Die disziplinierte Diktatur: Stalinismus und Justiz in der sowjetischen Provinz, 1938 bis 1956 [1 ed.] 9783412512132, 9783412511272

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Die disziplinierte Diktatur: Stalinismus und Justiz in der sowjetischen Provinz, 1938 bis 1956 [1 ed.]
 9783412512132, 9783412511272

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BEITRÄGE ZUR GESCHICHTE OSTEUROPAS BEGRÜNDET VON DIETRICH GEYER UND HANS ROOS HERAUSGEGEBEN VON JÖRG BABEROWSKI KLAUS GESTWA JOACHIM VON PUTTKAMER FRITHJOF BENJAMIN SCHENK BAND 51

Die disziplinierte Diktatur STALINISMUS UND JUSTIZ IN DER SOWJETISCHEN PROVINZ, 1938 BIS 1956

VON IMMO REBITSCHEK

2018 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Die symbolische Abstimmung über das Urteil im letzten Moskauer Schauprozess 1938; © AKG Images © 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Lindenstraße 14, D-50674 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Constanze Lehmann, Berlin Einbandgestaltung: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Satz: Michael Rauscher, Wien

ISBN 978-3-412-51213-2

I N H A LT

VORWORT. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1. EINLEITUNG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Problem- und Fragestellung. . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Quellen und Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Willkür und Regelhaftigkeit stalinistischer Herrschaft – ein Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. DAS RECHT UND SEIN „TRIBUN“ – DIE SOWJETISCHE TRADITION DES RECHTSBEGRIFFS UND DAS AMT DER STAATSANWALTSCHAFT, 1917–1938. . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Tradition und Neubildung des sowjetischen Rechtsbegriffes. . . . 2.1.1 Der Nihilismus in Zeiten des Umsturzes . . . . . . . . . . 2.1.2 „Legalismus“-Debatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Stalinismus und Recht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Staatsanwaltschaft auf dem Reißbrett der sowjetischen Rechtstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Gegen die „doppelte Unterordnung“ – Lenins politischer Auftrag an die Staatsanwaltschaft 1922 . . . . . . . . . . . 2.2.2 Hüter der Gesetzlichkeit – nadzor über die Sowjetunion . . 2.2.3 Der Staatsanwalt im Strafprozess – Schlaglichter auf die Prozessordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Zwischenfazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. DIE STAATSANWALTSCHAFT UND DAS ENDE DER ­MASSENOPERATIONEN – 1938 BIS 1941.. . . . . . . 3.1 Strategiewechsel im Herbst 1938 . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die perestrojka der Strafjustiz.. . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Die Optimierung der Strafjustiz – Prozeduren.. . . . 3.2.2 Die „Rekonstruktion der Strafjustiz“ – Bildung und Ressourcen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Die Bewertung des Terrors . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

3.3.1 Konfrontation – Das „NKVD im Griff der Staatsanwaltschaft“?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 3.3.2 Kooperation – Die Folgen des Großen Terrors im Permʼ . . . 93 3.4 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 4. JUSTIZ IM HINTERLAND – DIE STAATSANWALTSCHAFT MOLOTOV, 1941–1945. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Heimatfront Molotov und die Regionalstaatsanwaltschaft zwischen 1941 und 1945.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Die Disziplinierung der Arbeitswelt.. . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Die Verfolgung von Arbeitsdelinquenten als Kampagnenjustiz.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Die Durchsetzung des Juni-Befehls in Molotov . . . . . . . 4.2.3 Der Kampf gegen „Arbeitsdeserteure“ . . . . . . . . . . . . 4.3 Die Disziplinierung der sowjetischen Jugend. . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Politische und juristische Leitlinien zur Jugendkriminalität, 1935 bis 1941 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Jugendfürsorge und Strafverfolgung in Molotov während des Krieges.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Selbstdisziplinierung – Amtsmissbrauch in der S ­ taatsanwaltschaft . 4.5 Das Innenministerium im Fokus der Staatsanwaltschaft . . . . . . . 4.5.1 Die Anfänge der Milizaufsicht.. . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.2 Die Anfänge der Haftaufsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. DIE STAATSANWALTSCHAFT NACH 1945 – DER AUFSTIEG ALS HERRSCHAFTSINSTRUMENT. . . . . . . 5.1 Wege der Professionalisierung – Das neue alte Gesicht der Staatsanwaltschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Das Ausbildungsprofil eines Rechtsbürokraten . . . . . . . 5.1.2 Die Veränderung des Kaderprofils und ein Generationenwandel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die politische Praxis der Professionalisierung – P ­ arteieinfluss in der Staatsanwaltschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Kuljapin, die Miliz und die Grenzen der Aufsicht . . . . . . . . . 5.3.1 „Eine gesündere Atmosphäre“? – Die Vorgeschichte des Konflikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Konfrontation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Entscheidung und Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . .

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. 222 . 226 . 228 . 232 . 239 . 249 . 249 . 253 . 263

Inhalt

5.3.4 Eine „Tradition der Unnachgiebigkeit“? – Zur Nachgeschichte des Konflikts. . . . . . . . . . . . . 5.4 Haftaufsicht nach 1945 – Die Staatsanwaltschaft und die ­beginnende Krise des Gulag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Die Regulierung der Gefängniswelt. . . . . . . . . . . . 5.4.2 Die Regulierung der Häftlingsströme . . . . . . . . . . . 5.4.3 Lagerwelt in Aufruhr – Kontrolle statt Produktivität . . . 5.5 Die Staatsanwaltschaft und die Kampagne gegen Diebstahl . . . 5.5.1 Anzeige, Ermittlung und Anklage. . . . . . . . . . . . . 5.5.2 Diebstahl vor Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6 Der strafrechtliche Umgang mit Minderjährigen nach 1945 . . . 5.6.1 Staatliche Jugendbetreuung und staatsanwaltschaftliche Aufsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.2 Die Strafverfolgung Minderjähriger. . . . . . . . . . . . 5.7 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6. SOZIALISTISCHE GESETZLICHKEIT POST STALIN – DIE STAATSANWALTSCHAFT IM MITTELPUNKT VON KRISE UND KONSOLIDIERUNG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Die Rückkehr zur „Sozialistischen Gesetzlichkeit“ – Berijas Ende und der Aufbruch der Staatsanwaltschaft. . . . . . . . 6.1.1 Der Triumph des „sozialistischen Humanismus“ – Öffentlichkeitsarbeit für die Partei.. . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Kaderarbeit – die strukturelle Stärkung der Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Die Umstrukturierung des Gulag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Strategien der Haftentlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Besserung und Gesetzlichkeit – Die Staatsanwaltschaft und das ­Haftregime nach 1953. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Kriminalität und Strafverfolgung nach 1953 . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Die Disziplinierung der Miliz . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Ermittlungsarbeit nach 1953. . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.3 Der Kampf gegen Milde – Staatsanwälte und Richter nach 1953 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.4 Jugendkriminalität und Jugendfürsorge nach 1953 . . . . . . 6.4 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7. SCHLUSSBETRACHTUNG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431

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Inhalt

QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . 433 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 SACH- UND NAMENSREGISTER. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449

Meiner Mutter, Sigrid Neef

VORWORT

Dieses Buch ist der Abschluss eines wichtigen Kapitels in meinem Leben. Die Anfertigung einer Dissertation war eine herausfordernde und doch so bereichernde Aufgabe. Sehr viele Menschen haben zur Entstehung der Arbeit und diesen Erfahrungen beigetragen; haben mich gefordert, gefördert und unterstützt. Ich danke dabei dem Freistaat Thüringen, dessen großzügige Finanzierung der Graduiertenschule des Imre Kertész Kollegs dieses Projekt überhaupt ermöglicht und der VG Wort, die die Kosten für die Drucklegung übernommen hat. Der Friedrich-Schiller-Universität verdanke ich ein wunderbares Jahrzehnt als Student und Doktorand in Jena. Hier haben mich zahlreiche akademische Lehrer auf den Beruf des Historikers vorbereitet. Mein Doktorvater, Jörg Ganzenmüller, begleitete mich vom Exposé bis zur Drucklegung mit Rat, Zuspruch und konstruktiver Kritik. Ihm danke ich für eine Betreuung, wie ich sie allen Promovierenden wünsche, und für seine freundliche und freundschaftliche Anleitung darin, Fragestellungen und Deutungen klar zu strukturieren. Joachim von Puttkamer unterstützte mich als Zweitgutachter und Mentor. Seine Ratschläge haben mir schon in der Magisterarbeit wie auch in der Dissertationsschrift über zahlreiche analytische Hürden hinweggeholfen. Ich danke ihm zudem für die vielen Lektionen in Sachen mentaler und intellektueller Disziplin, die meine Zeit am Imre Kertész Kolleg so wertvoll gemacht haben. Klaus Gestwa danke ich für seine Anregungen als Drittgutachter, die geholfen haben, diese Qualifikationsschrift in ein Buch zu verwandeln. Raphael Utz hat mich dazu ermutigt, die Reise als Russlandhistoriker anzutreten. Ich danke ihm für seinen fachlichen und menschlichen Beistand in dieser Zeit und seine Anleitung als Lehrer und Freund, der mir die Freude an der Ambivalenz gelehrt hat. Meine wohl wichtigste ‚Reisebegleiterin‘ war Katharina Schwinde. Unsere gemeinsamen Forschungsaufenthalte in Moskau, unsere Bürogemeinschaft und das gemeinsame Promovieren gehören zu meinen liebsten Erinnerungen in dieser Zeit. Ich danke ihr für offene Ohren und zahlreiche Hinweise, wann immer wir die Manuskripte des/der jeweils anderen vor der Nase hatten, und ich danke ihr und ihrem Mann Stefan für eine Freundschaft, die auch durch die schweren Momente auf dieser Reise geholfen hat. Als Mitglied der Graduiertenschule durfte ich meine Erfahrungen mit Menschen teilen, die vor einer ähnlichen Aufgabe standen und ihrerseits offen mit Problemen und Lösungen im Promotionsprozess umgingen. Ich habe von ihnen allen gelernt und von ihrem Wissen profitiert. Mein Dank gilt an dieser Stelle Philipp Weigel,

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Vorwort

Christian Werkmeister, Jana Fuchs, Dominika Michalak, Karolina Ćwiek-Rogalska und Łukasz Mieszkowski, die mich durch viele Diskussionen, Exkursionen und Bierrunden begleitet haben. Franziska Schedewie stand mir immer mit ihrem fachlichen und freundschaftlichen Rat zur Seite. Ihr verdanke ich meine ersten Lehrerfahrungen. Sie gab mir zahlreiche pädagogische Kniffe mit auf den Weg und sorgte dafür, dass ich über die Sowjetunion nicht den Rest der russischen Geschichte vergesse. Jochen Böhler half mir, als Historiker erwachsen zu werden. Ich danke ihm für seine allzeit offene Bürotür, die zahlreichen Gespräche und die gemeinsame Arbeit, die meine Vorstellung von der europäischen Geschichte so sehr bereichert hat. Diana Joseph unterstützte mich als Organisatorin und Muttersprachlerin, wann immer mein Russisch an seine Grenzen stieß. Ich danke mehreren Generationen von Hilfskräften am Kolleg für die gemeinsame Arbeit und die Freundschaften, die daraus entstanden sind, die Zeit, die wir zusammen verbracht und die kleinen und großen Dienste, mit denen sie zur Entstehung dieses Buches beigetragen haben. Ich danke dem Kolleg und vielen seiner Fellows aus der ganzen Welt für sechs gute und erlebnisreiche Jahre als Hilfskraft, Doktorand und Mitarbeiter. Sam Casper hatte 2015 ein hervorragendes Panel für die ASEEES Convention in Philadelphia zusammengestellt, an dem auch ich teilhaben durfte. Die Gespräche mit ihm und anderen Experten der russischen und sowjetischen Geschichte, wie James Heinzen oder James Ryan, sowie die großartigen Anregungen von Holly Case, haben dieses Buch an vielen Stellen bereichert. Ein besonderer Dank geht dabei auch an Yoram Gorlizki, der mich in der finalen Schreibphase mit kritischen Hinweisen und vor allem mit der Bereitstellung seines eigenen Dissertationsmanuskripts unterstützt hat. Auch in Russland haben kluge und warmherzige Menschen dazu beigetragen, dass jeder einzelne meiner Forschungsaufenthalte ein Erfolg und ein Erlebnis wurde. Lija und Janina Urussova haben dafür gesorgt, dass ich mich in Moskau heimisch fühlte. Ihnen und meinem Gastvater, Eduard Smelʼter, gilt mein Dank für all die Hilfe im Alltag, die Einladungen zu Familienfesten, die ein oder andere Flasche Selbstgebranntem bei einem kalten Stück Kaninchen und für die anregenden Gespräche in großer und kleiner Runde. Dieser Dank geht natürlich an meine Freunde am Ural. Anna Dozmorova hat mich in Perm bei sich aufgenommen und mir gemeinsam mit Anton Ripatti, Semjen Djagelec, Alina und Petja Stabrovskij die Augen für meine Untersuchungsregion geöffnet. Yan Mazitov begleitete mich als Kollege der Higher School of Economics (HSE) Permʼ und als Freund durch die Widrigkeiten des Forschungsalltages. Mit ihm machten selbst die längsten Behördenausflüge noch Spaß. An dieser Stelle sei auch dem Lehrstuhl für Humanwissenschaften und Geschichte der HSE Perm für seine großartige Unterstützung gedankt. Insbesondere Andrej Borisov, der damalige Inhaber des Lehrstuhls, hieß mich im Kreise der Historiker der HSE Willkommen. Sein fachlicher Rat und seine

Vorwort

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väterlich-fürsorgliche Art haben mir die Arbeit im Permer Staatsarchiv wesentlich erleichtert. Hier traf ich auch, entgegen allen Vorurteilen über Russische Provinzarchive, auf eine Menge Geduld für neugierige deutsche Historiker mit brüchigem Russisch. Von der Wachmannschaft bis zur Lesesaalaufsicht begegneten mir alle mit Verständnis, fachlicher Neugier und Fürsorge bei meinen Expeditionen in die Geschichte ihrer Heimatregion. Allen voran Abram Isaakovič Frejman verdanke ich meine ersten Erfolgserlebnisse im Archiv. Nicht zuletzt seine Studienjahre in Konstanz haben mir durch einige verworrene Situationen in der Permer Archivverwaltung geholfen. Meine Familie und meine Freunde haben an diesem Buch einen enormen Anteil, der über eine so lange Zeit nur schwer zu bemessen ist. Die Geduld, die offenen Ohren und die Zeit, die mir entgegengebracht wurden, reichen nicht nur für zwei weitere Bücher, sondern auch weit vor die Dissertation zurück. Mein Bruder Markus war es, der mich zur Geschichte Osteuropas geführt hatte. Seinetwegen wollte ich überhaupt promovieren. Mein Bruder Felix und seine Frau Katja haben selbst im letzten Augenblick noch Zeit und Nerven für Korrekturen in meinem Manuskript aufgebracht. Mein Vater, Frank Rebitschek, ermutigte mich beim Schreiben und stand mir mit seiner Erfahrung als Autor zur Seite. Ebenso wichtig waren die Pausen, der Zuspruch und die Ablenkungen, für die ich vor allem meinen Schwiegereltern und der ganzen Familie Gruber dankbar bin. Ohne die körperliche Arbeit in den vogtländischen Wäldern hätte dieses Buch nicht entstehen können. Ohne meinen besten Freund, Robert Schwarm, und seine Unterstützung hätte ich nicht die Ausdauer und kaum Freude daran gehabt, es zu schreiben. Meine Frau Daniela hat die Entstehung dieses Buches mit großer Anteilnahme begleitet und mir in jedem Moment zur Seite gestanden. Sie war immer die erste Leserin, meine Unterstützerin und eine wichtige Kritikerin. Ihr gilt mein Dank aus tiefstem Herzen. Meine Mutter war es, die mir und meinen Brüdern die wichtigsten Wege geebnet und, neben vielen anderen Dingen, die Freude am Schreiben mitgegeben hat. Ihr ist dieses Buch gewidmet. Jena, August 2017

1. EI N L EI T U NG

Lange vor der Öffnung sowjetischer Archive bewegte der stalinistische Terror die westliche Öffentlichkeit. Mit Spannung verfolgten Journalisten, Politiker und Intellektuelle zwischen 1936 und 1938 die sogenannten „Moskauer Prozesse“. Im Oktobersaal des Moskauer Gewerkschaftshauses hielt das sowjetische Regime Gericht über ehemalige Weggefährten Stalins, über kommunistische Intellektuelle und frühere Regierungsmitglieder. Sie alle wurden der Verschwörung gegen die Sowjetunion bezichtigt. Ihre Geständnisse waren unter Folter entstanden und ihre Auftritte vor Gericht einstudiert. Die Urteilssprüche standen vor Prozessbeginn fest. Die sowjetische Justiz lieferte ihrem Publikum kein juristisches Verfahren, sondern ein Propagandaspektakel. Der Gerichtssaal wurde zur Bühne, auf der die Errungenschaften der Sowjetunion gefeiert und die Niedertracht ihrer Feinde entlarvt werden sollten.1 Das sowjetische Regime entledigte sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit der letzten Überreste einer potenziellen innerparteilichen Opposition. Die Schauprozesse wurden so zum Inbegriff des stalinistischen Terrors.2 Ein strukturelles Wesensmerkmal des Terrors war die Willkür. Stalin selbst verfügte als Chef des Kremls über die „geölten Instrumente“ der Justiz und der Geheimpolizei und pflegte die Willkür als wichtigen Baustein seiner Autorität.3 Zugleich beanspruchte die Partei ihre Autorität im Namen der Arbeiterklasse und 1 Vgl. Schlögel, Karl: Terror und Traum. Moskau 1937. Köln 2008, S. 174–188; Dietzsch, Steffen: Zur Genealogie des Schreckens. Moskau 1936–1938, in: Wladislaw Hedeler/Ders. (Hg.), Chronik der Moskauer Schauprozesse 1936, 1937 und 1938: Planung, Inszenierung und Wirkung. Berlin 2003, S. VII–XXVI. Einer der bekanntesten und kontrovers diskutierten Augenzeugen des zweiten Prozesses im Januar 1937 war Lion Feuchtwanger, der mit Ehrfurcht und Begeisterung über die sowjetische Justiz-Maschinerie berichtete. „Richter, Staatsanwalt und Angeklagter schienen nicht nur, sie waren durch einen gemeinsamen Zweck verbunden. Sie waren wie Ingenieure, die eine neuartige, komplizierte Maschine auszuprobieren hatten […] Was alle zusammenhält, ist das Interesse an der Maschine, die Liebe zu ihr.“ Feuchtwanger, Lion: Moskau 1937. Ein Reisebericht für meine Freunde. Berlin 1993, S. 99; zur Inszenierung und Wirkung auf Feuchtwanger vgl. Sabrow, Martin: Feuchtwangers Geheimnis. „Moskau 1937“ als Spiegel des kommunistischen Konsenskults, in: ZeitRäume: Potsdamer Almanach des Zentrums für Zeithistorische Forschung (2009), S. 143–158. 2 Vgl. Conquest, Robert: Am Anfang starb Genosse Kirow. Säuberungen unter Stalin. Düsseldorf 1970, S. 653. Conquest bezeichnete den „auf Geständnisse gestützten Prozeß“ als „charakteristischsten (oder zumindest auffallendsten) Zug“ des Terrors. Ebd. 3 Vgl. Service, Robert: Stalin. A Biography. Cambridge (MA) 2004, S. 599–601; Suny, Ronald Grigor: Stalin and his Stalinism: Power and Authority in the Soviet Union, 1930–1953, in: David L. Hoffmann (Hg.), Stalinism. The Essential Readings. Oxford u. a. 2003, S. 32–34.

Einleitung

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kultivierte ihr Selbstverständnis einer übergesetzlichen historischen Macht. Von der Parteispitze des Politbüros bis in die Stadtkomitees verzweigte sich ein Netz aus Funktionsträgern, die dieses Prinzip in Privilegien und Einfluss ummünzten.4 Der Parteiapparat war somit eine große Quelle arbiträrer Herrschaftsausübung in der stalinistischen Sowjetunion.5 Die andere Quelle war das Innenministerium. Mit der Geheimpolizei und der Miliz, aber auch ihren Truppenabteilungen und der Lagerhauptverwaltung (GULag) verfügte das Volkskommissariat für Inneres (NKVD)6 ab 1934 über enorme Ressourcen, um soziale und politische Ordnungsvisionen in die Tat umzusetzen. Diese „administrativen Massensäuberungen“ qualifizierten das Innenministerium zum eigentlichen exekutiven Arm staatlicher Willkür im Stalinismus.7 Willkür war also ein struktureller Bestandteil der stalinistischen Herrschaftsausübung. Die Schauprozesse gaben dieser Struktur eine juristische Fassade und dienten als zusätzliches Werkzeug zur ostentativen Vernichtung politischer Gegner. Die Kombination aus Justizinszenierungen und institutioneller Willkür prägte letztlich auch die westliche Vorstellung vom Stalinismus. Sie bildete jedoch nur eine Seite der Herrschaftspraxis im Stalinismus ab. Ebenjene Behörde, die durch den Chefankläger Andrej Vyšinskij8 erst in den Schauprozessen zu internationaler Bekanntheit gelangte, prägte noch eine andere, regelhafte Seite stalinistischer Herrschaft: die Staatsanwaltschaft.

4 Der sowjetische Parteiapparat spannte sich ausgehend vom Politbüro an der Spitze des zentralen Leitungsgremiums, des Zentralkomitees (ZK) in Moskau als gewaltiges Netz über die regionalen Parteikomitees (ObKom) bis hin zu den Bezirks- (RajKom) und Stadtkomitees (GorKom). Vgl. Torke, Hans-Joachim (Hg.): Historisches Lexikon der Sowjetunion. 1917/1922 bis 1991. München 1993, S. 379. 5 Fitzpatrick, Sheila: Everyday Stalinism. Ordinary Life in Extraordinary Times: Soviet Russia in the 1930s. New York/Oxford 1999, S. 38 f.; 218 f. 6 Narodnyj kommissariat vnutrennych del. Im Folgenden werden die Begriffe „Volkskommissariat (später: Ministerium) für Inneres“ und „Innenministerium“ synonym gebraucht. Die „Geheimpolizei“ bezeichnet in diesem Zusammenhang den Apparat der politischen Polizei, der einen Großteil der Behördenstruktur des Innenministeriums ausmachte. 7 Vgl. Hagenloh, Paul: Stalin’s Police. Public Order and Mass Repression in the USSR, 1926–1941. Washington, D.C./Baltimore 2009, S. 330; Shearer, David: Policing Stalin’s Socialism. Repression and Social Order in the Soviet Union, 1924–1953. Yale/New Haven/London 2010, S. 1–18. 8 Vgl. Schlögel, Terror und Traum, S. 105–110; Baberowski, Jörg: Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus. München 2003, S. 150. Es gibt keine wissenschaftliche Biographie über Andrej Januarʼevič Vyšinskij, doch Arkadi Vaksbergs Buch vermittelt zumindest einen Eindruck, welche Medienpräsenz der Staatsanwalt zu jener Zeit hatte. Vgl. Vaksberg, Arkadi: Gnadenlos. Andrei Wyschinski. Mörder im Dienste Stalins. London 1990, S. 208 f.

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Einleitung

1.1 P r oble m - u nd Fr a ge s t el lu ng Weniger als fünf Prozent aller Gerichtsurteile, die 1937 in der Sowjetunion durch konventionelle Gerichte gesprochen wurden, betrafen Strafsachen gegen sogenannte „Konterrevolutionäre“, sprich: Anklagen nach Paragraph 58. Dieser Anteil sank im Laufe der Jahre kontinuierlich ab. 1953 machten diese Fälle nicht einmal ein halbes Prozent aller Gerichtsverfahren aus.9 Nur ein Bruchteil der Angeklagten im Stalinismus trug das Etikett „konterrevolutionär“ oder anders ausgedrückt: die Mehrheit der Fälle, die ein Staatsanwalt zu Stalins Lebzeiten vor Gericht bestritt, hatte keine explizit politische Konnotation. Den Kampf gegen die „Konterrevolution“ führten seit Bürgerkriegszeiten die Sondertribunale und Exekutivgremien der Geheimpolizei.10 Der stalinistische Staatsanwalt verfolgte und klagte in erster Linie nicht-politische Vergehen an. Selbst unter Berücksichtigung der Verhaftungswellen durch die Geheimpolizei war die Mehrheit aller Häftlinge in der Geschichte des sowjetischen Zwangsarbeitersystems (Gulag) dort infolge eines Urteils, das ein Staatsanwalt als Vertreter der Anklage in einem konventionellen Gerichtsverfahren erwirkt hatte.11 Die Staatsanwaltschaft beeinträchtigte auf diese Weise mehr Menschen in ihrer physischen Freiheit als die Geheimpolizei. Der sowjetische Staatsanwalt hatte noch eine zweite Funktion. Er war gemäß der Verfassung verpflichtet, alle Staatsbehörden und Amtspersonen, jedes Gesetz und jeden Erlass zu beaufsichtigen. Diese „staatsanwaltschaftliche Aufsicht“ (prokurorskij   9 Diese Arbeit verwendet die Begriffe ‚konventionelles‘ Gericht bzw. auch Territorialgericht für die Gerichtsorgane der sogenannten „allgemeinen Gerichtsbarkeit“ in Abgrenzung von den Militärgerichten, die unter dem Einfluss des Innenministeriums (NKVD) standen. Vgl. Zahl der durch Gerichte der allgemeinen Gerichtsbarkeit Verurteilten in den Jahren 1937–1956, in: Jurij N. Afanasʼev/Nicolas Werth (Hg.), Istorija stalinskogo gulaga. Konec 1920-ch-pervaja polovina 1950-ch godov. Tom 1. Massovye repressii v SSSR. Moskva 2004, S. 632. Der Artikel 58 fasste im sowjetischen Strafgesetzbuch alle Vergehen zusammen, die als politischer Akt gegen die Autorität des Staates gerichtet waren. Unter diesem Artikel Verurteilte wurden von den Gerichtsbehörden und dem Innenministerium als „Konterrevolutionäre“ verzeichnet. Vgl. Hostettler, John: Law and Terror in Stalin’s Russia. Chichester (U.K.) 2003, S. 83–88. Außerdem werden die Begriffe „Paragraph“ und „Artikel“ in Bezug auf Verfassung, Prozessordnung und Strafgesetzbuch synonymisch verwendet 10 Zwischen 1921 und 1954 verurteilten die Kollegien, Trojki und die „Sonderberatung“ (OSO) der Geheimpolizei bzw. des Innenministeriums ca. 2,9 Millionen Menschen als „Konterrevolutionäre“. Der geringere Teil (877.000) wurde durch Militärtribunale, konventionelle Gerichte und das Sonderbzw. Militärkollegium des Obersten Gerichts verurteilt. Brief von Rudenko, Kruglov und Goršenin an N. Chruščev, 1.2.1954, in: Nikita Petrov/A. I. Kokurin (Hg.), GULAG (glavnoe upravlenie lagerej). 1917–1960 Rossija XX Vek. Dokumenty. Moskva 2000, S. 147–148. 11 Diese Arbeit verwendet beide bekannten Schreibweisen dieses Akronyms. „GULag“ bezieht sich auf die eigentliche „Hauptverwaltung der Lager“ und damit den Verwaltungskomplex. „Gulag“ bezeichnet die allgemeine Lagerwelt, die unter Kontrolle dieser Verwaltung stand. Auskunft des MVD über die Zahl der Inhaftierten zwischen 1921 und 1953, 11.12.1953, in: Petrov/Kokurin, GULAG. 1917–1960, S. 434.

Vorgehensweise

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nadzor) berief den Staatsanwalt zur Instanz staatlicher Selbstkontrolle. Jede Amtshandlung in der Sowjetunion – unabhängig ob durch die Kolchosverwaltung oder die Geheimpolizei – oblag seiner Prüfung auf Konflikte mit dem sowjetischen Gesetzestext.12 Der prokuror griff folglich nicht nur in Millionen von Menschenleben ein, sondern auch, so der offizielle Anspruch, in jede Routine staatlichen Handelns. Jede staatliche und jede individuelle Aktivität, die gültiges Recht verletzten, forderten die Autorität des Staatsanwaltes heraus. Er wurde dazu bestimmt, willkürliches Handeln in der Sowjetunion zu bekämpfen – als Ankläger in nicht-politischen Verfahren und als Aufsichtsinstanz über alle staatlichen Institutionen. Vor dem Hintergrund der Massenoperationen und der Schauprozesse ergeben die eben aufgeführten Funktionen einen Kontrast, der Anlass für dieses Buch ist, zu fragen: Welche Rolle spielte der Staatsanwalt in dieser Diktatur? Wie interagierten die Staatsanwälte mit der Partei, dem Innenministerium und anderen Regierungsorganen? Welche Bedeutung hatte diese Behörde, aufgrund ihrer Doppelfunktion aus Strafverfolgung und Aufsicht, für die stalinistische Herrschaftspraxis?

1. 2 Vo r ge he n s we i s e Um diese Leitfragen zu beantworten, muss man zunächst vom Begriff der Herrschaft ausgehen. Max Weber zufolge bedeutet Herrschaft die „Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“.13 Weber legt den Akzent auf das Befehlsmäßige und schließt vorauseilenden Gehorsam durch Konformität und Gruppenzwang aus. Herrschaft bedeute entsprechend, „für einen Befehl Fügsamkeit zu finden“.14 Dieser Satz ist nur der Ausgangspunkt für seine Herrschaftssoziologie, die den Blick auf die Quellen und Typen herrschaftlicher Legitimität richtet und unter anderem die „Zwangsmittel“ zu ihrer Sicherung und deren institutionelle Fassung behandelt.15 Diese Arbeit konzentriert sich ausschließlich auf ebenjene (staatlichen) Mittel, um Gehorsam abzusichern. Inwiefern diese „Übermächtigung“ durch institutionalisierte Formen als „rechtmäßig anerkannt“

12 Stalin, Iosif: Über den Entwurf der Verfassung der UdSSR. Moskau 1945, S. 88–89; Morgan, Glenn G.: Soviet Administrative Legality. The Role of the Attorney General’s Office. Stanford 1962, S. 1–6. Morgan zufolge existiert(e) ein ähnliches Prinzip (wenn auch in abgewandelter Form) in Schweden, Dänemark und Finnland. 13 Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. 5. revidierte Auflage. Tübingen 1980, S. 28. 14 Ebd. 15 Lindenberger, Thomas: Diktatur der Grenzen. Zur Einleitung, in: Ders. (Hg.), Herrschaft und EigenSinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR. Köln/Weimar/Wien 1999, S. 22.

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wurde, spielt dabei keine Rolle.16 Das Ziel dieser Ausführungen ist es nicht, die stalinistische Herrschaft zu typologisieren. Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen steht die Herrschaftspraxis im Sinne des staatlichen Bemühens Gehorsamkeit zu finden. Anders ausgedrückt: Dieses Buch handelt von den Akteuren des Zwangs. Ein solcher Zugang wirkt vor dem Hintergrund der aktuellen Debatten um „Herrschaft als soziale Praxis“ zunächst rückwärtsgewandt. Thomas Lindenberger und Alf Lüdtke haben veranschaulicht, dass sich Herrschaft in der Interaktion und der „wechselseitigen Abhängigkeit der Herrschenden und Beherrschten“ ausdrückt, die über das Befehlen und Gehorchen hinausgeht. Herrschaftspraxis, kulturwissenschaftlich verstanden, schließt also eine Vielzahl von Handlungsmustern und Kräfteverhältnissen zwischen den Akteuren ein.17 Dadurch ist das Interesse an den Strukturen und Akteuren „staatlich-repressiver Machtentfaltung“ jedoch nicht weniger legitim.18 Diese Arbeit behandelt die Staatsanwaltschaft als Herrschaftsinstrument im klassischen Sinne und veranschaulicht dadurch den Kontrast zu den anderen Akteuren des Zwangs (Geheimpolizei, Miliz) und thematisiert deren Interaktion. Die Tätigkeiten der Staatsanwaltschaft und ihr Selbstverständnis, so die Annahme, prägten in Interaktion mit dem Innenministerium die Herrschaftspraxis. Es war allerdings das Bezugssystem der Staatsanwälte, das Recht, das hier zu einer wichtigen Unterscheidung führt und das Handlungsprofil der Staatsanwaltschaft als Herrschaftsinstrument auszeichnet. Recht wird an diesem Punkt als die Durchsetzung und Aufrechterhaltung eines Normengerüstes für staatliches und individuelles Handeln begriffen. Die Durchsetzung dieser Normen war in die Doppelfunktion des Staatsanwaltes eingeschrieben. Der sowjetische Staatsanwalt diente einerseits der Sicherung von Gehorsam auf der Grundlage von Regeln (Strafjustiz), andererseits diente er dazu, die Tätigkeiten anderer staatlicher Akteure ebenfalls an diese Grundlage zu binden (Aufsicht). Diese Arbeit beleuchtet die Geschichte der Staatsanwaltschaft als Herrschaftsinstrument, indem sie klärt, wie und wann sie Regeln gegenüber der Bevölkerung und anderen staatlichen Akteuren durchsetzte. Zur Beschreibung und Einordnung dieses Handlungsprofils greift sie dabei auf einen Begriff zurück, der einst von Michel Foucault in den Diskurs über Macht und Herrschaftspraktiken eingeführt wurde: die „Disziplin“.

16 Lüdtke, Alf: Einleitung: Herrschaft als soziale Praxis, in: Ders. (Hg.), Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien. Göttingen 1991, S. 9. 17 „Herrschaft als soziale Praxis – die Formulierung verweist auf ein ‚Kräftefeld‘, in dem Akteure in Beziehung treten und stehen, in dem sie miteinander umgehen, auch wenn sie einander ausweichen oder sich zu ignorieren suchen“. Ebd., S. 12. 18 Lindenberger, Diktatur der Grenzen, S. 22.

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Der französische Philosoph betrachtete die „moderne Macht“ als ein organisches Zusammenspiel von Kräfteverhältnissen, in dem jeder Akteur und jedes Individuum diese Verhältnisse internalisiert hat und mit trägt. Macht war demzufolge keine dichotomische Frage von Herrschern und Beherrschten mehr, sondern vielmehr ein Beziehungsphänomen, das über das strukturierte und konforme Verhalten Einzelner realisiert wurde.19 Die Voraussetzung für ein solches Verhalten schufen die „Disziplinen“. Foucault bezeichnete damit die Modalitäten, mit denen Macht alltäglich ausgeübt wurde. Das Einführen von Uniformen und Verhaltensnormen in der Armee Friedrichs des Großen gilt als anschauliches Beispiel für Militärdisziplin.20 Allen Disziplinen gemein war das Ziel, individuelle Verhaltensweisen durch Überwachung, normierende Sanktion und Prüfung eben strukturiert und konform zu halten. Disziplinieren bedeutete regulieren und schematisieren und auf diese Weise Vorhersehbarkeit in den Handlungen aller Akteure herzustellen. Foucaults Betrachtungen zur Disziplin waren vor allem auf die Rolle des Individuums im gesellschaftlichen Zusammenhang gerichtet. Ihm zufolge war ein „modernes Individuum“ eben ein „Disziplinarindividuum“, ein kleines „Rädchen“ im „Räderwerk der panoptischen Maschine“.21 Diese Sichtweise sollte helfen, Macht in seiner lebensweltlichen und gesellschaftlichen Praxis zu begreifen, anstatt nach deren zentralem Ursprungsort zu suchen.22 Ein derart dezentrales Verständnis von Macht führt vom Erkenntnisinteresse dieses Buches weg, die Herrschaftspraktiken einer zentralistischen Diktatur zu beleuchten. Sein Grundverständnis von Disziplin als Durchsetzung konformer, geregelter und strukturierter Verhaltensmuster hilft an diesem Punkt allerdings, die Entwicklung der Herrschaftspraxis in einer Diktatur zu veranschaulichen. Disziplinierung bedeutet demnach zum einen, gesellschaftliche Verhaltensweisen (über Gesetze und deren Durchsetzung) zu regulieren und zu normieren, um Gehorsam abzusichern. Zum anderen bezeichnet Disziplinierung die Praxis der Absicherung selbst, indem staatliche Strukturen eben genauso normiert, strukturiert und damit auch vorhersehbar operieren, weil sie wirksam an die gleichen Regeln gebunden werden. Die Staatsanwaltschaft stand in der Verantwortung, diese Vorhersehbarkeit in Staat und Gesellschaft sicherzustellen. Die Doppelfunktion von Strafverfolgung und „Aufsicht“ machte den Staatsanwalt folglich zur Schlüsselfigur,

19 Foucault wählt zur Veranschaulichung die Beschreibung eines Gefängnisses in der architektonischen Gestalt des Panopticons. Hier sind die Gefangenen „in einer Machtsituation, die sie selber stützen“. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. 15. Aufl. Frankfurt am Main 2015, S. 256–260. 20 Kröger, Hans Herbert: Michel Foucault. Stuttgart/Weimar 1994, S. 92. 21 Foucault, Überwachen und Strafen, S. 279. 22 Kröger, Michel Foucault, S. 94.

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um „Disziplin“ als Grundmodalität von Herrschaft zu realisieren. Er diente der Herrschaftsausübung, indem er Staat und Gesellschaft disziplinierte, sprich: Personen und Institutionen gleichermaßen zur Einhaltung von Regeln veranlasste, und je konsequenter eine Diktatur der Gesellschaft und ihrem eigenen Machtapparat diesen Modus abverlangte, umso mehr disziplinierte sie sich selbst. Der Begriff der Disziplinierung wird hier also im Foucault’schen Sinne gebraucht, um die Durchsetzung von Regeln und regelhaftem Handeln zu benennen. Diese Terminologie wird nicht nur dem beruflichen Profil der Staatsanwälte gerecht. Anders als die Vorstellung der „Selbstbeschränkung“23 suggeriert die Selbstdisziplinierung nicht, dass der sowjetische Staat sich in der Ausübung seiner Herrschaft limitierte, sondern beschreibt, wie diese Ausübung zunehmend regelhaft und regelorientiert erfolgte, indem eben der Staatsanwalt diese Regeln durchzusetzen versuchte. Dies ist, wie noch gezeigt wird, für die Einordnung der Zäsur 1953 von entscheidender Bedeutung. Welches Gewicht diese Regeln und welche Verbindlichkeit sie im Stalinismus hatten, sprich: mit welchem Rechtsbegriff die sowjetische Staatsanwaltschaft operierte, wird im zweiten Kapitel genauer beleuchtet. Ein Überblick über die Evolution des revolutionären und später sowjetischen Rechtsbegriffs seit 1917 soll klären, welche Bedeutung die Bolʼševiki fixierten Normen und ihrer Durchsetzung beimaßen. Welches politische Gewicht hatte die Verbindlichkeit von Recht für die sowjetischen Machthaber und welche Funktion erfüllte der Staatsanwalt vor diesem Hintergrund? Dadurch soll deutlich werden, welchen ideologischen Wert das Regelsystem hatte, mit dem die Staatsanwaltschaft ab den 1930er-Jahren operierte, welche Aufgaben von ihr erwartet wurden und wie ihre Interaktion mit anderen Behörden antizipiert wurde. Auf dieser Grundlage verfolgt die Arbeit in chronologischer Folge die Entwicklung der sowjetischen Staatsanwaltschaft. Der Begriff „Staatsanwalt“ bezeichnet dabei, falls nicht explizit erwähnt, ausschließlich Angehörige der sogenannten „Territorialstaatsanwaltschaft“. Militär- und Lagerstaatsanwälte waren genauso wie Wasserwegs- und Eisenbahnstaatsanwälte einer anderen Befehlskette zuzuordnen bzw. operierten im Rahmen der Militärgerichtsbarkeit.24 Der Fokus liegt auf den Tätigkeiten des Territorialstaatsanwalts in seiner Funktion als Ermittler bzw. Ermittlungsleiter und Ankläger in nicht-politischen Verfahren sowie auf ausgewählten Bereichen seiner Aufsichtstätigkeit.

23 Plaggenborg, Stefan: Sowjetische Geschichte nach Stalin, in: APuZ 1–2 (2005), S. 30. 24 Kucherov, Samuel: The Organs of Soviet Administration of Justice. Their History and Operation. Leiden 1970, S. 96–100; 125–126; Butler, William E.: Soviet Law. London 1988, S. 115–116. Inkraftsetzung des Statuts über Militärtribunale und Militärstaatsanwälte, 20.8.1926, in: V. P. Uskov (Hg.), Istorijia sovetskoj prokuratury v važnejšich dokumentach. Moskva 1947, S 347–354.

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Jedes Kapitel wird als eigenständiger Epochenabschnitt (nach der klassischen Periodisierung) behandelt. Damit soll einerseits veranschaulicht werden, wie sich die Rolle der Staatsanwaltschaft über diese Phasen hinweg entwickelte. Andererseits zeigt jedes Kapitel, welchen Anteil die sowjetische Staatsanwaltschaft am spezifischen Charakter dieser Epochen hatte, sprich: wie sich die Geschichte dieser Behörde in die Periodisierung in Kriegs-, und Nachkriegszeit und Entstalinisierung einfügt. In jedem dieser Kapitel werden zum einen ständige Aufgabenbereiche der Staatsanwaltschaft beleuchtet, deren Entwicklung die Arbeit von Kapitel zu Kapitel verfolgt. Dies betrifft die Aufsicht über die Miliz, die als eigenständige Ermittlungsbehörde dem Innenministerium unterstellt war. Ein weiterer Aufgabenbereich war die Aufsicht über die Haftverbüßungsorte, die ebenfalls unter der Kontrolle des Innenministeriums standen. Dabei stehen vor allem die Inspektionspflichten der Staatsanwaltschaft im Gulag und dem Gefängnissystem im Vordergrund.25 Die Arbeit kann nicht die gesamte nicht-politische Strafverfolgung abdecken und konzentriert sich daher auf die Verfolgung von Jugendkriminalität, die ebenfalls als eigenständiger Arbeitsbereich für die Staatsanwaltschaft etabliert wurde. In einem Regime, das Kriminalität als Produkt des Klassenunterschiedes und einer überkommenen Gesellschaftsordnung betrachtete, stellten straffällige Kinder und Jugendliche eine zusätzliche politische und strafrechtliche Herausforderung dar, deren Bewältigung gleichermaßen in den Händen der Staatsanwaltschaft und des Innenministeriums lag. Zum anderen beleuchtet jedes Kapitel Aufgabenbereiche der Staatsanwaltschaft, die in der jeweiligen Epoche akut waren oder besonders stark in jener Zeit in den Quellen zum Ausdruck kamen. Dies betrifft zum Beispiel die Bekämpfung von sogenannten „Arbeitsdeserteuren“ während des Zweiten Weltkrieges“, aber auch die Kampagnen gegen Korruption und gegen Eigentumsvergehen nach Kriegsende.26 Ziel dieses Kapitelaufbaus ist es, die berufliche Praxis der Staatsanwälte und ihre Interaktion mit anderen Behörden in einer größtmöglichen Breite zu beleuchten, um ihr Profil als Herrschaftsinstrument zu schärfen: im Kontakt mit der Miliz, der Geheimpolizei, der Partei, den Gerichten oder anderen Regierungsbehörden. Wie setzten die Beamten die ihnen zugeschriebenen Funktionen um? Welche Ambitionen verbanden Staatsanwälte mit ihrem beruflichen Profil und welche Konflikte ergaben sich für die Beamten bei dem Versuch, Regeln gegenüber anderen Akteuren und 25 Das System der sogenannten „Sondersiedlungen“ war der GULag unterstellt, fiel aber nur eingeschränkt unter die Aufsichtspflicht der Staatsanwaltschaft und wird aus Mangel an Quellenmaterial nicht im Rahmen der Haftaufsicht behandelt. Vgl. dazu Viola, Lynne: The Unknown Gulag. The Lost World of Stalin’s Special Settlements. New York 2007. 26 Heinzen, James: A „Campaign Spasm“. Graft and the Limits of the „Campaign“ Against Bribery after the Great Patriotic War, in: Juliane Fürst (Hg.), Late Stalinist Russia. Society between Reconstruction and Reinvention. London/New York 2006, S. 123–141; Solomon, Peter H. Jr.: Soviet Criminal Justice under Stalin. Cambridge (U.K.)/New York 1996, S. 210.

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in deren Handlungsmustern durchzusetzen? Wo stießen die Beamten der Staatsanwaltschaft an Grenzen und wie groß waren ihre Handlungsspielräume? Trotz der Periodisierung entlang klassischer Epochengrenzen (Krieg, Nachkriegszeit und Entstalinisierung) setzt sich der Untersuchungszeitraum vom üblichen Schema zur Behandlung des Stalinismus (1929 bis 1953) ab. Die Arbeit setzt erst am Ende des sogenannten „Großen Terrors“27 an, als die Herrschaftspraxis durch Stalin und den engsten Führungszirkel neu bewertet wurde. Der sukzessive Stopp der Massenoperationen ab Herbst 1938 war Teil eines politischen Kurswechsels und legalistischen Intermezzos in dessen Verlauf das Verhältnis zwischen Staatsanwaltschaft und Innenministerium, also das Verhältnis von Regelhaftigkeit und Willkür stalinistischer Herrschaft, neu bestimmt wurde. Das entsprechende dritte Kapitel bildet somit einen Sonderfall, da es nur diesen Kurswechsel und die Auseinandersetzung der Staatsanwaltschaft mit den Folgen der Massenoperationen behandelt. Diesem Vorgehen liegt die Annahme zugrunde, dass diese Auseinandersetzung in den Jahren 1938 bis 1941 das berufliche Selbstverständnis der Staatsanwaltschaft für kommende Jahrzehnte prägte. Erst die darauffolgenden Kapitel widmen sich den oben beschriebenen Arbeitsbereichen der Staatsanwaltschaft, auch mit Blick darauf, welche Langzeitfolgen die Erfahrung des „Großen Terrors“ für die berufliche Praxis der Beamten hatte. Die Arbeit stößt dabei in den Zeitraum nach Stalins Tod vor, einerseits, um den Anteil der Staatsanwaltschaft am Reformprozess selbst zu bestimmen. Andererseits verleiht der Blick auf die Jahre 1953 bis 1956 den nötigen Kontext, um die Staatsanwaltschaft in ihrer Eigenschaft als stalinistisches Herrschaftsinstrument zu bewerten. Welche Kontinuitäten prägten die Rolle der Staatsanwaltschaft in einer Diktatur ohne Stalin? Welche Bedeutung hatte die Epochenzäsur von 1953 für diese Behörde? Eine gesamtsowjetische Betrachtung der Staatsanwaltschaft würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Der Blick ausschließlich auf die Generalstaatsanwaltschaft in Moskau würde wiederum wichtige Aspekte ausblenden. Moskaus Kriminalitätsraten mögen repräsentativen Charakter für sowjetische Großstädte gehabt haben.28 Die infrastrukturelle und personelle Situation im sowjetischen Machtzentrum zeichnet jedoch ein verzerrtes Bild von den Herausforderungen, mit denen staatliche Behörden wie die Staatsanwaltschaft im Rest des Landes konfrontiert waren. Zu diesem Zweck liegt der Fokus dieser Arbeit auf einer Untersuchungsregion: dem heutigen Permʼ (Permskij kraj). 1938 aus der einst größeren Ural-Region hervorgegangen,

27 Der „Große Terror“ bezeichnet vor diesem Hintergrund die zentral koordinierten Massenoperationen des NKVD in den Jahren 1936 bis 1938. Einleitend dazu vgl. Mählert, Ulrich: Vorwort, in: Ders./Hermann Weber (Hg.), Verbrechen im Namen der Idee. Terror im Kommunismus. 1936–1938. Berlin 2007, S. 7–10. 28 Vgl. Shearer, Policing Stalin’s Socialism, S. 74 f.

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trug sie von 1940 bis 1957 den Namen des sowjetischen Regierungschefs: (Vjačeslav) Molotov.29 Am Westural gelegen, zeichnete sich Molotov ebenso durch infrastrukturelle Schwächen wie durch rapides Industriewachstum in kurzer Zeit aus. Darüber hinaus entwickelte sich in ihren Grenzen ein Netz aus Sondersiedlungen und Zwangsarbeitslagern, das ihr den Ruf als soziale Müllhalde der Russischen Sowjetrepublik (RSFSR) einbrachte.30 Die hiesige Regionalstaatsanwaltschaft arbeitete folglich unter den sozialen, wirtschaftlichen und infrastrukturellen Bedingungen, wie sie mehr oder minder typisch für die sowjetische Peripherie waren und die ihre Kapazitäten in der Strafverfolgung und Aufsicht einforderten.31 Der Regionalstaatsanwalt hatte die Befehlsgewalt über seine Abteilungsleiter und zugleich über Beamte der niederen Verwaltungsebenen: die Staatsanwälte der Bezirke (rajony) und Städte (gorody). Diese befehligten wiederum Ermittler (sledovateli), die sie für die Kriminalermittlungen einsetzten und kontrollierten. All diese Beamten bildeten den Apparat der Staatsanwaltschaft von Molotov und werden in dieser Arbeit entsprechend als Teil der regionalen Behörde behandelt. Die vorliegende Arbeit beleuchtet die Ambitionen, die Konflikte und die Handlungsspielräume von Ermittlern, Bezirksstaatsanwälten und ihren Vorgesetzten gleichermaßen, um die Regionalstaatsanwaltschaft als kollektiven bzw. „überindividuellen“ Akteur sichtbar zu machen. Dieser Akteursbegriff schließt eine Mehrzahl von Gruppen, Personen oder auch Organisationen ein, die in ihrem Handeln einer gemeinsamen Zielsetzung verbunden ist und wird gemeinhin auch zur Kennzeichnung von Regierungsstrukturen gebraucht. Entscheidend in diesem Zusammenhang sind die „zusammengesetzt handelnden Einheiten“32 von Ermittlern und Staatsanwälten, die eine gemeinsame handlungsanleitende Zielsetzung verband: das Durchsetzen von Regeln.

29 Vgl. Harris, James H.: The Great Urals. Regionalism and the Evolution of the Soviet System. Ithaca (NY) 1999, S. 191–208. 30 Vgl. dazu Kapitel 4.1. 31 In den letzten zehn Jahren sind zahlreiche Regionalstudien zur Sowjetunion der Stalin-Zeit entstanden, die durch den geographischen Perspektivwechsel neue Einblicke in die Funktionsweise der Diktatur lieferten. Vgl. Holmes, Larry: Grand Theater. Regional Governance in Stalin’s Russia, 1931–1941. Lanham (MD) u.a. 2009; Stuppo, Oxana: Das Feindbild als zentrales Element der Kommunikation. Der Fall Sverdlovsk. 1945–1953. Wiesbaden 2007; Teichmann, Christian: Macht der Unordnung. Stalins Herrschaft in Zentralasien. 1920–1950. Hamburg 2016. 32 Vgl. hierzu die Unterscheidung von individuellen und überindividuellen Akteuren bei Schimank, Uwe: Handeln und Strukturen. Einführung in die akteurtheoretische Soziologie. 5. Aufl. Weinheim/ Basel 2016, S. 45.

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1. 3 Q u el le n u nd For s chu ng s s t a nd Das wichtigste Quellenkorpus besteht in der Aktenüberlieferung der Staatsanwaltschaft selbst. Die Arbeit greift dabei auf die Bestände sowohl der Staatsanwaltschaft Molotov als auch ihrer vorgesetzten Behörden in Moskau zurück: der Unions- und der Republiksstaatsanwaltschaft. Diese Behörde hinterließ der Nachwelt vor allem Bewertungsberichte, die von lokalen, regionalen und Moskauer Stellen angelegt wurden, um jeden quantifizierbaren Aspekt staatsanwaltschaftlicher Aktivitäten auszuleuchten: von der Zahl eingestellter Ermittlungsverfahren über die Anzahl geflohener Lagerhäftlinge bis hin zum prozentualen Anteil verschleppter Gerichtsverfahren gegen Minderjährige. Jede Abteilung in der Staatsanwaltschaft (Milizaufsicht, Haftaufsicht oder Strafgerichtsabteilung) produzierte turnusmäßig Erfolgsbilanzen, die von externen Gutachtern und Revisoren ebenso regelmäßig gegengeprüft werden sollten. Diese Statistikbögen waren ein wichtiger Bestandteil innerbehördlicher Kommunikation – zwischen Moskau und Molotov, aber auch innerhalb der Regionalstaatsanwaltschaft. Neben den Bewertungsberichten greift diese Arbeit auf die inner- und überbehördlichen Korrespondenzen zurück. Darunter fallen Schriftwechsel zwischen den Staatsanwälten in Molotov bzw. ihren Vorgesetzten in Moskau und Behördenvertretern von Miliz, NKVD, GULag, Justizministerium und Gerichten, aber auch der Austausch mit den zuständigen regionalen und lokalen Parteistellen und den Sowjets. In ihnen bildeten sich vor allem Konflikte zwischen den Behörden ab und sie veranschaulichen, inwieweit Vertreter der Staatsanwaltschaft gewillt und fähig waren, ihre Ansprüche vor allem gegenüber dem Innenministerium durchzusetzen. Überdies hielten Staatsanwälte auf jeder Verwaltungsebene regelmäßige Mitarbeiterversammlungen ab, zu denen gelegentlich auch Vertreter anderer Behörden geladen wurden. Die Protokolle dieser Versammlungen geben Einblick in die beruflichen Vorstellungen und das Selbstverständnis der Beamten. Besonders vor dem Hintergrund der Rivalitäten mit der Miliz äußerten sich viele Beamte im eigenen Kreis deutlich offener darüber, wo sie ihre Behörde neben Miliz und Geheimpolizei verorteten. Um sich nicht ausschließlich auf die Binnenperspektive der Staatsanwaltschaft zu stützen, zieht diese Arbeit entsprechende Bestände des Justizministeriums und der Moskauer Milizhauptverwaltung hinzu. Im Vordergrund stehen dabei Korrespondenzen und Versammlungsprotokolle, die das Verhältnis zur Staatsanwaltschaft aus Sicht der jeweils anderen Behörden widerspiegeln. Ähnliches gilt für die Bestände des Ministerrates, des Obersten Sowjets und des Obersten Gerichtes bzw. deren regionale Ableger. Diese Unterlagen helfen, die Fremdwahrnehmung der Staatsanwaltschaft durch ebenjene Behörden nachzuvollziehen, die unter ihrer Aufsichtspflicht standen. Eine entscheidende Rolle spielen die verfügbaren Bestände zur „Administrativen Abteilung“ beim Regionalkomitee der Partei. Sie diente dem

Quellen und Forschungsstand

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Parteiapparat auf allen Ebenen zur Kontrolle von Innenministerium, Gerichten und Staatsanwaltschaft. Die Unterlagen der zuständigen Abteilung in Molotov geben punktuell Aufschluss darüber, wann und wie die regionale Parteiführung in die Belange der Staatsanwaltschaft eingriff, sie unterstützte und Konflikte zwischen den Behörden entschied bzw. moderierte. Obgleich die Bestände der Justizorgane (Gericht, Staatsanwaltschaft und Justizverwaltung) in einem überwältigenden Ausmaß der Forschung zugänglich sind33, musste diese Arbeit auch deutliche Einschränkungen in der Quellenauswahl hinnehmen. Die Prozessprotokolle der konventionellen Gerichte wurden nur sporadisch archiviert bzw. in Molotovs Fall nicht in den öffentlich zugänglichen Archiven untergebracht. Gleiches gilt für die Akten der Militärtribunale und den gesamten Bestand der regionalen Milizverwaltung, den die Miliz der Stadt Permʼ vor einigen Jahren in ihr Archiv überführt hat.34 Selbst das Russische Staatsarchiv (GARF) stellt von den Unterlagen der Hauptverwaltung der sowjetischen Miliz (GUM) nur vereinzelte Erfüllungsberichte und wahllose Versammlungsprotokolle zur Verfügung. Darüber hinaus sind die Bestände der zentralen „Administrativen Abteilung“ des ZK weiterhin gesperrt. Die Aktensammlung war nur stichprobenartig einsehbar. Der Großteil der Dokumente, die die Verbindung zwischen der Parteiführung und den Justizorganen behandeln, ist unter Verschluss im Russischen Archiv für Sozial-Politische Geschichte (RGASPI). Die aktuelle Auslegung der Persönlichkeitsrechte in der Russischen Föderation behindert zudem den Zugang zu den Personalakten der Staatsanwaltschaft.35 Es konnte lediglich auf die Memoiren eines Staatsanwaltes, eine Parteiakte und eine Personalakte der juristischen Fakultät der früheren Universität Molotov zurückgegriffen werden. Die Quellenlage schloss also einen systematischen biographischen Zugang zur Geschichte der Staatsanwaltschaft aus. Die Arbeit greift zugleich auf eine große Auswahl publizierter Quellen zurück. Neben der juristischen Fachliteratur und den klassischen Rechtsquellen (Gesetzestexte und Dekrete) geben vor allem die drei größten Fachzeitschriften Einblick in die kontroversen Themen der sowjetischen Justiz und die beruflichen Leitbilder sowjetischer Juristen. Zu den wichtigsten Zeitschriften zählten dabei die Socialis­ tičeskaja zakonnostʼ, das Sprachrohr der Staatsanwaltschaft, sowie die Sovetskaja justicija und die Sovetskoe gosudarstvo i pravo. Die edierten Quellensammlungen 33 Vgl. dazu Solomon, Peter H. Jr.: Understanding the History of Soviet Criminal Justice: The Contribution of Archives and Other Sources, in: The Russian Review 74 (2015) H. 3, S. 404–412. 34 Das betreffende Archiv der „Glavnoe upravlene vnutrennych del Permskogo Kraja“ (GUVDPK) war zum Zeitpunkt der Recherchen für Historiker unzugänglich. 35 Der einzige Autor, der Zugriff auf die Personalakten der sowjetischen Generalstaatsanwaltschaft hatte, war Aleksandr Zvjagincev, selbst ehemaliger stellvertretender Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation. Vgl. Zvjagincev, Aleksandr G./Orlov, Jurij G.: Prigovorennye vremenem. Rossijskie i Sovetskie Prokurory XX vek. 1937–1953. Moskva 2001, S. 532.

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zur Geschichte des Gulag, des Politbüros und allgemein zur Geschichte der Massengewalt in der Sowjetunion halfen wiederum, entscheidende Dokumentationslücken in der Interaktion von Staatsanwaltschaft und Geheimpolizei zu schließen. Die Forschungen zur sowjetischen Justiz reichen bis in die Anfangszeit des Kalten Krieges zurück, wobei sich Historiker, Juristen und Politologen bis 1991 überwiegend auf den Fundus publizierter Quellen beschränken mussten. Seit den 1950er-Jahren drehten sich die Kontroversen um die Bindekraft sowjetischer Rechtsnormen und die Funktionsweise des Justizapparates vor dem Machtanspruch der Parteiführung. Durch die enge Verflechtung mit der Totalitarismusdebatte polarisierten sich auch hier nach 1956 die Meinungen in der Frage, wie reformfähig das Rechtswesen in der Sowjetunion sein konnte und ob sich die Justizorgane in ihrer Rolle als Erfüllungsgehilfen der Parteiführung weiterentwickeln konnten. Zwar herrschte weitestgehend Einigkeit über den „totalitären“ Charakter des sowjetischen Rechts, sofern der Führungsanspruch der Partei vom Prinzip der Gewaltenteilung nicht betroffen und durch keinerlei rechtliche Einschränkungen gebunden war.36 Doch sehr früh legten sich Autoren im angelsächsischen Raum und in Westdeutschland darauf fest, dass auch eine stalinistische Diktatur auf einen funktionsfähigen Justizapparat angewiesen war. Rechtsnormen und ihre Durchsetzung stifteten sowohl Legitimation als auch Stabilität für die Herrschaftsansprüche Stalins.37 Dieses Spannungsverhältnis von politischer Willkür und einer ordentlichen Gerichtsbarkeit prägte die Grundsatzdebatten über sowjetisches Recht. Die wenigen Arbeiten zur sowjetischen Strafjustiz behandelten, ohne Zugriff auf Archivquellen, allerdings eher strukturelle Veränderungen bzw. konzentrierten sich auf die sukzessive Unterwerfung der Justizbehörden durch den Parteiapparat. Nur eine Handvoll Wissenschaftler hegte bis 1991 dabei ein spezielles Interesse an der sowjetischen Staatsanwaltschaft, wobei auch hier Juristen und Politologen das Feld bestimmten, die sich nur teilweise auf die Geschichte dieser Behörde vor

36 Vgl. dazu Yoram Gorlizkis Überblick über die Positionen der „Skeptiker“ und ihrer Kontrahenten in den Fachdebatten der 1960er- und 1970er-Jahre: Gorlizki, Yoram: De-Stalinization and the Politics of Russian Criminal Justice, 1953–1964. (Unveröffentlich. Diss.) University of Oxford 1992, S. 39–41; „In this era Soviet legal studies to an appreciable degree were a part of the ‚know thine enemy‘ syndrome“. Butler, Soviet Law, S. 3; „The extra-judicial institutions surviving from the period of Stalinism have been abolished. But Soviet Law has a long way to travel yet“. Conquest, Robert: Justice and the Legal System in the USSR. London/Sydney/Toronto 1968, S. 143. 37 „Stalin did not want the Russian people merely to obey; he also wanted them to believe in the rightness of the order which had been established […] the Soviet state was struggling to legalize its position; it was seeking in law a justification of authority“. Berman, Harold J.: Justice in the U.S.S.R. An Interpretation of Soviet Law. Cambridge (MA) 1963, S. 64–65; „Rechtsnihilismus und krasser Rechtspositivismus sind die beiden Extreme, mit denen der Gewaltenvereinigungsstaat das Recht als selbstständige Macht ausschaltet und es sich unterwirft“. Schroeder, Friedrich-Christian: Das Strafrecht der UdSSR. De lege ferenda. Berlin-Zehlendorf (West) 1958, S. 8.

Quellen und Forschungsstand

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1956 bezogen.38 Der Fokus von Autoren wie George Ginsburgs, Gordon Smith und Glenn Morgan ruhte primär auf der Aufsichtsfunktion bzw. der „Allgemeinen Aufsicht“ (obščij nadzor), nicht auf ihrer Funktion vor Gericht. Sie sahen die Staatsanwaltschaft als verlängerten Arm der Parteiführung, der vor allem dazu diente, den Staatsapparat zu zentralisieren und den Verwaltungsapparat zu kontrollieren. Aus Ginsburgs’ Sicht ging dieses Konzept auf und die Staatsanwaltschaft erwies sich, unbeeindruckt vom Regimewechsel nach 1953, als „wertvolle Waffe im Aufbau des Sozialismus“.39 Morgan sah in der Aufsichtsfunktion eher ein zahnloses Bürokratiemonster. Ungebildete, unmotivierte und auch korrupte Beamte hätten, ohne Weisungsbefugnis ausgestattet, nur widerwillig in die Arbeit der Regierungsbehörden eingegriffen.40 Allen Forschungsansätzen war jedoch gemein, dass sie die Staatsanwaltschaft vorrangig als Instrument der Parteiführung begriffen, das das Fehlen an demokratischer Selbstkontrolle (Gewaltenteilung, freie Presse und unabhängige Justiz) kompensieren sollte.41 Erst in den 1980er-Jahren betrachtete Eugene Huskey die Justizbehörden als separate Akteure und Träger eines spezifisch sowjetischen Rechtsverständnisses. Insbesondere die Staatsanwaltschaft habe sich unter Vyšinskij zunehmend als Alternative zum Innenministerium im Umgang mit Kriminalität und Andersartigkeit begriffen.42 Viele von Huskeys Überlegungen liegen dieser Arbeit zugrunde. Bereits 1986 hielt er in seiner Studie über die sowjetische Anwaltskammer fest, dass das sowjetische Regime mit der Justiz und dem NKVD über konkurrierende Behörden und entsprechende Strategien verfügte, Zwang und soziale Kontrolle auszuüben.43 Die Auflösung der Spannung zwischen Willkür und Gerichtsbarkeit im Stalinismus lag demzufolge nicht in der simplen Unterordnung einer Strategie unter die andere, sondern darin, dass es Behörden gab, die diese Gegensätze repräsentierten und die

38 Vgl. zum Beispiel Smith, Gordon B.: The Soviet Procuracy and the Supervision of Administration. Alphen aan den Rijn 1978. 39 Ginsburgs, George: The Soviet Procuracy and Forty Years of Socialist Legality, in: The American Slavic and East European Review 18 (1959) H. 1, S. 60. 40 Vgl. Morgan, Soviet Administrative Legality, S. 248. 41 „And while a constitutional regime seeks to achieve this [the observance of law, I. R.] through an independent judiciary and the combination of public opinion, free press and free elections, the Soviet rulers are relying, as did the emperors, upon a highly centralized bureaucratic machinery“. Gsovski, Vladimir: The Soviet Union, in: Ders./Kazimierz Grzybowski (Hg.), Government, Law and Courts in the Soviet Union and Eastern Europe. Volume 1. London 1959, S. 557. 42 Vgl. Huskey, Eugene: Vyshinskii, Krylenko, and the Shaping of the Soviet Legal Order, in: Slavic Review 46 (1987) H. 3–4, S. 414–428. Vgl. auch Kapitel 3.1. 43 „The issue, therefore, was not the law being used as a facade to the terror but the legal system being used alongside, and ultimately in place of, the terror as a mechanism of repression and social control“. Huskey, Eugene: Russian Lawyers and the Soviet State. The Origins and Development of the Soviet Bar, 1917–1939. Princeton (NJ) 1986, S. 8.

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von der Parteiführung gleichermaßen eingesetzt werden konnten. Ohne Archivquellen konnte Huskey allerdings nur festhalten, dass der „Kampf zwischen den beiden Methoden“ zu Stalins Lebzeiten ergebnislos geblieben sei.44 Peter H. Solomon veröffentlichte die erste umfassende aktengestützte Arbeit und damit das Standardwerk zur Geschichte der Strafjustiz unter Stalin.45 Dieses Buch schilderte nicht nur, wie Stalin persönlich den Justizapparat für politische Zwecke erfolgreich instrumentalisierte. Solomon lenkte den Blick auch auf die Mechanismen dieser Unterwerfung (auf Moskauer und lokaler Ebene), auf die Abhängigkeiten vom Parteiapparat, aber auch auf die Eigeninitiativen und Widerstände von Justizbeamten. Die vorliegende Arbeit und zahlreiche andere Studien zehren von den Erkenntnissen, die Solomon über die Funktionsweise des Justizapparates zusammengetragen hat. Der Staatsanwalt tritt bei ihm aber als ein Akteur unter vielen in diesem Apparat in Erscheinung. Seine Interaktion mit dem Innenministerium und der Miliz bleibt dabei außen vor, so wie auch die Entwicklungen nach Stalins Tod nur angedeutet werden. Yoram Gorlizki führte den Weg Solomons in gewisser Weise fort und richtete den Blick auf die Strafjustiz in der Chruščev-Zeit.46 Er legte diese Schlüsselrolle der Justizorgane, insbesondere der Staatsanwaltschaft, für den Reformprozess offen und veranschaulichte ihren Wert für die Parteiführung als Instrument geordneter „Repression“ – eine Entwicklung, die bereits in der Nachkriegszeit eingeläutet worden sei.47 In den letzten 25 Jahren steuerte auch die Rechtsgeschichte einige Beiträge zur Strukturgeschichte der sowjetischen Strafjustiz bei. Insbesondere russische Wissenschaftler nutzten die Archivbestände, um die Rolle der Staatsanwaltschaft bei der Kriminalitätsbekämpfung und die Geschichte der Kriminalität in der Sowjetunion zu beleuchten. In zahlreichen Lokalstudien lenkten sie den Blick auf die Reibungen zwischen Staatsanwälten und Milizionären und die Geschichte der sowjetischen Unterwelt.48 Das Justizsystem wurde dabei eher vernachlässigt. Aleksandr 44 Ebd. 45 Vgl. Solomon, Soviet Criminal Justice under Stalin. 46 Vgl. Gorlizki, De-Stalinization and the Politics. 47 „By contrast, here it is suggested that, as Stalin’s dictatorship wore on, the main institutional channel of repression was neither the military nor the secret police, but the ordinary criminal justice system.“ Gorlizki, Yoram: Theft under Stalin. A Property Rights Analysis, in: Economic History Review 69 (2016) H. 1, S. 292. Vgl. außerdem Juliette Cadiots Studie über Strafverfahren gegen Parteimitglieder nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Cadiot, Juliette: Equal before the Law? Soviet Justice, Criminal Proceedings against Communist Party Members, and the Legal Landscape in the USSR from 1945 to 1953, in: JGO 61 (2013) H. 2, S. 249–269. 48 Vgl. Dynʼko, Aleksej P.: Juridičeskaja otvetstvennostʼ nesoveršennoletnich i dejatelʼnostʼ detskich penitenciarnych učreždenij po ee realizacii v sovetskoj gosudarstve poslevoennogo vremeni (1945– 1956 gg.). Krasnodar 2012; Širokova, Alena A.: Organizacionno-pravovye osnovy dejatelʼnosti Sovetskoj prokuratury v gody Velikoj Otečestvennoj Vojny. 1941–1945 gg. Moskva 2010; Šabalina,

Quellen und Forschungsstand

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Zvjagincev, selbst ehemaliger stellvertretender Staatsanwalt der Russischen Föderation, verwendete seine persönlichen Ressourcen und seine Autorität darauf, das Andenken der sowjetischen Staatsanwaltschaft als effektiven Arm eines starken sowjetischen Rechtssystems zu kreieren, der spätestens mit dem Amtsantritt Roman Rudenkos 1953 nicht mit Massengewalt, sondern mit Stabilität assoziiert werden sollte.49 Deutsche Ostrechtler ließen die Archivbestände zur sowjetischen Justiz bis dato weitestgehend ungenutzt. Die „Einführung in die Rechtsgeschichte Osteuropas“ (2005) beispielsweise stützt ihre Ausführungen zur Sowjetunion einzig auf jahrzehntealte Publikationen des Münchener Ostrechtsinstituts.50 Die vorliegende Arbeit greift auf einen reichen Fundus der historischen Strafrechtsforschung zur Sowjetunion zurück. Generationen von Autoren haben herausgearbeitet, dass der sowjetische Staat auf vielen Wegen geordnet und funktional operierte, und dass die sowjetische Führungselite mit der Schaffung einer Aufsichtsinstanz wie dem Staatsanwalt konsequent an einem Staatsentwurf feilte, der Zwang auch über Regeln ausüben konnte und diesen Regeln sogar existenziellen Wert beimaß. Diese Arbeit nimmt die Chance wahr, die Staatsanwaltschaft unter Stalin (und darüber hinaus) in einer Akteursgeschichte zu beleuchten. Dies ist die erste Arbeit über die sowjetische Staatsanwaltschaft auf Grundlage von Archivquellen. Somit ist sie auch als Beitrag für die Strafrechtsforschung zu verstehen, indem sie die Interaktion von Staatsanwaltschaft, Miliz und Innenministerium, aber auch anderen Regierungsbehörden, in den Fokus bringt. Diese Forschungsarbeit verfolgt jedoch noch ein zweites Anliegen, das sich nur mit Blick auf den weiteren Rahmen der Stalinismusforschung erschließt.

Evgenija I.: Prokuratura v mechanizme Sovetskogo gosudarstva. Belgorod 2008; Berkotov, Andrej S.: Borʼba s ugolovnoj prestupnosti v Molotovskoj Oblasti v poslevoennye gody (1945–1953 gg.). Permʼ 2004; B. Lebina, Natalʼja: Tenevye storony žizny sovetskogo goroda 20-30-ch godov, in: Voprosy istorii 2 (1994), S. 30–42; Govorov, Igor V.: Sovetskoe gosudarstvo i prestupnyj mir (1920e–1940e gg.), in: Voprosy istorii 11 (2003), S. 143–152. 49 Die meisten Bücher Zvjagincevs verzichten auf Literatur- und Quellenbelege bzw. verfügen nur über ein gekürztes Quellenverzeichnis. Zvjagincev/Orlov, Prigovorennye vremenem; Diess.: Založniki voždej. Rossijskie i Sovetskie Prokurory XX vek. 1954–1992. Moskva 2006; Diess.: Prokurory dvuch ėpoch. Andrej Vyšinskij i Roman Rudenko. Moskva 2001. 50 Vgl. Küpper, Herbert: Einführung in die Rechtsgeschichte Osteuropas. Frankfurt am Main 2005, S. 509; Holland, Michael: Die Staatsanwaltschaft im russischen Strafprozess. Frankfurt am Main u. a. 2012, S. 23–34. Ulrike Schittenhelms Arbeit entstand nicht auf Basis von Archivquellen, trug aber zahlreiche Details und Deutungsansätze zur Strafrechtspraxis in der Sowjetunion zusammen. Schittenhelm, Ulrike: Strafe und Sanktionensystem im sowjetischen Recht. Grundlinien der Kriminalpolitik von den Anfängen bis zum Ende des Sowjetstaates. Freiburg im Breisgau 1994, S. 149–191.

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Einleitung

1.4 Wi l l k ü r u nd Regel h a f t ig keit s t a l i n i s t i s che r He r r s ch a f t  – e i n Au sbl ick Es gab in der Sowjetunion keine Bürokratie, keine bürgerliche Gesellschaft, keinen Rechtsstaat und keine Institutionen, gegen die sich die Gewaltorgie der bolschewistischen Machthaber hätte durchsetzen müssen.51 Jörg Baberowskis Buch „Verbrannte Erde“ ist ein extremes Beispiel dafür, das Problem der Herrschaft im Stalinismus als Selbstzweck aufzulösen. Er begreift den Terror nicht allein als Mittel, sondern als Ordnungsprinzip und das Produkt eines schwachen Staates „dessen Repräsentanten Gefallen an der Inszenierung des permanenten Chaos und der Gewalt fanden, weil sie nur so ihren Herrschaftsanspruch ständig in Erinnerung halten konnten“.52 Willkür sei folglich das entscheidende Wesensmerkmal stalinistischer Herrschaftspraxis gewesen. Baberowskis Thesen wurden kontrovers diskutiert und stießen vielerorts auf Ablehnung.53 Sie entspringen allerdings auch einem Forschungstrend, Terror und „Repression“ im Stalinismus als uniforme Herrschaftsinstrumente zu begreifen. Die Auseinandersetzung mit dem Problem stalinistischer Herrschaft war in den letzten 15 Jahren durch die Enthüllung des Befehls 00447 und anderer Quellenfunde zur Geschichte der Geheimpolizei geprägt.54 Wirft man einen Blick auf die Gesamtdarstellungen zur sowjetischen Geschichte, so dominieren Abhandlungen über die Rolle des Innenministeriums – bei der Abwicklung der Massenoperationen und der Deportationen während des Krieges und insbesondere bei der Verwaltung des Zwangsarbeitsimperiums. Terror war als „Herrschaftstechnik“ eine Domäne des NKVD /MVD . Andere Mittel und Akteure des Zwangs werden beiläufig erwähnt.55

51 Baberowski, Jörg: Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt. München 2012, S. 28. 52 Ebd., S. 23. 53 Vgl. dazu die Beiträge des Themenheftes der Osteuropa: Plaggenborg, Stefan: Stalin war’s! Über Jörg Baberowskis „Verbrannte Erde“; in: Osteuropa 62 (2012) H. 4, S. 95–102; Junge, Mark: Das Vetorecht der Quellen. Baberowski und die Massenverfolgung im Großen Terror, in: Osteuropa 62 (2012) H. 4, S. 137–140. 54 Vgl. Hagenloh, Stalin’s Police; Shearer, Policing Stalin’s Socialism; Binner, Rolf/Bonwetsch, Bernd/Junge, Mark: Massenmord und Lagerhaft. Die andere Geschichte des Großen Terrors. Berlin 2009; Weber/Mählert, Verbrechen im Namen der Idee. Für einen guten Überblick zur Forschungsgeschichte um die Geheimpolizei (und den Befehl 00447) besonders im englischsprachigen Raum vgl. die von Seth Bernstein verfasste Einführung in: Vatlin, Alexander: Agents of Terror. Ordinary Men and Extraordinary Violence in Stalin’s Secret Police. Madison (WI) 2016, S. xxvi–xxviii. 55 Vgl. Fieseler, Beate u.a.: Später Stalinismus, Wiederaufbau und Kalter Krieg. 1945–1953, in: Stefan Plaggenborg (Hg.), Handbuch der Geschichte Russlands. Bd. 5,1. Vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion. Stuttgart 2003, S. 74; Hildermeier, Manfred: Die Sowjetunion. 1917–1991. München 2007, S. 42. Hildermeier spricht von einer Kombination

Willkür und Regelhaftigkeit stalinistischer Herrschaft

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Obwohl insbesondere US-amerikanische Autoren die Rolle der Justiz – jenseits der Schauprozesse – bei der Ausübung von Zwang im größeren Rahmen unterstreichen, zeigen sich deutsche Standardwerke eher gleichgültig dieser Thematik gegenüber. Die Organe der Justiz werden als Erfüllungsgehilfen des Innenministeriums eingeordnet bzw. nur im Kontext der Schauprozesse erwähnt.56 Die Erkenntnisse Solomons, seiner Schüler und Vordenker haben, so scheint es, bis heute kaum einen Eindruck in der Stalinismusforschung hinterlassen. Die Vernachlässigung der Justizorgane als Akteure in der stalinistischen Herrschaftspraxis, sprich: der ganzheitliche Blick auf den ‚Repressionsapparat‘ unter Stalin verursacht ein Problem. Er erschwert die Auseinandersetzung mit dem Wesen sowjetischer (und sozialistischer) Staatlichkeit und deren Veränderungen nach 1953. Im Mittelpunkt dieser Auseinandersetzung steht „die Debatte, wie sich das Verhältnis von willkürlicher Repression und geordnetem Verwaltungshandeln bestimmen lässt“.57 Bisherige Beiträge in dieser Debatte beschränkten sich darauf, festzuhalten, dass die Diktatur in der Sowjetunion „verschiedene Stadien des instrumentellen Verhältnisses zum Recht“ durchlaufen habe.58 Willkür und Regelhaftigkeit seien demnach eine Frage der Rechtskultur. Stefan Plaggenborg nutzte Ernst Fraenkels „Doppelstaat“-Begriff59, um dieses Verhältnis zu bestimmen und die Veränderungen

aus Schauprozessen und Massenterror des NKVD. Auch Neutatz konzentriert seine Ausführungen, um den Modernisierungswahn und die Mobilisierungsdiktatur des Stalinismus zu charakterisieren, auf den Massenterror durch das Innenministerium. Vgl. Neutatz, Dietmar: Träume und Alpträume. Eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert. München. 2013, S. 588; Baberowksi abstrahiert den Repressionsapparat bis zur Unkenntnis: „Denn der Terror tötete ohne Unterschied“. Baberowski, Jörg: Angst und Macht. Tätergemeinschaften im Stalinismus, in: Ders./Robert Kindler (Hg.), Macht ohne Grenzen. Herrschaft und Terror im Stalinismus. Frankfurt am Main/New York 2014, S. 53; „Die Macht der Geheimpolizei und blutige Säuberungen waren das wesentliche Herrschaftsmittel des zentralistisch organisierten Regimes“. Weber, Hermann: Einleitung: Bemerkungen zu den kommunistischen Säuberungen, in: Ders./Ulrich Mählert (Hg.), Terror. Stalinistische Parteisäuberungen. 1936–1953. Paderborn u.a. 1998, S. 4. 56 Moshe Lewin unterschied in seinem letzten Werk zwei Instrumente „for imposing authority on everyone“: das Strafgesetzbuch und das NKVD/MVD. Lewin, Moshe: The Soviet Century. Edited by Gregory Elliott. London/New York 2005, S. 75. Sheila Fitzpatrick und Alf Lüdtke verweisen auf „legislative and administrative regimes of exclusion“, sowohl in der stalinistischen Sowjetunion als auch in der NS-Diktatur. Lüdtke, Alf/ Fitzpatrick, Sheila: Energizing the Everyday: On the Breaking and Making of Social Bonds in Nazism and Stalinism, in: Michael Geyer/Sheila Fitzpatrick (Hg.), Beyond Totalitarianism. Stalinism and Nazism Compared. New York 2009, S. 275. 57 Puttkamer, Joachim von: Sozialistische Staatlichkeit. Eine historische Annäherung, in: Ders./Jana Osterkamp (Hg.), Sozialistische Staatlichkeit. Vorträge der Tagung des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 5. bis 8. November 2009. München 2012, S. 11. 58 Vgl. Zarusky, Jürgen: Die stalinistische und die nationalsozialistische „Justiz“. Eine Problemskizze unter diktaturvergleichender Perspektive, in: Leonid Luks (Hg.), Deutschland und Rußland im 19. und im 20. Jahrhundert. Zwei Sonderwege im Vergleich. Köln u. a.2001, S. 189–191. 59 Fraenkel, Ernst: Der Doppelstaat. Recht und Justiz im „Dritten Reich“. Frankfurt am Main 1984.

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Einleitung

nach dem Tod des Diktators zu erklären. Dabei ergaben sich gleich mehrere Probleme. Fraenkels Modell diente dazu, die „Transformation der politischen Ordnung“ in Deutschland nach 1933 zu veranschaulichen und zu zeigen, dass die bürgerliche Rechtsordnung von den Nationalsozialisten nicht zerstört, sondern vielmehr mithilfe des „Maßnahmenstaates“ überwölbt wurde.60 Die Sowjetunion betrieb hingegen den radikalen Neuaufbau einer eigenen Rechts- und Staatsordnung. Vor allem aber erlebte das NS-Regime keine vergleichbare Reformphase wie die Sowjetunion, sondern den absoluten Zusammenbruch. Die Adaption des Doppelstaat-Begriffs für die sowjetische Geschichte führte damit auch hier zwangsläufig zu dem Befund, dass es zu einem „spektakulären Wandel in der Rolle des sowjetischen Rechts nach Stalins Tod“61 gekommen sein musste. Diese Arbeit geht einen anderen Weg. Das Verhältnis von Willkür und Regelhaftigkeit in der stalinistischen und post-stalinistischen Diktatur kann eben nicht bestimmt werden, indem man von einem uniform operierenden Repressionsapparat ausgeht. Das sowjetische Recht, so die Annahme, hat sich nicht nach 1953 gewandelt, sondern das Kräfteverhältnis unter den Akteuren des Herrschaftsapparates. Das Verhältnis von Willkür und Regelhaftigkeit in der stalinistischen Diktatur (und darüber hinaus) wurde bestimmt über die Stärke, den Handlungsspielraum und das wechselseitige Verhältnis ihrer Herrschaftsinstrumente: von Innenministerium und Staatsanwaltschaft. Stalins Tod ebnete den Weg zur Aufwertung der Letzteren und damit für die Transformation in eine Diktatur, die regelhafter und präziser operierte und sich auf diesem Wege selbst disziplinierte. Diese Arbeit schreibt eine Akteursgeschichte der sowjetischen Staatsanwaltschaft, um dieses Verhältnis und diese Entwicklung nachzuvollziehen. Die Geschichte des Staatsanwaltes als Herrschaftsinstrument gibt somit Aufschluss über die stalinistische Herrschaftspraxis und letztlich auch die Funktionsweise des sowjetischen Staates – vor und nach 1953.

60 Vgl. Wildt, Michael: Die Transformation des Ausnahmezustands. Ernst Fraenkels Analyse der NS-Herrschaft und ihre politische Aktualität, in: Jürgen Danyel/Jan-Holger Kirsch/Martin Sabrow (Hg.), Fünfzig Klassiker der Zeitgeschichte. Göttingen 2007, S.20 f. 61 Plaggenborg, Stefan: Experiment Moderne. Der sowjetische Weg. Frankfurt am Main/New York 2006, S. 212.

2 . DA S R E C H T U N D SEI N „T R I BU N “ – DI E SOWJ ET ISC H E T R A DI T ION DES R E C H T SBE GR I F FS U N D DA S A M T DE R STA AT SA N WA LT SC H A F T, 1917–1938

Die Russische Geschichte ist gewiss nicht arm an Zäsuren. Allein im 20. Jahrhundert wurden Konventionen und Ideale in diesem Land so häufig auf den Kopf gestellt, dass man das 19. Jahrhundert unter Revolutionen und einem Bürgerkrieg begraben glaubt. Natürlich entspricht dies nur dem Wunschdenken der Bolʼševiki. Sie versprachen zwar die Neuordnung der (zunächst russischen) Welt, was ihnen zweifellos gelang, und doch vollzog sich der Aufstieg der Sowjetmacht auf dem Fundament von Ideen und Problemen, die vor den Herbst 1917 zurückreichten. Die Russische Rechtsgeschichte ist dafür ein gutes Beispiel. Kodifizierte Gesellschaftsnormen, ihre Verbindlichkeit (ihr Nutzen) und ihre Durchsetzung waren die dominanten politischen Themen des ausgehenden Zarenreiches bzw. waren eng mit jenen Themen verwoben. Dabei ging es nicht allein um die Anwendung von Zwang. Das Ringen um verbindliche Normen war eine Auseinandersetzung um die soziale Realität Russlands, um Partizipation und die Grenzen der Autokratie, und um die Selbstverortung Russlands sowie der russischen Intelligenzija selbst.1 Unter dem Etikett des Marxismus (später auch des Leninismus) engagierte sich natürlich auch ein breites Spektrum linker Revolutionäre an diesen Debatten und obwohl die meisten die Vision vom Ende aller Klassengegensätze und des Triumphes der Arbeiterklasse teilten, gab es nur wenige marxistische Grundpositionen gegenüber Recht und Rechtspflege. Dazu zählte naturgemäß die Zweckmäßigkeit revolutionären Rechts, sprich: zunächst den Erfolg der Revolution zum einzig legitimen Endzweck und Norm zu erheben. Über den Umsturz hinaus sollte der Staat dann das Recht in seiner Hand halten, um seine Interessen – synonymisch mit denen der Arbeiterklasse – zu verteidigen. Vor allem Georgij Plechanovs Überzeugung vom Staat als höchstem Gesetz traf sich mit den Überlegungen vieler Zeitgenossen, „Lex und Jus“ als Instrumente staatlicher Gestaltungsansprüche vorauszusetzen. Darüber hinaus sah das Fernziel vom 1 Vgl. Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 17; Borisova, Tatiana: The Digest of Law of the Russian Empire. The Phenomenon of Autocratic Legality, in: Law & History Review 30 (2012) H. 3, S. 901–925; BUTLER, W. E.: Towards an Introduction to Russian Legal Theory, in: Ders. (Hg.), Russian Legal Theory. Aldershot/Singapur/Sidney 1996, S. xxx–xli.

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absterbenden Staat für fixierte Normen keine Verwendung vor.2 Über die Details auf dem Weg dorthin, wie zum Beispiel die Existenzbedingungen einer revolutionären Legislative, schieden sich die Geister. Entscheidend für die Denktradition der Bolʼševiki vor 1917 war, dass ihre Vordenker, wie die meisten Radikalen im linken Spektrum, eine eher funktionalistische, wenn nicht utilitaristische Sicht auf solche Fragen entwickelten: Recht galt als Instrument der Herrschaft, ohne jeden Eigenwert.3 Ein weiterer Punkt, der die Rechtsauffassung nach 1917 beeinflusste, war das unvollendete Reformprojekt der Strafjustiz im Zarenreich. Trotz sichtbarer Erfolge beim institutionellen Ausbau des Justizsystems in urbanen Räumen stand insbesondere die russische Strafjustiz im ländlichen Raum bis 1917 am Anfang eines „langwierigen Modernisierungsprozesses“.4 Dabei herrschte in Teilen der Bevölkerung Misstrauen gegenüber der Rechtspflege bzw. sogar Verachtung für die Jurisprudenz. Auch wenn die bäuerliche Lebenswelt kein Hort der reinen Zivilisationsverachtung und des kriminellen Anarchismus war und Bauern durchaus an den juristischen Prozessen und dem russischen Justizsystem insgesamt mitwirkten, ist ein kultureller Graben in puncto Rechtsauffassung zwischen dieser Welt und der der russischen Eliten der Städte nicht zu leugnen.5 Überdies blieb auch die Parallelität politischer und konventioneller Gerichtsbarkeit intakt und ungeachtet der strukturellen Veränderungen, wie der steigenden Zahl der volostʼ-Gerichte auf dem Land, reichte das institutionelle Netz zur Rechtspflege kaum über die Grenzen mittlerer Städte hinaus.6 Die Revolutionäre von 1917 unterbrachen die Entwicklung eines russischen Rechtsstaates und erbten zugleich dessen institutionelle und kulturelle Schwächen.7 Lenin begrüßte den Kollaps des Rechtsystems. Er teilte die Geringschätzung für bürgerliche Rechtsorgane und die Revolution im Herbst 1917 setzte gänzlich

2 Vgl. ebd., S. xxxviii; Huskey, Eugene: A Framework for the Analysis of Soviet Law, in: Russian Review 50 (1991) H. 1, S. 55–56. 3 „They treated law as wholly instrumental, a tool in the hands of rulers rather than a good in itself“. Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 3. 4 Baberowski, Jörg: Autokratie und Justiz. Zum Verhältnis von Rechtsstaatlichkeit und Rückständigkeit im ausgehenden Zarenreich. 1864–1914. Frankfurt am Main 1996, S. 780. Trotz einiger Erfolge bei der Ausdifferenzierung der Paragraphen in den Strafgesetzbuchentwürfen blieben Frauen und verschiedene ethnische Minderheiten als Rechtssubjekte ausgeschlossen. Die politische Polizei operierte weiterhin im Namen der Autokratie außerhalb der Gerichtsbarkeit. Vgl. Nethercott, Frances: Russian Legal Culture before and after Communism. Criminal Justice, Politics, and the Public Sphere. London/New York 2007, S. 37 f. 5 Burbank, Jane: Russian Peasants Go to Court. Legal Culture in the Countryside, 1905–1917. Bloomington 2004, S. 270 f. 6 Vgl. Frank, Stephen: Crime, Cultural Conflict, and Justice in Rural Russia, 1856–1914. Berkeley/ Los Angeles/London 1999, S. 310; Wortman, Richard S.: The Development of a Russian Legal Consciousness. Chicago/London 1976, S. 288 f. 7 Vgl. Baberowski, Autokratie und Justiz, S. 780.

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andere Prioritäten bzw. entsprach dem Programm, sich die Behördenwillkür und das Chaos der Massen gegen die Autokratie zunutze zu machen. Die Revolutionäre begrüßten die Freiheiten des Bürgerkrieges.8 Dennoch konnten sich auch die Bolʼševiki mittelfristig nicht der Auseinandersetzung um den Sinn und Nutzen fixierter Gesellschaftsnormen entziehen. Ihr utilitaristischer Anspruch, das Recht zum verlängerten Arm der Staatsgewalt zu machen, traf auf die Defizite und Bedürfnisse des Zarenreichs. Die Utopie vom absterbenden Recht hatten die Revolutionäre im Gepäck, aber auf dem Weg zu ihrer Vollendung mussten sie sich mit der Bedeutung kodifizierter Normen auch politisch auseinandersetzen. Diese Auseinandersetzung musste den Grundsätzen des Materialismus ebenso Rechnung tragen wie den strukturellen Problemen vor Ort. Bis in die 1930er-Jahre sollte sich daraus ein sowjetischer Rechtsbegriff formen, in dem auch die Staatsanwaltschaft ihren Platz finden würde.

2 .1 Tr a d it io n u nd Ne u bi ld u ng d e s s ow je t i s che n Re cht sb eg r i f fe s Noch heute sind die Bibliotheken prall gefüllt mit Abhandlungen über sozialistische Rechtstheorie(n) und sowjetisches Recht. Ein wichtiger Schritt zu ihrer Historisierung gelang Eugene Huskey. Dessen simples, aber offenes Paradigma soll hier als Grundlage dienen, um die Entwicklung des Rechtsbegriffs in der Sowjetunion zu veranschaulichen. Demzufolge habe das „sowjetische Rechtsdenken“ bis in die zweite Hälfte der 1930er-Jahre drei Phasen durchlaufen. In ihnen spiegelten sich zum Teil die politischen Zäsuren jener Epoche. Eine trennscharfe Periodisierung geben sie aber nicht wieder. In adäquater Übersetzung müsste man vom „Nihilismus“ der Revolutions- und Bürgerkriegszeit sprechen (inklusive einer kurzen Phase vor Beginn der Kollektivierung), vom „Legalismus“ in der Zeit der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) und vom „dirigistischen“ (statist) Zugang der 1930er-Jahre. Die Überzeugungskraft von Huskeys Argumentation liegt nicht in der Unterscheidung dieser Phasen, sondern in der Behauptung, dass die Rechtsauffassung in der Sowjetunion bis zu ihrem Ende durch alle Denk- und Handlungstraditionen dieser Phasen zugleich geprägt war: „Whether during Stalin’s terror or Gorbachev’s quest for a pravovoe gosudarstvo, or law-based state, all three traditions have been at work in Soviet law, albeit with various degrees of influence“.9

8 Vgl. Figes, Orlando: Hundert Jahre Revolution. Russland und das 20. Jahrhundert. Berlin 2015, S. 134. 9 Huskey, A Framework for the Analysis, S. 54–55.

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2.1.1 Der Nihilismus in Zeiten des Umsturzes Die nihilistische Phase nahm ihren Anfang mit der Oktoberrevolution. Die Bolʼševiki ergriffen die Gelegenheit, Russland nicht nur von der Autokratie, sondern von allen Strukturen zu befreien, die sie als Überbleibsel kapitalistischer Ausbeutung ansahen. Gesetze und die Organe der Rechtspflege (nicht nur die der Zarenzeit) gehörten dazu. Dies entsprach einerseits der ideologischen Grundüberzeugung. Nur die ausbeutende Klasse war auf normative Setzungen angewiesen, um ihre ökonomische Vorherrschaft auch politisch zu sichern.10 Andererseits ging es darum, sich der Strukturen der Staatsgewalt zu entledigen, den Umsturz im Kern der Staatsorganisation zu vollziehen. Die Rechtsphilosophie bringt es sehr nüchtern auf den Punkt: Eine Revolution bedeute nichts anderes, als dass Normen nicht mehr befolgt werden.11 Effektiverweise sollte die Bevölkerung gegen die Ordnung mobilisiert werden. Macht- und symbolpolitisch lag es also nahe, alle Gerichte zunächst aufzulösen, einen großen Teil der Gesetze außer Kraft zu setzen und die Entscheidungsgewalt (formal) an die örtlichen Deputiertenräte zu übertragen.12 Der Nihilismus drückte sich nicht darin aus, die Revolution ihrem historischen Antrieb zu überlassen. Noch im Dezember 1917 fassten die Bolʼševiki die Schaffung neuer Gerichtsorgane ins Auge. Auch die Grundlagen für ein „proletarisches Recht“, also ein Normenkatalog im Dienste des Sozialismus, wurden bereits 1918 gelegt.13 Der entscheidende Punkt bestand eher darin, dass – solange wie die Revolution nicht vollzogen, der Bürgerkrieg nicht entschieden war – die Revolutionäre nur zwei Rechtsquellen anerkannten: die Dekrete der Führungselite um Lenin und das „revolutionäre Rechtsbewusstsein“ ihrer Unterstützer.14 In dieser Entscheidungsphase war Recht, was der Revolution zum Sieg verhalf. Dieses Credo ließ maximalen Interpretations- und Handlungsspielraum für die Organe, die sich als revolutionäre Exekutive verstanden, bzw. dazu ermächtigt wurden. Die meisten der Dekrete der jungen Sowjetmacht vermittelten dieses Credo auf eindrückliche Weise. Der „Beschluss über den Roten Terror“ ist dafür das wohl prominenteste Beispiel. Er wurde auf die Tätigkeiten der damaligen Geheimpolizei, der „Außerordentlichen Allrussischen Kommission zur Bekämpfung von 10 Vgl. ebd., S. 55. 11 Vgl. Zippelius, Reinhold: Das Wesen des Rechts. Eine Einführung in die Rechtstheorie. 6. Aufl. Stuttgart 2012, S. 16. 12 Vgl. Dekret über das Gericht, 22.11./5.12.1917, in: G. D. Običkin (Hg.), Dekrety sovetskoj vlasti. Tom 1. 25 Oktabrja 1917 g.–16 Marta 1918 g. Moskva 1957, S. 124–126. 13 Die sogenannten „leitenden Prinzipien“ (rukovodjaščie načala) umfassten lediglich 27 Artikel, waren aber der erste Kodifizierungsversuch der neuen Regierung. Vgl. Berman, Harold J.: Soviet Criminal Law and Procedure. The RSFSR Codes. Introduction and Analysis. Cambridge (MA) 1966, S. 19. 14 Schittenhelm, Strafe und Sanktionensystem, S. 11; Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 18 f.

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Konterrevolution“ (VČK), zugeschnitten und gilt als Vorzeigequelle zur Geschichte außergerichtlicher Gewalt und zum Terror in Russland allgemein.15 In der Situation des Bürgerkrieges und im Kalkül der Bolʼševiki ist er aber auch als Rechtsquelle zu verstehen. Die breite Streuung an Feindbildern, die Ankündigung diese Feinde unterschiedlos zu vernichten so wie die Einbeziehung der Öffentlichkeit entsprachen dem Zweckverständnis revolutionären Rechts: „die Sowjetrepublik von Klassenfeinden zu befreien“.16 Die Setzung von meist außergerichtlichen Normen (oder schlicht Befehlen) in der Peripherie durch Dekrete und Beschlüsse aus Moskau war selbstverständlich keine Erfindung der Bolʼševiki. Noch im 19. Jahrhundert intervenierte der Zar über seine Erlässe (zakony) gegen ein dünnes Normengerüst (pravo) in der Peripherie. Diese Praxis war teils der Unterverwaltung in den entfernten Gebieten, teils einer autokratischen Herrschaftstradition geschuldet (beides in engem Zusammenhang).17 Die Fortführung dieser Form der Intervention durch die neuen Machthaber ist insofern keine Überraschung. Die Übersetzung der eigenen Machtansprüche in die Peripherie sollte eines der zentralen Projekte des Sowjetstaates bleiben. Übergesetzliche Weisungen aus Moskau waren da ein Schlüsselelement. Recht bedeutete in diesem Sinne also, politische Macht (in Form des revolutionären Terrors) an der Peripherie durchzusetzen. Mit der Berufung auf das „revolutionäre Rechtsbewusstsein“ und das „revolutionäre Gewissen“ begründeten die Bolʼševiki eine eigene Tradition.18 Zu Zeiten des Bürgerkrieges schloss dieser Appell die Lücke zwischen den Dekreten und dem Normenvakuum, das der Umsturz hervorbrachte. Solang ein sozialistisches Strafgesetzbuch nicht erschienen war, ermutigte Moskau die Kameradschaftsgerichte und 15 Der Begriff „außergerichtlich“ wird von dieser Arbeit als übersetzte Variante des in der angelsächischen Forschung üblichen „extrajudicial“ verwendet und verweist auf administrative Methoden (Verhaftungen, Deportationen oder Erschießungen beispielsweise), meist durch das Innenministerium, die nicht der Kontrolle durch Instanzen der Justiz unterlagen bzw. außerhalb der konventionellen (nicht-militärischen) Jurisdiktion standen. Vgl. Rittersporn, Gábor T.: Extra-Judicial Repression and the Courts. Their Relationship in the 1930s, in: Peter H. Solomon Jr. (Hg.), Reforming Justice in Russia, 1864–1996. Power, Culture, and the Limits of Legal Order. Armonk (NY) 1997, S. 207. 16 Dekret über den „Roten Terror“, 5.9.1918, in: G. D. Običkin (Hg.), Dekrety sovetskoj vlasti. Tom 3. 11 Julja–9 Nojabrja 1918 g. Moskva 1964, S. 291. 17 Vgl. Heuman, Susan Eva: Perspectives on Legal Culture in Prerevolutionary Russia, in: Piers Beirne (Hg.), Revolution in Law. Contributions to the Development of Soviet Legal Theory, 1917–1938. Armonk (NY) u.a. 1990, S. 3 f. Diese Dekret- oder Erlassjustiz war nur ein kleiner Bestandteil vorrevolutionärer Herrschaftspraxis, die vor allem durch Patronagenetzwerke und persönliche Loyalitäten zentraler und lokaler Eliten geprägt war. Vgl. Baberowski, Jörg: Vertrauen durch Anwesenheit: Vormoderne Herrschaft im späten Zarenreich, in: Ders./David Feest/Christoph Gumb (Hg.), Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich. Frankfurt am Main/New York 2008, S. 24. 18 Dekret über das Gericht, 22.11./5.12.1917, in: Običkin, Dekrety sovetskoj vlasti 1, S. 125.

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die Revolutionstribunale, ihre Vorstellungen von der Revolution (und ihrer Feinde) zur Grundlage von Recht und Unrecht zu nehmen. Einzig das Klassenbewusstsein und die Umwälzung der sozialen Verhältnisse sollten dabei der Orientierung dienen. Damit sanktionierte die neue Regierung zum einen Selbstjustiz und damit die gängige Praxis des Bürgerkrieges. Zum anderen verlieh sie dieser Praxis (und der damit verbundenen Gewalt) eine ideologische Prägung. Moskau machte die Peripherie mit der revolutionären Terminologie vertraut. Das „Proletariat“ konnte nur über Zuschreibung und Ausgrenzung entstehen. Tausende Tribunale erteilten also sich und anderen eine Lektion in Sachen Klassenbewusstsein, wenn Besitz und Status im Namen einer historischen Macht verurteilt wurden.19 Damit wurden nicht nur die Grundlagen für eine rechtliche Diskriminierung sogenannter „besitzender Klassen“ gelegt, wie sie später folgen sollte. Das Diktat des „revolutionären Gewissens“ rechnete fortan mit dem Vorrang des revolutionären Projekts gegenüber dem Gesetz. Diese Priorität war das Schlüsselelement im nihilistischen Denken der Revolutionszeit und blieb auch dem späteren sowjetischen Rechtsverständnis erhalten. Das „Dekret über den Terror“ hat in dem Zusammenhang bereits die zentrale Rolle der VČK angedeutet. Die politische Polizei war die institutionelle Konsequenz aus dieser Priorität. Was in Zeiten des Bürgerkrieges als „greater sense of ‚revolutionary legality‘“20 allen Behörden nahegelegt wurde, sollte in den kommenden Jahrzehnten die ureigene Domäne der Geheimpolizei werden: die Vernichtung der vermeintlichen Feinde der Revolution – ohne regelhafte Grundlagen.

2.1.2 „Legalismus“-Debatten Der „Legalismus“ ist keine trennscharfe Phase. Er ist vor allem ein Sammelbegriff für unterschiedliche Rechtsauffassungen; für Grundlagendebatten über den Nutzen und die Notwendigkeit fixierter Normen im Sozialismus, die vorwiegend in der ersten Hälfte der 1920er-Jahre geführt wurden. Marxistische Rechtsgelehrte reagierten damit auf die Freiheiten, den Pragmatismus und die Ernüchterung der NEP -Zeit. Lenin war von der prinzipiellen Notwendigkeit eines Gesetzestextes 19 „This intuitive law (reflecting class interests of the masses, and corresponding to the new rising social structure) can be distinctly formulated only in the process of a direct, revolutionary legal creativity.“ Lunacharskii, A.: The Revolution, Law, and the Courts, in: Michael Jaworskyj (Hg.), Soviet Political Thought. An Anthology. Baltimore (MD) 1967, S. 56. Ausführlicher zur Konstruktion der Klassenidentität unter den Bolʼševiki vgl. Fitzpatrick, Sheila: Ascribing Class. The Construction of Social Identity in Soviet Russia, in: The Journal of Modern History 65 (1993) H. 4, S. 745–770; Burbank, Jane: Lenin and the Law in Revolutionary Russia, in: Slavic Review 54 (1995) H. 1, S. 37. 20 Ryan, James: Lenin’s Terror. The Ideological Origins of Early Soviet State Violence. London/New York 2012, S. 184.

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schon 1918 überzeugt.21 Der Kriegskommunismus ließ das Land in Gewalt und Kriminalität versinken. Die Wiedereinführung privatwirtschaftlicher Elemente überforderte das „revolutionäre Rechtsbewusstsein“ der Richter (für die Aburteilung von Wirtschaftsvergehen mussten diese sich auf das alte Gesetzbuch beziehen). Auch unter denjenigen, die anfangs jeden Kodifizierungsversuch für nutzlos hielten, setzte sich eine andere Erkenntnis durch: „without codes […]‚there would be no state, just nomadic hordes‘“.22 Es wäre müßig, die ganze Bandbreite der juristischen Debatten jener Zeit abzubilden. Entscheidend ist erstens, dass es diese Bandbreite gab. Von der Bewunderung für westliche Rechtsphilosophie bis hin zu einigen nihilistischen Entwürfen „proletarischen Rechts“ waren in den 1920er-Jahren fast alle denkbaren Positionen vertreten. Die meisten erkannten die (zeitweilige) Notwendigkeit an, soziale Beziehungen und Eigentumsverhältnisse in festgelegten Formen zu regulieren.23 Zweitens muss man diejenigen Positionen berücksichtigen, die über die Phase der NEP hinaus eine Bedeutung für den stalinistischen Rechtskanon bekamen. Petr Stučka zählt hier zu den prominentesten Figuren in den „Legalismus“-Debatten und zugleich zu den ersten Architekten sowjetischer Rechtstheorie, wie sie bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts gelehrt wurde.24 Stučka zog 1922 den Schluss, dass sich der Klassenkampf entlang von Eigentumsverhältnissen, ergo entlang des Rechts auf Besitz abspielen würde. Recht sei folglich immanent für den Klassenkampf. Die Bourgeoise sei daran gescheitert, einen wissenschaftlichen Rechtsbegriff zu entwickeln, eben weil sie diesen Punkt ignorierte. Daraus resultiere der Anspruch des Marxismus, die Verwissenschaftlichung des Rechts als Klasseninstrument zu seinem Ende zu führen. Recht bedeute auch im Sozialismus, soziale Beziehungen zu ordnen, mit einem entscheidenden Unterschied: für Stučka bildet das Interesse der Klasse den Kern des Rechts, die Normen und ihre Fixierung, wie auch die Normen zu ihrer Durchsetzung seien lediglich der Überbau.25 Die Erfordernisse des Klassenkampfes diktierten die Rechtsinhalte,

21 Vgl. Ryan, James: The Sacralization of Violence. Bolshevic Justifications for Violence and Terror during the Civil War, in: Slavic Review 74 (2015) H. 4, S. 827; Huskey, A Framework for the Analysis, S. 56. 22 Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 25. Zit. Protokoly III sovetskoj justicii, in: Materialy Narkomjusta 11–12 (1921). 23 Vgl. Beirne, Piers: Editor’s Introduction, in: Ders., Revolution in Law, S. x; vgl. außerdem den Beitrag zu Evgenij Pašukanis’ Theorie über Recht und Marxismus. Beirne, Pierse/Sharlet, Robert: Toward a General Theory of Law and Marxism: E. B. Pashukanis, in: Beirne, Revolution in Law, S. 17–44. 24 Vgl. Beirne, Editor’s Introduction, S. x. 25 Vgl. Stuchka, Petr: The Marxist Class Theory of Law, in: Jaworskyj, Soviet Political Thought, S. 91.

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während die eigentlichen Gesetze nur dessen formaler Ausdruck sind. Stučka veröffentlichte diese Überlegungen unter dem Eindruck der NEP . Mit der völligen Überwindung des Privateigentums sollte das Recht im Sinne seiner Kodifizierung schlussendlich verzichtbar werden. Allerdings steckte Russland im ‚Übergang‘ fest und der junge Staat brauchte ein Gesetzbuch. Der ugolovnyj kodeks kam 1922 und in ihm spiegelten sich einige Aspekte aus Stučkas Ausführungen wider. Zwei besonders aufschlussreiche Beispiele können das illustrieren: Zum einen waren Rechte und Pflichten auf Angehörige der Arbeiterklasse bezogen, die der Kodex gegen Konterrevolutionäre und Klassenfeinde zu verteidigen beanspruchte. Die legale Diskriminierung nach Klassenzugehörigkeit bekam mit dem Gesetzbuch vorerst eine solide Grundlage.26 Zum anderen stellte der sogenannte „Analogie-Paragraph“ von Anfang an die Tatbestandsgebundenheit infrage. Auch wenn dieser Artikel bis in die 1930er-Jahre (und darüber hinaus) schwer angefochten wurde, blieb er bis 1958 in Kraft. Mit ihm vermochten Richter im Falle einer Tat, die nicht als Straftatbestand im Kodex ausgewiesen war, auf analoge, sprich: ähnliche Paragraphen zurückgreifen, um eine in ihren Augen strafwürdige Tat zu ahnden.27 Nullum crimen sine lege war in den Augen der Sowjetmacht keine Errungenschaft. Jede denkbare (und noch undenkbare) Bedrohung für die Arbeiterklasse, musste mit einer Strafe quittiert werden können. Ein zentraler Bestandteil der legalistischen Auseinandersetzungen war aber auch, für die Verbindlichkeit dieser Normen einzutreten. Die Rechtsdenker der frühen NEP -Zeit plädierten für eine Einschränkung der außergerichtlichen Gewalt und die Bindung der Kameradschaftsgerichte an die Gesetze und Verfahrensregeln. Mit dem Begriff der „Gesetzlichkeit“ wurde eine weitere sowjetische Tradition begründet, die vor allem in den 1930er-Jahren zur vollen Entfaltung kommen sollte.28 Das erste Strafgesetzbuch der Russischen Sowjetrepublik gehört auch in diesen Kontext und wurde von nicht wenigen Zeitgenossen als bürgerlich kritisiert. Sogar die explizite Diskriminierung nach Klassenzugehörigkeit wurde in ihrem Wortlaut 1927 wieder aus dem Gesetzbuch entfernt.29

26 Vgl. Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 33. 27 Vgl. Artikel 16 im Strafgesetzbuch der RSFSR. Gallas, Wilhelm (Hg.): Strafgesetzbuch der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjet-Republik (R.S.F.S.R.), vom 22. November 1926. Mit den Änderungen bis zum 1. August 1930. Berlin/Leipzig, S. 12. 28 Der Begriff „zakonnostʼ“ wurde bereits vor 1917 von russischen Rechtsreformern verwendet und synonymisch mit „Legalität“ gebraucht, um die Einhaltung der Gesetze durch Bürger und ihren Staat gleichermaßen zu kennzeichnen. Vgl. Pravilova, E. A.: Zakonnostʼ i prava ličnosti: administrativnaja justicija v Rossii (vtoraja polovina xix v.–oktabrja 1917 g.). Sankt-Peterburg 2000, S. 74–83. 29 Vgl. Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 33; Schittenhelm, Strafe und Sanktionensystem, S. 42–44; vgl. außerdem Paškunis’ Standpunkt zum Kodex in: Beirne/Sharlet, Toward a General Theory, S. 25.

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Die sowjetische Staatsführung und ihre Ideologen reagierten auf die Ambivalenz der NEP. Einigkeit herrschte über die Notwendigkeit, soziale und wirtschaftliche Interaktion von Individuen im Sinne der herrschenden Klasse zu regulieren. Im Bewusstsein, am Übergang zu stehen, (und aus Mangel an Alternativen) wurde das Verhältnis zwischen Sozialismus und Recht jedoch nicht näher bestimmt. Es wurde lediglich postuliert, dass sich beides nicht notwendigerweise ausschließt. In allen anderen Punkten standen die Rechtstheoretiker im ständigen Widerstreit.

2.1.3 Stalinismus und Recht Huskey zufolge führte das Ende der NEP in ein erneutes kurzes nihilistisches Intermezzo. Tatsächlich tobte unter Juristen zwischen 1928 und 1932 eine heftige Auseinandersetzung, wie sehr Gesetze und Prozessnormen zur Durchsetzung politischer Zielsetzungen gebeugt, vereinfacht oder gar vernachlässigt werden könnten. Der bedeutendste Fürsprecher für eine solche Simplifizierung, Nikolaj Krylenko, legte sogar einen eigenen Gesetzbuchentwurf vor, der den Nihilismus-Gedanken auf die Spitze trieb.30 Auch wenn dieser Entwurf nicht umgesetzt wurde, hielt Krylenko diese Position überraschend lange aufrecht. Mit den Revolutionsjahren sind diese Konflikte dennoch nicht wirklich vergleichbar. Vielmehr wurde das ohnehin labile Rechtssystem mit der Kollektivierung an den Rand des Zusammenbruchs gedrängt. Geheimpolizei (nun unter dem Kürzel OGPU) und Gerichte fungierten als komplementär operierende Vollstrecker in dieser Kampagne und schenkten der Frage des gesetzlichen Rahmens wenig Beachtung. „The breakdown of procedural norms“31 war das Resultat der gewaltsamen Neuordnung des ländlichen Sozialgefüges. Krylenko beabsichtigte, diesen Zustand – die Aufhebung der Gesetze und Prozessregeln im Zuge der Kollektivierung – zu verstetigen. Vom Ergebnis her gesehen, ist zu beachten, dass Krylenkos Position zur Mitte der 1930er-Jahre hin als „linksabweichlerisch“ zu den Akten gelegt wurde. Andrej Vyšinskij setzte sich mit seiner Position durch und schwang sich zum Chefjuristen und Architekten der stalinistischen Rechtslehre auf. Der „Dirigismus“, wie ihn Huskey umschreibt, entsprang zu großen Teilen seiner Feder. Hinter diesem

30 Der „Krylenko-Entwurf“ räumte dem politischen Ermessen des Richters in allen Bereichen des Strafrechts absolute Priorität ein. Krylenko plante die Aufhebung jeder Zuordnung zwischen Straftatbestand und Sanktionsandrohung. Die Auswahl der Sanktion sollte mit Blick auf den Täter (dessen soziale Gefährlichkeit) und nach richterlichem Ermessen erfolgen. Vgl. dazu Schittenhelm, Strafe und Sanktionensystem, S. 132–143. 31 Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 95. Zum „struggle on the legal front“ am Ende der 1920er-Jahre vgl. Butler, Towards an Introduction, S. xlii.

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Paradigmenwechsel stand einerseits ein Machtkampf zwischen Krylenkos Justizkommissariat und Vyšinskijs Unionsstaatsanwaltschaft, den letzterer für sich entschied. Andererseits fiel die neue Rolle des Strafrechts als Instrument der Staatsgewalt mit den Nachwehen von Kollektivierung und Industrialisierung zusammen. Die Errungenschaften (aber auch die katastrophalen sozialen Folgen) der Gegenwart ermöglichten einen pragmatischeren Blick auf die Utopie. Die Vernichtung der bäuerlichen Welt und der Industrialisierungsschub verursachten einen sozialen Sog, in dem ein großer Teil der Menschen ihre Herkunft, ihre Kultur oder ihre Familien verloren. In dieser sogenannten „Flugsandgesellschaft“ war Arbeitsmigration vom Land in die Stadt zum Normalzustand geworden. Massenhafte Armut und Kriminalität begleiteten den Aufbau des Kommunismus.32 Diese Probleme drängten Krylenkos Ideen vom revolutionären Bewusstsein (und vom Ende des Strafvollzuges) in den Hintergrund. Die neue und fortan gültige Ansicht lautete: Verbindliche Regeln und starke Rechtsinstitutionen sind unumgänglich für eine industrialisierte Gesellschaft. Bis zur Erfüllung einer klassenlosen Gesellschaft galt der Sozialismus nun als die einzig wahre Umgebung für das Recht.33 Bis zum Jahr 1938 entwickelte Vyšinskij (unter Stalins Aufsicht) die entsprechende Agenda. Einige Elemente der Revolutionszeit, aber auch Überlegungen aus den Legalismus-Debatten fanden hier Verwendung. Per Erlass wurde 1932 die „revolutionäre Gesetzlichkeit“ gegen Korruption und Behördenwillkür in Stellung gebracht – auch um die Bevölkerung mit dem Regime zu versöhnen. Die Einhaltung der Gesetze wurde zum Prinzip des Klassenkampfes erklärt.34 Die Phrase der „Gesetzlichkeit“ erhielt neuen Aufschwung. Vyšinskij vollzog die ideologische Evolution von der „revolutionären“ (revoljucionnaja) zur „sozialistischen Gesetzlichkeit“ (socialističeskaja zakonnostʼ) in den kommenden zwei Jahren (auch wenn beide Begriffe weiter verwendet wurden). Noch bevor das Verhältnis von Staat und Recht verbindlich ausformuliert wurde (und vor der Stalin-Verfassung) war der Kern 1934 gesetzt. Zakonnostʼ bedeutete im Wortsinne die unbedingte Einhaltung aller Normen (Gesetze) durch Bürger, Betriebe und Staatsorgane gleichermaßen. Vyšinskij sah darin ein allgemeines Prinzip, das die spezifische Gesellschaftsordnung eines Staates zum Ausdruck bringe. Im Falle 32 Zum Begriff der „quicksand society“ vgl. Lewin, Moshe: The Making of the Soviet System. Essays in the Social History of Interwar Russia. New York 1994, S. 221; Lewin, The Soviet Century, S. 69. 33 Zum Machtkampf zwischen Krylenko und Vyšinskij vgl. Huskey, Vyshinskii, Krylenko and the Shaping, S. 414–428. Näheres dazu auch in Kapitel 2.2. Vgl. dazu Solomons Ausführungen zur „Rückkehr zur Gesetzlichkeit“ in Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 194–195. 34 Vgl. Beschluss über „Revolutionäre Gesetzlichkeit“, 25.6.1932, in: I. T. Goljakov (Hg.), Sbornik dokumentov po istorii ugolovnogo zakonodatelʼstva SSSR i RSFSR. 1917–1952. Moskva 1953, S. 333–334; Vyšinskij, Andrej: „Revoljucionnaja zakonnostʼ i naši zadači (k 10-letiju učreždenija sovetskoj prokuratury), in: Pravda, 28. Juni 1932, S. 2.

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der Sowjetunion stand dieses Prinzip nicht für das regulierte Zusammenleben von Rechtssubjekten. Die Befolgung der Gesetze diente dem „Schutz der Interessen des sozialistischen Aufbaus“. Die Unterwerfung unter das sozialistische Recht war selbst ein „Instrument in den Händen der Arbeiterklasse“.35 Sich für die Produktionsziele zu disziplinieren und konform zu verhalten, galt per se als Akt des Kampfes gegen innere und äußere Feinde. Vyšinskij überließ diese Entscheidung aber nicht dem Individuum. Die Arbeiterklasse wurde als kollektives Rechtssubjekt postuliert, das in der Konformität organisiert wurde: allerdings ohne in der Realität als Subjekt zu gelten. „Sozialistische Gesetzlichkeit“ war entsprechend ein Zustand, der allein vom Staat verwaltet und durchgesetzt werden konnte – ein „Hebel“, mit dessen Hilfe, „gesellschaftliche Beziehungen geschaffen, organisiert, reguliert werden“.36 Die Tatsache, dass es bis in die Gorbačev-Ära Bürgern praktisch unmöglich war, Entscheidungen von Behörden gerichtlich anzufechten, illustriert nur zu gut, wie Angehörige der vermeintlichen „Arbeiterklasse“ im Namen ihres vermeintlichen kollektiven Willens gegenüber dem Staat entmündigt wurden.37 Damit benannte Vyšinskij ein wesentliches Element des „Dirigismus“: Recht und Sozialismus waren nun perfekt vereinbar, weil das Interesse von Gesetzgebung und Rechtsprechung (theoretisch auch des Strafvollzuges) als identisch mit dem des Rechtssubjekts – der Arbeiterklasse – postuliert wurde.38 Die Arbeiterklasse herrschte in der Theorie über sich selbst. Dieses Postulat war nun möglich, denn der entscheidende Schritt auf dem Weg zur klassenlosen Gesellschaft galt mit der Kollektivierung als vollzogen. Insofern passte die Stalin-Verfassung von 1936 in diese Lesart. Sie musste nicht nach Klassenzugehörigkeit unterscheiden oder auch diskriminieren. Sie wurde als Symbol der gemeinschaftlichen Teilhabe am erfolgreichen Klassenkampf verabschiedet.39 In diesem Licht wurden allen „Bürgern“ innerhalb der Produktionsgemeinschaft erstmals gleiche Rechte und Verbindlichkeiten

35 Vyšinskij, Andrej: Revoljucionnaja zakonnostʼ i zadači sovetskoj zaščity. (Ispravlennaja i dopolnennaja stenogramma doklada na sobranii moskovskoj kollegii zaščitnikov, 21 dekabrja 1933 g.). Moskva 1934, S. 5. 36 Ebd., S. 24. 37 Vgl. Barry, Donald D.: The Quest for Judicial Indepedence. Soviet Courts in a Pravovoe Gosu­ darstvo, in: ders. (Hg.), Toward the Rule of Law in Russia? Political and Legal Reform in the Transition Period. Armonk (NY) 1992, S. 264 f. Der Verfassungsentwurf vom November 1990 sprach den sowjetische Bürgern die vom Staat „unabhängige Ausübung“ der Rechte zu. Berman, Harold J.: The Rule of Law and the Law-Based-State (Rechtsstaat). With Special Reference to the Soviet Union, in: Barry, Toward the Rule, S. 50. 38 Vgl. Huskey, A Framework for the Analysis, S. 57. 39 Vgl. Getty, John Arch: State and Society under Stalin. Constitutions and Elections in the 1930s Slavic Review 50 (1991) H. 1, S. 19; vgl. auch Shearers Kommentar, wie sehr sich die Parteiführung mit diesem Zugeständnis (zusammen mit den Wahlen zum Obersten Sowjet) verkalkuliert habe: Shearer, Policing Stalin’s Socialism, S. 297–298.

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gewährt. Man kann dies als Zugeständnis an die Bevölkerung verstehen, die in den Jahren zuvor ausreichend Erfahrung mit der Willkür der Staatsgewalt gemacht hatte. Die Ausstattung mit Grundrechten war aber auch daran gebunden, sich dem Produktionsinteresse des Kollektivs unterzuordnen.40 Vor dem Hintergrund der politischen Verfolgungen der 1930er-Jahre erscheint der Grundrechtekatalog wie bloße Makulatur. Diese Diskrepanz war ein weiterer elementarer Bestandteil der Rechtsauffassung (so zynisch sie auch anmutet). Reinhard Maurach fasste es einst so zusammen: Eine Berufung auf ein Grundrecht ist ausgeschlossen, wenn die entsprechende Betätigung der Generallinie der Partei zuwiderläuft […] die Berufung auf die Grund- und Freiheitsrechte wird zur offenen Gegenrevolution, wenn dadurch die sowjetische Wertund Staatsordnung bedroht werden könnte.41

Das Veto der Parteilinie war nicht explizit in der Verfassung verankert. Es entsprach der inneren Logik der Rechtsauffassung, wie sie Vyšinskij 1938 in ihrer endgültigen Form zu Papier brachte. Recht, als kodifiziertes Normengerüst, entsprach den Produktionsbedingungen in einer bald klassenlosen Gesellschaft. Ein eigenständiges Wertesystem stellte es nicht dar.42 Postuliert wurde es als Instrument der Kontrolle, das die Arbeiterklasse an sich selbst ausübt. In letzter Konsequenz hielt also die Partei, als Vorhut und Erzieher der Massen, dieses Instrument in den Händen. Ihr oblag es, das gesellschaftliche Interesse (der Produktion) zu wahren. Die Infragestellung dieser Autorität oder die Gefährdung des Gesellschaftsinteresses ermächtigte die Partei zur Intervention jenseits aller Normen. In dieser Rolle kristallisierte sich gewissermaßen das „revolutionäre Gewissen“. Die Partei bestimmte ultimativ die Feinde der Revolution, noch vor dem Gesetz. In der Vagheit dieses Szenarios liegt keine Begründung, sondern der Ermessensspielraum für politische Gewalt. In dem Anspruch der sowjetischen Rechtstheoretiker, ein eindeutiges Regelwerk geschaffen zu haben, lag wiederum ein offensichtlicher Konflikt. In Abgrenzung vom Nihilismus früherer Tage galten das sozialistische Recht und auch seine Artikel als eindeutig. „Bürgerliche Scholastik“ und ausufernde Theoriebildung sollte es

40 Vgl. dazu Kapitel X der Verfassung „Grundrechte und Grundpflichten der Bürger“ und Stalins Einleitung zum Verfassungsentwurf, die den Rechtekatalog an die Prinzipien des sozialistischen Aufbaus binden. Das prominenteste Zitat in diesem Zusammenhang ist wohl „Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen“. Stalin, Über den Entwurf, S. 21–22; 89–91; Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 191–194. 41 Maurach, Reinhard: Handbuch der Sowjetverfassung. München 1955, S. 327. 42 Vgl. Vyšinskij, Andrej: The Fundamental Tasks of the Science of Soviet Socialist Law, in: John N. Hazard/Hugh W. Babb (Hg.), Soviet Legal Philosophy. Cambridge (MA) 1951, S. 303–341.

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im Sozialismus nicht geben.43 Sozialistisches Recht postulierte also Eindeutigkeit auf den Grundlagen politischen Ermessens. Der Anspruch auf Eindeutigkeit in der Legislative drückte sich zum Beispiel darin aus, dass die sowjetische Rechtslehre den juristischen Präzedenzfall von Grund heraus ablehnte. Richter sollten nur bestehendes Recht anwenden, und nicht (wie im weitläufigen westlichen Verständnis) Auslegungen in dessen Rahmen treffen, auf die sich Richter künftig berufen könnten.44 Einerseits galt der Gesetzestext als ausreichend, ohne dass ein Richter etwaige Lücken mit seinem Urteilsspruch füllen musste. Andererseits führte der Analogie-Paragraph diesen Anspruch ad absurdum. Gesetze bargen demnach politischen Interpretationsspielraum. Die Ausnutzung dieses Spielraums durfte jedoch nicht in verbindliche Entscheidungen (im Sinne von Präzedenzfällen) münden. Recht war also ein eindeutiges Instrument, dass das Klasseninteresse repräsentierte und in seiner Auslegung dem Wohl der Revolution und dem Willen der Parteiführung unterworfen war. Welche Rolle nahm der Staatsanwalt in diesem Szenario ein?

2 . 2 D ie St a at s a nwa lt s ch a f t a u f d e m Rei ßb r e t t d e r s ow je t i s che n Re cht s t he o r ie Seit ihrer Gründung unter Peter I. übernahm die russische Staatsanwaltschaft (pro­ kuratura) weit mehr Funktionen, als man es von den Vertretern der Anklage in Westeuropa kannte. Neben der Anklagevertretung beaufsichtigte sie vor allem die zentralen und peripheren Regierungsorgane, die Gerichte und Staatsbeamten. Diese „Aufsicht“ (nadzor) war auf die Einhaltung der geltenden Gesetze gerichtet und, wie das Amt insgesamt, ein eigentümlich russisches Konzept, um den Zugriff der Hauptstadt auf die Peripherie zu stärken. Die Rolle wurde nicht immer effektiv ausgefüllt. Bis zur Revolution wurden die (formalen) Befugnisse des Staatsanwalts mehrfach ausgedehnt und wieder eingeschränkt. Die nadzor-Funktion wurde 1864 sogar ganz abgeschafft. Erst die Bolʼševiki griffen diese Tradition wieder auf und im Laufe zweier Jahrzehnte rückte die Staatsanwaltschaft zumindest konzeptionell in den Mittelpunkt der sowjetischen Rechtsordnung. Das oko gosudarevo („Auge des Herrschers“) früherer Zeiten erlebte einen Neuanfang, unter einer neuen Autorität.45

43 Vyšinskij, Andrej: Voprosy teorii gosudarstva i prava. Moskva 1949, S. 170–174. 44 Vgl. Hazard, John N.: Understanding Soviet Law without the Cases, in: Soviet Studies 7 (1955) H. 2, S. 123. 45 „The Procuracy is very much a Russian Institution“. Butler, Soviet Law, S. 107; Katharina II. machte die Staatsanwaltschaft zwischenzeitlich zu einem effektiveren Instrument der Staatsgewalt. Vgl. Madariaga, Isabel de: Russia in the Age of Catherine the Great. London 2002, S. 57–60; Kucherov, The Organs, S. 405–407.

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2.2.1 Gegen die „doppelte Unterordnung“ – Lenins politischer Auftrag an die Staatsanwaltschaft 1922 Vom nihilistischen Enthusiasmus der Revolutionszeit blieb auch die Staatsanwaltschaft nicht verschont. In den Augen der neuen Machthaber war dieses Amt ein verzichtbares Relikt der Autokratie. Die Auflösung der Staatsanwaltschaft 1917 entsprach demnach völlig der Logik „revolutionärer Gesetzlichkeit“. Zum Ende des Bürgerkrieges verschoben sich dann bekanntermaßen die Prioritäten. Mit der Verabschiedung des Strafgesetzbuches 1922 fiel auch die Neugründung der sovets­ kaja prokuratura zusammen. Das Gerichtspersonal brauchte Unterstützung in der Orientierung am Gesetzestext. Zeitgleich ließen die Zugeständnisse an die Privatwirtschaft in der NEP -Zeit Befürchtungen laut werden, dass kapitalistische Elemente die entstehende ‚Rechtslage‘ zu ihrem Vorteil ausnutzen könnten. In beiden Fällen sollte der Staatsanwalt Schlimmeres verhindern.46 Wie ihr Vorgänger sollte die neue Staatsanwaltschaft den Ermittlungsprozess leiten und die Anklage vor Gericht führen. Zeitgleich wurde die prokurorskij nadzor („staatsanwaltschaftliche Aufsicht“) wieder ins Leben gerufen. Diese wurde zunächst auf die Tätigkeiten der Staatsorgane und die Entscheidungen der Gerichte beschränkt.47 Der endgültige Aufgabenkatalog und die Kompetenzfrage wurden erst mit der Verfassung 1936 ausformuliert. Der politische Auftrag an das Amt der Staatsanwaltschaft wurde jedoch noch im Jahr ihrer Neugründung durch Lenin skizziert. Nach dem Ende des Bürgerkrieges war die politische Infrastruktur der neuen Machthaber geschwächt und die Beamten der Peripherie blieben sich selbst überlassen. Unter diesem Eindruck setzte Lenin mit seinem Brief an das Politbüro, „Über doppelte Unterordnung und Gesetzlichkeit“48, ein neues Konzept für die Staatsanwaltschaft durch. „Doppelte Unterordnung“ bedeutete üblicherweise, dass Behörden in der Sowjetunion sowohl ihren Vorgesetzten in Moskau als auch der lokalen Regierungsvertretung (dem Sowjet vor Ort) unterstellt waren. Dieses Prinzip sollte gewährleisten, dass „lokale Unterschiede“ in der Regierungsarbeit berücksichtigt werden. Gegen erheblichen Widerstand erreichte Lenin, die Staatsanwaltschaft davon auszunehmen. Im Kontext von nadzor sollte die Behörde, vom Einfluss der Sowjets unabhängig, Gesetzesverletzungen verzeichnen und Korruption effektiver 46 Vgl. Kazancev, S. M.: Istorija carskoj Prokuratury. Sankt-Peterburg 1993, S. 3; Hazard, John N.: Settling Disputes in Soviet Society. The Formative Years of Legal Institutions. New York 1960, S. 217–219. 47 Statut über „Staatsanwaltschaftliche Aufsicht“, 28.5.1922, in: N. Širjaev/G. A. Metelkina (Hg.), Sovetskaja Prokuratura. Sbornik dokumentov. Moskva 1981, S. 39–42. 48 Lenin, W. I.: Über „doppelte“ Unterordnung und Gesetzlichkeit, 20.5.1922, in: W. I. Lenin. Werke. Bd. 33, August 1921–März 1923, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU. Berlin 1962, S. 349–353.

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bekämpfen. Allein dem Volkskommissariat für Justiz in Moskau unterstellt, wollte Lenin ein zentrales Kontrollorgan für die periphere Regierungsarbeit. Zum einen traute Lenin den Beamten in den Provinzen nicht. Effiziente und qualifizierte Kader waren selten im jungen Regierungsapparat. Im sparsamen Umgang mit Personalressourcen legte er darum nahe, die Qualität (und natürlich die Entscheidungskompetenz) in Moskau zu bündeln. Es wird wohl kaum jemand zu bestreiten wagen, daß es unserer Partei leichter fällt, ein Dutzend zuverlässiger Kommunisten zu finden, die juristisch genügend gebildet und fähig sind, allen rein örtlichen Einflüssen zu widerstehen, als Hunderte ebensolcher Genossen zu finden.49 Die ganze Argumentation war ein Baustein in der Zentralismus-Debatte der frühen Sowjetunion, in der Lenin die Oberhand behalten sollte. In den Auseinandersetzungen um den Staatsaufbau (und die Parteiorganisation) der Sowjetmacht waren die lokalen Sowjets und deren Komitees ein häufiger Zankapfel.50 Der Staatsanwalt diente Lenin hier als Instrument und Rechtfertigung, in die untersten Ebenen der Exekutivkomitees (indirekt) einzugreifen. Angesichts der Befürchtung, dass nur eine Minderheit der Staatsbeamten offen mit der Sowjetmacht sympathisierte, schien die Aufsichtsfunktion des Staatsanwalts umso dringlicher vonnöten.51 Zum anderen nutzte Lenin die Idee der „Gesetzlichkeit“, um den Zentralismus als politisches Zivilisationsprojekt zu vermitteln. Die Rückständigkeit Russlands sei erst überwunden, wenn Moskau die Provinzen von ihrem Gewohnheitsrecht kuriere.52 Der Staatsanwalt wurde als Kulturträger bestimmt. Er sollte den in Entstehung begriffenen ugolovnyj kodeks unionsweit propagieren und seine Einhaltung durchsetzen. Für die Berücksichtigung „örtlicher Umstände“ waren die Gerichte vorgesehen. Der Staatsanwalt würde diese Perspektive im notwendigen Falle korrigieren können. Diese Rolle war Teil des Paradigmenwandels im Zuge der Legalismus-Debatten: Juristische Qualifikation sollte das „revolutionäre Gewissen“ ablösen. Der Staatsanwalt würde jedoch keine „administrative Gewalt“ besitzen. Als Wächter der

49 Ebd., S. 352. 50 Vgl. Haumann, Heiko: Sozialismus als Ziel: Problem beim Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung, in: Gottfried Schramm/Manfred Hellmann/Klaus Zernack (Hg.), Handbuch der Geschichte Russlands. Band 3,1. 1856–1945. Von den Autokratischen Reformen zum Sowjetstaat. Stuttgart 1983, S. 687. 51 Vgl. ebd., S. 677. 52 „Ein Grundübel unseres ganzen Lebens und unserer ganzen Kulturlosigkeit ist die Duldung der althergebrachten russischen Auffassung und Gewohnheit von Halbwilden, die eine Kalugaer Gesetzlichkeit zum Unterschied von einer Kasaner Gesetzlichkeit beibehalten wollen.“ Lenin, Über „doppelte“ Unterordnung, S. 352.

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Gesetzlichkeit leitet er das Verfahren selbst ein oder wendet sich an die vorgesetzten Instanzen der Behörde, deren Mitarbeiter ein Gesetz verletzt hat. Beschlüsse der Sowjets außer Kraft zu setzen, dazu war er nicht befähigt. Damit entkräftete Lenin die Behauptungen einiger Politbüro-Mitglieder (Kamenev, Rykov und Zinovʼev), mit der Staatsanwaltschaft ein duales Machtgefüge neben den Sowjets etablieren zu wollen.53 Zeitgleich unterstrich er die Weisungsgewalt des ZK und des Politbüros gegenüber der Moskauer Staatsanwaltschaft. Der Eingriff in die Peripherie sollte also indirekt erfolgen, über die Beobachtungen der Staatsanwälte vor Ort. In strafrechtlicher Hinsicht blieb dem Gericht die Bewertung der Fälle überlassen (und der örtlichen Umstände). In politischer Hinsicht wollte Lenin einen ungefährlichen Beobachter in Stellung bringen, der das Projekt zakonnostʼ in die Peripherie tragen würde.

2.2.2 Hüter der Gesetzlichkeit – nadzor über die Sowjetunion In den folgenden 14 Jahren wurde die Staatsanwaltschaft schrittweise den Einflüssen anderer Ministerien entzogen. Dahingehend erfüllten sich Lenins Vorstellungen. In mehreren Schritten verloren das Oberste Gericht, das Justizkommissariat und die Exekutivkomitees ihren Einfluss auf die Arbeit der Staatsanwälte. Unter beträchtlichem Eifer Vyšinskijs kam es am 20. Juni 1933 zur Gründung der Unionsstaatsanwaltschaft (mit ihm als stellvertretendem Unionsstaatsanwalt).54 Damit erlangte sie innerhalb des Regierungsapparats formal die Autorität eines Volkskommissariats mit Unionsstatus. Die Verfassung löste sie dann vollständig von der Aufsicht des Volkskommissariats für Justiz. Diese Erfolgsgeschichte ist eng mit Vyšinskijs Aufstieg verbunden, während Krylenko als erster Volkskommissar für Justiz (ab 1936) langsam seinen politischen Niedergang erlebte. Dem Justizressort war es überlassen, Gesetzentwürfe für den Obersten Sowjet auszuarbeiten und Propaganda im Namen des „Sowjetrechts“ zu betreiben. Die Staatsanwaltschaft hingegen war (auf dem Papier) Herr im eigenen Haus – von Moskau bis in die Provinz straff zentralisiert und der Justizverwaltung keinerlei Rechenschaft mehr schuldig. Sie war nun, wie Vyšinskij es selbstgefällig ausdrückte, „‚unie et indivisible‘“.55 Der Aufgabenkatalog eines Staatsanwalts ließ sich zum Ende der 1930er-Jahre grob in zwei Bereiche einteilen: die staatsanwaltschaftliche Aufsicht (nadzor) und 53 Vgl. Kucherov, The Organs, S. 411. 54 Vgl. Beschluss zur Gründung der Unionsstaatsanwaltschaft, 20.6.1933, in: Širjaev/Metelkina, Sovetskaja prokuratura, S. 103. 55 Huskey, Vyshinskii, Krylenko, S. 424. Zit. Vyšinskij, Andrej: Stalinskaja konstitucija i zadači organov justicii, in: Socialističeskaja zakonnostʼ 8 (1936), S. 20.

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die Vorbereitung und Einleitung eines Strafverfahrens, einschließlich der Ermittlungen, mit abschließender Anklagevertretung vor Gericht. Was die Aufsicht betraf, so dehnte Artikel 113 der Verfassung 1936 diese Pflicht auf eigentlich alle denkbaren Bereiche der Staatsorganisation und des gesellschaftlichen Lebens aus: Die oberste Aufsicht über die strikte Durchführung der Gesetze durch alle Volkskommissariate und die ihnen unterstellten Institutionen, ebenso wie durch die einzelnen Amtspersonen sowie durch die Bürger der UdSSR, obliegt dem Staatsanwalt der UdSSR.56 Die „oberste Aufsicht“ (vysšij nadzor) bezog nun auch den sowjetischen „Staatsbürger“ mit ein. Alle persönlichen, betrieblichen oder administrativen Handlungen auf dem Gebiet der Sowjetunion waren in der Theorie Gegenstand staatsanwaltschaftlicher Kontrolle. Nach sowjetischer Rechtsauffassung fiel ihm so die Rolle des Hüters „sozialistischer Gesetzlichkeit“ zu. Dies entsprach dem zentralistischen Kontroll- und Planbarkeitswahn und zugleich der Zivilisationsidee, wie sie sich Lenin für die ganze Sowjetunion erdacht hatte. Er war zudem Träger einer ausgesprochen egalitären Botschaft: Werktätige und Regierungsbehörden legten ihre Verpflichtung zur Einhaltung der Gesetze in die Hände der gleichen Autorität.57 Formulierte man diesen Aufgabenbereich einmal aus, waren in den Rechtshandbüchern schnell mehrere Seiten gefüllt. Von der Einhaltung der Produktionspläne über die „richtige Ausnutzung der maschinellen und aus dem Ausland stammenden Einrichtungen“ bis zur „Erhaltung und Erweiterung des Pferdebestandes“ verlangte alles nach stetiger Kontrolle, was das Soll untergrub oder die Normen verfehlte bzw. sie verletzte.58 Die Nicht-Erfüllung von Standards war als Angriff auf die sowjetische Rechtsordnung zu verstehen. Diese Auffassung gab die Dimensionen der „sozialistischen Gesetzlichkeit vor“ und entsprach wiederum der totalen Fixierung auf das Produktionsinteresse, wie sie in der Verfassung verankert worden war. Die Notwendigkeit einer vysšij nadzor entsprang dieser Fixierung: Dieser Hauptunterschied [nadzor, I. R.] zwischen der Sowjetstaatsanwaltschaft und der Staatsanwaltschaft aller anderen Länder entspringt der wichtigsten Besonderheit der Sowjetordnung: dem sozialistischen System der Planwirtschaft,

56 STALIN, Über den Entwurf, S. 88. 57 Primärziel war die „Durchsetzung eines einheitlichen Verständnisses von Gesetzlichkeit auf dem Territorium der Sowjetunion, die Gewährleistung der Stabilität der sowjetischen Gesetze und der genauen und unentwegten Durchführung dieser durch Alle!“ Lebedinskij, V. G.: Organizacija raboty Sovetskoj Prokuratury. Moskva 1953, S. 86. 58 Vyšinskij, Andrej: Über die Sowjetjustiz. Moskau 1939, S. 102.

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das keine Unordnung, keine Widersprüche, keine Divergenzen zwischen den einzelnen Gebieten und Abschnitten des sozialistischen Aufbaus duldet.59 Wurde ein Gesetz gebrochen, war der Staatsanwaltschaft verpflichtet, den Zustand der Gesetzlichkeit unter allen Umständen (und gegen lokale Einflüsse) wieder herzustellen. Damit war vorausgesetzt, dass lokale Staatsanwälte sich durch Dienstreisen, Korrespondenzen und Beschwerden über jede Handlung ihres Umfeldes auf dem Laufenden hielten. In dieser Behörde sollten theoretisch alle Informationskanäle der sowjetischen Regierungsarbeit zusammenlaufen. Der Staatsanwalt war jedoch explizit kein administratives Organ, sprich: er war nicht weisungsbefugt im Umgang mit anderen Behörden. Sein Arbeitsinstrument, um der „Aufsicht“ Taten folgen zu lassen, war neben dem Strafverfahren der Protest. Das Protestschreiben richtete sich vor allen an staatliche Institutionen und Amtspersonen, einen Vertreter des Stadtsowjets oder des Innenministerium beispielsweise, wenn im Rahmen ihrer Tätigkeit ein Gesetzesbruch vorlag. Der Urheber eines gesetzwidrigen Befehls war durch ein solches Schreiben zur Selbstkritik und Besserung angehalten. Blieb eine Reaktion aus, sollte der Staatsanwalt dieses Schreiben über seine eigenen Vorgesetzten an die nächsthöheren Vorgesetzten der anderen Instanz geben: an das Regionale Exekutivkomitee (ObIspolKom) im Falle des Stadtsowjets. Dieser Zickzack-Kurs durch die Behörden-Hierarchien konnte theoretisch bis zur Intervention des Obersten Sowjets führen.60 Der Gegensatz zwischen Verantwortung und Vollzugsgewalt ist offensichtlich. Er lässt die Schwerfälligkeit eines bürokratischen Riesen erahnen, und welche Ressourcen notwendig waren, allein die Sowjet-Arbeit flächendeckend im Auge zu behalten. Um der Vielfalt ihrer Aufgaben zumindest institutionell gerecht zu werden, bildete die Staatsanwaltschaft im Laufe der Jahre immer neue eigenständige nadzor-Abteilungen heraus. Neben der „allgemeinen Aufsicht“ (die sich überwiegend den Produktionsstatistiken und Sowjetbeschlüssen widmete) richtete Moskau für alle Befehlsebenen Abteilungen zur Aufsicht über die Miliz, die Gerichte oder die Haftverbüßungsorte ein. In zahlreichen Lehrbüchern wurden die Details dieser Aufsichtsarbeit für alle betroffenen Behörden ausgebreitet. Selbst eine grobe Zusammenfassung der zu beaufsichtigenden Tätigkeiten würde allerdings den Rahmen dieses Kapitels sprengen. Grundsätzlich unterlag jeder Arbeitsschritt der Miliz- und Gerichtsmitarbeiter, der unmittelbar mit dem Strafprozess in Verbindung stand, der Aufsicht und dem Protest-Veto des Staatsanwalts – im Rahmen der oben beschriebenen Befugnisse. Von der Dauer eines Ermittlungsverfahrens, über

59 Ebd., S. 100. 60 Vgl. Lebedinskij, Organizacija raboty, S. 97–99.

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Haftbedingungen und Verhörmethoden bis zum Inhalt eines Gerichtsurteiles waren dabei sowohl strafrechtliche als auch strafprozessrechtliche Fragen betroffen. Die Verfassung von 1936, das Strafgesetzbuch von 1926, die Strafprozessordnung und ab 1939 auch die sowjetische „Gerichtsverfassung“ – sollten nicht nur ins Standardrepertoire eines jeden Staatsanwalts gehören. Sie waren seine schriftliche Handhabe und als Ersatz für seine fehlende Weisungsgewalt gedacht. Nadzor bedeutete die Verantwortung über Form und Inhalt der sowjetischen Justiz und des sowjetischen Staatsapparates insgesamt.61 Dieser Auftrag führte die Staatsanwaltschaft in eine strukturelle Konkurrenz mit dem NKVD, zu dem auch die Miliz gehörte. Das Innenministerium hatte eigene Prioritäten im Umgang mit Rechtsnormen. Die OGPU und die Miliz hatten sich beide im Zuge der Kollektivierung als arbiträre Herrschaftsinstrumente der Partei und als Vollstrecker zweckmäßiger Entscheidungen bewiesen. Zwang übte die (Geheim) Polizei auf administrativer Grundlage, sprich: nach Listen und Verhaftungskontingenten, nicht auf gesetzlicher Grundlage aus.62 Nun war das NKVD mit seiner Verantwortung für das Lagersystem und die Miliz sowohl das Objekt der Korrekturpflichten der Staatsanwaltschaft als auch Konkurrent im Ermittlungsverfahren. Dabei gehörte es auch zum Wesen sowjetischer Staats- und Rechtstheorie, dass Konflikte zwischen den Instanzen nicht vorgesehen waren. Noch 1953 wurden in einem 200 Seiten langen Leitfaden zur Organisation und Arbeit der Staatsanwaltschaft exakt zwei Seiten auf die „Wechselbeziehungen mit anderen Organen“ verwendet. Außer für die Partei, deren Tätigkeiten zu kritisieren ein „schwerer politischer Fehler“ sei, gab es in Bezug auf alle übrigen Behörden kein erkennbares Muster von Kompetenzen, bzw. Weisungsbefugnissen der Staatsanwaltschaft. Kompetenzkonflikte wurden nicht erwähnt, sondern nur das Gebot zur Zusammenarbeit.63

2.2.3 Der Staatsanwalt im Strafprozess – Schlaglichter auf die Prozessordnung Das zweite Arbeitsinstrument gehörte auch zum zweiten Aufgabenbereich der Staatsanwälte: dem Strafprozess. Den Beamten oblag die Hauptverantwortung, Verbrechen aufzudecken, vor Gericht zu bringen und (im Zuge der Gerichtsaufsicht) ihre

61 Vgl. Morgan, Soviet Administrative Legality, S. 1–6. 62 Vgl. Hagenloh, Stalin’s Police, S. 490 f. 63 Vgl. Lebedinskij, Organizacija raboty, S. 181 f. Die Frage der zwischenbehördlichen (Miliz und Staatsanwaltschaft) und innerbehördlichen Zuständigkeiten sei von Anfang an vernachlässigt worden. Vgl. Šabalina, Prokuratura, S. 63–65.

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korrekte Ahndung zu gewährleisten. Nadzor und Strafprozesspflichten gehörten also eng zusammen.64 Sieht man vom Zivilrecht ab, wurde das Zustandekommen jeder Anklage vor Gericht in die Hände dieser Institution gelegt. Aus eigenem Antrieb oder über eine Anzeige, bzw. einen Hinweis innerhalb der Bevölkerung: Der Staatsanwalt initiierte das Ermittlungsverfahren, so ein Gesetzesbruch zu vermuten war. Selbst die Unterscheidung zwischen zivilen (graždanskye) und strafrechtlichen (ugolovnye) Ermittlungssachen war so fließend angelegt, dass hinter jedem Nachbarschaftsstreit in Eigentumsfragen staatliche Interessen vermutet werden konnten. Auch hier konnte der Staatsanwalt die ursprüngliche Beschwerde eines Bürgers übernehmen und im Namen des Staates vor Gericht bringen.65 Die Hoheit über das Ermittlungsverfahren war aber nicht ungeteilt. Ohne auf die überwältigenden Details und Feinheiten der Prozessordnung hier einzugehen, reicht es festzuhalten, dass einerseits die Ermittler des Staatsanwalts (sledovateli) die Ermittlungen durchführten. Die abschließende Anklageschrift des Staatsanwalts komplettierte die „Erhebung der Strafsache“ (vozbuždenie ugolovnogo dela) und wurde ans Gericht weitergereicht. Andererseits ermittelten die „Organe der Ermittlung“ (organy doznanija) – also der Miliz und des NKVD – in eigenen Ermittlungsfällen. Deren Ermittlungsverfahren konnte parallel, bzw. auch in Zusammenarbeit mit den Ermittlern der Staatsanwaltschaft erfolgen. Eine ganze Reihe von Tatbeständen sollte dem Gesetz nach automatisch an die Ermittler der Staatsanwaltschaft delegiert werden – darunter auch die meisten der 58er-Paragraphen. Die sowjetische Prozessordnung verzichtete jedoch weitestgehend darauf, Zuständigkeiten und Ausnahmen im Ermittlungsprozess zwischen Staatsanwaltschaft und Miliz klar abzugrenzen. Das NKVD zum Beispiel hatte in seiner politischen Funktion als Nachfolger der OGPU eigene „spezielle Regeln“ der Ermittlungsführung, die in der Prozessordnung nicht weiter erläutert werden. Spätestens dort stieß die Ermittlungshoheit der

64 „Auf gerichtlichem Gebiet bestehen die Hauptfunktionen der Staatsanwaltschaft in Einleitung des Strafverfahrens, Leitung der Voruntersuchung, Vertretung der Anklage vor Gericht, gegebenenfalls Einlegung von Protest mit dem Ziel der Nachprüfung des Verfahrens und Einleitung eines Wiederaufnahmeverfahrens im Fall des Bekanntwerdens neuer Tatsachen. Zu diesen Aufgaben treten noch folgende weitere hinzu: a) Überwachung der richtigen Strafzumessung bei Freiheitsentzug als Maßnahme der kriminellen Bestrafung b) Nachprüfung der Gesetzmäßigkeit der Haft in allen übrigen Fällen und c) Aufsicht über die richtigen Vollstreckung der Urteile.“ Vyšinskij, Über die Sowjetjustiz, S. 112. 65 Zur Klage im Zivil- und Strafprozess in der sowjetischen Jurisprudenz vgl. Šifman, M. L.: Prokuror v ugolovnom processe. (Stadija sudebnogo razbiratelʼstva). Moskva 1948, S. 33–47. Aus Sicht der sowjetischen Rechtsgelehrten (und Funktionäre) sei die Trennung in Straf- und Zivilrecht ohnehin von den Nützlichkeitserwägungen des Staates abhängig gewesen. Vgl. Hazard, John N./Shapiro, Isaac: The Soviet Legal System. Post-Stalin Documentation and Historical Commentary. Part III. Legal Relations between Soviet Citizens. New York 1962, S. 3 f.

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Staatsanwaltschaft an ihre Grenzen – was mit Blick auf die Geschichte der Verfolgung nach politischen Paragraphen auch nicht weiter überrascht.66 Hinzu kam, dass die Strafprozessordnung kein wirklich formalisiertes Verfahren zur Erstattung einer Strafanzeige vorsah. Bürger und Betriebe konnten ihre „Anzeigen“ (zajavlenija) an alle Ermittlungsinstanzen gleichzeitig schicken. Eine eindeutige Zuordnung von Untersuchungsfällen auf die entsprechenden Organe war nicht vorgesehen. Die Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft durften zwar in die Ermittlungsarbeit der Miliz eingreifen. Die Funktionsfähigkeit der Strafjustiz war dennoch davon abhängig, dass Miliz und Staatsanwaltschaft kooperierten und nicht konkurrierten. Es war seine Rolle vor Gericht, die dem Staatsanwalt spätestens mit den großen Schauprozessen internationale Prominenz verschaffte. Die Formulierung und Durchsetzung der Anklage war auch in nicht-öffentlichen Verfahren ein agitatorischer, auch in nicht-politischen Verfahren ein politischer Akt. Nach stalinistischer Rechtsauffassung standen in jedem Prozess die Interessen der Produktionsgemeinschaft auf dem Spiel. Die Anklagevertretung wurde folglich als ständiges Sprachrohr für die Interessen der Parteiführung bestimmt. Seine Rolle als Redner vor Gericht fiel mit der Aufgabe zusammen, in den Betrieben die juristische Aufklärung zu übernehmen. In der hauseigenen Zeitschrift Socialističeskaja zakonnostʼ formulierte man es zum Jahrestag der neuen Prozessordnung 1939 so: „Er [der Staatsanwalt, I. R.] kann und muss der bolschewistische Tribun vor Gericht, der Propagandist unseres sozialistischen Rechtes sein.“67 Damit fanden über den Staatsanwalt, vor allem in politischen Verfahren, die aktuellen Feindbilder ihren Weg in den Gerichtssaal.68 Die Staatsanwaltschaft musste zudem jeder Strafsache über die Anklage den politischen Vorrang geben, den sie nach Auffassung der Parteiführung verdiente. Die „faktisch und politisch richtige Behandlung“ einer Strafsache ließ natürlich Raum für Interpretation.69 Im Kern ging es darum, dass die Anklage den Forderungen der Parteiführung entsprach und Rücksicht auf das Interesse des Parteiapparates nahm. Dieses Mantra galt, wenn Parteimitglieder vor Gericht standen oder wenn die Parteioberen Höchststrafen bei bestimmten Delikten einforderten (wie für das Verlassen des Arbeitsplatzes ab 1940 beispielsweise).70 Die Anklage galt natürlich auch als Produkt juristischer Überlegungen. Sie war die abschließende Bestätigung der Beweismittelprüfung durch die Ermittlung und

66 Vgl. Ugolovno-processualʼnyj kodeks. S izmenenijami na 1 debabrja 1938 g., hrsg. vom Ministerium für Justiz der RSFSR. Moskva 1938, S. 23–33, hier besonders Artikel 108 auf S. 30. 67 Knjazev: Pervye šagi perestrojky, in: Socialističeskaja zakonnostʼ 1 (1939), S. 75. 68 „Die Staatsanwaltschaft entlarvt vor Gericht öffentlich die verbrecherischen Machenschaften der Volksfeinde“. Vyšinskij, Über die Sowjetjustiz, S. 111. 69 Vgl. Šifman, M. L.: Prokuror v ugolovnom sude. Moskva 1946, S. 48. 70 Vgl. Kapitel 4.2.

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sollte theoretisch ent- und belastende Fakten miteinbeziehen.71 Zeitgleich fußte die Verlesung der Anklage auf der Überzeugung, dass eine Straftat vorläge. Der Staatsanwalt hielt die Anklage nur, wenn er „zu der völligen Überzeugung von der Schuld des Angeklagten gelangt“.72 In letzter Konsequenz musste der Staatsanwalt, wenn er das Verfahren durch die Anklage eröffnete, eine Verurteilung erwirken. Auch wenn er von der Anklage zurücktreten konnte, trug er, aus Sicht des Staates, dessen Interessen er vertrat, die letztliche Verantwortung für jeden Freispruch. In einer Diktatur, die sich explizit auf die Interessen des Kollektivs und dessen eindeutige Normensetzung beruft, bedeutete dies theoretisch eine Widerlegung ebenjener Prinzipien. Unabhängig davon, wie menschliche Kollateralschäden an der Parteispitze wahrgenommen wurden, galt Strafverfolgung als Präzisionsarbeit. Der Staatsanwalt verantwortete mit der Erhebung (oder Einstellung) des Anklageverfahrens, wer der Sanktionsgewalt des Staates ausgesetzt werden würde. Eine Niederlage für den Staatsanwalt vor Gericht war prinzipiell ein Rückschlag für die Staatsmacht. Die Frage der Unschuld musste er folglich schon im Ermittlungsverfahren klären und im Zweifelsfalle zur Einstellung bringen. Selbstverständlich brachte die sowjetische Jurisprudenz ihren Staat nicht so leicht in Bedrängnis. Dafür blieb dem Staatsanwalt ein letzter Protest vorbehalten: „Das Recht auf Anfechtung [oprotestovanija] wird dadurch ins Leben gerufen, dass Gerichtsurteile nicht frei von Fehlern und Mängeln sind“.73 In diesem Satz klingt das Misstrauen gegenüber den Einflüssen der Peripherie an, wie sie Lenin bereits 1922 betonte. Ein fehlerhaftes Gericht in der Provinz braucht ein Korrektiv zur Seite, das es an die Werte des Zentrums zurückbindet. Zu diesem Zweck etablierte man schon damals die „Gerichtsaufsicht“ (sudebnyj nadzor) durch den Staatsanwalt. Anlass für einen Protest konnten sowohl die Form als auch der Inhalt eines Urteils sein. Allerdings musste auch die Gerichtsaufsicht den Behördenweg über die nächsthöhere Instanz nehmen, bevor es zum Kassationsverfahren kommen konnte. Die Anfechtung eines Gerichtsurteiles konnte also ihren Weg bis über das Oberste Gericht in Moskau nehmen.74 Lenins Auftrag an die Staatsanwaltschaft war nicht umsonst die „Aufsicht“ über und nicht der Eingriff in die Arbeit der Staatsorgane der Peripherie. Gerichtsurteile bildeten da keine Ausnahme. 71 „The sum total of the preliminary investigation is the indictment, which is compiled by the investigator and confirmed by the procurator.“ Dina Kaminskaya schildert ihre Erfahrungen aus der Warte einer Verteidigerin in den großen Dissidenten-Prozessen der 1960er-Jahre. Ihre Ausbildung begann sie allerdings bereits zum Ende der 1930er-Jahre. Ihr Resümee über das sowjetische Justizsystem ist mit Blick auf viele Aspekte der sowjetischen Rechtspraxis äußerst aufschlussreich. Kaminskaya, Dina: Final Judgement. My Life as a Soviet Defence Lawyer. London 1982, S. 51–62. 72 Šifman, Prokuror v ugolovnom sude, S. 105. 73 Ebd., S. 107. 74 Vgl. Kucherov, The Organs, S. 642–649.

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Das Strafverfahren war ein Werkzeug in der Hand des Staatsanwalts – zur Wiederherstellung der Gesetzlichkeit. Von „Volksfeinden“ und „Überreste[n] der zertrümmerten Klassen“ ist bei Vyšinskij die Rede, die die ganze Macht dieses Verfahrens zu spüren bekommen sollten.75 Es sollte da wirksam werden, wo das Produktionsinteresse gefährdet, also die staatliche Autorität herausgefordert wurde. Je nach Delikt und Stand der Kriminalitätsdebatte richtete sich das Strafverfahren in seiner Gesamtheit auf die Einebnung individueller Interessen. Dass die Organe des Staatsapparates selbst ‚individuelle Interessen‘ verfolgten, sprich „ungesetzlich handeln“ könnten, wurde in den Lehrbüchern als Praxisproblem nur angerissen. Auf dem ideologischen Reißbrett jedoch wurden solche Szenarien ausgespart. Nadzor forderte die Verantwortung der vorgesetzten Behörden heraus, Probleme mit den Mitarbeitern intern zu lösen. „Administrative Bestrafung“ war dann die gängige Lösung in solchen behördeninternen Konflikten. So sah es auch die Prozessordnung vor.76 Nichtsdestoweniger war ein Strafverfahren gegen Bedienstete des Staates, gegen Parteimitglieder und Milizionäre nicht ausgeschlossen. Dieser Weg führte, so es beispielsweise zu einer Anklage gegen Angehörige des Innenministeriums kam, zum Militärtribunal, in dem der Militärstaatsanwalt die Aufsicht theoretisch unter den gleichen Bedingungen führte.77 Die Umstände für diese Art von Gerichtsarbeit waren ungleich komplizierter. Darauf wird jedoch an gegebener Stelle und an konkreten Beispielen eingegangen werden.

2 . 3 Zw i s che n f a z it In der bolschewistischen Sicht auf das Recht lag naturgemäß ein großes Stück Utopie. Die Vision von der Diktatur des Proletariats rechnete fest mit dem Triumph des Produktionsinteresses und dem Konformitätswunsch der Werktätigen. Dieses Fernziel konnte auf kodifiziertes Recht verzichten. Im Angesicht der sozialen und politischen Realitäten mussten die Revolutionäre dann ihre Vision aber zurückstellen, „um nicht komplett zu scheitern“.78 Das nackte politische Überleben der Bolʼševiki stand seit 1917 immer wieder auf dem Spiel. Die Hypotheken des alten Russlands und selbst kreierte Katastrophen forderten den Machthabern in der Planung des sozialistischen Staates immer neue Zugeständnisse ab. Nichtsdestotrotz trugen ihre Überlegungen zu Sinn und Nutzen kodifizierter Normen den Kernaspekten des Projektes Kommunismus Rechnung. 75 Vyšinskij, Über die Sowjetjustiz, S. 111. 76 Ugolovno-processualʼnyj kodeks (1938), S. 25. 77 Vgl. Butler, Soviet Law, S. 115 f. 78 Neutatz, Träume und Alpträume, S. 587.

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Zum Ende der 1930er-Jahre galt Recht endgültig als Ausdruck des kollektiven Produktionsinteresses; als Normen, die sich die Diktatur der Arbeiterklasse unter Anleitung der Partei selbst auferlegte und die kein eigenes Wertesystem darstellten. Die Zweckmäßigkeit des revolutionären Projekts bestimmte auch nach 1922 den inhaltlichen Wert sowjetischen Rechts. Die Bindekraft eines Gesetzes hatte im nötigen Falle der Logik des Klassenkampfes nachzugeben und hatte Platz für außergerichtliche Weisungen und Gewalt zu machen. Das politische Überleben der Bolʼševiki war das unterschwellige Primat der Rechtsauffassung. Diese Denkweise hatte sowohl ein solides ideologisches Fundament als auch die Erfahrung des Bürgerkrieges zur Bestätigung.79 Die Funktionsfähigkeit dieses Projekts hing zugleich vom Bestehen verbindlicher Normen ab. Die gewaltsamen Umbrüche der Zwischenkriegszeit forderten ein soziales und wirtschaftliches Chaos heraus, dem mit „revolutionärem Gewissen“ allein nur schwer zu begegnen war. Ein Regelgerüst (und dessen Durchsetzung) waren unverzichtbar, um die werktätige Bevölkerung für die Produktionsziele zu disziplinieren. Dieses Formengerüst konnte Zwang verstetigen und die eigene Bevölkerung mit der Illusion von Stabilität versöhnen. Zusätzlich verband man mit diesem Gerüst den Anspruch, eine Brücke in die Peripherie zu schlagen. Der politische Zentralismus sollte über Moskaus Statuten, über die Universalität und Eindeutigkeit ihrer Form verankert werden. Hier treten zwei bestimmende Momente für den sowjetischen Rechtsbegriff zutage – wobei damit nicht Form und Inhalt des Rechts gemeint ist, wie von Stučka beschrieben. Es sind die Fragen der Zweckmäßigkeit und der Funktionsfähigkeit politischen Handelns mithilfe des Rechts. Diese standen nicht notwendigerweise in Widerspruch, sondern bestimmten miteinander ein unauflösbares Spannungsverhältnis, das den sowjetischen Rechtsbegriff durchzog. Der Umgang mit dem Analogieparagraphen veranschaulicht dies. Analogie, also die flexible Anwendung einer Rechtsnorm, war politisch zweckmäßig. Die unkontrollierte Anwendung dieses Prinzips gefährdete jedoch die Funktionalität des Rechtssystems und das legislative Monopol der Machthaber. Dieser Fall sollte nicht eintreten. Selbst Vyšinskij (der als dessen stärkster Befürworter galt) plädierte deswegen dafür, diesen Spielraum zurückhaltend auszunutzen.80 Das Amt der Staatsanwaltschaft rückte von Beginn an in den Mittelpunkt dieser Spannung. Der Staatsanwalt wurde als Träger und Propagandist eines eindeutigen Normengerüstes bestimmt. Er sollte der Garant einer Zivilisationsmission sein, die im Kern den Herrschaftsanspruch Moskaus über die Peripherie in sich

79 Vgl. Ryan, Lenin’s Terror, S. 184–186. 80 Vgl. Huskey, Vyshinskii, Krylenko, S. 422.

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trug. Sowohl die geographische als auch die behördliche Distanz sollte durch seine Qualitätskontrolle überwunden werden. Er trug die Verantwortung für die Funktionsfähigkeit der gesamten Produktionsgemeinschaft. Darüber hinaus bot er, wie die Justiz insgesamt, die Projektionsfläche für das Verlangen in der Bevölkerung nach Stabilität und Vorhersehbarkeit im „permanenten Ausnahmezustand“.81 Der sowjetische Staatsanwalt sollte Staat und Gesellschaft disziplinieren, sprich: zur Einhaltung der Rechtsnormen veranlassen, um die Funktionsfähigkeit der sowjetischen Ordnung zu gewährleisten. Zugleich leitete der politische Zweck auch ihn selbst in seinem Handeln an. Strafverfolgung und nadzor mussten dem Kalkül der Parteiführung ständig Rechnung tragen und das Produktionsinteresse mit allen Mitteln verteidigen. Das bedeutete nicht, dass sich die Staatsanwälte bei ihrer Bewertung von lokalen Sowjetbeschlüssen oder Gerichtsurteilen oder bei der Vorbereitung der Anklage gegen Regierungsvertreter zwischen Gesetz und Parteiwillen entscheiden mussten. Der entscheidende Punkt, der sich aus dem sowjetischen Rechtsbegriff für die Staatsanwaltschaft ergab, war, dass die Funktionsfähigkeit und Zweckmäßigkeit der Justiz als deckungsgleich kommuniziert, bzw. beansprucht wurden. Es gab offiziell keinen Widerspruch zwischen Gesetz und Parteiwillen. Die Befolgung und Durchsetzung sowjetischer Gesetze war ein Soll-Zustand, in dem diese Spannung aufgelöst, bzw. für richtig befunden wurde. „Sozialistische Gesetzlichkeit“ war verbindlich und politisch flexibel zugleich – der Idealzustand zur Verwirklichung des kollektiven Produktionsinteresses. Der sowjetische Staat übte über den Staatsanwalt, so die Vorstellung, Zwang auf regelhafter Grundlage aus und nahm dabei doch Rücksicht auf die höheren Erfordernisse der Revolution. Gesetzlichkeit war somit das große Stück Utopie, dessen man sich nicht entledigen konnte. Der Staatsanwalt musste dieser Utopie praktischen Nutzen verleihen. Er musste „Sozialistische Gesetzlichkeit“ in die Peripherie und die Umstände der Situation übersetzen und das abstrakte Parteiinteresse berücksichtigen. Seine Anklagen mussten in jedem Fall zu einer Verurteilung führen und Konflikte lösen, die es nach dem sowjetischen Rechtsverständnis gar nicht gab. Er musste Normen gegenüber anderen Staatsorganen durchsetzen, die, wie das Innenministerium, eigene Prioritäten im Umgang mit Rechtsnormen hatten. Die sowjetische Rechtstheorie bestimmte den Staatsanwalt zur Disziplinierung von Staat und Gesellschaft und kalkulierte die strukturelle Konkurrenz mit dem Innenministerium ein. Zeitgleich beinhaltete diese Vorstellung, dass es keine Interessenkonflikte gebe, die Auslegung der Gesetze nicht notwendig, und alle Staatsbehörden kooperationswillig seien. Der 81 Gestwa, Klaus: Social und Soul Engineering unter Stalin und Chruschtschow, 1928–1964, in: Thomas Etzemüller (Hg.), Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert. Bielefeld 2009, S. 251 f.

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daraus resultierende Konflikt zwischen den Herrschaftsinstrumenten wurde antizipiert, aber nicht thematisiert. Die Richtungsentscheidung über die Anwendung dieser Instrumente trug schließlich die Partei. Sie verkörperte die übergesetzliche Interventionsmacht, die die Ordnung, sprich: die Errungenschaften der Revolution, mit außergerichtlichen Mitteln (mittels der Geheimpolizei) jederzeit verteidigen lassen konnte. Dieses Veto hatte in der Praxis gravierende Folgen für die Staatsanwaltschaft und den Rest der Sowjetunion – wie die Jahre 1937 und 1938 zeigen sollten.

3. DI E STA AT SA N WA LT SC H A F T U N D DA S E N DE DE R M ­ A SSE NOPE R AT ION E N  – 1938 BIS 19 41

Die stalinistische Herrschaft zeichnete sich unter anderem durch die Überzeugung der Parteiführung aus, dass das revolutionäre Projekt an inneren und äußeren Fronten permanent gefährdet sei.1 Diese „Angst vor der Dekomposition ihrer Macht“2 gewann Mitte der 1930er-Jahre eine neue Intensität, als Millionen im Zuge der Kollektivierung deportierter Menschen nach Ablauf ihrer Verbannungsfrist zurückkehren wollten. Die Parteiführung antizipierte dieses Szenario als akute soziale und politische Bedrohung. „Soziales Chaos und Konterrevolution verschmolzen“ miteinander und gaben mit den Anlass für die verheerenden Massenoperationen, die in den Jahren 1936 bis 1938 als „Großer Terror“3 ins kollektive Gedächtnis Russlands eingegangen sind. In mehrfach ineinandergreifenden Operationen verhaftete, deportierte und ermordete das NKVD Hunderttausende als vermeintliche Angehörige dieser Gruppen. Obwohl später als „politische Säuberungen“ apostrophiert, holte das Innenministerium mit diesen Operationen zu einem Generalschlag gegen jede Art von Kriminalität bzw. (potenziell) abweichendem Verhalten aus.4 Damit wurden nicht nur die prozessrechtlichen Grenzen zwischen politischer und normaler Kriminalität vollkommen verwischt (die inflationäre Anwendung des ‚Gummiparagraphen‘ 58 ist dafür das beste Beispiel).5 Die Dynamik der Verfolgung wurde so weit aus der Hand gegeben, dass sich Beamte mit Erschießungsquoten überboten und immer mehr Denunziationen immer größere Verhaftungswellen nach sich zogen. Die ‚gezielten‘ 1 Vgl. Neutatz, Träume und Alpträume, S. 249. 2 Gestwa, Social und Soul Engineering, S. 246. 3 Shearer, David: Stalinistische Repressionen und das Problem der sozialen Umgestaltung, in: Baberowski/Kindler, Macht ohne Grenzen, S. 35; vgl. vor allem Shearer, Policing Stalin’s Socialism, S. 2–8. Die Ursprünge des Massenterrors sind weiterhin umstritten und entziehen sich, so Neutatz, monokausalen Erklärungsversuchen. Vgl. Neutatz, Träume und Alpträume, S. 271–277. Diese Arbeit beruft sich auf Shearers Interpretation vom Terror als Reaktion auf soziale Unordnung und seine Sicht auf die Geheimpolizei als entfesseltes (aber auch eigenständiges) Herrschaftsinstrument. Zur Bedeutung des „Großen Terrors“ im Kontext der allgemeinen Verfolgungen der 1930er-Jahre vgl. Werth, Nicolas: Der Stellenwert des „Großen Terrors“ innerhalb der stalinistischen Repressionen. Versuch einer Bilanz, in: Weber/Mählert, Verbrechen im Namen der Idee, S. 269–280. 4 Vgl. Baberowski, Der rote Terror, S. 188. 5 Vgl. dazu Davies, Sarah: The Crime of „Anti-Soviet Agitation“ in the Soviet Union in the 1930’s, in: Cahiers du Monde russe 39 (1998) H. 1–2, S. 159–161.

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Operationen entwickelten sich zu einem selbstantreibenden Vernichtungszyklus.6 In einem nie gekannten Tempo, teils blind, mehr reaktiv als präventiv und vor allem äußerst willkürlich zerstörte das Innenministerium die soziale Struktur der Sowjetunion – mit anfangs tatkräftiger Unterstützung von Gerichten und Staatsanwälten. Der „Große Terror“ wurde als soziales Ordnungsprojekt initiiert, doch vom Standpunkt sozialer Ordnungsvisionen waren diese Operationen mehr als eskaliert: Sie waren gescheitert (ganz gleich welchen Ordnungsbegriff man dafür zugrunde legt). Mangelwirtschaft und Verhaftungen hielten die Menschen in Angst und in Bewegung. Die sozialen Bande fielen einer Kultur der Denunziation und der Erfahrung der Gewalt zum Opfer.7 Mehr noch: Die Zahl der Wohnungslosen, Arbeitslosen, kriminalisierten und traumatisierten Menschen war um ein vielfaches höher als nach der Kollektivierung und die Verhaftungen hielten immer noch an. Das Sozialgefüge war ins Chaos gestürzt worden.8 Mit Blick auf die involvierten Behörden fällt auf, dass bis zur Absetzung des Volkskommissars für Inneres, Nikolaj Ežov, vor allem die Organe der Strafjustiz erhebliche Verluste erlitten hatten. Entlassungen und Verhaftungen hatten auch die Reihen der Staatsanwälte und Richter (in geringerem Maße auch die der Verteidiger) gelichtet.9 Einen solchen Kahlschlag hatten weite Bereiche des Staatsapparates hinter sich und mit der Übernahme Lavrentij Berijas als neuer Kommissar hatte das NKVD das Gleiche zu erwarten. Hinzu kam, dass die Massenoperationen die konventionelle Jurisdiktion und Polizeiarbeit (Ermittlungen, die Vorbereitung und Durchführung von Gerichtsverfahren) zum Erliegen brachten. Schon im Frühjahr 1938 wurden in der Sowjetunion kaum mehr Anstrengungen zur regulären

6 Vgl. dazu Goldman, Wendy Z.: Inventing the Enemy. Denunciation and Terror in Stalin’s Russia. Cambridge (MA) 2011. 7 „During the mass operations of the Great Terror, these attempts to impose order lapsed into mass killings to solve the problem once and for all, but they had to fail, as fluidity was at the very core of life under Stalin.“ Edele, Mark: Stalinist Society 1928–1953. Oxford 2011, S. 72; vgl. auch Shearer, Policing, S. 369 f. 8 „There was considerable order to this chaos, which was not imposed by the state, but emerged spontaneously as people tried to make do and survive. These patterns were not accidental, but they followed the lead of precedence […] The history of begging and beggars, the subcultures of thieves, con men, and homeless youth, the networks of fellow countrymen and the pathways of migration, from and between cities […] are only examples for many long and deep histories which guided people’s actions. It was these many tenacious pasts which imposed some order […]“ Edele, Stalinist Society, S. 72 f. 9 Vgl. Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 244 f. Solomon spricht von circa 50 % aller Richter und Staatsanwälte, die im Zeitraum 1937/38 verhaftet und/oder entlassen wurden. Ein anschauliches Beispiel zur vermeintlichen „Verschwörung“ in den Justizorganen (und ihre Ausbreitung auch durch die Reihen des NKVD): Sondermeldung N. Ežovs an J. Stalin, 29.03.1938, in: V. N. Chaustov/V. P. Naumov/N. S. Plotnikov (Hg.), Lubjanka. Stalin i glavnoe upravlenie gosbezopasnosti NKVD 1937–1938. Moskva 2004, S. 506–508; Zvjagincev/Orlov, Prigovorennye vremenem, S. 57–76.

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Strafverfolgung unternommen. Sowohl im Innenministerium als auch unter der Staatsanwaltschaft seien diese Routinen schlichtweg verkümmert bzw. ignoriert worden.10 Die Massenoperationen hatten also den Zusammenbruch des sowjetischen Justizsystems zur Folge. Normen und Prozeduren wurden übergangen bzw. außer Kraft gesetzt. Das Verhör und ein erzwungenes ‚Geständnis‘ ersetzten oftmals das Ermittlungsverfahren. Die Funktionsfähigkeit des gesamten Justizapparates wurde dem Argument des Zwecks geopfert – unter Beihilfe der Justizorgane. Im Herbst 1938 wurden die Massenoperationen eingestellt und Nikolaj Ežov als Chef des NKVD entlassen und verhaftet. Es würde zu weit führen, die Ursachen für diesen Kurswechsel ausführlich zu beleuchten. Denn völlig zu Recht musste Bernd Bonwetsch bekennen: „Die Hintergründe und Erwägungen im Zuge dieses Umschwunges sind völlig unbekannt.“11 Die Machtkonzentration in den Händen des NKVD (Ežovs im Besondern) spielte dabei vermutlich ebenso eine Rolle wie die eigentlich sichtbar negative Erfolgsbilanz in den Kriminalstatistiken, die Ordnung der Gesellschaft nicht im Kampagnenstil fortzuführen. Das entscheidende Resultat dieser Kursänderung war, dass die Routinen der Strafverfolgung – die Arbeit von Gerichten, Ermittlern und Staatsanwaltschaften – wieder als gleichberechtigte Option neben dem NKVD gesehen wurden.12 Die politische und juristische Auseinandersetzung mit den Folgen des „Großen Terrors“ veränderte das Verhältnis beider sowjetischer Herrschaftsinstrumente zueinander. Das folgende Kapitel rückt diese Neuordnung in den Mittelpunkt und erfragt, welche Rolle die Staatsanwaltschaft entwickelte bzw. welche Grenzen im Zuge der „Disziplinierung und Umorientierung der Täterbehörde“13 für sie gezogen wurden. Welche Verantwortungen wurden ihr zugesprochen und inwieweit gelang es der Staatsanwaltschaft tatsächlich, das Innenministerium zu disziplinieren? Welche Auswirkungen hatte der Große Terror auf die Wahrnehmung der eigenen Rolle und auf das Verhältnis zum NKVD für die Zukunft? Der Fokus liegt dabei zunächst auf den strategischen Kurskorrekturen im inneren Machtzirkel, die das Ende der Massenoperationen quasi einleiteten und helfen sollten, es zu verwalten. Hierbei geht es um die Rollenverteilung zwischen Innenministerium und Staatsanwaltschaft sowie um die politischen Konsequenzen, die 10 Vgl. Hagenloh, Stalin’s Police, S. 291. 11 Binner/Bonwetsch/Junge, Massenmord und Lagerhaft, S. 452; vgl. auch Baberowski, Der rote Terror, S. 202. 12 Einige (nicht mehr zugängliche) NKVD-Dokumente weisen angeblich darauf hin, dass prominente Politbüro-Mitglieder den Staat selbst durch die Eskalation der Massenverhaftungen gefährdet sahen. Vgl. dazu Getty, John Arch/Naumov, Oleg V.: The Road to Terror. Stalin and the Self-Destruction of the Bolshevics, 1932–1939. New Haven/London 1999, S. 528, Anm. 41; Hagenloh, Stalin’s Police, S. 288. 13 Binner/Bonwetsch/Junge, Massenmord und Lagerhaft, S. 454.

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die Parteiführung aus den Jahren 1936 bis 1938 für die Zukunft zog. Der darauffolgende Abschnitt beleuchtet die Reform des Strafrechts im Herbst 1938, die, als Konsequenz des politischen Richtungswechsels, auch die Rolle der Staatsanwaltschaft für die Zukunft definierte. Unter dem Etikett der perestrojka propagierte die Staatsführung die gestiegene Bedeutung einer funktionsfähigen Justiz.14 Für das Selbstverständnis und den politischen Arbeitsauftrag an die Staatsanwaltschaft ist diese Weichenstellung von ebenso großer Bedeutung wie die Verteilung und Bewertung der Aufgaben hinter den geschlossenen Türen des Politbüros. Im letzten Teilabschnitt stehen die praktischen Konsequenzen im Mittelpunkt, die die Staatsanwaltschaft aus ihrer neuen Rolle ab 1938 zog: die Auseinandersetzung mit dem Innenministerium und mit den Massenverhaftungen der vergangenen zwei Jahre sowie die strafrechtliche Bewertung dieser Exzesse. Die Bewertung des Terrors sollte die entscheidende Wegmarke für das Selbst- und Fremdbild der Staatsanwaltschaft werden.

3.1 St r at eg ie we ch s el i m He r b s t 1938 Der 17. November 1938 war ein Einschnitt in der Geschichte sowjetischer Massengewalt. An diesem Tag erging der Politbürobeschluss „Über Verhaftungen, staatsanwaltschaftliche Aufsicht und die Durchführung des Untersuchungsverfahrens“.15 Mit ihm sollten alle Massenverhaftungen unterbunden, die berüchtigten Dreiergremien (trojki)16 aus Partei, Staatsanwaltschaft und Geheimpolizei aufgelöst und das verfassungsmäßige Recht auf ein Gerichtsverfahren wieder hergestellt werden. Allerdings war dieser Erlass keine spontane Notbremse. Die strategischen Grundlagen für die Beendigung der Massenoperationen hatte die Parteiführung bereits zu Jahresbeginn gelegt. Im Januar 1938 versuchte die Parteiführung auf einem eigenen Plenum, die ‚Hexenjagd‘ im Parteiapparat wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Der Kahlschlag, den das NKVD in der Gesellschaft betrieb, besorgte Stalin scheinbar nicht so sehr wie die Aussicht, dass die Partei einen großen Teil ihrer Mitglieder verlor und ihre Funktionsfähigkeit dem Klima der Angst und den Denunziationen zum Opfer fiel. Das Plenum war gewissermaßen die erste Notbremse, um die eigene

14 Vgl. Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 253. 15 Beschluss des Politbüros, 17.11.1938, in: Chaustov/Naumov/Plotnikov, Lubjanka, S. 607. 16 Diese Gremien waren ein Instrument des NKVD, um ohne richterliche oder parteiliche Kontrolle Urteile gegen politische Häftlinge im Schnellverfahren zu fällen. Sie setzten sich aus einem Vertreter des Innenministeriums, der Parteiorganisation und der Staatsanwaltschaft zusammen. Vgl. Hagenloh, Stalin’s Police, S. 2.

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Nomenklatura der Partei vor ihrem Zusammenbruch zu bewahren. Stalin griff die Folgen der Paranoia an, die er selbst mit dem stetigen Appell an die Wachsamkeit vor Volksfeinden geschürt hatte.17 Damit leitete er die Dynamik der Denunziationen in der Partei jedoch nur in eine andere Richtung um. Massenhafte Parteiausschlüsse wurden zwar unterbunden, doch das Feindbild des „Karrieristen“, das Stalin auf diesem Plenum einführte, gab der Paranoia und der Propaganda neue Nahrung bei der Suche nach „Volksfeinden“. Nicht zuletzt wurde das NKVD in seiner Autorität bestätigt, über „echte“ und „unechte Volksfeinde“ zu befinden.18 Einen tatsächlichen Kurswechsel in Bezug auf die Massenoperationen schlug das Politbüro erst im September 1938 ein. Dazu gehörte die Anweisung des Politbüros, die Fälle der sogenannten Nationalen Operationen wieder an spezielle Trojki zu delegieren.19 Ab dem 15. September wurden diese Dreier-Gremien mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet, auch unabhängig von Moskaus Zugriff zu agieren. Oberste Priorität schien dabei die Unterbindung der Massenoperationen zu haben. Auch wenn diese Maßnahme den Spielraum lokaler NKVD -Beamter kurzzeitig stärkte: All diesen Tätigkeiten war mit dem 15. November 1938 nun ein Verfallsdatum gesetzt.20 Die Verhaftungen nach zentralen Listen wurden also sukzessive eingestellt. Fünf Tage nach diesem Erlass initiierte das Politbüro eine „Überprüfung und Bestätigung“ aller leitenden NKVD-Kader. Dieser Schritt entsprach der grundsätzlichen Vorgehensweise einer politischen Säuberung, was weder Ežov noch andere leitende Persönlichkeiten des Kommissariats übersehen konnten. Den meisten Verhaftungswellen in den Regierungsbehörden war eine Mitgliedererfassung vorausgegangen. Diese Erfassung wurde im November bis auf die regionale Ebene ausgedehnt.21 Bis Oktober 1938 folgten weitere Beschlüsse, die den Wirkungskreis der NKVD-Operationen zunehmend einengten und das Kommissariat

17 Vgl. Priestland, David: Stalinism and the Politics of Mobilization. Ideas, Power, and Terror in Interwar Russia. New York/Oxford 2007, S. 389; vgl. auch die Plenumsdiskussion, 14.1.1938 in: Oleg Chlevniuk (Hg.), Stalinskoe Politbjuro v 30-e gody. Sbornik dokumentov. Moskva 1995, S. 159–167. 18 Beschluss des ZK-Plenums, 20.1.1938, in: Anatolij G. Egorov (Hg.), Kommunističeskaja Partija Sovetskogo Sojuza v rezoljucijach sʼʼezdov, konferencii i plenumov CK. Tom Sedʼmoj 1938–1945. Moskva 1985, S. 11; vgl. außerdem Goldman, Inventing the Enemy, S. 260–265; Getty/Naumov, The Road to Terror, S. 493–499. 19 Die Nationalen Operationen bezeichnen die Verhaftungswellen gegenüber Angehörigen nationaler Minderheiten in den Jahren 1936 bis 1938, z.B. Deutsche oder Polen. Vgl. Ochotin, Nikita/Roginskij, Arsenij: Zur Geschichte der „deutschen Operation“ des NKVD 1937–1938, in: Weber/Mählert, Verbrechen im Namen der Idee, S. 142–189. 20 Vgl. Hagenloh, Stalin’s Police, S. 280–281; Junge, Mark/Binner, Rolf (Hg.): Kak terror stalʼ „bolʼšim“. Sekretnyj prikaz No. 00447 i technologija ego ispolnenija. Moskva 2003, S. 57. 21 Vgl. Beschluss des ZK, 20.09.1938, in: Chaustov/Naumov/Plotnikov, Lubjanka, S. 550–552. Zum Befehl über die Ausweiung: Direktive des ZK, 14.11.1938, in: ebd, S. 604–606.

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stärker unter die Kontrolle der Parteiführung stellten.22 Ein weiterer Indikator für die Veränderungen war Ežov selbst, der bereits im Sommer zunehmend in Bedrängnis geriet. Mit der Ernennung Berijas zu Ežovs Stellvertreter im August 1938 habe Stalin einen Vertrauensmann ins Spiel gebracht, der den bevorstehenden Umbruch dirigieren konnte. Der Abstieg Ežovs als Leiter der Behörde hatte also bereits zur Mitte des Jahres begonnen.23 Es ist nach wie vor unklar, ob die Parteiführung einen konkreten Plan zur ‚Abwicklung‘ des NKVD verfolgte. Ein Muster für einen Machtausgleich zwischen NKVD und Partei war insofern erkennbar, als das Politbüro die Massenoperationen ausbremste und Stalin selbst mit Berijas Ernennung einen weiteren personellen Umbruch signalisierte. Auch die Kaderüberprüfung deutet darauf hin, dass es vorrangig darum ging, die Tätigkeiten des Kommissariats einzuschränken und das NKVD an die Hierarchie im Machtzentrum zu ‚erinnern‘ (wofür Berija zweifelsohne geeignet war).24 All dies deutete sich im Spätsommer und Herbst 1938 an. Entscheidend für die Rolle der Staatsanwaltschaft ist, dass sie in diesem politischen Klima zunehmend mehr Freiräume bekam. Das Verhältnis der Staatsanwaltschaft zum NKVD war über die Massenoperationen hinweg noch stärker belastet worden. Vyšinskijs Behörde steckte bis 1938 in der ambivalenten Rolle des willigen und bedrohten Juniorpartners. Auf der einen Seite hatten seine prokurory erheblich zur Eskalation und auch zur Legimitation der Terrorwellen beigetragen. Sie zeichneten die Entscheidungen der Trojki ab und ermutigten selbst Untergebene, die Kampagnen gegen „verdächtige Elemente“ auszuweiten. Auf der anderen Seite traten Staatsanwälte vereinzelt für geordnete Gerichtsverfahren in den Massenoperationen ein.25 Vyšinskij selbst trieb als Unionsstaatsanwalt die Schauprozesse voran und lieferte Dutzende seiner Untergebenen an die Militärkollegien und Trojki aus. Trotzdem pflegte er die Konkurrenz zum NKVD. Das Bekenntnis zum juristischen Verfahren, sprich: zum kodifizierten Strafrecht, war sein Werkzeug zur Profilierung. Seit ihrer Neugründung habe er ‚seine‘ Staatsanwaltschaft als alternatives Werkzeug der „Repression“ verstanden. In den Jahren 1937 und 1938 hing sein politisches Überleben letztlich davon ab,

22 Vgl. Danilov, Viktor u. a. (Hg.): Tragedija sovetskoj derevni. Kollektivizacija i raskulačivanie. Dokumenty i materialy v 5 tomach. Tom 5, kn. 2: 1938–1939. Moskva 2006, S. 570. 23 Vgl. Getty/Naumov, The Road to Terror, S. 529. 24 Die Überprüfung der NKVD-Kader innerhalb der Partei wurde schon zur Jahresmitte 1938 initiiert. Dabei sei es vor allem darum gegangen, zunächst den Einfluss des Kommissariats auf die Partei-Nomenklatura selbst zu bändigen. Vgl. Khlevniuk, Oleg: Party and NKVD. Power Relationships in the Years of the Great Terror, in: Kevin McDermott/Barry McLoughlin (Hg.), Stalin’s Terror. High Politics and Mass Repression in the Soviet Union. Basingstoke u.a. 2003, S. 21–33. 25 Vgl. Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 231–139.

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ob er dieses Profil als Alternative zur Disziplinierung von Staat und Gesellschaft vermitteln konnte.26 Zu diesem Zweck vollzog Vyšinskij bereits im Februar 1938 eine Kehrtwende in seiner Behörde. Mit zwei Befehlen ließ er zuvor entlassene Staatsanwälte wieder einsetzen und die Bearbeitung von „konterrevolutionären“ Strafsachen erneut durch Staatsanwälte prüfen. Zeitgleich brachten sie selbst kaum noch politische Verfahren auf den Weg.27 Dies war kein Schritt in Richtung Konfrontation mit dem NKVD . Wie Aleksandr Čaščuchin an der Kama-Region (in Permʼ) demonstrierte: Die Staatsanwälte wurden eher sukzessive von der politischen Säuberungsarbeit abgezogen. „In Fußballsprache wäre dies so zu formulieren, dass der deutliche Rückgang der Aktivitäten seitens der Staatsanwaltschaft die NKVD -Organe ins Abseits stellte.“28 Vyšinskij wusste, dass, im Falle eines politischen Kurswechsels, die Verantwortlichen für die Massenverhaftungen ins Fadenkreuz geraten konnten; entsprechend zog er seine Behörde von diesen Operationen schrittweise ab. Čaščuchin schreibt auch, dass die Staatsanwaltschaft im Herbst 1938 damit begann, „sich für die Angst und die Machtlosigkeit während der Zeit von August 1937 bis März 1938 zu revanchieren.“29 Der Begriff „Revanche“ würde hier zu weit führen (was im Folgenden auch thematisiert werden soll), aber offenbar erkannte die Unionsstaatsanwaltschaft sehr früh, dass der Wind sich drehte. Ein entscheidender Schritt war dabei, sich aus der Verantwortung für die „konterrevolutionären“ Fälle zurückzuziehen und die eigene Rolle als Garant für Recht und Ordnung zu unterstreichen. Mancher geht so weit zu behaupten, dass der Impuls zur Beendigung der Massenverhaftungen gar aus der Staatsanwaltschaft kam. Der Beleg dafür fehlt allerdings.30 Die Entscheidungsprozesse in Moskau zu jener Zeit sind nur lückenhaft dokumentiert. Am 8. Oktober 1938 beauftragte das Politbüro eine Kommission zur Ausarbeitung jenes Beschlusses, der am 17. November das Ende der Massenoperationen einläutete. Bis heute gibt es keine Hinweise auf die inhaltlichen Überlegungen zu diesem Beschluss. Nur die Zusammensetzung und der Titel der Kommission sind bekannt. Neben Ežov war natürlich auch Berija darin vertreten, was nominell und strategisch ins Bild passte. Vor allem aber gehörten auch Georgij Malenkov,

26 Vgl. Huskey, Vyshinskii, Krylenko, S. 427 f. 27 Im Jahr 1939 und den Folgejahren wurden mindestens 18.000 Personen nach einem der 58er-Paragraphen durch reguläre Gerichte verurteilt. 1938 waren es lediglich 2731. Vgl. Zvjagincev/Orlov, Prigovorennye vremenem, S. 527. 28 Čaščuchin, Aleksandr: Staatliche Organe und die „Kulakenoperation“, in: Rolf Binner/Bernd Bonwetsch/Marc Junge (Hg.), Stalinismus in der sowjetischen Provinz 1937–1938. Berlin 2010, S. 492. 29 Ebd. 30 Vgl. Rittersporn, Extra-Judicial Repression, S. 217.

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Vyšinskij und der Kommissar für Justiz Nikolaj Ryčkov dieser Gruppe an. Dass der Titel des Dokuments bereits damals feststand, deutet daraufhin, dass sich die Vertreter der Gruppe (oder das Politbüro) frühzeitig darauf verständigten, die Prozedur der Strafverfolgung und die Staatsanwaltschaft als Aufsichts- und Sanktionsinstanz in den Mittelpunkt zu stellen.31 Die Kommissionsarbeit war für 10 Tage angesetzt. Doch erst am 16. November lag der Bericht vor, was von Historikern unterschiedlich erklärt wurde. Sicher scheint, dass die Kommission ein Baustein in der schrittweisen Umstrukturierung des Innenministeriums war und die Massenoperationen beenden sollte. Ein so brisanter Richtungswechsel wollte sorgsam vorbereitet sein.32 Ežovs Schicksal lag in den Händen Stalins und Berijas. Die Rolle Vyšinskijs in diesem Ränkespiel sollte man sicher nicht überbewerten, doch es gab Spielräume, die er überraschenderweise für den einen oder anderen Vorstoß nutzte. Einen Tag bevor der Beschlussentwurf vorlag, reagierte das Politbüro auf eine Anfrage der Staatsanwaltschaft mit dem Beschluss, alle laufenden Strafsachen der Trojki, Militärtribunale und der Militärkollegien einzustellen.33 Ohne dass der Inhalt dieser Anfrage bekannt wäre, wird deutlich, dass die inhaltlichen Impulse zur Einstellung der Massenoperationen auch aus der Staatsanwaltschaft kamen. Der Beschluss vom 17. November gehört zu den Schlüsselquellen für die Stalinismus-Forschung. Er steht im Mittelpunkt der meisten Kontroversen über das Ende des Großen Terrors. Debatten über die zynische oder „verlogene“34 Natur dieses Dokuments führen nicht wirklich weit und lenken den Blick im Vorfeld von seiner eigentlichen Brisanz ab. Solche Beschlüsse dienten nicht der bloßen Übermittlung von Befehlen. Sie waren Kommunikationsvehikel für den gesamten Partei- und Staatsapparat. Der Beschlusstext lieferte die sprachlichen und inhaltlichen Parameter, in denen sich Staatsbedienstete (im Falle einer politischen Kurskorrektur) bewegen mussten. Dabei mussten sich alle beteiligten (regionalen) Behörden auf dieses Dokument berufen können, um jene Korrektur zu vollziehen. So mag die politische Kernaussage des Kommissionsberichtes zwar vorgezeichnet gewesen sein. Die Wortwahl, die sprachliche Gewichtung der einzelnen Schwerpunkte waren aber das Produkt längerer strategischer Erwägungen (gerade Vyšinskij wurde in solchen Belangen immer öfter konsultiert).

31 Beschluss des ZK, 20.09.1938, in: Chaustov/Naumov/Plotnikov, Lubjanka, S. 562. 32 „Es ergibt sich der Eindruck, dass sich Stalin, vor dem entscheidenden Schlag, wie üblich darum bemühte, jede Überraschung auszuschließen.“ Khlevniuk, Oleg: Politbjuro. Mechanizmy političeskoj vlasti v 1930-e gody. Moskva 1996, S. 212; vgl. auch Jansen, Marc/Petrov, Nikita: Stalin’s Loyal Executioner. People’s Commissar Nikolay Yezhov, 1895–1940. Stanford 2002, S. 160. 33 Vgl. Junge/Binner, Kak terror stalʼ, S. 58; vgl. auch dort Anmerkung 228. 34 Binner/Bonwetsch/Junge, Massenmord und Lagerhaft, S. 452.

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Ein großer Teil des Textes widmet sich der Bewertung der vorangegangenen Ereignisse. Darin wird zum einen herausgestellt, dass die „Säuberungen“ der vergangenen Monate nötig und prinzipiell erfolgreich waren. Der „sozialistische Aufbau“ sei durch das Eingreifen des NKVD vor den Angriffen seiner Feinde bewahrt worden. Zum anderen ergeht die klare Warnung, dass die existenzielle Bedrohung für den Staat keinesfalls ausgestanden war. Die ganze Bandbreite der sowjetischen Feindbilder hatte im Herbst 1938 nichts an ihrer Aktualität verloren. Darin war der übliche Appell zur Wachsamkeit enthalten, vor allem aber deutete der Bericht damit das Versagen der ausführenden Organe an und bereitete den Auftakt zum entscheidenden Argument: Die Operation selbst sei durch „Volksfeinde“ in NKVD und Staatsanwaltschaft infiltriert wurden, was wiederum zu „schwersten Fehlern und Entstellungen“ in der operativen Arbeit beider Organe [NKVD und Staatsanwaltschaft, I. R.] geführt habe.35 Ganz offensichtlich entledigte sich die Partei der politischen Verantwortung und bereitete die umstandslose Verhaftung führender NKVD -Kader vor. Wichtiger noch: Die besagten „Entstellungen“ bezogen sich auf die Aushebelung des Prozessrechts bzw. die Vereinfachung des Ermittlungsverfahrens und letztlich die Anwendung von Massenoperationen selbst. Die Anwendung physischer Gewalt sollte hier (noch) keine Rolle spielen. Vielmehr habe jede Ungenauigkeit beim Umgang mit der Prozessordnung, wie die verspätete Anfertigung eines Protokolls, den ‚Verantwortlichen‘ in die Hände gespielt, Verfahren gegen „unschuldige Personen“ zu konstruieren. Vor der Drohkulisse der konterrevolutionären Einkreisung (und angesichts der Infiltration) galten diese Mängel nun selbst als Beihilfe für die Konterrevolution. Eine derart verantwortungslose Einstellung zum Ermittlungsverfahren und die grobe Verletzung der gesetzlich festgelegten Verfahrensregeln nutzten die in die Organe des NKVD und der Staatsanwaltschaft – im Zentrum und in der Provinz – eingedrungenen Volksfeinde häufig geschickt aus.36 Kritik richtet sich an beide Behörden, allerdings in unterschiedlicher Gewichtung. Das NKVD stand als ausführende Behörde in der Hauptverantwortung. Das Kommissariat hatte die Massenverhaftungen initiiert und war mit seinem Netz aus Agenten und bewaffneten Kräften zum Risikofaktor geworden. Ganz gleich wie ernst Stalin diese Bedrohung nahm. Der vorliegende Bericht nahm die Kader des Innenministeriums in die Schusslinie – in Moskau und der Peripherie. Das NKVD

35 Beschluss des Politbüros, 17.11.1938, in: Chaustov/Naumov/Plotnikov, Lubjanka, S. 607. 36 Ebd., S. 610.

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sei infiltriert worden und obwohl das auch für die Staatsanwaltschaft gelten sollte, suggeriert der Text durch wiederholte Auslassungen, dass es sich mehrheitlich um ein Problem des Innenministeriums handelte. Die Bedeutung des NKVD als Schutzmacht der Partei blieb unangetastet. Vielmehr wurde ihm offiziell das Vertrauen entzogen, kontrolliert und selbstständig entlang eines Regelkatalogs operieren zu können. „Der Hauptmangel der Arbeit der Organe des NKVD ist der tief verwurzelte Hang zum vereinfachten Untersuchungsverfahren“.37 Die Staatsanwaltschaft habe sich schuldig gemacht, die Vergehen zu sanktionieren, indem sie oberflächlich und verantwortungslos handelte. Sie ließen die „bewusste Fehldeutung der sowjetischen Gesetze zu“, was letztlich darauf hinauslief, in ihrer Aufsichtsfunktion versagt zu haben. Ähnlich wie zu Beginn der 1930er-Jahre, als das Mantra der Gesetzlichkeit (und die Unantastbarkeit des eigenen Gesetzeskatalogs) betont wurde, um die Willkür der Zwangskollektivierung einzuhegen38, brachte dieser Beschluss die Sowjetjustiz (und die Verfassung) nun symbolisch gegen die unsaubere Arbeit des NKVD in Stellung. Die Kernforderung war, den künftigen Kampf gegen politische und soziale Unordnung „mit Hilfe effizienterer und sicherer Methoden [bolee soveršennych i nadežnych metodov] zu organisieren“.39 Die staatsanwaltschaftliche Aufsicht war dafür ein bewährtes Mittel. Die Staatsführung begnügte sich zwar mit einem einfachen Verweis auf die Bindekraft der Verfassung und die Sanktionsmacht der Staatsanwaltschaft im Falle von Verhaftungen. Für die weitere Behördenkommunikation und das Selbstverständnis gewährte die Partei den Staatsanwälten jedoch eine Art symbolisches politisches Darlehen. Der Befehl stellte einen offensichtlichen Zusammenhang zwischen der Konterrevolution und der Missachtung der Prozessnormen her. Wer das Prozessrecht missachtete, machte sich also als „Volksfeind“ verdächtig. Dies verlieh der Staatsanwaltschaft im Umkehrschluss nicht unbedingt Autorität, aber die Gewissheit, qua Amt auf der richtigen Seite dieser Kurskorrektur zu stehen. Sie galt als Garant für die Durchsetzung des Straf- und Prozessrechts. Demgegenüber finden die Gerichte nur ein einziges Mal Erwähnung. Die Verantwortung für die Herstellung „revolutionärer Gesetzlichkeit“ oblag der Staatsanwaltschaft. Damit wurde kein politischer Gegensatz zwischen Innenministerium und Staatsanwaltschaft heraufbeschworen. Keine der Behörden verstand sich als Verfassungsorgan oder stellte die Dehnbarkeit des sowjetischen Rechtsbegriffs infrage. Nach Monaten bedingungsloser Unterwerfung unter die Prämissen und die Willkür des NKVD bedeutete der „need to observe legal norms“40 allerdings eine atmosphärische 37 Ebd., S. 609. 38 Vgl. Vyšinskij, Revoljucionnaja zakonnostʼ i naši zadači, S. 2 39 Beschluss des Politbüros, 17.11.1938, in: Chaustov/Naumov/Plotnikov, Lubjanka, S. 609. 40 Rittersporn, Extra-Judicial Repression and the Courts, S. 217.

Die perestrojka der Strafjustiz

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Veränderung innerhalb der Machtstrukturen. Die Kompetenzen der Staatsanwaltschaft hatten ab dem 17. November 1938 tagespolitische Priorität. Sowohl für das Verhältnis zum Innenministerium als auch für die Bewertung konterrevolutionärer Verbrechen und der eigenen Rolle sollte dieses Signal Folgen haben. Mit dem Beschluss wurden die Massenoperationen zum Zweck von Verhaftungen und Deportationen unterbunden und die Trojki aufgelöst. Unausgesprochen blieb dabei, wie mit den laufenden und abgeschlossenen Strafverfahren umzugehen sei. Ebenso klammerte der Beschluss die Frage der strafrechtlichen Verantwortung der Mitarbeiter des NKVD aus, die für die „Entstellungen“ verantwortlich seien. In der Hauptsache verwies das ZK auf die oberste Entscheidungs- und Vetogewalt der Partei gegenüber den Exekutivorganen. Damit war das zentrale Anliegen des Beschlusses formuliert: Die Partei behielt die Kontrolle und die Organe von Justiz und Sicherheit trugen die Verantwortung für die Exzesse der Vergangenheit. Um künftige Exzesse zu vermeiden, wertete die Parteiführung nicht nur die Staatsanwaltschaft politisch auf. Die Strafjustiz insgesamt war ab Ende 1938 wieder im politischen Aufwind.

3. 2 D ie p e r e s t r ojk a d e r St r a f ju s t i z Zur Geschichte des „kleinen Berija-Tauwetters“, wie der Kurswechsel von Pavel Chinsky genannt wurde41, gehört auch die Geschichte einer Justizreform, die ihre Anfänge noch vor den Massenoperationen hatte. Die Verabschiedung der Verfassung 1936 verbriefte erstmals Persönlichkeits- und Prozessrechte in einem größeren Rahmen. Dieser Anstoß habe bei vielen Juristen die Hoffnung geweckt, die Kompetenzen des Gerichtswesens noch weiter ausdehnen zu können. Diese seien aber durch den Terror der Folgejahre vorerst aufgegeben worden. Mitte des Jahres 1938 wurden diese Hoffnungen wiederbelebt, was auch dazu führte, dass bis zum Deutschen Überfall auf die Sowjetunion eine bemerkenswerte Reformagenda ausgearbeitet wurde. Ohne wirklich eingelöst zu werden, habe sie eine bis in die Gorbačev-Ära unerreichte Tiefe erreicht.42 Sie begleitete die Neuordnung des Kräfteverhältnisses zwischen Justiz und Innenministerium und sie half, die Ansprüche der Staatsanwaltschaft auf eine durchsetzungsfähige konventionelle Gerichtsbarkeit stärker zu konturieren.

41 Binner/Bonwetsch/Junge, Massenmord und Lagerhaft, S. 562. Zit. Chinsky, P.: Micro-histoire de la Grande Terreur. La fabrique de culpabilité à l’ere stalinienne. Paris 2005, S. 135. 42 Vgl. Huskey, Eugene: From Legal Nihilism to Pravovoe Gosudarstvo. Soviet Legal Development, 1917–1990, in: Donald D. Barry (Hg.), Toward the Rule of Law in Russia? Political and Legal Reform in the Transition Period. Armonk (NY) 1992, S. 30 f.

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3.2.1 Die Optimierung der Strafjustiz – Prozeduren Für die Wiederaufnahme der Justizreform spielte auch das Januarplenum von 1938 eine Rolle. Ungeachtet der anhaltenden Verhaftungen kam mit Stalins Rede die Frage auf die Tagesordnung, wo die Grenzen der „Wachsamkeit“ zu ziehen seien. Einerseits wurde damit zur Jagd auf vermeintliche Nutznießer der Denunziationen, sogenannte „Karrieristen“, geblasen. Andererseits trafen die Beschlüsse in der Justiz einen Nerv, die Mittel und Wege der „Repression“ oberflächlich zu thematisieren.43 Andrej Vyšinskij schien diese Stimmung für sich und die Staatsanwaltschaft zu nutzen zu wissen. Der teilweise Rückzug aus den Strafsachen gegen Konterrevolutionäre und die bereits erwähnte ‚Abseitstaktik‘ sind ein eindeutiger Hinweis darauf. Vyšinskij selbst wurde schon am 12. Januar 1938 für weitere sieben Jahre als Unionsstaatsanwalt bestätigt. Seine Glanzrolle als Chefdirigent der Schauprozesse hatte einen großen Anteil daran. Nun nutzte er den politischen Auftrieb, um das ihm anvertraute Projekt, die perestrojka der Staatsanwaltschaft, in die Tat umzusetzen.44 Auf der Allunions-Versammlung der Staatsanwaltschaft im Mai 1938 stellte Vyšinskij in der Eröffnungsrede klar, dass seine „Umgestaltung“ dem Kampf gegen die „Konterrevolution“ gewidmet sei.45 Die Suche nach „Volksfeinden“ war keinesfalls ausgestanden. Vyšinskij richtete diese Dynamik, wie in den Monaten zuvor, gegen die eigenen Reihen. Das Argument, das er aus den „Schädlingstätigkeiten“ ableitete, war indes neu. Im Mittelpunkt seiner Rede standen die Bildungslücken, die Verfahrensmängel und das niedrige Ausbildungsniveau der staatsanwaltschaftlichen Kader. Der eigene Beitrag im Kampf gegen die Konterrevolution bestand darin, die „juristische und politische Qualifikation“ zu verbessern. Die Paranoia vor „Volksfeinden“ verknüpfte er mit dem Appell, in Stalins Worten der „fortschrittliche Zweig unserer sowjetischen Arbeiter- und Bauernintelligenz“ zu sein.46 Dabei ging es nicht allein um die Zahl der Verfahrensabbrüche und die Präsenz in Gerichtsverfahren. Von den juristischen Instituten in Moskau bis zum Ermittler aus einem Minsker Vorort teilten die Staatsanwälte eine praktische und akademische

43 „Das Januar-Plenum des CK VKP (b) stellte den Gerichtsarbeitern in aller Schärfe die Aufgabe, die Qualität ihrer Arbeit zu verbessern, Strafsachen aufmerksam zu verhandeln, und zu gewährleisten, dass man Bürger aufmerksam [čutkij] und individuell behandelt“. Zadači sudebnych organov v svete janvarskogo Plenuma CK VKP (b), in: Sovetskaja justicija 2/3 (1938), S. 4–5. 44 Vgl. Zvjagincev/Orlov, Prigovorennye vremenem, S. 78–79. Die Kampagne koordinierte Vyšinskij. Das Schlagwort des „Umbaus“ für die Staatanwaltschaft geht allerdings auf eine Sitzung des Obersten Sowjets im Februar 1938 zurück. Vgl. Tadevosjan, V.: Opravdat doverie verchovnogo soveta, in: Socialističeskaja zakonnostʼ 3 (1938), S. 57. 45 Vsesojuznoe prokurorskoe soveščanie. Doklad A. Ja. Vyšinskogo, in: Socialističeskaja zakonnostʼ 6 (1938), S. 4–5. 46 Ebd., S. 6–7.

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Verantwortung für die „Autorität der sowjetischen Justiz“. Vyšinskij hatte seit jeher die Vision einer sowjetischen Jurisprudenz auf „wissenschaftlichem Weltniveau“. Vor dem Hintergrund der politischen Säuberungen wollte er jetzt praktische Resultate. Kriminelle sollten mit wissenschaftlicher Präzision zuverlässig entlarvt und nachweisbar angeklagt werden. Der Eifer in der sowjetischen Justiz, die politische ‚Opposition‘ aufzudecken und zu vernichten, war ungebrochen. Im Stile des Januar-Plenums tat sich hier die nächste Wachsamkeitskampagne auf. Doch Vyšinskij wollte auch auf den Umkehrschluss hinaus. Dies bedeutete, diejenigen zu entlarven, „die versuchten, die scharfe Waffe der revolutionären Gesetzlichkeit gegen ehrliche sowjetische Menschen zu richten.“ Mehrere Beispiele folgten, in denen der politische Paragraph 58 für Bürokratieirrtümer verhängt und Unschuldige „ohne konterrevolutionäre Absicht“ ins Gefängnis geworfen worden waren.47 Der Vorwurf richtete sich in erster Linie an die eigenen Kader. Das NKVD war nach dieser Logik kein Opponent. Dessen bevorzugte Methoden jedoch wurden als „konterrevolutionär“ gegeißelt. Willkürliche Verhaftungen und unsaubere Verhörmethoden waren in den Augen Vyšinskijs politische Vergehen. Mit Blick auf den Beschluss vom 17. November nahm Vyšinskij damit ein wichtiges Argument vorweg. Die Praktiken des Innenministeriums galten als politisch verwerflich, noch bevor die Massenoperationen beendet worden waren. Die peres­ trojka bereitete dabei keineswegs die Abkehr von den politischen Säuberungen vor. Vyšinskij nutzte vielmehr deren Dynamik, um unliebsame Untergebene zu entfernen und die eigenen Reihen für künftige Aufgaben zu schließen. Das Berufsbild vom gelehrten Praktiker, der sich an Ermittlungsregeln hält, sollte helfen, die politische Verantwortung, die Vyšinskij für seine Staatsanwälte wollte, auch zu tragen. Die Staatsanwaltschaft allein konnte Herrschaft entlang von Regeln durchsetzen. Die Arbeitsweise des NKVD galt als nicht zukunftsfähig. Diese Botschaft vermittelte Vyšinskij schon im Sommer 1938. Wenige Wochen nach der Versammlung, am 1. Juni, folgte der offizielle Befehl, der alle Beamten der Staatsanwaltschaft für die neuen Aufgaben sensibilisieren sollte. In Anlehnung an das Januarplenum rechnete der Text mit den „Schlampigkeiten“ und „Schmierereien“ (smazyvanija) der vergangenen Monate ab, die konventionelle Gerichte und Staatsanwälte bei der Verfolgung von „Konterrevolutionären“ an den Tag gelegt hätten. Wie schon auf der Versammlung attackierte Vyšinskij die „Volksfeinde“ in den Reihen der Staatsanwaltschaft, die „ehrliche sowjetische Menschen“ vor Gericht gebracht haben (hier war vor allem von Parteimitgliedern die Rede). Ignoranz gegenüber den Gesetzen und der Prozessordnung spielten

47 Ebd., S. 9.

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den „Trotzkisten“ in die Hände. Der Befehl schwor alle Mitarbeiter auf eine klare Arbeitsteilung zwischen den Beamten des Innenministeriums und der Staatsanwaltschaft ein. Kein Ermittler oder Staatsanwalt dürfe eine Strafsache übernehmen, die „nicht unter seine Untersuchungsgerichtsbarkeit fällt“. Diese Bemerkung richtete sich auch auf politische Verfahren. Vor allem aber sandte der Befehl ein überdeutliches Signal an alle Mitarbeiter, die dem Etikett des „Volksfeindes“ jetzt entgehen wollten. Jeder müsste sich dem „entschiedenen Kampf gegen die Verletzung der Prozessnormen, für die Vollständigkeit und Allseitigkeit [vsestoronnost] der gerichtlichen Beweismittelprüfung“ unterwerfen. „Politisch präzise und konkret die Anklage zu erheben, ohne eine tendenziöse Haltung zur Strafsache einzunehmen“, war das Gebot der Stunde. So großzügig man in den vergangenen Jahren darüber hinweggesehen hatte, dass Paragraphen am Fließband verteilt wurden, so mahnte die Staatsanwaltschaft in Moskau jetzt zur Vorsicht, wenn Delikte unter dem Analogieprinzip eingestuft wurden.48 Wer durch viele Verfahrensabbrüche (oder Freisprüche) von sich reden machte, wer durch unbedachte Anklagen Unschuldige vor Gericht brachte, kurzum: Wer dem eigenen Berufsbild nicht gerecht würde, sollte damit rechnen, im Visier einer erneuten Säuberungsaktion zu stehen.49 In der Fachpresse wurde die perestrojka als Bestätigung ausgelegt, als Staatsanwalt eine aktivere (und öffentlichkeitswirksamere) Rolle in der Strafjustiz spielen zu können. Der „Jahrestag der Perestrojka“ wurde gebührend mit Aufsätzen zelebriert. Der Befehl war der fällige Vertrauensbeweis der Staatsführung und hatte den Staatsanwalt aus den „Papierschützengräben“ (bumažnych okopov) wieder auf die Gerichtsbühne geholt.50 Eine andere unmittelbare Folge dieser Kampagne war, dass Staatsanwälte und Ermittler die niedrigen Erfolgsquoten ihrer Kollegen vorrechneten. Wer wie oft die Anklage vertrat und Ermittlungsverfahren zurückgeschickt bekam, bestimmte den Großteil der Artikel. Statistische Qualitätskontrolle hatte seit jeher den überwiegenden Teil der staatsanwaltschaftlichen Arbeit ausgemacht. Hunderte von Prüfungsbeamten aus Moskau (revizory) versorgten die Unionsstaatsanwaltschaft mit immer neuen Bewertungsbögen, um die Arbeit der niederen

48 Befehl der Unionsstaatsanwaltschaft zur Ermittlungsarbeit aller Abteilungen, 1.6.1938, in: Gosudarstvennyj Archiv Rossijskoj Federacii (im Folgenden: GARF), fond R-8131, opisʼ 38, delo 25, list 10. 49 Noch eineinhalb Jahre später maßen Moskauer Vorgesetzte die Erfolgsraten ihrer Mitarbeiter (Freisprüche, Abbrüche oder Aussetzung im Kassationsverfahren) an dem Aufgabenkatalog des perestrojka-Befehls. Befehl zur Erfüllung des Befehls vom 1.6.1938, 20.2.1940, in: GARF, f. A-461, op. 12, d. 1, l. 31–34. 50 Knjazev, Pervye šagi perestrojky, S. 74–75.

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Beamten im Blick halten zu können. Dieser Trend sollte in den kommenden Jahren noch viel weiterentwickelt werden.51 Die Verabschiedung des „Gerichtsgesetzes“ im August 1938 war eine andere wichtige Wegmarke für die Strafjustiz. Spätere Juristengenerationen in der Sowjetunion sahen darin den Auftakt zur „Vollendung des Sozialismus“ im juristischen Sinne. Prinzipiell bestimmte es erstmals voll umfänglich die Aufgaben und Kompetenzen aller Gerichtsebenen. Hinter der Wahrung staatlicher Interessen verpflichtete sich das Gerichtswesen auf den Schutz der verfassungsmäßigen Rechte der sowjetischen Bürger.52 Dass sich eine Einparteiendiktatur nicht auf unverbrüchliche Bürgerrechte verpflichtet sah, ist nicht so sehr von Bedeutung. Die Gerichtsordnung war die erste prozessrechtliche Ausformulierung des Verfassungsgedankens für die Gerichtsarbeit. Richter und Staatsanwälte konnten sich somit konkreter an Verfahrensregeln orientieren, um vor Gericht die „Achtung der Regeln des sozialistischen Zusammenlebens“ durchzusetzen. Der Eifer der Gerichtsbeamten richtete sich öffentlich zwar vorwiegend gegen „Volksfeinde, Diversanten und Spione“.53 Doch auch die konventionelle Gerichtsbarkeit wurde in ihren Routinen gestärkt, indem diese ausführlicher benannt wurden. Das betraf die Zusammensetzung der untersten Volksgerichte genauso wie die abschließende Entscheidungsgewalt des Obersten Gerichts über offene Kassationsverfahren. Das Gesetz bündelte die abschließende Revision aller Strafsachen in Moskau. Die Prämisse von der „Stabilität der Urteile“ (stabilʼnost prigovorov) konnte, so die Theorie, effektiver durchgesetzt werden.54 Die Gerichtsverfassung demonstrierte die Handlungsfähigkeit und das Selbstbewusstsein der Justizorgane nach den Massenoperationen. Die Staatsanwaltschaft war auch von der Überarbeitung der Strafprozessordnung im Dezember 1938 betroffen. Vier Jahre nach der letzten Fassung hielt die überarbeitete Prozessordnung wenig konkrete inhaltliche Neuerungen bereit. Der Kommentarteil enthielt mehrheitlich Empfehlungen und Ermahnungen. Zum Beispiel hätten Ermittler der Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren nur in Ausnahmefällen an die Miliz abzugeben.55 Vor allem wurden Regelungen aufgenommen, die den Moskauer Vorgesetzten helfen sollten, die Strafprozesse insgesamt einfacher zu bewerten. Proteste gegen Gerichtsurteile und Beschlüsse dürften künftig nur 51 Vgl. Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 284; Sverdlov, G.: Neskolʼko voprosov o perestrojke, in: Socialističeskaja zakonnostʼ 1 (1939), S. 28–31. 52 Gesetz zum Gerichtswesen der UdSSR, 16.8.1938, in: Leonid N. Gusev/S. A. Golunski (Hg.), Istorija zakonodatelʼstva SSSR i RSFSR po ugolovnomu processu i organizacii suda i prokuratury 1917–1954. Moskva 1955, S. 564. 53 Černov, V.: Godovščina zakona o sudoustrojstve i zadači prokuratury, in: Socialističeskaja zakonnostʼ 8/9 (1939), S. 19–20. 54 Golunskij, S.: Zakon o sudoustrojstve SSSR, in: Socialističeskaja zakonnost 11ʼ (1938), S. 11–17. 55 Vgl. Ugolovno-processualʼnyj kodeks (1938), S. 151–152.

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unter Verweis auf bestehende Artikel und Paragraphen verfasst werden. Dagegen sollten nicht alle „unbedeutenden Vergehen“ und Delikte einen Strafprozess nach sich ziehen. Beides gehörte zu den wenigen Ergänzungen aus dem Jahr 1938. Ältere Befehle wurden in systematischer Reihenfolge neu aufbereitet, um beispielsweise sicherzustellen, dass jeder Haftantrag dem Staatsanwalt vorgelegt werden müsse.56 Der Zweck dieser Prozessordnung bestand letztlich darin, ein Geflecht von tausenden (mitunter widersprüchlichen) Befehlen in einem Regelwerk zu kodifizieren. Die Strafprozessordnung sollte bis zu Stalins Tod noch zwei weitere Male aktualisiert werden. Die Widersprüchlichkeiten wurden dadurch nicht beseitigt.57 Die Neuauflage der Prozessordnung bestätigte aber einen Trend, zu dem bereits die Verabschiedung des „Gerichtsgesetzes“ gehörte: das Regelwerk für die Strafjustiz weiter auszuformulieren, um die Eventualitäten der Strafpraxis nach Möglichkeit in Vorschriften einschließen zu können – oder wie Vyšinskij es ausdrückte: Das Leben ist vielfältig. Keiner der verschiedenen Fälle ist wie der andere. Im Gegenteil […] sie unterscheiden sich durch Besonderheiten. Diese erfordern eine Auseinandersetzung mit der Frage nach den Grundlagen der allgemeinen Prinzipien, die man als Methodologie bezeichnet.58 Die Prozessordnung war Ausdruck des Willens, alle diese Besonderheiten miteinzubeziehen. Die Kompetenzen der Justizorgane wurden damit nicht ausgedehnt, aber ausführlicher beschrieben. Einige Historiker sehen die Entwicklung der Strafjustiz ab 1938 vorwiegend als Teil einer Rezentralisierungskampagne. Die Durchsetzung von Gerichts- und Prozessordnungen hätten der Koordination und Kontrolle der regionalen Strafjustiz-Behörden gedient – ein Prozess, der durch den Terror unterbrochen worden sei. Verurteilungsquoten und die Zahl der abgebrochenen Ermittlungsverfahren wurden als wesentliche Kriterien kommuniziert, nach denen die Qualität regionaler Justizbeamter bewertet werden sollte. Die „Stabilität der Urteile“ war die unverbrüchliche und leicht zu bewertende Formel für gute Gerichtsarbeit.59 In diesen Kontext gehörte auch, dass das „Gerichtsgesetz“ die vertikale Behördenorganisation festzurrte.

56 Ebd., S. 173; 152; 188. 57 1943 wandten sich drei Staatsanwälte an den Unionsstaatsanwalt Bočkov um auf die fatalen Widersprüche bei den vorgeschriebenen maximalen Arrestzeiten aufmerksam zu machen. Sie verwiesen auf zwei an sich schon missverständliche Artikel in der Prozessordnung, die sich mit 38 verschiedenen Befehlen widersprächen. Schreiben der Staatsanwälte Pejnin, Tarasov und Malʼcev an Bočkov, 18.4.1943, in: GARF, f. R-8131, op. 21, d. 6, l. 110–112. 58 Doklad A. Ja. Vyšinskogo, S. 5. 59 Vgl. Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 274–286.

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Dass Moskaus oberste Justizbeamte (der Unionsstaatsanwalt, die/der Vorsitzende(n) des Obersten Gerichts, der Justizkommissar) ihre regionalen Ableger enger an sich binden wollten, ist unbestreitbar. Die Idee des politischen Zentralismus war in allen Bereichen der Staatsorganisation tief verankert. Mit Blick auf die Staatsanwaltschaft, die ohnehin als hochzentralisiertes Exekutivorgan ins Leben gerufen worden war, war ein solcher Trend nur folgerichtig, wenn man diese Behörde (in der Logik der Bolʼševiki) stärken wollte. Das Interesse an quantifizierbaren Arbeitsergebnissen (Verurteilungsquote) war (wie in Kapitel 2 beschrieben) in der Konzeption der Staatsanwaltschaft angelegt. Jede Verfahrenseinstellung und jeder Freispruch waren aus Sicht der Staatsführung das Produkt des Versagens eines Staatsanwalts. Diese Verfahrenszwangsjacke förderte von Beginn an das primäre statistische Interesse der Moskauer Vorgesetzten. Das Argument der (Re)Zentralisierung ist zutreffend. Es unterstreicht aber auch, dass die Strafjustiz ab 1938 politisch aufgewertet wurde. Die inhaltliche Auseinandersetzung um den Reformkurs der Justiz fand im Frühjahr 1939 statt. Unter Federführung des Vorsitzenden des Obersten Gerichts Ivan Goljakov hielten die wichtigsten sowjetischen Juristen die erste „Fachtagung des Allunions-Instituts der Rechtswissenschaften“ ab. 357 Teilnehmer aus den großen akademischen Zentren der Sowjetunion kamen nach Moskau (wo die Mehrheit ohnehin bereits tätig war), um die vergangenen kodeks-Entwürfe zu diskutieren, die das Institut erarbeitet hatte. Im Mittelpunkt der Debatten stand der Dauerentwurf für ein Unionssstrafgesetzbuch.60 Der politische Rahmen für die Debatten war allerdings gesetzt. Aleksandr Gercenzon stellte klar, dass auch die „strengste Einhaltung der Gesetze“ in Ausnahmefällen an Grenzen gelange: in Zeiten des Bürgerkrieges und „im Kampf gegen die Konterrevolution“.61 Das Primat der revolutionären Zweckmäßigkeit war unverrückbar. Innerhalb dieses Rahmens pendelten die Diskussionen um die Plan- und Machbarkeit einer unionsweiten Prozess- und Strafgesetzgebung. Die Abschaffung des „Analogie-Paragraphen“ war, wie bereits erwähnt, ein Fernziel.62 An anderer Stelle bekräftigte man das Interesse, die Arbeit der Gerichte insgesamt nachvollziehbarer zu gestalten. Das Gerichtsgesetz machte es nun indirekt erforderlich, jedes Urteil auch schriftlich zu begründen. Ansonsten werden die Kassationspraxis vollkommen überfordert.63

60 Vgl. Goljakov, Ivan T.: Pervaja naučnaja sessija Vsesojuznogo instituta juridičeskich nauk, in: Ders. (Hg.), Trudy pervoj naučnoj sessii vsesojuznogo instituta juridičeskogo nauk. 27 Janvarja–3 fevralja 1939 g. Moskva 1939, S. 1–2. 61 Vgl. Gercenzon, Aleksandr: Osnovye principy i položenija proekta Ugolovnogo Kodeksa SSSR, in: Goljakov, Trudy pervoj naučnoj sessii, S. 143. 62 Vgl. ebd., S. 148. 63 Vgl. Arsenʼev, B. Ja.: Osnovye principy proekta ugolovno-processualʼnogo kodeksa SSSR, in: Goljakov, Trudy pervoj naučnoj, S. 234.

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Viele Beiträge bezogen sich unmittelbar auf die Rolle des Staatsanwalts. Neuerungen in der Prozessordnung wurden insofern kritisiert, als dass sie die theoretisch unbestrittene Hoheit des Staatsanwalts über die Ermittlungen auf alle Fälle ausdehnen wollten. Der Beitrag eines gewissen Ginzburg, in dem dieses Monopol eingefordert worden war, wurde als unrealistisch zurückgewiesen (die Ausarbeitung wurde anscheinend auch nicht in den Tagungsband mit aufgenommen). Ebenso wurde das geforderte ausnahmslose „Veto“-Recht gegenüber anderen „Organen der Ermittlung“ (sprich: der Miliz) kritisch gesehen: „Ist so etwas durchführbar?“, kommentierte dies B. Arsenʼev. Einverständnis, so Arsenʼev herrsche bei den meisten, dass der Staatsanwalt der „Herr der Ermittlungen sei“ (chozjainom rassledova­ nija). Administrative Gewalt wurde jedoch als indiskutabel zurückgewiesen. Die Prozessordnung allein gebe den Handlungsrahmen vor.64 Diese Ordnung grenze den NKVD (einschließlich Miliz) und die Staatsanwaltschaft in ihren Kompetenzen voneinander ab. Das Verfahren aber gelte für alle. Die Juristen unterstrichen die Kompetenzen der Staatsanwaltschaft, weigerten sich aber, das Verhältnis zum NKVD zu thematisieren oder strukturelle Veränderungen in diesem Verhältnis in Aussicht zu stellen. Arsenʼev hatte für das unausgesprochene Kardinalproblem der Staatsanwälte – die fehlende Weisungsbefugnis – nur eine Lehrbuchantwort parat. Genau wie der Vorschlag, Richter auf die Urteilsbegründung zu verpflichten, wurden solche Erwägungen immer von der Warte der praktischen Rechtspflege aus getroffen. Reformideen waren darauf ausgerichtet, die Funktionsfähigkeit des Justizapparates zu gewährleisten. Ermittlung, Anklage und Urteilsfindung sollten effizienter ineinandergreifen. Damit wurde keine Wertdebatte über sozialistisches Recht angestoßen. Genauso wenig zielten diese Bemühungen auf die Unabhängigkeit der Justizorgane ab. Das Verfahren zur Regulierung „sozial-politischer Beziehungen“65 sollte optimiert und nicht infrage gestellt werden. Der Kern dieser Justizreform bestand damit letztlich in der Professionalisierung aller Justizbehörden – unter den Augen der Partei. Dies betraf die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Anwaltskammer (advokatura) gleichermaßen.66 Vyšinskij antizipierte den Kurswechsel schon im Frühjahr 1938. Er nutzte den politischen Auftrieb, um seine Beamten für ihre Rolle als Garanten eines prozessrechtskonformen Verfahrens und für die Einhaltung der Gesetze zu sensibilisieren.

64 Arsenʼev, B. Ja: Zaključennye slova, in: Goljakov, Trudy pervoj naučnoj sessii, S. 506. 65 Vyšinskij, Andrej: Revoljucionnaja zakonnostʼ i zadači sovetskoj zaščity, S. 6. 66 Zusammen mit der Prozessordnung und dem Gerichtsgesetz unterwarf auch das „Statut über die Anwaltskammer“ diese Kammer ihrem Regelwerk und half: „to complete the transformation of the Bar into a compliant Soviet institution“. Položenie ob advokature SSSR, in: Sovetskaja justicija 15/16 (1939), S. 41–43; Huskey, Russian Lawyers, S. 215–216.

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Er vermittelte ihnen das Selbstbewusstsein, als Justizorgane mit ihren professionellen Methoden auf der ‚richtigen Seite‘ zu stehen – gegenüber der Willkür des Innenministeriums. Dieses Selbstbewusstsein teilte er mit anderen Justizbehörden, die ihre Kompetenzen im Herbst 1938 nicht ausdehnten, aber genauer formulierten. Die perestrojka der Staatsanwaltschaft ging damit der Justizreform voraus, mit der nicht zuletzt auch die Parteiführung die Funktionsfähigkeit ihrer Justiz wieder gewährleisten wollte. Dazu gehörte auch, die Lücken wieder zu schließen, die der Terror in den Reihen der Justiz geschlagen hatte.

3.2.2 Die „Rekonstruktion der Strafjustiz“ – Bildung und Ressourcen Was Solomon mit der „reconstruction of criminal Justice“ umschrieb, betraf ab 1938 alle Zweige der Justiz und war gewissermaßen die Voraussetzung zur weiteren Professionalisierung der Justiz insgesamt.67 In diesem Wortsinne ging es dabei nicht nur um die Optimierung der Arbeitsabläufe. Für alle beteiligten Beamten und Vorgesetzten ging es auch um Material, Personalausstattung, personelle und finanzielle Ressourcen. Schon vor den Verhaftungswellen waren Kader- und Mittelausstattung die Dauerbaustellen in der Justiz. Die vergangenen Jahre haben diese Probleme allerdings massiv verschärft. Wie viele Staatsanwälte genau zwischen 1936 und 1938 verhaftet worden waren, ist nicht auszumachen. Während Aleksandr Zvjagincev von einigen hundert ausgeht (ohne Quellen zu benennen), rechnet Solomon mit ungefähr 50 Prozent aller Justizmitarbeiter (also auch Richter), die ihre Anstellung, ihre Freiheit oder auch ihr Leben verloren hatten.68 Diese Lücken mit qualifiziertem Personal aufzufüllen, gehörte zu den größten Herausforderungen für alle Justizorgane. Die Hoffnung lag dabei vor allem auf der Ausbildung neuer und junger Kader. Das Jurastudium war zum Ende der 1930er-Jahre immer populärer geworden. An den regulären Hochschulen ging die Zahl der Neueinschreibungen für Rechtswissenschaften deutlich nach oben.69 Immer mehr Studenten interessierten sich für Strafrecht. Besonders der ‚Glanz‘ der Schauprozesse schien bei der jüngeren Generation seine Wirkung nicht verfehlt zu haben. Dina Kaminskaja, eine prominente Dissidentenverteidigerin der 1960er-Jahre, hatte ihr Studium 1937/38 begonnen und erinnerte sich:

67 Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 260. 68 Vgl. Zvjagincev, Aleksandr G./Orlov, Jurij G.: Prokurory dvuch epoch. Andrej Vyšinskij. Roman Rudenko. Moskva 2001, S. 84–86; Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 244 f. 69 Juridičeskoe obrazovanie v SSSR, in Sovetskaja justicija 16 (1941), S. 1–4.

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In our third year at the institute, when the time came for our first practical work, we were allowed to choose either the judicial system or the procuracy, which includes the investigatory apparatus. The overwhelming majority of my classmates asked to be sent to the procuracy, and a few wanted trial work, but I can remember no one in those days who planned to specialize in advocacy […] If the defense attorney was ever mentioned in those lectures, it was only in the role of a wretched, defeated opponent.70

Viele dieser Studenten blieben aber an den Universitäten bzw. setzten ihre Karriere in anderen Bereichen der Regierungsarbeit fort. Die Mehrheit der Beamten für den aktiven Dienst als Ermittler oder Staatsanwalt rekrutierte sich aus den „Fernhochschulen“ (zaočnye VUZ) bzw. den Rechtsinstituten des Justizkommissariats. Dieses Netz wurde seit Mitte der 1930er-Jahre stark erweitert, um Berufstätigen zu Zusatzqualifikationen zu verhelfen und, im Falle der Justizorgane, den beruflichen Quereinstieg zu erleichtern. Der eigentliche Boom begann allerdings erst nach 1937. Fast allen Statistiken kann man entnehmen, welche Auswirkungen der Terror im Bildungssektor hatte. 1937 halbierten sich nicht nur die Studentenzahlen dieser Fernschulen. Selbst die staatlichen Investitionen pro Student an diesen Instituten schrumpften von über 210 auf 165 Rubel. Ende 1938 ging der Trend in allen Bereichen wieder nach oben: bei den Investitionen, Studenten- und Absolventenzahlen. Zur Jahresmitte 1939 wandte das Justizkommissariat über 660 Rubel pro Student auf.71 Die Sovetskaja justicija brüstete sich mit einer „Armee aus Fernschülern“ (armija zaočnikov), bestehend aus über 4500 Studenten. Konnte man 1935 noch 36 Absolventen verzeichnen, waren es 1938 bereits über 300, von denen 89 in den Dienst der Staatsanwaltschaft eintraten.72 Das Fernschulsystem diente ab 1938 verstärkt dazu, das schon berufstätige Personal in Staatsanwaltschaft und Justiz (vor allem Ermittler auf lokaler Ebene) fortzubilden. Mit dem 1. Oktober wurde dieser Fernkurs zumindest für Gerichtsmitarbeiter obligatorisch. Allein unter den Richtern, Gerichtssekretären und Strafverteidigern plante das Kommissariat für Justiz bis 1940 mit 10.000 neuen Mitarbeitern in der ganzen Sowjetunion, die mindestens sechs Monate an den Fernschulen gelernt hatten.73 Aus den Reihen der Staatsanwaltschaft waren 1941 mehr als 3000 Mitarbeiter an den „Fernhochschulen“ eingeschrieben. Die Mehrheit dieser Kursteilnehmer hatte bereits einen akademischen Abschluss und bildete sich entsprechend weiter.

70 Kaminskaya, Final Judgement, S. 12. 71 Statistische Auswertung der Arbeit des Allunions-Fernlehrinstituts, o. D. [vermutlich Herbst 1938], in: GARF, f. R-9492, op. 1, d. 2067, l. 5–22. 72 Za dalʼnejšee razvitie juridičeskogo zaočnogo obrazovanija, in: Sovetskaja justicija 1 (1939), S. 41–43. 73 Plan zur Weiterbildung der Justizmitarbeiter im Jahr 1940, Herbst 1939, in: GARF, f. R-9492, op. 1, d. 2101, l. 5.

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Diejenigen, die überhaupt keine juristische oder akademische Vorbildung besaßen, hielten sich jedoch von den Kursen weitestgehend fern. Dazu kam, dass zwischen 25 und 50 Prozent der Eingeschriebenen ihre Kursbeiträge nicht zahlten und bald darauf wieder exmatrikuliert wurden.74 Der Anteil an Bezirks- und Stadtstaatsanwälten ohne juristische Vorkenntnisse blieb in der Folge bis 1941 unvermindert bei etwa 45 Prozent. Sie waren die eigentliche Zielgruppe des Fernkurssystems. Wer in Moskau aufwuchs bzw. hier seinen Wohnsitz hatte, war auf ein solches System nicht angewiesen. Den Studenten der Hauptstadt standen die Universität oder eben die zentrale Kaderschmiede der Staatsanwaltschaft – das ansässige „Juristische Institut der Staatsanwaltschaft der Sowjetunion“ – zur Verfügung. Mit fast einhundert Lehrkräften, vierstelligen Studentenzahlen (!) und einer außerordentlichen Fachbibliothek (mit über 200.000 Büchern) stieg das Institut in den Rang einer „Hochschule der ersten Kategorie“ auf.75 In der Folge arbeiteten immer mehr Menschen für die Unionsstaatsanwaltschaft. Waren es 1939 noch 586, die allein in Moskau arbeiteten, so standen zwei Jahre später bereits über 730 Menschen auf den Gehaltslisten der Staatsanwaltschaft in der Hauptstadt.76 Solche Zahlen unterstützen die Annahme, dass sowohl das Justizkommissariat als auch die Staatsanwaltschaft ihre Reihen punktuell (vor allem in den Metropolen) verstärken konnten, ohne sie in der Breite besser auszubilden. Dafür fehlten unter anderem das nötige Lehrpersonal und -material. Man muss aber auch beachten, dass der Lehrkanon der Rechtshochschulen (VUZ ) mit Vyšinskijs Vision von praxiskompetenten Akademikern wenig zu tun hatte. Die Institute entließen vorwiegend ‚Rechtsfacharbeiter‘ in die Feldarbeit, deren Kompetenzen sich ausschließlich auf die Inhalte der Prozessordnung und der Gesetzestexte erstreckten.77 Die Hoffnung auf ein „corps of broadly educated lawyers to improve public administration and the role of law“ wurde nicht aufgegeben, musste aber zurückstehen.78 Um die Staatsanwaltschaft in der Breite handlungsfähig machen zu können, brauchte man

74 Povyšenie kvalifikacii rabotnikov prokuratury – neotložnaja zadača, in: Socialističeskaja zakonnostʼ 6 (1941), S. 56–57. 75 Schreiben Bočkovs an den Vorsitzenden des Allunionskomitees für höhere Schulen, Kaftanov, o. D. [vermutlich Juli 1941], in: GARF, f. R-8131, op. 18, d. 16a, l. 101. 76 Vgl. Statusbericht zur Übergabe der Staatsanwaltschaft an Viktor Bočkov, 7.1.1941, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 528, l. 4; Statusbericht zur Übergabe der Staatsanwaltschaft an Pankratʼev, Juni 1939, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 135, l. 13. 77 „Die Mehrheit der Studenten zeigte große Fortschritte bei der Aneignung des Strafgesetzbuches, der neuesten Strafgesetzgebung und des Diskussionsmaterials. Die Studenten operierten gut mit juristischen Fachbegriffen, gaben eine richtige Analyse der Gesetzesartikel ab“: Podgotovka prokurorskych i sledstvennych rabotnikov – bolʼšoe gosudarstvennoe delo, in: Socialističeskaja zakonnostʼ 5 (1941), S. 64. 78 Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 273.

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umgehend Personal, das die Mindestanforderungen erfüllte. Für eine akademische Bildungsoffensive fehlten Zeit und Mittel. Um handlungsfähig zu bleiben, musste man Effizienz und Macht auch nach außen demonstrieren können. Vom eigenen Prestige hing nicht zuletzt ab, ob man politisches Vertrauen und Rekruten für die Staatsanwaltschaft gewinnen konnte – und dies möglichst langfristig. Auch an dieser Front bemühte sich die Staatsanwaltschaft in Moskau zum Ende der 1930er-Jahre um Fortschritte. Viktor Bočkov, ab 1940 Unionsstaatsanwalt, bat noch im selben Jahr bei Regierungschef Vjačeslav Molotov darum, seine Anwälte mit einer einheitlichen Uniform auszustatten. So beklagte er: „Der Staatsanwalt unterscheidet sich gegenwärtig überhaupt nicht von anderen Bürgern. Er zeichnet sich nicht als Vertreter der Staatsmacht aus, ausgestattet mit besonderen Befugnissen.“ Mit Uniform und Abzeichen würde sich der Beamte in seinem Verantwortungsgefühl und seiner Disziplin bestätigt sehen.79 Dieser Wunsch ging erst drei Jahre später in Erfüllung, was nicht zuletzt der Militarisierung der gesamten Behördenarbeit im Zweiten Weltkrieg geschuldet war.80 In der Zwischenzeit beteiligte sich die Staatsanwaltschaft, gerade unter Bočkov, zudem immer stärker am „Sozialistischen Wettbewerb“. Dieser wurde meist von der eigenen Gewerkschaft (PSROSiP) ausgerichtet, erfreute sich aber, wie die meisten „AgitProp“-Aktionen der Gewerkschaft, nicht sonderlich großer Beteiligung.81 Der kollektive Statistikabgleich sollte sowohl den Zusammenhalt unter den Beamten stärken als auch zu noch höheren Leistungen anspornen. Effektivität und „Kultur“ der Arbeit konnten und mussten gezeigt werden, während Nachzügler harsch kritisiert wurden. Neben den üblichen Indikatoren für gute Arbeit, wie die Zahl der Verfahrensabbrüche und der eingehaltenen Ermittlungsfristen, prämierte man auch die „fachmännische Bearbeitung von Dokumenten“ und „kulturvolle Einrichtung des Dienstzimmers“.82 Die Wirkung solcher Rituale auf die Mitarbeiter und potenzielle Berufsanwärter sei dahingestellt. Nach innen und nach außen wollte die Unionsstaatsanwaltschaft das eigene Ansehen als Teil der Staatsgewalt demonstrieren.

79 Schreiben Bočkovs an Vjačeslav Molotov, 2.10.1940, in: Rossisskij Gosudarstvennyj Archiv Socialʼno-političeskoj Istorii (im Folgenden: RGASPI), f. 82, op. 2, d. 884, l. 186. 80 Beschluss des Rats der Volkskomissare, 16.9.1943, in: Širjaev/Metelkina, Sovetskaja prokuratura, S. 133. 81 „Professionalʼnyj sojuz rabotnikov organov suda i prokuratury“. Die meisten Aktionen der Gewerkschaftler waren darauf beschränkt, die Gerichtsprozesse propagandistisch zu begleiten. Daneben richtete man Alphabetisierungskampagnen und „Verteidigungsübungen“ aus. Vgl. Otčet centralʼnogo komiteta professionalʼnogo sojuza rabotnikov organov suda i prokuratury. Sentjabr 1937 g.–Nojabr 1939 g., hsrg. vom CK PSROSiP. Moskva 1939, S. 39–54. 82 Socialističeskoe sorevnovanie v organach prokuratury, in: Socialističeskaja zakonnostʼ 3 (1941), S. 54.

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Über die eigene Mangelsituation konnten allerdings weder Uniformen noch Prämien hinwegtäuschen. Die finanzielle Ausstattung für die Zentrale in Moskau lässt erahnen, wie es um die Sach- und Personalmittel in der Provinz bestellt war. Michail Pankratʼev, ab 1939 Nachfolger Vyšinskijs als Unionsstaatsanwalt, erbat im Herbst 1939 bei Regierungschef Molotov Unterstützung, da ihm die Moskauer Stadtregierung keinerlei zusätzlichen Wohnraum für die Staatsanwaltschaft zur Verfügung stellen wollte, um die 50 zusätzlichen Mitarbeiter unterzubringen, die extra aus der Provinz herbeordert worden waren. Schon jetzt hätten mehrere Abteilungsleiter und sein eigener Stellvertreter seit geraumer Zeit keine Wohnung. Die verantwortliche Stadtbehörde (MosSovet) gestand ihm im Dezember dann maximal vier (!) Wohnungen zu. Die Bitte um eine diensteigene Kantine wurde hingegen abgelehnt.83 Der Moskauer Wohnungsmangel war ein Problem, das viele Menschen teilten. Allerdings kann man bezweifeln, dass Berijas Stellvertreter, Viktor Abakumov, in seinem Büro nächtigen musste. Auch auf diese Weise kamen Machtverhältnisse zum Ausdruck. Pankratʼev war Chef einer Behörde mit vielen tausend Beamten, doch weit vom innersten Machtzirkel um Stalin entfernt. Berija hingegen war die rechte Hand Stalins und wurde mit den Jahren zur gefürchtetsten Persönlichkeit in der Sowjetunion. Jenseits von Moskau oder Leningrad kämpften Ermittler und niedere Staatsanwälte (Bezirks- und Stadtebene) um ein Minimum an Unterstützung. Angesichts der Mangelsituation in der Provinz war an Prestige nicht mehr zu denken. Meist mussten die Ermittler große Distanzen überwinden und motorisierte Fahrzeuge waren rar. Ein Leserbrief, in dem der Ermittler über sein „hungriges Dienstpferd“ klagt, und nur zu Fuß zu Tatorten gelange, ist dafür nur ein Beispiel.84 In Moskau gingen mehrfach Hilferufe aus der Provinz ein, dass die Ermittlungsarbeit ohne Transportmittel auf der Strecke bleibe, weil Beweismaterial nicht gesichtet und Zeugen nicht vernommen werden konnten. Republiksstaatsanwalt Anatolij Volin bat im Oktober 1939 seinen Vorgesetzten Pankratʼev um dessen Fürsprache vor dem Obersten Sowjet, um über ein festes Kontingent an Eisenbahntickets oder zumindest Rabatte für Angestellte der Staatsanwaltschaft zu verhandeln. Diese Bitte wurde kommentarlos abgeschlagen.85 Mangelerscheinungen waren in den entlegenen Regionen besonders akut. Zentralasien, die Kaukasusrepubliken und eben auch die Uralgebiete litten unter fehlenden staatlichen Zuwendungen und waren schon vor 1917 infrastrukturelle Dauerbaustellen. Für die Region Molotov wird auf diese Probleme noch ausführlicher eingegangen. 83 Schreiben Pankratʼevs an Molotov, 30.11.1939, in: GARF, f. R-5446, op. 24, d. 78, l. 183–185. 84 Nado ulusšitʼ uslovija raboty rajonych prokurorov, in: Socialističeskaja zakonnostʼ 3 (1939), S. 93–94. 85 Korrespondenz zwischen RSFSR-Staatsanwalt Volin und Pankratʼev, 21.10.1939, in: GARF, f. R-8131, op. 16, d. 4, l. 182; 187.

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In fast allen Bereichen der Staatsverwaltung waren die Mittel knapp. Die Staatsanwaltschaft war davon nicht ausgenommen. Die Ansprüche ihres Gründungsvaters Vyšinskijs allerdings (der 1939 den Posten an besagten Pankratʼev abgab, um seine Stelle als Molotovs Stellvertreter anzutreten), eine funktionale, durchsetzungsfähige und selbstbewusste Alternative zum NKVD zu stellen, waren so nicht einlösbar. Der Beruf des Staatsanwalts, gleich welche juristischen Vorkenntnisse man dafür mitbrachte, war unter diesen Bedingungen keine reale Karriereoption. Sichtbar wurde das Problem in seiner Gesamtheit spätestens 1940. Als Bočkov das Amt des Unionsstaatsanwalts von Pankratʼev übernahm, wurde eine Art Übergabeprotokoll für die gesamte sowjetische Staatanwaltschaft angefertigt. Auf über 200 Seiten wertete die zuständige Inspektionsbrigade (wahrscheinlich im Auftrag des Nachfolgers) die Arbeit einer Behörde mit über 30.000 Mitarbeitern aus – ein ‚Abschlusszeugnis‘ für den Unionsstaatsanwalt, das für Pankratʼev aus verschiedenen Gründen blamabel ausfiel.86 Wie bereits erwähnt, konnte Pankratʼev die Mitarbeiterzahl durch Neuzugänge aus den Instituten nach vergrößern. Das Problem war, dass viele den Beruf nach nur kurzer Zeit wieder aufgaben oder entlassen werden mussten. 1939 wurden 7670 neue Mitarbeiter eingestellt. Gleichzeitig verließen über 3800 den Apparat. Besonders Ermittler, die unmittelbar mit der schlechten Ausstattung zu kämpfen hatten, hegten scheinbar keine großen Ambitionen auf eine Karriere auf diesem Gebiet. 1170 von ihnen stießen im ersten Halbjahr 1940 zur Staatsanwaltschaft, doch fast 1300 wurden entlassen bzw. reichten ihren Abschied ein.87 Fast 30 Prozent aller Mitarbeiter „vor Ort“ (sprich: außerhalb Moskaus) waren im Herbst 1940 höchstens ein Jahr angestellt und gerade Volin ließ deutliche Zweifel daran erkennen, ob die Mehrheit von ihnen bleiben würde. Viele Ermittler und Staatsanwälte der unteren Verwaltungsebene, die neu dazu kamen, seien schlichtweg überfordert, unproduktiv und kaum zur Zusammenarbeit fähig (nesrabotannostʼ). Die Konsequenz, mit der viele dieser Mitarbeiter dann entlassen wurden, deutet darauf hin, dass es sich dabei nicht um bloße Verfahrensfehler handelte. Viele von denen, die ihren Posten freiwillig aufgaben, waren durch besagte Zustände ebenso abgeschreckt wie durch „klimatische Bedingungen“.88 Solche Bemerkungen sind ein weiterer Beleg für die miserable Ausstattung in der Provinz und dafür, dass die Arbeit in der Staatsanwaltschaft nur wenige Beamte längerfristig band. Vyšinskij präsentierte schon im Sommer 1938 die Staatsanwaltschaft als professionelle und regelhaft arbeitende Alternative zur Geheimpolizei. Er antizipierte 86 Statusbericht zur Übergabe der Staatsanwaltschaft an Bočkov, 7.1.1941, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 528. Vgl. auch Kapitel 3.4. 87 Ebd., l. 4–5. 88 Ebd., l. 6.

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die politische Kurskorrektur, wonach die interne Kritik an unkontrollierten Massenverfolgungen wuchs. Sein Projekt perestrojka war das Ergebnis des atmosphärischen Wandels im Politbüro. Die Staatsanwaltschaft und die Gerichte boten die Möglichkeit, Zwang regelhaft und kontrolliert auszuüben und zugleich das Innenministerium in die Schranken zu weisen. Der Beschluss vom 17. November 1938 sprach diesen Organen explizit das Vertrauen aus. Justizministerium und Staatsanwaltschaft gleichermaßen investierten daher ab 1939 in den Ausbau des Personalapparates und in die Nachwuchsförderung. Die ambitionierten Bildungspläne und der Drang, zur Verantwortung auch das nötige Prestige einfordern zu können, überstiegen jedoch die Möglichkeiten (und den Zeitplan). Die Staatsanwaltschaft musste bei ihrer „Umgestaltung“ sparsam haushalten. Der Herbstbeschluss hatte die Staatsanwaltschaft und Justiz allgemein aufgewertet. Um als Gegenspieler zum NKVD effektiv auftreten zu können, fehlten jedoch die Personalressourcen. Inwieweit unter diesen Bedingungen die im Sommer 1938 formulierten Ideale Substanz bekamen, ob die beruflichen Überzeugungen, die Vyšinskij eingefordert hatte, in der Praxis standhielten, ob sie die Gesellschaft und die Staatsmacht gleichsam disziplinieren konnten, sollte in den kommenden Jahren sichtbar werden. Die Auseinandersetzung mit der Geheimpolizei und dem Erbe der Massenoperationen war da der entscheidende Schritt.

3. 3 D ie B e we r t u ng d e s Te r r or s Wer am 8. Dezember 1938 die Pravda aufschlug, konnte auf der vorletzten Seite lesen, dass sich Nikolai Ežov „auf eigene Bitte“ aus seinem Amt als Volkskommissar des Inneren verabschiedet habe.89 Auch ohne die Hintergründe dieses Rücktritts zu kennen, waren nicht wenige Leser darüber erleichtert. Ežov war als Chef der Geheimpolizei all denjenigen ein Begriff, die Verwandte oder Bekannte an den Sicherheitsapparat verloren hatten. Fast zeitgleich berichtete die Izvestija von den Revisionssitzungen des Obersten Gerichts unter der Überschrift: „Die Revolutionäre Gesetzlichkeit ist unzerstörbar“.90 Durch die neue Gerichtsverfassung war die höchste juristische Instanz der Sowjetunion nun formal befähigt, zahlreiche „Fehlentscheidungen“ in Verfahren gegen „Konterrevolution“ zu korrigieren. Obwohl gerade einmal zehn Prozent der Verhaftungen der Jahre 1937/38 überhaupt vor regulären Gerichten verhandelt worden waren, setzte das Regime auf die symbolische Wirkung solcher Sitzungen. Das Oberste Gericht, unter Vorsitz Ivan Goljakovs, war

89 Chronika, in: Pravda, 8.12.1938, S. 5. 90 Revoljucionnaja zakonnostʼ nerušima, in: Izvestija, 22.12.1938, S. 3.

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dazu auserkoren, ein Signal der Stabilität an die Bevölkerung zu senden. Sie sollte das Vertrauen in die Arbeit der Regierungsorgane und die Justiz wieder herstellen.91 Die Parteiführung sendete ihrerseits versöhnliche Signale an die eigene Nomenklatura. Auf dem 18. Parteitag stellte Stalin klar, dass der Klassenkampf nicht vorbei sei, die Schlachten aber künftig außerhalb der Sowjetunion geschlagen würden. Die eigenen Reihen stünden nun geschlossen hinter einem starken Staat.92 Deeskalation, so schien es, war das Mantra für den Jahreswechsel 1938/39. „Sozialistische Gesetzlichkeit“ war der passende Slogan dazu. Der Zusammenhang zwischen Ežovs Ausscheiden und der neuen politischen Wetterlage musste nicht allen verborgen geblieben sein. Doch die Konsequenzen aus den Massenoperationen wurden strikt hinter verschlossenen Türen gezogen. Kein Wort über den Schnellprozess oder die anschließende Hinrichtung Ežovs drang an die Öffentlichkeit.93 Das Schicksal der neuen „Volksfeinde“ und der Mehrheit der politischen Häftlinge wurde intern von Staatsanwaltschaft, NKVD und Partei besiegelt. Eine Woche nach dem Beschluss vom 17. November rückte Berija bereits an die Spitze des NKVD auf. Er und Vyšinskij wiesen in eigenen Befehlen ihre Untergebenen an, wie zunächst mit den offenen Strafverfahren und aktuellen politischen Gefangenen des Kommissariats umzugehen sei. Beide Texte wurden zeitgleich am 26. November herausgegeben, doch zuweilen beziehen sich Historiker nur auf Berijas Anweisungen bzw. behandeln beide Texte quasi als ‚Doppelbefehl‘. Berija verfügte, dass alle NKVD-Verfahren ohne Urteilsspruch, unabhängig davon, welcher Abteilung sie unterlagen, als reguläre Strafverfahren entweder von den Gerichten oder der „Sonderberatung“ (OSO) des NKVD überprüft werden sollten. Vyšinskij wies seine Staatsanwälte darin an, in all diesen Verfahren von ihrem Aufsichtsrecht umfänglich Gebrauch zu machen.94 Vieles spricht auf den ersten Blick dafür, dass beide Behörden komplementäre Vorstellungen davon hatten, wie nach dem 17. November mit politischen Gefangenen zu verfahren sei. Berija schlug gegenüber seinen Beamten lediglich etwas martialischere Töne an, als er zur „endgültigen Zerschlagung der Volksfeinde und

91 Solomon erwähnt das Oberste Gericht in Zusammenhang mit dem Versuch: „to restore public belief in the fairness of the Soviet government, and especially of its legal agencies.“ Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 258. 92 Vgl. Priestland, Stalinism and the Politics, S. 396; „Wäre es nicht richtiger zu sagen, daß die Säuberung der Sowjetorganisationen von Spionen, Mördern, Schädlingen zu einer weiteren Festigung dieser Organisationen führen mußte und tatsächlich geführt hat?“ Stalin, Josif: Rechenschaftsbericht auf dem XVIII. Parteitag über die Arbeit des ZK der KPdSU (B). 10. März 1939. Berlin 1953, S. 40. 93 Vgl. Jansen/Petrov, Stalin’s Loyal Executioner, S. 165. 94 Vgl. Khlevniuk, Oleg: The History of the Gulag. From Collectivization to the Great Terror. New Haven 2004, S. 187–188; vgl. Hagenloh, Stalin’s Police, S. 282.

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der Säuberung unseres Landes“ aufrief, wohingegen Vyšinskijs Appell zum „selbstlosen und ehrlichen bolschewistischen Kampf mit allen Volksfeinden“ vergleichsweise nüchtern ausfiel.95 Beide verpflichteten ihre Mitarbeiter auf die genaueste Einhaltung der Prozessordnung (auch wenn Vyšinskij diesen Punkt ausführlicher erläuterte). Berija veranlasste sogar, dass allen Mitarbeitern des Kommissariats die aktuellen Ausgaben der Prozessordnung und des Strafgesetzbuches ausgehändigt wurde – ein Novum für die Beamten im Innenministerium.96 Dem gesamten Apparat war es untersagt, Straf- und Ermittlungstätigkeiten einzuleiten, die sich auf Gruppen richteten. Jede Verhaftung war „in streng individuellem Verfahren durchzuführen“. Die Ermittlungsarbeit des NKVD sollte dokumentiert und gegenüber den eigenen Vorgesetzten transparenter gehalten werden. Verhaftungen mussten „im Vorfeld mit dem Staatsanwalt abgestimmt werden“.97 In diesem Punkt drifteten die Vorstellungen auseinander. Berija verfügte, dass Angehörige der Miliz für eine Verhaftung die „Genehmigung“ des Staatsanwalts einholen müssten, während bei Verhaftungen durch NKVD -Beamte schon die gemeinsame „Abstimmung“ ausreiche. Damit ließ er weitaus mehr Spielraum für die operative Zusammenarbeit beider Behörden als es Vyšinskij hätte recht sein können. Vyšinskij nämlich ließ keinen Zweifel daran, dass jede Verhaftung die Sanktion eines Staatsanwalts voraussetzte. Das NKVD müsse jede Verhaftung der Staatsanwaltschaft gegenüber schriftlich begründen. Seine Staatsanwälte hätten die kompletten Rechte und Pflichten im Rahmen der Ermittlungsaufsicht, um die „Universalität und Objektivität“ der Ermittlungen zu garantieren. Dies schloss auch ein, Beschuldigte erneut zu befragen.98 Berija wiederum verzichtete auf solche Details und sparte den Staatsanwalt in seinen Anweisungen so gut es ging aus. Drängend war auch das Problem der abgeschlossenen Ermittlungsverfahren, in denen die Beschuldigten noch kein Urteil erhalten hatten. Zehntausende Häftlinge harrten in den Gefängnissen aus und erwarteten ihren Urteilsspruch nach Artikel 58. Für Berija war die Prozedur prinzipiell einfach: „In der Regel sind alle Strafsachen entsprechend den Gesetzen über die gerichtliche Zuständigkeit zur Prüfung ans

95 Befehl von L. P. Berija, 26.11.1938, in: Binner/Bonwetsch/Junge, Massenmord und Lagerhaft, S. 492; Notiz Vyšinskijs für Stalin und Molotov, 26.11.1938, in: Chaustov/Naumov/Plotnikov, Lubjanka, S. 618. 96 „Der stellvertretende Leiter der ersten Spezialabteilung des NKVD der UdSSR Genosse Petrov verhandelt innerhalb der nächsten zehn Tage mit dem zentralen juristischen Verlag […] über die Ausgabe (oder Neuauflage) der erforderlichen Anzahl an Strafgesetzbüchern und Strafprozessordnungen.“ Befehl von L. P. Berija, 26.11.1938, in: Binner/Bonwetsch/Junge, Massenmord und Lagerhaft, S. 492. 97 Ebd., S. 489. 98 Notiz Vyšinskijs für Stalin und Molotov, 26.11.1938, in: Chaustov/Naumov/Plotnikov, Lubjanka, S. 618.

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Gericht weiterzuleiten“.99 Ausnahmen von dieser Regel waren dem Ermessen des NKVD vorbehalten. Schon wenn „die Schuld des Häftlings keinem Zweifel unterliegt“ und auch wenn die Beweislage angeblich kein Verfahren zuließ, hatte die OSO und nicht das Gericht das letzte Wort in dieser Strafsache. In beiden Fällen jedoch war ein staatsanwaltschaftliches Gutachten nötig. In diesem Punkt hob Vyšinskij hervor, dass der Staatsanwalt sein Aufsichtsrecht gegenüber Gerichten und OSO gleichermaßen durchzusetzen hatte – nach allen Regeln, die die Prozessordnung vorsah.100 Um dieser Aufgabe auch nachzukommen, kommandierte er (wie auch Berija) eigens hierfür instruierte Staatsanwälte ab. Die Befehle Vyšinskijs und Berijas standen keineswegs im Widerspruch. Nur kann von Arbeitsteilung oder einem gemeinsamen Konzept keine Rede sein. Vyšinskij schwor seine Beamten auf die Feinheiten des Untersuchungsverfahrens ein und verpflichtete sie dazu, jeden Ermittlungsschritt bis zur Anklage zu überwachen. Gemäß ihrer Aufsichtspflicht konnten sie Verfahren einstellen lassen und bei Vyšinskij eine Eingabe zur strafrechtlichen Verfolgung eines Ermittlungsbeamten verfassen. Berija wiederum achtete darauf, dass das NKVD in erster Linie ihm rechenschaftspflichtig war. Staatsanwälte „leiteten“ aus seiner Sicht Strafsachen weiter. Das Verfahren selbst sah er in der Hand des Kommissariats. Die Parteiführung sorgte in der Situation nur bedingt für Klarheit. Am 1. Dezember 1938 bestätigte das ZK zwar die Autorität des Staatsanwalts, wenn es darum ging, den Arrest eines Bürgers (durch das NKVD ) zu sanktionieren. Dies galt jedoch nur für den Fall, dass die betroffene Person nicht dem Ministerial-, Partei-, Wirtschafts- oder Regierungsapparat angehörte. Hier hatten die Kommissariate und Behörden selbst ein Vetorecht über das Schicksal ihrer Angestellten.101 Funktions- und Wirtschaftseliten, aber auch Angehörige des Militärs und die Parteinomenklatura gewannen so ein Stück Kontrolle über ihre Mitarbeiter gegenüber der Geheimpolizei zurück. Über die Prüfung laufender Verfahren oder über die Frage der strafrechtlichen Verantwortung von Amtspersonen in diesen Fällen verlor die Parteispitze indes kein Wort. Umso größer war der Spielraum für die Beamten vor Ort, eigene Schlüsse aus dem Befehl vom 17. November zu ziehen – ohne dass es eine konstruktive Abstimmung zwischen NKVD und Staatsanwaltschaft gab. Die Staatsanwälte sollten die Regeln des Prozessrechts in den Gefängnissen des Innenministeriums durchsetzen, während das NKVD in den Beamten der Staatsanwaltschaft nur technische Erfüllungsgehilfen und potenzielle Störfaktoren sah.

 99 Befehl von Berija, 26.11.1938, in: Binner/Bonwetsch/Junge, Massenmord und Lagerhaft, S. 490. 100 Notiz Vyšinskijs für Stalin und Molotov, 26.11.1938, in: Chaustov/Naumov/Plotnikov, Lubjanka, S. 618. 101 Beschluss des Politbüros des ZK, 1.12.1938, in: Chaustov/Naumov/Plotnikov, Lubjanka, S. 624 f.

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3.3.1 Konfrontation – Das „NKVD im Griff der Staatsanwaltschaft“? Schon bald häuften sich die Meldungen an Berija, dass sich Staatsanwälte in der ganzen Sowjetunion in die Belange ‚seines‘ NKVD einmischten. Die meisten dieser Konflikte traten (wenig überraschend) bei laufenden Strafverfahren auf. Im Dezember 1938 beispielsweise beschwerte sich der Leningrader NKVD-Chef Sergej Goglidze über die Unverfrorenheit des dortigen Staatsanwalts Baljasnikov. Dieser habe mit seinen Mitarbeitern bei einer Gefängnisinspektion die Befragung durch den NKVD -Mitarbeiter unterbrochen, das Verhör an sich gerissen und in dessen Gegenwart die Gefangenen aufgefordert, ihn über alle ungesetzlichen Verhörmethoden aufzuklären. Baljasnikov habe alle Insassen gefragt, ob sie misshandelt worden seien. Vor allem aber habe er die Gefangenen ermutigt, die Namen der NKVD-Mitarbeiter zu benennen, die sie misshandelt hätten. Goglidzes schriftliche Empörung bezog sich nicht allein auf die Einmischung ins Ermittlungsverfahren. Gegenüber Berija warnte er davor, dass der Staatsanwalt die Praxis gefährde, auf die das NKVD seine bisherigen ‚Erfolge‘ stütze. Indem sie die inkorrekten Handlungen der Staatsanwälte ausnutzen, beginnen die Gefangenen in den Gefängnissen damit früher abgegebene Aussagen mündlich zu widerrufen. Mehr noch, während der Verhöre benehmen sie sich herausfordernd, weigern sich, Aussagen zu machen, fordern demonstrativ einen anderen Ermittler, die Anwesenheit eines Staatsanwalts usw.102 Dass Baljasnikov darüber hinaus noch einen „höflichen und rücksichtvollen [deli­ katnogo]“ Umgang mit den Gefangenen gefordert hatte, war für Goglidze reine Provokation. Seine einzige Möglichkeit war nun, Berija zur Intervention gegenüber dem Staatsanwalt zu bewegen. Er bat darum, „dem Staatsanwalt Baljasnikov und der gesamten Staatsanwaltschaft ihre Aufgaben zu erklären, die sich aus dem Beschluss vom 17.11.1938 ergeben“.103 Goglidzes Beschwerde war anscheinend erfolgreich, denn kurze Zeit später rief Vyšinskij den Leningrader Mitarbeiter zur Ordnung und ermahnte: Ermittlungen dürften nicht gefährdet werden, indem man die Gefangenen anstachele.104 Vyšinskij zog es sicherlich vor, die laufenden Verfahren zu einem Abschluss zu bringen, ohne seine Mitarbeiter weiter in Konflikte mit dem NKVD zu verstricken. Darüber hinaus war Goglidze ein Protegé Berijas,

102 Schreiben des Kommissars für Staatssicherheit Goglidze an Berija, 23.12.1938, in: GARF f. R-8131, op. 37, d. 118, l. 67. 103 Ebd. 104 Vgl. Khlveniuk, The History of the Gulag, S. 190.

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der schon zahlreiche Säuberungswellen unbeschadet überstanden hatte.105 Diesen Konflikt wollte Vyšinskij eventuell vermeiden. Nicht immer jedoch bremste Vyšinskij seine Mitarbeiter aus. Auch auf seinem Schreibtisch gingen Hilferufe und Beschwerden ein. Viele Staatsanwälte suchten erst die Rückendeckung ihres Vorgesetzten, bevor sie Ermittlungsverfahren kritisierten bzw. den Kopf eines NKVD-Mitarbeiters forderten. In der gleichen Woche, in der er Baljasnikov maßregelte, verlangte Vyšinskij gegenüber Berija, dass gleich sieben NKVD-Mitarbeiter (überwiegend aus der Region Gorʼki) für ihre Taten zur Verantwortung gezogen würden. Mehrere Untersuchungshäftlinge hatten in Briefen an Molotov und Politbüro-Mitglied Andrej Ždanov schwere Vorwürfe gegen das Gefängnispersonal in Gorʼki erhoben. Den Beamten wurde Folter, Erpressung und die Fälschung von Beweismaterial in den Jahren 1937/1938 zur Last gelegt. Im Gegensatz zu dem Kollegen in Leningrad, erwirkte der zuständige Militärstaatsanwalt der Region, Kopernik, die Freilassung von sieben Gefangenen. 37 „Spionagefälle“ wurden eingestellt. Nun forderte Vyšinskij den Arrest der verantwortlichen NKVD-Beamten.106 Die Antwort des NKVD-Chefs ist leider nicht überliefert. Deutlich wird aber, dass sich die Beschwerden auf beiden Seiten häuften und dass einige Staatsanwälte die Beamten des Innenministeriums vor Ort offen herausforderten. Die Bereitschaft zur Konfrontation mit dem Polizeiapparat war durch das eigene Berufsbild sichtlich gestärkt worden. Immer deutlicher zeichnete sich aber auch ab, dass es vielen um Rache oder um persönliche Genugtuung ging, als sie sich auf dem Terrain des NKVD bewegen durften. Besonders delikat war die Situation in einem ukrainischen Militärdistrikt (okrug). Hier wurde offenbar eine gemeinsame Ermittlungsgruppe organisiert, der sowohl Staatsanwälte als auch NKVD bzw. UGB-Mitarbeiter angehörten.107 Das gemeinsame Vorhaben endete in einem Eklat, der den stellvertretenden Leiter des Ukrainischen NKVD, Bogdan Kobulov, dazu veranlasste, Berija um dessen Unterstützung zu ersuchen. Kobulov gehörte zu einem erlesenen Kreis georgisch-stämmiger NKVD -Beamter, die Berija im Herbst 1938 um sich geschart hatte. Sie koordinierten die Verhaftungswellen gegen (vermeintliche) Getreue Ežovs.108 Kobulov war

105 Sergej Arsenʼevič Goglidze gehörte zu den wenigen überlebenden Führungskadern des NKVD, die ihren Aufstieg Genrich Jagoda zu verdanken hatten. Michael Parrish zufolge verband ihn und Berija eine innige Freundschaft. Vgl. Parrish, Michael: The Lesser Terror. Soviet State Security, 1939–1953. Westport (CO) 1996, S. 7. 106 Denkschrift Vyšinskijs für Berija, 20.12.1938, in: Afanasʼev/Werth, Istorija stalinskogo gulaga, 1, S. 326. 107 Die UGB (Upravlenie gosudarstvennoj bezopasnosti), war als Verwaltung für Staatssicherheit eine geheimpolizeiliche Stelle innerhalb des NKVD. Vgl. Torke, Historisches Lexikon, S. 90 f. 108 Vgl. Parrish, The Lesser Terror, S. 9–20. Einigen Berichten zufolge soll Kobulov das Verhör von Ežov geführt haben. Vgl. ebd., S. 9.

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seit Dezember 1938 Chef der Ermittlungsabteilung des NKVD (für die gesamte UdSSR). Seine Einschätzung der Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft vermittelt eine klare Vorstellung von den Erwartungen, die die neue NKVD-Führung an den früheren Junior-Partner stellte. Besonders entrüstet zeigte sich Koboluv über das Verhalten zweier Militärstaatsanwälte in der Ukrainischen Ermittlungsgruppe. Die besagten Beamten, Chagi und Braclavskij, hätten, in den Worten Kobulovs, „Verwirrung in der Arbeit gestiftet, sie ausgebremst und den Ermittlungsapparat demoralisiert.“109 In den Beispielen ist davon die Rede, dass beide die Häftlinge über ihre Geständnisse befragt hätten. Zu den Tatbeständen nahmen sie neue Aussagen auf, vor allem aber waren sie an den Umständen interessiert, wie die besagten Geständnisse zustande gekommen waren. Diese Handlungen waren prinzipiell durch den Beschluss vom 26. November 1938 gedeckt (zumindest nach Vyšinskijs Vorstellungen). Aus Sicht Kobulov war dies jedoch ein Frontalangriff auf den Sicherheitsapparat: Die Genossen Chagi und Braclvaskij ziehen die gesamte Ermittlungsarbeit der Organe des NKVD in Zweifel, sie kultivieren die Meinung, dass die Mehrheit der Inhaftierten ausgedachte Geständnisse von sich gegeben haben, die unter dem Einfluss physischer Gewaltanwendung entstanden sind.110 Die Beamten der UGB würden provoziert, Auskünfte über ihre Ermittlungsmethoden zu geben – ein Vorgang, den Kobulov formal unterstützen, aber nicht vertreten konnte. Auch er verurteilte demonstrativ, „frühere Praktiken“ der Bestrafung. Das politische Risiko, das NKVD insgesamt zu kompromittieren, wollte er jedoch nicht tragen: „Aber das heißt nicht, dass man absolut alle Mitarbeiter des NKVD, die physische Gewalt in den Verhören ausgeübt hatten, verurteilen muss.“111 Das war ein deutliches Dilemma für das Volkskommissariat. Ein Jahr hatte man unliebsame Kader intern und gezielt aussieben können, ohne sich gegenüber einer anderen Behörde rechtfertigen zu müssen. Jetzt musste man auf Anschuldigungen von Staatsanwälten, sprich: von außen, reagieren. Da war es nur logisch, den Ball zurück ins Feld der Staatsanwälte zu spielen. Kobulov konterte: Braclavskij habe selbst in Kamenec-Podolʼsk zwei Häftlinge krankenhausreif geprügelt. Allgemein hätten Staatsanwälte „den Ton angegeben“ als Häftlinge misshandelt worden waren.112 Dass sich ein Staatsanwalt an solchen Szenen beteiligt hatte, ist mehr als nur wahrscheinlich. In den Jahren 1937/1938 waren die Polizei- und Justizbehörden 109 Schreiben Berijas an Vyšinskij, 5.1.1939, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 139, l. 84. 110 Ebd. 111 Ebd., S. l. 87. 112 Ebd.

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umfassend an den Massenoperationen beteiligt. Umso größer war nun die Sprengkraft, als es darum ging, den Rivalen, meist der anderen Behörde, zuvorzukommen und dabei offene Rechnungen zu begleichen. Ein gewisser Nosov, ein Kollege aus der Militärstaatsanwaltschaft neben Chagi, soll geäußert haben: „Bald ändern sich die Rollen, die Inhaftierten werden bei den Zeugen, die Zeugen bei den Angeklagten sein.“113 Je länger sich die Angelegenheit um Chagi, Nosov und Braclsavskij hinzog, umso mehr Details landeten auf Vyšinskijs Schreibtisch. Dabei wurde ersichtlich, dass die Gebietsverwaltung des NKVD offenbar die Vernehmungen durch die Staatsanwälte veranlasst hatte, um selbst einige Kollegen und Untergebene in einem bevorstehenden Gerichtsverfahren gezielt zu belasten.114 Die Konfliktlinien, die sich im Zuge des Kurswechsels abzeichneten, verliefen also auch innerhalb des NKVD. Der Befehl vom 17.11.1938 entwickelte, in den verschworenen oder verfeindeten Kreisen des Ermittlungsapparats zwischen Staatsanwaltschaft und NKVD eine teils unvorhersehbare Dynamik. In einigen Fällen konnte sich ein Staatsanwalt auf seinen Aufgabenkatalog zurückziehen und sich mit der Aufsichtspflicht rechtfertigen. Dabei musste er zu den Konterrevolutionsverfahren inhaltlich nicht einmal Stellung beziehen. Chagi beispielsweise beharrte gegenüber seinem Vorgesetzten in der Militärstaatanwaltschaft auf seinem Standpunkt: Wenn ein Angeklagter sein Geständnis widerruft, sei es im Interesse der Anklage, die Gründe für diesen Schritt festzuhalten.115 Im Gegenzug konnte ein Staatsanwalt jetzt all das, was bis dato recht und billig war, – Häftlinge für ein Geständnis zu misshandeln – dem NKVD als politischen Ballast zwischen die Beine werfen. Ein Staatsanwalt aus Novosibirsk äußerte sich gegenüber Vyšinskij zu dem Fall eines früheren Parteimitgliedes, dem im Verhör die Zähne ausgeschlagen worden waren: „Es fragt sich, wem nützen solche Ermittlungsmethoden und wer kann sie anwenden: Tschekisten oder Volksfeinde? Nach meiner Meinung können so etwas Letztere tun, aber nicht Tschekisten.“116 Die Rivalitäten mit dem Innenministerium hatten seit jeher strukturellen Charakter. Berufliche und persönliche Fronten bauten darauf auf und entluden sich im Herbst 1938 punktuell in der ganzen Sowjetunion. Die Socialističeskaja zakonnostʼ druckte im Frühjahr 1939 den Brief eines Staatsanwalts aus Pensa ab. Jener Timonin kritisierte die Ignoranz und die Ineffizienz vieler Staatsanwälte, wenn es darum ging, zu Unrecht Verurteilte aus den Lagern zu entlassen. Ziel seiner Empörung war aber der örtliche Lagerkommandant. Der ignoriere richterliche Anordnungen

113 Ebd., l. 86. 114 Schreiben des Militärstaatsanwalts Chagi an Hauptmilitärstaatsanwalt Rozokovskij, 14.1.1939, in: ebd., l. 91. 115 Ebd., l. 89. 116 Schreiben des Assistenzstaatsanwalts der Stadt Novosibirsk an Vyšinskij, 6.3.1939, in: RGASPI, f. 17, op. 136, d. 460, l. 57.

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zur Befreiung Unschuldiger. Dies nutzte Timonin als Vorlage für seine persönliche Kritik am Zustand der sowjetischen Justiz: Die „Frage der Garantie der Rechte im Strafprozess ist eines der aktuellsten Probleme unseres sozialistischen Rechts“. Menschen, die sich in einem „entfernten Lager“ [dalʼ lagere] befänden, kämen nicht frei, „weil er [der Lagerleiter, I. R.] ein geheimes Schreiben besitzt, das ihm ein solches Recht gibt“.117 Damit schoss Timonin offensichtlich über das Ziel hinaus. Die Redaktion distanzierte sich in der darauffolgenden Ausgabe von Timonins Beitrag. Nichtsdestoweniger hatte sie ihn abdrucken lassen. Das Bedürfnis, die Praktiken des Innenministeriums aus beruflichen Gründen öffentlich zu machen, war ebenso groß, wie das Verlangen, persönliche Rechnungen zu begleichen. Natürlich waren auch die Parteifunktionäre an diesen Auseinandersetzungen beteiligt. Regionale Parteisekretäre schwärzten Staatsanwälte und NKVD -Mitarbeiter in der Parteispitze an oder spielten eine Behörde gegen die andere aus. Zeitgleich denunzierten sie auch die Beamten innerhalb ihres Apparates.118 Laut Oleg Khlveniuk geriet das NKVD somit von mehreren Seiten unter Druck und Stalin musste notgedrungen frühzeitig im Interesse des Innenministeriums intervenieren. Am 10. Januar 1939 erklärte er persönlich die Anwendung physischer Gewalt im Verhör für gerechtfertigt: „gegenüber offenen Volksfeinden, die sich bei der Anwendung einer humanen Verhörmethode weigern, die Verschwörer zu verraten“.119 Damit sei der Staatsanwaltschaft „zu einer Maßregelung des NKVD, die Spitze genommen“ worden.120 Der Foltervorwurf war bis dato ein effektiver Hebel, um in solchen Verfahren die beteiligten NKVD-Beamten zu belasten. Um diese vor Gericht zu bringen, fehlte den Staatsanwälten und Gerichtsbeamten nun die Angriffsfläche. Allerdings war die Säuberung des NKVD-Apparates ohnehin Berijas Hoheitsgebiet bzw. die Militärgerichte des NKVD oder das Militärkollegium des Obersten Gerichts verhandelten diese Fälle nach Rücksprache mit dem Politbüro.121 Allgemein gibt es zu diesen Entscheidungsprozessen nur wenige verfügbare Archivquellen. Entsprechend fehlen genaue Angaben darüber, wie häufig und wann von Staatsanwälten initiierte Ermittlungen gegen NKVD-Personal zum Abschluss geführt wurden. Fakt

117 Timonin, N.: Penzenskaja zakonnostʼ, in: Socialističeskaja zakonnostʼ 3 (1939), S. 99–100. 118 Vgl. Khlevniuk, Party and NKVD, S. 27; Binner/Bonwetsch/Junge, Massenmord und Lagerhaft, S. 459–464. 119 Telegramm I. Stalins, 10.1.1939, in: Binner/Bonwetsch/Junge, Massenmord und Lagerhaft, S. 515; vgl. Khlevniuk, The History of the Gulag, S. 188. 120 Binner/Bonwetsch/Junge, Massenmord und Lagerhaft, S. 467. Dies galt besonders für laufende Verfahren. 121 Vgl. Petrov, Nikita/Jansen, Marc: Mass Terror and the Court. The Military Collegium of the USSR, in: Europe-Asia-Studies 58 (2006) H. 4, S. 600; Petrov, Nikita/Skorkin, K. N. (Hg.), Kto rukodovil NKVD. 1934–1941. Moskva 1999, S. 11. Zu den Verhaftungen im Apparat nach Berijas Übernahme vgl. Parrish, The Lesser Terror, S. 1–49.

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ist: Auch nach dem Januar-Befehl wurde von Staatsanwälten in politischen Fällen ermittelt. Im März 1939 versandte Berija ein Memorandum, in dem er sich erneut über Staatsanwälte und das Gerichtspersonal (diesmal in Saratov) beschwerte, die ein laufendes Verfahren gegen „Konterrevolutionäre“ durch „tendenziöse Befragungen“ kompromittierten.122 Im Endeffekt gelang es also einigen Staatsanwälten die laufenden Verfahren zu verzögern. Befragungen wurden eventuell noch einmal durchgeführt. Mitarbeiter des NKVD konnten durch diese Ermittlungen vor ihren Vorgesetzten in Ungnade fallen. Die Entscheidung, ob und wie es danach tatsächlich zur Anklage gegen einen NKVD-Mitarbeiter vor einem Militärtribunal kam, wurde allerdings zwischen Vyšinskij, Berija und dem Politbüro gefällt.123 Unabhängig davon, wer in solchen Konflikten die Oberhand behielt, bleibt festzuhalten, dass überall im Land Staatsanwälte ihrer Frustration Luft machten und sich durch die jüngsten Signale aus dem Politbüro sogar darin bestätigt sahen, die eigenen Ansprüche für ein regelhaftes Ermittlungsverfahren stärker durchzusetzen. Nicht selten bedienten diese Ansprüche persönliche Rachegelüste. Zugleich gaben sie damit ihrer beruflichen Vorstellung Ausdruck, dass eine Anklage ohne regelkonformes Ermittlungsverfahren keinen Wert hatte. Dass sich Berija und Vyšinskij auch an der Spitze der Behörden auf keine gemeinsame Linie einigen konnten, verstärkte diese Entwicklung. Natürlich konnten nur wenige Staatsanwälte diese Auseinandersetzungen für sich entscheiden. Darüber hinaus sollte man keine voreiligen Schlüsse über das Gerechtigkeitsempfinden und die Entscheidungsgewalt dieser Beamten ziehen. In der Breite mussten Staatsanwälte mit dem NKVD kooperieren, nicht zuletzt, um der Flut an Fällen und Beschwerden Herr zu werden. Mit Blick auf die unzähligen Fälle, in denen das Urteil (meist durch Trojki) bereits gesprochen, die Häftlinge bereits hingerichtet oder in ein Lager gebracht worden waren, hatte die Hauptverwaltung des Innenministeriums (UNKVD) ohnehin alle Fäden in der Hand.124 Ein Staatsanwalt konnte nur Vorschläge zur Prüfung unterbreiten. Zudem standen Staatsanwälte im Fokus ihrer eigenen Vorgesetzten. Der Erfolgsdruck und die Verfolgung von vermeintlich kompromittierten Beamten lasteten schwer auf einer Behörde, die man sich nach 1938 nicht als Einheitsfront vorstellen sollte. Die Verstrickung in den Terror hatte in den Reihen der Staatsanwaltschaft deutliche 122 Khlveniuk, The History of the Gulag, S. 191 f. 123 Es scheint, dass in vielen Ermittlungssachen die Zuständigkeiten für die eigenen Untergebenen (und deren Verurteilung) klar abgegrenzt waren. Schreiben Vyšinskijs an Kalinin, 10.1.1939, in: GARF f. R-8131, op. 37, d. 139, l. 12. In einigen Fällen forderte Vyšinskij aber auch direkt von Stalin und Molotov deren Zustimmung zur Verurteilung bzw. zur Erschießung eines NKVD-Beamten. Brief Vyšinskijs an Stalin und Molotov, 1.2.1939, in: Afanasʼev/Werth, Istorija stalinskogo gulaga, 1, S. 331–333. 124 Befehl Berijas und Vyšinskijs, 26.12.1938, in: Binner/Bonwetsch/Junge, Massenmord und Lagerhaft, S. 564 f.

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Spuren hinterlassen. Rivalitäten und Animositäten brachen auch hier nach dem November-Befehl offen aus. Diese Umstände prägten gerade in Permʼ die Abwicklung der Massenoperationen und ihrer Folgen.

3.3.2 Kooperation – Die Folgen des Großen Terrors im Permʼ In der ganzen Sowjetunion lief die Prüfung laufender Verfahren gegen „Konterrevolutionäre“ für die Staatsanwaltschaft nicht nur auf eine Kraftprobe mit dem NKVD hinaus, sondern auch auf einen Belastungstest in den eigenen Reihen. Dafür sorgte man an der Spitze der eigenen Behörde. Gleich wie viel Energie Andrej Vyšinskij darauf verwandte, neue Arbeitskräfte zu rekrutieren: Er selbst ließ nach dem 17. November 1938 mehrere regionale Staatsanwälte inhaftieren. Dies tat er einerseits, um seinen eigenen Eifer für die Kurskorrektur unter Beweis zu stellen.125 Andererseits war die Staatsanwaltschaft in der Paranoia gefangen, die sie selbst mit der perestrojka initiiert hatte. Auf der ersten Plenarsitzung des Obersten Gerichts im Dezember 1938 feuerten sich ranghohe Staatsanwälte gegenseitig bei der Entlarvung von „Volksfeinden“ in den eigenen Reihen an. An vorderster Front stand dabei Vyšinskijs langjähriger Stellvertreter Grigorij Roginskij. Dieser zog aus dem Beschluss vom 17. November für die ganze Staatsanwaltschaft klare Konsequenzen. Gebetsmühlenartig betonte er, dass der Kampf gegen die inneren Feinde mit der Prozessordnung und dem Gesetzestext entschieden werde. Diese Drohung galt aber nicht nur denjenigen, die während der Massenoperationen „Simplifizierung [upro­ ščenčestvo] und Verantwortungslosigkeit“ gegenüber dem Gesetz gezeigt hätten. Sie galt implizit allen, die als Staatsanwalt für die Freisprüche der Gerichte oder die Verfahrenseinstellungen die Verantwortung übernehmen mussten: Wir erachten, dass jeder Staatsanwalt schuldig und verantwortlich für die Fehler des Gerichts ist […] wir erachten, dass unsere Staatsanwälte schuldig und verantwortlich für die Vereinfachung, die achtlose Haltung gegenüber dem Gesetz und allen anderen Perversionen sind, die von den Richtern in den Verfahren vor Gericht manchmal begangen werden.126

Fehler und absichtliche „Perversionen“ lagen hier nahe beieinander. Nicht nur die „Repression gegen ehrliche Menschen“ in der Vergangenheit, sondern Versagen in

125 Vgl. Zvjagincev/Orlov, Prigovorennye vremenem, S. 81. 126 Stenogramme der Versammlung des ersten Plenums des Obersten Gerichts der UdSSR, 29.12.1938, in: GARF, f. 9474, op. 1, d. 119, l. 107 f.

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der Gegenwart wurde mit der Arbeit eines „Volksfeindes“ in Verbindung gebracht. Auf laufende politische Verfahren bezogen, bedeutete das: Wenn ein Richter im Jahr 1939 den offenen Fall eines „Konterrevolutionärs“ vom NKVD verhandelte und zu einem Freispruch gelangte, hatte ein Staatsanwalt offensichtlich nicht frühzeitig genug interveniert. Die Erwartungshaltung war deutlich: Hier haben sie eine kurze Übersicht darüber, wie wir mit denen verfahren, die bei unseren Anweisungen nicht die Ohren gespitzt haben, die trotz unserer Befehle sich politisch nicht reorganisiert haben [perestroili], manchmal aufgrund lokaler Einflüsse, oder die Rückversicherer [perestrachovščikami] und politische Feiglinge geblieben sind, was zu solchen Exzessen geführt hatte.127

Gemeint waren die Staatsanwälte von Jaroslavl, Smolensk, Omsk und der Region Ost-Kasachstan. Sie alle waren kurz zuvor ihrer Posten enthoben worden. Der Beamte aus Kasachstan wurde verhaftet, weil er in den Jahren zuvor „links und rechts Strafsachen initiierte“, was ein Beleg für seinen „trotzkistischen Hintergrund“ sei.128 In gewisser Weise setzten sich damit die Säuberungen unter den Vorzeichen der perestrojka fort. Der Vorwurf des „Rückversicherers“ wog besonders schwer, da er implizierte, dass ein Beamter in der Vergangenheit (und vielleicht noch immer) Anklagen aus Prinzip durchgehen ließ und Verhaftungen sanktionierte, die das NKVD ohne Beweislage in die Wege geleitet hatte. Von diesem Ruf musste sich nun jeder Staatsanwalt emanzipieren. Solche Drohgebärden trugen nicht unbedingt zum Enthusiasmus der Staatsanwälte bei, laufende Fälle wegen „Konterrevolution“ überhaupt in die Hand zu nehmen. Mitarbeiter fürchteten, eine falsche Entscheidung zu treffen oder einen formalen Fehler zu begehen, beispielsweise Strafsachen zu übersehen.129 Die Prüfung der „konterrevolutionären“ Fälle war folglich eine riskante und somit unbeliebte Aufgabe. In Permʼ arbeiteten die Beamten dabei unter erschwerten Bedingungen. Als der November-Beschluss an alle Dienststellen von NKVD und Staatsanwaltschaft geschickt wurde, war die Permskaja oblastʼ (und die dazugehörige Regional-Staatsanwaltschaft) gerade einmal sechs Wochen alt.130 Der Verwaltungsaufwand bei der Abspaltung einer ganzen Region (mit über zwei Millionen Einwohnern) war groß

127 Ebd., l. 118. 128 Ebd. 129 Roginskij hatte dieses Problem bemerkt und verkündete trotzig: „Jeder Staatsanwalt, der sich selbst achtet […] wenn er ein echter Bolʼševiken-Staatsanwalt ist, schlägt sich darum, das Recht zu bekommen, Strafsachen zu entscheiden, die mit Volksfeinden zu tun haben.“ Ebd., l. 116. 130 Vgl. Svetlakov, V. G. (Hg.): Permskaja oblastʼ nakanune Velikoj Otečestvennoj Vojny. Sbornik dokumentov. Permʼ 2005, S. 3.

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genug. Alle leitenden Dienststellen für Polizei, Verwaltung, Justiz und Industrie befanden sich zunächst noch in der ehemaligen Hauptstadt Sverdlovsk. Es überrascht insofern nicht, dass sich der Leiter der Ermittlungsabteilung von Permʼ, Aleksandrov, an ebenjenen Roginskij wandte und um Nachsicht bat, wenn Fälle nicht so schnell bearbeitet würden. Am 1. Dezember 1938 gab es noch nicht einmal eine Staatsanwaltschaft für die Hauptstadt Permʼ.131 Als Kirill Petrovič Alekseev sein Amt als Regionalstaatsanwalt im Oktober 1938 hier antrat, waren dies nicht die einzigen Hindernisse. Permʼ ging als wirtschaftlicher Verlierer aus der Gebietsreform am Ural hervor.132 Es gab weder eine juristische Fakultät noch ein Institut bzw. eine juristische Fernschule (die nächstgelegene war in Sverdlovsk). Absolventen der großen Hochschulen zog es in den seltensten Fällen an den Westural. Kurzum: Es mangelte an qualifiziertem und erfahrenem Personal. 1940 hatten über 87 Prozent aller Ermittler in Permʼ allerhöchstens drei Jahre Berufserfahrung. Ein einziger Ermittler hatte einen Universitätsabschluss, während fast 70 Prozent allerhöchstens sechs Monate oder überhaupt nicht ausgebildet wurden. Auch von den fast 80 Staatsanwälten und ihren Gehilfen hatten nur zwei eine höhere juristische Ausbildung genossen.133 Alekseev selbst war zu diesem Zeitpunkt 38 Jahre alt und konnte nur eine „niedrige Ausbildung“ vorweisen – was auch unter Regionalstaatsanwälten eine negative Ausnahme war. Zuvor hatte er in Sibirien als Richter gearbeitet. 1934 wechselte er nach einem Kursbesuch in Moskau in die Staatsanwaltschaft von Stavropol. Selbst der Jubiläumsband der Staatsanwaltschaft Permʼ verrät wenig Bemerkenswertes zu seinem Lebenslauf, außer dass Alekseev unterschiedliche (vermutlich niedere) Dienstgrade in Stavropol bekleidete. Seine Personalunterlagen sind nicht einsehbar, so dass man ihm nur wenige Zeilen widmete: „Die Unterlagen verraten nicht viel über diesen Menschen. Ein Emporkömmling von unten, nicht allzu sehr gebildet, verhältnismäßig ehrgeizig und verhältnismäßig vorsichtig, erfolgreich.“134 Dass Alekseev als vorsichtiger Mensch galt, sollte ihm in den kommenden Monaten mehrfach zum Vorwurf gemacht werden. Mit seinem Antritt in Permʼ war Vorsicht jedoch durchaus angebracht.

131 Schreiben des Staatsanwalts von Permʼ und des regionalen Leiters der Ermittlungsabteilung an den stellvertretenden Unionsstaatsanwalt, Roginskij, 1.12.1938, in: GARF, f. R-8131, op. 16, d. 4, l. 216. Darin könnte auch der Grund liegen, warum es lediglich eine Handvoll Dokumente in den Beständen der Staatsanwaltschaft gibt, die vor 1941 datiert sind. 132 Vgl. Lejbovič, Oleg: V gorode M. Očerki socialʼnoj povsednevnosti sovetskoj provincii. Moskva 2008, S. 15–18. 133 Bericht über den Personalbestand der Regionalstaatsanwaltschaft Molotov, 9.10.1940, in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 142, l. 22–24. 134 Prokuratura Permskogo kraja. Zakon. Čestʼ. Otečestvo, hrsg. von der Staatsanwaltschaft der Region Permʼ. Permʼ 2008, S. 74.

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Zunächst zeigte er sich gegenüber den Dienststellen in Moskau überfordert und unzufrieden mit der Personalsituation. Beide Stellvertreter, die ihm zur Seite gestellt worden waren, hätten sich in der Vergangenheit einen schlechten Ruf erarbeitet und seien „für politische Fehler“ verwarnt worden. Die besagten Beamten Krivoj und Miroljubov galten als „Rückversicherer“ und waren somit Risikofaktoren. Noch im Januar 1939 wollte er die beiden nicht mehr in seinem Kader sehen. Im gleichen Schreiben signalisierte er, dass er vollkommen unbedarft in seiner neuen Rolle sei und Unterstützung benötige. Mit der Säuberungsrhetorik Roginskijs im Nacken setzte Alekseev darauf, sich gleich zu Beginn hilfsbedürftig und unerfahren zu zeigen, ohne aber inkompetent zu wirken. „Ich arbeite seit 3,5 Monaten, habe die organisatorische Arbeit geführt und den Mitarbeiterapparat vollständig besetzen lassen. Ich überprüfe und helfe den Bezirksstaatsanwälten […] aber inwiefern ich die Arbeit richtig gemacht habe, weiß ich nicht.“ Deswegen bat er darum, einen Assistenten aus Moskau geschickt zu bekommen, der ihm zeige, „wo die Fehler liegen, damit ich sie korrigieren kann.“135 Angesichts der personellen Probleme und des politischen Drucks, der auf den Beamten bei der Fallprüfung ab Dezember 1938 lastete, achtete Alekseev darauf, die Erwartungen seiner Vorgesetzten nicht zu hoch zu schrauben und zugleich nicht negativ in Erscheinung zu treten. Wie viele Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft in Permʼ in den Jahren 1937/1938 verhaftet wurden, ist nicht bekannt. Namenhafte Beispiele gab es offensichtlich genug. Noch 70 Jahre später wird ihr Schicksal als Vorbild für staatsanwaltschaftliches Berufsethos in Erinnerung gehalten. Alle, bis auf einen gewissen Sirotin, hätten in der Untersuchungshaft die Aussage konsequent verweigert (auf diesen Hinweis legt die heutige Staatsanwaltschaft besonderen Wert). Ein anderer beging in der Haft Suizid, bevor er einen Kollegen hätte belasten können. Die überwältigende Mehrheit, so betont es die Jubiläumschronik, kam letztlich wieder frei, als die Massenoperationen ausgesetzt wurden – für die Staatsanwaltschaft in Permʼ ein Akt der Neugründung und des professionellen Triumphes über das NKVD. Von der aktiven Rolle der Staatsanwälte bei den Massenverfolgungen ist bei den heutigen Autoren keine Rede. Die Staatsanwälte waren der Natur ihrer Tätigkeit nach Gesetzeskundige, die in der Lage waren, gefälschte [sfabrikovannye] von echten Strafsachen zu unterscheiden. Außerdem gingen sie sehr sorgfältig bei der Qualifizierung einer Straftat vor. Vereinfachte Ermittlungsmethoden, das Feststellen einer konterrevolutionären Absicht bei Wirtschaftsvergehen und schlussendlich die Besetzung des Begriffs „Volksfeind“, der den Rechtsakten

135 Schreiben Alekseevs an Kuljapin, 21.1.1939, in: Gosudarstvennyj Archiv Permskogo Kraja (im Folgenden: GAPK), f. 1366, op. 1, d. 8, l. 14; 14ob.

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fremd war – all das zusammengenommen verwandelte die Staatsanwaltschaft in ein Gegengewicht zu den terroristischen Tätigkeiten der Organe des NKVD. Letzen Endes gewann die Staatsanwaltschaft die Oberhand über ihren Rivalen.136

Die „Oberhand“ gewann man nicht, zumindest nicht dauerhaft. Spürbar waren die Veränderungen schon. Die Prüfung von Fällen, in denen Staatsanwälte inhaftiert worden waren, gehörte zu Alekseevs ersten Aufgaben und offensichtlich war er damit verhältnismäßig erfolgreich. Dabei wird auch deutlich, dass Häftlinge ohne Urteilsspruch wie auch Menschen, die in der Untersuchungshaft länger ausgehalten hatten (oder vergessen worden waren), bessere Chancen hatten, ab 1939 aus der Haft entlassen zu werden. Wer noch dazu selbst einst in den Reihen der Staatsanwaltschaft gedient hatte, dem war die Aufmerksamkeit der Kollegen sicher. Alekseev ließ (auf Anweisung Vyšinskijs) in den ersten Monaten alle Fälle des NKVD überprüfen, bei denen es Hinweise auf „die gegenstandslose Erhebung einer Strafsache gegen Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft“ gab. Eduard Fricovič Čuže war ein solcher Fall. Der Ermittler war am 23. Dezember 1937 als angebliches Mitglied einer Spionageorganisation (Paragraph 58,6) in Permsko-Ilʼinsk verhaftet worden. Das NKVD hatte mit der von ihm erwarteten Akribie ein ganzes Geflecht aus Zeugenaussagen zusammengestellt, gespickt mit Geständnissen, die aus Sicht des NKVD nur einen Schluss zuließen: dass Čuže der Kopf einer lettischen Spionage- und Terrorgruppe sein musste. Eine Handvoll Bewohner von Permsko-Ilʼinsk mit lettischer Abstammung wurde anscheinend lange genug ‚verhört‘ (und misshandelt), dass sie gestanden, auf Anweisung Čužes den Brand einer Kolchosscheune und ein Eisenbahnunglück verursacht zu haben. Ein Jahr später hielt der Staatsanwalt, der Čužes Fall prüfte, fest, dass diese Zeugenaussagen „künstlich fabriziert wurden“. Die Tatsache, dass es weder den Scheunenbrand noch ein Zugunglück gegeben hatte, ließe nur einen Schluss zu: Eduard Čuže befand sich ein Jahr und 23 Tage lang „ungesetzlich in Haft“. Seine Strafsache wurde am 15. Januar 1939 abgebrochen und er aus der Haft befreit.137 Ganz so sorgfältig waren Anklage und Beweismittel dann doch nicht konstruiert worden. Alekseevs Mitarbeiter hatte in diesem Fall wenig Mühe, das Verfahren als „fabriziert“ zu entlarven. Der Name des damals zuständigen NKVD-Ermittlers fiel in dem Bericht nicht. Personelle Konsequenzen wurden aus dieser Affäre nicht gefordert. Anders verhielt es sich bei dem ehemaligen Bezirksstaatsanwalt von Lysʼva, M.V. Kukarskich. Der hatte sich einen Tag nach seiner Verhaftung durch das NKVD

136 Vgl. Prokuratura Permskogo kraja, S. 74. 137 Sonderbericht der Specotdel zur Aufsicht über Strafsachen des NKVD in Molotov an Vyšinskij, 25.2.1938, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 706, l. 1–2.

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im Januar 1938 in der Zelle erhängt. In Alekseevs Bericht war unter anderem von der berüchtigten „Fließband-Befragung“ (konvejer) die Rede, in der ein Mensch ohne Unterbrechungen für mehrere Tage und Wochen verhört werden konnte. Ob diese Technik zum Einsatz kam, lässt sich nicht sagen. Entscheidend für Alekseev: Sowohl der damals zuständige Ermittler Malʼcev als auch der Leiter der Stadtabteilung Kornilov (beide NKVD) seien dafür verantwortlich. Kornilov stünde sogar noch im Dienst der Abteilung.138 Alekseev forderte Aufklärung von Moskau – nicht anders herum – und bat in der Sache weiter zu „ermitteln“. Allerdings hatte er nur Informationen über die betreffenden NKVD-Beamten eingeholt, sich aber nicht mit dem NKVD vor Ort in Verbindung gesetzt. Auch in anderen Fällen wurden frühere Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft aus dem Gefängnis befreit, nachdem sie zum Teil mehrere Jahre im Gefängnis auf ihren Urteilsspruch gewartet hatten. Darunter war auch der frühere Stadtstaatsanwalt von Permʼ, Michail Volnuškin. Als Alekseev nach dessen Freilassung erfuhr, dass die Schuldigen bzw. die verantwortlichen Ermittlungsführer des NKVD aus dem Dienst entlassen worden waren, beließ er es angeblich dabei.139 Das Minimalziel war die Befreiung der früheren Kollegen aus der Untersuchungshaft und Konsequenzen für das verantwortliche Ermittler-Personal, sofern kein großer Aufwand dafür nötig war. Eine offene Auseinandersetzung mit dem NKVD vermied Alekseev. Die Prüfung von laufenden Verfahren war aus Sicht der Regionalstaatsanwaltschaft (zumindest für die früheren Mitarbeiter) noch vergleichsweise einfach. Wie aber reagierte ein Staatsanwalt auf den Vorwurf, selbst in die Massenverfolgungen und die Willkür verstrickt zu sein? Am 9. Januar 1939 ging der Brief eines gewissen Zacharov an die Redaktion der Pravda. Dieser erhob schwere Vorwürfe gegen die derzeitige Staatsanwaltschaft des Komi-Permjaken-Bezirks.140 1937 war der hiesige Staatsanwalt, Aleksej Jurkin, vom NKVD verhaftet und ein halbes Jahr danach wegen „konterrevolutionärer Tätigkeiten“ zu 15 Jahren Lagerhaft verurteilt worden. Aus Zacharovs Sicht war das die gerechte Strafe für einen „Volksfeind“. Jurkins Nachfolger jedoch, ein gewisser Ljubimov, sei der Freund Jurkins, der

138 Ebd., l. 2ob; vgl. auch den Eintrag in der „Datenbank der Repressierten“ des Permskij archiv social’no-političeskoj istorii (im Folgenden: PGASPI), unter: https://www.permgaspi.ru/repress/index. php?id=23046, letzter Zugriff: 17.09.2017. 139 „Er beginnt die Ermittlungen wegen ungesetzlicher Handlungen ehemaliger Bezirksmitarbeiter des NKVD, die sich besonders mit der Verfolgung von Staatsanwälten hervorgetan haben […] doch er führt es nicht zu Ende. Er gab sich mit der Information zufrieden, dass die Schuldigen bereits aus den Organen entlassen worden waren.“ Prokuratura Permskogo kraja, S. 74. 140 Dieser Bezirk war 1925 als quasi-autonome Verwaltungseinheit innerhalb der Region Permʼ für die nationale Minderheit der Komi-Permjaken geschaffen worden. Der Bezirk hatte mit Kudymkar zwar eine eigene Hauptstadt, unterstand aber administrativ dem Zentrum in Permʼ. Vgl. dazu Komar, I. V.: Ural. Ekonomiko-geografičeskaja charakteristika. Moskva 1959, S. 145–147.

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dessen „feindliche Linie fortführte und entschieden fortführt“. Er habe nicht nur die Anweisungen des Januar-Plenums ignoriert, er verweigere jedwede Einmischung der Partei in seine Arbeit und hielt noch immer tausende von Menschen grundlos als „Volksfeinde“ in Untersuchungshaft. Seit 1938 hatten er und sein Ermittler Sesjunin „fast alle Normen der Prozessordnung verletzt“ und sogar den früheren Sekretär des Bezirksparteikomitees inhaftieren lassen.“141 Alle diese Anschuldigungen liefen darauf hinaus, dass Ljubimov ein „Rückversicherer“ sei, der die Ermittlungs- und Verhaftungspraxis der vergangenen Jahre pflegte. Das eigentliche Anliegen oder zumindest der Anlass zu Zacharovs Schreiben war aber ein anderes. Neben vielen weiteren Menschen sei auch Zacharovs Ehefrau von Ljubimov als „Volksfeind“ verhetzt, aus der Partei ausgeschlossen, öffentlich verleumdet und schließlich verhaftet worden. Das Bezirksparteikomitee stelle sich blind gegenüber ihrem Fall und dem Unwesen, das Ljubimov treibe.142 Zacharov wollte über Ljubimovs Entlarvung seine Frau rehabilitieren. Zacharov war dabei umsichtig genug, nicht Alekseev direkt, sondern die Pravda anzuschreiben, die wiederum die Unionsstaatsanwaltschaft über den Fall informierte. In den kommenden zwei Wochen erhielt Alekseev einen Anruf aus Moskau, eine Kopie des Briefes und eine direkte Anweisung Vyšinskijs, diesen Vorwürfen nachzugehen.143 Einen „Rückversicherer“ konnte kein Staatsanwalt einfach ignorieren. Darüber hinaus berührte der Fall Ljubimov indirekt auch den Fall des verurteilten (!) Vorgängers von Alekseev: Jurkin. Alekseev musste also handeln. Er schickte einen Mitarbeiter in die Bezirkshauptstadt Kudymkar. Der konnte bestätigen, dass Ljubimov tatsächlich einst mit Jurkin befreundet war. Offensichtlich war er es, der Jurkin überhaupt erst beim NKVD denunziert hatte (weswegen er selbst vielleicht verschont blieb). Sowohl das Parteikomitee in Kudymkar als auch die dortige Staatsanwaltschaft stellte sich beim Gespräch hinter Ljubimov. Die Überprüfung des Bezirksgefängnisses danach zeigte, dass nicht Tausende, sondern genau zwei Personen gegenwärtig in Untersuchungshaft saßen. Wichtiger noch: „Zur Zeit der Massenarreste“ handelte Ljubimov auf Verlangen des NKVD. Er soll deren Anweisungen sogar in der damaligen Hauptstadt Sverdlovsk hinterfragt haben. Allerdings habe er keine rechtzeitige Antwort erhalten. „Er war also in dieser Frage nicht auf dem Laufenden“. Laut Alekseevs Mitarbeiter können Ljubimov „Fehler“ nachgewiesen werden, wie auch die unbegründete Strafverfolgung einiger Mitarbeiter der Konsumgenossenschaften (darunter war auch Zacharov selbst). Diese Verfahren wurden eingestellt. Zacharovs Frau hingegen habe sich

141 Brief Zacharovs an die Pravda, 9.1.1939, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 8, l. 5–6. 142 Ebd., l. 6. 143 Vgl. Ebd., l. 4.

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nicht an die Staatsanwaltschaft gewandt und Ljubimov könne keine Verleumdung nachgewiesen werden.144 Am Ende wählte die Staatsanwaltschaft in Kudymkar, sehr wahrscheinlich auf Alekseevs Anweisung, die für die eigene Behörde versöhnliche und einfachste Lösung. Ljubimov wurde offiziell gerügt, weil er die Untersuchungshaft in mehreren namentlich erwähnten Fällen verzögert hatte.145 Die Kooperation mit dem NKVD vor 1939 bedurfte keiner weiteren Erörterung. Die Staatsanwaltschaft wollte keine unnötigen neuen Fronten aufreißen. Zacharov durfte sich damit zufriedengeben, dass die Strafverfahren gegen ihn und seine Kollegen eingestellt wurden. Während Moskau also zur Jagd nach „Rückversicherern“ blies, gab man sich in Permʼ und Kudymkar damit zufrieden, dass Ljubimov „seine Arbeit ordentlich machte“ und Fehler begangen hatte, jedoch „keinen groben politischen Fehler“.146 Alle weiteren Details im Wirken von Ljubimov blieben unkommentiert. Alekseevs Zurückhaltung in der Auseinandersetzung mit den Folgen des Terrors galt auch für die eigenen Beamten. Zu tief in die Verstrickungen des Terrors wollte er nicht eintauchen. Sein Fokus lag auf den nachweisbaren Vergehen in der Gegenwart. Die Zusammenarbeit mit dem NKVD vor 1938 war kein Gegenstand der Erörterung. Dazu gehörte auch, dass Alekseevs Mitarbeiter keinen Zweifel an der Verurteilung Jurkins als „Volksfeind“ hegte. Auch wenn dieser Ende 1941 vom Militärkollegium des Obersten Gerichtes aus dem Lager befreit wurde.147 Festzuhalten ist, dass die Staatsanwälte ihre Aufmerksamkeit auf aktuelle Ermittlungsverfahren richteten. Verurteilte „Volksfeinde“ konnten, auch als Staatsanwalt, nach 1938 nicht auf eine zügige und kritische Fallprüfung hoffen. Wie verhielt es sich dann mit den unzähligen Fällen, in denen sich ‚Zivilisten‘ noch in Untersuchungshaft oder bereits im Lager befanden, während deren Angehörige um Auskunft, Intervention oder Revision von Seiten der Staatsanwaltschaft baten? Die offenen Strafverfahren des „Großen Terrors“ hatten besondere Priorität auf der Agenda der Unionsstaatsanwaltschaft. Die reguläre Ermittlungsarbeit litt stark unter der Doppelbelastung mit den alten Fällen des NKVD. Um der Masse an Fällen Herr zu werden, kommandierte die Staatsanwaltschaft in Moskau daher zusätzliches Personal aus der Peripherie ab und reduzierte die Ermittlungsfrist auf 10 Tage.148 Die Prüfung

144 Überprüfungsbericht eines Mitarbeiters der Regionalstaatsanwaltschaft, Chardinov, zu den Anschuldigungen Zacharovs, 25.2.1939, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 8, l. 8–10. 145 Anordnung des Komi-Distrikt-Staatsanwalts in der Sache Ljubimov, o. D. [vermutlich Jahresmitte 1939], in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 8, l. 11. 146 Brief Zacharovs an die Pravda, 9.1.1939, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 8, l. 5. 147 Vgl. Prokuratura Permskogo kraja, S. 73. 148 Gemeinsamer Befehl von Unionsstaatsanwaltschaft und NKVD zur Erfüllung des Beschlusses vom 17.11.1938, 20.2.1939, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 41, l. 3–6.

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laufender Verfahren wegen „Konterrevolution“ hatte Priorität. In Permʼ zeigten sich die Staatsanwälte äußerst engagiert, als sie die Untersuchungsge­fängnisse des NKVD besuchten. Um ein laufendes Ermittlungsverfahren zu überprüfen, ­forderten sie die Ermittlungsakten an und nahmen in einigen Fällen auch selbst an den Ermittlungen und Verhören teil. Auf dem Papier stand eine eindrucksvolle Bilanz: In den ersten sechs Wochen des Jahres 1939 allein hatte die Staatsanwaltschaft die Gefängnisse in 39 von insgesamt 47 Bezirken der Region durchkämmt. Der Leiter der Spezialabteilung (Specotdel) der Staatsanwaltschaft Permʼ (die für Fälle wegen „Konterrevolution zuständig war) fand lobende Worte für die Be­zirks­anwälte. „Sie kennen jede Strafsache“ des NKVD. Allein der Staatsanwalt des Bezirks Čerdynsk habe über 118 Strafsachen des NKVD geprüft und persönlich an den Befragungen teilgenommen. Auf diese Weise seien „künstlich produzierte Strafverfahren“ als solche entlarvt worden.149 Der Ukrainer Andrej Romanjuk zum Beispiel kam mehr als ein Jahr nach seiner Verhaftung frei. Im Januar 1938 hatte man ihn für die Zerstörung einer Arbeitsmaschine als „polnischen Geheimagenten und Diversanten“ verhaftet. Die Verhörprotokolle (und das entsprechende Geständnis) seien unter Verletzung der Prozessordnung zustande gekommen. Die entsprechenden Paragraphen (136 bis 138) legen nahe, dass Romanjuk offensichtlich misshandelt wurde. Der ausschlaggebende Grund für seine Freilassung (und dass die Strafsache eingestellt wurde) war aber, dass Romanjuks Arbeitsmaschine gar nicht zerstört worden war.150 Der Fall Romanjuk war ein einfaches Beispiel. Das NKVD zeigte sich während der ganzen Fallprüfung kooperativ und sein Verfahren ließ sich aufgrund des „fehlenden Tatbestandes“ problemlos einstellen. Doch auch gegen den Widerstand des Kommissariats und trotz des Freibriefs, den Stalin dem Innenministerium für die Anwendung von Folter erteilt hatte, beeinflussten Staatsanwälte die laufenden Ermittlungsverfahren. Sie nahmen Hinweise auf Folteranwendung zum Anlass für weitere Untersuchungen und fanden andere Wege, das Verfahren zu beeinflussen. Petr Novikov zum Beispiel wurde im Januar 1939 verhaftet. Das NKVD behauptete, Novikov habe sein Einverständnis dafür gegeben, ihn ohne Sanktion eines Staatsanwalts in Haft zu behalten. Der Staatsanwalt fand aber Anzeichen für „untypische Methoden“ (nesvojstvennych metodov) bei der Ermittlung, sprich: Folter. Novikov wurde letzten Endes wieder befreit, mit dem Verweis, dass es keine offizielle Sanktion

149 Sonderbericht der Specotdel der Staatsanwaltschaft Molotov an Vyšinskij zur Erfüllung des Beschlusses vom 17.11.1938, Februar 1939, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 706, l. 4. 150 Vgl. ebd., l. 5, vgl. auch den dazugehörigen Eintrag in der Datenbank zur politischen Verfolgung des PGASPI, unter: https://www.permgaspi.ru/repress/index.php?id=24089, letzter Zugriff: 17.09.2017.

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für dessen Haft gab.151 Trotz der Carte blanche für das NKVD bei der Anwendung von Folter, galten aus Sicht der Staatsanwaltschaft noch immer die Regeln der Haftaufsicht: kein Arrest ohne Sanktion. Stalins Telegramm hatte die Anwendung von Folter legitimiert, nicht aber die Prozessregeln insgesamt außer Kraft gesetzt. Gleiches galt für die Inhaftierungsfristen. Während der Massenoperationen befanden sich die Menschen für Monate (manchmal Jahre) im Gefängnis, ohne jemals angeklagt zu werden. Nun kam es vor, dass Staatsanwälte diese Fristvergehen gegenüber dem NKVD anmahnten und im Anschluss erfolgreich die Anklage oder die Einstellung des Verfahrens forcierten.152 In der breiten Masse wird vor allem eines sichtbar: Das NKVD wurde bei der Verfolgung und Verhaftung von „Konterrevolutionären“ mit den Hürden und Details der Prozessordnung konfrontiert und einen großen Anteil daran hatte die Staatsanwaltschaft. Ohne Trojki-Verfahren und OSO-Beschlüsse, also ohne außergerichtliche Alleingänge wie in den Jahren zuvor, brauchten auch politische Verfahren nunmehr die formale Bescheinigung des Staatsanwalts. Das Schicksal vermeintlicher „Konterrevolutionäre“ war also mit der Verhaftung keineswegs besiegelt. Das Engagement der Staatsanwälte unterlag allerdings zwei entscheidenden Einflussfaktoren. Der erste Faktor bestand in der Präsenz des Staatsanwaltes. Ob und wie nachdrücklich ein Staatsanwalt in solchen laufenden politischen Verfahren intervenierte, hing davon ab, ob er selbst an den Ermittlungen teilnahm (also die Gefängnisse besuchte) oder lediglich das Material unter die Lupe nahm, das ihm zugesandt wurde. Zwischen Januar 1939 und März 1940 gingen insgesamt 5153 solcher Fälle über die Schreibtische der Specotdel bzw. der Bezirksanwälte. 1263 davon verschickte das NKVD an die Staatsanwaltschaft, von denen wiederum 873 (fast 70 Prozent) umgehend die Bestätigung des Staatsanwalts erhielten und an das Gericht weitergeleitet wurden. Die übrigen 390 Fälle wurden entweder vom Staatsanwalt oder vom Gericht zwischenzeitlich zur weiteren Ermittlung an das Kommissariat zurückgeschickt. In den meisten dieser Fälle wurden die Beweisführung und andere ‚Fehler‘ bzw. Vergehen im Ermittlungsverfahren bemängelt. Doch nur in drei Prozent aller

151 Sonderbericht der Specotdel der Staatsanwaltschaft Molotov, 27.1.1939, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 706, l. 4. 152 Ein gewisser Gorbunov wurde länger als ein Jahr durch das NKVD in Untersuchungshaft gehalten und im Laufe des Jahres 1939 befreit. Bericht über die Arbeit der Specotdel der Staatsanwaltschaft Molotov im Jahr 1939 und im ersten Quartal 1940, o. D. [vermutlich 2. Quartal 1940]“, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 9, l. 3. Die Prozessordnung sieht bei Fällen des NKVD eine maximale Arrest-Zeit von einem Monat vor. Vgl. Ugolovno-processualʼnyj kodeks (1938), S. 28 f. Moskau bestärkte im Frühjahr 1939 offiziell seine Staatsanwälte in deren Recht, die Gefängnisse und Haftanstalten des NKVD zu inspizieren und persönliche Gefängnisunterlagen einzufordern. Anweisungen der Staatsanwaltschaft zur Überprüfung der NKVD-Haftanstalten, o. D. [vermutlich Frühjahr 1939], in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 41, l. 33.

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Fälle ließ ein Staatsanwalt das Verfahren ganz einstellen.153 Die übrigen 97 Prozent der politischen Fälle, die das NKVD an die Staatsanwaltschaft verschickte, gingen letztlich vor Gericht. Setzt man diese Zahlen ins Verhältnis zu den Fällen, die die Specotdel insgesamt bearbeitete (5153), fällt auf, dass Verfahren weitaus öfter eingestellt wurden, wenn ein Staatsanwalt das Gefängnis besuchte bzw. in den Ermittlungsprozess auf eigene Initiative eingriff. Zum Vergleich: Über 26 Prozent aller Strafsachen gegen „Konterrevolutionäre“ wurden in den 15 Monaten bis Frühjahr 1940 ganz eingestellt. Diese Entscheidung wurde meist mit „fehlendem Tatbestand“ und „unzureichenden Beweismitteln“ begründet.154 Wann immer also ein Staatsanwalt ein Gefängnis persönlich besuchte, hatte ein politischer Häftling statistisch eine neunmal höhere Chance auf die Einstellung seines Verfahrens, als wenn der Staatsanwalt die Fälle nach Zusendung an seinem Schreibtisch bearbeitete. Hier kann man mutmaßen, dass der Abteilungsleiter des NKVD nur Fälle weiterleitete, die er als wasserdicht empfand. Es ist davon auszugehen, dass die Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft bei zugesandten Fällen auch tendenziell oberflächlicher arbeiteten. In jedem Fall war die Durchsetzung von Ermittlungsregeln auch an die Präsenz des Staatsanwalts gebunden. Der zweite Faktor war, dass die Staatsanwälte per se keine inhaltliche Bewertung der Strafsachen wegen „Konterrevolution“ vornahmen. Die Staatsanwaltschaft strebte eine fundierte Anklage an, nicht die politische Aufarbeitung der Verbrechen des NKVD. Die Beamten legten den Fokus auf prozessrechtskonforme Ermittlungsverfahren. Inwiefern die Anklagepunkte surreal oder konstruiert erschienen, war nicht das primäre Problem der Beamten, solange diese Punkte durch Beweismaterial gestützt wurden. Kam ein Staatsanwalt in persönlichen Kontakt mit dem Gefangenen, stiegen zwar die Chancen, dass dem Beamten die häufigen Widersprüche in den Anklagepunkten auffielen. Statistisch bemühten sich die Beamten jedoch darum, dass das Verfahren auch in einer Verurteilung endete, weshalb sie dem NKVD einen großen Teil der Verfahren zur zusätzlichen Ermittlung zurückschickten. Im Frühjahr 1939 wies man Staatsanwälte in den Regionen an, die zusätzlichen Ermittlungen selbst in die Hand zu nehmen und nicht dem NKVD zu überlassen – auch um Zeit zu sparen.155 Selbstkritisch erklärte Alekseev nun, dass man dem Kommissariat bei der Ermittlung nicht ausreichend unter die Arme gegriffen habe. Daher war man gezwungen, so viele Fälle einzustellen oder nochmal ermitteln zu lassen.156 Mit Blick auf die ganze Sowjetunion lag Permʼ mit 30 Prozent 153 Bericht über die Arbeit der regionalen Specotdel, Mai 1940, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 9, l. 2–3. 154 Vgl. ebd., l. 7. 155 Vgl. Anweisungen der Staatsanwaltschaft zur Überprüfung der NKVD-Haftanstalten, Frühjahr 1939, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 41, l. 5. 156 Vgl. Bericht über die Arbeit der regionalen Specotdel, Mai 1940, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 9, l.

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aber noch unter dem Durchschnitt. Im ersten Halbjahr 1939 wurden im ganzen Land mehr als 50 Prozent aller politischen Strafsachen zur weiteren Ermittlung zurückgeschickt. Mancherorts waren es sogar 80 Prozent.157 Diese Zahlen deuten darauf hin, dass die Staatsanwaltschaft der Sowjetunion kategorisch alle offenen Strafverfahren mit Verdacht auf „Konterrevolution“ gegen den Strich bürstete, um ausnahmslos die Prozessordnung durchzusetzen. Dieser Anspruch sollte jedoch nicht mit einem generellen Misstrauen gegenüber politischen Fällen verwechselt werden. Die Staatsanwaltschaft sandte einen großen Teil der Ermittlungen an das NKVD zurück, um die offensichtlichen Prozessrechtsverletzungen durch zusätzliche Ermittlungen zu beseitigen. Inwiefern es sich dabei um überzogene Interpretation des Gummiparagraphen 58 handelte, war zweitrangig. In der Hauptsache sollte vermieden werden, dass die Gerichte den Fall abwiesen oder gar niedrige bis gar keine Haftstrafen aussprachen. Die Staatsanwaltschaft trug die Verantwortung, laufende Verfahren gegen „Konterrevolution“ dahingehend zu prüfen, ob die Regeln des Prozessrechts eingehalten, die Beweislage gesichert (auch das Geständnis reichte aus) und die Anklage erfolgversprechend schien. Mit der Präsenz des Staatsanwaltes stiegen auch die Chancen, dass Unregelmäßigkeiten aufgedeckt und Verfahren eingestellt werden konnten – sofern die Fälle offensichtlich gegen geltendes Prozessrecht verstießen. Der konstruierte Charakter dieser Fälle, die vollkommen unrealistischen Tatvorwürfe, die angeblichen Verschwörungsabsichten und die Existenz von Spionagezellen, wurden nicht hinterfragt. Im Gegenteil: die Anklage musste in jedem Fall zu einer Verurteilung führen. Entsprechend verhielten sich die Beamten der Staatsanwaltschaft vor Gericht. In einem Fall hat der vorsitzende Richter eine Frau „nur zu drei Jahren Freiheitsentzug“ verurteilt, nachdem sie „klar terroristische Absichten gegen Genosse Stalin geäußert“ hatte. Das Urteil wurde umgehend durch den Staatanwalt angefochten und dennoch war die Regionalstaatsanwaltschaft harscher Kritik ausgesetzt. Sie hatte durch diesen Fall und andere Freisprüche ihre „schwache Arbeit“ gezeigt.158 Niedrige oder fehlende Freiheitsstrafen waren ein politisches Warnsignal. Da nur wenige Richter, dieses Risiko eingingen, hielten sich auch die Staatsanwälte in der überwältigenden Mehrzahl der Urteile in Permʼ mit ihrem Protest zurück. Nur elf

2. Alekseev wurde im Juli 1939 von Moskau dafür gerügt, dass noch immer 250 Untersuchungsfälle ungeprüft blieben. Vgl. Prokuratura Permskogo kraja, S. 74. 157 Mitteilung der Unionsstaatsanwaltschaft an alle Staatsanwälte der Regionen, Distrikte und Republiken über ausstehende Ermittlungssachen, Juli 1939, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 41, l. 58. Innerhalb der RSFSR lag der Schnitt allerdings „nur“ bei 28,4 %, Schreiben des ersten stellvertretenden Unionsstaatsanwalts, Safonov, an Volin, 11.3.1940, in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 25, l. 40. 158 Bericht über die Arbeit der regionalen SpecOtdel, Mai 1940, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 9, l. 5.

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Urteile gegen „Konterrevolutionäre“ wurden im gesamten Jahr 1939 von der Staatsanwaltschaft angefochten. Unglücklicherweise ließen sich weder in den Unterlagen der Moskauer Staatsanwaltschaft noch in Permʼ Angaben zur Gerichtsarbeit in der Region finden. Es ist unklar, wie viele Menschen in Permʼ als „Konterrevolutionäre“ in dieser Zeit verurteilt oder eben freigesprochen wurden.159 Man kann annehmen, dass sich die elf Proteste allesamt gegen Freisprüche richteten. Letztlich bleibt nur festzuhalten, dass die Staatsanwaltschaft in Permʼ in politischen Fällen vor Gericht weit weniger bereit zur Intervention schien. Es war einfacher und sicherer, die Ermittlung im Vorfeld zu verlängern oder das Verfahren einzustellen, bevor die Sachen vor Gericht gingen. Alekseev galt bis zu seiner Absetzung 1942 als Staatsanwalt, der bedächtig und, aus Sicht der Behörde heute, zu langsam und zurückhaltend agierte. „Nach aller Wahrscheinlichkeit hätte man K. P. Alekseev die Langsamkeit in diesen Fragen verziehen, wenn man auch die Schwierigkeiten berücksichtigt hätte, die er mit der Auswahl der Staatsanwälte im Regional- und Bezirksapparat hatte.“160 Die Personaldecke war tatsächlich dünn, die Kader unerfahren und schlecht ausgebildet, und vermutlich konnte es sich Alekseev aus diesem Grund nicht leisten, größere Konflikte mit dem NKVD und innerhalb der eigenen Behörde loszutreten. Diese Zurückhaltung äußerte sich darin, dass viele offene Strafverfahren weiter verzögert wurden. Gleichzeitig erreichte er das Minimalziel, alle lebenden Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft aus der Untersuchungshaft zu befreien. Ohne direkt auf Konfrontationskurs zu gehen, brachten viele seiner Mitarbeiter die Prozessordnung zurück ins Spiel, wo das NKVD lange Zeit nur die eigenen Regeln befolgt hatte. Erzwungene Geständnisse galten als wertlos und angebliche Verschwörungen wurden als Chimäre der Geheimpolizei entlarvt. Nicht wenige Verfahren wurden daraufhin eingestellt, doch hunderte (wenn nicht tausende) Fälle, in denen Menschen als „Spione“ oder „Saboteure“ unter höchst zweifelhaften Anschuldigungen im Gefängnis einsaßen, kamen auch nach 1938 vor Gericht und im Anschluss in ein Lager. Die Ressourcen und die Bereitschaft der Staatsanwälte waren zu begrenzt, als dass jeder Häftling befragt, jede Strafsache intensiv studiert wurde. Fälle wurden im Aktenstudium evaluiert und über die Beweislage aus der Ferne befunden. Hielt diese einem Verfahren stand, ging der Fall auch vor Gericht, wo das Urteil meistens feststand. Die Staatsanwaltschaft leistete eine prozessrechtliche Aufarbeitung der

159 Ebd., l. 4; Die Bestände der Justizverwaltung in Permʼ bieten erst ab dem Jahr 1941 durchgehend statistisches Material. In den Beständen der Republiksstaatsanwaltschaft gibt es kompakte Angaben zur Zahl der Freisprüche und Verurteilungen in diesen Fällen für die meisten Regionen, mit Ausnahme der Region Permʼ. Schreiben des ersten stellvertretenden Unionsstaatsanwalts, Safonov, an Volin, 11.3.1940, in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 25, l. 40. 160 Prokuratura Permskogo kraja, S. 74.

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politischen Fälle – im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Die inhaltliche Aufarbeitung des „Großen Terrors“ war nicht ihre Aufgabe. Dies wird deutlich, wenn man bedenkt, dass die Staatsanwaltschaft an der Lösung der eigentlichen Mammutaufgabe, die der Beschluss vom 17. November 1938 an die Organe des Inneren und der Justiz stellte, kaum beteiligt war. Mehr als eine Million Urteile wurden in den Jahren 1937/38 durch Trojki und andere Exekutivinstanzen gesprochen.161 Bei der Prüfung dieser Urteile verliefen die Dinge aus Sicht der Staatsanwaltschaft deutlich anders. Die Arbeitslast war größer und die Befugnisse waren kleiner. Wie schon erwähnt, konnte ein Staatsanwalt, so er auf ein „falsches“ Trojki-Urteil stieß, ein Gesuch an die Hauptverwaltung des NKVD schicken. Von da an galt: Falls sich das gefällte Urteil als falsch herausstellen sollte und seine Annullierung als notwendig anerkannt wird, fassen die Leiter der entsprechenden Unions- und autonomen Republiken des NKVD und der Gebiets (Regions-) Verwaltungen des NKVD […] die Beschlüsse über die Annullierung des Urteils und über die Einstellung der Strafverfolgung.162

Der Befehl vom 26. Dezember 1938 war der Versuch, das Revisionsverfahren bzw. die Prüfung der Beschwerden gegen Trojki-Urteile besser zu koordinieren. Auffällig dabei ist, dass die Staatsanwaltschaft in diesem und im Folgebefehl vom 4. Februar nicht einmal erwähnt wird. Ihr wurde eingeräumt, auf Grundlage einer Beschwerde, die Revision eines Falles anzustoßen und gegebenenfalls zu bestätigen.163 Die Entscheidungsgewalt über die Aufhebung eines Trojka-Urteiles verblieb klar beim NKVD . Das eigentliche Aktionsfeld für die Staatsanwälte war theoretisch auf die Strafakte beschränkt – und im Rahmen ihrer Aufsichtspflicht Einsprüche gegenüber der UNKVD-Führung vor Ort (oder gegenüber Moskau) anzumelden. Mit Blick auf die Entscheidung Stalins im Januar, dem NKVD wieder mehr Unabhängigkeit in der Ermittlungsarbeit einzuräumen, überrascht es nicht, dass Vyšinskij keine größeren Ansprüche an die Trojki-Revision anmeldete. Die Häftlinge wussten nichts von dieser Arbeitsteilung. Ab Ende 1938 wurde die Staatsanwaltschaft mit Schreiben von Trojki-Verurteilten sprichwörtlich überflutet. Aus allen Winkeln des Lagersystems wandten sich die Häftlinge oder deren Verwandte an Vyšinskij, an Stalin oder das oberste Gericht. Sie baten um die Prüfung 161 Vgl. Hagenloh, Stalin’s Police, S. 282. 162 Befehl Berijas und Vyšinskijs, 26.12.1938, in: Binner/Bonwetsch/Junge, Massenmord und Lagerhaft, S. 565. 163 Vgl. ebd.; vgl. Befehl des NKVD der UdSSR, 4.2.1939, in: ebd., S. 566 f.; vgl. außerdem ebd., S. 554.

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ihrer Fälle, um Auskunft über tote und lebende Angehörige oder forderten, die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen. Die zentrale Beschwerdeabteilung in Moskau verfügte dabei über dreizehn Staatsanwälte und elf Referenten, die allein zwischen 1939 und 1940 über 900.000 Schreiben sichten mussten.164 In Moskau scheiterte die Fallprüfung häufig schon daran, die eingegangenen Briefe zu sortieren. Ein Mitglied der Sowjetischen Kontrollkommission berichtete im Dezember 1938 darüber, wie sich die Beschwerden vollkommen ungeordnet in den Büros der verantwortlichen Abteilung auftürmten. Alimentenforderungen, Beschwerden wegen Dienstvergehen und Hinweise auf Veruntreuung waren ohne System von einer Dienststelle an die andere geschickt worden. Beschwerden der „besonderen Kategorie“ (vermutlich mit Bezug zu politischen Verfahren) fand man im Keller wieder, „der mit Säcken solcher Beschwerden gefüllt war […] gezählt wurden 40.000, aber dem Anschein nach sind es Hunderttausende“.165 Zwei Wochen später rechtfertigte sich Vyšinskij gegenüber Molotov, dass die „Arbeit mit Beschwerden durch die feindliche Führung im Jahre 1937 zu Grunde gerichtet“ worden sei. Seit Februar 1938 würden die Staatsanwaltschaft der RSFSR täglich 700 bis 800, die Unionsstaatsanwaltschaft monatlich bis zu 60.000 Beschwerden erreichen. Vyšinskij warb um Verständnis und Geduld und versicherte, dass mit effektiver Arbeitsteilung schon die Hälfte geprüft worden sei.166 Seine Lösung bestand darin, die Beschwerdeabteilung aufzustocken und zur Beantwortung der Briefe abzukommandieren, während die Ermittlungsabteilung den entsprechenden Hinweisen nachgehen sollte. Im Endeffekt kamen die Ermittler in Verzug und Vyšinskij degradierte bzw. entließ beide Abteilungsleiter auf Republikebene: Eine Maßnahme, die die Abläufe nicht unbedingt optimierte. Die Staatsanwaltschaft hatte in der Auseinandersetzung mit dem Erbe der Trojki-Operationen also weder die Kompetenzen noch die Ambitionen auf eine aktive Rolle, noch gelang es ihr die Häftlingsbeschwerden frist- und sachgerecht zu bewältigen. In Permʼ geben die wenigen zugänglichen Quellen auch nur wenig Aufschluss über die Arbeit mit Beschwerden. Vom ersten Januar 1939 bis zum Frühjahr 1940 wurden hier 32.153 Beschwerden registriert und bearbeitet, die ausschließlich die Entscheidungen der OSO und der Trojki betrafen. Reguläre Beschwerden und Anzeigen waren da nicht einmal mit einkalkuliert. Der Arbeitsaufwand war auch hier entsprechend hoch. Darüber hinaus wurde die Staatsanwaltschaft vom NKVD nicht einmal darüber informiert, wie das Kommissariat letzten Endes über diese Fälle entschieden hatte. Bereits die Anfrage auf Einsicht in die Strafakten wurde 164 Statusbericht zur Übergabe der Staatsanwaltschaft an Bočkov, 7.1.1941, in: GARF f. R-8131, op. 37, d. 528, l. 203. 165 Schreiben des stellvertretenden Vorsitzenden der Kommission für Sowjetkontrolle, Zemljačka, an Molotov und Stalin, 26.12.1938, in: RGASPI, f. 82, op. 2, d. 884, l. 137. 166 Schreiben Vyšinskijs an Molotov, 15.1.1939, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 139, l. 44–46.

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oft genug abgewiesen oder hinausgezögert. Wenn die Hauptverwaltung des NKVD in Permʼ/Molotov 1940 antwortete, dass sie die „Strafsachen nicht finden“, blieb dem Staatsanwalt wenig anderes übrig, als erneut anzufragen. In einem Beispiel wurde sogar eine Brigade der Staatsanwaltschaft zur NKVD-Verwaltung geschickt. Doch auch diese Expedition blieb offenbar ergebnislos.167 Es ist nicht anzunehmen, dass das NKVD die Revisionsanträge der Staatsanwaltschaft besonders aufgeschlossen bearbeitete. Bernd Bonwetsch und Marc Junge hatten zu diesem Thema Unterlagen aus allen Winkeln der ehemaligen Sowjetunion zusammengetragen. Dabei bekamen sie teilweise auch Einblick in die Trojka-Untersuchungsakten des NKVD in Permʼ. Sie kamen zu dem Schluss, „dass wahrscheinlich die allermeisten Verfahren, die das NKVD von der Staatsanwaltschaft in den Jahren 1939–1941 zurückerhielt, abschlägig beschieden wurden.“168 Das Kommissariat habe weder auf formale Fragen geachtet noch die Ermittlungsverfahren als solche ernst genommen. Nur die eigene Prominenz und/oder der Zufall konnten einem (lebenden) Trojka-Verurteilten nach erfolgter Beschwerde die Chance bewahren, doch noch frei zu kommen.169

3.4 Zw i s che n f a z it „In Wirklichkeit hat die Klimaverbesserung, die sich im Herbst 1938 anbahnte, bestenfalls ein Bächlein an Befreiungen hervorgebracht.“170 Der französische Historiker Pavel Chinsky lieferte mit diesem Satz ein passendes Schlusswort für die Geschichte der Massenoperationen. Abgesehen davon, dass noch immer Menschen unter irrwitzigen Anschuldigungen als „Volksfeinde“ verhaftet wurden, genügt der Blick auf die Ereignisse nach dem 17. November 1938, um zu begreifen, wie stark die Staatsführung den Raum zur Diskussion, Verhandlung und zur Reglementierung der politischen Verfolgungen sehr schnell einschränken ließ – ein Trend, der die

167 Bericht über die Arbeit der regionalen SpecOtdel, Mai 1940, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 9, l. 4. Das NKVD hatte schon im Vorfeld die unbestrittene Hoheit über das Aktenmaterial in abgeschlossenen Verfahren gegen „Konterrevolutionäre“. Diese Verfahrensweise wurde nie infrage gestellt. Befehl des Unionsstaatsanwalts über laufende Verfahren gegen Konterrevolutionäre und Mitarbeiter der Staatssicherheit, 10.4.1939, in: GARF, f. R-8131, op. 38, d. 41, l. 7. 168 Binner/Bonwetsch/Junge, Massenmord und Lagerhaft, S. 560. 169 Alexander Vatlin verweist mit seiner Studie zu den Verhaftungswellen im Gebiet Kuncevo auf einige erfolgreiche Fallrevisionen durch das NKVD, in denen Trojki-Verurteilte zu Jahresbeginn 1939 freigelassen wurden. Die Mehrheit aller Revisionsanträge wurde jedoch abgelehnt. Vgl. Vatlin, Agents of Terror, S. 133–138. 170 Binner/Bonwetsch/Junge, Massenmord und Lagerhaft, S. 562. Zit. Chinsky, Micro-histoire de la Grande Terreur, S. 135.

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Staatsanwaltschaft im gleichen Rhythmus sukzessive zurückdrängte. Stalins Telegramm, das Folter in Ausnahmefällen für zulässig erklärte, war da nur der Anfang. Der Vorstoß des Justizkommissars und des Obersten Richters, die Beweiskraft der Geständnisse grundsätzlich zu relativieren, wurde im gleichen Monat abgelehnt. Das Gericht, so Vyšinskij, habe nicht das Recht, eine Strafsache anzuzweifeln, in der die Anklage nur auf dem Geständnis des Beklagten beruht.171 Das ganze Pathos von der Bindekraft der sowjetischen Prozessnormen verflog dann, als zehntausende von Anklagen gegen „Volksfeinde“ drohten, vor Gericht ins Leere zu laufen. Die Geständnisse aus den Jahren 1937 bis 1938 behielten ihre Gültigkeit. Das NKVD besaß außerdem das Aktenmaterial und die Hoheit über die abgeschlossenen Verfahren. Anfang Oktober 1939 ließ Berija beispielsweise alle Verhörprotokolle der Jahre 1937/38 aus den Registern streichen.172 Im März 1940 beschloss die sowjetische Regierung dann, dass jeder Freispruch gegen „Konterrevolutionäre“ mit dem NKVD abgesprochen werden müsste. Viel wichtiger noch für die Staatsanwaltschaft: Auch laufende Verfahren dürfe ein Staatsanwalt nur noch einstellen lassen, wenn es „keine Einwände von Seiten des NKVD“ gebe. Trotz der Proteste einiger hoher Justizbeamter, wurden politische Fälle damit de facto dem Geltungsbereich der Prozessordnung entzogen.173 Einen Monat später wurde dann auch der Befehl vom 26. Dezember 1938 aufgehoben. Die OSO war nun wieder die letzte Instanz mit Blick auf alle Trojka-Urteile. Weitere vier Monate danach ließ Pankratʼev jedweden offiziellen Protest gegen Trojka-Beschlüsse durch seine Mitarbeiter unterbinden. Stattdessen hob er hervor, dass nunmehr wieder die „soziale Gefahr“ eines Delinquenten den Ausschlag für eine Anklage gebe, und nicht der Tatbestand.174 Gleichzeitig wurden Staatsanwälte und konventionelle Gerichte von fast allen politischen Verfahren abgezogen.175 Das Kapitel der Massenoperationen wurde für beendet erklärt und die Staatsanwaltschaft in ihrer Zuständigkeit auf nicht-politische Strafsachen festgelegt. Die Überlebenden des Terrors konnten keineswegs im Herbst 1938 wieder aufatmen. Das Regime kehrte im Umgang mit politischen Häftlingen schnell zu den gängigen Methoden polizeistaatlicher Willkür zurück. Sowohl David Shearer als auch Paul Hagenloh haben gezeigt, dass die außergerichtliche Gewalt durch die 171 Schreiben des Justizministers Ryčkov und des Vorsitzenden des Obersten Gerichts Goljakov, an Molotov, 14.1.1939, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 139, l. 67–73; vgl. auch Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 360 f. 172 Befehl des NKVD über den Umgang mit den operativen Liste der Jahre 1937 und 1938, 10.10.1939, in: GARF, f. R-8131, op. 37, 136, l. 4. 173 Schreiben Vyšinskijas an Pankratʼev, 17.3.1940, in: RGASPI, f. 82, op. 2, d. 884, l. 149; vgl. Khlevniuk, The History of the Gulag, S. 193. 174 Vgl. Hagenloh, Stalin’s Police, S. 295. 175 Vgl. Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 264.

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Geheimpolizei auch im folgenden Jahrzehnt ein unverzichtbares Werkzeug des sozialen und politischen Ordnungsstrebens war. Das „Bächlein an Befreiungen“176 erreichte nur wenige und währte verhältnismäßig kurz. Entscheidend für die folgenden Jahre sind aber auch zwei andere Aspekte: Zum einen, welchen Anteil die Staatsanwaltschaft an diesem Bächlein hatte, sprich: inwiefern sie Regeln gegenüber dem Innenministerium durchsetzen, die Geheimpolizei disziplinieren konnte. Zum anderen stellt sich die Frage, welche Spuren die Jahre 1937 bis 1941 insgesamt in dieser Behörde hinterließen. Der erste Aspekt betrifft die Bilanz der Staatsanwaltschaft. Hier ist das ‚Übergabeprotokoll‘ des Jahres 1940 aufschlussreich, als Michail Pankratʼev das Amt des obersten Staatsanwalts an Viktor Bočkov abtrat. Diesem Dokument zufolge verhandelte das oberste Gericht der RSFSR in den ganzen zwölf Monaten des Jahres 1939 in zweiter Instanz (also nach Protest eines Staatsanwalts, bzw. durch eine erfolgreiche Beschwerde) die Fälle von 29.209 als „Konterrevolutionäre“ angeklagten Personen. Nur für 4092 Personen blieb das Urteil in Kraft. Alle übrigen Verfahren wurden entweder vom Gericht eingestellt (8047), nochmal zur Verhandlung angesetzt (7026) oder „umqualifiziert“ (10.776).177 Berücksichtigt man die Zahl der Freisprüche und Verfahrenseinstellungen auf den unteren Ebenen, zeigt sich, dass die Organe der Justiz einen großen Teil der ursprünglichen Anklagen durch das NKVD zurückwiesen. In Omsk beispielsweise wurden in erster Instanz nur knapp 21 Prozent aller als „Konterrevolutionäre“ verhafteten Personen auch als solche verurteilt.178 Diejenigen, die bis zum Herbst 1938 ihrem Trojka-Urteilsspruch entgehen konnten (also zum Zeitpunkt des November-Beschlusses noch im Gefängnis saßen), hatten folglich eine wesentlich höhere Chance noch frei zu kommen, als die Organe der Justiz ihre Fälle übernahm. Was auf den ersten Blick niemanden überrascht, ist einer wichtigen Arbeitsteilung geschuldet. Bis es zur Anklage kam, sortierten die Staatsanwälte zahlreiche, jedoch lange nicht alle Fälle aus. Dabei ging es weniger um surreale Anklagen und wie unglaubwürdig manche Tatbestände inszeniert wurden. Die Ermittler der Staatsanwaltschaft glichen vielmehr die Anschuldigungen mit den Zeugenaussagen ab und untersuchten die Beweismittellage auf offensichtliche Schwächen. Sie prüften, ob die prozessrechtlichen Bedingungen in den politischen Verfahren erfüllt wurden. Dafür musste man das NKVD nicht offen herausfordern, konnte das Kommissariat aber mit immer neuen Anfragen zur zusätzlichen Ermittlung so weit ausbremsen, 176 Binner/Bonwetsch/Junge, Massenmord und Lagerhaft, S. 562. Zit. Chinsky, Micro-histoire de la Grande Terreur, S. 135. 177 Statusbericht zur Übergabe der Staatsanwaltschaft an Bočkov, 7.1.1941, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 528, l. 15. 178 Ebd., l. 16.

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dass die Untersuchungshäftlinge nicht automatisch vor ihrem Richter landeten. Die Gerichte hatten wiederum eigene Vorstellungen davon, wie berechtigt eine Anklage wegen „Konterrevolution“ war. Obgleich ein Geständnis als einziges Beweismittel ausreichte, resultierten längst nicht alle Anklagen in einem Urteil, und selbst dann blieb theoretisch die Chance auf ein Verfahren in zweiter Instanz. Staatsanwälte und Richter setzten der Willkür des Innenministeriums dort klare Grenzen, wo sie politische Verfahren zu ihren Bedingungen, denen der Justiz, fortführten – nach prozessrechtlichen Maßstäben. Von diesem Vorgehen profitierte letztlich nur die Minderheit der politisch Verfolgten, also diejenigen, die im Herbst 1938 noch auf ein Urteil warteten. In den meisten Fällen blieben Menschen in Haft, die durch Gerüchte und Willkür, durch Folter und Denunziation als „Volksfeinde“ gebrandmarkt worden waren, ohne dass ihnen je eine Handlung nachgewiesen wurde, die diesen Vorwurf irgendwie genährt hätte. Dazu kamen die unzähligen Lagerhäftlinge und Angehörigen, deren Anliegen abgeschmettert wurden. Aus ihrer Sicht waren die Einstellungsraten und Freisprüche der Justiz blutleere Statistiken. Aus Sicht der Staatsanwaltschaft war zumindest mit dem Ermittlungsverfahren ein großes Stück an Souveränität zurückgewonnen – zumindest zwischenzeitlich. Damit ist der zweite Aspekt angesprochen. Die Abwicklung des Terrors wurde von Andrej Vyšinskij als hervorragende Gelegenheit antizipiert, die eigene Behörde als professionelle Alternative zum NKVD zu bewerben. Der politische Aufwind bekräftigte seine Bemühungen, die Evolution der Staatsanwaltschaft vom Erfüllungsgehilfen des Innenministeriums zu einer Sanktions- und Kontrollinstanz und zu einem Herrschaftsinstrument im Auftrag der Partei zu vollziehen. Er war der politische Architekt dieser Behörde. Nach dem Ende der Massenoperationen stiftete er einen Neuanfang auf den Grundlagen der Prozessordnung. Die verfügbaren Ressourcen bremsten diesen Enthusiasmus etwas aus. Eine schlagkräftige Truppe war die Staatsanwaltschaft an ihren eigenen Ansprüchen gemessen (noch) nicht. Der November-Beschluss bescherte ihr aber kurzzeitig den politischen Kredit, um sich mit dem NKVD auf Augenhöhe zu messen – oder es zumindest zu versuchen. John Getty und Oleg Naumov interpretierten den Herbst 1938 als Versuch der Parteiführung, die Geschehnisse in der Sowjetunion wieder mit „rechtlicher Hegemonie“ und einem zuverlässigen Herrschaftsnarrativ unter ihre Kontrolle zu bringen.179 Die Staatsanwaltschaft war das Sinnbild eines solchen Narrativs und sie beanspruchte die Führungsrolle, jene Hegemonie durchzusetzen. Darüber hinaus prägten die strukturelle Konkurrenz mit dem NKVD und nicht zuletzt die Verhaftungswellen das berufliche Selbstverständnis. Über Monate und

179 Vgl. Getty/Naumov, The Road to Terror, S. 543.

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Jahre war man der bedrohte Juniorpartner einer Behörde, die Kollegen und Vorgesetzte ebenfalls zu Opfern machte. Die Neuordnung der Machtverhältnisse erlaubte es nun, sich mit dem eigenen Handwerkszeug auf dem Terrain der Geheimpolizei mit dieser zu messen bzw. das eigene Terrain abzustecken. Kirill Alekseev war vorsichtiger als andere Beamte und arbeitete seine Verpflichtungen im Rahmen seiner Möglichkeiten gegenüber Moskau ab. Die Konkurrenz und die Konflikte der Vergangenheit waren nichtsdestotrotz auch hier feste Erfahrungswerte. Die Abneigung gegenüber dem NKVD hatte berufliche und persönliche Dimensionen, die sich mitunter in offenen Konflikten entluden. Das Politbüro schränkte die Staatsanwaltschaft zwar sehr schnell wieder in ihren Kompetenzen ein, doch dieser Status quo war für viele schlicht inakzeptabel. Ein gutes Beispiel für diese Abneigung und die eigenen Ansprüche gegenüber dem NKVD ist der Brief einiger hoher Beamter der Staatsanwaltschaft an Andrej Ždanov vom 28. Oktober 1939. Hierin baten sie um die Ablösung ihres Vorgesetzten Michail Pankratʼev und kritisierten sein Versagen bei der Durchsetzung des November-Beschlusses. Das Schreiben war ein Manöver gegen einen unbeliebten und als schwach wahrgenommenen Vorgesetzten. Der Brief spiegelt aber auch die Frustration und die Ressentiments gegen das NKVD und darüber, wie diese Operation insgesamt abgewickelt wurde. Die Abgabe der Trojki-Fälle an die OSO sei ein „großer Fehler“ gewesen. Infolge der „Verbiegungen der sowjetischen Gesetze“ durch die „Ežov-Bande“ blieben noch immer „dutzende wenn nicht hunderte Tausend“ in den Lagern und Gefängnissen. Pankratʼev habe versagt, und „beugt den Kopf vor Berija“. Dessen Behörde wiederum sei von seinem Wesen her ungeeignet, um diese Situation zu bewältigen – seien doch die „verbrecherischen Praktiken in die Wände des NKVD eingearbeitet [privivaemuju]“. Die Durchsicht der Urteile gehöre in die Domäne der Staatsanwaltschaft. Die sah sich allerdings nun um ihre Befugnisse betrogen. Darüber hinaus stand das ganze Ausmaß der Massenverhaftungen aus ihrer Sicht in einem unerhörten Kontrast zu den nicht eingelösten Verpflichtungen, dieser „Schande für die Sowjetmacht“ ein Ende zu bereiten. Viel zu wenige Verbrechen der OSO und Trojki seien aufgedeckt worden. In den Nachwehen des „Großen Terrors“ mischten sich das menschliche Entsetzen und die Frustration über die Behinderungen durch Berija mit den Ambitionen, endlich als Autorität innerhalb des Staatsapparates wahrgenommen zu werden. Daher beenden sie ihren Brief auch mit dem Verweis auf die skandalösen Gehaltsunterschiede zwischen verdienten Staatsanwälten (650 bis 700 Rubel im Monat) und Berufsanfängern des NKVD (1200 bis 1500 Rubel).180

180 Zvjagincev, Aleksandr G.: Istorija Rossijskoj prokuratury 1722–2012. Moskva 2012, S. 266 f.

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Pankratʼev wurde erst im Jahr darauf entlassen. Das Vermächtnis der Massenoperationen wurde endgültig wieder vom NKVD verwaltet. Was blieb, war das Streben vieler Staatsanwälte nach Autorität und die Überzeugung, ein Gegengewicht zum Kommissariat des Inneren stellen zu können und zu müssen – auf der Grundlage der Prozessordnung. Die hatte im Verfahren gegen „Konterrevolutionäre“ kaum mehr Gewicht. In allen übrigen Bereichen der Strafverfolgung und der staatsanwaltschaftlichen Aufsicht jedoch konnte man ihr Gewicht verleihen. Dies war eine der Lehren des „Großen Terrors“.

4. J UST I Z I M H I N T E R L A N D – DI E STA AT SA N WA LT SC H A F T MOL OTOV, 19 41–19 45

In der lückenhaften Geschichte der sowjetischen Justiz ist der Zweite Weltkrieg ein besonderes Desiderat. Sieht man von der ohnehin prekären Überlieferung der Polizei- und Gerichtsakten in diesem Zeitraum ab, fällt ins Auge, wie wenig Beachtung das sowjetische Hinterland in der Forschung zum Thema Justiz findet bzw. dass es allgemein keine eigenständige Interpretation für die Jahre 1941 bis 1945 im Kontext der Strafverfolgung gibt.1 Dennoch lassen sich drei Entwicklungen ausmachen, die helfen, die Geschichte der Staatsanwaltschaft im Hinterland in den Kontext dieser Epoche einzuordnen. Zum einen bestimmte der Krieg bzw. die Erwartung an ihn ab 1939 zunehmend die legislativen Schritte der sowjetischen Staatsführung. Ein Beispiel dafür ist die Arbeitsgesetzgebung. Diese wurde im gleichen Takt verschärft, wie die Industrieproduktion auf die Bedürfnisse der Landesverteidigung zugeschnitten und das Rüstungsressort an zivile Produktionsstandorte übergeben wurde.2 Ab 1939 drohten Betrieben und ihren Arbeitern immer härtere Sanktionen für kleinste Verletzungen der Arbeitszeiten oder der Plan- und Qualitätsvorgaben. Das sowjetische Arbeitsrecht wurde Gegenstand des Strafrechts. Dieser Schritt war eine Eskalationsstufe in einer langen Konfliktgeschichte um die Mobilisierung und Kontrolle der eigenen Arbeitskräfte. Er gilt aber auch als Auftakt zur Militarisierung der Produktions- und Arbeitsverhältnisse und zur Kriminalisierung ganzer Bevölkerungsschichten.3 Aufgrund ihrer „Vergehen gegen die Arbeitsdisziplin“ wurden zwischen Juni 1940 und

1 Nur wenige Forschungsarbeiten widmen sich überhaupt gesondert den Entwicklungen im sowjetischen Hinterland. Vgl. Neutatz, Träume und Alpträume, S. 307–312. Die meisten Beiträge entstanden im Rahmen von Regionalstudien wie: Samuelson, Lennart: Tankograd. The Formation of a Soviet Company Town: Cheliabinsk, 1900s–1950s. Basingstoke 2011, S. 217–254. Der Fokus hier lag zumeist auf der Evakuierung und der Rüstungsproduktion. Vgl. auch Stronski, Paul: Tashkent. Forging a Soviet City. 1930–1956. Pittsburgh (PA) 2010, S. 72–118. Peter Solomon selbst räumte den Kriegsjahren gar kein eigenes Kapitel ein. Vgl. Solomon, Soviet Criminal Justice. Einzig die Gulag-Forschung hat mit Blick auf den Strafvollzug zu diesem Thema aufgeschlossen. Vgl. Applebaum, Anne: Der Gulag. München 2005, S. 437–470; Barnes, Steven: Death and Redemption. The Gulag and the Shaping of Soviet Society. Princeton/Oxford 2011, S. 107–154; Bacon, Edwin: The Gulag at War. Stalin’s Forced Labour System in the Light of the Archives. Basingstoke 1994. 2 Vgl. Harrison, Mark: Industry and Economy, in: David R. Stone (Hg.), The Soviet Union at War, 1941–1945. Yorkshire 2010, S. 23. 3 Vgl. Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 301–305.

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dem 1. Januar 1943 mehr als 5,1 Millionen Menschen zu Haftstrafen verurteilt.4 Die Qualität und die eigene Beurteilung staatsanwaltschaftlicher Arbeit konnten von diesen Dimensionen nicht unberührt bleiben. Zur legislativen Entwicklung gehörte auch die Ausdehnung der Militärgerichtsbarkeit. Mit der Ausrufung des Kriegsrechts für die Frontgebiete wurden die Befugnisse der Militärtribunale sukzessive auch auf die Rechtsprechung und die Strafpraxis des Hinterlandes ausgedehnt. Von der Rüstungsindustrie und den Betrieben abgesehen, die als kriegswichtig eingestuft wurden, fielen immer mehr und immer neue Tatbestände, wie das Verbreiten „fälschlicher Gerüchte“, unter die Zuständigkeit der Militärgerichte des NKVD.5 Damit wurde nicht nur die territoriale Staatsanwaltschaft zunehmend auf ihrem Hoheitsgebiet herausgefordert. Auch das Strafmaß wurde systematisch verschärft. Vor allem aber setzte das Kriegsrecht über die Sonderauflagen der Militärgerichte einen wesentlichen Teil der Prozessnormen außer Kraft bzw. weichte dieses Gerüst zunehmend auf.6 Straf- und Ermittlungsverfahren wurden beschleunigt, vereinfacht und dem Zwecke einzelner Strafkampagnen (gegen „Deserteure“ von der Arbeitsfront zum Beispiel) untergeordnet. Genauso wurden Verfahren zwischenzeitlich ausgesetzt, wenn sich ein Delinquent an die Front meldete.7 Dieser Trend betraf natürlich auch die Regeln und die Organisation in Zwangsarbeitslagern und Gefängnissen. Einerseits wurden Häftlinge an der Front und in Betrieben gebraucht. Noch im Juli 1941 wurden über eine halbe Million Insassen für ihren Dienst an der Waffe amnestiert. Andere wurden für die Industriearbeit freigesetzt. Andererseits verschärfte sich das Lagerregime für bestimmte Häftlinge. Wer beispielsweise deutsche oder finnische Wurzeln hatte, war doppelten Repressalien ausgesetzt.8 4 Schreiben Bočkovs an Molotov, 6.4.1943, in: RGASPI, f. 82, op. 2, d. 885, l. 110. 5 Erlass über das Kriegsrecht, 22.06.1941, in: V. P. Uskov (Hg.), Istorija sovetskoj prokuratury v važnejšich dokumentach. Moskva 1947, S. 512. Der Befehl unterschied nicht weiter Front- und frontnahe Gebiete. Die Militärgerichtsverfahren gegen Arbeitsvergehen, „schädliche“ Gerüchte oder andere Formen der Insubordination durch Arbeiter erfolgten „unabhängig an welchen Orten sie begangen“ wurden. Šnejder, M.: Osobennosti ugolovnogo sudoproizvodstva v uslovijach voennogo vremeni, in: Socialističeskaja zakonnostʼ 13/14 (1942), S. 11. 6 Das Verfahren vor einem Militärgericht schloss beispielsweise die Möglichkeit eines Kassationsverfahrens aus, das durch den Beklagten initiiert wird. Einzig über die staatsanwaltschaftliche Aufsicht konnte ein solches Verfahren angestoßen werden. Vgl. Erlass über das Kriegsrecht, 22.06.1941, in: Uskov, Istorija sovetskoj prokuratury, S. 513. Allerdings waren Staatsanwälte von der ersten Sitzung eines Militärgerichts, in der über eine Strafsache beraten wurden, ausgeschlossen. Vgl. Širokova, Organizacionno-pravovye osnovy, S. 10. 7 Vgl. Zvjagincev/Orlov, Prigovorennye vremenem, S. 218. 8 Zu den Lagerbestimmungen der Kriegszeit vgl. Applebaum, Der Gulag, S. 437–444. Zu den Amnestien vgl. Alexopoulos, Golfo: Amnesty 1945: The Revolving Door of Stalin’s Gulag, in: Slavic Review 64 (2005) H. 5, S. 277, Anmerkung 16; vgl. Bordiugov, Gennadi: The Popular Mood in the Unoccupied Soviet Union. Continuity and Change during the War, in: Robert W. Thurston/Bernd

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Die zweite Entwicklung betrifft die sozialen und demographischen Auswirkungen des Krieges. Für die Arbeit der Justizorgane im Hinterland hatten besonders die Evakuierungs- und Flüchtlingsströme gravierende Folgen. Neben Zentralasien nahm die Uralregion weite Teile des Industrie- und Regierungsapparates aus den evakuierten Westgebieten auf. Fabriken wurden zerlegt, tausende Kilometer mit der Eisenbahn transportiert und an ihrem Bestimmungsort wieder aufgebaut. Komplette Industriezweige, vor allem die für die Rüstung unentbehrliche Metallverarbeitung, wanderten so Richtung Osten – 667 Betriebe allein an den Ural.9 Dieser logistische Kraftakt musste entlang der Eisenbahnstrecken und in den Rüstungsbetrieben überwacht werden. Aus Sicht der Staatsanwaltschaft war das eine weitere Baustelle, für die zusätzliche Beamte benötigt wurden. Eine andere Herausforderung für Polizei- und Justizorgane waren die Flüchtlingskolonnen, die sich von der Front ins sowjetische Kernland bewegten. Ob evakuiert oder nicht: mehrere Millionen Menschen hatten die Flucht vor den deutschen Truppen ergriffen und besiedelten nun das Hinterland. Das demographische Gesicht dieser Gebiete veränderte sich völlig. Versorgungsengpässe und der Mangel an Wohnraum heizten soziale, aber auch ethnische Konflikte an, die die Polizei, das NKVD und die Staatsanwaltschaft über ihre Kapazitäten hinaus beschäftigten.10 Allgemein stiegen die Kriminalitätsraten im gleichen Takt, wie die Flüchtlingsmassen in eine überforderte Infrastruktur einströmten. Die (nicht immer unbegründete) Paranoia vor Spionagezellen verschärfte das Klima zusätzlich – zumindest aus Sicht des Innenministeriums.11 Darüber hinaus war das Pass- und Meldesystem teilweise unbrauchbar geworden. Die Miliz hatte während des Krieges enorme Schwierigkeiten, Delinquenten überhaupt aufspüren zu können. Flüchtlinge wurden

Bonwetsch (Hg.), The People’s War. Responses to World War II in the Soviet Union. Urbana (IL) 2000, S. 61.  9 Vgl. Hildermeier, Manfred: Geschichte der Sowjetunion, 1917–1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates. München 1998, S. 653. Neben Molotov war vor allem Čeljabinsk eines der wichtigsten Evakuierungszentren für die Industrie. Vgl. die Zahlen bei Vasilʼev, A. F.: Dejatelʼnostʼ partijnych organizacij južnogo urala po razmeščeniju ėvakuirovannych predprijatij v 1941–1942 godach, in: Voprosy istorii 6 (1961), S. 64. 10 30 % der Flüchtlinge, die in den Ural-Gebieten ankamen, waren Juden. Nicht selten kam es zu offenen anti-semitischen Übergriffen durch andere Flüchtlinge oder die ansässige Bevölkerung. Auch zwischen anderen Volksgruppen brachen immer wieder gewalttätige Konflikte aus – vor allem in den ländlichen Gebieten. Vgl. M. Potemkina, M. N.: Ėvakuacija i nacionalʼnye otnošenija v sovetskom tylu v gody velikoj otečstvennoj vojny (na materialach Urala), in: Otečstvennaja istorija 3 (2002), S. 147–156. 11 Der Ural war in den Augen der Spionageabwehr von deutschen Spionagezellen durchsetzt. Tatsächlich gibt es Hinweise auf verdeckte Operationen der Deutschen in dieser Region. Vgl. Decker, Andreas: Stand Hitlers „5. Kolonne“ im sowjetischen Hinterland? Zu Einsatz und Verfolgung deutscher Agenten im Ural während des Zweiten Weltkriegs, in: JGO 52 (2004) H. 3, S. 421–431.

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häufig nicht einmal registriert.12 Daneben waren auch die Lagerhäftlinge von den Evakuierungen betroffen. Laut Anne Applebaum wurden im Verlauf des Krieges 27 Lager, über 210 Arbeitskolonien und 272 Gefängnisse in den Westgebieten mit fast 900.000 Häftlingen geräumt und nach Osten evakuiert. Nicht alle überlebten diese Transporte.13 Die Haftaufsicht musste also nicht nur die miserablen Bedingungen im Lager, die Amnestien und die Produktionsvorgaben für die Zwangsarbeitsbetriebe im Auge behalten, sondern auch die Häftlingsfluktuation in der Lagerwelt. Die dritte einschneidende Entwicklung für das Leben und die Arbeit als Staatsanwalt brachte der eigentliche Militärdienst. Alle Organe der Justiz wurden auf ihren Dienst an der Heimatfront eingeschworen. Die Staatsführung verlangte Enthusiasmus, Perfektionismus und eiserne Disziplin in den Produktionsabläufen. Richter und Staatsanwälte hatten ihre „militärischen Pflichten“ hinter den Frontlinien zu erfüllen – im Kampf gegen „Deserteure“, Diebe und Betrüger.14 Das System der Strafverfolgung musste genauso intakt bleiben wie das Prinzip staatsanwaltschaftlicher Aufsicht. Demzufolge blieben Teile der Republiks- und Unionsstaatsanwaltschaft nach dem deutschen Überfall in Moskau, während ganze Ministerien auf Züge verladen und nach Osten evakuiert wurden.15 Unionsstaatsanwalt Viktor Bočkov allerdings hatte in den ersten zwei Kriegsjahren ein ganz anderes Problem. Trotz seiner Anweisungen an Regional- und Republiksstaatsanwälte, genaue Mobilisierungspläne vorzubereiten, trat das ein, was er noch im Januar 1941 befürchtet hatte: Staatsanwälte und Ermittler aus allen Positionen und Gebieten der Sowjetunion meldeten sich zur Front, ohne dass Moskau darüber informiert oder für Ersatz in den jeweiligen Behörden gesorgt wurde.16 Genaue Angaben darüber, wie viele von ihnen sich im gesamten Kriegsverlauf meldeten bzw. eingezogen wurden, gibt es nicht. Zwischen 1942 und 1943 allein traten 2500 Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft

12 Vgl. Schreiben des Leiters der Milizhauptverwaltung, Galkin an Bočkov, 1.9.1942; Schreiben des stellvertretenden Volkskommissar für Inneres, Serov, an Bočkov, Ryčkov und Goljakov, 31.12.1941, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 980, l. 26; 42. Vgl. Shearer, Policing Stalin’s Socialism, S. 412. 13 Vgl. Applebaum, Der Gulag, S. 444. 14 Ryčkov, Nikolaj: Boevye zadači sudebno-prokurorskich organov, in: Socialističeskaja zakonnostʼ „dekabrja“ (1941), S. 4 15 Zvjagincev zitiert die Erinnerungen des damaligen Moskauer Regionalstaatsanwaltes Pavel Apenin: „‚Die Arbeit eines Staatsanwaltes wurde schwieriger nach dem 16. Oktober 1941, dem Tag der Massenevakuierung der Industriebetriebe, Organisationen, der Ministerien und der Bevölkerung – alle die konnten, fuhren davon. […] In der Staatsanwaltschaft stieg die Zahl der Strafsachen. In Moskau und der Region begannen die Diebstähle, die Plünderungen‘“. Zvjagincev/Orlov, Prigovorennye vremenem, S. 223; 264. 16 Vgl. Mitteilung der Unionstaatsanwaltschaft an alle Staatsanwälte der Sowjetunion über die Unzulänglichkeiten in der Mobilisierungsarbeit, Sommer 1941, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 551, l. 79.

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in die Armee ein.17 Die Staatsanwaltschaft in Moskau hatte somit nicht nur das Problem, dass viele Büros in den Provinzen unbesetzt waren und dass man teilweise den Überblick verloren hatte, wer noch für die Staatsanwaltschaft arbeitete. Hunderte Mitarbeiter fielen an der Front bzw. kamen in deutscher Gefangenschaft um. Die Mobilisierungspläne, die Anfang 1941 ausgearbeitet worden waren, befreiten zwar höhere Kader der Staatsanwaltschaft (regionale Staatsanwälte, Abteilungsleiter) zwischenzeitlich vom Wehrdienst. Die niederen Gehaltsgruppen jedoch, sprich: die Ermittler, entließ man unterschiedslos an die Front.18 Beim ‚Bodenpersonal‘ der Staatsanwaltschaft entstand also die größte Personallücke. Diese musste notdürftig mit Absolventen gefüllt werden, die „direkt von der Schulbank“ kamen und in den meisten Fällen kaum älter als zwanzig waren.19 Die juristische Ausbildung kam in den Kriegsjahren zwar nicht völlig zum Erliegen, wurde aber durch die verheerenden Zerstörungen in der westlichen Sowjetunion, durch die Einberufungen und den Tod vieler Absolventen enorm zurückgeworfen. Die wichtigsten Fachzeitschriften stellten ihre Arbeit entweder ein oder erschienen nur noch sehr unregelmäßig.20 Eine höhere juristische Ausbildung, geschweige denn eine akademische Karriere in diesem Gebiet, strebte in den ersten beiden Kriegsjahren zudem kaum noch jemand an.21 Erst zum Ende des Krieges gingen die Studentenzahlen wieder nach oben. Auch das Netz der juristischen Schulen sollte ab 1943 effizienter gemacht werden und flächendeckend für Entlastung in den Gerichten und Staatsanwaltschaften sorgen. Bočkov gab im November 1943 das Amt des Unionsstaatsanwalts an Konstantin Goršenin ab. Der promovierte Jurist gehörte zum engeren Zirkel der sowjetischen Rechtsgelehrten und war in Regierungskreisen als eine Art Hochschulfunktionär tätig gewesen.22 Es liegt nahe, dass er von seiner 17 Vgl. Širokova, Organizacionno-pravovye osnovy, S. 15. 18 Vgl. Tabelle mit Positionen der Mitarbeiter im System der Staatsanwaltschaft und deren Aufschub im Fall der Einberufung, 14.1.1941, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 551, l. 17. Ungeachtet dessen kamen viele hochrangige Staatsanwälte im Krieg ums Leben, die nicht ausschließlich in den westlichen Gebieten gearbeitet hatten, unter anderem aus der Kasachischen SSR. Vgl. Zvjagincev/Orlov, Prigovorennye vremenem, S. 220. Zwischen 1943 und 1945 wiederum mussten Staatsanwaltschaften in zurückeroberten Gebieten ebenfalls wieder mit Beamten besetzt werden. Hunderte Staatsanwälte wurden vom Ural und von Sibirien aus nach Belarus und die Ukraine geschickt. Statusbericht zur Übergabe der Staatsanwaltschaft an Konstantin Goršenin, November 1943, in: GARF, f. R-8131, op. 38, d. 158, l. 3. 19 Beschlussentwurf des CK VKP(b) über Maßnahmen zur Verbesserung der mittleren juristischen Bildung, 13.11.1943, in: GARF, f. R-8131, op. 21, d. 6, l. 166. 20 Vgl. Solomon, Understanding the History of Soviet Criminal Justice, S. 404. 21 Obwohl die meisten Rechtsinstitute aus den westlichen Gebieten evakuiert worden waren, wurden besonders in der Ukraine Bibliotheken und Laboratorien durch die Deutschen zerstört, darunter auch die Universitätsbibliothek von Kiew mit über 1,5 Millionen Büchern. Vgl. Kucherov, The Organs, S. 277. 22 Vgl. Zvjagincev/Orlov, Prigovorennye vremenem, S. 290.

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Expertise Gebrauch machte und dem Ausbildungssystem für Juristen mehr Dringlichkeit einräumte als sein Vorgänger. Nicht zufällig wurde dem ZK am Tag seiner Ernennung ein Beschlussentwurf vorgelegt, der das System der juristischen Schulen neu strukturieren sollte.23 Es sollte allerdings bis 1946 dauern, bis ein landesweites Ausbildungsprogramm für Juristen in der Sowjetunion ins Leben gerufen wurde. Die angesprochenen Entwicklungen bilden den Rahmen, in dem Staatsanwälte und Ermittler im Hinterland ihre Arbeit leisteten. Sie verweisen auf die Strukturveränderungen und die politischen Trends, unter denen diese Beamten ihre Rolle in Kriegszeiten wahrnehmen und ausfüllen mussten. Diese epochenspezifischen Entwicklungen sollen dabei helfen, die Handlungsspielräume und Ambitionen eines Staatsanwaltes in der ihm zugewiesenen Funktion zu bestimmen. Welche Rolle spielte der Staatsanwalt unter diesen Bedingungen für die stalinistische Herrschaftspraxis im Hinterland? Die Geschichte der Staatsanwaltschaft Molotov im Zweiten Weltkrieg lässt sich weder biographisch noch chronologisch sinnvoll aufschlüsseln. Vor dem Hintergrund der hier skizzierten Entwicklungen variierten die Konflikte, Ambitionen und Handlungsspielräume eines Staatsanwalts, je nach Zeit, Abteilung und mit Blick auf die involvierten Behörden und Personengruppen. Aus diesem Grund widmet sich der erste Abschnitt den strukturellen Entwicklungen der Kriegsjahre, die das Gesicht und die Handlungsweise der Staatsanwaltschaft der Molotovskaja oblastʼ prägten – den demographischen Folgen des Krieges, den Kaderlücken und personellen Umbrüchen zwischen 1941 und 1945. Die nachfolgenden beiden Abschnitte lenken den Blick auf den Umgang mit Arbeitsvergehen und Jugendkriminalität. Beides waren Massenphänomene, die die Routinen der konventionellen Strafverfolgung dominierten und von den Entwicklungen des Krieges besonders stark beeinflusst waren. Wie reagierten Staatsanwälte auf den Kampagnendruck der Parteiführung und die Ressourcenknappheit? Inwieweit ließen sich Regeln unter diesen Bedingungen des Chaos, des Mangels und der Behördenwillkür durchsetzen? Die anderen Abschnitte widmen sich im Umkehrschluss stärker den Strukturkonflikten, ergo: der Durchsetzung von „Gesetzlichkeit“ gegenüber Behörden und Regierungsstrukturen. Wie ging die Staatsanwaltschaft mit den informellen Praktiken in diesen Strukturen um und welche Möglichkeiten zur Disziplinierung gab es? Neben der Bekämpfung von Korruption in den eigenen Reihen steht vor allem das Verhältnis zum Innenministerium im Vordergrund. Wie

23 Vgl. Beschlussentwurf des CK VKP(b) über Maßnahmen zur Verbesserung der mittleren juristischen Bildung, 13.11.1943, in: GARF, f. R-8131, op. 21, d. 6, l. 166. Der Beschluss sah die Einrichtung „geschlossener“ Schulen vor, die ausgewählte Studenten mit Berufserfahrung aufnehmen sollten. Für das Jahr 1944 waren nicht weniger als 4500 Neuzugänge geplant.

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verwirklichten Staatsanwälte ihre Aufsichtspflichten gegenüber der Miliz und den Strafanstalten des Innenministeriums? Dieses Kapitel will keine Epochendeutung für die Strafjustiz im „Großen Vaterländischen Krieg“ leisten. Trotzdem kann es sich von der Debatte um die Geschichte des Hinterlandes inspirieren lassen. Im Mittelpunkt steht dabei die Ambivalenz aus „Patriotismus und Disziplinierung“, mit der Dietmar Neutatz die Alltagserfahrungen des Hinterlandes beschrieben hat.24 Die sowjetische Spionageabwehr lief auf Hochtouren. Das Regime dehnte seinen Überwachungsapparat massiv aus und ging verschärft gegen die Teile der Bevölkerung vor, die qua Herkunft oder durch Verdacht aus der Verteidigungsgemeinschaft ausgeschlossen wurden.25 Und doch habe das Regime den Griff auf die Gesellschaft gelockert, von dessen Bereitschaft und Hingabe für das „Vaterland“ sein eigenes Schicksal abhing. In den Erinnerungen vieler Menschen dominiert das Gefühl, dass sie sich während des Krieges freier äußern konnten und weniger kontrolliert wurden; dass die Regeln des Zusammenlebens nicht mehr so streng durchgesetzt wurden – solange sie ihre patriotische Pflicht erfüllten.26 Ob und wie die Staatsanwaltschaft zu dieser Wahrnehmung beigetragen hat, ob sie das Aufweichen des Regelwerks nicht nur ‚von oben‘ mit trug, sondern auch ‚von unten‘ tolerierte – dazu kann dieses Kapitel einen Beitrag leisten.

4.1 Hei m at f r o nt Molot ov u nd d ie Reg io n a l s t a at s a nwa lt s ch a f t z w i s che n 19 41 u nd 19 45 Nimmt man einige sowjetische Historiker beim Wort, schrieb die ganze Uralregion ab der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre eine beispiellose Erfolgsgeschichte. Von Magnitogorsk im Süden bis nach Permʼ im Westen oder Sverdlovsk im Osten des Gebirges sei noch vor Kriegsausbruch im Ural ein „mächtiges Rüstungszentrum“ entstanden, das entscheidend zum Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“

24 Neutatz, Träume und Alpträume, S. 295–300. 25 „With the war the ethnicization of categories of the enemy within came full circle”. Weiner, Amir: Making Sense of War. The Second World War and the Fate of the Bolshevik Revolution. Princeton 2001, S. 149. 26 „Some rights of the people, the defenders of the Fatherland, were stipulated, though never formally or in writing. People recognized as defenders, usually a result of excellent work records, could, for example, make frank comments about production plans in their factories […] criticize the factory administration freely and without fear […] In short, they had various opportunities to cut through or circumvent existing regulations“. Bordiugov, The Popular Mood, S. 62 f.; vgl. Ganzenmüller, Jörg: Die Belagerung Leningrads. Die Stadt in den Strategien von Angreifern und Verteidigern. Paderborn u.a. 2005, S. 8.

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beigetragen habe.27 Dass die Rüstungsindustrie am Ural den sowjetischen Kriegsanstrengungen unersetzliche Dienste geleistet hat, wird niemand ernsthaft bestreiten. In relativer Nähe zur Front erstreckte sich hier ein gewaltiges Netz zur Förderung und Verarbeitung kriegswichtiger Rohstoffe.28 Sieht man aber vom traditionellen Industriezentrum Sverdlovsk und dem sowjetischen Prestigekomplex in Magnitogorsk ab29, war gerade die Region Molotov zu Kriegsbeginn alles andere als ein potenter Ballungsraum. Molotov war der Verlierer einer überhasteten Gebietsreform, abgeschnitten von allen wichtigen Verkehrswegen nach Süden oder Westen. Zwei Millionen Einwohner verteilten sich über eine Vielzahl an kleineren und mittleren Industriesiedlungen, die unzureichend miteinander verbunden waren: „Die ganze Region erinnerte an einen hastig zusammengewebten Flickenteppich“, fasst es der russische Historiker Oleg Lejbovič zusammen. Nicht nur die fehlende Infrastruktur begründete Molotovs Ruf als „dunkler Fleck auf der Karte“. Bis in die 1950er-Jahre hätten die Vertreter der Polizei- und Regierungsbehörden nur ungern einen Fuß aus ihrer Hauptstadt gesetzt.30 Vor allem das Netz aus Lagern, Sondersiedlungen und Gefängnissen war zum Ende der 1930er-Jahre immer stärker gewachsen und nicht überall trennte der Stacheldraht die Welt der Zwangsarbeiter von der Welt ‚außerhalb‘. Im Gegenteil: Aktuelle Forschungen haben demonstriert, wie eng diese Welten miteinander verwoben waren bzw. haben die Zwischenwelten des sowjetischen Strafvollzuges offengelegt.31 Die „speckontingenty“, Menschen die in unterschiedlichster Form und Strenge einem Haft- oder Zwangsarbeitsregime unterlagen, prägten das Erscheinungsbild in vielen Betrieben und das Zusammenleben. Je weiter das System aus Zwang und Gewalt sich ausdehnte, umso stärker diffundierten die Konflikte dieser Häftlingswelt in die freie Gesellschaft. Lagerhäftlinge und reguläre Arbeitskräfte arbeiteten in vielen Bereichen mit- oder nebeneinander.32 In Molotov waren die Proportionen

27 Makušin, N.: Razvitie oboronnoj promyšlennosti Urala v 1937–1941 gg., in: Voenno-istoričeskij žurnal 3 (1977), S. 93. 28 Vgl. das Kartenmaterial von Gilbert, Martin/Banks, Arthur: Soviet History Atlas. London 1979, S. 44. 29 Vgl. Kotkin, Stephen: Magnetic Mountain. Stalinism as a Civilization. Berkeley 1995, S. 28–35. 30 Lejbovič, V gorode M, S. 15–18. 31 Vgl. Bell, Wilson T.: Was the Gulag an Archipelago? De-Convoyed Prisoners and Porous Borders in the Camps of Western Siberia, in: The Russian Review 72 (2013), S. 116–119; Khlevniuk, Oleg/ Belokowsky, Simon: The Gulag and the Non-Gulag as One Interrelated Whole, in: Kritika 16 (2015), H. 3, S. 483;485–488. 32 Vgl. Lejbovič, V gorode M, S. 30; Pallot, Judith: Forced Labour for Forestry. The Twentieth Century History of Colonisation and Settlement in the North of Permʼ Oblastʼ, in: Europe-Asia-Studies 54 (2002) H. 7, S. 1062.

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der Zwangsarbeitswirtschaft besonders auffällig. Der Lagerkomplex Usollag allein (einer von fünf in der Region) erstreckte sich 1940 über 270.000 Quadratkilometer.33 Die Evakuierungswellen aus dem Westen im Spätsommer 1941 waren für Molotovs Regionalregierung eine enorme Belastung und erwiesen sich doch mittelfristig als Segen. Der „dunkle Fleck“ erlebte seinen ersten Boom als Rüstungsstandort. 124 Betriebe aus Dnjepopetrovsk, Charkov, Moskau und Leningrad wurde an den West-Ural transferiert.34 Einige davon blieben der Region nach dem Krieg erhalten. Provinzstädte wie Solikamsk, Čusovoj, Gubacha oder Berezniki entwickelten sich zu Industriestandorten von nationalem Rang. Dutzende neuer Trusts und Kombinate eröffneten der Region, trotz brüchiger Infrastruktur, „wirtschaftliche Perspektiven, und damit die Möglichkeit, aus dem Schatten des namhaften Nachbarn – der Region Sverdlovsk – zu treten.“35 Doch Molotov nahm nicht nur Betriebe auf, sondern auch über 300.000 Kriegsflüchtlinge.36 Dadurch kamen neue Arbeitskräfte, und zugleich stieg das Risiko, in einer deutlich unterverwalteten Region die Kontrolle über die vielen sozialen Brennpunkte zu verlieren. Armut und Gewalt prägten den Alltag in den überfüllten Siedlungen. Neben den Flüchtlingskolonnen strömten auch neue Gruppen von „speckontingenty“ in den West-Ural. Um nur einige Zahlen zu nennen: über 33.000 deutschstämmige Sowjetbürger und bis zu 10.000 Kalmyken wurden bis 1944 als „Arbeitsmobilisierte“ auf die Lager und Fabriken verteilt; dazu kamen über 3000 deutsche Kriegsgefangene. Am 1. April 1945 befanden sich fast 20.000 Krimtataren und noch immer annähernd 48.000 Personen in den Sondersiedlungen, die als „Kulaken“ eineinhalb Jahrzehnte zuvor hierher deportiert worden waren. In den über 101 „Sondersiedlungspunkten“ waren bis Kriegsende durchweg mindestens 60.000 Menschen untergebracht.37 Diese Liste müsste noch durch zehntausende Lagerhäftlinge ergänzt werden, die in einem konventionellen Gerichtsverfahren verurteilt worden waren. Wie in den anderen Fällen auch, fluktuierte deren Population jedoch stark in Abhängigkeit von den Kriegsphasen. Die bereits angesprochenen Amnestien trugen ebenfalls dazu bei, dass unentwegt Menschen transportiert, mobilisiert oder freigelassen wurden. Diese Fluktuation, die „revolving door“38

33 Vgl. Suslov, Andrej: Speckontingent v Permskoj oblasti. 1929–1953 gg. Moskva 2010, S. 84. 34 Vgl. Berkotov, Borʼba s ugolovnoj, S. 42. 35 Lejbovič, V gorode M, S. 23. 36 Vgl. Berkotov, Bor’ba s ugolovnoj, S. 43. 37 Vgl. Suslov, Speckontingent, S. 232–233; 382–387. 38 Alexopoulos, Amnesty 1945, S. 275, Anmerkung 7. Einen großen Anteil an diesen Bewegungen hatten die Sondersiedler, von denen zwischen 1942 und 1945 circa 50 %, im Gegenzug für ihren Einsatz im Krieg die Siedlungen teilweise verlassen durften bzw. rehabilitiert wurden. Vgl. Viola, The Unknown Gulag, S. 178.

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aller Zwangseinrichtungen, setzte die Organe der Staatsanwaltschaft doppelt unter Druck. Die Haftaufsicht musste diese Wanderungsbewegungen mit dem Plansoll der Zwangsarbeitsbetriebe im Gleichgewicht halten. Darüber hinaus veränderte sich in vielen Lagern die Häftlingszusammensetzung, was nicht selten die Konflikte unter den Insassen anheizte und den Druck auf die Lagerleitung erhöhte. Zeitgleich war die Strafgerichtsabteilung der Staatsanwaltschaft durch die sozialen Konsequenzen dieses Krieges herausgefordert. Vor allem die Zahl der heimatlosen Minderjährigen stieg wie in den meisten Teilen des sowjetischen Hinterlandes stark an. Die Verhaftungswellen der 1930er-Jahre hatten bereits unzählige Kinder zu Waisen gemacht. Nun waren hunderttausende Kinder heimat- und elternlos auf der Flucht vor den Deutschen. Jugendobdachlosigkeit und -kriminalität erreichten besonders am Ural eine neue Qualität.39 Die Uralregion federte einen großen Teil der sozialen Folgen des Krieges ab. Die Evakuierung beförderte das Industriewachstum und brachte zugleich neue soziale Konflikte. Molotovs Einwohnerzahl vervielfachte sich im gleichen Tempo, wie sich das System der Lager und Gefängnisse ausdehnte. Die Regierungsbehörden des Hinterlandes benötigten theoretisch mehr personelle Kapazitäten als zuvor. Dabei hatte besonders die Staatsanwaltschaft mit personellen Engpässen zu kämpfen. Es gibt keine genauen Angaben darüber, wie viele Ermittler und Staatsanwälte insgesamt von Molotov aus an die Front zogen (und nicht zurückkehrten). Selbst der Jubiläumsband der Staatsanwaltschaft Permʼ liefert nur Kurzbiographien, jedoch keine Statistiken. 38 Personen werden genannt, die sowohl im Krieg gedient hatten als auch (davor oder danach) in der Staatsanwaltschaft tätig waren. Ansonsten erfährt man über die Lebensgeschichten von acht Mitarbeitern, die den Krieg nicht überlebt hatten. Sieben davon waren zuvor als Ermittler tätig gewesen und nur einer hatte es bis in die Zivilrechtsabteilung der Regionalstaatsanwaltschaft geschafft.40 Einerseits kann man von weitaus mehr als 46 Personen ausgehen, die sowohl im Krieg gedient hatten als auch in den Strukturen der Staatsanwaltschaft Molotov angestellt waren. Andererseits entsprechen diese Zahlen dem Trend, dass niedere Ränge nicht vom Wehrdienst befreit waren und sich genau hier auch die größten Personalprobleme ergaben. Um Abhilfe zu schaffen, veranlasste die Unionsstaatsanwaltschaft zusätzliche Methodenseminare, um den Nachrückern zumindest die Grundlagen der Ermittlungsarbeit zu vermitteln. 1943 fanden drei solcher Seminare in den Provinzstädten Berezniki und Kungur statt, an denen 28 Nachwuchsermittler teilnahmen. 13 von ihnen arbeiteten höchstens sechs Monate in diesem Beruf, 39 Vgl. Emelin, S. M.: Bor‘ba s detskoj besprizornostʼju i beznadzornostʼju v gody Velikoj Otečestvennoj Vojny (1941–1945 gg.), in: Voprosy juvenalʼnoj justicii 2 (2010) H. 28, unter: http://juvenjust. org/index.php?showtopic=1443, letzter Zugriff: 17.09.2017. 40 Vgl. Prokuratura Permskogo kraja, S. 80–85.

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doch „in dieser Zeit, in der so viele qualifizierte Ermittler aus unserer Region in die Frontgebiete gesandt werden“41, griff man auch in Molotov nach jedem Strohhalm. Die Staatsanwaltschaft war auf das Engagement junger Leute angewiesen, die noch nie eine Ermittlungsakte zu Gesicht bekommen hatten. Nimmt man die (höchst widersprüchlichen) Zahlen der Regionalversammlungen zur Grundlage, hatten 88 Prozent aller Ermittler, die im März 1944 als solche gelistet waren, ihren Beruf während des Krieges aufgenommen.42 Schon im Juli 1941 wurde die Kaderverwaltung in Molotov aus Moskau angewiesen, eine „Reserve“ aufzustellen, die jederzeit mindestens 30 Personen umfassen sollte.43 In einer Region mit 58 Bezirken und mehr als zwei Millionen Einwohnern war dies allerdings nur ein Tropfen auf den heißen Stein. 1944 arbeiteten insgesamt 359 Menschen für die Staatsanwaltschaft in Molotov. Nur 296 Mitarbeiter standen als „örtliche Organe“ auf den Gehaltslisten. Statistisch gesehen kamen fünf Mitarbeiter in einem Bezirk zum Einsatz, wobei Sekretäre und Buchhalter mitgezählt werden müssen.44 Darüber hinaus war das Personal nicht überall gleichmäßig verteilt – ein Problem, das sich die Staatsanwaltschaft mit den anderen Justizbehörden teilte. Schon zu Kriegsbeginn war in 13 Gebieten nicht einmal ein Verteidiger vorhanden.45 Viel schwerwiegender wirkte sich die Evakuierung auf die Gerichte aus. Zum Kriegsende hin wurden 70 Prozent aller Volksrichter Molotovs in die „befreiten Territorien“ entsandt. Zum Teil stammten die Richter aus den Westprovinzen. Dadurch wird der Mangel an Personal deutlich, der vor und nach der Evakuierung in den Gerichtssälen herrschte. 91 Richter blieben nach dem Krieg in Molotov zurück. Bedenkt man dabei, dass in Molotov 1945 über 56.000 Urteile gesprochen wurden (mehrheitlich von Volksrichtern), bekommt man einen Eindruck, wie sehr der Krieg die ohnehin prekäre Personalsituation in den Justizbehörden beeinträchtigte oder zumindest durcheinanderbrachte.46 Auch wenn das nur statistische Schlaglichter sind, wird deutlich, dass der Krieg es auch der Staatsanwaltschaft unmöglich machte, 41 Bericht des Leiters der Ermittlungsabteilung der RSFSR-Staatsanwaltschaft, Ginzburg, über die Lehrmethodenkonferenzen für Ermittler der Region Molotov, 10.3.–6.4.1944, in: GARF, f. R-8131, op. 21, d. 329, l. 2–3. 42 Vgl. Bericht der Ermittlungsabteilung in Molotov für die Ermittlungsabteilung der Unionstaatsanwaltschaft, 18.3.1944, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 85, l. 106. 43 Rechenschaftsbericht des stellvertretenden Regionalstaatsanwaltes von Molotov, Krivušin, an Volin und Goršenin, 1.9.1941, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 1072, l. 25. 44 Personalstandsbericht der Staatsanwaltschaft Molotov für 1944 und 1945, o. D. [vermutlich Jahresmitte 1945], in: GARF, f. A-461, op. 11, d. 63, l. 2. 45 Vgl. Protokoll der operativen Mitarbeiterversammlung der Staatsanwaltschaft Molotov, 27.9.1941, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 1072, l. 36ob. 46 Bericht der Gewerkschaft Molotovs für Gerichtsmitarbeiter an das Ministerium für Justiz über die Arbeit mit Kadern, 22.11.1944, in: GAPK, f. 460, op. 1, d. 50, l. 132; vgl. Berkotov, Borʼba s ugolovnoj, S. 109.

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eine konsistente Kaderstruktur aufzubauen. Ausbildung und Erfahrung ließen sich unter diesen Bedingungen nicht dauerhaft in Einklang bringen. Mitarbeiter kamen und gingen, und das Bildungsniveau gerade unter den Ermittlern ließ viel Luft nach oben.47 Der entscheidende Personalwechsel vollzog sich allerdings an der Spitze. Molotovs Regionalstaatsanwalt Kirill Alekseev wurde knapp ein Jahr nach Kriegsausbruch, im Sommer 1942, in die regionale Abteilung der Konsumgenossenschaften (oblpotrebsojuz) versetzt. Die genauen Hintergründe zu dieser Strafversetzung sind unklar. Die behördeneigene Historiographie kommentiert seine Entlassung nur damit, dass er „die Aufgabe nicht erfüllen konnte“, die der Krieg an die Staatsanwaltschaft stellte.48 Tatsächlich hatte Alekseevs Reputation im Herbst 1941 durch einen Revisorbericht gelitten. Der Bericht selbst ist nicht überliefert. Vermutlich nahm man die gestiegene Zahl an Diebstählen und Veruntreuungen in der ersten Jahreshälfte zum Anlass, der gesamten Staatsanwaltschaft in Molotov auf den Zahn zu fühlen.49 Wie es um die Ermittlungsarbeit in Molotov tatsächlich bestellt war, geht aus den Unterlagen nicht hervor – wofür Alekseev im Februar 1942 auch massiv kritisiert wurde. Entscheidend ist nur, dass er schon im Herbst 1941 das Vertrauen bei einigen Moskauer Vorgesetzten verloren hatte. Seine Absetzung im Mai 1942 kam also nicht überraschend. Einen Nachfolger bestimmte die Unionsstaatsanwaltschaft erst im September. Dmitrij Nikolaevič Kuljapin wurde aus der Militärstaatsanwaltschaft Ufa zurück in seine Heimat versetzt. Geboren in eine Bauernfamilie am Ural, ist er heute für die Staatsanwaltschaft Permʼ eine schillernde, wenn auch ambivalente Symbolfigur. Seine Kurzbiographie ist gespickt mit Anekdoten über einen mitfühlenden und zugleich schwierigen Charakter: „D. N. Kuljapin war als Mensch hoffnungslos wagemutig [otčajanno smelyjm], begabt und kauzig, einfach [naivnyjm], reizbar wie ein Kind und charmant. Seine Untergebenen respektierten ihn und wussten, dass Kuljapin sie nicht verraten [vydastʼ] würde.“50 Solche Umschreibungen geben keine substanziellen Hinweise auf Kuljapins berufliches Selbstverständnis. Sie deuten allerdings an, wie stark sich sein Ruf auf seiner Konfrontationsbereitschaft

47 Bericht der Ermittlungsabteilung in Molotov für die Ermittlungsabteilung der Unionstaatsanwaltschaft, 18.3.1944, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 85, l. 106. Je nachdem auf welche Zahlen im Versammlungsbericht man sich stützt, verfügten 1944 zwischen 40 und 50 % der Ermittler über keinerlei juristische Ausbildung. 48 Prokuratura Permskogo kraja, S. 75. 49 Das Regionalgericht sprach bis in den August 1941 monatlich zwischen 200 und 250 Verurteilungen wegen Diebstahls bzw. Veruntreuung (Diebstahl durch einen Regierungsangestellten) aus. Im August wurden hingegen nur 117 Urteile gesprochen. Vgl. Bericht von Krivušin, an Volin und Goršenin, 1.9.1941, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 1072, l. 9. 50 Prokuratura Permskogo kraja, S. 76.

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gründete, dass er als loyal galt und dass er der Staatsanwaltschaft in Molotov ein etwas eigenwilliges Gesicht gab. Kuljapin war wesentlich älter als die meisten seiner Untergebenen, als er den Posten mit knapp 46 Jahren (Jahrgang 1896) übernahm. Den Ersten Weltkrieg, die Revolution und den Bürgerkrieg hatte er als Frontsoldat erlebt – eine Tatsache, die er in Ermangelung einer glanzvollen Parteikarriere in seinem Lebenslauf deutlich unterstrich.51 Wie viele seiner Altersgenossen hatte er nur kurz die Kirchenschule (zwei Jahre) besucht und sich stattdessen bis zu seiner Einberufung in die russische Armee 1916 als Knecht und Landarbeiter verdingt und auch er begann seine Karriere in der Roten Armee. Vom einfachen Schützen stieg er über den Kompaniesekretär zum Kriegskommissar auf, was ihn schließlich zur Miliz in Krasnokamsk (ebenfalls im Gouvernement Permʼ) führte. 1922 trat er jedoch als Ermittler in den Dienst der Staatsanwaltschaft und bis zum Ende der 1930er-Jahre kletterte er hier die Karriereleiter bis zum Leiter der Ermittlungsabteilung hinauf. Erst 1934 begann er eine mittlere juristische (Kurs)Ausbildung am Institut in Kasan, die er fünf Jahre später abschloss. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits 43 Jahre alt und konnte, im Gegensatz zu vielen jüngeren Absolventen, eine anscheinend bruchlose Laufbahn in den Behörden der Staatsanwaltschaft vorweisen. Erfahrung und Kontinuität waren zum Ende der 1930er-Jahre dringend gesuchte Qualitäten, was ihm 1937 den Posten als stellvertretender Republiksanwalt in Udmurtien einbrachte.52 Diese Episode endete mit seinem erneuten Eintritt in die Rote Armee 1939 – ein Umstand, den Kuljapin selbst nicht näher erläuterte. Seinen kurzzeitigen Parteiausschluss 1936 musste er indes kommentieren, zumal er den konkreten Zeitpunkt seines Eintritts unerwähnt ließ (vermutlich erst in den 1930er-Jahren). Obwohl er nach eigener Aussage ohne Rüge oder Karteivermerk wieder aufgenommen wurde, stand offensichtlich auch Kuljapin zwischenzeitlich im Fadenkreuz des Innenministeriums. Diese Erfahrung war prägend und nicht zufällig verwies er an gleicher Stelle darauf, dass er das NKVD in seiner Rolle als Kursleiter besser kannte als viele seiner Amtskollegen: Ende 1936, in der Zeit des Massakers [izbienija] an Kommunisten durch die Volksfeinde, wurde ich in Abwesenheit aus der VKPB [sic] ausgeschlossen, doch schon bald wieder eingesetzt, ohne parteiliche Maßregelung. Mehr als 10 Jahre lang gab ich nebentätlich Rechtskurse in den Organen des NKVD, der Miliz und in der juristischen Schule.53

51 Vgl. Autobiographischer Kurzbericht Dmitrij Nikolaevič Kulajpins, September 1942, in: PGASPI, f. 105, op. 220, d. 1750, l. 6–8. 52 Vgl. ebd., l. 8ob. 53 Ebd., l. 9.

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Kuljapin war also älter als viele seiner Kollegen und konnte, im Gegensatz zu anderen leitenden Kadern, keinen höheren juristischen Abschluss vorweisen. Ein abgebrochenes Marxismus-Leninismus-Studium blieb die einzige akademische Episode in seiner Laufbahn. Seine Reputation erwarb er durch praktische Erfahrung, was sich auch dadurch äußerte, dass er in den kommenden acht Jahren in seiner Position weniger mit ideologischen (oder juristischen) Lehrsätzen und stärker intuitiv argumentierte, wenn der Kern staatsanwaltschaftlicher Arbeit aus seiner Sicht betroffen war. Das Bild eines „Aufklärers, der überzeugt war, dass Gutes gleichsam Gutes gebärt“54, ist zwar stark überzeichnet, deutet aber an, dass Kuljapin zuweilen bereit war, über seine Rolle als Staatsanwalt zu reflektieren. Dabei hatten die 1930er-Jahre, so kurz sie in seiner Vita auch angeklungen sind, einen bleibenden Eindruck in seiner Handlungs- und Arbeitsweise hinterlassen. Sein Verhältnis zum NKVD als Behörde gründete auf einer beruflichen (und kurzzeitig persönlichen) Vorgeschichte, die fast zwei Jahrzehnte zurückreichte. Diese Prägung sollte die Arbeit der Staatsanwaltschaft in den kommenden Jahren nicht unwesentlich beeinflussen. Insofern war Kuljapins Ernennung eine der einschneidendsten Entwicklungen für dieses Amt am West-Ural im Laufe des Zweiten Weltkrieges. Die Jahre 1941 bis 1945 veränderten das Gesicht der Region und das der Staatsanwaltschaft. Die Justizreformen kamen mit Kriegsausbruch zum Erliegen, qualifizierte Beamte waren selten und Molotov wurde vom industriellen Randgebiet zum Auffangbecken für das westliche Russland. Kuljapin musste unter dem Druck der Evakuierungen und des Personalmangels unter Beweis stellen, dass er das Hinterland für die anstehenden Herausforderungen disziplinieren konnte.

4. 2 D ie D i sz ipl i n ie r u ng d e r A r b e it s welt Bereits am Vorabend des deutschen Überfalls nahm die Kampagne gegen sogenannte „Bummelanten“ (progulʼščiki) und „Flieger“ (letuny), Personen, die den Arbeitsplatz häufig wechselten, an Fahrt auf. Die sowjetische Regierung erließ einen Befehl am 26. Juni 1940, der sowohl das „absichtliche Verlassen“ (samo­ volʼnyj uchod) des Arbeitsplatzes als auch das „Fernbleiben“ (progul) als Straftat qualifizierte. Die Folgebefehle der Kriegszeit verschärften (und vereinfachten) diese Regelungen zusätzlich, doch für die Organe der Strafverfolgung ergaben sich schon aus dem Junibefehl zwei konzeptionelle Probleme, die durch spätere Befehle nicht behoben wurden.

54 Prokuratura Permskogo kraja, S. 76.

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Die Staatsanwaltschaft Molotov

Zum einen waren die entsprechenden Umstände, in denen Arbeiter ihren Arbeitsplatz verlassen durften, nur unzureichend bestimmt. Ein solcher Schritt setzte die Erlaubnis des Betriebsleiters oder Fabrikdirektors voraus, der dieser Anfrage wiederum nur stattgeben durfte, wenn die betreffende Person aus medizinischen oder Altersgründen (samt ärztlicher Bescheinigung) nicht mehr in der Lage war, die Arbeit zu erfüllen. Gleiches galt für Frauen im Falle einer Schwangerschaft, oder wenn ein Arbeiter im Zuge seiner Ausbildung von den Verpflichtungen am Arbeitsplatz befreit wurde. Das sogenannte „Fernbleiben“ wurde schon unter Strafe gestellt, wenn keine „wichtigen Gründe“ dafür vorlagen.55 Die Abwägung dieser Umstände erforderte Zeit und Expertise und war doch an keinerlei Kriterien gebunden. Dieses Problem wurde nach Veröffentlichung des Befehls lebhaft in den Fachgazetten der Justiz diskutiert. Die sowjetischen Juristen mussten die unzureichend erarbeitete Gesetzgebung ihrer Parteiführung irgendwie handhabbar machen. Zahlreiche Vorschläge zur Konkretisierung dieses Tatbestandes wurden daher abgedruckt, die allerdings nur die Hilflosigkeit vieler Beamter bei der Bestimmung „wichtiger Gründe“ widerspiegelten.56 Allein die genaue Unterscheidung von „Fernbleiben“ und „Verlassen“ blieb im Befehl unausgesprochen. Dabei war diese Entscheidung mit drastischen Konsequenzen für den betreffenden Arbeiter verbunden. „Fernbleiben“ wurde mit höchstens sechs Monaten Zwangsarbeit im Betrieb (bei Lohnabzügen) quittiert, während das Verlassen der Arbeit bis zu vier Monate Lagerhaft nach sich zog. Die Auslegung dieses Befehls bzw. die Differenzierung eines Vorfalls als Delikt war kontextabhängig – ohne, dass der Kontext hinreichend bestimmt wurde. Zum anderen hing die Durchsetzung dieses Befehls vom reibungslosen Zusammenspiel zwischen Betriebsleitern und Staatsanwaltschaft ab. Vergehen gegen die Arbeitszeiten mussten anfänglich vom Betrieb beim Staatsanwalt zur Anzeige gebracht werden. Dazu übermittelte der jeweilige Betrieb Untersuchungsmaterial (Personalunterlagen, Zeugenaussagen etc.). Bei Verzögerungen drohte auch dem Führungspersonal des Betriebes eine Anklage. Je mehr Akteure in einem Ermittlungsverfahren involviert waren, umso schlechter standen die Chancen für den Staatsanwalt, die Anklage fristgerecht vorzubringen. Gleichzeitig erhielt die Staatsanwaltschaft

55 Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets, 26.6.1940, in: Goljakov, Sbornik dokumentov, S. 405. Die Begriffe „progulščik“ und „letuny“ stammen aus dem Befehl vom 28.12.1938, der noch keine strafrechtliche Konsequenzen, aber den Verlust des Arbeitsplatzes und der Wohnberechtigung vorsah. Vgl. Befehl über die Durchführung des Beschlusses des Rats der Volkskommissare vom 28.12.1938, 31.12.1938, in: Andrej Vyšinskij/D. I. Solers: (Hg.), Sbornik prikazov Prokuratury Sojuza SSR: dejstvujuščich na 1 dekabrja 1938 g. Moskva 1939, S. 250–254. 56 In einem Leitartikel der Socialističeskaja zakonnostʼ schlugen die Autoren unter anderem die Kategorie der „höheren Gewalten“ (nepreodolimye sily) als Grund vor. Ugolovnaja otvetstvennostʼ za progul bez uvažitelʼnoj pričiny i samovolʼnyj uchod, in: Socialističeskaja zakonnostʼ 12 (1940), S. 7–13.

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viel mehr Material als sie selbst (oder die Miliz) durch die üblichen Ermittlungen zutage fördern würde. Die Durchführung des Ermittlungs- und Strafverfahrens hatte also auch erhebliche Schwachpunkte bzw. mehr ‚Variablen‘, als man es bei anderen Delikten beobachten konnte (wie z.B. im Bereich der Jugendkriminalität). Welche Rolle spielte die Staatsanwaltschaft bei der Durchsetzung dieser Kampagne und wie gingen die Beamten mit diesen konzeptionellen Problemen in der Praxis um? Dafür muss zuerst geklärt werden, wie und ob das Regime und die Spitzenfunktionäre der Justiz in Moskau auf diese Probleme eingingen. Welche Möglichkeiten hatten Staatsanwälte, diese beiden Defizite zu hinterfragen und was wurde von den Beamten der Staatsanwaltschaft im Umkehrschluss im Kampf gegen Arbeitsvergehen erwartet? Erst wenn diese Fragen beantwortet sind, lassen sich die Ambitionen, Handlungsspielräume und Konflikte der Staatsanwälte nachzeichnen, die mit der Durchsetzung des Befehls vom 26. Juni 1940 und dessen radikalerer Variante vom 26. Dezember 1941 verbunden waren, auch um mögliche Unterschiede herauszuarbeiten.

4.2.1 Die Verfolgung von Arbeitsdelinquenten als Kampagnenjustiz Die erste Kampagne gegen Arbeitsdelinquenten erreichte ihren Höhepunkt im Spätsommer 1940. Offensichtlich waren viele Justizbeamte nicht willens und fähig, Strafverfahren im Akkord und lückenlos zu Ende zu führen. Peter Solomon spricht von 100.000 Fällen, die zur Anzeige gebracht wurden. In 85.000 Fällen wurde ein Gerichtsverfahren eröffnet und nur 51.000 Angeklagte wurden verurteilt. Ganz offensichtlich hatte das Regime von dieser Kampagne mehr Verurteilungen erwartet. Diese Quote allerdings wurde weder dem Regime noch dem stalinistischen Rechtsanspruch gerecht, nach jeder Anklage eine Verurteilung zu erwirken. Dutzende Richter wurden entlassen, wenn sie sich dem politischen Erfüllungsdruck nicht beugten (Der oberste Staatsanwalt Pankratʼev gilt in diesem Zusammenhang als der prominenteste „Sündenbock“).57 Vor allem die Zahl der Freisprüche war den Parteioberen in Moskau ein Dorn im Auge. Vielen sowjetischen Richtern wurde selbst der Prozess gemacht, wenn sie zu nachgiebig oder zu „milde“ urteilten. Die folgende Hexenjagd auf „liberale“ Richter ebbte zwar zum Frühjahr 1941 hin ab – der politische Druck aber blieb. Die obersten Justizbehörden erwarteten auch weiterhin die rasche und konsequente Verurteilung von allen, die eines Arbeitsvergehens beschuldigt wurden. Die Überzeugung war, dass ein kompromissloses Vorgehen gegen die Beschuldigten zur Senkung der Kriminalität führe. Ein Jahr nach Verabschiedung des Befehls

57 Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 308.

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vom 26. Juni erinnerte der Staatsanwalt der RSFSR , Anatolij Volin, seine Mitarbeiter an diese Prämisse: „Als einer der wichtigsten Indikatoren der Festigung der Arbeitsdisziplin dient die systematische Reduzierung der Zahl an Strafsachen gegen Schwänzen, die vor Gericht gebracht werden.“ Jeder Verfahrensabbruch und jede unbegründete Anklage wiederum galten als schwerwiegende „Defekte in der Arbeit des Staatsanwaltes“.58 Freisprüche seien überdies ein deutliches Zeichen richterlichen Liberalismus‘. Die konzeptionellen Schwächen des Befehls wurden dabei ausgeblendet. Weder auf die mangelnde Präzisierung des Straftatbestandes noch die unzureichend durchdachten Abläufe im Ermittlungs- und Strafverfahren wurde Rücksicht genommen. Stattdessen begründete man Rückschläge bei der Strafverfolgung, wie Kriminalität überhaupt, mit dem (kriminellem) Versagen der beteiligten Behörden. Diese Logik ließ insgesamt wenig Spielraum für Justizbeamte, einen Tatbestand oder die Umstände einer Tat ausgiebig zu beleuchten. Dabei waren die Ursachen für Kriminalität durchaus kein Tabuthema. Das Regionalkomitee in Molotov hatte im Herbst 1941 feste Vorstellungen darüber, wer aus welchen Gründen den Arbeitsplatz verließ. Betroffen seien vor allem junge Arbeiter und Kolchosniki, die als Vertragsarbeitskräfte ohnehin kurzfristig an ihre Betriebe gebunden waren. Eine Ursache seien die schlechten Lebensbedingungen der Arbeiter. Der Staatsanwalt hatte entsprechend dafür Sorge zu tragen, dass „normale Lebensbedingungen für die Arbeiter geschaffen werden, die in den Wohnheimen leben. Sie müssen darauf achten, dass die Wohnräume im Winter beheizt werden und die gesellschaftliche Versorgung und der Handel organisiert“ werden.59 Defizite durften und sollten hier benannt werden, um etwaige Mitverantwortliche in der Betriebsführung (in diesem Fall den Sekretär der Versorgungsabteilung) zur Verantwortung zu ziehen. Keinesfalls aber dürften diese Umstände selbst Gegenstand der Strafsache werden bzw. den Staatsanwalt von der Anklage abhalten. Selbst der Unionsstaatsanwalt der Sowjetunion Viktor Bočkov stieß 1943 auf deutlichen Widerstand, als er dieses Problem in einem Brief an den Rat der Volkskommissare zur Sprache brachte. Bei mehr als vier Millionen (!) Menschen, die allein als „Bummelanten ohne wichtige Gründe“ bis dato verurteilt worden waren, so Bočkov, verliere diese „Vorstrafe ihre Bedeutung und wird im Grunde genommen eine Alltagserscheinung.“ In manchen Betrieben seien mehr als die Hälfte der Arbeiter als „Bummelanten“ vorbestraft. Vor allem aber würden oft genug die Hintergründe dieser Delikte nicht berücksichtigt, wenn eine Arbeiterin zum Beispiel

58 God borʼby organov Prokuratury RSFSR za vypolnenie Ukaza 26 Junja 1940, in: Socialističeskja zakonnostʼ 6 (1941), S. 9. 59 Beschluss des Regionalparteikomitees (im Folgenden: ObKom) für Staatsanwalt Alekseev, 3.10.1941, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 17, l. 34.

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ihren Arbeitsplatz verlasse, nur „um Wäsche für ihre Familie zu waschen“ und dafür bestraft würde. Indes treten in der jüngsten Zeit viele Fälle auf, in denen Arbeiter als Verbrecher verurteilt werden, mit allen damit verbundenen Konsequenzen, die nicht aus bösartigem Willen noch aus krimineller Fahrlässigkeit heraus gebummelt haben, sondern aufgrund unzureichender Arbeits- und Lebensbedingungen. Die Berufung darauf kann nicht als rechtlicher Anlass dienen, [ne možet služitʼ zakonnym povodom] von der Bestrafung durch ein Gericht abzusehen.60

Mit dem letzten Satz ließ er an den Prämissen der sowjetischen Strafverfolgung keinen Zweifel. Unter keinen Umständen dürfe ein Strafverfahren durch die Umstände einer Tat gefährdet werden. Stattdessen schlug er vor, dieses Problem zu lösen, indem man gänzlich davon absah, Delinquenten nach dem Juni-Befehl als Straftäter zu behandeln. Vielmehr sollten die Fabrik- und Betriebsleiter die nachlässigen Arbeitskräfte vor Ort mit Rationskürzungen und Geldstrafen disziplinieren.61 Der oberste Staatsanwalt sah das Strafrecht nicht als geeignetes Mittel an, die Arbeiter zu disziplinieren. Indirekt sprach er sich auch dagegen aus, die Staatsanwaltschaft für diese Kampagne zu instrumentalisieren. Bočkov argumentierte mit den menschlichen Konsequenzen dieser Politik, wollte aber auch seine Staatsanwälte von der zusätzlichen Arbeitslast befreien. Die Juristische Kommission beim Rat der Volkskommissare (Sovnarkom) erteilte diesem Vorschlag eine klare Absage. In der Praxis würden damit nicht nur der Juni-Befehl gänzlich aufgehoben, sondern auch die Arbeiter materiell und moralisch belastet („wie in vorrevolutionären Zeiten“).62 Dieses Argument war eine ebenso zynische wie ideologische Notbremse. Löhne wurden auch unter Stalin bei Disziplinvergehen der Arbeiter einbehalten. Der Vergleich zum Zarenreich diente dazu, Bočkovs Vorschlag mit größtmöglicher ideologischer Vehemenz abzuschmettern. Die massenhafte Verurteilung von Werktätigen war ein Problem, das nicht gelöst werden könne, indem man die Strafpraxis entschärfe, geschweige denn, indem man Nachsicht für deren Lebensumstände zeige. Letzteres wurde den Justizbeamten immer wieder vor Augen geführt. Äußerten Richter und Staatsanwälte Interesse an den Ursachen einer Straftat (nicht zuletzt, um die „wichtigen Gründe“ abzuwägen), durfte dies nur die Verurteilung Dritter nach sich ziehen, nicht aber in Zweifel am Verfahren selbst münden. 60 Schreiben Bočkovs an Molotov, 6.4.1943, in: RGASPI, f. 82, op. 2, d. 885, l. 113. 61 Vgl. ebd., l. 114. 62 Bericht des Mitglieds der Juristischen Kommission, Romaškin, an Molotov, in Bezug auf Bočkovs Vorschlag zur Ausweitung der Rechte der Betriebsleiter, 15.5.1943, in: RGASPI, f. 82, op. 2, d. 885, l. 108.

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In der Region übernahmen es in der Regel die Parteifunktionäre, die Richter und Staatsanwälte an dieses Prinzip zu erinnern. So versammelten sich knapp eine Woche nach der Anweisung des Regionalkomitees Molotov die lokalen Spitzen aus Justiz und Partei der Stadt Krasnokamsk, um über genau dieses Problem zu beraten. Sowohl der Bezirksstaatsanwalt Šiškin als auch der verantwortliche Volksrichter Oskulov betonten, dass es darum gehe „tatsächliche Schwänzer“ vor Gericht zu stellen. Dazu ergänzte ein anderer Justizbeamter, dass man jedoch weder „das Wie noch das Warum“ kenne, wenn Arbeiter den Betrieb unerlaubt verließen. Der Sekretär des Stadtparteikomitees erwiderte scharf, dass man genau wisse, wer warum auf der Arbeit „bummele“. Echte „Bummelanten sind die Desorganisatoren des Hinterlandes, die den Wirtschafts- und Verteidigungsmotor unseres Staates untergraben […] in jedem Schwänzen muss sich eine politische Bedeutung befinden.“63 Arbeitsvergehen war aus Sicht dieses Funktionärs eindeutig politisch motiviert. Die Frage nach dem „Warum“ musste folglich nicht tiefer beleuchtet werden. Der Spielraum, um den Hintergrund einer einzelnen Tat zu beleuchten, wurde in diesem Fall erheblich eingeengt. Diese Parolen spiegeln den dogmatischen Blick einzelner Funktionäre auf das Problem Kriminalität wider. Ob dadurch die Ermittlungsarbeit in größerem Ausmaß behindert wurde, wird in den nächsten Unterkapiteln ebenfalls diskutiert. Was die Kommunikation zwischen der Betriebsleitung und der Staatsanwaltschaft, also das zweite konzeptionelle Problem betraf, erkannten die leitenden Stellen der Justiz und der Staatsanwaltschaft in Moskau durchaus die Schwachstelle. Allerdings tendierte man auch hier dazu, Versagen in der Übergabe von Untersuchungsmaterial und Verzögerungen zu kriminalisieren. Betriebsleiter, die zu spät oder gar keine Angaben über flüchtige Arbeiter machten, galten aus Sicht der Unionsstaatsanwaltschaft als „Mitwisser“ (ukryvateli).64 Zugleich passte das Justizkommissariat die Prozessordnung dahingehend an, um die Verfahren zu beschleunigen. Die Fristen zur gerichtlichen Bearbeitung einer Strafsache wurden 1940 von zehn auf fünf, 1942 dann auf ganze zwei Tage reduziert und bereits im September 1940 erlaubte das Justizkommissariat die Verurteilung von Arbeitsflüchtigen in ihrer Abwesenheit. Eine weitere Änderung in der Prozessordnung gestattete es den Richtern sogar, diese Fälle ohne vorherige Bearbeitung durch einen Staatsanwalt zu verhandeln.65 63 Protokoll der Versammlung der Staatsanwaltschaft von Krasnokamsk über den Zustand der Arbeitsdisziplin in Betrieben zur Kriegszeit, 13.10.1941, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 26, l. 68. 64 Schreiben Safonovs an Vyšinskij, 17.12.1941, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 539, l. 66–67. 65 Ugolovno-processualʼnyj kodeks. Oficialʼnyj tekst s izmenenijami na 1 sentabrja 1942 g., hrsg. vom Ministerium für Justiz der RSFSR. Moskva 1943, S. 198–201. Betriebsleiter sollten, wenn Material nicht oder nicht rechtzeitig übermittelt wurde, ebenfalls zur „gerichtlichen Verantwortung“ gezogen werden. Ein entsprechender Paragraph im Strafgesetzbuch bzw. ein Strafmaß wird nicht genannt. Die Aussetzung des „Vorermittlungsverfahrens“ wurde schon im Sommer 1940 genehmigt. Vgl. ebd., S. 164.

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Die Routinen der Strafverfolgung wurden, ganz im Sinne der Parteiführung, auf schnelle und einfache Verfahren eingestellt, um der steigenden Zahl an Anzeigen Herr zu werden. Der Befehl vom 26. Dezember 1941, auf den noch ausführlicher eingegangen wird, war in dieser Hinsicht der letzte Entwicklungsschritt. Er stellte schließlich das „absichtliche Verlassen“ in Rüstungsbetrieben unter die Militärgerichtsbarkeit. Von den Militärtribunalen erwartete man Effizienz, sprich: Härte und Geschwindigkeit bei der Urteilsfindung. Augenscheinlich erwog die sowjetische Regierung zwischenzeitlich sogar, Arbeitsvergehen als „konterrevolutionäre“ Sabotageversuche einzustufen. Der stellvertretende Unionsstaatsanwalt Grigorij Safonov riet jedoch davon ab und betonte, dass diese Vergehen „zwar bösartigen Charakter tragen, aber in der Mehrheit der Fälle ohne konterrevolutionäre Absicht begangen werden“. Darüber hinaus sei ein solcher Schritt „mit den bekannten Folgen verbunden, nicht nur für die Verurteilten, sondern auch für ihre Angehörigen“.66 Safonovs Bedenken legen nahe, dass das Regime gegenüber Arbeitsdelinquenten ein Kalkül verfolgte, das sich nicht wesentlich von der Verfahrenslogik politischer Säuberungen unterschied.67 Einerseits ließ der politische Erfüllungsdruck das Zeitfenster zur Bearbeitung solcher Verfahren schrumpfen. Damit schwanden auch die Chancen für einen Beschuldigten, dass sein/ ihr Fall intensiver geprüft würde. Andererseits wurden Staatsanwälte dazu angetrieben, ein Strafverfahren so weit auszudehnen wie möglich und so viele Verdächtige und Beschuldigte zu involvieren wie nötig.68 Die Staatsführung beschwor nicht nur eine politische Kampagne gegen Arbeitsdelinquenten. Sie wollte Strafverfolgung im Kampagnenstil. Diese Kampagnenjustiz wurde von Solomon ausführlich als „law enforcement campaign“69 beschrieben. Die folgenden beiden Kapitel geben Einblick in die Rolle regionaler Staatsanwälte bei ihrer Durchsetzung.

4.2.2 Die Durchsetzung des Juni-Befehls in Molotov Wie reagierten Staatsanwälte in der Provinz auf diese Erwartungshaltung? Für die Durchsetzung des Juni-Befehls ist ein Zustandsbericht zur Arbeitsdisziplin aus den Grubenstädten in Molotov aufschlussreich. Der Fokus lag in solchen Berichten auf

66 Erlass des Obersten Sowjets, 26.12.1941, in: Goljakov, Sbornik dokumentov, S. 417; Schreiben Safonovs an Vyšinskij, 22.12.1941, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 539, l. 24. 67 Vgl. Neutatz, Träume und Alpträume, S. 250; Goldman, Inventing the Enemy, S. 298–314. 68 Üblicherweise unterscheidet der Autor hier zwischen „Verdächtigen“, gegenüber denen ein Anfangsverdacht bestand, und „Beschuldigten“, gegenüber denen bereits ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde. 69 Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 278.

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den Verfahrensstatistiken. Diese Art der Überlieferung ist problematisch, weil sie die komplexen Abläufe der Strafverfolgung auf wenige Zahlen staucht. Einige wichtige Hinweise gibt sie doch. Ein Staatsanwalt namens Farkin war zu diesem Zweck im Mai 1942 aus Moskau in die Provinzstädte Kizel und Gubacha entsandt worden. Farkins Bericht illustriert, welche Prioritäten im Umgang mit Arbeitsvergehen aller Art galten und wie gering das Interesse an den Zuständen war, unter denen gearbeitet wurde und die zu diesen Vergehen beitrugen. In sechs Wochen verzeichnete er zum Beispiel 14 Arbeitsunfälle (davon vier mit Todesfolge) – eine „Schlamperei“, die die Arbeitsdisziplin deutlich beeinträchtigte.70 Jeder einzelne dieser Vorfälle musste von Betriebskommissionen begutachtet werden, bevor im Idealfall ein Ermittlungs- oder Disziplinarverfahren eingeleitet wurde. Der Grubenarbeiter Romašev zum Beispiel war auf einen brüchigen Stützbalken getreten und daraufhin 70 Meter in die Tiefe gestürzt. Für seinen Tod hatte die Kommission sogleich den Abteilungsleiter des Schachtes verantwortlich gemacht. Besagter Gavrilin habe bei der Befestigung des Schachtes versagt. Farkin forderte ein Strafverfahren gegen ihn, wobei die Produktionsausfälle besonders schwer ins Gewicht fielen. Schacht Nummer 13 musste 184 Stunden gesperrt werden, was Farkin zufolge dazu geführt habe, dass mehr als 2000 Tonnen Kohle nicht gefördert werden konnten. Sowohl der Schachtleiter als auch der leitende Ingenieur sollten sich dafür verantworten. Allerdings kam es zu keinem Strafverfahren, was Farkin damit erklärte, dass das leitende Personal in „Mitwisserschaft“ verstrickt und der zuständige Staatsanwalt „untätig“ geblieben sei. Letzterer war gerade einmal drei Wochen auf seinem Posten, bevor er von Farkin wieder entlassen wurde.71 Auf jedes Defizit erwartete der vorgesetzte Staatsanwalt in Moskau eine disziplinarische oder strafrechtliche Antwort. Interesse an den Widrigkeiten, denen Grubenarbeiter tagtäglich ausgesetzt waren, zeigte er hingegen nicht. Der Bericht listete nur die Unfälle auf, die sich in den Produktionsstatistiken niederschlugen. Die häufig miserablen Lebensbedingungen, unter denen die Grubenarbeiter ihr Dasein fristeten, kamen erst im Nachfolgebericht zur Sprache, den Farkin eine Woche später mit dem neuen Staatsanwalt, Raev, verfasste. „Unzulänglichkeiten in den materiellen Lebensbedingungen“ bewegten vor allem die evakuierten Arbeitskontingente, unerlaubt das Weite zu suchen. Der Bericht ging jedoch nicht weiter darauf ein. Offensichtlich hatten die Verfasser kein besonders großes Interesse daran, diesem Problem weiter auf den Grund zu gehen. Der paradoxe Hinweis, dass die Arbeiter aus anderen Kohlegruben (dem Donbass zum Beispiel) evakuiert worden waren 70 Sonderbericht des Bevollmächtigten der Unionsstaatsanwaltschaft, Barkin, an Bočkov, 28.5.1942, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 1000, l. 29. 71 Vgl. ebd., l. 33; Bericht Barkins an den Staatsanwalt von Kizel, Raev, 5.6.1942, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 1000, l. 88.

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und zugleich noch nie in der Kohleindustrie gearbeitet hatten, blieb ohne Erläuterung.72 Strafrechtlich relevant war dieser Passus ohnehin nicht. Der Staatsanwalt suchte nach Schuldigen und nicht nach Erklärungen. Die Zahl der Urteile in diesem Bericht gibt einen Eindruck von der Arbeitsauslastung und den Routinen, mit denen Arbeiter vor Gericht gebracht wurden und vor allem spiegeln sie die Erwartungshaltung der vorgesetzten Staatsanwälte an ihre Untergebenen. Die größte Aufmerksamkeit genossen immer die Freispruchquoten und die Bearbeitungszeiten der Ermittlungs- und Gerichtsverfahren. Der Staatsanwalt von Gubacha, Ovčinnikov, leitete in den ersten fünf Tagen durchschnittlich 114 Fälle von Arbeitsvergehen pro Tag an die Gerichte weiter. Nur wenige Strafsachen lagen länger als eine Woche auf seinem Schreibtisch. Darüber hinaus wurde im ganzen Mai 1942 kein einziger Angeklagter im Verfahren freigesprochen. In 210 Fällen wurde „absichtliches Verlassen“ des Arbeitsplatzes verhandelt und 210 Mal erhielt der Angeklagte die Höchststrafe von drei bis vier Monaten Freiheitsentzug. Lediglich jene 30 Urteile, in denen ‚nur‘ zwei Monate Korrektionsarbeit für „Bummelei“ verhängt wurden, trübten die Statistik. Hier seien die Gerichte noch „mild und liberal“ vorgegangen. Umgehend seien die entsprechenden Proteste an das Regionalgericht gegangen.73 Auf den ersten Blick bekam Alekseev in seiner letzten Woche also eine eindrucksvolle Bilanz zu lesen. Ovčinnikov ließ allerdings auch viele Widersprüche unkommentiert. So hatte er zwar über 900 Fälle vor Gericht gebracht, aber es wurden nur etwa 450 Urteile gesprochen. Stattdessen unterstrich er seinen Diensteifer auf andere Weise. 37 flüchtige Arbeiter hatte er nach einem „persönlichen Gespräch“ wieder zur Arbeit geschickt. Natürlich wurden alle im Anschluss zu mehrmonatigen Haftstrafen verurteilt. Ovčinnikov wollte damit seine Aufmerksamkeit für jedes einzelne Strafverfahren demonstrieren. Ein Staatsanwalt konnte seinen Enthusiasmus bei der Prüfung des Untersuchungsmaterials unter Beweis stellen. Häufig brachten Betriebe ihre Arbeiter nicht konsequent zur Anzeige bzw. bereiteten aus Sicht der Staatsanwaltschaft das Material unzureichend vor. Arbeiter, deren Namen auf diesen Listen standen, mussten darauf hoffen, dass der Staatsanwalt bei der Prüfung möglichst genau hinschaute, bevor er die Sache an ein Gericht weitergab, wo dann die Chancen auf einen Freispruch äußerst schlecht standen. Diese „Voruntersuchung“ (predvaritelʼnoe sledstvie) war für Arbeitsvergehen nicht verpflichtend. Im Schacht „Kujbyšev“ führte zum Beispiel die Verwaltung einfach einen 12-Stunden-Tag ein und ließ alle Arbeiter, die nach acht Stunden nach Hause gingen, vor Gericht bringen. Ovčinnikov las die Strafsache

72 Vgl. ebd., l. 84. 73 Bericht des Staatsanwaltes von Gubacha, Ovčinnikov, an Alekseev, 29.5.1942, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 1000, l. 67.

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erst im Nachhinein und erwirkte anschließend, dass die Schachtleitung diesen Befehl wieder zurücknahm. Die Gerichtsurteile blieben entsprechend aus.74 In einem anderen Fall übergab der Schachtleiter Gorbačev die Namen dreier Arbeiter an das Gericht, die ihren Arbeitsplatz vier Stunden zu früh verlassen hatten. Auch hier reagierte der Richter (und nicht Ovčinnikov) und stellte Gorbačev zur Rede. Alle drei hätten sogar eine Stunde länger gearbeitet als vorgegeben. Gorbačev leugnete, diese Namen jemals übermittelt zu haben. Diese Aussage konnte Ovčinnikov widerlegen.75 Auch wenn ein Staatsanwalt auf die „Voruntersuchung“ nicht verzichtete, blieben solche Prüfungen in den meisten Fällen äußerst oberflächlich. Häufig verglich der Staatsanwalt die Personalregister mit den eingetragenen Arbeitszeiten und selbst dann dauerte es einige Zeit, bis sich herausstellte, dass der betreffende Arbeiter den Betrieb nie vorsätzlich verlassen hatte oder aus anderen Gründen verhindert war. So verhielt es sich mit Ivan Kozlov, der bis Mai 1942 im Kontor des „Chemischen Wirtschaftsbaubetriebes Ural“ in Berezniki arbeitete. Gegen den Zwanzigjährigen wurde fast zwei Monate lange wegen „Arbeitsdesertion“ ermittelt, bevor der Staatsanwalt das Verfahren schließlich einstellen ließ, da Kozlov im Krankenhaus verstorben war.76 Bei über einhundert Fällen pro Tag fielen Einzelschicksale leicht unter den Tisch. Umso schlechter standen die Chancen, dass sich ein Staatsanwalt mit den „Gründen“ auseinandersetzte, aus denen ein Arbeiter den Betrieb verlassen hatte. Einzig durch ein Attest konnte man sich dem Strafverfahren legitim entziehen. Selbst hier hielt sich der Diensteifer des Staatsanwaltes in Grenzen, obwohl sehr viele Arbeiter von dieser Möglichkeit Gebrauch machten. Allein in einem einzigen Kohlebergwerk in Gubacha waren Ende Mai 1942 über 3100 Arbeiter krankgeschrieben. Ovčinnikov zweifelte zwar daran, dass in jedem Fall ein gültiges Attest vorlag („in unserem Bezirk gibt es fast keine Ärzte“), delegierte das Problem aber mit einem Satz an die Gesundheitsbehörde der Region.77 Seine Ambitionen beschränkten sich primär auf die fristgerechte Übergabe der Strafsachen, die vorlagen – und dass es zur Verurteilung kam. Dieses Fließbandmuster ist für sich genommen nichts Ungewöhnliches in der sowjetischen Justiz. Ungewöhnlich ist, dass der eigentlich entscheidende Indikator für die Qualität eines Strafverfahrens in den Statistiken nicht berücksichtigt wurde. Indem Betriebe mitunter das Material direkt an die Gerichte übermittelten, ohne dass ein Staatsanwalt dazwischen involviert war, konnte man keine präzise Angabe darüber

74 Vgl. ebd., l. 69. 75 Vgl. ebd. 76 Vgl. Strafsache gegen Ivan Vasilʼevič Kozlov, Mai bis Juni 1942, in: GAPK, f. 462, op. 1, d. 31, l. 13. 77 Sonderbericht des Bevollmächtigten der Unionsstaatsanwaltschaft, Barkin, an Bočkov, 28.5.1942, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 1000, l. 70.

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machen, wie viele Verfahren letztlich ausgesetzt wurden. Dass in Ovčinnikovs Fall augenscheinlich die Hälfte aller Strafsachen abgelehnt bzw. vom Gericht an den Betrieb zurückgeschickt wurde, blieb unkommentiert, da dieses Phänomen offenbar von den Vorgesetzten in Moskau einkalkuliert wurde. Möglicherweise wusste man in Moskau um die mangelhafte Qualität des ‚Beweismaterials‘, das von vielen Betriebsleitern eingereicht wurde. Daher entband man die Staatsanwälte von der „Vorermittlung“ wenig später ganz offiziell, um die mangelhaften Verfahren nicht aufzustauen und somit die Gerichte entscheiden zu lassen, ob der Straftatbestand erfüllt sei. Damit ging also ein großer Teil der Verantwortung bei der Bekämpfung von Arbeitsvergehen an die Gerichte über. Urteilssprüche waren einfach zu erwirken und durch die Staatsanwaltschaft zu kontrollieren. Jeder Freispruch galt in der sowjetischen Justiz als Alarmsignal. Dass es nach wie vor dazu kam, lag daran, dass einzelne Richter die teils extrem dünne Beweislage (die der Staatsanwalt zuvor ignoriert hatte) infrage stellten und das Verfahren zugunsten des Angeklagten beenden wollten. Der Arbeitsaufwand blieb für den Staatsanwalt trotz allem groß, denn immer mehr Betriebsleiter mussten zur Verantwortung gezogen werden. Die Vereinfachung des Ermittlungsverfahrens befeuerte nicht gerade den Diensteifer der Staatsanwälte, die konkreten Fälle stärker unter die Lupe zu nehmen. Auch ohne die ‚Qualitätskontrolle‘ im Ermittlungsverfahren blieb die Freispruchquote niedrig. In ganz Molotov wurden in den ersten acht Monaten 1942 über 49.000 Fälle allein unter dem Juni-Befehl verhandelt und nur etwas mehr als 3800 Mal sprachen Gerichte einen Arbeiter frei.78 Wie viele Fälle insgesamt auf dem Richtertisch landeten, bleibt ungewiss. Auf den Statistikbögen stand eine 92-prozentige Verurteilungsquote. Das entsprach der Erwartungshaltung der Staatsführung, und Staatanwälte wie Ovčinnikov wurden daran gemessen. Da war es kein Zufall, dass er 1943 zu den auserwählten Beamten gehörte, die die „besten Werte“ (luščie pokazateli) vorlegten und für ihre Arbeit mit 1000 Rubel prämiert wurden.79

4.2.3 Der Kampf gegen „Arbeitsdeserteure“ Ein halbes Jahr nach dem Einmarsch der Deutschen Armee war die Sowjetunion in einer prekären militärischen Lage. Allen Mobilisierungsversuchen zum Trotz war die Wehrmacht bis an die Tore Moskaus vorgerückt. Unter diesem Eindruck erscheint der Befehl vom 26. Dezember 1941 als Wegmarke, an der der Krieg mit 78 Vgl. Bericht der Staatsanwaltschaft Molotov über den Zustand der Arbeitsdisziplin der Rüstungsindustrie von Molotov am 1.10.1942, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 60, l. 2. 79 Rechenschaftsbericht der Staatsanwaltschaft der RSFSR für das Jahr 1943, in: GAPK, f. 460, op. 1, d. 50, l. 125.

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Deutschland sich auch auf die Arbeitsgesetzgebung auswirkte. Die Durchsetzung des Juni-Befehls hatte nur unzureichend dazu beigetragen, die Arbeiter in der Rüstungsproduktion flächendeckend zu disziplinieren und zu mobilisieren. Auf dem militärischen Tiefpunkt der Roten Armee wählte das Regime eine radikale Antwort auf die nicht abreißende Flut von Arbeitsvergehen. Der Dezember-Befehl stellte die Organe der Justiz vor etwas andere Herausforderungen. Im Grunde genommen war er eine Ergänzung zum Juni-Befehl und fußte somit auch auf den gleichen konzeptionellen Schwachstellen. Die Verschärfung des Strafmaßes auf fünf bis acht Jahre und die Verhandlung durch die Militärtribunale des NKVD galten ausschließlich für „absichtliches Verlassen“ in der Rüstungsindustrie. Nichtdestotrotz wurden bis Kriegsende circa 767.000 Menschen als „Deserteure“ verurteilt.80 Der zentrale Unterschied zum Juni-Befehl bestand wohl darin, dass sich weitaus mehr Menschen dem Zugriff der Gerichtsorgane entzogen, als es beim Juni-Befehl der Fall war, weil sie geflohen und/oder in den Kriegsdienst getreten waren. Als Reaktion darauf ließ die Staatsführung die Prozessroutinen immer stärker vereinfachen und gestand dem NKVD immer mehr Kompetenzen bei der Strafverfolgung zu. Ab Frühjahr 1942 wurde die Praxis, Gerichtsurteile in absentia zu sprechen, offiziell sanktioniert und ab März 1943 sollten die Beamten des NKVD die Ermittlungen gegen Deserteure führen.81 Im Endeffekt, so Martin Kragh, habe diese „Simplifizierung“ die beteiligten Organe (auch das NKVD) mit der schieren Masse an Verfahren überlastet und zugleich den Widerstand vieler Justizbeamter gegen ein solches Vorgehen herausgefordert. Aus Sicht der Betriebsleiter und der Ermittlungsbeamten sei die Kampagne zu aufwendig und das Strafmaß zu streng gewesen.82 Die Statistiken geben Kragh dahingehend Recht, dass letztlich nur 40 Prozent aller Anzeigen wegen dezertirstvo in einer Verurteilung mündeten und bis zu 70 Prozent dieser Urteile in Abwesenheit gesprochen wurden.83 Gemessen an dem Anspruch des Regimes und der höchsten Justizbeamten, jedes Delikt ausnahmslos mit einer Verurteilung und einer Haftstrafe zu quittieren, war die Kampagne gegen Arbeitsdeserteure gescheitert. Welche Rolle spielt aber die Staatsanwaltschaft bei diesem Scheitern? Diese Frage lässt sich beantworten, indem man den Aktionsradius der

80 Kragh, Martin: Soviet Labour Law during the Second World War, in: War in History 18 (2011), S. 545. 81 Kragh gibt an, dass die Praxis der Abwesenheitsurteile im Dezember 1942 angeordnet wurde. Tatsächlich gaben das NKVD, das Ministerium für Justiz und die Staatsanwaltschaft die entsprechende Anweisung schon im Februar 1942. Befehl von NKJu, NKVD und Unionsstaatsanwaltschaft über die Fahndung von Deserteuren der Rüstungsindustrie, 11.2.1942, in: GARF f. R-8131, op. 38, d. 96, l. 45. 82 Vgl. Kragh, Soviet Labour Law, S. 545–546. 83 1.883.028 Fälle von Arbeitsdesertion wurden zwischen 1942 und 1945 der Staatsanwaltschaft gemeldet. Vgl. ebd., S. 540.

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Staatsanwaltschaft in jedem Schritt der Strafverfolgung von Deserteuren nachzeichnet: von der Bearbeitung der Anzeige bis zum Gerichtsurteil. Das Gros der Verfahren scheiterte bei der Ermittlung, ergo der Bearbeitung der Anzeige im Vorfeld der Anklage. 53 Prozent der über 1,8 Millionen Anzeigen wegen Arbeitsdesertion wurden von einem Staatsanwalt zurückgehalten, deren Ermittlung ausgesetzt oder aus anderen Gründen nicht an das zuständige Gericht weitergeleitet. Diese Zahlen müssen vor dem Hintergrund gesehen werden, dass Bočkov schon am Anfang der Kampagne das Ermittlungsverfahren nicht vereinfacht, sondern vertieft sehen wollte. Dabei lag es natürlich in seinem Interesse, dass das NKVD den Kriegsausbruch nicht dazu nutzte, weitere Bereiche der Strafverfolgung unter seine Kontrolle zu bringen. Im April 1942 drängte er darauf, die Verfolgung von Deserteuren nicht allein den Militärgerichten zu überlassen. Konkreter hieß das: Das Verfahren zur „Vorermittlung“ durch den Staatsanwalt dürfe bei Arbeitsdesertion nicht ausgesetzt werden. Fälle, in denen wochenlang wegen Arbeitsflucht ermittelt werde, und die Betreffenden letztlich nur im Krankenhaus lägen, seien typisch. Um Abhilfe zu schaffen, legte Bočkov den entsprechenden Befehlsentwurf vor: Der Ermittlungsapparat der Staatsanwaltschaft kann die rasche Behandlung dieser Strafsachen umfassend garantieren, was es wiederum ermöglicht, Fehler zu vermeiden, wenn Arbeiter und Angestellte von Kriegsbetrieben vor Gericht gebracht werden. Auf der anderen Seite gibt man den Militärtribunalen die Möglichkeit, Urteile auf der Grundlage überprüfter und glaubwürdiger Materialien zu fällen.84

Der Befehl sah außerdem vor, alle Ermittlungsschritte und die Gerichtsaufsicht ausschließlich in die Hände der Territorialstaatsanwaltschaft zu legen. Der Militärstaatsanwalt des NKVD sollte außen vor gehalten werden, denn Bočkov wollte wenigstens innerhalb der Behörde eindeutige Kompetenzen schaffen und zugleich den Einfluss des Innenministeriums auf die Verfahren zurückdrängen.85 Die Endfassung dieses Befehls sah dann etwas anders aus. Anstelle der „Vorermittlung“ war nun von „allgemeiner Aufsicht“ über die Bearbeitung des Beweismaterials die Rede. Das Strafverfahren und die Vertretung der Anklage vor Gericht sollten in der Hand der Militärstaatsanwaltschaft bleiben.86 Tatsächlich kann man in Molotov beobachten, dass die Zuständigkeiten zwischen Territorial- und Militärstaatsanwaltschaft auch nach den jeweiligen Rüstungsbetrieben aufgeteilt wurden. Die überwiegende Zahl der Standorte wurde dabei von den Militäranwälten des NKVD überwacht. Nur in 84 Schreiben Bočkovs an Vyšinskij, 3.4.1942, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 969, l. 213. 85 Vgl. ebd., l. 215. 86 Befehl der Unionsstaatsanwaltschaft über die Stärkung der Aufsicht bei der Durchführung des Befehls vom 26.12.1941, 14.4.1942, in: GARF, f. R-8131, op. 38, d. 96, l. 83.

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vier Betrieben hatte im Spätsommer 1942 die Territorialstaatsanwaltschaft die Hoheit auch über die Gerichtsaufsicht. In der Mehrheit der Fälle also stand theoretisch auf der einen Seite die Ermittlungsarbeit der Territorialstaatsanwälte, auf der anderen das Urteil des Militärtribunals und entsprechend die Kontrolle dieser Urteile durch einen Militärstaatsanwalt.87 Die Territorialstaatsanwaltschaft gewann folglich nicht die Autonomie über das Strafverfahren. Trotzdem signalisierte Bočkov der Regierung und seinen Untergebenen damit, dass mehr Aufwand und mehr Eingriffe von Seiten der Staatsanwaltschaft nötig wären, um Arbeitsdesertion zu bekämpfen – nicht weniger, wie die Änderungen in der Prozessordnung eigentlich suggerierten. Ohne dass der Begriff „Vorermittlung“ fiel, entschied der Territorialstaatsanwalt darüber, ob sich aus dem Material (bzw. der Anzeige) eine Anklage ergab. Die Statistiken der Staatsanwaltschaft von Molotov spiegeln nicht nur den Trend wider, den Kragh für die gesamte Sowjetunion ausgemacht hat. Sie verdeutlichen auch, dass die Staatsanwälte in Bočkovs Sinne häufiger in das Ermittlungsverfahren eingriffen, als man es noch bei den Fällen zum Juni-Befehl beobachten konnte. Dies ist angesichts des Krieges eine erstaunliche Entwicklung. Im dritten Quartal 1942 gingen in Molotov 11.780 Anzeigen wegen Arbeitsdesertion bei der Staatsanwaltschaft ein. 8746 Strafsachen übermittelten die Staatsanwälte an die Gerichte, was bedeutete, dass die Übrigen (ein Viertel) in der Vorermittlung durch einen Staatsanwalt aussortiert wurden. Nicht miteinberechnet sind dabei über 7600 Fälle, die als „Rest“ noch auf den Schreibtischen der Staatsanwaltschaft lagen. Dabei handelte es sich zum Teil um Flüchtige, deren Fahndung noch ergebnislos geblieben war. Eventuell weigerten sich auch einige Staatsanwälte, eine Sache in Abwesenheit des Täters vor Gericht zu geben. Da letztlich nur 3252 Delinquenten gefasst wurden, wird dies aber nicht der ausschlaggebende Grund dafür gewesen sein, bei im Schnitt 25 bis 30 Prozent (im Juli 1942 waren es 63 Prozent) der Fälle ganz von einer Anklage vor Gericht abzusehen.88 Die Unionsstaatsanwaltschaft macht es den niederen Ermittlungsinstanzen zudem leicht, solche Fälle in Abwesenheit verhandeln zu lassen, ohne dass es auf die Statistikbögen der Staatsanwaltschaft zurückfiel. Was aber war der Grund? Eine Rolle mochte die Tatsache gespielt haben, dass oberflächlich bearbeitete Fälle vom Gericht womöglich wieder zurückgeschickt werden würden – was bei 20 Prozent der verhandelten Strafsachen auch geschah.89 Dieser Mechanismus

87 Vgl. Bericht des Staatsanwalts der Strafgerichtsabteilung der Unionsstaatsanwaltschaft, Genadinik, zur Prüfung der Arbeit der Organe der Staatsanwaltschaft Molotov und der Militärstaatsanwaltschaften der Garnison und der Truppen des NKVD in Molotov, zur Erfüllung des Befehls vom 26.12.1941, 6.7.1942, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 69, l. 1–2. 88 Vgl. Bericht über den Zustand der Arbeitsdisziplin der Rüstungsindustrie von Molotov, 1.10.1942, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 60, l. 4–5. 89 Vgl. ebd.

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griff jedoch bei allen Strafsachen. Außerdem sollte eine gewissenhafte Vorermittlung in der sowjetischen Rechtslogik gerade umgekehrte Resultate zeitigen. Wichtiger scheint Kraghs Argument zu sein, dass die Strafen von vielen Beteiligten als zu streng empfunden wurden. Bočkovs Appell für ein stärkeres Engagement im Ermittlungsverfahren traf auf offene Ohren. An den Protokollen der Mitarbeiterversammlungen der Jahre 1942 und 1943 lässt sich ablesen, dass dieses Empfinden vor allem für Kuljapin eine große Rolle bei der Ausübung der eigenen Pflichten spielte. Wie sein Vorgesetzter Viktor Bočkov sah Kuljapin das Hauptproblem bei der Bekämpfung von Arbeitsdesertion in der mangelnden Beteiligung der Staatsanwälte am (Vor)Ermittlungsverfahren. Ständig gingen den Fabriken Arbeiter ‚verloren‘, weil weder die Anwesenheitslisten der Fabriken noch das übrige Untersuchungsmaterial, wie die Namen und Zeugenaussagen der Beteiligten, ausreichend geprüft würden. Kuljapins Analyse konzentrierte sich allerdings weniger auf die Erfolgsquote der Militärtribunale. Er sah in der überzogenen Strafverfolgung von Arbeitsvergehen ebenso einen Grund für den Arbeitskräftemangel. Für ihn bedeuteten die Einhaltung der Prozessordnung und das Engagement eines Staatsanwaltes im Untersuchungsverfahren die letzte Chance für einen Arbeiter, nicht unschuldig ins Arbeitslager geschickt zu werden. Nicht umsonst unterstrich er zu Beginn einer Mitarbeiterversammlung im September 1942 die Bedeutung des Beschlusses vom 17. November 1938 für die Arbeit eines Staatsanwaltes und zitierte ihn in Teilen. Diesen Auftakt nutzte er, um seinen Zuhörern klarzumachen, welche Bedeutung die Missachtung der Verfahrensregeln habe konnte. Viele schlecht ausgebildete Staatsanwälte „unterschrieben mechanisch alle Papiere“ und „verwandelten sich in Mechaniker“. Sie sähen „bloße Zahlen, blickten aber nie hinter die Zahlen“. In der Folge fahndete man in einem Betrieb nach 207 Arbeitern, von denen 34 nie das Arbeitsregime missachtet hätten. Dieses Versagen sei nicht nur ein Schandfleck in den Jahresberichten. Die Konsequenzen dieses Versagens trügen die Unschuldigen: Eine Arbeiterin, an ihren Namen erinnere ich mich jetzt nicht, wurde vom Leiter ihrer Zeche in den Urlaub nach Hause geschickt, in den Bezirk Elov […], um ihr kleines Kind mitzubringen. Zwischen Molotov und dem Bezirk Elov liegen ungefähr 250 Kilometer. Sie fuhr auf einem Schiff dahin, doch auf dem Rückweg fuhr das Schiff nicht. So musste sie mit ihrem Kind den Weg nach Molotov zu Fuß zurücklegen. Sie verspätete sich ungefähr um zwei bis drei Tage. Dafür wurde sie zur Deserteurin erklärt, verhaftet und ins Gefängnis gebracht.90

90 Stenogramme der operativen Mitarbeiterversammlung beim Regionalstaatsanwalt von Molotov, Juli 1943, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 57, l. 6.

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Der ganze Vorfall wurde durch das Stadtparteikomitee aufgedeckt, ohne dass ein Staatsanwalt sich die Strafsache im Vorfeld näher angeschaut hätte. Kuljapin war nicht der Einzige, der seine Reden mit dramatischen Einzelschicksalen illustrierte. Außergewöhnlich war, dass seine Rede den Mitarbeitern ihre Verantwortung nicht primär gegenüber der Partei oder den Kriegsanstrengungen der Sowjetunion, sondern gegenüber dem Individuum erklärte. Ich, als Regionalstaatsanwaltschaft, trage auch die Verantwortung dafür, dass ich diesen Zahlen zu sehr vertraut habe, die uns über das Telefon oder den Telegrafen gegeben werden. Hinter diesen Ziffern verbergen sich empörende Fakten der Ungesetzlichkeit und der Willkür gegenüber sowjetischen Menschen. […] Wir müssen daraus ernsthafte Schlüsse ziehen, um nicht den Preis eines Menschen zu vergessen. Gelegentlich geht uns das Gefühl für den Preis eines Menschen verloren, es stirbt ab, dieses Gefühl. In einem Meer von Strafsachen verweisen wir auf die Fristen und lassen so leicht Strafsachen durch, dass wir den lebendigen Menschen vergessen – der irgendwann einmal geboren war, durch eine Mutter großgezogen, ausgebildet und durch uns ungesetzlich festgesetzt wurde.91

Kritik an einer seelenlosen Bürokratie zu üben, war unter den gegebenen Umständen durchaus möglich. Die Formalismus-Kritik spielt auch in anderen Bereichen der Strafverfolgung eine wichtige Rolle. Kuljapin jedoch rückte den Wert eines einzelnen Menschen in den Vordergrund und sah genau darin, nicht nur in der Produktion von Verurteilungen, den eigentlichen Beweggrund und den Ausgangspunkt für staatsanwaltschaftliche Arbeit. Die Gesetzgebung sei zu harsch, als dass man Verfahrensfehler tolerieren dürfte. Molotovs Regionalstaatsanwalt kritisierte genau das, was für den Juni-Befehl schon lange Praxis war: Staatsanwälte produzierten Anklagen und Urteile, ihre Sorge galt allein statistischen Auffälligkeiten. Bei Desertion drohten jedoch keine mehrmonatigen, sondern mehrjährige Haftstrafen. Eine Anklageerhebung zog mitunter schwere Konsequenzen nach sich. Der Anwalt eines Stadtbezirks von Molotov, Zubovksij, pflichtete seinem Vorgesetzten demonstrativ bei. Es gehe darum zu wissen, wofür ein Mensch vor Gericht gebracht werde und ob „seine Handlungen zufällig gewesen waren und dafür keine fünf bis acht Jahre zu geben [sind].“92 Provinzanwalt Zubovskij folgte hier sehr vorsichtig der Rhetorik Kuljapins. Der Zweifel an einer Strafsache müsse für die Freilassung, nicht für eine Verurteilung sprechen. Dieser Gedankengang war durchaus vereinbar mit der

91 Ebd., l. 7. 92 Ebd., l. 10.

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sowjetischen Rechtsauffassung, kam angesichts der Rechtspraxis im Stalinismus aber einem Tabubruch gleich. Natürlich hatte Kuljapin auch die Kriegsanstrengungen im Sinn, als er davor warnte, die Arbeiter unbedacht vor Gericht zu stellen. Die eigentliche Bedrohung für die Rüstungsindustrie ging für ihn jedoch von den Arbeitsbedingungen aus, die in den großen Fabriken Molotovs vorherrschten. Die Hälfte aller Arbeiter der Region Molotov arbeitete während des Krieges in drei Fabriken. Sank das Lebensniveau hier herab, war mit noch mehr Menschen zu rechnen, die ihren Arbeitsplatz verließen. In einem Jahr allein wurden mehr als 100.000 Menschen aus diesen Fabriken verurteilt – 80.000 aufgrund des Juni-Befehls.93 In dieser Frage folgte Kuljapin der Linie, die das Regionalkomitee vorgab. Schlechte Lebensbedingungen im Betrieb seien eindeutig das Werk politischer Provokateure. „Beamte provozieren […] und fordern die Menschen heraus, sich bewusst dafür zu entscheiden, den Betrieb zu verlassen“. In den drei größten Fabriken der Region habe ein Arbeiter nur 0,6 Quadratmeter Lebensraum. 3000 Werktätige bekämen zur Mittagszeit gerade einmal zwei Dutzend Löffel ausgehändigt und müssten trotzdem acht Kopeken für jede Suppe bezahlen. Die verantwortlichen Betriebsleiter seien in der Folge aus der Partei ausgeschlossen und vor Gericht gestellt worden.94 Kuljapins Schlussfolgerungen gingen aber noch weiter. Die Verurteilung eines Fabrikdirektors löse nicht das Gesamtproblem, dass viel zu viele Arbeiter vor Gericht gebracht würden. Vielmehr müssten die Ursachen für Arbeitsdesertion gefunden werden, damit gerade weniger Menschen im Gefängnis enden. Verurteilungen im sechsstelligen Bereich seien „eine sehr ernste Angelegenheit. Es geht um Politik […] Wir sägen an dem Ast, auf dem wir sitzen […] Wir haben sehr viele unschuldige Menschen verurteilt, Hunderte wenn nicht Tausende. Wir lassen Massenwillkür zu.“95 Dieses Argument zeugt nicht nur von einem bemerkenswerten Grad an Reflexionsfähigkeit beim Regionalstaatsanwalt – und davon, welchen Eindruck die Massenwillkür in den 1930er-Jahren hinterlassen hatte. Es war ein starkes Signal, die Prozessordnung und den Gesetzeskatalog zugunsten des Beschuldigten anzuwenden; und es säte Zweifel an der Kampagne gegen Arbeitsdesertion selbst. Ein Vertreter des Regionalkomitees kommentierte: „Sieht man von der unbedeutenden Zahl echter Deserteure ab, die nicht für die Verteidigung des Landes arbeiten wollten, kommt es dazu [der Arbeitsdesertion, I. R.] infolge der viehischen [sobačego] Einstellung gegenüber den Arbeitern.“96 Kuljapin sah sich mit diesem Satz im Einklang 93 Vgl. Stenogramme der operativen Mitarbeiterversammlung beim Staatsanwalt der Region Molotov, Juli 1943, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 84, l. 22;30. 94 Ebd., l. 27. 95 Ebd., l. 30. 96 Ebd., l. 26.

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mit dem Regionalkomitee der Partei, das sich gegenüber den Arbeitsbedingungen offensichtlich nicht blind stellte. Allerdings trat er als leitender Staatsanwalt auf. Sollte es unter den lokalen Staatsanwälten und Ermittlern Zweifel an der Härte dieser Verfahren gegeben haben, bekamen sie hier Zuspruch ‚von oben‘, diesem Zweifel mit einer Entscheidung gegen die Anklage Ausdruck zu verleihen – wenn es die Umstände zuließen. So freigiebig Kuljapin seine Mitarbeiter über ihre Verantwortung belehrte, so vorsichtig blieb er im Austausch mit seinen eigenen Vorgesetzten. Als er in einem Quartalsbericht die Arbeit seiner Untergebenen im Kampf gegen Arbeitsdeserteure für Moskau beurteilen musste, listete er Beispiele auf, in denen Bezirksstaatsanwälte Strafverfahren gegen „Arbeitsflüchtige“ zum Stillstand brachten. Manche Ermittler hatten eine genauere Prüfung des Familienhintergrunds der Beschuldigten gefordert und unsaubere Ermittlungsarbeit kritisiert, als sie die Anzeige des Betriebes abwiesen. Der Ermittler Sulimin etwa schickte den Fall einer Arbeiterin zurück, um ihren „familiären Hintergrund“ und die Gründe für ihre Arbeitsflucht festzustellen. In einem anderen Fall lehnte Sulimin die Anzeige gegen eine Arbeiterin ab, da ihre Wohnsituation offensichtlich ungeklärt sei.97 Diese Vorgehensweise entsprach in gewisser Weise der Mahnung seines Vorgesetzten, unter bestimmten Umständen von einer Anklage abzusehen. Kuljapin listete diese Beispiele allerdings unkommentiert als „Defizite“ auf und wartete ab, wie Moskau auf diese Vorfälle reagieren würde. Republiksanwalt Volin zeigte in seiner Antwort kein spezielles Interesse an den Beweggründen der Arbeiter und kritisierte einfach die „Verzögerungen“ und die „mangelnde Beweglichkeit“ in diesen Verfahren. Er war an der „Stabilität der Urteile“ und an einem raschen Verfahrensablauf interessiert. Beides sollte in letzter Konsequenz die Zahl der Deserteure verringern. Auch Volin wollte „echte“ und „unechte Deserteure“ besser unterschieden wissen – allerdings ohne das Untersuchungsverfahren zu verzögern und durch eine Anklage, die die Schuld des jeweiligen Arbeiters im Vorfeld zur Gewissheit hatte. Über die Fälle, in denen Anzeigen vom Staatsanwalt zurückgewiesen wurden, ging Volin kommentarlos hinweg – nicht zuletzt deshalb, weil Kuljapin ihm hier keine Zahl präsentierte.98 Wie beim Juni-Befehl auch waren Fristverzögerungen und Freisprüche die eigentliche Messlatte staatsanwaltschaftlicher Arbeit. Solange kein Strafverfahren initiiert war, standen Staatsanwälte folglich auch nicht unter dem Druck, sich zu rechtfertigen, wenn die Anzeige im Sande verlief. Darüber hinaus fiel die dünne Beweislage im Zweifelsfall auf die Betriebsleiter und Fabrikdirektoren zurück. Sie bereiteten das Material für

97 Bericht der Staatsanwaltschaft Molotov über den Zustand der Arbeitsdisziplin in der Rüstungsindustrie für die ersten 10 Monate 1942, Oktober 1942, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 59, l. 24. 98 Vgl. ebd., l. 32.

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die Anzeige erst vor. Gegenüber dem Regionalkomitee stellte Kuljapin im Sommer 1943 klar: Das eigentliche Problem sei die „leichtsinnige Haltung bei der Weitergabe von Materialien, wie man sie von Seiten einiger Fabrikleiter beobachten kann“.99 An diesem Punkt trafen sich die Ambitionen, die Fabrikführung als Provokateure und „Mitwisser“ zur Verantwortung zu ziehen. Auf die ganze Russische Sowjetrepublik gerechnet, waren die Justizorgane dabei vergleichsweise effektiv. In einem einzigen Quartal 1944 kam hier auf 125 verurteilte „Arbeitsdeserteure“ ein verurteilter Betriebs- oder Fabrikleiter bzw. verantwortlicher Staatsbeamter.100 Dass viele Anzeigen gegen Arbeitsdeserteure von einem Staatsanwalt einkassiert wurden, hatte indirekt damit zu tun, dass dieser Feldzug als zu harsch empfunden wurde. Die fatalen Folgen einer Verurteilung bestärkten Beamte wie Kuljapin, ihre Mitarbeiter zu ermutigen, Anzeigen sorgfältiger und kritischer entgegenzutreten. Dabei ging es hauptsächlich darum, einen Tatbestand nachzuweisen und das häufig oberflächliche ‚Beweismaterial‘ der Fabriken und Betriebe gegen den Strich zu bürsten. Seine Ambitionen, „tatsächliche und echte Deserteure“ von den „ehrlichen Arbeitern“ zu trennen, konnten vor allem hier fruchten, weil Anzeigen weitestgehend folgenlos abgewiesen werden konnten. Einzig die Bearbeitungsfristen wurden von Moskau aus im Auge behalten. Bekam ein Staatsanwalt das Material einer Fabrik, blieben ihm theoretisch zehn Tage für das Aktenstudium (oder ein persönliches Gespräch). Nicht alle, die diese Fristen missachteten, waren übergründlich. Einige jedoch reizten die Möglichkeit aus, das Material nicht im Akkord und etwas eingehender zu prüfen. Aus dem Quartalsbericht von 1944 geht hervor, dass die Staatsanwälte in Molotov binnen drei Monaten über 5646 neue Anzeigen erhielten. In 999 Fällen ließen sich die Beamten mehr als zwei Monate Zeit bzw. wurde das Ermittlungsverfahren insgesamt verzögert. Diese Zahlen waren aus Sicht der Moskauer Staatsanwaltschaft indiskutabel, doch der Leiter der Moskauer Ermittlungsabteilung konnte über die genaue Zusammensetzung dieser Zahlen nur mutmaßen.101 Wie viel Zeit ein Staatsanwalt in das Untersuchungsmaterial steckte, aus dem keine Anklage hervorging, war also für Moskau kaum nachzuvollziehen.

 99 Befehl des Regionalstaatsanwalts über die unbegründete Strafverfolgung von Sowjetbürgern, 13.5.1943, in: PGASPI, f. 105, op. 9, d. 118, l. 57. 100 Dieser Rechnung liegen die Zahlen eines Quartalsberichts zur Arbeitsdisziplin zugrunde. Zwischen Juli und September 1944 wurden demnach 66.062 Arbeiter unter dem Befehl vom 26. Dezember 1941 verurteilt. Demgegenüber erhielten 311 Amtspersonen als „Mitwisser“, 109 Betriebsleiter, 54 Landwirtschaftsfunktionäre und 58 leitende Sowjetkader einen Urteilsspruch. Vgl. Bericht der RSFSR-Staatsanwaltschaft über die Arbeit der Ermittlungsabteilungen in der Republik, November 1944, in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 476, l. 29. 101 „Die Fristverletzungen bei der Ermittlung in dieser Kategorie von Strafsachen erklärt sich überwiegend damit, dass bei der Ausführung einige Anforderungen zur Weitergabe von Materialien verzögert werden, und damit, dass Strafsachen, die durch das Militärtribunal zur erneuten Ermittlung

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Die Staatsanwälte filterten auf diese Weise einen erheblichen Anteil der Anzeigen heraus, verschleppten diese bzw. setzten den Ermittlungsprozess gemäß der Prozessordnung mit der Rechtfertigung aus, zusätzliches Beweismaterial zu benötigen. Die Möglichkeiten zur Intervention gegenüber einer Ermittlungssache waren vielfältig. In dieser Zahlenflut konnte niemand genau eruieren, wann und ob der Ermittlungsprozess wieder aufgenommen wurde. Um einen Eindruck zu geben: Im Juli 1944 lagen in der ganzen RSFSR Desertionsanzeigen gegen 158.345 Arbeiter auf den Schreibtischen der Staatsanwaltschaft. 137.761 davon wurden überhaupt ermittelt (zakončeny). In diesem Fall wurden also schon einmal 13 Prozent aller Anzeigen nicht berücksichtigt und das Material ganz abgelehnt. Im nächsten Schritt waren die Staatsanwälte entweder übergründlich oder setzten die Ermittlungen aus (priostanovili), weil die Miliz niemanden festnehmen ließ. Zumindest gelangte die Staatsanwaltschaft in nur 34.842 Fällen zu einer Entscheidung über die Sache (ras­ rešena del), der Rest wurde ausgesetzt (priostanovlen). Etwas mehr als die Hälfte dieser Fälle (17.520) ging dann (meist via Militärstaatsanwalt) vor Gericht. In den übrigen Fällen wurde der Straftatbestand geändert (perekvalificirovano) oder die Strafsache gar nicht erst eröffnet (otkazano v vozbuždenii ugolovnogo dela).102 Bočkovs Appell für mehr Engagement im Ermittlungsverfahren zeitigte ein eindrucksvolles Resultat. Aufgrund all dieser Eingriffe mündete nur jede neunte Anzeige in einem Gerichtsverfahren. Die sowjetische Kampagnenjustiz stieß also schon dort an ihre Grenzen, wo ein Staatsanwalt seiner Verpflichtung für ein regelhaftes und sorgfältiges Ermittlungsverfahren nachkam. Der zweite kritische Punkt für die praktische Durchsetzung der Kampagne begann mit dem Strafverfahren. Auch jetzt noch konnten Strafsachen (ugolovnoe delo) durch einen Staatsanwalt abgebrochen (prekraščeno) werden. Doch war eine Strafsache eröffnet und die Fahndung eingeleitet, geboten Moskaus und auch Kuljapins Vorstellungen von einer effektiven Justiz prinzipiell, diese Sache auch bis zu einer Verurteilung zu Ende zu führen – unabhängig davon, ob ein Delinquent überhaupt gefunden wurde. Die Mehrzahl der Urteile gegen Arbeitsdeserteure wurde im Laufe des Krieges in Abwesenheit eines Beklagten gefällt – ein Umstand den die Staatsanwaltschaft (nicht immer bedenkenlos) mitverantwortete. Wie die regulären Gerichte auch, standen die Militärtribunale unter dem Druck, ihre Urteile zügig zu fällen, doch die Fahndung nach Deserteuren verlief chaotisch. Oftmals wurden die Namen der Delinquenten zu spät, gar nicht oder falsch vom Betrieb weitergegeben, während der oder die Betreffende längst den Bezirk verlassen hatte. Die Miliz zeigte

zurückgeschickt werden, nur langsam mit dem Material der Vorermittlung zusammengeführt werden.“ Ebd., l. 27. 102 Vgl. ebd., l. 25–26.

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sich heillos überfordert und zugleich unwillens, jeder flüchtigen Person nachzuspüren. Das Pass- und Meldesystem war, wie erwähnt, unbrauchbar geworden. So kam es vor, dass ein Arbeiter seinen Wohnort gar nicht erst verlassen musste, da der zuständige Milizionär sich eine langwierige Fahndung ersparte und ihn einfach als „nicht auffindbar“ notierte. Mitunter fand der Staatsanwalt den Gesuchten dann Zuhause vor und ließ ihn festnehmen.103 In den meisten Fällen blieb die Suche nach flüchtigen Deserteuren allerdings ohne Erfolg. Justizkommissar Ryčkov äußerte noch im Herbst 1942 seine Bedenken gegenüber der gängigen Praxis, Menschen in ihrer Abwesenheit zu verurteilen. Über 71 Prozent aller Fälle wegen Arbeitsdesertion wurden am Ural bis dato auf diese Weise entschieden. Diese Vorgehensweise würde die Kriminalitätsraten eher nach oben schrauben.104 Nichtsdestotrotz hielt das Regime daran fest, Arbeitsdesertion in absentia verhandeln und aburteilen zu lassen. Im Gegensatz zum Justizministerium sah die Staatsführung darin kein Problem, sondern einen Teil der Lösung. Zweifel an dieser Vorgehensweise kam zuweilen auch aus der Staatsanwaltschaft. Zumindest Kuljapin äußerte seinen Standpunkt bei mehreren Gelegenheiten. Dem Regionalkomitee gab er 1943 zu verstehen, dass eine solche Praxis die grundsätzlichen Probleme im Strafprozess nicht beseitige. Im Gegenteil: „gewissenhafte und ehrliche Arbeiter“ geraten in den Fokus unqualifizierter und schlechter Ermittlungen. Am Ende stehe das Abwesenheitsurteil und die „leichtsinnige Haltung zur Bearbeitung der Materialien“ werde „‚legalisiert‘“.105 Hatte ein Staatsanwalt einmal die Fahndung veranlasst, war das Gerichtsverfahren nur eine Frage der Zeit – unabhängig davon, ob der oder die Flüchtige gefunden wurde und ob der Tatbestand erfüllt war. Zwischen Oktober 1942 und April 1943 wurden in Molotov 9977 vermeintliche „Deserteure“ zur Fahndung ausgeschrieben. Nur 1389 Personen konnte man ausfindig machen, und doch sprach das Militärtribunal in Molotov annährend 8800 Urteile aus.106 Einmal vor Gericht konnte der oder die Angeklagte nur noch darauf hoffen, dass das Verfahren entweder vom Gericht abgelehnt oder zur erneuten Ermittlung an einen Staatsanwalt zurückgeschickt wurde. War dies nicht der Fall, waren er oder sie darauf angewiesen, dass das Militärtribunal Milde zeigte und ihn/sie unter

103 Bericht des Staatsanwalts Genadinik, zur Prüfung der Arbeit der Organe der Staatsanwaltschaft Molotov und der Militärstaatsanwaltschaften der Garnison und der Truppen des NKVD in Molotov, 6.7.1942, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 69, l. 8. 104 Vgl. Schreiben Ryčkovs an Molotov, 19.10.1942, in: RGASPI, f. 82, op. 2, d. 891, l. 95. 105 Befehl Kuljapins über die unbegründete Strafverfolgung von Sowjetbürgern, 13.5.1943, in: PGASPI, f. 105, op. 9, d. 118, l. 57. 106 Vgl. Bericht der Abteilung für Milizaufsicht von Molotov über die Fahndungsarbeit bei Arbeitsdeserteuren, 14.6.1943, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 569, l. 164.

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Umständen sogar freisprach. Diese Szenarien waren durchaus denkbar. Knapp 900.000 „Arbeitsdeserteure“ standen landesweit bis 1945 vor Gericht. 767.000 von ihnen wurden auch als solche verurteilt, was bedeutet, dass die vorsitzenden Richter in 140.000 Fällen von einer Verurteilung (unter dem Dezember-Befehl) absahen.107 Die Quellen geben keinen Aufschluss darüber, wann und auf welcher Grundlage jeder einzelne Richter zu diesem Schluss kam. Genauso wenig liegen verlässliche Zahlen vor, wie viele Freisprüche von der Militärstaatsanwaltschaft angefochten wurden. Entscheidend ist, dass der Druck zur Verurteilung auf Richtern und Staatsanwälten gleichermaßen lastete, die Beamten aber nicht durchweg blind für die einzelne Strafsache machte. Hier sind die Fälle aufschlussreich, in denen das Militärtribunal die Strafsache zurück an den (Territorial)Staatsanwalt schickte, weil die Beweislage nicht für ein Verfahren ausreichte. Im Verfahren gegen den Arbeiter Lozgučev, meldete nicht die Staatsanwaltschaft, sondern das Militärtribunal Zweifel an den Details der Strafsache an: und zwar nicht nur einmal, sondern gleich vier Mal hintereinander. Als Lozgučev im März 1942 nicht zur Arbeit erschien, gab sein Betrieb eine Anzeige an die Staatsanwaltschaft weiter, die einen Monat später zu seiner Verhaftung führte. Vor Gericht gab er an, keine Lederschuhe zu besitzen und in den „Filzstiefeln, die er besaß, könne er nicht zur Arbeit gehen.“108 Daraufhin gab das Gericht die Sache zurück zur weiteren Ermittlung an die Staatsanwaltschaft. Der zuständige Staatsanwalt überprüfte den Fall, was Kuljapin eher als Zeitverschwendung empfand: „In dieser Jahreszeit und bei diesem Wetter könnte man doch besser in Filzstiefeln als in Lederschuhen zur Arbeit gehen“. Zu diesem Schluss kam offensichtlich auch der zuständige Staatsanwalt, doch das Gericht schickte die Strafsache noch drei weitere Male zurück. Lozgučev behauptete zunächst, er habe den Betrieb nicht verlassen. Dann erklärte er, mit seinem Bruder Michail verwechselt worden zu sein und schließlich meldete das Tribunal selbst Zweifel über das genaue Datum an, an dem Lozgučev von der Arbeitsstelle verschwand. Drei weitere Zeugen sollten befragt werden. Erst beim fünften Anlauf eröffnete das Tribunal ein Verfahren gegen Lozgučev und verurteilte ihn.109 Der zuständige Staatsanwalt hätte zuvor eine Einstellung des Verfahrens erwirken können, anstatt sich fünfmal an das Tribunal zu wenden. Damit hätte er dem Prinzip nach aber eine fertige Anklage sabotiert, was den Leitgedanken staatsanwaltschaftlicher Arbeit eigentlich widersprach. Ihm blieb also in den meisten Fällen nichts anderes übrig, als die Sache so oft vor Gericht zu bringen, bis ein Urteilsspruch erfolgte. Bis auf einen offiziellen Protest durch 107 Vgl. Kragh, Soviet Labour Law, S. 540. 108 Bericht über den Zustand der Arbeitsdisziplin der Rüstungsindustrie von Molotov, 1.10.1942, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 60, l. 54–55. 109 Vgl. ebd., l. 55.

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den Militärstaatsanwalt (der durch das Tribunal auch abgewiesen werden konnte), hatten die Beamten aber keinen wirklichen Einfluss auf den Urteilsspruch. Selbst in Lozgučevs Fall lässt sich nicht feststellen, ob man ihn als „Deserteur“ oder als „Bummelant“ (nach dem Juni-Befehl) verurteilt hatte. Kuljapin bemerkte beispielsweise am Ende des Berichts beiläufig, dass das Militärtribunal alle Beschuldigten, die binnen 20 Tagen wieder auf Arbeit erschienen waren, nicht als „Deserteure“, sondern als „Bummelanten“ verurteilen würde.110 Solche Entscheidungen liefen dem Dezember-Befehl zuwider, doch Kuljapin hatte in dieser Frage keinen Einfluss mehr. Generell waren Staatsanwälte (Territorial- und Militär-) von den Beratungssitzungen der Tribunale ausgeschlossen und auch in der eigentlichen Verhandlung waren die Militärstaatsanwälte nur selten anwesend. In Kuljapins Bericht sind nicht einmal die Fälle aufgeführt, in denen das Tribunal (und nicht der Staatsanwalt) das Strafverfahren ganz aussetzte bzw. es ablehnte, die Strafsache zu verhandeln. Ein nicht unwesentlicher Teil der Anklagen scheiterte also nicht am Staatsanwalt, sondern direkt an den Tribunalen. Mit Eröffnung der Anklage lag die Verantwortung für den Erfolg der Kampagne nunmehr bei den Richtern. Dass so viele Urteile gesprochen wurden, die die Erwartungen des Regimes nicht erfüllten, spricht dafür, dass diese ihrerseits Zweifel an der Kampagne insgesamt hegten und diesen Zweifeln auch praktischen Ausdruck verliehen. Was aber zeichnete nun die Staatsanwälte und ihre Rolle in der Gescchichte der Kampagne aus? Im Kampf gegen die Arbeitsvergehen, erhöhte das Regime stetig den Druck auf die beteiligten Justizorgane, schneller und härter gegen Delinquenten vorzugehen. In den Augen der Parteioberen konnte Kriminalität nur dadurch bekämpft werden, dass immer mehr Beteiligte zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen wurden. Bei der Durchsetzung des Juni-Befehls ging dieses Kalkül prinzipiell auf, nachdem das Gros der Verantwortung den Richtern übertragen und jedes Anzeichen „richterlichen Liberalismus“ hart bestraft wurde. Die Zahl der Freisprüche blieb einigermaßen stabil, was auch den Staatsanwälten zu ‚verdanken‘ war, die ohne großen Aufwand ihrer Pflicht im Kampf gegen „milde Urteile“ nachgingen. Indem man sie von der Vorermittlung entband, waren der Willkür der Betriebsleiter, der Bequemlichkeit vieler Staatsanwälte, aber auch dem Zufall Tür und Tor geöffnet. „Bummelanten“ und „Flieger“ wurden am Fließband und nach Listen vor Gericht gestellt, so dass einige engagierte Staatsanwälte nur punktuell (und verspätet) einen Blick in die Strafakten wagten oder das Gespräch mit dem Angeklagten suchten. War die Strafsache einmal vor Gericht, standen die Arbeiter vor einem Richter, der sich für jeden Freispruch rechtfertigen musste. In der Konsequenz wurde Kriminalität nicht bekämpft, sondern die Arbeitswelt wurde kriminalisiert. Millionen

110 Vgl. ebd., l. 58.

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Arbeiter wurden so vorbestraft. Dieses Problem blieb weder dem Justizminister noch der Staatsanwaltschaft verborgen, allerdings setzte die Staatsführung genau auf dieses Prinzip der Kampagnenjustiz, um gewaltsam die Kontrolle über die Arbeitswelt zu gewinnen. Zusätzlich setzte das Regime ab Dezember 1941 auf militärische Härte, bei immer kürzeren Verfahrenswegen. Der Krieg erreichte endgültig die Strafjustiz im Hinterland. Diesen Schritt trugen die Organe in Justiz und Staatsanwaltschaft jedoch nicht widerspruchslos mit. Drakonische Strafen wurden prinzipiell akzeptiert, doch zeigte sich die Unionsstaatsanwaltschaft nicht bereit, das ganze Verfahren an das NKVD abzutreten. Die „Vorermittlung“ war die Kernkompetenz eines Staatsanwalts und aus Sicht Bočkovs bei der Unterscheidung „echter Deserteure“ und „ehrlicher Arbeiter“ unverzichtbar. Die langen Haftstrafen waren da ein zusätzlicher Anreiz für Beamte wie Kuljapin, das ‚Beweismaterial‘ wieder selbst in die Hand zu nehmen und im Sinne der Prozessordnung einen Straftatbestand festzustellen. Gleichzeitig war es dem Prozedere geschuldet, dass Staatsanwälte das Material noch vor der Anklage abweisen oder verschleppen konnten, ohne sich im Einzelnen dafür verantworten zu müssen. Die Staatsanwälte sortierten dabei längst nicht alle Fälle aus, in denen die Beweislage zweifelhaft schien. Immer wieder lehnten die Militärtribunale bereits erhobene Strafsachen ab. Dass nur ein Bruchteil der Anzeigen zu einer Verurteilung führte, war eben nur zum Teil der Staatsanwaltschaft geschuldet. Im Gegensatz zu den konventionellen Volksgerichten nahmen sich die Militärtribunale ungleich mehr Freiheiten, den Dezember-Befehl nach ihren Vorstellungen zu interpretieren und Verfahren abzubrechen. Unterm Strich überlastete und überdehnte die Kampagne gegen Deserteure die Kapazitäten der Justiz genauso, wie sie die beruflichen Überzeugungen einiger Beamter der Staatsanwaltschaft herausforderte. Diese Überzeugungen trugen allerdings nur so weit, wie der Konformitäts- und Ergebnisdruck des sowjetischen Strafverfahrens es zuließ. In dieser Haltung drückte sich nicht der Widerstand gegen eine drakonische Anordnung aus, sondern die Überzeugung, dass nicht Willkür, sondern Normen den Erfolg eines Strafverfahrens zeitigten. Damit war das Prinzip der Kampagnenjustiz bereits untergraben. Kuljapin erkannte darin sogar eine moralische Verpflichtung, was dafür spricht, dass die Rhetorik der Zweckmäßigkeit und der Säuberungen nicht die einzigen Leitlinien waren, nach denen ein Staatsanwalt zu agieren bereit war. Das Beharren auf Regelhaftigkeit war kein Ergebnis des Krieges. Der Versuch des Regimes, die Arbeitswelt zu militarisieren, forderte diese Prinzipien allerdings erstmals seit der Debatte um die Massenoperationen in der Breite heraus. Wenn der Krieg zu Ende ist, werden wir wissen, wer zur Zeit des Krieges verurteilt wurde. Wenn wir entdecken, dass dieser Mensch für ein schweres Verbrechen verurteilt wurde,

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dann wurde er für viele Jahre verachtet, doch er sollte für echtes Desertieren verachtet werden, für ein echtes Verbrechen, und nicht für ein ausgedachtes Verbrechen.111

4. 3 D ie D i sz ipl i n ie r u ng d e r s ow je t i s che n Ju ge nd Nun konnten sich unsere Kornkammern füllen, nun konnte unser Leben gedeihn – und die von Geburt an lasterhaften Kinder den weiten Weg der Besserung antreten. Und es hat von den Genossen Staatsanwälten keiner gezögert, einerlei, ob sie zu Hause ebensolche Kinder hatten. Sie stellten willigst Haftbefehle aus. Und es hat von den Genossen Richtern keiner gezögert, ungetrübten Herzens verurteilten sie Kinder zu drei, fünf, zu acht und zehn Jahren Haft, in allgemeinen Lagern zu verbüßen!112

Alexander Solženicyns Schilderungen über die Kinder im Gulag gehören zu den erschütterndsten Kapiteln seines Monumentalwerks „Archipel Gulag“. Der Leser sollte begreifen, dass unter Stalin viele Generationen vernachlässigter Kinder unterschiedslos in die Lagerwelt verschickt wurden (um dort selbst als „Frischlinge“ zu Unmenschen zu verkommen). Nichts konnte aus Solženicyns Sicht den Zynismus und die Härte der sowjetischen Diktatur besser entlarven. Zweifellos zeugt besonders das Schicksal von Kindern sogenannter „Volksfeinde“ davon, wie rücksichtslos das Regime mit den Angehörigen vermeintlicher politischer Gegner verfuhr.113 Die Rolle der Justiz in dieser Geschichte war aber mit Blick auf die Bekämpfung von nicht-politischen Jugendstraftaten wesentlich vielschichtiger, als es dieser Abschnitt suggeriert. Kinder und Jugendliche waren mehr als eine monolithische Opfergruppe des Stalin-Regimes. Jugendkriminalität und Jugendobdachlosigkeit waren ein komplexes soziales Problem, das die Autoritäten in Russland seit Mitte des 19. Jahrhunderts beschäftigte.114 Schon früh erkannten Kriminalisten, dass sich die organisierte Kriminalität besonders unter Waisenkindern und anderen „Verwahrlosten“ (bezprizornye) ausbreitete.115 Das sowjetische Regime stand vor dem gleichen Problem in neuer 111 Stenogramme der Mitarbeiterversammlung, Juli 1943, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 57, l. 26. 112 Solschenizyn, Alexander: Der Archipel Gulag. Folgeband. Arbeit und Ausrottung. Seele und Stacheldraht. Bern 1974, S. 430 f. 113 Vgl. dazu Frierson, Cathy A./Vilensky, Semyon S.: Children of the Gulag. New Haven/London 2010. 114 Vgl. Krivonosov, A. N.: Istoričeskij opyt borʼby s besprizornostʼju, in: Gosudarstvo i pravo 7 (2003), S. 92–94; Kelly, Catriona: Children’s World. Growing up in Russia, 1890–1991. New Haven/London 2007, S. 4; 25–60. 115 Mill, Tatjana: Zur Erziehung verurteilt. Die Entwicklung des Jugendstrafrechts im zaristischen Russland 1864–1917. Frankfurt am Main 2010, S. 76–85.

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Qualität. Revolution und Bürgerkrieg brachten eine ganze Generation von Waisenund Straßenkindern hervor, die mittellos und häufig traumatisiert die Provinzen durchstreiften. Manche Schätzungen gehen von über sieben Millionen obdachlosen Jugendlichen zu Beginn der 1920er-Jahre aus.116 In der Ära der NEP hatte dieses Problem nicht nur eine hohe Priorität unter den neuen Machthabern (der Chef der politischen Polizei Feliks Dzeržinskij übernahm selbst die Leitung einer staatlichen Waisenkommission). Die Debatte um Kriminalität und Jugendfürsorge war in den 1920er-Jahren auch wesentlich ergebnisoffener als in den Jahrzehnten danach. Es war eine Epoche der Bildungsexperimente. Die revolutionären Eliten erprobten alternative Formen des Strafvollzugs, der Erziehung und der Jugend- und Erwachsenenbildung, um die jungen Delinquenten zu produktiven Mitgliedern der Gesellschaft zu formen. Der Pädagoge und Autor Anton Makarenko und Lenins Weggefährtin Nadežda Krupskaja waren die gefeierten Ikonen dieses Trends.117 Zu Beginn der 1930er-Jahre traten pädagogische Überlegungen bei der Bekämpfung von Jugendkriminalität in den Hintergrund. Das Regime initiierte „Säuberungsaktionen“, bei denen die Geheimpolizei kategorisch alle Jugendlichen ohne Vormund inhaftierte. Innerhalb des NKVD wurden verwahrloste Kinder von einem sozialen Problem zum Feindbild erhoben.118 Makarenkos Lebenswerk wurde nur noch in verkürzter Fassung gelehrt: Ziel der sowjetischen Pädagogik war nun vor allem die Unterwerfung des kindlichen Individuums.119 Der Bruch mit den Traditionen der NEP war jedoch nicht so eindeutig, wie es die Vorgehensweise des Innenministeriums suggerierte. Nachdem man ansatzweise die

116 Vgl. Rožkov, A. Ju.: Borʼba s besprizornostʼju v pervoe sovetskoe desjatiletie, in: Voprosy istorii 7 (2003), S. 134. 117 1921 wurde eine Kommission gegründet, die allgemein das Lebensniveau der Kinder in Sowjetrussland anheben sollte (unter der Leitung Dzeržinskijs): die sogenannte „Außerordentliche Kinderkommission“ (DČK) Vgl. Krivonosov, Istoričeskij opyt, S. 95. Zu den Jugendbildungsexperimenten allgemein der NEP vgl. auch Figes, Orlando: The Whisperers. Private Life in Stalin’s Russia. London 2008, S. 20–31; Nadežda Krupskaja war eine zentrale Figur der Jugendbildungsmaßnahmen in den 1920er-Jahren und auch sie gestand: „‚We must state that the roots of besprizornostʼ are not only in the past but in the present‘“. Ball, Alan M.: And Now My Soul is Hardened. Abandoned Children in Soviet Russia, 1918–1930. Berkeley 1994, S. 12. Zit. Pravda, 2.12.1925, S. 1. Makarenko zufolge konnte jeder zu einem gehorsamen Mitglied des Arbeitskollektivs umerzogen werden. Nötig wären dazu nur ein gesunder Drill und ausreichend körperliche Arbeit. Makarenko selbst war zwischen 1920 und 1935 Leiter der Dzeržinskij- und der Gorkij-Jugendkolonien. Seine Erlebnisse und die pädagogischen Erfahrungen veröffentlichte er zu Beginn der 1930er-Jahre als „pädagogisches Poem“. Vgl. Makarenko, Anton S.: Der Weg ins Leben. Ein pädagogisches Poem. Berlin 1951; Kelly, Children’s World, S. 207. 118 Vgl. Krivonosov, Istoričeskij opyt, S. 97 f.; Galley, Mirjam: „Wir schlagen wie eine Faust“. Die Bande als Lebensform sowjetischer Straßenkinder unter Stalin, in: JGO 64 (2016) H. 1, S. 35. 119 Vgl. Applebaum, Anne: Iron Curtain, The Crushing of Eastern Europe 1944–1956, London 2012, S. 321.

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Kontrolle über die Bürgerkriegswaisen gewonnen hatte, entwurzelten die Zwangskollektivierung und die Verhaftungswellen der 1930er-Jahre die nächste Generation. Wieder wurden Familien durch Armut, Arbeitsmigration und politische Verfolgungen auseinandergerissen.120 Vor diesem Hintergrund konnten allerdings auch die größten Dogmatiker nicht umhin, vom Potenzial der Jugendstraftäter abzusehen. Diese Generation wurde gebraucht. Sie war das biologisierte Zukunftsversprechen des historischen Materialismus – wie Stefan Plaggenborg es ausdrückte: „Als sei die Jugend die biologische Versicherung für den Fall, daß das klassenbewußte Proletariat der Erwachsenen beim Aufbau der zukünftigen Gesellschaft versagen könnte“.121 Konnte man sie nun als „sozial fremde Elemente“ vom sozialistischen Aufbau abschreiben? Das folgende Kapitel veranschaulicht, dass dieses Dilemma ab der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre sowohl in den Händen des Innenministeriums als auch der sowjetischen Justiz lag, die an der Etablierung des sowjetischen Jugendstrafrechts feilte. Die folgenden Seiten sollen beleuchten, welche Rolle die Staatsanwaltschaft bei der Bekämpfung von Jugendobdachlosigkeit und Jugendkriminalität während des Zweiten Weltkrieges spielte und welche Handlungsspielräume sie dabei gegenüber dem Innenministerium hatte. Welche Strategien verfolgte die Staatsanwaltschaft im Umgang mit Jugendstraftätern und wo stießen diese Strategien an ihre Grenzen? Um diesen Fragen nachzugehen, muss zunächst geklärt werden, welche legislativen Schritte, welche politischen Leitlinien und welche Zuständigkeiten die Staatsführung und die Führungsetage von Justiz und Staatsanwaltschaft am Vorabend des Zweiten Weltkrieges festlegten, um Jugendobdachlosigkeit und -kriminalität zu bekämpfen. So gewinnt man einen Eindruck, mit welchen politischen und verfahrensrechtlichen Erwartungen und Spielräumen die Staatsanwälte vor Ort konfrontiert waren. Erst auf dieser Grundlage kann betrachtet werden, wie die Beamten in Molotov dem Problem Obdachlosigkeit im weiteren Sinne und der Strafverfolgung minderjähriger Delinquenten im Besonderen begegneten.

4.3.1 Politische und juristische Leitlinien zur Jugendkriminalität, 1935 bis 1941 In der Mitte der 1930er-Jahre wurden Verbrechen längst nicht mehr so ausgiebig in der Tagespresse diskutiert wie noch zu Zeiten der NEP. Soweit die sowjetische

120 Vgl. Kucherenko, Olga: Little Soldiers. How Soviet Children Went to War, 1941–1945. Oxford/ New York 2011, S. 67. 121 Plaggenborg, Stefan: Jugend in Sowjetrußland zwischen den Weltkriegen, in: Ders./Corinna Kuhr-Korolev/Monica Wellmann (Hg.), Sowjetjugend 1917–1941. Generation zwischen Revolution und Resignation. Essen 2001, S. 291.

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Jugend betroffen war, hielten die Zensoren nach Möglichkeit jede Anspielung auf kriminelles Verhalten zurück. Das Bild von einer glücklichen Kindheit für alle Sowjetbürger sollte ungetrübt bleiben. Die Gangsterromantik der 1920er-Jahre war verpönt. Keinesfalls würde man die Öffentlichkeit an den Defiziten des eigenen Bildungssystems teilhaben lassen. Allein die juristische Fachpresse engagierte sich in einer Pseudokontroverse.122 Alle wesentlichen Antworten auf die Frage, warum junge Menschen kriminell werden und wie mit ihnen zu verfahren sei, gaben die Beschlüsse der Sowjetregierung. Das Regime übernahm ab den 1930er-Jahren die Kontrolle über die Debatte. Dabei erhielt Strafe fortan den Vorrang vor pädagogischen Ansätzen. Am 7. April 1935 gab der Rat der Volkskommissare einen Beschluss heraus, der Kinder ab dem zwölften Lebensjahr bei bestimmten Delikten für vollständig strafmündig erklärte. Diese Anordnung galt bei Mord, versuchtem Mord, Diebstahl und Körperverletzung. Darüber hinaus wurde Artikel 8 des Strafgesetzbuches außer Kraft gesetzt. Richter waren nun nicht länger befähigt, von einer Freiheitsstrafe abzusehen, wenn ein Delinquent nicht als „sozial gefährlich“ eingestuft wurde.123 Damit schloss das Regime eine wichtige Hintertür für minderjährige Straftäter, um dem Freiheitsentzug zu entgehen. Der Befehl gilt gemeinhin als Markstein für den konservativen Umschwung der sowjetischen Strafpolitik.124 Zum Jahrestag dieses Befehls erinnerte Vramšapu Tadevosjan, zuständiger Staatsanwalt für die Angelegenheiten Minderjähriger in Moskau, seine Leser noch einmal daran, dass die Zeit pädagogischer Experimente vorüber sei. Jahrelang überwogen rein pädagogische Erwägungen, zu oft habe man von Haftstrafen bei Jugendlichen abgesehen. Die Kollektivierung habe gezeigt, wie der „Klassenfeind“ die „Straflosigkeit“ der Jugendlichen für seine Zwecke nutzte. Das Regime forderte nun eine klare Linie gegen minderjährige Delinquenten und setzte eher auf Haftstrafen denn auf Erziehungsexperimente.125 Das Problem war nur, dass man sicherlich die „Scharlatanerie“ der Selbsterziehung (wie während der NEP erprobt) geißeln konnte, sich zugleich aber von den Praktiken des Zarenreichs und den Entwicklungen der westlichen Welt abgrenzen musste. Die Antwort lag für Tadevosjan in der „erzieherischen Wirkung“ von 122 „The myth of Soviet Childhood as uniquely happy pushed live that did not fit the myth from view […] Invisible in public printed culture (with the exception of journals in specialists field, such as the law), ‚abnormal‘ children were barely visible in private discussions inside Party institutions.“ Kelly, Children’s World, S. 227. 123 Strafgesetzbuch der RSFSR, S. 10. 124 Vgl. Beschluss des Rats der Volkskommissare, 7.4.1935, in: S. S. Vilenskij u.a. (Hg.), Deti GULAGa. 1918–1956. Moskva 2002, S. 182 f.; Kelly, Children’s World, S. 230. 125 Tadevosjan, Vramšapu: Borʼba s prestupnostʼju v SSSR (k pjatiletiju zakona 7 aprelja 1935), in: Sovetskoe gosudarstvo i pravo 4 (1940), S. 67–70.

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„Repression“. Das Strafen widerspreche der Erziehung nicht, es sei „eine besondere Komplementärmethode“.126 Westliche Staaten verurteilten jugendliche Kriminelle, was offenkundig zu „bourgeoisen Resultaten“ führe. Die Sowjetunion hingegen verfolge noch immer ein Umerziehungskonzept, wenn ein Zwölfjähriger angeklagt wurde (in den westlichen Staaten seien es Siebenjährige).127 England debattiere noch immer über die Prügelstrafe, während Pädagogik und Strafe in der Sowjetunion lückenlos ineinandergreifen, ohne dass Gewalt gegen Kinder toleriert werde. Der Schlüssel liege im eigenen Fürsorgekonzept, dass für jedes auffällige Kind einen Platz und eine Aufgabe finde. Auch in der Sowjetunion wurden Minderjährige zu Freiheitsstrafen verurteilt, doch diese Haftstrafen folgten dem Zweck der Umerziehung, was als moralischer Triumph über den Westen gesehen wurde. Teile der Rhetorik der NEP-Zeit wurden also übernommen. Die Ursachen für kriminelles Handeln wurden in solchen Artikeln nur umkreist. Kriminalität entstehe dort, wo dieses System aus Fürsorge und Disziplin zu versagen droht; und dort, wo Erwachsene ein Kind zur Straftat anstiften und Eltern ihre Aufsichtspflicht verletzten. Das Resultat waren sogenannte „Aufsichtslose“ (beznadzor­ nye), die von anderen Erwachsenen zu Straftaten verleitet würden. Nicht umsonst sah der Beschluss mindestens fünfjährige Haftstrafen für sogenannte „Anstifter“ vor. Für Minderjährige galt; „Strafen festigt den Charakter“. Der nämlich sei schwach bei Kindern und Jugendlichen.128 Hier finde man auch die Empfänglichkeit für die Spuren kapitalistischen Denkens, was wiederum auf das Problem mit Straßenkindern verweise.129 Kinder würden in ihrer Not schnell zu kriminellen Handlungen verleitet. Dass diese Not nicht hausgemacht ist, sondern zu „den schwerwiegenden Folgen der gestürzten bourgeoisen Gutsbesitzerordnung“ gezählt werden muss, liegt für einen Stalinisten auf der Hand.130 Diese Argumentation spiegelt genau die Widersprüche, die die Parteiführung nicht überwinden konnte: Der Kreml strebte eine härtere Gangart vor allem gegen Eigentumsdelikte an. Zugleich musste man Gefängnisstrafen für Minderjährige kommunizieren und diese Praxis mit den eigenen Zukunftsentwürfen versöhnen, ohne die Bruchstellen der eigenen Gesellschaftsordnung offenzulegen. Im Alter von 13 Jahren war man strafmündig und doch durch die Umwelt beeinflussbar, die

126 Ebd., S. 62 f. 127 Vgl. Tadevosjan, Vramšapu: Pjatʼ let zakona „O merach borby c prestupnostʼju sredi nesoveršennoletnych”, in: Socialističeskaja zakonnostʼ 5 (1940), S. 15. 128 Tadevosjan, Borʼba s prestupnostʼju, S. 64 f.; Tadevosjan stellt die rhetorische Frage, ob ein Minderjähriger die Folgen seiner Handlung überhaupt abwägen kann. 129 Vgl. Tadevosjan, Pjatʼ let zakona, S. 14. 130 Gorvic, D.: Borʼba s besprizornostʼju i beznadzornostʼju detej v SSSR, in: Sovetskoe gosudarstvo i pravo 4 (1940), S. 122.

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ihrerseits durch die alten Klassengegensätze verdorben schien. Die strafpolitische Antwort der sowjetischen Behörden blieb das Konzept von Umerziehung durch Arbeit. Das institutionelle Gerüst zur Umsetzung dieser Strategie wurde einen Monat später installiert. Im Frühsommer 1935 folgte eine Reihe von Beschlüssen zur ‚Jugendfürsorge‘. Sie gossen gewissermaßen das organisatorische Fundament des Arbeitserziehungsund Strafsystems für Minderjährige der kommenden Jahrzehnte. Am 31. Mai 1935 erließ die Regierung die Richtlinien zur „Beseitigung der Kinderobdachlosigkeit [besprizornosti] und Vernachlässigung [beznadzornosti]“. Damit sollte das bestehende Institutionengefüge der Ministerien (Bildung, Gesundheit, Innere Sicherheit) auf die härtere Gangart gegenüber Straßenkindern neu zugeschnitten werden – gleich aus welchem Grund sie auf der Straße lebten („Verlust der Eltern“ oder „Flucht aus den Kinderhäusern“).131 Die entscheidende Rolle in diesem Fürsorgesystem spielte das NKVD. Das Innenministerium kontrollierte die sogenannten „Aufnahmeverteiler“ (priem­ nik-raspredeliteli), in die die Miliz alle aufsichtlosen Minderjährigen (unter 18 Jahre) sandte, die sie auf der Straße festnahm. Innerhalb eines Monats mussten die Kinder, gemäß ihrer Kategorie, in die entsprechenden „Kinderhäuser“ (detskie domy) der Ministerien für Gesundheit oder Bildung bzw. bei Gesetzesvergehen in die Kolonien und „Isolatoren“ des NKVD oder vor Gericht gebracht werden. Waisen, Jugendstraftäter, unbetreute Invaliden und Behinderte, Ausreißer und Schulschwänzer: Für alle sollte die passende Obhut gefunden werden. Aus Sicht des Regimes waren das im Idealfall Bildungseinrichtungen und Produktionsstätten, die die Ministerien selbst unterhielten oder zu denen sie einen engen Kontakt pflegten. Eltern und Vormünder würden in jedem Fall für versagte Aufsicht haftbar gemacht werden.132 Das bestehende Netz aus Fürsorgeeinrichtungen wurde zwar prinzipiell beibehalten, aber das Regime gab dem NKVD die Zügel in die Hand. Um die Kontrolle über die Straßen zurückzugewinnen und um die Betriebe mit billigen Arbeitskräften zu versorgen, verfügte das Kommissariat über die Ressourcen (Miliz), die nötige Konsequenz und die Erfahrung (GULag). Mehr noch: Wie Studien zu den Massenoperationen gezeigt haben, verließ sich das Innenministerium seit Ende der 1920er-Jahre auf Rastermethoden zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit. Die Terminologie des „sozial schädlichen Elements“ fand gerade gegenüber Straßenkindern häufig Anwendung. Diese „catch-all category“ war eine effektive Taktik zur Sozialhygiene und das NKVD ließ die strafrechtlichen Kategorien für Straßenkinder im Laufe der 1930er-Jahre unter den Tisch fallen. Verhaftet wurde, wer

131 Beschluss des Rats der Volkskommissare, 31.5.1935, in: Vilenskij, Deti GULAGa, S. 183. 132 Vgl. ebd, S. 186 f.

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keinen Pass besaß.133 Die ‚Sozialfürsorge‘ für Straßenkinder und Jugendstraftäter übernahm also in erster Linie das NKVD und es setzte dabei seine präventiven und außergerichtlichen Methoden durch. Das Fernziel, allen Kindern eine Ausbildung zukommen zu lassen und sie menschenwürdig unterzubringen, war trotz alledem nicht bloß Makulatur. Der Befehl beinhaltete beispielsweise einen Finanzierungsplan für die Bildungseinrichtungen. Aus allen Sparten der Jugendbildung wurde Personal in die „Kinderhäuser“ abkommandiert, das die ordentlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Jugendlichen verantwortete.134 Das Konzept zur Bekämpfung der Jugendkriminalität setzte aber das reibungslose Zusammenspiel aller beteiligten Behörden voraus. Insgesamt waren der Komsomol, die lokalen Sowjets und wenigstens vier Ministerien daran beteiligt. Korruption war da ein gewichtiges Problem (immerhin wurden den Kinderhäusern Millionenbeträge anvertraut). Vor allem hatte die Kontrolle über die Minderjährigen politischen Vorrang vor ihrer Erziehung. Nicht umsonst hatte das Volkskommissariat für Erziehung beim Umgang mit minderjährigen Delinquenten keinerlei Mitsprache mehr. Dessen „Kommissionen für die Angelegenheiten Minderjähriger“ wurden aufgelöst.135 Nachfolgende Befehle zementierten die Rolle des NKVD , das ab 1935 eine eigene Arbeitsgruppe für Minderjährige unterhielt. „Der Kampf gegen Jugendobdachlosigkeit und Vernachlässigung ist die wichtigste und alltägliche Aufgabe des gesamten tschekistischen Apparates“. Nur so könnten „Diebe, Hooligans, Banditen und teilweise auch Konterrevolutionäre“ unter den Jugendlichen bekämpft werden, „die es unter den Bedingungen einer sozialistischen Gemeinschaft prinzipiell nicht geben sollte“.136 Das gesamte Erziehungs- und Internierungskonzept war auf geduldigem Papier festgehalten worden. Das System der Jugendfürsorgeeinrichtungen in der Sowjetunion war unter der Kontrolle des Innenministeriums. Die pädagogischen Richtlinien dort mussten sich also dem Ermessen der NKVD-Beamten unterordnen, die die Jugendeinrichtungen gar zur Rekrutierung für NKVD-Schulen nutzten.137 Die Durchsetzung des gesamten Fürsorge- und Strafkonzepts für Jugendliche fiel unter die Aufsichtspflichten der Staatsanwaltschaft. Das betraf sowohl die Strafverfolgung minderjähriger Delinquenten als auch die Überwachung der Fürsorgeeinrichtungen und Jugendkolonien. Was die Fürsorgepraxis betraf, hatten weder die Staatsanwaltschaft noch das Justizkommissariat ein direktes Mitspracherecht, um 133 Shearer, Policing Stalin’s Socialism, S. 57–59. 134 Vgl. Beschluss des Rats der Volkskommissare, 31.5.1935, in: Vilenskij, Deti GULAGa, S. 185. 135 Vgl. ebd., S. 187. Der Befehl löste die „Kommissionen für Angelegenheiten minderjähriger Straftäter“ des Kommissariats für Erziehung auf. 136 Befehl des NKVD der UdSSR, 7.6.1935, in: Vilenskij, Deti GULAGa, S. 187–191. 137 Vgl. Galley, „Wir schlagen wie eine Faust“, S. 48–50.

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Reformen anzustoßen. Sie konnten nur das Personal der Kinderhäuser vor Gericht bringen. Die Leitlinien vom 31. Mai 1935 lagen, wie noch gezeigt werden wird, ansonsten außerhalb ihres Einflussbereichs. Die Strafverfolgung Minderjähriger war hingegen ihre eigene Domäne. Laut Catriona Kelly bewiesen Juristen noch am Ehesten Vor- und Weitsicht beim Umgang mit minderjährigen Straftätern.138 Der Befehl vom 7. April 1935 stieß daher bei einigen Mitarbeitern im Kommissariat und in der Staatsanwaltschaft besonders auf Unverständnis. Stalins Handschrift, so Solomon, war in jeder Zeile zu erkennen und sowjetische Juristen taten sich schwer daran, einen Erlass durchzusetzen, der keinerlei Rücksicht auf juristische Feinheiten nahm. Die „Anwendung aller strafrechtlichen Maßnahmen“139 war zum Beispiel keine brauchbare Richtlinie für die Urteilsfindung. Solomon fasste es so zusammen, dass die Juristen und Pädagogen die Scherben aufsammeln mussten, die Stalins Anweisungen für das Jugendstrafrecht hinterlassen hatten.140 Zeitgleich mit der strafpolitischen Wende des Regimes in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre, drängten die Justizbehörden darauf, dieses Vorgehen (bei aller Härte) ordentlichen prozess- und strafrechtlichen Kriterien zu unterwerfen – teilweise mit Erfolg. In einer gemeinsamen Anordnung verfügten Staatsanwaltschaft, NKJ u und NKVD 1940, dass Minderjährige nur noch durch speziell ausgebildetes Personal im Beisein eines Staatsanwalts vernommen werden dürften. Für die Verhandlung war die Anwesenheit der Eltern oder eines gesetzlichen Vormunds ebenso obligatorisch wie der schulische Vertreter und vor allem der Verteidiger.141 Ein anderer Vorschlag an die Regierung sah vor, Strafverfahren gegen Minderjährige nur mit Sanktion eines Bezirksanwalts und die Eröffnung eines entsprechenden Gerichtsverfahrens nur mit Sanktion eines Regionalstaatsanwalts zu genehmigen. Die prozessrechtlichen Hürden sollten nicht zuletzt angehoben werden, um den steigenden Verurteilungszahlen entgegenzuwirken. Waren im ersten Halbjahr 1938 noch knapp 12.000 Minderjährige durch ein Volksgericht verurteilt worden, zählte man im Jahr darauf schon über 17.000.142 All diese Forderungen wurden 1940 nicht das erste Mal formuliert, sie wurden zuvor jedoch nie kodifiziert. Die Prozessordnung von 1938 schrieb lediglich vor, 138 „Even during the late 1930s, conviction of the need for sensitivity and special expertise in cases involving children persisted“ Kelly, Children’s World, S. 232. 139 Beschluss des Rats der Volkskommissare, 31.5.1935, in: Vilenskij, Deti GULAGa, S. 183. 140 „Through the Edict of April 7, 1935, Stalin had spoken. Educational and legal officials were left to pick up the pieces.“ Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 203. 141 Vgl. Gemeinsamer Befehlsentwurf von Unionsstaatsanwaltschaft, NKJu und NKVD über die Ermittlung und Verhandlung von Strafsachen Minderjähriger, April 1940“, in: GARF, f. 9492, op. 1, d. 52, l. 3–4. 142 Vgl. ebd., l. 7–8.

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das Alter eines vermeintlich Minderjährigen durch ein medizinisches Gutachten feststellen zu lassen.143 Ansonsten gab es keine kodifizierten Vorschriften für einen gesonderten Verfahrensumgang mit Minderjährigen. Die Verfahrenswellen, die nach dem Befehl Stalins über die Behörden hinwegrollten, machten dieses Problem noch akuter. Die wichtigste Errungenschaft in dieser Hinsicht wurde auch am mühsamsten erkämpft. 1935 berieten die Spitzen von NKJu und Staatsanwaltschaft erstmals über die Einführung von Jugendgerichten – nicht zuletzt, um die konventionellen Gerichte zu entlasten, aber vor allem, um gerade in diesen Verfahren dezidiert qualifiziertes Personal garantieren zu können. Dieser Plan fiel zunächst dem Befehl vom 7. April zum Opfer. Danach setzte das Moskauer Gericht auf eigene Initiative Jugendstrafkammern ein, die sich aber aufgrund der Gerichtsordnung von 1938 und gegen das Veto der Regierung anderorts nicht durchsetzen konnten. Nichtsdestoweniger taktierten und drängten die Staatsanwaltschaft, aber vor allem das NKJ u vor dem SovNarKom kontinuierlich darauf, Verfahren gegen Minderjährige gesondert abhalten zu können. Erst 1943 sollten sie damit (vorerst) Erfolg haben.144 Mit diesen prozessrechtlichen Ergänzungen (oder den Versuchen) versuchten die Staatsanwaltschaft und das Justizkommissariat nicht, die Strafen für Kinder abzumildern. Im Gegenteil: Bočkov plädierte gleich zu Beginn seiner Amtszeit dafür, das Alter für die Strafmündigkeit unionsweit einheitlich auf 14 Jahre abzusenken (was ein halbes Jahr später auch geschah).145 Vielmehr suchte man konsequent nach Wegen, das Verfahren zu präzisieren und es an die Bedürfnisse der Jugendlichen anzupassen – auch wenn Stalin im ersten Handgriff die Anwendung des Erwachsenenstrafrechts forderte. In der Prozessordnung klaffte eine gewaltige Lücke. Diese wollten führende Justizbeamte schließen. Das sowjetische Fachjournal für theoretische Rechtsfragen Sovetskoe gosudarstvo i pravo widmete diesem Problem Anfang 1940 einen Leitartikel. Der Artikel spielte in Teilen auf die Entscheidung an, keine separaten Jugendstrafkammern zuzulassen. In der Hauptsache ging es aber um das prozessrechtliche Problem Jugendkriminalität allgemein. Änderungen in der Prozessordnung seien allein aufgrund der Natur eines Verfahrens gegen Minderjährige erforderlich:

143 Vgl. Ugolovno-processualʼnyj kodeks (1938), S. 36. Der Altersnachweis war offenbar ein häufiges Problem für die Ermittlungsbeamten, besonders bei Jugendlichen, die ohne Papiere aufgegriffen wurden. Vgl. Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 204. 144 Vgl. ebd., S. 200; 204 f.; S. 208; In einem Schreiben des NKJu gab man Vyšinskij (als stellvertretenden Vorsitzenden des SNK) zu verstehen, dass es zumindest „sinnvoll sei […] die Verhandlung dieser Strafsachenkategorie in den großen Städten an wenigen Volksgerichten zu konzentrieren, wo es die qualifizierteren und erfahreneren Gerichte gibt“. Schreiben eines Mitarbeiters von NKJU, Šafir, an Vyšinskij, 17.5.1941, in: GARF, f. 5446, op. 25a, d. 7352, l. 8. 145 Vgl. Schreiben Bočkovs an Molotov, 14.10.1940, in: RGASPI, f. 82, op. 2, d. 884, l. 172–173.

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Die vierjährige Erfahrung gerichtlicher Arbeit bei der Anwendung dieses Gesetzes [Befehl vom 7.4.1935, I. R.] zeigt, dass der Strafprozess gegen Minderjährige spezifische Besonderheiten aufweist […] das Subjekt mit seinen besonderen Eigenschaften, charakteristisch für dessen Alter, und die abhängige Situation (Neigung zur Nachahmung, unsteter Wille, Unreife des Charakters), aber auch ungewöhnliches Beweismaterial.146

Die Konsequenz daraus war eindeutig: „Wir denken, dass Strafsachen gegen Minderjährige nicht in der allgemeinen Masse von Strafsachen untergehen dürfen“.147 Sieht man vom Grabenkampf um die Jugendstrafkammern ab, war das NKJu (unter Beihilfe der Staatsanwaltschaft) damit ziemlich erfolgreich. 1943 wurde eine neue Fassung der Prozessordnung veröffentlicht, mit einem eigenen Unterkapitel zu den „Strafsachen Minderjähriger“. Gebündelt wurden darin die wichtigsten Anordnungen der zwei Jahre zuvor: kein Verfahren ohne Verteidiger und im Beisein der Eltern; das Volksgericht musste sich aus Vertretern der Erziehungs- und Bildungseinrichtungen zusammensetzen; das Gericht musste feststellen, ob die Straftat „nicht das Resultat der Abwesenheit eines Elternteils oder Vormunds“ war – um nur einige zu nennen.148 Binnen eines Jahrzehnts etablierten die Justizorgane verbindliche Regeln für die strafrechtliche Auseinandersetzung mit Jugendkriminalität. Der Kampf gegen Jugendkriminalität und Jugendobdachlosigkeit trug ab 1935 offiziell die Handschrift Stalins. Das Regime drohte Kindern und Jugendlichen mit strengen Strafen, unpräzisen Tatbeständen und einer schwammigen Erziehungsagenda. Die Obhut für straffällige und heimatlose Jugendliche lag dabei in den Händen einer Behörde, die aus beruflicher Erfahrung und institutionellem Selbstverständnis heraus bei der Internierung und Behandlung von Jugendlichen wenig an einer Unterscheidung von Kriminalität und Obdachlosigkeit, oder an Einzelschicksalen und Prozessroutinen interessiert war. Das hatte das NKVD spätestens mit den eigenen Massenoperationen für kriminelle Jugendliche unter Beweis gestellt.149 Die Organe der Justiz und die Staatsanwaltschaft arbeiteten indes daran, die Bedingungen für die Strafverfolgung Minderjähriger stärker auszudifferenzieren. Die Notwendigkeit dazu hatten sie der Parteiführung mit Erfolg deutlich gemacht. Die eigenen Mitarbeiter – Richter und Staatsanwälte gleichermaßen – wurden dafür eigens sensibilisiert. Die Staatsanwaltschaft verlieh diesem Bestreben auch institutionell Ausdruck: mit

146 Gorvic, D.: K voprosu o neobchodimych izmenenijach v processeualʼnom zakonodatelʼstve SSSR po delam nesoveršennoletnych, in: Sovetskoe gosudarstvo i pravo 1 (1940), S. 82. 147 Ebd., S. 89. 148 Ugolovno-processualʼnyj kodeks (1943), S. 218–222. 149 Vgl. Shearer, Policing Stalin’s Socialism, S. 231 f.

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der Schaffung einer Abteilung (ab 1944 „Arbeitsgruppe“) für die Angelegenheiten Minderjähriger 1940 und ihren regionalen Ablegern.150 Wie konsequent die Urteile gegen Jugendstraftäter gesprochen wurden, ob Strafverfahren gegen Minderjährige sich durch besondere Aufmerksamkeit und Routinen auszeichneten und wie ernst der Bildungs- und Betreuungsauftrag tatsächlich genommen wurde bzw. welchen Einfluss die Staatsanwaltschaft auf das Fürsorgesystem des NKVD hatte, hing von den Ambitionen und dem Durchsetzungsvermögen der Beamten vor Ort ab.

4.3.2 Jugendfürsorge und Strafverfolgung in Molotov während des Krieges Der Überfall der Wehrmacht und die anschließende Besatzung lösten in der Sowjetunion eine soziale Schockwelle an Fluchtbewegungen aus. Diese erinnerte in vielerlei Hinsicht an die Zustände des Bürgerkrieges. Den Angaben des Innenministeriums zufolge stieg die Zahl der Kinder, die die Miliz auf den Straßen im ganzen Land aufgriff, in den ersten beiden Kriegsjahren um das Dreifache an. Fast 1,2 Millionen sollen es allein 1944 gewesen sein. Die registrierten Delikte stiegen ebenfalls um 180 Prozent an. Im gleichen Zeitraum verdoppelte sich die Zahl der Kinderhäuser im Land, zwischenzeitlich auf über 1000.151 Das System zur Internierung und Verfolgung minderjähriger Straftäter von 1935 blieb im Kern unverändert, wurde aber, wie andere Bereiche der Justiz auch, auf die Belastungen und Anstrengungen der Kriegsführung zugeschnitten. Schon ein halbes Jahr vor dem deutschen Angriff wurden Schüler, wie die Erwachsenen in den Fabriken auch, einer Anwesenheitspflicht unterworfen. Vergehen gegen die „schulische Disziplin“ zogen bis zu einem Jahr Aufenthalt in einer „Arbeitskolonie“ nach sich. Für einige Tatbestände, wie „Verrat“, wurde das Strafmaß angehoben. Genauso richtete man die Jugenderziehung und die Fürsorge insgesamt stärker an den Bedürfnissen der Industrie aus. Alle Heiminsassen und andere Jugendliche über dem 14. Lebensjahr sollten von den Aufnahmeverteilern an Betriebe weitergeleitet werden, die kaum noch über erwachsene Arbeitskräfte verfügten. Zeitgleich installierte das NKVD eine Adressdatenbank, um Eltern das Aufspüren ihrer Kinder zu erleichtern.152 Der bedeutendste Schritt war allerdings die

150 Vgl. Auszug aus dem Befehl der Unionsstaatsanwaltschaft, 25.1.1944, in: Vilenskij, Deti GULAGa, S. 401. 151 Vgl. Emelin, Borʼba s detskoj besprizornostʼju. 152 Erlass des Obersten Sowjets, 28.12.1940, in: Vilenskij, Deti GULAGa, S. 353; Mitteilung Safonovs, 22.12.1941, in: Vilenskij, Deti GULAGa, S. 376; Aus dem Beschluss des Rats der Volkskomissare, 21.1.1942, in: Vilenskij, Deti GULAGa, S. 376 f.

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Einrichtung sogenannter „Arbeitserziehungskolonien“ (trudovaja vospitatelʼnaja kolonija) im Juni 1943. Das Internierungssystem für Kinder und Jugendliche konnte einerseits zusätzliche räumliche Kapazitäten gut gebrauchen. 50.000 Personen sollten die Kolonien insgesamt aufnehmen können. Andererseits verschärfte man so den Trend der Vorkriegszeit, Kinder eher kategorisch als nach einem Tatbestand zu internieren. Das NKVD brachte in diesen Kolonien Elf- bis Sechszehnjährige unter, die aus den Kinderhäusern aufgrund von Disziplinverstößen ausgeschlossen wurden; Kleinkriminelle, deren Taten kein Gerichtsverfahren rechtfertigten; und nicht zuletzt Waisenkinder ohne festen Wohnsitz.153 Die Kriegssituation und die Evakuierungen trieben immer mehr Kinder auf die Straße. Das Innenministerium reagierte folglich mit dem Ausbau des Internierungssystems. Die Evakuierungswellen spülten auch in Molotov immer mehr heimatlose und traumatisierte Kinder in die Provinzen. Manche entkamen zu Fuß, andere nutzten die Evakuierungstransporte und längst nicht alle wurden umgehend registriert. Das Regionalkomitee in Molotov verzeichnete 1942 schon 5043 Kinder und Jugendliche, die die Miliz bei sogenannten „Zugriffen“ (izʼʼjatija) festgesetzt hatte. Das Bettenkontingent der 71 regionalen Kinderhäuser war im Sommer 1943 bei über 10.400 Insassen fast ausgefüllt. Tausende hielten sich dabei noch immer auf den Bahnhöfen versteckt. In den Aufnahmeverteilern teilten sich derweil im Schnitt zwei Kinder einen Schlafplatz. Die Räumlichkeiten dieser Institutionen waren schmutzig, die Versorgung schlecht und das Bildungsangebot unzureichend, darüber hinaus wurden Straftäter nicht getrennt in den Kinderhäusern untergebracht.154 Diese Probleme traten in nahezu allen Jugendeinrichtungen in der Kriegszeit auf. Jenseits des regulären Strafverfahrens musste die Staatsanwaltschaft den Betreuungsschlüssel und die Aufteilung nach Anstalten und Insassentypus soweit es ging durchsetzen – und im gleichen Schritt auch die hygienischen Zustände verbessern. Schon das Verteiler-System des NKVD war eine institutionelle Dauerbaustelle. Der Verteiler in Čusovoj zum Beispiel hatte bei der Staatsanwaltschaft einen durchgehend schlechten Ruf. Annährend 100 Kinder und Jugendliche, im Alter zwischen sieben (!) und 16 teilten sich hier Schlafplätze für 50 Personen. Abgesehen von den katastrophalen Lebensbedingungen (die Einrichtung verfügte weder über Essgeschirr noch gab es künstliches Licht, dazu seien die Schlafräume feucht), gerieten entlaufene Kinder hier quasi automatisch in Kontakt mit straffälligen Jugendlichen, die der ganzen Gruppe ihren Stempel aufdrückten.155 Ähnlich sah es in Kungur aus, wo 153 Vgl. Beschluss des Rats der Volkskomissare, 15.6.1943, in: Vilenskij, Deti GULAGa, S. 383 f. 154 Vgl. Bericht des stellvertretenden Leiters der Milizverwaltung von Molotov, Šišigin, über den Zustand der Jugendobdachlosigkeit in der Region, 21.6.1943, in: PGASPI, f. 105, op. 9, d. 217, l. 7–9. 155 Vgl. Bericht der Abteilung für Angelegenheiten Minderjähriger in Molotov an den Abteilungsleiter bei der Unionsstaatsanwaltschaft, V. Tadevosjan, 17.1.1945, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 633, l. 2.

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die Miliz Kleinkriminelle in die Verteiler schickte, ohne dass es ernsthafte Absicht gegeben hätte, sie wieder in einen Betrieb oder in die Schule aufzunehmen. Darüber hinaus wurden die Insassen von Augeninfektionen und Läusen geplagt. Selbst die essentiellen sanitären Standards wurden dort nicht erreicht.156 Die Staatsanwaltschaft mahnte diese Zustände während des Krieges immer wieder vor dem NKVD und lokalen Regierungsorganen an – selten erfolgreich. Der regionale NKVD-Chef Aleksandr Zacharov antwortete erst im Februar 1945 auf Anfragen Kuljapins vom Vorjahr, die Zustände in den Verteilern zu verbessern. Zacharov schob die Verantwortung, die Verteiler zu entlasten, einfach den Kinderhäusern der anderen Ministerien zu. Allein im Jahr 1944 durchliefen annähernd 10.000 Kinder und Jugendliche das Verteilersystem. Die Kinderhäuser müssten folglich mehr aufnehmen. Die Bedingungen in den eigenen Verteilern bezeichnete er hingegen als „normal“, was wiederum verdeutlicht, dass er es auf diesem Terrain nicht für nötig befand, sich gegenüber der Staatsanwaltschaft zu rechtfertigen.157 Einfacher war da der Austausch mit anderen Behörden. In manchen Fällen sagte der Stadtsowjet monatliche finanzielle Unterstützung zu, womit das Problem aus Sicht der Staatsanwaltschaft auch erst einmal gelöst schien. Genauso ließen sich die Zustände in den Kinderhäusern und Schulen kritisieren. Beim „Ministerium für Arbeitsreserven“ wurde so die Entlassung eines Schuldirektors erwirkt, weil er die „kulturelle Entwicklung“ und den Gesundheitszustand seiner Schüler vernachlässigt habe.158 Das Problem wurde auch von der Staatsführung durchaus ernst genommen. Immer neue Bestimmungen sollten helfen, diesen Zuständen vorzubeugen. So wurden medizinische Kontrollen in Kinderhäusern ab 1943 verpflichtend. Das institutionelle Netz wurde, mit der Einrichtung neuer Schul- und Betreuungstypen in den Jahren 1943 und 1944 ausgebaut. Ob dadurch das Lebensniveau in den Heimen und Verteilern insgesamt stieg, kann man allerdings bezweifeln. Dafür hat sich der Ruf dieser Verteiler als „soziale Müllhalde“ als zu hartnäckig erwiesen.159 Priorität hatte die Verschickung und Zusammensetzung der Insassen – Waisen gehörten in staatliche oder private Obhut und Straftäter in Besserungseinrichtungen bzw. Arbeitslager. Hier lief die Staatsanwaltschaft jedoch den Mängeln in den Verteiler-Einrichtungen und den Kinderhäusern hinterher – allein schon aufgrund

156 Vgl. Untersuchungsbericht der Assistenzstaatsanwältin der RSFSR-Staatsanwaltschaft, Faviševskaja, zur Bekämpfung von Jugendobdachlosigkeit in Molotov für 16.9.–28.9. 1944, o. D. [vermutlich Herbst 1944], in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 689, l. 12–15. 157 Schreiben des Leiters der UNKVD Molotov, Zacharaov, an Kuljapin, 2.2.1945, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 633, l. 20. 158 Schreiben Kuljapins an UNKVD-Beamten Bykov, 12.1.1945, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 633, l. 1. 159 Kelly, Children’s World, S. 244; vgl. Krivonosov, Istoričeskij opyt, S. 97.

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der Tatsache, dass viele Kinder binnen weniger Wochen wieder weiterverschickt wurden. Bei über 70 Kinderhäusern und mindestens einer zweistelligen Zahl an Verteilern, war die erst 1944 geschaffene Arbeitsgruppe für Minderjährige in Molotov (mit insgesamt drei Mitarbeitern160) auf die sporadischen Inspektionen und Quartalsstatistiken angewiesen. Die Staatsanwaltschaft wusste, wie viele Kinder in welchem Alter, woher und auf welcher (vermeintlichen) Grundlage in die Erziehungseinrichtungen verbracht wurden – allerdings erst dann, wenn sich die Zusammensetzung der Insassen schon längst wieder verändert hatte oder aber die Informationen waren falsch bzw. unvollständig. Die 13-jährige Raisa Poluchina beispielsweise war seit November 1943 im Verteiler von Molotov in Gewahrsam. Der nahm allein pro Quartal über 1300 Kinder und Jugendliche neu auf. Im Januar 1945 war sie immer noch dort. Raisa hatte angefangen, im Verteiler als Betreuerin zu arbeiten, ohne dass je eine Stelle darüber benachrichtigt wurde. Diese Information erreichte die Staatsanwaltschaft nun nach 15 Monaten (und ‚umgerechnet‘ 6000 aufgenommenen Kindern).161 Allgemein gelangte die Staatsanwaltschaft an diese Informationen meist nur auf Wohlwollen des NKVD hin. Das war, abgesehen vom eigentlichen Gehalt der Statistiken, meist ein zeitaufwendiger Vorgang. Damit sollte die Staatsanwaltschaft ungefähr im Bilde über die Transfers zwischen den Jugendeinrichtungen gehalten werden. Im zweiten Halbjahr 1943 wurden 2881 Minderjährige durch die Miliz in der Stadt Molotov aufgegriffen, 97 von ihnen wurden an die Schulen zurückgeschickt und 101 landeten in einer Erziehungskolonie. Im gleichen Zeitraum wurden aber über 4600 Kinder zu ihren Eltern zurückgebracht.162 Diese Zahlen waren also nicht immer schlüssig, noch waren sie transparent. Im Ergebnis hinkte der Staatanwalt für eine Intervention immer einen Schritt (oder mehrere) hinterher. Viktor Malʼginov war 13 Jahre alt und Straßenmusiker, bevor die Miliz ihn in den Verteiler von Konjursk verbrachte. Dort saß er mehr als einen Monat und sein Name tauchte schließlich auf einer Liste mit 22 anderen Kindern auf, die nach Kuljapins Meinung schon längst einen neuen Bestimmungsort hätten haben sollen – Malʼginov sollte in eine Schule, andere zu ihren Eltern, wie der 16-jährige Michail Milʼto aus Vitebsk. Das NKVD kam diesem Gesuch nach, würdigte Kuljapins Anfrage aber mit nur einer einzigen Zeile. 20 von 23 Kindern wurden demnach abtransportiert. Namen 160 Die 1944 gebildete Gruppe umfasste auf dem Papier insgesamt drei Staatsanwälte, die zur Unterstützung auch Ermittler der kleineren Bezirke mobilisieren konnten. Vgl. Personalstandsbericht der Staatsanwaltschaft Molotov für 1944 und 1945, o. D. [vermutlich Jahresbeginn 1945], in: GARF, f. A-461, op. 11, d. 63, l. 26. 161 Vgl. Bericht Kuljapins an Bočkov über Erfüllung des Befehls zur Unterbringung elternloser Kinder, o. D. [vermutlich Herbst 1943], in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 85, l. 2–5. 162 Vgl. Auskunft des Bevollmächtigten der Parteikontrollkommission für Molotov, Sačkov, August 1944, in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 689, l. 30.

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und Bestimmungsort blieben unerwähnt.163 Malʼginovs Schicksal war aber damit für weitere Monate besiegelt und für die Staatsanwaltschaft war die Angelegenheit solange erledigt, wie sie es bei dieser Auskunft beließ. In den „Arbeitserziehungskolonien“ stießen Staatsanwälte auf ähnliche Hürden. Die Kolonie in Jugovsk war während des Krieges ein steter Zankapfel zwischen der Staatsanwaltschaft (in Molotov und Moskau) und der Verwaltung des Innenministeriums. Im Frühjahr 1944 wurde hier der Leiter der Abteilung für Minderjährige im NKVD infolge einer Inspektion dieser Kolonie entlassen.164 An der Organisation der Kolonie selbst änderte sich dadurch nichts. Im September 1944 schickte die Staatsanwaltschaft aus Moskau erneut eine Beamtin zur Inspektion und tatsächlich begannen auch für sie die Probleme schon mit der Begehung der Kolonie. Die Akten vieler Jugendlicher gingen getrennt von der Person ins Archiv der Miliz. Um den Fall eines Insassen zu prüfen, musste ein Staatsanwalt folglich zwei Gänge in Kauf nehmen bzw. machte es die Arbeit einer Staatsanwältin noch komplizierter, die eigens aus Moskau angereist war.165 Die betreffende Assistenz-Staatsanwältin, Faviševskaja, konzentrierte sich zu diesem Zweck auf 117 ausgewählte Fälle. Ihrem Befund nach hatten viele dieser Kinder dem Gesetz nach nichts in der Kolonie verloren. Einige hatten noch beide Elternteile und saßen in Jugovsk fest, nachdem sie von der Miliz aufgegriffen worden waren. Andere wiederum waren verurteilte Straftäter, die aus Sicht der Staatsanwaltschaft in ein reguläres Straflager gehörten. In einigen Fällen hatte sich das NKVD den Umweg eines Gerichtsverfahrens erspart (häufig auch mit Sanktion des örtlichen Staatsanwalts). Der Insasse Pavel Abrosimov war höchstens 14 Jahre alt und für geringfügigen Diebstahl in die Kolonie geschickt worden. Aus Sicht Faviševskajas waren seine Raubzüge durch Wohnungen und Läden mit über 10.000 Rubel Beute aber kein Bagatellvergehen. Abromisov gehöre ausschließlich vor Gericht. In vielen Fällen gab wiederum der Gesetzestext keine Anhaltspunkte über den weiteren Umgang mit einem Jugendlichen. Fedor Alferov war 15 Jahre alt, verlor die Mutter bei der Geburt und sein Vater war an der Front. Die Stiefmutter sei mit ihm überfordert und er selbst drifte immer weiter in die „kriminelle Welt“ ab. Er verhalte sich respektlos gegenüber Älteren und überheblich. In der Kolonie sei er falsch, aber sonst gab es

163 Vgl. Korrespondenz zwischen Kuljapin und Zacharov, 2.3.1945, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 633, l. 24–25. 164 Vgl. Bericht der Staatsanwaltschaft Molotov an Minderjährigen-Abteilungsleiter Tadevosjan über die Erfüllung des Befehls vom 15.6.1943, 27.6.1944, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 1865, l. 76. 165 Vgl. Untersuchungsbericht der Assistenzstaatsanwältin der RSFSR-Staatsanwaltschaft, Faviševskaja, zur Bekämpfung von Jugendobdachlosigkeit in Molotov für 16.9.–28.9. 1944, o. D. [vermutlich Herbst 1944], in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 689, l. 9.

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keine Empfehlung für ihn.166 Das war ein typischer Befund für Koloniebewohner und in fast allen Fällen ließ der Staatsanwalt das Gericht entscheiden. Bemerkenswert dabei ist, dass das NKVD die meisten solcher Zu- und Abgänge ohne Sanktion und Wissen des Staatsanwaltes abwickelte, entgegen den geltenden Vorschriften. Der Staatsanwaltschaft blieb also wenig anderes übrig, als Jugendliche, die nicht in die Kolonie gehörten, per Urteilsspruch aus der Kolonie sortieren zu lassen. Kuljapin entsandte zu diesem Zweck eine Spezialgruppe nach Jugovsk, bestehend aus zwei Beamten.167 Wie diese Gruppe vorging, ist nicht bekannt. Ihre Anweisungen mussten nicht zwangsläufig von der Kolonieleitung befolgt werden. Allein die Tatsache, dass der Kolonieleiter von Jugovsk, Ragozin, selbst dann noch seinen Posten innehatte, nachdem die NKVD -Führung ihn wegen Veruntreuung eigentlich dieses Postens enthoben hatte, zeigt, dass die Staatsanwaltschaft grundsätzlich weder Einfluss noch ausreichend Einsicht in die Organisation der Kolonien hatte.168 Die Staatsanwaltschaft musste also mit einer Behörde interagieren, die ihr nur ein Mindestmaß an Informationen gewährte und nicht auf Augenhöhe zur Kooperation bereit war. Auch wenn nicht jedes Kind in einem NKVD „hell-hole“169 landen musste, die Lebensbedingungen in den Anstalten blieben ein Schandfleck des sowjetischen Erziehungssystems. Die Internierung von straffälligen und aufsichtslosen Jugendlichen wurde dazu über ein derart komplexes Netz abgewickelt, dass jeglicher Versuch der Staatsanwaltschaft, ein Ordnungsschema bzw. Regeln durchzusetzen, unweigerlich ausgebremst wurde. Unmöglich war es indes nicht. Die Kolonieprüfungen boten punktuell Gelegenheit, vor allem das Strafverfahren an seinem Ausgang (sprich: nach dem Urteil) erneut in Augenschein zu nehmen. Dass dadurch eher mehr als weniger Kinder durch die Institutionen ‚herumgereicht‘ wurden, lässt sich nicht bestreiten. Catriona Kelly hat vollkommen zu Recht befunden, dass das defizitäre Institutionennetz für Kinder überwiegend eine soziale Abwärtsspirale bereithielt – vor allem unter den Bedingungen eines Weltkrieges.170 Die Staatsanwaltschaft hielt diese Spirale in Bewegung, ohne ihre Richtung nach oben oder unten effektiv steuern zu können. Die meiste Energie in der Arbeit mit Minderjährigen investierte die Staatsanwaltschaft in das eigentliche Strafverfahren. Hier hatte sie theoretisch auch den

166 Ebd., l. 10. 167 Vgl. ebd., l. 6. 168 Ende des Jahres 1944 sollte Ragozin entlassen werden. Fünf Monate nach Kriegsende bat Kuljapin noch immer um dessen Absetzung. Vgl. Befehl des NKVD der UdSSR, 31.1.1945, in: Deti GULAGa, S. 427; Schreiben Kuljapins an Zacharov, o. D. [vermutlich Ende 1944], in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 633, l. 122–123. 169 Kelly, A Children’s World, S. 238. 170 Vgl. ebd., S. 222 f.

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größten Einfluss. Dabei nahm das Verfahren selbst verblüffend wenig Raum in dieser Institutionenspirale ein. Von 5544 Kindern und Jugendlichen, die die Miliz im ersten halben Jahr 1944 in der Hauptstadt festnahm, erwartete ganze 45 ein Gerichtstermin. Das zeigt zum einen, wie kategorisch und willkürlich die Staatsmacht die Kinder von den Straßen holte (mehr als die Hälfte wurde zu ihren Eltern zurückgeschickt).171 Zum anderen wird deutlich, wie wenig dieser „Zugriff“ auf Straßenkinder mit den Mechanismen der Strafverfolgung zu tun hatte sowie mit Kriminalitätsbekämpfung im weiteren Sinne. Die Ermittlungsverantwortung fiel in der Regel der Behörde zu, die am Tatort eintraf oder zuerst benachrichtigt wurde bzw. auch über das nötige Personal verfügte. Die Prozessordnung räumte der Staatsanwaltschaft die Priorität in diesem Vorgang ein. Die offizielle Ermittlungshoheit bekam sie aber (noch) nicht, und konnte sie offenbar in den Kriegsjahren auch nicht wahrnehmen. Zwischen Oktober 1944 und März 1945 führte die Miliz von Molotov in fast 75 Prozent aller Fälle die Ermittlungen gegen minderjährige Straftäter. Oftmals setzten Staatsanwälte daher ihre Ermittler auf Vergehen an, die in ihren Augen politische Priorität hatten. Besonders Taschendiebe wurden in der Regel von Milizionären aufgegriffen, während sich die Ermittler der Staatsanwaltschaft vor allem um Delinquenten gegen die „Schuldisziplin“ kümmerten.172 Das bedeutete nicht, dass sich die Staatsanwaltschaft von den übrigen Ermittlungsverfahren fernhielt. Sie musste verantworten, wenn das Verfahren später eingestellt wurde. Vor allem aber wurden einige Beamte erfolgreich für den vorsichtigen und beharrlichen Umgang mit Jugendstraftätern sensibilisiert. Umso deutlicher war der Kontrast zu den eher halbherzigen Methoden der Miliz, Verdächtige eher zu oft als einmal zu wenig zu inhaftieren. Diese Erfahrung machte auch der 16-jährige Andrej Nikitin aus dem Dorf Sovetnaja. Sein Fall ist kein Paradebeispiel für die Strafverfolgung Jugendlicher, aber ein Lehrstück für die Besonderheiten eines Ermittlungsverfahrens gegen Minderjährige – und für die Prinzipien einiger Beamter der Staatsanwaltschaft. Nikitin arbeitete schon während des Krieges im Lagerhaus einer Kolchose, zusammen mit seinem Vater Stepan. Am 13. Januar 1943 wurde Stepan wegen Kolchosdiebstahls verhaftet und im Februar lud man Sohn Andrej zur Befragung zur örtlichen Miliz vor. Was ihm dort widerfuhr, schilderte er in einem Brief an Kuljapin. 48 Stunden lang habe man ihn festgehalten. Bei der Befragung sei er vom zuständigen Milizionär, Sivcev, beleidigt, geschlagen und an den Haaren gezogen worden. Aus der

171 Vgl. Auskunft des Bevollmächtigten der Parteikontrollkommission für Molotov, Sačkov, August 1944, in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 689, l. 30. 172 Bericht der Staatsanwaltschaft Molotov über ihre Arbeit im Jahr 1945, o. D. [vermutlich Januar 1946], in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 844, l. 134.

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Zeugenbefragung sei ein Verhör geworden. Infolgedessen habe Andrej sich selbst und seinen Vater belastet. Nicht nur die Anschuldigungen Andrejs, auch die Wortwahl des 16-Jährigen machten Kuljapin stutzig. Unter Berufung auf die Verfassung hatte der Junge die Bestrafung des Milizionärs („So etwas darf in der Sowjetunion nicht sein“) verlangt und sein Recht eingefordert, nicht ohne Sanktion durch Gericht oder Staatsanwaltschaft inhaftiert werden zu können.173 Der Brief des jungen Nikitin brachte daher mehrere Steine ins Rollen. Zum einen bestätigte sich Kuljapins Verdacht, dass der Junge einen Verteidiger (advokat) mit der Abfassung dieses Briefes betraut hatte. Advokaten waren im Verfahren selbst zugelassen, unterlagen aber im Rahmen der Rechtsberatung offiziell strengen Auflagen. Zum anderen stand der Misshandlungsvorwurf im Raum, dem die zuständige Abteilung für Milizaufsicht nachgehen musste, und zuletzt drohten diese Vorwürfe die Aussagen und das Verfahren gegen beide Nikitins zu kompromittieren. Der Milizionär Sivcev versuchte, Kuljapin zu überzeugen, dass Vater und Sohn gemeinschaftlich Waren aus der Kolchose gestohlen hätten. Die ursprüngliche Strafsache gegen Andrej sei nur eingestellt worden, weil der Vater die Schuld auf sich genommen habe. Sivcev aber wollte auch das Geständnis des Sohnes, anscheinend mit allen Mitteln.174 Kuljapin verständigte zunächst den betreffenden Bezirksanwalt, der alsbald klarstellte, dass man von einem Strafverfahren gegen Andrej Abstand genommen hatte. Andrej galt aus dessen Sicht als Komplize. Er hatte einen Teil des Diebesguts (30 Kilogramm Roggen und Spreu) auf Anweisung des Vaters mit nach Hause genommen. Er sei aus Sicht der Staatanwaltschaft jedoch ein „schwach entwickelter Jugendlicher“, der ohne fremde Hilfe diese Tat nicht hätte planen können. Sein Alter und die Initiative des Vaters sprächen letztlich gegen eine Anklage.175 Wichtiger war es herauszufinden, wer die Beschwerde im Namen Nikitins aufgesetzt hatte. Andrej hatte offenbar Angst, sich weiter in die unübersichtlichen Gefilde der sowjetischen Justiz zu verstricken und benachrichtigte die Staatsanwaltschaft darüber, dass er einen Advokaten namens Kudaev beauftragt habe, den Brief für ihn zu schreiben. 75 Rubel habe Kudaev dafür verlangt und ihm keine Quittung gegeben.176 Kudaevs Einsatz war prinzipiell nicht regelwidrig, doch Kuljapin verbat sich jedwede Eimischung ins Ermittlungsverfahren. Er beauftragte drei Staatsanwälte

173 Schreiben Andrej Nikitins an Kuljapin, 5.3.1943, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 569, l. 156–157ob. 174 Vgl. Schreiben Sivcevs an die Bezirksstaatsanwaltschaft von Suksunsk, 22.3.1943, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 569, l. 151. 175 Bericht der Bezirksstaatsanwaltschaft zum Fall Andrej Nikitin, 27.3.1943, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 569, l. 145ob. 176 Vgl. Ergänzendes Schreiben zur Beschwerde von Andrej Nikitin, 20.3.1943, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 569, l. 150.

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mit der Sache, die Kudaev damit unter Druck setzten, seine Nebeneinkünfte vor dem Anwaltskollegium unterschlagen zu haben. Es reichte für ein Exempel. Kudaev wurde in den eigenen Reihen als „Abzocker“ diffamiert, vor allem aber forderte Staatsanwalt Tatarinov die Bestrafung Kudaevs mit der Behauptung, dass die Fakten der Beschwerde sich nicht erhärtet hätten – noch bevor die Staatsanwaltschaft zu ihrem Ergebnis in der Sache gelangt war.177 Nicht deklarierte Nebeneinkünfte waren gängige Praxis und ein effektiver Hebel der Staatsanwaltschaft, eifrige Advokaten in ihre Schranken zu weisen.178 Die Staatsanwälte behaupteten mit allen Mitteln die Kontrolle über das Ermittlungsverfahren – gegen den Einfluss von Miliz und Verteidigern. In der Sache selbst ließ Kuljapin es längst nicht dabei beruhen, dass Andrejs Verfahren eingestellt wurde. Seinem Mitarbeiter in Kungur, Korotkich, gab er explizite Anweisungen, jedes relevante Detail zu klären, das die Person Sivcevs, Kudaevs und das Verfahren gegen Stepan Nikitin hätte betreffen können. Auf welcher Grundlage hielt Sivcev den Jungen zwei Tage lang fest; wie wurde Nikitin in der Zeit versorgt, was sagte der Junge vor Gericht über die Misshandlungen aus und was wurde davon ins Protokoll aufgenommen?179 Der Abschlussbericht lag Ende April vor. Das Verfahren gegen Stepan steckte in zweiter Instanz fest und Andrejs Aussagen hatten offensichtlich keinen Wert als Beweismittel mehr. Auch wenn die Miliz ihren Ermittler, Sivcev, in Schutz nahm, und Nikitin als „frechen“ Mittäter beschrieb; trotz der positiven Eindrücke, die andere Beamte des Gerichts von Sivcev in der Vergangenheit hatten; und obwohl Andrejs Schilderungen von den zwei Tagen nicht in die Zeugenaussagen aufgenommen wurden – der Bezirksanwalt von Kungur, Korotkich, sah die Vorwürfe gegen Sivcev als begründet an. Nikitin habe zwei Nächte auf dem Boden geschlafen und sei von Sivcev mit der Faust auf den Hals geschlagen und an den Haaren gezogen worden. Kuljapin drängte folglich auf ein Strafverfahren gegen Sivcev, doch es blieb bei einer administrativen

177 Bericht des Staatsanwaltes Korotkich an Kuljapin, o. D. [vermutlich April 1943], in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 569, l. 153–154; Schreiben des Beamten der Milizaufsicht von Molotov, Tatarinov, an den Vorsitzenden des regionalen Advokatenkollegiums, Rjadov, 6.4.1943, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 569, l. 146. 178 Eugene Huskey zufolge wurden Strafverteidiger vor Gericht und im Strafverfahren unter Druck gesetzt, vgl. Huskey, Russian Lawyers, S. 229. „Bezahlung in Naturalien“ war ein gängiger Vorwurf, der in den Sitzungen des Advokatenkollegiums erörtert wurde. Versammlungsprotokoll des Präsidiums des regionalen Advokatenkollegiums von Molotov, 3.12.1941, in: GAPK, f. 1345, op. 1, d. 3, l. 91. Das Statut zur Anwaltskammer machte einen Advokaten für die „Qualität“ und damit auch den Ausgang einer Rechtsberatung prinzipiell haftbar. Das machte es anderen Organen noch leichter, ihn aus dem Verfahren zu drängen. Vgl. Postanovlenie Soveta Narodnych Kommissarov, in: Sovetskaja justicija 15/16 (1939), S. 43. 179 Vgl. Schreiben Kuljapins an Korotkich, 10.4.1943, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 569, l. 144.

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Bestrafung.180 Dieser Ausgang war nicht ungewöhnlich und wird im folgenden Kapitel eingehender thematisiert. Die Episode illustriert vor allem, wie die Ermittlungen gegen einen Minderjährigen besonders genau unter die Lupe genommen wurden, wenn sich die Beweismittel allein auf den Verdacht und ein mündliches Geständnis beschränkten, das zudem noch gewaltsam abgepresst wurde. Die Miliz initiierte zwar die Ermittlungen, und erst der Brief des Advokaten bewirkte eine Intervention von Seiten der Staatsanwaltschaft, doch Kuljapin übernahm umso nachdrücklicher die Federführung im Verfahren, je mehr sich die Zweifel am Ermittlungshergang erhärteten. Die Ermittlungen gegen Minderjährige forderten von den Beamten ganz offiziell einen höheren Grad an Genauigkeit und Aufmerksamkeit, auch um die Rolle eines Jugendlichen in einer Straftat genauer zu bestimmen und potenzielle „Anstifter“ zur Rechenschaft zu ziehen. Kuljapin wurde in diesem Fall der Aufgabe gerecht, auch gerade weil die Beschwerde an ihn direkt adressiert war und er in diesem Fall frühzeitig intervenieren konnte. In anderen Fällen mussten Revisoren der Staatsanwaltschaft aus Moskau in Molotov immer wieder feststellen, dass Jugendliche aus Mangel an Alternativen und aus Bequemlichkeit in Untersuchungshaft gebracht wurden, auch mit dem Wissen des Staatsanwaltes. Kungurs Bezirksstaatsanwalt Korotkich hatte geholfen, den Fall Nikitin aufzuklären. Ein Jahr später aber wurde er von seinen Vorgesetzten in Moskau mehrfach harsch zurechtgewiesen. Er habe unter anderem einen Jugendlichen, der aus einem Verteiler des NKVD geflohen war, als „Hooligan“ für über zwei Monate im Gefängnis festhalten lassen.181 Die Hartnäckigkeit, die Kuljapin und seine Mitarbeiter im Fall Nikitin an den Tag legten, kann also nicht bei allen Verfahren vorausgesetzt werden. Über 1300 Straftaten wurden allein zwischen Januar und August 1944 von Minderjährigen begangen, was wiederum nur ein Fünftel aller registrierten Delikte ausmachte. Immer wieder tauchten Berichte darüber auf, wie Jugendliche ohne Beisein ihrer Eltern verhört wurden. Stichproben bei den Ermittlungsverfahren schärften allerdings immer wieder den Beamten ein, diese Delinquenten gesondert zu behandeln und sie nicht kategorisch zu kriminalisieren. Mit Nachsicht oder Mitleid hatte dieses Vorgehen nichts zu tun. Im Gegensatz zur Kampagne gegen Arbeitsdelinquenten, nahm die Staatsanwaltschaft die Umstände einer Straftat durch einen Minderjährigen zwar zur Kenntnis, nicht zuletzt um mögliche „Anstifter“ auszumachen. Diese Informationen

180 Vgl. ebd., l. 154. 181 Überprüfungsbericht der Staatsanwalt der RSFSR über die Erfüllung der Befehle vom 7.5.1935 und vom 28.12.1940 in der Region Molotov, September 1944, in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 689, l. 19, vgl. auch den Haftprüfungsbericht aus Molotov, 30.8.1943, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 651, l. 152.

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rührten jedoch in keiner Weise daran, die Anklage auch bis zu ihrem Ende zu führen. 90 Prozent aller registrierten Delikte in jener Stichprobe von 1944 führten die Jugendlichen vor Gericht.182 Tatsächlich zeichnet sich mit Blick auf die eigentlichen Gerichtsverfahren eine interessante Rollenverteilung ab. Die Staatsanwaltschaft verantwortete das regelhafte Ermittlungsverfahren und legte die Umstände einer Tat so weit wie möglich für das Gericht offen oder schickte Minderjährige bei „geringfügigen“ Vergehen in eine „Erziehungskolonie“. Erst vor Gericht konnte der Ausgang des Verfahrens so weit abgemildert werden, wie es den Richtern bei der spezifischen Vorgeschichte der Tat (oder des Täters) ratsam erschien. Dabei weisen alle Stichproben und Quartalszahlen über die Kriegsjahre hinweg den gleichen Trend auf. Volksrichter in Molotov verhängten in kaum mehr als 50 Prozent aller Fälle eine Freiheitsstrafe. Alle übrigen Beklagten wurden zur „Besserungsarbeit“ in einen Betrieb geschickt, in sehr vielen Fällen aber erhielten sie nach Artikel 53 im Strafgesetzbuch eine Bewährungsstrafe. Freisprüche waren hingegen die absolute Ausnahme. Eine Stichprobe aus dem Frühjahr 1945 legt sogar offen, dass nur 60 Prozent der Angeklagten überhaupt ein Urteil erhielten, während die übrigen Kinder und Jugendlichen zur ihren Eltern zurückgeschickt wurden oder aber einer schlichten „Meldeverpflichtung“ (podpiska o nevyezde) unterlagen.183 Die Prämisse von einer Justiz ohne Freisprüche behielten die Richter offenbar im Auge. Allerdings wurden Urteile weitaus differenzierter gefällt, als man es bei Erwachsenenvergehen beobachten konnte. Wie kam es dazu? Zunächst muss man voranstellen, dass Gewaltverbrechen wie Mord oder schwere Körperverletzung in fast allen Fällen mit Freiheitsstrafen bedacht wurden. Der Bewährungsfall war an die „Gefährlichkeit des Täters“ gebunden. Diese Urteilspraxis gegenüber Gewaltverbrechen überrascht insofern nicht.184 Die überwiegende Menge der Fälle machten aber Eigentumsdelikte aus. Obwohl der Befehl vom 7. April 1935 Diebstahl in jeder Form mit einbezog und obwohl die Richter explizit zu Freiheitsstrafen angehalten wurden, indem man besagten Paragraphen 8 aus dem Strafgesetzbuch aufhob, ergingen dutzendweise Bewährungsurteile. Ein Erklärung liegt darin, dass sowohl die Verwaltung des Justizkommissari­ats in Molotov als auch die Staatsanwaltschaft eine vergleichsweise offene Ursachenanalyse 182 Vgl. Überprüfungsbericht der Staatsanwalt der RSFSR ,September 1944, in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 689, l. 18. 183 Im zweiten Quartal 1944 wurde in 157 von 336 Fällen eine Freiheitsstrafe verhängt, GARF, f. A-461, op. 8, d. 689, l. 20. Eine Stichprobe aus dem vierten Quartal 1944 gibt ein Verhältnis von 33 zu 55 an: Bericht der Staatsanwaltschaft Molotov für 1945, o. D. [vermutlich Januar 1946], in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 844, l. 134. Von den 60 %, die in der Stichprobe aus neun Bezirken Anfang 1945 ein Urteil erhielten, verließen zwei Drittel den Gerichtssaal mit einer Freiheitsstrafe. GAPK, f. 1366, op. 1, d. 633, l. 63. 184 Vgl. Strafgesetzbuch der RSFSR, S. 23.

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betrieben, wenn es einen Anstieg der Jugendkriminalität gab. Kuljapins erster Quar­ talsbericht des Jahres 1945 machte überwiegend die „schlechte materielle Lage“ im Umfeld der Kinder für deren Taten verantwortlich. „Anstifter“ spielten nur bei einem Bruchteil eine Rolle.185 Die Beamten des Justizkommissariats kamen zu ähnlichen Schlüssen. Im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft ermutigten sie ihre Richter allerdings dazu, diese Umstände bei der Abwägung des Urteils einzubeziehen. Schon im Jahresbericht über die Gerichtsarbeit in Molotov von 1942 kritisierte die Justizverwaltung ihre Richter für die hohe Zahl an Freiheitsstrafen (51 Prozent) gegen Minderjährige. Diese spiegele die „verständnislose und ungeschickte Haltung“ der Richter zu diesen Fällen wider. So viele Kinder begingen Taten infolge ihrer Vernachlässigung oder gerieten „auf die schiefe Bahn“, weil sie in Armut lebten. Richter und ebenso Staatsanwälte hätten diese Tatsache ignoriert, weswegen diese Fälle überhaupt vor Gericht gelandet seien.186 Die Ursachen durften und sollten aus Sicht des NKJu also ganz offiziell das Strafmaß beeinflussen. Vor diesem Hintergrund legten Staatsanwälte gegen Bewährungsurteile seltener Proteste ein.187 In vielen Fällen aber überließen sie es schlichtweg den Richtern, unverhältnismäßige Anklagen durch eine solche Bewährungsstrafe zu kompensieren. Ein anderer Faktor war die prinzipiell verpflichtende Anwesenheit des Verteidigers bzw. Advokaten.188 Ohne zu weit auszuholen, muss man festhalten, dass die Verteidigung theoretisch der Transparenz des Verfahrens dienen sollte. Sie trugen die Verantwortung dafür, dass ihr Mandant nicht durch Verfahrensfehler oder andere formale Vergehen vom Gericht benachteiligt wurde. Sie konnten sich solidarisch mit dem Angeklagten zeigen, waren aber dazu bestimmt, immer im Interesse des Staates zu handeln. Verteidigung war, wie Vyšinskij es ausdrückte, die „Kunstfertigkeit seinen Standpunkt zu behaupten und unerschrocken für das einzutreten, an das er glaubt, nicht aus Interesse am Klienten, sondern aus Interesse am sozialistischen Aufbau, aus Interesse am sozialistischen Staat.“189 Ging ein Verteidiger aus Sicht des Staatsanwaltes zu weit, verhielt er sich „politisch inkorrekt“, konnte Beschwerde beim Advokatenkollegium eingereicht werden, oder aber der Richter

185 Bericht zur Überprüfung der von Volksgerichten verhandelten Strafsachen Minderjähriger im ersten Quartal 1945, 28.6.1945, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 633, l. 61. 186 Jahresbericht der Justizverwaltung Molotov für die Arbeit der Volksgerichte, 1942, o. D. [vermutlich Januar 1943], in: GAPK, f. 1462, op. 2, d. 32, l. 4ob, l. 3–9. 187 Vgl. Bericht der Staatsanwaltschaft Molotov für 1945, o. D. [vermutlich Januar 1946], in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 844, l. 136. 188 Im ersten Quartal 1945 wurden auf Protest eines Staatsanwaltes 67 Strafsachen (darunter einige Gruppenfälle) in zweiter Instanz verhandelt. Ein Urteil wurde als zu mild wieder aufgehoben, während ganze neun Strafsachen nachverhandelt werden mussten, weil in erster Instanz kein Verteidiger anwesend war. Ebd., l. 137. 189 Entin, Ja.: Rolʼ zaščitnika po delam o nesoveršennotletnich, in: Sovetskaja justicija 8 (1938), S. 13.

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ignorierte den Verteidiger völlig. Es war ein Kampf mit ungleichen Mitteln und, so wie sich die berühmte Anwältin Dina Kaminskaya erinnerte, konzentrierten sich die meisten Verteidiger darauf, dass Beweismaterial überzeugend in Zweifel zu ziehen.190 Der Staatsanwalt hatte vor Gericht also einen immensen politischen Startvorteil, um eine Verurteilung zu erwirken. Doch er war dafür nicht immer anwesend. Zuweilen blieben die Mitglieder des Gerichtes mit dem Angeklagten und seinem Verteidiger allein.191 Insgesamt war es nicht ungewöhnlich, dass ein Advokat den Richter davon überzeugen konnte, Milde gegenüber einem Angeklagten zu zeigen. Angesichts der katastrophalen Lebensbedingungen unter denen viele Halb- und Vollwaisen ihr Dasein fristeten, empfahlen einige Verteidiger, das Urteil zu Bewährung auszusetzen und offensichtlich brachten diese Plädoyers zuweilen das gewünschte Resultat.192 Die Urteilspraxis unterlag während des Krieges auch politischen Konjunkturen. Sieht man von der Sonderbehandlung der minderjährigen Angehörigen von „Volksfeinden“ und „Verrätern“ durch das NKVD einmal ab, mussten die Gerichte besonders gegenüber „Schulschwänzern“ und minderjährigen „Arbeitsdeserteuren“ äußerst unnachgiebig bleiben. Kurz vor Kriegsausbruch wurde unionsweit in nahezu 97 Prozent dieser Fälle eine Freiheitsstrafe verhängt.193 Das Regime setzte auch hier auf Kampagnendruck. Entsprechend ließ die GULag-Führung noch 1941 spezielle Lagerabteilungen in Jugendlagern ausschließlich für diese Häftlingsgruppe errichten.194 Nicht alle befanden, dass man damit dem generellen Internierungskonzept für Jugendliche gerecht werde. Kuljapins kritische Anmerkungen darüber, dass man die ehemaligen Schüler als Lern- und Arbeitskräfte in der Industrie bräuchte und sie in den Lagern „keinerlei Produktionsausbildung erhalten“, blieben jedoch ungehört.195 Dieses Problem wird auch für die Überlegungen der Richter eine nicht

190 Vgl. Kaminskaya, Final judgement, S. 33 f. Die Dominanz des Staatsanwaltes und die „feindselige Haltung“ gegenüber den Advokaten wurden hin und wieder von Seiten des Advokatenkollegiums beklagt. Vgl. Sitzungsprotokolle des Regionalplenums des Advokatenplenums, 3.12.1941, in: GAPK, f. 134, op. 3, d. 3, l. 87. 191 Obwohl Staatsanwälte zur Präsenz in allen Gerichtsverfahren angehalten waren, war in Molotov zu Beginn des Jahres 1945 nur in drei von vier Fällen ein Staatsanwalt in den Verhandlungen anwesend. Vgl. Bericht der Staatsanwaltschaft Molotov für 1945, o. D. [vermutlich Januar 1946], in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 844, l. 87. 192 Vgl. Bericht über die Arbeit der Advokaten in Molotov, 1.7.1944, in: GARF, f. 9492, op. 1, d. 1050, l. 5. 193 Bericht Tadevosjans die Generalstaatsanwaltschaft, 8.5.1941, in: Vilenskij, Deti GULAGa, S. 371. 194 In Kungur sollte eine Abteilung für 150 Personen errichtet werden. Vgl. Befehl des NKVD der UdSSR, 7.3.1941, in: Vilenskij, Deti GULAGa, S. 362. 195 Bericht der Staatsanwaltschaft Molotov über die Haftbedingungen Minderjähriger an die Leiter der Haftaufsichtsabteilungen der Staatsanwaltschaft der RSFSR und SSSR, 10.3.1945, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 653, l. 19.

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unwesentliche Rolle gespielt haben. Die Heimatfront brauchte die nächste Generation an qualifizierten Arbeitskräften. Das Potenzial junger Arbeitskräfte würde durch eine Freiheitsstrafe nicht wirklich ausgereizt werden. Wie viele Richter diese Ansicht teilten, muss leider offenbleiben. Dieses Kapitel bietet zu wenig Raum, um die Entwicklung der Jugendkriminalität und der Strafpolitik im Zweiten Weltkrieg nachzuzeichnen. Man muss festhalten, dass die Zahl der Straßenkinder und der Jugendstraftaten ihren Zenit bis zum Jahr 1944 erreichte und das NKVD unter beträchtlichen Schwierigkeiten noch in der Nachkriegszeit versuchte, evakuierte, geflohene, verwaiste, heimatlose und straffällige Kinder den staatlichen Einrichtungen zuzuordnen. Die Arbeitsgruppe für Minderjährige wurde in Molotov erst ein Jahr vor Kriegsende einberufen – als die Probleme am dringlichsten waren und das entsprechende Personal rekrutiert werden konnte. Punktuell gelang es den Staatsanwälten, die Haft- und Lebensbedingungen dieser Kinder auf einem erträglichen Niveau zu halten. In der Mehrzahl der Fälle hinkten sie aber den zum Teil willkürlichen Entscheidungen lokaler NKVD -Beamter hinterher. So hielten sie die Zirkulation an Insassengruppen in Gang, ohne sie direkt steuern zu können. Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch das Volkskommissariat für Justiz konnten allerdings Erfolge vorweisen, wenn es darum ging, Jugendstraftäter auch als solche zu behandeln. Stalins rigorose Forderung nach der Anwendung des Erwachsenenstrafrechts wurde bereits durch die Urheber der Prozessordnung formal relativiert. Die Beamten der Staatsanwaltschaft vor Ort gingen zuweilen weite Wege, um sie auch durchzusetzen. Die Miliz hatte zwar zu Kriegsende die meisten Ermittlungsfälle in ihrer Hand. Trotzdem konnte das Konzept einer juristischen Sonderbehandlung von Jugendstraftätern in der Praxis zuweilen fruchten. Die Regeln des Ermittlungsverfahrens wurden gewiss nicht flächendeckend durchgesetzt. Sie wurden aber als Teil einer offiziellen Agenda und damit der Prozessordnung ernst genommen. Diese Regeln boten minderjährigen Delinquenten die Chance, einer Freiheitsstrafe zu entgehen und einige Beamte der Staatsanwaltschaft, zuvorderst Kuljapin, drängten darauf, diese Möglichkeit bis zur Gerichtsverhandlung offenzuhalten. Sieht man von den Strafkampagnen des Regimes ab, war das Schicksal eines Delinquenten vor Gericht keineswegs besiegelt. Die Gerichte differenzierten durchaus nach dem sozialen Hintergrund der Täter und nach einem kriminellen Profil, je nachdem ob es sich um Ersttäter handelte oder ein Erwachsener in die Tat involviert war. Damit wird nicht behauptet, dass Richter und Staatsanwälte gegenüber Jugendlichen kategorisch milder oder nachsichtiger vorgingen. Es zeigt, dass Jugendkriminalität in den Führungsetagen der Justiz und von den lokalen Beamten als eigenständiges strafrechtliches Phänomen ernst genommen wurde, das nur mithilfe gesonderter Verfahrensregeln und deren präziser Anwendung bewältigt werden konnte. Als Stalin in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre kategorische Härte

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gegenüber Jugendstraftätern einforderte, antworteten Staatsanwälte und Richter mit juristischer Ausdifferenzierung. Sie stützten die harte Linie, achteten aber darauf, dass sie regelhaft und mit Rücksicht auf die Erfordernisse eines Jugendstrafverfahrens durchgesetzt wurde.

4.4 Selb s t d i sz ipl i n ie r u ng – A mt s m i s sb r a u ch i n d e r ­S t a a t s a nwa lt s ch a f t Der Begriff „Korruption“ ist im hohen Maße an den historischen und kulturellen Kontext gebunden, in dem er Verwendung findet. William Clarks und James Heinzens Arbeiten über Korruption in der Sowjetunion haben deutlich gemacht, wie vorsichtig man mit einer derart normativen Setzung umgehen muss, wenn Patronage und Klientelpolitik so eng mit den Herrschaftstraditionen verflochten sind wie im Staatssozialismus. Clark bietet demgegenüber ganze zehn Definitionsansätze, denen im Wesentlichen eines gemein ist: Korruption bedeutet im Staatsdienst die Unterordnung beruflicher Ansprüche unter das eigene Interesse und kann demzufolge als Antonym zur Berufsethik gesehen werden.196 Davon ausgehend war Korruption innerhalb der Staatsanwaltschaft demzufolge nicht nur der Verrat am politischen Arbeitsauftrag. Fälle von Amtsmissbrauch (üblicherweise als „Missbrauch“ tituliert, zloupotreblenie) zogen in der Bewertung durch die Vorgesetzten eine Auseinandersetzung nach sich, an der Ansprüche an die eigene Profession ebenso sichtbar wurden wie die Existenz- und Arbeitsbedingungen, unter denen illegale und informelle Praktiken überhaupt erst entstehen konnten.197 Daran wie die Staatsanwaltschaft mit Amtsmissbrauch in ihren eigenen Reihen umging, wird deutlich, wie Korruption entstehen konnte und welches Berufsbild man für die eigenen Beamten eigentlich anvisierte. Korruption war auch vor dem Zweiten Weltkrieg eine verbreitete Praxis unter sowjetischen Staatsbeamten. Erst unter den fatalen wirtschaftlichen Bedingungen der Kriegs- und Nachkriegszeit wurde jedoch daraus ein Massenphänomen. Armut, Überbelastung und mangelnde Kontrollen senkten dementsprechend auch die Hemmschwellen von Richtern und Staatsanwälten. Nach Kriegsende leitete das

196 Vgl. Clark, William E.: Crime and Punishment in Soviet Officialdom. Combating Corruption in the Political Elite, 1965–1990. Armonk (NY)/New York/London 1993, S. 10–16. Heinzens Definition geht in eine ähnliche Richtung. Korruption bedeute, sich über die eigene berufliche Position privat zu bereichern. Heinzen, James: The Art of the Bribe. Corruption under Stalin, 1943–1953. New Haven/London 2016, S. 2. 197 „When attempting to explain the corruption of their personnel, the prokuratura and judicial authorities focused on these issues – pay and professional ethics.“ Heinzen, A „Campaign Spasm“, S. 125.

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Regime ansatzweise Gegenmaßnahmen ein, in Form einer „abgedämpften“ Anti-Korruptions-Kampagne.198 Insofern gehört dieses Problem vor allem in die Geschichte der Nachkriegszeit. Akut war es indes schon zu Kriegszeiten und die wenigen überlieferten Fälle aus Molotov vermitteln einen lebhaften Eindruck davon, wie einfach und auf welchen Wegen die Staatsanwälte von ihrer Dienstgewalt im eigenen Interesse Gebrauch machten, welche Abhängigkeiten diese Arbeit mit sich brachte, aber auch welche beruflichen Ideale aus vorgesetzter Sicht damit verletzt wurden. Vorab stellt sich die Frage, ob und wie Amtsmissbrauch in diesem Kontext überhaupt erfassbar war und wie er sanktioniert werden sollte. Korruption ist, gleich unter welcher Definition, statistisch schwer nachweisbar, zumal es sich dabei um Praktiken handelte, die im Verborgenen gewachsen waren und auf dem Dienstweg geschützt wurden.199 Es liegt in der Natur der Sache, dass es hierfür keine Maßeinheit gibt. Ein wichtiger Indikator ist die Zahl der Beamten, die aufgrund von „Dienstvergehen“ (Paragraphen 109 bis 121 im UK) aus den Reihen der Staatsanwaltschaft ausgeschlossen wurden. Das Strafgesetzbuch fasste dieses Delikt sehr weit und sah mindestens sechs Monate Freiheitsentzug in den Fällen vor, in denen Amtspersonen ihre Position aus eigenem Interesse zum Nachteil anderer (persönlicher oder staatlicher) Interessen ausgenutzt hatten. Strafrechtlich relevant wurden diese Handlungen, sofern der Dienstablauf gestört, ein konkretes Gesetz verletzt wurde oder aber materieller Schaden entstand und diese Tat erst durch die Position im Dienst ermöglicht wurde, sprich: Bestraft wurden solche „Handlungen eines Beamten, die er allein kraft seines Amtes vornehmen kann“. Ebenso wurde Verhalten, das der „Würde und Autorität der von dem Beamten vertretenen Behörde“ schade, als Straftat bewertet.200 Nach strenger Auslegung konnten Disziplinverstöße wie Trunkenheit oder Nachlässigkeit folglich als Dienstvergehen ausgelegt werden. Die Zahlen legen nahe, dass die Staatsanwaltschaft aber nicht ganz so konsequent mit ihren Delinquenten verfuhr. In der ganzen Sowjetunion wurden im ersten Halbjahr 1943 unter diesem Paragraphen 127 Ermittler der Staatsanwaltschaft entlassen.201 Damit wären weniger als ein Prozent aller Mitarbeiter von diesem Vorwurf betroffen. Ob und wie oft strafwürdige Fälle von Amtsmissbrauch eher mit Verwarnungen quittiert bzw. ganz ausgeblendet wurden, ist dabei kaum festzustellen. Entscheidend ist, dass die Staatsanwaltschaft in den Statistiken die Dienstvergehen nicht nach ihrem Schweregrad ausdifferenzierte. Korruption im organisierten

198 Ebd. 199 „To these concerns one must add the fact that by its very nature corruption, whether conceived of in ethical or legal terms, is hidden behavior.“ Clark, Crime and Punishment, S. 17. 200 Strafgesetzbuch der RSFSR, S. 42. 201 Vgl. Statusbericht zur Übergabe der Staatsanwaltschaft an Konstantin Goršenin, November 1943, in: GARF, f. R-8131, op. 38, d. 158, l. 5.

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Ausmaß war folglich einerseits für die Moskauer Vorgesetzten auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Andererseits wurde so allen Beamten eingeschärft, dass die Gefährdung der Dienstpflichten insgesamt straffwürdig sei. Die Führungsetage der Staatsanwaltschaft in Moskau stellte jedes dienstliche Fehlverhalten ihrer Beamten unter Strafe, hatte aber nur einen Blick auf die Spitze des Eisberges. Dmitrij Kuljapin machte in dieser Hinsicht auch keinen Unterschied. Amtsmissbrauch, Verhaltensauffälligkeiten oder ein schlechter Ruf in der Bevölkerung: All das kommunizierte er als Teil eines grundlegenderen Problems, das er im Sommer 1943 auf einer Mitarbeiterversammlung in Molotov erstmals als eigenen Punkt auf die Tagesordnung setzte. Männer und Frauen in seiner Behörde „diskreditierten die Sowjetmacht“, weil sie im Dienste des Staates rechtlich und sittlich die Normen brachen. Sie begingen „grobe Verletzungen in der Ethik ihres Verhaltens.“202 Kuljapin sparte die strafrechtliche Dimension des Dienstvergehens hier weitestgehend aus. Das Fehlverhalten seiner Beamten war nicht bloß ein rechtliches, es war ein sittliches und moralisches Problem, das das berufliche Selbstverständnis im Kern verletzte. Den Anlass zu dieser Sitzung gaben mehrere Vorfälle, in denen Bezirksstaatsanwälte und Ermittler mit ihrem Verhalten Anstoß in der Bevölkerung und unter Kollegen erregt hatten. Der Bezirksstaatsanwalt von Černovsk, Ševin, war ein mehr oder weniger typisches Beispiel für „Trunkenheit im Dienst“. Regelmäßig habe er zu Trinkgelagen in seiner Wohnung geladen und die Sekretärin zum Einkauf von Wodka abgestellt. Die meisten seiner Trinkkumpanen seien zudem Tatverdächtige gewesen, deren Ermittlungsverfahren im Nachgang eingestellt wurden. Ein Staatsanwalt aus dem Bezirk Ilʼinsk wiederum nutzte konfisziertes Beweismaterial (ein Fahrrad und eine Nähmaschine) für den Privatgebrauch. Beljaev, der Staatsanwalt von Krasnokamsk, sei mehrfach betrunken zum Dienst erschienen. Insgesamt wurden fünf Staatsanwälte zur Versammlung geladen, von denen ein Staatsanwalt aus Čerdynsk, namens Manifasov, sich für die längste Vorgeschichte rechtfertigen musste. Auch er habe „in der Öffentlichkeit“ den Ruf eines Trinkers und Lebemannes. Sein Engagement an „Spielen nicht-sportlicher Art“ und an Tanzabenden mit Jugendlichen sei allgemein bekannt und in Kuljapins Augen kein Ausweis für Pflichterfüllung. Darüber hinaus wurde Manifasov nun beschuldigt, einen Mann namens Kuznecov ins Gefängnis gebracht zu haben, mit dem er in Streit geraten war. Kuznecovs Fall wurde offensichtlich von einem Kollegen (oder Kuljapin selbst) angefochten, denn im Kassationsverfahren stellte das Regionalgericht die Sache mangels Tatbestandes ein.203 Alle fünf Beamten wurden auf der Sitzung befragt. Einige Vorwürfe wurden entkräftet, andere erhärteten sich. In keinem dieser Fälle wirkte das Fehlverhalten

202 Stenogramme der Mitarbeiterversammlung, Juli 1943, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 84, l. 166. 203 Ebd., l. 170–171.

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organisiert. Vielmehr wurde deutlich, dass der kurze Dienstweg vielen Beamten eine schnelle Lösung alltäglicher Konflikte und Probleme bot – mit mehr oder weniger gravierenden Folgen. Kuznecov hatte offenbar Widerstand gegen die Umverteilung der Kleingärten zugunsten der Kriegsflüchtlinge geleistet. Manifasov ließ ihn in Haft nehmen, solange die Umverteilung lief. Das konfiszierte Fahrrad wiederum war die einzige Transportmöglichkeit für den Staatanwalt, der offensichtlich kein eigenes Pferd (geschweige denn einen PKW) besaß. Allerdings habe er sich mehrfach an konfisziertem Material vergriffen, womöglich in Absprache mit anderen Justizbeamten. Kuljapin und der Vertreter des regionalen Parteikomitees, Zajcev, sahen diese Vorfälle aus unterschiedlicher Warte. Der Großteil der Bezirksstaatsanwälte und ausnahmslos alle Mitarbeiter des Regionalapparates waren Parteimitglieder.204 Als solche hatte das Regionalkomitee zusätzliche Disziplinargewalt über die Beamten, ohne das Kuljapin hätte gefragt werden müssen. Zajcev war dabei weniger an der Aufklärung dieser Skandale als an der Maßregelung der beteiligten Beamten interessiert. Kuljapin verhörte die Männer, doch Zajcev fungierte als politischer Einpeitscher. Er forderte sozialistische Selbstkritik und Strafmaßnahmen. Die Rechtfertigungsversuche galten ihm als Ausflüchte. Die Beamten überhaupt hätten sich an der Partei und am Vaterland schuldig gemacht und darüber hinaus mit ihrem Verhalten das bolschewistische Sittlichkeitsideal untergraben, das laut Zajcev für alle Staatsbeamten zu gelten hatte. Sie gefährdeten die Autorität in der Bevölkerung, die ihnen von der Partei in die Hände gelegt worden wäre.205 Kuljapin verlieh den Worten Zajcevs noch einmal Nachdruck, indem auch er die historische Herausforderung des Krieges betonte und die Staatsanwaltschaft ins Fahrwasser der Partei stellte. Das Fehlverhalten war für Kuljapin aber keine Frage bolschewistischer Sittlichkeit und die Autorität der Staatsanwaltschaft fußte nicht allein auf den Idealen der Partei. Er machte die „Wahrheit“ zum Kern dieser Autorität. Das war mehr als eine sprachliche Figur. Der Kampf gegen Verbrechen sei untrennbar verbunden mit der Verpflichtung, die „zutiefst menschliche Wahrheit“ zu schützen, „die sich in unseren Gesetzen ausdrückt“. Die Einhaltung und Durchsetzung von Regeln war ein Wert an sich, der nach außen sichtbar war. Wir wurden berufen, den Schutz des sozialistischen Eigentums und die politische und wirtschaftliche Grundlage der sowjetischen Ordnung zu gewährleisten, und wir sehen, dass die Werktätigen zu uns kommen, die auf der Suche nach dem Triumph dieser menschlichen Wahrheit sind. Deswegen müssen wir wahrhaft [pravdivymi] in allem sein […].206 204 Vgl. Bericht über die Arbeit und den Kaderzustand der Staatsanwaltschaft von Molotov 1944 und 1945, 15.8.1945, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 102. 205 Vgl. Stenogramme der Mitarbeiterversammlung, Juli 1943, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 84, l. 191. 206 Ebd., l. 196.

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Aus diesem Grund, so erläutert Kuljapin, sei es nicht gleichgültig, wie sich die Beamten auch privat verhielten. Sittliche Fehltritte verletzten das Prinzip der Wahrheit in gleicher Weise, wie der Amtsmissbrauch im weiteren Sinne. Der Fall Kuznecov zum Beispiel berührte beides. Der Vorwurf der Trinkerei und die formlose (und unbegründete) Inhaftierung Kuznecovs seien das Beispiel dafür, wie sich Wahrheit ins Gegenteil verkehrt: in „Bacchanal und Willkür“.207 Weite Teile von Kuljapins Schlussansprache dienten der Selbstinszenierung als Vorgesetzter, der auch das kleinste Detail im Privatleben seiner Untergebenen gegen sie verwenden konnte. Die Versammlung war aber eben auch eine Machtdemonstration. „Jetzt hängt es am Regionalstaatsanwalt, Sie auf dem Grunde der Schlucht zu lassen, oder Sie automatisch wieder an die Oberfläche zu erheben.“208 Ungeachtet dessen forderte er den Gehorsam seiner Mitarbeiter nicht ausschließlich in seinem Namen oder dem der Partei, sondern auch auf der Grundlage einer gemeinsamen beruflichen Verantwortung: die Arbeit auf „gesetzlichen Wegen“. Die Parteivertretung forderte Parteidisziplin, doch Kuljapin forderte berufliche Disziplin. Allen fünf Staatsanwälten drohten ähnliche Konsequenzen. Sofern Paragraph 109 verletzt worden war, mussten sie mit ihrer Entlassung, dem Parteiausschluss und einem Gerichtsverfahren rechnen. In Mažorovs Fall, der sich an den Beweismitteln bedient haben soll, war das auch sehr wahrscheinlich. So viel ließ Kuljapin auf der Versammlung erkennen. Insbesondere Zajcev verlangte nach harten Strafen und verwies auf ähnliche Fälle im Jahr 1942, in denen sich ein Staatsanwalt und ein Richter Beweismittel angeeignet hatten (einen Anzug und eine Armbanduhr). Beide waren entlassen worden, der Richter hatte sogar eine Haftstrafe erhalten.209 Ob sich alle fünf disziplinarisch oder gar strafrechtlich verantworten mussten, bleibt unklar. Entscheidend war das Signal an alle Staatsanwälte, kein Verhaltensdelikt ungesühnt zu lassen, obwohl man längst nicht das ganze Ausmaß der informellen Praktiken kannte. Der Skandal um die Staatsanwaltschaft im Komi-Permjaken-Bezirk gegen Kriegsende ist dafür ein zweites exzellentes Beispiel. Die Mitarbeiterversammlung im Sommer 1943 vermittelte einen Eindruck davon, wie Kuljapin das Problem beruflichen Fehlverhaltens insgesamt begriff, und welche Lehren er daraus für das Berufsbild eines Staatsanwaltes zog. Die Vorfälle in Komi verraten mehr über die Natur organisierter Korruption, und wie die Regionalstaatsanwaltschaft auf dieses Problem reagierte. Im Juli 1945 versammelte Kuljapin seine engsten Mitarbeiter, um Vorfälle im Bezirk Komi zu erläutern, die weit ins Jahr 1943 zurückreichten. Anders

207 Ebd., l. 199. 208 Ebd., l. 197. 209 Vgl. ebd., l. 190–191.

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als auf der Versammlung mit dem Regionalkomitee-Vertreter bestand er nun darauf, dass „alles, was hier gesagt wurde, diese Wände nicht verlassen darf“.210 Anders als zwei Jahre zuvor, beschränkte sich die Debatte nicht auf Einzelfälle. Zwei Jahre lang blieb unbemerkt, was Kuljapin hinter verschlossenen Türen als die „völlige Verrottung [razloženie] des Apparates“ in diesem Bezirk bezeichnete. Der Begriff razloženie kam im alltäglichen russischen Sprachgebrauch dem der „Korruption“ am nächsten und war ein Thema, dass keinesfalls öffentlich debattiert werden durfte. Seit 1943 wurden im Bezirk Komi angeblich dutzendweise Ermittlungen gegen Bestechung oder aus Gefälligkeit eingestellt. Strafsachen wurden regelrecht „verkauft“ und im Mittelpunkt dieser Verwicklungen stand der einstige stellvertretende Bezirksstaatsanwalt Subbotin. Die prekären Bedingungen, unter denen er zu Kriegsbeginn arbeitete, waren typisch für viele Beamten in der Provinz und ein gutes Beispiel dafür, wie und warum ein Staatsanwalt sein Amt für eigene Zwecke missbrauchen konnte. In den meisten Provinzbehörden fehlten Transportmittel, Unterkünfte und alltägliche Waren. Ein Staatsanwalt verfügte über die Kontakte und die Strafanzeige als Druckmittel, um aus dieser Situation seinen Vorteil zu ziehen. Gerade in den entlegensten Gebieten der Region, wo die Infrastruktur schwach und der Beamtenapparat ausgedünnt war, hatten Beamte mit weniger geradlinigen Biographien und/oder wenig Qualifikation sowohl den Anlass als auch die Gelegenheit, diese Situation auszunutzen. Subbotin beispielsweise hatte zehn Jahre in der Miliz gearbeitet, bevor er als „dienstuntauglich“ entlassen wurde. Seine Verwandten waren 1939 und 1940 als „Konterrevolutionäre“ verhaftet worden.211 Subbotin verfügte also über die dringend gebrauchte Felderfahrung in der Strafverfolgung, ohne Chancen auf eine tatsächliche Karriere im Staatsdienst. Ungewöhnlich war hingegen Subbotins Einfallsreichtum, mit dem er anscheinend aus der Not und seiner Stellung eine ‚Tugend‘ gemacht hatte. Er pflegte zum Beispiel intensive Beziehungen mit der örtlichen Kraftfahrabteilung. Die Staatsanwaltschaft erhielt Fahrzeuge und Benzin. Im Gegenzug habe Subbotin in mindestens einem Fall einen Mitarbeiter des Fuhrparks aus dem Gefängnis freigelassen. Dieses Prinzip funktionierte auch in anderen Bereichen. Subbotin habe aus Berufskontakten und Verdächtigen „Klienten“ gemacht, die er in seinem fünfstöckigen Eigenheim in Empfang nahm, das er, darüber hinaus, noch an acht Personen untervermie­tete.212 Seine Verbindung zum Handels- und Warenhaus „Zagotskot“ in Stepanovsk war besonders profitabel gewesen. Subbotins Schwager Spirin war bis 210 Protokolle der operativen und Leitungsversammlung der Staatsanwaltschaft Molotov, 11.7.1945, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 111, l. 11. 211 Ebd., l. 3. 212 Subbotin habe auch die Mieter mit seinem Amt unter Druck gesetzt. Ihnen würde, er „den Hals umdrehen“ und sie anklagen, wenn sie zu wenig Miete bezahlten. Ebd.

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1944 Leiter dieses Kontors und gemeinsam eröffneten sie auf Subbotins Grundstück eine weitere Filiale. Mithilfe des Leiters der Landwirtschaftsabteilung der Provinzregierung hätten sie, so der Vorwurf, magere oder junge Rinder von der Regierung gekauft und im Kontor oder an die Bevölkerung mit Gewinn weiterverkauft. An dieser illegalen Form des ‚Nebenerwerbs‘ seien mehrere Vertraute und Verwandte beteiligt gewesen. Neben Subbotins Mutter, die als Stallfrau auf dem Hof arbeitete, seien der Leiter Landwirtschaftsabteilung, Šmarin, und das Leitungspersonal von „Zagotskot“ mit involviert gewesen.213 Welchen Einfluss Subbotin über diese Netzwerke ausübte, zeigte sich, als die Miliz begann, gegen die Rechnungsführerin des Kontors, Denisova, zu ermitteln. Die Staatsanwältin Tukačeva, eine Untergebene Subbotins und offensichtlich nicht eingeweiht in dessen Geschäfte, erließ einen Haftbefehl. Daraufhin wandte sich der Ehemann der Rechnungsführerin, Denisov (Chef des Materiallagers im Kontor), an Subbotin, „als seinen Verteidiger“. Obwohl Subbotin schon lange nicht mehr in der Milizaufsicht gearbeitet hatte, wies er seine Mitarbeiterin Tukačeva an, die Strafakte gegen Denisova aus der Miliz zu besorgen. Nach Korrespondenz mit der Miliz wurde Denisovs Ehefrau wieder freigelassen. Offensichtlich reichten Subbotins Verbindungen aber nicht weit genug, um die Miliz davon abzuhalten, nun gegen Denisov selbst zu ermitteln. Daraufhin schaltete Subbotin das Bezirksparteikomitee (Rajkom) ein. Das übte wiederum Einfluss auf die Miliz aus, um auch das Verfahren gegen Denisov einzustellen, mit der Begründung, dass er Parteimitglied sei.214 Korruption war in diesem Sinne kein Selbstläufer. Die Miliz setzte zwar einen Beschluss zur Einstellung des Verfahrens gegen Denisov auf, ermittelte aber trotzdem weiter. Subbotins Position verschaffte ihm zumindest einen klaren Vorteil, um im Strafverfahren zu intervenieren, und die Miliz ermittelte offenbar nicht in seine Richtung. Die Strafsache gegen Denisov lag fertig zur Anklage auf Subbotins Schreibtisch. Quasi im zweiten Versuch ließ er das Verfahren nun endgültig einstellen. Subbotin soll sich noch für weitere Mitarbeiter eingesetzt und die Verfahren manipuliert haben, in einem Fall sogar noch vor Gericht, wo er sich außerhalb seiner Zuständigkeit als Ankläger eingeschaltet und ein Bewährungsurteil erwirkt haben soll. Andere Beteiligte, darunter auch Denisov, seien währenddessen untergetaucht. Als die Angelegenheit aufgedeckt wurde, hatte die Regionalstaatsanwaltschaft zwei Probleme. Einerseits stand sie diesen Vorwürfen ziemlich hilflos gegenüber. Der Vorwurf der ‚verkauften‘ Ermittlungen konnte nicht immer belegt werden, da viele der Unterlagen vernichtet oder in der Verwaltung der Miliz verloren gegangen waren. „Zagotskot“ hatte darüber hinaus keine Dokumente oder andere schriftlichen

213 Vgl. ebd., l. 5. 214 Ebd., l. 9.

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Die Staatsanwaltschaft Molotov

Rechnungsbelege hinterlassen, so dass es letztlich auf die Fähigkeit der Beamten aus Molotov hinauslief, in Stepanovsk und in der Komi-Hauptstadt Kudymkar die richtigen Personen erfolgreich zu vernehmen. Über die Zusammenarbeit mit der Miliz verlor Kuljapin kein Wort und in die Beamten des gesamten Bezirks hatte er offensichtlich kein Vertrauen. Tukačeva hatte zwar gegen Denisov ermittelt, habe aber laut Kuljapin dennoch „einen beschränken Horizont“ und sich einfach von Subbotin beeinflussen lassen.215 Die Staatsanwaltschaft in Molotov verfügte also weder über das nötige Beweismaterial, noch hatte sie Vertrauen in die Zeugenaussagen und die Kompetenz ihrer Beamten vor Ort. Andererseits zögerte Kuljapin aus politischen Gründen, gegen dieses Problem systematisch vorzugehen. Ihm war die politische Dynamik wohl bewusst, die ein Skandal um ein solches lokales Netzwerk entfalten konnte. Subbotin hatte nicht die Kontrolle über die Region gewonnen, wohl aber das Amt in alle nur denkbaren Richtungen in illegale Tätigkeiten verstrickt. Die Regionalstaatsanwaltschaft hatte die Aufsicht über ihre Bezirksorgane und trug somit auch die Verantwortung für Untergebene, die ihr Amt systematisch missbrauchten. Konkret drohten ihr Sanktionen von den Parteiorganen. Subbotin war zum Zeitpunkt der Versammlung bereits im Gefängnis (ohne dass Details zum Verfahren genannt wurden). Trotzdem sah Kuljapin das Risiko, dass die Staatsanwaltschaft in Molotov allein durch das Ausmaß dieses Skandals kompromittiert würde. Anstelle eines Moralappells erging folglich eine klare Warnung für die Zukunft: „Wir als Mitarbeiter der Regionalstaatsanwaltschaft antworten mit dem Kopf für unsere Peripherie.“216 Organisierte Korruption war in erster Linie eine politische Bedrohung, die mit aller Vorsicht neutralisiert werden musste. Anstatt sie systematisch offenzulegen und öffentlich zu diskutieren, wurden die politischen Risiken intern abgewogen. Das Amt des Staatsanwaltes brachte zwei Vorteile, als es darum ging, Konflikte im Alltag zu bewältigen oder seinen Nutzen aus der miserablen wirtschaftlichen Lage zu ziehen, in der sich weite Teile des Hinterlandes befanden. Einerseits verfügte ein Staatsanwalt qua Amt über Kontakte mit Regierungs-, Partei- und Polizeibehörden. Andererseits verlieh ihm das Mittel der Anklage zumindest kurzfristig, sprich: vor Ort, die nötige Autorität gegenüber der Bevölkerung. Diese Situation wurde von den Staatsanwälten weitaus häufiger für die eigenen Interessen ausgenutzt, als es für die Vorgesetzten in Molotov oder Moskau im Detail nachvollziehbar gewesen wäre. Kuljapin ignorierte solche Erscheinungen nicht, aber statuierte eher ein Exempel an Einzelpersonen, als die Korruption im organisierten Ausmaß zum öffentlichen Thema zu machen. Auf der einen Seite stand das berufliche Ideal, Regeln in allen

215 Ebd., l. 5. 216 Ebd., l. 10–11.

Das Innenministerium im Fokus der Staatsanwaltschaft

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Bereichen und Belangen zu befolgen und durchzusetzen. Auf der anderen Seite stand die Einsicht, dass diese Verstrickungen auf die Regionalstaatsanwaltschaft zurückfallen könnten. Kuljapin propagierte ein Berufsbild, das auf einer gemeinsamen Arbeitsethik fußte, aber nicht in der Breite und risikofrei durchsetzbar war, geschweige denn von Mitarbeitern ernst genommen wurde, die zuvorderst im eigenen Interesse handelten. Die Initiative zum systematischen Kampf gegen Korruption musste aus dem Kreml kommen.

4. 5 D a s I n ne n m i n i s t e r iu m i m Fok u s d e r St a at s a nwa lt s ch a f t Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges hatte das NKVD bei der Bekämpfung politischer Gefahrenherde weitestgehend freie Hand. Zwei wichtige Teile des operativen Tätigkeitsbereiches des Innenministeriums standen dennoch unter formaler Aufsicht der Staatsanwaltschaft: die Miliz und das NKVD-eigene System der Strafanstalten. In beiden Bereichen institutionalisierte die Staatsanwaltschaft ab 1939 ihre Aufsichtsfunktion. Die Arbeit der Miliz wurde jahrelang von der Specotdel der Staatsanwaltschaft beobachtet. Die war jedoch überwiegend mit den Tätigkeiten der Geheimpolizei beschäftigt, so dass nur wenig Personal übrig blieb, die Milizionäre im Auge zu behalten. Erst das Ende der Massenoperationen bewog schließlich regionale Staatsanwälte und ebenso leitende Beamte in Moskau dazu, die „Aufsicht über die Tätigkeiten der Miliz“ in einer eigenen Abteilung zusammenfassen zu wollen. Im Sommer 1939 brachten Staatsanwälte aus der ganzen Sowjetunion Argumente für eine solche Milizaufsichtsabteilung vor. Ihnen zufolge würden über siebzig Prozent aller Ermittlungen in der Sowjetunion von Milizionären geführt, wobei ein erheblicher Teil dieser Ermittlungen letztlich mangels Grundlage eingestellt werde.217 Die Milizionäre seien zu schlecht ausgebildet und die Folgen ihrer Handlungen zu gravierend, als dass man sie unbeaufsichtigt lassen könne. Besonders Fälle, in denen eine Freiheitstrafe drohte, verdienten die unbedingte Aufmerksamkeit qualifizierter Beamter. Zudem dürfte die Miliz ohnehin keine konterrevolutionären Fälle mehr untersuchen. Sie „machen im Grunde die gleiche Arbeit wie die Volksermittler.“ Unter diesen Umständen gebe es keinen Grund für Zurückhaltung mehr: Die Hoheit eines Staatanwaltes über das Ermittlungsverfahren müsse institutionalisiert werden.218 217 Befehlsentwurf der Unionsstaatsanwaltschaft, 2.7.1939, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 177, l. 16. In einigen Regionen der Sowjetunion wurde annähernd die Hälfte solcher Verfahren eingestellt. 218 Abschlussbericht von den Staatsanwälten Belkin und Šaver der Republiksstaatsanwaltschaft an Pankratʼev, 23.6.1939, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 177, l. 13.

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Die Staatsanwaltschaft Molotov

Ein führender Beamter der Republiksstaatsanwaltschaft, Boris Belkin, ging noch weiter. Er forderte mehr Personal und eine eigene Abteilung, die nicht nur die Fälle der Miliz prüfe, sondern auch Beschwerden über die Miliz nachgeht. „In Anbetracht der Tatsache, dass die Arbeit der Miliz Millionen Bürger betrifft, wäre so etwas eine kolossale und enorm spürbare Errungenschaft im Kampf für die Einhaltung revolutionärer Gesetzlichkeit“.219 Belkins Forderungen wurde entsprochen. Im Dezember 1939 wurde er Leiter der neugegründeten „Abteilung zur Aufsicht über die Tätigkeiten der Miliz“.220 Pankratʼev ordnete an, solche Abteilungen bis hinunter auf die Regionalebene einzurichten, um jedes Ermittlungsverfahren im Auge zu behalten. Das Kräfteverhältnis mit der Miliz wurde dabei ebenso wenig thematisiert wie die eigentlichen Defizite in der Miliz selbst. Im Mittelpunkt stand die Überzeugung, dass ohne professionelle Aufsicht mehr Menschen unbegründet inhaftiert werden würden. Die Zahl der Ermittlungsverfahren, die durch das Gericht oder einen anderen Staatsanwalt eingestellt wurden, war der wichtigste Indikator für die Qualität der Milizaufsicht.221 Potenzielle Konflikte zwischen den Behörden wurden ausgeblendet. Im gleichen Jahr wurde auch die „Abteilung zur Aufsicht über Haftanstalten“ von der Unionsstaatsanwaltschaft ins Leben gerufen. Der genaue Hintergrund zu dieser Entscheidung ist unklar. Ein wichtiger Faktor wird Berijas Versuch gewesen sein, das vergrößerte Gulag-Imperium nach den Massenverhaftungen rentabler zu machen und die Effizienz der Zwangsarbeitswirtschaft und nicht den Strafvollzug, in den Mittelpunkt zu rücken. So wurden Zehntausende kranke und invalide Häftlinge im Sommer 1939 entlassen – ein Vorgehen, das anfangs den Widerstand von Staatsanwaltschaft und Justizkommissariat herausforderte.222 Nahezu alle Bereiche des Zwangsarbeitsimperiums der GUL ag, die Gefängnisse und Speziallager, aber auch die Sondersiedlungen sollten also in regelmäßigen Abständen von einem Territorialstaatsanwalt besichtigt werden. Der Fokus solcher Inspektionen, so suggeriert es ein Abschlussbericht von 1940, war ebenfalls auf die Effizienz des Zwangsarbeitsapparates gerichtet. „Ungesetzliche Handlungen“ der Lagerleitung, vor allem Wirtschaftsvergehen, mussten ebenso registriert und unterbunden werden wie Fälle von Misshandlungen und Verletzungen des Arbeitszeitregimes. Die 219 Schreiben Belkins an Unionsstaatsanwaltschaft Pankratʼev, 5.6.1939, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 177, l. 2. 220 Statusbericht zur Übergabe der Staatsanwaltschaft an Viktor Bočkov, 7.1.1941, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 528, l. 50. 221 „Der gewaltige Prozentsatz ausgesetzter und zur Nachermittlung zurückgeschickter Strafsachen deutet auf die niedrige Qualität der Ermittlung hin und auf das Vorhandensein schädlicher Praktiken in Miliz und Staatsanwaltschaft, wobei es massenhaft zur unhaltbaren Strafverfolgung von Bürgern kommt.“ Ebd., l. 51. 222 Vgl. Applebaum, Der Gulag, S. 152.

Das Innenministerium im Fokus der Staatsanwaltschaft

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Begehung der Untersuchungsgefängnisse barg zudem die Möglichkeit, auch von dieser Seite in laufenden Ermittlungsverfahren zu intervenieren. Genauso sollte jede Haftentlassung genauestens geprüft werden. Die Strukturen der Haftaufsicht entwickelten sich jedoch so langsam wie die der Milizaufsicht. Im Jahr 1940 waren beispielsweise nur vier Lager in der gesamten Sowjetunion inspiziert worden und erst eineinhalb Jahre danach wurden überhaupt erst in den Republiken und Regionen solche Abteilungen gegründet.223 Es ist kein Zufall, dass beide Abteilungen im Folgejahr der Verhaftungswellen eingerichtet wurden. Die Unionsstaatsanwaltschaft erkannte nach 1938 die Gelegenheit, im Kampf gegen konventionelle Kriminalität ihre Aufsichtspflichten gegenüber dem NKVD zu verstetigen und zu systematisieren. Sowohl über die Miliz- als auch über die Haftaufsicht sollten Beamte so indirekt das Ermittlungsverfahren steuern und kontrollieren, während sie die Fluktuation der Zwangsarbeiter überwachten. Das nötige Personal ließ sich jedoch nur langsam dafür gewinnen, so dass es bis Kriegsende dauerte, bis diese Abteilungen in den Regionen überhaupt arbeitsfähig waren.224 Fachliteratur zu beiden Themen wurde erst nach Kriegsende publiziert und selbst in den Zeitschriften gab es nur vereinzelt Erfahrungsberichte zur Milizaufsicht. Die Inspektion von Haftanstalten gehörte nicht in die Fachpresse.225 Zeitgleich dehnte der Krieg den Aufgabenbereich der Miliz im Hinterland aus und damit stieg auch die Zahl potenzieller Reibungsflächen mit der Staatsanwaltschaft.226 Das Lagersystem dehnte sich besonders am Ural in dieser Zeit massiv aus und immer mehr Häftlinge betraten und verließen die Lagerwelt in einem hohen Tempo. Zugleich litten die Kader der Miliz unter den Einberufungswellen. Bis zu 97 Prozent aller Milizposten in der Sowjetunion wurden im Laufe des Krieges neu besetzt: „die besten Mitarbeiter gingen an die Front“.227 Konflikte mit deren unausgebildeten oder unerfahrenen Nachfolgern waren also vorprogrammiert. Diese und andere Konflikte zwischen Staatsanwaltschaft und Miliz sind Gegenstand der folgenden Seiten. An ihnen soll sichtbar werden, welches Verhältnis die

223 Vgl. Statusbericht zur Übergabe der Staatsanwaltschaft an Viktor Bočkov, 7.1.1941, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 528, l. 57. 224 Vgl. Befehl vom 11.1.1940 in Bezug zur Schaffung einer Abteilung für Milizaufsicht, in: GARF, f. A-461, op. 12, d. 1, l. 18. Noch im Januar 1940 wurden keine Regionalabteilungen in der RSFSR gebildet, was vor allem mit Personalmangel von Seiten der Regionalstaatsanwälte erklärt wurde. 225 Vgl. Guralʼ, I.: Opyt raboty nadzora za milicieij, in: Socialističeskaja zakonnostʼ 8 (1940), S. 63 f. 226 Vgl. Shelley, Louise I.: Policing Soviet Society. The Evolution of State Control. London 1996, S. 30. 227 Ruckin, A. Ju.: Istorija milicii Permskogo Kraja. Permʼ 2012, S. 150; vgl. Malygin, Aleksandr: Sistema organov vnutennych del v gody otečestvennoj vojny i v pervoe poslevoennoe desjatiletie, in: Ders./Aleksandr Borisov/Aleksandr Dugin (Hg.), Policija i milicija Rossii. Stranicy istorii. Moskva 1995, S. 226.

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Die Staatsanwaltschaft Molotov

Staatsanwaltschaft in Molotov in den Kriegsjahren gegenüber dem Innenministerium und der Miliz im Besonderen herausbildete. Inwieweit gelang es der Staatsanwaltschaft, diese Behörden zu disziplinieren? Welche Anforderungen stellten Staatsanwälte in Moskau und Molotov an die eigene Behörde und an das Innenministerium, als es darum ging, in dessen Domäne Regeln und verbindliches Handeln durchzusetzen; und welchen Einfluss konnten sie auf die Ermittlungsarbeit der Miliz und das System der Zwangsarbeit letztlich nehmen?

4.5.1 Die Anfänge der Milizaufsicht 1934 war die „Staatliche Verwaltung der Arbeiter- und Bauernmiliz“ (GURKM bzw. GUM), in das Innenministerium inkorporiert worden. Sie war der institutionalisierte Arm der Staatsmacht, mit dem sowjetische Bürger im Alltag konfrontiert waren und der zur Bekämpfung konventioneller Kriminalität einen großen Teil der Ermittlungsarbeit im Staat leistete. Wichtiger noch: Alle personellen Entscheidungen bezüglich der Miliz wurden ab den 1930er-Jahren NKVD-intern getroffen. Mit dem Transfer der politischen Polizei in ein eigenes Kommissariat für Staatssicherheit (NKGB) 1941, genoss die Miliz als Kernstück des NKVD große Autonomie innerhalb des Regimes.228 Um das Verhältnis zwischen Staatsanwaltschaft und Miliz zu ergründen, lohnt es sich zunächst, die Binnenperspektive der GUM in Moskau auf das Verhalten ihrer Beamten nachzuvollziehen. Wie ging die Milizführung mit Fehlverhalten in ihren eigenen Reihen um? Auf dieser Grundlage soll anschließend geklärt werden, welche Ansprüche die Staatsanwaltschaft in Moskau und Kuljapin in Molotov mit der eigenen Aufsichtspflicht verbanden, wie und ob sie zwischenbehördliche Konflikte antizipierten und letztlich welchen Einfluss die Beamten vor Ort tatsächlich auf die Tätigkeiten und das Personal der Miliz hatten. Besonders auffällig in den Schriftwechseln der Milizverwaltung war, wem und wie Probleme mit der Kaderdisziplin kommuniziert wurden. Abgesehen von den eigenen Vorgesetzten informierte die Politabteilung der Miliz einzig das Regionalkomitee systematisch über „Dienstvergehen“ und „amoralisches Verhalten“ in ihren Reihen. Die Staatsanwaltschaft war von solchen Berichten ausgenommen. Von Zuarbeit konnte in dieser Hinsicht also keine Rede sein. Üblicherweise legten die Urheber solcher Berichte viel Wert auf einen politisch optimistischen Grundton. Der letzte Halbjahresbericht der GUM vor Kriegsbeginn konstatierte beispielsweise, dass der „politisch-moralische Zustand“ der Truppe im Großen und Ganzen „gesund“ sei. Zugleich dokumentierte der Bericht für die letzten sechs Monate über

228 Vgl. Shelley, Policing Soviet Society, S. 30 f.

Das Innenministerium im Fokus der Staatsanwaltschaft

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300 Fälle von Dienstvergehen und „amoralischen“ Verhalten in der Region. Die überwiegende Mehrheit der Betroffenen sei zu spät, betrunken oder gar nicht zur Arbeit erschienen. Allein 125 der erfassten Delikte wurden als Verstoß gegen den Befehl vom 26. Juni 1940 eingestuft.229 Leider geben die Berichte keine Auskunft darüber, wie viele Beamte insgesamt in Molotov angestellt waren. Die Proportionen geben dennoch einen Eindruck, dass die Miliz selbst mit ihren eigenen Arbeitsdelinquenten zu kämpfen hatte. Annähernd die Hälfte der 67 Mitarbeiter, die 1940 vor Gericht gestellt worden waren, hatte die Arbeitszeiten verletzt.230 Für das professionelle Profil der Miliz sind die Fallbeispiele im Bericht aufschlussreich. Ähnlich wie bei der Staatsanwaltschaft wurden zwischenmenschliche Probleme und Liebesaffären bei den Disziplinverstößen mit aufgenommen. Viel häufiger jedoch war auch von Misshandlungen, Selbstmord oder Vergewaltigung die Rede. Ein Milizionär hatte Frau und Kinder für seine Geliebte aus der Wohnung geworfen und im Streit einen Bekannten erschossen. Ein anderer wurde wegen versuchter Vergewaltigung bei einer Durchsuchung zu drei Jahren Haft verurteilt. Fast immer seien die Beamten im Anschluss zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden. An solchen Beispielen sollte die Entschlossenheit und Kompromisslosigkeit demonstriert werden, mit der die Milizführung gegen kriminelles Verhalten unter ihren Beamten vorgehe. Harte Strafen änderten aber wenig an der Tatsache, dass Alkoholismus und Gewalt im Alltag sehr vieler Beamter weiterhin eine Rolle spielten. Nicht zuletzt waren Milizionäre bewaffnet, schlecht bezahlt und schlecht ausgebildet. Bis 1956 war annährend die Hälfte der Milizionäre in der Sowjetunion praktisch Analphabeten.231 Miserable Arbeits- und Lebensbedingungen und ein gewalttätiges Arbeitsumfeld führten dabei immer wieder zu Übergriffen oder privaten Tragödien. Die Selbstmordrate von Milizionären war daher ein fester Indikator für den „moralisch-politischen Zustand“ der Truppe. 125 Suizide von Milizionären wurden 1943 in der ganzen Sowjetunion registriert.232 Die Milizführung war nicht blind für diese Probleme. Auf der Hauptversammlung in Moskau war die Rede davon, wie niedrig die „materiellen Lebensbedingungen“ ihrer Mitarbeiter waren, und dass „bedürftige Beamte und Mitarbeiter mit einer großen Familie keine Hilfe erhalten“. Der eigentliche Grund für einen Disziplinverstoß lag aus Sicht der GUM aber immer noch beim Mitarbeiter selbst.

229 Bericht über den Zustand der Politotdel der URKM in der Region Molotov, Mai 1941, in: PGASPI, f. 105, op. 7, d. 69, l. 12. 230 Vgl. ebd., l. 75. 231 Vgl. Shelley, Policing Soviet Society, S. 32. 232 Bericht des Leiters der Politodel des GUM NKVD SSSR über partei-politische Arbeit und den politisch-moralischen Zustand der Jahre 1940–1944, o. D. [vermutlich Ende 1944], in: GARF, f. 9415, op. 3, d. 383, l. 6ob.

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Die Staatsanwaltschaft Molotov

Davon war Suizid nicht ausgenommen. „Selbstmord wird von einem labilen Element begangen, aufgrund von Trinkerei, moralischer Verkommenheit, familiärer Probleme, Angst und der Verantwortung für begangene Taten.“233 Die Milizführung hielt dementsprechend an pädagogischen Lösungen fest. Je mehr Dienstvergehen registriert wurden, umso häufiger wurden politische Schulungen einberufen. Nicht umsonst galten Dienstvergehen als „moralisch-politisches“ Problem, ergo war es nur durch parteilichen Enthusiasmus zu bewältigen. Beamte, die diesen Vorträgen fernblieben, „weil ihnen das nichts geben würde“, wurden umgehend entlassen.234 Strukturelle Reformen, für die Ausbildung oder die Entlohnung der Beamten, wurden nicht erwogen. 20 bis 25 Prozent aller Mitarbeiter der Miliz in der Sowjetunion waren zwischen 1940 und 1943 mit mindestens einem Disziplinverstoß in Erscheinung getreten, wobei gerade die Ersatzkader für einen Großteil verantwortlich gemacht wurden, die die leeren Ränge der Kriegsfreiwilligen einnahmen. Kriegsveteranen und mobilisierte Aushilfskräfte „besonders aus der Ukraine“ wurden als Problemkader erkannt. Nicht wenige trugen die Traumata des Krieges mit ihren Biographien ins Hinterland. Die Dunkelziffer an Verstößen lag insgesamt weit höher und aller politischen Bildungsarbeit zum Trotz konnte auch die Hauptverwaltung der Miliz nicht ignorieren, dass „Bestechung, Hinterziehung von Beweismitteln und Diebstahl“ zum Arbeitsalltag ihrer Milizionäre gehörte.235 Entscheidend für die Aufsichtspflicht eines Staatsanwalts war zum einen, dass Ermittlungsregeln vor diesem Hintergrund keine hohe Chance hatten, beachtet zu werden. Zum anderen wurden diese Probleme überwiegend ideologisch und ausschließlich intern aufgearbeitet und ihre Lösung nach eigenem Ermessen beschlossen – unter Ausschluss der Staatsanwaltschaft. Das Parteikomitee von Molotov erhielt zwar Zustandsberichte doch über die personellen Konsequenzen entschied das NKVD selbst. Disziplinar- und Gerichtsverfahren gegen Angehörige des Innenministeriums wurden von NKVD-eigenen Tribunalen geleitet. Die Anklage vertrat dabei ein Militärstaatsanwalt, der zwar der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft in Moskau unterstellt war, de facto aber unter dem unmittelbaren Einfluss der NKVD-Verwaltung stand. Diese Verbindung ist, schon aufgrund der Aktenlage, noch immer ein großes Forschungsdesiderat.236

233 Ebd. 234 Bericht über den Zustand der Politotdel der URKM in der Region Molotov, Mai 1941, in: PGASPI, f. 105, op. 7, d. 69, l. 13. 235 Bericht der GUM für parteipolitische Maßnahmen in den Reihen der Miliz für 1940 bis 1944, o. D. [vermutlich Ende 1944], in: GARF, f. 9415, op. 3, d. 383, l. 21. 236 Eine der wenigen Studien zum Thema Militärjustiz stammt noch aus der Zeit vor den Archivöffnungen, deutet allerdings die strukturellen Verflechtungen zwischen NKVD, Armee und Militärjustiz an. Vgl. Ginsburgs, George: The Reform of Soviet Military Justice: 1953–1958, in: Donald

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Die (territoriale) Staatsanwaltschaft war folglich ein institutioneller Außenseiter, der die Gesetzesverstöße der Miliz erst einmal überblicken musste, um sie einzudämmen. Unterstützung war von Seiten des Innenministeriums dabei nicht zu erwarten, das sich bei Disziplinproblemen überwiegend auf Lehrgänge zur politischen Bildung verließ. Wie weit reichte nun der Anspruch der Staatsanwaltschaft, in das Tätigkeitsgebiet der Miliz einzugreifen und wie ging ein Staatsanwalt unter diesen Bedingungen mit seiner Aufsichtspflicht um? Ein typischer Bericht der Milizaufsicht verrechnete die Zahl der von der Miliz ermittelten Fälle mit der Zahl verhängter Urteile, Freisprüche und Verfahrenseinstellungen. Von den über 7000 Straftaten, die die Miliz im zweiten Halbjahr 1942 in Molotov ermittelte, betraf das zehn Prozent der Verfahren.237 Diese zehn Prozent waren demzufolge „ungesetzlich“ in Haft. Diese Zahl und die Dauer der Ermittlungsverfahren waren ohne größeres Zutun der Miliz zu ermitteln und bildeten damit den Kern der Milizaufsicht. In solchen Berichten wurden auch andere Fehlleistungen und Vergehen der Miliz angesprochen, wenn etwa keine Zeugen in die Ermittlungen einbezogen wurden. Zu Beginn der Abteilungsarbeit dienten solche Hinweise aber eher der Illustration des Hauptproblems: der Inhaftierung Unschuldiger, entweder nach Paragraph 100 der Prozessordnung oder durch anschließende Untersuchungshaft, sowie der Verschleppung von Ermittlungsverfahren. Gerade der Paragraph 100 erlaubte gewissermaßen den präventiven Arrest bei Verdunkelungsgefahr (im heutigen Sprachgebrauch).238 An dessen Missbrauch und dem Ergebnis der Untersuchungshaft bemaßen Staatsanwälte die ungesetzlichen Aktivitäten der Miliz. Illegale Verhörmethoden beispielsweise blieben dabei nicht unbeachtet, waren aber in einem Standardbericht nicht quantifizierbar. Dauer und Grundlage der Untersuchungshaft waren die wichtigsten Themen der leitenden Abteilung für Milizaufsicht in Moskau, nicht nur weil sie einfach auszuwerten waren. Aus Sicht dieser Abteilung lieferten sie die Kriterien, um die Gesetzmäßigkeit der Ermittlungen zu prüfen und delinquente Beamte unmittelbar zu Rechenschaft zu ziehen. Eine deutliche Warnung ging zum Beispiel an Kuljapin und seine Mitarbeiter, die jene zehn Prozent fälschlicherweise Inhaftierten zu verantworten hatten. „Juristisches Analphabetentum“ auf Seiten der Miliz sei eine Erklärung, aber keine Rechtfertigung für fehlende Konsequenzen, so die Mahnung des Unionsabteilungsleiters Ivan Savelʼev. Zwischen dem Befehl vom 17. November 1938 und dem Paragraphen 100 stehe ein eindeutiger Zusammenhang. Hier müsse D. Barry u. a. (Hg.), Soviet Law after Stalin. Part III. Soviet Institutions and the Administration of Law. Germantown (MD) 1979, S. 31–34. 237 Vgl. Bericht zur Milizaufsicht im dritten und vierten Quartal 1942, o. D. [vermutlich Frühjahr 1943], in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 569, l. 4. 238 Vgl. Ugolovno-processualʼnyj kodeks (1938), S. 27.

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jeder einzelne schuldige Milizbeamte zur Verantwortung gezogen werden.239 Jeder „ungesetzliche Arrest“ war ohne größeren Aufwand belegbar und auf den ersten Blick das einzige Druckmittel gegenüber den Beamten des Innenministeriums. Diese Drohung galt aber auch den eigenen Beamten. In einer Direktive vom 17. August 1942 stellte die Unionsstaatsanwaltschaft klar, dass ein Staatsanwalt für „unbegründeten Arrest und die willkürliche Inhaftierung Unschuldiger unverzüglich zu verhaften und vor Gericht zu bringen sei.“240 Die Unionsstaatsanwaltschaft wollte mit der Milizaufsicht ein Korrektiv etablieren, das die Fehlerquote in den Strafverfahren aller Ermittlungsorgane beheben würde, bevor es überhaupt zum Gerichtsverfahren kam. Der Druck lastete dabei auch auf den Staatsanwälten. Vor diesem Hintergrund erließ Unionsstaatsanwalt Bočkov am 21. April 1943 auch den Befehl „Nummer 20s: Über Maßnahmen zur Beseitigung der Verzögerung der Ermittlung und der Gerichtsverfahren von Arrestsachen.“ Dieser Befehl richtete sich gleichermaßen an die Haft- und die Milizaufsicht und bündelte den Aufgabenkatalog und die Prioritäten, die im Umgang mit den Organen des Innenministeriums zu gelten hatten. Offizieller Anlass dieses Schreibens war die hohe Zahl an verschleppten Arrest-Sachen, sprich: Fälle deren Ermittlungsarbeit noch immer nicht abgeschlossen war. Das Resultat seien „zehntausende arbeitsfähiger Menschen, die auf Staatskosten im Gefängnis sitzen, ohne nützliche Arbeit zu verrichten.“241 Die Milizaufsicht trug dementsprechend die Verantwortung, Fristen und Grundlage eines Arrests im Vorfeld zu bestimmen. Zentrale Fragen wie: die Möglichkeiten der Bestrafung oder Disziplinierung von Miliz-Beamten, allgemeine Dienstvergehen oder Verletzungen der Prozessordnung im Ermittlungsverfahren wurden hintangestellt bzw. der „gemeinsamen Erörterung“ mit dem NKVD vor Ort überlassen.242 Die Unionsstaatsanwaltschaft erwartete die Qualitätskontrolle aller Ermittlungsverfahren, ohne Rücksicht auf praktische Hürden. Der Fokus der Moskauer Staatsanwälte auf Arrest-Sachen traf sich mit den Vorstellungen Kuljapins. Er selbst machte gleich zu Beginn seiner Arbeit in Molotov den „ungesetzlichen Arrest“ zum moralischen Leitmotiv seines Amtes. Aufsicht über die Miliz und Aufsicht über den Strafvollzug waren für ihn beide untrennbar verbunden. Jeder ungerechtfertigte Arrest in Untersuchungshaft galt als skandalöses Martyrium, das einen Menschen vor Gericht und im schlimmsten Falle in ein Zwangsarbeitslager führte. Beide Abteilungen waren ohnehin auf die gegenseitige

239 Schreiben des Leiters der Milizaufsicht-Abteilung in der Staatsanwaltschaft Moskau, Savelʼev, an Kuljapin, o. D. [vermutlich Frühjahr 1943], in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 569, l. 137. 240 Stenogramme der Mitarbeiterversammlung, Juli 1943, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 57, l. 107. 241 Befehl 20s: Über Maßnahmen zur Beseitigung der Verzögerung der Ermittlung und der Gerichtsverfahren von Arrestsachen, 21.4.1943, in: GARF, f. R-8131, op. 38, d. 155, l. 33. 242 Ebd., l. 34.

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Zuarbeit angewiesen und bereits im September 1942 stellte Kuljapin klar, dass sie die gemeinsame Verantwortung für die Insassen trügen. Sowohl die Kontrolle der Hafteinrichtungen als auch die Reaktion auf Häftlingsbeschwerden konnten laut Kuljapin die Defizite eines Internierungssystems und die Willkür der Beamten entlarven, die Menschenleben gefährdeten. Aufsicht über die Miliz bedeutete gewissermaßen den ersten Arbeitsschritt. Nur der Staatsanwalt könne einen unbegründeten Arrest aufheben, wenn beispielsweise kein Tatbestand vorliege oder die Tat zu „geringfügig“ sei.243 Allerdings waren für Kuljapin die Möglichkeiten der Miliz- und Haftaufsicht mit einer Fallprüfung noch längst nicht ausgereizt. Der Besuch im Untersuchungsgefängnis diene der Möglichkeit, Ungesetzlichkeiten aller Art im Vorfeld abzuwenden, auch gegen Widerstände. „Geben Sie ihre staatsanwaltschaftliche Position nicht auf!“ Ein Staatsanwalt habe das Recht, Tag und Nacht „von dem Gefangenen zu erfahren, wofür er verhaftet wurde.“244 Wenn gegen die Prozessordnung verstoßen wurde bzw. die Ermittlung regelwidrig geführt wurde, unterlag das ebenso der Aufsichtspflicht eines Staatsanwalts. Jede Abweichung erinnere unweigerlich an das Szenario erinnern, das mit dem 17. November 1938 unterbunden werden sollte. Hinweisen auf Misshandlungen im Verhör müsse man dabei besonders nachgehen. In einer Häftlingsbeschwerde wird auf Schläge von Seiten einzelner Mitarbeiter der Miliz während des Verhörs hingewiesen, auf Tätlichkeiten. Wenn sich das bestätigt, dann riecht die ganze Sache danach, die Mitarbeiter der Miliz vor Gericht zu bringen. Es riecht nach der Wiederholung der Praktiken, die von dem Beschluss vom 17. November verurteilt worden waren.245

Sowohl auf der Versammlung von 1942 als auch auf den Treffen des Folgejahres gehörte diese Warnung fest in Kuljapins Repertoire. Die Dienstvergehen wurden dabei zu keinem Zeitpunkt als strukturelles Problem der Miliz diskutiert (auch wenn es die Delikte nahelegen würden). Milizionäre hätten vielmehr ein Bildungsdefizit, das nur ein rechtskundiger Staatsanwalt kompensieren könne. Im Umkehrschluss mussten die Defizite in den eigenen Reihen gesucht werden, was natürlich auch dadurch bedingt war, dass Staatsanwälte jeden Arrest im Vorfeld sanktionieren mussten. Auf die Unterstützung der Miliz könne folglich nicht gezählt werden. Für viele

243 Stenogramme der Mitarbeiterversammlung, Juli 1943, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 57, l. 40. Kuljapin bezog sich dabei auf Paragraph 6 im Strafgesetzbuch, wonach Vergehen bei ihrer „Geringfügigkeit“ nicht als Verbrechen qualifiziert werden. Unterbindungsmaßnahmen wären folglich aus seiner Sicht ebenso unzweckmäßig. Vgl. Strafgesetzbuch der RSFSR (1938), S. 10. 244 Stenogramme der Mitarbeiterversammlung, Juli 1943, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 57, l. 40. 245 Ebd.

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ist die Mission eines Staatsanwaltes beendet, nachdem er die Sanktion gegeben hat. Über den Menschen denkt niemand nach […] Letztlich passiert es, dass Menschen fünf bis sechs Monate im Gefängnis sitzen, ohne dass gegen sie eine Anklage vorgebracht wird, ohne Befragung und allgemein interessiert sich niemand für ihr Schicksal.246

Staatsanwaltschaftliche Aufsicht über die Miliz implizierte aus Kuljapins Sicht die Verantwortung für das gesamte Ermittlungsverfahren und die Möglichkeit, den Milizionären bei jedem Arbeitsschritt auf die Finger zu schauen. Doch auch er vermied es (noch), das institutionelle Verhältnis zur Miliz und das bestehende Ungleichgewicht zu thematisieren, geschweige denn brachte er deren eigene Verantwortung als Ermittler zur Sprache. Er forderte strafrechtliche Konsequenzen auf beiden Seiten, doch der Grund dafür, dass Menschen unbegründet inhaftiert wurden, müsse einzig bei der Staatsanwaltschaft gesucht werden. Umso deutlicher kamen auf solchen Versammlungen die eigenen Defizite zur Sprache. Beschwerden von Untersuchungshäftlingen würden kategorisch abgelehnt und Gefängnisse nicht besucht. Ein Staatsanwalt musste sich sogar dafür verantworten, dass er die Nachnamen von zwei Verdächtigen verwechselt hatte und sicherheitshalber beide Namensvetter für acht Monate in Untersuchungshaft gehalten hatte.247 Für Kuljapin lag die Hauptverantwortung für das Ermittlungsverfahren beim Staatsanwalt. Er gestand zwar ein, dass die Abteilung nicht die Möglichkeit habe, auf alle Häftlingsanfragen zu reagieren.248 Diesem Problem und den Eigenmächtigkeiten der Miliz könne aber nur mit noch mehr Kontrollen begegnet werden. Die Staatsanwaltschaft in Moskau baute vor allem auf das Prinzip der Ar­ rest-Kontrollen, um die Souveränität der eigenen Behörde im Ermittlungsverfahren durchzusetzen. Der Befehl vom 17. November 1938 war der Geburtshelfer dieses Anspruchs und Kuljapin nutzte dieses Szenario, um an die Konsequenzen des eigenen Versagens zu erinnern. Er misstraute den Praktiken der Miliz zutiefst und schärfte seinen Untergebenen die nötige Wachsamkeit gegenüber allen Arbeitsprozessen der Miliz ein. Strukturelle Konflikte mit der Miliz wurden dabei allerdings ganz und gar ausgeblendet, sowohl von Kuljapins Seite als auch von den Vorgesetzen in Moskau. Der Fokus lag vor allem auf den eigenen Defiziten. Die Praxis der Milizaufsicht verdeutlicht allerdings, dass diese Haltung im Austausch mit der Miliz nicht weit führte, und dass Kuljapin im Laufe des Jahres 1943 mehr und mehr Gelegenheit bekam, sich in diesen Konflikten zu erproben – mit unterschiedlichem Ausgang.

246 Stenogramme der Mitarbeiterversammlung, Juli 1943, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 57, l. 107. 247 Vgl. Stenogramme der Mitarbeiterversammlung, Juli 1943, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 84, l. 31. 248 Vgl. Stenogramme der Mitarbeiterversammlung, Juli 1943, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 57, l. 103.

Das Innenministerium im Fokus der Staatsanwaltschaft

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Die Konflikte folgten in der Regel dem gleichen Muster. Im April 1943 wandte Kuljapin sich persönlich an den Leiter der Regionalen Milizverwaltung, Grigorij Skrypnik. Seit über einem halben Jahr habe die Milizaufsicht verschiedene Fälle gesammelt, in denen Menschen vorschnell und unbegründet durch die Miliz inhaftiert worden waren oder viel zu lange in Untersuchungshaft ausgeharrt hatten, ohne dass ihnen der Prozess gemacht wurde. Die Miliz von Krasnokamsk hatte mindestens zwei Menschen als Deserteure verhaftet, ohne dass ein Staatsanwalt diesen Arrest sanktioniert hätte. Fünf Monate seien sie nun in Haft. Kuljapin forderte daher personelle Konsequenzen für die Beamten und das offenbar nicht zum ersten Mal.249 Es gelang Kuljapin nicht, die beiden Männer unverzüglich aus der Haft freizubekommen und auch sonst ist keine Antwort von Skrypnik überliefert, die darauf hindeutet, dass die Milizverwaltung sich in dieser Frage antreiben ließ. Umgekehrt war es ein Leichtes für die Miliz, die Staatsanwaltschaft an deren eigener Aufsichtspflicht unter Druck zu setzen. Skrypniks Vorgesetzter in Moskau, UNKVD -Abteilungsleiter Potaškin, nötigte Kuljapin im Laufe des Jahres 1943 dazu, sich bei ihm für ungesetzliche Inhaftierungen zu erklären. Molotovs Staatsanwalt bekannte, dass sich seine Mitarbeiter „leichtfertig“ verhalten hatten. In dem „Durcheinander an Strafsachen“ hätten einige den Überblick verloren. Ein Bezirksstaatsanwalt wurde verwarnt, weil er eine Zaja Valeeva mit Zija Valeeva verwechselt hatte und beide inhaftieren ließ. Zwei weitere Mitarbeiter wurden entlassen, weil Untersuchungshäftlinge unter ihrer Ägide über die Bearbeitungsfrist hinaus festgehalten wurden. Der unbegründete Arrest eines Kolchosmitarbeiters brachte einen Staatsanwalt sogar selbst auf die Anklagebank.250 Ganz gleich, wer diese Haftbefehle ausstellte: die Verantwortung fiel meist auf den Staatsanwalt zurück, weil diese Befehle „ungesetzlich“ waren. Kuljapin und seine Mitarbeiter konnten also Druck auf die Miliz ausüben, mussten aber damit rechnen, dass diese Vorwürfe allesamt auf die Staatsanwaltschaft zurückfallen konnten. Nicht nur die Miliz, auch die unmittelbaren Vorgesetzten der Staatsanwaltschaft erhöhten den Druck auf Kuljapin und seine Mitarbeiter, als sich 1943 die Fälle anhäuften, in denen Menschen zu Unrecht und zu lange in Arrest gehalten wurden, obgleich die Miliz die Ermittlungen geführt hatte. Am 7. September 1943 ging ein Schreiben aus der Staatsanwaltschaft Moskau in der Staatsanwaltschaft und im Regionalkomitee von Molotov ein, das Kuljapin und seinen Mitarbeitern vorwarf, „den Beschluss vom 17.11.38 vergessen“ zu haben. Die Miliz habe Frauen inhaftiert, „die Kinder im Säuglingsalter hatten, Alte, Minderjährige usw., die nur geringfügige 249 Vgl. Schreiben über ungesetzlichen Arrest von Kuljapin an UNKVD-Leiter Skrypnik, 16.4.1943, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 651, l. 39. 250 Schreiben Kuljapins an Leiter der UNKVD, Kommissar GB Potaškin, o. D. [vermutlich Sommer 1943], f. 1366, op. 1, d. 651, l. 106.

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Verbrechen begangen haben“ oder bei denen eindeutig keine Fluchtgefahr bestanden habe.251 Zwischen einem Viertel und der Hälfte aller Ermittlungsfälle seien über die gesetzlichen Fristen hinaus verzögert worden. Die Tatsache, dass zehn der vierzig Ermittlungsverfahren, die das Militärtribunal in Molotov initiiert hatte, mittlerweile über ein Jahr andauerten, sprach aus Moskauer Sicht für die „Tatenlosigkeit“ der Staatsanwaltschaft. Der Stadt-Staatsanwalt von Berezniki verantwortete allein 27 Ermittlungsfälle, die liegen geblieben waren. Seine Erklärung („ich hatte keine Gelegenheit dazu“) war den Vorgesetzten in Moskau ein deutlicher Beleg für diese angebliche Tatenlosigkeit.252 Nahezu jede Verzögerung und jede Fehlentscheidung der Miliz fiel folglich auf die Beamten zurück. Viel schwerer wog aber eine andere Zahl. Im Verlauf des Jahres 1943 wurden 366 Personen auf Beschluss eines Staatsanwaltes aus der Untersuchungshaft entlassen. Der Bericht gab dazu weder Beispiele an noch wurden die Fälle einem bestimmen Ermittlungsorgan zugeordnet. Die Zahl an sich spreche dafür, dass die Beamten Häftlinge, vor allem Arbeitsdeserteure, freilassen, „weil sie die Strafsachen nicht mehr finden konnten, die sie in diesem zwischenbehördlichen Karussell verloren hatten“. Für die Unionsstaatsanwaltschaft war „vollkommen klar, dass es für die Befreiung dieser großen Zahl an Häftlingen, und auch vieler anderer Häftlinge […] keinerlei gesetzliche Grundlage gab.“253 Das Regionalkomitee griff dieses Schreiben auf, mahnte sowohl Kuljapin als auch Skrypnik und die NKVD -Führung, diese Zustände zu korrigieren, wobei sich vor allem die Staatsanwaltschaft dem Vorwurf der „massenhaften Befreiung Inhaftierter“ ausgesetzt sah. Zugleich sollten auf Parteibeschluss künftig alle Arrestanträge vom Staatsanwalt begründet werden.254 Diese Vorschrift war nicht neu und galt für alle Ermittlungsorgane, aber es ist bezeichnend, dass nur die Staatsanwaltschaft daran erinnert wurde. Diese Episode ist ein aufschlussreiches Beispiel für die Kommunikation und die Koordination der Milizaufsicht. Zum einen spielten Verhörpraktiken und die Ermittlungsarbeit der Miliz keine wirkliche Rolle für die Vorgesetzten, sondern nur die Resultate der Fallprüfungen. Zum anderen waren einige Staatsanwälte bereit, einen Untersuchungshäftling eher freizulassen, als die Ermittlungen fortzuführen bzw. zu beaufsichtigen. In Anbetracht der Welle an Fällen, die die Kampagnen gegen Arbeitsdeserteure hervorriefen, ersparten sich diese Beamten die Auseinandersetzung mit der Miliz. Selbst wenn die übrigen Mitarbeiter diesem Beispiel nicht folgten, zog die Staatsanwaltschaft mit jeder auffälligen Statistik negative 251 Vgl. Mitteilung über Gesetzesverletzungen bei Arresten und Vorermittlungen in Molotov, 8.9.1943, in: PGASPI, f. 105, op. 9, d. 118, l. 72–73. 252 Ebd., l. 74. 253 Ebd., l. 75. 254 Beschluss des ObKom Molotov, 8.9.1943, in: PGASPI, f. 105, op. 9, d. 118, l. 77.

Das Innenministerium im Fokus der Staatsanwaltschaft

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Aufmerksamkeit auf sich. „Ungesetzliche Haft“ fiel dabei ebenso ins Gewicht wie die „massenhafte Befreiung“ von Insassen. Sowohl von Seiten der Miliz als auch von der Partei und den eigenen Vorgesetzten konnte die Staatsanwaltschaft folglich unter Rechtfertigungsdruck geraten. Die Verantwortung für das gesamte Ermittlungsverfahren konnte unter diesen Umständen zum Verhängnis werden. Das galt vor allem dann, wenn eine Abteilung mit drei Mitarbeitern den Überblick über mehrere tausend Ermittlungsfälle im Monat behalten musste. Kuljapin bewies allerdings auch, dass die Staatsanwaltschaft durchaus zur Eigeninitiative fähig war. Im Laufe der Jahre 1943 und 1944 sind Fälle überliefert, in denen Kuljapin den Druck auf die Miliz lenkte. Er zeigte zunehmend weniger Bereitschaft, die Verantwortung für das Versagen und die Fehltritte der Milizionäre zu übernehmen. Anlass dazu gab Miliz-Chef Skrypnik im Dezember 1943, als dieser sein Pendant in der Staatsanwaltschaft über die GUM bei der Unionsstaatsanwaltschaft angriff. Der Vorwurf: Mitglieder der Staatsanwaltschaft Molotov hätten in vielen Fällen die Sanktion für einen Arrest verweigert. „Diebe und Wiederholungstäter“ stünden folglich auf freiem Fuß. Zum Beleg nannte Skrypnik drei Beispielfälle.255 Skrypniks Schreiben gingen in den Monaten zuvor andere Korrespondenzen voraus, die darauf hindeuten, dass Kuljapin und er bereits seit Juni 1943 über die Zahl verweigerter Arrest-Sanktionen stritten. Kuljapin sah in Skrypniks jüngster Beschwerde ein taktisches Manöver, um alle verweigerten Arrestsanktionen des Jahres 1943 in Zweifel zu ziehen und die Staatsanwaltschaft in Misskredit zu bringen. Er warnte in einem Brief an den Chef der Milizaufsicht in Moskau, Savel’ev, davor, dass „Sie in die Irre geführt wurden“. In den ersten zehn Monaten des Jahres erteilte die Staatsanwaltschaft über 10.000 Haftsanktionen, annährend neun Prozent davon wurden verweigert. Die Miliz wurde also nur in 996 Fällen an ihren Aktionen behindert. Diese drei von Skrypnik in seinem Schreiben angeführten Beispiele sollten die Staatsanwaltschaft zwingen, sich für alle 996 Fälle zu rechtfertigen.256 An diesem Punkt verwies Kuljapin auf ein grundsätzliches Problem, das allein die Miliz verantworte. Diese Behörde inhaftiere Menschen und verlange von der Staatsanwaltschaft die Sanktion im Sinne einer „Vorauszahlung“ [avansirovanija], damit sie sich den Formalitäten hinterher widmen könnten, wenn überhaupt. 996 Menschen seien der lebendige Beleg dafür, dass die Staatsanwaltschaft keinesfalls Arreste auf Bestellung liefere, was

255 Schreiben der Regionalen Milizverwaltung an die Staatsanwaltschaft Molotov, 31.12.1943, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 569, l. 328. 256 Es ergebe keinen Sinn, „Argumente zu verschwenden, um zu beweisen, dass die Regionalstaatsanwaltschaft entsprechend der Leitlinien des Befehls des Unionsstaatsanwalts 20s gehandelt hätte“. Schreiben Kuljapins an Leiter der Milizaufsichtsabteilung in Moskau, Savelʼev, Dezember 1943, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 569, l. 326.

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Die Staatsanwaltschaft Molotov

Skrypnik offensichtlich dazu veranlasste, sich bei der Unionsstaatsanwaltschaft zu beklagen. Anders als auf der Mitarbeiterversammlung, äußerte Kuljapin bei dieser Gelegenheit Zweifel an der Zusammenarbeit mit und der Institution der Miliz: „Wo sind denn die Prinzipien der Miliz in einer solch ernsthaften Frage wie beim Arrest eines Bürgers?“257 Kuljapin wählte eines der Beispiele aus, um den Vorwurf Skrypniks zu entkräften. A. Mitin hatte angeblich 500 Rubel und die Armbanduhr seiner Freunde gestohlen, die ihn eigentlich bezahlten, um Wodka zu kaufen. Der Wodka wurde nie gekauft, die Miliz verhaftete ihn für Diebstahl und wegen absichtlicher Täuschung. Kuljapin dekonstruierte den Fall für seinen Vorgesetzten, nicht ohne zugleich Skrypnik als unfähig hinzustellen. Mitin und seine zwei Freunde seien einen mündlichen Vertrag eingegangen, den zu brechen allenfalls zivilrechtliche Folgen gehabt hätte. Strafrechtliche Konsequenzen stünden außer Frage. Mitin kam nicht ins Gefängnis. Darüber hinaus seien die anderen zwei Beispiele nicht in der Staatsanwaltschaft verzeichnet, und wahrscheinlich auch nicht in der Miliz: „Wir wundern uns sehr, dass die Hauptverwaltung der Miliz ohne jede Prüfung der Fakten, die ihnen von der Regionalverwaltung dargelegt wurden, es für möglich hielt, sich an die Unionsstaatsanwaltschaft zu wenden und Sie darauf hereingefallen sind.“ Für Kuljapin war das ein klarer Nachweis für die „unseriöse Herangehensweise der Miliz“. 258 Kuljapin und Skrypnik setzten ihren Schlagabtausch über das Regionalkomitee fort, ohne dass personelle Konsequenzen überliefert sind. In den folgenden Monaten und Jahren vertiefte und verstetigte sich dieser Konflikt jedoch. Auffällig ist, dass immer mehr Staatsanwälte die Ermittlungen selbst übernahmen und zunehmend häufiger die Zahl „ungesetzlicher Arreste“ und entsprechende Fristvergehen in der Untersuchungshaft dokumentierten. Ende 1942 beteiligte sich die Staatsanwaltschaft Molotov an lediglich 22 Prozent aller Ermittlungsfälle. Zwei Jahre später waren es bereits über 60 Prozent.259 Darüber hinaus deckte Kuljapin die Milizverwaltung sprichwörtlich mit „Eingaben“ (predstavlenija) ein, offizielle Beschwerdeschreiben an Staatsbehörden, wenn private Korrespondenzen ergebnislos blieben. Doch auch diese Schreiben ließ die Milizverwaltung von Molotov häufig unbeantwortet. In der Folge blieben viele Menschen noch immer „ungesetzlich inhaftiert“.260

257 Ebd. 258 Ebd., l. 327. 259 Schreiben des Leiters der Milizaufsicht-Abteilung in der Staatsanwaltschaft Moskau, Savelʼev, an Kuljapin, o. D. [vermutlich Frühjahr 1943], in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 569, l. 137. Savelʼev sprach von 22 % am allgemeinen Anteil der Ermittlungsverfahren (auch in Form schriftlicher Anweisungen an die Miliz). Bericht der Staatsanwaltschaft Molotov für 1945, [vermutlich Januar 1946], in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 844, l. 32. 260 Ebd., l. 81.

Das Innenministerium im Fokus der Staatsanwaltschaft

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Dabei wurden nicht nur Zahlen beanstandet. Kuljapin thematisierte auch Fälle von Fehlverhalten im Dienst und beschwerte sich über Delikte, die sich nicht in Zahlen ausdrückten. Im Bezirk Bolʼšoj Gorodkovskij sollen verwundete und kranke Personen in die Arrestzellen gebracht worden sein. Kuljapins Forderung nach strenger Bestrafung der Beamten wurde schlichtweg ignoriert. In Častinsk wiederum hatten Milizionäre Gefängnisinsassen zum Holzsägen rekrutiert – ein klarer Verstoß gegen die Haftbestimmungen, der noch immer nicht geahndet worden sei.261 Mit Blick auf die Ermittlungsfristen konnte Kuljapin Erfolge erzielen. Der „Befehl 20s“ sah vor, Fristverletzungen in den Ermittlungen nach dem ermittelnden Organ zu unterscheiden. Das ermöglichte einen genauen Blick, wer wie viele Insassen wie lange inhaftiert ließ. Staatsanwaltschaft und Miliz waren in der Hinsicht gleichermaßen fahrlässig und behielten in besagtem Halbjahr 1944/45 zwischen 11 und 14 Prozent ihrer Untersuchungshäftlinge länger als einen Monat in Haft. Kuljapins „Vorlagen“ führten zur Entlassung eines niederen Milizbeamten und zur Verwarnung zweier weiterer Bezirksabteilungsleiter der Miliz. Zeitgleich veranlasste er die Entlassung eines Volksermittlers aus demselben Bezirk, zwei Staatsanwälte wurden ebenfalls verwarnt.262 Der Bruch von Ermittlungsregeln konnte also unmittelbare Folgen für den jeweiligen Beamten haben und bis zu einer gewissen Hierarchieebene ließ sich dieses Prinzip auch in der Miliz durchsetzen. Der Anspruch der Staatsanwaltschaft in Moskau und Molotov, das gesamte Ermittlungsverfahren den Regeln der Prozessordnung zu unterwerfen und über die Aufsichtsfunktion ihrer Beamten transparenter zu machen, war ambitioniert und blendete doch strukturelle und persönliche Konflikte und Widerstände aus. Erstens hatte das Innenministerium kein Interesse an Transparenz. Nur die Parteistellen wurden mit ausgewählten Daten versorgt. Die Staatsanwaltschaft blieb ein Außenseiter: Eine Konstellation, die die Behördenrivalität zwischen Miliz und Staatsanwaltschaft über alltägliche Konflikte hinweg noch zementierte. Zweitens verließen sich die Staatsanwaltschaft (und auch der Regierungsapparat) primär darauf, Defizite fast ausschließlich in Zahlen zu kommunizieren. Die deckten bei Weitem nicht die Bandbreite an Dienstvergehen und Verbrechen ab, die die Miliz bei ihren Beamten intern dokumentierte. Vor allem aber bestimmte deren Auslegung das Resultat der Milizaufsicht, so dass der zuständige Staatsanwalt Gefahr lief, durch die politisch stärkere oder überzeugendere Interpretation von Seiten der Miliz, selbst in Mitleidenschaft gezogen zu werden. All diese Hindernisse stellten Kuljapins Enthusiasmus auf die Probe. Zumindest stellte sich die Staatsanwaltschaft in Molotov zunehmend auf die Konflikte mit der

261 Vgl. ebd., l. 83. 262 Vgl. ebd., l. 118.

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Miliz ein. Abmahnungen, Entlassungen und Strafverfahren drohten den eigenen Beamten, während Kuljapin zuweilen auch dem NKVD disziplinarische Maßnahmen gegen die eigenen Mitarbeiter abringen konnte. Um tatsächlich transparente Ermittlungen zu gewährleisten, bedurfte es der Kooperation, um nicht zu sagen geschäftsmäßiger Beziehungen, zwischen den beiden größten Ermittlungsbehörden. Stattdessen war Milizaufsicht eine Frage des Konfliktmanagements und ein taktisches Werkzeug rivalisierender Behörden. Warum geschäftsmäßige Beziehungen zur Miliz keine realistische Option waren, ergibt sich, wenn man die Perspektive auf dieses Problem nachvollzieht, die die Führung der Staatsanwaltschaft vertrat. Molotov war offensichtlich nicht die einzige Region, in der sich das Verhältnis zwischen Staatsanwaltschaft und Miliz zum Ende des Krieges zunehmend anspannte. Die Milizaufsicht wurde allerorten von der Staatsanwaltschaft als Problembereich angesehen. Die Aufgabe, den Ermittlungsprozess in der Sowjetunion regelhaft und professionell zu gestalten, wurde zunehmend als einseitige Belastung für die Staatsanwälte wahrgenommen. Vor diesem Hintergrund hielt die Unionsstaatsanwaltschaft im Februar 1944 eine Konferenz zur Milizaufsicht ab.263 Besser lässt sich die Wahrnehmung des eigenen Verhältnisses zur Miliz in den Reihen der Moskauer Staatsanwaltschaft kaum nachzeichnen. In seiner Eröffnungsrede erklärte der stellvertretende Unionsstaatsanwalt Konstantin Mokičev dem Auditorium kurz und bündig, was er und seine Vorgesetzten von der Milizaufsicht erwarteten: „maximal begrenzte Fristen [der Inhaftierung, I. R.] bei hoher Qualität der Ermittlungen“. Die Zahlen sprächen in vielen Bereichen gegen die Staatsanwaltschaft. 70 Prozent der Ermittlungen würden noch immer von der Miliz geführt, Staatsanwälte seien an der Aufdeckungsquote der Miliz nicht interessiert und noch immer nähmen kaum Staatsanwälte am Verhör teil. Besonders die Region Molotov trete hier negativ hervor. Nicht einmal in 14 Prozent der Fälle war in der Region am Ural ein Staatsanwalt anwesend, wenn die Miliz einen Bürger verhörte. Zeitgleich wurden im dritten Quartal 1943 mehr als 40 Prozent aller Untersuchungshäftlinge wieder freigelassen und jede zehnte Strafsache, die zustande kam, sei wieder eingestellt worden. Aus Mokičevs Sicht war man weit davon entfernt, die Kontrolle über alle Ermittlungsverfahren im Land zu gewinnen. Gerade die Zahl der ausgesetzten Verfahren verbuchten einige Staatsanwälte als Erfolg, doch das Gegenteil sei der Fall. Diese Zahl „zeuge vielmehr davon, dass die Organe der Staatsanwaltschaft keine Aufsicht über die Ermittlung dieser Sachen

263 Vgl. Zvjagincev/Orlov, Prigovorennye vremenem, S. 304. Zvjagincev behauptet, dass der Leiter der sowjetischen GURKM, Aleksandr Galkin, ebenfalls teilgenommen habe. Wahrscheinlicher ist es, dass es sich bei dem in den Stenogrammen vermerkten „Galkin“ um B. Ja. Galkin handelte, der dem sogenannten „Methodenrat“ angehörte – einer Planungsabteilung der Unionsstaatsanwaltschaft. Ebd., S. 211.

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führen“.264 Mokičev stellte klar, dass die Staatsanwaltschaft die Verantwortung für das Versagen der Miliz trug. Dieser Sichtweise schlossen sich die Beamten allerdings nicht widerspruchlos an. Als Reaktion auf Mokičevs Kommentare wurde von mehreren Seiten Kritik an der Arbeitsweise der Miliz laut. Rostovs Staatsanwalt Jurčenko beklagte, dass sich die Miliz einfach über Ermittlungsfristen hinwegsetze. Natürlich erkläre sich das Problem aus der schlechten Ausbildung dieser Beamten, so Jurčenko, doch auch wenn der Moskaus Milizaufsichtschef Savelʼev dazu aufrufe, der Miliz dabei zu helfen, gebe es immer „Miliz-Leiter, die sich dieser Hilfe verweigern.“ Die Miliz denke, die „Qualität der Ermittlungen sei Sache der Staatsanwaltschaft.“265 Ein führender Abteilungsleiter aus Moskau namens Galkin zweifelte insgeheim daran, dass die Milizführung dieses Problem überhaupt wahrnahm: „Was macht der zentrale Apparat der Milizorgane, um die Qualifizierung seiner Mitarbeiter zu verbessern? Ich weiß, dass die Ermittlungsabteilungen der Miliz weder einigermaßen richtig ausgebildet werden, noch interessiert man sich für die Qualität der Ermittlungen in den Bezirksabteilungen.“ Selbst Unionsstaatsanwalt Goršenin bezeichnete die meisten Abteilungsleiter der Miliz als „Abstempler” (stampovščiki), die die Arbeit ihrer Ermittler kommentarlos billigen würden.266 Beschwerden, die auf die schlechte Arbeitseinstellung und die Nachlässigkeit der Miliz zielten, waren in dieser Runde grundsätzlich zulässig. Dabei relativierten jedoch besonders Beamte aus Moskau ihre eigene Kritik an der Miliz mit dem Hinweis, dass die Milizionäre vor allem juristische Hilfe benötigten. Die praktische Rolle der Milizaufsicht, so Galkin, liege in der „täglichen Unterstützung der Mitarbeiter der Miliz“.267 Bei allen Defiziten liege der Schlüssel, um die Ermittlungsarbeit zu verbessern, in der Anleitung juristisch ungebildeter Miliz-Beamter. Nicht alle beließen es allerdings bei dieser Losung. Immer wieder drangen strukturelle Probleme in den Beiträgen durch und die Frustration der Staatsanwälte darüber, ständig mit Appellen zur Zusammenarbeit abgekanzelt zu werden. Kuljapin war auf der Versammlung nicht anwesend, doch der Regionalstaatsanwalt von Archangelsk hatte Molotov offensichtlich besucht. Für ihn war die Uralregion ein treffendes Beispiel für das ungleiche und gestörte Verhältnis zwischen Miliz und Staatsanwaltschaft. Ermittlungsbehörden stünden dort im Streit, anstatt das Verbrechen zu bekämpfen. 1943 habe es in Molotov keine Lehrgänge für die Miliz gegeben und fast 100 Prozent der Miliz-Mitarbeiter seien im Laufe 264 Material der Versammlung der Leiter für Milizaufsicht der Republiken, Gebiete und Regionen, 25.2.–28.2.1944, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 2085, l. 1–22. 265 Ebd., l. 44. 266 Ebd., l. 58. 267 Ebd.

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des Jahres ausgetauscht worden. Unterstützung sei also in jedem Falle notwendig. Allerdings könne nicht jeder Bezirksstaatsanwalt ständig „Unterricht für Miliz-Mitarbeiter geben“. Darüber hinaus beklagte er die „unüberwindbaren Hürden“, die den Staatsanwälten von der Miliz in den Weg gelegt werden. Man habe nur den Behördenweg, der allerdings nicht weit führe.268 Vramšapu Tadevosjan, eigentlich zuständig für Jugendkriminalität, stellte den Statistikwahn der Staatsanwaltschaft zur Diskussion und damit indirekt das Kommunikationsprinzip des sowjetischen Justizsystems. Was für die Analyse von Kriminalität ausreichend schien, führe bei dieser Art von Konflikten nicht weit: Woran liegt es, dass Leiter der Milizaufsichtsabteilungen einen großen Teil ihrer Aufmerksamkeit der Analyse allerlei numerischer Daten widmen und weniger Aufmerksamkeit dem Kern der ernsthaften Defizite, die es bei dieser Arbeit gibt? Ich denke, es gibt keine sachgemäß aufgestellte Aufsicht für die Arbeit der Miliz-Organe. Dieses Gebiet ist für uns vollkommen neues Terrain.269

Tadevosjan rührte damit an einem gravierenden Problem staatsanwaltschaftlicher Arbeit. Ermittlungsstatistiken boten viele Interpretationen, die von den beteiligten Behörden eher als Munition verwandt wurden, als dass sie Rückschlüsse auf die Qualität der Aufsicht zuließen. „Man muss in der Lage sein, mit solchen Zahlen umzugehen. Ich denke, solange wir nicht gelernt haben [naučilisʼ], diese Zahlen zu analysieren, müssen wir versuchen, unsere Schlussfolgerungen nicht darauf zu stützen.“270 Einige Bezirks- und Regionalstaatsanwälte schienen sich durch solche Äußerungen bestätigt zu fühlen, das Missverhältnis zur Miliz selbst zu thematisieren. Die Staatsanwältin der Stadt Moskau, Chadmitova, beklagte, dass die Milizionäre in ihrer Stadt sich sowohl auf der Vagheit der Statistiken als auch auf der Tatsache ausruhten, dass sie die Mängel ihrer Arbeit der Staatsanwaltschaft anlasten konnten. Die Milizaufsicht sollte der Miliz helfen, „doch ist das die Hilfe eines Vormunds? Die Staatsanwälte der Milizaufsicht sind keine Kindermädchen. Mit einem Löffel kann man das Meer nicht ausschöpfen“.271 Chadmitova sah in der Milizaufsicht nur die doppelte Belastung und die Gefahr, als Blitzableiter für das Versagen des Innenministeriums herzuhalten. Der Fokus auf quantifizierbare Ergebnisse machte die eigenen Vorgesetzten blind für alltägliche und strukturelle Probleme und vielleicht auch für die Erfolge lokaler Beamter, die sich nicht in Zahlen ausdrückten (Ermittlungserfolge in komplizierten Verfahren zum Beispiel). 268 Ebd., l. 75. 269 Ebd., l. 106. 270 Ebd., l. 109. 271 Ebd., l. 122.

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Alle reden über Mängel. Wir werden ohne Ende überprüft. Man überprüft uns bis zur Besinnungslosigkeit. Niemand erzählt uns, was bei uns gut ist und was schlecht läuft. Ich weiß bis jetzt nicht, was bei mir gut ist und was schlecht. Und ohne Ende höre ich: schlecht, schlecht, schlecht. […] Ich kenne keinen Fall, in dem irgendjemand sagte: ‚Also bei dir läuft es gut‘.272

Die Unzufriedenheit über die eigene Hilflosigkeit saß ebenso tief wie das Unverständnis darüber, dass man als Herr über das Ermittlungsverfahren den größeren Teil der Verantwortung trägt und dabei die ständige Zielscheibe für Maßregelungen ist. Viele sahen ein kooperatives Verhältnis zur Miliz daher außer Reichweite. Der Bildungsgraben trennte die Behörden zusätzlich. Auch wenn Konstantin Goršenin selbst seinem Ärger über die Kollegen in der GUM Luft machte, gab er strukturellen Debatten keinen Raum. Er zeigte sich verständnisvoll für einige Kritikpunkte. So sollten Quantität und Qualität der Ermittlungen eine Rolle spielen – eine Anspielung auf die zweifelhaften Bewertungsspraktiken. Im Grunde aber suchte er das Problem bei der Staatsanwaltschaft. Beamten, die sich gegenüber der Miliz nicht durchsetzten, mangelte es aus seiner Sicht an Selbstvertrauen. „Einige Mitarbeiter wollen nicht mit manchen Mitarbeitern der Miliz streiten“. Anderen fehle die „Anspruchshaltung“ und sie stünden nicht für ihr Recht ein, die Milizionäre anzuweisen und anzuleiten. Schließlich genieße man den Rückhalt der Unionsstaatsanwaltschaft. Goršenin machte die behördliche oder organisatorische „Kraftlosigkeit“ (nemoščʼ) der Staatsanwälte für die Rückschläge bei der Milizaufsicht verantwortlich.273 Ein weiteres Mal erteilte die Moskauer Staatsanwaltschaft all denjenigen eine Absage, die das Verhältnis zur Miliz und zum Innenministerium auf eine andere Grundlage stellen wollten. Einsatzwillen und berufliche Qualifikation sollten den Mangel an Weisungsgewalt kompensieren. Die grundlegenden Prinzipien der Milizaufsicht blieben unangetastet. Dabei erkannte Goršenin durchaus, dass seine Beamten gegenüber der Miliz und dem Innenministerium strukturell benachteiligt waren. Im Februar 1945 äußerte sich Goršenin im engeren Kreis der Republiksstaatsanwälte abermals zu diesem Thema. Er wisse darum, „dass Staatsanwälte keinen Hebel haben, um Mitarbeiter der Miliz zu beeinflussen“. Die Arbeitsteilung mit der Militärstaatsanwaltschaft funktioniere ganz offensichtlich nicht. Zu oft bremse diese das Verfahren eher aus, damit die Miliz in den meisten Fällen „unbestraft“ bleibe. Er kenne die Probleme mit der Miliz, wie beispielsweise das „unkultivierte Gefluche“, doch die Antwort könne nur bei der Staatsanwaltschaft selbst liegen. Regierungschef Vjačeslav Molotov persönlich habe Goršenin diesen Ratschlag gegeben:

272 Ebd., l. 126. 273 Ebd., l. 163–165.

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Die Staatsanwaltschaft Molotov

Es ist natürlich leichter, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen und zu schreien, ich verhafte dich, und danach anzufangen, sich einen Überblick zu verschaffen. Natürlich ist es schwerer, sich zuerst intensiv mit der Sache auseinanderzusetzen und alle Umstände und Materialien ernsthaft zu studieren, und erst danach die Frage über den Arrest eines Menschen und seiner Strafverfolgung zu entscheiden. Für den ersten Fall braucht man keinen besonderen Kopf. Für den zweiten Fall jedoch braucht es Verantwortung, eine tiefreichende Herangehensweise und eine umfassende Analyse der Umstände einer Sache, bevor man darüber entscheidet, ob der eine oder andere Bürger zur Verantwortung gezogen wird.274

Die Rivalität zwischen Miliz und Staatsanwaltschaft war kein Geheimnis, intern rechnete selbst Vjačeslav Molotov damit, dass das Innenministerium sich den Anweisungen der Staatsanwaltschaft immer widersetzen werde. Es ging um ein größeres Kalkül. Im Ringen um die Praxis der Strafverfolgung war die Staatsanwaltschaft offensichtlich dazu ausersehen, den schwierigen, sprich: den professionellen Weg, zu nehmen. Der einfache Weg, ohne „besonderen Kopf“, war der Miliz überlassen. Konflikte und Widerstände, ja auch Anfeindungen von Seiten der Miliz müsste ein Staatsanwalt über sich ergehen lassen. Man müsse willens sein, zu streiten und Schlachten zu schlagen. „Leben ist Leben. Es ist schwerer als es auf der Versammlung scheint“.275 Sowohl die sowjetische Regierung als auch die Unionsstaatsanwaltschaft kalkulierten den Konflikt zwischen Staatsanwälten und Milizionären ein. Goršenins und Molotovs Überlegungen deuten vor allem daraufhin, dass der Graben zwischen den Ermittlungsbehörden, wenige Jahre nach Gründung der ersten Milizaufsichtsabteilungen, unüberbrückbar zu werden drohte bzw. es mancherorts schon war. Im alltäglichen Ringen um Ermittlung und Haft setzte die Unionsstaatsanwaltschaft, und augenscheinlich auch der Kreml, darauf, dass sich der qualifiziertere Akteur mittelfristig durchsetzen werde. Die entscheidende Probe aufs Exempel strengte Kuljapin jedoch erst nach dem Ende des Krieges an.

4.5.2 Die Anfänge der Haftaufsicht Während Milizionäre und Staatsanwälte in ihren Konflikten häufig sich selbst überlassen waren, wurden die internen Zustände der Strafanstalten vom Innenministerium

274 Stenogramme der Versammlung der Staatsanwälte der Unionsrepubliken, 2.2.–6.2.1945, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 2241, l. 183. 275 Ebd., l. 187.

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scharf beobachtet. Der Krieg stellte den entscheidenden Schritt zur Ökonomisierung der Zwangsarbeit dar. Der Strafvollzug sollte zuvorderst der Maximierung der Rüstungsproduktion dienen; die Arbeitskraft der Häftlinge sollte folglich optimal ausgenutzt werden. Flucht und Arbeitsverweigerung wurden streng bestraft, während die GUL ag-Führung klare Vorgaben zur Einhaltung der Hygiene- und Versorgungsvorschriften erhielt, um die Insassen ihrer Lager und Kolonien arbeitsfähig zu halten.276 An der Lebenssituation der Häftlinge änderte dieser Fokus nichts. Tatsächlich wiesen die Zwangsarbeitslager in den Kriegsjahren die höchste Sterblichkeitsrate in ihrer Geschichte auf. Mehr als ein Viertel der Insassen fiel in dieser Zeit den katastrophalen Zuständen zum Opfer, die in den Lagern herrschten.277 Nichtsdestotrotz behielt das NKVD die Vorkommnisse im Auge, die die Produktion beeinträchtigten. Haftaufsicht (nach den Vorstellungen des NKVD) hatte also eine große wirtschaftliche Bedeutung. Als die entsprechende Abteilung 1939 eingerichtet wurde, orientierte sich die Unionsstaatsanwaltschaft ebenfalls an der Frage des Rüstungserfolges. Inspektionen im Lagersystem waren zu Kriegszeiten auf die Störfaktoren im Produktionsablauf gerichtet, auf alles, was die „maximale Ausnutzung der Arbeitskraft“ beeinträchtigte. „Ungesetzliche Handlungen“ der Lagerverwaltung fielen ebenso darunter wie die „Lebens- und Arbeitsbedingungen“ der Insassen, die in verschiedenen Statuten des NKVD zusammengefasst waren.278 In dieser Hinsicht stand ein Staatsanwalt vor der Aufgabe, den Gulag wie ein Rüstungsunternehmen zu inspizieren, allerdings ohne Weisungsgewalt gegenüber den ‚Unternehmensleitern‘. Die Aufsichtspflicht erstreckte sich zudem auf die Gefängnisse des NKVD, wobei es klare Überschneidungen mit der Milizaufsicht gab. Der Fokus der Gefängnisinspektionen lag ebenso auf den Fristen und den strafrechtlichen Grundlagen für Arrest-Fälle wie auf der Auslastung der Gefängnisse, der korrekten Erfassung der Insassenzahlen und der frist- und fallgerechten Etappierung in die Arbeitslager – mit der expliziten Einlassung: bei einem „unbegründeten Arrest“ in „entsprechenden Fällen“ die Strafsache auszusetzen.279

276 Vgl. Auszug aus Denkschrift des stellv. GULag-Leiters Zavgorodnyj, 15.11.1941, in: A. B. Bezborodov/V. M. Chrustalev (Hg.), Istorija Stalinskogo Gulaga. Tom 4. Naselenie Gulaga: čislennostʼ i uslovija soderžanija. Moskva 2004, S. 199. 277 Vgl. Applebaum, Der Gulag, S. 439–442; Todesraten unter Gulag-Häftlingen, 1930–1953, in: Petrov/ Kokurin, GULAG. 1917–1960, S. 441 f.; vgl. auch die Fallstudien: Hedeler, Wladislaw/Stark, Meinhard: Das Grab in der Steppe. Leben im Gulag: Die Geschichte eines sowjetischen „Besserungsarbeitslagers“ 1930–1959. Paderborn u.a. 2008, S. 72–76; Barnes, Death and Redemption, S. 113–124; Bacon, The Gulag at War, S. 147–149. 278 Statusbericht zur Übergabe der Staatsanwaltschaft an Viktor Bočkov, 7.1.1941, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 528, l. 56. 279 „Befehl 20s: Über Maßnahmen zur Beseitigung der Verzögerung der Ermittlung und der Gerichtsverfahren von Arrestsachen, 21.4.1943, in: GARF, f. R-8131, op. 38, d. 155, l. 33.

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Haftaufsicht war gewissermaßen als Qualitätskontrolle des Inhaftierungsprozesses angelegt, eine Art Korrektiv für die behördlichen Abläufe, denen ein Häftling nach seinem Gerichtsurteil ausgeliefert war. Bis zur Überweisung in ein Arbeitslager galt die Prozessordnung als Richtwert und Regelwerk für diese Aufsichtspflicht. Innerhalb der Lagerwelt jedoch blieben von diesem Regelwerk nur die Direktiven des Innenministeriums. Die Mitarbeiter des NKVD mussten sich also prinzipiell an den Weisungen ihrer Vorgesetzten und nicht am Strafgesetzbuch oder der Prozessordnung messen lassen. Diese Situation schränkte den Handlungsspielraum der Staatsanwälte ein und doch hatte das Innenministerium zugleich selbst ein gesteigertes Interesse an der Durchsetzung der eigenen Weisungen. Die Unionsstaatsanwaltschaft verzichtete darauf, wie bei der Milizaufsicht auch, überbehördliche Konflikte zum Thema zu machen. Der Ergebnisbericht für die Haftaufsicht von 1940 vermerkte zum Beispiel nur, dass eine bestimmte Anzahl an Lagermitarbeitern für ihre Vergehen noch immer nicht zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen worden sei.280 Überbehördliche Konferenzen zum Thema Haftaufsicht sind ebenfalls für die Kriegsjahre nicht überliefert. Fachzeitschriften übergingen diesen Teil staatsanwaltschaftlicher Arbeit. Staatsanwälte konnten also auf keinerlei inhaltliche Richtlinien bauen, insofern es zur Konfrontation mit dem Lagerpersonal oder anderweitig zu Widerständen und Interessenkonflikten kommen sollte. Dmitrij Kuljapin war da keine Ausnahme. Auch für ihn ergab sich die Lösung solcher Konflikte mit der Befolgung des Dienstweges über die eigenen Vorgesetzten. Anders als es die Staatsanwaltschaft in Moskau und das Innenministerium nahelegten, standen für ihn jedoch nicht nur die Rüstungsanstrengungen im Vordergrund, als er seinen Mitarbeitern die Bedeutung dieser Aufsichtspflicht erläuterte. Aus Kuljapins Sicht musste ein Staatsanwalt seine Anstrengungen gegen die Willkür der Lager- und Gefängnisbeamten richten. Die Pflicht zur Inspektion dieser Orte erwachse demgegenüber aus der Verantwortung gegenüber dem einzelnen Häftling. Zum einen seien die Lebensbedingungen in bestimmten Lagern so miserabel, dass die Insassen an ihnen in erschreckender Zahl zugrunde gingen, wie Kuljapin auf einer Versammlung im September 1942 deutlich machte. Die Insassen seien „Menschenmaterial“ (čelovečeskij material), das nach Belieben verschlissen und eingesetzt werde.281 Tatsächlich mussten Molotovs Lager ähnliche Versorgungsengpässe überstehen wie andere Lagerkomplexe der Sowjetunion, auch wenn die Sterblichkeitsrate mit knapp fünf Prozent im Jahr 1942 weit unter dem Landesdurchschnitt lag. Zwischenzeitlich kamen mehr als 600 Häftlinge pro

280 Vgl. Statusbericht zur Übergabe der Staatsanwaltschaft an Viktor Bočkov, 7.1.1941, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 528, l. 57. 281 Stenogramme der Mitarbeiterversammlung, Juli 1943, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 57, l. 37.

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Kriegsmonat um.282 Kuljapins Kommentar war jedoch kein zynischer Fingerzeig auf die Produktionsausfälle. Dass es sich um Kriminelle im strafrechtlichen Sinne handele, ändere nichts an der Tatsache, dass „wir für jeden Häftling, dem der Staat für einen bestimmten Zeitraum die Freiheit entzogen hat, wenn er infolge solch abscheulicher Lebensbedingungen umkommt, die Verantwortung tragen.“283 Zum anderen richtete er die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer auf die Menschen, die eben „unbegründet“ inhaftiert, vielleicht sogar verurteilt worden waren. Sie waren diesen Zuständen ebenso ausgesetzt und Kuljapin ließ keinen Versammlungstag aus, ohne an das Problem der unbegründeten Inhaftierung anzuknüpfen. Auf der Versammlung im Juli 1943 berichtete er von einer einzigen Lagerabteilung in Gubacha, in der in 70 Tagen mehr als 786 Menschen umgekommen waren. Im gleichen Atemzug sprach er von 800 Gefängnisinsassen, die man hatte befreien müssen, während „kaum weniger als 10.000 Menschen in den Gefängnissen begraben wurden“.284 Sieht man davon ab, dass diese Zahlen ungenau und ebenso wenig belegbar sind, wollte Kuljapin vor allem eines illustrieren: Von den miserablen (Über)Lebensbedingungen in Haft waren sehr viele betroffen, die eben „unbegründet“ verfolgt wurden bzw. für „geringfügige Delikte“ einsaßen. Abgesehen von dem statistischen Druck, der von Verfahrenseinstellungen und Freisprüchen ausging, war der Tod Unschuldiger aus Kuljapins Sicht nicht vermittelbar. „Ich bin so unerbittlich zu Ihnen“ auf den Versammlungen, weil „die Sache den Tod der Menschen in unseren Kolonien und Gefängnissen betrifft“.285 Kuljapins Aufruf widersprach in keiner Weise den Vorgaben der Unionsstaatsanwaltschaft oder den Interessen des Innenministeriums an der Funktionalität des Lagersystems. Er richtete die Aufmerksamkeit seiner Mitarbeiter aber auf die menschliche Tragödie, die sich tagtäglich in den Lagern und Gefängnissen ereignete und von denen irrtümlich Verurteilte und Inhaftierte genauso betroffen waren wie Straftäter. Einerseits sollten Haftinspektionen allen Häftlingen ein menschenwürdiges Lebensniveau garantieren. Andererseits war die Haftaufsicht die letzte Chance für Insassen, dass Mängel in ihren Strafverfahren entdeckt würden; dass Willkür und Versagen der Ermittlungsorgane aufgedeckt würden. Es ging darum, die Gefängnisse aufzusuchen und mündliche Beschwerden derer aufzunehmen, die dort infolge der Trödelei der Gerichtsorgane, der Langsamkeit, der Befangenheit der Ermittlungsorgane u. ä. einsitzen. Sie

282 Vgl. Suslov, Speckontingent, S. 103. 283 Stenogramme der Mitarbeiterversammlung, Juli 1943, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 57, l. 37. 284 Stenogramme der Mitarbeiterversammlung, Juli 1943, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 84, l. 31. 285 Ebd.

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verstehen, worum es geht. Es geht darum, dass es nicht zu den Praktiken der Willkür kommt, die in den Jahren 1936 und 1937 stattfanden.286

Die Verpflichtung zur Haftaufsicht gründete für Kuljapin auf der Überzeugung, Regeln auch hinter Stacheldraht und Gefängnismauern durchzusetzen. Unabhängig davon, ob es sich bei diesem Regelwerk um die Direktiven des Innenministeriums handelte: Von der Einlösung dieser Überzeugung hingen im Einzelnen menschliche Schicksale genauso ab wie das System von Strafverfolgung und -vollzug im Gesamten. In seinem Enthusiasmus für den Wert der Verfahrensregeln ging er sogar weiter, als die Direktiven der GULag es je zugelassen hätten: Natürlich gibt es auch Elemente, die man nicht in Freiheit lassen darf. Das sind klassenfeindliche Elemente, Gewohnheitsverbrecher, Banditen, Personen, die die menschliche Gesellschaft gefährden, aber auch sie können wir nur nach dem Gesetz verurteilen [suditʼ tolʼko po zakonu].287

Die Staatsanwaltschaft in Moskau sah in der Haftaufsicht ein Prinzip zur Gewährleistung der sowjetischen Rüstungserfolge und ein Korrektiv für die fehleranfälligen Routinen des Strafvollzuges. Kuljapin erkannte diese Aufgabe an, bekannte sich aber auch zu einer moralischen Verantwortung, die von dieser Aufgabe ausging. Wie in anderen Bereichen auch verband Kuljapin mit der Gültigkeit von Regeln etwas fundamental Humanitäres und Unüberwindliches. Er erklärte seinen Mitarbeitern, dass diese Regeln auch auf dem Terrain des NKVD galten, und nicht dessen Direktiven bzw. das Gewohnheitsrecht seiner Kommandanten herrschte. Welche Chancen hatten diese Ambitionen, von den Staatsanwälten überhaupt umund durchgesetzt zu werden, wenn sie mit den Direktiven und Machtstrukturen in der Welt der Strafanstalten konfrontiert waren? Kuljapins Vorhaben war insofern dahingehend ambitioniert, als es mit der bedingungslosen Kooperationsbereitschaft der Polizei- und Lagerbehörden rechnete und den eigenen Beamten übermenschlichen Einsatzwillen und Kraftreserven abverlangte, die unter den Umständen des Krieges auch im Hinterland sorgsam eingesetzt werden mussten. Um einen Eindruck zu geben: Im März 1943 gab es allein zehn Gefängnisse in der Region (1941 waren es noch zwei), die maximal 2192 Häftlinge aufnehmen durften. Elf sogenannte Kontingentkolonien (die an Städte angegliedert waren), vier Industriekolonien, zwei Besserungsarbeitskolonien, 14 Wirtschaftskomplexe und dazu sechs Wirtschaftskolonien beherbergten über 22.000 Insassen. Das

286 Stenogramme der Mitarbeiterversammlung, Juli 1943, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 57, l. 107. 287 Ebd., l. 111.

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System der Speziallager des NKVD beherbergte in Molotov ab 1943 mindestens 5000, später 15.000 Personen. Darüber hinaus waren 18.577 Familien (50.317 Personen) in 15 Sondersiedlungskomplexen (mit über 100 Siedlungen) untergebracht. Ein Stab von circa 200 Staatsanwälten musste in allen Bezirken und Städten das Schicksal von etwa 90.000 Menschen überblicken und diese Aufsicht wurde von drei Beamten in Molotov koordiniert.288 Haftaufsicht war folglich eine Aufgabe, der die meisten Beamten sporadisch nachkommen mussten. In den ersten acht Monaten nach Kriegsbeginn sei es den Staatsanwälten in Molotov nach eigenen Angaben gelungen, zumindest die Hälfte aller Haftanstalten wenigstens einmal aufzusuchen.289 Diese Quote verbesserte sich im Laufe der Jahre nur langsam, zumal tendenziell mehr Objekte errichtet wurden und weniger Beamte verfügbar waren. Wie realisierte man diesen Aufsichtsanspruch nun in der Praxis? Aus den überlieferten Gefängnis- und Lagerinspektionsberichten wird deutlich, dass Staatsanwaltschaft und NKVD zu bestimmten Fragen der Haftaufsicht verhältnismäßig reibungslos zu verwertbaren Ergebnissen kamen. Ein zentraler Aspekt war zum Beispiel die Kriegsmobilisierung der Häftlinge. Das Lagersystem (weniger die Gefängnisse) wurde seit Kriegsbeginn, auf Anordnung der Parteiführung, systematisch nach arbeits- und wehrdienstfähigen Insassen durchsucht. Unter anderem auf Vorschlag der Unionsstaatsanwaltschaft wurden immer mehr Häftlingskategorien zur Befreiung und Einberufung bestimmt. Dabei wurden vor allem Insassen ausgewählt, die für Disziplinarverstöße und „geringfügige Vergehen“ eine kurze Haftzeit einsaßen. Arbeitsdelinquenten hatten in der Hinsicht keine Chance, befreit zu werden.290 Im Endeffekt musste die Staatsanwaltschaft jede Haftentlassung prüfen und genehmigen. Die Auswahl dieser Häftlinge erfolgte meist in Kooperation mit den Lagerverwaltungen und in der Regel zeichnete der zuständige Bezirksstaatsanwalt die Listen, die von den Haftverwaltungen zusammengestellt wurden, ohne Einwände ab. Der erste Halbjahresbericht nach Kriegsbeginn vermerkte in Molotov zwar 17 Insassen, die der Staatsanwalt wieder von der Liste der Lagerleitung nahm, da sie als Wiederholungstäter und damit als „sozial gefährlich“ eingestuft

288 Vgl. Dislokation der Gefängnisse in der Region Molotov, Bericht der Abteilung für Haftaufsicht, März 1943, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 651, l. 23. Zum Kriegsende befanden sich faktisch 201 Staatsanwälte (ohne Sekretariat, Buchhaltung und Boten) im Dienste der Regionalstaatsanwaltschaft. Kurz vor Kriegsbeginn waren es 359 Mitarbeiter (Gesamtpersonal). Bericht der Staatsanwaltschaft Molotov für 1945, in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 844, l. 9. Zu den Speziallagern vgl. das Beispiel vom Lager 0302 in Suslov, Speckontigent, S. 239. 289 Vgl. Gesamtbericht der Staatsanwaltschaft Molotov an den Unionsstaatsanwalt der RSFSR und seinen Stellvertreter, 9.2.1942, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 31, l. 26. 290 Brief des Unionstaatsanwalts, Safonov, an Sekretär des ZK, Andreev, 4.11.1941, in: Afanasʼev/ Werth, Istorija stalinskogo gulaga, 1, S. 424 f.; Rundschreiben von Unionsstaatsanwaltschaft, NKVD und NKJu, 27.11.1941, in: Afanasʼev/Werth, Istorija stalinskogo gulaga, 1, S. 426–428.

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wurden. Zwei weitere Insassen seiem zudem bei der Befreiung übergangen worden, was der zuständige Staatsanwalt prompt korrigiert habe. Angesichts der über 7100 Häftlinge, die in Molotov zwischen November 1941 und Februar 1942 auf Regierungserlass befreit wurden (damals immerhin ein Drittel aller Lagerhäftlinge der Region), lässt sich jedoch festhalten, dass nur wenige Beamte einen Grund fanden oder sich die Zeit nahmen, die von den Lagerleitungen getroffene Auswahl an Häftlingen in Zweifel zu ziehen.291 Erhob ein Staatsanwalt jedoch sein Veto gegen eine solche Auswahl, wurden die Entscheidungen der Lagerleitung vorerst ausgesetzt. In einer Arbeitskolonie in Kungur sollten im Frühjahr 1945 130 chronisch kranke Häftlinge entlassen werden, doch ein Staatsanwalt der Haftaufsicht erhob Einspruch in 20 Fällen, bei denen es sich lediglich um „ambulante“ Patienten gehandelt habe. Der Leiter der Besserungsarbeitskolonien in Molotov, Družinin, äußerte gegenüber Kuljapin sein Unverständnis und rechtfertigte die Auswahl der Fälle damit, dass auch die Ambulanz-Station aus Platzmangel mit chronisch Kranken belegt sei. Anders als bei Konflikten mit der Miliz bügelte der NKVD-Beamte den Einspruch nicht einfach ab bzw. ignorierte das Veto, sondern forderte ein positives Gutachten Kuljapins in der Frage ein.292 Die Lagerverwaltungen konnten also nicht vollkommen freigiebig über die Verwendung ihrer Häftlingskontingente verfügen. Sehr viel chaotischer gestaltete sich die Verwaltung und Beobachtung der inneren Zustände der Haftanstalten. Kuljapin zitierte wiederholt einzelne Bezirksstaatsanwälte zu sich und drohte mit harten Strafen, als Haftleitung und Staatsanwaltschaft im Kriegsverlauf zunehmend den Überblick über die Lager- und Gefängnisinsassen verloren. Die Verhaftungswellen von „Arbeitsdeserteuren“ und andere kriegsspezifische Vergehen überschwemmten die Untersuchungsgefängnisse und schließlich das Lagersystem. Zwischen Oktober 1942 und März 1943, also in nur sechs Monaten, stieg die Zahl aller Häftlinge in Molotov von 30.972 auf 41.687.293 Bei der Erfüllung ihrer Aufsichtspflichten standen Staatsanwälte in Gefängnissen und Lagern vor jeweils etwas anderen Herausforderungen. Wirft man zunächst einen Blick auf das Gefängnissystem, wird deutlich, dass die Agonie der Häftlinge weder eingeplant noch ernst genommen wurde. Die „Tore zum

291 Vgl. Gesamtbericht der Staatsanwaltschaft Molotov an den Unionsstaatsanwalt der RSFSR und seinen Stellvertreter, 9.2.1942, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 31, l. 25; Suslov, Speckontingent, S. 84. 292 Schreiben des Leiters der Lager- und Kolonieverwaltung Molotov, Družinin, an Kuljapin, 21.3.1945, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 653, l. 35. 293 Vgl. Mitteilung eines Mitarbeiters der Abteilung Haftaufsicht Molotov, Jakovlev, an den Abteilungsleiter der Unionsstaatsanwaltschaft und der Republiksstaatsanwaltschaft, Dʼjakonov und Kuznecov, 30.4.1943, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 651, l. 49.

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Gulag“294 waren ein Zuständigkeitschaos und wurden zugleich nur selten inspiziert. Die Folgen waren dramatisch. Zu viele Häftlinge wurden schlecht versorgt und in zu engen Räumen gemeinsam teils monatelang festgehalten, auch weil die Ermittler der Staatsanwaltschaft sehr häufig den Überblick verloren hatten, und nicht immer stellte sich der Arrest als begründet heraus. Kuljapin fand dafür gerade gegenüber dem Abteilungsleiter der Haftaufsicht, Jananis, sehr deutliche Worte: In den Bezirken werden Menschen aufgrund des Befehls vom 26.12. oder nach Paragraph 193 [Vergehen durch Militärangehörige, I. R.] festgenommen, oder für die Verletzung der Einberufungserfassungsordnung. Sie werden unter Arrest genommen und überstellt. Das Material wird an die Ermittlungsabteilung versendet und dann heißt es: sucht euch die Leute […] also verwandelt sich die Ermittlungsabteilung in einen Umsiedlungspunkt. Es ist nicht leicht, Genosse Jananis, einen Menschen im Gefängnis zu finden. Man findet ihn leichter in Freiheit.295

Der letzte Satz sorgte unter den Zuhörern der Mitarbeiterversammlung vom 29. Oktober 1942 für Erheiterung („Gelächter“ wurde mit protokolliert). Übertrieben hatte Kuljapin damit keineswegs. Immer wieder kam es zu folgenschweren Irrtümern beim Umgang mit Untersuchungshäftlingen. Im Juni 1943 beispielsweise listete das Stadtgefängnis von Čusovoj 383 Insassen auf, von denen 67 gar nicht registriert waren. 52 wurden vom Stadtstaatsanwalt in Freiheit entlassen, weil er deren Verfahren mangels Grundlage aussetzen ließ und schon in den Häftlingsakten begingen Gefängnisbeamte und Ermittler gleichermaßen gravierende Fehler. In der Akte eines Häftlings namens Petr Ivanovič Lofa, wurde dieser zugleich als Petr Ignatevič und Pavel Ignatevič ausgewiesen. Jeder Name ging auf einen anderen Beamten zurück, der das Material in die Hand genommen hatte.296 Die Ermittlungsbehörden hatten also nur ein undeutliches Bild von der Situation in den Gefängnissen. Auf die ganze Region gesehen befand sich das Gefängnissystem unter dem Druck steigender Verhaftungszahlen, mangelnder Absprache zwischen den Abteilungen der Staatsanwaltschaft und der Nachlässigkeit einzelner Beamter in einem Zustand ständiger Konfusion. Kuljapin drohte immer wieder mit harten Konsequenzen und zitierte zum Beispiel den Bezirksstaatsanwalt von Bardynsk, Melʼcin, in sein Büro. Melʼcin musste erklären, warum einige Häftlinge im lokalen Gefängnis mehr als sieben Monate auf ein Urteil warten mussten, während andere vollkommen grundlos einsaßen oder keine Kenntnis davon hatten, dass Melʼcin ihre Untersuchungsakte 294 Barnes, Death and Redemption, S. 18. 295 Stenogramme der Rede des Regionalstaatsanwaltes Kuljapin, 29.10.1942, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 58, l. 36–37. 296 Vgl. Stenogramme der Mitarbeiterversammlung, Juli 1943, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 84, l. 248.

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verloren hatte. Noch ein einziger ungesetzlicher Arrest, so drohte Kuljapin, und „Sie werden unverzüglich dem Gericht übergeben“.297 Molotovs Regionalstaatsanwalt konnte im eigenen Mitarbeiterkreis nach Belieben durchgreifen, doch der Haftaufsicht blieb oft nichts anderes übrig, als das organisatorische Desaster zu dokumentieren, als es für viele Häftlinge eigentlich schon zu spät war. In den ersten acht Monaten des Jahres 1943 starben 135 Menschen im Gefängnis. Unterernährung und Folgekrankheiten wie Pellagra, aber auch Tuberkulose entfalteten auf engstem Raum eine verheerende Wirkung.298 Das NKVD tolerierte das Chaos und die menschenunwürdigen Bedingungen, die die Häftlinge in den Gefängnissen erdulden mussten, meist großzügig, bzw. setzte sie für seine Zwecke ein, nicht zuletzt, um „politische“ aber auch andere Häftlinge noch vor dem Verhör zu brechen. Diese Erfahrungen lassen sich in hunderten von Memoiren nachlesen.299 Damit sei aber nicht gesagt, dass das Innenministerium die Gefängnisse planmäßig überfüllen ließ. Soweit abgeschlossene Ermittlungssachen, sprich: Strafsachen, betroffen waren, wollte man sich dieser Fälle schnellstmöglich entledigen.300 Hinzu kam, dass das Innenministerium enorme Schwierigkeiten hatte, den Häftlingstransfer effektiv zu verwalten. Der Leiter der GUM in Moskau, Aleksandr Galkin, informierte zum Beispiel den stellvertretenden Leiter der Unionsabteilung für Haftaufsicht in Moskau darüber, dass in Molotov im Gefängnis ein Insasse auf sein Verfahren warte, der des Diebstahls einer (!) Kartoffel in seiner Betriebskantine bezichtigt wurde. Nachdem der stellvertretende Unionsstaatsanwalt Safonov sich ebenfalls eingeschaltet hatte, wies man Kuljapin nun an, die Sache vor Gericht zu bringen, nachdem man mehrfach vergeblich Zeugen berufen hatte.301 Ganz offensichtlich trug auch das Innenministerium die Folgen des Zentralismus, im Zuge dessen Streitfälle über Bagatellvergehen erst ihren Weg über Moskau gehen mussten. Ein Staatsanwalt bekam in solchen Fällen eben das Ergebnis der Behördenodyssee zu Gesicht. Geplant war dieses Chaos keineswegs. Die Schikane gegen diese Häftlinge wurde zwar begünstigt und NKVD -intern auch informell angewiesen. Zur Prämisse der Gefängnispolitik (die auch die Staatsanwaltschaft involvierte) erhob das Innenministerium die überfüllten Zellenräume aber nicht.

297 Schreiben Kuljapins an den Staatsanwalt des Bardynsker Bezirks, Melʼcin, 14.5.1943, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 651, l. 62. 298 Vgl. Mitteilung von Jananis an Leiter der Haftaufsicht der Unionsstaatsanwaltschaft, Kuznecov, 28.8.1943, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 651, l. 145. 299 Vgl. Barnes, Death and Redemption, S. 18–20. 300 Vgl. Schreiben der Gefängnisleitung von Molotov an Kuljapin, März 1943, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 651, l. 32. 301 Vgl. Schreiben des stellvertretenden Leiters der Haftaufsichtsabteilung der Unionsstaatsanwaltschaft, Losin, an Kuljapin, 7.6.1943, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 651, l. 161.

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Die Gefängnisse blieben überfüllt. Miliz- und Haftaufsicht erwirkten in Einzelfällen die Befreiung von Insassen, wenn entweder das Beweismaterial fehlte oder kein Tatbestand nachweisbar war. Im Zuge der Inspektion des größten Gefängnisses der Region, „Stadtgefängnis Molotov Nr. 1“, wurden 19 Personen befreit. An der Gesamtbelegung mit 1939 Insassen in einem Gefängnis, das für 1200 Personen ausgerichtet war, änderten solche Aktionen wenig. Ein großer Teil der Überbelegung ging auf verzögerte Ermittlungsverfahren oder eben verzögerte Anklageerhebungen zurück, für die die Miliz und Ermittler der Staatsanwaltschaft gleichermaßen die Verantwortung trugen. Es bedurfte der Intervention der Republiksstaatsanwaltschaft und des Parteikomitees, dass sämtliche Gefängnisse im Herbst 1943 quasi auf Kommando einer Art ‚Häftlingsinventur‘ unterzogen wurden. Dabei reagierten die Parteiorgane von Molotov offensichtlich erst auf das Signal der Staatsanwaltschaft in Moskau. Der Parteibeschluss zeigte allerdings Wirkung. Fast 500 Insassen verließen bis Ende Oktober das Gefängnis Nr. 1.302 Die miserablen Lebensbedingungen, sprich: die unzureichende Versorgung mit Nahrung oder Kleidung, mangelnder Schutz vor Kälte und nicht zuletzt die Misshandlungen durch das Wachpersonal, wurden ebenfalls bei den Inspektionen durch die Staatsanwaltschaft angemahnt. Soweit die Gefängnisse betroffen waren, zeigte die Haftaufsicht jedoch nur selten Initiative, die Zustände zu verbessern.303 Die Gefängnisleitung konnte dieses Problem ohnehin nicht auf die Staatsanwaltschaft abwälzen und letztlich bestand kein unmittelbarer Handlungsdruck, da es sich ja nicht um Zwangsarbeiter handelte. Diesbezüglich wurden Kuljapins Vorstellungen, die Zustände in allen Haftanstalten auf ein menschenwürdiges Niveau zu heben, von allen Seiten vernachlässigt. Die Staatsanwaltschaft kämpfte in den Gefängnissen gegen die eigene Unordnung und die der Gefängnisverwaltungen an, doch nur vereinzelt konnten unbegründete Arrestsachen rückgängig gemacht werden. Da wo sich die Interessen von Gefängnisführung und Staatsanwaltschaft überschnitten, war am ehesten mit Fortschritt zu rechnen: also mit einer schnellen Abfertigung und Verlegung der Gefängnisinsassen. Sofern die Arbeit der Strafanstalten nicht direkt beeinträchtigt war, überließen beide Behörden die Insassen ihrem Schicksal.

302 Vgl. Haftprüfungsbericht zu Gefängnis Nr. 1 Molotov an den Staatsanwalt der RSFSR, Volin, 30.8.1943, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 651, l. 152; Beschluss des ObKoms über Gesetzverletzungen beim Arrest, 8.9.1943, in: PGASPI, f. 105, op. 9, d. 118, l. 77–80. 303 Vgl. Leiter der Haftaufsichtsabteilung Molotov, Jananis, an den Abteilungsleiter in der RSFSRStaatsanwaltschaft, Kusnecov, 28.8.1943, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 651, l. 146. Jananis informierte den Moskauer Abteilungsleiter allgemein über die Sterbestatistiken in allen Haftorten. Personelle Konsequenzen in der Haftverwaltung wurden nur für die Lager gefordert.

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Die Staatsanwaltschaft Molotov

Die Inspektion der Kolonien und Lager des NKVD verlief da etwas kontrollierter. Ein wesentlicher Unterschied zu den Gefängnissen: die GULag und die Parteiorgane beobachteten sehr genau, wo und wie häufig es zu Regelverstößen in den Lagern kam. Eine wichtige Rolle spielte dabei der Lagerstaatsanwalt. Ähnlich wie die lagereigenen Gerichte, die zur Jahreswende 1944/45 im Lagersystem eingerichtet wurden, trat diese Figur nominell als Organ der Strafjustiz auf, war aber de facto Teil der Lagerverwaltung und war in fast allen Belangen von den Entscheidungen der GUL ag abhängig.304 Neben seiner Funktion in den Lagergerichtsverfahren, die bis heute im Dunkeln liegt, berichtete ein Lagerstaatsanwalt in regelmäßigen Abständen sowohl an das Regionalkomitee als auch an die Vorgesetzten der GULag über die Erfüllung der Planvorgaben im Arbeitslager, die effektive Ausnutzung der Arbeitskraft und entsprechende Störfaktoren im Arbeitsablauf (Todesfälle, Krankheitsraten oder sanitäre Bedingungen). Neben GUL ag-internen Statusberichten durch die Mitarbeiter der „Politabteilungen“305 lieferte der Lagerstaatsanwalt an Partei und GULag damit häufig als Erster kritisches Wissen über den lagerinternen Alltag. Die desaströsen Lebensbedingungen in den Lagern gehörten dazu, gerade weil sie wirtschaftliche Relevanz hatten.306 Im Gegensatz zu den Gefängnissen waren die GULag und die Parteiführung für die Zustände in den Lagern durch solche Berichte häufig vorsensibilisiert und das Lagerpersonal nicht selten unter Erklärungs- und Handlungsdruck, bevor es überhaupt zu einer Inspektion im Rahmen der Haftaufsicht kam. In einem Fall im Mai 1941 berichtete ein Lagerstaatsanwalt des Usollag-Komplexes über die hohen Flucht- und Todesraten, aber auch die unhygienischen Zustände und die Misshandlung von Insassen, direkt an den Chef der GULag Viktor Nasedkin. Der Leiter von Usollag musste danach einige Verwarnungen an das Lagerpersonal aussprechen, sich gegenüber dem Parteisekretär rechtfertigen und die Wogen um die Sterblichkeitsraten glätten.307 Ein

304 Der Lagerstaatsanwalt fand bisher kaum gesonderte Beachtung in der Gulag-Forschung. Galina Ivanovas Aufsatz über die Lagergerichte zeigt zumindest sehr deutlich die Abhängigkeitsverhältnisse der Gerichtsorgane, die auf dem Territorium der GULag arbeiteten. Vgl. Ivanova, Galina: Eine unbekannte Seite des GULag: Lagersondergerichte in der UdSSR (1945–1954), in: JGO 53 (2005) H. 1, S. 30. 305 Hedeler, Wladislaw: Die Ökonomik des Terrors. Zur Organisationsgeschichte des Gulag 1939 bis 1960. Hannover 2010, S. 17. 306 Vgl. Halbjahresbericht des Lagerstaatsanwalts des ITL Solikamstroj NKVD, Samylkin, an Assistent-Staatsanwalt der Unionstaatsanwaltschaft, Dʼjakonov und an den 1. Sekretär des ObKom, Gusarov, 3.7.1943, in: PGASPI, f. 105, op. 9, d. 217, l. 12–15. Über den Anstieg von Tuberkulosefällen und der Mangelernährung bemerkte Samylkin: „Aus verständlichen Gründen ist die Lösung dieser Frage besonders schwer, doch zugleich muss man glasklar festhalten, dass dieses Element entscheidend für die Gesundung [ozdorovlenija] der Arbeitskraft ist“. Ebd., l. 15. 307 Vgl. Leiter der Verwaltung von Usollag an das Sekretariat des ObKom, 23.5.1941, in: PGASPI, f. 105, op. 7, d. 69, l. 106.

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Territorialstaatsanwalt der Haftaufsicht stieß mit seiner Lagerinspektion also keineswegs in einen Raum der totalen Willkür vor, was nicht heißen soll, dass die Lagerwelt durchreguliert war. Angehörige der Lagerführung waren aber über die miserablen Zustände in ihren Lagern ebenso im Bilde wie über die potenziellen Sanktionsmaßnahmen gegen sie. Obwohl es keine direkte Kooperation zwischen Lager- und Territorialstaatsanwaltschaft gab, teilte die Haftaufsicht auf den ersten Blick das Interesse von Partei und Innenministerium: ein effektives Zwangsarbeitssystem. Unter diesen Bedingungen konnten Missstände dokumentiert werden, die auch das individuelle Schicksal der Lagerinsassen betrafen. Alles darüber hinaus war allerdings den Lagerverwaltungen des Innenministeriums überlassen. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die Prüfung des „Speziallagers 0302“ des NKVD , das nahe der Stadt Kizel in einem Kohlebecken gelegen war. Diese Einrichtung gehörte zu den sogenannten „Filtrierprüfungslagern“, die das Innenministerium kurz nach Kriegsbeginn errichten ließ, um „Spione“ und „Verräter“ aus den Reihen der Rotarmisten zu isolieren, die nach deutscher Kriegsgefangenschaft unter Generalverdacht gestellt wurden.308 Die Speziallager waren einer eigenen Verwaltung im Innenministerium unterstellt. In einem solchen rein „politischen“ Lager galten dort umso strengere Sicherheitsbestimmungen und die Insassen hatten als „sozial-schädliche“ Elemente und „Verräter“ von der Lagerleitung kein Entgegenkommen zu erwarten, wie es häufig bei „gewöhnlichen Kriminellen“ zu beobachten war.309 Das besagte Speziallager 0302 wurde im Mai 1943 aus einem Lagernetz der Kohlestätten von Molotov und dem Bezirk Kospaš abgespalten. Auf vier Lagerabteilungen verteilten sich in diesem neuen Lager im Frühjahr 1944 bereits 5481 Häftlinge, darunter über 120 ehemalige Offiziere der Roten Armee.310 Schon die Entstehung solcher Lager zeigt, dass die Haftinspektionen gewisse Aspekte des Lageralltages überhaupt nicht erfassen konnten. Das NKVD ließ die Insassen des alten Lagers zu dem neuen Lagerpunkt zu Fuß marschieren. Manche Häftlinge waren auf ihrem Weg zum neuen Bestimmungsort von 0302 mehr als drei Wochen unterwegs, teils nur mit Trockenrationen und ohne Winterkleidung ausgestattet. Diese Details entnahm der Historiker Andrej Suslov dem Schriftwechsel des NKVD.311 Die Staatsanwaltschaft konnte nur verzeichnen, dass mehr und mehr

308 Befehl des NKVD der UdSSR, 28.12.1941/6.1.1942, in: N. V. Petrov/N. I. Vladimircev (Hg.), Istorija stalinskogo gulaga. Tom 2. Karatelʼnaja sistema. Struktura i kadry. Moskva 2004, S. 211–213; Smirnov, Michail B./Schletzer, Reinhold: Das System der Besserungsarbeitslager in der Sowjetunion 1923–1960. Ein Handbuch. Berlin 2003, S. 8. 309 Barnes, Death and Redemption, S. 87. 310 Vgl. Suslov, Speckontingent, S. 239. 311 Vgl. ebd.

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physisch ausgelaugte Häftlingskontingente eingetroffen waren und Todeszahlen für diese Märsche sind ebenfalls nicht bekannt. Das Speziallager wuchs in den letzten beiden Kriegsjahren stark an (auf über 14.000 Häftlinge) und offensichtlich zogen dessen negative Produktionsraten im Laufe des Jahres 1944 die Aufmerksamkeit der Partei auf sich.312 Das Regionalkomitee entsandte eine Inspektionsbrigade in das Lager, bestehend aus einem Vertreter aus den eigenen Reihen, einem Offizier der Staatssicherheit beim Innenministerium und einem Vertreter des betroffenen Kohlekombinates. Angeführt wurde die Gruppe von Kuljapin und seinem Assistenten. Vom 4. bis zum 10. Januar 1945 eruierten die Inspekteure den „Zustand“ des Lagers und zogen Bilanz für das Jahr 1944. Zwar schätzte die Brigade den Produktionsausstoß bei der Kohleförderung als „gut“ ein, doch in den Augen Kuljapins litt die gesamte Produktion darunter, wie die Insassen vom Personal behandelt wurden.313 Der Brigadebericht legte den Fokus auf die Zahl der Geflüchteten (111 in einem Jahr), auf die schlechten Lebensbedingungen der Häftlinge und das Verhalten des Lagerpersonals. Er hielt fest, dass es in den Arbeitsschächten an Wasser, Heizöl, Wasch- und Entlausungsgelegenheiten mangelte. Die Erkrankungsrate war hoch und zudem verfügten nur wenige Häftlinge in den Schächten über die nötige Ausrüstung.314 Weiterhin listete der Bericht en detail Fälle von Misshandlung durch das Wachpersonal auf. Die Brigade habe zahlreiche Beschwerden aufgenommen, in denen von „unmenschlicher Einstellung“ gegenüber den Häftlingen die Rede war. Vor allem die Schachtleiter waren mit gewaltsamen Übergriffen und Beleidigungen der Insassen aufgefallen. Zusätzlich wurden den Insassen „Bleistifte, Spiegel, Geld und […] 23 ungefährliche Rasierklingen“ weggenommen. In manchen Fällen sei grundlos auf sie geschossen worden. Der Bericht zog ein klares Fazit für solche Vorkommnisse: Derartige Fakten „beeinflussten die Gefangenen extrem negativ, schwächten sie und riefen bei einigen den Unwillen hervor, zu arbeiten.“315 Soweit war die Inspektionsbrigade über einen Teil des alltäglichen Lagerelends im Bilde. Kuljapins Brigade dokumentierte die Missstände und die Gewalt des Lageralltags. Der strafrechtliche Hintergrund oder die Identität der Lagerhäftlinge als „Politische“ spielten nur insoweit eine Rolle, wie ehemalige Armeesanitäter und technische Spezialisten für andere kriegswichtigere Aufgaben eingeteilt werden konnten. Das Regionalkomitee hatte klare arbeitsökonomische Erwartungen an die Lager und die bediente Kuljapin. Der Bericht erklärte unter anderem, dass 312 Vgl. Bušmakov, Andrej: Lagerʼ No 0302 NKVD SSSR, in: Archivy Urala 9–10 (2006), S. 293. 313 Berichtschreiben über die Ergebnisse der Prüfung des Zustandes des Speziallagers N 0302 NKVD SSSR für das Jahr 1944, Januar 1945, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 104, l. 2–3. 314 Vgl. ebd., l. 5. 315 Ebd., l. 24; 31–32.

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das vergleichsweise junge Alter der Insassen die miserablen Lebensbedingungen kompensieren würde. Die Sterberate sei daher entsprechend niedrig. Mehr als eine Anweisung im Namen des Regionalkomitees, die „Defizite zu beheben“, bot der Bericht letztlich nicht auf.316 Die Staatsanwaltschaft leistete also ihren Beitrag zur „Gesetzlichkeit“, indem sie bekannte Missstände noch einmal systematisierte. Sie konnte punktuell Einfluss auf das Schicksal der Insassen nehmen. Beispielsweise wurden einige Häftlinge aus der Strafisolationszelle des Lagers befreit. Der Rest der Insassen konnte sich in persönlichen Gesprächen beschweren, was mit Blick auf die unveränderten Lebensumstände aber eher einer zynischen Beschäftigungstherapie gleichkam.317 Disziplinar- oder Strafmaßnahmen gegen das Lagerpersonal konnten solche Berichte nur indirekt in die Wege leiten, wenn die Lagerverwaltung unter Handlungsdruck durch die Parteistellen geriet. Letztlich griff die Brigade nur auf, was der Verwaltung der Speziallager bekannt war. Fast 200 Mitarbeiter (13,5 Prozent des Lagerpersonals) waren im Laufe des zweiten Halbjahres 1944 abgemahnt, entlassen oder auch vor Gericht gebracht worden. Der überwiegende Teil stammte zwar aus den niederen Rängen. Trotzdem griff die Hauptverwaltung der Speziallager beim Innenministerium verhältnismäßig konsequent durch.318 Zum Zeitpunkt der Brigadeinspektion hatte die GULag also bereits erste Konsequenzen gezogen, während der Brigadebericht keinerlei personelle Konsequenzen forderte. In anderen Fällen, in denen die verheerenden Zustände der Zwangsarbeitslager angemahnt wurden, brachte die Lagerhauptverwaltung ausgewählte Abteilungsleiter in der Lagerführung vor ein Militärgericht, die sich vor allem der Veruntreuung und anderer Wirtschaftsvergehen schuldig gemacht hatten. Die zuständigen Beamten für die sanitären Zustände erhielten eine Abmahnung.319 Die Haftinspektionsberichte waren für die Parteizellen nur eine Informationsquelle von vielen und die Prioritäten bei der Bestrafung des Personals legte die Lagerverwaltung nach ihrem Ermessen fest. Die Entscheidung, einen Teil der Insassen als Wachpersonal anzustellen, resultierte im Speziallager 0302 offenbar in einer steigenden Zahl von Übergriffen gegenüber den Häftlingen und auch gegenüber zivilen Arbeitern in den Betrieben. Das NKVD bekam dieses Problem im Laufe des Jahres 1945 nicht unter Kontrolle. In einem Quartal wurden 14 Wärter und andere Mitarbeiter vor ein Militärgericht gebracht. Mehrjährige Haftstrafen und auch eine Todesstrafe wurden ausgesprochen.

316 Ebd., l. 36. 317 Ebd., l. 35. Vgl. Hedeler/Stark, Das Grab in der Steppe, S. 204. 318 Vgl. Berichtschreiben über die Ergebnisse der Prüfung des Zustandes des Speziallagers N 0302 NKVD SSSR für das Jahr 1944, Januar 1945, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 104, l. 27. 319 Vgl. Leiter der Haftaufsichtsabteilung Molotov, Jananis, an den Abteilungsleiter in der RSFSRStaatsanwaltschaft Kusnecov, 28.8.1943, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 651, l. 145.

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Vor allem die Straftaten gegenüber Zivilisten und die Tatsache, dass es sich bei den Wärtern um ehemalige Häftlinge handelte, ließen die Lagerverwaltung hart durchgreifen. Die Zustände blieben dennoch so alarmierend, dass ein Militärstaatsanwalt aus dem NKVD das Regionalkomitee um einen Lösungsvorschlag für diese Disziplinprobleme bat. Die Partei reagierte darauf und trug möglicherweise zur Entscheidung der Lagerverwaltung bei, 0302 schon im März 1946 aufzulösen. Die Insassen wurden daraufhin auf andere Zwangsarbeitsbetriebe verteilt.320 Die grundsätzlichen Entscheidungen über den Verbleib und die Zusammensetzung der Zwangsarbeitslager lagen also beim NKVD. Die Staatsanwaltschaft folgte im Fahrwasser der Entscheidungen, die die Lagerhauptverwaltung für die einzelnen Lager traf und fungierte als Informationslieferant für die Partei oder das NKVD . Auf diese Informationen angewiesen war das Innenministerium selbst nicht, da es auf eigene Inspektionsinstanzen und Quellen zurückgreifen konnte. Die Staatsanwaltschaft beobachtete gewissermaßen aus der zweiten Reihe. Diese Beobachtungen waren punktuell sehr detailliert und dokumentierten teilweise das Elend und die tagtäglichen Übergriffe gegen Insassen, unabhängig von deren politischem Hintergrund. In Verbindung mit den Parteiorganen konnte die Staatsanwaltschaft sogar konkreten Druck auf die Leitungsebene einzelner Lagerkomplexe ausüben, wenn das ökonomische Interesse gefährdet schien. In der Frage der Bestrafung des Lagerpersonals und bei der Einführung präventiver Maßnahmen gegen Beamtenwillkür blieb der Staatsanwalt außen vor. Das System des sowjetischen Strafvollzuges verschmolz im Laufe des Krieges immer enger mit den Komplexen der Rüstungsindustrie. Häftlinge waren Objekte der Strafpolitik und zugleich eine kriegswichtige Ressource. Die Parteiführung und das Innenministerium strebten entsprechend die bestmögliche und effektive Ausnutzung dieser Ressource an. Die Staatsanwaltschaft in Moskau verpflichtete ihre Beamten darauf, den Strafvollzug damit als Wirtschaftskreislauf zu beaufsichtigen. Kuljapins Ideale von der Macht und der Bedeutung des Regelwerks waren an diese Aufgabe angelegt, fielen in weiten Teilen aber der Arbeitslast und dem Zuständigkeitschaos zum Opfer bzw. stießen rasch an die Grenzen der eigenen Aufsichtskompetenz. Das NKVD gab den Kurs vor, wie Menschen inhaftiert, transportiert und als Arbeitskraft verwaltet wurden. Gegenüber der Informationshoheit und der Entscheidungsgewalt des Innenministeriums konzentrierten sich die Staatsanwälte vor allem darauf, den Wirtschaftskreislauf in Bewegung zu halten und Häftlinge termingerecht an ihren Bestimmungsort transportieren zu lassen. Auf der einen Seite konnte ein Staatsanwalt die Entscheidungen von Gefängnis- oder Lagerverwaltungen anzweifeln und

320 Vgl. Bericht des Militärstaatsanwalts, Starodubcev, an den ersten Sekretär des ObKom, Gusarev, 31.1.1946, in: PGASPI, f. 105, op. 12, d. 140, l. 10.

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revidieren lassen. Auf der anderen Seite orientierten sich viele Beamten an dem ökonomischen Erwartungsdruck. Die Haftaufsicht band die Haftverwaltungen somit seltener an ein Regelwerk, als dass sie die Regelverstöße dokumentierte. Kuljapin war nicht der Einzige, der von der Bedeutung von Regeln überzeugt war, die auch hinter dem Lagerzaun durchgesetzt werden müssten. Nicht umsonst türmten sich die Berichte in der Staatsanwaltschaft auf, in denen Misshandlungen, Hunger und Willkür in Hafteinrichtungen dokumentiert wurden. Allerdings hatte man gegenüber dem Innenministerium weder die Befugnis, noch ein kodifiziertes Regelwerk, noch das politische Gewicht, oder überhaupt die Ressourcen, Direktiven durchzusetzen, die das Innenministerium selbst erlassen hatte. Diesen Schritt überließ man der GULag, sowohl aus Gründen der Arbeitsökonomie als auch aufgrund der Tatsache, dass man informationstechnisch in zweiter Reihe stand, hinter dem Innenministerium oder der Partei. Das Verhältnis der Staatsanwaltschaft zum NKVD begann sich seit dem Ende der 1930er-Jahre zu verändern. Die Unionsstaatsanwaltschaft erkannte nach dem Ende des „Großen Terrors“, dass das Innenministerium nach Möglichkeit stärker kontrolliert werden müsste. Die Miliz- und die Haftaufsicht waren die institutionelle Verstetigung dieses Kontrollversuchs. Die Abteilungen sollten die Aufsicht bündeln und koordinieren und der Arbeit in der Peripherie die nötige Struktur verleihen. Wenig überraschend überdehnte dieser Kontrollanspruch die verfügbaren Personalressourcen und in der ganzen Sowjetunion dauerte es bis zum Ende des Krieges, bis sich die entsprechenden Abteilungen in den Regionen überhaupt besetzen ließen. In beiden Fällen, der Miliz- und der Haftaufsicht, stießen die Beamten der Staatsanwaltschaft auf einen Polizeiapparat, der nur widerwillig und verzögert Informationen über die eigene Arbeit teilte. Sowohl gegenüber der Miliz als auch gegenüber den Verwaltungen der Strafanstalten traten Staatsanwälte als institutionelle Außenseiter auf, die ihre Informationen bruchstückhaft erringen mussten. Eine einheitliche oder konsistente Strategie gegenüber dem Innenministerium als Ganzem entwickelte die Staatsanwaltschaft jedoch nicht, da Beamte im Zuge der Haft- und Milizaufsicht unter grundsätzlich anderen Bedingungen operierten. Arbeiteten Staatsanwälte bei ihren Haftinspektionen größtenteils dem NKVD und der Partei zu, stand man mit der Miliz in unmittelbarer Konkurrenz. Beide Behörden rangen dort um die Interpretationshoheit und die Entscheidungsgewalt im Ermittlungsverfahren. Die Unionsstaatsanwaltschaft übte sich in Zurückhaltung, als es darum ging, die strukturellen Konflikte zwischen den Behörden zu thematisieren und eventuelle Lösungsansätze zu finden. Stattdessen drängten die obersten Staatsanwälte vor allem bei der Milizaufsicht auf quantifizierbare Ergebnisse und überließen ihre Beamten dem Kräftemessen mit der Miliz. Dazu war die Personaldecke nach wie vor dünn, die Beamten schlecht ausgebildet und unerfahren in solchen Konflikten. In der

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Folge suchten also einerseits viele niedere Staatsanwälte nach dem kürzesten und unverfänglichsten Weg, die Ermittlungsarbeit der Miliz zu inspizieren. Fristvergehen und ungesetzliche Inhaftierungen wurden so häufig unterschlagen. Andererseits forderten gerade diese Konflikte Kuljapin und einige Abteilungsleiter heraus, noch stärker ihr eigenes Profil zu schärfen. Soweit das laufende Ermittlungsverfahren betroffen war, erkämpften sich einige Staatsanwälte auf Grundlage der Prozessordnung ihre Position als Leiter der Ermittlungen. Sie erwirkten Entlassungen und Abmahnungen von Milizionären und trugen dabei mit zur Personalfluktuation in der Miliz bei. Im Kontrast dazu, und geprägt von den Erfahrungen des „Großen Terrors“, inszenierte Kuljapin seine Behörde als einzig fähigen Garanten für Routine und Regelmacht in der Strafverfolgung. Die Überzeugung, der qualifiziertere und funktionalere Akteur zu sein, wurde von vielen Staatsanwälten geteilt, doch ohne strukturelle Unterstützung von Seiten der Partei konnten sie dieser Überzeugung nur wenige Taten folgen lassen. Der Prozess der Strafverfolgung war in der Folge ein langsames und konfliktreiches Taktieren. Die Inspektion der Haftorte war wiederum ein Übungsfeld, um Willkür zu dokumentieren und den eigenen Einfluss auf das Regionalkomitee zu testen. Auch wenn Kuljapin sich zur Bedeutung eines nahezu uneingeschränkten Regelwerkes bekannte, blieb in der Praxis wenig Spielraum, solche Ideale zu realisieren. Die Fluktuation der Häftlinge zeigte, dass ein Staatsanwalt, besonders in Kriegszeiten, die Anweisungen der Lagerleiter infrage stellen, den Transfer der Häftlinge entschleunigen und Korrekturen anweisen konnte. Soweit das kriegswirtschaftliche Interesse berührt war, verfügte der Beamte über mehr Hebelwirkung im Umgang mit den Haftleitern. Jenseits der Kriegswirtschaft ließ das Interesse vieler Staatsanwälte aber nach, das Schicksal der Gefängnis- oder Lagerinsassen weiter zu beeinflussen. Das Zuständigkeitswirrwarr in den Gefängnissen und der chronische Personalmangel trugen noch dazu bei, dass die Beamten lediglich ökonomisch relevante Daten im Auge behielten und in allen übrigen Fragen die Entscheidungen des Innenministeriums mittrugen.

4.6 Zw i s che n f a z it Zu Beginn des Kapitels wurde unter anderem die Frage aufgeworfen, wie sich die Rolle der Staatsanwaltschaft in die Geschichte des sowjetischen Hinterlandes einfügt. Die häufige Wahrnehmung, dass Regelungen während des Krieges aufgeweicht wurden und informelle Handlungs- und Lebensweisen mehr und mehr Raum gewannen, widersprach den Ansprüchen der Staatsanwaltschaft. Spielräume innerhalb der Staatsorganisation und im gesellschaftlichen Zusammenleben waren aus deren Sicht nur zulässig, wenn das größere Interesse der Partei bzw. der Kriegsanstrengungen

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gewahrt blieb. Bis zum Ende des Krieges hatte die Staatsanwaltschaft jedoch große Probleme, diese Ansprüche auch durchzusetzen. Auf der einen Seite verhinderte der Mangel an qualifiziertem Personal und das ständige Kommen und Gehen neuer Ermittler und Staatsanwälte, dass sich um Kuljapin ein System aus Staatsanwälten formte, das über längere Zeit geschlossen agieren konnte. Darüber hinaus trugen Staatsanwälte mit ihrer Aufsichtsfunktion ein politisches Risiko, Rückschläge jedweder Art im Bereich der Strafverfolgung und der Kriminalitätsbekämpfung selbst verantworten zu müssen. Unerfahrene und unzureichend ausgebildete Beamte tendierten also dazu, die Verfahrensregeln zu übergehen und waren weniger konfrontationsbereit. Vor allem aber wurden Beamte von ihren Vorgesetzten in Moskau dazu angehalten, quantifizierbare Ergebnisse vorzuweisen. Jedes Vorgehen, jeder strafrechtliche Schritt (Verfahrenseinstellung oder ein Protest gegen eine Verurteilung), der die „Stabilität der Urteile“ gefährden konnte, barg ein enormes berufliches und auch politisches Risiko, als „liberal“ oder als unzuverlässig zu gelten. Dieser statistische Erfüllungsdruck prägte die Strafrechtspraxis und die alltägliche Interaktion der Staatsanwälte mit anderen Behörden. Verhängte Urteile wurden kaum als zu „streng“ angefochten bzw. gerade bei der Kampagne gegen Arbeitsvergehen zum Wohle der Statistik hingenommen. Fälle von Misshandlungen im Verhör oder sonstige Übergriffe durch Milizionäre waren für die Moskauer Vorgesetzten nicht primär von Interesse, also beschränkten sich viele Beamte auch bei der Haft- und Milizaufsicht auf die Prüfung der Arrestsachen. Stießen sie bei der Miliz oder dem Innenministerium auf Widerstand, war das Risiko noch immer hoch, als Staatsanwalt für das Versagen der Milizionäre in Haft genommen zu werden. Der enge Fokus auf statistische Erfolgsmeldungen nahm den Beamten auch hier den Enthusiasmus, jede Gesetzesübertretung der Miliz oder anderer staatlicher Behörden bis nach Moskau zu tragen. Selbst Kuljapin wog das politische Risiko von Korruptionsfällen in den eigenen Reihen daher sorgfältig ab. Regeln wurden von Staatsanwälten in Kriegszeiten vor allem dann durchgesetzt, wenn es ihre Ressourcen zuließen und wenn sich ihre Arbeit in den Statistikbögen niederschlug, sprich: wenn sie dafür explizite Anerkennung bekamen. Auf der anderen Seite war besonders Dmitrij Kuljapin ein sehr gutes Beispiel, dass der Arbeitsanspruch der Staatsanwaltschaft bei ihren eigenen Beamten auch berufliche Grundsätze wachrufen konnte, sie animieren konnte, für diese Grundsätze auch einzutreten, wenn der Ausgang einer Konfrontation und das politischen Risiko kalkulierbar waren. Ohne in den Statistiken aufzufallen, stellten Staatsanwälte zehntausende von Ermittlungsfällen gegen Arbeitsdeserteure ein, weil die drakonischen Strafen eine genaue Prüfung des Tatbestandes erforderten (der ohnehin selten klar gegeben war). Mit Rückendeckung der Unionsstaatsanwaltschaft und der anderen Justizorgane setzten sich Kuljapin und andere Mitarbeiter zunehmend für eine

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juristische Ausdifferenzierung der Jugendstrafverfolgung ein. Das Projekt Jugendstrafrecht steckte, wie auch die Miliz- und Haftaufsicht, noch in den (Neu)Anfängen am Ende der 1930er-Jahre, doch wirkten sich die Fortschritte in der Prozessordnung auch auf die Arbeitsweise im Umgang mit Jugendstraftätern aus – dahingehend, dass sie bei Gelegenheit eben als solche behandelt wurden. Die Aufsicht über die Miliz sollte sich zu einer dauernden Belastungsprobe für die Beamten der Staatsanwaltschaft entwickeln. In keinem anderen Arbeitsbereich hing „Gesetzlichkeit“ so deutlich von der Konfrontationsbereitschaft und der Durchsetzungsfähigkeit der Staatsanwälte ab (auch gegenüber den eigenen Untergebenen). Ab 1943 stellte sich die Staatsanwaltschaft in Molotov jedoch schrittweise auf dieses Prinzip ein. In der eigenen Behörde und innerhalb der Miliz erwirkte Kuljapin personelle Konsequenzen, wenn Beamte auf beiden Seiten übergriffig, nachlässig oder kriminell handelten. Die beruflichen Ambitionen eines Staatsanwaltes erstreckten sich folglich auch bis dahin, wo ihm die Befugnisse für systematische Veränderungen fehlten: in der Miliz oder auch in den Lagern der GULag. In den Kriegsjahren durchlief eine qualitativ und quantitativ ausgedünnte Staatsanwaltschaft ihre Entwicklungs- und Probezeit. Neue Abteilungen wurden angelegt, die bis Kriegsende stark unterbesetzt blieben. Die Staatsanwaltschaft setzte ihre Ansprüche zur Disziplinierung der Staatsgewalt und der Gesellschaft nur punktuell durch. Wie so häufig in der sowjetischen Geschichte spannte sich folglich eine breite Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit auf. Die Ansprüche, die Kuljapin in allen Bereichen formulierte, waren jedoch nicht nur der Ausdruck seiner beruflichen Vorstellungen – die Funktionalität einer Gesellschaftsordnung durch Regeln zu garantieren. Sie beinhalteten einen moralischen Appell, der sich an der Verantwortung gegenüber der Partei und dem Sowjetstaat ebenso orientierte wie an der Verantwortung gegenüber dem Individuum. Der Beruf des Staatsanwaltes gab ihm die Möglichkeit, seinen moralischen Vorstellungen Ausdruck zu verleihen und in beiden Fällen, in beruflicher und moralischer Hinsicht waren die Jahre 1936 bis 1938 die Kontrastfolie für professionelles Handeln. Die Zeit des „Großen Terrors“ war das mahnende Negativbeispiel für einen Staat und eine Gesellschaft, die sich einst in Willkür und Gewalt auflösten. Kuljapin teilte diese Erfahrung mit vielen anderen Zeitgenossen und schwor sich und seine Untergebenen darauf ein, die Staatsanwaltschaft der Partei und der Bevölkerung als verlässliche und funktionale Alternative zu diesem Willkürszenario zu präsentieren. Die Verpflichtung zur Disziplinierung von Staat und Gesellschaft entsprang also nicht nur den Lehrbüchern, sondern auch einer biographischen Prägung. Die Willkür der 1930er-Jahre bestimmte die beruflichen Ambitionen der 1940er-Jahre, nämlich solch eine Willkür (insbesondere durch die Geheimpolizei) nie wieder zuzulassen. Die Durchsetzung dieses Anspruches hing in den Kriegsjahren noch sehr stark am persönlichen Engagement Kuljapins. Wenn er als Regionalstaatsanwalt in die

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Belange seiner Bezirksbeamten eingriff und Strafsachen selbst übernahm, stiegen die Chancen für ein regelkonformes Verfahren. Weder er noch seine Vorgesetzten in Moskau beabsichtigten allerdings das System der Strafverfolgung oder das gesellschaftliche Zusammenleben zu ‚liberalisieren‘. Vielmehr ging es in Moskau und Molotov darum, Straftaten und Sanktionen auszudifferenzieren. Die Sorge um eine Niederlage und damit um die Existenz des gesamten Sowjetstaates veranlasste zumindest nicht Kuljapin zur Mildtätigkeit. Im Gegenteil: juristische Sorgfalt konnte in seinen Augen der einzige Verdienst sein, den die Staatsanwaltschaft in Kriegszeiten leisten konnte. Ob es Kuljapin und seinem Nachfolger gelingen sollte, diesen Anspruch außerhalb der Versammlungen zu verstetigen, sollte sich in den kommenden Jahren zeigen.

5. DI E STA AT SA N WA LT SC H A F T NAC H 19 45 – DE R AU FST I E G A LS H E R R SC H A F T SI NST RU M E N T

Im Gegensatz zur Zeit des Zweiten Weltkrieges spielt die Justiz in den Forschungsarbeiten zum „Spätstalinismus“ eine zentrale Rolle. Dieses Forschungsinteresse hat zwei wesentliche Ursachen. Ein Grund dafür ist, dass diese Epoche durch Konflikte und Probleme geprägt war, die das sowjetische Regime zunehmend mithilfe der Justiz zu lösen versuchte. Donald Filtzer zum Beispiel legte die Bruchlinien der stalinistischen Befehlsstrukturen da offen, wo Arbeiter vor Gericht gestellt werden sollten, die sich zunehmend dem Zugriff des Regimes entzogen. Julianne Fürsts Buch über „Stalins letzte Generation“ handelt von den (enttäuschten) Erwartungen, die die sowjetische Nachkriegsjugend an eine traumatisierte und zerrüttete Sowjetgesellschaft stellte. Jugendliche Nonkonformität und Jugendkriminalität forderten politische, kulturelle und eben auch strafrechtliche Maßnahmen von Seiten der Sowjetmacht heraus.1 Allerorten flammten soziale Spannungen auf. Kriegsheimkehrer suchten ihren Platz in der Gesellschaft und Hungerkatastrophen schwemmten Armutsflüchtlinge in die Städte. Den daraus resultierenden Konflikten begegnete die Parteiführung zuvorderst mit schärferen Gesetzen und Justizkampagnen.2 Das Regime steuerte den neu geschürten Erwartungen der Kriegsgeneration mit Restriktionen und Zwang entgegen. Die Strafjustiz erwies sich da als ein bevorzugtes Instrument sozialer Kontrolle, was auch dadurch veranschaulicht wird, dass Stalin persönlich die Ziele der Strafjustiz diktierte.3 Zugleich konnte man beobachten, dass, anders als noch im vorigen Jahrzehnt, breite Verhaftungswellen keine Option

1 Vgl. Filtzer, Donald A.: Soviet Workers and Late Stalinism. Labour and the Restoration of the Stalinist System after World War II. Cambridge (U.K.) 2002, S. 177; Fürst, Juliane: Stalin’s Last Generation. Soviet Post-war Youth and the Emergence of Mature Socialism. Oxford 2012. 2 Vgl. Gorlizki, Yoram: Rules, Incentives and Soviet Campaign Justice after World War II, in: Europe-Asia-Studies 51 (1999) H. 7, S. 1245–1265. Die Justizbehörden reagierten nicht nur auf gewalttätige Übergriffe und Armutskriminalität. Auch die massenhafte Entlassung und Versorgung von Kriegsinvaliden beschäftigte zunehmend die Staatsanwaltschaft. Vgl. Fieseler, Beate: The Bitter Legacy of the ‚Great Patriotic War‘. Red Army Disabled Soldiers under Late Stalinism, in: Juliane Fürst (Hg.), Late Stalinist Russia. Society between Reconstruction and Reinvention. London/New York 2006, S. 52. 3 „[…] as for criminal justice, we know that Stalin had a hand in virtually all the most important reforms of the postwar era“ Gorlizki, Rules, Incentives, S. 1246.

Die Staatsanwaltschaft nach 1945

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mehr waren. Staatliche Eingriffe in das soziale und politische Leben erfolgten zunehmend fallorientiert.4 Darüber hinaus eröffnete der Systemkonflikt dem Sowjetregime die Möglichkeit, die Überlegenheit der eigenen Rechtsordnung zur Schau zu stellen. Der Kreml habe sich bemüht, seine Reputation wiederherzustellen, die durch die Schauprozesse der 1930er-Jahre getrübt worden war und erkannte dabei die zunehmende Bedeutung internationaler Gerichtsprozesse für die eigene Außenpolitik.5 Vor allem die Kriegsverbrechertribunale boten die Gelegenheit zur Imagekorrektur auf internationaler Bühne, aber auch zur Selbstdarstellung gegenüber der eigenen Bevölkerung. Im Gerichtsaal konnte die Sowjetmacht ihre Legitimation als Autorität über Recht und Ordnung unter Beweis stellen.6 Der zweite Grund für den wissenschaftlichen Fokus auf die Justiz besteht darin, dass sich die Quellenlage für die Zeit nach Kriegsende verbessert. Nicht nur die juristischen Fachjournale erschienen ab 1945/46 wieder regelmäßig. In der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre legten die Organe der Justiz mehr Akten an als je zuvor. Korrespondenzen, Protokolle, Fallakten und Telegramme wurden immer häufiger archiviert, als dass sie weggeworfen wurden. Noch fast 70 Jahre danach ist diese Veränderung in den Archiven ebenso sichtbar wie in den einzelnen Untersuchungsakten, die zunehmend umfangreicher wurden. Richter und Staatsanwälte traten aus historiographischer Sicht als Akteure sichtbarer in Erscheinung. Der Bedeutungszuwachs als Kontrollinstrument und die veränderte Überlieferung deuten auf die gängige Epochendeutung für die Strafjustiz hin: nach 1945 begann für Richter und Staatsanwälte die Phase der „Professionalisierung“. Tanja Penter drückte es für die Militärgerichtsverfahren so aus: „Die Prozessunterlagen wurden nicht nur dicker, sondern auch gehaltvoller, die Sorgfalt bei der gerichtlichen Voruntersuchung nahm zu und die Untersuchungsmethoden wurden professioneller.“7 Der Charakter dieser „Professionalisierung“ ist höchst umstritten. Peter Solomon betonte, dass das Regime zwar eine Bildungsoffensive einleitete, wodurch das Ausbildungsniveau der Juristen, vor allem unter Staatsanwälten, deutlich angehoben wurde. Der zunehmende Einfluss der Parteiorgane und der Perfektionierungs- und

4 Zu den Erwartungen der Nachkriegszeit vgl. Zubkova, Elena: Russia after the War. Hopes, Illusions, and Disappointments, 1945–1957. Armonk (NY) 1998; vgl. außerdem zum Fokus des Regimes auf die Rolle der Strafjustiz: Shearer, Policing Stalin’s Socialism, S. 405; Neutatz, Träume und Alpträume, S. 354. 5 Vgl. Penter, Tanja: „Das Urteil des Volkes“. Der Kriegsverbrecherprozess von Krasnodar 1943, in: Osteuropa 60 (2010) H. 12, S. 130; Hirsch, Francine: The Soviets at Nuremberg: International Law, Propaganda and the Making of Postwar Order, in: American Historical Review 113 (2008) H. 3, S. 706. 6 Vgl. Berman, Justice in the U.S.S.R, S. 64 f. 7 Penter, „Das Urteil des Volkes“, S. 131.

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Statistikwahn haben, so Solomon, allerdings eine Generation von Rechtsbürokraten hervorgebracht, die nicht professionell, sondern stromlinienförmig arbeiteten. Parteilichkeit habe über Professionalität dominiert. Die Nachkriegszeit habe also juristische Karrieren ermöglicht, ohne juristische Denker hervorzubringen.8 Dass vor allem regionale Parteiorgane nach 1945 immer öfter in die Arbeit von Richtern und Staatsanwälten eingriffen, um die Interessen ihrer Nomenklatura zu schützen, hat Juliette Cadiot nachgewiesen. Juristische Entscheidungen und Entscheidungsprozesse wurden wissentlich und willentlich den Interessen der Parteiinstanzen angepasst, gebeugt und untergeordnet.9 Wie in der Einleitung dargelegt, streitet die vorliegende Arbeit diese Tatsache keineswegs ab. Die Kapitel zuvor haben allerdings auch demonstriert, dass sowohl der statistische Konformitätsdruck als auch die Unterordnung der Strafpraxis unter politische Erwägungen in die 1930er-Jahre zurückreichen. Entgegen Solomons Behauptung war der politische Druck zur Vermeidung von Freisprüchen kein neuer Trend der Nachkriegszeit.10 Zugleich stand Parteilichkeit gemäß den Ansprüchen der Staatsanwaltschaft nicht im Widerspruch zur Profession, sie ging in ihr auf. Die Durchsetzung eines Normensystems erfolgte in Ergänzung zum Parteistatut. Die Annahme des folgenden Kapitels besteht darin, dass es der Staatsanwaltschaft bis 1953 gelang, eine Entwicklung voranzutreiben, die sie schon 1939 anvisiert hatte: die Schöpfung einer bürokratischen Rechtselite, die Regeln komplementär zu den Zweckerwägungen der Partei in Staat und Gesellschaft durchsetzt. Das Regime brauchte keine juristischen Denker, sondern effektive und loyale Bürokraten. Im Folgenden soll es also darum gehen, die Rolle der Staatsanwaltschaft nach 1945 vor dem Hintergrund der Professionalisierungskampagne nachzuvollziehen, und zu beleuchten, ob sie ihre Rolle als Herrschaftsinstrument ausdehnen konnte. Welche Auswirkungen hatte die juristische Bildungsoffensive ab 1946 auf die Ansprüche und Konflikte um Regelhaftigkeit im Alltag der Staatsanwaltschaft? Inwieweit veränderten oder verfestigten sich die Handlungsspielräume vor den sozialen und politischen Herausforderungen der späten stalinistischen Diktatur? Diese Fragen können nicht streng chronologisch abgehandelt werden. Viele gravierende Entwicklungen (wie der Konflikt zwischen Kuljapin und dem Innenministerium oder die Umsetzung von Strafkampagnen) vollzogen sich parallel. Zu Beginn des Kapitels werden daher zunächst die Grundlagen der „Professionalisierung“ diskutiert, auf denen die Staatsanwaltschaft ihre Rolle in den folgenden  8 Vgl. Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 350–362; Solomon, Understanding the History of Soviet Criminal Justice, S. 408.  9 Vgl. Cadiot, Equal before the Law, S. 260. 10 Vgl. auch Solomon, Peter H. Jr.: The Case of the Vanishing Acquittal: Informal Norms and the Practice of Soviet Criminal Justice, in: Soviet Studies 39 (1987) H. 4, S. 532.

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Jahren festigte. Im Mittelpunkt dieses Abschnittes stehen die Bildungsreform von 1946 und ihre mittelfristige Umsetzung in Molotov und der Sowjetunion allgemein. Welche Absichten und Strategien verfolgten die Parteiführung und die Spitzen der Justiz mit dieser Reform und wie veränderten sich das Ausbildungsniveau und die Kaderstrukturen innerhalb der Staatsanwaltschaft zwischen 1946 und 1953? Der zweite Abschnitt ist der politischen Seite der Professionalisierungsgeschichte gewidmet. Wie behauptete die Staatsanwaltschaft ihre Autonomie gegenüber den Verlockungen und Abhängigkeiten der lokalen Machtklientel und zugleich gegenüber dem Einfluss der Partei? Unter dem Begriff der „politischen Praxis“ soll die Rolle der Parteistrukturen im Prozess der Strafverfolgung illustriert werden, die dem Professionalisierungstrend eine klare politische Ausrichtung gab. Daran wird auch das praktische Verhältnis zwischen Partei und Staatsanwaltschaft für die Zukunft sichtbar. Der dritte Abschnitt rückt den Fokus näher an den Behördenalltag in Molotov. Der Konflikt zwischen Kuljapin und der NKVD-Leitung von Molotov bahnte sich noch vor Kriegsende an. Zwischen 1946 und 1948 eskalierte der Streit und Kuljapin stellte die Kompetenzen, die Handlungsspielräume und die eigene Rolle gegenüber der Miliz auf die ultimative Probe. Wie weit konnte ein Staatsanwalt mit seiner Kritik am Polizeiapparat und mit seinen Ansprüchen für die eigene Behörde gehen? Wo zogen die Vorgesetzten und die Parteiführung in Moskau die Grenzen in einem Konflikt, der prinzipiell einkalkuliert war und welche Rückschlüsse lassen sich daraus auf das Verhältnis zwischen Staatsanwaltschaft und Miliz in Molotov für die Folgejahre ziehen? Der darauffolgende Abschnitt diskutiert das Verhältnis zum Innenministerium und zur Haftverwaltung im Speziellen. Der Gulag schwoll nach Kriegsende noch stärker und sprunghafter an als zuvor. Die Kampagnen gegen Diebstahl, eine Amnestie und viele Entlassungsbefehle, die Heimkehr zahlreicher sowjetischer Kriegsgefangener aus Deutschland und die Fahndung nach Spionen und Kollaborateuren veränderten das Gesicht der Lagerwelt erneut. In den Jahren 1950 bis 1952 erreichte das Lagersystem seine größte Ausdehnung, während das Häftlingskarussell ständig in Bewegung blieb.11 Wie beeinflusste das neue Gesicht des Gulag die Aufsichtspflichten und -praktiken der Staatsanwälte und welchen Anteil hatte die Staatsanwaltschaft wiederum an der Gestalt des Lagersystems? In den letzten Abschnitten stehen Routine und Kampagne der Strafverfolgung gleichermaßen zur Diskussion, auch mit Blick auf die Frage des Professionalisierungstrends. Wie entwickelten sich einerseits die Spielräume und Ambitionen bei der Bekämpfung von Jugendkriminalität? Wie reagierten der Kreml und die

11 Vgl. Applebaum, Der Gulag, S. 485–501; Alexopoulos, Amnesty 1945, S. 281.

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Staatsanwaltschaft auf die Erscheinungsformen jugendlicher Nonkonformität und inwiefern differenzierte sich die Praxis des Jugendstrafrechts in diesem Zusammenhang weiter aus? Andererseits stand die Staatsanwaltschaft im Kampf gegen Diebstahl ab 1947 an vorderster Front für die zweite große Justizkampagne der 1940er-Jahre. Wie stellten sich die Staatsanwälte auf den politischen Erwartungsdruck ein und wie passten sie ihre Arbeitsweise daran an? Die Geschichte der Staatsanwaltschaft berührt auch die Epochenfrage der sowjetischen Nachkriegszeit. Unter dem Etikett des „Wiederaufbaus“ stemmte sich das Regime einerseits gegen die Reformideen und Liberalisierungshoffnungen vieler Bürger und Funktionäre. Wirtschaftlich, kulturell und politisch strebte die Parteiführung nach einer Wiederherstellung des Vorkriegszustandes. Andererseits eröffneten sich trotz aller Restaurationsversuche Spielräume für einen kulturellen und politischen Wandel. Der sowjetische Staat trat in eine quasi postrevolutionäre Phase der Konsolidierung.12 Der globale Systemkonflikt forderte außen- und innenpolitische Planungssicherheit, so dass das Regime auf Instrumente zur politischen, sozialen und kulturellen Kontrolle zurückgriff, die diese Sicherheit nicht zu gefährden drohten. Konnten sich die Staatsanwaltschaft und die Justiz nach 1945 als Instrumente der Konsolidierung empfehlen?

5.1 Wege d e r P r ofe s sio n a l i sie r u ng – D a s ne u e a lt e G e sicht d e r St a a t s a nwa lt s ch a f t Die Märzausgabe der Socialističeskaja zakonnostʼ von 1946 stand ganz unter dem Eindruck eines Ereignisses: Stalins Rede vor den Moskauer Wahldelegierten, die er einen Monat zuvor, am 9. Februar, im Bolʼšoj Theater gehalten hatte. Der Diktator hatte den Sieg über Nazi-Deutschland zum Anlass genommen, um die Überlegenheit des Sozialismus und die unausweichliche Krise und den Niedergang der kapitalistischen Welt zu verkünden. Aus westlicher Sicht nahm die Rhetorik der Blockkonfrontation hier ihren Anfang.13 In den Augen Ivan Goljakovs, damals Vorsitzender des Obersten Gerichtshof der Sowjetunion, war mit Stalins Auftritt die Stunde der sowjetischen Justiz gekommen, sich am Siegeszug des Sozialismus in neuer Qualität zu beteiligen. Der kommende Fünf-Jahres-Plan und die „großen Aufgaben“, die sich die Sowjetmacht im ideologischen Wettstreit auferlegte, könne nur

12 Vgl. Fitzpatrick, Sheila: Conclusion. Late Stalinism in Historical Perspective, in: Juliane Fürst (Hg.), Late Stalinist Russia. Society between Reconstruction and Reinvention. London 2006, S. 276 f. 13 Vgl. Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, S. 735; Dülffer, Jost: Europa im Ost-West-Konflikt. 1945–1991. München 2010, S. 15; vgl. Stalin, Iosif: Sočinenija. Tom 16, 1946–1952. Moskva 1997, S. 8.

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auf eine Weise bewältigt werden: „durch die Sicherung der Gesetzlichkeit und der Rechtsordnung“ als „die wichtigste Aufgabe unserer Rechtsprechung“.14 Die Autoren solcher Journale waren dazu verpflichtet, das politische Geschehen turnusmäßig zu kommentieren und jeden noch so erdenklichen Bezug zu ihrem eigenen Fachbereich herzustellen. Trotzdem illustriert Goljakovs Leitartikel einen wichtigen Grund, aus dem die Justiz und deren Effizienz nach 1945 mehr politische Aufmerksamkeit in der Sowjetunion genoss. Die westliche Welt litt aus Goljakovs Sicht klar an den Symptomen eines sterbenden Systems der Ausbeutung: Kriminalität. „Die allerwidersprüchlichste Natur des Kapitalismus erzeugt Kriminalität. Ihr unausweichlicher Anstieg ist eine direkte Folge der schärfsten Klassengegensätze in den bürgerlichen Staaten“.15 Demgegenüber steuere die Sowjetunion auf ihre kulturelle und materielle „Blütezeit“ zu. Kriminalität sei im Verschwinden begriffen, ein „Überbleibsel der Vergangenheit“ oder ein Produkt westlichen Einflusses. Für den praktischen Beweis der materiellen und kulturellen Überlegenheit der Sowjetunion waren also Richter und Staatsanwälte verantwortlich, indem sie eine funktionale Rechtsprechung garantierten. Damit bot sich nicht nur die Gelegenheit, die „westlichen“ Vorstellungen vom sowjetischen Polizeistaat zu widerlegen.16 Die präzise Überführung der Schuldigen und der Schutz der Unschuldigen hatten Systemrelevanz. Der Wettstreit mit dem Westen war auch ein Duell der Rechtsordnungen, das Goljakov innen und außen (im internationalen Strafrecht) gewinnen wollte.17 Der zweite Grund, aus dem die sowjetische Rechtsprechung zunehmend unter Optimierungsdruck geriet, war der nach wie vor offensichtlich desolate Bildungsund Personalstand von Staatsanwaltschaft und Justiz. Tausende Beamte waren im Krieg gefallen oder hatten ihren Beruf gewechselt. Das Ausbildungssystem der späten 1930er-Jahre war nach wie vor lückenhaft. Die Fernkurse wurden von berufstätigen Ermittlern nur sporadisch besucht, so dass viele tausend Beamte an den Instituten eingeschrieben waren, ohne je eine Lehrveranstaltung zu besuchen oder eine Prüfung abzulegen. Erst nach Kriegsende konnten diese Probleme wieder auf die Agenda gesetzt werden. Das Ministerium für Justiz und die Generalsstaatsanwaltschaft18

14 Goljakov, Ivan T.: Reč tovarišča Stalina 9 fevralʼja 1946 g. i naši zadači, in: Socialističeskaja zakonnostʼ 3 (1946), S. 4. 15 Ebd. 16 „Wie man weiß wurde in der westlichen Presse nicht nur einmal behauptet, dass die sowjetische Gesellschaftsordnung ein ‚riskantes Experiment‘ sei, zum Scheitern verdammt; dass die sowjetische Ordnung ein Kartenhaus sei, ohne Lebensgrundlage und dem Volk durch die Organe der Čeka aufgezwungen […] Nun können wir sagen, dass der Krieg all diese Behauptungen der ausländischen Presse als haltlos umgeworfen hat.“ Stalin, Sočinenija, S. 8. 17 Vgl. Goljakov, Reč tovarišča Stalina, S. 5–7. 18 Am 19. März 1946 wurde der Unionsstaatsanwalt in Generalstaatsanwalt unbenannt. Vgl. Zvjagincev/Orlov, Prigovorennye vremenem, S. 318.

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initiierten Einzelaktionen, um ihre Beamten auf die Schulbank zu zwingen, doch erst im Frühjahr 1946 kam der richtungweisende Impuls aus der Parteiführung für eine unionsweite juristische Bildungsoffensive.19 Die Effizienz und die Präzision des sowjetischen Strafrechts waren ab 1946 ein politisches Kampfziel. Peter Solomon hat die ersten Schritte dieser Nachkriegsagenda ausführlich beleuchtet und beschrieben. Seine Betrachtungen über die Schulund Kursreformen und auch die Lehrhinhalte geben den Rahmen des folgenden Kapitels mit vor. Die Geschichte der Professionalisierung der Staatsanwaltschaft lässt sich jedoch nicht allein über eine Bildungskampagne ergründen. Ob und wie diese Behörde sich professionalisieren ließ, hing auch davon ob, wie stabil das Ausbildungsniveau und die Kaderstrukturen gehalten werden konnten. Das folgende Teilkapitel diskutiert die Frage der Professionalisierung somit in zwei Teilen. Erstens stellt sich die Frage des Ausbildungsprofils. Welche Ideen und Inhalte sollten den jüngeren Rekruten vermittelt werden, welches Bildungsniveau strebte die Regierung für ihre Justizbeamten an und wie erfolgreich wurde dieses Profil bis 1953 geschärft? Ein Blick auf die Bildungsentwicklung der Kader in Molotov soll helfen, diese Fragen zu beantworten. Eng damit verbunden war zweitens die Frage der Kaderkonsistenz. Wie veränderte und verstetigte sich die Personalstruktur der Staatsanwaltschaft in Molotov in der gleichen Zeit?

5.1.1 Das Ausbildungsprofil eines Rechtsbürokraten „Über den Ausbau und die Verbesserung der juristischen Ausbildung im Staat“ war der Titel des ZK-Beschlusses, an dem sich ab dem 6. Oktober 1946 die Bildungserfolge der kommenden Jahre messen lassen sollten. Die Parteiführung bemängelte darin das Niveau aller juristischen Ausbildungswege und attestierte den zuständigen Ministerien die „Verwahrlosung der wissenschaftlichen Arbeit auf dem Gebiet der Jurisprudenz“.20 Es fehlte an qualifiziertem Personal in den Lehreinrichtungen und in den Behörden. Die Antwort darauf war eine Bildungsreform im weitesten Sinne, die zum einen den Rechtsfakultäten der Hochschulen neuen Zulauf (2500 Studenten), neue Lehrbücher und neue Lehrpläne bescheren sollte. Noch immer sei die Zahl der Jura-Doktoranden weit hinter den Erwartungen und dem Vorkriegsstand zurückgeblieben und auch thematisch sollten sich die Fakultäten breiter aufstellen – natürlich mit exklusivem Fokus auf den sozialistischen Gesellschaftsentwurf. Das Ministerium

19 Vgl. Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 338–340. 20 O rasširenii i ulučšenii juridičeskogo obrazovanija v strane, in: Socialističeskaja zakonnostʼ 11 (1946), S. 13.

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für Hochschulbildung forderte im Zuge dessen zusätzliche Seminare für „Sowjetisches Staatsrecht“, „Geschichte der politischen Lehre“ oder auch „Internationales öffentliches Recht“.21 Das Vorkriegsideal einer stalinistischen Rechtselite wurde wieder in Angriff genommen – zumindest mit Blick auf die Hochschulabsolventen. Zum anderen sollte das Ausbildungsniveau in den Staatsanwaltschaften und Gerichten durch „Weiterbildungsmaßnahmen“ (perepodgotovka) angehoben werden.22 Den Kern dieses Programms stellten Abendkurse, juristische Fachschulen mit Zwei-Jahres-Lehrgängen und vor allem die Fernkurse. Allein das Netz der Fernlehrinstitute wurde schon gegen Ende des Krieges immer weiter ausgebaut. Zwischen 1943 und 1945 hatte sich die Zahl der Kursteilnehmer verdreifacht. Unabhängig davon, wie viele der Teilnehmer tatsächlich die Prüfung ablegten, wurden immer mehr Filialen in der Sowjetunion eröffnet. Im Sommer 1945 schrieben sich angeblich 10.000 Menschen in den 27 Filialen ein.23 Der Ausbildungsbeschluss von 1946 baute auf diesem Fundament auf. Neue Rekruten für die Staatsanwaltschaft durchliefen nach ihrem Schulabschluss eine zweijährige juristische Ausbildung. Einmal auf einer Stelle, als Ermittler beispielsweise, sollten sie sich ihre Zusatzqualifikationen per Fernkurs und Kurzlehrgängen in Eigenregie verdienen.24 Aktive Beamte sollten das Handwerk erlernen und ihre juristischen Fähigkeiten rein praxisbezogen schulen. Das Ausbildungsprogramm zementierte den Graben zwischen Hochschul- und Feldjuristen. Ivan Goljakov war einer der Wenigen gewesen, die für alle Juristen ein akademisches Profil anstrebten, doch diesen Plänen wurde rasch eine Absage erteilt. Goljakov wurde in den folgenden Jahren politisch isoliert und die klare Mehrheit der Justizbeamten in Moskau trug das Programm der Parteiführung mit: Die sowjetischen Richter und Staatsanwälte sollten ihr technisches Wissen um die Strafgesetzgebung und die Prozessordnung erwerben.25 Akademiker im Dienst passten nicht ins Konzept, um eine neue Generation von Rechtsbürokraten heranzuziehen. Was in den Ausbildungsstätten gelehrt wurde, hing natürlich von den Ausbildungsformaten ab. Fest steht, dass die Lehrinhalte auf die praktischen Bedürfnisse von Ermittlern und Staatsanwälten zugeschnitten werden sollten. Peter Solomon hat ausführlich dargelegt, wie „beschränkt“ das Curriculum an den Fakultäten,

21 Blagonravov, A.: Prikaz Ministra vysšego obrazovanija SSSR, 5 nojabrja 1946, o meroprijatijach po realizacii postanovlenija CK VKP (B) ot 5/10-1946 g. ‚o rasširenii i ulučšenii juridičeskogo obrazovanija v strane‘, in: Sovetskoe gosudarstvo i pravo 1 (1947), S. 74. 22 O rasširenii, S. 14. 23 Vgl. Voščilin S./Utevskij B.: Vysšee juridičeskoe zaočnoe obrazovanie, in: Socialističeskaja zakonnostʼ 7 (1945), S. 18–20. 24 Vgl. O rasširenii, S. 14. 25 Vgl. Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 342.

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Fachschulen und besonders in den Fernlehrinstituten war. Bis 1955 habe es kaum Kurse noch Lehrbücher für den akademischen Kanon (Geschichte, Philosophie oder internationales Recht) gegeben. Der Schwerpunkt lag, wie schon vor 1941, auf den Prozessabläufen und den Gesetzestexten im Straf- und Zivilrecht.26 Trotz alledem wurden wieder Lehrbücher gedruckt. Insbesondere für die juristischen Fachschulen stand ab 1947 aktuelles Lehrmaterial zumindest theoretisch zur Verfügung. Wer an einer Schule eingeschrieben war, die Zugang zu diesen Büchern hatte, konnte die Grundlagen dessen erwerben, was für das theoretische Rechtsverständnis im Stalinismus unabdinglich war. Andrej Denisovs Lehrbuch für sowjetisches Strafrecht ist dafür das bekannteste Beispiel. Auf aktuelles und praxistaugliches Anschauungsund Lehrmaterial mussten Anwärter der Staatsanwaltschaft hingegen etwas länger warten. Lebedinskijs „Organisation der Arbeit der sowjetischen Staatsanwaltschaft“ erschien erst 1953.27 Dieses Buch entwickelte auf etwas mehr als 180 Seiten, was ein Staatsanwalt über die Strukturen, Zuständigkeiten und die eigene Behördenkommunikation wissen musste. Wie in den Kapiteln zwei und drei erläutert, standen diese Vorgaben schon in den 1930er Jahren fest. Ermessenspielräume und tiefere Reflexion waren kein Thema, sondern nur die Frage, wie Befehle und Gesetze auf welchem Wege handwerklich, bürokratisch umzusetzen waren. Das Pensum, was über die Fern- und Abendkurse vermittelt wurde, war mit dem der Fachschulen kaum zu vergleichen. Die Filialen des Fernlehrinstituts waren allein schon schlechter ausgestattet als die übrigen Lehreinrichtungen. Das Ausbildungskonzept bestand in einer Kombination aus Selbststudium und der praktischen Anleitung eines aktiven Beamten. Diese ‚Lehrer‘ waren in vielen Fällen selbst fortgeschrittene Kursteilnehmer, die die wenigen Unterrichtsstunden dazu nutzten, gemeinsam die Rechtsquellen auswendig zu lernen. Meist reisten die Seminarteilnehmer mit mittlerer juristischer Ausbildung für höchstens drei Wochen zu den Instituten, während sie den Rest des Jahres selbstständig an ihren Unterrichtsmaterialien arbeiteten. Fernkurse für Teilnehmer ohne juristische Ausbildung waren ebenfalls nur sporadisch angesetzt. Ganze 18 Stunden wurden für die Grundlagen des Straf- und Zivilprozesses angesetzt. An den Fachschulen waren es ungefähr 250 Stunden.28 Angesichts eines derart geringen aktiven Lernpensums blieb von der Materie nicht vielmehr als das Gerüst zur Selbstanleitung, sprich: Paragraphenkataloge. Vor allem aber bewirkte das Lehrkonzept, dass sich eine Beamtenschicht reproduzierte, die über ein technisches Rechtsverständnis 26 Ebd., S. 344 f. 27 Denisov, A. I.: Sovetskoe gosudarstvennoe pravo. Učebnik dlja juridičeskich škol. Moskva 1947; Lebedinskij, Organizacija sovetskoj prokuratury. 28 Vgl. Voščilin/Utevskij, Vysšee juridičeskoe zaočnoe obrazovanie, S. 19; Rajter, A.: Zaočnoe srednee juridičeskoe obrazovanie necelesoobrazno, in: Socialističeskaja zakonnostʼ 7 (1947), S. 19.

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verfügte, ohne tatsächlich vom Bildungsvorsprung ihrer Mentoren zu profitieren, da sie schlichtweg keine Mentoren hatte. Die Fernlehrinstitute sollten ein technisches Bedürfnis nach ausführenden Paragraphenkennern stillen, und das möglichst ressourcenschonend.29 Der Direktor des All-Unions-Instituts für juristische Fernausbildung in Moskau und der dazugehörige Lehrstuhlinhaber für Strafrecht machten daraus keinen Hehl: Die Fernkursausbildung ist die allergünstigste [naibolee deševaja] Form der Kaderausbildung. Die Ausbildung eines Juristen, der aus dem juristischen Ferninstitut hervorgegangen ist, kostet den Staat viel weniger, als die Ausbildung eines Juristen, der aus stationären juristischen Instituten hervorgegangen ist. Die Fernkursausbildung erfordert eine bedeutend geringere Zahl an Lehrkräften und Verwaltungs- und Dienstleistungspersonal als ein stationäres Institut.30

Das erklärte Ziel des Fernlehrsystems war es, dass Beamte ohne juristische Kenntnisse mittelfristig der Vergangenheit angehören würden. Dazu durchliefen aktive Staatsanwälte und Einsteiger das Kurssystem, bis sie den entsprechenden Bildungsgrad erreichten. Praxisorientierung hatte höchste Priorität, besonders bei Ermittlern und Bezirksstaatsanwälten. Dabei ging es zunehmend darum, eine technische Fachexpertise für Ermittler aufzubauen. Das System dazu musste flexibel und günstig sein. Zeitgleich bremsten die fehlenden Lehrer und Unterrichtsmaterialien natürlich den Lernprozess aus. Zu diesem Zweck wurden das Stundenpensum und die Kursangebote zum Ende der 1940er-Jahre schrittweise ausgebaut und durch zentrale Bildungsangebote unterstützt. 1949 wurde die Leningrader Schule für Ermittler ins Leben gerufen. Dort belief sich das Lehrdeputat auf 1400 Stunden, offen für Bewerber aus der ganzen Sowjetunion.31 Ein anderes Beispiel war das „Allunions-Forschungsinstitut zur Festigung der Gesetzlichkeit und der Rechtsordnung bei der Staatsanwaltschaft der UdSSR“, oder auch „Allunions-Institut für Kriminalistik“. Ebenfalls 1949 gegründet, sollte dieses Institut den Transfer von Forschung und Praxis im Bereich der Ermittlungsarbeit garantieren. Neben den obligatorischen Politschulungen hielten hochrangige Beamte der Staatsanwaltschaft dort Fachvorträge zu den aktuellsten Kampagnenthemen und damit einhergehenden technischen Sachfragen. Generalstaatsanwalt Grigorij Safonov wurde zum Beispiel angefragt, einen Vortrag über

29 „Education by correspondence did give legal officials a grasp, however tenuous, of the technical core of Soviet law.“ Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 349. 30 Voščilin/Utevskij, Vysšee juridičeskoe zaočnoe obrazovanie, S. 18. 31 Zvjagincev/Orlov, Prigovorennye vremenem, S. 336 f.

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„Diebstahl im Bankenwesen“ zu halten.32 Andere Lehrvorträge behandelten den Umgang mit technischen Instrumenten in der Ermittlungsarbeit oder vermittelten Sachkenntnisse in Buchhaltung, die im Zuge der Diebstahlskampagne 1947 so dringlich geworden waren. Das Institut erarbeitete zudem Leitfäden zur praktischen Anleitung in Kriminalistik und zur Benutzung eines „Tatortkoffers“ (sledstvennyj čemodan), der 1949/50 erstmals in der Sowjetunion eingeführt wurde. Derartige Neuerungen waren nicht sofort massentauglich, dennoch initiierten die führenden Justizbeamten in Moskau gegen Ende der 1940er-Jahre zweifellos die Verwissenschaftlichung des Ermittlungsprozesses.33 Die Expertise war an einen Zweck gekoppelt, der innerhalb der Sitzungen der Institutsverwaltung und in den Lehrveranstaltungen deutlich kommuniziert wurde. Defizite in den Ermittlungen sollten beseitigt werden, weil sie „in Verfahrenseinstellungen oder verhängten Freisprüchen resultierten“.34 Diese Vorgabe entsprach dem theoretischen Grundverständnis der Staatsanwaltschaft und wurde im vergangenen Jahrzehnt auch praktisch kommuniziert. Dieses Prinzip, ein Verfahren ohne Einstellung oder Freispruch zu gewährleisten, wurde, wie in den nachfolgenden Kapiteln aufgezeigt wird, zum Ende der 1940er-Jahre zum wichtigsten Qualitätsindikator der Strafverfolgung erhoben.35 Das Fernziel der Professionalisierung der sowjetischen Justiz bestand also darin, die Kader quantitativ zu stärken und einen technisch versierten Beamtenapparat aufzubauen, der mit wissenschaftlicher Genauigkeit ein perfektes Strafverfahren garantieren konnte. Welche praktischen Effekte dieses Programm auf die Ermittlungs- und Strafpraxis haben würde, ist Gegenstand der anschließenden Kapitel. Vorab stellt sich die Frage, wie sich die Kaderstruktur in der Sowjetunion und vor allem in Molotov unter dieser Bildungsoffensive veränderte.

5.1.2 Die Veränderung des Kaderprofils und ein Generationenwandel Wirft man einen Blick auf die Kaderstatistiken der ganzen sowjetischen Staatsanwaltschaft, stößt man für das erste Jahrfünft nach Kriegsende auf einen deutlichen Trend. Langsam aber stetig gelang es dem Justizkommissariat, das Bildungsniveau der Staatsanwälte und Ermittler im mittleren Bereich anzuheben. Die Zahl der Mitarbeiter ohne jegliche juristische Ausbildung sank unionsweit von knapp 50 Prozent 1939 auf unter zehn Prozent im Jahr 1948. Demgegenüber hatten im gleichen Jahr 32 Vgl. Schreiben des Instituts-Direktors Mitričev an Generalstaatsanwalt Safonov, 24.4.1950, in: GARF, f. 9523, op. 1, d. 11, l. 10. 33 Protokoll zur Sitzung des Instituts-Direktorats, 13.4.1951, in: GARF, f. 9523, op. 1, d. 15, l. 23. 34 Protokoll zur Sitzung des Instituts-Direktorats, 9.5.1951, in: GARF, f. 9523, op. 1, d. 15, l. 33. 35 Vgl. Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 366–384.

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nunmehr fast 70 Prozent der Mitarbeiter eine mittlere juristische Fachausbildung absolviert. Höhere Bildungsabschlüsse blieben bis zum Ende der 1940er Jahre eine Seltenheit. Wie schon in den Jahren zuvor stiegen nur wenige Spitzenkräfte von den Universitäten in die praktische Arbeit ein bzw. blieben dauerhaft. Zugleich hatten nur wenige Kursteilnehmer bereits den höchsten Abschluss erreicht. Deren Anteil stieg im gleichen Zeitraum von 11 auf lediglich 16 Prozent.36 Die Bildungsoffensive bewirkte in den ersten Jahren folglich einen Schub für die Fach- und Kursausbildung. Dieser Trend entsprach dem Programm und auch den Absolventenzahlen. Bis 1950 stieg die Zahl der Fernkursteilnehmer auf das Sechsfache im Vergleich zum Vorkriegsniveau an. Zwei Drittel aller Rechtsstudenten waren an den Fernlehrgängen eingeschrieben.37 Das Justizministerium hatte höhere Ziele vor Augen: 100 Prozent aller operativen Mitarbeiter sollten eine abgeschlossene höhere juristische Ausbildung vorweisen können. Dieser Prozess war in fünf Jahren nicht abzuschließen. Die Fernlehrgänge wurden unregelmäßig in Anspruch genommen und häufig brachen Studenten ihre Ausbildung auch im zweiten Jahr ab – zumindest häufig genug, dass man in der Justiz vom „Zweijahresphänomen“ (vtorogodničestvo) sprach.38 Nichtsdestotrotz stieg das Bildungsniveau langsam ‚von unten‘ an. Darüber hinaus wuchs der ohnehin große Anteil an Parteimitgliedern weiter (bis 1948 auf 72 Prozent). Mehr Frauen (20 Prozent) und junge Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter prägten das Erscheinungsbild der Staatsanwaltschaft in dieser Zeit. Annährend zwei Drittel der Ermittler und Staatsanwälte waren nunmehr unter 40, ein Viertel war unter 30 Jahre alt. Über die Hälfte hatte ihre Karriere während des Krieges oder danach begonnen.39 Erstmals seit 1936 kam es nicht zu dramatischen Einschnitten im sowjetischen Studienalltag. Nach dem Terror der späten 1930er-Jahre und dem Zweiten Weltkrieg, drängten nun junge, meist kriegserfahrene Leute in die Ausbildungsstätten. Sie speisten das Kursausbildungssystem und besetzten schrittweise die Posten auf allen Ebenen der Staatsanwaltschaft. Das Profil der Staatsanwaltschaft in Molotov veränderte sich ebenfalls merklich in dieser Zeit. Der gesamte Mitarbeiterapparat wuchs nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges an. 210 operative Mitarbeiter verzeichnete man in der Region im

36 1943 war der Anteil an ungebildeten Mitarbeitern noch immer bei 36,8 %. Übergabeprotokoll der Unionsstaatsanwaltschaft, November 1943, in: GARF, f. R-8131, op. 38, d. 158, l. 3. Vgl. außerdem Statusbericht zur Übergabe der Staatsanwaltschaft an Pankratʼev, Juni 1939, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 135, l. 9; Statusbericht zur Übergabe der Staatsanwaltschaft an Safonov, 17.2.1948, in: GARF, f. R-8131, op. 38, d. 486, l. 6. 37 Vgl. Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 343. 38 Mišutin, A.: Neustanno povyšatʼ juridičeskoe obrazovanie i podgotovku prokurorsko-sledstvennych kadrov, in: Socialističeskaja zakonnostʼ 8 (1952), S. 3. 39 Vgl. Statusbericht zur Übergabe der Staatsanwaltschaft an Safonov, 17.2.1948, in: GARF, f. R-8131, op. 38, d. 486, l. 1–6.

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Sommer 1945. Fünf Jahre später waren es schon 284 und im November 1953 bereits 293. Ebenso traten mehr Beamte in die Partei ein, obwohl Molotov mit 63 Prozent (im Jahr 1953) noch immer unter dem Unionsdurchschnitt lag.40 Wichtiger noch ist die Tatsache, dass auch der Bildungsboom in Molotov (verspätet) Resultate zeigte. Nach Kriegsende hatten nur zehn Prozent aller Mitarbeiter einen mittleren oder höheren juristischen Abschluss. Bis 1950 betraf dies dann schon immerhin die Hälfte und in den darauffolgenden drei Jahren stieg deren Anteil ein weiteres Mal auf insgesamt 84 Prozent.41 Die Bildungsoffensive des Kreml zeitigte unter anderem deshalb Erfolge, weil sich auch das Netz der Ausbildungsanstalten ausdehnte und zugleich vor allem qualifizierte Ermittler von außerhalb ab 1949 in die Region beordert wurden. Zwischen 1947 und 1951 stießen 143 solcher neugewonnenen „Spezialisten“ (mit mittlerem oder höherem juristischen Abschluss) zur Staatsanwaltschaft in Molotov dazu, denn durch das Fernkurssystem allein konnte die Nachfrage nach qualifiziertem Personal offenbar nicht gedeckt werden. Mitunter wurden diese Spezialisten dort eingesetzt, wo andere zuvor entlassen worden waren oder die Stelle freiwillig aufgegeben hatten.42 Immer häufiger wurden sie vor Ort mit einem „Tatortkoffer“ ausgestattet. Bis 1953 verfügten immerhin 63 der insgesamt 67 Bezirksstellen der Staatsanwaltschaft über ein solches Instrument. In der Hauptstadt Molotov wurden in der Ermittlungsabteilung außerdem zu Beginn der 1950er-Jahre ein „kriminalistisches Kabinett“, ein Fotolabor, eine Bibliothek und Räume zur gerichtsmedizinischen Untersuchung eingerichtet.43 Der Trend zur Verwissenschaftlichung des Ermittlungsprozesses war ab 1950 langsam auch in Molotov sichtbar – am Bildungsgrad des Personals und an der Ausstattung. Entscheidend für den Professionalisierungsprozess war auch, dass die Mitarbeiterfluktuation schrittweise eingedämmt werden konnte. Verließen 1945 fast 46 Prozent der Mitarbeiter den Apparat in nur einem Jahr, fiel diese Quote gegen 1950 auf etwa 30 Prozent, 1953 dann auf 17 Prozent. Allerdings verließ noch immer der größte Teil dieser Männer und Frauen die Staatsanwaltschaft aus freien Stücken („auf eigene Bitte“), was nicht zuletzt mit den Arbeitsbedingungen zu tun hatte.44

40 Vgl. Bericht über den Kaderzustand der Staatsanwaltschaft Molotov, 15.8.1945, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 102, l. 76–78; Bericht über die Arbeit der Staatsanwaltschaft Molotov zwischen 1950 und 1953, 26.11.1953, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 194, l. 1–2. 41 Vgl. ebd., l. 1. 42 Bericht über die Durchführung des Beschlusses vom 6.10.1946, 22.8.1952, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 852, l. 3. 84 Personen wurden zwischen 1949 und 1951 aus der Staatsanwaltschaft entlassen, „weil sie den Anforderungen nicht entsprachen“. Ebd., l. 8. 43 Revisionsprotokoll für die Staatsanwaltschaft Molotov, 13.7.–31.7.1953, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 2522a, l. 90–91. 44 Bericht über die Arbeit der Staatsanwaltschaft Molotov, 26.11.1953, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 194, l. 2.

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Viele Beamte entschieden sich gegen die Staatsanwaltschaft, um ihre Kontakte im Regierungs- oder Parteiapparat für eine Karriere dort zu nutzen. Nicht selten stießen besser ausgebildete Beamte zudem auf Ablehnung in den Provinzen oder waren mit lokalen Machtkonflikten schlichtweg überfordert.45 Vor allem aber mangelte es häufig an materiellen Lebensgrundlagen und einer Perspektive. Der Urheber eines Erfüllungsberichtes für den Befehl vom 6. Oktober 1946 brachte den Unmut vieler Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft auf den Punkt, als er, sechs Jahre nach Initiierung des Programms, Bilanz zog. Ihm zufolge sei einerseits das Gehalt im Vergleich zu „Nachbarbehörden“ viel kleiner. Staatsanwälte in den Industriestädten Gubacha oder Kizel verdienten durchschnittlich 1000 Rubel im Monat. Milizionäre mit einem gleichwertigen Dienstgrad erhielten am gleichen Ort das Vierfache. Auch Wohnungen zu finden, erwies sich noch immer als extrem schwierig. Noch katastrophaler für die Beamten sei die Tatsache, dass sie nicht sicher sein konnten, tatsächlich eines Tages ihre Pension ausgezahlt zu bekommen. Andere Ministerien hätten bereits eine funktionierende Pensionskasse, doch einige Staatsanwälte würden nach 25 Dienstjahren mit einer einmaligen Abfindung entlohnt.46 Die Staatsanwaltschaft versorgte sich mit Spezialisten von außerhalb und setzte auf Arbeitskraft und Expertise der neuen Generation. Anreize für eine Karriere in der Staatsanwaltschaft wurden jedoch nicht wirklich geschaffen, so dass bis 1953 noch immer zwischen einem Viertel und einem Drittel aller Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft jährlich den Rücken kehrte.47 Steigender Bildungsgrad, bessere Ausstattung und geringere Personalfluktuation deuten also darauf hin, dass die Staatsanwaltschaft Molotov binnen eines Jahrfünfts über qualifizierte Kader mit verbessertem Handwerkszeug verfügte. Eine Karriereoption wurde die Staatsanwaltschaft dennoch nur langsam. Zumindest begannen die längerfristigen Karrieren in der Behörde eben erst nach 1950, was auch an der Behördenspitze sichtbar wurde. Zwischen 1945 und 1949/50 blieben Abteilungsleiter selten länger als zwei Jahre auf ihrem Posten. Der Leiter der Haftaufsicht Michail Grif war einer dieser wenigen Fälle. Er arbeitete während des Krieges bereits in dieser Abteilung, übernahm dessen Leitung 1947 und blieb dort bis 1949. Seine

45 Vgl. Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 348. 46 Vgl. Bericht über die Durchführung des Beschlusses vom 6.10.1946, 22.8.1952, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 852, l. 14. Der Leiter der Ermittlungsabteilung von Molotov, Novoselov, schilderte in einem Hilferuf an seinen Vorgesetzten, Michail Jakovlev, wie er mit miserablen Lebens- und Arbeitsbedingungen kämpfte und ein halbes Jahr in seinem Büro übernachtete, weil er keine Wohnung zugeteilt bekam. Erklärung des Leiters der Ermittlungsabteilung von Molotov, Novoselov, 1.4.1953, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 271, l. 86–87. 47 1953 betrug die „Fluktuationsrate“ (tekučest) unter Ermittlern in Molotov noch immer 36,5 %. Vgl. Revisionsprotokoll für die Staatsanwaltschaft Molotov, 13.7.–31.7.1953, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 2522a, l. 82.

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mittlere juristische Ausbildung holte auch er über Fernkurse zwischen 1946 und 1949 nach.48 In den übrigen Abteilungen (Milizaufsicht, Angelegenheiten Minderjähriger) wechselten die Namen häufiger, ohne dass die Beweggründe für diese Wechsel ersichtlich wären. Entscheidend ist dabei, dass nahezu alle Abteilungen zwischen 1949 und 1950 an der Spitze neu besetzt wurden. Die Fluktuation hielt auch unter den Abteilungsleitern so lange an, wie die nachfolgende Generation noch in der Ausbildung war, die alsbald die zentralen Positionen in der Staatsanwaltschaft übernehmen sollte. Dieser Generationenwechsel vollzog sich am Spektakulärsten an der Spitze der Regionalstaatsanwaltschaft. Mit Kuljapin verließ eine der letzten prominenten Figuren der Kriegszeit die Staatsanwaltschaft zur Jahreswende 1949/50. Er wurde allerdings nicht versetzt (oder ging in Ruhestand), sondern wurde im Zuge eines parteilichen Disziplinarverfahrens von seinem Amt ausgeschlossen. In den zugänglichen Personalakten findet sich nur ein einziger Hinweis auf die Umstände seiner Entlassung. Nach Angaben des Regionalkomitees soll er schon 1948 in einer Zwangsarbeitskolonie Arbeiter beauftragt haben, ein gusseisernes Kreuz anzufertigen. Dieses Kreuz war ein Jahr später in Kuljapins Heimatdorf verbracht und auf dem Grab seiner Eltern aufgerichtet worden. Religiöse Sentimentalitäten waren in seinem Amt für sich genommen schon skandalträchtig. Dass zu diesem Zweck staatliche Arbeitskräfte ‚missbraucht‘ wurden, brachten Kuljapin einen Eintrag ins Parteibuch und den Ausschluss aus der Staatsanwaltschaft ein.49 Die persönliche Note in dem Skandal sollte nicht überbewertet werden. Disziplinarverstöße gehörten zum Behördenalltag dazu. Kuljapins berufliches Ende war äußerst ungewöhnlich und entsprach doch dem unkonventionellen Stil seiner Laufbahn. Zudem lässt sich der Generationenwandel kaum besser illustrieren als durch den fast sentimentalen Abschied der Reizfigur Kuljapin. Sein Nachfolger war ein Vorreiter der Generation, die, zumindest in Molotov, quasi geschlossen die Dienstgeschäfte zwischen 1949 und 1951 übernahm. Michail Vladimirovič Jakovlev trat mit 30 Jahren das Amt des Regionalstaatsanwalts an. Noch vor Kriegsbeginn hatte er einige Semester in Leningrad an einer technisch-pädagogischen Universität und an einer Ingenieurshochschule studiert. Die Rechtsausbildung hatte er erst kurz vor Kriegsende begonnen, am Fernlehrinstitut von Sverdlovsk, wo er in den darauffolgenden Jahren alle üblichen Stufen der Karriereleiter in der Staatsanwaltschaft nahm. Er war jung, kriegserfahren, kam

48 Vgl. Prüfungsbericht zur Haftaufsicht in Molotov, 10.4.1950, in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 1787, l. 1. 49 Vgl. Schreiben des ObKom-Sekretariats an die Kaderverwaltung des Bezirkskomitees im Leninbezirk, an das Parteikollegium des ObKom und die administrative Abteilung: ‚Über Kuljapin, D. N.‘, 9.11.1949, in: PGASPI, f. 105, op. 17, d. 187, l. 21.

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von außerhalb und verfügte über eine hohe allgemeine und hohe juristische (Kurs) Ausbildung. Darüber hinaus blieb er länger im Amt als jeder seiner Vorgänger – bis 1964.50 Sein Profil stand sinnbildlich für die Erfahrungen und möglicherweise auch Erwartungen, die die Nachkriegsstaatsanwaltschaft prägten. Viele der biographischen Merkmale finden sich bei den übrigen Abteilungsleitern in der Regionalstaatsanwaltschaft wieder. Die leitenden Mitarbeiter der Milizaufsicht, der Haftaufsicht und der Abteilung für Angelegenheiten Minderjähriger übernahmen ihre Posten allesamt zwischen 1949 und 1952. Die absolute Mehrheit dieser Männer war nach 1920 geboren. Sie alle waren junge und höher gebildete Kriegsveteranen, die ihre Ausbildung in der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre aufnahmen und abschlossen.51 Aus den Memoiren des Staatsanwalts Naum Vladimirovič Berlin finden sich einige Details, die diese Generation auf die eine oder andere Weise verband. Berlin wurde 1923 geboren und trat 1953 in den Dienst der Staatsanwaltschaft. Auch er hatte während des Krieges in der Roten Armee gedient. Mit fast einhundert Kommilitonen gehörte er 1948 zum ersten Jahrgang der neu gegründeten juristischen Fakultät an der Universität Molotov. Dreiviertel aller Studenten dieses Jahrgangs seien demobilisierte Rotarmisten gewesen. Fünfzig Jahre später blickt er auf eine Zeit des Mangels und der Improvisation zurück, wo Lehrbücher und Räumlichkeiten fehlten, Vorlesungen im Universitätsklub gehalten werden mussten.52 Dabei entwirft er das Portrait einer Generation spartanischer und enthusiastischer Politaktivisten, die alsbald die „Spitze auf der Pyramide der Rechtsschutzorgane“ zum „Schutz der Gesetzlichkeit“ erklommen, sprich: die Staatsanwaltschaft.53 Die Studenten engagierten sich im sozialistischen Wettbewerb und arbeiteten in Teilzeit in den Kolchosen. Mit jeder Zeile kämpft Berlin um das Andenken und die Integrität seiner Behörde, vor dem (etwas blassen) Hintergrund der Diktatur. „Im Volk gibt es häufig die falsche Vorstellung davon, dass der Staatsanwalt sich dafür interessiert, irgendjemanden hinter Gitter zu bringen und Menschen ins Gefängnis zu werfen“. Die Staatsanwaltschaft sei vielmehr die Instanz gewesen, die sich von der Gleichgültigkeit anderer Behörden gegenüber den Menschen unterschieden hätte.54

50 Vgl. Personalakte Michail V. Jakovlevs der Staatlichen Universität Permʼ, in: GAPK, f. 180, op. 2, d. 173, l. 1–5. 51 Vgl. Revisionsprotokoll für die Staatsanwaltschaft Molotov, 13.7.–31.7.1953, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 2522a, l. 152; 265; 279. 52 Vgl. Berlin, Naum: Zapiski Prokurora. Permʼ 1999, S. 43. 53 Ebd., S. 45. 54 Vgl. ebd., S. 47 f.

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Diese Überzeugung ist im Rückblick keine Überraschung. Wichtiger sind das Gemeinschaftsgefühl, das Berlin in seinem Jahrgang unter den Studenten beschwört, und die Tatsache, dass nahezu alle Abteilungsleiter und Schlüsselfiguren der kommenden Jahrzehnte in der Staatsanwaltschaft Molotov/Permʼ zu seinen Kommilitonen gehörten.55 Dmitrij Kuljapin und Michail Jakovlev zählt Berlin zu seinen wichtigsten Einflüssen. Die großen Namen der Permer Staatsanwaltschaft der Post-Stalin-Ära aber zählt er zu seinen Studienkameraden. Mark Averbuch, Margarita Budrina, Vladimir Suncev, Anna Pazderina und Vjašeslav Mjakišev begannen wir er das Studium zum Ende der 1940er-Jahre und rückten mit ihm 1953 in den Apparat auf, wo sie sich bis in die 1960er-Jahre zur Abteilungsleitung hocharbeiteten. Über Jahre hinweg waren Staatsanwälte in Molotov gekommen und gegangen, Ermittler ‚wanderten‘ quer durch die Sowjetunion zum nächsten Arbeitsplatz. Diese Generation trat in Molotov in den Dienst einer Abteilung und schied in Permʼ erst Jahrzehnte später aus ihrem Dienst in dieser Abteilung aus.56 Berlin selbst blieb der Staatsanwaltschaft Permʼ als Abteilungsassistent bis ins Jahr 1986 verbunden. Zwischen 1946 und 1953 ebnete das Regime den Weg für einen Generationswechsel unter den Richtern und Staatsanwälten. Zeit und Personal wurde in ein Ausbildungskonzept investiert, das die Beamten als Rechtsfachmänner ins Feld entlassen sollte. Die Routinen des Strafverfahrens erforderten aus Sicht der Staatsund Parteiführung technische Expertise und Versiertheit im Umgang mit dem Regelkatalog und keinesfalls akademische Fähigkeiten (wenn auch einen akademischen Abschluss). Regeln sollten mit wissenschaftlicher Präzision und Linientreue durchgesetzt werden. Die Bildungsoffensive schaffte dafür auch die personellen Voraussetzungen. Sie veränderte das Gesicht der Staatsanwaltschaft langsam aber sichtbar innerhalb der ersten fünf Jahre, wobei das Weiterbildungssystem zunehmend durch zentrale und universitäre Strukturen ergänzt werden musste. Das Bildungsniveau stieg stetig und der Weg für eine Generation von Rechtsbürokraten wurde geebnet, die in den 1950er-Jahren ihre Karrieren begannen.

55 Vgl. ebd., S. 44. 56 Mark Averbuch beispielsweise fing Mitte der 1950er-Jahre in der „Allgemeinen Aufsicht“ als Assistent an, wurde 1968 ihr Abteilungsleiter – eine Position, die er bis 1993 innehatte. Vgl. Prokuratura Permskogo kraja, S. 172–190.

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5. 2 D ie p ol it i s che P r a x i s d e r P r ofe s sio n a l i sie r u ng – ­P a r t e ie i n f lu s s i n d e r St a a t s a nwa lt s ch a f t Er wird Sie verkaufen und verraten und dann noch mit Ihnen zu Mittag essen: es sind lauter Gauner. Die ganze Stadt ist so: Das sitzt ein Gauner auf dem anderen. Es sind lauter Christusverkäufer. Einen einzigen anständigen Menschen gibt es da, das ist der Staatsanwalt, aber auch er ist, offen gestanden, ein Schwein!57

Nikolaj Gogols „Die toten Seelen“ handelt von der Banalität, den Intrigen und der Vetternwirtschaft im Alltag russischer Provinzbeamten. Einhundert Jahre nach Veröffentlichung dieser Zeilen hatte der Roman nichts an seiner Aktualität verloren – als der Sekretär eines sowjetischen Bezirksparteikomitees mit ebendiesem Zitat 1949 den Staatsanwalt seines Bezirkes provozieren wollte. Über Monate hatte der Kadersekretär des Bezirkskomitees der kleinen Siedlung Ponino, Bachrušev, versucht, einen Parteigenossen vor einem Gerichtsverfahren zu bewahren. Der Genosse wurde verurteilt und Bachrušev gab nun metaphorisch zu Protokoll, dass es, wie zu Gogols Zeiten, niemanden in Amt und Würden gebe, der nicht korrupt sei; der nicht die Vorteile seines Amtes genossen und genutzt habe – den Staatsanwalt eingeschlossen.58 Der Staatsanwalt blieb unbehelligt und der Parteisekretär hatte den Machtkampf verloren. Die Episode aus der udmurtischen Provinz verweist auf zwei Phänomene, die den Professionalisierungstrend der Staatsanwaltschaft auf unterschiedliche Weise herausforderten und beeinträchtigten. Zum einen bestimmten informelle Praktiken aller Couleur – Bestechung, Veruntreuung – nach 1945 zunehmend den sowjetischen Behördenalltag. Wie bereits im Kapitel zuvor erläutert, waren die Beamten der Staatsanwaltschaft zur Bekämpfung dieser Praktiken abgestellt und doch selbst wichtige Akteure in den lokalen Netzwerken und entsprechend anfällig für Vorteilsnahme. Insbesondere die Kampagne gegen Diebstahl und die damit einhergehende Flut an Gerichtsverfahren ließen in der Provinz einen sprichwörtlichen ‚Markt‘ für den Kauf und Verkauf von Urteilen entstehen, an dem auch Staatsanwälte ihren Anteil hatten.59 Zum anderen illustriert der Vorfall in Ponino, wie stark die Partei ihren Einfluss auf die Behörden und Prozesse der Strafverfolgung ausbaute. Der Parteiausweis wog häufig schwerer als die Prozessordnung und schwerer als das Strafgesetzbuch. Er verlieh illegalen und informellen Handlungen zunächst ideologische Legitimität. 57 Gogol, Nikolai: Die toten Seelen. Berlin/Weimar 1970, S. 136. 58 Vgl. Schreiben des Generalstaatsanwalts Safanov an Andrej Ždanov, 1949, in: GARF, f. R-8131, op. 29, d. 11, l. 99. 59 Vgl. Heinzen, The Art of the Bribe, S. 82–86.

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Offiziell durfte es keinen Zusammenhang zwischen diesen beiden Phänomenen geben. „Amtsmissbrauch“ galt als Straftat, wohingegen der Einfluss der Parteiorgane auf die Justiz eine Frage des Parteistatuts war und nur durch die Partei selbst bewertet werden konnte. Für die Strafpraxis aber hatten beide Phänomene die gleiche Konsequenz: Die Autonomie des Staatsanwaltes im Strafverfahren, und damit das Projekt der Regelhaftigkeit, wurden aufgeweicht. Durch die Autorität des Parteiausweises, durch die Ambivalenz der stalinistischen Rechtsauffassung, die das Recht dem Parteiinteresse unterordnete und durch die Klientelkultur des Staatsapparates gab es allerdings keine klaren Grenzen zwischen „Amtsmissbrauch“ und Parteivorrecht, zwischen inakzeptabler und akzeptierter (und sanktionierter) Korruption. In dieser Ambivalenz musste die Staatsanwaltschaft nach 1945 ihre Rolle finden, erkämpfen und akzeptieren. Im Folgenden geht es daher um die politische Praxis der Professionalisierung. Wo und warum stießen die Ansprüche der Staatsanwälte innerhalb der Parteistrukturen auf Widerstand, wo limitierten sie diese selbst bzw. wo erreichte die Autonomie des Strafverfahrens ihre Grenzen? Zwei hervorragende Texte haben auf diese Fragen bereits schlüssige Antworten gefunden. James Heinzen hat demonstriert, wie das Regime nach 1945 eine Anti-Korruptionskampagne initiierte, um sie aus Gründen der Imagepflege sogleich wieder auszubremsen. Die Parteiführung habe sich einer offenen Debatte über Korruption verweigert und gezögert, die informellen Strukturen aufzubrechen. Stattdessen delegierte man das Problem zurück an die Staatsanwaltschaften und Gerichte, ohne diese wirksam zu unterstützen. Die rieben sich folglich an den lokalen Netzwerken auf oder ließen sich durch selbige vereinnahmen. Zwar wurden (im Geheimen) scharfe Kampagnen gegen Bestechung geführt. An der strukturellen Bedeutung von Bestechung und blat in der unübersichtlichen Schatten- und Mangelwirtschaft des Landes änderte sich nichts. Informelle Netzwerke wurden nach 1945 als inhärente Bestandteile der sowjetischen Staats- und Wirtschaftsverwaltung faktisch toleriert.60 Juliette Cadiot hat nachgewiesen, dass die Parteiführung die eigene Nomenklatura aktiv dem direkten Zugriff der Strafjustiz entzog. Im Schutze der parteieigenen Gerichtsbarkeit schirmten sich lokale zentrale Parteizellen mit Unterstützung des ZK vor den Verbindlichkeiten des Strafgesetzbuches ab. Auf diese Weise höhlte das Regime nicht nur die Glaubwürdigkeit des Justizsystems aus. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges institutionalisierte man somit das Prinzip der Parteilichkeit als höhere Form der Legitimität – auch gegenüber der Justiz.61 Parteimitglieder waren folglich ihrer eigenen Gerichtsbarkeit unterworfen.

60 Vgl. ebd., S. 282 f.; Heinzen, A „campaign spasm“, S. 137. 61 Vgl. Cadiot, Equal before the Law, S. 264–269.

Parteieinfluss in der Staatsanwaltschaft

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Eine der wichtigsten Erkenntnisse, die Heinzen und Cadiot verbindet, ist, dass sich zwischen 1945 und 1953 informelle Routinen verstetigten, die außerhalb des direkten Zugriffs der Staatsanwaltschaft lagen und die weit über Stalins Tod hinaus Bestand haben würden. Entweder aus Verweigerung oder aus Protektionismus gewährte die Parteiführung Freiräume innerhalb der Nomenklatura, die die Staatsanwaltschaft nicht zu durchdringen vermochte oder wollte. Im Kampf gegen Korruption stießen Staatsanwälte also an Grenzen, die entweder die Partei zog und/oder die Beamten selbst tolerierten. An einigen Beispielen soll gezeigt werden, wie und wo diese Grenzen in Molotov gezogen wurden, und welche Folgen sich daraus für die Geschichte der Professionalisierung ergeben. Der erste Fall nahm seinen Anfang mit einem unveröffentlichten Zeitungsartikel. Tageszeitungen schickten häufig anonyme Hinweise und Leserbriefe, aber auch eigenes Recherchematerial an die Staatsanwaltschaft weiter, um Ermittlungen wegen Bestechung oder anderweitigem Fehlverhalten von Amtsträgern anzustoßen. Im Herbst 1948 verschickte die größte Tageszeitung der Region, Zvezda, einen solchen Artikel an Kuljapin. Unter der Überschrift „Basis der Selbstbedienung“ nahm der Verfasser die Treibholz-Reede im Bezirk Orlinsk ins Visier. Dort hätten sich deren Direktor und führende Mitglieder des Bezirksparteikomitees an den Waren ihrer Basis (baza), sprich: im Lagerhaus der Reede, bedient. Dieser Verdacht und weitere Ungereimtheiten in der Buchhaltung des Betriebs veranlassten Kuljapin dazu, den zuständigen Ermittler des Bezirks Orlinsk, Michail Konev, auf den Betrieb und das Bezirksparteikomitee anzusetzen. Konev wurden dazu ein Revisor der Treibholz-Verwaltungsstelle und ein Revisor des Finanzministeriums zur Seite gestellt. Trotz aller Unterstützung mahnte Kuljapin ihn zur Vorsicht. Die Überprüfung sollte „sorgfältig und überlegt“ angestellt werden.62 Die anschließenden Revisorberichte förderten tatsächlich auffällige Zahlen zutage. Eine Mitarbeiterversammlung der Floß-Reede soll mehr als 1200 Rubel gekostet haben. Der Direktor der Reede hatte seine Mitarbeiter und die führenden Mitglieder des Bezirksparteikomitees und des Bezirksexekutivkomitees zum Essen auf ein Boot eingeladen. Die Kosten trug anscheinend die Kleinwirtschaft (podsob­ noe chozjajstvo) der Reede. An diesem Punkt hatte Konev seine Untersuchungen aufgenommen. Bis zum 1. November 1948 hatte er einen ersten Zwischenbericht an Kuljapin verschickt. Die 1200 Rubel seien tatsächlich illegalerweise vom Reederei-Direktor übernommen worden. Zudem hätten Mitglieder des Bezirkskomitees im Jahr zuvor kostenlos Waren vom selbigen Betrieb erhalten.

62 Schreiben des Ermittlers Michail Fomič Konev an den ObKom-Sekretär Chmelevskij, 28.3.1949, in: PGASPI, f. 105, op. 15, d. 187, l. 9–10.

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In der gleichen Zeit, im Herbst 1948, wurde Konev von den Beamten der Bezirkskomitees attackiert. Die Sekretäre beider Komitees bemühten sich nach Kräften, Konevs Absichten, seine Person und seine Arbeit in Zweifel zu ziehen. Sie verständigten im Dezember 1948 das Regionalkomitee und unterrichteten die regionalen Parteiführer darüber, dass Konev das Bezirkskomitee nicht über seine Absichten informiert habe. Außerdem habe Konevs begleitender Ermittler, Michail Ustinov, zu einem Bekannten gesagt: „Wir fahren, um die lokalen Bosse zu vernichten“. Zudem sei Ustinov 1943 als Soldat in Gefangenschaft geraten, was schon einmal zu einer Entlassung aus dem MVD geführt habe.63 Seine Parteimitgliedschaft machte Konev besonders anfällig. Bezirkskomitee-Sekretär Gusev beklagte, dass Konev „seit den ersten Tagen seines Aufenthaltes im Bezirk sich empörend verhielt“, die ihm zugewiesenen Aufgaben nicht erledigen könne und „den ganzen Apparat der Gerichte und der Staatsanwaltschaft gegen das Bezirkskomitee und das Bezirksexekutivkomitee der Partei aufbringt“. Seit September 1948 – noch vor den Ermittlungen – habe sich Konev den Anweisungen des Bezirkskomitees widersetzt. In dem Moment, wo Konev gegen die Reede ermittelte, die als Wirtschaftsbetrieb natürlich personelle Verbindungen in das Bezirkskomitee hatte, machte dessen Sekretär vom einfachsten Druckmittel Gebrauch und hielt fest, dass Konev vom Bezirkskomitee nie als Bezirksstaatsanwalt bestätigt worden sei und sich auch nie als Mitglied im Bezirkskomitee habe eintragen lassen.64 Unabhängig davon, ob und wie weitläufig die Bezirksorgane in illegale Aktivitäten verstrickt waren, spürte Konev sofort einen starken Gegenwind aus Parteikreisen. Konev hatte sich seit Beginn seiner Dienstzeit vom Bezirkskomitee ferngehalten, was ihm nun zum Vorwurf gemacht wurde. Jede Abwesenheit von den Komitee-Sitzungen fiel da ins Gewicht. Die Reaktion der Parteileitung kam schnell. Im März 1949 musste sich Konev in einer „Parteierklärung“ schriftlich vor dem Regionalkomitee rechtfertigen, „auf welcher Grundlage“ er die Handlungen der Bezirkskomitees überprüft hatte. Darin schilderte Konev die vorläufigen Ergebnisse seiner Ermittlungen: Wichtige Zeugen (wie die Kellnerin auf dem Boot) konnten keine verbindlichen Auskünfte über die Details zum Dienstessen geben. Der Verdacht auf Veruntreuung und Vorteilsnahme konnte an diesem Vorfall nicht bewiesen werden. Daraufhin war er dazu übergegangen, die prominentesten Mitglieder der Bezirksregierung und des Komitees persönlich zu befragen. Diese Ermittlungen hätten darauf hingedeutet, dass führende Mitglieder der Bezirksregierung Material und Dienstleistung des

63 Bericht des stellvertretenen Leiters der Administrativen Abteilung beim ObKom, Semenov, an ObKom-Sekretär Chmelevskij, 28.4.1949, in: PGASPI, f. 105, op. 15, d. 187, l. 4–8; Schreiben des Bezirkskomiteesekretärs des Bezirks Vorošilov, Gusev, an den ObKom-Sekretär, Pigalev, 30.12.1948, in: PGASPI, f. 105, op. 15, d. 187, l–2. 64 Ebd., l. 1.

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Staatsbetriebes für private Zwecke in Anspruch genommen hatten. Die entsprechenden Belege und Quittungen lägen in der Regionalstaatsanwaltschaft. Unter anderem soll der Vorsitzende des Bezirksexekutivkomitees, Ščukin, eine Arbeitsgenossenschaft des Bezirks beauftragt haben, Baumaterialien für seinen privaten Hausbau vorzubereiten. Die Rechnung über 8000 Rubel sei nur zu 2000 Rubel beglichen worden.65 Gleichzeitig räumte Konev formale Fehler ein und entschuldigte sich, das Be­zirkskomitee nicht informiert und sich auch nicht als Mitglied dort eingetragen zu haben. Er sah sich im Auftrag des Regionalkomitees und Kuljapins. Seine fehlende Anwesenheit in den Bezirkskomitee-Sitzungen erklärte er mit dienstlichen Verpflichtungen. Um sicherzugehen, sprach er ganz offiziell sein Misstrauen gegenüber seinem eigenen Ermittler, Ustinov, aus. Konev wusste, dass Ustinovs Biographie seine eigenen Ermittlungen kompromittieren würde. Obwohl er zuvor erläutert hatte, dass Ustinov ihn lediglich begleitet hatte, um einen anderen Fall im gleichen Bezirk zu ermitteln, schlug er dem Regionalkomitee dessen Entlassung aus der Staatsanwaltschaft vor.66 Die tatsächlichen Hintergründe des ‚Reede-Skandals‘, wie in der Zvezda vermutet, bleiben aus heutiger Sicht im Dunkeln. Die abschließende Empfehlung der Administrativen Abteilung des Regionalkomitees allerdings wirft ein interessantes Licht auf die Spielräume und Untiefen, die ein Staatsanwalt bei Ermittlungen gegen Regierungs- und Parteimitglieder auszuloten hatte. Die Abteilung selbst war als organisatorische Schnittstelle zwischen den Parteiorganen, den Behörden der Strafjustiz und dem Innenministerium eingerichtet worden. Über diese Abteilung sammelten Parteikomitees ihre Informationen zur Strafverfolgung und prüften etwaige Ermittlungen gegen Parteikader. Im Falle Konevs summierte der Abteilungsbericht alle Kritikpunkte gegen den Staatsanwalt auf und entkräftete das Ermittlungsverfahren. Dass die Ermittlungen gegen Gusev und den Direktor des Reederei-Trusts scheinbar nicht abgeschlossen waren, spielte keine Rolle, als der stellvertretende Leiter der Administrativen Abteilung die Vorwürfe als „nicht bestätigt“ abkanzelte.67 Offenbar strebte Konev die strafrechtliche Verfolgung des Reede-Direktors an. Dagegen hatte sich allerdings auch Kuljapin ausgesprochen. Der veranlasste eine Disziplinarstrafe gegen die Verantwortlichen im Trust, womit

65 Vgl. ebd., l. 12. 66 Vgl. Dienstprofil über Michail Matveevič Ustinov, erstellt von Konev, 28.3.1949, in: PGASPI, f. 105, op. 15, d. 187, l. 13–14. 67 Bericht über die Resultate des Briefes an das ObKom von Bezirkskomitee-Sekretär Gusev über das falsche Verhalten des Staatsanwalts Konev, Ende Juni 1949, in: PGASPI, f. 105, op. 15, d. 187, l. 23.

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Die Staatsanwaltschaft nach 1945

die Angelegenheit aus Sicht der Administrativen Abteilung erledigt schien.68 Das abschließende Schreiben konzentrierte sich allein auf die Vorwürfe gegen Konev und nicht auf die Hintergründe seiner Ermittlungen. Konev habe „Taktlosigkeiten“ im Umgang mit den Vorsitzenden der Bezirkskomitees begangen. Seine Abwesenheit in den Sitzungen des Bezirkskomitees rührte demnach auch „aus falsch verstandener Unabhängigkeit“. Konev wurden damit gerügt, als Staatsanwalt seine Kompetenzen überschritten zu haben. Die Empfehlung lautete, ihn in einem persönlichen Gespräch mit dem Regionalkomitee zu verwarnen. Sollte Konev ein weiteres Mal auffällig werden, drohte ihm die Entlassung aus der Staatsanwaltschaft.69 Im Ergebnis stand die Beweislage zu keinem Zeitpunkt im Mittelpunkt des Interesses der regionalen Parteiführung. Konevs Ermittlungen wurden zudem nicht weiter vertieft und die Angelegenheit um den Hausbau des Vorsitzenden des Bezirksexekutivkomitees blieb unberührt. Jedes parteiliche oder protokollarische Fehlverhalten eines Staatsanwaltes drohte prinzipiell dessen Ermittlungen zu überschatten, wenn die Parteikanäle einmal aktiviert wurden. Wo die Parteidisziplin verletzt schien, war selbst für die Regionalstaatsanwaltschaft kein Spielraum, unabhängige Ermittlungen zu führen. Ermittlungen wegen Mordes oder Diebstahls konnten schneller geführt werden, doch besonders bei Wirtschaftsvergehen und Veruntreuung war das Zeitfenster für einen Staatsanwalt sehr klein, um zu ermitteln, bevor der politische Druck zu groß wurde. Cadiot hatte gezeigt, dass die größte Hürde im Strafverfahren gegen Parteimitglieder darin bestand, dass die Partei selbst über den Arrest ihrer Mitglieder zu entscheiden hatte. Seit 1939 war ein Strafverfahren gegen Parteimitglieder erst dann möglich, wenn das Komitee sie ausgeschlossen hatte.70 Aus oben gezeigten Gründen sollte es zu solch einem Antrag häufig gar nicht erst kommen. Staatsanwälte waren als Parteimitglieder in ihrem Bezirk stark vom Parteikomitee abhängig. Jeder Konflikt konnte zwar auf die nächsthöhere Ebene (zu Kuljapin) getragen werden, doch auch der ließ es nicht auf ein Kräftemessen mit dem Regionalkomitee ankommen. Wie schon während des Krieges scheute Kuljapin auch dieses Mal vor einer systematischen Auseinandersetzung mit (möglicherweise) korrupten Strukturen zurück. Konev wurde isoliert ins Feld geschickt und verlor, als der Konflikt mit der Partei aufbrach, den Rückhalt seines Vorgesetzten – eine Haltung, die die Sowjetische Führung, wie Heinzen gezeigt hatte, von oben her mit kultivierte.71

68 Vgl. ebd., l. 22. 69 Bericht zum Brief des Bezirkskomitee-Sekretärs Gusev, 30.6.1949, in: PGASPI, f. 105, op. 15, d. 187, l. 3. 70 Vgl. Cadiot, Equal before the Law, 253–255. 71 Vgl. Heinzen, A „campaign spasm“, S. 137.

Parteieinfluss in der Staatsanwaltschaft

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Das „zweite Gesetzbuch“, wie die Parteirichtlinien von einem Staatsanwalt genannt wurden72, schirmte nicht nur die Partei von der unkontrollierten Einmischung anderer Staatsorgane ab. Die Beamten der Staatsanwaltschaft machten ebenso von ihrer Parteimitgliedschaft Gebrauch, um sich informelle Freiräume zu bewahren, oder aber dagegen vorzugehen. In einem Fall wandte sich der leitende Staatsanwalt der Eisenbahnlinien von Molotov, Kosenko, an die Partei und nicht an seinen Vorgesetzten, um einen einfachen Ermittler aus dem Amt zu entfernen. Dieser Ermittler, Grigorij Gavriljuk, war aus Moskau in die Peripherie nach Čusovoj strafversetzt worden und hatte in Molotov zwischen 1949 und 1952 fünf Abmahnungen angehäuft. Jedes einzelne seiner Dienstvergehen hatte er unbeschadet überstanden. Bei einer Durchsuchung hatte er Privateigentum im Wert von 5000 Rubel konfisziert, was erst ein Jahr danach bei einer Revision der Staatsanwaltschaft ans Licht kam, und nur ein Teil des Geldes konnte zurückgegeben werden. Neben außerehelichen Verhältnissen und Trunkenheit im Dienst hatte Gavriljuk auch mit Warenspekulation auf sich aufmerksam gemacht. Zahlen und Zeitpunkt eines jeden Skandals waren der Staatsanwaltschaft bekannt. Dennoch blieben die Vorgesetzten machtlos: „Im Gespräch mit mir erklärte Genosse Gavriljuk, dass er zufällig nach Čusovoj geraten sei, hier nicht arbeiten wolle und ‚seine Leute‘ in der Kaderabteilung habe. Er werde es sowieso schaffen, zu seiner Arbeit nach Moskau zurückzukehren“.73 Gavriljuk wurde nicht versetzt, aber auch nicht entlassen, was dafür spricht, dass er tatsächlich durch Parteifreunde protegiert wurde. Selbst die Moskauer Eisenbahnstaatsanwaltschaft verwarnte ihn im persönlichen Gespräch und auch diese Intervention blieb folgenlos. Kosenko wandte sich also an das Stadtparteikomitee und bezichtigte Gavriljuk „antiparteilichen“ Verhaltens. Kurze Zeit später beriet das Regionalparteikomitee und die Administrative Abteilung über den Fall.74 Leider ist die abschließende Entscheidung nicht überliefert. Die Staatsanwaltschaft lieferte jedoch die Informationen, die Auseinandersetzung mit den Taten Gavriljuks erfolgte auf Parteiebene. Die parallele Gerichtsbarkeit war keine Einbahnstraße, vielmehr blieben Parteikanäle allen Beamten (als Mitglieder) offen, sofern sie über die nötigen Verbindungen verfügten. Dass dadurch die Hierarchien und das Regelwerk der Strafjustiz durchkreuzt wurden, war für die Parteiführung ebenso nachrangig wie für die Staatsanwaltschaft. Das Primat der Parteilichkeit gehörte zur beruflichen Praxis. Kritik an diesem Primat war in Einzelfällen möglich, aber nicht zweckmäßig. Für regionale und lokale Staatsanwälte ging es darum, die dominante Position 72 Cadiot, Equal before the Law, 249. Zit. RGASPI, f. 17, op. 136, d. 173, l. 10. 73 Mitteilung des Permer Eisenbahn-Staatsanwalts Kosenko an den Sekretär des Stadtparteikomitees von Čusovoj, Lukovič, 14.6.1952, in: PGASPI, f. 105, op. 18, d. 195, l. 47. 74 Mitteilung eines Rabotikin an Stadtparteikomitee-Sekretär Lukovič, 17.8.1952, in: PGASPI, f. 105, op. 18, d. 195, l. 48.

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Die Staatsanwaltschaft nach 1945

der Partei in die eigene Arbeit einzubinden, das Regelsystem unter diesem Einfluss arbeitsfähig zu halten und Einmischungsversuche isoliert zu bekämpfen – ausschließlich mithilfe der Partei. Kuljapin beschwerte sich beispielsweise im August 1947 beim ersten Sekretär des Regionalkomitees, Kuzʼma Chmelevskij. Demnach hatten Staatsanwälte und Verteidiger gleichermaßen Positionen innerhalb der Parteiorganisationen inne. Ein Verteidiger nutzte diese Situation aus, so Kuljapin, um in Strafakten und das Material der Ermittler Einsicht zu bekommen, gegen die er Mandanten verteidigte. Kuljapin kritisierte diese Einmischung, argumentierte aber damit, dass Verteidiger als „nicht-amtliche Person“ aus dem Komitee ausgeschlossen werden sollten.75 Dieser Schritt war viel effektiver, als zum wiederholten Male die Einmischung eines Parteimitgliedes ins Strafverfahren zu monieren. Ein ähnliches Rezept verschrieben auch Kuljapins Vorgesetzte. Generalstaatsanwalt Safonov rief auf einer Allunionsversammlung der Staatsanwaltschaft 1948 zwar dazu auf, sich gegen „örtliche Einflüsse“ zu stemmen. In internen Schriftwechseln griff er sogar die Phrase der „zwei Gesetzbücher“ auf.76 Zugleich ermutigte er seine Untergebenen allerdings auch, in zwischenbehördlichen Konflikten selbst auf Parteikanäle zurückzugreifen – ein Hinweis, der explizit auf Kuljapin gemünzt war, wie im darauffolgenden Kapitel zu sehen sein wird.77 In der Öffentlichkeit blieb Safonov und seinen Mitarbeitern nur der Verweis auf das Zentralismus-Prinzip und das konstitutionelle Recht der Staatsanwaltschaft, „unabhängig von jeglichen örtlichen Organen“ zu agieren.78 Abgesehen davon, dass es keine Erwähnung der Partei im Zusammenhang mit der staatsanwaltschaftlichen Aufsichtspflicht im Verfassungstext gab, stand es auch dem Generalstaatsanwalt nicht zu, die Entscheidungen der Parteiorgane grundsätzlich zu hinterfragen. Kam es zur Einmischung in die „operative Tätigkeit der Gerichte“ oder den Tätigkeitsbereich der Staatsanwaltschaft, wurde entweder das ZK über diese Vorfälle informiert oder die eigenen Untergebenen mussten sich an die Parteiinstanzen wenden. Als Safonov von einigen Bezirksstaatsanwälten aus Saratov 1949 um Hilfe gebeten wurde, gegen die „ungesetzliche Einmischung in die operative Arbeit“ vorzugehen, delegierte er das Problem an Saratovs Regionalstaatsanwalt, Kuzʼmin, mit den Worten: „Ich empfehle ihnen, sich persönlich vor Ort zu begeben und sorgfältig alle geschilderten Fakten […] zu überprüfen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen“. Kuzʼmin

75 Bericht Kuljapins an Chmelevskij, 9.8.1947, in: PGASPI, f. 105, op. 13, d. 170, l. 50–51. 76 Cadiot, Equal before the Law, S. 249. Zit. RGASPI, f. 17, op. 136, d. 173, l. 10. 77 Vgl. Cadiot, Equal before the Law, 261; Stenogramme der Allunions-Versammlung der Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft, 5.4–8.4.1948, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 4034, l. 54; 175–182. 78 Stalin, Über den Entwurf, S. 89; Cadiot, Equal before the Law, S. 262.

Parteieinfluss in der Staatsanwaltschaft

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wandte sich an das Regionalkomitee der Partei und erwirkte eine Abmahnung gegen den betreffenden Bezirkskomitee-Sekretär.79 Die Parteiführung zementierte in der Nachkriegszeit den gesonderten Status ihrer Mitglieder immer weiter. 1950 ging ein Rundschreiben durch die regionalen Parteiorgane, das das Strafverfahren gegen Kommunisten zu weiten Teilen der Zuständigkeit der Parteikomitees unterstellte. Zwei Jahre später wurde ein Parteistatut verabschiedet, das vorsah, im Falle eines Verbrechens durch ein Parteimitglied die Justiz nur noch über die ergriffenen Maßnahmen zu informieren.80 Das Regime band die endgültige Entscheidung über das Schicksal seiner Parteimitglieder enger an sich. Das Parteistatut dominierte über das Strafgesetzbuch und war jenseits der Verfassung gestellt. Eine Parteimitgliedschaft verschaffte indes keine allgemeine Immunität gegenüber strafrechtlichen Konsequenzen. Es erweiterte den Kreis der beteiligten Akteure (Parteistellen), die über die Konsequenzen einer regelwidrigen Handlung nach politischen Gesichtspunkten befanden. Im Zuge der Anti-Diebstahls-Kampagne wurden beispielsweise zwischen 1946 und 1951 über 180.000 Personen aus der Partei ausgeschlossen, ein großer Teil davon vermutlich auch verurteilt.81 Die Parteiführung strebte nach Kontrolle über ihre Kader und sah die Strafjustiz als komplementäres Instrument für ihre Belange. Die Staatsanwaltschaft war sich der Bedeutung des doppelten Normengerüstes bewusst. Traten Konflikte bei der parallelen Durchsetzung dieser Normen auf, mussten diese verwaltet werden. Daraus erwuchs für die Beamten kein struktureller Konflikt zwischen Partei und Justiz. Die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft war der Ausgangspunkt und in der Praxis erstrebenswert, um regelhafte Ermittlungs- und Strafverfahren zu gewährleisten. Es gehörte aber zur ideologischen und machtpolitischen Realität, dass diese Unabhängigkeit an das Veto der höheren Parteiinstanz gebunden war. Weder an der Spitze in Moskau noch an der Peripherie ging ein Staatsanwalt so weit, diese Normengerüste grundsätzlich voneinander trennen zu wollen, nicht zuletzt waren Staatsanwälte in der Mehrheit selbst Parteimitglieder. Sie erkannten diese Realität an. Diese Einsicht entsprach nicht nur dem staatssozialistischen Dogma und dem gelehrten Rechtsbegriff. Die Mehrheit der Beamten kommunizierte über die gleichen Kanäle und wusste diese Kanäle in ihrem beruflichen, manchmal auch persönlichen Interesse zu nutzen. Das Projekt der Regelhaftigkeit stieß häufig bei korrupten und informellen Netzwerken an seine Grenzen. Um diese Grenzen zu überwinden, setzte die Staatsanwaltschaft die eigenen Mittel (Strafgesetzbuch, Prozessordnung) so weit ein, wie 79 Schriftwechsel des Generalstaatsanwalts Safonov mit dem Regionalstaatsanwalt von Saratov, Kuzʼmin, 23.3.–14.5.1949, in: GARF, f. R-8131, op. 29, d. 11, 50–55. 80 Vgl. Cadiot, Equal before the Law, S. 255 f. 81 Vgl. ebd., S. 250.

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sie um die Unterstützung der nächsthöheren Parteiinstanz wusste. Jeder Konfliktfall beinhaltete die Option, die eigenen Mittel auszureizen, und/oder den Konflikt den Parteistrukturen mit ihren Mitteln zu überlassen bzw. in beiden Sphären parallel zu agieren – über das Strafverfahren und das Parteiverfahren. Überreizte ein Staatsanwalt die eigenen Mittel, drohte er das ganze Verfahren zu verlieren. „Sozialistische Gesetzlichkeit“ war ein performatives Prinzip und nirgendwo wurde das so deutlich, wie bei der Interaktion zwischen Staatsanwaltschaft und Partei. Die Errungenschaft der Nachkriegszeit bestand darin, dass die Parteiführung Grundregeln für diese Interaktion verabschiedete, die die dominante Position der Partei untermauerten. Staatsanwälte wurden mit diesem Prinzip zunehmend in ihrer Ausbildung vertraut gemacht. Lebedinskijs Handbuch für die Staatsanwaltschaft brachte seine Leser 1953 dahingehend auf den aktuellsten Stand: Daneben wäre es ein grober politischer Fehler, die Parteianleitung [partijnoe ruko­ vodstvo] durch die Bezirksparteiorgane, als Einmischung in die operative Tätigkeit des Staatsanwaltes zu betrachten. Man muss bedenken, dass „von Parteiorganisationen verlangt wird, die Arbeit aller Behörden und Organisationen zu überprüfen; die Handlung jedes beliebigen Arbeiters zu überprüfen, welchen Posten er auch innehat, eingedenk dessen, dass die Parteianleitung für alle Organisationen die Grundvoraussetzung ihrer erfolgreichen Tätigkeit ist.82

Die Durchsetzung sozialistischer Gesetzlichkeit war ein Projekt der Regelhaftigkeit, das das Interventionsmoment der Partei ausdrücklich mit einschloss. Die Arbeit der Staatsanwaltschaft zu professionalisieren, hieß auch, dieses Moment einzukalkulieren. Der Rechtsbürokrat der Zukunft musste wissen, welchem Regelwerk er wann dem Vorzug gab. Dieser Aspekt der Professionalisierung wirkt planmäßig, war aber der Tatsache geschuldet, die Cadiot und Heinzen herausgearbeitet hatten. Das Regime verweigerte eine kategorische Antwort auf Korruption (in Form einer Kampagne) ebenso, wie es davon absah, dem Parteistatut und dem Strafgesetzbuch die gleichen Prioritäten einzuräumen. Die Entscheidung über die Zulässigkeit informeller Praktiken fiel in der Folge situativ, über der Interaktion von Partei und Staatsanwaltschaft. Dafür musste die neue Generation der Staatsanwälte gewappnet sein.

82 Lebedinskij, Organizacija sovetskoj prokuratury, S. 182. Zit. in Kommunist (10) 1953.

Kuljapin, die Miliz und die Grenzen der Aufsicht

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5. 3 Ku lja pi n , d ie M i l i z u nd d ie G r e n z e n d e r Au f sicht Seit Kuljapins Amtsantritt hatte sich das ohnehin konfliktreiche Verhältnis zwischen Staatsanwaltschaft und Miliz zunehmend verschlechtert. Der Austausch zwischen ihm und Milizchef Skrypnik beschränkte sich im Wesentlichen auf Schuldzuweisungen. In der Frage, wer die Verantwortung für die willkürlichen Verhaftungen und die ausbleibenden Ermittlungserfolge zu tragen hatte, setzten beide Seiten, auch niedere Dienstränge, immer öfter auf Konfrontation und die Denunziation bei höheren Dienststellen. Diese Konflikte heizten sich nach Kriegsende zusätzlich an. In den Aktenbeständen der Milizaufsicht stößt man für den Zeitraum nach 1945 auf eine Flut von Material, das von diesen Konflikten in immer kürzeren Abständen zeugt, und davon, wie der Rahmen der zulässigen Behördenkritik schrittweise gesprengt wurde. Kuljapin und Skrypnik standen im Mittelpunkt dieser Auseinandersetzungen. Da weder die Hauptverwaltung der Miliz noch die Unionsstaatsanwaltschaft während des Krieges ernsthafte Schritte unternahmen, um das Verhältnis ihrer Behörden aufeinander abzustimmen und die Verantwortung für etwaige Konflikte auf die regionalen Vertretungen abwälzte, war die Konfrontation zwischen Kuljapin und dem Innenministerium im Jahre 1947 eine logische Folge. Auf den folgenden Seiten soll gezeigt werden, wie sich die Spannungen zwischen den Behörden zu einem offenen Konflikt hochschaukelten. Welche Rolle spielte Kuljapin darin, was konnte er gegenüber der Milizverwaltung und deren Vorgesetzten in der Verwaltung des Innenministeriums (UNKVD, ab 1946 UMVD) durchsetzen und wo stieß er auf Widerstand auch von Seiten der Unionsstaatsanwaltschaft? Welche Folgen hatte diese Auseinandersetzung für die Staatsanwaltschaft und Kuljapin selbst, für die Miliz in Molotov und deren künftiges Verhältnis als Ermittlungsbehörden?

5.3.1 „Eine gesündere Atmosphäre“? – Die Vorgeschichte des Konflikts In fast allen Abteilungen der Staatsanwaltschaft verbesserte sich die Aktenüberlieferung nach dem Krieg deutlich. Neben den üblichen Quartalsinformationen über grundlose Inhaftierungen häufte die Milizaufsicht in Molotov nach 1945 dabei immer mehr Unterlagen an, in denen es um Übergriffe und Misshandlungen durch Milizionäre ging. Die Schlagzahl, mit der von betrunkenen Milizbeamten, Gewaltanwendung im Verhör oder regelrechten Miliz-Raubzügen berichtet wurde, nahm 1946 deutlich zu. Das hatte auch damit zu tun, dass die Miliz durch steigende Kriminalitätsraten immer häufiger zum Einsatz kam. Molotovs soziale Abgründe hatten sich über den Evakuierungsschock hinweg noch vertieft. Das Lebensniveau war auch im Vergleich zum Vorkriegsniveau erschreckend niedrig. Entsprechend hoch

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war das Konfliktpotenzial in der Bevölkerung.83 Unerfahrene und schlecht ausgebildete Milizionäre waren diesen Problemen mit ausgesetzt. Woche für Woche erreichten Kuljapin entweder Beschwerden seiner Bezirksbeamten oder er schickte selbst Eingaben an die Miliz-Führung, in denen er Aufklärung und Konsequenzen für das Fehlverhalten der Milizbeamten einforderte. Am 3. Januar 1946 zum Beispiel sandte der Bezirksstaatsanwalt von Gorodkovsk einen dreiseitigen Bericht an Kuljapin, der von der Festnahme und der Misshandlung an drei Arbeitern handelte. Der Kommandant einer Sondersiedlung, Kadnikov, habe die Männer wegen angeblicher Arbeitsflucht krankenhausreif geprügelt. Noch vor ihrem Transport in das Milizgefängnis habe sie der betrunkene Kadnikov über Stunden hinweg misshandelt. Einen Monat nach Eingabe des Berichts wandte sich Kuljapins Stellvertreter, Kudrjašev, direkt an UMVD-Chef Aleksandr Zacharov mit der Bitte um strafrechtliche Konsequenzen für den Mitarbeiter. Zacharov ließ der Staatsanwaltschaft über einen Beamten der „Besonderen Inspektion“ (OI) ein Standardschreiben zukommen, wonach der Kommandant „in disziplinarischer Weise gemaßregelt“ worden sei.84 Dies war einer der Fälle, in denen das UMVD sich dazu ‚herabließ‘, die Anfragen der Staatsanwaltschaft überhaupt zu beantworten. Die Vorwürfe wurden von Seiten des Innenministeriums weder kommentiert noch abgestritten, so dass die Angelegenheit aus Sicht des MVD ohne größeren Aufwand beigelegt werden konnte, doch auch wenn der Behördenaustausch auf den ersten Blick verhältnismäßig rasch und reibungslos verlief, war die ausgesprochene „Disziplinarstrafe“ nicht mehr als eine mündliche Zusicherung. Im Jahresbericht für 1945 beanstandete die Staatsanwaltschaft das Verhalten des Milizbeamten Smerdov aus Solikamsk. Smerdov hatte einen Mann nachweislich fast 20 Tage unter Arrest gehalten und obwohl Smerdovs Abteilung die Vorwürfe bestritt, bestätigte auch die Fahndungsabteilung der Miliz nach Recherchen des Militärstaatsanwalts, dass Smerdov den Häftling wiederholt geschlagen und beleidigt hatte. Die Milizführung informierte die Staatsanwaltschaft über „disziplinarische Maßnahmen“ gegen Smerdov, doch kurze Zeit später fand man dort heraus, dass Smerdov sogar befördert worden war.85 Wie in den Jahren zuvor scheute die Miliz nicht davor zurück, die Staatsanwaltschaft mit Fehlinformationen in die Irre 83 Vgl. Berkotov, Borʼba s ugolovnoj, S. 81–95. Die Sterblichkeitsrate der unter einjährigen Kinder lag bis 1948 zwischen 15 und 20 Prozent. Vgl. Lejbovič, V gorode M, S. 30 f. 84 Schreiben des Bezirksstaatsanwalts von Gorodkovsk an Kuljapin, 3.1.1946, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 572, l. 10; Schreiben des stellv. Staatsanwalts von Molotov, Kudrjašev an UNKVD-Chef Zacharov, 25.2.1946, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 572, l. 13–13ob; Antwortschreiben durch Leiter der „Besonderen Inspektion“ des UNKVD Vetljana und Siedlungs-Kommandant, Miliz Leutnant Kadočnikov, o. D. [vermutlich Ende Februar 1946], in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 572, l. 13a. 85 Bericht des Milizaufsicht-Abteilungsleiters in Molotov, Klimov, an die Abteilung für Milizaufsicht in Moskau, Zorja, 10.1.1946, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 572, l. 2.

Kuljapin, die Miliz und die Grenzen der Aufsicht

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zu führen bzw. Angaben ohne eingehende Prüfung weiterzuleiten. Nach wie vor bestand innerhalb des Innenministeriums kein Interesse, sich mit der Staatsanwaltschaft über Angelegenheiten auszutauschen, die als exklusive Interna angesehen wurden. In den übrigen Fällen reagierte das Innenministerium bzw. die Milizverwaltung daher überhaupt nicht auf die Anfragen der Milizaufsicht. 1945 versandte die Abteilung fünf offizielle Berichte direkt an das MVD wegen ungesetzlicher Inhaftierungen und Misshandlungsvorwürfen. Alle blieben unbeantwortet. Kuljapin persönlich habe in den 18 Monaten bis November 1946 ganze 15 Eingaben (predstavlenija) entweder an die UMVD oder an den Milizchef Skrypnik versandt, ohne je eine Antwort erhalten zu haben.86 Nicht nur die Masse der Berichte und die fehlenden Antworten deuten an, dass sich das Klima zwischen Staatsanwaltschaft und Miliz nach 1945 weiter verschlechterte. Die Miliz zog grundsätzlich mehr Aufmerksamkeit mit ihrem Verhalten auf sich. Im Laufe des Jahres 1946 äußerten sich auch andere Stellen negativ über das Verhalten der Milizionäre in der Region. Der Militärstaatsanwalt Starodubcev brachte in MVD-eigenen Verfahren die Anklage gegen Milizbeamte vor und war als solcher stärker dem Einfluss des Innenministeriums ausgesetzt als andere Staatsanwälte. Selbst er wandte sich im März 1946 an Skrypnik und das Parteikomitee mit der Warnung, dass die Übergriffe der Milizionäre Ausmaße von „Hooliganismus“ (chuliganstvo) angenommen hätten. Der Beamte Toropov habe über 19.000 Rubel von Bürgern „gestohlen“. Ein anderer hatte betrunken auf einen Passanten mit der Dienstwaffe eingeschlagen. Beide Milizionäre wurden zu Lagerhaft verurteilt, doch die Übergriffe verlangten laut Starodubcev noch mehr politische Aufklärungsarbeit und dass Strafen konsequenter ausgesprochen würden.87 Sowohl das Parteikomitee als auch die Milizführung in Molotov waren also über das ungefähre Ausmaß der Dienstvergehen ihrer Beamten im Bilde. Konkrete Zahlen wurden dabei nicht benannt, doch das Phänomen zog weitere Kreise als gewöhnlich. Die Dienstvergehen der Milizionäre waren ein ständiges und eigenständiges Thema in den Korrespondenzen der Regional- und Bezirksstaatsanwaltschaft, doch gegenüber den eigenen Vorgesetzten äußerte sich Kuljapin nicht gesondert dazu. Gemeinsam mit Abteilungsleiter Klimov berichtete er zum Jahreswechsel 1945/46 an die Unions- und die Republiksstaatsanwaltschaft über die Arbeit der Milizaufsicht. Darin war hauptsächlich vom Versagen der Abteilung die Rede, von der fehlenden Eigeninitiative der Bezirksstaatsanwälte und dass der Apparat der Aufgabe nicht gewachsen sei. Dienstvergehen wurden am Rande abgehandelt. In diesen Fällen 86 Ebd., l. 2; Schreiben Kuljapins an UNKVD-Chef (Molotov) Zacharov, 4.11.1946, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 572, l. 75. 87 Bericht von Militärstaatsanwalt, Starodubcev, an Leiter der Miliz Molotov, Skrypnik, März 1946, in: PGASPI, f. 105, op. 12, d. 140, l. 27–31.

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seien „entsprechende Verwarnungen gegenüber den Schuldigen“ ausgesprochen worden. Im Mittelpunkt des Berichts standen die Kaderprobleme der Abteilung. Zu wenige Mitarbeiter (ein Leiter und drei Assistenten) müssten annährend 60 Bezirke betreuen. Die Ermittler seien unerfahren und die Leitung habe in den letzten zwei Jahren drei Mal gewechselt.88 Erfahrungsgemäß schlug sich jeder Leistungseinbruch und jeder Konflikt mit der Miliz in den Statistiken der Staatsanwaltschaft auf die eine oder andere Weise nieder. Safonov hatte diesen Bericht vermutlich in Reaktion auf die überdurchschnittlichen Inhaftierungsfristen angefordert. Kuljapin und Klimov gaben sich selbstkritisch und betonten zugleich, dass sie mehr personelle Unterstützung benötigten. Die Dienstvergehen und das Fehlverhalten der Milizionäre klammerten sie dabei überwiegend aus. Bei Verhaltensdelikten der Miliz war Unterstützung aus Moskau nicht zu erwarten. Kuljapin kannte die Prioritäten seiner Vorgesetzten. Die Unions- und Republiksstaatsanwaltschaft erwarteten messbare Fortschritte bei den Zahlen und Fristen der Arrestfälle. Die Konflikte mit der Miliz lagen allein in Kuljapins Verantwortung. Dass dieses Thema in der Region zunehmend an Bedeutung und zugleich eine persönliche Dimension für Kuljapin gewann, verdeutlicht eines der wenigen Schreiben, die Skrypnik 1946 an Kuljapin richtete. Am 2. April reagierte der Miliz-Chef von Molotov auf die zunehmenden Spannungen zwischen Staatsanwaltschaft und Miliz in der Provinz – ohne natürlich zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen. Stattdessen versuchte Skrypnik, einen Keil zwischen Kuljapin und seine Mitarbeiter zu treiben. Wenige Jahre zuvor hatte er jede sich bietende Gelegenheit genutzt, um Kuljapin bei dessen Vorgesetzten zu denunzieren. Nun versuchte er, Kuljapin davon zu überzeugen, dass es die Bezirksstaatsanwälte und die Milizaufsicht seien, die das professionelle Verhältnis zwischen den Behörden sabotierten. Diese Vorgehensweise war üblich in der sowjetischen Behördenkommunikation. Behördenleiter richteten ihre Kritik gemeinhin gegen die Mitarbeiter des jeweils anderen. Skrypnik ging es jedoch darum, die Flut der Beschwerden und die ständigen Berichte gegen seine Behörde von Grund auf in Zweifel zu ziehen. Er wollte zeigen, dass „die Fakten, die die Bezirksstaatsanwälte darlegen, nicht ganz genau sind und zur Täuschung der Regionalstaatsanwaltschaft führen.“89 Dazu führte er Beispiele an, in denen Staatsanwälte gegen Milizionäre vorgegangen seien bzw. sich „nicht ordnungsgemäß“ verhalten hätten. Der Leiter der Bezirksabteilung der Miliz von Ochansk sollte demnach auf staatsanwaltlichen Beschluss aus seiner Wohnung geworfen werden, was nur durch die Intervention des Bezirksparteikomitees

88 Bericht von Abteilungsleiter Klimov und Kuljapin an Unionsstaatsanwalt Safonov, o. D. [vermutlich Ende November 1945], in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 572, l. 26. 89 Schreiben Skrypniks an Kuljapin, 2.4.1946, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 572, l. 46.

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abgewendet worden sei. Der Staatsanwalt von Čusovoj, Tatarinov, habe dem Leiter der Stadtabteilung des MVD verboten, sich in das Verhör eines Mordverdächtigen einzumischen. Tatarinov soll dem Beamten des Innenministeriums entgegnet haben: „‚Ich vertraue Ihnen nicht und ich erlaube Ihnen nicht, ihn zu befragen‘“.90 Für keines dieser Beispiele lieferte Skrypnik die strafrechtlichen Details. Weder bei der Wohnung noch im Falle des Verhörs wurden weitere Namen oder konkrete Taten benannt. Die entscheidende Information aus Skrypniks Sicht war, dass Staatsanwälte wie Tatarinov die Arbeit der Miliz stören würden, um der eigenen Karriere einen Schub zu geben. Offizielle Eingaben würden der Staatsanwaltschaft allein dazu dienen, die eigenen Statistiken aufzuwerten. Skrypnik verweigerte sich konsequent, auf die sachlichen Hintergründe dieser Eingaben auch nur einzugehen. Dauerhaft konnten die Briefe der Staatsanwaltschaft nicht unbeantwortet bleiben, also erklärte er stattdessen die gesamte Arbeit der Milizaufsicht für unzulässig. „Klimov versteht die Aufgabe falsch, die an seine Abteilung gestellt wird […] anstelle praktischer Unterstützung und täglicher Kommunikation mit den Mitarbeitern der Miliz, hat sich Genosse Klimov entschlossen einzelne Fakten und Schriftstücke herauszureißen […] im Glauben, dass die Arbeit der Abteilung nach der Anzahl ihrer Eingaben bewertet werde“. Kuljapin solle die Abteilung zur Ordnung rufen, damit eine „gesündere Atmosphäre“ geschaffen werden könne.91 Skrypnik wälzte nicht einfach die Verantwortung an die Staatsanwaltschaft ab. Die steigende Zahl kritischer Berichte über das Fehlverhalten der Milizionäre konnte nicht einfach zu Lasten der Staatsanwalt interpretiert werden. Dementsprechend zog er jedes Untersuchungsergebnis der Milizaufsicht kategorisch in Zweifel, ohne Kuljapin direkt zu kritisieren. Natürlich suggerierte Skrypnik auf diese Weise, dass Kuljapin die Kontrolle über seinen Apparat verloren habe, doch vordergründig war dies ein Angebot für die Staatsanwaltschaft, die Anspannung zwischen den Behörden ohne weitere Eskalation aufzulösen. Die Voraussetzung dafür war, dass sich Kuljapins Staatsanwälte den Vorgaben der Milizionäre unterordneten und keine weiteren Eingaben mehr schrieben. Der fahle Beigeschmack von Skrypniks Angebot trug jedoch dazu bei, dass die Atmosphäre sich unrettbar verschlechterte.

5.3.2 Konfrontation Die Ereignisse um Kuljapin, den Milizchef Skrypnik und dessen Vorgesetzten beim UMVD , Aleksandr Zacharov, hatten in der westlichen Forschungsliteratur bis dato

90 Ebd., l. 48. 91 Ebd., l. 50.

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keine Rolle gespielt. Einigen russischen Historikern, insbesondere den Experten für die Uralregion, ist diese Auseinandersetzung ein Begriff, doch nur Andrej Berkotovs Studie über Strafverfolgung in Molotov nach 1945 widmete dieser Episode gesonderte Aufmerksamkeit. Die Konfrontation zwischen Kuljapin und vor allem Zacharov gilt ihm als Beleg für das Aufeinandertreffen zweier beruflicher Weltbilder. Die „repressiven Methoden“ des Innenministeriums trafen, so Berkotov, auf die „neuen liberalen Methoden“ der Staatsanwaltschaft.92 Die Unterscheidung zwischen „repressiv“ und „liberal“ führt den Leser da in die Irre, wo es um den beruflichen Wertekonflikt dieser Behörden geht. Berkotov überschreibt diesen Konflikt leider mit politischen Kategorien, die das Selbstverständnis vor allem der Staatsanwaltschaft missinterpretieren. „Liberalismus“ war ein Etikett, um Ineffizienz und Nachsichtigkeit in der Strafjustiz zu brandmarken. Kuljapin strengte gerade das Gegenteil an, auch wenn sein Drängen auf die Einhaltung der Gesetze und Prozessnormen Assoziationen mit „liberalen“ Werten wachruft. Die folgenden Ereignisse verweisen auf einen Wertekonflikt zwischen regelhaften operierenden Staatsanwälten und der Selbstermächtigung und der Willkür des Innenministeriums. Ein Blick auf diesen Konflikt legt zugleich die institutionelle und politische Dynamik und die Handlungslogik im Verhältnis beider Behörden offen. Zum Jahreswechsel 1946/47 legte die Staatsanwaltschaft dem Regionalkomitee einen Bewertungsbericht für die Arbeit der Miliz im abgelaufenen Jahr vor. Im Mittelpunkt des Berichts stand die Aufklärungsquote, die neben den ungesetzlichen Arresten und den Inhaftierungsfristen ein immer wichtigeres Qualitätsmerkmal für das System der Strafverfolgung wurde.93 Der Bericht der Staatsanwaltschaft legte nahe, dass diese Zahlen (die Milizverwaltung meldete 75 Prozent Aufklärungsrate bei allen Delikten) widersprüchlich und mit Sicherheit gefälscht seien. Skrypnik führe „keinen aktiven Kampf gegen das Verbrechen“. Nicht nur zahlreiche Mordfälle aus den Jahren 1942 bis 1944 seien noch immer nicht aufgeklärt, auch die Ermittlungsfristen würden in mehr als der Hälfte aller Fälle verletzt. Daneben stünden 43 Fälle von „Verletzung sozialistischer Gesetzlichkeit“ durch die Miliz im Raum.94 Ohne ins Detail zu gehen, verwies der Staatsanwalt damit auf 43 Dienstvergehen innerhalb von elf Monaten. Die Quintessenz bestand darin, dass Skrypniks Behörde

92 Andrej Suslov thematisiert den Konflikt zwischen Kuljapin und Zacharov im Bereich der Lagerverwaltung. Suslov, Speckontingent, S. 110 f.; vgl. Berkotov, Borʼba s ugolovnoj, S. 101–104, Lejbovič, V gorode M, S. 109 f. Vitalij Ruckin spart diese Episode (wie auch die Staatsanwaltschaft insgesamt) in seinem Buch aus. Vgl. Ruckin, Istorija milicii. 93 Vgl. Vortrag von V. A. Semenov: ‚Mein Blick auf einzelne Aspekte der Arbeit im System des MVD‘, 30.11.1947, in: GARF, f. 9415, op. 5, d. 467, l. 16. 94 Bericht über die Arbeit der Miliz in der Region, o. D. [vermutlich Dezember 1946], in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 573, l. 1–3.

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ineffizient arbeitete. Die Staatsanwaltschaft ließ bloße Zahlen sprechen und hielt sich so an das übliche Muster. Dieses Muster wurde erstmals am 14. Februar 1947 (nur wenige Wochen nach dem Bericht an die Partei) gebrochen. Kuljapin sandte einen Brief an den UMVD -Leiter in Molotov, Aleksandr Zacharov, mit dem Titel: „Über Fakten der Verletzung sozialistischer Gesetzlichkeit durch die Organe des MVD der Region Molotov“. In vielerlei Hinsicht handelte es sich dabei nicht um einen konventionellen Arbeitsbericht der Milizaufsicht. Einerseits listete Kuljapin Zahlen und Beispiele auf, in denen die Miliz gegen die Prozessordnung oder das Strafgesetzbuch verstoßen hatte. Ermittlungs- und Inhaftierungsfristen, ungesetzliche Arreste und ungesetzliche Verhörpraktiken bildeten den Kern des Briefes. Andererseits nutzte Kuljapin diese Beispiele, um erstmals auf einige grundsätzliche Probleme im Verhältnis zwischen Staatsanwaltschaft und Miliz/MVD aufmerksam zu machen. 63 Eingaben habe Kuljapin an das MVD versandt und dennoch blieben Antworten aus, während es weiterhin zu massenhaften Dienstvergehen von Milizionären kam. Der Milizionär der Stadtabteilung von Čusovoj, Beljaev, habe fiktive Verhörprotokolle für den Gefangenen Žižik erstellt und dessen „Analphabetismus ausgenutzt“. Spätere Eingaben zu dem Vorfall blieben unbeantwortet. Der Milizionär Emeljanov habe ein Mitglied des regionalen Parteikomitees, Lavočkin, inhaftiert und ihm die Parteikarte abgenommen. Damit habe Emeljanov nicht nur gegen den Beschluss vom 17. November 1938 verstoßen, Lavkočkin habe folglich auch die Parteisitzung verpasst. Trotzdem stellte sich nach fast zwei Monaten heraus, dass Emeljanov nur versetzt worden war. Das grundsätzliche Problem war: Eingaben eines Staatsanwaltes, „der vom Staat berufen wurde, die Funktion der höchsten Aufsicht einzunehmen, sollten keinesfalls als ordinäre Korrespondenz zwischen den Organen des MVD und der Staatsanwaltschaft unterschätzt werden.“ Allein die Tatsache, dass solche Schreiben ignoriert, von niederen Beamten des MVD beantwortet oder „von irgendwelchen MVD-Sekretären vertuscht“ wurden, sei ein „grobes Gesetzesvergehen“.95 Das MVD zeige in Kuljapins Worten demnach keine Bereitschaft, mit der Staatsanwaltschaft zu kommunizieren. In 957 Fällen mussten die Ermittlungen der Miliz auf Beschluss eines Staatsanwaltes oder Richters in Molotov wiederholt werden. Kuljapin nahm diese Zahlen zum Anlass, Zacharov und der Miliz nahezulegen, sich erneut mit der Prozessordnung vertraut zu machen. Der sowjetische Strafprozess regele genau, welche Straftat den Arrest eines Untersuchungshäftlings zulasse, doch „[Ihre] Mitarbeiter denken nicht darüber nach, eine Ermittlung ohne Arrest zu führen“.96 Gleiches galt

95 Brief Kuljapins an Aleksandr Zacharov, 14.2.1947, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 575, l. 46. 96 Ebd., l. 51.

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für die Anwendung von Gewalt gegenüber Untersuchungshäftlingen, doch Kuljapin beließ es bei diesem Seitenhieb. Womit er das übliche Muster eindeutig brach, war der Vorwurf, dass der MVD Kuljapins Staatsanwälte observiere. Viele seiner Mitarbeiter „werden einer geheimdienstlichen Prüfung unterzogen und auf dieser Grundlage wird häufig kompromittierendes Material gegen die Staatsanwälte gesammelt.“ Offensichtlich verfügte das MVD über genaue Informationen zu den geringsten Details aus dem Privat- und Arbeitsleben der Staatsanwälte, beispielsweise wer welche Bekanntschaften unterhielt, und angeblich wurde sogar Material darüber gesammelt, wie viel Fleisch ein Bezirksstaatsanwalt wo gekauft hatte. In der Folge nutzten Milizionäre diese Informationen, um Druck auf die Staatsanwälte auszuüben.97 Solche Praktiken waren durchaus denkbar. Offen ausgesprochen warf Kuljapin dem MVD vor, seine Ressourcen aus purem Eigeninteresse gegen die Staatsanwaltschaft einzusetzen. Kuljapins Brief illustriert also nicht nur seine eigene steigende Konfrontationsbereitschaft, sondern auch, welches Ausmaß die Rivalität dieser Behörden angenommen hatte. Die Staatsanwaltschaft galt in den Augen der Miliz als Störfaktor und deren Beamte griffen auf die ganze Bandbreite an Strategien zurück, diesen Faktor ‚auszuschalten‘. Kuljapin vollzog mit seinem Brief den ersten Schritt, um das gängige Muster für Konfliktsituationen mit der Miliz zu verlassen. Anstelle die Fehlleistungen der Miliz weiterhin anhand ausgewählter Statistiken in Moskau zu monieren, konfrontierte er Zacharov direkt als Vorgesetzten einer Behörde, in der Ignoranz und Kompetenzschwäche herrschen, „Willkür und Ungesetzlichkeit“ praktiziert und die grundlegende Arbeitsbasis (Ermittlungen) mit der Staatsanwaltschaft missachtet werde. Dass dieses Fehlverhalten struktureller Natur sei, sprich: vom MVD toleriert und gefördert werde, deutete Kuljapin nur an. Im Gegensatz zu den vorherigen 63 Eingaben war dieses Schreiben allerdings als Ultimatum formuliert. Kuljapin erwartete die „Beseitigung der Ungesetzlichkeiten“ und „Bestrafung der konkreten Schuldigen“. Innerhalb von zehn Tagen erwarte ich von Ihnen eine Antwort über tatsächliche ergriffene Maßnahmen im Kampf gegen diese Willkür. Wenn innerhalb dieses Zeitraumes keine Antwort erfolgt, werde ich gezwungen sein, darüber den Generalstaatsanwalt der UdSSR zu informieren und die Frage einer vollständigen Revision der Organe der Miliz in der Region Molotov zu stellen.98

Sechs Tage später gab Kuljapin ein Rundschreiben an alle Staatsanwälte der Re­ gion heraus, in dem er über den Status quo der Milizaufsicht und die ständigen

97 Ebd., l. 47. 98 Ebd., l. 51.

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Dienstvergehen der Miliz informierte. Jeder Fall solle gemeldet, unbegründete Arreste keinesfalls sanktioniert und nächtliche Hausdurchsuchungen unterbunden werden.99 Einerseits wollte er damit seine Beamten auf eine klare Linie gegenüber der Miliz einschwören. In Erwartung eines längeren Konflikts mit dem MVD forderte Kuljapin seine Mitarbeiter erneut dazu auf, „ungeachtet der Person“ alle erforderlichen „strafrechtlichen“ Konsequenzen gegenüber Milizionären zu ziehen. Andererseits ging es auch darum, gegenüber den Parteistellen zu demonstrieren, dass die Staatsanwaltschaft ihrerseits Maßnahmen ergriffen hatte, um die Übergriffe der Miliz einzudämmen. 1946 wurden mehr als 600 Personen „ungesetzlich inhaftiert“.100 Kuljapin rügte seine Milizaufsicht für diese Zahlen, um der UMVD im Falle einer Auseinandersetzung einen Schritt voraus zu sein. Zacharovs Antwort erreichte die Staatsanwaltschaft einen Tag darauf und damit noch vor Ablauf der Frist, die Kuljapin ihm gegeben hatte. Anstatt das Schreiben zu ignorieren, ging Zacharov in die Offensive. Statistiken, wie die 600 Inhaftierungen, spielten dabei keine Rolle. Er nahm die implizite Grundsatzkritik am MVD zum Anlass, die Staatsanwaltschaft explizit und grundsätzlich und sogar Kuljapin persönlich anzugreifen. Vor allem anderen wollte Zacharov Kuljapin und seine Behörde auf ihren Platz in der Hierarchie unter dem MVD verweisen. Schon der erste Absatz schloss jedes Anzeichen von Augenhöhe zwischen ihm und Kuljapin aus: „Ich kam zu dem Schluss, dass das von Ihnen unter dem Einfluss einer abstrusen Laune verfasst wurde, denn in dieser Eingabe erscheinen eine ganze Reihe verdrehter Tatsachen, die Sie irregeführt haben und im Endergebnis versteigen Sie sich zu verworrenem Zeug“.101 Zacharov agierte sehr überlegt und vermischte zynische Kommentare gegen Kuljapin mit dem üblichen Abwehrmuster des Innenministeriums, sämtliche Probleme in der Behördenkommunikation der Staatsanwaltschaft anzulasten. Die Vorwürfe gegen die Miliz wurden dabei einerseits als unbegründet dargestellt: Von den 104 Eingaben seien 100 erfüllt worden. Man habe die Staatsanwaltschaft nur versehentlich nicht darüber informiert. Andererseits tat Zacharov die Übergriffe der Miliz als „Nachlässigkeit“ (chalatnostʼ) oder als Ergebnis mangelnder Berufsqualifikation ab. Prinzipiell habe die UMVD immer korrekt reagiert, während die Milizaufsicht versäumt habe, „praktische Hilfe“ und fachliche Anweisungen zu geben. Das Parteimitglied Lavočkin zum Beispiel sei mit Sanktion eines Bezirksstaatsanwaltes angeklagt worden und ein unerfahrener Milizionär, „der gerade erst

 99 Vgl. Rundschreiben Kuljapins an alle Staatsanwälte der Region, 20.2. 1947, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 575, l. 41. 100 Ebd., l. 43. 101 Schreiben von UMVD-Chef Zacharov an Kuljapin, 21.2.1947, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 575, l. 52.

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von der Front zurückkam“, hatte Lavočkin naiverweise die Parteikarte abgenommen. Die Schuld lag entsprechend beim Staatsanwalt. Eine weitere Strategie Zacharovs bestand darin, die Verantwortung für Kommunikationspannen dem eigenen Stellvertreter und Milizchef, Skrypnik, zuzuschieben: „Es ist mir unklar, warum der Leiter der Milizverwaltung, der mein Stellvertreter ist, die Aufgaben nicht erledigen kann, die ich ihm bezüglich Ihrer Eingabe gegeben habe“. Gleichzeitig listete Zacharov die Gelegenheiten auf, bei denen die Staatsanwaltschaft versagt, „Verbrechen verschleiert“ oder Ermittlungen verzögert hatte. 30 Eingaben von Seiten der Miliz habe die Staatsanwaltschaft wiederum unbeantwortet gelassen. Zacharov hielt jeden protokollarischen Verstoß fest, gleich wie geringfügig er war. Zum Beispiel habe die Miliz keine Antwort auf ihre Eingaben erhalten, in denen Sie das Tempo der Ermittlungen auf Seiten der Staatsanwaltschaft bemängelte.102 Zudem warf er Kuljapin vor, zu wenige Beispiele ins Feld geführt zu haben. Tatsächlich hätten mehr Beispiele Zacharovs Strategie nichts entgegensetzen können. Alle Mängel und Defizite in der Arbeit der Miliz ließen sich Zacharov zufolge entweder auf Unerfahrenheit der Milizionäre oder auf das Versagen der Staatsanwaltschaft zurückführen. Die Spionagevorwürfe kommentierte Zacharov zynisch damit, dass es nur darum ging, Amtsmissbrauch in den Reihen der Staatsanwaltschaft aufzudecken. Die Informationen „helfen Ihnen, wie sie auch mir helfen“. Die Miliz könne sich nicht gleichgültig gegenüber „den Beschwerden der Werktätigen über ungesetzliche Taten von einzelnen Staatsanwälten“ verhalten. Angesichts der Vielzahl an Berichten über physische und psychische Misshandlungen durch die Miliz, zielte Zacharovs Begründung vor allem darauf, Kuljapin zu provozieren und ihm die Machtverhältnisse vor Augen zu führen: Wenn die Eingaben über ungesetzliche Handlungen einzelner Staatsanwälte Sie nerven [nervirujut] und Sie geneigt sind, das für Beschattungsarbeit und eine Verletzung der Verfassung zu halten, dann behalte ich mir künftig das Recht vor, diese Eingaben nicht Ihnen zu schreiben, sondern unverzüglich dem Generalstaatsanwalt mitzuteilen.103

Die Milizübergriffe, die Zacharov überhaupt kommentierte, bezeichnete er als Notwehr als Unfälle. Entsprechende Rügen seien erteilt worden. Auf den gesamten zwölf Seiten zerstreute er beinahe jeden Vorwurf Kuljapins bzw. konterte die Kritik mit dem Versagen der Milizaufsicht. Der eigentliche Auslöser, die Misshandlungsvorwürfe, spielte Zacharov in den Hintergrund. Im Gegensatz zu Kuljapin

102 Ebd., l. 55–58. 103 Ebd., l. 56.

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hatten ungesetzliche Ermittlungen, Misshandlungen im Verhör und nächtliche Hausdurchsuchungen für Zacharov keine eigenständige Bedeutung. Ihm ging es darum, Kuljapin seine Grenzen aufzuzeigen: Jeder künftige Vorwurf an die Adresse Zacharovs (und über die Miliz allgemein) würde der Staatsanwaltschaft angelastet werden, womöglich über Kuljapins Kopf hinweg. An diesem Punkt ist die direkte Korrespondenz zwischen den beiden Behördenleitern nicht weiter überliefert. Zacharovs Drohung hatte kaum zur Beruhigung des Verhältnisses beigetragen, denn über das Jahr 1947 hinweg erreichten weitere Schreiben die Kaderabteilung des Parteikomitees, in denen Staatsanwälte und Milizionäre sich gegenseitig für Versäumnisse oder statistische Einbrüche verantwortlich machten. Das MVD stellte klar: Die Staatsanwaltschaft sei eine nützliche Unterstützung, wenn sie Freisprüche entschieden genug bekämpfe, ansonsten trage sie die Verantwortung, wenn die Qualität der Miliz-Ermittlungen leide. Die Staatsanwaltschaft gab sich wiederum kämpferisch, wie Beschwerdebeschreiben an die Kaderabteilung nahelegen.104 Der Konflikt verlagerte sich zunehmend auf die Parteiebene. Zwei Schreiben Kuljapins, vom 21. Januar und vom 7. Februar 1948, an den ersten Sekretär des Regionalparteikomitees liefern Hinweise darauf, wie sehr sich die Fronten besonders zwischen ihm und Skrypnik in der Zwischenzeit verhärtet hatten. Der Milizchef hatte im Laufe des Jahres 1947 auf alle erdenklichen Mittel zurückgegriffen, um Kuljapin politisch unschädlich zu machen. Im September 1947 hatte der Regionalstaatsanwalt auf der Parteiversammlung zur Sprache gebracht, welches Ausmaß das Fehlverhalten der Milizionäre in seiner Region angenommen hatte. Seine Forderung nach der Absetzung Skrypniks als Milizchef war aber ohne Folgen geblieben. Skrypnik, der auf dieser Versammlung nicht anwesend war, ging im Anschluss in die Offensive. Aus einer beruflichen Rivalität war nunmehr eine offene und persönliche Feindschaft geworden, wie Kuljapins Brief vom 21. Januar 1948 nahelegt. Der erste Versuch, mich zu kompromittieren, mich zu verlachen, mich zu erniedrigen, mich in eine Winzigkeit zu verwandeln, war, dass meine Generalsmütze auf einer Versammlung der Akademie der Wissenschaften im Opernsaal entwendet wurde, auf der auch Skrypnik anwesend war – sie wurde nicht mehr gefunden, weil ‚die Täter nicht ermittelt wurden‘. Das passierte in Anwesenheit von etwa 50 diensthabenden Milizionären. Selbstredend, dass eine solche Sensation Anklang gefunden hat.105

104 Vgl. Bericht des Sekretärs der Kaderabteilung des ObKom Molotov, Fedjunʼkin, 6.6.1947, in: PGASPI, f. 105, op. 13, d. 49, l. 129–131; Schreiben von Militärstaatsanwalt Košarskij an stellv. Leiter der Verwaltung des Wachschutzes für Eisenbahn MGB, Bezsonov (in Kopie an Sekretär der Parteikaderabteilung, Fedjunʼkin), 9.10.1947, in: PGASPI, f. 105, op. 13, d. 49, l. 211–214. 105 Schreiben Kuljapins an den ersten Sekretär des ObKom, Chmelevskij, 21.1.1948, in: PGASPI, f. 105, op. 14, d. 136, l. 63.

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Neben ungesetzlichen Verhaftungen, Misshandlungen und nächtlichen Hausdurchsuchungen beklagte Kuljapin in diesen Briefen, dass Skrypnik seit Oktober 1947 einen systematischen Feldzug gegen ihn und die Staatsanwaltschaft führe. Institutionelle und persönliche Rivalitäten waren kaum mehr voneinander zu trennen. Dazu gehörte auch, dass die Miliz angeblich absichtlich die Namen und Adressen von Kuljapin und ihm (vermutlich) nahestehenden Regierungsmitgliedern in Verhören fallen ließ, um diese mittelfristig in der Bevölkerung zu kompromittieren, sie sogar mit Diebstahl und Korruption in Verbindung zu bringen. Einer von Kuljapins früheren Klienten, namens Daniševskij wurde von der Miliz instruiert und manipuliert, einen Bestechungsskandal gegen Kuljapin zu initiieren.106 UMVD-Chef Zacharov sei dahingehend involviert gewesen und habe parallel versucht, das Stimmungsbild in der Parteiversammlung zum Nachteil Kuljapins zu beeinflussen.107 Inwiefern Skrypnik oder Zacharov tatsächlich derartige Anweisungen gegeben hatten, ist unklar. Die „Danišveskij-Sache“ beschäftigte allerdings auch die Partei noch länger.108Es wird deutlich, dass Kuljapin ganz bewusst davon ausging, dass der Milizchef mit Unterstützung Zacharovs von allen Möglichkeiten Gebrauch machen würde, ihn anzugreifen, und dass dieser Konflikt über alle Kanäle geführt und über die Partei entschieden werden würde. Die beiden Briefe an Chmelevskij, im Januar und Februar 1948, waren nur ein strategischer Schritt; eine vorbereitende Maßnahme für Kuljapins Sammelbericht vom 6. Februar 1948, den er zeitgleich ausgearbeitet hatte. Kuljapin wollte der Parteileitung das politische Risiko der Skrypnik-Affäre und das Ausmaß der Intrigen vor Augen führen, um seinem Sammelbericht die nötige Wirkung und Dringlichkeit zu verleihen.109 Dies zielte nicht unbedingt auf Chmelevskij, obwohl er der formale Adressat war. Der regionale Parteichef verfolgte das Geschehen schon länger und war auch über den geplanten Sammelbericht Kuljapins im Bilde. Bereits im Dezember 1947 war es zwischen Kuljapin, Chmelevskij und Generalstaatsanwalt Konstantin Goršenin zu einem Treffen gekommen, in der die Strategie gegen Skrypnik besprochen worden war.110 Das Parteikomitee stand spätestens im

106 Vgl. Schreiben Kuljapins an den ersten Sekretär des ObKom, Chmelevskij, 7.2.1948, in: PGASPI, f. 105, op. 14, d. 136, l. 95. 107 Vgl. ebd., l. 64. 108 Vgl. Berkotov, Borʼba s ugolovnoj, S. 103 f. 109 „Man muss sich einfach wundern, wie weit Skrypnik mit solchen Sachen gegangen ist, mit der Praxis, all das, mit dem ‚erhabenem Ziel‘ der Verbrechensbekämpfung, zu vertuschen. Kuljapin an Chmelevskij, 21.1.1948, in: PGASPI, f. 105, op. 14, d. 136, l. 63. 110 Die Chronik der Permer Staatsanwaltschaft betont, dass es das Regionalkomitee gewesen sei, dass die entscheidenden Schritte gegen die Miliz eingeleitet hatte, nachdem eine Prüfung durch die Republiksstaatsanwaltschaft ergeben hatte, das Kuljapin nicht in Bestechungen verwickelt war. Leider geben die Autoren keine Daten an. Darüber hinaus war das ObKom nicht in der Position,

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Februar 1948 hinter Kuljapin. Der gesamte Schriftwechsel diente also primär als künftiges Anschauungsmaterial für die Parteiführung in Moskau. Am 6. Februar wurde der Bericht an Chmelevskij versandt. Alle vorangegangen Konflikte mit dem MVD, die Übergriffe der Miliz, das Taktieren und die Rivalitäten zwischen Kuljapin, Skrypnik und Zacharov mündeten in dieses Schreiben. Der Umfang allein verdeutlicht, dass Kuljapin mehr als einen einzelnen Machtkampf für sich entscheiden wollte. Auf 38 Seiten zog der Regionalstaatsanwalt von Molotov Bilanz über die Konflikte mit der Miliz in seiner gesamten Amtszeit. Die bisherige Kommunikation sei an einem toten Punkt angelangt, da keiner in der MVD-Führung von Molotov die Eingaben der Staatsanwaltschaft ernst nehme.111 Folglich wählte Kuljapin eine enorm lange Liste mit Beispielen, Briefauszügen und Protokollzitaten (allesamt nummeriert). Über 130 Namen fallen in diesem Bericht: Täter und Opfer der alltäglichen Übergriffe und Misshandlungen der vergangenen fünf Jahre. Daran sollten nicht bloß Skrypniks und Zacharovs Versagen illustriert werden. Kuljapin wollte auf einer unbestreitbaren Beweisgrundlage die strukturellen und professionellen Differenzen zwischen Miliz und Staatsanwaltschaft offenlegen und demonstrieren, dass es keine gemeinsame Arbeitsgrundlage mehr gab. Kuljapin wählte zu diesem Zweck äußerst schicksalhafte Beispiele, die die Gewissenlosigkeit und Verachtung für Regeln in den Reihen der Miliz illustrieren sollten. In Nytvinsk etwa lebte eine alleinerziehende kranke Frau mit ihrem minderjährigen Sohn. Dieser hatte sich Zutritt zu einer stillstehenden Mühle verschafft, um Weizenkörner zu stehlen. Er war daraufhin vom Müller entdeckt und in der Mühle eingesperrt worden, der sogleich einen befreundeten Milizionär gerufen hatte. Der Milizionär war betrunken erschienen, brach dem Jungen mit einer Brechstange beide Beine und fesselte ihn im Wald. Am nächsten Tag kehrte der Milizionär zurück und erschoss den Jugendlichen und verscharrte die Leiche im Reisig. Dieser „unzivilisierte Fall von Willkür“112 wirft nicht nur ein erschreckend deutliches Licht darauf, wie gewaltsam sich Alltagskonflikte in den 1940er-Jahren in der Provinz entladen konnten. In Verbindung mit Dutzenden anderer Fälle, in denen Milizionäre Zeugenaussagen fälschten, Gefängnisinsassen quälten, Zeugen bedrohten oder Bestechungen entgegennahmen, ergab sich für den Leser das Bild einer Behörde, deren Beamte gewaltaffin waren und rein intuitiv handelten. Die Miliz hatte, so Kuljapin, tatsächlich ein Bildungsdefizit, aber eines, das durch

MVD-Leitungspersonal abzusetzen. Vgl. Prokuratura Permskogo kraja, S. 89 f.; zu dem Treffen in Moskau: Vgl. Schreiben Kuljapins an den ersten Sekretär des ObKom, Chmelevskij, 9.2.1948, in: PGASPI, f. 105, op. 14, d. 136, l. 93. 111 Vgl. Bericht über ‚Ungesetzliche Handlungen der Organe der Miliz in der Region Molotov‘, von Kuljapin an Chmelevskij, 6.2.1948, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 575, l. 1. 112 Ebd., l. 10.

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Skrypnik und Zacharov bewusst herbeigeführt werde. Diese kultivierten bewusst die „falsche Erziehung, die Erziehung im Geistes des Nihilismus gegenüber dem Gesetz“. Fälle, in denen Zeugen eingeschüchtert oder nachweislich ermordet wurden, aber auch zahllose unbeantwortete Eingaben sind für ihn der Beleg, dass sein Intimfeind Skrypnik diesen Nihilismus zum beruflichen Leitbild erhob: Durch die systematische Geringschätzung für die Einhaltung der Gesetze durch die Organe der Miliz; dadurch dass Skrypnik seine Rolle falsch versteht und sich darauf stützt, dass die Tätigkeit der Organe des MVD schrankenlos sei, kommt es nicht nur zur massenhaften Verletzung der Gesetze, sondern auch in einigen Fällen zur unzivilisierten Willkür vor Ort.113

Das Bildungsproblem der Miliz sei real, wurzele aber eben nicht im Versagen der Milizaufsicht, sondern in der Figur Skrypniks. Die Folgen, die Kultur der „unzivilisierten Willkür“, blieben indes nicht ausschließlich auf diese Einzelperson beschränkt. Sie sind Kuljapins stärkstes Argument, um das ganze MVD von Molotov zu belasten und das tragische Ausmaß für die ganze Region zu illustrieren. Schätzungsweise 3000 Menschen wurden allein 1947 ungesetzlich inhaftiert.114 Quasi automatisch rückte Kuljapin seine Behörde damit ins gewünschte Licht. Die Staatsanwaltschaft ging aus dem Bericht implizit als zivilisierte Alternative zur Miliz hervor. Sie sei der professionelle Akteur, der sich der Willkür auf gesetzlicher Grundlage entgegenstelle und dabei doch strukturell benachteiligt werde. Die Miliz gehe auf „Menschenjagd“ (ochotitʼsja za ljudʼmi)115 mit nächtlichen Hausdurchsuchungen, doch die Staatsanwaltschaft werde kompromittiert, behindert und denunziert. Ihre Rolle erschöpfe sich im Schreiben von Eingaben, ohne Kontrollmöglichkeiten bei der Durchsetzung von milizinternen Disziplinarstrafen. Wer als Staatsanwalt den Arrest verweigere oder mit der Anklage nur einen Freispruch erwirke, werde durch die Miliz als bestechlich diffamiert. In Molotov, und implizit auch anderswo, seien Kompetenz und Einfluss im Bereich der Strafverfolgung offensichtlich disproportional verteilt. Die inkompetentere Behörde, so der Vorwurf, verfüge über die größeren Möglichkeiten. Kuljapin thematisierte das strukturelle Missverhältnis und die Benachteiligung der Staatsanwaltschaft im Berufsalltag gegenüber der Miliz in allen Facetten, so wie sie auch andere Beamte in der Sowjetunion erlebten. Ansonsten ließ Kuljapin die geschilderten Übergriffe weitestgehend für sich sprechen, wobei er ganz bewusst auch den Fall des inhaftierten Parteimitgliedes

113 Ebd., l. 3–4. 114 Ebd., l. 7. 115 Ebd., l. 5.

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Lavočkin mit einbezog.116 Derartige Fälle zogen zusätzlich die nötige Aufmerksamkeit der Parteiführung auf sich. Das Hauptziel des Schreibens war es, die MVD -Führungskaste in Molotov als unfähig und gefährlich zu entlarven. Strukturelle Konsequenzen für Zacharov und Skrypnik musste er der Partei überlassen, doch allein die Menge an Beispielen und Vorwürfen war ebenso erdrückend wie politisch relevant. Ganz bewusst erwähnte Kuljapin, dass der Text „unter Anleitung“ des Generalstaatsanwaltes Safonov entstanden sei.117 Kuljapin demonstrierte seinen Rückhalt in der Chefetage und forderte eine Reaktion von der Partei im Namen der gesamten Staatsanwaltschaft heraus – und mit hoher Wahrscheinlichkeit hatten Safonov, Chmelevskij und er einkalkuliert, dass die Angelegenheit vor dem ZK entschieden werden würde.

5.3.3 Entscheidung und Konsequenzen Weder der Autor dieses Buches noch Andrej Berkotov konnten Aktenbelege zur Entscheidung finden, die das ZK vermutlich im Frühjahr 1948 zu den Vorwürfen Kuljapins traf. Sicher scheint, dass Generalstaatsanwalt Safonov und/oder die Führung des Innenministeriums die Angelegenheit dem ZK vorgetragen hatten.118 Auf den ersten Blick waren Kuljapins Bemühungen erfolgreich. Sowohl Aleksandr Zacharov als auch Grigorij Skrypnik wurden im Anschluss versetzt. Zacharov wurde am 24. April 1948 als UMVD-Leiter in Čeljabinsk wieder eingesetzt, während das weitere Schicksal seines Stellvertreters unbekannt bleibt.119 Das Innenministerium hatte offensichtlich auf den erhöhten politischen Druck reagiert und dabei nicht nur das Führungspersonal ausgewechselt. Im August 1948 gab das Regionalkomitee in Molotov per Rundschreiben bekannt, dass zahlreiche Ermittlungsbeamte und Bezirksleiter der Miliz in den Monaten zuvor aufgrund „amoralischen Verhaltens“, „Amtsmissbrauchs“ und „Vergehens gegen die revolutionäre Gesetzlichkeit“ verhaftet und verurteilt worden waren.120 Der Staatsanwalt von Molotov erreichte letztlich

116 Vgl. ebd., l. 9. 117 Ebd., l. 38. 118 Vgl. Berkotov, Borʼba s ugolovnoj, S. 105–107. 119 Vgl. Petrov/Skorkin, Kto rukodovil NKVD, S. 393; vgl. Prokuratura Permskogo kraja, S. 90. Die persönlichen Aktenbestände im PGASPI waren leider nicht zugänglich, deren Datierung legt aber nahe, dass Skrypnik ebenfalls 1948 versetzt wurde. Das Archiv verzeichnet ihn dabei als „Skripnik“, eine Schreibweise, die auch in den Quellen gelegentlich vorkommt. Skripnik, Viktor Grigorʼevič, 1943–1948, in: PGASPI, f. 105, op. 220, d. 3122. 120 Bericht des ObKom an alle Sekretäre der Bezirksparteiorganisationen im MVD, 19.8.1948, in: PGASPI, f. 105, op. 14, d. 137, l. 60.

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den Austausch des MVD-Führungspersonals in der Region und die Verurteilung einiger niederer Beamter. Kuljapin hatte die Machtprobe für sich entschieden. Auf den zweiten Blick hatte Kuljapin einen unbequemen Präzedenzfall geschaffen. Er hatte mit den üblichen Konfliktmustern gebrochen. Anstatt die Dienstvergehen der Miliz als Einzelfälle zu behandeln und zu akzeptieren, dass Skrypnik inkonsequent gegen kriminelle Milizbeamte vorging, hatte er das Verhältnis zwischen Staatsanwaltschaft und Miliz in der Region insgesamt infrage gestellt und den Finger auf die strukturellen Probleme gelegt: allem voran die fehlende eigene Weisungsmacht und die singuläre Handlungsfreiheit des Innenministeriums. Die persönliche Feindschaft, die vornehmlich auf Skrypnik zurückzuführen war und die Kuljapin in seiner Entschlossenheit bestärkt hatte, verlieh dieser Auseinandersetzung etwas Skandalöses. Die gesamte Nomenklatura von Molotov war über die Details dieses Skandals im Bilde. Der Staatsanwalt hatte das Innenministerium quasi öffentlich in die Schranken gewiesen. Wie ging die Unionsstaatsanwaltschaft mit diesem ‚Erfolg‘ um? Generalstaatsanwalt Goršenin hatte Kuljapins Vorhaben im Dezember 1947 noch mitgetragen, doch Goršenin wurde auf Regierungsbeschluss am 29. Januar 1948, also eine Woche vor Versendung des Sammelberichts, als Nachfolger Ryčkovs an die Spitze des Justizministeriums berufen. Sein Nachfolger in der Staatsanwaltschaft war Grigorij Safonov, der sich zu dem Präzedenzfall seine eigene Meinung bildete.121 Zu seinen ersten Amtshandlungen gehörte die Einberufung einer Allunions-Mitarbeiter-Versammlung der Staatsanwaltschaft vom 5. bis zum 15. April 1948. Der neue Generalstaatsanwalt sah im Bereich der Milizaufsicht offensichtlich Erklärungs- und Handlungsbedarf. Molotov war nicht die einzige Region, in der die Konflikte zwischen Staatsanwaltschaft und Miliz zu eskalieren drohten.122 Noch im Eröffnungsvortrag nannte er deutliche Zahlen. Der Anteil ungesetzlicher Arreste bewegte sich in manchen Teilen des Landes zwischen 25 und 50 Prozent. Eine solch fatale Quote wurde direkt auf das Versagen der Milizaufsicht zurückgeführt, zumal die Miliz noch immer annährend 63 Prozent der Ermittlungen führte. Doch Safonov überraschte zugleich mit einem ungewöhnlichen Vorschlag. Das Versagen besteht, wie mir scheint, in der Dualität [dvojstvennostʼ] staatsanwaltschaftlicher Aufsicht. Territorialstaatsanwälte beaufsichtigen die Gesetzlichkeit der Handlungen der Miliz,

121 Vgl. Zvjagincev/Orlov, Prigovorennye vremenem, S. 320; 330–332. 122 Im Auftrag von Goršenin hatte der Leiter für Milizaufsicht, Boris Belkin, das ZK über „ernsthafte Vergehen gegen die Gesetzlichkeit in der Arbeit der Miliz“ informiert, die sich vor allem auf ungesetzliche Inhaftierungen im Jahr 1947 bezogen. Molotov war eine der genannten Problemregionen. Vgl. Briefentwurf von Boris Belkin an Sekretär des ZK, A. A. Kuznecov, o. D. [vermutlich Anfang Dezember 1947], in: GARF, f. R-8131, op. 83, d. 452, l. 17–39.

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doch die Frage der Verantwortung der Milizmitarbeiter, die das Gesetz gebrochen haben, unterliegt der Aufsicht der Militärstaatsanwaltschaft […] Ich bitte die Teilnehmer der Versammlung sich dazu zu äußern, ob es nicht zweckmäßig wäre, die Aufsicht über die Organe der Miliz in den Händen der Territorialstaatsanwälte zu vereinigen.123

Hätte die Milizaufsicht die Kompetenzen der Militärstaatsanwaltschaft in sich vereinigt, wäre die Anklage gegen MVD -Beamte in die Hände der Territorialstaatsanwaltschaft gelegt worden. Damit hätte die Behörde nicht nur innerhalb des Innenministeriums ermitteln dürfen. Ministeriumsinterne Lösungen wären so nicht mehr möglich gewesen, da der Staatsanwalt als institutioneller Außenseiter nun Strafanzeigen hätte stellen können. Die Verurteilung eines Milizionärs vor dem Militärgericht wäre somit wahrscheinlicher geworden. Safonov selbst gab diesbezüglich keine weitere Empfehlung ab. Er delegierte den Vorschlag an das Auditorium, in erster Linie den langjährigen Leiter für Milizaufsicht bei der Generalstaatsanwaltschaft, Boris Belkin. Dessen Meinung war maßgeblich für dieses Thema und er schloss sich Safonovs Vorschlag prinzipiell an. Staatsanwälte würden Belkin zufolge immer wieder durch die Miliz behindert, wenn es um deren eigene Vergehen ging. Die Rolle des Militärstaatsanwaltes müsse überdacht werden, da dieser „die einzige Person ist, die abseits vom täglichen Leben, von allen Fragen mit denen die Staatsanwaltschaft und alle Milizionäre zu tun haben“ stünde. Diese Beamten seien zu passiv und hätten in ihrer operativen Arbeit keinen Einblick in den täglichen Milizdienst und seien auch sonst isoliert von den übrigen Behörden. Die Vereinigung der Kompetenzen von Militärstaatsanwaltschaft und Milizaufsicht sei der Schritt in die richtige Richtung, um schärfer gegen solche Delikte vorzugehen.124 Die Generalstaatsanwaltschaft sprach sich demnach erstmals offen für strukturelle Veränderungen aus, die den Handlungsspielraum ihrer Beamten gegenüber der Miliz erheblich vergrößert hätten. Ein Grund dafür ist bei den Ereignissen in Molotov zu suchen, die Belkin auf der Versammlung ausgiebig kommentierte. Der Konflikt mit Skrypnik hatte derart weite Kreise gezogen, dass Belkin nicht einmal ins Detail gehen musste, als er die Zuhörer rhetorisch um ihre Meinung zu den Ereignissen in Molotov bat: Was denken Sie – hat der Staatsanwalt der Region Molotov, Genosse Kuljapin richtig gehandelt, als er einen Bericht mit den Fakten über die Vergehen gegen die sowjetische Gesetzlichkeit durch Mitarbeiter der Miliz, für die Jahre 1944, 1945, 1946, 1947 und

123 Stenogramme der Allunionsversammlung staatsanwaltschaftlicher Mitarbeiter, 5.4–15.4.1948, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 4034, l. 22. 124 Ebd., l. 176–178.

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Anfang 1948 verschickte – dass er diese Fakten über mehr als vier Jahre anhäufte und pauschal verschickte?125

Es ist davon auszugehen, dass die Mehrheit der Regional- und Republiksstaatsanwälte über den Ausgang des Konflikts im Bilde war und nicht wenige Kollegen sich bereits in ähnlichen Situationen befunden hatten. Die Generalstaatsanwaltschaft musste ihren Beamten also zumindest die Aussicht auf strukturelle Veränderungen bieten, jedoch nicht ohne klarzustellen, dass die Vorfälle in Molotov nicht zum Präzedenzfall werden dürften. Es ist unklar, welche Anweisungen der Generalstaatsanwalt Safonov an Belkin im Vorfeld gegeben hatte. Belkin machte Kuljapin jenes „Ansammeln“ zum Vorwurf und kritisierte, dass Molotovs Staatsanwalt aus persönlichem Interesse, um einen „großen Effekt“ zu erzielen, jahrelang die Delikte zurückgehalten habe. Dass Kuljapin in diesen Jahren mehr als 100 unbeantwortete Eingaben an das MVD verschickt hatte, war auch Belkin bewusst, doch vor den Augen und Ohren der Mitarbeiterversammlung spielte das keine Rolle. Der „Effekt“, sprich: die Außenwirkung einer solchen Konfrontation musste unter allen Umständen künftig vermieden werden. Dabei stand nicht so sehr die Blamage für das Innenministerium im Vordergrund, als vielmehr, dass die teils skandalösen Details des Milizalltags in aller Breite diskutiert wurden. Zur Illustration wählte Belkin ein weiteres Beispiel aus Molotov. Die Bezirksabteilung der Miliz der Stadt Černovsk beging den Internationalen Frauentag 1948 mit einem Gelage, in dessen Verlauf die Beamten ihre Ehefrauen verprügelten, die Inneneinrichtung des Reviers verwüsteten und am Folgetag fast ausnahmslos nicht zum Dienst erschienen – ein lokales Ereignis, das von vielen Bewohnern verfolgt wurde. Ein solcher Skandal zeuge eindeutig von der „Verkommenheit der Mitarbeiter der Bezirksabteilung des MVD“, doch diese Details dürften nicht im Mittelpunkt eines Berichts stehen. Entscheidend sei, dass Kuljapin sich gleich an die Parteiorgane wenden solle, die „entsprechend scharfe Konsequenzen“ ziehen würden.126 Das Signal war deutlich. Kuljapin hatte zu viel Aufmerksamkeit auf sich und das Verhalten der Milizionäre gezogen. Die Konfrontation mit Skrypnik und Zacharov sei ein fataler Alleingang gewesen, den man eher in die Hände der Partei hätte legen müssen. Natürlich war das Regionalkomitee verhältnismäßig früh involviert gewesen, doch ob Safonovs Vorgänger, Goršenin, der darüber im Bilde war, die Kritik abgemildert hätte, bleibt offen. Sein Nachfolger nutzte die Ereignisse in Molotov, um 125 Ebd., l. 179. 126 „Das ganze betrunkene Geschrei und die Exzesse wurden von den Bewohnern der Siedlung Černovsk beobachtet, die empört waren über die Randale und den Exzess der ‚Ordnungshüter‘“. Ebd., l. 180.

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sowohl strukturelle Veränderungen in Aussicht zu stellen als auch dafür zu sorgen, dass Kuljapins Enthusiasmus, an Skrypnik ein Exempel für die Staatsanwaltschaft zu statuieren, keine direkten Nachahmer findet. Was hatte Kuljapin nun erreicht und was veränderte sich mittelfristig für das System der Milizaufsicht?

5.3.4 Eine „Tradition der Unnachgiebigkeit“? – Zur Nachgeschichte des Konflikts In Molotov stand Kuljapin vor den Folgen seines „Pyrrhussieges“.127 Die Posten in der Miliz und im MVD wurden neu besetzt. Übergriffe durch Milizbeamte prägten in Molotov nach wie vor den Dienstalltag. Ein entsprechender Bericht der Milizhauptverwaltung aus Moskau verzeichnete für 1948 bei einem Viertel aller Mitarbeiter Verstöße gegen die Dienstordnung oder anderweitige „amoralische Erscheinungen“.128 Darüber hinaus war das Verhältnis zu vielen Schlüsselfiguren in der Regionalregierung unwiederbringlich gestört, denn nicht wenige hatten zum engeren Kreis des einstigen Polizeichefs gehört. Den Autoren der Chronik der Staatsanwaltschaft Permʼ zufolge leitete das Ende Skrypniks den Abschieds Kuljapins ein. Die Affäre um das Kreuz auf dem Grab seiner Eltern sei Teil eines weiteren, diesmal erfolgreichen Versuches gewesen, den Staatsanwalt in Parteikreisen zu kompromittieren.129 Nur sechs Wochen nach Kuljapins Ausscheiden folgte ihm Chmelevskij in gewisser Weise nach. Der Ausschluss des Ersten Parteisekretärs aus dem Regionalkomitee war durch viele Faktoren bedingt130, illustriert aber auch, dass der Zirkel von Kuljapins Verbündeten auf Parteiebene zur Jahreswende 1949/50 deutlich kleiner geworden war. Die Konfrontation mit dem MVD hatte die informelle Machtbasis der Staatsanwaltschaft entscheidend geschwächt. Dahingehend ist der Begriff „Pyrrhussieg“ treffend gewählt. Kuljapin habe aus Sicht seiner späteren Nachfolger eine „Tradition begründet“, die die Unnachgiebigkeit und den Einsatz gegen die Willkür des MVD für kommende Generationen zum Vorbild gemacht habe.131 Tatsächlich spielte Unnachgiebigkeit im künftigen Verhältnis beider Behörden eine untergeordnete Rolle.

127 Prokuratura Permskogo kraja, S. 91. 128 Bericht des stellvertretenden Leiters der Politabteilung der GUM MVD SSSR, Karnauchov, an Chmelevskij, 12.2.1949, in: PGASPI, f. 105, op. 15, d. 131, l. 49. 129 Vgl. Prokuratura Permskogo kraja, S. 91. 130 Vgl. Fedorov, A. N.: O pričinach kadrovoj čistki 1949–1950 gg. v Molotovskoj Oblasti (po materialam častnoj perepiski), in: Vestnik JuUrGU 269 (2012) H. 10, S. 78–82. 131 Prokuratura Permskogo kraja, S. 91.

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Vor allen anderen hegte die Generalstaatsanwaltschaft kein Interesse an einer derartigen Traditionsbildung. Das hatte Belkin auf der Versammlung 1948 deutlich gemacht. Stattdessen galt weiterhin das Prinzip, die Delikte als Einzelfall gegenüber den jeweiligen Vorgesetzten zu kritisieren. Grundsatzkritik war ausgeschlossen. Das unterstrich Belkin noch einmal deutlich, als er einen der wenigen Artikel zum Thema Milizaufsicht 1949 veröffentlichte. Schwere Dienstvergehen und Verhörpraktiken blieben tabu – intern und öffentlich. Sollte es jedoch zu administrativen Vergehen kommen, sprich: wenn ein Milizionär ungerechtfertigt Ordnungsstrafen ausstellte, sollte der Staatsanwalt „entsprechend reagieren“. „Einzelne Milizionäre“ begingen „leider Fehler“, weswegen man den unterqualifizierten Ordnungshütern jede Hilfe leisten müsse.132 Die Generalstaatsanwaltschaft verordnete Kooperation und Ausbildung, um die Miliz zu disziplinieren. Dieses Mantra galt ebenso in der offiziellen Kommunikation mit der Milizverwaltung. Im Kampf gegen steigende Kriminalitätsraten, vor allem bei schweren Gewalttaten, suchte Safonov stärker den Schulterschluss mit den Milizbehörden. Auf einer Versammlung leitender Milizkader 1952 betonte er, dass grundlose Arreste und Fristverletzungen der Ausdruck von „Formalismus“ und juristischer Unbedarftheit seien, dem nur die Hauptverwaltung der Miliz und die Staatsanwaltschaft gemeinsam mit „Ausbildungspflichtprogrammen“ Abhilfe schaffen könnten.133 Die Verantwortung dafür, so der offizielle Tenor, trug der Staatsanwalt. „ Jeder einzelne Fall grundloser Inhaftierung oder grundlosen Arrests oder der grundlosen Übergabe an ein Gericht ist ein unerträglicher und schädlicher Fehler in erster Linie des Staatsanwaltes“, fasste es Belkin in einem Artikel 1951 zusammen.134 Die offizielle Rhetorik zum Verhältnis zwischen Staatsanwalt und Miliz sollte Beamte davon abhalten, in eigener Sache gegen die Miliz, die 1949 in das Ministerium für Staatssicherheit (MGB) eingegliedert wurde, auf Konfrontationskurs zu gehen. Die Generalstaatsanwaltschaft wollte eine Wiederholung der Ereignisse in Molotov auf jeden Fall verhindern. Das Verhältnis zur Miliz sollte wieder stabilisiert werden. Wirft man einen Blick auf die Prozessordnung und die entsprechenden internen Anweisungen, fällt auf, dass die Kompetenzen der Milizaufsicht insgesamt nicht ausgedehnt wurden. Die strukturellen Veränderungen, die Safonov und Belkin 132 Belkin, Boris: Zadači prokurorskogo nadzora za zakonnostʼju administrativnoj dejatelʼnosti milicii, in: Socialističeskja zakonnostʼ 11 (1949), S. 9 f.; „Manchmal kommt es zu Vergehen gegen die Gesetzlichkeit in der administrativen Tätigkeit der Miliz aufgrund von Unwissen und Unverständnis der Gesetze“. Ebd., l. 14. 133 Stenogramme des Auftritts des Generalstaatsanwalts Safonov auf der Versammlung der Leiter der Milizverwaltungen der Regionen und Republiken, 14.1.–19.1.1952, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 811, l. 53. 134 Belkin, Boris: Zadači prokurorskogo nadzora za zakonnostʼju dejstvij organov milicii, in: Socialističeskaja zakonnostʼ 3 (1951), S. 27.

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1948 noch angedeutet hatten, blieben aus. Nach seiner Abberufung aus dem Amt des Generalstaatsanwaltes übernahm zwar Konstantin Goršenin den Vorsitz der Kommission zur Ausarbeitung der Entwürfe der neuen Prozessordnung und des neuen Strafgesetzbuches und im Gegensatz zu letzterem konnte eine Neuauflage der Strafprozessordnung noch vor Stalins Ableben erscheinen. Die Kompetenzen der Milizaufsicht und der Territorialstaatsanwaltschaft blieben in der Ausgabe von 1952 allerdings unverändert. Von den Befugnissen eines Militärstaatsanwaltes für die Milizaufsicht war keine Rede mehr. Selbst geringfügige Ergänzungen, die die Anwendung von Gewalt oder Drohungen im Verhör explizit unter Strafe stellen sollten, wie von Belkin 1948 intern vorgeschlagen, blieben bei der Endfassung außen vor.135 Die Generalstaatsanwaltschaft, und insbesondere Belkin, erkannten zum Ende der 1940er-Jahre allerdings die Notwendigkeit, die Aufgaben der Milizaufsicht klarer und präziser zu definieren. Kurz bevor es zum Höhepunkt in der Auseinandersetzung zwischen Skrypnik und Kuljapin kam, erging ein umfassender Befehl, der die Leitlinien der Milizaufsicht erstmals seit dem Ende der 1930er-Jahre ausformulierte. Er fasste alle wesentlichen Paragraphen von Prozessordnung und Verfassung für diese Tätigkeit zusammen. Jeder einzelne Ermittlungsschritt, Zuständigkeiten bei Ermittlungssachen und Kontrollmaßnahmen gegenüber Milizionären wurden darin aufgeführt. Zugleich drohte er deutlicher als zuvor mit strafrechtlichen Konsequenzen für alle Staatsanwälte, „die mit ihrer Untätigkeit Ungesetzlichkeiten zulassen und ungesetzliche Handlungen der Miliz sanktionieren.“136 Das Ermittlungs- und das Strafverfahren wurden zunehmend stärker durchleuchtet und die Staatsanwälte noch enger an die Delikte der Miliz gebunden. Teile dieses Regelwerks wurden von Lebedinskij 1953 schließlich auch in Handbuchform festgehalten.137 Bei der Beaufsichtigung und Durchsetzung der Prozessnormen waren Staatsanwälte nach wie vor auf sich allein gestellt, und dem statistischen Erfolgsdruck ausgeliefert, den die Miliz beliebig gegen sie richten konnte. Konflikte wurden offiziell marginalisiert, Konfrontationen im Alleingang waren unerwünscht und riskant. Statt auf politische Unterstützung setzte die Generalstaatsanwaltschaft daher auch weiterhin auf einen Professionalisierungsschub; auf die Durchsetzungsfähigkeit 135 Belkin schlug ergänzend zum Artikel 155 der neuen Strafprozessordnung vor, den Versuch, „Aussagen oder Geständnisse mittels Gewalt, Drohung oder ähnlicher Methoden hervorzubringen, unter Androhung strafrechtlicher Maßnahmen zu verbieten“. Schreiben Belkins an Goršenin, o. D. [vermutlich September 1948], GARF, f. R-8131, op. 38, d. 452, l. 86. 136 Befehl zur staatsanwaltschaftlichen Aufsicht über die Miliz, 3.1.1948, in: GARF, f. R-8131, op. 38, d. 484, l. 1. „Wenn der Staatsanwalt eine beendete Strafsache mit Anklageschrift von der Miliz erhält muss er feststellen, ob a) die Ermittlungen richtig und objektiv geführt wurden, b) die Anschuldigung gegenüber jedem Beklagten in der Sache begründet vorgebracht wurde“. ebd., l. 16. 137 Vgl. Lebedinskij, Organizacija sovetskoj prokuratury, S. 145–156.

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qualifizierter Beamter, die die mangelnde Qualität der Milizarbeit zu kompensieren vermochten. Ein erneuter Blick auf Molotov und die Milizaufsicht unter Kuljapins Nachfolger, Jakovlev, zeigt, wie dieses Prinzip immer häufiger realisiert wurde, und dass es weniger mit einer „Tradition der Unnachgiebigkeit“ zu tun hatte. Betrachtet man die Jahre 1951 und 1952, fällt auf, dass sich das Verhältnis zwischen Staatsanwaltschaft und Miliz unter Jakovlev zunehmend stabilisierte. Die Kommunikation war noch immer von gegenseitigen Anschuldigungen und dem Kampf um die Deutungshoheit über die monatlichen Misserfolgsquoten gekennzeichnet, doch in mehrerer Hinsicht konsolidierten sich die Abläufe. Erstens konnte Molotov in dieser Zeit stetig sinkende Einstellungsquoten bei den Strafverfahren vorweisen. Die teils widersprüchlichen Angaben über die Zahl der Verhaftungen und der schlussendliche Anteil rechtskräftiger Verurteilungen suggerieren, dass die Ermittlungen der Miliz häufiger zum Erfolg führten und weniger Einsprüche von der Staatsanwaltschaft herausforderten. Der Anteil der Freisprüche in den Ermittlungen der Miliz sank der Statistik eines Revisors der Generalstaatsanwaltschaft zufolge von 2,2 auf nur 1,3 Prozent. Zweitens wurde zunehmend häufiger über strafrechtliche oder disziplinarische Maßnahmen gegen Mitarbeiter beider Behörden berichtet, während zugleich die Gesamtzahl der staatsanwaltschaftlichen Eingaben sank.138 Wenn eine Strafsache als „grundlos“ zurückgewiesen wurde bzw. in einem Freispruch endete, weil der zuständige Beamte einen Fehler im Ermittlungsverfahren begangen hatte, bekam dieser die Konsequenzen zu spüren – auf beiden Seiten. Die Ermittlungen gegen zwei Arbeiter wegen Körperverletzung in Bolʼšoj-Gorod resultierten in zwei Freisprüchen, weil der zuständige Bezirksstaatsanwalt unter anderem keine korrekte Anklageschrift vorbereitet hatte. Infolgedessen wurde der Staatsanwalt entlassen und die ermittelnden Milizbeamten sollten ebenfalls zur Verantwortung gezogen werden.139 Zugleich reagierte die Milizverwaltung von Molotov regelmäßig auf die Eingaben der Staatsanwaltschaft, sprach Verwarnungen aus und inhaftierte oder zwangsversetzte ihre Beamten bei nachgewiesenen Dienstvergehen. Vor allem informierten die zuständigen Stellen des MGB die Staatsanwaltschaft über ihre eigenen Eingaben, auch um Härte und Konsequenz gegenüber den eigenen Beamten zu demonstrieren. Der leitende Milizionär der Bezirksabteilung von Bolʼšoj-Sovnovsk etwa hatte nach Angaben der Milizverwaltung eine ungerechtfertigte Verhaftung

138 1950 verschickten alle Staatsanwälte von Molotov 249 Eingaben und Proteste aufgrund von Vergehen durch Milizbeamte. Diese Zahl sank bis 1953 auf 190. Vgl. den Bericht über die Arbeit der Staatsanwaltschaft Molotov zwischen 1950 und 1953, 26.11.1953, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 194, l. 18. 139 Vgl. Überprüfungsbericht zur Milizarbeit in fünf Bezirken vom stellv. Regionalstaatsanwalt, Bukanov, 12.3.1951, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 579, l. 12.

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verschuldet und wurde dementsprechend für fünf Tage unter Arrest genommen und anschließend zwangsversetzt.140 Leider sind keine umfassenden Personalstatistiken verfügbar, doch entscheidend für das Verhältnis beider Behörden war, dass die Miliz weitaus offener und regelmäßiger über die Bestrafung ihrer Beamten berichtete – und ab 1949 entschiedener durchgriff. Die Eingliederung der Miliz in das MGB ab dem 13. Oktober 1949 bot dazu die ideale Gelegenheit. Über acht Monate hinweg (länger als beabsichtigt) führten alle sowjetischen Milizverwaltungen eine umfassende Inventur und Kaderprüfung durch, was in Molotov unter anderem darin resultierte, dass zwischen November 1949 und August 1950 315 Milizbeamte bestraft, davon 127 entlassen wurden. Zacharovs Nachfolger an der Spitze des UMGB , Boris Kozačenko, listete eine ganze Reihe an Verfehlungen auf: die Aufklärungsrate sackte von 88 auf 82 Prozent und 19 Personen mussten als „unbegründet inhaftiert“ aus dem Gefängnis entlassen werden.141 Vor allem aber legte er gegenüber dem Regionalkomitee offen, welches Ausmaß die Disziplinvergehen und die Disziplinlosigkeit in der Miliz angenommen hatten. Anders als noch wenige Jahre zuvor war in seinem Bericht von „Verbrechen“ durch Beamte, von Misshandlungen, Trinkgelagen und toten Zivilisten (auch Kindern) die Rede. 19 Prozent aller Mitarbeiter seien vorbestraft. Dies waren Phänomene, die er „schonungslos und rechtzeitig“ bekämpfen wollte.142 Anschließende Berichte verdeutlichen, dass das MGB in dieser Hinsicht verblüffend konsequent war. In den folgenden zwei Monaten wurden weitere 27 Bezirks- und Stadtabteilungsleiter der Miliz ausgetauscht, zehn Milizionäre der Fahndungsabteilungen wurden ebenfalls versetzt oder entlassen.143 Über das Jahr 1950 gerechnet, ordnete das MGB 429 Entlassungen und noch mehr Verwarnungen an.144 Das MGB in Molotov entledigte sich straffälliger und ebenso schlecht ausgebildeter Kader, nicht zuletzt um die Aufklärungsraten nach oben zu schrauben. Die Führung der Staatssicherheit erhöhte den Druck auf das schwächste Glied im Ministerium – den Milizapparat.145

140 Vgl. Überprüfungsbericht des Zustandes der Ermittlungsarbeit, 23.9.1952 –6.1.1953, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 969, l. 40. 141 Auskunft des UMGB Leiters Kozačenko an die Administrative Abteilung des ObKom über den Zustand der Arbeit und der Disziplin in der Miliz, 1.8.1950, in: PGASPI, f. 17, op. 16, d. 212, l. 191–192. 142 Ebd., l. 197. 143 Vgl. Bericht des UMGB Leiters Kozačenko und des Leiters der Milizverwaltung in Molotov, Milov, an den ObKom-Sekretär, Prass, 9.1.1951, in: PGASPI, f. 17, op. 17, d. 188, l. 4. 144 Vgl. Ruckin, Istorija milicii, S. 208–210. 145 Das Bildungsniveau in der Miliz stieg durch diese Maßnahmen nicht unerheblich an. 93 % aller Mitarbeiter in Molotov verfügten bis 1952 zumindest über eine niedere Ausbildung oder befanden sich in Fortbildung für einen mittleren Abschluss. Vgl. ebd., S. 210.

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Die dritte Beobachtung im Verhältnis von Staatsanwaltschaft und Miliz betrifft die Behördenkommunikation. Anders als bei Kuljapin und Zacharov bzw. Skrypnik verständigten sich die Behörden unter Jakovlev und Milov auf der Basis einer gemeinsamen Grundlage: dem Verfahren. Noch immer geriet man über die Zuständigkeiten und die Verantwortung für statistische Defizite aneinander. Milov warf zum Beispiel einem Bezirksstaatsanwalt vor, Beschuldigte aus persönlichen Gründen nicht in Untersuchungshaft zu stellen, weswegen diese nach Urteilsspruch die Flucht ergriffen hätten. Jakovlev erwiderte, dass in einem Fall auf die Tuberkuloseerkrankung des Beschuldigten Rücksicht genommen worden war und dass die anderen Vorwürfe nicht der Wahrheit entsprächen.146 Dennoch argumentierten beide Behördenleiter mehrheitlich auf Basis der Verfahrensdetails. Dabei versuchte auch die Milizverwaltung diese Auseinandersetzung mit Akribie und Verfahrenskenntnis für sich zu entscheiden. Als Milov am 2. Januar 1951 auf eine Eingabe Jakovlevs reagierte, war ein Monat vergangen, den er offensichtlich genutzt hatte, die darin enthaltenen Vorwürfe wegen „unsauberer und unobjektiver“ Ermittlungen zu prüfen. In seiner Antwort gestand Milov Fehler ein. Die Verantwortung für 32 Freisprüche trage mehrheitlich die Miliz, doch in vier Fällen sei von Versagen der Staatsanwaltschaft auszugehen. Zu allen vier Beispielen stellte Milov die Arbeitsschritte seiner Beamten denen der Staatsanwaltschaft gegenüber: Wer welche Beschwerde aufgenommen hatte, was in der Beschwerde ausgesagt und unter welchen Umständen der Arrest des Beschuldigten fälschlicherweise nicht sanktioniert wurde.147 Erstmals lieferte damit auch die Miliz Details zum Ermittlungshergang. Ein ähnlicher Trend war ebenfalls in der Staatsanwaltschaft zu beobachten. Die Berichte der Milizaufsicht wurden länger und ausführlicher. Die Staatsanwälte der Abteilung griffen immer häufiger auf kriminalistische Instrumente zurück. Gerichtspsychiatrische Gutachten beispielsweise halfen den Beamten, Haftanträge begründet abzulehnen oder Strafsachen einzustellen, oder wie im Falle des 24-jährigen Nogins, einen Suizid in der Gefängniszelle aufzuklären. In Zusammenarbeit mit der Haftaufsicht erstellte die Milizaufsicht über mehrere Monate hinweg verschiedene Gutachten, um zu rekonstruieren, wie es dazu kam, dass Nogin, der des „Hooliganismus“ beschuldigt worden war, sich mit einem Stück Draht in seiner Zelle erhängen konnte. Weder der Abschlussbericht noch die Entscheidung des MGB sind überliefert, doch die einzelnen Gutachten zeigen, wie viel Energie und Expertise die Staatsanwaltschaft in Form von Vernehmungen und ärztlichen Gutachten mobilisierte, um abschließend zu klären, ob Nogin noch lebte, als der

146 Vgl. Schriftwechsel zwischen Milov und Jakovlev, 4.10.–12.11.1951, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 579, l. 116;178. 147 Vgl. ebd., l. 117–118.

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Milizwärter die Zelle betrat.148 Das MGB musste unter diesen Umständen eigene Erkenntnisse liefern, wenn die Miliz auf die Vorwürfe reagieren wollte. Dies illustriert wiederum, welche Auswirkungen die Bildungsoffensive mittelfristig auch auf das Verhältnis zwischen Miliz und Staatsanwaltschaft hatte. Künftige Konflikte mit der besser ausgebildeten Staatsanwaltschaft setzten die Miliz unter Zugzwang, sicherer im Umgang mit kriminologischen und juristischen Detailfragen zu werden. Die Episode um Kuljapin und Skrypnik war eine anschauliche Demonstration für die Staatsführung, worin das Missverhältnis zwischen den Ermittlungsbehörden kulminieren konnte, wenn die Staatsanwaltschaft dieses Verhältnis und ihre eigenen formalen Rechte auf die Probe stellte. Kuljapin legte das Ausmaß der Inkompetenz und Rücksichtslosigkeit in den Reihen der Miliz offen, gerade weil ihm die Regelhaftigkeit des Strafverfahrens alternativlos erschien. Diese berufliche Motivation hatte eine starke persönliche Komponente, was den Konflikt zusätzlich befeuerte. Die Konfliktlinie zog sich allerdings entlang der unterschiedlichen Prämissen der Behörden, verkörpert durch Skrypnik/Zacharov und Kuljapin. Die Staatsanwaltschaft drängte auf regelhafte und nachvollziehbare Prozeduren, die behördenübergreifend zur Anwendung kommen sollten. Das MVD beschränkte sich mehrheitlich darauf, Probleme situativ und intern zu behandeln, unter der Maßgabe, der Staatsanwaltschaft keinesfalls auf Augenhöhe zu begegnen. Das Resultat dieser Auseinandersetzung zeigte, dass das Missverhältnis aus Sicht der Generalstaatsanwaltschaft nicht aufgelöst, sondern nur durch professionelles, sprich: regelhaftes Handeln, verwaltet werden durfte. Kuljapin hatte diese Haltung mit seinem Beispiel noch gestärkt. Das Konfliktpotenzial zwischen Miliz und Staatsanwaltschaft war im Endeffekt nach wie vor groß. Amtsmissbrauch wurde nur verzögert verfolgt und das MGB ließ keine direkten Interventionen zu. Statistische Erfolge und der entsprechende Bewertungsdruck aus Moskau bestimmten die Prioritäten der Milizaufsicht.149 Trotzdem waren beiden Behörden seit der Konfrontation 1947/48 ein Stück weiter auf dem Weg hin zu einem kooperativen Verhältnis gelangt, sprich: die Konflikte wurden zunehmend regelhaft ausgetragen. Diese Tatsache war zum einen dem Abgang Kuljapins geschuldet, der als kompromisslose und unkonventionelle Reizfigur durch einen Prototypen der neuen Beamtengeneration ersetzt wurde. Jakovlev hielt sich an die üblichen Muster im Umgang mit der Miliz. Zum anderen war sie dem Programm

148 Vgl. Schreiben des stellvertretenden Regionalstaatsanwalte, Kasakov, an Milov, 7.7.1951, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 579, l. 61. 149 Im ersten Bewertungsbericht, den Jakovlev für seine Regionalstaatsanwaltschaft aus Moskau erhielt, wurde bemerkt, dass sich der Anteil der Fälle, die zur Vorermittlung zurückgeschickt wurden, zwischenzeitlich von 5,5 % auf 6 % gesteigert hatte. Dies reichte aus, um der gesamten Abteilung für Milizaufsicht „schwache Arbeit“ zu attestieren. Vgl. Schreiben des stellvertretenden Staatsanwalts der RSFSR, Uzunov, an Jakovlev, 28.10.1950, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 579, l. 5.

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der Generalstaatsanwaltschaft geschuldet, die Abteilung für Milizaufsicht zu professionalisieren und ihre Aufgaben klarer zu benennen. Zugleich spielte aber auch die Bereitschaft der Milizführung eine Rolle, Verhaltensabweichungen ihrer Beamten stärker zu bestrafen. Die Nachgeschichte des Skandals um Skrypnik und Kuljapin mündete nicht gerade in eine „Tradition der Unnachgiebigkeit“, sondern eine der Regelhaftigkeit. Diese ‚Tradition‘ trat zunehmend deutlicher hervor, wo Milizionäre und Staatsanwälte ihr Verhältnis verfahrenstechnisch zu behandeln begannen und ihre eigenen juristischen und kriminalistischen Kompetenzen schulten. Dieser Weg sollte sich nach 1953 deutlicher abzeichnen.

5.4 H a f t a u f sicht n a ch 19 45 – D ie St a at s a nwa lt s ch a f t u nd d ie ­b eg i n ne nd e K r i s e d e s G u l a g Das sowjetische Lagersystem trat nach Ende des Zweiten Weltkrieges in eine neue Entwicklungsphase. Zum einen veränderte sich die Häftlingszusammensetzung bis 1953 deutlich. Der Gulag fing Heerscharen von heimgekehrten und zwangsrepatriierten Kriegsgefangenen der Roten Armee auf; Kollaborateure und Kombattanten anderer Nationen; politische Gegner der annektierten westlichen Territorien oder anderweitige Personengruppen, die mit den Nationalsozialisten oder ihren Bündnispartnern in Verbindung gebracht wurden; Millionen von Menschen, die unter neuen Befehlen zur Eigentumsgesetzgebung als „Diebe“ verurteilt wurden. Dadurch fluktuierten die Insassenzahlen so stark wie nie zuvor und die Amnestie zum Kriegsende, aber auch andere Befreiungswellen, trugen dazu dabei, dass die „Drehtür“ des Gulag nach 1945 noch schneller schwang. Zum anderen wuchs das Lagersystem bis 1950 zu seiner bis dato größten Ausdehnung. Auf seinem Zenit fasste der Gulag mehr als 2,5 Millionen Insassen.150 Angesichts dieser drastischen Veränderungen sticht umso deutlicher hervor, dass sich das Kräfteverhältnis zwischen Staatsanwaltschaft und Lagerverwaltung in dieser Zeit nicht wirklich veränderte. Das Hauptaufgabengebiet der Haftaufsicht beschränkte sich auf die Gefängnisprüfungen, die Verwaltung des Transfers von Häftlingen zwischen den Haftorten und monatliche Lagerbesichtigungen. Die eigentliche Entwicklung der Haftaufsicht bestand darin, ihre Arbeitsabläufe unter dem Druck der sich verändernden Gefängnis- und Lagerwelt zu optimieren. Inwiefern gelang es den Beamten, auf diesem Terrain differenzierter und effizienter zu arbeiten und wie veränderten sich diese Arbeitsabläufe?

150 Alexopoulos, Amnesty 1945, S. 275–306; vgl. Applebaum, Der Gulag, S. 487; Barnes, Death and Redemption, S. 157–160.

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5.4.1 Die Regulierung der Gefängniswelt Mit Blick auf die Gefängnisse galten für die Staatsanwälte eindeutige Prioritäten. Am 1. August 1945 erließ die Staatsführung den Befehl 172s, der als Ergänzung und Ausdehnung des Befehls 20s von 1942 entworfen worden war, und der die Erwartungen an die Haftaufsicht noch weiter steigerte. Staatsanwälte dürften demzufolge keine unhaltbaren Absagen zur Sanktion eines Arrests geben, keine grundlose Einstellung einer Strafsache […], falsche Freisprüche oder Urteile zu Strafmaßen zulassen, die nicht mit einer Freiheitsstrafe verbunden sind, die sich aber auf tatsächliche Straftäter beziehen, die für ernsthafte Verbrechen zur Verantwortung gezogen wurden.

Zugleich durften keinerlei unbegründete Inhaftierungen zugelassen werden. Bei Versagen drohte den ermittelnden Staatsanwälten selbst ein Gerichtsverfahren.151 Die Haftaufsicht trug folglich die Verantwortung, die Ermittlungsarbeit ihrer Kollegen zu evaluieren. Sie war die erste Kontrollinstanz, um eine Strafverfolgung ohne Freisprüche zu gewährleisten. Diese Prämisse galt auch schon vor 1945. Neu war der Versuch, alle Erkenntnisse über ein ‚fehlgeschlagenes Ermittlungsverfahren‘ in einem Kontrollschritt zu bündeln. Zu jeder Zeit und in jedem Gefängnis musste einsehbar sein, welcher Häftling warum entlassen wurde. Ein Bericht der Haftaufsicht musste Auskunft nicht nur über Fristverletzungen, sondern über alle Häftlinge geben, die wegen der Änderung des Urteils, der Verfahrenseinstellung, einem Gerichtsbeschluss, einem Freispruch oder einem Urteil ohne Freiheitsentzug wieder in Freiheit entlassen wurden. Dieser Perfektionsanspruch verkannte nicht nur völlig die personellen Möglichkeiten der Haftaufsicht. Alle übrigen Aspekte der Haftinspektion, wie die Zustände in den Gefängniszellen, wurden damit noch weiter in den Hintergrund gerückt. In den ersten Jahren nach Kriegsende waren in Molotov sechs von zehn Untersuchungsgefängnissen erhalten geblieben, ohne dass sich die durchschnittliche Zahl der Insassen in irgendeiner Weise reduziert hätte. Neben der Aufsicht über die übrigen Haftanstalten (Lager, Gefängniskrankenhäuser, Arbeitskolonien) mussten der Abteilungsleiter (bis 1949 Michail Grif) und sein zuständiger Mitarbeiter den Überblick über circa 2000 Gefängnisinsassen behalten. Am ‚Aufsichtsschlüssel‘ hatte sich also nichts geändert.152 Auf den ersten Blick verblüfft daher die Gewissenhaftigkeit mit

151 Befehl 172s: Über die Praxis der Sanktionierung von Arresten und die Durchführung des Befehls der Staatsanwaltschaft der UdSSR 20s vom 21.4.1942, 1.8.1945, in: GARF, f. R-8131, op. 38, d. 235, l. 115. 152 In den Berichten an die Staatsanwaltschaft der RSFSR wurde angemerkt, dass Grif und sein Mitarbeiter alle Inspektionen gemeinsam unternahmen. Vgl. Prüfungsbericht von einem Staatsanwalt

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der Grif und seine Assistenten die Ermittlungs- und Arreststatistiken in den Gefängnissen überprüften. An drei Arbeitsberichten der Jahre 1947, 1948 und 1949 ließ sich prinzipiell ablesen, wie viele Insassen wie lang auf wessen Beschluss in den Gefängnissen inhaftiert waren. Fristüberschreitungen wurden in Beispielfällen erörtert und nach Zuständigkeiten genauestens aufgeschlüsselt. Entlassungen wurden in diesen Jahren zunehmend genauer dokumentiert. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Fällen war nicht gefordert. Vielmehr konzentrierte sich die Haftaufsicht auf formale, sprich: prozessrechtliche Unregelmäßigkeiten. In dieser Hinsicht arbeitete die Haftaufsicht zunehmend detailfreudiger. Ein Mann namens Aleksej Babkin wurde wegen des Diebstahls von Schreibpapier am 2. Dezember 1946 inhaftiert, doch erst am 21. Januar 1947 ins Gefängnis von Molotov transferiert (wo auch die Verhandlung stattfinden sollte). Ende März 1947 war die Haftaufsicht auf diese Verzögerungen aufmerksam geworden und vermerkte nur, dass sich die Ermittlungen noch hinauszögern werden, weil „das Objekt des Papierdiebstahls“ noch nicht sichergestellt werden konnte.153 Weder die fehlenden Beweismittel noch die Unverhältnismäßigkeit des Tatverdachts noch die Aussicht auf weitere monatelange Verzögerungen waren es aus Sicht der Haftaufsicht wert, kommentiert zu werden. In erster Linie ging es um Zuarbeit für die Ermittlungsabteilung. Sie würde sich des Babkin-Falles annehmen. Der Horizont der Haftaufsicht war innerhalb der Gefängnisse auch deshalb so schmal, weil sich die Abteilung überwiegend auf die Informationen stützte, die ihnen die Gefängnisverwaltung zukommen ließ. Die „Geschäftsleitung“ des Gefängnisses (kanceljarija) gab die Insassenlisten mit den dazugehörigen Datumsangaben an die Haftaufsicht.154 Bis auf die Frage, welche Ermittlungsbehörde wie lang für einen Fall brauchte, spielte die Interpretation dieser Zahlen für die Abteilung keine übergeordnete Rolle. Das gleiche Muster zeigte sich bei der Analyse der Haftentlassungen. Die Haftaufsicht produzierte in erster Linie verwertbare Statistiken darüber, wie groß der Anteil derer im Gefängnis war, deren Verfahren nicht in einer Haftstrafe mündete. Bis zum Ende der 1940er-Jahre nahmen Diskussionen über die „Grundlage“ eines Arrests immer weniger Raum in diesen Berichten ein. Damit ist nicht gesagt, dass weniger Menschen durch die Haftaufsicht oder andere Beamte befreit wurden oder dass die Hintergründe irrelevant waren. Im Gegenteil: im Jahr 1949 entgingen immerhin 906 Untersuchungshäftlinge einer Freiheitsstrafe. 91 Fälle waren auf Beschluss eines Staatanwaltes im Ermittlungsverfahren eingestellt worden. Die

der RSFSR, Kolotuškin, für den Zeitraum 1.1. bis 10.9.1948, 30.9.1948, in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 1518, l. 5. 153 Bericht vom Anwalt der Stadt Molotov über die Erfüllung der Befehle 20s und 172s an die Staatsanwaltschaft der RSFSR und UdSSR, 25.3.1947, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 3837, l. 8. 154 Überprüfungsbericht für das Stadtgefängnis von Molotov, 4.5.1947, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 3837, l. 58.

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Details dieser Entscheidungen wurden jedoch von den Leitern der Ermittlungsabteilung evaluiert, die sich an den Berichten der Haftaufsicht orientierte, um Fälle im Einzelnen neu zu bewerten.155 Die Inspektion der Gefängnisse diente der quantitativen Analyse des Ermittlungsverfahrens. Interpretationen und Konsequenzen (wie die Abmahnung der Ermittlungsabteilungsleiter) waren eine Angelegenheit für höhere, sprich: Moskauer, Dienststellen. Dokumentation statt Intervention – dieses Prinzip blieb auch nach 1945 unverändert. Lediglich die Abläufe wurden effizienter. Zeugten Berichte aus der Kriegszeit noch von gewissen Reibungen zwischen Gefängnisverwaltung und Haftaufsicht sowie Kuljapins Versuch, seinen Mitarbeitern Verantwortungsbewusstsein für einzelne Häftlingsschicksale einzuimpfen, war so etwas in den Berichten der Nachkriegszeit schlichtweg nicht mehr lesbar. Diese ‚Nüchternheit‘ kann bis zu einem gewissen Grad auch als Beleg für gesteigerte Effizienz gesehen werden. Der Fokus auf die Inhaftierungsfristen und den Transfer der Häftlinge könnte dazu beigetragen haben, das Zuständigkeitschaos der Kriegszeit abzumildern. Konflikte zwischen den Abteilungen, vor allem über die Verlässlichkeit der Gefängnisstatistiken, blieben zwar bestehen.156 Zumindest jedoch war gegen Ende der 1940er-Jahre nicht mehr von ‚verlorenen‘ und ebenso wenig von toten Insassen die Rede. Dieser Umstand erklärt sich auch mit dem Anstieg des Versorgungsniveaus nach Kriegsende.157 Es ist unklar, welchen Anteil die Haftaufsicht daran hatte. In Bezug auf die Haftbedingungen in den Gefängnissen blieben die Berichte dieser Abteilung äußerst inkonsequent und Grif mit seinen Entscheidungen äußerst zurückhaltend. Die Gefängnisse waren chronisch überbelegt und von Jahr zu Jahr attestierte der zuständige Staatsanwalt den Haftanstalten entweder Versagen oder einen tadellosen Umgang mit den Insassen. Konsequenzen überließ man dahingehend wie üblich dem MVD.158 Zugleich jedoch gelang es der Abteilung, ihren Inspektionspflichten regelmäßiger nachzukommen. 1949 konstatierte der Gutachter der Moskauer Haftaufsicht für Molotov, dass alle sechs Gefängnisse monatlich über das ganze Jahr inspiziert worden waren.159 Angesichts der Tatsache, dass Grif keine zusätzlichen Mitarbeiter zur Verfügung hatte, war dies eine enorme Steigerung. Es wirft aber auch die Frage 155 Vgl. Material zur Überprüfung der Arbeit der Haftaufsicht in der Staatsanwaltschaft Molotov, 1949–1950, 10.4.1950, in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 1787, l. 9ob. 156 In einem Kommentar zum Erfüllungsbericht der Haftaufsicht wird sichtbar, dass die Haftaufsicht, die Milizaufsicht sowie die Strafgerichts- und die Ermittlungsabteilungen zu abweichenden Ermittlungs- und Insassenstatistiken gelangten. Vgl. ebd., l. 29. 157 Vgl. Suslov, Speckontingent, S. 106. 158 Vgl. Bericht über die Erfüllung der Befehle 20s und 172s, 25.3.1947, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 3837, l. 9. 159 Vgl. Material zur Überprüfung der Arbeit der Haftaufsicht, in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 1787, l. 4.

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auf, wo die Haftaufsicht Abstriche bei der Gründlichkeit ihrer Inspektionen machte (die größeren Gefängnisse waren über einen Radius von mindestens 200 Kilometern verteilt). Es liegt nahe, dass Grif unnötige Konflikte mit der Gefängnisverwaltung vermied und keine Nachforschungen anstellen wollte (über etwaige Misshandlungen durch das Gefängnispersonal beispielsweise), und dass daher auch die Haftbedingungen eher flüchtig geprüft wurden. Alles andere hätte die Kapazitäten der Haftaufsicht bei Weitem überfordert. Effektive Haftaufsicht im Gefängnis bedeutete also weiterhin, zuverlässige Daten über den Inhaftierungsprozess zu liefern. Sie machte das Raster der Gefängniswelt immer engmaschiger. Die neuen Häftlingsströme der Nachkriegszeit mochten die Zusammensetzung und die Insassenzahl in den Lagern verändert haben. Die Gefängnisinspektion nahm davon nur am Rande Notiz, zumal die Zahl der Gefängnisinsassen relativ konstant zwischen 2000 und 2100 blieb, was verdeutlicht, dass die Abläufe zur Verschickung der Häftlinge auch unter dem Druck hoher Verhaftungszahlen funktionierten. Der Alltag der Gefängnisinsassen spielte, wie schon zu Kriegszeiten, allerdings eine untergeordnete Rolle. Regeln wurden dort am konsequentesten durchgesetzt, wo viel Zeit vorhanden und mit wenig Widerstand zu rechnen war – bei der Erhebung und dem Abgleich von Insassenzahlen.

5.4.2 Die Regulierung der Häftlingsströme Für das Lagersystem galten andere Prioritäten. Mit dem Ende des Krieges und der Rüstungsmobilisierung verlor die Zwangsarbeit einen Teil ihrer Bedeutung als Wirtschaftsfaktor. In den Jahren nach 1945 hatten Produktionsergebnisse nicht mehr durchweg Vorrang bei den Lagerinspektionen der Haftaufsicht. Strafrechtliche Kriterien gewannen in der Nachkriegszeit zunehmend dort an Bedeutung, wo das Innenministerium noch immer ökonomische Interessen verteidigte. Ein Aspekt der Lageraufsicht demonstriert diesen Trend und die Konflikte besonders deutlich: die Verwaltung der Häftlingsströme. Während des Krieges musste die Staatsanwaltschaft vor allem die Menschenmassen kontrollieren, die aus den Lagern in den Wehrdienst entlassen wurden. Die Nachkriegszeit des Gulag war geprägt durch eine Vielzahl von Entlassungswellen in unterschiedlichem Ausmaß, die allesamt über strafrechtliche Kategorien verwaltet und reguliert werden mussten. Die Amnestie am 7. Juli 1945, anlässlich des „Sieges über Hitler-Deutschland“160 war der einzige große Begnadigungserlass

160 Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets, 7.7.1945, unter: http://www.ussrdoc.com/ussrdoc_ communizm/ussr_4553.htm, letzter Zugriff: 17.09.2017.

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zu Stalins Lebzeiten und laut Golfo Alexopoulos der bis dato wohl gravierendste Eingriff in den Gulag, der den wirtschaftlichen Interessen des NKVD/MVD klar zuwiderlief. Über eine Million Menschen wurden infolgedessen aus den Lagern entlassen, wobei Berija diesem Beschluss quasi nur unter Auflagen zustimmte, um den wirtschaftlichen Verlust kompensieren zu können. Für Alexopoulos war die Amnestie ein deutlicher Hinweis darauf, dass auch die Parteiführung den Gulag zuweilen primär als Haftanstalt und nicht als Wirtschaftsstandort behandelte.161 Die Motive für die Amnestie sind nach wie vor unklar. Ob Stalin damit ein politisches Signal der Versöhnung an die eigene Bevölkerung schicken wollte, oder ob damit der Arbeitskräftemangel und die verheerenden demographischen Folgen des Krieges kompensiert werden sollten162: Das Regime setzte auf strafrechtliche Kategorien, um die Kontrolle in diesem Prozess zu behalten. Die Staatsanwälte der Haftaufsicht waren die wichtigsten Werkzeuge zur Umsetzung dieses Prozesses. Die Amnestie von 1945 sah die Befreiung all derjenigen mit einem Strafmaß von unter drei Jahren Freiheitsentzug vor. Darüber hinaus wurden „Bummelanten“ und „Arbeitsdeserteure“ ebenso begnadigt wie ehemalige Rotarmisten, die sich bestimmter militärischer Dienstvergehen schuldig gemacht hatten.163 Entgegen Alexopoulos’ Annahme, dass sich die ausführenden Beamten in den Lagern und Staatsanwaltschaften überwiegend am Strafmaß der Häftlinge orientierten, konzentrierte sich die Haftaufsicht in Molotov vor allem darauf, die Insassen nach ihrem Straftatbestand aufzuteilen und ihre Freilassung auch gegen den Widerstand der Lagerverwaltungen durchzusetzen. Selbst die Unionsstaatsanwaltschaft verlangte ausschließlich Informationen über die Zahl und die früheren Urteile der befreiten Häftlinge. Das Strafmaß spielte keine Rolle.164 Der Leiter der Haftabteilung des NKVD in Molotov, Nekrasov, weigerte sich im Herbst 1945 beharrlich, 102 Insassen eines Gefängnisses zu entlassen, die offenbar als Erntehelfer eingesetzt werden sollten. Ein großer Teil dieser Gruppe war als Arbeitsdeserteure verurteilt worden. Ihr Strafmaß betrug mindestens fünf Jahre, was Nekrasov möglicherweise als Begründung nutzte, sie in Haft zu halten. Der Passus der Amnestie war hier offensichtlich widersprüchlich. Kuljapin setzte jedoch den regionalen NKVD -Chef Zacharov mithilfe der Unionsstaatsanwaltschaft und Zacharovs eigenen Vorgesetzten in Moskau unter Druck und erwirkte

161 Unter anderem befreite Stalin das NKVD davon, andere Kommissariate mit den ‚eigenen‘ Arbeitskräften unterstützen zu müssen. Vgl. Alexopoulos, Amnesty 1945, S. 284. 162 Vgl. ebd., S. 276–282. 163 Vgl. Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets, 7.8.1945, unter: http://www.ussrdoc.com/ussrdoc_communizm/ussr_4553.htm, letzter Zugriff: 17.09.2017. 164 Anforderung der Unionsstaatsanwaltschaft an die Bericht der Haftaufsicht in Bezug auf die Amnestie vom 7.7.1945, o. D. [vermutlich Oktober 1945], in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 653, l. 84.

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die ausnahmslose Freilassung der Häftlingsgruppe. Offenbar duldete das Innenministerium in diesem Fall keinen Widerstand ihrer regionalen Mitarbeiter gegen die Amnestiebestimmungen.165 Mehr noch: Bis zum 20. Januar 1946 registrierte die Haftaufsicht 15.434 Entlassungen von Personen mit Freiheitsstrafen. 944 wurden aus der Untersuchungshaft befreit. Außerdem ließen Bezirks- und Stadtstaatsanwälte (auf Hinweise der Haftaufsicht hin) 2913 Ermittlungsverfahren einstellen. 7631 der über 15.000 Befreiten waren frühere „Arbeitsdeserteure“.166 Die Beamten der Haftaufsicht räumten dem Straftatbestand Priorität gegenüber dem zu begnadigenden Strafmaß ein. Ältere Häftlinge und Frauen mit Kindern wurden zwar zuerst entlassen. Das handlungsleitende Prinzip zur Regulierung der Häftlingsströme basierte jedoch auf strafrechtlichen Kategorien. Die Haftaufsicht brachte dieses Prinzip auch zur Anwendung, als Arbeitsfähigkeit und Strafmaß gegeneinander abgewogen wurden. In der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre rangen GULag und Staatsanwaltschaft um die Auflagen für die Aussonderung kranker und somit arbeitsunfähiger Häftlinge. Das Innenministerium hatte sich bisher in Bezug auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Lagerhäftlinge keinen Illusionen hingegeben. Der Verschleiß an gesunden Arbeitskräften war enorm und in NKVD -Rundschreiben war mitunter von „Invalidenfabriken“167 die Rede. Gerade deshalb wollten sich viele Lagerleitungen dieser Belastung entledigen. Zumal aus Krankheitsfällen rasch Todesfälle wurden, was wiederum auf die Lagerleitung zurückfiel. Die entsprechenden Befehle aus der Kriegszeit (1942, 1944) hatten die Möglichkeit geschaffen, „unheilbar Kranke“ zu entlassen und nicht wenige Lagerleiter machten davon Gebrauch.168 Um diese Fluktuation unter Kontrolle zu bringen, ordnete das Innenministerium 1946 die Gründung sogenannter „Gesundungsbereiche“ (ozdorovitelʼnye podrazdelenija) für große Lagerkomplexe an. Hier sollte die „Arbeitsfähigkeit physisch geschwächter Häftlinge wiederhergestellt“ werden. Die Ausnutzung der Arbeitskraft hatte größtmögliche Priorität. Trotzdem versuchten lokale Lagerverwaltungen auch weiterhin, sich kranker Häftlinge zu entledigen. 165 Schreiben des Moskauer NKVD-Büroleiters, Petrov, an Nekrasov, 19.10.1945, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 653, l. 89a. 166 Bericht der Haftaufsicht Molotov an den Unionsstaatsanwalt, Goršenin, und den Staatsanwalt der RSFSR, Volin, 20.1.1946, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 653, l. 94. 167 Zacharčenko, Aleksej V.: Die Aufarbeitung der Geschichte des Gulag in Russland, in: Julia Landau/ Irina Scherbakowa (Hg.), Gulag. Texte und Dokumente. 1929–1956. Göttingen 2014, S. 74. Zit. SOGASPI, f. 1817, op. 1, d. 59, l. 4–141. 168 Rundschreiben der Unionsstaatsanwaltschaft, des NKVD und NKJu der UdSSR, 24.7.1943, in: Bezborodov/Chrustalev, Istorija Stalinskogo Gulaga, 4, 226. Die entsprechenden Befehle vom 23.10.1942 und vom 30.5.1944 sind leider nicht veröffentlicht. Vgl. dazu auch Kodincev, A. Ja.: Političeskaja prestupnostʼ v gody Velikoj Otečestvennoj Vojny, in: Sergej A. Kropačev (Hg.), Problemy istorii massovych političeskich repressii v SSSR. 1953–2013. 60 let bez Stalina. Osmyslenie prošlogo sovetskogo gosudarstva. Krasnodar 2013, S. 368–370.

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Aus Sicht der Staatsanwaltschaft lief diese Praxis dem Strafgedanken zuwider. Entlassungen aus medizinischen Gründen durften demzufolge keinesfalls leichtfertig gewährt werden, genauso wenig sollten tatsächlich Invalide zu Arbeitseinsätzen verschickt werden.169 Solche Entscheidungen setzten in jedem Fall ein medizinisches Gutachten voraus und nicht selten legte die Haftaufsicht ihr Veto ein, wenn das Innenministerium diese Schritte überging oder die Ergebnisse das Misstrauen des Staatsanwalts weckten. Der Hauptmann der Staatssicherheit Družinin war leitender Beamter in der Lager- und Kolonieverwaltung von Molotov und beschwerte sich im Frühjahr 1945 bei Kuljapin über den Staatsanwalt der Haftaufsicht Korovkin. Der hatte der Lagerverwaltung von Kungur die Entlassung von 20 Häftlingen verweigert, die aus Korovkins Sicht „ambulante“ medizinische Hilfe benötigten, jedoch keinesfalls als unheilbar krank entlassen werden dürften. In 110 anderen Fällen habe er ebenfalls das Entlassungsgesuch ausgeschlagen, mit der gleichen Begründung. Družinin rechtfertigte die ambulante Unterbringung damit, dass die Krankenstation überfüllt sei. Darüber hinaus ziehe Korovkin das Urteil der „medizinischen Kommission“ (bestehend aus dem Leiter der Sanitätsabteilung und dem stellvertretenden Lagerleiter) grundsätzlich in Zweifel.170 Unabhängig davon, wie viele der 130 Insassen letztlich entlassen wurden, war die Haftaufsicht die einzige Instanz, die schnelle lagerinterne Entscheidungen in diesen Fällen durchkreuzen bzw. zumindest ausbremsen konnte. Korovkin hatte die Häftlingsunterlagen zurückgeschickt und Družinin musste nun eine Einigung mit Kuljapin erreichen. Das leitende Prinzip der Haftaufsicht war nicht, sich den Anträgen des Innenministeriums zu widersetzen oder aber ihnen kategorisch Folge zu leisten. Die Haftaufsicht sollte die pauschalen und ökonomisch motivierten Entscheidungen der Lagerleitungen nach strafrechtlichen Gesichtspunkten differenzieren. Generalstaatsanwalt Safonov rief seinen Untergebenen am 23. Juli 1948 ins Gedächtnis, wo die Haftaufsicht eingreifen und dem Innenministerium Grenzen aufzeigen musste: „Die Verwaltungen einer Reihe von Lagern und Kolonien behandelten die Frage nach der Befreiung von Häftlingen aus Krankheitsgründen nach Nützlichkeitserwägungen (po-deljačeskij). Die betrachten sie in erster Linie als Arbeitskraft zur Erfüllung ihrer Wirtschaftspläne und nicht als Verbrecher, die eine Strafe abbüßen.“171 Der entsprechende Befehl sah daher vor, „die pauschale Befreiung von Häftlingen zu 169 Die Haftaufsicht wurde durch ihre Vorgesetzten in Moskau darüber belehrt, dass Häftlinge zuweilen mit Diphterie diagnostiziert und dann doch als „Simulanten“ zu Arbeitseinsätzen verschickt werden. Vgl. Schreiben eines Mitarbeiters der Moskauer Specotdel über die Erfüllung der Entlassungsregeln durch das UNKVD, 14.4.1945, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 653, l. 46ob. 170 Schreiben des Hauptmanns des GB der ITLK UMVD, Družinin, an Kuljapin, 21.3.1945, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 653, l. 35. 171 Befehl 168ss, Über die Aufsicht bei vorzeitiger Entlassung von Häftlingen aus Krankheitsgründen, 23.7.1948, in: GARF, f. R-8131, op. 38, d. 484, l. 148.

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unterbinden“. 872 Krankheitsentlassungen in zwei Monaten allein durch die regionale Moskauer Lagerverwaltung seien ein Alarmsignal. Priorität hätten für einen Staatsanwalt nicht ökonomische sondern strafrechtliche Kriterien. Häftlinge, die infolge „der Nichtgewährleistung erforderlicher Haftbedingungen in kurzer Zeit einen Zustand der Entkräftung erreichen“ mussten als Krankheitsfälle ernst genommen werden. Wer aber bereits gesundheitlich beeinträchtigt war, als ihn/sie das Gericht verurteilte, stelle noch immer eine „Gefahr für die staatliche Sicherheit“ dar und gehöre in Haft. „Die vorzeitige Entlassung muss unter Einbeziehung der Persönlichkeit des Verurteilten und der Schwere des von ihm begangenen Verbrechens erfolgen, unter Berücksichtigung der Erfordernisse der staatlichen Sicherheit“.172 Safonov argumentierte gegen die Ökonomie und für den Strafvollzug; gegen interne und pauschale Entscheidungen über Häftlingsschicksale und für eine strafrechtlich differenzierte Sicht auf die Insassen. Es ist schwer abzuschätzen, wie oft die Haftaufsicht konkrete Entlassungsanträge abschlug und die Häftlingsströme strenger regulierte. Tatsächlich machte die GULag den entscheidenden Schritt und schärfte ihren Mitarbeitern ein, dass ungerechtfertigte Entlassungen scharfe Disziplinarmaßnahmen nach sich zögen. GULag-Leiter Georgij Dobrynin warnte, wie auch Safonov ein Jahr zuvor, vor der Entlassung „sozial Gefährlicher“ oder arbeitsfähiger Insassen.173 Zeitgleich wurde das System der „Gesundungsbereiche“ ausgebaut und damit die Haftaufsicht aus ihrer unmittelbaren Verantwortung genommen. Die Kranken blieben im Lager und wurden nach den Kategorien ihrer Arbeitsfähigkeit eingestuft, was auch von den Berichten der Haftaufsicht bestätigt wird. Am 1. April 1948 zählte das Lagersystem in Molotov über 30.658 Häftlinge, von denen lediglich 547 zur Ersten Kategorie (voll arbeitsfähig) gezählt wurden. Die überwiegende Mehrheit der Insassen wurde als arbeitsinvalide eingestuft (26.488) und in entsprechenden Ambulanzoder „Gesundungsbereichen“ interniert.174 Die Ambitionen der Haftaufsicht auf einen differenzierten Umgang mit den Häftlingen wurden also eingelöst – allerdings zu den Bedingungen der Lagerhauptverwaltung. Für die Häftlinge bedeutete dies meist, dass selbst schwerste Erkrankungen sie nicht vor der Zwangsarbeit bewahrten – nun aber unter dem zynischen Etikett: „therapeutische Maßnahme“.175 Das Fernziel der Haftaufsicht war die Regulierung des Lagersystems auf Grundlage strafrechtlicher Kategorien. Diesem Ziel kamen die Staatsanwälte nur so nahe,

172 Ebd., l. 149. 173 Anweisung der GULag, 16.2.1949, in: Bezborodov/Chrustalev, Istorija Stalinskogo Gulaga, 4, S. 558. 174 Material zur Überprüfung der Arbeit der Haftaufsicht, 10.9–30.9.1948, in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 1518, l. 19. 175 Hedeler/Stark, Das Grab in der Steppe, S. 356. Zit. Befehl des Kommandanten des Karlag, 23.01.1950, in: Archiv des Karlag, 18/70, Bl. 120–123.

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wie die Lagerhauptverwaltung selbst Druck auf ihre Mitarbeiter ausübte. Die Regulierung der Häftlingsströme lag zum Teil in der Hand der Staatsanwaltschaft, doch ohne in die Entscheidungsprozesse der Lagerleitung eingreifen zu können, gelang es den Staatsanwälten ansonsten nur, diese Prozesse auszubremsen oder verspätet umzulenken. Wichtig ist: Die Generalstaatsanwaltschaft bestärkte ihre Mitarbeiter seit Kriegsende darin, sich den pauschalen Weisungen des Innenministeriums entgegenzustellen. Der Anspruch auf Regelhaftigkeit durfte und sollte das wirtschaftliche Interesse der Lagerhauptverwaltung zunehmend herausfordern.

5.4.3 Lagerwelt in Aufruhr – Kontrolle statt Produktivität Die größte Herausforderung für diesen Anspruch ergab sich aus den Lagern selbst. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die soziale Infrastruktur des Gulag auf den Kopf gestellt. Neue Häftlingsgruppen (Soldaten und angehörige nichtrussischer Nationalitäten) heizten das angespannte Klima unter den nicht-politischen Insassen ebenso an wie die begrenzte Amnestie 1945, die hunderttausende Lagerhäftlinge jeder Illusion beraubten, selbst wieder in Freiheit zu gelangen. Dramatische Versorgungsengpässe und steigende Kranken- und Todeszahlen radikalisierten die Insassen zusätzlich. Das Resultat waren blutige Auseinandersetzungen unter den Häftlingen, Massenfluchten und zunehmend organisierte und bewaffnete „Kämpfe um die Herrschaft in der Lagerzone“176. Der Gulag steckte in einer Effizienz- und Existenzkrise, die die Lagerhauptverwaltung dadurch befeuerte, dass sie Personen aus dem Milieu der organisierten Kriminalität zum Bestandteil ihres Wachsystems machte. So kam es, dass das Lagerpersonal selbst zur Zielscheibe wurde oder zwischen die Fronten rivalisierender Lagerclans geriet. Seit Kriegsende verloren auch in Molotov immer mehr lokale Lagerleitungen die Kontrolle über die Häftlingsbereiche.177 Die Staatsanwaltschaft verfolgte diese Entwicklungen sehr genau. Gemeinsam mit dem Innenministerium und auch individuell verschob die Haftaufsicht ihre Prioritäten. Während des Krieges beschränkten sich Staatsanwälte darauf, die Missstände der Haftbedingungen und die Willkür des Lageralltags zu dokumentieren, mit der Prämisse, kriegswichtige Informationen zur Produktion zu liefern. In der zweiten Hälfte der 1940er Jahre waren Produktionsausfälle nur noch von sekundärer Bedeutung. Die Haftaufsicht richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Bereiche, die 176 Kozlov, V. A. (Hg.): Istorija stalinskogo gulaga. Tom 6. Vosstanija, bunty i zabastovki zaključennych. Moskva 2004, S. 60–66; vgl. Applebaum, Der Gulag, S. 490. 177 Vgl. Ševrin, Sergej (Hg.): Topografija terrora: istorija političeskich repressij. Sankt-Peterburg 2012, S. 214–217.

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entscheidend für die Kontrolle über ein Lager waren: die Lagergerichtsbarkeit und die Stimmungslage und Dynamik in der Häftlingsgesellschaft. Willkür war nunmehr ein Risiko für die Existenz der Lager selbst. Staatsanwälte in Molotov und in Moskau analysierten daher die Ursachen für den Kontrollverlust der GULag, ohne dabei jedoch strukturelle Veränderungen in den Lagern zu erreichen. Von der Kontrolle über die Häftlingszonen blieb die Territorialstaatsanwaltschaft ausgeschlossen. Im Juli 1947 informierte Kuljapin das Regionalkomitee der Partei über ein solches Kontrollproblem. „Außergewöhnliche Vorkommnisse“ im Lager von Kusʼinsk hatten in den ersten drei Monaten des Jahres die Staatsanwaltschaft auf den Plan gerufen.178 Das Lager war an der Peripherie des großen Industriekomplexes Ural­ maš angegliedert, ohne telefonische Verbindung zur Hauptverwaltung (ein fataler Umstand, der zu den Ereignissen beigetragen hatte). Weniger als 400 Häftlinge waren dort untergebracht.179 Der Produktionsplan für den Bau von Wohnungen und Industrieobjekten war erfüllt worden. Der Leiter der Lagerverwaltung, Guzov, galt in den Augen Kuljapins als „gewissenhaft“ und „fähiger Organisator“. Keinerlei Gesetzesvergehen konnten festgestellt werden. Die Vorkommnisse entzogen sich allerdings dem üblichen Berichtsschema. In den Monaten zum Jahresende 1946 waren einzelne Aufseher durch Häftlinge ermordet und das übrige Wachpersonal systematisch bedroht worden. Diese Stimmung eskalierte dann in einen „Rachefeldzug gegen die Lageradministration“. 200 Insassen, also mehr als die Hälfte, hatten sich mit Vorräten und Waffen, mit Geißeln in ihrer Gewalt, innerhalb der Lagerzone verschanzt und ein Ultimatum gestellt, das in Kuljapins Worten nur Drohungen, jedoch keine konkreten Forderungen enthielt. Ohne telefonischen Kontakt zur Hauptverwaltung musste Guzov mit den vorhandenen Mannschaften operieren. Infolge der Drohung, die Baracken anzuzünden, ging das übrige Lagerpersonal mit Waffengewalt gegen die Gruppe vor. Der Aufstand wurde niedergeschlagen. Sechs Menschen wurden verletzt, zwei (die vermeintlichen Anführer) wurden getötet.180 Die Ursachen waren aus Kuljapins Sicht leicht zu benennen. Entgegen den Anweisungen des MVD wurden in Kusʼinsk Häftlinge, die bereits wegen Disziplinverstößen aufgefallen waren, als Wachmannschaften rekrutiert. Der zuvor ermordete Aufseher, ehemals selbst Häftling im Lager, war zur Zielscheibe seiner einstigen Mithäftlinge geworden. Die Lagerleitung habe darüber hinaus versagt,

178 Bericht Kuljapins über die Ergebnisse der Untersuchung außergewöhnlicher Vorkommnisse im Kusʼinsker Lager an den ObKom-Sekretär, Chmelevskij, 8.7.1947, in: PGASPI, f. 105, op. 13, d. 149, l. 135. 179 Vgl. Smirnov/Schletzer, Das System der Besserungsarbeitslager in der Sowjetunion, S. 330. 180 Bericht Kuljapins über die Ergebnisse der Untersuchung außergewöhnlicher Vorkommnisse im Kusʼinsker Lager an den ObKom-Sekretär, Chmelevskij, 8.7.1947, in: PGASPI, f. 105, op. 13, d. 149, l. 146.

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die „Stimmung unter den Häftlingen“ zu analysieren und die kriminellen Erscheinungen zu beobachten. „Sozial gefährliche Elemente“, sprich: Wiederholungs- und Gewalttäter mit langen Haftstrafen wurden nicht von den anderen isoliert. Guzov habe prinzipiell richtig reagiert, da die „physische Vernichtung der Wachmannschaften drohte“. Allerdings müssten „gefährliche Häftlinge“ umstandslos isoliert und das betreffende Wachpersonal ausgetauscht werden. Die Zahl der Fluchten (35 in 6 Monaten) und die ständigen Disziplinvergehen und Straftaten der Wachen waren aus Kuljapins Sicht ein eindeutiges Indiz dafür, dass die Lagerleitung hier die Kontrolle verloren hatte.181 Schon in anderen Lagern hatte Kuljapin die fehlende Trennung zwischen „sozial gefährlichen“ und den übrigen Häftlingen beanstandet.182 Diese Warnungen kamen hier zu spät. Die Analyse der Ereignisse zeugt davon, dass die Staatsanwaltschaft sich zunehmend für die Dynamik der Häftlingswelt und Regelverstöße innerhalb der Lager interessierte. Die Haftaufsicht rückte den Fokus auf die Lagergerichtsbarkeit und die Dynamik der Häftlingsgesellschaft im Lager – unabhängig von Produktionsfragen. Sowohl bei den darauffolgenden Inspektionen und Berichten der Haftaufsicht als auch in den Korrespondenzen zwischen der Generalstaatsanwaltschaft und dem MVD ist dieser Fokus gut erkennbar. Kuljapin legte dem Regionalkomitee im Januar 1948 alarmierende Zahlen zum Kizellag vor. Monatlich seien hier zwischen 70 und 200 Personen an Krankheit und Erschöpfung verstorben. „Kranke und entkräftete Menschen werden an den Händen zur Arbeit gezogen und unter Waffengewalt gezwungen, Holz zu sägen […] viele schaffen nur 10 Prozent der Norm, was ihnen nicht genügend Brot lässt.“183 Der Lagerleiter Mandrovskij habe sich der Veruntreuung von Versorgungsgütern schuldig gemacht und Häftlinge persönlich misshandelt. Allerdings war in Kuljapins Bericht weder von Produktionszahlen noch von Arbeitsstunden die Rede. Im Mittelpunkt stand allein das Schicksal der Insassen, die in Kuljapins Augen durchaus ein Anrecht auf existenzielle Sicherheiten hätten. „Die Willkür der Lagerverwaltung in Gestalt von Mandrovskij hat alle Grenzen überschritten und bedeutet die völlige Rechtlosigkeit der Häftlinge“.184 Kuljapin demonstrierte an dieser Stelle noch einmal, dass Regeln für ihn auch Gültigkeit innerhalb des Lagerzauns hatten. Abgesehen davon zeigte er vor allem, dass die Zustände unter den Häftlingen zunehmend an Bedeutung für die Staatsanwaltschaft gewannen. Mandrovskij wurde verhaftet und die Kaderabteilung des Regionalkomitees führte eine zusätzliche Inspektion durch, infolge derer weitere

181 Ebd., l. 148. 182 Berkotov, Borʼba s ugolovnoj, S. 96. 183 Schreiben Kuljapins an Chmelevskij, 30.1.1948, in: PGASPI, f. 105, op. 14, d. 136, l. 66. 184 Ebd.

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Lagermitarbeiter strafversetzt wurden.185 Todesraten wurden auch von der Parteiführung äußerst ernst genommen. Wenige Monate nach Kuljapins Bericht, im Oktober 1948, wurden die Prämissen der Haftaufsicht auf einer Mitarbeiterversammlung der Staatsanwaltschaft in Molotov diskutiert. Eine Rolle spielte dabei auch, dass die Befehle zum „Schutz sozialistischen Eigentums“186 die Häftlingszahl erheblich nach oben geschraubt hatten. Zum gegebenen Zeitpunkt waren Michail Grif zufolge 50.000 Häftlinge in den Lagern und Kolonien von Molotov inhaftiert, ohne dass seine Abteilung zusätzliches Personal zur Seite gestellt bekam. Vor allem aber wurden die Todesraten diskutiert, die sich in den ersten acht Monaten auf über 600 innerhalb Molotovs erhöht hatten – darunter waren 81 Kinder. Daneben machte Grif auf die „abscheulichen Bedingungen“ in einer Lagerabteilung aufmerksam und die Tatsache, dass noch immer „besonders gefährliche Elemente“ über alle Haftregime verteilt waren.187 Dies waren die Schlüsselthemen der Haftaufsicht. Nach wie vor arbeiteten sich die Beamten an den Lagerverwaltungen und deren Vorgesetzten im Innenministerium ab, um solche Erscheinungen unterbinden zu lassen. Eingaben ans Innenministerium blieben unbeantwortet und die Parteileitung in Molotov wurde nur tätig, wenn die Zustände in den Lagern bereits eskaliert waren. Ungeachtet dessen war die Staatsanwaltschaft für die Dynamik und die Risiken des Lagerlebens sensibilisiert. Die Vorgesetzten in Moskau suchten indes nach Wegen, diese Dynamik regulieren zu können. Generalstaatsanwalt Grigorij Safonov und sein Stellvertreter, Afanasij Vavilov (der zugleich Leiter der Moskauer Abteilung für Haftaufsicht war) verfolgten zu diesem Zweck ab 1949 mehrere Strategien. Zum einen versuchte man, der Haftaufsicht die Routinen bei den Lagerinspektionen zu erleichtern. Dazu gehörte die personelle Aufstockung der Lagerstaatsanwaltschaft. Es ist unklar, inwiefern die Generalstaatsanwaltschaft Einfluss auf diese Beamten ausüben konnte und ob sich dadurch deren Loyalität gegenüber der Lagerleitung veränderte. De facto erhielt die Zentralverwaltung der Lager und Kolonien in Molotov im April 1949 sechs neue Mitarbeiter.188 Innerhalb der Staatsanwaltschaft herrschte soweit Einigkeit darüber, dass man diese Beamten nicht nur kontrollieren, sondern sie auch zu den Ursachen für Vergehen gegen die Lagerdisziplin befragen müsste. Unabhängig von den Zuständigkeiten war die Lagerstaatsanwaltschaft eine wichtige Informationsquelle

185 Vgl. Überprüfung des Kizellag durch die Verwaltung der Kader des ObKom, o. D. [vermutlich Februar 1948], in: PGASPI, f. 105, op. 13, d. 136, l. 219–226. 186 Vgl. Kapitel 5.5. 187 Protokoll der operativen Mitarbeiterversammlung der Staatsanwaltschaft Molotov, 4.10.1948, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 151, l. 5–6. 188 Vgl. Befehl über die Personalbestätigung für Staatsanwälte der Besserungsarbeitslager und Kolonien in Molotov, 24.4.1949, in: GARF, f. R-8131, op. 38, d. 597, l. 39.

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über das Lagerregime.189 Die Personalaufstockung sollte helfen, der Haftaufsicht den Einblick in die Lagerwelt zu erleichtern. Darüber hinaus stellte man Überlegungen an, der Haftaufsicht eigene Unterabteilungen, zum Beispiel für die anfallende Ermittlungsarbeit, anzugliedern.190 Derartige Vorschläge waren ein deutliches Zeichen dafür, dass die Staatsanwaltschaft versuchte, den Kriminalitätswellen in den Lagern (durch Insassen und Lagerpersonal) mit zusätzlichen Ressourcen und mit Effizienz zu begegnen. Zum anderen versuchte Safonov das Innenministerium dazu zu bewegen, die Lagerverwaltung stärker zu kontrollieren und das Haftregime selbst zu regulieren. Dies betraf unter anderem die Isolation „besonders gefährlicher Strafverbrecher“ bzw. der Häftlinge, die zur anschließenden Verbannung an entfernte Lagerpunkte verschickt wurden. Trotz einiger Versuche des Innenministeriums, diese Häftlinge (politische mit langen Haftstrafen) von den übrigen Insassen zu trennen, wurden diese in vielen Fällen noch immer in gemeinsamen Lagerzonen untergebracht. Verbannungshäftlinge (ssylki na katorge) wurden seit dem 21. Dezember 1948 offiziell in Speziallager transferiert191, doch längst nicht alle Lagerverwaltungen hielten sich daran. Darüber hinaus hatte die Haftaufsicht keinen Zugriff auf diese Speziallager. Die Generalstaatsanwaltschaft drängte folglich das Innenministerium dazu, das Haftregime der Verbannungshäftlinge besser durchzusetzen und der Haftaufsicht das „Recht auf Überprüfung der Gesetzlichkeit“ in den Verbannungslagern einzuräumen. Das Engagement Safonovs und Vavilovs wurde mit einer Vorschrift der GULag belohnt, demzufolge die Haftaufsicht ebendieses Recht zugesprochen bekam – mit einer deutlichen Einschränkung, dass sich dieses Recht allein auf die Insassen und nicht die Lagerverwaltung erstreckte. Die eigentliche Trennung der Häftlingstypen lag indes weiter im Ermessen der Lagerverwaltung.192 Das Innenministerium behielt die Hoheit über die Zustände in ‚seinem‘ Lagersystem. Über Jahre hinweg entwarfen Staatsanwälte in der Sowjetunion ein ziemlich deutliches Bild von der desolaten Sicherheits- und Versorgungslage in den Zwangsarbeitslagern. Immer wieder drängte die Haftaufsicht darauf, zumindest das Existenzminimum der Insassen zu gewährleisten, härter gegen Amtsmissbrauch vorzugehen und vor allem Wiederholungstäter und andere Insassen mit langen Haftstrafen

189 Vgl. Protokolle der operativen Versammlung beim Generalstaatsanwalt, 6.4.1951, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 137, l. 45–46. 190 Vgl. ebd., l. 47. 191 Applebaum, Der Gulag, S. 490; Beschluss des Ministerrates, 21.2.1948, in: Petrov/Vladimircev, Istorija stalinskogo gulaga, 2, S. 326 f. 192 Vgl. Vorschrift zu Katorga-Häftlingen, ausgearbeitet von Ivan Dolgich, 26.7.1951, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 557, l. 71–79; Schriftwechsel zwischen Safonov, Vavilov und MVD Kruglov, Mai 1951, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 557, l. 95–98.

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von den übrigen Häftlingen zu trennen. Reaktionen kamen vom Innenministerium oder der Partei erst dann, als die Situation in den Lagern bereits eskaliert war. Die Versuche der Staatsanwaltschaft, zumindest anteilig Kontrolle über die Dynamik unter den Häftlingen zu gewinnen, wurden nicht zuletzt dadurch unterlaufen, dass das Innenministerium und die Lagerhauptverwaltung ihr Terrain vor der Staatsanwaltschaft (manchmal wortwörtlich) abriegelten. Die Haftaufsicht bekam ihren Einblick spät und nur unzureichend. Dreizehn Jahre nach Bildung der Abteilung für Haftaufsicht, waren ihre Handlungsspielräume folglich unverändert. Das legen auch die Schreiben nahe, die die Generalstaatsanwaltschaft im Laufe des Jahres 1952 an die Administrative Abteilung des ZK verschickte. Safonov und der Moskauer Leiter für Haftaufsicht, Vavilov, beklagten (zum wiederholten Male193) in separaten Briefen gegenüber dem ZK zwei gravierende Probleme. Das erste Problem betraf das Ausmaß, in dem die Lagergerichtsbarkeit des Gulag in Auflösung begriffen war. Regeln hatten innerhalb der Lagerwelt kaum noch Bestand. Häftlingsgruppen in großer Zahl würden gemischt untergebracht. Nicht selten trafen Mörder auf frühere Beamte, die für Dienstvergehen einsaßen. Seit 1951 seien zudem mehr als 3000 Häftlinge für Fluchtversuche bestraft worden. Insgesamt 15.425 Fälle wurden durch Lagergerichte verhandelt, darunter mehr als 4300 Fälle wegen Mordes oder Raubes. Häftlinge und Wachen würden systematisch und gruppenweise getötet. Vor allem habe das Innenministerium die Kontrolle über seine Wachmannschaften verloren. Die größte Bedrohung für die „Festigung der Gesetzlichkeit“ in den Lagern gehe von „Zivilangestellten“ aus, die im „bewaffneten Wachschutz“ (voenizirovannaja ochrana) tätig seien. „Ungesetzliche Anwendung von Waffengewalt, Mord und Misshandlung von Häftlingen“ gingen zu weiten Teilen auf das Konto dieser Mannschaften.194 Nicht selten greife die Lagerverwaltung dabei auf ehemalige Straftäter zurück. Der Kommandeur eines solchen Wachschutzes in einem Lager am Ostural hatte betrunken zwei Krankenhausmitarbeiter und einen Milizionär erschossen. Die Ermittlungen ergaben, dass der Mann zuvor bereits dreifach als chuligan verurteilt worden war. Das Innenministerium schien diese Vorfälle zwar konsequent zu bestrafen. Seit 1950 wurden jährlich mehr als 5000 Mitarbeiter des Wachschutzes strafrechtlich verfolgt.195 Die strukturellen Probleme, auf die die Staatsanwaltschaft immer wieder

193 Bereits 1948 habe Safonov vergeblich versucht, das Verhalten der Wachmannschaften und die drohende Eskalation der Sicherheitslage im Gulag als „staatsrelevantes“ Problem auf die Agenda der Staatsführung zu bringen. Vgl. Kozlov, Istorija stalinskogo gulaga, 6, S. 78. 194 Schreiben des Leiters der Verwaltung für Haftaufsicht, Vavilov, an den stellvertretenden Leiter der Unterabteilung der Administrativen Abteilung beim ZK, Kulikov, in: 14.10.1952, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 1813, l. 1–2. 195 Vavilov gab im Oktober 1952 4000 Verfahren für 15 Monate an, sein Vorgesetzter Safonov nannte

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verwies, blieben jedoch bestehen. Wie diverse Befehle des Innenministeriums nahelegen, war das Problem seit den 1930er-Jahren hinlänglich bekannt. Erst am 6. Juli 1951 hatte die GUL ag neue Aufnahmekriterien für den Wachschutz aufgestellt, wonach bei Bewerbungen zumindest „keine kompromittierenden Daten“ vorliegen dürften.196 Einen Aufnahmestopp für Vorbestrafte bedeutete das nicht. Der Einsatz von tatsächlichen Lagerhäftlingen für den Wachdienst war in manchen Regionen sogar noch verbreiteter. Dieser sogenannte „Selbstschutz“ stellte in manchen Lagerkomplexen bis zu 80 Prozent der Wachmannschaften, was von vielen Vorgesetzten der Lagerhauptverwaltung als kreative Lösung im Umgang mit Personalmangel geduldet wurde.197 Die Lagerleitung, so Vavilov, gewährte den Häftlingen auf diese Weise „völlige Freiheit“.198 Nicht nur die Regeln der Lagerverwaltung auch die Vorschriften der GULag hatten wenig bis gar keine Bindekraft im Lageralltag. Das zweite Problem bestand darin, dass das MVD die Staatsanwaltschaft noch immer von den Zuständen in den Lagern abschirmte bzw. nach Belieben und zu spät auf ihre Forderungen reagierte. 2333 Proteste und Eingaben hatte die Staatsanwaltschaft 1951 zu diesen Problemen verschickt. In nur 784 Fällen hatte das MVD darauf reagiert. Der stellvertretende Minister für Inneres, Ivan Serov, hatte es den Lager- und Kolonieleitern angeblich „untersagt, irgendwelche Informationen über die Lager und Kolonien weiterzugeben“, ohne dass für die Staatsanwaltschaft eine Ausnahme vorgesehen wäre.199 Vavilov brachte die Haltung des MVD auf dem Punkt: „Nach meiner Meinung geschieht so etwas, weil das MVD der SSSR, und darunter insbesondere Genosse Serov ihre schmutzige Wäsche nicht von anderen Leuten waschen lassen wollen.“200 Aus diesem Grund legte Vavilov der Administrativen Abteilung einen Befehlsentwurf vor, der der Staatsanwaltschaft noch einmal explizit den Zugang zu allen nötigen Informationen über das Haftregime und den Zustand der Hafteinrichtungen gewährte. Die Staatsanwaltschaft allein decke das Wesen und die Formen der Kriminalität in den Lagern auf und „bestimmt die Methoden zur Bekämpfung und Vorbeugung“.201 Die Generalstaatsanwaltschaft unterstrich ihre Expertise und ihre Bereitschaft, dem Kontrollverlust der GULag in den eigenen Lagern zu begegnen: durch verbindliche Regelungen und strafrechtliche

in einem Schreiben an Malenkov sogar 7000 allein im Jahr 1950. Ebd., l. 2; Schreiben Safonovs an Malenkov, Januar 1952, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 1813, l. 14. 196 Rundschreiben des Gulag-Leiters, 6.7.1951, in: Petrov/Vladimircev, Istorija stalinskogo gulaga, 2, S. 377. 197 Vgl. Khlevniuk/Belokowsky, The Gulag and the Non-Gulag, S. 488. 198 Schreiben Vavilovs an Kulikov, 14.10.1952, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 1813, l. 6. 199 Schreiben Safonovs an Malenkov, Januar 1952, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 1813, l. 20. 200 Schreiben Vavilovs an Kulikov, 14.10.1952, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 1813, l. 1. 201 Ebd., l. 11.

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Methoden. Dies war nämlich nach wie vor die offensichtliche Schwachstelle des Innenministeriums. Safonov forderte zuvor, dass das MVD endlich Rücksicht auf die Regularien des Besserungsarbeitskodexes nähme. Insgesamt dürfe das Lagersystem nicht allein durch Befehle des Innenministeriums gesteuert werden, „die nicht beständig sind und systematisch, in Abhängigkeit von verschiedenen Umständen und sogar wirtschaftlichen Erwägungen, verändert werden“.202 Die Botschaft war klar: Die Willkür des MVD gefährde dessen eigene Unternehmungen. Allein die Staatsanwaltschaft könne Regeln verbindlich im Lagersystem durchsetzen und so dessen Existenz bewahren. Zu Beginn der 1950er-Jahre vermittelte die Generalstaatsanwaltschaft noch immer ihr Anliegen für einen regelhaften und funktionalen Strafvollzug. Der drohende Kontrollverlust über den Gulag hatte den Fokus der Haftaufsicht von der Produktivität auf dessen Stabilität gelenkt. Neben vereinzelten und verspäteten Erfolgen, wie die Bestrafung von Lagerpersonal, wurde jedoch jeder Versuch der Staatsanwaltschaft, Einfluss zu nehmen, vom Innenministerium abgewehrt bzw. lief gegenüber der Parteiführung ins Leere. Das MVD setzte indes auf reaktive Maßnahmen und schickte tausende von Beamten und „Zivilangestellten“ vor das Kriegsgericht, bevor die Rekrutierungspraxis für die Wachmannschaften und auch die Zonenaufteilung in den Lagern ernsthaft reformiert wurden.203 Umso größer wirkt der Kontrast zur Staatsanwaltschaft, die die Dynamik der Kriminalitätswellen in den Lagern zu begreifen versuchte. Die Haftaufsicht begriff das Lager- und Gefängnissystem zum Ende der 1940er-­ Jahre als System der Straf- und Haftanstalten. Zu diesem Zweck hatte es für die Beamten Priorität, ihr Wissen um die Veränderungen, die Transfers und Freilassungen von Insassen, zu systematisieren. Dieses System durfte allein strafrechtliche Kategorien zur Grundlage haben. Haft zu beaufsichtigen, hieß Haft zu verwalten. Wirtschaftliche Erwägungen traten nicht nur in den Hintergrund, die Staatsanwälte traten explizit dagegen ein. Außerhalb des Lagerzauns gelang es den Beamten, die Abläufe stärker zu reglementieren – wenn auch unter Zeitverlust. Innerhalb des Lagersystems, wo die Reglementierung eine Antwort auf die zunehmende Existenzkrise des Systems war, scheiterte dieser Anspruch an der politischen Übermacht des MVD. Erst als diese Machtposition infrage gestellt wurde, sollte die Staatsanwaltschaft die Gelegenheit bekommen, ihre Expertise in der Breite unter Beweis zu stellen.

202 Schreiben Safonovs an Malenkov, Januar 1952, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 1813, l. 20. 203 Wenige Monate nach Stalins Tod wurde die Aufstellung des „Selbstschutzes“ erstmals genauer reglementiert, allerdings dann durch das Ministerium für Justiz, das im Frühjahr 1953 die Leitung der Lager und Kolonien übernahm. Vgl. Anordnung des stellvertretenden Justizministers, 18.5.1953, in: Petrov/Vladimircev, Istorija stalinskogo gulaga, 2, S. 430 f.

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5. 5 D ie St a at s a nwa lt s ch a f t u nd d ie K a m p a g ne gege n D ie b s t a h l Jeder Bürger der UdSSR ist verpflichtet, das sozialistische Eigentum, als die heilige und unantastbare Grundlage unserer Ordnung, zu schützen und zu festigen; als eine Quelle des Reichtums und der Macht unseres Vaterlandes; als eine Quelle des begüterten und kulturvollen Lebens aller Werktätigen. Nicht umsonst erklärt Artikel 131 der Verfassung der Sowjetunion die Personen, die diese Grundlage angreifen, zu Volksfeinden.204

Am 2. Januar 1947 veröffentlichte Dmitrij Kuljapin zum ersten Mal einen Artikel in der Zvezda, Molotovs größter Tageszeitung und offizielles Sprachrohr des Regionalparteikomitees. Sowohl die Tatsache, dass sich Kuljapin mit einem Leitartikel zur Strafpraxis an die Leserschaft der Tagespresse wandte, als auch die sprachliche und ideologische Schärfe im Artikel, deuteten die Kampagne an, die fünf Monate später gegen „Diebstahl sozialistischen Eigentums“ eingeleitet wurde. Die zwei Befehle vom 4. Juni 1947 drängten nicht nur die bisherigen legislativen Grundlagen zur Eigentumsgesetzgebung in den Hintergrund. Mehr als 2,2 Millionen Menschen wurden in den darauffolgenden fünf Jahren unter diesen Artikeln verurteilt.205 Seit der Verschärfung der Arbeitsgesetzgebung war dies die größte Strafoffensive der Sowjetunion, die zugleich wieder die Rhetorik politischer Säuberungen beschwor und erst nach Stalins Tod tatsächlich zum Stillstand gebracht wurde.206 Beide Befehle erfüllten die bekannten Kriterien sowjetischer Kampagnenjustiz. Der Befehl „zur Stärkung des Schutzes persönlichen Eigentums der Bürger“ und der Befehl „über die strafrechtliche Verantwortung für Diebstahl staatlichen und gesellschaftlichen Eigentums“ suggerierten, dass Eigentumsdelikte formal nach Regierungs- und Privateigentum unterschieden wurden, ohne Kriterien für diese Unterscheidung zu benennen. Zugleich wurden ältere Eigentumsparagraphen aus dem Strafgesetzbuch mit den Befehlen außer Kraft gesetzt bzw. gingen nahezu unterschiedslos in ihnen auf. „Diebstahl“ (kraža) und „Raub“ (razboi) waren zuvor separate Tatbestände, die nun unter einem Befehl mit unterschiedlichem Strafmaß zusammengefasst wurden.207 Auf diese Weise geriet jedes Eigentumsdelikt in das gleiche juristische und politische Fadenkreuz. Die drakonische Verschärfung des Strafmaßes gehörte ebenfalls zu den Neuerungen. Nicht weniger als fünf und bis zu 25 Jahre Lagerhaft konnten einen Delinquenten erwarten. Das Risiko, für

204 Kuljapin, Dmitrij: Surovo karatʼ raschititelej socialističeskoj sobstvennosti i ich posobnikov, in: Zvezda, 3.1.1947, S. 3. 205 Statistiken der Abteilung für Vorbereitung und Wirtschaftsprüfung, frühestens 1.7.1955, in: Afanasʼev/Werth, Istorija stalinskogo gulaga, 1, S. 611 f. 206 Gorlizki, Theft under Stalin, S. 306 f. 207 Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets, 4.6.1947, in: Goljakov, Sbornik dokumentov, S. 430 f.

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Bagatelldiebstähle mit schweren Haftstrafen bedacht zu werden, war entsprechend hoch und vom Verfasser offensichtlich einkalkuliert. Welche Absichten verfolgte das Regime mit diesem Schritt? Es ist unbestreitbar, dass führende Justiz- und Regierungsbeamte schon 1946 die Staatsführung auf eine Verschärfung der bestehenden Gesetzgebung für Eigentumsdelikte drängten. In der ganzen Sowjetunion hatten Justizbehörden seit Kriegsende einen sprunghaften Anstieg an Delikten registriert, die den Tatbestand des Diebstahls unter verschiedenen Paragraphen des Strafgesetzbuches erfüllten.208 Die sowjetische Wirtschaft hatte sich längst nicht vom Weltkrieg erholt. Korruption und informelle Tauschgeschäfte grassierten ebenso wie bloßer Mundraub. Weite Teile im Westen des Landes waren 1946/47 von Hungersnöten betroffen, deren Folgen auch im Rest des Landes spürbar waren, als mehr und mehr Menschen sich am Diebstahl und dem Tausch von Betriebsgütern beteiligten.209 Ebenso sicher ist, dass Stalin die bestimmende Figur darin war, die Strafen entgegen allen Einwänden drastisch anzuheben. Er war es auch, der allen juristischen Nachbesserungsversuchen eine Absage erteilte bzw. jedem Versuch, die Artikel zu präzisieren, im Wege stand.210 Unabhängig davon, ob es sich bei dieser Kampagne um eine gewaltsame und teilweise irrationale Überreaktion Stalins auf eine Verbrechenswelle handelte oder aber um den Versuch, das staatliche Besitz- und Eigentumsmonopol in der sowjetischen Volkswirtschaft endgültig durchzusetzen:211 Die Organe der Strafjustiz waren erstmals alleine in der Verantwortung, die Produktionsgemeinschaft mit harter Hand zu disziplinieren. Weder die Geheimpolizei noch die Militärtribunale, sondern Richter und Staatsanwälte mussten, unter hohem Erfüllungsdruck, drakonische Strafmaßnahmen auf unpräzise Tatbestände anwenden. Diebstahl war nunmehr gleichbedeutend mit Konterrevolution212, der Spielraum für Verfahrenseinstellungen und Freisprüche gleichsam noch enger. Die Parallelen zur Kampagne gegen Arbeitsvergehen sind offensichtlich und auch dieses Mal wurde das Strafmaß von vielen Zeitgenossen als überzogen empfunden. Ein nicht unwesentlicher Teil der Justizbeamten habe Strategien verfolgt, diese Strafen abzumildern oder anderweitig zu umgehen, um besonders Bagatelldiebstähle 208 Vgl. Gorlizki, Theft under Stalin, S. 292 f. 209 Vgl. Zubkova, Russia after the War, S. 47. Besonders am Ural stieg die Kindersterblichkeitsrate bis 1950 massiv an. Vgl. Filtzer, Donald A.: The Hazards of Urban Life in Late Stalinist Russia. Health, Hygiene, and Living Standards, 1943–1953. New York 2010, S. 341. 210 „Not only were the theft decrees extraordinarily harsh and restrictive, but they also raised difficult interpretative issues. In his arrogance Stalin eliminated some of the traditional distinctions among types of theft and replaced them with his own improvisations“. Solomon, Soviet criminal Justice, S. 412. 211 Vgl. Gorlizki, Theft under Stalin, S. 304. 212 Vgl. Shearer, Policing Stalin’s Socialism, S. 21.

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zu verschonen.213 Gorlizki zufolge liefen die Eigentumsbefehle den sozialen Normen seiner Vollzugsbeamten zuwider. 25 Jahre Haft für Diebstahl erschien vielen Beamten schlichtweg unverhältnismäßig.214 Umso größer war der Kontrast zur ideologischen Drohkulisse, die das Regime bis 1953 aufrechterhielt. Wie verhielten sich die Staatsanwälte zu diesem Kontrast? Stemmten auch sie sich gegen die kompromisslose Anwendung des Eigentumsbefehls? Betrachtet man den Prozess der Strafverfolgung in seiner Gesamtheit, fällt auf, dass die Staatsanwaltschaft (wie schon ein halbes Jahrzehnt zuvor) weniger an der Verhältnismäßigkeit des Strafmaßes als vielmehr an der Präzision der Ermittlungen und der Gültigkeit des Urteilsspruches interessiert war. Strafrechtliche Härte stand nicht im Kontrast zu den beruflichen Vorstellungen eines Staatsanwalts, Pauschalisierungen und Vereinfachungen des Verfahrens schon. Von der Anzeige wegen Diebstahls bis zum Urteilsspruch traten diese Überzeugungen in unterschiedlicher Weise hervor und stießen dabei auch an Grenzen.

5.5.1 Anzeige, Ermittlung und Anklage Die eigentliche Kampagne gegen Diebstahl hatte ihren Höhepunkt im September 1947 erreicht. Bereits im Oktober sei die Zahl der eröffneten Verfahren und Verurteilungen wegen Diebstahls im ganzen Land wieder abgesackt.215 In Molotov allerdings wurden bis Jahresende 1947 in solchen Fällen 4857 Urteile mit Freiheitsentzug gesprochen. Zwischen Oktober und Dezember stieg die Zahl der Verfahren wegen Diebstahl „sozialistischen Eigentums“ sogar noch an. Zwei Jahre danach hatte sich diese Zahl zwar halbiert, doch bis zu Stalins Tod wurden noch immer jährlich zwischen 3000 und 5000 Freiheitsstrafen für Diebstahl ausgesprochen.216 In den ersten sechs Monaten entfaltete die Kampagne also ihre volle Wirkung, doch auch in den Jahren danach ließ der politische Druck, die neuen Artikel mit voller Härte durchzusetzen, nicht nach. Dass sich die Zahl der Gerichtsverfahren halbierte, wurde von Peter Solomon mit verschiedenen Faktoren erklärt. Abschreckung spielte eine gewisse Rolle dabei, 213 Vgl. Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 428–438. 214 Vgl. Gorlizki, Theft under Stalin, S. 294. 215 Vgl. Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 430. 216 Vgl. Statistische Berichte zur Zahl der strafrechtlich Verfolgten und den Strafmaßnahmen durch die Gerichte der Region Molotov (einschließlich Komi-Permjaken-Bezirk), 1.–4. Quartal 1947, o. D. [vermutlich Dezember 1947], in: GAPK, f. 1461, op. 2, d. 122, l. 8–12; Bericht über die Arbeit der Staatsanwaltschaft Molotov zwischen 1950 und 1953, 26.11.1953, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 194, l. 16; Revisionsprotokoll für die Staatsanwaltschaft Molotov, 13.7.–31.7.1953, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 2522a, l. 68–69.

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dass die Zahl der verzeichneten Straftaten nach 1947/48 zurückging. Wichtiger sei gewesen, dass sowohl die Arbeitgeber öfter Anzeigen zurückhielten, um ihre Angestellten nicht an die Lager zu verlieren, aber auch um illegale Handelsverstrickungen zu schützen, als auch dass die Staatsanwaltschaft aus Widerwillen heraus, Bagatellvergehen hart zu bestrafen, einen Teil der Anzeigen nicht verfolgte217 – ein Phänomen, das bereits bei der Verfolgung von Arbeitsvergehen zu beobachten war. Ein wichtiger Unterschied zur Kampagne gegen Arbeitsdeserteure war allerdings, dass die Staatsanwaltschaft hier keine Angaben darüber machte, wie viele Anzeigen ihre Beamten im Vorfeld abwiesen. Hinzu kam, dass, auch wenn die Artikel der Befehle schwammig formuliert waren, das Beweismaterial bei Diebstahl wesentlich mehr Substanz für Ermittlungen bereithielt als die Listen der Fabrikleiter, in denen lediglich die Arbeitszeiten dokumentiert waren. Es ist also nicht davon auszugehen, dass die Staatsanwaltschaft Anzeigen in dem Ausmaß abwies, wie es bei den Arbeitsdeserteuren der Fall gewesen war. Solomons Behauptung, dass Staatsanwälte ab 1948 zunehmend davon absahen, Ermittlungen wegen Diebstahls einzuleiten, wenn der Täter minderjährig war, scheint schlüssig. Drastisch zurückgegangen sind die Verfahren gegen Jugendliche bei Eigentumsvergehen allerdings dadurch nicht.218 Hatten Staatsanwälte Zweifel an dem Verhältnis von Vergehen und Strafe (wie eben bei Minderjährigen), wiesen sie gelegentlich die Anzeige ab. Ein Massenphänomen war dies nicht. Es wird eine Kombination aus oben genannten Faktoren gewesen sein, die einen Einbruch der Verfahren verursachte. Mit Einleitung der Ermittlungen standen für die Staatsanwaltschaft vor allem prozessrechtliche Kriterien im Vordergrund: Tatbestand, Täter und Beweislage mussten festgestellt und gesichert werden. Das drohende Strafmaß spielte in diesem Arbeitsprozess eine untergeordnete Rolle. Im Unterschied zur Kampagne gegen Arbeitsvergehen allerdings befand in diesen Fällen nicht allein die Staatsanwaltschaft über die Bewertung des Beweismaterials, wenn jemand Anzeige erstattete oder ein Diebstahl gemeldet wurde. Die Mehrheit aller Eigentumsdelikte bearbeitete in den ersten Monaten landesweit die Miliz. Besonders Diebstahl „persönlichen Eigentums“ war ihre Domäne, da sie bei ‚privaten‘ Anzeigen üblicherweise eher vor Ort war als ein Ermittler des Staatsanwalts und seit den 1930er-Jahren eine eigene Fahndungsabteilung für Wirtschafts- und Eigentumsvergehen führte.219 217 Vgl. Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 435–439. 218 Vgl. ebd., S. 437. Zwischen 1948 und 1952 sank die Zahl der Verfahren gegen Minderjährige wegen Eigentumsvergehen von 394 auf 329. Bericht über die Arbeit der Staatsanwaltschaft Molotov zwischen 1950 und 1953, 26.11.1953, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 194, l. 21. 219 Zwischen Juni und Dezember 1947 führte die Miliz in 61,4 % der Fälle die Ermittlungen, wenn „staatliches“ bzw. „sozialistisches Eigentum“ betroffen war. Bei „persönlichen Eigentum waren es sogar 87 %. Vgl. Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 430, Anmerkung 56. Die „Otdel po borʼbe s chiščenijami socialističeskoj sobstvennosti“ (OBChSS) wurde durch das MVD gegründet und

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Leider gibt es keine präzisen Angaben darüber, wie arbeitsteilig Miliz und Staatsanwaltschaft in Molotov bei Eigentumsvergehen vorgegangen sind. Die Angaben der Milizaufsicht für die Jahre 1948 und 1949 deuten an, dass sich hier die Übermacht der Miliz zunehmend relativierte und die Ermittlungsanteile bis 1952 relativ paritätisch verteilt waren.220 Die Staatsanwaltschaft hatte somit nur in höchstens der Hälfte aller Fälle unmittelbaren Einfluss auf den Verlauf des Ermittlungsverfahrens. Das Hauptaugenmerk ihrer Ermittlungen richtete sich also darauf, ob der Tatbestand des Diebstahls, gemäß der Artikel vom 4. Juni, in irgendeiner Weise erfüllt wurde. Die Ermittlungen der Miliz musste die Milizaufsicht mit überblicken. Die Qualität der eigenen Ermittlungen wurde auch in diesen Fällen von der Staatsanwaltschaft nach dem üblichen Indikator beurteilt: dem Anteil der Verfahren, die mit einem Urteilsspruch (mit Freiheitsstrafe) zu Ende geführt wurden. Dass Ermittlungsverfahren noch vor der Anklage vor Gericht eingestellt wurden, blieb unter dem Druck, den sowohl Kuljapin als auch sein Nachfolger Jakovlev an die Beamten weitergaben, die Ausnahme. Zwar beklagte sogar der Staatsanwalt der RSFSR , Volin, 1948 auf der Generalversammlung der russischen Ermittler, dass „ehrliche Sowjetmenschen, die nur geringfügige Übertretungen begangen haben“, unschuldig verhaftet würden.221 Die Ermittlungen wegen „Geringfügigkeit“ (maloz­ načitelʼnostʼ) einzustellen, war jedoch einfach zu riskant und durch die Prozessordnung nicht gedeckt.222 Bezirksstaatsanwälte berichteten entweder überhaupt nicht von eigenen Verfahrenseinstellungen oder der Anteil war verschwindend gering. Der Staatsanwalt der Stadt Kungur zum Beispiel bemängelte in seinem Bericht für 1950 in vorauseilender Selbstkritik die „hohe Anzahl“ von Fällen wegen Diebstahls, die nicht vor Gericht gelangt waren: 7 von 153 (4,5 Prozent).223 Leitete ein Staatsanwalt die Ermittlungen gegen Diebstahl ein, gleich wie drakonisch der Befehl schien, war die Anklage also fast immer gesetzt.

baute in der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre ein Informantennetzwerk zu diesem Zweck auf. Vgl. Heinzen, Informers and the State, S. 797 f. 220 Auskunft der Milizaufsicht über die Zahl und Qualität der Arbeit der Ermittlungsorgane, 4.10.1949, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 559, l. 25; Bericht des Regionalstaatsanwalts Jakovlev auf der Versammlung der Bezirks- und Stadtstaatsanwälte, 22.10.1950, in: PGASPI, f. 105, op. 16, d. 213, l. 89. 221 Schlusskommentar des RSFSR-Staatsanwalts Volin auf der Konferenz der herausragenden Ermittler der RSFSR, 29.5.1948, in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 1478, l. 140. 222 Vgl. Artikel 204 Ugolovno-processualʼnyj kodeks (1943), S. 3; 47; Ugolovno-processualʼnyj kodeks. Oficialʼnyj tekst s izmenenijami na 1 janvarja 1952 g. i s priloženiem po-statejno-sistematizirovannych materialov, hrsg. vom Ministerium für Justiz der RSFSR. Moskva 1952, S. 3; 35 f. 223 Bericht des Staatsanwalts von Kungur, Šarapov, über unbegründete Strafverfolgung, o. D. [vermutlich Januar 1951], in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 195, l. 41.

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Diese Maxime galt auch für die Ermittlungsverfahren der Miliz, die ein Staatsanwalt vor der Anklageerhebung prüfen musste. Üblicherweise wanden Milizionäre nicht so viel Zeit für die Ermittlungen auf wie staatsanwaltschaftliche Ermittler.224 Umso höher lag die Wahrscheinlichkeit, dass ein Staatsanwalt mit minderwertigem Material konfrontiert wurde. Wollte er diese Fälle einstellen, musste er sich dafür explizit rechtfertigen. Die Miliz hatte 1949 in Ilʼinsk gegen den Steuerbeamten des Landwirtschaftssowjets, Ponosov, wegen Veruntreuung ermittelt. 9300 Rubel hatten in der Kasse des Sowjets gefehlt, doch Ponosov gab zu Protokoll, nur 200 Rubel „zur Befriedigung persönlicher Bedürfnisse“ abgezweigt zu haben. Über den Rest habe er keine Unterlagen geführt. Der zuständige Staatsanwalt sah keine Veranlassung, hier die Eigentumsbefehle anzuwenden, wählte den kürzeren Weg und stellte die Ermittlungen nach Paragraph 204 der Prozessordnung ein. Für seinen Vorgesetzten in der Stadt Molotov war für diesen Schritt keine ausreichende Handhabe gegeben. Einzig im Falle „unzureichender Beweismittellage“ oder wenn der Verdächtige nicht auffindbar ist, sei die Einstellung des Ermittlungsverfahrens (nach Paragraph 204) legitim.225 Das Verfahren gegen Ponosov wurde neu aufgerollt. Die Schwere der vermeintlichen Tat stellte gemäß der Prozessordnung keinen relevanten Faktor zur Einstellung des Verfahrens dar. Diese Entscheidung war dem Gericht überlassen. Hatte ein Staatsanwalt Bedenken wegen der Unverhältnismäßigkeit der Strafe, war die Einstellung des Verfahrens keine Option. Damit ist nicht gesagt, dass Staatsanwälte kategorisch jede Ermittlung der Miliz sanktionierten. Die Einstellungsquote bei Milizermittlungen für Eigentumsvergehen bewegte sich konsequent bei circa zehn Prozent, das heißt: die Staatsanwaltschaft von Molotov brach jede zehnte Ermittlung der Miliz wegen Diebstahls „sozialistischen Eigentums“ ab, bei „Privateigentum“ waren es zwischen 1948 und 1949 sogar fast 18 Prozent.226 Diese Zahl ergab sich zum einen daraus, dass die Miliz mehr Verfahrensfehler beging und mehr Strafsachen produzierte, in denen die Beweisgrundlage angezweifelt werden konnte und musste. Auf der Mitarbeiterversammlung der Staatsanwaltschaft von Molotov im Sommer 1952 ordnete der Leiter der Milizaufsicht die Staatsanwälte in den Bezirken an, alle Ermittlungsfälle der Miliz erneut zu prüfen. Innerhalb von 18 Monaten waren 1145 Fälle eingestellt worden: 482 davon aufgrund von „Unbeweisbarkeit“ (nedokazannostʼ), also: mangelnder

224 Ab 1950 vollendete die Miliz mindestens 80 Prozent ihrer Ermittlungen innerhalb von 30 Tagen. 1952 waren es bereits 92 Prozent, während die Staatsanwaltschaft im gleichen Zeitraum zwischen 60 und 70 Prozent bewältigte. Bericht über die Arbeit der Staatsanwaltschaft Molotov zwischen 1950 und 1953, 26.11.1953, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 194, l. 21. 225 Auskunft der Milizaufsicht über die Zahl und Qualität der Arbeit der Ermittlungsorgane, 4.10.1949, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 559, l. 25. 226 Ebd.

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Beweisgrundlage. Ekaterina Petrenko beispielsweise, eine Frau aus Kungur, wurde von der örtlichen Miliz verhaftet und verdächtigt, 4000 Rubel von einer anderen Frau gestohlen zu haben. Petrenko sei weder zum Tatzeitpunkt in der Stadt gewesen noch habe sie die besagte Frau gekannt. Die Miliz schenkte dem keine Beachtung und führte die gesamte Ermittlung, so der Staatsanwalt, „voreingenommen von der Schuld der Verdächtigen [s obvinitelʼnym uklonom]“. Erst einen Monat nach ihrer Verhaftung (die vom Jakovlev irrtümlicherweise sanktioniert worden war) wurde das Verfahren durch die Staatsanwaltschaft eingestellt.227 Die oberflächliche Ermittlungsarbeit der Miliz war nur ein Grund für die vergleichsweise häufige Einstellung der Verfahren. Zum anderen wurden längst nicht alle flüchtigen Verdächtigen gefasst oder identifiziert. Von den 1145 erwähnten Einstellungen mussten 662 Verfahren eingestellt werden, weil der Täter nicht ermittelt werden konnte bzw. nicht auffindbar war.228 Die Aufklärungsquote bei Eigentumsvergehen war im Vergleich zu anderen Delikten unterdurchschnittlich. Im ersten Halbjahr 1950 konnten 23 Prozent aller Verdächtigen nicht ermittelt werden, was nicht in allen, aber in vielen Fällen zur Einstellung des Ermittlungsverfahrens führte. Diese Zahl stieg bis 1951 regional auf über 30 Prozent an. In manchen kleineren Bezirken waren es zu Beginn der 1950er-Jahre zwischenzeitlich sogar über 80 Prozent.229 Die Staatsanwälte in Molotov richteten ihre Aufmerksamkeit sowohl bei den eigenen als auch bei den Ermittlungen der Miliz folglich darauf, dass die entscheidenden prozessrechtlichen Kriterien erfüllt wurden, die eine Anklage vor Gericht garantierten: Täter, Tatbestand und Beweismittel. Auf diese Weise stieß der politische Verfolgungsdruck nicht an Grenzen, wurde aber teilweise präzisiert und gelenkt, was wiederum die Zahl der Gerichtsverfahren nach unten drückte. Mit offenem Widerstand gegen eine drakonische Gesetzgebung hatte dies nichts zu tun, zumal das Problem der Verhältnismäßigkeit in den Ermittlungen kaum eine Rolle spielte. Die Professionalisierung der sowjetischen Staatsanwaltschaft (im technischen Sinne) sorgte vielmehr dafür, dass prozessrechtliche Hürden die Kampagne stärker regulierten.

227 Bericht des Leiters für Milizaufsicht Molotov, Korovkin, zur Sitzung der operativen Versammlung der Regionalstaatsanwaltschaft, 25.7.1952, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 246, l. 280. 228 Ebd., l. 276–281. 229 Auskunft von Jakovlev an das ObKom über Fakten der Vergehen gegen die Gesetzlichkeit durch die Miliz, o. D. [vermutlich Juli 1950], in: PGASPI, f. 105, op. 16, d. 212, l. 117; Protokoll der überbehördlichen Versammlung der Staatsanwaltschaft, 30.1.1953, in: GAPK, f. 1366, op. 3, d. 53, l. 8. Im Bezirk Ochansk schwankte die Aufklärungsrate zwischen 1952 und 1953 zwischen 33 und 13,5 Prozent.Vgl. Material zu den Protokollen der Regionalversammlungen der Staatsanwaltschaft, o. D. [vermutlich Frühjahr 1952], in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 246, l. 111.

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Dieser Professionalisierungstrend bewirkte jedoch nicht ausschließlich, dass die Zahl der Anklagen und Gerichtsverfahren rückläufig war. Er bewirkte zuweilen auch das Gegenteil. In der Auseinandersetzung zwischen Staatsanwaltschaft und Miliz über laufende Ermittlungsverfahren wird deutlich, dass Staatsanwälte ihre Fähigkeiten dazu einsetzten, den Tathergang zu rekonstruieren und somit den Kreis der Verdächtigen mitunter erheblich ausdehnten. Dies war besonders gut dort zu beobachten, wo höhere Summen gestohlen oder „veruntreut“ wurden oder Buchhaltungsfehler und -strategien schwer unterscheidbar waren: in den schwer durchsichtigen Gefilden der sowjetischen Schattenwirtschaft. Die Sorgfalt der ermittelnden Staatsanwälte resultierte nicht nur in Verfahrenseinstellungen. Vielmehr zogen sich komplizierte Verfahren über einen langen Zeitraum hin, während mehr und mehr Verdächtige in den Fokus rückten. Die Reibungen zwischen Jakovlev und UMGB -Leiter Kozačenko waren in dieser Hinsicht äußerst aufschlussreich. Ein halbes Jahr nach Jakovlevs Antritt in Molotov monierte Kosačenko zahlreiche Fälle, in denen die Ermittlungsarbeit gegen Diebstahl von der Staatsanwaltschaft in unzulässiger Weise hinausgezögert oder unterbrochen worden sei. Betroffen waren vor allem leitende Wirtschaftskader, die enorme Geldsummen veruntreut haben sollen. Der Leiter eines Wirtschaftskontors, Kočkin, war nach Informationen der Staatssicherheit zu NEP -Zeiten als „Unternehmer“ tätig gewesen und damit allein schon politisch gebrandmarkt. Seit 1944 habe er zudem systematisch Eisenwaren des Kontors an eine Kolchose verkauft und zusätzlich landwirtschaftliche Produkte erhalten, die er an seine Mitarbeiter und Verwandten weitergegeben haben soll. Über 20 Tonnen Eisen, neuneinhalb Tonnen Mehl, sechs Tonnen Korn und fast viereinhalb Tonnen Kartoffeln hätten illegal den Besitzer gewechselt. 8000 Rubel Schaden sei allein durch den Eisenhandel verursacht worden. Die Miliz hatte 1947 die Ermittlungen gegen Kočkin aufgenommen. Dokumente des Kontors und der Kolchose wurden geprüft und an die Regionalstaatsanwaltschaft geschickt, doch das Verfahren war kurzerhand durch Kuljapin ausgesetzt worden. Drei Jahre später, im April 1950 habe die Miliz neues Beweismaterial gefunden, um Kočkin zu belasten, doch die Staatsanwaltschaft weigere sich, das übrige Material vom ersten Verfahren an die Miliz auszuhändigen.230 In einem anderen Kontor in der Stadt Molotov wiederum hatte die Miliz im Juli 1949 die Ermittlungen gegen eine Gruppe von 20 Personen an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet, die ebenfalls des Verkaufs und der Veruntreuung von Staatseigentum bezichtigt wurden. 15 Personen wurden bereits festgenommen, 180.000 Rubel Schaden konnten festgestellt werden, doch die Staatsanwaltschaft

230 Auskunft des Leiters des UMGB in Molotov, Kozačenko, über die Verzögerung von Strafsachen durch die Staatsanwaltschaft, 28.7.1950, in: PGASPI, f. 105, op. 16, d. 212, l. 161.

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hatte in den nunmehr sechs Monaten keine Anklage erhoben. Dadurch „bleiben die Schuldigen unbestraft und die Sache verliert ihre politische Schärfe“.231 Der Bericht war an das Parteikomitee gerichtet, um die Staatsanwaltschaft zu düpieren. Solche Fälle waren aus Sicht der Miliz politisch glasklar (nicht umsonst fiel der Verweis auf Kočkins vermeintliche NEP-Vergangenheit), die Schuldigen waren an Zahlen überführt, entsprechend war die „Verschleppung“ ein Beleg für das Versagen der Staatsanwaltschaft. Jakovlev stellte jedoch klar, dass man der Miliz in vielen Fällen nicht die Expertise für Wirtschaftsgehen zusprach und in der Lage war, mehr Verdächtige, mehr Anklagte und mehr Urteile aus den Fällen herauszuholen. In Kočkins Fall recherchierte die Staatsanwaltschaft erneut und fand heraus, dass belastende Unterlagen in der Kolchose vernichtet worden waren. Jakovlevs Mitarbeiter initiierten eine Revision aller Bereiche, in denen Kočkin involviert war. Die Miliz habe gar nicht erst untersucht, ob das Eisen tatsächlich von Kočkins Kontor stammte, was die Staatsanwaltschaft unter hohem Zeitaufwand nachgeholt habe. Demzufolge war Kočkin nur ein Mittelsmann für zwei andere Personen (Chrakovskij und Chain). Die Staatsanwaltschaft leitete zusätzliche Ermittlungen ein und brachte nach Verzögerung beide vor Gericht.232 Jakovlev und seine Mitarbeiter investierten Zeit und Ressourcen um den Kreis der Verdächtigen auszuweiten. Gleiches galt für das Gruppenverfahren im Kontor von Molotov, in dem die Staatsanwaltschaft zunächst keine Anklage erhoben hatte. Der zuständige Staatsanwalt hatte die Ermittlungen nicht eingestellt, sondern fortgesetzt und letztlich zwölf weitere Personen angeklagt und nunmehr einen Sachschaden von annährend 750.000 Rubel feststellen können.233 Diese Zahlen sind nicht im Entferntesten nachprüfbar, allerdings legen sie nahe, dass die Ermittlungsbeamten beider Behörden auch um höhere Schadensummen wetteiferten, die sie hatten aufdecken können. Solche Summen waren ein zusätzlicher Indikator, um die Ermittlungsarbeit zu evaluieren. Entsprechend groß war der Ansporn für viele Beamte, sich mit Schadensmeldungen zu überbieten bzw. ausschweifende Angaben darüber zu machen, wie viele Rubel „sichergestellt“ werden konnten. Jakovlev beispielsweise sprach gegenüber seinen Mitarbeitern Lob aus, dass sie im ersten Halbjahr 1950 gegenüber der Miliz den größeren Anteil (68,4 Prozent) der fast 10,1 Millionen Rubel Schaden festgestellt und aufgedeckt hätten. Die Miliz ihrerseits brüstete sich mit ähnlichen Summen.234 Der Wettlauf um Ermittlungserfolge war eine direkte Folge der Kampagnendynamik.

231 Ebd., l. 162. 232 Vgl. ebd., l. 176. 233 Vgl. ebd., l. 173. 234 Bericht Jakovlevs auf der Regionalversammlung der Bezirks- und Stadtstaatsanwälte von Molotov, 22.10.1950, in: PGASPI, f. 105, op. 16, d. 213, l. 99. Der Chef der Milizhauptverwaltung in Moskau brüstete sich auf der Versammlung der Staatsanwaltschaft 1948 damit, dass die Miliz allein

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Der politische Druck, Eigentumsdelinquenten unnachgiebig und zahlreich zur Verurteilung zu führen, lastete vom Moment der ersten Ermittlungsschritte auf den Beamten von Staatsanwaltschaft und Miliz. Wie bereits ein halbes Jahrzehnt zuvor nahmen einige Staatsanwälte die Gelegenheit wahr, unsichere oder unverhältnismäßige Anzeigen vor der Ermittlung aus dem Verkehr zu ziehen. Das Gros der Anzeigen, so scheint es, zog allerdings Ermittlungen nach sich, nicht zuletzt, weil die Staatsanwaltschaft nicht mehr die alleinige Hoheit über diesen Prozess innehatte. Hier wurde der Verfolgungsdruck einerseits in prozessrechtliche Bahnen gelenkt bzw. verpuffte angesichts der miserablen Aufklärungsarbeit vieler Ermittler. Wenn ein Beschuldigter gefasst wurde, waren Zweifel am Verfahren und Bedenken aufgrund der Unverhältnismäßigkeit des drohenden Strafmaßes fehl am Platz. Allein die prozessrechtlichen Grundpfeiler waren ausschlaggebend, was bewirkte, dass ein gewisser Prozentsatz (ein Zehntel etwa) der Ermittlungen nicht zur Anklage führten. Anderseits war der Professionalisierungstrend auf folgenschwere Weise ein Katalysator im Anklageprozess. Beamte machten von ihren Fähigkeiten Gebrauch, um ihren Ermittlungseifer unter Beweis zu stellen und mehr Verdächtige ins Fadenkreuz der Anklage zu ziehen. Der Aufwand lohnte sich vor allem bei komplexen Wirtschaftsvergehen, sprich: „Diebstahl staatlichen Eigentums“, wo sich Ermittlungserfolge in Schadenssummen bemaßen. Die Staatsanwaltschaft zog häufig externe Wirtschaftsprüfer heran, was die Ermittlungsakte umso dicker, den Zeitaufwand umso größer werden ließ.235 Die Gelegenheit, eine Vielzahl an Beteiligten vor Gericht zu bringen, überwog jedoch nicht selten die Vorsicht, Täter, Rechnungsfehler und Mitwisserschaft juristisch zu unterscheiden. Die juristische Expertise erschöpfte sich dann, wenn die Anerkennung für die eigene Ermittlungsarbeit gesichert schien. Insofern überrascht es nicht, dass Buchhalter in der Sowjetunion besonders schnell ins Fadenkreuz eifriger Ermittler gerieten.236 Staatsanwälte zweifelten an unsauberen Methoden und nicht an der Verhältnismäßigkeit des Verfahrens.

1947 unter den Eigentumsparagraphen 127 Millionen Rubel sichergestellt habe. Stenogramme der Allunionsversammlung der Staatsanwaltschaft, 4.8.1948, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 4034, l. 344. 235 Fallakten zu Eigentumsvergehen umfassten bei Einzelpersonen weniger als einhundert, bei staatlichen Vergehen häufiger über dreitausend Seiten. 236 Laut einem Arbeitsbericht der Arbeitsgruppe zur Jugendkriminalität wurden 56 % aller Buchhalter und Direktoren öffentlicher Jugendeinrichtungen in der Sowjetunion im Jahr 1951 strafrechtlich verfolgt. Vgl. Bericht der Abteilung für Minderjährige bei der Generalstaatsanwaltschaft über den Kampf gegen Diebstahl und Betrug in Jugendeinrichtungen, 3. Quartal 1951, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 618, l. 20.

Die Staatsanwaltschaft und die Kampagne gegen Diebstahl

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5.5.2 Diebstahl vor Gericht Mit der Anklage vor Gericht rückten die Richter in den politischen Fokus. Sie trugen aus Sicht der Parteioberen die Verantwortung, den Anklageprozess mit einer Verurteilung im Rahmen der Kriterien vom 4. Juni 1947 zu vollenden. Vor, während und nach der Kampagne zeigte sich jedoch, dass ein gewisser Anteil der sowjetischen Volksrichter tendenziell kürzere Haftstrafen gegen Eigentumsdelikte verhängte als im Befehl vorgesehen (durch die Anwendung des älteren Diebstahl-Paragraphen 162 im Strafgesetzbuch) bzw. Bewährungsstrafen (als sogenannte „bedingte Verurteilung“) verhängten.237 Obwohl es nur wenige verlässliche Zahlen für die ganze Sowjetunion gibt, wird deutlich, dass sowjetische Richter bis in die 1950er-Jahre hinein zwischen zehn und dreißig Prozent der Verfahren, in denen eine Anklage gemäß dem Befehl vom 4. Juni vorgebracht worden war, nicht mit der entsprechenden Haftstrafe von mindestens vier Jahren quittierten. 1947 pendelte dieser Wert für die Gerichte in Molotov noch zwischen 4,8 und acht Prozent.238 Im letzten Quartal des Jahres 1951 betraf dies hingegen schon 33 Prozent aller Entscheidungen der Gerichte, die Delikte wegen „Diebstahl Staatlichen Eigentums“ verhandelt hatten. In 25 Prozent der Fälle hatten die Richter Bewährungsstrafen, in den übrigen acht Prozent Haftstrafen unter vier Jahren ausgesprochen.239 Freisprüche blieben hingegen die absolute Ausnahme. Trotzdem erfüllte jedes dritte bzw. vierte Urteil nicht die Erwartungen an eine kompromisslose Linie im Umgang mit Eigentumsvergehen. Wie ist dieses Phänomen zu erklären und welche Rolle spielte die Staatsanwaltschaft dabei? Die Entscheidungen der Richter hatten zum Teil moralische Motive. Nicht wenige Vorsitzende in den Gerichten empfanden ein Strafmaß von zehn bis 25 Jahren für Diebstahl als nicht angemessen. Wenn sie Bagatellvergehen (mit geringem Sachschaden) verhandelten oder die Schuldfähigkeit des Beschuldigten anzweifelten (bei Minderjährigen beispielsweise), wichen viele vom erwarteten Schema ab.240 Zudem standen einige Volksrichter in den kleinen abgelegenen Bezirken unter dem Druck der Öffentlichkeit. Öffentliche Prozesse erwiesen sich als Propaganda-Desaster,

237 Gemäß den Artikeln 162 bis 178 wurden „Verbrechen gegen das Vermögen“ mit allerhöchstens drei Jahren Freiheitsentzug bestraft. Strafgesetzbuch der RSFSR, S. 52 f.; Artikel 51 und 53 sahen entsprechende Spielräume für Richter vor, deren Begründung aber „im Urteil genau anzugeben“ war. Eindeutige Kriterien für Bewährungsstrafen gab es ausgehend vom Strafgesetzbuch nicht. Einziger Anhaltspunkt war „die Gefährlichkeit des Täters“, die es bis zu einem gewissen Grad den Richtern ermöglichte von Isolation oder Zwangsarbeit abzusehen. Ebd., S. 22 f. 238 Vgl. Statistischer Nachweis über die strafrechtliche Verfolgung in der Region Molotov, 1. bis 4. Quartal 1947, in: GAPK, f. 1461, op. 2, d. 122, l. 6–12. 239 Vgl. Bericht über die Anwendung des Befehls vom 4.6.1947 in der Region Molotov, Januar 1952, in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 2556a, l. 3. 240 Vgl. Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 430.

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wenn Zeugen und Publikum sich mit den Angeklagten solidarisierten.241 Ein Teil der Richter mochte diesem Druck nachgegeben und die Angeklagten vor einer längeren Haftstrafe bewahrt haben. Die strukturellen Ursachen und die Spielräume für solch richterliche Bedenken ergaben sich indes aus zwei unterschiedlichen (nicht inkompatiblen) Impulsen, die die Parteiführung und die Justiz in Moskau gleichermaßen an die Gerichtsorgane kommunizierten und die von der Staatsanwaltschaft vor Ort ständig vereinbart werden mussten. Der eine Impuls richtete sich gegen jede Form „richterlichen Liberalismus‘“. Schon lange vor der Kampagne waren Freisprüche zum unverzeihlichen Makel im Strafprozess erklärt worden. Mit dem 4. Juni 1947 steigerte sich die juristische Fachpresse in einen unablässigen Furor, in dem Richter als „unfähig“ oder eben „liberal“ denunziert wurden, die durch überdurchschnittlich viele Freisprüche oder Bewährungsurteile aufgefallen waren.242 Ähnlich wie 1940, bei der ersten Kampagne gegen „Bummelanten“, wurden einige Regionalrichter entlassen, weil sie milde oder kompromisshafte Urteile ihrer Untergebenen aus den Bezirken nicht einkassiert hatten.243 Innerhalb der ersten zwei Wochen nach Veröffentlichung der Befehle bat Generalstaatsanwalt Goršenin beim ZK um eine klare Warnung (verpackt als Aufklärungskampagne) an die Richter, dass auch kleinste Eigentumsdelikte, sogenannte „Entwendungen“ (melkye kražy), mit härtesten Freiheitsstrafen quittiert werden mussten.244 Ungeachtet der strafrechtlichen Details zogen Urteile, die vom Rahmen des Befehls abwichen, zunächst den Argwohn der Fachpresse und der eigenen Vorgesetzten auf sich. Der andere Impuls kam überwiegend aus den Reihen der Justizführung (Oberstes Gericht, Justizministerium, Generalstaatsanwaltschaft). Den Behördenleitern war prinzipiell daran gelegen, dass die Urteilsfindung nicht allein durch die Logik einer Säuberung bestimmt wurde, sprich: Haftstrafen ohne Rücksicht auf Tatbestand und

241 Im Prozess gegen den ehemaligen Direktor eines Landwirtschaftsinternates für Kriegsinvaliden im Bezirk Kungur, wegen „Verschleuderung“ von Waren, sei die Stimmung im Gerichtssaal nach der Urteilsverkündung (8 Jahre Freiheitsentzug) gegen die Vertreter des Gerichtes umgeschlagen, während sich sogar der Nachfolger im Internat öffentlich mit seinem Vorgänger solidarisierte. Schreiben des Vorsitzenden des Regionalgerichts an den ObKom-Sekretär, Chmelevskij, 5.9.1947, in: PGASPI, f. 105, op. 13, d. 170, l. 55. 242 Pavljučenkov, i.: Pravilʼno primenjatʼ Ukazy ot 4 junja 1947, in: Socialističeskaja zakonnostʼ 5 (1948), S. 40 f. „Unter den Richtern und Staatsanwälten findet man einzelne Liberale, die bei der Qualifizierung der Vergehen und der Bestimmung des Strafmaßes vor den Anforderungen des Gesetzes zurückweichen und gegenüber Dieben und Gaunern nachsichtig sind. Usilitʼ borʼbu s chiščenijami gosudarstvennoj, obščestvennoj i ličnoj sobstvennosti, in: Socialističeskaja zakonnostʼ 8 (1947), S. 3. 243 Vgl. Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 431. 244 Schreiben Goršenins an A. A. Kusnecov (ZK), 25.6.1947, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 3409, l. 79.

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Delinquent, ohne Unterscheidung der Schwere der Tat auszusprechen. Dabei rangen sie vor allem um Kriterien für die Anwendung von Bewährungsstrafen. Bestimmte Personengruppen galten in anderen Bereichen der Strafjustiz als vermindert schuldbzw. straffähig, was theoretisch auch für die Eigentumsgesetzgebung fixiert werden konnte, und im Falle der Minderjährigen gab der Oberste Sowjet verhältnismäßig klare Anweisungen. Im Februar 1948 ermunterte das Regime die Gerichte offiziell, 12- bis 16-jährige Delinquenten beim ersten Diebstahl mit Strafmaßnahmen ohne Freiheitsentzug zu belegen.245 Allerdings tat man sich damit schwer, Kriterien für andere Personengruppen und die konkrete Berücksichtigung mildernder Umstände verbindlich durchzusetzen.246 Richter sollten weiterhin Bewährungsurteile fällen, doch keinesfalls wollte man sie dazu kategorisch ermutigen. Im Juni 1948 berieten die Spitzen der Justiz und der stellvertretende Innenminister mit ZK-Sekretär Andrej Ždanov zum Beispiel darüber, eine Ausnahmeregelung für Schwangere und Mütter mit Kleinkindern zu schaffen, die sie bei Diebstahl vor allzu harten Haftstrafen bewahren sollte. Anlass war ein Beschwerdeschreiben eines Mitglieds der Parteikontrollkommission.247 Alle Beteiligten sahen einhellig Handlungsbedarf, wenn auch aus unterschiedlicher Motivation heraus. Das MVD beispielsweise betonte vor allem die wirtschaftliche Belastung durch arbeitsunfähige (weil schwangere) Insassen und die Kinderbetreuung mit jährlich 190 Millionen Rubel.248 Die übrigen Leiter befürchteten, dass mehrjährige Haftstrafen für Kriegswitwen wegen Mundraubs für Unverständnis in der Bevölkerung sorgten. Zudem teilten sie die Bedenken des Kommissionsmitgliedes, wonach vor allem die Kinder die Leittragenden dieser Situation seien. Gleichzeitig warnten die Justizbeamten davor, Richter aktiv und kategorisch zu Bewährungsurteilen zu ermutigen. Generalstaatsanwalt Safonov formulierte seine Einwände gegen eine befehlsmäßige Einschränkung des Befehls vom 4. Juni 1947 am deutlichsten:

245 Vgl. Beschluss des Plenums des Obersten Sowjets, 17.2.1948, in: N. K. Morozov (Hg.), Sbornik dejstvujuščich postanovlenii plenuma Verchovnogo Soveta SSSR. 1924–1957 gg. Moskva 1958, S. 17–19. 246 Die entsprechenden Entwürfe für das neue Strafgesetzbuch blieben zu Stalins Lebzeiten reines Papierwerk. Ein Kommissionsentwurf im Juli 1948 legte eine Maximalfrist von fünf Jahren auf Bewährung fest, sah jedoch auch vor, Schwangere, Mütter mit Kleinkindern und Minderjährige explizit für dieses Strafmaß zu berücksichtigten, sowieso Personen, die ihre Taten „unter dem Einfluss schwerer Familienverhältnisse“ begangen hatten. Vgl. Kommissionsentwurf für das neue Strafgesetzbuch an Molotov und Stalin, 2.7.1948, in: RGASPI, f. 82, op. 2, d. 893, l. 28. 247 Vgl. Schreiben von A. Abramova (Parteikontrollkommission) an Andrej Ždanov über die große Zahl an inhaftierten Müttern mit kleinen Kindern und Schwangeren in den ITLK des MVD der UdSSR, 18.5.1948, in: RGASPI, f. 17, op. 121, d. 642, l. 1–6. 248 Vgl. Schreiben des stellvertretenden Innenministers, Ivan Serov, an den stellv. Leiter der Administrativen Abteilung des ZK, A. S. Bakakin, 19.8.1948, in: RGASPI, f. 17, op. 121, d. 642, l. 50.

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Wenn man auf einen solchen Vorschlag eingeht, würde das dazu führen, eine Erläuterung zur Anwendung des Befehls zu geben, der sich auf Invaliden bezieht, auf Männer, die Alleinversorger der Familie sind, auf ehemalige Teilnehmer des Vaterländischen Krieges usw. Das ist absolut inakzeptabel.249

Wenn die Justiz offiziell Bewährungsstrafen für bestimmte (erwachsene) Personengruppen fordere, würde man, so die Sorge Safonovs, den Trend auch in anderen Bereichen begünstigen. Richter würden motiviert werden, auch in anderen Fällen von Haftstrafen abzusehen. Keinesfalls wollte man sowjetische Richter aktiv zum Verhängen von Bewährungsstrafen ermutigen. Ein entsprechender Befehl blieb folglich aus. Auch wenn Ivan Goljakov als Vorsitzender des Obersten Gerichts sogar einen Befehlsentwurf vorlegte, der Schwangere und Mütter mit Kleinkindern vor Haftstrafen (bei Erstvergehen) bei Diebstahl bewahrte, beriefen sich die übrigen Behördenleiter darauf, dass Richter ja prinzipiell nicht davon abgehalten würden, Bewährungsstrafen auszusprechen. Selbst Goljakov musste zugeben, dass „es falsch wäre, zu behaupten, dass Richter in der Praxis keine mildernden Strafmaße gegenüber Schwangeren und Frauen mit kleinen Kindern anwenden könnten.“250 Die Spitzen der Justiz überließen ihren Richtern die Möglichkeit, im Einzelfall Bewährungsstrafen für Frauen mit Kleinkindern und Schwangere bei Diebstahl auszusprechen. Dieses Prinzip galt in ähnlicher Weise für minderjährige Straftäter (wie im darauffolgenden Kapitel gezeigt wird). Vor einer grundsätzlichen Einschränkung der Strafpraxis schreckten sie allerdings zurück bzw. blieben solche Vorschläge mit den übrigen Entwürfen für das Strafgesetzbuch bis zu Stalins Tod in der Schublade.251 Auf der einen Seite forderten also Justiz- und Parteifunktionäre hohe Haftstrafen und warnten eindringlich vor richterlicher Milde. Auf der anderen Seite ließ man Spielräume für die Anwendung von Bewährungsstrafen, allerdings auf Eigenverantwortung der lokalen Beamten und ohne verbindliche Kriterien. Diese Aspekte zu vereinbaren, fiel in den Zuständigkeitsbereich der „Gerichtsaufsicht“ (sudebnyj nadzor) der Staatsanwaltschaft. Auf der Regionalversammlung der Staatsanwaltschaft Molotov im Oktober 1950 brachte Jakovlev die wichtigste Prämisse der Gerichtsaufsicht auf den Punkt. Obwohl sich die Freispruchquote in allen Verfahren von 6,2 auf 4,8 Prozent gesenkt hatte, war das Fernziel aus seiner Sicht noch nicht erreicht: „Ungeachtet dieses Rückgangs ist die Zahl freigesprochener Personen noch immer sehr hoch. Wir müssen eine Situation erreichen, in der es überhaupt keine 249 Schreiben Georgij Safonovs an Andrej Ždanov in Bezug auf Abramovas Schreiben, 19.6.1948, in: RGASPI, f. 17, op. 121, d. 642, l. 30. 250 Schreiben Goljakovs an Ždanov, 10.6.1948, in: RGASPI, f. 17, op. 121, d. 642, l. 22. 251 Vgl. Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 408.

Die Staatsanwaltschaft und die Kampagne gegen Diebstahl

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Freisprüche mehr gibt, oder aber sie auf ein Mindestmaß begrenzen.“252 Jakovlev gab den Druck aus Moskau, keine Freisprüche zuzulassen, folglich direkt an seine Untergebenen weiter. Obwohl keine entsprechenden Protokolle für Kuljapins Amtszeit überliefert sind, kann man davon ausgehen, dass er diese Prämisse, keine Freisprüche zuzulassen, teilte. Der zu Beginn des Kapitels zitierte Leitartikel in der Zvezda lässt daran keinen Zweifel. Darüber hinaus riefen sowohl die Generalstaatsanwaltschaft als auch die Abteilung in Molotov ihren Mitarbeitern regelmäßig in Erinnerung, dass sie für Freisprüche jeder Art mit ihrer Karriere hafteten, sofern sie nicht rechtzeitig gegen das Urteil protestiert hatten. Wie in anderen Verfahren zogen Freisprüche häufig eine Abmahnung gegen den zuständigen Staatsanwalt nach sich.253 Die Beamten waren demnach gut beraten, immer die volle Haftstrafe zu fordern und abweichende Urteile umgehend durch einen Protest anzufechten – unabhängig davon, ob der Protest auch vom nächsthöheren Gericht akzeptiert wurde. Ein Mann aus Kungur namens Volkov beispielsweise hatte angeblich 1,5 Liter Wodka und 200 Gramm Konfekt aus einem Kiosk gestohlen. Das Gericht stellte das Verfahren im Vorfeld wegen „Geringfügigkeit des Tatbestandes“ ein. Kungurs Staatsanwalt, Šarapov, verschickte einen offiziellen Protest gegen diese Entscheidung, der durch das Regionalgericht abgelehnt wurde.254 Šarapov ging diesem Fall jedoch nicht weiter nach. Das wichtigste Signal hatte er gesetzt. Dem Statistikbogen nach hatte er sich vom Urteil zumindest distanziert. Jakovlev stellte ähnliche Erwartungen an seinen Mitarbeiter, wenn Urteile zur Bewährung ausgesetzt oder die Haftstrafen anderweitig reduziert wurden. Sobald es hierbei statistische Auffälligkeiten gab, exponierten sich Richter und Staatsanwälte als „milde“ oder „liberal“. Die eingangs erwähnten 33 Prozent, in denen das Urteil bei Eigentumsdelikten vom Schema abwich, sah Jakovlev als Beleg für die Nachlässigkeit seiner Mitarbeiter.255 In der Masse erwiesen sich die Fälle als politisches Problem. Im Einzelfall trugen Staatsanwälte solche Gerichtsentscheidungen aber zuweilen mit. Strafen ohne Freiheitsentzug oder mit geringem Strafmaß waren auch Jakovlev zufolge zulässig, wenn „die begangenen Taten einen geringen wirtschaftlichen Schaden verursachten oder […] bei minderjährigen Kindern,

252 Bericht Jakovlevs auf der Regionalversammlung der Bezirks- und Stadtstaatsanwälte, 22.10.1950, in: PGASPI, f. 105, op. 16, d. 213, l. 118. 253 Vgl. Bericht über die Anwendung des Befehls vom 4.6.1947 in der Region Molotov, Januar 1952, in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 2556a, l. 8. 254 Bericht des Staatsanwalts der Stadt Kungur, Šarapov, über unbegründete Strafverfolgung im 2. Halbjahr 1950, Januar 1951, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 195, l. 36–38. 255 Bericht über die Anwendung des Befehls vom 4.6.1947 in der Region Molotov, Januar 1952, in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 2556a, l. 3.

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die Unterhaltsempfänger sind, und auch angesichts anderer schuldmildernder Umstände“. Im Verfahren gegen den noch minderjährigen Uvarov beispielsweise hatte das Gericht das Alter und den Wert des Diebesguts (gestohlene Bettwäsche für 370 Rubel) berücksichtigt und ihn zu sieben Jahren Bewährung verurteilt – laut Jakovlev eine korrekte Entscheidung. Das Bewährungsurteil gegen den Leiter eines Beschaffungspunktes (und Vaters von fünf Kindern) wurde hingegen nach Protest erfolgreich in eine Haftstrafe umgewandelt. In diesem Fall seien 339 Rubel veruntreut worden, doch mildernde Umstände griffen aus Perspektive des Staatsanwaltes hier offensichtlich nicht. In einem anderen Fall ließ man die Bewährungsstrafe zu, weil der Angeklagte unter anderem psychische Probleme zu haben schien.256 Eine Erhebung über die zulässigen Kriterien für Bewährungsurteile kann dieses Kapitel schon auf Grund der Materialbasis nicht leisten. Genauso wenig bekannt ist, wie viele Bewährungsurteile von der Staatsanwaltschaft angefochten wurden. Die entscheidende Feststellung ist, dass ein milderndes Strafmaß prinzipiell möglich und zulässig schien, wenn das statistische Verhältnis zu den übrigen Verurteilungen stimmte und wenn es sich dabei vorzugsweise um minderjährige Täter handelte. Ein anderer Fakt ist, dass Staatsanwälte in keinem dokumentierten Fall ein zu strenges Strafmaß beanstandeten. Proteste richteten sich ausschließlich gegen Freisprüche, „Milde“ (mjagkostʼ) und gelegentlich Prozessnormverletzungen.257 Staatsanwälte unternahmen also keinerlei aktive Schritte, um das Urteil nach unten zu korrigieren, was im Wesentlichen der Logik der Kampagne entsprach. Kein Staatsanwalt würde sich nach einem Urteilsspruch gegen ein hohes Strafmaß stemmen, das zumindest der Rhetorik nach einem „Volksfeind“ zugedacht war. Die wohl wichtigste Erkenntnis besteht indes darin, dass die Proteste, die die Beamten an das Regionalgericht verschickten, nur geringfügige Auswirkungen auf das statistische Gesamtergebnis der Gerichtsverfahren hatten. Die Staatsanwälte von Molotov verschickten im vierten Quartal des Jahres 1951 78 Proteste in Verfahren wegen Diebstahls. 35 davon hatte das Regionalgericht bis Februar 1952 gesichtet und nur 17 Protesten wurde stattgegeben. In manchen Bezirken lag dieser Anteil sogar noch niedriger. Zwischen 17,5 und annähernd 50 Prozent der Proteste wurden durch das Regionalgericht zugelassen. Auf die ganze Region und alle Delikte gerechnet lag der Anteil sogar nur bei 35 Prozent.258 Diese Zahlen wurden in aller Regelmäßigkeit 256 Ebd., l. 4. 257 Ebd., l. 7. 258 Im Suksunsker Bezirk lag der Anteil bei 7 von 40. Bericht des Staatsanwalts des Bezirks Suksunsk an Jakovlev für das Jahr 1950, Januar 1951, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 195, l. 36–38. In Berezniki waren es 33 von 63. Vgl. Bericht des RegionalStaatsanwalts Jakovlev auf der Versammlung der Bezirks- und Stadtstaatsanwälte, 22.10.1950, in: PGASPI, f. 105, op. 16, d. 213, l. 124; Mitteilung des stellvertretenden Staatsanwalts von Molotov, Kudrjašev, an den Vorsitzenden des ZK, Jakovlev, Oktober 1949, in: PGASPI, f. 105, op. 15, d. 559, l. 33.

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von der nächsthöheren Stelle in der Staatsanwaltschaft kritisiert, mit dem Verweis, dass die „Qualität der Kassationsproteste“ schlichtweg zu wünschen übrig lasse. Die Kritik richtete sich natürlich auch an die Regionalgerichte, doch änderte dies wenig an der Tatsache, dass jeder zweite Versuch, den ein Staatsanwalt unternahm, um härte Freiheitsstrafen zu erzwingen, an ebendiesen Gerichtsinstanzen scheiterte.259 Berücksichtigt man zusätzlich, dass nur ein Bruchteil der Kassationsverfahren (im vierten Quartal waren es 13,5 Prozent260) überhaupt auf einen Protest des Staatsanwaltes zurückging, während der Rest durch persönliche Beschwerden initiiert wurde, wird deutlich, dass die Staatsanwaltschaft den Ausgang dieser Verfahren nur marginal korrigieren konnte. Die oberste Prämisse der Staatsanwaltschaft war es, Freisprüche nach erhobener Anklage zu verhindern und Bewährungsstrafen im Rahmen zu halten, um sich vorab dem Vorwurf der „Milde“ entziehen zu können. Diesem Eindruck konnten die Beamten mit regelmäßigen Protesten vorbeugen. Zugleich nahmen sie teilweise Rücksicht auf politische und juristische Grenzfälle, indem sie beispielsweise Bewährungsurteile gegen Minderjährige nicht anfochten. Dieses Vorgehen war möglich, weil es von eigenen Vorgesetzten weder explizit kritisiert noch begrüßt wurde (und weil es der beruflichen Praxis im Umgang mit Jugendstraftätern entsprach).261 Die eigentliche Verantwortung für die vergleichsweise hohe Zahl an Urteilen, die den gegebenen Rahmen der Juni-Befehle sprengten, trugen allerdings die Richter. Obwohl ein abgewiesener Protest zur nächsthöheren (Republiks-)Ebene getragen werden konnte, waren die Regionalgerichte die entscheidende Kontrollinstanz für die Urteilspraxis. Sie gaben den Bewährungsurteilen ihr meist endgültiges Siegel. Von Beginn der Kampagne an standen die Organe der Justiz unter enormem politischen Erfüllungsdruck. Zu keinem Zeitpunkt des Strafverfahrens, auch nachdem die Kampagne ihren Zenit überschritten hatte, wollten sich die Beamten dem Vorwurf der „Milde“ oder der Nachgiebigkeit aussetzen. Auf der einen Seite hatte dieser Druck klare Auswirkungen auf die Prozessabläufe und ebenso die inhaltliche Bewertung der Strafsachen. Der Ermittlungsprozess wurde in einigen Fällen so weit hinausgezögert, um den Kreis der Verdächtigen erweitern zu können. Freisprüche waren um jeden Preis zu vermeiden. Auf der anderen Seite lief dieser Druck keinesfalls dem Professionalisierungsanspruch der Staatsanwaltschaft zuwider. Drakonische Strafen spielten bei der Prüfung der Anzeige eventuell eine Rolle. Ansonsten berief man sich auf harte prozessrechtliche Fakten, um eine korrekte Anklage zu garantieren. Bis ein Verfahren vor Gericht kam, wurden für eine Anklage aussichtslose Fälle 259 Bericht über die Anwendung des Befehls vom 4.6.1947 in der Region Molotov, Januar 1952, in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 2556a, l. 16. 260 Vgl. ebd., l. 9. 261 Vgl. Kapitel 5.6.

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Die Staatsanwaltschaft nach 1945

ausgesondert. Die schwache Beweislage oder ein flüchtiger Verdächtiger reichten aus, um das Verfahren zu gefährden. Dass über zwei Millionen Menschen mit drakonischen Haftstrafen belegt wurden, war sicherlich der Tatsache geschuldet, dass die Logik der Kampagne im Kern auch der professionellen Logik der Staatsanwaltschaft entsprach: immer ein gültiges Urteil zu erkämpfen. Es war der Tatsache geschuldet, dass Misswirtschaft leicht in Diebstahl umgemünzt werden konnte. Die Frage der Verhältnismäßigkeit war jedoch eine Angelegenheit der Gerichte. Tatsächlich war der Einfluss der Staatsanwaltschaft nach dem Urteilsspruch begrenzt. Der Protest bewahrte die Beamten vor dem ersten Verdacht, milde oder nachgiebig zu arbeiten. Statistisch gesehen war dieses Werkzeug Makulatur; ein Konformitätsbeweis, um den eigentlichen Beitrag der Staatsanwaltschaft in der Kampagne nicht zu kompromittieren: die Vorbereitung und Durchführung einer möglichst präzisen und stabilen Anklage.

5.6 D e r s t r a f r e cht l iche Umg a ng m it M i nd e r jä h r ige n n a ch 19 45 Die Einberufung einer Arbeitsgruppe für die „Angelegenheiten Minderjähriger“ 1944 war eines der deutlichsten Signale der Sowjetjustiz, das Phänomen Jugendkriminalität eigenständig vom übrigen Kosmos der Strafverfolgung zu begreifen und zu behandeln. Die Einsicht, dass minderjährige Straftäter einer Sonderbehandlung bedürften, machte die Frage nach dem sozialen Kontext einer Straftat zumindest unter den Ermittlungsbehörden salonfähig. Dieser Trend nahm nach 1945 die Dynamik auf, die von der Professionalisierung der Strafjustiz im Allgemeinen ausging. Allerdings wurden Justiz, Partei, Polizei und soziale Fürsorgeeinrichtungen mit einer Welle der Jugendkriminalität in neuer Quantität und Qualität konfrontiert, die diese Praxis auf die Probe stellte. Einerseits standen die Behörden vor den unmittelbaren wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Weltkrieges. Millionen von (meist männlichen) Elternteilen waren getötet worden oder galten als vermisst. Zehntausende Weitere wurden nach Kriegsende als „Verräter“ stigmatisiert und verhaftet. Ihre Kinder bewohnten die Bahnstrecken und Straßen des Hinterlandes oder streiften unbeaufsichtigt durch die Bezirke, während viele noch nicht einmal als Evakuierte erfasst worden waren. Die Vernichtung weiter Teile der sowjetischen Agrarflächen mündete zudem in einer landesweiten Versorgungskrise, unter der vor allem Kinder litten. Diebstahl und Tauschhandel waren oftmals deren einzige Überlebensstrategien.262 Zwischen 1945

262 Vgl. Fürst, Stalin’s Last Generation, S. 167; Baberowski, Verbrannte Erde, S. 454 f.; Frierson/ Vilensky, Children of the Gulag, S. 333.

Der strafrechtliche Umgang mit Minderjährigen

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und 1946 registrierte die Staatsanwaltschaft die höchste Zahl an Jugendstraftaten in der sowjetischen Geschichte. Die sowjetischen Waisenhäuser nahmen bis 1947 fast 120 Prozent mehr Kinder auf als noch vor Kriegsbeginn und auch das Netz der Jugendeinrichtungen und Erziehungslager des Innenministeriums schwoll bis 1949 weiter an.263 Das Problem der entwurzelten Kriegsjugend blieb also akut und spitzte sich teilweise noch zu. Andererseits veränderte sich bis zum Beginn der 1950er-Jahre das soziale Profil der Jugendstraftäter. Juliane Fürst hat nachgewiesen, dass Straftaten mehr als nur das Nebenprodukt der Straßenkinderherrschaft waren. Provokantes Verhalten und Rebellion prägten nach 1945 zunehmend das Selbstbild vieler sowjetischer Jugendlicher genauso wie die Anwendung von Gewalt und die Missachtung von Gesetzen. Aus der sozialen Katastrophe des Krieges, dem vertrauten Umgang mit Gewalt und der Alltagskriminalität erwuchs eine kulturelle Prägung, die auch zu einem Bestandteil der Lebenswelt von Arbeitern, Armeerekruten und Komsomolzen wurde. Dieser Nonkonformismus äußerte sich zuweilen habituell (stiljagi), oder eben auch gewaltsam (chuligany), wobei dies nicht mehr als schwammige Zuschreibungen des Regimes waren, das sich wie zuvor eine offene Debatte über Jugendkriminalität verbot und die Entfremdung dieser Generation von den Idealen der Partei eigentlich erst heraufbeschwor.264 Parteifunktionäre deklarierten das deviante Verhalten der sowjetischen Jugend zu einem moralischen Problem, einem Wertekonflikt, der (passenderweise) durch westliche Einflüsse geschürt werde. Soziale Probleme wurden in den Hintergrund gedrängt. Nichtsdestotrotz war Kriminalität sichtbar und spürbar kein Randphänomen, sondern gehörte zum Alltag der sowjetischen Jugend.265 Welche Auswirkungen hatte diese Dynamik auf die Straf- und Ermittlungspraxis und die Arbeitsweise der Staatsanwaltschaft? Die juristischen Leitlinien der Vorkriegs- und Kriegszeit blieben auch nach 1945 unverändert. Sämtliche Befehle, die darauf abzielten, minderjährige Delinquenten kategorisch aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit zu entfernen und zu isolieren, blieben in Kraft.266 Das Innenministerium behielt die Amtsgewalt über die ‚Betreuung‘, sprich: Internierung, der Kinder und Jugendlichen, und trug dabei die inkonsistente Erziehungsagenda vor sich her. Der neue Fokus auf die sozialistische Moral dominierte die parteiinternen Debatten. Ob und wie die Staatsanwaltschaft mit solchen Phrasen argumentierte (als der soziale Kontext der Straftat zunehmend Bestandteil der eigenen Expertise 263 Vgl. Dynʼko, Juridičeskaja otvetstvennostʼ, S. 84; Kelly, Children’s World, S. 246. 264 Vgl. Fürst, Stalin’s Last Generation, S.171–173; Lapierre, Brian: Hooligans in Khrushchev’s Russia. Defining, Policing, and Producing Deviance During the Thaw. Madison (WI) 2012, S. 33. 265 „Crimes had lost their social stigma“. Fürst, Stalin’s Last Generation, S. 188; 190–192. 266 Vgl. Dynʼko, Juridičeskaja otvetstvennostʼ, S. 45.

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Die Staatsanwaltschaft nach 1945

wurde), ob sie diese Expertise in den Jahren nach Kriegsende vertiefen konnte, und inwiefern auch die Betreuungssituation für minderjährige Straftäter davon betroffen war, soll auf den folgenden Seiten erörtert werden.

5.6.1 Staatliche Jugendbetreuung und staatsanwaltschaftliche Aufsicht Die Versorgungskrise beeinträchtigte die Zustände in allen Fürsorgeeinrichtungen der Sowjetunion. Die Kinder- und Waisenhäuser (detdomy) der Ministerien für Gesundheit und Bildung mussten ihre Kapazitäten an die wachsende Zahl der aufsichts- und obdachlosen Kinder anpassen und zugleich deren Grundversorgung gewährleisten, was den meisten Einrichtungen nur unzureichend gelang. Bis 1948 verfügte das sowjetische System der Kinderhäuser über 50.000 Plätze, und doch rissen die Hilferufe der Kinder nicht ab, die unter den prekären Zuständen, den Mangelerscheinungen und den Misshandlungen durch das Personal und andere Jugendliche litten.267 Die Staatsanwaltschaft in Molotov war über diese Zustände im Bilde. Die schlechte Versorgungssituation war aus ihrer Sicht (und der ihrer Vorgesetzten) das Produkt krimineller Machenschaften. Korruption im Fürsorgebereich war ein altbekanntes Problem. Entsprechend richtete man die Aufmerksamkeit auf die Direktoren und Buchhalter der Jugendeinrichtungen.268 Im Gegensatz zu den Einrichtungen des MVD , hatten Staatsanwälte in den Kinder- und Waisenhäusern relativ freie Hand, was sich dadurch äußerte, dass das Leitungspersonal dieser Häuser fast zyklisch ausgetauscht und vor Gericht gestellt wurde. Im zweiten Halbjahr 1946 allein wurden 40 ehemalige Mitarbeiter der Kinderhäuser wegen Wirtschaftsvergehen, Diebstahl und Amtsmissbrauch angeklagt: darunter sechs Direktoren, vier Buchhalter, elf Lageristen und vier Kindergärtner(innen).269 Mit Einsetzen der Kampagne gegen Diebstahl schraubten sich diese Zahlen noch weiter in die Höhe. Buchhalter und Direktoren saßen, wie bereits erwähnt, auf den gefährlichsten Posten, und die Staatsanwaltschaft konnte zumindest hier zählbare Erfolge vorweisen. Mehr als die Hälfte dieser Posten wurden im Jahr 1951 neu besetzt.270 An der drastischen Unterversorgung der Kinder und den

267 Vgl. Kelly, Children’s World, S. 246 f. 268 Vgl. Befehl der Generalstaatsanwaltschaft über die Kontroll- und Inspektionsarbeit in Jugendeinrichtungen, 23.1.1947, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 636, l. 1. 269 Vgl. Bericht zur Erfüllung des Befehls vom 23.1.1947 in Molotov, 31.3.1947, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 636, l. 3. 270 Vgl. Bericht der Abteilung für Minderjährige bei der Generalstaatsanwaltschaft über den Kampf gegen Diebstahl und Betrug in Jugendeinrichtungen, 3. Quartal 1951, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 618, l. 20.

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häufig katastrophalen hygienischen Zuständen änderte dieser Kahlschlag nichts. Bis 1953 und darüber hinaus flohen jährlich zwischen 8000 und 10.000 Kinder und Jugendliche aus den Kinderhäusern in der ganzen Sowjetunion. Fälle von körperlichen Misshandlungen waren an der Tagesordnung, während die Staatsanwaltschaft fast quartalsmäßig die Direktoren dieser Einrichtungen wegen Veruntreuung vor Gericht stellte.271 Die einzig bemerkenswerte Entwicklung der Nachkriegszeit in diesem Bereich der Jugendfürsorge bestand also darin, dass die Staatsanwaltschaft mehr Leitungspersonal vor Gericht brachte als zuvor. Soweit das Fürsorge-System des Gesundheitsministeriums betroffen war, konnten diese ‚Razzien‘ keine strukturellen Veränderungen in der Betreuungssituation herbeiführen. Bei der Inspektion der Einrichtungen des Innenministeriums stand die Staatsanwaltschaft vor altbekannten Problemen. Aufnahmeverteiler und Erziehungs-, bzw. Arbeitskolonien für Jugendliche unterstanden ausschließlich dem MVD und der GULag, das den inspizierenden Staatsanwälten unzureichendes oder unglaubwürdiges Material spät zur Verfügung stellte und den Zugang zu den einzelnen Aufenthaltsbereichen unterschiedlich stark einschränkte. Das System der Verteiler zum Beispiel wurde stark ausgebaut, um die Masse der Jugendlichen möglichst schnell aus dem Straßenbild zu entfernen und unterzubringen. Über 100.000 „aufsichtslose“ und „obdachlose“ Kinder und Jugendliche durchliefen das sowjetische Verteilersystem allein zwischen Januar und März 1947, um dann auf ebenjene Einrichtungen des Ministeriums für Gesundheit oder die Haft- und Erziehungskolonien des MVD verteilt zu werden.272 Dieser Verteilungsprozess wurde von der Staatsanwaltschaft rückwirkend geprüft, doch nach wie vor hatten die Beamten weder auf die Kriterien noch auf den Entscheidungsprozess innerhalb der Verteiler Einfluss. Im vierten Quartal 1949 nahmen die Verteiler in Molotov 362 Kinder zwischen acht und 13 Jahren auf. Neben Diebstahl und „Verletzung der Transportregeln“ (sie hielten sich wahrscheinlich an den Bahnlinien auf) nannte das MVD bei 131 Kindern „andere Gründe“, um sie im Verteiler unterzubringen.273 Hinterfragt wurden solche Angaben nicht. Vielmehr wurden falsche Zuweisungen einkalkuliert, um sie im Anschluss korrigieren zu können. Der Standardvordruck für ein Formular zur

271 Vgl. Bericht des Generalstaatsanwalts Roman Rudenko an das Präsidium des Ministerrates, August 1953, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 3176, l. 100. Im ersten Quartal 1953 allein verzeichnete die Generalstaatsanwaltschaft einen wirtschaftlichen Schaden von 1,8 Millionen Rubel durch Veruntreuung in diesen Einrichtungen, infolgedessen 400 Mitarbeiter zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen wurden. Vgl. auch Auskunft des Assistenz-Staatsanwalts der Arbeitsgruppe für Angelegenheiten Minderjähriger an das ObKom, 4.10.1949, in: PGASPI, f. 105, op. 15, d. 559, l. 37. 272 Dynʼko, Juridičeskaja otvetstvennostʼ, S. 84; Schreiben des Innenministers Kruglov an Andrej Ždanov, 19.4.1947, in: RGASPI, f. 17, op. 121, d. 612, l. 14–15. 273 Statistik zur Fluktuation der Insassen in den Aufnahmeverteilern von Molotov, 4. Quartal 1949, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 638, l. 41.

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Die Staatsanwaltschaft nach 1945

Erfassung von Verteiler-Insassen durch die Staatsanwaltschaft hatte unter anderem eine eigene Spalte für „zufällig Inhaftierte“.274 Solche Korrekturen erfolgten dann üblicherweise nur durch Eingaben an das MVD, bzw. MGB, in denen der Staatsanwalt eine falsche Zuordnung oder Fristüberschreitungen anmahnte. Ob und wann darauf reagiert wurde, lag weiterhin nicht in der Hand der Staatsanwaltschaft.275 Innerhalb der Arbeitserziehungskolonien war die Situation ähnlich. Obgleich die Generalstaatsanwaltschaft ihre Mitarbeiter ermahnte, Fluchtursachen und insbesondere die Lebensbedingungen in den Kolonien im Auge zu behalten, und viele Beamte diese Erkenntnisse auch zusammentrugen, hatten sie wenig Einfluss auf die Spirale aus Haft und Obdachlosigkeit, die zunehmend mehr Jugendliche in ein Milieu von Berufskriminellen zog.276 Die Staatsanwaltschaft hatte aus ihrer Sicht zuverlässige Routinen entwickelt, um die Arbeits- und Lebensverhältnisse in den Kolonien zu dokumentieren, doch die Grundprobleme der vergangen Jahre blieben bestehen: mangelnde Weisungsbefugnis und der späte Zugang zu Informationen bzw. konkreten Belegen, was einen enormen Zeitaufwand bei der Inspektion bedeutete. Deutlich wird dieses Missverhältnis an einem „instruktiven Brief“, den Generalstaatsanwalt Safonov im Januar 1951 zur Situation in den Kolonien verfasste. Die Staatsanwaltschaft hatte profunde Kenntnisse über die Vergehen, Misshandlungen und die irregulären Praktiken der Kolonieleitung. Insassen würden ohne Rechtfertigung und ohne Beschluss in Strafisolatoren geschickt; Massenfluchten, Mord und Diebstahl seien an der Tagesordnung; Kinder erhielten keine Kleidung oder würden für kleinere Vergehen drakonisch und vor allem kollektiv bestraft; „antipädagogische Maßnahmen“, sprich: physische Gewalt, seien nicht unüblich. Darüber hinaus würden Kriminelle zu Brigadieren unter den Insassen ernannt, die ihre Kompetenzen missbrauchten und den Erziehungsgedanken ad absurdum führten.277 Ebenso bleibe das Personal der Kolonien zu oft unangetastet, obwohl die Fluchtstatistiken deren Verfehlungen deutlich belegten. Zugleich kritisierte Safonov das Versagen seiner Beamten, angesichts dieser Zustände durchzugreifen:

274 Formular zur Erfassung der Insassen von Kinderaufnahmeverteilern, o. D. [vermutlich April 1950], in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 638, l. 41. 275 Vgl. Beispiele für den Überprüfungsablauf von Kinderaufnahmeverteilern, April 1950, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 638, l. 42–45. 276 Vgl. Schreiben des stellvertretenden Generalstaatsanwalts, Vavilov, an Kuljapin, 29.9.1947, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 636, l. 35; Fürst, Stalin’s Last Generation, S. 179. „Camps for juvenile delinquents, while representing the pinnacle of Soviet control, were in fact non-Soviet spaces.“ Ebd. 277 „Diese Art von Kolonie ist keine Haftanstalt“. Instruktionsschreiben der Generalstaatsanwaltschaft, 16.1.1951, in: Vilenskij, Deti GULAGa, S. 482; 483–485.

Der strafrechtliche Umgang mit Minderjährigen

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Die grundlegenden Mängel in der Arbeit zur Aufsicht über die Kolonien sind: die falsche Organisation dieser Arbeit, die niedrige Qualität der Überprüfungen, deren Ergebnislosigkeit […] die fehlerhafte und verspätete Erstellung von Überprüfungsberichten.278

Safonov zufolge trugen ausschließlich die Staatsanwälte die Verantwortung für die zitierte „Erfolglosigkeit“ und doch klingen ebenso die strukturellen Probleme in seinem Brief an. Staatsanwälte würden ihre Berichte erst nach der Rückkehr in ihr Büro anfertigen, was angesichts des Arbeitspensums und der Entfernungen, die die Beamten zurücklegen mussten, nicht überrascht. Schriftliche Informationen der Kolonieverwaltungen seien zudem oft unvollständig oder falsch, besonders in Bezug auf tatsächlich geglückte Fluchtversuche. Safonovs Empfehlung lautete daher, die Berichte der Abend- und Tagwachen zu vergleichen und anschließend mit den Angaben über die verteilten Rationen zu verifizieren.279 Staatsanwälte konnten folglich auf keinerlei Unterstützung von Seiten der Kolonieverwaltung hoffen, was die Inspektionen wiederum verzögerte und die Gefahr vergrößerte, dass sich die Beamten mit einem bloßen Statistikabgleich begnügten. Die Tatsache, dass 1947 40 Prozent aller Insassen der Erziehungskolonie von Kungur verurteilte erwachsene Straftäter waren, wurde vom inspizierenden Staatsanwalt kommentarlos weitergegeben. Es blieb im Ermessen des Innenministeriums, darauf zu reagieren.280 Damit ist nicht gesagt, dass die Beamten in Molotov sich von den Kolonien gänzlich fernhielten. Bis zu Beginn der 1950er-Jahre erreichten die Regionalstaatsanwaltschaft quartalsmäßig Inspektionsberichte aus den Arbeitserziehungskolonien. Die Berichte dokumentierten die Verstöße innerhalb der Kolonien jedoch unterschiedlich sorgfältig. Die gleiche Kolonie in Kungur, die 1947 auch Erwachsene unter den minderjährigen Gefangenen zählte, erwies sich 1951 als tadellos. Ein Jahr später setzte die Parteileitung in Molotov den sowjetischen Innenminister Kruglov davon in Kenntnis, dass die Kolonie in Kungur nicht einmal die mindesten Hygienestandards erfülle.281 Bei der Generalrevision der Regionalstaatsanwaltschaft Molotov im Jahr 1953 wurde hingegen nur eine einzige Kolonie kritisch kommentiert, in der die Kinder systematisch unterversorgt wurden, um 134.000 Rubel zu sparen.282 Obgleich sich der Eindruck aufdrängt, dass sich die Situation in den Kolonien zum 278 Ebd., S. 482. 279 Ebd., S. 484. 280 Vgl. Prüfungsbericht für die Arbeitserziehungskolonie Kungur an den stellvertretenden Staatsanwalt der RSFSR, Boldyrev, 13.4.1947, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 636, l. 15. 281 Vgl. Schreiben des ObKom-Sekretärs, Šuljakov, und des GorKom-Sekretärs von Kungur, Šichov, an MVD Kruglov, Juni 1952, in: PGASPI, f. 105, op. 18, d. 195, l. 60. 282 Vgl. Bericht der Arbeitsgruppe für Angelegenheiten Minderjähriger in Molotov, 1. Halbjahr 1951, in: GAPKF, f. 1366, op. 1, d. 246, l. 331; Revisionsprotokoll für die Staatsanwaltschaft Molotov, 13.7.–31.7.195, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 2522a, l. 282.

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Die Staatsanwaltschaft nach 1945

Ende der 1940er-Jahre insgesamt verbessert hatte, waren solche Fortschritte nicht von Dauer (wie nachfolgende Berichte zur Kolonie in Kungur aus den 1950er-Jahren nahelegen).283 Abhängig von der Bereitschaft des inspizierenden Beamten, mehr Zeit für die Besuche aufzuwenden, variierten letztlich auch die Ergebnisse. Aus Sicht der Staatsanwaltschaft ergaben sich im Laufe der 1940er-Jahre keine zusätzlichen Handlungsspielräume, um die Versorgung und die Betreuung der Jugendlichen in regelhafte Bahnen zu lenken. Selbst da, wo sie strafrechtlich gegen das Personal vorgehen konnte (Kinderhäuser), konnte sie außer neuen Gerichtsprozessen keine flächendeckenden Veränderungen anstoßen. Die Staatsanwaltschaft war im Bilde darüber, dass der Bildungsauftrag und das Betreuungskonzept aus Kriegszeiten noch immer weit von der planmäßigen Umsetzung entfernt waren. Ähnlich wie im Bereich der Haftaufsicht blieb es jedoch meist bei der Dokumentation bestimmter Missstände, und selbst dann waren Geduld und Akribie gefragt, die nicht alle Beamten aufbrachten.

5.6.2 Die Strafverfolgung Minderjähriger Die Statistiken des Justizministeriums und der Staatsanwaltschaft lassen für die Zeit nach 1945 wenig konkrete Rückschlüsse auf die Arbeitsweise ihrer Beamten zu. Die verfügbaren Zahlen zu den verhandelten Strafsachen gegen Minderjährige deuten lediglich einen Trend an: der eigentliche Klimax an Strafverfahren gegen Minderjährige wurde 1945/1946 in der Sowjetunion erreicht. Das habe vor allem damit zusammengehangen, dass sich die Grundversorgung für die Bevölkerung in der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre stabilisierte. Wurden in Molotov gegen Kriegsende hin noch über 400 Jugendliche pro Quartal vor Gericht gebracht, waren es gegen Ende der 1940er-Jahre zwischen 400 und 500 über das gesamte Jahr.284 Auf den ersten Blick ebbte die Kriminalitätswelle folglich um die Jahre 1947/48 ab. Dass sich die Zahl der Gerichtsverfahren reduzierte, ist jedoch nicht allein auf die vermeintlich verbesserten Lebensumstände zurückzuführen. Aus dem Innenministerium und der Staatsanwaltschaft gingen bis 1950 immer neue Forderungen ein, das Netz aus Fürsorgeeinrichtungen und Kolonien zu erweitern. Wie im vorigen Abschnitt beschrieben, waren nie so viele Kinder obdachlos wie in den ersten Jahren

283 Vgl. Kapitel 6.3.4.; Überprüfungsakte zur Arbeitserziehungskolonie von Kungur für den Zeitraum, 8.10.1955–8.2.1956, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 646, l. 21–25. 284 Vgl. Fürst, Stalin’s Last Generation, S. 169; Jahresbericht der Staatsanwaltschaft Molotov für 1945, o. D. [vermutlich Januar 1946], in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 844, l. 134; Bericht über die Arbeit der Staatsanwaltschaft Molotov für 1950–1953, o. D. [vermutlich Januar 1954], in:GAPK, f. 1366, op. 1, d. 194, l. 21.

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nach dem zweiten Weltkrieg. Besonders die Zahl der Straßenkinder, die aus den ländlichen Gebieten im Westen des Landes vor der Hungersnot flohen, war 1947 noch immer erschreckend hoch.285 Der Großteil dieser Menschen wurde nach ihrer Festnahme jedoch ohne Gerichtserfahren in eine Erziehungskolonie oder ähnliche Einrichtungen des Innenministeriums verbracht – eine Praxis, die vor allem bei minderjährigen Eigentumsdelinquenten explizit angeordnet wurde.286 Die sowjetische Regierung ‚bewältigte‘ (sofern man die zwangsweise Internierung hunderttausender Jugendlicher so nennen kann) den Strom an heimatlosen Minderjährigen mit außergerichtlichen Mitteln. Parallel dazu setzten Staatsanwälte und Richter ihre Bemühungen in der Nachkriegszeit fort, die gesonderten Bedingungen und Umstände für die Ermittlungs- und Strafverfahren gegen Minderjährige zu gewährleisten. Nirgendwo sonst bündelte sich die professionelle Überzeugung, ein regelhaftes Verfahren zu garantieren wie in diesem Bereich. Die Zahl der gesprochenen Urteile wurde dadurch nicht direkt beeinträchtigt. Der unbedingte Druck, eröffnete Verfahren auch zu einem Urteil zu führen, ließ wenig Spielraum, einmal gesprochene Urteile in größerem Maße anfechten zu lassen. Mit Blick auf die Verfahrensphasen davor offenbart sich allerdings ein qualitativer Progress. Zwischen 1948 und 1952 schwankte die Zahl der Verfahren, die sowjetische Gerichte gegen Minderjährige vor einem Urteilsspruch an die Ermittler zurücksandten, zwischen 0,4 und 1,9 Prozent. Im gleichen Bereich bewegte sich der Anteil der Verfahren, die die Staatsanwaltschaft einstellen ließ.287 95 Prozent aller Ermittlungen gegen Minderjährige resultierten folglich in einem Urteilsspruch. Im Umkehrschluss strengte die Staatsanwaltschaft fast nur Anklagen an, die auch vor Gericht Bestand haben würden. Dieser qualitative Fortschritt hatte einen wichtigen Anteil daran, dass die Zahl der vor Gericht gebrachten Minderjährigen seit 1945 kontinuierlich sank.288 Die Staatsanwaltschaft ermittelte zunehmend präziser. 285 Vgl. Kelly, Children’s World, S. 246; Schreiben des Innenministers, Kruglov, an Andrej Ždanov, 19.4.1947, in: RGASPI, f. 17, op. 121, d. 612, l. 14–15. Von den genannten 103.000 Jugendlichen, die auf die Fürsorgeeinrichtungen verteilt werden mussten, stammten Kruglov zufolge mehr als 36.000 aus den ländlichen Gebieten. 286 179.529 „obdachlose“ und „aufsichtlose“ Jugendliche griff die Miliz im ersten Halbjahr 1952 in der ganzen Sowjetunion auf. Nur 13.341 (7,4 %) davon kamen vor Gericht. Vgl. Mitteilung der Arbeitsgruppe für Minderjährige bei der Generalstaatsanwaltschaft an den stellvertretenden Generalstaatsanwalt, Boldyrev, 19.9.1952, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 3176, l. 24; Ergänzender Befehl des Obersten Sowjets zur Anwendung des Befehls vom 4.6.1947 für Minderjährige unter 16, 17.2.1948, in: Morozov, Sbornik dejstvujuščich postanovlenii, S. 17–19. 287 Vgl. ebd., l. 27. 288 1945 wurden 52.012, 1946 wurden 41.341 und in den Jahren 1951/1952 durchschnittlich 20.000 bis 22.000 Jugendliche vor Gericht gestellt. Vgl. Mitteilung der Arbeitsgruppe für Minderjährige bei der Generalstaatsanwaltschaft an den stellvertretenden Generalstaatsanwalt, Boldyrev, 19.9.1952,

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Die sowjetische Justiz führte in der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre prozessrechtliche Neuerungen ein, die den juristischen Umgang mit Minderjährigen weiter ausdifferenzierten. Gleichzeitig übernahm die Staatsanwaltschaft mehr Verantwortung und ihre Arbeitsgruppe für Jugendkriminalität mehr Kontrolle in den Prozessphasen. Im Mai 1947 verpflichtete der Leiter der Arbeitsgruppe in der Generalstaatsanwaltschaft, Tadevosjan, die regionalen Leiter, das gesamte Strafverfahren gegen Minderjährige unter die Aufsicht der Arbeitsgruppen zu stellen: Von der Ermittlung bis zum potenziellen Kassationsverfahren müsse jeder Fall durch die Hände der Arbeitsgruppe gehen, in den ein Minderjähriger involviert sei. Proteste dürften nicht mehr der Gerichtsaufsicht überlassen werden. Tadevosjan forderte explizit eine eigene Aufsichtsfunktion für Minderjährige vor Gericht, im Rahmen der bestehenden Arbeitsgruppen. Inwiefern die Abteilung für Gerichtsaufsicht über diese Pläne informiert war, ist unklar. Tadevosjan signalisierte aber, dass die Kontrolle über solche Verfahren in einer Hand liegen müsse, um ein optimales Verfahren zu garantieren.289 Dieser Anspruch war auch statistisch begründbar. Nach Ende des Krieges waren Staatsanwälte in fast allen Gerichtsverfahren anwesend, in denen ein Minderjähriger auf der Anklagebank saß. Im zweiten Halbjahr 1946 traf dies in der ganzen Sowjetunion auf 80 Prozent, in Molotov sogar auf 92 Prozent der Verfahren zu. Nicht nur vor Gericht, auch in den Ermittlungen übernahm die Staatsanwaltschaft zunehmend mehr Verantwortung für minderjährige Straftäter. 1948 wurden zwei Drittel der sowjetischen Ermittlungsverfahren gegen Kinder und Jugendliche von Beamten der Staatsanwaltschaft geleitet. 1952 waren es bereits über 70 Prozent. Innerhalb eines halben Jahrzehnts gewann die Staatsanwaltschaft die Aufsicht über die Mehrheit aller Strafsachen gegen Minderjährige.290 Der prozessrechtliche Wandel war weniger an der Prozessordnung selbst ablesbar (deren Fassungen zwischen 1943 und 1956 ohne den Annex zur Jugendkriminalität veröffentlicht wurden)291, als vielmehr an den Instruktionen und Leitfäden, die die in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 3176, l. 24; Statusbericht zur Übergabe der Staatsanwaltschaft an Safonov, 17.2.1948, in: GARF, f. R-8131, op. 38, d. 486, l. 59. 289 „Man muss es zum Prinzip machen: wenn eine Strafsache eingestellt und ein Freispruch verkündet wird, müssen die Staatsanwälte der Gruppe wissen, warum dies passiert ist und für sich entsprechende Schlüsse ziehen“. Schreiben Tadevosjans an alle Leiter der Arbeitsgruppen für Angelegenheiten Minderjähriger in der Staatsanwaltschaft, 5.5.1947, in: GARF, f. R-8131, op. 37, d. 3540, l. 6. 290 Ebd., l. 5; Statusbericht zur Übergabe der Staatsanwaltschaft an Safonov, 17.2.1948, in: GARF, f. R-8131, op. 38, d. 486, l. 59; Mitteilung der Arbeitsgruppe für Angelegenheiten Minderjähriger an den stellvertretenden Generalstaatsanwalt Bolbyrev,19.9.1952, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 3176, l. 27. 1944/45 war das Verhältnis in Molotov noch genau umgekehrt, als drei Viertel dieser Ermittlungen von der Miliz geführt wurden. Vgl. Bericht der Staatsanwaltschaft Molotov über die Arbeit im Jahr 1945, o. D. [vermutlich Januar 1946], in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 844, l. 134. 291 Vgl. Ugolovno-processualʼnyj kodeks. Oficialʼnyj tekst s izmenenijami na 1 fevralja 1956 g. i s

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Arbeitsgruppe in Moskau und der Generalstaatsanwalt an die Beamten weitergaben. Ein methodischer Leitfaden des Generalstaatsanwaltes aus dem Jahr 1950 sah vor, die Ermittlungspraxis im Umgang mit Minderjährigen zu standardisieren. Im Mittelpunkt der Ausführungen stand die Psyche des jugendlichen Verdächtigen, „die leicht den äußeren Einflüssen und Einwirkungen nachgibt“. Diese Tatsache drohte prinzipiell jedes Verfahren zu kompromittieren. Falsche und unsachgemäße Fragetechniken (Drohungen oder falsche Versprechen von Seiten des Ermittlers) führten zu zweifelhaften Erkenntnissen und somit „minderwertigem Beweismaterial.“ Vor allem aber „demonstrieren sie nur die Machtlosigkeit des Befragenden und seine Unfähigkeit mit Kindern zu arbeiten“.292 Zeugenbeeinflussung und illegale Verhörtechniken gefährdeten also nicht nur das Verfahren, sie galten als Ausweis unwürdiger Berufspraxis. Mehrfache Befragungen würden diesen Effekt noch verstärken, weshalb staatsanwaltschaftliche Ermittler auf eine angenehme und ruhige Frageumgebung im ersten Verhör achten müssten. Suggestivfragen seien generell (auch im Umgang mit Erwachsenen) zu unterlassen. Gleiches gelte auch für die Befragungen minderjähriger Zeugen. Vor allem aber müsse der/die Befragte gemeinsam mit den Eltern über den Verlauf der Ermittlungen und das Beweismaterial informiert werden.293 Das Ziel war es nach wie vor, eine begründete Anklage vor Gericht zustande zu bringen. Der Schlüssel dazu lag aus Sicht der Generalstaatsanwaltschaft jedoch in der Ermittlungsführung und deren prozessrechtlichem Rahmen, und dieser Rahmen fasste zunehmend mehr Details und Eventualitäten (wie die Psyche eines Kindes). Ein weiteres technisches Problem in der Ermittlungsarbeit bestand darin, Alter und Identität eines Verdächtigen zu bestimmen. Gerade junge Erwachsene gaben sich im Verhör oftmals als minderjährig aus, um der Lagerhaft zu entgehen. Ermittler hatten nur selten die Geburtsurkunde oder einen Arzt in der Nähe, um das tatsächliche Alter zu ermitteln. Entsprechend wuchs der Anteil insgeheim volljähriger Straftäter in den Erziehungskolonien.294 1950 verbot die Generalstaatsanwaltschaft ihren Ermittlern, Anklage zu erheben, ohne den dokumentarischen Nachweis über das Alter des Beschuldigten.295 Der Befehl wurde 1952 noch einmal durch ein Rundschreiben bekräftigt, was darauf hindeutet, dass sich diese Anordnung nur schleppend priloženiem po-statejno-sistematizirovannych materialov, hrsg. vom Ministerium für Justiz der RSFSR. Moskva 1956. 292 Auszug aus einem methodischen Instruktionsschreiben der Generalstaatsanwaltschaft, 1950, in: Vilenskij, Deti GULAGa, S. 417. 293 Vgl. ebd., S. 420. 294 Vgl. Auszug aus einer Direktive der Generalstaatsanwaltschaft, 25.12.1952, in: Vilenskij, Deti GULAGa, S. 502. 295 Vgl. Befehl über das Verbot zur Weiterverschickung von Strafsachen gegen Minderjährige vor Gericht, ohne genaue Altersbestimmung, 29.4.1950, in: GARF, f. R-8131, op. 28, d. 1, l. 37.

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in der Praxis durchsetzte. Entscheidend war, dass die Staatsanwaltschaft die Vermischung von minderjährigen und erwachsenen Straftätern im frühesten Stadium der Ermittlung zu verhindern suchte – auch das war ein Indiz für die zunehmende Spezialisierung der Ermittlungsarbeit bei Jugendstraftaten. All diese Impulse und Neuerungen wurden nicht flächendeckend und umstandslos durchgesetzt. Im Herbst 1947 beispielsweise wurden 291 Schüler in Molotov vor Gericht gebracht, die sich unerlaubt von ihren Schulen entfernt hatten. In nur 25 Fällen hatten die zuständigen Ermittler überhaupt mit den Eltern gesprochen, in 48 Fällen waren sie in der Schule vorstellig geworden.296 Ohne den Einsatzwillen oder die Zeit, zusätzliche Anstrengungen im Ermittlungsprozess auf sich zu nehmen, blieben neue Verordnungen wirkungslos. Dennoch ging von der Generalstaatsanwaltschaft ein deutliches Signal an die Beamten: Mangelhafte Verhörpraktiken fallen auf die Staatsanwälte zurück. Ein Beamter der zentralen Arbeitsgruppe für Angelegenheiten Minderjähriger gab der Staatsanwaltschaft in Molotov zu Bedenken, dass ein Verhör mehr abverlange, als zu fragen, welche Kleidungsstücke der Verdächtige aus der Schule mitgenommen hat.297 Steigende Kriminalitätsraten führten automatisch dazu, dass die Staatsanwaltschaft die Details der Ermittlungsarbeit schärfer in den Blick nahm. Im Umkehrschluss bedeutete die zentrale Arbeitsgruppe für Angelegenheiten Minderjähriger allen Staatsanwälten, der Miliz künftig keine Ermittlungen in diesem Bereich mehr zu überlassen: Sehr oft wird das Alter eines Beschuldigten aufgrund der Worte des Minderjährigen selbst angegeben, nichts wird dokumentarisch festgehalten, die Persönlichkeit der Beschuldigten wird nicht studiert, in der Strafsache gibt es nur spärliche und unbestätigte Informationen über die Persönlichkeit […] Um die Qualität der Ermittlungen von Fällen Minderjähriger zu erhöhen, müssen wir, außer den allgemeinen Maßnahmen in dieser Richtung, die Ermittlung dieser Fälle den Organen der Miliz vollständig aus der Hand nehmen.298

Der Professionalisierungstrend äußerte sich nicht allein darin, dass die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungstechniken weiterentwickelte und die Ermittlungsarbeit an sich zog. In das Aufgabengebiet eines Ermittlers gehörte es auch, die Umstände und womöglich die Ursachen einer Jugendstraftat zu klären und auch hier veränderte sich, angesichts einer Kriminalitätswelle neuer Qualität, der Blick der ermittelnden Beamten. In der Öffentlichkeit stimmte die Fachpresse der Staatsanwaltschaft in 296 Vgl. Bericht des Staatsanwalts der Arbeitsgruppe für Minderjährige bei der Generalstaatsanwaltschaft, Deliev, o. D. [vermutlich Herbst 1947], in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 636, l. 35–36. 297 Vgl. ebd. 298 Mitteilung der Arbeitsgruppe für Minderjährige bei der Generalstaatsanwaltschaft an den stellvertretenden Generalstaatsanwalt, Boldyrev, 19.9.1952, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 3176, l. 28.

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den üblichen Tenor ein, dass die Ursachen für Jugendkriminalität „in den Überbleibseln des Kapitalismus wurzeln“.299 Im innerbehördlichen Austausch standen allerdings soziale Probleme im Vordergrund, die unterschiedlich deutlich benannt wurden. Als sich zum Ende der 1940er-Jahre das Profil des minderjährigen Täters zu verändern begann, Kriminalität zum Teil jugendlicher Lebenskultur wurde und der chuligan stärker als Tätertypus in Erscheinung trat, zeigten sich Ermittler, Richter und Milizionäre immer offener für soziale Kausalitäten, die es im offiziellen Sprachgebrauch der Partei gar nicht geben durfte. Das Justizministerium forderte von der Staatsanwaltschaft schon länger, jugendliche Verdächtige auf ihren Familienhintergrund zu überprüfen. Alleinstehende Elternteile oder Kriegswitwen verlören häufiger die Kontrolle über ihre Kinder.300 Auf der Bezirksversammlung der Staatsanwälte, Richter und der Miliz in Molotov im Dezember 1952 gingen die anwesenden Beamten noch weiter. Das Phänomen chuliganstvo bereitete gerade der Miliz ernsthafte Probleme, die als Ordnungskraft immer häufiger einschreiten musste, wenn es zu Schlägereien, öffentlichen Trinkgelagen oder anderen Auffälligkeiten kam. Der Milizionär Roščektaev und sein Kollege Fiminov kritisierten nicht nur, dass die Jugendlichen „sich selbst überlassen“ seien. Der Verkauf von Alkohol auf Schulhöfen heize diese Situation noch an. Das Versagen des Komsomol sei augenfällig. Derartige Fälle seien nicht allein ein Problem der Ermittler: „Die Allgemeinheit [obščestvennosti] selbst muss den Kampf gegen Hooliganismus führen“.301 Roščektaev sah mit der „Allgemeinheit“ vor allem den Komsomol in der Verantwortung. Dessen Mitglieder waren häufig selbst in solche Schlägereien verwickelt. Zahlreiche Übergriffe kamen aus den Reihen der sozialistischen Jugendorganisation. Eine Bezirksstaatsanwältin knüpfte daran an und forderte, dass man Aufklärungsarbeit noch in den Schulen leisten müsse und sich nicht allein an der Aussage festhalten könne, dass „Jugendaufsichtslosigkeit und Jugendobdachlosigkeit in unserem Land ausgemerzt“ seien.302 Gewalt und Armut in den Familien waren kein Diskussionsthema, aber der Kontrollverlust der zuständigen Behörden (Miliz, Staatsanwaltschaft und Komsomol). Vor diesem Hintergrund erschien Jugendkriminalität implizit als Problem der sowjetischen Gesellschaft.

299 Na vsesojuznoj metodičeskoj konferencii Prokurorov po delam nesoveršennoletnich, in: Socialističeskaja zakonnostʼ 10 (1950), S. 79. 300 Vgl. Bericht über das Studium der Gerichtspraxis in Zusammenhang mit Straftaten Minderjähriger durch die Verwaltung bei Justizministerium in Molotov, 4. Quartal 1952, in: GAPK, f. 1461, op. 2, d. 201, l. 18. 301 Protokoll der überbehördlichen Versammlungen der Gerichte, Staatsanwaltschaft und Miliz im Bezirk Molotov, 29.12.1952, in: GAPK, f. 1366, op. 3, d. 53, l. 2. 302 Ebd., l. 3.

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Bei den Konsequenzen, die man als Ermittlungsbeamter aus diesem Problem hätte ziehen können, traten Miliz und Staatsanwaltschaft jedoch auf der Stelle: „Ein positiver Fakt ist der Umstand, dass es im zweiten Halbjahr keinen Freispruch und keine Zurücksendung von Strafsachen zur Ermittlung gab. Doch diese Werte bestimmen noch nicht die Qualität unserer Arbeit. […] man darf sich nicht von den Werten der Arbeit berauschen lassen“.303 Für den Stadtstaatsanwalt von Molotov, Kudrjaščev, bot die Erforschung der Ursachen solcher Delikte die Gelegenheit, das Versagen der Ermittlungsbeamten zu thematisieren, die sich auf statistischen Erfolgsmeldungen ausruhten. Dass Jugendkriminalität von der Mitte der sowjetischen Gesellschaft ausging, stand unkommentiert im Raum. Die Deutung und Erörterung dieser Zusammenhänge wurde als Problem der Partei- und Jugendorganisationen gesehen. Die strafrechtlichen Konsequenzen sollten die Gerichte ziehen. Hier setzte sich die Rollenverteilung fort, die auch während des Krieges zu beobachten war. Die Staatsanwaltschaft trug die Verantwortung für ein regelhaftes Ermittlungsverfahren, das den Anforderungen einer Jugendstrafsache gerecht wurde, während erst die Richter mit ihrem Urteil den etwaigen Umständen der Tat strafrechtliches Gewicht verleihen konnten. Die Zahl der gesprochenen Bewährungsurteile für Minderjährige spricht dafür, dass gewisse Umstände auch nach 1945 strafmildernd ausgelegt wurden. Selbst während der Kampagne gegen Diebstahl blieb der Anteil an Bewährungsstrafen verhältnismäßig stabil. Viele Richter griffen bei Eigentumsdelikten durch Minderjährige sogar vorzugsweise auf Artikel 51 und 53 zurück.304 Im Sommer 1947 bewegte sich der Anteil ausgesprochener Bewährungsstrafen für Minderjährige in Molotov bei durchschnittlich 15 Prozent, während er im Herbst desselben Jahres auf über 34 Prozent stieg. Einige Jahre danach, im vierten Quartal 1952, lag der Wert bei etwa einem Viertel. Die Anordnung des Obersten Sowjet vom Februar 1948, von Freiheitsstrafen bei Eigentumsvergehen für Täter unter 16 abzusehen, sanktionierte diese Praxis zusätzlich.305 Doch auch bei den übrigen Delikten wurden Kinder und Jugendliche nach wie vor überproportional häufig von Haftstrafen verschont. Besonders bei den unter 16-Jährigen zeigten sich Richter äußerst zurückhaltend mit Freiheitsstrafen. In der ganzen RSFSR lag der durchschnittliche Anteil an Bewährungsurteilen für diese Gruppe im Jahr 1952 bei 44 Prozent. Bei

303 Ebd., l. 4–5. 304 Ähnlich wie bei Artikel 53 (Bewährungsstrafe), sah Artikel 51 in ähnlicher Weise vor „bei Bemessung der Maßnahmen des sozialen Schutzes unter das Mindestmaß hinabzugehen“. Feste Kriterien zu dessen Anwendung gab es nicht. Strafgesetzbuch der RSFSR, S. 22. 305 Vgl. Bericht über das Studium der Gerichtspraxis in Zusammenhang mit Straftaten Minderjähriger durch die Verwaltung bei Justizministerium in Molotov, 4. Quartal 1952, in: GAPK, f. 1461, op. 2, d. 201, l. 8; Ergänzender Befehl des Obersten Sowjets zur Anwendung des Befehls vom 4.6.1947 für Minderjährige unter 16, 17.2.1948, in: Morozov, Sbornik dejstvujuščich postanovlenii, S. 17–19.

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bestimmten Vergehen, wie Diebstahl, aber auch Vergewaltigung und Hooliganismus, lag dieser Wert sogar zwischen 50 und 60 Prozent.306 Die zuständigen Gerichte rechtfertigten diese Entscheidungen meist damit, dass die Kinder von älteren, meist erwachsenen Kriminellen zur Tat angestiftet worden seien. Wer zudem unter schwierigen „häuslichen Bedingungen“ lebte, noch nicht vorbestraft und in der Produktion, der Schule oder im Komsomol positiv aufgefallen war, hatte ebenso gute Aussichten auf eine Bewährungsstrafe. Der 16-jährige Šagabutdinov und ein Freund namens Subakov wurden im Herbst 1952 in Molotov angeklagt, Honig gestohlen zu haben. Die Anklage erfolgte unter Artikel 1 des Befehls vom 4. Juni 1947. Šagabutdinovs Strafe wurde aber zur Bewährung ausgesetzt, weil „er von Šubakov verführt wurde, er nicht mit ähnlichen früheren Fällen in Verbindung gebracht wird, nicht vorbestraft ist, ein gutes Urteil von der Kolchose ausgestellt bekam und gerade erst sein sechzehntes Lebensjahr vollendet hat.“307 Bis zu einem gewissen Grad spielten der soziale Hintergrund und die Umstände der Tat in die Entscheidungen der Richter hinein. Ihre Mitgliedschaft im Komsomol und ihre Bedeutung als Arbeitskraft waren ebenfalls wichtige Faktoren dafür, von einer Haftstrafe für Kinder und Jugendliche abzusehen, zumal die Leiter der Jugendorganisationen und Schulen an dieser Stelle zusätzlich Druck ausübten, um ihre Schützlinge vor dem Lager zu bewahren.308 Richter hatten zahlreiche legitime Rechtfertigungen zur Hand, um Bewährungsstrafen für jugendliche Täter zu verhängen. Die Staatsanwaltschaft musste prinzipiell mittels Protest demonstrieren, dass sie Bewährungsurteile nicht vorbehaltlos und kategorisch stehen ließen. Angesichts 60-prozentiger Bewährungsquoten hielt Tadevosjans Nachfolger bei der zentralen Arbeitsgruppe für Minderjährige, Orlov, 1952 fest: „Die massenhafte Praxis der Anwendung der Paragraphen 51 und 53 durch die Gerichte, in Bezug auf Minderjährige, unter Verweis auf die Spezifik der Fälle dieser Kategorie, ist kaum zu rechtfertigen.“309 Die Richter machten großzügig von ihrem Recht Gebrauch, diese

306 Vgl. Mitteilung der Arbeitsgruppe für Minderjährige bei der Generalstaatsanwaltschaft an den stellvertretenden Generalstaatsanwalt, Boldyrev, 19.9.1952, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 3176, l. 29. 307 Bericht über das Studium der Gerichtspraxis in Zusammenhang mit Straftaten Minderjähriger durch die Verwaltung bei Justizministerium in Molotov, 4. Quartal 1952, in: GAPK, f. 1461, op. 2, d. 201, l. 11. 308 Im Herbst 1950 bat der Leiter der Regionalen Arbeitsreservenabteilung (die den Handelsschulen vorstand) Staatsanwalt Jakovlev (vergeblich) um dessen Einsatz bei der Republiksstaatsanwaltschaft für eine Gruppenamnestie von 58 Schülern. Vgl. Antwortschreiben Jakovlevs an den Leiter der Verwaltung für Arbeitsreserven, Chazov, 19.12.1950, in: PGASPI, f. 105, op. 16, d. 213, l. 73. 309 Mitteilung der Arbeitsgruppe für Minderjährige bei der Generalstaatsanwaltschaft an den stellvertretenden Generalstaatsanwalt, Boldyrev, 19.9.1952, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 3176, l. 29.

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Die Staatsanwaltschaft nach 1945

„Spezifik“ zur Grundlage für die Bewährungsentscheidung zu nehmen. In der Masse der Fälle zeigten sich die Beamten der Staatsanwaltschaft aber weder fähig noch willens, diese Entscheidungen anzufechten. Wie bei der Kampagne gegen Diebstahl zu beobachten war, scheiterte die Mehrheit der Proteste ohnehin am Ermessen der Regionalgerichte. Im vierten Quartal 1952 beispielsweise wies das Gerichtskollegium des Regionalgerichtes von Molotov 95 Prozent aller Beschwerden und Proteste in Bezug auf ergangene Urteilssprüche gegenüber Minderjährigen ab.310 Die Staatsanwaltschaft war einerseits nicht in der Lage, die Gerichtspraxis flächendeckend zu beeinflussen. Andererseits waren sich sowohl die Arbeitsgruppe in Moskau als auch ihre Vertreter in der Region der „Spezifik“ von Jugendstraffällen genauso bewusst und erkannten diese als Entscheidungsgrundlage für Richter an. Ein Mitarbeiter der zentralen Arbeitsgruppe hielt im Herbst 1947 fest: „Fälle Minderjähriger ziehen normalerweise mildernde Strafmaße nach sich – unter Verweis auf die Familiensituation, Waisenstand [sirotstvo] u. ä.“.311 Staatsanwälte müssten entsprechend Urteile anfechten, die in solchen Fällen keine Bewährung vorsahen. Eindeutige Kriterien zur Anwendung wollten die Vorgesetzten indes nicht geben. Vor allem 16und 17-Jährige galten als Grenzfälle. Wie auch bei den Eigentumsvergehen wollte die Generalstaatsanwaltschaft ihren Mitarbeitern signalisieren, dass es Spielräume für diese „Spezifik“ gab und die Richter sie nutzten. Welche Umstände unter diese Spezifik genau fielen und legitim waren, entschieden die Beamten von Fall zu Fall. Anders als im Erwachsenenstrafrecht waren Proteste und Eingaben sowohl gegen „Milde“ (mjagkostʼ) als auch gegen richterliche „Strenge“ (žetkostʼ) zu richten, wie ein Informationsschreiben des Staatsanwaltes der RSFSR noch einmal in Erinnerung rief.312 Dass die Bewährungsstrafe für den 16-jährigen Šagabutdinov nicht vom zuständigen Staatsanwalt in Molotov angefochten wurde, entsprach dieser Vorgehensweise. Statistisch gesehen fügte sich die Staatsanwaltschaft der Urteilspraxis der Gerichte. Eineinhalb Jahre nachdem Orlov festgestellt hatte, dass Bewährungsurteile in fast zwei Drittel aller Verfahren gegen Minderjährige „kaum zu rechtfertigen seien“, rang er sich zu einer anderen Grundsatzaussage durch: „die breite Anwendung der Artikel 51 [Unterschreitung des Mindeststrafmaßes, I. R.] und 53 [Bewährung, I. R.] durch die Gerichte in Bezug auf Minderjährige (zwischen

310 Vgl. Bericht über das Studium der Gerichtspraxis in Zusammenhang mit Straftaten Minderjähriger durch die Verwaltung bei Justizministerium in Molotov, 4. Quartal 1952, in: GAPK, f. 1461, op. 2, d. 201, l. 12. 311 Bericht des Staatsanwalts der Arbeitsgruppe für Minderjährige bei der Generalstaatsanwaltschaft, Deliev, o. D. [vermutlich Herbst 1947], in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 636, l. 37ob. 312 Informationsschreiben des Staatsanwalts der RSFSR, 3.7.1950, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 638, l. 58.

Der strafrechtliche Umgang mit Minderjährigen

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12 und 15 Jahren) muss man folglich als grundsätzlich richtig anerkennen.“313 Zwar seien die Proteste des Generalstaatsanwaltes und des Staatsanwaltes der RSFSR im Jahr 1953 zugelassen worden, dies habe jedoch landesweit nur 243 Personen betroffen. Die Gerichte schufen mit ihren Bewährungsurteilen Tatsachen, die die Staatsanwaltschaft ebenso aus Überzeugung wie aufgrund mangelnder Weisungsgewalt mittrug. Die sowjetische Jugendkriminalität entwickelte sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in eine neue Richtung. Gewalt und Nonkonformismus, Diebstahl und die Demonstration von Individualität gehörten zunehmend zum kulturellen Code und zur Alltagserfahrung der ersten Generation, die nach Kriegsende erwachsen wurde. Gleichzeitig war kriminelles Verhalten eine Frage der Existenzsicherung – für diejenigen, die ihre Eltern durch den Krieg verloren hatten. Um die Kontrolle über diesen Teil zurückzugewinnen, setzte das Regime weiterhin auf den ausgedehnten Apparat des Innenministeriums und die Einrichtungen des Bildungs- bzw. Gesundheitswesens. Die Staatsanwaltschaft machte ihren Einfluss spät und punktuell geltend, ohne die Perspektiven der Jugendlichen flächendeckend beeinflussen zu können. Jugendobdachlosigkeit wurde außergerichtlich verwaltet. Der kulturelle Wandel schlug sich vor allem darin nieder, dass zahlreiche Komsomolmitglieder oder eben Jugendliche mit einem Arbeits- oder Schulplatz in den Fokus der Strafbehörden gerieten. Staatsanwaltschaft, Miliz und Gerichte nahmen Notiz von der neuen Qualität der Jugendstraftaten. Die Diskussion über chuligan­ stvo beinhaltete auch, Rückschlüsse auf die Motive und den sozialen Hintergrund eines Täters zu ziehen. Die Staatsanwaltschaft erkannte ihre praktische Aufgabe jedoch eher darin, die Ermittlungsarbeit stärker auf die spezifischen Anforderungen der Jugendkriminalität abzustimmen. Dabei konnte sie zählbare Erfolge vorweisen. Präzisere Ermittlungen und zugleich der Abzug der Fälle aus der Zuständigkeit der Miliz trugen mit dazu bei, dass die Zahl der Gerichtsverfahren gegen Minderjährige insgesamt sank. Sozialistische Moralvorstellungen spielten dabei keine Rolle. Die Bedeutung moderner Ermittlungstechnik überwog die Ursachenanalyse für Jugendstraftaten. Dass ein Ermittler die Ursachen und die Umstände der Straftat eines Minderjährigen festhielt, bedeutete nicht, dass er die Strafsache deswegen einstellte. Wenn es Hinweise darauf gab, dass ein Jugendlicher aus äußeren Umständen zu einer Tat verleitet wurde, gehörte er dennoch bestraft. Die Tatumstände hatten lediglich Einfluss auf das Strafmaß. Entweder er/sie wurde ohne Verfahren in eine Besserungsarbeitskolonie verbracht, oder man delegierte das Problem an die Gerichte, die ihrerseits deutliche Schlüsse aus den Umständen zogen und zwischenzeitlich 313 Bericht des Leiters der zentralen Arbeitsgruppe für Angelegenheiten Minderjähriger, Orlov, an den stellvertretenden Generalstaatsanwalt, Mišutin, 25.12.1953, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 3176, l. 114.

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Die Staatsanwaltschaft nach 1945

jedes zweite Urteil zur Bewährung aussetzten – auch um die sowjetische Jugend nicht flächendeckend zu kriminalisieren. Die Staatsanwaltschaft erkannte die Notwendigkeit und die Grenzen ihrer Möglichkeiten an, um diese Entscheidungen mitzutragen. Solange die Zahl der Freisprüche auf ein Minimum begrenzt werden konnte, beschränkten sich ihre Ambitionen überwiegend darauf, ein präzises und regelhaftes Ermittlungsverfahren zu gewährleisten.

5.7 Zw i s che n f a z it In der sowjetischen Nachkriegszeit spielte das MVD eine bedeutende Rolle. Unter der Führung Berijas und seiner Stellvertreter erstarkte die Geheimpolizei als Machtfaktor in den neu annektierten Gebieten. Sie dirigierte die Kampagnen gegen kulturelle Eigenständigkeit, gegen die Rückzugsräume der Intelligencija, im Zuge der ždanovščina, und bereitete den Auftakt für die potenziell nächsten Massenoperationen im Kampf gegen das „Kosmopolitentum“ oder die „Ärzteverschwörung“, denen vor Stalins Tod bereits Tausende zum Opfer gefallen waren. Zugleich erreichte das Lagersystem unter der Regie des MVD seinen Zenit als Zwangsarbeitsimperium mit über zwei Millionen Insassen. Bis 1953 war die Angst vor einer Wiederkehr der Massenverhaftungen so real wie das Gewicht, das Berijas Behörde im Kreml hatte.314 Dieser Eindruck ist begründet. Die Geheimpolizei war auf dem Gipfel ihrer Macht. Die Parallele zum Vorabend des „Großen Terrors“ führt jedoch in die Irre. Nach 1945 rückte die sowjetische Justiz schrittweise zur komplementären Handlungsoption auf, um die Gesellschaft zu disziplinieren. Die Staatsanwaltschaft emanzipierte sich von der Rolle des willigen und bedrohten Juniorpartners des Innenministeriums. Sie erwarb politisches Vertrauen unter den Umständen der Nachkriegsordnung, was zu sichtbaren Resultaten führte. 1947 lag die größte Kampagne zur Durchsetzung staatlicher Ordnungsvorstellungen seit der Kollektivierung in den Händen der Staatsanwaltschaft. Die Mehrheit der 2,5 Millionen Lagerhäftlinge zu Beginn der 1950er-Jahre war nicht auf Beschluss des Innenministeriums, sondern infolge eines Gerichtsurteils in Haft, das ein Staatsanwalt erwirkt hatte.315 Anders als 1937 unterlag die Disziplinierung von Staat und Gesellschaft nicht dem Alleinanspruch des Innenministeriums. Die politische Aufwertung der Justiz bedeutete keineswegs die Ausdehnung staatsanwaltschaftlicher Kompetenzen. Der Einflussbereich des Innenministeriums 314 Gorlizki, De-Stalinization and the Politics, S. 34–38; vgl. Filtzer, Soviet Workers and Late Stalinism, S. 2; Neutatz, Träume und Alpträume, S. 352. 315 Vgl. Auskunft des MVD über die Zahl der Inhaftierten zwischen 1921 und 1953, 11.12.1953, in: Petrov/Kokurin, GULAG. 1917–1960, S. 434.

Zwischenfazit

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blieb unangetastet. Das MVD kontrollierte die Gefängnis- und Lagerkomplexe, die Kinder- und Jugendkolonien und quasi die gesamte politische Verfolgungsmaschinerie. Vielmehr vertiefte die Staatsanwaltschaft ihre Fähigkeiten in ihrer eigenen Domäne: der nicht-politischen Strafverfolgung. Grundlage dafür war die Bildungsoffensive in der Justiz, die eine Art professionelle Inkubationsphase einläutete und zeitgleich an einen Generationenwandel geknüpft war. Die Probezeit der Staatsanwaltschaft war vorbei. Im ersten Jahrzehnt nach 1945 legte man den Grundstein für die breite Qualifikation staatsanwaltschaftlicher Kader und die Erforschung und Einführung wissenschaftlicher Kriminalistik. Das Fernziel für die Generation der 1950er- und 1960er-Jahre war eine Rechtsprechung ohne Freisprüche, basierend auf der wissenschaftlichen Optimierung des Ermittlungsverfahrens. Die Staatsanwaltschaft sollte den Schuldigen lokalisieren und die Gerichte über das Strafmaß befinden. Dieser Anspruch war kein Produkt der Nachkriegszeit, wurde aber nach 1945 zum Kern einer professionellen Agenda gemacht, die sich nicht auf die Strafjustiz beschränkte. Staatliches Handeln musste reglementiert werden, denn nur Regeln versprachen optimale Resultate. Dieser Professionalisierungstrend prägte die Ambitionen und die Arbeitsweise der Beamten bereits vor 1953 und er zeitigte unterschiedlich deutliche Resultate, die über 1953 hinauswiesen. Es war die Staatsanwaltschaft, die mit dem Argument strafrechtlicher Reglementierung die einzig valide Antwort auf die Existenzkrise des Lagersystems gab. Je größer die Ausdehnung des Gulag umso entschiedener kritisierten die Beamten das Primat der Wirtschaftlichkeit. Einzig die Regeln des Strafvollzuges (und deren Durchsetzung) konnten den sozialen Kollaps des Zwangsarbeiterimperiums abwenden. Das Primat der Regelhaftigkeit wurde vom MVD nicht akzeptiert, doch von der Staatsanwaltschaft artikuliert. Die Kampagne gegen Diebstahl und die Bekämpfung von Jugendkriminalität boten der Behörde wiederum die größten Möglichkeiten, dieses Primat praktisch anzuwenden. Die Staatsanwaltschaft leitete den politischen Erfüllungsdruck in die Routinen des Prozessrechts und ihre professionellen Ansprüche um: eine präzise und stabile Anklage zustande zu bringen. Ein drakonisches Strafmaß nahmen die Beamten in Kauf, lückenhafte Ermittlungsarbeit oder eine schwache Beweisgrundlage hingegen nicht. Bagatellvergehen wurden millionenfach mit Freiheitsstrafen geahndet, doch tausende von Fällen gelangten aufgrund des Staatsanwaltes niemals vor Gericht. Verbesserte Ermittlungstechniken und mehr Kontrolle über das Ermittlungsverfahren trugen mit dazu bei, die Zahl der Gerichtsverfahren gegen Minderjährige zu senken. Der Schlüssel zur Disziplinierung der Bevölkerung lag in der Präzision der regelhaften Ermittlung, nicht allein im Urteil des Richters oder gar im Ermessen der Geheimpolizei. Einzig die Partei entzog sich offiziell diesem Diktum. Sie war die übergesetzliche Vetomacht, unabhängig von den Reglementierungsansprüchen der Staatsanwaltschaft. Professionelles Handeln hieß, die Intervention des Parteibuches einzukalkulieren. Das

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Verhältnis von Parteilichkeit und Recht kannte keine Grundsatzentscheidungen, nur den politischen Instinkt der Beamten. Diese Einsicht war ein fester Bestandteil der professionellen Überzeugung. In allen anderen Bereichen setzten sich die Staatsanwälte für die Reglementierung, die Einhaltung von Verfahrensregeln und auch die Ausdifferenzierung eines festen Normenkataloges ein. Dieser Anspruch war die Grundvoraussetzung, um als komplementäre Handlungsoption neben dem MVD auftreten zu können. Von Gleichberechtigung zwischen beiden Herrschaftsinstrumenten im politischen Sinne konnte indes keine Rede sein. Die Auseinandersetzung zwischen Kuljapin und der Miliz hatte offenbart, wo die praktischen Grenzen dieses Anspruchs lagen; wo die Autorität des MVD unantastbar war; aber auch wie sehr dieser Anspruch von Kuljapin und seinen Kollegen internalisiert, der Wert der Prozessregeln ebenso zur beruflichen Leitidee geworden war wie das Konkurrenzverhältnis zum MVD. Wollte ein Staatsanwalt den Anspruch auf Regelhaftigkeit auf dieses Terrain tragen, waren abermals politischer Instinkt und der Rückhalt der Parteiorgane unumgänglich. Eine permanente Lösung dieses Konflikts war weder vorgesehen noch durchsetzbar. Ihren Anspruch zur Reglementierung der Staatsgewalt konnte die Staatsanwaltschaft vorerst nicht institutionalisieren, doch sie empfahl sich als Garant der Planungssicherheit und der Effizienz – für ein Regime, das die Autorität des Innenministeriums und die Prinzipien ihrer Herrschaftspraxis nach dem Tod des Diktators 1953 neu ausloten würde.

6. SOZ I A LIST ISC H E GESETZ LIC H K EI T PO ST STA LI N – DI E STA AT SA N WA LT SC H A F T I M M I T T EL PU N KT VON K R ISE U N D KONSOLI DI E RU NG

Fast eineinhalb Jahrzehnte lang schärfte die sowjetische Staatsanwaltschaft ihr Profil neben der Geheimpolizei. Seit der Einstellung der Massenoperationen 1938 gewann diese Behörde an institutioneller Kohärenz und festigte den Ausbildungskanon ihrer Beamten. Die Justizbehörden traten als Handlungsalternative zur Disziplinierung von Staat und Gesellschaft aus dem Schatten des Innenministeriums. Die Staatsanwaltschaft war dafür das wichtigste Instrument. Sie zeigte sich auf ihrem Terrain, der nicht-politischen Strafverfolgung, zunehmend durchsetzungsfähig. Mehr noch: Sie etablierte sukzessive prozessrechtliche Routinen für die sowjetische Herrschaftspraxis, sofern die politische Sicherheitsarchitektur und damit das Hoheitsgebiet des Innenministeriums nicht betroffen war; sofern die Miliz den Ansprüchen der Staatsanwaltschaft entgegenkam und sofern die Parteiorgane diese Routinen sanktionierten. Stalins Tod war eine Wegmarke für diese Entwicklung. Die Autorität Berijas (und der Geheimpolizei) fußte auch auf dem (späten) Wohlwollen des Diktators und dessen Präferenz für außergerichtliche Methoden. Unabhängig davon, wie weit diese Neigung Stalins Sicht auf alle Herrschaftsfragen beeinflusste – bis zum 5. März 1953 traf er die Entscheidungen über die Wichtung außergerichtlicher und gerichtlicher Gewalt im Staate bzw. verweigerte sie (wie die Massenoperationen oder die Geschichte des unvollendeten Strafgesetzbuches bestens illustrieren).1 Sein Tod gab der Frage neue Dynamik, welche Rolle Justiz und Geheimpolizei in diesem Staat einnehmen würden. Dabei bargen Veränderungen auf diesem Gebiet große Risiken für die Staatsführung. Die Strukturen und Routinen, in denen das Innenministerium und die Justizbehörden operierten, waren ein wichtiges Fundament der Diktatur. Viele Entscheidungsträger in der neuen Parteiführung waren nicht willens, dieses Fundament durch unerprobte Reformversuche zu erschüttern. Die Notwendigkeit für Reformen wurde also ebenso erkannt wie die Gefahren, die mit zu weitreichenden ideologischen Zugeständnissen und zu tiefgreifenden

1 Vgl. Gorlizki, Yoram/Khlevniuk, Oleg: Cold Peace. Stalin and the Soviet Ruling Circle, 1945–1953. New York 2004, S. 104; 165.

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Die Staatsanwaltschaft im Mittelpunkt von Krise und Konsolidierung

Veränderungen verbunden waren. Polly Jones prägte dafür die Formulierung von den „Dilemmata der Entstalinisierung“.2 An diesem Punkt kommt die Schlüsselfrage nach Wandel und Kontinuität zum Vorschein. Sie dominiert die Debatte über den Zäsurcharakter von Stalins Tod und über den Epochencharakter der sogenannten „Entstalinisierung“. Der Fokus auf die Ambivalenz der Reformen führt dazu, dass jeder Epochenbegriff unzureichend scheint, der Begriff ‚Reform‘ zu ambitioniert, das „Tauwetter“ von zu kurzer Dauer; Chruščev entweder als legitimer Pionier der Perestrojka oder als Sachverwalter eines im Kern dysfunktionalen und dem Untergang geweihten Staates gilt.3 Eine solche Ambivalenz prägte auch die Rolle der Staatsanwaltschaft nach 1953. Das vorliegende Kapitel rückt daher die Veränderungen gemeinsam mit den Kontinuitätslinien in den Mittelpunkt, die die Geschichte der Staatsanwaltschaft nach 1953 kennzeichnen – nicht zuletzt auch, um einen Beitrag zu jener Epochendebatte selbst leisten zu können. Wie wandelte sich die Rolle des Staatsanwalts in der Sowjetunion – auch im Zusammenspiel mit Miliz und Geheimpolizei – und welche Aspekte dieser Rolle blieben unverändert bzw. wurden bestätigt? Wie ordnete sich diese Rolle ein in die Widersprüchlichkeiten und die Ungleichzeitigkeit, die „Dilemmata der Entstalinisierung“? Die Jahre 1953 bis 1956 standen unter dem Eindruck politischer Improvisation, dem Abwägen der „kollektiven Führung“ von Reforminitiativen und dem Machtkampf der Politbüromitglieder, aus dem Chruščev 1956 als erster Mann im Staate hervorging. Entscheidend für dieses Projekt und die Geschichte der Staatsanwaltschaft war, dass in dieser Zeit die Weichen für die „wichtigste innenpolitische Leistung Chruščevs“ gestellt wurden: den „dauerhaften Bruch mit den Herrschaftsmethoden Stalins“.4 Der massive Rückbau des Lagersystems ist dafür ein wichtiges Beispiel.5 In den drei Jahren nach Stalins Tod kam es parallel zur politischen Aufwertung der Justizbehörden. Außergerichtliche Strukturen wurden zurückgebaut, geschwächt oder stärker in die Aufsicht der Partei und der Justiz eingebunden.6

2 Jones, Polly: Introduction. The Dilemmas of De-Stalinization, in: Dies. (Hg.), The Dilemmas of De-Stalinization. Negotiating Cultural and Social Change in the Khrushchev Era. London/New York 2007, S. 1. 3 Vgl. Kozlov, Denis/Gilburd, Eleonory: The Thaw as an Event in Russian History, in: Diess. (Hg.), The Thaw. Soviet Society and Culture during the 1950s and 1960s, Toronto/Buffalo/London 2013, S. 25 f.: Neutatz, Dietmar: Taking Stock of the Krushchev Era, in: Thomas M. Bohn/Rayk Einax/ Michel Abeßer (Hg.), De-Stalinisation Reconsidered. Persistence and Change in the Soviet Union. Frankfurt am Main/New York 2014, S. 251–262. 4 Neutatz, Träume und Alpträume, S. 358–363. 5 Vgl. Dobson, Miriam: Khrushchev’s Cold Summer. Gulag Returnees, Crime, and the Fate of Reform after Stalin. Ithaca (NY)/London 2009, S. 77. 6 Vgl. Gorlizki, De-Stalinization and the Politics, S. 33–74.

Die Staatsanwaltschaft im Mittelpunkt von Krise und Konsolidierung

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Chruščev gab der Abkehr von den geheimpolizeilichen Massenverfolgungen zwar eine programmatische Richtung und mit seiner Geheimrede 1956 und der Kritik am „Personenkult“ ein offizielles Deutungsangebot.7 Die wichtigsten Entscheidungen über die Anwendung staatlicher Gewalt und das Verhältnis außergerichtlicher und regelhafter Herrschaftspraktiken, so die Annahme, waren jedoch schon vor 1956 getroffen worden (nicht wenige davon trugen Chruščevs Handschrift). Einige dieser Entscheidungen wurden im Laufe der 1950er-Jahre abgeschwächt, Reformvorstöße wieder zurückgezogen. Die Instrumentalisierung der Justiz durch die Parteiführung, die Aufwertung der Staatsanwaltschaft als „Stellvertreter der Partei“8, wie Gorlizki es ausdrückte, strahlte jedoch weit über 1956 hinaus. Das folgende Kapitel beleuchtet zu diesem Zweck drei wichtige Entwicklungen der Jahre 1953 bis 1956. Diese Entwicklungen waren einerseits zentrale Bestandteile eines umfassenderen Reformprozesses, der weit über die Geschichte der Herrschaftspraxis hinausgreift. Andererseits nahm die Staatsanwaltschaft in jeder dieser Entwicklungen eine Schlüsselrolle ein. In ihnen bildeten sich das Profil, die Ambitionen und der Handlungsrahmen der Beamten ab, sowie Praktiken, die Jahre zuvor bereits eingeübt worden waren. Darüber hinaus wird an diesen Entwicklungen sichtbar, wie die Staatsanwaltschaft den Reformprozess in dieser Zeit beeinflusste. Die erste Entwicklung betrifft die politische Aufwertung der Justiz nach Stalins Tod. Zum einen initiierte die kollektive Führung mit der Kampagne für „Sozialistische Gesetzlichkeit“ eine Medienoffensive, die über die Rhetorik von Recht und Regelhaftigkeit das Vertrauen der Menschen in staatliche Strukturen stärken sollte. Diese Rhetorik half, die ersten Reformschritte zu erklären und zugleich zu legitimieren.9 Zum anderen verlieh die Parteiführung der Staatsanwaltschaft mit strategischer Kaderpolitik zusätzliches politisches Gewicht bzw. regte einen erneuten Professionalisierungsschub an, um sie durchsetzungs- und handlungsfähiger zu machen – und auch, um den Einfluss der Partei in diesen Strukturen zu vergrößern. Das Kapitel diskutiert, in welchem Ausmaß die Staatsanwaltschaft politisch aufgewertet wurde. Inwiefern bestimmte die kollektive Führung die Justiz öffentlich als Träger des Reformprozesses und wie stärkte sie die Strukturen der Staatsanwaltschaft, um ihr Potenzial für die entscheidenden Reformschritte abrufen zu können? Die Kampagne für „Sozialistische Gesetzlichkeit“ ging den großen legislativen Veränderungen der 1950er-Jahre voraus; und sie nahm einige Elemente der

7 Vgl. Schattenberg, Susanne: ‚Democracy‘ or ‚despotism‘? How the Secret Speech was translated into everyday Life, in: Jones, The Dilemmas of De-Stalinization, S. 65. 8 Gorlizki beschreibt die Staatsanwaltschaft in diesem Zeitraum als „the party’s surrogate in the legal realm“. Gorlizki, De-Stalinization and the Politics, S. 27. 9 Vgl. Dobson, Miriam: ‚Show the bandit-enemies no mercy!‘. Amnesty, Criminality and Public Response in 1953, in: Jones, The Dilemmas of De-Stalinization, S. 22.

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Die Staatsanwaltschaft im Mittelpunkt von Krise und Konsolidierung

Debatten vorweg, die innerhalb der sowjetischen Jurisprudenz noch folgen sollten. Die legislativen Schritte, wie die Verabschiedung einer neuen Prozessordnung und eines neuen Strafgesetzbuches, fallen allerdings in die Zeit nach 1956 und werden hier nicht berücksichtigt.10 Gleiches gilt für die Debatten, unter den sowjetischen Juristen, die die neue Rhetorik der Gesetzlichkeit dankbar aufgriffen und dennoch bis 1956 nur „stalinistische Katechismen“ aufbereiteten. Erst die Geheimrede Chruščevs eröffnete die Spielräume für juristische Grundsatzdebatten, wie sie vor 1953 undenkbar gewesen wären.11 Entscheidend für die Phase vor 1956, und für dieses Kapitel, war die Aufwertung der Justiz auf rhetorischer und politischer Ebene. Die zweite Entwicklung vollzog sich im früheren Hoheitsgebiet der Geheimpolizei: dem Lagersystem. Der Gulag wurde nach 1953 keineswegs aufgelöst, sondern, in den Worten von Marc Elie, vielmehr „rekonfiguriert“.12 Die kollektive Führung und die Spitzen von Justiz und Innenministerium führten eine intensive Auseinandersetzung um die Strukturen und den Zweck des Zwangsarbeitssystems. Dieses war längst zur wirtschaftlichen und sozialen Hypothek geworden.13 In der Folge wurde nicht nur die Insassenzahl bis 1956 um zwei Drittel reduziert, auch die Zusammensetzung und die Organisationsstruktur des früheren Lagerimperiums veränderten sich. Dieser Abschnitt soll beleuchten, welche Rolle die Staatsanwaltschaft bei der Umstrukturierung des Gulag spielte und wie sich dieser Wandel auf die Arbeitsabläufe der Haftaufsicht auswirkte. Inwieweit gelang es den Beamten, das Prinzip regelhafter Staatsgewalt im früheren Hoheitsgebiet der Geheimpolizei zu etablieren und wo stieß dieser Anspruch weiterhin an Grenzen? Die letzte Entwicklung betrifft das Kernprofil der Staatsanwaltschaft, an dem sich auch ihr Stellenwert als Disziplinierungsinstrument bemessen ließ: die Strafverfolgung und das Verhältnis zur Miliz. Das Regime konzentrierte seine Ressourcen nach 1953 auf den Kampf gegen nicht-politische Vergehen und strebte dabei eine präzisere Kontrolle des Sozialen an. In den 1950er-Jahren, so Robert Hornsby, vollzog die Sowjetunion die sukzessive Transformation in einen „modernen Polizeistaat“.14

10 Vgl. Gorgone, John: Soviet Jurists in the Legislative Arena. The Reform of Criminal Procedure, 1956–1958, in: Soviet Union 3, 1 (1976), S. 2 f.; vgl. Protokoll der Präsidiumssitzung, 5.4.1956, in: A. A. Fursenko (Hg.), Prezidium CK KPSS 1954 –1964. Tom 1. Černovye protokolʼnye zapisi zasedanij stenogrammy. Moskva 2003, S. 119 f. 11 Gorlizki, De-Stalinization and the Politics, S. 90–95. 12 Elie, Marc: Khrushchev’s Gulag: The Soviet Penitentiary System after Stalin’s Death, 1953–1964, in: Kozlov/Gilburd, The Thaw, S. 25–77. 13 Vgl. Adler, Nanci: The Gulag Survivor. Beyond the Soviet System. New Brunswick (NJ) 2004, S. 80. 14 Hornsby, Robert: Protest, Reform and Repression in Khrushchev’s Soviet Union. Cambridge (U.K.)/New York 2013, S. 287; Elie, Marc: Banditen und Juristen im Tauwetter. GULag-Reform, kriminelle Gegenkultur und kriminologische Expertise, in: JGO 57 (2009) H. 4, S. 509; vgl. auch

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Wenngleich der Begriff mit dem Akzent auf der Polizeigewalt etwas in die Irre führt, ist die Transformation der Diktatur selbst unbestreitbar. In dieser Diktatur sollte die Disziplinierung der Bevölkerung mit wissenschaftlicher Präzision erfolgen. Pragmatismus und Vorhersehbarkeit bestimmten dabei den staatlichen Umgang mit abweichendem Verhalten, wenn auch unter Einbeziehung äußerst schwammiger Paragraphen. Die Staatsanwaltschaft teilte diesen Anspruch lange vor Stalins Tod. Ihre Expertise war nun systemrelevant geworden, während die Miliz als Teil des MVD politisches Vertrauen und Kompetenzen verlor.15 Dieses Kapitel beleuchtet, wie sich der politische Rückhalt für die Staatsanwaltschaft auf ihre Rolle bei der Strafverfolgung auswirkte. Wie entwickelten sich das Kräfteverhältnis und die Kommunikation zwischen Miliz und Staatsanwaltschaft? Inwieweit gelang es der Staatsanwaltschaft, die Auseinandersetzung mit Kriminalität und abweichendem Verhalten zu professionalisieren und die Transformation in eine regelhaft operierende, eine disziplinierte Diktatur zu tragen? Die größte Herausforderung für das Interimsregime bestand darin, Vertrauen in der Gesellschaft zu stiften, ohne die Kontrolle über sie und den eigenen Herrschaftsapparat zu verlieren, und ohne die Autorität der Partei zu gefährden. Nanci Adler sah die Parteiführung mit dieser Aufgabe überfordert. Das Regime habe insbesondere beim Umgang mit früheren Gulag-Insassen zwischen Reform und repressiver Politik geschwankt, ohne eine verbindliche Linie zur Bewältigung dieses Problems durchzusetzen. Das Regime habe sich durch den Verzicht auf Massengewalt in eine Existenz- und Legitimitätskrise gebracht und das Moment der „Rehabilitierung“ sei durch reformunwillige Beamte in Justiz und Polizei ausgebremst worden.16 Aus Sicht vieler Gulag-Häftlinge waren die Reformen halbherzig, wenn nicht wirkungslos. Aus der Sicht des Regimes, die in diesem Kapitel im Vordergrund steht, bemaß sich der Erfolg der Reformen jedoch nicht am Grad der Liberalisierung einer Gesellschaft oder an der Mildtätigkeit gegenüber fälschlich Verurteilten. Der Schlüssel zur Bewältigung dieser existenziellen Aufgabe, Vertrauen und Sicherheit zu vereinbaren, lag in der Regelhaftigkeit politischen Handelns und damit, so die Annahme dieses Buches, in den Händen der sowjetischen Staatsanwaltschaft.

Lapierre, Hooligans in Khrushchev’s Russia, S. 132–168. Zur Präsenz der Kriminalität in der Presse vgl. Dobson, ‚Show the bandits‘, S. 32 f. 15 Vgl. Gorlizki, Yoram: Policing Post-Stalin Society. The militsija and Public Order under Khrushchev, in: Cahiers du Monde russe 44 (2003) H. 2–3, S. 466–471. 16 „The beginning of the post-Stalin period was characterized by an oscillation between a surge toward reform and the renewed pursuit of repressive policies. This was not a stable equilibrium. Rather the political system wobbled unsteadily in the weakened grip of Stalin’s squabbling heirs.“ Adler, The Gulag Survivor, S. 77.

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Die Staatsanwaltschaft im Mittelpunkt von Krise und Konsolidierung

6.1 D ie Rü ck keh r z u r „ Soz ia l i s t i s che n G e s e t z l ich keit “  – B e r ija s E nd e u nd d e r Au f b r u ch d e r St a at s a nwa lt s ch a f t Wie konnte es passieren, dass im Innersten des Ministeriums für Staatssicherheit der SSSR, das zum Schutz der Interessen des sowjetischen Staates berufen ist, solch provokatorische Strafsachen fabriziert wurden, denen einfache sowjetische Menschen zum Opfer fielen, solch hervorragenden Persönlichkeiten der sowjetischen Wissenschaften?17

Einen Monat nach Stalins Tod eröffnete die Pravda ihren Lesern, dass die „Ärzteverschwörung“, der letzte aufsehenerregende Verschwörungsfall zu Lebzeiten des Diktators, ein Fabrikat des sowjetischen Geheimdienstes war. Die Mordpläne der (meist jüdischen) Ärzte gegen Andrej Ždanov und andere hochrangige Funktionäre seien konstruiert, Unschuldige inhaftiert worden. Die Verantwortlichen im Innenministerium würden für ihre „Hochstapelei“ (avantjurizm) bestraft und die „Sozialistische Gesetzlichkeit“ als „unantastbar“ wiederhergestellt werden.18 Die Parallelen zur Kehrtwende im Herbst 1938 sind augenfällig. In beiden Fällen bestimmte das Regime Teile der Geheimpolizei als Verantwortliche für eine Verfolgungswelle, die von der Partei (respektive Stalin selbst) mit initiiert worden war. Die „Anwendung unzulässiger und strengstens verbotener Ermittlungsmethoden“19 habe Unschuldige ins Verderben geführt. Das Regime erwiderte diese Praxis mit Vergeltung und dem Bekenntnis zur sozialistischen Gesetzlichkeit. Anders als fünfzehn Jahre zuvor markierte die Ärzteverschwörung jedoch nur den Anfang einer umfassenden und vor allem öffentlichen Kurskorrektur. Berija selbst hatte die Ermittlungsakten zu diesem Fall veröffentlicht. Weitere Verschwörungsfälle wie die „Mingrelische Affäre“ wurden in den kommenden Monaten aufgerollt.20 Über eine Million Häftlinge wurden amnestiert. Obwohl die meisten von Berijas Reformvorschlägen nach dessen Verhaftung wieder zurückgenommen wurden und er in gewisser Weise das Schicksal seines Amtsvorgängers Ežov teilte21, entfaltete die Kampagne im Namen der „Sozialistischen Gesetzlichkeit“ mit seinem Ende erst seine volle Wirkung. Anders als 1938 blieb ein öffentliche Hexenjagd auf Berija-Anhänger in aus. Die Partei organisierte die Verhaftungen

17 Sovetskaja socialističeskaja zakonnostʼ neprikosnovenna, in: Pravda, 6.4.1953, S. 1. 18 Ebd.; vgl. Dobson, Khrushchev’s Cold Summer, S. 26 f. 19 Sovetskaja socialističeskaja zakonnostʼ neprikosnovenna, in: Pravda, 6.4.1953, S. 1. 20 1951 vermutete Stalin eine „nationalistische Verschwörung“ mingrelischer Parteimitglieder und beauftragte Berija mit der Verfolgung und Verhaftung dieser Kader. Vgl. Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, S. 684; vgl. Naumov, Vladimir P.: N. S. Chruščev i reabilitacija žertv massovych političeskich repressij, in: Voprosy istorii 4 (1997), S. 25 f. 21 Vgl. Neutatz, Träume und Alpträume, S. 360.

Die Rückkehr zur „Sozialistischen Gesetzlichkeit“

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zahlreicher MGB-Kader, ohne in die Paranoia der 1930er-Jahre zurückzufallen.22 Anders als das Intermezzo der Gesetzlichkeit, das Stalin nach kurzer Zeit wieder unterbunden hatte, erhob diese Kampagne das sowjetische Recht permanent zur Handlungsgrundlage der sowjetischen Staatsführung. Im Mittelpunkt des folgenden Kapitels stehen die diskursiven und politischen Folgen, die sich aus der Kampagne für Gesetzlichkeit für die Staatsanwaltschaft ergaben. Einerseits wird diskutiert, wie die Presse zunächst Berijas Reformvorschläge und daraufhin seinen Niedergang als Triumph der Gesetzlichkeit begleitete. Welche Rolle spielte die Staatsanwaltschaft in der neuen Rhetorik von Recht und Regelhaftigkeit? Andererseits werden die strukturellen und personellen Veränderungen beleuchtet, die die Staatsanwaltschaft begleitend in der Kampagnenzeit vollzog. Inwiefern wurde sie nach 1953 strukturell gestärkt und welche Rolle spielte die Partei darin?

6.1.1 Der Triumph des „sozialistischen Humanismus“ – Öffentlichkeitsarbeit für die Partei Am 28. März 1953 verkündete die Pravda die Entlassung hunderttausender Gulag-­ Häftlinge. Die „Berija-Amnestie“ öffnete die Lagertore für Insassen mit geringen Haftstrafen. Gleichzeitig entlarvte man die Ärzteverschwörung als Chimäre und die Feindbilder der späten Stalin-Zeit brachen stückweise in sich zusammen. Drei weitere Monate verstrichen und Lavrentij Berija, der Initiator dieses Wandels und Innenminister im neuen Kabinett, wurde verhaftet und wegen angeblicher Umsturzpläne öffentlich gebrandmarkt.23 Die sowjetische Öffentlichkeit wurde im Jahr 1953 Zeuge eines anhaltenden politischen Erdbebens, das die Meisten verwirrt, frustriert oder ängstlich, vor allem aber ohne die Gewissheit zurückließ, wo die Konfliktlinien zwischen Revolution und Konterrevolution nunmehr verliefen. Wer waren die Feinde des Sozialismus und wer seine Verteidiger? Das Konzept „Sozialistischer Gesetzlichkeit“ sollte diese Gewissheit wiederherstellen.24 Das geschriebene Recht lieferte in der Presse die Antwort auf die zentralen Herausforderungen: Die Einhaltung der Gesetze bildete die Grundlage für den Konsens zwischen Staat und Gesellschaft. Ihr Geltungsbereich erklärte die Feindbilder der sowjetischen Ordnung, die sich jenseits dieser Regeln bewegten. In der Konsequenz wurde so der

22 Vgl. Dobson, Khrushchev’s Cold Summer, S. 3. 23 Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, S. 759 f. 24 Vgl. Dobson, Khrushchev’s Cold Summer, S. 25.

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Rahmen bestimmt, in dem der sowjetische Staat operieren durfte – und wer diese Ordnung fortan beschützte. Die Pravda appellierte am 28. März an ein Sowjetvolk, das die bevorstehenden Veränderungen durch die Freilassung hunderttausender Straftäter nicht nur verkraften, sondern sie als folgerichtig im sozialistischen Aufbau begrüßen sollte. Dieser Appell war nicht nur ein Bekenntnis zur Besserungs- und Erziehungsagenda der frühen 1930er-Jahre.25 Er beschwor die Bindekraft des geschriebenen Rechts. Das sowjetische Volk demonstriere seine Geschlossenheit mit der politischen Führung, indem es auf den Geltungsbereich der Verfassung und des Strafgesetzbuches vertraue, dem sich auch die Regierung unterworfen habe. Das Wachstum des Bewusstseins der Bürger, ihre ehrliche Beziehung zur Erfüllung gesellschaftlicher Pflichten findet seinen allerstärksten Ausdruck darin, dass Millionen sowjetischer Menschen, die überwältigende Mehrheit der Gesellschaft die Gesetze des sozialistischen Staates hoch und heilig achtet, und alle seine Kräfte auf die weitere Festigung der Macht unseres großartigen Vaterlandes richtet.26

Mit der Amnestie für ehemalige Kriminelle sprach das Regime bewusst sein Vertrauen in die Bevölkerung aus. Die gesetzestreue Mehrheit müsse und könne die „Möglichkeit der Rückkehr zur ehrlichen Arbeit“ der Lagerhäftlinge begrüßen.27 Dass die Bevölkerung ihrerseits Vertrauen in die Gesetzestreue seines Regimes haben könne, suggerierte die Berichterstattung um die angebliche Ärzteverschwörung. Eine Woche nach der Amnestie versicherte die Pravda ihren Lesern, dass verdrehte Beweismittel und erzwungene Geständnisse der Vergangenheit angehörten. Anders als vor 1953 diente der Rekurs auf sozialistische Gesetzlichkeit nicht dazu, die Bevölkerung auf den Klassenkampf oder die nächsten Produktionserfolge einzuschwören.28 „Die Sowjetische Sozialistische Gesetzlichkeit ist unantastbar“ war der Titel des Artikels und ein Versprechen, das sich an den Bürger im Einzelnen richtete: Die „Sowjetische Regierung wacht über den Schutz der Rechte der Bürger unseres Landes“.29 Das Regime versprach Sicherheit, wo es früher Kampfansagen formuliert hatte.

25 Vgl. ebd., S. 8. Zum Prinzip der „Umerziehung“ und seiner Bedeutung als Gesellschaftsexperiment in den 1930er-Jahren vgl. Ruder, Cynthia, Ann: Making History for Stalin. The Story of the Belomor Canal. Gainesville u.a. 1998, S. 1–11; Weikersthal, Felicitas Fischer von: Die „inhaftierte“ Presse. Das Pressewesen sowjetischer Zwangsarbeitslager. 1923–1937. Wiesbaden 2011, S. 113–151. 26 Sila sovetskogo stroja, in: Pravda, 28.3.1953, S. 1. 27 Ebd. 28 Vgl. Dobson, ‚Show the bandits‘, S. 21. 29 Sila sovetskogo stroja, in: Pravda, 6.4.1953, S. 1.

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Artikel 127 der Verfassung, der die „Unantastbarkeit der Persönlichkeit“ garantierte, gehörte ab April 1953 ins Standardrepertoire der Pravda. Verbrechen waren kein Angriff auf die Erfolgsbilanz der Sowjetmacht, sondern auf „sowjetischen Ethos und Menschenwürde“. Die Parteiführung schmiedete eine rhetorische Allianz zwischen Staat und Gesellschaft. Diese Allianz fußte auf dem Bekenntnis zur Sicherheit und Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns. Feuerte die Parteipresse ihre Leser über Jahrzehnte hinweg mit Leistungsprämien, Bedrohungsszenarien und Fortschrittsversprechen an, sollte nunmehr das Bedürfnis nach Stabilität befriedigt werden. Erst dann wäre der Weg in den Kommunismus frei: „Die sozialistische Gesetzlichkeit, der Schutz der Rechte der sowjetischen Bürger, niedergeschrieben in der Verfassung der UdSSR ist die wichtigste Grundlage für die weitere Entwicklung und Festigung des sowjetischen Staates.“30 Die sowjetische Justiz sollte diese Allianz beschützen. Justizminister Goršenin veröffentlichte zwei Wochen nach dem Artikel zur Ärzteverschwörung einen entsprechenden Beitrag in der Pravda. Neben dem obligatorischen Verweis auf Artikel 127 bekräftigte Goršenin ein weiteres Mal, dass von der Staatsmacht keine Gefahr ausgehe: „Die Arbeit des gesamten sowjetischen Staatsapparates ist den Interessen des Volkes untergeordnet“. Staatsanwälte und Richter garantierten, dass diese Verpflichtung eingehalten werden würde. Nur sie könnten eine Haftanordnung aussprechen und nur sie überwachten die Einhaltung aller Gesetze im Lande.31 Die Kampagne für Gesetzlichkeit begleitete auch den Aufbau neuer Feindbilder. Die Berichterstattung über die falsche Ärzteverschwörung konzentrierte sich dabei auf einige Schlüsselfiguren des Innenministeriums. Im Gegensatz zu den amnestierten Straftätern, die als gebesserte Werktätige in die offenen Arme der Gesellschaft zurückkehren sollten, hätten der ehemalige Minister für Staatssicherheit, Semen Ignatʼev, und der ehemalige Ermittlungsleiter des MGB, Michail Rjumin, der Sowjetunion und ihren Bürgern bewusst und strategisch geschadet. Im Unterschied zur Berichterstattung, die die Schauprozesse in den 1930er-Jahren auslösten, verzichtete man jedoch in diesem Fall auf ausladende Verschwörungstheorien und die Säuberungsrhetorik. Rjumin und Ignatʼev hätten politische Absichten als „verbrecherische Hochstapler“ gehegt und wurden entsprechend als „Feinde des Volkes und des Staates“ behandelt. Ihre Täterschaft ließ sich dabei aber nicht auf die Machenschaften eines konspirativen Netzwerks bzw. eines abstrakten inneren Feindes zurückführen. Die Presse legte ihnen als Einzeltäter die „Falsifizierung der Ermittlungen“, „Amtsmissbrauch“ und die „Verletzung ihrer Bürgerpflichten“ zur

30 Ebd. 31 Goršenin, Konstantin: Socialističeskaja zakonnostʼ na straže interesov naroda, in: Pravda, 17.4.1953, S. 2.

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Last.32 Sie waren offiziell in Ungnade gefallen, weil sie sich gegen die „Rechtsordnung“ gewandt hatten. Ihr „Betrug an der Regierung“ war ein politischer Akt, der aber dennoch als Straftat kommuniziert und als solcher behandelt wurde: „Die Personen, die der falschen Ermittlungsführung schuldig sind, wurden verhaftet und zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen“.33 Die inneren Feinde der Sowjetunion waren als Feinde der „Rechtsordnung“ erkennbar. Der Bruch des Gesetzes, und nicht die Verschwörungsabsicht, machte den Unterschied zwischen dem Kollektiv und dem Feind aus. Die Sowjetmacht antwortete auf diesen Bruch offiziell mit legalen Mitteln und nicht mit Vergeltung. Dass diese Anklagen sehr wohl das Produkt politischer Auseinandersetzungen innerhalb der Staatsführung waren, muss nicht betont werden. Ebenso war klar, dass sich Rjumin insgeheim keine großen Hoffnungen auf ein ordentliches Verfahren machen konnte.34 Entscheidend war die legalistische Rhetorik. Der „Volksfeind“ wurde in der Öffentlichkeit durch die Missachtung des sowjetischen Rechts identifiziert und dieser Schritt reichte aus. Rjumin war ein „Volksfeind“, aber kein „tollwütiger Hund“. Die Presse verzichtete auf die „ätzenden Formulierungen“35 der Vergangenheit, eben weil sich der Feind durch seine Verachtung gegenüber dem Gesetz zu erkennen gab. Die Kampagne für Sozialistische Gesetzlichkeit war keineswegs ein konsistentes Propagandaprogramm, das nach Stalins Tod von den gleichen Akteuren planmäßig abgespult wurde. Die ersten Reformschritte und die begleitende Medienoffensive trugen zunächst die Handschrift Berijas. Sein Communiqué diktierte den Wortlaut für die Pravda-Artikel Anfang April 1953 und er war der Erste unter den Politbüromitgliedern, der, zur Verblüffung seiner Zeitgenossen, das sowjetische Recht zur Antithese vergangener Willkür erhob.36 Er war der erste Architekt des rhetorischen Wandels. Mit seiner Verhaftung am 26. Juni 1953 setzte sich dieser Wandel fort – allerdings mit dem Ziel, die kollektive Führung und ihre Agenda zu vermarkten. Pravda und Kommunist verkündeten in großen Artikeln die Absetzung und die

32 Sila sovetskogo stroja, in: Pravda, 6.4.1953, S. 1. 33 Ebd. Das Wochenjournal „Kommunist“, ebenfalls von der Pravda-Redaktion herausgegeben, veröffentlichte eine ähnliche Version des Artikels unter anderem Titel: Socialističeskaja zakonnostʼ na straže interesov naroda, in: Kommunist 6 (1953), S. 14–18. 34 Vgl. Blauvelt, Timothy K.: Patronage and Betrayal in the Post-Stalin Succession: The Case of Kruglov and Serov, in: Communist and Post-Communist Studies 41 (2008), S. 116. 35 Als „tollwütige Hunde“ wurden die Angeklagten im ersten Moskauer Schauprozess im August 1936 bezeichnet. Die Pravda forderte einen Tag vor Prozessende, die „tollwütigen Hunde zu erschießen“. Vzbesivšichsja sobak nado rassstreljatʼ!, in: Pravda, 23.8.1936, S. 1; Dobson, Khrushchev’s Cold Summer, S. 27. 36 Vgl. Knight, Amy: Beria. Stalin’s First Lieutenant. Princeton (NJ) 1993, S. 185; Taubman, William: Krushchev. The Man and his Era, New York/London 2003, S. 247.

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Verhaftung des ehemaligen Innenministers. Anders als zu Stalins Lebzeiten war das politische Ende eines Konkurrenten keine Randnotiz mehr. Die Parteiführung setzte auf vertrauensbildende Offenheit. Wieder sollte die Allianz zwischen Partei, Staat und Volk demonstriert werden. Die Pravda titelte mit der „Unzerstörbaren Einheit von Partei, Regierung und sowjetischem Volk“. In der Kommunist beschwor der Leitartikel (mit ganz ähnlichem Inhalt) die „Führung der Kommunistischen Partei – die maßgebliche Voraussetzung der Festigung und Unerschütterlichkeit der sowjetischen Ordnung“.37 Berijas Ende sollte ein sinn- und einheitsstiftendes Medienereignis werden, das den Führungsanspruch der Partei unterstrich. Der sowjetische Leser wurde über ein umspannendes Komplott informiert, das Berija durch den Missbrauch seiner Autorität mit ausländischen Kräften zur Beseitigung der Sowjetmacht entsponnen habe. Er habe sich der „sowjetischen Gesetzlichkeit und der Beseitigung von Ungesetzlichkeit und Willkür“ aktiv entgegengestellt. In diesem Sinne griff die Presse auf die Rhetorik der Gesetzlichkeit zurück, die Berija zuvor selbst etabliert hatte.38 Die zentrale Rolle bei der Identifizierung und Bekämpfung eines „Volksfeindes“ spielte in diesen Artikeln jedoch die kollektive Führung der Partei. Die „revolutionäre Wachsamkeit der Kommunisten“ machte den Unterschied aus, ob die Sowjetmacht die „kapitalistische Einkreisung“ überstehen könnte.39 Entscheidend war, dass die Partei geschlossen und im Kollektiv auftrete. Die Pressetexte vom 10. Juli waren somit das Gründungspamphlet der kollektiven Führung. Hier nahm die öffentliche Verurteilung des „Personenkults“, in Anlehnung an Marx, ihren Anfang.40 Die Allianz zwischen Staat und Gesellschaft bei der Einhaltung sowjetischer Gesetze wurde mit dem Siegel der kollektiven Führung bestätigt. Die Propagandamaschinerie der Parteiführung brach nicht gänzlich mit der Rhetorik der Stalin-Zeit. Auf „zoologische“41 Bezeichnungen für ihre Gegner verzichtete sie, nicht aber auf darauf, Berija in den Mittelpunkt einer weitreichenden internationalen Verschwörung zu stellen. Auch innere Feinde betätigten sich noch immer im Namen des Imperialismus. Diese müssten verfolgt und bekämpft werden. Indes zog man andere Konsequenzen: „Die Arbeit des Ministeriums für Innere Angelegenheiten muss unter systematische und unermüdliche Kontrolle gebracht

37 Nesokrušimoe edineie partii, pravitelʼstva, sovetskogo naroda, in: Pravda, 10.7.1953, S. 1; Rukovodstvo Kommunističeskoj partii – rešajuščee uslovie kreposti i nezyblemosti sovetskogo stroja, in: Kommunist 10 (1953), S. 3–10. 38 Nesokrušimoe edineie partii, pravitelʼstva, sovetskogo naroda Pravda, 10.7.1953, S. 1; vgl. Dobson, Khrushchev’s Cold Summer, S. 33. 39 Rukovodstvo Kommunističeskoj partii – rešajuščee uslovie kreposti i nezyblemosti sovetskogo stroja, in: Kommunist 10 (1953), S. 8. 40 Ebd., S. 7. 41 Dobson, Khrushchev’s Cold Summer, S. 33.

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werden“. Gemeint war damit die Kontrolle durch die Partei.42 Berijas Niedergang hat dem Feindbild für die Sowjetordnung also ein Gesicht und indirekt auch eine verantwortliche Behörde gegeben. Chruščev erreichte die Verurteilung des früheren Chefs der Geheimpolizei als Zentralfigur des politischen Unheils und der ungesetzlichen Willkür – hinter verschlossenen Türen und in der Öffentlichkeit. Im gleichen Zug setzte sich die Parteiführung an die Spitze des Kampfes um Sozialistische Gesetzlichkeit. Die Vorreiterstellung der Partei in dieser Kampagne wirkte sich auch auf die Medienpräsenz der Staatsanwaltschaft aus. Gleich wie bedeutsam die Organe der Justiz zur Durchsetzung der Gesetzlichkeit waren und unabhängig davon, wie ausgiebig die Partei die neuen Verhältnisse von Regelhaftigkeit und Ordnung unter ihrer Führung zelebrierte – das Scheinwerferlicht teilte sie mit keiner Behörde. Staatsanwaltschaften und Gerichte blieben funktionale Akteure im Schatten der kollektiven Führung. Die Partei sollte die einzig sichtbare Schutzmacht der Sowjetordnung bleiben. Mit Roman Rudenkos Ernennung zum Generalstaatsanwalt wusste Chruščev einen loyalen und kompetenten Partner gegen Berija auf seiner Seite. Rudenko war als Chefankläger für die Sowjetunion in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen bekannt geworden und übernahm nun auch die Anklage gegen den früheren Innenminister in einem geschlossenen Verfahren.43 Das Medienecho zu seiner Ernennung am 30. Juni fiel allerdings bescheiden aus. Im August zitierte die Pravda den Präsidiumsbericht zur letzten Sitzung des Obersten Sowjets. Rudenkos Amtsantritt rangierte gleich hinter der Ernennung des neuen Gosplan-Chefs und der Gründung des Ministeriums für „mittleren Maschinenbau“. Das Präsidium fand immerhin lobende Worte für seine „lange Arbeit“ in der Ukraine und seine „aktive Teilhabe im staatlichen und gesellschaftlichen Leben“. Sein Auftritt in Nürnberg wurde hingegen mit keiner Silbe erwähnt.44 Rudenkos Behörde nahm in der Öffentlichkeit einen Platz im Schatten der Partei ein. Zugleich war er neben dem Justizminister ein wichtiges Sprachrohr, um die Kampagne für Sozialistische Gesetzlichkeit in die Öffentlichkeit zu tragen. Er fügte der Rhetorik im Namen der Partei die Expertise als Jurist bei. Nur wenige Wochen nach der Hinrichtung Berijas veröffentlichte er einen Artikel, in dem er die Allianz von Staat und Gesellschaft auf dem Boden des Gesetzes noch einmal beschwor. Mit diesem Schritt definierte er das Konzept „Sozialistische Gesetzlichkeit“ für

42 Rukovodstvo Kommunističeskoj partii – rešajuščee uslovie kreposti i nezyblemosti sovetskogo stroja, in: Kommunist 10 (1953), S. 7. 43 Vgl. Zvjagincev/Orlov, Založniki voždej, S. 36–43. 44 Ob utverždenii ukazov Prezidiuma Verchovnogo Soveta SSSR. Doklad Sekretarja Prezidiuma Verchovnogo Soveta SSSR deputata N. M. Pegova, in: Pravda, 9.8.1953, S. 4.

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die Leser aus und skizzierte zugleich den Rahmen für staatliches Handeln und die Rolle seiner eigenen Behörde. Im Mittelpunkt stand wieder das Bekenntnis zum geschriebenen Recht, das von Regierung und Werktätigen gleichermaßen abgegeben wurde. Das ultimative Symbol dieses Bekenntnisses, und damit der Allianz, sei die Verfassung.45 Auch Rudenko legte besonderes Gewicht auf die Sicherheit des Einzelnen, womit er das Vertrauensangebot der Regierung an ihre Bürger noch einmal unterstrich: „Das sowjetische Gesetz beschützt das Leben des sowjetischen Menschen, seine Ehre, Würde und Gesundheit, sein persönliches Eigentum“. Die sowjetische Presse streute schon zu Stalins Lebzeiten Phrasen ein, in denen Bezug auf die Rechte der Bürger genommen wurde. In einem Rechtssystem, das dem kollektiven Produktionsinteresse immer den Vorzug vor dem Individuum gab, verschob Rudenko die Prioritäten aber eindeutig zugunsten des Individuums: „Über allem anderen in der sozialistischen Gesellschaft steht sein Schöpfer – der sowjetische Mensch. Deshalb ist die ganze sowjetische Gesetzlichkeit vom sozialistischem Humanismus durchdrungen“.46 Diese Formulierung, sowie die Kampagne insgesamt, war kein Bruch mit den Rechtsvorstellungen. Die Parteiführung stand weiterhin an der Spitze eines Produktionskollektivs, das sich ihr und den gegebenen Normen unterzuordnen hatte (während die Partei ihren eigenen Normen unterworfen war). Rudenkos Artikel bewies aber, dass man diese Vorstellungen zugunsten des Einzelnen rhetorisch neu ausbalancierte – eben um (auf dem Papier) eine Allianz zu schaffen, deren Zusammenwirken sich durch Sicherheit und Vorhersehbarkeit auszeichnete. Die Sprachfigur des „Sozialistischen Humanismus“ war ein Versprechen an die sowjetische Bevölkerung. Die Rechtsordnung versprach in erster Linie Sicherheit für den Menschen und dann die Produktionserfolge. Darüber hinaus erkannte die Regierung das „Recht der Bürger“ auch als wichtiges Propagandaelement im Systemwettstreit mit dem „kapitalistischen“ Ausland.47 Insofern setzte sich hier ein Trend der Nachkriegszeit unter neuen Vorzeichen fort. Rudenko klärte seine Leser auch über die Feinde der Sowjetordnung auf. Die Einhaltung der Gesetze halte die Allianz von Partei, Staat und Bürgern zusammen.

45 „Die sozialistische Gesetzlichkeit, die den Willen des sowjetischen Volkes und die Politik des Staates ausdrückt, schützt die größten Errungenschaften der sowjetischen Gesellschaft, die unerschütterlichen Rechte der Bürger unseres Staates und ist im Grundgesetz [v Osnovnom Zakone] des sowjetischen Staates – der Verfassung der UdSSR – niedergeschrieben.“ Rudenko, Roman: Neustanno ukrepljatʼ socialističeskuju zakonnostʼ, in: Pravda, 4.1.1954, S. 2. 46 Ebd. 47 Rudenko betont die Alleinstellungsmerkmale der sowjetischen Gesetzlichkeit „im Unterschied zur falschen ‚Gesetzlichkeit‘ eines beliebigen kapitalistischen Staates“, wobei er vor allem auf die wirtschaftliche Ungleichheit und damit die, in seinen Augen, faktische Rechtlosigkeit der Werktätigen in den Vereinigten Staaten abzielte. Ebd.

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Ihre Feinde nutzten die „Löcher“ der „Ungesetzlichkeit“, die von Amtsträgern innerhalb dieser Ordnung gerissen bzw. zugelassen würden. Berija sei das beste Beispiel dafür: „Volksfeinde […] versuchen mit allen Mitteln, die sozialistische Gesetzlichkeit zu verletzen, um eine Situation zu schaffen, die ihre subversiven Tätigkeiten ermöglicht.“ Selbstermächtigung und Amtsmissbrauch seien die größte innere Bedrohung der Sowjetordnung. „Kein einziger Amtsträger im sowjetischen Staat hat das Recht das Gesetz zu verletzen“. Rudenko stellte klar, dass die Feinde der Sowjetordnung im Besonderen die Justiz schwächten, und er suggerierte, dass diese Gefahr vor allem vom MVD ausgehe. Berijas Schatten lag über dem Innenministerium, was Rudenko die Gelegenheit gab, die Staatsanwaltschaft als wichtigstes und zuverlässiges Werkzeug der Parteiführung in Szene zu setzen. Die tonangebende Rolle bei der Überwachung des Innenministeriums spielte zwar die Partei. Sie kontrollierte die „Tätigkeit aller Glieder des sowjetischen Apparates, darunter auch der Organe des MVD“. Die Staatsanwaltschaft war jedoch die Behörde, die die Gesetze im Sinne der Partei durchsetzte. Sie sei das Werkzeug, um die Ordnung der sowjetischen Gesetzlichkeit, die „Rechtsordnung“ (pravoporjadka), im Sinne der Parteiführung aufrechtzuerhalten – auch und gerade gegen den Widerstand anderer Regierungsbehörden.48 Die Staatsanwaltschaft übernahm die Verantwortung für die Disziplinierung aller Staatsorgane und löste das MVD damit zumindest rhetorisch als Instrument zur Verteidigung der Sowjetordnung ab. Seit Stalins Tod war die Parteipresse darum bemüht, Signale des Vertrauens und der Sicherheit auszusenden. Auf Grundlage des Strafgesetzbuches und der Verfassung schmiedete man eine rhetorische Allianz zwischen Staat und Gesellschaft, an deren Spitze nach Berijas Verhaftung die Partei rückte. Sie trat als unangefochtene Schutzmacht der Werktätigen und der neuen Ordnung auf. Diese „Rechtsordnung“ versprach Planungssicherheit und Vorhersehbarkeit für den Alltag sowjetischer Bürger und sie schloss den Einzelnen nicht kategorisch aus. Sie sollte die Gewissheit bringen, dass die Feinde des Sozialismus als Feinde des Gesetzes in Erscheinung treten, und sie sollte suggerieren, dass staatliches Handeln ebenso an ihre Regeln gebunden ist wie das Handeln seiner Bürger. Die Staatsanwaltschaft und die Justiz insgesamt profitierten von der Kampagne, indem sie die Allianz überwachten. Die Justiz war ein wichtiger Bestandteil der Rhetorik der Regelhaftigkeit. Berijas Niedergang half besonders der Staatsanwaltschaft, sich vom Innenministerium als Risikofaktor abzusetzen und sich im Fahrwasser der Partei als Hüter der Gesetzlichkeit zu inszenieren. Als eigenständiger Akteur im Reformprozess trat sie nicht in Erscheinung. Dieses Privileg war der kollektiven Führung vorbehalten, die keine starken Regierungsbehörden neben der Partei in der Presse duldete.

48 Ebd.

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Abseits der Öffentlichkeit fand die Partei in der Staatsanwaltschaft jedoch einen Partner, der die zentralen Reformvorstöße mittragen und verwalten sollte. Die Voraussetzung für diese Partnerschaft waren gut ausgebildete und parteitreue Kader in der Staatsanwaltschaft – in Moskau und an der Peripherie.

6.1.2 Kaderarbeit – die strukturelle Stärkung der Staatsanwaltschaft Die wohl wichtigste Kaderveränderung der Staatsanwaltschaft nach Stalins Tod erfolgte an ihrer Spitze. Chruščev hatte in den ersten Jahren nach Stalins Tod wenige Verbündete in den Reihen von Justiz und Innenministerium. Roman Rudenko war da ein wichtiger Kontakt aus der gemeinsamen Zeit in der Ukraine.49 Angeblich sei er schon 1938 als Nachfolger (und persönlicher Favorit) Vyšinskijs gehandelt worden und nur Chruščev habe sich gegen dessen Versetzung nach Moskau gesträubt, um ihn in der Ukraine zu halten.50 Unbestreitbar ist, dass Rudenko seit den 1930er-Jahren alle nur erdenklichen Sprossen der Karriereleiter der Staatsanwaltschaft erklommen hatte. Als Regionalstaatsanwalt (und Trojka-Mitglied) von Doneck während der Massenoperationen, später als Ukrainischer Republiksstaatsanwalt und 1945 (mit nur 38 Jahren) als Anklagevertreter in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen gewann Rudenko über die Jahre großes Ansehen in der Parteiführung und der Justiz. Seine Entsendung als Delegierter für den 19. Parteitag 1952 schien nur eine Formalie auf dem Weg ins Zentralkomitee der KPdSU.51 Im Sommer 1953 setzte Chruščev seine Ernennung zum Generalstaatsanwalt der Sowjetunion durch und betraute ihn mit der Anklageführung gegen Berija. Rudenko war kein politischer Verbündeter Chruščevs im engeren Wortsinne, da er erst 1956 überhaupt den Kandidatenstatus für das ZK erlangte. Er genoss allerdings das persönliche Vertrauen seines ukrainischen Landsmannes, der ihm eine Schlüsselrolle im Verfahren gegen Berija zugedacht und ihn letztlich zu diesem Zweck auch ernannt hatte.52 Rudenkos Reputation als Jurist war jedoch nicht der ausschlaggebende Grund für diese Entscheidung. Das Verfahren gegen den früheren Innenminister erfüllte keinerlei strafrechtliche Kriterien. Berijas Familie wurde ebenfalls verhaftet und 49 Vgl. Mitrokhin, Nikolai: The Rise of Political Clans in the Era of Nikita Khrushchev, in: Jeremy Smith/Melanie Ilic (Hg.), Khrushchev in the Kremlin. Policy and Government in the Soviet Union, 1953–1964. London/New York 2011, S. 32. 50 Vgl. Zvjagincev/Orlov, Založniki voždej, S. 10. 51 Vgl. ebd., S. 7–36. 52 „Wir hatten kein Vertrauen in die Fähigkeit des Staatsanwaltes [Grigorij Safonov, I. R.], Berijas Fall objektiv zu untersuchen, deshalb stellten wir ihn kalt und ersetzten ihn durch den Genossen Rudenko.“ Chruščev, Nikita S.: Chruschtschow erinnert sich, hrsg. von Strobe Talbott. Reinbek bei Hamburg 1971, S. 344.

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er selbst monatelang gefoltert.53 Außer Rudenko waren überdies keine Juristen am Ermittlungsverfahren beteiligt. Die Präsidiumsmitglieder wollten Berija isolieren und beseitigen. Dafür kam infrage, nicht wer die nötige juristische Expertise mitbrachte, sondern wer politisch vertrauenswürdig war. Der Prozess sollte Loyalitäten demonstrieren. Rudenko war, eventuell auch aus persönlicher Verbundenheit und der früheren Zusammenarbeit heraus, Chruščevs erste Wahl. Gemeinsam mit Kirill Moskalenko, dem Chef der Moskauer Luftstreitkräfte, führte er das Verhör und am 10. Dezember 1953 legte er den Mitgliedern des Parteipräsidiums die Anklageschrift gegen Berija und sechs weitere ranghohe Beamte des Innenministeriums vor. Diese unterstellte ihnen unter anderem die Verschwörung mit ausländischen Mächten und die „Unterminierung der Völkerfreundschaft“. Berijas Verstrickung in die politische Verhaftungsmaschinerie der 1930er-Jahre blieb unerwähnt.54 Das Präsidium hatte die Anklageschrift höchstwahrscheinlich mit diktiert, so wie es das Todesurteil bestimmte, das das Sondergremium des Obersten Gerichts im selben Monat verkündete. Das Gremium bestand aus acht Mitgliedern, von denen nur zwei der Justiz angehörten. Die übrigen sechs waren Militärs, führende Parteikader und Gewerkschaftsfunktionäre.55 Die Parteiführung vertraute auf Personalien (und nicht auf Expertise) und gab vielen damit auch die Gelegenheit für persönliche Vergeltung. Selbst Berijas Hinrichtung wurde von einem Drei-Sterne-General der Armee vollstreckt.56 Der Niedergang des früheren Innenministers war eine politische Feuertaufe für Rudenko und zugleich ein persönlicher Vertrauensbeweis. Chruščev und die übrigen Präsidiumsmitglieder entledigten sich ihres Rivalen zwar mit geheimpolizeilichen Methoden. Anders als 1938 wurde diese Aufgabe aber nicht ausschließlich in die Hände der Geheimpolizei gelegt, sondern in die des Staatsanwalts. Rudenko war ohne höheres Parteiamt in einen Zirkel aufgerückt, der die Reformagenda der ersten Jahre aufstellte. Er hatte seine Loyalität als Chefankläger unter Beweis gestellt und sich, insbesondere gegenüber Chruščev, für künftige Aufgaben empfohlen. Gemeinsam mit dem neuen alten Innenminister, Berijas früherem Stellvertreter Sergej Kruglov, sollte er beispielsweise auch über den Verbleib der Familienangehörigen der Verurteilten im Berija-Fall entscheiden.57 Für die strafrechtliche und 53 Vgl. Taubman, Khrushchev, S. 256. 54 Präsidiumsbeschluss, 10.12.1953, in: V. Naumov/Ju. Sigačev (Hg.), Lavrentij Berija. 1953. Stenogramma ijulʼskogo plenuma. CK KPSS i drugie dokumenty. Moskva 1999, S. 382–385. 55 Vgl. ebd., S. 386. E. L. Zejdin war stellvertretender Vorsitzender des Obersten Gerichts der Sowjetunion und L. A. Gromov war Vorsitzender des Moskauer Stadtgerichts. vgl. auch Zvjagincev/ Orlov: Prokurory dvuch epoch, S. 231 f. 56 Vgl. Taubman, Khrushchev, S. 256. 57 Vgl. Notiz Rudenkos und Kruglovs an das Präsidium des ZK, 31.12.1953, in: Naumov/Sigačev, Lavrentij Berija. 1953, S. 390 f.

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politische Auseinandersetzung mit den politischen Verfolgungen, für die Umstrukturierung des Lagersystems und die neuen Impulse in der Strafverfolgung hatte die kollektive Führung mit ihm einen kompetenten und dekorierten Beamten an der Spitze bestimmt, der vor allem das Vertrauen Chruščevs genoss. Neben Chruščev besetzten auch andere Präsidiumsmitglieder nach Stalins Tod ausgewählte Posten in der Justiz mit ihren Protegés bzw. Vertrauensmännern. Im April 1953 fusionierte die Administrative Abteilung beim ZK mit der Plan-, Handels- und Finanzabteilung zu einer „Abteilung der Administrativen, Handels- und Finanzorgane“. Hinter diesem sperrigen Titel verbarg sich die Schaltstelle, mit der die Parteiführung die Tätigkeiten der Justizorgane überwachte. Sämtliche Akten dieser Behörde sind weiterhin unter Verschluss, doch ist bekannt, dass Malenkov einen langgedienten Mitarbeiter der Vorgängerbehörde (und persönlichen Vertrauten), Afanasij Dedov, zu ihrem Leiter ernannte.58 Dedov stand damit dem institutionellen Bindeglied zwischen Justiz und Partei vor. Gemeinsam mit Rudenko und Nikolaj Šatalin (auch einem früheren Mitglied der Administrativen Abteilung) überwachte er unter anderem ab 1954 die Kommissionsarbeit zur Prüfung „konterrevolutionärer Verbrechen“.59 Obgleich nur wenig über die Hintergründe dieser Personalentscheidungen bekannt ist, wird zum einen deutlich, dass Justizbehörden in den Augen der Präsidiumsmitglieder an strategischer Bedeutung gewannen. Zum anderen zeichnete sich ab, dass die Parteiführung zunehmend die alleinige Kontrolle über diese Behörden beanspruchte. Insbesondere die Richter sollten dem Zugriff des Justizministeriums entzogen werden, das als eines der ersten Ministerien der Anti-Bürokratie-Offensive Chruščevs zum Opfer fallen sollte.60 Rudenko und Dedov waren wichtige, doch nicht die einzigen (Neu)Zugänge innerhalb der Justizbehörden. Die Ernennung Aleksej Kruglovs als neuer Staatsanwalt der RSFSR im April 1954 gehörte neben Rudenkos eigener Berufung zu den prominentesten Personalentscheidungen. Kruglovs Ansehen hatte unter Safonov so weit gelitten, dass, kurz vor Stalins Tod, seine Entlassung zur Diskussion gestanden hatte. Rudenko wiederum setzte sich bei Chruščev dafür ein, Kruglov an die Spitze der Republiksbehörde zu setzen, nicht zuletzt damit Pavel Baranov (Kruglovs Vorgänger und ein Vertrauter Rudenkos) als sein Stellvertreter aufrücken konnte.61 Rudenko brachte mit dem Segen Chruščevs innerhalb kurzer Zeit loyale

58 Zvjagincev/Orlov, Založniki voždej, S. 40. 59 Vgl. Kapitel 6.2.1. 60 „After Stalin’s death, party control over the selection of judges was even more strongly encouraged by the authorities and, intriguingly, desired by many judges and court workers themselves“. Gorlizki, Yoram: Anti-Ministerialism and the USSR Ministry of Justice, 1953–1956. A Study in Organisational Decline, in: Europe-Asia-Studies 48 (1996) H. 8, S. 1307. 61 Vgl. Zvjagincev/Orlov, Založniki voždej, S. 49; 156.

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Mitarbeiter in die Schlüsselpositionen der Staatsanwaltschaft. Im Gegenzug entledigte er sich einer Vielzahl von Leitungskadern, denen er Illoyalität, ihre angebliche Nähe zu Berija oder Inkompetenz zur Last legte. Gleich welche Motive im Einzelfall den Ausschlag gaben: Rudenkos „Hausputz“ brachte die Führungsetage der Staatsanwaltschaft auf seine Linie.62 Das Personalkarussell der Staatsanwaltschaft drehte sich nach 1953 indes auch auf anderen Ebenen. Yoram Gorlizki hat in seiner Dissertation veranschaulicht, dass die Hälfte der Nomenklatura der Staatsanwaltschaft nach 1953 neu bzw. ergänzend besetzt wurde. Von der Unionsebene bis zu den Regionalstaatsanwaltschaften ersetzten bzw. genehmigten die Parteibehörden die Einstellung von 58 neuen Beamten (mit ihnen wurden an der Spitze der Regionen und Distrikte ganze 38 Staatsanwaltschaften neu besetzt).63 Zwischen 1946 und 1953 hatte die Staatsführung für die Justiz einen Generationenwandel ‚von unten‘ eingeleitet. In den Jahren vor Stalins Tod rückten junge Spezialisten in die Abteilungsleitungen der Regionalbehörden bzw. in die Ämter der Bezirksstaatsanwaltschaften auf. Nach 1953 setzte ein Personalwechsel an der Spitze ein, der vor allem die Unions-, Republiks- und Regionalposten betraf. Die Partei baute ihren Einfluss auf die Staatsanwaltschaft aus, indem sie diese Entscheidungen nicht nur forcierte, sondern auch zukünftige Personalvorschläge streng im Auge behielt. Zwischen 1953 und 1956 gab das ZK entsprechende Vorschriften heraus, denen zufolge die Staatsanwaltschaft ihre Personalfragen (nicht nur die Ernennung, sondern auch die Vorschläge) nur nach Rücksprache mit den Parteistellen erörtern durfte.64 Die Staatsanwaltschaft legte ihre Kaderplanung in die Hände der Parteiführung. Dieser Schritt brachte die Beamten nicht nur in die Abhängigkeit der Parteisekretäre. Er war auch eine Demonstration dafür, dass die Führungsebene der Staatsanwaltschaft den Rückhalt der Parteistellen genoss. Die Struktur der Staatsanwaltschaft wurde nicht allein durch parteiloyale Netzwerke gestärkt. Auch die Qualifikation des Personals war für die kollektive Führung von Bedeutung. Chruščev forderte im April 1953 von Safonov einen umfassenden Statusbericht über die Kaderarbeit in der gesamten sowjetischen Staatsanwaltschaft. Besonderes Augenmerk in dieser Bestandsaufnahme lag auf der juristischen Qualifikation und der Parteizugehörigkeit der Beamten. Demzufolge verfügte die Staatsanwaltschaft am 1. Januar 1953 über 22.784 Mitarbeiter, von denen 73,6 Prozent einen Parteiausweis besaßen – etwa ein Prozent weniger als im Vorjahr. Die höheren Dienststellen waren flächendeckend mit Parteimitgliedern besetzt. Lediglich unter 62 Hardy, Jeffrey S.: The Gulag after Stalin. Redefining Punishment in Khrushchev’s Soviet Union, 1953–1964. Ithaca (NY)/London 2016, S. 100. 63 Vgl. Gorlizki, De-Stalinization and the Politics, S. 215–220. 64 Vgl. ebd., S. 220; Pyžikov, Aleksandr: Chruščevskaja „Ottepelʼ“. Moskva 2002, S. 228.

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den Ermittlern gab es dahingehend Nachholbedarf (56,9 Prozent).65 Diese Zahlen waren nicht zufriedenstellend, allerdings auch nicht alarmierend, sofern weitere 10,8 Prozent der Beamten dem Komsomol angehörten. Wie schon fünf Jahre zuvor waren über 80 Prozent aller sowjetischen Staatsanwälte in Partei- bzw. parteinahen Strukturen eingebunden.66 Die größere Baustelle war das Ausbildungsniveau, das besonders in den Sowjetrepubliken Zentralasiens stark schwankte. Seit 1946 hatte das Regime seine Juristen für die Hochschulen und Fernlehrgänge mobilisiert. Über sieben Jahre lang schulte man Staatsanwälte, Ermittler und Richter zu technisch versierten Rechtsbürokraten. 1953 war man aus Safonovs Sicht weit vorangeschritten, aber längst nicht am Ende des Weges angelangt. Der Beschluss vom 5. Oktober 1946 sei noch immer nicht erfüllt worden.67 Im Dezember 1953 betonte auch Dedov gegenüber Chruščev, dass die jüngste Generation der Staatsanwälte unzureichend betreut, Absolventen der Hochschulen nicht längerfristig in den Behörden gebunden werden.68 Die erste Bildungsoffensive hatte der Hälfte aller Staatsanwälte der Sowjetunion zu einem mittleren juristischen Abschluss verholfen. Im Bereich der höheren Bildungsgrade hinkte die Justiz den Erwartungen hinterher. Nur etwas mehr als ein Drittel aller Staatsanwälte verfügten über eine höhere juristische Ausbildung, was immerhin einen Zuwachs um 20 Prozent in fünf Jahren bedeutete.69 Für die Ambitionen der Parteiführung war das aber zu wenig. Im August 1954 brachte das ZK einen Beschluss auf den Weg, der den Mangel an Akademikern in allen Staatsämtern beseitigen sollte. „Über die Verbesserung, Verteilung und Nutzung der Spezialisten mit höherer und mittlerer Fachausbildung“ betraf alle Fachrichtungen, gilt jedoch insbesondere für die Entwicklung der juristischen Ausbildung als Meilenstein.70Die sowjetische Regierung reagierte auf den Fachkräftemangel in Wirtschaft und Industrie und ordnete zusätzliche Investitionen für Universitäten und höhere Fachschulen an. Studenten sollten stärker in die praktische Arbeit integriert und der Zugang zu Lehrmaterialien verbessert werden.

65 Vgl. Arbeitsbericht über die Kaderarbeit in den Organen der Staatsanwaltschaft der UdSSR für 1952, 13.4.1953, in: RGASPI, f. 17, op. 136, d. 450, l. 6. 66 Vgl. Statusbericht zur Übergabe der Staatsanwaltschaft an Safonov, 17.2.1948, in: GARF, f. R-8131, op. 38, d. 486, l. 1–6. 67 Vgl. Arbeitsbericht über die Kaderarbeit, 13.4.1953, in: RGASPI, f. 17, op. 136, d. 450, l. 8. 68 Schreiben des stellvertretenden Leiters der Administrativen Abteilung, Dedov, an Chruščev, über die Ausbildung der Kader der Staatsanwaltschaft, Dezember 1953, in: RGASPI, f. 17, op. 136, d. 450, l. 1. 69 Vgl. Statusbericht zur Übergabe der Staatsanwaltschaft an Safonov, 17.2.1948, in: GARF, f. R-8131, op. 8, d. 486, l. 1–6; Arbeitsbericht über die Kaderarbeit, 13.4.1953, in: RGASPI, f. 17, op. 136, d. 450, l. 6. 70 Kucherov, The Organs, S. 284.

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Zusätzliche Rechtsfakultäten und -institute sollten mehr als 600 zusätzliche Studenten im Jahr aufnehmen.71 Zugleich machte die Parteiführung ihren Anspruch geltend, den Lehrbetrieb auf allen Ebenen zu kontrollieren. Parteikomitees sollten die Lehreinrichtungen darin unterstützen, „die nötigen Bedingungen zur Ausbildung hochqualifizierter Spezialisten“ zu schaffen. Das schloss insbesondere „ideologisch-politische Arbeit unter den Studenten“ ein.72 Linientreue wurde den Absolventen auch vor 1953 abverlangt. Die Parteiführung wollte mit diesem Schritt ihren Einfluss institutionalisieren. Der Beschluss vernetzte die einzelnen Parteikomitees noch stärker mit den Universitäten, die in den kommenden Jahren das Land mit Fachkräften überfluten sollten. Aus Sicht der Staatsanwaltschaft trug dieser Plan Früchte. Bereits zu Beginn des Jahres 1956 konnten über 60 Prozent aller Mitarbeiter den höchsten Fachabschluss vorweisen, auf Regionallevel waren es fast 70 Prozent und selbst in den Bezirken hatte jeder zweite Staatsanwalt den höheren juristischen Bildungsabschluss erreicht. Zwei Jahre zuvor lag der Anteil dort noch bei 20,5 Prozent.73 In Molotov waren ähnliche Fortschritte zu erkennen. Schon im Juli 1955 verfügten fast 69 Prozent der Mitarbeiter über einen Parteiausweis, 19 Prozent waren als Kandidaten geführt. Binnen weniger Jahre hatte Molotov hier den Landesschnitt erreicht. Jeder zweite Beamte hatte einen höheren juristischen Abschluss erworben. Obwohl dies nur auf ein Drittel der Bezirksstaatsanwälte zutraf, glichen die außerordentlich gut ausgebildeten Ermittler (über 50 Prozent) die Bilanz aus.74 Molotovs Staatanwaltschaft bewegte sich mit dem Professionalisierungstrend. Gemessen an den Statistiken der vergangenen zehn Jahre war das jedoch keine sprunghafte Entwicklung, noch der alleinige Verdienst der neuen Führungsriege. Die kollektive Führung investierte in bestehende Strukturen und unterstützte eine Entwicklung, die 1946 eingeleitet worden war. Chruščev und die anderen Präsidiumsmitglieder erkannten den Nutzen einer gut ausgebildeten Beamtenschicht in der Justiz. Daher strebten auch sie für alle Juristen den höchsten Bildungsabschluss an. Sie erkannten aber vor allem die Notwendigkeit, diese Männer (und zunehmend auch Frauen) noch enger an den Parteiapparat zu binden. Noch größeren Wert als auf die juristische Qualifikation legte man auf die Stärke der Nomenklatura innerhalb der Staatsanwaltschaft. Bei der Ernennung der Leitungskader, aber auch über die Ausbildung der nächsten Generation, festigte die Partei ihren Anspruch, die Arbeit

71 Vgl. ebd., S. 287. 72 Erlass über die Ausbildung, Verteilung und Nutzung von Spezialisten, 30.8.1954, unter: http://www. ussrdoc.com/ussrdoc_communizm/ussr_4975.htm, letzter Zugriff: 17.09.2017. 73 Vgl. Gorlizki, De-Stalinization and the Politics, S. 222. 74 Vgl. Kaderbericht der Staatsanwaltschaft Molotov an das ObKom, 18.7.1955, in: PGASPI, f. 105, op. 22, d. 129, l. 43.

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der Staatsanwaltschaft mitzugestalten. Der Schulterschluss zwischen Justiz und Partei war mehr als eine rhetorische Figur in der Parteipresse. Er war die sichtbare Seite der politischen Aufwertung einer Behörde, die schon aus ihrem beruflichen Selbstverständnis heraus die Nähe zur Partei suchte. Völlig zu Recht bemerkte Gorlizki, dass ein Staatsanwalt mit Parteiausweis nicht unantastbar war. Seine Rolle in den Parteiversammlungen hing von seiner Fähigkeit ab, Allianzen zu bilden, sprich: politisch zu agieren.75 Die politische Aufwertung lag nicht einzig in der Mitgliedschaft. Natürlich konnte ein Staatsanwalt der Nomenklatura auf mehr politische Ressourcen und ein größeres Netzwerk zugreifen, wenn er in Konflikt mit anderen Regierungsbehörden geriet. Die Nähe zur Partei war vielmehr die Grundvoraussetzung für politisches Vertrauen bei der Durchsetzung von Regelhaftigkeit und Normen. Die Umstrukturierung des Gulag erforderte aus Sicht der Partei einen loyalen und kompetenten Akteur, der dieses Projekt auch gegenüber der Geheimpolizei durchsetzen konnte. Gleiches galt für die Bewältigung der größten Kriminalitätswelle seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Der stärkste Ausdruck dieses Vertrauens war die Verabschiedung des „Statuts über staatsanwaltschaftliche Aufsicht“ vom 24. Mai 1955, dessen Artikel in den Folgekapiteln eingehender betrachtet werden.76 Die Initiative für das Dokument kam vom Zentralkomitee. Chruščev, Regierungschef Nikolaj Bulganin und der Vorsitzende des Obersten Sowjet Kliment Vorošilov waren sogar persönlich anwesend, als der Text auf der Allunionsversammlung der Staatsanwaltschaft im Sommer 1955 diskutiert wurde.77 Die Parteiführung hatte nachweislich großes Interesse an diesem Projekt. 22 Jahre nach dem letzten Statut wurden die Organisation und die Kompetenzen der Staatsanwaltschaft neu vereinbart. Juristen in der Sowjetunion und im Ausland erkannten, dass die sowjetische Regierung einen längst überfälligen Reformschritt gewagt und der Staatsanwaltschaft ihr Vertrauen ausgesprochen hatte.78 Den Terror und die Willkür vergangener Jahre, so Chruščev, habe vor allem die Geheimpolizei verschuldet, die programmatisch freie Hand erhalten habe, um das Gesetz zu brechen.

75 Vgl. Gorlizki, De-Stalinization and the Politics, S. 215 f. 76 Ukaz Prezidiuma Verchovnogo Soveta SSSR ob utverždenii ‚Položenija o prokurorskom nadzore v SSSR‘, 24.5.1955, in: Socialističeskaja zakonnostʼ 7 (1955), S. 1–11. 77 Vgl. Mironov, N. R.: Ukreplenie zakonnosti i pravoporjadka v obščenarodnom gosudarstve. Programmnaja zadača partii. Moskva 1964, S. 15 f. 78 Vgl. Viktorov, B. A.: Bez Grifa „Sekretno“. Zapiski voennogo prokurora. Moskva 1990, S. 20; Gorlizki, De-Stalinization and the Politics, S. 220 f.; „A new statute that would bring up to date and specify Procuracy powers and jurisdiction was finally realized“. Morgan, Soviet Administrative Legality, S. 126.

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Sie und wir wissen, wie viele Perversionen begangen wurden, die Ihnen gut bekannt sind, und die wir jetzt korrigieren, beseitigen werden. […] Man muss sagen, dass auch Sie, natürlich, eine gewisse Verantwortung für das Begangene tragen […] doch wir berücksichtigen […] dass Sie in eine unvorteilhafte Lage gebracht wurden; den Organen des MGB und MVD war das Recht gegeben worden, das ihnen nicht zustand, auf Kosten der Herabwürdigung, der Beschneidung und der Missachtung der Rechte, die dem Staatsanwalt und der staatsanwaltschaftlichen Aufsicht per Gesetz gegeben sind.79

Die Konsequenz, die die sowjetische Regierung daraus ziehen müsse, um diese Willkür künftig zu verhindern, hieß, dem Staatsanwalt wieder die nötige Autorität zu verschaffen – zur Disziplinierung von Staat und Gesellschaft. Der Staatsanwalt muss ein strenger Mann des Gesetzes und unerbittlicher Mann des Staates sein, er muss sich strikt vom Gesetz leiten lassen, für ihn steht der Mensch vor allem anderen, und deshalb muss er diesen Menschen und die staatliche Ordnung achten und bewahren.80

Das Statut fixierte diese Autorität. Rudenko eröffnete seinen Redebeitrag auf der Versammlung mit dem Hinweis, dass man über zwei Jahrzehnte auf einen Gesetzestext gewartet habe, der die Ungenauigkeiten in der Arbeitsbeschreibung für Staatsanwälte beseitigt, die „oberste Aufsicht“ definiert und vor allem die Kompetenzen für die Staatsanwälte außerhalb Moskaus konkretisiert.81 Diese Hoffnung hatte sich nun teilweise erfüllt. Abgesehen von den neuen Vorschriften für die Haft- und Milizaufsicht war das Statut vor allem wesentlich umfangreicher als sein Vorgänger aus dem Jahr 1933. Dieses umfasste lediglich 20 Punkte, wohingegen die neue Satzung ganze 57 Artikel enthielt.82 Der erste Teil des Textes widmete sich dem Konzept der „Aufsicht“ im Allgemeinen. Darin spiegelte sich bereits der rhetorische Paradigmenwechsel wider, den die Parteiführung in der Öffentlichkeit eingeleitet hatte. Die Rolle der Staatsanwaltschaft definierte sich über den Schutz der Verfassung vor jeglichen „Angriffen“ (Artikl 113) sowie über die Aufrechterhaltung der verfassungsmäßig bestimmten 79 Auszug aus dem Redebeitrag Chruščevs auf der Allunionsversammlung der staatsanwaltschaftlichen Mitarbeiter, 25.6.1955, in: Natalʼja G. Tomilina (Hg.), Nikita Sergeevič Chruščev. Dva cveta vremeni. Dokumenty iz ličnogo fonda S. N. Chruščeva. Tom 1. Moskva 2009, S. 543. 80 Ebd. 81 Vgl. Bericht des Generalstaatsanwaltes, Rudenko, über ‚Maßnahmen zur weiteren Festigung der sozialistischen Gesetzlichkeit‘ auf der Allunionsversammlung leitender Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft, 23.6.1955, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 4013, l. 9. 82 Vgl. Über die Bestätigung des Statuts der Staatsanwaltschaft, 17.12.1933, in: Uskov, Istorija sovetskoj prokuratury, S. 476–479.

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gesellschaftlichen und staatlichen „Ordnung“ (stroja).83 Die Verfasser gingen in ihren Betrachtungen der sowjetischen Ordnung vom Verfassungstext aus. 22 Jahre zuvor definierte sich diese Ordnung über das „gesellschaftliche Eigentum“ und die Staatsanwaltschaft war dazu bestimmt, „Attentate durch anti-soziale Elemente“ abzuwehren. 1955 war das „gesellschaftliche Eigentum“ noch immer ein zentraler Baustein der sowjetischen Ordnungsvorstellungen, doch dessen Schutz war nun an die Wahrung der „Rechte und Interessen der Bürger“ gebunden (das Wort „Bürger“ kam im Text von 1933 nicht vor).84 Der Staatsanwalt wurde in den Mittelpunkt der Allianz von Staat und Gesellschaft gerückt. Er überwachte diesem Text zufolge das beidseitige Versprechen der Regelhaftigkeit. Neben den rhetorischen Neuerungen lieferte der Text von 1955 erstmals eine präzise Tätigkeitsbeschreibung für Staatsanwälte, auf die sich die Beamten berufen konnten. Ungesetzlichkeiten sollten nicht allein bekämpft werden, indem Staatsanwälte gegen die Gesetzesübertretungen protestierten. Das neue Statut versetzte die Staatsanwaltschaft in die Lage, Informationen aus allen Regierungsbehörden anzufordern, wenn deren Mitarbeiter das Gesetz gebrochen hatten. Dies betraf offizielle Anordnungen, aber auch andere Unterlagen, die von den Behörden an ihre Mitarbeiter herausgegeben hatten. Überdies waren Staatsbedienstete verpflichtet, der Staatsanwaltschaft auch mündlich Auskunft zu geben.85 Der Zugang zu Informationen entschied nicht selten über den Ausgang eines Protests. Dieses Dokument, in dem das Recht auf Einsicht ebenso fixiert war, wie die Pflicht zur Kooperation (mit der Staatsanwaltschaft), stärkte die Position aller Staatsanwälte. Des Weiteren sollte jeder Staatsanwalt und jeder Ermittler im Land über einen höheren juristischen Abschluss verfügen. Ausnahmen wurden nur durch den Generalstaatsanwalt genehmigt. Außerdem führte man für die Absolventen ein Pflichtjahr als Ermittler bzw. Assistent in einer Bezirksstaatsanwaltschaft ein.86 Auf der Zielgeraden zu einer flächendeckend qualifizierten Staatsanwaltschaft überließ die Parteiführung nichts mehr dem Zufall. Von der nächsten Generation wurde Praxiserfahrung und Hochschulbildung verlangt – ein Ideal, wie es Vyšinskij einst vorschwebte und das nun per Beschluss verwirklicht werden sollte. Wie bereits erwähnt, näherte man sich diesem Ideal nur schrittweise an. Die übrigen Artikel kodifizierten die Befehle der vergangenen zwei Jahre, die die Arbeitsweise der

83 Ukaz Prezidiuma Verchovnogo Soveta SSSR ob utverždenii ‚Položenija o prokurorskom nadzore v SSSR‘, 24.5.1955, in: Socialističeskaja zakonnostʼ 7 (1955), S. 1. 84 Ebd.; Über die Bestätigung des Status der Staatsanwaltschaft, 17.12.1933, in: Uskov, Istorija sovetskoj prokuratury, S. 476–479. 85 Vgl. Ukaz Prezidiuma Verchovnogo Soveta SSSR ob utverždenii ‚Položenija o prokurorskom nadzore v SSSR‘, 24.5.1955, in: Socialističeskaja zakonnostʼ 7 (1955), S. 4. 86 Vgl. ebd., S. 10.

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Staatsanwaltschaft drastisch verändert, ihre Kompetenzen im Umgang mit Miliz und Innenministerium deutlich erweitert hatten.87 Im Allgemeinen zementierte die Parteiführung mit dem Statut das politische Vertrauen, das sie in die Staatsanwaltschaft nach Stalins Tod investierte. Die Partei bestimmte die Staatsanwaltschaft zum Instrument ihrer Wahl, um das Innenministerium und die Gesellschaft gleichermaßen zu disziplinieren und um der Allianz zwischen Staat und Gesellschaft sichtbar Leben einzuhauchen. Dazu mussten die Kompetenzen eines Staatsanwalts nicht nur erweitert, sondern besser reglementiert sein. Die Kampagne für „Sozialistische Gesetzlichkeit“ war in diesem Zusammenhang Öffentlichkeitsarbeit für die Partei selbst. Sie buhlte um das Vertrauen der Bevölkerung und die Rhetorik des Rechts kam den Erwartungen vieler auf eine regelhaft und vorhersehbar operierende Staatsgewalt entgegen. Dies war jedoch kein bloßes Blendwerk für die Pravda-Leser, die die Kampagne ohnehin eher skeptisch verfolgten.88 Chruščev und andere Präsidiumsmitglieder empfanden den Einfluss der Geheimpolizei genauso bedrohlich wie das Prinzip institutionalisierter Willkür, auf dem dieser Einfluss beruhte. Die Staatsanwaltschaft bot dazu eine Alternative. Sie verkörperte das Prinzip der Regelhaftigkeit und unterwarf ihre Beamten bedingungslos dem Diktat der Partei (das über diesem Prinzip stand). Sie pflegte überdies eine institutionelle (und häufig auch persönliche) Rivalität mit dem Innenministerium, das nach Berijas Verhaftung unter besonderer Beobachtung der Parteiführung stand. Die Stärkung der Staatsanwaltschaft war unter dem Gesichtspunkt politischer Stabilität ebenso folgerichtig, wie die Berufung Rudenkos zum Anklageführer in der ‚Berija-Affäre‘. Diese Aufwertung bedeutete keinesfalls die Ablösung der Willkür durch das Recht. Es wäre falsch, den neuen Machthabern das Interesse an rechtsstaatlichen Prinzipien zu unterstellen. Die Parteiführung hob die Staatsanwaltschaft auf politische Augenhöhe mit dem Innenministerium, um ihren eigenen Führungsanspruch zu untermauern. Sie brauchte ein loyales Korrektiv gegenüber der (Geheim)Polizei, die eine eigene (bewaffnete) Massenorganisation im Staat darstellte. Mochte die Staatsanwaltschaft auch in die „politische Lücke“ aufgerückt sein, die Berijas Niedergang mit dem Innenministerium hinterlassen hatte.89 Die Parteiführung war auf beide Behörden und deren Kooperationsbereitschaft angewiesen, um Reformen zu vollziehen. Inwiefern die Staatsanwaltschaft dieser Beziehung und dem Reformprozess ihren Stempel aufdrücken konnte, wird auf den folgenden Seiten beleuchtet.

87 Vgl. Kapitel 6.2 und 6.3 88 Vgl. Dobson, Khrushchev’s Cold Summer, S. 26–32. 89 Gorlizki, De-Stalinization and the Politics, S. 218.

Die Umstrukturierung des Gulag

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6. 2 D ie Um s t r u k t u r ie r u ng d e s G u l a g Der Gulag spiegelt die Ambivalenz der „Entstalinisierung“ besonders deutlich wider. Die Geschichte des sowjetischen Lagersystems liefert die stärksten Argumente für den fundamentalen Umbruch, den Stalins Tod für das Leben von Millionen Menschen bedeutete. Sie verweist aber auch auf die Grenzen dieser Veränderungen; auf die ungebrochenen Traditionen gewaltsamer Ausgrenzung Andersdenkender und auf die enttäuschten Hoffnungen, mit denen zahllose Menschen innerhalb und außerhalb der Lagerwelt ihrer Befreiung entgegenfieberten. Die Welt der Lager veränderte sich und existierte doch weiter.90 Die Ambivalenz der Gulag-Geschichte verdichtet sich besonders in den ersten drei Jahren nach Stalins Tod. Bis 1956 reduzierte sich die Insassenzahl von ehemals 2,5 Millionen im Jahr 1953 auf weniger als eine Million Menschen in den Lagern, Kolonien und Gefängnissen.91 Zugleich sprachen sowjetische Gerichte in jedem dieser Jahre über eine Million Haftstrafen aus. Der Zustrom an neuen Häftlingen riss nicht ab.92 Über 114.000 „Konterrevolutionäre“ bevölkerten die Lager zu dem Zeitpunkt, als Chruščev seine Geheimrede hielt.93 Der Gulag verlor einen Großteil seiner Wirtschaftszweige. Zwangsarbeit galt als unrentabel. Dennoch gab das MVD zentrale Bauvorhaben nicht auf und hielt an einem Teil der Lagerbevölkerung als billige Arbeitskräfte weiter fest.94 Die sowjetische Staatsanwaltschaft stand gemeinsam mit dem Innenministerium im Mittelpunkt des Wandels und der Kontinuitäten des sowjetischen Lagersystems. Die Parteiführung fällte die Reformentscheidungen und besiegelte die Richtungswechsel im Umgang mit dem Erbe der Stalin-Zeit. Es war aber die Zusammenarbeit von MVD und Staatsanwaltschaft, die der Umstrukturierung des Lagersystems vor Ort seine praktische Ausgestaltung gab. Das folgende Kapitel beleuchtet diese Zusammenarbeit. Welche Rolle spielte die Staatsanwaltschaft in Molotov bei der Umstrukturierung des Gulag? Welchen Anteil hatte sie am Wandel und an den Kontinuitäten des Lagersystems nach 1953? Wie prägte sie, samt ihrer beruflichen Vorstellungen, die Entscheidungsfindung im Umgang mit (ehemaligen) Häftlingen 90 Vgl. Applebaum, Der Gulag, S. 501–508. „The Gulag is Dead, Long Live the Gulag“. Barnes, Death and Redemption, S. 249. 91 Vgl. Gesammelte Daten über die Häftlingszahlen für den Zeitraum 1952–1954, 1954, in: Bezborodov/ Chrustalev, Istorija stalinskogo gulaga, 4, S. 135; Bericht des MVD der UdSSR ans ZK, 5.4.1956, in: Petrov/Kokurin, GULAG. 1917–1960, S. 164. 92 Vgl. Daten der statistischen Abteilung des Obersten Gerichts, 1.7.1955, in: Afanasʼev/Werth, Istorija stalinskogo gulaga, 1, S. 613. 93 Vgl. Adler, The Gulag Survivor, S. 169. 94 Vgl. Khlevniuk, Oleg/Kraveri, Marta: Krizis ekonomiki MVD, (konec 1940-ch–1950-e gody), in: Cahiers du Monde russe 36 (1995) H. 1–2, S. 179–190.

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und die Umgestaltung der Lagerwelt, und wie weit dehnten sich ihre eigenen Kompetenzen in diesem Prozess aus? Zur Beantwortung dieser Fragen werden zwei zentrale Bereiche der Umgestaltung des Lagersystems betrachtet, in denen die Staatsanwaltschaft zwischen 1953 und 1956 involviert war. Zum einen untersucht das Kapitel die Rolle der Staatsanwaltschaft bei den Haftentlassungen aus dem Lagerkomplex. Exemplarisch stehen dafür die Amnestiepolitik und die Arbeit der Revisionskommissionen im Mittelpunkt.95 Zum anderen betrachtet das Kapitel die Entwicklung des Haftregimes und den wachsenden Einfluss der Staatsanwälte auf die Zustände in den Lagern selbst.

6.2.1 Strategien der Haftentlassung Die überwiegende Mehrheit der Menschen, die zwischen 1953 und 1956 das Zwangslager- und Siedlungssystem verließen, war entweder amnestiert oder anderweitig per Beschluss als Teil eines Häftlingskontingentes entlassen worden. 1,2 Millionen Häftlinge kamen allein durch die Amnestie vom 27. März 1953 innerhalb nur eines Jahres frei. Hunderttausende folgten in den Jahren 1954 und 1955 durch veränderte Bewährungsregeln, vorzeitige Entlassungsangebote für Minderjährige oder Amnestien für Kranke, Alte und Arbeitsunfähige im Allgemeinen.96 Bei der ersten und größten Amnestie spielte die Staatsanwaltschaft nur eine Nebenrolle. Der Beschluss war zwar unter der Zuarbeit der Generalstaatsanwaltschaft ausgearbeitet worden, doch die Entlassung von über einer Million Insassen war das Projekt Berijas, der eine rein administrative Lösung für die Probleme der Lagerwelt und des MVD anstrebte.97 Einen Tag vor dem Beschluss, am 26. März 1953, argumentierte er im ZK dafür, die Personen in die Freiheit zu entlassen, die „keine ernsthafte Gefahr für die Gesellschaft darstellen“. Die Feststellung von Schuld oder Unschuld spielte keine Rolle.98 Im Beschlusstext betraf dies Personen, deren Strafmaß sich auf höchstens fünf Jahre belief und diejenigen, die aufgrund minderschwerer Delikte im Militär- und

95 Die volle Bezeichnung dieser Gremien lautete „Kommissionen zur Durchsicht der Strafsachen von Personen, die für konterrevolutionäre Verbrechen verurteilt worden waren und sich in den Lagern, Kolonien, Gefängnissen und zur Verbannung in Siedlungen befinden“. Vgl. Lavinskaja, Olga: Dokumenty Prokuratury o processe reabilitacii žertv političeskich repressij v 1954–1956 gg., in: Otečestvennye Archivy 3 (2007), S. 38. Zur Vereinfachung (und zur Unterscheidung von anderen Nachfolgekommissionen) wird im Folgenden der Begriff „Revisionskommission“ verwandt. 96 Vgl. ebd., S. 48–51; Adler, The Gulag Survivor, S. 78. 97 Vgl. Elie, Khrushchev’s Gulag, S. 112. 98 Notiz Berijas an das Präsidium des ZK, 26.3.1953, in: Naumov/Sigačev, Lavrentij Berija. 1953, S. 19.

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Staatsdienst verurteilt worden waren. Darüber hinaus sollten Schwangere, Minderjährige, Kranke und Alte entlassen werden. „Konterrevolutionäre“, Gewalt- und Wiederholungstäter sowie Fälle von schwerem Diebstahl blieben außen vor.99 Das Innenministerium entledigte sich der finanziellen Belastung durch Kleinkriminelle und Ersttäter und unterstrich zugleich seinen Anspruch über die politischen Gefangenen. In diesen Kontext gehörte auch, dass das Innenministerium am 28. März 1953 fast die gesamte Lagerverwaltung (bis auf die Speziallager mit den „besonders gefährlichen“ politischen Häftlingen) an das Justizministerium delegierte, das nun die politische Verantwortung für den GULag trug.100 Staatsanwaltschaft und Justizministerium vereinbarten, dass die Befreiungsaktion in Kooperation zwischen den Mitarbeitern des Innenministeriums und den „entsprechenden Staatsanwälten“ abgewickelt werde. Dabei verblieb gerade der Auswahlprozess in den Lagern in den Händen der Lagerverwaltungen, die über das nötige Aktenmaterial verfügten und deren Entscheidungen sich der Lagerstaatsanwalt üblicherweise unterwarf.101 Berija bevorzugte eine hauseigene Lösung. Die Haftaufsicht kam auch in diesen Fällen (zunächst) nur ihrer Dokumentationspflicht nach und versuchte, Fehlentscheidungen in der statistischen Nachbearbeitung zu korrigieren. Die Tatsache, dass weder die Abteilung in Molotov noch die Haftaufsichtsleitung in Moskau genaue Informationen darüber hatten, wie viele Personen insgesamt durch die Amnestie 1953 in der Region freigelassen wurden, verdeutlicht, dass die Staatsanwaltschaft, wie in den Jahren zuvor, nur punktuell Einsicht in die Entlassungsprozesse hatte.102 Mehr Einsicht und folglich mehr Einfluss hatte die Staatsanwaltschaft bei der Prüfung laufender Strafverfahren, die die Kriterien des Amnestie-Befehls erfüllten. Die Beamten nutzten dazu ihre eigenen Unterlagen und führten Gespräche in den Untersuchungsgefängnissen. Hierbei zeigten sich einige Staatsanwälte unachtsam oder überfordert und verließen sich zuweilen auf die mündlichen Aussagen der

 99 Erlass des Obersten Sowjets, 27.3.1953, unter: http://www.ussrdoc.com/ussrdoc_communizm/ ussr_4890.htm, letzter Zugriff: 17.09.2017. 100 Vgl. Elie, Khrushchev’s Gulag, S. 112. 101 Befehl des MVD, des MJu der UdSSR und der Generalstaatsanwaltschaft, 28.3.1953, in: Andrej A. Artizov (Hg.), Reabilitacija. Kak ėto bylo. Dokumenty Prezidiuma CK KPSS i drugie materialy. Tom 1. Mart 1953–fevralʼ 1956. Moskva 2000, S. 16 f.; vgl. Barnes, Death and Redemption, S. 206. Die Fälle wurden in alphabetischer Reihenfolge von der Lagerverwaltung untersucht, die die jeweiligen Häftlinge auch über ihre Freilassung informierte. Vgl. Stark, Meinhard. Die Gezeichneten. Gulag-Häftlinge nach der Entlassung. Berlin 2010, S. 67 f. 102 „In der Abteilung gibt es keine Daten über die Zahl der Personen, die durch den Ukaz vom 27.3.1953 befreit wurden“. Revisionsprotokoll für die Staatsanwaltschaft Molotov, 13.7.–31.7.1953, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 2522a, l. 141. Einer Schätzung der Staatsanwaltschaft Molotov zufolge wurden bis zum 1.11.1953 20.951 Amnestierte in der Region registriert, doch auch diese Zahlen seien unvollständig. Bericht über die Arbeit der Staatsanwaltschaft Molotov für 1950–1953, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 194, l. 17.

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Gefängnisinsassen. Die Mehrheit der Fälle in Molotov sei aber aus Sicht der Generalstaatsanwaltschaft reibungslos verlaufen.103 Bis zum Ende des ersten Halbjahres 1954 verließen auf diese Weise landesweit über 90.000 Menschen das Gefängnis bzw. die Untersuchungshaft ohne Urteilsspruch oder ohne Anklageerhebung. Über die Hälfte der Haftentlassungen in Molotov im ersten Halbjahr 1953 schrieb man der Amnestie zu.104 Die Haftaufsicht konnte dort eingreifen, wo der Zugang zum Untersuchungsmaterial (den Strafakten) offen war und wo konventionelle Gerichte involviert waren. Nach Berijas Verhaftung kam es zu deutlichen Veränderungen in der Amnestie-Politik. Sowohl die Parteiführung als auch der Leiter der GULag, Ivan Dolgich, erkannten, dass die März-Amnestie die Lagerkapazitäten nur kurz entlastet hatte. Weitere Entlassungen erschienen notwendig.105 Zugleich hatte Berijas Entscheidung, die Häftlinge als Kontingente zu entlassen, zehntausende von Straftätern in Freiheit gebracht, die die Gewalt und die Organisationsstrukturen der Lager in die sowjetische Gesellschaft trugen.106Dieser Schock führte zum Umdenken über die Lagerwelt und beeinflusste die Planung weiterer Entlassungswellen.107 In den Jahren 1954 und 1955 leitete das Regime die Amnestierung weiterer Häftlinge in die Wege. In diesen Fällen legte man aber die endgültige Entscheidung über die Befreiung der Häftlinge in die Hände der Gerichte. Die Lagerverwaltungen, seit Januar 1954 wieder Teil des MVD, sollten das Material dafür vorbereiten und eine Auswahl an Häftlingen treffen, die zur Freilassung geeignet wären. Darüber hinaus wurde die Lagerstaatsanwaltschaft am 26. Februar 1954 in die Territorialstaatsanwaltschaft eingegliedert.108 Diese Entscheidung veränderte nicht nur die Inspektionen des Haftregimes. Sie erleichterte den Beamten der Regionalstaatsanwaltschaft den Zugang zu den Unterlagen der Lagerverwaltung. Ab 1954 hatte die sowjetische Justiz deutlich mehr Einfluss auf die Entlassungsprozeduren aus dem Gulag. Ein Beispiel für die neue Aufgabenteilung ist der Befehl zur „vorzeitigen Haftentlassung minderjähriger Straftäter“ vom 24. April 1954. Anders als im Jahr zuvor schloss diese Anordnung keine Insassengruppe kategorisch aus. In allen Jugendhafteinrichtungen sollten stattdessen Personen entlassen werden, „die ihre 103 Vgl. Revisionsprotokoll für die Staatsanwaltschaft Molotov, 13.7.–31.7.1953, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 2522a, l. 126–128. 104 Vgl. Bericht der leitenden Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft auf der Versammlung des ObKom, 11.9.1953, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 275, l. 10. 105 Vgl. Hardy, The Gulag after Stalin, S. 35. 106 Vgl. Dobson, ‚Show the Bandits no Mercy‘, S. 25. 107 Vgl. Elie, Khrushchev’s Gulag, S. 114 f. 108 Vgl. Befehl der Unionsstaatsanwaltschaft, 26.2.1954, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 3284, l. 20; Befehl zur Abschaffung der Lagerstaatsanwaltschaft, 17.3.1954, in: GAPK, f. 1366, op. 3, d. 55, l. 38.

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Besserung durch beispielhaftes Verhalten und eine gewissenhafte Beziehung zu Arbeit und Lernen“ bewiesen haben. Das MVD wurde explizit daran erinnert, Fälle, unabhängig vom Strafmaß, deren Vorstrafen oder der Art des Verbrechens, auszuwählen. Dafür mussten die betroffenen Insassen mindestens ein Drittel und mindestens sechs Monate ihrer Haftzeit schon verbüßt haben. Die Gerichte prüften die entsprechende Auswahl im Beisein des Staatsanwalts.109 Ein Jahr nach der ersten Entlassungswelle war nunmehr das Urteilsvermögen der Juristen gefragt. Sie sollten, gemäß dem Besserungsprinzip, den Blick für gewalttätige Risikohäftlinge schärfen und die korrekten Haftzeiten mit den geleisteten Arbeitstagen verrechnen. Im Gegensatz zur Berija-Amnestie vollzog sich die Entlassung der jugendlichen Straftäter wesentlich langsamer und kontrollierter. Dabei zeichnete sich auch ein Problem ab. Die Staatsanwaltschaft verwendete ihre Ressourcen vor allem auf den zweiten Aspekt des Befehls. Sie prüfte die Fälle, die ihnen die Lagerverwaltung zuschickte, mit Blick darauf, ob die Haftzeiten korrekt berechnet wurden. Dies war eine langwierige und fehleranfällige Rechenaufgabe, die wenig juristischen Sachverstand abverlangte und dennoch äußerst kompliziert war. Die bereits abgebüßte Zeit musste sowohl mit den Gerichtsterminen als auch den geleisteten Arbeitstagen verrechnet werden. In einigen Fällen kam auch die Amnestie vom 27. März 1953 noch zur Anwendung. Die Folge waren lange Bearbeitungszeiten, unter denen gerade die Insassen litten. So war zum Beispiel der Staatsanwalt von Kospaš mit den Gutachten für 42 Häftlinge im Rückstand, da er in acht Fällen Rechenfehler begangen hatte. Einige Häftlinge mussten daher mehrere Monate auf die endgültige Entscheidung des Regionalgerichtes warten.110 Der Entscheidungsprozess wurde zusätzlich durch die Tatsache in die Länge gezogen, dass beide Abteilungen der Staatsanwaltschaft – die Abteilungen für Haftaufsicht und für Angelegenheiten Minderjähriger – in den Sichtungsprozess involviert waren, obgleich nur Erstere über das Material des Lagerstaatsanwalts verfügte. Dieser „schädliche Parallelismus“ verzerrte die Qualität der Fallprüfungen, je nachdem in welche Abteilung die Entlassungsliste geschickt wurde.111 Die formale Beurteilung der Straffälle band einen nicht unwesentlichen Teil der staatsanwaltschaftlichen Personalressourcen und sie verkomplizierte und verzögerte den Entlassungsprozess.

109 Befehl des MVD, des Justizministeriums und der Generalstaatsanwaltschaft über die vorzeitige Haftentlassung von minderjährigen Straftätern am 24.4.1954, 5.5.1954, in: GAPK, f. 1366, op. 3, d. 53, l. 106–107. 110 Einem Häftling mit dem Namen Mizernjuk wurde zum Beispiel die Entlassung durch das Gericht verweigert. Auf eine erneute Prüfung und den Protest des Staatsanwaltes hin kam er schließlich drei Monate später frei. Vgl. Bericht zur Erfüllung des Ukaz vom 24.4.1954 in Molotov, 5.1.1955, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 643, l. 82. 111 Ebd., l. 91.

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Die inhaltliche, sprich: charakterliche, Beurteilung erfolgte in erster Linie im Lager. Die Lagerverwaltung entschied, ob ein Insasse zur Befreiung infrage kam und ob sich der oder die Jugendliche aus Sicht der Lagerführung vorbildlich verhalten hatte. Damit waren die Insassen auch weiterhin der Willkür lokaler Lagerkommandanten ausgeliefert, die ihre besten Arbeiter nur widerwillig entließen.112 Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Gerichte konnten theoretisch in diesen Auswahlprozess mit eingreifen. Die Auswahlliste wurde vom Staatsanwalt des Lagers mit erstellt und Mitarbeiter der Lagerverwaltung mussten im Beisein des Häftlings vor Gericht ihre Auswahl rechtfertigen. Besonders die gerichtliche Falluntersuchung führte mündliche und schriftliche Angaben zu einem Häftling zusammen und war damit gründlicher als die der Lagerverwaltung. Bei dieser Gelegenheit kam zum Beispiel ans Licht, dass der zuständige Lagerbeamte keinen einzigen Blick in die Akte eines Häftlings geworfen hatte. Dessen Behauptung über die Disziplinvergehen des Häftlings konnte durch die Akten des Lagerstaatsanwalts widerlegt werden.113 Die gleiche Kritik richtete sich allerdings auch gegen den Lagerstaatsanwalt selbst. Einer der Lageranwälte von Usollag hatte 1954 keinen einzigen der Fälle geprüft, deren Entlassung von der Lagerverwaltung abgelehnt worden war. Usollag war der Lagerkomplex mit den meisten Jugendlichen (1378) und mit den meisten abgelehnten Entlassungsanträgen (706) im Jahr 1954.114 Lagerstaatsanwälte zeigten folglich wenig Eigeninitiative bei der Kontrolle der Lagerverwaltung. So musste der Vertreter der Haftaufsicht der Generalstaatsanwaltschaft bei seiner Revision in Molotov zum Jahresende 1954 feststellen: „Die Staatsanwälte [der Lager, I. R.] wissen nicht, ob den Häftlingen die vorzeitige Befreiung oder die Haftverkürzung zu Recht verweigert wird, ungeachtet dessen, dass es eine bedeutende Anzahl solcher Häftlinge in den Lagern gibt.“115 Sie gaben die Entlassungslisten der Lagerverwaltung meist einfach nur weiter. Die Staatsanwaltschaft hatte mehr Möglichkeiten, in die zweite Entlassungswelle einzugreifen, als dies noch im März 1953 der Fall war. Die Beamten in den Lagern versorgten sie und die Gerichte mit wichtigem Untersuchungsmaterial, das vor allem für einen formalen Abgleich mit den Angaben des MVD konsultiert wurde. Bei der charakterlichen Beurteilung amnestiefähiger Jugendlicher hatte die Lagerverwaltung hingegen freie Hand. Der Staatsanwalt des Lagers leitete die Listen oftmals nur weiter, während seine Kollegen außerhalb der Lager mit der

112 Vgl. Hardy, The Gulag after Stalin, S. 37. 113 Vgl. Überprüfungsakt der Haftaufsicht Molotov für das Jahr 1954, 31.12.1954, in: GAPK, d. 1366, op. 1, d. 673, l. 33. 114 Vgl. ebd.; GAPK, f. 1366, op. 1, d. 643, l. 90. 115 Überprüfungsakt der Haftaufsicht Molotov für das Jahr 1954, 31.12.1954, in: GAPK, d. 1366, op. 1, d. 673, l. 34.

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formalen Beurteilung der Fälle betraut waren. In diesem bürokratischen Zusammenspiel war die gerichtliche Anhörung theoretisch die letzte Chance für Jugendliche, trotz negativer Beurteilung doch noch entlassen zu werden. Da aber gerade die Volksgerichte mit Fällen überhäuft wurden, waren diese wenig ambitioniert, die Zahl derer noch zu vergrößern, die entlassen werden sollten. Als der Befehl im April 1954 verschickt wurde, gab es in Molotov 4201 Minderjährige in Lagerhaft. 2845 (63 Prozent) wurden von den Lagerverwaltungen als amnestiefähig eingestuft. Über die übrigen 37 Prozent war der Staatsanwaltschaft nur bekannt, mit welcher Begründung sie von der Amnestie ausgenommen waren. Eine eigene Statistik für Häftlinge, die nachträglich für die Amnestie nominiert wurden, gab es nicht.116 In der Summe erhoben die Organe der Justiz nur selten Einspruch gegen die Auswahl der Lagerverwaltungen. Die Organe der Justiz bremsten die Entlassungsprozedur deutlich aus und sicherten die Erfüllung der formalen Auflagen für eine Amnestie. Die Staatsanwaltschaft trug dazu bei, dass diese Prozedur regelhafter und kontrollierter ablief. Die Chancen für eine strafrechtliche Auseinandersetzung im Einzelnen waren dabei jedoch gering: Weil die erste Auswahl noch immer vom MVD getroffen wurde; weil die Staatsanwaltschaft mit der Sicherung formaler Kriterien überlastet war und weil der Befehl keine solche Auseinandersetzung vorsah. Die Häftlinge sollte nach ihrem Verhalten im Lager und nicht anhand ihrer Straftat evaluiert werden. 22.670 Kinder und Jugendliche kamen so bis 1955 landesweit frei. Die gleiche Verfahrensweise galt auch bei der Anwendung vorzeitiger Bewährung, in deren Folge 117.570 Menschen entlassen wurden, doch auch hier hatten die zuständigen Justizorgane mit der Last der Anfragen zu kämpfen und die Lagerverwaltungen trafen die erste Auswahl.117 Amnestien blieben, auch mit juristischer Unterstützung, administrative Instrumente ohne strafrechtliche Implikationen.118 Das Regime entledigte sich eines Teils der Häftlingspopulation, der keine unmittelbar politische oder soziale Bedrohung darstellte – Frauen, Jugendliche, Kranke und Alte – und beseitigte mit deren Akten auch den juristischen Vorgang. Am 16. Juni 1954 wurden alle Archivabteilungen von MVD und Staatsanwaltschaft angewiesen, sämtliche Ermittlungsakten der am 27. März 1953 amnestierten Insassen zu vernichten. Darüber hinaus sollten die Akten für Arbeitsvergehen (einschließlich der Deserteursverfahren) vernichtet werden. Lediglich zwei Prozent aller Unterlagen sollten zu wissenschaftlichen oder praktischen Zwecken erhalten bleiben.119 116 Vgl. ebd., l. 31–32. 117 Vgl. Hardy, The Gulag after Stalin, S. 37. 118 Vgl. Goudoever Albert P. van: The Limits of Destalinization in the Soviet Union. Political Rehabilitations in the Soviet Union since Stalin. London 1986, S. 40. 119 Vgl. Erlass des stellvertretenden Generalstaatsanwalts und des Leiters der Archivabteilung des

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Strafrechtliche Kriterien spielten erst dort eine Rolle, wo die Parteiführung keine Kontingentlösung anstrebte, weil sie um die politischen Konsequenzen einer Entlassung fürchtete bzw. diese nicht abschätzen konnte. Dies betraf in erster Linie die ‚politischen Häftlinge‘, sprich: Insassen mit „konterrevolutionärer“ Vergangenheit. Von der ersten Amnestie ausgenommen, stellten sie im Laufe des Jahres 1953 die mit Abstand größte Häftlingsgruppe im Gulag.120 Diese äußerst diverse Insassengruppe teilte, von dem Etikett der „Konterrevolution“ abgesehen, nur zwei Eigenschaften miteinander, die eine konsistente Strategie zu ihrer Behandlung in den Augen der Parteiführung notwendig und zugleich so schwierig machte. Zum einen war deren Aburteilung auf überwiegend administrativen bzw. außergerichtlichen Wegen erfolgt. Einen großen Teil der Urteile wegen „Konterrevolution“ hatten die OSO des Innenministeriums, die Militärgerichte oder Trojki gefällt.121 Die Verfahrenspraktiken dieser Instanzen waren allen Mitgliedern des Parteipräsidiums nur zu gut bekannt. Chruščev und seine Parteigenossen wussten, dass diese Verfahren nicht der Feststellung von Schuld und Unschuld gedient hatten; dass Tatbestände und Beweismittel konstruiert und Geständnisse abgepresst worden waren. Ein großer Teil dieser Menschen war nach strafrechtlichen Gesichtspunkten unschuldig.122 Zum anderen beschwor das Stigma des „Konterrevolutionärs“ abstrakte Befürchtungen in der Regierung und in der sowjetischen Gesellschaft herauf. Politische Häftlinge galten auch nach Stalins Tod per definitionem als Bedrohung.123 Die politische Häftlingswelt war zudem äußerst vielfältig. Hinter den Lagerzäunen warteten aus zeitgenössischer Sicht verurteilte „Trotzkisten“, „Bucharinisten“ und Spione ebenso wie Kollaborateure und Mitglieder nationalistischer Aufstandsbewegungen. Die Frage ihrer Entlassung berührte die politische Hypothek, die Stalin für seine Nachfolger hinterlassen hatte. Wer waren die Feinde der Sowjetmacht? Die Auseinandersetzung mit dem Schicksal ‚politischer Häftlinge‘ lieferte eine Antwort.

UMVD der UdSSR in Bezug auf den Erlass ‚Über die Amnestie‘, 16.6.1954, in: GAPK, f. 1366,

op. 3, d. 55, l. 132. 120 1952 hatten „Konterrevolutionäre“ mit 21,9 % die „übrigen Vergehen“ (20,3 %) überholt. Am 1. Januar 1954 stellten sie bereits mehr als ein Drittel der Insassen (34,8 %). Vgl. Auszug einer Notiz der wissenschaftlichen Forschungsabteilung, 13.3.1957, in: Bezborodov/Chrustalev, Istorija stalinskogo gulaga, 4, S. 131. 121 Vgl. Gemeinsames Schreiben Rudenkos, Kruglovs und Goršenins an Chruščev, 1.2.1954, in: Petrov/Kokurin, GULAG. 1917–1960, S. 147 f. 122 „Yet Khrushchev and his peers knew intimately that many of those incarcerated for political crimes, were in fact innocent“. Hardy, The Gulag after Stalin, S. 38. 123 „One former political prisoner recall how the inmates were gathered for the announcement of the amnesty. To her question, ‚What about us 58’ers?‘ a camp supervisor replied, ‚There cannot be any mercy for enemies of the people‘“. Adler, The Gulag Survivor, S. 82. Zit. Goldman, M. A.: Transcribed Oral History. Memorial Oral History Group, October 20 1989.

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Sie markierte einen entscheidenden Schritt für die „fundamentale Neubewertung“ stalinistischer Feindbilder innerhalb der Staats- und Parteiführung. Im Mai 1953 verlangte Berija von seinem Stellvertreter nach Vorschlägen für den Umgang mit „besonders gefährlichen Staatsverbrechern“. Dabei bezog er sich auf die über 58.000 Häftlinge, die im Zuge der Massenoperationen verhaftet und nach Ablauf ihrer Haftstrafe in die Verbannung deportiert worden waren. Kruglov und der Leiter des MVD-Sekretariats, Ivanov, plädierten für die Anwendung eines konventionellen Strafverfahrens. Die Beurteilung, inwiefern diese Strafe angemessen sei, müsse von den „grundlegenden Prinzipien sowjetischer Strafpolitik“ aus erfolgen. Dieses Prinzip ist, erstens, das Prinzip der individuellen Schuld. Nur bei Bestand der Schuld einer Person, die ein gesellschafts-gefährdendes Verbrechen begangen hat, kann eine Strafe angewandt werden. Daraus folgt, dass eine Strafe durch die sowjetische Strafgesetzgebung nicht als Sicherungsmaßnahme gegen einen Verbrecher [kak mera bezopasnosti ot prestupnika] betrachtet wird, sondern als Maß für die konkrete Schuld (für ein konkretes Verbrechen).124

Kruglov und Ivanov demonstrierten damit, dass das Argument der „Gefährlichkeit“, das er für die Freilassung von über einer Million Kleinkriminellen bemüht hatte, für die Beurteilung politischer Häftlinge keine Option sei. Schuld und Unschuld müssten auf gesetzlicher Grundlage bestimmt werden, damit über das Strafmaß für Konterrevolutionäre (oder eben deren Verbleib im Lager) entschieden werden könne. Damit legte das Innenministerium dieses Problem zumindest verbal in die Hände der Strafjustiz, doch dieser Vorstoß blieb für die Masse der politischen Häftlinge ohne Konsequenzen. Im ersten Jahr nach Stalins Tod bestand die einzige Chance für politische Häftlinge auf Revision ihres Falls darin, dass ein Staatsanwalt ihre Beschwerden prüfte und eventuell die Beweisgrundlage für ihre Verurteilung in Zweifel zog. Nach dem Ableben des Diktators wurden das ZK und die Lagerhauptverwaltung, aber besonders die Beschwerdeabteilungen der Staatsanwaltschaft, mit Anfragen überschwemmt, in denen Insassen oder Angehörige um die Revision ihrer Fälle baten.125 1954 erreichten die Staatsanwaltschaft vier Mal mehr Beschwerden als im Vorjahr. Die Zahl der Proteste und Eingaben, die von der Staatsanwaltschaft verschickt wurden, hatte sich gar verfünfzigfacht.126 Der Anteil solch individueller Fallprüfungen an der gesamten Insassenfluktuation ist ebenso schwer zu bemessen wie deren durchschnittliche 124 Denkschrift Kruglovs und V. V. Ivanovs an Berija, 12.5.1953, in: Artizov, Reabilitacija, 1, S. 43. 125 Vgl. Stark, Die Gezeichneten, S. 68 f. 126 Vgl. Bericht Rudenkos auf der Allunionsversammlung der Staatsanwaltschaft, 23.6.1955, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 4013, l. 13.

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Aussichten auf Erfolg. Fest steht, dass die Staatsanwaltschaft tagtäglich tausende von Strafsachen beurteilte und vereinzelt die Freilassung von Häftlingen erwirkte – bevor das Regime zu einem systematischen Lösungsansatz gelangte. Der entscheidende Impuls in dieser Frage ging von Chruščev aus. Der forderte vermutlich bereits im November 1953 von Innenminister Kruglov und Generalstaatsanwalt Rudenko einen umfassenden Bericht über die Verfahren der OSO zwischen 1934 und 1953. In ihrer Antwort vom 8. Dezember formulierten sie deutlich, dass in der Mehrheit der Fälle von verletzten Ermittlungsregeln und einer allgemeinen „groben Verzerrung der sowjetischen Gesetze“ auszugehen sei. Die Analyse der Verfahrenspraxis der OSO lege den Verdacht der „unbegründeten Inhaftierung“ für weitere politische Fälle nahe. Zur Klärung dieses Verdachtes wurde die Einberufung einer Revisionskommission vorgeschlagen.127 Im Februar 1954 wurde dieser Plan konkretisiert. Zahlreiche Kommissionen sollten auf Regional-, Republiks- und Unionsebene alle „Archiv-Ermittlungssachen“ von Personen prüfen, die durch Trojki, Militärkollegien, konventionelle Gerichte und militärische Schnellgerichte verurteilt waren und sich zum aktuellen Zeitpunkt in den Lagern und Gefängnissen des MVD befanden. Dies betraf 467.946 Menschen in den Lagern und weitere 62.462 Personen in den Sondersiedlungen.128Am 6. Mai 1954 beschloss das ZK schließlich die Gründung der „Zentralen und örtlichen Kommissionen zur Durchsicht der Fälle von Verurteilungen wegen Konterrevolutionärer Verbrechen“. Die Partei legte die Verantwortung in die Hände der Generalstaatsanwaltschaft, die den Kommissionen aus Staatsanwälten und Vertretern des Innenministeriums, der Justiz und der Staatssicherheit vorsaß.129 Der Ausgangspunkt jeder Revision war die Auseinandersetzung mit den Strafsachen selbst, sprich: den Akten. Die Aufgabe der Kommissionen bestand offiziell darin, „ungesetzliche Verurteilungen“ und „falsche Einschätzungen der Straftatbestände“ aufzudecken und zur Grundlage ihrer Entscheidung über den weiteren Verbleib der Häftlinge zu nehmen.130 Frühere Strafmaße konnten aufgehoben und reduziert werden, Straftatbestände neu bewertet, Häftlinge sofort amnestiert, manchmal sogar rehabilitiert werden. Sie konnten bei einem Abbruch (otmena) der Durchsicht allerdings auch leer ausgehen. Die Entscheidung, der Staatsanwaltschaft den Kommissionsvorsitz zu übertragen, war nicht nur Ausdruck politischen Vertrauens. Sie war vielmehr zweckmäßig, denn die Prozessordnung gehörte zu

127 Vgl. Gemeinsames Schreiben Rudenkos und Kruglovs an Chruščev, 8.12.1953, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 4009, l. 1–3. 128 Vgl. Gemeinsames Schreiben Rudenkos, Kruglovs und Goršenins an Chruščev, 1.2.1954, in: Petrov/Kokurin, GULAG. 1917–1960, S. 147 f.; vgl. Adler, The Gulag Survivor, S. 85. 129 Vgl. Beschluss des Präsidiums des ZK, 4.5.1954, in: Artizov, Reabilitacija, 1, S. 116; Lavinskaja, Dokumenty, S. 38 f. 130 Beschluss des Präsidiums des ZK, 4.5.1954, in: Artizov, Reabilitacija, 1, S. 116.

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ihrem fachlichen Metier. In puncto Verfahrensführung brachte der Staatsanwalt somit die größte Expertise mit.131 Die Kommissionsbeamten erstellten individuell ein Gutachten (zaključenie), sprich: eine Empfehlung, die dann der Kommission als Entscheidungsgrundlage diente. Die Arbeit der Revisionskommissionen unterlag dabei jedoch einigen Einschränkungen. Häftlinge konnten mit Bittschreiben und Beschwerden erreichen, dass ihre Strafsachen intensiver und schneller begutachtet wurden. Die zentrale Kommission in Moskau hatte ihre Beamten im ganzen Land dazu ermutigt, diese Schreiben zum Anlass und auch zur Grundlage der Fallprüfung zu nehmen.132 Die Grenze zog Rudenko bei Häftlingen, die ihre Strafe bereits verbüßt hatten bzw. innerhalb eines Jahres freikommen würden. Solche Verfahren könnten geprüft werden, einen Protest gegen das Urteil einzulegen ergebe nach Moskaus Vorstellungen jedoch keinen Sinn. Das Regime interessierte sich ausschließlich dafür, mit juristischen Verfahren zu bestimmen, welche politischen Häftlinge gefahrlos entlassen werden könnten. Eine strafrechtliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen „Konterrevolution“ oder gar eine juristische Aufarbeitung dieser Fälle aus der Vergangenheit stand nie zur Debatte.133 Das Verfahren wurde auch durch die Qualität und die Auswahl des Untersuchungsmaterials beeinträchtigt. Fälle, in denen keine Beschwerde vorlag, mussten auf der Grundlage der Ermittlungsakten des Innenministeriums geführt werden. Diese Bestände waren nicht immer vollständig und gaben nur wenige Details der Ermittlungsverfahren preis. Hinzu kam, dass die Beweislage durch die Verhör- und Ermittlungsmethoden der Stalin-Zeit allzu oft kompromittiert war oder nicht vorhanden. Die Prüfung der Beweislage war folglich äußerst zeitaufwendig und von den beruflichen Qualitäten und dem Einsatz des Gutachters abhängig. Molotovs Staatsanwalt und Kommissionsvorsitzender Aleksandr Jakovlev erkannte das Ausmaß, in dem Beweismittel und Geständnisse gefälscht worden waren. Er bat daher um die Unterstützung für einen der beteiligten Mitarbeiter, Militärstaatsanwalt Efimov, um bei der Fallprüfung nicht zu viel Zeit zu verlieren.134 Nicht jeder Häftling

131 Vgl. Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 355. 132 Vgl. Lavinskaja, Dokumenty, S. 40. 133 Staatsanwaltschaft und MVD verständigten sich schon im Dezember 1953 darauf, Fälle, die durch das OSO des NKVD vor Kriegsende entschieden worden waren, nicht in die Prüfung mit einzubeziehen, da diese bereits verbüßt seien. Vgl. Schreiben Kruglovs und Rudenkos an Chruščev, 8.12.1953, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 4009, l. 3. Auf Nachfrage der Archangelsker Kommission im Jahr darauf bestätigte Moskau die Einjahresfrist für Kommissionsprüfungen. Vgl. Antwort der Generalstaatsanwaltschaft auf den Fragenkatalog der Staatsanwaltschaft Archangelsk, 27.7.1954, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 3733, l. 30. 134 Vgl. Mitteilung Jakovlevs an den leitenden Militärstaatsanwalts des Ural-Militär-Distrikts, Afanasʼev, 13.10.1954, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 751, l. 25.

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hatte angesichts dieser Probleme die gleichen Chancen auf eine ordnungsgemäße Prüfung seines Falls. So komplex und lückenhaft die Strafakten ausfielen, zeugen einige Gutachten jedoch von bemerkenswerter Gründlichkeit bei der Beurteilung des Materials. Diese lesen sich keineswegs so stringent und widerspruchsfrei wie die Anklagepunkte, bzw. die wenigen zugänglichen Gerichtsprotokolle aus den Prozessen der Stalin-Zeit. Zeugen wurden erneut vernommen, die Entscheidungsfindung der Militärtribunale rekonstruiert und Mutmaßungen von Beweisen unterschieden, um den jeweiligen Tatbestand entweder zu untermauern oder zu entkräften. Ein Blick auf die Gutachten zu Insassen, die unter den Paragraphen 58,1 („Vaterlandsverrat“) oder 58,3 („Hilfeleistung für den Feind“) als Kollaborateure im Zweiten Weltkrieg verurteilt worden waren135, offenbart, mit welcher Sorgfalt die Beamten zuweilen den Tathergang und die militärischen Karrieren der Häftlinge rekonstruierten. Die sowjetische Militärjustiz hatte seinerzeit kein Interesse daran, diese Tatbestände den Umständen entsprechend auszudifferenzieren. In der Tradition des ‚Gummiparagraphen‘ 58 wurden zehntausende mit dem Stigma des Verräters belegt – häufig unabhängig davon, wie und ob sie an den bewaffneten Operationen der deutschen Armee beteiligt waren.136 Dieser Grad wurde nun bestimmt. Nikolaj Kozlov war 1949 aufgrund seiner Tätigkeiten in der „Russischen Befreiungsarmee“ (ROA) während des Krieges zu 25 Jahren Freiheitsentzug verurteilt worden. Der ursprünglichen Anklage zufolge hatte sich Kozlov als „Propagandist“ mit „antisowjetischen“ Vorlesungen und taktischer Aufklärungsarbeit für die ROA in einer Agentenschule betätigt. Ab November 1944 sei er als Gehilfe des Stabsleiters der 600. ROA-Division an Kampfhandlungen mit der Roten Armee beteiligt gewesen (darunter auch an einer für die Rote Armee verlustreichen Schlacht an der Oder im Frühling 1945). Noch 1949 hatte er das Urteil des Militärtribunals (erfolglos) angefochten. Fünf Jahre später zeichnete der Gutachter der Kommission, Militärstaatsanwalt Efimov, den Hergang des ersten Ermittlungsverfahrens zusammen mit seiner militärischen Dienstzeit nach.137 Kozlov habe nach eigener Aussage unter den anderen Angehörigen der ROA Vorträge zur Russischen Geschichte vom 7. bis zum 19. Jahrhundert gehalten, womit die Sowjetunion nicht Gegenstand seiner Ausführungen gewesen sei. Efimov kommentierte dies in seinem Bericht:

135 Kudryashov, Sergey/Voisin, Vanessa: The Early Stages of „Legal Purges“ in Soviet Russia (1941–1945), in: Cahiers du Monde russe 49 (2008) H. 2–3, S. 267. 136 Vgl. ebd., S. 272; vgl. auch Rebitschek, Immo: Feindbilder auf dem Prüfstand: Sowjetische Kollaborateure im Fokus der Revisionskomissionen, 1954 und 1955, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 65 (2017) H. 2, S. 262–182. 137 Vgl. Gutachten zum Fall Michail Nikolaevič Kozlov, 20.8.1954, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 758, l. 72.

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„Die historischen Fakten habe er ihnen [seinen Zuhörern, I. R.] so beigebracht, wie er es in der sowjetischen Schule gelernt hatte, denn das selbstständige Studium von Fakten gehörte nicht zu den Aufgaben der ‚Befreiungsbewegung‘ Vlasovs.“138 Efimov entkräftete damit den Vorwurf, Kozlov sei als Spion ausgebildet worden. Außerdem listete er alle Vorwürfe Kozlovs auf (darunter auch „ungesetzliche Verhörmethoden“), und bestätigte oder widerlegte sie unter Verweis auf Zeugenaussagen, die damals nicht ins Gerichtsverfahren aufgenommen worden waren. Auf der einen Seite habe, so das abschließende Fazit, Kozlov Verrat begangen, indem er Lektionen zur Russischen Geschichte gegeben habe und im Grad eines Leutnants der ROA gedient habe. Auf der anderen Seite wurde seine Beschwerde, dass er keine Spionagearbeit geleistet habe, wiederum zugelassen. Die Zeugenaussagen deckten nur Kozlovs Zeit an der Agentenschule ab. In der Folge konnten ihm keine expliziten militärischen Handlungen nachgewiesen werden. Die im ersten Ermittlungsbericht erwähnte Teilnahme an den Oder-Kämpfen im Frühjahr konnte somit auch nicht bestätigt werden (dies betraf seine gesamte Dienstzeit von November 1944 bis Frühjahr 1945). Kozlov sollte quasi nur für seine Mitgliedschaft in der ROA zur Verantwortung gezogen werden. Unter Verweis auf die Prozessordnung wurde beantragt, das ursprüngliche „übermäßig strenge“ Strafmaß von 25 Jahren auf fünf Jahre abzumildern.139 Nicht alle Gutachter gingen mit der gleichen Akribie vor. Mamed Ismail Aliev war als früheres Mitglied der SS -Kosaken-Division unter General von Panwitz ebenfalls zu 25 Jahren Lagerhaft nach Artikel 58,1 verurteilt worden. Das Gutachten rekonstruierte die wichtigsten Stationen seiner Dienstzeit in den sogenannten „Strafexpeditionen“, die ihn über eineinhalb Jahre lang durch Jugoslawien geführt hatten.140 Wie in Kozlovs Fall nahm der Gutachter Bezug auf die Beschwerde Alievs. Ob er sich darin zu den militärischen Operationen in der Kosaken-Division geäußert hatte, ist nicht ersichtlich. Zitiert wurde dieses Schreiben nur an der Stelle, an der Aliev beteuerte, nicht freiwillig in deutsche Kriegsgefangenschaft gegangen zu sein. Sonstige Details seiner Zeit in Jugoslawien lieferte das Gutachten nicht. Stattdessen

138 Ebd., l. 73. 139 Ebd., l. 77. Der Artikel in der Prozessordnung (417), auf den hier üblicherweise Bezug genommen wurde, sah vor: „Das Urteil wird als offensichtlich ungerecht [nespravedlivym] anerkannt, wenn die durch das Gericht verhängte Strafe, obwohl sie den gesetzlichen Rahmen nicht überschreitet, in ihrem Maß in strenger Weise nicht der Tat entspricht.“ Ugolovno-processualʼnyj kodeks (1952), S. 67. Der Artikel wurde in den nachfolgenden Fassungen der Prozessordnung bis 1954 nicht geändert. 140 Unter anderem sei er in Daruvar, Metlika und Vojniči gewesen. Vgl. Gutachten zum Fall Mamud Izmail Aliev, 25.9.1954, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 762, l. 9.

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gab man die Empfehlung, das ursprüngliche Strafmaß als „zu streng“ auf zehn Jahre abzumildern, da die entsprechende „Straftätigkeit nicht festgestellt“ wurde.141 Die sichtbaren Unterschiede in den Gutachten zeugen davon, dass die Kommissionsbeamten individuell – je nach Bedarf und Aktenlage – ihre Recherchen vertiefen, das Material anzweifeln, ihre Empfehlung ausführlicher begründen konnten. Nicht alle Beamten konnten oder wollten zusätzliche Zeugen ausfindig machen und dennoch legten die meisten dieser Dokumente die Widersprüche der alten Verfahren offen. Besonders die Staatsanwälte legten in ihren Gutachten Wert auf die Darstellung einer klaren juristischen Argumentation – auch dann, wenn diese Erkenntnisse nicht zur Änderung des alten Urteils führten. Der Ukrainer Ivan Chlebus war bereits 1948 verurteilt worden. Unter anderem warf man ihm vor, gemeinsam mit einem anderen Angehörigen der Polizeieinheiten, vier jüdische Frauen erschossen zu haben. Sein Fall wurde von Efimov geprüft, der, wie auch schon im Falle Kozlovs, Anklage und Beschwerde ausführlich gegeneinander abwog und dabei zusätzliche Zeugenaussagen aufnehmen ließ.142 Chlebus betonte, dass er von zuständigen MGB-Beamten im Verhör misshandelt worden sei. Mit Gewalt habe man ihn gezwungen, ein Geständnis über den Mord an den vier Frauen zu unterschreiben.143 Efimov ging auf diesen Punkt insofern ein, als er seine Aussagen mit denen der jeweiligen MGB-Mitarbeiter verglich, die zu diesem Zeitpunkt das Verhör geführt hatten. Folglich stellte er fest: Die Misshandlungen hatten vielleicht stattgefunden, aber offensichtlich nicht von Seiten der Beamten, die die entscheidenden Aussagen aufgenommen hatten.144 Die Prüfung der Aktenlage erfolgte also grundsätzlich ergebnisoffen. Es ging nicht um die pauschale Ablehnung oder Rehabilitierung der politischen Verfolgung, sondern um Einzelfallprüfungen, in denen frühere Urteile gegebenenfalls korrigiert wurden. Die Beamten lieferten dabei auch (überwiegend) prozessrechtlich korrekte Gutachten. Die Empfehlungen der Gutachter folgten indes anderen Motiven. In Chlebus’ Fall gab der Mord an den Frauen für Efimov den Ausschlag, das Urteil nicht zu ändern. Gewaltverbrechen sollten, sofern die Zeugenaussagen dies bestätigten, auch weiterhin bestraft werden. Für die Masse der Fälle lässt sich allerdings nur schwer feststellen, wann und ob die Empfehlungen der Gutachter überhaupt auf juristischen Überlegungen beruhten. Insbesondere Anklagen unter Paragraph 58,10 („antisowjetische Agitation“) wurden von den Gutachtern mit Leichtigkeit dekonstruiert, doch

141 Ebd., l. 9–10. 142 „Das weiter oben erwähnte Geständnis findet seine volle und objektive Bestätigung in den Aussagen der zusätzlich zu dieser Beschwerde befragten Zeugen.“ Gutachten zum Fall Ivan Dmitrievič Chlebus, 25.8.1954, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 758, l. 82. 143 Vgl. ebd., l. 79–80. 144 Vgl. ebd., l. 81.

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wurden deshalb in der Folge nicht alle Insassen aus dem jeweiligen Lager entlassen. Ivan Želdak war in den 1940er-Jahren für Diebstahl verurteilt worden und hatte 1952 einen Brief an Stalin geschickt, den das MVD abfing und als „antisowjetische Agitation“ einstufte. Želdak wurde zu zehn weiteren Jahren Lagerhaft verurteilt. Sein Fall gelangte 1954 bis zum Staatsanwalt der RSFSR, Kruglov, da die Kommission offensichtlich nicht zu einer belastbaren Entscheidung gelangt war. Kruglov erklärte, dass der Brief nicht zum „Sturz der Sowjetmacht“ aufrufe. Želdaks Anmerkungen hätten der Beseitigung von Mängeln im Staat gedient. Antisowjetische Inhalte seien nicht festzustellen. Kruglovs Empfehlung lautete: die Haftstrafe von zehn auf sechs Jahre zu verkürzen.145 Der Tatbestand war offensichtlich nicht mehr gegeben und dennoch musste Želdak bis 1958 in Haft bleiben. Kruglovs Entscheidung, Želdak trotz fehlenden Tatbestands nicht zu befreien, war nicht nur willkürlich. Sie verdeutlicht, dass strafrechtliche Kategorien bei der Frage nach der Freilassung politischer Häftlinge nur begrenzte Gültigkeit hatten. Wie aber gelangten die Gutachter zu ihren Empfehlungen? In einigen Fällen beeinflusste der soziale Hintergrund oder das Alter eines Häftlings die Entscheidungsfindung, obgleich solche Kriterien herangezogen wurden, um Empfehlungen zu unterstreichen.146 Grundsätzlich scheuten Kommissionsbeamte allzu drastische Entscheidungen. Die Korrespondenzen der regionalen Kommissionen mit der Moskauer Zentralkommission vermitteln einen Eindruck davon, wie überfordert und zurückhaltend die Mitarbeiter vor Ort waren, ein verbindliches Urteil aus dem Untersuchungsmaterial zu ziehen. Aus der ganzen Sowjetunion gingen Anfragen (manchmal ganze Fragebögen) ein, in denen die Kommissionsvorsitzenden jedes lapidare Detail des Verfahrens in Moskau absegnen ließen.147 In vielen Schreiben wird deutlich, dass die Gerichtsurteile der 1940er-Jahre für die meisten Kommissionsmitglieder der Ausgangspunkt für ihre Fallbewertung waren. Bevor ein Kommissionsmitarbeiter etwaiges Beweismaterial heranzog, orientierte er sich zunächst am ursprünglich verhängten Strafmaß. Besonders weniger qualifizierte Mitarbeiter scheuten die eigene Initiative und achteten darauf, sich mit ihrer Empfehlung nicht allzu deutlich vom früheren Urteil zu entfernen.148

145 Protest ans strafgerichtliche Kollegium des Obersten Gerichtes der RSFSR von Staatsanwalt Kruglov, Juli 1954, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 757, l. 116. 146 Der soziale Hintergrund wurde in einigen Fällen zur Begründung eines gesenkten Strafmaßes herangezogen. In anderen Fällen, mit ähnlichem Tatvorwurf und gleichem Hintergrund, blieben diese Verweise außen vor. Vgl. die Fälle von Iosif Krjukov und Roman Remejčik im Gutachten zum Roman Minovič Remejčik, 12.6.1954, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 755, l. 82; Gutachten zum Fall Iosif Nikolaevič Krjukov, Juni 1954, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 755, l. 32. 147 Vgl. Antwort der Generalstaatsanwaltschaft auf den Fragenkatalog der Staatsanwaltschaft Archangelsk, 27.7.1954, in: GARF f. R-8131, op. 32, d. 3733, l. 29. 148 Der Zusammenhang zwischen mangelnder Ausbildung und fehlender Eigeninitiative bei sowjetischen

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Die Generalstaatsanwaltschaft nährte diese Unsicherheit, indem sie widersprüchliche Signale an ihre Beamten aussendete. Rudenko hatte 1955 seinen Untergebenen einerseits eingeschärft, den „sogenannten ‚Geständnissen‘“ der Stalin-Zeit grundsätzlich zu misstrauen. Dabei verwies er auf prominente Fälle, wie die „Leningrader Affäre“. In solchen Fällen (wie „antisowjetische Agitation“) seien „fabrizierte“ Geständnisse leicht zu erkennen. Andererseits richtete er im selben Atemzug eine deutliche Warnung an die Kommissionen, besonders „Verräter“, deren Taten „bewiesen“ waren, nicht auf freien Fuß zu setzen. Die Arbeit der Kommissionen sei „keine Amnestie und keine Begnadigung für Verbrecher“.149 Die Generalstaatsanwaltschaft erwartete keine politische Aufarbeitung der Vergangenheit, sondern eine individuelle Fallprüfung, um Teile der Insassen zu entlassen. Die Staatsanwälte wurden zur Eigeninitiative ermutigt und doch vor den politischen Folgen einer Fehlentscheidung gewarnt. Demgegenüber warteten die Staatsanwälte vor Ort vergeblich auf inhaltliche Vorgaben. Auf derselben Versammlung kritisierte Molotovs Staatsanwalt, Jakovlev, das man vergeblich auf „Befehle“ und „Verallgemeinerungen“ (obobščenija) warte, um „konterrevolutionäre“ Fälle zu bewerten.150 Von der allgemeinen Unsicherheit abgesehen, reagierten die meisten Justizbeamten eher zurückhaltend auf die Reforminitiativen der Parteiführung. Der Druck zur Entlassung von Häftlingen traf nicht selten auf den Widerwillen lokaler Beamter, „Volksfeinde“ überhaupt in die Freiheit zu entlassen. Nanci Adler spricht von einer „bürokratischen Stasis“, in der sich die Kommissionsarbeit vollzog. Die Prämisse der Beamten wäre es gewesen, die Dinge eher richtig, als die richtigen Dinge zu tun.151 In einem Rechtsstaat käme dieses Vorgehen einer Selbstbeschneidung der Justiz gleich, da gerade das Ermessen eines Richters und die Fähigkeit, Präzedenzfälle zu schaffen, den potenziellen Raum für ‚das Richtige‘, das aus seiner Sicht moralisch Gebotene, schaffen.152 In der Sowjetunion entsprach dieses Vorgehen den Rechtsvorstellungen und dem beruflichen Selbstverständnis der Staatsanwaltschaft. Jedes Verfahren führte aus ihrer Sicht, einmal initiiert und korrekt ausgeführt, ausschließlich zu einer Verurteilung. Die Beamten legten ihren gesamten Fokus auf die korrekte

Justizmitarbeitern ist eines der Zentralargumente Peter Solomons, auf das auch Nanci Adler zurückgreift. Vgl. Adler, The Gulag Survivor, S. 92; Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 337 f. 149 Bericht Rudenkos auf der Allunionsversammlung der Staatsanwaltschaft, 23.6.1955, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 4013, l. 16–17. 150 Protokoll der Diskussionsbeiträge in der Mitarbeiterversammlung, 24.6.1955, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 4013, l. 116–117. 151 Adler, The Gulag Survivor, S. 94. 152 Dies verweist auf die Vereinbarkeit der Konzepte von Recht und Gerechtigkeit. „Aber in zahlreichen Fragen lassen die Gesetze einen Spielraum für eine Wertung […] In solchen Fällen hat dann der Richter selber daran Anteil, den ‚Lösungsschlüssel‘ einer gerechten Entscheidung zu finden.“ Zippelius, Das Wesen des Rechts, S. 64.

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juristische Form und ein regelhaftes Ermittlungsverfahren. Entsprechend deutlich äußerten sie sich zu den Verfahrensmängeln des MVD oder der Militärtribunale. Die Gutachten sollten die schlussendliche Empfehlung konsistent und begründet erscheinen lassen. Der Schritt zur Befreiung erforderte indes kein juristisches sondern eine politisches Urteil. Hierbei wollten die Beamten kein unnötiges Risiko eingehen, zumal es ihren beruflichen Horizont überstieg. Diese Haltung spiegelt sich indirekt auch statistisch wider. 2031 Fälle von „Konterrevolution“ hatten die Kommissionen in Molotov bis 1956 geprüft. In 791 Fällen wurde eine Revision abgelehnt und in weitaus geringerer Zahl wurden Häftlinge amnestiert (161) bzw. Strafverfahren wurden gleich auf Kommissionsbeschluss mangels Beweisen eingestellt (135). In allen übrigen (922) Fällen empfahlen die Kommissionen, das Strafmaß zu reduzieren.153 84 Prozent der Häftlinge blieben folglich nach Kommissionsbeschluss (vorerst) im Lager. In der übrigen Sowjetunion ist ein ähnlicher Trend erkennbar. Von 337.000 Fällen wurden bis 1956 im ganzen Land mehr als 183.000 zurückgewiesen. Die Mehrheit (85,5 Prozent) durfte die Lager gar nicht, bzw. nicht sofort verlassen.154 In den meisten Fällen reduzierte man die Haftstrafe auf zehn Jahre, und obwohl zuweilen auch andere (kürzere) Haftzeiten festgelegt wurden; obwohl über die Hälfte aller früheren Urteile geändert wurde, bewirkten die Kommissionen, dass der große Teil der politischen Häftlinge mittelfristig in den Lagern verblieb. Dass nur 4,2 Prozent aller Insassen rehabilitiert wurden, unterstreicht die Zurückhaltung der Kommissionen, mit den politischen Überzeugungen zu brechen – ohne ein vorheriges klares Signal der Partei.155 Das ‚Richtige‘ lag im Ermessen der Parteiführung. Das Signal kam 1956. Im Zuge des 20. Parteitages übernahm die Partei die Kontrolle über die Entscheidung im Umgang mit politischen Häftlingen. Chruščev zeigte sich unzufrieden mit der „übertriebenen Vorsicht“ der Revisionskommissionen. Zu wenige seien befreit worden, weshalb er parteieigene Kommissionen einberief.156 Unter der Leitung der Parteikomitees entformalisierten sie das Prüfungsverfahren und degradierten die Staatsanwälte zu bloßen Beisitzern. Die neuen Parteikommissionen eruierten vor allem die „Persönlichkeit“ der Insassen. Strafrechtliche Fragen ordneten sich dieser Prämisse unter.157 Eineinhalb Jahre lang hatten ‚ihre‘ 153 Vgl. Statistiken zur Kommissionsarbeit, 1.3.1956, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 4010, l. 95. 154 Vgl. ebd.; Notizen der zentralen Revisionskommission, 16.4.1956, in: Andrej A. Artizov (Hg.), Reabilitacija. Kak ėto bylo. Dokumenty Prezidiuma CK KPSS i drugie materialy Tom 2. Fevralʼ 1956 – načalo 80-ch godov. Moskva 2003, S. 71. 155 Vgl. Lavinskaja, Dokumenty, S. 41. 156 Elie, Marc: Unmögliche Rehabilitation. Die Revisionskommissionen 1956 und die Unsicherheiten des Tauwetters, in: Osteuropa 57, 6 (2007), S. 370. Zit. RGANI, f. 5, op. 176, d. 176, l. 32–45. 157 Vgl. Materialien zur Haftprüfungskommission der Partei, 7.7.1956, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 4581, l. 3–5; Adler, The Gulag Survivor, S. 170.

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Kommissionen die Verantwortung für den Umgang mit politischen Häftlingen getragen. Staatsanwälte dekonstruierten hunderttausende von Strafsachen der Stalin-Zeit, doch sie verpassten die Gelegenheit, die politischen Konsequenzen daraus zu ziehen – nicht zuletzt, weil sie von Berufs wegen keine solchen Entscheidungen ohne die Initiative der Partei treffen wollten. Die Entlassungen aus dem Gulag erfolgten auf verschiedenen Wegen. Amnestien dienten der wirtschaftlichen und sozialen Entlastung des Lagersystems und waren weitestgehend vom MVD kontrolliert. Nach der März-Amnestie und Berijas Verhaftung verzichtete das Regime allerdings auf kategorische und unkontrollierte Entlassungswellen. Ab 1954 verwaltete die Staatsanwaltschaft den Transfer der Häftlinge, die als sozialer Ballast in die Gesellschaft entlassen wurden, während das Innenministerium ihre juristische Vorgeschichte auslöschte. Das Regime griff damit auf administrative Lösungsstrategien zurück, mit denen die Häftlingsfluktuation auch vor 1953 verwaltet wurde – wenn auch nie in diesem Ausmaß. Erst die Auseinandersetzung mit den politischen Insassen bedeutete den Bruch mit dieser Praxis und eine Kompetenzverschiebung zugunsten der Staatsanwaltschaft. Diese bemühte sich darum, den Regeln der Prozessordnung und des Strafgesetzbuches wieder zu ihrer Gültigkeit zu verhelfen. Die Kommissionen rekonstruierten die juristische Vorgeschichte der Insassen und kartographierten das Ausmaß politischer Willkür in diesen Verfahren. Die Gesetzestexte sollten helfen, den Status des „Staatsfeinds“ systematisch anzuzweifeln. Die politischen Konsequenzen aus diesem Zweifel und den Bruch mit der stalinistischen Praxis vollzogen die Staatsanwälte nicht. Die Kommissionen entschieden eher willkürlich über die Reduzierung des Strafmaßes. Der Entschluss zur Freilassung brauchte politisches Urteilvermögen, das die wenigsten Beamten ohne ein Signal der Parteiführung nicht aufbrachten. Dieses Signal kam erst 1956, als Chruščev in seiner Geheimrede eine offizielle Deutung zur stalinistischen Vergangenheit lieferte.

6.2.2 Besserung und Gesetzlichkeit – Die Staatsanwaltschaft und das ­Haftregime nach 1953 Die Auswirkungen der sogenannten „Berija-Amnestie“ auf die sowjetische Gesellschaft sind oft beschrieben worden, doch Gewalt und Kontrollverlust prägten im Jahr 1953 auch das Bild innerhalb der Lagerwelt. Stalins Tod und die massive Häftlingsfluktuation im Anschluss heizten die schwelenden Konflikte im Lagersystem an. Bis zum Sommer 1953 brachen in mehreren Speziallagern des Innenministeriums Aufstände aus. Ermutigt vom Tod des Diktators und frustriert über die inkonsequente Amnestie schlossen sich vor allem politische Häftlinge mit Kampferfahrung in den Speziallagern zum bewaffneten Widerstand gegen die Lagerverwaltungen

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zusammen.158 Die Nachricht über die Verhaftung Berijas trug zusätzlich zum Autoritätsverlust des MVD bei und binnen kurzer Zeit entflammten Proteste überall im Lagersystem.159 Das Ministerium für Justiz stand vor einem sicherheitspolitischen Desaster, das ihr das Innenministerium im Frühjahr hinterlassen hatte. Jahrelang hatte die Staatsanwaltschaft kritisiert, dass Insassen zum Wachdienst eingesetzt wurden. Nun rekrutierten die Lagerverwaltungen einen Teil ihres Wachpersonals aus einem noch kleineren, tendenziell gefährlicheren Häftlingspool. Die „Demobilisierungsstimmung“ in den Baracken und in der Lagerverwaltung tat ihr Übriges, um das Justizministerium vollkommen zu überfordern.160 Am 24. Juni 1953 wandte sich der stellvertretende Justizminister persönlich an Molotovs Parteisekretär, Filipp Prass, um Druck auf das Personal von Nyroblag auszuüben. Teile des Lagerkomplexes versanken im Chaos. Banden regierten die Lagerzonen, Mord und Amtsmissbrauch wechselten einander ab, was von den MVD-Beamten, durch den „breiten Einsatz aktiver Bandenelemente“ mitheraufbeschworen wurde. Die Verwaltung des Justizministeriums entließ mehrere Lagerpunktleiter, konnte aber keine strafrechtlichen Schritte einleiten. Die einzige Chance lag in einem Disziplinarverfahren über die Partei.161 Die Situation in Nyroblag, wie noch zu sehen sein wird, veränderte sich dadurch jedoch nicht. Das sowjetische Lagersystem litt 1953 unter Kontrollverlust, was zugleich die anhaltende Krise der Gulag-Wirtschaft weiter befeuerte.162 Die Konsequenz dieser Situation war eine überfällige Debatte über den Zweck des Lagersystems. Jahrelang regierte das Innenministerium den Gulag als Zwangsarbeitsimperium. Sicherheits- und haftpolitische Erwägungen mussten sich dem Primat der Wirtschaftlichkeit unterordnen. Das Umerziehungsprinzip hatte seine politische Kraft in den 1930er-Jahren eingebüßt und war nach Kriegsende nicht mehr als ein strafpolitisches

158 Zwischen Mai und September 1953 waren mehrere Speziallager um Norilsk und Vorkuta betroffen. Vgl. Elie, Khrushchev’s Gulag, S. 114; Applebaum, Der Gulag, S. 511–516. In einigen Fällen versuchten die Insassen auch mit friedlichen Mitteln, Veränderungen im Haftregime zu erwirken. Vgl. Kozlov, Istorija stalinskogo Gulaga, 6, S. 89. 159 „Und so gingen die Lagerunruhen im Jahr 1953 weiter: kleinere Wirbel, wie im Lagerpunkt Nr. 12 des Kar-Lag, und der große Aufstand im Gor-Lag (Norilsk), über den ein eigenes Kapitel fällig wäre […] Doch der Tod des Tyrannen war nicht ohne Folgen geblieben. Irgendwo im Verborgenen verschob sich etwas und bewegte sich etwas – und plötzlich stürzte mit blechernem Getöse, wie ein leerer Eimer, noch eine Persönlichkeit, kopfüber von der obersten Sprosse, in den tiefsten, stinkenden Sumpf.“ Solschenizyn, Alexander: Der Archipel Gulag. Schlußband. Die Katorga kommt wieder. In der Verbannung. Nach Stalin. Bern 1976, S. 279. 160 Kozlov, Istorija stalinskogo gulaga, 6, S. 87; Anordnung des stellvertretenden Justizministers, P. I. Kudrjavcev, 18.5.1953, in: Petrov/Vladimircev, Istorija stalinskogo gulaga, 2, S. 430 f. 161 Vgl. Schreiben des stellvertretenden Justizministers, P. I. Kudrjavcev, an den Sekretär des ObKom Molotov, Prass, 24.6.1953, in: PGASPI, f. 105, op. 20, d. 157, l. 156. 162 Vgl. Khlevniuk/Kraveri, Krizis ekonomiki, S. 183; 187.

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Lippenbekenntnis. Wirtschaftliche Überlegungen drängten Korrektionsideen in den Hintergrund.163 Die Krise im Gulag öffnete nun den Weg für neue Prioritäten, ja für die Neuausrichtung sowjetischer Strafpolitik. Chruščev verfolgte in dieser Debatte einen klaren Kurs. Er setzte die „Besserungsarbeit“ ab 1954 an die Spitze seiner Agenda – für die Bekämpfung von Kriminalität und um das System der Zwangsarbeit zu erhalten.164 In der Staatsanwaltschaft fand er dafür einen wichtigen Verbündeten. Diese argumentierte traditionell gegen die ökonomischen Interessen des Innenministeriums. Die Haftaufsicht kritisierte seit Jahren die Ignoranz des MVD gegenüber pädagogischen und sicherheitstechnischen Fragen und warnte vor den Konsequenzen. Der Zusammenbruch der Lagerdisziplin im Sommer 1953 gab der Staatsanwaltschaft nicht nur rückblickend Recht. Er bot die Chance, im Fahrwasser der Besserungsagenda, ihren Einfluss in der Lagerwelt auszudehnen. Im September 1953 informierte die Generalstaatsanwaltschaft den Ministerrat über das grundlegende Versagen der Besserungsarbeitslager. Die Amnestie habe bewiesen, dass der Gulag seine Insassen kriminalisiere und nicht umerziehe. Kleinkriminelle und Ersttäter würden in die Arme organisierter Kriminalität getrieben, die ihre Strukturen in die freie Gesellschaft ausdehnten. Die Aufgabe der Lager müsse es folglich sein, Insassen auf das „normale Leben“ vorzubereiten.165 Dieser Impuls wurde an der Spitze der Partei wieder aufgegriffen. Chruščev und Klement Vorošilov stellten im Februar 1954 die innerparteilichen Weichen für eine Umerziehungskampagne in den Lagern. Die politischen Abteilungen der Lager wurden mit der Überwachung der Umerziehung betraut. Obgleich es innerhalb des MVD Vorbehalte gab, das wirtschaftliche Primat der Lager infrage zu stellen, erkannte auch Innenminister Kruglov die Notwendigkeit von Reformen.166 Das Resultat war am 12. März der ZK-Beschluss „Über die grundlegenden Aufgaben des MVD“. In ihm wurden die „Umerziehung der Häftlinge“, ihr „korrekter Arbeitseinsatz“ und ihre Ausbildung zur Kernaufgabe des Lagersystems erhoben.167 Am 10. Juli folgte das neue „Statut über die Besserungsarbeitslager“, das das Prinzip der Umerziehung in allen Strukturen der Lagerverwaltung fest verankerte. Die wichtigsten Ziele der Lagerhaft waren einerseits die Prävention zukünftiger Verbrechen (auch innerhalb des Lagers) und andererseits die „Besserung und die Umerziehung der Häftlinge 163 Vgl. Hardy, The Gulag after Stalin, S. 71. 164 Vgl. Dobson, Khrushchev’s Cold Summer, 133–155. 165 Adler, The Gulag Survivor, S. 83. Zit. GARF, f. R-8131, op. 32, d. 4581, l. 128. 166 Vorošilov gab auf einer Präsidiumssitzung zu Protokoll: „Wir müssen die Aufmerksamkeit nicht auf den Bau, sondern auf die Besserung [ispravlenie] der Menschen richten“. Protokoll der Präsidiumssitzung, 8.2.1954, in: Fursenko, Prezidium CK KPSS, 1, S. 21; vgl. Hardy, The Gulag after Stalin, S. 72. 167 Abschrift des Beschlusses des Präsidiums des ZK, 12.3.1954, in: Petrov/Vladimircev, Istorija stalinskogo gulaga, 2, S. 469.

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durch ihre Einbeziehung in gesellschaftlich nützliche Arbeit“. Jedes Lager müsse die bestmöglichen Arbeits- und Lebensbedingungen garantieren, um diese Ziele nicht zu gefährden. Von der Verpflegung bis zur Trennung bestimmter Häftlingskategorien fixierte das Statut die jahrelange Prämisse der Haftaufsicht: Die Regelhaftigkeit des Lageralltags garantiere die Sicherheit im Lager und die Umerziehung der Insassen – unabhängig vom Produktionsplan.168 Das neue Statut war ein schriftliches Bekenntnis des MVD zum Umerziehungsprinzip. Der „Umbau“ (perestrojka) des Lagersystems, so betonte Kruglov, sei die zentrale Aufgabe des Innenministeriums, um die „Umerziehung und Besserung der Häftlinge“ gewährleisten und die Sicherheit im Lagerregime wiederherstellen zu können.169 Die entscheidende Veränderung vollzog sich jedoch in der Staatsanwaltschaft. Während das Präsidium die politischen Weichen stellte, wurde das System der Haftaufsicht von Grund auf reformiert. Am 26. Februar 1954 wurde die Lagerstaatsanwaltschaft in die Territorialstaatsanwaltschaft eingegliedert und im März als eigenständige Behörde aufgelöst. Die Haftaufsicht übernahm ab sofort die Verantwortung für Ermittlungen, die Strafverfolgung und die Anklage von Verbrechen innerhalb der Lagerzone. Zudem wurde die Abteilung personell aufgestockt. In Molotov wurden zu diesem Zweck drei neue Stellen für Staatsanwälte und ein Sekretärsposten geschaffen.170 Die Abteilung für Haftaufsicht verdoppelte damit ihre Kapazitäten. Darüber hinaus hatte sie nun die Möglichkeit, die Mitarbeiter in den Bezirken, in denen sich die Lager befanden, für ihre Zwecke einzuspannen.171 Die Staatsanwaltschaft führte von diesem Zeitpunkt an nicht mehr nur quartalsmäßige Inspektionen im Lagersystem durch, sie war nun permanent vor Ort, mit dem nötigen Zugang zu den Häftlingen, dem Personal und deren Unterlagen. Die neuen Kompetenzen stärkten auch die Ambitionen in der Führungsetage. Die Staatsanwaltschaft beanspruchte die Vorreiterrolle in der Umerziehungsoffensive und sie sah die Gelegenheit, das Innenministerium auf seinem (früheren) Hoheitsgebiet zu disziplinieren. Im August 1954 verkündete die Staatsanwaltschaft der RSFSR, dass die organisatorischen Veränderungen im Frühjahr die Position der Lageranwälte gestärkt hatten. Die neuen Beamten seien nunmehr immun gegen „äußere Einflüsse“. Die Konsequenz müsse hartes Durchgreifen gegen jede Abweichung sein, die das 168 Statut über Besserungsarbeitslager und -kolonien, 10.7.1954, in: Kokurin/Petrov, GULAG. 1917– 1960, S. 151–162. 169 Bericht Kruglovs auf der Versammlung leitender Lagermitarbeiter, 27.9.–1.10.1954, in: Kokurin/ Petrov, GULAG. 1917–1960, S. 662 f. 170 Vgl. Befehl der Generalstaatsanwaltschaft, 26.2.1954, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 3284, l. 20; Befehl zur Abschaffung der Lagerstaatsanwaltschaft, 17.3.1954, in: GAPK, f. 1366, op. 3, d. 55, l. 38. 171 Vgl. Prüfungsbericht für die Haftaufsicht, Molotov, im Jahr 1954, 31.12.1954, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 673, l. 3.

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Lagerregime und den Umerziehungsauftrag gefährde: „Es muss Schluss sein mit der liberalen Haltung gegenüber Willkür, Gewalt und gegenüber der Minderung der Menschenwürde der Häftlinge“.172 Politische Vorträge, wie sie die Parteiorganisationen in den Lagern führten, reichten allerdings nicht aus, um Insassen zu bessern. Umerziehung bedeute nicht, dass „nur die kulturelle Aufklärungsarbeit verbessert“ werde. Alle Bereiche des Lagers müssten auf diese Aufgabe zugeschnitten werden: „den Arbeitseinsatz, die Einhaltung des Regimes und die Haftbedingungen“. Jeder Arbeiter habe Anrecht auf Erholung, Bezahlung und „normale Lebensbedingungen“. Das bedeute auch, dass Übergriffe unter den Häftlingen und durch das Personal strengstens geahndet werden müssen. Dafür stünden dem Staatsanwalt disziplinarische und strafrechtliche Mittel zur Verfügung.173 Das Lager durfte kein regelfreier Raum sein und die Staatsanwaltschaft sah sich als wichtigster Garant dafür. Die Haftaufsicht hatte politischen Rückenwind und deutlich mehr Mittel zur Reglementierung des Lagerregimes als zu Stalins Lebzeiten. Wie setzten die Beamten dieses Potenzial um? Das Lagersystem in Molotov war 1954 alles andere als im Schrumpfen begriffen. Im Herbst 1954 verteilten sich mehr als 60.000 Häftlinge auf die drei großen Lagerkomplexe (Nyroblag, Usollag und Kizellag) und ihre 128 Lagerpunkte, in einem Radius von fast 700 Kilometern. Der Komplex Nyroblag war 560 Kilometer entfernt, wobei 160 Kilometer der Strecke als „unbefahrbar“ (po bezdorožʼju) galten. Die Inspektion einer einzigen Lagerabteilung (Nyroblag bestand aus 10 Abteilungen mit 48 Lagerpunkten) nahm, nach Angaben der Haftaufsicht, zwischen 20 und 30 Tagen in Anspruch.174 Hinzu kam, dass Lagermitarbeiter noch immer der Gerichtsbarkeit der Militärtribunale unterworfen waren. Die Sicherheitslage war angespannt und die Zeichen im Verhältnis zwischen Insassen und Wachen standen auf Eskalation. Die Haftaufsicht hatte also zusätzliches Personal dringend nötig und selbst die jüngste Verstärkung reichte bei Weitem nicht aus. Trotz des vergrößerten Mitarbeiterstabs hatte die Haftaufsicht in Molotov im ersten Halbjahr 1954 Schwierigkeiten, ihren Inspektionspflichten nachzukommen. Mit 37 Lagerinspektionen befanden sich die Beamten aus Molotov im guten Mittelfeld. Im Vergleich zur Nachbarregion Sverdlovsk (170 Inspektionen) waren diese Zahlen aus Sicht der

172 Rundschreiben der Staatsanwaltschaft der RSFSR über die Aufgaben der Staatsanwaltschaft, die sich aus dem ZK-Beschluss vom 12.3.1954 ergeben, 30.8.1954, in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 3250a, l. 99–101. 173 Ebd., l. 109–113. 174 Vgl. Prüfungsbericht für die Haftaufsicht Molotov im Jahr 1954, 31.12.1954, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 673, l. 7; Schreiben der Staatsanwaltschaft Molotov an Rudenko und Staatsanwalt der RSFSR, Kruglov, o. D. [vermutlich März 1955], in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 305, l. 127–129.

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Vorgesetzten noch ausbaufähig.175 Die flächendeckende Kontrolle des Lagersystems durch die Staatsanwaltschaft war ein hochgestecktes Ziel. In drei Bereichen konnten und mussten die Beamten ihre neuen Kompetenzen unter Beweis stellen: die Gewährleistung stabiler Lebens- und Arbeitsbedingungen, die Organisation der Bildungsarbeit in den Lagern sowie die Durchsetzung der lagerinternen Gerichtsbarkeit. In den Erinnerungen der Häftlinge wird oft betont, dass es bis 1956 zu kleinen, aber spürbaren Verbesserungen im Lageralltag kam. Das Haftstatut führte offiziell die Acht-Stunden-Tage ein und gestattete den Gefangenen, Briefe und Päckchen zu verschicken und zu empfangen. Solche Neuerungen hätten das Leben der Insassen sukzessive erleichtert.176 Doch nicht alle Lagerverwaltungen lockerten diese Restriktionen und in vielen Fällen vegetierten die Lagerhäftlinge auch 1954 noch unter menschenunwürdigen Bedingungen. Tempo und Ausmaß der Veränderungen variierten sehr stark. Die Verbesserungen im Häftlingsalltag setzten sich in bestimmten Lagern eher später durch als früher.177 Der Jahresbericht der Haftaufsicht Molotov für das Jahr 1954 zeichnete ein desolates Bild von der Häftlingswelt. Fast alle Lagerpunkte seien überfüllt gewesen und an vielen Orten gab es nicht einmal Schlafplätze, so dass die Insassen auf den Fußböden schliefen. Auf einen Häftling entfiel mancherorts weniger als ein Quadratmeter Fläche zum Leben. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Winterkleidung war unzureichend. Der Bericht hielt fest: „Es wird sich fast überhaupt nicht dafür interessiert, unter welchen Bedingungen die Häftlinge untergebracht sind und arbeiten.“178 Die Mitarbeiter der Haftaufsicht, so der Vorwurf, räumten diesen Problemen nicht die nötige Priorität ein. In einem Fall schickte der zuständige Staatsanwalt eine Liste mit „Vorschlägen“ an den Leiter eines Lagerpunktes, um die nötigen Reparaturen in den Baracken vorzunehmen. Wer „Vorschläge wie ein Betriebsleiter“ schreibe, könne keine Veränderungen herbeiführen.179 Auf der einen Seite beließen es viele Staatsanwälte dabei, die untragbaren Zustände in den Lagern zu dokumentieren, ohne auf entsprechende Strafen für die Lagerverantwortlichen zu drängen. Auf der anderen Seite nahmen die Berichte im Laufe der Jahre 1954 und 1955 tendenziell mehr Details auf. Jahrelang wurden zentrale Fragen wie die medizinische Versorgung der Insassen oder deren Ernährung vernachlässigt. Ab 1954 stieß

175 Vgl. Bericht über die Auswertung der Haftaufsicht der Regionen im ersten Halbjahr 1954, 30.08.1954, in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 3250a, l. 57–60. 176 Vgl. Applebaum, Der Gulag, S. 534. 177 Vgl. Hardy, The Gulag after Stalin, S. 77. 178 Prüfungsbericht für die Haftaufsicht Molotov im Jahr 1954, 31.12.1954, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 673, l. 25. 179 Ebd., l. 10.

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die Haftaufsicht in diese Graubereiche vor. Geprüft wurde unter anderem, ob die Ambulanz über ausreichend Medikamente und die Lagerpunkte über genug medizinisches Personal (Feldscher, Ärzte oder Krankenschwestern) verfügte.180 Der 24-seitige Bericht über eine einzige Lagerabteilung (Nummer 23) in Molotov für das Jahr 1955 listete auf, wie viel Fleisch, Kartoffeln und sonstige Grundnahrungsmittel für wie viele Arbeitstage vorhanden waren.181 Im Problemkomplex Nyroblag hatte sich im Laufe des Jahres 1954 nicht nur die Sicherheitslage dramatisch verschlechtert. Zudem fehlten Gemüse, Gewürze und ausreichend Geschirr bei der Essensausgabe.182 Die Präsenz eines ‚eigenen‘ Lagerstaatsanwalts hatte einen gewissen Anteil an dieser Informationsflut. Über den direkten Zugang zu den Lagerhäftlingen brachten die Staatsanwälte alltägliche Probleme ans Licht, die für die Lebensqualität des Einzelnen von großer Bedeutung waren. Dass sich die Versorgungssituation in den Lagern bis 1956 sicht- und spürbar verbesserte, ist unbestreitbar. Die Staatsanwaltschaft unterstützte diese Veränderungen, indem sie immer mehr Mängel zutage förderte und auf deren Verbesserung bestand. Das Statut zur „Staatsanwaltschaftlichen Aufsicht“ von 1955 verpflichtete die Lagerleitung auch formal, den „Aufforderungen“ der Staatsanwälte nachzukommen.183 Inwieweit sich Veränderungen letztlich einstellten, hing jedoch von der Bereitschaft des MVD ab, selbst die Initiative zu ergreifen und tatsächlich mit den anderen Behörden zu kooperieren. Bereits kurz nach Berijas Verhaftung gingen Lagerleiter individuell stärker auf die Anliegen der Insassen ein – auch aus Angst vor Aufständen.184 Im Laufe des Jahres 1954 verbesserte das Innenministerium das Lebensniveau schrittweise. Die Lagerhauptverwaltung erließ Befehle, die den Insassen mehr Rechte, bessere Rationen und überhaupt ansatzweise erträgliche Arbeitsbedingungen einräumten.185 Das Innenministerium übte großflächig Druck auf seine Beamten aus, um die Regelungen des Statuts durchzusetzen. Dieser Druck wurde durch überbehördliche Kommissionen aus Vertretern der GUL ag und der Partei aufrechterhalten, die die Situation in den Lagern überwachen sollten.186 Führende

180 Vgl. ebd., l. 28. 181 Vgl. Auskunft zu den Ergebnissen der Überprüfung der Haftbedingungen in der Lagerabteilung No. 23 UITLK Molotov im Jahr 1955, 17.10.1955, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 4470, l. 95. 182 Vgl. Schreiben des Staatsanwalts der Haftaufsicht Moskau, Makušin, an den Sekretär des ObKom, Struev, 4.9.1954, in: PGASPI, f. 105, op. 21, d. 143, l. 73–74. 183 Ukaz Prezidiuma Verchovnogo Soveta SSSR ob utverždenii ‚Položenija o prokurorskom nadzore v SSSR‘, 24.5.1955, in: Socialističeskaja zakonnostʼ 7 (1955), S. 8. 184 Vgl. Barnes, Death and Redemption, S. 209. 185 Vgl. Hardy, The Gulag after Stalin, S. 77. 186 Vgl. Rundschreiben der Staatsanwaltschaft der RSFSR über die Aufgaben der Staatsanwaltschaft, die sich aus dem ZK-Beschluss vom 12.3.1954 ergeben, 30.8.1954, in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 3250a, l. 99–101.

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MVD-Vertreter, wie der stellvertretende Minister für die Truppen des MVD Semen Perevertkin, betonten dabei immer wieder, dass „die Umerziehung der Häftlinge“ eine „gemeinsame Arbeit“ sei. Trotz unterschwellig geäußerter Bedenken um die Produktivität der Lager, trieb das Innenministerium die Verbesserung der Lebensumstände in Eigeninitiative voran.187 Im Bereich der Bildungsarbeit und der allgemeinen Arbeitsorganisation nahm die Haftaufsicht eine ähnliche Rolle ein. Sie blieben die Protokollführer einer überwiegend planlosen Umstrukturierung des Arbeitsalltages. Häftlinge sollten sich durch Arbeitsaufgaben, die ihren Fähigkeiten (und ihrer Konstitution) entsprachen, im Stil einer Lagerberufsausbildung weiterqualifizieren. Dieses Vorhaben trug jedoch erst zum Ende der 1950er-Jahre Früchte, nachdem das MVD das Lagersystem durch Kolonien mit entsprechenden Produktionsstätten ersetzen ließ.188 Die Staatsanwaltschaft dokumentierte auf dem Weg dahin vor allem das Versagen bei der Umsetzung dieser Maßnahmen. Der Jahresbericht der Haftaufsicht von 1954 sah zum Beispiel keinen Grund für Optimismus auf diesem Gebiet. Insassen wurden nicht ihrem physischen Zustand entsprechend eingesetzt und Unfälle mit schweren Verletzungen und Todesfolge prägten den Arbeitsalltag. Löhne wurden spät oder gar nicht ausgezahlt, weshalb die Lagerstaatsanwaltschaft mit einer Flut von Beschwerden konfrontiert wurde, die sie offenkundig nicht rechtzeitig abarbeitete.189 Zeitgleich wurde die Lagerpresse wiederbelebt und die Insassen sollten zu sportlichen und kulturellen Aktivitäten (Politvorträge oder Kinovorstellungen) angeregt werden. Die führende Kraft dahinter waren die Parteiorganisationen der Lager. Sie versuchten, die Häftlinge zur Selbstorganisation zu animieren.190 Die Staatsanwaltschaft nahm von diesen Maßnahmen Notiz, war bei der Durchführung der Bildungsarbeit jedoch weitestgehend außen vor. Mehrere Beamte der Haftaufsicht in Molotov beschwerten sich auf einer Mitarbeiterversammlung gegenüber Jakovlev, dass die Politabteilungen der Lager sie gar herumkommandieren und verleumden würden.191 Die Parteizellen beanspruchten die politische Umerziehung der Häftlinge als ihre Angelegenheit. Die Beamten der Haftaufsicht verwendeten entsprechend nur wenige Zeilen auf dieses Problem. Im Herbst 1955 verfügte die Bibliothek der Lagerabteilung eines Frauenlagers mit fast 300 Insassen über 270 Bücher und zwei 187 Redebeitrag Semen Perevertkins auf der Versammlung leitender Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft, 23.6.–25.6.1955, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 4014, l. 76–77. 188 Vgl. Hardy, The Gulag after Stalin, S. 79. 189 Vgl. Prüfungsbericht für die Haftaufsicht, Molotov, im Jahr 1954, 31.12.1954, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 673, l. 29. 190 Vgl. Protokolle der Versammlung der Staatsanwaltschaft, 23.6.–25.6.1955, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 4014, l. 75–76. 191 Vgl. Protokoll der operativen Mitarbeiterversammlung der Staatsanwaltschaft Molotov, 5.1.1955, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 330, l. 2–5.

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Ausgaben der Satirezeitschrift „Krokodil“. Die kürzlich errichtete Schule sei noch geschlossen und die „politische Erziehungsarbeit“ unter den Gefangenen befinde sich im „Stadium der Organisation“.192 Mehr als eine Empfehlung, die Erziehungsarbeit zu verbessern, lieferte der Bericht nicht. Die pädagogischen ‚Errungenschaften‘ des Gulag blieben für die Staatsanwaltschaft eine Randnotiz. Die Haftaufsicht konzentrierte ihre Ressourcen primär auf den Bereich, dem schon vor 1953 ein Großteil ihrer Aufmerksamkeit galt: der Sicherheit und der Gerichtsbarkeit in den Lagern. Verbrechen durch Häftlinge und gegen Häftlinge hatten in den Augen aller beteiligten Regierungsorgane eine hohe Priorität. Die Zahl und die Intensität der Lagerunruhen stiegen 1954 deutlich an, wobei die GULag ihre Aufmerksamkeit auf die Gewalt konzentrierte, die von den Insassen ausging. Die Lösung des Sicherheitsproblems bestand aus Sicht der Lagerhauptverwaltung darin, abweichendes Verhalten unter den Häftlingen konsequent zu verfolgen.193 Generalstaatsanwalt Rudenko sah die Gewaltausbrüche hingegen als ganzheitliches Problem des Lagerregimes: „Die Verletzung der Regeln des Regimes und der Haftbedingungen der Häftlinge, die Mängel der Erziehungsarbeit unter ihnen, wirken sich auf die verbrecherischen Erscheinungen in den Haftanstalten aus.“194 Der Schlüssel zur Kontrolle über das Lager lag für die Staatsanwaltschaft darin, Regelverletzungen auf beiden Seiten, durch die Insassen und durch das Lagerpersonal, zu ahnden. Mit der Eingliederung der Lagerstaatsanwälte übernahm die Haftaufsicht de facto die Kontrolle über die Strafverfolgung in den Lagern. Sämtliche Informationen zum Ermittlungs- und Anklageprozess liefen bei den Beamten in Molotov (oder den jeweiligen Bezirksbehörden) zusammen. Der Lagerstaatsanwalt war ab 1954 den gleichen Bewertungskriterien unterworfen wie die Beamten jenseits des Lagerzauns: Ermittlungsdauer, Einstellungsrate und Gerichtspräsenz. Auch auf ihm lastete der Druck, regelhafte und nachvollziehbare Ermittlungsarbeit zu leisten und sich für die entsprechenden Resultate zu verantworten. Für die Bekämpfung der Häftlingskriminalität hatte dies sichtbare Folgen. Im Laufe des Jahres 1954 brachte die Haftaufsicht von Molotov 397 Fälle vor Gericht, in denen sich 606 Insassen verantworten mussten. Die Mehrzahl dieser Verfahren leiteten die Lagerstaatsanwälte selbst (88 Prozent). Kritisiert wurden die vergleichsweise hohe Zahl an

192 Auskunft zu den Ergebnissen der Überprüfung der Haftbedingungen in der Lagerabteilung No. 23 UITLK Molotov im Jahr 1955, 17.10.1955, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 4470, l. 100–101. 193 Die GULag drängte insbesondere auf die konsequente Anwendung der Todesstrafe bei „schweren Bandenübergriffen“. Auskunft der Organisationsabteilung der GULag, 18.6.1954, in: Kozlov, Istorija stalinskogo gulaga, 6, S. 642 f. 194 Bericht Rudenkos auf der Allunionsversammlung der Staatsanwaltschaft, 23.6.1955, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 4013, l. 79.

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Verfahrenseinstellungen (11,6 Prozent) und die Verzögerungen bei der Fallbearbeitung.195 Da besonders die Umstände der Einstellung eines Strafverfahrens (bzw. der Freisprüche) von der Haftaufsicht genau studiert wurden, kam so ans Licht, wenn Lagerbeamte (wie lange Zeit üblich) bei gewalttätigen Auseinandersetzungen ein Auge zudrückten. Bei einer Massenschlägerei am 4. April 1954 im Komplex Nyrob­ lag kamen fünf Insassen zu Tode und 50 wurden verletzt. Lagerstaatsanwalt Grišin musste sich nun dafür rechtfertigen, warum keiner der Todesfälle Gegenstand einer Gerichtsverhandlung wurde.196 Gewaltsame Übergriffe unter den Häftlingen waren zur Mitte der 1950er-Jahre kein Fall für die Produktionsstatistiken mehr. Sie wurden als Straftaten behandelt. Regelverstöße zogen grundsätzlich Nachforschungen nach sich, was auch aus den Ermittlungsberichten der Haftaufsicht hervorgeht, die den Kontext einer Tat mit zunehmend mehr Detailfreude analysierte. Aleksandra Sergeevna Vergalova wurde 1952 im Alter von 18 Jahren durch das Gericht der Stadt Groznyj wegen Diebstahls zu einer Freiheitstrafe von sechs Jahren verurteilt. Ihre Haft trat sie in einem Speziallager in der Region Kujbyšev an. 1955 transferierte man sie in die Region Molotov, wo sie wegen Arbeitsverweigerung in das „strenge Regime“ einer Lagerabteilung von Kizellag überführt wurde. Infolge der Amnestie halbierte sich ihr Strafmaß, doch viereineinhalb Monate vor ihrer Entlassung und drei Tage nach ihrer Ankunft im neuen Lagerpunkt, am 27. August 1955 um 21:30 Uhr, fand man ihre Leiche in einer leeren Baracke.197 Die junge Frau war mit einem Strick stranguliert worden, was umgehend die Spekulationen über einen möglichen Suizid anheizte. Vergalova habe die „Peinigungen“ durch die Lagerverwaltung nicht länger ertragen und sich umgebracht. Die gerichtsmedizinische Untersuchung und die Ermittlungen gelangten jedoch zu einem anderen Ergebnis. Vergalova hatte ein Verhältnis zu einer Mitgefangenen. Ein Streit zwischen den beiden war eskaliert und Vergalova von ihrer Geliebten und einer anderen Insassin erdrosselt worden. Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, hatten die Beamten der Staatsanwaltschaft mehrere Zeugen vernommen und die Verdächtigen zu Gegenüberstellungen einbestellt. Das Gerichtsverfahren war zum Zeitpunkt des Berichts noch nicht abgeschlossen, doch die Generalstaatsanwaltschaft bat im Voraus um eine Benachrichtigung über den Ausgang des Verfahrens.198 Das gesamte juristische Prozedere war ein deutlicher Bruch mit der Praxis vergangener Jahre. Todesfälle hinterließen zu Stalins Lebzeiten allenfalls einen Eindruck bei den Sterblichkeitsraten.

195 Vgl. Prüfungsbericht für die Haftaufsicht, Molotov, im Jahr 1954, 31.12.1954, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 673, l. 41–42. 196 Vgl. ebd., l.44. 197 Vgl. Auskunft zu den Ergebnissen der Überprüfung der Haftbedingungen in der Lagerabteilung No. 23 UITLK Molotov im Jahr 1955, 17.10.1955, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 4470, l. 86–87. 198 Vgl. ebd., l. 88.

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Über die Umstände eines solchen Vorfalls erfuhr die Staatsanwaltschaft früher gar nichts oder erst im Nachhinein. Der Detailreichtum des Verfahrens und die Hartnäckigkeit der Ermittler im Frauenlager von Kizel zeugen davon, dass nunmehr alle Vergehen gegen die Lagergerichtsbarkeit verfolgt werden sollten. Das Schicksal eines Insassen war per se strafrechtlich relevant. Dies schloss auch den angeblichen Suizid eines halbverwaisten, kinderlosen Lagerhäftlings mit ein.199 Als die Staatsanwaltschaft die Kontrolle über den Strafprozess im Lager übernahm, hatte dies auch Folgen für das Lagerpersonal. Die Lagergerichtsbarkeit deckte prinzipiell nur einen kleinen Teil der Möglichkeiten ab, mit denen die Häftlingswelt diszipliniert wurde. Bei über 60.000 Insassen fielen 397 Gerichtsverfahren in elf Monaten nicht ins Gewicht.200 In der überwältigenden Mehrzahl der Fälle wurden Regelverstöße innerhalb des Lagers durch die Lagerverwaltung geahndet. Diese „administrativen Maßnahmen“ standen jedoch ab 1954 noch stärker unter Beobachtung durch die Staatsanwaltschaft. Geprüft wurde, ob die Handlungen des Lagerpersonals unverhältnismäßig oder sogar kriminell waren und damit die Ziele der Besserungspolitik gefährdeten. Wie Häftlinge diszipliniert wurden, lag somit nicht mehr im alleinigen Ermessen der Lagerverwaltung. Aus dem Jahresbericht der Haftaufsicht von 1954 geht hervor, dass die Lagerleitungen von Molotov, nach eigenen Angaben, 8802 Vergehen gegen das Lagerregime bestraft hätten. In den meisten Fällen (3631) ging es dabei um Arbeitsverweigerung.201 Die Lagerstaatsanwälte kritisierten, dass die Lagerverwaltungen unverhältnismäßig reagierten, indem sie in über der Hälfte aller Fälle die Delinquenten in den Strafisolator schickten, anstatt auf „andere Einwirkungsmaßnahmen gegenüber den Häftlingen“ zurückzugreifen.202 Doch auch sie selbst standen in der Kritik, weil sie nicht jede Disziplinierungsmaßnahme der Lagerleitungen überprüften oder den Begründungen für diese Maßnahmen blind Glauben schenkten. In vielen Fällen „fabrizierte“ das Lagerpersonal Delikte, um Häftlinge gezielt in ein strengeres Regime oder den Strafisolator zu verschicken.203 Die zuständigen Lagerstaatsanwälte sanktionierten einige dieser Entscheidungen, ohne den Vorfall zu untersuchen. Diese Nachlässigkeit der Lagerstaatsanwälte wurde durch die Beamten der Haftaufsicht bei ihren Kontrollen wiederum aufgedeckt. 199 Vergalovas Vater war im Krieg gefallen und ihre Mutter lebte über 2000 Kilometer entfernt in der Sibirischen Kleinstadt Belovo, vgl. ebd., l. 86–87. 200 Vgl. Prüfungsbericht für die Haftaufsicht, Molotov, im Jahr 1954, 31.12.1954, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 673, l. 41–42. 201 Vgl. ebd., l. 18. 202 Ebd. 203 In einem einzigen Lagerpunkt vom Usollag wurden binnen eines halben Jahres 122 Insassen ins lagereigene Gefängnis geschickt. 33 von ihnen hatten sich, so der Befund der Haftaufsicht, nichts zu Schulden kommen lassen. Ebd., l. 16.

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Im Fokus der Haftaufsicht stand auch die Anwendung von Waffengewalt bei Fluchtversuchen. 36 Insassen sollten im Laufe des Jahres 1954 an ihrer Flucht gehindert worden sein, wobei 27 von ihnen dabei ums Leben kamen. Die Lagerverwaltungen hatten in allen Fällen eigene Untersuchungskommissionen einberufen, die allerdings durchweg zu dem Schluss gekommen waren, dass das Wachpersonal berechtigterweise von der Schusswaffe Gebrauch gemacht hätte. In sechs Fällen hatte der Lagerstaatsanwalt Anklage gegen die Wachleute erhoben, doch die Verfahren waren unter Verweis auf die Beweislage wieder eingestellt worden. Auch hier rollte die Haftaufsicht die Fälle wieder auf. Im Falle des Häftlings Mamontov wies die gerichtsmedizinische Untersuchung außer den Schussverletzungen auch zahlreiche Stich- und Schnittverletzungen am Leichnam nach. In zwei anderen Fällen zeugten die Verbrennungen am Körper davon, dass die Schüsse aus nächster Nähe auf die Insassen abgegeben worden waren.204 Obwohl zahlreiche Lagerstaatsanwälte ihren Pflichten nicht sonderlich gewissenhaft nachgingen, war der Tod eines Häftlings längst kein Kollateralschaden mehr, sondern potenziell das Resultat einer Straftat, für die sich das Lagerpersonal verantworten musste – und anders als noch zu Stalins Lebzeiten übte die Staatsanwaltschaft an diesem Punkt deutlich mehr Druck auf die Lagerverwaltung aus. Mord an flüchtigen Insassen blieb nicht mehr folgenlos.205 Molotovs Leiter der Abteilung für Haftaufsicht, Davydov, schärfte den Lagerstaatsanwälten ein, dass Todesfälle, wie derjenige Mamontovs, nicht nur geprüft, sondern die Verantwortlichen „zur strengsten Verantwortung“ gezogen werden müssten – „ohne Rücksicht auf ihren Dienstrang“.206 Obwohl Angestellte des Lagers nur durch ein Militärgericht verurteilt werden konnten, hatte die Haftaufsicht durch die Lagerstaatsanwälte nun direkten Zugriff auf die einst lagerinterne Ermittlungsarbeit. Verbrechen durch Lagermitarbeiter wurden häufiger und gründlicher beleuchtet, auch weil das MVD sich an diesem Prozess beteiligte. Erkenntnisse zu den Ermittlungen wurden ausgetauscht und unter Zugzwang der beidseitigen Ermittlungen zog die MVD -Verwaltung häufiger disziplinarische und strafrechtliche Konsequenzen für ihre Mitarbeiter. Ein anschauliches Beispiel für diese Dynamik sind die Ermittlungen zum Tod des Häftlings Ivan Pišikov, eines Insassen des Lagerpunktes Nummer Zwei im Komplex Kizellag. Den ersten Erkenntnissen der MVD-Ermittler zufolge wurde Pišikov am 19. No­ vember 1954 im betrunkenen Zustand vom Wachpersonal aufgegriffen. Noch am selben Abend wurde er aus dem Strafisolator ins Lazarett verbracht, wo man bei 204 Vgl. ebd., l. 22. 205 „The age of murdering escaped prisoners without consequence had ended“. Hardy, The Gulag after Stalin, S. 97. 206 Rückschlüsse und Vorschläge zum Jahresbericht der Haftaufsicht Molotov 1954, 31.12.1954, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 673, l. 55.

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ihm ein akutes Abdomen diagnostizierte. Drei Tage später (!) wurde Pišikov operiert und im Anschluss verstarb er. Eine erste Obduktion kam zu dem Ergebnis, dass der Häftling an einer Bauchfellentzündung verstorben war.207 Der zuständige MVD -Ermittler Evsin nahm die Ermittlungen auf, doch die Sache wurde aufgrund von Zeugenaussagen zwischenzeitlich ausgesetzt, denen zufolge Pišikov lediglich betrunken gestürzt war. Evsin veranlasste eine zusätzliche gerichtsmedizinische Untersuchung, doch die zuständige Abteilung im Lager unternahm fast einen Monat nichts. Am 11. November wandte sich Evsin daher an den Lagerstaatsanwalt, damit dieser die nötige Obduktion in die Wege leite.208 Dieser Lagerstaatsanwalt, Kozlov, setzte die Ermittlungen zwar erst am 2. Dezember fort, benachrichtigte dafür aber umgehend die Regionalstaatsanwaltschaft in Molotov (Stadt), damit die dortige Haftaufsicht Druck auf die MVD-Verwaltung ausübte, ihm (Kozlov) zuzuarbeiten.209 Am 17. Dezember kam es, auf Kozlovs Anweisung hin, zur zweiten Obduktion. Der Befund war eindeutig. Pišikovs innere Organe waren durch äußere Gewalteinwirkung geschädigt worden. MVD-Ermittler Evsin und Staatsanwalt Kozlov schlossen sich daraufhin zusammen und befragten zusätzliche Zeugen. Diese bestätigten, dass Pišikov durch zwei Aufseher schwerstens misshandelt worden war. Evsin eröffnete das Verfahren gegen beide und die MVD-Führung beteiligte nicht nur den Lagerstaatsanwalt daran, sie bestrafte mindestens drei Beamte disziplinarisch, weil sie den Ermittlungsprozess um drei Wochen verzögert hatten.210 Die Haftaufsicht in Molotov dokumentierte den Fortschritt der Ermittlungen für ihre Vorgesetzten in Moskau und am 25. Januar 1955 wurde vermeldet, dass die beschuldigten Aufseher jeweils zu zehn und sieben Jahren Lagerhaft verurteilt worden waren.211 Der gesamte Fall wurde zum einen aufgrund der Hartnäckigkeit des MVD-Ermittlers Evsin aufgeklärt. Zum anderen war es der Lagerstaatsanwalt, der die Staatsanwaltschaft in Molotov und Moskau auf den entscheidenden Ebenen einbezog, um die Gerüchte um den angeblichen Unfall zu widerlegen. In der Konsequenz informierte die MVD-Verwaltung die Staatsanwaltschaft nicht nur über die laufenden Ermittlungen, sondern räumte durch Informationen und Disziplinarstrafen den Weg für Kozlov und Evsin (und für die letztliche Verurteilung) frei. Darüber hinaus spielte 207 Beschluss des Diensthabenden der Regime-Operativ-Abteilung des ITL Kizel, Evsin, zur Verlängerung des Ermittlungsprozesses in der Sache Pišikov, Ivan Nikiforivič, 18.12.1954, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 672, l. 74. 208 Vgl. Antwort des MVD-Chefs Molotov, Cikljaev, an den Beamten der Haftaufsicht, Bukanov, 15.1.1955, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 672, l. 83. 209 Vgl. Eingabe des Staatsanwalts der Haftaufsicht, Bukanov, an MVD-Leiter Cikljaev, 22.12.1954, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 672, l. 75. 210 Vgl. Antwort Cikljaevs an Bukanov, 15.1.1955, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 672, l. 83-84. 211 Vgl. Schreiben der Haftaufsicht Molotov an den Leiter Haftaufsicht in der Staatsanwaltschaft der RSFSR, Vavilov, 25.1.1955, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 672, l. 92.

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Pišikovs kriminelle Vorgeschichte keine Rolle. Bis zuletzt blieb offen, wofür er einst verurteilt worden war. Staatsanwaltschaft und MVD behandelten seinen Tod allein als Strafsache, die, gemäß den Prinzipien der Strafverfolgung, erst mit der Verurteilung des Täters abgeschlossen war. Der Erfolg in der Sache Pišikov steht exemplarisch für den Einfluss, den die Staatsanwaltschaft über die Beamten im Lager auf die Lagerverwaltung und MVD ausübte, wenn Häftlinge durch das Wachpersonal misshandelt wurden. Der Druck, der auf der Lagerverwaltung lastete, Regelverletzungen im Lagerregime zu ahnden, war ungleich höher als noch vor 1954. Dies galt für Übergriffe durch Häftlinge und durch Mitarbeiter gleichermaßen. Die Akten der Staatsanwaltschaft geben leider nur unzureichend Auskunft darüber, wie viele Strafverfahren gegen GULag-Mitarbeiter tatsächlich erfolgreich waren. Jeffrey Hardy erwähnt 77 Verurteilungen im gesamten Lagersystem für die ersten drei Quartale 1955. Vor allem das Wachpersonal und andere niedere Beamte in der Lagerverwaltung seien zur Verantwortung gezogen worden, obwohl auch Fälle bekannt sind, in denen Staatsanwälte prominente Lagerkommandanten zu Fall brachten.212 Für Molotov ist bekannt, dass die Zahl der Disziplinarstrafen ebenfalls anstieg. Im ersten Quartal nach Eingliederung der Lagerstaatsanwalt wurden 28 Lagermitarbeiter auf diese Weise bestraft. In den ersten neun Monaten 1955 waren es 95, von denen einige auch zur parteilichen Verantwortung gezogen wurden.213 Die höheren Verwaltungsebenen des Lagersystems waren häufiger mit Parteimitgliedern besetzt. Deren Disziplinierung lag in den Händen der Parteikomitees. Umfassende Statistiken sind hierfür nicht überliefert. Die oben beschriebenen Veränderungen belegen den Willen und die Hartnäckigkeit der Beamten, Regelverstöße in den Lagern zu untersuchen und zu ahnden. Sie verweisen darauf, dass sie, dank der Präsenz des Lagerstaatsanwalts, erfolgreich auch gegen das Lagerpersonal vorgehen konnten. Den Einflussmöglichkeiten der Staatsanwaltschaft waren allerdings auch klare Grenzen gesetzt. Das Haftstatut wurde keineswegs ausnahmslos durchgesetzt. Regelmäßig musste die Haftaufsicht die Angaben der Lagerstaatsanwälte gegen den Strich bürsten. Die Masse der Fälle überforderte die immer noch geringen Kapazitäten vor Ort und überstieg zuweilen die Kompetenzen der Lagerstaatsanwälte, die offiziellen und die inoffiziellen Routinen des Lagerregimes zu durchdringen.214 Jahrelang waren die Beamten zudem

212 Die Rede ist dabei vom Kommandanten des Komplexes Norilsk, der bekanntermaßen seit 1953 von Aufständen erschüttert wurde. Vgl. Hardy, The Gulag after Stalin, S. 111. 213 Vgl. Bericht über die Auswertung der Haftaufsicht der Regionen im ersten Halbjahr 1954, 30.8.1954, in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 3250а, l. 63; Schreiben Jakovlevs an Rudenko, 17.10.1956, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 678, l. 3. 214 Vgl. Lagerstaatsanwalt Kozlov beklagte auf einer Mitarbeiterversammlung den Ausfall von Kollegen und dass er die Anklage häufig alleine vertreten (und vorbereiten) müsse. „Ich kann absolut

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Die Staatsanwaltschaft im Mittelpunkt von Krise und Konsolidierung

Teil der Lageradministration und Komplizen der alltäglichen Willkür gegenüber den Insassen. Diese Seilschaften überdauerten in vielen Fällen die Umstrukturierung des Lagersystems.215 Mancherorts war die Lagerleitung nicht willens, auf die Forderung der Staatsanwaltschaft einzugehen, und ließ es stattdessen auf eine Auseinandersetzung vor der Parteiversammlung ankommen.216 Am deutlichsten aber stieß die Staatsanwaltschaft an ihre Grenzen, wo die Lagerleitung nicht (mehr) fähig war, die Häftlingszonen zu kontrollieren. Der Lagerkomplex Nyroblag beschäftigte seit den frühen 1950er-Jahren alle Partei- und Regierungsorgane der Region. 1953 beklagte die Verwaltung des Justizministeriums, dass sie der grassierenden Gewalt durch organisierte Häftlingsbanden wenig bis gar nichts entgegenzusetzen hatte.217 Ein Jahr darauf, zur Jahresmitte 1954, hatte sich das Parteikomitee eingeschaltet und setzte die Lagerleitung und die Staatsanwaltschaft gleichermaßen unter Druck, um der Situation Herr zu werden. Bei über 16.000 Verletzungen der Lagerdisziplin in einem halben Jahr habe besonders der Lagerchef, Jušmanov, die Kontrolle über sein Personal und das Regime insgesamt verloren.218 Die Gewaltexzesse unter den Häftlingen und dem Lagerpersonal setzten sich jedoch bis 1955 fort, während die Haftaufsicht lediglich ihre Vorgesetzten in Moskau Schritt für Schritt über die Eskalationsstufen informieren konnte.219 Die Haftaufsicht konnte Ungesetzlichkeiten beanstanden und Taten Einzelner zur Ermittlung und Verurteilung führen. Sie war jedoch machtlos gegenüber organisierter Kriminalität und gewachsenen Untergrundstrukturen, die sich, nach jahrelanger Instrumentalisierung durch die Lagerverwaltung, nach Stalins Tod verselbstständigten. War die Situation einmal eskaliert, sanktionierte auch die Staatsanwaltschaft die drastischsten Maßnahmen, um die Lagerdisziplin wiederherzustellen. Generalstaatsanwalt Roman Rudenko besuchte im Sommer 1953

nicht überall mitkommen“. Protokoll der operativen Mitarbeiterversammlung der Staatsanwaltschaft Molotov, 5.1.1955, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 330, l. 2. 215 Vgl. Hardy, The Gulag after Stalin, S. 104. In Molotov wurden sechs Lagerstaatsanwaltschaften zwischen 1955 und 1956 neu besetzt. Wie viele Beamte insgesamt für die Staatsanwaltschaft in den Lagern tätig waren, ist unklar. Bei über 120 Lagerpunkten ist von einer zweistelligen Zahl auszugehen. Vgl. Schreiben Jakovlevs an Rudenko, 17.10.1956, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 678, l. 3. 216 Vgl. Bericht des Lagerstaatsanwalt in Usollag, Maksimov, an den Sekretär des ObKom, Struev, 6.6.1955, in: PGASPI, f. 105, op. 22, d. 129, l. 11–13. 217 Vgl. Schreiben des stellvertretenden Justizministers, P. I. Kudrjavcev, an den Sekretär des ObKom Molotov, Prass, 24.6.1953, in: PGASPI, f. 105, op. 20, d. 157, l. 155–156. 218 Vgl. Schreiben aus der Haftaufsichtsabteilung der Generalstaatsanwaltschaft, Makušin, an den Sekretär des ObKom, Struev, 4.9.1955, in: PGASPI, f. 105, op. 21, d. 143, l. 77. 219 Vgl. Schreiben des Leiters der Haftaufsicht bei der Generalstaatsanwaltschaft, Darylov, und des Bevollmächtigten beim MVD, Kiprijanov, an den stellvertretenden Generalstaatsanwalt, Chochlov, 28.12.1954, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 668, l. 55.

Die Umstrukturierung des Gulag

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persönlich den Lagerkomplex Rečlag in Vorkuta, nachdem tausende Häftlinge die Arbeit niedergelegt hatten. In seinem Beisein (wenn nicht mit seiner Zustimmung) eröffneten die MVD-Truppen das Feuer und töteten Dutzende Insassen.220 Die Krise des Lagersystems war die Chance der Staatsanwaltschaft. Die Haftaufsicht hatte jahrelang vergeblich auf die Bruchstellen der Sicherheitsarchitektur des Gulags hingewiesen. Der organisierte Häftlingswiderstand, Berijas Verhaftung und Chruščevs Neigung, das Besserungskonzept vergangener Tage wiederzubeleben, verlieh den Argumenten der Staatsanwaltschaft neues Gewicht. Ihr Anspruch war es, das Lagerregime unabhängig vom Produktionsplan zu regulieren sowie Insassen und Lagerpersonal auf regelhafter Grundlage (dem Statut) zu disziplinieren. 1954 bekam sie dazu den Rückenwind der Parteiführung und den sprichwörtlichen Fuß in die Tür des Lagersystems – in Gestalt des Lagerstaatsanwalts. Über ihn zwang sie Lagerleiter allerorten, für die willkürlichen Handlungen unter ihrer Aufsicht Rechenschaft abzulegen und Konsequenzen ziehen. Die Räume, in denen Häftlinge dem Belieben der Wachen und der Mitgefangenen ausgesetzt waren, wurden so sukzessive kleiner. Die Grauzonen der informellen Lagerhierarchie wurden besser ausgeleuchtet. Der Lagerstaatsanwalt war zugleich eine Schwachstelle. Diese Beamten waren lange Jahre Teil der Lagerwelt, die sie auch beaufsichtigen sollten. Somit fehlte es vielen an der Konsequenz, Delikte zu verfolgen und Druck auf die Lagerverwaltung, auf Kollegen und Freunde womöglich auszuüben. Die Beamten der Haftaufsicht kompensierten diese Schwächen zum Teil, doch auch sie konnten angesichts der Dimensionen des Lagersystems viele Reformschritte nicht selbst erzwingen. In vielen Bereichen war der Staatsanwalt der Verwalter und Begleiter einer Umstrukturierung, die von der Partei und dem MVD selbst getragen wurde. Welche Rolle spielte die Staatsanwaltschaft insgesamt bei der Umstrukturierung des Lagersystems nach 1953? Sie verfügte über den Willen zur Veränderung und die passenden Verfahrensweisen sowie die Erfahrung, um die sozialen und wirtschaftlichen Belastungen durch ein krisenhaftes Zwangsarbeitsimperium zu bewältigen bzw. abzufedern. Abhängig von den Entwicklungen an der Staatsspitze, von den Präferenzen der Parteiführung und dem Kalkül des Innenministeriums sowie ihren eigenen Kapazitäten, diente die Staatsanwaltschaft mal als Verwalter, mal als Träger dieser Prozesse. Auf der einen Seite waren ihre Spielräume noch immer durch die administrative Macht des MVD und die eigenen personellen Ressourcen begrenzt. 220 Vgl. Binski, Sigurd: Der große Streik, in: Jan Foitzik/Horst Hennig (Hg.), Begegnungen in Vorkuta. Erinnerungen, Zeugnisse, Dokumente. Leipzig 2003, S. 161; Auszug aus den Erinnerungen Ju. P. Jakimenkos, in: Kozlov, Istorija stalinskogo gulaga, 6, S. 570. Die Rolle Rudenkos bei der Niederschlagung wird von Zeitzeugen unterschiedlich bewertet. Die letztliche Entscheidung über die Anwendung von Waffengewalt lag einzig im Ermessen der Gefängnisverwaltung und des Innenministers. Vgl. Hedeler, Wladislaw/Hennig, Horst (Hg.): Schwarze Pyramiden, rote Sklaven. Der Streik in Workuta im Sommer 1953. Eine dokumentierte Chronik. Leipzig 2007, S. 123–125.

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Die Staatsanwaltschaft im Mittelpunkt von Krise und Konsolidierung

Die Haftaufsicht verwaltete und unterstützte die Entlassung derjenigen Häftlingskontingente, die aus Sicht des MVD und der Parteiführung verzichtbar schienen. Staatsanwälte dokumentierten die MVD-internen Reformschritte, um die Lebensbedingungen und die Bildungsarbeit unter den Insassen zu verbessern, ohne selbst die Kontrolle zu übernehmen. Auf der anderen Seite übernahm die Staatsanwaltschaft eine führende Rolle im Reformprozess, etwa bei der Verfolgung von Lagerkriminalität. Die Staatsanwaltschaft brachte das Innenministerium dahin, dass Willkür im Gulag mittelfristig nicht als legitimer Zustand, sondern als Makel begriffen wurde. Dies galt dort, wo die Parteiführung auf die strafrechtlichen Kompetenzen der Staatsanwaltschaft setzte, um über das Schicksal der politischen Häftlinge zu befinden. Die Revisionskommissionen leisteten die juristische Vorarbeit für eine politische Entscheidung, zu der sich die Parteiführung erst ab 1956 durchringen konnte. Unabhängig davon, wie viel Einfluss die Staatsanwälte auf die jeweiligen Reformprozesse ausübten: Der Wandel des sowjetischen Lagersystems vollzog sich auf Grundlagen, die die Staatsanwaltschaft jahrelang geformt und artikuliert hatte. Die Haftaufsicht dehnte ihre Kompetenzen aus, verfolgte im Kern jedoch einen Kurs, den sie bereits 1939 eingeschlagen hatte. Sie gab der Regelhaftigkeit im Strafvollzug den Vorrang, was ab 1954 die Welt der Lager für immer veränderte. Sie erwirkte mittelfristig die Verbesserung der Lebensbedingungen der Häftlinge und schränkte die Räume für willkürliche Handlungen von Seiten der Lagerleitung ein.221 Zugleich blieb der Gulag ein Mittel sozialer und politischer Ausgrenzung. Die Partei hielt an dieser Funktion fest und die Staatsanwaltschaft trug sie aus beruflicher Überzeugung mit.

6. 3 K r i m i n a l it ät u nd St r a f ve r folg u ng n a ch 1953 Die schlagartige Entlassung von über einer Million Lagerhäftlinge veränderte nicht nur die Lagerwelt von Grund auf. Sie konfrontierte das Regime und die Öffentlichkeit mit den Hinterlassenschaften dieser Welt – physisch, kulturell und sozial. Hunderttausende Männer und Frauen durchstreiften die Sowjetunion auf der Suche nach Obdach oder einer Anstellung. Banden und Kleinkriminelle stießen in öffentliche Räume vor. Die Zahl der Gewaltvergehen wie Mord, Körperverletzung und Vergewaltigung stieg zwischen 1953 und 1954 rasant an.222 Sprache, Kleidung und

221 „[…] the nature and extent of crime in the Gulag changed substantially for the better under Khrushchev, and much credit for this improvement must be given to the Procuracy“. Hardy, The Gulag after Stalin, S. 114. 222 Vgl. Daten der statistischen Abteilung des Obersten Gerichts, 1.7.1955, in: Afanasʼev/Werth, Istorija stalinskogo gulaga, 1, S. 613.

Kriminalität und Strafverfolgung nach 1953

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Lebensgewohnheiten der Lagerwelt diffundierten in die sowjetische Gesellschaft, und trafen besonders bei der heranwachsenden Nachkriegsgeneration auf fruchtbaren Boden.223 Die Bewältigung dieses Erbes zählte zu den zentralen politischen Herausforderungen der 1950er-Jahre. Das Regime musste eine Gesellschaft disziplinieren, die sich in Teilen dem Zugriff der Staatsmacht aktiv entzog, während andere durch dessen offensichtliches Versagen weiter entfremdet wurden – denn allen Propagandakunststücken zum Trotz griff die Besserungsrhetorik ins Leere. Angst, Verachtung und Misstrauen prägten die Einstellung vieler Menschen gegenüber den Lager-Rückkehrern und einem Staat, der dieser erneuten Verbrechenswelle scheinbar hilflos gegenüberstand.224 Zur Lösung dieses Problems griff das Regime einerseits auf bewährte Strategien zurück. Staatsanwaltschaften, Miliz und Gerichte sollten die Verbrechensraten durch präzise Ermittlungen und konsequente Urteile senken. Der „Kampf gegen antigesellschaftliche und parasitäre Elemente“, den die Regierung am 27. August 1953 ausrief, sollte mit gerichtlichen Mitteln geschlagen werden.225 Andererseits veränderte die Parteiführung das Kräfteverhältnis unter den Organen der Strafverfolgung. Sie räumte der Staatsanwaltschaft die Führungsrolle in diesem Kampf ein, indem sie das MVD samt Miliz um die bisherige außergerichtliche Ausnahmestellung brachte.226 Die Strafverfolgung nicht-politischer Vergehen wurde unter die alleinige Regie der Staatsanwaltschaft gestellt. Der folgende Abschnitt diskutiert, ob und wie die Staatsanwaltschaft dieser Verantwortung gerecht wurde. Dabei wird zunächst beleuchtet, wie die Miliz einen Teil ihrer Privilegien verlor und wie dieser Verlust das Verhältnis zur Staatsanwaltschaft beeinflusste. Im Anschluss wird betrachtet, welche Folgen dieser Wandel für die Routinen der Strafverfolgung und die Rolle der Staatsanwaltschaft als Ermittlungs- und Aufsichtsinstanz hatte. Der Umgang mit Jugendkriminalität dient zuletzt als praktisches Beispiel für die Reichweite der neuen staatsanwaltschaftlichen Kompetenzen und veranschaulicht zugleich die Entwicklung ihrer eigenen Expertise auf diesem Gebiet.

223 Vgl. Pyžikov, Chruščevskaja „Ottepelʼ“, S.219; Dobson, Khrushchev’s Cold Summer, S. 109–132; Fürst, Juliane: The Arrival of Spring? Changes and Continuities in Soviet Youth Culture and Policy between Stalin and Khrushchev, in: Jones, The Dilemmas of De-Stalinization, S. 135. 224 Vgl. Dobson, „Show the bandit-enemies“, S. 31. 225 Befehl zur Überwachung bei der Durchführung der Maßnahmen gemäß dem Befehl vom 27.8.1953, ‚Über Maßnahmen zur Stärkung des Schutzes der gesellschaftlichen Ordnung und des Kampfes gegen Kriminalität‘, 31.8.1953, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 2229, l. 101–108. 226 Vgl. Shelley, Policing Soviet Society, S. 39.

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Die Staatsanwaltschaft im Mittelpunkt von Krise und Konsolidierung

6.3.1 Die Disziplinierung der Miliz Ein wichtiges Ziel der kollektiven Führung im Sommer 1953 war die Einhegung außergerichtlicher Strukturen.227 Mit der Auflösung der „Sonderberatung“ (OSO) des MVD am 1. September 1953 verlor das Innenministerium sein mächtigstes autonomes Entscheidungsgremium, das, ausgestattet mit allen erdenklichen administrativen Vollmachten, zum Inbegriff geheimpolizeilicher Willkür geworden war.228 Im gleichen Zeitraum wurden die Militärtribunale der MVD-Truppen und anderer Truppenteile aufgelöst und die verbleibenden Militärgerichte in einem einzigen Militärjustizorgan zusammengeführt.229 Führende Kader des Innenministeriums wurden verhaftet oder versetzt, während die Parteiführung die Freilassung und Rehabilitierung ihrer eigenen prominenten Mitglieder überwachte.230 Binnen weniger Monate wurde das MVD um seine administrative Übermacht und stärker unter die Kontrolle der Parteiorgane gebracht. Diese Maßnahmen zielten nicht allein darauf, das Innenministerium machtpolitisch in die Schranken zu weisen. Sie waren Teil der Gesamtstrategie, die Staatsgewalt auf eine regelhafte Grundlage und unter die Kontrolle der Parteiführung zu stellen. Dies galt im Besonderen für die Hauptverwaltung der Miliz, die von den Einschnitten in den außergerichtlichen Strukturen unmittelbar betroffen war. Auch sie verlor in den Jahren 1953 bis 1956 einen Teil ihres Führungspersonals, das nicht nur ausgetauscht, sondern auch deutlich verkleinert wurde.231 Mit der erneuten Trennung von MGB und MVD im März 1954 verlor sie zudem formal jede Zuständigkeit bei der Verfolgung politischer Vergehen.232 Vor allem aber büßten die Beamten der GUM durch die Reformen in der Militärjustiz den Schutz der MVD -eigenen Gerichtsbarkeit ein. Am 11. September 1953 beschränkte der Oberste Sowjet die Zuständigkeit der Militärgerichte auf Angehörige des Militärs und des MVD- bzw. GULag-Führungspersonals. Operative Mitarbeiter der niederen Milizabteilungen, sprich: Beamte der Bezirksebenen, sollten bei kriminellen Handlungen den Territorialgerichten übergeben werden. Die Ermittlungen gegen diese Beamten sollte fortan die Staatsanwaltschaft führen.233 Die sowjetische Regierung 227 Vgl. Gorlizki, De-Stalinization and the Politics, S. 39. 228 Vgl. Beschluss des Präsidiums des ZK, 1.9.1953, in: Artizov, Reabilitacija, 2, S. 69 f. 229 Vgl. Ginsburgs, The Reform of Soviet Military Justice, S. 35. 230 Vgl. Dobson, Miriam: POWs and Purge Victims. Attitudes towards Party Rehabilitation, 1956–57, in: The Slavonic and East European Review 86 (2008) H. 2, S. 343–345. 231 Vgl. Gorlizki, Policing Post-Stalin Society, S. 469. 232 Vgl. Shelley, Policing Soviet Society, S. 40; Beda, A. M.: Organy vnutrennych del v seredine 50-ch – načale 60-ch godov, in: Aleksandr Borisov/Aleksandr Dugin/Aleksandr Malygin (Hg.), Policija i milicija Rossii. Stranicy istorii. Moskva 1995, S. 256. 233 Vgl. Befehl der Generalstaatsanwaltschaft zur Ausführung des Befehls vom 11.9.1953 über die

Kriminalität und Strafverfolgung nach 1953

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löste damit nicht nur eine jahrzehntealte Forderung der Staatsanwaltschaft ein, ihr direkten Einfluss auf die Strafverfolgung von Milizionären zu gewähren. Sie löste die Miliz sukzessive aus den außergerichtlichen Strukturen des MVD heraus, in der Absicht, sie zum reinen Instrument der Strafverfolgung zu wandeln – unter der Kontrolle der Justiz und der Partei. Der Anstieg der Kriminalität im ganzen Land lenkte die Aufmerksamkeit der Parteiführung auf die lange ignorierte Inkompetenz und die Disziplinprobleme in der Miliz. Gerade einmal 58 Mitarbeiter in der Sowjetunion (0,4 Prozent) konnten 1953 einen höheren Abschluss vorweisen. Über 85 Prozent hatten entweder gar keine oder nur die reguläre Schulbildung genossen.234 Das erste Statut zum MVD, vom 12. März 1954, mahnte die „kriminellen Erscheinungen“ an, die in der Miliz verbreitet seien.235 Auch auf den Politversammlungen der GUM waren Übergriffe durch Milizionäre, unbegründete Inhaftierungen und Alkoholmissbrauch ein Dauerthema. Die Milizfunktionäre beteuerten allerdings gebetsmühlenartig, dass „die Mehrheit der Mitarbeiter ihre Pflichten ehrlich und gewissenhaft“ erfülle. Schwere Straftaten, wie der Mord an Zivilisten, wurden weiterhin als Einzelerscheinungen und Ausdruck mangelnder politischer Bildung behandelt. Selbst die Tatsache, dass die Bezirksabteilungen unter anderem kürzlich Amnestierte und somit Vorbestrafte rekrutierten, wurde von der Hauptverwaltung kommentarlos zur Kenntnis genommen.236 Das ZK reagierte auf diese Erscheinungen mit dem massiven Ausbau der Parteistrukturen innerhalb der Miliz. 300.000 zusätzliche Komsomol-Mitarbeiter wurden bis zum Sommer 1954 abgestellt, um die Arbeit der Miliz beim Kampf gegen Jugendkriminalität zu begleiten.237 In Molotov wurden der regionalen Milizverwaltung ein Dutzend externer „Polit-Instruktoren“ zur Seite gestellt.238 An dem katastrophalen Bildungsniveau der Milizionäre änderten solche Maßnahmen ebenso wenig wie an der Inkonsequenz der GUM, die Entgleisungen ihrer Mitarbeiter systematisch aufzuarbeiten. Nichtsdestotrotz waren Straftaten von Milizionären keine ausschließlich innere Angelegenheit mehr. Die Staatsanwaltschaft konnte und musste die Inkonsequenz der GUM durch eigene Ermittlungen ausgleichen.

Abänderung der Gerichtsbarkeit der Militärtribunale, 17.10.1953, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 229, l. 112. 234 Vgl. Beda, Organy vnutrennych del, S. 258. 235 Ruckin, Istorija milicii, S. 219. Zit. AGUVDPK, f. 8, op. 1, d. 133, l. 1. 236 Mitteilung des stellvertretenden Leiters der Milizverwaltung von Molotov, Širov, an den Leiter der Politabteilung des MVD SSSR, Tikanov, 22.3.1954, in: GARF, f. 9415, op. 3, d. 477, l. 10. 237 Vgl. Beda, Organy vnutrennych del, S. 259 f. 238 Ruckin, Istorija milcii, S. 219.

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Die Einschränkung der Militärgerichtsbarkeit gab der Staatsanwaltschaft die formale Kontrolle über die Ermittlungen gegen Milizionäre. In der Praxis eröffnete die Staatsanwaltschaft jedoch nur in Ausnahmefällen selbst die Verfahren. Angesichts von über 500 Disziplinarvergehen, die die Milizaufsicht in Molotov 1954 registrierte, überließ man die ersten Ermittlungsschritte in der Regel der OI. Sie sammelte das Material und traf die Entscheidung, die Vergehen ihrer Beamten mit disziplinarischen oder eben strafrechtlichen Mitteln zu quittieren.239 Anders als in den Jahren zuvor, musste sich die OI nun für ihre Entscheidungen rechtfertigen und Verfahrenseinstellungen unter Verweis auf das Untersuchungsmaterial begründen. Auf diese Weise behielt die Milizaufsicht den Überblick über die Verhaltensauffälligkeiten der Milizionäre und wurde aktiv, wenn die Fälle strafrechtlich relevant wurden. Typisch „amoralisches Verhalten“ wie Trunkenheit im Dienst überließ die Staatsanwaltschaft der Milizverwaltung.240 Bei Straftaten, vor allem bei Übergriffen mit Todesfolge, prüfte die Milizaufsicht, dass es auch zur Verurteilung kam. Der Beamte Alešin beispielsweise hatte einen Zivilisten namens Smirnov betrunken zu Boden geworfen und mehrere Male auf ihn eingeschlagen. Smirnov erlag seinen Verletzungen und Alešin wurde von der OI vor Gericht gebracht und dort wegen „Überschreitung der Amtsgewalt“ zu acht Jahren Freiheitsentzug verurteilt.241 Grundsätzlich war nicht auszuschließen, dass die OI in Einzelfällen Informationen zurückhielt oder die Ermittlungen von höherer Stelle innerhalb der Milizverwaltung beeinflusst wurden. Im Laufe des Jahres 1953 entgingen zum Beispiel einige Milizionäre ihrer Verurteilung, nachdem ihre Vorgesetzten die Ermittlungsverfahren mit einer Dienstanweisung eingestellt und die Betroffenen anschließend entlassen hatten.242 Unter den nun gegebenen Umständen hatten derartige Vertuschungsaktionen allerdings geringere Aussichten auf langfristigen Erfolg als in den Jahren zuvor. Die Ermittlungen im Fall Anisimov sind dafür ein gutes Beispiel. In der Nacht zum 10. April 1954 wurde dieser Mann in der Nähe seiner Wohnbaracke in Molotov tot aufgefunden. Zeugenaussagen deuteten darauf hin, dass die Milizbeamten Trošin und Turov zuletzt mit ihm in Kontakt gestanden hatten, weshalb ein Ermittler der OI einige Wochen nach dem Vorfall die Ermittlungen aufnahm. Der OI-Mitarbeiter, Šulʼženko, dokumentierte schwere Verletzungen am Körper Anisimovs, konnte aber keinen Schuldigen feststellen. Am 30. Juni wurde das Verfahren eingestellt. Die

239 Bericht des Leiters der Verwaltung für Milizaufsicht, Gračev, über Vergehen in der Arbeit der Miliz, 11.2.1955, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 593, l. 247. 240 Bericht des Beamten der Milizaufsicht, Antipin, über die Arbeit der Besonderen Inspektion der Milizverwaltung, 16.12.1954, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 593, l. 44. 241 Ebd. 242 Vgl. Bericht der Haftaufsicht Molotov an Generalstaatsanwalt Rudenko und Stellvertreter Baranov, 3.3.1954, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 586, l. 268–269.

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Staatsanwaltschaft bestellte Šulʼženko daraufhin zu sich ein, der seine Entscheidung damit rechtfertigte, dass der Tatort zu weit von der Siedlung entfernt sei und die übrigen Bewohner zu weit entfernt lebten, um hilfreiche Aussagen treffen zu können.243 Da es aber offensichtlich Zeugen gegeben hatte, nahm die Milizaufsicht die Ermittlungen selbst auf und kam nach Befragung zusätzlicher Zeugen und einer gerichtsmedizinischen Untersuchung zu dem Schluss, dass Anisimov von den beiden Beamten unter Schlägen und Tritten bis ins Gebäude der Miliz getrieben wurde und dort an einer Gehirnerschütterung starb. Der diensthabende Abteilungsleiter, Bubnov, habe sich überdies an den Übergriffen beteiligt und Turov angewiesen, die Leiche bei einer Eisenbahnlinie „beiseitezuschaffen“.244 Nur drei Wochen nachdem Šulʼženko das Verfahren eingestellt hatte, wurde der Beamte Trošin verhaftet und binnen 14 Tagen zu zehn Jahren Haft verurteilt.245 Šulʼženko selbst erhielt für sein Versagen eine strenge Rüge.246 Turov und der Abteilungsleiter Bubnov waren Parteimitglieder. Ihr Fall oblag dem Urteil der Parteiversammlung, die Bubnov im Anschluss wegen „groben Umgangs“ und „Unterlassung“ eine Parteirüge erteilte.247 Turovs Schicksal ist nicht überliefert. Der Parteiausweis schirmte vor allem höherrangige Milizbeamte von dem direkten Zugriff der Staatsanwaltschaft ab. Dennoch hatte die Staatsanwaltschaft in kürzester Zeit strafrechtliche und disziplinarische Konsequenzen gegenüber einem Milizionär und einem Beamten der OI erwirkt. Diese Tatsache verdeutlicht zwei entscheidende Veränderungen im Verhältnis zwischen Miliz und Staatsanwaltschaft. Erstens: Die Handlungen der Miliz waren prinzipiell dem Geltungsbereich des Strafgesetzbuches und nicht allein dem Ermessen ihrer Vorgesetzten unterworfen. Irreguläres Verhalten hatte Folgen, die für alle Milizionäre sichtbar waren. Die Staatsanwaltschaft setzte somit sukzessive der „Überzeugung von der Straffreiheit“248 ein Ende, die unter Milizionären weit verbreitet war. Nicht umsonst bestand die Milizaufsicht darauf, dass jedes Urteil gegen einen Milizionär innerhalb seiner Abteilung kommuniziert wurde.249 Obwohl nicht jedes Delikt in einem Strafverfahren

243 Vgl. Schreiben des stellvertretenden Staatsanwalts der Region Molotov, Malʼšakov, an den Leiter der UMVD Molotov, Ciklaev, 16.8.1954, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 592, l. 157–158. 244 Mitteilung der Regionalstaatsanwaltschaft Molotov an den Leiter der Milizverwaltung und den Leiter der Politabteilung der Milizverwaltung des UMVD, 28.7.1954, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 592, l. 132. 245 Vgl. Malʼšakov an Ciklaev, 16.8.1954, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 592, l. 158. 246 Vgl. Ciklaev an Malʼšakov, o. D. [vermutlich September 1954], in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 592, l. 162. 247 Mitteilung des Leiters der Milizverwaltung beim UMVD Molotov, Volkov, an Bukanov, 26.10.1954, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 592, l. 133a. 248 Malʼšakov an Ciklaev, 16.8.1954, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 592, l. 158. 249 Vgl. Bericht über die Arbeit der OI, 16.12.1954, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 593, l. 44.

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resultierte, präsentierte sich die OI unter dem Druck der Staatsanwaltschaft äußerst konsequent. 1953 verfolgte sie 152 Hinweise auf Disziplinvergehen, 1954 waren es bereits über 550 – zur Zufriedenheit der Milizaufsicht, die im Februar 1955 festhielt, dass „uns kein einziger Fall bekannt ist, in denen Mitarbeiter der Miliz, die schwerste Vergehen gegen die Gesetzlichkeit begangen hatten, ungestraft blieben“.250 Zweitens: Die damit verbundene Autorität des Staatsanwalts wirkte sich auf die Kommunikation zwischen den Behörden aus. Nicht nur die OI, sondern auch die Regionalverwaltung der Miliz teilte mehr Informationen, um Anschuldigungen zu entkräften oder ihre eigenen Entscheidungen zu rechtfertigen. Schon vor Stalins Tod hatte sich in Molotov zwischen Miliz und Staatsanwaltschaft die Routine eingestellt, Unstimmigkeiten zunehmend verfahrenstechnisch zu behandeln und nicht in einen politischen Konflikt eskalieren zu lassen. Ohne das Privileg der Militärgerichtsbarkeit wurden mehr Informationen ausgetauscht, womit sich auch die Konfliktkommunikation weiter versachlichte. Im Frühjahr 1954 forderte der Staatsanwalt der Stadt Molotov, Kudrjašov, disziplinarische und strafrechtliche Konsequenzen für drei Milizionäre des Lenin-Stadtbezirks. Auslöser war die Festnahme von Aleksandra Malʼceva am 13. Februar 1954. Malʼceva hatte ihre Wohnung einer Gruppe von Personen zur Verfügung gestellt, die sich auf der Flucht vor der Miliz befunden hätten. Als alle Bewohner in Gewahrsam genommen worden waren, fand die Miliz das Diebesgut vergangener Raubzüge. Im Verhör mit dem Staatsanwalt beteuerte Malʼceva jedoch, dass sie eine Informantin der Miliz sei und 150 Rubel Lohn bekommen habe, um die gesuchten Personen vor der Razzia in ihrer Wohnung zu versammeln. Weitere 450 Rubel und zwei Monate Urlaub wurden ihr in Aussicht gestellt, wenn Sie sich mit der Gruppe gemeinsam verhaften ließe.251 Angesichts dieser Behauptung und der Tatsache, dass Malʼceva die Namen aller beteiligten Milizionäre nannte, erklärte der Staatsanwalt des Lenin-Bezirks, Šestakov, das Strafverfahren für ungültig und stellte es ein. Der Arrest der Gruppe sei „durch unobjektive Ermittlungsführung und die falsche Aufnahme von Zeugenaussagen“252 zustande gekommen und somit ungesetzlich. Die Ermittlungsabteilung der Miliz-Regionalverwaltung reagierte drei Monate später mit einem umfassenden Bericht auf die Vorwürfe. Zum einen widerlegte der Bericht Teile von Malʼcevas Behauptung, indem er das eigentliche Ausmaß der Informantenarbeit offenlegte. Aleksandra Malʼceva sei in der Tat eine „geheime Informantin“ gewesen, mit direkter Verbindung zum Bevollmächtigten Milizbeamten 250 Bericht der Milizaufsicht über Vergehen in der Arbeit der Miliz, 11.2.1955, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 593, l. 247. 251 Vgl. Schreiben des Stadtstaatsanwalts von Molotov, Kudrjašov, an Jakovlev, 25.3.1954, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 592, l. 26. 252 Ebd., l. 25.

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der Stadtverwaltung, einem Mann namens Smolin. Die Wohnung hatte ihr die Miliz jedoch nicht besorgt und genauso wenig wurde ihr Kontaktmann über die Besuche informiert, die Malʼceva von sogenannten „kriminellen Elementen“ erhielt. Darüber hinaus hatte die Miliz eine zweite Informantin in der Gruppe, die jedoch aus Angst vor ihrer Entlarvung die Aussage verweigerte.253 Damit distanzierte sich die Milizverwaltung von dem Vorwurf, dass ihre Informanten im Auftrag der Miliz die Ermittlungen beeinflusst hätten. Zum anderen erkannte die Miliz an, dass es keine strafrechtliche Grundlage für den Arrest der ganzen Gruppe gab. Ihren Ermittlern erteilte die Milizverwaltung daher eine Rüge. Strafrechtliche Konsequenzen für die Milizionäre stünden außer Frage, da die zuständigen Staatsanwälte den wesentlichen Teil der Ermittlungen bei Malʼceva geführt hätten.254 Die Milizverwaltung erkannte die Schwachstellen ihrer Ermittlungen an, doch anstatt Malʼcevas Behauptungen von Anfang an zu bestreiten oder die Forderungen der Staatsanwaltschaft zu ignorieren, gewährte man dem Staatsanwalt so viele Informationen wie nötig, um dessen Forderung nach strafrechtlichen Konsequenzen abwehren zu können. Die Episode zu Malʼceva demonstriert, dass die Staatsanwaltschaft und die Miliz sachlicher, ergebnisorientiert und durchaus offener miteinander kommunizierten, als es zu Kuljapins Zeiten noch üblich war. Die Tatsache, dass Angehörige der Miliz der konventionellen Gerichtsbarkeit unterworfen waren, erleichterte der Staatsanwaltschaft den Zugang zu Informationen. Die Milizverwaltung teilte Details ihrer Ermittlungsarbeit, um Vorwürfe an ihre Adresse zu entkräften. Unter dem Druck der Strafverfolgung setzte sie auf kooperative Lösungen und bemühte Argumente, die sich allein auf das Verfahren bezogen, anstatt die Vorwürfe zu leugnen oder sie in Richtung Staatsanwaltschaft zu lenken. Der kommunikative Wandel kam indes nicht nur in Konfliktsituationen zum Vorschein und er drückte sich nicht allein durch den stärkeren Informationsaustausch aus. Auch rhetorisch setzten die Führungskräfte beider Organe nach 1953 neue Akzente: Kooperation und Aufgabenteilung standen im Mittelpunkt. Angesichts der Kriminalitätswelle, so betonte Rudenko auf der Mitarbeiterversammlung im Sommer 1955, bestand die zentrale Herausforderung für Miliz und Staatsanwaltschaft darin, die „schädliche Zerrissenheit“ vergangener Tage beizulegen, die zwischen den Behörden herrschte. „Zur Verbrechensbekämpfung mussten die spezifischen Möglichkeiten und Methoden jedes dieser Organe genutzt werden“. Dies sei nur durch die „richtige Koordination“ der Ermittlungsarbeit möglich.255 Der stellvertretende 253 Offizieller Abschlussbericht der Ermittlungsabteilung der Regionalverwaltung der Miliz, Molotov, 9.7.1954, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 592, l. 31. 254 Vgl. ebd., l. 34. 255 Bericht Rudenkos auf der Allunionsversammlung der Staatsanwaltschaft, 23.6.1955, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 4013, l. 31.

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Innenminister Perevertkin pflichtete Rudenko bei und bekräftigte die Bedeutung „richtiger Zusammenarbeit“ von Fahndung und Ermittlung.256 Der Miliz waren die Fahndung und die Sammlung der Beweismittel überlassen, während die Staatsanwaltschaft den eigentlichen Ermittlungsprozess mit ihren Mitarbeitern überwachte. Diese Aufgabenteilung war nicht neu und bereits in den 1930er-Jahren in Artikel 108 der Prozessordnung verankert worden. Die Umstrukturierung des Innenministeriums und der Bedeutungszuwachs der Staatsanwaltschaft ließen jedoch nun Stimmen laut werden, den Artikel auch tatsächlich durchzusetzen.257 Auf diese Weise, so suggerierte es der Generalstaatsanwalt, könne auch die Spaltung zwischen den Behörden überwunden werden. Die langjährigen Konflikte zwischen Miliz und Staatsanwaltschaft gefährdeten nicht nur die Erfolge bei der Kriminalitätsbekämpfung. Sie seien überdies das schädliche Erbe der Berija- bzw. Abakumov-Herrschaft. Der frühere Minister für Staatssicherheit Viktor Abakumov habe für seinen Apparat nur ein Ziel verfolgt: „der Aufsicht der Staatsanwaltschaft zu entgehen“. Mit dieser Praxis, so Rudenko, könne und müsse nun gebrochen werden.258 Die Kooperation zwischen Miliz und Staatsanwaltschaft und die Durchsetzung ihrer Aufsichtspflichten war auch in den Augen der Behördenleiter das politische Gebot der Stunde. Die Kriminalitätswelle im Sommer 1953 gab der kollektiven Führung den entscheidenden Anlass, die Arbeitsweise der (Geheim)Polizeiorgane zu verändern. Der Zugriff auf die Gesellschaft müsse regelhaft erfolgen und unter stetiger Kontrolle der Partei. Die Disziplinierung der Miliz war die praktische Konsequenz dieses Umdenkens. Die Partei dehnte ihren Einfluss über Zellen, Instruktoren und Brigaden in den Milizverwaltungen aus, während die Reform der Militärgerichtsbarkeit das strukturelle Missverhältnis gegenüber der Staatsanwaltschaft ausglich, das von der Miliz über Jahre hinweg ausgenutzt worden war. Auf diese Weise wurde die Miliz in ihrer gesamten Ermittlungsarbeit der Staatsanwaltschaft gegenüber rechenschaftsund informationspflichtig und gewissermaßen zur Kooperation gedrängt. Mittelfristig sollten alle Ermittlungen zu einer (nicht politischen) Straftat der Regie der Staatsanwaltschaft unterworfen werden. Dieser Anspruch wurde mit dem „Statut zur Staatsanwaltschaftlichen Aufsicht“ im Sommer 1955 noch einmal bekräftigt.259

256 Protokolle der Versammlung der Staatsanwaltschaft, 23.6.–25.6.1955, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 4014, l. 70. 257 Vgl. Koršever, I.: Ob‘‘em kompetencii i formy processualʼnoj dejatelʼnosti organov doznanija, in: Socialističeskaja zakonnostʼ 9 (1954), S. 60. 258 Ebd. 259 Ein Staatsanwalt hatte demzufolge das Recht „den Organen der [Miliz-, I. R.] Ermittlung [doznanija] und der Vorermittlung Anweisungen zur Aufklärung von Verbrechen zu geben; zur Anwendung, Änderung und Aufhebung von Schutzmaßnahmen gegenüber Beschuldigten, und auch zur Fahndung flüchtiger Verbrecher“. Ukaz Prezidiuma Verchovnogo Soveta SSSR ob utverždenii ‚Položenija o prokurorskom nadzore v SSSR‘, 24.5.1955, in: Socialističeskaja zakonnostʼ 7 (1955), S. 5.

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Die Staatsanwaltschaft bekam die Ermittlungshoheit zugesprochen, um auch die Arbeit der Miliz effektiv zu disziplinieren, die vor allem mit der Fahndung flüchtiger Verbrecher betraut war. Für die politische und moralische Erziehung der Beamten übernahmen die Parteizellen die Verantwortung. Doch wie belastbar war die Kooperationsrhetorik angesichts der zu bewältigenden Aufgaben? Welche Auswirkungen hatte die Disziplinierung der Miliz auf die Abläufe der Strafverfolgung und konnte die Staatsanwaltschaft ihrer Verantwortung gerecht werden?

6.3.2 Ermittlungsarbeit nach 1953 Seit Sommer 1953 investierte die sowjetische Parteiführung politisches Kapital und Ressourcen zur strukturellen Stärkung der Staatsanwaltschaft. Dieses Vertrauen und die damit verbundene Ausdehnung der Kompetenzen begünstigten sichtbar die Qualität und die Effizienz der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen in den kommenden zwei Jahren. Wie bereits beschrieben, trug der Bildungsplan dahingehend Früchte, als dass 85 Prozent aller Mitarbeiter in der Region Molotov bis 1955 einen mittleren oder höheren juristischen Abschluss vorweisen konnten.260 Auch in Bezug auf die Ermittlungsqualität intensivierte die Generalstaatsanwaltschaft ihre Bemühungen, das Niveau flächendeckend anzuheben. Am 14. Oktober 1953, nur einen Monat nachdem das Regime die Verbrechensbekämpfung an die Spitze ihrer Agenda gesetzt hatte, führte die Generalstaatsanwaltschaft Lehrgänge für Ermittler ein, um sich mit den technischen Problemen bei Raub- und Mordfällen vertraut zu machen. Diese wöchentlichen Seminare waren fortan genauso verpflichtend wie die „Ermittlungskoffer“ und die flächendeckende Anschaffung von Fachliteratur in den Bezirksstaatsanwaltschaften. Die „Beherrschung der Ermittlungskunst“ habe nunmehr höchste Priorität, nachdem die Staatsanwaltschaft die Verantwortung zur Aufklärung aller Gewalt- und Eigentumsverbrechen trage.261 Die Redaktion der Socialističeskaja zakonnostʼ stimmte in diesen Tenor mit ein und betonte fortwährend, dass die „Autorität jedes Gerichtsurteils“ und das Leben jedes sowjetischen Bürgers von der kriminologischen Kompetenz des Ermittlers und der Wahrung prozessrechtlicher Vorgaben abhingen.262 Der Einsatz moderner Ermittlungstechniken

260 Vgl. Revisorbericht über die Arbeit der Regionalstaatsanwaltschaft Molotov, 23.8.1955, in: PGASPI, f. 105, op. 22, d. 128, l. 122. 261 Befehl der Generalstaatsanwaltschaft über Maßnahmen zur Erhöhung der Qualifikation von Ermittlern in den Organen der Staatsanwaltschaft, 14.10.1953, in: GARF, f. R-8131, op. 28, d. 1378, l. 234. 262 Bližajšie zadači sledstvennogo apparata organov prokuratury, in: Socialističeskaja zakonnostʼ 9 (1953), S. 1–6.

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wurde zu einem verbindlichen Qualitätsmerkmal für die Arbeit aller Ermittlungsorgane. Dabei wurde Versagen auf diesem Gebiet umso härter bestraft, wenn die Ermittlungen im Anschluss eingestellt werden mussten. 1953 wurden 500 Beamte der Staatsanwaltschaft disziplinarisch oder anderweitig bestraft, weil Ermittlungen sich verzögert hatten und zu oft eingestellt worden waren.263 Molotovs Staatsanwalt Jakovlev ließ 1954 aus dem gleichen Grund 61 seiner Ermittler entlassen. Sein Vorgesetzter bestärkte ihn in dieser Entscheidung: „Jeder unbegründete Arrest eines Bürger muss als außergewöhnlicher Vorfall behandelt werden und die daran schuldigen Staatsanwälte müssen streng bestraft werden, bis hin zur Entlassung“.264 Die Staatsanwaltschaft erhöhte in den Jahren nach Stalins Tod das Niveau ihrer Ermittlungsarbeit und zugleich den Druck auf die Beamten, dieses Niveau zu halten. Die Folgen dieses Qualitätsdrucks schlugen sich auch statistisch nieder. Nie zuvor brachte die sowjetische Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen durchschnittlich so effektiv zum Abschluss wie nach 1953. Der Anteil an Strafverfahren, die vor einem Urteil eingestellt wurden oder in einem Freispruch mündeten, überstieg ab Mitte 1953 weder in Molotov noch im nationalen Durchschnitt die Fünf-Prozent-Marke. Unionsweit führten demnach durchschnittlich 95 Prozent aller Ermittlungen zu einer Verurteilung. Molotovs Staatsanwaltschaft befand sich mit 96 Prozent dabei im oberen Mittelfeld. In einigen Regionen betrug dieser Wert über 99 Prozent.265 Den Statistiken der Republiksstaatsanwaltschaft zufolge arbeiteten deren Beamte nach 1953 nahe an der angestrebten Perfektion. Selbst der Leiter der Haftaufsicht in der RSFSR zog eine ungewohnt positive Bilanz. Die Staatsanwälte hätten einen „entscheidenden Beitrag zur Festigung der Gesetzlichkeit“ und im „Kampf gegen unbegründete Inhaftierung“ geleistet. Ein weiteres Beispiel für die eigene Effizienz war, dass 100 Prozent aller Arreste in der Russischen Sowjetrepublik in den ersten drei Monaten des Jahres 1954 mit Genehmigung des Staatsanwalts erfolgt waren.266 Statistisch gesehen bürgte die Staatsanwaltschaft für jede einzelne Haftentscheidung mit ihrer Sanktion. Kein einziger Arrest blieb demnach unbemerkt und nur 263 Vgl. Bericht des Leiters der Haftaufsicht der Staatsanwaltschaft der RSFSR, Tarasov, über die Gesetzlichkeit der Inhaftierung in Untersuchungsgefängnissen, 27.5.1954, in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 3250, l. 117. 264 Korrespondenz zwischen Jakovlev und dem Staatsanwalt der RSFSR, Kruglov, 1.2.1955, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 676, l. 1–5. 265 Vgl. Meldung aus der Abteilung für Haftaufsicht der UdSSR über die Stichhaltigkeit der Arreste in der Sowjetunion, 3.6.1954, in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 3219, l. 7; Bericht der Abteilung für Haftaufsicht der RSFSR an Staatsanwalt Kruglov, o. D. [vermutlich April 1954], in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 3250, l. 101; Statistischer Bericht der Haftaufsicht an Kruglov, o. D. [vermutlich Jahresmitte 1954], in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 3250, l. 160. 266 Bericht des Leiters der Haftaufsicht der Staatsanwaltschaft der RSFSR, Tarasov, über die Gesetzlichkeit der Inhaftierung in Untersuchungsgefängnissen, 27.5.1954, in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 3250, l. 117.

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ein Bruchteil aller Ermittlungen schien mit Blick auf das Ergebnis ungerechtfertigt. Diesen Angaben zufolge konnte die Staatsanwaltschaft ihr Ermittlungsniveau nicht nur halten, sondern angesichts gestiegener Verbrechensraten sogar ausbauen. Warum aber blieben die Bemühungen des Regimes, die Verbrechenswelle im Zuge der Amnestie einzudämmen, ergebnislos bzw. wieso stieg die Zahl einiger Delikte, wie Mord und Vergewaltigung, in den Jahren 1954 und 1955 sogar noch an – sowohl in Molotov als auch im Rest der Sowjetunion?267 Eine entscheidende Rolle bei dieser Entwicklung spielte die Miliz. Sie war „nicht imstande, die gewaltige Welle aus Häftlingen zu bewältigen, die aus den zahlreichen Lagern befreit worden waren“ – so erinnerte sich ein Mitarbeiter des MVD.268 Die personellen Einschnitte in den Reihen der Miliz forderten ihren Tribut, als sie mit Straftaten konfrontiert waren, die vor allem ihre physische Präsenz auf den Straßen erforderlich machte: „Hooliganismus“, Vergewaltigung, Mord oder Raubüberfälle. Das gravierendere Problem war jedoch, dass Ermittlung dieser Vergehen die Kompetenzen der Milizbeamten überstieg und die Staatsanwaltschaft dieses Versagen nicht kompensieren konnte. Deren vermeintliche Ermittlungshoheit entpuppte sich bei genauerem Hinsehen als Zahlengespinst, das Bekenntnis zur Kooperation blieb weitestgehend fruchtlos. In einem Bewertungsbericht über den aktuellen Stand der Verbrechensbekämpfung aus dem Jahr 1954 wurden Statistiken geführt, wonach die Staatsanwaltschaft in Molotov die Mehrheit aller Ermittlungen entweder selbst initiiert und abgeschlossen oder von der Miliz im laufenden Verfahren übernommen hatte. Besonders Gewaltverbrechen seien in fast allen Fällen von einem Ermittler der Staatsanwaltschaft bearbeitet worden. 96 Prozent aller Vergewaltigungs- und 95 Prozent aller Mordfälle gingen letztlich über den Schreibtisch eines Mitarbeiters der Staatsanwaltschaft. Fälle, in denen die Miliz gegen die „Ermittlungsgerichtsbarkeit“ [podsledstven­ nosti] verstoßen hatte, seien die Ausnahme.269 Diese Statistiken zur Ermittlungsgerichtsbarkeit belegten jedoch nur, dass die Staatsanwaltschaft in fast allen Fällen den Ermittlungsprozess formal abschloss und vor Gericht brachte. Bis kurz vor der Anklage war die Staatsanwaltschaft häufig überhaupt nicht involviert und die Miliz führte ihre eigenen Ermittlungen.

267 1953 wurden in Molotov 187 Mordfälle und 152 Vergewaltigungsfälle vor Gericht verhandelt, 1954 waren es bereits 217 bzw. 158. Landesweit stieg die Zahl der Verurteilungen für Mord und Vergewaltigung von 38.684 auf 46.296 an. Vgl. ebd., l. 64; Übersicht über die Zahl und Gruppen der Verurteilten unter allgemeiner Gerichtsbarkeit, 1937–1956, 21.1.1958, in: Istorija stalinskogo Gulaga, 1, S. 643. 268 Pyžikov, Chruščevskaja „Ottepelʼ“, S. 219. Zit. Zvezda vostoka 4 (1989), S. 64. 269 Meldebericht an die Staatsanwaltschaft der RSFSR über den Zustand der Ermittlungsarbeit in der Republik im ersten Halbjahr 1954, o. D. [vermutlich Jahresmitte 1954], in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 3219, l. 143–145.

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Milizionäre waren im Rahmen ihrer Funktion als Fahnder nicht nur als erstes am Tatort. Sie hatten auch den ersten Kontakt mit einem Verdächtigen – meistens in Form eines Arrests. Im zweiten Halbjahr 1953 genehmigte die Staatsanwaltschaft in der ganzen RSFSR die Arrestanträge ihrer eigenen Ermittler in 18.907 Fällen. Die überwältigende Mehrheit der Haftanträge bekam die Miliz genehmigt: ganze 115.124 Mal.270 Neun von zehn Verhaftungen nahm also die Miliz vor und danach war keinesfalls gewährleistet, dass die Staatsanwaltschaft den Fall automatisch übernahm bzw. die Ermittlungen der Miliz auch kontrollierte. So beklagte der Leiter der Milizaufsicht von Molotov gegenüber Jakovlev im Herbst 1954, dass die Milizionäre Dutzende Fälle bearbeiteten, die eindeutig in den Zuständigkeitsbereich der Staatsanwaltschaft fielen und sie von dessen Zugriff abschirmten. Ohne dass ein Ermittler der Staatsanwaltschaft davon Notiz nähme, blieben diese Akten häufig wochenlang auf den Schreibtischen liegen, bis sie aufgrund „mangelnden Beweismaterials“ eingestellt würden.271 Vice versa standen Staatsanwälte bei ihren eigenen Vorgesetzten und der Milizverwaltung in der Kritik, nicht auf Anfragen der Miliz zu reagieren. Der Staatsanwalt von Čusovoj verweigerte seine Mitarbeit so lange, wie die Miliz keinen Verdächtigen präsentieren konnte.272 Anstatt die Ermittlungen zu kontrollieren, hoffte er auf die Zuarbeit mit einem fertigen Fall. Bis die Ermittlungssache das Siegel eines Staatsanwalts bekam, waren dessen Ermittler häufig überhaupt nicht involviert. Der Zustandsbericht zur Verbrechensbekämpfung in Molotov lieferte im März 1955 dahingehend plausiblere Zahlen. Demnach betrug das „Gewicht“ der Miliz an allen Ermittlungen annähernd 50 Prozent.273 Die Ermittlungshoheit existierte folglich nur auf dem Papier. Circa die Hälfte aller Ermittlungen nach 1953 wurde praktisch noch immer von der Miliz geführt.274 Die Staatsanwaltschaft übernahm diese Fälle nach Abschluss der Ermittlungen, um entweder Anklage zu erheben, oder das Verfahren abrupt einzustellen.

270 Vgl. Meldung des Leiters für Haftaufsicht der Staatsanwaltschaft der RSFSR, Tarasov, 24.3.1954, in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 3250, l. 25. 271 Schreiben des Leiters Haftaufsicht Molotov, Ševelev, an Jakovlev, 10.10.1954, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 592, l. 215. 272 Vgl. Bericht über den Zustand der Verbrechensbekämpfung in der Region Molotov auf der überbehördlichen Versammlung der Mitarbeiter von Staatsanwaltschaft, Miliz und Gerichten, 31.3.1955, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 305, l. 58. 273 Ebd., l. 53. 274 Roman Rudenko sprach auf der Mitarbeiterversammlung 1955 davon, dass 54 Prozent aller Ermittlungen in der Sowjetunion durch einen Ermittler der Staatsanwaltschaft geführt wurden. Vgl. Bericht Rudenkos auf der Allunionsversammlung der Staatsanwaltschaft, 23.6.1955, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 4013, l. 44.

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Im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft war die Miliz mit ihren Ermittlungen zunehmend weniger erfolgreich. 1952 wurden noch 13,8 Prozent ihrer Ermittlungen eingestellt, 1953 betraf dies bereits jede vierte Ermittlungssache der Miliz und im Jahr darauf stieg der Anteil auf fast 40 Prozent.275 Betrachtet man die Einstellungsquoten beider Ermittlungsorgane getrennt voneinander, blieben die Ermittlungen eines Milizionärs im Jahr 1954 zehn Mal so häufig ergebnislos wie die eines Ermittlers der Staatsanwaltschaft. Ein Teil dieser Verfahren scheiterte Jakovlevs Stellvertreter Bukanov zufolge daran, dass „Straftaten falsch qualifiziert“ würden.276 Das Hauptproblem bestand jedoch darin, dass die Verbrechen nicht aufgeklärt werden konnten und/oder die Schuldigen gar nicht erst gefasst wurden. In der ganzen Republik blieb Ende 1953 jede fünfte Straftat unaufgeklärt. Bei bestimmten Delikten, wie „persönlichem Diebstahl“, lag diese Zahl noch wesentlich höher. In Molotov sank die Aufklärungsquote für diese Delikte in den Jahren 1953 und 1954 sukzessive von 75 auf 55 Prozent. Je mehr Straftaten registriert wurden, umso geringer standen die Chancen, die Taten aufzuklären.277 Zahlreiche Ermittlungen der Milizionäre liefen in dieser Zeit ins Leere. Anders als bei den Ermittlern der Staatsanwaltschaft, trugen die Forderungen zur Einhaltung kriminologischer Standards in der Praxis keine Früchte. Auch in Bukanovs Augen wurde die Miliz den Mindestanforderungen an einen Ermittler nicht gerecht: „In einer Reihe von Fällen verhindern die Organe der Miliz nicht nur keine Verbrechen, sie unternehmen stattdessen nicht einmal die nötigen Maßnahmen zur Sicherung des Beweismaterials, sie benutzen keine wissenschaftlich-technischen Hilfsmittel, sie benutzen auch keine anderen Mittel, die vom Gesetz vorgeschrieben sind“.278 Die Unterlagen der Milizaufsicht liefern dazu unzählige Beispiele. In einem Bericht der Milizaufsicht im Herbst 1954 informierte der Abteilungsleiter Ševelev Molotovs Staatsanwalt Jakovlev über zahlreiche Fälle, in denen Milizionäre nicht auf die „vorgeschriebenen wissenschaftlich-technischen Hilfsmittel“ zurückgegriffen hatten. Bei einem Einbruch in einen Pferdestall in Ochansk hatte der

275 Vgl. Bericht über den Zustand der Verbrechensbekämpfung in der Region Molotov auf der überbehördlichen Versammlung der Mitarbeiter von Staatsanwaltschaft, Miliz und Gerichten, 31.3.1955, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 305, l. 56. 276 Ebd. 277 Vgl. Bericht der Milizaufsicht der Staatsanwaltschaft der RSFSR, 22.12.1953, in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 3218, l. 5; Bericht über den Zustand der Verbrechensbekämpfung in der Region Molotov auf der überbehördlichen Versammlung der Mitarbeiter von Staatsanwaltschaft, Miliz und Gerichten, 31.3.1955, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 305, l. 53; Bericht auf der überbehördlichen Versammlung von Miliz, Gerichten und Staatsanwaltschaft in Molotov, zur Umsetzung des Befehls vom 27.8.1953, 11.9.1953, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 275, l. 5. 278 Bericht über den Zustand der Verbrechensbekämpfung in der Region Molotov, 31.3.1955, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 305, l. 56.

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Eindringling Fußspuren hinterlassen. Der zuständige Milizionär hatte diese Spuren ins Protokoll aufgenommen, anstatt, wie vorgeschrieben, einen Abdruck zur späteren Identifizierung zu nehmen. In einem anderen Einbruchsfall waren die Daumenabdrücke auf einer eingeschlagenen Fensterscheibe ignoriert worden.279 Das Problem beschränkte sich jedoch nicht auf die Feinheiten der Kriminalistik. Die Milizaufsicht berichtete regelmäßig von Fällen, in denen die Miliz auf die Beschwerden und Hilferufe der Bürger überhaupt nicht oder viel zu spät reagierte. Eine Frau namens Surovenskova wandte sich an die Miliz, nachdem in ihre Wohnung eingebrochen worden war. Elf Tage nach ihrem Besuch auf dem Revier wurden die Ermittlungen formal aufgenommen und eine weitere Woche verging, bis die Beamten zum Tatort kamen. Bis dahin sei das Beweismaterial verloren gewesen und die Täter blieben ungestraft.280 Das ganze Ausmaß der Ermittlungspannen in der Region Molotov ist nur schwer zu erfassen. Einen kompakten aber facettenreichen Eindruck liefert da der Jahresbericht der Milizaufsicht für die Stadt Solikamsk von 1954. Die Milizabteilung der Provinzstadt übernahm in zwölf Monaten 330 Fälle, von denen sie 106 zwischenzeitlich an die Staatanwaltschaft und sieben weitere Fälle an Nachbarbezirke delegierte. Von den übrigen 219 Ermittlungsverfahren, die die Beamten selbst führten, wurden fast 60 Prozent (130) eingestellt. Zum Vergleich: Die Staatsanwaltschaft führte immerhin 90 von 106 Ermittlungsfällen mindestens bis zu einer Anklage. Die Mehrheit aller Verfahrenseinstellungen bei der Miliz ging auf Verfahrensmängel zurück, wenn beispielsweise nicht genügend Beweise gesichert worden waren oder der Täter nicht festgestellt bzw. festgenommen werden konnte.281 Ein Mann namens Starcev behauptete, von einem Bekannten, P. Govorlivyj, bestohlen worden zu sein. Die Miliz kannte die Adresse des Verdächtigen, begann ihre Ermittlungen jedoch erst drei Wochen nachdem die Anzeige erstattet wurde. Der Fahndungsaufruf kam deutlich zu spät und weitere vier Wochen später mussten die Ermittlungen eingestellt werden, weil Govorlivyj nicht auffindbar war.282 In anderen Fällen traf der zuständige Milizionär zwar rechtzeitig am Tatort ein, unternahm jedoch nur das Mindeste um den Tatort zu sichern und den Anschein zu erwecken, dass ermittelt wurde. Am 13. November 1954 war V. Južanikov Opfer eines Raubüberfalls geworden. Am folgenden Tag erstattete er Anzeige bei der Miliz, die sogleich die Ermittlungen aufnahm, nur um diese zwei Wochen später wieder

279 Vgl. Schreiben des Leiters der Milizaufsicht Molotov, Ševelev, an Jakovlev, 10.10.1954, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 592, l. 210. 280 Vgl. Eingabe der Milizaufsicht Molotov an den Leiter der UMVD Molotov, A. A. Ušachin, 30.6.1954, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 592, l. 100. 281 Vgl. Prüfungsprotokoll zum Zustand der Ermittlungen der Milizabteilung von Solikamsk für das Jahr 1954, 24.1.1955, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. d. 593, l. 84. 282 Vgl. ebd., l. 85.

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einzustellen – „ohne eine einzige Ermittlungshandlung“. Begründet wurde dieser Schritt damit, dass Južanikov betrunken gewesen sei und sich nicht mehr an den Ort des Überfalls erinnere. „Geld und Pass kann er selbst verloren haben“.283 Der Bericht von Solikamsk enthielt nur zwölf ausführlichere Beispiele auf vier Seiten. Angesichts der Ermittlungsquoten und der Zahl solcher Berichte, ist allerdings kaum zu bestreiten, dass die Miliz nach 1953 ihren Teil der Ermittlungslast nur unzureichend und/oder oberflächlich bewältigte. Die Staatsanwaltschaft trug eine Mitverantwortung an den Misserfolgen der Miliz. Sie scheiterte damit, die Ermittlungsarbeit der Miliz zu disziplinieren. Ihre Ermittlungshoheit war ein statistisches Konstrukt, in dem die Milizionäre häufig sich selbst überlassen blieben, bis die Staatsanwälte das Verfahren einstellen mussten. Die Staatsanwaltschaft gewann durch die Reformen im Herbst 1953 zwar deutlich mehr Einfluss auf und mehr Einblicke in die Arbeit der Miliz, was vor allem zur Folge hatte, dass umso mehr Fehltritte ans Licht kamen. Auch die Tatsache, dass 1954 nicht nur 61 Ermittler der Staatsanwaltschaft, sondern auch 103 Miliz-Ermittler entlassen wurden, weil die Einstellungsrate in den Ermittlungen zu hoch war284, verdeutlicht, dass der Druck zu einem effizienten Ermittlungsverfahren auf beiden Behörden lastete. Milizionäre hafteten ab 1953 häufiger für die „verantwortungslose Haltung zur Arbeit bei der Organisation der Verbrechensbekämpfung“.285 Disziplinarmaßnahmen, wie die Entlassung von über 100 Milizionären, trugen jedoch nicht dazu bei, die Ausbildungsmängel in den Reihen der Miliz auszugleichen und die Entwicklung eines Arbeitsethos zu stimulieren. Diese Mängel waren zu tiefgreifend und gravierend, das Berufsverständnis beider Behörden noch immer zu unterschiedlich, als dass die Staatsanwaltschaft diese Probleme ohne die nötigen Kaderreformen innerhalb der Miliz ausgleichen konnte. Darüber konnten auch gebetsmühlenartige Bekenntnisse zur überbehördlichen Kooperation nicht hinwegtäuschen. Auf der Regionalversammlung von Miliz, Gerichten und Staatsanwaltschaft im März 1955 gestand der Leiter der Ermittlungsabteilung der regionalen Milizverwaltung, Ušakov, dass Bukanov mit seinem Bericht richtig liege, das Niveau der eigenen Ermittlungen niedrig bleibe. „Wir bilden noch immer kaum junge Spezialisten aus“. In vielen Fällen müssten Fahnder die Ermittlungen leiten, weil ausgebildete Ermittler fehlten.286 Zugleich aber unterstütze die

283 Ebd., l. 86–87. 284 Vgl. Korrespondenz zwischen Jakovlev und dem Staatsanwalt der RSFSR, Kruglov, 1.2.1955, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 676, l. 1. 285 Bericht Jakovlevs an die Generalstaatsanwaltschaft über den Zustand der Verbrechensbekämpfung in der Region, 22.1.1954, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 586, l. 82. 286 Protokoll der überbehördlichen Versammlung der Regionalstaatsanwaltschaft, der regionalen

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Staatsanwaltschaft nicht die Herangehensweise der Miliz. Die GUM habe allen ihren Mitarbeitern untersagt ein, „Vorprüfungsverfahren“ (dosledstvennuju proverku)287 durchzuführen, das dazu diene, festzustellen, ob überhaupt eine Straftat vorliege. Verdächtige, so die Auffassung Ušakovs, müssten präventiv verhaftet werden und erst danach solle man entscheiden, ob es sich lohnt, das Verfahren weiterzuverfolgen. Aus dieser Praxis „ergibt sich die große Zahl an Verfahrenseinstellungen“.288 Ušakov rechtfertigte die Ermittlungspannen also damit, dass die Miliz bewusst unnötige Verhaftungen und aussichtlose Ermittlungen in Kauf nehme, um die tatsächlichen Straftäter zu ergreifen. Die Staatsanwaltschaft störe diese Taktik. Der Leiter der Ermittlungsabteilung in der Regionalstaatsanwaltschaft, Misenžikov, reagierte besonnen und betonte die gemeinsame Verantwortung: „Bei der Durchführung der Ermittlungen sind die Mitarbeiter der Miliz und der Staatsanwaltschaft miteinander verbunden, und deshalb auch gemeinsam schuld“. Es sei ebenfalls richtig, dass einige Ermittlungen im Vorfeld zum Scheitern verurteilt seien. Präventive Verhaftungen seien jedoch kein Mittel. Anstatt jeden Verdächtigen zu verhaften, schlug Misenžikov vor, „ihn zu befragen, sich mit den Materialien der Sache vertraut zu machen, es gibt auch andere Wege“.289 Beinahe jede Auseinandersetzung zwischen den Vertretern beider Behörden folgte einem ähnlichen Muster. Kooperation, Selbstkritik und Unterstützung waren die Mantras jeder Versammlung. Vor allem die Milizverwaltung übernahm nach 1953 ungewohnt offen einen großen Teil der Verantwortung für die Probleme bei der Kriminalitätsbekämpfung.290 Dennoch fehlte den Vertretern der Miliz, vor allem in den Bezirken, das Verständnis für die Position der Staatsanwaltschaft und ihre Forderung nach einem prozessrechtskonformen Ermittlungsverfahren. Ein Vertreter der Miliz von Krasnokamsk beschwerte sich über die unproduktive Gängelung durch die Staatsanwaltschaft und zugleich über die fehlende Unterstützung. Dafür lobte er die Einstellung des mittlerweile entlassenen Stadtstaatsanwalts: „Genosse

Miliz- und Justizverwaltungen und des Regionalgerichts, 31.3.1955, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 305, l. 41. 287 Der Begriff „Vorprüfungsverfahren“ ist wörtlich aus dem aktuellen juristischen Sprachkanon übersetzt worden und war in dieser Form nicht in der damals geltenden Prozessordnung enthalten. 288 Protokoll der überbehördlichen Versammlung der Regionalstaatsanwaltschaft, der regionalen Milizund Justizverwaltungen und des Regionalgerichts, 31.3.1955, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 305, l. 41. 289 Ebd., l. 43. 290 Ušakovs Schlusskommentar zielte auf das Kaderproblem: „Wir haben früher den Apparat der diensthabenden Beamten in den Stadt- und Bezirksabteilungen falsch zusammengestellt; wir haben auf diese Posten meist schwach ausgebildete Mitarbeiter gesetzt oder Mitarbeiter, die bei einer anderen Tätigkeit gescheitert waren. Wie die Praxis zeigt, hängt von den Diensthabenden viel ab. Diesen Fehler korrigieren wir jetzt“. Ebd., l. 44.

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Pogankin hat es richtig gemacht und mit ihm war das Arbeiten viel besser. Er hat mir immer Sanktionen für den Arrest gegeben […] und wenn du ihm gesagt hast, dass dies ein Verbrecher ist, dann hat er das geglaubt und nicht gefordert alle Einzelheiten zu beweisen, damit die Sanktion erfolgt“.291 Pogankins Nachfolger, Teplov, äußerte sich zunächst grundsätzlich, dass es zwischen den Ermittlungsbehörden keine Hierarchie gebe: „wer sich am heutigen Tage noch die Frage stellt, wer von uns ranghöher, wer der Chef ist, der hat noch immer nicht die gemeinsamen Aufgaben und Ziele verstanden: Wir alle gemeinsam sind sowohl die Ranghöchsten als auch die Chefs [my vse s Vami i staršie i glavnye]“. Zugleich stellte er klar, dass einzig das Beweismaterial für ihn und seine Kollegen Gewicht habe, und nicht das Wort eines Milizionärs.292 Beide Behördenvertreter bemühten sich um einen sachlichen Umgang miteinander, doch über die grundlegenden Unterschiede in der Arbeitsauffassung und der Wertschätzung von Prozessregeln halfen diese Bemühungen nicht hinweg. Auf der Mitarbeiterversammlung im Juni 1955 in Moskau äußerte Jakovlev sein Unverständnis über genau diese Direktive der GUM , mit der Milizionäre zu Präventivverhaftungen angehalten wurden. Ungesetzliche Inhaftierungen seien aus deren Sicht ein kalkuliertes Übel: „Uns verflucht man, aber in der Miliz gilt ein solcher Zustand als normal“.293 Die kommunikativen Gräben waren letztlich auch der Ausdruck des Bildungsgefälles zwischen den Behörden. Wie bereits beschrieben, baute die Parteiführung ihr Netzwerk aus Politbeamten in der Milizverwaltung aus, ohne wirksame Bildungsreformen innerhalb der GUM anzustoßen.294 Dass die Staatsanwaltschaft die Arbeit ihrer Kollegen in der Miliz nicht flächendeckend kontrollierte und die Ermittlungspannen nicht verhinderte, lag jedoch auch an den eigenen Kapazitäten. Die Staatsanwaltschaft in der Sowjetunion hatte insgesamt einen immensen Bildungsvorsprung vor der Miliz, verfügte aber selbst über deutlich weniger Personal.295 Die Kontrolle aller Ermittlungsverfahren bedeutete faktisch, die Arbeitsbelastung der staatsanwaltschaftlichen Mitarbeiter zu verdoppeln – bei gleicher Ermittlerzahl. Ein Hilferuf Jakovlevs an das Regionalkomitee aus dem Jahr 1954 verdeutlicht, dass derartige Ambitionen die Möglichkeiten bei Weitem überstiegen.

291 Protokoll der gemeinsamen operativen Versammlung von Staatsanwaltschaft, Miliz und Gerichten von Krasnokamsk, 21.1.1954, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 302, l. 179. 292 Ebd., l. 183. 293 Bericht Michail Jakovlevs auf der Allunionsversammlung der Staatsanwaltschaft, 23.6.1955, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 4013, l. 150. 294 Vgl. Beda, Organy vnutrennych del, S. 260. 295 Vgl. Gorlizki, De-Stalinization and the Politics, S. 210.

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Zum einen stammte die Personalplanung für die Staatsanwaltschaft noch immer aus dem Jahr 1947. Die Bevölkerung sei seitdem um fünfzig Prozent angewachsen, das Lagersystem expandiert und neue Industriekomplexe entstanden, doch man verfüge noch immer über 67 Staatsanwälte und 111 Ermittler. Die Mitarbeiter seien in der Breite gut ausgebildet, aber unerfahren und vor allem zu wenige, um durchschnittlich 852 Strafsachen im Monat zu bearbeiten. Gegenwärtig bewältigte man 677.296 Zum anderen war die Behörde noch immer schlecht ausgestattet. Fehlende Wohnungen, Heizkörper, Stühle, Tische, Transportmittel und Schreibmaschinen erschwerten die alltägliche Arbeit. Hinzu kamen finanzielle Engpässe. Ausstände in fünfstelliger Höhe zwangen Jakovlev dazu, Mitarbeiterversammlungen, Schulungen und die Dienstreisen seiner Mitarbeiter drastisch einzuschränken.297 Die Sozialleistungen für die Beamten waren buchstäblich keiner ernsthaften Kalkulation wert („Die erbärmliche Summe, die uns aus dem Sozialfond zugeschrieben wird, ruft Verwunderung hervor“).298 Die Staatsanwaltschaft war drastisch unterfinanziert und vor allem in den Provinzen an der Grenze ihrer Arbeitsfähigkeit angelangt. Die materiellen Anreize wogen also noch immer nicht die Verantwortung und die Belastungen auf, die mit dem Amt eines Staatsanwalts verbunden waren. Diese Probleme waren mit Blick auf das Einkommens- und Versorgungsniveau in der Sowjetunion zu Beginn der 1950er-Jahre nicht außergewöhnlich und nicht kurzfristig zu beheben. Entscheidend war, dass die Staatsanwaltschaft in den ersten Jahren nach Stalins Tod nicht die Kapazitäten hatte, um die Kontrolle über alle Ermittlungen im Land zu übernehmen – jedenfalls nicht ohne die eigenen Erfolgsquoten zu riskieren. Die Staatsanwaltschaft konnte ihren qualitativen Vorsprung vor der Miliz als kompetentes Ermittlungsorgan nach 1953 ausbauen, ohne dass die Miliz von diesem Vorsprung mit profitierte. Dafür war der professionelle Antagonismus zwischen den beiden Behörden zu groß, die Milizverwaltung zu reformunwillig und die Staatsanwaltschaft, angesichts der Beschränktheit ihrer Ressourcen, zu sehr darauf konzentriert, ihre eigenen statistischen Erfolge nicht zu gefährden. Die Folge: Die Hälfte aller Ermittlungen im Lande blieb ergebnislos. Über das Jahr 1956 hinaus wiesen die neuen Kompetenzen der Staatsanwaltschaft jedoch in eine programmatische Richtung, wie Straftaten ermittelt werden würden: präziser und regelhaft.

296 Vgl. Schreiben Jakovlevs an den Sekretär des ObKom, Struev, 20.2.1954, in: PGASPI, f. 105, op. 20, d. 160, l. 119. 297 Eine einzige Mitarbeiterversammlung kostete demnach 50.000 Rubel. Ebd., l. 125. 298 Demnach stellte die Republiksstaatsanwaltschaft ihren Mitarbeitern pro Jahr zwischen 1300 und 1400 Rubel aus dem Sozialfond zur Verfügung. Verteilt auf alle Mitarbeiter ergab dies individuelle Zahlungen in Höhe von 49 Kopeken jährlich. Ebd., l. 126.

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Die Voraussetzung dafür war eine Reform des Milizapparates, die gegen Ende der 1950er-Jahre folgen sollte.299

6.3.3 Der Kampf gegen Milde – Staatsanwälte und Richter nach 1953 In ihrem Bemühen, die Staatsgewalt sichtbar an ihre eigenen Gesetze zu binden, stärkte die Parteiführung auch die konventionellen Gerichte. Sie waren neben der Staatsanwaltschaft die größten Profiteure der Reformen der Militärgerichtsbarkeit. Durch die Auflösung verschiedener Militär- und Spezialgerichte des MVD und der OSO erlangten sie, nebst abertausenden von laufenden Verfahren, die Zuständigkeit für zahlreiche Militär- und Beamtenvergehen, die Lagergerichtsbarkeit und sukzessive auch die Zuständigkeit für „konterrevolutionäre“ Straftaten.300 Die Auflösung des Unionsministeriums für Justiz 1956, die Verfassungsreformen von 1957 und die Gerichtsverfassung von 1958 stärkten darüber hinaus die Stellung lokaler und regionaler Gerichte gegenüber dem Obersten Gericht. Das sowjetische Gerichtssystem wurde dezentralisiert, während die juristische Fachpresse die Unabhängigkeit der Gerichte, die juristische Qualifikation der Richter und die Unantastbarkeit ihrer Urteile zu Gradmessern der „Sozialistischen Gesetzlichkeit“ erhob.301 Das Regime dehnte nach 1953 die Zuständigkeit der Gerichte aus und zelebrierte die Unabhängigkeit ihrer Richter in der Urteilsfindung. Das Bildungsniveau unter Regionalrichtern stieg ebenso an.302 Das Regime stärkte die Gerichte, um Willkür noch effektiver zu bekämpfen. Das Ziel dieser Maßnahmen war nicht, die Richter als unabhängige Autorität zu stärken. In erster Linie bestimmte der Blick auf die Verurteilungsquote das Ermessen der Richter. Der Vorsitzende des obersten Gerichts, Volin, äußerte sich in seinem Artikel über die „wichtigsten Aufgaben der Gerichtsorgane“ im Herbst 1955: „Die Strafe, wie auch die Schuld, muss streng individuell sein und ausgehend von dem Charakter des Verbrechers, den Umständen der Strafsache und der Persönlichkeit des Straftäters bestimmt werden.“ Zugleich warnte er vor einer „Schwächung der gerichtlichen Repression“.303 Die Kompetenz eines sowjetischen Gerichts bemaß sich aus Sicht seiner Vorgesetzten nach wie vor an der Zahl der Freisprüche, der

299 Vgl. Beda, Organy vnutrennych del, S. 264–266. 300 Vgl. Ginsburgs; The Reform of Soviet Military Justice, S. 36. 301 Vgl. Gorlizki, De-Stalinization and the Politics, S. 153 f.; Kucherov, The Organs of Soviet Administration, S. 115–120. 302 Vgl. Gorlizki, De-Stalinization and the Politics, S. 166. 303 Volin, Anatolij: „Važnejšaja zadača sudebnych organov“, in: Socialističeskaja zakonnostʼ 11 (1955), S. 4;9.

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ausgesprochenen Bewährungsstrafen und daran, ob das eigene Urteil aufgehoben wurde. Obgleich Volin seine Richter zu einer differenzierteren Urteilsfindung ermutigte, warnte er zugleich davor, mit milden Urteilen den Verbrechern Vorschub zu leisten. Freisprüche galten weiterhin als Ausweis juristischen Totalversagens und Urteile ohne Freiheitsentzug erregten zumindest das Misstrauen in der Gerichtsverwaltung. Sowjetische Richter agierten folglich zwischen zwei Erwartungshaltungen: einerseits ein durchdachtes Urteil zu fällen, das dem Straftatbestand gerecht werde, andererseits sich nicht mit zu vielen ‚milden‘ Urteile zu exponieren. Die Staatsanwaltschaft übernahm in diesem Prozess ihre eingeübte Rolle. Sie führte abseits der Anklage traditionell die Aufsicht über die Urteilspraxis. Dabei lag es in ihrem Interesse, Freisprüche und Bewährungsurteile zu verhindern bzw. mit einem Protest zu korrigieren, denn diese Fälle „unbegründeter Inhaftierung“ fielen konsequent auf Staatsanwälte und Ermittler zurück. Angesichts fortwährend steigender Deliktzahlen im Jahr 1954 erhöhte das Regime stetig den Druck auf die Staatsanwaltschaft, diese Urteile als Anzeichen „richterlichen Liberalismus“ mit aller Härte zu bekämpfen und die verantwortlichen Staatsanwälte im Ermittlungsverfahren zur Rechenschaft zu ziehen.304 Die Rollenverteilung vor Gericht blieb auch nach 1953 entsprechend unverändert. Ein Staatsanwalt sollte sicherstellen, dass der Richter seine Strafsache mit einer Freiheitsstrafe zum Abschluss bringt und damit zugleich seinen Ermittlungen ein Gütesiegel ausstellt, in denen ja der Staatsanwalt zuvor über Schuld und Unschuld befunden hatte. Der Richter war für die Festlegung des Strafmaßes zuständig, wobei Bewährungsurteile theoretisch zulässig waren: für „weniger gefährliche Vergehen“, wie es Justizminister Goršenin ausdrückte. Im Idealfall allerdings sollten solche Fälle bereits im Ermittlungsprozess aussortiert werden.305 Das Primärziel eines Staatsanwalts vor Gericht war folglich auch weiterhin, Verurteilungen mit Freiheitsstrafen zu erwirken. Das Regime übte Druck auf beide Organe aus, ein optimales Verfahren zu gewährleisten, was in der Praxis mit Blick auf die Zahl der Freisprüche auch gelang. Staatsanwälte und Ermittler investierten nicht viele Ressourcen, die Ermittlungen der Miliz zu begleiten oder zu unterstützen, doch sie ließen diese Fälle auch nicht vor Gericht. Hinzu kam, dass ihre eigenen Ermittler unter scharfer Beobachtung standen und sorgfältiger arbeiteten. Bis es zum Gerichtsverfahren kam, stellte die Staatsanwaltschaft somit den überwiegenden Teil der Fälle ein, die aufgrund der Beweislage oder des Tatbestandes keine Anklage rechtfertigten. Die Folge: In der

304 Gorlizki, De-Stalinization and the Politics, S. 226; „Befehl ‚Über die Stärkung staatsanwaltschaftlicher Aufsicht zur Einhaltung sozialistischer Gesetzlichkeit bei der Inhaftierung, dem Arrest und der Strafverfolgung von Bürgern‘, 4.8.1955, in: Zvjagincev, Založniki voždej, S. 466. 305 Stenogramme der Unionskonferenz der Staatsanwaltschaft, 23.6.1955, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 4014, l. 121.

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ganzen RSFSR endeten im zweiten Halbjahr 1953 nur 1,8 Prozent aller Verfahren mit einem Freispruch bzw. mit einem Gerichtsbeschluss, das Verfahren endgültig einzustellen.306 In Molotov sprachen die Volksgerichte im Laufe des Jahres 1954 ganze 123 (2,6 Prozent) Personen frei, deren Fälle von der Miliz bearbeitet worden waren. Im vierten Quartal waren es sogar nur 20 Personen.307 Ein Verfahren ohne Verurteilung war die absolute Ausnahme. Die überwältigende Mehrheit der Fälle erfüllte die Kriterien für eine Anklage in erster Instanz. Es ist nicht auszuschließen, dass einige Richter unter dem Druck ihrer Vorgesetzten von einem Freispruch Abstand nahmen, auch wenn die Strafsache keine Grundlage für eine Verurteilung bot. Insgesamt jedoch demonstrierten Molotovs Richter zunehmend mehr Selbstbewusstsein, ihre Position gegenüber der Staatsanwaltschaft zu behaupten. Auf der Versammlung der Justizmitarbeiter in Krasnokamsk äußerte sich Volksrichter Panferov: „Wir haben freigesprochen und wir werden freisprechen, wenn der Straftatbestand nicht bewiesen ist“.308 Die Vorsitzende des Regionalgerichts von Molotov, Varvara Chlopina, betonte auf einer Regionalversammlung ebenfalls, dass man unsaubere Ermittlungsarbeit oder mangelnde Beweismittel ohne zu zögern mit Freisprüchen quittieren werde.309 Ein Freispruch war aus Sicht der Richter also zumindest denkbar. Dass es in der Praxis so wenige Freisprüche gab, spricht einerseits für die Ermittlungsarbeit der Staatsanwaltschaft. Andererseits entstanden die eigentlichen Reibungen zwischen Staatsanwaltschaft und Gerichten nicht über den Freisprüchen, sondern über der Frage des Strafmaßes. Wie viele Bewährungsurteile Molotovs Gerichte insgesamt in den Jahren nach 1953 verhängten, geht aus den Statistiken der Staatsanwaltschaft nicht hervor. Fakt ist, dass jede einzelne Strafe ohne Freiheitsentzug ausgiebig beleuchtet wurde und die Staatsanwaltschaft darum bemüht war, jeden Eindruck von Nachgiebigkeit zu vermeiden. Bevor ein Staatsanwalt sich dem Vorwurf des „Liberalismus“ ausgesetzt sah, meldete er vorsorglich Zweifel an solchen Urteilen an. Die Beamten waren dabei nicht an einem verhältnismäßigen Urteil, sondern primär an einer Haftstrafe interessiert. Von 249 Protesten, die man in Molotov in neun Monaten des Jahres 1953 verschickte, waren genau zwei auf zu „strenge“ Urteile gerichtet. Die überwiegende Mehrheit der Urteile wurden von den Staatsanwälten aufgrund ihre „Milde“

306 Vgl. Meldung des Leiters für Haftaufsicht der Staatsanwaltschaft der RSFSR, 24.3.1954, in: GARF, f. A-461, op. 8, d. 3250, l. 26. 307 Vgl. Bericht über den Zustand der Verbrechensbekämpfung in der Region, 31.3.1955, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 305, l. 60. 308 Protokoll der Versammlung von Krasnokamsk, 21.1.1954, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 302, l. 178. 309 Vgl. Protokoll der überbehördlichen Regionalversammlung von Miliz, Staatsanwaltschaft und Gerichten in Molotov, 3.10. 1953, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 274, l. 44.

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angefochten.310 Diese Herangehensweise wurde insbesondere von der Gerichtsverwaltung kritisiert. Richterin Chlopina und ein Vertreter der Justizverwaltung beschwerten sich beim Regionalkomitee der Partei: „In der Arbeit der Staatsanwaltschaft ist die verderbte Praxis verwurzelt, Proteste nur gegen Freisprüche und Urteile mit mildem Strafmaß zu richten“. Die Staatsanwaltschaft konzentriere ihre Bemühungen „einseitig“ und ließe „Urteile mit hartem Strafmaß für geringfügige Vergehen“ ohne Protest durch.311 Die Staatsanwaltschaft hegte in der Regel keine Bedenken, dass ein Gericht zu streng urteilte. Ihr war ausschließlich daran gelegen, das Verfahren mit einer Haftstrafe abzuschließen. Aus diesem Grund nahmen Staatsanwälte auch öffentlich nur Anstoß gegenüber Bewährungsurteilen (und nicht wegen zu strenger Strafen). Im Frühjahr 1954 veröffentlichte die Socialističeskaja zakonnostʼ einen vierseitigen Leserbrief, in dem ein Mitarbeiter der Ermittlungsabteilung von Molotov, Ljaščenko, die Urteilspraxis der Gerichte in der gesamten Region kategorisch infrage stellte. Er warf den Richtern in den Bezirken und auf der Regionalebene vor, mit ihren „gutmütigen Urteilen“ und/oder aus Unfähigkeit bei der Beweismittelprüfung die Kriminalität zu begünstigen. Zum Beleg lieferte Ljaščenko mehrere Beispiele, in denen Volksrichter oder das Regionalgericht (im Kassationsverfahren) Bewährungsstrafen verhingen, Freisprüche verhängten oder die Strafsachen zurück an die Ermittler gaben. Zu strenge Urteile spielten in seinem Brief keine Rolle.312 Die Staatsanwaltschaft trug die Verantwortung für die Ermittlungen und dafür, dass nur Fälle vor Gericht gelangten, die eine Haftstrafe verdienten. Entsprechend gingen ihre Beamten gegen Bewährungsstrafen vor. Ljaščenko versuchte mit seinem Leserbrief, der Kritik an seiner Abteilung (Ermittlungen) zuvorzukommen bzw. sie zu erwidern. Denn auch die Gerichtsverwaltung konnte ihre Urteilspraxis problemlos auf die Staatsanwaltschaft abwälzen. Der Leiter der Justizverwaltung von Molotov, Kozlov, lenkte die Kritik an den Urteilen ‚seiner‘ Richter auf der Regionalversammlung im Herbst 1953 direkt an die Staatsanwaltschaft weiter: „Die Qualität der Ermittlungen von Strafsachen bleibt in vielen Fällen noch unzureichend, was sich auf den Ausgang der Strafsache auswirkt. Die Gerichte sind gezwungen, das Strafmaß zu senken oder auf andere milde Artikel des UK auszuweichen.“313

310 Schreiben des Leiters der Justizverwaltung Molotov, Kozlov, und der Vorsitzenden des Regionalgerichts, Chlopina, an den ObKom-Sekretär, Prass, 23.12.1953, in: PGASPI, f. 105, op. 20, d. 160, l. 22. 311 Ebd. 312 Ljaščenko, l.: Narušenija zakonnosti v rabote Molotovskogo oblastnogo suda, in: Socialističeskaja zakonnostʼ 3 (1954), S. 61–65. 313 Protokoll der überbehördlichen Regionalversammlung von Miliz, Staatsanwaltschaft und Gerichten in Molotov, 3.10. 1953, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 274, l. 43.

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Der Protest gegen eine Bewährungsstrafe war wie in den Jahren zuvor ein Automatismus für Staatsanwälte, um dem Vorwurf zu entgehen, selbst schlechte Ermittlungsarbeit geleistet zu haben. Ein Protest zog das Verfahren in die Länge, war aber auch nach 1953 kein Garant dafür, dass das Urteil auch aufgehoben wurde. Das Regionalgericht von Molotov ließ von den 249 Protesten in den drei Quartalen von 1953 etwas mehr als die Hälfte zu.314 Im zweiten Halbjahr 1953 akzeptierte das Gericht lediglich 17 von 52 Protesten, die die Staatsanwaltschaft gegen Freisprüche eingereicht hatte. Die Hälfte der 35 Proteste, die nicht in einem Kassationsverfahren resultierten, hatte die Staatsanwaltschaft selbst zurückgezogen.315 Das Veto des Regionalgerichts wog folglich auch weiterhin schwer genug, um der Staatsanwaltschaft die Grenzen ihres Einflusses aufzuzeigen, sobald das Urteil einmal gefällt war. Besonders bei der Frage des Strafmaßes zeigten sich die höheren Gerichtsinstanzen unnachgiebig und stärkten in aller Regelmäßigkeit ihren Volksrichtern den Rücken. Proteste gegen Bewährungsstrafen und Freisprüche hatten tendenziell weniger Aussicht auf Erfolg. Dies geht aus den Statistiken zu den Kassationsverfahren hervor, die 1954 in Molotov geführt wurden. Die Mehrheit aller Fälle, die das Regionalgericht in zweiter Instanz verhandelte – sprich: in denen ein Protest wirksam geworden war – war aus prozessrechtlichen Gründen beanstandet worden. Mit Blick auf alle Strafsachen betraf dies immerhin zehn Prozent, die 1954 in Molotov aufgrund „der Nichtfeststellbarkeit der Tatumstände und von Prozessverletzungen“ noch einmal aufgerollt wurden. In diesen Verfahren stand nicht das Ermessen des Volksrichters im Mittelpunkt, sondern faktisch nachweisbare prozessrechtliche Defizite, die den Urteilsspruch kompromittierten und die von Staatsanwälten und Regionalrichtern gleichermaßen ernst genommen wurden, wie zum Beispiel fehlende Verteidiger, fehlende Gerichtsprotokolle oder Richter, die die Angeklagten nicht einmal befragten oder ihnen das letzte Wort verweigerten.316 Gorlizki hat nachgewiesen, dass die obersten Gerichtsbehörden nach 1953 besonders stark für Prozessvergehen sensibilisiert waren, zumal dieses Versagen (im Gegensatz zum Strafmaß) eindeutig feststellbar war.317 Die Akten der Staatsanwaltschaft von Molotov bestätigen dieses Bild und verdeutlichen, dass alle

314 Vgl. Schreiben des Leiters der Justizverwaltung Molotov, Kozlov, und der Vorsitzenden des Regionalgerichts, Chlopina, an den ObKom-Sekretär, Prass, 23.12.1953, in: PGASPI, f. 105, op. 20, d. 160, l. 22. 315 Vgl. Bericht zur Arbeit der Strafgerichtsabteilung von Molotov, Dezember 1953, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 668, l. 31. 316 Bericht über den Zustand der Verbrechensbekämpfung in der Region, 31.3.1955, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 305, l. 72. 317 Vgl. Gorlizki, De-Stalinization and the Politics, S. 175–180.

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Justizorgane ihre Bemühungen intensivierten, den prozessrechtlichen Rahmen der Gerichtsverhandlungen und somit die „Gesetzlichkeit vor Gericht“ zu gewährleisten. 70 bis 75 Prozent aller Gerichtsurteile, die 1954 in Molotov in zweiter Instanz aufgehoben wurden, scheiterten an diesen „Prozessverletzungen“.318 Die Staatsanwaltschaft war zwar an Haftstrafen interessiert, jedoch keinesfalls auf Kosten der Prozessregeln. Mit Zustimmung des Regionalgerichts sortierten sie zahlreiche Fälle aus, deren Gerichtsverhandlung nicht die nötigen prozessrechtlichen Kriterien erfüllte. Die Staatsanwaltschaft wurde nach 1953 in ihren Ambitionen bestärkt, jede Ermittlung bis zur Verurteilung zu führen. Freisprüche und Bewährungsurteile wurden mit Blick auf die eigenen Erfolgsquoten bekämpft, und um dem Verdacht zu entgehen, die harte Linie des Regimes gegenüber Kriminalität sabotieren zu wollen. Zeitgleich wuchs auch das Selbstbewusstsein der Gerichts- und Justizverwaltung. Ihre Richter wurden ebenso auf die harte Linie eingeschworen, aber dennoch dazu ermutigt, differenzierte Urteile zu fällen und ihrer Qualifikation als Juristen gerecht zu werden. In der Praxis führte diese Haltung einerseits zu Auseinandersetzungen über die Anwendung von Bewährungsstrafen, bei denen die Gerichtsinstanzen länger Widerstand leisteten. Andererseits gewährleisteten Staatsanwälte und Richter in der überwältigenden Mehrheit der Fälle ein statistisch und prozessrechtlich konformes Verfahren. Fast 98 Prozent endeten mit einem Urteilsspruch und ebenso sank sukzessive die Zahl der Urteile, die aufgrund von Prozessverletzungen aufgehoben werden mussten.319 Trotz steigender Deliktzahlen hoben Staatsanwälte und Richter das formale Niveau der Strafjustiz an. Als Ermittler und als Ankläger vor Gericht trug die Staatsanwaltschaft dazu bei, die Abläufe der sowjetischen Justiz nach 1953 weiter zu professionalisieren. In allen Phasen und bei allen beteiligten Organen des Strafprozesses bekämpfte die Staatsanwaltschaft das Ausmaß staatlicher Willkür so weit, wie es ihre Kompetenzen und ihre Ressourcen zuließen. Ermittler der Staatsanwaltschaft und der Miliz mussten sich ihre Anerkennung mit juristischem Sachverstand und zuverlässigen Arbeitstechniken verdienen, und sich zugleich für ihr Fehlverhalten verantworten. Der Ermittlungsprozess wurde nach 1953 schrittweise regelhafter und transparenter, wie auch das Gerichtsverfahren. Dies bedeutete nicht, dass das Regime rechtsstaatliche Strukturen anstrebte. Bewährungsstrafen wurden als Makel bekämpft und ohne strukturelle Reformen in der Miliz und den personellen Ausbau der Staatsanwaltschaft blieb die Strafjustiz mit der Verbrechenswelle überfordert. Gleichzeitig

318 Bericht über den Zustand der Verbrechensbekämpfung in der Region, 31.3.1955, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 305, l. 72. 319 Vgl. Gorlizki, De-Stalinization and the Politics, S. 178–180; 238–240.

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trug das Vorhaben der kollektiven Führung Früchte, die Staatsgewalt demonstrativ an ihre eigenen Regeln zurückbinden zu wollen. Die sowjetische Justiz operierte nach 1953 deutlich berechenbarer und die Staatsanwaltschaft trieb diesen Trend voran. Am deutlichsten war dieser Kontrast zu beobachten, wo das Regime zu Stalins Lebzeiten bereits in die juristische Expertise und die Regelhaftigkeit des Verfahrens investierte: bei der Jugendkriminalität.

6.3.4 Jugendkriminalität und Jugendfürsorge nach 1953 Am 2. Mai 1955 versammelte sich in der Stadt Berezniki eine Gruppe von 50 Schülern auf der Čurtensker Chausee. Die Jugendlichen kreisten das Haus Nummer 9 ein und begannen, dessen Scheiben einzuschlagen. Als es zur Auseinandersetzung mit den Anwohnern kam, schlugen Mitglieder der Gruppe einer Frau mit einem Stein auf den Kopf und schlugen danach sowohl auf ihren Sohn als auch den Ehemann ein, der zu Hilfe gekommen war. Als die Miliz vor Ort eintraf, versperrten die Jugendlichen den Beamten die Durchfahrt und erklärten, „dass das Auto nur über ihre Leichen durchkommt“. Erst nach vier Stunden konnte die Situation aufgelöst werden. Die Staatsanwaltschaft übernahm anschließend die Ermittlungen.320 Die Ereignisse in Berezniki waren außergewöhnlich genug, um in Jakovlevs Bericht zur Jugendkriminalität genannt zu werden, und doch waren sie exemplarisch für das Problem, dem sich die sowjetischen Behörden in der Mitte der 1950er-Jahre gegenübersahen. Jugendstraftaten waren zum einen, deutlicher als je zuvor, ein Phänomen in der Mitte der Gesellschaft. Die Täter kamen meist aus den Schulen, den Jugendklubs oder manchmal sogar aus dem Komsomol. Zum anderen hatte die Miliz in aller Regelmäßigkeit das Nachsehen, wenn Täter aufgehalten, gefasst oder festgestellt werden mussten. Das Ausmaß der von Minderjährigen begangenen Straftaten überstieg häufig die Kräfte der Miliz. Der Konflikt mit den Behörden war bereits zu Stalins Lebzeiten ein fester Bestandteil der Alltagskultur sowjetischer Jugendlicher, und auch die wachsende Zahl der Straftaten erreichte, trotz der Amnestien, nach 1953 nicht das Niveau von 1945.321 Übergriffe wie in Berezniki gab es auch in der Nachkriegszeit. Was sich 320 Schreiben Jakovlevs an das Regionalexekutivkomitee, 2.6.1955, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 644, l. 23. 321 Seit 1950 stieg die Zahl der Fälle, die Gerichte gegen Minderjährige führten, in der RSFSR konstant an – von 14.487 auf 24.252. Vgl. Jahresbericht der Abteilung für Minderjährige bei der Staatsanwaltschaft der RSFSR für 1954, o. D. [vermutlich Januar 1955], in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 4559. Unionsweit wurden 1956 sogar über 49.000 Kinder und Jugendliche von einem Gericht verurteilt. Angaben zu den Vorstrafen Minderjähriger in der UdSSR, 1954–1958, in: Vilenskij, Deti GULAGa, S. 554. 1945 lag diese Zeit über 52.000. Übergabeprotokoll der Generalstaatsanwaltschaft,

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in den Jahren nach Stalins Tod veränderte, waren die Strategien, mit denen die sowjetischen Behörden dem „Jugendproblem“ begegneten. Das Regime reagierte auf die existenziellen sozialen Probleme dieser Jugendlichen und ihren Drang zu nonkonformem Verhalten nicht nur mit strafrechtlichen, sondern auch zunehmend mit pädagogischen Mitteln. Über die Schulen, den Komsomol, die Betriebe oder andere Organisationen initiierte die kollektive Führung eine politische Erziehungskampagne nach der anderen.322 Jugendliche sollten sich unter dem Konformitätsdruck ihrer Alters- und Klubgenossen zurück ins sozialistische Kollektiv einfügen, aus dem sie sich mit ihrem Verhalten entfernt hatten.323 Komsomolgruppen wurden auf Patrouille geschickt. Pamphlete gegen Alkoholmissbrauch wurden verteilt und Delinquenten öffentlich gemaßregelt. Die Politabteilungen der GUM schworen auch die Milizionäre auf diesen Kurs ein. Es gehe darum, die Delinquenten „mit Verachtung zu umzingeln und ein unversöhnliches Umfeld für Hooligans zu schaffen. Die Wahrheit ist, dass Maßnahmen mit gesellschaftlichem Einfluss bedeutend mächtiger sind als administrative Eingriffe“.324 Das Regime versuchte, die Kontrolle über die Nachkriegsgeneration auch auf ideologischem Wege zurückzugewinnen. Ein Teil dieser Strategie bestand darin, dass sich die verantwortlichen Justiz- und Erziehungsbehörden weiter mit den Ursachen von Jugendkriminalität auseinandersetzten. Die Staatsanwaltschaft nahm in dieser Auseinandersetzung eine zentrale Rolle ein, da sie als Schnittstelle zwischen der Strafjustiz und den Behörden fungierte, die mit der pädagogischen und sozialen Betreuung der Jugendlichen beauftragt waren.325 Ihre Erklärungen spiegelten den aktuellsten Stand der Debatten zum Thema Jugendkriminalität wider. Offiziell bekräftigten Staatsanwälte dabei weiterhin, dass es keine direkte kausale Verbindung zwischen dem Leben in der Sowjetunion und den kriminellen Erscheinungen gebe: „Im sowjetischen Staat sind die sozialen Gründe ausgemerzt, die Jugendkriminalität, Vernachlässigung und Jugendobdachlosigkeit hervorbringen“.326 Im Kontakt mit Regierungs- und Parteiorganisationen

17.2.1948, in: GARF, f. R-8131, op. 38, d. 486, l. 59. Zur Jugendkultur und Kriminalität in der Nachkriegszeit vgl. Fürst, Stalin’s Last Generation, S. 188–192. 322 Vgl. Fürst, The Arrival of Spring, S. 142; Livschiz, Ann: De-Stalinizing Soviet Childhood. The Quest for Moral Rebirth, 1953–1958, in: Jones, The Dilemmas of Destalinization, S. 121. 323 Vgl. Fürst, The Arrival of Spring, S. 150. 324 Bericht der GUM an die Stadt- und Bezirksleiter der Miliz, die Leiter der Parteiorganisationen und der Politabteilungen, ‚Der Kampf gegen die Überbleibsel des Kapitalismus im Bewusstsein der Menschen‘, 4.8.1954, in: PGASPI, f. 105, op. 21, d. 310, l. 44. 325 „Staatsanwaltschaftliche Mitarbeiter müssen ständig über die wichtigsten Ereignisse im Schulkollektiv informiert sein […] und in erster Linie müssen sie die Bezirkskomitees des VLKSM über Defizite in der Arbeit informieren.“ Orlov, N.: Ulučšit organizaciju raboty po delam nesoveršennoletnich, in: Socialističeskaja zakonnostʼ 1 (1954), S. 45. 326 Ebd., S. 71.

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scheute man sich allerdings nicht, einzelne Glieder dieser Kausalkette zu benennen. In fast allen Fällen resultierten Jugendstraftaten, so suggerieren die Lageberichte der Staatsanwaltschaft, aus institutioneller oder elterlicher Vernachlässigung. Mangelnde Betreuung durch die Schulen, die Ausbildungsstätten, die „Kinderhäuser“ und die Eltern und das Fehlen „außerschulischer Arbeit“ beförderten die „amoralischen Erscheinungen“.327 Kriminalität unter Jugendlichen galt als amoralische, als mentale Erscheinung, die durch einen Mangel an (vorzugsweise staatlicher) Autorität begünstigt wurde, was sie wiederum für den Einfluss erwachsener Straftäter empfänglich machte.328 Darüber hinaus gab es Faktoren, die diesen Prozess – die Entfremdung der Jugend von der Sowjetmacht – beschleunigten. „Bedürftige Schüler“ müssten aufgrund der „materiellen Notlage“ ihrer Eltern die Schulen verlassen, um zuhause auszuhelfen. Jugendliche flohen aus Ausbildungsstätten, in denen keine „angemessen Arbeitsbedingungen“ geschaffen wurden.329 In fast allen Fällen galten Jugendobdachlosigkeit und Vernachlässigung als Vorstufen einer kriminellen Karriere, was wiederum auf das Versagen der Behörden und Eltern zurückzuführen sei. Molotovs stellvertretender Staatsanwalt kritisierte zum Beispiel, dass die Schulen und Pionierhäuser ihre Aufmerksamkeit nie auf Problemschüler richteten und Jugendliche mit schlechtem Betragen „sich selbst überlassen“ blieben. Außerdem verwies er in seinem Bericht auf die familiäre Situation der Minderjährigen. Kinder blieben bei Trennungen buchstäblich auf der Straße und gerieten so unter den Einfluss anderer Krimineller. Ein anderes Problem sei der massenhafte Alkoholmissbrauch unter Jugendlichen.330 Die Staatsanwaltschaft führte keine Ursachendebatte im eigentlichen Wortsinne, sondern zählte wie schon in den späten 1940er Jahren Faktoren auf, die die Autorität des Staates beeinträchtigten und Kinder zu widerständigem Verhalten anstachelten. In ihrer Aufsichtsfunktion warnte sie vor den institutionellen Schwachstellen, an denen der Staat seinen Einfluss auf die Jugend verlor. Über die Kausalitäten zwischen Armut und Kriminalität schwieg man sich weiterhin aus.

327 Bericht der Abteilung für Angelegenheiten Minderjähriger der Staatsanwaltschaft der RSFSR über den Zustand der Kriminalität und Jugendobdachlosigkeit in der RSFSR, an den Vorsitzenden des Ministerrates, A. M. Puzanov, o. D. [vermutlich Frühjahr 1955], in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 4559, l. 28–30. 328 „In der Mehrheit aller Fälle begehen Kinder Rechtsverletzungen unter der Anleitung und dem Einfluss erwachsener Menschen“. Novikov, K.: Mery borʼby s pravonarušenjami nesoveršennoletnich, in: Socialističeskaja zakonnostʼ 4 (1954), S. 72. 329 Ebd., l. 33. 330 Eingabe des stellvertretenden Regionalstaatsanwalts, Malʼšakov, an das GorKom von Molotov, o. D. [vermutlich Ende März 1956], in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 646, l. 37–42. Die Analyse der Verbrechen zeige, dass „in erdrückender Mehrheit der Fälle die Straftaten durch Minderjähriger in der Regel betrunken begangen werden“. Ebd., l. 37.

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Die Staatsanwaltschaft hielt sich mit Blick auf die Jugendkriminalität auch nach 1953 an die gängigen Erklärungsmuster: Kriminalität resultierte aus dem Verlust der staatlichen und elterlichen Autorität. Bei der Bekämpfung von Jugendobdachlosigkeit stand die Staatsanwaltschaft allerdings nach wie vor in der zweiten Reihe. Der Strategiewechsel der Parteiführung änderte nichts an der Tatsache, dass die Mehrheit aller „Jugendobdachlosen“ und „Verirrten“ (zabludivščichsja) gar nicht erst in einem Gerichtssaal auftauchte. Administrative Maßnahmen gehörten mitnichten der Vergangenheit an. Auffällige und/oder obdachlose Jugendliche wurden von der Miliz ohne Umschweife festgesetzt, wobei es nach wie vor keine eindeutigen Kriterien für einen „vernachlässigten“ Jugendlichen gab. In der Stadt Molotov nahm die Miliz 1954 insgesamt 1581 Minderjährige in Gewahrsam, 1955 waren es dann 1501 – die meisten für „Übermut [ozorstvo] und Straßenhooliganismus“. 1955 wurden 272 Jugendliche wegen Missachtung der Verkehrsregeln festgesetzt und 185 befanden sich zum Zeitpunkt ihrer Festnahme in einem „hilflosen Zustand“, sprich: Sie waren stark alkoholisiert.331 Um die Kontrolle über die Straßen zurückzugewinnen, setzte das Regime weiterhin auf präventive, sprich: administrative ‚Schutzmaßnahmen‘. Die Staatsanwaltschaft von Molotovs Hauptstadt brachte lediglich ein Zehntel so viele Fälle zur Anklage, wie die Miliz Minderjährige festnahm. Dieses Verhältnis galt auch für den Rest der Republik.332 Die übrigen 90 Prozent wurden nach kurzer Zeit entweder zu ihren Eltern zurückgebracht, oder sie wurden über die Jugendeinrichtungen der verschiedenen Ministerien verteilt – ohne Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft.333 Wie in den Jahren zuvor setzten sich Staatsanwaltschaft und Gerichte nur mit einem Bruchteil der Minderjährigen auseinander, die das Regime als Problem identifizierte. Wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, übernahm in der Regel ein Ermittler der Staatsanwaltschaft die Arbeit. Am 5. April 1954 gab die Generalstaatsanwaltschaft eine entsprechende Anweisung heraus, keine Ermittlungssache gegen Minderjährige mehr an die Miliz abzutreten. Vollkommen durchgesetzt wurde die Ermittlungshoheit bis Ende 1954 auch hier nicht, allerdings sank der offizielle Anteil der Fälle, die die Miliz selbst ermittelte von 17 auf 12,3 Prozent.334 Die Staatsanwaltschaft erkannte

331 Ebd. 332 1954 wurden 142, 1955 wurden 170 Minderjährige zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen. Vgl. Übersicht zur Untersuchung der Minderjährigen-Strafsachen in Molotov Stadt in den Jahren 1954 und 1955, 6.2.1956, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 646, l. 9; Jahresbericht zur Jugendkriminalität in der RSFSR 1954, o. D. [vermutlich April 1955], in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 4559, l. 37–46. 333 Vgl. ebd., l. 37. 334 Vgl. ebd., l. 48.

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ihre professionelle Verantwortung für diesen Bereich an und löste sie zumindest teilweise ein. Gleichzeitig drängte sie ihre Mitarbeiter zur Einhaltung spezifischer technischer und juristischer Standards. Die Ermittlung von Jugendstraftaten galt seit Ende der frühen 1940er-Jahre als Spezialgebiet, in dem alle Aspekte des Verfahrens auf den Umgang mit Minderjährigen abgestimmt wurden – Fragetechniken, die Anwesenheit eines Elternteils oder der Verzicht auf Untersuchungshaft.335 Diese Anforderungen galten auch weiterhin. Die zentrale Aufgabe bei der Ermittlung von Jugendstraftaten bestand nach 1953 allerdings darin, auch die „Gründe“ einer Straftat genauestens zu beleuchten. Molotovs Leiter der Abteilung für Minderjährige hielt fest: „Die Aufklärung der Motive eines Verbrechens hat entscheidende Bedeutung bei der Bestimmung des weiteren Schicksals des beschuldigten Heranwachsenden und für den Kampf gegen Verbrechen unter Minderjährigen“.336 Die Staatsanwaltschaft verlangte von ihren Ermittlern mehr als die Feststellung eines Tatbestands, sie wollte die Aufklärung aller Umstände. Auch für die Abteilung für Minderjährige bei der Staatsanwaltschaft der RSFSR war dies der wesentliche Kritikpunkt: Das „grundlegende Defizit“ der Ermittler bestehe darin, dass sie sich in der Mehrzahl der Fälle normalerweise darauf beschränken, den eigentlichen Fakt der Straftat festzustellen, aber kein Interesse an der Erforschung von dessen Umständen zeigen, an der Situation bei Verübung des Verbrechens; an den Bedingungen, unter denen sich der minderjährige Delinquent befand und an den Gründen, die die Ausübung einer Straftat ermöglichten.337

Durchschnittliche Ermittler bewiesen die Tat, gute Ermittler klärten die Umstände, die zu dieser Tat geführt hatten. Mit dieser Vorgehensweise verfolgten die Beamten zwei Ziele. Zum einen dienten das Tatmotiv, die Persönlichkeit des Täters und die Tatumstände der Staatsanwaltschaft als Entscheidungskriterien, ob ein Jugendlicher überhaupt vor Gericht kommt.338 Dies galt in Fällen, in denen der/die Beschuldigte aufgrund psychischer Beeinträchtigungen nicht verfahrensfähig war. In einem Fall

335 Vgl. Methodische Anleitung der Generalstaatsanwaltschaft, o. D. [vermutlich 1954], in: Vilenskij, Deti GULAGa, S. 421. Die Generalstaatsanwaltschaft untersagte ab 1954 die Untersuchungshaft von unter 15-Jährigen bei geringfügigen Vergehen (sofern mindestens ein Elternteil vorhanden war). Übersicht zur Untersuchung der Minderjährigen-Strafsachen, 6.2.1956, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 646, l. 10. 336 Ebd. 337 Jahresbericht zur Jugendkriminalität in der RSFSR 1954, o. D. [vermutlich April 1955], in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 4559, l. 48. 338 Vgl. Übersicht zur Untersuchung der Minderjährigen-Strafsachen, 6.2.1956, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 646, l. 10.

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hatte eine Ermittlerin der Staatsanwaltschaft Molotov ein Verfahren gegen den fünfzehnjährigen Valerij Zubarev wegen der Vergewaltigung einer Fünfjährigen angestrengt. Erst ihr Vorgesetzter veranlasste ein zusätzliches psychologisches Gutachten und weitere Ermittlungen, die ergaben, dass Zubarev aus einer Schule für geistig Behinderte kam und nach Artikel elf des UK nicht angeklagt werden könne.339 Derlei Fälle waren aber die Ausnahme. Jenseits dieses Artikels hatte die Staatsanwaltschaft die Möglichkeit, auf ein Strafverfahren unter Verweis auf den Befehl vom 15.6.1943 zu verzichten, sofern die „Zweckmäßigkeit zur Anwendung gerichtlicher Repression“ nicht gegeben war. Auch dies betraf 1954 jedoch nur vier Prozent aller Ermittlungsverfahren gegen Minderjährige.340 Zum anderen sollte der Blick auf die Tatumstände den Kreis der Verantwortlichen ausdehnen. Das Regime hatte den Kampf gegen Jugendkriminalität zur ganzheitlichen Aufgabe aller Regierungsbehörden erklärt und die Staatsanwaltschaft lieferte mit ihren Ermittlungen wichtige Informationen über potenzielle „Anstifter“ oder die Personen, die angesichts der Tat des Jugendlichen ihre Aufsichtspflicht verletzt hatten. Beispielsweise wurden drei Jugendliche im Sommer 1955 festgenommen, nachdem sie mehrere Diebstähle verübt haben sollen. Die Verantwortung, so der Staatsanwalt, trugen jedoch auch die Eltern und ihre „falsche Erziehung“. Der Ermittler hätte entsprechende Konsequenzen einfordern müssen.341 In einem anderen Fall wurde der minderjährige Lev Nedopekin des Diebstahls von 70 Kilogramm Mehl überführt. Für den vorgesetzten Staatsanwalt reichte der Tatbestand selbst nicht aus. Nedopekin hatte offensichtlich eine kriminelle Vorgeschichte. Der Vater, der in der besagten Brotfabrik arbeitete, hätte befragt werden müssen, um herauszufinden „wie der Sohn zu solch einem Leben gelangte, wie lange er schon trinkt“ und ob er von einem Bandenmitglied in seiner Umgebung zur Tat angestachelt wurde.342 Allen Ambitionen zum Trotz ergaben sich aus diesen Fällen nur wenige neue Strafverfahren. Den Eltern wurden meist Geldstrafen durch die Miliz auferlegt, wenn ihre Kinder ohne Aufsicht auf der Straße aufgegriffen wurden und Prozesse

339 Vgl. ebd. „Maßnahmen des sozialen Schutzes gerichtlich-bessernder Art können nicht angewandt werden auf Personen, die ein Verbrechen im Zustande chronischer Geisteskrankheit oder zeitweiliger Geistesstörung oder in einem anderen krankhaften Zustand begangen haben“. Strafgesetzbuch der RSFSR, S. 10 f. 340 Jahresbericht zur Jugendkriminalität in der RSFSR 1954, o. D. [vermutlich April 1955], in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 4559, l. 48. 1954 verhandelten die Gerichte in der RSFSR 24.252 Strafsachen gegen Minderjährige. Demgegenüber wurden nur 1372 Jugendliche ohne Verfahren in eine Jugendkolonie verbracht. Ebd., l. 40. 341 Übersicht zur Untersuchung der Minderjährigen-Strafsachen, 6.2.1956, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 646, l. 11. 342 Ebd., l. 10.

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gegen sogenannte „Anstifter“ blieben die Ausnahme. 1954 wurden in der ganzen RSFSR 384 solcher Verfahren geführt. Zum Vergleich: Im gleichen Zeitraum standen 24.252 Minderjährige vor Gericht.343 Die Ermittlung der Tatumstände zog also in den wenigsten Fällen neue Verfahren nach sich. In der strafrechtlichen Auseinandersetzung mit Minderjährigen galten nach 1953 höhere Standards, als sie bei erwachsenen Tätern angelegt wurden. Die Staatsanwaltschaft trieb ihre Ermittler zu einer differenzierten und tiefgreifenden Untersuchung von Tat, Tätern und Tatumständen. Ziel der Ermittlungsarbeit war es, ein prozessrechtskonformes Verfahren zu gewährleisten, das auch dem pädagogischen Ziel entgegenkam. Unnötige Gerichtsverfahren sollten vermieden werden, während Eltern, Schulen und das Umfeld zu ihrer Verantwortung gezogen werden sollten. Auch wenn aus diesem Vorgehen nur selten strafrechtliche Konsequenzen für Dritte erwuchsen, hielten Fälle mit dünner oder zweifelhafter Beweislage dieser ‚Tiefenprüfung‘ nicht stand. Das qualitative Niveau der Ermittlungen war zu hoch, als dass Flüchtigkeitsfehler in der Beweisaufnahme vor einer Anklage unbemerkt blieben. Dies schlug sich auch in den Gerichtsstatistiken nieder. Die Staatsanwaltschaft übernahm fast 90 Prozent aller Fälle gegen Minderjährige und ihre Anklagen führten schon 1954 republiksweit in 98 Prozent der Fälle zu einer Verurteilung.344 Das Stadtgericht von Molotov verhängte zum Beispiel in den Jahren 1954 und 1955 nicht einen einzigen Freispruch und nur 2,9 Prozent aller Fälle wurden zwischenzeitlich an die Ermittler für weitere Nachforschungen zurückgeschickt.345 Im allgemeinen Trend zur statistischen Perfektion bildete die strafrechtliche Auseinandersetzung mit Jugendkriminalität unter allen anderen Straftaten keine Ausnahme. Nahezu jedes abgeschlossene Ermittlungsverfahren erhielt das Gütesiegel eines Urteils. Dabei spielte auch eine Rolle, dass bis zum Jahresende 1953 in der RSFSR bereits in 91 Prozent, in der zweiten Instanz sogar in 97 Prozent der Fälle immer ein Staatsanwalt anwesend war, wenn ein Minderjähriger vor Gericht stand.346 Diese Quote diente nicht nur der Bewertung der Produktivität eines Beamten, sie zeugt davon, dass Staatsanwälte sicherstellen wollten, dass das Verfahren planmäßig zum Abschluss geführt wurde.

343 Vgl. Jahresbericht zur Jugendkriminalität in der RSFSR 1954, o. D. [vermutlich April 1955], in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 4559, l. 49. Innerhalb des Jahres 1953 wurden in der Stadt Solikamsk 17 Elternteile mit Geldstrafen im Gesamtwert von 400 Rubel belegt, nachdem ihre Kinder von der Miliz aufgegriffen worden waren. Vgl. Bericht der Bezirksstaatsanwaltschaft von Čusovoj über die Arbeit mit Minderjährigen, 5.4.1954, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 645, l. 28. 344 Vgl. Jahresbericht zur Jugendkriminalität in der RSFSR 1954, o. D. [vermutlich April 1955], in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 4559, l. 49. 345 Vgl. Übersicht zur Untersuchung der Minderjährigen-Strafsachen, 6.2.1956, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 646, l. 9. 346 Vgl. Bericht des Leiters der zentralen Arbeitsgruppe für Angelegenheiten Minderjähriger, Orlov,

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Leider liefern die verfügbaren Akten keine spezifischen Urteilsstatistiken (über den Anteil der Bewährungsurteile beispielsweise) für Minderjährige für den Zeitraum nach 1953. Aus den Berichten der zuständigen Abteilung in Molotov geht jedoch hervor, dass die Staatsanwaltschaft in diesen Verfahren auch weiterhin ein gewisses Entgegenkommen gegenüber Bewährungsurteilen zeigte. Zum Beispiel blieb der minderjährige Belavin von einer Haftstrafe verschont, obgleich er mit einer Gruppe anderer Jugendlicher an 15 Raubüberfällen beteiligt gewesen sein soll. Belavin hatte keine Vorstrafen und war Komsomol-Mitglied, was auch in den Augen der Staatsanwaltschaft Molotov ein legitimer Grund für ein Bewährungsurteil von fünf Jahren war.347 Die Berichte der Minderjährigen-Abteilung in Molotov und den Bezirksstädten verzichteten zudem auf eine genaue Aufschlüsselung der Urteile. Im Mittelpunkt stand für sie der prozentuale Anteil der Freisprüche. Es ist davon auszugehen, dass sich der Trend, den der Leiter der Unionsabteilung für Minderjährige, Orlov, 1952 festhielt auch nach Stalins Tod fortsetzte. Die Richter machten von ihrem Recht Gebrauch, die „Spezifik“ des Jugendstrafrechts zur Grundlage für die Bewährungsentscheidung zu nehmen. Die Beamten der Staatsanwaltschaft waren dabei weder fähig noch willens, diese Entscheidungen massenhaft anzufechten.348 Von der Ermittlung bis zur Urteilsverkündung hatte die Staatsanwaltschaft fast die gesamte Kontrolle über das Schicksal eines minderjährigen Beschuldigten. Die Beamten wurden angehalten, ihm/ihr ein prozessrechtskonformes Verfahren zu garantieren, das dem Alter und der Psyche des Jugendlichen entgegenkam. Dabei erwogen Ermittler auch alternative Maßnahmen zu einem Gerichtsverfahren. Die Staatsanwaltschaft trieb die Professionalisierung der Jugendstrafjustiz, als Bereich mit eigenem qualitativem Anspruch, nach 1953 weiter voran. Direkte Auswirkungen auf das Ausmaß der Jugendkriminalität hatten diese Bemühungen jedoch nicht. Wie die Kriminalität insgesamt, so stieg auch die Zahl der Jugendstraftaten bis 1956 kontinuierlich an.349 Neben den komplexeren sozialen und wirtschaftlichen Problemen des Landes gab es dafür auch hier strukturelle Ursachen im Staatsapparat. Zum einen hatte die Miliz im Kampf gegen Jugendkriminalität mit den Straßenpatrouillen weiterhin den ersten und wichtigsten Kontakt mit den Jugendlichen. Anders als bei Erwachsenen setzte man jedoch nicht nur auf Fahndungsarbeit, sondern die Milizionäre griffen prophylaktisch alle Minderjährigen auf, die

an den stellvertretenden Generalstaatsanwalt, Mišutin, 25.12.1953, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 3176, l. 111–112. 347 Vgl. Eingabe des stellvertretenden Regionalstaatsanwalts, Malʼšakov, an das Stadtparteikomitee von Molotov, o. D. [vermutlich Ende März 1956], in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 646, l. 33. 348 Vgl. Kapitel 5.6.2. 349 Vgl. Angaben zu den Vorstrafen Minderjähriger in der UdSSR zwischen 1954–1958, 15.7.1959, in: Vilenskij, Deti GULAGa, S. 554.

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ohne Beschäftigungsnachweis, ohne Betreuung oder aufgrund ihres Verhaltens in das Profil eines Unruhestifters passten. Auch nach 1953 betraf dies jährlich eine Viertelmillion Jugendlicher in der RSFSR.350 Ein Teil wurde zurück zu den Eltern geschickt. In anderen Fällen übernahm die Miliz selbst die Ermittlungen. Wieder andere wurden ohne Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft in das Netz der Fürsorge- und Strafeinrichtungen geworfen. Die Staatsanwälte wurden also nur mit einem Bruchteil der Jugendlichen konfrontiert, die mit dem Regime bzw. den Autoritäten in Konflikt gerieten. Die Mehrheit aller Jugendlichen konnte von der Expertise der Staatsanwaltschaft nicht profitieren. Zum anderen war der Kreislauf aus Haft, Erziehungsheim und Straße auch mit staatsanwaltschaftlicher Aufsicht kaum zu kontrollieren. Die 1954 einsetzende Renaissance des Besserungsarbeitsprinzips und die Gulag-Reformen hatten durchaus positive Auswirkungen auf das System der Arbeitserziehungskolonien, der Aufnahmeverteiler, der Kinder- und Waisenhäuser und sonstiger Jugendeinrichtungen. Die staatliche Jugendfürsorge genoss im Lichte der Besserungsagenda mehr politische Aufmerksamkeit, was in einigen Fällen zusätzliche Ressourcen (für die Ausbildung von Waisenkindern beispielsweise) freisetzte.351 Weiterhin verfügte die Staatsanwaltschaft über strafrechtliche Mittel, um die Erzieher in allen Einrichtungen (auch des MVD) für Vergehen im Umgang mit den Zöglingen zur Rechenschaft zu ziehen. Zum Beispiel wurde ein Erzieher in der Kolonie in Kungur 1956 verhaftet und entlassen, nachdem er einen Jugendlichen mit einem Hocker geschlagen hatte.352 Grundsätzlich vermitteln die Inspektionsberichte von Kungur in den Jahren 1955 und 1956, dass sich die Situation unter den Insassen ebenso verbesserte wie das Bildungsangebot. Nach Gesprächen mit Insassen und der Kolonieleitung wurden keine „antipädagogischen Maßnahmen“ festgestellt. Sowohl die Ernährungssituation als auch die medizinische Betreuung seien nicht zu beanstanden. Überdies verfügte die Kolonie 1955 über eine Bibliothek mit 4200 Büchern. Die Insassen beteiligten sich an Arbeitskreisen zu Literatur, Physik oder Geographie, und nur das Fehlen einer Sporthalle wurde kritisiert.353 Im Gegensatz zum Gulag war der Staatsanwalt in diesen Einrichtungen jedoch nicht dauerhaft präsent, was dazu führte, dass die Inspektionen nur detaillierte Momentaufnahmen lieferten. Die Kolonie von Kungur war überdies eine von nur

350 Vgl. Jahresbericht zur Jugendkriminalität in der RSFSR 1954, o. D. [vermutlich April 1955], in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 4559, l. 46. 351 Vgl. Kelly, A Children’s World, S. 258. 352 Vgl. Überprüfungsbericht für die Kindererziehungskolonie in Kungur, 9.2.–10.2.1956, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 646, l. 22. 353 Vgl. Überprüfungsbericht für die Kindererziehungskolonie in Kungur, 8.2.1955, in: GAPK, f. 1366, op. 1, d. 644, l. 14.

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drei vergleichbaren Einrichtungen in der RSFSR und stand somit stärker im Fokus der Staatsanwaltschaft.354 Das Netz der Aufnahmeverteiler und Erziehungsheime war wesentlich unübersichtlicher. Aus den Aufnahmeverteilern flohen noch immer tausende von Kindern und Jugendlichen „aufgrund unzureichender Lebensbedingungen“.355 Wieder aufgegriffen führte sie ihr Weg über den Verteiler in die Schulen, Haftanstalten oder Waisenhäuser und zurück auf die Straße. Von über 70.000 Minderjährigen, die 1954 in den Verteilern der RSFSR aufgenommen wurden, stammte die Hälfte aus jeweils einer anderen Region, und fast 70 Prozent waren dort auch schulpflichtig.356 In Molotovs Verteilersystem war die Situation ähnlich. Auch hier waren die Verteiler nur eine Zwischenstation für mittellose und vernachlässigte Minderjährige. Der Bericht der Gerichtsverwaltung an das Regionalkomitee lieferte dafür anschauliche Beispiele, wie den dreizehnjährigen Vladimir Politov, dessen Eltern als Zugschaffner arbeiteten und der in neun Monaten fünf Mal im Verteiler registriert wurde. In anderen Fällen durchliefen ganze Bettlerfamilien das System, die ihre Zeit im Verteiler gemeinsam mit Jugendstraftätern und Waisenkindern verbringen, ohne dass diese jemals betreut oder unterrichtet werden.357 Sieht man vom zweifelhaften pädagogischen Nutzen dieses Verteilersystems ab, kamen die Jugendlichen hier, oder spätestens in den Kolonien, zwangsläufig in Kontakt mit Klein- und Berufskriminellen, die einem Gerichtsverfahren entgehen konnten. Die Staatsanwaltschaft selbst drängte das MVD 1955, jugendliche Gefängnisinsassen in die Kolonien zu transferieren, damit diese zumindest dem Einfluss erwachsener Straftäter entzogen würden.358 Die staatlichen Fürsorgeeinrichtungen boten also noch immer einen fließenden Übergang zur Welt der Lager und Gefängnisse. Ohne die dauerhafte Präsenz eines Staatsanwalts waren verbindliche Alltagsnormen und Regeln hier auch nach 1953 nicht permanent durchsetzbar.359 Obgleich die Staatsanwaltschaft mehr Kontrolle über Jugendstrafverfahren hatte als über andere Bereiche der Strafverfolgung, und obwohl sie diesen Prozess von 354 Vgl. Schreiben des Stellvertretenden RSFSR-Staatsanwalts, Kruglov, an GUM-Leiter, Nikolaj Stachanov, o. D. [vermutlich Frühjahr 1955], in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 4559, l. 26. 355 Bericht des Stellvertretenden RSFSR-Staatsanwalts, Kruglov, an das Justizministerium und den Leiter der Abteilung für Minderjährige, Orlov, 15.4.1955, in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 4559, l. 22. 356 Vgl. Jahresbericht zur Jugendkriminalität in der RSFSR 1954, o. D. [vermutlich April 1955], in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 4559, l. 46. 357 Vgl. Meldung der Gerichtsverwaltung Molotov an das ObKom, 9.2.1954, in: PGASPI, f. 105, op. 21, d. 310, l. 5–9. 358 Vgl. Schreiben des Stellvertretenden RSFSR-Staatsanwalts, Kruglov, an GUM-Leiter, Nikolaj Stachanov, o. D. [vermutlich Frühjahr 1955], in: GARF, f. R-8131, op. 32, d. 4559, l. 26. 359 „Kinderheime können, genauso wie Gefängnisse, unterschiedlich sein.“ Rubén David González Gallego wurde 1968 geboren und erlebte als Waisenkind das sowjetische Fürsorgesystem der 1970er- und 1980er-Jahre. Gallego, Ruben Gonzalez: Weiß auf Schwarz. Ein Bericht. München 2004, S. 85.

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der Ermittlung bis zum Urteil mehrheitlich den Erfordernissen des Straf- und Prozessrechts unterwarf, blieben die Rahmenstrukturen zur Bekämpfung der Jugendkriminalität unverändert. Diese Strukturen, bestehend aus der Miliz, den Kolonien des Innenministeriums und den anderen Fürsorgeeinrichtungen, operierten willkürlich, dysfunktional und nach administrativen Prinzipien, sprich: nach ihrem eigenen Ermessen. Sie behandelten unbeaufsichtigte Jugendliche als soziale Störfaktoren, die isoliert und vom Straßenbild ferngehalten werden sollten. Die Staatsanwaltschaft konnte die Arbeitsweise des Fürsorgesystems überblicken, jedoch nicht flächendeckend kontrollieren. Mit der gesammelten Expertise im Jugendstrafrecht optimierte die Staatsanwaltschaft das juristische Verfahren für straffällige Jugendliche. In diesem Prozess operierte die Staatsmacht regelhaft und präzise zugleich. Außerhalb des Ermittlungs- und Strafverfahrens war das Schicksal vieler Jugendlicher oftmals noch immer der Willkür anderer Behörden unterworfen. Dieser Kontrast – zwischen staatsanwaltschaftlicher Kompetenz und struktureller Willkür – kennzeichnet auch die Entwicklung der Strafverfolgung nach 1953 insgesamt. Die Parteiführung bestimmte die Staatsanwaltschaft dazu, die Prozessordnung und das Strafgesetzbuch flächendeckend in der Gesellschaft und im Staatsapparat durchzusetzen. Die Vertreter der Staatsmacht sollten nicht nur politisch zuverlässig, sondern regelhaft, präzise und vorhersehbar operieren – in Abgrenzung von den willkürlichen Praktiken des MVD. Die Staatsanwaltschaft erhielt zu diesem Zweck die formale Ermittlungshoheit und die Kompetenzen, die Miliz stärker zu kontrollieren. Das strukturelle Missverhältnis zwischen den Behörden wurde beseitigt und die Staatsanwaltschaft machte die Miliz rechenschafts- und informationspflichtig. Das Ermittlungsverfahren galt als arbeitsteiliger Prozess unter dem klaren Kommando des Staatsanwalts. Auf der einen Seite löste die Staatsanwaltschaft das in sie gesetzte Vertrauen ein. Vom ersten Ermittlungsschritt bis zur Urteilsverkündung setzte sie immer höhere prozessrechtliche und ermittlungstechnische Ansprüche durch, die dazu beitrugen, dass sich die sowjetische Justiz, gemessen an ihren eigenen Qualitätskriterien, nahe an der Perfektion bewegte. Auf die Gerichtsurteile nahmen die Beamten nur bedingt Einfluss, doch nahezu jedes Strafverfahren in der Sowjetunion, das ein Staatsanwalt initiierte, endete mit einem Urteilsspruch. Auf der anderen Seite war die Ermittlungshoheit der Staatsanwaltschaft praktisch nie durchführbar. Das „Statut zur staatsanwaltschaftlichen Aufsicht“ war in dieser Hinsicht ein Papiertiger. Der Bildungsgraben zwischen den Ermittlungsbehörden war zu breit, die technischen, personellen und fachlichen Probleme der Miliz bei der Fahndung zu zahlreich, und die Staatsanwaltschaft zu dünn besetzt, um effektiv die Kontrolle über alle Ermittlungen in der Sowjetunion zu übernehmen. In der Folge blieb die Hälfte aller Ermittlungen ergebnislos. Tausende Täter wurden nie gefasst. Die Staatsanwaltschaft kam in den ersten Jahren nach 1953 dem Ideal der regelhaft und präzise operierenden Staatsgewalt am nächsten, doch

420

Die Staatsanwaltschaft im Mittelpunkt von Krise und Konsolidierung

um die Herrschaftspraxis insgesamt diesen Regeln zu unterwerfen, mussten auch die Milizstrukturen reformiert werden.

6.4 Zw i s che n f a z it Die Geschichte der sowjetischen Staatsanwaltschaft post Stalin zeichnet sich vor allem durch eines aus: die Kontinuitäten der Nachkriegszeit. Die Behörde stand ab 1953 im Mittelpunkt dynamischer Entwicklungen im Staatsapparat bzw. nahm eine prominente Rolle darin ein und doch setzte sie selbst eine Entwicklung fort, die vor die 1950er-Jahre zurückreichte. Die politische Aufwertung der Justiz setzte bereits 1946 ein, als Staatsanwaltschaften und Gerichte zur permanenten Handlungsoption neben dem Innenministerium aufstiegen. Die Kaderstruktur und das Bildungsprofil waren ebenfalls seit dieser Zeit in Ausbildung begriffen. Die kollektive Führung investierte nach Stalins Tod in diese Entwicklungen, als sie öffentlich das Bekenntnis zur „Sozialistischen Gesetzlichkeit“ abgab. Sie stärkte die Staatsanwaltschaft in ihrer Rolle als Gegengewicht zur Geheimpolizei und Korrektiv im Staatsapparat. Sowohl innerhalb des sowjetischen Zwangsarbeitersystems als auch im Zusammenspiel mit der Miliz und den Gerichten verfolgten die Beamten die gleichen Ziele wie in den Jahrzehnten zuvor: die Willkür zugunsten der Regelhaftigkeit zu bekämpfen – immer in Beachtung des Primats der Parteiführung. Der Zäsurcharakter der Jahre 1953 bis 1956 liegt für die Staatsanwaltschaft darin, dass die kollektive Führung in dieser Zeit die Weichen zur Aufhebung bzw. Einschränkung der außergerichtlichen Herrschaftspraktiken der Stalin-Zeit stellte – öffentlich (über das Bekenntnis zur „Sozialistischen Gesetzlichkeit“) und institutionell. Milizionäre, Lagermitarbeiter und andere Beamte des Innenministeriums wurden der konventionellen Gerichtsbarkeit unterworfen. Die außergerichtlichen Behörden verloren nicht nur den Nimbus, politisch unantastbar zu sein. Sie wurden rechenschafts- und informationspflichtig gegenüber der Staatsanwaltschaft. Diese nutzte ihre Kompetenzen, alle Staatsorgane (die Partei ausgenommen) zu disziplinieren. Sie setzte sukzessive die Lagergerichtsbarkeit innerhalb das GULag durch und verbesserte infolgedessen die Lebensbedingungen für Häftlinge. Sie machte Wärter, Milizionäre und andere Beamte für ihre Handlungen haft- und strafbar und unterwarf auf diese Weise einen wesentlichen Teil der Strafverfolgung den Anforderungen des Straf- und Prozessrechts. Das Regime erhob die Staatsanwaltschaft – und damit verbunden die Justiz – zum primären Herrschaftsinstrument. Der Staatsanwalt war somit ein wichtiger Akteur der Reformpolitik. Seine professionelle Ambition, Staat und Gesellschaft zur Einhaltung von Regeln zu veranlassen, bot die alternative Strategie für den „dauerhaften Bruch mit den Herrschaftsmethoden

Zwischenfazit

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Stalins“.360 Der Staatsanwalt lieferte das Vorbild und die Fähigkeiten, um staatliches Handeln regelhaft, vorhersehbar und präziser zu gestalten und dies war ein Primärziel der Reformpolitik. Das Regime strebte nicht nach einer Liberalisierung der sowjetischen Lebenswelt, sondern danach, die eigene Herrschaft zu konsolidieren.361 Die kollektive Führung „taumelte“362 bis 1956 nicht zwischen Repression und Reform, sondern stellte die Weichen für eben jene Transformation zu einer Diktatur, in der die Menschen die staatlichen Konsequenzen ihres individuellen Handelns ermessen konnten; in der aber auch die Partei über den Gesetzen stand.363 Die Staatsanwaltschaft bot diese Option schon vor 1953 und nach Stalins Tod griff das Regime darauf für den gesamten Staat zurück. Die Ambivalenz des Reformprozesses ergab sich zum einen daraus, dass die Parteiführung, aus Nützlichkeitserwägungen nicht völlig mit den außergerichtlichen Methoden brach. Die Geheimpolizei und der Gulag dienten eben auch zur Verteidigung ihrer (partei)politischen Interessen. Der KGB blieb die zweckmäßige Alternative, um auf politische Bedrohungen zunehmend prophylaktisch zu reagieren.364 Zum anderen zögerte das Regime 1953 damit, die Polizeistrukturen zu reformieren, sprich: das Personal besser auszubilden. Zahlreiche Beamte des Innenministeriums waren der allgemeinen Gerichtsbarkeit unterworfen, doch um die Gesellschaft nach Gesetzen zu disziplinieren, fehlten ihnen die Kompetenzen ebenso wie die Anreize. Die Folgen waren Behördenwillkür und weiterhin hohe Kriminalitätsraten in einem Ausmaß, das die Staatsanwaltschaft ohne zusätzliche Ressourcen nicht kompensieren konnte. Nichtsdestoweniger forcierte diese Behörde den entscheidenden Schritt zur Transformation in eine regelhaft und planbar operierende Diktatur, als die Parteiführung ihr ab 1953 den Raum dafür gab.

360 Vgl. Neutatz, Träume und Alpträume, S. 363. 361 Die Konsolidierungsversuche staatssozialistischer Herrschaft beschränkten sich nicht auf den Verzicht massenhafter Gewaltanwendung. Mark Pittaway zufolge ebnete Stalins Tod in den meisten Staaten des Warschauer Paktes den Weg für eine Politik des sozialen Ausgleichs („social settlement“). „Entstalinisierung“ bedeutete Konsolidierung in vielen Bereichen der Innenpolitik. Vgl. Pittaway, Mark: Eastern Europe. 1939–2000. London 2010, S. 63–86. 362 Ebd. 363 „With the practice of ‚lawful repression‘ in the Khrushchev period and afterward, investigators chose explicit goals, specified the legal outcomes of various actions, and, accordingly restored relatively clear guidelines for social behavior. Now people knew what they ‚could‘ and ‚could not‘ do.“ Kozlov, Vladimir A.: The Meaning of Sedition, in: Ders./Sheila Fitzpatrick/S. V. Mironenko (Hg.), Sedition. Everyday Resistance in the Soviet Union under Khrushchev and Brezhnev. New Haven 2011, S. 40 f. 364 Vgl. Elkner, Julie: The Changing Face of Repression under Khrushchev, in: Melanie Ilič/Jeremy Smith (Hg.), Soviet State and Society under Nikita Khrushchev. London/New York 2009, S. 153.

7. SC H LUSSBET R AC H T U NG

Die Bolʼševiki hatten zum Ende des 19. Jahrhunderts eine Vision vor Augen: das Absterben des Staates. In einer klassenlosen Gesellschaft sollte es für staatliche Strukturen keine Verwendung, für Gesetze und die Organe der Rechtspflege kein Bedarf mehr geben. 1917 ergriffen die Revolutionäre die Gelegenheit, diesen Zukunftsentwurf für Russland Realität werden zu lassen. Doch es blieb bei der Vision. Nur zwanzig Jahre nach der Revolution feierte die Kommunistische Partei die Verabschiedung der ersten sowjetischen Verfassung. Das „Grundgesetz der Sowjetunion“ wurde als „Dokument höchster, wortwörtlich welthistorischer Bedeutung“ und Errungenschaft des Proletariats gefeiert.1 In den Moskauer Schauprozessen demonstrierte die Sowjetmacht die Überlegenheit ihrer ‚proletarischen‘ Ordnung gegenüber den westlichen Demokratien. Der Gerichtssaal war zum Ort staatstragender Inszenierungen geworden, wo die selbsternannten Sieger der Geschichte über die Verlierer, sprich: Feinde der Revolution, richteten.2 Recht und Rechtspflege waren nicht verzichtbar, sondern zum Ausweis der Stärke des sowjetischen Staates geworden. An die Stelle des revolutionären Bewusstseins der Arbeiterklasse war stalinistisches „state-building“ getreten.3 Die Bolʼševiki hatten in den ersten zwei Jahrzehnten ihrer Herrschaft realisiert, dass verbindliche Normen zur Verteidigung der Revolution ebenso unverzichtbar waren wie ein Staat, der dieses Gerüst durchsetzt. In diesem Staat war das Recht der Logik des Klassenkampfes unterworfen. Gesetze galten als Ausdruck des kollektiven Willens der Arbeiterklasse und als Instrument in den Händen seiner Avantgarde, der Partei. Kodifizierte Normen garantierten die Funktionsfähigkeit des Regimes, doch ihre Bindekraft reichte nur so weit, wie der Zweck der Revolution gewahrt blieb. Diese Spannung aus Funktion und Zweck prägte ab den 1930er-Jahren die sowjetischen Rechtsvorstellungen und sie bestimmte die grundlegenden Sphären staatlichen Handelns in der Sowjetunion. „Sozialistische Gesetzlichkeit“ bedeutete die unbedingte Einhaltung aller Gesetze und zugleich, dass die Gralshüter der Revolution durch diese Regeln nicht gebunden waren und 1 Vyšinskij, Andrej: Stalinskaja konstitucija i socialističeskaja zakonnostʼ, in: Socialističeskaja zakonnostʼ 10 (1938), S. 1. 2 Vgl. Schlögel, Terror und Traum, S. 182 f. 3 Gorlizki, Yoram/Mommsen, Hans: The Political (Dis)Orders of Stalinism and National Socialism, in: Geyer/Fitzpatrick, Beyond Totalitarianism, S. 46–50.

Schlussbetrachtung

423

ihre Gegner auf sie kein Anrecht hatten: ob es sich dabei um als „Kulaken“ diffamierte Bauernfamilien handelte oder Personen, die in den Verdacht der Spionage gerieten. Der sowjetische Staat, so der Anspruch seiner Führung, operierte regelhaft und politisch flexibel zugleich. Die Staatsanwaltschaft spielte eine zentrale Rolle zur Durchsetzung dieses Anspruchs. Im Zusammenspiel mit den Gerichten oblag dem Staatsanwalt formal die Disziplinierung sowohl der Gesellschaft als auch aller staatlichen Strukturen. Er sollte jedes Mitglied der Produktionsgemeinschaft zur Einhaltung der Rechtsnormen veranlassen und zugleich die übergesetzliche Macht der Parteiführung würdigen. Er sollte jeden Delinquenten seinem Urteil zuführen, unabhängig von Status und Behördenhintergrund. Er wurde als Korrektiv der Staatsmacht konzeptualisiert, um die Funktionsfähigkeit ihres Apparates zu gewährleisten und den Zugriff des politischen Zentrums auf die Behörden an der Peripherie zu erleichtern. Der Staatsanwalt trug die Verantwortung sowohl für die Regelhaftigkeit staatlichen Handelns als auch für die Durchsetzung von Ordnung in der Bevölkerung. Die Staatsanwaltschaft trug diese Verantwortung allerdings ohne die dazu nötige Weisungsbefugnis. Die Beamten verfügten über keinerlei Exekutivgewalt über andere Behörden: Einerseits, weil das sowjetische Rechtsverständnis Konflikte zwischen den Behörden ausschloss, andererseits weil die Parteiführung mit der Geheimpolizei bzw. dem Innenministerium über ein Herrschaftsinstrument verfügte, das soziale und politische Bedrohungen mit administrativer Polizeigewalt auflösen konnte. Die VČK und ihre Nachfolgebehörden waren die Vollstrecker des revolutionären Zwecks und allein ihrem revolutionärem Bewusstsein und den Anweisungen der Partei unterworfen. Die Parteiführung verfügte also über zwei konkurrierende Behördenstrukturen, um ihre Herrschaftsansprüche durchzusetzen. Bis 1938 setzte Stalin dafür vorzugsweise auf die administrative Macht des NKVD. Das Ende der Massenoperationen markierte die Wende für die Geschichte der sowjetischen Staatsanwaltschaft und die sowjetische Herrschaftspraxis insgesamt. Der „Große Terror“ hatte das Sozialgefüge im Lande erschüttert, die Nomenklatura geschwächt und den Staatsapparat ins Chaos gestürzt. Die Funktionsfähigkeit des sowjetischen Staatswesens war gefährdet. Stalin und das Politbüro reagierten im Herbst 1938, indem sie einen Strategiewechsel einleiteten, der das NKVD nicht nur von der Bekämpfung sozialer Unordnung abzog, sondern auch die Staatsanwaltschaft zeitweise auf Augenhöhe mit der Geheimpolizei hob. Die Massenoperationen wurden sukzessive, gemeinsam mit tausenden laufenden Verfahren gegen inhaftierte politische Gegner, eingestellt. Ein Jahr lang konnte die Staatsanwaltschaft das NKVD zur Einhaltung von Prozessregeln drängen und sogar die Verurteilung einiger Angehöriger der Geheimpolizei erwirken.

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Schlussbetrachtung

Das Intermezzo der Gesetzlichkeit währte nur kurz. Das „Bächlein an Befreiungen“4, auf das viele politische Häftlinge 1938 gehofft hatten, versiegte, als Stalin der Geheimpolizei schon 1939 wieder nahezu uneingeschränkte Macht im Umgang mit politischen Gegnern zubilligte. Die Staatsanwaltschaft nutzte jedoch den politischen Aufwind, um ihre Fähigkeiten als Herrschaftsinstrument unter Beweis zu stellen. Mit der ersten perestrojka der Strafjustiz investierte die Staatsanwaltschaft in die Ausbildung und Stärkung ihrer Kaderstrukturen und fixierte den professionellen Anspruch, staatliches Handeln an seine eigenen Regeln zu binden. Darüber hinaus hatte sie als Komplize des Innenministeriums selbst hunderte von Beamten in den Massenoperationen verloren. Die Erfahrung des „Großen Terrors“ hatte viele Staatsanwälte in ihren beruflichen Überzeugungen bestärkt, staatlicher Willkür umso entschlossener entgegenzutreten. Das Ende der Massenoperationen bedeutete den Neuanfang für eine Behörde, die mit dem Innenministerium zugleich abrechnen und die Regeln des Strafgesetzbuches und der Prozessordnung für alle Staatsorgane verbindlich machen wollte. Die Geschichte der Staatsanwaltschaft von Molotov veranschaulicht, dass die Erfahrungen im Herbst 1938 die beruflichen Ambitionen der Staatsanwälte langfristig prägten und eine Entwicklung anstießen, die über Stalins Tod hinausreichte: die Entfaltung der Staatsanwaltschaft als funktionale Alternative zur Geheimpolizei und infolgedessen die schrittweise Transformation der sowjetischen Willkür-Diktatur zu einer Diktatur, die ihre Herrschaftsansprüche regelhaft und planbar durchsetzte. Kirill Petrovič Alekseev, Dmitrij Nikolaevič Kuljapin und Michail Vladimirovič Jakovlev verfolgten unterschiedliche Strategien in der Ausübung ihres Berufes und sie brachten unterschiedliche Charaktereigenschaften und Talente für das Amt des Staatsanwaltes mit. Sie alle aber einte der Anspruch, Kriminalität genauso zu bekämpfen wie staatliche Willkür. Bis 1953 gelang es ihnen, diesen Anspruch auf dem Gebiet der nicht-politischen Strafverfolgung so weit durchzusetzen, dass Verletzungen des Prozessrechts als Abnormität behandelt wurden. Gemeinsam mit den Gerichten und anderen Vertretern des Justizministeriums trugen sie zur Ausarbeitung und Umsetzung des sowjetischen Jugendstrafrechts bei. Sowohl im Ermittlungsverfahren als auch vor Gericht etablierten sie eine juristisch differenzierte Auseinandersetzung mit Jugendstraftätern. Strafkampagnen gegen Arbeitsdeserteure und Diebstahl forderten seltener den Widerstand ihrer Beamten heraus als deren Bereitschaft, staatlichen Zwang präzise und regelhaft auszuüben. Aus deren Sicht war die Zahl der Verurteilten ebenso nachrangig wie die Härte des Strafmaßes – solange die Ermittlungen mit einem Urteilsspruch ‚gekrönt‘ wurden.

4 Binner/Bonwetsch/Junge, Massenmord und Lagerhaft, S. 562. Zit. Chinsky, Micro-histoire de la Grande Terreur, S. 135.

Schlussbetrachtung

425

Die Grundvoraussetzung für diese Entwicklung war die Reform der Kaderstrukturen und des Bildungsprofils der Staatsanwaltschaft. Bis 1945 wurden die institutionellen Grundlagen für die Aufsichtsarbeit gelegt. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges leitete die Parteiführung dann eine gezielte Bildungsoffensive und zugleich einen Generationenwechsel ein. Binnen eines Jahrfünfts wurde der Grundstein für den Amtsantritt einer Generation von praxiskompetenten Rechtsbürokraten gelegt, die mit Präzision Delikte ahndeten und Behörden disziplinierten. Ein weiteres Element dieser Professionalisierung war, dass sich die Beamten dem Diktat der Partei auf allen Ebenen unterordneten. Das Parteibuch verkörperte die zweckmäßige Einschränkung der Regelhaftigkeit. Diese Tatsache erkannte die Staatsanwaltschaft nicht nur an. Sowohl Kuljapin als auch Jakovlev erkannten in den Parteisekretären ihre Bündnispartner – eine Partnerschaft, die sich zum Ende der 1940er-Jahre in einer immer engeren Verflechtung ausdrückte. Die Ambitionen der Staatsanwaltschaft, die Staatsgewalt zu disziplinieren, stießen auch an deutliche Grenzen. Diese wurden vor allem im Verhältnis zum Innenministerium sichtbar. Die Verfolgung politischer Gegner oblag ohnehin der Geheimpolizei, doch auch in ihrer Aufsichtsfunktion blieb die Staatsanwaltschaft bis 1953 gegenüber dem Innenministerium ein institutioneller Außenseiter. Insbesondere das Innenleben und die Organisation der Haftanstalten konnte sie nur punktuell beeinflussen. Die Haftaufsicht taktierte gegenüber den Lagerverwaltungen, um Regelverstöße in einer Lagerwelt zu ahnden, die das MVD nach eigenen (meist wirtschaftlichen) Prioritäten regierte bzw. die von der Willkür lokaler Kommandanten und Wärter beherrscht wurde. Ohne Weisungsbefugnis und die Kooperation mit dem Lagerstaatsanwalt fehlte den Beamten der Haftaufsicht der Zugriff auf die Lagerbehörden und auf die Informationen, um auf Missstände überhaupt zu reagieren. Die Beamten beschränkten ihre Arbeit also darauf, die offensichtlichsten Regelverstöße zu dokumentieren. Sowohl in Molotov als auch in Moskau warnte die Staatsanwaltschaft das Innenministerium eindrücklich vor dem Kollaps der Lagergerichtsbarkeit und davor, dass Lagersystem als Wirtschaftsunternehmen zu führen. Konsequenzen zog die GULag aber nur halbherzig und, mit Blick auf ihre eigene Autorität, zu spät. Bis 1953 blieb die Haftaufsicht im Gulag der Zaungast eines chaotischen Willkürregimes, das dem Innenministerium zunehmend entglitt. Die Staatsanwaltschaft traf auch in ihrem eigenen Metier auf Widerstand, als es um die Disziplinierung der Strafjustiz ging: in Gestalt der Miliz. Die Fahndungs- und Ermittlungsinstanz des Innenministeriums genoss dessen Protektion und die Vorteile einer eigenen Militärgerichtsbarkeit. Diese Privilegien bewahrten die Milizionäre vor dem unmittelbaren Zugriff der Strafjustiz und vor der Verpflichtung, selbst prozessrechtskonform zu operieren. Deren Beamten waren unterdurchschnittlich ausgebildet, überdurchschnittlich gewaltaffin und mit den Belastungen ihres Dienstes weitestgehend überfordert. Zeitgleich kultivierte die Milizverwaltung eine Kultur

426

Schlussbetrachtung

der Willkür und der präventiven Polizeigewalt, die den beruflichen Ambitionen der Staatsanwälte diametral entgegenstand. Die Miliz zu disziplinieren, verlangte von den Staatsanwälten politisches Geschick, Zeit und die Bereitschaft zur Konfrontation. Kuljapin hatte demonstriert, dass die Milizverwaltung nicht unantastbar war. Sein Nachfolger, Jakovlev, bewies, dass ein modus vivendi möglich war, in dem die Miliz Defizite im Ermittlungsverfahren punktuell auch als solche ernst nahm. Kuljapin hatte aber auch bewiesen, dass das Regime bis 1953 kein Interesse daran hatte, das MVD (und die GUM) permanent an Regeln zu binden. Parallel zu den überbehördlichen Konflikten haderte die Staatsanwaltschaft mit ihren eigenen institutionellen Schwächen. Bis zum Ende des Krieges fehlten der Behörde in der Provinz die elementarsten Mittel, um mit den Kriminalitätswellen, dem sozialen Chaos der Evakuierung und den operativen Tätigkeiten des Innenministeriums Schritt zu halten. In der Nachkriegszeit wurden viele der Ausrüstungsmängel beseitigt. In einigen Abteilungen wurde zusätzliches und besser ausgebildetes Personal nachrekrutiert. An der Gesamtstärke der Kader in Molotov änderte sich jedoch ebenso wenig wie an der finanziellen Versorgung. Die Staatsanwaltschaft bot zu Stalins Lebzeiten weniger Prestige und materielle Sicherheiten als beispielsweise die Geheimpolizei. In der Konsequenz fehlten die Karriereanreize und entsprechend häufig ausreichend motivierte Beamte in den Bezirken. Diese Situation machte sie nicht nur anfällig für korruptes Verhalten. Sie schmälerte auch die Chancen, dass Staatsanwälte ihre Pflichten gegen größere Widerstände durchsetzten, wie z.B. im Lagersystem. Die Durchsetzung der sowjetischen Gesetze war eben auch von den verfügbaren Ressourcen abhängig. Bis 1953 entwickelte sich die Staatsanwaltschaft dennoch als zuverlässige, parteinahe und funktionale Alternative zur Disziplinierung der Gesellschaft und des Staatsapparates – solange sie parallel zum oder abseits vom Innenministerium operierte. Die Strafverfahren lieferten immer häufiger die erwarteten und geforderten Resultate. Ermittlungen führten fast immer zu einem Urteil. Die Parteiführung förderte diese Entwicklung und quittierte die Erfolge der Justiz mit neuem politischem Vertrauen. Obgleich die Staatsanwaltschaft ihre Kompetenzen nach 1945 vertiefte und die Justiz insgesamt einen funktionaleren Staatsaufbau repräsentierte, war die politische Macht des Innenministeriums ungebrochen. Die Geheimpolizei regierte über ‚ihr‘ Lagersystem weitestgehend unbeeindruckt von den Ansprüchen der Staatsanwälte. Die Milizionäre entzogen sich der Verantwortung gegenüber der Prozessordnung. Massenhafte Willkür war kein programmatisches Element sowjetischer Herrschaftspraxis mehr, wurde aber in Ansätzen noch immer toleriert – in Gestalt des Lagersystems und der Ermittlungspraxis der Miliz. Stalins Tod ebnete den Weg für eine gesamtstaatliche Transformation in eine regelhaft und planbare operierende, eine disziplinierte Diktatur. Die kollektive Führung erkannte in der Staatsanwaltschaft das Instrument, um ihren Reformkurs zu

Schlussbetrachtung

427

vollziehen. Die Rhetorik von Recht und Regelhaftigkeit diente als Vertrauensangebot an die Bevölkerung. Der Staatsanwalt lieferte die nötige Funktionalität, um die Systemkrise des Lagersystems ebenso zu bewältigen wie das soziale Chaos, das die erste Entlassungswelle aus dem Gulag hervorbeschwor. Er verfügte über die Expertise und, mit der Reform der Militärgerichtsbarkeit, auch über die Autorität, um staatliches Handeln regelhaft, vorhersehbar und präziser zu gestalten. Dazu musste die Parteiführung lediglich in eine Entwicklung investieren, die ihren Anfang bereits 1945 genommen hatte. So übernahm der Staatsanwalt formal die Kontrolle über alle Ermittlungen und setzte Regeln auch innerhalb des Lagersystems so weit durch, dass Regelverletzungen auch dort als Abnormität betrachtet wurden. Die in der Gulag-Forschung verbreitete Formulierung, dass Stalins Nachfolger beabsichtigten, die Methoden staatlichen Zwangs – in Gestalt des Lagersystems – „abzumildern“5, führt vor diesem Hintergrund in die Irre. Diese Methoden wurden nicht milder, sondern vorhersehbarer und präziser. Seit den 1930er-Jahren artikulierte und verteidigte die Staatsanwaltschaft die Prinzipien einer regelhaften und politisch flexiblen Staatsgewalt. Sie wies den Weg in eine Diktatur, die sich, im Ermessen eines höheren politischen Interesses über Gesetze hinwegsetzte, diese Regeln jedoch zur Steuerung sozialer Konflikte dringend benötigte. Seit 1938 entwickelte sie sich vom Juniorpartner der Geheimpolizei zum primären Herrschaftsinstrument, das die massenhafte Willkür als Element der Herrschaft ablehnte und einzig die Partei (und nicht das NKVD/MVD) als übergesetzliche Autorität akzeptierte. Sie beanspruchte zu Stalins Lebzeiten für die Justiz eine Rolle, wie sie aus den Dissidentenprozessen der 1960er- und 1970er-Jahre bekannt war. In dieser Rolle war Recht ein Instrument zur Ahndung und Vergeltung in den Händen der Partei, das vorhersehbar eingesetzt wurde. Andersdenkende erhielten darin keinen fairen Prozess, aber sie konnten antizipieren, wann ihre Handlungen als subversiv eingestuft würden – ein enormer Unterschied zu den politischen Prozessen der Stalin-Zeit.6 Staatsanwälte verkörperten in den 1940er-Jahren eine Stabilität, die Chruščev schließlich zu seiner Agenda machte. Vor dem Hintergrund der stalinistischen Massenverbrechen weckt diese Stabilität häufig Assoziationen mit Rechtsstaatlichkeit. In Molotov war es Dmitrij Kuljapin, 5 „The Gulag system reproduced, in the purest unmitigated forms, the fundamentally coercive ways in which the Soviet state interacted with Soviet citizens. Leaders after Stalin attempted to mitigate that coercion […]“. Shearer, David: The Soviet Gulag – an Archipelago?, in: Kritika 16 (2015), H. 3, S. 724. 6 „The ‚soft repression‘ of the Brezhnev years […] was far less arbitrary and unpredictable than the repression of the Stalin period. First, there was greater clarity than ever about what was and was not permissible“. Tompson, William: The Soviet Union under Brezhnev. London 2003, S. 103. Zit. Suny, Ronald Grigor: The Soviet Experiment: Russia, the USSR and the Successor States. Oxford 1998, S. 433.

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Schlussbetrachtung

der aus dem Berufsbild des Staatsanwaltes auch eine moralische Verpflichtung ableitete. Ein Staatsanwalt konnte sein Gerechtigkeitsempfinden berufsmäßig artikulieren und damit sogar in Konflikt mit den Rechtsvorstellungen geraten: Wenn Kuljapin beispielsweise auch den politischen Häftlingen im Gulag individuelle Rechte einräumte. Solche Vorstellungen blieben jedoch die Ausnahme. Moralische bzw. individuelle Vorbehalte gegenüber der Strafpraxis blieben, wenn überhaupt, dem richterlichen Ermessen oder den Bemühungen des Strafverteidigers vorbehalten. Darüber hinaus schlossen das sowjetische Rechtsverständnis und die beruflichen Ansprüche der Staatsanwaltschaft Rechtsstaatlichkeit im Sinne einer unabhängigen Justiz aus. Der sowjetische Rechtsbegriff blieb nach 1938 und auch nach 1953 im Kern unverändert. Der sowjetische Staat operierte regelhaft und politisch flexibel zugleich. Diese Flexibilität besiegelte auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Schicksal zahlreicher Andersdenkender.7 Chruščev verzichtete zwar auf den Einsatz stalinistischer Herrschaftsmethoden, also: auf den Einsatz von Massenverhaftungen. Das Vorrecht der Partei, für politische Bedrohungen eine außergerichtliche ‚Lösung‘ herbeizuführen, blieb indes bestehen – und damit die Aufgabe des KGB. Genauso behielt die Parteiführung bis in die späten 1980er-Jahre alle Kompetenzen der Legislative in ihrer Hand, um Gesetze nach Belieben aufzuweichen.8 Die Staatsanwaltschaft verkörperte die Durchsetzung von Regeln, in dem von der Partei abgesteckten Rahmen, nicht die Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit. Sie artikulierte und strebte nach dem „rule by law“ durch die Einparteiendiktatur, anstelle des „rule of law“ – noch zu Stalins Lebzeiten.9 Was verrät diese Kontinuität über den Stalinismus? Obgleich das Innenministerium die größere politische und exekutive Autorität innehatte, war auch die stalinistische Diktatur ohne regelhafte und vorhersehbare Elemente in ihrer Herrschaft nicht funktionsfähig. Die Staatsanwaltschaft durfte dabei nicht nur eine Nische ausfüllen. Der Raum, der ihr zur Durchsetzung und Artikulation des „rule by law“ Prinzips gewährleistet wurde, wuchs nach 1945 kontinuierlich. Willkür war insofern kein

7 Vgl. Kozlov, The Meaning of Sedition, S. 37–50. 8 Vgl. Huskey, From Legal Nihilism, S. 33–39. Ab 1956 instrumentalisierte das Regime das sogenannte „chuliganstvo“ als „catch-all“-Kategorie, um jede noch weit gefasste Erscheinung sozialer Andersartigkeit zu kriminalisieren. Vgl. Lapierre, Hooligans in Khrushchev‘s Russia, S. 132–168. 9 Der „rule by law“-Begriff wird vor allem auf „autoritäre“ Regime angewandt, die, anders als beim „rule-of-law“, den essentiellen Nutzen einer funktionalen Gerichtsbarkeit anerkennen, ihren Herrschaftsanspruch jedoch über gesetzliche Verbindlichkeiten stellen. „In authoritarian regimes, either by compulsion or conviction, judges can independently and effectively pursue rule of law in the sense of government obedience to its own rules without acknowledging rights endowed with priority over those rules.“ Shapiro, Martin: Courts in Authoritarian Regimes, in: Tom Ginsburg/Tamir Moustafa (Hg.), Rule by Law. The Politics of Courts in Authoritarian Regimes. Cambridge (MA) u. a. 2008, S. 330.

Schlussbetrachtung

429

Alleinstellungsmerkmal der stalinistischen Herrschaft, sondern eine institutionalisierte Option – in Gestalt der Geheimpolizei. Mit Einschränkung ihrer Autorität ab 1953 rückte dieses Element in den Hintergrund. Die kollektive Führung veränderte ihre Herrschaftspraktiken und nutzte dazu die Strukturen und Kenntnisse, die „geordnetes Verwaltungshandeln“10 ermöglichten und die seit 1938 Bestand hatten. Die sowjetische Diktatur durchlief nach 1953 also keine „Entstalinisierung“, sondern ihre Selbstdisziplinierung – über die Stärkung der Staatsanwaltschaft. Um die Konkurrenz zwischen den Behördenstrukturen besser nachzuvollziehen, müssten künftige Arbeiten den Blick auf die Arbeit der Specotdel und die politischen Verfahren in den 1940er-Jahren richten. Grundsätzlich sollte auch der Frage des Berufsethos’ im Kontext der stalinistischen Diktatur nachgegangen werden, um den genauen Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Vorstellungen, Ideologie und Berufsalltag besser auszuleuchten.11 Vor allem aber muss die Perspektive des Innenministeriums und der GUM auf diese Konkurrenz nachvollzogen werden. Wie bewerteten die Miliz und die Geheimpolizei ihre eigenen Methoden und die Interventionsversuche von Seiten der Staatsanwaltschaft? Welche Rolle spielte die Militärstaatsanwaltschaft vor 1953? Dieser Perspektivwandel wird zurzeit durch die Aktenlage erschwert. Er verspricht allerdings wichtige Erkenntnisse: über die Konkurrenz und das Zusammenspiel dieser Behördenstrukturen, darüber, welche Konsequenzen das MVD aus den Erfahrungen der Massenoperationen zog und darüber, ob der November 1938 die erste und entscheidende Zäsur in der Geschichte des Stalinismus ist.

10 Puttkamer, Sozialistische Staatlichkeit, S. 11. 11 Gerade mit Blick auf die legitimationsstiftende Funktion einer Profession ergibt sich die Frage, wie sich Ideologie und Berufsalltag im Stalinismus miteinander verschränkt haben können. Zur Anregung vgl. Koehn, Daryl: The Ground of Professional Ethics. London/New York 1994, S. 7–9.

A BK Ü R Z U NGSV E R Z EIC H N IS

FZO

Škola fabrično-zavodskogo obučenija (Fabrikausbildungschule)

GKO

Gosudarstvennyj komitet oborony (Staatliches Verteidigungskomitee)

GULag

Glavnoe upravlenie ispravitelʼno-trudovych lagerej (Hauptverwaltung für die Besserungs-Arbeitslager)

GURKM/GUM

Glavnoe upravlenie raboče-krestjanskoj milicii (Hauptverwaltung der Arbei-

KGB

Komitet gosudarstvennoj bezopasnosti SSSR (Komitee für Staatssicherheit

KPZ

Kamera predvaritelʼnogo zaključenija (Untersuchungshaftzelle)

MGB

Ministerstvo gosudarstvennoj bezopasnosti (Ministerium für Staatssicherheit)

MVD

Ministerstvo vnutrennych del (Ministerium für innere Angelegenheiten)

ter- und Bauernmiliz) der UdSSR)

NEP

Novaja Ekonomičeskaja Politika (Neue Ökonomische Politik)

NKJu

Narodnyj komissariat justicii (Volkskommissariat für Justiz)

NKVD

Narodnyj komissariat vnutrennych del (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten)

OGPU

Obʼʼedinennye gosudarstvennye političeskoe upravlenie (Vereinigte staatliche

OBChSS

Otdel po borʼbe s chiščenijami socialističeskoj sobstvennosti (Abteilung zur

politische Verwaltung) Bekämpfung von Diebstahl sozialistischen Eigentums) OI

Osobaja inspekcija (Besondere Inspektion)

OSO

Osoboe soveščanie (Sonderberatung)

PSROSiP

Professionalʼnyj sojuz rabotnikov organov suda i prokuratury (Gewerkschaft der Mitarbeiter der Organe des Gerichts und der Staatsanwaltschaft)

ROA

Russkaja osvboditelʼnaja armija (Russische Befreiungsarmee)

RSFSR

Rossijskaja socialističeskaja federalʼnaja sovetskaja respublika (Russische

SovNarKom

Sovet narodnych komissarov (Rat der Volkskommissare)

UdSSR

Union der sozialistischen Sowjetrepubliken

sozialistische föderale Sowjetrepublik)

UK

Ugolovnyj kodeks (Strafgesetzbuch)

UGB

Upravlenie gosudarstvennoj bezopasnosti (Verwaltung für Staatssicherheit)

UMGB

Upravlenie ministerstva gosudarstvennoj bezopasnosti (Verwaltung des Minis-

UMVD

Upravlenie ministerstva vnutrennych del (Verwaltung des Ministeriums für

teriums für Staatssicherheit) innere Angelegenheiten)

432

Abkürzungsverzeichnis

UNKVD

Upravlenie narodnogo komissariata vnutrennych del (Verwaltung des Volks-

UPK

Ugolovno-processualʼnyj kodeks (Strafprozessordnung)

VČK

Vserossijskaja črezvyčajnaja komissija po borʼbe s kontrrevoljucej, spekulja-

kommissariats für innere Angelegenheiten)

ciej i sabotažem (Allrussische Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage) VKP (b)

Vsesojuznaja Kommunističeskaja Partija (bolʼševikov) (Kommunistische Allunionspartei der Bolʼševiki)

VUZ

Vysšee učebnoe zavedenie (Höhere Bildungseinrichtung/Hochschule)

ZK

Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion

QU ELLE N - U N D LI T E R AT U RV E R Z EIC H N IS

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SAC H- U N D NA M E NSR E GIST E R

Abteilung für Angelegenheiten Minderjähriger: 154, 161, 236, 237, 308, 318, 355 Abteilung für Haftaufsicht: 24, 117, 123, 185,

Arbeitsethos 76, 175, 183, 399, 429 Arbeitsbedingungen für Staatsanwälte 81–82, 175, 234–35

202–13, 217, 235, 237, 272, 274–90, 314,

Arbeitslager ➝ Gulag ➝ Zwangsarbeit

330, 353–56, 370–84, 390, 394, 425

Arbeitsvergehen

Abteilung für Milizaufsicht: 24, 168, 181, 183–86, 189–90, 196–204, 217, 219, 236–37, 249, 251–253, 257–258, 262–73, 295–96, 348, 388–90, 396–99 Abteilung für Gerichtsaufsicht: 51, 54, 139– 140, 304, 316 Administrative Abteilung: 24–25, 243–45, 288–89, 343

–– Befehl vom 26. Juni 1940 127–44, 149, 187 –– Befehl vom 26. Dezember 1941 („Arbeitsdesertion“) 129, 133, 136–51, 173, 194, 208, 219, 279, 280, 294, 424 Arrest 86, 88, 99, 102, 189–97, 202–03, 209– 11, 219, 244, 250–57, 262, 264, 268, 271, 275–76, 390–96, 401

Advokat 76, 168–70, 172–73

Ausbildung (in der Justiz)

Alekseev, Kirill 95–100, 105, 112, 125, 135,

–– Autokratie 33, 35–36, 46 ➝ Zarenreich

424 Alkoholismus 187, 387, 410–11 Amnestie –– vom 7. Juli 1945 (anlässlich des „Sieges

–– Fernkursausbildung 78, 79, 227, 229–236 –– Höhere juristische Ausbildung 95, 118, 127, 233–34, 345–46, 349, 393 –– Reformen 77–80, 225–32

im Großen Vaterländischen Krieg“) 274, 278–80, 283 –– vom 27. März 1953 („Berija-Amnestie“) 332–335, 352–58, 368, 370, 377, 395, 409 –– Amnestie-Empfehlung der Revisionskommissionen 360, 367

Berija, Lavrentij 60, 64–66, 81, 84–88, 91– 92, 109, 112, 184, 279, 324, 327, 332–38, 340–42, 344, 350, 352–54, 359, 368–69, 374, 383, 392 Beschwerden 50, 52, 87–88, 92, 106–08, 110, 168–72, 184, 191–92, 195–96, 199, 205,

Analogie 40, 45, 56, 72, 75 Anklage 16, 45–49, 52–57, 72, 76, 86, 90–97,

214, 250, 252, 258–59, 272, 303, 307, 322, 359, 361, 363–64, 375, 398

102–04, 109–11, 128–30, 140–50, 168,

Besserungsarbeit 171, 370–371, 417

171, 181–82, 188–93, 211, 251, 262, 265,

Bestechung 180, 188, 239–41, 260–61

293–301, 307–08, 315–17, 321, 325, 336,

Bewährungsstrafe 171–72, 181, 301–07,

338, 354, 362, 364, 371, 376, 379, 395–98, 404–408, 412, 415 Arbeitsdisziplin ➝ Arbeitsvergehen

320–23, 404–08, 416 Beweise –– Einstellung des Verfahrens aus Mangel 86,

450

Sach- und Namensregister

103, 109, 137, 148, 211, 296, 308, 367, 379, 396, 404–05, –– Beweismittelprüfung 53, 72, 105, 110,

275, 292, 301–07, 320, 324–25, 377, 394, 403–08, 415–16 Foucault, Michel 18–20

135, 294, 359, 365, 406, 415 –– Manipulation von Beweismitteln 88, 97, 334, 358, 361 Bočkov, Viktor 80, 82, 110, 117–18, 130–131, 139, 140–41, 146, 150, 159, 190

Gefängnisse –– Inspektionen 27, 87, 203–05, 207, 211, 218, 275, 277–78 –– Verwaltung 211, 276–78

Bulganin, Nikolaj 347

Gehalt 112, 235, 375

Bürgerkrieg 26, 33, 35–38, 46, 56, 75, 126,

Geheimpolizei ➝ ČK ➝ MVD ➝ NKVD

152–53, 161

➝ OGPU Geheimrede 329–30, 351, 368

Chlopina, Varvara 405–06

Generalstaatsanwaltschaft 22, 265–270, 273–

Chmelevskij, Kuzʼma 246, 260–61, 263, 267

74, 283, 285–90, 302, 305, 312, 316–18,

Chruščev, Nikita 328–30, 338, 341–48, 350,

322, 352, 354, 356, 360, 366, 370, 377,

358, 360, 367–68, 370, 383, 427–28 ČK 37–38, 423 ➝ OGPU ➝ NKVD

393, 412 Gercenzon, Aleksandr 75 Gerichte

Diebstahl –– Befehle vom 4. Juni 1947 291, 295, 301– 03, 307, 321, –– Kampagne gegen 291–308, 310, 320, 322, 325

–– Oberstes Gericht 24, 48, 54, 73, 75, 83, 91, 93, 100, 106, 109, 110, 226, 302, 304, 342, 403, 407 –– Regionalgericht (Molotov) 135, 177, 305– 07, 322, 355, 405–08

Disziplin 18–20

–– Volksgericht 73, 150, 158, 160, 357, 405

Dobrynin, Georgij 282

Gerichtsgesetz 51, 73–75, 83, 159, 403

Dzeržinskij, Feliks 152

Gerichtsmedizinm 234, 377, 379–80, 389 Gesundheitsministerium 156, 310–11

Ermittlungstechnik 318, 323, 325, 393, 419

Gewerkschaft 80, 342

Evakuierung 116–17, 122–24, 127, 162, 249,

Goglidze, Sergej 87

426 Ežov, Nikolaj 60–61, 63–66, 83–84, 88, 112, 332

Gogolʼ, Nikolaj 239 Goljakov, Ivan 75, 83, 226–27, 229, 304 Gorbačev, Michail 43, 69 Goršenin, Konstantin 118, 199, 201–02, 260,

Fachzeitschriften 25, 53, 118, 185, 204 Fahndung 140, 146–47, 225, 250, 271, 294, 392–93, 398, 416, 419, 425

264, 266, 269, 302, 335, 404 „Großer Terror“ ➝ Massenoperationen Gulag

Folter 14, 88, 91, 101–02, 109, 111, 342

–– Aufstände 283–84, 368, 374

Freisprüche 52, 72, 75, 93–94, 104–05, 109–

–– Gerichtsbarkeit im Lager 212, 284–85,

11, 129–30, 135, 137, 144, 148–49, 171,

288, 378, 403, 420, 425 ➝ Lagerstaats-

189, 205, 224, 232, 259, 262, 270, 272,

anwalt

Sach- und Namensregister

–– GULag 15, 24, 156, 173, 184, 203, 206,

451

Juni-Befehl ➝ Arbeitsvergehen

212, 215, 217, 220, 280, 282, 284, 287,

Justizministerium 24, 83, 147, 150, 233, 264,

289, 311, 353–54, 374, 376, 381, 386,

302, 314, 319, 335, 338, 343, 353, 369,

420, 425

382, 403–04, 424 ➝ Volkskommissariat

–– Inspektionen 21, 82, 165, 184–85, 203–7,

für Justiz

212–18, 278, 285–86, 311–13, 354, 371– 72 ➝ Abteilung für Haftaufsicht –– Invaliden und Kranke im 184, 208, 280– 83, 285, 352–53, 357

Kampagnenjustiz ➝ Arbeitsvergehen ➝ Diebstahl Kassation 54, 73, 75, 177, 307, 316, 406–07

–– Reformen 337, 351–384, 417

Kobulov, Bogdan 88–89

–– Zwangsarbeit 186, 203, 278, 351, 370

Kolchose 167–68, 237, 298–99, 321

GUM 25, 186–87, 195, 201, 210, 386–87,

Kollektivierung 35, 41–43, 51, 59–60, 68,

400–01, 410, 426, 429 ➝ Miliz

153–54, 324 Kommunistische Partei

Haftaufsicht ➝ Abteilung für Haftaufsicht Herrschaft 17–22, 30–32 Hooligan 157, 170, 251, 272, 319, 319, 321, 395, 410, 412

–– Bezirkskomitee 181, 239, 241–244, 247, 410 –– Einflussnahme auf die Justiz ➝ Adminis­ trative Abteilung

Innenministerium ➝ NKVD ➝ MVD

–– Parteimitgliedschaft und Staatsanwalt-

Jakovlev, Michail 236, 238, 270, 272–73,

–– Regionalkomitee (Molotov) 24, 130, 132,

schaft 178, 233, 242, 344, 347 295, 297–99, 304–06, 361, 366, 375, 394,

143–45, 147, 162, 178, 180–181, 186,

396–98, 401–02, 409, 424–26

193–94, 196, 212, 214–16, 218, 236,

Jugend

242–44, 246–47, 254, 263, 266–67, 271,

–– Aufnahmeverteiler 156, 161–62, 311,

284–85, 401, 406, 418

417–18 –– Eltern und Jugendstraftaten 155–56, 158, 160–61, 164–65, 170–71, 236, 317–19, 411–15 –– Fürsorgeeinrichtungen 156–57, 161–66, 310–14, 409–12, 417–19 –– Jugendkriminalität 21, 119, 129, 151–60, 172, 174, 200, 222, 225, 308–325, 385, 387, 409–419 –– Jugendobdachlosigkeit 123, 151–57, 160, 310–14, 319, 323, 410–12 –– Jugendstrafkammer 159–60 –– Jugendstrafrecht 153, 158, 220, 226, 416, 419, 424 –– Waisenhäuser 309–10, 417–18

–– Strafverfolgung von Parteimitgliedern 53, 55, 71, 181, 240, 243–47, 257, 262, 386 –– Zentralkomitee 25, 48, 69, 86, 119, 228, 240, 246, 263, 288, 302–03, 341, 343–45, 347, 352, 359–60, 365, 370, 387 Komsomol, Komsomolzen 157, 309, 319, 321, 323, 345, 387, 409–10, 416 „Konterrevolution“ 16, 37, 40, 59, 65–71, 75, 83, 90, 92–94, 96, 98, 101–05, 108, 110–11, 113, 133, 157, 180, 183, 292, 333, 343, 351, 353, 358–61, 366, 403 ➝ Paragraph 58 Korruption 21, 42, 46, 119, 157, 175–183, 219, 240–41, 248, 260, 292, 310

452

Sach- und Namensregister

Krieg –– Kriegsdienst 118, 123, 138, 207, 278 –– Justiz im Krieg 114–20 ➝ Militärgerichtsbarkeit –– Kriegsgefangene 122, 213, 215, 274, 363

Minderjährige ➝ Jugend ➝ Abteilung für Angelegenheiten Minderjähriger Molotov, Vjačeslav 23, 80, 201–02 Moskalenko, Kirill 342 MVD 30, 242, 250–51, 253, 255–57, 259,

Kruglov, Sergej 313, 342, 359–60, 370–71

261–67, 273, 277, 279, 284–85, 289–90,

Krylenko, Nikolaj 41–42, 48

303, 310–12, 324–26, 331, 340, 348, 351–

Kuljapin, Dmitrij 125–27, 141–50, 163–74, 177–80, 182, 186, 189–99, 202, 204–06,

59, 365, 367–71, 374, 375–79, 380–87, 395, 403, 417–19, 425–27, 429 ➝ NKVD

208–11, 214, 216–21, 224–26, 236, 238, 241, 243–44, 246, 249–74, 277–79, 287,

Nasedkin, Viktor 212

284–86, 291, 295, 298, 305, 326, 391,

NEP 35, 38–41, 46, 152–55, 298–99

424–428

Nihilismus 35–39, 41, 44, 46, 262 NKVD 15, 27, 30, 51–52, 59–65, 67–69,

Lagerstaatsanwalt 20, 212, 286, 353–57, 371, 374–81, 383, 425

71, 76, 82–113, 115–16, 126–27, 138–39, 150, 152, 156–58, 160–70, 173–74, 183,

Legalismus 35, 38–39, 42

185–90, 193–94, 198, 203–04, 206–07,

Lenin, Vladimir 34, 36, 38, 46–49, 54, 152

208, 210–13, 215–17, 225, 279–80, 423, 427 ➝ MVD

Malenkov, Georgij 65, 343

NKJu 158–60, 172

Massenoperationen

Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse 338,

–– Beendigung der 62–69

341

–– Revision der Fälle 83–108 –– Rolle der Staatsanwaltschaft in 59–69

Oberster Sowjet 48, 81, 303, 320, 347, 386

Militärgerichtsbarkeit 20, 118, 133, 388, 390,

OGPU 41, 51–52 ➝ ČK ➝ NKVD➝ MVD

392, 403, 425, 427 Militärstaatsanwaltschaft 55, 88–90, 125,

OSO 84, 86, 102, 107, 109, 112, 358, 360,

386, 403

139–40, 146, 148–49, 188, 201, 216, 250– 51, 265, 269, 361–62, 429 Militärtribunale 23, 55, 66, 91–92, 115, 133, 138, 140–41, 146–50, 194, 215, 223, 265, 292, 358, 362, 369–72, 379, 386 Miliz –– Ausbildung 187–88, 199, 268, 399 –– Dienstvergehen 186–88, 190–91, 197, 251–52, 254–57, 264, 268, 270, 288 –– Hauptverwaltung der Miliz ➝ GUM –– Staatsanwaltschaftliche Aufsicht über

➝ Abteilung für Milizaufsicht

Pankratʼev, Michail 81–82, 109–10, 112–13, 129, 184 Paragraphen 51; 53 (Strafgesetzbuch) Bewährungsstrafe bzw. Unterschreitung des Mindesstrafmaßes 320–22 Paragraph 58 (Strafgesetzbuch) 16, 59, 71, 85, 97, 104, 362–64 ➝ „Konterrevolution“ Paragraph 100 (Strafprozessordnung) 189

➝ Arrest Paragraphen 109; 121; 127 (Strafgesetzbuch) 176, 179 ➝ Dienstvergehen

Sach- und Namensregister

Paragraph 162 (Strafgesetzbuch) 301

➝ Diebstahl Paragraph 204 (Strafprozessordnung) 296

➝ Beweise bzw. Beweismittel Parteikontrollkommission 107, 303 Politbüro 15, 26, 46, 48, 62–66, 83, 88, 91– 92, 112, 328, 336, 423

Safonov, Grigorij 133, 210, 231, 246, 252, 263–66, 268, 281–82, 286–88, 290, 303– 04, 312–13, 343–45 Schauprozess 14–15, 17, 31, 53, 64, 70, 77, 223, 335, 422 Skrypnik, Grigorij 193–96, 243, 251–54, 258–67, 269, 272–74

Prass, Filipp 369

Solženicyn, Aleksandr 151

Präzedenzfälle 45, 366

Sondersiedlungen 23, 121–22, 184, 360

Protest 50, 52, 54, 73, 104–05, 109–10, 135,

SovNarKom 131, 159 ➝ Rat der Volks­

148, 172, 219, 289, 305–08, 316, 321–23, 349, 359, 361, 369, 404–07 Prozessordnung 51–53, 55, 67, 71, 73–74, 76, 79, 85–86, 93, 99, 101–102, 104, 105,

453

komissare Sozialistische Gesetzlichkeit 42, 43, 49, 57, 84, 248, 254–55, 327, 329, 332–36, 338, 340, 350, 403, 420

109, 111, 113, 132, 140–41, 143, 146, 150,

Sozialistischer Wettbewerb 80, 237

158–60, 167, 174, 189–91, 197, 204, 218,

Stalin, Iosif 14, 22, 28–29, 31, 62–64, 67, 81,

220, 229, 239, 247, 255, 268–269, 295–96, 316, 330, 360, 363, 368, 392, 419, 424, 426

84, 91, 101, 104, 106, 159, 174, 279, 292, 332, 358, 365, 423–424, 427 Strafgesetzbuch 37, 40, 46, 51, 75, 85, 154, 171, 176, 204, 239–40, 247–48, 255, 269,

Rat der Volkskommissare 130–31, 154

➝ ­SovNarKom

291–92, 301, 304, 327, 330, 334, 340, 368, 389, 419, 424

Recht

Strafrecht 64, 77, 131, 227, 230–31

–– Sowjetische Rechtstheorie 35–45, 51, 57

Stučka, Petr 39–40, 56

–– Recht und Herrschaft 17–20, 31–32, 422–

Suizid 96, 187–88, 272, 373, 378

23, 427–28 Rehabilitierung 331, 360, 364, 367, 386

Tadevosjan, Vramšapu 154, 200, 316, 321

Revisionskommissionen 352, 360–68, 384

Todesstrafe 215

Revolution 33–38, 44–45, 57–58, 126, 152,

Totalitarismusdebatte 26

333, 422 Richter 39–40, 45, 60, 73, 76–78, 93–95, 104,

Trojka 62–64, 66, 69, 92, 102, 106–110, 112, 341, 358, 360

109, 111, 117, 124, 129, 131–32, 136–37, 148–49, 151, 159–60, 171–75, 179, 223–

Unionsstaatsanwaltschaft 42, 48, 65, 72,

24, 227, 229, 238, 255, 292, 301–05, 307,

79–80, 99–100, 107, 117, 123, 125, 132,

315, 319–22, 325, 334–35, 343, 345, 366,

134, 140, 150, 184–85, 190, 194–96, 198,

403–08, 416

201–05, 207, 217, 249, 264, 279 ➝ Gene-

Ryčkov, Nikolaj 66, 147, 264 Rudenko, Roman 29, 338–44, 348, 350, 360– 61, 366, 376, 382, 391–92

ralstaatsanwaltschaft Untersuchungshaft 96–100, 105, 170, 189–90, 192–94, 196, 272, 280, 354, 413 ➝ Arrest

454

Sach- und Namensregister

„Vaterlandsverrat“ 362 Vergewaltigung 187, 321, 384, 395, 414 Verfassung (1936) 16, 42–44, 46, 48–49, 51, 68–69, 168, 246–47, 258, 269, 291, 334– 35, 339–40, 348–49, 422 Verhör 51, 61, 71, 87, 89–91, 97–98, 101,

90–91, 93–94, 98, 99–100, 108–09, 111, 126, 151, 173, 291, 306, 336–37, 340, 366 Vorermittlung 137, 139–41, 149–50 Vyšinskij, Andrej 15, 27, 41–44, 48, 55–56, 64–66, 70–71, 74, 76, 79, 81–90, 92–93, 97, 99, 106, 109, 111, 172, 341, 349

109, 168, 170, 178, 189, 191, 194, 198, 210, 219, 249, 253, 255, 259, 260, 268–69,

Waisenkinder 123, 151, 156, 162–63, 417–18

317–18, 342, 361, 363–64, 390

Weber, Max 17

Verteidiger 60, 78, 124, 158, 168–70, 172–73,

Wiederholungstäter 195, 207, 287, 353

181, 246, 407, 428 ➝ Advokat Veruntreuung 107, 125, 166, 215, 239, 242, 244, 285, 296, 298, 311 Volkskommissariat für Inneres 15 ➝ NKVD Volkskommissariat für Justiz 47, 48, 66, 78, 174 ➝ NKJu

Zarenreich 33–36, 131, 154 Zacharov, Aleksandr 163, 250, 253–63, 266, 271–73, 279 Ždanov, Andrej 88, 112, 303, 332 Zivilrecht 52, 123, 196, 230

Volin, Anatolij 81–82, 130, 144, 295, 403–04

ZK ➝ Partei

„Volksfeind“ 55, 63, 67–68, 70–73, 84–85,

Zwangsarbeit ➝ Gulag

BEITR ÄGE ZUR GESCHICHTE OSTEUROPAS HERAUSGEGEBEN VON

JÖRG BABEROWSKI, KLAUS GESTWA, MANFRED HILDERMEIER UND JOACHIM VON PUTTKAMER

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