Die Deutschen und die Revolution: Eine Geschichte von 1848 bis 1989 [1 ed.] 9783406805394, 9783406805400, 9783406805417

Als die Franzosen im Juli 1789 das Symbol des absolutistischen Ancien Régime, die Pariser Bastille, stürmten, jubelten i

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Die Deutschen und die Revolution: Eine Geschichte von 1848 bis 1989 [1 ed.]
 9783406805394, 9783406805400, 9783406805417

Table of contents :
Impressum
Inhalt
Einleitung
1 Einheit und Freiheit: Das Dilemma der Revolution von 1848/49
I.
II.
III.
2 Revolution von oben: Die Reichsgründung und ihre Folgen
I.
II.
III.
IV.
3 Der Preis des Fortschritts: Die Revolution von 1918/19 und die Republik von Weimar
I.
II.
III.
4 Revolution von rechts? Der Ort des Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte
I.
II.
III.
IV.
5 Mehr als ein Zusammenbruch: Die friedliche Revolution von 1989
I.
II.
III.
6 Revolutionen in Perspektive: Rückblick und Ausblick
I.
II.
III.
IV.
Dank
Anhang
Abkürzungsverzeichnis
Anmerkungen
Einleitung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Bildnachweis
Personenregister

Citation preview

H EI NRI C H A U G U S T W I N K L E R

DIE DEUTSCHEN UND DIE REVOLUTION Eine Geschichte von 1848 bis 1989

C.H.BECK

© Verlag C.H.Beck oHG, München 2023 Umschlagentwurf: Kunst oder Reklame, München Umschlagabbildungen: Revolution 1848 /49: Umritt Friedrich Wilhelms IV. in Berlin, 21. März 1848. Zeitgenössische Lithographie, koloriert. Neuruppiner Bilderbogen. Berlin, Landesarchiv © akg-images Satz: Janß GmbH, Pfungstadt ISBN Buch 978 3 406 80539 4 ISBN eBook (epub) 978 3 406 80540 0 ISBN eBook (PDF) 978 3 406 80541 7 Die gedruckte Ausgabe dieses Titels erhalten Sie im Buchhandel sowie versandkostenfrei auf unserer Website www.chbeck.de. Dort finden Sie auch unser gesamtes Programm und viele weitere Informationen.

Für Dörte

IN H A LT

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Einheit und Freiheit: Das Dilemma der Revolution von 1848 /49 . . . . . . . .

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2. Revolution von oben: Die Reichsgründung und ihre Folgen . . . . . . . . . .

39

3. Der Preis des Fortschritts: Die Revolution von 1918 /19 und die Republik von Weimar

63

4. Revolution von rechts? Der Ort des Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

5. Mehr als ein Zusammenbruch: Die friedliche Revolution von 1989 . . . . . . . . . . . .

105

6. Revolutionen in Perspektive: Rückblick und Ausblick . .

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Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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ANHANG

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ohne letztlich praktische Forschungsabsicht kann es in der Staatslehre weder fruchtbare Fragen noch wesentliche Antworten geben. Hermann Heller (1891–1933), Staatslehre

EIN LEITU N G

Einleitung

Was «Revolution» bedeutet, glauben wir zu wissen: eine umfassende, häufig gewaltsam herbeigeführte Umwälzung der bestehenden Machtverhältnisse. Der Soziologe Ralf Dahrendorf definierte Revolutionen 1961 als ­«politische und soziale Wandlungen …, die unter Anwendung von Gewalt extrem rasch verlaufen und äußerst tiefgehende Wirkungen zeitigen».1 Ähnlich, wenn auch ohne Hervorhebung des Faktors Gewalt, formulierte 1986 der Politologe Kurt Lenk: «Revolution ist stets verbunden mit der Schaffung einer neuen gesellschaftlichen Ordnung und neuen Rechtsformen, die über den bloßen Wechsel einer Führungsgruppe (Putsch, Staatsstreich) hinausweisen. Entscheidend dabei ist die Sprengung der bisherigen Sozialstruktur im Sinne eines Bruchs mit der Tradition.»2 Es ist ein solcher pragmatischer, an Dahrendorf und Lenk angelehnter Arbeitsbegriff von Revolution, mit dem wir uns unserem Thema, den deutschen Revolutionen des 19. und 20. Jahrhunderts, nähern wollen. Im Vordergrund unseres Interesses steht dabei das Verhältnis der zeitgenössischen Deutschen zur Revolution, und das hat sich innerhalb dieser zwei Jahrhunderte erheblich verändert. In jedem Kapitel werden grundsätzliche Aspekte des Themas «Revolution» erörtert, besonders intensiv im Zusammenhang mit den «friedlichen Revolutionen» von 1989 und zusammenfassend im letzten Kapitel des Buches. Bevor wir uns der ersten deutschen Revolution, der von 1848 /49, zuwenden, bedarf es eines Blicks auf deren Vorgeschichte. Zu ihr gehört zunächst das Ereignis, das das Verhältnis der Deutschen zur Revolution

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Einleitung

nachhaltig geprägt hat und dessen Folgen Deutschland grundlegend verändert haben: die Französische Revolution von 1789. Auch viele Deutsche hatten den Franzosen zugejubelt, als diese am 14. Juli 1789 das Symbol des absolutistischen Ancien Régime, die Pariser Bastille, erstürmten. Unter denen, die sich zu Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, den Ideen von 1789 bekannten, waren große Dichter und Denker wie Kant, Herder und Schiller und manche, die erst noch berühmt werden sollten, wie die damaligen Tübinger Theologiestudenten Hegel, Schelling und Hölderlin. Doch bekanntlich hielt die Begeisterung rechts des Rheins nicht lange an. Bereits im Oktober 1789 rügte Christoph Martin Wieland, der wohl einflussreichste deutsche Publizist der Zeit, auch er ein früher Sympathisant der Revolution, die Entmachtung des Königs von Frankreich, weil sie mit dem nötigen Gleichgewicht der Gewalten, der gesetzgebenden, der vollziehenden und der richterlichen Gewalt, nicht zu vereinbaren sei.3 Vom Frühjahr 1790 ab wurde die Kritik an den vermeintlichen An­ maßungen der Pariser Nationalversammlung schärfer, und das im gleichen Maß, wie der Einfluss der Jakobiner wuchs. Noch vor Beginn der offenen Schreckensherrschaft kam Johann Gottfried Herder zu dem Schluss: «Wir können der französischen Revolution wie einem Schiffbruch auf offenem Meer vom sicheren Ufer herab zusehen, falls unser böser Genius uns nicht selbst wider Willen ins Meer stürzte.»4 Selbst die entschiedensten unter den deutschen Verteidigern der Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die sogenannten «deutschen Jakobiner», mochten im revolutionären Frankreich meist kein Vorbild ­sehen. Einer von ihnen, der Schriftsteller Georg Friedrich Rebmann, bekannte 1796, er habe nie «an eine deutsche Revoluzion (sic!), nach dem Muster der französischen, im Ernste gedacht. In protestantischen Ländern ist sie durchaus unmöglich, und in unseren katholischen fast ebenso sehr.» Eine Revolution ausschließen wollte Rebmann dennoch nicht. Sie werde und müsse erfolgen, «wenn man ihr nicht durch Reformation zuvorkommt».5 Letztlich meinte auch Immanuel Kant, der Philosoph aus dem preußischen Königsberg, nichts anderes. Den Ideen der Französischen Revolution bekundete er über die Zeit des schärfstens verurteilten Terrors ­hinaus öffentlich seine Sympathie. Wenn er 1797 in der Rechtslehre der

Einleitung

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«Metaphysik der Sitten» ein «repräsentatives System des Volkes» forderte, ging er weit über Theorie und Praxis des Aufgeklärten Absolutismus ­friderizianischer Prägung hinaus.6 Doch da er auf gesetzlichen Reformen bestand und einer gewaltsamen Revolution tunlichst vorbeugen wollte, blieb der eigentliche Adressat seiner Forderungen der vorhandene Staat. Reformation statt Revolution oder Revolution von oben statt von unten: In dieser Folgerung waren sich alle deutschen Intellektuellen einig, die mit den bestehenden Verhältnissen haderten und doch keinen gewaltsamen Umsturz wollten. Sie hatten gute Gründe für ihre Haltung. Die Ausgangslagen Deutschlands und Frankreichs waren höchst unterschiedlich. Viele der deutschen Staaten kannten im Unterschied zu Frankreich die Herrschaftsform des Aufgeklärten Absolutismus. Friedrich der Große, der europaweit als Inkarnation dieses Regierungstyps galt, wurde in Frankreich als positiver Kontrast zu Ludwig XVI. betrachtet. Um sich mit ­einer aufgeklärten Variante von Absolutismus abzufinden, war Frankreichs «dritter Stand» freilich bereits zu entwickelt und zu selbstbewusst. Der eng mit dem hohen katholischen Klerus liierte französische Adel genoss immense Privilegien, übte jedoch sehr viel weniger gesellschaftlich relevante Funktionen aus als der ostelbische Grund- und Militäradel. Ein «deutscher» Entwicklungspfad war in Frankreich folglich so wenig gangbar wie ein «französischer» in den deutschen Staaten und schon gar nicht im protestantischen Preußen. Es war nicht zufällig ein preußischer Minister, Carl August von Struensee, der 1799 einem Franzosen gegenüber bemerkte: «Die Revolution, die ihr von unten nach oben gemacht habt, wird sich in Preußen langsam von oben nach unten vollziehen … In wenigen Jahren wird es in Preußen keine privilegierte Klasse mehr geben.»7 Struensee übertrieb: Die Bauernbefreiung, die 1807 im Zuge der Stein-Hardenbergschen Reformen stattfand, bedeutete nicht das Ende der adligen Klassenherrschaft. Mit dem Stichwort von der «Revolution von oben» brachte er aber ein Leitthema der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts auf den Begriff. Sowie schon die Rechtsreformen der friderizianischen Zeit Ansätze einer Revolution von oben aufwiesen, so taten es die Stein-Hardenbergschen Reformen zu Beginn des frühen 19. Jahrhunderts mit ihren Kernstücken der kommunalen Selbstverwaltung, der Gewerbefreiheit und der Abschaffung der Leibeigenschaft.

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Einleitung

Die Bauernbefreiung setzte jene «industrielle Reservearmee» frei, ohne die die Industrielle Revolution nicht hätte stattfinden können, zu der es in Frankreich keine Entsprechung gibt. Dort mündete die Zerschlagung der feudalen Besitzstrukturen in die Entstehung des Parzellenbauerntums, das Karl Marx 1852 die «zahlreichste Klasse der französischen Gesellschaft» nannte und in der er zurecht ihr konservativstes Element erblickte.8 So paradox es klingt: Das revolutionäre Frankreich brachte eine Gesellschaft hervor, die in mancher Hinsicht konservativer war als die deutsche, die nach 1789 keine Revolution, sondern nur Reformen erlebt hatte. 1815, nach der endgültigen Niederlage Napoleons, trat der Deutsche Bund, eine vom Kaiserreich Österreich geführte Konföderation von 34 Fürstenstaaten und vier Freien Städten, an die Stelle des «Alten Reiches», des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, das sich 1806 unter dem Druck Napoleons aufgelöst hatte. Das vage und vieldeutige Verfassungsversprechen in Artikel 13 der Bundesakte von 1815 («In allen Bundesstaaten wird eine landständische Verfassung stattfinden»), wurde durch die Wiener Schlussakte von 1820 faktisch wieder zurückgenommen, so dass Österreich und Preußen bis 1848 keinen Anlass sahen, sich eine geschriebene Verfassung zu geben und Parlamente wählen zu lassen. Doch trotz aller staatlichen Repression, trotz Zensur, Bespitzelung und «Demagogenverfolgung» gelang es den Regierungen der Restaura­ tionszeit nach 1815 nicht, alles rückgängig zu machen, was es in Deutschland in der napoleonischen Zeit an gesellschaftlichem Fortschritt, etwa in Sachen Judenemanzipation, gegeben hatte. Im Vormärz, der Zeit zwischen 1830 und 1848, zeigte sich, wie stark der Drang nach Beseitigung des obrigkeitsstaatlichen Drucks nach wie vor oder inzwischen wieder war. Im Anschluss an die französische Julirevolution von 1830 kam es in einigen Staaten des Deutschen Bundes, darunter Hannover, Braunschweig und Kurhessen, zu revolutionären Erhebungen: Im Mai 1832 ­demonstrierten viele Zehntausende von Handwerkern, Kaufleuten, Winzern und Studenten aus allen Teilen Südwestdeutschlands vor der Ruine des Hambacher Schlosses für Freiheit und Einheit in Deutschland, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Verbrüderung aller europäischen Freiheitsbestrebungen und für Solidarität mit den unterdrückten Polen; im April 1833 unternahmen Burschenschafter und Handwerker den

Einleitung

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«Frankfurter Wachensturm», ein putschartiges Unternehmen, das sich gegen den Bundestag, das einzige Verfassungsorgan des Deutschen Bundes mit Sitz in Frankfurt, richtete und massive Reaktionen zur Folge hatte. Der Drang nach nationaler Einheit, der in Teilen der deutschen Gesellschaft, und besonders in der akademischen Jugend, in den antinapoleonischen Kriegen erwacht war, erfasste 1840 breite Schichten. Den Anstoß gab der französische Ruf nach der Wiederherstellung der «Rheingrenze», das heißt die Rückeroberung des gesamten linksrheinischen Deutschland, das 1797 bis 1814 einen Teil des französischen Staatsgebiets gebildet hatte. Dass die deutschen Fürsten, die die nationale Aufwallung zunächst massiv geschürt hatten, in der Folgezeit nichts zugunsten der Einigung Deutschlands taten, brachte viele Deutsche gegen sie auf. Der «Pauperismus», die vorindustrielle Massenarmut, und die Hungersnöte der 1840er Jahre erzeugten ein soziales Klima, in dem radikale Parolen auf fruchtbaren Boden fielen. Wie explosiv die Lage mancherorts war, zeigte sich im Juni 1844 in dem vom preußischen Militär blutig niedergeschlagenem Weberaufstand in Schlesien. In der zweiten Hälfte der 1840er Jahre wurde immer deutlicher, dass das Lager derer, die sich für die Freiheit und Einheit Deutschlands einsetzten, in sich gespalten war: Den Liberalen im engeren Sinn traten die Demokraten gegenüber. Besonders markant zeigte sich der Unterschied in Südwestdeutschland. Im September 1847 trafen sich, aufgerufen von den Mannheimer Rechtsanwälten Gustav Struve und Friedrich Hecker, die «Ganzen», die sich von den sehr viel gemäßigteren «Halben» abzu­ heben gedachten, in Offenburg. Zu den Forderungen des dort beschlossenen «Offenburger Programms» gehörten die klassischen Grundrechte mit der Pressefreiheit an der Spitze, die Wahl eines deutschen Parlaments auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts, eine volkstümliche Wehrverfassung in Gestalt einer Volksmiliz, eine progressive Einkommenssteuer und der Ausgleich des «Missverhältnisses» zwischen Arm und Reich. Von der Republik war aus taktischer Vorsicht vorerst nicht die Rede, was aber keinen Verzicht auf dieses Ziel bedeutete. Die Antwort der Gemäßigten, allesamt Abgeordnete der liberalen Kammeropposition aus Baden, Würtemberg und Hessen-Darmstadt, ­unter ihnen der spätere Präsident der Deutschen Nationalversammlung, Heinrich von Gagern, aus Hessen-Darmstadt, ließ nicht lange auf sich

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Einleitung

warten. Sie trafen sich im Oktober 1847, ironischerweise im «Gasthof zum halben Mond», in Heppenheim. In einem von ihnen beschlossenen «Protokoll» befürworteten sie den Ausbau des 1833 /34 von Preußen ins Leben gerufenen Deutschen Zollvereins, dem eine Vertretungskörperschaft, also eine Art von beratender Volksvertretung, zugeordnet werden sollte, und seine Erweiterung zwar nicht um das gesamte Habsburgerreich, aber doch um Österreich, soweit es zum Deutschen Bund gehörte. Das «Protokoll» plädierte weiter für eine gerechte Verteilung der öffent­ lichen Lasten zur Erleichterung des kleineren Mittelstandes und der ­Arbeiter. Fragen der Wehrverfassung und des Wahlrechts wurden nicht berührt. Die freiheitlichen und rechtsstaatlichen Forderungen deckten sich weitgehend mit denen des Heppenheimer Programms.9 Was den rechten vom linken Flügel des Liberalismus in der Haupt­ sache unterschied, waren zwei Dinge: Zum einen sollten Verfassungen nicht von den Parlamenten als Vertretungen des souveränen Volkes beschlossen, sondern zwischen ihnen und den (von den Landesherren eingesetzten) Regierungen vereinbart werden, um auf diese Weise zur Staatsform der konstitutionellen Monarchie zu gelangen. Zum anderen wollten die meisten Liberalen im engeren Sinn im Gegensatz zu den Demokraten Parlamente aus einem sozial abgestuften Zensuswahlrecht und nicht aus dem allgemeinen gleichen Wahlrecht hervorgehen lassen. Nicht nur in Südwestdeutschland, sondern auch in Preußen, ja überall im vorrevolu­ tionären Deutschland markierten diese Positionen die Trennlinie zwischen Demokraten und gemäßigten Liberalen. Doch auch innerhalb beider Richtungen gab es Differenzierungen: Nur wenige bekannte Demokraten waren Anhänger der von Hecker und Struve geforderten Deutschen Republik, und längst nicht alle Liberalen verteidigten konsequent ein Zensuswahlrecht. Die Revolution, die, ausgelöst durch die Pariser Februarrevolution, im März 1848 in Deutschland ausbrach und im Frühjahr 1849 endete, war vor allem eines: eine Erhebung für politische Teilhabe des Volkes, für gesicherte Freiheitsrechte und deutsche Einheit, also für das, worin Liberale und Demokraten sich einig waren. Eine auf die Volkssouveränität gegründete demokratische Republik blieb 1848 die Forderung einer Minderheit. Ihre Hauptziele, Freiheit und Einheit, hat die Revolution bekanntlich nicht erreicht: Die Gründe ihres Scheiterns untersucht das erste

Einleitung

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Kapitel dieses Buches. Im zweiten geht es um die Antwort, die Bismarcks Preußen zwei Jahrzehnte danach in den Einigungskriegen der 1860er und frühen 1870er Jahre auf das Scheitern der Revolution von 1848 /49 gab. Als Revolution von oben verstanden bereits Zeitgenossen unterschiedlichster Couleur die Ereignisse, die zur Reichsgründung 1871 führten. Das dritte Kapitel handelt von der deutschen Revolution von 1918 /19, die aus der militärischen Niederlage und dem Zusammenbruch des von Bismarck geschaffenen politischen Systems hervorging. Das neue demokratische Staatswesen wurde, wie man weiß, nicht alt. Die umstrittene Frage, ob das Folgeregime, die Diktatur des Nationalsozialismus, eine deutsche Revolution bildete, wird im vierten Kapitel erörtert. Um dieselbe Frage geht es, aus völlig anderen Gründen, auch im fünften Kapitel. Es befasst sich mit der friedlichen Revolution von 1989 / 90 in der DDR, in deren Gefolge die historische deutsche Frage in Gestalt der Wieder­ vereinigung Deutschlands gelöst wurde. Das sechste und letzte Kapitel ­widmet sich erst der Begriffsgeschichte von «Revolution», rückt dann die deutschen Revolutionen in einen vergleichenden Zusammenhang und fragt schließlich nach ihrem Ort im Geschichtsbewusstsein und der politischen Kultur des wiedervereinigten Deutschland. Das erste Kapitel ist die überarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrags, den ich im Wintersemester 1997 / 98 im Rahmen einer Ringvorlesung des Instituts für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin aus Anlass der 150. Wiederkehr der Revolution von 1848 /49 gehalten habe. Die ursprüngliche Fassung meines Beitrags ist in dem 1998 im Verlag Wallstein, Göttingen, erschienenen, von Wolfgang Hardtwig herausgegebenen Band «Revolution in Deutschland und Europa 1848 /49» abgedruckt.10 Alle anderen Kapitel wurden eigens für diesen Band geschrieben. Mein Buch will keinen ereignisgeschichtlichen Abriss bieten. Mein Ansatz ist vielmehr ein problemgeschichtlicher. Es geht mir um die großen Streitfragen der jeweiligen Zeit  – um Fragen, die zum Teil auch heute noch umstritten sind, weil sie auch für die Gegenwart Bedeutung haben. Der Disput wird weitergehen. Ich möchte mit meinem Band zur Klärung der Probleme beitragen, über die da gestritten wird. Ebendies ist die praktische Forschungsabsicht, die diesem Buch zugrunde liegt.

K AP I T E L 1

EIN H EIT U N D F R EIH EIT: DAS DILEMMA D ER REVOLU T ION VON 1848 /4 9

Das Dilemma der Revolution 1. Einheit und von 1848  Freiheit /49

Die Eröffnung der deutschen Nationalversammlung in der Paulskirche am 18. Mai 1848.

Im Jahre 1948, einhundert Jahre nach der deutschen Revolution von 1848 /49, veröffentlichte der Tübinger Historiker Rudolf Stadelmann eine Sammlung von Aufsätzen zum Thema «Deutschland und Westeuropa». Im ersten Aufsatz «Deutschland und die westeuropäischen Revolutionen» trug Stadelmann, Autor einer ebenfalls 1948 erschienenen, noch heute lesenswerten «Sozialen und politischen Geschichte der Revolution von 1848», eine These vor, die fortan in der Diskussion um den «deutschen Sonderweg», die historische Abweichung Deutschlands vom Westen, eine große Rolle spielte: Seit hundert Jahren werde das Volk der Deutschen «in seinem politischen Wollen fast unbesehen von den anderen Nationen in das Schubfach der Reaktion geschoben und ein Etikett darüber geklebt mit der Aufschrift: Das Volk ohne Revolution. Der Mangel an Befreundung mit der Praxis und den Ideen der westeuropäischen Revolutionen, der Mangel an Erfahrung und Erziehung auf dem Feld der radikalen Abkehr von der absolutistischen Vergangenheit der neueren Jahrhunderte ist der eigentliche Pariastempel, der unserer Geschichte aufgeprägt ist seit etwa drei Generationen. Die Verfemung des deutschen Namens hat in dem Ausbleiben einer normalen revolutionären Pubertätskrise der deutschen Entwicklung ihre erste und wahrscheinlich wichtigste Wurzel«.1 Man könnte, ja man muss Stadelmann entgegenhalten, dass die Revolution von 1848 nicht nur in Deutschland, sondern fast überall in Europa gescheitert ist und das negative Deutschlandbild in den liberalen Verfassungsstaaten des Westens sich nicht Mitte des 19. Jahrhunderts, sondern erst in der Wilhelminischen Ära und im Ersten Weltkrieg herausgebildet hat. Aber mir geht es zunächst nicht um eine Auseinandersetzung mit den anfechtbaren Seiten der Argumentation dieses Autors. Ich nehme seine These vom «Volk ohne Revolution» vielmehr zum Anlass, mich der Revolution von 1848 in drei Schritten zu nähern: Erstens frage ich nach der besonderen Herausforderung, vor die sich der gemäßigte Liberalismus damals gestellt sah. Zweitens erörtere ich die Positionen der demokratischen und sozialistischen Linken. Drittens frage ich nach den Lernprozessen, die durch die Revolution ausgelöst wurden, und damit nach ihren Wirkungen.

Das Dilemma der Revolution von 1848 /49

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I.

Eine «ungewollte Revolution» hat Wolfgang Schieder die Revolution von 1848 genannt. Was die gemäßigt liberalen Vertreter von Besitz und Bildung angeht, die in der Paulskirche die Mehrheit der Abgeordneten stellten, ist das eine zutreffende Formel. Es war geradezu das hervorstechende Merkmal des Liberalismus im engeren Sinn des Begriffs, dass er seine politischen und namentlich seine konstitutionellen Forderungen auf dem Weg der Verständigung mit den Fürsten und ihren Regierungen, also nicht revolutionär, durchsetzen wollte. Von einer Revolution wusste man nie, wo sie hinführen würde: Die große Französische Revolution von 1789 galt deutschen Liberalen gemeinhin nicht als das Beispiel einer geglückten, sondern einer entgleisten Revolution; jakobinische Terreur und ­napoleonische Herrschaft waren aus liberaler Sicht die historischen «argumenta e contrario» für den Weg der friedlichen Reform.2 Die Demokraten gingen deutlich weiter als die Liberalen. Sie wollten im Namen der Volkssouveränität eine Verfassung verabschieden, an die fortan die Fürsten und die Regierungen gebunden waren. Den radikalen Bruch mit der bisherigen Ordnung in Form einer deutschen Republik strebte Ende der 1840er Jahre nur eine kleine Minderheit an. Im Jahre 1847, am Vorabend der deutschen Revolution, fasste der aus Düsseldorf stammende, damals in Marburg lehrende Historiker Heinrich von Sybel in seiner Schrift «Die politischen Parteien der Rheinprovinz in ihrem Verhältniß zur preußischen Verfassung» das liberale Credo wie folgt zusammen: «Die Revolution ist es, die auf allen Seiten den ungebändigten Trieb auf Herrschaft erweckt, der ebenso das Grab der konstitutionellen Verfassung wie jeder wahren Freiheit genannt werden kann». Wenn sich die sozialistischen und kommunistischen Tendenzen, namentlich in der Jugend und bei den arbeitenden Klassen, weiter so ausbreiteten wie im letzten Jahrzehnt, würden sie Regierung und Bourgeoisie schlechthin jeden Einfluss auf den vierten Stand, das Proletariat, abschneiden. «Hier­ gegen gibt es nur ein Mittel, feste Anknüpfung des Bürgerstandes an die Staatsgewalt durch politische Berechtigung. Dadurch, und nur dadurch allein, kann er (der Bürgerstand, H. A. W.) wieder bis zu seinen letzten Teilen herab in den natürlichen Gegensatz gegen jene Tendenzen gerückt,

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1. Einheit und Freiheit

dadurch allein eine geistige Kraft erschaffen werden, welche die öffentliche Meinung in einer gesunden Betrachtung der gesellschaftlichen Zustände festzuhalten vermag.» Die Gefahr, die er von Sozialismus und Kommunismus ausgehen sah, war nicht der einzige Grund, weshalb Sybel größten Wert auf die Feststellung legte, der Standpunkt der Liberalen sei «toto coelo (durch einen ganzen Himmel, H. A. W.) von demokratischer Begeisterung oder kosmopolitischer Spekulation entfernt» und habe «keine Ader mit dem ­Radikalismus gemein». Die Erörterung des «Ultramontanismus», der reaktionären Bestrebungen des katholischen Klerus, führte den Autor zur gleichen Schlussfolgerung, dass der Liberalismus alles Heil nur von einer Verständigung zwischen Bürgerstand und Staatsgewalt erwarten konnte. Politische Berechtigung, wie Sybel sie verstand, zielte auf die gemeinsame Zurückdrängung der feudalen, klerikalen und radikalen Kräfte durch Staat und Liberalismus. Dem Staat musste, wenn man dem Autor folgte, an einer solchen Zusammenarbeit schon deshalb gelegen sein, weil die liberale Partei die einzige war, die Reichsstände für ganz Preußen in einer Form begehrte, «in der sie allein die Festigkeit und Einheit des Staates zu schirmen imstande sind».3 Ende Februar 1848 aber übersprang der revolutionäre Funke von Frankreich aus erneut, wie schon zweimal zuvor, 1789 und 1830, den Rhein. Vom 13. bis zum 15. März tobte in Wien ein Aufstand, der dem Regime des Staatskanzlers Fürst Metternich nach fast vier Jahrzehnten ein jähes Ende bereitete. Am 18. und 19. März fanden in Berlin blutige Barrikaden- und Straßenkämpfe statt, die König Friedrich Wilhelm IV. schließlich dazu brachten, sich dem Willen der Aufständischen zu fügen, sich vor den ­Gefallenen zu verbeugen und seine Truppen von den wichtigsten Straßen und Plätzen der Hauptstadt abzuziehen. Zuvor bereits, am 6. März, hatte der König dem Vereinigten Landtag, einer 1847 erstmals einberufenen Versammlung aus Delegierten der preußischen Provinzialstände, das bisher vorenthaltene Recht der Periodizität, das heißt der regelmäßigen Einberufung, gewährt. Zwei Tage nach seiner Demutsbezeugung, am 21. März, unternahm Friedrich Wilhelm zusammen mit den Prinzen des königlichen Hauses, einigen Generälen und den Ministern der neuen, am 19. März ernannten Regierung einen feierlichen Umritt durch Berlin, wobei er selbst und

Das Dilemma der Revolution von 1848 /49

21

seine Begleiter schwarz-rot-goldene Armbinden trugen, was als ein Bekenntnis zu den Farben der deutschen Freiheits- und Einheitsbewegung wirken sollte. In einer Ansprache vor den Studenten der Berliner Universität bekannte sich der Monarch anschließend zur Einigung Deutschlands und zu seiner persönlichen Aufgabe, diese Einheit an der Spitze der deutschen Fürsten zu verwirklichen. Am Abend erließ Friedrich Wilhelm seinen «Aufruf an mein Volk». Er gipfelte in einer Ankündigung, die die Konservativen empörte und vielen Liberalen zu weit ging: «Preußen geht fortan in Deutschland auf.»4 Gemäßigte Liberale wie Sybel sahen sich durch den Ausbruch der Revolution nicht genötigt, ihre Zielsetzungen zu ändern. Sie versuchten vielmehr, sie unter den neuen Bedingungen durchzusetzen. In vielen deutschen Staaten traten sie in die jetzt eilig berufenen «Märzregierungen» ein. Ein damals sehr viel bekannterer Repräsentant des rheinischen Liberalismus als Sybel, der Bankier Ludolf Camphausen, wurde am 29. März von Friedrich Wilhelm IV. zum preußischen Ministerpräsidenten ernannt; der rheinische Kaufmann und Bankier David Hansemann, auch er ein prominenter Liberaler, übernahm das Amt des Finanzministers; in HessenDarmstadt wurde Heinrich von Gagern Mitglied des neuen Kabinetts, in Württemberg Friedrich Römer. In seiner Schrift von 1847 hatte sich Sybel nur mit einem der beiden großen Ziele der liberalen Bewegung befasst: dem der innerstaatlichen Freiheit – einem Postulat, das, auf Preußen angewandt, Verfassung und gesamtstaatliches Parlament bedeutete. Das andere Ziel war die nationale Einigung. Für den Liberalismus jener Zeit galt nicht mehr die Devise des Badeners Carl von Rotteck von 1832, er wolle «lieber Freiheit ohne Einheit als Einheit ohne Freiheit». Seit Beginn der vierziger Jahre war die Einheit Deutschlands vielmehr zu einer Forderung aufgestiegen, die den gleichen Rang für sich beanspruchte wie das Verlangen nach verfassungsmäßiger Freiheit. Die Rheinkrise von 1840 hatte zu diesem Wandel ebenso beigetragen wie die fortschreitende Industrialisierung in den Staaten des 1834 gegründeten Deutschen Zollvereins. Gründe der äußeren Sicherheit wie das wirtschaftliche Zusammenwachsen sprachen weiterhin für die Schaffung eines deutschen Nationalstaats. Beide Ziele, Freiheit und Einheit, standen daher auch von Anfang an auf der Tagesordnung der deutschen Revolution von 1848.5

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1. Einheit und Freiheit

Im Zusammentreffen der Forderungen nach Einheit und Freiheit lag die größte Schwierigkeit, vor die sich die deutschen «Revolutionäre wider Willen» 1848 gestellt sahen. Die französischen Revolutionäre von 1789, 1830 und 1848 hatten es einfacher: Sie fanden den Nationalstaat schon vor, den sie mehr oder weniger grundlegend verändern wollten. Die deutschen Liberalen hingegen mussten jenes Deutschland erst noch schaffen, das sie sich nur als freiheitlichen Staat vorstellen konnten. Damit war eine Vielzahl von Folgeproblemen verbunden: obenan die Fragen, wo die Grenzen eines deutschen Nationalstaates liegen sollten; ob auch Nichtdeutsche wie Polen, Dänen, Tschechen, Slowenen und Italiener  – Untertanen von Herrschern, deren Territorium ganz oder teilweise zum Deutschen Bund gehörte – Bürger eines deutschen Nationalstaats werden sollten; wie das Verhältnis dieses Staates zu den Teilen Österreichs zu gestalten war, die am deutschen Einigungswerk nicht teilnehmen wollten oder konnten.6 Im Mai 1848 wurde entsprechend den Beschlüssen des Vorparlaments, einer von den Landtagen der Einzelstaaten des Deutschen Bundes beschickten Delegiertenversammlung, auf der Grundlage eines freien, an­ nähernd allgemeinen und gleichen Wahlrechts für Männer die Deutsche konstituierende Nationalversammlung gewählt; am 18. Mai trat sie in der Frankfurter Paulskirche zu ihrer konstituierenden Sitzung zusammen. Zu diesem Zeitpunkt hatte bereits ein außenpolitischer Konflikt begonnen, der wenige Monate später zu einem schweren Zusammenstoß zwischen der Paulskirche und der von ihr eingesetzten provisorischen Zentral­ gewalt, dem Reichsministerium, auf der einen, der deutschen und europäischen Großmacht Preußen auf der anderen Seite führen sollte. Dänemark hatte sich Schleswig einverleibt, das, anders als Holstein, zwar nicht zum Deutschen Bund gehörte, aber mit Holstein auf Grund alter Verträge fest verbunden war. Am 3. Mai 1848 überschritten Bundestruppen unter dem Oberbefehl eines preußischen Generals die Grenze zum eigentlichen Dänemark, was sogleich Russland und England, zwei Signatarmächte der Schlussakte des Wiener Kongresses von 1815, auf den Plan rief. Unter dem Druck von London und St. Petersburg unterzeichnete Preußen, ohne sich an die vom Reichsministerium in Frankfurt aufgestellten Bedingungen zu halten, in Malmö einen Waffenstillstand mit Dänemark, der den Rückzug der dänischen wie der Bundestruppen aus Schleswig und Holstein vorsah.

Das Dilemma der Revolution von 1848 /49

23

In Deutschland erhob sich ein Sturm nationaler Entrüstung. Als das Reichsministerium, bar aller Mittel, Preußen zur Fortsetzung des Krieges zu bringen, sich in das Unvermeidbare schickte und seine Bereitschaft zu erkennen gab, den Vertrag ungeachtet aller Proteste anzunehmen, rebellierte die Nationalversammlung. Nach einer mehrtägigen leidenschaftlichen Debatte sprach sich eine knappe Mehrheit von 238 zu 221 Stimmen für den Antrag des Historikers Friedrich Christoph Dahlmann aus, die Maßnahmen zur Ausführung des Waffenstillstandes einzustellen, also den Bundeskrieg gegen Dänemark fortzusetzen. Daraufhin trat noch am gleichen Tag das Reichsministerium unter dem Fürsten Karl von Leiningen zurück. Die angemessene parlamentarische Krisenlösung wäre nun die Bildung einer Nachfolgeregierung gewesen, die sich auf die Mehrheit gegen den Waffenstillstand stützte. Doch die negative, von der Linken mitgetragene Mehrheit in eine positive, gouvernementale Mehrheit zu verwandeln, ­erwies sich als unmöglich. Am 16. September beschloss die Nationalversammlung mit 257 zu 236 Stimmen, den Vollzug des Waffenstillstands nicht weiter zu behindern. Die Niederlage der Paulskirche war selbstverschuldet. Da von vorn­ herein feststand, dass Preußen den Vertrag von Malmö nicht widerrufen würde, war der Beschluss vom 5. September wenig mehr als ein Versuch, dem Parlament ein Alibi vor der deutschen Öffentlichkeit zu verschaffen. Hätten die deutschen Regierungen mit Preußen an der Spitze getan, was die deutsche Nationalversammlung forderte, wäre daraus ein europäischer Krieg erwachsen. Hätte die Nationalversammlung sich nicht selbst korrigiert, wären die deutschen Regierungen gezwungen gewesen, mit ihr zu brechen. Die Selbstberichtigung aber forderte einen hohen Preis. Die Empörung der Radikalen entlud sich im Frankfurter Aufstand, in dessen Verlauf zwei konservative Abgeordnete der Paulskirche ermordet wurden, im zweiten badischen Aufstand, der nach vier Tagen niedergeworfen wurde, und in einem eintägigen revolutionären Zwischenspiel mit Barrikadenbau und roten Fahnen in Köln, der Wirkungsstätte von Marx und Engels. Die Auflehnung der außerparlamentarischen Linken führte zur Isolierung der parlamentarischen Linken und zu einem Ruck nach rechts in der deutschen Nationalversammlung wie in der deutschen Gesellschaft

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1. Einheit und Freiheit

und schließlich zum Sieg der konterrevolutionären Kräfte in Österreich und Preußen. Die Septemberkrise warf eine verallgemeinerbare Lehre ab: Das Streben nach nationaler Einheit verwies den deutschen Liberalismus auf die Machtmittel des historischen Preußen. Dieser Staat war im Frühjahr 1848 so wenig zusammengebrochen wie die andere deutsche Großmacht, ­Österreich. Weder die preußischen noch die außerpreußischen deutschen Liberalen wollten einen Zusammenbruch des preußischen Soldatenstaates, weil Deutschland ohne ihn außenpolitisch nicht handlungsfähig war. Für die deutsche Nationalversammlung hatte es nie eine «Stunde Null» gegeben, in der sie die Chance gehabt hätte, das militärische Potential Preußens durch eine deutsche Revolutionsarmee zu ersetzen. Im September 1848 schlug die Stunde der Wahrheit: Die Nationalversammlung musste die deutschen und europäischen Machtverhältnisse anerkennen. Die Alternative wäre ein europäischer Krieg gewesen, aus dem, nach menschlichem Ermessen, nur die Ordnungsmächte oder, sehr viel weniger wahrscheinlich, die radikale Linke als Sieger hätten hervorgehen können, nicht aber der deutsche Liberalismus.7 Zu einer anderen Einsicht verhalf das Habsburgerreich der Nationalversammlung. Am 12. Januar 1849 sprach Reichsfinanzminister Hermann von Beckerath, Mitglied des rechtsliberalen «Casinos», aus, was für viele noch ein undenkbarer Gedanke war: «Das Warten auf Österreich ist das Sterben der deutschen Einheit.» Tags darauf bezeichnete sein Fraktionsfreund Wilhelm Hartwig Beseler aus Schleswig-Holstein die vom österreichischen Ministerpräsidenten Fürst Schwarzenberg angestrebte mitteleuropäische Lösung, einen Zusammenschluss des nichtösterreichischen Teiles des Deutschen Bundes und der habsburgischen Gesamtmonarchie, als ein «Reich der Mitte, welches Europa beherrscht mit 70 Millionen», ja als ein «politisches Ungetüm»: «Dieses Reich der Mitte nehmen wir nicht an, das würde Europa nicht zugeben, und das würde Deutschland nicht befriedigen.»8 Die «Kleindeutschen» Beseler und Beckerath hatten die Logik der Machtverhältnisse auf ihrer Seite. In gewisser Weise lässt sich dasselbe von den «Großösterreichern» sagen, die einem großdeutschen Nationalstaat eine Absage erteilten, weil er das Ende der Habsburgermonarchie bedeutet hätte. Die «Großdeutschen« dagegen, die immer noch an einen Natio­

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nalstaat unter Einschluss des deutschen Österreich glaubten, strebten nicht Geringeres an als die Quadratur des Kreises. Ein Teil der Großdeutschen beharrte aus demokratischer Überzeugung auf der Integrität des deutschen Volkes, die nicht irgendwelchen dynastischen Interessen geopfert werden durfte. Ein anderer Teil des großdeutschen »Lagers«, der katholische und konservative, lehnte den Ausschluss Österreichs ab, weil er die kulturelle Hegemonie des Protestantismus und die politische Hegemonie Preußens zur Folge gehabt hätte. Aber wie immer das Ziel «Großdeutschland» begründet wurde: Mit Österreich, wie es aus der Gegenrevolution vom Herbst 1848 hervorgegangen war, ließ es sich nicht erreichen, und gegen dieses Österreich nach Lage der Dinge auch nicht. Die Konterrevolution hatte im Dezember 1848 zwar auch in Preußen gesiegt: Die Auflösung der preußischen Nationalversammlung und der Erlass einer oktroyierten Verfassung durch Friedrich Wilhelm IV. bedeuteten die Abkehr des Königs von seiner zeitweiligen Anpassung an die revolutionären Kräfte. Doch der preußischen Nationalversammlung trauerten in der deutschen Nationalversammlung nur wenige Liberale nach: Das Berliner Parlament hatte weit links von der Paulskirche gestanden und diese mehr als einmal durch scharfe Kritik herausgefordert, ja ihre Legitimation, für Deutschland zu sprechen, grundsätzlich in Frage gestellt. Dazu kam, dass die oktroyierte Verfassung inhaltlich durchaus ­liberal war. Die meisten gemäßigten Liberalen in der deutschen Nationalversammlung dürften die Meinung des rheinischen Unternehmers Gustav von Mevissen, eines Abgeordneten der rechtsliberalen Fraktion «Casino», geteilt haben, der in einem Brief vom 8. Dezember 1848 mit Blick auf den Staatsstreich Friedrich Wilhelms IV. von einem «kühnen Griff des Königs» sprach und den Augenblick für gekommen hielt, «wo alle Männer von politischem Einfluß und von politischem Mut sich auf den neu­ geschaffenen Rechtsboden stellen und die hereindräuende Anarchie bekämpfen müssen«. Nichts anderes meinte Mevissens Fraktionsfreund Dahlmann, als er am 15. Dezember im Plenum der Paulskirche vom «Recht der rettenden Tat» sprach und damit die Forderung begründete, das künftige deutsche Staatsoberhaupt müsse ein absolutes (und nicht nur suspensives, also lediglich aufschiebendes) Vetorecht gegen Parlamentsbeschlüsse haben.9

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Österreich tat im Frühjahr 1849 alles, um der kleindeutschen Partei zu einer Mehrheit zu verhelfen. Am 9. März  – wenige Tage, nachdem der junge Kaiser Franz Joseph eine neue (niemals effektiv in Kraft getretene und Ende 1851 formal aufgehobene) Gesamtstaatsverfassung oktroyiert und den österreichischen Reichstag aufgelöst hatte – forderte Schwarzenberg die Aufnahme der Habsburgermonarchie als Ganzer in den neu zu schaffenden deutschen Staatenverband. Die Antwort der deutschen Natio­ nalversammlung war die Wahl Friedrich Wilhelms IV. zum Erbkaiser eines kleindeutschen Nationalstaates am 28. März 1849. Die Mehrheit kam dadurch zustande, dass die gemäßigten Liberalen den Demokraten in zwei bis dahin umstrittenen verfassungspolitischen Fragen weit ent­ gegengekommen waren: Dem künftigen Staatsoberhaupt sollte kein abso­ lutes, sondern nur ein suspensives Veto gegen Parlamentsbeschlüsse zu­ stehen und das Volkshaus, die zweite Kammer des Reichstags, aus Wahlen nach dem allgemeinen gleichen Wahlrecht für Männer hervorgehen. Dass der König von Preußen die Wahl zum Deutschen Kaiser am 28. April 1849 definitiv ablehnte, markiert die endgültige Niederlage des Paulskirchenliberalismus. Die am 28. März verabschiedete (und, entsprechend den Beschlüssen des Vorparlaments, eben damit in Kraft getretene) Reichsverfassung blieb, obwohl sie von den meisten Regierungen angenommen wurde, ein Stück Papier. Die «Reichsverfassungskampagne» vom Mai und Frühsommer 1849, ausgelöst und getragen vor allem von Demokraten, die die Reichsverfassung zuvor abgelehnt hatten, wurde ­unter maßgeblicher Mitwirkung preußischer Truppen bis Juli blutig niedergeschlagen. Am Ergebnis der politischen Entscheidungen vom März und April 1849 vermochte sie nichts mehr zu ändern. Eine Widerlegung der kleindeutschen Lösung aber war die Entscheidung Friedrich Wilhelms nicht. Eine großdeutsche Lösung hätte das ­europäische Gleichgewicht noch sehr viel stärker erschüttert als ein ­preußisch geführter kleindeutscher Nationalstaat. Da ein großdeutscher Nationalstaat ohne Auflösung des Habsburgerreiches nicht zu verwirk­ lichen war, hätte diese Lösung große Teile Ostmittel- und Südosteuropas revolutioniert, eine russische Intervention großen Stils provoziert und ­einen europäischen Krieg ausgelöst. Die großdeutsche Lösung scheiterte aber schon daran, dass die Habsburgermonarchie zur Selbstaufgabe weder bereit war noch gezwungen werden konnte.

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Im Frühjahr 1849 war die europäische Gegenrevolution so erstarkt, dass Preußen nicht mehr mit der Paulskirche paktieren konnte, ohne die Gefahr eines Krieges mit den beiden östlichen Großmächten, Russland und Österreich, herauszufordern. Vor dem Sieg der österreichischen Gegenrevolution im Oktober 1848 wäre diese Gefahr geringer gewesen, aber damals war die Paulskirche noch mehrheitlich großdeutsch gesinnt ge­ wesen. Eine andere Frage ist, ob das Nein des preußischen Königs den Versuch der Liberalen widerlegt, ihre Ziele auf dem Weg der Verständigung mit den alten Gewalten zu erreichen. Um diese Frage zu beantworten, ist es notwendig, die Alternativen zur liberalen Politik zu prüfen, die 1848 /49 propagiert wurden. Damit wende ich mich dem zweiten Teil meiner Überlegungen, den Positionen der Linken, zu.10

II.

Das krasse Gegenteil von liberaler Verständigungspolitik wäre die frühzeitige Ausrufung der deutschen Republik gewesen – das Ziel, das die Führer der badischen Radikalen, Friedrich Hecker und Gustav von Struve, verfolgten, als sie am 12. April 1848 vom Bodensee aus eine Volkserhebung in ganz Deutschland zu entfesseln versuchten. Der erste badische Aufstand war die Antwort darauf, dass das Vorparlament in Frankfurt weder Hecker noch Struve in den Fünfzigerausschuss gewählt hatte, der bis zur Wahl der deutschen Nationalversammlung mit dem personell erneuerten Bundestag zusammenwirken sollte. Der äußerste linke Flügel der badischen Revolutionäre sah fortan die Gegenrevolution auf dem Vormarsch und die gemäßigten Liberalen in der Rolle von Verrätern. Dem Fünfzigerausschuss in Frankfurt stellte sich umgekehrt Heckers Putsch als Anschlag auf die Wahlen zur Nationalversammlung dar, die auf den Mai angesetzt waren. Auch überzeugte Demokraten wie Robert Blum waren dieser, durchaus begründeten Meinung. Der Aufstand war bald nieder­ geschlagen, aber die Wirkung war fatal für die gesamte Linke: Die Idee der deutschen Republik hatte Schaden genommen; im Bürgertum wuchs die Neigung, die Verständigung mit den Fürsten noch mehr als bisher zur Richtschnur der Politik zu machen und einen scharfen Trennungsstrich zu Vertretern radikaler Positionen zu ziehen.11

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Weder in der deutschen Nationalversammlung zu Frankfurt noch in der preußischen Nationalversammlung zu Berlin hatten Radikale nach der Art von Hecker und Struve einen Rückhalt – von Radikalen im Sinne der wenigen Kommunisten um Marx und Engels ganz zu schweigen. Die meisten Demokraten, ob sie am Fernziel der deutschen Republik fest­ hielten oder eine volkstümliche, auf das Prinzip der Volkssouveränität sich gründende Monarchie zu akzeptieren bereit waren, gingen wie die gemäßigten Liberalen davon aus, dass die neuen «Märzregierungen» sich in den Dienst von Einheit und Freiheit stellen würden. Der Konflikt mit Kopenhagen erzeugte massiven Zeitdruck: Wer Schleswig nicht Dänemark überlassen wollte, war auf preußisches Militär angewiesen. Das Ziel der Einheit verlangte Entscheidungen, die dem Ziel der Freiheit unter Umständen abträglich sein konnten. In der schleswig-holsteinischen ­Angelegenheit fielen die wichtigsten Entscheidungen bereits vor dem Zusammentritt der beiden Nationalversammlungen. Die Septemberkrise machte deutlich, dass die Linke vor einem europäischen Krieg um Schleswig-Holstein nicht zurückscheute, aber keinerlei Mittel besaß, die Rechte, vertreten durch den preußischen König und die preußische Regierung, zu zwingen, eine linke Politik zu betreiben. Diese Erfahrung wirkte auf die gemäßigten Liberalen ernüchternd, nicht jedoch auf die Linke innerhalb und außerhalb der Parlamente. Als Ende Oktober 1848 die Konterrevolution in Wien siegte, forderte Benedikt Waldeck, der Wortführer der preußischen Demokraten (und von Haus aus ein katholischer Westfale) in der Berliner Nationalversammlung Preußen im Namen Deutschlands und der Freiheit zur militärischen Intervention auf. Es war derselbe Waldeck, der einige Monate zuvor am gleichen Ort gegen die Wahl eines der deutschen Nationalversammlung nicht verantwortlichen Reichsverwesers, des österreichischen Erzherzogs Johann, protestiert hatte, weil er in diesem den künftigen habsburgischen Erbkaiser witterte. «Wir wollen das Schwert, das wir so lange siegreich für Deutschland geführt haben, gern in den Schoß der Nationalversammlung niederlegen, gern dem Zentraloberhaupt Deutschlands übergeben», erklärte Waldeck am 11. Juli. «Aber einem Reichsverweser, der für seinen Kopf den Krieg erklären könnte, dem wollen wir das Schwert Friedrichs des Großen nicht anvertrauen.»12 Der Krieg, den die Linke für gerecht hielt, war ein Volkskrieg. In der

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Debatte der Paulskirche vom 12. März 1849, in der es um das preußische Erbkaisertum ging, warnten mehrere Redner, darunter der konservative Abgeordnete Joseph Maria von Radowitz, ein Friedrich Wilhelm IV. freundschaftlich verbundener preußischer General und bekennender Katholik ungarischer Abstammung, und der fraktionslose Protestant Moritz von Mohl aus Stuttgart, ein gemäßigter Demokrat und überzeugter Föderalist, vor der Gefahr eines Bürgerkrieges, sollte es zum Bruch mit Österreich kommen. Die entschiedene Linke aber schien die Aussicht auf Krieg und Bürgerkrieg nicht zu schrecken. Der Zoologe Karl Vogt, Mitglied der Fraktion «Deutsches Haus» und Fürsprecher einer Föderation des ganzen deutschen Reiches mit dem ganzen Österreich, hielt in einer von der Linken stürmisch bejubelten Rede den Zeitpunkt für gekommen, zusammen mit Polen und Ungarn den Entscheidungskampf zwischen West und Ost auszufechten. «Meine Herren, der heilige Krieg der Kultur des Westens gegen die Barbarei des Ostens, den dürfen Sie nicht herabwürdigen und vergiften durch ein Duell zwischen dem Hause Habsburg und dem Hause Hohenzollern [ …] Nein, meine Herren, Sie müssen entschlossen sein, diesen Krieg sein zu lassen, was er sein soll, ein Kampf der Völker.»13 Vogt war ein bürgerlicher Demokrat. Die Väter des «Wissenschaft­ lichen Sozialismus» gingen in der Militanz ihrer Forderungen noch weit über das hinaus, was die parlamentarische Linke verlangte. Die Tatsache, dass Schwarzenberg sich bei seiner gegenrevolutionären Politik auf einen großen Teil der slawischen Nationalitäten, namentlich der Tschechen, Kroaten und Slowenen, stützen konnte, veranlasste Friedrich Engels, zur Vernichtung dieser Völker aufzurufen. Im Januar 1849 sprach Engels in der «Neuen Rheinischen Zeitung» mit Blick auf die Südslawen von «Natiönchen», von «Völkerruinen» und «Völkerabfällen», die die Konterrevolution verträten, und drohte: «Der nächste Weltkrieg wird nicht nur reaktionäre Klassen und Dynastien, er wird auch ganze reaktionäre Völker vom Erdboden verschwinden machen.» Einen Monat später sagte der gleiche Autor dem «revolutionsverräterischen Slawentum» einen «Vernichtungskampf und rücksichtslosen Terrorismus – nicht im Interesse Deutschlands, sondern im Interesse der Revolution» an. Das Stichwort «Weltkrieg» hatte Engels von Karl Marx übernommen. Marx war in seinem Neujahrsartikel für die «Neue Rheinische Zeitung» zu dem Schluss gelangt, die Revolution werde nur siegen, wenn sie die

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Gestalt eines europäischen, ja eines Weltkrieges annehme – eines Krieges, der mit dem Sturz der französischen Bourgeoisie beginnen und dann sowohl das kapitalistische England als auch Russland, die Vormacht der östlichen «Barbarei», ergreifen müsse: «Revolutionäre Erhebung der fran­ zösischen Arbeiterklasse, Weltkrieg – das ist die Inhaltsanzeige des Jahres 1849.»14 Zu der Zeit, in der diese Artikel erschienen, hatte die Gegenrevo­ lution in Wien, Berlin und Paris bereits gesiegt. Der Weltkrieg, den Marx entfesseln wollte, sollte den weiteren Vormarsch der Konterrevolution aufhalten und ihre bisherigen Erfolge dadurch auslöschen, dass er in die proletarische Weltrevolution umschlug. Die Linke von Karl Marx bis Karl Vogt sah im russischen Zarenreich mit Recht den Todfeind der europäischen Revolution, und insofern war es konsequent, wenn sie einen erfolgreichen Krieg gegen die östliche «Barbarei» zur Bedingung des Sieges der Revolution erklärte. Waldeck verfolgte, als er Preußen zum Kampf gegen die Wiener Konterrevolution aufrief, nur scheinbar bescheidenere Ziele: Die Ausweitung des deutschen Krieges zu einem europäischen Krieg wäre sicher gewesen, hätte die preußische Regierung ihre Politik an dem ausgerichtet, was die Linke in beiden Nationalversammlungen, der Berliner wie der Frankfurter, verlangte. Die Linke hatte recht mit ihrer Behauptung, dass die Kräfte des alten Regimes dank der Verständigungsbereitschaft der gemäßigten Liberalen von den Erschütterungen des März 1848 sich rasch wieder hatten erholen können. Aber eine Lösung des Problems, wie Deutschland zur selben Zeit frei und ein Staat werden sollte, hatten die Demokraten und Sozialisten nicht anzubieten. Der linke Ruf nach dem ganz Europa erfassenden ­Befreiungskrieg der Völker war ein Ausdruck deutschen intellektuellen Wunschdenkens, bar jeder Rücksicht auf die tatsächlichen Kräfteverhältnisse in den einzelnen Gesellschaften wie zwischen den Staaten und folglich blind für die menschlichen Kosten der eigenen Desperadopolitik. Wäre der Krieg ausgebrochen, den die äußerste Linke forderte, hätte die Gegenrevolution wohl in viel größerem Umfang und auf viel blutigere Weise gesiegt, als es zwischen dem Herbst 1848 und dem Spätjahr 1850 geschah. Entsprechend radikal wäre die politische Niederlage der freiheitlichen Kräfte gewesen. Die «Revolutionäre wider Willen» waren in dieser Hinsicht realis-

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tischer. Dass sie sich zunehmend den Konservativen annäherten, ist auch vor dem Hintergrund der linken Alternative zu sehen: Die Utopie vom großen Krieg zur Befreiung der Völker, die militante Seite des Traumes vom «Völkerfrühling», verhalf der liberalen Verständigungspolitik zu einem erheblichen Maß an politischer Plausibilität. Denn wenn die konsequenten Revolutionäre Gelegenheit erhalten hätten, ihr Programm in die Tat umzusetzen, wäre das Ergebnis vermutlich eine europäische Katastrophe gewesen. Der «Realismus» der Gemäßigten überschritt freilich mehr als einmal die Grenze zur vorauseilenden Großmachtarroganz. Die vormärzlichen Bekenntnisse zur Freiheit und Unabhängigkeit Polens lösten sich, anders als bei der prinzipientreuen Linken, bei den Liberalen im engeren Sinn in Nichts auf, als es im Sommer 1848 um die Frage ging, wo die künftige deutsche Ostgrenze verlaufen sollte. Die Mehrheit der Paulskirche ­votierte dafür, möglichst große Teile des preußischen Großherzogtums Posen weit über die deutsche Sprachgrenze hinaus einem künftigen deutschen Nationalstaat zuzuschlagen. Von «gesundem Volksegoismus» sprach in diesem Zusammenhang am 24. Juli der Abgeordnete Wilhelm Jordan, der sich zunächst der linken Fraktion «Deutscher Hof» angeschlossen hatte und im September 1848 zusammen mit anderen Abgeordneten die gemäßigt-liberale Fraktion «Landsberg» gründete.15 «Welschtirol» mit Trient und der strategisch wichtige Mittelmeer­ hafen Trient, die bisher zum Gebiet des Deutschen Bundes gehört hatten, sollten, solange die Nationalversammlung noch die großdeutsche Lösung erstrebte, nach dem Willen der Mehrheit auch weiterhin deutsches Staatsgebiet sein, desgleichen, ungeachtet der tschechischen Bevölkerungsmehrheit, Böhmen und Mähren. Dem künftigen Deutschen Reich war, auch wenn es zunächst nur ein kleindeutscher Nationalstaat sein sollte, die historische Mission zugedacht, zusammen mit Österreich über Mittel- und Südosteuropa zu herrschen: So sahen es Heinrich von Gagern, der erste Präsident der Nationalversammlung und letzte Reichsministerpräsident, und ein Großteil seiner politischen Freunde. Mit dem Scheitern der Paulskirchenverfassung musste die Verwirklichung auch dieses Projekts erst einmal vertagt werden.

1. Einheit und Freiheit

32 III.

Im dritten und letzten Teil meiner Überlegungen wende ich mich den Wirkungen der deutschen Revolution von 1848 zu, darunter den Lehren, die unterschiedliche politische Lager aus dem «tollen Jahr«» zogen. Die Annäherung zwischen liberalen und konservativen Kräften, von der ich eben gesprochen habe, verlief durchaus nicht nur in einer Richtung – im Sinne einer Anpassung der Liberalen an die Konservativen. Preußen war, und zwar anders als Österreich nicht nur nominell, seit Ende 1848 ein Verfassungsstaat. Damit war der Hohenzollernstaat dem Liberalismus ein beträchtliches Stück entgegengekommen. Hatte man Preußen vor 1848 nur in wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht ein vergleichsweise fortschrittliches deutsches Land nennen können, so verringerte die oktro­ yierte Verfassung vom Dezember 1848 den politischen Abstand zwischen Preußen und den süddeutschen Staaten. Vom preußischen Absolutismus hatte vieles, zumal im Militärwesen, die Revolution überdauert; ein absolutistischer Staat aber war das nachrevolutionäre Preußen definitiv nicht mehr. Die Konstitutionalisierung Preußens ist einer der Gründe, weshalb das gängige Urteil, die Revolution von 1848 sei rundum gescheitert, zu kurz greift. Gescheitert ist die Revolution, gemessen an ihrem Doppelziel: der Freiheit und Einheit Deutschlands. Weder wurde Deutschland ein freiheitlicher Nationalstaat, noch konnte sich der Liberalismus in den Einzelstaaten behaupten. Doch seit 1848 war sehr viel klarer als zuvor, was «Deutschland» politisch und geographisch bedeutete – wen jene «Germania» mit dem schwarz-rot-goldenen Banner in der Linken, mit dem Schwert und einem frei nachempfundenen Ölzweig in der rechten Hand wirklich verkörperte, vor deren überlebensgroßen Bild die Abgeordneten in der Paulskirche fast ein Jahr lang getagt hatten. Die «Kleindeutschen», vor 1848 eine kleine Minderheit, hatten kräftig an Boden gewonnen. Die Erfahrungen von 1848 waren notwendig, um im gemäßigten Liberalismus ein einigermaßen realistisches Bild von den Grenzen eines deutschen Nationalstaats durchzusetzen. Die Revolution tat viel, um den Zusammenhalt der Kräfte zu fördern, die sich vom Ziel eines freiheitlichen und einigen Deutschland nicht ab-

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bringen ließen. Liberale und Demokraten aus allen Teilen Deutschlands waren in eine engere Beziehung zueinander getreten, als sie zuvor bestanden hatte. Und auch inhaltlich war man sich nähergekommen: Seit der gemeinsamen Arbeit an der Reichsverfassung und zumal an ihrem Grundrechtsteil gab es gesamtdeutsche Maßstäbe für das, was es in den Einzelstaaten wie in einem künftigen deutschen Nationalstaat zu erreichen galt, um die Sache des Fortschritts zum Sieg zu führen. Gescheitert war die Revolution vor allem an einer politischen Überforderung des Liberalismus: Es erwies sich als unmöglich, Einheit und Freiheit zur gleichen Zeit zu verwirklichen. In den alten Nationalstaaten des Westens, in Frankreich und England zumal, war die nationale Vereinheit­ lichung über Jahrhunderte hinweg das Werk von Königen und Ständeversammlungen gewesen. Wer mehr Freiheit wollte, fand den staatlichen Rahmen schon vor, in dem die Veränderungen erfolgen sollten. In Deutschland musste der staatliche Rahmen für das Vorhaben der Liberalen und Demokraten erst noch hergestellt werden. Die Liberalen im engeren Sinn waren sich durchaus bewusst, dass sie, während sie am staatlichen Rahmen des neuen Deutschland arbeiteten, die Machtmittel der größeren deutschen Staaten mit Preußen an der Spitze benötigten, um das Werk der nationalen Einigung nach außen, gegen andere Mächte abzusichern. Schon deswegen (und nicht nur, weil sie die soziale Revolution fürchteten) verbot sich aus ihrer Sicht eine Politik der Konfrontation mit den alten Gewalten – eine Politik, wie die Linke sie befürwortete und betrieb. Der liberale Lernprozess ließ sich in einem Wort bündeln, das, weit über Deutschland hinaus, populär wurde, seit es 1853 im Titel eines Buches des liberalen Publizisten August Ludwig von Rochau aufgetaucht war: «Grundsätze der Realpolitik. Angewendet auf die staatlichen Zustände Deutschlands». Realpolitik im Sinne Rochaus hieß vor allem, eine Einsicht zu beherzigen: «Herrschen heißt Macht üben, und Macht üben kann nur der, welcher Macht besitzt.» Für Deutschland kam infolgedessen alles darauf an, die Interessen der deutschen Staaten und namentlich der beiden Großmächte ebenso klar zu erkennen wie die Interessen der deutschen Nation. Preußen und Österreich zugleich für den Dienst der Nation zu gewinnen, sei unmöglich. Es sei nämlich geradezu ein «Lebensinteresse für jeden der beiden Großstaaten [ …], dass der andere verhindert werde, mit der Nation gemeinschaftliche Sache zu machen».

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Da die Endzwecke Österreichs und jene der deutschen Nation nach Meinung des Autors unvereinbar waren, kam nur Preußen als deutsche Führungsmacht in Frage. Falls Preußen sich jedoch damit begnügen sollte, nur bis an die österreichischen Grenzen vorzurücken, werde der Ehrgeiz der Nation die Kabinettspolitik zwingen, «den Wettstreit mit Österreich auf ein schließliches Entweder – Oder zu stellen». «Kleindeutschland» war für den Realpolitiker Rochau also nur eine Durchgangsstation nach «Großdeutschland». Damit sprach er nicht für alle «Kleindeutschen», aber doch für jene, denen es schwerfiel, Abschied von der Vorstellung eines deutschen Volkes zu nehmen, dem auch die deutschsprachi­ gen Österreicher angehörten. Die Lösung der deutschen Frage als außenpolitischer Machtfrage hatte für Rochau absoluten Vorrang vor der freiheitlichen Entwicklung im Innern. Den innenpolitischen Fortschritt konnte er sich einstweilen nur im Rahmen jenes Konstitutionalismus vorstellen, von dem er doch gleichzeitig schrieb, dass er lediglich «auf höherer Duldung» beruhe – ­einer Duldung, «die jeden Augenblick aufhören oder wenigstens an andere Bedingungen geknüpft werden kann». Als «Turnplatz, als politische Schule für Deutschland» aber war er unentbehrlich. «Nach jedem Sieg, den die historische Souveränität dem Konstitutionalismus abgewinnt, setzt sie denselben wenigstens in einen Teil seiner Rechte wieder ein und bereitet sich dadurch neue Kämpfe.»16 Radikal andere Schlussfolgerungen als Rochau zog Marx aus den Revolutionen von 1848, aber in einem stimmte der Londoner Emigrant mit dem liberalen Publizisten überein: in der Erkenntnis, dass in der Geschichte alles vom Besitz oder Nichtbesitz der Macht abhing. Für Marx bestand die wichtigste Lektion des Revolutionsjahres darin, dass das Proletariat die einmal eroberte Macht nur festhalten konnte, indem es die Klassengegner systematisch unterdrückte. Er gab seine eigene Auffassung wieder, wenn er die Position des «revolutionären Sozialismus» oder «Kommunismus» wie folgt umriss: «Der Sozialismus ist die Permanenzerklärung der Revolution, die Klassendiktatur des Proletariats als notwendiger Durchgangspunkt zur Abschaffung der Klassenunterschiede überhaupt.» Zwei Jahre später rechnete Marx die Einsicht, «daß Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt», sogar zum Kernbereich seiner Theorie. Die Erfahrung des Scheiterns «seiner» Revolution führte

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bei Marx also nicht zu einer Revision, sondern zu einer Radikalisierung seiner Revolutionstheorie, und mehr denn je orientierte er sich am vermeintlichen Modell der modernen Urrevolution: der Französischen Revolution von 1789 und namentlich ihrer terroristischen Phase, der Jako­ binerherrschaft.17 Ein dritter Lernprozess war der konservative. Im Jahre 1850 erschien die dreibändige «Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich» des Rechtshegelianers Lorenz von Stein. Aus der Zuspitzung der Klassengegensätze im westlichen Nachbarland und ihrer Folge, der Errichtung der Herrschaft Louis Napoleons, folgerte der Autor, dass es nur eine Möglichkeit gab, eine solche Entwicklung in Deutschland und anderen Ländern aufzuhalten. Die Monarchie musste sich als «natürlicher Schutzherr und Helfer» der «niederen, bisher gesellschaftlich und staatlich unterworfenen Klasse» begreifen und sich in ein «Königtum der sozialen Reform» verwandeln. Der wichtigste Adressat dieser Empfehlung hieß Preußen. In einem 1852 veröffentlichten Aufsatz verfocht Stein die Ansicht, Preußen bestehe aus «zusammengebrachten, von keiner gleichartigen Gesellschaftsordnung durchdrungenen Staatsmassen»; daher sei für den Hohenzollernstaat nicht die Volksvertretung, sondern die Regierung das zusammenhaltende und ordnende Element; Preußen fehle mithin die «Verfassungsfähigkeit». Erst durch eine deutsche Volksvertretung ließ sich Stein zufolge die Unzu­ länglichkeit der preußischen Verfassung ausgleichen. Fasste man beide Gedankenreihen, die aus der französischen und die aus der preußischen Geschichte abgeleitete, zusammen, so ergab sich daraus ein ehrgeiziges Programm: Der preußische Staat musste sich nach innen durch soziale Reformen zugunsten der arbeitenden Klasse, nach außen durch die nationale Einigung der Deutschen von Grund auf neu legitimieren.18 Zum Exekutor dieses Programms wurde Bismarck. Er machte die ­Sozialreformen der 1880er Jahre zum Teil jener «Revolution von oben», mit der er seit seiner Ernennung zum preußischen Ministerpräsidenten im September 1862 auf die gescheiterte Revolution von 1848 antwortete. Mit der Reichsgründung von 1871 erfüllte er die eine Forderung von 1848, die nach nationaler Einheit, die andere, die nach innerstaatlicher Freiheit, jedoch nur sehr unvollkommen. Bismarck gewährte den Deutschen zwar das allgemeine gleiche Wahlrecht für Männer auf Reichsebene, eine

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parlamentarisch verantwortliche Regierung aber erhielt das von ihm gegründete Kaiserreich erst im Zeichen seiner Niederlage im Ersten Weltkrieg im Herbst 1918. Die Folgen dieser ungleichzeitigen Demokrati­ sierung erwiesen sich als fatal. Sie trugen wesentlich zum Scheitern der ersten deutschen Demokratie, der Republik von Weimar, bei.19 In seinem eingangs zitierten, 1946, ein Jahr nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft, verfassten und zwei Jahre später veröffentlichten Aufsatz hat Rudolf Stadelmann das Ausbleiben einer erfolgreichen Revolution in Deutschland mit dem Erbe des Aufgeklärten Absolutismus erklärt, den er als eine Art deutscher Sonderepoche begriff. «Paradox gesprochen: nicht die deutsche Reaktion, sondern der deutsche Fortschritt hat Deutschland gegenüber dem Westen zurück­ geworfen. Nur die Idee der Revolution von oben und die Praxis des aufgeklärten Verwaltungsstaates, nur das Vorbild von Herrschern, die als Freunde des Volkes und gerade des niederen Volkes einen Ruf besaßen weit über die Grenzen ihres Staates hinaus, war stark genug, den Wettbewerb mit der Erklärung der Menschenrechte aufzunehmen. Das Ideal der Revolution von oben hat dem Deutschen das Gefühl vermittelt, dass er keinen fremden Import brauche, um sein Haus in Ordnung zu halten. Und es waren nicht die Fürsten selbst und ihre Beamten, sondern das aufgeklärte literarische Bürgertum, welches dieses Ideal pflegte.»20 Das «Scheitern der 48er Bewegung» hat Stadelmann für verhängnisvoll für die Entwicklung der Deutschen genannt und dieses Urteil mit einer Metapher zu begründen versucht: «Das Gift einer unausgetragenen verschleppten Krise kreist von 1850 ab im Körper des deutschen Volkes. Es war die typische Krankheit des ‹Landes ohne Revolution›.»21 Der Ausgang der Revolution von 1848 /49 hat die Wirkungen gehabt, die Stadelmann beschreibt: Es ist einer der Gründe für die Schwäche der freiheitlichen Traditionen im Deutschland des 20. Jahrhunderts oder, um denselben Sachverhalt anders auszudrücken, für die obrigkeitliche Ver­ formung großer Teile des deutschen Bürgertums oder, noch schärfer, die Brechung des liberalen Selbstbewusstseins. Und doch greift Stadelmanns Verdikt zu kurz. Denn wenn wir ernst nehmen, was die wirklichen (und nicht nur widerwilligen) Revolutionäre von 1848 wollten, müssen wir uns ihrem Bellizismus stellen. Zum revolutionären Projekt der Linken gehörte, wie wir gesehen haben, der europäische Befreiungskrieg gegen das

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reaktionäre Russland – ein Krieg, von dem Arnold Ruge, ein Mitglied der Fraktion «Donnersberg», in der Polendebatte der Paulskirche am 22. Juli 1848 behauptete, er wäre «der letzte Krieg, der Krieg gegen die Barbarei, welche der Krieg ist».22 Wollen wir die gemäßigten Liberalen dafür tadeln, dass sie, bei allen ausufernden Visionen von künftiger deutscher Hegemonie, vor dieser Konsequenz zurückschreckten? Aus dem Rückblick von 175 Jahren haben wir die Chance, differenzierter zu urteilen, als manche Historiker es 1948, hundert Jahre nach der Revolution, taten. Damals stand die «deutsche Katastrophe», wie Friedrich Meinecke die Zeit des Nationalsozialismus genannt hat, ganz im Vordergrund der Betrachtung. Die zwölf Jahre von 1933 bis 1945 bleiben das zentrale Ereignis der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert. Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen wirkt diese Zeit bis heute nach als das große «argumentum e contrario» für die westliche Demokratie, die viele Deutsche so lange verachten zu können meinten. Eben daraus ergibt sich ein paradoxer Effekt, der 1948 noch nicht erkennbar war: Der Erinnerung an das «Dritte Reich», die extremste Form der deutschen Auflehnung gegen die Demokratie, kommt im Gesamtzusammenhang der deutschen Geschichte eine ähnliche Bedeutung zu wie bei anderen Nationen die Erinnerung an eine erfolgreiche Revolution. Es ist eine Erinnerung, die die Demokratie festigt.23 Die Verfasser der Säkularbetrachtungen von 1948 konnten nur auf eine deutsche Demokratie, die gescheiterte Republik von Weimar, zurückblicken. Wir kennen mittlerweile auch die vielzitierte Erfolgsgeschichte der zweiten deutschen Demokratie, die bis 1990 freilich nur eine westdeutsche Demokratie war. Dass sie heute eine gesamtdeutsche Demokratie ist, hat seine Ursache nicht nur im Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums. Zum Ende der zweiten deutschen Diktatur trugen auch jene Zehntausende bei, die der Partei- und Staatsführung der DDR im Herbst 1989 das selbstbewusste Wort entgegenriefen: «Wir sind das Volk!» Über den Begriff «Revolution», angewandt auf die deutschen Ereignisse von 1989 / 90, mag noch gestritten werden. Aber das Ergebnis des Umbruchs ist die Verwirklichung dessen, was die Träger der Revolution von 1848 erstrebten: Einheit in Freiheit.24

K AP I T E L 2

REVOLU TION VON OBEN: DI E REI CHSGR Ü N D U N G U N D IH R E FOLGE N

Die Reichsgründung 2. Revolution und ihre vonFolgen oben

In der Schlacht bei Königgrätz am 3. Juli 1866 besiegen die preußischen Armeen das österreichische Heer. Farbdruck nach einem Aquarell von Carl Röchling.

I.

Die Revolution von 1848 /49 war nicht nur eine deutsche, sie war in den Worten von Reinhart Koselleck auch die erste und letzte «große euro­ päische Revolution».1 Sie erfasste nicht alle Länder des alten Kontinents, aber doch die meisten Länder seines Okzidents, des «lateinischen Europa», und am Rande auch das orthodoxe Rumänien, das sich schon aus sprachlichen Gründen Frankreich besonders verbunden fühlte. An ihre selbstgestellten Ziele gelangte keine dieser Revolutionen, sieht man von der Schweiz ab, die ihre Revolution in Gestalt des Sonderbundskriegs von 1847 erlebte, in dem die liberalen Kantone über die klerikalen siegten. Die Bürgerkriege und Revolutionen, die nach Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa noch ausbrachen, blieben, so abermals Koselleck, auf einzelne Staaten beschränkt; sie waren «sekundäre Folgen vorausgegangener Staatenkriege»2 – verlorener oder verloren gehender Staatenkriege, wie man präzisieren sollte. Das gilt für die Pariser Kommune von 1871 wie für die Revolutionen, die in der Endphase des Ersten Weltkriegs oder kurz danach ausbrachen. Die Revolution von 1848 /49 war, auch wenn sie nirgendwo zum Erfolg führte, überaus folgenreich. Die Probleme, um die es damals ging, harrten weiter einer Lösung – gleichviel, ob es sich um so­ ziale, konstitutionelle oder nationale Fragen handelte. Ein Lösungsversuch war ein neuer Typ von Revolution: die Revolution von oben, ins Werk gesetzt von den Inhabern der Macht. Friedrich Engels hat, als er 1895 die Einleitung zu einer Neuausgabe der 1850 entstandenen Schrift «Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850» von Karl Marx schrieb, die Ära der historischen, in Straßen- und Barrikadenkämpfen ausgefochtenen Revolutionen, die von Minderheiten ausgingen, für beendet erklärt. Dank der ökonomischen Entwicklung im Zuge der Industriellen Revolution sei die Kampfesweise von 1848 inzwischen in jeder Beziehung veraltet. «Die Periode der Revolutionen von ­unten war einstweilen abgeschlossen. Es folgte eine Periode der Revolu­ tionen von oben … Die Totengräber der Revolution von 1848 waren ihre

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Testamentsvollstrecker geworden. Und neben ihnen erhob sich drohend der Erbe von 1848, das Proletariat, in der Internationale.»3 Zu den Totengräbern und Testamentsvollstreckern von 1848 rechnete Engels wie vor ihm Marx den französischen Präsidenten Louis Napoleon, den späteren Kaiser Napoleon III., und den preußischen Ministerpräsidenten und späteren Reichskanzler Otto von Bismarck. Das Regime, das Louis Napoleon nach seiner Wahl zum Präsidenten der Französischen Republik im Dezember 1848 errichtete, beschrieb Marx 1852 als Resultat eines relativen Klassengleichgewichts, entstanden in einer Situation, in der die Bourgeoisie nicht mehr und das Proletariat noch nicht zur politischen Herrschaft fähig gewesen sei. Louis Napoleon verkörperte für Marx geradezu die «verselbständigte Macht der Exekutivgewalt».4 Eine solche Verselbständigung der Exekutivgewalt beobachteten Marx und Engels aber nicht nur in Frankreich, sondern auch in anderen europäischen Ländern, weshalb sie den «Bonapartismus» zu einem eigenständigen Regimetyp erhoben. Zu seinen Wesensmerkmalen gehörten der häufige plebiszitäre «appel au peuple», die ständige Bereitschaft zum Staatsstreich und zu prestigeträchtigen militärischen Unternehmungen sowie die Abstützung der Macht auf das Militär, das zum zentralen Herrschaftsträger avancierte. Mitte April 1866 erklärte Engels den Bonapartismus zum kontinentaleuropäischen Regelfall und zur «wahren Religion der Bourgeoisie». Es werde ihm immer klarer, schrieb er aus Manchester an Karl Marx in London, «dass die Bourgeoisie nicht das Zeug hat, selbst direkt zu herrschen, und dass daher, wo nicht eine Oligarchie wie hier in England es übernehmen kann, Staat und Gesellschaft gegen gute Bezahlung im Interesse der Bourgeoisie zu leiten, eine bonapartistische Halbdiktatur die normale Form ist; die großen materiellen Interessen der Bourgeoisie führt sie durch selbst gegen die Bourgeoisie, lässt ihr aber keinen Teil an der Herrschaft selbst. Andererseits ist diese Diktatur selbst wieder gezwungen, diese materiellen Interessen der Bourgeoisie widerwillig zu adoptieren.»5 Unmittelbarer Anlass zu Engels’ Folgerungen war ein Vorschlag, den der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck am 9. April 1866 dem Bundestag in Frankfurt am Main, dem einzigen Organ des 1815 g­ eschaffenen Deutschen Bundes, unterbreitete: Er sollte ein aus allgemeinen gleichen direkten Wahlen hervorgegangenes deutsches Parlament,

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also eine Volksvertretung nach Art der Deutschen Nationalversammlung von 1848 /49, berufen. Der preußische Antrag auf Bundesreform, der damit vorlag, war eine Kampfansage an Österreich, die Präsidialmacht des Deutschen Bundes, und machte jenen «deutschen Krieg» zwischen Preußen und Österreich und ihren jeweiligen deutschen Verbündeten faktisch unausweichlich, der am 16. Juni begann und am 3. Juli 1866 durch den preußischen Sieg in der Schlacht von Königgrätz entschieden wurde. Ob Bismarck als «Bonapartist» und das politische System Preußens oder Deutschlands unter seiner Ägide als «bonapartistisches Regime» eingestuft werden kann, ist höchst zweifelhaft. Bismarck war und blieb viel zu sehr preußischer Junker, um je ein militärischer Abenteurer nach Art Louis Napoleons zu werden, und die von ihm regierten Staaten  – das Königreich Preußen seit 1862, der Norddeutsche Bund von 1867 bis 1871 und danach das deutsche Kaiserreich  – waren viel zu konservative Gebilde, als dass diese Begriffe überzeugen könnten. Richtig aber ist, dass Bismarck aus der Entwicklung Frankreichs seit 1848 gelernt hat. Der Rückgriff auf das allgemeine, gleiche Männerwahlrecht, wie es die Paulskirche 1849 beschlossen hatte, war, von Bismarck eingesetzt, ein bonapartistisches Herrschaftsmittel. Berührungen gab es auch im Hinblick auf das sozialpolitische Engagement des Staates. Aber hier konnte Bismarck auch an die preußische Tradition eines «Königtums der sozialen Reform» anknüpfen, wie der konservative Staats- und Sozialwissenschaftler Lorenz von Stein es seit Beginn der 1850er Jahre befürwortet hatte.6 Auch bei den drei Kriegen, die Bismarck führte  – dem deutsch-­ dänischen Krieg von 1864, dem preußisch-österreichischen Krieg von 1866 und dem deutsch-französischen Krieg von 1870 / 71 –, stand er in der preußischen Staatstradition: Die später so genannten «Einigungskriege» waren Kriege zur Sicherung der preußischen Hegemonie in Deutschland, nicht der deutschen Hegemonie in Europa. Wie weit auch immer der Kaiser der Franzosen als Bismarcks Lehrer zu betrachten ist, im preußischen Ministerpräsidenten und Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes fand er schließlich seinen Meister. Im dritten der «Einigungskriege» konnten sich die Deutschen auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker berufen, das Napoleon III. immer wieder beschworen hatte, den Deutschen aber nicht zuzugestehen bereit war. Seiner Niederlage in der Schlacht von Sedan am 2. September 1870

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folgten seine Gefangennahme durch die Preußen und die Ausrufung der Republik in Paris. Die Folge der Niederlage der Französischen Republik war die Gründung des Deutschen Reiches in Gestalt der Proklamation des preußischen Königs Wilhelm I. zum Deutschen Kaiser im Spiegelsaal des Königsschlosses von Versailles am 18. Januar 1871. Der preußische Ministerpräsident hatte persönlich keinerlei Probleme damit, sich zu einem revolutionären Vorgehen zu bekennen. «Revolu­ tionen machen in Preußen nur die Könige», will Bismarck Napoleon III. entgegnet haben, als der Kaiser der Franzosen ihn angesichts des preußischen Heeres- und Verfassungskonflikts der 1860er Jahre vor einer neuen Revolution warnte.7 Im Nachhinein lässt sich seine Entscheidung für die Durchsetzung der von König Wilhelm I. angestrebten Heeresreform gegen den Willen der Parlamentsmehrheit und damit unter Bruch der Verfassung im September 1862 ebenso als «revolutionär» charakterisieren wie der erste der drei Kriege, die später als «Einigungskriege» bezeichnet wurden, der Krieg des Deutschen Bundes gegen Dänemark im Jahr 1864, den die völkerrechtswidrige Einverleibung des Herzogtums Schleswig durch das Königreich Dänemark provoziert hatte. Doch von einem festen Plan, der dann zur Reichsgründung von 1871 führte, kann bei Bismarck 1864 noch keine Rede sein. Seit 1866 war das anders. Der «deutsche Krieg» wurde quer durch alle politischen Lager als revolutionär wahrgenommen. Am 1. Dezember sprach der einstige achtundvierziger Demokrat und nunmehrige nationalliberale Abgeordnete Hans Viktor von Unruh im preußischen Ab­ geordnetenhaus von einer revolutionären Außenpolitik Bismarcks. «Ich finde in der äußeren Politik des Herrn Ministerpräsidenten im Gegensatz zu der inneren Politik dieselbe Staatsidee, dieselbe Tendenz wie in der Politik Friedrichs des Großen, die Tendenz, einen selbständigen, kräftigen, widerstandsfähigen Staat innerhalb Preußens zu schaffen.» Die friderizianische Politik sei aber nicht konservativ, sondern entschieden revolutionär gewesen; sie habe sich nicht auf das historische Recht, sondern auf das damalige historische Bedürfnis berufen. In diesem Sinne sei auch die Politik des Grafen Bismarck «nicht konservativ, sondern, wenn Sie wollen, revolutionär».8 Knapp drei Wochen später, am 20. Dezember 1866, begrüßte Unruhs Parteifreund Karl Twesten, ebenfalls im preußischen Abgeordnetenhaus,

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die Annexion der Herzogtümer Schleswig und Holstein durch Preußen, das er als «revolutionäres Vorgehen» würdigte. Es verstoße zwar gegen altes positives Recht, aber «die geschichtlichen Umwälzungen erfolgen (nun) einmal nicht in den Wegen des Rechts; das Vernünftige vollzieht sich nicht durch die Vernunft … Preußen vertritt das siegende Ganze, dem die einzelnen Teile sich fügen müssen».9 Die Anspielung auf Hegels «List der Vernunft» war umso bemerkenswerter, als Twesten einige Jahre zuvor noch ein Verfechter der Lehre des philosophischen Positivismus im Sinne Auguste Comtes gewesen war. Aus dem liberalen Lager kam auch der damals in Heidelberg lehrende Jurist Johann Caspar Bluntschli, der Vorsitzende des Deutschen Protestantenvereins, ein gebürtiger Schweizer. Er sah schon Ende Juni 1866 im «deutschen Krieg nichts anderes als die deutsche Revolution in Kriegsform, geleitet von oben statt von unten».10 Sein Landsmann, der Histo­ riker Jacob Burckhardt, nannte den Krieg «die große deutsche Revolution von 1866» und eine «abgeschnittene Krisis ersten Ranges». Sie habe der nationalen Frage den Vorrang vor der konstitutionellen verschafft und die Krise nach Österreich hinein geschoben.11 Ganz anders war die Sichtweise eines österreichischen Konservativen, des Generalstabschefs Heinrich von Hess. In einem Brief an den preußischen Generalfeldmarschall Friedrich von Wrangel vom Herbst 1866 schrieb er: «Nun ist die Revolution von oben durch Euch in Mode ­gekommen. Wehe Euch doppelt, wenn sie Euch nach weggespültem Rechtsgefühl in der Flut der Zeiten einmal selbst ergreift. Dann seid Ihr verloren.»12 Altpreußische Konservative im Umfeld Ernst Ludwig von Gerlachs, eines einstigen Förderers Bismarcks, sahen das ähnlich. Bismarck selbst hielt ab 1866 den Einsatz revolutionärer Mittel in bestimmten Situationen für gerechtfertigt, ja für geboten. Am 11. August 1866 telegraphierte er an den General Edwin von Manteuffel: «Soll Revolution sein, wollen wir sie lieber machen als erleiden.»13 Die Instruktion an Manteuffel, der gerade vom König zum Sonderbotschafter beim ­Zarenhof ernannt worden war, diente dazu, Russland von Interventionen zugunsten der norddeutschen Dynastien abzuhalten, die sich im deutschen Krieg gegen Preußen gestellt hatten und deswegen abgesetzt werden sollten. Für den Fall eines russischen Eingreifens drohte Bismarck mit der Proklamation der Reichsverfassung von 1849 und damit einer Art

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von nationaler Revolution. Kurz zuvor, im Juni 1866, hätte der Ministerpräsident auch noch daran gedacht, die Ungarn gegen das Haus Habsburg aufzuwiegeln: eine Erwägung, die er wegen des raschen Erfolgs der preußischen Waffen nicht in die Tat umsetzen musste.14 Fast zwei Jahrzehnte später, am 18. November 1884, versuchte Friedrich Engels in einem Brief an August Bebel, den Vorsitzenden der deutschen Sozialdemokraten, die Ereignisse von 1866 historisch einzuordnen. Besonders würdigte er dabei die preußischen Annexionen im Norden und in der Mitte Deutschlands. «1866 war eine vollständige Revolution. Wie Preußen, nur durch Verrat und Krieg gegen das deutsche Reich, im Bunde mit dem Ausland (1740, 1756, 1795) zu etwas geworden, so hat es das deutsch-preußische Reich nur zustande gebracht durch gewaltsamen Umsturz des Deutschen Bundes und Bürgerkrieg  … Nach dem Sieg stürzte es drei Throne ‹von Gottes Gnaden› und annexierte die Gebiete nebst dem der exfreien Stadt Frankfurt. Wenn das nicht revolutionär war, so weiß ich nicht, was das Wort bedeutet.»15

II.

Die kleindeutsche Lösung der deutschen Frage, auf die nach der Niederlage Österreichs im deutschen Krieg und der Auflösung des Deutschen Bundes alles hinauslief, wurde in Deutschland teils bejubelt, teils als ­historisches Unglück beklagt. Zu denen, für die mit Königgrätz eine Welt zusammenbrach, gehörten mit an vorderster Front konservative Katholiken aus Süddeutschland. Einer von ihnen, der Redakteur der «Historisch-politischen Blätter für das Katholische Deutschland» und spätere Vorsitzende der bayerischen Patriotenpartei, Edmund Jörg, betrauerte das Ende der tausendjährigen, bis auf Karl den Großen zurückgehenden Reichsidee. «Die Reichs-Idee ist gefallen und begraben; und wird das deutsche Volk je wieder in einem Reich vereinigt werden, so wird es ein Reich sein, das nicht eine tausendjährige, sondern nur eine dreihundertjährige Geschichte hinter sich hat.»16 Vor 300 Jahren, zur Zeit des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm I., hatte der Aufstieg Brandenburg-Preußens zur deutschen und europäischen

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Großmacht begonnen – der Großmacht, der auch Jörg zugestand, dass sie jetzt die einzige sei, die sich noch «deutsch» nennen dürfe. Im überwiegend protestantischen Preußen bedauerten nur wenige den deutschen Krieg und seine Folgen – neben einigen konservativen Bismarck-Gegnern ein einzelner Demokrat, der linke Flügelmann der Deutschen Fortschrittspartei, der Königsberger Arzt Johann Jacoby. In der Adressdebatte des preußischen Abgeordnetenhauses erklärte er am 23. August 1866, Einheit ohne Freiheit sei Sklaveneinheit, und zog einen Vergleich zwischen Bismarck und Napoleon III. «Nur im Dienste des Rechts und der Freiheit darf die Fahne des Nationalitätsprinzips erhoben werden; in der Hand eines Louis Napoleon oder seinesgleichen dient sie zur Beirrung und zum Verderben der Völker.»17 Für den rechten Flügel des preußischen Liberalismus, aus dem 1866 / 67 die neue Nationalliberale Partei hervorging, war typisch, was in den Kommentaren seines führenden Blattes, der Berliner «National-Zeitung», stand. Am 25. Juli 1866, einen Tag vor der Unterzeichnung des Präliminarfriedens von Nikolsburg, eines Vorvertrags zum eigentlichen Friedensvertrag, feierte sie «das gänzliche Ausscheiden Österreichs aus Deutschland» als ein großes Ereignis. «Dies ist der Schritt, mit dem erst ganz und vollständig das Mittelalter, die Feudalität von unserer Nation überwunden und beseitigt wird. Indem wir uns vom Hause Habsburg trennen, welches die Ideen und die Ansprüche des römisch-deutschen Kaisertums nicht loswerden kann – durch diese Trennung werden wir eine selbständige Nation und stehen wir vor der Möglichkeit, einen deutschen Nationalstaat zu ­errichten. Wir können deutscher sein, als es unseren Vorfahren vergönnt war.»18 Noch deutlicher warf der Kulturkampf der 1870er Jahre seinen Schatten in einem Artikel voraus, den die «Protestantische Kirchenzeitung», ein dem liberalen Deutschen Protestantenverein nahestehendes Blatt, dem Sieg der preußischen Waffen widmete. In der Schlacht von Königgrätz hatte demnach «endlich der Dreißigjährige Krieg seinen Abschluss gefunden» und der Sieg Preußens den «Ultramontanismus (von ultra montes, das heißt jenseits der Berge, H. A. W.) im deutschen Lande ein für allemal gebrochen; denn nicht Österreichs Macht und Tendenzen allein sind aus Deutschland hinausgewiesen, sondern auch das Papsttum hat mit ihm seine letzte weltliche Stütze in Europa eingebüßt».19

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Das Ende des preußisch-österreichischen Dualismus war noch längst nicht das Ende aller deutschen Dualismen. 1866 / 67 wurde zwar Deutschland, soweit es nördlich des Mains lag, unter preußischer Führung im Norddeutschen Bund zusammengeschlossen. Die «Mainlinie» aber durfte Preußen nicht überschreiten, weil andernfalls Napoleon III., der sich 1866 mehr oder minder neutral verhalten hatte, interveniert hätte. Hinzu kam, dass Bismarck die antipreußischen Vorbehalte in Bayern und Würt­ temberg nicht unterschätzte und deshalb Zeit gewinnen wollte. Ihm genügten fürs erste die geheimen Schutz- und Trutzbündnisse, die er 1866 mit den süddeutschen Staaten abgeschlossen hatte. Wie stark die Ressentiments gegen den Hohenzollernstaat südlich des Mains waren, zeigten die Wahlen zum Deutschen Zollparlament, der neu geschaffenen Volksvertretung des 1834 gegründeten Deutschen Zollvereins, im Februar und März 1868, bei denen die preußenfeindlichen Kandidaten der bayerischen Patriotenpartei und in Württemberg die der großdeutsch gesinnten demo­ kratischen Volkspartei große Erfolge verbuchten. Auf einen raschen Abschluss der deutschen Einigung drangen vor allem die Nationalliberalen, die im Norddeutschen Reichstag, dem im Februar 1867 nach dem allgemeinen gleichen Wahlrecht für Männer gewählten Parlament des Norddeutschen Bundes, den Ton angaben und Bismarcks stärkste parlamentarische Stütze bildeten. Während des preußischen Verfassungskonflikts der Jahre 1862 bis 1866 hatten sie den rechten Flügel der Deutschen Fortschrittspartei gebildet, die in scharfer ­Opposition zum budgetlosen Regime des Ministerpräsidenten stand. Die Voraussetzungen einer parlamentarischen Zusammenarbeit schuf Bismarck durch seine nationale Politik wie durch die Indemnitätsvorlage vom 14. August 1866, in der er die Tatsache des budgetlosen Regierens anerkannte, ohne damit ein Schuldeingeständnis zu verbinden. Anders als die Mehrheit der Fortschrittspartei stimmten die Abgeordneten des rechten Flügels, der späteren Nationalliberalen, für die Vorlage und verhalfen ihr so zur Annahme. Die Nationalliberalen ordneten damit ihre verfassungspolitischen Ziele den nationalpolitischen unter und begründeten diese Prioritätssetzung mit der Erwartung, dass Fortschritte auf dem Weg zur Einheit Deutschlands vor allem im Interesse des liberalen Bürgertums lägen. Der einstige 48er Demokrat und jetzige Nationalliberale Ludwig Bamberger brachte

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dieses Kalkül anlässlich der Landtagswahlen im Großherzogtum HessenDarmstadt im Dezember 1866 in einem Aufruf an die Wähler Rheinhessens auf eine klassische Formel. «Ist denn die Einheit», so fragte er rhetorisch, «nicht selbst ein Stück Freiheit?»20 Zwei Jahre später, im September 1868, begann mit einer spanischen Revolution, die halb Volksaufstand, halb Militärputsch war, die unmittelbare Vorgeschichte des dritten der Einigungskriege, des deutsch-französischen Krieges, der Bismarck die erhoffte Gelegenheit bot, den deutschen Einigungsprozess entscheidend voranzutreiben. Der Flucht der spanischen Königin Isabella II., einer Bourbonin, nach Frankreich folgte Anfang 1870 eine Anfrage des Ministerpräsidenten, Marschall Prim, bei König Wilhelm I. von Preußen, ob dieser als Chef des Hauses Hohenzollern einer etwaigen Thronkandidatur des Prinzen Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen aus dem katholischen Zweig der Dynastie zustimmen würde. Bismarck erkannte sofort die Chance, die sich seinen nationalen Plänen bot, und förderte deshalb von Anfang an, wenn auch zunächst ohne Erfolg, das Madrider Vorhaben. Er hatte richtig kalkuliert: Am Ende lief Napoleon III., der eine Einkreisung Frankreichs durch Monarchen aus dem Haus Hohenzollern fürchtete, in die Falle, die der preußische Ministerpräsident ihm stellte. Es war der Kaiser der Franzosen, der am 19. Juli 1870 Preußen den Krieg erklärte – und nicht umgekehrt. Die französische Kriegserklärung bewirkte nördlich wie südlich der Mainlinie jene nationalpsychologische Mobilisierung der Massen, die Bismarck den nötigen plebiszitären Rückhalt für seine, eine preußische ­Lösung der deutschen Frage, verschaffte. Die Unterstützung der liberalen Einheitsbewegung um den Deutschen Nationalverein besaß er ohnehin, seit er im Herbst 1866 seinen informellen innenpolitischen Pakt mit den Nationalliberalen geschlossen hatte und zum Exekutor der umfassenden Reformgesetzgebung des Norddeutschen Reichstags geworden war, die von der Freizügigkeit und der Maß- und Gewichtseinheit über die Gewerbefreiheit bis zur Gleichberechtigung der Konfessionen, einschließlich der jüdischen, in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung reichte. Was die Liberalen nicht durchsetzen konnten, war die Verankerung der jährlichen Bewilligung des Militäretats in der Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867, die im Wesentlichen die des Deutschen Reiches von 1871 vorwegnahm. Es blieb zunächst bei einem auf vier Jahre

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befristeten, Ende 1871 auslaufenden Provisorium: der einmaligen, auf vier Jahre befristeten Festlegung der Friedenspräsenzstärke des Bundesheeres. 1871 folgte ein weiteres, Ende 1874 auslaufendes Provisorium. In Militärfragen stand dem preußischen König, der das Bundespräsidium innehatte, überdies ein Vetorecht zu; in Fragen der Kommandogewalt bedurfte er nicht einmal der ministeriellen Gegenzeichnung. Die «Verantwortlichkeit» des Bundeskanzlers (und später des Reichskanzlers) bestand darin, dass er seine Politik gegenüber dem Parlament zu rechtfertigen hatte. Es war keine strafrechtliche und auch keine parlamentarische Verantwortlichkeit in dem Sinne, dass er in seiner Amtsführung vom Vertrauen der Abgeordneten abhing. Das Letztere hatten die Nationalliberalen im Norddeutschen Reichstag auch gar nicht gefordert. Der Norddeutsche Bund war, wie nach 1871 das Deutsche Reich, eine konstitutionelle, aber keine parlamentarische Monarchie. Was es für Bismarck 1870 / 71 noch durchzusetzen galt, war die Zustimmung der süddeutschen Staaten zur Gründung des Deutschen Reiches. Er erreichte sie durch bedeutende Zugeständnisse an Württemberg und mehr noch an Bayern, die in den Novemberverträgen von 1870 niedergelegt wurden. Dazu gehörten eigene Post- und Eisenbahnverwaltungen für beide Königreiche, für Bayern darüber hinaus auch die Militärhoheit in Friedenszeiten. Obwohl weit mehr als die Hälfte der Deutschen in Preußen lebten, beanspruchte der größte deutsche Staat im Exekutivorgan des Reichs, dem Bundesrat, nicht die Mehrheit der Sitze. Zusammen verfügten die drei nichtpreußischen Königreiche  – Bayern, Sachsen und Württemberg – mit 14 von 58 Sitzen über ein fast so starkes Gewicht wie Preußen, dem 17 Sitze zufielen. 14 Sitze aber reichten aus, um Verfassungsänderungen zu verhindern (und nur im Bundesrat war für Verfassungsänderungen eine qualifizierte Mehrheit erforderlich). Aus Bismarcks Sicht war die hegemoniale Rolle, die Preußen im Reich zufiel, so offenkundig, dass es auf die Möglichkeit einer Majorisierung der anderen Staaten verzichten konnte. Die Frage, ob letztlich das Reich oder die Einzelstaaten souverän waren, ob das Reich also eher ein Bundesstaat oder ein Staatenbund war, war zwischen den Staatsrechtlern zunächst umstritten. Die Entscheidung zugunsten des Reiches und damit des Bundesstaates ergab sich aus der Verfassungspraxis der kommenden Jahrzehnte.

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Das Reich von 1871 trug manche Züge eines Fürstenbundes. Doch es war kein Fürstenbund der traditionellen Art. Durch den aus dem allgemeinen gleichen Männerwahlrecht hervorgegangenen Reichstag gehörte auch ein kräftiges Stück Demokratie zu den Merkmalen des Reichs. Auf der anderen Seite ragte durch die militärischen Sonderrechte des Königs von Preußen, der jetzt auch Deutscher Kaiser war, ein Stück Absolutismus in das Verfassungsrecht und die Verfassungswirklichkeit des Kaiserreichs hinein. Obrigkeitsstaat versus Demokratie: Die Reichsverfassung von 1871 band theoretisch Unvereinbares zusammen. Konflikte zwischen den Verfassungsorganen waren absehbar, ihr Ausgang zum Zeitpunkt der Reichsgründung offen. Mit den Begriffen «Kaiser und Reich» knüpfte die Verfassung von 1871 an die mittelalterliche Tradition des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation an, das sich 1806 unter dem Druck Napoleons aufgelöst hatte. Es war eine Begriffswahl, die sowohl von den liberalen Unitariern als auch von den meisten konservativen Föderalisten begrüßt wurde. Im Norddeutschen Reichstag stimmten im Dezember 1870 nur die sechs Sozialdemokraten und Lassalleaner, die Anhänger des 1864 an den Folgen eines Duells gestorbenen Gründers des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, Ferdinand Lassalle, gegen die auch in der breiteren Öffentlichkeit sehr populären Begriffe. Wilhelm I. hatte sich zunächst gegen den Kaisertitel gewehrt. Er wollte lieber bleiben, was er war: der König von Preußen von Gottes Gnaden. Dass Bismarck ihn umstimmen konnte, lag auch daran, dass die Situation im Januar 1871 eine ganz andere war als im April 1849, als Wilhelms Bruder Friedrich Wilhelm IV. die ihm von der Deutschen Nationalversammlung angetragene Kaiserwürde ablehnte, weil er sie als revolutionäres Symbol empfand. Den grundlegenden Unterschied zu damals brachte die konservative «Neue Preußische Zeitung» oder «Kreuz-Zeitung» am 2. Oktober 1870 auf eine treffende Formel: «Heute macht der ‹Kaiser› die ‹Verfassung›, nicht aber die Verfassung den Kaiser.»21 Integrierend wirkte 1871 auch die Annexion von Elsass-Lothringen, die auf Drängen des preußischen Generalstabs aus strategischen Gründen im Bereich um Metz über das deutschsprachige Gebiet noch hinausreichte. Niemand verteidigte die Missachtung des offenkundigen Mehrheitswillens der Elsässer und Lothringer, die bei Frankreich bleiben wollten, so

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vehement wie der Historiker und (seit März 1871) nationalliberale Reichstagsabgeordnete Heinrich von Treitschke. Deutschland wolle ihnen, so schrieb er 1870 in den «Preußischen Jahrbüchern», «wider ihren Willen ihr eigenes Selbst zurückgeben».22 In Süddeutschland fand die Angliederung der bisherigen französischen Provinzen schon aus Gründen der militärischen Sicherheit vor dem Nachbarn im Westen breite Unterstützung. Dazu kam bei den Katholiken die Überlegung, dass die überwiegend ­katholischen Elsässer und Lothringer die Gewichte zugunsten ihrer Konfession verschieben würden, die 1866 in die Minderheit geraten war. Widerspruch gegen die Annexion von Elsass-Lothringen meldete am 25. Mai 1871 im Reichstag nur der sozialdemokratische Abgeordnete August Bebel an. Das Deutsche Reich war der von den Nationalliberalen erstrebte Natio­ nalstaat, aber er war es nur mit Einschränkungen. Zum einen lebten viele Deutsche im kulturellen Sinn des Begriffs, obenan die Deutsch-Öster­ reicher, außerhalb des Reichsgebiets, weshalb sich die von dem Historiker Friedrich Meinecke in seinem 1907 veröffentlichten Buch «Weltbürgertum und Nationalstaat» eingeführte Unterscheidung zwischen der (kleindeutschen) «Staatsnation» und der (großdeutschen) «Kulturnation» rasch einbürgerte.23 Zum anderen umfasste das Kaiserreich eine große Zahl von Staatsangehörigen, die sich wie die Dänen in Nordschleswig, die Polen in den preußischen Ostprovinzen und, zumindest in den ersten Jahrzehnten des Reiches, die meisten Elsässer und Lothringer weder als Deutsche fühlten noch solche werden wollten. Nimmt man das ausgeprägte Sonder­ bewusstsein der meisten Einzelstaaten und die konfessionelle Spaltung hinzu, so spricht alles für die These, dass die Bildung der deutschen Staatsnation mit der Reichsgründung von 1871 nicht abgeschlossen war, sondern erst anfing.24

III.

Es waren nicht nur deutsche Zeitgenossen, die der Einigung Deutschlands durch Bismarck revolutionäre Züge attestierten. Dasselbe tat, wenn auch aus anderen Gründen, der Führer der konservativen Opposition im

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britischen Unterhaus, Benjamin Disraeli, am 9. Februar 1871 in einer Rede in den Commons. «Dieser Krieg bedeutet die deutsche Revolution, ein größeres politisches Ereignis als die Französische Revolution des vergangenen Jahrhunderts. Ich will nicht sagen, dass er ein größeres oder gleich größeres soziales Ereignis sei  … Was aber hat sich jetzt ereignet? Das Gleichgewicht der Macht ist völlig zerstört; und das Land, welches am meisten darunter leidet und welches die Wirkungen des großen Wechsels am meisten zu spüren bekommt, ist England.»25 Tatsächlich konnte sich Großbritannien mit der «halbhegemonialen Stellung des Bismarckreichs auf dem Festland», von der der deutsche ­Historiker Ludwig Dehio rückblickend 1951 sprach, rasch arrangieren.26 Dabei halfen den Briten nicht nur das Wachstum und der Ausbau ihres Weltreichs, des Empire, in den Jahrzehnten zwischen der deutschen Reichsgründung und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, sondern, wenn auch ungewollt, Frankreich. Denn dort, in Paris, vollzog sich Anfang 1871 in Form der «Kommune» eine, obschon kurzlebige, vollständige Umwälzung von Staat und Gesellschaft. Der Aufstand der Kommunarden schockierte in ganz Europa nicht nur die herrschenden Schichten, sondern große Teile der Gesellschaft. Die «deutsche Revolution» verlor darüber auch in Großbritannien rasch ihren Schrecken: Das Kaiserreich konnte sich als konservative Ordnungsmacht präsentieren. Einen Vergleich zwischen 1789 und 1871 zog damals nicht nur Disraeli. Dasselbe taten konservative evangelische Theologen und Publizisten in Deutschland. Für sie war freilich an die Stelle der Französischen Revolution von unten inzwischen die deutsche Gegenrevolution von oben getreten. Die «Evangelische Kirchenzeitung» etwa wertete Anfang 1871 die Niederlage Frankreichs als die endgültige Niederlage der Prinzipien der Französischen Revolution und als «Sieg der Untertanentreue über die ­Revolution, der göttlichen Ordnung über die Anarchie, der sittlichen Mächte über die Zuchtlosigkeit des Fleisches, des Regiments von oben über das souveräne Volkstum, des Christentums über das moderne Heidentum». In der geschichtstheologischen Überhöhung der jüngsten Ereignisse rückte die Reichsgründung auch ganz nahe an die Reformation heran. Die «Neue Evangelische Kirchenzeitung» sah am 7. Januar 1871 die «Epoche der deutschen Geschichte, die 1517 begann, … mit Krieg und Kriegs-

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geschrei zum Abschluss» kommen. Am 18. März 1871, auf den Tag genau 23 Jahre nach dem Beginn der Berliner Barrikadenkämpfe von 1848, feierte dasselbe Blatt Kaiser Wilhelm I. als den «Gründer des evangelischen Kaisertums deutscher Nation».27 Der spätere Dom- und Hofprediger Adolf Stoecker kommentierte die Kaiserkrönung in Versailles mit den Worten: «Das heilige Reich deutscher Nation vollendet sich.»28 Auch Bismarck selbst sprach in der Folgezeit mehrfach vom «evangelischen Kaisertum» – eine Formel, derer sich auch der nationalliberale Parteiführer Rudolf von Bennigsen bediente.29 Die protestantische Deutung der Reichsgründung floss mit ein in den Kampf um die politische Hegemonie im neuen Reich, der um dieselbe Zeit entbrannte. Seine entschiedensten Wortführer waren die Liberalen aller Schattierungen. Sie befanden sich in einem tiefen weltanschaulichen Gegensatz zur katholischen Kirche, die sich unter Pius IX., dem Papst der Jahre von 1846 bis 1878 und «Vater» des Unfehlbarkeitsdogmas von 1870, ihrerseits in einem existentiellen Abwehrkampf gegen den modernen ­Liberalismus sah. Der «große Kulturkampf», von dem der berühmte Arzt und Abgeordnete der Fortschrittspartei Rudolf Virchow am 17. Januar 1873 im preußischen Abgeordnetenhaus sprach, ein Kampf zwischen weltlicher Moderne und kirchlicher Tradition, wurde in den sechziger und sieb­ ziger Jahren und teilweise darüber hinaus in vielen Ländern Europas, auch in überwiegend katholischen Staaten wie Österreich-Ungarn, Frankreich und Italien, von beiden Seiten verbissen geführt, auf weltlicher Seite häufig auch mit höchst illiberalen Mitteln. In Deutschland bildeten Kampfmaßnahmen gegen renitente Geistliche, bis hin zur Ausbürgerung und Ausweisung aus dem Reichsgebiet, die kommissarische Verwaltung vakanter Bistümer durch den Staat und die Auflösung von Niederlassungen aller Orden in den Jahren 1873 / 74 den Höhepunkt der Ausein­ andersetzung. Von den deutschen Kulturkampfgesetzen überlebten nur wenige die Milderungsphase in den achtziger Jahren, und auf Dauer nur die staatliche Schulaufsicht und die Zivilehe. Für Bismarck kamen beim Kulturkampf mehrere Motive zusammen: zum einen der Argwohn, der katholische Klerus fördere die polnische Nationalbewegung in Posen und Westpreußen, zum anderen der Vorwurf, das Zentrum, die 1870 / 71 gegründete katholische Partei, mache

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g­ emeinsame Sache mit anderen «Reichsfeinden» wie den «Welfen», den Anhängern der gestürzten hannoverschen Dynastie, den Autonomisten in Elsass-Lothringen und den Polen in den preußischen Ostprovinzen. Zudem konnte der Reichskanzler hoffen, die kulturkämpferischen Liberalen durch scharfe Maßnahmen gegen den katholischen Klerus von ­ihrem Streben nach einer zumindest faktischen Parlamentarisierung des Reichs abzuhalten. Über allem stand die Entschlossenheit Bismarcks, unbedingte Loyalität gegenüber dem Reich, wenn sie sich nicht aus freien Stücken einstellte, notfalls zu erzwingen. Der Kulturkampf war freilich nur die erste Phase von Bismarcks Kampf gegen die «Reichsfeinde». Von Anfang an sahen sich auch die S­ ozialdemokraten dem Vorwurf mangelnder Reichstreue ausgesetzt. Im Zeichen von zwei Attentaten auf Kaiser Wilhelm I. im Jahr 1878, die der Kanzler zu Unrecht der Partei August Bebels anlastete, legte er dem Reichstag zwei Entwürfe eines Gesetzes gegen die «gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie» vor. Der zweite, das auf zweieinhalb Jahre befristete «Sozialistengesetz», wurde am 19. Oktober 1878 vom Reichstag mit den Stimmen der Nationalliberalen angenommen. Es verbot so­ zialdemokratische Vereine, Versammlungen und Druckschriften, ge­ stattete die Ausweisung sozialdemokratischer Agitatoren und sah die Möglichkeit vor, in «gefährdeten Bezirken» für die Dauer eines Jahres den «kleinen Belagerungszustand» zu verhängen: alles Maßnahmen, die mit den Grundregeln des Rechtsstaates nicht zu vereinbaren waren. Dass die Nationalliberalen dem Ausnahmegesetz dennoch zustimmten, bedeutete einen Verrat an ihren Prinzipien und eine Teilkapitulation vor dem Machtwillen des Kanzlers. Mit dem Sozialistengesetz begann eine konservative Umgründung des Reiches, die schon Zeitgenossen als «innere Reichsgründung» bezeichneten. Im Jahr 1879 folgte die Ablösung einer langen Zeit des Freihandels durch eine Ära der Schutzzölle, die an die Stelle der bisherigen niedrigen Fiskalzölle traten. Dem Kanzler ging es bei den Schutzzöllen für Eisen, Textilien und Getreide nicht nur um eine Stärkung der Finanzkraft des Reiches, sondern um mehr. Mit der Hinwendung zum Protektionismus trieb er einen Keil in die Nationalliberale Partei. Deren Fraktion stimmte im Reichstag gegen die Schutzzölle; die Abgeordneten der protektio­ nistischen Minderheit, unter ihnen Heinrich von Treitschke, hatten die

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Fraktion zuvor verlassen. Sie trugen am 12. Juli 1879 mit zur Annahme der Regierungsvorlage bei. Bismarck zog damit einen Schlussstrich unter seinen informellen Pakt mit der zeitweilig größten deutschen Partei, den er 1867 geschlossen hatte. Längerfristig bereitete er ein neues Machtkartell aus den konservativen Parteien und dem rechten Flügel der Nationalliberalen vor, dem sich nach der Abmilderung der Kulturkampfgesetze ge­ legentlich auch das Zentrum zugesellen sollte. Die Achse zwischen «Rittergut und Hochofen», die fortan für die Aufrechterhaltung der Schutzzölle sorgte, sollte der deutschen Politik bis zum Ende des Kaiserreichs, ja darüber hinaus ihren Stempel aufdrücken. Der Slogan «Schutz der nationalen Arbeit», mit dem die publizistischen Vertreter der Schwerindustrie die Schutzzölle rechtfertigten, war bezeichnend für einen Funktionswandel der nationalen Parole. Sie war ursprünglich eine Waffe des liberalen Bürgertums gegen die feudale Zersplitterung der deutschen Territorien und den Obrigkeitsstaat gewesen. Seit den späten 1870er Jahren verwandelte sie sich in ein Kampfinstrument der Rechten. «National» zu sein bedeutete nun zunehmend, antiliberal, antiinternationalistisch und häufig auch antisemitisch sein.30 Ludwig Bamberger, ein führender Vertreter des linken Flügels der ­Nationalliberalen und 1880 einer der Gründer einer neuen, Bismarck ­gegenüber kritischen Partei, der Liberalen Vereinigung, brachte den Wandel der Trägerschichten des Begriffs «national» 1888 auf eine einprägsame Formel: «Das nationale Banner in der Hand der preußischen Ultras und der sächsischen Zünftler ist die Karikatur dessen, was es einst bedeutet hat, und diese Karikatur ist ganz einfach so zustande gekommen, dass die überwundenen Gegner sich das abgelegte Gewand des Siegers angeeignet und dasselbe nach ihrer Fasson gewendet, aufgefärbt und zurechtgestutzt haben, um als die lachenden Erben der nationalen Bewegung darin einherstolzieren zu können.»31 Anfang der 1880er Jahre begann Bismarck die Repression der Sozialdemokratie durch das Sozialistengesetz, das bis 1890 immer wieder verlängert wurde, durch eine aktive Sozialpolitik zu ergänzen. Die Sozial­ versicherungsgesetze  – die Krankenversicherung von 1883, die Unfall­ versicherung von 1884 und die Alters- und Invaliditätsversicherung von 1889 – lagen ganz auf der Linie der konservativen Ideen von einem Königtum der sozialen Reform, waren aber zugleich nicht nur nach dama-

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ligen Maßstäben Pionierleistungen auf dem Gebiet des sozialen Fortschritts. Vom linken Flügel des Liberalismus zunächst bekämpft, setzte Bismarck die Versicherungsgesetze zusammen mit den konservativen Parteien, den inzwischen nach rechts gerückten Nationalliberalen und der Zentrumspartei durch. Die Erwartung des Kanzlers, die Arbeiter durch die Reformen zur Abkehr von der Sozialdemokratie bewegen zu können, erfüllte sich nicht. Wohl aber trugen die Gesetze der 1880er Jahre dazu bei, dass sich die reformistischen Tendenzen in der Partei August Bebels mit der Zeit verstärkten. Im Zeichen des Zusammenwirkens von Konservativen und Nationalliberalen ging Deutschland 1884 / 85 zu kolonialen Erwerbungen in Afrika, Neuguinea und im westlichen Pazifik über. Noch wichtiger war für den Kanzler das dritte Septennat von 1887, eine auf sieben Jahre befristete Bewilligung des Heeresetats. (Die ersten beiden Septennate waren 1874 und 1880 beschlossen worden). Ermöglicht wurde dieser Erfolg durch die «Kartellwahlen» von 1887, die den «Kartellparteien», den Deutschkonservativen, den Freikonservativen und den Nationalliberalen, eine Mehrheit im Reichstag verschafft hatten. Ende Januar 1890 zerbrach das Kartell an einem Streit um eine weitere Verlängerung des Sozialistengesetzes: Sie scheiterte daran, dass sich die Deutschkonservativen einer abgeschwächten Version der Vorlage verweigerten. Bei den Reichstagswahlen vom 20. und 28. Februar 1890 verloren die Kartellparteien die Mehrheit. Die Sozialdemokraten, die auch unter Geltung des Sozialistengesetzes an Reichstagswahlen teilnehmen konnten und im Reichstag durch eine Fraktion vertreten waren, rückten mit einem Stimmenanteil von 19,7 Prozent zur stärksten deutschen Partei auf. Bismarck reagierte auf den Verlust «seiner» Mehrheit mit Erwägun­ gen, zu denen als ultima ratio eine Lahmlegung des Reichstags, die Niederlegung der Kaiserwürde durch den König von Preußen und die Auflösung des Reiches durch die Fürsten gehörten. Der Reichskanzler war mithin äußerstenfalls bereit, sein Lebenswerk, die Revolution von oben, die zur Reichsgründung geführt hatte, durch einen Staatsstreich zu liquidieren. Da Wilhelm II., der im Juni 1888 den Thron bestiegen hatte, sich weigerte, dem Kanzler auf diesem Weg zu folgen, und Bismarck am 20. März 1890 aus seinen Ämtern als Reichskanzler und preußischer Ministerpräsi-

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dent entließ, blieb Deutschland die Probe aufs Exempel und damit eine schwere Staatskrise erspart. Ein Konflikt zwischen den Verfassungsorganen Reichskanzler und Reichstag wie der, an dem Bismarck zuletzt gescheitert war, konnte sich aber jederzeit wiederholen.32

IV.

Bismarcks Nachfolger fühlten sich nicht mehr an die Maxime gebunden, mit der der Reichsgründer seine außenpolitische Zurückhaltung begründet hatte: Sein Bild von Deutschland, so heißt es im «Kissinger Diktat» vom 15. Juni 1877, sei «nicht das irgendeines Ländererwerbs, sondern das einer politischen Gesamtsituation, in welcher alle Mächte außer Frankreich unser bedürfen, und von Koalitionen gegen uns durch ihre Beziehungen untereinander nach Möglichkeit abgehalten werden».33 Seit den 1890er Jahren ging Deutschland dazu über, jenen «Platz an der Sonne» zu suchen, von dem der Staatssekretär des Auswärtigen Amts, preußische Außenminister und spätere Reichskanzler Bernhard von Bülow am 6. Dezember 1897 im Reichstag sprach.34 Populärster Ausdruck der wilhelminischen «Weltpolitik» war der Aufbau einer deutschen Flotte, die Großbritannien zumindest in der Nordsee ebenbürtig sein und dem Deutschen Reich, das bisher eine starke Kontinentalmacht gewesen war, zum Status einer Seemacht verhelfen sollte. Die Folge der Flottenpolitik und der Flottenpropaganda war eine ­Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Deutschland und Groß­ britannien. Dazu kamen zunehmende Spannungen mit dem Zarenreich, beginnend 1890 mit der Nichtverlängerung des legendären Rückversicherungsvertrags, den Bismarck 1887 mit Russland geschlossen hatte. In den Jahren darauf kam es zu einer Annäherung zwischen der dritten französischen Republik und dem russischen Zarenreich. 1892 unterzeichneten beide Mächte eine Militärkonvention, die Anfang 1894 in Kraft trat: ein Abkommen, das für Deutschland den von Bismarck befürchteten Zwei­ frontenkrieg als Gefahr am Horizont aufscheinen ließ. Es folgten im April 1904 die «Entente cordiale» zwischen Großbritannien und Frankreich und im August 1907 ein Abkommen, in dem die bisherigen Erz­

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rivalen Großbritannien und Russland sich über ihre Interessensphären in Vorder- und Mittelasien verständigten. Die wilhelminische Machtelite begann, sich «eingekreist» zu fühlen, obwohl man mit ebenso viel, wenn nicht mit größerem Recht von einer Selbstauskreisung Deutschlands sprechen könnte. Dem Deutschen Reich blieben der 1879 abgeschlossene Zweibund mit Österreich-Ungarn und, sehr viel weniger belastbar, der Dreibund zwischen dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn und Italien aus dem Jahr 1882: eine prekäre, für Deutschland bedrohliche Situation. Was die Nervosität der herrschenden Kreise steigerte, war das stetige Wachstum der Sozialdemokratie. Am 9. November 1911 zitierte August Bebel in einer Reichstagsdebatte zwei Pressestimmen aus dem rechten ­Lager, die er mit Recht für symptomatisch hielt. Das «Deutsche Armee­ blatt» hatte kurz zuvor geschrieben: «Für die inneren Verhältnisse wäre ein großzügiger Waffengang auch recht gut, wenn er auch den einzelnen Familien Tränen und Schmerzen bringt.» In der freikonservativen «Post» war zu lesen: «In weiten Kreisen herrscht die Überzeugung, dass ein Krieg nur vorteilhaft sein kann, indem unsere prekäre politische Lage geklärt und die Gesundung vieler politischer und sozialer Zustände herbeigeführt wird.» Bebel kommentierte: «Man weiß nicht, wie man mit der Sozialdemokratie fertig werden soll. Da wäre ein auswärtiger Krieg ein ganz vortreffliches Ablenkungsmittel gewesen.» Von der parlamentarischen Rechten wurde Bebels Warnung vor dem «großen Kladderadatsch», der Katastrophe eines Weltkriegs, und der «Götterdämmerung der bürgerlichen Welt» mit «Lachen» und «großer Heiterkeit» quittiert. Das Protokoll verzeichnet den Zuruf: «Nach jedem Krieg wird es besser.»35 Die kriegerische Mentalität, die Bebel anprangerte, war weit verbreitet. Sie wurde systematisch verstärkt durch Wehr- und Agitationsverbände wie den Kyffhäuser-Bund, den Deutschen Wehrverein, den Flottenverein, den Kolonialverein, den Ostmarkenverein und den Alldeutschen Verband sowie durch Publizisten wie Friedrich von Bernhardi. In seinem Anfang 1912 erschienenen, vielgelesenen Buch «Deutschland und der nächste Krieg» beschrieb er in sozialdarwinistischer Manier den Krieg als «Grundlage der sozialen Entwicklung» und stellte Deutschland vor die Alternative «Weltmacht oder Niedergang».36 Im gleichen Jahr 1912 erschien das Buch «Wenn ich der Kaiser wär’»

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von «Daniel Frymann»: ein Pseudonym, hinter dem sich der Vorsitzende des Alldeutschen Verbands, der Mainzer Rechtsanwalt Heinrich Claß, ein radikaler Nationalist und Antisemit, verbarg. In seinem Buch, das bis 1914 fünf Auflagen erlebte, feierte Claß den Krieg als «Arzt unserer Seelen, der mit stärksten Mitteln uns heilen wird». Er forderte die Abschaffung des allgemeinen gleichen Wahlrechts, die Fernhaltung der Frauen vom politischen Leben und die Bereitschaft zum Staatsstreich gegen die sozialdemokratischen Vaterlandsfeinde. Die schärfsten Angriffe richtete der Autor gegen die Juden, die sich ihrem innersten Wesen nach zu den Deutschen verhielten wie Feuer zu Wasser und darum vom öffentlichen Leben auszuschließen seien. Claß gab die Parole «Deutschland den Deutschen» aus: eine Forderung, die ein «Führer» ebenso in die Tat umsetzen sollte wie das sonstige Programm des «Kaiserbuchs».37 Die Bücher von Bernhardi und Claß erschienen etwa um dieselbe Zeit, in der in Deutschland ein neuer Reichstag gewählt wurde. Aus der Reichstagswahl vom Januar 1912 ging die SPD mit einem Stimmenanteil von 34,8 Prozent nicht nur als stärkste Partei hervor (das war sie schon seit 1890), sondern erstmals auch mit 110 Abgeordneten als stärkste Fraktion des Reichstags. Es gab zudem Anzeichen für eine Annäherung zwischen den Sozialdemokraten und den Linksliberalen, die 1912 erstmals geeint als Fortschrittliche Volkspartei antraten und auf 42 Mandate kamen. Die Rechte musste damit rechnen, dass eine Erhöhung der Militärausgaben angesichts der Umverteilung der parlamentarischen Gewichte nun noch schwerer als bisher erreichbar und nach einer weiteren Reichstagswahl vielleicht gar nicht mehr möglich war. Das Kaiserreich befand sich in einer Sackgasse: Wenn die Reichsleitung im Reichstag keine Mehrheit mehr hinter sich bringen konnte, drohte ein Gesetzgebungsstillstand oder, anders gewendet, ein Verfassungsnotstand. Als Europa nach dem tödlichen Anschlag auf das österreichische Thronfolgerpaar in Sarajewo am 28. Juni 1914 in die schwere Krise geriet, an deren Ende der Ausbruch des Ersten Weltkriegs stand, dauerte die innere Krise des wilhelminischen Reiches noch an. Die Militärführung plädierte dafür, die europäischen Machtverhältnisse zugunsten Deutschlands zu klären, bevor das vereinte militärische Potential der «Tripleallianz», also Großbritanniens, Frankreichs und Russlands, dem der Mittelmächte endgültig überlegen war. Auch innenpolitisch schien vieles, vor allem die

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Furcht vor einer immer weiter erstarkenden Sozialdemokratie, für die Devise «Besser jetzt als nie» zu sprechen.38 Am Ende schloss sich auch der notorisch vorsichtige Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg den außen- und rüstungspolitischen Argumenten der Militärführung an. Bethmann Hollweg gelang es auch, die größte Fraktion des Reichstags davon zu überzeugen, dass Russland, in den Augen der Sozialdemokraten seit je der Hort der europäischen Reaktion, die kriegstreibende Macht schlechthin und Deutschlands Politik rein defensiv war. Als der Reichstag am 4. August mit den Stimmen der SPD den von der Reichsleitung beantragten Kriegskrediten zustimmte, hatte der Krieg bereits begonnen. Deutschland trug nicht allein die Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Von einer erheblichen Mitverantwortung, ja letztlich einer Hauptschuld des Reichs wird man aber sprechen können. Was während des Krieges an offiziellen und inoffiziellen deutschen Kriegszielen bekannt wurde, sprach eindeutig gegen die These vom Verteidigungskampf. Der Kriegsverlauf war für die Mittelmächte so ungünstig und die annexionistische Kriegspropaganda der nationalistischen Rechten so wirklichkeitsfremd, dass sich im Sommer 1917 Sozialdemokraten, Zentrum und Fortschrittliche Volkspartei zu einer parlamentarischen Initiative für einen Frieden ohne «erzwungene Gebietserweiterungen und politische, wirtschaftliche oder finanzielle Vergewaltigungen» entschlossen. Am 19. Juli 1917 nahm der Reichstag mit 216 gegen 126 Stimmen bei 17 Enthaltungen die Friedensresolution der fortan «Mehrheitsparteien» genannten drei Fraktionen an.39 Die Anwälte eines «Siegfriedens» antworteten den Befürwortern eines «Verständigungsfriedens» im September 1917 mit der Gründung der Deutschen Vaterlandspartei, einer extrem nationalistischen und annexionistischen Sammlungsbewegung. Im Jahr darauf verschlechterte sich die militärische Lage der Mittelmächte so sehr, dass sich schließlich der KoChef der Obersten Heeresleitung, General Ludendorff, am 29. September 1918 zu einem Coup veranlasst sah, der sich auch als Revolution von oben beschreiben lässt: Der «starke Mann» des deutschen Militärs schlug Kaiser Wilhelm II. die Abwälzung der Verantwortung für die sich abzeichnende Niederlage auf die friedenswilligen Mehrheitsparteien durch eine Parlamentarisierung der Reichsverfassung vor.

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Ludendorff verband seinen Vorstoß mit einer Dolchstoßlegende. «Ich habe S. M. (Seine Majestät, H. A. W.) gebeten, jetzt auch diejenigen Kreise an die Regierung zu bringen, denen wir es in der Hauptsache zu danken haben, dass wir soweit gekommen sind», erklärte der Erste Generalquartiermeister am 1. Oktober vor hohen Offizieren. «Wir werden also diese Herren jetzt in die Ministerien einziehen sehen. Die sollen nun den Frieden schließen, der jetzt geschlossen werden muss. Sie sollen die Suppe jetzt essen, die sie uns eingebracht haben.»40 Das Zusammenwirken von Oberster Heeresleitung und Reichstagsmehrheit mündete am 3. Oktober 1918 in die Bildung der ersten parlamentarischen Regierung des Kaiserreichs, des Kabinetts des Prinzen Max von Baden, in dem die drei Mehrheitsparteien und die Nationalliberalen vertreten waren und am 28. Oktober die Änderung der Reichsverfassung von 1871. Der Reichskanzler war fortan vom Vertrauen des Reichstags abhängig. Die Parlamentarisierung des Regierungssystems beseitigte zumindest auf dem Papier das konfliktträchtige Spannungsverhältnis zwischen den Verfassungsorganen Reichstag und Reichskanzler, das die Geschichte des Kaiserreichs geprägt hatte. Die Verfassungswirklichkeit sah anders aus. Teile der militärischen Führung weigerten sich, die Machtverschiebung hin zur Legislative anzuerkennen. Die mit dem Kanzler nicht abgestimmte Absicht der Seekriegsleitung, die Hochseeflotte in einer letzten Entscheidungsschlacht gegen England auslaufen zu lassen, löste eine heftige Gegenwehr der Matrosen in Wilhelmshafen und Kiel aus, die sich binnen weniger Tage zur Revo­ lution im Reich ausweitete. Am 9. November wurde in Berlin die Ab­ dankung Wilhelms II., des Deutschen Kaisers und Königs von Preußen, verkündet und die Republik ausgerufen. Vorausgegangen war ein Erosionsprozess, den Max Weber als «Geschichte des Zusammenbruchs der bis 1918 legitimen Herrschaft» beschrieben hat. Diese Geschichte hatte Weber zufolge gezeigt, «wie die Sprengung der Traditionsgebundenheit durch den Krieg einerseits und den Prestigeverlust durch die Niederlage andererseits in Verbindung mit der systematischen Gewöhnung an illegales Verhalten (durch Schleichhandel und Schwarzmarktpraktiken, H. A. W.) in gleichem Maß die Fügsamkeit in die Heeres- und Arbeitsdisziplin erschütterten und so den Umsturz der Herrschaft vorbereiteten». Der soziologische Befund ließ

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sich mit Webers Begriffen in der These bündeln, dass das Kaiserreich im Herbst 1918 die «heute geläufigste Legitimitätsform», den «Legalitäts­ glauben», weitgehend eingebüßt hatte – und mit ihr die wichtigste Herrschaftsressource überhaupt.41 Im Oktober 1918 endete die ungleichzeitige Demokratisierung des Kaiserreichs: Der Einführung des allgemeinen gleichen Reichstagswahlrechts folgte fast ein halbes Jahrhundert später die Einführung der par­ lamentarischen Verantwortlichkeit des Reichskanzlers. Die Geburt der parlamentarischen Demokratie aus der Niederlage erleichterte es der ­nationalistischen Rechten, das parlamentarische System als Staatsform der westlichen Siegermächte, mithin als ein undeutsches System, und als Folge von «linkem» Verrat zu diffamieren. Zu dieser schweren Vorbelastung der ersten deutschen Republik kam eine weitere. Die Parteien des Kaiserreichs waren, da sie nicht selbst die Regierung stellten, auch nicht gezwungen, gegebenenfalls Kompromisse zu schließen und sich pragmatisch zu verhalten. Die Folge war die Herausbildung von Milieuparteien, die dazu neigten, die Interessen der von ihnen repräsentierten Teile der Gesellschaft ideologisch zu überhöhen. Für die Regierungsform der parlamentarischen Demokratie waren die deutschen Parteien mithin denkbar schlecht gerüstet. Die chronische Labilität der Koalitionsregierungen der Weimarer Republik hat in dieser Hypothek ­ihren entscheidenden Grund. Das Scheitern der deutschen Demokratie in den Jahren von 1930 bis 1933 war damit noch kein zwangsläufiger Vorgang. Aber es lässt sich nicht erklären, wenn die Vorbelastungen aus der Zeit vor 1918 außer Betracht bleiben.42

K AP I T E L 3

DER PR EIS D ES F OR TSC H R IT T S : DI E REVOL U TION VON 1918  / 1 9 UND DIE R EPU B LIK VON W EIM A R

Die Revolution von 1918 /19 und3. die DerRepublik Preis desvon Fortschritts Weimar

Arbeiter- und Soldatenräte vor der verlassenen Garde-Ulanen-Kaserne in Berlin, 9. November 1918.

I.

Die deutsche Revolution von 1918 /19 wird gemeinhin nicht zu den großen, den klassischen Revolutionen der Weltgeschichte gerechnet. Vielfach gilt sie als gescheitert, weil der damals geschaffenen parlamentarischen Demokratie keine lange Lebensdauer beschieden war: 14 Jahre nach dem Sturz der Monarchie kamen in Deutschland die Nationalsozialisten an die Macht. Eine Folgerung liegt nahe: Eine radikalere Umwälzung hätte Deutschland den Absturz in die Diktatur erspart. Dementsprechend scharf fällt häufig das Urteil über die 1918 /19 maßgeblichen Akteure, die Mehrheitssozialdemokraten, aus. Eduard Bernstein, der Wortführer der «Revisionisten», der frühen sozialdemokratischen Kritiker des orthodoxen Marxismus, konnte die weitere Entwicklung nicht vorhersehen, als er im März 1921 sein Buch «Die deutsche Revolution, ihr Ursprung, ihr Verlauf und ihr Werk» vorlegte.1 Der damals Einundsiebzigjährige hatte sich 1915 der innerparteilichen Opposition gegen die weitere Bewilligung von Kriegskrediten und 1916 der ­ hieraus hervorgegangenen Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei, der USPD, angeschlossen, trat aber bereits im Dezember 1918 wieder der Mehrheitspartei, der MSPD, bei und gab im März 1919 die zeitweilig mögliche Doppelmitgliedschaft in beiden sozialdemokratischen Parteien zugunsten der ausschließlichen Mitgliedschaft in der MSPD auf. Am Motiv seiner Rückkehr zur Mutterpartei ließ er keinen Zweifel: Er war ein entschiedener Gegner einer Radikalisierung der Revolution. Für den von ihm verteidigten gemäßigten Charakter der deutschen Revolution sah Bernstein vor allem zwei Gründe: Der eine war der Grad der gesellschaftlichen Entwicklung. Je weniger ausgebildet Gesellschaften seien, desto leichter vertrügen sie Maßnahmen, die auf ihre radikale Umbildung abzielten, je vielseitiger aber ihre innere Gliederung, desto weniger. Der zweite Grund war der bereits erreichte Grad an Demokratie. «So rückständig Deutschland durch den Fortbestand halbfeudaler Einrichtungen und die Machtstellung des Militärs in wichtigen Fragen seines politischen Lebens auch war, so war es doch als Verwaltungsstaat auf einer

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Stufe der Entwicklung angelangt, bei der schon die einfache Demokra­ tisierung der vorhandenen Einrichtungen einen großen Schritt zum So­ zialismus hin bedeutete.» Ebendies, so Bernstein weiter, habe sich schon vor der Revolution angezeigt. «Das Stück Demokratie, das in Reich, Staaten und Gemeinden zur Verwirklichung gelangt war, hatte sich unter dem Einfluss der in die Gesetzgebungs- und Verwaltungskörper eingedrungenen Arbeiterver­ treter als ein wirkungsvoller Hebel zur Förderung von Gesetzen und Maßnahmen erwiesen, die auf der Linie des Sozialismus liegen, so dass selbst das kaiserliche Deutschland auf diesen Gebieten mit politisch vorgeschritteneren Ländern sich messen konnte.»2 Für eine Totalumwälzung war Deutschland mithin Bernstein zufolge zum einen bereits zu industrialisiert und zum anderen zu demokratisiert. Die «klassischen» Revolutionen des Westens, die englischen des 17. Jahrhunderts, die amerikanische von 1775 / 76 und die französische von 1789, hatten in der Tat in vorindustriellen Gesellschaften stattgefunden, und für die großen Revolutionen des Ostens, die russische Revolution vom November 1917 und die chinesische Revolution von 1949 gilt dasselbe. In Agrargesellschaften kann sich die Mehrheit der Bevölkerung mit den ­lebenswichtigen Gütern eine Zeit lang selbst versorgen. Eine radikale Auswechslung des Staatsapparates ist in solchen Gesellschaften möglich, ohne dass ein wirtschaftliches und soziales Chaos ausbricht. Anders in komplexen, arbeitsteiligen Industriegesellschaften. Die Mehrheit ist hier von den Dienstleistungen des Staates und der Kommunen so existentiell abhängig, dass ein Zusammenbruch des öffentlichen Dienstes das Leben der Gesellschaft insgesamt lähmen muss. Die Folge ist das, was ein neuerer Autor, der Politikwissenschaftler Richard Löwenthal, treffend den ­revolutionsfeindlichen «Anti-Chaos-Reflex» industrieller Gesellschaften genannt hat.3 Bernstein stand unter den Zeitgenossen mit seinen Einsichten in die fundamentalen Unterschiede zwischen entwickelten und weniger ent­ wickelten Gesellschaften keineswegs allein. Ein führender Vertreter des rechten Flügels der Unabhängigen Sozialdemokraten, Heinrich Ströbel, argumentierte ganz ähnlich wie der Begründer des sozialdemokratischen Revisionismus, wenn er 1920 der äußersten proletarischen Linken vorwarf, mit ihren Forderungen nach einer Rätediktatur und einer Vollsozia-

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3. Der Preis des Fortschritts

lisierung gemäß dem russischen Vorbild die ökonomischen und poli­ tischen Möglichkeiten Deutschlands auf verhängnisvolle Weise zu verkennen.4 Für die Mehrheitssozialdemokraten um Friedrich Ebert verstand es sich von selbst, dass der politische und wirtschaftliche Entwicklungsstand des Deutschen Reichs eine Politik der tabula rasa wie in Russland Chaos, Bürgerkrieg und eine alliierte Intervention nach sich ziehen würde. Angesichts von fast einem halben Jahrhundert allgemeinem, gleichem Reichstagswahlrecht für Männer, die das 25. Lebensjahr vollendet hatten, kam vielmehr alles auf mehr Demokratie an. Konkret hieß das: die schnellstmögliche Wahl einer verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung, die Einführung des Frauenwahlrechts, die Demokratisierung des Wahlrechts in den Einzelstaaten, Kreisen und Gemeinden, die volle Durchsetzung der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierungen, Behutsamkeit bei der Veränderung der Eigentumsverhältnisse in Industrie und Landwirtschaft sowie Zusammenarbeit mit den alten Eliten in Wirtschaft, Beamtenschaft und Militär. In der Revolutionsregierung, dem sechsköpfigen Rat der Volksbeauftragten, der am 9. November 1918 paritätisch aus den Vertretern von MSPD und USPD gebildet wurde, war nicht die Wahl einer Konstituante als solche strittig, wohl aber der Zeitpunkt der Wahl. Die Mehrheitssozialdemokraten, die mit Friedrich Ebert den Vorsitzenden des Rates stellten, forderten einen möglichst frühen, die Unabhängigen einen etwas späteren Zeitpunkt, und das mit der Begründung, dass die Zeit für strukturelle Eingriffe sonst zu kurz bemessen sei. Auf dem Ersten Allgemeinen Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte, der vom 16. bis 21. Dezember 1918 in Berlin stattfand, fiel die Entscheidung: Mit etwa 400 gegen 50 Stimmen votierten die Delegierten für den 19. Januar 1919, den frühestmöglichen Wahltermin. Der Beschluss trug mit zum Ausscheiden der USPD aus dem Rat der Volksbeauftragten am 28. Dezember und zur Radikalisierung des äußersten linken Flügels der Unabhängigen und namentlich des Spartakusbundes um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg bei. Aus ebendiesem Teil der Linken rekrutierten sich die Führer und Anhänger der am 30. Dezember gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands, der KPD. Bis heute gehört die Revolution von 1918 /19 zu den besonders um-

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strittenen Ereignissen der jüngeren deutschen Geschichte. Im Jahr 1955 stellte der Kieler Historiker Karl Dietrich Erdmann die damals weithin akzeptierte These auf, es sei 1918 /19 um eine klare Alternative gegangen, nämlich «entweder die soziale Revolution im Bündnis mit den auf eine proletarische Diktatur hindrängenden Kräften oder die parlamentarische Republik im Bündnis mit den konservativen Kräften wie dem alten Offizierskorps».5 Seit den sechziger Jahren sind jedoch gegen diese Deutung so viele Einwände vorgebracht worden, dass sie nicht mehr als herrschende Lehre gelten kann. In der Folgezeit setzte sich allmählich die Auffassung durch, dass die wirkliche Alternative zur «Weimarer Lösung» schon deswegen nicht in einer Politik auf der Linie der Kommunisten liegen konnte, weil diese in den ersten Monaten nach Kriegsende und lange darüber hinaus noch keine Massenbasis hatten. Vielmehr sei es um grundlegende Änderungen der überkommenen Machtverhältnisse gegangen  – um Änderungen, die mit Hilfe der anfangs überwiegend sozialdemokratisch orientierten Arbeiter- und Soldatenräte durchzusetzen gewesen wären, wenn die Führer der Mehrheitssozialdemokraten das wirklich gewollt hätten. Diese Sicht lag weitgehend auf der Linie der These vom «dritten Weg» (zwischen den Positionen der Mehrheitssozialdemokraten um Ebert und denen der Kommunisten), die 1935 als erster Historiker der unabhängige Marxist Arthur Rosenberg vertreten hatte.6 Mittlerweile hat es indes so etwas wie eine «Revision der Revision» gegeben. Die Rolle der Arbeiter- und Soldatenräte wird heute sehr viel nüchterner gesehen als Mitte und Ende der sechziger Jahre. Die dezentral operierenden Räte, so die vorwiegende Forschungsmeinung, hätten eine energische Reformpolitik von «oben» wohl unterstützen, nicht aber durchsetzen können. Sie waren ein Notbehelf in der parlamentslosen Übergangszeit. Es ging nicht um irgendwelche Verbindungen zwischen dem parlamentarischen und dem Rätesystem, sondern um vorbeugende Strukturreformen, die der parlamentarischen Demokratie ein solideres gesellschaftliches Fundament zu geben versprachen. Bei stärkerem Gestaltungswillen hätten die Mehrheitssozialdemokraten mehr verändern können und weniger bewahren müssen, und das auch innerhalb der kurzen Phase zwischen dem Sturz der Monarchie am 9. November 1918 und der Wahl der Nationalversammlung am 19. Januar 1919.

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3. Der Preis des Fortschritts .

Kontrovers ist nach wie vor das Ausmaß der Zusammenarbeit der Volksbeauftragten um Friedrich Ebert und dem Militär, der hohen Beamtenschaft und den Wirtschaftseliten. Eine Kooperation mit der Obersten Heeresleitung war schon im Hinblick auf die Demobilmachung von Millionen von Soldaten und dem Übergang zur Friedenswirtschaft unumgänglich, nicht aber der faktische Verzicht auf den Primat der Politik in Sachen Verteidigung der Republik gegen Umsturzversuche von rechts oder links außen. Weithin unstrittig war auch die Zusammenarbeit mit den Spitzen der zivilen Verwaltung, auf deren Sachverstand die Revolu­ tionsregierungen angewiesen waren. Gefährlich aber war der Verzicht auf die Entmachtung republikfeindlicher Beamter, vor allem auf dem platten Lande Ostelbiens, wo das Ancien Régime besonders kräftig fortlebte. Eine abrupte Abschaffung des Großgrundbesitzes hätte angesichts der fortdauernden alliierten Blockade eine ausreichende Versorgung Deutschlands mit Lebensmitteln vollends unmöglich gemacht. Fatal aber war die Entscheidung der Volksbeauftragten, die Bildung von Landarbeiterräten den Großgrundbesitzern zu überlassen. Bei einer Sozialisierung der Schwerindustrie, wie sie die Sozialdemokraten lange gefordert hatten, hätte man damit rechnen müssen, dass die Siegermächte verstaatlichte Großbetriebe als Pfänder zur Durchsetzung von Repara­ tionen beschlagnahmt hätten. Es unterblieben aber auch Vorkehrungen, die auf die öffentliche Kontrolle marktbeherrschender Unternehmen zielten. Erschwert wurde die Durchsetzung des Primats der Politik auf diesem Gebiet durch das Vorgehen der sozialdemokratisch orientierten Freien Gewerkschaften, deren Vorsitzender Carl Legien am 15. November 1918 mit einem der führenden Schwerindustriellen, Hugo Stinnes, die Zentralarbeitsgemeinschaft der industriellen und gewerblichen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände Deutschlands, kurz Stinnes-Legien-Abkommen genannt, abschloss, durch das die Arbeitgeber erstmals die Gewerkschaften als berufene Vertretung der Arbeiterschaft anerkannten und in die Beschränkung der täglichen Arbeitszeit auf acht Stunden einwilligten.7 Von allen Streitfragen der Revolutionszeit im engeren Sinn, den ­sieben Wochen zwischen der Ausrufung der Republik und der Wahl der Konstituante, ist eine besonders strittig: die Niederschlagung des Berliner Januaraufstands von 1919, der mit fragwürdigem Recht auch Spartakusaufstand genannt wird. Zu seiner unmittelbaren Vorgeschichte gehört der

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Gründungsparteitag der KPD, der am 30. Dezember 1918 begann und am 1. Januar 1919 endete. Dessen Delegierte beschlossen entgegen den eindringlichen Warnungen Rosa Luxemburgs vor putschistischen Abenteuern den Boykott der Wahlen zur Verfassunggebenden Nationalversammlung. Wie Karl Liebknecht fügte sich aber schließlich Rosa Luxemburg dem Willen der Parteimehrheit. Zum auslösenden Moment des Januaraufstandes wurde die Absetzung des Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn, eines Vertreters der USPDLinken, der sich bei den Berliner «Weihnachtskämpfen» auf die Seite der meuternden Volksmarinedivision und damit gegen den Rat der Volksbeauftragten gestellt hatte, durch den preußischen Ministerpräsidenten Paul Hirsch, einem Mehrheitssozialdemokraten, am 4. Januar 1919. Aus der Sicht der radikalen Linken war die Entlassung Eichhorns eine gezielte Provokation. Noch am Abend des 4. Januar beschloss der Vorstand der Berliner USPD zusammen mit den Revolutionären Obleuten der Berliner Metallindustrie eine Protestdemonstration. Den entsprechenden Aufruf unterzeichnete auch die Zentrale der KPD. Tags darauf gerieten die Ereignisse außer Kontrolle. Bewaffnete Demonstranten besetzten die Druckereien des sozialdemokratischen «Vorwärts» und des liberalen «Berliner Tageblatts», außerdem die Verlagsgebäude von Mosse, Scherl und Ullstein, die Druckerei Büxenstein und Wolff’s Telegraphenbüro. Die Erhebung von Teilen des Berliner Proletariats war von Anfang an führerlos. Nicht die Zentrale der KPD hatte den Sturz des Rates der Volksbeauftragten geplant, vielmehr forderten ihn die Anhänger der ­Revolutionären Obleute und der Kommunisten, wobei die Ersteren bei weitem in der Überzahl waren. Nachdem die Schwelle zur Gewaltanwendung überschritten war, wollte keine der beteiligten Gruppen weniger radikal sein als die anderen. Von den Führern der KPD gab als erster Karl Liebknecht dem Druck von unten nach und rief zum Sturz der Regierung Ebert-Scheidemann auf. In der Sache lief das auf eine Verhinderung der Wahl der Nationalversammlung hinaus. Hatten die Bolschewiki im Januar 1918 die bereits gewählte Konstituante gesprengt, wollten ihre deutschen Nachahmer ein Jahr später denselben Effekt dadurch er­reichen, dass sie der Wahl zuvorkamen. Der Rat der Volksbeauftragten antwortete mit einem Aufruf zum Generalstreik. Ob es zum bewaffneten Kampf kommen würde, war zunächst

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nicht sicher. Auf Vorschlag der USPD trat die Regierung am 6. Januar in Verhandlungen mit den Aufständischen ein, die aber nicht bereit waren, auf die wichtigste Forderung der Mehrheitssozialdemokraten, die Wiederherstellung der Pressefreiheit, einzugehen. Gleichzeitig mobilisierten die Volksbeauftragten einige republikloyale Freiwilligenverbände, darunter den eben erst gegründeten Helferdienst der Sozialdemokratischen Partei, aber auch deutlich stärker rechts stehende Freikorps. Die Koordination der Abwehrmaßnahmen lag seit dem 6. Januar in den Händen des Mehrheitssozialdemokraten Gustav Noske, der erst nach dem Ausscheiden der USPD in den Rat der Volksbeauftragen berufen worden war. Sein verhängnisvoller Fehler bestand darin, dass er den Freiwilligenverbänden weithin freie Hand ließ. Damit trug er die politische Hauptverantwortung für die Gewaltexzesse auf Regierungsseite, darunter für die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Die Parteiführer Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann, die Noske gewähren ließen, trugen jedoch eine erhebliche Mitverantwortung.8 Dass der Januaraufstand niedergeschlagen wurde, war unumgänglich, wenn die Revolutionsregierung das Ziel der demokratischen Legitimation der Republik durch Wahl einer Konstituante nicht preisgeben wollte. Ein linksradikaler Umsturz in Berlin hätte einen reichsweiten Bürgerkrieg, wirtschaftliches und soziales Chaos, eine militärische Intervention der Alliierten und damit einen Rückfall in den Krieg ausgelöst. Es war keine Panikmache, sondern eine realistische Einschätzung seitens der Mehrheitssozialdemokraten, als sie sich entschlossen, Deutschland dieses Schicksal zu ersparen. Die Furcht vor Bolschewismus und Kommunismus in der deutschen Gesellschaft und nicht zuletzt in der Sozialdemokratie wird bis heute gern als maßlos übertrieben dargestellt. Doch was in Sowjetrussland geschah, erregte nicht nur in Deutschland Entsetzen. Zudem hat auch die als liberal eingeschätzte Rosa Luxemburg nie einen Zweifel daran gelassen, dass sie einen Bürgerkrieg für letztlich unvermeidbar hielt. Der «Bürgerkrieg», den man aus der Revolution zu verbannen versuche, lasse sich nicht ­verbannen, schrieb sie am 20. November 1918 in einem Leitartikel in der «Roten Fahne». «Denn Bürgerkrieg ist nur ein anderer Name für Klassenkampf, und der Gedanke, den Sozialismus ohne Klassenkampf durch parlamentarischen Mehrheitsbeschluss einführen zu können, ist eine

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­lächerliche kleinbürgerliche Illusion.» Was Luxemburg im Gegensatz zu Ebert und den anderen führenden Sozialdemokraten verkannte, war die Tatsache, dass nichts die Deutschen seit den Tagen ihres nationalen Urtraumas, des Dreißigjährigen Kriegs, so ängstigte wie alles, was auf einen Bürgerkrieg hinauslief.9

II.

Aus den Wahlen zur Verfassunggebenden Nationalversammlung gingen die Mehrheitssozialdemokraten mit 37,9 Prozent als die mit Abstand stärkste Partei hervor. Eine Mehrheit für die Sozialisten aber gab es nicht: Die Unabhängigen Sozialdemokraten kamen nur auf 7,6 Prozent. Von den bürgerlichen Parteien schnitten die beiden katholischen Parteien, das Zentrum und die Bayerische Volkspartei, mit 19,7 Prozent und die linksliberale Deutsche Demokratische Partei mit 18,5 Prozent am besten ab. Auf die politische Rechte entfiel rund ein Siebtel der Stimmen: Die Deutschnationale Volkspartei (DNVP), die Erbin der Konservativen und der Antisemitenparteien des Kaiserreichs, erhielt 10,3, die Deutsche Volkspartei (DVP), die ehemalige Nationalliberale Partei, 4,4 Prozent. Wer am entschiedensten gegen die Republik war oder die Rückkehr zur Monarchie befürwortete, hatte im Zweifelsfall für die Deutschnationalen gestimmt, die ihren stärksten Rückhalt im ländlichen, kirchentreuen evangelischen Norddeutschland und namentlich in Ostelbien hatten. Nach den Erfahrungen der letzten Wochen lag eine erneute Zusammenarbeit der «Mehrheitsparteien» des alten Reichstags, der MSPD, des Zentrums und der Linksliberalen, der Parteien der Friedensresolution vom Juli 1917, gewissermaßen in der Luft. Was dafür sprach, war vor allem die Einsicht, dass an eine parlamentarische Demokratie in Deutschland ohne ein Zusammenwirken der gemäßigten Kräfte in Arbeiterschaft und Bürgertum nicht ernsthaft zu denken war. Die Entscheidung für eine Regierung der linken Mitte wurde den Mehrheitssozialdemokraten dadurch erleichtert, dass sich bei der Parteispaltung 1917 nicht nur die Kriegskreditgegner, sondern auch die meisten orthodoxen Marxisten von der Mutterpartei getrennt hatten. Die Spaltung der sozialdemokratischen Arbeiter­

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3. Der Preis des Fortschritts

bewegung war, so gesehen, nicht nur eine Vorbelastung, sondern auch eine Vorbedingung der ersten deutschen Demokratie. Am 6. Februar 1919 trat die Verfassunggebende Nationalversammlung in dem zu diesem Zeitpunkt noch ruhigen Weimar zu ihrer konstituierenden Sitzung zusammen. Ihre erste wichtige Entscheidung war die Verabschiedung des von dem linksliberalen Staatssekretär des Reichsamts des Innern, Hugo Preuß, verfassten Entwurfs einer vorläufigen Reichsverfassung. Tags darauf wurde der Ko-Vorsitzende der MSPD, Friedrich Ebert, zum vorläufigen Reichspräsidenten gewählt, der seinerseits noch am gleichen Tag seinen Mitvorsitzendenden Philipp Scheidemann zum Reichsministerpräsidenten ernannte. Dieser bildete am 13. Februar eine Koalitionsregierung aus MSPD, Deutscher Demokratischer Partei und Zentrum. Formell begann damit die evolutionäre Phase der deutschen Staatsumwälzung. Doch die revolutionären Unruhen waren noch keineswegs zu Ende. Dem Berliner Januaraufstand folgten zwischen Februar und Mai 1919 die großen Streiks im Ruhrgebiet und im mitteldeutschen Industrierevier, die beiden Münchner Räterepubliken, von denen die erste, ausgelöst durch die Ermordung des bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner von der USPD durch einen Rechtsradikalen am 21. Februar, von Unabhängigen Sozialdemokraten und Anarchisten, die zweite von den Kommunisten dominiert wurde. Mit besonderer Härte wurde die Berliner Streikbewegung vom März 1919 niedergeworfen. Sie begann als Generalstreik; an ihrer letzten Phase beteiligen sich aber fast nur noch die Kommunisten. Am 9. März gab der nunmehrige Reichswehrminister Gustav Noske, dem für das Gebiet der Reichshauptstadt und ihrer Umgebung die vollziehende Gewalt übertragen worden war, den berüchtigten, durch kein Gesetz gedeckten Befehl aus: «Jede Person, die mit Waffen in der Hand kämpfend angetroffen wird, ist sofort zu erschießen.» Rund tausend Opfer, möglicherweise auch mehr, waren zu beklagen, darunter unbewaffnete Matrosen und zahllose Unbeteiligte. Den blutigen Abschluss der Frühjahrskämpfe bildete Anfang Mai die von Gewaltexzessen begleitete Niederschlagung der zweiten Münchner Räterepublik durch Regierungstruppen.10 Am 22. März 1919 befasste sich die Regierung Scheidemann erstmals mit einer Frage, die für die innere und die auswärtige Politik der ersten

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deutschen Republik und ihre politische Kultur von höchster Bedeutung war: In Anwesenheit des Reichspräsidenten erörterte die Ministerrunde die Kriegsschuldfrage. Bislang gab es nur den Waffenstillstand vom 11. November. Bei den bevorstehenden Pariser Friedensverhandlungen aber gelte es, so bemerkte Ebert, die «Sünden der alten Regierung aufs schärfste (zu) verurteilen» und in einer Denkschrift darzulegen. Deren Grundlagen sollte eine Aktenedition zur Verfügung stellen, mit der der Rat der Volksbeauftragten den ehemaligen Cheftheoretiker der VorkriegsSPD, Karl Kautsky, betraut hatte. Diese Sammlung, die sich auf die ­Akten des Auswärtigen Amtes stützte, stand Ende März 1919 kurz vor dem Abschluss. Die meisten Minister stimmten dem Reichspräsidenten zu, nicht aber Reichsfinanzminister Eugen Schiffer, ein ehemaliger Nationalliberaler, der sich im November 1918 der DDP angeschlossen hatte. Er verstand den Krieg als deutschen «Präventivkrieg» und einen Versuch des Reiches, aus der «Einkreisung» auszubrechen. Er warnte vor einem «Schuldbekenntnis, das unserem Volk die letzte Selbstachtung nimmt und (die) Gegner triumphieren lässt». Der sozialdemokratische Reichsminister ohne Geschäfts­ bereich Eduard David widersprach ihm. Reichsminister Scheidemann beteiligte sich nicht an der Debatte. Als das Reichskabinett am 18. April erneut die Kriegsschuldfrage er­ örterte, lag Kautskys Dokumentation bereits vor. Sie machte deutlich, dass die wilhelminische Reichsleitung einen wesentlichen, ja letztlich den Ausschlag gebenden Anteil an der Verantwortung für die Auslösung des Weltkrieges hatte. Diesmal widersprach auch Reichspostminister ­Johannes Bell vom Zentrum einer Veröffentlichung der Aktenstücke. Sie würden ein einseitiges, für Deutschland ungünstiges Bild entwerfen. Scheidemann empfahl deshalb, von der Veröffentlichung «zur Zeit» abzusehen. Die Auswahl der Dokumente, die das vom Auswärtigen Amt betreute und am 11. Juni 1919 vorgelegte «Weißbuch betr. die Verantwortlichkeit der Urheber am Kriege» enthielt, ließ nach Kautskys Urteil «alles andere als einen Bruch mit der Politik des gestürzten Regimes» erkennen. Ob die von Ebert geforderte Offensive der Ehrlichkeit auf die Siegermächte e­ inen maßgeblichen Einfluss ausgeübt hätte, steht dahin. Das innenpolitische Klima der Weimarer Republik aber war fortan durch Versuche geprägt,

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3. Der Preis des Fortschritts

den deutschen Anteil an der Verantwortung für den Ersten Weltkrieg zu beschweigen und den Siegern die Schuld zuzuschieben.11 Die alliierten Regierungen standen ihrerseits unter dem Druck ihrer Völker, die auf die Erfahrung von Opfern, Entbehrungen und Schäden in den Kriegsjahren mit dem Ruf nach Wiedergutmachung durch die Besiegten antworteten. Das Ergebnis mehrmonatiger Verhandlungen waren die Pariser Friedensverträge, obenan der Vertrag von Versailles, der in Deutschland als «Diktat» empfunden und bezeichnet wurde. Der Artikel 231, der das Deutsche Reich und seine Verbündeten mit der alleinigen Verantwortung für den Krieg belastete und eben damit die Forderung nach Reparationen begründete, trug mehr als jede andere Bestimmung zu diesem Verdikt bei. Für die nationalistische Rechte wurde er zum wichtigsten Hebel, mit dem sich Ressentiments gegen die demokratische ­Republik als Produkt der Niederlage, eines angeblichen marxistischen Dolchstoßes in den Rücken des im Felde unbesiegten Heeres, als Staatsform der Sieger, mithin als undeutsches System schüren ließen. Im Streit um Annahme oder Ablehnung des Vertrags zerbrach die Regierung Scheidemann. Zum Nachfolger des ersten Reichsministerpräsidenten, der sich selbst auf ein Nein festgelegt hatte, ernannte Ebert am 21. Juni 1919 einen anderen Sozialdemokraten, den bisherigen Reichsarbeitsminister Gustav Bauer. Sein Kabinett, dem die DDP zunächst nicht mehr angehörte, sprach sich unter dem Druck eines alliierten Ultimatums für die Unterzeichnung aus; die Nationalversammlung stimmte am 23. Juni in namentlicher Abstimmung mit 237 gegen 138 Stimmen bei 6 Enthaltungen zu. In das Ja war der von der Regierung formulierte Vorbehalt eingeschlossen, dass Deutschland weder seine alleinige Kriegsschuld anerkenne noch deutsche Kriegsverbrecher an die Sieger ausliefern könne. Als die Alliierten noch am selben Tag auf einer vorbehaltlosen Unterzeichnung bestanden, ließen sich die Abgeordneten des Regierungslagers, das in der Friedensfrage von der USPD unterstützt wurde, von den beiden Rechtsparteien, der monarchistischen Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) und der Deutschen Volkspartei (DVP), der ehemaligen Nationalliberalen Partei, ihre «vaterländischen Gründe» bestätigen, ehe sie am 23. Juni in nicht namentlicher Abstimmung der bedingungslosen Unterzeichnung zustimmten. Was sie den Deutschen damit ersparten, waren

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eine alliierte Besetzung des ganzen Landes, blutige Kämpfe, die sich rasch zum Bürgerkrieg ausweiten konnten, und eine abermalige Niederlage Deutschlands. Der Unterzeichnung des Friedensvertrags in Versailles am 28. Juni 1919 folgte ein anderer für die weitere Entwicklung der Republik grund­ legender Akt: die Annahme der Weimarer Reichsverfassung mit den Stimmen der MSPD, des Zentrums und der DDP, der drei «Weimarer Parteien». Der Grundrechtsteil der neuen deutschen Verfassung machte sie in vielen Ländern zum Vorbild, was sich von ihrem institutionellen Teil nicht sagen lässt. Als Konfliktquelle erwies sich das Machtgefälle zwischen dem plebiszitär legitimierten, vom Volk direkt gewählten Reichspräsidenten und dem Reichskanzler, der wie alle Minister jederzeit vom Reichstag gestürzt werden konnte, ohne dass sich eine Mehrheit für einen Nachfolger fand. Die Kompetenzen des Staatsoberhaupts waren in dem nicht genau definierten Fall, dass eine Störung oder Gefährdung der öffentlichen ­Sicherheit und Ordnung nach Artikel 48 vorlag, nachgerade diktatorisch. Bei der Direktwahl, die 1925 nach Eberts frühem Tod erstmals direkt stattfand, konnte beim zweiten Wahlgang auch ein neuer Bewerber an­ treten. Eine absolute Mehrheit war dabei, anders als beim ersten Wahlgang, nicht erforderlich. Mit einem Stimmenanteil von 48,3 Prozent kam auf diese Weise der damalige preußische Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg, ein Anhänger der Hohenzollernmonarchie, am 26. April 1925 ins höchste Amt der Republik.12 Dass die Väter und Mütter der Weimarer Verfassung keine konstitu­ tionellen Vorkehrungen gegen die Möglichkeit verfassungsfeindlicher, auf die Zerstörung der Demokratie ausgerichteter Mehrheiten schufen, kann man ihnen schwerlich vorhalten. Dergleichen wäre ihnen als Rückfall in den Obrigkeitsstaat erschienen. Es bedurfte der Erfahrungen des Scheiterns der ersten Republik, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass eine Demokratie wehrhaft sein musste, um sich gegen einen Triumph ihrer Feinde nach besten Kräften zu schützen. Die letzten vier Monate des Jahres 1919 verliefen weniger dramatisch als die vorangegangenen. Dass indes von einer nachhaltigen Beruhigung nicht die Rede sein konnte, zeigte sich bei der zweiten Lesung des ­Betriebsrätegesetzes am 13. Januar 1920. Die Berliner Bezirksleitung der

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3. Der Preis des Fortschritts

USPD und der «Rote» Vollzugsrat der Berliner Arbeiterräte hatten zu einem Marsch auf den Reichstag, nicht aber zu einer Erstürmung des Parlaments aufgerufen. Doch die außerparlamentarische Aktion entglitt völlig ihren Händen. Als einige Demonstranten in das Reichstagsgebäude eindringen wollten, kam es zu einem Schusswechsel mit der Sicherheitspolizei. 42 Menschen wurden getötet, zahllose verletzt. Reichspräsident Ebert verhängte den Ausnahmezustand über das ganze Reich. Das Betriebsrätegesetz, das die Nationalversammlung am 18. Januar mit den Stimmen der Koalition gegen die der Rechtsparteien und der USPD annahm, war ein Kompromiss zwischen der MSPD und ihren «bürgerlichen» Partnern. Aus der Sicht der radikalen Linken war die Lösung eine Farce. Im internationalen Vergleich hatte Deutschland damit die am weitesten gehende Form von betrieblicher Mitbestimmung der Arbeitnehmer verwirklicht. Der Gewaltaktion von links außen folgte im März 1920 der erste groß angelegte Umsturzversuch der monarchistischen Rechten: der KappLüttwitz-Putsch, benannt nach dem ostpreußischen Landschaftsdirektor Wolfgang Kapp und dem Kommandierenden General des Reichswehrgruppenkommandos I in Berlin, Freiherr Walther von Lüttwitz. Getragen wurde die Erhebung von beträchtlichen Teilen des grundbesitzenden Adels und der hohen Beamtenschaft des ostelbischen Preußen, des von dort stammenden Offizierskorps und vielen von der Auflösung bedrohten Freikorps. Da sich die Berliner Ministerialbürokratie dem Umsturz verweigerte und die gesamte Linke, die Kommunisten freilich erst nach einigem Zögern, an dem von den Freien Gewerkschaften organisierten Generalstreik beteiligten, war den Putschisten kein Erfolg beschieden: Am 18. März zog deren Stoßtrupp, die «Brigade Erhardt», unter Anrichtung eines Blutbads am Brandenburger Tor, wieder aus Berlin ab. Die Niederlage der «Kappisten» war noch nicht das Ende des Generalstreiks. Da die Gewerkschaften unter dem Druck der USPD auf Sicherungen gegen die Gefahr von rechts bestanden, wurde der Ausstand erst am 23. März abgebrochen, nachdem der wenig tatkräftige Gustav Bauer als Reichskanzler (den Titel führte er seit dem Inkrafttreten der Reichsverfassung am 14. August 1919) vom bisherigen Außenminister, Hermann Müller, abgelöst worden war und Gustav Noske, dem mit Recht vor­ geworfen wurde, er habe das Militär einfach gewähren lassen, von seinem

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Amt hatte zurücktreten müssen. Sein Nachfolger wurde kein Sozialdemokrat, sondern der Abgeordnete Otto Geßler von der DDP. Ein politisches Revirement gab es um dieselbe Zeit auch im größten deutschen Staat, in Preußen, wo der energische Sozialdemokrat Otto Braun als Ministerpräsident an die Stelle des profillosen Paul Hirsch trat, und ein anderer agiler Sozialdemokrat, Carl Severing, neuer Innenminister wurde. Mit ihnen begann ein Reformprozess, der innerhalb weniger Jahre Preußen zu einem Bollwerk der Republik und zum Gegenpol des Freistaats Bayern werden ließ, wo der Kapp-Lüttwitz-Putsch zu einem Rechtsruck führte. Die Umbildung der Regierungen im Reich, in Preußen und Bayern war aber noch nicht der Schlussstrich unter das Kapitel, mit dem der Rechtsputsch begonnen hatte. Das blutige Ende der regionalen Kämpfe bildete der «Ruhrkrieg» vom Frühjahr 1920, der zunächst von den linken Flügeln aller Arbeiterparteien getragen wurde. Er war die größte soziale Protest- und proletarische Massenbewegung, die es in Deutschland bislang gegeben hatte (und bis zum Volksaufstand in der DDR vom Juni 1953 geben sollte). Man kann in den Kämpfen im rheinisch-westfälischen Industriegebiet mit guten Gründen das wahre Ende der Revolution von 1918 /19 sehen. Im Kampf gegen die «Rote Ruhrarmee» wurden auch ­Freikorps und Reichswehreinheiten eingesetzt, die zuvor auf Seiten der Putschisten gekämpft hatten und jetzt mit brutaler Gewalt gegen die entschiedensten Gegner des schwarz-weiß-roten Umsturzversuchs vorgingen. Erst am 10. Mai 1920 wurde der Widerstand der letzten Gruppen von radikalen Anarchisten und Kommunisten gebrochen. Am 6. Juni 1920 fanden auf Druck der Rechtsparteien die ersten Reichstagswahlen statt. Die «Weimarer Parteien», die MSPD, das Zentrum und die DDP, verloren bei ihnen – wie sich zeigen sollte: dauerhaft  – die Mehrheiten im Reichstag. Die größten Stimmengewinne ­verbuchten die USPD, die DNVP und die DVP. Die Mehrheitssozial­ demokraten zogen sich in die Opposition zurück. 1922 vereinigten sie sich mit der «Rest-USPD», das heißt dem Teil der Unabhängigen, der sich Ende 1920 gegen die Vereinigung mit der KPD entschieden hatte (die erst dadurch zur Massenpartei wurde). Auf der Ebene des Reiches waren fortan nur noch Minderheitsregierungen, eine bürgerliche Rechtskoalition unter Einschluss der Deutsch-

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3. Der Preis des Fortschritts

nationalen und eine «Große Koalition» möglich, die von den Sozial­ demokraten bis zur unternehmernahen, von Gustav Stresemann geführten Deutschen Volkspartei reichte. Das erste Kabinett, das nach der Wahl vom 6. Juni 1920 gebildet wurde, war eine bürgerliche Minderheitsregierung aus Zentrum, DVP und DDP unter dem Zentrumspolitiker Constantin Fehrenbach. Stabile politische Verhältnisse waren unter solchen Umständen nicht zu erwarten. In den nächsten dreieinhalb Jahren stand Deutschland im Zeichen von häufigen Regierungskrisen, diplomatischen Kämpfen um die Reparationen, von zum Teil bewaffneten Konflikten um deutsche ­Gebietsabtretungen an Polen, politischen Attentaten auf Repräsentanten der Republik wie dem ehemaligen Reichsfinanzminister Matthias Erz­ berger vom Zentrum und dem liberalen Außenminister Walther Rathenau, der der Rechten zudem als Jude verhasst war, einer regionalen kommunistischen Erhebung wie des Mitteldeutschen Aufstands von 1921, der aber keinen breiten Massenrückhalt hatte, sondern eher putschartige Züge trug. Dazu trat die fortschreitende Inflation, verursacht durch die weitgehend schuldenfinanzierte Kriegsfinanzierung des Kaiserreichs und vorangetrieben durch die republikanischen Regierungen, die in der Geldentwertung ein Mittel zur Milderung der sozialen Konflikte und zur Aushöhlung der alliierten Reparationsforderungen sahen. Ihren Höhepunkt erreichte die Nachkriegskrise im Jahr 1923, dem Jahr der französisch-belgischen Ruhrbesetzung, des «passiven Widerstands», der Hyperinflation, der kurzlebigen ersten «Großen Koalition» unter Gustav Stresemann, der linken Koalitionsregierungen aus Sozial­ demokraten und Kommunisten in Sachsen und Thüringen, eines von der Kommunistischen Internationale und der KPD geplanten «deutschen Oktobers» nach dem Vorbild der Bolschewiki, aus dem aber nur ein örtlicher Aufstand in Hamburg hervorging, der Reichsexekutionen gegen Sachsen und Thüringen, aber nicht gegen das partikularistische Bayern, und des gescheiterten Hitler-Putsches in München im November. Erst im Herbst 1923 zeichnete sich, dank einer gelingenden Währungsreform im nicht besetzten Reichsgebiet, eines Entgegenkommens der USA in der umstrittenen Frage der interalliierten Kriegsschulden und der allmählich weniger konfrontativen Politik Frankreichs, eine Entspannung im Verhältnis der Siegermächte zu Deutschland ab. Sie fand ihren ver-

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traglichen Abschluss im ersten Reparationsabkommen, dem Dawes-Plan, der auf die begrenzte wirtschaftliche Leistungskraft Deutschlands Rücksicht nahm. Im August 1924 fand er nach langwierigen Debatten eine Mehrheit im Reichstag. Erst danach setzte ein Prozess der relativen Stabilisierung ein, der den folgenden fünf Jahren ihren Stempel aufdrückte.13

III.

Nicht erst Nachlebende sprechen von einer wirtschaftlichen «Scheinblüte» in den mittleren Weimarer Jahren, den eigentlichen «golden twenties». Schon Zeitgenossen verwiesen darauf, dass die erste Republik und im Besonderen viele Kommunen damals über ihre Verhältnisse lebten: Kurz­ fristig vergebene amerikanische Kredite wurden vorzugsweise für lang­ fristige Zwecke wie Rathäuser, Sport- und Grünanlagen sowie soziale Reformbauten im Stil der Neuen Sachlichkeit investiert; Reich und Länder erhöhten, um einen Ausgleich für die Entbehrungen der Inflationsjahre zu schaffen, die Beamtengehälter kräftig. Politisch erreichte die Zeit der relativen Stabilisierung ihren Höhepunkt in der Reichstagswahl vom Mai 1928, aus der die Sozialdemokraten mit 29,8 Prozent als stärkste Partei hervorgingen. Nur unter stärkstem persönlichem Einsatz gelang es Reichs­ außenminister Gustav Stresemann, seine Partei, die DVP, für eine (zunächst nur informelle, als «Kabinett der Persönlichkeiten» bezeichnete) Große Koalition unter dem Mitvorsitzenden der SPD, Hermann Müller, als Kanzler zu gewinnen. Am 3. Oktober 1929 starb Stresemann. Unter seinem Nachfolger Ernst Scholz rückte die Deutsche Volkspartei rasch nach rechts. Um dieselbe Zeit verschlechterte sich die Wirtschaftslage. Am 24. Oktober brach infolge einer überhitzten Aktienspekulation die New Yorker Börse zusammen. In Deutschland stiegen die ohnehin schon hohen Erwerbslosenzahlen weiter an; amerikanische Banken und Investmentfonds zogen ihre Kredite zurück; die Finanzen von Reich und Ländern gerieten unter massiven Druck. Mitte März 1930 nahm der Reichstag mit den Stimmen der Regierungsparteien das umstrittene neue Reparationsabkommen, den Young-

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3. Der Preis des Fortschritts

Plan, an. Wenig später, am 27. März, zerbrach die letzte parlamentarische Mehrheitsregierung der Republik an einem Streit um die Sanierung der 1927 verabschiedeten Arbeitslosenversicherung – zuletzt am Widerstand der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion und der Freien Gewerkschaften gegen eine, wie sie meinten, allzu geringe Anhebung der pari­ tätischen Beitragssätze von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Wieder einmal war eine Weimarer Koalitionsregierung daran gescheitert, dass Parteien, die aus der Zeit der konstitutionellen Monarchie her nicht an Regierungsverantwortung und nicht an Kompromisszwänge ­gewöhnt waren, ihre Partei- der Koalitionsräson und damit zugleich der Verfassungsräson überordneten. Die Einsicht, dass in einer parlamentarischen Demokratie die entscheidende Trennlinie nicht mehr zwischen Regierung und Parlament, sondern zwischen Regierungslager und Opposition verläuft, hatten sich auch noch 1930 viele Akteure nicht zu eigen gemacht. Die Weimarer Verfassung machte es den Abgeordneten des Reichstags allerdings auch leicht, in schwierigen Situationen die Verantwortung für unpopuläre Entscheidungen auf ein anderes Verfassungsorgan abzuschieben: den Reichspräsidenten. Da im Frühjahr 1930 eine alternative parlamentarische Mehrheitsregierung nicht zur Verfügung stand, war nach dem Bruch der Großen Koalition früher oder später mit dem Übergang zur «Reserveverfassung» der Republik, dem Regieren mit Notverordnungen des Reichspräsidenten nach Artikel 48 der Reichsverfassung, zu rechnen. Ebendies geschah im Sommer 1930. Zum Nachfolger Hermann Müllers ernannte der Reichspräsident den Fraktionsvorsitzenden des Zentrums, Heinrich Brüning. Als dessen bürgerliche Minderheitsregierung Mitte Juli bei einer haushaltspolitischen Abstimmung eine Niederlage erlitt, erließ Hindenburg die ersten beiden Notverordnungen. Nach ­deren Aufhebung durch den Reichstag löste der Reichspräsident den Reichstag auf, setzte die Neuwahl auf den 14. September 1930 fest und erließ eine neue Notverordnung. Auf ein Präsidialregime hatten der Reichsverband der Deutschen ­Industrie, die Großlandwirtschaft Ostelbiens, die engere Umgebung Hindenburgs, die sogenannte Kamarilla, Reichswehrkreise um den poli­ tisierenden General Kurt von Schleicher, die DNVP und seit Ende 1929

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auch die DVP hingearbeitet. Ein Hauptargument war dabei meist die angeblich übertriebene Ausgabenfreudigkeit des Reichstags und der Landtage. Aus den vorgezogenen Reichstagswahlen vom 14. September 1930 gingen aber nicht die traditionellen Rechtsparteien als Gewinner hervor, sondern eine Gruppierung, die im Mai 1928 nur auf 2,6 Prozent der Stimmen gekommen war, Hitlers Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, die zwei Jahre später mit einem Stimmenanteil von 18,3 Prozent zur zweitstärksten Partei hinter der SPD aufstieg, die 24,5 Prozent erhielt. Ihren Aufstieg zur Massenbewegung und Volkspartei verdankte die NSDAP nicht so sehr dem Appell an die antisemitischen Ressentiments, die für ihren inneren Kern kennzeichnend waren, als einem radikalen ­Nationalismus: Er bildete nicht nur ihre Antwort an den ideologischen Internationalismus der marxistischen Arbeiterbewegung, sondern auch eine Universalwaffe gegen alles, was die Gesellschaft sozial, konfessionell und weltanschaulich trennte. Mit einem exzessiven Nationalismus ließen sich in einer wirtschaftlichen und sozialen Krisensituation unterschiedliche Interessenlagen zumindest vorübergehend in den Hintergrund drängen und eine Regierungsform diffamieren, die den offenen Austrag von Konflikten erlaubte, ja für die er die «raison d’être» bildete: die repräsentative Demokratie. In eine solche Krisensituation war die Weimarer Republik im Herbst 1929 geraten, und davon sollte keine Partei so sehr profitieren wie die Nationalsozialisten. Um einen weiteren Rechtsruck im Reich zu verhindern und in Preußen, wo sie unter der Führung Otto Brauns mit Brünings Partei, dem Zentrum, und der Deutschen Staatspartei, der umbenannten DDP, ­regierten, an der Macht zu bleiben und die Kontrolle über die Polizei zu behalten, entschieden sich die Sozialdemokraten, das Minderheitskabinett Brüning fortan zu tolerieren. Sie wurden auf diese Weise zu Mit­ trägern einer rigorosen und höchst unpopulären Sparpolitik, konnten so aber auch zusammen mit dem Regierungslager im März und April 1932 durch die Wiederwahl Hindenburgs verhindern, dass Hitler ins Amt des Reichspräsidenten gelangte. Als Oppositionspartei aber fiel die SPD seit Oktober 1930 aus. Ebenso wie mit der Selbstausschaltung des Reichstags ein halbes Jahr zuvor trug sie durch dieses Faktum dazu bei, den entschiedensten Gegnern der Weimarer Demokratie, in erster Linie der NSDAP, in zweiter der KPD,

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3. Der Preis des Fortschritts

Wähler zuzuführen. Auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise und der Massenarbeitslosigkeit im Jahr 1932, bei den beiden Reichstagswahlen im Juli und im November, erhielten beide Parteien zusammen eine (negative) Mehrheit gegen die Demokratie. Bei der zweiten Wahl am 6. November 1932 verloren die Nationalsozialisten zwar über zwei Millionen Stimmen und entfernten sich dadurch von der Aussicht auf eine parlamentarische Mehrheit, aber die Kommunisten gewannen gleichzeitig rund 700 000 Stimmen hinzu, was die Angst vor der «roten Revolution» besonders in der Oberschicht wachsen ließ und Hitler neue Sympathisanten zuführte. Zu einer Machtübertragung an Hitler, den Führer der stärksten Partei, war der Reichspräsident zu keiner Zeit gezwungen – sowenig wie er Ende Mai 1932 genötigt war, seinen treuen Unterstützer Brüning zu entlassen, durch den ultrakonservativen Franz von Papen zu ersetzen und damit die gemäßigte, parlamentarisch tolerierte Form des Präsidial­ regimes durch eine offen antiparlamentarische, autoritäre Form abzulösen. Im Winter 1932 /33 hätte er auch Papens Nachfolger, den Reichswehrminister General Kurt von Schleicher, nach dem zu erwartenden Misstrauensvotum des Reichstags geschäftsführend im Amt belassen oder durch ­einen «unpolitischen» Nachfolger ersetzen können. Stattdessen entschied sich der greise Reichspräsident unter dem Druck des großagrarisch dominierten Reichslandbundes, des ehemaligen Kanzlers von Papen und ­seiner persönlichen «Kamarilla», Hitler zum Kanzler an der Spitze eines mehrheitlich konservativen Kabinetts zu ernennen. Der 30. Januar 1933 war kein zwangsläufiges, aber auch kein zufälliges Ergebnis der bisherigen Entwicklung. Ohne die Weltwirtschaftskrise hätte die erste Republik eine gute Überlebenschance gehabt. Ohne die obrigkeitsstaatlichen Vorbelastungen hätte Weimar aber auch das Massenelend der frühen dreißiger Jahre überstehen können. Dafür spricht der Vergleich Deutschlands mit ebenfalls stark von der Depression betroffenen Industrieländern mit alter liberaler und demokratischer Tradition wie den USA und Großbritannien. Ein radikaler Bruch mit der Vergangenheit war Deutschland 1918 /19 aber nicht möglich, weil es dafür wirtschaftlich und politisch zu entwickelt war. Das eben war der Preis für den Fortschritt, den Deutschland schon vor dem Übergang zur Demokratie erlebt hatte. Und es war namentlich eine Folge der ungleichzei-

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tigen Demokratisierung des Kaiserreichs, der frühen Einführung des allgemeinen gleichen Männerwahlrechts und der späten Parlamentarisierung des Regierungssystems im Zeichen der Niederlage im Ersten Weltkrieg.14 Historische Prägungen machten auch einen vermeintlichen Ausweg aus der deutschen Staatskrise nach 1930 unmöglich: eine proletarische Einheitsfront gegen Hitler. Die Sozialdemokraten waren kraft ihrer demokratischen Tradition zur Staatsgründungspartei der Weimarer Republik und dann zur Staatspartei schlechthin geworden. Sie waren es zu keiner Zeit mehr, als der Staat von Weimar weniger denn je der ihre war. Die Reste der Macht, über die die SPD, etwa in Preußen, nach 1930 noch verfügte, hatte sie nur wegen ihrer unbedingten Verfassungs- und Gesetzestreue bewahren können. Einerseits Verfassungspartei zu sein und andererseits Bürgerkriegspartei im Wartestand: Das war subjektiv und objektiv unmöglich. Die Kommunisten waren die Partei, die sich offen zum revolutionären Umsturz bekannte und seit 1929 die Sozialdemokraten als «Sozialfaschisten» bekämpfte. Unter den Bedingungen der Massenarbeitslosigkeit an einen Generalstreik zu denken war illusorisch. Erst recht gilt das für einen bewaffneten Aufstand gegen die geballte Staatsmacht und mit dem Ziel der Rettung der Demokratie, sei es nach dem «Preußenschlag» des Kabinetts von Papen vom 20. Juli 1932, der Absetzung der nur noch geschäftsführend amtierenden Minderheitsregierung in Preußen unter Otto Braun auf dem Weg einer Reichsexekution, sei es nach der formal legalen Machtübertragung an Hitler am 30. Januar 1933. Der Traum von der versäumten Chance der Linken ist ein Ausfluss von Wunschdenken. Im Juli 1931, in der Zeit der «Tolerierungspolitik», hat der zweimalige Reichsfinanzminister, der sozialdemokratische Cheftheoretiker Rudolf Hilferding, in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift «Die Gesellschaft» das Dilemma seiner Partei in einem denkwürdigen Verdikt zusammen­ gefasst. Er sprach von einer «tragischen Situation», in die die SPD geraten sei. Begründet sei diese Tragik in dem Zusammentreffen der schweren Wirtschaftskrise mit dem politischen Ausnahmezustand, den die Wahlen vom 14. September 1930 geschaffen hätten. «Der Reichstag ist ein Parlament gegen den Parlamentarismus, seine Existenz eine Gefahr für die Demokratie, für die Arbeiterschaft, für die Außenpolitik … Die Demokratie zu behaupten gegen eine Mehrheit, die die Demokratie verwirft, und das

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3. Der Preis des Fortschritts

mit den politischen Mitteln einer demokratischen Verfassung, die das Funktionieren des Parlamentarismus voraussetzt, das ist fast die Quadratur des Kreises, die da der Sozialdemokratie als Aufgabe gestellt ist – eine wirklich noch nicht dagewesene Situation.»15 Was Mitte Juli 1931 zutraf, war auch noch Anfang 1933 richtig.

K AP I T E L 4

REVOLU TION VON R EC H TS ? DER OR T D ES N ATION A L SOZIA L IS M U S I N DER D EU TSC H EN GESC H IC H T E

Der Ort des Nationalsozialismus in der 4. Revolution deutschen von Geschichte rechts?

Adolf Hitler trifft im Wahlkampf für die Reichspräsidentenwahl am 4. April 1932 im Berliner Lustgarten ein und wird von Anhängern mit dem Hitlergruß empfangen.

I.

«Revolution von rechts»: Das ist der Titel eines Buches des Soziologen Hans Freyer aus dem Jahr 1931. Die Programmschrift eines der führenden Vertreter der Weimarer intellektuellen Rechten, der später so genannten «Konservativen Revolution», enthält bereits viele Versatzstücke von dem, was uns nach 1933 auch in «offiziösen» Beiträgen zu einer Ideologie des «Dritten Reiches» an Sinngebungsversuchen begegnet. Für Freyer ist die «Revolution von rechts» die historische Antwort auf die marxistische Revolution von links. Gegen die «Gesellschaft», die im 19. Jahrhundert zur Gesellschaft des Klassenkampfs geworden ist, erhebt sich das «Volk». «Das Volk ist der Gegenspieler der industriellen Gesellschaft, der einzige, den die Geschichte für sie bereitet hat … Es ist der lebendige Kern, um den sich die Mittel des industriellen Systems zum erstenmal zu einer Welt zusammenzufügen, wenn es gelingt, sie zu erobern.»1 Der bloße Gedanke, eine Revolution könne von rechts kommen, war für die meisten Linken ein Sakrileg. In der gängigen Vorstellung hatte «Revolution» immer die Auflehnung von Unterdrückten gegen ihre ­Unterdrücker, also einen Akt der Befreiung, der Emanzipation und des Fortschritts, bedeutet. Wenn sich nicht diejenigen, die auf der sozialen Stufenleiter ganz unten standen, sondern gesellschaftliche Zwischenschichten hinter einer Bewegung versammelten, die mit revolutionärem Anspruch auftrat, widersprach das allen linken Erwartungen an den weiteren Gang der Geschichte. Die faschistischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit, radikal in i­hrem Antiliberalismus, Antimarxismus und Antibolschewismus, hatten ihre soziale Basis vor allem in den Mittelschichten, konnten aber auch Teile der Arbeiterschaft für sich gewinnen. Dass sie von Teilen der agrarischen und industriellen Eliten gefördert wurden, führte dazu, dass sie von den meisten Linken als Instrument der herrschenden Klasse und damit als konterrevolutionär betrachtet wurden. Am krassesten schlug sich diese Sichtweise in der Faschismusdefinition der Kommunistischen Internationale, der «Komintern», vom Dezember 1933, der sogenannten «Di-

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mitroff-Formel», nieder, der zufolge der «Faschismus an der Macht … die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals» war.2 Zwischen italienischem Faschismus und deutschem Nationalsozialismus unterschieden die Ideologen des Marxismus-Leninismus bei ihrem Faschismusbegriff nicht, und auch sonst ist dieser nivellierende Sprach­ gebrauch links der Mitte bis heute weit verbreitet. Das liegt vorrangig daran, dass der «Sozialismus» im Parteinamen der Nationalsozialisten als Täuschung empfunden wird. Die erheblichen Unterschiede zwischen den Bewegungen und Regimen Mussolinis und Hitlers werden damit unterschlagen. So war, um nur die wichtigste Differenz zu nennen, der fanatische Judenhass von Anfang an ein Merkmal der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei Adolf Hitlers, nicht aber von Benito Mussolinis Partito Nazionale Fascista. Die marxistische Theorie hätte durchaus eine differenziertere Faschismustheorie erlaubt als die, die der bulgarische Komintern-Funktionär Georgi Dimitroff erstmals 1933 vortrug. Drei Jahre zuvor hatte ein rechtskommunistischer Abweichler, der deutsche August Thalheimer, eine Deutung des Faschismus vorgetragen, die an Marxens Analyse des Bonapartismus in der Schrift «Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte» aus dem Jahr 1852 anknüpfte. Danach war das System des französischen Präsidenten Louis Napoleon, des späteren Kaisers Napoleon III., Ausdruck der «verselbständigten Macht der Exekutivgewalt». Dieser war die höchste Staatsgewalt zugefallen, weil der offene Krieg zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat sich erschöpft hatte und keine der beiden Klassen stark genug war, ein neue Schlacht zu schlagen. Thalheimer zog eine Parallele zur Gegenwart. So wie in den Jahren nach 1848 in Frankreich hatte in den 1920er Jahren in Italien die Bourgeoisie eingesehen, dass sie, um ihre soziale Macht zu retten, auf die ­unmittelbare Ausübung ihrer politischen Macht über das Parlament verzichten und sich unter den Schutz einer starken Exekutivgewalt stellen musste.3 So sehr sich das bonapartistische System Frankreichs unter Napoleon III. und die faschistischen Regime der Zwischenkriegszeit unterschieden: Von diesem Ansatz aus ließ sich den politischen Handlungsspielräumen von «Duce» und «Führer» sehr viel besser Rechnung tragen als mit der kruden Kominternformel.

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Mussolinis «Marsch auf Rom» Ende Oktober 1922 sollte revolutionär wirken, war aber nicht mehr als eine Drohkulisse. Die Willfährigkeit des Monarchen, König Vittorio Emanuele III., ersparte den Faschisten die tatsächliche Konfrontation mit der Staatsmacht. Hitler hatte, als er nach 1930 zur Eroberung der Staatsmacht ansetzte, sein revolutionäres Abenteuer, den gescheiterten Münchner Bierhallenputsch vom 8. / 9. November 1923, längst hinter sich und war mittlerweile bestrebt, den äußeren Schein der Legalität zu wahren, um möglichst im Bund mit einigen der alten Eliten verfassungskonform in den Besitz der Macht zu gelangen. Für den Fall, dass die Regierenden, um ebendies zu verhindern, ihrerseits den Boden der Verfassung verlassen sollten, behielt er sich aber jederzeit den Rückgriff auf revolutionäre Gewalt in Gestalt des Einsatzes seiner Bürgerkriegsarmee, der SA, vor. Diese Doppelstrategie erwies sich als erfolgreich: Mit der Ernennung zum Reichskanzler durch Reichspräsident Paul von Hindenburg am 30. Januar 1933 hatte Hitler sein Ziel erreicht.

II.

Der Machtübertragung folgte die «Machtergreifung», ein in vieler Hinsicht revolutionärer Prozess. Zu ihm gehörten die terroristische Unterdrückung und Verfolgung politischer Gegner, besonders der «Marxisten» und am stärksten der Kommunisten, mit Hilfe der Polizei und einer neuen «Hilfspolizei» aus SA und SS und dem rechten Wehrverband Stahlhelm sowie in Form von «Schutzhaft» für linke und zumal jüdische Intellektuelle. Durch die «Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat» vom 28. Februar 1933, die staatliche Antwort auf den (zu Unrecht den Kommunisten angelasteten) Reichstagsbrand vom Vortag, wurden die wichtigsten Grundrechte «bis auf weiteres» außer Kraft gesetzt. Deutschland hörte auf, das zu sein, was es schon lange vor der Weimarer Republik gewesen war: ein Rechts- und Verfassungsstaat. Nach der nur noch bedingt freien Reichstagswahl vom 5. März 1933, die nicht der NSDAP allein, aber den Parteien der Regierung Hitler eine solide parlamentarische Mehrheit verschaffte, war die Beseitigung der Reste der ersten deutschen Demokratie lediglich eine Frage der Zeit. Un-

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mittelbar nach der Wahl begann das, was die Nationalsozialisten die ­«nationale Revolution» nannten. Zu ihren Kennzeichen gehörten offi­ zielle und «wilde» Konzentrationslager, in die Zehntausende von politischen Gegnern ohne jedes Gerichtsverfahren eingeliefert wurden. Durch das Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933, das mit Hilfe aller bürgerlichen Parteien gegen die Stimmen der SPD angenommen wurde, wurden Reichstag und Reichsrat entmachtet und die Reichsregierung für die Dauer von vier Jahren pauschal in die Lage versetzt, Gesetze zu erlassen. Es folgten die «Gleichschaltung» der noch nicht nationalsozialistisch ­regierten Länder, Kreise, Kommunen und Gemeinden, die Säuberung des Beamtenapparates von unerwünschten Personen, die Entlassung jüdischer und anderer unliebsamer Hochschullehrer, die Zerschlagung der Gewerkschaften und die Gründung der Deutschen Arbeitsfront, die Verbrennung von Büchern jüdischer und linker Autoren, die Selbst- oder Zwangsauflösung der anderen Parteien und schließlich am 14. Juli 1933, dem Jahrestag des Sturms auf die Pariser Bastille, ein Gesetz, das alle Parteien außer der NSDAP verbot und alle Personen, die es unternahmen, die Organisation einer Partei aufrechtzuerhalten oder eine Partei neu zu gründen, mit Gefängnis- oder Zuchthausstrafen bedrohte. Auf dem Weg zur Errichtung eines Machtmonopols war Hitler innerhalb eines halben Jahres schneller vorangekommen als Mussolini in drei Jahren. Doch nicht alle Nationalsozialisten waren mit dem zufrieden, was Mitte 1933 bereits erreicht war. Im Juni 1933 erschien in den «National­ sozialistischen Monatsheften» ein Grundsatzartikel des «Stabschefs» der SA, Ernst Röhm. Er pflichte, schrieb er, ausnahmsweise jenen «Spießerseelen» bei, die da meinten, dass es ausreiche, wenn der Staatsapparat ein anderes Vorzeichen erhalten habe, und dass die «nationale» Revolution schon zu lange dauere. «Es ist in der Tat hohe Zeit, dass die nationale Revolution aufhört und dass daraus die nationalsozialistische wird! Ob es ihnen passt oder nicht – wir werden diesen Kampf weiterführen. Wenn sie endlich begreifen, um was es geht: mit ihnen. Wenn sie nicht wollen: ohne sie! Und wenn es sein muss: gegen sie!»4 Die Forderung nach einer zweiten Revolution, erhoben von dem Mann an der Spitze der inzwischen auf 1,5 Millionen angeschwollenen «braunen Bataillone», nötigte den «Führer» zu einer Antwort. Hitler wusste sehr wohl, dass er seine langfristigen Ziele nicht gegen Reichswehr,

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Beamtenschaft und Unternehmertum durchsetzen konnte. Deshalb verkündete er am 6. Juli 1933 vor den versammelten Reichsstatthaltern: «Die Revolution ist kein permanenter Zustand, sie darf sich nicht zu einem Dauerzustand ausbilden. Man muss den freigewordenen Strom der Revolution in das sichere Bett der Evolution hinüberleiten. Die Partei ist jetzt der Staat geworden. Alle Macht liegt bei der Reichsgewalt. Es muss verhindert werden, dass das Schwergewicht des deutschen Lebens wieder in einzelne Gebiete oder gar Organisationen verlagert wird.»5 Röhm ließ sich weder von solchen öffentlichen Belehrungen noch von seiner Ernennung zum Reichsminister ohne Geschäftsbereich im Dezember 1933 beeindrucken. Er forderte vielmehr, dass die SA bei der Wiederwehrhaftmachung eine Schlüsselrolle spielen und den Kern einer künftigen Miliz eines «Volkes in Waffen» bilden sollte. Anfang Februar 1934 schickte er dem Reichswehrminister von Blomberg ein Memorandum, in dem die Reichswehr auf die Funktion eines Ausbildungsheeres herabgedrückt wurde. Reichswehr und SA sollten also einen Rollentausch vornehmen. Hitler konnte sich bei dem Konflikt nur auf die Seite der Reichswehr stellen. Am 28. Februar 1934 erteilte er vor den Spitzen von Reichswehr, SA und SS den Plänen Röhms eine klare Absage. Die Reichswehr erhielt den Auftrag, ein modernes «Volksheer» aufzubauen, das in fünf Jahren für jede Verteidigung, in acht Jahren auch zum Angriff geeignet sein müsse. Der SA, von der Hitler unbedingten Gehorsam verlangte, wurden Aufgaben des Grenzschutzes und der vormilitärischen Ausbildung zugewiesen. Röhm fügte sich äußerlich den Direktiven seines «Führers», seine Reden aber blieben so «revolutionär» wie zuvor. Im Frühjahr 1934 mehrten sich Zwischenfälle zwischen SA und Reichswehr. Einen «Röhm-Putsch» oder eine «Röhm-Revolte» jedoch hat es, entgegen den Behauptungen Hitlers und seiner Gefolgsleute, nie gegeben. Vielmehr war es Hitler, der sich unter dem massiven Druck seiner engsten Paladine, Heinrich Himmler und Hermann Göring, im letzten Augenblick entschloss, das Problem Röhm ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen. Am 30. Juni wurden Röhm und andere hohe SA-Führer im bayerischen Bad Wiessee unter persönlicher Beteiligung Hitlers verhaftet, in das Gefängnis MünchenStadelheim verbracht und dort, mit Ausnahme Röhms, noch am gleichen Tag erschossen. Röhms Erschießung erfolgte einen Tag später.

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Gleichzeitig mit der Liquidation der obersten SA-Führung ließ Hitler auch einen ehemaligen innerparteilichen Widersacher, den früheren Reichsorganisationsleiter der NSDAP, Gregor Strasser, und einige miss­ liebige Konservative, darunter den ehemaligen Reichskanzler Kurt von Schleicher und den General Ferdinand von Bredow, und enge Mitarbeiter des Vizekanzlers von Papen, unter ihnen Edgar Jung, einen der führenden Autoren der «Konservativen Revolution», ermorden. Unter den 85 namentlich bekannten Opfern der Straf- und Säuberungsaktion gehörten 50 der SA an. Die politischen Gewinner der Mordserie waren die Reichswehr und Himmlers SS, deren Aufstieg zum «Staat im Staat» jetzt begann. Am 3. Juli 1934 beschloss die Reichsregierung ein rückwirkendes Gesetz, wonach die «zur Niederschlagung hoch- und landesverräterischer Angriffe» am 30. Juni, 1. und 2. Juli 1934 vollzogenen Maßnahmen «als Staatsnotwehr rechtens» waren. Hitler selbst rechtfertigte sein Vorgehen am 13. Juli vor dem Reichstag damit, dass er «in dieser Stunde … verantwortlich für das Schicksal des deutschen Volkes und damit des deutschen Volkes oberster Gerichtsherr» gewesen sei.6 Tatsächlich war die Mord­ aktion das revolutionärste Stadium im Prozess der «Machtergreifung». Das «gesunde Volksempfinden» feierte die Ausschaltung der SA-Führung als rettende Tat. «Die Art der Liquidierung der Röhm-Revolte hat die Sympathien, welche der Führer beim Volk genießt, ganz bedeutend erhöht», heißt es in einem Bericht aus Ingolstadt, der typisch ist für das, was auch andere amtliche Beobachter meldeten.7 Wenige Wochen später sprengte Hitler den durch das Ermächtigungsgesetz geschaffenen Rechtsrahmen erneut. Er nutzte den Tod des sechsundachtzigjährigen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg am 2. August 1934, um, entgegen den ausdrücklichen Bestimmungen des Gesetzes vom 23. März 1933, noch am 2. August die Ämter des Reichspräsidenten und des Reichskanzlers in seiner Person zu vereinigen. Die «rechtliche» Grundlage hierfür hatte die Reichsregierung durch ein tags zuvor beschlossenes Gesetz geschaffen. Noch am Tag von Hindenburgs Tod wurden die Soldaten der Reichswehr auf den «Führer des Deutschen Reichs und Volkes, Adolf Hitler, den Oberbefehlshaber der Wehrmacht» ver­ eidigt, dem sie «unbedingten Gehorsam» schworen. Die Machtergreifung war damit institutionell abgeschlossen. Die ­Akklamation des Volkes holte Hitler am 19. August 1934 durch ein Plebis-

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zit ein. Bei einer Stimmbeteiligung von 84,3 Prozent stimmten 89,9 Prozent der Deutschen für das Gesetz vom 1. August, wonach die bisherigen Befugnisse des Reichspräsidenten auf den «Führer und Reichskanzler» Adolf Hitler übergingen. Die persönliche Machtfülle Hitlers erreichte im August 1934 ein Ausmaß, wie es seit den Tagen des Absolutismus kein Herrscher mehr in Deutschland innegehabt hatte. In der Gewissheit, dass dem so war, konnte Hitler am 5. September 1934 auf dem Nürnberger Reichsparteitag der NSDAP sein Schlusswort zum Ausgang des innernationalsozialistischen Machtkampfs sprechen: «Wahrhafte Revolutionen sind nur denkbar als Vollzug einer neuen Be­ rufung, der der Volkswille auf diese Art seinen geschichtlichen Auftrag erteilt … Wir alle wissen, wen die Nation beauftragt hat. Wehe dem, der das nicht weiß oder der es vergisst. Im deutschen Volk sind Revolutionen stets selten gewesen. Das nervöse 19. Jahrhundert hat bei uns endgültig seinen Abschluss gefunden. In den nächsten tausend Jahren findet in Deutschland keine Revolution mehr statt.»8 Wie die meisten Äußerungen Hitlers war auch die eben zitierte situationsbezogen und taktisch zu verstehen. Der «Führer» dachte nicht im Ernst daran, seine Revolution für beendet zu halten. Vielmehr beschwor er auch in den kommenden Jahren immer wieder die Notwendigkeit, Deutschland nach seinen Vorstellungen umzugestalten und in diesem Sinn die nationalsozialistische Revolution weiterzuführen. Noch in den letzten Kriegsjahren bedauerte er, gegenüber den alten, vor allem den ­militärischen Eliten nach 1933 nicht radikaler vorgegangen zu sein.9

III.

Mitte der 1960er Jahre erschienen zwei Bücher, die mit der These Auf­ sehen erregten, der Nationalsozialismus habe eine soziale Revolution nicht nur propagiert, sondern auch durchgeführt: 1965 «Gesellschaft und Demokratie in Deutschland» aus der Feder des Soziologen Ralf Dahrendorf und 1966 «Hitler’s Social Revolution», ein Werk des amerikanischen Historikers David Schoenbaum, das zwei Jahre später unter dem Titel «Die braune Revolution» auch auf deutsch herauskam.

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Dahrendorf argumentiert, der Nationalsozialismus habe für Deutschland «die in den Verwerfungen des kaiserlichen Deutschland verlorengegangene, durch die Wirrnisse der Weimarer Republik aufgehaltene soziale Revolution vollzogen». Der Inhalt dieser Revolution sei die Modernität. «Der brutale Bruch mit der Tradition und Stoß in die Modernität ist das inhaltliche Merkmal der sozialen Revolution des Nationalsozialismus.» So verquollen ihre Ideologie gewesen sei, sei dieser Stoß den Nationalsozialisten doch hinlänglich gelungen, «um zukünftigen autoritären Regierungen nach dem Muster der deutschen Tradition die soziale Grundlage zu nehmen … Es konnte keinen Rückweg hinter die Revolution der nationalsozialistischen Zeit mehr geben … Der Volksgenosse verbietet die Wiederkehr des Untertanen; darin liegt sein spezifisch modernes Gesicht.»10 Schoenbaum zielt in eine ähnliche Richtung. Er sieht im Nationalsozia­ lismus eine doppelte Revolution: eine Revolution der Mittel und eine der Zwecke. Die von der Ideologie vorgegebenen Zwecke seien rückwärtsgewandt, gegen die Bourgeoisie und die industrielle Gesellschaft gerichtet gewesen. Um diese Zwecke zu erreichen, habe es aber moderner, bürger­ licher und industrieller Mittel bedurft. Damit habe der Nationalsozialismus eine revolutionäre Veränderung der deutschen Gesellschaft bewirkt, die nicht mehr rückgängig zu machen gewesen sei. Seinen «Thermidor» aber habe der Nationalsozialismus nicht selbst herbeigeführt. Vielmehr sei dieser das Ergebnis der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse von 1945 /46 und der Konstituierung der Bundesrepublik Deutschland 1948 /49 ge­ wesen.11 Die Geschichtsdeutungen von Dahrendorf und Schoenbaum haben neben Zustimmung auch Widerspruch hervorgerufen, in jedem Fall aber eine lebhafte wissenschaftliche Debatte ausgelöst. Unbestritten ist inzwischen, dass der Nationalsozialismus auch modernisierende Wirkungen gehabt hat, wobei mit «modernisierend» gegen die Tradition und auf die Überwindung von Ungleichheit gerichtet gemeint ist. Zu diesen Wirkungen sind gewisse nivellierende Effekte der nationalsozialistischen Angriffe auf Standesdünkel und überkommene Klassenprivilegien zu rechnen. Diese Art von forcierter Egalisierung war primär eine mentale, die Schoenbaum unter Anspielung auf die Freizeitorganisation der Deutschen Arbeitsfront auf die knappe Formel gebracht hat: «Kraft durch Freude wurde durch Kraft durch Schadenfreude ergänzt.»12

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Doch es gab durchaus auch eine gezielt herbeigeführte Beseitigung von überkommenen sozialen Vorrechten wie denen von Angestellten gegenüber Arbeitern auf betrieblicher Ebene.13 Das Offizierskorps wurde gezielt «entaristokratisiert», sozialer Aufstieg durch Bewährung im nationalsozialistischen Sinn statt durch Herkunft nicht nur beschworen, sondern in erheblichem Umfang ermöglicht. Die Ent­stehung eines Gefühls von «Volksgemeinschaft» bei vielen Deutschen «arischer» Abstammung dürfte, von der rüstungsbedingten Vollbeschäftigung abgesehen, nicht so sehr in realen sozialen Veränderungen begründet g­ ewesen sein als vielmehr in der nationalsozialistischen Dauerpropaganda und der terroris­ tischen Ausschaltung konkurrierender sozialer Identifizierungsangebote wie denen der Gewerkschaften und der linken Parteien.14 Die rückwärtsgewandten Elemente der nationalsozialistischen Ideo­ logie wie die romantische Verklärung von Bauerntum und Handwerk gab es daneben auch, sie verloren aber in der «Regimephase» zunehmend an politischer Bedeutung und wurden durch die praktische Politik sogar weithin konterkariert. Industrialisierung und Urbanisierung gingen weiter, die manuelle Frauenarbeit expandierte im Gefolge von Aufrüstung und Krieg, ungeachtet aller rhetorischen Bezugnahmen auf das traditionelle, von Heim, Herd und Kindererziehung geprägte Frauen- und Fa­ milienbild. Der soziale Aufstieg der Frauen hingegen wurde blockiert, ja rückgängig gemacht. Zu diesem widerspruchsvollen Befund trugen Hitlers Vorurteile gegenüber Frauen in Führungspositionen wesentlich bei.15 Ein Gegner der Industriegesellschaft und der modernen Technik aber war Hitler nicht. Selbst sein oft als agrarutopisch bewertetes Projekt der Gewinnung von «Lebensraum im Osten» sollte keineswegs nur der massenhaften Ansiedlung deutscher Bauern in den eroberten Gebieten dienen, sondern ebenso sehr der Ausbeutung der dort lagernden, industriell verwertbaren Rohstoffe. Was Hitler und die Deutsche Arbeitsfront für die deutsche Nachkriegsgesellschaft vorschwebte, war ein Wohlfahrtsstaat – in vielem nicht unähnlich dem, was nach 1945 in Großbritannien verwirklicht wurde, aber unter radikal verschiedenen politischen Rahmen­ bedingungen.16 Höchst strittig ist jedoch, ob sich das, was der Nationalsozialismus an sozialem Wandel bewirkt hat, zu einer sozialen Revolution summiert. ­Einerseits war vieles davon lediglich eine Fortschreibung von sozialpoli-

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tischen Errungenschaften des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Andererseits werden nivellierende Wirkungen von Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung oft bewusst oder unbewusst der Gesellschaftspolitik des «Dritten Reiches» zugerechnet. Doch die Geschichte verlief anders. Die Nationalsozialisten haben die ostelbischen Rittergutsbesitzer nur politisch entmachtet, aber nicht enteignet; das geschah erst 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone. So richtig es ist, von einer Schwächung des proletarischen Klassenbewusstseins in den Jahren 1933 bis 1945 zu sprechen, so gab es doch auch zur Zeit des «Zusammenbruchs» noch Klassen und Klassengegensätze in Deutschland. Manche egalisierenden Eingriffe der Nationalsozialisten, etwa das offizielle Verbot studentischer Verbindungen, überlebten das «Dritte Reich» nicht. Gewerkschaften und Arbeiter­ parteien entstanden nach 1945 aufs Neue, die «bürgerlichen» Parteien in gewandelter Form ebenfalls. In der Summe lässt sich feststellen, dass sich die deutsche Gesellschaft in den ersten fünf Nachkriegsjahren und in den folgenden eineinhalb Jahrzehnten, der Zeit des «Wirtschaftswunders» in der Bundesrepublik und des «Aufbaus des Sozialismus» in der DDR, sehr viel gründlicher gewandelt hat als in den zwölf Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft.17 In der Geschichtswissenschaft wie in den Sozialwissenschaften werden der deutsche Nationalsozialismus und der italienische Faschismus gemeinhin als Bewegungen und Regime der politischen Rechten betrachtet. Der Versuch des amerikanischen Soziologen Seymour Martin Lipset, den Nationalsozialismus als «Extremismus der Mitte» einzustufen, hat keine größere Resonanz gefunden. Die Abwendung großer Teile der deutschen Mittelschichten von den liberalen Parteien hatte, anders als Lipset suggeriert, nicht erst mit der Stimmabgabe für die NSDAP, sondern sehr viel früher, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, begonnen und sich in der Weimarer Republik fortgesetzt. Die mittelstandspolitischen Parolen, ­derer sich die Nationalsozialisten in ihrem Programm und ihrer Wahlwerbung bedienten, standen größtenteils in der Tradition der konservativen und der antisemitischen Parteien des Kaiserreichs.18 Entsprechendes gilt für den exzessiven Nationalismus der NSDAP. Die nationale Parole war ursprünglich eine Waffe des aufsteigenden Bürgertums gegen den Feudaladel und in Deutschland gegen die dynastisch bedingte partikularstaatliche Zersplitterung gewesen. Nach der Reichs-

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gründung von 1871 wandelte sich der Nationalismus rasch von einer liberalen in eine antiliberale Ideologie: «National» sein hieß nun nicht mehr, gegen die bislang Privilegierten aufzutreten, sondern vor allem gegen die Internationalisten aller Schattierungen, gegen die katholischen «Ultramontanen» ebenso wie gegen das (meist als jüdisch porträtierte) inter­ nationale Finanzkapital und die internationalistische, marxistische (und damit ebenfalls als «verjudet» dargestellte) Arbeiterbewegung. Versuche, Sozialismus und Arbeiterschaft zu «nationalisieren», hatte es ebenfalls schon im späten 19. Jahrhundert gegeben. Die Nationalsozialisten waren die Erben der deutschen Rechten, wie sie sich vor dem Ersten Weltkrieg herausgebildet hatte. Sie setzten den Radikalisierungsprozess fort, der lange vor 1914 begonnen hatte. In den frühen zwanziger Jahren übernahmen Hitler und seine engere Umgebung von Autoren der «Konservativen Revolution» wie Arthur Moeller van den Bruck, dem Verfasser des Buches «Das dritte Reich», die Vorstellung von der Einzigartigkeit des Reiches der Deutschen, das etwas anderes und mehr sei als ein Nationalstaat, und bauten darauf ihre These vom Reich als europäischer Ordnungsmacht auf.19 In den letzten Jahrzehnten gab es nur einen nennenswerten Versuch, den «rechten» Charakter des Nationalsozialismus zu bestreiten: Rainer Zitelmanns erstmals 1987 erschienenes Buch «Hitler. Selbstverständnis eines Revolutionärs». Seinem Anspruch, Hitlers Selbstverständnis als Revolutionär darzulegen, wird der Autor vollauf gerecht: Es gibt keine umfassendere Dokumentation und Interpretation der einschlägigen Äußerungen des «Führers» der NSDAP, darunter auch viele, meist im kleineren Kreis gemachte Bemerkungen, die unterstreichen, dass sich Hitler nicht als «Rechter» im Sinne der Konservativen verstand, ja von den «bürgerlichen» Rechten und den liberalen Mittelparteien schärfer abgrenzte als von den «Marxisten» auf der linken, den Sozialdemokraten wie den Kommunisten, die er als Gegner ernst nahm. Die Zahl seiner bewundernden Kommentare zur Person und zur Politik Stalins ist Legion.20 Zitelmann folgert aus alledem, «dass es verfehlt wäre, Hitlers politische Position am Rand des rechten Spektrums abzustecken».21 Er übersieht aber, dass ebendiese Abgrenzung von der «bürgerlichen» Rechten für die extreme Rechte typisch war, die deutsche ebenso wie die anderer Länder, darunter Frankreich und Italien. Hitlers Selbsteinschätzung ändert auch

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nichts daran, dass er ohne Pakt mit der traditionellen Rechten weder an die Macht gekommen wäre, noch sich an der Macht hätte behaupten können. Es war nicht mehr als rückwärtsgewandtes Wunschdenken, wenn Hitler angesichts seines Scheiterns immer wieder bedauerte, dass die ­Geschichte so und nicht anders verlaufen war.

IV.

Von dem radikalsten Bruch mit der Vergangenheit, den Hitler herbei­ geführt hat, ist in der Diskussion über den revolutionären oder zumindest modernisierenden Charakter des Nationalsozialismus kaum die Rede: Deutschland hörte 1933 auf, ein Rechts- und Verfassungsstaat zu sein, und verwandelte sich in ein totalitäres System, in dem die im transatlantischen Westen entwickelten Normen menschlichen Zusammenlebens keine Geltung mehr besaßen. Der Soziologe Rainer Lepsius hat Kommunismus und Faschismus «die beiden großen Bewegungen des 20. Jahrhunderts gegen die parlamentarische Demokratie, gegen die Zivilgesellschaft» genannt.22 Eine solche historische Einordnung wird man bei einigen Verfechtern der These vom revolutionären Charakter des Nationalsozialismus vergeblich suchen. Zitel­mann verzichtet bewusst auf eine «bewertende Kommentierung der von Hitler vorgetragenen Ansichten und Behauptungen».23 Der Politikwissenschaftler Jürgen W. Falter, der zu der 2017 erschienenen Neuausgabe von Zitelmanns Buch ein Nachwort beigesteuert hat, geht noch weiter: «Wozu der Historiker in seiner Rolle als Erfahrungswissenschaftler nicht berufen ist, ist die Bewertung der Vergangenheit als gut oder böse, als schlecht, verwerflich oder inhuman. Hierzu gibt ihm seine Disziplin nicht die notwendigen Instrumente in die Hand.»24 Falter beruft sich bei seinem Postulat der «Wertfreiheit» auf Max ­Weber. Weber hat 1904 in seinem Aufsatz «Über die ‹Objektivität› sozialwissenschaftlicher Erkenntnis» zu Recht davor gewarnt, die wissenschaftliche Erörterung von Tatsachen und wertendes Räsonnement miteinander zu vermischen.25 In dem 13 Jahre später entstandenen Aufsatz über den «Sinn der ‹Wertfreiheit› der Sozialwissenschaften» verweist der Sozio­

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loge konkretisierend darauf, «dass die rücksichtslose Verfolgung der ­empirisch-historischen Kausalketten bis zum Ende fast ausnahmslos dann zum Schaden der wissenschaftlichen Ergebnisse unterbrochen zu werden pflegt, wenn der Historiker zu ‹werten› beginnt. Er kommt dann in die Gefahr, z. B. für die Folge eines ‹Fehlers› oder eines ‹Verfalls› zu erklären, was vielleicht eine Wirkung ihm heterogener Ideale der Handelnden war, und er verfehlt seine eigenste Aufgabe: das ‹Verstehen›.»26 Doch subjektive, mithin willkürliche Werturteile eines Forschers sind eines, die Einordnung von Akteuren, Bewegungen und Systemen in größere historische Zusammenhänge etwas anderes. Zu diesen Zusammenhängen gehört immer auch das, was der Historiker Johann Gustav Droysen in seiner in den 1850er Jahren entstandenen «Historik» die Interpretation nach den «sittlichen Mächten und Ideen» genannt hat. Droysen spricht in diesem Kontext vom «ethischen Horizont, in dem a­ lles stand, was in diesem Volk, in dieser Zeit war und geschah», und dem Maß, das man damit «für jeden einzelnen Vorgang in diesem Volk, in dieser Zeit» gewinne.27 Er historisiert auf diese Weise die geltenden normativen Vorstellungen und wehrt ahistorische Wertungen ab. Dass Droysen einen Begriff wie «ewige Rechte» für sinnlos hält, ist nur konsequent. Alles Recht sei in steter Bewegung, also geschichtlicher Natur, heißt es in dem Abschnitt über die Sphäre des Rechts. «Wohl aber wird man sagen müssen, dass die Durchlebungen dieses Volkes, dieses Zeitalters auch von dem, was Recht ist, eine Gemeinüberzeugung schaffen, welche dann eben die dieses Volkes, dieser Zeit ist, dass sich aus der Summe der sittlichen Gestaltungen eine Norm dafür ergibt, welche Schranke und Ordnung vorhanden sein müsste.»28 Eine positivistische Geschichtsauffassung, für die Droysens Frage nach den normativen Maßstäben einer Gesellschaft oder Kultur nicht mehr als subjektives Räsonnement ist, kann, wenn es um Deutschland in der Zeit des Nationalsozialismus geht, allenfalls solche Teilbereiche der Wirklichkeit erfassen, die nicht spezifisch sind für den Charakter dieses politischen Systems. Von einem solchen Ansatz aus liegt es nahe, die Frage nach der Zweckrationalität oder auch Modernität bestimmter Entscheidungen in den Mittelpunkt der Betrachtung zu rücken und alles auszuklammern oder an den Rand zu rücken, was diesen Rahmen sprengt.29

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Damit verfehlen die Positivisten aber gerade das, was das innerste ­ esen des Nationalsozialismus ausmacht und seine MenschheitsverbreW chen erst ermöglicht hat: die Absage an alle Wertmaßstäbe, die zum Zeitpunkt der Machtübertragung an Hitler in Deutschland galten und die Deutschland zum Teil mit hervorgebracht hatte. Der Begriff von «Modernität», den die Verfechter einer wertfreien Wissenschaft zugrunde legen, zeichnet sich durch formale Beliebigkeit aus. Er bleibt der Sphäre der Zweckrationalität verhaftet und blendet die wertrationale Frage nach den normativen Maßstäben aus, an denen sich die Gesellschaften des modernen Westens seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert zu messen begonnen hatten. Im Endergebnis reproduzieren die Positivisten damit, wenn auch ungewollt, das Selbstverständnis des Regimes, mit dem sie sich befassen. Sie belegen damit einmal mehr die Ambivalenz der Begriffe «Modernität» und «Modernisierung» und sie führen das Postulat der «Wertfreiheit» ad absurdum.30 Die Frage, warum Deutschland das einzige hochentwickelte Industrie­ land des Westens war, das in der Zeit der Weltwirtschaftskrise einen radikalen Bruch nicht nur mit seiner demokratischen Verfassung, sondern auch mit seiner sehr viel älteren Tradition als Rechtsstaat vollzog, wird von den Neopositivisten nicht gestellt. Wer im Sinne Droysens nach der normativen «Gemeinüberzeugung» der Deutschen in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts fragt, muss sich mit den geschichtlichen Prägungen auseinandersetzen, mit denen Deutschland 1918 /19 in seine Phase als parlamentarische Demokratie eintrat. Deutschland hatte zwar entscheidenden Anteil an der Aufklärung, aber bis weit in das 20. Jahrhundert hinein verweigerte es sich einem Teil der politischen Konsequenzen, die andere westliche Nationen, obenan die Vereinigten Staaten von Amerika und Frankreich, aus der Aufklärung zogen. Deutschland brachte eine eigene Form von Rechtsstaat hervor, führte auch frühzeitig, 1867 im Norddeutschen Bund und 1871 im Deutschen Reich, das allgemeine gleiche Wahlrecht für Männer, also ein kräftiges Stück Demokratie, ein. Doch es widersetzte sich den Ideen der allgemeinen, unver­ äußerlichen Menschenrechte, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie. Dass Deutschland erst im Schatten seiner Niederlage im Ersten Weltkrieg eine parlamentarische Demokratie wurde, machte es der nationalis-

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tischen Rechten leicht, das parlamentarische System der Weimarer Republik als Staatsform der Sieger und mithin als «undeutsch» zu denunzieren. Der Selbstausschaltung des Reichstags im Frühjahr 1930 folgte ein halbautoritäres Präsidialregime, in dem der Reichstag weniger zu sagen hatte als im Kaiserreich. Nutznießer der Entparlamentarisierung waren die ­antiparlamentarischen Parteien von rechts und links, an erster Stelle die Nationalsozialisten. Sie konnten fortan in populistischer Manier sowohl an die verbreiteten Ressentiments gegenüber der parlamentarischen Demokratie und den Parteien, kurz dem «System» von Weimar, als auch an den seit Bismarcks Zeiten verbrieften Teilhabeanspruch des Volkes in Form des allgemeinen gleichen Wahlrechts appellieren, der nunmehr faktisch ins Leere lief. Bei den Reichstagswahlen des Jahres 1932, am 31. Juli und 6. November, erhielten die beiden totalitären Parteien, die NSDAP und die KPD, zusammen eine negative Mehrheit. Einen parlamentarischen Ausweg aus der Verfassungs- und Staatskrise gab es nun nicht mehr. Eine positivistische Antwort auf die Frage nach der politischen «Gemeinüberzeugung» der Deutschen um 1932 /33 könnte lauten: Es gab sie nicht mehr. Tatsächlich wäre Hitler nicht an die Macht gekommen, wenn die Weimarer Verfassung noch einen breiten Rückhalt in der Wählerschaft gehabt hätte. Doch daraus folgt nicht, dass das Handeln der damaligen staatlichen Akteure nicht mehr an den Maßstäben zu messen wäre, auf die sie vereidigt waren. Reichspräsident von Hindenburg war nicht gezwungen, Hitler zum Reichskanzler zu ernennen. Der «Führer» der mit Abstand größten Partei, die die NSDAP trotz der erheblichen Stimmenverluste in der Reichstagswahl vom 6. November 1932 immer noch war, verfügte zwar über sehr viel mehr Unterstützung in der Wählerschaft als der letzte Präsidialkanzler, General Kurt von Schleicher. Aber von einer Mehrheit im Reichstag war er weit entfernt. Hindenburg war sich der diktatorischen Absichten Hitlers sehr wohl bewusst und lehnte es deshalb 1932 mehrfach unter Berufung auf seinen Amtseid und sein Gewissen ab, den Vorsitzenden der Nationalsozialisten zum Reichskanzler zu berufen. Als er sich Ende Januar 1933 von hochkonservativen Beratern wie dem vorletzten Präsidialkanzler Franz von Papen umstimmen ließ, missachtete er wenn nicht den Buchstaben, so doch den Geist der von ihm beschworenen Verfassung.

Der Ort des Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte

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Dass Hitler die Weimarer Reichsverfassung, auf die er am 30. Januar 1933 vereidigt wurde, von Anfang an zu brechen entschlossen war, ist unbestritten. Aber nicht nur er und seine Beauftragten sind an den Wertmaßstäben zu messen, die bis 1933 in Deutschland offizielle Geltung be­ saßen, sondern Deutschland insgesamt. Auf eine normative Bewertung der Zäsur des 30. Januar 1933 zu verzichten hieße, den radikalsten Kontinuitätsbruch in der deutschen Geschichte zu leugnen, der zur Bedingung der Möglichkeit des Zweiten Weltkriegs und der größten Menschheitsverbrechen der Geschichte, obenan der Ermordung der europäischen Juden, wurde. Was die Verwerfung des normativen Erbes der Aufklärung angeht, waren die Nationalsozialisten weit radikaler als ihre ideologischen Antipoden, die Bolschewiki. Die Letzteren betrachteten sich als die einzig ­legitimen Erben des europäischen Rationalismus und des Gleichheitspostulats von 1789. Die Nationalsozialisten beschränkten das Prinzip der Gleichheit auf die Angehörigen des eigenen Volkes beziehungsweise der eigenen «Rasse» und verwarfen die Idee gleicher Rechte für alle Menschen von Grund auf. Eben deswegen kennt die Geschichte keine radikalere Gegenrevolution gegen die Ideen der beiden atlantischen Revolutionen des 18. Jahrhunderts, der Amerikanischen Revolution von 1775 / 76 und der Französischen Revolution von 1789, als den in seinem Kern zutiefst irrationalen Nationalsozialismus, die extremste Erscheinungsform der ­europäischen Faschismen der Zwischenkriegszeit. Anders als der Marxismus-Leninismus vollzog der Nationalsozialismus aber keinen Bruch mit der überkommenen Sozialstruktur. Die Eigentumsverhältnisse blieben, sieht man von der Enteignung des jüdischen Besitzes ab, im Wesentlichen unverändert. Im Gegensatz zum Russland des Jahres 1917 war Deutschland keine industriell unterentwickelte Gesellschaft und die nationalsozialistische Diktatur, anders als das Sowjet­system, infolgedessen auch keine Entwicklungsdiktatur. Die Bolschewiki konnten, als sie ihren totalitären Unterdrückungs­ apparat errichteten, in vielem an die repressiven Praktiken des Zarenreichs anknüpfen. Die Nationalsozialisten übertrumpften alles, was es an staatlicher Gängelung, Kontrolle und Repression zuvor in Deutschland gegeben hatte, bei weitem. Das Kaiserreich war ein Rechtsstaat, zwar ohne parlamentarisches Regierungssystem, aber doch mit einer entwi-

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ckelten Parlamentskultur. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, war die Zäsur vom Januar 1933 in Deutschland eine tiefere als die vom November 1917 in Russland, wo die rechtsstaatlichen und die parlamentarischen Traditionen sehr viel schwächer ausgeprägt waren als in Deutschland. Dass die Sowjetdiktatur den deutschen Nationalsozialismus und den italienischen Faschismus um viele Jahrzehnte überlebte, ist darin begründet, dass ihre Ideologie, der Marxismus-Leninismus, rational genug war, um sich veränderten internationalen Verhältnissen anzupassen. Die beiden westlichen Demokratien Großbritannien und die USA konnten sich daher im Zweiten Weltkrieg mit Stalins Sowjetunion zur Anti-HitlerKoalition zusammenschließen, die zwar den Sieg über die «Achsenmächte» Deutschland, Italien und Japan nicht lange überdauerte, aber dem westlichen Teil des europäischen Kontinents und Deutschlands die Rückkehr zur Demokratie ermöglichte. Die Politik der friedlichen Koexistenz, zu der sich die Sowjetunion unter Chruschtschow seit 1956 bekannte, war mit der Doktrin Lenins durchaus vereinbar. Der Nationalsozialismus hingegen war strukturell nicht friedensfähig – und eben deshalb zum Scheitern verurteilt. Vordergründig war der Nationalsozialismus wie die anderen faschis­ tischen Bewegungen eine Reaktion auf die Herausforderungen des Marxismus in seiner reformistisch-demokratischen und, vor allem, in seiner kommunistisch-totalitären Ausprägung. Ihren Massenzulauf verdankten die Nationalsozialisten wie zuvor die italienischen Faschisten zu einem guten Teil der verbreiteten, von den Kommunisten geschürten Angst vor dem Bürgerkrieg und der roten Revolution. So gesehen waren die russische Oktoberrevolution und die Politik der Bolschewiki eine Vorbedingung für den Erfolg erst Mussolinis, dann Hitlers. Doch ein konsequenter Kampf gegen die Ideen von 1917 verlangte aus der Sicht der extremen Rechten den Kampf gegen die Ideen von 1789, ohne die weder Marx noch Lenin denkbar gewesen wären. Hitlers Projekt war die radikalste Erscheinungsform der «Revolution von rechts». Es war eine Gegenrevolution gegen das normative Projekt des Westens, die nur mit revolutionären Mitteln durchzusetzen war. Dass das Deutsche Reich zum Schauplatz dieses Großversuchs wurde, lag nicht nur an der außerordentlichen Härte, mit der die Weltwirtschaftskrise

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nach 1929 Deutschland traf, und auch nicht nur am nationalen Trauma der Niederlage von 1918 und des Friedensvertrags von Versailles von 1919. Es lag in letzter Instanz daran, dass Deutschland sich die normativen Ideen der Aufklärung nur zu einem Teil angeeignet hatte. Es war die ­historische Distanz der Deutschen zu den Ideen der liberalen pluralistischen Demokratie, die Hitlers Erfolg ermöglichte – und mit dem Erfolg die Katastrophe, die er nach sich zog.

K AP I T E L 5

M EHR ALS EIN ZU SA MMEN BR U C H : DI E F R IED LIC H E R EVOL U TIO N VON 1989

Die5. friedliche Mehr als ein Revolution Zusammenbruch von 1989

Montagsdemonstration in Leipzig am 9. Oktober 1989 mit mehr als 70 000 Teilnehmern.

I.

Wer immer als erster von «friedlicher Revolution» gesprochen hat, im Epochenjahr 1989, in dem dieser Begriff zum politischen Schlagwort wurde, war es möglicherweise der Historiker Bronisław Geremek, einer der engsten Berater des polnischen Gewerkschaftsführers Lech Wałęsa, der die politische Umwälzung, die sich in seinem Lande vollzog, erstmals als eine «peaceful revolution» bezeichnete. Geremek, damals Fraktionsvorsitzender des Bürgerkomitees, des politischen Arms der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność im halbfrei gewählten Sejm, benutzte diesen Begriff am 30. August 1989 in einem Gespräch mit Mitgliedern einer Delegation um den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Johannes Rau, die aus Anlass des 50. Jahrestages des deutschen Überfalls auf Polen in Warschau weilte. In einem Bericht über diese Reise, der im Oktoberheft 1989 der so­ zialdemokratischen Zeitschrift «Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte» erschien, wurde der Begriff «friedliche Revolution» übernommen.1 Wenig später, am 10. November 1989, dem Tag nach dem Mauerfall, beglückwünschte der Regierende Bürgermeister von Berlin, der Sozialdemokrat Walter Momper, auf der ebenso legendären wie turbulenten Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus die «Bürgerinnen und Bürger der DDR zu ihrer friedlichen und demokratischen Revolution».2 «Friedliche Revolution» bedeutete in den Ländern Ostmitteleuropas, die 1989 eine überwiegend gewaltlose Umwälzung der politischen Verhältnisse erlebten, nicht überall dasselbe. Die Wandlungsprozesse unterschieden sich schon im Hinblick auf ihre gesellschaftlichen Träger. Nirgendwo war der Systembruch so sehr eine Folge von anhaltendem massiven Druck von unten wie in Polen, wo im Spätsommer 1980 mit Solidarność die erste unabhängige Gewerkschaft in einem Land des Ostblocks gegründet worden war – eine Massenbewegung, die sich auch durch das Ende 1981 verhängte Kriegsrecht nicht dauerhaft unterdrücken ließ. Die Verhandlungen mit der Opposition am Runden Tisch, zu denen sich die Regierung Anfang 1989 notgedrungen bereit fand und die zu den halbfreien Parlaments-

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wahlen vom Juni sowie zur Wahl eines nicht-kommunistischen Ministerpräsidenten im August 1989 führten, kamen einer Kapitulation des Regimes auf Raten gleich. Anders als in Polen trug die politische Umwälzung in zwei anderen «sozialistischen» Staaten die Züge einer Revolution von oben: In Ungarn ging der Systemwandel in erster Linie auf die Politik einer Gruppe von jüngeren Reformern innerhalb der kommunistischen Parteiführung zurück, die sich mit ihren politisch wie ökonomisch liberalen Vorstellungen gegenüber den alten Kadern durchzusetzen vermochten.3 Sehr viel weniger klar waren die Zukunftsvisionen des Mannes, der seit März 1985 an der Spitze der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (und somit des «sozialistischen Lagers») stand: Michail Gorbatschow. Mit den Parolen «Perestrojka» (Umgestaltung) und «Glasnost» (Transparenz) strebte der neue Generalsekretär der KPdSU keinen Bruch mit dem leninistischen System, sondern eine Steigerung seiner Effizienz an. Die weitergehende Forderung nach «Demokratie» entwickelte dann aber bald eine Eigendynamik, der sich Gorbatschow nicht lange entziehen konnte. Den Begriff «Revolution von oben» verwandte er im Hinblick auf den von ihm eingeleiteten Wandel selbst, schränkte diese Aussage aber sogleich durch die Feststellung ein, diese Revolution sei zugleich eine von unten.4 Das tiefste Dilemma Gorbatschows bestand nach der treffenden Formulierung des britischen Politologen Archie Brown darin, dass er «Papst und Luther in einem» war: ein Widerspruch, an dem er schließlich scheiterte.5 Die DDR gehörte zu den Staaten des Warschauer Pakts, in denen auch 1989 noch keine Reformer, sondern Doktrinäre alten Stils an der Spitze der kommunistischen Partei standen. Eine Besonderheit der DDR lag darin, dass sie eine Schöpfung des Kalten Krieges und kein Nationalstaat war. Sie war der Ideologiestaat unter den Staaten des Ostblocks, der den Marxismus-Leninismus brauchte, um seine Existenz zu rechtfertigen. ­Alles, was darauf hinauslief, die «sozialistische» DDR der «kapitalistischen» Bundesrepublik Deutschland ähnlicher zu machen, hieß nach Meinung der SED-Führung, die DDR als Staat in Frage zu stellen. Daraus ergab sich ein geradezu kategorisches Nein zu «Glasnost» und «Perestrojka». Von einer Massenbewegung gegen das herrschende System wie im ­Polen der achtziger Jahre kann in der DDR vor 1989 nicht gesprochen

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5. Mehr als ein Zusammenbruch

werden. Bis zum Bau der Berliner Mauer im August 1961 war die einfachste und am häufigsten gewählte Form des Widerspruchs gegen die bestehenden Verhältnisse das Verlassen der DDR in Richtung West-Berlin und von da in die Bundesrepublik, den anderen, politisch freien und materiell prosperierenden Teil Deutschlands. Die relative Stabilisierung der DDR in der Zeit danach verdankte sich, sieht man von den Phasen des kulturpolitischen «Tauwetters» und der Allgegenwart der Staatssicherheit, der «Stasi» ab, der Besserung der wirtschaftlichen Lage, sozialpolitischen Zugeständnissen des Regimes und in den achtziger Jahren vor allem den Milliardenkrediten der Bundesrepublik sowie den Einnahmen aus dem Freikauf von politischen Häftlingen durch die Regierung in Bonn. Dissens wurde in der Friedens-, der Umwelt- und der Frauenbewegung laut, wobei sich oft evangelische Pfarrhäuser als Kristallisationskerne des Protests erwiesen. Zu einer Massenopposition aber führten diese Bewegungen nicht. Dazu waren die materiellen Lebensbedingungen in der DDR im Vergleich zu anderen Staaten des «sozialistischen L ­ agers» immer noch zu günstig.6 Im Laufe des Jahres 1989 mehrten sich aber auch in der DDR die Krisenzeichen. Bei den Kommunalwahlen im Mai fälschte die SED die Ergebnisse so unverfroren, dass die Proteste von Bürgerrechtsgruppen, auch dank der Westmedien, nicht mehr zu überhören waren. Am 8. Juni, vier Tage nach den halbfreien Parlamentswahlen in Polen, solidarisierte sich die «Volkskammer» mit der brutalen Niederschlagung der studentischen Reform- und Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking in einer Form, die die Dissidenten im eigenen Staat nur als Warnung vor einer «chinesischen Lösung» verstehen konnten. Worauf die Regierenden in Ost-Berlin 1989 sich aber nicht mehr verlassen konnten, war, dass ihnen bei Massenprotesten oder Unruhen der «große Bruder» in Gestalt der Sowjetunion militärisch zu Hilfe kommen würde, so wie er es bei der Niederwerfung des Volksaufstands in der DDR vom 17. Juni 1953, der ungarischen Revolution vom Herbst 1956 und des «Prager Frühlings» im Jahr 1968 getan hatte. Gorbatschow hatte inzwischen mehrfach deutlich gemacht, dass die 1968 anlässlich der Unterdrückung der tschechoslowakischen Reformbewegung verkündete Breschnew-Doktrin von der beschränkten Souveränität der «sozialistischen Staaten» obsolet war. Die DDR würde also gegebenenfalls auf sich allein gestellt sein.

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Die tiefgreifenden Veränderungen, die sich in der ersten Hälfte des Jahres 1989 in Polen und Ungarn vollzogen, trugen entscheidend dazu bei, dass in der DDR die Erbitterung über das Ausbleiben von politischen Reformen im ostdeutschen «Arbeiter- und Bauernstaat» wuchs. Die Zahl der DDR-Bürger, die ihren Staat verlassen wollten, stieg infolgedessen sehr viel schneller als die Zahl der Ausreisegenehmigungen. Zu einem weltweit beachteten Krisenzeichen wurden die Tausenden von «Botschaftsflüchtlingen», die sich in die bundesdeutschen Botschaften in Budapest, Warschau und Prag sowie in die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin begaben, um so ihre Ausreise zu erzwingen. Dass Ungarn am 11. September die Grenze zu Österreich für Flüchtlinge aus der DDR öffnete, kam fast schon seinem Ausscheiden aus dem «sozialistischen ­Lager» gleich. 25 000 Ostdeutsche gelangten auf diesem Weg bis Ende September in die Bundesrepublik. Die Regierung der DDR antwortete am 3. Oktober, vier Tage vor dem Beginn der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Staatsgründung, auf ihre Weise auf die Fluchtbewegung: Sie setzte den visafreien Reise­verkehr in die Tschechoslowakei aus. Damit war den Ostdeutschen der Weg nach Ungarn versperrt. Mehr denn je mussten sich viele Bürger der DDR wie in einem Gefängnis fühlen. Wer sein Land verlässt, weil er mit den herrschenden Verhältnissen unzufrieden ist und sich von einem Leben andernorts entscheidende Vorteile verspricht, drückt seinen Dissens anders aus als der, der laut protestiert. Im Sinne der klassischen Unterscheidung des deutsch-amerikanischen Soziologen Albert O. Hirschman wählt der eine die Option «exit», der andere die Option «voice». Gemeinhin verhält es sich so, dass die Zahl der Protestierenden sinkt, wenn die der Auswanderer oder der zur Ausreise Entschlossenen steigt. Im Falle der späten DDR war es anders: Die Fluchtbewegung gab der Protestbewegung Auftrieb.7 Der Ruf «Wir wollen raus!» fand sein Echo in dem Ruf «Wir bleiben hier!» Er war erstmals am 4. September nach einem Friedensgebet in der Nikolaikirche in Leipzig zu hören. Die wichtigste Wirkung beider Parolen war dieselbe: Sie untergruben die Autorität des SED-Regimes. Im September 1989 schossen die Oppositionsgruppen, beginnend mit dem Neuen Forum, wie die Pilze aus dem Boden. Gleichzeitig wuchs die Zahl derer, die offen ihren Protest äußerten. Die größte internationale

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Beachtung fanden die Montagsdemonstrationen in der Protesthochburg Leipzig. Ihren Höhepunkt erreichten sie am 9. Oktober, als etwa 70 000 Menschen Parolen wie «Stasi raus!», «Gorbi, Gorbi!», «Wir bleiben hier!», «Wir sind das Volk!» und immer wieder «Keine Gewalt!» riefen. Tatsächlich verzichtete die Volkspolizei auf den Einsatz von Schlagstöcken und Schusswaffen; die Betriebskampfgruppen wurden nicht eingesetzt. Drei Mitglieder der Bezirksleitung der SED hatten zuvor an einem im Stadtrundfunk verbreiteten Appell zum Gewaltverzicht mitgewirkt. Die Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte hatte die Weisung erhalten, in Leipzig nicht einzugreifen. Neun Tage später, am 18. Oktober, wurde der langjährige Partei- und Staatschef Erich Honecker vom Politbüro der SED unter Führung seines bisherigen Stellvertreters Egon Krenz gestürzt. Zusammen mit Honecker verloren einige seiner engsten Bundesgenossen, Hardliner wie er, ihre Funktionen. Der Staatszerfall der DDR trat in eine neue Phase. Die Protestbewegung erfasste fast das gesamte Staatsgebiet. Auf einer Großkundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November, an der sich hochrangige Funktionäre der SED und bekannte Bürgerrechtler beteilig­ ten, forderten viele prominente Intellektuelle und Künstler, viele von ihnen Mitglieder der Staatspartei, unter rauschendem Beifall einschneidende Veränderungen im politischen System. Anfang November erfuhr das Zentralkomitee der SED erstmals von der katastrophalen Wirtschaftsund Finanzlage der DDR. Am 1. November sah sich die Regierung der DDR genötigt, wieder visafreie Reisen in die Tschechoslowakei zu gestatten. Zwei Tage später stimmte sie in einer Vereinbarung mit der Regierung in Prag der Öffnung der Grenze zwischen der Tschechoslowakei und der Bundesrepublik für DDR-Bürger zu. Daraufhin setzte eine neue Massenflucht aus der DDR ein. Die Berliner Mauer verlor dadurch ihre wichtigste Funktion: Sie konnte eine Abwanderung von Ostdeutschen in den Westen nicht mehr verhindern. Als sie in der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 unter chaotischen Umständen geöffnet wurde, hatte sie bereits ausgedient. Die Welt empfand ihren Fall gleichwohl als das Ereignis, das das Ende der Epoche des Ost-West-Konflikts markierte. Im kollektiven Gedächtnis lebt die Berliner Mauer als das Symbol des repressiven Charakters des Sowjetkommunismus fort. Dem Mauerfall vom 9. November 1989 wird

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inzwischen eine ähnliche historische Bedeutung beigemessen wie einem revolutionären Ereignis zweihundert Jahre zuvor: dem Sturm auf die ­Pariser Bastille am 14. Juli 1789.8

II.

Bis heute ist umstritten, ob 1989 in der DDR und in anderen Staaten des östlichen Mitteleuropas «echte» Revolutionen stattgefunden haben. Der Begriff «friedliche Revolutionen» besagt ja bereits, dass es sich bei diesen Ereignissen nicht um «klassische» Revolutionen wie die von 1789 in Frankreich und die von November 1917 in Russland handelte, also um blutige Umwälzungen der politischen und der gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern um Revolutionen eines neuen Typs, nämlich um überwiegend gewaltlos vollzogene Transformationsprozesse, die zwischen «alten» und «neuen» Kräften ausgehandelt wurden. Als Beispiel und Vorbild einer solchen unblutigen Veränderung hat Bronisław Geremek, nach dem Urteil seines Biographen Reinhold Vetter «der Stratege der polnischen Revolution», 2008 in einem Interview die «transición» in Spanien nach dem Tod Francos im Jahr 1975 genannt.9 Tatsächlich war der Übergang von der Diktatur zur Demokratie in Spanien eine typische «Revolution von oben» und insofern den Systemwechseln in kommunistischen Staaten wie der Sowjetunion und Ungarn ­ähnlicher als dem, was sich zwischen der «Vorrevolution» in Form der Gründung der Gewerkschaft Solidarność im Sommer 1980 und der Bildung der ersten nicht kommunistisch dominierten Nachkriegsregierung im Sommer 1989 in Polen ereignete. Nirgendwo spielte der Druck der Massen und damit ein revolutionäres Moment in jenem «annus mira­ bilis» eine so entscheidende Rolle wie hier. Die Umbrüche von 1989 mit «klassischen» Revolutionen zu vergleichen ist freilich problematisch. Als einer der ersten hat Friedrich Engels 1895 die Ära der in Straßen- und Barrikadenkämpfen ausgefochtenen ­Revolutionen auf Grund der technischen Entwicklung für beendet erklärt und für Länder mit freien Wahlen auf Stimmscheinrevolutionen gesetzt.10 Der sozialdemokratische Marx-Kritiker Eduard Bernstein hat 1921

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am Beispiel der deutschen Revolution von 1918 /19 dargelegt, dass in komplexen, arbeitsteiligen, zumindest teilweise demokratisierten Industrie­ gesellschaften Umwälzungen wie die von 1789 nicht mehr möglich seien.11 In dieselbe Richtung zielt die spätere These des Politikwissenschaftlers Richard Löwenthal, alle «klassischen» Revolutionen des Westens hätten vor der Industriellen Revolution stattgefunden. In modernen Industriegesellschaften sei die Abhängigkeit der Menschen von der Kontinuität der alltäglichen öffentlichen Dienstleistungen so hoch, dass sie einen revolutionshemmenden «Anti-Chaos-Reflex» entwickelt hätten.12 Der gängigste Einwand gegen die These von der friedlichen Revo­ lution in der DDR lautet, was sich dort im Herbst 1989 vollzogen habe, sei vor allem eines gewesen: ein Systemzusammenbruch in Form einer Implosion. Ohne die tiefe Krise der Staatsautorität wäre der ostdeutsche Regimewechsel in der Tat nicht vorstellbar gewesen. Doch derartige ­Krisen gehen regelmäßig Revolutionen voraus. Die deutsche Revolution von 1918 /19 etwa erwuchs aus dem, was Max Weber als «Geschichte des Zusammenbruchs der bis 1918 legitimen Herrschaft» beschrieben hat: ­einer allgemeinen Erosion der zuvor respektierten oder zumindest hin­ genommenen Autoritäten.13 Im Falle der DDR, aber auch der anderen Umwälzungen von 1989 kam der entscheidende Anstoß zur Erschütterung der bisherigen Gewalten aus der Machtzentrale des «sozialistischen Lagers»: Es war Gorbatschows Abkehr von der überkommenen Praxis des Marxismus-Leninismus, die die Autorität der Partei- und Staatsführungen des Ostblocks untergrub, und das besonders stark in den Staaten, die sich gegen «Glasnost» und «Perestrojka» wehrten. Was für die DDR zutraf, galt auch für die Tschechoslowakei, die im November und Dezember 1989 ihre «samtene Revolution» erlebte, für Bulgarien, wo der Umsturz eher eine Palastrevolution war, und für das nationalkommunistische Rumänien Ceauşescus, den einzigen Schauplatz einer blutigen Revolution im Europa des Jahres 1989, die halb Volksaufstand, halb Parteiputsch war. Reinhart Koselleck zufolge waren alle Bürgerkriege und Revolutionen, die nach Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa noch ausbrachen, «sekundäre Folgen vorausgegangener Staatenkriege».14 Für diese These sprechen die russischen Revolutionen von 1917 und die mitteleuropäischen von

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1918 /19, gegen sie, jedenfalls auf den ersten Blick, die europäischen Revolutionen von 1989, doch in der Tat nur auf den ersten Blick. Denn Gorbatschows «Revolution von oben» entsprang der Einsicht, dass die ­Sowjetunion den «Wettlauf der Systeme» und damit den Kalten Krieg verloren hatte. Es war nicht nur die militärische Niederlage der Roten Armee in Afghanistan, die zu dieser Erkenntnis führte. Es war das umfassende Zurückbleiben der Sowjetunion und ihrer Verbündeten hinter den Ver­ einigten Staaten und dem transatlantischen Westen in wirtschaftlicher, technologischer und militärischer Hinsicht, also auch im internationalen Wettrüsten, das zu den dramatischen Kurskorrekturen Moskaus in den Jahren nach 1985 Anlass gab. In seinem erstmals 1938 erschienenen Buch «Anatomy of Revolution», einem auch heute noch lesenswerten Versuch einer Quintessenz aus den historischen Revolutionen Englands, der USA, Frankreichs und Russlands, hat der amerikanische Historiker Crane Brinton die Vorzeichen zusammengefasst, die die klassischen Revolutionen anzukündigen pflegten: «Budgetdefizite, Beschwerden über die Steuern, Begünstigung bestimmter Interessenten durch die Regierung auf Kosten anderer, Wirrwarr in der Verwaltung, Abfall der Intellektuellen, Verlust des Selbstbewusstseins innerhalb der herrschenden Klasse, Bekehrung vieler Mitglieder dieser Klasse zu der Überzeugung, dass ihre Vorrechte ungerecht oder der Gesellschaft abträglich seien, Intensivierung der sozialen Gegensätze, Aufstiegssperre, namentlich in den gehobenen Berufen, Trennung der wirtschaftlichen Macht von der politischen Macht und gesellschaftlichem Spitzenrang.»15 Die meisten Krisensymptome, die Brinton zuerst im französischen Ancien Régime entdeckte und dann in der Vorgeschichte anderer Revo­ lutionen wiederfand, begegnen uns auch in den ostmitteleuropäischen Revolutionen von 1989. Im Ideologiestaat DDR war der Abfall der Intellektuellen besonders ausgeprägt. Auf die ostdeutsche Staatsintelligenz, die weitgehend ihr Produkt war, hatte sich die SED lange Zeit im Großen und Ganzen verlassen können. Schriftsteller und Künstler, der Staats­ intelligenz ohnehin nur bedingt zurechenbar, waren, wenn ihr Widerspruch eine gewisse Schwelle überstieg, in erheblicher Zahl in die Bundesrepublik abgewandert oder abgeschoben worden. Seit dem Beginn der Ära Gorbatschow vollzog sich im Verhältnis von Partei und Staatsintel­ ligenz ein Wandel. Der Reformer im Kreml verkörperte und legitimierte

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die Hoffnungen vieler intellektueller SED-Mitglieder, darunter auch ­hohen Kadern, bis hinein in den Bereich der Staatssicherheit. Mit dem von Brinton benutzten Begriff «Budgetdefizit» wäre der ­Zustand der DDR-Finanzen Ende der achtziger Jahre nur unzureichend beschrieben. Der ostdeutsche Staat hatte im Zeichen der von Honecker proklamierten Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik seit 1973 über seine Verhältnisse gelebt. Die DDR stand, wie der Vorsitzende der Staatlichen Planungskommission, Gerhard Schürer, auf der 10. Tagung des Zentralkomitees der SED am 8. November 1989 mitteilte, am Rande des Staatsbankrotts; sie hing existenziell von den Krediten der Bundesrepublik ab. Was Brinton die «Trennung der wirtschaftlichen von der politischen Macht» nannte, hatte in der DDR eine besondere Form angenommen: Die wirtschaftliche Macht lag längst in der Hand des kapitalistischen Klassenfeindes in Gestalt der Bundesrepublik. Was die politische Macht betraf, so war sie seit jeher nur eine abgeleitete, von der Sowjetunion verliehene. Die Entscheidung darüber, was aus der DDR als Staat werden würde, wurde folglich 1989 / 90 in erster Linie nicht in Ost-Berlin, sondern in Moskau und in Bonn getroffen – sowie im Hinblick auf die internationalen Rahmenbedingungen in Washington, London und Paris. Weniger verallgemeinerbar als Brintons «Vorzeichen» ist der von ihm vor allem an der Französischen Revolution von 1789 entwickelte Verlaufstyp der Revolution: die Ablösung der Vorherrschaft der Gemäßigten durch die Extremisten und der anschließende «Thermidor», eine Revision der bisherigen Phasen der Revolution. Schon die «großen» Revolutionen lassen sich nicht ohne Weiteres in dieses Schema pressen. Die Ameri­ kanische Revolution von 1775 / 76 etwa kennt keine extremistische oder terroristische Phase; bei den russischen Revolutionen von 1917 war nur die Februarrevolution gemäßigt; der Terror beginnt mit Lenin und nicht erst mit Stalin, der aber zugleich mit dem Übergang zum «Sozialismus in einem Lande» bereits eine «thermidorianische» Abkehr von der bolschewistischen Weltrevolution markiert. In der deutschen Revolution von 1918 /19, die nicht zu den großen Revolutionen gerechnet wird, gab es zu keiner Zeit eine Vorherrschaft der Extremisten.16 Zu den neueren Versuchen, die Bedeutung von «Revolution» zu bestimmen, gehört einer des deutsch-britischen Soziologen Ralf Dahrendorf. Er definierte 1961 «Revolution» als «politische und soziale Wand-

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lungen …, die unter Anwendung von Gewalt extrem rasch verlaufen und äußerst tiefgehende Wirkungen zeitigen». Den weithin gewaltfrei verlaufenen Umbrüchen von 1989 bestritt er aber keineswegs den revolutionären Charakter. Von dem Publizisten und Historiker Timothy Garton Ash übernahm er den Mischbegriff «Refolution», um die Gemengelage zwischen Revolution und Reform hervorzuheben, die für die meisten Systemwechsel jenes Jahres bezeichnend war. «Die Veränderungen gingen tief, aber sie hatten die Form drastischer Reformen von oben, nicht der Umwälzung durch erfolgreichen Druck von unten … In allen diesen Fällen wurde zumindest die oberste Ebene der Mächtigen rasch und gründlich beseitigt, und ihre Beseitigung war von der totalen Entlegitimierung des alten Regimes begleitet.»17 Für die ostdeutsche Revolution bedeutete der Mauerfall den entscheidenden Wendepunkt. Die Bewegungen, die ihm vorgearbeitet hatten – die Ausreise- und die Protestbewegung – waren von Minderheiten getragen worden, was nicht gegen ihren revolutionären Charakter spricht: Alle Revolutionen der Geschichte sind durch Minderheiten ausgelöst worden. Nachdem das SED-Regime mit der Öffnung der Mauer seinen Offen­ barungseid geleistet hatte, meldeten sich viele von jenen zu Wort, die bisher zur schweigenden Mehrheit gehört hatten, darunter viele Arbeiter. Damit begann die von dem ostdeutschen Historiker Hartmut Zwahr so genannte «nationale Revolution».18 Lauter als der Sprechchor «Wir sind das Volk!» erscholl seitdem in Leipzig und anderen Städten der DDR der Ruf «Deutschland einig Vaterland», womit die Demonstranten die Hymne der DDR zitierten, die wegen ebendieser Worte seit den frühen siebziger Jahren bei offiziellen Anlässen nur noch vom Orchester gespielt, aber nicht mehr gesungen wurde. («Wir sind ein Volk!» war entgegen einer verbreiteten Meinung kein Sprechchor, sondern ein Aufkleber westdeutscher, genauer gesagt christdemokratischer Herkunft.) Der Wunsch nach Wiedervereinigung war in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre in der diktatorisch regierten DDR deutlich stärker als in der sehr viel wohlhabenderen, freiheitlich verfassten Bundesrepublik. Im Oktober 1989, im Monat vor dem Mauerfall also, erschien im «Deutschland Archiv» eine Auswertung von einschlägigen Umfrageergebnissen aus dem Weststaat. Demzufolge verstanden 37 Prozent der westdeutschen Bevölkerung unter «Nation» die Bundesrepublik und die DDR zusammen;

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ein knappes Viertel hatte einen weiter reichenden Begriff von deutscher Nation, wobei 12 Prozent auch die ehemaligen Ostgebiete dazu rechneten, 11 Prozent sogar alle deutschsprachigen Gebiete. Ein Drittel der Bundesbürger bejahte, zwei Drittel verneinten, dass die DDR für sie Ausland sei. Während bei den über Sechzigjährigen neun Zehntel sich als Ange­ hörige eines Volkes fühlten, waren es bei den jungen Bundesbürgern zwischen 14 und 29 Jahren nur 65 Prozent. Das Ergebnis fasste die Analyse in der Schlussfolgerung zusammen, die DDR werde von einem großen Teil der jungen Generation als fremder Staat mit einer anderen Gesellschaftsordnung und nicht mehr als Teil Deutschlands wahrgenommen. «Dies führt zu einem Abbau des Bewusstseins einer nationalen Gemeinsamkeit und macht stetiger Entfremdung Platz.»19 Unter den politischen Parteien der Bundesrepublik gehörte die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands mittlerweile zu den umstrittenen Fragen. Ja zur Wiedervereinigung sagten im Allgemeinen die Unionsparteien und die Freien Demokraten, während die Grünen einem deutschen Nationalstaat eine Absage erteilten. Die Sozialdemokraten ­waren in dieser Frage gespalten; der Begriff «Wiedervereinigung» war bei den meisten von ihnen verpönt. Bei den politischen Kräften links der Mitte und in den intellektuellen Milieus überwog die Einheitsskepsis: eine Haltung, die mit der schuldbeladenen Geschichte des Deutschen Reiches im 20. Jahrhundert und nicht selten mit dem Holocaust begründet wurde. Ähnlich argumentierten in der DDR viele Bürgerrechtler und nicht zuletzt die aus dem Umfeld der evangelischen Kirche. Repräsentative Umfragen liegen für Ostdeutschland für die Zeit vor dem Herbst 1989 nicht vor. Sicher ist aber, dass die seit den frühen siebziger Jahren von der SED verfochtene These von den zwei deutschen Nationen – einer alten kapitalistischen in der Bundesrepublik und einer neuen sozialistischen in der DDR – bei den Ostdeutschen keine Zustimmung fand.20 Zugespitzt formuliert: In der Bundesrepublik hatte sich eine Staatsnation herausgebildet, der nichts fehlte als das offizielle Bewusstsein, eine zu sein. In der DDR fehlte zur Staatsnation alles außer dem Anspruch der Offiziellen, eine solche zu vertreten.21 Gegen den Ruf nach der deutschen Einheit wandte sich am 26. November 1989 in der DDR der Aufruf «Für unser Land!», in dem sich be-

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kannte Bürgerrechtler zusammen mit prominenten SED-nahen Intellektuellen und Schriftstellern für einen sozialistischen «dritten Weg» zwischen Kapitalismus und Kommunismus und gegen einen Anschluss an die kapita­listische Bundesrepublik aussprachen.22 Wer sich um die gleiche Zeit diese Position auf Demonstrationen in Städten der DDR zu eigen machte, hatte aber kaum noch eine Chance, Gehör zu finden. Westdeutsche Meinungsumfragen in Ostdeutschland erbrachten zwischen dem 20. und dem 23. November Mehrheiten von über 60 Prozent für die Wiedervereinigung. Die Westdeutschen dachten nach dem Mauerfall ähnlich: Grundsätzlich sprachen sich laut dem Zweiten Deutschen Fernsehen am 20. November 70 Prozent der Befragten für die Einheit Deutschlands aus.23 Seit dem 28. November 1989 stand die deutsche Frage wieder auf der Tagesordnung der internationalen Politik. Es war der Tag, an dem Bundeskanzler Helmut Kohl im Bundestag seine historische Zehn-PunkteErklärung vortrug: eine Vision des Weges zur deutschen Einigung, die über eine «Vertragsgemeinschaft» und «konföderative Strukturen» schließlich zur bundesstaatlichen Einheit Deutschlands führen sollte. Dass dieses Ziel in weniger als einem Jahr verwirklicht werden würde, konnte im Herbst 1989 jedoch weder im geteilten Deutschland noch bei den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs irgendjemand vorhersehen. Tatsächlich gelang es Kohl bis zum Jahresende 1989, den Widerstand Frankreichs (und zumindest teilweise auch den Großbritanniens) gegen ein vereinigtes Deutschland zu überwinden. Im Januar 1990 setzte sich auch in Moskau angesichts der wirtschaftlichen und politischen Schwäche ihres ostdeutschen Verbündeten die Einsicht durch, dass die Tage der DDR gezählt waren und es keine realistische Alternative zu irgendeiner Art von deutscher Einheit gab. Dem grundsätzlichen Ja zur Wiederver­ einigung, das Gorbatschow gegenüber Kohl im Februar in Moskau aussprach, folgte Ende Mai in Washington sein Zugeständnis gegenüber dem amerikanischen Präsidenten George W. Bush, dass die Deutschen selbst über ihre künftige Bündniszugehörigkeit entscheiden sollten. Damit war das letzte große Hindernis auf dem Weg zur deutschen Einheit beseitigt: Das wiedervereinigte Deutschland konnte, so wie Bush und Kohl es forderten, Mitglied der NATO werden. Modalitäten des künftigen militärischen Status des Gebiets der DDR

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5. Mehr als ein Zusammenbruch

und des Abzugs der Sowjettruppen aus diesem Territorium mussten noch im Rahmen der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen zwischen den beiden deutschen Staaten auf der einen und den ehemaligen Besatzungsmächten auf der anderen Seite erörtert und beschlossen werden – Verhandlungen, die auf Ministerebene am 5. Mai 1990 in Bonn begannen und am 12. September in Moskau abgeschlossen wurden. Bei der dritten Verhandlungsrunde am 17. Juli in Paris, bei der es unter anderem um die endgültige völkerrechtliche Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze an Oder und Görlitzer Neiße ging, nahm zeitweilig auch der polnische Außen­ minister Skubiszewski teil. Den Weg dorthin hatten die beiden deutschen Parlamente, der Bundestag und die Volkskammer, am 21. Juni durch gleichlautende Entschließungen geebnet. Zwischen Bundeskanzler Kohl und Generalsekretär Gorbatschow wurden Mitte Juli in Moskau und im Kaukasus die materiellen Gegen­ leistungen der Bundesrepublik für das diplomatische Entgegenkommen der Sowjetunion in Sachen deutsche Einheit ausgehandelt. Es waren diese bilateralen Verhandlungen, die noch einmal vor aller Welt deutlich machten, was die Bedingung der Möglichkeit der dramatischen Veränderungen in und um Deutschland 1989 / 90 war: der Niedergang der Sowjetwirtschaft in den Jahren zuvor. Die größte innerdeutsche Zäsur auf dem Weg zur deutschen Einheit bildete die erste freie Volkskammerwahl in der DDR am 18. März 1990. Dass sich bis dahin eine von einem Politiker der SED, dem als Reformer geltenden Hans Modrow, geführte Regierung im Amt halten konnte, lag vor allem an der Kompromissbereitschaft der Bürgerrechtsgruppen, der neugebildeten Sozialdemokratischen Partei in der DDR und der Wandlungsfähigkeit der bisherigen «Blockparteien», obenan der (Ost-) CDU und der Liberaldemokratischen Partei, die beide inzwischen von ihren westdeutschen Schwesterparteien gewissermaßen «adoptiert» worden waren. Vorbereitet wurden die freien Wahlen am Zentralen Runden Tisch, der sich Anfang Dezember 1989 konstituiert hatte. Unter den ersten Teilnehmern dieses Gesprächskreises, die sich vom Gedanken eines «dritten Weges» für die DDR ab- und dem Ziel der Wiedervereinigung zuwandten, waren die Sozialdemokraten. Am 5. Februar 1990 traten die bisherigen Oppositionsgruppen, um die Position der DDR in den Verhand-

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lungen mit der Bundesrepublik zu stärken, in die Regierung Modrow ein. Gleichzeitig beschloss der Runde Tisch auf Drängen der Sozialdemokraten, die ursprünglich für den 6. Mai vorgesehenen Volkskammerwahlen auf den 18. März 1990 vorzuverlegen. Umstritten blieb im Frühjahr 1990, nachdem sich der Gedanke der Wiedervereinigung auch am Runden Tisch durchgesetzt hatte, sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR eine Zeit lang noch die Frage, in welcher Form die bundesstaatliche Einheit verwirklicht werden sollte: über eine neue gesamtdeutsche Verfassung, über die in einer Volksabstimmung gemäß Artikel 146 des Grundgesetzes entschieden werden musste, oder durch einen Beitritt nach Artikel 23, nach dem sich 1956 das Saarland der Bundesrepublik angeschlossen hatte. Bundeskanzler Kohl hatte sich aus außen- wie aus wirtschafts- und finanzpolitischen Gründen bereits im Februar 1990 auf die zweite, sehr viel schneller zu realisierende Option festgelegt, und dafür die Unterstützung des freidemokratischen Koalitionspartners gewonnen. Bei den westdeutschen Sozialdemokraten überwogen hingegen die Befürworter des Weges über Artikel 146. Beim Runden Tisch stieß die Beitrittslösung zunächst auf entschiedene Abwehr. Je näher jedoch die Volkskammerwahl rückte, desto schwächer wurde dieses Nein. Das galt in erster Linie für die Ost-CDU, die sich am 1. März mit der von der CSU geförderten Deutsch-Sozialen Union und der Bürgerrechtsgruppe Demokratischer Aufbruch zu dem konservativen Parteibündnis Allianz für Deutschland zusammenschloss. Die Allianz machte sich, massiv unterstützt von Bundeskanzler Kohl, zur Sprecherin der Forderung nach einer raschen Wiedervereinigung und gewann damit die Wahl. Mit einem Stimmenanteil von 48 Prozent ging sie als die mit Abstand stärkste Kraft aus dem Parteienwettstreit hervor. Es folgten die SPD mit 21,9 Prozent und die in Partei des Demokratischen Sozialismus ­umbenannte SED mit 16,4 Prozent, die liberalen Parteien, zusammengeschlossen im Bund Freier Demokraten, mit 5,3 Prozent. Die eigentlichen Wahlverlierer waren die im Bündnis 90 zusammengeschlossenen Bürgerrechtsgruppen. Auf sie entfielen 2,9, auf die Grüne Partei 2 Prozent. Die Wahlbeteiligung war extrem hoch: Sie lang bei 93,4 Prozent, was dazu beitrug, die Volkskammerwahl zu einer Art Plebiszit für eine rasche Wiedervereinigung zu machen.

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5. Mehr als ein Zusammenbruch

Dass der Vorsitzende der Ost-CDU, Lothar de Maizière, am 12. April zum neuen Ministerpräsidenten gewählt wurde, lag in der Logik des Wahlergebnisses. Der von ihm gebildeten Koalitionsregierung gehörten auch die Sozialdemokraten und die Liberaldemokraten an. Zwischen dieser ersten demokratisch legitimierten Regierung der DDR und der Bundesregierung wurden in der Folgezeit die Wirtschafts- und Währungs- und Sozialunion ausgehandelt, die am 1. Juli 1990 in Kraft trat. Es folgte der deutsch-deutsche Einigungsvertrag, der am 31. August unterzeichnet wurde. Nachdem auch alle außenpolitischen Voraussetzungen erfüllt waren, konnte Deutschland schließlich am 3. Oktober 1990 seine Wiedervereinigung vollziehen.24 Am historischen Rang dieses Datums gibt es nichts zu deuteln. Am 3. Oktober 1990 wurde die deutsche Frage in der dreifachen Hinsicht gelöst, in der sie seit dem frühen 19. Jahrhundert Europa und die Deutschen immer wieder beschäftigt hatte. Erstens stand seit jenem Tag fest, wo Deutschland lag, wo seine Grenzen verliefen, was dazu gehörte und was nicht. Durch die verbindliche Anerkennung der Oder-Neiße-Linie wurde gleichzeitig auch ein anderes Jahrhundertproblem gelöst: die polnische Frage. Zweitens wurde 1990 die Doppelforderung von 1848 /49 nach Einheit und Freiheit verwirklicht. Drittes bildete der zweite deutsche Nationalstaat, anders als der erste, das Reich von 1871, infolge seiner Mitgliedschaft im Atlantischen Bündnis kein Problem der europäischen Sicherheit mehr.25 Zur außen- und sicherheitspolitischen Berechenbarkeit des wieder­ vereinigten Deutschland trug außerdem wesentlich bei, dass es kein klassischer Nationalstaat wie das Deutsche Reich mehr war, sondern ein fest in die Europäische Gemeinschaft eingefügter postklassischer Nationalstaat: Es übte einige seiner Hoheitsrechte gemeinsam mit den anderen Mitgliedstaaten aus und übertrug andere auf gemeinschaftliche Institu­ tionen. Den Höhepunkt des Transfers von Hoheitsrechten bildete die ­Europäische Währungsunion, auf die sich die Staaten der Europäischen Gemeinschaft im Juni 1989 grundsätzlich verständigt hatten. Dass sie früher und in anderer Form als von Bonn gewünscht zustande kam, hängt eng mit der deutschen Einigung zusammen. Auf dem Straßburger Gipfel der Europäischen Gemeinschaft im November 1989 gewann Bundeskanzler Kohl die Zustimmung des franzö-

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sischen Staatspräsidenten François Mitterrand und der anderen Regierungschefs zum Recht der Deutschen auf nationale Selbstbestimmung, also auch auf die Wiederherstellung ihrer staatlichen Einheit, durch seine Bereitschaft, sich auf getrennte Regierungskonferenzen über die monetäre und die politische Einigung Westeuropas einzulassen und damit auf die bislang angestrebte gleichzeitige Verwirklichung der Währungs- und der Politischen Union zu verzichten. Er ermöglichte so den Integrationsschub des Vertragswerks von Maastricht, durch das sich die Europäische Gemeinschaft am 1. November 1993 in die Europäische Union verwandelte.26

III.

Es gibt keinen plausiblen Grund, die friedliche Revolution in der DDR mit dem Fall der Mauer enden zu lassen. Seit die bisher schweigende Mehrheit sich mit dem Ruf nach der Wiedervereinigung Deutschlands zu Wort meldete, ging der Druck auf die Regierenden von ihr aus. Als im Februar 1990 die Bürgerrechtsgruppen zu einem Teil der Exekutive wurden, verlief die entscheidende politische Trennlinie zwischen dem Runden Tisch und denen, die weiterhin auf die Straße gingen, um die Politik in ihrem Sinn, und das hieß konkret vor allem der raschen Verwirklichung der deutsch-deutschen Währungsunion, zu lenken. Bezeichnend hierfür war der populäre Slogan «Kommt die DM, bleiben wir  – kommt sie nicht, gehn wir zu ihr!» Der Runde Tisch besaß kein demokratisches Mandat, die Demonstrierenden nahmen es für sich in Anspruch. Seine Glaubwürdigkeit verlor dieser Anspruch erst mit der Wahl der Volkskammer am 18. März 1990. An diesem Tag endete die revolutionäre Phase der Umwälzung der deutschen Nachkriegsordnung. Es begann die evolutionäre Phase, an deren Ende die Wiedervereinigung stand. Als «nachholende Revolution» hat Jürgen Habermas die Umwälzungen von 1989 im Herrschaftsbereich der Sowjetunion bezeichnet. Ihr Ziel sei «die Rückkehr zum demokratischen Rechtsstaat und der Anschluss an den kapitalistisch entwickelten Westen» gewesen, woraus sich ein eigentümlicher Zug dieser Revolution erkläre: der «fast vollständige Mangel an

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5. Mehr als ein Zusammenbruch

i­nnovativen, zukunftsweisenden Ideen».27 In der Tat war das, was die Bürgerrechtsgruppen der DDR, aber auch in Polen und der Tschechoslowakei erstrebten, in den westlichen Demokratien im Wesentlichen bereits verwirklicht. Im Zentrum ihrer Forderungen standen Freiheit und Demokratie, wobei sich viele wohl mehr direkte Demokratie wünschten, als es sie in den repräsentativen Demokratien des Westens gab. Der Begriff «Kapitalismus» war zwar für die meisten ihrer Wortführer negativ besetzt, Wirtschaftsprogramme legten sie aber nicht vor. Die Popularität der größten ostdeutschen Bürgerrechtsgruppe, des Neuen Forums, beruhte gerade darauf, dass sich Menschen unterschiedlichster Herkunft auf ihren bewusst allgemein gehaltenen Forderungskatalog einigen konnten. Aus dem Primat der Demokratie ergab sich auch, dass die Regimegegner von 1989 im Gegensatz zu den Revolutionären der klassischen Revolutionen nicht selbst die Macht übernehmen, sondern es dem Volk überlassen wollten, über seine Verfassung und seine Regierung zu bestimmen. Völlig neu war dieser Denkansatz freilich nicht: Die deutschen Sozialdemokraten um Friedrich Ebert wollten 1918 /19 möglichst rasch eine Verfassunggebende Nationalversammlung wählen lassen, damit diese die Grundsatzentscheidungen über die verfassungs- und gesellschaftspolitische Entwicklung des Deutschen Reiches treffen konnte. Angesichts der Tatsache, dass Deutschland damals seit fast einem halben Jahrhundert über einen aus dem allgemein gehaltenen gleichen Männerwahlrecht hervorgegangenen Reichstag verfügte, hätte sich eine Absage an eine Konstituante oder eine Verzögerung ihrer Wahl demokratisch auch nicht legitimieren lassen. Im Prinzip hatten allerdings auch die deutschen Liberalen von 1848 nicht anders gedacht und gehandelt als ihre sozialdemokratischen Erben von 1918. Abermals sieben Jahrzehnte später, 1989, kam der massivste Widerspruch gegen den Anspruch der kommunistischen Parteien, erst der So­ zialismus nach sowjetischem Vorbild habe die gesellschaftlichen Grund­ lagen der wahren Demokratie geschaffen, nicht zufällig aus ostmittel­ europäischen Ländern wie Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei, also aus dem Teil des alten Okzidents, der im Februar 1945 durch die Beschlüsse der Konferenz von Jalta vom übrigen Westen abgetrennt worden war. Das Bewusstsein, mit dem demokratischen Westen durch eine weithin gemeinsame Kultur- und Rechtstradition eng verbunden zu sein,

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blieb dort auch in der Zeit des Ost-West-Konflikts lebendig. Nichts lag 1989 daher näher als die Orientierung an den Normen, die erstmals in den atlantischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts ausformuliert worden waren und das Verfassungsrecht in den westlichen Demokratien prägten. Dass die Transformationsprozesse der Jahre nach 1989 anders verliefen als in der Euphorie des Umbruchs erwartet, lag nicht nur an vermeidbaren Fehlentscheidungen der neuen Regierungen und vor allem solchen im wirtschaftspolitischen Bereich. Vielmehr zeigte sich nach 1989 rasch, dass die jüngere und die ältere Vergangenheit nicht aufhörten, das gesellschaftliche Bewusstsein zu prägen. Die Erwartungen an den Staat mussten erst den veränderten Verhältnissen angepasst, politische Eigenverantwortung erst wieder eingeübt werden. In der Zeit zwischen den Weltkriegen hatte die parlamentarische Demokratie nur in einem mitteleuropäischen Land die Zeit der Weltwirtschaftskrise überlebt: in der Tschechoslowakei. In ­allen anderen Ländern waren früher oder später rechtsautoritäre, nationalistische Regime an die Macht gekommen. Kräfte, die an diesen Tradi­ tionsstrang anknüpfen wollten, gab es nach 1989 in allen postkommunistischen Staaten. Im geteilten Deutschland hatten sich nach 1945 zwei sehr unterschiedliche politische Kulturen herausgebildet. Die Westdeutschen hatten von ihren Besatzungsmächten die Chance erhalten, eine zweite, diesmal funktionstüchtige parlamentarische Demokratie aufzubauen, die aus den Fehlern der ersten, der gescheiterten Republik von Weimar, lernte. Trotz der verbreiteten Neigung, die nationalsozialistische Vergangenheit auf sich beruhen zu lassen, und trotz einer großen Zahl von ehemaligen Nationalsozialisten in Schlüsselpositionen von Regierung, Verwaltung, Justiz und Wirtschaft öffnete sich die bundesdeutsche Gesellschaft im Lauf der Jahrzehnte immer mehr der politischen Kultur der westlichen Demokratien. Eine wichtige Rolle spielten dabei die kontroversen Debatten über die tieferen Ursachen des deutschen Weges in die Katastrophe der Jahre 1933 bis 1945. Befördert wurde die Verwestlichung durch das anhaltende Wirtschaftswachstum in den fünfziger und sechziger Jahren. Den Ostdeutschen blieb die Chance der Eingewöhnung in die politische Kultur des Westens bis 1989 verwehrt. Die DDR sah sich als der deutsche Staat, der im Gegensatz zur «kapitalistischen» und «imperialis-

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5. Mehr als ein Zusammenbruch

tischen» Bundesrepublik konsequent mit Faschismus und Reaktion gebrochen hatte. Die Unterdrückung der Meinungsfreiheit und die ideologische Frontstellung gegenüber dem Westen hatten jedoch die paradoxe Folge, dass sich alte deutschnationale Vorbehalte gegenüber dem Westen und besonders dessen Führungsmacht, den Vereinigten Staaten von Amerika, in der DDR in viel stärkerem Maß behaupten konnten als im größeren der beiden deutschen Staaten. Dazu kommt das Fortwirken einer ebenfalls sehr traditionellen, spezifisch «deutschen» Art von Russophilie, die sich in der Gegenwart etwa darin niederschlägt, dass die deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine in dem von Russland entfesselten Krieg in den östlichen Bundesländern sehr viel weniger Unterstützung finden als in den westlichen. Die Frage, ob die Ukraine ihren Widerstand gegen die russische Aggression aufgeben solle, beantworteten im Februar 2023 41 Prozent der Ostdeutschen, aber nur 20 Prozent der Westdeutschen mit Ja. Nein sagten 50 Prozent der Westdeutschen und 25 Prozent der Ostdeutschen.28 Die Massenarbeitslosigkeit in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung, eine Folge der fehlenden Wettbewerbsfähigkeit der meisten ehemaligen Staatsbetriebe der DDR, verstärkte die antiwestlichen Ressentiments in Teilen der Bevölkerung. Die umfangreichen Transferleistungen von den «alten» in die «neuen» Länder, durch die sich der ostdeutsche Transformationsprozess von dem in anderen postkommunistischen Staaten unterschied, trugen kaum dazu bei, dem Minderwertigkeitsgefühl entgegenzuwirken, das viele Ostdeutsche bereits zu Zeiten der DDR gegenüber den vielfach privilegierten Westdeutschen entwickelt hatten.29 Mehr als drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung ist das Wohlstandsgefälle zwischen dem Westen und dem Osten Deutschlands weit weniger ausgeprägt als in den neunziger Jahren. Der wirtschaftliche Aufholprozess der «neuen» Länder ist unübersehbar. Doch im Wahlverhalten wirkt die unterschiedliche Entwicklung in der Zeit der staatlichen Trennung immer noch nach: Das zeigen die Wahlerfolge einer rechtsnationalen Partei wie der AfD, die in den ostdeutschen Ländern viel besser abschneidet als in den westdeutschen. Nichts spricht dafür, dass ein radikalerer Bruch mit der DDR oder ein langsamerer Vereinigungsprozess Deutschland die Langzeitfolgen seiner Teilung erspart oder sie auch nur abgeschwächt hätte. Die Minderheit,

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die im Herbst 1989 das Regime der SED in seine letzte schwere Krise stürzte und schließlich zu Fall brachte, hat weit größere Veränderungen bewirkt, als sie selbst vorhersehen konnte. Was sich 1989 / 90 in der DDR ereignete, war nicht die Folge einer «Wende», wie es eine von Egon Krenz, dem kurzzeitigen letzten Generalsekretär der SED, in die Welt gesetzte Formel suggerieren möchte.30 Die ostdeutsche Umwälzung war vielmehr ein Teil einer übernationalen revolutionären Welle, die ganz Ostmittel­ europa erfasste – der europäischsten Revolution seit 1848. Sie führte zum erfolgreichsten Systemwechsel, den es je in Deutschland gegeben hat.

K AP I T E L 6

REVO LU TION EN IN PER SPEKT IV E : RÜ CKB LIC K U N D A U SB LIC K

6. Revolutionen Rückblickin und Perspektive Ausblick

I.

Wenn in diesem Buch von Revolutionen die Rede war, dann immer im Sinn von modernen Revolutionen. Als deren erste gilt meist die Glorious Revolution in England von 1688 / 89, die, anders als die Puritanische Revolution der 1640er Jahre, eine rein säkulare Umwälzung war. Oft wird auch erst die Französische Revolution von 1789 als die moderne Revolution schlechthin betrachtet, während die Abtrennung von 13 nordamerikanischen Kolonien der britischen Krone von ihrem Mutterland in den Jahren 1775 / 76 häufig nicht als Amerikanische Revolution, sondern als Amerikanischer Unabhängigkeitskrieg firmiert. Der Begriff «Revolution» und die Sache, um die es dabei geht, sind freilich sehr viel älter. Im klassischen Griechenland kannte man den gewaltsamen und den gewaltlosen Wandel der Staatsverfassung (metabolè politeiōn), den Bürgerkrieg (epidémios pólemos) und den Aufstand (stásis), die Römische Republik ebenfalls Bürgerkrieg (bellum civile) und Aufstand (seditio). Das Wort «Revolution» hingegen stammt aus der christlichen Spätantike und kann Unterschiedliches meinen, etwa die Abwälzung der Grabplatte Christi, die Wiederkehr der Zeiten und den Umlauf der Gestirne. Der letztere Sprachgebrauch setzt sich im Mittelalter fort, und noch das 1543 erschienene berühmte Buch des Nikolaus Kopernikus über den Umlauf der Gestirne führt die Revolution im Titel: «De revolutio­ nibus orbium coelestium libri six». Bereits im 14. Jahrhundert wird der Begriff «révolution» in Frankreich aber gelegentlich auch schon auf politische Umwälzungen im Sinne des seit der griechischen Antike bekannten Kreislaufs der Verfassungen (kýklesis politeiōn) angewandt. Mit Macht setzt die Politisierung des Revolutionsbegriffs dann mit der genannten «Glorius Revolution» ein, die der französische Autor Pierre Joseph Dorléans 1693 als «la Révolution qui met encore l’Europe en feu» bezeichnet, als die Revolution, die Europa immer noch in Flammen steckt.1 Spätere Generationen haben den Begriff «Revolution» auf frühere Jahrhunderte übertragen, bis hin zur «spartanischen Revolution» des drit-

Rückblick und Ausblick

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ten und zweiten vorchristlichen Jahrhunderts. Als fruchtbar erwiesen sich die Deutungen der «Papstrevolution» des 11. und 12. Jahrhunderts und der deutschen «Fürstenrevolution» des 16. Jahrhunderts durch den deutschen Universalhistoriker Eugen Rosenstock-Huessy in seinem Buch über die europäischen Revolutionen aus dem Jahr 1931. Mit «Papstrevolution» ist der Konflikt zwischen dem hochmittelalterlichen Reformpapsttum auf der einen Seite und den Kaisern des Heiligen Römischen Reiches und den Königen von England und Frankreich auf der anderen Seite gemeint, der seinen Höhepunkt im «Dictatus Papae» Gregors VII. und seinem Konflikt mit Kaiser Heinrich IV. in den Jahren 1075 bis 1077 erreichte, aber nicht mit dem Sieg der einen oder der anderen Seite endete, sondern mit historischen Kompromissen nach Art des Wormser Konkordats von 1122. Sie brachten eine für die gesamte weitere Geschichte des Westens grundlegende ansatzweise Trennung von geist­ licher und weltlicher Gewalt. Die «Fürstenrevolution» hingegen meint die politische Seite der Reformation Martin Luthers in Deutschland, die, anders als die Reformationen Zwinglis und Calvins, vor allem eine theologische Umwälzung blieb.2 Friedrich Engels nannte dessen ungeachtet die Reformation pauschal die «Revolution Nr. 1 der Bourgeoisie», was sie aber sehr viel weniger war als eine «Revolution des gemeinen Mannes», von der der Historiker Peter Blickle im Hinblick auf den deutschen Bauernkrieg und verwandte Erhebungen um 1525 spricht.3 Karl Marx sah durch die Reformation die Rolle der deutschen Philosophie vorgegeben. «Deutschlands revolutionäre Vergangenheit ist nämlich theoretisch, es ist die Reformation», schrieb er 1843 /44 in der Einleitung zur «Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie». «Wie damals der Mönch, ist es jetzt der Philosoph, in dessen Hirn die Revolution beginnt.» Mit dem Philosophen der Jetztzeit dürfte Marx nicht den zwölf Jahre zuvor verstorbenen Hegel, sondern sich selbst gemeint haben. Deutschland dünkte ihm in der Spätphase des Vormärz, verglichen mit dem zeitgenössischen Frankreich, so rückständig, dass es einer sehr viel gründ­ licheren Revolution bedurfte als dieses. «Das gründliche Deutschland kann nicht revolutionieren, ohne von Grund auf zu revolutionieren. Die Emanzipation des Deutschen ist die Emanzipation des Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat.»4

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6. Revolutionen in Perspektive

Hatten viele der sogenannten «deutschen Jakobiner» zu Ende des 18. Jahrhunderts in der Reformation den tieferen Grund dafür gesehen, dass Deutschland eine Revolution von unten vermeiden und auf gründliche Reformen, ja eine neue Reformation setzen sollte, so zog Marx aus dem Werk Martin Luthers den umgekehrten Schluss: Da die Reformation nur eine unvollkommene oder halbe Revolution war, musste Deutschland eine radikale Revolution vollziehen und zum Auslöser der letzten, der proletarischen Weltrevolution werden, so wie Frankreich zum Pionierland der Revolution der Bourgeoisie geworden war. Doch Marxens Analogieschluss von der bürgerlichen auf die proletarische Revolution war ein Fehlschluss. Die Konstellation von 1789 wiederholte sich nicht. Anders als der Feudaladel wurde das Bürgertum nicht zu einer weithin funktionslosen Klasse, und im Gegensatz zum dritten Stand konnte der vierte Stand, das Proletariat, nie mit einem wenigstens relativem Recht von sich behaupten, er sei zum allgemeinen Stand ge­ worden. Nach dem Scheitern der Revolution von 1848 /49 kam es in Europa zunächst nicht mehr zu Revolutionen von unten. Vielmehr setzten sich andere Typen von Revolution durch: die Revolution von oben, sei es in bonapartistischem, sei es in Bismarck’schem Gewand, und die demokratische Stimmscheinrevolution, also ein Systemwandel durch demokratische Wahlen: eine Entwicklung, die Engels klarer erkannte als Marx. Hoffnungen auf eine Revolution von unten setzten beide, wenn auch mit vielen Vorbehalten, in ein Land, das noch überwiegend agrarisch und ­polizeistaatlich geprägt war: das russische Zarenreich.5 Eine radikale Revolution als Kompensation von teils geglaubter, teils tatsächlicher Rückständigkeit: Im Fall Deutschlands erklärt das die Entstehung der Revolutionstheorie, die mehr als jede andere Geschichte gemacht hat: der Marxschen. Seine größten Wirkungen erzielte der revolutionäre Marxismus indes nicht in Deutschland, sondern in anderen Teilen der Welt, zuerst 1917 in Russland und dann rund drei Jahrzehnte später in China. Mittelbar trug er aber auch in Deutschland zu einer radikalen Umwälzung bei. Die Angst vor der kommunistischen Revolution und dem daraus resultierenden Bürgerkrieg gehört zu den wichtigsten Ur­ sachen des Massenzulaufs zu den faschistischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit und namentlich den deutschen Nationalsozialisten. Dass

Rückblick und Ausblick

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ihr gegen die Revolutionen von 1917 und 1989 gerichtetes Regime selbst revolutionäre Züge trug, ist ein Teil der Dialektik des deutschen Beitrags zur Weltgeschichte der Revolutionen.

II.

Der Ausgangspunkt des ersten Kapitels dieses Buches war eine These, die der deutsche Historiker Rudolf Stadelmann kurz nach dem Zweiten Weltkrieg aufgestellt hat: die These, dass sich Deutschland von den westlichen Demokratien vor allem dadurch unterscheide, dass es das «Volk ohne Revolution» war.6 So viel auch für Stadelmanns Urteil spricht, dass das Scheitern der Revolution von 1848 /49 wesentlich dazu beigetragen hat, dass das politische Bewusstsein großer Teile des deutschen Bürgertums obrigkeitsstaatlich verformt blieb, so fragwürdig ist doch die zugrunde liegende Annahme, «gelungene» Revolutionen verbürgten eine demokratische Nationalgeschichte. Die Französische Revolution hat bekanntlich einen anderen Verlauf genommen, als die meisten Fürsprecher der Ideen von 1789 erwartet hatten. Die jakobinische «terreur» war zwar in erster Linie eine Reaktion auf die konterrevolutionäre Intervention der konservativen ­europäischen Mächte, aber auch ein Ausfluss des Denkens von radikalen Republikanern wie Robespierre und Saint-Just, die Rousseaus Lehre von der «volonté générale» so «totalitär» interpretierten, wie das als Möglichkeit in dieser Lehre angelegt war. Auf die Zeit des republikanischen Terrors folgten das Zwischenregime des Thermidor und des Direktoriums, 1799 die Zeit des ersten Konsuls, und, seit 1804, Kaisers Napoleon, dann, nach 1814 /15, die Jahre der bourbonischen Restauration unter Ludwig XVIII., dem Bruder des 1793 guillotinierten Ludwig XVI., und nach der Julirevolution von 1830 das Julikönigtum, eine parlamentarische Monarchie unter Louis Philippe aus dem Hause Orleans, die große Zeit der «haute bourgeoisie». Eine demokratische Republik wurde Frankreich erstmals, wenn auch nur für kurze Zeit, nach der Februarrevolution von 1848. Die «Juni­ schlacht» desselben Jahres, die Niederwerfung des großen Pariser Arbeiter­

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6. Revolutionen in Perspektive

aufstands durch die Truppen des Kriegsministers, General Cavaignac, ­erwies sich ein halbes Jahr später als wesentliche Voraussetzung für den triumphalen Sieg des Prinzen Louis Napoleon Bonaparte über Cavaignac bei der Wahl des Präsidenten der Republik im Dezember 1848, war für den Prinzen aber nur eine Zwischenstation auf seinem Weg zum plebiszitär legitimierten Kaiser Napoleon III. vier Jahre später. Sehr viel dauerhafter war der Übergang zur Republik nach dem Sturz Napoleons III. im September 1870: einer Folge der ersten großen Niederlage Frankreichs im Krieg mit Deutschland, der Schlacht von Sedan. Die Dritte Republik war zunächst freilich eine hoch konservative, von Royalisten bedrohte «République des ducs», bevor sie sich im späten 19. Jahrhundert zu einer liberalen, laizistischen Republik wandelte. England blieb nach der Glorious Revolution von 1688 noch lange eine von der Gentry und wohlhabenden Bürgern regierte parlamentarische Plutokratie, in der die Korruption so blühte, dass man von «government by corruption» sprechen konnte. Nach 1789 gehörte Großbritannien zu den erbittertsten Gegnern des revolutionären Frankreich. Das höchst besitzfreundliche, an Grundbesitz gebundene Wahlrecht wurde im 19. Jahrhundert in drei Schüben – 1832, 1867 und 1884 – unter massivem Druck von unten schrittweise erweitert. Das allgemeine gleiche Wahlrecht für Männer, das der Norddeutsche Bund seit seiner Entstehung im Jahr 1867 und das deutsche Kaiserreich seit seiner Gründung vier Jahre später kannten, führte das Vereinigte Königreich erst während des Ersten Weltkriegs, 1916, ein. Das allgemeine gleiche Wahlrecht für Frauen, das in Deutschland, als erstem souveränen europäischen Staat Ende 1918 Wirklichkeit wurde, lernte Großbritannien, das europäische Land mit der militantesten Frauenbewegung, erst etappenweise kennen: 1916 mussten Frauen noch neun Jahre älter sein als Männer, nämlich das 30. Lebensjahr vollendet haben, ehe sie zumindest das aktive Wahlrecht erhielten. Die Gleichstellung mit den Männern erfolgte erst 1928. Frankreich wartete noch bis 1944, ehe es das Frauenwahlrecht einführte. In der Schweiz leistete der Halbkanton Appenzell Innerrhoden so lange Widerstand gegen die Wahlberechtigung der Frauen, bis im November 1990 das Bundesgericht die Einführung erzwang und damit auch auf der Ebene der Eidgenossenschaft ermög­ lichte.

Rückblick und Ausblick

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Die USA können sich, was die geschriebene Verfassung angeht, die erste moderne Demokratie der Welt nennen. Doch die Verfassungswirklichkeit unterschied sich lange Zeit fundamental vom Verfassungsrecht. Vom allgemeinen gleichen Wahlrecht für Männer und anderen Bürgerrechten waren die aus Afrika und der Karibik zwangsimportierten Sklaven von der Gründung der Union an bis zum Ende des Bürgerkrieges 1865 schon de jure ausgeschlossen. Ihre im Jahr darauf durch einen Zusatz zur Verfassung in Kraft getretene gesetzliche Wahlberechtigung unter­ liefen die Südstaaten danach durch Gesetze, die auf einen Ausschluss de facto hinausliefen. Unter ähnlichen Diskriminierungen hatten die amerikanischen Ureinwohner zu leiden. Das Frauenwahlrecht führte 1869 als erster späterer Bundesstaat das damalige Territorium Wyoming ein. Die Union tat diesen Schritt erst 1920. Ob Deutschland eine Demokratie auch ohne eine blutige Revolution nach Art der französischen von 1789 hätte errichten können, bleibt eine hypothetische Frage. Tatsache ist, dass die gesellschaftlichen Voraussetzungen einer solchen Revolution im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert nicht vorlagen, und das namentlich deshalb, weil einige Einzelstaaten, darunter Preußen, einer gewaltsamen Umwälzung durch Reformen vor­ gebeugt hatten und nur Minderheiten hinter der Forderung nach der Verwirklichung der Volkssouveränität oder gar einer deutschen Republik standen. 1848 war das nicht prinzipiell anders als nach 1789. Die Verfassungsreform, zu der sich das deutsche Kaiserreich im Zeichen seiner militärischen Niederlage im Herbst 1918 entschloss, verwandelte die konstitutionelle in eine parlamentarische Monarchie. Theoretisch hätte diese Reform auch schon früher erfolgen können. Was ihr entgegen stand, war nicht nur die Gegnerschaft alter Eliten wie des grundbesitzenden Adels Ostelbiens, des eng mit ihm verbundenen Offizierskorps und von Teilen des hohen Beamtentums. Es waren auch die Interessen der Bundesstaaten und der meisten Parteien. Die konservativen und antisemitischen Parteien waren prinzipielle Gegner einer parlamentarisch verantwortlichen Regierung. Die Nationalliberalen und das Zentrum sahen keinen Vorteil in ihr. Die Sozialdemokraten bekannten sich zur parlamentarischen Regierungsweise, weigerten sich aber in der Vorkriegszeit im Sinne des proletarischen Klassenkampfes, die hierzu erforderlichen Koalitionen mit bürgerlichen Parteien einzu­

6. Revolutionen in Perspektive

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gehen. Die linksliberale Fortschrittliche Volkspartei war vor 1914 die einzige deutsche Partei, die die parlamentarische Monarchie nicht nur ­forderte, sondern auch bereit war, zu diesem Zweck mit der SPD zu koalieren. Es waren, wie wir gesehen haben, historische Traditionen, die die Demokratie von Weimar von Anfang an belasteten und schließlich dazu beitrugen, dass sie in den Stürmen der Weltwirtschaftskrise unterging. Ihre Überlebenschancen wären größer gewesen, hätte sie so wie die gleichfalls historisch vorbelastete Dritte Republik Frankreichs über eine wichtige Ressource verfügt: die Ressource Zeit. Zeit aber hätte die erste deutsche Republik gebraucht, um das zu entwickeln, was letztlich noch wichtiger war als ein konsequent demokratisches Wahlrecht: eine liberale politische Kultur.7

III.

Obgleich auch sie alles andere als «klassische» Revolutionen waren, wird doch zwei deutschen Revolutionen, denen von 1848 /49 und 1918 /19, der revolutionäre Charakter gemeinhin nicht abgesprochen. Zwischen ihnen gibt es eine Reihe von auffallenden Parallelen, oder wie man auf englisch sagen würde, von «recurrent patterns». Beide waren in gewisser Weise «ungewollt» und die Sozialdemokraten von 1918 ebenso wie die Liberalen von 1848 Revolutionäre wider Willen. Beide Male unternahm eine Minderheit noch vor der Wahl einer Verfassunggebenden Nationalversammlung einen gewaltsamen Umsturzversuch, der damit gerechtfertigt wurde, dass die Gemäßigten die Revolution verraten hätten. Der Heckerputsch vom April 1848 erlebte eine Art Wiederkehr im Berliner Januaraufstand von 1919, Marxens Aufruf zum revolutionären Weltkrieg verwandelte sich in Lenins Parole von der Weltrevolution. Verändert hatten sich die Himmelsrichtungen, aus denen die revolu­ tionären Impulse kamen. Am Beginn der europäischen Revolutionswelle von 1848 stand die Pariser Februarrevolution, am Ende des Ersten Weltkriegs die russische Oktoberrevolution von 1917. 1848 /49 hätte ein Weitertreiben der Revolution in Deutschland zu einem großen Krieg mit der

Rückblick und Ausblick

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Vormacht des konservativen Europa, dem russischen Zarenreich, geführt. 1918 /19 wäre eine Nachahmung des russischen Beispiels in Deutschland Anlass einer militärischen Intervention der westlichen Demokratien geworden. Zur Probe aufs Exempel kam es weder im einen noch im anderen Fall. Ein sowjetisch inspirierter Umsturzversuch, die zweite Münchener Räterepublik vom April 1919, wurde Anfang Mai von Regierungstruppen und Freikorps blutig niedergeschlagen. Die Machtergreifung der Extremisten, in der Crane Brinton die typische zweite Phase aller großen Revolutionen sieht, fand auf gesamtdeutscher Ebene 1918 /19 so wenig wie schon sieben Jahrzehnte zuvor statt. Doch auch als bloße Möglichkeit war der Ernstfall in beiden Revolutionen ein politischer Faktor. Er rief Angst hervor und diente als Mittel, um Angst zu schüren: die deutsche Urangst vor Revo­ lution, Chaos und Bürgerkrieg, deren Wurzeln in die Zeit des Dreißig­ jährigen Krieges zurückreichen. Angst als Reaktion auf revolutionäre Umwälzungen ist freilich kein exklusiv deutsches Phänomen, wie ein Blick auf die «grande peur» in Frankreich im Sommer 1789 und den «red scare» in den USA 1919 /20 zeigt. Die Vergleiche lassen sich fortsetzen. 1848 /49 wurde der Liberalismus durch die Fülle der zu lösenden Aufgaben überfordert, 1918 /19 die Sozialdemokratie. Von den beiden großen Zielen der ersten deutschen Revolution wurde eines, die nationale Einheit, durch Bismarck verwirklicht, das andere, die politische Freiheit im Sinne eines parlamentarisch regierten Verfassungsstaates, erst im Gefolge der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg. Ebendiese Entstehungsgeschichte der ersten deutschen Demokratie ist aus dem Untergang der Weimarer Republik nicht wegzudenken. In ganz Deutschland wurden Einheit und Freiheit erst durch die friedliche Revolution von 1989 / 90 erneut zur politischen Wirklichkeit.8 Ob Revolutionen als gelungen oder gescheitert gelten, sie werden im Nachhinein meist zum Gegenstand von Mythisierungen und Romantisierungen. Die Französische Revolution von 1789 ist ein typischer Fall von posthumer Verklärung. Sie wird noch heute vielfach als die erste moderne Revolution betrachtet, obwohl sie der ersten der beiden atlantischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts, der amerikanischen von 1775 / 76, wesentliche Impulse verdankt. Das gilt auch für die Erklärung der Menschenrechte. Der Erklärung der Menschen- und Bürger-

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rechte durch die französische Nationalversammlung am 26. August 1789 gingen die frühen amerikanischen Menschenrechtserklärungen, beginnend mit der Virginia Declaration of Rights vom 12. Juni 1776, voraus. An sie lehnte sich der Marquis de Lafayette bei seinem Entwurf der französischen Erklärung an, wobei er sich der aktiven Mitarbeit von Thomas Jefferson, dem aus Virginia stammenden Hauptautor der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und späteren dritten Präsidenten der USA, erfreuen konnte, der damals amerikanischer Botschafter in Paris war. Die Neigung der französischen Linken, in der Tradition von Georges Clemenceaus berühmten Diktum von 1891 «La révolution est un bloc» in der Französischen Revolution eine Einheit zu sehen, also eine Trennung des «guten» 1789 vom «bösen» 1793, dem Jahr des jakobinischen Terrors, nicht zuzulassen, hat noch 1989 in manchen Beiträgen zu den Feierlichkeiten aus Anlass der 200. Wiederkehr der Französischen Revolution ­ihren Ausdruck gefunden. Dasselbe trifft für die These zu, die Französische Revolution sei noch nicht zu Ende. Doch die herrschende Meinung ist die harmonisierende Sicht der Revolution nicht mehr. Die Einsicht, dass die Kämpfe in der konterrevolutionären Vendée in den Jahren 1793 bis 1796 genozidalen Charakter trugen, hat sich nicht nur in der Geschichtswissenschaft durchgesetzt. Die protototalitären Züge der Jakobinerherrschaft hervorzuheben und darin eine Folge von Rousseaus Triumph über Montesquieu zu sehen, ist schon lange kein Sakrileg mehr.9 In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war das anders. Die besondere Hochschätzung des Prinzips der Gleichheit, die die französische Menschenrechtserklärung von ihren amerikanischen Vorläufern abhob, führte 128 Jahre später dazu, dass die russische Oktoberrevolution bei der französischen Linken mehr Zustimmung fand als bei den moderaten Linken in anderen europäischen Ländern, von den USA ganz zu schweigen. Dem Beispiel der Bolschewiki folgte 1918 nur ein europäisches Land: ­Ungarn mit der kurzlebigen Rätediktatur Béla Kuns. François Furet verallgemeinerte deshalb vorschnell, als er 1996 befand: «Für die europäische Linke ist die russische Revolution von 1917 weniger ein russischer als ein revolutionärer Vorgang; daher rührte – mehr als aus dem Marxismus – das, was als ihre Allgemeingültigkeit empfunden wird.» Für die französischen Sozialisten traf das zu, für die deutschen Sozial-

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demokraten, ja selbst für gemäßigte unabhängige Sozialdemokraten wie Karl Kautsky, den führenden Theoretiker nicht nur der deutschen, sondern der europäischen Sozialisten in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, hingegen nicht. Für Kautsky waren Lenins Umdeutung des Marxismus und seine auf die Entfesselung des Bürgerkriegs ausgerichtete Politik eine einzige Kampfansage an den freiheitlichen europäischen Sozialismus. ­Demokratisch war in der Tat nur die russische Revolution vom Februar (März) 1917 zu nennen (in sehr viel höherem Maß jedenfalls als die von 1905), nicht aber die der Bolschewiki. Die leninistische Revolution unterschied sich von der Französischen Revolution fundamental, und kein ­Autor hat die Differenz so prägnant formuliert wie Furet: «1793 hat 1789 nicht vergessen machen, aber der Oktober hat den Februar ausgelöscht.»10 In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg fühlten sich die französischen Sozialisten so stark wie eh und je als die Hüter des fortschrittlichen Erbes von 1789 und der revolutionären Tradition der europäischen Arbeiter­ bewegung, während sie in den deutschen Sozialdemokraten zunächst reformistische oder, schlimmer noch, opportunistische Abweichler sahen. Anders als diese hielten sie an der «Resolution Kautsky», einem Beschluss der Zweiten Internationale aus dem Jahr 1900, fest, wonach die Teilnahme von Sozialisten an bürgerlichen Regierungen ein «gefährliches Experiment» sei, statthaft «nur als vorübergehender Notbehelf in einer Zwangslage». Entsprechend blieb die im August 1914 eingegangene und im September 1917 beendete «Union sacrée», zu der auch sozialistische Minister gehörten, eine kriegsbedingte Ausnahme. Im Februar 1930 schloss sich die Mehrheit der Sozialisten der kommunistischen Dritten Internationale an und verwandelte sich kurz darauf in den Parti Communiste Français. Die Minderheit firmierte weiter als Section française de l’Internationale ­Ouvrière (S.F.I.O.). Unter der Führung von Léon Blum beharrte sie auf dem Grundsatz, dass «Ministerialismus», eine Beteiligung an Koalitionen mit bürgerlichen Parteien, nicht statthaft sei, allenfalls die Tolerierung einer linksbürgerlichen Regierung der «Radicaux». Bis zur Volksfront von 1936 blieb es bei dieser Festlegung, mochte der Namensgeber der «Resolution Kautsky» seine französischen Genossen auch noch so sehr zur «Koalitionspolitik» drängen. Die Weimarer Republik wäre gar nicht erst zustande gekommen,

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6. Revolutionen in Perspektive

­hätten sich die deutschen Sozialdemokraten ähnlich verhalten wie die französischen Sozialisten. Dass der Reformismus der SPD unter den deutschen Bedingungen gerechtfertigt, ja notwendig war, erkannten ihre französischen Parteifreunde in der Spätphase der deutschen Republik durchaus an. Die Rechtfertigung der Politik der SPD durch die S.F.I.O. schloss die Tolerierung Brünings und die Parole «Schlagt Hitler, wählt Hindenburg» ein. Was die deutschen Sozialdemokraten taten, lag aus der Sicht der S.F.I.O. im Interesse des europäischen Friedens und damit auch Frankreichs und der internationalen Arbeiterklasse.11 Zu den Verlieren der deutschen Revolution von 1918 /19 gehörten die Kommunisten, die die Niederschlagung ihrer Umsturzversuche als Folge von sozialdemokratischem Verrat verstanden und die Opfer aus ihren Reihen, obenan Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, als Märtyrer der revolutionären Sache verehrten  – die Letztere freilich uneingeschränkt nur so lange, als nicht im Zuge der Stalinisierung der kommunistischen Parteien der «Luxemburgismus» seit 1924 als gefährliche unleninistische Abweichung bekämpft wurde. Nach 1945 unterblieb bei den deutschen Kommunisten nicht nur eine selbstkritische Aufarbeitung des Anteils, den die KPD an der Zerstörung der ersten deutschen Republik und am Sieg des Nationalsozialismus hatte. Vielmehr rechnete sich die ostdeutsche Nachfolgepartei der KPD, die SED, als Teil der kommunistischen Weltbewegung und Bruderpartei der KPdSU selbst zu den Siegern der Geschichte. Auch in den Thesen des ZK der SED zum 70. Jahrestag der Gründung der KPD im Jahr 1988 wurde diese verklärende Geschichtssicht beibehalten. Da die Geschichtswissenschaft der DDR in hohem Maß an die Vorgaben der führenden Partei gebunden war, gab es zwischen ihr und den bundesdeutschen ­Historikern bis zuletzt kein umstritteneres Thema als die deutsche Geschichte seit den Revolutionen von 1917 und 1918 /19. Politisch kontrovers blieb das Thema auch nach dem Untergang der DDR. Noch im Parteiprogramm der Partei des Demokratischen Sozialismus, der umbenannten SED, von 1993 wird die russische Oktoberrevolution von 1917 als «welthistorisches» Ereignis gewürdigt, dem «die Menschheit grundlegende günstige Entwicklungen im 20. Jahrhundert» verdanke. Von der KPD und ihrer Rolle in der Weimarer Republik schweigt der Text. Die Anfang 2005 gegründete Nachfolgepartei der PDS, die Partei

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Die Linke, erwähnt in ihrem Programm vom Oktober 2011 zwar nicht mehr die Oktoberrevolution, behauptet aber, die deutsche Revolution von 1918 /19 sei mit Hilfe der sozialdemokratischen Führung niedergeschlagen worden. Sie bekennt sich zum Erbe von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, USPD, KPD und linkssozialistischen Bewegungen, lässt den Stalinismus und die Stalinisierung der KPD hingegen unerwähnt.12 Wie die deutsche Revolution von 1918 /19 so ist auch die von 1848 /49 zum Gegenstand von Mythisierungen und Romantisierungen geworden, und auch in diesem Fall sind es die Verteidiger der entschiedenen Linken, die sich dabei besonders hervortun. Ihr Dilemma besteht darin, dass die demokratischen Ideale von Männern wie Hecker und Struve nur von Minderheiten geteilt wurden, der Versuch, sie gegen die Mehrheit durchzusetzen, letztlich nur auf einen Bürgerkrieg und dann entweder eine blutige Niederlage oder eine Diktatur von unbestimmter Dauer hinauslaufen konnte. Es war das gleiche Paradoxon, mit dem 55 Jahre zuvor die konsequentesten der deutschen Jakobiner, die Gründer der kurzlebigen Mainzer Republik, konfrontiert gewesen waren. In manchen neueren, meist eher populärwissenschaftlichen Darstellungen wird dieser Widerspruch ebenso ausgeblendet wie die Vielfalt der Motive, von denen sich die Menschen leiten ließen, die die frühen Vorkämpfer einer deutschen Republik unterstützten. Der Umsturzversuch von Hecker und Struve vom April 1848 etwa fand nicht zufällig in den gleichen landwirtschaftlich geprägten Gebieten Südwestdeutschlands vom Odenwald über den Kraichgau bis zum Bodensee statt, die seit Anfang März durch judenfeindliche Ausschreitungen von Bauern erschüttert wurden. Das auslösende Moment der Pogrome war der Beschluss der zweiten badischen Kammer, den Juden die politische und rechtliche Gleichberechtigung zu gewähren: eine Neuerung, gegen die sich viele Gemeinden auflehnten, weil sie sich dadurch finanziell überfordert fühlten. Überlieferte Judenfeindschaft und Empörung über feudale und fiskalische Lasten verbanden sich im Frühjahr 1848 zu einer explosiven Mischung. Der ländliche, vorindustrielle und antikapitalistische ­Sozialprotest erhielt einen wichtigen Anstoß durch die Pariser Februar­ revolution und äußerte sich selbst revolutionär. Von seinen wichtigsten Zielen aber gilt das Gegenteil: Er richtete sich gegen das, was die Revolution emanzipatorisch, liberal und modern machte.

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In den verklärenden, eher geschichtspolitischen als geschichtswissenschaftlichen Betrachtungen zur deutschen Revolution von 1848 /49 kommt meist auch der Bellizismus der entschiedenen Linken zu kurz: ihr Drängen auf den großen europäischen Befreiungskrieg gegen das reaktionäre Russland. Über den Ausgang eines solchen Krieges kann man nur spekulieren. In einer geistreichen kontrafaktischen Studie unter dem Titel «Die Glorreiche Deutsche Revolution von 1848 /49» hat Dieter Langewiesche die Voraussetzungen untersucht, unter denen das «fortschrittliche» Europa in einem als Krieg gegen den Krieg verstandenen Endkampf gegen das Zarenreich vielleicht hätte triumphieren können: Erfolgreiche Revolu­ tionen in Oberitalien und Ungarn hätten das Habsburgerreich womöglich so geschwächt, dass es einen kleindeutschen Nationalstaat nicht mehr hätte verhindern können und eine russische Intervention an der Seite Wiens das gesamte revolutionäre Europa auf den Plan gerufen hätte.13 Da diese Voraussetzungen nicht gegeben waren, war ein anderer Kriegsausgang sehr viel wahrscheinlicher: eine katastrophale Niederlage der europäischen Linken im weitesten Sinn. Vor einem Versuch, einen kleindeutschen Nationalstaat gegen Preußen, Österreich und Russland durchzusetzen, sind die deutschen Liberalen im Frühjahr 1849 also aus guten Gründen zurückgeschreckt. Die Linke kriegerisch und die Rechte friedlich: Die Formel wäre zwar einseitig, aber doch weniger falsch als ihre Umkehrung. Der gemäßigte Liberalismus, der die Revolution nie wirklich gewollt hatte, rückte in dem Maß nach rechts, wie die Linke sich radikalisierte; der Radikali­ sierung der Linken war nichts so förderlich wie der Argwohn, die Ge­ mäßigten seien bereit, sich den alten Gewalten bedingungslos zu unterwerfen: Das war die Dialektik der deutschen Revolution von 1848 /49 und wie wir gesehen haben, ähnlich auch sieben Jahrzehnte später, der von 1918 /19.14

Rückblick und Ausblick

141 IV.

Als während der großen Depression der 1930er Jahre viele Demokratien des Westens in schwere soziale Krisen gerieten, gelang es alten, freiheitlichen Rechtsstaaten wie Großbritannien, den USA und Frankreich, die ihre historischen Wurzeln in den Revolutionen der vorindustriellen Zeit hatten, ihre demokratischen Regierungssysteme durch Reformen zu erneuern. Die junge Weimarer Republik hingegen gab ihre parlamentarische Demokratie zuerst zugunsten eines autoritären, dann eines totalitären Regimes auf. Neun Jahrzehnte später ist kein Verlass mehr darauf, dass alte freiheitliche Traditionen Demokratien vor einer illiberalen Deformation bewahren. Die Vereinigten Staaten haben in den Jahren 2017 bis 2021 in Donald Trump einen nationalpopulistischen Präsidenten erlebt, den offenkundig nichts mehr mit den Werten von 1776 verband. Die Kräfte, die in diese Richtung drängen, sind nach wie vor stark. Im Vereinigten Königreich war die plebiszitäre Entscheidung für das Ausscheiden des Landes aus der Europäischen Union im Jahr 2016 zu großen Teilen das Werk einer nationalpopulistischen Bewegung. In Frankreich hat eine Partei der radikalen Rechten reale Chancen, aus einer Präsidentschaftswahl als Siegerin hervorzugehen. In mehreren Mitgliedstaaten der EU sind Parteien der nationalistischen Rechten an den Regierungen beteiligt. In Ungarn und Polen bilden sie die Regierung; in Italien, einem Gründungsmitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, stellen sie seit Oktober 2022 die Regierungschefin. Vergleichsweise gesichert wirkt demgegenüber die parlamentarische Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland. Die optimistische Erwartung vieler Zeitgenossen der weltpolitischen Umbruchsjahre 1989 bis 1991, früher oder später würden sich die Ideen von 1776 und 1789 nun weltweit durchsetzen, hat sich rasch als Wunschdenken erwiesen. Mit dem Untergang erst des Ostblocks, dann der Sowjetunion selbst verschwand der Gegner, der die westliche Welt über vier Jahrzehnte lang zusammengehalten hatte. Mit dem gemeinsamen Gegner entfiel die wichtigste Herausforderung, sich umfassend gegenüber Bedrohungen von außen zu verteidigen. Die liberalen Kräfte im weitesten Sinn neigten zunehmend dazu, ihre normativen Prioritäten, obenan die Idee

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6. Revolutionen in Perspektive

der individuellen Selbstverwirklichung und die Pflege je besonderer Gruppenidentitäten, mit denen der Gesamtgesellschaft gleichzusetzen. Sie verprellten damit Schichten mit geringerem formalem Bildungsgrad und meist auch geringerem Einkommen, die ohnehin für die nationalpopulistischen Parolen der Rechten anfälliger waren als die liberalen Milieus. Der «unipolare Moment» der Geschichte, von dem der konservative amerikanische Publizist Charles Krauthammer Anfang 1991 sprach, war nur von kurzer Dauer.15 Die islamistischen Terrorangriffe auf New York und Washington vom 11. September 2001 machten die Verwundbarkeit der einzigen verbliebenen Supermacht deutlich. Dreieinhalb Jahrzehnte nach der globalen Epochenwende von 1989 ist die Welt längst wieder multipolar. Sie zeigt aber auch Tendenzen zu einer neuen bipolaren ­Lagerbildung: auf der einen Seite der globale Westen mit den USA als stärkster Macht und einem uneinigen Europa als Juniorpartner, auf der anderen Seite der eurasische Osten mit der mehr nationalistischen als kommunistischen, zunehmend totalitären Volksrepublik China als Machtzentrum und einem sich in die gleiche Richtung entwickelndem Russland als Juniorpartner. Große Staaten wie Indien, Indonesien, Brasilien und Südafrika haben sich zwischen diesen Polen als einige der wichtigsten Akteure des sogenannten «globalen Südens» profiliert. Die Zäsur der Jahre 1989 bis 1991 ist mittlerweile in mehr als einer Hinsicht relativiert worden. Im Zeichen des Angriffskriegs gegen die ­Ukraine, den Russland im Februar 2022 begann, vertrat der amerikanische Osteuropahistoriker Stephen Kotkin die These, der Kalte Krieg sei gar nicht in den Jahren um 1990 zu Ende gegangen. Der weltweite Konflikt zwischen West und Ost habe seit jener Zeit nur die Gestalt gewechselt; er dauere also an.16 In Übereinstimmung mit anderen Historikern, Politikwissenschaftlern und Publizisten verweist Kotkin auf eine andere, in ihrer Tragweite lange unterschätzte weltgeschichtliche Zäsur, die von 1979: das Jahr der islamistischen Revolution im Iran, der spektakulären Amerikareise des chinesischen Reformers Deng Xiaoping, der russischen Invasion in ­Afghanistan, der zweiten globalen Ölkrise, der folgenreichen ersten Reise des Papstes Johannes Paul II., des vormaligen Krakauer Kardinals Karol Wojtyła, in seine polnische Heimat, des Regierungsantritts von Margaret Thatcher, einer Pionierin des Neoliberalismus, in Großbritannien, der

Rückblick und Ausblick

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Revolution der Sandinisten in Nicaragua, die nicht nur in der «Dritten Welt» als schwere Niederlage des amerikanischen Imperialismus verstanden wurde, und des Weltklimagipfels in Genf, der erstmals die Erderwärmung zum Thema der Weltöffentlichkeit machte. Der deutsche Histo­ riker Frank Bösch fasst in seinem Buch «Zeitenwende 1979» das, was diese Ereignisse verbindet, in dem Satz zusammen: «Die Ordnung des Kalten Krieges verschwand zugunsten einer multipolaren Welt, in der China, der Nahe Osten oder auch Lateinamerika eine wichtige Rolle spielen.»17 Die 1970er Jahre gelten heute als weltweite Umbruchszeit: das Jahrzehnt, in dem die lang anhaltende, rund drei Jahrzehnte währende Wachstumsperiode der Nachkriegszeit auslief und von einer Zeit krisenhafter Erschütterungen wie der ersten Erdölkrise abgelöst wurde, einer Zeit aber auch, in der die Globalisierung der Weltwirtschaft einen gewaltigen Sprung nach vorn tat. Parallel dazu erlebte der Westen eine Art von Kulturrevolution: die Abkehr von der Vorstellung eines linearen historischen Fortschritts und der Hinwendung zu einer multiperspektivischen «Postmoderne», die von «Meistererzählungen» (master narratives), den bisher dominanten Geschichtsdeutungen, nichts mehr wissen will.18 Hinter die Epochenschwelle von 1989 reichen auch die Anfänge der technologischen Revolution zurück, die mit dem globalen Siegeszug des Internets seit Mitte der 1990er Jahre verbunden ist. Sie hat die transnationale Kommunikation dramatisch beschleunigt und erleichtert, aber auch zur Fragmentierung des gesellschaftlichen Diskurses geführt. In Demokratien bedroht diese Entwicklung eine politische Kultur, die wesentlich auf dem freien Austausch von Argumenten beruht. Die euphemistisch so ­genannten «sozialen Netzwerke», Internetplattformen im Besitz einiger weniger großer Medienkonzerne, haben die öffentliche Resonanz unabhängiger Zeitungen und Zeitschriften und öffentlich-rechtlicher Rundfunk- und Fernsehsender erheblich reduziert und zur wechselseitigen Abschottung bestimmter Milieus von Gleichgesinnten geführt. Je repressiver die politische Ordnung eines Landes ist, desto größer ist auch die Chance des Regimes, die Gesellschaft über das Internet in seinem Sinn zu steuern.19 Die Revolutionierung der Lebenswelt durch das Internet überlebt ­haben tiefe historische Prägungen wie die alten Gegensätze zwischen

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6. Revolutionen in Perspektive

«West» und «Ost», auf die Stephen Kotkin verweist. Aus seiner Sicht ­haben die Eliten der alten Kulturen Eurasiens – China, Iran und Russland – in den 1990er Jahren deutlich gemacht, dass sie nicht die Absicht hatten, an der «One World» zu westlichen Bedingungen mitzuwirken. Er gelangt zu dem Schluss, dass die Konturen der modernen Welt, wie sie aus dem Zweiten Weltkrieg hervorging, sich durch die große Wende von 1979 und die kleinere von 1989 / 90 hindurch behauptet hätten.20 Tatsächlich gehen die historischen Kontinuitäten noch sehr viel weiter. Dass das postsowjetische Russland sich nicht in eine Demokratie westlichen Musters verwandeln würde, war schon früh zu erkennen. Unter der weithin chaotischen Präsidentschaft Boris Jelzins erwies sich die Beharrungskraft des Sicherheitsapparates, des früheren KGB, als (in seinem Sinn) stabilisierendes Element. Sein Nachfolger, der Inlandsgeheimdienst FSB, für den auch der frühere Dresdner KGB-Agent Wladimir Putin arbeitete, knüpfte wie sein Vorgänger an die Tradition der Ge­ heimpolizei des Zarenreiches, der Ochrana, an, die es in Sachen Unterdrückung oppositioneller Gruppen nahezu zur Perfektion gebracht hatte. Anders als die vordem kommunistisch regierten Staaten Ostmittel­ europas, konnte Russland so gut wie keine rechtsstaatlichen und parlamentarischen Traditionen reaktivieren. Was sich im Zarenreich an gesellschaftlichem und institutionellem Pluralismus entwickelt hatte, war von den Bolschewiki beseitigt worden. Den demokratischen Errungenschaften der kurzen Ära Gorbatschow fehlte der Rückhalt einer breiten Zivilgesellschaft. Unter Jelzin erstarkten Bewegungen in der Tradition des Slawophilentums des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts: einer ­ Denk­richtung, die sich scharf von ihren weltanschaulichen Antipoden, den «Westlern», abgrenzte. Die orthodoxe Kirche und konservative In­ tellektuelle appellierten erneut und mit beträchtlichem Erfolg an tief verwurzelte russische Vorbehalte gegenüber dem rationalistischen, liberalen und «dekadenten» Westen. Der alte, bald nach dem Untergang von Konstantinopel im Jahr 1453 entstandene Mythos von Moskau als dem «dritten Rom» wurde wiederbelebt und mit ihm der Glaube, dass es eine heilsgeschichtliche Sendung Russlands sei, dem sich aufgeklärt dünkenden Westen Paroli zu bieten. Was Putin als Präsident nach der Jahrtausendwende für die welt­ anschauliche Aufrüstung seines Landes tat, konnte auf dem unter Jelzin

Rückblick und Ausblick

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gelegten Fundament aufbauen.21 Die Kontinuitäten der russischen Geschichte haben sich mithin als durchschlagkräftiger erwiesen als die Ver­ änderungskraft der Oktoberrevolution. Damit bildet Russland aber keinen Ausnahmefall. Westliche Histo­ riker, Juristen und Soziologen haben schon im 19. Jahrhundert für England und Frankreich ähnliche Kontinuitäten zwischen den Zeiten vor und nach den Revolutionen herausgearbeitet  – in Gestalt der feudalen und ständischen Freiheitstradition im englischen, des staatlichen Zentralismus im französischen Fall. Die Amerikanische Revolution baute auf denselben freiheitlichen Traditionen auf wie das Mutterland. In Deutschland scheiterte die Weimarer Republik, das Werk der «ungewollten» Revolution von 1918 /19, wie gezeigt, nicht zuletzt am obrigkeitsstaatlichen Erbe in den Köpfen der Zeitgenossen. Seine monopolartige globale Vormachtstellung hat der Westen seit langem verloren. Die weltweite Anziehungskraft, die noch heute von seinen einst revolutionären Werten ausgeht, wird er nur bewahren können, wenn er sich selbstkritisch seiner Vergangenheit stellt, zu der auch brutale Verstöße gegen die Idee der allgemeinen, unveräußerlichen Menschenrechte gehören, und entschlossen ist, gemeinsam seine Werte gegen Bedrohungen von außen zu verteidigen. Vor diese Herausforderung ist auch Deutschland gestellt, das einen langen Weg zurücklegen musste, ehe es sich in vollem Umfang dem trans­ atlantischen Westen zurechnen konnte. Es muss sich zudem von einer doppelten Erblast aus der Zeit seiner staatlichen Trennung befreien. Da ist zum einen die westdeutsche Gewohnheit, sich in Fragen der äußeren Sicherheit nur bedingt zuständig zu fühlen und die Letztverantwortung den Vereinigten Staaten zu überlassen, zum anderen die Entstehung von zwei gegensätzlichen politischen Kulturen im geteilten Deutschland. Sie wirkt noch heute, was «westliches» Denken angeht, in einem West-OstGefälle nach. Die Herausbildung einer gesamtdeutschen, europäisch und westlich geprägten politischen Kultur hat erst begonnen. Sie verlangt auch die Arbeit an einer gemeinsamen Erinnerungskultur. Der hier vorgelegte Rückblick auf die deutschen Revolutionen und das Verhältnis der Deutschen zur Revolution steht also in einem größeren und durchaus praktischen Problemzusammenhang.

DANK

Dank

Erneut habe ich zu danken. Viele haben dabei mitgeholfen, dass dieser Band erscheinen kann: die Humboldt-Universität zu Berlin, die mir ­einen technisch wohl ausgestatteten Raum zur Verfügung gestellt hat, in dem ich nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Lehrberuf weiter meinen Forschungen nachgehen kann, Nina Kremer vom Institut für Geschichtswissenschaften, die administrative Betreuerin meiner Projekte, ihr Nachfolger Abdulkadir Özcan und alle, die meine Arbeit materiell unterstützt haben: der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, der Deutsche Sparkassen- und Giroverband, die Alfred Herrhausen Gesellschaft, die Hans Ringier Stiftung und das Bankhaus Metzler. Friederike Fleschenberg, M. A., und Tabea Nasaroff, M. A., waren wiederum eine große, gar nicht hoch genug einzuschätzende Hilfe. Sie haben für mich recherchiert und die handschriftliche Fassung meines Manuskripts in eine druckfertige PC-Fassung gebracht. Auf der Seite des Verlags C.H.Beck waren meine Ansprechpartner wie stets der Cheflektor Dr. Detlef Felken, der auch diesen Text sorgfältig gelesen und kommentiert hat, seine Mitarbeiterin Janna Rösch und Alexander Goller, der Korrektur gelesen und das Register erstellt hat. Dieses Buch wäre nicht entstanden, wenn meine Frau mich nicht von der ersten bis zur letzten Seite fachkundig beraten und mir wichtige ­Anregungen gegeben hätte. Es versteht sich von selbst, dass dieser Band ihr gewidmet ist. Berlin, im Juni 2023 Heinrich August Winkler

ANHANG

ABKÜ R ZU N GSVERZEIC H NI S

Abkürzungsverzeichnis

AfD CDU CSU DDP DDR DM DNVP DVP EU FSB KGB KPD KPdSU MSPD NATO NSDAP PDS SA SED SFIO SPD SS USA USPD ZK

Alternative für Deutschland Christlich Demokratische Union Deutschlands Christlich Soziale Union Deutsche Demokratische Partei Deutsche Demokratische Republik Deutsche Mark Deutschnationale Volkspartei Deutsche Volkspartei Europäische Union Federalnaja sluschba besopasnosti Rossijskoi Federazii (Föderaler Dienst für Sicherheit der Russischen Föderation) Komitet gossudarstwennoi besopasnosti pri Sowjete Ministrow SSSR (Komitee für Staatssicherheit) Kommunistische Partei Deutschlands Kommunistische Partei der Sowjetunion Mehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands North Atlantic Treaty Organization Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Partei des Demokratischen Sozialismus Sturmabteilung Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Section française de l’Internationale ouvrière Sozialdemokratische Partei Deutschlands Schutzstaffel United States of Amerika Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands Zentralkomitee

A N MER KU N GEN

Anmerkungen

Einleitung

1 Ralf Dahrendorf, Über einige Probleme der soziologischen Theorie der Revo­ lution, in: European Journal of Sociology 2 (1961), Nr. 1, S. 153–162. 2 Kurt Lenk, Revolution, in: Handlexikon zur Politikwissenschaft, hg. v. Wolfgang W. Mickel in Verbindung mit Dietrich Zitzlaff. Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 237, Bonn 1986, S. 443–447 (443). 3 Christoph Martin Wieland, Kosmopolitische Adresse an die Französische Nationalversammlung von Eleuthericus Philoceltes (Oktober 1789), in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 31, Leipzig 1857, S. 30–58 (58). 4 Johann Gottfried Herder, Briefe die Fortschritte der Humanität betreffend, in: ders., Werke in zehn Bänden, Bd. 7, Berlin 1991, S. 700. 5 Zit. bei Volker Mehnert, Protestantismus und radikale Spätaufklärung. Die Beurteilung Luthers und der Reformation durch aufgeklärte deutsche Schriftsteller zur Zeit der Französischen Revolution, München 1982, S. 117. 6 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten / Rechtslehre, in: ders., Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Berlin 1900 ff., Bd. 6, S. 388–342. 7 Zit. bei Friedrich Meinecke, Das Zeitalter der deutschen Erhebung (1795–1815) [1906], Neuausgabe, Göttingen 19576, S. 46. 8 Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte [1852], in: ders. / Friedrich Engels, Werke, Berlin 1959 ff., Bd. 8, S. 111–207 (198 f.). 9 Zum Vorstehenden: Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. 1: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reichs bis zum Untergang der Weimarer Republik, München 20202 (Beck Paperback), S. 97 ff. (mit weiterer Lit.). 10 Ders., Der überforderte Liberalismus. Zum Ort der Revolution von 1848 /49 in der deutschen Geschichte, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Revolution in Deutschland und Europa 1848 /49, Göttingen 1998, S. 185–206.

Anmerkungen

154 Kapitel 1

Einheit und Freiheit: Das Dilemma der Revolution von 1848 / 49

1 Rudolf Stadelmann, Deutschland und die westeuropäischen Revolutionen, in: ders., Deutschland und Westeuropa. Drei Aufsätze, Laupheim 1948, S. 11–34 (14); ders., Soziale und politische Geschichte der Revolution von 1848, München ’1948 (19702). 2 Wolfgang Schieder, 1848 /49: Die ungewollte Revolution, in: Carola Stern / Heinrich August Winkler (Hg.), Wendepunkte deutscher Geschichte 1848–1990, Frankfurt 1994, S. 17–42. Siehe dazu auch Wolfgang J. Mommsen, 1848. Die ungewollte Revolution. Die revolutionären Bewegungen 1830–1848, Frankfurt 1989; Dieter Hein, Die Revolution von 1848 /49, München 20076; Rüdiger Hachtmann, Epochenschwelle zur Moderne. Einführung in die Revolution von 1848 /49, ­Tübingen 2002; ders., Berlin 1848. Eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Revolution, Berlin 1997; Dieter Langewiesche, Europa zwischen Restauration und Revolution 1815–1849, München 20075; Andreas Fahrmeir, Revolutionen und Reformen. Europa 1789–1850, München 2010; Michael Neumüller, Liberalismus und Revolution. Das Problem der Revolution in der deutschen liberalen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, Düsseldorf 1963; Hartwig Brandt, Die Julirevolution (1830) und die Rezeption der «prinicipes de 1789» in Deutschland, in: Roger Dufraisse (Hg.), Revolution und Gegenrevolution 1789–1830. Zur ­geistigen Auseinandersetzung in Frankreich und Deutschland, München 1991, S. 225–235; Irmtraud Götz von Olenhusen (Hg.), 1848 /49 in Europa und der Mythos der Französischen Revolution, Göttingen 1998; Dieter Dowe, Heinz-Gerhard Haupt, Dieter Langewiesche (Hg.), Europa 1848, Revolution und Reform, Bonn 1998; Wolfram Siemann, Die deutsche Revolution von 1848 /49, Frankfurt 1985; Christof Dipper u. Ulrich Speck (Hg.), 1848. Revolution in Deutschland, Frankfurt 1998; Manfred Hettling (Hg.), Revolution in Deutschland? 1789–1989. Sieben Beiträge, Göttingen 1997; Christian Jansen u. Thomas Mergel (Hg.), Die Revolutionen von 1848 /49. Erfahrung – Verarbeitung– Deutung, Göttingen 1998; Eva Maria Werner, Kleine Geschichte der deutschen Revolution von 1848 /49, Köln 2009; Alexandra Bleyer, 1848. Erfolgsgeschichte einer gescheiterten Revolution, Ditzingen 2022; Ulrike Ruttmann, Wunschbild – Schreckbild – Trugbild. Rezeption und Instrumentalisierung Frankreichs in der deutschen Revolution von 1848 /49, Stuttgart 2001. Ausführlicher. Ausführlicher gehe ich auf die Revolution von 1848 /49 ein in: Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. 1: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, München 20202 (Beck Paperback), S. 99 ff. sowie, im euro­ päischen Rahmen, in: Geschichte des Westens, Bd. 1: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München 20165, S. 552 ff.

Anmerkungen

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3 Heinrich von Sybel, Die politischen Parteien der Rheinprovinz, in ihrem Verhältniß zur preußischen Verfassung, Düsseldorf 1847, S. 63, 81 f., 59, 54 (in der Reihenfolge der Zitate; Hervorhebung im Original). 4 Winkler, Westen, Bd. 1 (Anm. 2), S. 100 ff. (Zitat aus der «Rede an mein Volk»: 103). 5 Manfred Meyer, Freiheit und Macht. Studien zum Nationalismus süddeutscher, insbesondere badischer Liberaler 1830–1848, Frankfurt / M. 1994, S. 149 (Rotteck); Irmline Veit-Brause, Die deutsch-französische Krise von 1840. Studien zur deutschen Einheitsbewegung, Diss. Köln 1967; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen «Deutschen Doppelrevolution» 1815–1845 /49, München 1987, S. 125 ff. 6 Hans Rothfels, 1848  – One Hundred Years After, in: The Journal of Modern ­History 20 (1984), S. 291–319; ders., Das erste Scheitern des Nationalstaates in Ost-Mittel-Europa 1848 /49, in: ders., Zeitgeschichtliche Betrachtungen, Göttingen 1959. S. 40–53. 7 Veit Valentin, Geschichte der deutschen Revolution 1848–1849, 2 Bde. (1931 /321) ND, Bd. 2, Köln 1970, S. 95 ff.; Manfred Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1848–1850, Düsseldorf 1977, S. 184 ff.; Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 2: Der Kampf um Einheit und Freiheit 1830 bis 1850, Stuttgart 19883, S. 587 ff. 8 Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main. Hg. auf Beschluß der Nationalversammlung durch die Redactions-Commission u. in deren Auftrag v. Prof. Franz Wigard, 9 Bde., Leipzig 1848 /49, Bd. 6, S. 4596 (Beckerath), 4626 (Beseler). 9 Joseph Hansen, Gustav von Mevissen. Ein rheinisches Lebensbild 1815–1899, Bd. 2, Bonn 1906, S. 448 (Brief an Georg Mallinckrodt); Stenographischer Bericht (Anm. 8), Bd. 6, S. 4096 f. (Dahlmann); Manfred Botzenhart, Das preußische Parlament und die deutsche Nationalversammlung im Jahre 1848, in: Gerhard A. Ritter (Hg.), Regierung, Bürokratie und Parlament in Preußen und Deutschland von 1848 bis zur Gegenwart, Düsseldorf 1983, S. 14–40. 10 Günter Wollstein, Das «Großdeutschland« der Paulskirche. Nationale Ziele in der bürgerlichen Revolution 1848 /49, Düsseldorf 1977; Rudolf Lill, Großdeutsch und kleindeutsch im Spannungsfeld der Konfessionen, in: Anton Rauscher (Hg.), Probleme des Konfessionalismus in Deutschland seit 1800, Paderborn 1984, S. 29–47; Peter Borowsky, Was ist Deutschland? Wer ist deutsch? Die Debatte zur nationalen Identität in der deutschen Nationalversammlung in Frankfurt und der preußischen Nationalversammlung zu Berlin, in: Bernd-Jürgen Wendt (Hg.), Vom schwierigen Zusammenwachsen der Deutschen. Nationale Identität und Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt / M. 1992, S. 81–85; Siemann, Revolution (Anm. 2), S. 192 ff. 11 Valentin, Geschichte (Anm. 7), Bd. I, S. 46 ff.; Franz X. Vollmer, Die 48er Revolution in Baden, in: Josef Becker u. a., Badische Geschichte. Vom Großherzogtum

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bis zur Gegenwart, Stuttgart 1979, S. 37–64; Irmtraud Götz von Olenhusen, 1848 / 49 in Baden. Traum und Trauma der Französische Revolution, in: dies. (Hg.), 1848 /49 (Anm. 2), S. 81–113. Verhandlungen der Versammlung zur Vereinbarung der Preußischen Staats-Verfassung, 3 Bde., Berlin 1848, Bd. 1, S. 417 (Waldeck, 11. 7. 1848), Bd. 3, S. 292 f. (Waldeck, 31. 10. 1848). Stenographischer Bericht (Anm. 8), Bd. 6, S. 5807 ff. (Radowitz, 17. 3. 1849), S. 5823 (Vogt, 17. 3. 1849), Mohl (17. 3. 1849). Karl Marx, Die revolutionäre Bewegung, in: Karl Marx / Friedrich Engels, Werke (= MEW), Berlin 1959 ff., Bd. 6, S. 148–150 (150, Hervorhebung im Ori­ginal); Friedrich Engels, Der magyarische Kampf, in: ebd., S. 165–176 (172, 176); ders., Der demokratische Panslawismus, in: ebd., S. 271–286 (286). Stenographischer Bericht (Anm. 8), Bd. 2, S. 1145. Ludwig August (richtig: August Ludwig) von Rochau, Grundsätze der Realpolitik. Angewendet auf die staatlichen Zustände Deutschlands (1853), Hg. u. eingeleitet von Hans-Ulrich Wehler, Frankfurt / M. 1972, S. 25, 173, 171, 126, 128 (in der Reihenfolge der Zitate). Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich (1850), in: MEW (Anm. 14), Bd. 7, S. 9–107 (89 f.); ders., Brief an Joseph Weydemeyer vom 5. 3. 1852, in: ebd., Bd. 28, S. 503–509 (508). Lorenz von Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, 3 Bde. (1850), ND Darmstadt 1959, Bd. 3: Das Königtum, die Republik und die Souveränität der französischen Gesellschaft seit der Februar­ revolution 1848, S. 37–41; ders., Zur preußischen Verfassungsfrage (1852), ND Darmstadt 1951, S. 4, 23. Fürst Otto von Bismarck, Die gesammelten Werke (Friedrichsruher Ausgabe), Berlin 1924 f., Bd. 8, S. 459. Stadelmann, Deutschland (Anm. 1), S. 28. Ebd., S. 31 Stenographischer Bericht (Anm. 8), Bd. 2, S. 1101. Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Wiesbaden 1946; ders., 1848. Eine Säkularbetrachtung, Berlin 1948. Zum Vorstehenden siehe unten die Kapitel 4 und 5.

Kapitel 2 Revolution von oben: Die Reichsgründung und ihre Folgen

1 Reinhart Koselleck, Wie europäisch war die Revolution von 1848 /49?, in: ders., Europäische Umrisse deutscher Geschichte. Zwei Essays, Heidelberg 1999, S. 9–36 (16 f.).

Anmerkungen

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2 Ebd., S. 24. 3 Friedrich Engels, Einleitung zu: Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich 1848 bis 1850 [1895], in: Karl Marx / Friedrich Engels, Werke (= MEW), Berlin 1959 ff., Bd. 7, S. 511–527 (517; Hervorhebung im Original). 4 Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte [1852], ebd., Bd. 8, S. 11–207 (204). 5 Engels an Marx, 13. 4. 1866, ebd., Bd. 31, S. 208 f. (208). Zum Vorstehenden ausführlicher: Heinrich August Winkler, Primat der Ökonomie? Zur Rolle der Staatsgewalt bei Marx und Engels, in: ders., Revolution, Staat, Faschismus. Zur Revision des Historischen Materialismus, Göttingen 1978, S. 35–64. 6 Lorenz von Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, 3 Bde., Bd. 3: Das Königtum, die Republik und die Souveränität der französischen Gesellschaft seit der Februarrevolution 1848 [1850], Neuausgabe Darmstadt 1959, S. 7, 37 ff.; ders. Zur preußischen Verfassungsfrage [1852]. Neuausgabe Darmstadt 19622, v.a. S. 34 ff. 7 Fürst Otto von Bismarck, Die gesammelten Werke [= Friedrichsruher Ausgabe], Berlin 1924 ff., Bd. 8, S. 459 (Gespräch mit dem Schriftsteller Paul Lindau u. dem Baudirektor Löwenfeld am 8. 12. 1882 in Berlin). 8 Stenographischer Bericht über die Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses, 1868 / 67, III, S. 833. 9 Ebd., S. 1299 f. 10 Zit. bei Hans-Joachim Schoeps, Der Weg ins Deutsche Kaiserreich, Berlin 1970, S. 147 f. 11 Jacob Burckhardt, Über das Studium der Geschichte. Der Text der «Weltanschaulichen Betrachtungen», hg. v. Peter Ganz, München 1982, S. 373 (Hervorhebungen im Original). 12 Zit. bei Schoeps, Weg (Anm. 10), S. 147 f. 13 Bismarck, Werke (Anm. 7), Bd. 6, S. 120. 14 Ernst Engelberg, Bismarck. Urpreuße und Reichsgründer, Berlin 1985, S. 599, 616 f. 15 MEW (Anm. 3), Bd. 35, S. 238 f. Die von Engels genannten Jahreszahlen beziehen sich auf den Beginn des Ersten Schlesischen Krieges 1740, den Beginn des Siebenjährigen Krieges 1756 und den Sonderfrieden von Basel 1795, mit dem Preußen im Zuge der dritten Teilung Polens aus dem Ersten Koalitionskrieg gegen das revolutionäre Frankreich ausschied. 16 (Edmund Jörg,) Das deutsche Volk zwischen heute und morgen, in: Historischpolitische Blätter für das katholische Deutschland (= HPB) 58 (1866 / II), S. 313– 328 (324, 328). 17 Stenographischer Bericht (Anm. 8), 1866 / 67, I, S. 72. 18 National-Zeitung (= NZ), 25. 7. 1866, Morgenblatt (Hervorhebungen im Original).

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Anmerkungen

19 Zit. in: Die confessionelle Leidenschaft im Ruine Deutschlands, in: HPB (Anm. 16), 58 (1866 / II), S. 781–796 (783 f.). Zum Vorstehenden ausführlicher: Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. 1: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, München 20202 (Beck Paperback), S. 178. Zur Rolle des Dreißigjährigen Krieges im deutschen Geschichtsdiskurs von 1866: Hilmar Sack, Der Krieg in den Köpfen. Die Erinnerung an den Dreißigjährigen Krieg in der deutschen Krisenerfahrung zwischen Juli­revolution und deutschem Krieg, Berlin 2008, S. 147 ff. 20 Zit. in: NZ (Anm. 18), 4. 12. 1866 (Morgenblatt). 21 Zit. bei Gerhard Ritter, Die preußischen Konservativen und Bismarcks deutsche Politik 1858 bis 1876, Heidelberg 1913, S. 355. Zum Vorstehenden u. a.: Oliver F. R. Haardt, Bismarcks ewiger Bund. Eine neue Geschichte des Deutschen Kaiserreichs, Darmstadt 2020, S. 25 ff; Christoph Jahr, Blut und Eisen. Wie Preußen Deutschland erzwang 1864–1871, München 2020; Sven Oliver Müller u. Cornelius Torp, Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009; Dieter Langewiesche, Vom vielstaatlichen Reich zum föderativen Bundesstaat. Eine andere deutsche Geschichte, Stuttgart 2020. 22 Heinrich von Treitschke, Was fordern wir von Frankreich?, in: Preußische Jahr­ bücher 26 (1870), S. 367–409 (371). 23 Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, Neuausgabe, hg. u. eingel. v. Hans Herzfeld, München 1969. 24 Hierzu ausführlich u. a. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. III: Bismarck und das Reich, Stuttgart 19882, S. 742 ff. 25 Walter Bussmann (Hg.), Bismarck im Urteil der Zeitgenossen und der Nachwelt, Stuttgart 19562, S. 28. 26 Ludwig Dehio, Deutschland und die Epoche der Weltkriege [1951], in: ders., Deutschland und die Weltpolitik im 20. Jahrhundert, München 1955, S. 9–36 (15). 27 Günter Brakelmann, Der Krieg von 1870 / 71 und die Reichsgründung im Urteil des Protestantismus, in: Wolfgang Huber u. Johannes Schwertfeger (Hg.), Kirche zwischen Krieg und Frieden. Studien zur Geschichte des deutschen Protestantismus, Stuttgart 1976, S. 293–320 (303 f., 306). 28 Walter Frank, Hofprediger Adolf Stoecker und die christlichsoziale Bewegung, Berlin 1928, S. 32 f. Zum Vorstehenden ausführlicher: Winkler, Weg, Bd. 2 (Anm. 19), S. 213 ff. 29 Ebd., S. 214 f. (mit Belegen). 30 Ebd., S. 222 ff. 31 Ludwig Bamberger, National [September 1888], in: ders., Politische Schriften, Berlin 1897, Bd. 5, S. 203–237 (217). Ausführlicher dazu: Heinrich August Winkler, Vom linken zum rechten Nationalismus. Der deutsche Liberalismus in der Krise von 1878 / 79, in: ders., Liberalismus und Antiliberalismus. Studien zur politischen Sozialgeschichte des 19. u. 20. Jahrhunderts, Göttingen 1979, S. 35–51.

Anmerkungen

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32 Zum Vorstehenden mit weiterer Lit.: Winkler, Weg, Bd. 1 (Anm. 19), S. 257 ff. 33 Die Große Politik der Europäischen Mächte. Sammlung der Diplomatischen ­Akten des Auswärtigen Amtes, 2. Bd.: Der Berliner Kongreß und seine Vorgeschichte, Berlin 1922, S. 153 f. 34 Stenographischer Bericht über die Verhandlungen des Deutschen Reichstags, Bd. 159, S. 60. 35 Ebd., Bd. 259, S. 7730. Zum Vorstehenden u. a.: Volker Ullrich, Die nervöse Großmacht. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs 1871–1918, Frankfurt 1997; Joachim Radkau, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 1998. 36 Friedrich von Bernhardi, Deutschland und der nächste Krieg, Stuttgart 1912, bes. S. 9, 12 f., 54, 73, 89, 110 ff., 123 f., 275 ff., 293 f., 333 f. 37 Daniel Frymann (= Heinrich Claß), Wenn ich der Kaiser wär’. Politische Wahrheiten und Notwendigkeiten, Leipzig 19145, bes. S. 30 ff., 67 ff., 103 ff., 135 ff., 259 ff. 38 Hierzu immer noch die eindrücklichen Analysen von Wolfgang J. Mommsen in: ders., Der autoritäre Nationalstaat. Verfassung, Gesellschaft und Kultur im deutschen Kaiserreich, Frankfurt 1990, S. 287–421. 39 Winkler, Weg, Bd. 2 (Anm. 19), S. 348 ff. (Zitat aus der Friedensresolution: 350). 40 Albrecht von Thaer, Generalstabsdienst an der Front und in der OHL. Aus Briefen und Tagebuchaufzeichnungen 1915–1919, hg. v. Siegfried A. Kechler, Göttingen 1958, S. 234 f. 41 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Studienausgabe, hg. v. Johannes Winckelmann, 1. Halbband, Köln 1964, S. 197, 27 (Hervorhebung im Original). 42 M. Rainer Lepsius, Extremer Nationalismus. Strukturbedingungen vor der nationalsozialistischen Machtergreifung, Stuttgart 1966.

Kapitel 3 Der Preis des Fortschritts: Die Revolution von 1918 / 19 und die Republik von Weimar

1 Eduard Bernstein, Die deutsche Revolution – ihr Ursprung, ihr Verlauf und ihr Werk. 1. Band: Geschichte der Entstehung und ersten Arbeitsperiode der deutschen Republik [nur Bd. 1 erschienen], Berlin 1921, Neuausgabe: ders., Die deutsche Revolution von 1918 /19. Geschichte der Entstehung und ersten Arbeitsperiode der deutschen Republik. Hg. u. eingeleitet v. Heinrich August Winkler und annotiert von Teresa Löwe, Bonn 1998. 2 Ebd., S. 237. 3 Richard Löwenthal, Einleitung, in: George Eliasberg, Der Ruhrkrieg von 1920, Bonn 1974, S. IX–XI; ders., Bonn und Weimar: Zwei deutsche Demokratien, in: Heinrich August Winkler (Hg.), Politische Weichenstellungen im Nachkriegs-

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deutschland 1945–1963. Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 5, Göttingen 1979, S. 9–25 (11). Zum Vorstehenden auch: Heinrich August Winkler, Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 20193, S. 13 ff. Als Forschungsüberblick: Eberhard Kolb und Dirk Schumann, Die Weimarer Republik (Oldenbourg Grundriss der Geschichte, Bd. 16), München 20229, S. 196 ff. Heinrich Ströbel, Die deutsche Revolution. Ihr Unglück und ihre Rettung, Berlin o. J. (Vorwort 1920), bes. S. 172. Karl Dietrich Erdmann, Die Geschichte der Weimarer Republik als Problem der Wissenschaft, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 3 (1955), S. 1–19 (7). Hierzu wie zum Folgenden: Heinrich August Winkler, Die Revolution und das Problem der Kontinuität in der deutschen Geschichte, in: Historische Zeitschrift 250 (1990), S. 303–319, sowie ausführlicher ders., Von der Revolution zur Stabilisierung, Bd. 1: Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924 (= Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Hg. v. Gerhard A. Ritter), Berlin / Bonn 19852, S. 11 ff. Arthur Rosenberg, Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik. Hg. u. eingel. v. Karl Kersten, Frankfurt 1983. Die kritische Sicht zusammenfassend: Reinhard Rürup, Revolution und Demokratiegründung. Studien zur deutschen Geschichte 1918 /19, Göttingen 2020, bes. S. 37 ff. Zur Zentralarbeitsgemeinschaft nach wie vor: Gerald D. Feldman, Army, Industry and Labor in Germany 1914–1918, Princeton 1966; ders., Die freien Gewerkschaften und die Zentralarbeitsgemeinschaft 1918–1924, in: Heinz Oskar Vetter (Hg.), Vom Sozialistengesetz zur Mitbestimmung. Zum 100. Geburtstag von Hans Böckler, Köln 1975, S. 229–252. Dazu neuerdings: Marc Jones, Am Anfang war Gewalt. Die deutsche Revolution 1918 /19 und der Beginn der Weimarer Republik (engl. Orig.: Cambridge 2016), Berlin 2017. Im internationalen Zusammenhang: Robert Gerwarth, Die größte aller Revolutionen. November 1918 und der Aufbruch in eine neue Zeit (engl. Oxford 2019), München 2018. Winkler, Weimar (Anm. 3), S. 53 ff. Das Zitat von Rosa Luxemburg in: dies., Die Nationalversammlung, in: Gesammelte Schriften, Bd. 4, Berlin 1974, S. 407–410 (408). Winkler, Weimar (Anm. 3), S. 72 ff. (Zitat Noske: 76); Jones, Anfang (Anm. 8), S. 237 ff. Zu Noske auch die Biographie von Wolfram Wette, Gustav Noske, Eine politische Biographie, Düsseldorf 1987. Winkler, Weimar (Anm. 3), S. 87 ff. (Zitate Ebert, Schiffer: 87 f., Kautsky: 88). Aus der neueren historischen Diskussion über die Weimarer Reichsverfassung: Christoph Gusy, 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung. Eine gute Verfassung in schlechter Zeit, Tübingen 2018; Horst Dreier u. Christian Waldhoff (Hg.), Das Wagnis der Demokratie. Eine Anatomie der Weimarer Reichsverfassung, Mün-

Anmerkungen

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chen 2018; Udo Di Fabio, Die Weimarer Verfassung. Aufbruch und Scheitern, München 2018. Zur Ehrenerklärung der Rechtsparteien (23. 6. 1919): Winkler, Weimar (Anm. 3), S. 87 ff. (Zitat: 95). Zum historischen Ort des «Ruhrkriegs»: Wolfgang J. Mommsen, Die deutsche Revolution 1918–1920. Politische Revolution und soziale Protestbewegung, in: Geschichte und Gesellschaft 4 (1978), S. 362–391. 13 Winkler, Weimar (Anm. 3), S. 143 ff; Ursula Büttner, Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933, Stuttgart 2008, S. 147 ff. 14 Beim Vorstehenden stütze ich mich auf: Winkler, Weimar (Anm. 3), S. 334 ff. u. bes. 595 ff. Zum Nationalismus als Integrationsmittel: M. Rainer Lepsius, Ex­ tremer Nationalismus. Strukturbedinungen vor der nationalsozialistischen Machtergreifung, Stuttgart 1966. 15 Rudolf Hilferding, In Krisennot, in: Die Gesellschaft 8 (1931 /32), S. 1–8 (1).

Kapitel 4 Revolution von rechts? Der Ort des Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte

1 Hans Freyer, Revolution von rechts, Jena 1931, S. 37, 44, 52. 2 Theo Pirker (Hg.), Komintern und Faschismus 1920–1940, Stuttgart 1965, S. 187. 3 August Thalheimer, Über den Faschismus (1930), in: Otto Bauer u. a., Faschismus und Kapitalismus. Theorien über die sozialen Ursprünge und die Funktion des Faschismus, Frankfurt 1967, S. 19–38 (31). Zu Marx: ders., Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte [1852], in: Karl Marx / Friedrich Engels, Werke, Berlin 1959, Bd. 8, S. 11–207 (204). Siehe dazu oben S. 41. Zur faschistischen Prägung des Nationalsozialismus jetzt zusammenfassend: Wolfgang Schieder, Ein faschis­tischer Diktator. Adolf Hitler – Biografie, Darmstadt 2023. 4 Josef u. Ruth Becker (Hg.), Hitlers Machtergreifung. Dokumente vom Machtantritt Hitlers 30. Januar 1933 bis zur Besiegelung des Einparteienstaates 14. Juli 1933, München 1983, S. 392 (Hervorhebungen im Original). 5 Max Domarus, Hitler. Reden u. Proklamationen 1932–1945, 4 Bde., München 19652, Bd. I /1, S. 286 f., (Rede vom 6. 7. 1933). 6 Ebd., S. 421 (Rede vom 13. 7. 1934). 7 Ian Kershaw, Der Hitler-Mythos. Volksmeinung und Propaganda im Dritten Reich, Stuttgart 1980, S. 74, 78. 8 Domarus, Hitler (Anm. 5), Bd. I /1, S. 447. Zum Vorstehenden: Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. 2: Deutsche Geschichte vom «Dritten Reich» bis zur Wiedervereinigung, München 20202 (Beck Paperback), S. 33 ff. 9 Belege bei Rainer Zitelmann, Hitler. Selbstverständnis eines Revolutionärs (19871). Neuausgabe, Reinbek 2017, S. 150 ff.

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Anmerkungen

10 Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965, S. 432 f., 447 f. 11 David Schoenbaum, Hitler’s Social Revolution: Class and Status in Nazi Germany 1933–1939, New York 1966, bes. S. XXII f. Deutsch: Die braune Revolution. Eine Sozialgeschichte des Dritten Reiches. Mit einem Nachwort von Hans Mommsen, Köln 19802. 12 Ebd., S. 296 (amerik. Ausgabe). 13 Michael Prinz, Die soziale Funktion moderner Elemente in der Gesellschaftspolitik des Nationalsozialismus, in: ders. / Rainer Zitelmann (Hg.), Nationalsozialismus und Modernisierung [19911]. Neuausgabe, Darmstadt 1994, S. 297–327. 14 Jens Alber, Nationalsozialismus und Modernisierung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 41 (1989), S. 346–365. 15 Zum Vorstehenden u. a.: Dörte Winkler, Frauenarbeit im Dritten Reich, Hamburg 1977; Heinrich August Winkler, Der entbehrliche Stand. Zur Mittelstandspolitik im «Dritten Reich», in: Archiv für Sozialgeschichte 17 (1977), S. 1–40; ­Daniela Münkel, Nationalsozialistische Agrarpolitik und Bauernalltag, Frankfurt 1996; J. E. Farquharson, The Plough and the Swastika. Agrarian Policy of the Third Reich 1930–1939, New York 1990; Gustav Corni, Hitler and the Agrarian Policy of the Third Reich 1930–1933, New York 1990; ders. u. Horst Gies, Brot, Butter und Kanonen. Die Ernährungswirtschaft in Deutschland unter der Diktatur Hitlers, Berlin 1997. 16 Zitelmann, Hitler (Anm. 9), S. 352 ff. 17 Zum Vorstehenden u. a.: Jeremy Noakes, Nazism and Revolution, in: Noel O’Sullivan (ed.), Revolutionary Theory and Political Reality, Brighton 1983, S. 73– 100; Martin Broszat, Klaus-Dietmar Henke, Hans Woller (Hg.), Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, München 1988; Marie-Luise Recker, Nationalsozialistische Sozialpolitik im Zweiten Weltkrieg, München 1985; Ian Kershaw, Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick (engl. Orig.: London 1985), Reinbek 1985, S. 253 ff.; Ricardo Bavaj, Die Ambivalenz der Moderne im Nationalsozialismus. Eine Bilanz der Forschung, München 2003; John Lukacs, Hitler. Geschichte und Geschichtsschreibung (amerik. Orig.: New York 1998), Berlin 1999. 18 Seymour Martin Lipset, Soziologie und Demokratie (amerik. Orig.: New York 1960), Neuwied 1962, S. 131 ff. Kritisch dazu: Heinrich August Winkler, Extremismus der Mitte? Sozialgeschichtliche Aspekte der nationalsozialistischen Machtergreifung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 20 (1972), S. 175–191. 19 Ders., Vom linken zum rechten Nationalsozialismus. Der deutsche Liberalismus in der Krise von 1878 / 79, in: Geschichte und Gesellschaft 4 (1978), S. 5–28. Zur Rezeption der rechtsintellektuellen Reichsidee durch die Nationalsozialisten: ders., Langer Weg (Anm. 8), Bd. 2, S. 77 ff.; ders., Langer Weg (Anm. 8), Bd. 1: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, München 20202 (Beck Paperback), S. 552 ff.

Anmerkungen

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20 Zitelmann, Hitler (Anm. 9), S. 501 ff. 21 Ebd., S. 538 ff. 22 M. Rainer Lepsius, Das Legat zweier Diktaturen für die demokratische Kultur des vereinigten Deutschland, in: Everhard Holtmann u. Heinz Sahner (Hg.), Aufhebung der Bipolarität  – Veränderungen im Osten, Rückwirkungen im Westen, Opladen 1995, S. 25–39 (30). 23 Zitelmann, Hitler (Anm. 9), S. 85. 24 Jürgen W. Falter, Werturteilsfreiheit als Herausforderung für die Forschung über Hitler und den Nationalsozialismus, ebd. S. 599–612 (601; Hervorhebungen im Original). 25 Max Weber, Die ‹Objektivität› sozialwissenschaftlicher Erkenntnis [1904], in: ders., Soziologie, weltgeschichtliche Analysen, Politik. Hg. und erläutert v. Johannes Winckelmann, Stuttgart 1956, S. 186–262 (197). 26 Ders., Der Sinn der ‹Wertfreiheit› der Sozialwissenschaften, ebd., S. 263–310 (291). 27 Johann Gustav Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hg. v. Rudolf Hübner, Darmstadt 19604, S. 149 (§§ 42– 44), S. 180–187. 28 Ebd. S. 256 f. (§ 70 [75]; Hervorhebung im Original). 29 Zur Kritik der Thesen von Zitelmann u. a.: Norbert Frei, Wie modern war der Nationalsozialismus?, in: Geschichte und Gesellschaft 29 (1993), S. 367–387; Christof Dipper, Modernisierung des Nationalsozialismus, in: Neue Politische Literatur 36 (1991), S. 450–456; Michael Schneider, Nationalsozialismus und Modernisierung? Probleme einer Neubewertung des «Dritten Reiches», in: Archiv für Sozialgeschichte 32 (1992), S. 541–545; Alber, Nationalsozialismus (Anm. 14), S. 346 ff. 30 Mark Roseman, National Socialism and the End of Modernity, in: The American Historical Review 116 (2011), No. 3 (June), S. 688–701; Thomas Mergel, Geht es weiter voran? Die Modernisierungstheorie auf dem Weg zu einer Theorie der ­Moderne, in: ders., Thomas Welskopp (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997, S. 203–232 (bes. 220 ff.).

Kapitel 5 Mehr als ein Zusammenbruch: Die friedliche Revolution von 1989

1 Das Gespräch mit Geremek fand am Abend des 30. August 1989 in der bundesdeutschen Botschaft in Warschau statt. Neben Rau nahmen Staatssekretär Wolfgang Clement und ich daran teil. Rau hatte mich gebeten, ihn nach Warschau zu begleiten und mit Geremek, mit dem ich seit einem gemeinsamen Forschungs­ aufenthalt am Woodrow Wilson International Center for Scholars in Washing-

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Anmerkungen

ton D. C. im Winter 1977 / 78 befreundet war, ausführlicher zu sprechen, als es ihm selbst möglich sein würde. Dazu mein auf Tagebuchaufzeichnungen beruhender Bericht «Polnische Zeitenwende», der im Oktober 1989 in der Zeitschrift Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte [57 (1989), Heft 10, S. 995–997] erschien. Auf frühere Verwendungen des Begriffs «friedliche Revolution» im Hinblick auf die frühen Jahre von Solidarność in der altbundesdeutschen Linken verweist Konrad Sziedat, Erwartungen im Umbruch. Die westdeutsche Linke und das Ende des «real existierenden Sozialismus», Berlin 2019. Dazu Bernd Lindner, Begriffsgeschichte der Friedlichen Revolution. Eine Spurensuche, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung «Das Parlament», 64 (2014), Nr. 24–26, S. 33–39. Als Überblick über die Umwälzungen von 1989 mit am besten: Jacques Rupnik (ed.), 1989 as a Political World Event: Democracy, Europe and the New Inter­ national System in the Age of Globalization, London 2013; Ludger Kühnhardt, Revolutionszeiten. Das Umbruchsjahr 1989 im geschichtlichen Zusammenhang München 1994, S. 211 ff., sowie nach wie vor: Timothy Garton Ash, Ein Jahrhundert wird abgewählt. Aus den Zentren Mitteleuropas 1980–1990 (engl. Orig.: New York 1989, Cambridge 1990), München 1990. Michail Gorbatschow, Umgestaltung und neues Denken für unser Land und für die ganze Welt (russ. Orig.: Moskau 1987), Berlin 1988, S. 66 f. Archie Brown, Seven Years that Changed the World. Perestrojka in Perspective, Oxford 2007, S. 18. Zusammenfassend zur Vorgeschichte und Geschichte des Umbruchs in der DDR: Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009. Albert O. Hirschman, Exit, Voice and Loyalty. Responses to Decline in Firms, Organizations, and States, Cambridge, MA. 1970 (dt. Ausgabe: Abwanderung und Widerspruch, Tübingen 1974); ders., Exit, Voice, and the Fate of the German Democratic Republic: An Essay in Conceptual History, in: World Politics 45 (1993), No. 2, S. 173–202. Ich stütze mich hier auf meine Darstellung in: Der lange Weg nach Westen, Bd. 2: Deutsche Geschichte vom «Dritten Reich» bis zur Wiedervereinigung, München 20001, S. 481 ff. Zu Leipzig: Hartmut Zwahr, Ende einer Selbstzerstörung. Leipzig und die Revolution in der DDR, Göttingen 1993. Transcription of the Interview with Bronisław Geremek (Brüssel 11. Juni 2008). Interview de Bronisław Geremek / BRONISLAW GEREMEK, Sergej Thines, Bruxelles, CVCE, Sanem. Video. Zu Geremek: Reinhold Vetter, Bronisław Ge­ remek. Der Stratege der polnischen Revolution, Berlin 2014; ferner: Heinrich August Winkler, «In Polen entscheidet sich das Schicksal Europas». Was Deutschland dem Wirken von Bronisław Geremek und Jerzy Holzer verdankt, in: ders., Deutungskämpfe. Der Streit um die deutsche Geschichte, München 20212, S. 232–241.

Anmerkungen

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10 Friedrich Engels, Einleitung zu: Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich 1848 bis 1850, in: Karl Marx / Friedrich Engels, Werke, Berlin 1959 ff. Bd. 7, S. 511–527 (517). Siehe dazu oben S. 40 f. 11 Eduard Bernstein, Die deutsche Revolution von 1918 /19. Geschichte der Ent­ stehung und ersten Arbeitsperiode der deutschen Republik [1921]. Hg. u. ein­ geleitet von Heinrich August Winkler und annotiert v. Teresa Löwe, Bonn 1998, Dazu oben S. 64 f. 12 Richard Löwenthal, Vom Ausbleiben der Revolution in Industriegesellschaften, in: Historische Zeitschrift 232 (1981), S. 1–24. Dazu auch oben S. 65. 13 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Studienausgabe, hg. v. Johannes Winckelmann, l. Halbband, Köln 1964, S. 197. Dazu oben S. 61. 14 Reinhart Koselleck, Wie europäisch war die Revolution von 1848 /49?, in: ders., Europäische Umrisse deutscher Geschichte. Zwei Essays, Heidelberg 1999, S. 9–36 (24). 15 Crane Brinton, Die Revolution und ihre Gesetze (amerik. Orig.: New York 19382, Neuausgabe: 1956); Frankfurt 1959, S. 99 f. 16 Zum Vorstehenden Winkler, Langer Weg, Bd. 2, (Anm. 8), S. 509 (zu Schürer), 514 ff. (zu Brintons Kriterien). 17 Ralf Dahrendorf, Über einige Probleme der soziologischen Theorie der Revolution, in: European Journal of Sociology 2 (1961), Nr. 1, S. 153–162; ders., Müssen Revolutionen scheitern?, in: ders., Der Wiederbeginn der Geschichte. Vom Fall der Mauer bis zum Krieg im Irak [1990], München 2004, S. 15–29; Ludger Kühnhardt, Umbruch – Wende – Revolution. Deutungsmuster des deutschen Herbstes 1989, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung «Das Parlament». B. 40–41 / 97, 26. 9. 1997, S. 11–18. Zur «Refolution»: Garton Ash, Jahrhundert (Anm. 3). 18 Zwahr, Ende (Anm. 8), S. 136 ff. 19 Silke Jansen, Zwei deutsche Staaten – zwei deutsche Nationen? Meinungsbilder zur deutschen Frage im Zeitablauf, in: Deutschland Archiv 22 (1989), S. 1132–1145 (1139). 20 Dazu ausführlich Winkler, Langer Weg, Bd. 2 (Anm. 8), 431 ff., S. 470 ff. 21 Ders., Demokratie und Nation in der deutschen Geschichte [1994], in: ders., Streitfragen der deutschen Geschichte. Essays zum 19. und 20. Jahrhundert, München 1997, S. 31–57 (48 f.) 22 Charles Schüddekopf (Hg.), «Wir sind das Volk!» Flugschriften, Aufrufe und Texte einer deutschen Revolution, Reinbek 1990, S. 240 f. 23 Winkler, Langer Weg, Bd. 2 (Anm. 8), S. 522 ff. 24 Ebd., S. 528 ff. 25 Ders., Von der deutschen zur europäischen Frage. Gedanken zu einem Jahrhundertproblem, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 63 (2015), Heft 4 (Oktober), S. 472–486.

Anmerkungen

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26 Andreas Wirsching, Zeit als Ressource zwischen Bonn und Paris. Der Straßburger EG-Gipfel vom 8. / 9. Dezember 1989, die Europäische Währungsunion und die deutsche Einheit, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 70 (2022), Heft 4 (Oktober), S. 656–688. 27 Jürgen Habermas, Nachholende Revolution und linker Revisionsbedarf: Was heißt Sozialismus heute?, in: ders., Die nachholende Revolution. Kleine politische Schriften VII, Frankfurt 1990, S. 179–204 (181). 28 Heinrich August Winkler, Wie wir wurden, was wir sind. Eine kurze Geschichte der Deutschen, München 20201 (Beck Paperback), S. 165 ff. Zu der Meinungs­ umfrage vom Februar 2023: Thomas Petersen, Verunsichert durch den Krieg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. 2. 2023; Der 14. Sicherheitsreport. Eine Studie zur inneren und äußeren Sicherheit in Deutschland im Jahr 2023. Hg. vom Institut für Demoskopie Allensbach und dem Centrum für Strategie und Höhere Führung, Februar 2023. Zur deutschen Revolution von 1918 /19 siehe oben S. 64 ff. 29 Zu den Transformationsprozessen in Europa seit 1989: Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2014; Jacques Rupnik, From the revolutions of 1989 to democracy fatigue in Eastern Europe, in: ders. (ed.), 1989 (Anm. 3), S. 56–71. Zu Ostdeutschland: Karl-Heinz Paqué / Richard Schröder, Gespaltene Nation? Einspruch! 30 Jahre Deutsche Einheit, Basel 2020, sowie die seit 2020 im Jahrbuch Deutsche Einheit erschienenen Beiträge. 30 Deutscher Bundestag. Wissenschaftliche Dienste, 2019. WD1–3000 / 024 /19; Rainer Eppelmann / Robert Grünbaum, Sind wir Fans von Egon Krenz? Die Revolution von 1989 / 90 war keine «Wende», in: Deutschland Archiv 37 (2004), Heft 4, S. 864–869.

Kapitel 6 Revolutionen in Perspektive: Rückblick und Ausblick

1 Revolution, Rebellion, Aufruhr, Bürgerkrieg, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. v. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. Studienausgabe, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 653–788 (Beiträge von Christian Meier, Jörg Fisch, Neithard Bulst u. Reinhart Koselleck; Zitat Dorléans: 713). 2 Eugen Rosenstock-Huessy, Die europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen (19311), Stuttgart 19613, S. 113 ff., 234 ff. Dazu auch: Harold J. Berman, Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition (amerik. Orig.: Cambridge, Mass. 1983), Frankfurt 1991. Ohne Bezugnahme auf Rosenstock-Huessy: Robert J. Moore, Die erste europäische Revolution. Gesellschaft und Kultur im Hochmittelalter (engl. Orig.: Oxford 2000), München 2001.

Anmerkungen

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3 Friedrich Engels, Zum «Bauernkrieg» (1884), in: Karl Marx / Friedrich Engels, Werke (= MEW), Berlin 1959 ff., Bd. 21, S. 402 f.; Peter Blickle, Die Revolution von 1525, München 19812; Richard van Dülmen, Reformation als Revolution. ­Soziale Bewegung und religiöser Radikalismus in der deutschen Reformation, München 1977. 4 Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1843 /44). Einleitung, in: MEW (Anm. 3), Bd. 1, S. 378–391 (391; Hervorhebungen im Original). 5 Hierzu Heinrich August Winkler, Zum Verhältnis von bürgerlicher und prole­ tarischer Revolution bei Marx und Engels (1974), in: ders., Revolution, Staat, Faschismus. Zur Revision des Historischen Materialismus, Göttingen 1978, S. 8–34; ders., Die unwiederholbare Revolution. Über einen Fehlschluss von Marx und Engels, in: ders., Streitfragen zur deutschen Geschichte. Essays zum 19. und 20. Jahrhundert, München 1997, S. 9–30. Zu den deutschen Jakobinern siehe oben S. 10. 6 Rudolf Stadelmann, Deutschland und die westeuropäischen Revolutionen, in: ders., Deutschland und Westeuropa. Drei Aufsätze, Laupheim 1948, S. 11–34 (14). Siehe auch oben S. 18, 36. 7 Ich stütze mich hier auf die vier Bände meiner «Geschichte des Westens», die zwischen 2009 und 2015 im Verlag C. H.Beck, München, erschienen sind. Zum Vergleich der Weimarer Republik und der Dritten Republik in Frankreich: Richard Löwenthal, Bonn und Weimar: Zwei deutsche Demokratien, in: Heinrich August Winkler (Hg.), Politische Weichenstellungen im Nachkriegsdeutschland 1945–1963. Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 5, Göttingen 1979, S. 9–25. Zum Vergleich der Demokratisierung in Preußen-Deutschland und den USA: Hedwig Richter, Moderne Wahlen. Eine Geschichte der Demokratie in Preußen und den USA im 19. Jahrhundert, Hamburg 2017. 8 Dazu die oben auf S. 35 ff. weggelassenen Schlusspassagen der Originalfassung meines Aufsatzes zur Revolution von 1848 /49: Der überforderte Liberalismus. Zum Ort der Revolution von 1848 /49 in der deutschen Geschichte, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Revolution in Deutschland und Europa 1848 /49, Göttingen 1998, S. 185–206 (bes. S. 202). Zu Brintons Revolutionstheorie siehe oben S. 113 f. 9 Zusammenfassend u. a.: Barbara Stollberg-Rilinger, 200 Jahre französische Revolution. Bilanz einer historischen Gedenkfeier auf dem deutschen Buchmarkt, in: Zeitschrift für Historische Forschung 17 (1990), S. 129–190; Aglaia Hartig, Das Bicentenaire  – eine Auferstehung? François Furet als König der Revolution, in: Merkur 43 (1989), S. 258–269; Philippe Alexandre, Französische und deutsche Liberale und die Erinnerung an die Revolution von 1789, in: Jahrbuch zur Libera­ lismusforschung 24 (2012), S. 107–130; Helmut Berding, Die Französische Revo­ lution in der Kontroverse, in: liberal. Vierteljahrshefte für Politik und Kultur 31 (1989), Heft 4 (November), S. 40–50. Zur atlantischen Revolution: Robert R. Palmer, Das Zeitalter der demokratischen Revolution. Eine vergleichende Geschichte

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Anmerkungen

Europas und Amerikas von 1760 bis zur Französischen Revolution (amerik. Orig.: Princeton 1959), Frankfurt 1970; Jacques Godechot, France and the Atlantic Revolution of the Eighteenth Century, 1770–1799, New York 1965; ders. / R. R.Palmer, Le Problème de l’Atlantique du XVIII ème au XX ème siècle, in: Relazioni Internazionali di scienze storiche. Vol. 4: Storia contemporanea, Firenze 1955, S. 173– 239. Zum Zitat von Georges Clemenceau, einer Äußerung aus seiner Rede vor der Deputiertenkammer vom 29. 1. 1891: David Robin Watson, Georges Clemenceau. A Political Biography, Plymouth 1974, S. 119 f. François Furet, Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert (frz. Orig.: Paris 1995), München 1996, S. 108, 110. Zu Kautsky und zur unterschiedlichen Rezeption der russischen Oktoberrevolution bei deutschen Sozial­ demokraten und französischen Sozialisten: Heinrich August Winkler, Demokratie oder Bürgerkrieg. Die russische Oktoberrevolution als Problem der deutschen Sozialdemokraten und der französischen Sozialisten, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 47 (1990), S. 1–23. Ders., Klassenkampf versus Koalition. Die französischen Sozialisten und die Politik der deutschen Sozialdemokraten 1928–1933, in: Geschichte und Gesellschaft 17 (1991), S. 182–201 (Zitat aus der «Resolution Kautsky»: 183). Ders., Die Revolution von 1918 /19 und das Problem der Kontinuität in der deutschen Geschichte, in: Historische Zeitschrift 250 (1990), S. 303–319 (zur Aus­ einandersetzung mit den Thesen des ZK der SED); ders., Kein Bruch mit Lenin. Die Weimarer Republik im Geschichtsbild von SED und PDS, in: ders., Streitfragen der deutschen Geschichte. Essays zum 19. und 20. Jahrhundert, München 1997, S. 107–121 (das Zitat aus dem Programm der PDS: 111). Das Zitat aus dem Programm der Linken: Programm der Partei DIE LINKE, Berlin 2011, S. 9 f. Dieter Langewiesche, Die Glorreiche Deutsche Revolution von 1848 /49, in: Christoph Nonn / Tobias Winnerling (Hg.), Eine andere deutsche Geschichte 1517– 2017, Paderborn 2017, S. 120–139. Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. 1: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, München 20202 (Beck Paperback), S. 100 ff. (mit weiterer Lit.); ders., Wie wir wurden, was wir sind. Eine kurze Geschichte der Deutschen, München 20201, S. 36 ff.; Zum Teil eher populärwissenschaftlich gehaltene Beiträge in: Frank-Walter Steinmeier (Hg.), Wegbereiter der deutschen Demokratie. 30 mutige Frauen und Männer 1798–1918, München 2021, sowie Jörg Bong, Die Flamme der Freiheit. Die Revolution 1848 /49, Köln 2022. Zur Mainzer Räterepublik kritisch: ­Gustav Seibt, Mit einer Art von Wut. Goethe in der Revolution, München 2014, S. 105 ff. Charles Krauthammer, The Unipolar Moment, in: Foreign Affairs 70 (1990 / 91), Nr. 1, S. 23–33. Stephen Kotkin, The Cold War Never Ended. Ukraine, the China Challenge, and

Anmerkungen

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the Revival of the West, in: Foreign Affairs 101 (2022), Nr. 3 (May / June), S. 64– 78. Frank Bösch, Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann, München 2019 (Zitat: S. 13). Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 20102; Hartmut Kaelble, Kalter Krieg und Wohlfahrtsstaat. Europa 1945–1989, München 2011; Bernhard Dietz u. a. (Hg.), Gab es den Wertewandel? Neue Forschungen zum gesellschaftlichen Wandel seit den 1960er Jahren, München 2014. Zum Vorstehenden vor allem: Jürgen Habermas, Überlegungen und Hypothesen zu einem erneuten Strukturwandel der Öffentlichkeit, in: Leviathan 49 (2021). Sonderheft 37: Martin Seeliger, Sebastian Sevignani (Hg.), Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 470–500; Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017. Kotkin, Cold War (Anm. 16), S. 69, 79. Zum Vorstehenden u. a. Jutta Scherrer, Kulturologie. Russland auf der Suche nach einer zivilisatorischen Identität, Göttingen 2003; dies., Requiem für den Roten Oktober. Russlands Intelligenzija im Umbruch 1906–1996, Leipzig 2019; Orlando Figes, Eine Geschichte Russlands (engl. Orig.: London 2022), Stuttgart 2022; Manfred Hildermeier, Die rückständige Großmacht, Russland und der Westen, München 2023, bes. S. 221 ff.; Martin Schulze Wessel, Der Fluch des Impe­ riums. Die Ukraine, Polen und der Irrweg der russischen Geschichte, München 2023, bes. S. 171 ff.

BILD N A C H W EIS

Bildnachweis

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Zeitgenössische, unbezeichnete Kreidelithographie, spätere Kolorierung; akg-images, Berlin Farbdruck, 1894, nach einem Aquarell von Carl Röchling; akg-images, Berlin Foto, 1918; brandstaetter images / akg-images, Berlin Foto; TT  News Agency / SVT / akg-images, Berlin Foto; picture alliance / dpa / Lehtikuva Oy

PER SON EN REGISTER

Personenregister

Bamberger, Ludwig (1823–1899)  47 f., 55 Bauer, Gustav (1870–1944)  74, 76 Bebel, August (1840–1913)  45, 51, 54, 56, 58 Beckerath, Hermann von (1801–1870)  24 Bell, Johannes (1868–1949)  73 Bennigsen, Rudolf von (1824–1902)  53 Bernhardi, Friedrich von (1849–1930)  58 f. Bernstein, Eduard (1850–1932)  64 f., 111 Beseler, Wilhelm Hartwig (1806–1884)  24 Bethmann Hollweg, Theobald von (1856–1921)  60 Bismarck, Otto von (1815–1898)  15, 35, 41–57, 100, 130, 135 Blickle, Peter (1938–2017)  129 Blomberg, Werner von (1878–1946)  90 Blum, Léon (1872–1950)  137 Blum, Robert (1807–1848)  27 Bluntschli, Johann Caspar (1808–1881)  44 Bösch, Frank (*1969)  143 Braun, Otto (1872–1955)  77, 81, 83 Bredow, Ferdinand von (1884–1934)  91 Breschnew, Leonid (1906–1982)  108 Brinton, Crane (1898–1968)  113 f., 135 Brown, Archie (*1938)  107 Brüning, Heinrich (1885–1970)  80–82, 138 Bülow, Bernhard von (1849–1929)  57

Burckhardt, Jacob (1818–1897)  44 Bush, George H. W. (1924–2018)  117 Calvin, Johannes (1509–1564)  129 Camphausen, Ludolf (1803–1890)  21 Cavaignac, Louis-Eugčne (1802–1857)  132 Ceauşescu, Nicolae (1918–1989)  112 Claß, Heinrich (1868–1953)  59 Clemenceau, Georges (1841–1929)  136 Comte, Auguste (1798–1857)  44 Dahlmann, Friedrich Christoph (1785–1860)  23, 25 Dahrendorf, Ralf (1929–2009)  9, 92 f., 114 David, Eduard (1863–1930)  73 Dawes, Charles G. (1865–1951)  79 De Maizière, Lothar (*1940)  120 Dehio, Ludwig (1888–1963)  52 Deng Xiaoping (1904–1997)  142 Dimitroff, Georgi (1882–1949)  86 f. Disraeli, Benjamin (1804–1881)  52 Dorléans, Pierre Joseph (1641–1698)  128 Droysen, Johann Gustav (1808–1884)  98 f. Ebert, Friedrich (1871–1925)  66–76, 122 Eichhorn, Emil (1863–1925)  69 Eisner, Kurt (1867–1919)  72 Engels, Friedrich (1820–1895)  23, 28 f., 40 f., 45, 111, 129 f.

174 Erdmann, Karl Dietrich (1910–1990)  67 Erzberger, Matthias (1875–1921)  78 Falter, Jürgen W. (*1944)  97 Fehrenbach, Constantin (1852–1926)  78 Franco, Francisco (1892–1975)  111 Franz Joseph I., Kaiser von Österreich (1830–1916)  26 Freyer, Hans (1887–1969)  86 Friedrich II.  der Große, König von Preußen (1712–1786)  11, 28, 43 Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen (1795–1861)  20 f., 25 f., 29, 50 Friedrich Wilhelm, Großer Kurfürst von Brandenburg (1620–1688)  45 Furet, François (1927–1997)  136 f. Gagern, Heinrich von (1799–1880)  13, 21, 31 Garton Ash, Timothy (*1955)  115 Geremek, Bronisław (1932–2008)  106, 111 Gerlach, Ernst Ludwig von (1795–1877)  44 Geßler, Otto (1875–1955)  77 Göring, Hermann (1893–1946)  90 Gorbatschow, Michail (1931–2022)  107 f., 110, 112 f., 117 f., 144 Gregor VII., Papst (1025–1085)  129 Habermas, Jürgen (*1929)  121 Hansemann, David (1790–1864)  21 Hardtwig, Wolfgang (*1944)  15 Hecker, Friedrich (1811–1881)  13 f., 27 f., 134, 139 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770–1831)  10, 44, 129 Heinrich IV., Kaiser (1050–1106)  129 Heller, Hermann (1891–1933)  9 Herder, Johann Gottfried (1744–1803)  10

Personenregister Hess, Heinrich von (1788–1870)  44 Hilferding, Rudolf (1877–1941)  83 Himmler, Heinrich (1900–1945)  90 f. Hindenburg, Paul von (1847–1934)  75, 80–82, 88, 91, 100, 138 Hirsch, Paul (1868–1940)  69, 77 Hirschman, Albert O. (1915–2012)  109 Hitler, Adolf (1889–1945)  78, 81–83, 87–92, 94, 96 f., 99–103, 138 Hölderlin, Friedrich (1770–1843)  10 Honecker, Erich (1912–1994)  110, 114 Isabella II., Königin von Spanien (1830–1904)  48 Jacoby, Johann (1805–1877)  46 Jefferson, Thomas (1743–1826)  136 Jelzin, Boris (1931–2007)  144 f. Jörg, Edmund (1819–1901)  45 f. Johannes Paul II., Papst (1920–2005)  142 Jordan, Wilhelm (1819–1904)  31 Jung, Edgar Julius (1894–1934)  91 Kant, Immanuel (1724–1804)  10 f. Kapp, Wolfgang (1858–1922)  76 f. Karl I. der Große, Kaiser (747–814)  45 Kautsky, Karl (1854–1938)  73, 137 Kohl, Helmut (1930–2017)  117–121 Kopernikus, Nikolaus (1473–1543)  128 Koselleck, Reinhart (1923–2006)  40, 112 Kotkin, Stephen (*1959)  142, 144 Krauthammer, Charles (1950–2018)  142 Krenz, Egon (*1937)  110, 125 Kun, Béla (1886–1938)  136 Lafayette, Marie-Joseph Motier, ­Marquis de (1757–1834)  136 Langewiesche, Dieter (*1943)  140 Lassalle, Ferdinand (1825–1864)  50 Legien, Carl (1861–1920)  68

Personenregister Leiningen, Karl zu (1804–1856)  23 Lenin, Wladimir Iljitsch (1870–1924)  102, 107, 114, 134, 137 Lenk, Kurt (1929–2022)  9 Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen (1835–1905)  48 Lepsius, M. Rainer (1928–2014)  97 Liebknecht, Karl (1871–1919)  66, 69 f., 138 f. Lipset, Seymour Martin (1922–2006)  95 Löwenthal, Richard (1908–1991)  65, 112 Louis Philippe I., König der Franzosen (1773–1850)  131 Ludendorff, Erich (1865–1937)  60 f. Ludwig XVI., König von Frankreich (1754–1793)  11, 131 Ludwig XVIII., König von Frankreich (1755–1824)  131 Lüttwitz, Walther von (1859–1942)  76 f. Luther, Martin (1483–1546)  107, 129 f. Luxemburg, Rosa (1871–1919)  66, 69–71, 138 f. Manteuffel, Edwin von (1809–1885)  44 Marx, Karl (1818–1883)  12, 23, 28–30, 34 f., 40 f., 87, 102, 111, 129 f., 134 Max von Baden (1867–1929)  61 Meinecke, Friedrich (1862–1954)  37, 51 Metternich, Klemens Wenzel Lothar von (1773–1859)  20 Mevissen, Gustav von (1815–1899)  25 Mitterrand, François (1916–1996)  121 Modrow, Hans (1928–2023)  118 f. Moeller van den Bruck, Arthur (1876–1925)  96 Mohl, Moritz von (1802–1888)  29 Momper, Walter (*1945)  106 Montesquieu, Charles de Secondat, ­Baron de (1689–1755)  136

175 Müller, Hermann (1876–1931)  76, 79 f. Mussolini, Benito (1883–1945)  87–89, 102 Napoleon I. Bonaparte, Kaiser der Franzosen (1769–1821)  12, 19, 50, 131 Napoleon III., Kaiser der Franzosen (1808–1873)  35, 41–43, 46–48, 87, 132 Noske, Gustav (1868–1946)  70, 72, 76 Papen, Franz von (1879–1969)  82 f., 91, 100 Pius IX., Papst (1792–1878)  53 Preuß, Hugo (1860–1925)  72 Prim, Juan (1814–1870)  48 Putin, Wladimir (*1952)  144 Radowitz, Joseph Maria von (1797–1853)  29 Rathenau, Walther (1867–1922)  78 Rau, Johannes (1931–2006)  106 Rebmann, Georg Friedrich (1768–1824)  10 Robespierre, Maximilien de (1758–1794)  131 Rochau, August Ludwig von (1810– 1873)  33 f. Röhm, Ernst (1887–1934)  89–91 Römer, Friedrich von (1794–1864)  21 Rosenberg, Arthur (1889–1943)  67 Rosenstock-Huessy, Eugen (1888–1973)  129 Rotteck, Carl von (1775–1840)  21 Rousseau, Jean-Jacques (1712–1778)  131, 136 Saint-Just, Louis Antoine de (1767– 1794)  131 Scheidemann, Philipp (1865–1939)  69 f., 72–74

176 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1775–1854)  10 Schieder, Wolfgang (*1935)  19 Schiffer, Eugen (1860–1954)  73 Schiller, Friedrich (1759–1805)  10 Schleicher, Kurt von (1882–1934)  80, 82, 91, 100 Schoenbaum, David (*1935)  92 f. Scholz, Ernst (1874–1932)  79 Schürer, Gerhard (1921–2010)  114 Schwarzenberg, Felix zu (1800–1852)  24, 26, 29 Severing, Carl (1875–1952)  77 Stadelmann, Rudolf (1902–1949)  18, 36, 131 Stalin, Josef (1878–1953)  96, 102, 114 Stein, Lorenz von (1815–1890)  11, 35, 42 Stinnes, Hugo (1870–1924)  68 Stoecker, Adolf (1835–1909)  53 Strasser, Gregor (1892–1934)  91 Stresemann, Gustav (1878–1929)  78 f. Ströbel, Heinrich (1869–1944)  65 Struensee, Carl August von (1735–1804)  11 Struve, Gustav (1805–1870)  13 f., 27 f., 139 Sybel, Heinrich von (1817–1895)  19–21 Thalheimer, August (1884–1948)  87 Thatcher, Margaret (1925–2013)  142

Personenregister Treitschke, Heinrich von (1834–1896)  51, 54 f. Trump, Donald (*1946)  141 Twesten, Karl (1820–1870)  43 f. Unruh, Hans Viktor von (1806–1886)  43 Vetter, Reinhold (*1946)  111 Virchow, Rudolf (1821–1902)  53 Vittorio Emanuele III., König von ­Italien (1869–1947)  88 Vogt, Carl (1817–1895)  29 f. Waldeck, Benedikt (1802–1870)  28, 30 Wałęsa, Lech (*1943)  106 Weber, Max (1864–1920)  61 f., 97, 112 Wieland, Christoph Martin (1733–1813)  10 Wilhelm I., Deutscher Kaiser (1797–1888)  43, 48, 50, 53 f. Wilhelm II., Deutscher Kaiser (1859–1941)  18, 56–61, 73 Wrangel, Friedrich von (1784–1877)  44 Young, Owen D. (1874–1962)  79 f. Zitelmann, Rainer (*1957)  96 f. Zwahr, Hartmut (*1936)  115 Zwingli, Huldrych (1484–1531)  129

Zum Buch Als die Franzosen im Juli 1789 das Symbol des absolutistischen Ancien Régime, die Pariser Bastille, stürmten, jubelten ihnen auch viele deutsche Dichter und Denker zu. Doch die Begeisterung hielt rechts des Rheins nicht lange an. Als Ludwig XVI. auf dem Schafott endete und die Revolution in Terror überging, rückten viele Deutsche erschrocken von ihr ab. Seither ist das Verhältnis der Deutschen zu Revolutionen ein schwieriges Kapitel geblieben. Heinrich August Winkler, der Doyen unter den Historikern, schildert die Etappen der deutschen Revolutionsgeschichte von 1848 bis 1989 und nimmt auch die düsterste aller Revolutionen, jene der Nationalsozialisten, mit in den Blick.

Über den Autor

Heinrich August Winkler, geboren 1938 in Königsberg, ist einer der prominentesten deutschen Historiker. Er lehrte von 1991 bis 2007 Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2014 erhielt er den Europapreis für politische Kultur der Hans-Ringier-Stiftung, 2016 den Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung. 2018 verlieh ihm der Bundespräsident das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. Heinrich August Winkler ist Ehrensenator der Deutschen Nationalstiftung. Seine großen Werke „Der lange Weg nach Westen“ und „Geschichte des Westens“ gehören zu den meistverkauften historischen Werken unserer Zeit. Zuletzt erschien von ihm: „Nationalstaat wider Willen. Interventionen zur deutschen und europäischen Politik“ (2022).