Musik und Kunst in der sowjetischen Revolutionskultur bis 1932: Ein Konzeptvergleich 9783412334758, 9783412204242

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Musik und Kunst in der sowjetischen Revolutionskultur bis 1932: Ein Konzeptvergleich
 9783412334758, 9783412204242

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Wolfgang Mende Musik und Kunst in der sowjetischen Revolutionskultur

Wolfgang Mende

Musik und Kunst in der sowjetischen Revolutionskultur

© 2009 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Illustration aus der Zeitschrift Muzykal'naja nov' (Musikalisches Neuland), 1924, Nr. 6-7, S. 4, vermutlich von Petr Galadzev.

© 2009 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Autor und Verlag haben sich bemüht, alle Inhaber von Bildrechten ausfindig zu machen. Berechtigte Hinweise auf übersehene Rechtsansprüche an den verwendeten Abbildungen erbitten wir an den Verlag. Druck und Bindung: M V R Druck GmbH, Brühl Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20424-2

Inhalt

EINFÜHRUNG

11

1. Fragen und Ziele 2. Struktur der Darstellung 3. Quellen 4. Forschungsstand 5. Wiedergabe russischer Bezeichnungen und Texte

11 16 18 20 32

TEIL 1 -

DER RUSSISCHE FUTURISMUS: BINDEGLIED ZWISCHEN MARINETTI

UND LEF?

35

1. Der russische Kubo-Futurismus und die %aum -Poetik 2. Affinitäten und Differenzen zum italienischen Futurismus 3. Futuristische Musik 4. Pobeda nad solncem (Der Sieg über die Sonne) als musikalische ^aum' 5. Resümee

36 42 45 51 58

TEIL 2 - DIE ENTWICKLUNG DER LINKEN KUNST BIS 1 9 3 0

61

I. Frühe Konzepte einer proletarischen' Kultur 1. Kultur, Kunst und Proletariat aus marxistisch-leninistischer Sicht 2. Aleksandr Bogdanovs „Allgemeine Organisationswissenschaft" (Tektologie) 3. Die Kunstpraxis des Proletkul't 4. Aleksej Gastevs „Wissenschaftliche Organisation der Arbeit" (NOT) 5. Resümee

61 62

II. Vom russischen Futurismus zur sowjetischen linken Kunst (1917-1921) 1. Der Aufstieg des Futurismus in die Politik 2. Der schwere Weg zum sozialen Utilitarismus 3. Die Entmachtung der linken Kunstpolitiker 4. Artur Lur'e und der Ausstieg der Musik aus dem System der linken Kunst

67 72 78 82 84 85 87 91 92

6

Inhalt

III. Konstruktivismus: Kunst als ingenieuristische Organisation der Lebenswelt (1921-1925) 1. Konstruktivismus als abstrakter Ingenieurismus 2. Konstruktivismus als Organisation des Bewusstseins 3. Konstruktivismus als Produktionskunst 4. Konstruktivismus als Technik des Lebensaufbaus (ßi^nestroenie) 5. Konstruktivismus im sowjetischen Theater a. Vsevolod Mejerchol'd als Initiator des konstruktivistischen Theaters b. Reflexologie und Sergej Ejzenstejns „Montage der Attraktionen" c. Biomechanik, Produktionsgymnastik und „Kultur der industriellen Gestik" d. Boris Arvatov: Theater als „Fabrik des qualifizierten Menschen" e. Sergej Radlov: ein vergessener Pionier des linken Theaters f. Nikolaj Foregger und der „Tanz-Oktober" g. FEKS: Die Fabrik des exzentrischen Schauspielers h. Resümee

125 127 128 133 138 140

IV. Faktographie: Kunst als bewusstseinsaktivierende Montage von Alltagsfakten (1925-1930) 1. Die Krise des linken Kunst um 1925 2. Vom LEF zum Novyj LEF 3. Die Formale Schule und ihr Verhältnis zum LEF 4. Faktographie und Dialektik 5. Literatur des Fakts (Literaturafakta) 6. Faktographie in Fotographie und Film 7. Faktographie im Theater

142 144 148 152 157 159 161 165

TEIL 3 - L I N K E MUSIKKONZEPTE IN DER SOWJETUNION

173

I. Musikkonzepte aus dem Umfeld des LEF 1. Musik — ein Brachland im ,Lebensaufbau' des LEF 2. Manifeste zur Musik im nachrevolutionären Futurismus 3. Taylorismus, Rhythmus und Musik 4. Boris Arvatov: Musik als utilitäre Organisation akustischen Materials 5. Semen Kirsanov: Musik als Hypnotikum der .Bourgeoisie' 6. Viktor Sklovskij: Musik als Werkzeug der Automatisierung 7. Vsevolod Mejerchol'd: Musik als Motor der Verfremdung 8. Sergej Ejzenstejn: Tektologische Bezüge zwischen Musik und Film 9. Vladimir Kasnickij: Musik des Fakts (mu^kafakta) 10. Adrian Piotrovskij: Kinofizierung der Musik 11. Dziga Vertov: Audiovisuelle Faktographie im Tonfilm 12. Resümee

173 173 175 178 183 185 188 189 194 208 211 215 247

106 110 114 115 119 120 120 123

Inhalt

II. Die Revolution der musikalischen Materialbasis 1. Das technisch-szientistische Musikprogramm des Proletkul't und des GIMN 2. Arsenij Avraamovs linksradikaler Physikalismus 3. Arsenij Avraamovs Dampfpfeifensinfonien 4. Sergej Radlovs Monumentalinszenierungen 5. Geräuschkunst in der Sowjetunion a. Geräuschkunst im linken sowjetischen Theater b. Geräuschmusik in der Laienkunst III. Musikkonzepte in der Publizistik des Α SM- Kreises 1. Die ASM als apolitischer Förderverein für zeitgenössische Musik 2. Die trockistische Kulturtheorie der Mu^ykal'naja kul'tura 3. Leonid Sabaneevs Konzept von „zeitgenössischer Musik" 4. Der „Dialektiker" und die Kultur des Urbanismus 5. Boris Asaf evs Intonationstheorie und die „Krise des persönlichen Schaffens" 6. Die Asaf ev-Schule und der Formalismus 7. Boris Asafev und die industriell-urbane Gegenwartskultur 8. Viktor Beljaev und die mechanische Musik 9. Orest Cechnovicers Propaganda der ,Produktionsmusik' 10. Vladimir Bljum und die ideologische Plattform' der VOSM 11. Resümee IV. Nikolaj Roslavec: Organisator des postproletarischen Tonbewusstseins 1. Das „Neue System der Tonorganisation" als afunktionaler Kryptokonstruktivismus 2. Die Sinfonische Dichtung Komsomolija (Komsomolien): Militanter Skrjabinismus 3. Sveja (Die Näherin): Komponiertes Beweismaterial für Trockijs Kulturtheorie V. Vladimir Desevov: Musik als Gebrauchskunst des linken Theaters 1. Desevovs verzögerte Entwicklung als Komponist 2. Krasnyj vichr' (Der rote Wirbelwind): Die Revolution als abstrakte Tanzsinfonie 3. Desevovs ästhetische Anschauungen in den 1920er Jahren 4. Rel'sy (Gleise) als Fanal einer sowjetischen ,Produktionsmusik' 5. Musik für das Arbeitertheater TRAM 6. Die Oper Led istal' (Eis und Stahl) als „konstruktiver Realismus" a. Die Debatte um eine sowjetische Oper'im Jahr 1929 b. Entstehung und Konzeption von lJd i stal'

7 250 252 259 272 282 286 290 292 297 297 306 311 317 323 330 334 339 346 350 364 370 370 384 393 400 400 406 420 426 449 462 462 465

Inhalt

8

c. Boris Lavrenevs Libretto d. Desevovs musikalische Gestaltung e. Ud i stal' in der Kritik

469 472 495

VI. Aleksandr Mosolov als musikalischer Konstruktivist 1. Mosolovs Weg ,nach links' 2. Zavod (Die Fabrik) als Modell der Maschinisierung des Lebens a. Entstehung und szenische Konzeption b. Strukturelle Analyse — tektologische Bedeutung c. Rezeption 3. Mosolovs Weg zur großen Bühne 4. Plotina (Der Staudamm) als Werk eines korrumpierten Konstruktivismus a. Entstehung, Handlung und Dramaturgie b. Mosolovs musikalische Gestaltung c. Plotina in der Kritik

499 499 507 507 511 520 523

FAZIT

561

533 533 541 557

ANHANG

Glossar russischer Termini Abkürzungen russischer Institutionen Verwendte RISM-Siglen Daten zu den behandelten Werken Zitierte russischsprachige Periodika Primärliteratur Sekundärliteratur Musikalien Namen- und Werkregister Danksagung

569 570 573 574 584 589 613 626 629 643

Die Kunst als unmittelbares und bewußtes, planmäßig eingesetztes Werkzeug der Lebensgestaltung — das ist die Formel der proletarischen Kunst. (Boris Arvatov, Theoretiker des Proletkul't und der „Linken Front der Künste", 19261)

Die Musik ist die abstrakteste Form des künsderischen Schaffens. Und diese Besonderheit der musikalischen Kunst hat stets dazu geführt, dass die verschiedenen Strömungen und Richtungen des künsderischen Denkens, die aufgrund des Wandels der sozialen Verhältnisse entstanden sind, nur mit großer Verspätung ihre Widerspiegelung in der Sphäre der Musik gefunden haben, die deshalb den gesellschaftlichen Veränderungen immer hinterhergehinkt ist [...]. Während die Literatur, das Theater und das Kino unter dem Druck der durch die Revolution hervorgebrachten neuen ideologischen Anforderungen an die Kunst energisch ihre thematische Ausrichtung verändert und forciert neue Ausdrucks formen für den neuen Inhalt gesucht haben, hielt sich die Musik über lange Zeit hinweg abseits des neuen Kurses [...]. Hier, im Bereich der Musik, lebte man noch vom kulturellen Erbe der Vergangenheit, und erst in den letzten Jahren macht sich eine gewisse Bewegung in Richtung einer Befriedigung der künstlerischen Ansprüche der Gegenwart bemerkbar. Leitartikel der Kunstzeitschrift ίί%η' iskusstva, 19292

1 Boris Arvatov, hkusstvo i proi^yodstvo (Kunst und Produktion), Moskau 1926; zit. nach: ders., Kunst und Produktion, hrsg. und übs. von Hans Günther und Karla Hielscher, München 1972 (= Reihe Hanser 8 η , S. 11-36, Zitat S. 18. 2 »I-aja vserossijskaja muzykal'naja konferencija« (»Die 1. gesamtrussische Musikkonferenz«), in: Zi%n' iskusstva 1929, Nr. 24, S. 1.

Einführung

1. Fragen und Ziele Die Oktoberrevolution gab den Startschuss zu einer gesellschaftlichen Umwälzung, die an Radikalität in der europäischen Geschichte seit der Französischen Revolution nicht ihresgleichen hatte. Ihr Neuordnungsimpuls ging weit über den gewaltsamen Umbau der politischen, sozialen und ökonomischen Strukturen hinaus. Er zielte auf die Totale der menschlichen Existenz. Die materielle Umwelt, der Körper des Menschen, sein Verhalten, seine Wahrnehmungsweisen, seine Mentalität, sein Denken, all dies sollte im Sinne der proletarischen Revolution reorganisiert werden. Dieses prometheische Transformationsprojekt vollzog sich nicht als ein in allen Bereichen gleichförmig verlaufender, zentral koordinierter Prozess. Die bolschewistische Führung konzentrierte sich bis zum Ende der 1920er Jahre auf die Sicherung der politischen Macht und die Steuerung des Wirtschaftslebens. Die Gestaltung des kulturellen Überbaus rangierte, mit Ausnahme des elementaren Bildungsbereichs, im unteren Bereich der Agenda. Entsprechende Stellungnahmen von Seiten der Partei gingen häufig von einer Offenheit des kulturellen Formungsprozesses aus und blieben wenig konkret und verbindlich. Erst seit dem Beginn der 1930er Jahre setzte die Parteiführung ihre Autorität — und zunehmend auch ihren Repressionsapparat — ein, um die Gestaltung der Kultursphäre aktiv in die Hand zu nehmen. Über den zentralisierten Medienapparat verbreitete Leit- und Schreckbilder markierten fortan die Normen, die für den allgemeinen Lebensstil, das gesellschaftliche Rollenverhalten und schließlich auch für das künsderische Schaffen gelten sollten. Das Fehlen einer autoritären Generallinie für den Kulturbereich bis zum Beginn der 1930er Jahre öffnete den Raum für jenes schillernde Phänomen, das in der Forschung unter dem Stichwort ,Revolutionskultur' verhandelt wird: ein buntes Konglomerat von Entwürfen neuer Lebenspraktiken und symbolischer Ordnungen, vielfach präzendenzlos, experimentell oder gänzlich utopisch, ungebunden an die Autorität der Tradition, unsensibel gegenüber möglichem Widerstand des .menschlichen Materials', orientiert an den Lehren des Marxismus, aber gleichermaßen inspiriert durch die zeitgenössischen Naturwissenschaften und Phänomene der technischen Moderne, kreiert von unterschiedlichsten Vertretern einer revolutionär gestimmten Intelligenzija, zum Teil enthusiastisch gelebt und

12

Einführung

erprobt von breiteren Bevölkerungsgruppen wie den bilderstürmerischen Komsomolzen der frühen Revolutionsära.3 Die einzigartige Option, in der durch die Revolution aufgewühlten Soziosphäre eine neue Kultur ex nihilo konstruieren zu können, mobilisierte erwartungsgemäß auch viele Künstler. Diejenigen unter ihnen, die die Schaffung einer neuen Revolutionskultur nur auf der Grundlage einer radikalen, aber zugleich streng am gesellschaftlichen Auftrag orientierten Erneuerung der künstlerischen Verfahren für durchführbar hielten, bildeten die „Linke Front der Künste" ( L e i y j front iskusstv), abgekürzt Τ .F.F. Dabei handelte es sich nicht um einen institutionalisierten Verband, sondern um eine heterogene, ein breites Spektrum an Kunstformen umfassende Bewegung, die hauptsächlich durch einen kohärenten kunsttheoretischen Diskurs zusammengehalten wurde. Gesucht wurde nach Wegen, wie Kunst in ein nützliches Werkzeug der revolutionsgemäßen Umgestaltung des Lebens zu verwandeln sei. Die Ausgangsfrage dieser Studie lautet: Hatte die „Linke Front der Künste" einen musikalischen Flügel? Ist die sowjetische Musikmoderne — die avancierte Kunstmusik jener Zeit und der sie begleitende publizistische Diskurs — als Teil dieser kulturrevolutionären Bewegung zu verstehen? Auf den ersten Blick scheinen beide Fragen bejaht werden zu können. In den zeitgenössischen Musikdebatten war immer wieder von ,linker Musik' die Rede, gelegentlich sogar von einer ,linken Musikfront'. Und auch der heute verbreitete Usus, von einer sowjetischen ,Musikavantgarde' der 1920er Jahre zu sprechen, suggeriert, dass das avancierte Musikschaffen jener Zeit umstandslos der übergreifenden linken Avantgardebewegung der Sowjetunion zugerechnet werden kann. Der grundlegende Befund der folgenden Untersuchung wird das Gegenteil erweisen. Es wird sich zeigen, dass die sowjetische Musikmoderne von der „Linken Front der Künste" weitgehend isoliert war. Die „Assoziation für zeitgenössische Musik" ( A s s o c i a a j a sopremennoj mu^yki-, abgekürzt ASM), in der die fortschrittlich eingestellten Komponisten, Musikwissenschaftler und -publizisten seit Anfang 1924 organisiert waren, unterhielt keine systematischen Kontakte zu den LEF-Kreisen. In der einzigen Generalversammlung der linken Kunstfront im Januar 1925, an der etwa 150 Kunsttheoretiker, Schriftsteller, Journalisten, Theaterkünstler, Choreographen, Filmschaffende, Bildkünstler, Designer und Architekten teilnahmen, war allem Anschein nach kein einziger Komponist oder Musikpublizist vertreten. In den maßgeblichen Publikationsforen der „Linken Front der Künste" ( I s k u s s t v o kommuny, LEF, Noiyj L E F ) , in denen über alle erdenklichen Formen der Kulturgestaltung debattiert wurde, war die moderne 3 Grundlegend zur sowjetischen Revolutionskultur: Richard Stites, Revolutionary Dreams. Utopian Vision and Experimental Life in the Russian Revolution, New York, Oxford 1989; Stefan Plaggenborg, Revolutionskultur. Menschenbilder und kulturelle Praxis in Sonjetrußland fischen Oktoberrevolution und Stalinismus, Köln u.a. 1996 (= Beiträge zur Geschichte Osteuropas 21). Vgl. die Kommentierung im Unterkapitel Forschungsstand.

Einführung

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Kunstmusik kein Thema.4 Die Musik war aus der großen interdisziplinären Debatte um die linke Kultur der Zukunft weitgehend ausgeklammert. Von diesem überaus diskussionswürdigen Faktum haben bislang weder die Musikgeschichtsschreibung noch andere Kunsthistoriographien Notiz genommen. Die Distanz zwischen sowjetischer Musikmoderne und linker Kunstfront manifestiert sich nicht nur in der fehlenden institutionellen und diskursiven Vernetzung, sondern auch in den Inhalten der jeweiligen Kunstkonzeptionen. Um den Kern dieser konzeptuellen Distanz zu fassen, erweist sich gerade der vermeintlich die Einheit der Kunstfront anzeigende Begriff Avantgarde' als geeignetes Unterscheidungsinstrument, — sofern er an Peter Bürgers Theorie der Avantgarde angelehnt wird. Bürger bestimmt als das maßgebliche Merkmal von künstlerischer Avantgarde die Negation der „Institution Kunst als einer von der Lebenspraxis abgehobenen".5 Entscheidend ist demnach nicht die Fortschrittlichkeit der künstlerischen Verfahren, sondern die Aufhebung der Grenzen zwischen Kunst und Leben. Um Bürgers Avantgarde-Begriff auf die sowjetische Kunst der 1920er Jahre sinnvoll anwenden zu können, bedarf er einer Differenzierung. Bürger hat seine Theorie aus einer Analyse des Dadaismus und des frühen Surrealismus entwickelt. Der von ihm herausgearbeitete Idealtypus von „avantgardistischer Manifestation"6 ist dementsprechend gekennzeichnet durch „Versagung von Sinn", „Negation der zweckrationalen Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft" sowie durch den „Schock" als „Stimulans einer Verhaltensänderung", deren konkrete Zielrichtung unbestimmt ist.7 In Erweiterung von Bürgers Modell lässt sich von diesem .destruktiven' Avantgardetyp ein .konstruktiver' Typus abgrenzen, der die Zerstörung der ,Institution Kunst' nicht durch die provokante Negation ihrer kulturellen Ordnungsfunktion betreibt, sondern durch ihre radikale Unterordnung unter kunstexterne gesellschaftliche Aufgaben. Diese Form der Kunstnegation liegt zahlreichen funktionalistischen oder gebrauchsorientierten Kunstströmungen der 1920er Jahre zugrunde. Wie die nachfolgende Analyse zeigen wird, hat die „Linke Front der Künste" seit etwa 1921 genau diesen Typ eines .konstruktiven' Avantgardismus verfochten. Sie wollte die Kunst konsequent zu einem funktionalen Werkzeug der kommunistischen Lebensgestaltung umfunktionieren und damit den Begriff der 4 Es finden sich nur vereinzelte Beiträge zur Musik in der Industrieproduktion, zum Jazz und zur Musik in Theater und Film. Keiner von ihnen ist von einem professionellen Musiker verfasst (vgl. Kap. 3-1.1.). 5 Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt am Main 1974, S. 66. Ungeachtet mancher Kritik dominiert Bürgers Theorie bis heute die Avantgarde-Debatte (vgl. Wolfgang Asholt, Art. »Avantgarde«, in: Methler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hrsg. von Ansgar Nünning, Stuttgart, Weimar 32004, S. 40f.). 6 Bürger schlägt diesen Terminus als Alternative zu .avantgardistisches Werk' vor (Bürger, Theorie der Avantgarde, S. 68). 7 Ebd., S. 44, 67 und 108.

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Einfuhrung

Kunst, das System der Ästhetik und die Präsentations- und Rezeptionsmodi des traditionellen Kunstbetriebs aufheben. Die mit dem Terminus ,linke Musik' assoziierten Komponisten und Publizisten hielten demgegenüber weitgehend am traditionellen Kunstbegriff fest und adaptierten Konzepte einer radikalen gesellschaftlichen Funktionalisierung des Schaffens nur zögerlich und in abgeschwächter Form. Die sowjetische Musikmoderne hat bis zum Ende der 1920er Jahre weder ein geschlossenes avantgardistisches Programm noch eine zugkräftige kulturrevolutionäre Vision hervorgebracht. Auf einen Symmetriebruch zwischen musikalischer Moderne und linker Kunstfront deutet auch eine genauere Betrachtung der historischen Terminologie hin. Die progressiven Musikschaffenden traten in der Öffentlichkeit nicht unter dem Emblem der ,linken Musik' auf, sondern unter dem der zeitgenössischen Musik'. Institutionalisiert wurde dieser Sprachgebrauch durch die Bezeichnung des Verbands „Assoziation für zeitgenössische Musik" sowie durch dessen Publikationsorgan Sovremennaja mu^yka (Zeitgenössische Musik). Der Begriff des .Zeitgenössischen' markierte eine Offenheit gegenüber gemäßigteren Formen der musikalischen Moderne wie auch gegenüber der Neuen Musik des Auslands. Er war weder an eine bestimmte politische Ideologie noch an eine daraus abgeleitete Kunstprogrammatik gebunden. Weniger leicht zu fassen ist die Bedeutung des Attributs ,links' im Musikdiskurs. In der Ära der linken Kunst gab es in der Sowjetunion kein Manifest einer ,linken Musik' und auch keinen organisatorischen Zusammenschluss ,linker Musiker'. Dennoch existierte im musikalischen Diskurs die fixe Vorstellung von einem ,linken Flügel' oder einer ,linken Front' der sowjetischen Musik (vgl. Kap. 3, bes. III.3.,4.,8.,10.,11., IV. 1., VI.l.). Damit wurde in erster Linie Musik bezeichnet, die in stilistischer oder konzeptueller Hinsicht auffällig innovativ oder sogar radikal war.8 Aufgrund der starken Ausstrahlung des LEF-Diskurses war in dem Begriff ,links' immer auch der Bedeutungsaspekt ,funktional auf den kommunistischen Lebensaufbau ausgerichtet' virulent. In der Regel war dieser konstruktiv-avantgardistische Bedeutungsaspekt im Musikbereich aber nicht durch eine entsprechende kunsttheoretische Programmatik gestützt. Dass der Begriff ,links' tendenziell als etwas Fremdes, nicht ganz zur eigenen Sphäre Gehöriges empfunden wurde, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass er in der musikalischen Publizistik gelegentlich in Anfuhrungszeichen gesetzt wurde.9 Der Vergleich der Diskurse und Konzepte von sowjetischer Musikmoderne und linker Kunstfront eröffnet noch weiterführende Erkenntnisperspektiven. Es 8 In diesem Sinne wurde das Adjektiv vereinzelt schon in der russischen Kunstkritik des 19. Jahrhunderts verwendet, in Anlehnung an den aus der Sitzordnung der Parlamente abgeleiteten Begriff der politischen .Linken'. 9 Vgl. ein Statement des ^jM-Publizisten Viktor Beljaev: „[...] in der Kunst ist jeder Vorstoß ,nach links' \,vkvo"\ auch ein Vorstoß nach vorne" (»A. V. Mosolov«, in: Sovremennaja mu^yka 1926, Nr. 13-14, S. 82). Vgl. auch Kap. 3-III.8.

Einführung

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geht nicht allein um den Nachweis der eben skizzierten Differenzen zwischen den Kunstsparten. Das tiefere Anliegen besteht darin, zu einer Betrachtung der damaligen sowjetischen Musik zu gelangen, die sich nicht allein auf ein musikspezifisches Kategoriensystem bezieht (Kompositionstechnik, Stilistik, Ästhetik usw.), sondern auf einen weit größeren diskursiven Zusammenhang. Es geht um die bislang kaum gestellte Frage nach dem Ort der avancierten Musik in der Gesamtkultur der sowjetischen Revolutionsära. Dieses Ziel lässt sich mit dem hier verfolgten komparatistischen Vorgehen insofern nur näherungsweise erreichen, als die linke Kunstfront selbstverständlich nicht die Totale der sowjetischen Kultur repräsentiert. Einer genaueren Untersuchung bedürfte beispielsweise das Verhältnis zum System der Politik, der Ökonomie, der Wissenschaften, der Alltagskultur oder auch zu regimekritischen Diskursen der frühen Revolutionsära. Allerdings eröffnet der Vergleich mit dem Diskurs- und Konzeptrepertoire der linken Kunst schon eine sehr weite Perspektive, da die „Linke Front der Künste" ihrem eigenen Anspruch nach den Rahmen der Institution Kunst sprengen und sich auf die Totale von Kultur und Gesellschaft ausrichten wollte. In die Konzepte der linken Kunst ist eine Vielzahl von kunstexternen Diskursen eingeflossen (Organisationswissenschaft, Ingenieurismus, Taylorismus, Reflexologie, mechanistischer und dialektischer Materialismus usw.), die sich auch in einer kunstunabhängigen Betrachtung als Leitdiskurse der Revolutionskultur erweisen. Die gesamtkulturelle Weitung der Perspektive ermöglicht neue analytische und interpretatorische Zugänge zur gesamten frühen sowjetischen Musikkultur. Sie erschließt den Bedeutungshorizont von Elementen musikexterner Diskurse, die in den musikbezogenen Dokumenten oft nur punktuell und ohne erläuternde Diskussion auftreten. Sie ermöglicht eine Interpretation der Quellen unter dem Aspekt dessen, was sie nicht bieten, was vor dem Hintergrund einer gesamtkulturellen Problemkonstellation aber von ihnen erwartet werden konnte. Sie erlaubt, allgemeiner noch, eine näherungsweise Rekonstruktion des Rezeptionsdispositivs der an den Kulturgestaltungsdiskursen beteiligten Gesellschaftsgruppen, also derjenigen Kategorien und Kriterien, die bei der Klassifikation und Bewertung jeglichen Kulturschaffens dominierten. Damit wird eine kontextgerechte Interpretation musikkultureller Manifestationen unabhängig von den deklarierten oder — häufiger noch — nicht dokumentierten Intentionen ihrer Urheber möglich. Und schließlich lenkt die gesamtkulturelle Perspektive den Blick auf experimentelle Formen musikalischer Aktivität, die außerhalb der Sphäre der Kunstmusik stehen und meist durch das Selektionsraster musikhistorischer Darstellungen fallen.

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Einführung

2. Struktur der Darstellung Die Isoliertheit der sowjetischen Musikmoderne von der übrigen linken Kunstbewegung bestimmt den Aufbau der folgenden Darstellung. Die sowjetischen Musikschaffenden hatten an der Entwicklung der linken Kunstprogrammatik keinerlei Anteil und machten sich deren funktionalistische Konzepte nur sehr verzögert und ohne Profilierung einer eigenen Theorie zu eigen. Es entspricht also der historischen Struktur des Diskurses, wenn zuerst die Entwicklung der linken Kunst als ein kohärentes System dargestellt wird (Teil 2) und sich daran eine Untersuchung unterschiedlichster Musikkonzepte anschließt, die seinerzeit mit dem Attribut,links' in Verbindung gebracht wurden (Teil 3). Das Panorama der .linken' Musikkonzepte in Teil 3 soll ein möglichst breites Spektrum abdecken. Am Anfang (Kap. 3—1.) steht eine Sammlung von Musikkonzepten, die aus dem Umfeld des LEF hervorgegangen sind, ohne direkte Beteiligung professioneller Musikschaffender. Am bemerkenswertesten ist hiervon das Konzept einer musikalischen Faktographie, der künstlerischen Bearbeitung von Tonaufzeichnungen durch Montage, Verfremdungsverfahren und dialektische Komposition. Es fand seine praktische Anwendung im frühen sowjetischen Tonfilm und stellt einen völlig eigenständigen Beitrag der linken Kunstfront zur Musikkultur dar. Kapitel 3—II. untersucht diverse Experimente zu einer Revolution der musikalischen Materialbasis. Hierzu gehören die Entwicklung mikrotonaler Tonsysteme, der Einsatz elektronischer Techniken der Musikerzeugung und -wiedergäbe sowie die Erschließung des Geräuschs als künstlerisches Material. Diese Tendenzen wurden im Wesentlichen nicht von den professionellen Komponistenkreisen der ASM getragen, sondern von der Massenorganisation des Proletkul't, dem technisch-naturwissenschaftlich orientierten „Staatlichen Institut für Musikwissenschaft" (GIMN), der linken Theaterkultur und der sowjetischen Laienkunstbewegung. Die übrigen Unterkapitel von Teil 3 behandeln die Musikkonzepte des ASMKreises. Am Anfang steht die Untersuchung theoretischer Positionen exponierter ^iM-Publizisten wie Leonid Sabaneev, Nikolaj Roslavec, Boris Asaf ev oder Viktor Beljaev, gefolgt von einer Rekonstruktion der Versuche -LEF-naher Kunstkritiker (Orest Cechnovicer, Vladimir Bljum), der ASM in ihrer krisengezeichneten Spätphäse ein tragfähiges kunstideologisches Programm zu geben (Kap. 3—III.). Darauf folgen drei personenbezogene Studien, in denen die Analyse von Kompositionen im Mittelpunkt steht (Kap. 3-IV. - 3-VL). Mit Nikolaj Roslavec, Vladimir Desevov und Aleksandr Mosolov sind hier drei Komponisten gewählt, die zu den Hauptrepräsentanten des ,linken Flügels' der zeitgenössischen sowjetischen Musik zählten. Die Darstellung des Entwicklungswegs der linken Kunstfront von 1917 bis 1930 in Teil 2 nimmt ziemlich breiten Raum ein, was in einer musikhistorischen Studie vielleicht irritieren mag. Eine solch umfassende Darstellung ist aus zwei

Einführung

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Gründen notwendig. Zum einen, weil die angestrebte gesamtkulturelle Weitung der Perspektive eine differen2ierte Aufbereitung des linken Kunstdiskurses erfordert. Zum anderen, weil eine derartig umfassende und systematische Gesamtanalyse der linken Kunst bislang noch nicht vorgenommen wurde. Die vorhandenen Darstellungen konzentrieren sich auf die erste Hälfte der 1920er Jahre und fokussieren in der Regel eine Einzelkunst, meist die Literatur oder die bildende Kunst. Teil 2 versteht sich somit auch als ein eigenständiger Beitrag zu einer interdisziplinären Kunstgeschichtsschreibung, der über seine Funktion innerhalb dieser Studie hinaus Forschungsperspektiven eröffnen kann. Die wichtigste Erkenntnis, die die interdisziplinäre Analyse der linken Kunst ergeben hat, ist die einer konzeptuellen Trendwende um 1925. Sie bildet sich ab in der Gegenüberstellung von Konstruktivismus (Kap. 2—III.) und Faktographie (Kap. 2-IV.), die als Universalprogramme der linken Kunst jeweils eine Hälfte der 1920er Jahre dominiert haben. Die Faktographie, die bislang weitgehend nur als ein Phänomen der Literatur betrachtet wurde, in Ansätzen auch des Films und der Fotographie, wird hier als eine Gesamttendenz der linken Kunst sichtbar gemacht, die auch das Theater und die Musik erfasst hat. In ihrem Kontext wird auch die kunstwissenschaftliche Theorie des russischen Formalismus behandelt, da diese auf Theorie und Praxis der Faktographie stark gewirkt hat (Kap. 2 IV.3.). Dies darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Formalismus innerhalb der linken Kunstsphäre ein eigenständiges System bildete, dem ein völlig anderer Kunstbegriff als der des LEF zugrundelag. Die linke Kunstfront der 1920er Jahre ist wesentlich aus dem russischen Futurismus hervorgegangen. Einer Klärung bedarf daher das Verhältnis dieser beiden Bewegungen zueinander, und darüber hinaus auch deren Verhältnis zum italienischen Futurismus. Es wird zu fragen sein, inwieweit die Fokussierung der Paradigmen Industrie und Großstadt in der linken Kunst sich mit vergleichbaren Tendenzen bei Marinetti deckt (Teil 1). Da in der Bewegung des russischen Futurismus auch Komponisten aktiv waren, wird die Musik hier gemeinsam mit den anderen Künsten behandelt. Enger als vielfach angenommen ist die Verwandtschaft der linken Kunst mit der so genannten 'proletarischen' Kunst. Dies gilt insbesondere für deren frühe Ausprägung, wie sie maßgeblich durch die Massenorganisation des Proletkul't repräsentiert wurde. Zu Beginn der 1920er Jahre kam es zu einer intensiven personellen und konzeptuellen Annäherung zwischen Proletkul't und linker Kunst. Durch sie gelangten drei Diskurse in die linke Theoriedebatte, die für die weitere Entwicklung der LEF-Programmatik von herausragender Bedeutung waren und die auch im Musikdiskurs ihre Spuren hinterließen. Dies war zum einen die Organisationswissenschaft des Pro/etku/'t-Leiters Aleksandr Bogdanov (Kap. 2—1.2.), die als Legitimationstheorie für den Konstruktivismus, aber auch für viele linke Musikkonzeptionen (Ejzenstejn, Avraamov, Sabaneev, Roslavec u.a.) eine wichtige Rolle spielte. Der zweite Import war der von dem Pro/etku/'t-Oichter Aleksej Gastev initiierte Arbeitstheorie-Diskurs (Kap. 2-1.4.). Dessen Leitbegriffe ,Taylo-

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risierung', ,Maschinisierung' und .Wissenschaftliche Arbeitsorganisation' waren für das konstruktivistische Theater und den konstruktivistischen T a n z v o n essenzieller Bedeutung, figurierten aber auch in der Musikdiskussion (Avraamov, Sillinger u.a.). E i n dritter Impuls aus der Prv/etku/'t-Bewegang war eine starke Orientierung der Kunsttheorie an den Naturwissenschaften. Sie machte sich in einer physikalisch-szientistischen T e n d e n z in der frühen sowjetischen Musikwissenschaft bemerkbar (Kap. 3—II. 1. und 3—Π.2.), aber auch in weiten Teilen des L E F - D i s kurses, z.B. in der Kunsttheorie Ejzenstejns (Kap. 3—1.8.). D e r Proletkul't stand in der ersten Hälfte der 1920er J a h r e mit d e m L E F i n s o enger Berührung, dass es legitim erscheint, ihn im Rahmen der Entwicklung der linken K u n s t abzuhandeln (Kap. 2-1.). D i e proletarischen' Kunstverbände der späteren 1920er Jahre, die „Russische Assoziation proletarischer Schriftsteller" (RAPP), die „Russische Assoziation proletarischer M u s i k " ( R A P M ) u.a., hatten weder personell noch konzeptuell viel mit d e m Proletkul't gemein. Ihre Hauptkennzeichen waren eine ausgesprochen politisch-ideologische Orientierung, eine Konzentration auf Kritik anstelle v o n Praxis sowie ein vulgärsoziologisches Argumentationsschema. In der v o n 1928 an entfesselten Kulturrevolution definierten sie sich als proletarische Avantgarde' im K a m p f gegen ,klassenfeindliche' Strömungen, zu denen sie an oberster Stelle die apolitische K u n s t der ,Mitläufer', aber auch die linke K u n s t rechneten. Für die sowjetische Musikmoderne hatte diese klassenkämpferische Agitation zunächst eine katalysatorische Wirkung. Sie führte zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit aktueller gesellschaftlicher Thematik und zu einer verstärkten Adaption v o n K o n z e p t e n der linken Kunst. E i n e eigene Analyse, die hier aus G r ü n d e n des U m f a n g s unterbleiben m u s s , könnte zeigen, dass — bei aller deklarierten Feindschaft — auch in der proletarischen' Kunstideologie nicht wenige linke Theorieelemente wirksam waren.

3. Quellen D i e hier verhandelte Thematik ist, was den musikalischen Bereich anbelangt, wissenschaftlich kaum erschlossen. D i e Studie stützt sich deshalb in ganz entscheid e n d e m Maße auf Primärquellen. Ausgewertet wurden die einschlägigen musikalischen Fachperiodika der Zeit v o n 1917 bis 1930 (Melos, Mu^yka, Mutykal'naja letopis', Κ novym beregam, Mu^ykal'naja nov\ Mu^ykal'naja kul'tura, Sovremennaja mutgka, De Musica, Mu^yka i oktjabr', Muvgka i revoljucija, Mu^ykal'noe obra^ovanie, Novaja mutyka, Mufflko^nanie, Proletarskij mu^ykani) sowie die wichtigsten spartenübergreifenden Kunstjournale (Proletarskaja kul'tura, hkusstvo kommuny, ί,ϊψ' iskusstva,

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Ermita£ Zrelilca, Teatr i Mu^yka, LEF, Novyj LEF, Raboäj i teatf). Femer fand eine Reihe von broschürenartigen Kurz-Monographien Berücksichtigung.10 Den zweiten großen Quellenfundus bilden archivalische Nachlässe. Umfassend ausgewertet wurden die Nachlässe von Vladimir Desevov und Nikolaj Roslavec, partiell diejenigen von Aleksandr Mosolov, Arsenij Avraamov und Sergej Radlov, punktuell auch einige weitere. Diese Archivquellen sind für die Untersuchung nicht nur deshalb von entscheidender Bedeutung, weil viele der in ihnen erhaltenen biographischen Dokumente nicht publiziert vorliegen, sondern weil sie auch umfängliches nichtediertes Notenmaterial enthalten. Gerade die Partituren größerer Werke sowie Schauspiel- und Filmmusiken erschienen in der Sowjetunion in den 1920er Jahren in der Regel nicht im Druck. Die Auswahl der behandelten Werke basiert nicht auf einer flächendeckenden Auswertung aller potenziell relevanten Kompositionen der Zeit von 1917 bis 1930. Dies ist allein aufgrund der bislang nicht vorhandenen oder nur rudimentären historiographischen Erschließung nicht möglich. Die Untersuchung konzentriert sich deshalb auf einzelne Musiker, deren Namen in der Diskussion um die ,linke Musik' regelmäßig genannt werden (Roslavec, Desevov, Mosolov) oder bei denen die konzeptuellen Bezüge zur linken Kunsttheorie besonders auffällig sind (Avraamov). Da es in der Arbeit um das Verhältnis von sowjetischer Musikmoderne und linker Kunst geht, bilden multimediale Projekte, an denen von der Kunstmusik herkommende Komponisten und Künstler aus dem Umfeld des LEF beteiligt waren, ein besonders ergiebiges Untersuchungsfeld. Es handelt sich dabei um Opern (Desevovs Led i stal', Mosolovs P/otina), Ballette (Desevovs Krasnyj mehr', Mosolovs Stal', das Kollektivballett Cetyre Moskvy), Schauspielmusiken (Einsatz von Geräuschorchestern in diversen linken Theatern, Desevovs Arbeiten für das „Rote Theater" und das TRAM), Filmmusiken (Meiseis Musik für Ejzenstejns Bronenosec Pot'emkin, Timofeevs Musik für Vertovs Simfonija Donbassa) und Massenevents (Avraamovs Dampfpfeifensinfonien, Radlovs Monumentalinszenierungen, Mosolovs Gestaltung eines Pioniertreffens). Ein besonderer Fokus ist dabei auf Werke oder Werkteile gerichtet, in denen die Industrie- und Maschinenthematik eine Rolle spielt. Die Gründe für diese Präferenz liegen zum einen darin, dass die entsprechenden Kompositionen gute Vergleichsmöglichkeiten zu den Konzepten des LEF bieten, zum anderen darin, dass solche ,Produktionsmusik' gegen Ende der 1920er Jahre in linken Musikerkreisen als Leitkonzept einer Modernisierung der sowjetischen Kunstmusik gehandelt wurde und auch quantitativ eine nicht geringe Rolle spielte. Eine ganze Reihe von Komponisten, deren Schaffen mehr oder weniger enge Berührungen mit der linken Kunst zeigt, musste außerhalb der Betrachtung blei10 Solche Broschüren im Umfang von meist 30 bis 40 Seiten waren in den 1920er Jahren ein weit verbreiteter Publikationstyp; große Bücher blieben die Ausnahme. Entscheidend waren zügige Präsenz in der Diskussion und geringer Rezeptionsaufwand.

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ben. An erster Stelle ist hier Sostakovic zu nennen, in dessen Werk sich eine ausgesprochen intensive, oft auch kritisch-ironische Auseinandersetzung mit der linken Kunstprogrammatik findet.11 Nicht berücksichtigt wurden ferner weniger exponierte Modernisten wie Lev Knipper, Iosif Sillinger und Leonid Polovinkin, die Leningrader Schule um Vladimir Scerbacev (Gavriil Popov, Aleksej Zivotov u.a.) sowie die Leningrader Vierteltonkomponisten um Georgij Rimskij-Korsakov. Die Frage nach dem Zusammenhang zum linken Diskurs stellt sich auch bei der Neuen jüdischen Schule (Aleksandr Krejn, Grigorij Krejn, Aleksandr Veprik, u.a.) und den verschiedenen .proletarischen' Gruppierungen ( R A P M , ORKJMD, PROKOT 1 ,), die hier nicht behandelt sind. Eingehender zu untersuchen wäre schließlich noch das Phänomen der elektronischen Musik, prominent repräsentiert durch die von Lev Termen 1920 erfundene ,Termenvox'.

4. Forschungsstand Die ,Neue sowjetische Musik der 20er Jahre' ist heute — insbesondere seit der so betitelten, bahnbrechenden Arbeit von Detlef Gojowy aus dem Jahr 1980 — längst keine terra incognita mehr. Wenn auch nach wie vor ein kaum zu übersehender Teil des damaligen Musikschaffens historiographisch wie editorisch unerschlossen ist, liegen doch zu einer Reihe von Komponisten, die lange Zeit vergessen bzw. verfemt waren, mittlerweile biographische Untersuchungen und Analysen ihrer kompositorischen Techniken vor. Die Frage nach dem ästhetischen, kulturellen und ideologischen Selbstverständnis dieser Musik sowie nach ihrem Rezeptionskontext ist allerdings kaum je systematisch behandelt worden.12 Dies ist umso erstaunlicher, als in den übrigen Bereichen des linken Kunstspektrums — im Bereich der Literatur, des Theaters, des Films, der bildenden Kunst - eine solche wissenschaftliche Aufarbeitung schon vor Jahrzehnten eingesetzt hat, mit einem ersten Höhepunkt in den 1970er Jahren. Ende der 1980er Jahre trat der russische Kulturphilosoph Boris Groys mit der Aufsehen erregenden These hervor, die sowje11 Sostakovics kritischer innermusikalischer Diskurs mit konstruktivistischen, totalitär-mechanischen Kulturentwürfen wurde mittlerweile in einer eigenen Studie aufgearbeitet: Wolfgang Mende, »Desavouierter Konstruktivismus in Sostakovics Früh- und Spätwerk«, in: Dmitri Schostakowitsch. Das Spätwerk und sein zeitgeschichtlicher Kontext, hrsg. von Manuel Gervink und Jörn Peter Hiekel, Dresden 2006, S. 115-131. 12 Eine Gesamtdarstellung der sowjetischen Musikgeschichte auf umfassender Quellenbasis, unter Einbezug vieler unbekannter Werke und in ausgewogener Zusammenschau kompositionsgeschichtlicher, ästhetischer, ideologischer, kunstpolitischer und institutionengeschichtlicher Aspekte, bietet neuerdings Dorothea Redepennings Geschichte der russischen und der sowjetischen Musik, Bd. 2 [2 Teilbände]: Das 20. Jahrhundert, Laaber 2008. Eine Einarbeitung der Ergebnisse in die vorliegende Arbeit war nicht mehr möglich. Das Verhältnis der avancierten Musik der 1920er Jahre zur Theorie und Praxis anderer Kunstformen wird punktuell dargestellt, aber nicht systematisch abgehandelt.

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tische ^Avantgarde' habe mit ihrem Anspruch auf eine allumfassende Organisation des Lebensalltags den Totalitarismus der Stalinzeit antizipiert.13 Eine derartige These auf dem Gebiet der Musik zu diskutieren, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum möglich. Hierfür fehlt die notwendige Erschließung und Strukturierung der Materie, und es fehlen Untersuchungen, die einen Zusammenhang zwischen musikkultureller Praxis und gesellschaftlich-ideologischen Problemkonstellationen herzustellen suchen. Eine größere Gruppe von Arbeiten konzentriert sich auf eine Analyse der kompositorischen Techniken der frühen sowjetischen Musik und damit auf eine Rekonstruktion ihres musikalischen ,Materialstands'. Musikgeschichte wird dabei im Wesentlichen als Kompositionsgeschichte betrachtet, und diese wiederum als ein weitgehend autonomes System, in dem das einzelne Werk seinen Stellenwert aufgrund der Nähe zu bestimmten Stiltypen und aufgrund der Progressivität seiner kompositorischen Verfahren erhält. Die Verklammerung dieser Verfahren mit ästhetischen, ideologischen und anderen gesellschaftlich-kulturellen Diskursen bleibt außerhalb der Betrachtung. Ein wichtiges Verdienst dieser Untersuchungen besteht darin, die vordem kaum vorhandene Integration der avancierten sowjetischen Musik in das internationale Panorama von ,Neuer Musik' befördert zu haben. Die wichtigste Arbeit dieser Gruppe ist Detlef Gojowys Neue sowjetische Musik der 20er Jahre, eine 1980 erschienene Überarbeitung seiner Dissertation aus den 1960er Jahren. 14 Der Autor untersucht hier eine große Zahl avancierter Kompositionen, die bis zum Erscheinen des Buches dem westlichen wie auch dem jüngeren sowjetischen Publikum weitgehend unbekannt waren. Er klassifiziert sie anhand einer detaillierten Stiltypologie, wobei ein Schwerpunkt auf der Analyse rationaler Verfahren der Tonhöhenorganisation liegt. Gojowy unterteilt das Spektrum der zeitgenössischen Komponisten in „Avantgardisten", Vertreter der „spätromantischen Moderne" und Vertreter der „linearen Moderne". Dem Grundansatz des Buches entsprechend stützt sich diese Klassifizierung auf rein stilistische Kriterien. Unter die Rubrik „Avantgardisten" fallen somit nicht Komponisten, die die Barriere zwischen Kunst und Leben sprengen wollten, sondern Protagonisten besonders avancierter Kompositionstechniken. Hierzu zählt der Autor zum einen „Vertreter neuer Tonsatzsysteme" wie Nikolaj Roslavec oder Artur Lur'e, zum anderen „Vierteltöner und Experimentatoren" wie Georgij Rimskij-Korsakov oder Arsenij Avraamov. Komponisten wie Vladimir Desevov, Aleksandr Mosolov oder Dmitrij Sostakovic werden der ,linearen Moderne' zugerechnet, gelten der Klassifikation entsprechend somit nicht als .Avantgardisten'.15 13 Boris Groys, Gesamtkunstwerk Stalin. Die gespaltene Kultur in der Sowjetunion, aus dem Russischen von Gabriele Leupold, München, Wien 1988. 14 Dedef Gojowy, Neue sonyetische Musik der 20er Jahre, Laaber 1980. 15 Ebd, S. 78-83 und 97-132.

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Einen ähnlichen stilanalytischen Ansatz verfolgen auch die 1992 bzw. 1994 erschienenen Arbeiten von Peter Deane Roberts und Larry Sitsky.16 Roberts beschränkt sich in seiner Studie Modernism in Russian Piano Music auf die russische Klaviermusik der Zeit zwischen 1910 und 1930 und identifiziert Skrjabin und Prokof ev als deren maßgebliche Stilvorbilder. Sitskys Music of the Repressed Russian Avant-Garde. 1900—1929 stellt 29 der bedeutendsten russischen Komponisten der Zeit in kurzen biographischen und stilistischen Porträts vor. Dem Autor, der auch Pianist und Komponist ist, geht es vorrangig um eine Bewertung des Repertoires unter dem Aspekt seiner möglichen Wiederbelebung im heutigen Musikleben. Einen spezielleren Betrachtungsfokus wählt David Haas in seiner Studie Leningrad's Modernists. Studies in Composition and Musical Thought. 1917-1932.17 Er untersucht den Einfluss der Musikästhetik Boris Asaf evs auf die in Leningrad wirkenden Komponisten, insbesondere auf die fortschrittliche Kompositionsklasse Vladimir Scerbacevs am Leningrader Konservatorium. Dabei gelingt ihm der Nachweis einer Wirkung von Asaf evs Konzepten (Intonation, Form als Prozess, Linearität, Symphonismus) vielfach überzeugend. Allerdings verengt er die Betrachtung der untersuchten Kompositionen auf diesen einen Aspekt, der damit gegenüber den vielen anderen Gestaltungskriterien und -impulsen ein übergroßes Gewicht erhält. Eine andere Gruppe von Arbeiten betrachtet die sowjetische Musikgeschichte vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Kulturpolitik. Das Standardwerk aus diesem Bereich ist Boris Schwarz' Musik und Musikleben in der Soujetunion aus dem Jahr 1982.18 Schwarz' umfassende Darstellung des Zusammenspiels von politischen, ideologischen, institutionellen, ästhetischen und stilistischen Entwicklungen bildet bis heute eine unverzichtbare Grundlage der Forschung, wenn auch manche Sichtweise in Anbetracht der mittlerweile gewachsenen Quellenkenntnis einer Revision bedürfte.19 Störender ist die Belegung der 16 Peter Deane Roberts, Modernism in Russian Piano Music. Skriabin, Prokofiev, and Their Russian Contemporaries, 2 Bde., Bloomington, Indianapolis 1992; Larry Sitsky, Music of the Repressed Russian Avant-Garde. 1900-1929, Westport, Conn., London 1994 (= Contributions to the Study of Music and Dance 31). 17 David Haas, Leningrad's Modernists. Studies in Composition and Musical Thought. 1917-1932, New York u.a. 1998 (= American University Studies 20/31). 18 Boris Schwarz, Musik und Musikleben in der Soujetunion: von 1917 bis %ur Gegenwart, 3 Bde., aus dem Amerikanischen von Jeanette Zehnder-Reitinger, Wilhelmshaven 1982 {— Taschenbücher zur Musikwissenschaft 67). Die deutsche Ausgabe ist gegenüber der englischsprachigen Originalausgabe Music and Musical Ufo in Soviet Russia, London 1972, erweitert und aktualisiert. 19 Eine auf aktuellem Forschungsstand und differenzierter Methodik basierende Darstellung der sowjetischen Musikpolitik, allerdings erst mit dem Jahr 1932 beginnend, bietet Friedrich Geigers komparatistische Studie Musik in vgvei Diktaturen. Verfolgung von Komponisten unter Hitler und Stalin, Kassel u.a. 2004. Geiger kommt zu dem Ergebnis, dass in beiden diktatori-

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behandelten Musik mit ästhetischen Werturteilen, die teils unzureichend fundiert sind, teils den historischen Kontext außer Acht lassen. Beispielsweise stützt sich die Abqualifizierung von Desevovs Oper Led i stal' („entsprach einer Modeströmung der zwanziger Jahre, bot jedoch zu wenig, um das Interesse des Zuhörers einen ganzen Abend zu fesseln") offenbar auf keinerlei Kenntnis der Musik, sondern allein auf die Wertung in Abram Gozenpuds ideologiekonformer Studie „Das russische sowjetische Operntheater" aus dem Jahr 1963.20 Und wenn Mosolovs Zavod als „musikalisch eher primitive" „Illustration von Fabriklärm" abgetan wird,21 blockiert dies eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Konzeption dieses Stücks. Solch normatives Werten bildet eine allgemeine Tendenz des Buches. Ästhetischen Konzepten, denen eine konstruktive Auseinandersetzung mit den politischgesellschaftlichen Realien der Zeit inhärent ist, wird der Rang des künstlerisch Bedeutsamen abgesprochen. Sie werden als Opportunismus oder als Hingabe an eine ,Modeströmung' abgetan, denen die Musik gewissermaßen ihr eigentliches' Wesen geopfert habe. Unter solchen Prämissen nimmt es nicht wunder, wenn dem Autor ein großer Teil der sowjetischen Musik der 1920er Jahre „seltsam spröde und künstlich" erscheint.22 Und noch befremdlicher wirkt solches Werturteil, wenn in ihm fast unverblümt Stereotypen der sowjetischen Musikhistoriographie durchscheinen: „Die zwanziger Jahre sind reich an heute fast vergessenen, russischen Komponisten, die sich darauf beschränkten, Äußerlichkeiten, modernistische und soziologische Tricks zu imitieren."23 Den Zusammenhang zwischen Musikgeschichte und politischer Kultur, bezogen allerdings auf eine einzelne Komponistenpersönlichkeit, untersucht auch Marina Lobanova in ihrer 1997 erschienenen Monographie Nikola/ Andreevic Roslavec und die Kultur seiner Zeit.2* Noch konsequenter als Schwarz entwickelt Lobanova ihre Darstellung auf Grundlage der Überzeugung, dass (politisch-gesellschaftliche) Ideologie und Kunst zwei im Letzten unvereinbare Prinzipe seien. Auf diese Weise entsteht das Bild von Roslavec als einem bedeutenden Künstler,

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sehen Systemen das „Gesamtkunstwerk der vollkommen homogenen Communitas" das oberste Ziel von Politik und Kunst gewesen sei (S. 199). Die Strategien zur Erreichnung dieses Ziels hätten sich bei vielen Gemeinsamkeiten in einigen Punkten auch signifikant unterschieden: Die Verfolgung von Komponisten sei im Nationalsozialismus dem Prinzip der „Ausgrenzung" gefolgt, im Stalinismus dem der „Disziplinierung" (S. 201). Instruktiv ist auch das Kapitel „Klangverwandtschaften", das die Ähnlichkeit und Vernetzung der Diskurse von russischer und deutscher Musikmoderne vor 1932/33 aufzeigt (S. 29-89). Abram Gozenpud, Russkij sovetskij opernyj teatr, Leningrad 1963, S. 158-161; vgl. Schwarz, Musik und Musikleben, Teil I, S. 120. Schwarz, Musik und Musikleben, Teil I, S. 145. Ebd., S. 105. Ebd., S. 108. Marina Lobanova, Nikolaj Andreevic Roslavec und die Kultur seiner Zeit, Frankfurt am Main u.a. 1997.

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dessen „Stilisierung" zum „überzeugten Marxisten" nur eine „soziale Maskierung aus Notwehr" war, die mit „den wirklichen Überzeugungen des Komponisten wenig zu tun" hatte.25 Auf der anderen Seite wird die im Titel genannte „Kultur seiner Zeit" — zumindest was die 1920er Jahre anbelangt — als Kultur eines aggressiven ideologischen Fanatismus gezeichnet, der ,wirklicher' Kunst von Natur aus feindlich gesonnen war. Lobanovas Darstellung der Kulturpolitik der 1920er Jahre konzentriert sich auf die antimodernistischen Kampagnen der proletarischen' Musiker, die hier erstmals auf breiterer Quellenbasis aufgearbeitet sind. Unbefriedigend bleibt dabei die Reflexion der weltanschaulichen und sozialpsychologischen Motive, die zu einem derartig intoleranten und aggressiven Handeln geführt haben. Lobanova lässt den Gedanken nicht zu, dass der proletarischen' Musikbewegung auch ein konstruktives Moment innewohnte, — dass sie als radikalisierte Ausprägung derjenigen avantgardistischen Kulturidee gelten kann, die sich aus dem gesamten sowjetischen Revolutionsprojekt ableiten ließ und die auch sämtlichen links-avantgardistischen Kunstkonzeptionen zugrunde lag: der Idee einer am Bedarf der Massen und nicht an (elitären) ästhetischen Wertmaßstäben ausgerichteten Kunst.26 Bei Lobanova unterbleibt eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den theoretischen und praktischen Konzepten der proletarischen' Musiker. Als einziges Motiv von deren Vorgehen bleibt somit kriminelle Energie stehen.27 Während Lobanova der Ideologie der proletarischen' Musiker jegliche konstruktive Motivation abspricht, bagatellisiert sie umgekehrt die ideologiebestimmten Elemente in Roslavec' Künstlerbiographie. So werden das politische Engagement des Komponisten (u.a. KP-Mitgliedschaft 1918-1921), seine Tätigkeit als einer der ranghöchsten Zensoren des Landes28 sowie seine Ambitionen, 25 So Marina Lobanova in: »Schicksale des russischen Futurismus: Texte von Arthur Lourie und Nikolaj Roslavec«, in: dissonan^J dissonance 1997, Nr. 52, S. 9£; ähnlich in: Lobanova, Roslavec, S. 28. 26 Etwas einseitig pointiert, aber dadurch eine längst überfällige Diskussion provozierend, spricht Richard Taruskin diesen Gedanken aus: „The ASM was not the Soviet avant-garde. That distinction must be reserved for its great adversary, the Russian Association of Proletarian Musicians [...]. Militandy countercultural, hopelessly doctrinaire, intolerant, self-righteous, the radical proletarians were the ones who wanted to throw out all the sophisticated traditions and build the new Soviet music on the rubble" (Richard Taruskin, Defining Russia Musically. Historical and Hermeneutical Essays, Princeton, N.J. 1997, S. 92). 27 „Die Proletarischen Musiker, die zu künsderischem Schaffen unfähig waren, hatten ein auf Familien- und Erbbeziehungen beruhendes System der totalen Kontrolle organisiert, das bis heute das ganze Musikleben Rußlands überwacht" (Lobanova, Roslavec, S. 21). 28 Roslavec arbeitete von 1923 bis 1930 als „Politischer Redakteur" (also Zensor) im Glavrepertkom, der für den Musikbereich wichtigsten staatlichen Zensurbehörde. Später versah er Zensurtätigkeiten auf niederer Ebene (1930/31 im Mosobllit, 1936-1938 im Moskauer Repertkom). Lobanova nennt in ihrer Monographie zwar die — in kaschierendem Amtssowjetisch gehaltenen — Bezeichnungen der entsprechenden Zensurorgane, vermeidet es aber konsequent, das fur den uneingeweihten Leser klärende Wort „Zensor" oder „Zensur" zu gebrauchen

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eine marxistisch-so2iologisch orientierte Musikästhetik zu entwickeln,29 nur beiläufig erwähnt. In die Betrachtung von Roslavec' kompositorischem Schaffen fließen diese Aspekte nur peripher ein. Zwei kurze Kapitel zum „ L E F " und zum „Stil des Konstruktivismus" deuten an, dass es in der Sowjetunion durchaus Kunstkonzeptionen gegeben hat, die gleichzeitig technisch avanciert und ideologiebasiert waren.30 Die in diesen Kapiteln vorgestellten Kategorien bleiben jedoch unpräzise und verworren.31 Als Pendant zur LEF-Kunst sieht Lobanova Roslavec' Agitationsmusik, die sich einer vereinfachten Tonsprache bedient. Die Entsprechung zum Konstruktivismus verortet sie in der Zuwendung zu den Themen „'Großstadt' und 'Bewegung'", in einem „frischen Tonfall im Kunstschaffen, der seinem Geist nach objektiv und rationell" war, sowie in der „Idee des Verfertigens", von der der Komponist „besessen" gewesen sei.32 Die unzureichende theoretische Reflexion der hier angerissenen Konzeptionen zeigt sich in Lobanovas Besprechung der sinfonischen Dichtung Komsomolija (1928), demjenigen Werk des Komponisten, in dem wie in keinem anderen politische und künstlerische Ambition konvergieren. Der Zusammenhang zwischen Form und Funktion, den die Autorin hier benennt, bleibt kryptisch: „Es entstehen mehrschichtige theatralisierte, dekorative und bewegliche Formen, die die Grenze zwischen Leben und Kunst aufheben." 33 Vergleiche der frühen sowjetischen Musik mit anderen Kunstformen der Zeit sind bislang vor allem von der russischen Forschung angestellt worden. Relativ ausführlich diskutiert wird dieser Aspekt im ersten Band der von Michail Tarakanov herausgegebenen „Geschichte der zeitgenössischen vaterländischen Musik", dem vorläufig jüngsten russischen Versuch einer Gesamtdarstel-

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(vgl. Lobanova, Roslavec, S. 45 und 90). Vgl. zu diesen Vorgängen Kap. 3—III.l. und ausführlich: Wolfgang Mende, »Zensur - Klassenkampf — Säuberung — Beugung - Strafverfolgung. Aleksandr Mosolov und Nikolaj Roslavec im repressiven Netzwerk der sowjetischen Musikpolitik«, in: Friedrich Geiger, Eckhard John (Hrsg.), Russische Musik ^wischen Stalinismus und Emigration, Stuttgart 2004, S. 70-136. Die entscheidenden Informationen enthält der Aktenbestand RGAJU, fd. 2659 [Roslavec], op. 1, ed. ehr. 94. Roslavec' musiksoziologische Schriften kommentiert Lobanova einzig mit dem Hinweis, sie enthielten „platte Vulgärsoziologismen" (Lobanova, Roslavec, S. 177). Ebd., S. 189-192 und 196-201. In dem „LEF"-Kapitel werden vorwiegend Konzepte des frühen Proletkul't aufgelistet, die dem rationalen Funktionalismus des LEF teilweise völlig entgegengesetzt sind („Revolution als Ritual", „Orientierung auf Theatralisches, Dekoratives", „neue Revolutionssymbolik"). Die eigentlichen LEF-Konzepte werden in dem folgenden Kapitel „Der Stil des Konstruktivismus" vorgestellt, verstanden allerdings als künstlerischer ,Stil', nicht als sozialutilitäres Konzept. Lobanova, Roslavec, S. 198 und 201. Ebd.; S. 209 und 212.

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lung der nachrevolutionären Musik.34 In seinem einleitenden Überblickskapitel stellt Tarakanov fest, dass sich die „Anhänger extrem modernistischer Richtungen" in der Musik mit den „ästhetischen Programmen der radikalen Strömungen — der linken Front der Künste (LEF) und des Konstruktivismus" auseinander gesetzt hätten. Diese seien aber in erster Linie durch die Literatur vermittelt worden, weniger durch die bildenden Künste und die Architektur. Das „Pathos der Arbeit und des revolutionären Gesellschaftsumbaus", das in der Literatur anzutreffen sei, habe seine musikalische Analogie im „Urbanismus", in der Erzeugung von „Geräusch- und Klangeffekten" und in einer „künstlerischen Reflexion der klingenden Realien des Alltags" gehabt.35 Die bildenden Künste und die Architektur hätten keine „direkte Widerspiegelung" in der Musik gefunden, es habe ,nur' eine „Gemeinsamkeit der Ziele" gegeben. Die Analogien trügen daher lediglich „relativen und oberflächlichen Charakter". Als Ähnlichkeiten zwischen dem Konstruktivismus in der Architektur und der Musik nennt Tarakanov das „Bemühen um Präzision, um graphische Klarheit der Linien und die strenge Durchkonstruktion der Komposition". Außerdem äußere sich der Konstruktivismus in der Musik als „Widerstand" gegen „Romantik" und „lyrische Emotionen" sowie in der Annahme einer „Schönheit der reinen Klangkonstruktion". Die „Ewigkeit des Steins" und die „Flüchtigkeit des Klangs" seien aber zwei zu wesensverschiedene Elemente, als dass in ihnen wirklich die gleichen Prinzipien verkörpert sein könnten.36 Tarakanov betrachtet den Konstruktivismus nicht als eine allgemeine Methode der künstlerischen Materialorganisation, sondern als einen medienspezifischen ,Stil', der in einem anders strukturierten Medium wie dem der Musik nur ,indirekt' und oberflächlich' ,widergespiegelt' werden kann. Damit kehrt er die historische Hierarchie der Determinanten des Kunstwerks um. Für die linke Kunsttheorie der Zeit waren nicht die stilistischen Oberflächenmerkmale des Artefakts maßgeblich, sondern dessen funktionale Organisationsprinzipien, die ohne Substanzverlust von einem Medium auf ein anderes übertragen werden können. In den einzelnen Werkbesprechungen wird das Verhältnis von avancierter Musik und linker Kunst nicht systematisch untersucht. Elena Dolinskaja konstatiert in ihrem Kapitel zum „Sinfonischen Schaffen der 20er und 30er Jahre" zwar eine „Begeisterung" für den Konstruktivismus bei den Komponisten Mosolov, Popov, Roslavec und Desevov, bezeichnet diesen nun aber als „technologische Neuerung der westlichen Kunst".37 Damit wird der von Tarakanov angenom34 Michail Tarakanov (Hrsg.), Istorija sovremennoj otecestvennoj musyki. Ucebnik dlja studentov mwgkal'nycb vu^ov (Geschichte der zeitgenössischen vaterländischen Musik. Lehrbuch für Studenten musikalischer Hochschulen), Bd. 1: 1917-1941, Moskau 1995. 35 Ebd. S. 37. 36 Ebd. S. 38. 37 Ebd. S. 173.

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mene Zusammenhang zur Kunst des LEF wieder in Frage gestellt und das Stereotyp der sowjetischen Kunsthistoriographie fortgeschrieben, der ,Industrialismus' und ,Urbanismus' seien als fremde Erscheinungen aus dem Westen importiert worden. Den bislang einzigen Versuch, den Zusammenhang zwischen linker Musik und den Konzepten des LEF auf analytischer Ebene zu fassen, hat die Moskauer Musikwissenschaftierin Inna Barsova im Rahmen ihrer Erforschung des Frühwerks von Aleksandr Mosolov unternommen. Sie begriff das seit 1927 häufiger anzutreffende Schlagwort vom .musikalischen Konstruktivismus' nicht nur als feuilletonistische Phrase oder als diffamierendes Etikett, sondern ging der Hypothese nach, ob es sich nicht um ein bewusst verfolgtes Schaffenskonzept handeln könne. Ihre Ergebnisse veröffentlichte sie erstmals 1979 in einem Beitrag des Jahrbuch Peters,38 1986 in erweiterter Form in dem Sammelband „A. V. Mosolov. Aufsätze und Erinnerungen".39 Eine Spezialuntersuchung zum Phänomen des musikalischen Konstruktivismus erschien 1988 in einer schwer zugänglichen Sammelpublikation des Moskauer Puskin-Museums.40 Barsova fasst das Phänomen des musikalischen Konstruktivismus in zweifacher Weise. Zum einen betrachtet sie es als Folge eines durch das „antiromantische Antlitz der modernen Industriewelt" ausgelösten ästhetisch-kulturellen Paradigmenwechsels, der das Interesse „an der Konstruktion und am Konstruktiven" in der sowjetischen Musik gefördert habe. Als modellbildende Manifestationen dieses Wandels sieht sie den „antiromantischen Aufstand" und die Emanzipation des Rhythmus in der Musik Stravinskijs und Prokof evs, die „lautimitatorischen" Experimente der italienischen Futuristen und auch das neue Medium des Films, das den „Rhythmus des neuen Zeitalters" entdeckt habe.41 Die zweite Determinante des musikalischen Konstruktivismus sieht Barsova in einer konkreten Analogiebildung zu den bildenden Künsten. Trotz der Verschiedenartigkeit der Materialien ließen sich „aller Wahrscheinlichkeit nach gemeinsame Prinzipien der Materialgestaltung" formulieren. Die Grundidee des sowjetischen Konstruktivismus bestehe in einer „Ableitung der modernen Formprinzipien aus dem Wesen der Maschine", die sich im Verzicht auf alles Dekorative, in der Funktionalität, Ökonomie und Rationalität der künstlerischen Verfah38 Inna Barsova, »Das Frühwerk von Aleksandr Mosolov«, in: Jahrbuch Peters 1979, Leipzig 1980, S. 117-169; Nachdruck in: Aleksandr Shjabin und die Shjabinisten II, München 1984 (= Musik-Konzepte 37/38), S. 122-167. 39 Inna Barsova, »Rannee tvorcestvo Aleksandra Mosolova (dvadcatye gody)« (»Das Frühwerk Aleksandr Mosolovs [die zwanziger Jahre]«), in: Nina Mesko (Hrsg.), Α. V. Mosolov. Stat'i i vospominanija, Moskau 1986, S. 45-122. 40 Inna Barsova, »Tvorcestvo Aleksandra Mosolova ν kontekste sovetskogo muzykal'nogo konstruktivizma 1920-ch godov« (»Das Schaffen Aleksandr Mosolovs im Kontext des sowjetischen musikalischen Konstruktivismus der 1920er Jahre«), in: Irina Danilova (Hrsg.), Rossija-Franäja: Problemy kul'tuiy desjatiletij XX veka, Moskau 1988, S. 202-220. 41 Ebd., S. 204.

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ren sowie — als „extreme" Konsequenz — in der Standardisierung formaler Details äußere.42 Den adäquatesten musikalischen Ausdruck fänden diese Gestaltungskriterien im Prin2ip des Ostinato bzw. des komplexen Polyostinato, die gleichermaßen bei Stravinskij und Prokofev vorgeprägt seien.43 In die Musik als ungegenständliche Kunst habe der Konstruktivismus über die Vermittlung des avancierten sowjetischen Theaters Eingang gefunden. Er trete somit in erster Linie als „musikalisch-szenischer Konstruktivismus" in Erscheinung, sei aber grundsätzlich zur Emanzipation von der Bühne fähig, solange er an „Bilder von Bewegung" gebunden bleibe.44 Seine soziale Funktion sieht Barsova in einer agitatorischen Wirkung. In den nicht-gegenständlichen Künsten wie auch im Theater bestehe sein „ethischer Sinn" in der Verwandlung der „rational organisierten 'Maschinenwelt'" in eine „futurologische Utopie".45 Diese utopische Komponente bedürfe notwendigerweise eines ausgleichenden Gegenpols, der in der Satire auf Erscheinungen der „alten Welt" bestehe und sich in einigen Werken Mosolovs, Prokof evs und Sostakovics finde.46 Zeitlich grenzt die Autorin die Entfaltungsperiode des musikalischen Konstruktivismus auf die Jahre 1926 bis 1929 ein. Als Ursachen für sein Ende um 1930 nennt Barsova zum einen den gesellschaftlichen Widerstand gegen eine allzu rationalistische Kunst, die dem neuen „naiv-romantischen Lebensgefühl" der anbrechenden Stalinära entgegengestanden habe, zum anderen eine innere Erschöpfung, die sich beispielsweise in der „Klischeebildung" bei der illustrativen Darstellung industrieller Objekte zeige.47 In ihren Besprechungen einzelner Werke von Mosolov, Desevov, Prokof ev und Sostakovic schöpft Barsova das Potenzial ihres Ansatzes - bedingt auch durch die Kürze der Abhandlung — keineswegs aus. Systematisch wendet sie die herausgearbeiteten Kategorien in der Analyse von Mosolovs Orchesterstück Zavod (Die Fabrik) an und gelangt damit zu prägnanten Ergebnissen 48 Barsovas ZöiW-Analyse bildet den maßgeblichen Ausgangspunkt für die vorliegende Arbeit.49 Ihr Ansatz ist hier in mehrere Richtungen ausgeweitet. Zum 42 43 44 45 46 47 48 49

Ebd., S. 208. Ebd., S. 21 Of. und 204. Ebd., S. 206 und 210. Ebd., S. 207. Ebd., S. 211 f. Ebd., S. 214f. und 209. Barsova, »Rannee tvorcestvo Aleksandra Mosolova«, S. 90-97. Einen vergleichbaren analytischen Ansatz verfolgt Friedrich Geiger in seiner Studie »Expressivität, konstruktiv gebändigt. Wladimir Vogels ,Zwei Etüden für Orchester'«, in: Musica 50 (1996), S. 189-197. Geiger weist in der kompositorischen Struktur der Zwei Etüden eine „verblüffende" „phänomenologische Nähe zur Ästhetik konstruktivistischer Kunst und Architektur" in folgenden Punkten nach: „Ausschaltung des Zufalligen", „Offenlegung des Konstruktionsverfahrens", „durch keinerlei Beiwerk verstellte Formdisposition", „Primat des Ganzen vor dem Eigenleben des Details", „bewußte Elementarisierung des kompositorischen Materials" und rigorose Elimination von „allem Ornamentalen" (ebd., S. 190 und 195). Vogel war stark vom funktionalen Denken des Bauhauses beeindruckt, verfolgte aber

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einen nimmt die Suche nach linken Konzepten in der Musik nicht nur den Konstruktivismus ins Blickfeld, sondern auch andere Ausprägungen der linken Kunst, insbesondere die Faktographie und die Kunsttheorie der Formalisten. Zum anderen werden auch außerkünsderische Diskurse in die Untersuchung einbezogen, beispielsweise die Organisationswissenschaft Bogdanovs, die Arbeitstheorie Taylors und Gastevs, die Reflexologie Pavlovs und Bechterevs oder die Kontroverse um den mechanistischen und dialektischen Materialismus. Die wissenschaftliche Aufarbeitung der LEF-Kunst ist ungleich weiter fortgeschritten als diejenige der avancierten sowjetischen Musik. Trotzdem sind auch hier gewisse Defizite zu verzeichnen. Das erste Defizit besteht darin, dass viele Gesamtdarstellungen sowie auch Einzelstudien sich auf die erste Hälfte der 1920er Jahre konzentrieren. Dies gilt insbesondere für die beiden Standardwerke zur Entwicklung der linken Kunst von Gerd Wilbert und Haiina Stephan, die abgesehen von dieser zeitlichen Einschränkung die Entwicklung des frühen LEF umfassend und schlüssig darstellen.50 Ein zweites Defizit besteht im Fehlen einer spartenübergreifenden,,interartistischen' Kunstgeschichtsschreibung. Wilbert und noch stärker Stephan konzentrieren sich in ihren Darstellungen auf die Literatur. Das Gleiche gilt für das von Aleksandar Flaker herausgegebene Glossarium der russischen Avantgarde, das nur einen knappen Ausblick auf die Malerei und die Musik des Futurismus enthält. Ein grundsätzliches Problem dieses enzyklopädisch angelegten Glossariums liegt darin, dass ihm die Vorstellung einer einheitlichen „Doktrin der russischen Avantgarde" zugrunde liegt, die den Futurismus der 1910er Jahre und die LEF-Kunst der 1920er Jahre umklammern soll.51 Zu den einzelnen Bereichen der linken Kunst liegt jeweils eine größere Zahl gründlicher Darstellungen vor. Unter den Arbeiten zur bildenden Kunst des LEF ragen diejenigen von Hubertus Gaßner aufgrund ihrer reichen Quellenbasis und ihrer luziden Reflexion der künsderisch-sozialen Problemzusammenhänge heraus.52 Gut erschlossen ist auch die linke Theaterkunst,53 insbesondere das Schafauch die sowjetischen Kunsttendenzen mit Interesse — immerhin hatte er bis 1918 in Russland gelebt und in den 1920er Jahren sozialistische Anschauungen vertreten (Engagement in der „Kampfgemeinschaft der Arbeitersänger"). 50 Gerd Wilbert, Entstehung und Entwicklung des Programms der „linken " Kunst und der „Unken Front der Künste" (LEF) 1917-1925. Zum Verhältnis von künstlerischer Intelligewiund sozialistischer Revolution in Sowjetrußland, Glessen 1976; Haiina Stephan, „Lef and the Left Front of Arts, München 1981. 51 Vgl. Aleksandar Flaker (Hrsg.), Glossarium der russischen Avantgarde, Graz, Wien 1989, S. 7. 52 An erster Stelle ist zu nennen: Hubertus Gaßner, »Konstruktivisten. Die Moderne auf dem Weg in die Modernisierung«, in: Bettina-Martine Wolter, Bernhard Schwenk (Hrsg.), Die Große Utopie. Die russische Avantgarde 1915-1932 [Katalog zur Ausstellung Frankfurt am Main, 1.3.-10.5.1992], Frankfurt am Main 1992, S. 109-149. Die maßgeblichen Dokumente zur Entwicklung der linken (bildenden) Kunst sind — versehen mit einem ausgezeichneten Kommentar - veröffentlicht in: Hubertus Gaßner, Eckhart Gillen (Hrsg.), Zwischen Kevoluti-

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fen Mejerchol'ds. Unter den zahlreichen Mejerchol'd-Monographien erweist sich diejenige von Christian Mailand-Hansen als besonders ergiebig, da sie weit reichende Zusammenhänge zur gesamten sowjetischen Theaterkultur der 1920er Jahre und auch zu kunstexternen Diskursen herstellt.54 Die Tendenz zur Fokussierung auf die frühen 1920er Jahre sowie die partikulare Behandlung der einzelnen Künste haben dazu geführt, dass der Stellenwert der Faktographie innerhalb der linken Kunstentwicklung bislang nicht angemessen gewürdigt wurde. Die Faktographie ist weder als Gegenprogramm zum Konstruktivismus systematisch untersucht worden noch als ein Universalkonzept, das auf alle Künste gewirkt hat. Zunehmend gut aufgearbeitet sind die ,Para-Diskurse' zur linken Kunsttheorie. Zu Aleksandr Bogdanovs Organisationswissenschaft und ihrem Einfluss auf die Kunstpraxis des Proletkul't und des LEF liegen mehrere gründliche Untersuchungen vor.55 Aleksej Gastevs Forschungen zur wissenschaftlichen Arbeitsorganisation werden vor allem von der Theaterwissenschaft beachtet.56 In jüngster Zeit gerät zunehmend auch der Konnex zwischen materialistischer Experimentalpsychologie (Psychotechnik, Reflextheorie Pavlovs und Bechterevs) und künstlerischer Avantgarde ins Blickfeld der Forschung.57

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onskunst und Sozialistischem Idealismus. Dokumente und Kommentare. Kunstdebatten in der Souyetunion 1917 bis 1934, Köln 1979. Grundlegend: Konstantin Rudnitsky, Russian & Soviet Theatre. Tradition Die Biomechanik als konsistentes Ausbildungssystem entwickelte Mejerchol'd vor allem in seiner Tätigkeit in den „Staatlichen Höheren Regiestudios" (GVyRM), deren Leitung er 1921 übernommen hatte. 1922 wurde die Biomechanik auch als Bestandteil der Arbeitsgymnastik in den Fabrikschulen des Tefi^kul't eingeführt.60 1922 richtete der Moskauer Proletkul't eine Sportsektion ein, die Mejerchol'd zur wissenschaftlich-theoretischen Mitarbeit einlud.61 Ippolit Sokolov, der Leiter dieser Sektion, stellte ein Programm einer .proletarischen' Körperkultur auf, das die linke Utopie der Maschinisierung des Menschen in aller Drastik aufzeigt. Der neue Sport war für Sokolov nichts anderes als die Arbeitsgymnastik nach den Erkenntnissen des NOT.62 Die künftige „psycho-physiologische Erziehung" des Menschen sollte eine allgemeine „Kultur der industriellen Gestik" hervorbringen. „Künstler, Doktoren, Artisten und Ingenieure" seien von nun an verpflichtet, „den menschlichen Körper nicht aus der Perspektive der Anatomie und Physiologie zu studieren, sondern aus der Perspektive der Maschinenkunde".63 Sokolovs Gymnastiktheorie enthielt auch eine Rhythmuslehre, die in Kapitel 3—1.3. näher behandelt wird. Entscheidend war für ihn, dass der „physiologische" Rhythmus des Menschen mit dem „technischen" Rhythmus der Arbeit in Übereinstimmung gebracht werde. Der Mensch könne unter diesen Umständen beliebig lange ohne Ermüdungserscheinungen arbeiten, so wie das menschliche Herz niemals müde werde. „Musikalische" Rhythmen hielt Sokolov für diese Zwecke für ungeeignet und sah in seinen Gymnastikübungen entsprechend auch keinen Einsatz von Musik vor.64

57 Vgl. Mailand-Hansen, Mejerchol'ds Theaterästhetik, S. 60; Näheres zum Vseobuc in: Plaggenborg, Revolutionskultur, S. 70-88. 58 Vgl. Law/Gordon, Meyerhold, Eisenstein and Biomechanics, S. 31. 59 Vgl. Mailand-Hansen, Mejerchol'ds Theaterästhetik, S. 60. Der Tefi^kul't wurde im April 1921 dem Vseobuc unterstellt. 60 Vgl. »Teatralizacija fizkul'tury« (»Die Theatralisierung des Sports«), in: Ermitaζ 1922, Nr. 8, S. 13. 61 Vgl. »Proletarskaja fizkul'tura« (»Proletarische Körperkultur«), in: Ermita^ 1922, Nr. 8, S. 13. 62 Ippolit Sokolov, Sistema trudovojgmnastikj (Das System der Arbeitsgymnastik), Moskau 1922, S. 3. 63 Ippolit Sokolov, »Industrial'naja zesükulacija« (»Die industrielle Gestik«), in: Ermita£ 1922, Nr. 10, S. 6. 64 Sokolov, Sistema trudovojgimnastiki, S. 18.

III. Konstruktivismus (1921-1925)

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III.5.d. Boris Arvatov: Theater als „Fabrik des qualifizierten Menschen" Der rigideste Verfechter einer Auflösung der Kunst in Lebenspraxis war Boris Arvatov (1876-1940), der 1922 mit Ejzenstejn und Tret'jakov im Regiestudio des Moskauer Proletkul't zusammenarbeitete und sich zur gleichen Zeit als Theoretiker der Produktionskunst hervortat (vgl. Kap. 2—III.3.). Arvatov betrachtete Mejerchol'ds Biomechanik als den „ersten wirklichen großen Schritt aus dem Theater ins Leben", als die lange ersehnte „Nahtstelle zwischen der Organisierung in der Kunst und der Organisierung im Leben".65 In seiner Konzeption der Theaterarbeit des Proletkul't ging er allerdings noch weit über Mejerchol'd hinaus. Das Theater sollte nicht nur als Modell der Arbeits- und Körperkultur dienen, sondern als Ausbildungszentrum zur zweckmäßigen Organisation des gesamten sozialen Alltags. Der praktische Teil der Schauspielschulung am Theaterstudio des Proletkul't sollte in der Hauptsache aus der Improvisation und „produktionsmäßigen Komposition" so genannter „kinetischer Konstruktionen" bestehen. Unter Letzteren verstand Arvatov Sitzungen, Tribunale, Meetings, sportliche Wettkämpfe, Klubabende, öffentliche Feste, Umzüge, Paraden, Demonstrationen, Wahlkampagnen, Betriebsarbeit usw. Die theoretische Ausbildung schloss die Fächer „Wissenschaftliche Organisation der Arbeit" (Gastevs NOT), „Rationalisierung der Bewegungen im Leben" und „Psycho-Technik" ein.66 Der herkömmliche Begriff von ,Theater' war hier im Sinne des Maximalprogramms des φ'^nestroenie vollkommen entgrenzt. Das Theater wurde zur Ausbildungsanstalt für Organisatoren des byt, zur „Fabrik des qualifizierten Menschen",67 die unorganisiertes' in .organisiertes' Leben verwandeln sollte: Die Menschen verstehen nicht zu sprechen, spazierenzugehen, sich zu setzen, zu lieben, ihre Wohnung einzurichten, öffentliche Angelegenheiten zu erledigen, Gäste zu empfangen und auf Beerdigungen zu gehen. Zufälligkeit, persönliche Stimmung und der absolute Mangel an Qualifikation charakterisieren den heutigen sozialen Alltag. Er ist weder der Form noch seinem Material nach organisiert. Sind das etwa Menschen - all diese spezialisierten Krüppel mit verrenkten Gelenken, Wattemuskeln und plumpem Gang, Krüppel, die wir aus irgendeinem Grund unsergleichen nennen? [...] Genossen Regisseure! [...] Werdet zu Ingenieuren und Monteuren des Alltags.68

65 66 67 68

Boris Arvatov, »Theater als Produktion« [1922], in: ders., Kunst und Produktion, S. 90. Ebd., S. 91 f. Ebd., S. 86. Boris Arvatov, »Von der Theaterregie zur Montage des Lebens« [1922], in: ders., Kunst und Produktion, S. 93f.

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Teil 2 - Die Entwicklung der linken Kunst

IILS.e. Sergej Radlov: ein vergessener Pionier des linken Theaters Auf den Leningrader Regisseur Sergej Radlov (1892-1958) ausfuhrlicher einzugehen, scheint aus mehreren Gründen geboten. Die Theatergeschichtsschreibung hat bislang — offensichtlich geblendet von der alles überstrahlenden Erscheinung Mejerchol'ds — kaum Notiz davon genommen, dass Radlov einer der kreativsten und vielseitigsten Künstler des frühen sowjetischen Theaters war. 69 In den 1920er Jahren galt er fast unangefochten als Anfuhrer der linken Bühne in Leningrad. 70 Noch herausragender ist seine Bedeutung für das sowjetische Musiktheater. Der 69 Die erste Monographie zu Radlov erschien erst 1995: David Zolotnitsky, Sergei Radlov. The Shakespearian Fate of a Soviet Director; Harwood 1995 (= Russian Theatre Archive 4); erweitert als: David Zolotnickij, Sergej Radlov. Reqssura sud'by (Regie des Schicksals), St. Petersburg 1999. Zolotnickijs Buch ist als Biographie von hohem Wert, insbesondere wegen der erstmaligen Darstellung von Radlovs Schicksal im und nach dem Zweiten Weltkrieg (Evakuation in den Süden der UdSSR, Gefangennahme als .Volksdeutscher' durch die deutschen Truppen, Theatervorstellungen für NS-Streitkräfte, 1943 nach Berlin, 1944 nach Frankreich verschlagen, 1944/45 Auftritte in der Pariser sowjetischen Botschaft und in russischen Repatriantenlagern, im Juni 1945 freiwillige Rückkehr in die UdSSR, sofortige Verhaftung am Moskauer Flughafen, Lagerhaft bis 1953, Tod seiner Frau im Lager, Leitung eines Lagertheaters mit dem Namen IJazz]). Problematisch ist die Arbeit Zolotnickijs dagegen in ihrem historiographischen Ansatz. Sie geht von einem in der sowjetischen wie auch postsowjetischen Kunstgeschichtsschreibung weit verbreiteten Wertungsschema aus, demzufolge der eigentliche' Wert jeglichen künstlerischen Schaffens in dessen 'klassischem' Kern liege, der unabhängig von den politischgesellschaftlichen Zeitumständen sei. Alles Zeitgebundene, politisch Ambitionierte, theoretisch Konstruierte verfällt nach diesem Schema einer Abwertung, erscheint als Anbiederung an Mode und Konjunktur, die 'wahrem Künsdertum' äußerlich bleibe. Damit wird nicht nur ein normativer Kunstbegriff verabsolutiert, sondern auch eine Exkulpierung von Künsdern angestrebt, deren Schaffen an politischen Ideen ihrer Zeit orientiert war, - Ideen, die sich im Nachhinein als korrumpierbar erwiesen haben. In Zolotnickijs Radlov-Studie wirkt sich diese Tendenz dahingehend aus, dass die linken Kunstansichten Radlovs, die zum guten Teil den einschlägigen politischen Ideologemen ihrer Zeit verpflichtet waren, nur bruchstückhaft referiert und streng normativ als „abstrakte Verirrungen" (abstraktnye blu^danija, S. 46), „spekulative Extremismen" (umo^ritel'nye krajnosti, S. 40) usw. bewertet werden. Nur die „tiefe Bildung und Kultur" hätten die „Linksorientierung" (levi^na) des Künstlers ins Positive gewendet (S. 5). Neutralen Aufschluss über das konzeptuelle Denken Radlovs bringen derzeit nur Originalquellen. 1929 hat Radlov eine Sammlung wichtiger Aufsätze unter dem Titel Desjat' let ν teatre (Zehn Jahre im Theater, Leningrad 1929) herausgegeben, die einen informativen biographischen Essay von Stefan Mokul'skij enthält: »Radlov ν teatre« (Radlov im Theater), S. 4-22. Wichtige Materialien birgt femer der Nachlass Radlovs (RUS-SPsc, fd. 625), unter anderem zwei Alben, in denen der Regisseur seine künsderische Laufbahn dokumentiert hat (fd. 625, Nr. 237). 70 Boris Arvatov bezeichnet in seinem Theatermanifest aus dem Jahr 1922 - einem Text, der vor utopischem Maximalismus nur so strotzt - Radlov als den entschiedensten Verfechter der gegenwärtig um sich greifenden Tendenz zu einem sujedosen Theater (Arvatov, »Theater als Produktion«, S. 89).

III. Konstruktivismus (1921-1925)

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größte Teil der Inszenierungen moderner Opern in Leningrad lief seinerzeit unter Radlovs Regie, meist in Zusammenarbeit mit dem Dirigenten Vladimir Dranisnikov sowie den Bühnenbildnern Valentina Chodasevic und Vladimir Dmitriev. Er inszenierte Schrekers Derferne Klang (1925), Prokofevs Ljubov' k trem apel'sinam (Die Liebe zu den drei Orangen; 1926), Bergs Wosgeck (1927), die von Pavel Lamm rekonstruierte ,Urfassung' des Boris Godunov (1928), Desevovs Led i stal' (Eis und Stahl; 1930) und schließlich Mosolovs nicht aufgeführte Oper Plotina (Der Staudamm; 1930). In den 1930er Jahren war er an der Inszenierung der Asaf ev-Ballette Plamja Ραήψ ili Triumf respubliki (Die Flamme von Paris oder Der Triumph der Republik; 1932) und Bachcisarajskij fontan (Die Fontäne von Bachcisaraj; 1934) beteiligt. 1936 verfasste er zusammen mit Adrian Piotrovskij das Szenarium zu Prokofevs Romeo i D^ul'etta (Romeo und Julia). In der Person Radlovs bündelt sich nahezu das gesamte Spektrum linker Theaterkonzeptionen der 1920er Jahre. Nach einem Studium der Literatur der Antike und der Renaissance wirkte er in Mejerchol'ds Studio auf der Borodinskaja ulica mit und avancierte in den Jahren 1913 bis 1917 zu dessen Hauptassistenten. Als Mejerchol'd im April 1919 nach Moskau übersiedelte, überließ er seinem Schüler sein legendär gewordenes Schauspielstudio. Wie sein Lehrer war auch Radlov 1918 bereit, sich in den bolschewistischen Kulturinstitutionen zu betätigen. Er arbeitete bis 1919 in der Repertoiresektion der Petrograder Theaterabteilung des NARKOMPROSP Trotz dieses politischen Engangements standen seine ersten Theaterproduktionen kaum unter dem Zeichen von Agitprop. Stattdessen entwickelte er in seiner ersten eigenen Bühne, der 1920 eröffneten Narodnaja komedija (Volkskomödie), einen neuen Theaterstil, der während der gesamten 1920er Jahre Schule machen sollte. Es waren lose gefügte Stücke, die sich an der Sensationsdramaturgie der Revue orientierten. Die Handlung wurde weitgehend pantomimisch dargestellt, der Text von den Schauspielern improvisiert. Erstmals wirkten hier Clowns, Jongleure und Akrobaten im Theater mit. Diese Zirkuselemente sicherten den Erfolg beim Publikum, das vorwiegend aus Arbeitern, Soldaten und Matrosen bestand. Radlovs Theater konnte allerdings den neuen wirtschaftlichen Bedingungen der NEP-Ätz nicht standhalten und musste im Januar 1922 schließen.72 Nach dieser Niederlage unterhielt Radlov mit einigen seiner Anhänger in seiner Privatwohnung ein experimentelles Theaterstudio, das nur gelegentlich halböffentliche Vorführungen gab. Die schauspielerischen Ansätze der Narodnaja komedija wurden hier zur theatergeschichtlich bedeutsamen Idee einer abstrakten, ,reinen' Theaterkunst radikalisiert. Die Improvisation der Sprechpartien wurde durch eine Improvisation asemantischer Lautfolgen abgelöst, die akrobatischen Spielelemente gingen in die körperliche Darstellung abstrakter geometrischer 71 Vgl. Zolotnickij, Radlov, S. 13. 72 Vgl. ebd., S. 17-36.

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Teil 2 - Die Entwicklung der linken Kunst

Konstruktionen über. Der Schauspieler sollte sich die Bewegungen seines Körpers abstrahiert vorstellen als eine Verschiebung von vier Achsen, die durch den Kopf, die Schultern, die Schenkel und die Knie gegeben waren. In dem nackten Bühnenraum sollte er Etüden über bestimmte geometrische Figuren - „ein Spiel der Kreise, der frei geformten Linien, der Rhomben und aller möglichen spitzwinkligen Formen" — improvisieren. 73 Hier stand offensichtlich die gegenstandslose Kunst des russischen Kubo-Futurismus Pate: die suprematistische Formenwelt Malevics und die %aum -Sprache Krucenychs. 74 Mejerchol'd sah bei einem Besuch in Petrograd eines dieser abstrakten Bühnenstücke Radlovs (Opus Nr. 1) und kommentierte es mit provokantem Desinteresse: er schaute beharrlich aus dem Fenster. 75 Vermutlich hatte ihn der Rückgriff auf die Praktiken des Kubo-Futurismus in einer Zeit der allgemeinen Utilitarisierung und Taylorisierung des Theaters befremdet. Die daraufhin ausgebrochene Feindseligkeit zwischen Mejerchol'd und Radlov zog sich bis in die Formalismusdebatten der 1930er Jahre hinein. 76 In einem Artikel »Die verlorene linke Front« aus dem Jahr 1924 warf Radlov seinem Rivalen vor, bei ihm sei der Konstruktivismus zu einer „dilettantischen Stilisierung der Ingenieurkunst aus dünnem Betonfurnier" entartet und tauge nur noch zur „Positionierung kleiner Grüppchen heroischer Figuren". 77 Die hier kritisierte Tendenz, die konstruktivistischen Gestaltungsprinzipien durch Vermischung mit realistischen Regiekonzeptionen aufzuweichen, wurde sehr bald auch für Radlovs eigene Regiearbeit charakteristisch. Ungeachtet dessen operierte Radlov während der gesamten 1920er Jahre — 73 So Radlov in dem 1923 veröffentlichten Manifest »O cistoj stichii akterskogo iskusstva« (»Über das reine Element der Schauspielkunst«), in: ders., Desjat' let, S. 102-125. Adrian Piotrovskij kamen die abstrakten Bühnenexperimente seines Freundes Radlov wie eine „Belebung der Figurenzeichnungen der so genannten 'linken Künsder'" vor (Adrian Piotrovskij, »Teatral'noe ucenie Radlova« [»Die Theaterlehre Radlovs«; 1922], in: ders., Za sovetskij teatr, Leningrad 1925, S. 41). Interessanterweise zog Piotrovskij in diesem Zusammenhang einen - möglicherweise durch Kandinskijs Über das Geistige in der Kunst inspirierten - Vergleich zur Musik als einem Muster abstrakter Kunst. Radlov suche für das Theater eine ähnliche „Grammatik", wie sie die Musik schon seit Jahrhunderten besitze (ebd., S. 40). Vgl. auch Zolotnickij, Radlov, S. 39-48. 74 Radlov weist in seinem Manifest ausdrücklich auf Krucenychs ebenfalls 1923 erschienenes Buch Fonetika teatra (Die Phonetik des Theaters) hin (»O cistoj stichii«, S. 123). 75 Vgl. Zolotnickij, Radlov, S. 45ff. 76 Mejerchol'd beschuldigte Radlov in seinem am 14.3.1936 im Kontext der Formalismusdebatte gehaltenen Vortrag »Mejerchol'd protiv Mejerchol'dovsciny« (»Mejerchol'd gegen die Mejerchol'derei«), „die Formeln des Konstruktivismus aufgreifend, in den Sumpf des Formalismus abgeglitten" zu sein (Wsewolod E. Meyerhold, Schriften. Aufsätze. Briefe. Reden. Gespräche, Bd. 2: 1917-1939, hrsg. von Gisela Seeger, Berlin 1979, S. 326). Radlov verteidigte sich am 9. Mai im Rahmen einer weiteren Diskussion und forderte Mejerchol'd auf, die ,Mejerchol'derei' bei sich selbst zu suchen. Das Protokoll dieser Rede ist erhalten in RUSSPsc, fd. 625, Ed. 143, S. 2-7. 77 Sergej Radlov, »Uterjannyj levyj front« (»Die verlorene linke Front«), in: ii^ti' iskusstva 1924, Nr. 15, S. 7.

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mitunter in eklektischer und unsystematischer Weise — mit Theoremen des Konstruktivismus und des estroenie. Noch 1929 bekannte er sich zum Konzept eines Theaters als ,Fabrik des qualifizierten Menschen', wie es Mejerchol'd, Arvatov, Tret'jakov und Cuzak um 1922 entwickelt hatten: Zuallerst ist der Schauspieler ein Beispiel für den Gang, die Gesten, die Rede und die Kleidung seiner Zeitgenossen. [...] Der moderne Schauspieler erfüllt seine wichtigste Aufgabe nicht, wenn er es nicht versteht, zum Modell des modern organisierten, strammen, konzentrierten, lebensfrohen, körperlich trainierten Menschen mit wendiger und scharfer Wahrnehmung, starkem Willen, ruhiger und gleichmäßiger Atmung, präziser und korrekter, nicht lispelnder Redeweise [...] zu werden.78

In seinen frühen Opernarbeiten orientierte sich Radlov zunächst am Theaterstil des deutschen Expressionismus mit seinen drastischen Gesten und seinem hypertrophierten Wortausdruck. Bemerkenswert ist eine aus dem Repertoire linker Ideen gebildete Theorie des Lachens, die er anlässlich seiner Inszenierung von Prokof evs Ljubov' k tfem apel'sinam (Die Liebe zu den drei Orangen) formulierte. Er betrachtete die Musik Prokof evs, deren Fröhlichkeit „in straffe rhythmische Formen" geritzt sei, als eine „physische Infusion von Munterkeit in das menschliche Blut", die die Arbeitsproduktivität von Arbeitern - im Gegensatz zu einem „schweren psychologischen Drama" — mit Sicherheit steigere.79 Die Wissenschaft NOT sei leider noch zu jung, um den „kolossalen Einfluss solch verschwommener Dinge wie Lachen und Rhythmus auf die menschliche Maschine" einschätzen zu können.80 Dem Thema Technik und Industrie näherte sich Radlov nicht über seine Arbeit als Bühnenregisseur, sondern über sein Mitwirken bei den Masseninszenierungen des Jahres 1920. Radlov war an den Aufführungen Ogon' Trometejα (Das Feuer des Prometheus; Mai 1920), Blokada Rossii (Die Blockade Russlands; 20. Juni 1920) und dem Mysterium Κ mirovoj kommune (Der Weltkommune entgegen; 19. Juli 1920) beteiligt.81 Bei der letztgenannten Inszenierung steuerte er von der Kapitänsbrücke in Petrograd aus mit Flaggenzeichen und einer verzweigten Telephonschaltung die Aktionen der Darsteller.82 Von diesen Erfahrungen ausgehend formulierte er das Konzept einer „Elektrifizierung des Theaters". Der Regisseur solle wie ein „Zar des Theaters" mit Hilfe einer „höchst komplizierten elektrischen Klaviatur" die Veränderung der Dekoration, die Beleuchtung, die Intensität

78 Sergej Radlov, »Vospitanie aktera« (»Die Erziehung des Schauspielers«), in: iskusstva 1929, Nr. 3, S. 3. 79 Sergej Radlov, »Ljubov' k trem apel'sinam« (»Die Liebe zu den drei Orangen«) [1927], in: ders., Desjat' let, S. 204. 80 Zum Zusammenhang von straffer Rhythmik, Unterhaltungswert und Erhöhung der Arbeitsproduktivität vgl. auch Kap. 3-1.3. 81 Vgl. Zolotnickij, Radlov, S. 15. 82 Vgl. Paech, Das Theater der russischen Revolution, S. 329f.

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Teil 2 - Die Entwicklung der linken Kunst

der Musik und auch die Aktionen der Schauspieler mit technischer Präzision dirigieren können.83 Radlov war von der Idee solcher Masseninszenierungen nachhaltig fasziniert und setzte sich gegen Ende der 1920er Jahre mit großem Engagement für ihre Wiederbelebung ein. Inhalt und Konzeption dieser neuen Spektakel waren allerdings deutlich verändert: im Vordergrund standen nicht mehr die revolutionären Erhebungen unterdrückter Klassen, sondern Themen wie der industrielle Aufbau, die Verteidigungsbereitschaft des Landes oder der Sport als Massenertüchtigung. Die Gigantomanie der Inszenierungen betraf nun weniger die Anzahl der Darsteller als vielmehr die eingesetzten Requisiten. In der „Oktoberinszenierung auf der Newa" (Oktjabrskaja inscenirovka na Neve) zum 10. Revolutionsjubiläum bezog Radlov beispielsweise Schiffe der Flotte, Fabrikschornsteine, 6 Meter große Figuren und riesige Projektionen auf „Rauchvorhänge" mit ein.84 Am 8. November 1929 organisierte er auf dem Platz vor dem Winterpalais einen paradeartigen „Rechenschaftsbericht der Großbetriebe über das erste Jahr des Fünfjahresplans" {Otcet gigantov ψpervyj godpjatiletki), bei dem unter anderem eine Quadrille tanzender Lastwagen zu sehen und ein monumentales Metallophon aus Eisenbahnschienen zu hören waren (vgl. Kap. 3—II.4.).85 Auch Radlovs Zusammenarbeit mit Mosolov rührte von einer solchen Masseninszenierung her. Der Regisseur hatte den Auftrag erhalten, die Abschlussveranstaltung des „1. Allunionstreffens der Pioniere" am 25. August 1929 im Moskauer Stadion Dinamo zu gestalten und engagierte dafür Mosolov als musikalischen Leiter (vgl. Kap. 3—VI.3.). Mit seinen Erfahrungen im Bereich der Massenchoreographie, des Industriespektakels und der Opernregie war Radlov in jeder Hinsicht prädestiniert, die beiden Gegenwartsopern zu inszenieren, die 1929 als Prototypen einer künftigen sowjetischen Oper in Auftrag gegeben wurden: die Bürgerkriegsoper Ud i stal' (Eis und Stahl; vgl. Kap. 3—V.6.) und die Fünfjahresplanoper Plotina (Der Staudamm; vgl. Kap. 3—VI.4.). Er verfolgte hierbei das Konzept eines .konstruktiven Realismus', das eine Öffnung gegenüber der industriell-urbanen Thematik markierte, aber auch ein Festhalten an Verfahren der Typisierung und der künsderisch-emotionalen Überformung der modernen Lebensrealien. Er rückte damit in Distanz zu den faktographischen Ansätzen des LEF, näherte sich aber Positionen an, wie sie im ASM-Kreis, besonders von Boris AsaPev, vertreten wurden (vgl. Kap. 3-V.6.b.). 83 Sergej Radlov, »Elektrifikacija teatra« (»Die Elektrifizierung des Theaters«), in: Ders., Desjat' let, S. 87-101, hier S. lOOf. 84 Sergej Radlov, »Oktjabrskaja inscenirovka na Neve« (»Die Oktoberinszenierung auf der Newa«) [192η, in: ders., Desjat'let, S. 238-242, hier S. 240ff. 85 Vgl. die Artikel »Otcet gigantov za pervyj god pjatiletki« (»Rechenschaftsbericht der Großbetriebe über das erste Jahr des Fünfjahresplans«), in: ίύφ' iskusstva vom 4.11.1929; und A. D. [Dorochov], »Otcet gigantov« (»Rechenschaftsbericht der Großbetriebe«), in: Raboäj i

teatrv om 17.11.1929.

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111.5.f. Nikolaj Foregger und der „Tart^Oktober" Einer künstlerischen Laufbahn, die derjenigen Radlovs in vielen Punkten vergleichbar war, folgte der Choreograph und Regisseur Nikolaj Foregger (18921939).86 Foregger war wie Radlov deutschstämmig — sein voller Name lautete Baron Foregger fon Grejfenturn (von Greiffenturn) —, hatte ebenfalls klassische Philologie studiert und trat nach der Oktoberrevolution als radikaler Vertreter des linken Theaters hervor. Die Tendenz, der Bewegung auf der Bühne höhere Bedeutung beizumessen als dem Wort, die sich bei allen linken Regisseuren jener Zeit findet,87 führte Foregger zur Konzentration auf den Tanz. In Ensprechung zu Mejerchol'ds Proklamation des „Theater-Oktobers" rief er den „Tanz-Oktober" (Tanceval'njj Oktjabr') aus.88 Im März 1921 eröffnete Foregger in Moskau das Theater MASTFOR (Foregger-Studio), das mit seinen Revue-Programmen schon bald Furore machte. Sein Vorbild war die auch von anderen linken Künstlern bewunderte Music-Hall. Die ersten Programme des MASTFOR waren Parodien auf bestimmte Erscheinungen des zeitgenössischen Lebens, insbesondere auf solche der zeitgenössischen Kunst. In dem Programm Ot nedokolly do bio-mesaniny (Vom Kollektivierungsdefizit zum Bio-Mischmasch) wurde beispielsweise Mejerchol'ds Biomechanik aufs Korn genommen.89 Diese parodistische Bezugnahme auf Mejerchol'd sowie generell das populäre Unterhaltungskonzept seiner Revuen bedeuteten keineswegs, dass Foregger einen .destruktiven' Avantgardismus verfolgt hätte. Für ihn war Mejerchol'd der unbestrittene Anführer der linken Avantgarde und das Programm des Konstruktivismus die verbindliche Basis seines künstlerischen Schaffens.90 Das Amüsement 86 Der künstlerische Werdegang Foreggers ist bislang nicht zusammenhängend aufgearbeitet worden. 1987 erschien eine Dissertation von Aleksandr tepalov, deren allein zugängliches Autoreferat wenig aussagekräftig ist. Hingewiesen sei auf zwei Aufsätze des Autors: »'Cernyj lebed' Nikolaja Foreggera« (»Der ,schwarze Schwan' Nikolaj Foreggers«), in: Sovetskij balet 1982, Nr. 6, S. 50-52, und »Foregger ν muzykal'nom teatre« (»Foregger im Musiktheater«), in: Sovetskaja rnuyka 1984, Nr. 7, S. 254-269. Einen Überblick über Foreggers Theaterarbeit bis 1924 gibt Mel Gordon, »Foregger and The Dance of the Machines«, in: The Drama Review 19 (1975), S. 68-77. 87 Vgl. Mejerchol'd in seiner Rede vor der Wehrsportorganisation Vseobuc am 9.12.1920: „Zuerst die Bewegung, dann die zum Wort führende Emotion, und dann das Wort selbst" (übs. nach: Law/Gordon, Meyerbold, Eisenstein and Biomechanics, S. 31). 88 Nikolaj Foregger, »Opyty po povodu iskusstva tanca« (»Versuche zum Thema Tanzkunst«), in: Aleksej Gvozdev (Hrsg.), Ritm i kul'tura tanca, Leningrad 1926, S. 45. 89 Angekündigt in: Zrelisia 1922, Nr. 11, S. 22. 90 Vgl. Foreggers furiosen Aufruf zu einem konstruktivistisch-biomechanischen Feldzug vom Oktober 1922: „Es ist an der Zeit, die Zerstreutheit der Avantgarde durch die vereinigte Front einer Armee zu ersetzen, die das eroberte Land durchkämmt. Wir brauchen ein Kommando, wir brauchen Befehle. Sie werden schon in Umlauf gebracht: / Biomechanik. / Genauigkeit, Einfachheit und Zweckorientiertheit. / Lerne von der Maschine! Produziere!" (in: Zrelifca 1922, Nr. 7, S. 10). Im Juli desselben Jahres hatte Foregger Vsevolod Mejer-

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war nur der Köder, mit dessen Hilfe die konstruktivistischen Bewegungs-, Verhaltens- und Sprechmuster wirksam an den Massenzuschauer herangetragen werden sollten. Foregger suchte die Zusammenarbeit mit führenden Aktivisten des LEF. Majakovskij und Brik berieten ihn in seiner Repertoiregestaltung, und Aleksandr Rodcenko sollte 1923 Leiter der „dekorativ-konstruktiven" Abteilung werden. 91 Foregger fasste sein konstruktivistisches Tanzkonzept 1926 in einem Grundsatzmanifest zusammen, das sich methodisch aufs Engste an Mejerchol'ds Schauspiellehre anlehnt. 92 Das Pendant zur Biomechanik bildete das Trainingsprogramm tafijatrena£ itanceval'no-fi^ceskaja trenirovka — Tanz- und Körpertraining). 93 Es sollte der Heranbildung eines gesunden Körpers und einer „Erhöhung der psycho-physischen Möglichkeiten (Kontrolle, Willensimpulse, reflektorische Erregbarkeit usw.)" des Tänzers dienen. 94 Das Vorbild für die angestrebte Bewegungskultur lieferte wie bei Mejerchol'd die Industriearbeit, in gleichem Maße aber auch der Sport: Der Arbeiter an der Werkbank, der Fußballspieler im Spiel bergen in sich schon die Umrisse des Tanzes. Man muss lernen, sie optisch zu analysieren. [...] Im heutigen Tanz sind Einfachheit und Ökonomie der Mittel unentbehrlich. Gänzliches Fehlen von Dekorativität, Schnörkelei.95 Die physiologische Bewegungskultur des Sportes bildete für Foregger keinen Gegensatz zur mechanischen Bewegungskultur der Industriearbeit, da er den menschlichen Körper selbst als Maschine betrachtete: Wenn man den Körper des Tänzers für eine Maschine hält und die Willensimpulse für den Maschinisten, kann man sagen, dass das Temperament hier das Brennstoffgemisch für den Motor ist.96

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chol'd in einem offenen Brief aufgefordert, die Führung der 'avantgardistischen' Künsderarmee zu übernehmen und sie gegen Angriffe feindlicher künstlerischer Gruppierungen zu verteidigen: „In der kommenden Avantgarde der Neuen können nur Sie, der führende Meister der RSFSR, der Befehlshaber sein" (in: Ermita^ 1922, Nr. 8, S. 12). „Nik.", »Beseda s Ν. M. Foreggerom« (»Ein Gespräch mit Ν. M. Foregger«), in: Zrelüca 1923, Nr. 36, S. 13. Foregger, »Opyty po povodu iskusstva tanca«, S. 37-54. Wie Mejerchol'd war auch Foregger darum bemüht, sein Ausbildungsprogramm in andere Institutionen zu exportieren. 1920/21 wurde die tafijatrena·^ in die Ausbildungsprogramme des 1. Staatlichen Studios für dramatische Kunst und des Staatlichen Studios für Satire übernommen, dann auch in die des Moskauer Vroletkul't und des Zentralen Studios der Roten Armee (vgl. Foregger, »Opyty po povodu iskusstva tanca«, S. 53). Foregger, »Opyty po povodu iskusstva tanca«, S. 39 und 49. Ebd., S. 53. Ebd., S. 41. Mit diesem Bild paraphrasiert Foregger die Mejerchol'dsche Formel „N = Al + A2". Die hinzukommende Dimension des Emotionalen („Temperament") ist durch den Vergleich mit dem Brennstoffgemisch ins Mechanistische gewendet.

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Die von Foregger anvisierte Art eines maschinenhaften und 2ugleich temperamentvollen Tan2es sollte den Zuschauer .reflektorisch erregen' und in bestimmter Weise konditionieren. 1922 wies Foregger der Music-Hall die Aufgabe zu, die Massen „an das neue Tempo, an neue Wahrnehmungsgewohnheiten [...] und sogar an neue Denkmethoden" zu gewöhnen.97 In den industrialisierten Städten müssten alle Menschen „aufmerksam und genau sein, damit sie nicht im Lauf der Maschinen umkommen."98 Zeigte sich Foregger hier noch vom symbolistischexpressionistischen Topos der Maschine als Dämon beeinflusst, definierte er 1926 die sozialkonstruktive Aufgabe des Tanzes weitaus nüchterner — unter Bezugnahme auf die Organisationstheorien Bogdanovs und Gastevs: Der Tanz erfüllt bestimmte Funktionen, stärkt das Organisationsprinzip in den Massen, trainiert die Aneignung und Beherrschung von Rhythmen (Massentänze), die in allen Arbeitsprozessen so wichtig sind. Man kann sagen, dass die Arbeit des NOT die Feststellung des Tanzinstinktes in der Produktion ist."

Rhythmisches Training, das die Arbeitsprozesse erleichtern sollte, war für Foregger die ursprünglichste Aufgabe des Tanzes.100 Anders als Sokolov lehnte er die Musik als Organisationsinstrument der Bewegung nicht grundsätzlich ab. Ihre Funktion reduzierte sich für ihn allerdings auf die einer „rhythmischen Stütze". Das Ausdrucksprinzip erachtete er als irrelevant oder sogar störend.101 Musikformen, die diesem Anspruch genügten, waren Geräuschmusik und zeitgenössische Tanzmusik bzw. Jazz. Foreggers Rhythmustheorie wird in Kapitel 3—1.3. näher behandelt, das ,Geräuschorchester' seines M^UTFOR-Theaters in Kapitel 3— II.5.a. Die Tanznummern in Foreggers Revuen der Jahre 1922-1924 wurden in drei Typen unterteilt. Die erste Gruppe bildeten „urbanistische" Tänze, in denen zeitgenössische Tanzrhythmen für das Lebensgefühl und die veränderten Wahrnehmungsweisen in der modernen Großstadt einstanden. Die entsprechenden Nummern hießen Cecetka (Stepptanz), Cake-Walk, Tango oder Pod fonarej (Unter der Laterne). Eng verwandt mit diesen waren die „exzentrischen" Tänze. ,Exzentrismus' (Skscentri^m) war seinerzeit in der Sowjetunion das Schlagwort für all das, was mit der quirligen zeitgenössischen Großstadt- und Boulevardkultur, insbesondere mit dem Lebensgefühl der amerikanischen roaring twenties assoziiert wurde: Tempo, Rhythmus, Technik, Kino, Slapstick, Charlie Chaplin, Foxtrott, 97

Nikolaj Foregger, »Avangardnoe iskusstvo i muzik-choll« (»Avantgardekunst und MusicHall«), 2. Teil, in: Ermita^ 1922, Nr. 7, S. 6. 98 Nikolaj Foregger, »Avangardnoe iskusstvo i muzik-choll« (»Avantgardekunst und MusicHall«), 1. Teil, in: Ermita^ 1922, Nr. 6, S. 6. 99 Foregger, »Opyty po povodu iskusstva tanca«, S. 45f. 100 Die Idee, dass Rhythmus Arbeitsvorgänge erleichtert, lässt sich auf Karl Büchers Arbeit und Rhythmus zurückführen (vgl. Kap. 2—1.2.). 101 Vgl. Foreggers provokantes Diktum: „Chopin und ein Trommler sind gleich viel wert" (»Opyty po povodu iskusstva tanca«, S. 53).

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Jaz2, Erotik. 1 0 2 Foreggers exzentrische Tänze waren vor allem durch ZirkusAkrobatik und sportliche Kunststücke geprägt. D e n größten Erfolg hatte das Λί/45'TFOR-Studio jedoch mit seinem dritten Typ von Tänzen, den „Mechanischen Tänzen" und „Maschinentänzen". Foregger machte damit sogar außerhalb der Sowjetunion Schlagzeilen. In der New York Times erschien 1923 ein Artikel, der die Maschinentänze als bemerkenswerte Novität aus Moskau anpries. 103 Die Idee der Maschinentänze bestand darin, nicht die Arbeit des Menschen an der Maschine zu zeigen, sondern die Tänzer selbst Maschinen darstellen zu lassen. Damit wurde gewissermaßen die maschinengleiche Struktur des menschlichen Körpers bloßgelegt. In einem zeitgenössischen Bericht ist einer der zahlreichen Maschinentänze wie folgt beschrieben: Zwölf junge Leute in Badekostümen laufen in Begleitung von vier Mädchen in weißen Hemden und schwarzen Höschen schnell auf der Bühne hin und her. Man hört einen Pfiff und sie bilden zur Musik einer Gigue eine Pyramidenfigur, die aus einer Gruppe von 3, 4 und 5 Akrobaten besteht. Wieder hört man einen Pfiff und die „tanzenden Maschinen" beginnen sich zu bewegen. Die Arme werden enthüllt, die Körper geraten wie eine Maschine in einer Fabrik in Schwung. Die Geräuschklänge, das Krachen und Summen hinter der Bühne verstärken die Illusion.104

Die Abbildungen auf der folgenden Seite zeigen die tänzerische Darstellung eines Zahnrads (Abb. 2) und eine Karikatur auf Foreggers Maschinentänze (Abb. 3). D e r Einfluss der Maschinentänze auf die sowjetische Tanzkultur der 1920er Jahre muss als sehr hoch veranschlagt werden. Die Industrieballette Stal'noj skok (Der stählerne Schritt; Jakulov/Prokofev; 1925) und Stal' (Stahl; Cerneckaja/ Mosolov; 1927) sind ohne Zweifel von den JVL4JTFOR-Shows inspiriert worden. Ende der 1920er Jahre wandte sich Foregger selbst dem Ballett zu. 1930 brachte er als frisch engagierter Regisseur des Theaters von Char'kov (der damaligen Hauptstadt der Ukrainischen SSR) Viktor Oranskijs Sportballett Futbolist (Der Fußballspieler) zur Uraufführung. Dieses Ballett mit seiner Revue-Dramaturgie wurde wiederum zum Vorbild für Sostakovics Ballette Zolotoj vek (Das goldene

102 Einen Überblick über den Exzentrismus im sowjetischen Theater gibt: Mel Gordon, »Russian Eccentric Theatre: The Rhythm of America on the Early Soviet Stage«, in: Baer (Hrsg.), Theatre in Revolution, S. 115-127. Der Amerika-Kult war in der Sowjetunion der 1920er Jahre weit verbreitet. Die USA wurden seinerzeit weniger als eine Bastion des Kapitalismus gesehen, sondern eher als ein Märchenland des technischen Fortschritts, mit einem sagenhaften Tempo der industriellen Produktion und des alltäglichen Lebens. Selbst Stalin hatte 1924 in seinen »Vorlesungen über den Leninismus« gefordert, den „revolutionären russischen Schwung" mit der „amerikanischen Sachlichkeit" zu vereinen (J.W. Stalin, Werke, hrsg. auf Beschluss des Zentralkomitees der SED, Bd. 6, Berlin 1952, S. 100). 103 Walter Duranty, »Dance Machine Delights Moscow«, in: New York Times vom 30. 11.1923, S. 26; vgl. auch den Bericht »Celoveceskaja tacka« (»Menschlicher Schubkarren«), in: Zreliica 1923, Nr. 68, S. 15. 104 Ebd.

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Zeitalter; Ivanovskij/Vajnonen; 1929/39) und Bolt (Der Bolzen; Smirnov/Lopuchov; 1930/31). Abbildung 2: Nikolaj Foregger, Maschinentanz aus dem AMJTFOR-Studio (1923/24)105

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Abbildung 3: Karikatur auf Foreggers Maschinentänze (1923): „Früher war die Maschine dazu da, die Tanzbewegungen zu unterstützen. / Jetzt geht der Schauspieler bei der Maschine in die Lehre, um ihre Bewegungen zu übernehmen und einen ,Maschinentanz' zu schaffen." 106

105 Aus: Mel Gordon, »Foregger and The Dance of the Machines«, in: The Drama Review 19 (1975), S. 71. 106 Aus: Teatr i Muyka 1923, Nr. 3, S. 472.

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IILS.g. FEKS: Die Fabrik des exzentrischen Schauspielers Die von Radlov, Foregger und Mejerchol'd verfolgte Strategie, die Popularität der 2eitgenössischen Unterhaltungskultur zur Massenverbreitung konstruktivistischer Lebens- und Verhaltensmuster zu nutzen, findet sich noch radikaler ausgeprägt in dem Petrograder Schauspielstudio FEKS (Fabrik des exzentrischen Schauspielers).107 Das FEKi-Studio war im Dezember 1921 von den jungen Regiestudenten Grigorij Kozincev (1905-1973) und Leonid Trauberg (1902-1990) gegründet worden. In den Jahren 1922/23 brachte die Gruppe einige experimentelle Theaterinszenierungen heraus, die beim Publikum allerdings wenig Anklang fanden. Ab 1924 arbeiteten die FEKS-Künstler nur noch für den Film und konnten hier größere Erfolge verzeichnen. 1926 verfilmten sie Gogol's Novelle Sinei' (Der Mantel) in einer freien Bearbeitung des formalistischen Literaturtheoretikers Jurij Tynjanov. Ende 1928 beauftragten sie Sostakovic, die Musik zu ihrem Film Novyj Vavilon (Das neue Babylon) zu schreiben — die erste Originalkomposition für einen Film in der Sowjetunion. 1922 veröffentlichte die FEKS-Gruppe ein Manifest mit dem Titel Ekscentri^m (Exzentrismus). Es stellt sich als eine .Montage von Attraktionen' des modernen urban-industriellen Lebens dar, die in futuristischer Manier gegen die Kulturwerte der Vergangenheit ausgespielt werden: I. SCHLÜSSEL ZU DEN FAKTEN 1) GESTERN — gemütliche Kabinette, Stirnglatzen. Man überlegte, man entschied, man dachte. HEUTE - ein Signal! An die Maschinen! Riemen, Ketten, Räder, Arme, Beine, Elektrizität, Produktionsrhythmus. GESTERN - Museen, Tempel, Bibliotheken. HEUTE - Fabriken, Werke, Werften. 2) GESTERN - die Kultur Europas. HEUTE - die Technik Amerikas. Industrie, Produktion unter dem Sternenbanner. Entweder Amerikanisierung, oder Bestattungsinstitut. 3) GESTERN — Salons, Verbeugung, Barone. HEUTE - Schreie von Zeitungsjungen, Skandale, der Stock des Policeman, Lärm, Geschrei, Stampfen, Rennen.

107 Grundlegend zur Arbeit des FEKS: Bernadette Poüwoda, FEKS — Fabrik des exzentrischen Schauspielers. Vom Exzentrismus zur 'Poetik des Films in der frühen Sonjetkultur, München 1994 (= Slavistische Beiträge 312); Oksana Bulgakowa, FEKS. Die Fabrik des exzentrischen Schauspielers, Berlin 1996.

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Das Tempo heute: Der Rhythmus der Maschine, konzentriert durch Amerika, ins Leben eingeführt vom Boulevard.108

Das FEKf-Manifest ist Zeugnis einer zweiten Marinetti-Rezeption in Russland, die in diesem Fall unter positivem Vorzeichen stand. Gleich zu Beginn des Textes wird Marinettis Exzentrik-Begeisterung gegen ein Zitat Lunacarskijs ausgespielt, in dem dieser die exzentrische Mode im Theater als dessen „Niedergang" bezeichnet hatte.109 Die Elemente der exzentrischen Kultur, die in dem Manifest aufgezählt werden (Boulevard, Music-Hall, Cafe chantant, Kino, Vergnügungsparks, Zirkus, Tricks, Boxen, Faxen, Grimasse, usw.) sind fast sämtlich aus Marinettis Manifest „Das Variete" von 1913 entlehnt. Auch die reißerische Graphik und die weitgehende Aufhebung der Syntax durch Substantivreihungen lassen sich auf Vorbilder des italienischen Futurismus zurückführen. Unter den .exzentrischen' Slogans der FEKi-Deklaration finden sich auch wichtige Theoreme der linken Kunst: „Das Ende der Darstellung ist gekommen", „Maschinen, Brücken, Gebäude — warten auf Euch, Konstruktivsten", „mechanisierte Bewegung", „Das Leben fordert die Kunst [...] offen-utilitaristisch [...], mechanisch-genau", „Theatervorstellung — rhythmisches Einschlagen auf die Nerven".110 Nicht anders als in den LEF-Manifesten wird Kunst hier als ein Werkzeug der Umgestaltung des Lebens verstanden, und zwar als ein Werkzeug, das insbesondere auf die psychophysische Konditionierung des Menschen gerichtet ist. Doch ist das anvisierte Lebensdesign ein anderes als das vom LEF propagierte. Obwohl Maschinen, Elektrizität, Produktionsrhythmus und Technik beschworen werden, zielt der FEKS-Exzentrismus nicht auf eine mechanischrationale Organisation des Lebens, sondern auf das vitalistisch-irrationale Paradigma von Trick, Groteske und Schrei. Er entwirft eine Verhaltensausstattung, die dem ,rasenden Puls' des modernen industriell-urbanen Leben entspricht, verknüpft diese aber nicht mit Konzepten einer kommunistisch-rationalistischen Gesellschaftorganisation. Unübersehbar ist die Nähe zum italienischen Futurismus, der Technik und Großstadt gleichfalls unter dem Vorzeichen des Irrationalismus konzeptualisierte. Anders als Marinetti entwickelte die FEO-Gruppe dieses anarchisch-vitalistische Moment aber nicht in Richtung eines Kults von Krieg, Gewalt, Heldentum, Mann und Nation, sondern in Richtung von Spiel, Groteske und Absurdität. Hier wird eine zweite Traditionslinie deutlich, in der der FEKS stand: die des russischen Futurismus mit seinem Transrationalismus. Das FEKT-Programm steht für eine allgemeine Tendenz des Leningrader Kulturlebens, durch das sich dieses in den 1920er Jahren von dem der Hauptstadt 108 Grigorij Kozincev, Georgij Kryzitskij, Leonid Trauberg, Sergej Jutkevic, Ekscentriapi, „Ekscentropolis" [Petrograd] 1922; zit. nach: Poliwoda, FEKS, S. 75 [Hervorhebungen im Original]. 109 Ebd. 110 Ebd., S. 95, 99 und 77.

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unterschied. In Leningrad wurden die utilitaristischen Konzepte des LEF vielfach weniger dogmatisch gehandhabt, dafür eher verspielt, experimentell oder mit einem Hang zu Ironie und Groteske. Diese Tendenz kam bereits bei Radlovs Theaterarbeit zum Vorschein, die keiner systematischen Theorie verpflichtet war. Am radikalsten trat sie ab 1926 in der absurden Kunst der Gruppe Oberin hervor, die unmittelbar an die %aum'-Praxis der russischen Kubo-Futuristen anknüpfte. Diese Spezifik der linken Kunstszene in Leningrad muss als einer der wesentlichen Faktoren angesehen werden, die Sostakovics künstlerische Haltung seit der Mitte der 1920er Jahre geprägt haben. III.5.h. Resümee Das Theater war das ideale Forum für das konstruktivistische ^'i^nestroenie, da es als Modell für sämtliche Bereiche des Alltags dienen konnte. Das Bogdanov'sche Organisationskonzept wurde hier über die Produktgestaltung hinaus auf die gesamte Verhaltensausstattung des Menschen und die ,Organisation' seines Bewusstseins ausgeweitet. Dabei sollte weniger der soziale Gesamtzusammenhang des zu konstruierenden Lebens demonstriert werden als dessen einzelne Komponenten. Die Bühnendekoration gab das Modell für die künftige .proletarische' Architektur ab, die Requisiten für das proletarische' Produktdesign, die ,Produktionskleidung' für den proletarischen' Kleidungsstil, die Bewegungsweise der Schauspieler für die proletarische' Körperkultur und die Sprechweise für die proletarische' Alltagskommunikation. Die Organisationsprinzipien all dieser ,bytDisziplinen' wurden aus der modernen Industriearbeit abgeleitet: aus den funktionalen, rationalen und ökonomischen Konstruktionsmethoden eines Ingenieurs und aus den mechanischen, rhythmisch-präzisen, taylorisierten Bewegungen eines Arbeiters. Dem Anspruch nach sollten diese Modelle nicht nur in den Theatervorstellungen demonstriert, sondern auch aktiv in den Lebensalltag hineingetragen werden. Die Bewegungslehren Mejerchol'ds (Biomechanik) und Foreggers {tafijatrena%) wurden vereinzelt im Bereich des Sports und der Arbeitsgymnastik eingesetzt. Der Moskauer Proktkul't plante, die Schauspielausbildung in eine Schulung zur Organisation des Alltags umzuwandeln. Auf dem Gebiet der Sprache gab es keine konkreten Bemühungen zur Überschreitung der traditionellen Kunstinstitutionen (beispielsweise in ,Sprachschulen'). Der LEF hatte auch kein einheitliches Konzept einer konstruktivistischen' oder ,taylorisierten' Sprache hervorgebracht. Das konstruktivistische Theater zielte vor allem auf eine Organisation der materiell-physiologischen Basis des Alltags, weniger auf eine Organisation seines mentalen Überbaus. Es wollte den Zuschauer nicht psychologisch-emotional, auch nicht analytisch-intellektuell, sondern reflektorisch-mechanisch erreichen. Aus diesem Grund war der Inhalt der Stücke relativ gleichgültig. Die wenigsten von ihnen behandelten unmittelbar politische Themen oder gar die sowjetische Gegenwart. Meistens wurden Bearbeitungen älterer und ausländischer Stücke gespielt, deren Textvorlagen durch Montageverfahren stark umgearbeitet wurden.

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Substantiell war hingegen der Charakter des Spiels. Im frühen konstruktivistischen Theater dominierten Formen der Unterhaltungskultur: Komödie, Revue, Tanz, Zirkus, Akrobatik, Slapstick und Exzentrismus. 111 Sie sollten helfen, die konstruktivistischen Modelle zur Organisation des byt unter den Massen zu popularisieren. Bei einigen linken Künstlern, insbesondere bei dem Leningrader Schauspielstudio FEKS, zielte die ,Organisation' des Zuschauers mehr in eine vitalistisch-irrationale Richtung. Den wichtigsten Beitrag zur linken Kunsttheorie lieferte das konstruktivistische Theater mit der Entwicklung einer mechanistischen Wahmehmungs- und Wirkungsästhetik (Mejerchol'd, Ejzenstejn, Tret'jakov, Foregger u.a.). Nach der Reflexlehre der Physiologen Pavlov und Bechterev galten Leistungen des Bewusstseins als Ketten bedingter Reflexe, die wiederum durch bestimmte sensuelle bzw. materielle Reize ausgelöst würden. Die genaue Kenntnis dieser Zusammenhänge versprach die Möglichkeit, das Bewusstsein des Zuschauers durch gezielte Montage von Reizen mechanisch konditionieren und steuern zu können. Noch weniger als die Sprache wurde die akustische Seite des Theaters und speziell die Theatermusik theoretisiert. Erkennbar ist eine Ablehnung .klassischer' Musik sowie eine Vorliebe für zeitgenössische Tanzmusik, Jazz und Geräuschmusik (Mejerchol'd, Foregger; vgl. Kap. 3-1.3. und 3-1.7.). Die Ansätze zu einer konstruktivistischen Rhythmustheorie bei Foregger und Sokolov werden in Kapitel 3-1.3. behandelt.

111 Vgl. Boris Arvatov: „Das Sujet wird immer mehr zu einem unnötigen Anhängsel, und es ist nicht verwunderlich, daß der Regisseur beginnt, das Stück aus Teilen zusammenzufügen, daß der Zirkus und die Revue ins Theater drängen [...] (»Theater als Produktion«, S. 89).

IV. Faktographie: Kunst als bewusstseinsaktivierende Montage von Alltagsfakten (1925-1930)

Das Programm des Konstruktivismus, das innerhalb der linken Kunstfront seit 1921 zur künstlerischen Universalmethode avanciert war, geriet um die Mitte der 1920er Jahre in eine Krise. Diese betraf weniger die angewandte Produktionskunst, die in einigen Bereichen durchaus überzeugende Ergebnisse hervorgebracht hatte, sondern vor allem den Konstruktivismus als Modellkunst des Lebensaufbaus. Das Eingehen der biomechanisch-taylorisierten Bewegungskultur, der agitativ-ökonomischen Sprechkultur und der mechanisch-kollektivistischen Verhaltenskultur in den Alltag war weitgehend Utopie geblieben. Das konstruktivistische Theater wurde in erster Linie als ,Kunst' wahrgenommen, nicht als praktisches Organisationsmodell des %i%riestroenie. Die dadurch ausgelöste Krise führte den LEF nach 1925 zu einer methodischen Neuorientierung, die auch einen erneuten Gruppenzusammenhalt begründete (Kap. 2—IV.l.). Dessen äußeres Anzeichen war die Herausgabe der Zeitschrift Noiyj LEF (Der neue LEF; Kap. 2-IV.2.) in den Jahren 1927/28. Das neue Konzept, das die linke Kunstfront als Antwort auf die Krise vorbrachte, war das der Faktographie. In den einschlägigen Darstellungen der sowjetischen Avantgardekunst gilt die Faktographie in erster Linie als ein Phänomen der Literatur (literatura fakta\ Kap. 2—IV.5.), daneben auch des Films und der Fotokunst (Kap. 2-IV.6.). In dieser Arbeit wird demgegenüber analog zum Konstruktivismus ein verallgemeinertes Begriffsverständnis zugrunde gelegt. Die Faktographie bezeichnet hier eine methodische Gesamttendenz der linken Kunst, die nahezu alle ihre Bereiche — in unterschiedlicher Intensität und Ausprägung — ergriffen hat, auch das Theater (Kap. 2—IV.7.) und die Musik (nicht allerdings manche Formen der Produktionskunst). Die Theorie einer „Musik des Fakts" (musgka fakta) und ihre Anwendung im frühen Tonfilm stellt einen eigenständigen Beitrag des LEF-Kreises zur sowjetischen Musikkultur dar. Sie wird später im Zusammenhang mit anderen linken Musikkonzepten behandelt (Kap. 3—1.9.-3—1.11.). Die Faktographie war wie der Konstruktivismus eine Methode des utilitären %i%nestroenie. Sie operierte allerdings nicht mit abstrakten und fiktiven Modellen der Lebensorganisation, sondern ließ als Material ausschließlich dokumentarische Fakten der Wirklichkeit zu. Dies konnten nichtbelletristische Texte sein (Reportagen, Protokolle, Fachpublizistik usw.) oder Aufzeichnungen mit modernen technischen Mitteln (Film, Fotographie, Phonograph, Lichttonverfahren). Dieses Faktenmaterial sollte vom Künstler durch spezielle Montage- und Präsentationsverfahren so aufbereitet werden, dass es geeignet war, operativ in bestimmte gesellschaftliche Diskussionen und Vorgänge einzugreifen.

IV. Faktographie ( 1 9 2 5 - 1 9 3 0 )

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Von realistischen Widerspiegelungskonzepten unterschied sich die Faktographie durch die Forderung nach konsequentem Verzicht auf Fiktionalität, Typisierung und Psychologisierung. Nach welchen Prinzipien die Montage vorgenommen werden sollte, war Gegenstand einer Diskussion, die besonders intensiv für die technischen Medien Film und Fotographie geführt wurde, in geringerem Maße auch für die Literatur, das Theater und die Musik. Als Organisationsmodell figurierten, vor allem gegen Ende der 1920er Jahre, häufig die Gesetze der Dialektik nach Engels. Mit ihrer Hilfe sollte die Struktur gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse für den Rezipienten transparent gemacht werden. Für einen Teil der Faktographen waren eher Verfahren der Verfremdung die maßgeblichen Organisationsprinzipien. Nach der Theorie des Formalismus war das Prinzip der Verfremdung geeignet, die Aktivität der Wahrnehmung zu steigern und damit ein bewusstes Nachvollziehen der Montagestrukturen zu fördern. Die Faktographie zeigt generell eine größere Nähe zum Kunstverständnis der sowjetischen Formalen Schule als der Konstruktivismus. Dies ist allein daran ablesbar, dass sich die Vertreter des Formalismus an der Entwicklung der Faktographie in Theorie und Praxis unmittelbar beteiligten (Kap. 2—IV.3.). Mit dem Übergang vom Konstruktivismus zur Faktographie vollzog die linke Kunst einen methodischen Kurswechsel, der sehr tief griff. Das Objekt des %!Qtestroenie war nun weniger die materielle Basis des Lebens (Produktgestaltung, Körperkultur, Organisation sozialer Ereignisse) als der mentale Überbau (Bewusstsein, Intellekt, Diskurse). Der Mensch wurde nicht mehr als maschinenhafter Automat verstanden, der sich mechanisch trainieren und reflektorisch konditionieren ließ, sondern als intelligentes Wesen, das zu dialektischer Analyse der Wirklichkeit und damit zu selbstbestimmtem Handeln befähigt war. Adressat der faktographischen Kunst war nicht der Mechanismus der Reflexe, auch nicht das emotionale Empfinden, sondern der kritische Intellekt. Auch diese Kehrtwende korrespondiert mit einem diskursübergreifenden Paradigmenwechsel. 1925 erschien in der Sowjetunion die erste vollständige Ausgabe der von Engels fragmentarisch hinterlassenen Dialektik der Natur.1 Engels hatte hier nachzuweisen versucht, dass Hegels Gesetze der Dialektik nicht nur als ,Denkgesetze' ihre Gültigkeit hätten, sondern auch als Naturgesetze. Eine neu zu entwickelnde ,dialektische' Naturwissenschaft sollte den „gedankenlosen mechanischen Determinismus" positivistischer Wissenschaftssysteme überwinden.2 Das Erscheinen der Engels'schen Schrift löste in der Sowjetunion eine heftige Kontroverse über die richtige Anwendung der dialektischen Methode aus. Sie 1 Engels arbeitete an dem Traktat in den Jahren 1 8 7 3 bis 1886. Die v o n David Rjazanov besorgte sowjetische Ausgabe wurde im Archiv Κ Marksa i F. Engel'sa, Bd. 2; Moskau/Leningrad 1 9 2 5 , veröffentlicht. Sie enthielt den deutschen Originaltext sowie eine russische Übersetzung. 2 Friedrich Engels, Dialektik der Natur, zit. nach: Marx/Engels, Werke, Bd. 20, Berlin 1 9 6 2 , S. 488.

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führte zu der bereits erwähnten Polarisierung in eine Schule des .mechanistischen Materialismus' und des dialektischen Materialismus'. Die ,Mechanizisten' versuchten alles Mentale und Soziale unmittelbar aus naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten abzuleiten (vgl. Kap. 2-III.). Die ,Dialektiker', angeführt von dem Philosophen Abram Deborin, argumentierten unter Berufung auf Engels, dass die Naturwissenschaften notwendig der Ergänzung durch die dialektische Philosophie bedürften.3 Nur mit Hilfe der Dialektik sei es möglich, „Allgemeines und Besonderes, Anschauung und Denken, Praxis und Theorie, empirische Naturwissenschaft und theoretische, d.h. ,Philosophie', synthetisch" zusammenzufassen.4 Deborin war wie die Mechanizisten der Auffassung, dass die anorganische Materie, das organische Leben und das menschliche Bewusstsein unmittelbar auseinander hervorgingen, doch verstand er diesen Entwicklungsprozess nicht als bruchlos fortschreitende Akkumulation von Quantität (Evolution), sondern nahm zwischen den verschiedenen Organisationsebenen der Materie jeweils einen qualitativen Entwicklungssprung an (Revolution). Die Erscheinungen des Bewusstseins und des Lebens könnten deshalb nicht ,mechanistisch' auf die Gesetze der toten Materie zurückgeführt werden. Das Mentale erhielt bei den Deborinisten damit eine eigenständige Qualität gegenüber dem Physiologischen. Aus dieser Position wurde auch die Reflexologie kritisiert, da sie des dialektischen Moments entbehrte.5 Die Folge dieser Debatte war eine intensive Auseinandersetzung mit dem Prinzip der Dialektik in allen öffentlichen Diskursen, eine Tendenz zur Abkehr vom mechanistischen Positivismus sowie eine stärkere Konzentration auf die Ebene des Bewusstseins und des Politischen. In dieser neuen diskursiven Konfiguration stieß die linke Faktographie gegen Ende der 1920er Jahre mit dem klassenkämpferischen Soziologismus der 'proletarischen' Kunstverbände zusammen.

IV. 1. Die Krise der linken Kunst um 1925 Das konstruktivistische Programm des LEF war nicht in jeder Hinsicht ein Misserfolg. Mitte der 1920er Jahren waren die Ideen des L E F zu einer festen Größe im sowjetischen Kulturleben geworden. Sie waren einer breiteren Öffentlichkeit bekannt und wurden kontrovers, aber lebhaft diskutiert. Selbst aus der Politik kamen positive Signale. Während Lunacarskij dem mechanistischen Utilitarismus 3 Zum Deborinismus vgl. Wetter, Oer dialektische Materialismus, S. 145-155 und 179-200. 4 Abram Deborin, »Materialistische Dialektik und Naturwissenschaft« [1925], S. 131; zit. nach: Deborin/Bucharin, Kontroversen über dialektischen und mechanistischen Materialismus, S. 131. 5 Seit 1929 geriet auch Deborin zunehmend in die Kritik. Im Dezember 1930 kritisierte Stalin Deborins Lehre als „menschewisierenden Idealismus". Die Abweichungen von Deborins Konzept zum später kanonisierten Dialektischen Materialismus sind allerdings marginal (vgl. Wetter, Der dialektische Materialismus^. 154).

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des frühen LEF skeptisch gegenüberstand,6 befand Trockij in seiner 1924 erschienenen Textsammlung „Literatur und Revolution" die LEF-Kunst für zukunftsträchtiger als die .proletarische Kunst'. Er warf dem LEF zwar „utopisches Sektierertum" vor, doch bezeichnete er die „Fragen, die von den Theoretikern des LEF aufgeworfen wurden: über das gegenseitige Verhältnis von Kunst und Maschinenindustrie; über die Kunst, die das Leben nicht verziert, sondern formt; über die bewußte Einwirkung auf die Sprachentwicklung und die systematische Wortschöpfung; über die Biomechanik als Erziehung des Menschen zu Bewegungen von höchster Zweckmäßigkeit und damit auch Schönheit" in der „Perspektive des Aufbaus einer sozialistischen Kultur" als „äußerst bedeutsam und interessant".7 Mejerchol'd und Majakovskij waren gefeierte Künstler und Idole der revolutionären Jugend. Große Anerkennung fand die linke Sowjetkunst auch in den progressiven Künstlerkreisen des Westens. U'ja Erenburg und ΕΓ Lisickij gaben 1922 in Berlin die dreisprachige Zeitschrift Vesc' — Objet — Gegenstand heraus, die über die jüngsten Entwicklungen der linken sowjetischen Kunst informierte. Im gleichen Jahr organisierten sie in Berlin eine russische Kunstausstellung und vertraten die sowjetische Kunst auf dem „Kongress der Internationalen Progressiven Künstler", auf dem sie mit den Gruppen von Theo van Doesburg und Hans Richter eine (kurzlebige) „Internationale Vereinigung der Konstruktivisten" bildeten.8 Der Konstruktivismus fand also eine respektable Resonanz als ,Kunst'. Weniger befriedigend fiel die Bilanz hinsichtlich der angestrebten Auflösung der Kunst in ,Lebenspraxis' aus. Gewisse Erfolge konnte der Konstruktivismus im Bereich der Produktionskunst verzeichnen, in der Architektur, der Typographie, der Plakat- und Ausstellungsgestaltung, der Fotographie, vereinzelt auch im Design von Gebrauchsgegenständen und Textilien. In einigen dieser Bereiche blieb er auch in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre das dominierende Konzept der linken Kunstschaffenden.9 Nicht befriedigend verwirklicht war der Konstruktivismus dagegen als Modellkunst des ^i^nestroenie. Zwar wurde beispielsweise der konstruktivistische Dekorationsstil und die biomechanische Spielweise von vielen Theatern (auch im Bereich des Laientheaters) adaptiert, doch war damit das massenwirksame Eingehen der konstruktivistischen Bewegungs-, Sprach- und Verhaltenskultur in den Alltag noch nicht erreicht. Auch die Einfuhrung tayloristischer Konzepte in einzelnen Sport- und Arbeitsschulen erlangte kaum Breitenwirkung. Dass die Taylorisierung des Menschen und seiner Umwelt Utopie geblieben war, brachte vielleicht niemand pointierter zum Ausdruck als Mejerchol'd, der 6 Vgl. Stephan, „Lef' and the Left Front of Arts, S. 53. 7 Trockij, Uteratura i revoljuüja-, zit. nach: Trotzkij, Literatur und Evolution, S. 113f. 8 Vgl. Willy Rotzler, Konstruktive Konnte. Eine Geschichte der konstruktiven Kunst vom Kubismus bis heute, Zürich 1977, S. 86. 9 Vgl. Gaßner/Gillen, Zwischen Revolutionskunst, S. 172.

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einst der exponierteste Propagandist dieser Idee gewesen war. In den Stücken Klop (Die Wanze; 1928) und Banja (Das Schwitzbad; 1929), die Majakovskij auf Drängen Mejerchol'ds für dessen Theater geschrieben hatte,10 findet sich neben aller Satire auf die IVEP-Welt und den Sowjetbürokratismus auch eine schonungslose Abrechnung mit den einstigen Visionen. Der zweite Teil von Klop, der in einem kommunistischen ,Musterstaat' der Zukunft spielt, bietet eine groteske Karikatur des konstruktivistischen Maximalprogramms einer mechanischen Durchorganisation der Gesellschaft. In einem mit futuristischer Beleuchtungs- und Übertragungstechnik ausgestatteten Sitzungssaal ölen zwei Mechaniker einen „Abstimmungsapparat der Landwirtschaftsbezirke" und reparieren die „Hebel an den Dienstbereitschaften der Hauptstädte".11 Wenn Aleksandr Rodcenko, der sich inzwischen der Fotographie und Printgraphik zugewandt hatte, hierzu noch einmal ein konstruktivistisches Bühnenbild entwarf, konnte er dies nur im Bewusstsein fundamentaler Desillusionierung tun. An einer anderen Stelle in Klop wird Mejerchol'ds früherer Anspruch aufs Korn genommen, die Methoden von Gastevs NOT im biomechanischen Theater und darüber hinaus in der Produktionsgymnastik anzuwenden. In dem durchmechanisierten Zukunftsstaat sorgen die foxtrotthaften Bewegungen eines aus einem Eisblock freigelegten Bürgers der A/EP-Ära für Unruhe. Mit der wissenschaftlichen Untersuchung dieser Bewegungen befasst sich sogleich der Direktor eines „Zentralen Bewegungsinstituts". Als Therapie wird dem IVEP-Fossil angeraten, einem „Tanz der zehntausend Arbeiter und Arbeiterinnen" beizuwohnen, der ein „fröhliches Einstudieren eines neuen Systems der Feldarbeit" sei.12 Auch in Banja wird die Modellfunktion des konstruktivistischen Theaters grundsätzlich in Frage gestellt. Nach dem zweiten Akt gerät der Regisseur in eine Diskussion mit seinen Schauspielern und entwirft dabei — ironisch dem Geschmack seiner Kritiker entgegenkommend — das Szenarium einer allegorischen Massenaufführung. Den wirtschaftlichen Aufschwung sieht er im Hochschwingen der Beine verkörpert, das Wachstum des sozialistischen Wettbewerbs in einer aus Athleten gebildeten Pyramide. Eine „Armee der Arbeit" von kosmischen Ausmaßen soll ihre mit imaginären Hämmern bewehrten Hände im „Takt des befreiten Landes" schwingen, wozu sich „Industrielärm" in die Orchestermusik mischen müsse.13 Vordergründig zielt die Satire zwar auf die seit 1927 wiederbelebten Mysterienspiele und Masseninszenierungen, vor allem auf das seinerzeit viel beachtete choreographische Oratorium Geroiceskoe dejstvie (Heroische Handlet Vgl. Mailand-Hansen, Mejerchol'ds Theaterästhetik, S. 160. 11 Vladimir Majakovskij, Klop (Die Wanze) [1928/29], in: ders., Polnoe sobranie soänenij, Bd. 11, Moskau 1958, S. 244. 12 Ebd., S. 264f. 13 Vladimir Majakovskij, Banja (Das Schwitzbad) [1929/30], in: ders., Polnoe sobranie soänenij, Bd. 11, Moskau 1958, S. 312f.

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lung; 1927), 1 4 aber auch auf Radlovs „Oktoberinszenierung auf der Newa" (1927; vgl. Kap. 2—III.5.e. und 3—II.4.) oder dessen Abschlussfeier des „1. Allunionstreffens der Pioniere" in Moskau (1929), an der Majakovskij selbst teilgenommen und dabei Industriemusik von Mosolov gehört hatte (vgl. Kap. 3—VI.3.). Der Hohn auf den Allegorismus lässt sich aber ebenso auf das frühere konstruktivistische Theater beziehen, in dem die eigentlich für die Praxis vorgesehenen Modelle der Lebensorganisation letztlich nur als künsderische Symbole rezipiert wurden. Noch unbefriedigender war die Bilanz auf dem Gebiet des ,Sprachschöpfertums' (recetvorcestvo). Der dem utilitären Konstruktivismus gemäße Anspruch, anwendungsorientierte Muster einer ökonomischen, reflektorisch stimulierenden Sprachkommunikation zu schaffen, war kaum überzeugend eingelöst worden. Zwar boten die literarischen Produkte der LEF-nahen Schriftsteller ein breites Spektrum an kreativen Wortschöpfungen und Ausdrucksformen, doch blieb die Präsentationsweise und immanente Adressierung dieser ,Dichtung' deutlich dem Muster künstlerischer Literatur verhaftet. Dies galt nicht nur für die von Autoren wie Krucenych immer noch weiterentwickelte %aum'-Dichtung, sondern auch für zahlreiche Gedichte und Poeme eines Majakovskij und selbst für die Erzeugnisse des 1924 gegründeten „Literarischen Zentrums der Konstruktivisten" ( U t e r a t u r n y j centr konstruktivistov, abgekürzt LCK ). 15 Literarische Genres hatten deutlich das 14 Das Szenarium und die Regie zu dieser pantomimischen Vorstellung besorgte Vladimir Losskij, die Musik schrieb der Dirigent Vasilij Nebol'sin, die Dekorationen entwarf Fedor Fedorovskij. In der Inszenierung war u.a. zu sehen, wie ein den Kapitalismus symbolisierendes Ungeheuer von einem monumentalen Hammer erschlagen wird. Im apotheotischen Finale erklang eine „Sinfonie der befreiten Arbeit" sowie ein „Marsch von Hammer und Sichel", zu dem Arbeiter mit ihren Hämmern auf einen Amboss — „umgeben vom glänzenden Gold der fünfeckigen Sterne" - schlugen. Über Nebol'sins Musik urteilte der Kritiker Sergej Boguslavskij, dass in der „Trübheit" ihres Orchesterklangs, der aus der „monotonen Wiederholung übermäßiger Harmonien" zusammengesetzt sei, „nichts Heroisches" sei (»Akopera ν dni X oktjabrja« [»Die Akademische Oper in den Tagen des 10. Oktoberjubiläums«], in: I^yestija vom 11.11.1927, S. 5). Das Werk wurde anlässlich der Feierlichkeiten zum 10. Oktoberjubiläum im Moskauer Bol'ioj-Theater aufgeführt (vgl. Elena Groseva, Bol'soj teatr Soju^a SSR. Issledovatiie [Das Bol'soj-Theater der UdSSR. Forschung], Moskau 1978, S. 122). Lunacarskij selbst hatte 1927 die Schaffung von musikalischen Massenschauspielen „als revolutionäre Volkszeremonie mit Gesang, Tänzen und Versen auf der Sujetgrundlage irgendeines großen Mythos" angeregt (vgl. Anatolij Lunacarskij, V mire muyki [In der Welt der Musik], S. 394). 15 Das Gründungsmanifest dieser Gruppe war 1924 in LEF publiziert worden: Il'ja Sel'vinskij, Kornelij Zelinskij, Vera Inber, Boris Agapov, Evgenij Gabrilovic, Dir Tumanyj, »Deklaracija konstruktivistov« (»Erklärung der Konstruktivisten«), in: LEF 1924, Nr. 7, S. 142f. Konstruktivistischen Grundsätzen gemäß sollte die LÖT-Dichtung den Prinzipien der „maximalen Ausbeutung" (maksimal'naja eksploataaja) eines Themas bzw. aller Komponenten des Kunstwerks sowie der „Belastung" {ffu^pfikaaja), d.h. einer Verdichtung der Funktionen pro Materialeinheit, folgen. Zur Entwicklung der Gruppe sowie zur nicht immer überzeugenden Umsetzung des Konzepts vgl. eingehend: Rainer Grübel, Russischer Konstruktivismus. Künstler, Konzeptionen, literarische Theorie und kultureller Kontext, Wiesbaden 1981.

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Übergewicht vor angewandten Sprachpraktiken wie „Losung, Annoncen, Plakataufschrift, Agitations vers, Flugblatt".16 Viktor Percov, der 1925 eine kritische Generalbilanz der bisherigen Errungenschaften des LEF vorlegte, umriss die Situation auf dem Gebiet der Literatur - vor allem mit Blick auf Majakovskij - folgendermaßen: Der Alltag wird besungen, aber nicht organisiert; der Alltag liefert eine Metapher für „reines" revolutionäres Fühlen, bleibt aber außerhalb des Regiewillens des Künsders. Das Produktionskunst-Prinzip bleibt in der rein theoretischen Anwendung versteckt.17

IV.2. Vom LEF zum Noiyj LEF Die „Linke Front der Künste" als eine ein breites Spektrum von Kunstschaffenden umfassende Gruppierung verfugte zu keiner Zeit über eine organisierte Verbandsstruktur.18 Den einzigen institutionalisierten Bezugspunkt bildeten die vom Staatsverlag (Gosudarstvennoe i^datel'stvo) herausgegebenen - und damit auch finanzierten - Zeitschriften LEF (1923-25) und Notyj LEF (1927/28). In ihnen wurde der maßgebliche Diskurs geführt, der den Zusammenhalt der Bewegung begründete. Gallionsfigur in der Öffentlichkeit und nomineller Chefredakteur beider Journale war Vladimir Majakovskij. Die organisatorische und redaktionelle Hauptarbeit scheint Osip Brik geleistet zu haben, unterstützt von dem LEFSekretär Sergej Tret'jakov. Dem Redaktionskollegium der Zeitschrift LEF gehörten darüber hinaus der Dichter Nikolaj Aseev sowie die Kunsttheoretiker und -kritiker Boris Arvatov, Boris Kusner und Nikolaj Cuzak an. Schon im Vorfeld der Zeitschriftengründung hatten die Initiatoren Majakovskij und Brik die Einbindung eines breiten Felds linker Kunstgruppierungen vorgesehen. Zum Autorenkreis des LEF gehörten Schriftsteller und Kunsttheoretiker links-futuristischer Herkunft (Majakovskij, Kusner, Kirsanov; außerdem die Mitglieder der 1922 aus Sibirien eingetroffenen Gruppe Tvorcestvo [Schaffen]: Cuzak, Tret'jakov, Aseev), %aum -Dichter (Chlebnikov, Kamenskij, Terent'ev), Vertreter nicht-utilitärer und nicht-futuristischer Richtungen moderner Literatur (Babel', Pasternak),19 Produktionskünsder und Konstruktivisten (Rodcenko, Stepanova, Popova, Klucis, Lavinskij, Vesnin u.a.), Theaterschaffende des Moskauer Proletkul't (Arvatov, Tret'jakov), linke Filmkünsder (Ejzenstejn, Vertov), Vertreter der Formalen Schule (Sklovskij, Tynjanov, Ejchenbaum) und ihr nahe stehende Sprachwissen16 Viktor Percov, Za novoe iskusstvo. Kfvi^ja levogo fronta ν sovremennom russkom iskusstve (Für eine neue Kunst. Die Revision der linken Front in der zeitgenössischen russischen Kunst), Moskau 1925, S. 36. 17 Ebd., S. 38. 18 Alle folgenden Angaben nach: Wilbert, Entstehung und Entwicklung des Programms der „linken" Kunst, und Stephan, „Lef and the hefl Front of Arts. 19 Percov nannte den Abdruck von Erzählungen Isaak Babel's den „allgemein bekannten Sündenfall des ,LEF'" (Percov, Za novoe iskusstvo, S. 31).

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schaftler (Vinokur, Sillov). Unter diesem Mitarbeiterkreis befanden sich nicht wenige Autoren, die die konstruktivistisch-utilitaristische Kunstprogrammatik des engeren LEF-Zirkels nur eingeschränkt oder gar nicht teilten (die %aum -Dichter, Literaten wie Babel' oder Pasterak, die Vertreter der Formalen Schule). Andererseits orientierte sich eine größere Zahl sowjetischer Künstler an der Programmatik des LEF, ohne aktiv in der Zeitschrift mitzuarbeiten. Hierzu zählen unter anderen die Pioniere des linken Theaters wie Mejerchol'd, Foregger oder Radlov. Im engeren Mitarbeiterkreis des LEF gab es von Anfang an zwei Lager: auf der einen Seite eine von Nikolaj Cuzak angeführte Fraktion orthodoxer Utilitaristen, die eine verbindliche Kunstprogrammatik und eine stramme Führung der linken Front forderte; auf der anderen Seite eine zahlenmäßig weitaus stärkere Gruppe, die das Postulat des Utilitarismus eher in einem pluralistischen und experimentellen Sinne verstand und zu der auch Majakovskij gehörte. Die Lagerspannungen spitzten sich in den Jahren 1924/25 zu. Am 16. und 17. Januar 1925 fand in den Räumen des Moskauer Proletkul't die erste und einzige Konferenz der gesamten linken Kunstszene statt. An ihr nahmen neben den LEF-Mitgliedern über hundert weitere linke Kunstschaffende teil (darunter offensichtlich kein einziger Musikschaffender). Cuzak bezeichnete auf der Konferenz die LEF-Mitglieder als „Intelligenzler" und „Genossen Genies" und forderte die Schaffung einer neuen, straff organisierten linken Kunstfront auf breiterer Basis.20 Majakovskij trat dagegen für eine föderative Vereinigung ein, die nicht die „Sowjetoder Parteiorganisation parodieren" solle.21 Neben der organisatorischen Schwäche der Bewegung wurde auch die unzulängliche Umsetzung des sozialutilitären Ansatzes der Produktionskunst in weiten Bereichen des linken Kunstschaffens kritisiert.22 Die Konferenz führte zunächst weder zu einer organisatorischen noch zu einer programmatischen Neuorientierung der linken Kunstfront. Bald nach der Konferenz stellte die Zeitschrift LEF mit dem siebten Heft ihr Erscheinen ein. Die Auflagenstarke war schon vorher von anfänglich 5.000 auf zuletzt 1.500 zurückgegangen. Eine flächendeckende Umsetzung der konstruktivistisch-utilitären Kunstpraxis war nicht gelungen und schien in vielen Bereichen auch künftig 20 »Na sovescanii rabotnikov LEFa« (»Auf der Konferenz der Arbeiter des LEF«), in: Sovetskoe iskusstvo 1925, Nr. 1, S. 93; zit. nach: Wilbert, Entstehung, S. 275. Cuzak hatte schon 1923 in einem Pravda-Artikel die fehlende Stringenz des LEF-Programms kritisiert und war vorübergehend aus dem Redaktionskollegium ausgeschieden (vgl. Wilbert, Entstehung, S. 234f.). 21 Vladimir Majakovskij, »Vystuplenija na pervom Moskovskom sovescanii rabotnikov levogo fronta iskusstv 16 i 17 janvarja 1925 goda« (»Diskussionsbeiträge zur ersten Moskauer Konferenz der linken Front der Künste am 16. und 17. Januar 1925«), in: ders., Polnoe sobranie soänenij, Bd. 12, Moskau 1959, S. 277. 22 Eine Zusammenfassung der wichtigsten Diskussionsbeiträge wie auch eine instruktive Analyse der Inkonsequenzen in der Kunstpraxis des LEF enthält die schon erwähnte Generalbilanz von Viktor Percov, Za novoe iskusstvo, bes. S. 29-81 und 135-147.

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schwer zu verwirklichen. Wie schon nach der Krise der linken Kunst in den Jahren 1920/21 folgte nun eine Phase der theoretischen Reflexion. Sie führte in den Jahren 1927/28 zu einer Neuformation des LEF unter dem Banner der Faktographie, gruppiert um das Organ NoiyJ LEF (Neuer LEF) und wiederum nominell angeführt von Majakovskij. Auch in der neu formierten Gruppe brachen bald wieder die alten Flügelkämpfe zwischen orthodoxen und liberalen Utilitaristen aus. Majakovskij erklärte im Herbst 1928 seinen Austritt aus dem LEF, gefolgt von Brik und den seinerzeit sehr populären Dichtern Aseev und Kirsanov. Die letzten fünf Nummern des Notyj LEF gab Tret'jakov heraus, untersützt von Cuzak. Nachdem die Zeitschrift 1928 ihr Erscheinen einstellen musste, erschien 1929 unter Cuzaks Redaktion noch der Sammelband Literatura fakta als zusammenfassende Programmschrift zur Faktographie. Das Spektrum der linken Kunst war in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre anders formiert als in der ersten Hälfte. In der neuen Zeitschrift waren vor allem Vertreter der literatura fakta, der linken Foto- und Filmkunst sowie der Formalen Schule aktiv. Letztere wirkten unmittelbar an der Entwicklung der faktographischen Theorie und Praxis mit und hatten somit eine engere Bindung an die Gruppe als im konstruktivistischen LEF. Das faktographische Konzept strahlte auf weite Bereiche der linken Literatur, des linken Theaters (vgl. Kap. 2—IV.7.) und selbst auf die Musik aus (vgl. Kap. 3—1.9. - 3—1.11.). In diesen nicht-angewandten ,Modell-Künsten' löste es den Konstruktivismus als Leitprogramm weitgehend ab. In der angewandten ,Dingkunst' blieb der Konstruktivismus bis zum Ende der 1920er Jahre aktuell, erfuhr allerdings eine leichte Akzentverschiebung. Eine größere Zahl von linken Produktionskünstlern, Architekten, Buch- und Plakatgestaltern usw. schloss sich 1928 zu der Vereinigung Oktjabr' (Oktober) zusammen (u.a. Rodcenko, Stepanova, Gan, El' Lisickij, Moor, Klucis, Dejneka, die Brüder Vesnin, Ginzburg, auch die Filmkünstler Ejzenstejn und Sub). Die theoretischen Wortführer dieser „Vereinigung der Arbeiter in neuen Arten der Kunsttätigkeit" waren die Kritiker Pavel Novickij, Ivan (Janos) Maca und A. Michajlov. In den Manifesten der Gruppe waren noch einmal alle zentralen Theoreme des frühen L E F vertreten. Die Kunst des Oktjabr' verstand sich als utilitäre Produktionskunst, die sich am sozialen Auftrag orientierte.23 Nicht nur ihre Produkte, sondern auch ihre Methoden sollten in den Alltag eingehen und den Pro-

23 Als wichtigste Arbeitsbereiche wurden genannt: Bau von Wohnungen und öffentlichen Gebäude, Einrichtung von Arbeiterklubs und Lesesälen, Herstellung von Gegenständen des Massenbedarfs sowie Organisation von Massenfesten. Vgl. »Deklaracija ob"edinenija OKTJABR'« (»Deklaration der Vereinigung OKTOBER«), in: Pavel Novickij (Hrsg.), I^ofront, Moskau 1931, S. 135-142; zit. nach: Gaßner/Gillen, Zwischen Revolutionskunst, S. 181 f.

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duzentenkreis konstruktiv gestalteter Objekte erweitern. 24 Auch wurde an der Überzeugung festgehalten, dass der Industrialismus das entscheidende Charakteristikum der ,proletarischen' Kultur bilde und die .proletarische' Kunst entsprechend „technisch vollkommen" sein müsse. 25 Der ,Mechanizismus' dieser Position, der nun quer zur offiziellen Ideologie stand, erfuhr im Programm der Oktjabr'-Gruppe allerdings eine wichtige Abmilderung. Die bewusstseinsorganisierende Funktion der Artefakte, die schon im frühen Konstruktivismus in Anlehnung an Bogdanov postuliert worden war (vgl. Kap. 2—III.2.), wurde nun gleichrangig neben die materielle Organisationsfunktion gestellt. Dieser Neuansatz wurde durch die Ersetzung des Begriffs .Konstruktivismus' durch denjenigen der .Konstruktivität' markiert. Die „Konstruktivität" sollte nicht in ihrer „eng-formalen Bedeutung" verstanden werden, sondern „als prinzipielles Moment, das sowohl Form als auch Inhalt organisiert".26 Die Gruppe distanzierte sich von einem „abstrakten ästhetischen Industrialismus" sowie einem „leeren Technizismus". Stattdessen forderte sie die „Konstrüktion eines aktiven, künstlerischen Bildes, das mit der klassenmäßigen Weltanschauung des Proletariats gesättigt ist".27 Der Anspruch des sozialen Utilitarismus erfuhr dadurch eine Ausweitung in den Bereich des Politisch-ideologischen 2 8 Der .konstruktive' Oktjabr'-Künstler, der „durch seine Arbeit die Psyche der Massen organisiert und zur Gestaltung einer neuen Lebensweise beiträgt", konnte sich somit

24 A. Michajlov forderte die „Verschmelzung der Laienkunst" mit der „hochqualifizierten Kunst". Die Losung „Kunst für die Massen" sollte durch die Losung „Kunst der Massen" ersetzt werden. Vgl. »Chudozestvennoe ob"edinenie OKTJABR'« (»Die Kunstvereinigung OKTOBER«), in: ϊιψ' iskusstva 1928, Nr. 31, S. 11; zit. nach: Gaßner/Gillen, Zwischen Revolutionskunst, S. 177f. 25 Vgl. den Wortführer der Gruppe Pavel Novickij: „Den Einfluß der industriellen Technik auf den grundlegenden Charakter der neuen menschlichen Kultur, auf die Formierung der neuen menschlichen Psyche, des neuen Geschmacks, auf die ganze Lebensweise und den künsderischen Stil der Epoche wird niemand bestreiten. [...] Es ist völlig offensichtlich, daß die proletarische Kunst nicht nur die Ideologie und Psychologie des Menschen der industriellen Epoche ausdrücken muß, d.h. des Menschen als eines Verwalters der Maschinen, der innerlich konzentriert ist und mit den mathematisch klaren .Arbeitsberechnungen und Rhythmen vertraut wird, sondern auch alle Mittel der neuesten Technik und der genauen wissenschaftlichen Erkenntnisse vollständig benutzen muß. Die Werke der proletarischen Kunst müssen technisch volkommen, müssen mustergültig in dem hohen Niveau ihrer Technik sein" (»Proletarskaja chudozestvennaja kul'tura i burzuaznaja reakcija. Social'nye funkcii prostranstvennych iskusstv« [»Die künsderische Kultur des Proletariats und die bourgeoise Reaktion. Die soziale Funktion der räumlichen Künste«], in: Novickij [Hrsg.], I^ofront, S. 3-40; zit. nach: Gaßner/Gillen, Zwischen Revolutionskunst, S. 185). 26 Michajlov, »Chudozestvennoe Ob"edinenie OKTJABR'«; zit. nach: ebd., S. 179. 27 Ebd. 28 Vgl. Novickij, »Proletarskaja chudozestvennaja kul'tura«: „Der Wert der Dinge und der Menschen wird an ihrem Nützlichkeitsgrad für die proletarische Revolution gemessen" (zit. nach: ebd., S. 187).

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als „aktiven Kämpfer an der ideologischen Front der proletarischen Revolution" bezeichnen.29 IV.3. Die Formale Schule und ihr Verhältnis zum L E F Die russische Formale Schule war aus dem 1915 gegründeten „Moskauer Linguistenkreis" um Roman Jakobson und aus der 1916 in Petrograd gebildeten „Gesellschaft zum Studium der Theorie der poetischen Sprache" (OPOJaZ) um die Literaturstudenten Viktor Sklovskij, Boris Ejchenbaum und Juri) Tynjanov hervorgegangen. Die Formalisten hatten die linke Kunst — von ihren Anfängen im ,transrationalen' Kubo-Futurismus über den Konstruktivismus bis hin zur Faktographie — mit einer intensiven und ausgesprochen innovativen theoretischen Reflexion begleitet. Sie standen mit den Hauptexponenten des Futurismus und der linken Kunst in engem persönlichen Kontakt, nutzten die gleichen Publikationsforen und konnten viele ihrer Ideen in den linken Theoriediskurs einbringen. Dennoch ist die Auffassung unzutreffend, die formale Methode und die linke Kunst seien als Theorie und Praxis unmittelbar miteinander vernküpft gewesen. Der Formalismus bildete vielmehr ein weitgehend selbstständiges System, das gerade mit der Programmatik des frühen LEF in wesentlichen Punkten unvereinbar war:30 1) Der Formalismus reduzierte die Kunst auf das exklusiv Kunsthafte. — Der LEF wollte die Kunst von allem exklusiv Kunsthaftem befreien und an seine Stelle die lebenspraktische Zweckmäßigkeit setzen. Diese Diskrepanz zwischen Formalismus und LEF — eine Diskrepanz, die letztlich unaufhebbar blieb — hatte ihre Ursache in einer grundverschiedenen Auffassung des Phänomens ,Kunst'. Die Künsder des LEF wollten die ,Kunst' in utilitäre ,Lebenspraxis' auflösen und betrachteten sämtliche ihrer Konstituenten (Material, Verfahren, Zweck) unter dem Gesichtspunkt ihrer Relation zum Leben. Eine vom ,Leben' isolierte Ästhetik sollte durch wirklichkeitsbezogene Organisationsparadigmen (Ingenieurismus, Taylorismus, Kollektivismus, Kommunismus, Dialektik usw.) ersetzt werden. Für die Formalisten dagegen war Kunst genau 29 »Deklaracija ob"edinenija OKTJABR'«; zit. nach: ebd., S. 180. 30 Die folgende Darstellung stützt sich wesentlich auf Aage Hansen-Löve, Der russische Formalismus. Methodologische Rekonstruktion seiner Entwicklung aus dem Prinzip der Verfremdung, Wien 1978 (= Veröffentlichungen der Kommission für Literaturwissenschaft 5), insbesondere auf das Kapitel »Formalismus und linke Avantgardekunst ( L e f ) « . Hansen-Löve charakterisiert die Funktion des Formalismus im Rahmen des LEF als die eines „Katalysators" bzw. eines „methodischen Korrektivs", das im Hinblick auf die utilitaristischen Programme des LEF eine sehr ambivalente Rolle gespielt habe (ebd., S. 487). Vgl. hierzu auch Wilbert, Entstehung, S. 230-233.

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dadurch bestimmt, dass sie sich in der Wahrnehmung hinreichend vom ,Leben' unterschied. Sklovskij definierte Kunst entsprechend als „Summe von Verfahren", deren Zweck darin besteht, dass das Kunstwerk „mit größtmöglicher Sicherheit als künstlerisch wahrgenommen" wird.31 Die Beziehungen der Kunst zum Leben wurden damit zwar nicht geleugnet, aber hinsichtlich des Kunstcharakters für irrelevant erachtet. Die formalistische Kunstwissenschaft betrachtete bis weit in die 1920er Jahre hinein nur dieses genuin Kunsthafte als ihren Gegenstandsbereich. Mit den emotionalen und gedanklichen ,Inhalten' der Kunst sowie mit ihrer sozialen Funktion sollten sich andere Spezialwissenschaften wie Psychologie, Geschichte oder Soziologie befassen. 32 Der LEF wollte die Kunstautonomie abschaffen, der Formalismus verabsolutierte sie. Für den LEF war der soziale Utilitarismus das oberste Axiom jeglicher künsderischen Praxis, für die Formalisten bedeutete die Verabsolutierung des Utilitarismus eine überflüssige Gängelung künstlerischer Kreativität. Sklovsij machte aus dieser Auffassung kein Hehl: Wir [die Futuristen] haben d o c h die K u n s t v o m L e b e n befreit [...]. D i e K u n s t war immer unabhängig v o m L e b e n gewesen, und in ihrer F a r b e spiegelte sich nie die Farbe der Flagge auf der Stadtfestung. [...] U n d wir Futuristen verbinden unser S c h a f f e n mit der dritten Internationale. G e n o s s e n , das ist d o c h die A u f g a b e aller Positionen [...]!33

Was 1919 noch als Nachklang der antietatistischen Haltung des Futurismus gelten konnte, geriet 1926 zum trotzigen kunstideologischen Bekenntnis: Ein ästhetisches Erzeugnis ist d o c h nicht die Organisation des Glücks, sondern die Organisation des Kunstwerks. 3 4

2) Die formalistische Verfremdungsästhetik stand im Widerspruch zu dem konstruktivistischen Postulat der Ökonomie. Der Formalismus betrachtete Kunst innerhalb des Systems ,Kunst', konkreter noch: die Summe aktueller künstlerischer Verfahren in ihrem Verhältnis zum Arsenal früherer Verfahren. Ein Verfahren verliert durch zu langen und zu häufi31 Viktor Sklovskij, »Iskusstvo kak priem« (»Die K u n s t als Verfahren«) [1916]; zit. nach: Jurij Striedter (Hrsg.), Texte der russischen Formalisten, Bd. 1, München 1969, S. 7. 32 Boris E j c h e n b a u m und Jurij Tynjanov, beide D o z e n t e n am Leningrader „Institut für Geschichte der K ü n s t e " (Gill) und damit Kollegen v o n Boris A s a f e v , entwickelten ab 1925 Ansätze zu einer formalistischen Literatursoziologie. Sie untersuchten vornehmlich die Funktion der Faktoren Markt, Ideologie und Klassenzugehörigkeit innerhalb der literarischen Evolution (vgl. Hansen-Löve, Der russische Formalismus, S. 397-425). 33 Viktor Sklovskij, » O b iskusstve i revoljucii« (»Über K u n s t und Revolution«), in: Iskusstvo kommunj 1919, Nr. 17, S. 2; zit. nach: G a ß n e r / G i l l e n , Zwischen Revolutionskunst, S. 52f. 34 Viktor Sklovskij, Tret'jafabrika (Die dritte Fabrik), M o s k a u 1926; zit. nach: ders., Gamburgskij Seit. Stat'i - vospominanija — esse, hrsg. v o n Aleksandr Galuskin und Aleksandr Cudakov, M o s k a u 1990, S. 314. D e r Aphorismus findet sich in d e m Kapitel »Über die Freiheit der Kunst«.

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Teil 2 - Die Entwicklung der linken Kunst

gen Gebrauch seinen Kunstcharakter. Als künstlerisch wird es dann empfunden, wenn es die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf sich lenkt, sich ,entblößt' (obna%enie priema). Dies ist der Fall, wenn der Kunstrezipient in seinen Apperzeptionsund Kognitionsgewohnheiten irritiert wird und das im Artefakt verarbeitete Material als .verfremdet' empfindet. Diese Verfremdung (ostranenie) kann auf verschiedenen Ebenen ansetzen: auf der paradigmatischen (Dekontextierung und Selbstwertigkeit der Materialelemente: Laute, Buchstaben, Morpheme, Formelemente der bildenden Kunst), der syntagmatischen (Verstheorie, Techniken der Sujetfügung, Filmmontage) und auf der pragmatischen (Kunstevolution, Einstellung des Rezipienten).35 Von den Formalisten herausgearbeitete Verfremdungsverfahren sind beispielsweise Verschiebung (sdvig) der konventionellen Wort-, Vers-, SatzGegenstands- oder (filmischen) Einstellungsgrenzen, tautologischer Parallelismus {tavtologiceskij

parallelism),

Wiederholungen (povtory),

Verlangsamung

(%ader%anie),

Bremsung (tormofynie), Umrahmung ( o b r a m l e n i e ) , Kontrastmontage ( k o n t r a s t n y j montafy, Sujetumstellungen ( s j u ^ e t n a j a perestanovka), Verweigerung semantischer Dekodierbarkeit — allgemein jede Erschwerung der Form {^atrudnennajaforma).36 In dieser Perspektive lassen sich sämtliche Konzepte der linken Kunst als Konzepte der Verfremdung interpretieren, da sie etablierte Rezeptionsgewohnheiten irritieren. Beispielsweise durchbricht der Konstruktivismus, indem er die technische ,Gemachtheit' seiner Produkte ostentativ zur Schau stellt, das ästhetische Rezeptionsparadigma ornamentaler Kunst. Es ist allerdings unverkennbar, dass die Formalisten, insbesondere Sklovskij, das genuin Kunsthafte eher in parodistischen, grotesken, absurden, transrationalen und auch naiven Formen verkörpert sahen — Konzepten also, die sich weder durch Rationalismus und Zweckmäßigkeit noch durch utopisch-affirmativen Gestus auszeichneten.37 Der damit implizierte Antikonstruktivismus wurde von Sklovskij ziemlich deutlich beim Namen genannt. Für ihn hatte das Gesetz der „Ökonomie der Kräfte" nur

35 Hansen-Löve (Der russische Formalismus) unterscheidet diesem Schema entsprechend drei Phasen des Formalismus, von denen sich die erste in enger Berührung mit der %aum -Poetik des Kubo-Futurismus ausgebildet habe, die dritte seit Mitte der 1920er Jahre in Auseinandersetzung mit der Kunstpraxis in der Sowjetgesellschaft. 36 Die meisten dieser Begriffe führt Sklovskij ein in: »Svjaz' priemov sjuzetoslozenija s obscimi priemami stilja« (»Der Zusammenhang zwischen den Verfahren der Sujetfügung und den allgemeinen Stilverfahren«) [1916]; russ. und dt. in: Striedter (Hrsg.), Formalisten, Bd. 1, S. 36121. 37 Sklovskij nannte Laurence Sternes Roman Tristram Shandj, eine absurde Genreparodie, den „typischsten Roman der Weltliteratur" (»Parodijnyj roman. ,Tristram Sendi' Sterna« [»Der parodistische Roman. Sternes .Tristram Shandy'«] [1921]; zit. nach: Striedter [Hrsg.], Formalisten, Bd. 2, S. 299). Selbst den Konstruktivismus deutete er .exzentrisch' um: „auf dem Grunde der Ingenieurkunst (vorausgesetzt, sie ist Kunst) wohnt die Fröhlichkeit" (»Sergej Ejzenstejn« [1927]; zit. nach: Viktor Schklowskij, Schriften ^um Film, Frankfurt am Main 1966, S. 70).

IV. Faktographie (1925-1930)

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für die praktische Sprache Geltung, für die künstlerische Sprache könne man genauso „Gesetze der Verschwendung" formulieren.38 3) Für die Formalisten wurde ein Objekt dadurch zu einem Faktum der Kunst, dass es die Automatisierung der Wahrnehmung durchbricht. — Für die Konstruktivisten hatte Kunst (als Werkzeug des Lebensaufbaus) die Aufgabe, das Agieren und Denken des Menschen zu automatisieren. Der Formalismus hat eine Wahrnehmungsästhetik entwickelt, die für seinen Kunstbegriff essenziell ist. Das Phänomen der Verfremdung und damit der ästhetische Charakter des Objekts konstituiert sich erst in der Kognition des Rezipienten. Sie ermöglicht ihm ein neues „Sehen" (videnie) der Dinge anstelle eines automatisierten „Wiedererkennens" (u^navanie), ein bewusstes „Empfinden des Lebens" (oscuscenie eine „Erweckung" (voskresenie) der Dinge aus ihrer „Versteinerung".39 Dieser Effekt einer ,Desautomatisierung' der Wahrnehmung hatte für die Formalisten primär eine vitalistisch-sensualistische Qualität und nur sekundär eine intellektuell-gnoseologische. Gelegentlich durchbricht Sklovskij den Immanentismus seiner Methode und deutet eine gesellschaftliche Wirkung der wahrnehmungssteigernden Kunst an: Die Automatisierung frißt die Dinge, die Kleidung, die Möbel, die Frau und den Schrecken des Krieges.40 Wir müssen uns die Welt wiedergewinnen. Möglicherweise ist das ganze - freilich wenig fühlbare — Unheil unserer Tage, die Entente, der Krieg, Russland zu erklären durch unser mangelndes Weltempfinden [...] durch das Fehlen einer weitgefassten Kunst.41

Der hier aufscheinende aufklärerisch-kritische Zug steht in merklichem Gegensatz zum Mechanizismus des frühen LEF. Die Konstruktivsten wollten den proletarischen Massenmenschen' nicht aufklären, sondern reflektorisch konditionieren und dadurch zum perfekt funktionierenden Automaten in der sozialistischen Gesellschaftsmaschinerie umrüsten. Trotz dieser gravierenden Gegensätze war eine Kooperation zwischen Formaler Schule und LEF auf mehreren Ebenen möglich. Als Vermittler fungierte insbesondere Osip Brik, der 1916 maßgeblich zur Formierung des OPOJaZ beigetragen hatte und gleichzeitig einer der Hauptorganisatoren des L E F war. Im Gegensatz zu anderen LEF-Mitgliedern wertete Brik den Antisoziologismus der Formalisten 38 Sklovskij, »Iskusstvo kak priem«; zit. nach: Striedter (Hrsg.), Formalisten, S. 11. 39 Diese Wahrnehmungstheorie entwickelt Sklovskij in seinen frühen Manifesten »Iskusstvo kak priem« (»Die Kunst als Verfahren«) und »Voskresenie slova« (»Die Auferweckung des Wortes«); russ. und dt. in: Striedter (Hrsg.), Formalisten, Bd. 2, S. 2-17. 40 Sklovskij, »Iskusstvo kak priem« (»Die Kunst als Verfahren«), S. 15. 41 Viktor Sklovskij, Uteratura i kinematograf (Die Literatur und der Kinematograph), Berlin 1923, S. 11.

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Teil 2 - Die Entwicklung der linken Kunst

nicht als grundsätzlichen Fehler, sondern als eine methodisch notwendige Beschränkung, durch die die „Gesetze der poetischen Produktion" besser erforscht werden könnten. Aufgrund seiner wissenschaftlichen Systematisierung literarischer Verfahren sei der OPOJaZ der „beste Erzieher der proletarischen Schriftstellerjugend".42 Eine partielle Kompatibilität von formalistischer Theorie und konstruktivistischer Praxis war auch dadurch gegeben, dass in beiden Systemen Kunst technisch-produktionistisch betrachtet wurde. Die idealistische' Dichotomie ,Form Inhalt' wurde durch die .materialistische' Dichotomie ,Material - Verfahren' ersetzt. Die Kunst besaß keine (primäre) Erkenntnisfunktion, sondern sensibilisierte entweder die Wahrnehmung (Formalismus) oder organisierte Mensch und Umwelt (Konstruktivismus). Und der wahrnehmungsstimulierende Effekt, den die Formalisten an den künstlerischen Verfremdungsverfahren entdeckten, ließ sich nicht nur ästhetisch interpretieren, sondern auch utilitaristisch ausnutzen — zur gezielten .Organisation' von Wahrnehmung, Bewusstsein und Psyche. Die verfremdungsästhetischen Konzepte in Ejzenstejns „Montage der Attraktionen", im Exzentrismus der FßKi-Gruppe, in Mejerchol'ds postkonstruktivistischen Theaterproduktionen, in der Kontrapunkt-Theorie des Tonfilms oder in Vertovs filmischer Montagepraxis basierten ganz wesentlich auf formalistischem Gedankengut. Eine noch weitergehende Konvergenz von LEF-Utilitarismus und formalistischer Kunsttheorie ermöglichte seit der Mitte der 1920er Jahre das Konzept der Faktographie. Es war für die Formalisten akzeptabler als dasjenige des Konstruktivismus, da die Identität mit dem Leben nun weniger auf der Ebene der Verfahren (Ingenieurismus) als auf der Ebene des Materials (Alltagsfakten) gesucht wurde. Die Projektion bereits bekannter Kunstverfahren auf neues ,nicht-künstlerisches' Material war für die Formalisten als ästhetische Verfremdung und damit als ,Kunst' rezipierbar.43 Den Weg zu dieser Annäherung hatte Jurij Tynjanov mit seinen Studien zur literarischen Evolution bereitet. In dem Aufsatz »Das literarische Faktum« (1924) zeigte Tynjanov, dass die Dynamik der Literatur nicht nur in der Entwicklung neuer künstlerischer Verfahren besteht, sondern auch in Verschiebungen der 42 Osip Brik, »T.n. formal'nyj metod« (»Die sog. formale Methode«), in: LEF 1923, Nr. 1, S. 214. Unter den LEF-Theoretikern bemühte sich vor allem Boris Arvatov, die Formale Methode in seine sozialutilitäre Kunsttheorie zu integrieren und aus ihr eine „formal-soziologische Methode" zu entwickeln. Vgl. seine Artikel »Jazyk poeticeskij i jazyk prakticeskij« (»Poetische Sprache und praktische Sprache«), in: Pecat' i revoljuäja 1923, Nr. 7, und »O formal'no-sociologiceskom metode« (»Über die formal-soziologische Methode«), in: ebd. 1927, Nr. 3, S. 54-64. Vgl. hierzu auch Wilbert, Entstehung, S. 230-233. 43 Vgl. Viktor Sklovskij, »Sergej Ejzenstejn« [1927]: „Die zeitgenössische Kunst zehrt vom Material und nicht von der Konstruktion, so merkwürdig das in der Ära des Konstruktivismus klingen mag [...]" (zit. nach: Viktor Schklowskij, Schriften Film, Frankfurt am Main 1966, S. 83).

IV. Faktographie (1925-1930)

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Grenze zwischen Kunst und Nichtkunst. Nichtliterarische Textgenres (z.B. Zeitschriften) können zum „literarischen Faktum" werden, und ebenso können traditionelle Gattungen der Literatur (z.B. die Scharaden und Logogriphen der Karamzin-Zeit) zu einem „einfachen Faktum des Lebens" werden.44 Damit war von formalistischer Seite die theoretische Grundlage für das Konzept der literatura fakta geschaffen.

IV.4. Faktographie und Dialektik Das Problem der Widerspiegelung des Alltagslebens [...] kann nur auf der Ebene der Wissenschaft — mit dialektischen Methoden — und Technik gelöst werden: Fotographie, Film, Phonograph, Museum, literarische Protokolle des Arbeitslebens — mit anderen Worten, objektive Fixierung plus dialektische Montage der wirklichen Fakten anstelle einer subjektiven Kombination erfundener Fakten [...].45

Mit diesem Satz, der in eine größere theoretische Abhandlung eingestreut ist, umriss Boris Arvatov 1926 erstmals die neue Methode der Faktographie.46 Die Auseinandersetzung mit komplexeren Erscheinungen des zeitgenössischen Alltags sollte nicht mehr — wie im ,klassischen' Konstruktivismus — nur modellhaftprospektiv, sondern auch analytisch-retrospektiv vorgenommen werden und sich dadurch ihres Utopismus endedigen. Das Moment des Mechanischen verlagerte sich dabei von der Ebene der Konstruktionsprinzipien auf die Ebene des Materials bzw. dessen Erschließung. Die Fixierung der Fakten sollte ,objektiv', ohne menschliche Manipulation oder Überformung erfolgen. Am besten hierzu waren die modernen technischen Aufzeichnungsgeräte Fotokamera, Filmkamera, Tonkamera, Phonograph und Elektrophonograph geeignet. Ein anderer Weg bestand in der Arbeit mit außerkünsderischen, funktionalen Textgenres. Die Faktographie als neues Basisprogramm des LEF löste eine flächendeckende Verschiebung im Gattungssystem aus. Die frühere Dominanz des Theaters wurde durch die des Films abgelöst. Die bildenden Künstler, sofern sie sich nicht in der angewandten Produktionskunst betätigten, rückten von ihrer utopischen Entwurfspraxis ab und wandten sich verstärkt der Fotographie und Fotomontage zu. Die Schriftsteller beschäftigten sich nun weniger mit experimentellem Sprachschöpfertum und künsderischer Agitationslyrik, sondern mit Genres des täglichen Gebrauchs (Journalismus, Fachpublizistik usw.). Vergleichbare Ansätze finden sich seit der Mitte der 1920er Jahre auch im Theater, insbesondere 44 Juryj Tynjanov, »O literaturnum fakte« (»Über das literarische Faktum«); zit. nach: Striedter (Hrsg.), Formalisten, Bd. 1, S. 392-431, Zitate S. 399. 45 Boris Arvatov, »Kunst und Produktion« [1926], in: ders., Kunst und Produktion, S. 33f. 46 Den Terminus ,Faktographie' (jaktografija) prägte Nikolaj Cuzak in seinem Grundsatzartikel »Literatura ziznestroenija« (»Literatur des Lebensaufbaus«), Teil 2, in: Noiiyj LEF 1928, Nr. 11, S. 15.

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Teil 2 - Die Entwicklung der linken Kunst

im Bereich des Amateurtheaters. Aus der beschriebenen Verschiebung des Gattungssystems ergab sich ganz analog auch das Konzept einer „Musik des Fakts", einer Montage von Klangaufzeichnungen mit Hilfe des Phonographen oder des Lichttonverfahrens (Kap. 3-1.9. - 3-3.1.11.). Das Grundverfahren zur Aufbereitung der Dokumentarfakten war die Montage. Nach welchen Prinzipien die Montage vorgenommen werden sollte, war allerdings — anders als im Konstruktivismus — nicht eindeutig bestimmt. In der faktographischen Theorie und Praxis lassen sich zwei polare Tendenzen ausmachen: eine operativ-utilitaristische und eine verfremdungsästhetisch-experimentelle. Die erste wurde vor allem von Tret'jakov, Cuzak und Arvatov vertreten (vgl. Kap. 2—IV.5.), die zweite von den Formalisten, aber auch von vielen anderen linken Künstlern der Zeit (z.B. Kasnickij oder Piotrovskij in ihren Entwürfen einer musikalischen Faktographie, in geringerem Maße auch Vertov). Wie das oben angeführte Zitat von Arvatov zeigt, war für die Utilitaristen die Dialektik das maßgebliche Modell für die Faktenmontage. Obwohl die intellektuelle Debatte in der Sowjetunion gegen Ende der 1920er Jahre ganz im Zeichen der Dialektik und ihrer unterschiedlichen Auslegungen stand, wurde sie von den Protagonisten der literatura fakta nur in Ansätzen theoretisiert. Ein Grund hierfür lag möglicherweise darin, dass in der (nicht technisierten) Literatur nicht die Montage, sondern die Fixierung des Textes die meisten methodischen Probleme bereitete.47 Systematisch als Kompositionsprinzip angewendet findet sich die Dialektik dagegen im sowjetischen Film (Vertov, Ejzenstejn) und im Theater (TRAM).

Engels hatte die Dialektik als „Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs" in drei Hauptgesetzen zusammengefasst: im „Gesetz des Umschlagens von Quantität in Qualität und umgekehrt", im „Gesetz von der Durchdringung der Gegensätze" sowie im „Gesetz von der Negation der Negation" bzw. der „Entwicklung durch den Widerspruch".48 Er lehnte sich dabei eng an Hegels Triade ,These — Antithese — Synthese' an, stellte dessen ,idealistische' Auffassung aber (wie Marx) ,auf den Kopf und erweiterte ihren Anwendungsbereich über „bloße Denkgesetze" hinaus auf sämtliche Entwicklungsprozesse in Natur und Gesellschaft. Das genaue Zusammenwirken der drei Gesetze schlüsselte Engels nicht näher auf. Erwähnt wird lediglich eine „Spirale Form der Entwicklung".49 Von besonderer ideologischer Bedeutung für den Sowjetmarxismus war das „Gesetz des Umschlagens von Quantität in Qualität". Es besagte, dass evolutionäre Entwick47 Nikolaj Cuzak definierte die „Montage" in der literatura fakta als „wissenschaftliche Vorausschau der Fakten für das Morgen, was man dialektischen Materialismus nennt." Die Kunst müsse die „im Verborgenen verknüpften Fakten in ihrer inneren dialektischen Ausrichtung" auslegen (»Pisatel'skaja pamjatka« [»Merkblatt für Schrifsteller«], in: Nikolaj Cuzak (Hrsg.), Literatura fakta, Moskau 1929; Reprint München 1972, S. 18 und 22). 48 Engels, Dialektik der Natur, S. 307 und 348. 49 Ebd., S. 307.

IV. Faktographie (1925-1930)

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hingen zwangsläufig irgendwann einen revolutionären Sprung vollziehen, und lieferte damit gleichsam eine naturgesetzliche Legitimation der Oktoberrevolution.

IV.5. Literatur des Fakts {Literatura fakta) Das Jahr 26. Stelle mich in der Arbeit bewusst auf Journalistik um. [...] Das Jahr 27. Bringe den „Lef*' wieder auf die Beine (es hat den Versuch gegeben, ihn „abzubauen"); nunmehr als „Neuen LEF". Grundhaltung: gegen das Ausgedachte, gegen Ästhetisierung und Psycho-Verlogenheit \psicholo%estvo] in der Kunst; für Agitation, für hochwertige Publizistik und Aufzeichnung des Zeitgeschehens.50

Mit diesen Sätzen aus seiner Biographie „Ich selbst" (die ihrerseits ein Dokument der literatura fakta ist) brachte Majakovskij die Grundsätze der literarischen Faktographie und damit auch des neuen LEF auf den Punkt. Konkreter erläuterte Nikolaj Cuzak die Methode der literatura fakta. Als Textsorten kamen nur solche des praktischen Gebrauchs in Frage: Reportage (ocerk), Zeitungsartikel, Feuilleton, Biographie, Memoiren, Tagebuch, Protokolle von Gerichtssitzungen oder Meetings, Reisebericht, Pamphlet usw.51 Abgelehnt wurden die Verfahren der Fiktion, der Verallgemeinerung, der Typisierung, der Abstraktion, der Psychologisierung und der Mystifikation. Es sollten nicht die „Erlebnisse eines Helden", sondern die „Erlebnisse von Prozessen" dargestellt werden. Auch die Faktographie verstand sich nicht als „Imitation" des Lebens, sondern als eine Kunst des „Lebensaufbaus" nestroenie). Sie sollte die Fakten des Lebens registrieren, professionell aufzeichnen und so montieren, dass ihr dialektischer Zusammenhang und damit ihre künftige Entwicklung erkennbar wurde. Cuzak gestand ein, dass eine genauere Methodik der literatura fakta noch nicht existiere. Sie könne auch nicht auf akademischem Wege, sondern nur auf dem Wege praktischer Erfahrungen entwickelt werden.52 Wie bereits ausgeführt, betrachteten die Formalisten die literatura fakta nicht als utilitäres Werkzeug des Lebensaufbaus, sondern als eine Revolution des Genresystems, durch die alltägliches' Material aufgrund seiner verfremdenden Präsentation als Kunstobjekt wahrnehmbar wurde. Für Sklovskij bedeutete dies, dass der Künstler weitgehende Freiheit bei der Auswahl und Bearbeitung der Fakten haben musste.53

50 Vladimir Majakovskij,/« sam (Ich selbst) [1922/1928], in: ders., Polnoe sobranie soänenij, Bd. 1, Moskau 1955, S. 28. 51 Cuzak, »literatura ziznestroenija«, S. 15. 52 Cuzak, »Pisatel'skaja pamjatka«, S. 9-28; zu Cuzaks Auffassung der dialektischen Montage vgl. S. 159, Anm. 47. 53 Vgl. Hans Günther, »Literatur des Fakts«, in: Flaker (Hrsg.), Glossarium, S. 341.

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Teil 2 - Die Entwicklung der linken Kunst

Die entschiedenste Gegenposition hierzu bezog Tret'jakov. Die Kategorie der Verfremdung war für ihn irrelevant, da sie sich auf das System ,Kunst' bezog. Er verlangte, die gesamte Praxis der literatura fakta nach ihrem sozialen Auftrag auszurichten. Der faktographische „Berichterstatter" (ocerkisf) sollte die Fakten in präziser Fachterminologie fixieren und sich dabei an den Studien des NOT orientieren.54 Er sollte die Fakten so verketten, „dass sie soziale Energie und die in ihnen verborgene Wahrheit auszustrahlen beginnen".55 Dabei war eine ideologische Selektion von „Freund-Fakten" (fakt-drug) und „Feind-Fakten" (fakt-vrag) vorzunehmen.56 Im Zentrum des Interesses stand weniger der Mensch als das Schicksal der Produktion. Tret'jakov schlug vor, „Biographien des Dings" mit Titeln wie „Das Eisen", „Die Lokomotive" oder „Die Fabrik" zu schreiben. Ihre Kompositionsstruktur sollte den Produktionsprozess an einem Fließband zum Modell nehmen.57 In der Zeit des Fünfjahresplans avancierte die Reportage bzw. „Skizze" (ocerk), insbesondere die Industrie- und Kolchosskizze, zur wichtigsten Gattung der literatura fakta. Das außerliterarische Modell für den ocerk waren die Berichte von Arbeiterkorrespondenten, durch die die Presse und staatliche Institutionen über Erfolge, aber auch über Missstände in den Betrieben informiert werden sollten. Wie es schon die Kunstkonzepte des Proletkul't und des frühen Konstruktivismus vorsahen, sollte auch die Methode der literatura fakta auf breiter Ebene in den Alltag eingehen und den Kreis der Produzenten massenhaft vergrößern. Der Sammelband Literatura fakta, in dem wichtige Beiträge zur faktographischen Theorie aus dem Notyj LEF zusammengefasst wurden, war als Handbuch für Arbeiterund Bauernkorrespondeten und junge Schriftsteller gedacht. Entsprechend waren auch die praktischen ocerk-Arbeiten der LEF-Autoren in erster Linie als Mustertexte gedacht, an denen Laienautoren professionelles Schreiben studieren sollten. Diese utilitaristische Intention wurde noch überboten durch das Konzept der „operativen Skizze", das Tret'jakov seit Anfang der 1930er Jahre praktizierte. Der Schriftsteller sollte sich hier nicht nur im Rahmen einer Betriebsvisite ein oberflächliches Bild machen, sondern sich längere Zeit in einem Betrieb aufhalten, nach Möglichkeit sogar eine Tätigkeit übernehmen und mit seinen Berichten ,operativ' auf die Betriebsgeschehnisse Einfluss nehmen.58 54 Vgl. Martin Schneider, Die operative Ski^^e Sergej Tret'jakovs. Futurismus und Faktographie in der Zeit des 1. Fünjjahrplans, Bochum 1983, S. 123. 55 Sergej Tret'jakov, Ljudi odnogo kostra (Leute eines Scheiterhaufens), Moskau 1962, S. 456. 56 Sergej Tret'jakov, »Prodolzenie sleduet« (»Fortsetzung folgt«), in: Cuzak (Hrsg.), Uteratura fakta, S. 269. 57 Sergej Tret'jakov, »Biografija vesci« (»Die Biographie des Dings«), in: ebd., S. 66-70. Tret'jakov wurde hierzu durch Romane des französischen Arbeiterschriftsteller Pierre Hamp angeregt. Von Hamp stammte auch die Vorlage zu Boris Paparigopulos Produktionsdrama Re/'sy (Gleise), für dessen Inszenierung am Leningrader „Roten Theater" Desevov 1926 die Bühnenmusik komponierte (vgl. Kap. 3-V.4.). 58 Vgl. Schneider, Die operative Ski^e, S. 159.

IV. Faktographie (1925-1930)

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Diese rigide Utilitarisierung, die sich auf den Verständnishorizont eines literarisch weitgehend unbedarften Publikums einstellen musste, war selbstverständlich nur zum Preis eines bewussten ästhetischen Asketismus möglich. Die große Mehrzahl der LEF-Autoren wollte diese Konsequenz, die sich ganz folgerichtig aus dem Axiom des Utilitarismus und seiner schrittweisen Desutopisierung ergab, nicht mitvollziehen.59 Tret'jakov beschritt diesen Weg zuletzt ganz allein. Majakovskij und selbst der produktionistisch orientierte Brik traten im Herbst 1928 aus dem LEF aus und leiteten damit den baldigen Zerfall der Gruppe ein. Die Faktographie war dadurch zwar ihres organisatorischen und diskursiven Zentrums beraubt, blieb als Konzept aber unter linken Künsdern weiterhin wirksam, insbesondere in den nicht-literarischen Medien.

IV.6. Faktographie in Fotographie und Film Es liegt wohl in der Spezifik der Medien begründet, dass sich die Faktographie im Bereich der Foto- und Filmkunst besser und länger (bis weit in die 1930er Jahre hinein) behaupten konnte als in der Literatur. Zum einen bestand das Problem der präzisen Fixierung der Fakten, das die literatura fakta stark beschäftigte, in den technischen Aufzeichnungsmedien überhaupt nicht. Dieser mediale Vorteil eröffnete Freiräume auf dem Gebiet der Montage und der Verfremdung (ein virtuos montiertes Fotoplakat oder ein kühn geschnittener Film gerieten nicht so leicht in den Verdacht .belletristischer' Verfälschung der Wirklichkeit). Zum anderen waren die Medien jung, unverbraucht und von einem Massenpublikum (zumindestens oberflächlich) leicht rezipierbar. Viele ehemalige Konstruktivisten und Produktionskünstler wie Aleksandr Rodcenko oder Gustav Klucis arbeiteten Ende der 1920er Jahre schwerpunktmäßig auf dem Gebiet der Fotographie und Fotomontage. Der wichtigste Anwendungsbereich waren sämtliche Printmedien: Bücher, Bildreportagen, Journale, Zeitungen, Plakate usw. In der gesamten sowjetischen Druckgraphik war gegen Ende des Jahrzehnts ein Rückzug der abstrakten konstruktivistischen .Ornamentik' und ein Vordringen von fotographischen Elementen und Montagetechniken zu beobachten. Viele Fotomontagen auf Plakaten oder Bucheinbänden stellten so etwas wie Bilderrätsel dar. In ihnen fanden nicht nur fotographische Materialien Verwendung, sondern auch Textdokumente, Statistiken o.ä. Die Leistung des Künstlers bestand darin, aus der verwirrenden Fülle der Fakten des Lebens signifikante Ausschnitte auszuwählen und sie so zueinander ins Verhältnis zu setzen, dass ihre dialektischen Bezüge erkennbar wurden. Die Fotomontagen lieferten also Modelle, mit deren Hilfe der .proletarische' Mensch die moderne Faktenund Reizflut zu strukturieren lernen sollte. 59 Vgl. ebd., S. 51.

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Teil 2 - Die Entwicklung der linken Kunst

Ein analoges Konzept prägte auch die linke Filmkunst der späteren 1920er Jahre. Eine ganze Reihe von LEF-Autoren beschäfigte sich seit 1926 intensiv mit diesem Medium. Brik, Majakovskij, Tret'jakov und Tynjanov schrieben Drehbücher, Sklovskij war als Drehbuchautor und Montagetechniker bei Goskino angestellt. Alle linken Filmschaffenden jener Zeit verband die Überzeugung, dass der neue sowjetische Film auf das Mittel der Fiktion und auf herkömmliche Kompositionsmodelle (Intrige, Dreiecksbeziehung, Fokussierung von Helden usw.) verzichten müsse. Kontrovers diskutiert wurde allerdings die Frage, ob Filmaufnahmen inszeniert werden dürften oder ob grundsätzlich dokumentarisches Material zu verwenden sei. Ejzenstejn ließ die Szenen für seine Propagandafilme wie Bronenosec Potemkin (Panzerkreuzer Potemkin, 1925) von Schauspielern und Laiendarstellern nachstellen, vermied aber individuelle Psychologisierung und konventionelle Sujetstrukturen. Sein Hauptkontrahent in der linken Filmszene war Dziga Vertov, der ausschließlich mit dokumentarischem Material arbeitete. Vertov war der Hauptvertreter des faktographischen Films in der Sowjetunion — und nach der Einführung des Tonfilms auch der wichtigste Protagonist der mu^yka fakta (vgl. Kap. 3—1.11.). Die Entwicklung seines filmischen Denkens soll daher eingehender dargestellt werden. Vertov lehnte nicht nur den Spielfilm als „Kino-Nikotin" ab,60 sondern generell jegliche Inszenierung von Filmaufnahmen. Fast alle von ihm seit 1918 produzierten Filme sind dokumentarische Panoramen des sowjetischen Lebens, die freilich eine jeweils spezifische Perspektive auf die .Wirklichkeit' konstruieren. In Vertovs filmtheoretischen Schriften lässt sich die gesamte intellektuelle Biographie der linken Kunst der 1920er Jahre ablesen. In dem frühen Manifest »Wir« (1922) entwickelte er das Konzept eines abstrakt-kontruktivistischen Films. Es lässt sich als analoge Übertragung desjenigen Typs von abstraktem Konstruktivismus verstehen, wie ihn Rodcenko 1921 mit seinen Hängekonstruktionen praktiziert hatte (vgl. Kap. 2—III.l.). Durch die konstruktivistische Organisation des Bildmaterials wollte Vertov die geometrische und rhythmische Tiefenstruktur der Lebenswelt bloßlegen: Die Filmsache ist die Kunst der Organisation der notwendigen Bewegungen der Dinge im Raum und — angewandt - das rhythmische künstlerische Ganze, entsprechend den Eigenschaften des Stoffes und dem inneren Rhythmus jeder Sache. [...] Es lebe die dynamische Geometrie, es leben die Abläufe der Punkte, Linien, Flächen, Volumina! Es lebe die Poesie der bewegenden und sich bewegenden Maschinen, die Poesie der Hebel, Räder und stählernen Flügel, der eiserne Schrei der Bewegung [...].61

Diskussionsbedürftig ist die in dem Passus angeführte Kategorie der ,Poesie', die nicht in das materialistische und antiästhetische Paradigma der linken Kunst 60 So Vertov in »Kino-Glaz«, in: Na putjach iskusstva (Auf den Wegen der Kunst), Moskau 1926; zit. nach: Wertow, Aufsätze, S. 122. 61 Dziga Vertov, »My. Variant manifesta« (»Wir. Variante eines Manifestes«), in: Kinofot 1922, Nr. 1; zit. nach: Wertow, Aufsätze, S. 55-57.

rv. Faktographie (1925-1930)

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passt. Vertov benennt mit ihr einen neuen Typus emotionalen Empfindens, der gegenüber herkömmlicher ,Poesie' durch seinen Bezug zur Welt der Maschine verfremdet ist. Dieses neue ,poetische' Empfinden hat für Vertov nicht primär eine ästhetische, sondern eine utilitäre Qualität. Indem der Mensch durch die konstruktivistischen Filmbilder eine Affinität zwischen sich und der Maschine erkennt, kann er die Maschine lieben lernen (bzw. den Hass auf sie überwinden, von dem Marx, Engels und viele Arbeiterdichter geschrieben haben): Unser Weg - vom sich herumwälzenden Bürger über die Poesie der Maschinen zum vollendeten elektrischen Menschen. Die Seele der Maschine enthüllen, den Arbeiter in die Werkbank verlieben, den Bauern in den Traktor, den Maschinisten in die Lokomotive! Wir tragen die schöpferische Freude in jede mechanische Arbeit. Wir verbinden den Menschen mit der Maschine. Wir erziehen neue Menschen.62 Die Utopie einer Maschinisierung des Menschen inszenierte Vertov durch Filmbilder, in denen Mensch und Maschine in organischer Symbiose, manchmal in filmischer Überblendung, zu sehen sind. Derselben Maschinisierungsutopie war auch Vertovs frühe Theorie einer Reorganisation der Wahrnehmung verpflichtet. Die technischen Möglichkeiten und die Organisiertheit des „Kino-Auges" (kinosollten die Beschränktheit und Zufälligkeit des biologischen Sehens überwinden. Und die durch den Monteur konstruierte, technisch perfektionierte Welt sollte das „Chaos der visuellen Erscheinungen" der unorganisierten Wahrnehmung ersetzen. 63 Seit der Mitte der 1920er Jahre zielte Vertov in seinen Schriften weniger auf die artifizielle Konstruktion der Utopie, sondern auf eine „Propaganda mit Fakten" 64 und die Erziehung zu einem bewussten, intelligenten Sehen: Wir brauchen bewußte Menschen und keine bewußdose Masse, die der nächsten besten Suggestion erliegt. [...] Es lebe das Klassensehen! Es lebe Kinoglas! [...] Entschlüsselung des Lebens, wie es ist. Wirken durch Fakten auf das Bewußtsein der Werktätigen.65 62 Ebd., S. 55. 63 Dziga Vertov, »Kinoki. Umsturz« (»Kinoki. Perevorot«), in: LEF1923, Nr. 3, S. 138. Vertov hat - anders als Ejzenstejn - keine allgemeine Theorie der Wahrnehmung und Kognition aufgestellt. Dies ist insofern erstaunlich, als er mit der Theorie der Reflexologie schon lange vertraut war, ehe sie von linken Künsdern wie Mejerchol'd oder Ejzenstejn adaptiert wurde. Vertov hatte vor der Oktoberrevolution am Psycho-Neurologischen Institut in Petrograd studiert, wo er Vorlesungen des Institutsleiters Vladimir Bechterev hörte. Er protokollierte u.a. Selbstversuche, in denen er eigene Verhaltensformen, Gedanken und Reaktionen beobachtete. Vgl. Thomas Tode, »Bio-Filmographie. Anmerkungen zu Leben und Werk Dziga Vertovs«, in: Dziga Vertov, Tagebücher/Arbeitshefte, hrsg. von Thomas Tode und Alexandra Gramatke, Konstanz 2000 (= Close Up 14), S. 203. 64 Vgl. Dziga Vertov »Fabrika faktov« (»Die Fabrik der Fakten«), in: Pravda vom 24.7.1926: „Keine FEKS (Leningrader Fabrik des exzentrischen Schauspielers) und keine ,Fabrik der Attraktionen' Eisensteins [...]. Einfach: Die Fabrik der Fakten. Aufnahme von Fakten. Sortierung von Fakten. Verbreitung von Fakten. Propaganda mit Fakten. Fäuste von Fakten. Blitze von Fakten" (zit. nach: Wertow, Aufsätze, S. 118f.).

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Teil 2 - Die Entwicklung der linken Kunst

Vertov war seit den Anfängen seiner künstlerischen Entwicklung daran interessiert, auch mit akustischem Material zu arbeiten. Nach eigener Darstellung betrieb er in den Jahren 1916/17 während seines Studiums am Petrograder Psycho-Neurologischen Institut ein „Laboratorium des Gehörs", in dem er damit experimentierte, „einzelne Bruchstücke der Aufzeichnungen auf Grammophonplatten in bestimmter Form zu montieren und so neue Werke zu schaffen".66 Gleichzeitig versuchte er sich an futuristischer Poesie im Stile Majakovskijs, die er zu literarisch-musikalischen Montagen weiterentwickelte. Diese Collagepraxis scheint sich eng an das ^a»«?-Konzept der Kubo-Futuristen angelehnt zu haben (vgl. Kap. 1—1.). Das vorgefundene Klangmaterial wurde in selbstwertige Bruchstücke zersplittert, die Vertov dann nach eigenen (transrationalen?) Gesetzen zu einer neuen Klangwelt zusammensetzte. Eine nähere Untersuchung dieser Klangmontagen, die möglicherweise das einzige Zeugnis einer Geräuschkunst im vorrevolutionären russischen Futurimus darstellen, ist nicht möglich, da sich allem Anschein nach keinerlei Dokumente erhalten haben.67 In Vertovs filmtheoretischen Schriften ist während der gesamten 1920er Jahre der Gedanke präsent, die Prinzipien seiner visuellen Stummfilmkunst auf den Bereich des Hörbaren auszuweiten. Schon in seinem 1923 in LEF veröffentlichten Manifest »Kinoki. Umsturz« sprach er vom „Radio-Ohr" (radio-ucho) als dem auditiven Analogon zum „Kino-Auge" ( k i n o - g l a u n d kündigte die Schaffung einer „montierten Radiochronik" durch „die Futuristen" an.68 1925 rief er in einem Pravda-Artikel zur Schaffung einer „Radio-Pravda" auf, die von „künstlerischen Übertragungen" (z.B. Carmen oder Rigoletto) frei sein und sich auf die Aufzeichnung „akustischer Fakten" beschränken müsse.69 Da Vertov nie für das Radio arbeitete, konnte er seine Vorstellungen einer akustischen Dokumentarkunst erst mit der Einführung des Tonfilms verwirklichen. Sein 1930 entstandener Tonfilm Simfonija Donbassa. Entu^a^m (DonbassSinfonie. Enthusiasmus), einer der ersten sowjetischen Tonfilme überhaupt, ist ein zentraler Beitrag zu einer faktographischen Tonkunst. Er wird in Kapitel IV.1.11. als herausragender Beitrag eines LEF-Künstlers zur sowjetischen Musikkultur ausfuhrlich behandelt.

65 Dziga Vertov, »Kinoglaz« (»Das Kinoauge«) [1926]; zit. nach: Wertow, Aufsätze, S. 124f. 66 So Vertov in einem Vortrag vom 5.4.1935; zit. nach: Tode, bio-Filmographie, S. 203. 67 Der russische Filmwissenschafder Viktor Listov gibt an, dass sich aus der vorrevolutionären Lebensphase Vertovs keinerlei Dokumente oder Tagebuchaufzeichnungen erhalten haben (Viktor Listov, »Vertov odnazdy i vsegda« [»Vertov einst und immer«], in: Kinovedceskie %apiski 1993, Nr. 18, S. 123). 68 Vertov, »Kinoki. Perevorot«, S. 141 und 143. 69 Dziga Vertov, »'Kinopravda' i ,Radiopravda'«, in: Pravda vom 16.7.1925, S. 8; zit. nach: Wertow, Aufsätze, S. 113f.

IV. Faktographie (1925-1930)

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IV.7. Faktographie im Theater Das Phänomen der Faktographie im Theater ist noch niemals systematisch untersucht worden. Entsprechend skizzenhaft muss die folgende Darstellung bleiben. Wie bereits ausgeführt, wurde die herausragende Position, die das Theater als universale Modellkunst im frühen Konstruktivismus eingenommen hatte, seit der Mitte der 1920er Jahre zunehmend vom Film besetzt. Seiner medialen Natur nach war das Theater als Anwendungsform der Faktographie wenig geeignet, da es weder technisiert war noch ein angewandtes' Pendant im Lebensalltag hatte (sofern man den Alltag als solchen nicht als theatrum mundi auffasste). Dennoch standen einige Tendenzen der sowjetischen Theaterkultur der späteren 1920er Jahre in deutlichem Zusammenhang mit der Faktographie. Hierzu zählen die vermehrte Verwendung von Gegenwartsstoffen und Alltagssujets, der montagehafte Einbezug von Alltagsdokumenten (Transparente, Schautafeln, Kinoeinblendungen, Radioübertragungen usw.), die multimediale Technisierung des Theaters (Elektrifizierung, Radiofizierung, Kinofizierung), eine an der Revue orientierte Dramaturgie,70 die Technik der literarischen Montage (litmonta^)11 sowie eine Wiederbelebung des Prinzips der Selbsttätigkeit (samodejatel'nosf) im Bereich des Amateurtheaters. Bei Mejerchol'd sind Ansätze zu einem faktographischen Theater schon in der konstruktivistischen Phase erkennbar. In der Inszenierung von Zemlja dybom (Die Erde bäumt sich; Sergej Tret'jakov nach dem Soldatendrama IM Nuit von Marcel Martinet; 1923) brachte er zahlreiche authentische Gegenstände auf die Bühne: ein Feldtelefon, eine ganze Feldküche und einen Mähdrescher. Autos und Motorräder fuhren durch den Zuschauerraum, Maschinengewehre ratterten los. Außerdem wurde eine Filmleinwand verwendet, auf die Fotographien, Agitationsplakate und Parolen der Revolution von 1917 projiziert wurden.72 In der „Polit-Revue" (politobo^renie) Okno ν derevnju (Das Fenster zum Lande; 1927), die Probleme der Industrialisierung der Landwirtschaft aufgriff, ging Mejerchol'd noch weiter. Er ließ Aufklärungsfilme über das Funktionieren von Traktoren und anderen Maschinen zeigen.73 Einige Produktionen Mejerchol'ds lehnten sich an die literatura fakta und den