderte Denken aus? Es ist „ein Denken, das sich ohne Stützen und Krücken, gewissermaßen ohne das Geländer der Tradition frei bewegt“.78 Sind nach Kant Pflichten „Münzen“, mit denen wir „alle Erfahrungen begleichen können“? Verzichten wir „auf das Denken“, wenn wir uns am „Geländer“ der (reinen) praktischen   ebd., S. 74.   Hannah Arendt, Freundschaft in finsteren Zeiten. Gedanken zu Lessing, hg. u. eingeleitet von M. Bormuth, Berlin 2018, S. 80–81. 76  Arendt, Freundschaft, S. 80. 77   ebd., S. 52. 78   ebd., S. 52. 74

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Vernunft zu orientieren versuchen? Haftet den Anhängern der Idee der „einen Wahrheit“ der Geruch der „Unmenschlichkeit“ an? Es wäre für Kant zu hoffen, dass sich diese Vorwürfe im Verlaufe unserer Überlegungen nicht bestätigten. Doch zunächst zurück zu Horkheimer. Gemeinsam mit Theodor W. Adorno verfasst er das bis heute einflussreichste Manifest gegen die neuzeitliche Aufklärung: Die Dialektik der Aufklärung (entstanden 1939–1944; publiziert 1947). In ihr warten ihre Autoren mit zwei geschichtsphilosophischen Thesen auf: „[…] schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück.“79 Zentral für ihre Gedankenführung ist die von den Autoren als Selbstherrschaft gedeutete Selbsterhaltung des Subjekts. Sie sind davon überzeugt, dass Kant, der Marquis de Sade und Nietzsche die „unerbitt­ lichen Vollender der Aufklärung“ sind. Sie haben zum Projekt der „Unterwerfung alles Natürlichen unter das selbstherrliche Subjekt“ beigetragen, das „zuletzt gerade in der Herrschaft des blind Objektiven, Natürlichen gipfelt“.80 Folgen wir den Ausführungen in Vernunft und Selbsterhaltung und der Dialektik der Aufklärung, sind wir gut beraten, nichts Gutes vom Prinzip der Selbsterhaltung der Vernunft zu erwarten. Erst in der Barbarei zeigt die Vernunft der Aufklärung ihr wahres Gesicht. Im Genozid vollendet sich eine Entwicklung, die die Freundinnen und Freunde der Vernunft nicht erahnen konnten, als sie ihr ihre Aufwartung machten. Aber vielleicht ist die Vernunft listiger, als Horkheimer und Adorno in den dunklen Jahren des Faschismus zu denken vermochten.

  Horkheimer u. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 1969, S. 6. Siehe zu dieser Schrift die Beiträge in Aufklärungskritik und Aufklärungsmythen. Horkheimer und Adorno in philosophiehistorischer Perspektive, hg. von S. Lavaert u. W. Schröder, Berlin, Boston 2018. 80  ebd. 79

5. Dialektik der Unmündigkeit In einem 1969 gesendeten Radiogespräch mit Hellmut Becker (1913–1993) zum Thema „Erziehung zur Mündigkeit“ bezieht sich Adorno affirmativ auf Kants Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ (1784). Lassen wir Adorno etwas ausführlicher zu Worte kommen: „Da definiert er [sic. Kant, HK] die Unmündigkeit und impliziert dadurch auch die Mündigkeit, indem er sagt, selbstverschuldet sei diese Unmündigkeit, wenn die Ursachen derselben nicht im Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muts liegen, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. ‚Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.‘ Mir scheint dieses Programm von Kant, dem man auch beim bösesten Willen Unklarheit nicht wird vorwerfen können, heute noch außerordentlich aktuell. Demokratie beruht auf der Willensbildung eines jeden einzelnen, wie sie sich in der Institution der repräsentativen Wahl zusammenfaßt. Soll dabei nicht Unvernunft resultieren, so sind die Fähigkeit und der Mut jedes Einzelnen, sich seines Verstandes zu bedienen, vorausgesetzt.“81 Kants Philosophie der Aufklärung weist über Zweckrationalität und Monopolkapital, über Faschismus und Eugenik hinaus. Wenn selbst Adorno Kant, den er zum Kronzeugen seiner eigenen Kulturkritik macht, Aktualität zugesteht, scheint etwas mit den in zeitdiagnostischer Absicht vollzogenen geschichtsphilosophischen Überlegungen von Horkheimer und des frühen Adorno nicht zu stimmen. Denn der Adorno von 1969 ist geradezu begeistert von Kant. Dürfen wir sagen: Es gibt eine Dialektik der Unmündigkeit? Eine Unmündigkeit, die in Mün Adorno, Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt a.M. 1970, 26. Auflage 2017, S. 133. 81

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digkeit umschlägt, weil sie sich selbst nicht genügt? Schlägt Unmündigkeit in Mündigkeit um, sobald dem Unmündigen bewusst wird, von anderen für unmündig gehalten (Foucault würde sagen: regiert) zu werden? Weil sich der Mensch bei aller Unmündigkeit Würde zuschreibt und „mehr als Maschine“82 sein will, wohl wissend, dass Aufklärung ein immerwährendes Projekt und ein fragiles Gut ist? Wenn selbst Adorno auf Kant und den emanzipatorischen Gehalt seiner Philosophie setzt, sollten auch wir seinem Prinzip der Selbsterhaltung der Vernunft eine Chance geben.

 Kant, Aufklärung, AA 8: 42.

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6. Eine Zwischenüberlegung Wir haben zur Kenntnis genommen, dass der Mensch nach Foucault eine Erfindung der Neuzeit ist, die sich in der Zukunft erledigen wird. Wir haben gesehen, dass die Autoren der Dialektik der Aufklärung einen „positiven Begriff“ der Aufklärung „vorbereiten [wollen], der sie aus ihrer Verstrickung in blinder Herrschaft löst“.83 Wir waren erfreut über den späten Adorno, der seine frühere Kritik implizit kritisiert, da er bei Kant selbst einen Begriff der Mündigkeit meint identifizieren zu können, der gut zu seiner Kulturkritik passt. Was sollen wir jetzt denken? Ist die Ratio ein Produkt europäischer Geschichte und außerhalb derselben unverständlich? Ist der Mensch eine Erfindung der Neuzeit, eine Inszenierung und Formel für Praktiken, mit denen wir heute nichts mehr anfangen können oder sollten? Oder liegt uns noch etwas an Leitideen der Aufklärung, deren Geltung in unseren Tagen auch im Namen von Identität und Individualität, Diversität und Gerechtigkeit bestritten werden? Dann wäre eine kritische Apologie der Vernunft aus dem Geist der Aufklärung ein Gebot der Stunde. Wer sie wagt, betritt dünnes Eis. Denn die Vernunft der Aufklärung ist keine bloß abstrakte, auf Verfahren des Messens und Prüfens, Rechnens und Konstruierens reduzierbare Größe. Die Vernunft der Aufklärung, so wie Kant es sieht, ist immer auch ein Vermögen und eine Fähigkeit. Sie hat ihren festen Sitz im Leben der Menschen, äußert sich im Denken, Fühlen und Wollen. Sie besitzt eine soziale Komponente, sie ist das unsichtbare Band, das uns mit allen Menschen und mit der Natur verbindet. Vielleicht sogar mit Gott. Sie äußert sich in Ausdrucksformen unserer Subjektivität, aber auch in Institutionen. Sie verleiht uns Würde und fühlt sich nicht wohl, wenn   Horkheimer u. Adorno, Dialektik, S. 6.

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wir uns „auf die Aussage einer fremden Vernunft“ verlassen, wenn wir einer „fremden Vernunft folgen“.84 Ohne Vernunft gäbe es keine Verständigung und keine Humanität. Wir hätten keine Chance, Freiheit, Gesetz und Gewalt in Gestalt einer bürgerlichen Weltgesellschaft zu vereinigen. Ohne Vernunft säße jeder von uns in seiner Höhle und würde sich, an der Welt nicht interessiert, mit seinen Vorlieben und Idiosynkrasien wie ein Kind mit seinen Murmeln beschäftigen.

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 Kant, Anthr.-Menschenkunde (1781/82), AA 25: 1047, 1048.

7. Aufklärung durch Vernunftkritik Kant ist es gelungen, sich mit seiner Bestimmung des Prozesshaften der Aufklärung („Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“) und der Formulierung ihres „Wahlspruchs“ („Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“85) bis in die Schulbücher und Tageszeitungen unserer Gegenwart zu retten. Wir sind für unsere Unmündigkeit selbst verantwortlich, sie kann uns insofern zugerechnet werden, als wir es aufgrund unserer Faulheit und Feigheit unterlassen, uns um ihre Überwindung zu bemühen. Der späte Kant wird diesen „Ausgang“ die „wichtigste Revolution in dem Innern des Menschen“ nennen. Die Revolution betrifft unsere Denkungsart, unseren Charakter. Sie verändert unseren Blick auf uns selbst und auf die anderen radikal. „Stattdessen, dass bis dahin andere für ihn dachten und er bloß nachahmte oder am Gängelbande sich leiten ließ, wagt er es jetzt, mit eigenen Füßen auf dem Boden der Erfahrung, wenn gleich noch wackelnd, fortzuschreiten.“86 Wer sich seines eigenen Verstandes bedienen möchte, muss ihn kennen. Kant hat das Wissen der Vernunft über sich selbst („Vernunfterkenntnis aus Begriffen“87) in einem Traktat zu klären versucht, dem er den Titel Kritik der reinen Vernunft gegeben hat. In der Vorrede zur ersten Auflage beruft er sich auf die „gereifte Urteilskraft des Zeitalters, welches sich nicht länger durch Scheinwissen hinhalten läßt“. Er spricht von der „Aufforderung an die Vernunft, das beschwerlichste aller Geschäfte, nämlich das der Selbsterkenntnis aufs Neue zu übernehmen und einen Gerichtshof einzusetzen“, der über  Kant, Aufklärung, AA 8: 35.  Kant, Anthropologie, AA 7: 229. 87  Kant, KrV, A 713/B 741. 85

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die Ansprüche der Vernunft entscheidet. Dieser Gerichtshof ist die „Kritik der reinen Vernunft selbst“. 88 Kant ist sich sicher: Die Zeit ist reif für Kritik. Wir leben im „Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß“. Versuchen sich aber „Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung durch ihre Majestät“ der Kritik zu entziehen, „erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Ach­t ung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können“. 89 Klug geworden aus den Reaktionen auf die Erstausgabe seiner Schrift, wechselt Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage die Perspektive. Er empfiehlt seinen Lesern, das modische Geniedenken links liegen zu lassen und mit ihm gemeinsam die „dornichten Pfade der Kritik“ zu betreten. Sie führen zu einer „Wissenschaft der reinen Vernunft“.90 Hat die Vernunft sich selbst erst einmal erkannt, d.h. hat sie die Grenzen, den Umfang und die Quellen ihrer Erkenntnis der Gesetze der Natur und der Freiheit bestimmt, kann sie in einem zweiten Schritt über die Bedingungen nachdenken, unter denen wir sie anwenden können. Wir wenden die Vernunft in der Absicht an, sie zu erhalten. Indem wir dies tun, bedienen wir uns ihrer zugleich in der Absicht, uns selbst als Menschen zu mündigen Subjekten unseres eigenen Denkens und Tuns zu machen. Wir selbst müssen uns als Menschen mündig machen, indem wir unsere Begriffe erweitern, unsere Vorurteile überwinden, Strukturen und Inseln der Rationalität in unseren Lebensäußerungen und Prozessen der Weltaneignung identifizieren. Das Prozesshafte der Aufklärung ist uns in ihrer Zielrichtung wichtig. Es führt uns zu uns selbst. Würden wir uns nicht um uns selbst sorgen, uns selbst erhalten wollen, würden wir uns in unserer Knechtschaft einrichten. In diesem Zusammenhang mag ein Verweis auf Locke hilfreich sein, der „Person“ einen auf die Zurechnung von Handlungen und ihr Verdienst zielenden „forensischen Begriff“  Kant, KrV, A XI.  Kant, KrV, A XI Anm. 90  Kant, KrV, B XLIII. 88 89

7. Aufklärung durch Vernunftkritik

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(„a Forensick Termin“91) nennt. Wenden wir unsere Vernunft an, geht es genau darum: sich selbst als ein Subjekt zu denken, welches Autor seiner eigenen Gedanken und Handlungen ist. Der Mensch will nur für Handlungen verantwortlich sein, die er selbst begangen hat; er will selbst denken und aus Gründen handeln, d.h. einem Prinzip folgen, das Hegel 1820 in dem ihm eigentümlichen Jargon den für die „neuere Zeit“ charakteristischen „Eigensinn“ nennt, „der dem Menschen Ehre macht, nichts in der Gesinnung anerkennen zu wollen, was nicht durch den Gedanken gerechtfertigt ist“.92 Dass wir als Personen sogar verpflichtet sind, uns selbst als Vernunftwesen zu erhalten, macht Kant in seinen moral- und rechtsphilosophischen Arbeiten deutlich. So fordert uns der kategorische Imperativ als das oberste Prinzip der Moral auf, eine Person niemals bloß als Mittel, sondern immer auch als Zweck an sich selbst zu achten.93 Und in der Rechtsphilosophie weist Kant auf unsere Rechtspflicht hin, uns anderen niemals bloß als Mittel ihrer freien Willkür darzubieten. Auch wenn er nicht expressis verbis von Selbsterhaltung spricht, geht es in seiner Philosophie doch genau darum. Der kategorische Imperativ und die aus ihm abgeleiteten Rechtspflichten gebieten, Personen in ihrer Freiheit nicht zu lädieren, weil sie, als autonome Vernunftwesen, als Zweck an sich selbst existieren. Die Vernunft will, dass wir sie im Gebrauch unserer freien Willkür achten. Dies ist gleichbedeutend mit der Aussage, dass wir Menschen uns wechselseitig als Personen achten sollen, weil wir dies als (reine) Vernunftwesen notwendig so wollen. In der Kritik der praktischen Vernunft verweist Kant auf „das moralische Gesetz in mir“ und den „bestirnten Himmel über mir“. Diese beiden „Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmen91   John Locke, An Essay concerning Human Understanding (1690), hg. von P. H. Nidditch, Oxford 1975, S. 346. 92   Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundriss, hg. von E. Moldenhauer u. K. M. Michel (= Werke in zwanzig Bänden, 7), Frankfurt a.M. 1970, S. 27. 93   „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ (Kant, Grundlegung, AA 4: 429)

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der Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt“.94 Wir bewundern sie, sie sind feste Größen in unserem Leben, sie geben uns Halt und Aufschluss über das, worauf es ankommt. Wie bereits erwähnt, vergleicht Kant das Prinzip der Moral, den kategorischen Imperativ, mit einem „Kompass“, mit dem wir „in allen vorkommenden Fällen sehr gut“ unterscheiden können, „was gut, was böse, pflichtmäßig oder pflichtwidrig“95 ist. Doch um uns in dieser Welt vollumfänglich orientieren und als Vernunftwesen erhalten zu können, reicht dieses Prinzip nicht aus. Wir benötigen Welt- und Menschenkenntnisse, müssen auf die konkreten Dinge und realen Menschen achten, die in unseren Gesichtskreis treten. Die oberste Maxime unseres freien Vernunftgebrauchs muss deshalb wahrhaft allumfassend sein. Vor allem in seinen kleinen Schriften und Vorlesungen verlässt Kant den „dornichten Pfad“ der Kritik der reinen Vernunft. Er bewegt sich jetzt in offenem Gelände, denkt über die Bedingungen und Möglichkeiten der auf Selbsterhaltung zielenden allgemeinen Weltorientierung von Menschen wie du und ich nach. Diese abwechslungsreiche Landschaft wollen wir jetzt gemeinsam mit Kant betreten. Den Zwängen seines architektonischen Denkens können wir uns dabei leicht entziehen. Denn das ist ja gerade das hervorstechende Merkmal seiner Überlegungen zur Selbsterhaltung, dass sie in alle Bereiche seines Denkens und Philosophierens ausstrahlen. Das nicht selten Fragmentarische, Vorläufige, Informelle seiner diesbezüglichen Beobachtungen und Bemerkungen entpuppt sich als das eigentliche Zentrum eines Denkens, das um die fragilen Bedingungen weiß, unter denen das Selbstdenken und die Überwindung der Unmündigkeit stehen. Der „Grundsatz“ der „Selbsterhaltung der gesunden Vernunft“96 bzw. die „Maxime der Selbsterhaltung der Vernunft“97 ist die Maxime unseres Lebens. In dieser Maxime konkretisiert sich der Gedanke, dass das vernünftige  Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1787/88), AA 5: 161.  Kant, Grundlegung, AA 4: 404; vgl. Kant, Was heißt: Sich im Denken orientieren? (1786), AA 8: 142. 96  Kant, Anthr.-Menschenkunde, AA 25: 1049. 97  Kant, Denken orientieren, AA 8: 147 Anm. 94 95

7. Aufklärung durch Vernunftkritik

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Wesen als Zweck an sich selbst existiert. Wie immer wir unser Leben zu führen gedenken, es ist unsere Vernunft, die wir zu erhalten streben. Dass die Vernunft selbst ein Interesse an ihrer Erhaltung nimmt, dass sie uns durch den kategorischen Imperativ sogar verpflichtet, uns als letzten Zweck aller Dinge zu achten und zu erhalten, wird von Kant nicht in einem einzigen Wort zum Ausdruck gebracht. Vielmehr bedient er sich einer Reihe von Wörtern, die im Ganzen betrachtet die Sache der Selbsterhaltung zum Ausdruck bringen. So spricht er von Selbständigkeit, Selbstbestimmung, Selbstherrschaft, Selbstbesitz, Selbstbilligung, Selbstdenken, Selbstgefühl, Selbstbesitz, Selbstgesetzgebung, Autonomie und Unabhängigkeit, aber auch von Mündigkeit und Aufklärung, Vernunftinteresse und Humanität.

8. Der Mensch stellt Fragen, seine Vernunft antwortet Es gehört zu den hervorstechenden Merkmalen der Philosophie Kants, die Philosophie vom Standpunkt des fragenden Menschen aus zu bestimmen. Menschen sind für Kant Wesen, deren Vernunftnatur sie dazu bestimmt hat, nach sich selbst zu fragen. Sie fragen nach sich selbst, weil sie fragen, was sie durch ihre eigene Vernunft erkennen können, was sie tun sollen, was sie hoffen dürfen und was sie als Menschen gegenüber der Natur auszeichnet. Demnach fragen sie nach ihren Vermögen und Fähigkeiten, Leistungen und Äußerungsformen. Sie möchten die Bedingungen erkennen, unter denen sie sich die Welt erkennend aneignen und sich von ihr auch distanzieren können. Unter denen sie sich in der Welt handelnd äußern sollen und unter denen sie das erreichen können, was sie in der Zukunft zu erreichen hoffen. Ganz in diesem Sinne versteht Kant seine Kritik der reinen Vernunft als Beitrag zur Selbsterkenntnis. Damit ist nicht gemeint, dass ich mich als der Mensch, der ich bin, vollumfänglich erkennen könnte. Jede empirische Selbsterkenntnis unterliegt den Bedingungen der Erfahrung. Als Forschungsobjekt von Physik, empirischer Psychologie und Anthropologie (um nur einige Wissenschaften zu nennen) erkenne ich mich immer nur so, wie ich im Rahmen ihrer Forschungsmethoden erscheine. Das „eigentliche Selbst“ des Menschen besteht in dem „Bewußtsein seiner Selbst als Intelligenz“.98 Wie dieses Selbst jedoch darüber hinaus beschaffen ist (ob es eine Substanz ist, ob unsterblich etc.), können wir nicht erkennen. Denn die hierfür vorgesehene Wissenschaft, die rationale Psychologie, scheitert. Die einzige Ausnahme stellt die Freiheit und Autonomie dar. Wäre ich nicht in praktischer Hinsicht berechtigt, mich als Urheber meiner Handlungen anzusehen, 98

 Kant, Grundlegung, AA 4: 458.

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wäre ich nur ein Stück Natur. Würde ich mich als Vernunftwesen nicht als Quelle des Gesetzes dieser Freiheit betrachten können, wäre ich eine Puppe, die von fremder Hand geführt wird. Über den Begriff der praktischen Selbsterkenntnis hinaus fällt der Begriff der Selbsterkenntnis schlicht mit dem Wissen über die Funktionen und Leistungen meiner Erkenntnisvermögen (Vernunft, Verstand und Urteilskraft) zusammen. Die Vernunft erkennt sich selbst, wenn sie auf ihrem Gerichtshof Fragen zu beantworten versucht, die sie nicht abweisen kann, weil sie Ausdruck ihres eigenen Wesens sind. Um die Dringlichkeit dieser Fragen und die Tatsache ihres Ursprungs in der Vernunft kenntlich zu machen, bietet sich der Begriff des Interesses an. Das Vernunftinteresse beruht nicht auf Begierden, Neigungen und Leidenschaften (also auf unserer Sinnlichkeit). Es ist nicht Ausdruck unseres Fühlens, sondern unseres vernunftbestimmten Denkens. „Alles Interesse meiner Vernunft (das spekulative sowohl, als das praktische)“, lesen wir in der Kritik der reinen Vernunft, „vereinigt sich in folgenden drei Fragen: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen?“99 Die Vernunft steht sich selbst nicht gleichgültig gegenüber. Sie nimmt Anteil an allem, was sie betrifft. Sie stellt nicht nur Fragen, sie möchte auch Antworten erhalten. Sie will wissen, welchen Gebrauch sie von sich selbst machen soll. Karl Marx (1818–1883) behauptet in seiner berühmten 11. These über Feuerbach: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ Soweit würde Kant sicherlich nicht gehen. Die Welt verändern? Naja. Wie wäre es, zunächst einmal nach dem richtigen Gebrauch unserer Vernunft in der Welt zu fragen? „Die Menschen haben Vernunft, aber es kommt darauf an, wie sie sich derselben bedienen.“100 Warum kommt es gerade darauf an? Weil wir an unserer Vernunft Anteil nehmen, weil wir uns für sie interessieren, weil wir als Vernunftwesen von ihr abhängig sind. Mit  Kant, KrV, A 804–805/B 832–833; vgl. Anthr.-Menschenkunde, AA 25: 1198. 100  Kant, Anthr.-Menschenkunde, AA 25: 1039. 99

8. Der Mensch stellt Fragen, seine Vernunft antwortet

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der „Maxime der gesunden Vernunft“101 und ihrer „Selbsterhaltung“102 sind wir auf ein uns in dieser Welt zugleich orientierendes und erhaltendes Prinzip gestoßen. Sicherlich können wir auch irgendwie und ein Stück weit die Welt verändern. Aber zunächst kommt es doch darauf an, aufmerksam zu sein und zu beobachten, unsere Augen zu öffnen und unsere Ohren zu spitzen, Menschen- und Weltkenntnis zu erwerben. Bevor wir die Welt zu verändern beginnen, müssen wir uns darüber verständigen, was wichtig ist. Das kann dauern. Wir brauchen Geduld. Nehmen wir uns die Zeit.

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  ebd., AA 25: 1049.  Kant, Denken orientieren, AA 8: 147 Anm.

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9. Ferien von der Vernunft Menschen achten ihre Vernunft, aber sie lieben sie nicht. Die Vernunft ist ernst und kalt, sie kann anstrengend und auch ein wenig rücksichtslos sein. Nur zu gerne nehmen wir uns eine Auszeit von ihr, machen auf ihre Kosten Ferien, überlassen uns dem Rausch unserer Sinne. Das Leben ist kurz. Ergreifen wir listig die Gelegenheit, bevor die Lichter ausgehen. Doch Kant ist empört. „Die Vernunft ist die Eigenschaft des Menschen, die er zwar am meisten hochachtet, aber doch nicht liebt und sich daher ihrem Zwange zu entziehen sucht. Daher sucht man berauschende Getränke, Zerstreuungen und faselt in Erholungen herum. Die Vernunft ist den Menschen zu ernsthaft, und schränkt sie zu sehr ein.“103 Warum vernünftig sein, wenn wir auf dem Vulkan ein rauschendes Fest feiern können? Die frühneuzeitliche Philosophie hat diese Frage mit dem Mut der Verzweifelten zu beantworten versucht. Denn sie hat die Vernunft mit der Glückseligkeit verbandelt. Betrachtete sie als siamesische Zwillinge. Sah in ihnen die beiden Seiten einer Goldmünze. Wir sollen vernünftig sein, weil uns die Vernunft glücklich macht. Wahres Glück und wahre Lust sind der Preis einer vernünftigen Lebensführung. Dabei ist es fast schon eine zu vernachlässigende Frage, ob die Hochzeit zwischen Vernunft und Glück in diesem Leben stattfindet. Oder ob wir auf das gütige Walten Gottes hoffen dürfen, der die gute Ordnung der Dinge in der anderen Welt herstellt. Über die Naivität seiner Zunft schüttelt Kant den Kopf. Wie kann man nur annehmen, dass die Vernunft ein sicheres Mittel ist, unser Glück in dieser Welt zu besorgen? Sicherlich spricht einiges für diese Annahme. Denn Vernunft zeigt sich ja nicht nur als reine praktische Vernunft in unserem morali103

 Kant, Anthr.-Menschenkunde, AA 25: 1044.

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schen Wohlverhalten, wenn wir beispielsweise die Wahrheit sagen, obwohl die Lüge vorteilhaft für uns wäre. Praktisch ist die Vernunft ja auch dann, wenn es um Körperpflege und Sexualität, um Häuserbau und Viehzucht oder um Essen und Trinken geht. Unsere Unvernunft kann schlimme Folgen haben. Plötzlich plagen uns Läuse oder wir haben eine Kugel im Kopf. Aber ab und zu, vielleicht am Wochenende in Pillau am Ostseestrand oder auf Mallorca drei Wochen im Jahr, seine gezähmte Unvernunft zu kultivieren, was ist daran so verwerflich? Ab Montag wollen wir auch wieder ganz vernünftig sein. Obwohl die Tugend kein sicheres Mittel zu einem glücklichen Leben ist, insofern wir unter Glück die Befriedigung unserer Begierden und Neigungen (unserer langfristigen und quasi habituell gewordene Begierden) verstehen, gibt es doch in Gestalt der Freiheit als Neigung eine wichtige Beziehung zwischen ihnen. Denn Kant ist der Ansicht, dass wir Menschen auch eine Neigung zur Freiheit haben. Damit meint er die negative Freiheit, die darin besteht, nicht daran gehindert zu werden, das tun zu können, was wir gerne tun möchten. Freiheit bedeutet hier „die Befreiung von Hindernissen, nach unserer Neigung zu leben“.104 Die Neigung zur Freiheit ist „die allerhöchste, weil sie die Bedingung aller Neigungen ist“.105 Das Schlimmste, was uns widerfahren kann, sind Menschen, die uns am freien Gebrauch unserer Freiheit (unserer Willkür) hindern. „[…] kein Übel ist uns so verhasst, als wenn wir befürchten, daß ein anderer uns hindern wird, nach unserer Neigung glücklich zu leben.“106 Wird mir vorgeschrieben, wie ich glücklich werden soll, „so bin ich eo ipso dadurch unglücklich“. Alles, was unsere Freiheit einschränkt, halten wir für „erniedrigend“.107 Das ist ein wahrhaft „schrecklicher Zustand“.108 Erniedrigung ist, subjektiv betrachtet, ein Gefühl, welches sich einstellt, sobald wir auf die Stufe mit einer Sache gestellt werden oder uns auf diese Stufe gestellt fühlen. Ist ein Gefühl so stark, dass es unsere ge  ebd., AA 25: 1142, 1143.  Kant, Anthr.-Collins, AA 25: 214. 106  Kant, Anthr.-Menschenkunde, AA 25: 1142–1143. 107  Kant, Anthr.-Collins (1772/73), AA 25: 20. 108   ebd., AA 25: 214. 104 105

9. Ferien von der Vernunft

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samte Aufmerksamkeit auf sich zieht und uns unfähig macht, es „mit der Summe aller Empfindungen zu vergleichen“, handelt es sich um einen Affekt. Affekte können erfreuen oder Missvergnügen bereiten. Missvergnügen bereiten die Scham, der Zorn, die Traurigkeit sowie die Furcht, die ihrerseits „Angst, Bangigkeit, Grauen, Entsetzen“109 sein kann. Affekte können uns aus der Fassung bringen, den Verlust unseres Selbst bewirken. „Beim Entsetzen hat der Mensch schon allen Selbstbesitz verloren.“110 Überhaupt ist der Selbstbesitz das höchste Gut unseres Lebens. Kant nennt ihn den „Gott der Stoiker“ und viel erhabener „als das stets fröhliche Gemüt des Epikur, denn ist man Meister über sich, so ist man auch Herr über sein Glück und Unglück“.111 Kant drückt diesen Gedanken auch mit dem Begriff der „Herrschaft der freien Willkür“ aus: „In der Macht der freien Willkür, alle übrige actus unseres Vermögens in uns beliebig zu exerzieren und zurückzuhalten, hierin besteht das größte Glück der Welt. Denn gesetzt, es stößt mir das größte Übel zu, bin ich nur im Stande von meinen Vorstellungen zu abstrahieren, habe ich Macht, Vorstellungen gleichsam nach Belieben zu verbannen, und andere herzu zu rufen, so bin ich gegen alle gewaffnet und unüberwindlich. Die Oberste Herrschaft der Seele, die auch kein Mensch aufzugeben vermag, ist die Herrschaft der freien Willkür.“112 Ohne Übertreibung können wir sagen, dass der Verlust des Selbstbesitzes das summum malum unseres Lebens ist. Vernunft und Freiheit sind nicht alles, aber ohne sie ist alles nicht viel wert. Die Vernunft kennt keine inhaltlich privilegierte Lebensform. Sie überlässt es uns, wie wir unser Leben in Freiheit führen möchten. Aber sie kennt eine Grenze unseres Freiheitsgebrauchs. Freiheit verkehrt sich in ihr Gegenteil, wenn  Kant, Anthr.-Mrongovius (1784/85, AA 25: 1345.  Kant, Anthr.-Dohna (1791/92), AA 25: 232. 111  Kant, Anthr.-Collins, AA 25: 68–69. 112   ebd., AA 25: 29–30. Siehe weiterführend H. F. Klemme, „Freiheit, Recht und Selbsterhaltung. Zur philosophischen Bedeutung von Kants Begriff der Verbindlichkeit“, in: Normativität des Lebens – Normativität der Vernunft?, hg. von M. Rothhaar u. M. Hähnel, Berlin, Boston 2015, S. 95–116. 109 110

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sie schrankenlos, anarchisch und barbarisch wird. Wenn sie rücksichtslos in den Dienst der eigenen Interessen gestellt wird und auf die Verbindlichkeit des Moralgesetzes pfeift. Eine unbeschränkte Freiheit vernichtet sich selbst. Gut möglich, dass man dem Menschen „in gewissen Zeitaltern die Freiheit des Menschen“ nehmen muss, wenn er noch roh und tierisch ist. „Indessen sieht man doch, die letzten Zwecke des Menschen laufen darauf hinaus, dass er sich selbst regiere, so, dass der Mensch allen Wert verliert, sobald er unter die Herrschaft eines andern so steht, dass es ihm nicht mehr überlassen ist nach seiner Neigung glücklich zu sein. Dieses Urteil bestätigt die Erfahrung.“113 Der Mensch muss sich vor sich selbst und vor anderen schützen. Die ersten Ratschläge, den seine Vernunft ihm gibt, lauten: Verliere Dich nicht! Sei nicht grausam! Lass Dich nicht erniedrigen!

 Kant, Anthr.-Menschenkunde, AA 25: 1143.

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10. Gesunde Vernunft Sich dem „Zwange“ der Vernunft episodisch und auf Zeit entziehen zu wollen, mag kein guter Charakterzug von uns Menschen sein. Aber so sind wir nun einmal. Bedauerlich, aber keine Katastrophe, solange wir aus unseren „Ferien“114 von der Vernunft pünktlich und wohlbehalten zurückkehren. Solange wir uns an den grauen Tagen unseres Lebens in den Dienst unserer Vernunft stellen. Mehr als bedauerlich, schlecht und verwerflich ist dagegen ein Tun oder Unterlassen, welches die Geltung der „Maxime der gesunden Vernunft“ untergräbt. Kant verwendet in diesen Fällen Wörter wie Trotz, Hass und Misologie. „Einige sind trotzig auf ihre gesunde Vernunft, und spotten über die Wissenschaften, gerade als ob die Wissenschaften dadurch entbehrlich würden, wie wohl das wahr ist, daß die gesunde Vernunft den Gebrauch aller Wissenschaften bestimmt. Sie sind aber trotzig auf ihre gesunde Vernunft, so daß sie alles Schulwissen für unnütz halten.“115 Gelegentlich unterscheidet Kant zwischen dem „gesunden Verstand“ und der „gesunden Vernunft“.116 Manchmal verwendet er ‚Vernunft‘ aber auch in einem den Verstand inkludierenden Sinn. In seiner ersten Anthropologievorlesung von 1772/73 bemüht er sich, eine deutliche Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft zu treffen. Er definiert den gesunden Verstand mit biblischen Worten als „das tägliche Brot, worum wir bitten sollen“.117 Ohne ihn kommen wir einfach nicht durch den Tag. Der „gemeine Verstand“ urteilt in concreto über die Gegenstände der Erfahrung. Sind seine Urteile richtig, ist es ein  Kant, Anthr.-Parow, AA 25: 361.  Kant, Anthr.-Menschenkunde, AA 25: 1049. 116   Vgl. Kant, Anthr.-Parow, AA 25: 358–362. 117   ebd., AA 25: 358. 114

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„gesunder Verstand“.118 Der gesunde Verstand weist eine Nähe zur Urteilskraft119 (die hier nicht genannt wird) auf, weil er einen Fall unter eine Regel subsumiert. Der gesunde Verstand darf nicht mit dem analytischen Verstand verwechselt werden, der auf die Zergliederung der eigenen Begriffe zielt. Der gesunde Verstand erfordert Klugheit und Weitsicht, der analytische Verstand nicht. Er befolgt nur dann eine Regel, wenn sie passt. „Einen Narren kann man am besten nach Regeln leiten, so sagt man z. E. dieser Mann hat es sich zur Regel gemacht nichts wegzugeben als was höchst notwendig ist, und was ein anderer mit Recht von ihm fordern kann. Nun kann ein Mensch durch diese Regel sehr lächerlich werden, indem es zuweilen die Klugheit und der Wohlstand erfordert etwas freigiebig zu sein.“120 Subsumiert der gesunde Verstand den Einzelfall unter eine ihm angemessene Regel, so richtet die gesunde Vernunft über den Einzelfall aus der Perspektive allgemeiner Regeln. Kant nennt diese Regeln a priori die Gesetze der Natur. Gesund ist die Vernunft genau dann, wenn sie alles als falsch, erdichtet, erträumt, erfunden, ersonnen, erlogen und geklaut zurückweist, was diesen Regeln widerspricht. Die gesunde Vernunft ahmt auch nicht nach, weil die Nachahmung „nur eine Kopie von dem Verstande eines andern“121 ist. Die gesunde Vernunft denkt selbst. Warum trotzen die Menschen ihrer gesunden Vernunft bzw. ihrem „Alltagsverstand“? Dafür gibt es verschiedene Gründe. Manche verspotten die gesunde Vernunft, weil ihr letzter Zweck, die Wissenschaft, über ihren Verstand geht. Andere lassen sich wie „ein gutes liebenswürdiges Mädchen“122 zur „Misologie“ verführen. Selbst den Gelehrten ist dieser „Hass gegen die spekulative Vernunft“ nicht fremd. Sie hassen ihre Vernunft aus enttäuschter Erwartung. „Es geschieht am Ende doch, daß sehr hoch getriebene Bestrebungen der Vernunft […]   ebd., AA 25: 359.   In der Kritik der Urteilskraft identifiziert Kant an einer Stelle den „gesunden Verstand“ mit dem „richtigen Gebrauch“ der Urteilskraft (AA 5: 169). 120  Kant, Anthr.-Parow, AA 25: 360. 121   ebd., AA 25: 361. 122  Kant, Anthr.-Menschenkunde, AA 25: 1049. 118 119

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eine Misologie der spekulativen Vernunft bewirken. Dieser Haß gegen die spekulative Vernunft ist ein Zustand, der viele Gelehrte betroffen hat, wenn sie ihre Untersuchungen so hochgetrieben hatten, bis zu den Quellen der Dinge zu kommen, und sich hernach in ihrer Erwartung getäuscht fanden. Wir haben viele Sätze als Fragen für unsere Vernunft, mit denen wir aber nicht recht fortkommen können, z.B. den Begriff von der Natur und der Bestimmung unserer Seele, von einem Weltregierer; dies alles sind Dinge, über welche uns, wenn wir uns darein vertiefen, nicht gehörige Antwort von der Vernunft wird, sobald wir nicht die erforderlichen Schranken beobachten.“123 Die größte Verzweiflung, in die sich ein Mensch stürzen kann, liegt „im Hasse der Vernunft“.124 Zum Glück handelt es sich um einen Hass auf die spekulative Vernunft, d.h. auf Wahrheit, Wissen und Wissenschaft. Von einem Hass auf die praktische Vernunft spricht Kant nicht – und schon gar nicht von einem Hass auf die reine praktische Vernunft. Denn die reine Vernunft ist die Quelle des Moralgesetzes. Wer die reine praktische Vernunft hasst, verkehrt nicht nur die Ordnung von Tugend und eigener Glückseligkeit, weil er die Beförderung seines eigenen Glücks zur Bedingung seines tugendhaften Handelns erklärt. (Kant erläutert dies im Rahmen seiner Lehre vom radikalen Bösen im ersten Stück seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 1793.) Wer seine reine praktische Vernunft hasst, ist nicht radikal böse. Er ist schlimmer als das. Eine derartige Person hat einen teuflischen Willen. Sie erhebt den Verstoß gegen das Moralgesetz und den kategorischen Imperativ zum Programm. Bei aller Skepsis ist Kant doch ein Optimist. Der Mensch ist böse, aber er hat keinen teuflischen Willen. Der radikal böse Wille kann sich durch einen freien Akt und aus Achtung vor dem Moralgesetz, die er so ganz niemals verloren hat, zu einem guten Willen wandeln. Aus einer bösen wird eine gute Gesinnung und Denkungsart. Der teuflische Wille dagegen ist zu diesem Akt der Rückkehr zum ursprünglich guten Willen nicht   ebd., AA 25: 1050–1051.   ebd., AA 25: 1051.

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in der Lage. Wer so tief wie der Teufel gefallen ist, dem bleibt das Reich der Tugend für immer verschlossen. Gibt es ein Mittel gegen unseren Vernunftverdruss? Den ambitionierten Gelehrten unter uns empfiehlt Kant die Lektüre der Kritik der reinen Vernunft. Sie versöhnt uns mit der Vernunft, weil sie deren Schranken aufweist. Wenn wir schwarz auf weiß lesen, aus welchen Gründen wir die Unsterblichkeit der Seele, die Existenz Gottes und die Freiheit des Willens nicht förmlich beweisen können, dann werden wir uns auch nicht wortgewaltig in das Reich des Irrationalismus retten wollen. Denn es ist ein Reich der Finsternis, der Schwärmerei, der Phantasterei und der Selbstaufgabe. Etwas für spannende Literatur oder gesellige Abende am Lagerfeuer. Aber nichts, was wir für bare Münze nehmen sollten. Allen Menschen aber empfiehlt Kant, auch beim Gebrauch ihrer Vernunft „immer gute Diät“ zu halten und dem „Grundsatz“ der „Selbsterhaltung der gesunden Vernunft“ zu folgen. Was besagt dieser Grundsatz? Zunächst ist wichtig, dass es sich um einen Grundsatz der „gesunden Vernunft“ und nicht des Menschen handelt. Ob und inwiefern dieser Grundsatz auch der Erhaltung des Menschen förderlich ist, interessiert die Vernunft nicht unmittelbar. Was für die Vernunft zählt, ist unmittelbar nur die Vernunft – und zwar speziell ihr freier Gebrauch. Die gesunde Vernunft darf nichts annehmen, was ihren zukünftigen Gebrauch einschränkt oder ganz unmöglich macht. In den studentischen Nachschriften seiner Vorlesung über Anthropologie finden sich verschiedene Formulierungen, in denen Kant diese Maxime diskutiert. An einer Stelle lesen wir: „Die Vernunft muß sich es zum Hauptgrundsatz machen, daß, wenn sie Dinge gleich nicht für unmöglich erklärt, sie sie doch nicht sogleich annimmt.“ Wenige Zeilen später finden wir diese Formulierung: „Die Maxime der Vernunft erfordert also, daß ich nichts einräume, was mich meiner Vernunft berauben würde, sobald ich es annähme.“ Aber welche Annahmen genau widersprechen dieser Maxime? Ein Stichwort sind „wunderbare Dinge“. Wenn ich an „wunderbare Dinge“ wie Gespenstergeschichten glaube, halte ich etwas für wahr, „was nicht mit den Regeln der Vernunft“ zusammenhängt. Glaubt eine Person

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an derartige Geschichten, traut sie ihrer Vernunft nicht über den Weg. Sie negiert die Bedingungen, unter denen Erkenntnis möglich ist. Sie schafft Platz für eine entfesselte Einbildungskraft, für Aberglaube und Schwärmerei. Die Urteile der Wissenschaft und die Ansichten von „hundert alten Weibern“125 haben für sie dieselbe Autorität. Wir können allerdings nicht nur Ferien von der Vernunft machen, wir können auch ein Stück weit mit ihr Ferien machen. Wir können einen freien Gebrauch von unseren Vermögen machen, ohne ihren strengen Begriffen unterworfen zu sein. Wir können auf eine vernunftaffine Weise unser Gemüt lebhaft empfinden. Denn im freien Urteil über das Schöne empfinden wir eine Lust, die auf keinem Interesse unseres Begehrungsvermögens beruht. Dieses Urteil ist bloß kontemplativ. Das durch Geschmack und reflektierende Urteilskraft vermittelte „uninteressierte und freie Wohlgefallen“126 belebt nicht nur unser Gemüt. Es will auch erhalten bleiben. „Diese Lust […] hat aber doch Kausalität in sich, nämlich den Zustand der Vorstellung selbst und die Beschäftigung der Erkenntniskräfte ohne weitere Absicht zu erhalten. Wir weilen bei der Betrachtung des Schönen, weil diese Betrachtung sich selbst stärkt und reproduziert.“127 Alle Lust will Ewigkeit. Aber nur die ästhetische Lust genügt sich selbst. Wie schön, dass die Erhaltung unseres mit Lust und Wohlgefallen verbundenen Gemütszustandes unterhaltend ist. Es belebt uns, weil wir uns selbst in unserer ganzen Freiheit fühlen. Die angenehmste Freiheit ist die ästhetische Freiheit.

 Kant, Anthr.-Menschenkunde, AA 25: 1050.  Kant, Urteilskraft, AA 5: 210. 127   ebd., AA 5: 222; vgl. 220.

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11. Selbstdenken und Aufklärung Der ernste Kern von Kants Ausführungen zur Maxime der Selbsterhaltung wird deutlich, sobald wir ihren erweiterten Kontext betrachten. Ob jemand an Geistergeschichten glaubt und kein Interesse an der Erhaltung seiner gesunden Vernunft nimmt, ist für Kant nicht bloß eine Charakterfrage. Es ist eine eminent politische Frage. Dies wird nicht nur aus seinen Vorlesungen über Anthropologie deutlich, in denen der Abschnitt über die „Maxime der gesunden Vernunft“ unmittelbar auf Ausführungen folgt, in denen Kant Stellung zu der Frage bezieht, ob eine Regierung „die Menschen in der Unmündigkeit erhalten muss“128 (was Kant mit Verweis auf die Boshaftigkeit der einer solchen Politik zugrunde liegenden Maximen empört zurückweist). Es wird auch aus der zweiten Stelle deutlich, an der sich Kant mit der „Maxime der Selbsterhaltung der Vernunft“ auseinandersetzt. Wir finden sie in einer Anmerkung zu seiner Behauptung, dass die Vernunft das „höchste Gut auf Erden“ darstellt, da sie „der letzte Probierstein der Wahrheit“129 ist. In dieser Anmerkung stellt Kant bemerkenswerte Verbindungen zwischen diversen Leitbegriffen seiner Philosophie her. Zunächst spricht er vom „Selbstdenken“. Selbstdenken wird als eine Tätigkeit begriffen, die darauf abzielt, den „obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d.i. in seiner eigenen Vernunft)“ zu suchen. Wer selbst denkt, ahmt keine fremde Vernunft nach, unterwirft sich keiner Autorität blind. Vernünftige Menschen anerkennen nichts, was sie nicht selbst als vernünftig denken können. Kant nennt die Maxime, „jederzeit selbst zu

 Kant, Anthr.-Menschenkunde, AA 25: 1047.  Kant, Denken orientieren, AA 8: 146.

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denken, […] die Aufklärung“.130 Die Maximen des Selbstdenkens und der Selbsterhaltung der Vernunft sind bedeutungsgleich. Selbstdenken zielt auf die Überwindung der Unmündigkeit und die Selbsterhaltung der Vernunft, sie zielt auf Einsicht in Gründe, Zwecke und Kausalitäten. Aufklärung darf nicht mit Kenntnissen verwechselt werden. Viele Menschen wissen viel, haben Kenntnisse von allen möglichen Dingen, können jedes Kreuzworträtsel lösen. Solange sie ihre Kenntnisse aber nicht anzuwenden verstehen, sind sie nicht aufgeklärt. Zudem kann ein Mensch ein Selbstdenker sein, obwohl er über keine umfassenden Kenntnisse verfügt. Selbstdenken und Aufklärung sind eine Frage der Haltung, der Denkungsart, der – wenn man so möchte – Gesinnung. Sie zielen auf Fortschritt in eigener Sache. Selbstdenker ist, wer sich seiner Vernunft so bedient, dass er sie in ihrem Gebrauch erhält. Woran können wir dies feststellen? Indem wir die richtige Frage stellen. Wer sich seiner eigenen Vernunft bedient, der fragt sich, „ob man es wohl für tunlich finde, den Grund, warum man etwas annimmt, oder auch die Regel, die aus dem, was man annimmt, folgt, zum allgemeinen Grundsatze seines Vernunftgebrauchs zu machen“.131 Bei der „Maxime der Selbsterhaltung der Vernunft“ handelt es sich um die oberste Regel (Prinzip) unseres Vernunftgebrauchs. Es ist eine Maxime zweiter Ordnung, da sie sich auf Maximen bezieht, die unmittelbar handlungsleitend für uns sind (Maximen erster Ordnung). Wer der obersten Maxime der Selbsterhaltung folgt, weist alle möglichen Handlungsmaximen erster Ordnung zurück, die „zum allgemeinen Grundsatz seines Vernunftgebrauchs“ zu machen bedeuten würde, sich in seinem zukünftigen freien Vernunftgebrauch zu beschränken oder ihn sogar ganz auszuschließen. Das hierbei zur Anwendung gebrachte Verfahren der Überprüfung einer Maxime durch eine ihr übergeordnete Maxime erinnert an die Überprüfung unserer (Handlungs-)Maximen durch den kategorischen Imperativ. Der kategorische Imperativ fordert uns auf, unsere   ebd., AA 8: 146 Anm.   ebd., AA 8: 146–147 Anm.

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Maximen daraufhin zu überprüfen, ob sie sich für eine allgemeine Gesetzgebung qualifizieren. Als Kriterium beruft sich Kant auf die Widerspruchsfreiheit im Denken (vollkommene Pflichten) oder im Wollen (unvollkommene Pflichten). Weil ich die Maxime der Lüge (oder der Unaufrichtigkeit) nicht als ein allgemeines Gesetz denken kann, ist sie in jedem Fall verboten. Ich habe die Pflicht, aufrichtig zu sein. Dieses Verfahren ist für sich betrachtet nicht ganz einfach zu durchschauen. Die Literatur geizt nicht mit Interpretationen.132 Da mag es als ein glücklicher Umstand gewertet werden, dass Kant kein formales Verfahren vorschlägt, mittels dessen ich zweifelsfrei erkennen könnte, ob ich meine Vernunft erhalte, wenn ich der Regel folge. Regeln zielen auf Allgemeinheit. Zeichnen sich Regeln durch strenge Allgemeinheit (Universalität) aus, die keine einzige Ausnahme kennt, handelt es sich um Gesetze. Von Gesetzen spricht Kant im Bereich von Ethik und Recht. Und es ist zweifellos so, dass ich mich als Vernunftwesen nicht erhalte, wenn ich gegen den kategorischen Imperativ und meine moralischen Verbindlichkeiten verstoße. Aber die „Maxime der Selbsterhaltung der Vernunft“ hat im Vergleich zum kategorischen Imperativ (sowie den einschlägigen Rechtspflichten) eben einen weiteren Anwendungsbereich. Deshalb verzichtet Kant bei der obersten Maxime unseres gesamten Vernunftgebrauchs nicht zufällig auf den Begriff des Gesetzes. Bei aller Allgemeinheit müssen viele unserer Maximen offen für die besonderen Umstände und Gegebenheiten sein, unter denen sie zur Anwendung gebracht werden. Was im Bereich der Moral das Merkmal eines pflichtwidrigen oder bloß pflichtgemäßen Handelns wäre, kann im Bereich unserer allgemeinen vernünftigen Weltorientierung geboten sein: eine Ausnahme von der Maxime zu machen. Der Spielraum der Urteilskraft ist viel größer als bei unseren Pflichten. Dies erklärt, warum Kant besagtes Verfahren der Anwendung des kategorischen Imperativs auf unsere Handlungsmaximen nicht vorschlägt. 132   Zur Orientierung siehe Klemme, „Perspektiven der Interpretation: Kant und das Verbot der Lüge“, in: Kant verstehen / Understanding Kant. Über die Interpretation philosophischer Texte, hg. von D. Schön­ ecker u. Th. Zwenger, Darmstadt 2001 (2. Auflage 2004), S. 85–105.

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Die Vernunft will, dass wir sie erhalten. Wir wissen aus Moral und Recht, welchen Regeln wir nicht folgen dürfen. Aber der verbleibende Spielraum für unsere Selbsterhaltungsregeln ist immer noch groß. Wir wissen nicht mit Bestimmtheit, wo die Grenze zwischen Erhaltung, Verletzung und Vernichtung verläuft. Urteilskraft ist gefragt. Neben den offensichtlichen Fällen vernunftwidriger Regeln scheint es eine Grauzone an Regeln zu geben, die wir so, aber auch ganz anders auslegen können. Kant orientiert sich jedoch an eindeutigen Beispielen. Er verweist auf „Aberglauben und Schwärmerei“ als Ausdrucksformen unseres Fürwahrhaltens, die verschwinden, sobald wir die Probe anstellen. Vermutlich ist es hilfreich, sich durch die Lektüre der Kritik der reinen Vernunft über die Grenzen der Vernunft und die Bedingungen ihrer Anwendung zu informieren. In ihr werden wir dessen versichert, dass Geister, da wir sie nicht in Raum und Zeit anschauen können, kein Gegenstand einer förmlichen Erkenntnis sein können. Es mag sie irgendwie ‚geben‘, aber sie gehen uns nichts an. Sie sind kein Gegenstand in unserer Erfahrungswelt. Wir sollten uns keinen Illusionen hingeben: Die Maxime der Selbsterhaltung der Vernunft schützt den Einzelnen nicht vor Torheiten. Manchmal erweisen sich Vorurteile als vernünftig, manchmal aber auch nicht. Dies betrifft auch die Person Immanuel Kant. So radikal und wohlbegründet seine Forderung nach Aufklärung im Allgemeinen und Abstrakten auch sein mag, im konkreten Urteil ist auch Kant fehlbar. Dass einige Menschen nach Alter und Verstand einen Vormund benötigen, um über die Runden zu kommen, ist eine Binsenweisheit. Aber das ganze weibliche Geschlecht für unmündig zu erklären, ist schon ein starkes Stück. Beispielhaft sei an dieser Stelle auf eine Passage aus einer studentischen Nachschrift seines Anthropologiekollegs verwiesen. „Man nimmt an, dass gewisse Leute sich ihres Verstandes nicht allein zu bedienen befugt sind, sondern nur mit Hülfe eines fremden Verstandes urteilen können, und solche nennt man Unmündige. Einige sind unmündig den Jahren nach; sie können sich nicht nach ihrem eigenen Verstande, und ihrer Vernunft richten, sondern müssen unter der Leitung eines Anderen stehen. So gibt es auch eine Minorennität dem

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Geschlechte nach; gewisse Einsichten und Geschäfte sind ganz außer der Sphäre der Frauenzimmer. Sie dürfen sich da nicht ihrer eigenen Vernunft bedienen, sondern müssen sich dem Ausspruche einer fremden Vernunft unterwerfen; sobald etwas ins Publikum läuft, müssen sie sich auf fremde Vernunft verlassen. Bei Kindern ist die Unmündigkeit natürlich; den Vormund eines Frauenzimmers nennt man Kurator.“133 Die Mühlen der Aufklärung mahlen langsam. Dabei hätten Kant durch eine einfache Überlegung Zweifel an der Unmündigkeitsbescheinigung für das ganze weibliche Geschlecht134 (sowie für bestimmte Ethnien und Kulturen) kommen können. Im Gefolge des Siebenjährigen Krieges wird Königsberg vom Januar 1758 bis August 1762 von den Russen besetzt. Während dieser Jahre herrschen zwei Zarinnen: erst Elisabeth Petrowna (1709–1761), dann Katharina die Große (1729–1796). Kant ist beider Untertan. Der Zarin Elisabeth schreibt er am 14. Dezember 1758 sogar einen Brief. Er adressiert sie im Duktus der Zeit als „allerdurchlauchtigste Großmächtigste Kaiserin, Selbstherrscherin aller Reußen, Allergnädigste Kaiserin und große Frau“, gibt sich als ihr „alleruntertänigster Knecht“ aus, bekennt „in tiefer devotion“ zu „ersterben“. Was ist da los? Unser Philosoph hat ein Anliegen. Er möchte die Professur für Logik und Metaphysik an der Universität Königsberg übernehmen, die durch das Ableben eines seligen Kollegen frei geworden ist. Dass die Zarin die untertänigste Anfrage abschlägig bescheiden wird, tut hier nichts zur Sache. Kant weiß, dass Frauen Bücher schreiben, Wissenschaft betreiben und sogar Zarinnen werden können. Elisabeth ist eine „Selbstherrscherin“, die keinen „Kurator“ nötig hat. Wäre dies alles nicht Anlass genug, Vertrauen in die Mündigkeit des weiblichen Geschlechts zu setzen? Doch Kant bläst nicht ins Horn der Gleichberechtigung. Vermutlich sind für ihn Frauen wie die Zarin Elisabeth, die Philosophin Émilie du Châtelet (1706–1749), die über Newton und Leibniz arbeitete, oder Dorothea Christiane Erxleben (1715–1762), die  Kant, Anthr.-Menschenkunde, AA 25: 1046–1047.   Zur Unmündigkeit der Frau bei Kant siehe ausführlich Stader, Unmündigkeit. 133

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als erste Frau im Alten Reich 1754 an der Universität Halle im Fach Medizin promovierte, nur bemerkenswerte Ausnahmen von der Regel. Sie sind Exotinnen ihres Geschlechts, wundersame Äußerungsformen der Natur. Auf jeden Fall kein Grund, die bürgerliche Gleichberechtigung und Selbständigkeit der Frauen offensiv zu fordern und zu fördern. Kants Urteilsfähigkeit hat ihn bei der Frage, welche Menschen nach Mündigkeit streben oder sich selbst mündig machen können, verlassen. Dabei legt er im obigen Zitat großen Wert darauf, das weibliche Geschlecht nicht als von Natur aus zur Unmündigkeit bestimmt zu begreifen. Denn dies würde bedeuten, dass die Frauen für ihre Unmündigkeit nicht verantwortlich wären. Ihre Unmündigkeit ist selbstverschuldet, nicht natürlich. Sie könnten mündig werden, aber sie wollen nicht. Warum sie dies nicht wollen, muss auf der Grundlage von Kants Freiheitskonzeption unerklärlich bleiben. Könnten wir sie kausal unter Rückgriff auf die Gesetze der Natur erklären, wäre ihre fortdauernde Unmündigkeit entschuldigt. Dabei meint Kant nicht, dass Frauen nicht partiell mündig sein können und wollen. Schließlich führen sie den Haushalt, sind Rechtssubjekte, die einen Ehevertrag schließen können. Aber sie nehmen kein aktives Interesse an ihrer bürgerlichen Selbständigkeit. Kant warnt uns immer davor, uns als Philosophen von Vorurteilen blenden zu lassen, die ihre Evidenzen in handgreiflichen Erfahrungen zu finden scheinen. Anthropologie ist schön und gut. Aber sie ist als solche blind für strikte Geltungsfragen. Diese werden von der Vernunft gestellt und beantwortet. Zum Glück wird Kants Theorie der Vernunfterhaltung von seinen Vorurteilen nicht belastet. Sie triumphiert über die toten Winkel seiner Wahrnehmung. Tatsächlich findet sich an einer prominenten Stelle eine Äußerung Kants zu den Mündigkeitschancen des weiblichen Geschlechts, die sehr viel besser zu seiner Konzeption der Aufklärung der gesamten Menschheit passt. Diese Hoffnung auf Emanzipation der Frauen andeutende Passage findet sich dort, wo wir sie auch erwarten dürfen: In seinem Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ (1784): „Dass der bei weitem größte Teil des Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt

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zur Mündigkeit, außer dem dass er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, dass diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperreten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen droht, wenn sie es versuchen allein zu gehen.“135 Kant behauptet hier nicht, dass das „schöne Geschlecht“ nicht mündig werden kann. Er behauptet vielmehr, dass das ‚weibliche Geschlecht‘ wortreich in der Unmündigkeit gehalten wird und keine Anstrengungen unternimmt, einen Schritt „außer dem Gängelwagen“ zu wagen. „Selbständigkeit“ ist für Kant das zentrale Merkmal eines Bürgers. Bürger ist, wer als Glied eines gemeinen Wesens Mitgesetzgeber ist. Alle Glieder des Gemeinwesens fallen unter das Gesetz. Sie sind frei und als gleich zu achten. Doch nicht alle Glieder haben tatsächlich auch das Recht, aktiv an der Gesetzgebung mitzuwirken. Sie sind keine „Bürger“, sondern „Schutzgenossen“136 des Gemeinwesens. Denn nur wer selbständig ist, „besitzt sich selbst“.137 Kant fordert den „freien Staat“, in dem die Bürger zur Mündigkeit kommen und in dem ein Stand alle anderen in Religionssachen nicht „unmündig erhält“. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Auch sieht Kant deutlich, dass nicht alle Bürger in allen Angelegenheiten gleich mündig sein können. Das betrifft auch die Gelehrten: „Gewisse Leute sind in einer Art von Unmündigkeit, z. B. Gelehrte in bürgerlichen  Kant, Aufklärung, AA 8: 35.   Kant, „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“ (1793), AA 8: 294. Zum Begriff der bürgerlichen Selbständigkeit und ihren (auch materiellen) Voraussetzungen siehe Reinhard Brandt, „Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit bei Kant“, in: Die Ideen von 1789 in der deutschen Rezeption, hg. Forum für Philosophie Bad Homburg, Frankfurt a.M. 1989, S. 90–127. 137  Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, AA 6: 317. Nach Wolff ist selbständig, wer den Grund seiner Existenz (als Vernunftwesen) in sich selbst findet. Siehe Christian Wolff, Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schriften die er in deutscher Sprache herausgegeben, 3., verbesserte Auflage, Frankfurt am Main 1757, § 24, S. 60–61. 135

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Sachen, weil sie sich nicht damit beschäftigen können. Wenn ein Mensch recht bequem leben wollte, so müsste er sich jemanden halten, der für ihn Gedächtnis, einen Andern, der für ihn Verstand, einen Dritten, der für ihn Urteilskraft hätte.“138 Am Ende des Tages bleiben wir alle ein Stück weit unmündig. Aber das ist kein Grund, unsere Vernunft für unmündig zu erklären. Die Vernunft verlangt freie Sicht. Sie will sich in allem finden, was sie erblickt. Alle Menschen sollen Vernunft überall dort suchen, erwarten, erhalten und befördern, wo wir vernünftige Antworten auf unsere Fragen erhalten können. Die „Maxime der Selbsterhaltung der Vernunft“ fordert nicht nur die Maximierung139 unserer eigenen Vernunfttätigkeit in der Theorie. Sie fordert ihre praktische Beförderung in allen Zeiten und Orten bei allen Menschen. So viel an uns ist. Dies schließt neben der kritischen Prüfung von Traditionen und unhinterfragten Praktiken des Denkens und Fühlens die Förderung des ganzen Menschen in Erziehung und Unterricht ein. Geben wir der Vernunft eine Chance, sich in allen Menschen zu bilden. Erwarten wir mehr Vernunft in allen menschlichen Ausdrucksformen! Lassen wir uns von unseren vordergründigen ‚Erfahrungen‘ nicht aufs Glatteis führen. Wo immer jemand nach Mündigkeit strebt, verdient es unsere Anerkennung und Unterstützung. Umso besser, wenn Mündigkeit auch von denen eingefordert wird, bei diesen wir dies (wie Kant bei den Frauen) nicht erwartet haben. Menschen aller Länder, werdet mündig!

 Kant, Anthr.-Menschenkunde, AA 25: 1047.   Zum Konzept der Freiheitsmaximierung siehe Paul Guyer, Kant’s „Groundwork for the Metaphysics of Morals“, London, New York 2007, S. 18–21 u. 110, ders., „Mendelssohn, Kant, and Religious Liberty“, in: Kant-Studien 109 (2018), S. 309–328, bes. S. 322–328, sowie Klemme, “Maximizing freedom? Paul Guyer on the value of freedom and reason in Kant”, in: Kant on freedom and human nature, hg. von L. Filieri u. S. Møller, London 2023. 138 139

12. Humanität und Tugend Dass sich Kants Moralphilosophie um die Begriffe der Freiheit und der Pflicht dreht, ist allgemein bekannt. Aber der Begriff der Tugend spielt eine nicht minder wichtige Rolle. Die enge Beziehung zwischen Pflicht und Tugend hat Kant dazu veranlasst, ein neues Wort zu kreieren: Tugendpflicht. Dieser Begriff gibt uns einen wichtigen Hinweis darauf, was sich Kant unter der Erhaltung unserer selbst im Sinne der Selbstrealisierung oder des Selbstverwirklichens (lat. obtinere) unserer praktischen Vernunft im Detail vorstellt. Beginnen wir mit dem Begriff der Pflicht. Eine Pflicht (lat. obligatio) bedeutet eine Handlung, die wir vollziehen (oder unterlassen) sollen. Der Grund der Verbindlichkeit (lat. officium) ist die reine Vernunft. Sie fordert uns in Gestalt des kategorischen Imperativs dazu auf, nur nach solchen Regeln (Maximen) zu handeln, die sich für eine allgemeine Gesetzgebung qualifizieren. Ein Gesetz ist eine Regel, die mit Notwendigkeit gilt, d.h. von allen Vernunftwesen als universell gültig erkannt werden kann. Letztlich sind Maximen, die sich für eine allgemeine Gesetzgebung qualifizieren, nichts anderes als Regeln, durch die unsere Freiheit und Autonomie geachtet und gewahrt werden. Wir erkennen unsere Pflichten (gegenüber uns selbst und gegenüber anderen), indem wir unsere Handlungsregeln (Maximen) daraufhin überprüfen, ob wir sie als ein allgemeines Gesetz wollen oder denken können. Kant erläutert dieses Verfahren der Pflichtenerkenntnis mit einiger Ausführlichkeit in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785).140 In dieser Schrift erwähnt er jedoch nicht, dass die reine Vernunft uns auch unmittelbar dazu verpflichtet, bestimmte 140   Siehe Klemme, Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein systematischer Kommentar, Stuttgart 2017.

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Zwecke zu wollen. Diese Verpflichtung impliziert einen „Akt der Freiheit“,141 durch den wir den Zweck zum Gegenstand unseres Wollens machen. Zwar führt Kant bereits in der Grundlegung aus, dass jede Maxime einen Zweck (eine Materie) enthält, und „dass das vernünftige Wesen als Zweck seiner Natur nach, mithin als Zweck an sich selbst, jeder Maxime zur einschränkenden Bedingung aller bloß relativen und willkürlichen Zwecke dienen“142 muss. Dass ich jedoch durch einen „Akt der Freiheit“ mir selbst einen neuen Zweck (der gewissermaßen in Konkurrenz zu den Zwecken steht, die wir uns aufgrund unserer Begierden und Neigungen als vernünftige Naturwesen setzen) zu setzen verpflichtet bin, davon ist in der Grundlegung nicht die Rede. Erst in der Tugendlehre betont Kant, dass wir verpflichtet sind, die eigene Vollkommenheit und die fremde Glückseligkeit in einem „Akt der Freiheit“ zum Zweck unseres Wollens zu machen. Die Beförderung fremder Glückseligkeit (um uns auf diese Tugendpflicht zu beschränken) schließt die moralische Verbindlichkeit ein, alle (moralisch erlaubten) Zwecke der Menschen bloß deshalb nach Möglichkeit zu befördern, weil sie von den Menschen faktisch gewollt werden. Ob ich ihre Vorstellungen von einem glücklichen Leben teile, ist dabei moralisch gesehen völlig irrelevant. Ich bin verpflichtet, die „relativen Zwecke“143 (subjektiven Zwecke) der Menschen, die auf ihren Begierden und Neigungen beruhen, bloß deshalb zu befördern, weil sie diese Zwecke aufgrund ihrer Neigungen (die Kant als langfristige Bedürfnisse definiert) wollen. Weil es die subjektiven Zwecke von Wesen sind, die Würde haben und als Zwecke an sich selbst existieren, sind sie für uns, die wir ver-

141  Kant, Metaphysik der Sitten (1797), AA 6: 385. Ich übernehme im Folgenden einige Passagen aus Klemme, „Radikal human. Kants erweiterter Pflichtbegriff von 1797“, in: Pflicht und Verbindlichkeit bei Kant. Quellengeschichtliche, systematische und wirkungsgeschichtliche Beiträge, hg. von G. Rivero (= Aufklärung, Band 30), Hamburg 2018, S. 119–139. 142  Kant, Grundlegung, AA 4: 436. 143   ebd., AA 4: 428.

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pflichtet sind, Freiheit zu befördern, wo immer es uns möglich ist, von praktischer Bedeutung. Ich setze mir einen Zweck. Ich bin verpflichtet, mir einen Zweck zu setzen. Was genau meint Kant damit? Ein „Zweck ist ein Gegenstand der freien Willkür, dessen Vorstellung diese zu einer Handlung bestimmt (wodurch jener hervorgebracht wird). Eine jede Handlung hat also ihren Zweck. Und da niemand einen Zweck haben kann, ohne den Gegenstand seiner Willkür selbst zum Zweck zu machen, so ist es ein Akt der Freiheit des handelnden Subjekts, nicht eine Wirkung der Natur, irgend einen Zweck der Handlungen zu haben.“144 Um mich als verpflichtet zu denken, nach dem Moralgesetz zu handeln, bedarf es meinerseits keines „Aktes der Freiheit“. Ich bin verpflichtet, weil ich eine Vernunftnatur habe. Aber nach einem bestimmten Zweck zu handeln, setzt diesen „Akt der Freiheit“ sehr wohl voraus. Es gibt keine Handlung, deren Zweck mir einfach so gegeben wird. Vielmehr kann mir eine Handlung nur deshalb zugerechnet werden, weil ich den Zweck will, weil ich ihn mir als Objekt meines Wollens setze. Besondere Bedeutung kommt diesem Gedanken für den Begriff der Tugendpflicht zu: Wenn die reine Vernunft praktisch ist (woran wir nach Kant aufgrund unseres Bewusstseins des kategorischen Imperativs in praktischer Hinsicht gar nicht zweifeln können), dann bedürfen wir neben dem Gesetz auch eines Zweckes, der aus „der reinen praktischen Vernunft“ folgt. Gäbe es diesen Zweck (oder diese Zwecke) nicht, würde der kategorische Imperativ Handlungen von uns verlangen, deren Zwecke nicht geboten wären. Alle Zwecke würden aus unserer Sinnlichkeit folgen, keiner aus reiner Vernunft. Ein für die Sittenlehre desaströser Gedanke. „Denn gäbe es keine dergleichen [sic. Zwecke, HK], so würden, weil doch keine Handlung zwecklos sein kann, alle Zwecke für die praktische Vernunft immer nur als Mittel zu anderen Zwecken gelten, und ein kategorischer Imperativ wäre unmöglich, welche alle Sittenlehre aufhebt.“145  Kant, Metaphysik der Sitten, AA 6: 385.  Kant, Grundlegung, AA 4: 385.

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Die moralpraktische Bedeutung der Verpflichtung, sich selbst zu einer Handlung zu verpflichten, erläutert Kant durch die Differenz zwischen Autonomie und Autokratie. Würden wir (wie ein heiliges Wesen, wie Gott) als reine Vernunftwesen existieren, wäre unser Wille notwendig autonom. Weil wir jedoch Menschen sind, die Kraft aufwenden müssen, um aus Achtung vor dem Moralgesetz und nicht aus Neigung zu handeln, ist die Selbstbestimmung durch das Moralgesetz zugleich Ausdruck unserer Selbstherrschaft (Autokratie).146 Ohne Willensstärke würden wir unsere „Tugendpflichten“ nicht erfüllen können. Zwar ist die Autokratie nicht das „Prinzipium der Moral“.147 Dieses Prinzip ist die Autonomie. Aber ohne Autokratie würden wir oft genug den Versuchungen des Lasters und der Unmündigkeit erliegen. Uns fehlte die für tugendhafte Praxis erforderliche Willensstärke. Für uns Menschen gilt: Autokratie ohne Autonomie ist moralisch wertlos; Autonomie ohne Autokratie ist wirkungslos. Allerdings richtet sich die Tugendpflicht nicht einfach auf die Befolgung eines Zweckes. Als rationale Akteure handeln wir nach Regeln (Maximen). Sich einen Zweck zu setzen, der zugleich Pflicht ist, bedeutet, verpflichtet zu sein, sich eine auf die Beförderung der Tugendpflichten fokussierte Maxime zu bilden. Wir sollen eine derartige Maxime bilden, weil es „an sich selbst des Menschen Pflicht“ ist, „den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen“. Die diesem Zweck korrespondierende Maxime nennt Kant das „oberste Prinzip der Tugendlehre“. Dieses Prinzip lautet: „Handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann.“ Dieser „Grundsatz der Tugendlehre“ ist ein „kategorischer Imperativ“, der „keinen Beweis, aber wohl eine Deduktion aus der reinen praktischen Vernunft“ erlaubt. Wie lautet diese Deduktion? Kant führt Folgendes aus: „Was im Verhältnis der Menschen, zu sich selbst und anderen, Zweck sein kann, das ist Zweck vor der reinen praktischen Vernunft, denn sie ist ein Vermögen der Zwecke überhaupt; in Ansehung   ebd., AA 4: 383.  Kant, Reflexionen, AA 19:186 (Refl. 6867).

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derselben indifferent sein, d.i. kein Interesse daran zu nehmen, ist also ein Widerspruch; weil sie alsdann auch nicht die Maximen zu Handlungen (als welche letztere jederzeit einen Zweck enthalten) bestimmen, mithin keine praktische Vernunft sein würde. Die reine Vernunft aber kann a priori keine Zwecke gebieten, als nur sofern sie solche zugleich als Pflicht ankündigt; welche Pflicht alsdann Tugendpflicht heißt.“148 Nach dem „obersten Prinzip der Tugendlehre“ darf ich den Menschen also nicht nur nicht als bloßes Mittel für meine subjektiven Zwecksetzungen gebrauchen. Vielmehr ist es meine Pflicht, mir „den Menschen überhaupt“149 zum Zweck zu machen. Was wie eine Reminiszenz an die sogenannte Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs („Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“150) klingt, unterscheidet sich der Sache nach doch erheblich von ihr. Während wir in dieser Formel darüber belehrt werden, was wir anderen gegenüber nicht tun sollen, stellt die Tugendlehre heraus, was wir tun sollen. Welcher Zweck „kann“ im Verhältnis der Menschen zu sich und anderen Zweck sein? Offenbar jeder, der nicht der reinen praktischen Vernunft und der allgemeinen Verbindlichkeit (dem Moralgesetz) widerspricht. (Diesen Gedanken haben wir bereits in Kants Vorlesungen zur Anthropologie kennengelernt.) Erlaubt ist alles, was nicht gegen eine Pflicht verstößt. Einige Zwecke (fremde Glückseligkeit, eigene Vollkommenheit) sind im Sinne einer Tugendpflicht geboten. Warum aber sollte ich bloß deshalb ein Interesse an der Beförderung der subjektiven Zwecke einer anderen Person nehmen, weil sie von ihr zufällig gewollt werden? Was interessiert mich das Glück der Nachbarn oder einer flüchtigen Reisebekanntschaft? Es interessiert mich, weil ich das Vermögen, nach Zwecken zu handeln, schätze (achte). Wer seine eigene Vernunft schätzt, muss nach Kant auch die

 Kant, Metaphysik der Sitten, AA 6: 395.  Kant, Metaphysik der Sitten, AA 6: 395. 150  Kant, Grundlegung, AA 4: 429. 148 149

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relativen (subjektiven) Zwecke jedes beliebigen Vernunftwesens schätzen. Anders als die Philosophin Christine Kor­sgaard (geb. 1952) meint, scheint Kant nicht behaupten zu wollen, dass ich die Menschheit in mir (die reine Vernunft) achten oder schätzen muss, weil mir sonst meine eigenen subjektiven Zwecke gleichgültig wären. Kant formuliert kein „transzendentales Argument“,151 welches die Bedingung nennt, unter der ich mich als ein meine partikulare Identität schätzendes Wesen begreifen kann. Ganz im Gegenteil schließt er von unserer Wertschätzung unserer praktischen Rationalität auf unsere Verpflichtung, alle subjektiven Zwecke zu befördern, die sich Menschen setzen mögen. Diese Wertschätzung betrifft nicht nur die eigenen, sie umfasst unmittelbar auch die Zwecksetzungen anderer Personen. Wir sollen uns nicht nur als freiheitsfähiges Wesen erhalten und fördern; diese Pflicht umfasst die anderen und ihre Zwecke. An dieser Systemstelle stoßen wir auf den Begriff der Humanität. Denn die subjektiven Zwecke haben ihren Ursprung in unserer Sinnlichkeit. Wollen wir dem „obersten Prinzip der Tugendlehre“ folgen, müssen wir uns mit konkreten Menschen aus Fleisch und Blut beschäftigen, uns mit ihren Hoffnungen und Nöten auseinandersetzen. Mit diesem Prinzip verankert Kant unsere Pflicht, die Zwecke der Anderen zu befördern, in einem direkt auf die reine Vernunft selbst zurückgehenden Gebot. Die Stimme der reinen praktischen Vernunft ist die Stimme der Menschen, mit denen wir es täglich zu tun haben. Zugleich hoffen wir auf den Umgang mit denen, denen das „oberste Prinzip der Tugendlehre“ in Fleisch und Blut übergegangen ist. Judith N. Shklar (1928–1992) hat sich im Rahmen ihres Liberalismus der Furcht auf Kant als Kronzeugen für ihre Ansichten bezogen: „Das vollendete Portrait eines mustergültigen Liberalen findet sich in Kants Tugendlehre, die uns detailliert die Gesinnung einer Person beschreibt, die andere Menschen ohne Herablassung, Arroganz, Demut oder Furcht respektiert.   Christine Korsgaard, The Sources of Normativity, Cambridge 1996, S. 125.

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Er oder sie beleidigt andere nicht durch Lügen oder Grausamkeit, die den eigenen Charakter nicht weniger verderben als sie das eigene Opfer verletzen.“152 Gäbe es an ihrer Beschreibung etwas auszusetzen, dann beträfe es die einseitige Betonung der Unterlassung. Denn Kants moralische Person vermeidet nicht nur die Bewirkung von Furcht und Grausamkeit. Sie will anderen nicht nur nicht schaden. Diese Person ist vielmehr bereit, die subjektiven Zwecke der anderen bloß deshalb zu befördern, weil sie von ihnen gewollt werden. Vielleicht mag ich gar kein Schachspiel. Aber wenn es meiner Frau wichtig ist, sollte ich es hin und wieder mit ihr spielen, selbst wenn ich immer verliere. Wird diese „Denkungsart“ habituell, spricht Kant von Tugend. Tugend meint das „Vermögen der Beherrschung seiner Neigungen als Hindernisse der praktischen Vernunft; also der Herrschaft über sich selbst“.153 Jeder Mensch kann von anderen erwarten, bei seinem Streben nach Menschlichkeit unterstützt zu werden. Die Menschlichkeit des Menschen ist ein fragiles Gut. Kein Mensch kann seine Menschlichkeit ganz verlieren. Aber er wird sie nicht zur Blüte bringen können, wenn die anderen dies nicht wollen. Die Menschlichkeit des Menschen hängt vom Menschen ab und zeigt sich in seiner Bereitschaft, um der allgemeinen Freiheit und rechtlichen Gleichheit willen tätig zu werden. So viel zumindest sollte deutlich geworden sein: Es kann hier keine Rede davon sein, dass Kant die Menschlichkeit auf dem Altar der Pflicht opfert.154

  Judith N. Shklar, Der Liberalismus der Furcht, Berlin 2013.  Kant, Vorarbeiten und Nachträge, AA 23: 388. 154   Was nicht besagen soll, dass Kant immer auf der Höhe seiner eigenen Theorie argumentiert, wie sein notorischer Aufsatz „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“ (1797) belegt (siehe AA 8: 423–430). 152 153

13. Denkfreiheit Vernunft und Freiheit sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Wer die Möglichkeit der Vernunft bestreitet, negiert unsere Freiheit. Wer die Freiheit der Kritik negiert, negiert die „Existenz der Vernunft, […] deren Ausspruch jederzeit nichts als die Einstimmung freier Bürger ist“. Jeder Bürger muss „seine Bedenklichkeiten, ja sogar sein veto, ohne Zurückhaltung“155 äußern können. Kant erläutert die Denkfreiheit aus der Perspektive ihrer dreifachen Negation: Erstens. Die „Freiheit zu denken“ widerspricht dem „bürgerlichen Zwang“.156 Kant stellt einen Zusammenhang zwischen Denkfreiheit und Publikationsfreiheit her. Bereits in der Kritik der reinen Vernunft wendet er sich mit Verweis auf das „ursprüngliche Recht der menschlichen Vernunft“ gegen jede Form staatlicher Zensur freier Bürger. „Zu dieser Freiheit gehört denn auch die, seine Gedanken, seine Zweifel, die man sich nicht selbst auflösen kann, öffentlich zur Beurteilung auszustellen, ohne darüber für einen unruhigen und gefährlichen Bürger verschrien zu werden.“ Die Vernunft spielt nicht die erste Geige. Sie gleicht eher einem Chor, in dem jede Stimme gleich viel zählt. Die Vernunft kennt „keinen anderen Richter […], als selbst wiederum die allgemeine Menschenvernunft, worin ein jeder seine Stimme hat“.157 Können wir anderen unsere Gedanken nicht öffentlich mitteilen, können wir auch nicht vollumfänglich denken. Denken erschöpft sich ja nicht in der beliebigen Verknüpfung von Worten. Denken zielt auf Wahrheit und auf gelingende Weltorientierung. Ohne Debatte, Diskurs und Gespräch verarmt das Den Kant, KrV, A 738–739/B 768–767.  Kant, Denken orientieren, AA 8: 144. 157  Kant, KrV, A 752/B 780. 155

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ken, lernen wir keine neuen Aspekte und Perspektiven kennen. Aus diesem Grunde setzt sich Kant vehement für die „Freiheit der Feder“ ein, die er „das einzige Palladium der Volksrechte“158 nennt. Kein Staat ist berechtigt, seinen Bürgern das Maul zu verbieten. Sie haben das ursprüngliche Recht, freien Gebrauch von ihrer äußeren Freiheit im Rahmen der (hoffentlich) liberalen Staatsverfassung zu machen. „Allein wie viel und mit welcher Richtigkeit würden wir wohl denken, wenn wir nicht gleichsam in Gemeinschaft mit andern, denen wir unsere und die uns ihre Gedanken mitteilen, dächten! Also kann man wohl sagen, daß diejenige äußere Gewalt, welche die Freiheit, seine Gedanken öffentlich mitzuteilen, den Menschen entreißt, ihnen auch die Freiheit zu denken nehme.“159 Dass die Gedanken selbst „im finsteren Kerker“ frei seien, wie es in dem alten Volkslied („Die Gedanken sind frei“) heißt, ist ein romantischer Trugschluss. Die Gedanken reißen „die Schranken und Mauern“ nicht entzwei. Wer den Schlüssel für den „finsteren Kerker“ besitzt, der herrscht auch über die Gedanken der Inhaftierten. Wenn auch nicht vollumfänglich, dann doch maßgeblich. Gedankenfreiheit ist ohne politische Freiheit nicht zu haben. Fordert Kant einen „Herrschaftsanspruch der Kritik über den Staat“? Reinhart Koselleck (1923–2006) beantwortet diese Frage positiv. Dabei bezieht er sich auf Kants These, dass die „Gesetzgebung“ (sic. der Staat) nur dann auf „unverstellte Achtung“160 Anspruch erheben kann, wenn sie sich der Kritik unterwirft. Doch worin besteht das Problem? Was ist gegen die Auffassung einzuwenden, dass sich der Staat der Kritik stellen muss? Koselleck konfrontiert Kant mit dem Vorwurf, die „Frage der Souveränität“ nicht nur nicht zu lösen, sondern als Teil der Aufklärung einen Beitrag zur verdummenden „Hypokrisie“161 zu leisten.  Kant, Gemeinspruch, AA 8: 304.  Kant, Denken orientieren, AA 8: 144. Zur Bedeutung der Mitteilbarkeit bei Kant siehe Luca Fonnesu, „Kant on Communication“, in: Studi Kantiani 32, 2019, S. 11–23. 160  Kant, KrV, A XI Anm. 161   Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt (1959), Frankfurt a.M. 1973, S. 102. 158 159

13. Denkfreiheit

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Wenn man die Aufklärung über den Leisten der Souveränitätsmanie von Carl Schmitt zieht, mag man die Dinge so wie Koselleck sehen. Ansonsten fällt auf, dass Kant in seinen politischen und rechtsphilosophischen Schriften keinen Zweifel daran aufkommen lässt, wie die „Frage der Souveränität“ in rechtlicher Hinsicht zu beantworten ist: Gegen die Gesetzgebung gibt es keinen rechtmäßigen Widerstand des Volks, weil es keinen Richter geben kann, der den „Streit zwischen Volk und Souverän“162 entscheidet. Aber dies besagt nicht, dass der Staat nicht auf Kritik und Bürger angewiesen ist, die selbst zu denken vermögen. Ohne Kritik wird er sich nicht im Sinne des Vernunftrechts zu einem Staat formieren können, dessen Zweck die „zivilisierte Freiheit“163 ist, der um seiner Bürger willen existiert. Zudem gibt es Grenzen staatlicher Souveränität: Kein Staat ist berechtigt, Handlungen von seinen Bürgern zu fordern, die direkt dem kategorischen Imperativ widersprechen.164 Daran ändert auch der Souveränitätsbegriff nichts. Während Kant darum bemüht ist, eine sichere Passage zwischen der Charybdis des totalen Staates und der Skylla anarchischer Freiheit zu finden, entscheidet Koselleck den „Streit zwischen Volk und Souverän“ mit der politischen Theologie von Schmitt. Der Staat entscheidet, wie viel Kritik ihm genehm ist. Bemerkenswert, dass man so einen Gedanken 1959 noch formulieren kann. Zweitens. Der „Gewissenszwang“ wird von Bürgern ausgeübt, die sich „über andere zu Vormündern aufwerfen und statt Argument durch vorgeschriebene, mit ängstlicher Furcht vor der Gefahr einer eigenen Untersuchung begleitete Glaubensformeln alle Prüfung der Vernunft durch frühen Eindruck auf die Gemüter zu verbannen wissen.“165 Kant weiß, wovon er hier schreibt. Wir müssen uns den jungen Kant als einen mutigen Schüler vorstellen, der sich aus eigener Kraft aus der religiösen Vormundschaft seiner Schulzeit befreit hat. Denn der päda Kant, Rechtslehre, AA 6: 320.  Kant, Anthr.-Menschenkunde, AA 25: 1044. 164   Zu den Grenzen des Gehorsams siehe unten Abschnitt 16 „Freiheit und Widerstand“. 165  Kant, Denken orientieren, AA 8: 145. 162

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gogische Schwerpunkt am Collegium Fridericianum, welches Kant von 1733 bis 1740 besuchte, lag auf dem religiösen Erbauungsunterricht. Den Schülern der im Geiste des Pietismus und nach dem Vorbild der Francke‘schen Schulanstalten in Halle errichteten Anstalt wurden unter anderem schriftlich verfasste Selbstprüfungen abverlangt. In ihnen mussten sie Rechenschaft über ihren Glauben ablegen und Auskunft über ihr ganz persönliches Verhältnis zu Gott geben.166 Ein Graus. Vermutlich gab es nichts in Kants Leben, auf das er mit mehr Abscheu zurückblickte als auf diese von seiner Schule abverlangte „wahre Prüfung“ seines Herzens. Kein Wunder, dass er sich in späteren Jahren für die pädagogische Avantgarde einsetzt und das von Johann Bernhard Basedow (1724–1790) gegründete Philanthropinum in Dessau unterstützt. Nichts scheint ihm nötiger als eine „schnelle Revolution“ im Bereich des Erziehungswesens. Der Terror des „Gewissenzwangs“ muss aufhören. Hier und heute. Kinder müssen zur Selbständigkeit (Unabhängigkeit) erzogen werden. Drittens. Die Vernunft unterwirft sich keinen anderen Gesetzen als denen, „die sie sich selbst gibt“.167 Was ist die Alternative? Es liegt nahe, an die Unterwerfung unter eine fremde Gesetzgebung zu denken. Doch der Schritt von der eigenen zur fremden Gesetzgebung passt nicht zur Vernunft. Er läge nahe, wenn vom Verzicht die Rede wäre, seine Vernunft zu gebrauchen. Doch darum geht es hier nicht. Kant geht es vielmehr um den Fall eines „gesetzlosen Gebrauchs der Vernunft“, den sich das Genie zur Maxime macht. Das Genie will ungebunden denken, es will keinem Gesetz folgen, nicht einmal dem selbstgegebenen Gesetz. Doch die Maxime des Genies verkehrt sich in ihr Gegenteil. Das Genie will seinem Denken Flügel verleihen – und endet in den Ketten der Fremdherrschaft. Ohne ein Gesetz „kann gar nichts, selbst nicht der größte Unsinn sein Spiel lange treiben. Also ist die unvermeidliche Folge der erklärten Gesetzlosigkeit im Denken (einer Befreiung von den Einschränkun  Siehe die Ausführungen über das Abendmahl in Die Schule Immanuel Kants. Mit dem Text von Christian Schiffert über das Königsberger Collegium Fridericianum, hg. von H. F. Klemme, Hamburg 1994, S. 97. 167  Kant, Denken orientieren, AA 8: 145. 166

13. Denkfreiheit

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gen durch die Vernunft) diese: daß Freiheit zu denken zuletzt dadurch eingebüßt und, weil nicht etwa Unglück, sondern wahrer Übermut daran schuld ist, im eigentlichen Sinne des Worts verscherzt wird.“168 Es ist anrührend, wie Kant die Freunde des Geniekults an den Schultern packt und wachzurütteln versucht. Noch gibt er sie nicht verloren. „Männer von Geistesfähigkeiten und von erweiterten Gesinnungen! Ich verehre Eure Talente und liebe Euer Menschengefühl. Aber habt Ihr auch wohl überlegt, was Ihr tut, und wo es mit Euren Angriffen auf die Vernunft hinaus will? Ohne Zweifel wollt Ihr, daß Freiheit zu denken ungekränkt erhalten werde; denn ohne diese würde es selbst mit Euren freien Schwüngen des Genies bald ein Ende haben.“169 Aber so ist das mit der Vernunft. Sie erreicht diejenigen nicht, die sich ihrer nicht bedienen wollen – und sei es um den Preis ihres eigenen Untergangs. Wer sich über aller Vernunft stehend wähnt, wird durch die mahnenden Worte der Vernunft – dieses unsichtbare Band, welches alle Menschen miteinander verbindet – nicht erreicht. Das Genie negiert die Bedingung seiner eigenen Existenz.

 Kant, Denken orientieren, AA 8: 145.  Kant, Denken orientieren, AA 8: 144.

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14. Pause Wir könnten jetzt eine Pause vertragen. Als besonders erholsam empfiehlt uns Kant das „Spazieren im Freien“, da es zur Absicht hat, „durch den Wechsel der Gegenstände seine Aufmerksamkeit auf jeden einzelnen abzuspannen“.170 Das „freie Spiel der Einbildungskraft“ verschafft uns Distanz zu den Dingen, die uns bei der Arbeit des Denkens auf die Pelle rücken. Eine hervorragende Gelegenheit, das „freie Spiel der Einbildungskraft“ zu befördern, ist auch der ungezwungene Austausch von Gedanken bei einer heiteren Tischgesellschaft. Wer der Tischgesellschaft beitritt, verlässt den Raum der strengen Transzendentalphilosophie und Wissenschaft, um im freien Austausch seine Begriffe zu erweitern. Während des Essens sollten wir unser „absichtliches Denken“ hemmen und uns fest vornehmen, „Diät im Denken“ zu halten. Ignorieren wir diesen Ratschlag, werden uns bald „krankhafte Gefühle“ belästigen. Denn „die Lebenskraft“ wird „durch Kopfarbeit von dem Magen, den man belästigt, abgeleitet“.171 „Diät im Denken“! Wer hätte gedacht, dass der tüchtige Autor der Kritik der reinen Vernunft und Entdecker des kategorischen Imperativs uns diesen Ratschlag erteilt. Doch auch Kant wusste, dass ein gesunder Geist in einem gesunden Körper wohnt. Der Körper muss gehegt und gepflegt werden. Während er verdaut, will er nicht mit Philosophie und Wissenschaft belästigt werden. Gegen einen heiteren Geist hat Kant nichts einzuwenden. Ganz im Gegenteil. Wird

 Kant, Der Streit der Fakultäten (1798), AA 7: 109 Anm. Siehe zum Folgenden Klemme, „Kant über Medizin und die Gesundheit des Menschen. Zum Zusammenhang von Philosophie, Selbsterhaltung und Humanität“ (chinesisch-deutsche Parallelausgabe), in: Academia Ethica, hg. von Anqing Deng, vol. 8, Shanghai 2020, S. 10–44. 171  Kant, Streit, AA 7: 109. 170

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der Geist belebt, erfüllt auch der Körper seine Funktionen verlässlich. Ein Hoch auf die heitere Tischgesellschaft! „Wieviel der Geist, der nicht nur von Sorgen frei und heiter ist, sondern durch Scherze und Spiele angeregt ist und zur Ermunterung der Gesellschaft gleichsam wie in einem begonnenen Wettkampf, die Hitze der Redenden bis hin zur Grenze des Affektes gesteigert ist, die Vitalfunktionen des Körpers bei der Mahlzeit unterstützt, das erfahren täglich diejenigen, die das Gastmahl zusammen einnehmen; die also, denen es möglich ist, ausführlich zu speisen und sich eine Fülle von Nahrung einzuverleiben, wovon auch nur die Hälfte diejenigen, die einzeln essen, nicht wohl ungestraft verzehren würden. So leuchtet die wunderbare Kraft des menschlichen angeregten Geistes hervor bei der Vermehrung der körperlichen Kraft, solange sie in den Grenzen des Geistes, der seiner selbst Herr ist, bleibt. Sobald sie aber diese Grenzen überschreitet und derart die Schranken der Vernunft hinter sich läßt, ist es ganz unglaublich, mit welchem Impetus sie das Vitalprinzip angreift und erschüttert.“172 Wer einer Betätigung nachgeht, „die stärker auf den Körper konzentriert ist“, dem schreibt der Philosoph als Gesetz vor, „in Geselligkeit, wenn es möglich ist, zu speisen, nicht nur, um so dadurch den Geist durch Muße wiederherzustellen, sondern auch durch den gesundheitsfördernden Impuls des Plauderns angenehm zu bewegen, besonders wenn man auf die Ernährung des Körpers achten muß“.173 Wer sich selbst erhalten will, der sollte an der geselligen Tafel Platz nehmen. Der Genuss von alkoholhaltigen Getränken gehört ausdrücklich dazu. Er fördert die Geselligkeit, solange die Selbstherrschaft nicht verloren geht. Bier und Branntwein sollten wir allerdings meiden. Das Bier, weil es  Kant, Über die Heilung des Körpers, sowie sie Sache der Philosophen ist, in: Reinhard Brandt, „Immanuel Kant: ‚Über die Heilung des Körpers, sowie sie Sache der Philosophen ist.‘ Und: Woran starb Moses Mendelssohn?“, in: Kant-Studien 90, 1999, S. 354–364 (S. 358–366), S. 364. Es handelt sich um die deutsche Übersetzung von Kants Rektoratsrede „De Medicina Corporis, quae Philosophorum est“ (1781); abgedruckt in AA 15: 939–951, Reflexion 1526. 173  Kant, Heilung, S. 365. 172

14. Pause

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müde macht, und den Branntwein, weil er uns in Einsamkeit versinken lässt. Die richtige Wahl ist der Wein. „Der Trunk, als ein Mittel, die Glückseligkeit zu befördern, ist nicht tadelhaft; freilich, wenn er zum Rausche wird, so stört er das Vergnügen der Gesellschaft; aber ehe er zum Rausche steigt, heitert er die Gesellschaft auf, weil er das Gespräch und die Laune befördert, und die Zurückhaltung wegnimmt, die allen Menschen in Ansehung dessen beiwohnt, was schicklich ist. […] Wir sind erfreut, wenn wir den Zwang des Gezierten los werden können.“174 Die Tischgesellschaft ist ein Ort der Vertraulichkeit, ein Hochamt der Bürgerlichkeit, in der die gesellschaftlichen Konventionen auf Zeit suspendiert werden. Gewiss spricht Kant aus eigener Erfahrung, wenn er seinen Studenten berichtet, dass „Menschen, wenn sie mit ihren guten Freunden an der Tafel sind, am allervergnügtesten sind, weil sie wissen, daß, wenn ihnen auch ein unüberlegter Ausdruck entfahren sollte, er Niemanden beleidigen wird“. Herrlich seine Kritik an der Austerität seiner Zeitgenossen: „Unsere Zeiten sind mehr Zeiten der Nüchternheit; ob dies aber eine Verbesserung unserer Moralität beweiset, ist eine Frage.“ Moralismus klingt gewiss anders. Betrinkt sich ein Mensch allerdings allein in seinem Zimmer, ist er „niederträchtig“. Denn die Geselligkeit ist „das Einzige, weshalb man den Menschen den Trunk empfehlen“ und rechtfertigen kann. Natürlich stärkt es die eigene Position, wenn man sich mit feinem Witz auf eine römische Autorität berufen kann. „Tacitus sagt, die Teutschen faßten ihre Ratschlüsse beim Trunke, damit sie voll Nachdruck waren, und überlegten sie, wenn sie nüchtern waren, damit sie gut ausgeführt würden; und das war bei einer solchen Nation, als die Teutschen damals waren, auch wohl nötig.“175 Die heitere Tischgesellschaft endet mit „Lachen; welches, wenn es laut und gutmütig ist, die Natur durch Bewegung des Zwerchfells und der Eingeweide ganz eigentlich für den Magen zur Verdauung, als zum körperlichen Wohlbefinden, bestimmt hat“.176  Kant, Anthr.-Menschenkunde, AA 25: 940.   ebd., AA 25: 942. 176  Kant, Anthropologie, AA 7: 281. 174

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Wir lachen uns nicht tot, wie es die Redewendung haben will. Kommt das Lachen von Herzen, ist es kein übelwollendes und verächtliches Lachen, dann lachen wir uns gesund. Selbsterhaltung durch Heiterkeit. Hierzu passt, dass Kant in seinen Anthropologievorlesungen Witze erzählt. Sie sind Experimente, die den Studenten durch das eigene Fühlen unmittelbar beweisen, was ihr Professor behauptet: Der Witz bzw. der in ihm zum Ausdruck kommende Geist (frz. esprit) belebt unser Gemüt. „Geist ist das belebende Prinzip im Menschen.“177 Was uns belebt, das erhält uns. Es fördert die Verdauung, wir fühlen uns selbst und kehren gestärkt an unseren Schreibtisch zurück. Die Tischgesellschaft leistet nicht nur einen wichtigen Beitrag für unsere geistige und körperliche Gesundheit. Sie hat eine moralische Bedeutung. Ihre Teilnehmer bilden ihre Humanität. „Humanität“ steht bei Kant für eine bestimmte Denkungsart, die auf „Vereinigung des Wohllebens mit der Tugend im Umgange“178 zielt. Human kann auf der einen Seite nur leben, wer nicht gegen die Gebote der Tugend und der Pflicht verstößt. Human kann auf der anderen Seite nur der leben, dem es an nichts mangelt, der also in Wohlstand lebt. Wohl lebt, wer „eine gute Mahlzeit in guter (und wenn es sein kann auch abwechselnder) Gesellschaft“ 179 zu sich nimmt. Die Gesellschaft darf nicht zu klein, aber auch nicht zu groß sein. Die Unterhaltung folgt einer bestimmten Choreographie. Sie beginnt mit „Erzählen“, geht zum „Räsonieren“ über und endet mit „Scherzen“.180 Mit dem die Mahlzeit beschließenden Lachen ist der Gesundheit von Körper und Seele am besten gedient. Denn die Natur hat das Lachen, „wenn es laut und gutmütig ist, […] durch Bewegung des Zwerchfells und der Eingeweide ganz eigentlich für den Magen zur Verdauung, als zum körperlichen Wohlbefinden, bestimmt […]; indessen, daß die Teilnehmer am

 Kant, Anthr.-Menschenkunde, AA 7: 225.  Kant, Anthropologie, AA 7: 277. 179   ebd., AA 7: 278. 180   ebd., AA 7: 280. 177 178

14. Pause

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Gastmahl, Wunder wie viel! Geisteskultur in einer Absicht der Natur zu finden wähnen.“181 Das Gastmahl verkörpert für Kant das Ideal einer „verfeinerten Menschheit“. Sie befördert unsere Humanität und mittelbar auch unsere Moralität. Der „humane“ Mensch will seine Begriffe erweitern, interessiert sich für andere, möchte sich mitteilen, sucht die Geselligkeit. Wer auf die Humanität im Kleinen verzichtet, wird auch für die Humanität im Großen (für die Begriffe der Vernunft und der Aufklärung) unempfänglich sein. Wir suchen die Gesellschaft mit Menschen, die nicht „von den Grazien verlassen sind“.182 Und wir fliehen nach Kant vor dem Furor derjenigen, denen die Humanität zum Spott gereicht. Der Begriff der Humanität dient ihm zur Bezeichnung alles dessen, wodurch sich der Mensch als „vernünftiges Naturwesen“ auszeichnet. Unsere Humanität ist der Grund und das Ziel unseres Strebens. In dieser Welt human zu sein, darauf kommt es an. In der Kritik der Urteilskraft setzt Kant die Humanität mit der „Kultur der Gemütskräfte“ und einer auf die ganze Menschheit gerichteten Geselligkeit gleich. Humanität bedeutet „einerseits das allgemeine Teilnehmungsgefühl, andererseits das Vermögen, sich innigst und allgemein mitteilen zu können […]; welche Eigenschaften zusammen verbunden die der Menschheit angemessene Geselligkeit ausmachen, wodurch sie sich von der tierischen Eingeschränktheit unterscheidet.“183 Im praktischen Interesse an der Kultur seiner eigenen wie der Vermögen anderer Menschen konkretisiert sich unser durch die Vernunft selbst bewirktes Interesse an unserer Selbsterhaltung. Sich selbst zu erhalten bedeutet, einen Beitrag zur Humanität der Menschheit zu leisten, seinen selbstzentrierten (egoistischen) Standpunkt zugunsten einer pluralistischen Denkungsart aufzugeben. Wir würden Kants Begriff der Humanität allerdings missverstehen, würden wir ihn auf die Begriffe der Geselligkeit und   ebd., AA 7: 281.   ebd., AA 7: 282. 183  Kant, Urteilskraft, AA 5: 355. 181

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der Gesellschaft reduzieren. Der Begriff der Humanität ist sehr viel tiefer in Kants Philosophie verankert, als dies durch die Idee der Kultur der Gemütskräfte und das Beispiel der Tischgesellschaft zum Ausdruck kommen kann. Humanität ist nicht nur eng verknüpft mit unserem Selbsterhaltungsinteresse als Vernunftwesen. Es gibt auch eine Verpflichtung zur Humanität. Denn es steht uns nicht frei, human sein zu wollen oder auch nicht. Das Interesse der Vernunft an ihrer Selbsterhaltung ist zugleich der Grund der moralisch-rechtlichen Verbindlichkeit, uns selbst als Personen zu erhalten. Im Streit der Fakultäten (1798) argumentiert Kant, dass der Philosophie unter allen Wissenschaften der erste Platz gebührt. Die Philosophie zeichnet sich seiner festen Überzeugung nach durch Freiheit aus. Diese Freiheit drückt sich in dem Anspruch und in der berechtigten „Anmaßung“ des Philosophen aus, die von den oberen Fakultäten erhobenen Geltungsansprüche überprüfen zu dürfen. Die Prüfung der von Theologie, Jurisprudenz und Medizin erhobenen Geltungs- und Wahrheitsansprüche ist nicht auf Personen beschränkt, die mindestens einen Magisterabschluss in Philosophie vorweisen können. Philosophie wird von Kant auch als eine bestimmte Art der geistigen Tätigkeit begriffen. Er spricht von „philosophieren“. So wird der Theologe zum Philosophen, wenn er frei über die Gottesbeweise reflektiert, der Jurist wird zum Philosophen, wenn er sich fragt, was das Recht ist und welcher Zusammenhang zwischen Recht und Ethik besteht. Und der Mediziner wird zum Philosophen, wenn er über den Zusammenhang von Körper und Denken nachsinnt oder den Sitz der Seele im Körper zu bestimmen versucht. Der Philosoph seinerseits nimmt ein „Interesse am Ganzen des Endzweckes der Vernunft (der eine absolute Einheit ist)“ und strebt um dieses Interesses willen nach der „Erweiterung seiner Erkenntnisse“.184

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 Kant, Streit, AA 7: 102.

15. Krankheit und Gesundheit Der Beitrag der Philosophie zur Gesundheit des Menschen erschöpft sich nicht in der kritischen Beurteilung der Fachdisziplin Medizin. Philosophie kann Kants Verständnis nach selbst Medizin sein, sie vermag unmittelbar einen Beitrag zu unserer Gesundheit zu leisten. Worin könnte dieser Beitrag bestehen, wenn doch der Philosoph weder Knochenbrüche behandeln noch Geschwüre mit einem sauberen Schnitt zu entfernen vermag? Die Philosophie verfügt zwar über keine genuinen Kenntnisse im Bereich der Mechanik des Körpers, kann aber als „Heilkunde“ auftreten, „wenn bloß die Macht der Vernunft im Menschen, über seine sinnlichen Gefühle durch einen sich selbst gegebenen Grundsatz Meister zu werden, die Lebensweise bestimmt“.185 Das ist eine gute Nachricht für Philosophen ohne Approbation. Die Philosophie vermag „Krankheiten abzuhalten“,186 sie kann als Diätetik negativ wirken. Der Gegenstand der Diätetik sind die „krankhaften Gefühle“, über die „durch den bloßen festen Vorsatz Meister zu sein“ Kant die „Macht des Gemüts des Menschen“ nennt. „Ob Arzneimittel nur durch die Kraft des Fühlens und der Bewegung des Gemüts, das den ganzen Körper durchwaltet und ihn am Leben hält, wie [Georg Ernst] Stahl [1659–1734] meint, oder ob ihre Kraft zum größten Teil nur mechanischer Natur ist“, wie Stahls Hallenser Kollege Friedrich Hoffmann (1660–1742) herausstellt, „das soll im Urteil der Fachgelehrten der Medizin liegen. Ob aber die menschliche Fähigkeit der Überlegung eine besondere Kraft ausübt, durch die er die belebten Tiere übertrifft, hierüber zu urteilen ist Sache der Philosophen.“187   ebd., AA 7: 100–101.   ebd., AA 7: 98. 187  Kant, Heilung, S. 361–362. 185

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„Gemüt“ ist die deutsche Übersetzung des lateinischen Wortes „animus“ und bezeichnet die Gemeinschaft von Geist und Körper, von Vernunft, Sinnlichkeit und Gefühl. Mit der Verwendung dieses Wortes möchte Kant darauf hinweisen, dass es einer Anstrengung des ganzen Menschen bedarf, um „über seine krankhaften Gefühle durch den bloßen festen Vorsatz Meister zu sein“. Die Vernunft bildet die Maximen, sie bestimmt unseren Willen. Aber wenn wir die besagte Meisterschaft erlangen wollen, müssen wir vor allem unseren Charakter festigen. Vermutlich hätte Kant auf Nachfrage geantwortet (und entsprechende Antworten sind uns aus den studentischen Nachschriften seiner Anthropologievorlesung bekannt), dass nicht alle Menschen und ganz gewiss nicht beide Geschlechter gleich gut dazu in der Lage sind. Die philosophische Heilkunde ist eine theoretische Disziplin, deren Praxis in der Überwindung unserer krankhaften Gefühle besteht. Was versteht Kant unter Krankheit? Inwiefern können Gefühle krank sein? Kant scheint keinen einheitlichen, jedenfalls keinen vollumfänglich ausgeführten Begriff der Krankheit entwickelt zu haben. Zweifellos stellt die Krankheit die Negation der Gesundheit dar. Gesund ist, wer seine geistigen und körperlichen Vermögen ohne Beeinträchtigung gebrauchen kann. Allerdings ist das mit der Gesundheit so eine Sache. Einerseits können wir uns gesund fühlen, obwohl wir krank sind. Andererseits fühlen wir uns oft krank, obwohl wir tatsächlich gesund sind. Fühlen wir uns krank, obwohl wir ‚eigentlich‘ gesund sind, dann sind wir nach Kant auch krank. Wer sich krank fühlt, ist krank, weil er sich nicht so fühlt, wie er sich fühlen sollte, und zwar gesund. Nicht jede Krankheit führt zum Tod, aber der Tod als das Ende unseres Lebens hat immer eine natürliche Ursache: „Jede Ursache des natürlichen Todes ist Krankheit: man mag sie fühlen oder nicht.“188 Demnach sind krankhafte Gefühle keine Gefühle, die eine (vielleicht sogar tödliche) Krankheit anzeigen. Krankhafte Gefühle sind vielmehr Gefühle, die die natürliche Ordnung unseres Gemüts stören. Wer unter ihnen leidet, ist verrückt. „Der Verrückte“, 188

 Kant, Streit, AA 7: 100.

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schreibt Kant in seinem Versuch über die Krankheiten des Kopfes (1764), „ist ein Träumer im Wachen.“189 Wer unter krankhaften Gefühlen leidet, ist nicht mehr Herr im eigenen Haus, hat sich selbst verloren, ist nicht in der Lage, Gebrauch von seiner Vernunft zu machen, ist unfähig, sich am „Grundsatz der Vernunft“ zu orientieren, der „ihre Selbsterhaltung“190 fordert. Kant äußert sich eher randständig zu krankhaften Gefühlen, die eine körperliche Ursache haben. Denn dies fällt in den Zuständigkeitsbereich des Mediziners. Sein Interesse gilt vielmehr Pathologien, die durch die Macht unseres Gemüts geheilt werden können. Daraus ergibt sich eine paradoxe Situation: Das kranke Gemüt muss sich selbst heilen. Kants Ausführungen zu den krankhaften Gefühlen im Streit der Fakultäten folgen nach einigen grundsätzlichen Überlegungen unter dem Stichwort der „Hypochondrie“ einer eher zufälligen Abfolge: Er handelt „Vom Schlaf“, „Vom Essen und Trinken“, „Von dem krankhaften Gefühl aus der Unzeit im Denken“, „Von der Hebung und Verhütung krankhafter Zufälle durch den Vorsatz im Atemziehen“ sowie „Von den Folgen dieser Angewohnheit des Atemziehens mit geschlossenen Lippen“. Die Hypochondrie ist das Gegenteil der Gemütsstärke. Wer an ihr leidet, macht keinen Versuch, über seine „krankhaften Gefühle […] durch die Vernunft Meister zu werden“. Sie ist „ein Geschöpf der Einbildungskraft“ und „das gerade Widerspiel jenes Vermögens des Gemüts, über seine krankhaften Gefühle Meister zu werden, nämlich Verzagtheit, über Übel, welche Menschen zustoßen könnten, zu brüten, ohne, wenn sie kämen, ihnen widerstehen zu können; eine Art von Wahnsinn, welchem freilich irgendein Krankheitsstoff (Blähung oder Verstopfung) zum Grunde liegen mag, der aber nicht unmittelbar, wie er den Sinn affiziert, gefühlt, sondern als hervorstehendes Übel von der dichtenden Einbildungskraft vorgespiegelt wird.“191 Die Schwäche beruht auf der dichtenden Einbildungskraft   Kant, „Versuch über die Krankheiten des Kopfes“ (1764), AA 2: 265.  Kant, Reflexionen, AA 15: 1509 (Refl. 823). 191  Kant, Streit, AA 7: 103. 189

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und somit auf einem Vermögen, mit dem wir uns bisher noch nicht beschäftigt haben. Die Einbildungskraft spielt innerhalb der kantischen Philosophie eine sehr große Rolle. In der Ästhetik resultiert aus dem freien Spiel von Einbildungskraft und Verstand ein Gefühl, das wir in einem reinen ästhetischen Geschmacksurteil ‚Dies hier ist schön‘ ausdrücken. Als transzendentale Einbildungskraft subsumiert sie die uns in Raum und Zeit gegebenen Vorstellungen unter die Einheit der transzendentalen Apperzeption und macht auf diese Weise Erfahrung möglich. Aber die Einbildungskraft kann die ihr gegebenen Vorstellungen auch assoziativ oder dichterisch miteinander verbinden. Wer ihre Dichtung jedoch für Wahrheit und den Traum für Wirklichkeit nimmt, der hat ein Problem – so wie der Hypochonder, der eine bloß mögliche als wirkliche Welt deutet. Die imaginierte Krankheit ist ihm eine Krankheit, an der er wirklich leidet. Kant gesteht zu, aufgrund seiner fragilen körperlichen Konstitution lebenslang selbst einen Hang zur Hypochondrie gehabt zu haben. Doch wenn man nur will, kann man diese Krankheit überwinden. Das Gemüt vermag sich selbst zu heilen. Wenden wir uns nun dem Abschnitt über die „krankhaften Gefühle aus der Unzeit im Denken“ zu, in dem Kant auf seine Konzeption des „freien Spiels der Einbildungskraft“192 zurückgreift. Diese Konzeption wird es uns in einem zweiten Schritt erlauben, uns mit einem erweiterten Begriff der Gesundheit bei Kant zu beschäftigen. Doch zunächst zur „Unzeit des Denkens“. Zu Beginn seiner Ausführungen betont Kant die Wichtigkeit des Denkens für den denkenden Menschen. „Einem Gelehrten ist das Denken ein Nahrungsmittel, ohne welches, wenn er wach und allein ist, er nicht leben kann; jenes mag nun im Lernen (Bücherlesen) oder im Ausdenken (Nachsinnen und Erfinden) bestehen.“ Denken ist eine feine Sache. Doch es gibt Zeiten, zu denen wir am besten nicht zu viel oder zu intensiv denken sollten. Zu diesen Zeiten angestrengt zu denken, kann uns krank machen. Was könnten das für Zeiten sein? Kant klärt uns mit folgenden   ebd., AA 7: 109.

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Worten auf: „Aber beim Gehen sich zugleich angestrengt mit einem bestimmten Gedanken beschäftigen, Kopf und Magen oder Kopf und Füße mit zwei Arbeiten zugleich beschäftigen, davon bringt das eine Hypochondrie, das andere Schwindel hervor.“ Wer nicht an Hypochondrie oder Schwindel leiden will, dem empfiehlt Kant ganz dringend, beim Essen oder Gehen keine Philosophie zu betreiben. Die geistige Beschäftigung soll sich vielmehr mit der „mechanischen Beschäftigung des Magens oder der Füße“193 abwechseln. Was Kant in seiner Rektoratsrede von 1786 und im Streit der Fakultäten über Krankheit und Gesundheit, über Philosophie und Medizin sowie über den Zusammenhang von Geist und Körper ausführt, ist oft nur Fragment. In seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht weisen seine Ausführungen etwas mehr Struktur auf, auch wenn sie keinen expliziten Bezug zur Medizin herstellen. Zum Verständnis von Kants erweitertem Gesundheitsbegriff sind sie aber ohne Zweifel einschlägig. Was besagt dieser Begriff? Kant unterscheidet innerhalb des einen menschlichen Erkenntnisvermögens drei spezielle Erkenntnisvermögen: das Erkenntnisvermögen im engeren Sinne (Verstand, Urteilskraft und Vernunft), das Gefühl der Lust und Unlust (Affekte) und das Begehrungsvermögen (Hang, Begierde, Neigung, Leidenschaft). Alle drei Vermögen können zu Pathologien führen. Beginnen wir mit dem Erkenntnisvermögen im engeren Sinne. Der „gesunde Verstand“ ist der „richtige Verstand“. Er zeichnet sich durch die „Angemessenheit der Begriffe zum Zwecke ihres Gebrauchs“194 aus. Die Vorschriften für den richtigen Gebrauch des Verstandes fasst Kant in drei Maximen zusammen: „1) Selbstdenken, 2) sich (in der Mitteilung mit Menschen) an die Stelle des anderen zu denken, 3) jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken.“195 Wer in bürgerlichen Geschäften nicht in der Lage ist, seinen eigenen Verstand zu gebrauchen, den nennt Kant unmündig.   ebd., AA 7: 109.  Kant, Anthropologie, AA 7: 198. 195   ebd., AA 7: 200. 193

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„Die Fehler des Erkenntnisvermögens“ sind seiner Ansicht nach nun „entweder Gemütsschwäche, oder Gemütskrankheiten“. Eine Gemütsschwäche liegt beispielsweise vor, wenn es der Urteilskraft an Witz mangelt. Die Gemütskrankheiten teilt Kant in die „Grillenkrankheit (Hypochondrie)“ und in „das gestörte Gemüt (Manie)“ ein. Er bekennt, dass es schwer ist, „eine systematische Einteilung in das zu bringen, was wesentliche und unheilbare Unordnung ist. Es hat auch wenig Nutzen sich damit zu befassen.“ Der Nutzen ist gering, weil es sich bei diesen Krankheiten um eine „Erniedrigung der Menschheit“ handelt, die „von der Natur“ herrührt. Bei den Gemütskrankheiten handelt es sich um Widerfahrnisse, für deren Konsequenzen die Menschen, die sie erleiden müssen, keine Schuld tragen. Die „Kräfte des Menschen“ wirken hier, wie bei einer rein körperlichen Krankheit, nicht mehr.196 Kant teilt die „Verrückung“ in drei Klassen ein: in die tumultarische, zu der die „Unsinnigkeit (amentia)“ zählt, die methodische, für die der „Wahnsinn (dementia)“ und (allerdings nur „fragmentarisch“) der „Wahnwitz (insania)“ stehen, und die „systematische“ „Verrückung“, die er „Aberwitz (vesania)“ nennt. Alle genannten „Verrückungen“ stellen „wesentliche und unheilbare Unordnung“197 dar. Wer an ihnen erkrankt ist, kann nicht mündig werden. Die Natur selbst hat diesen Menschen zur Unmündigkeit bestimmt. Ein solcher Mensch bedarf der Leitung durch eine andere Person. Man könnte vielleicht von einer krankhaft bedingten Unmündigkeit des Menschen sprechen. Davon zu unterscheiden sind Arten der Unmündigkeit, die ihren Ursprung im menschlichen Wollen haben. Ihre Ursachen sind nicht krankhaft, sondern selbstverschuldet, selbst wenn sie wie Krankheiten wirken. Doch die Herrschaft unserer Vernunft wird auch durch Leidenschaften und Affekte bedroht. Kant definiert die Leidenschaften als Neigungen, die so stark sind, dass sie der Mensch nur sehr schwer oder gar nicht überwinden kann. Immer wieder weist er auf die verheerende Wirkung der Leidenschaften   ebd., AA 7: 214.   ebd., AA 7: 214–215.

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für unseren Vernunftgebrauch hin. Sie sind „Krebsschäden für die reine praktische Vernunft und mehrenteils unheilbar: weil der Kunde nicht will geheilt sein und sich der Herrschaft des Grundsatzes entzieht, durch den dieses allein geschehen könnte.“198 Während der Affekt (also ein Gefühl) „einen augenblicklichen Abbruch an der Freiheit und Herrschaft über sich selbst“ bewirkt, gibt die Leidenschaft diese Freiheit „auf und findet ihre Lust und Befriedigung am Sklavensinn. Weil indessen die Vernunft mit ihrem Aufruf zur inneren Freiheit doch nicht nachlässt, so seufzt der Unglückliche unter seinen Ketten, von denen er sich gleichwohl nicht losreißen kann: weil sie gleichsam schon mit seinen Gliedmaßen verwachsen sind.“199 Doch selbst die Leidenschaften können von uns beherrscht werden. Richten wir uns mit unseren Leidenschaften jedoch ein, bleiben wir unmündig und erniedrigen uns selbst. Die Erniedrigung findet bereits auf der Ebene der „sinnlichen Begierden“ statt. Denn „alles, was unsere Freiheit einschränkt“, halten wir „für erniedrigend“. 200 Demnach verwendet Kant im Kontext seiner Vorlesungen über Anthropologie einen sehr weiten Begriff der Erniedrigung. Erniedrigung ist, subjektiv betrachtet, ein Gefühl, welches sich einstellt, sobald wir auf eine Stufe mit einer Sache gestellt werden oder uns auf diese Stufe gestellt fühlen. Vergleichen wir die „von der Natur selbst herrührende Erniedrigung der Menschheit“ durch die verschiedenen Arten der „Verrückung“ mit der Erniedrigung, die wir selbst durch die selbstverschuldete Einschränkung unseres Freiheitsgebrauchs zu verantworten haben, fällt ein wichtiger Unterschied auf. Im Falle der selbstverschuldeten Erniedrigung wird die Erniedrigung vom wollenden Subjekt selbst empfunden. Bei der durch die Natur verursachten dagegen besteht dieser Zusammenhang nicht zwangsläufig. Diese Art der Erniedrigung ist nur aus der vernunftgemäßen Beobachterperspektive festzustellen. Der Verrückte denkt nicht, dass er verrückt ist.

  ebd., AA 7: 266.   ebd., AA 7: 267. 200  Kant, Anthr.-Collins (1772/73), AA 25: 32. 198

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16. Freiheit und Widerstand Wer über die Maxime der Selbsterhaltung der Vernunft bei Kant nachdenkt, darf über seine Rechts- und politische Philosophie nicht schweigen. Sie belegt evident, wie problematisch Adornos Interpretation des kantischen Aufklärungsbegriffs ist, so wie er sie in seinen Vorlesungen zur Kritik der reinen Vernunft vorträgt: „Aufklärung heißt aber eigentlich nicht so sehr, Kritik an Gestalten des objektiven Geistes üben; an dem üben, was nicht der Gedanke selber ist. Man kann also sagen, daß der Begriff der Aufklärung bei Kant vorweg in einer bestimmten Weise subjektiv eingeschränkt ist: eben auf die Art, wie der Einzelne rein für sich in seinen Gedanken sich verhält; daß aber die Frage der Objektivierung des Geistes, und damit der Institutionen und Einrichtungen der Welt, von diesem Begriff der Aufklärung eigentlich nicht erfaßt wird.“201 Weder ist Kants Aufklärungsbegriff „in einer bestimmten Weise subjektiv eingeschränkt“, noch handelt es sich (wie Adorno ebenfalls meint) um einen rein theoretischen Begriff. Nein, Kants Philosophie von Recht und Politik wendet sich an Menschen, die ein praktisches Interesse an ihrem angeborenen, ursprünglichen, d.h. nicht erworbenen Freiheitsrecht haben und um die aus der reinen Vernunft selbst entspringende Verbindlichkeit wissen, sich als ein ‚rechtlicher Mensch‘202 in dieser Welt zu erhalten. Für Kant steht der Staat im Dienst der gesetzlichen Freiheit und Gleichheit aller seiner Glieder. Ohne Staat ist das Recht der Freiheit nur eine Idee. Entsprechend der Unterscheidung zwischen angeborenem und durch eigenes Tun erworbenem Recht hat der Begriff der Erhaltung einen doppelten Sinn. Es geht um die Erhaltung 201

 Adorno, Vorlesungen, S. 98–99.   Siehe Kant, Rechtslehre, AA 6: 236.

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seiner selbst als eines zum äußeren Freiheitsgebrauch fähigen Wesens. Es geht aber auch um die Etablierung von Institutionen, die primär ihren Ausdruck im Staat finden, der über die Erhaltung des angeborenen Rechts der Bürger (dem inneren Mein und Dein) hinaus den Erwerb von Eigentumsrechten ermöglicht und sichert. In diesem zweiten Sinne (Kant spricht vom äußeren Mein und Dein) geht es vor allem um Erhaltung im Sinne von „obtinere“. Gemeint ist ein im Prinzip unabgeschlossener, in die Zukunft reichender, mit der Verbesserung der Rechtsverhältnisse (der staatlichen Verfassung im Sinne einer republikanischen, auf Freiheit und Gleichheit der Bürger zielenden Verfassung) einhergehender und auf sie abzielender Prozess. Kant ist davon überzeugt, dass es kein formales Widerstandsrecht 203 der Bürger gegen den Staat geben kann. Da der Staat die äußere Handlungsfreiheit der Bürger durch das zwangsbewehrte Gesetz schützt, ist es rechtlich betrachtet geboten, selbst dann die Autorität des Staates zu achten, wenn sein Tun subjektiv als ungerecht empfunden wird. Gäbe es ein Recht auf Widerstand, wäre unentschieden, wer im Konfliktfall darüber entscheidet, ob die Bürger in ihrem Widerstand gegen den Staat legitimiert sind. Gäbe es ein derartiges Recht, wäre der Naturzustand nicht überwunden, den Kant mit Thomas Hobbes als einen Kriegszustand definiert. Befolgen die Bürger das Gesetz nur unter dem Vorbehalt der rechtlichen Erlaubnis, ihre Rechtsbefolgung aus einer Perspektive der Gerechtigkeit beurteilen zu dürfen, die über dem bürgerlichen Gesetz steht, wird aus gesetzlich bestimmter und gesicherter Freiheit Willkür. Mündigkeit und rechtliches Widerstandsverbot schließen sich für Kant nicht aus. Denn es besteht immer Hoffnung, dass   Zu dieser Thematik siehe u.a. Arthur Ripstein, Force and Freedom. Kant’s Legal and Political Philosophy, Cambridge, Mass., London 2009: 325 ff., und Sharan B. Byrd u. Joachim Hruschka, Kant’s Doctrine of Right. A Commentary, Cambridge 2010, S. 181–184 sowie Klemme, „Der ungerechte Bundesgenosse. Über die inhaltlichen Grenzen des (Staats- und) Völkerrechts in Kants Rechtslehre“, in: Join, or Die. The Philosophical Foundations of Federalism, hg. von D. Heidemann u. K. Stoppenbrink, Berlin, Boston 2016, S. 113–130.

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selbst der despotische Staat sich zum Besseren reformiert. In seinen Vorlesungen über Anthropologie von 1781/1782 stellt er mit folgenden Worten einen Zusammenhang von Vernunft und Freiheit, Aufklärung und Gehorsam her: „[…] es ist eine Herabwürdigung der Menschheit, wenn ich ein freies Geschöpf so behandeln will, daß es einer fremden Vernunft folgen soll. In Ansehung der Begriffe müssen die Menschen frei sein, ohngeachtet sie in der bürgerlichen Gesellschaft nichts unternehmen dürfen, da sich doch keiner widersetzen kann. Selbst die Regierung gewinnt bei der allgemeinen Aufklärung: der Regent kann selbst im Wahne stecken, und sich Vorurteile einbilden, die nichts taugen.“204 Ob eine positivrechtliche Norm dem Ideal einer bürgerlichen Gesellschaft und der auf die Sicherung der Freiheit und Gleichheit ihrer Bürger zielenden republikanischen Regierungsart entspricht oder nicht – der Bürger muss also gehorchen und auf bessere Zeiten hoffen. Angesichts der Erfahrungen mit totalitären Gewaltherrschaften im 20. und 21. Jahrhundert ist dies nicht überzeugend. Es stellt sich somit die Frage, ob es Grenzen staatlicher Autorität gibt, die Kant vielleicht nicht explizit formuliert, die aber aus seiner Rechtskonzeption folgen. Es gibt sie. Erstens. Zunächst eine rechtsinterne Überlegung. Positives Recht ist nach Kant Zwangsrecht. Er muss daher zeigen, dass der Staat legitimiert ist, Personen zur Gesetzesbefolgung zu zwingen, obwohl diese Personen ein angeborenes Freiheitsrecht haben. Die Begründung erfolgt über die der positiven Rechtsordnung zugeschriebene Funktion: Weil die reine praktische Vernunft die Erhaltung und Realisierung der Freiheit auch in ihrem rein äußeren Gebrauche gebietet, ist der äußere Zwang gerechtfertigt. Er ist das einzige Mittel zur Realisierung dieses Zweckes. 205 Es scheint paradox zu sein: Ich bin nur deshalb verpflichtet, das positive Gesetz zu befolgen, weil ich ein angeborenes Freiheitsrecht habe. Leiste ich Widerstand gegen eine rechtliche Verfassung, die ich als ungerecht beurteile, verstoße ich jedoch gegen die Bedingung, unter der allein meine äuße Kant, Anthr.-Menschenkunde, AA 25: 1048–1049.  Kant, Rechtslehre, AA 6: 231.

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re Handlungsfreiheit gewährleistet werden kann: das Gewalt­ monopol des Staates. Diese Überlegungen zeigen, dass das Zwangsrecht die äußere Handlungsfreiheit von Personen nicht generell negieren kann. Es muss für jede Person einen Spielraum ihrer Freiheit geben. Das zwangsbewehrte Gesetz hat nicht die Vernichtung, sondern die Erhaltung der äußeren Freiheit zum Ziel. Besteht der Zweck der Rechtsordnung aber in der totalen und absoluten Vernichtung dieser Freiheit, handelt es sich um eine Gewaltordnung ohne Freiheit und ohne Gesetz. Was wie eine Rechtsordnung aussieht, ist dann tatsächlich ein Regime der Barbarei. 206 In diesem Zustand stellt sich die Frage nach der Existenz eines Widerstandsrechts nicht, weil es keine bestehende Rechtsordnung gibt. Obwohl der Eindruck entstehen könnte, als ob Kant, ähnlich wie später Hans Kelsen (1881–1973) in seiner Reinen Rechtslehre (1934), die Auffassung vertreten würde, dass jeder Inhalt zur positivrechtlichen Norm erhoben werden kann, ist dies nicht der Fall. Es sind Akte der positivrechtlichen Gesetzgebung denkbar, deren Effekt die Aufhebung dieser Rechtsordnung im Sinne des Vernunftrechtes ist. Die einzig rechtmäßige Verfassung der Republik, so schreibt Kant in der Rechtslehre, macht „allein die Freiheit zum Prinzip, ja zur Bedingung alles Zwanges“. 207 Ist diese Bedingung nicht erfüllt, kann es keinen berechtigten Zwang geben. Dies ist auch der Grund, warum wir nach Kant keinen Vertrag in der Absicht schließen dürfen, uns zu Sklaven zu machen. „Durch einen Vertrag kann sich niemand zu einer solchen Abhängigkeit verbinden, dadurch er aufhört, eine Person zu sein; denn nur als Person kann er einen Vertrag machen.“208   Bereits Locke spricht der legislativen Gewalt das Recht zu, festzulegen, „wie die Macht des Staates zur Erhaltung der Gemeinschaft und ihrer Glieder gebraucht werden soll“ (Locke, Zweite Abhandlung über die Regierung, hg. L. Siep, 2. Auflage, Frankfurt a.M. 2013, § 143, S. 119). Die Legislative ist nicht befugt, die staatliche Macht zur Vernichtung der Bürger zu gebrauchen. 207  Kant, Rechtslehre, AA 6: 340. 208   ebd., AA 6: 330. 206

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Kant definiert das Recht als „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“. 209 Dies ist eine formale, aber keine inhaltlich leere Rechtsdefinition. Sie ist inhaltlich schon deshalb nicht leer, weil es nicht schwerfällt, Alternativen zu ihr zu finden. Diese Alternativen formulieren einen Begriff der Verfassung eines Gemeinwesens, die dem Kantischen Verständnis nach an sich unrechtmäßig ist. Ein schlagendes Beispiel für einen derartigen Begriff der Verfassung findet sich in Ernst Rudolf Hubers (1903–1990) Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches von 1939. Huber, ein Schüler von Carl Schmitt, hebt hervor, dass die „nationalsozialistische Revolution […] den parlamentarischen Gesetzgebungsstaat vollends zerstört“ und an seine Stelle „die neue Verfassungsform des völkischen Führerreichs geschaffen“210 hat. Ein zentrales Element der neuen Verfassungsform besteht darin, dass sich die „Führung“ dieses Staates, die sich im „Entscheid“211 des Führers materialisiert, zwar „der Gesetzgebung bedienen“ kann, „aber nicht notwendig an diese Handlungsform gebunden“212 ist. Schon aufgrund des durch und durch politischen Charakters des „völkischen Führerreichs“213 befinden sich seine Bürger Kants Verständnis nach in einem „Zustande äußerlich gesetzloser Freiheit“. 214 Nach Kant stiftet diese Verfassung (die in Wahrheit gar keine ist) keinen status civilis, weil für sie die Ausübung von Herrschaft jenseits des Gesetzes konstitutiv ist. Weil das „völkische Führerreich“ nicht den Vorbehalt der Rechtsförmigkeit staatlichen Handelns und den Primat des positiven Rechts kennt, sind beliebige politische Akte und Maßnahmen schlicht dadurch gerechtfertigt, dass sie gewollt werden – die Bestrafung Unschuldiger genauso   ebd., AA 6: 230.   Zitiert nach dem Abdruck in Rechtfertigungen des Unrechts. Das Rechtsdenken im Nationalsozialismus in Originaltexten, hg. von H. Pauer-Studer u. J. Fink, Berlin 2014, S. 332. 211   Ernst Rudolf Huber, Rechtfertigungen, S. 339 212   ebd., S. 332. 213   ebd., S. 346. 214  Kant, Rechtslehre, AA 6: 307. 209 210

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wie die Androhung und der Vollzug grausamer Strafen oder die psychische und physische Vernichtung von Personen. Aus diesem Grunde sind die unter diese Verfassung fallenden Menschen nach Kant nicht etwa nur befugt, sondern sie sind auch verpflichtet, dem „Begriff des Rechts“215 durch Gewalt Gültigkeit zu verschaffen. Ein Staat, dessen oberster Zweck nicht die Sicherung der Freiheitsrechte seiner Bürger ist, ist ein Reich der Willkür. Das „völkische Führerreich“ ist ein Reich der Barbarei. Zweitens. Betrachten wir das Verhältnis des Rechts zum kategorischen Imperativ. Ob das Recht auf dem Moralgesetz und damit auf dem kategorischen Prinzip gleichsam als seinem Wesensprinzip beruht oder nicht, ist in der Literatur umstritten. Wie immer dieses Verhältnis zu bestimmen ist, fällt doch auf, dass Kant sich an zwei Stellen, die sich in der Rechtslehre und in der Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, auf den kategorischen Imperativ bezieht, um unserer Befolgung positivrechtlicher Normen eine Grenze zu setzen. In der Rechtslehre weist Kant darauf hin, dass jeder Gehorsam gegenüber der Regierung unter einer Bedingung steht: Wir dürfen nur in den Fällen der Obrigkeit gehorchen, in denen die Obrigkeit nicht etwas zu tun von uns verlangt, was direkt dem kategorischen Imperativ widerspricht. „Gehorchet der Obrigkeit (in allem, was nicht dem inneren Moralischen widerstreitet).“216 In der Religionsschrift betont Kant, dass wir ethisch nicht nur nicht verpflichtet sind, staatliche Gesetze zu befolgen, die dem „Sittengesetz unmittelbar zuwider“ sind. Wir dürfen diese Gesetze auch nicht befolgen. „Der Satz ‚man muß Gott mehr gehorchen, als den Menschen’ bedeutet nur, daß, wenn die letzten etwas gebieten, was an sich böse (dem Sittengesetz unmittelbar zuwider) ist, ihnen nicht gehorcht werden darf und soll.“217 Wir dürfen aus ethisch-moralischen Gründen einem sittenwidrigen Gesetz nicht Folge leisten, obwohl wir kein formales Widerstandsrecht haben.   ebd., AA 6: 308–309 Anm.   ebd., AA 6: 371. 217  Kant, Religion, AA 6: 99 Anm. 215 216

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Die Überlegungen zu den Grenzen unseres Gehorsams stehen nicht im Widerspruch zu Kants Absage an ein Widerstandsrecht. Vielmehr sind die Argumentationen auf verschiedenen Ebenen angesiedelt: Obwohl es kein verfassungsrechtlich institutionalisiertes Recht auf Widerstand geben kann (dieses müsste ein Zwangsrecht sein), gibt es die ethische Pflicht, sittenwidrige Gesetze nicht zu befolgen. Das Moralgesetz markiert demnach eine Schranke für die positivrechtliche Gesetzgebung, die jeder Bürger beachten muss. Kein Bürger kann sich auf Kant berufen, um seine Befolgung von Gesetzen oder Befehlen zu rechtfertigen, die diese Schranke missachten. Ein historisch einzigartiges Beispiel für eine missbräuchliche Berufung auf Kant ist Adolf Eichmann, der am 20. Juli 1961 auf die Frage eines Richters, was er darunter verstehe, sich sein Leben lang darum bemüht zu haben, entsprechend der „ganzen Forderung“ zu leben, antwortet: „Da verstand ich darunter, dass das Prinzip meines Wollens und das Prinzip meines Strebens so sein muß, dass es jederzeit zum Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung erhoben werden könne, so wie Kant das in seinem kategorischen Imperativ ungefähr ausdrückt.“218 Wie Eichmann gegenüber dem Richter weiter erläutert, will er damit zwar nicht behaupten, dass seine Tätigkeit im Rahmen der Deportation der Juden unmittelbar aus dem kategorischen Imperativ abgeleitet werden kann. Aber da ihn der kategorische Imperativ verpflichte, der Obrigkeit, die ihn diese Taten zu vollziehen befahl, zu gehorchen, mittelbar dann doch. Wie wir gesehen haben, trifft genau das Gegenteil zu. Und zwar aus zwei Gründen: Erstens widerspricht sein Handeln direkt dem kategorischen Imperativ, und zweitens ist das „völkische Führerreich“ ein Reich der Barbarei.   Protokoll der Verhandlungen des Bezirksgerichts Jerusalem gegen Adolf Eichmann, Strafakt 40/61, 105. Sitzung 20.07.1961, Bl. Nn1, Bundesarchiv, AllProz 6/76. Zitiert nach Michael Wildt, „Eichmann und der kategorische Imperativ, oder: Gibt es eine nationalsozialistische Moral?“, in: Norbert Kampe, Peter Klein (Hrsg.), Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942. Dokumente, Forschungsstand, Kontroversen, Köln 2013, S. 151–161, hier: S. 151. Zu Eichmanns Aussage siehe auch Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des Bösen, München, Zürich 1986, S. 231–233. 218

17. Epilog „Am Ende kommt es aber doch darauf an, dass jeder Mensch suchen muss, mündig zu werden.“ (Immanuel Kant, Vorlesungen über Anthropologie, 1781/82)

Abhängigkeit und Herrschaft, Fremdbestimmung und Unmündigkeit, Barbarei und Despotie, Gedankenlosigkeit und Wahnsinn, Aberglauben und Schwärmerei sind keine Fremdwörter für uns. Wir kennen sie aus Funk und Fernsehen, vom Hörensagen und aus eigener Erfahrung. Wir beobachten sie aus sicherer Distanz oder sind persönlich betroffen, sind Täter und Opfer. Dem einen fahren bei dem Gedanken, sich selbst zu verlieren, Angst und Schrecken in die Glieder, ein anderer bleibt gleichmütig. Haben wir eine Wahl? Sind wir wie Puppen, von unbekannten Mächten bewegt, am Gängelband ihrer Willkür hängend? Wie immer wir diese Fragen zu beantworten geneigt sind, die Überwindung unserer Unmündigkeit kann uns nicht gleichgültig sein. Der „Dialektik der Vernunft“, von der Horkheimer und Adorno sprechen, setzt Kant der Sache nach eine Dialektik der Unmündigkeit entgegen. Unmündigkeit schlägt nicht in Mündigkeit um, weil Kant den kategorischen Imperativ und den „Wahlspruch der Aufklärung“ formuliert hat. Unmündigkeit schlägt in das Verlangen nach Mündigkeit um, wenn wir fühlen, uns selbst zu verlieren, weil wir von anderen abhängig sind und fremdbestimmt leben. Wenn wir uns vor der Willkür der anderen fürchten müssen und auf ihre Solidarität nicht hoffen können. Wer Mündigkeit sagt, will nicht betrügen, sondern fordert ein Recht ein, welches mit Argumenten nicht verweigert werden kann. Dieses Recht schließt nicht nur die Befugnis ein, über die jeweiligen Grenzen der eigenen Unmündigkeit nachzudenken. Es stellt uns auch frei, in einem gewissen Rahmen alte Abhängigkeiten bestehen zu lassen und neue

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einzugehen. Wer Zwecke verfolgt, unterwirft sich der Herrschaft der Mittel. Oft herrschen Mittel über uns, deren Zwecke wir nicht wollen. Es gelingt uns nicht, uns ihnen zu verweigern. Nicht selten durchschauen wir die uns bestimmenden Kausalitäten nicht. Dennoch bleibt die Hoffnung auf Vernunft, auf einen Spielraum der Freiheit, ohne den wir zu einer bloßen Sache und uns von uns selbst entfremden würden. Unser Verlangen nach Mündigkeit speist sich jedoch nicht allein aus der Furcht, nicht tun zu können, was wir jetzt zu tun für richtig und wichtig erachten. Die Zukunft ist unsicher. Wie die Welt sein wird, in der wir uns einst werden bewahren und verwirklichen wollen, können wir heute nicht wissen. So ist das Verlangen nach Mündigkeit zugleich mit der Hoffnung verbunden, Chancen ergreifen und Möglichkeiten wahrnehmen zu können, die uns die Welt einst bieten wird. Würden wir die Welt nicht als einen Ort betrachten, an dem es sich auch in Zukunft zu denken und zu leben lohnt, hätten wir das Höllentor durchschritten, über dem nach Dante Alighieris (1265–1321) berühmten Worten in der Göttlichen Komödie geschrieben steht: „Lasset, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren.“ In der Kritik der reinen Vernunft spricht Kant vom „heiligen“ und „ursprünglichen Rechte der menschlichen Vernunft, welche keinen anderen Richter erkennt, als selbst wiederum die allgemeine Menschenvernunft, worin ein jeder seine Stimme hat“. 219 Die Vernunft anerkennt jede Stimme, die sich ernsthaft um ihre Erkenntnis bemüht. Dieses Recht schlägt sich im „Wahlspruch der Aufklärung“ nieder, sich mutig seines „eigenen Verstandes“ zu bedienen. Dieser „Wahlspruch“ drückt keinen Ratschlag aus. Der Wahlspruch der Aufklärung ist (wie Kant mit dem römischen Dichter Horaz formuliert) für die menschliche Vernunft ein Imperativ: „Sapere aude!“ („Wage weise zu sein!“). 220 Wir dürfen uns nicht nur unseres eigenen Verstandes bedienen, wir sollen es auch. Tun wir es nicht, geben wir uns als Vernunftwesen auf. Ob wir erfolgreich sind, erkennen wir auch an den Rückmeldungen, die wir auf unsere Mei Kant, KrV, A 752/B 780.  Kant, Aufklärung, AA 8: 35.

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17. Epilog

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nungsäußerungen erhalten. Wer sich seines eigenen Verstandes bedienen will, muss kritikfähig sein und vielleicht auch einmal einfach nur schweigen. Der späte Michel Foucault sieht in Kants Aufklärungsschrift die „Haltung der Moderne“221 ausgedrückt. Das ist ein wichtiger Gedanke. Foucaults Kant-Rezeption unterscheidet sich wohltuend von Horkheimer und Arendt, die Kant in die Tradition der Unmenschlichkeit stellen. Allerdings versperrt das Foucault eigentümliche Pathos der Gegenwart, d.h. sein Präsentismus, den Blick für die normative Dimension, die unserem Streben nach Mündigkeit ein universelles Band bedeutet, welches uns mit uns selbst und allen Menschen in allen Zeitdimensionen verbindet. Aufklärung und Kritik als Prozess und Haltung sind keine beliebigen Narrative. Folgen wir Kant, dann sind wir dazu verpflichtet, uns selbst aufzuklären. Wir machen uns schuldig, wenn wir auf die Aufklärung verzichten. Es ist Ausdruck eines Rechtes und einer Haltung, die nicht begründet werden müssen. Begründungsbedürftig sind vielmehr die Schranken, die unserer Freiheit gesetzt werden können (müssen), um allen Menschen eine Stimme zu geben. Alles andere wäre Willkür und Barbarei. Zweifellos rückt auch Foucault den Begriff der Freiheit in das Zentrum seines Denkens. Doch seine Rede von der „Praxis der Freiheit“222 unterscheidet sich signifikant von Kants Freiheitsverständnis. Erläutert Kant (und er ist sicherlich nicht der einzige, der dies so macht) den Begriff der Freiheit durch den des Gesetzes (Freiheit ist nur unter Be  Foucault, „Was ist Aufklärung?“, in: Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, hg. von Eva Erdmann u.a., Frankfurt a.M. 1990, S. 35–54, hier: S. 37, sowie ders., Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesung am Collège de France 1982/83, Frankfurt a.M. 2009 (Vorlesungen I). Während Foucault den Begriff der Kritik in das Zentrum der „Haltung der Moderne“ stellt, ist es meiner Auffassung nach das Selbstdenken, das im Sinne Kants als die Haltung der Moderne (und der Aufklärung) bezeichnet werden kann. Selbstdenken hat einen größeren Anwendungsbereich als Kritik. Siehe dazu Klemme, „Aufklärung entre critique et penser par soi-même. Foucault sur Kant et l’attitude de la modernité“, in: Revue de Métaphysique et de Morale (= Kant contemporain), 2023. 222  Foucault, Ästhetik der Existenz, S. 257. 221

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dingungen einer für alle in der gleichen Weise verbindlichen Ordnung ihres Gebrauchs möglich), so expliziert Foucault den Begriff der Freiheit gewissermaßen durch sich selbst. Freiheit ist eine Praxis, die im Plural auftritt. Durch diese Praktiken wird ein Subjekt konstituiert und konstruiert. Ändern sich die Praktiken, ändert sich das Subjekt, ändere ich mich. Punkt. Auch wenn angesichts der Historizität beispielsweise sexueller Normen Foucaults Position plausibilisiert werden kann, bleibt er den Nachweis für seine Generalthese schuldig. Wie klein unser Spielraum im Einzelfall auch sein mag, wir können selbst darüber entscheiden, ob wir uns als Vernunftwesen erhalten wollen, ob wir den Menschen um uns herum und den Dingen der Welt mit Neugier begegnen, ob wir unsere Begriffe von ihnen und zugleich von uns selbst erweitern. Ob wir bereit sind, auch einmal über die Dummheiten der Welt zu lachen. Oder ob wir unsere Freundschaft auf die mit unseren „Idolen“ beschränken, von denen Francis Bacon in den Aphorismen seiner Schrift Novum Organon (1620) spricht. Jedes Zeitalter hat seine Freiheiten, Notwendigkeiten, Irrtümer, Idiosynkrasien. Was uns gestern unmöglich erschien, geht uns heute leicht von der Hand. Was heute wie ein Kinderspiel erscheint, wird schon morgen selbst für Herkules zu tun unmöglich sein. Die Sprache von heute kann schon morgen Anstoß erregen. Mündigkeit ist ein Projekt, Aufklärung eine Haltung, die immer unvollendet und nicht selten zum Scheitern verurteilt ist. Aber wir haben keine andere Wahl, als uns um sie zu bemühen, wollen wir uns nicht zum Spielball fremder Mächte machen und uns selbst aufgeben. Wer unter der Idee der Freiheit handelt, wer sich nicht als Maschine behandeln lassen will und für das Recht und die Würde des Menschen einsteht, hat keine Wahl. Er sorgt sich um sich selbst. Freiheit und Mündigkeit sind nicht ‚unsere‘ Werte. Es handelt sich um universell verständliche Begriffe. Die Vernunft zielt auf Verständigung, die ihrerseits ein klar definiertes Ziel hat: die Beförderung der Menschlichkeit des Menschen. Diese definiert sich nicht durch Traditionen oder Narrative, nicht durch Mythos oder Poetik, sondern durch eine Einsicht. Diese Einsicht betrifft Kants fester Überzeugung nach die durch

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Vernunft und Freiheit ausgezeichnete Stellung des Menschen in der Welt. Humanität ist der kleinste gemeinsame Nenner, auf den wir uns verständigen müssen, wollen wir uns nicht kollektiv aufgeben. In ihrem Zentrum steht die Anerkennung des Menschen als eines Rechtssubjekts. Dieser Status drückt sich konkret in dem Anspruch eines jeden aus, als unvertretbares, Rechenschaft forderndes und gebendes Subjekt anerkannt zu werden. Das Recht zu haben, sich um sich selbst sorgen zu dürfen. Begründungspflichtig ist nicht der freie Gebrauch unserer Vernunft, begründungspflichtig ist immer seine Einschränkung. 223 Wird sie uns verweigert, fühlen wir uns erniedrigt. Kant hat sich veranlasst gesehen, eine „Apologie für die Sinnlichkeit“224 zu schreiben. Selbst die Vernunft hat enthusiastische Anhänger, die den Begriff der Vernunft in einem unguten Licht erscheinen lassen. Sie wollen nicht erkennen, dass Vernunft ohne Anschauung und Gefühl bloße Logik wäre, zu keiner Wissenschaft und Weltorientierung befähigt. Zwar findet sich keine ‚Apologie der Vernunft‘ unter diesem Titel in Kants Werken. Aber in der Tat stellt sich seine gesamte Philosophie dieser Aufgabe: zu zeigen, dass wir unsere Vernunft in allen ihren (auch informellen) Ausdrucksformen innerhalb der Grenzen der Kritik wertschätzen sollten, weil wir ansonsten uns selbst verlören. Kants Vernunft ist keine Person, keine Selbstherrscherin, irgendwo in den Windungen unseres Gehirns beheimatet. Eher nimmt sie unseren ganzen Körper in Beschlag, ist auf alle unsere Lebensfunktionen angewiesen, um ihre Bestimmung zu erfüllen. Die Einheit unserer Vernunft ist eine funktionale, die von unserem Körper und der Welt im Allgemeinen abhängig ist. 225 „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“ (spanisch „El sueño de la razón produce monstruos“), lautet der Titel einer   Siehe Kant, Rechtslehre, AA 6: 238.  Kant, Anthropologie, AA 7: 143 ff. 225   In seiner Spätphilosophie hat Ernst Cassirer (1874–1945) den Gedanken der „funktionalen Einheit“ des Menschen, die an die Stelle der substantiellen Einheit der Tradition tritt, im Ausgang von einem Gedanken Kants entwickelt. Siehe Cassirer, An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture, New Haven, London 1944. 223 224

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berühmten Grafik von Francisco de Goya (1746–1828). Kant würde Goya zustimmen: Schläft unsere Vernunft, werden wir von fremden Kräften bedrängt. Auch die Übersetzung des spanischen Wortes „sueño“ mit „Traum“ ergibt für Kant Sinn: Schließt unsere Vernunft ihre Augen vor der Wirklichkeit und denkt sich in eine übersinnliche Welt hinein, schlägt sie in Unvernunft um, dann fungiert sie als Quelle der „Dämonologie“. 226 Es reicht nicht, dass sich unsere Vernunft bei uns meldet und anwesend ist. Wir müssen sie auch zweckmäßig zu gebrauchen verstehen. Hat sich unsere Auseinandersetzung mit einem Kapitel der Philosophiegeschichte gelohnt? So viel jedenfalls dürfte deutlich geworden sein: Wir schreiben die Geschichte der Philosophie nicht im Plusquamperfekt. Sie ist keine Monade, die sich wie eine Raumkapsel stetig von uns entfernt. Vielmehr ist sie Teil unserer Gegenwart und unserer Zukunft. Ihre Begriffe stecken in unseren Köpfen, erhitzen unsere Gemüter, spenden uns Trost, lassen uns den Kopf schütteln, sind zum Weinen und zum Lachen. Sie gibt uns Orientierung und erweitert unsere Vorstellung davon, was zu denken möglich ist. Es gibt keinen Grund, sie zu verachten. Die Geschichte der Philosophie kann ihr historisches Kleid ablegen und wie der Morgenstern erstrahlen. Überhaupt scheint es vernünftig zu sein, gegenüber geschichtsphilosophischen Kausalitäten eine skeptische Haltung einzunehmen. Sie werden aus dem privilegierten Standpunkt der Nachgeborenen verfasst, die sich die Dinge zurechtlegen, um Antworten auf ihre drängenden Fragen zu finden. Menschen suchen nach Antworten und Erklärungen, fragen nach Gründen und Ursachen. Das ist unausweichlich und völlig legitim. Schließlich müssen wir uns in dieser Welt orientieren, wollen etwas aus unserem Leben machen, wollen uns und die Dinge erhalten, die wir schätzen. Doch wir sollten achtsam sein. Die Wörter der Philosophen, die sie für ihre Begriffe und Ideen in früheren Zeiten verwendet haben, sind nicht nur für Antiquare von Interesse. Sie werden von Personen in ausholenden Narrativen kommentiert und revidiert, um unser Denken,  Kant, Urteilskraft, AA 5: 444.

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Fühlen und Handeln in bestimmter Weise zu beeinflussen. Wir können nicht beurteilen, ob sie im Recht sind, wenn wir auf die eigenständige Aneignung der Philosophie in ihrer Geschichte verzichten. Dass es aber mit der Aneignung von Worten und Begriffen nicht getan ist, hat Kant immer wieder herausgestellt. Der Prozess der Mündigkeit kann nur erfolgreich verlaufen, wenn ihm die äußeren Bedingungen zuträglich sind, wenn es einen Ort für den freien Gebrauch unserer Vernunft gibt, wenn die Institutionen von Staat und Gesellschaft freiheitsaffin, freiheitsfördernd, ja freiheitsfordernd sind. Denn mündige Freiheit ist die Bedingung, unter der wir eine Pluralität von Einzelinteressen der Bürger zu verwirklichen hoffen können. Wir streben nach Mündigkeit, wohl wissend, dass die Aufklärung eine Haltung ist und ein Projekt meint, welches kein Ende kennt. Als Projekt kann sie nicht vollendet werden. Als Haltung begleitet sie den Zeitstrahl wie ein Schatten. Unsere Vernunft scheut keine Kritik und keinen Streit. Sie ruht nicht in sich selbst, beschäftigt sich nicht mit sich selbst. Rastlos sucht sie Bedeutung in allen Dingen. Sie legt sich gewissermaßen in sie hinein, versucht sie zu durchdringen und miteinander zu verknüpfen. Sie passt sich in ihren verschiedenen Funktionen dem Gegebenen und Vorfindlichen an, interessiert sich für alles Neue und ist immer bereit, sich belehren zu lassen, wo sich ihre Vorurteile als haltlos herausstellten. Nur auf eines kann sie nicht verzichten: auf sich selbst. Sokrates hatte schon Recht: Wer sich nicht um sich selbst kümmert, der kann sich auch nicht um die anderen sorgen. Wer sich nicht selbst schätzt und billigt, davon ist Kant überzeugt, kann mit sich und der Welt nicht zufrieden sein. „Selbstbilligung“ bedeutet „Zusammenstimmung mit sich selbst“. 227 Sie ist 227  Kant, Reflexionen zur Moralphilosophie, Reflexion 6864, AA 19: 185. Vgl. AA 15: 730. Siehe auch den oben zitierten Brief Kants an Moses Mendelssohn vom 8. April 1766. Vermutlich hätte Kant Hannah Arendt zugestimmt, wenn sie schreibt, dass das „Kriterium von Recht und Unrecht, die Antwort auf die Frage: Was soll ich tun? […] in letzter Instanz weder von Gewohnheiten und Sitten ab[hängt], die ich mit Anderen um mich Lebenden teile, noch von einem Befehl göttlichen

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eine praktisch-moralische Ausdrucksweise unseres Interesses daran, uns selbst zu erhalten. Das Interesse der Vernunft an sich selbst ist die oberste normative Prämisse unseres Denkens, Fühlens und Wollens. Wer an diesem Interesse zweifelt, kann mit Argumenten allein nicht überzeugt werden. Es bedarf der eigenen Anschauung, der persönlichen Erfahrung. Dass wir dieses Interesse haben, drückt sich vor allem in der Art und Weise aus, in der wir auf Bedrohungen und Läsionen reagieren. Schlägt uns blanker Hass entgegen, ist keine Zeit zum Flanieren. Wir gehen in Deckung oder suchen das Weite. „Ist es nicht das Selbstverständliche, dass man von dort weggeht, wo man so gehasst wird (Zionismus oder Volksgefühl ist dafür gar nicht nötig)?“, fragt Kafka angesichts des um sich greifenden Antisemitismus im November 1920 in einem Brief an seine Freundin Milena Jesenská. Sind wir nicht achtsam, verschlingt uns die Welt. „[W]oran liegt es, daß wir immer noch Barbaren sind?“, fragt Schiller im achten seiner Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Ein Barbar ist nach Schiller ein Mensch, dessen Grundsätze seine Gefühle „zerstören“, während bei dem Wilden „seine Gefühle über seine Grundsätze herrschen“. 228 Um den Barbaren in uns zu bändigen, müssen wir ihn mit dem Wilden in uns versöhnen. Dies geschieht durch Bildung. „Die Vernunft hat geleistet, was sie leisten kann, wenn sie das Gesetz findet und aufstellt; vollstrecken muß es der mutige Wille, und das lebendige Gefühl.“229 Schiller orientiert sich in seiner Antwort an Kant, nicht ohne eine wichtige Änderung vorzunehmen. Zwar spricht Kant in seinem Aufklärungsaufsatz von Mut und Wille, aber nicht vom „lebendigen Gefühl“. Doch daoder menschlichen Ursprungs, sondern davon, was ich im Hinblick auf mich selbst entscheide. Mit anderen Worten: Bestimmte Dinge kann ich nicht tun, weil ich danach nicht mehr in der Lage sein würde, mit mir selbst zusammenzuleben.“ (Arendt, Über das Böse, S. 81) Im Gegensatz zu Arendt würde Kant zusätzlich auf die Bedeutung von Vernunft und Moralgesetz hinweisen, ohne die unsere moralischen Urteile orientierungslos wären. 228  Schiller, Erziehung, S. 19. 229  ebd., S. 32.

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rauf kommt es Schiller gerade an. Vernunft, mutiger Wille und lebendiges Gefühl sind der Schlüssel zur wahren Aufklärung. Dass Kants Ausführungen zur Selbsterhaltung der Vernunft alle drei Dimensionen unserer Existenz umfassen, von denen bei Schiller die Rede ist, sollte durch unsere Überlegungen deutlich geworden sein. Sich über die allgemeinen Prinzipien unseres freien Vernunftgebrauchs und die wechselnden Bedingungen, unter denen wir uns als Mensch und Person erhalten können, zeitlos gültige Gedanken gemacht zu haben, ist ein herausstechendes Merkmal seiner Modernität. 230 Wenn sich die Dinge ändern und wir uns mit ihnen, dann müssen wir unsere Unmündigkeit den immer neuen Gegebenheiten angemessen zu überwinden versuchen. Dafür sind gereifte Urteilskraft und glückliche Umstände, Achtung und Achtsamkeit, Anstrengung und gelegentlich auch Mut erforderlich. Ob es uns gelingt, wird sich zeigen. Wir könnten auch Pech mit unserem Denken und mit der Wirklichkeit haben, an deren Wucht wir womöglich scheitern.

230  Nach dem Urteil von Raymond Geuss ist Kant „unbrauchbar“, da sein Vernunftbegriff „unhaltbar“ ist. Denn die von Kant „absolut“ gesetzte Vernunft „verabsolutiert den eigenen Standpunkt“. Sie ist ein „Irrlicht, das uns ständig zu falschem Handeln verführt“ (Die Zeit 49, 03.12.2015). Was soll man dazu sagen? Eine Kritik verfehlt ihren Zweck, wenn sie der Komplexität ihres Gegenstandes (in diesem Falle: dem Vernunftverständnis von Kant) nicht angemessen ist.

Hinweis zu Editionen von Kants Schriften Die Schriften Kants sind in einer Vielzahl von modernen Edi­ tionen zugänglich. Neben der Akademie-Ausgabe seiner Gesammelten Schriften (1900ff.), die heute im Verlag Walter de Gruyter (Berlin, Boston) erscheint und von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften betreut wird, liegt eine von Wilhelm Weischedel besorgte Werkausgabe im Suhrkamp Verlag (Berlin) vor. Einzelausgaben von Kants Schriften sind unter anderem im Felix Meiner Verlag (Hamburg), im Reclam Verlag (Ditzingen) und im Deutschen Klassiker Verlag (Frankfurt a.M.) erschienen. Einige von ihnen enthalten eine längere Einleitung, eine Bibliographie, Sacherläuterungen und Kommentare. Die studentischen Nachschriften von Kants Vorlesungen über Anthropologie sind nur in der Edition der Akademie-Ausgabe (Band 25) zugänglich. Kants Schriften werden in der Literatur entweder nach der Band- und Seitenzählung der Akademie-Ausgabe oder nach der Seitenzählung der Originalausgaben (A = 1. Auflage, B= 2. Auflage) zitiert. Einige Ausgaben enthalten beide Seitenzählungen am Seitenrand oder am Seitenfuß. Über die Akademie-Ausgabe hinaus wird nach den folgenden Ausgaben von Kants Schriften zitiert: – Kritik der reinen Vernunft, hg. von J. Timmermann, Hamburg 1998. – Kritik der praktischen Vernunft, hg. von H. D. Brandt und H. F. Klemme, Hamburg 2003. – Kritik der Urteilskraft. Beilage: Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, hg. von H. F. Klemme, 3. Auflage, Hamburg 2009. – Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, hg. von B. Stangneth, Hamburg 2017. – Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis – Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, hg. von H. F. Klemme, Hamburg 1992. – Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, hg. von R. Brandt, Hamburg 2000. – Der Streit der Fakultäten, hg. von H. D. Brandt u. P. Giordanetti, Hamburg 2005.

Personenregister Adorno, Th. W.  15, 37, 39–41, 99, 107 Alighieri, D.  108 Arendt, H.  20, 36, 105, 109, 113 Bacon F.  25, 110 Basedow, J. B.  82 Bayle, P.  26 Becker, H.  39 Benjamin, W.  35 Blumenberg, H.  13–14, 16 Brandt, R.  16, 69, 86 Byrd, S. B.  100 Cassirer, E.  111 Châtelet, É. du  67 Cicero  10, 11 Descartes, R.  21, 23, 25, 33, 35 Eichmann, A.  105 Elisabeth I, Zarin von Russland 67 Erxleben, Chr.  67 Fichte, J. G.  11 Fonnesu, L.  80 Forschner, M.  13

Foucault, M.  11, 30–34, 40–41, 109–110 Geuss, R.  115 Goya, F. de  112 Guyer, P.  70 Habermas, J.  15–16 Hegel, G. W. F.  29, 45 Heidegger, M.  14, 19, 30–32, 34 Henrich, D.  14 Herder, J. G.  29 Hobbes, Th.  10–12, 25, 100 Hölderlin, F.  29 Hoffmann, F.  91 Horkheimer, M.  15, 35, 37, 39, 41, 107, 109 Hruschka, J.  100 Huber, E. R.  103 Hume, D.  18, 25 Husserl, E.  11 Hutter, A.  16 Jesenská, M.  114 Kafka, F.  9, 114 Kant, I.  passim Katharina II, genannt die Große, Zarin von Russland 67

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Kelsen, H.  102 Klemme, H. F.  8, 14, 19, 55, 65, 70–72, 85, 100, 109 Korsgaard, Chr.  76 Koselleck, R.  80–81 Leibniz, G. F.  25, 67 Locke, J.  10–11, 25–26, 44–45, 102 Martus, S.  14 Marx, K.  50 Mendelssohn, M.  20, 27, 113 Müller, K.  13 Mulsow, M.  10 Newton, I.  67 Nietzsche, F.  12, 30, 37 Ripstein, A.  100 Rivero, G.  8 Rotter, H. A  12. Rousseau, J.-J.  11

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Sade, M. de  33, 37 Schelling, F. W. J.  29 Schiller, F.  19–20, 29, 114–115 Schmitt, C.  13–14, 81, 103 Schütz, Th.  8 Shklar, J. N.  76–77 Sokrates  10–11, 113 Sommer, M.  16–18 Spinoza, B. de  10 Stader, D.  8, 18, 67 Stahl, G. E.  91 Stengel, F.  33 Thomasius, Chr.  26 Trevisan, D. Kosbiau  18 Voltaire 26 Walsh, J.  8 Wildt, M.  105 Wolff, Chr.  12, 27, 69 Wolzogen, W. von  20 Wunderlich, F.  8