Die De-Individualisierung des Erziehungsgedankens im Jugendstrafrecht [1 ed.] 9783428509591, 9783428109593

Der Erziehungsgedanke ist das Leitprinzip des Jugendstrafrechts. Seine Bedeutung ist seit seiner Entstehung umstritten,

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Die De-Individualisierung des Erziehungsgedankens im Jugendstrafrecht [1 ed.]
 9783428509591, 9783428109593

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RALPH GRUNEWALD

Die De-Individualisierung des Erziehungsgedankens im Jugendstrafrecht

Strafrechtliche Abhandlungen . Neue Folge Begründet von Dr. Eberhard Schmidhäuser (t) em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Hamburg

Herausgegeben von Dr. Dr. h. c. (Breslau) Friedrich-Christian Schroeder ord. Prof. der Rechte an der Universität Regensburg

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtsiehrem der deutschen Universitäten

Band 151

Die De-Individualisierung des Erziehungsgedankens im Jugendstrafrecht Von

Ralph Grunewald

Duncker & Humblot . Berlin

Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Michael Bock

Der Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz hat diese Arbeit im Jahre 2002 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 3-428-10959-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 970M3

Vorwort Das vorliegende Buch ist nicht einfach Resultat oder Verlängerung meiner juristischen Ausbildung. Der Großteil der in ihm angesprochenen Themen spielt im juristischen Curriculum keine oder allenfalls eine geringe Rolle. Daß ich mich trotzdem auf den Erziehungsgedanken einlassen konnte, war nur möglich, weil ich bei der Anfertigung stets wohlwollende und weiterführende Unterstützung erhalten habe. Das gilt sowohl für die Mainzer Fakultät, wo ich diese Arbeit begonnen habe als auch für die Erlanger, an der ich das Manuskript Anfang 2001 fertigstelIte. Literatur konnte noch bis Ende 2002 berücksichtigt werden. Die Lang-Hinrichsen-Stiftung hat mir mit einem Promotionsstipendium und einer großzügigen Förderung des Drucks auch finanzielle Freiräume gewährt. Gerade aus diesen Gründen und insbesondere, weil ich mich frei von Zweckmäßigkeitserwägungen mit Kriminologie befassen konnte, habe ich die Beschäftigung mit meinem Thema stets als Privileg empfunden. Mein erster Dank gilt meinem Doktorvater und Mentor Prof. Dr. Dr. Michael Bock, der mir in vielen Gesprächen entscheidende Anregungen gegeben hat und mir zudem einen intensiven Einblick in seine Kriminologie ermöglichte. Ich würde mir wünschen, mit dieser Arbeit einen Beitrag dazu geleistet zu haben. Weit über die ,,zügige Erstellung des Zweitgutachtens" hinaus gilt auch Prof. Dr. Alexander Böhm mein Dank. Er hat an vielen Stellen richtungweisende Kritik geübt und mir wertvolle dogmatische Hinweise gegeben. Prof. Dr. Volker Erb, dessen Assistent ich seit 1999 bin, will ich herzlich für seine Aufmerksamkeit und die Freiräume danken, die er mir zur Fertigstellung dieser Arbeit gewährt hat. Prof. Dr. Franz Streng hat die Entstehung des Werks mit Interesse verfolgt und mich stets über aktuelle Entwicklungen auf dem laufenden gehalten; auch ihm gilt mein Dank.

Erlangen, im Dezember 2002

Ralph Grunewald

Inhaltsverzeichnis Einleitung .......................... ................................... .................................... ............. 13 I. Problemstellung............. ........................... ....... ........ ........................... ...... 13

11. Gliederung der Untersuchung .......... .................. .. .......................... .... .. .. .. .. 18 Erster Teil Die Geschichte des Erziehungsgedankens im JGG

Erstes Kapitel Entstehungsbedingungen des Erziehungsgedankens im 19. Jahrhundert

20

20

I. Einführung.............................. .................................................... .... ... ...... 20

11. Überblick über die geschichtliche Entwicklung.......... ............ .............. .. .. .. 21 III. Staatspolitische Bedingungen ...... .... ........................... .. ....... ........ .. ...... ...... 22 I. Liberalismus und Wohlfahrtsstaat .......................... ........................ ....... 23

2. Erziehung als Staatsaufgabe ........ ........ ........ .............................. ........... 26 IV. Soziale Bedingungen ............................... ........ .................................... ..... 28 I. Jugend als eigenständige Entwicklungsphase ........ .. .... ...... .... .... .... .. ...... 28

2. Die Jugendbewegung ........ .... .................... .... .... ................ ...... .... .... ..... 32 3. Die "soziale Frage" der Jugend ................................................ .. ........... 35 V. Die Neuordnung des Strafrechts durch den Schulenstreit .. .... .. ................ .. .. 38 1. Einführung ......... ...... .. ....... ..... ... .. ................... ...... ... .... .. ... ..... .......... ..... 38 2. Die Aufklärung .. ..... ................... ..... ..................... ........ .......... ....... .. ..... 40 3. Die Entwicklung der Straftheorie bei Kant und dem deutschen Idealismus ...... ..... .... .. .. ......... .... .. .. ....................... ............... ...... ..... ....... ..... .. 42 4. Positivismus und moderne Schule ........................ .... .... .. .................. .. ... 51 a) Einführung ............................... ..... ... .................. ................ ...... ... ..... 51 b) Die Entwicklung der "positiven" Philosophie .................................... 51

Inhaltsverzeichnis c) Die Entstehung der Kriminologie ...................................................... 53 d) Franz von Liszt und sein zweckbezogenes Interventionsprogramm .... 54 e) Zusammenfassende Gegenüberstellung ............................................. 60 VI. Erziehungswissenschaftliche Entwicklung ....................................... .......... 61 1. Der neuhumanistische Bildungsgedanke ............... ......... ....................... 62 a) Das Bildungsideal der Aufklärung .............. .................................. .... 63 b) Das Bildungsideal der Romantik ......... ........................ ........... ...... ..... 63 c) Die Entstehung des Neuhumanismus ................................................. 65 2. Die "Tatschule" und der positivistische Bildungsbegriff ........................ 67 VII. Ergebnis der Gegenüberstellung .................... ..... ................... .................... 72 Zweites Kapitel

Klassifizierung des Erziehungsgedankens im JGG von 1923

74

I. Entstehung des dualen Erziehungsgedankens ............................................. 75 1. Die strafrechtliche Situation zur Zeit des RStGB von 1871 und die Internationale Kriminalistische Vereinigung ......................................... 75 2. Die Jugendgerichtsbewegung ................... ........................ .................... 78 3. Der Dualismus des Erziehungsgedankens .................. ...... ...................... 80 a) Terminologie ................................................................................... 81 b) Einflüsse der modemen Schule - der anleitende Interventionstypus ... 83 aa) Die Ursachen der Jugendkriminalität .......... ...... .......................... 84 bb) Das Interventionsprogramm der modemen Schule ....................... 86 c) Das Interventionsprogramm der klassischen Schule ........................... 93 d) Ergebnis der Gegenüberstellung ....................................................... 102 aa) Der Dualismus ........................................................................... 102 bb) Vermittelnde Positionen ............................................................. 104 II. Die Konkretisierung des Dualismus in der Gesetzgebung ... ........................ 106 1. Die ersten Gesetzesvorschläge .............................................................. 106 a) Die Vorschläge Aschrotts ................................................................. 107 b) Die Vorschläge Schmölders .............................................................. 108 c) Die Vorschläge der IKV ............................................. ...................... 110

Inhaltsverzeichnis

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d) Beurteilung der Vorschläge .............................................................. 115 2. Entwicklung bis zum JGG von 1923 ..................................................... 116 3. Der Straf- und Erziehungsgedanke im JGG vom 1.7.1923 ..................... 125 a) Das "gesetzmäßige Leben" als Erziehungsziel ................................... 125 b) "Ausreichen" von Erziehungsrnaßregeln ........................................... 127 c) Gestaltung des Jugendstrafvollzugs ................................................... 131 III. Resümee der historischen Entwicklung ...................................................... 135 1. Zusammenfassung der Strömungen ....................................................... 135 2. Der Erziehungsgedanke als kriminalpolitische Funktion ........................ 138 IV. Das Dilemma von Strafe und Erziehung .................................................... 140 Drittes Kapitel Der duale Erziehungsgedanke im RJGG 43

144

I. Das Erziehungsziel im Nationalsozialismus ............................................... 145 ll. Der Jugendarrest als idealistisch geprägte Maßnahme .......................... ...... 146 III. Die unbestimmte Verurteilung .................................................................. 151 IV. Fazit der historischen Entwicklung ............................................................ 153 Zweiter Teil Auswirkungen der Entwicklung der Kriminologie auf das Verständnis des Erziehungsgedankens Viertes Kapitel Die De-Individualisierung des Erziehungsgedankens

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155

1. Der individualisierende Erziehungsgedanke ............................................... 155 11. Die Entstehung der "kritischen" Kriminologie ........................................... 157 1. Das Erziehungsideal eines ,,kritischen Kritikers" ................................... 157 2. Der Labelling-Approach ....................................................................... 161 a) Die Entwicklung des Labelling-Approach ......................................... 162 b) Auswirkungen auf die Kriminologie ................................................. 164 c) Auswirkungen auf das Jugendstrafrecht ............................................ 166 aa) Diversionsbestrebungen ..................................................... ........ 166

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Inhaltsverzeichnis bb) Jugend als Kontrollparadigma .................................................... 167 III. Kritik am wissenschaftlichen Konzept des Labelling-Approach .................. 169 1. Empirische Gesichtspunkte ................................................................... 169 2. Rezeptionsschicksal des Labelling-Approach ........................................ 171 a) Die Kritik der Rezeptionsprotagonisten - Haferkamp ........................ 172 b) Die Kritik Bohnsacks ....................................................................... 173 c) Die Kritik aus marxistisch-ideologischer Perspektive ......................... 176 d) Fazit ................................................................................................ 176 3. Integrationsversuche von Ätiologie und Labelling ...... .... .. ..................... 177 4. Auswirkungen auf den Erziehungsgedanken ......................................... 178 Fünftes Kapitel Auswirkungen der empirischen Forschung auf das Verständnis des Erziehungsgedankens

180

I. Vorstellungen von Verteilung und Verlauf von Jugendkriminalität ............. 180

1. Die Ubiquitätsthese .............................................................................. 180 2. Episodenhaftigkeit von Jugenddelinquenz ............................................. 182 11. Effizienz staatlicher Reaktionen auf Jugendkriminalität ............................. 187 1. Ineffektivität jugendstrafrechtlicher Sanktionen ..................................... 187 2. Auswirkungen auf den Erziehungsgedanken ......................................... 189 3. Kritische Betrachtung ........................................................................... 190 a) Kritik an der Durchführung der Untersuchungen ............................... 190 b) Kritik am Forschungsdesign der Untersuchungen .............................. 191 III. Die Erziehungswirklichkeit bei den Jugendrichtern .................................... 194 IV. Fazit ......................................................................................................... 198

Inhaltsverzeichnis

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Dritter Teil Die juristisch-dogmatische Transformation der Kritik am Ernehungsgedanken

200

Sechstes Kapitel Rechtsstaatliche Einschränkungen des Ernehungsgedankens

200

I. Bestirnrntheitsgebot ................................... .................................... ........... 200 II. Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit ................................................ ....... 203 Siebentes Kapitel Grundrechtsverletzungen

208

I. Das SchlechtersteIlungsverbot (Art. 3 Abs. 1 Satz I GG) ...... .......... .... ..... .. 208 11. Der Schutz des Elternrechts (Art. 6 Abs. 2 GG) ......................................... 214 1. Umfang des elterlichen Erziehungsrechts ...... .. ...................... .... ............ 215 2. Verstoß gegen die Subsidiaritätsklausel ................................................ 216 3. Das dynamische Erziehungsverständnis des Grundgesetzes ....... .. ......... . 218 III. Eingriffe in Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG ............................................... 218 Achtes Kapitel Auswirkungen der De-Individualisierung auf die Rechtsanwendung

225

I. Konkretisierung der Erziehungskritik an einzelnen Normen ....................... 225 1. § 43 JGG: Umfang der psycho-sozialen Ermittlungen ............................ 225 a) Einfluß der Kritik am Erziehungsgedanken ....................................... 225 b) Auswirkungen der Oe-Individualisierung .......................................... 226 2. § 16 JGG: Jugendarrest ................................... ..................................... 228 a) Einfluß der Kritik am Erziehungsgedanken ... ... ................................. 228 b) Auswirkungen der Oe-Individualisierung .......................................... 229 3. § 71 JGG: Vorläufige Anordnungen über die Erziehung .................. ...... 232 a) Einfluß der Kritik am Erziehungsgedanken ....................................... 232 b) Auswirkungen der Oe-Individualisierung .......................................... 233

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Inhaltsverzeichnis 4. § 11 Abs. 2 JGG: Änderung, Befreiung und Laufzeitverlängerung von Weisungen ... ...................... ....................... .. .......................... ... ............ 235 a) Einfluß der Kritik am Erziehungsgedanken .. ........................ .. ........... 235 b) Auswirkungen der De-Indi vidualisierung .. ...... ...................... .. .......... 235 11. Der Erziehungsgedanke in der Rechtsprechung .......................... ................ 237 1. Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen .......................... .... ............. 238 2. Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld ................................ .. ............. 240 3. Stellungnahme .................... .......................... .... ...................... ... .......... 242 Neuntes Kapitel

Die de-individualisierende Reform(ul)ierung des ErDehungsgedankens

245

I. Politische Vereinnahmung des Erziehungsgedankens ...................... ........... 245 II. Neuordnung des Jugendstrafrechts .............................................. .............. 249 1. Jugendhilferechtliche Ausprägung ....................................... ................. 250 2. Rechtsstaatlich-formale Ausprägung des Jugendstrafrechts .................... 251 a) Konnexitätslockerung ....... .................. .. ............................................ 251 b) Neo-Klassizistische Bestrafungskonzepte ......................................... 253 3. Reformulierung des Erziehungsgedankens ............................................ 254 4. Verfahrensspaltung ........... ................................................................... 257

m.

Systematisierende Stellungnahme .................... .......................................... 258 1. Jugendhilferechtliche Lösung ........................ ....................................... 258 2. Rechtsstaatlich-formale Lösung .. ................... ....................................... 259 3. Reformulierung des Erziehungsgedankens ...... .... .......................... .. ...... 262 4. Exkurs: Erziehung und Spezialprävention ............................................. 263

Schlußbetrachtung .............................. .................................................... .............. 266 I. Zusammenfassung .................. ........................ ............................... ........... 266 11. Ausblick ............................................................................... .................... 270

Literaturverzeichnis .. ........................ ................................................. .. .. ............... 274 Personen- und Sachverzeichnis ................................ ............................................. 290

Einleitung I. ProblermteUung Mit dem Erziehungsgedanken steht und fällt das Sonderstrafrecht für jugendliche Täter. In der Dogmatik des JGG spielt der Erziehungsgedanke eine besondere Rolle - nicht nur ausdrücklich bei einer Vielzahl von Vorschriften, I sondern auch als übergeordnetes und ordnendes Prinzip, das das gesamte Jugendstrafrecht durchzieht und ihm sein besonderes Gepräge gibt. 2 Er bildet den Motor eines selbständigen Jugendstrafrechts überhaupt und steht zudem auch für die gesellschaftliche Entscheidung, jugendlichen Straftätern eine dem Alter gemäße Behandlung zuteil werden zu lassen. Der Erziehungsgedanke ist seit seiner Entwicklung in der Mitte des 19. Jahrhunderts und seiner Kodifikation im JGG im Jahre 1923 niemals einheitlich verwandt und auch niemals einheitlich verstanden worden. Über ein nur unterschiedliches Verständnis von Erziehung hinaus wird seine leitende Funktion für das Jugendstrafrecht mehr und mehr in Frage gestellt: So hat sich erst kürzlich der 64. Deutsche Juristentag in Berlin mit der Frage der Reform des Jugendstrafrechts und vor allem der Beibehaltung des Erziehungsgedankens beschäftigt. Auch wenn sich dort die Mehrheit für den Erziehungsgedanken ausgesprochen hat, konnte eine Einigung, was Erziehung eigentlich bedeute, nicht erzielt werden. Zudem mehren sich in Schrifttum und Praxis die Vertreter, die zur Mobilmachung gegen den Erziehungsgedanken im Jugendstrafrecht aufrufen. Sie beklagen seine Unschärfe und nennen ihn deshalb "Chiffre" und "password,,3, ,,konsenserzeugendes Gleitmittel,,4, "trojanisches Pferd im Rechtsstaat"S, "verschleiernde Schimäre", die in Wirklichkeit Strafe etikettiere,6 und Auslöser einer wahren Strafinflation.7 Er wird als "doppelter Sündenbock" sowohl für eine zu laxe als auch

I §§ 5 Abs. 1, 16 Abs. 3 Satz 1, 17 Abs. 2, 18 Abs. 2, 52a Abs. 1 Satz 2, Satz 3,90 Abs. 1 Satz 1,91 JGG. 2 So unterstellt z. B. der BGH (BGHSt 15, 224, 225) der Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld ebenfalls den Erziehungsgedanken, obwohl das Gesetz selbst ihn nicht ausdrücklich erwähnt. 3 Pieplow 1989, 5, 9. 4 Pieplow 1989, 5, 15. 5 Gerken / Schumann 1988, 1, 2. 6 Gerken / Schumann 1988, 1, 3. 7 Ostendorf2000, Grdl. z. §§ 1-2 Rn. 4; Gerken / Berlitz 1988, 11,21 ff.

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Einleitung

für eine zu repressive Umgehensweise mit jugendlichen Straftätern verantwortlich gemacht. 8 In der Folge wird dann das Jugendstrafrecht selbst als Teil des Problems angesehen, das es zu lösen vorgibt. 9 Die Forderungen der Kritiker entsprechen in ihrer Weite der Härte ihrer Anwürfe. Sie plädieren dafür, den Erziehungsgedanken anders zu interpretieren, 10 oder ihn sogar ganz abzuschaffen. 11 Die Grenzen zwischen den Forderungen nach Um formulierung und Abschaffung sind hierbei allerdings fließend, so daß bisweilen schon diejenigen, die allein den Erziehungsbegrif.{bestehen lassen, als seine Apologeten und Vertreter bezeichnet werden. 12 Die hierin zum Ausdruck kommende Verwirrung bezüglich des Inhalts des Erziehungsgedankens kann jedoch in Anbetracht des kaum mehr als einheitlich zu bezeichnenden Interpretationsspektrums, das unter dem Begriff der Erziehung abgebildet wird, nicht verwundern. Denn dieses Spektrum reicht von einer Auffassung, die Erziehung als Verinnerlichung kriminoresistenter Faktoren versteht l3 und die bei der Reaktion auf Jugendstraftaten die Erkenntnisse der Pädagogik und Jugendkriminologie zu Rate ziehen möchte,14 bis zu einer engen Auslegung des Erziehungsgedankens. Hiernach hat Erziehung eine bloß normative Funktion, nämlich den Betroffenen von der Begehung weiterer Straftaten abzuhalten, ohne auf seine Sozialisation und Personalisation achten zu müssen. 15 Der Erziehungsgedanke wird in diesem Zusammenhang dann als rechtsstaatliche Garantie verstanden, in dem sich Schuldgedanke und Verhältnismäßigkeitsprinzip vereinen. 16 In der RechtspreSchlüchter 1994, S. 6 f. Trenczek, ZRP 1993, 184. 10 Vgl. hierzu nur Heinz 1990, 28, 40 ff., ders. ZRP 1991, 183, 188: "Der Erziehungsgedanke muß reformuliert werden, der als Eckpfeiler zwar bestehen bleibt, aber von den negativen Auswirkungen befreit werden muß." Nothacker 1984 bildet den Erziehungsgedanken zu einem Sozialisationsanliegen um. 11 H.-J. Albrecht, NJW-Beilage 2002 (23),26,31; Voß 1986, S. 219 f.; Balbier, DRiZ 1989, 404, 409: "Der Erziehungsgedanke als sozialtechnisches Ideal kann ohne Not aufgegeben werden ( ... )."; Plewig 1993,321,322: "Die Kategorien ,Erziehung' und ,Kindes wohl' gründen auf einer herrschaftlich-verfügenden, zweckrationalen Pragmatik, der eben nur in radikaler Weise entronnen werden kann - wenn überhaupt."; ders. DVJJ-J 1994, 227, 229: "Der Willkür im Jugendstrafrecht kann nur entgangen werden, indem die Einfallstore geschlossen werden. Folglich ist das Sonder-Strafrecht als Erziehungskonzept ersatzlos abzuschaffen."; Müller / Otto 1986, deren Buchtitel schon Programm ist: "Damit Erziehung nicht zur Strafe wird - Sozialarbeit als Konfliktschlichtung"; P.A. Albrecht 2000, § 8 m 5: "Erziehung im Sinne des JGG ist ein strafrechtliches Konstrukt und somit in die Gruppe der Strafzwecke einzuordnen, wodurch es gleichermaßen (strafrechts-)systemkonform determiniert bleibt." 12 So etwa Plewig 1993,321. \3 Schlüchter; GA 1988, 106, 126; dies. 1994,52; dies. ZRP 1992, 390, 393. 14 Dölling, RDJB 93, 370; so auch Eisenberg, JR 1987,485,486. 15 OstendorJ 1989,91, 102; P.-A. Albrecht 2000, § 911 2; Heinz, JuS 1991, 896, 897. 16 Pfeiffer 1992, 60, 81; Heinz 1990,28,43; OstendorJ 1989,91, 104. 8

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chung scheint der Erziehungsgedanke ebenso unklar. Wenn der BGH bei der Verhängung der Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld nach § 17 Abs. 2 JGG erzieherische Gesichtspunkte berücksichtigt wissen möchte,17 also auch die Verhängung einer Haftstrafe als erzieherisch wirksam betrachtet, deutet dies auf ein implizites und auch bestimmtes Grundverständnis von Erziehung hin, das der Entscheidung zugrunde liegt, aber letztlich ungeklärt und unausgesprochen bleibt. Die Interpretation des Erziehungsgedankens ist also in sich kaum konsistent und im Schrifttum insgesamt uneinheitlich, was die Anwendung im Jugendstrafverfahren erschwert und zu einem Rückzug in Ideologiekritik führt. 18 Mehr noch picken sich die Rechtsanwender vielfach die Interventions-Rosinenl 9 aus dem Sanktionskatalog, um die milderen und damit vermeintlich besseren Verfahrensformen und Sanktionen dem jungen Straffälligen vorzubehalten, ohne auf die übergreifende und systembildende Funktion des Erziehungsgedankens zu achten. Der Erziehungsgedanke ist also, so wird kritisiert, sowohl horizontal - innerhalb des Interpretationsspektrums - und vertikal- innerhalb der mit ihm befaßten Institutionen und Instanzen - inhaltlich unscharf konturiert und vor allem ungenau systematisiert. Die Argumentation gegen den Erziehungsgedanken wird aus drei unterschiedlichen Richtungen geführt. Historische, kriminologische und rechtsdogmatische Aspekte werden angeführt, um ihn zu delegitimieren: Die Mehrheit der Vertreter, die den Erziehungsgedanken angreifen, macht sich die rechtshistorische Deutung der Entstehung des jugendstrafrechtlichen Leitprinzips von Lukas Pieplow20 zu eigen. 21 Nach dessen (nur wenig kritisierter)22 Interpretation der Rechtsquellen des JGG ist Erziehung im kriminalpolitischen Kontext der Jahrhundertwende ein Synonym - eine "Chiffre" - für Entkriminalisierung und "Subsidiär- oder Erträglicher Machen-Wollen" von Bestrafung. 23 Einen inhaltlich eigenständigen Charakter des Erziehungsgedankens, der über eine kriminalpolitische Funktion hinausgeht, vermag er nicht zu finden. So lautet dann auch seine aus den Quellen abgeleitete These, daß Erzie-

17

Vgl. hierzu nur BGHSt 15,224,225.

18 Vgl. nur P.-A. Albrecht, ZStW 97 (1985), 831, 840 ff.; Streng, ZStW 106 (1994),

60, 61 ff. 19 Zu dieser von ihm so genannten "Rosinentheorie", Kaiser, ZRP 1997, 451, 455. 20 Pieplow 1989, 5 ff. 21 Vgl. nur Trenczek, ZRP 1993, 184, 185; Streng, ZStW 106 (1994), 60, 81; Weigend 1992, 152,166; Rössner 1992, 344, 345; Walter, NStZ 1992,470,471; Heinz, JuS 1991,896,897; Herz 1993,291,297; Ostendorf, StV 1998,297,303. 22 Kritisch nur Schlüchter, ZRP 1992, 390, 392. 23 Pieplow 1989, 5,15/16.

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hung Strafrechtskritik bedeute und zur Entkriminalisierung, zur Zurückdrängung formeller Sanktionen, führen müsse. 24 Zu einer ähnlichen Forderung kommen auch diejenigen Kritiker, die ihre Argumentation hauptsächlich auf kriminologische Gesichtspunkte stützen. Von ihnen wird der Erziehungsgedanke mit den Ergebnissen der Sanktionsforschung, 25 der daraus abgeleiteten "nothing-works"-These26 und den Etikettierungsansätzen 27 konfrontiert, die alle eine Zurückdrängung stationärer Maßnahmen nahelegen würden. Hinzu käme der empirische Befund von der Ubiquität der Jugendkriminalität, nach dem jugendliche Devianz als passageres und episodenhaftes Phänomen erscheine,28 so daß eine Intervention in den meisten Fällen von Jugendkriminalität nicht nötig sei. Kriminalität ließe sich nach diesen Feststellungen nicht mehr schlechthin als Indikator von Erziehungsmängeln ansehen, so daß auch insgesamt die Erziehungsbedürftigkeit überschätzt worden sei. 29 Folglich solle die Limitierungsfunktion des Erziehungsgedankens in den Vordergrund gerückt werden. Diese sei insbesondere in der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zur Begrenzung des strafrechtlichen Zugriffs zu sehen,3o was auch damit begründet wird, daß es keinen verläßlichen empirischen Beleg dafür gebe, daß intensivere bzw. härtere Sanktionen spezialpräventiv besser wirkten. Eher würde dadurch die Rückfallwahrscheinlichkeit noch erhöht. 3l Angesichts der Normalität von Konflikten in der Lebensphase Jugend sollte auch die Konfliktbewältigung Normalcharakter haben, die dann eben in eine konsequente und folgenlose Verfahrenseinstellungsstrategie mün-

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Pieplow 1989, 5, 10.

Heinz 1989, 13,21 ff. Die Rückfallhäufigkeit nach ambulanten Maßnahmen sei geringer als nach stationären. Vgl. die Nachweise bei Bock 1999a, 625, 628 und P.-A. Albrecht, ZStW 97 (1985), 831, 852, nach dessen Ansicht der Großteil der zu leichten Sanktionen verurteilten Jugendlichen und Heranwachsenden auch ohne Sanktion nicht in höherem Ausmaße rückfällig werde. 26 Zum Begriff siehe unten Kap. 5 Fn. 43. 27 Vgl. P.-A. Albrecht, ZStW 97 (1985), 831, 857: "Ein ungezügelter Resozialisierungsoptimismus weckt die Bereitschaft, die Schleusen kustodialer Sanktionierung weiter zu öffnen, die tunliehst (angesichts fehlender positiver und des Übergewichtes negativer Auswirkungen) nicht weiter geöffnet werden sollten." So auch Heinz, ZRP 1991, 183, 188; Ostendorf, StV 1998, 297, 299. 28 Vgl. nur Heinz 1990, 28: "Die Vorstellung, bei jeglichen Formen der Kriminalität handle es sich um eine erzieherische Aufmerksamkeit heischende Abweichung vom Üblichen, läßt sich nicht mehr halten." So auch P. -A. Albrecht, ZStW 97 (1985), 831, 852; OstendorJ, StV 1998, 297, 298. 29 Heinz 1990, 28, 37; OstendorJ 1989,91,93 f.; Walter 1989, 59, 60 f. 30 Heinz 1990,28,43. 31 Heinz 1989, 13,21 ff.; ders. 1990,28,39; so auch P.-A. Albrecht, ZStW 97 (1985), 831,852 m.w.N. 25

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den müsse,32 um dem Jugendlichen einen "Schonraum" zu verschaffen, in dem er vor strafrechtlichen Sanktionen sicher sei. 33 Bezüglich der Gefahr der Stigmatisierung durch das Strafverfahren und den Strafvollzug sollten gesetzliche Voraussetzungen eine ebenfalls konsequente Einstellungspraxis ermöglichen und so eingriffsintensivere Interventionen zurückdrängen. 34 Auch mit juristischen Argumenten wird der Wunsch nach Zurückdrängung staatlich-erzieherischer Bemühungen im Jugendstrafrecht formuliert. Von dieser Seite aus wird kritisiert, der Erziehungsgedanken würde zu einer Schlechterstellung des Delinquenten führen - schlechter, als ein erwachsener Straftäter in vergleichbarer Lage stünde. 35 Das ist dann auch der Grund für die Forderung nach mehr Rechtsstaatlichkeit, die den unscharfen Erziehungsgedanken im Jugendstrafverfahren prozedural ablösen könnte.36 Eine strengere Anbindung an das limitierend wirkende Schuldprinzip und an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (und sogar darüber hinaus im Sinne einer "besonderen Zurückhaltung" gegenüber Jugendlichen)3? sei somit geboten. 38 So findet die Forderung nach dem Vorrang informeller vor formeller Verfahrenserledigung eine weitere Stütze. Da der Anwendungsbereich des Jugendstrafrechts ohnehin zu weit gefaßt sei, wird ein wirklich subsidiäres Strafrecht gefordert, das stets ultima ratio bleiben solle. 39 Bisweilen wird auch die Verletzung von Grundrechten konstatiert. So unterminiere der Erziehungsgedanke das Erziehungsrecht der Eltern,40 deren alleiniges Recht es sei, auf die geistige und sittliche Entwicklung des Jugendlichen gezielt einzuwirken. Hinzu komme ein Verstoß gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Jugendlichen. Den drei Quellen, aus denen sich die Kritik nährt, ist also gemein, daß jede für sich den Erziehungsgedanken de-individualisiert, den Täter als Person letztlich in den Hintergrund drängt und Reaktionsformen von statistischen Verhältniszahlen, rechtsstaatlichen Prinzipien und dem Non-Interventions-Paradigma

32 P.-A. Albrecht 2000, § 9 12; so auch Ostendorf, StV 1998,297,298; Heinz 1990, 28, 37 spricht von einer generellen Überschätzung der Erziehungsbedürftigkeit des jugendlichen Straftäters. 33 P.-A. Albrecht, ZStW 97 (1985), 831, 852. 34 P.-A. Albrecht, ZStW 97 (1985), 831, 852; so auch Ostendorf, StV 1998,297,299. 35 Viehmann 1989, 111, 114; Ostendorf, StV 1998, 297,300; P.-A. Albrecht 2000, § 8 V I; Heinz 1992, 369, 377 ff. 36 Heinz, ZRP 1991, 183, 188; ders. 1989, 13 ff.; P.-A. Albrecht, ZStW 97 (1985), 831,853. 37 Trenczek, ZRP 1993, 184, 185. 38 Beulke 1990,677,687; vgl. auch die Nachweise bei Schlüchter 1994, S. 3. 39 Trenczek, ZRP 1993, 184, 185 ff. (insb. S. 188). 40 Balbier, DRiZ 1989,404,406; ähnlich auch P.-A. Albrecht 2000, § 9 m.

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abhängig macht. Die Konsequenzen dieser dreispurigen Kritik sind weitreichend: Verlöre der Erziehungsgedanke, wie gefordert wird, seine eigenständige. Funktion oder würde er gar als jugendstrafrechtlicher Leitgedanke getilgt, würde die Person des jugendlichen Straftäters in den Hintergrund rücken und damit vollends irrelevant werden. 41 Damit fiele dann die positiv-spezialpräventive Ausrichtung des Jugendstrafrechts, und statt dessen würden bloße generalpräventive Erwägungen, Tatvergeltung oder Sicherheitsbedürfnisse bei der Beurteilung jugendlicher Straftaten eine bestimmende Rolle spielen. Das Jugendstrafrecht würde überflüssig.

11. Gliederung der Untersuchung Diese Arbeit geht der Frage nach, ob sich der Erziehungsgedanke tatsächlich ohne Rücksicht auf die Person und Persönlichkeit des Täters denken läßt und ob er tatsächlich nur eine Funktion zur Begrenzung staatlicher Interventionen darstellt. Dazu ist es erforderlich, alle drei genannten Kritikfelder zu analysieren und die im Jugendstrafrecht herrschende Meinung über die Unbrauchbarkeit des Erziehungsgedankens auf allen drei Feldern zu prüfen. Der Verlauf der Arbeit orientiert sich hieran. Drei Hypothesen sollen dabei als Leitlinien dienen: Hypothese 1. Bei Betrachtung des Erziehungsgedankens im Lichte der im 19. Jahrhundert herrschenden geistes- und rechtswissenschaftlichen Strömungen klärt sich das Verhältnis von Erziehung und Strafe und ein dualer, auflndividualisierung gerichteter, Erziehungsgedanke wird erkennbar.

Unklarheit konnte nur deshalb entstehen, weil im Nachhinein ein einheitlicher Erziehungsgedanke gesucht wurde. 42 Ein solches einheitliches Verständnis von Erziehung gab es jedoch nicht und gibt es auch nicht. Der duale Erziehungsgedanke liegt noch heute dem JGG zu Grunde und ermöglicht es, das Gesetz als in sich schlüssiges System zu verstehen. Hypothese 2. Die Befunde der empirisch-kriminologischen Forschung werden nicht individualspezifisch differenzierend interpretiert.

Eine differenzierende Interpretation wird zeigen können, daß Jugendkriminalität zwar innerhalb der Gruppe der Jugendlichen gleich verteilt ist, daß auf sie aber nicht in jedem Falle gleich reagiert werden kann. Zudem wird gezeigt 4\ Streng, Referat l.1.b. schreibt dem Erziehungsgedanken "nachgerade naturwüchsige Bedeutung" zu. 42 Vgl. hierzu Wolf 1984, S. 17.

Einleitung

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werden, daß die Bedeutung des Labelling-Approach aufgrund einer einseitigen Rezeption und gemessen an seiner empirischen Beweisbarkeit überschätzt wurde. Hypothese 3. Die juristische Kritik am Erziehungsgedanken greift zu kurz, weil sie die empirischen Befunde über Jugendkriminalität nur unvollständig berücksichtigt.

Es läßt sich zeigen, daß jugendliche Straftäter nicht schlechter als erwachsene behandelt werden, weil sie mit diesen nicht vergleichbar sind. Die Differenzierung zwischen Erwachsenen und Jugendlichen hat Auswirkungen auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip, das im Jugendstrafrecht gerade durch die besonderen Umstände des Jugendalters eine spezifische Prägung erfährt. Der Erziehungsgedanke im Jugendstrafrecht verletzt nicht die Grundrechte, sondern ist aus ihnen abgeleitet. Entsprechend diesen Hypothesen erfolgt in Teil 1 der Arbeit eine Rekonstruktion des Erziehungsgedankens unter Berücksichtigung der geisteswissenschaftlichen Strömungen des 19. Jahrhunderts. Des weiteren werden auch die Auswirkungen auf die Gesetzessystematik und Rechtsprechung aufgezeigt. In Teil 2 der Arbeit wird die kriminologisch begründete Kritik untersucht werden. Hierbei wird besonders auf die Sanktionsforschung und den LabellingApproach einzugehen sein. Teil 3 zeigt dann, wie die historisch und kriminologisch begründete Kritik in juristische Kategorien transformiert wurde. Hier soll eine Auseinandersetzung vor allem mit den Geboten der Rechtsstaatlichkeit und denen der Verfassung erfolgen.

Erster Teil

Die Geschichte des Erziehungsgedankens im JGG Erstes Kapitel

Entstehungsbedingungen des Erziehungsgedankens im 19. Jahrhundert I. Einführung "Weil Erziehung im spezifischen Kontext eine strategische, eine Chiffre-Funktion hatte und hat, müssen Versuche fehlschlagen, die Begriffskonkretisierung über Nachbardisziplinen vorzunehmen. ( ... ) Nur wer erkennt, daß konkrete Reformanliegen mit dem Topos Erziehung chiffriert worden sind, um diese durchsetzbar zu machen, kann verstehen, daß die Unschärfe dieses Begriffes in direktem Zusammenhang mit seiner Transportfunktion steht.,,1 "Historisch ist ,Erziehung' im kriminalpolitischen Kontext ein Synonym für Entkriminalisierung, für ein Subsidiär-MachenWollen von Bestrafung, (und für den letzten Fall, daß dies nicht verhindert werden kann) ein Versuch eines Erträglicher-Machens.,,2

In diesen Äußerungen finden sich die Kernelemente der derzeit herrschenden Ansicht über Rang und Bedeutung des Erziehungsgedankens in seiner Entstehungszeit im 19. Jahrhundert: Erziehung habe hiernach innerhalb der Kodifizierung des JGG eine funktionelle aber keine inhaltliche Bedeutung gehabt.3 Bemühungen, den Inhalt des Erziehungsgedankens über die Nachbardisziplinen der Rechtswissenschaft zu ermitteln, wird eine Absage erteilt. Doch gerade bei Beachtung der um die Jahrhundertwende herrschenden Strömungen, in der Philosophie, Pädagogik und der entstehenden Soziologie, gewinnt der Erziehungsgedanke an Kontur. Darum sollen im folgenden die zu dieser Zeit herrschenden gesellschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Konstellationen näher betrachtet und ihre Auswirkungen auf die Entstehung des Erziehungsgedankens aufgezeigt werden. Denn nur auf diesem Hintergrund lassen sich die Reformbemühungen, die zur Entstehung des JGG führten, nachvollziehen. Das fällt jedoch Pieplow 1989, 5, 16. Pieplow 1989, 5, 15 f. 3 So wörtlich Pieplow 1989, 5,15; ähnlich auch Nothacker 1998, S. 19, der mit Verweis auf seine geschichtlichen Analyse den Erziehungsbegriff als "ohne faßbare Konturen" bezeichnet. I

2

1.

Kap.: Entstehungsbedingungen des Erziehungsgedankens

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insofern schwer, als sich die unterschiedlichen Strömungen erst aus heutiger Sicht ordnen lassen, da sie zur Zeit der Entstehung nur undeutlich voneinander abgrenzbar waren. Die Analyse beginnt mit der Darstellung der gesellschaftlichen und staatspolitischen Bedingungen, dann erfolgt die Erörterung der zum Schulenstreit führenden Theorien, also der Philosophie des deutschen Idealismus und des gesellschaftswissenschaftlichen Positivismus. Hieran knüpft sich eine Rekonstruktion der beiden im 19. Jahrhundert dominierenden Bildungsideale. Auf dieser Basis läßt sich dann die Entstehung des Erziehungsgedankens neu deuten; am Ende steht dann ein dual ausgeformter Erziehungsgedanke, der als Produkt der konfligierenden Strömungen Idealismus und Positivismus anzusehen ist. Dieser duale Erziehungsgedanke ermöglicht nicht nur ein hohes Maß an Effektivität im Umgang mit jugendlichen Straftätern, sondern steht mehr noch für ein differenziertes jugendstrafrechtliches - nämlich individualisierendes - Konzept. Die Dualität des Erziehungsgedankens spiegelt sich einerseits am Denken des deutschen Idealismus und andererseits an der Zweckorientierung des geisteswissenschaftlichen Positivismus. Diese Dualität findet sich in vielen Bereichen wieder. Sie ist charakteristisch für die Staatspolitik, die Pädagogik, die Philosophie und den im Strafrecht aufkommenden Schulenstreit. Der Erziehungsgedanke bildet, was im folgenden gezeigt wird, das strafrechtliche Konzentrat dieser Entwicklung. 11. Überblick über die geschichtliche Entwicklung

Daß ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ,,Erziehung" zu einem gesellschaftlichen, staatspolitischen und rechtlichen Thema werden konnte, ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert: Eine zweckbezogene, intervenierende und auf Prävention ausgerichtete Erziehung durch den Staat ist im Liberalismus, der sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland politisch durchsetzte, nur schwer denkbar, da hier der Mensch als frei handelndes Wesen gesehen wurde, das nur des staatlichen Schutzes, nicht aber seiner fördernden Hilfe bedarf. Das RStGB von 1871 war vom Liberalismus und dem damit verbundenen (zweckfreien) Vergeltungsgedanken geprägt, so daß auch das Strafrecht der personalen Autonomie des Individuums gegenüber Zurückhaltung übte. Die Rechtsphil0sophie dieser Zeit war von den Ideen Kants und Hegels geprägt, wodurch im Strafrecht die Dominanz der absoluten Straftheorien begründet wurde. Ein zweckorientierter und an einer wie auch immer gearteten Hilfestellung für den Einzelnen ausgerichteter Umgang mit Kriminellen war mit dem liberalen Staats- und Strafverständnis kaum zu vereinbaren. Der zweite Aspekt ist die Veränderung des Verständnisses des Erwachsenwerdens. Die Lebensphasen Kindheit und Jugend, Phasen also des Übergangs und der Entwicklung, waren dem Großteil der Bevölkerung unbekannt, lediglich in feudalen und bürgerli-

1. Teil: Die Geschichte des Erziehungsgedankens

22

ehen Kreisen bestand dieses Privileg für die Heranwachsenden. Die Grundbedingungen für eine Rechtsmaterie, die individualisierend mit den Entwicklungs- und Verhaltensschwierigkeiten der Kinder und Jugendlichen umging, waren im frühen 19. Jahrhundert nicht vorhanden und schwer denkbar gewesen. Insgesamt bestand zu dieser Zeit also weder die Notwendigkeit, noch die Möglichkeit, Individualprävention zu betreiben. Doch gab es eine Bewegung, die zur Veränderung der gesellschaftlichen Grundlagen drängte und mit der diese Hemmnisse schnell überwunden wurden: die industrielle Revolution. Sie brachte - wenn in einigen Bereichen auch nur mittelbar - soziale, politische, gesellschaftliche, philosophische und auch rechtliche Änderungen mit sich,4 die im Ergebnis dazu führten, daß der gezielte und zweckgerichtete Umgang mit jugendlichen Straftätern nicht nur nötig, sondern vor allem auch möglich wurde. Liberalistische Strömungen verloren an Einfluß, und der Wohlfahrts- und Interventionsstaat entstand. 5 Das Kind und der Jugendliche kamen in den gesellschaftlichen Interessenfokus, da sich aufgrund einer Vielzahl von Umständen ihre Rolle in der Gesellschaft änderte. Ein Grund war letztlich auch die steigende Jugendkriminalität, deren Ursache man in den durch die Industrialisierung geänderten gesellschaftlichen Bedingungen sah und gegen die erzieherisch vorgegangen werden sollte. Im Strafrecht fand in diesem Klima gesellschaftlicher und auch geisteswissenschaftlicher Wandlungsprozesse der Schulenstreit statt, in dem sich der Konflikt zwischen dem klassischen, vom Liberalismus und deutschen Idealismus herrührenden Denken und neuen, vom Positivismus und Wohlfahrtsstaat forcierten Ansichten manifestierte. Der folgende Abschnitt soll diesen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen in ihrer Bedeutung für die Entstehung des Erziehungsgedankens nachgehen. Dabei soll das Hauptaugenmerk auf der Frage liegen, ob der Erziehungsgedanke allein aufgrund kriminalpolitischer Bedürfnisse entstand - wie vielfach im Anschluß an Pieplow behauptet wird. Es wird sich zeigen lassen, daß das Verständnis von strafrechtlicher Erziehung weit darüber hinaus ging. Der Erziehungsgedanke wurde vom historischen Gesetzgeber als individualisierendes und differenzierendes Moment zur größtmöglichen Abstimmung möglicher Interventionen auf erzieherische Defizite Jugendlicher in das Jugendgerichtsgesetz aufgenommen. III. Staatspolitische Bedingungen

Zum Zeitpunkt der Reichsgründung 1871 existieren zwei für die Entwicklung eines intervenierenden (Jugend-)Strafrechts bedeutsame staatspolitische So auch Stolleis, ZNR 1989, 129, 130, näher dazu gleich unten. Zu diesem Begriff Stolleis, ZNR 1989, 129 ff. Doch erst das 20. Jahrhundert wurde dann zum "Jahrhundert des Kindes" - so der Titel des Buches der Schwedin Ellen Key. Vgl. zu Keys Freiheitspädagogik Ballauff / Schaller 1973, S. 441 f. 4

5

1. Kap.: Entstehungsbedingungen des Erziehungsgedankens

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Bedingungen. Es sind dies a) die noch wirksamen Ausläufer des Liberalismus und b) der sich etablierende, an Intervention ausgerichtete Wohlfahrtsstaat. Das Reichsstrafgesetzbuch von 1871, in dem auch die Behandlung jugendlicher Straftäter reguliert wurde, steht noch im Geist der liberalen Staatsauffassung. Der Wohlfahrtsgedanke, wie er für den aufkommenden Interventionsstaat charakteristisch war, wird vor allem an den Bismarckschen Sozialreformen der 1880er Jahre deutlich. Mit der Einrichtung des Wohlfahrtsstaats wurde der Liberalismus zwar formell überwunden, was letztlich eine staatliche Absicherung des strafrechtlichen Zweckgedankens erlaubte, doch war allein mit der Kodifikation der Verfassung noch lange nicht das Denken derjenigen überwunden, die im ausgehenden 19. Jahrhundert (Straf-)Gesetze machten. 1. Liberalismus und Wohlfahrtsstaat

Wie kam es nun zur der allmählichen Ablösung des Liberalismus durch den Wohlfahrtsgedanken? Der Liberalismus entstand im Zeitalter der Aufklärung als Reaktion gegen den Zwang des Absolutismus und des Polizeistaats des 17. und 18. Jahrhunderts und aus dem Glauben an die Allgemeingültigkeit menschlicher Vernunfterkenntnis und an die unabdingbare Berechtigung ihrer freien und uneingeschränkten Betätigung und Verwirklichung. 6 Er war eine geistigpolitische Bewegung, eine Weltanschauung,? die das gesamte staatliche, gesellschaftliche und kulturelle Leben vom Gedanken der Autonomie und der Vernunft des einzelnen aus neu gestalten wollte, das sich gegen staatliche Interventionen in die Lebensbereiche und für (eine besondere Form der) Erziehung stark machte. 8 Die liberale Staatsauffassung war auch dadurch gekennzeichnet,

6 Pfizer in von Rotteck / Welcker 1847, Stichwort "Liberal, Liberalismus" (S. 524): "Der Liberalismus ist es dann, der den ( ... ) Geist der Freiheit auf vernünftige Principien zurück- und seinem höchsten Ziel entgegenführt, oder, wo er noch schlummert, durch bildende Institutionen und durch Aufklärung des Volkes über seine Rechte und Interessen ihn zu wecken sucht." ? Nipperdey 1998, Band 2, S. 322. 8 Schnabel 1987, Band 2, S. 93; Nipperdey 1998, Band 2, S. 316 umschreibt die Geisteshaltung der Liberalisten so: "Metapolitisch glaubten alle Liberalen an die Macht der Autonomen Vernunft (und darum an Erziehung), an das Individuum, seine erst protestantisch-religiös, dann kantisch-säkular begründete moralische Eigenverantwortung, die Chance des Talents und das Leistungsprinzip, die bürgerlichen Lebensideale statt der feudalen, an die gebildete und zivilisierte, insoweit freilich klassengebundene Humanität und an die Kultur, sie glaubten an Recht und Verfassung, an einen Ausgleich von Ordnung und Freiheit, an Arbeit und Familie, an die Nation, antiklerikal, wenn auch nicht antireligiös, an die säkulare Modernität, an den Markt und die freie Wirtschaft, an den nicht-interventionistischen Staat, an Entwicklung und Reform an Stelle von Revolution und Reaktion." (Hervorhebungen nicht im Original). Ähnlich auch ders., Bürgerwelt und starker Staat, 1998, S. 286.

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1. Teil: Die Geschichte des Erziehungsgedankens

daß der Staat selbst eine zurückgezogene Position einnahm, daß er in seiner Einflußnahme auf die Bevölkerung beschränkt war und lediglich als ein Mittel für Sicherheit und Schutz des Volkes fungierte; mit dem Ziel, dem Individuum den größtmöglichen Raum zur Entfaltung zu geben. 9 Ein Minimum an Staat bei einem Maximum an individueller Eigenverantwortung - das war die Leitmaxime der liberalen Idee, die sich aber ungleich differenzierter präsentierte: Der Liberalismus stand auch für den freien und auf sich selbst gestellten Menschen, der seine Begabungen nicht nur in den Dienst seiner eigenen Bestimmung, sondern auch in den Dienst des Gesellschaft stellen sollte: 10 "Wenn an die Stelle des Gesamtwohls das egoistische Sonderinteresse eines einzelnen Gewalthabers, einer herrschenden Partei oder einer bevorrechteten Kaste sich gesetzt hat, so leitet der Liberalismus den Staatszweck wieder auf das zurück, was die Gesammtheit in ihrem vernünftigen Interesse will oder wollen muß, und diesen Staatszweck sucht er mit möglichst geringer und möglichst gleicher Beschränkung der Freiheit aller zu erreichen. Eben deshalb bleibt auch sein letztes Ziel, auf dem Wege naturgemäßer Entwicklung des Volkslebens die Stufe zu erreichen, auf weIcher die höchste und gleichste Freiheit aller möglich iSt."ll

Der Liberalismus war kein scharf umrissenes Programm, hierfür hatte er zu unterschiedliche Ausprägungen: 12 Der politische Liberalismus war gegen die "Wohlfahrtsfessel" des preußischen Polizeistaats gerichtet und trat für den Schutz der persönliche Freiheit und die Schaffung von Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit ein. 13 Der wirtschaftliche Liberalismus wandte sich gegen das überkommene Gemeinschaftsleben und forderte Gewerbefreiheit, Freizügigkeit und freie Berufswahl. In der Wissenschaft war der Liberalismus auf die Befreiung von (kirchlichen) Dogmen gerichtet, um eine autonome Forschung zu ermöglichen. 14 So wurden gerade von den potentiellen Nutznießern - dem Bürgertum, das sich stark in Handel und Wirtschaft betätigte, - liberalistische Ideen gefördert. Ohne den Aufstieg des an Wissenschaft, Technik und Wirtschaft ausgerichteten (industriellen) Bürgertums l5 ist das Vordringen des Liberalismus ohnehin kaum erklärbar. 16 Der immer stärker werdende Stand des

9 Fichte zit. bei Schnabel 1987, Band I, S. 293 formuliert diese Idee scharf: "Niemand wird kultiviert, jeder hat sich selbst zu kultivieren." 10 Schnabel 1987, Band 2, S. 95. 11 So die stark naturrechtlich anmutende Begründung bei Pjizer in Rotteck / Welcker 1847, Stichwort "Liberal, Liberalismus" (S. 524). 12 Vgl. dazu auch Nipperdey 1998, S. 290. 13 Schnabel 1987, Band 2, S. 174. 14 Schnabel 1987, Band 2, S. 93; Nipperdey 1998, Band 2, S. 316. 15 Nach Nipperdey 1998, Band I, S. 389, 394 war der Liberalismus integrierende Überzeugung des gesamten Bürgertums (i.e. Bildungs- und Wirtschafts bürgertum und Teile der neuen Mittelschicht). 16 Schnabel 1987, Band 2, S. 94 f.; Nipperdey 1998, Band I, S. 394.

1. Kap.: Entstehungsbedingungen des Erziehungsgedankens

25

Bürgertums verlangte zwar um der Verwirklichung seiner Ziele willen eine Staatsform, in der er ungehindert seinen Interessen - vornehmlich wirtschaftlichen - nachgehen konnte, doch war es, wie Stolleis nachweisen kann, nicht so, daß sich die Staatsfuhrung dabei völlig auf einen Standpunkt des laissez-faire zurückzog und sich aller ihrer Einflußmöglichkeiten entledigte. 17 Die Energie des Wirtschaftsliberalismus richtete sich seit 1800 auf die Befreiung des Handels und des Gewerbes vom Zunftzwang und staatlicher Bevormundung. Allerdings betrieb der Staat um diese Zeit schon, ganz anders als die Idee eines starren Liberalismus vermuten lassen könnte, eine rege Wirtschaftsförderung. Unter staatlicher Aufsicht wurde die Berufsausbildung kontrolliert, wurden zur gleichen Zeit, in der die private Wirtschaft zu florieren begann, Fördervereine und staatliche Kreditinstitute gegründet und wurden die Realschulen und die Technischen Universitäten geschaffen. Es wird dabei deutlich, daß die industrielle Revolution in Deutschland nie in einer bis an die Wurzeln liberalen Gesellschaft stattgefunden hat. 18 Das wohlfahrtsstaatliche Denken, wie es vor dem Liberalismus schon im preußischen Polizeistaat vorherrschte, konnte also auch durch den Liberalismus nicht völlig erschüttert werden. Selbst Industrielle forderten, daß der Staat "nicht allein gebietend, sondern auch helfend und fördernd" intervenieren können sollte. 19 Sozialpolitische Programme mußten, damit die "sociale Reform" nicht durch eine "sociale Revolution" unmöglich gemacht wurde, ambivalent sein, also sowohl liberalen als auch wohlfahrtstaatlichen Bedürfnissen Rechnung tragen. 20 Diese doppelspurige Entwicklung fand dann in der neuen Reichsverfassung ihren Niederschlag. In der Präambel der Verfassung des Deutschen Reiches wurde als Staatsziel ein "ewiger Bund" festgelegt. Dieser Bund sollte zum Schutze des Staatsgebiets und des gültigen Rechtes sowie zur Pflege der Wohlfahrt des deutschen Volkes geschlossen werden. Wohlfahrt war dabei in einem umfassenden Sinne gemeint: Es sollten "Vorkehrungen zur Entfaltung des Staatsganzen in wachsenden Gütern des Rechts, der Wirtschaft und der Kultur" getroffen werden. 21 Die-

Stolleis, ZNR 1989, 129, 131. So Stolleis, ZNR 1989, 129, 134 f. 19 Vgl. die Nachweise bei Stolleis, ZNR 1989, 129, 133, der den Industriellen Friedrich Harkort zitiert, der verlangte, daß der Staat einschreiten müsse, um die Ausbreitung der Armut zu verhindern: "Vom Staate verlangen wir, daß er nicht allein gebietend, sondern auch helfend und fördernd einschreite." Vgl. zu Harkorts Bildungsidee Ballauff / Schaller 1973, S. 413 f. 20 Pankoke 1970, S. 168 f. Diese Diskussion verlief jedoch nicht emotionslos: Das liberale Leitbild der "Selbsthilfe" wurde als "socialpolitischer Nihilismus" und der sozialistische Ruf nach ;,Staatshilfe" als "etatistischer Kollektivismus" kritisiert (Pankoke 1970, S. 174 0. 21 Wolf! 1993,279,282. 17

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1. Teil: Die Geschichte des Erziehungsgedankens

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se frühe Formulierung der Daseinsvorsorge22 wies das Reich auf den Weg der sozialstaatlichen Fürsorge, die insbesondere den materiell benachteiligten Schichten galt, obwohl die Verfassung selbst an vielen Stellen eher als Komprorniß zwischen konservativ-monarchischen und bürgerlich-liberalen Bestrebungen erschien. 23 Ein wohlfahrtsstaatliches Programm konnte nur in einem Staat der Solidarität, in einem Sozialstaat verwirklicht werden. 24 Denn dort, wo die Mittel des Einzelnen nicht zur Befriedigung seiner elementaren Bedürfnisse ausreichten, wurde nicht nur "die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung" erwartet, sondern auch die "Unterstützung vernünftiger menschlicher Zwecke.,,25 Eine interventionistische Leistungsverwaltung, die sich in den Dienst der Daseinsfürsorge und -vorsorge stellte, konnte entstehen.26 Daneben bestanden jedoch weiterhin konservative und altliberale Strömungen, so daß eine Mischung beider Richtungen kaum zu vermeiden war; eine Mischung, die Stolleis als einen ,,Mechanismus von Wohlfahrt und Zwang,,27 beschreibt. Diese beiden dominierenden Merkmale der Staatsphilosophie aber auch der Staatspolitik lösten sich nicht auf und sind auch im späteren Jugendstrafrecht noch deutlich erkennbar. 28 Die 1878 eingeleitete und 1881 in Gang gesetzte Sazialgesetzgebung macht die Qualität des neuen staatlichen (interventionistischen) Selbstverständnisses dann deutlich. 29 Zudem war hiermit auf einfach gesetzlicher und staatsrechtlicher Ebene erstmals der Zweckgedanke etabliert, der sowohl für den Interventionsstaat generell als auch für den Erziehungsgedanken im Jugendstrafrecht von tragender Bedeutung ist. 2. Erziehung als Staatsaufgabe

Bis zu einem eigenständigen Jugendstrafrecht, das Erziehung als Staatsaufgabe verstand, war jedoch noch ein weiter Weg zurückzulegen. Mit dem Wohlfahrtsstaat wurde zwar die Zweckorientierung staatlicher Maßnahmen, die sich als Grundprinzip auf die gesamte Rechtsordnung legen sollte, möglich, doch konnte diese Zweckorientierung nicht sogleich jugend(straf)rechtlich fruchtbar

Huber 1970, Band 3, S. 789. Nipperdey 1998, Band 2, S. 108. 24 Huber 1970, Band 3, S. 790. 25 von Mahl, zit. bei Stolleis, ZNR 1989, 129, 133. 26 Nipperdey 1998, Band 2, S. 110; vgl. auch Roth, ZNR 1991, 17, 24 ff. 27 Stolleis, ZNR 1989, 129, 135. 28 Vgl. Woljf 1993,279,282. 29 Stolleis, ZNR 1989, 129, 135. 22 23

1. Kap.: Entstehungsbedingungen des Erziehungsgedankens

27

gemacht werden. 3o Das hatte sowohl kompetenzrechtliche als auch strafrechtsimmanente Gründe: Die Entwicklung des Jugendstrafrechts war zu Beginn der Reformbestrebungen der Kompetenz nach keine Reichsangelegenheit, da die Behandlung von Jugendkriminalität regelungstechnisch dem RStGB eingegliedert war. Der Zweckgedanke in Form der Wohlfahrtsgesetzgebung fand seine Ausprägung in der Sozialgesetzgebung, als Sache der Länder und nicht des Reiches. In der Strafrechtsreform war es dann Gegenstand der Debatten, ob der Umgang mit Jugendkriminalität nun weiterhin strafrechtlich oder nur sozialpolitisch ausgeformt sein sollte. 31 Da nun ein Jugendstrafrecht wegen seiner Verbindung zu Vormundschafts- und Zwangserziehungsfragen in weiten Bereichen Exekutiv-, also Länderaufgaben bereit hielt, es aber auch eine große strafrechtliche Komponente hatte, konnte es insgesamt nur zu einer widersprüchlichen Lösung kommen. Ohne ein starkes föderatives Element wäre zwar die Reichsgründung nicht möglich gewesen,32 doch mußte sich gerade diese Staatsstruktur als für eine einheitliche Gesetzgebung hemmend auswirken. 33 Aus diesem Grund war der Beginn der Jugendstrafrechtsreform nur auf der Ebene der Exekutive der einzelnen Bundesstaaten im Rahmen von Verwaltungsvorschriften ohne Beteiligung des Bundes möglich. 34 Hinzu kam, daß das RStGB von 1871 den interventionistischen Ideen noch fern stand. Dem allgemeinen Strafrecht, das am 1.5.1871 ohne Änderungen vom Norddeutschen Bund übernommen wurde und das aufgrund liberal-rechtsstaatlicher Vorstellungen der Persönlichkeit des Täters gegenüber Zurückhaltung übte,35 lagen noch die klassischen liberal-bürgerlichen Strafauffassungen zugrunde. 36 Obwohl also die Reichsverfassung schon wohlfahrtsstaatliehe Züge trug, war das RStGB noch vom Gedankengut des Liberalismus und der Aufklärung geprägt. Der Vergeltungs- und Sühnegedanke diente hier als Leitprinzip. So resümiert dann auch Nipperdey, daß das RStGB von 1871 zwar "noch auf der Höhe der Zeit" war, aber eher als Abschluß denn als ein Anfang der weiteren Entwicklung anzusehen sei. 37

30 Nach Stol/eis, ZNR 1989, 129, 140 wurde unter zweckgerichteter Intervention die gezielte und zweckgeleitete gesetzliche und staatliche Einflußnahme auf die Lebensverhältnisse verstanden. 31 Woljf 1993,279,282. 32 Schnabel 1987, Band 2, S. 88. 33 Woljf 1993,279,283. 34 Woljf 1993,279,285. Vgl. auch zu den unterschiedlichen Verwaltungsverordnungen Ruscheweyh 1918, S. 96 ff. 35 Woljf 1993,279,284; so auch Nipperdey 1998, Band 2, S. 184. 36 Nipperdey 1998, Band 2, S. 184. 37 Nipperdey 1998, Band 2, S. 184.

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1. Teil: Die Geschichte des Erziehungsgedankens

IV. Soziale Bedingungen

Machte die Abkehr des Staats vom Liberalismus eine an Wohlfahrtsgesichtspunkten ausgerichtete Politik und Gesetzgebung möglich, wurde sie aufgrund der in den Vordergrund drängenden "sozialen Frage" und der steigenden Jugendkriminalität auch notwendig. Jugend etablierte sich als Entwicklungsphase mit eigenen Rechten und Bedürfnissen. Mit der Entstehung eines Bewußteins von Jugend und dem Aufkommen der Jugendbewegung als Zeichen jugendlicher Selbständigkeit und Verantwortlichkeit verschafften sich die bislang kaum beachteten Jugendlichen gesellschaftlichen Rang und Beachtung. Beides diente der Ausprägung eines altersspezifischen Umgangs mit Jugendlichen und später auch mit jugendlichen Kriminellen. 1. Jugend als eigenständige Entwicklungsphase

Daß der Entwicklungsabschnitt ,,Jugend" überhaupt in den Kontext einer gesellschaftlichen und rechtlichen Betrachtung gestellt wurde, ist bei weitem nicht selbstverständlich. Erst die Ausprägung des Verständnisses von einer besonderen Lebensphase ,,Jugend" und das Bewußtsein "spezifischer Existenzbedingungen,,38 junger Menschen machte auch die Ausbildung einer damit verbundenen - und ebenfalls spezifischen - rechtlichen Umgehensweise möglich. Für die Menschen des 10. und 11. Jahrhunderts hatte die Lebensphase Kindheit noch keine soziale Realität. 39 Ebenso wenig wurde auch dem Entwicklungsgedanken als Charakteristikum der Kindheit und als Phänomen der Gestaltwerdung Rechnung getragen.40 Ab dem 13. Jahrhundert bildete sich dann im europäischen Kulturraum ein Bewußtsein von Kindheit und Jugend in dem Sinne aus, daß der Persönlichkeit des jungen Menschen Bedeutung und Einzigartigkeit bestätigt wurde. 41 Dieses Bewußtsein erstarkte aber erst im 17. Jahrhundert, in dem das Kind auch integraler, vor allem aber individualisierbarer Bestandteil der Gesellschaft wurde.42 Noch länger dauerte es, bis erkannt wurNothacker 1984, S. 33. Aries 1998, S. 93 geht davon aus, daß die Kindheit in der "Lebenswirklichkeit nur eine Übergangszeit war, die schnell vorüberging und die man ebenso schnell vergaß." Es begründet dies mit einer Analyse von Kinderdarstellungen des 11. Jahrhunderts. Auf den untersuchten Bildern sind Kinder nämlich weitgehend als erwachsene Männer dargestellt. 40 Nach Trautner 1992, S. 4 werden Beobachtungen der Entwicklung des Kindes zwar schon seit der Antike angestellt, aber bis zum Mittelalter nur sehr oberflächlich. 41 Aries 1998, S. 103 führt diese Änderung auf die Christianisierung der lebensformen zurück. 42 Dazu Aries 1998, S. 107 f., der abermals Bildnisse aus dieser Zeit analysiert. 38

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1. Kap.: Entstehungsbedingungen des Erziehungsgedankens

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de, daß es auch noch ein weiteres, ein ,,kritisches Stadium zwischen Kindheit und Erwachsenenalter" gibt - die Lebensphase Jugend. 43 War es also bislang so, daß dem gesellschaftlichen Freiraum Kindheit die Last und Verantwortung des Erwachsenenlebens direkt folgte, wurde im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine Stufe zwischen einer recht kurzen Kindheit und dem bisweilen späten Erreichen des Erwachsenenalters deutlich; man spricht in dem Zusammenhang auch von der ,,Erfindung der Jugend. ,,44 Selbst wenn es in der agrarischen und vorindustriellen Zeit ebenfalls eine solche Übergangsphase gab,45 unterschied sich die im 19. Jahrhundert entstehende davon doch deutlich. Hier ließ sich nämlich eine Umstrukturierung dieses nun als ,,Jugend" bezeichneten Zeitalters beobachten: Die Struktur des Lebens eines Menschen im Übergang änderte sich ebenso, wie auch seine Position in der Gesellschaft einen Wandel durchlief. Die Entstehung eines differenzierten Entwicklungsverständnis läßt sich beispielhaft an einer nach Altersgruppen unterscheidenden Schulausbildung zeigen. Denn die Entwicklung der Institution Schule ging einher mit der Entwicklung der Einstellung zu den Altersstufen und der Kindheit. 46 Bis zum 16. Jahrhundert hatte die Öffentlichkeit die Vermischung aller Altersstufe in einer Schulklasse ohne weiteres akzeptiert, dann kam jedoch der Zeitpunkt, wo man jeder Altersstufe Gedem neuen Lebensjahr) aufgrund der geistigen aber auch charakterlichen Entwicklung auch eine neue Klasse zuordnete. Damit wurde jedem Lebensjahr eine eigene Persönlichkeit zugeordnet: man hatte das Alter und die Entwicklungsstufe seiner Klasse. 47 Daraus ergab sich eine weitgehende Differenzierung zwischen den recht nahe beieinander liegenden Altersklassen. ,,Früher ,behielt' man sein Alter länger, und die Dauer des Lebens, der Kindheit wurde nicht in solche hauchdünnen Scheiben zerteilt. Die Schulklasse ist mithin zu einem bestimmenden Faktor des Prozesses der Differenzierung zwischen den Altersstufen der Kindheit und der frühen Jugend geworden.,,48 Insgesamt lassen sich folgende Merkmale zur Unterscheidung des sich ändernden Verständnisses von Jugend festhalten: Die Ausgliederung aus der Welt der (Erwachsenen-)Arbeit, eine stark altersabhängige Ausbildungs- und Arbeitsaufnahme, eine insgesamt scharfe Alterstrennung, die zu einem phasenspezifischen Konzept der personalen Reifung führte und eine stark an die Familie ge-

43 Schaffstein / Beulke 1998, § 1 I.

von Trotha, KZfSS 34 (1982),255,256; Nipperdey 1998, Band 1, S. 112 f. von Trotha, KZfSS 34 (1982),255,257: Diese Phase war geprägt durch den Eintritt in die Arbeitswelt, eine alters unabhängige Ausbildung, unscharfe Alterstrennungen und eine hauptsächlich außerfamiliäre Organisationsform. Vgl. auch Nipperdey 1998, Band 1, S. 113. 46 Aries 1998, S. 267. 47 Aries 1998, S. 270. 48 Aries 1998, S. 270. 44

45

30

1. Teil: Die Geschichte des Erziehungsgedankens

bundene Organisation der Jugend. 49 Mit der Industrialisierung ging eine Rollenveränderung von Schule und Ausbildung einher, da letztere nun stärker in den Dienst der Industrialisierung gestellt wurde und so die Eintrittschancen in den neu entstehenden Arbeitsmarkt verbesserte. 50 Ökonomische Gesichtspunkte traten so auch im Bildungswesen in den Vordergrund, was sich gleichsam an den neu entstehenden Schularten (Realschulen und berufsbezogene Schulen) zeigte. Diese Schulen sollten den Bedarf an höher qualifizierten Kräften decken. Da die Arbeiterklasse nach wie vor von den zahlreichen Bildungsangeboten aufgrund unveränderter Lebensumstände ausgeschlossen war, blieb eine differenzierte Lebensphase ,,Jugend" ein Phänomen der Mittelschicht. In den unteren Schichten haben sich die alten Lebensweisen gehalten, da die Einwirkung der Schule nur von kurzer Dauer war. Mehr noch verzeichnet Aries insofern einen Rückschritt in der Behandlung junger Menschen, da es während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluß der Kinderarbeit in der Textilindustrie dazu kam, daß die Lebensphase Kindheit und Jugend frühzeitig beendet wurde. 51 Den ,,Erfindern" des Konzepts ,,Jugend" wird nun vorgeworfen, daß sie mit der einsetzenden Institutionalisierung der Entwicklungsphase ,,Jugend" gleichsam neue und schichtspezifisch wirkende Möglichkeiten der Sozialkontrolle einführten. 52 Sowohl die Institutionalisierung des Lebens von Jugendlichen als auch deren neu erlangter rechtlicher Status als eigene Personen gruppe führte zu neuen Jugendschutzgesetzen, Jugendgefangnissen und -gerichten. Hierdurch sollte, so die Kritiker, ein professioneller Umgang mit dem Phänomen Jugend erreicht werden, der seinerseits dann eine erhöhte Sozialkontrolle zum Ergebnis gehabt hätte. 53 Die Mittelschichtprägung des Jugendbegriffs führe zudem zu dem Bild eines Modelljugendlichen, von dem sich Jugendliche anderer Klassen unterschieden, wie auch analog dazu dem eines Modelljugendkriminellen. 54 Die

von Trotha, KZfSS 34 (1982), 255, 258; vgl. oben Fn. 45. Nur so ist auch der Begriff der "Puerisierung des Erwachsenwerdens" zu verstehen, wenn nämlich von dem Umstand ausgegangen werden kann, daß der Zugang zu den Schulen, die auf die neuen Berufe oberhalb der sozialen Lage der Arbeiterschaft vorbereiten, nicht allen gleich möglich ist. Diese Möglichkeit haben vorerst nur die Mitglieder der Mittel- und Oberschicht. So wird die Phase "Jugend" primär mit dem höheren Schüler, dem Mitglied der Klasse der Bürger und Beamten samt den damit verbundenen Normen und Werten assoziiert (von Trotha, KZfSS 34 [1982], 255, 259 f.). 51 Aries 1998, S. 466. 52 von Trotha, KZfSS 34 (1982), 255, 260; Plewig 1993,321,322, der die Kategorien "Erziehung" und "Kindeswohl" auf ein auf Herrschaft, Macht und Sozialdisziplinierung basierendes Kontroll-Paradigma gründet. 53 von Trotha, KZfSS 34 (1982), 255, 262. 54 von Trotha, KZfSS 34 (1982), 255, 262 f. Dies geschieht derart, daß man ihnen fehlgeleitete Reifungsprozesse unterstellt. Reifungsprozesse, die sich an dem typischen 49

50

1. Kap.: Entstehungsbedingungen des Erziehungsgedankens

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so begründete Entstehung der Sozialdisziplinierung Jugendlicher wird dann als Parallele zu der allgemeinen Entwicklung des Strafsystems betrachtet. Denn das Prinzip der gewaltsamen Unterwerfung der Individuen durch ein rigides Strafsystem, wie es noch zur Zeit des Absolutismus galt, wandelte sich im 18. und 19. Jahrhundert zu einem System der methodisch-disziplinierten Kontrolle, durch das das Verantwortungsbewußtsein des Menschen gestärkt und seine inneren Schranken aufgebaut werden sollten. 55 Dem neuen Jugendbegriff wird damit zum Vorwurf gemacht, er gebe die den jungen Menschen auszeichnende Moralität und geistige Stärke zugunsten einer wissenschaftlich begründeten Sozialkontrolle auf. 56 Diese Argumentation greift allerdings zu kurz. Eine hinreichende Betrachtung des Phänomens Jugend darf nicht bei deren Verwendbarkeit für die Erfordernisse der steigenden Produktion enden. 57 Vielmehr erweisen sich zwei Aspekte als leitende Gesichtspunkt bei der Beschreibung des Phänomens Jugend: Es ist dies das komplexe Wechselspiel einer durch technologische Modernisierung erzwungenen Ausgliederung der ,)ugend" aus der Erwachsenenwelt und ihre Deutung als Vorbereitungsstatus einerseits sowie der damit verbundene Chance zur Freisetzung möglicher Autonomie andererseits. 58 Auf diesem Hintergrund sind auch die eigendynamischen und auf den Zerfall der ständischen Gesellschaftsstruktur zurückführbaren Verrechtlichungsprozesse einzuordnen, die weniger intentional auf Verhaltens steuerung gerichtet waren, als auf die Umwälzung und Stabilisierung des aufkommenden Sozialstaats. 59 Individuen und Interessengruppen emanzipierten sich im Laufe der sog. Dekorporierung von ihrer ständischen Eingebundenheit und forderten eigene Rechte. Diese Rechte mußten vom Staat durch Gesetze gefaßt werden, um dem rechtsstaatlichen Gewaltmonopol gerecht zu werden. 6o Folglich mußte auch der neue Status der Kinder und Jugendlichen, die dem Gewaltbereich des paterfamilias entwachsen waren, unter das Gesetz gestellt werden. 61 Im Ergebnis führt die Verrechtlichung des bestehenden Schonraums Jugend dazu, daß der Staat un-

Mittelschichts-Jugendlichen ausrichten und so zu einer Benachteiligung von Jugendlichen der Unterschicht führen können. 55 von Trotha, KZfSS 34 (1982), 255, 263 f. 56 von Trotha, KZfSS 34 (1982), 255, 268. 57 Auch darf nicht übersehen werden, daß auch schon in vormoderner Zeit das Jugendalter mitunter als problematisch erlebt und erfahren wurde (vgl. Kaiser, DRiZ 2001, 460,461). 58 Kaiser, RdJB 1998, 145, 150. 59 Vgl. dazu das bei Stolleis, ZNR 1989, 129, 137 beschriebene Bedürfnis des Interventionsstaats nach gesetzlicher Regelung. Siehe auch oben Kap. 1 ill. 60 Bock 1997,403,406. 61 Bock 1997,403,410 f.

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1. Teil: Die Geschichte des Erziehungsgedankens

mittelbar und auch auf gesetzlicher Basis auf Entwicklungsprozesse Jugendlicher Einfluß nehmen konnte. Es war allerdings unklar, welche Position - Objekt oder Subjekt staatlichen Handeins - man dem Jugendlichen nun in der Gesetzgebung zuweisen sollte. Der neu gewonnene autonome Status der Jugendlichen war diesbezüglich politisch und normativ neutral, so daß aus ihm eine Einwirkungsprärogative nicht abgeleitet werden konnte. Eine allgemeine ,,Jugendtheorie" oder zumindest die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen Jugend gab es ebensowenig. Steht bei dem jungen Menschen der Objektcharakter im Vordergrund, wird er also als etwas "zu Schützendes und in irgend einer Weise zu Behandelndes" betrachtet, kann nur ein am Wohlfahrtsgedanken orientiertes System die Folge sein. Wird hingegen die SubjektsteIlung des Jugendlichen betont, zielt man also auf die individuelle Autonomie, die ungerichtete und freie Entfaltung der Persönlichkeit ab und nimmt damit eine jegliche Bevormundung vermeidende Haltung ein,62 ist ein Wohlfahrtsmodell weniger plausibe1. 63 Hier hält dann das Justizmodell ausreichend Platz für die Entwicklung und den Schutz der Persönlichkeit bereit. Nach heutiger Sicht spricht im Hinblick auf den sich etablierenden Wohlfahrtsstaat vieles dafür, im ausgehenden 19. Jahrhundert den Objektcharakter des jungen Menschen stärker herausgebildet zu sehen. Dennoch ist von Anfang an zu sehen, daß sich beide Modelle gegenüberstehen und daß diese Konstellation die Entstehung den Erziehungsgedankens wesentlich prägte. 2. Die Jugendbewegung Parallel zu der Entstehung und Anerkennung der Zeit der Jugend innerhalb der Persönlichkeitsentwicklung entstand um das Jahr 1896 die sog. Jugendbewegung. In ihr kommt das neu gewonnene Selbstverständnis junger Männer und Frauen zum Ausdruck. Die Jugendbewegung wurde bald zu einer volkspädagogischen Erscheinung, die nun auch nach außen deutlich machte, daß Jugendliche grundsätzlich andere Bedürfnisse haben als Erwachsene. Auch wenn von dieser Bewegung kein unmittelbarer Einfluß auf die strafrechtliche Behandlung Jugendlicher ausging, war ihre Bedeutung für die von ihr proklamierte ,,Eigenständigkeit der Jugendwelt" und damit auch einer Änderung von Lebensstil, Kultur und Mentalität der Gesellschaft an sich erheblich. 64 Zudem war die Jugendbewegung auch im Bewußtsein derer, die an der späteren Gesetzgebung beteiligt waren. Bedeutsam ist die Jugendbewegung auch schließlich des62 Vgl. hierzu Kaiser, RdJB 1998, 145, 154, der eine derzeitige Hinwendung zu einem durch die SubjektsteIlung geprägten Jugendbegriff sieht und kritisiert. 63 Siehe dazu Kap. 2 1.3. 64 So auch Schaffstein / Beulke 1998, § 4 a; Nipperdey 1998, Band 1, S. 118.

1. Kap.: Entstehungsbedingungen des Erziehungsgedankens

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halb, weil die Jugendlichen selbst nach einem Ersatz für die aufgebrochenen und als zu bürgerlich empfundenen Sozialisationsbedingungen suchten. 65 Das bürgerliche Familien- und Bildungssystem des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurde von vielen jungen Mitgliedern der Gesellschaft als zu eng und zu formal empfunden. Die tradierten Ordnungsmechanismen und Normen, die idealen Wertvorstellungen und Gesellschaftsziele der bürgerlichen Gesellschaft waren für viele junge Menschen mehr Zwang und Unterdrückung als Wohltat. 66 Viele Jugendliche, so wurde erkannt, wüßten nichts von diesem Wertesystem und seien von Grund auf, also von Geburt an, vergleichsweise unidealistisch. 67 Das romantische Verständnis des "mythen befeuerten Gemütszustandes der Jungen und Mädchen, Männer und Frauen,,68 konnte ein Gegenkonzept präsentieren. Junge Menschen wurden sich ihrer eigenen Entwicklung, aber auch der sie umgebenden Gesellschaftsstrukturen bewußt. Doch blieb diese Erkenntnis nur auf einen geringen Teil der Jugendlichen beschränkt, da so auch ein weitergehendes Verständnis für jugendliches Fehlverhalten ausbleiben mußte: ,,Es ist klar, daß nur ein ganz geringer Teil der jungen Generation jeder Gesellschaft aufs äußerste ernüchtert wird. Wäre die Erfahrung allgemein, bliebe das Studium jugendlichen Revoltierens nicht die esoterische Angelegenheit, als die es sieht man von dem Geschwätz und den gewichtig-ergebnislosen, Untersuchungen' über Jugendkriminalität ab - gewöhnlich behandelt wird. ,,69 Die von den Idealen der Jugendbewegung angesprochenen Jugendlichen suchten nach neuen Formen der selbstbestimmten Gemeinschaft, die sie außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft in kleinen Zirkeln und bei dem Erlebnis der Wanderfahrt fanden. Die ersten "Wandervögel", wie sich die auf die Wanderschaft gehenden Jugendlichen nannten, waren insoweit aber eher romantische Rebellen als Begründer einer neuen ,,Jugendkultur.,,7o Da es noch keine Jugendherbergen gab, keine leicht zu erwerbende Ausrüstung und auch keine vielbereisten Verkehrswege, kam die Erschließung neuer Landstriche einer Pionierleistung gleich. Dabei handelte es sich jedoch insgesamt - zumindest anfangs - eher um eine Art ausgedehnten Schuleschwänzens und Vagabundierens, begleitet von einer gehörigen Portion Rowdytums. 7l Um 1900 gab es in fast ganz Deutschland die Wandervögel, die sich auch selbst als ziel- und zwecklos und eher vom Gefühl als vom Gedanken bewegt beschrieben, sich aber als Sinnbilder einer großen 65

66

Nipperdey 1998, Band 1, S. 120 f. Becker 1949, S. 50 charakterisiert es so: "Der junge Mensch steht fremd und er-

schreckt in einer Welt, die er nicht erschaffen hat." Becker Becker 69 Becker 70 Becker 71 Becker 67 68

1949, 1949, 1949, 1949, 1949,

S. S. S. S. S.

51. 14. 51. 81, 109. 82.

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1. Teil: Die Geschichte des Erziehungsgedankens

Rebellion und eines großen Erwachens verstanden. 72 Bei den Wanderfahrten, die anfangs nur einen Tag oder ein Wochenende dauerten und erst später länger und zu einer "großen Fahrt" wurden, ging es weniger um das unmittelbare Naturerleben als um die Erfahrung einer urtümlichen Gemeinschaft, um das sinnhafte Erleben des Selbst. 73 Die kleinen Gemeinschaften banden das ganze Individuum ein und entwickelten starke Kräfte der Selbsterziehung, der Selbstentfaltung, des Dienens und Führens aus innerer Berufung und Autorität heraus. Daraus erwuchs auch ein neuer Lebensstil, der in Abgrenzung zu dem planenden und rationalistischen bürgerlichen Stil schöpferisch-irrational und urtümlich war. 74 Den Anführern der Gruppe kam eine Vorbildfunktion zu, die sie in die Lage versetzte, die Gruppe zu einem neuen Bewußtsein zu führen. So wurden die Führer dann auch meistens sehr charismatisch ("vom Typ Karl Moors,,)75 und männlich, als verwegen und mit intellektueller Kraft ausgestattete Menschen beschrieben. Das ersehnte Ergebnis einer jeden "Großfahrt" war das Bunderlebnis, die Kameradschafts- und Selbsterfahrung, was als Wurzel der Wandervogelbewegung überhaupt angesehen wurde. 76 Die Freude am Ursprünglichen erwuchs zu einer neuen Volkskultur, die Interesse am tradierten Volksgut sowie der volkstümlichen Bildung zeigte. Eine eigene Jugendkultur konnte sich langsam entwickeln. Die Jugendbewegung läßt sich aus heutiger Sicht eher durch das eigene, nicht antizipierte Erleben und Wollen charakterisieren als durch einen dahinterstehenden politischen Gedanken, obwohl es auch hier deutliche Tendenzen gab. Charakterstisch für die Jugendbewegung ist, daß sie von Anfang an eine menschenformende, im weitesten Sinne auch pädagogische Kraft entwickelte, die nicht ohne Einfluß auf theoretisch-pädagogische Ansätze blieb. 77 Pädagogische Probleme bekamen so den Rang gesellschaftlicher Fragen und Gedanken. Da die Jugendbewegung "Bewegung" war und kein feststehendes Programm hatte, Becker 1949, S. 86. Becker 1949, S. 91 zitiert hierzu ein Mitglied einer Wandervogelvereinigung: "Es ist ja eine völlig falsche und oberflächliche Einstellung, wir hätten auf unseren Fahrten die Natur verehren gelernt. Der Blick unser erwachenden Augen fiel nicht auf die Natur, sondern auf unser Ich. Was war denn diese Natur auch mit ihrer sinnlosen Unordnung von Sonne und Regen, Hitze und Frost, Frucht und Hagelschlag? Was haben wir manchmal gelitten unter ihrer Sinnlosigkeit! Was da aufwachte, war der Trotz, sich zu behaupten und durch all diese Sinnlosigkeit hindurch und über sie hinweg den Sinn des eigenen Lebens zu verfolgen ( ... ) Wir zwangen der Natur den Sinn unseres eigenen Sinnes auf." 74 Reble 1993, S. 285, So stellt auch Becker 1949, S. 57 dem Positivismus, Skeptizismus und Relativismus das romantische Bild des Lindenbaumes und des unmittelbaren Empfindens gegenüber. 75 Becker 1949, S. 68 f., der hier auf den Rebellen in Schillers "Die Räuber" anspielt. 76 Becker 1949, S. 92. 77 Reble 1993, S. 286. 72

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1. Kap.: Entstehungsbedingungen des Erziehungsgedankens

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konnte auch eine Transformation in das bürgerliche Leben hinein erfolgen. Die ehemaligen Mitglieder fanden ihre gesellschaftlichen Positionen und konnten sich dort weiterhin an den Ideen der Bewegung ausrichten und in diesem Sinne schöpferisch verhalten. Es kam auch zu einer Verbesserung der Jugendpflege (mit der die Jugendbewegung anfangs keinen Konsens fand, da die Jugendpflege staatliche Institution war)/8 der Kulturorganisationen, der Volkshochschulen und der Volksbildung allgemein. Vereinzelt wurden sogar Schulen in der freien Natur gegründet, um - dem bürgerlichen Milieu entzogen - Schule als ,,Erlebnisgemeinschaft" zu konstituieren. 79 In der breiten Öffentlichkeit bildete sich ein tieferes Verständnis für die jugendliche Psyche und die jugendliche Lebensform samt ihren entwicklungspsychologischen Besonderheiten. 8o Gerade im Bereich der Jugendpflege machte sich die Jugendbewegung stark, da die Probleme in den Großstädten wuchsen und ein Bedarf nach kompetenter Betreuung bestand. Das allgemeine Bewußtsein eines Lebensabschnitts ,,Jugend" wurde durch die Jugendbewegung, die nicht mehr nur für die Wanderfahrt stehen wollte, maßgeblich beeinflußt, ebenso wie auch die alsbald folgenden gesetzgeberischen Bemühungen. 3. Die "soziale Frage" der Jugend Das Bedürfnis nach einer strafrechtlichen Neuregelung der Jugendkriminalität war nicht nur auf die gesellschaftliche Anerkennung einer Entwicklungsphase Jugend und der damit verbundenen Jugendbewegung zurückzuführen. Wie 78

Becker 1949, S. 106.

Hierzu Richter, RdJB 2000, 25, 34. Reble 1993, S. 287. Die Persönlichkeit des Kindes und des Jugendlichen wird zum Untersuchungsgegenstand der Psychoanalyse. August Aichhorn (1934 [1969], 100 ff.) beschäftigt sich mit der verwahrlosten Jugend. Er empfindet das Bedürfnis, die Gesellschaft nicht nur vor dem jugendlichen Rechtsbrecher qua Gesetz zu schützen. Vielmehr sieht er Verwahrlosung und Kriminalität als seelische Krankheiten an, die zu heilen seien. So lautet sein Credo: "Nicht bessern, sondern heilen." Man mag diesem Ansatz heute einiges entgegensetzen, doch führt Aichhorns Sichtweise zu einem differenzierten Umgang mit Jugendlichen an sich. Das zeigt sich deutlich in seiner Vorstellung, wie erzogen werden sollte. Der Begriff des "Führens" innerhalb eines Erziehungsprozesses (S. 115) wird nämlich auch auf den jugendlichen Straftäter angewandt, der eben zur Beachtung der Rechtsordnung geführt, aber nicht gezwungen werden soll (S. 104). Ähnlich argumentiert auch Helene Simon (1915 [1969], 62, 68), die eine Überantwortung des unmündigen Jugendlichen an das Strafrecht, das auf Vergeltung beruht, aufgrund der mangelnden Selbstverantwortung ablehnt. Eine Tat kann nur bei voller Selbstverantwortung vergolten werden. Somit sei es eine Frage der physio-psychologischen Erkenntnis, wie weit der Jugendliche für sein Tun verantwortlich ist. Der Unterschied zum Erwachsenenstrafrecht besteht jedoch nicht in der größten Milde oder Härte, sondern in der Anpassung der Strafe an die Natur des jugendlichen Täters und an das Ziel der "dauernden Besserung" . 79

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beschrieben machte das Erkennen dieser Phase eine gesetzliche Regelung überhaupt erst möglich. Erforderlich wurde eine Neuregelung zudem durch den Anstieg der Jugendkriminalität und das sich ausprägende Bewußtsein, daß man von staatlicher Seite mit den zur Verfügung stehenden gesetzlichen Möglichkeiten den Problemen nicht adäquat begegnen konnte. Die Entstehung des Jugendgerichtsgesetzes wurde von politisch und wirtschaftlich schwierigen Verhältnisse begleitet. 81 Die in der Mitte des 19. Jahrhunderts beginnende Industrialisierung und später die Folgen des ersten Weltkriegs und die Inflation führten zu einer Umstrukturierung der Gesellschaft. 82 Den jungen Menschen wurde aufgrund der fortschreitenden Zergliederung der Arbeitswelt der gesellschaftliche Halt entzogen. Das Volk, Reichswehr und Freikorps standen im offenen Konflikt. Der innere Friede Deutschlands ging verloren. 83 Die Lage der Kinder und Jugendlichen verschlechterte sich im Zuge der Industrialisierung. Die steigende Armut zwang Frauen und Kinder in die Fabriken, mit der Folge, daß Mütter immer weniger Möglichkeiten hatten, auf die Entwicklung ihrer Kinder Einfluß zu nehmen. 84 Viele Jugendliche verließen jedoch auch freiwillig das elterliche Haus, da Fabrikarbeit nach oder an statt einer Lehre Geldbezüge und somit Unabhängigkeit bedeutete. 85 Die Struktur der neu entstandenen Arbeitswelt führte zu einem Zerfall der Lebensgemeinschaften. Bindungen, die bislang die Stabilität der Familie und der Sozialgemeinschaft (wie z. B. das Wohnen des Lehrlings im Haus des Meisters) insgesamt ausmachten, wurden durch die Arbeitsteilung in Fabriken und Betrieben schwächer. 86 Die ersten Leidtragenden dieser Entwicklung waren die Handwerker, die bisherigen Träger der gewerblichen Kultur. Obwohl der zunftmäßige (also im Verband organisierte) Kleinbetrieb der normale Zustand war, so war das Zunftwesen durchlöchert worden, seit sich die Erkenntnis auch bei den Monarchen durchsetzte, daß die Steigerung der Produktion nur in kapitalistischer Form und niemals im Rahmen einer genossenschaftlichen Ordnung möglich war. 87 So läßt sich eine drastische Veränderung der Sozialisationsbedingungen innerhalb der Arbeiterschicht feststellen. 88 Zudem war das Einkommen der Familien gering. In weiten Bereichen herrschte Armut. Denn jede neu in Wolf / Dörner, RdJB 1990, 54. Vgl. zu den frühen gesellschaftlichen Auswirkungen der Industrialisierung von Liszt, 1905f, 331, 336 f. Siehe auch Schaffstein 1980,247, 249. 83 Mann 1992, S. 683 . 84 von Liszt, 1905,331,337. 85 Nipperdey 1998, Band 1, S. 114. 86 Siehe dazu die Einführung bei Durkheim 1930 (1996), S. 83 ff.; Nipperdey 1998, Band I, S. 114; vgl. auch Richter, RdJB 2000,25,36. 87 Schnabel 1987, Band 3, S. 421. 88 Nipperdey 1998, Band 1, S. 117. 81

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Betrieb genommene Maschine machte Arbeitskräfte überflüssig. Als Beispiel läßt sich hier die Automatisierung der Textilindustrie nennen. Das Weberhandwerk wurde in kürzester Zeit überflüssig. 89 Es war gerade für die Arbeiterkinder ein Leben am Rande des Existenzminimums. Sie wuchsen in völlig unzureichenden Wohnungen bei mangelhafter Ernährung unter schlechten hygienischen Verhältnissen auf. 90 Durch den geringen Arbeitnehmerschutz, den die jugendlichen Arbeiter in den Fabriken genossen, wurde die Gefahr, daß sie "sozialen Schiffbruch,,91 erleiden würden, als groß angesehen. Die Sozial- und Arbeitslosenversicherung hatte noch nicht die Reichweite, das soziale Elend zumindest ansatzweise zu mildern. 92 So ist nachvollziehbar, daß es in den 1840er Jahren zu jenen Aufständen der schlesischen Leinenweber gekommen ist, wo die Weber die Maschinen zerstörten, in denen sie - nicht anders, als es in England und Frankreich geschehen war - die Ursache ihres Elends sahen. Der preußische König bot Militär gegen sie auf. Hier erhob sich zum ersten Mal die drängende soziale Frage des 19. Jahrhunderts.93 Gleichzeitig mit dieser gesellschaftlichen Neuordnung stieg die Jugendkriminalität, die einen sehr großen Einfluß auf das Entstehen der Jugendgerichtsbewegung und den damit verbundenen Debatten bei der Entwicklung eines Jugendgerichtsgesetzes hatte. 94 Die Erklärung für den Anstieg wurde damals und wird auch heute noch in den besonderen und neuen Lebensverhältnissen und später dann in den durch den Krieg veränderten Verhältnissen gesehen. 95 Vor der Jahrhundertwende wuchs der Anteil der jugendlichen Kriminellen zwar anfangs nur gering, er erhöhte sich dann aber parallel zur Erwachsenenkriminalität stark: In den Jahren 1882 bis 1900 stieg die Zahl der jugendlichen Straftäter (bezogen auf 100.000 Jugendliche der Gesamtbevölkerung) um 38%. Die allgemeine Kriminalitätsbelastungsziffer (Anzahl aller Straftaten pro 100.000 Bürger) stieg im gleichen Zeitraum jedoch nur um 22%, so daß hier ein überproportionaler Anstieg der Jugendkriminalität zu verzeichnen war. 96 Vor dem ersten Weltkrieg sank die Kriminalität der Jugendlichen dann wieder etwas: In der Zeit von 1900 bis 1913 wurden um 10% weniger Jugendliche ver89 Schnabel 1987, Band 3, S. 422 f. Hier finden sich auch weitere Beispiele (vgl. S.425). 90 Hasenclever 1978, S. 20. 91 von Liszt 1905f, 331, 335 u. 337. 92 Hasenclever 1978, S. 20. 93 Schnabel 1987, Band 3, S. 423. 94 So auch schon Ruscheweyh 1918, S. 12. 95 Jescheck / Weigend 1996, § 5 ill; von Liszt 1905f, 331, 342 erklärt dies unter anderem damit, daß die Jugendlichen den früheren Erwerb verloren, nicht aber auch ihr Anspruchsniveau angepaßt haben, so daß es zum ..sozialen Schiffbruch" kommen mußte. 96 Vgl. dazu Fritsch 1999, S. 34.

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urteilt. 97 In den Jahren nach dem ersten Weltkrieg erreichte die Jugendkriminalität jedoch ihr Maximum. 98 Damals wie heute wurden die angegebenen Zahlen allerdings kritisch betrachtet, da ihre Erhebung noch nicht standardisiert gewesen ist. 99 In der Nachkriegszeit wurden dann auch schon Stimmen laut, die in der Sanktionspraxis einen Verstärker der Jugendkriminalität sahen. Schon in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg führte Franz von Liszt den Anstieg der vorbestraften Jugendlichen loo auch auf die herrschende Sanktionspraxis zurück, statt allein die gesellschaftlichen Umstände dafür verantwortlich zu machen. lol Entscheidend für die weitere gesetzliche und auch pädagogische Entwicklung war dann, daß gerade in erzieherischen Bemühungen um den auffälligen Jugendlichen der Schlüssel zum Abbau der steigenden Kriminalitätsrate gesehen wurde. 102 V. Die Neuordnung des Strafrechts durch den Schulenstreit

1. Einführung

War es nun staatspolitisch und auch vom allgemeinen Bewußtsein her möglich, Jugendlichen einen grundsätzlich anderen Status als Erwachsenen einzuräumen, so war die Entwicklung des Strafrechts in der Geschichte doch stets an ganz anderen, von außen kaum zu beeinflussenden, Maximen ausgerichtet. Die sog. klassische Strafrechtsschule entwickelte sich eher parallel zu geisteswissenschaftlichen (i.e. philosophischen) Strömungen. Da nun aber mit den gesellschaftlichen Reformprozessen, mit der stärker werdenden Bedeutung der Naturwissenschaften und der Begründung der Soziologie eine Blickwendung, gerade auch in der Wissenschaft, vorgenommen wurde, wurden auch die bestehenden rechtswissenschaftlichen Systeme in Frage gestellt. Das galt ebenso für das Zivilrecht (man denke nur an Rudolf Iherings ,,Der Zweck im Recht") wie für das Strafrecht. 103 Für das Strafrecht ist dieser Konflikt unter dem Stichwort "Schulen streit" bekannt und auch hinreichend beschrieben worden. Wie sich Fritsch 1999, S. 35. Fritsch 1999, S. 36; Jescheck/Weigend 1996, § 5 Ill: 1923 wurden 86.040 Jugendliche verurteilt, 1910 waren es noch 51.315. 99 Ruscheweyh 1918, S. 17 ff. 100 von Liszt 1905f, 331, 338. 101 von Liszt 1905f, 331, 338: "Schon aus den bisherigen Mitteilungen ergibt sich ja, daß der Hang zum Verbrechen auch bei den Jugendlichen mit jeder neuen Verurteilung wächst. (... ) je härter die Vorstrafe nach Art und Maß gewesen ist, desto rascher (erfolgt) der Rückfall." 102 Vgl. Schlüchter 1994, S. 14; von Liszt 1905f, 331, 342. 103 In diesem Sinne auch Nipperdey 1998, Band 1, S. 657 f. 97

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der Schulenstreit jedoch auf die Bedeutung des Erziehungsgedankens ausgewirkt hat, ist wenig dargestellt und kann auch nicht allein der Rechtsgeschichte überlassen werden. 104 Der Erziehungsgedanke als leitende Idee des Jugendstrafrechts entwickelte sich zu der Zeit des Schulenstreits und nimmt dessen miteinander konkurrierenden Strömungen in sich auf. Er bildet dabei jedoch keineswegs nur einen Reformkompromiß,105 der darüber hinwegtrösten sollte, daß die "große" Strafrechtsreform politisch nicht durchsetzbar war, sondern zeigte seine reformerische Wirkung gerade in seiner dualen Ausprägung, die dem gesamten Jugendstrafrecht zugrunde gelegt wurde. Der Rekonstruktion dieses Dualismus, der zu der Konzeption eines an zwei Täter-Idealtypen ausgerichteten Erziehungsgedankens führte, soll sich die folgende Darstellung widmen. Hierbei soll die Entwicklung der beiden großen wissenschaftlichen Systeme, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufeinander trafen, soweit dies für die strafrechtliche Rezeption von Bedeutung ist, nachgezeichnet werden. Im Schulenstreit vollzog sich die Neuordnung des Strafrechts. 106 Die klassische Straftheorie traf auf die "moderne Schule" - das Konzept eines rein an Vergeltung orientierten, einer "absoluten" Straftheorie auf die Vorstellung eines an Prävention orientierten, einer ,,relativen" Straftheorie. Der Achtung und Förderung der Autonomie als idealistisches Leitprinzip, wie es in der klassischen Straftheorie enthalten ist, stand die Anleitung des Sozialverhaltens als positivistisches oder soziologisches Desiderat gegenüber. Letzteres leitete die "moderne" Schule. Das bislang unumstrittene Vergeltungsprinzip der Strafe, das dem Täter sein Unrecht vor Augen führen und ihn zu einer Besserung aus sich heraus, einer autonomen Besserung, anregen sollte, wurde nun angegriffen. Das sittliche Menschenbild des Idealismus wurde durch die positivistische Wende konterkariert. Mit dem Glauben an Fortschritt und naturwissenschaftliche Erkenntnisse wurde die Strafe zu einem Instrumentarium, das prospektiv intervenieren kann. Nicht mehr Läuterung und autonom-sittliche Klärung, sondern Anleitung zum Erlernen sozialgerechten Verhaltens, aber auch Sozialkonditionierung durch die Vorgabe von Verhaltensmaximen standen im Vordergrund. Darüber hinaus stand der Schulenstreit auch exemplarisch für die sich um die Jahrhundertwende vollziehenden fächerübergreifenden wissenschaftstheoretischen Debatten, die sich im Methodenstreit zwischen dem Positivismus und der historischen Schule manifestierten. 107 Im folgenden sollen die Strömungen, die sich im Schulen streit verdichteten, dargestellt werden, um dann ih-

So allerdings Frommel / Maelicke, NK 1994,28,29. So aber Pieplow 1989, 5, 16. 106 Roxin 1997, § 4 Rn. 3. 107 Vgl. dazu die Nachweise bei Göppinger 1997, S. 18 f. 104

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ren Einfluß auf die Entstehung des Erziehungsgedankens projizieren zu können. 2. Die Aufklärung

Das Ideengut der klassischen Schule gründete sich auf die Philosophie der Aufklärung und wurde durch den deutschen Idealismus, als deren Hauptvertreter Kant und Hegel zu nennen sind, maßgeblich geprägt. Zwar lagen die Wurzeln der absoluten Straftheorien im Gedankengut der Aufklärung, doch entwikkelte sich in Deutschland unter Friedrich dem Großen ein an Prävention ausgerichtetes Strafrecht, da gerade mit der Aufklärung der Kampf gegen den in der gemeinrechtlichen Strafpraxis bestehenden Abschreckungsgedanken angetreten wurde. 108 Primär sammelten sich in der sich seit dem 16. / 17. Jahrhundert entwickelnden Aufklärung all jene geistigen Strömungen, die das überlieferte religiöse und politische Autoritätsdenken durch den Vernunftgebrauch ablösen wollten. Wissenschafts- und Fortschrittsgläubigkeit veränderten das philosophische und das gesellschaftliche Denken. Es wurde versucht, das Verhältnis von Staat und Untertan auf eine rein weltliche Grundlage zu stellen. I09 Die Wende zum Subjekt war hierfür Voraussetzung und treibende Kraft. Eingeleitet wurde sie durch den Empirismus, der die sinnliche Erfahrung zum Ausgangspunkt hatte, und den Rationalismus, der das Vernunftdenken begründete. 110 Ein neuer und das gesamte, nicht nur akademische Denken einnehmender Maßstab entstand, dem alles (z. B. Religion, überlieferte politische und gesellschaftliche Ordnung) unterworfen wurde. Die Förderung der eigenen Kritik am Bestehenden stand im Vordergrund dieser Bewegung. III Der Mensch wurde als das vernünftige und darum gute Wesen angesehen, das aus natürlicher Bestimmung zur Klarheit des Denkens fähig ist. In ihrem sozialpolitischen Streben zielten die Anhänger der Aufklärung auf eine Befreiung des Bewußtseins und eine Revolutionierung der gesellschaftlichen Verhältnisse ll2 und wollten dabei ermöglichen, was als Forderung formuliert wurde: den ,,Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. .. 113

Jescheck / Weigend 1996, § 8 IV 1. Bock 1995, S. 6. 110 Anzenbacher 1992, S. 122 f.; Köhler 1997, Kap. 1 IV 1. 111 Dörschell976, S. 114. 112 Anzenbacher 1992, S. 124. 113 Kant: "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?" in: Berlinische Monatsschrift. Dezember-Heft 1784. S. 481, wobei hinzugefügt werden muß, daß Kant die Aufklärung insofern überwunden hat, als er sowohl dem Empirismus als auch dem Rationalismus seinen Totalitätsanspruch genommen hat. Empirische Wissenschaften setzen 108

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Das entstehende Vernunftrecht löste das Strafrecht aus seinen gottgewolltmystischen Verankerungen 114 und führte es einem "vernünftigen Zweck" zu. ll5 Zudem fielen durch die Säkularisierung die christlichen Strafrechtsbegründungsformen weg. 116 Der Vernunftgedanke hatte hier zwei erkennbare Auswirkungen: Zum einen führte er zu einer Begrenzung der Staatsgewalt, auch bezüglich der Verhängung des Strafmaßes, da die auf den Contrat sodal gestützten Ansprüche gegen die Staatsgewalt Proportionalität zwischen Schuld und Strafe verlangten. Denn der Täter sollte nicht mehr Rechte einbüßen, als er sich unter Bruch des Gesellschaftsvertrags angemaßt hatte. 117 Zum anderen gelangte die - später, im deutschen Idealismus wieder aufgegebene - Zweckorientierung in das Strafrecht. Der Zweck der Strafe wurde durch den zugrunde liegenden Vernunftgedanken prädisponiert: Denn die Vernunft gebiete, das Strafrecht mit der Gesellschaft nützenden Zwecken zu versehen; zu dem bislang dominanten Abschreckungsgedanken trat die Besserungsidee und gegebenenfalls die Sicherung der Gesellschaft hinzu. 118 Überdies war die deutsche Strafrechtspflege noch von der Realität des ,,Polizeystaats" bestimmt, einer Staatsform also, die sich durch die Wohlfahrtspflege und die Erziehung des Bürgers zum sittlich Guten und Nützlichen auszeichnete. 119 Im aufgeklärten Absolutismus interpretierte man den Gesellschaftsvertrag, der die staatsphilosophische Grundlage bildete, so, daß dem Individuum die Erreichung der am Humanismus orientierten Lebensziele zu ermöglichen sei. 120 Wenn das Wohl des Einzelnen mit dem Wohl des Staats identisch sei, habe der Fürst die Aufgabe, das Individuum zu lenken, zu beeinflussen und notfalls auch zu (seinem Wohl) zwingen. 121 Auf dieser Grundlage entstand das Recht des Staats, einer Fehlentwicklung des Einzelnen zwangsweise entgegenzuwirken - was die Spezi al prävention und den Besserungsgedanken im Strafrecht in den Vordergrund brachte. 122 Von besonnach Kant Nicht-Empirisches voraus, so wie auch der Rationalismus ohne empirische Anschauungen ins Leere geht. 114 Nagler 1918 (1970), S. 291; Seelmann, ZStW 101 (1989),335, 336 f. m.w.N.; Köhler 1997, Kap. 1 IV 1. 115 Maurach / Zipf 1992, § 6 Rn. 14. 116 Naucke 1984, 213, 214. Vgl. zum Prozeß der Säkularisierung des Strafrechts Lüderssen 1984, 222 ff., der eine kritische Betrachtung der Übertragung von Vergeltung und Sühne aus der christlichen Überlieferung vornimmt. 117 Maurach / Zipj1992, § 6 Rn. 14; Seelmann, ZStW 101 (1989),335,337. 118 Maurach/Zipf 1992, § 6 Rn. 15; Seelmann, ZStW 101 (1989), 335, 336; vgl. auch Köhler 1997, Kap. 1 IV 1. 119 Maurach / Zipf 1992, § 6 Rn. 18, dazu auch oben Kap. 1 m. 120 Schmidt 1965, S. 225. 121 Schmidt 1965, S. 225. l22 Schmidt 1965, S. 226; Seelmann, ZStW 101 (1989), 335, 344 f. Schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts werden unterschiedliche Besserungsgedanken diskutiert. Der Idee einer staatsbürgerlichen und moralischen Besserung, die auf eine Ände-

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derer Bedeutung war bei der Diskussion um den Besserungsgedanken außerdem, daß das Einwirkungsobjekt der Strafe nicht mehr länger nur der Körper war, vielmehr wurde nun bei der Sanktionierung auf die Seele abgestellt. 123 Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß der Ursprung eines rationalen Strafrechts in der Aufklärung liegt, allerdings - und dagegen sollten sich später Kant und Hegel wenden - noch im Verbund mit präventiven Strafzwecken. 3. Die Entwicklung der Straftheorie bei Kant und dem deutschen Idealismus Das in das juristische Schrifttum eingehende Verständnis der klassischen Strafrechtsschule wurde maßgeblich von der Philosophie des deutschen Idealismus beeinflußt, die an die Aufklärung anschloß. Kern der idealistischen Straftheorie ist der Sühne- und Vergeltungsgedanke, wonach die einzig zulässige Reaktion des Staats auf Verbrechen, anders als in der Aufklärung und im preußischen Polizeistaat, die Vergeltung und Sühne des durch den Täter begangenen Unrechts ist. Oftmals werden die Begriffe Vergeltung und Sühne synonym verwandt. 124 Es soll hier jedoch im weiteren davon ausgegangen werden, daß es sich bei der Vergeltung um die Antwort auf das begangene Unrecht, um die austeilende Gerechtigkeit handelt. Bei der Sühne steht die sittliche Leistung des Verurteilten im Vordergrund. Sie läßt ihn die Notwendigkeit der Strafe bejahen und dadurch die eigene Freiheit wiedergewinnen. Denn der Sühnegedanke ist eine am Idealismus ausgeprägte Konstruktion, eine, die der Vernunft und Freiheit des Täters Rechnung tragen will. Sühne kann somit nur freiwillig erfolgen, so daß der Staat diesen Prozeß nicht erzwingen, sondern allenfalls ermöglichen kann. 125 Die praktische Umsetzbarkeit dieses Strafprinzips kann dabei außer Acht gelassen werden. 126 So ist auch Karl Peters zuzustimmen, der noch auf dem 41.

rung der Haltung zur Tat als Ergebnis eines gedanklichen Prozesses abstellt, steht innerhalb der Zuchthaus-Diskussion ein Besserungsgedanke gegenüber, der sein Ziel in der Gewöhnung an andere Verhaltensmuster (Pünktlichkeit, Arbeitsarnkeit und Ordnung) sieht. 123 Foucault 1975 (1994), S. 25: "Der Sühne, die dem Körper rasende Schmerzen zufügt, muß eine Strafe folgen, die in der Tiefe auf das Herz, das Denken, den Willen, die Anlagen wirkt." Mit Einschränkungen auch Seelmann, ZStW 101 (1989),335,345. 124 Roxin 1997, § 3 Rn. 10. 125 Jescheck/Weigend 1996, § 8 TI 2; so auch Schmidt, ZStW 67 (1955),177,187; Roxin 1997, § 3 Rn. 10. 126 Anders jedoch Miehe 1964, S. 17.

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Deutschen Juristentag bemerkte, daß es selbst bei der Strafzumessung nIcht darauf ankomme, ob die Sühne im Einzelfall den Täter auch erreiche. 127 Nach der klassischen Strafrechtsschule darf die Strafe also keinen Zweck verfolgen. 128 Den Nützlichkeits- und Präventionsbestrebungen, die die Aufklärung in ihrem spezialpräventiven und wohlfahrtsorientierten Klima hervorbrachte, trat Immanuel Kant entgegen. 129 Grund der Strafe könne nur reine Vergeltung sein, was er primär mit dem kategorischen Imperativ begründete. Die wesentliche Grenze und Bedeutung der staatlich-richterlichen Strafe wurde daraus abgeleitet: Nur eine solche Handlung ist "moralisch", d.h. mit dem Begriff des freiheitlichen Rechts vereinbar, "die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann. ,,130 Die hierin enthaltene Handlungsanweisung wird dadurch kategorisch, daß sie aus freien Stücken, aus freier Entscheidung befolgt wird. Das Strafgesetz stellt zwar eine Verbindlichkeit zur Durchsetzung der Freiheit auf, doch weder erwartet noch fordert das Gesetz, daß die Freiheit um des Verbots willen beachtet wird. Vielmehr soll sie nur um der Vernunft willen, durch den Handelnden selbst eingeschränkt werden. 131 Der kategorische Imperativ ist deshalb rein und von äußeren, empirischen Umständen und persönlichen Vor- und Nachteilen einer Handlung unabhängig, da er lediglich Vernunftgemäßheit fordert und auf die bloße Universalisierbarkeit von Maximen verweist. 132 Die Verletzung der Freiheit eines anderen ist nach Kant der morali127 Vgl. Verhandlungen des 41. Deutschen Juristentages 12 (1955), S. 32 f.; vgl. auch Peters 1947, S. 17 ff. 128 Maßgeblich ist beim Begriff des Zwecks, wie Roxin 1997, § 3 Fußnote 3 zeigt, ob man ihn weit oder eng auslegt. Begrenzt man den Zweckbegriff lediglich auf soziale oder empirische Ziele, urnfaßt er nicht den Vergeltungsgedanken. Interpretiert man den Zweckbegriff weit, ist es durchaus möglich, den Zweck der Strafe auch in der gerechten Vergeltung zu sehen. Im weiteren soll hier der enge Zweckbegriff benutzt werden, wonach also Vergeltung "zweckfrei" ist. 129 Die Straftheorie Kants kann hier nicht en detail dargestellt werden, vgl. dazu nur Eberhard Schmidt 1965, S. 229 ff. 130 Einl. In die Rechtslehre, Akad.-A. Band 6, S. 230. 131 Einl. In die Rechtslehre, Akad.-A. Band 6, S. 231: "Sondern die Vernunft sagt nur, daß sie in ihrer Idee darauf eingeschränkt sei und von anderen auch tätlich eingeschränkt werden dürfe; und dies sagt sie als ein Postulat, welches gar keines Beweises weiter fähig ist." I32 Anzenbacher 1992, S. 269. Hier unterscheidet sich Kants Ansicht von der seines Zeitgenossen Stübel (1795 [1986], § 14), der (ähnlich wie Feuerbach) die "moralische Prävention" in der Abschreckung und nicht im Wollen sieht: "Die moralische Prävention wird im Staate vortheilhaft modificiert, da derjenige, welcher die gesetzgebende Gewalt verwaltet, im voraus schon, ohne die wirkliche Aeusserung der Absicht, eine unrechtmäßige Handlung zu unternehmen, zu erwarten, die Art der Gewalt bestimmt, und zu ledermanns Warnung bekannt macht, durch welche man besorgliche Verlezzungen

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sche Grund des Strafens. Hieraus läßt sich hinsichtlich der Bestrafung zweierlei ableiten: Zum einen werden Qualität und Quantität der Strafe nach dem ius talionis, dem Wiedervergeltungsrecht, bestimmt l33 Und zum anderen verbietet sich als Strafgrund ein jeglicher - über bloße Vergeltung hinausgehender Zweck, denn "die richterliche Strafe (... ) kann niemals bloß als Mittel, ein anderes Gute zu befördern, für den Verbrecher selbst oder für die bürgerliche Gesellschaft, sondern muß jederzeit nur darum wider ihn [den Verbrecher, R.G.] verhängt werden, weil er verbrochen hat; denn der Mensch kann nie bloß als Mittel zu den Absichten eines anderen gehandhabt (... ) werden.,,134 Das sittliche Handeln darf demzufolge nicht als Mittel in den Dienst anderer Zwecke gestellt werden,135 wie dies aber sowohl bei der damals herrschenden Strafrechtspflege als auch bei den Vertretern der zweckbezogenen Aufklärung geschah. 136 Wenn nämlich der Staat durch Befehlsgewalt die Befolgung von Sittlichkeit oder Moralität veranlassen würde und nicht mehr nur die Voraussetzungen zur Bildung einer sittlichen Persönlichkeit schaffen würde, würden auch die Normadressaten keinem ,,kategorischen" Imperativ mehr folgen, sondern einem ,,hypothetischen", einem bedingten, der nicht mehr der eigenen Vernunft entspränge. Sobald sich das Individuum durch persönliche Lust-Unlust-Motive, wie z. B. bestimmte Vor- oder Nachteile, die durch ein bestimmtes Handeln entstehen können, leiten läßt, handelt es nicht mehr sittlich autonom. Der Staat würde dann den Täter entwürdigen, wenn man die Strafe aus einem gesellschaftlich nützlichen Zweck heraus begründen würde. 137 Nur die Wiederherstellung der sittliche Autonomie, das vernünftige Wollen, ist Kern des Strafgrunds bei Kant. Gleichwohl kennt Kant, auch wenn dies in der strafrechtlichen Rezeption weitgehend unberücksichtig geblieben ist,138 auf die Beeinflussung zukünftigen Verhaltens gerichtete Strafzwecke. Von den oben beschriebenen moralischen Strafen, die zur Strafgerechtigkeit gehören und erteilt werden, weil gesündigt

zu verhüten suchen werde, damit solchergestalt die blose Drohung so viel wirke, als die wirkliche Ausübung der Gewalt." 133 Metap'hysik, Allg. Anmerkung E, Akad.-A. Band 6, S. 332: "Also: was für unverschuldetes Ubel du einem anderen im Volke zufügst, das tust du dir selbst an. Nur das Wiedervergeltungsrecht (ius talionis) ( ... ) kann die Qualität und Quantität der Strafe bestimmt angeben." 134 Metaphysik, Allg. Anmerkung E, Akad.-A. Band 6, S. 331. 135 Windelband 1993, S. 463. 136 "Von ihr [der Strafe, R.G.] läßt sich durch keine Zweckmäßigkeitsrücksicht etwas abhandeln. Über alle Nützlichkeit ist sie erhaben", beschreibt Schmidt 1965, S. 231 den Ansatz Kants. I37 Naucke 2000, § 1 Rn. 145; Bock, JuS 1994,89,90. 138 Vgl. nur Roxin 1997, § 3 Rn. 3; Baumann / Weber / Mitsch 1995, § 3 Rn. 51, 54; Köhler 1997, Kap. 1 m 1.2.2, IV 1; Jescheck/ Weigend 1996, § 8 m 1, 3; Jakobs 1991, 1. Abschnitt Rn. 19.

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wurde, unterscheidet er die pragmatischen, die der "Klugheit des Gesetzgebers" entspringen und die erteilt werden, "damit nicht gesündigt werde. Sie sind Mittel, dem Verbrechen vorzubeugen.,,139 Beide "Strafarten" stehen in einem Stufen verhältnis zueinander:

Der Täter muß zuerst für ,,strafbar befunden sein, ehe noch daran gedacht wird, aus dieser Strafe einigen Nutzen für ihn selbst oder seine Mitbürger zu ziehen. ,,140 Die moralischen Strafen folgen nämlich unmittelbar einer die Strafwürdigkeit begründenden Handlung. Eine böse Handlung zu unterlassen, weil sie strafbewehrt ist, ist nicht Grund der Strafe, "sondern die Handlung soll unterlassen werden, weil sie böse ist. ,,141 Beweggrund der Befolgung des Strafgesetzes darf also nicht die drohende Strafe sein, sondern die Überzeugung davon, daß eine Handlung nicht moralisch ist. 142 Nach pragmatischen Gesichtspunkten hat die Strafe dabei nur die Funktion, den "Mangel an Moralität zu ersetzen". Damit wird deutlich, daß die auf zukünftiges Verhalten gerichtete und auch gewollte Strafwirkung nicht den Grund für die Verhängung von Strafe an sich darstellt. Dieser ist allein moralischer Natur. Erst auf der zweiten Stufe, bei der Bestimmung der Strafart, dürfen Aspekte der Strafklugheit berücksichtigt werden. 143 Hier stehen sich nun das ius talionis und die Strafklugheit gegenüber. Art und Grad der Bestrafung bestimmen sich bei Kant grundsätzlich durch das ,,Princip der Gleichheit. ,,144 "Nur das Wiedervergeltungsrecht (ius talionis) aber (... ) kann die Qualität und Quantität der Strafe bestimmt angeben." Diesen Strafbemessungsgrundsatz will er auch bei Anerkennung der Strafklugheit "der Form nach"145 beibehalten. So ist lediglich 139 Kant in seiner Vorlesung über Ethik (1780) zit. nach Gerhardt 1991, S. 64; So auch übernommen in die später (1797) entstandene Metaphysik der Sitten, Akad.-A. Band 6, Anhang, S. 363 Fußnote: "Die Strafgerechtigkeit (iustitia punitiva), da nämlich das Argument der Strafbarkeit moralisch ist (quia peccatum est), muß hier von der Strafklugheit, da es bloß pragmatisch ist (ne peccetur) und sich auf Erfahrungen von dem gründet, was am stärksten wirkt, Verbrechen abzuhalten, unterschieden werden ( ...). " 140 Kant Metaphysik, Akad.-A. Band 6, S. 331 (Hervorhebung im Original). 141 Kant nach Gerhardt 1991, S. 65. 142 Kant nach Gerhardt 1991, S. 65: "So soll auch nicht der Grund, eine böse Handlung zu unterlassen, in die Strafe gesetzt werden ( ... ).Belohnung und Bestrafung dienen nur, den Mangel der Moralität zu ersetzen. Zuerst muß das Subjekt an die Moralität angewöhnt werden ( ... ). Das moralische Gefühl muß erst rege gemacht werden, damit das Subjekt durch moralische Motiva kann bewegt werden; helfen die nicht, dann muß man zu den subjektiven Beweggründen der Belohnung und Bestrafung schreiten." 143 Dieses Abhängigkeitsverhältnis beschreibt Kant deutlich in Reflex. Nr. 8029: "Alle Strafe im Staat geschieht wohl zur correction und zum Exempel, aber sie muß allererst um des Verbrechers an sich selbst willen gerecht seyn, quia peccatum est. " 144 Kant Metaphysik, Akad.-A. Band 6, S. 332. 145 Kant Metaphysik, Akad.-A. Band 6, S. 362.

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der Schluß möglich, daß andere Aspekte der Strafe allenfalls innerhalb des Maßes der gerechten Strafe berücksichtig werden dürfen. 146 Die pragmatische Strafe des Staats zielt dabei stets darauf ab ,,1. den Unterthan aus einem schlimmen in einen besseren Bürger umzuwandeln; 2. durch warnende Beyspiele andere abzuhalten, 3. unbesserliche aus dem Gemeinen Wesen, es sey durch deportation, exil um oder Tod wegzuschaffen (ob durch Gefangnis). Aber all dieses ist nur Klugheit der politick, - Das Wesentliche ist die Ausübung der Gerechtigkeit selbst alsdenn noch, wenn die Verfassung aufgehoben würde.,,147 Diese Strafen sind "als bloße Mittel wohl erlaubt aber nur als Vergeltung gerecht. ,,148 Kant unterscheidet bei den pragmatischen Strafen (poena medicinales), die correctivae von den exemplares. 149 Die correctivae werden zur Besserung des Täters erteilt. Die exemplares geschehen zum (warnenden)150 Beispiel für andere oder den Täter selbst. Diese Einteilung entspricht in bezug auf die exemplares den auch heute gültigen Strafzwecken der negativen Individual- und Generalprävention. Die correctivae lassen sich hingegen kaum mit der positiven Spezialprävention vergleichen, da Kant lediglich von einer moralischen Besserung spricht. Die Strafe nimmt indirekten Einfluß auf die Entscheidung des Individuums, eine gewisse Handlung in Zukunft zu unterlassen. 151 Strafgrund ist in der Lehre Kants also die aus dem kategorischen Imperativ abgeleitete Vergeltung unter Anerkennung der Autonomie eines Individuums. Darüber hinaus dürfe die staatliche Strafe auch den Zweck verfolgen, potentielle Täter von der Begehung von Straftaten abzuschrecken oder durch die Strafe den Täter selbst zu bessern. Der Gedanke der Strafklugheit hat jedoch in der Tradierung der absoluten Straftheorie keinen Niederschlag gefunden. Anselm von Feuerbach folgte der kantischen Straflehre. Er betrachtete die Funktion des Rechts insbesondere in der Schaffung einer Freiheitssphäre, die die Entfaltung sittlichen Verhaltens ermögliche. Folglich sollte seiner Ansicht nach der Staat zur bloßen ,,Rechtsschutzanstalt" reduziert werden. 152 Zudem ging Feuerbach davon aus, der Mensch sei jederzeit imstande, vernünftig und unter Abwägung der Vor- und Nachteile der Tat sich für das Recht zu entscheiden, was gleichfalls auf die schon bei Kant formulierte Lehre der Willensfrei146 Ähnlich auch Hügli 1998,207,228. 147 Reflex. (ca. 1788/89-1794/95) Nr. 8035. 148 Reflex. Nr. 8041. 149 Kant nach Gerhardt 1991, S. 64. 150 Kant nach Gerhardt 1991, S. 64. 151 Kant nach Gerhardt 1991, S. 65: "Unterläßtjemand die böse Handlung wegen der Strafe, so gewöhnt er sich daran und befindet hernach, daß es besser ist, solche Handlungen zu unterlassen." 152

Schmidt 1965, S. 235.

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heit zurückzuführen ist. 153 Die Strafdrohung solle daher die Vernunft des einzelnen im Kampf mit den zum Verbrechen drängenden Motiven unterstützen, also einen "psychologischen Zwang,,154 gegenüber den rechtsfeindlichen Motiven ausüben. Das durch die staatliche Strafe angedrohte Übel verfolge nur den Zweck, die Wirksamkeit der Drohung zu begründen. 155 Der Zweck der Strafdrohung sei die Abschreckung der Allgemeinheit der Staatsbürger, also Generalprävention. 156 Der Staat solle jedoch nicht strafen um von der Begehung weiterer Taten abzuhalten oder um den Verbrecher zu erziehen,157 sondern nur deshalb, weil eine gesetzes widrige Handlung begangen wurde und diese den zureichenden Grund für die Sanktion enthalte. 158 Bedeutsam für die Kodifikation eines Strafgedankens ist, daß das von Feuerbach entwickelte StGB für das Königreich Bayern von 1813 zusammen mit dem Code Penal von 1810 das wichtigste Vorbild der Strafgesetzgebung des 19. Jahrhunderts bildete. Denn dem bayerischen StGB von 1813 folgte neben weiteren Kodifikationen vor allem das Strafgesetzbuch für die preußischen Staaten von 1851, dem wiederum das StGB des Norddeutschen Bundes, was seinerseits ohne inhaltliche Änderungen im RStGB von 1871 aufging. Dieses zur Zeit des Schulen streits gültige Strafgesetzbuch war also "mehr der Vergangenheit als der Zukunft zugewandt", denn es verankerte den Vergeltungsgedanken. 159 Die Konsolidierung der absoluten Straftheorien, wie sie von Hegel eingeleitet wurde, stand im Zusammenhang mit dem Wandel des Verhältnisses von Staat und Bürger. Der Liberalismus als Weltanschauung des Bürgertums wurde zur Bedingung und zum Ergebnis einer im wirtschaftlichen Aufschwung stehenden Gesellschaft. 160 Er entsprach den Bedürfnissen des gebildeten und aufstrebenden Bürgertums, das sich frei von alten Bindungen entwickeln wollte. 161 Der Gedanke der Autonomie des Individuums wurde zum Leitgedanken der sich wandelnden Gesellschaft, die maximale Gestaltungsfreiheit benötigte, so daß der Staat lediglich Mittel zum Schutz und zur Sicherheit der individuellen Kräfte sein sollte. 162 Der Staat sollte auf die polizeiliche Wohlfahrtspflege, auf Bevormundung, Erziehung und Beeinflussung des selbstbewußt gewordenen Bürgers verzichten. Denn die soziale Schicht, die die wirtschaftlichen und geSchmidt 1965, S. 239. Feuerbach zit. nach Hoerster 1990, S. 227. 155 Feuerbach zit. nach Hoerster 1990, S. 228. 156 Schmidt 1965, S. 239. 157 Maurach / Zipfl992, § 6 Rn. 20. 158 Schmidt 1965, S. 242; Maurach/Zipfl992, § 6 Rn. 20. 159 Jescheck / Weigend 1996, § 10 Vill. 160 Schnabel 1987, Band 2, S. 93. 161 Schnabel 1987, Band 2, S. 94. 162 Schnabel 1987, Band 2, S. 93. 153

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sellschaftlichen Verhältnisse bestimmte, bedurfte keiner Idee mehr, sie brauchte das Gesetz, das ihr Freiräume (zu-)sicherte. 163 Diesem Wandel im Verhältnis zum Staat folgte der Wandel der Strafbegründung. Es begann die Periode der Vorherrschaft der absoluten Straftheorien. l64 Als wohl bedeutendster Vertreter ist hier Georg Wilhelm Friedrich Hegel zu nennen. Ebensowenig wie Kant, dessen absolute Straftheorie sich im staatspolitischen Klima des Polizei- und Wohlfahrtsstaats nicht durchsetzen konnte, 165 der aber als "Künder,,166 der absoluten Straftheorie gilt, erkannte auch Hegel einen präventiven Strafzweck an, der auf Abschreckung oder Besserung beruhe. 167 Hegels Strafrechtstheorie ist durch den deutschen Idealismus geprägt. 168 Für Hegel stellt das Verbrechen die Zerstörung einer Anerkennensbeziehung der freien Willen zweier "Selbstbewußtseine,,169 - die des Täters und des Opfers - dar. Diese Anerkennensbeziehung wird gerade durch die wechselseitige Abhängigkeit der beiden Individuen, der Abhängigkeit der Bestätigung der Willen, charakterisiert, denn die Selbstbestätigung des Willens des einzelnen kann nur dadurch erfolgen, daß sich das Individuum zum ,,Mittel für den anderen macht.,,170 Die Verletzung dieser Beziehung kann nur durch die Strafe neutralisiert werden, so daß es hierdurch zur Wiederherstellung der Anerkennung kommen kann. Dabei steht jedoch nicht die Übelszufügung im Vordergrund, sondern das Gebot, dem Täter seine Vernunft zuzuerkennen: 171 "Die Verletzung, die dem Verbrecher widerfahrt, ist nicht nur an sich gerecht, - als gerecht ist sie zugleich sein an sich seiender Wille, ein Dasein seiner Freiheit, sein Recht; (00')' Daß die Strafe darin als sein eigenes Recht enthaltend angesehen Maurach/ Zipf 1992, § 6 Rn. 21. Maurach/Zipfl992, § 6 Rn. 21; Köhler 1997, Kap. 1 rn 1.2.2. 165 Vgl. aber den Abschnitt oben über die Strafklugheit als Bestandteil der kantischen Straftheorie. 166 Maurach/Zipfl992, § 6 Rn. 18. 167 In § 99 seiner Rechtsphilosophie wendet sich Hegel gegen den Ansatz des psychologischen Zwanges als Strafgrund, wie ihn Feuerbach vertritt. Denn gerade so wird der "Mensch nicht nach Ehre und Freiheit, sondern wie ein Hund behandelt", gegen den man den Stock erhebt. Vgl. auch Seelmann, JuS 1979,687,690. 168 Es ist an dieser Stelle nicht möglich die Entwicklung und Ausprägung der Philosophie des deutschen Idealismus eingehender darzustellen. Zweifelsohne ist der deutsche Idealismus durch die Gedanken Kant und Hegels geprägt und als ein philosophisches System zu verstehen, das in die Zeit der deutschen Romantik fällt und die Idee i.S.v. Nicht-Materialismus in den Vordergrund hebt. Nach H. Nahl: Die Deutsche Bewegung und die idealistischen Systeme. Logos 2 (1911112), 350 unterscheidet sich die "neue Epoche" von der Aufklärung durch Konfrontation des Rationalismus mit dem leben "als ein von Grund aus individuelles, irrationales." 169 Vgl. Seelmann, JuS 1979,687,690. 170 Seelmann, JuS 1979,687,688. 171 Schmidt 1965, S. 295. 163

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wird, darin wird der Verbrecher als Vernünftiger geehrt.,,172 Durch die Strafe werden also die Ve munft und die Autonomie des Täters in den Vordergrund gestellt. Überdies wird so auch das Recht an sich wiederhergestellt. 173 ,,Das Aufheben des Verbrechens ist insofern Wiedervergeltung, als sie dem Begriffe nach Verletzung der Verletzung iSt.,,174 Gleichwohl kennt auch Hegel die generalpräventiven Effekte der Strafe. Es wäre verkürzend, seine Straflehre in der Formel von der ,,Negation der Negation" zusammenzufassen. 175 Die Strafe soll nach Hegel "Interaktionsstörungen,,176 zwischen den Individuen beheben und damit auch einen sozialen Zweck erfüllen. Denn Verbrechen sei "nicht mehr nur Verletzung eines subjectivUnendlichen, sondern der allgemeinen Sache, die eine in sich feste und starke Existenz hat. Es tritt damit der Gesichtspunkt der Gefährlichkeit der Handlung für die Gesellschaft ein.,,177 Eine Störung der Anerkennung sei dann immer zugleich auch eine Störung des Allgemeinen. Zur Wiederherstellung des Zustands ohne die Anerkennensstörung gehöre es nun, die gefährlichen Folgen des Verbrechens für die Allgemeinheit zu tilgen. 178 Das ist Generalprävention - allerdings nicht als zusätzlicher und mit der absoluten Theorie zu vereinigender Zweck, sondern als gewollter Effekt der Strafe. Der Abschreckungsgedanke wurde so durch den Maßstab des Wertausgleichs begrenzt. Ein späterer Vertreter absoluter Strafrechtstheorien, die sowohl von der Kirche 179 als auch dem Reichsgericht 180 getragen werden, ist Karl Binding. 181 Er

Hegel, Rechtsphilosophie § 100. Hegel, Rechtsphilosophie § 99. 174 Hegel, Rechtsphilosophie § 101. 175 Seelmann, JuS 1979, 687, 691 beschreibt dies deutlich und weist auf ähnliche Verkürzungen der Lehre hin, wie dies oben bei Kant gezeigt wurde. 176 Seelmann, JuS 1979,687,691. 177 Hegel, Rechtsphilosophie § 218. 178 Seelmann, JuS 1979,687,690 f. 179 Papst Pius XlI (in Hoerster 1991) sieht in der Straftat eine bewußt vorgenommene Verletzung gegen Gott (S. 220). Die Strafe kann nur den Sinn und Zweck haben, den Rechtsbrecher von neuem in die "seinsollende Ordnung" einzufügen (S. 221). Durch das Strafleiden wird der Fortschritt im inneren Leben ermöglicht (S. 222). Mehr noch kann es den Täter sittlich heben, ihn von der Schuld wegführen und eine sittliche Läuterung auf oberster Stufe einleiten (S. 223). Gesellschaftlich wirksame Strafzwecke werden zwar nicht aberkannt, doch muß der eigentliche Sinn der Strafe "auf höchster Ebene gesucht werden" (S. 224). 180 Vgl. RGSt 58, 109: "Maßgebend [für die Bemessung der Strafhöhe, R.G.] ist also in erster Linie das Sicherungsbedürfnis, Vergeltungszweck der Strafe, daneben wohl auch noch der Abschreckungszweck. Die sonstigen Strafzwecke, der Besserungs- und Sicherungszweck, treten demgegenüber in den Hintergrund." 181 Maurach/Zipjl992 , § 6 Rn. 21. 172 173

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vereint die konservativen Kräfte der Strafrechtslehre und wendet sich gegen die Ansichten der modernen Schule. 182 Durch das ius puniendi wird der subjektive Strafanspruch des Staats konstituiert. Es ist ein "Strafrechtsverhältnis" aus dem sich für den Staat die Legitimation herleiten läßt, in die Rechte und Rechtsgüter des Täters einzugreifen. Andererseits wird hierdurch auch eine "Straferduldungspflicht" begründet. Diese formaljuristische Beziehung zwischen Staat und Täter bildet die Basis in Bindings Denken. "Extern-normlogische Wertungen,,183 lehnt er streng ab. Bindings Vergeltungsstrafe steht in keinem Verhältnis zur Persönlichkeit des Täters. Es kommt nicht auf die Wirkung der Strafe an, sondern lediglich darauf, daß sie vollzogen wird. 184 Hiermit unterstützt Binding den liberalen Rechtsstaat, der mit seiner unbedingten Herrschaft des Gesetzesrechts die sittliche Persönlichkeit des Täters der Einflußnahme des Staats entzieht. Unter Strafe versteht er die "Einbuße an Rechten oder Rechtsgütern, welche der Staat einem Delinquenten von Rechts wegen auferlegt zur Genugtuung für seinen irreparablen Rechtsbruch, um die Autorität des verletzten Gesetzes aufrechtzuerhalten. ,,185 Sinn des Strafvollzugs ist es dann ausschließlich, die "Unterwerfung des Verbrechers unter die sieghafte Gewalt des Rechtes" zu demonstrieren. 186 Gehen Kant und Hegel noch von der sittlichen (außergesetzlichen) Begründung der Strafe aus, löst Binding die Strafproblematik über die positivistische Autorität des Gesetzes. Das Gesetz an sich beinhaltet nämlich die sittliche Begründung. Wollte Hegel noch den "Verbrecher als Vernünftigen ehren" ist Binding ein solcher Gedanke fremd. Er gründet den staatlichen Strafanspruch nicht auf eine individuelle Philosophie des kategorischen Imperativs, der die Autonomie des Einzelnen zum Kernpunkt hat, sondern auf das positive Recht, das die ,,Normen" als Platzhalter der richtigen Moral verkörpert und deren Bruch allein die Strafe rechtfertigt. 187 Die auf dieser Linie liegende ,,klassische Schule" sieht die Strafe als Funktion der Vergeltung. Die Wiederherstellung der Norm ist der legitime Zweck des staatlichen Strafens. Im Mittelpunkt der Strafbegründung steht die Vernunft des Täters und seine sittliche Autonomie, der durch die Strafe Achtung geschenkt wird. Auf diesem Gedanken basiert auch das RStGB von 1871 - einer im Dienst der Generalprävention stehenden Vergeltungstheorie. 188

182 Jescheck / Weigend 1996, § 8 V 1. 183 Schmidt 1965, S. 308.

Schmidt 1965, S. 310. Binding 1907, S. 226. 186 Zit. bei Schmidt 1965, S. 308. 187 Vgl. hierzu Schmidt 1965, S. 307 ff. 188 Roxin 1997, § 4 Rn. 2. 184

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4. Positivismus und moderne Schule a) Einführung Der klassische und überwiegend an Vergeltung orientierte Strafbegriff geriet im späten 19. Jahrhundert in Konflikt mit der modernen Strafrechtsschule, die durch Franz von Liszt begründet wurde. Strafe ist seiner Auffassung nach nicht mehr Selbstzweck, orientiert an der Autonomie und der Vernunft des Individuums, sondern ein präventiv wirkendes Instrument, mit dem sich weitere Straftaten vermeiden lassen sollen. Aus diesem Grund wird diese Straftheorie auch eine ,,relative" genannt, da sie auf einen Zweck - den der Verbrechensverhütung - bezogen ist, im Gegensatz zu den "absoluten" Theorien, die den Sinn des Strafens von ihrer Wirkung unabhängig erklären. Die Entstehung der "modernen" Schule läßt sich auf die Entwicklung des Positivismus zurückführen, dessen Vertreter die Methoden der Naturwissenschaften auch auf die Erklärung menschlichen Verhaltens anwenden wollten. Wenn dies gelänge, würde es auch möglich sein, die Ursachen des Verbrechens zu erkennen und effizient zu bekämpfen. Dieser Fortschrittsglaube und gerade der Gedanke, den Positivismus für die Strafrechtswissenschaft nutzbar zu machen, lag der modernen Schule Franz von Liszts zugrunde und geriet im Schulenstreit in Konflikt mir den an bloßer Vergeltung orientierten Straftheorien. b) Die Entwicklung der "positiven" Philosophie Das 19. Jahrhundert brachte wirtschaftliche, soziale und wissenschaftliche Neuerungen mit sich. Die Industrialisierung führte zu einer sozialen Umschichtung, die die bisherigen gesellschaftlichen Strukturen in ihren Grundfesten erschütterte. Angetrieben wurde die Industrialisierung durch die rasante Entwicklung der Naturwissenschaften. Neue Entdeckungen in der Physik, Chemie und Medizin und deren technische Nutzung riefen bei den Zeitgenossen den enthusiastischen Glauben an die Möglichkeiten der Beherrschung der Natur hervor. Die vollständige Erklärung der Welt schien möglich. 189 Mit jedem neuen Resultat der Wissenschaft wurde dem alten, auf Metaphysik und Glaubenssätzen beruhenden Weltbild der Boden ein Stück mehr entzogen. Die zunehmende Intellektualisierung stärkte das Bewußtein, daß es keine unberechenbaren Mächte mehr gab und daß man, wenn man nur wollte, jederzeit "durch Berechnung beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt.,,190 So ist zu 189 Vgl. hierzu nur den Ansatz von Karl Marx, daß die Geschichte der Menschheit erkennbaren Gesetzen folgt oder die Einordnung der "Sociologie" in die sog. Organische Physik bei Auguste Comte. 190 So das bekannte Wort von Max Weber 1919 (1988), 582, 594.

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verstehen, daß sich angesichts der aufkommenden "sozialen Frage", also der zunehmenden Armut und Verelendung, der Gedanke aufdrängte, auch die gesellschaftlichen und politischen Einrichtungen der erfolgreichen naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise zu unterziehen. Angesichts dieser, die politische Diskussion beherrschenden Veränderungen, wurde dem liberalen Rechtsstaat vorgeworfen, nicht ausreichend gegen die Nöte vorzugehen. 191 Das Bestehen von Armut, Hunger und Krieg wurde als Folge der mangelhaften Kenntnis der ursprünglichen Gesetze gedeutet, von denen man glaubte, sie würden sowohl in der Natur als auch in der Geschichte, der Gesellschaft und in den menschlichen Angelegenheiten allgemein herrschen. Die Gesellschaft wurde zum Objekt des sich verstärkenden Erkenntnisdrangs. Man glaubte, wenn man erst Kenntnisse der natürlichen Gesetze hätte, wäre eine plan volle Einrichtung der Gesellschaft möglich. 192 Auguste Comte l93 gab der neuen Geisteshaltung in der Wissenschaft den Namen Positivismus und begründete später die "Sociologie". Comte wurde zum Gegner aller philosophischen Spekulation über die ersten Ursachen und die letzten Dinge. 194 Unter Ablehnung der durch die Metaphysik behaupteten Erkenntnisse apriorischer und normativer Prinzipien oblag der "positiven" Philosophie nach Comte durch die Aufstellung letzter, allgemeiner und konstanter Wirklichkeitsbeziehungen das in der sinnlichen Erfahrung unmittelbar "Gegebene", das "Tatsächliche" zu ordnen. Comte nahm deutlich wahr, wie die Wissenschaft und die Industrie aufblühten. Allein im Transfer der naturwissenschaftlichen Methoden auf Geschichte, Gesellschaft und Politik sah er die Möglichkeit, die bestehende "geistige Anarchie" zu überwinden. 195 Unter Führung des Zoologen und Philosophen Ernst Haeckel, der den Darwinismus zu einer Weltanschauung umformte, begeisterten sich viele für die Entseelung der Welt und die Demaskierung des Geistes, um hinter allem ,,Natur", "Kraft und Stoff' zu entdecken. 196 Mit dem so erlangten Wissen würde es dann möglich werden, gleich einem Ingenieur oder Techniker, das menschliche Verhalten zu steuern und zu kontrollieren. Mittel der Änderung sollte die "Konditionie-

191 Bock, JuS 1994, 89, 91; vgl. auch zu den Auswirkungen auf die Politik Bock 1980, S. 50 ff. 192 Vgl. Göppinger 1997, S. 9. 193 Er formulierte das positivistische Credo: "Savoir, pour prevoir, pour pouvoir"; Bock 2000b, Rn. 10. 194 Rechtmann 1967, S. 268. Gerade der Philosophie wurde vorgeworfen, sie sei ein ungeeignetes Mittel der "Kritik" an den herrschenden Zuständen. Siehe dazu die bei Bock, Jus 1994, 89, 91 dargestellte Auseinandersetzung Man' mit der Rechtsphilosophie Hege/s. 195 Bock 1999b, 39, 42. 196 Rechtmann 1967, S. 270.

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rung", also die durch das Setzen von bestimmten Reizen (Straf- oder Belohnungsreize) hervorgerufene Verhaltensänderung, sein, wie sie der Behaviorismus dann konsequent ausgearbeitet hat. 197 Die Anwendung der naturwissenschaftlichen Methode auf die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse die "physique sociale", wie sie Adolphe Quetelet, ein Zeitgenosse Comtes, nannte - versprach so das Ende aller Last und Not und stand im Dienst der Perfektion des Menschen und seiner Daseinsbedingungen. 198 c) Die Entstehung der Kriminologie Mit den allgemeinen gesellschaftlichen Nöten geriet auch der Verbrecher in das Blickfeld der Wissenschaftler. Die "Scuola Positiva", die von den italienischen Positivisten Lombroso, Garofalo und Ferri gebildet wurde, sah im Verbrecher eine in der Natur begründete pathologische Erscheinung. 199 Die Persönlichkeit und die körperliche Beschaffenheit des Straftäters waren Gegenstand umfassender Untersuchungen, die als erste Beiträge zu einer Wissenschaft vom Verbrecher angesehen werden können. 2OO Anfangs war die Aufmerksamkeit überwiegend auf biologische und psychologische Aspekte beschränkt. Lombroso, z. B., vermaß die Schädel von Verbrechern. Von der Schädelgestaltung schloß er auf die Größe des Gehirns und hiervon auf die Geistestätigkeit und die psychischen Anlagen. 201 Körperliche Anomalien bedingen seelische - das jedenfalls glaubte Lombroso noch anfangs, später ließ er aber auch soziale Ursachen für seelische Fehlentwicklungen gelten. Dabei gab es auch schon vor Lombroso zahlreiche Wissenschaftler, die sich mit dem Verbrechen und dessen Erkennbarkeit in der Physiognomie befaßt haben. 202 Heute wird die besondere 197 Vgl. Bruder 1982, S. 22: lohn Broadus Watson, Mitbegründer des Behaviorismus, wollte eine Psychologie schreiben, ohne die Begriffe "Bewußtsein, seelischer Zustand, Geist, Wille, Phantasie" und dergleichen zu gebrauchen. Es sei möglich, behauptete er, ihren Gehalt in Begriffen von "Reiz und Reaktion" zu fassen. 198 Göppinger 1997, S. 10. 199 H. l. Schneider 1987, S. 101. 200 Göppinger 1997, S. 11. Nach Kaiser 1996, § 9 Rn. 2 ff. beherrschten klinische, forensisch- und gefangnispsychiatrische und kriminalstatistische Ansätze die kriminologische Wissenschaft noch bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. 201 H. l. Schneider 1987, S. 10 1. 202 Es soll hier nur auf lohann Caspar Lavater hingewiesen werden, der in seinem Werk "von der Physiognomik" aus dem Jahre 1772 einen Zusammenhang zwischen der äußeren Erscheinung und der "psychischen" Konstitution eines Menschen herstellte: "Physiognomik ist die Wissenschaft, den Charakter (nicht die zufälligen Schicksale) des Menschen im weitläuftigsten Verstande aus seinem Aeußerlichen zu erkennen; Physiognomie im weitläuftigen Verstande wäre also alles Aeußerliche an dem Körper des Menschen und den Bewegungen desselben, in sofern sich daraus etwas von dem Charakter des Menschen erkennen läßt." (La vater 1772, 1. Abschnitt).

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Leistung der ersten Kriminologen weniger in den gewonnenen Erkenntnissen als in der methodengeleiteten, empirischen Vorgehensweise gesehen. 203 Hinzu kommt, daß den frühen Kriminologen nicht schon die Befunde an sich genügten. Sie schlossen nämlich von der ermittelten Gefährlichkeit des Täters auf seine Behandlungsbedürftigkeit, von den Ursachen auf eine mögliche Bekämpfung. Die ermittelten Ursachen wurden also in den Dienst eines Behandlungszwecks gestellt. d) Franz von Liszt und sein zweckbezogenes Interventionsprogramm Franz von Liszt war der erste Jurist in Deutschland, der das Gedankengut des Positivismus in ein System strafrechtlicher Verhaltenssteuerung implementierte. 204 Er suchte empirische Kausalverknüpfungen, mit denen man die Entstehung von Verbrechen erklären kann: 205 "Die Strafrechtswissenschaft hat daher zunächst die Erscheinungen, die wir Verbrechen nennen, auf ihre Ursachen zurückzuführen und aus diesen zu erklären.,,206 Er fragt: "Welches sind die Ursachen dieser Erscheinung und welche Mittel stehen uns zu Gebote, um sie in ihren Ursachen zu bekämpfen?,,207 Damit forderte er die Art von Wissen, das zu erlangen das Ziel der gerade neu entstehenden Wissenschaft Kriminologie war. Mit diesem Wissen sollte dann die Strafrechtswissenschaft zur "Gesamten Strafrechtswissenschaft" erweitert werden. In seiner Marburger Antrittsvorlesung von 1882 mit dem Titel "Der Zweckgedanke im Strafrecht", die später als Marburger Programm bezeichnet wurde, entwickelte Franz von Liszt eine neue Strafzwecklehre. Er erarbeitete seine Lösung im Bewußtsein des aufkommenden Schulenstreits, in dem sich nun klären würde, "ob die Strafe als Vergeltung begriffsnotwendige Folge des Verbrechens oder ob sie als Form des Rechtsgüterschutzes zweckbewußte Schöpfung und zielbewußte Funktion der staatlichen Gesellschaft ist; ob sie in der Sühne der Vergangenheit - quia peccatum est - ihren zureichenden, jede weitere Rechtfertigung ausschließenden

203 Zu den besonderen wissenschaftstheoretischen Voraussetzung, insbesondere der Entstehung der empirischen Wissenschaften siehe Bock, JuS 1994, 89, 92. 204 von Liszt, ZStW 3 (1882), 1,5 setzt sich mit der jungen "anthropologischen Schule" Italiens intensiv und kritisch auseinander (vgl. dazu auch von Liszt 1905c, 25 ff.). 205 Schmidt 1965, S. 366. 206 von Liszt zit. in Schmidt 1965, S. 367. 207 von Liszt 1905f, 331, 339.

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Grund oder ob sie in der Wirkung auf die Zukunft - ne peccetur - ihre keiner weiteren Begründung bedürfende Rechtfertigung findet.,,208

Die Antwort ist bekannt: Strafe ist nach Franz von Liszt ,,Rechtsgüterschutz durch Rechtsgüterverletzung. ,,209 Seine Beweisführung erfolgte entwicklungsgeschichtlich: Ausgangspunkt der Lehre Franz von Liszts ist der Trieb als Grund menschlichen Strafens. 210 Als nicht steuerbarer Trieb sei die Strathandlung in der einfachen Gesellschaft notwendige Folge eines Verbrechens. 211 Die Strafe sei dabei Mittel der Selbstbehauptung und Selbsterhaltung des Individuums,212 nicht hingegen, wie es die klassische Strafrechts schule vertrete, Ausdruck eines sittlichen Werturteils. 213 Von Liszts Strafgedanke ist empirischer und nicht idealistischer Natur. 214 In der sich weiter entwickelnden und differenzierenden Gesellschaft und durch die Fortbildung des Rechts, ging die Strafgewalt auf den Staat über. Die strafende Triebhandlung wurde, weil es ein sich ausbildendes und vom Subjekt abstrahiertes Recht gab, in den ,,Dienst des Zweckes" gestellt. 215 Der Zweck sei das Wesen des Rechts 216 und mache die "Triebhandlung zur Willenshandlung.,,217 Auf diese Weise konnte die Strafgewalt als blinde Reak208 von Liszt, ZStW 3 (1882), 1. Hierbei bezieht sich von Liszt auf den Satz Platons, daß kein kluger Mensch straft, weil gesündigt worden ist (= quia peccatum est), sondern damit nicht gesündigt werde (=ne peccetur) (zit. nach Roxin 1997, § 3 Rn. 11). 209 von Liszt, ZStW 3 (1882), 1, 15. 210 von Liszt, ZStW 3 (1882), 1, 6: "Die Strafe ist ursprünglich ( ... ) blinde, instinktmäßige, triebartige, durch die Zweckvorstellung nicht bestimmte Reaktion der Gesellschaft gegen äußere Störungen der Lebensbedingungen." 211 von Liszt, ZStW 3 (1882), 1, 8. 212 von Liszt, ZStW 3 (1882), 1,9. 213 von Liszt, ZStW 3 (1882) 1, 13 f. greift hier also auf die idealistische Ausprägung der klassischen Schule zurück, in der es nicht bloß um die Vergeltung von Unrecht, sondern um Sühne als sittliche Forderung ging. Doch will von Liszt seine Theorie nicht als relative bezeichnet wissen. Denn seine Ansicht "wendet sich gegen die relativen Theorien, indem sie den von dem Zweckgedanken durchaus unabhängigen, mithin absoluten Ursprung der Strafe [i.e. der Strafinstinkt, R.G.] betont, sie bekämpft die absoluten Theorien, indem sie die Weiterbildung der Strafe durch den Zweckgedanken als Ergebnis der bisherigen Entwicklung nachweist und als Forderung der Zukunft aufstellt." (S. 7). Es ist also davon auszugehen, daß die modeme Schule absolute Strafelemente integriert, was eine wenig beachtete Leistung von Liszts darstellt (Grunewald, NStZ 2002, 452,453). 214 Dies verkennt Maultzsch, Jura 2001,85,92 der in der Kritik von Liszts an den Zuständen in den Strafvollzugsanstalten die Ablehnung idealistischer Straftheorie sieht. Vielmehr ist jedoch von Liszts Kritik eine empirische, die deutlich macht, daß unter den bestehenden Verhältnissen der Zweckgedanke nicht verfolgt werden kann. 215 von Liszt, ZStW 3 (1882), 1, 18. 216 von Liszt, ZStW 3 (1882), 1, 16. 2J7 von Liszt, ZStW 3 (1882), 1,22.

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tion zum Strafrecht - zum "zielbewußten Rechtsgüterschutz" - werden. 218 Zusammenfassen läßt sich von Liszts Strafbegründung so: "Die Strafe wird als Trieb zur empirischen Notwendigkeit, als geformter Trieb zur zweckmäßig gesteuerten, empirischen Notwendigkeit."219 Daran anschließend geht von Lisztin seinen kriminalpolitischen Betrachtungen davon aus, "daß den Gegenstand der Bestrafung nicht das Verbrechen, sondern der Verbrecher, nicht der Begriff, sondern der Mensch bildet, daß also für Art und Maß der Strafe nicht die begriffliche Unterscheidung innerhalb der juristischen Tatbestände entscheidend ist, sondern die biologische Unterscheidung innerhalb der verbrecherischen Menschen. ,,220 Der Zweckgedanke legt hiermit jedoch nicht nur den Strafgrund fest, sondern bestimmt gleichzeitig auch das Maß der Strafe. Die Auffassung von Liszts, Strafe diene dem Rechtsgüterschutz, verlangt nun, "daß im einzelnen Falle diejenige Strafe (nach Inhalt und Umfang) verhängt werde, welche notwendig sei, damit durch die Strafe die Rechtsgüterwelt geschützt würde. Die richtige, d.h. die gerechte Strafe sei die notwendige Strafe. Gerechtigkeit im Strafrecht ist die Einhaltung des durch den Zweckgedanken erforderten Strafmaßes."nl Und so kam von Liszt zu einem differenzierenden Interventionskatalog, der unabhängig von der idealistischen Strafidee die Sanktion rein nach dem Zweck bestimmt. Es sind dies die: 1. Besserung der besserungsfähigen und besserungsbedürftigen Verbrecher, 2. Abschreckung der nicht besserungsbedürftigen Verbrecher und 3. Unschädlichmachung der nicht besserungsfähigen Verbrecher. 222

Durch diese Unterscheidung tritt der Gedanke der - negativ und positiv ausgeformten - Spezialprävention abermals deutlich in den Vordergrund. Aufgabe der Strafe sei die der Eigenart des Verbrechers angepaßte Einwirkung. An dieser Stelle zeigt sich auch das Kernelement der modernen Straftheorie: Die individualisierte Einwirkung auf den Täter zur Verhütung weiterer Straftaten. Die einzelne strafrechtliche Maßnahme müsse der Eigenart der jeweiligen Täterpersönlichkeit und ihren erzieherischen Bedürfnissen angepaßt werden. 223 Die Juvon Liszt, ZStW 3 (1882), 1,7. Naucke, ZStW 94 (1982) 525, 533. 220 von Liszt 1905e, 170. 221 von Liszt, ZStW 3 (1882), 1,31. 222 von Liszt, ZStW 3 (1882), 1,36. 223 In diesem Punkt hebt sich von Liszt (ZStW 3 [1892], 1, 7) von den Begründern des Positivismus ab: "Die Nichtberücksichtigung der Individualität ist der große Fehler Quetelets und der sozialmechanischen Auffassung. ( ... ) Wir verkennen nicht, daß es [das Individuum, R.G.] hervorgewachsen ist aus den Verhältnissen, daß es das, was es geworden, den Verhältnissen aus denen es entstanden ist, verdankt, aber wir übersehen auch nicht, daß der einzelne auch selbst einwirkt auf die Verhältnisse und um so kräftiger, je bedeutsamer seine Persönlichkeit ist. ( ... ) Ein anderer Fehler Quetelets ist es, an 218 219

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gendlichen seien nun gerade die Gruppe, die sich, gemessen an den individuellen Besonderheiten und auch der Chance der (Re)Sozialisierung, aus der Gruppe der Straff