Die Chinapolitik des Deutschen Reiches 1871 bis 1945: Wirtschaft, Rüstung, Militär [Reprint 2018 ed.] 9783486817980, 9783486418668

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Die Chinapolitik des Deutschen Reiches 1871 bis 1945: Wirtschaft, Rüstung, Militär [Reprint 2018 ed.]
 9783486817980, 9783486418668

Table of contents :
INHALT
VORWORT
1. EINLEITUNG
2. NATIONALSTAATLICHE BESTREBUNGEN PREUSSENS UND GEWALTSAME ÖFFNUNG CHINAS. DER WIRTSCHAFTLICHE UND POLITISCHE STELLENWERT DES DEUTSCHEN CHINAHANDELS UM DIE MITTE DES 19. JAHRHUNDERTS
3. LANGZEITKRISE DER DEUTSCHEN WIRTSCHAFT UND UNTAUGLICHE CHINESISCHE REFORMEN. BEMÜHUNGEN UM KOMMERZIELLE UND INDUSTRIELLE EXPANSION IN CHINA (1871-1894)
4. GESCHEITERTE DEUTSCHE WELTMACHTKONZEPTIONEN UND VERGEBLICHE MODERNISIERUNGSMASSNAHMEN IM REICH DER MITTE. DIE MILITÄRISCHE UND WIRTSCHAFTLICHE DURCHDRINGUNG CHINAS BIS ZUM UNTERGANG DES CHINESISCHEN KAISERREICHES (1894-1911)
5. ERSTER WELTKRIEG UND DROHENDER ZERFALL CHINAS. KULMINATIONSPUNKT UND ZUSAMMENBRUCH DES DEUTSCHEN CHINAHANDELS (1911-1919)
6. DEUTSCHER REVISIONISMUS UND CHINESISCHE WIRREN. DIE DEUTSCHE WIRTSCHAFTSPOLITIK IN CHINA UND DIE ERRICHTUNG DER KUOMINTANG-HERRSCHAFT (1919-1928)
7. DEUTSCHE AUFRÜSTUNGSPOLITIK UND NATIONALER WIEDERAUFBAU CHINAS. DIE MILITÄRINDUSTRIELLE KOOPERATION MIT DER REGIERUNG CHIANG KAI-SHEK (1928-1938)
8. NATIONALSOZIALISTISCHE WELTMACHTVORSTELLUNGEN UND DER KAMPF UM DIE VORHERRSCHAFT IN CHINA. DIE DEUTSCH-CHINESISCHEN BEZIEHUNGEN BIS ZUM SCHEITERN DER WELTMACHTPLÄNE HITLERS (1938-1945)
9. SCHLUSSBETRACHTUNG UND AUSBLICK
10. ANHANG
ABKÜRZUNGEN
QUELLEN UND LITERATUR
PERSONEN- UND FIRMENREGISTER

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Die Chinapolitik des Deutschen Reiches 1871 bis 1945

WEHRWISSENSCHAFTLICHE

FORSCHUNGEN

Abteilung MILITÄRGESCHICHTLICHE

STUDIEN

Herausgegeben vom MILITÄRGESCHICHTLICHEN

FORSCHUNGSAMT

durch Günter Roth und Manfred Messerschmidt in Verbindung mit Rainer Wohlfeil, Werner Gembruch und Andreas Hillgruber

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UDO RATENHOF

Die Chinapolitik des Deutschen Reiches 1871 bis 1945 Wirtschaft — Rüstung — Militär

UDO R A T E N H O F

Die Chinapolitik des Deutschen Reiches 1871 bis 1945 Wirtschaft — Rüstung — Militär

HARALD

BOLDT

VERLAG



BOPPARD

AM

RHEIN

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Ratenhof, Udo: Die Chinapolitik des Deutschen Reiches 1871 bis 1945: Wirtschaft, Rüstung, Militär / Udo Ratenhof. - Boppard am Rhein: Boldt, 1987. (Wehrwissenschaftliche Forschungen: Abteilung militärgeschichtliche Studien; 34) ISBN 3-7646-1866-3 NE: Wehrwissenschaftliche Forschungen / Abteilung militärgeschichtliche Studien

ISBN: 3 76461866 3 © Harald Boldt Verlag - Boppard am Rhein 1987 Alle Rechte vorbehalten • Printed in Germany Herstellung: boldt druck boppard gmbh

INHALT

1. Einleitung a) Chinesische Gesellschaft, westliche Einflüsse und die deutsche Politik b) Fragestellung, methodischer Ansatz und Forschungsstand . . .

2 13

2. Nationalstaatliche Bestrebungen Preußens und gewaltsame Öffnung Chinas — Der wirtschaftliche und politische Stellenwert des deutschen Chinahandels um die Mitte des 19. Jahrhunderts

25

3. Langzeitkrise der deutschen Wirtschaft und untaugliche chinesische Reformen — Bemühungen um kommerzielle und industrielle Expansion in China (1871—1894) a) Die Stagnation des deutschen Chinahandels und wirtschaftspolitische Einflußnahme im Reich der Mitte b) Chinesische Militärreformen, private Rüstungsgeschäfte und die Aktivitäten der deutschen Kriegsmarine in China c) Wirtschaftliche, politische und strategische Interessen an einer militärischen und industriellen Modernisierung Chinas . . . . 4. Gescheiterte deutsche Weltmachtkonzeptionen und vergebliche Modernisierungsmaßnahmen im Reich der Mitte — Die militärische und wirtschaftliche Durchdringung Chinas bis zum Untergang des chinesischen Kaiserreiches (1894—1911) a) Antimodernistische chinesische Reaktionen als Vorwand für eine militärische Interventionspolitik in China b) Deutsche Wirtschafts- und Rüstungspolitik in China zwischen Mandschu-Reformen und nationalem chinesischen Aufbegehren c) China als geplanter Eckpfeiler deutscher Weltpolitik in Ostasien 5. Erster Weltkrieg und drohender Zerfall Chinas — Kulminationspunkt und Zusammenbruch des deutschen Chinahandels (1911-1919) 6. Deutscher Revisionismus und chinesische Wirren — Die deutsche Wirtschaftspolitik in China und die Errichtung der KuomintangHerrschaft (1919-1928) a) Die Wiederannäherung der beiden „Verliererstaaten" und die Belebung des deutschen Chinageschäfts

1

51 51 71 94

127 127

169 198

231

271 271 V

b) Modernisierungsversuche der Kuomintang und deutsche Waffenlieferungen c) Wunschvorstellungen und Grenzen eines wirtschaftspolitischen Engagements im nationalrevolutionären China

299 325

7. Deutsche Aufrüstungspolitik und nationaler Wiederaufbau Chinas — Die militärindustrielle Kooperation mit der Regierung Chiang Kai-shek (1928-1938) a) Äußere und innere Bedrohung der chinesischen Modernisierung und die aktive Chinapolitik der Reichswehr b) Die deutsch-chinesischen Wirtschafts- und Rüstungsbeziehungen in der Phase der inneren Stabilisierung Chinas c) Die deutsche Chinapolitik im Spannungsfeld rüstungswirtschaftlicher Erfordernisse, militärpolitischer Strategien und ideologischer Zwänge

451

8. Nationalsozialistische Weltmachtvorstellungen und der Kampf um die Vorherrschaft in China — Die deutsch-chinesischen Beziehungen bis zum Scheitern der Weltmachtpläne Hitlers (1938—1945) .

491

357 357 405

9. Schlußbetrachtung und Ausblick a) Phasen und Parallelen in der deutschen Chinapolitik von Bismarck bis Hitler b) Zur Kontinuität nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Chinapolitik der Bundesrepublik Deutschland

537

10. Anhang Tabelle 1: Der Außenhandel des Deutschen Reiches mit China 1890 bis 1942 Tabelle 2: Der Außenhandel des Deutschen Reiches mit China und Japan im Vergleich 1890 bis 1941 Tabelle 3: Der prozentuale Anteil Großbritanniens, Japans, der Vereinigten Staaten und Deutschlands am chinesischen Außenhandel 1888 bis 1937 Tabelle 4: Amerikanisches, japanisches, britisches und deutsches Kapital in China 1900 bis 1936 Tabelle 5: Auswärtiger Schiffsverkehr in China 1868 bis 1936 . . Tabelle 6: Die von China bestellten und von der Firma Fried. Krupp gelieferten Geschütze 1871 bis 1914

561

Graphik: China 1911. Friedensgliederung der chinesischen Armee . Karte: China 1934. Provinzen, Bodenschätze, Industrie, Arsenale .

538 547

561 563

564 566 567 568 570 572

Abkürzungen

573

Quellen und Literatur

577

Personen- und Firmenregister

615

VI

Abbildungen Li Hung-chang bei Krupp Chinesische Militärs bei Mauser Siemens China Co. Die Reichenau-Mission I Die Reichenau-Mission II China auf der Ostmesse

nach 6

VII

VORWORT

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine — besonders in den Anmerkungen — gekürzte und durch einen Anhang erweiterte Studie, die der Gemeinsame Ausschuß der Philosophischen Fakultäten der Universität Freiburg i. Br. im Wintersemester 1984/85 unter dem Titel „Wirtschaft, Rüstung und Militär in der Chinapolitik des Deutschen Reiches von 1871 bis 1945. Chinas Erneuerung, Großmachtrivalitäten in Ostasien und deutsches Weltmachtstreben" als Dissertation angenommen hat. Sie wurde durch Vorlesungen, Übungen und Seminare über das nationalistische China der 1920er und 1930er Jahre angeregt, die Prof. Dr. Bernd Martin in den Jahren 1978/79 am Historischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität abhielt. Ihm, meinem geschätzten akademischen Lehrer, gilt daher mein erster Dank, nicht nur für mannigfaltige Hilfestellungen und eine umfassende, stets wohlwollend kritische Betreuung der Arbeit, sondern auch für die angenehme Atmosphäre seines Kandidatenkolloquiums, das persönliche Begegnungen und anregende Diskussionen ermöglichte. Dank sagen möchte ich weiterhin dem Bundesministerium der Verteidigung, das mir als Berufsoffizier der Bundeswehr durch eine Versetzung an das Militärgeschichtliche Forschungsamt in Freiburg ein Studium der Geschichtswissenschaft an der dortigen Universität möglich machte und das die Promotion in jeder Hinsicht förderte. Für die freundliche Hilfe, die mir in privaten und öffentlichen Bibliotheken und Archiven sowie von Seiten aller Gesprächspartner und — bei der Drucklegung — durch die Schriftleitung und die Zeichenstelle des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes zuteil wurde, danke ich allen Beteiligten. Viel verdanke ich auch meinen Eltern, Freunden und Bekannten, die das Projekt mit ständigem Interesse begleiteten. Mein tiefster Dank gilt jedoch meiner Frau, ohne deren Anteilnahme und Unterstützung die Arbeit nicht hätte fertiggestellt werden können. Ihr sei daher das vorliegende Buch in Liebe und Dankbarkeit gewidmet. Lübeck, im April 1985

Udo Ratenhof

IX

1. EINLEITUNG

Der Wiedereintritt der Volksrepublik China in die internationale Politik nach der Kulturrevolution und insbesondere das Ausschalten der „Viererbande" nach dem Tod Mao Tse-tungs (1976)1 haben in den westlichen Industrieländern erneut Hoffnungen auf eine intensivere Annäherung und grundlegende Verständigung mit China genährt. Auch in der Bundesrepublik Deutschland nehmen seit Ende der 1970er Jahre neben wirtschaftlichen Erwartungen politische und militärstrategische Überlegungen in den Beziehungen mit China wieder einen größeren Platz ein. So werden die von der chinesischen Führung in Peking verkündeten umfassenden Modernisierungsvorhaben in der Landwirtschaft, in der Industrie, auf militärisch-rüstungswirtschaftlichem Gebiet sowie in Wissenschaft und Forschung voller Zuversicht betrachtet. Und nicht wenige Politiker liebäugeln wegen der anhaltenden Spannungen zwischen Washington und Moskau mit China als Bündnispartner an der Seite der „freien Welt" gegen eine auf diese Weise eingekreiste Sowjetunion. Doch nicht allein die aktuelle Problematik rechtfertigt ein Aufgreifen des Themas der deutsch-chinesischen Beziehungen unter rüstungsindustriellen, militärstrategischen und politischen Aspekten. Vielmehr scheint es auch wissenschaftlich ergiebig zu sein, das Geflecht von Wirtschaft, Militär und Politik im Deutschen Reich einmal anhand der deutschen Interessen in einem Land wie China aufzuzeigen, das noch dazu von der deutschen Geschichtsschreibung bisher sträflich vernachlässigt wurde. Historische Untersuchungen zum Verhältnis von Militär, Wirtschaft und Politik haben sich stärker den innen- und gesellschaftspolitischen Auswirkungen dieser Dreierbeziehung mit ihren Interaktionen und den daraus abgeleiteten außenpolitischen Zielvorstellungen zugewandt 2 . Weitgehend fehlen Fallstudien über das — aus welchen Motiven auch immer — unterschiedliche oder gemeinsame Agieren von Militärs, Wirtschaftsführern und Politikern im außenpolitischen Bereich, vor allem gegenüber sogenannten Entwicklungsländern. Eine Langzeitanalyse der

1

2

Die Transkription asiatischer Namen erfolgt nach dem in der wissenschaftlichen Literatur verbreiteten System von Wade/Giles. Entsprechend asiatischen Gepflogenheiten wird der Familienname stets an erster Stelle genannt. Jüngste verdienstvolle Beispiele: Geyer, Aufrüstung; Müller/Opitz. Um den Umfang der Anmerkungen nicht über Gebühr auszudehnen, beschränken sich die Angaben zu der benutzten Literatur auf Verfasser (bzw. Herausgeber) und, wenn nötig, Kurztitel. Die genauen bibliographischen Hinweise finden sich im Literaturverzeichnis.

1

deutsch-chinesischen Beziehungen bietet die Möglichkeit, konvergierende und divergierende wirtschaftliche, militärische und politische Interessen und deren Einflüsse in bestimmten Phasen der Außenpolitik des Deutschen Reiches herauszuarbeiten. Wie kaum ein anderes Land der „Dritten Welt" hat China seit dem letzten Jahrhundert mit seiner teilweise vom Westen aufgezwungenen, teilweise aus eigenem Antrieb vorgenommenen Modernisierung Wunschvorstellungen von Politikern, Wirtschaftsführem und Militärs in Deutschland genährt. Vor einer Erörterung erscheint es indes zweckmäßig, einen kurzen Überblick über die westlichen Einflüsse im Reich der Mitte sowie die Außen-, Außenwirtschafts- und Militärpolitik des Deutschen Reiches gegenüber China zu geben. a) Chinesische Gesellschaft, westliche Einflüsse und die deutsche Politik Westliche Modernisierungstheorien haben es bis heute nicht vermocht, ein einheitliches und überzeugendes theoretisches System zu entwerfen, mit dessen Hilfe die Entwicklung europäischer und außereuropäischer Gesellschaften verglichen werden könnte 3 . Probleme ergaben sich insbesondere bei einer Überprüfung der Theorien an konkreten historischen Sachverhalten 4 . Die sozialhistorisch orientierte Historiographie war sich dieser Probleme bei der Anwendung der Theorien bewußt und versuchte, durch eine Historisierung der theoretischen Ansätze präzise Erklärungsmodelle für geschichtliche Entwicklungen aufzustellen 5 . Durch zeitliche und räumliche Einschränkungen und durch eine differenziertere Sicht der Industrialisierung und Modernisierung hoffte sie, neue Problemhorizonte für die Geschichtswissenschaft zu erschließen. Obwohl der Schwerpunkt der Forschung eindeutig auf Europa und Amerika lag, sollten auch historische Prozesse außereuropäischer Länder auf die als Idealtypen verstandenen europäischen Gesellschaften bezogen werden können, ohne den Eigencharakter jener Gesellschaften zu vernachlässigen. Der Hauptakzent lag hierbei auf der sogenannten Nachfolgeproblematik, dem Wandlungsprozeß der „Nachzügler", verstanden als das Zusammentreffen historisch überkommener Gesellschaftsstrukturen mit von außen kommenden Ideen und Techniken 6 . Dieser historische Ansatz scheint jedoch nur unter bestimmten Voraussetzungen auf sogenannte Entwicklungsländer anwendbar zu sein: — —

3 4 5 6

2

durch Verzicht auf einen westlichen Idealtypus von Gesellschaftsentwicklung, durch Aufgabe des Postulats eines immanenten Zusammenhangs von Modernisierung und Demokratisierung

Blackbourn/Ely, passim; Wehler, Moderaisierungstheorie, S. 11 ff. Wehler, Modernisierungstheorie, S. 5 ff.; Trauzettel, S. 191 ff.; Zapf, S. 303. Dazu ausführlich Wehler, Modernisierungstheorie, S. 19 ff. Ebd., S. 47 ff.; Bendix, S. 4 ff.; Moore, S. 475 f.



und durch Loslösung des Begriffs des Modernen von europäischen Vorstellungen 7 . Die Entstehung der modernen Welt nur als reine Ausbreitung der okzidentalen Gesellschaftsformen aufzufassen, greift daher viel zu kurz8. Bei den Einflüssen westlicher Ideen und Techniken auf nichtwestliche Gesellschaften kann lediglich von einer Adaption bei eigenständiger gesellschaftlicher Entwicklung gesprochen werden 9 . Im Falle Chinas ist daher die Frage nach dem Antagonismus von (exogener) Modernität und (endogener) Traditionalität und seinen Auswirkungen kaum zu klären. Sinnvoller erscheint es hingegen, von einer Symbiose endogener und exogener, traditioneller wie moderner Einflüsse in ihrer Bedeutung für die gesellschaftliche Entwicklung auszugehen und diese historisch zu erforschen 10 . In dieser Hinsicht stellt sich die chinesische Gesellschaftsentwicklung unter den Aspekten Ideologie und Herrschaftssystem, Wirtschafts- und Sozialstruktur jeweils vor und nach dem Eindringen westlicher Einflüsse wie folgt dar: In der traditionellen chinesischen Agrargesellschaft bedeutete politische Erneuerung bis zum Eindringen des Westens lediglich einen Wechsel der kaiserlichen Dynastie unter Beibehaltung des gesellschaftlichen Systems. Die einflußreiche Schicht der Agrarbürokraten 11 , oft auch als Gentry bezeichnet, verhinderte durch die Unterdrückung des Handels neben einer kommerziellen Revolution im Agrarsektor auch eine bürgerlich-politische Revolution. Literatenbeamten, Angehörige der zentralen Bürokratie des Kaiserreiches, deren Hauptaufgabe es war, die Ordnung aufrechtzuerhalten, Recht zu sprechen und Steuern einzuziehen, konnten durch offene Korruption im allgemeinen höhere Gewinne erzielen als selbst die meisten Großgrundbesitzer. Die erstrebenswerte Karriere des Beamten war theoretisch allen Schichten möglich. In Wirklichkeit rekrutierten sich fast alle Mandarine jedoch aus der Klasse der Großgrundbesitzer, die allein in der Lage waren, die private Ausbildung zu Literaten bis zur staatlichen Prüfung zu finanzieren 12 . Das fremdherrschaftliche Mandschu-Kaiserhaus (seit 1644) versuchte, durch kollegial (d. h. mit Mandschus und Chinesen) besetzte Zentralbehörden und eine auf höchstens drei Jahre begrenzte Anstellung an ein und demselben Ort die Macht dieser Bürokratenelite so gering wie möglich zu halten. Aufgrund dieser Maßnahme blieb aber auch die effektive Machtausübung der

Moore, S. 193; Trauzettel, S. 191. Wehler, Handelsimperialismus, S. 76. 9 Als Beispiel sei auf die gewandelte Sicht der Rolle des Militärs im Transformationsprozeß einer nichtokzidentalen Gesellschaft hingewiesen. Vgl. dazu ausführlich Tibi, S. 10 ff.; 52 ff-, und die speziell auf das Osmanische Reich bezogenen Untersuchungen ebd., S. 84 ff. 10Trauzettel, S. 191 f.; Zapf, S. 302 f. " Die aus Literaten zusammengesetzte Bürokratie (Literatenbeamten) kam fast ausschließlich aus der ländlichen Oberschicht. 12 Dazu ausführlich Moore, S. 196 ff.; Zingerle, S. 70 ff. 7

8

3

Zentrale auf lokaler Ebene begrenzt. Die Bürokraten waren gezwungen, sich mit örtlichen Notabein zu arrangieren, welche aufgrund ihrer wirtschaftlichen und sozialen Stellung die lokale Macht ausübten: Es gab zwar zwischen Großgrundbesitzern und Bauern keine feudalen Abhängigkeiten, auch waren die Beziehungen zwischen Pächtern und Pachtherren, wie überhaupt der Zusammenhalt und die Organisation der gesamten bäuerlichen Gesellschaft, sehr lose 13 , soziales Ansehen und soziale Sicherheit waren aber von einem Minimum an Grundbesitz, nicht unbedingt Grundeigentum, abhängig 14 . Zusammengehalten wurde das chinesische Kaiserreich, das nach außen hin als passive Weltmacht auftrat 15 , im Innern durch die Staats- und Gesellschaftslehre des Konfuzianismus. Die Vorstellung, das Zentrum der Weltkultur zu sein, wurde geprägt von einem konfuzianistisch-sinozentrischen Weltbild, das ständig nach Harmonie, kosmischer Ordnung und Universalismus strebte. Der Konfuzianismus, Ideologie und Staatsreligion zugleich, war auf der Ebene der politischen Realität ein Kompromiß zwischen kaiserlichen Machtinteressen und Legitimationsinteressen der Gentry zur Begründung und Absicherung ihrer jeweiligen Herrschaftsposition. Der Kaiser mußte als Vertreter der Himmelsmacht, als kaiserlicher Oberpriester, rituelle und ethische Vorschriften beachten, um die Gunst der Götter für sein Volk zu erlangen. Die als einzige zur Auslegung der konfuzianistischen Schriften befähigten Literatenbeamten waren durch ihre Schriftkenntnis potentielle Schiedsrichter in Glaubens- und Weltanschauungsfragen und so indirekt an der Macht beteiligt 16 . Als Ideologie der Herrschenden konnte der Konfuzianismus zwar China als Reich zusammenhalten, mit seiner engherzigen Orthodoxie aber nur systemimmanente Innovationsversuche hervorbringen. Die auf diese Weise herbeigeführten Herrschaftswechsel konnten die politische und soziale Ordnung nicht grundsätzlich in Frage stellen 17 . Schon Max Weber hob den gravierenden Unterschied zu den okzidentalen Gesellschaften hervor: „Der konfuzianistische Rationalismus bedeutet rationale Anpassung an die Welt. Der protestantische Rationalismus rationale Beherrschung der Welt 1 8 ." Die Doppelkrise des 19. Jahrhunderts, die Taiping-Rebellion und das Eindringen des Westens 1 9 , zwang China schließlich, modifizierte westliche Modelle zur Modernisierung des Landes zu übernehmen. Die lokale Gentry und einzelne Militärführer, die ohne wesentliche Hilfe der Dynastie die Taiping mit

" T r a d i t i o n e l l e r Bezugspunkt w a r die Großfamilie. Moore, S. 53, 539. 14

Michael, Regionalism, S. XXIV ff.; Trauzettel, S. 193 f.; Weber, S. 3 3 0 ff.

15

Fast alle Staaten im Fernen Osten waren als Tributstaaten mehr oder weniger fest an China gebunden, ohne daß es diese nach eigener Auffassung selbstverständliche Abhängigkeit ausnutzte. Holcombe, S. 61 ff.

4

16

Weber, S. 298 ff.; Zingerle, S. 8 9 f.

17

Näth, Chinas Weg, S. 17 ff.; Beauvoir, S. 37 ff.; Zingerle, S. 12.

18

Weber, S. 534.

19

Gasster, Struggle, S. 9 ff.

westlichen Waffen besiegen konnten (1864) und dadurch ihre Macht festigten 2 0 , verfolgten jedoch eine Erneuerung nach westlichem Vorbild allein unter dem Gesichtspunkt, sich dem expansiven Vorgehen der Westmächte entgegenstellen zu können. Sie erkannten, daß eine Industrialisierung und die damit verbundene soziale Mobilität schließlich die Agrar- und Familienstruktur, die Basis des konfuzianistischen Systems, zerstören mußten. Daher tendierten sie traditionsgemäß zu einer Restauration nach traditionellem Vorbild, zu einer Modernisierung innerhalb des bestehenden Systems 21 . Das „Europäische Zeitalter", das Jahrhundert der „ungleichen Verträge" (1842—1943) und des okzidentalen Einflusses, kurz, der westlichen Überfremdung, die ihren Höhepunkt in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts erfuhr, bedeutete für das chinesische Kaiserreich keinesfalls eine Verwestlichung; der eigene Weg blieb immer im Vordergrund 22 . So gingen auch chinesische Reformer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stets nur von einer Korrektur oder einer Weiterentwicklung des Konfuzianismus aus, von einer Übernahme westlicher Technologien bei gleichzeitiger Bewahrung des chinesischen Geistes und der chinesischen Kultur, die sie der Zivilisation der „Barbaren" weit überlegen wähnten 2 3 . Wie die westliche Welt den Chinesen aufgrund fehlender oder falscher Informationen und aus christlich-abendländischem Überlegenheitsgefühl mit Voreingenommenheit begegnete, so war umgekehrt der Westen für China eine Zivilisation, begründet auf rein materieller Basis, ohne Kultur, Recht und Philosophie. Erst seit den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts, als die Kontakte allmählich intensiviert wurden, sprachen insbesondere chinesische Auslandsstudenten oft von den Vorteilen der demokratischen Systeme und von dem Wohlstand des Westens. Da ihre Vorstellungen wegen der Orthodoxie des konfuzianistischen Systems kein Gehör finden konnten, entwickelte sich nach und nach ein revolutionäres Potential, das schließlich die Mandschu-Dynastie für alle Rückständigkeiten verantwortlich machte und im Gegensatz zu den Reformern keine Möglichkeit mehr für eine innere Erneuerung sah 24 . Die Revolution von 1911, die den Aufstieg einer neuen bürgerlichen und militärischen Elite beschleunigte 25 , konnte zwar die institutionelle Repräsentanz des konfuzianistischen Systems zerstören, die Bewahrung der Lehre, der traditionellen Kultur, Moral und Ethik sowie die Erhaltung der sozialen Strukturen aber nicht verhindern. Das Ende der kaiserlichen Herrschaft bedeutete

20

Beckmann, S. 2; W . Franke, Jahrhundert, S. 37 ff.; ders., Kampf, S. 52 ff.; Kindermann, Entstehungsgeschichte, S. 26 ff.; Michael. Taiping-Rebellion, S. 35 ff.

21

Opitz, Aufbruch, S. 14 ff.

22

Beckmann, S. 118 ff.; Gasster, Struggle, S. 9 ff.

23

Näth, Chinas W e g , S. 30 ff.; Gasster, Reform, S. 85 ff.

24

J. Chen, S. 4 9 ff., 202 ff.; W . Franke, Jahrhundert, S. 80 ff.; Gasster, Reform, S. 90 ff.;

25

Bislang waren Soldaten auf der untersten Stufe der chinesischen Gesellschaftsordnung

King, History, S. 8 ff. angesiedelt gewesen. Carlson, S. 13 ff. 5

nämlich keine Änderung der wirtschaftlichen und sozialen Rolle des Großgrundbesitzes. Die lokale Gentry konnte ihre Stellung behaupten. Mit Hilfe regionaler Militärmachthaber, die sich häufig aus der Klasse der Großgrundbesitzer rekrutierten 26 , gelang es ihr, Steuern zu hinterziehen oder sich Regierungsfonds anzueignen, die für den Aufbau des Landes bestimmt waren. Infolge einer fortschreitenden Verschmelzung der Gentry mit den städtischen Oberschichten, die sich mit der forcierten Industrialisierung in China während des Krieges in Europa (1914-1918) weiter ausgebildet hatten, wurde der ländliche Grundbesitz schließlich nur noch als Vermögensanlage angesehen". Auch die kulturelle Revolution von 1919 („Vierte-Mai-Bewegung"), die sich sowohl gegen konfuzianistisches Gedankengut als auch gegen westliche Machtpolitik wandte, aber zugleich westliches Ideengut als Ideal übernahm, konnte sich nicht durchsetzen. Die revolutionären Konzepte des chinesischen Nationalismus und des chinesischen Kommunismus, die mit ihren Ordnungsvorstellungen mehr oder weniger an chinesische Denktraditionen anknüpften, behielten langfristig gesehen die Oberhand 2 8 . Der nationalistische Modernisierungsversuch der Kuomintang barg mit Sun Yat-sens synkretistischem Ordnungsentwurf, der westliches und chinesisches Gedankengut gleichwertig nebeneinander zu stellen und gleichsam eine konservative Erneuerung mit diktatorischen Mitteln durchzuführen suchte, von Anfang an die Möglichkeit des Scheiterns in sich 29 . Das Beharrungsvermögen des Konfuzianismus als kulturelle und soziale Kraft, auf die sich schließlich sogar das Regime Chiang Kai-sheks zu seiner politischen Machtabsicherung stützen mußte, ließ letztlich auch partielle Fortschritte bei der Modernisierung im Sande verlaufen 3 0 . Durch das Bündnis zwischen traditionellen Kräften und dem Militär war in der neuen Republik, in der Offiziere mehr und mehr politische und administrative Funktionen übernahmen, keine grundsätzliche Reform möglich 31 . Die Kuomintang, das Bindeglied zwischen Großgrundbesitz und Besitzbürgertum, versuchte lediglich, unter dem starken Einfluß des Militärs die sich verschärfenden Agrarprobleme mit Hilfe von Reformen auf dem Papier und militärischen Aktionen gegen Bauernbanden und Kommunisten zu lösen 32 . Die gegen die alte Ordnung aufbegehrenden Bauern hatten sich jedoch unter dem Einfluß der Modernisierungsbestrebungen seit dem 19. Jahrhundert zum revo26

Michael, Taiping-Rebellion, S. 35 ff.; Moore, S. 213 ff., 240 ff. "Moore, S. 224 ff.; vgl. auch Fairbank, United States, S. 125 ff.; Hsii, Rise, S. 341 ff., 514 ff.; Moore, S. 208 ff.; Weber, S. 391. 28 W-Franke, Jahrhundert, S. 122 ff., 13ßff.; Nätb, Chinas Weg, S. 42 ff.; Opitz, Aufbruch, S. 18 ff. 29 Vjechtbauer/Weginann, S. 110 ff. 39 w . Franke, Jahrhundert, S. 228 ff.; Gasster, Struggle, S-140 f. 31 w . Franke, Stufen, S, 155 ff.; Neugebaner, S- 20ff. 32 W. Frank«, Jahrhundert, S. 159 ff. ; Moore, 5,224 ff. 6

Abb. 1: Besuch des chinesischen Vizekönigs Li H u n g - c h a n g auf d e m Schießplatz der Firma Fried. Krupp in M e p p e n am 1. Juli 1896 (Historisches Archiv d e r Fried. Krupp GmbH, FAH III H 37)

Abb. 2: Chinesische Militärs auf dem Schießstand der Waffenfabrik Mauser in Oberndorf Anfang 1905 (Heimat- und Waffenmuseum, Stadt Oberndorf am Neckar)

Abb. 3: Büro der Siemens China Co. in Shanghai, wahrscheinlich von 1922 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges (John H. D. Rabe: Ein Vierteljahrhundert beim Siemens-Konzern in China, 1935; Archiv der Siemens AG, im Siemens Museum, München, 12/Lh 638)

Abb. 4: Die Reichenau-Mission in China I, Nanking im S o m m e r 1936 von links: Hans Klein, Chiang Kai-shek, W . v. R e i c h e n a u (Privatbesitz Friedrich Busse) Abb. 5: Die Reichenau-Mission in China II, Nanking im S o m m e r 1936 von links: Yüan Dö-mou, General Kwei Yung-ching, Friedrich Busse, Wirtschaftsminister Dr. W o n g W e n - h a o , Hans Klein, Ministerpräsident K'ung Hsiang-hsi, General v. Reichenau, Adjutant, Major Völter (Privatbesitz Friedrich Busse)

Abb. 6: China auf der O s t m e s s e in Königsberg, Sommer 1940 (Privatbesitz Friedrich Busse)

lutionären Potential entwickelt 33 , so daß Chiang Kai-sheks vorgebliche Revolution von oben zum Scheitern verurteilt sein mußte 34 . Die kriegerische Aggressivität der Japaner schuf den von den bäuerlichen Massen unterstützten chinesischen Kommunisten schließlich in den 40er Jahren die Voraussetzung, ihr Erneuerungsprogramm für China zu verwirklichen 35 . Vor dem Eindringen des Westens gab es trotz einer Vielzahl religiös motivierter militärischer Rebellionen und landwirtschaftlicher Krisen in China kein fundamentales Aufbegehren. Der orthodoxe Konfuzianismus war in der Lage, aufkommende Kritik zu absorbieren und innerhalb des Systems Lösungen zu finden. Dieses Höchstmaß an wirtschaftlicher, kultureller und sozialer Kontinuität, die Außenstehenden oft den Eindruck einer Stagnation vermittelte, gab dem System seine Stärke. Sie wurde aber auch zur Quelle aller Schwierigkeiten, als die Auswirkungen der politischen und wirtschaftlichen Revolution in Europa China erreichten 36 . Das Eindringen des Westens forderte nämlich nicht nur die Bauern, sondern auch die traditionelle Führungsschicht der Gentry heraus. Das Dilemma der Agrarbürokraten bestand darin, westliche Modelle akzeptieren zu müssen, um den eigenen Einfluß beizubehalten; die Übernahme dieser Modelle implizierte aber gleichzeitig den Aufstieg neuer Eliten, insbesondere des Militärs. Die Kontinuität im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereich hingegen wurde von alledem kaum berührt; Veränderungen spielten sich nach alter konfuzianistischer Tradition sozusagen nur im politischen Überbau ab. Modernisierung in China vor der kommunistischen Revolution bedeutete daher nicht Industrialisierung oder gar Emanzipation der Massen und Demokratisierung, sondern vor allem Militarisierung 37 . Kann die chinesische Gesellschaftsentwicklung hinsichtlich des westlichen Einflusses und Eindringens von einem modifizierten modernisierungstheoretischen Ansatz her analysiert und dabei auch die Kontinuität erfaßt werden, so scheint es für die deutsche Außenpolitik dieses Zeitraums sinnvoller zu sein, von der Frage der Kontinuität in der Geschichte des Deutschen Reiches auszugehen, da diese für die deutsche Geschichtsschreibung auch als Angelpunkt modernisierungstheoretischer Erklärungsmodelle angesehen wird. Kontinuität nur als Stabilität in einer sich ändernden Welt zu verstehen, griffe zu kurz. Kontinuität dagegen in jedem Ablauf von Geschichte gleichsam als eine Einheit des Seins ausmachen zu wollen, liefe auf einen zu weiten metaphysischen Ansatz hinaus. Kontinuität aber als vorgegebene Linie der Geschichte in Raum und Zeit zu begreifen, die letztlich mit mathematischer Genauigkeit zu ermitteln wäre, käme einer Verabsolutierung von Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte gleich und widerspräche der generellen Offen-

33

Eastman, S. 39 ff.; Gasster, Struggle, S. 50 ff.

34

Fairbank, United States, S. 239 ff.

35

Moore, S. 546 f.

36

Y. Wang, S. XXII ff., 7 ff., 497 ff.

37

Beckmann, S. 2 f.; Michael, Regionalism, S. XXII f.; Moore, S. 575 f. 7

heit geschichtlicher Situationen 38 . Kontinuität kann indes auch nicht Kausalität bedeuten, verstanden als die logische und notwendige Konsequenz einer einzelnen Handlung oder einer ganzen Epoche, wenn nicht die Diskontinuität, selbst wiederum Voraussetzung von Kontinuität, von vornherein ausgeschaltet werden soll. Kontinuität ist daher nicht eine Folge von kausalen Abläufen, sie ist vielmehr partielle Identität, d. h., sie setzt Ähnlichkeiten in Teilen voraus. Der Gefahr von Kontinuitätstheorien, zu simplifizieren oder zu verabsolutieren und als Folge davon z. B. Früheres stets aus Späterem zu erklären oder rein formale Analogien als eindeutige Zuordnungen zu verstehen, läßt sich nur mit Hilfe eines historischen Konzepts von Kontinuität begegnen, das von Gleichheiten oder Ähnlichkeiten in der Geschichte ausgeht. Um vorschnelle Hypothesen zu vermeiden, muß dieses Konzept sich grundsätzlich an verschiedenen „Kontinuitätsmodellen" orientieren, die, von ganz unterschiedlichen Fragestellungen ausgehend, auch zu verschiedenartigen Ergebnissen führen können, ohne daß ihre notwendige Überprüfung an konkreten Sachverhalten dabei vernachlässigt wird 39 . Ludwig Dehios Untersuchungen zur Kontinuität in der preußisch-deutschen Geschichte und die durch Fritz Fischers Studien neu belebte Diskussion haben die heutigen Ansätze, Kontinuitäten in der deutschen Geschichte aufzuzeigen, entscheidend mitgeprägt. Sah Dehio die preußisch-deutsche Expansion noch eingebettet in die europäische Geschichte des Hegemoniaistrebens der Neuzeit 40 , so erkannte er doch bereits deutsche Besonderheiten in der Methode des Vorgehens: „mit altpreußischem Erfolgsrezept" 41 innere und äußere Spannungen gleichsam in einer Flucht nach vorn zu lösen 42 . Fritz Fischers im Laufe der Zeit immer weiter ausgearbeiteter methodischer Ansatz folgerte einen deutschen Sonderweg von 1880 bis 1945, der sich auf die Verbindung zwischen preußischem Militär- und Obrigkeitsstaat und liberalem Bürgertum gründete und in der Kontinuität der wirtschafts- und machtpolitischen Zielsetzungen dieser Kreise seinen Ausdruck fand. Die bei dem Übergang von einem geschlossenen Agrarstaat zu einem imperialen Industriestaat auftretenden Spannungen zwischen monarchisch-feudalen und bürgerlich-kommerziellen Strukturen konnten nur durch ein Zusammenspiel von Politik, Wirtschaft und Militär bei gemeinsamen expansiven, kontinentaleuropäischen und überseeischen Zielvorstellungen aufgelöst werden. Nach dem Ersten Weltkrieg, der — nach Fischer — letztlich gewollt oder zumindest ein kalkuliertes Risiko auf dem Durchbruch zur Weltmacht war, wurden überkommene Machtstrukturen restauriert, allerdings mit gesteigertem Ein-

38

Gerschenkron, S. 11 ff.; Hillgruber, Großmacht, S. 111 f.

39

Dehio, Geschichte, S. 25 f.; Gerschenkron,

S. 24 f., 38 f.; Jacobsen,

Anmerkungen,

S. 1 ff.; Nipperdey, Kontinuität, S. 86 ff. 40

Dehio, Gleichgewicht, S. 215 ff.

41

Kühnste Führung, systematische Rüstung und diszipliniertes Menschentum. Dehio, Deutschland, S. 77 ff.

42

8

Dehio, Gedanken, S. 309 ff.; ders., Gleichgewicht, S. 184 ff.

fluß der Industrie auf Kosten des Adels. Seit den 30er Jahren trug dann das Militär wesentlich zur Stabilisierung dieses Bündnisses der alten Eliten bei, das seine expansionistischen Ziele beibehalten hatte und seine Massenbasis schließlich mit Hilfe Hitlers gewann 43 . Die Frage nach der Kontinuität in der Geschichte des Deutschen Reiches wird in der heutigen deutschen Geschichtsschreibung, zumeist unter Einbeziehung der Frage des deutschen Sonderweges, im wesentlichen von zwei Ansätzen ausgehend beantwortet: einem primär außenpolitischen und einem mehr innen-, wirtschafts- und sozialpolitisch orientierten 44 . Die den Primat der Außenpolitik in den Vordergrund stellenden Überlegungen von Andreas Hillgruber gehen von weitverbreiteten Gedanken an eine kontinentale Hegemonie und Vorstellungen eines überseeischen Reiches schon im deutschen Vormärz aus. Aber erst die von einem unausweichlichen kriegerischen Zusammenstoß in Europa ausgehende Politik des „Neuen Kurses" habe die der deutschen Mittellage angemessene Kompensationsstrategie Bismarcks zugunsten einer expansiven kontinentaleuropäischen und einer überseeischen Strategie aufgegeben. Zwar habe es dabei Präventivkriegsvorstellungen gegeben, aber niemals eine zielbewußte Politik, die auf einen Krieg hinarbeitete. Erst im Verlauf des Ersten Weltkrieges sei es zu tiefgreifenden Veränderungen in den Groß- und Weltmachtvorstellungen gekommen: zur Schaffung eines Ostimperiums und zu konkreten Plänen kolonialpolitischer Ausbeutung. Hitler fügte nach den Jahren der ökonomisch orientierten revisionistischen Außenpolitik in der Weimarer Republik 45 die nebeneinander existierenden außenpolitischen Strategien des Kaiserreiches zu einem, wenn auch qualitativ neuen Gesamtkonzept zusammen. Trotz unterschiedlichen Einflusses zu verschiedenen Zeiten lasse sich daher insbesondere eine Kontinuität militärpolitisch akzentuierter, expansionistischer außenpolitischer Zielvorstellungen während des Bestehens des Deutschen Reiches feststellen 46 . Der von modernisierungstheoretischen Überlegungen ausgehende Ansatz Hans-Ulrich Wehlers 47 , der Außenpolitik letztlich nur als Funktion von Ge43

44 45 46

47

F. Fischer, Griff, S. 15 ff., 194 ff.; ders., Krieg, S. 11 ff., 61 ff. und ausführlich ders., Bündnis, passim. Ziebura, Grundfragen der Außenpolitik, S. 1 ff. Besson, S. 55 ff. Hillgruber, Hegemonie, S. 193 ff. und ausführlich ders., Großmacht, passim. Zum Nationalsozialismus und der Kontinuität in der deutschen Geschichte vgl. besonders Bracher, Diktatur, S. 525 ff., der im Nationalsozialismus zwar nichts grundsätzlich Neues sieht — alles sei schon einmal im 19. Jahrhundert d a g e w e s e n —, aber auch keine glatte Kontinuität feststellen kann; ebenfalls Jacobsen, Anmerkungen, S. 1 f., 19 ff., der im Nationalsozialismus einen revolutionären Umbruch mit unverkennbaren Kontinuitäten in Teilbereichen erkennt, z. B. in genuin militanten Denkkategorien, die im Nationalsozialismus schließlich so weit verfremdet werden konnten, daß Krieg als legitimes Mittel zur Auslese der besten Rasse angesehen wurde; außerdem Röhl, From Bismarck to Hitler, S. 117, 145, der im Nationalsozialismus eine Synthese von Bismarck-Reich und Weimarer Republik erkennen will. Vgl. auch Hildebrand, Außenpolitik, S. 13 ff. Wehler, Kaiserreich, S. 228 ff. 9

sellschaftspolitik ansieht, erkennt nach der 1848er Revolution in der „Neuen Ära" einen weiteren gescheiterten Versuch des Bürgertums, die politische Macht zu gewinnen 48 . Die Struktur des preußisch-deutschen Obrigkeitsstaates und seines autonomen Militärwesens sei schließlich unangetastet geblieben. Trotz partieller Modernisierungen in der Wirtschaft hätten sich auch im Kaiserreich die soziopolitischen Machtstrukturen als stabil genug erwiesen, um die deutsche gesellschaftliche Entwicklung bis 1918 restriktiven Rahmenbedingungen zu unterwerfen. Der Führungsanspruch traditioneller Eliten mit ihrem vorindustriellen Wertesystem sei aufrechterhalten worden. Innenpolitische Herrschaftstechniken der negativen Integration und Integrationsideologien wie der Sozialimperialismus und schließlich die rassistische Rechtfertigung äußerer Expansion hätten zu einer Feudalisierung des Bürgertums mit beigetragen, zu seinem Verzicht auf politische Macht und Demokratisierung zugunsten expansionistischer Wirtschaftsziele 49 . Selbst die Einschnitte 1918 und 1933 seien nicht tief genug gewesen, diese historischen Belastungen für den Modernisierungsprozeß zu beseitigen 50 . Der Nationalsozialismus könne daher — so Wehler — nicht allein aus den Problemen nach dem Ersten Weltkrieg erklärt werden. Vielmehr habe sich der Einfluß der Führungseliten des Kaiserreiches in der Weimarer Republik durch Kontinuitäten in Militär, Diplomatie, Bürokratie und Parteien, in der Wirtschaft und in Interessenverbänden, im Bildungswesen und letztlich auch in der Anfälligkeit der Bevölkerung für autoritäre Politik fortgesetzt. Die traditionellen Machteliten seien zum Steigbügelhalter für Hitler und seine rassistische Außenpolitik geworden 5 1 .

46

W . Schieder, Revolution, S. 13 ff.; vgl. auch die Untersuchung von Winkler über den preußischen Liberalismus der 50er und 60er Jahre des 19. Jahrhunderts in dessen Buch Liberalismus.

49

Vgl. dazu auch Stürmer,

Bismarcks

Deutschland,

S. 20 f.; ders.,

Konservatismus,

S. 143 ff., 162 f., sowie Winklers Studien über den Wandel der W e r t e und Ziele des Bürgertums 1866—1879, auch unter dem Aspekt des Funktionswandels des Nationalismus, Winkler, Machtverzicht; ders., Emanzipation. 50

Kolb, S. 108 f.

51

Ausführlich Wehler, Kaiserreich, S. 212 ff., 238 ff. Vgl. dazu auch die These, Faschismus sei nur dort möglich, w o starke vorindustrielle Eliten wie grundbesitzender Adel, Militär und Bürokratie ihre Herrschaftsposition über die industrielle Revolution hinwegretten konnten, Winkler, Einleitung zu Stern/Winkler; ebenso die Auffassung W . J. Mommsens, die Machtergreifung sei zu keinem Zeitpunkt unabwendbar gewesen, die leichtfertige Politik der großagrarischen und industriellen Führungseliten habe Hitler als einzigen Ausweg aus einer Krise um Staat und Gesellschaft gesehen, W . J. Mommsen, Flucht. Kritik an diesem Ansatz und dem damit begründeten deutschen Sonderweg ist in letzter Zeit von ausländischen Wissenschaftlern geäußert worden. D. Blackbourn und G. Eley, die mehr von einer immanenten Sicht des Kaiserreiches ausgehen, beklagen die zu große Orientierung an der Modernisierungstheorie und den damit implizierten Bezug auf eine idealtypische Entwicklung Englands und der Notwendigkeit einer Demokratisierung als Ergänzung der Industrialisierung. Eine

10

Diese Überlegungen zur Kontinuität in der Geschichte des Deutschen Reiches verweisen, wenn auch von verschiedenen Ansätzen ausgehend, auf die Bedeutung von Wirtschaft und Militär in der Außenpolitik. Ein Einfluß der Wirtschaft auf die Politik läßt sich schon für die 60er Jahre des 19. Jahrhunderts feststellen, als auf wirtschaftlichem Gebiet die kleindeutsche Lösung bereits vorentschieden wurde 52 . Bismarcks Politik des pragmatischen Expansionismus war vor allem eine antizyklische Konjunkturpolitik, die Protektionismus und Exportsubventionen zugunsten der deutschen Wirtschaft durchsetzte, ohne dabei zunächst Kolonialerwerbungen anzustreben. Doch scheiterten Bismarcks Bemühungen, das Reich in Übersee nicht unmittelbar politisch zu engagieren, letztlich an der allgemein sich ausbreitenden Tendenz der Großmächte, staatliche Formen kolonialer Herrschaft über fremde Territorien auszubilden 53 . Da sich die territoriale Ausdehnung der Märkte jedoch nicht unbegrenzt fortsetzen ließ und sich zudem der generelle Antagonismus der europäischen Staaten in ihrer imperialen Politik widerspiegelte 54 , waren die ökonomischen Elemente nicht die einzigen, die dem Imperialismus eine neue Qualität verliehen. Die ökonomische, insbesondere aber die politische und kulturelle Expansion bediente sich zunehmend der Mittel der politischen Herrschaft in Form kolonialer Inbesitznahme. Vor allem das zu spät auf den Weltmarkt gekommene Deutschland setzte hierbei verstärkt politische und militärische Machtmittel ein, um den Anschluß nicht zu verpassen. Innen- und außenpolitische Gründe, Überwindung gesellschaftlicher Spannungen und Aufstieg zur Weltmacht, bestimmten daher noch vor ökonomischen Motiven die imperiale Politik des Deutschen Reiches in der Zeit nach Bismarck 55 . Der „Depressionsimperialismus" wurde zwar Mitte der 90er Jahre durch einen „Konjunkturimperialismus" abgelöst 56 , strukturbedingte Schwächen, wie eine unzureichende Kapitalbasis, eine geringe Geschlossenheit der Industrie,

bürgerliche Gesellschaft, die gar nicht, wie es das sogenannte Scheitern der Bürgerlichen Revolution immer suggeriere, auf eine Demokratisierung bedacht gewesen sei, sondern rein ökonomische Ziele angestrebt habe, habe sich in großen gesellschaftlichen Teilbereichen fest etablieren können. Blackbourn/Eley. D. Calleo stellt eine eigenständige Entwicklungstheorie für die deutsche Gesellschaft in Frage und hebt die Gemeinsamkeiten des politischen, sozialen und ökonomischen Modernisierungsprozesses aller westlichen Gesellschaften hervor. 52

Durch den preußisch-französischen Handelsvertrag von 1862. Mit der Orientierung nach Westeuropa wurden die österreichische Nordsee-Adria-Konzeption und der Mitteleuropaplan abgewehrt. Böhme, Politik, S. 34 f.; Treue, Wirtschaft, S. 193 ff.

53

Rosenberg, Bismarckzeit, S. 2 6 8 ff. Ausführlich auch Geiss, S. 44 ff.; Valentin, S. 42 ff.; Wehler, Krisenherde, S. 135 ff.

54

Schulz, S. 96 ff., 137 ff.

55

W . J. Mommsen, Phänomen, S. 14 ff.; Böhme, Thesen, passim; Ziebura, Imperialismus, S. 516; ders., Faktoren, passim; Baumgart, S. 70 f., 102 f.; Hallgarten, Imperialismus, Bd 1, S. 56 ff.; Schulz, S. 154 ff.

56

Wehler, Bismarcks Imperialismus, S. 235 ff.

11

vor allem eine fehlende Zusammenarbeit von Außenpolitik und Außenwirtschaft, blieben aber weiterhin bestehen 57 . Der Erste Weltkrieg bedeutete dann das Ende des liberalen Welthandels; nach Kriegsende entstand keine neue internationale Wirtschaftsordnung 58 . Die staatliche Bevormundung der deutschen Wirtschaft aus der Kriegszeit konnte bei den bestehenden wirtschaftlichen und politischen Problemen der Nachkriegszeit nie ganz beseitigt werden. Auch nach ihrer Stabilisierung 1923/24 blieb die deutsche Wirtschaft äußerst labil und anfällig. Die Weltwirtschaftskrise Ende der 20er/Anfang der 30er Jahre ließ schließlich Autarkieprogramme zur Lösung wirtschaftlicher Probleme als besonders vordringlich erscheinen. In der letzten Phase des Deutschen Reiches mußte sich die Wirtschaft machtpolitisch ideologischen Zielsetzungen unterordnen, da der Nationalsozialismus Autarkiekonzepte instrumentalisierte, um das Deutsche Reich wirtschaftlich auf den Krieg vorzubereiten 59 . Das Militär konnte sowohl bei der politisch bedeutsamen Reorganisationsfrage Anfang der 1860er Jahre 60 als auch bei der Reichsgründung seine politischen und sozialen Vorstellungen durchsetzen, neben der zivilen Führung als gleichberechtigte Instanz bestehen zu bleiben und damit seine Sonderstellung zu wahren. Bismarck hielt auch nach 1871 an dem Bündnis mit der Armee fest und hat trotz seines verfassungsrechtlichen und politischen Kompromisses durchaus in ihrem Sinn gehandelt. Der Primat der Politik galt in der Bismarckzeit in der Außenpolitik jedoch als gesichert. Bestärkt durch die Einigungskriege und in ihrem Selbstverständnis als Garant des innenpolitischen Systems entwickelte die militärische Führung, insbesondere nach 1890, ein eigenes Rollenverständnis und eine eigene Auffassung von Politik. Der militärische Monopolanspruch auf die Vorbereitung, Auslösung und Durchführung eines Krieges blieb bis 1918 aufrechterhalten 61 . In der Weimarer Republik stand die Frage einer bewaffneten Macht als Folge der Restriktionen des Versailler Vertrages bei den traditionellen zivilen Eliten zunächst im Hintergrund. Bis 1923 konnte die im wilhelminischen Geist erzogene Militärführung lediglich im stillen alte Weltmachtvorstellungen neu entwickeln, ohne daß diese jedoch politisch wirksam wurden. Erst nach dem ungünstigen Verlauf der vorbereitenden Abrüstungskonferenz 1929 und infolge der Weltwirtschaftskrise, welche die deutsche Schwerindustrie besonders hart traf, versuchte die militärische Führung, allmählich wieder eine eigenständige Politik zu betreiben, die auf eine internationale Gleichberechtigung in allen Rüstungsfragen hinauslaufen sollte 62 .

57

Ziebura, Imperialismus, S. 507 ff.

58

Th. Schieder, Weltmächte, S. 20 ff.

59

W . Fischer, passim.

60

Ritter, B d l , S. 159 ff.

6

' Berghahn, Flottenrüstung, S. 386 ff.; ders., Rüstung, S. 14 f.. 23 ff., 47 ff.; Hillgruber, Kontinuität, S. 22; Messerschmidt, Armee, S. 94 ff.; ders., Militär, S. 1 ff., 117 ff.

62

12

Hillgruber, Kontinuität, S. 37 ff.; ders., Militarismus, passim.

Als mit dem Scheitern der bilateralen Gespräche mit Frankreich und der Rüstungskontrollverhandlungen Anfang der 30er Jahre letztlich auch die konservative revisionistische Außenpolitik fehlschlug, meldete die Reichswehr daher den alten Monopolanspruch, allein über die Sicherheit des Staates entscheiden zu können, wieder an. Sicherheit sollte durch Aufrüstung garantiert werden. Mit dieser Politik lag die militärische Führung ganz auf der Linie der nationalsozialistischen „Wiederwehrhaftmachung", die ihrerseits versuchte, an den preußischen Militarismus anzuknüpfen 63 . Bei fortschreitender Militarisierung der Außen- und Außenhandelspolitik, insbesondere bei der Rohstoffzufuhr, wurden die wirtschaftlichen und politischen Grenzen der Aufrüstung jedoch schon bald sichtbar. Die Aufrüstung führte letztlich nicht zu einer machtpolitischen Sonderstellung des Militärs und zur nationalen Sicherheit, sondern zu einer Gleichschaltung der militärischen Elite und zu einer unabwägbaren Erhöhung des Kriegsrisikos64.

b) Fragestellung,

methodischer

Ansatz und

Forschungsstand

Die folgende Untersuchung soll nun nicht, ausgehend von einem deutschen Sonderweg, mögliche unterschiedliche Methoden bei der Durchdringung Chinas im Vergleich zu anderen Großmächten aufzeigen oder gar die von starker Kontinuität und dem Einfluß des Militärischen geprägte deutsche und chinesische Gesellschaftsentwicklung seit Mitte des 19. Jahrhunderts vergleichend analysieren. Vielmehr gilt es vor allem, die Kontinuität und Diskontinuität in der Chinapolitik des Deutschen Reiches darzustellen und — wo immer möglich — deren Stellenwert für die deutsche Außenpolitik und deren Wirkung auf die Modernisierung in China herauszuarbeiten. In einer Art Ausblick sollen schließlich die Strukturen der deutsch-chinesischen Beziehungen bis in die Gegenwart nachgezeichnet werden, um unter der Perspektive der Kontinuität die Nachkriegsentwicklung deutscher Chinapolitik und deren gegenwärtige Phase kritisch zu betrachten. Hingegen scheint es durchaus legitim zu sein, die Frage nach den Auswirkungen der chinesischen Außenpolitik auf das Deutsche Reich auszuklammern, da grundsätzlich davon ausgegangen werden kann, daß es einen chinesischen Einfluß auf die politische, militärische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland nie gegeben hat. Je weiter das Ende des Deutschen Reiches in die nicht mehr unmittelbar erlebte Vergangenheit rückt, desto stärker werden die Tendenzen, von einer gleichbleibenden Identität seiner politischen Strukturen sowie von einem monolithischen Block der sozialen Führungsschichten und politisch relevan-

63 64

Besson, S. 60 ff.; Bracher, Diktatur, S. 28 ff. Hillgruber, Großmacht, S. 62 ff.; ausführlich und umfassend Geyer, Aufrüstung, passim. 13

ten Gruppen auszugehen 65 . Bei aller Gleichheit der außen- und gesellschaftspolitischen Ziele der traditionellen Eliten stellt sich jedoch weiterhin die Aufgabe, nicht nur ihre unterschiedlichen Interessen, Motive und Handlungsweisen sowie die Machtverteilung untereinander zu untersuchen, sondern auch innerhalb der einzelnen Führungsgruppen stärker zu differenzieren. Ein weiteres Anliegen der Arbeit ist es daher, bei der Darstellung der deutschen Chinapolitik Phänomene wie Militär, Wirtschaft und Politik nicht als in sich geschlossene Einheiten zu betrachten, sondern ihre verschiedenen Erscheinungsformen anhand konkreter Aktionen aufzuzeigen und Teilaspekte ihres vielfältigen Spektrums zu verdeutlichen. Daß Handel, Industrie und Banken völlig unterschiedliche Ansichten und Strategien vertreten können, ist hinlänglich bekannt. Das Gleiche ist jedoch auch für Militärbehörden und Militärberater oder Diplomaten und Politiker anzunehmen. Primäres Problem wird es allerdings bleiben, herauszufinden, welche Führungsgruppe zu welchem Zeitpunkt die deutsche Chinapolitik bestimmte und inwieweit sie dabei ihre eigenen Zielvorstellungen durchzusetzen vermochte. Denn es scheint höchst zweifelhaft, angesichts der außenpolitischen Entwicklung des Deutschen Reiches, daß allein — wie oftmals behauptet — wirtschaftliche Interessen die Beziehungen zu China prägten. Dabei ist es von großer Bedeutung, welche Partner die verschiedenen deutschen Kreise in China fanden, welche Erwartungen ihnen entgegengebracht, welcher Widerstand ihnen entgegengestellt wurde und welche Kräfte im Reich der Mitte die Deutschen letztlich — bewußt oder unbewußt — förderten, nämlich restaurative oder revolutionäre. Das Herausarbeiten unterschiedlicher oder gleicher Phasen deutscher Chinapolitik verlangt aber nicht nur einen vertikalen Schnitt durch die deutschchinesischen Beziehungen auf der Zeitachse, sondern von ebenso großer Wichtigkeit scheint es auch zu sein, eine horizontale Schnittlinie anzulegen und damit notwendige Verknüpfungen und Einordnungen vorzunehmen. Die Politik der anderen Großmächte darzustellen, erhält dabei einen hohen Stellenwert, zum einen, um die internationale Lage zu umreißen und die Freiräume zu beschreiben, die der deutschen Fernostpolitik blieben, zum anderen, um das Konkurrenzverhältnis auf dem chinesischen Markt zu veranschaulichen und darüber hinaus — vor allem im Hinblick auf Japan — mögliche Alternativen für das Deutsche Reich in Ostasien anzudeuten. Ebenso erscheint es unverzichtbar, auf die Grundzüge deutscher Außen-, Wirtschafts- und Militärpolitik, aber auch auf damit verbundene wesentliche Aspekte deutscher Innen- und Gesellschaftspolitik als Basis und Voraussetzung jeglicher Aktivitäten Deutschlands in China einzugehen. China selbst und seine innere, wirtschaftliche, äußere und militärische Entwicklung müssen gleichfalls beleuchtet werden, um die Bedingungsfaktoren aufzuzeigen, unter denen deutsche Interessen im Reich der Mitte wirksam werden konn-

65

14

Hillgruber, Großmacht, S. 109 ff.

ten. Die Großmächte, China und die deutsche Politik sollen jedoch nicht lediglich als Hintergrand deutsch-chinesischer Beziehungen betrachtet werden, sondern ihnen gebührt gewissermaßen als Nährboden für die Chinapolitik Deutschlands größere Bedeutung. Daraus resultieren für die Art der Darstellung einige Probleme, da gleichzeitige Abläufe in der internationalen, der deutschen und der chinesischen Politik hintereinander und getrennt von den eigentlichen Fragen der deutschchinesischen Beziehungen untersucht werden müssen, um deren zeitliche und inhaltliche Verknüpfung nicht zu verdecken. Die eigentliche Gliederung und der zeitliche Rahmen der einzelnen Kapitel ergeben sich aus der engen Anlehnung an Epochen der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung in China und Deutschland: Die Aufnahme politischer Beziehungen zwischen Preußen, auch als Vertreter anderer deutscher Staaten, und China 1861 fällt in die für den weiteren Fortgang des Deutschen Reiches so wichtige Phase der „Neuen Ära" und gleichzeitig in die letzte Phase des gewaltsamen Eindringens der Großmächte in China. Der erste Ausbau der Beziehungen findet in den zeitlich etwa kongruenten Epochen der Bismarckzeit und der T'ung-Chih-Restauration sowie der parallel laufenden chinesischen „Selbststärkungsbewegung" statt. Die wilhelminische Weltpolitik und die Reform- und Revolutionsbewegung in China kennzeichnen den Hintergrund der weiteren Entwicklung bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges. Die Zeit der intensivsten Beziehungen des kaiserlichen Deutschland zu China bis zum chinesischen Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit dem Deutschen Reich stehen im Mittelpunkt der folgenden Zwischenphase deutsch-chinesischer Geschichte. Die Epoche der Weimarer Republik, die Wiederannäherung Deutschlands und Chinas und der Aufstieg der Kuomintang zur Macht sowie die anschließende Stabilisierung der chinesischen Nationalregierung fallen zeitlich ungefähr zusammen. Auch die nationalsozialistische Herrschaft hat ihr — zumindest zeitliches — Gegenstück in dem nach innerer und äußerer Festigkeit trachtenden Regime Chiang Kai-sheks. Wenn auch der Schwerpunkt der Untersuchung wegen der besonderen politischen Bedeutung des Militärs sowie der Aggressivität deutscher Außenund Außenwirtschaftspolitik in diesen Zeiträumen eindeutig — auch vom Umfang her — auf den Epochen des Hochimperialismus und des Nationalsozialismus liegt, so kommt doch auch den Zwischenzeiten ein nicht zu unterschätzender Stellenwert zu, um allmähliche Veränderungen oder kurzfristige Neuerungen überhaupt aufzeigen zu können. Wird der Anfangs-, Übergangsund Endphase der deutsch-chinesischen Beziehungen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1945 je ein eigenständiges und in sich geschlossenes Kapitel gewidmet, so soll die deutsche Chinapolitik im Bismarckreich, im „Wilhelminismus", in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich" in Unterkapiteln, jeweils mit anderer Schwerpunktsetzung abgehandelt werden. Dabei nehmen sich die mittleren Kapitel hauptsächlich bestimmter, bisher wenig in den Vordergrund gerückter Themenkomplexe ausführlicher an: den beginnenden Rüstungsexporten und den frühen Interessen der Reichsmarine in 15

China, Kiaochow und dessen wirtschaftlichen Problemen, den ersten Kontakten zwischen der Kuomintang und der Reichsregierung sowie der von den Nationalsozialisten angestrebten Verstaatlichung des deutsch-chinesischen Handelsverkehrs. Die Bereitschaft, China verständnisvoll entgegenzutreten, war im Abendland des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts noch weitaus geringer als das Entgegenkommen der Chinesen gegenüber dem Westen. Obwohl relativ gute Informationen über das Reich der Mitte vorlagen, widmete die Wirtschaft China nur wenig Aufmerksamkeit, maß die chinesische Gesellschaft an eigenen abendländischen Vorstellungen und konnte ihre Geringschätzung nicht verbergen. Erst in den 1920er Jahren und dann besonders nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigten sich die westlichen Staaten, über die praktischen Bedürfnisse im Gefolge kolonialer Ausbeutung hinausgehend — das Erlernen der chinesischen Sprache sei hier als Beispiel genannt —, intensiver mit der Entwicklung Chinas, seiner Kultur und seiner Rolle als Objekt in den Auseinandersetzungen mit dem Westen. Besonders die Amerikaner, die sich durch ihre pazifische Küste Ostasien in politischer, strategischer und kultureller Hinsicht ganz anders verbunden fühlen als die Europäer, taten sich bald auf diesen Gebieten hervor 66 . An westlicher Literatur über das China des 19. und 20. Jahrhunderts mangelt es daher nicht, um an notwendige Erkenntnisse zur Bearbeitung des Untersuchungsgegenstandes in dem oben gesteckten Rahmen auch ohne Beherrschung der chinesischen Sprache zu gelangen. Hervorgehoben seien an dieser Stelle die Trilogie von Jean Chesneaux 67 sowie die Bände 10—12 der „Cambridge History of China" 68 , die in vorbildlicher Weise die gesamtgesellschaftliche Entwicklung Chinas seit dessen gewaltsamer Öffnung bis Ende der 1970er Jahre unter besonderer Berücksichtigung des westlichen Einflusses abhandeln. Auch deutsche Studien entsprechen durchaus dem internationalen Standard, sowohl die Gesamtdarstellungen, wie die Arbeiten von Bodo Wiethoff, Gottfried-Karl Kindermann und Wolfgang Franke 69 , als auch die Untersuchungen einzelner spezieller Epochen und Fragestellungen. Für das chinesische Kaiserreich sei hier stellvertretend das Werk gleichen Titels von Herbert Franke und Rolf Trauzettel genannt. Für das Studium der Kuomintang-Herrschaft kann immer noch nicht verzichtet werden auf Jürgen Domes „Vertagte Revolution". Ideologie und Politik der drei bekanntesten Staatsmänner Chinas im 20. Jahrhundert behandelt Marie-Luise Näths Studie, „Chinas Weg in die Weltpolitik", hingegen nimmt sich Gottfried-Karl Kindermanns

66

W . Franke, China, S. 117 ff.

67

Chesneaux.

68

Fairbank/Twitchett (Hrsg.), Bde 10, 11, 12.

69

Wiethoff, Ältere Geschichte; ders., Neuere Geschichte; Kindermann, Ferner Osten; W . Franke, China; ders., Jahrhundert; das China-Handbuch, ebenfalls von W . Franke herausgegeben, auch Eberhard.

16

bedarf eigentlich keiner besonderen

Erwähnung;

erwähnenswert

Aufsatzsammlung, „Chinas unbeendeter Bürgerkrieg", stärker der Nachkriegsentwicklung und der Probleme zwischen der Volksrepublik und Taiwan an. Selbst die DDR-Historiographie, die seit den 1960er Jahren, der Sowjetunion folgend, das Reich der Mitte weitgehend ignorierte, hat 1975 in einer Neuauflage der aus dem Russischen übersetzten Gesamtdarstellung „Neueste Geschichte Chinas" durchaus wieder ihr grundsätzlich vorhandenes Interesse an der Geschichte Chinas signalisiert. Wesentlich erleichtert haben beachtenswerte amerikanische Studien die gerade für diese Untersuchung wichtige Bearbeitung der Frage nach der militärischen Modernisierung Chinas. Behandelt Ralph L. Powells Darstellung „The Rise of Chinese Military Power" den Zeitraum nach dem chinesisch-japanischen Krieg 1894/95 bis zum Ersten Weltkrieg, so beschäftigt sich die wissenschaftlich nicht immer zuverlässige Arbeit von F. F. Liu, „A Military History of Modern China", stärker mit den militärischen Modernisierungsversuchen der Kuomintang. Aber auch für die ersten militärischen Erneuerungsbemühungen der „Selbststärkungsbewegung" der 1860er bis 1880er Jahre liegen zahlreiche Einzelstudien vor, die ein eindrucksvolles Gesamtbild ergeben. Besonders gelungen sind die Arbeiten von Stanley Spector, „Li Hung-chang and the Huai Army", und von Thomas L. Kennedy, „The Arms of Kiangnan". Läßt sich die „Rahmenbedingung China" für die vorliegende Untersuchung der deutschen Chinapolitik relativ mühelos aus der vorhandenen Literatur erarbeiten, so trifft dies auch für die Politik der anderen Großmächte gegenüber dem Reich der Mitte und erst recht für die Grundlinien der deutschen Außen-, Wirtschafts- und Rüstungspolitik zu, für die es eine Reihe bekannter und deshalb nicht mehr gesondert zu erwähnender Standardwerke, insbesondere der deutschen Historiographie gibt 70 . Bei der Darstellung der amerikanischen, französischen, englischen, japanischen und russischen Beziehungen zu China hat sich allerdings die deutsche Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg bisher verhältnismäßig zurückgehalten 71 . Ausnahmen bilden hier nur die Studie von Hans-Ulrich Wehler, „Der Aufstieg des amerikanischen Imperialismus", und die erst kürzlich erschienene „Mikrountersuchung" von Jürgen Osterhammel, „Britischer Imperialismus im Fernen Osten" 72 . Hingegen fehlt es nicht an ausgezeichneten angelsächsischen Untersuchungen zur Gesamtproblematik westlichen Eindringens und Vorgehens in China 73 und auch nicht an Einzelstudien für die Chinapolitik bestimmter Länder 74 . 70

Neben den in Abschnitt a) bereits vorgestellten Studien seien noch exemplarisch erwähnt: zur deutschen Wirtschaftspolitik Böhme, Deutschlands W e g ; Henderson, Rise; Petzina, Zwischenkriegszeit; zur deutschen Außenpolitik: Hildebrand, Drittes Reich; Hillgruber, Bismarcks Außenpolitik; Weinberg.

71

Von der älteren Literatur erwähnenswert O. Franke, Großmächte; Suhl.

72

Weniger gelungen ist die Arbeit von Verchau, Europa.

73

Einige wenige Titel seien genannt: Hsü, Entrance; M o r s e / M c N a i r ; Teng; Willoughby,

74

Für die Beziehungen der USA zu China exemplarisch Thomson; für die Beziehungen

Rights. Großbritanniens zu China Endicott; Steeds/Nish; L. Young. 17

Die angloamerikanische Geschichtsschreibung hat sich auch in umfangreichen Arbeiten speziell der deutsch-chinesischen Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg angenommen und bisher auf diesem Sektor mehr geleistet als die west- und ostdeutsche Forschung zusammen. Durch die Studien von Lorne E. Glaime, „Sino-German Relations 1919—1925", Gary A. Bürden, „German Policy Towards China", und John P. Fox, „German Policy and the Far Eastern Crisis 1931—1938", dürfen die diplomatiegeschichtlichen Aspekte der deutschen Chinapolitik in der Zwischenkriegszeit als einigermaßen aufgearbeitet gelten 75 . Die deutsche Historiographie hat dazu lediglich durch einige Einzelstudien und Aufsätze beigetragen 76 , die allerdings, wie vor allem die von Bernd Martin besorgte Aufsatzsammlung „Die deutsche Beraterschaft in China", durchaus an die Arbeiten aus dem angelsächsischen Sprachraum anknüpfen können. Das Thema Beraterschaft in den 1930er Jahren ist augenfällig der am besten durchleuchtete Einzelaspekt der deutsch-chinesischen Beziehungen vor dem Zweiten Weltkrieg. Schon lange vor der grundlegenden Arbeit von Jerry B. Seps, „German Military Advisers and Chiang Kai-shek", wurde in der DDR die allerdings ideologisch verbrämte Dissertation von Karl Mehner, „Die Rolle deutscher Militärberater als Interessenvertreter des deutschen Imperialismus und Militarismus in China", vorgelegt. Eine Einordnung der deutschen Chinapolitik erfolgte bei diesem Schwerpunkt ebenfalls nur bedingt, da Langzeitanalysen, welche die deutsch-chinesischen Beziehungen vom Deutschen Kaiserreich über die Weimarer Republik bis zum „Dritten Reich" verfolgen, nicht vorlagen und auch bis heute nur wenige Versuche in dieser Richtung unternommen worden sind: Die Arbeit von Chen Chi, „Die Beziehungen zwischen Deutschland und China bis 1933", beschäftigt sich auf wenigen Seiten mit dem deutsch-chinesischen Verhältnis von 1895 bis zum Ersten Weltkrieg 77 . Werner Stingls faktenreiche Übersichtsstudie, „Der Ferne Osten in der deutschen Politik vor dem Ersten Weltkrieg", endet 1914. Allein Fritz van Briessens „Grundzüge der deutsch-chinesischen Beziehungen" versuchen, den Bogen vom frühen 19. Jahrhundert bis in die 1970er Jahre zu schlagen 78 ; doch handelt es sich bei dieser wissenschaftlich nicht immer zuverlässigen Darstellung eher um die Fortsetzung einer traditionsreichen journalistischen Geschichtsschreibung über den Fernen Osten in Deutschland, die mit den Expertisen von Gustav Amann und Lily Abegg bereits in den 1930er und 1940er Jahren zwei „Klassiker" hervorbrachte.

75

Wesentliche Erkenntnisse für die deutschen Wirtschaftsbeziehungen zu Kuomintang (KMT)-China dürften sich auch aus der eben erst erschienenen Studie von Kirby, Germany, ergeben, die allerdings für die vorliegende Arbeit nur noch partiell ausgewertet werden konnte.

76

Bloß, Zweigleisigkeit; Nieh, Entwicklung; W. Sommer. Ihr Pendant findet sie in der Untersuchung von Feng. Vgl. auch Ruland.

77 78

18

Darüber hinaus hat es einzig die „Firmengeschichtsschreibung" noch vermocht, zusammenhängende Darstellungen der deutsch-chinesischen Beziehungen über einen größeren Zeitraum vorzulegen, bei denen natürlich die militärischen und politischen Aspekte eher im Hintergrund bleiben und nicht gleichberechtigt neben den wirtschaftlichen stehen. Adolf Hänisch, „Jebsen und Co. Honkong", und Marianne Möring, „Siemssen und Co." gehören zu den wenigen Arbeiten, die es über die Verbindungen zwischen Deutschland und China in den letzten 100 Jahren gibt. Westdeutsche Monographien mit historischen Fragestellungen über die deutsch-chinesischen Beziehungen erschienen nach dem Zweiten Weltkrieg erst mit großer zeitlicher Verzögerung 79 . Intensiver wurde dieser Bereich zunächst von der DDR-Geschichtsschreibung behandelt, deren Interesse erst mit der politischen Entfremdung zwischen Moskau und Peking spürbar nachließ. Die DDR-Historiker befaßten sich dabei vor allem unter den Stichworten Militarismus und Imperialismus mit Themenkomplexen aus der Zeit des Deutschen Kaiserreiches: Helmut Stoecker, „Deutschland und China im 19. Jahrhundert", Otto Kindzorra, „Die Chinapolitik des deutschen Imperialismus", und Werner Loch, „Die imperialistische deutsche Chinapolitik 1898—1901". Ihr wesentlichstes Verdienst war es, erstmals, wenn auch in ideologischer Sichtweise, Zusammenhänge und kontinuierliche Entwicklungen herausgearbeitet zu haben. Auch die Historiker in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigten sich zunächst mit den deutsch-chinesischen Beziehungen vor dem Ersten Weltkrieg, jedoch gingen sie dabei — ähnlich wie die späteren Studien über die 1930er Jahre — stärker auf Einzelaspekte ein 80 . Bis heute hat diese „Tradition", sich mehr auf spezielle, eng umrissene Sachfragen in der Darstellung deutscher China- und Fernostpolitik zu konzentrieren, keine Änderung erfahren. Von wenigen Ausnahmen abgesehen 81 , sind auf diese Weise in den letzten Jahren solide Einzelstudien entstanden, wie z. B. von Vera Schmidt, „Die deutsche Eisenbahnpolitik in Shantung", Yü Wen-tang, „Die deutsch-chinesischen Beziehungen von 1860—1880" und Gabriele Ratenhof, „Das Deutsche Reich und die internationale Krise um die Mandschurei 1931—1933". Nach wie vor fehlen jedoch überblicksartige Darstellungen der Grundstrukturen der deutsch-chinesischen Beziehungen, ihrer Rahmenbedingungen, ihrer konkreten Ausprägung zu bestimmten Zeiten und die Einordnung bestimmter Einzelaspekte. Um das Thema der vorliegenden Untersuchung, das Verhältnis und der Einfluß von Militär, Wirtschaft und Politik in den deutsch-chinesischen Bezie79

80

81

Wie in den 1950er Jahren — Schramm — werden auch heutzutage noch wesentliche Erkenntnisse über deutsche Interessen in China durch Studien mit eigentlich anderer Thematik gewonnen. Vgl. dazu E. Böhm; Petter, Stützpunktpolitik; Wehler, Bismarck. Hierzu zählt auch die in Deutschland entstandene Arbeit des Taiwanesen K.-ch. Lee. Vgl. auch Bartsch; Peter. Völlig unakzeptabel ist vor allem Maschke.

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hungen von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, hinreichend bearbeiten zu können, waren daher umfangreiche Quellenstudien notwendig 82 . Wie bei der Auswahl der Literatur ein Schwerpunkt mit der Bearbeitung neuerer Studien, insbesondere der Auswertung in Deutschland wenig bekannter angloamerikanischer Arbeiten, oftmals (unveröffentlichter) Dissertationen, gesetzt wurde, so war auch bei der Quellenarbeit eine Prioritätensetzung unumgänglich. Das Augenmerk lag nach der Durcharbeitung der gedruckten Aktenbestände deutscher, englischer, französischer und amerikanischer Staatsarchive vor allem auf bisher unveröffentlichtem Archivmaterial, weniger auf der Analyse von Denkschriften, Firmenschriften, Tagebüchern und sonstigen Aufzeichnungen. Mehrmonatige themenbezogene Studien wurden in folgenden Archiven durchgeführt: —





zum Bereich deutsche Politik: im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes, Bonn (PA) und im Bundesarchiv, Koblenz (BA) sowie in dessen Außenstelle in Frankfurt/M. (BA FfM); zum Bereich Militär und Rüstung in China: im Bundesarchiv/Militärarchiv, Freiburg im Breisgau (BA-MA) und im Bayerischen Hauptstaatsarchiv, Abt. IV, Kriegsarchiv, München (KA); zum Bereich deutsche Wirtschaft in China: im Westfälischen Wirtschaftsarchiv, Dortmund (WWA), im Hamburger Weltwirtschaftsarchiv (HWWA), im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf (HStAD), in den Staatsarchiven Münster (StAMS), Hamburg (StAHH) und Bremen (StAHB), den Archiven der Handelskammern der beiden Hansestädte Hamburg (HKHH) und Bremen (HKHB) und in verschiedenen Firmenarchiven, wie dem Historischen Archiv der Fried. Krupp GmbH, Essen (HA), dem der Mauser-Werke, Oberndorf (MA), dem Archiv der Siemens AG im SiemensMuseum, München (SAA), dem Archiv der Deutschen Bank, Frankfurt/M. (ADB) und dem der Krupp Stahl AG, Bochum (KS).

Darüber hinaus konnten die Archivbestände der einst renommierten deutschen Firma im Fernosthandel Kunst & Albers (KuA) in Hamburg sowie die Jahresberichte des Norddeutschen Lloyd in Bremen (NdLl) eingesehen werden. Interviews mit ehemaligen Mitarbeitern der (halb-)staatlichen „Handelsgesellschaft für industrielle Produkte" (HAPRO), Friedrich Busse und Ludwig Werner, sowie mit den ehemaligen deutschen Militärberatern in chinesischen Diensten, Walther Stennes (+1983), Raimund v. Imhof und Franz Pohle, rundeten das Bild über die deutsch-chinesischen Beziehungen ab. Am ergiebigsten gestaltete sich das Studium der Akten im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes, auch wenn die diplomatischen Akten bezüglich China — hier lassen sich neben politischen Berichten auch vorzügliche Unterlagen zu den militärischen und wirtschaftlichen Interessen Deutschlands in China finden — für den Zeitraum von 1870 bis 1945 nicht ganz lückenlos verfügbar sind. Neben der Unvollständigkeit älterer Bestände macht sich ins-

82

20

Eine Hilfe zur Auswahl bietet P. Kennedy, Guide.

besondere das Fehlen der von der Volksrepublik China in den 6 0 e r Jahren an die DDR zurückgegebenen Bestände der Deutschen Gesandtschaft/Botschaft Peking — insgesamt m e h r e r e tausend Bände 8 3 — bemerkbar, die für Staatsbürger der Bundesrepublik Deutschland leider noch immer nicht zugänglich sind, zum Teil aber schon durch die oben e r w ä h n t e n Studien von DDR-Historikern aufgearbeitet wurden. Ihr Fehlen konnte allerdings für die besonders durch Aktenverlust betroffenen Jahre von 1 9 3 9 bis 1945, w e n n a u c h nur eingeschränkt, durch den noch nicht aufgearbeiteten Bestand „Repertorium China, Akten der deutschen Gesandtschaft/Botschaft in Peking, Hankau, Shanghai, Nanking" ausgeglichen w e r d e n 8 4 . Für die Chinapolitik Preußens und des Deutschen Bundes Mitte des 19. Jahrhunderts w a r e n die Bestände der Bundeskanzleidirektion, die Akten des Bundestages und die Protokolle der deutschen Bundesversammlung, die in der Außenstelle des Bundesarchivs in Frankfurt/M. lagern, nur begrenzt aussagekräftig. Auch fehlen im Bundesarchiv Koblenz Akten anderer (ziviler) Oberster Reichsbehörden für China aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Der größte Teil dürfte sich, soweit nicht vernichtet, ebenfalls in DDR-Archiv e n befinden. Sie sind leider auch nicht über amerikanische Mikroverfilmung e n zugänglich, ebensowenig wie die anderen Chinaakten, darunter der Nachlaß des ehemaligen deutschen Gesandten und Botschafters in China, Dr. Oskar Trautmann, die in der DDR lagern. Um aus den in Koblenz vorh a n d e n e n Akten der Reichskanzlei und der Ministerien seit den 1920er Jah-

83 M

Vgl. Mehner, Weimar — Kanton. Bei allen aus dem PA zitierten Schriftstücken, die aus China an die Berliner Zentrale gerichtet wurden, wird, wo immer möglich, abweichend von der sonst üblichen Praxis, das Eingangsdatum des AA angegeben. Dieses vom AA selbst benutzte System, anhand dessen die Dokumente in die Faszikel eingeordnet wurden, erlaubt genau wie das Absendedatum eine eindeutige Bestimmung eines Schriftstückes. Angesichts der Tatsache, daß die Dokumente oft von den verschiedenen diplomatischen Dienststellen in China erst über die Gesandtschaft/Botschaft in Peking bzw. Nanking nach Berlin geleitet wurden und damit verschiedene Ausfertigungsdaten aufwiesen, unterschiedliche Übermittlungswege (zur See, zu Land, über eine Telegraphenverbindung) zu höchst unterschiedlichen Übermittlungszeiten führten und überdies auch mehrere Absender verzeichnet waren, wenn beispielsweise die deutsche Vertretung Berichte von Privatpersonen, Firmen, Militärberatern o. a. weiterleitete, ist zudem eine klare Identifizierung von Dokumenten anhand des Eingangsdatums weitaus einfacher. Daher ist auf diese Weise auch eine problemlose, wenig arbeitsaufwendige wissenschaftliche Nachprüfung der Belege aus der fast unübersehbaren Vielzahl von Aktenbänden des AA bezüglich China gewährleistet. Ausschlaggebend für die Wahl dieser Zitierweise war ferner, daß bei der breiten Anlage der Arbeit und dem langen Zeitraum, den sie abdeckt, Absenderangaben an Bedeutung verlieren. Die Arbeit versucht nicht, aus Datenvergleichen und Empfänger- oder Absenderangaben Rückschlüsse zu ziehen, wie das bei Kurzzeitstudien bedeutsam sein kann, sondern Entwicklungen und Tendenzen in dem umfassenden Feld deutscher Außen- und speziell Chinapolitik aufzuzeigen und durch ausgewählte Dokumente zu belegen. 21

ren historisch relevante Dokumente im Hinblick auf die deutsche Chinapolitik ausfindig zu machen, war oftmals große Geduld notwendig, handelt es sich doch meistens um Firmenkorrespondenzen, die von geringem Aussagewert sind. Dennoch konnten vor allem durch die Akten des Reichsfinanzministeriums einige neue Erkenntnisse für die Wirtschaftspolitik gegenüber China in der Zwischenkriegszeit gewonnen werden. Nicht viel besser stellte sich die Situation im Bundesarchiv/Militärarchiv, Freiburg, dar. Außer den Marineakten sind alle preußisch-deutschen Militärakten aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg weitgehend vernichtet 85 . Der Versuch, diese Lücke mit Hilfe bayerischer Militärakten im Kriegsarchiv München zu schließen, erwies sich, zumindest teilweise, als erfolgreich. Spezielle Probleme des Waffenhandels von deutschen und militärischen Dienststellen mit China im 19. Jahrhundert und strategische Expertisen des Großen Generalstabes über das Reich der Mitte ließen sich aus dem bayerischen Aktenmaterial herausarbeiten, das zu diesem Aspekt erstmals ausgewertet wurde. Auch für die 1920er und 1930er Jahre liegen in Freiburg nur wenige Faszikel: „Deutsche Beraterschaft in China". Aus anderen umfangreichen Beständen, wie z. B. denen des Oberkommandos des Heeres/Generalstab des Heeres oder des Oberkommandos der Wehrmacht — Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt, konnten jedoch neue Details zu den Vorstellungen der Militärs und ihrem Vorgehen in China sowie zu Rüstungsfragen vor allem in den 30er Jahren erschlossen werden. Ein weit größeres Spektrum an Archivmaterial stand dagegen für die Aufarbeitung der Interessen der deutschen Wirtschaft in China zur Verfügung. Ließen sich die Geschäfte und Probleme des Chinahandels zufriedenstellend aus den Archiven der Hansestädte Hamburg und Bremen und der dortigen Handelskammern, in Ansätzen auch im Hamburger Weltwirtschaftsarchiv nachvollziehen, so konnten aus den Akten der für die ehemaligen preußischdeutschen Industrieprovinzen an Rhein und Ruhr zuständigen Behörden, die zum größten Teil im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf und im Staatsarchiv Münster lagern, kaum Rückschlüsse auf Erwartungen und Tätigkeiten der Industrie in China gezogen werden. Da auch die Bestände der Handelskammern am Niederrhein und in Westfalen zu erheblichen Teilen vernichtet sind 86 — die im Westfälischen Wirtschaftsarchiv vorhandenen Akten der Industrieund Handelskammern Bochum und Dortmund bilden eine Ausnahme —, kam die zumeist große Bereitwilligkeit, mit der namhafte deutsche Industriefirmen, wie die Deutsche Bank als Rechtsnachfolgerin der Deutsch-Asiatischen Bank (DAB) und der Norddeutschen Lloyd, ihre eigenen Unterlagen erstmals der Forschung zur Verfügung stellten, der vorliegenden Untersuchung sehr

85 86

22

Vgl. Berghahn, Flottenriistung, S. 94; Messerschmidt, Militär, S. 6 f. Expertise, HStAD, RW 49/Findbuch 430.17.

zugute 87 . Weniger Entgegenkommen zeigten jedoch die traditionellen hanseatischen Chinahandelshäuser und der Ostasiatische Verein (OAV), die — vermutlich in der Absicht, heutige Geschäfte nicht zu gefährden — allesamt behaupteten, kein Material aus den letzten hundert Jahren mehr zu besitzen. Um so erfreulicher und gewinnbringender war daher die Erlaubnis, den Bestand der Firma Kunst & Albers durchzusehen und auszuwerten. Wie die Interviews mit den „Old China Hands" trug er wesentlich zum Verständnis der deutsch-chinesischen Beziehungen bei. Die Fülle und Vielfalt des eingesehenen Aktenmaterials ergaben eine ebenso breite wie solide Basis, auf der, ergänzt durch bisherige Ergebnisse der historischen Forschung, der Versuch unternommen werden soll, zum ersten Mal eine spezifische Langzeitanalyse von fast hundert Jahren deutsch-chinesischer Beziehungen durchzuführen. Indem die vorliegende Arbeit Motive und Zielsetzungen wirtschaftlicher, militärischer und politischer Interessen im Verhältnis des Deutschen Reiches zum Reich der Mitte über einen längeren Zeitraum darlegt, will sie Kontinuitäten und Bruchstellen in der deutschen Chinapolitik nachzeichnen, die, eingebettet in den Gesamtzusammenhang der Außenbeziehungen Deutschlands, gleichzeitig als „Mikrokosmos" auch Grundströmungen des „Makrokosmos" der deutschen Außenpolitik widerspiegelt.

87

Über kein Archivmaterial verfügen, laut Schreiben der betreffenden Firma an den Verfasser bzw. nach persönlicher Rücksprache: die Borsig AG, Berlin, und die Rheinmetall AG, Düsseldorf. Ein Schreiben des Verfassers an die Bayer AG, Leverkusen, blieb unbeantwortet. 23

2.

NATIONALSTAATLICHE BESTREBUNGEN PREUSSENS UND GEWALTSAME ÖFFNUNG CHINAS. DER WIRTSCHAFTLICHE UND POLITISCHE STELLENWERT DES DEUTSCHEN CHINAHANDELS UM DIE MITTE DES 19. JAHRHUNDERTS

Durch die militärische Niederlage Chinas im Ersten Opiumkrieg 1840/41 wurde nicht nur das Reich der Mitte für ein Jahrhundert westlichen Einflüssen geöffnet, sondern auch der Grundstock für die kommerzielle Vorherrschaft Großbritanniens in Ostasien gelegt. Bis zum 17. Jahrhundert hatten sich, von wenigen Vorstößen der Holländer und Portugiesen abgesehen, die Außenhandelsbeziehungen Chinas hauptsächlich über Land, in die Mongolei sowie nach Inner- und Zentralasien entwickelt. Die steigende Geschäftstätigkeit der Engländer an den chinesischen Küsten drohte den verbürokratisierten Außenhandel des Staates zu gefährden. Das System der tributären bilateralen Beziehungen des chinesischen Kaisers als alleinigen Vertreters der kosmischen Ordnung in der Welt schien bedroht. Seit 1757 war es daher aufgrund eines kaiserlichen Ediktes nur noch ganz bestimmten chinesischen Kaufleuten, den sogenannten Cohongs, erlaubt, ausschließlich über Canton mit überseeischen Mächten Handel zu treiben. Großbritannien, das sich vor allem nach seinem industriellen Durchbruch Anfang des 19. Jahrhunderts immer stärker nach Ostasien orientierte, versuchte bis Ende der 1830er Jahre vergeblich, von China den Abbau dieser Handelsrestriktionen zu erreichen 1 . Schon 1834 hatte sich die Regierung in London daher genötigt gesehen, das über 200 Jahre alte Monopol der „East India Company" für den Handel mit Ostasien in bezug auf China aufzuheben und alle britischen Kaufleute zum Handel zuzulassen 2 . Erstmals residierte nun auch ein ständiger hauptamtlicher britischer Vertreter zur Beaufsichtigung und Unterstützung des Handels in Canton, den die chinesische Seite aber nicht anerkannte. Doch selbst diese Maßnahme konnte das englische Defizit in der Zahlungsbilanz gegenüber China nicht beseitigen. Das Reich der Mitte war an westlichen Waren kaum interessiert. Aus diesem Grund forcierten britische Händler zunehmend die Opiumeinfuhren aus Indien, die zwar offiziell von China verboten, mit denen aber als Schmuggelwaren die besten Geschäfte zu machen waren. Der Opiumhandel konnte die britischen Handelsdefizite jedoch nicht nur ausgleichen, sondern bewirkte auch einen

1

2

Mancall, S. 76 ff.; W a k e m a n , Fall, S. 111 ff.

Vinnai, S. 1 ff.

25

enormen Silberabfluß aus China, der die Regierung in Peking stark beunruhigte. Zwar war die britische Regierung, wie auch die meisten englischen und chinesischen Kaufleute, an einer Überwachung des Schmuggels interessiert, der zunehmend auch dem regulären Warenaustausch schadete, eine offizielle Blockade britischer Waren in Canton als Vergeltungsmaßnahme der kaiserlichen Regierung konnte sie aber nicht hinnehmen 3 . Die 1839 beginnenden militärischen Auseinandersetzungen 4 wurden erst mit dem Friedensvertrag zu Nanking vom 29. August 1842 beendet, der Großbritannien fünf Häfen öffnete 5 , 21 Millionen US-Dollar Kriegsentschädigung sowie die Exterritorialität britischer Staatsbürger und die Gleichbehandlung britischer Konsuln mit obersten chinesischen Provinzbehörden garantierte; außerdem gelangte Hongkong in englischen Besitz. In einem Zusatzvertrag vom 8. Oktober 1843 erhielt Großbritannien überdies die Meistbegünstigung zugestanden. Die Briten setzten ferner durch, daß diese Abmachungen auch für alle anderen Mächte gelten sollten. Ungeachtet dessen schlössen die Vereinigten Staaten (3. Juli 1844) und Frankreich (24. Oktober 1844) Nachfolgevereinbarungen, die ihnen die gleichen Rechte wie Großbritannien zugestanden, und bekundeten damit ihr gesteigertes Wirtschaftsinteresse sowie ihre eigenen Ansprüche in China. Rußland hatte es als euro-asiatische Landmacht schon zuvor verstanden, aufgrund seines traditionellen Handels vertragliche Beziehungen zu China aufzunehmen 6 . Der Opiumkrieg trug wesentlich zum Aufstieg der revolutionären Taiping-Bewegung bei. Neben vermehrter Korruption sowie ungerechten und willkürlichen Steuern seit Anfang des 19. Jahrhunderts hatte das Versagen des chinesischen Militärs gegenüber dem Westen das Vertrauen der Bevölkerung in die Stabilität des Mandschu-Regimes erschüttert 7 . Die Einnahme Nankings 1853 durch die seit 1850 immer stärker werdenden Taiping offenbarte auch noch die innere Schwäche des Systems 8 . Von der Zentralregierung im Stich gelassen, mußten die Provinzen zur Finanzierung des Kampfes gegen die Aufständischen Binnenzölle (Likin) in Höhe von 2,5 % erheben. Diese galten 3

W . Franke, China, S. 58 f.; Wehler, Handelsimperialismus, S. 56 ff.

4

Ausführliche Schilderung in Berg (Hrsg.), Bd 3, S. 56 ff.

5

Neben Canton noch Shanghai, Foochow, Ningpo und Amoy.

6

Selby, S. 23 ff.; Fletcher, S. 318 ff. Die USA hatten damit ein Ziel erreicht, das sie seit Ende des 18. Jahrhunderts anstrebten: Ostasien mit zu erschließen und zu beherrschen, unabhängig und ohne eigene Verantwortung zu übernehmen oder gar traditionelle Kolonialpolitik betreiben zu müssen. Wehler erkennt hier schon den Beginn der „Open Door Policy" der USA gegenüber China, den „Imperialismus der Offenen Tür", der sich 1844 dem aus überlegener industrieller Monopolstellung verfochtenen Freihandelsprinzip der Briten anschloß, das prinzipiell mehr Druck und Einflußnahme durch ökonomische Überlegenheit als durch militärische Gewalt anstrebte. Wehler, Handelsimperialismus, S. 56 ff.

7

Wakeman, Strangers, passim.

8

Zu Ursprung, Führung und Organisation sowie den Zielen der Taiping als Überblick Michael, Taiping-Rebellion, S. 37 ff.; Teng, S. 25 ff.

26

oftmals auch vertragswidrig für ausländische Einfuhren und waren zusätzlich zu dem 1842 festgelegten fünfprozentigen Seezoll zu entrichten 9 . Trotz des Verlustes der Zollhoheit im Vertrag von Nanking mit der Festlegung der überseeischen Importzölle auf zunächst 5 % des jeweiligen realen Warenwertes, kurz darauf aber generell auf 5 % des durchschnittlichen Warenwertes von 1842, profitierten die Chinesen zunächst. Da die Preise für westliche Waren Ende der 40er/Anfang der 50er Jahre fielen, wurde überproportional mehr Zoll eingenommen 10 . Den Vertragsmächten mußte diese Entwicklung aber mißfallen. Nach den ersten „ungleichen Verträgen" blieb neben dem Wert auch der Umfang ihres Handels mit China hinter den Erwartungen zurück. Anstelle der Cantoner Cohongs benötigten die westlichen Handelsfirmen wegen ihrer Unkenntnis des chinesischen Marktes neue Vermittler für ihre Geschäfte. Die Zusammenarbeit mit chinesischen „Compradoren-Kaufleuten" brauchte jedoch eine gewisse Anlaufzeit, bis sie sich bewährte 11 . Der Schmuggel blieb daher größer als der ordentliche Warenverkehr. Nur langsam kam es zu einem gewissen Aufschwung des Handels, insbesondere im Yangtze-Gebiet. Die immer häufiger werdenden Ausschreitungen gegen westliche Ausländer in China, die inneren Unruhen und die nicht kontrollierbaren örtlichen Zollerhebungen, die vor allem den hochgespannten britischen Handelsinteressen zuwiderliefen, führten jedoch schon bald zu erneuten Spannungen der Mächte mit China 12 . Dem Beispiel Großbritanniens folgend, das seit den 1820er Jahren verstärkt auf die überseeischen Märkte drängte, nahmen auch die Bemühungen Deutschlands um dieses Gebiet zu. Bis dahin war der deutsche Überseeverkehr nach Ostasien nicht über das Stadium sporadischer Vorstöße hinausgekommen. Hanseatische und preußische Aktivitäten über die brandenburgischostindische oder die preußisch-asiatische (Handels-)Kompanie in Emden führten mit englischer oder holländischer Hilfe im 17. und 18. Jahrhundert lediglich zur gelegentlichen Beteiligung deutscher Schiffe an Ostasienexpeditionen. Tee, Geschirr, Porzellan und Seide wurden zu begehrten Importartikeln aus Fernost 13 . Erst 1824 erfolgte die erste Gründung eines deutschen Handelshauses in Batavia. Von 1829 bis 1842 vertrat jedoch schon ein englischer Honorarkonsul hanseatische Interessen in Canton 14 , und in den 30er 9 10

11 12 13

14

Zum chinesischen Zollsystem Willoughby, Rights, Bd 2, S. 748 ff. Auch die Seezollverwaltung blieb bis 1853 in den Händen lokaler Beamter. Der Anschein einer souveränen Verwaltung wurde so gewahrt, jedoch zum Nachteil der finanziellen Einkünfte der kaiserlichen Regierung. Erst nach dem Zusammenbruch des Seezolldienstes unter dem Druck der Taiping 1854 in Shanghai kamen Ausländer als chinesische Beamte an die Spitze dieser Behörde. Ebd., S. 768 ff. Hao, passim. Berg (Hrsg.), Bd 3, S. 107 ff. Yü, S. 8 ff.; zum Handel der Hansestädte mit Ostasien im 18. Jahrhundert Schramm, S. 87 f.; vgl. auch Bohner, S. 52 ff. In einem Schreiben vom 1. 5. 1829 bot Hamburg Bremen an, daß Herr MacVicar auch bremische Interessen vertreten könne, StAHB, 2 / C 2 4 / b 1.

27

Jahren übertraf die Ostasienfahrt der Hansestädte, nun auch zunehmend unter eigener Flagge, die Ostindienfahrt 15 . Besonders für die aufstrebenden Industriestaaten des Deutschen Bundes bedeutete die Intensivierung des Überseehandels nach der Abkehr Englands von den Restriktionen der Navigationsakte und der Propagierung des gleichberechtigten Freihandels eine neue Chance wirtschaftlicher Entfaltung 16 . Die preußische Staatsbank, 1772 als „See-Handlungs-Gesellschaft" gegründet, zeigte ab Anfang der 1820er Jahre steigendes Interesse am Überseehandel nach China, hauptsächlich um den Absatz der Textilindustrie, aber auch um das Ansehen Preußens in Übersee zu fördern und die privatwirtschaftlich orientierte hanseatische Handelskonkurrenz einzuschränken 17 . Zwischen 1822 und 1842 fuhren bereits sechs Schiffe der „Preußischen Seehandlung" nach Ostasien. Der Haupthandelsweg für schlesische und rheinische Tuche nach China blieb bis Ende der 30er Jahre wie schon seit mehr als einem halben Jahrhundert der Landweg über Rußland und Mongolisch-Kiachta, doch die steigenden russischen Zölle machten diesem Geschäft langsam ein Ende 18 . Schon Anfang der 20er Jahre bot die preußische Regierung Kaufleuten und Fabrikanten „bei dem erschwerten Absatz Preußischer Wollen Fabrikate nach China durch Rußland" ihre Hilfe an 19 . Durch die Öffnung Chinas wurden die Handelsaktivitäten Preußens und der Hansestädte in Ostasien neu belebt 20 . Insbesondere richteten sich die deutschen Interessen im Fernen Osten Anfang der 40er Jahre neben China auf Singapore, das von Großbritannien als Freihafen für alle Ausländer geöffnet worden war und in kürzester Zeit einen schnellen wirtschaftlichen Auf-

15

Helfferich, Beziehungen, S. 212 f.

16

Walle, Einfluß, S. 31 f.

17

Petter, Flottenrüstung, S. 46 ff.; zu den Beziehungen der Hansestädte mit Preußen im

18

Yü, S. 8 ff.

19

Preußisches Ministerium für Handel und Gewerbe an Regierung in Arnsberg, 1 4 . 1 2 .

18. Jahrhundert Schramm, S. 35 ff.

1822, und Amtsblatt der Regierung in Arnsberg, 4 . 1 . 1823, StAMS, Regierung Arnsb e r g / B 39. Auch die Regierung in Aachen machte die dortige Handelskammer auf Anweisung des Ministeriums vom 14. 4. 1823 am 29. 4. 1823 auf den Absatz von Tuchen in Canton aufmerksam, HStAD, Regierung A a c h e n / 1 6 8 4 . Bohner, S. 53; Brandt, China, S. 34 f. 20

Auf der 22. Sitzung des Bundestages am 1 6 . 1 2 . 1841 legte das Präsidium vom englischen Gesandten im Auftrag der britischen Regierung überreichte Berichte über China vor, mit denen die deutschen Regierungen detaillierter über das britische wirtschaftliche, politische und militärische Vorgehen in China seit den 30er Jahren informiert und über weitere Absichten in Kenntnis gesetzt werden sollten. Diese gedruckten und gebundenen „Blaubücher", die dem englischen Parlament bereits 1 8 3 9 vorgelegen hatten, konnten die Informationen über China in Deutschland wesentlich erweitern. Protokolle der deutschen Bundesversammlung, S. 516, BA FfM, Bundeskanzleidirektion/1841; 22. Sitzung des Bundestages, 1 6 . 1 2 . 1 8 4 1 , ebd., Akten des Bundestages — I. Abteilung/ DBl/92.

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schwung nahm 21 . Schon knapp fünf Monate nach Unterzeichnung des Vertrages von Nanking, am 25. Januar 1843, wurde der „Preußischen Seehandlung" aus Bremen mitgeteilt, daß die von den Zeitungen gemeldete Handelsexpedition aus Bremen nach Singapore und China „sehr still betrieben, und ihre Bestandteile sehr geheim gehalten wurden und daher auch weit bedeutender gewesen sein müßten, als davon officiell aufzuweisen ist" 22 . Gleichzeitig wurden aber Zweifel an der Wirksamkeit solcher privaten Unternehmen geäußert, die nicht mit den englischen konkurrieren könnten. Vielmehr solle die „Preußische Seehandlung" „als Vertreterin des ganzen deutschen Handels und deutscher Industrie" 23 die Initiative ergreifen; alle erdenklichen Hilfsdienste würden dafür zur Verfügung gestellt werden. Auf Drängen auch anderer Städte, insbesondere des Rheinlandes und Westfalens, und auf Anraten des preußischen Generalkonsuls in London entschloß sich Berlin, einen Handelssachverständigen nach China, Japan und in andere ostasiatische Länder zu entsenden. Im Gegensatz zu privaten Initiativen in Hamburg, die 1843/44 zu einer Expedition vor allem im Auftrag Leipziger Handelshäuser führten 24 , lag die gesamte Vorbereitung und Koordinierung des Unternehmens in den Händen der preußischen Regierung und Verwaltung 25 . Der Düsseldorfer Kommerzienrat Grube bekam aus Berlin den Auftrag, sich u. a. in China mit den „politischen Behörden in Mitteilung zu setzen und die Errichtung von Konsulaten in den dortigen Häfen vorzubereiten" und „sich über die dortigen Zoll- und Schiffahrtsverhältnisse zu unterrichten" 26 . Angesichts der kapital- und industriefeindlichen Politik Preußens in den 40er Jahren mit ihrem Ziel, die Agrarstruktur des preußischen Staates nach den Reformen zu festigen, war es jedoch nicht verwunderlich, daß das 1843 bekundete Engagement gegenüber China in der Folgezeit deutlich geringer aus-

21

Der Gedanke einer preußischen Handelsgesellschaft für China in Singapore wurde schon bald wieder fallengelassen. Der Handel war nicht umfangreich genug. Berg (Hrsg.), Bd 1, S. IX f.; Brandt, China, S. 36 ff.

22

In: StAMS, 0berpräsidium/190. Der Absender dieses Schreibens, wahrscheinlich eine offizielle Institution der Hansestadt Bremen, und auch der Brief der Preußischen Seehandlung vom 1 8 . 1 . 1843 ließen sich nicht ermitteln. Vgl. auch Yü, S. 33 ff.

23

Brief aus Bremen an die Preußische Seehandlung, 2 5 . 1 . 1843, StAMS, Oberpräsidium/ 190.

24

Beutler, S. 77 ff.

25

Dabei kam es zu erheblichen Verzögerungen, da sich der Handelssachverständige alle Informationen und Auskünfte über die W ü n s c h e der Kaufleute und Industriellen vor Ort selbst holen mußte. Preußisches Ministerium für Finanzen an Oberpräsidium, 19. 5. 1843, Antwort vom 28. 5 . 1 8 4 3 und Schreiben vom 29. 6. 1843, StAMS, Oberpräsidium/ 190. Eine Selbsthilfeorganisation der Wirtschaft gab es z. B. in Westfalen nicht. Die preußische Verwaltung übernahm statt dessen die Wirtschaftskoordination. Freye, S. 73 f.

26

Preußisches Ministerium für Finanzen an Oberpräsidium, 21. 4. 1843, StAMS, Oberpräsidium/190.

29

fiel 27 . Zudem bestätigte der Bericht des Handelssachverständigen die Voreingenommenheit der preußischen Staatsregierung in bezug auf Überseegeschäfte. Grube verwies auf die Unsicherheiten in den geöffneten Häfen und die unzureichenden Verbindungen ins Landesinnere sowie auf die geringen Bedürfnisse der Chinesen für deutsche Produkte, abgesehen von Wollwaren 28 . Trotzdem wurde 1847 der Kaufmann Richard v. Carlowitz, Inhaber eines der ältesten, 1846 gegründeten deutschen Handelshäuser in China, zum preußischen und sächsischen Konsul in Canton ernannt. Die preußische Regierung traf diesen Entschluß, um wenigstens den Wünschen der Kaufleute nach einer eigenen deutschen Vertretung in China halbwegs zu entsprechen 29 , und vor allem, um den Führungsanspruch Preußens in Deutschland zu betonen 30 . Gerade die Auslandskaufleute hofften auf einen geeinten und vereint auftretenden Nationalstaat und auf eigene Verträge, die endlich die Rechtsunsicherheit beseitigen und eine formale Gleichstellung mit anderen Mächten herbeiführen sollten 31 . Die auf Eigenständigkeit bedachten Hansestädte, die kaum zu einer Zusammenarbeit mit Preußen und dem 1833 gegründeten, protektionistischen Zollverein bereit waren 32 , blieben am Freihandel Großbritanniens ausgerichtet und lehnten sich konsularisch in China vorwiegend an die Vereinigten Staaten an. Erst 1851 übernahmen der Kaufmann Pustau für Bremen und 1852 der Kaufmann Siemssen für Hamburg eine eigene konsularische Vertretung in Canton 33 . Trotz des geringen Umfangs und des nur langsamen Anwachsens des deutschen Handels mit China wurden unter dem Schutz der Großmächte bis Mitte der 50er Jahre gute Geschäfte getätigt. Der Warenverkehr fand hauptsächlich von China aus statt. Die Exporte waren fast ausschließlich für Europäer bestimmt 34 .

27

Böhme, Bankpolitik, S. 121 ff.

28

Oberpräsident Koblenz an Oberpräsidium Westfalen, 18. 11. 1845, Bericht Grube als Anlage, StAMS, Oberpräsidium/190. Dieser Bericht wurde an alle preußischen Regierungen verschickt, vgl. Regierung Koblenz an Regierung Aachen, 1 9 . 1 . 1846, HStAD, Regierung A a c h e n / 1 6 8 4 .

29

Schreiben mehrerer deutscher Kaufleute an Rat der Hansestadt Bremen, August 1846, StAHB, 2 / C 2 4 / a 1. Die Engländer hatten es schon 1842 abgelehnt, daß ihre Konsuln weiterhin gleichzeitig die Interessen anderer Staaten vertraten. Grube-Bericht, S. 32, StAMS, Oberpräsidium/190.

30

Bohner, S. 52 ff.

31

Berg (Hrsg.), Bd 1, S. XII f. Verluste von Eigentum, z. B. durch Piraten, waren nicht ein-

32

Henderson, Zollverein, S. 166 ff.

33

Glade, S. 40 ff.; Möring, S. 12 f., 28. Erst ab 1862 gab es ausschließlich gemeinsame

klagbar, da es keine anerkannte Vertretung gab. Bartsch, S. 39 f.

Konsuln der Hansestädte. Auszug eines Schreibens Senator Dr. Curtius, Lübeck, an Syndikus Merck, Hamburg, 31. 5. 1862, StAHB, 2 / C 2 4 / b 0. 34

Importe aus China waren Tee, Seide und Gewürze, Exporte nach China vor allem Zink, Blei und Glas sowie Wollieferungen über London und spanischer Flanell. Schätzungen sahen Deutschland an 9. Stelle der Einfuhren nach China und an 5. Stelle der Ausfuhren aus China. Bartsch, S. 55 f.; Beutler, S. 24; Yü, S. 39 ff.

30

Für ein erneutes militärisches Eingreifen Großbritanniens Ende der 50er Jahre in China, diesmal mit Unterstützung Frankreichs, waren wirtschaftliche und politische Gründe maßgebend. Obwohl England etwa drei Viertel aller ausländischen Firmen in China stellte, von denen ein Dutzend den Markt kontrollierte und 80 % des gesamten Außenhandels in den Händen hielt, hatten sich die Erwartungen der britischen Kaufleute im Im- und Exportgeschäft wie schon in den 30er Jahren nicht erfüllt. Die Exporte in das gesamte Reich der Mitte blieben geringer als diejenigen nach Holland. Die Importe beschränkten sich fast ausschließlich auf Tee und Seide. Nur die Opiumeinfuhr nach China stieg ständig 35 . Die Verträge von 1842, von den Chinesen nur zögernd erfüllt, brachten lediglich Enttäuschungen. Die Hoffnungen der Wirtschaftskreise, China zu einem zweiten Indien aufzubauen, schienen verflogen. Das Innere des chinesischen Reiches blieb weiterhin verschlossen. Zudem machte sich zunehmend eine chinesische Handelskonkurrenz bemerkbar 36 . Britische Handelskreise waren jedoch nicht gewillt, die handelsfeindliche Situation hinzunehmen. Die englische Regierung wurde zu politischen Zwangsmaßnahmen aufgefordert und von Seiten einer einflußreichen Chinalobby massiv unter Druck gesetzt. Die Chinakaufleute waren überzeugt, die für sie unhaltbaren wirtschaftlichen Zustände nur durch eine Revision der Zollverträge und — über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen — durch ein direktes Einwirken auf den Hof in Peking lösen zu können 37 . Die Verhandlungen über die Zolltarife begannen 1854, kamen aber erst mit der militärischen Niederlage der Chinesen von 1858 zu einem gewaltsamen Abschluß. Ohne Skrupel hatte die britische Marine das provozierende Verhalten einiger chinesischer Seeleute (Arrow-Zwischenfall, 1856) zur Eröffnung von Kriegshandlungen ausgenutzt 38 . Die Zölle konnten schließlich auf 5 % des Warenwertes von 1858 neu festgelegt werden 3 9 . In Großbritannien selbst war dieses drastische Vorgehen heftig umstritten. Zum einen besaßen die Prinzipien der Nichteinmischung und des Freihandels für die Briten besonderen Wert. Zum anderen galt es aber, englische Interessen und den Status quo zu wahren sowie Einflußzonen und die notwendigen Absatzgebiete zu erhalten. Der russische Vorstoß in die traditionellen englischen Exportgebiete des Mittleren Ostens war zwar im Krimkrieg

35

Die Aussage, daß der Silberabfluß für Opium nach Indien genauso hoch gewesen sei wie der Silberabfluß aus England für chinesische W a r e n , kann kaum als Rechtfertigungsgrund überzeugen. Sargent, S. 130 f. Tatsächlich waren auch die Importe Englands etwa 20 Mal so hoch wie seine Exporte nach China. Bartsch, Anlage VIII.

36

Fairbank, Trade, S. 160, 2 0 9 ; Hyam, S. 48 f.; Sargent, S. 132 ff.

37

Hsü, Entrance, S. 108 ff.; Pelcovits, S. 9 f.

38

Hsü, Entrance, S. 21 ff.

39

Zu den Versuchen einer Anpassung der chinesischen Zollsätze an die wirtschaftliche Entwicklung bis zur einseitigen Aufkündigung der Verträge durch die Nationalregierung 1 9 2 9 Cheng, S. 11, 2 0 9 ; Remer, Investments, S. 47 f.

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abgewehrt worden, aber nun schickte sich Rußland als Reaktion auf diese Niederlage an, stärker als bislang nach Fernost zu expandieren. Eine ständige diplomatische Vertretung in China erschien somit als bester Garant, russischen Ansprüchen im Reich der Mitte zu begegnen 4 0 . Mit Beendigung des Zweiten Opiumkrieges erzwang England daher im Vertrag von Tientsin am 26. Juni 1858 die Zusage einer ständigen diplomatischen Mission am Kaiserhof in Peking. Darüber hinaus erreichten die Briten die Öffnung von 16 weiteren Häfen, vor allem entlang dem Yangtze im Inneren des Landes, Bewegungsfreiheit, umfassende Missionsfreiheit, Ausreisefreiheit für chinesische Arbeiter und eine Legalisierung des Opiumhandels 41 . Hatten sich die Verträge von 1842 noch mit der traditionellen chinesischen Staatsauffassung vereinbaren lassen — Zollbegünstigungen konnten auch als Gnadenakt des chinesischen Kaisers aufgefaßt werden —, so widersprachen ständige diplomatische Missionen völlig der Herrschaftstheorie von der einzigartigen Stellung des chinesischen Kaisers 42 . Der Versuch der Chinesen, die Gesandtschaften der Großmächte aus Peking herauszuhalten und eine Ratifizierung der Verträge an einem anderen Ort durchzuführen, scheiterte 1860 an der erneuten massiven militärischen Intervention Englands und Frankreichs, die es verstanden, die krisenhafte Situation der Mandschu-Dynastie nach der Zerschlagung der kaiserlichen Armee durch die Taiping bei Nanking auszunutzen. Auch die Vereinigten Staaten und Rußland profitierten wiederum von der Schwäche Chinas, obwohl sie sich militärisch neutral verhalten hatten 43 . In deutschen Wirtschaftskreisen wuchs in den 1850er Jahren das Ansehen Preußens trotz des Scheiterns der 1848er Revolution und der darauf folgenden reaktionären Politik. Die Hansestädte verfolgten mit Interesse die zunehmend liberalere Politik des Zollvereins, der auf Drängen Preußens 1854 die Zölle reduzierte. Zuvor hatte es die preußische Regierung verstanden, Österreich mit einem Handelsvertrag aus dem einheitlichen Zollgebiet herauszuhalten, und damit ihre wirtschaftliche Vormachtstellung in Kleindeutschland ausgebaut 44 . Trotz der Anwendung freihändlerischer Prinzipien, vor allem als politische Waffe gegen Österreich, blieb jedoch die überragende Rolle des Staates als Initiator des wirtschaftlichen Wachstums in Preußen erhalten. Gerade die Bürokratie war es, von der die neue ökonomische Entwicklung aktiv gefördert wurde. Unter dem liberal-konservativen Handelsminister v. der

40

Berg (Hrsg.), Bd 4, S. 130 ff.; Hallgarten, Imperialismus, B d l , S. 58 ff.; Hildebrand, Reichseinigung, S. 205 ff.

41

Selby, S. 46 ff.; Wiethoff, Neuere Geschichte, S. 96.

42

Hsü, Entrance, S. 116 ff.; Wiethoff, Ältere Geschichte, S. 214 ff.

43

Berg (Hrsg.), Bd 3, S. 211 ff.; Hsü, Entrance, S. 21 ff., 71 ff. Zu den Interessen der Großmächte und zu der Taktik der Chinesen, diese gegeneinander auszuspielen, Selby, S. 59 ff.; Teng, S. 270. Zur englischen Politik, besonders zum militärischen Aspekt, Graham, passim.

44

32

Baasch, Bd 2, passim; Henderson, Zollverein, S. 196 ff.

Heydt (ab 1851) kam es trotz weiter bestehender staatlicher Kontrolle zu einer Aussöhnung des Staates mit Handel und Industrie sowie zu einer Annäherung von Agrariern und Liberalen, die in den neu geschaffenen, der Kapitalakkumulation förderlichen Aktienbanken ihren Ausdruck fand 45 . Der wirtschaftliche Aufschwung der 50er Jahre war im wesentlichen bestimmt durch einen sich vergrößernden nationalen Binnenhandel und fand seine Entsprechung in Handelsabschlüssen mit anderen, zumal überseeischen Ländern. Dabei standen, dem Beispiel Großbritanniens sogar bis in die Einzelheiten der Verträge folgend, die Erweiterung von Absatzgebieten, der Abbau von Handelsbeschränkungen, aber auch die Schaffung neuen Siedlungsraumes im Vordergrund. Durch eine besondere Rücksichtnahme auf die Interessen der Seemächte konnte sich Preußen hierbei oftmals als Vertreter Deutschlands im In- und Ausland profilieren 46 . Der italienische Krieg trug 1859 eine neue Woge nationaler Begeisterung nach Deutschland. Preußen zögerte jedoch, die nationale Mobilisierung politisch zu instrumentalisieren, obwohl das Regierungsprogramm der „Neuen Ära" grundsätzlich den Anspruch nationaler Verwirklichung unter preußischer Führung erhob 47 . Seine ambivalente Haltung verärgerte insbesondere die kleineren Staaten, die auf eine militärische Hilfeleistung für Österreich gegen Frankreich drängten. Trotzdem konnte die preußische Regierung die Situation noch zu ihren Gunsten ausnutzen, indem sie sich politisch stärker an Rußland und Frankreich anzunähern verstand. Zwar verhandelte sie auch mit Österreich über wirtschaftliche Fragen, aber mit Frankreich ließ sich schon nach wenigen Gesprächen eine Einigung über eine zukünftige Wirtschaftspolitik erzielen, die im Sinne des Cobdenvertrages zwischen England und Frankreich von 1860 auf den Aufbau eines neuen Niedrigzollgebietes in Westeuropa hinauslief 48 . Wenn auch gerade das preußische Militär jeglichem Nationalstaatsdenken völlig fremd gegenüberstand und die Existenz und die Sicherheit des preußischen Staates keinesfalls gefährden wollte, ergaben sich dennoch gewisse Annäherungspunkte mit nationalen, konservativen und liberalen Kreisen. Trotz der revolutionären Bedrohung des militärisch-monarchistischen Obrigkeitsstaates und der Unterordnung Preußens gegenüber dem russischen Vormachtanspruch im Osten in der „Schmach von Olmütz" (1850) hatte sich in den 50er Jahren ein neues politisches Selbstbewußtsein entwickelt. Der nationale Gedanke ließ sich nun ohne Schwierigkeiten in militärische Konzepte

45

Böhme, Deutschlands W e g , S. 62 ff.; ders., Bankpolitik, S. 133 ff.; Wehler, Bismarck, S. 59 ff.

46

Verträge wurden vor allem mit südamerikanischen Staaten geschlossen, z. B. mit Mexiko am 10. 7. 1855. Delbrück, Bd 1, S. 57 ff., 180; Henderson, Zollverein, S. 256 ff.; Rosenberg, Weltwirtschaftskrisis, S. 29 f.

47

Börner, S. 28 f., 39 ff., 111 ff.; Haupts, S. 48 ff., Fenske (Hrsg.), S. 15 ff. Börner, S. 62 ff.; Fuchs, S. 123 ff.; Henderson, Zollverein, S. 273 ff.

48

Reichsgründung,

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integrieren. Größere Selbständigkeit des Militärs und verstärkte Rüstungsanstrengungen sollten Preußen zur militärischen Vormacht Deutschlands weiterentwickeln, das schließlich zur gegebenen Zeit von Preußen aus zusammengefaßt werden konnte. Mehr noch als die Armee versuchte schon seit geraumer Zeit die preußische Marine, auf der nationalen Welle ihr Ansehen und ihre Stärke zu vergrößern 49 . Mit dem Anstieg der Auswanderung in den 40er Jahren hatte sich die koloniale Frage und damit auch die Flottenfrage immer stärker in das öffentliche Bewußtsein gedrängt. Die Flotte war im Vormärz nicht mehr nur ein wirtschaftliches oder militärisches, sondern vor allem ein nationales Anliegen 50 . Nach dem Scheitern einer ersten gemeinsamen deutsche Flotte (1848—1852) hielt Preußen an dem Aufbau einer eigenen Marine fest. Bis Ende der 50er Jahre stand aber bei der Marineführung zunächst der Primat einer kontinental gebundenen Schlachtflotte gegen Dänemark im Vordergrund. Überseeische Unternehmungen, ab 1852 als Ausbildungsfahrten oder zur Aufnahme von Handelsbeziehungen durchgeführt, dienten nur der Selbstdarstellung 51 . Letztlich setzten sich aber doch die liberalen und die dem Handel wohlgesonnenen konservativen Gruppierungen mit ihren Marineplänen durch. Als erster Schritt wurde 1854 die Admiralität dem Ministerpräsidenten direkt unterstellt, um sie dem Einfluß der kontinental ausgerichteten Armee zu entziehen. In Zukunft sollte Flottenpolitik Schutz des Handels in Übersee anstatt Schlachtflottenbau bedeuten. Diese Vorstellungen kamen eindeutig aus liberalen Wirtschaftskreisen im Zollverein und aus den Hansestädten. Die Marine sollte Preußens Befähigung demonstrieren, Großmachtpolitik auch im internationalen Rahmen zum Nutzen der deutschen Wirtschaft zu treiben. Der Bau der noch 1855 genehmigten fünf Linienschiffe konnte 1858/59 im preußischen Landtag keine Mehrheit finden. Statt dessen sollten Kreuzer zum Handelsschutz aufgelegt werden. Die 1859 erfolgte Verselbständigung der Flotte, manifestiert in einem unabhängigen Oberkommando unter Prinz Adalbert von Preußen, bedeutete einen enormen Prestigegewinn für die Marine. Ihr neuer Flottengründungsplan von 1860 sah den sofortigen Bau von Fregatten vor und stellte die Linienschiffprojekte zunächst zurück. Die Marine bekundete auf dem Höhepunkt der „Neuen Ära" ihr Interesse an einer politischen Annäherung an liberale Handelskreise 52 . Vor dem Hintergrund der Politik der Großmächte in China und der politischen Entwicklung in Preußen-Deutschland fand die preußische Expedition nach Ostasien der Jahre 1859 bis 1862 statt. In den 50er Jahren gewannen die preußischen und insbesondere die hanseatischen Wirtschaftsbeziehungen nach Fernost zusehends an Bedeutung. Vor allem im chinesischen Küsten49

Hillgruber, Großmacht, S. 9 ff.; Messerschmidt, Geschichte, S. 173 ff.

50

Fenske (Hrsg.), Reichsgründung, S. 12 ff.

51

Kriegsministerium an Ministerium für Handel, 18. 6. 1852 und Antwort, 28. 6. 1852,

52

Boelke, Meer, S. 17 ff.; Petter, Flottenrüstung, S. 64 ff.; ders., Stützpunktpolitik, S. 1 ff.

BA-MA, RM 1 / 2 7 7 1 .

34

handel konnten sich deutsche Schiffe fest etablieren 53 . Erst das Vorgehen der Großmächte in China 1856 veranlaßte die Chinesen, zeitweilig das Festland gegenüber Hongkong zu sperren, das sich zum Hauptumschlagplatz westlicher Waren entwickelt hatte 54 , um den Handel in Canton zum Erliegen zu bringen. Die Geschäfte verlagerten sich immer stärker auf die nördlichen Häfen, besonders auf Shanghai. Wegen des wachsenden wirtschaftlichen Drucks befanden sich auch deutsche Kaufleute längst nicht mehr im besten Einvernehmen mit ihren ausländischen Konkurrenten 55 . Schon 1853 hatte der preußische Konsul v. Carlowitz deshalb auf die Bedeutung der Flagge hingewiesen 56 . 185 6 machte er nochmals ausdrücklich auf die Vorteile aufmerksam, die England und Frankreich aus einem neuen Krieg erwachsen könnten, und forderte erneut den Einsatz preußischer Kriegsschiffe in China 5 7 . Das preußische Außenministerium zeigte sich prinzipiell einverstanden, nicht zuletzt weil sich die Vertragsmächte immer häufiger bei ihm über das Vorgehen deutscher Kaufleute beklagten, die sich keiner Jurisdiktion unterwerfen wollten. Erst kurz zuvor hatte es eine Aufforderung aus London erhalten, sich am Schutz der westlichen Staatsbürger in China aktiv zu beteiligen und nicht nur einseitig von den Privilegien zu profitieren 58 . Zudem machte sich die Weltwirtschaftskrise der Jahre 1857 bis 1861 auch im Chinageschäft bemerkbar. Die Handelshäuser in China strebten nach größerer Unabhängigkeit von Europa und Amerika. Hingegen ruhten die Hoffnungen des deutschen Exporthandels und der Industrie auf eine Markterweiterung und neue Rohstofferschließungen gerade nach der Außenhandelskrise des Zollvereins auf einer engeren wirtschaftlichen Verflechtung mit Ostasien. Nicht mehr einzelne Häuser sollten den Handel mit China quasi monopolisieren, sondern ein Wirtschaftsverkehr großen Stils zum Wohle des gesamten Handels und der Industrie aufgebaut werden. Der Ruf nach staatlicher Hilfe wurde immer lauter 59 . In einer Denkschrift betonten deutsche

53

Borgert, S. 169 ff.; Glade, S. 27. China wurde auch zum Bestandteil geistiger Auseinandersetzungen in Deutschland über das zukünftige Aussehen der Welt, vgl. Johann Gustav Droysen an Wilhelm Arendt, 2. 6. 1854, in: Fenske (Hrsg.),

Reichsgründung,

S. 111. 54

Kaufmann Siemssen an den Senat von Bremen, 8. 2. 1855, Abschrift, HKHB, Hp II 83/1.

55

Marktbericht aus China von Siemssen & Co., 1 3 . 1 1 . 1856, ebd. Bartsch, S. 65 ff.; Möring, S. 34 ff. Die deutschen Kaufleute begrüßten zwar die Absicht, bessere Verträge zu schaffen, wandten sich aber gegen einen größeren Krieg, der den Handel zerstören mußte. Auszug aus dem Bericht des preußischen Ministerresidenten bei den Hansestädten an Syndikus Merck, 8 . 1 . 1857, StAHH, CL VI 14a Vol. 1 / F a s e . 1 / 2 .

56

Kriegsministerium an Oberkommando der Marine, 2 1 . 1 1 . 1853, mit anliegendem Schreiben von Carlowitz, BA-MA, RM 1 / 2 7 7 2 .

57 58

Carlowitz an Außenministerium, 1 3 . 1 1 . 1856, ebd. Ministerium für Handel an Königliche Admiralität, 1 7 . 1 . 1 8 5 7 , Hinweis auf das Einverständnis des Außenministeriums, ebd. Delbrück, Bd 1, S. 173 f.

59

Beutler, S. 44 ff.; Möring, S. 39 ff.

35

Wirtschaftskreise die Notwendigkeit einer staatlichen Expedition Preußens oder Österreichs, um die gleichen Zugeständnisse zu erhalten wie die anderen Großmächte. Tatsächlich zeichnete sich n a c h dem Tientsiner Übereinkommen die Gefahr ab, daß Deutschland aus dem Chinageschäft ausgeschaltet werden könnte, da in den Verträgen die Gleichberechtigung nicht automatisch allen übrigen Handelsnationen gewährt w o r d e n war 6 0 . Dies veranlaßte schließlich die Hansestädte zu diplomatischen Aktivitäten in London und Berlin und führte Ende 1 8 5 9 zu offiziellen Verhandlungen mit Preußen, da Großbritannien nicht bereit schien, ihnen zu helfen 6 1 . Das preußische Handelsministerium hatte sich bereits Ende 1 8 5 8 für eine Expedition ausgesprochen, da es endlich — so hieß es in der Begründung — der kommerziellen Bedeutung der „Länder des Stillen M e e r e s " gerecht werden wollte. Darüber hinaus meinte das Ministerium, aus nationalem Selbstgefühl die politische Stellung Preußens, Deutschlands und des Zollvereins nicht fremden M ä c h t e n überlassen oder gar den Hansestädten den Vortritt gewähren zu können, die doch besser ins Schlepptau der preußischen Flagge zu n e h m e n seien 6 2 . Auch die preußische Admiralität w a r grundsätzlich bereit, einer Expedition zuzustimmen, gerade im Hinblick auf die massive Kritik der Liberalen, die der Marine Versagen bei der Vergeltung für die Plünderung eines Schiffes unter oldenburgischer Flagge durch chinesische Piraten vorwarfen 6 3 . Sie wies indes gleichzeitig auf die hohen Kosten, die Notwen-

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36

Bericht des Hamburger Ministerresidenten, London, an Syndikus Merck, 29. 9. 1858, StAHH, CL VI 14a Vol. 1/Fasc. 1/a. In einer Sitzung der Kommerzdeputation hieß es dazu: Alle Verträge trügen eine „ängstliche Exklusivität", Sitzungsprotokoll, 25. 3.1859, in: HKHH, Akt.Chi/34. Auszug aus dem Schreiben des Hamburger Ministerresidenten, London, an Syndikus Merck, 28. 3. 1859, StAHH, CL VI 14a Vol. 1/Fasc. 1/a. In einem Schreiben vom 9.11. 1859 teilte Merck Senator Smidt in Bremen mit, „daß das, was den Hansestädten bisher stets gelungen ist, nämlich, nachdem einige größere Staaten den Weg geebnet haben, durch eigene Verhandlungen Verträge zu erlangen, diesesmal scheitern sollte, so hat der Senat es doch angemessen erachtet, schon im Frühjahr darüber vertrauliche Erkundigungen in Berlin einzuziehen, ob die preußische Regierung geneigt sein werde, die Hansestädte in gemeinsame Verhandlungen aufzunehmen und in welcher Modalität sie dazu bereit sein werde". Dabei waren sich die Hansestädte darüber im klaren, daß Preußen eine Beteiligung aus nationalen Gründen wohl recht sein werde. Deshalb wollten sie auch nur bereit sein, „an preußischen Verhandlungen mit Japan und China . . . Theil zu nehmen, wenn die Beibehaltung einer selbständigen hanseatischen Konsularvertretung in beiden Staaten . . . in den Verträgen vollkommen gewahrt blieb", StAHB, 2 / C 24/a 1; vgl. auch Merck an Smidt, 20. 4. und 29.10. 1859, ebd. Hamburg war dann mit der Vereinbarung Preußens Anfang 1860 weniger zufrieden als Bremen und Lübeck, Syndikus Merck sprach bereits von einer Aufgabe hanseatischer Selbständigkeit, Merck an Smidt, 1. 5., 14. 5. und 16. 5. 1860, ebd. Ministerium für Handel an Admiralität, 17.12. 1858, BA-MA, RM 1/2336. Die Aktivitäten der Seeräuber konnten als guter Anlaß genommen werden, die Präsenz der Flotte vor China zu zeigen und als fünfte Macht einen Vertrag abzuschließen. Preußen und das Meer, IV, in: Fenske (Hrsg.), Reichsgründung, S. 137 ff.

digkeit englischer Unterstützung und auf den drohenden Krieg gegen Dänemark hin 6 4 . Erst Mitte 1 8 5 9 w u r d e daher mit intensiveren Vorbereitungen begonnen 6 5 . Zuvor hatte die österreichische Fregatte „Novarra" für Aufsehen gesorgt, die auf ihrer von Triester Handelskreisen initiierten Weltumsegelung von den Deutschen in China stürmisch begrüßt worden w a r 6 6 . Bei der Ostasienexpedition, deren erstes Schiff im Oktober 1 8 5 9 auslief, stand das handelspolitische Interesse eindeutig im Vordergrund, nicht das militärische. Die Marine sollte nur ausführendes Organ sein. Die Admiralität zeigte sich damit einverstanden und wies lediglich auf die Entscheidungsfreiheit der Kommandanten hin. Tatsächlich konnte das Militär keinen Einfluß auf die Verhandlungen in Japan, China und Siam nehmen. Im allgemeinen arbeiteten aber die politisch-kommerziellen Interessenvertreter mit den militärischen Fachleuten der Expedition reibungslos zusammen 6 7 . Vor ihrer Abreise gab es jedoch w e g e n technischer Schwierigkeiten und Kompetenzstreitigkeiten innerhalb der Marineführung erhebliche Verzögerungen, die aus Angst vor einer Blamage zu großer Unruhe in preußischen Regierangskreisen führten 6 8 . Die preußische Regierung hatte die Expeditionsvorbereitungen sehr genau g e n o m m e n . Das Handelsministerium legte größten W e r t auf eine enge Zusammenarbeit mit der Wirtschaft, der Ziele und Durchführung der Expedition bis ins einzelne erläutert wurden und die aufgefordert wurde, W a r e n proben zur Verfügung zu stellen. Bewerbungsschreiben zur Teilnahme an der Expedition gingen aus ganz Deutschland ein 6 9 . Das preußische Außenministerium richtete eine Mitteilung an alle S e e m ä c h t e und Gesandtschaften anderer Staaten. Es bekam Zusagen für Hilfeleistungen, die zwar ein allgemeines Verständnis erkennen ließen, aber nichts Konkretes enthielten 7 0 . Intensivere

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Admiralität an Außenministerium, 1.11. 1858, BA-MA, RM 1/2336. Handelsminister v. der Heydt an Außenminister v. Schleinitz, 16. 7. 1859, ebd. Petter, Stützpunktpolitik, S. 54 ff. Fenske, Tendenzen, S. 374 ff.; K.-h. Lee, S. 1 ff. Protokoll Ressortbesprechung, 9. 8. 1859, BA-MA, RM 1/2337; Admiralität an Außenministerium, 15.9. 1859, ebd., RM 1/2342; Geschwaderchef an Admiralität, 18.12. 1869, ebd., RM 1/2338. Admiralität an Marineverwaltung, 18.10. 1859, ebd., RM 1/2337; Admiralität an Regent, 15.12. 1859, ebd., RM 1/2342; v. der Heydt an Schleinitz, 27. 1. 1860, ebd., RM 1/2338. V. der Heydt an Handelskammern, 12. 8.1859, ebd.,.RM 1/2337. Quillitzsch, S. 174 ff. Besprechungsprotokoll Ministerialkonferenz, 13.10. 1859, BA-MA, RM 1/2337. Die Antwort Englands lautete, mit der preußischen Expedition in „friendly connections" treten zu wollen. Foreign Office an Gesandten v. Bernstorff, 23.11.1859, ebd. In einem Bericht vom 3. 5.1861 an Schleinitz wies Legationssekretär Pieschl von der Expedition darauf hin, daß England nicht besonders entgegenkommend gewesen sei; in England und Frankreich bestanden erhebliche Zweifel, ob eine preußische Gesandtschaft in China nicht ihren eigenen Interessen zuwiderlaufe, ebd., RM 1/2340. Berg (Hrsg.), Bd 2, S. 33 ff. 37

Gespräche wurden lediglich 1860 noch von dem Leiter der Expedition, dem Gesandten Graf Friedrich Albert zu Eulenburg, mit dem englischen und dem französischen Unterhändler bei den Verträgen von 1858 mit China, Lord Elgin und Baron Gros, in Paris geführt. Frankreichs Angebot 71 , Preußen bei möglichen Kolonialprojekten zu unterstützen, um so ein Gegengewicht zu England im Fernen Osten zu schaffen, fand jedoch in Berlin wenig Gegenliebe. Preußen wollte und durfte Großbritannien und Rußland nicht durch koloniale Unternehmungen brüskieren. Daher wurde auch auf der Rückreise der Expedition davon abgesehen, einen Stützpunkt zu besetzen, was zunächst geplant war. Das Oberkommando der Marine konnte sich gegen die Argumente des Außen- und des Kriegsministers nicht durchsetzen, die den Erfolg der Expedition nicht durch eine Provokation der Großmächte aufs Spiel setzen wollten, wenn auch die Ergebnisse insgesamt hinter den hochgespannten Erwartungen zurückblieben 72 . Preußen war es als Beauftragtem des Zollvereins, der Hansestädte und Mecklenburgs in Japan lediglich gelungen, für sich selbst — und das auch nur durch Vermittlung des amerikanischen Gesandten — einen Gesandtschaftsvertrag mit Gleichberechtigungs- und Meistbegünstigungsgarantie abzuschließen (Januar 1861). Auch die Japaner setzten der Öffnung ihres Landes erbitterten Widerstand entgegen. Zwar hatten es die westlichen Großmächte nach der erfolgreichen Expedition des amerikanischen Kommodore Perry (1853) vermocht, die japanische „Politik der geschlossenen Tür" durch Freundschafts- und Schiffahrtsverträge zu unterlaufen 73 , Japan zeigte sich aber in keiner Weise bereit, seinen Vertragspartnern und schon gar nicht neuen fremden Mächten entgegenzukommen. Nur durch politischen und militärischen Druck konnten Zugeständnisse erreicht werden. Hierzu war die Eulenburg-Mission jedoch nicht in der Lage 74 . In China wäre die mangelnde Unterstützung durch die Großmächte der preußischen Ostasienexpedition beinahe zum Verhängnis geworden. England, Frankreich und auch Rußland hielten wegen der sich zuspitzenden inneren Auseinandersetzungen im Reich der Mitte und ihrer eigenen wirtschaftspolitischen Ambitionen den Zeitpunkt für ein Gesandtschaftsabkommen für ungeeignet. Erst nach langen, schließlich auch ohne den Druck der anderen

71

Frankreich wurde von der Wirtschaft als warnendes Beispiel bezeichnet, das zwar eine Operationsbasis, aber keinen entwicklungsfähigen Handel habe. Denkschrift betreffend den von Deutschland einzuleitenden Verkehr mit dem neu eröffneten Weltmarkt in China . . ., HKHB, Hp II 8 3 / 1 .

72

Oberkommando der Marine an Kriegsministerium, 5 . 1 . 1862, BA-MA, RM 1 / 2 3 4 9 . Petter, Flottenrüstung, S. 70 ff.; Siemers, passim.

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Auch die Öffnung Japans wurde in Europa als Signal verstanden, welches die steigende Bedeutung des gesamten ostasiatischen Marktes für die Industrieländer hervorhob. Sie machte zudem den Anspruch der USA auf Einfluß im pazifischen Gebiet deutlich. Zur Überseepolitik der USA Wehler, Aufstieg, S. 10 ff., 217 ff., 262 ff.

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Zu Japan als Überblick Kindermann, Ferner Osten, S. 43 ff.; Schwebell (Hrsg.), passim.

Großmächte erfolgreichen Verhandlungen über das Recht, eine ständige preußische Gesandtschaft in Peking einzurichten und Reisen ins Landesinnere durchzuführen, gelang es Eulenburg, auch noch Konsularverträge für die anderen deutschen Zollvereinsstaaten mit China abzuschließen. Auf der Rückreise konnte die Expedition dann noch erfolgreiche Gespräche in Siam führen. Preußen wurde damit zwar nicht zum formalen, wohl aber zum realen diplomatischen Vertreter Deutschlands in Ostasien. Es hatte Recht und Schutz für deutsche Staatsangehörige unter einer Flagge geeint und mit den Seemächten gleichgezogen. Es konnte sowohl sein nationales als auch sein internationales Ansehen festigen und ausbauen. Preußen hatte sich durch diese staatlich initiierte und geförderte Aktion in Übersee vor allen anderen deutschen Staaten als „Träger der realen Interessen Deutschlands in Fernost" erwiesen. Österreich-Ungarn, das durch seine europäischen Verwicklungen aufs äußerste in Anspruch genommen war, gelang es erst 1869 mit englischer Hilfe, Verträge mit Japan, China und Siam abzuschließen 75 . Der Einfluß Großbritanniens in China war im Verlauf der 1860er Jahre immer stärker geworden. Die Auseinandersetzung zwischen der chinesischen Regierung und den Taiping-Revolutionären wurde schon Anfang der 60er Jahre durch das Eingreifen der Engländer entschieden. Waren Taiping und Briten bislang durch die Fürsprache westlicher Missionare, die in der Ideologie der Revolutionäre zum Teil Ansätze christlichen Gedankenguts wiederzuerkennen meinten, gut miteinander ausgekommen, so setzte sich nun die Auffassung durch, einem vermeintlichen Angriff auf die wirtschaftliche Vorherrschaft am Yangtze müsse entschieden entgegengetreten werden. Die immer kritischere Lage um die Handelsmetropole Shanghai, deren Besetzung durch die Taiping drohte, schien die indischen Opiumeinfuhren im höchsten Maße zu gefährden 7 6 . Die vertraglich zugesicherte Öffnung des Landesinnern und dessen wirtschaftliche Erschließung konnten nach Auffassung Londons aber nur durchgesetzt werden, wenn die Mandschu-Regierung in die Lage versetzt würde, für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Ziel der britischen Politik nach 1860 war es daher, die kaiserliche Regierungsgewalt aufrechtzuerhalten und so weit wie möglich politischen Einfluß auf sie auszuüben, ohne dabei eigene Verantwortung tragen zu müssen 77 . Gegen die Taiping war es schon Anfang der 50er Jahre unter der Federführung der chinesischen Gentry zum Aufbau regierungsunabhängiger Selbstverteidigungsarmeen aus lokalen Korps gekommen 78 , unter denen die HunanArmee des Generalgouverneurs der Hukwang-Provinz, Tseng Kuo-fan, die Huai-Armee des späteren Generalgouverneurs von Chili, Li Hung-chang, und 75

Ausführlich zum Verhältnis Österreich — China K.-h. Lee; vgl. auch Delbrück, B d l , S. 182 ff.; Werner, Bd 2, S. 310 ff.; Yü, S. 53 f. 76 Th. Kennedy, Arms, S. 16 ff.; Teng, S. 161 ff., 227 ff. 77 Hsü, Entrance, S. 82 ff., Hyam, S. 357 ff.; Werner, Bd 2, S. 203 ff. 78 Zum Versagen der kaiserlichen „Bannertruppen" und zum Aufbau lokaler Truppen ausführlich Kuhn, S. 37 ff. 39

die Ch'u-Armee des Gouverneurs von Chekiang, Tso Tsung-t'ang, die bedeutendsten waren 7 9 . Bis Ende der 50er Jahre konnten sie die Aktivitäten der Taiping aber nur unzureichend einschränken. In Shanghai und an anderen Orten versuchten daher örtliche Gentry sowie chinesische und ausländische Kaufleute, sich wirksamer gegen die Offensive der Revolutionäre zu verteidigen. Sie stellten nach westlichem Muster gegliederte, ausgerüstete und bew a f f n e t e Freiwilligenverbände aus chinesischen Soldaten unter westlicher Führung auf 8 0 . In Shanghai bezahlte das von chinesischen und ausländischen Wirtschaftskreisen gegründete „United Defense Bureau" die „Immer siegreiche Armee", die 1860 ihre ersten Einsätze unter dem Kommando angelsächsischer Freiwilliger durchführte und sich zu dem bekanntesten Freiwilligenverband entwickeln sollte. Erst das Eingreifen regulärer englischer und französischer Truppen brachte jedoch die W e n d e in den militärischen Auseinandersetzungen 8 1 . Der 1859 zum kaiserlichen Kommissar gegen die Banditen ernannte Tseng Kuo-fan hatte zunächst alle Hilfe von seiten anderer Provinzialarmeen für Shanghai gegen die angreifenden Taiping abgelehnt. Ein weiteres Vorrücken der ausländischen Verbände ins Landesinnere sollte jedoch unter allen Umständen vermieden werden. Eine militärische Kooperation mit den Westmächten schien daher unumgänglich. Li Hung-changs Huai-Armee wurde 1862 schließlich nach Shanghai entsandt, damit sich Engländer und Franzosen auf ihre territorialen Konzessionen zurückziehen konnten 8 2 . Trotz einiger Schwierigkeiten bei der Zusammenarbeit mit dem W e s t e n wurde Lis gesamte Armee in Shanghai nunmehr nach dem Vorbild der „Immer siegreichen Armee" aufgebaut und mit westlichen W a f f e n ausgerüstet 8 3 . England, Frankreich und die Vereinigten Staaten, die wegen ihrer offiziellen Neutralität im chinesischen Bürgerkrieg bis 1862 nur sehr wenig W a f f e n geliefert hatten, konnten jetzt größere Arsenalbau- und W a f f e n g e s c h ä f t e tätigen 8 4 .

79

H. Li. S. 21 ff.; Spector, S. 1 ff. Die Armeen waren keine Regionalarmeen im üblichen Sinne, die es schon immer gegen Banditen gegeben hatte, sondern außerhalb der Heimatprovinzen selbständig operierende Militärorganisationen. Sie konnten erst nach langem Widerstand der Mandschus aufgebaut werden, die schließlich die Ernennung loyaler Führer zu Befehlshabern durchsetzten. Michael, Regionalism. S. XXXVII ff.; ders., Taiping-Rebellion, S. 47 ff.

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Es war durchaus eine chinesische, schon in die Han- und T'ang-Dynastie zurückreichende Tradition, fremde Truppen einzusetzen. E. Wang, S. 535 ff.

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Schon 1854 gab es gegen die „Small-Sword"-Geheimgesellschaft in Shanghai die ersten Freiwilligenverbände. Später wurden neben der „Ever Victorious Army" noch die „Ever Successful Army", die „Ever Conquering Army" und die „Ever Pacifying Army", die zum Teil aus französischen und chinesischen Freiwilligen bestand, bekannt. Die meisten wurden aber schon bald wegen der zu hohen Kosten wieder aufgelöst. Ebd., S. 547 ff.; Teng, S. 292 ff.

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E. Wang, S. 568 ff.; Teng, S. 297 ff., 321 ff.

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Michael, Taiping-Rebellion, S. 59 ff.; E. Wang, S. 577 ff.

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Th. Kennedy, Arms, S. 10 ff.; Richthofen, Tagebücher, Bd 2, S. 50 f.

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Nach der Niederlage der Taiping, die letztlich an ihrer unzureichenden militärischen Macht, ihrer Führungslosigkeit und an der westlichen Intervention gescheitert waren 8 5 , vermochte es die kaiserliche Regierung nicht, die Provinzialarmeen drastisch zu reduzieren, um deren Macht zu begrenzen. Neue Unruhen verhinderten eine umfassende Durchführung der Demobilisierungspläne 8 6 . Die chinesischen Provinzialtruppen, die Anfang der 60er Jahre noch nicht einmal wie die mandschurischen Truppen über ein paar alte Bronzeund Eisenkanonen aus der Ming-Zeit verfügten 8 7 , sollten nach Auffassung der Gouverneure schnell mit nachgebauten westlichen W a f f e n aus eigener Produktion versorgt und von westlichen Ausbildern in deren Gebrauch eingewiesen werden. Zu diesem Zweck errichteten Tseng und Li in den 60er Jahren mit westlicher Hilfe Arsenale vor allem in Shanghai, Tientsin und Nanking. Auch westliche Kriegsschiffe sollten auf chinesischen Werften nachgebaut werden. Reformerisch gesinnte Kreise unter den chinesischen Literaten, die von westlichem Material schon seit dem Ersten Opiumkrieg beeindruckt waren, hielten es in dieser frühen Phase der Modernisierung für das erste Ziel, die Militärtechnik von den „Barbaren" zu erlernen, um diesen schließlich ihren Willen aufzuzwingen 8 8 . Die militärische Erneuerung der 60er Jahre, hervorgerufen durch die TaipingRevolution und das westliche Eingreifen in China, hatte Folgen in verschiedenen Bereichen. Sie stärkte vor allem die Provinzführer durch den Aufbau eines zu den Regionalarmeen gehörenden, von der Zentrale unabhängigen (militär-)bürokratischen Apparates, der die Ausbildung einer eigenen Hausmacht förderte. Gerade die Likin-Zölle trugen zur entscheidenden finanziellen Unabhängigkeit der Provinzen mit bei, w e n n sie auch das wirtschaftliche

85 86

Teng, S. 327. Die Huai- und die Hunan-Armee wurden jeweils mit ihren politisch-militärischen Führern bis Ende der 60er Jahre gegen Rebellen im Norden eingesetzt. Die „Immer siegreiche Armee" wurde 1864 aufgelöst. Sie war kaum am Sieg über die Taiping in der Endphase beteiligt. Die Freiwilligenarmeen konnten den chinesischen und ausländischen Kaufleuten ein gemeinsames Gefühl der Sicherheit vermitteln und trugen so zu einem besonderen Verhältnis zwischen ihnen im Süden Chinas bei, das sich letztlich auf eine rein kommerzielle Basis gründete. Spector, S. 8 ff.; Spence, S. 60 ff.

87 88

Ausführlich über die ältere chinesische Waffenproduktion Th. Kennedy, Arms, S. 7 ff. 1866 wurde zunächst von Tso Tsung-t'ang mit französischer Hilfe die M a - W e i - W e r f t bei Foochow errichtet. Ab 1856 hatte es schon einzelne Käufe von amerikanischen und englischen Kriegsschiffen gegeben. Der Kauf von sieben englischen Dampfschiffen w a r 1863 durch den nach der Shanghaier Zollkonferenz von 1858 eingesetzten englischen Generalseezolldirektor in chinesischen Diensten, Lay, vermittelt worden, der mit diesen die vollständige Kontrolle über die Zölle erreichen wollte, zunehmend aber rein britische Interessen vertrat. 1864 wurde er durch Robert Hart abgelöst, der China bis 1911 loyal in diesem Amt diente. Am bedeutendsten von den Arsenalen wurde das mit amerikanischen Maschinen ausgerüstete Kiangnan-Arsenal bei Shanghai. Ab 1 8 6 0 gab es im Norden Chinas auch zunehmend russische Berater und Waffen. Chesneaux, Bd 1, S. 205 ff.; Cordier, Bd 1, S. 152 ff., 250 ff.

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Leben hemmten. Die kaiserliche Regierung, die 1868 schon ein Viertel aller Staatseinkünfte und die gesamten Seezolleinnahmen für die Rüstung aufwandte, mußte dagegen v o n 1861 bis 1867 von ausländischen Geschäftsleuten Anleihen für insgesamt ungefähr 1,5 Millionen Pfund ausschließlich für militärische Z w e c k e aufnehmen. Rüstung und militärische Modernisierung beeinträchtigten bereits in den 1860er Jahren vor allem die wirtschaftliche Entwicklung Chinas 8 9 . In Preußen hatte der Heeres- und Verfassungskonflikt schon Anfang der 60er Jahre die „Neue Ära" vorzeitig beendet. Die Errungenschaften auf wirtschaftlichem Gebiet hatten sich nicht positiv auf die politische Ebene ausgewirkt. Die Fronten zwischen Liberalen und Konservativen verhärteten sich zunehmend, obwohl der Freihandelsvertrag mit Frankreich wie die Beendigung der Ostasienexpedition die Möglichkeiten für ein erfolgreiches Zusammenwirken von Regierung, Wirtschaft und Bürokratie, von liberalen und konservativen Interessen Anfang 1862 noch einmal unterstrichen 9 0 . Bismarck, von König Wilhelm auf dem Höhepunkt der Krise zum preußischen Ministerpräsidenten berufen, w a r alles andere als gewillt, innenpolitische Zugeständnisse zu machen. Seine monarchisch-absolutistisch geprägte Staatsauffassung verschreckte die Liberalen in ganz Deutschland, so daß Preußen um sein Ansehen als nationale Führungsmacht bangen mußte. Geschickt vermochte es Bismarck jedoch w ä h r e n d der Schleswig-Holstein-Krise, preußischen Staatsegoismus und deutsches Nationalempfinden miteinander zu verbinden. Unter seinem Einfluß beschränkten sich die außenpolitischen Ziele Preußens w i e d e r eindeutiger auf Mitteleuropa und gegen Österreich. Überseeische oder koloniale Ambitionen, wie sie seit dem Vormärz in Deutschland stark vertreten und insbesondere in der „Neuen Ära" von der preußischen Regierung auch aufgegriffen w o r d e n waren, traten in der offiziellen Politik in den Hintergrund. Nach der fast völligen Zersplitterung der Liberalen belebten sich auch im bürgerlichen Lager Strömungen, die sich einen freiheitlichen Rechtsstaat durchaus im G e w a n d eines mitteleuropäisch-hegemonialen Machtstaates preußischer Prägung vorstellen konnten 9 1 . Bismarck schöpfte zwar die Möglichkeiten einer friedlichen Machtausdehnung Preußens aus, w i c h aber auch von vornherein einer militärischen Auseinandersetzung mit Österreich nicht aus. Der latente Konflikt um die Herrschaft in Schleswig-Holstein bot sich als Instrument machtpolitischen Kalküls an. Die Bindung Englands und Rußlands durch innen- und außenpolitische Probleme nutzte die preußische Regierung schon ab Anfang 1866 aus, um militärische Vorbereitungen für die Kriegführung zu treffen. Frankreich wurde mit dem Versprechen einer preußischen Machtausdehnung nur im Nor-

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Hou, S. 227; Teng, S. 389 ff. Börner, S. 125 ff., 204 ff.; Haupts, S. 63 ff. Fenske, Tendenzen, S. 364 ff. Zur Reaktion der Liberalen auf die nationale Politik der Konservativen, die zu ihrer Spaltung unter Bismarck bis 1867 mit beitrug, Winkler, Machtverzicht, S. 37 ff.

den Deutschlands neutral gehalten. Der Kampf der beiden Hauptmächte um die Hegemonie in Deutschland, nicht die nationale Bewegung sprengte schließlich den Deutschen Bund von 1815. Während die konservativen Gruppierungen die revolutionär-annexionistische Gewaltpolitik Bismarcks ablehnten, fanden sich die neue nationalliberale Partei, das Bildungsbürgertum, protestantische Kreise und die Wirtschaft mit dem militärisch-obrigkeitsstaatlichen Vorgehen auf dem Weg zu einer Einigung Deutschlands ab. Selbst die Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16. April 1867 wurde ohne größere Widerstände hingenommen 92 . Unter dem Einfluß des Heereskonfliktes war dagegen noch 1862 die Flottenbauvorlage, die auf dem Flottengründungsplan von 1860 beruhte, vom preußischen Landtag zurückgewiesen worden, obwohl nur geringe sachliche Meinungsverschiedenheiten mit der Regierung bestanden hatten. Die kontinental ausgerichtete Küstenschutzkonzeption rückte bis Mitte der 60er Jahre unter dem Kriegs- und Marineminister v. Roon wieder stärker in den Vordergrund. Der Zustand der Flotte blieb jedoch unbefriedigend; bis 1868 konnten lediglich drei Panzerschiffe unter Umgehung des Abgeordnetenhauses gekauft werden. Erst Roons Flottengründungsplan von 1865, der 1867 vom Reichstag des Norddeutschen Bundes schließlich angenommen wurde, sah erhöhte Mittel für die Marine vor 93 . Der Auslandsschutz konnte daher nur mit Mühe aufrechterhalten werden. Das Oberkommando der Marine wies insbesondere auf die Notwendigkeit von Stationen zur gesicherten Versorgung der Auslandsschiffe hin 9 4 ; koloniale Überlegungen dürften auf militärischer Seite neben diesen rein militärischen indes kaum eine Rolle gespielt haben. Durch Auslandsaktionen erhoffte sich die Marine vor allem größeres Ansehen im Inland. Denn trotz des Achtungserfolges über Dänemark ließ die Flottenbegeisterung zusehends nach. Auch die deutsche Wirtschaft in Übersee blieb auf sich allein gestellt 95 . Der deutsche Chinahandel wuchs dennoch in den 1860er Jahren ständig, obwohl er vom Rüstungsgeschäft noch nicht profitieren konnte. Trotzdem wurde die „Fata Morgana des unermeßlichen chinesischen Marktes" 96 keine Realität 97 . Zwar gab es eine bedeutende deutsche Küstenschiffahrt in chinesi-

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Böhme, Deutschlands W e g , S. 1 0 0 ff., 135 ff., 160 ff.

93

Fecht, S. 350 ff.; Verchau, Jachmann, passim.

94

Das vorherrschende Argument gegen den Auslandsdienst waren zu hohe Kosten und zu hohe Verluste. Auch die Ostasienexpedition hatte nichts Gegenteiliges ergeben. Borgert, S. 246 ff.; Petter, Stützpunktpolitik, S. 87 ff., 131 ff.

95

Borgert, S. 172 ff.; Petter, Flottenrüstung, S. 84 ff.

96

Wehler, Bismarck, S. 201.

97

Der Anteil Deutschlands am Im- und Exportgeschäft mit China betrug von 1864 bis 1867 etwa 1 % des gesamten chinesischen Außenhandels. Hou, S. 228 ff. Chinesische Statistiken liegen erst seit 1864 vor. Nach englischen Statistiken betrug der Anteil des britischen Empires in den 60er Jahren etwa 80 % des chinesischen Außenhandels; davon gingen wiederum 50 % über Shanghai. Sargent, S. 142 f.

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sehen Gewässern mit einem Anteil von ca. 24 % der ausländischen Tonnage, aber kaum überseeische Fahrten 98 . Verzeichnete der deutsche Handel um Shanghai und in Russisch-Fernost Erfolge, so wurde dieses gute Ergebnis getrübt durch eine besonders schlechte Geschäftslage im Norden Chinas als Folge der westlichen Intervention". Zudem wirkte die Verunsicherung durch die Taiping-Revolutionäre bis Mitte der 60er Jahre nach. Außerdem war die Finanzierung der deutschen Geschäfte außerordentlich kompliziert und bis zur Gründung der Hongkong and Shanghai Bank 1865 vor allem von der englischen Großfirma Jardine Matheson and Co. abhängig 100 . Die deutschen Handelsfirmen, an der Depression im Chinageschäft der 60er Jahre selbst nicht ganz unschuldig, versuchten insbesondere durch Beteiligung an anderen Geschäften, z. B. der Reedereien, ihre Geschäftsgrundlagen zu erweitern 101 . Die allgemeine Mißstimmung aber blieb; Vorwürfe wurden laut, auch in bezug auf eine ausbleibende staatliche Unterstützung 102 . Die am Chinageschäft interessierten Wirtschaftskreise propagierten nicht allein die Präsenz von Kriegsschiffen, sondern verlangten nunmehr, wie schon 1862 bei der Ostasienexpedition erwogen, den Erwerb einer Kolonie. Formosa sollte ein „preußisches Java", der „Kern eines deutschen Indiens" werden 103 . Die Schiffsunternehmungen der preußischen Kriegsmarine nach Ostasien blieben jedoch mehr oder weniger spektakuläre Einzelaktionen. Schon kurz nach Unterzeichnung des chinesisch-deutschen Handelsvertrages hatten die Kaufleute darauf hingewiesen, daß eine ständige Marinestation zur Durchsetzung des Vertrages notwendig sei 104 . Das Oberkommando sprach sich generell für eine solche Station aus, wie auch für die Erkundung und die Erwer98

Bis Ende der 6 0 e r Jahre fehlt gesichertes Zahlenmaterial über die genaue Tonnage des Küsten- und Uberseehandels. Der deutsche Anteil am Küsten- und Überseehandel bei Segel- und Dampfschiffen lag z. B. bei einer Gesamttonnage von 6,4 Mill. t bei 7,3 % (Großbritannien 52,2 %, USA 35 %, Japan 0,1 %, andere 5,4 %). Hou, S. 61. Die deutsche Küstenschiffahrt in Fernost stieg vor allem an, weil in Deutschland und Europa Aufträge an veraltete Segelschiffe fehlten. Walle, Einfluß, S. 54 f.

99

Hanseatischer Konsul, Shanghai, an Senat von Bremen, 2 2 . 1 . 1863, HKHB. Hp II 8 3 / 2 . Hanseatischer Konsul, Tientsin, an Senat von Bremen, 2 8 . 1 1 . 1863, StAHB. 2 / C 2 4 / b 5. Deutschland nahm im Außenhandel in Russisch-Fernost die führende Slollung ein, nachdem Vladivostok 1865 Freihafen geworden war. Ab 1864 war hier vor allem die Firma Kunst & Albers tätig, die größte deutsche Firma in der Mandschurei bis zum Ersten Weltkrieg. Albers, passim; Morozov, S. 139 ff.; Schramm, S. 96.

100

Zum Geld- und älteren Bankgeschäft der Handelsfirmen Vinnai, S. 30 ff.

101

Die deutsche Firma Siemssen & Co. beteiligte sich bei der Hongkong and Shanghai Bank. Möring, S. 53 ff. Die Exporte aus Deutschland bestanden in den 60er Jahren hauptsächlich aus Wolltuch, gefärbten Baumwollgarnen, Nähnadeln, Fensterglas und Zündwaren, die Importe aus China — primär über London — aus Tee und Seide. Yü, S. 88 ff.

102

Brandt, China, S. 34 ff.; Friedel, S. 172 ff.; W e r n e r , Bd 2, S. 211 ff.

103

Friedel, S. 21 ff., 100 ff., 204.

104

Kommando des Ostasiengeschwaders an Oberkommando der Marine, 24. 7. 1861, BAMA, RM 1 / 2 3 4 0 .

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bung eines Stützpunktes 1 0 5 . Es konnte aber nur mit M ü h e zum Austausch der Ratifikationsurkunden des Handelsvertrages, der a m 14. Januar 1 8 6 3 in Shanghai stattfand 1 0 6 , ein Schiff entsenden 1 0 7 . Auf Berichte des preußischen Generalkonsuls v. Rehfues über zunehmende Piraterie in chinesischen Gewässern konnte die militärische Seite ebensowenig reagieren wie auf das Drängen des auf das Ansehen Preußens bedachten Außenministeriums, weil es der Marine an technischen und logistischen Möglichkeiten fehlte 1 0 8 . Schließlich wurde auch das einzige vor China kreuzende Kriegsschiff zur Teilnahme am deutsch-dänischen Krieg zurückbeordert 1 0 9 . Das Interesse der preußischen Führung an Ostasien w a r vor dem Hintergrund der europäischen Politik und n a c h erfolgreicher Beendigung der machtpolitischkleindeutschen Demonstration cjer Ostasienexpedition doch merklich geschwunden. Z w a r wurden die Expeditionsergebnisse und auch die Berichte der Handelssachverständigen aus Propagandagründen gedruckt und veröffentlicht 1 1 0 ; allgemein w a r Berlin in den 60er Jahren aber eher bemüht, politisches Kapital aus dem vergangenen ostasiatischen Engagement zu schlagen, um als Großmacht anerkannt zu w e r d e n , als die Wirtschaft in Ostasien zu unterstützen, sofern es dazu überhaupt in der Lage g e w e s e n w ä r e 1 1 1 . Die Hansestädte waren jedoch bereits von dem Ergebnis der Expedition enttäuscht gewesen. Ihr Hauptaugenmerk hatte von Anfang an auf Japan gelegen, das als Absatzmarkt geeigneter erschien als das dem W e s t e n abweisend

105 106 107

,oe

109

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111

Oberkommando der Marine an Kriegsminister v. Roon, 4. 4. 1863, ebd., RM 1/2357. Yü, S. 86 ff., 155 ff. Gesandter Graf zu Eulenburg an Außenministerium, 14.12. 1861, BA-MA, RM 1/2340; Oberkommando der Marine an Marineministerium, 4. 7. 1862, ebd., RM 1/2349. Außenministerium an Kriegsminister v. Roon, 1. 6. 1863, ebd., RM 1/2357; Rehfues an Außenministerium, 22. 7.1863, ebd.; Rehfues an Bismarck, 5. 2.1864, ebd., RM 1/2359. In den seichten Küstengewässern waren zudem Boote mit geringem Tiefgang notwendig. Die preußische Marine war aber technisch nicht in der Lage, Kanonenboote zu überführen. Petter, Stützpunktpolitik, S. 193 ff. Promemoria Marineministerium zum Immediatvortrag beim König, 19. 2. 1864, BA-MA, RM 1/2357. Borgert, S. 160 ff. Beratung über die Veröffentlichung der Expeditionsergebnisse, 27. 10. 1862, BA-MA, RM 1/2355. Ministerium für Handel an Regierung Aachen, 5.11. und 2.12.1861, 30. 4. und 24.7. 1862, 7.5. 1863, HStAD, Regierung Aachen/1684; Brandt, Dreiunddreißig Jahre, Bd 2, S. 296 ff.; Stingl, S. 85 ff. Für das Außen- und für das Kriegsministerium schienen insbesondere Nachrichten über die Taiping und das britische Vorgehen wichtig zu sein. Ausführliche Informationen kamen über London und vom preußischen Konsul in Shanghai, dem späteren Gesandten in Tokyo und Peking, v. Rehfues; über die chinesisch-englischen Flottenpläne waren die preußischen Regierungskreise genauestens informiert. Legationssekretär v. Radowitz, Shanghai, an Bismarck, 20.2. 1864, BA-MA, RM 1/547. Gesandter v. Bernstorff, London, an Außenministerium, 1.1. 1861, PA, Abt. IA Chi/I.B.4 (China) /2; Rehfues an Außenministerium, 15.11. 1862, ebd.; Bernstorff an Bismarck, 4. 3. 1864, ebd. 45

gegenüberstehende China 112 . Japan mit seinem — so wurde fälschlicherweise angenommen — Reichtum an Mineralien und Kohle und seinem enormen Bedarf an Tuchimporten galt als das erste Handelsland im Fernen Osten, als das „England Asiens". Die wirtschaftlichen Gutachten der Expedition schienen diese Sichtweise zu bestätigen 113 . Um so größer war die Verärgerung, daß Preußen bei den Verhandlungen für die Hansestädte keine eigene konsularische Vertretung hatte erreichen können. Gerade das Konsularwesen der Hansestädte stellte die symbolische und auch reale Verbundenheit mit dem deutschen Außenhandel dar 114 . Obwohl auch in China die Verhandlungen nicht wunschgemäß verlaufen waren und kein hanseatischer Generalkonsul als politischer Vertreter der Hansestädte akkreditiert wurde 115 , hielten es die Senate nicht für opportun, eine Ratifikation der Verträge zu verweigern. Die Handelskreise gingen davon aus, im Laufe der Zeit noch einige Verbesserungen in China erzielen zu können, und richteten ihre Hoffnungen zunächst einmal ganz auf das Yangtze-Gebiet 116 . Die Kritik der Hansestädte und ihres Handels fiel dennoch eindeutig aus: Preußen habe lediglich eine rein politische Vertretung im Sinn gehabt, um seine formale Gleichstellung mit anderen Mächten zu erlangen und seine Großmachtposition zu beweisen 1 1 7 . Das Verhältnis zwischen Preußen und den Hansestädten blieb hinsichtlich der Chinapolitik kühl. Insbesondere im Konsularwesen kam es oft zu Streitereien 118 . Dennoch mußten die Hansestädte schließlich Mitte der 60er Jahre 1,2

Vor den Verhandlungen mit Preußen wurde eine Vertretung durch Holland ins Auge gefaßt. Extract aus dem Senatsprotokoll, 12.1. 1859, StAHB, 2/C 24/a 1. Bei allen Gesprächen mit Preußen stand Japan im Vordergrund. Auszug aus den Schreiben von Syndikus Merck an Senator Smidt, 25. 3. und 29. 3. 1859, ebd.; Auszug aus dem Senatsprotokoll, 4. 4. 1895, ebd. Sitzung der Kommerzdeputation, 5. 9. 1859, HKHH, Akt. Chi/34. 113 Ministerium für Handel an Regierung Aachen, 24. 7. 1862, HStAD, Regierung Aachen/ 1684. Denkschrift betreffend den von Deutschland einzuleitenden Verkehr mit dem neu eröffneten Weltmarkt in C h i n a . . . , S. 7, HKHB, Hp II 83/1. Werner, Bd 2, 5. 108 ff. 114 Schramm, S. 224 f. 1.5 Syndikus Merck an Senator Smidt, 4. 2. 1862, StAHB, 2/C 24/a 1. Auszug aus Schreiben Senator Smidt an Syndikus Merck, 6. 2.1862, StAHH, CL VI 14a Vol. 1 /Fase. 1 /b. 1.6 Aufzeichnung Handelskammer Hamburg, 24. 2. 1862, HKHH, Akt. Chi/34. 117 Denkschrift Handelskammer Hamburg vom Januar 1862, ebd. Bis 1866 bemühten sich die Hansestädte um eine eigene Vertretung in Japan mit Hilfe der Niederlande. Erst gegen Ende der 60er Jahre wurden schließlich alle norddeutschen Länder Preußen gleichgestellt. Brandt, Dreiunddreißig Jahre, Bd 1, S. 99 ff.; Schramm, S. 97 ff. 118 Extract aus dem Senatsprotokoll, 7. 2. 1866, StAHB, 2/C 24/b 0, betreff Schreiben des Lübecker Senators Curtius: Der Shanghaier Generalkonsul Preußens sei nicht der diplomatische Vertreter der Hansestädte und habe dem hanseatischen Konsul nichts zu befehlen, ebd. — Preußen zeigte sich aber auch konziliant. 1867 war der preußische Gesandte mit der Übertragung der Aufgaben des hanseatischen Konsuls an den amerikanischen Konsul einverstanden. Schreiben des hanseatischen Konsuls, Shanghai, an Senat von Bremen, 4. 9. 1867, HKHB, Hp II 83/2. Liste der preußischen und hanseatischen Konsularbeamten bei Yü, S. 115 ff.

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eingestehen, daß zwar eine eigene diplomatische Vertretung oder der Schutz durch die Vereinigten Staaten „vielleicht das practisch Beste" sei, „allein aus nationalen Gründen geht das nicht mehr an . .., trotz Bismarck und der altbekannten und tiefbeklagten Unausstehlichkeit resp. Mangelhaftigkeit Preuß. Diplomaten und Legationsbeamten" 119 . Es wurde nun aber auch von Preußen erwartet, daß es endlich aktiv werde, „für seine und die anderen jetzt seiner Botmäßigkeit unterworfenen deutschen Flaggen" 120 . In China zielte die 1862 beginnende T'ung-chih-Restauration darauf, bei einer in der chinesischen Geschichte traditionellen Einbeziehung der neuen Gegebenheiten das konfuzianistische System nach innen und außen zu stabilisieren 121 . Das Prestige der Mandschu-Dynastie hatte durch das Versagen in den äußeren und inneren Krisen der 40er bis 60er Jahre einen empfindlichen Schlag erlitten, jedoch war das Kaisertum keineswegs in Frage gestellt, es schien vielmehr nach der Beendigung der Rebellion gefestigt zu sein. Die Taiping konnten schließlich, wenn auch mit ausländischer Hilfe, unter Kontrolle gebracht und der Westen durch Zugeständnisse vorläufig zufriedengestellt werden. Auch die finanzielle Lage schien trotz der beginnenden Rüstung mit Hilfe der Likin-Zölle für die Provinzen und des Seezolls für die Zentrale einigermaßen stabilisiert zu sein. Überdies war China noch nicht vom Westen abhängig und konnte seine Politik weitgehend selbst bestimmen. Obwohl die Zentralregierung in Peking in den Verträgen von 1858 gezwungen worden war, eine eigene Behörde für diplomatische Kontakte mit dem Ausland, das Tsungli Yamen, einzurichten, versuchte die chinesische Führung immer wieder, den direkten diplomatischen Verkehr mit den ausländischen Regierungen zu unterlaufen, indem sie Kommissare oder Generalgouverneure mit bestimmten Vollmachten zu Gesprächen ausstattete, selbst daran aber nicht teilnahm 122 . Der offensichtliche Sieg der traditionellen konfuzianistischen Werte bestätigte das Bündnis zwischen Mandschus und Gentry, wenn auch die Divergenzen zwischen der Zentrale und den partikularistischen Kräften zunahmen. Insbesondere der Regionalismus im militärischen Bereich, der nicht einfach als lokaler Patriotismus oder Provinzialismus anzusehen war, bedeutete eine ernste Gefährdung des konfuzianistischen Verwaltungssystems und eine Teilung der politischen Macht der Zentrale. Sichtbarstes Zeichen dieser beginnenden Machtverschiebung war die Entstehung lokaler Heere, die den Provinzgouverneuren, den .warlords', als Grundlage und Instrument für eine eigenständige Politik dienten 123 .

119

Smidt an Curtius, 9. 2. 1866, StAHB, 2 / C 2 4 / b 0.

120

Smidt an Ministerresident Krüger, Berlin, 1 6 . 1 1 . 1866, ebd.

121 Wright, Last Stand, passim. 122

Franke/Trauzettel, S. 315 ff.; Hsü, Entrance, S. 105 ff.

123

Michael, Regionalism, S. X L ff.; Wiethoff, Ältere Geschichte, S. 166 ff.; ders., Neuere Geschichte, S. 97 ff.; Kuhn, passim. 47

Die Reformbewegung in den Provinzen, die „Selbststärkungsbewegung", w a r kein populäres Programm, sondern der Versuch einiger Literaten und Gouverneure, die zumeist die nationalen Interessen mit ihren eigenen identifizierten, westliche Methoden zu übernehmen, um die Taiping niederzuschlagen und schließlich auch d e m W e s t e n selbst entgegenzutreten. Auch w e n n eine Änderung der Orthodoxie der konfuzianistischen Schule dabei im Hintergrund eine Rolle gespielt h a b e n mag, wurden keine politischen Reformen und zunächst auch keine Industrialisierung, die über eine militärische Bedarfsdeckung hinausging, angestrebt. Die militärische Stärkung, die Bildung m o d e r n e r bewaffneter Streitkräfte stand eindeutig im Vordergrund. Die Ü b e r n a h m e oder selbst die Beschäftigung mit westlicher Kultur wurde von vornherein abgelehnt 1 2 4 . E n d e der 1860er Jahre mußten die Reformer jedoch erkennen, daß sie bei der Rüstung, personell wie materiell, weiterhin auf eine Zusammenarbeit mit d e m W e s t e n angewiesen bleiben würden. Die Rüstungsarbeiten in den Arsenalen und der Ausbildungsstand der Soldaten hatten gezeigt, daß für eigenständige Erfolge letztlich jegliche Voraussetzungen fehlten 1 2 5 . Das überwiegende Interesse der westlichen Großmächte an China Mitte des 19. Jahrhunderts w a r rein wirtschaftlicher Art. Mit den „ungleichen Verträgen" stiegen die Hoffnungen auf eine Erschließung des chinesischen Marktes ins Utopische. Trotz eines gewissen Aufschwungs blieben die kommerziellen Erfolge jedoch a u c h in den 6 0 e r Jahren gering, zumindest gemessen an den Visionen eines unbegrenzten Absatzgebietes für westliche W a r e n . Diese Diskrepanz zwischen Wunschvorstellungen und Realität sollte sich wie ein roter Faden durch die Beziehungen des W e s t e n s mit China a u c h bis weit in das 20. Jahrhundert hinein ziehen. Der Export nach China enttäuschte n a c h dem Tientsiner Vertrag trotz der beginnenden Rüstungslieferungen, da er weiterhin in der Hauptsache aus Opium bestand. Der Import aus China setzte sich zu 50 % aus T e e und zu 4 0 % aus Seide zusammen 1 2 6 . Die Chinakaufleute hielten n e b e n den „hohen" Zöllen, der generellen Ablehnung alles Europäischen durch die Chinesen und der Willkür lokaler Machthaber besonders die ihrer Auffassung n a c h unzulängliche Ausschöpfung der Verträge, speziell in bezug auf die Öffnung des Yangtze-Gebietes, für die U r s a c h e allen wirtschaftlichen Übels. Großbritannien als westliche Führungsm a c h t in Ostasien w a r aber aus sicherheitspolitischen Gründen, insbesondere w e g e n des amerikanischen Bürgerkriegs und der Unruhen in Indien, an einer politischen Stabilisierung des Gebietes interessiert und nur zu einer kooperativen Politik gegenüber den Mandschus bereit. Für die Chinahändler hingegen galt Mitte der 6 0 e r Jahre die Parole, die Verträge um jeden Preis endlich durchzusetzen, da sie sogar schon befürchteten, durch chinesische

124

Chesneaux. Bd 1, S. 205 ff., 213 ff.; Spector, S. 152 ff.

125

Franke/Trauzettel, S. 320 f.; Th. Kennedy, Arms, S. 1 ff., 34 ff. Cheng, S. 15 ff.; W. Franke, China, S. 59 ff.

126

48

Händler selbst aus den Vertragshäfen verdrängt zu werden. Nach Ansicht der einflußreichen britischen Chinakaufleute, die bei der Ausformung der wirtschaftlichen Beziehungen mit dem Reich der Mitte weitaus bestimmender blieben als die Regierung in London, ergab sich daraus die zwingende Notwendigkeit, neue Handelsplätze für den Westen zu öffnen. Die Vorteile für die ausländische Wirtschaft sollten unter allen Umständen gewahrt bleiben und möglichst ausgebaut werden 127 . Im Gegensatz zu Großbritannien war das Engagement Preußens in China primär machtpolitisch motiviert. Es galt, sich aus nationalen Beweggründen ein internationales Renommé zu verschaffen und als Führungsmacht Deutschlands und als gleichberechtigtes Mitglied im Konzert der Großen anerkannt zu werden. In der Chinapolitik sah die preußische Regierung auch ein geeignetes Mittel, liberale Wirtschaftskreise zu gewinnen. Die Kooperations- und Konzessionsbereitschaft des Staates gegenüber dem von der Wirtschaftskrise aufgeschreckten Bürgertum fand in der „Neuen Ära" mit der Ostasienexpedition ihren spektakulären Höhepunkt. Die an staatliche Lenkung gewöhnte preußische Wirtschaft wäre auch gar nicht in der Lage gewesen, ohne massive staatliche Hilfe eigene Auslandsgeschäfte größeren Ausmaßes mit Ostasien zu tätigen. Selbst die freihändlerisch orientierten Hansestädte, die mit angelsächsischer Hilfe im Überseegeschäft des 19. Jahrhunderts gut Fuß gefaßt hatten, gerieten im Fernosthandel zunehmend in den Sog preußisch-nationaler Politik, vor allem, weil sie trotz aller Bedenken schließlich dennoch allzu gerne bereit waren, preußische Staatshilfe in Anspruch zu nehmen. Die erhoffte konkrete wirtschaftspolitische Unterstützung blieb jedoch aus, zumal sich Preußen als schwache Großmacht, deren überseeische Vorstellungen nur fragmentarisch entwickelt waren, politisch und militärisch in Ostasien auf die anderen Seemächte stützen mußte. Preußens diplomatischer und konsularischer Dienst blieb dem europäischen Horizont verhaftet. Sein militärisches Machtmittel in Ostasien, die Marine, war unterentwickelt, ohne klare Konzeptionen und überhaupt nur begrenzt für überseeische Aufgaben brauchbar. China geriet wegen der unzureichenden militärischen Präsenz in Ostasien und der Konzentration der preußischen Politik unter Bismarck auf die nationale Einigung schon bald wieder aus dem deutschen Blickfeld. Die bislang von Preußen eher als politisches Instrument angesehene Wirtschaft gewann jedoch mit der Industrialisierung zunehmend an Eigengewicht. Die Notwendigkeit, Rohstoffe für die Industrie beschaffen und die Ausfuhr zur Aufrechterhaltung der industriellen Expansion steigern zu müssen, sollte auch den Staat zu immer stärkeren Hilfeleistungen, gerade in Übersee, veranlassen 128 . Die mitteleuropäischen Probleme rückten unter Bismarck zunächst aber eindeutig in den Vordergrund. Obwohl der Gedanke ei-

127

Pelcovits, S. 9 ff.; Selby, S. 145 ff.

128

Schramm, S. 223.

49

ner außereuropäischen Expansion insbesondere in den Plänen der Wirtschaftskreise latent vorhanden blieb, trat er erst in den 1880er Jahren wieder stärker in den Vordergrund der Politik. Am Vorabend der kleindeutschen Reichsgründung hatten sich jedoch mit den konservativ-kontinentalen und den mehr liberal-überseeischen Vorstellungen die Grundkonzeptionen herausgeprägt, welche die Außenpolitik des Deutschen Reiches fortan bestimmen sollten. Auch die potentiellen Konflikte eines national geeinten Deutschlands mit den übrigen schon etablierten Großmächten wurden bei beiden außenpolitischen Ansätzen deutlich sichtbar 129 .

129

50

Hillgruber, Großmacht, S. 12 ff.; Quillitzsch, S. 174 ff.; W e h l e r , Kaiserreich, S. 30 ff.

3. LANGZEITKRISE DER DEUTSCHEN WIRTSCHAFT UND UNTAUGLICHE CHINESISCHE REFORMEN. BEMÜHUNGEN UM KOMMERZIELLE UND INDUSTRIELLE EXPANSION IN CHINA (1871-1894)

a) Die Stagnation

des deutschen Einflußnahme

Chinahandeis und im Reich der Mitte

wirtschaftspolitische

Die Veränderungen im Chinahandel Ende der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts hatten die westlichen Kaufleute zutiefst verunsichert. Aufgrund ihrer besseren Ortskenntnisse und einer der traditionellen chinesischen Wirtschaftsstruktur angemessenen Geschäftsorganisation sowie ihrer großen privaten Kapitalkraft verstanden es die chinesischen Kaufleute, mehr Einfluß auf den Handel der „Westler" zu nehmen, als diesen lieb sein konnte. Neue westliche Methoden erwiesen sich sowohl im Handel als auch in der Produktion als uneffektiv und überflüssig. Oftmals arbeitete bereits chinesisches Kapital in europäischen Firmen, die dadurch ihre Unabhängigkeit gefährdet sahen 1 . Für die westlichen Firmen zeichnete sich ein düsteres Zukunftsbild ab, das nur die Alternative zwischen Anpassung oder Scheitern offenzulassen schien 2 . Die Handelsverhältnisse hatten sich, gemessen an den Erwartungen, erheblich verschlechtert. Auch die Nachwirkungen der wirtschaftlichen Spekulation während des deutsch-französischen Krieges und die beginnende Abschwungphase der Weltwirtschaft zu Beginn der 70er Jahre gingen am Chinahandel nicht spurlos vorüber. Konnte dieser trotz aller Mißlichkeiten noch bis 1872 einen permanenten Aufschwung verzeichnen, allein von 1864 bis 1872 um etwa 50%, so fiel er bis 1874 um etwa 8 0 % zurück und übertraf erst 1876 wieder den Wert von 1872 3 . Hinzu kam die weltweite Silberentwertung, da einige Länder zum Goldstandard übergingen und ihr Silber nach China abzusetzen versuchten. Die Importe nach China mit seiner inflationär fallenden Silberwährung verteuerten sich daher. Die billigen Exporte aus China nahmen dagegen noch mehr zu4.

1

Die meisten Importe wurden von chinesischen Händlern bestellt, für westliche Waren bot sich ansonsten kaum eine Chance im Binnenhandel, während auf der anderen Seite die chinesischen Exporte ausschließlich durch ausländische Firmen gingen. Pang, S. 8 ff.

2

Le Fevour, S. 55.

3

Vgl. die Tabelle bei Cheng, S. 258 f.

4

Collis, S. 33 ff., 53 f.

51

Über eines waren sich alle Geschäftsleute daher im klaren: Größere Importund Exportmöglichkeiten konnten nicht über eine bloße Zusammenarbeit mit chinesischen Händlern erreicht werden. Von offizieller chinesischer Seite mußte ein wirtschaftlicher Erneuerungsprozeß eingeleitet und durchgeführt werden, sollte es überhaupt zu einem erfolgreichen Aufschwung kommen. Die Kaufleute suchten deshalb eine enge Kooperation mit amtlichen chinesischen Stellen. In den Anhängern der „Selbststärkungsbewegung" unter den höheren chinesischen Beamten meinten sie passende Ansprechpartner gefunden zu haben. Einen durchschlagenden Erfolg versprachen sich die Kaufleute aber nur von einem direkten Einwirken der eigenen Regierung auf die chinesischen Behörden 5 . Die von der Hongkong and Shanghai Bank sowie der Großfirma Matheson and Co. im Namen der britischen Kaufleute vertretenen Vorstellungen, mit den Provinzmachthabem in China direkt zu verhandeln, um ihnen schließlich Reformen aufzuzwingen und möglichst ein Yangtze-Protektorat zu errichten, erschienen der auf Ausgleich bedachten englischen Chinapolitik jedoch überzogen. Die britische Regierung erklärte sich nur bereit, bei den 1867 aufgenommenen Verhandlungen mit der kaiserlichen Regierung über eine Revision des Vertrages von 1858 die Vorstellungen der Kaufleute mit zu berücksichtigen. Diese forderten nun die Öffnung des ganzen Reiches für den westlichen Handel, den Bau von Telegraphen und Eisenbahnen sowie die Erlaubnis für Ausländer zur Errichtung von Fabriken und Bergwerken. Obwohl während der Verhandlungen die Übergriffe gegen Ausländer in ganz China zunahmen und die britischen Kaufleute ihre Regierung immer stärker drängten, sich endlich Respekt zu verschaffen, vertrat die englische Diplomatie eine gemäßigte Position 6 . Die chinesische Zentralregierung zeigte sich zu Zugeständnissen bereit. So stimmte sie u. a. einer Öffnung aller Binnengewässer für Segelschiffe und der Erschließung von Kohleminen in Südchina zu. Als Gegenleistung für eine Erhöhung des Ausgangszolls bei Seide um 100 % und des Eingangszolls für Textilwaren um 50 % sollten auch die Likin-Zölle im ganzen Reich entfallen. Die britische Regierung schloß daraufhin am 23. September 1869 eine nach ihrem Gesandten in China, Alcock, benannte Konvention mit den Chinesen. Unter dem Druck der einflußreichen englischen Handelskammern und Chinakaufleute versagte der englische König jedoch die Ratifizierung. Die Kaufleute waren unzufrieden mit den, nach ihrer Auffassung, zu geringen Verbesserungen, für die sie noch mit höheren Seezöllen zahlen sollten. Der Zusage der chinesischen Regierung, die Likin-Zölle abzuschaffen, maßen Handelskreise angesichts des geringen Einflusses der Zentralgewalt in China kaum Bedeutung bei 7 . 5 6 7

52

Chesneaux, Bd 1, S. 218 f.; Le Fevour, S. 36 ff. Pelcovits, S. 6 ff. Bernstorff an Bismarck, 29.1. und 6. 8.1870, PA, Abt. IA Chi/I.B.4 (China)/3. Reichskanzleramt an Bundesrat, 22. 3. 1881: Denkschrift zur Zusatzkonvention von 1880 zum Handelsvertrag von 1861 (darin ausführlich zur Alcock-Konvention), StAHH, N.R.H II 13a.

Die Regierung in London blieb nach dieser faktischen Niederlage gegenüber einer unterschätzten Chinalobby jedoch weiterhin auf ihrem gemäßigten Kurs in der Chinapolitik und war nicht bereit, aus rein wirtschaftlichen Überlegungen einen neuen Krieg mit den Mandschus zu führen, auch nicht unter dem Eindruck eines Massakers an Ausländern in Tientsin 8 . Die Handelskreise sollten vielmehr ihre Forderungen zurückschrauben 9 . Auch das Festhalten der westlichen Regierungen an dem Wunsch nach einer angemessenen Audienz der Gesandten durch den chinesischen Kaiser, der von den Kaufleuten hauptsächlich als Druckmittel verstanden wurde, war nach Ansicht des Foreign Office eine reine Prestigesache und sollte nicht dramatisiert werden: Dem Handel gehe es auch ohne einen derartigen Empfang gut, und der Kaiser könne ja doch nichts an den wirtschaftlichen Schwierigkeiten ändern 10 . Trotz der moderaten Politik der westlichen Führungsmacht trübte sich das Verhältnis Chinas zu den „Barbaren" Anfang der 70er Jahre zusehends. Die Phase der politischen Konsolidierung der 60er Jahre schien ein Ende gefunden zu haben 1 1 . Die westlichen Regierungen sahen angesichts der Realitäten allerdings ein, daß ein Krieg kein so einfaches Unterfangen mehr sein konnte wie Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre. Alle Chinapolitiker waren sich zwar darüber einig, daß weitere Zugeständnisse der Chinesen auf längere Sicht wohl nur durch militärische Aktionen zu erreichen sein würden; der potentielle bewaffnete Widerstand Chinas, insbesondere in der vor der Hauptstadt gelegenen Provinz Chili, mußte aber ernsthaft in Erwägung gezogen werden. An eine erneute militärische Intervention zur Öffnung des Reiches war daher Anfang der 1870er Jahre nicht zu denken 12 . Der Traum von einem geöffneten China lebte in der Zeit der Konjunkturkrisen Mitte des Jahrzehnts jedoch verstärkt wieder auf. Die britischen Kaufleute warfen der Regierung in London Apathie und Selbstgenügsamkeit in der Chinapolitik vor und verlangten ein hartes Durchgreifen. Aussichtsreich erschien es ihnen, Grenzverbindungen zwischen China und Indien über Tibet sowie zwischen China und dem 1862 annektierten Unterburma über Yunnan herzustellen 13 . In den 1875 wieder aufgenommenen Verhandlungen über eine Vertragsrevision blieb die englische Regierung jedoch bei ihrer moderaten Haltung, obwohl die Lage in China sich aufgrund des Margary-Zwischenfalls 14 wieder bis an den Rand eines Krieges zuspitzte. Nach Einschätzung 8

Bernstorff an Bismarck, 3. 4. 1871, PA, Abt. IA Chi/I.B.4 (China)/3.

9

Pelcovits, S. 61 ff.

10

Zu den Überlegungen der Mächte das französische und englische Memorandum zum Fernen Osten, 5. 2. 1873, PA, Abt. IA Chi/I.B.4 (China)/4.

11

Franke/Trauzettel, S. 323 ff.

12

Gesandtschaft Peking an AA, 20. 7 . 1 8 7 3 , über die Einschätzung der militärischen Mög-

13

Joseph, S. 46 ff.; Sargent, S. 225.

14

Der englische außerordentliche Gesandte Margary wurde auf einer Expedition ins

lichkeiten Chinas durch die Westmächte, PA, Abt. IA Chi/I.B.4 (China)/5.

Landesinnere ermordet.

53

militärischer Sachverständiger hätte ein Krieg wahrscheinlich den Untergang der Mandschus bedeutet, aber der englische Handel wäre ebenfalls auf das äußerste in seiner Existenz gefährdet gewesen 1 5 . Die englischen Diplomaten erwirkten in der Konvention von Chefoo 1876 eine Öffnung weiterer Häfen am Yangtze. Sie mußten Zugeständnisse in der Opium- und Likinfrage machen, zu denen sie aber bereit waren, um die chinesische Kaufkraft nicht noch weiter zu schwächen. Auf energischen Protest der britischen Kaufleute und der anderen westlichen Mächte unterblieb zunächst wiederum eine Ratifizierung. Die Chinesen, die das Übereinkommen als beispielhaft für weitere ansahen, öffneten die Häfen trotzdem, um ihren guten Willen zu demonstrieren. Die Konvention wurde bis 1885 schließlich doch noch zu großen Teilen von England ratifiziert. Sie konnte wie die amerikanisch-chinesische vom 28. Juli 1868 und die deutsch-chinesische vom 31. März 1880 jedoch kaum Einfluß auf die konkrete Ausformung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen China und dem Westen nehmen 1 6 . Wenn es auch bis Mitte der 80er Jahre keine weiteren politischen Aktionen und nur geringe offizielle Unterstützung seitens der englischen Regierung für die Chinawirtschaft gab, so erhielt der Handel doch dort, wo es unumgänglich schien und seine Sicherheit und Überlebensfähigkeit auf dem Spiel standen, von allen politischen Institutionen in England rückhaltlos Unterstützung 17 . Das Offenhalten des chinesischen Marktes trotz Annexionsabsichten anderer Mächte wurde zum obersten Anliegen britischer Politik in China. Seit den 70er Jahren hatte das Foreign Office mißtrauisch die Monopolisierungstendenzen Frankreichs im Südwesten und die Expansionsbestrebungen Rußlands in Sinkiang, Anfang der 80er Jahre auch in Korea und in der Mandschurei beobachtet 1 8 . Die englische Regierung förderte daher weit intensiver als zuvor die Autorität der Mandschus und der lokalen Gentry, deren Regierung sie aus eigenem Interesse einer Fremdherrschaft ausländischer Mächte in China vorzog 19 . Die britischen Firmen konnten bis in die 80er Jahre ihre dominierende Position unter den ausländischen Unternehmen in China festigen, nicht zuletzt deshalb, weil der Zwischenhandel nach China über Hongkong weiter zunahm. Es gelang ihnen sogar Anfang der 80er Jahre, die Übersee- und Küstenschiffahrt mit 85,7 % Anteilen vor allem auf Kosten der Amerikaner zu

15

Kapitän Graf Monts, Kommandeur des Ostasiengeschwaders, an Kaiserliche Admiralität, 16. 8 . 1 8 7 6 , PA, Abt. IA Chi/I.B.4 (China)/6. AA an Senat von Hamburg, 31. 8 . 1 8 7 5 , StAHH, CL VI 14a Vol. 3 / F a s c . 1 / 1 .

16

Reichskanzleramt an Bundesrat: Denkschrift vom 2. 3. 1881, ebd., N.R.H II 13a. Pelcovits, S. 126 ff.; Remer, Trade, S. 36 ff.; Stoecker, Deutschland, S. 97 ff.

17

Die Berichte verweisen insbesondere auf eine Unterstützung des Handels bei der Vergabe von Krediten an Chinesen durch die britische Diplomatie. Gesandtschaft Peking an AA, 21. 3. 1885, PA, Abt. IA Chi/I.B.15 (China)/2. Steeds/Nish, S. 52 ff.

18

Brandt an B. E. Bülow, 19. 7. 1875, PA, Abt. IA Chi/I.B.15 (China)/3. Pelcovits, S. 100 f.

19

Hyam, S. 365 ff.; Pelcovits, S. 66; Platt, S. XIII ff.

54

monopolisieren 2 0 . Insgesamt jedoch blieb die Handelsentwicklung trotz verbesserter Verkehrsverbindungen nach Europa weit hinter den Erwartungen zurück 2 1 . Die großen britischen Handelsfirmen hatten sich seit Anfang der 70er Jahre zunehmend im Investitions- und Kommissionsgeschäft betätigt, das bessere Profite zu garantieren schien als der bloße Warenhandel. Vor allem von der chinesischen Regierung versprachen sie sich lukrative Geschäfte. Die großen Aufträge blieben jedoch aus, ausgenommen im Rüstungsgeschäft. Telegraphenbau- und Eisenbahnprojekte erwiesen sich zum Ärger der Kaufleute bis Mitte der 80er Jahre als reine Spekulation. Ausländische Fabrikanlagen durften lediglich in begrenzter Anzahl errichtet werden 2 2 . Von 1872 bis 1881, dem letzten Jahr vor einer erneuten Krise, steigerte sich der Warenverkehr mit China auf der Grundlage der chinesischen Währung daher dem Werte nach nur um 1 5 % . Berücksichtigte man indes den Kursrückgang des chinesischen Geldes gegenüber dem Pfund um ca. 13 %, so fielen die Ergebnisse noch unerfreulicher aus 2 3 . Auch die 1874 erstmals seit sieben Jahren wieder aufgenommenen Firmenund Bankanleihen der Hongkong and Shanghai Bank an die chinesische Zentralregierung und an Provinzbehörden, von denen Rückwirkungen vor allem auf Industriegeschäfte erwartet wurden, flössen fast ausschließlich in die militärische Modernisierung sowie den Kampf gegen chinesische Rebellen und belebten allein den Waffenhandel 2 4 . Über die Anleihen — von 1874 bis 1883 insgesamt etwa 5,3 Millionen Pfund 2 5 — übten die britischen Kaufleute jedoch einen immer stärkeren Einfluß auf die chinesischen Finanzen aus, zumal als Sicherheit die Einnahmen der chinesischen Seezollämter verpfändet wurden. Der zumeist von Engländern kontrollierte chinesische Seezolldienst entwickelte sich unter Leitung des Generalseezolldirektors Robert Hart immer weiter zu einem wirksamen Kontrollinstrument der chinesischen Wirtschaftspolitik 2 6 . Diese Praxis der Eingriffe in die chinesische Finanzho20 21

22

23 24

25 26

Vgl. Anhang, Tabelle 5. Die Dampfschiffahrt zwischen Europa und China wurde in den 60er Jahren aufgenommen, der Suezkanal 1869 und die erste Telegraphenverbindung von China nach Europa 1871 eröffnet. Wiethoff (Neuere Geschichte, S. 106) erwähnt ca. 60 ausländische Industrieunternehmungen in den Vertragshäfen in der Zeit von 1860 bis 1885, doch scheinen die Angaben von Stoecker (Deutschland, S. 129, 234 ff.) eher zu überzeugen, der auf die von den Chinesen angeordnete Beschränkung ausländischer Fabriken auf Shanghai verweist und für 1882 15 nennt, davon eine deutsche Spinnerei. Vgl. die Tabellen bei Cheng, S. 258 f., und Remer, Trade, S. 245, 257 ff. Konsulat Shanghai an AA, 2 . 2 . 1875, PA, Abt. IA Chi/I.B.15 (China)/2; Konsulat Shanghai an AA, 15. 7. und 1.8. 1877, ebd., I.B.15 (China)/9. Le Fevour, S. 62, 65 ff. Vgl. die Tabellen bei Hou, S. 227, und Remer, Investments, S. 339 ff., 347 ff. Der Seezolldienst umfaßte 719 Ausländer, davon 170 Engländer, und 3181 Chinesen. Brandt, Dreiunddreißig Jahre, Bd 2, S. 299 ff. Generalkonsul Lueder, Shanghai, an AA, 30. 6. 1878, PA, Abt. IA Chi/I.B.15 (China)/10.

55

heit wurde von anderen Staaten übernommen, und noch nach dem Ersten Weltkrieg belasteten die daraus resultierende Beschneidung der chinesischen Souveränität und wirtschaftspolitische Einflußnahme die Beziehungen Chinas zum W e s t e n und zu Japan. Von der Vorzugsstellung Englands im Seezolldienst versprachen sich alle westlichen M ä c h t e Vorteile für ihren Handel. Gerade das in der Überseepolitik unerfahrene Deutsche Reich hoffte, von der Solidarität der anderen zu profitieren, und suchte in China insbesondere Anschluß an die englische Führungsmacht. Die Erwartungen gingen jedoch nicht in Erfüllung. Nicht die Wirtschaftsentwicklung, sondern der Kampf gegen die Rebellen und die Abw e h r ausländischer Ansprüche blieben in den 70er und 80er Jahren das Primärziel chinesischer Politik. Die Bürokratenelite und der kaiserliche Hof — ob reformerisch oder reformfeindlich gesinnt — konzentrierten sich auf die Landesverteidigung und innere Stabilisierung 2 7 . Die Nien-Rebellion 2 8 wurde relativ rasch, noch Ende der 60er Jahre, unter Kontrolle gebracht. Dagegen leisteten die Miao und Mohammedaner, Grenzbewohner im Norden, die sich der chinesischen Oberhoheit nicht unterwerfen wollten, bis in die 70er Jahre größeren Widerstand, der nur unter Aufbietung erheblicher Kräfte gebrochen werden konnte 2 9 . Als weitaus gefährlicher als diese inneren Probleme erwies sich jedoch die Bedrohung von außen. Chinas Verhältnis zu seinem Nachbarn Japan verschlechterte sich in der ersten Hälfte der 1870er Jahre erheblich, als dieser gegen rebellierende taiwanesische Bergstämme militärisch vorging 3 0 . Schon 1871 war die Pekinger Zentralregierung von den Japanern und den anderen Mächten genötigt worden, formale diplomatische Beziehungen zu Tokyo aufzunehmen. Die Expansion des Okzidents und die Unzufriedenheit des Kriegeradels, der Samurai, hatten im japanischen Kaiserreich Ende der 60er Jahre zum Zusammenbruch des Tokugawa-Shogunats und damit seiner antiwestlichen Politik geführt 3 1 . Die nachfolgende Meiji-Restauration (1867/68) bewirkte eine Umgestaltung fast aller gesellschaftlichen Bereiche, ließ aber die sozialen Strukturen unangetastet. Politische und wirtschaftliche Reformen von oben sollten die angestrebte Übernahme kultureller und zivilisatorischer Errungenschaften des W e s t e n s ermöglichen. Da die Modernisierung jedoch primär als Akt der Notwehr gegen das Ausland verstanden wurde, sollte eine Anpassung an das westliche Vorbild nur so weit vorangetrieben werden, wie dies für die eige-

27

Brandt an AA, 25. 5. 1875, ebd., I.B.15 (China)/3.

28

Die Nien-Rebellion schloß sich mit ähnlichen Motiven vor allem in Shantung der Taiping-Bewegung an, von der sie dann nach deren Ende auch personell profitierte.

29

Die Mohammedaner unter Yakub Beg wurden von türkischen, zum Teil auch von französischen und englischen Offizieren ausgebildet und verfügten über englische und französische Waffen. Brandt an Bülow, 1. 12. 1876, PA, Abt. IA Chi/I.B.15 (China)/7.

30

Die deutsche Gesandtschaft gab den Chinesen die Schuld, da sie die notwendigen Verhandlungen verzögert hätten. Brandt an AA, 31. 1. 1880, ebd., China 1 / 2 .

31

56

Zur Geschichte Japans vor 1 8 6 0 Hall, passim; weniger gelungen Bersihand.

nen Zwecke sinnvoll erschien. Den expansionistischen Methoden des Westens wurde allerdings relativ schnell nachgeeifert. Japan, das schließlich 1879 sogar die Ryu-Kyu-Inseln annektierte, galt fortan mit seiner modernen Militärmaschinerie als gefährliche Bedrohung Chinas 32 . Rußland hatte sich bereits 1869 Zollvorteile im Grenzhandel mit den 1858 von China in „ungleichen Verträgen" erworbenen Amur- und Ussuri-Gebieten festschreiben lassen. Anfang der 70er Jahre besetzte es als Reaktion auf die Aufstände Yakub Begs große Teile des Iii-Gebietes zum Schutz eigener Interessen und erpreßte im Vertrag von Liwadia 1879 die Abtretung von zwei Dritteln dieser Region, indem es Rechte auf Sinkiang und die Mongolei geltend machte. Erst auf Druck und durch Vermittlung der Engländer waren die Russen im Frieden von St. Petersburg 1881, kurz vor einem Krieg mit China stehend, bereit, diese Gebiete fast vollständig gegen eine hohe finanzielle Entschädigung an das Reich der Mitte zurückzugeben 33 . Auch Frankreich setzte sich in Randstaaten fest, die nach chinesischer Auffassung zum Kaiserreich gehörten. 1867 besetzte es Cochin-China und schloß 1874 einen Schutzvertrag mit Annam. Das französische Vorgehen in Tongking ab 1881, das 1884 ebenfalls einen Schutzvertrag mit der lokalen Regierung nach sich zog, führte schließlich zu den französisch-chinesischen militärischen Auseinandersetzungen von 1884/85. Der kaiserliche Hof in Peking war in völliger Überschätzung seiner Möglichkeiten nun nicht mehr bereit, weitere außenpolitische Demütigungen hinzunehmen 34 . Im Gegensatz zur reformfeindlichen kaiserlichen Hofpartei suchte die „Selbststärkungsbewegung" in der chinesischen Oberschicht trotz konservativer Ziele in Wirtschaft, Politik und Militär eine Annäherung an den Westen. Ohne dessen technische Methoden schienen die Krisen nicht überwindbar zu sein. Philosophisch wurde die Modernisierung nach westlichem Vorbild allerdings weiterhin als Folgeerscheinung der konfuzianistischen Ethik betrachtet, der geistige Hintergrund westlicher Technik nicht akzeptiert. Eine vom Pragmatismus bestimmte Kooperation stand im Vordergrund der Bestrebungen: Jegliche Konfrontation mit dem Westen sollte aus Einsicht in die eigene Schwäche vermieden werden. Neben Li Hung-chang, der nach erfolgreichen Feldzügen gegen die Nien zum Generalgouverneur von Chili berufen und 1875 zum Kanzler der kaiserlichen Regierung ernannt worden war, entwickelte sich Prinz Kung, der Präsident der Außenbehörde Tsungli Yamen, zum einflußreichsten Protagonisten chinesischer Modernisierungsbestrebungen 35 . Beide bemühten sich auch aus wohlverstandenem Eigeninteresse, die

32

Deitmer, S. 119 ff.; Martin, Japan, S. 87.

33

Bereits 1877 berichtete der deutsche Militärattache in St. Petersburg von Unruhen in russisch-chinesischen Grenzprovinzen. Bülow an Wilhelm I., 3. 2. 1877, PA, Abt. IA Chi/I.B.15 (China)/8.

34

Joseph, S. 45 ff.; Morse/McNair (Hrsg.), S. 340 ff.

35

Brandt an Bismarck, 9 . 7 . 1875, PA, Abt. 1A Chi/I.B.15 (China)/8; Brandt an Bülow, 15. 3. und 25. 8. 1877, ebd., I.B.15 (China)/9. 57

ernsten Krisen mit den Mächten beizulegen sowie die militärischen Vorbereitungen und Operationen gegen die Fremden nicht in einem Fiasko für China enden zu lassen 36 . Schon seit den 60er Jahren waren die Reformer für eine Gleichberechtigung Chinas mit den Mächten eingetreten, die auch diplomatisch ihren Ausdruck finden sollte. Die höfische Opposition verhinderte jedoch zunächst die Errichtung von diplomatischen Vertretungen im Ausland, die der Westen den Chinesen vertraglich zugestanden hatte. Erst die aggressive Haltung der britischen Kaufleute veranlaßte die Zentralregierung 1867, einer diplomatischen Mission unter der Leitung des vormaligen amerikanischen Gesandten in China, Anson Burlingame, nach Europa und in die Vereinigten Staaten zuzustimmen 37 . Die moderate Haltung der britischen Regierung sollte gegen die Kaufleute ausgespielt werden. Dem Westen sollte eindeutig erklärt werden, daß Opium, Kaufleute und Missionare in China nicht willkommen seien, daß aber auf gute Beziehungen zwischen gleichberechtigten Partnern Wert gelegt werde. Trotz eines Teilerfolges bei den Großmächten — ausländische Gesandte und Konsuln durften fortan in China nicht länger zur Selbsthilfe greifen, sondern waren auf die Amtshilfe der chinesischen Behörden angewiesen — fanden die Ergebnisse der Gesandtschaft bei deren Rückkehr am Hofe in Peking kaum Resonanz 38 . Gab es von 1870 bis 1874 nur Missionen ins Ausland, um „Bestrafungen" chinesischer Übergriffe abzuwenden 3 9 , so konnten sich die Reformer nach den mißlichen Erfahrungen der Formosa-Krise und des Margary-Zwischenfalls mit ihren Vorstellungen Mitte der 70er Jahre durchsetzen. Die Auseinandersetzungen mit den Aufständischen hatten ihre Position erheblich gestärkt. Die Chefoo-Konvention wurde zum Anlaß genommen, Gesandtschaften zu allen Großmächten zu entsenden. Die Gesandten, die sich persönlichen Anfeindungen der traditionalistischen Kreise aussetzten, warben im Ausland um Verständnis für China und wurden zu Übermittlern westlichen Gedankengutes ins Reich der Mitte 40 . Die kaiserliche Hofpartei gewann nach der Niederschlagung der Aufstände Ende der 70er Jahre jedoch wieder größeren Einfluß. Die Opponenten der Modernisierung ermunterten schon bald mit Erfolg Tz'u-hsi, die Mutter des neuen minderjährigen Kaisers Kuang-hsü, die nach dem frühen Tod des Kaisers T'ung-chih am 13. Januar 1875 de facto die Regentschaft übernommen

36

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Brandt an Bülow, 11.2. und 14.2. 1876, ebd., I.B.15 (China)/5; Brandt an Bismarck, 8. 5. 1885, ebd., China 1/10; Brandt an Bismarck, 26. 8. 1885, ebd., China 5/1. Bland, S. 226 ff.; J. Chen, S. 426. Reichskanzleramt an Bundesrat, Denkschrift vom 22. 3. 1881, StAHH, N.R.H II 13a. Frodsham (Hrsg.), S. 135 ff.; Morse/McNair (Hrsg.), S. 267 ff. Die Zentralregierung ging z. B. gegen die Schuldigen des Tientsiner Massakers aus Hochmut gegenüber den Fremden nicht vor; erst Li Hung-chang konnte eine Bestrafung durchsetzen. O. Franke, Erinnerungen, S. 55 f.; Morse/McNair (Hrsg.), S. 280 ff. Brandt, Dreiunddreißig Jahre, Bd 2, S. 282 ff.; Hsü, Entrance, S. 149 ff., 185 ff.

hatte, zu einem härteren Kurs g e g e n ü b e r d e m W e s t e n . Die Macht Prinz Kungs, eines Onkels von Kuang-hsü, a m H o f e sank nach d e m T o d der Kaiserinwitwe und Mutter T'ung-chihs, Tz'u-an, (8. April 1881) beträchtlich. Nur Li Hung-chang behauptete sich dank seiner guten Beziehungen zu Tz'u-hsi trotz aller A n f e i n d u n g e n der Hofkamarilla. W ä h r e n d Prinz Kung 1884 vollständig entmachtet wurde 4 1 , überstand Li selbst die harten Beschuldigungen, die ihm die Verantwortung für die Lasten des chinesisch-französischen Krieg e s zuschoben 4 2 . W a r der Einfluß der Reformer Mitte der 70er Jahre noch unbestritten gewesen, so g e f ä h r d e t e schon bald eine immer mächtigere reformfeindliche Opposition die ersten A n f ä n g e einer planmäßigen Modernisierung im wirtschaftlichen Bereich 4 3 . Die Überlegungen der Reformer hatten sich auf industrielle Unternehmungen unter staatlicher Kontrolle mit privater Beteiligung — „official supervision and merchant Operation" — konzentriert. „Bürokraten-Manager" als Betriebsleiter sollten g e m ä ß alter chinesischer Tradition jegliche wirtschaftliche Betätigung offiziell ü b e r w a c h e n . Mit diesem Kooperationsangebot an die chinesische Wirtschaft sollten vor allem private Kapitaleigner a n g e s p r o c h e n w e r d e n 4 4 . Die ersten U n t e r n e h m u n g e n w u r d e n Anfang der 70er Jahre in den Bereichen Nachrichtenübermittlung, Bergbau, Schifffahrt und Textil gegründet. Als einziges Projekt w u r d e die a b 1872 aufgebaute „China Merchant S t e a m Navigation C o m p a n y " 4 5 erfolgreich ausgebaut. Weitere Vorhaben scheiterten zunächst an nachhaltigen Protesten und Boykotten der traditionalistischen Opposition und am technischen und wirtschaftlichen U n v e r m ö g e n der Beteiligten 4 6 .

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44 45

46

Geschäftsträger Tattenbach an AA, 10. 4., 25. 5. und 15. 6. 1884, PA, Abt. IA Chi/China 1/8. Nagata, S. 67 ff. Brandt an Bismarck, 7. 8. 1880, PA. Abt. IA Chi/China 1/3; Brandt an Bismarck 29. 8. 1881. ebd., China 1/4; Brandt an Bismarck, 19. 12. 1881, ebd., China 1/5; Brandt an Bismarck, 4. 10. und 16. 10. 1885, ebd., China 1/10. Brandt an AA, 25. 5. 1875, ebd., I.B.15 (China)/3; dieser Bericht betont die rein strategischen Gründe für die Modernisierung. Teng/Fairbank (Hrsg.), S. 112 f. Denkschrift Li Hung-changs. ebd., S. 108 ff.; Brandt an Bülow, 22. 3. 1877, PA, Abt. IA Chi/I.B.l5 (China)/8. 1872 wurden z. B. die „Kaiping Coal Mines" ins Leben gerufen, die 1878 endlich ihre Tätigkeit aufnahmen. Die 1872 von Li Hung-chang gegründete „Shanghai Cotton Cloth Mill" konnte sogar erst in den 90er Jahren Produktionserfolge erzielen. Die 1878 von Tso Tsung-t'ang in Lanchow/Kansu mit deutscher Hilfe gegründete Baumwollspinnerei blieb lange Zeit nur ein Unternehmen im Vorbereitungsstadium. Zwar wurde auch bereits 1872 die „Imperial Telegraph Administration" errichtet, die generelle Erlaubnis zum Telegraphenbau aber erst 1880 nach der Einsicht in deren unabdingbare militärische Notwendigkeit erteilt, nachdem 1875 vor dem Hintergrund der japanischen Interventionspolitik nur ein Kabel von Foochow nach Amoy und 1879, auf private Initiative Lis, ein weiteres von Taku nach Tientsin verlegt worden war. Bericht der Gesandtschaft Peking, 9. 5. 1875, ebd., I.B.15 (China)/3. Hsü, Rise, S. 344 f.

59

Die finanziellen Verhältnisse in China waren allerdings einer industriellen Entwicklung nicht gerade förderlich. Wegen der enormen Opiumeinfuhren - 1880 mit 3 9 % der Gesamteinfuhr noch um 6 , 2 % höher als 1868 - blieb die Handelsbilanz außer in den weltwirtschaftlichen Krisenjahren von 1872 bis 1876 negativ und führte zu starken Silberverkäufen 47 . Das Mißtrauen privater chinesischer Finanziers, die sich lieber an westlichen Firmen beteiligten, zwang die Zentralregierung, Zölle an das Ausland zu verpfänden und Anleihen aufzunehmen 48 . Diese kamen jedoch vor allem der militärischen Aufrüstung zugute; in den 70er Jahren verschlang das chinesische Militärwesen weiterhin etwa ein Viertel der öffentlichen Mittel. Für wirtschaftliche Förderungsmaßnahmen blieb daher kaum noch Spielraum 49 . Daß eine Aufrüstung ohne begleitende Maßnahmen im infrastrukturellen oder industriellen Sektor sinnlos sein würde, hatte die reformerisch gesinnte Bürokratenelite zwar erkannt, wegen ihres eigenen halbherzigen Vorgehens und angesichts des Widerstandes der Traditionalisten gelang es ihr aber nicht, die nötigen Konsequenzen daraus durchzusetzen. Insbesondere das klägliche Scheitern der ersten Eisenbahnbauprojekte holte die hochgespannten Erwartungen der „Westler" wieder auf den Boden der Realität zurück. Selbst Li Hung-chang hatte in den 60er Jahren amerikanische und englische Bauvorhaben noch abgelehnt, weil sich diese seiner Meinung nach nur schwer mit den konfuzianistischen Überlieferungen in Einklang bringen ließen. Die 1874/75 auf eigene Kosten von englischen und amerikanischen Firmen gebaute Strecke Shanghai-Woosung, die in den 90er Jahren während des chinesisch-japanischen Konflikts den strategischen Nutzen von Eisenbahnen deutlich werden ließ, wurde 1876 von den Chinesen aufgekauft und ausgebaut. Erst 1881 gründete Li eine eigene Eisenbahngesellschaft, die bei den Kaiping-Bergwerken eine Strecke betrieb. Bis 1885 wurden hier, der einzigen Stelle in China, jedoch nur 42 km Schienen verlegt 50 . Auch für die Reformer bedeutete eine Erstarkung Chinas primär einen forcierten Bau von Kriegsschiffen und Arsenalen. Selbst die noch am erfolgreichsten praktizierte militärische Modernisierung, auf die sich schon bald die wirtschaftlichen Hoffnungen der Westmächte konzentrierten, blieb Initiativen und Aktivitäten einzelner überlassen und entwickelte sich noch nicht zu einem umfassenden und verbindlichen Programm 51 . Obwohl traditionalistische Kreise ein größeres Vordringen westlichen Einflusses verhindern konnten, nahm die finanzielle und technische Abhängigkeit Chinas vom Ausland bis in die 1880er Jahre größere Ausmaße an, zumal westliche Wirtschaftskreise weiterhin an China als Rohstoff- und Absatzmarkt interessiert blieben 52 .

47

Vgl. die Tabellen bei Cheng, S. 19, 258 f.

48

Generalkonsul Lueder, Shanghai, an AA, 3. 6 . 1 8 7 8 , PA, Abt. IA Chi/I.B.15 (China)/10.

49

Bericht Konsulat Kanton, 5 . 1 . 1875, StAHH, CL VI 14a Vol. 2 / l g Inv. 1.

50

Chesneaux, Bd 1, S. 2 1 0 ff., 219 ff., 262; Schmidt, S. 14 ff.

51

Beckmann, S. 1 4 9 f.

52

M o r s e / M c N a i r e (Hrsg.), S. 2 8 0 ff.

60

Auch die deutsche Exportwirtschaft drängte angesichts der eigenen wirtschaftlichen Entwicklung immer stärker auf den chinesischen Markt. Die „Große Depression", die bis Mitte der 1890er Jahre alle europäischen Staaten und die USA erfaßte, hatte seit den 70er Jahren nicht nur die Wirtschafts-, sondern auch die Innen- und Außenpolitik der Länder beeinflußt und das strukturelle Gefüge einzelner Gesellschaften nicht unerheblich verändert. Zwar bedeutete die Phase der „Großen Depression" insgesamt gesehen, außer in der Landwirtschaft, nur eine Verlangsamung der wirtschaftlichen Zuwachsraten. Gerade in Deutschland wurde aber diese gemäßigte Aufwärtsbewegung, die kaum beeinflußt oder kontrolliert werden konnte, durch eine anhaltende Preisdeflation und drastische Konjunktureinbrüche immer mehr zu einem psychologischen Problem. Die objektiv allgemein zufriedenstellende wirtschaftliche Lage entsprach nicht dem infolge zu hoher Erwartungen enttäuschten subjektiven Bewußtsein 53 . Der explosive Wirtschaftsaufschwung im neu gegründeten Deutschen Reich Anfang der 70er Jahre und der allgemeine Aufschwung des Welthandels fanden durch Börsenspekulation, Kreditkrisen und Stockungen im überseeischen Warenverkehr schon bald ein rasches Ende. Die wirtschaftliche Lage verschlechterte sich zu einer Absatz- und Produktionskrise, die ihren Höhepunkt zwischen 1876 und 1878 erreichte und vor allem die Schwerindustrie traf 54 . Ihren stärksten Verbündeten fanden die Schwerindustriellen in der von amerikanischen und russischen Getreideexporten gefährdeten Landwirtschaft. Auch die Banken, die im wirtschaftlichen Konzentrationsprozeß der 70er Jahre einen großen Teil ihres Einflusses an die Industrie verloren, votierten für den Aufbau eines Zollschutzsystems 55 . Die gemeinsamen Agitationen gegen den Freihandel zerstörten das Bündnis zwischen den Liberalen und der Industrie. Die freihändlerischen Bestrebungen der Handelskreise, die sich als Gegenbewegung zum Schutzzoll entwickelten, mußten schließlich 1879 eine politische Niederlage gegen Industrie und Landwirtschaft hinnehmen. Das neue Zweckbündnis von Industriellen und Agrariern führte zwar zu keiner einheitlichen politischen Front, aber zu einer Mehrheit agrarischindustrieller Schutzzöllner im Reichstag, die von Bismarck als neue ausschlaggebende politische Kraft in Deutschland angesehen wurde 56 . Den Jahren der wirtschaftlichen Ungewißheit 1879/80 folgte, hervorgerufen durch neue Aufträge beim amerikanischen Eisenbahnbau, zunächst ein kurzer Aufschwung bis 1882. Das Zwischenhoch vermochte aber über die gene-

53 54 55

56

Rosenberg, Bismarckzeit, S. 26 ff.; ders., Wirtschaftskonjunktur, S. 232 ff. Böhme, Deutschlands Weg, S. 310 ff. Ebd., S. 348 f.; ders., Bankenkonzentration, S. 434 ff.; Henderson, Rise, S. 181 f. Bei Maschinen und Schiffen konnten Exporterfolge erzielt und das englische Monopol durchbrochen werden. Die Farbenindustrie fertigte schon 1877 etwa 5 0 % der gesamten Weltproduktion. Kaelble, S. 50 ff.; Wehler, Bismarck, S. 95 ff.; ders., Kaiserreich, S. 47 f. Lambi, S. 317 ff.; Fenske (Hrsg.), Reich, S. 6 ff. 61

rellen Absatzschwierigkeiten der Exportwirtschaft kaum hinwegzutäuschen. Trotz der politischen Annäherung konnte eine Zusammenarbeit zwischen Staat und Industriellen zur Überwindung der Absatzkrise nur langsam aufund ausgebaut werden; die geringen Erfolge mußten überdies noch mit gesteigerten Rivalitäten gegenüber den anderen Mächten auf den Absatzmärkten erkauft werden. Kolonien, oder zumindest staatlich garantierte, sichere Absatzgebiete erschienen zunehmend als der verläßlichste Ausweg aus der Krise. Auch liberale Handelskreise fühlten sich dadurch wieder angesprochen 57 . Bismarck hatte strikt an seinem kontinentalen Kurs in der Außenpolitik festgehalten. Seine Politik der halbhegemonialen Stellung des Deutschen Reiches auf dem europäischen Kontinent trug der strategisch prekären Lage und der politischen wie militärischen Schwäche des neuen staatlichen Machtgebildes in der Mitte Europas Rechnung. Die eindeutig erklärte nationale Saturierung Deutschlands bedeutete einen Kompromiß zwischen deutschen Hegemoniebestrebungen und dem Streben nach Gleichgewicht auf dem Kontinent 58 . Die deutsche Außenpolitik bemühte sich zunächst nach 1871, nicht in eine gefährliche Isolation zu geraten, und suchte daher internationale Rückendekkung bei allen außenpolitischen Aktionen. Sie mußte sich nach dem Scheitern der Anlehnung an die Flügelmächte Frankreich und Rußland bei der „Krieg-in-Sicht-Krise" Mitte der 70er Jahre äußerste Zurückhaltung auferlegen. Bismarck versuchte, durch eine Politik des Ausgleichs eine diplomatische Lösung aller europäischen Probleme zwischen den Mächten durchzusetzen, da ein Krieg der Großmächte das Deutsche Reich unmittelbar in seiner Existenz gefährden mußte. Die erfolgreich herbeigeführten engeren politischen Verbindungen Deutschlands mit Rußland und Österreich (Zweibund von 1879, Dreikaiserabkommen von 1881 und 1884, Dreibund von 1882) verbesserten die deutsche außenpolitische Situation nicht unerheblich. Dennoch erschien sie aber auf Dauer wegen der zu großen, auch wirtschaftlichen Interessengegensätze der beteiligten Mächte nicht gesichert. Durch eine Politik des Ausgleichs mit der Seemacht England und eine beschränkte Zusammenarbeit mit Frankreich erhoffte sich die politische Führung in Deutschland Mitte der 1880er Jahre jedoch weitere, auch überseeische außenpolitische Bewegungsfreiheit 59 . Für die deutsche Chinawirtschaft war die Reichsgründungsphase ohne Auswirkungen geblieben. Der deutsche Chinahandel blieb dem Freihandel verpflichtet und sprach sich gegen jegliche direkte Einmischung des Staates aus. Trotz der großen englischen Konkurrenz, von der befürchtet wurde, daß sie aus der erwarteten Industrialisierung Chinas die größten Vorteile ziehen

57

Winkler, Machtverzicht, S. 52 ff.

58

Craig, S. 101 ff.; Hillgruber, Bismarcks Außenpolitik, S. 129 ff.

59

Born, S. 100 ff.

62

und den Handel monopolisieren werde, wandten sich die Kaufleute strikt gegen erneute Staatsexpeditionen zur Förderung der Wirtschaft 6 0 . Auch staatliche Subventionen von Dampfschiffahrtslinien nach Ostasien wurden abgelehnt: Diesbezügliche Anregungen des Gesandten in Japan und nachmaligen Gesandten in China, v. Brandt, seien „verwerflich" und „im Keime zu erstikken"; handelspolitische Grundsätze würden zerstört; die Kosten hätte nur der Steuerzahler zu tragen 61 . Der Errichtung von Stützpunkten oder Kolonien stand die deutsche Wirtschaft in China hingegen positiv gegenüber, ohne dabei allerdings präzise Konzeptionen zu entwickeln. Sie war sich darüber im klaren, daß „es von ungeheuerer Wichtigkeit (sei), von Anfang an das Terrain besetzt gehalten zu haben. . . . Wie große Aussichten das enorme Reich bietet, wenn einmal der Anfang gemacht ist, liegt auf der Hand 62 ." Die Erwartungen lagen vor allem auf der Erschließung der enormen Rohstoffvorräte und dem dazu notwendigen Bau von Eisenbahnen. Territorialer Besitz schien als Ausgangspunkt immer zweckmäßiger zu werden 6 3 . Die Geschäfte der deutschen Kaufleute hatten sich ab Mitte der 70er Jahre aufgrund der Silberentwertung in China zusehends verschlechtert. Der kurze Aufschwung für deutsche Waren nach dem deutsch-französischen Krieg, der Deutschlands Ansehen in China erhöhte, schien vorüber zu sein. Den guten Erlösen der Handelsfirmen, die sich an verschiedenartigen Geschäften in China beteiligten und dabei immer weiter expandierten, folgten schwierige Jahre. Der deutsche Anteil am Außenhandel Chinas konnte daher bis zum Ende des Jahrzehnts die 2 %-Grenze nicht überschreiten und blieb weiterhin mit Abstand hinter demjenigen der anderen Staaten zurück. Auch die deutsche Schiffahrt geriet zunehmend in Schwierigkeiten, da die Dampfschiffe an der chinesischen Küste nach und nach die Segelschiffe verdrängten und die deutschen Reeder es versäumt hatten, Ende der 60er Jahre in das zukunftsträchtige Dampfschiffahrtsgeschäft einzusteigen 64 . Neben der englischen Konkurrenz versuchten die Chinesen, welche die Schiffe der „US Steam Navigation Company" für ihre eigene Linie aufgekauft hatten, die

60

61

62

63

64

Bericht der Commission der Prager Gesellschaft aus dem Jahre 1871: Deutschlands Interessen in Ostasien, BA-MA, RM 1/2865. H a n d e l s k a m m e r Bremen an Senat von Bremen, 7.12. 1872, StAHB, 4, 70 - VI A 10. Glade, S. 77 ff.; Möring, S. 88 f. Auszug aus einem Brief Siemens Bros., London, an Siemens & Halske, Berlin, 24. 1. 1872, in: Wettlauffer, S. 15. Untersuchungen des Geologen Frhrn. v. Richthofen ergaben in Chili, Hupei u n d Shantung ungefähr 300 Mrd. t Kohle und 0,5 Mrd. t Erze. Richthofen, Tagebücher, B d l , S. 571; Röser, S. 3; Stoecker, Deutschland, S. 75 ff. Vgl. hierzu auch die Petition der Bremer Kaufleute für eine Annexion Saigons nach dem deutsch-französischen Krieg, in: Glade, S. 126 ff.; Briessen, S. 33 f. Brandt an Stosch, 4. 12. 1872, BA-MA, RM 1/867. Zu den statistischen Angaben über d e n deutschen Außenhandel mit China Hou, S. 20 f.; Cheng, S. 258 f.; W u , S. 49 f.; O. Franke, Deutschland, S. 3 f.; Mohr, Deutschtum, S. 268 ff.

63

Fahrten ins Landesinnere und nach Norden zu monopolisieren. Insbesondere die Yangtze-Schiffahrt profitierte von den Dampfschiffen 65 . Infolge des Geschäftseinbruchs bei der Küstenfahrt sank, trotz der Gründung einer regelmäßigen privaten Dampfschiffahrtsverbindung, der Kingsin-Linie, von Deutschland nach China (1872), der deutsche Anteil an der Küsten- und Überseefahrt bis Ende der 70er Jahre auf 5 % der ausländischen Gesamttonnage in chinesischen Gewässern 66 . Bis zu diesem Zeitpunkt war der Handel aus Deutschland größtenteils über englische Zwischenhändler via London und Hongkong getätigt worden; ein direkter Warenverkehr zwischen Deutschland und China hatte sich deshalb kaum entwickelt 67 . Die englischen Händler behandelten die deutschen Kaufleute loyal, da sie gut verdienten und keine Konkurrenz im Opiumgeschäft zu befürchten hatten 68 . Ende der 70er Jahre wurde die Situation auch für die deutsche Überseefahrt nach China immer bedrohlicher, da die deutschen Exportfirmen ihre Waren wegen günstiger Frachttarife über holländische und belgische Häfen verschickten, um in China konkurrenzfähig zu bleiben. Im Verlauf der 70er Jahre nahm auch der Versand über New York, die amerikanischen Ostbahnen und die Häfen an der Pazifikküste zu, der zwar teurer, aber kürzer war 69 . Bereits 1882 wurde die Chinafahrt aus hanseatischen Häfen von anderen europäischen Kontinentalhäfen überflügelt, die sich, wie Antwerpen, immer stärker zum Ausgangspunkt staatlich subventionierter, regelmäßiger Postdampferlinien entwickelten 70 . Hatten sich die Handels- und Schiffahrtskreise noch 1872 in dem festen Vertrauen in das eigene Durchsetzungsvermögen auf einem freien Markt strikt gegen Staatshilfen ausgesprochen, so baten sie nun die Reichsregierung um Unterstützung 71 . Nicht nur die deutschen Reeder, sondern auch die Kaufleute drohten ihren Einfluß in China zu verlieren. Sowohl der übermächtige englische Handel gefährdete Anfang der 80er Jahre die deutsche Position als auch der nach dem Ausgleich Rußlands mit China geschlossene russisch-chinesische Han65

Königlich Preußische Gesandtschaft in Mecklenburg und bei den Hansestädten an Senat von Bremen, 15. 3. 1877, StAHB, 3 / A 3 . C . 3 / 1 2 . Stoecker, Deutschland, S. 94.

66

Brandt (China, S. 139) nennt für das Jahr 1877 5 % gegenüber 10 % im Jahre 1868, während Hou (S. 61) für 1877 noch 6,2 % und 7,3 % für 1868 angibt.

67

Genaue Statistiken sind aus diesem Grund für deutsche W a r e n bis in die 80er Jahre kaum vorhanden. Stoecker, Deutschland, S. 86 f.

68

Ders., Germany, S. 27 ff.

69

Handelskammer Bremen an Norddeutschen Lloyd, 1 3 . 1 2 . 1884, StAHB, 7, 16 -

26/6.

Wilhelmy, S. 241. 70

Generalkonsul, Shanghai, an Vorstand für auswärtige Angelegenheiten,

Hamburg,

1 . 1 1 . 1882, StAHH, CL VI 14a Vol. 1/Fasc. 1 / 1 4 . Für rheinisch-westfälische Glaswaren war allein die Verladung mit der Eisenbahn nach Hamburg um 60 % teurer als nach Antwerpen. Notiz der „Hamburger Abendzeitung", 6 . 1 2 . 1883, PA, Abt. IA Chi/China 1/7. 71

Handelskammer Hamburg

an Deputation für Handel und Schiffahrt, 6. 2. 1882,

StAHH, CL VI 14a Vol. 1/Fase. 1 / 1 2 b Inv. 2.

64

delsvertrag vom 7. August 1882 über Zollermäßigungen im Landhandel. Ein weiteres Problem, das in den 1920er Jahren wieder akut wurde, ergab sich für die deutschen Firmen aus den Bestrebungen der Chinesen, unter Umgehung des Handels direkt mit der Industrie oder über offizielle Reichsvertreter Geschäfte abzuschließen, um Kosten zu sparen 7 2 . Dennoch blieb bis Ende der 90er Jahre die Belieferung Chinas weitgehend Sache der Handelshäuser, da nur sie über spezielle Kenntnisse des Marktes verfügten 7 3 . Bei den im Chinageschäft unumgänglichen Vorschußgeschäften und Krediten erwies sich eine Unterstützung durch Banken als unerläßlich. Obwohl das Hauptgeschäft der ausländischen Geldinstitute wegen des Verfalls der chinesischen Währung sowie der Kabelverbindungen zum europäischen Kontinent von China nach Europa verlegt wurde, besaß der Sitz eines Geldinstitutes in China weiterhin große Bedeutung 7 4 . Besonders auf diesem Gebiet fehlte es aber der deutschen Wirtschaft an Möglichkeiten. Eine eigene Bank in China, die größere Aufträge, auch durch Anleihen, hätte vermitteln können, existierte nicht mehr. Die täglichen Geschäfte der Handelshäuser waren noch nicht einmal besonders hart davon betroffen, daß die 1870 gegründeten Außenstellen der Deutschen Bank in Yokohama und Shanghai wegen des Silberverfalls bald wieder geschlossen wurden. Diese Geschäfte, zumeist im Konsumgüterbereich, wurden vorzugsweise mit Hilfe der dem Handel aufgeschlossenen Hongkong and Shanghai Bank abgewickelt. Der krisengeschüttelten deutschen Schwerindustrie und der aufsteigenden Leichtindustrie fehlten aber die finanziellen Voraussetzungen, um sich an erwarteten Großprojekten zu beteiligen 7 5 . Die deutschen Finanzkreise hielten sich mit Initiativen indes zunächst zurück, obwohl die Chancen für eigene Anleihen in China und damit für größere Geschäfte Ende der 70er Jahre prinzipiell nicht schlecht standen. Schon 1876 ließ Li Hung-chang anfragen, ob deutsche Banken bereit seien, mit den Chinesen Anleihegeschäfte abzuwickeln. 1878 kam der deutsche Kaufmann Teige im chinesischen Auftrag nach Deutschland, um über Anleihen zu verhandeln 7 6 . Die Bemühungen scheiterten jedoch an der allgemeinen Unkenntnis und Unsicherheit, wie und zu welchen Bedingungen Finanzierungsgeschäfte mit China abgewickelt werden könnten 7 7 . Trotzdem wurden die chi-

72

Brief W e r n e r Siemens an Carl Siemens, Anfang 1879: „. . . will die chinesische Regierung direkt von den Fabrikanten kaufen, um G e w i n n e von Zwischenhändlern zu vermeiden", in: Wettlauffer, S. 15. Stoecker, Deutschland, S. 88 f.

73

Vgl. hierzu die Einstellung der Firma Siemens 1 8 7 2 - 1 8 9 9 , Wettlauffer, S. 15.

74

Rosendorff. S. 94 ff.; Vinnai, S. 170 ff., 192 f.

75

Rosendorff, S. 101 ff.; Zorn, Integration, S. 324 ff.

76

Brandt an Bülow, 10. 6. 1876, PA, Abt. IA Chi/I.B.15 (China)/6; Brandt an Bülow, 12. 1.

77

Konsul Krauel, Shanghai, an AA, 1 . 8 . 1 8 7 7 : Die englischen Anleihen seien für

1878, ebd., I.B.15 (China)/10. Deutschland von Interesse, um zu lernen, welche Garantien gegeben würden, ebd., I.B.15 (China)/9.

65

nesischen Anleiheprojekte in Deutschland weiterhin aufmerksam verfolgt, insbesondere im Hinblick auf den von allen Wirtschaftskreisen sehnlichst erwarteten Beginn des Eisenbahnbaus in China 78 . Auch die deutsche Reichsregierung erkannte Anfang der 80er Jahre die bedrohliche Situation für den deutschen Exporthandel nach China, der hinter den Zuwachsraten der westlichen Konkurrenzländer und den Importen aus China zurückblieb. Sie zeigte sich aber lediglich bereit, die deutschen Konsuln aufzufordern, aktiver als bislang für den Absatz deutscher Industriegüter einzutreten 79 . Allerdings wurden auch von den Chinakaufleuten größere eigene Anstrengungen und besondere Lieferungen erwartet, nicht nur Rufe nach staatlicher Hilfe 80 . Bis dahin hatte sich die Reichsregierung noch ausgesprochen abweisend gegenüber irgendwelchen direkten Hilfestellungen des Reiches für die Chinawirtschaft verhalten. In der Chinapolitik wurde bis in die 1870er Jahre großer Wert auf eine Nichteinmischung des Staates in einzelne Geschäftsabläufe gelegt und das Freihandelsprinzip zumeist streng befolgt. Die politischen Vertreter des Norddeutschen Bundes oder des Deutschen Reiches in China waren kaum zu Aktivitäten bereit, die über eine Ausübung diplomatischer oder konsularischer Aufgaben hinausgingen. Diesen Aufgaben hingegen wie auch der Neuformulierung der wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen widmeten sie sich mit um so größerer Akribie. Die Hauptbeschäftigung des ab Mitte der 70er Jahre ausgebauten Konsularwesens bestand aus regelmäßigen Berichten und aus Schlichtungsversuchen zwischen chinesischen und deutschen Kaufleuten, die nach Ansicht der Beamten immer alles besser wissen wollten und deren Vorstellungen von China gerade bis zu ihrem Compradoren reichten 81 . Auch Versuche der Hansestädte, zugunsten des Handels größeren Einfluß auf die Konsulate auszuüben, bewirkten nichts. Das Reichskanzleramt machte unmißverständlich klar, wer in der Chinapolitik zuständig sei 82 . Noch im November 1878 schrieb die Handelskammer Bremen an das Reichskanzleramt etwas süffisant, daß man für Anregungen von amtlicher Seite stets dankbar sein müsse, und gestattete sich den Hinweis, daß sich die deutschen Diplomaten im Hinblick auf die englische, amerikanische und französische Konkurrrenz doch 78

Müller-Jabusch, passim.

79

Reichskanzleramt an Bundesrat: Denkschrift vom 2 2 . 3 . 1881, StAHH, N.R.H II 13a. Das Konsulat Kanton schickte z. B. Muster ausländischer Importe nach China in die Heimat, damit sich die deutsche Industrie daran orientieren könne. Reichskanzleramt an Länderregierungen, 20. 10. 1883, ebd., CL VI 14a Vol. 2 / l g Inv. 1. Wu, S. 48 ff.

80

Konsulat Tientsin an Senat von Hamburg, 9 . 5 . 1883, StAHH, CL VI 14a Vol. 2 / 1 0 d Inv. 1.

81

Generalkonsulat Shanghai an Senat von Hamburg, 26. 8. 1876, ebd., CL VI 14a Vol. 2 / 2 f Inv. 1.

82

Auszug aus Protokoll der Hamburger Deputation für Handel und Schiffahrt, 19. 5. 1870, ebd., CL VI 14a Vol. 1 / F a s c . 1 / 9 Inv. 1.; Auszug aus Protokoll der Hamburger Deputation für Handel und Schiffahrt, 9. 4. 1874, und Antwort Reichskanzleramt an Senat von Hamburg, 17. 9. 1874, ebd., CL VI 14a Vol. 1/Fase. 1 / 9 Inv. 2.

66

etwas mehr engagieren möchten. Auch mit dem Verlauf der Verhandlungen über die 1861 bereits vereinbarte Revision des preußisch-chinesischen Vertrages waren die Handelskreise keineswegs zufrieden 8 3 . Diese Revisionsverhandlungen waren vertragsgemäß am 14. Juli 1872 aufgen o m m e n worden. Die Hansestädte hatten schon Ende der 60er Jahre auf eine Wiederaufnahme gedrängt, um eine Verbesserung der Vertragsbestimmungen zu erreichen 8 4 . Bismarck versicherte jedoch der Burlingame-Mission bei deren Besuch in Berlin im Januar 1870, daß die Regierung in Berlin den Vertrag unverändert einhalten wolle, w e n n die chinesische Seite das Prinzip der Gegenseitigkeit befolge. Angesichts der politischen Situation Deutschlands in Europa sollten außenpolitische Risiken vermieden werden. 1872 teilte das Reichskanzleramt dem Hamburger Senat dann auch mit, daß es nur im gemeinsamen Vorgehen der Mächte eine reelle Chance für Verbesserungen sehe, und bat um Verhandlungsvorschläge; die Handelskammern sollten ebenfalls ausführlich Stellung nehmen 8 5 . Die Haltung Bismarcks und des Auswärtigen Amtes war eindeutig: Da Deutschland in China keine so großen Interessen habe wie die anderen Mächte, könne es sich konzilianter verhalten und sich an der gemäßigten Politik der USA orientieren. Bismarck wandte sich strikt gegen ein hartes Durchgreifen. Er stimmte nicht mit den Handelshäusern überein, die eine härtere Gangart forderten und behaupteten, daß China einen Krieg wolle und diesen mit seiner destruktiven Haltung bewußt provoziere 8 6 . Einig waren sich Wirtschaftsführer und Politiker allerdings über die angestrebten Ziele: die Öffnung neuer Häfen und die Aufhebung der unrechtmäßigen Likin-Zölle 8 7 . Die Audienzfrage, so wichtig sie aus Prestigegründen auch sei, spielte nach Ansicht des Reichskanzlers keine zentrale Rolle in den deutsch-chinesischen Beziehungen. Über die Form des Empfangs des Gesandten durch den chinesischen Kaiser könne durchaus verhandelt werden. Bismarck war nicht bereit, hier auf die harten Vorstellungen der Chinakaufleute einzugehen, und lag damit ganz auf der Linie der britischen Politik. Die diplomatische Niederlage, die das Deutsche Reich schließlich in der Audienzfrage hinnehmen 63 84

Handelskammer Bremen an Reichskanzleramt, November 1878, StAHB, 3 / A 3 . C . 3 / 1 5 . Pressenotiz, 1 6 . 1 . 1 8 7 0 , PA, Abt. IA Chi/I.B.4 (China)/3. Auszug aus Protokoll der Kommission für handelspolitische Fragen, 6. 4. 1869, HKHB, Hp II 8 3 / 2 . Bürgermeister Kirchenpauer, Hamburg, an Hanseatische Bevollmächtigte zum Bundesrat, 2 2 . 1 . 1870, StAHH, III / 5.

85

Reichskanzleramt an Senat von Hamburg, 13. 4. 1872. ebd., CL VI 14a Vol. 1 / F a s e . 1 / 1 2 Inv. 1. Reichskanzleramt an Gesandtschaft Peking, 1 8 . 1 . 1874, PA, Abt. IA Chi/I.B.15 (China)/1.

86

Syndikus Merck, Hamburg, an Ministerresidenten der Hansestädte in Preußen, Krüger, 5 . 1 . 1873, und Bismarck an Rehfues, 7 . 1 . 1873, ebd., I.B.15 (China)/4. Krüger an Syndikus Merck, 3 . 1 . 1873, StAHH, CL VI 14a Vol. 1 / F a s c . 1 / 1 2 Inv. 1. Yü, S. 1 6 9 ff.

87

Auszug aus Protokoll über die Verhandlungen der Deputation für Handel und Schifffahrt, 8. 5. 1872, StAHH, CL VI 14a Vol. 1 / F a s c . 1 / 1 2 Inv. 1; Reichskanzleramt an Bundesrat: Denkschrift vom 22. 3. 1881, ebd., N.R.H II 13a.

67

mußte, konnte daher die Reichsregierung kaum brüskieren. Der kaiserliche deutsche Geschäftsträger, v. Holleben, der die Gesandtschaft nach der Rückberufung des Gesandten v. Rehfues führte, wurde von den Chinesen aus protokollarischen Gründen im Juni 1873 nicht mit den anderen Gesandten zur Audienz beim „Sohn des Himmels" zugelassen. Erst 1901 wurde ein deutscher Gesandter formell vom chinesischen Kaiser empfangen 88 . Die deutschen Revisionsverhandlungen, die bis zur Klärung der Audienzfrage und wegen mangelnder englischer Unterstützung infolge des Margary-Zwischenfalls schon bald wieder ausgesetzt worden waren, wurden auf Bitten der Engländer Ende 1876 erneut eröffnet, um eine Gleichzeitigkeit mit den englisch-chinesischen Gesprächen zu erreichen. Die deutsche Seite wollte jedoch zuerst deren Ergebnisse abwarten, bevor sie selbst Forderungen stellte. Das Recht der Meistbegünstigung würde nach Auffassung des Auswärtigen Amtes ohnehin alle Mächte von den möglichen Verbesserungen profitieren lassen. Die chinesisch-englische Chefoo-Konvention entsprach dann allerdings überhaupt nicht den Vorstellungen des neuen deutschen Gesandten v. Brandt, der für einen härteren Kurs der Reichsregierung zugunsten der deutschen Industrie in China eintrat. Er vermutete, wie auch die meisten seiner ausländischen Kollegen, hinter den englischen Zugeständnissen an China ein bilaterales Geheimabkommen 89 . Brandt führte daraufhin die deutschchinesischen Verhandlungen weiter. Erstmals unternahm die deutsche Chinapolitik zaghafte Versuche, sich von der englischen Bevormundung zu befreien und eine Führungsrolle in China zu übernehmen. Die anderen Mächte verfolgten die Gespräche mit Hoffnungen, aber auch mit Mißtrauen. Die Verhandlungen erwiesen sich indes als äußerst schwierig, da die Chinesen zuvor auf einer vollen Unterzeichnung der Chefoo-Konvention bestanden, bevor sie über eine Revision der darin enthaltenen englischen Zusagen, Likin-Zölle auch in ausländischen Niederlassungen zu erheben, neu verhandeln wollten 90 . Die Zugeständnisse der Chinesen, im Gegenzug endlich alle Binnenzölle durch eine Zentralstelle einziehen zu lassen — der Generalseezolldirektor Robert Hart regte an, alles auf den Seezoll umzuverteilen —, erschienen nicht nur Brandt, sondern auch den meisten anderen Gesandten illusorisch. Erst als bekannt wurde, daß Großbritannien große Teile der Chefoo-Konvention nicht ratifizieren würde, verhandelten die Chinesen bereitwilliger und boten die alte Alcock-Vereinbarung — Abschaffung des Likins gegen höhere Seezölle — als Kompromiß an 91 . 88

Geschäftsträger der Gesandtschaft Peking, v. Holleben, an Bismarck, 30. 6. und 20. 7. 1873, PA, Abt. IA Chi/I.B.4 (China)/5; Holleben an Bismarck, 20. 9. 1874, ebd., I.B.15 (China)/1.

89

Brandt an Bülow, 1 5 . 1 . 1877, ebd., I.B.15 (China)/7; Brandt an Bülow, 2. 2. 1877, ebd., I.B.15 (China)/8. Reichskanzleramt an Senat von Hamburg, 2 . 5 . 1877, StAHH, CL VI 14a Vol. 1 / Fase. l / 1 2 b Inv. 2.

90

Brandt an Bülow, 18. 2. und 3. 3. 1877, PA, Abt. IA Chi/I.B.15 (China)/8. Aufzeichnung aus dem Hamburger Senat, 1 2 . 9 . 1877, StAHH, CL Vol. 1 / Fase. 1 /12b Inv. 2.

91

68

VI

14a

Das Reichskanzleramt, das in der angespannten politischen Lage Ende der 70er Jahre in Europa jegliche Konfrontation mit den Großmächten, und sei es auch nur durch allzu forsches Auftreten bei deutsch-chinesischen Revisionsverhandlungen, zu vermeiden suchte, sah sich jedoch genötigt, Brandt den Auftrag zu erteilen, die Verhandlungen zum Abschluß zu bringen. Die Chinesen hatten die Gespräche weiter hinausgezögert und versuchten, die labile politische Situation in Europa während des Berliner Kongresses auszunutzen und die Großmächte gegeneinander auszuspielen. Die relativ unbedeutenden deutschen Interessen in China durften die Ausgleichspolitik mit den Großmächten nicht gefährden. Der preußisch-chinesische Vertrag von 1861 sollte daher im wesentlichen beibehalten werden. Außer einigen Sonderrechten in bestimmten chinesischen Häfen und einer Ausfuhrzollermäßigung für chinesische Kohle nach Deutschland brachte der Ergänzungsvertrag von 1880 schließlich keinen der erhofften Fortschritte für die deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen 9 2 . Die deutsche Außenpolitik mußte nicht nur wegen der politisch-strategischen Lage Deutschlands auf die Großmächte in Europa Rücksicht nehmen, ihr fehlte es auch aufgrund mangelnder Machtmittel an Durchsetzungsvermögen in Übersee, eine Situation, die sich nach dem Ersten Weltkrieg wiederholte. Sie blieb weiterhin in China auf die Solidarität der Mächte — insbesondere der Engländer — und auch auf krisenfeste Beziehungen zur chinesischen Regierung angewiesen. Dennoch konnte sie aus dieser Situation durchaus politisches Kapital im Reich der Mitte schlagen: sowohl aus dem Wohlverhalten gegenüber den Großmächten als auch aus der Zurückhaltung gegenüber China. Die Stellung des Deutschen Reiches in China wurde vor allem deshalb akzeptiert, weil Deutschland keine territorialen Besitzansprüche im Reich der Mitte vorbrachte. Die deutsche Chinapolitik konnte an Konflikten innerhalb Chinas sowie zwischen den Großmächten und China, durch die stets ihre eigene schwache Position auf das äußerste mit gefährdet war, keinesfalls interessiert sein. Sie suchte daher Anfang der 1880er Jahre wie in Europa aus wohlverstandenem Eigeninteresse auch im Reich der Mitte nach Ausgleich und Vermittlung, ohne dabei ihre eigenen Möglichkeiten aufgrund der tatsächlichen Machtverhältnisse sowohl innerhalb Chinas als auch vor allem zwischen den Großmächten und China zu verkennen. Die politischen Bemühungen der deutschen Gesandtschaft konzentrierten sich aus diesem Grund auf kollegiale Beziehungen zu den ausländischen Vertretungen, aber auch auf ein gutes Verhältnis zu den chinesischen Generalgouverneuren 9 3 .

92

Ausführlich zu den deutsch-chinesischen Verhandlungen zur Vertragsrevision Reichskanzleramt an Bundesrat: Denkschrift vom 22. 3. 1881, StAHH, N.R.H II 13a. Cordier, Bd 2, S. 148 ff.

93

Brandt an Bülow, 2. 7. 1875, PA, Abt. IA Chi/I.B.15 (China)/3; Brandt an Bülow, 10. 11. 1876, ebd., I.B.15 (China)/6; Brandt an Bülow, 24. 2. 1880, ebd., China 1 / 2 . K.-ch. Lee, S. 7 ff.

69

Schon in den 1870er Jahren hatte Brandt, unterstützt von Detring, dem deutschen Seezolldirektor in Tientsin und Ratgeber des Generalgouverneurs von Chili, Li Hung-chang, diplomatisch geholfen, die Taiwan- und Iii-Krise friedlich beizulegen. Auch während der chinesisch-französischen Auseinandersetzungen nahm die deutsche Politik eine neutrale und vermittelnde Haltung ein. Unmißverständlich antwortete Bismarck dem Präsidenten des Hamburger Senats, Kirchenpauer, auf einen Antrag der Hansestädte, zugunsten des deutschen Handels zu intervenieren: Die Verluste des Handels seien „gering im Vergleich zu denjenigen, welche eine Störung des Friedens zwischen dem Deutschen Reich selbst und einer der ihm benachbarten Mächte zur Folge haben würde" 9 4 . Das Deutsche Reich, das in den 70er Jahren noch weitgehend am Prinzip des Freihandels festhielt, sah zunächst kaum eine Veranlassung, den Handel mit China unmittelbar zu fördern. Die deutsche Chinapolitik ordnete sich, auch aufgrund fehlender anderer Möglichkeiten, der Politik der sich im allgemeinen solidarisch verhaltenden Großmächte unter und profitierte zweifellos von dieser Haltung. Die deutschen Kaufleute konnten in einem nur teilweise reformbereiten, statt dessen mehr nach Restauration strebenden China zu den gleichen Bedingungen wie die anderen westlichen Geschäftsleute arbeiten. Die deutsche Chinawirtschaft erzielte beachtenswerte Erfolge, mit denen sie angesichts der übersteigerten Erwartungen jedoch nicht zufrieden war. Aber auch Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre blieben mit Rücksicht auf die Großmächte, deren Wirtschaftspolitik in China nicht vorgegriffen werden sollte, zunächst noch direkte Unterstützungsmaßnahmen des Deutschen Reiches für den Chinahandel aus. Die Wirtschaftskrise seit Mitte der 1870er Jahre führte jedoch nicht nur zu einem größeren Absatzbedarf der Industriemächte, sondern auch, als Folge davon, zu verstärkter internationaler Konkurrenz auf den Absatzmärkten. In China drohte daher die auf sich allein gestellte deutsche Wirtschaft an Einfluß zu verlieren, da Rußland und Frankreich, aber auch das an freien Zugängen zu den Märkten Ostasiens interessierte Großbritannien, eine immer expansivere und aggressivere Politik verfolgten. Eine Möglichkeit, trotz aller Widrigkeiten weiterhin im Geschäft zu bleiben, boten die Modernisierungsbestrebungen der chinesischen Militärreformer. Rüstungslieferungen hatten sich schon Anfang der 70er Jahre als „lukrative Sparte Hamburger Handelshäuser" 9 5 erwiesen.

94

Auszug aus Protokoll des Hamburger Senats, 29. 8. 1884, und Antwort Bismarcks an Bürgermeister Kirchenpauer, 10. 9. 1884, StAHH, CL VI 14a Vol. 1 / F a s c . l / 1 2 b Inv. 3. Stoecker, Deutschland, S. 138 ff.

95

70

Helfferich, Beziehungen, S. 215.

b) Chinesische

Militärreformen, private Rüstungsgeschäfte und die Aktivitäten der deutschen Kriegsmarine in China

O b w o h l e i n e Modernisierung des c h i n e s i s c h e n Militärs nicht nur im Interesse der reformerisch, sondern auch der traditionalistisch ausgerichteten chinesischen Führungselite lag, w u r d e die Verwestlichung des Militärwesens bis Ende der 1 8 7 0 e r Jahre eindeutig zum Hauptbetätigungsfeld erneuerungswilliger provinzieller Kräfte. Die Niederschlagung der Taiping- und der NienRebellion E n d e der 6 0 e r J a h r e hatte die militärische und auch die administrative M a c h t einzelner Gouverneure in C h i n a beträchtlich erhöht. Die lokalen M a c h t h a b e r gingen allmählich dazu über, e i g e n e bürokratische Organisationen aufzubauen, um die Verwaltung ihrer T r u p p e n sicherzustellen. Die d e m Einfluß der M a n d s c h u - K a i s e r e n t z o g e n e n R e g i o n a l a r m e e n rekrutierten sich zumeist aus den Heimatprovinzen der j e w e i l i g e n Militärführer und standen zu diesen in e i n e m persönlichen Loyalitätsverhältnis. Sie b l i e b e n auf die personelle und materielle Unterstützung aus der Heimatregion a n g e w i e s e n , auch w e n n sie mit ihren B e f e h l s h a b e r n in e i n e a n d e r e Provinz des Reiches versetzt wurden, da w e d e r die n e u e Provinz n o c h die i h n e n mißtrauisch gegenü b e r s t e h e n d e Zentralregierung bereit w a r e n , für ihren Unterhalt zu sorgen 1 . So bezog zum Beispiel Li H u n g - c h a n g s Huai-Armee 6 0 % ihrer Einkünfte aus den Provinzen Hupeh, Hunan, Kiangsu und A n w h e i , die Li immer n o c h aus s e i n e r früheren Zeit als dortiger Gouverneur verpflichtet w a r e n . N a c h d e m die letzten g e m i s c h t e n c h i n e s i s c h e n und ausländischen V e r b ä n d e 1873 aufgelöst worden w a r e n , mußte die Huai-Armee in diesen Provinzen den Schutz der Küstengebiete, der Salztransporte s o w i e S h a n g h a i s ü b e r n e h m e n . Ihre Hauptmacht b e f a n d sich seit den 70er Jahren allerdings in Chili, w o Li als G e n e r a l g o u v e r n e u r und als G e n e r a l k o m m i s s a r für die Verteidigung des Nordens die kaiserlichen B a n n e r t r u p p e n organisieren und e i n e einheitliche Streitmacht in Nordchina a u s b a u e n sollte. Li, dem für diesen Z w e c k lediglich Einkünfte der Provinz Chili und Salzsteuern zur Verfügung standen, sah sich gezwungen, aus Kostengründen s e i n e e i g e n e n V e r b ä n d e zu reduzieren. Er k o n n t e dafür aber n a c h und n a c h a n d e r e Truppen im Norden unter s e i n e n O b e r b e f e h l stellen — bis Mitte der 70er Jahre e t w a insgesamt 35 0 0 0 bis 4 0 0 0 0 M a n n —, von d e n e n i n s b e s o n d e r e die zur Küstenverteidigung eingesetzten V e r b ä n d e mit ausländischen K a n o n e n ausgerüstet w u r d e n . T e i l e dieser T r u p p e n wurden sow o h l gegen die M o h a m m e d a n e r als auch g e g e n e i g e n e lokale aufständische M i litäreinheiten eingesetzt, die, schlecht besoldet und ausgebildet, die Bevölkerung ausplünderten und von dieser gehaßt w u r d e n 2 .

1 2

Spector, S. 167 ff., 195 ff. Konsulat Shanghai an AA, 9. 7. 1873, PA, Abt. IA Chi/I.B.4 (China)/5; Brandt an Bismarck, 3. 6. und 10. 7. 1875, ebd., I.B.15 (China)/3; Brandt an Bülow, 28. 4. 1877, ebd., I.B.15 (China)/8. Zu den Bannertruppen und ihrer historischen Entwicklung Kuhn, S. 37 ff.

71

Außer in Chili und Kiangsu wurden auch, allerdings in bescheidenerem und höchst unterschiedlichem Maße, in den anderen Küstenprovinzen Anstrengungen zur Modernisierung des Militärs unternommen, um dem Westen und Japan entgegentreten zu können. Im Gegensatz zu Shantung, Kwangtung, Chekiang und Fukien, die europäisch ausgebildete und bewaffnete Truppen aufstellten 3 , beschränkten sich im Landesinnern die Bemühungen auf den Auf- und Ausbau von kleineren Arsenalen. Die taktische Ausbildung der Küstentruppen erfolgte zumeist durch englische, selten durch französische Instrukteure. Insgesamt waren jedoch bis Ende der 1870er Jahre nur wenige dieser ausschließlich privat angestellten militärischen Ausbilder in China tätig. Die meisten dieser „Militärberater" waren lediglich verkappte Firmenvertreter, welche die Chinesen in den Gebrauch westlicher Waffen einwiesen und den Verkauf neuer Rüstungsgüter vermittelten 4 . Zur Ausrüstung der Truppen mit Handfeuerwaffen bevorzugten die Chinesen zunächst noch englische, französische und amerikanische Modelle, die zum Teil in den mit Hilfe dieser Länder in den 60er Jahren aufgebauten Arsenalen hergestellt wurden. Bei den schweren Waffen hingegen entwickelte sich bereits Anfang der 7Oer Jahre eine deutsch-französisch-englische Konkurrenz um die Gunst der einzelnen Gouverneure. Von Ausnahmen abgesehen, gab es bis Anfang der 80er Jahre jedoch in ganz China nur wenige und dazu noch schlecht nach westlichem Muster ausgebildete und bewaffnete chinesische Truppen 5 . Die vier wichtigsten Arsenale Shanghai, Tientsin, Nanking und Foochow produzierten schon Ende der 60er Jahre nicht mehr ausschließlich Material für den Kampf gegen chinesische Rebellen. Eine erneute militärische Auseinandersetzung mit dem Westen wurde in chinesischen Regierungskreisen, sowohl bei den Reformern als auch bei den Traditionalisten, nicht ausgeschlossen. Zumindest für den Ernstfall galt es gerüstet, wenn möglich sogar eben3

Shantung verfügte über etwa 6000 europäisch ausgebildete und bewaffnete Truppen, Fukien über ungefähr 21 000. Die Stärken der „neuen Armeen" in Kwangtung, das sich auf den Festungsbau konzentrierte, und Chekiang, das englische Instrukteure beschäftigte, ließen sich nicht genau ermitteln. Konsulat Shanghai an AA, 9. 7. 1873, PA, Abt. IA Chi/I.B.4 (China)/5; Brandt an Bülow, 1 0 . 6 . 1876, ebd., I.B.15 (China)/6; Brandt an Bülow, 3. 4. 1877, ebd., I.B.15 (China)/8; Brandt an Bülow, 3 . 1 0 . 1877, ebd., I.B.15 (China)/9.

4

Powell, S. 36 ff. Unzutreffend jedoch seine Aussage, es habe von 1872 bis 1876 schon eine zeitweilige Anstellung deutscher Offiziere in China gegeben. Deutsche Krupp-Kanonen fanden sich überall, sowohl in Shantung als auch in Fukien, das von Frankreich am stärksten beeinflußt war, und auch in Kwangtung, das Ende der 70er Jahre noch alle Geschütze, die von den jeweiligen Generalgouverneuren angeschafft worden waren, im Arsenal von Canton aufbewahrte, da genügend ausgebildete Truppen und Instrukteure seit den 60er Jahren fehlten. Brandt an Bismarck, 3. 6. 1874, und Konsulat Amoy an Brandt, 4. 8. 1875, PA, Abt. IA Chi/I.B.15 (China)/3; Brandt an Bülow, 10. 6. und 1 0 . 1 1 . 1876, ebd., I.B.15 (China)/6; Brandt an Bülow, 2 2 . 3 . 1877, ebd., I.B.15 (China)/8.

5

72

bürtig zu sein. Die Arsenale waren daher bis Mitte der 70er Jahre voll ausgelastet. Sie produzierten Munition, Pulver sowie leichte und schwere Waffen, indem sie versuchten, europäische Erzeugnisse mit Hilfe westlicher Techniker und Maschinen nachzubauen und herzustellen. Doch die Ergebnisse waren kläglich: Die Qualität der Erzeugnisse blieb weit hinter europäischen Produkten zurück; W a f f e n und Munition waren kaum zu gebrauchen; die meisten Kosten verschlangen die importierten Maschinen und die ausländischen technischen Berater. Noch bis in die 1930er Jahre hinein war es den Chinesen nicht gelungen, diese Mißstände zu beheben 6 . Die bürokratisch geprägte chinesische Leitung dieser Arsenale war nicht in der Lage, die relativ modernen Rüstungsbetriebe mit immerhin jeweils 5000 bis 6000 Arbeitern zu verwalten, geschweige denn übergreifende rüstungswirtschaftliche Konzeptionen zu entwickeln. Wie in militärstrategischer gab es auch in rüstungswirtschaftlicher Hinsicht keinen Gesamtplan zum Vorgehen gegen die Moslems oder die westlichen Eindringlinge. Die einzelnen Gouverneure planten, finanzierten und reformierten nach eigenem Gutdünken 7 . Priorität bei den Verteidigungsbemühungen gegen den Westen genoß der Nachbau von Kriegsschiffen. Der Feind sollte noch vor der Küste geschlagen werden. Das Kiangnan-Arsenal bei Shanghai, das dem Generalgouverneur von Nanking und Generalkommissar für die Verteidigung des Südens, Tseng Kuo-fan, bis zu dessen Tod unterstand, produzierte bis 1875 14 Schiffe, von denen allerdings nur sechs in Shanghai blieben, eins nach Tientsin und der Rest wegen Unbrauchbarkeit an die „China Merchant Steam Navigation Company" verkauft wurde. Die Ma-Wei-Werft des Arsenals Foochow baute unter englischer und französischer Anleitung 16 Kriegsschiffe, die schließlich aber aus Kostengründen in allen Häfen des Landes disloziert wurden. Eine einsatzfähige chinesische Flotte existierte daher Mitte der 70er Jahre nicht. Shantung verfügte z. B. über ein Kanonenboot und 14 Kriegsdschunken. Nur Canton besaß 12 Kanonenboote — drei französische, drei englische und sechs chinesische —, die, von Europäern kommandiert, die See zwischen Canton, Macao und Hongkong gegen Seeräuber schützten 8 . Allein Li Hung-chang stand dem Bau chinesischer Kriegsschiffe skeptisch gegenüber, da diese niemals so schlagkräftig sein könnten wie westliche. Er hielt den Ausbau der Landstreitkräfte und damit auch seiner eigenen Armee sowie die Verbesserung des Küstenschutzes durch Artillerie und Befestigungen für wirksamer. Nach dem Tod Tseng Kuo-fans gelang es ihm, seinen Einfluß auf das zu großen Teilen vom Shanghaier Seezoll finanzierte Kiang-

6 7 8

Chesneaux, Bd 1, S. 210 ff.; Th. Kennedy, Arms, S. 58 ff. Powell, S. 42; Spector, S. 170 ff. Konsulat Shanghai an AA, 9. 7.1873, PA, Abt. IA Chi/I.B.4 (China)/5; Brandt an Biilow, 10.11. 1876, ebd., I.B.15 (China)/6; Brandt an Biilow, 10.1. 1877, ebd., I.B.15 (China)/?; Brandt an Biilow, 22. 3.1877, ebd., I.B.15 (China)/8. Th. Kennedy, Metamorphosis, S. 207 ff.; ders., Arms, S. 67 ff. 73

nan-Arsenal auszudehnen, das ab 1875 nicht mehr Schiffe, sondern unter Anleitung englischer Techniker Remington-Gewehre und Armstrong-Kanonen nachbaute 9 . Bis 1881, dem Dienstantritt Tso Tsung-t'angs als Generalgouverneur von Nanking und damit als neuer Generalkommissar für die Verteidigung des Südens, gelang es Li, bis zu zwei Drittel der Arsenalproduktion nach Norden zu lenken. Hier hatte er bereits Anfang der 70er Jahre mit den Befestigungen von Taku und Tientsin sowie des Peiho begonnen, um die Hauptstadt Peking vor einer möglichen Invasion zu sichern. Der Bau dieser Fortifikationen machte bis Mitte der 70er Jahre gute Fortschritte 10 . Der von Li aus Anlaß des chinesisch-japanischen Konfliktes um Taiwan vorgelegte neue „maritime Verteidigungsplan" sah nicht nur einen absoluten Vorrang für die Küstenverteidigung und den Ausbau der Marine mit im Westen gekauften Schiffen vor, sondern auch die Kontrolle des Generalkommissars für die nördliche Verteidigung über die gesamte chinesische Rüstung und alle modern ausgebildeten Truppen. Der Hof widersetzte sich jedoch derartigen Überlegungen und weitreichenden Befugnissen. Auch Tso Tsungt'ang, der als Generalgouverneur von Shen-Kan am Ausbau der Grenzverteidigung im Landesinnern gegen Rußland interessiert war, entwickelte sich dabei zum Widersacher Lis. Die chinesischen Militärreformer gerieten, wie so oft in der chinesischen Führung, untereinander zunehmend in Konfrontation. Li Hung-changs Macht blieb daher vor allem auf den Norden beschränkt; dort begann er ab 1878 mit dem eigenständigen Neuaufbau einer (Nord-) Flotte, der Peyang-Flotte, aus ausländischen Ankäufen. Auch nach der chinesisch-japanischen Krise wurde die militärische Modernisierung nicht zentral, sondern durch unkoordinierte Aufrüstungsbestrebungen der einzelnen Provinzen weitergeführt 11 . Erst Anfang der 80er Jahre entschloß sich der kaiserliche Hof endlich, die Zentralisierungspläne Li Hung-changs aufzugreifen. Dabei mag der drohende russisch-chinesische Konflikt eine gewisse Rolle gespielt haben; hauptsächlich ging es der wiedererstarkenden antimodernistischen Hofpartei jedoch darum, die Macht der einzelnen Gouverneure und ihrer Provinztruppen einzuschränken 12 . Die großen Arsenale, die wegen des unübersehbaren Kompetenzwirrwarrs, der hohen Personalkosten von etwa 35 % und der ebenfalls enormen Materialkosten für Eisen- und Stahlimporte von bis zu 50 % ihrer Etatmittel nicht effektiv produzieren konnten, wurden einer zentralen Kontrolle im Norden und Süden untergeordnet. Die Unterstellung der Flottenund Küstenabteilung der Marine unter ein Generalmarineamt und einen ausländischen Generalmarineinspektor verzögerte sich allerdings bis Mitte der 80er Jahre. Selbst die Anweisung, den Nachbau ausländischer Schiffe aufzu-

9

Brandt an Biilow, 22. 3. 1877, PA, Abt. IA Chi/I.B.15 (China)/8.

,0

Konsulat Shanghai an AA, 9. 7. 1873, ebd., I.B.4 (China)/5; Brandt an Bismarck, 3. 6.

11

Th. Kennedy, Corning of the War, S. 660 f.; Spector, S. 172 ff.

12

Brandt an Bismarck, 28. 5. 1881, PA, Abt. IA Chi/China 1 / 4 .

1875, ebd., I.B.15 (China)/3; Brandt an Biilow, 10. 6. 1876, ebd., I.B.15 (China)/6.

74

geben, konnte nicht überall sofort durchgesetzt werden 13 . Der Hof in Peking zeigte sich auch erstmals aufgeschlossen für neue westliche Waffen, Kriegsschiffe und insbesondere für den Bau von Küstenbefestigungen, der im Norden Chinas nun mit Nachdruck vorangetrieben wurde 14 . Die Angst der reformfeindlichen Hofpartei vor direkten militärischen Vorstößen nach Peking und in das Stammland der Mandschus wuchs besonders im Hinblick auf russische und japanische Annexionsbestrebungen in Korea 15 . Zudem kündigten sich im Südwesten des Reiches bereits die militärischen Auseinandersetzungen mit Frankreich an, die sich schnell zu einem großen Krieg an Chinas Grenze entfalten konnten. Angesichts dieser konkreten Bedrohungen und aus der Erinnerung an die als schmachvoll empfundenen „ungleichen Verträge" mit St. Petersburg forderte nun die alte Hofpartei^ daß gegen ausländische Annexionsabsichten gegenüber Tributstaaten energisch vorgegangen werden müsse. Der Generalgouverneur von Chili mußte daher 50 % seiner Kanonen an den Süden abgeben und auf kaiserlichen Befehl Soldaten aus Canton und Nanking gegen Frankreich zusammenziehen, um Chinas Verteidigungsbereitschaft unmißverständlich zu demonstrieren. Es ging den Hofkreisen dabei aber nicht nur um die Gefahr von außen, sondern sie betraute Li Hung-chang mit den Verteidigungsmaßnahmen auch in der Hoffnung, bei einer Niederlage gegen Frankreich wenigstens einen derjenigen Reformer für immer loszuwerden, die dem Westen am aufgeschlossensten gegenüberstanden und durch ihre enge rüstungswirtschaftliche Zusammenarbeit das Reich der Mitte den „Barbaren" immer weiter öffneten. Ähnlich wie im Falle Japans bestand auch bei der Modernisierung Chinas das Kernproblem darin, daß der Staat die Bestrebungen des Auslandes nur durch eigene — militärische — Stärke abwehren konnte, daß die dazu notwendige Übernahme westlicher Technologien und Güter aber zu einer wachsenden Abhängigkeit von eben diesen Ländern führte, gegen die man sich behaupten wollte. Daß die chinesischen Provinzgouverneure mit dem modernen Rüstungsmaterial gleichzeitig ihre eigene

13

Konsulat Tientsin an Bismarck, 2 2 . 1 1 . 1883, ebd., China 1 / 7 . Th. Kennedy, Arms, S. 98 f., 119 f.; ders., Coming of the W a r , S. 661 ff.

14

Schon die Militärreformer hatten Ende der 70er Jahre erkennen müssen, daß die Entsendung chinesischer Militärschüler ins Ausland allein ihre Ausbildungs- und Rüstungsprobleme nicht lösen konnte. Neben anderen Projekten erwies sich sowohl die Ausbildungsreise von sieben Militärschülern nach Deutschland (1876—1878) zu Krupp und zum Bochumer Verein als auch von Ingenieuren und Militärschülern des Arsenals Foochow nach Frankreich als Fehlschlag. In einer Notiz für Generaldirektor Baare vom Bochumer Verein heißt es, die Chinesen seien nicht nur unzufrieden mit ihrem von zu Hause gewährten Taschengeld, sondern auch nicht fähig, eine Kanone zu bauen. Notiz etwa aus dem Jahre 1 8 7 6 / 1 8 7 7 , KS, 5.65.00 Nr. 2. Nicht nachweisen läßt sich die Behauptung Tengs, schon 1872 seien chinesische Offiziere nach Deutschland gekommen. Teng/Fairbank, S. 112; K.-ch. Lee, S. 19 ff.

15

Hsü, Rise, S. 345 f.; K.-ch. Lee, S. 15, 30; Stoecker, Deutschland, S. 134 f.

75

Machtposition gegenüber der Zentralregierung stärkten, verschärfte nur dieses Dilemma 16 . Tatsächlich stiegen seit Ende der 1860er Jahre die Rüstungslieferungen des Auslandes nach China immer stärker an. Für die ausländischen Mächte bot sich damit eine Chance, ihren Handel mit China zu beleben und ein neues Absatzgebiet für ihre expandierenden Rüstungsindustrien zu erschließen. Auch die privaten Rüstungsbetriebe in Deutschland profitierten von dieser Entwicklung. Erst seit Mitte des Jahrhunderts war es ihnen zum Teil gelungen, sich von dem Einfluß staatlicher Heereswerkstätten zu befreien, die den normalen Friedensbedarf der Streitkräfte selbst zu decken versuchten und private Industriebetriebe nur zu größeren Aufrüstungsprojekten heranzogen. Insbesondere diejenigen Betriebe vermochten sich aufgrund technischer Innovationen zu verselbständigen, die „Rüstungsmaterial im engeren Sinne", wie Waffen, Munition, Pulver und Panzerplatten, herstellten. Der größte Teil der ca. 1000 deutschen Firmen, die „Rüstungsmaterial im weiteren Sinne", wie Ausrüstungsgegenstände, Zubehör und Bekleidung, produzierten, blieb stärker von den Wünschen der Militärs abhängig 17 . Die militärische Führung sah dennoch ihre Macht auf dem Rüstungssektor durch das Anwachsen des Industriekapitals sowie den sich belebenden Freihandel in wachsendem Maße bedroht. Sie warf der privaten Rüstungsindustrie staatsschädigendes Profitdenken vor und beanstandete deren Verkäufe ins Ausland. Sie vermochte es aber nicht länger, die Auslandsaktivitäten des expandierenden schwerindustriellen Sektors, der sich zum wichtigsten Teil der Rüstungsindustrie entwickelte, zu bevormunden. Für staatliche Rüstungsbetriebe hingegen blieben Auslandsgeschäfte weiterhin verboten. Trotzdem mußten militärische Kreise schon frühzeitig zugeben, daß sich eine begrenzte Zusammenarbeit von Militär und Industrie bei Auslandsaufträgen auch zum Vorteil der inländischen Produktion auswirken mußte. Bis in die 1890er Jahre blieb jedoch bei den Militärs eine traditionelle Reserviertheit gegenüber privaten Rüstungstätigkeiten vorherrschend. Diese Vorbehalte richteten sich zwangsläufig vor allem gegen den Essener Krupp-Konzern, der bis zum Ende des Jahrhunderts in Deutschland unter den privaten Herstellern von schwerindustriellem Kriegsgerät — Geschützen und Panzerplatten — eine Monopolstellung innehatte 18 . Das Verhältnis der Firma Fried. Krupp zum preußischen Staat verbesserte sich erst während der 1870er Jahre. Hatten in den 50er Jahren kaum Beziehungen bestanden, so wurden seit der „Neuen Ära" allmählich intensivere Kontakte aufgenommen. Seit 1859 kauften die deutschen Staaten, und von ihnen fast ausschließlich Preußen, größere Mengen Kruppscher Gußstahl-Kanonen 1 9 . Zuvor war es der Firma Krupp nur gelungen, einige Kanonen im 16

Generalkonsulat Shanghai an Bismarck, 18. 7. 1883, PA, Abt. IA Chi/China 1 / 7 ; Gesandtschaft Peking an Bismarck, 1. 8. und 3. 8. 1883, ebd. K.-ch. Lee, S. 35 f.

17

Schmidt-Richberg, S. 118 ff.

18

Messerschmidt, Geschichte, S. 366 ff.

19

Verzeichnis der von der Gußstahlfabrik und vom Grusonwerk von 1847 bis 1912 gefertigten Kanonen, HA Krupp, W A X a 200.

76

Ausland und einzelne Waffen im Inland abzusetzen 20 . Die Produktion von Rüstungsmaterial nahm jedoch Anfang der 70er Jahre aufgrund der enormen Nachfrage des Deutschen Reiches sprunghaft zu. Auch das Ausland, vor allem Rußland und die Türkei, tätigten größere Bestellungen, die bis Mitte der 70er Jahre allerdings weit hinter den Inlandsaufträgen zurückblieben 21 . Die Haupteinnahmen der Firma Krupp bestanden bis Ende der 70er Jahre jedoch nicht aus Rüstungslieferungen, sondern kamen aus dem Eisenbahnbau, der durch Inlandsaufträge in den 50er Jahren und später durch große Auslandsaufträge, ab Mitte der 60er Jahre vor allem in die USA, gefördert wurde 22 . Das Rüstungsgeschäft mit dem Ausland gewann für Alfred Krupp, den Alleininhaber der Firma, jedoch stärkere Bedeutung, nicht zuletzt weil er auf diese Weise eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber den ihm nicht wohlgesonnenen preußischen Militärs und der in den 70er Jahren wieder auflebenden staatlichen Rüstungsindustrie wahren konnte 23 . Die Industrieaufträge stagnierten nach 1874 bis Ende der 80er Jahre; von 1875 bis 1891 wurden weniger Kanonen verkauft als von 1870 bis 1874 24 . Zudem zeichnete sich Ende der 70er Jahre immer deutlicher ein Ende des amerikanischen Eisenbahnbooms ab. Hatte ein russischer Rüstungsauftrag von 1877 bis 1880 noch einmal gute Erträge für die Firma Krupp gebracht 25 , so kam in den 80er Jahren den Märkten Südamerikas sowie des Mittleren und Fernen Ostens größere Bedeutung zu. Das Zarenreich fiel ab 1880 für alle deutschen Rüstungsbetriebe als potentieller Großabnehmer aus, da in den strategischen Planungen der deutschen Militärs Rußland als zukünftiger Gegner rangierte 26 . Obwohl den militärischen Modernisierungsmaßnahmen der Chinesen keineswegs ein systematisches Programm zugrunde lag, gewannen daher die Aufträge aus dem Reich der Mitte nicht nur für die Essener Firma, sondern 20

Von 1854 bis 1849 konnten 56 Kanonen ans Ausland und von 1847 bis 1858 13 Kanonen ans Inland geliefert werden; Frankreich erhielt 1866 die letzten drei der insgesamt 15 Kanonen, die von 1855 bis zum Ersten Weltkrieg an Paris geliefert wurden; an Österreich gingen von 1854 bis 1865 insgesamt 28 Kanonen. Ebd.

21

Von 1859 bis 1869 konnten 3271 Kanonen und von 1 8 7 0 bis 1874 4415 Kanonen im Inland abgesetzt werden, hingegen im Ausland von 1 8 5 9 bis 1869 nur 2784 und von 1870 bis 1874 auch nur 2621. Von diesen erhielt Rußland von 1864 bis 1 8 7 9 1114 Kanonen, die Türkei von 1867 bis 1875 1708. Ebd.

22

Vgl. dazu die nicht immer ganz zutreffenden Äußerungen von Manchester, S. 85 ff., 119 ff., 128 ff., 148 ff., 168 ff.

23

Messerschmidt, Geschichte, S. 266 ff., 360; Menne, S. 138 ff.

24

Von 1875 bis 1891 konnten im Inland 4263 Kanonen verkauft werden. Verzeichnis . . .,

25

Von 8861 Kanonen, die von 1875 bis 1891 ans Ausland verkauft wurden, gingen etwa

26

Zur Firma Krupp Messerschmidt, Geschichte, S. 372 ff.; dazu auch Boelckes zwar im

HA Krupp, W A X a 200. 2000 nach Rußland. Ebd. Detail falsche, in den Grundtendenzen aber zutreffende Aussagen, Boelcke (Hrsg.), S. 64. Auch Hallgartens oberflächliche Ausführungen sind in bezug auf die Geschichte der Firma Krupp nur eingeschränkt

brauchbar,

Hallgarten,

Imperialismus,

Bd 2,

S. 396 ff.; am besten noch die ältere Darstellung von Menne, S. 78 ff., 121 ff. 77

auch für die gesamte deutsche Rüstungsindustrie an Bedeutung. Die ganz großen Geschäfte mit China konnte allerdings bis zum Ersten Weltkrieg allein Krupp tätigen; dessen Artilleriewaffen wurden zu einem der wichtigsten deutschen Exportgüter ins Reich der Mitte. Darüber hinaus interessierte sich das chinesische Militär noch für die Erzeugnisse des im Ausland bekanntesten deutschen Herstellers von Handfeuerwaffen, der „Waffenfabrik Gebr. Mauser und Cie." in Oberndorf am Neckar 27 . Diese durfte ab 1874 mit Erlaubnis des deutschen Kaisers das Standardgewehr der deutschen Streitkräfte, Modell 71, exportieren, das bis dahin unter Geheimhaltung gestanden hatte. In den 1880er Jahren profitierte auch die deutsche Werftindustrie von Bestellungen aus China. Zusätzlich zu dem Ankauf neuen Kriegsmaterials wurden gebrauchte Waffen aus deutschen Heeresbeständen aus Kostengründen für chinesische Militärreformer immer interessanter. Der deutsche Handel in China sah in den steigenden Rüstungslieferungen aus Deutschland die langersehnte Ausweitungsmöglichkeit seiner Geschäfte, zumal das „zivile" Warenangebot des Deutschen Reiches bis in die 80er Jahre nur für 7 % aller Importwünsche der Chinesen in Frage kam 28 . Das deutsche Rüstungsgeschäft im Reich der Mitte, das von Beginn an gegen eine schon etablierte ausländische Konkurrenz antreten mußte 29 , entwickelte sich jedoch nicht ohne Komplikationen. Die anfänglichen Verkaufserfolge der Firma Krupp, die den anderen deutschen Rüstungsbetrieben in China Ansehen und Aufträge verschafften, verdeutlichten beispielhaft die Probleme und Schwierigkeiten, mit dem auf Modernisierung des Militärs bedachten Reich der Mitte ins Geschäft zu kommen. Schon in den 60er Jahren bestanden bei der Firma Krupp Pläne, sich um den Verkauf von Gußstahl-Kanonen auch nach China zu bemühen. Erste Kontakte mit Chinesen konnten in Essen zu einer Kommission aufgenommen werden, die unter Führung von Robert Hart 1866 Europa bereiste 30 . Obwohl kurze Zeit später bereits der Absatz von 1000 Kanonen in Erwägung gezogen wurde, sah die Firma keine konkreten Möglichkeiten zur Gründung einer eigenen Verkaufsagentur in China 31 . Die verantwortlichen Prokuristen wollten vielmehr über eine internationale, schon etablierte Gesellschaft unter belgischer Führung ins Chinageschäft einsteigen, da sie die Chancen gering einschätzten, die Produkte einer unbekannten Firma und dazu noch aus einem kaum bekannten Land wie Preußen im Reich der Mitte abzusetzen 32 . 27

Zur Geschichte der am 31. 7 . 1 8 1 1 von König Friedrich II. von Württemberg als „Königliche Gewehrfabrik" in Oberndorf gegründeten Waffenfabrik, Geschichte der MauserWerke, MA.

28

Mohr, Wirtschaftsbeteiligung, S. 225 ff.

29

Zu den Waffenverkäufen Englands und Frankreichs Yü, Kapitel V, Anm. 19—21.

S. 129 f.

30

Ebd.,

31

Hagemann an Hitzeroth (Angestellte der Firma Krupp), 7 . 1 1 . und 3 1 . 1 2 . 1867, HA

32

Briefwechsel

Krupp, W A IV 548. zwischen

General

Nicaise

18. 2 . - 1 2 . 4. 1869, ebd., FAH II B 363d.

78

und

Angestellten

der

Firma

Krupp.

Der deutsche militärische Erfolg über Frankreich machte auch in China einen großen Eindruck auf die reformerisch gesinnten Kreise. Diese hofften, nunmehr mit den Waffen des Siegers die eigene Aufrüstung erfolgreich und schneller vorantreiben zu können 33 . Erstmals konnte die Firma F. Peil, nachmaliger Hauptagent der Firma Krupp bis 1880 in China und bis 1874 in Japan, Ende 1870 in Hongkong Kruppsche Probegeschütze vorführen. F. Peil wies jedoch gleich auf die potentiellen Schwierigkeiten bei zukünftigen Geschäften hin, da mit allen 18 Gouverneuren wohl einzeln verhandelt werden müsse 34 . Die ersten Lieferungen erfolgten dann aber relativ schnell, da die inneren und äußeren Bedrohungen die Provinzmachthaber nicht lange zögern ließen. So konnten von 1871 bis Ende 1873 insgesamt 191 Kanonen nach Tientsin, Tsinan, Canton und Shanghai geliefert werden 35 . Spannungen mit der Verkaufsagentur drohten aber recht bald, trotz guter Auftragslage die Rüstungsgeschäfte der Firma Krupp schon frühzeitig wieder zu beenden. Mit Rücksicht auf die Konkurrenz der anderen Länder mußte Peil nämlich die Preise für Li Hung-chang, den Hauptabnehmer Kruppscher Erzeugnisse, so niedrig kalkulieren, daß die Geschäfte zum Verlust für die Essener Firma wurden. Alfred Krupp sah bald ein, daß es in der labilen Aufbauphase von Lieferungen nach China für die Firma primär darauf ankam, überhaupt Geschäfte abzuschließen, um nicht wieder vom Markt verdrängt zu werden und die großen Aufträge, die ja noch ausstünden, zu verpassen. Selbst auf die sonst üblichen Liefervorauszahlungen wurde schließlich verzichtet, um den besonderen Verhältnissen des chinesischen Marktes Rechnung zu tragen 36 . Eigene Fabriken im Reich der Mitte zu errichten, kam für Alfred Krupp wegen der finanziellen Unsicherheiten in China keinesfalls in Frage, so interessant ihm solche Projekte an sich auch erschienen. Li Hung-chang war bereits 1873 in dieser Sache an die Firma Krupp herangetreten. Der Generalgouverneur dachte dabei nicht nur an eine Montage von Rüstungsfabriken 33

Daß vor 1870 deutsche W a f f e n nach China geliefert oder in China nachgebaut wurden, erscheint mehr als fraglich. Bei dem 1867 von dem Gesandten v. Rehfues in einem Brief an das Tsungli Y a m e n erwähnten Vorfall handelte es sich wahrscheinlich um geschmuggelte ausländische Gewehre, mit denen einzelne deutsche Kaufleute vor 1870 versuchten, in China Geschäfte zu machen. Stoecker, Deutschland, S. 90 f. Stoekkers und auch besonders K.-ch. Lees Aussagen zum Thema deutsche „Berater" in China oder deutsche Rüstungslieferungen nach China erwiesen sich oftmals als nicht ganz zuverlässig, z. B. K.-ch. Lee, S. 21 ff. Zu diesem Aspekt auch O. Franke, Deutschland, S. 4 f.; Stingl, S. 88 ff.; W o o d , passim.

34

Auszüge aus Berichten der Firma Peil an die Firma Krupp, 22. 11. 1870 und 7. 2. 1871,

35

Verzeichnis . . ., ebd., W A X a 200. Vgl. die genau nach Orten und Geschützarten auf-

HA Krupp, FAH II B 363d. geschlüsselte Tabelle im Anhang des Berichts Konsulat Shanghai an AA, 9. 7 . 1 8 7 3 , PA, Abt. IA Chi/I.B.4 (China)/5. 36

A. Krupp an Direktor Goose, Firma Krupp, 22. 9. 1874, HA Krupp, FAH II B 341; Aufzeichnung Firma Krupp, 17. 11. 1874, ebd., FAH II B 363d.

79

in China, sondern auch an den Bau von Berg- und Hüttenwerken, um die notwendigen Rohmaterialien zur Herstellung von Stahl zu gewinnen und zu verarbeiten. Alfred Krupp, der als Grundbedingung feste Bestellungen der Zentralregierung über mindestens 10 Millionen Thaler forderte, dafür aber die Ausbildung von Chinesen in Deutschland und die Finanzierung deutschen Personals in China übernehmen wollte, blieb äußerst skeptisch 37 . Auch bei den Waffenlieferungen hielten sich Bedenken und Hoffnungen trotz der großen Rüstungslieferungen anläßlich der chinesisch-japanischen Krise um Taiwan weiterhin die Waage 38 . Zum einen wollte Alfred Krupp über die in China alteingesessene und renommierte Bremer Handelsfirma Melchers & Co. größer ins Geschäft einsteigen und ihr deshalb anstelle der weit unbedeutenderen Firma Peil die Hauptvertretung seiner Interessen überlassen. Zum anderen machte sich aber gerade Mitte der 70er Jahre der Druck der in- und ausländischen Konkurrenz besonders stark bemerkbar, so daß neue Aufträge für die Zukunft fraglich schienen 39 . Trotzdem war Krupp nicht bereit, mit den Preisen noch weiter nachzugeben 40 . Gerade die deutsche Konkurrenz erwies sich als geschäftsschädigend für die Essener Firma. Der Anfang der 70er Jahre als technischer Instrukteur der Firma Krupp zu Li Hung-chang entsandte ehemalige preußische Oberfeuerwerker Lehmeyer wechselte Mitte der 70er Jahre in die Dienste des Generalgouverneurs über und lenkte dessen Interessen nicht mehr auf die Essener Firma, sondern auf die Produktion des „Bochumer Vereins für Bergbau und Gußstahlfabrikation". Der Bochumer Rüstungsbetrieb wurde auch 1876 erster Anlaufpunkt einer von Lehmeyer geführten Studienkommission chinesischer Militärschüler 41 ; eine solche Kommission war bereits 1874 von Alfred Krupp vorgeschlagen worden, um der wachsenden Bochumer Konkurrenz zu begegnen 42 . Aber erst 1877 kamen die Militärschüler nach Essen. Aus Angst, gerade von dem Bochumer Betrieb, der sich mit der Essener Firma um die Erfindung der Gußstahl-Kanone stritt43, im Chinageschäft überrundet zu

37

38

39 40

41 42

43

80

Er ließ aber dennoch die Möglichkeit einer Revision des Geschäftsvertrages mit der Firma Peil überprüfen, auf die als reine Verkaufsagentur bei Ausführung potentieller Großprojekte dann nicht mehr viel Arbeit zugekommen wäre. Peil an Krupp, 4. 7.1873, dazu Stellungnahme A. Krupp vom selben Tag und Notizen A. Krupp, 22./23. 8. 1874, ebd. FAH II B 363d; Aufzeichnung Firma Krupp, 25. 8. 1874, ebd., WA VIIc 36. 1874/1875 konnte die Firma Krupp nochmals 191 Kanonen nach China liefern. Verzeichnis . . ., ebd., WA X a 200. A. Krupp an Peil, 13. 7. 1875, ebd., FAH II B 363d. Peil an Firma Krupp, 11. 1. 1876, ebd.; A. Krupp an Prokura, 8. 2. 1 P.7S ebd., FAH II B 341. Notiz Firma Krupp, 4. 6. 1876, ebd., FAH II B 363d. Notiz A. K u p p , 10.12. 1874, ebd.; Firma Krupp an Goose, 10. 11. 1874, ebd., FAH II B 363a, b. Däbritz, S. 27 ff.

werden 4 4 , unterstützte Krupp die Militärschüler w ä h r e n d ihres Deutschlandaufenthaltes sogar finanziell, damit sie sich dann in China zugunsten seiner Firma einsetzten 4 5 . Im Zuge der allgemeinen Auftragsstagnation und der Neuorganisation der chinesischen Rüstungseinkäufe gingen die Bochumer Geschäfte und damit die unerwünschte Konkurrenz für Krupp Ende der 70er Jahre schnell zu Ende 4 6 . Auch die Essener Firma hatte bereits 1 8 7 6 den Rückgang der Rüstungsgeschäfte in China zu spüren bekommen. Der Verkauf sank von jährlich über 100 Kanonen Anfang der 70er Jahre auf 10 im Jahre 18 7 6 4 7 . Die finanzielle Überlastung der Chinesen infolge der Spannungen mit Japan trug ebenso dazu bei wie die völlige Desorganisation der chinesischen Rüstungskäufe im Ausland. Aufträge w u r d e n nur noch vereinzelt vergeben, weil sich die Militärreformer zu Recht durch die Verkaufsagenten einer untereinander konkurrierenden westlichen Rüstungslobby übervorteilt fühlten 4 8 . Bei dem internationalen Rüstungswettlauf nach China in den 70er Jahren hatte die deutsche Industrie, an ihrer Spitze die Firma Fried. Krupp, keinesfalls eine Stellung, die „zeitweilig einem Monopol glich" 4 9 . Allein über Shanghai w u r d e n 1 8 7 5 4 0 3 ausländische Kanonen und 2 0 745 Gewehre eingeführt 5 0 . Krupp verkaufte in demselben Jahr jedoch nur 136 Geschütze in ganz China 5 1 . Die Waffenfabrik Mauser lieferte in der Zeit von 1874 bis 1881 lediglich insgesamt 13 500 G e w e h r e 5 2 . Nach Ansicht des deutschen Gesandten gab es örtlich zwar gewisse Vorteile der Firma Krupp bei der Armierung von Schiffen 5 3 , die Engländer beherrschten aber zweifellos mit ihren

44

45 46 47 48

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53

Notizen Firma Krupp, 1 1 . - 2 9 . 3.1877, HA Krupp, FAH II B 363d. Der Bochumer Verein verhandelte vor allem über die Lieferung einer Kanonenfabrik nach China für 2 252 825 Mark Anschaffungskosten und 537 500 Mark Transportkosten. Der Bochumer Verein lieferte von 1874 bis 1878 60 Kanonen nach China, in die Türkei 200, in die USA, nach Japan und Dänemark jeweils eine — insgesamt ins Ausland also 263 Kanonen; ins Inland hingegen 358 (217 nach Preußen, davon 186 noch aus Bronze, und 141 nach Bayern). Korrespondenz Generaldirektor Baare und des Bochumer Vereins mit Agenten der Firma, 1. 11., 7.11. und 15.11. 1876 sowie 11. 9. 1878, KS, 5.31.00 Nr. 1 und 5.43.10. Nr. 3. Schnell an Krupp, 1 1 . - 2 9 . 3. 1877, HA Krupp, FAH II B 363d. Vgl. Stoecker, Deutschland, S. 90 ff. (nicht immer ganz zutreffend). Verzeichnis . . ., HA Krupp, WA X a 200. Lieferte die Firma Krupp 1877 noch 45 Kanonen nach China, so war es ein Jahr später nur noch eine und 1879 gar keine mehr. Verzeichnis . .., HA Krupp, WA X a 200. Stoecker, Deutschland, S. 90. Brandt an Bülow, 22. 3. 1877, PA, Abt. IA Chi/I.B.15 (China)/8. Verzeichnis . . ., HA Krupp, WA X a 200. Belege der Hauptbuchhaltung, Statistiken, Lizenzen, Steuern, MA; Geschichte der Mauser-Werke, ebd. Für die Kriegsschiffe Shantungs — zumeist Dschunken — lieferten die Engländer 94, Krupp 32 Kanonen. Kapitän Graf Monts, Kommandeur des Ostasiengeschwaders, an Kaiserliche Admiralität, 16. 8. 1876, PA, Abt. IA Chi/I.B.15 (China)/6. Für die Shang81

Armstrong-Kanonen die Belieferung der Landtruppen 54 . Nur nach Canton, das die Firma Krupp vorzugsweise aufrüstete, konnte Krupp mit 44 Kanonen mehr Rüstungsmaterial liefern als England, Frankreich und die Vereinigten Staaten zusammen 55 . Nicht allein eine solide rüstungswirtschaftliche Zusammenarbeit mit den Chinesen scheiterte in den 1870er Jahren, sondern auch zwei weitere Projekte des Essener Konzerns: der Eisenbahnbau in China und eine intensivere Kooperation mit den Japanern. In Japan hatten trotz Fremdenfeindlichkeit einige Territorialfürsten schon vor der Meiji-Restauration versucht, ihre Truppen mit westlicher Hilfe zu modernisieren. Militärschüler wurden nach Europa gesandt, die zentrale Armee des Shoguns (Militäroberbefehlshaber) wurde ab Mitte der 1860er Jahre von französischen Offizieren ausgebildet. Durch diese oktroyierten Reformen gelang es der Militärelite Ende der 1860er Jahre, ihre Macht noch weiter zu festigen. Nach Auflösung der alten Clan-Armeen und der Aufstellung einer modernen Armee Anfang der 70er Jahre wurden auch die Ausbildung und die Bewaffnung der Streitkräfte vereinheitlicht. Mit der Berufung der zweiten französischen Militärmission 1872 mußten die letzten deutschen freiwilligen Militärinstrukteure das Land verlassen. Vereinzelte kleinere militärische Abordnungen in die Vereinigten Staaten, nach England und Deutschland sollten die rüstungswirtschaftlichen Kontakte Japans zu den anderen Großmächten nicht abreißen lassen 56 . Die Rüstungslieferungen des Deutschen Reiches an Japan blieben bis Mitte der 80er Jahre jedoch gering. Auch die Firma Krupp vermochte — gemessen an China — nur relativ wenige Geschütze zu verkaufen 57 , obwohl bereits 1865 die ersten beiden Probegeschütze durch Vermittlung einer holländischen Handelsfirma von den Japanern erworben worden waren 5 8 . Die japanische Regierung, die vor allem an der Errichtung von Fabriken und an einer intensiveren Wirtschaftskooperation interessiert war, wurde durch Alfred Krupps vorsichtige und skeptische Haltung enttäuscht, der auch von den Japanern umfangreiche finanzielle Sicherheiten verlangte 59 . Die Tatsache, daß der korruptionsverdächtigen Firma Peil die Vertretung für Japan entzogen und an die Firma Ahrens & Co. übergeben wurde, änderte nichts an der Re-

haier Flotte lieferte Krupp von 55 Geschützen 35. Brandt an Bülow, 3. 4. 1877, ebd., I.B.15 (China)/8. 54

Brandt an Bülow, 11. 2. 1876, ebd., I.B.15 (China)/5.

55

Brandt an Bülow, 22. 3. 1877, ebd., I.B.15 (China)/8.

56

Gernet, S. 501 f.; Ienaga, S. 46 ff.; Presseisen, Agression, S. 1 ff.

57

Die Rüstungslieferungen der Firma Krupp nach Japan betrugen von 1870 bis 1882 170 Kanonen. Verzeichnis . . ., HA Krupp, W A X a 200.

58

Hagemann an Hitzeroth, 7. 11. 1867, ebd., W A IV 548.

59

A. Krupp zeigte sich lediglich bereit, den gekränkten Japanern eine Betriebsordnung der Gußstahlfabrik zukommen zu lassen. Peil an Krupp, 24. 11. 1873, und Notizen A. Krupp, 2 2 . / 2 3 . 8. 1874, ebd., FAH II B 363d; Aufzeichnung Firma Krupp, 25. 8. 1874, ebd., W A VIIc 36.

82

serviertheit der Japaner gegenüber Krupp. Im Gegenteil, sie verstärkte sich noch aufgrund der großen Waffengeschäfte mit China während der Formosakrise 6 0 . Trotz der großen Absatzschwierigkeiten in China war Alfred Krupp nicht bereit, den Japanern bessere Konditionen einzuräumen: Nur wenn die Japaner bereit seien, so schrieb er 1878 an die Geschäftsführung, das gesamte Risiko zu tragen, keine Verträge mit anderen Firmen abzuschließen, alle Maschinen in Essen zu kaufen und für die Sicherheit des deutschen Personals zu garantieren, sei er einverstanden, ins Geschäft einzusteigen 6 1 . In China scheiterte eine rüstungswirtschaftliche und schwerindustrielle Kooperation nicht nur wie in Japan an der Reserviertheit auf deutscher Seite, auch die nur halbherzig vorangebrachten chinesischen Modernisierungsbemühungen sowie die innere Situation des Reiches der Mitte trugen wesentlich dazu bei, die Erwartungen der deutschen Industriellen zu dämpfen. Angesichts der unsicheren Macht- und Finanzverhältnisse in China wollte Alfred Krupp daher wie beim Rüstungsgeschäft auch beim Eisenbahnbau keine größeren Risiken übernehmen. Waren die Hoffnungen auf eine baldige Eröffnung des Bahnbaus Ende der 60er Jahre in Essen noch ungetrübt 62 , so sah die Firmenleitung nach eingehender Beschäftigung mit den Verhältnissen in China schon bald die Schwierigkeiten, die sich gerade in diesem Bereich ergaben. Sie wies zwar in Schreiben an Li Hung-chang immer wieder auf die Vorteile von Eisenbahnen hin, war sich aber von vornherein im klaren darüber, daß größere Geschäfte, wie Eisenbahnbauten, wenn überhaupt, nicht durch Firmen wie Peil oder Instrukteure wie Lehmeyer oder den neuen Artillerieberater in Tientsin, Schnell, abgewickelt werden konnten: Für derartige Aufträge waren Spezialisten und Berater notwendig, keine Geschäftemacher 6 3 . Um die Geschäfte mit Ostasien Ende der 1870er Jahre wieder zu intensivieren, beabsichtigte die Geschäftsführung der Firma Krupp, ein „Geschäftshaus ersten Ranges" 6 4 mit der Vertretung in China zu beauftragen und überdies einen eigenen „Mann mit Geschäftskenntnissen" 6 5 ins Reich der Mitte zu schicken. Diese Frage wurde besonders aktuell, nachdem die Firma Peil 1878 ihren Bankrott erklärt hatte. Bis die neue Agentur, die Firma Schmidt & Co.,

60

A. Krupp an Fried. Krupp, 1 1 . 1 2 . 1878, ebd., FAH II B 341. Von 1876 bis 1887 lieferte Krupp lediglich 159 Kanonen nach Japan. Erst ab 1897 konnten dann wieder Rüstungslieferungen getätigt werden. Verzeichnis . . ., ebd., W A X a 200. Japan kaufte vor allem bei der französischen Waffenfirma Schneider Creuzot. Manchester, S. 166 f. Mennes Behauptung (S. 134 ff.), Krupp habe in den 70er Jahren eine größere Anzahl von W a f fen und auch Fabriken nach Japan geliefert, ließ sich nicht bestätigen.

61

A. Krupp an Prokura, 2 9 . / 3 0 . 1 2 . 1878, HA Krupp, FAH II B 341.

62

Hagemann an Hitzeroth, 7 . 1 1 . 1867, ebd., W A IV 548.

63

A. Krupp an Goose, 1. 8. 1876, ebd., FAH II B 364; Anweisung A. Krupp, 14. 2. 1878, ebd., FAH II B 363d.

64

Hagemann an Firma Krupp, 20. 2. 1878, ebd., FAH II B 363a, b.

65

A. Krupp an Prokura, 12. 9. 1878, ebd.

83

eingearbeitet war, reiste der nachmalige Bevollmächtigte Krupps in Frankreich, Menshausen, mit besonderen Vollmachten Ende 1879 nach China und vertrat die Interessen der Firma in Shanghai 6 6 . Menshausen vermochte es, in China unmittelbar nach seiner Ankunft Bestellungen für 350 0 0 0 Mark zu erzielen. Gleichzeitig gingen auch die ersten Aufträge über den chinesischen Gesandten in Berlin, Li Feng-pao, in Höhe von 130 000 Mark für Küstengeschütze bei Krupp ein 6 7 . Die Firma Krupp hatte schon 1876 erste Kontakte zu Li Feng-pao aufgenommen, dem damaligen Geschäftsträger der chinesischen Gesandtschaft in Deutschland und Beauftragten der chinesischen Regierung für die Militärschüler in Europa, der 1878 zum Gesandten avancierte 6 8 . Die Pläne der chinesischen Militärreformer, ihre Auslandsbestellungen aus organisatorischen und finanziellen Gründen über ihre neuen Gesandtschaften abzuwickeln — in den 1920er Jahren wurde die chinesische Gesandtschaft in Berlin aus den gleichen Überlegungen heraus zu einer wichtigen Vermittler- und Vergabesteile für Rüstungsaufträge an die deutsche Industrie —, kamen auch dem Essener Rüstungsbetrieb sehr entgegen 6 9 . Aber erst Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre nahmen die chinesischen Vorstellungen unter dem Eindruck der sich zuspitzenden Iii-Krise und der wachsenden Aufgeschlossenheit des Hofes in Peking konkretere Formen an 7 0 . Die Bestellungen Li Feng-paos brachten nicht nur die Lieferungen Krupps, sondern erstmals auch den Absatz anderer privater deutscher Rüstungsbetriebe nach China Anfang der 80er Jahre in Schwung: Die Vulcan- und Schic h a u - W e r f t e n konnten z. B. zwei Torpedoboote nach Tientsin, die deutschen Howaldtswerke, Kiel, drei ungepanzerte Kreuzer nach Shanghai und Mauser 6000 Einzellader des technisch überholten Modells 80 an Li Hung-chang liefern 7 1 . Li Feng-pao verstand es bei seinen Verhandlungen geschickt, die Preise zu drücken. Um möglichst viele Bestellungen abschließen zu können, war

66

Cohnheim an C. Meyer, 22. 12. 1879, ebd., W A IV 1330.

67

Goose an C. Meyer, 13. 4. 1880, ebd., W A IV 1440; Firma Krupp an Li Feng-pao, 12. 7. 1884, und Li Feng-pao an Meyer, 21. 3 . 1 8 8 1 , ebd., W A Vllb 135. Yü erwähnt (S. 140 f.), daß die Firma Ludwig Loewe 300 000 Gewehre geliefert und das preußische Kriegsministerium Aufträge über gebrauchte Gewehre und Patronen im W e r t von 100 000 Pfund erhalten habe.

68

Geschäftsträger der Gesandtschaft Peking, Frhr. v. Schenck, an Bülow, 2 2 . 1 0 . 1878, PA, Abt. IA Chi/I.B.15 ( C h i n a ) / l l .

69 70

A. Krupp an Goose, 8. 9. 1874, HA Krupp, FAH II B 363a, b. Notiz Meyer, 9 . 1 0 . 1878, und Menshausen an Firma Krupp, 2 3 . 1 1 . 1878, ebd., FAH II B 363d; A. Krupp an Kuo Sung-tao, chinesischer Gesandter, London, 8 . 1 0 . 1878, ebd., W A II 199.

71

Brandt an AA, 1. 2. 1881, PA, Abt. IA Chi/China 1 / 3 . Vgl. die Tabelle über die chinesischen Kriegsschiffsbestände in dem Schreiben des Staatssekretärs des Reichsmarineamtes an den Staatssekretär des AA, 2. 9. 1891, ebd., China 5 / 4 ; Gesandtschaft Peking an Bismarck, 20. 5. 1884, ebd., China 1 / 6 . Belege der Hauptbuchhaltung, MA.

84

die Geschäftsleitung der Firma Krupp sogar zu einem 5 %igen Preisnachlaß bereit, ein Novum in der Firmengeschichte 72 . Wie die deutsche Exportwirtschaft im allgemeinen, so war auch der Chinahandel im besonderen nicht länger in der Lage, die Absatzstockungen Anfang der 1880er Jahre, die im Reich der Mitte weniger weltwirtschaftliche Ursachen hatten, als vielmehr durch traditionelle marktinterne Restriktionen verursacht wurden, aus eigener Kraft zu überwinden. Die deutsche Rüstungsindustrie konnte ihre Stellung in China erst festigen, als die chinesischen Führungseliten einen neuen Anlauf zur militärischen Modernisierung unternahmen. Doch auch diese Erfolge schienen angesichts der internationalen Konkurrenz bedroht. Der Ruf nach staatlicher Unterstützung blieb daher nicht aus. Bereits Ende der 60er Jahre, in der Planungsphase des Chinageschäfts, hatte die Firma Krupp daran gedacht, die preußische Gesandtschaft als Vermittler von Rüstungsgeschäften einzuschalten 73 . Diese Vorstellungen erwiesen sich jedoch schon bald als undurchführbar. Die politische Führung in Berlin war nicht bereit, zugunsten der deutschen Rüstungsindustrie irgendwelche unmittelbaren Hilfen bei Geschäftsabschlüssen zu gewähren. Ihr Interesse an China war ausschließlich politischer Natur und galt vor allem den Rahmenbedingungen, dem Abschluß von Verträgen und deren Einhaltung im gemeinsamen Vorgehen mit den anderen Vertragsmächten. Militärische Aktivitäten oder sogar eine Unterstützung bei Rüstungsgeschäften mußten die auf Ausgleich bedachte Politik gegenüber den Großmächten gefährden. Zudem entsprach die militärische Aufrüstung Chinas zunächst keineswegs den Interessen des Westens an einem unbegrenzten Absatzmarkt, der von einem erstarkten Reich der Mitte für ausländische Aktivitäten eingeschränkt oder sogar geschlossen werden konnte. Schon 1872 hatte der damalige Gesandte in Tokyo, v. Brandt, auf die militärische Aufrüstung der Chinesen hingewiesen, die durchaus eines Tages die Position des Westens in China gefährden könne: Die Schlagkraft der chinesischen Truppen sei enorm gestiegen, die Erweiterung der Arsenale habe erhebliche Fortschritte gemacht, und die Befestigungen würden immer weiter ausgebaut; europäische und auch deutsche Waffen trügen zu einer militärischen Überlegenheit der Chinesen bei, die durch größere Truppenkontingente des Westens ausgeglichen werden müßte 74 . Die deutsche Gesandtschaft in Peking schloß sich diesen Ausführungen ohne Abstriche an. Sie informierte in der Folgezeit durch zahlreiche detaillierte militärpolitische Berichte die politische Führung in Deutschland über alle militärischen und rüstungswirtschaftlichen Verände-

72

73 74

Die Firma Krupp lieferte von 1880 bis 1883 insgesamt 161 Geschütze nach China. Verzeichnis . . ., HA Krupp, WA X a 200; Cohnheim an C. Meyer, 8. 5. 1880, ebd., WA IV 1440; Goose an Li Feng-pao, 15. 5. 1880, ebd., WA Vllb 1. Hagemann an Hitzeroth, 31.12. 1867, ebd., WA IV 548. Brandt an Stosch, 4. 12. 1872, BA-MA, RM 1/867. 85

rungen in China sowie über ausländische und deutsche Rüstungslieferungen 75 . Die Bemühungen der Firma Krupp, das Auswärtige Amt zu Beginn der Absatzkrise Mitte der 70er Jahre zu einer diplomatischen Unterstützung zu bewegen, blieben daher ohne Erfolg. Selbst die Bitte, das Auswärtige Amt möge sich bei Li Hung-chang dafür einsetzen, eine Kommission zum Kauf von Rüstungsgütern nach Europa zu schicken, wurde abgelehnt. Das preußische Kriegsministerium erhob sogar massive Vorwürfe gegen den Essener Rüstungsbetrieb: Krupp habe, um neue Geschütze an die Armee liefern zu können, 300 alte Kanonen aus Heeresbeständen zum Weiterverkauf ans Ausland übernommen 76 ; diese habe die Firma dann nach China geliefert und so gegen die dortigen deutschen Interessen der chinesischen Aufrüstung Vorschub geleistet 77 . Während der russisch-chinesischen Krise legte sich die deutsche Außenpolitik noch größere Zurückhaltung bei rüstungswirtschaftlichen Projekten zwischen Deutschland und China auf als zuvor. Auf dem Höhepunkt der Iii-Krise, Ende 1880/Anfang 1881, wandte sich das Auswärtige Amt entschieden gegen jegliche Waffenlieferungen, ob privater oder offizieller Natur. Es lehnte auch den Wunsch Li Hung-changs nach deutschen Militärberatern ab: Die internationalen Beziehungen seien wichtiger als Rüstungsgeschäfte. Dabei war sich die Reichsregierung allerdings im klaren, daß direkte Lieferungen zwar formal untersagt, über Afrika und den Orient aber nicht verhindert werden konnten. Die deutsche Gesandtschaft in Peking wies jedoch beruhigend darauf hin, daß mit den bis November 1880 von China in Deutschland gekauften Waffen lediglich eine Lücke geschlossen, keinesfalls aber das chinesische Militärwesen bedeutend gestärkt werden könne 78 . Eine Unterstützung von Seiten der Reichsbehörden und der Diplomatie bei Rüstungsgeschäften blieb auch Anfang der 80er Jahre weiterhin aus. Das Verhältnis zwischen den deutschen Repräsentanten der Wirtschaft und der Politik in China war zweifellos eher gespannt als kooperativ. Als Krupps Be-

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Brandt an Bülow, 10. 6 . 1 8 7 6 , mit Bericht Schnell und Lehmeyer, PA, Abt. IA Chi/I.B.15 (China)/6; Brandt an Bülow, 1 0 . 1 1 . 1877, mit Zusammenstellung der chinesischen Flotte und Rüstung in der Provinz Kwangtung, ebd., I.B.15 (China)/7; Brandt an Bülow, 22. 3. 1878, mit Zusammenstellung der chinesischen Flotte und Rüstung in der Provinz Kwangtung, ebd., I.B.15 (China)/8; AA an Roon, 1 1 . 1 2 . 1 8 6 2 und 2 1 . 1 . 1 8 6 3 , ebd., I.B.4 (China)/2. O. Franke, Großmächte, S. 4 f.; Richthofen, Tagebücher, Bd 2, S. 198.

76

Notiz A. Krupp, 22. 7. 1876, HA Krupp, FAH II B 363d.

" A. Krupp an Prokura, 8. 2. 1876, ebd., FAH II B 341. Vgl. dazu die Angaben von Manchester (S. 136) und Stoecker (Deutschland, S. 90 f.), Krupp habe vor allem alte Waffen nach China geliefert. 78

Brandt an Bismarck, 3. 5. 1880, PA, Abt. IA Chi/China 1 / 2 ; AA an Kriegsministerium, 12. 5. 1880, ebd.; Brandt an AA, 1. 2. 1881, ebd., China 1 / 3 ; Kriegsministerium an Bismarck, 24. 4. 1881, ebd.; Brandt an AA, 20. 3. 1881, ebd.; Brandt an AA, 9. 5. und 24. 5. 1881, ebd., China 1 / 4 .

86

vollmächtiger Menshausen sich bei der deutschen Gesandtschaft über das geschäftsschädigende Einwirken des Generalseezolldirektors beschwerte, antwortete Brandt ohne Zögern, daß Hart richtig gehandelt habe und daß die bestellten englischen Kanonenboote tatsächlich besser seien als die deutschen; die deutsche Industrie in China sei unzuverlässig, langsam und korrupt, nicht umsonst seien 85 % der chinesischen Industriekäufe in englischer Hand; Menshausen selbst habe einer chinesischen Militärkommission 20 000 Dollar Schmiergelder gezahlt 7 9 . Größere Aufmerksamkeit als diese Querelen bei den deutsch-chinesischen Rüstungsgeschäften beanspruchten in Berlin zweifellos die französisch-chinesischen Spannungen, in die Deutschland nach dem Berliner Kongreß auf keinen Fall hineingezogen werden wollte. Bereits Anfang der 80er Jahre ließ Bismarck gegenüber der Regierung in Paris ganz offen durchblicken, daß Deutschland an Tongking desinteressiert sei und sich sogar von einem französischen Vorgehen wirtschaftliche Vorteile verspreche 8 0 . Der Reichskanzler ordnete nach einem wenig erfreulichen Bericht Brandts über die sich zuspitzende Lage in Indochina unmißverständlich an: „Herr v. Brandt ist zu verständigen, daß wir uns jeder diplomatischen Parteinahme in der Sache enthalten 8 1 ." Brandt hatte sich nach Ansicht des Auswärtigen Amtes zu sehr um Li Hung-chang bemüht. Die „Wilhelmstraße" fürchtete vor allem eine Verwicklung wegen der militärischen Vorbereitungen des Generalgouverneurs für seine Aufgaben im Süden. Etwa 2000 Soldaten würden schon mit KruppKanonen und Mauser-Gewehren ausgerüstet sowie von Schnell noch einmal besonders ausgebildet 8 2 . Eindeutig ablehnend war auch die Stellungnahme der deutschen Regierung auf eine Anfrage der chinesischen Gesandtschaft, ob chinesische Offiziere in Deutschland ausgebildet werden könnten. Auf ein Ersuchen der chinesischen Regierung kurz nach dem Ausbruch der Unruhen in Tongking, Deutschland möge doch Truppenbewegungen an der französischen Grenze zur Entlastung der Chinesen in Indochina durchführen, erübrigte sich jede Antwort 8 3 . Der Entschluß des Auswärtigen Amtes, die von Li Feng-pao bei Vulcan in Stettin bestellten sechs Kanonenboote und zwei Panzerkorvetten in der da-

79

Die Randbemerkung Bismarcks zum Bericht Brandts ließ die offizielle Einstellung der politischen Führung deutlich werden: „besser eigene (private) Initiative als Einmischung der deutschen Vertreter, zwar unterstützen, aber nur im Rahmen". Brandt an AA, 13. 10. 1880, ebd., China 1 / 3 .

80

Außenminister

Freycinet

an

Botschafter

Saint

Vallier,

Berlin,

7.7.

1880,

DDF

1 8 7 1 - 1 9 1 4 , l e Serie, Bd 3, No. 197. 81

Hatzfeldt an Brandt, 2 6 . 1 1 . 1882, PA, Abt. IA Chi/China 1 / 6 .

82

Brandt an Bismarck, 7 . 2 . 1883, ebd.; Generalkonsulat Shanghai an Bismarck, 1 8 . 7 .

83

AA an Bismarck, 1 3 . 2 . 1 8 8 4 , ebd., China 1 / 7. Bismarck quittierte den ausführlichen Be-

1883, ebd. richt des AA an ihn darüber vom 26. 5. 1884 mit den W o r t e n : „das wäre Krieg". Ebd., China 1 / 8 .

87

maligen angespannten Situation nicht auszuliefern, bedeutete nur eine konsequente Fortführung der Politik der Nichteinmischung. Bismarck modifizierte diese restriktive Entscheidung der „Wilhelmstraße" jedoch dahingehend, daß die Chinesen jederzeit ihre Schiffe in Deutschland selbst abholen könnten. Der Kanzler wollte die Beziehungen zu Li Hung-chang, der über die deutsche Haltung verärgert war, nicht noch weiter belasten und zukünftige Projekte nicht gefährden. Die Anordnung Bismarcks, so das Auswärtige Amt in einer Sprachregelung an die Gesandtschaft in Peking, dokumentiere die neutrale politische Haltung Deutschlands, keine Rücksicht auf Frankreich zu nehmen, aber auch China keine Unterstützung gegen Frankreich zu gewähren 84 . Obwohl rüstungswirtschaftliche Überlegungen Mitte der 1880er Jahre in der deutschen Chinapolitik an Bedeutung gewannen, war das Deutsche Reich jedoch zu keiner Zeit bereit, dafür seine kontinental-europäisch ausgerichteten sicherheitspolitischen Prinzipien aufzugeben. Auch deutsche militärische Interessen in China, die insbesondere von der Marine wahrgenommen wurden und oft mit denen der Wirtschaft übereinstimmten, ließen sich kaum gegen die von Bismarck bestimmte Außenpolitik verwirklichen. Die Marine vermochte es nicht, eigenständig im Fernen Osten tätig zu werden. Sie entwikkelte sich jedoch seit Ende der 60er Jahre zu einem brauchbaren Instrument deutscher Politik in China 85 . Neben der Küstenverteidigung sollte der Schwerpunkt der maritimen Interessen nach Auffassung der politischen und militärischen Führung in Berlin in Friedenszeiten wieder eindeutiger als Mitte der 60er Jahre auf dem Handelsschutz liegen. Der Bauplan der Norddeutschen Bundesmarine von 1867/68 sah daher ergänzend zu dem Kauf und dem Bau von Panzerschiffen die Ausrüstung von neun großen und einigen kleinen Korvetten sowie die Errichtung von fünf Schiffsstationen im Ausland vor. In den Planungen wurde die politische und wirtschaftliche Wirkung dieser Maßnahmen stärker betont als die militärische. Insbesondere die Hansestädte sollten aus ihrer engen Bindung an England gelöst und stärker an das preußisch-norddeutsche Lager gebunden werden. An den Erwerb oder den Kauf von Kolonien dachte aus außenpolitischen Rücksichtnahmen weiterhin kaum jemand. Alle diesbezüglichen Anträge von privater Seite fanden kein Gehör. Auch die auf Bismarcks Wunsch in die Verfassung des Norddeutschen Bundes aufgenommenen Ausführungen zur Kolonisation sollten nach Ansicht des Kanzlers der Privatindu-

84

Konsulat Tientsin an Bismarck, 2 0 . 5 . 1884, ebd., China 1 / 6 ; AA an Bismarck, 26. 5. 1884, ebd., China 1 / 8 ; AA an Gesandtschaft Peking, 18. 8. 1884, ebd.; Admiralität an AA, 26. 5. 1 8 8 5 ; Aufstellung der deutschen Kriegslieferungen nach China, ebd., China 5 / 1 ; Reichsmarineamt an AA, 2. 9. 1891, ebd., China 5 / 4 . Vgl. dazu die ausführlichere diplomatiegeschichtliche Arbeit Stoeckers, die jedoch zu sehr eine Ablenkungsstrategie Bismarcks in den Vordergrund der deutschen Politik in Ostasien stellt. Stoecker, Deutschland, S. 145 ff.

85

88

Boelcke, Meer, S. 20 ff.

strie lediglich Anreize zu größerer wirtschaftlicher Expansion in Übersee schaffen 8 6 . Bei der 1871 gegründeten Kaiserlichen Admiralität unter dem vormaligen General v. Stosch trat dagegen schon bald ein primär militärisch ausgerichtetes Denken in den Vordergrund. Dieses sah zwar noch den Schutz des Handels als eine Hauptaufgabe an, forderte gleichzeitig aber den Erwerb von ausgebauten Stützpunkten, möglichst mit autarkem Hinterland (Kolonien), als Voraussetzung für einen sinnvollen Einsatz gegen einen potentiellen Gegner — gedacht wurde vor allem an Frankreich — in Übersee 87 . Auf seiten der Marine wurde seit der beginnenden Wirtschaftskrise immer wieder auf eine mögliche erfolgreichere Zusammenarbeit zwischen Wirtschaftskreisen und Militär bei Kolonialprojekten hingewiesen. Auch bei der Durchsetzung der eigenen ehrgeizigen Bauprogramme, die hauptsächlich auf deutschen Werften verwirklicht werden sollten, versprach sich die Marine eine wirksame Unterstützung von Handel und Industrie. Um ihre Aufgeschlossenheit gegenüber wirtschaftlichen Problemen zu demonstrieren, kam es daher oftmals zu kleineren Eigenmächtigkeiten der Marineführung, die auf eigene Faust Erkundungen für Stützpunkte und Kolonien durchführen ließ. Das Verhältnis zur politischen Führung trübte sich deswegen mehrmals. Trotzdem gab es keine härteren Auseinandersetzungen mit dem Auswärtigen Amt. Die Marine achtete auf die strikte Durchführung der politischen Anweisungen an die zu Informationsfahrten eingesetzten Kommandanten der Auslandsschiffe. Sie blieb auch nach eigenem Verständnis in erster Linie ausführendes Organ der politischen Führung des Deutschen Reiches, die in Übersee innerhalb bestimmter politischer Möglichkeiten militärische Präsenz ausüben wollte, um bei der Exportwirtschaft nicht an Ansehen zu verlieren und der neuen Rolle als Großmacht gerecht zu werden 8 8 . Bereits Mitte der 60er Jahre hatte die Hamburger Kaufmannschaft auf die wachsenden Gefahren für die deutsche Schiffahrt und den Handel in chinesischen Gewässern durch Piraten hingewiesen und sich für den Schutz durch Kriegsschiffe und Stützpunkte ausgesprochen. Nachdem die Hansestädte aber nicht bereit waren, selbst aktiv zu werden 89 , meinte schon die preußische Regierung, sich aus Prestigegründen dieser „nationalen Pflicht" nicht entziehen zu können 90 . Das preußische Außenministerium hatte bereits

86

Bismarck an Roon, 9. 1. 1868, BA-MA, RM 1 / 5 7 6 . Borgert, S. 172 ff.; Fecht, S. 350 f.; Petter, Stützpunktpolitik, S. 165 ff.; Verchau, Jachmann, S. 54 ff.

87

Borgert, S. 194 ff., 207 ff.

88

Ganz, Role, S. 15 ff.; Giessler, S. 15 ff.; Petter, Flottenrüstung, S. 109 ff.; ders., Stütz-

69

Aufzeichnung der Hamburger Kaufmannschaft zur Piraterie in chinesischen Gewäs-

punktpolitik, S. 218 ff.; Verchau, Jachmann, S. 58 ff. sern, 11. 4. 1866, HKHH, Akt. C h i / 4 . Senat von Hamburg an Commerzdeputation für Handel und Schiffahrt, 2 5 . 4 . 1866, ebd.; Schreiben des Hanseatischen Ministerresidenten, London, 17. 4. 1866, ebd. 90

Reichskanzleramt an Bundesrat, Denkschrift vom 22. 3. 1881, StAHH, N.R.H II 13a.

89

seit längerer Zeit die Entsendung von Kanonenbooten zum Kampf gegen Piraten in chinesische Küstengewässer erwogen und war in dieser Angelegenheit auch mehrmals von der britischen Regierung angesprochen worden. Die politische Führung wollte aber keinesfalls mit allzu großer militärischer Macht in Ostasien auftreten, um England und die Vereinigten Staaten nicht aufzuschrecken, die Deutschland verdächtigten, die Gründung von Kolonien in China zu planen 9 1 . Marineverwaltung und -oberkommando verfolgten nämlich wieder intensiver in Ostasien Stützpunktprojekte, mit deren Hilfe sie sich endlich von dem extremen Kontinentalismus des preußischen Kriegs- und Marineministeriums befreien wollten. Als jedoch Prinz Adalbert die Korvette „Vineta" zur Erkundung geeigneter Plätze in Ostasien auslaufen ließ, wandte sich die politische Führung gegen die Durchführung dieses Auftrages. Auch nur der Anschein einer territorialen Erwerbung in Übersee sollte unter allen Umständen vermieden werden. Obwohl er persönlich eine Station in Mittelamerika, besonders vor Mexiko, für wichtiger hielt, war Bismarck bereit, einer SchiffsstaXion gegen chinesische Piraten in Ostasien zuzustimmen 92 . Auch das preußische Kriegsministerium wollte aus Gründen der Propaganda für den Norddeutschen Bund und für die Marine einem derartigen Plan nicht widersprechen 93 . Am 23. Januar 1868 erteilte der preußische König daher die Order, zur „Aufrechterhaltung der politischen und Handelsinteressen" zwei Korvetten nach Ostasien zu entsenden 94 . Kleinere Kanonenboote zu überführen, war die Norddeutsche Bundesmarine noch nicht in der Lage 95 . Mit „Hertha" und „Medusa" verfügte der Norddeutsche Bund seit 1869 über eine eigene „Ostasiatische Station". Trotz der zunächst abgelehnten größeren Schiffe zeigten sich die politische Führung in Berlin und die Diplomaten in China recht zufrieden: „Es liegt zwar auf der Hand", so schrieb der Gesandte Rehfues am 12. April 1869 an den Kommandanten der Korvette „Medusa", „daß Schiffe von dem Tiefgange der Medusa ohne Kanonenboote in dieser Beziehung [gegen Seeräuber] nicht von großem Nutzen sein können, es ist aber den Klagen des Handelsstandes gegenüber schon etwas gewonnen, wenn durch Anwesenheit eines Kriegsschiffes der gute Wille unserer Regierung dargethan wird, so viel als möglich zur Linderung des Unwesens beizutragen 96 ."

91

Preußisches Außenministerium an Roon, 16. 2. 1867, BA-MA, RM 1 / 2 3 7 7 .

92

Bismarck an Roon, 9. 1. 1868, ebd., RM 1 / 5 7 6 .

93

Marineministerium an Oberkommando der Marine, 2 5 . 3 . 1868, ebd.; Aufzeichnung Roon, 24. 2. 1867, ebd., RM 1 / 2 3 7 7 ; Marineministerium an Oberkommando der Marine, 18. 1. 1868, ebd., RM 1 / 8 1 9 .

94

Wilhelm I. an Roon, 2 3 . 1 . 1868, ebd., RM 1 / 2 3 7 7 .

95

Oberkommando der Marine an Roon, 15. 3. 1867, ebd. S. o. Kapitel 2, Anm. 108.

96

Rehfues an Bismarck, 1 2 . 4 . 1869, BA-MA, RM 1 / 2 3 7 7 ; Rehfues an Kommandant „Medusa", 12. 4. 1869, ebd. Boelcke, Meer, S. 238.

90

Eindeutig sprach sich Bismarck jedoch nach wie vor gegen den Erwerb von Land in Ostasien aus und lehnte auch Vorschläge des Oberkommandos der Marine ab, die auf die Vorteile eines Depots hinwiesen. Er wollte das Mißtrauen der anderen Vertragsmächte nicht weiter schüren. Selbst das Gebiet, das die japanische Regierung in einem Abkommen mit dem preußischen Geschäftsträger in Yokohama am 27. Dezember 1867 der Regierung in Preußen für Marinezwecke übertragen hatte, wurde größtenteils der „Pacific Mail Steam Company" gegen Kohlelieferungen für deutsche Schiffe überlassen 97 . Trotz der großen Anzahl von Denkschriften, in denen Offiziere und Kaufleute den Erwerb von Land in China forderten und teilweise mit scharfen Formulierungen Preußen einen Mangel an Verständnis vorwarfen, hielt die Regierung in den 70er Jahren weiter an ihrer zurückhaltenden Militärpolitik in Ostasien fest; auch die Gründung des Deutschen Reiches bewirkte keine Änderung dieser Fernostpolitik 98 . Die Marineführung betonte dagegen die Notwendigkeit, aus logistischen Gründen Stützpunkte anzulegen oder ein Depotnetz aufzubauen. Obwohl die Militärs sich darüber im klaren waren, daß auf politischer Ebene kein Interesse daran bestand, zumal die Chinesen und die Japaner auch nicht ohne weiteres zu Gebietsabtretungen bereit sein würden 99 , versuchten sie, einen gewissen Druck auf die Reichsregierung auszuüben. Mit Bedauern verwies die Admiralität offiziell darauf, nichts tun zu können, da sich der Kanzler prinzipiell gegen territoriale Erwerbungen ausgesprochen habe, und gab entsprechende Anweisungen an die Kommandanten, gleichzeitig drohte sie aber ganz unverhohlen damit, Schiffe wegen fehlender versorgungstechnischer Möglichkeiten aus Ostasien abzuziehen 100 . Die politische Führung ließ sich jedoch nicht beeindrucken. Sie erkannte sehr wohl die Notwendigkeit, Flagge zu zeigen, um die politische Position zu behaupten, und sprach sich deshalb gegen jegliche Schwächung der ostasiatischen Station aus 101 . Einen angeblichen Zwang zur Errichtung von Stützpunkten sah sie indes nicht: Alle zur Versorgung notwendigen Güter seien

97

Marineministerium an Oberkommando der Marine, 2 3 . 1 0 . 1868, BA-MA, RM 1 / 8 1 9 .

98

Bismarck an Roon, 9. 6 . 1 8 6 9 , ebd., RM 1 / 8 6 7 ; Denkschrift an das Oberkommando der Marine, 26. 11. 1870, ebd. Fecht, S. 349 f.; Petter, Stützpunktpolitik, S. 165 ff. Zweifelhaft erscheint Borgerts Ansicht (S. 188 ff.), Bismarck sei Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre nur zu einem vorübergehenden Verzicht bereit gewesen; die Möglichkeit, Land zu nehmen, sei aufrechterhalten worden.

" D e n k s c h r i f t Prinz Adalbert, 2 0 . 4 . 1872, BA-MA, RM 1 / 8 6 7 ; Stosch an Reichskanzleramt, 25. 7. 1873, ebd., RM 1 / 5 7 7 ; Stosch an Bismarck, 27. 1. 1875, ebd., RM 1 / 4 1 . 100

Stosch an Reichskanzleramt, 11. 1. 1875, ebd., RM 1 / 5 7 7 ; Stosch an Bismarck, 9. 6. 1873, ebd.; Stosch an Kommandant „Nymphe", 9. 6. 1873, ebd.

101

AA an Admiralität, 1 3 . 1 2 . 1874, 28. 2. und 7. 6. 1875, ebd., RM 1 / 2 3 8 0 .

91

auf dem freien Markt zu kaufen; darüber hinaus könne der Besitz in Yokohama für maritime Interessen genutzt werden 1 0 2 . Auch die Forderungen der deutschen diplomatischen und konsularischen Vertreter in China wies die „Wilhelmstraße" zurück. Möglichst in jedem größeren Hafen Schiffe zum Schutz deutscher Interessen zu stationieren, erschien unangebracht. Berlin durchschaute die Absicht der Konsularbeamten, die zahlreichen Seeräubereien und Übergriffe gegen Fremde als Vorwand für eine Stationierung zu benutzen, um in Wirklichkeit nur leichteres Spiel mit widerspenstigen lokalen chinesischen Behörden zu haben 1 0 3 . Militärische Alleingänge, die sich leicht zu politischen Komplikationen entwickeln konnten, wollte die politische Führung keinesfalls hinnehmen 1 0 4 . Der Versuch der Marine, die chinesisch-japanische Krise auszunutzen und ein Depot auf Amoy zu errichten, scheiterte ebenso an der vorsichtigen deutschen Überseepolitik wie schon die Bemühungen von Kaufleuten und Diplomaten, nach dem Sieg über Frankreich Saigon zu erwerben 105 . Mitte der 70er Jahre widersprach die „Wilhelmstraße" auch entschieden neuen Gerüchten über koloniale Projekte des Deutschen Reiches, diesmal bezüglich einer Abtretung Formosas durch China 106 . Die englisch-chinesische Verstimmung über den Margary-Zwischenfall nahm dann das Auswärtige Amt zum Anlaß, der Admiralität noch einmal unmißverständlich seine politische Konzeption in China darzulegen: Die deutsche Chinapolitik werde geleitet von dem Wunsch nach Kooperation und Solidarität mit den Großmächten und sei letztlich nur über diese zu verwirklichen. Deshalb unterstütze die Reichsregierung auch den Vorschlag Großbritanniens, das Ostasiengeschwader zu verstärken. Bei gemeinsamen Marineoperationen sei sogar eine Unterordnung des Geschwaders unter ein fremdes Kommando unerläßlich. In allen anderen Fällen habe es den Anordnungen des Gesandten Folge zu leisten. Zur Erfüllung der Aufgaben müsse der Bau kleinerer Schiffe zum Einsatz gegen Piraten vorangetrieben werden, um zum einen die Friedensbereitschaft gegenüber China, zum anderen aber auch den Willen zur Zusammenarbeit mit den Mächten zu dokumentieren 107 .

102

Kommandant „Cyclop" an Stosch, 7 . 9 . 1875, ebd., RM 1 / 4 1 ; Kommandant „Ariadne" an Stosch, 2 8 . 2 . 1876, ebd.; Reichskanzleramt an Stosch, 2 9 . 3 . 1876, ebd.; AA an Stosch, 2 6 . 1 . 1877, ebd.; Konsulat Amoy an Stosch, 2 6 . 1 0 . 1876, ebd. Yokohama wurde ab Mitte der 70er Jahre zu einem Marinelazarett ausgebaut. Boelcke, Meer, S. 300 f.

103

Gesandtschaft Peking an AA, 3. 11. 1874, PA, Abt. IA Chi/I.B.15 (China)/1; Brandt an Bülow, 23. 11. 1876, ebd., I.B.15 (China)/7. Brandt an Bismarck, 14. 2. 1872, BA-MA, RM 1 / 2 3 7 9 .

104

AA an Reichsmarineamt, 30. 8. 1884, ebd., RM 1 / 2 3 8 5 ; Brandt an Bismarck, 3. 8. 1884,

105

Yü, S. 160 f.

ebd. Stoecker, Germany, S. 33; ders., Deutschland, S. 130 f. 106

Brandt an Bülow, 26. 9. 1875, PA, Abt. IA Chi/I.B.15 (China)/4. Borgert, S. 201 ff.

107

Bülow an Stosch, 29. 2., 7. 3. und 26. 3. 1876, BA-MA, RM 1 / 2 4 1 5 .

92

Die Admiralität ordnete sich angesichts der labilen und immer bedrohlicher erscheinenden außenpolitischen Situation des Deutschen Reiches in Europa diesen grundsätzlichen Forderungen ab Mitte der 70er Jahre völlig unter. Das Auswärtige Amt erhielt eine umfassende Kontrolle über das Vorgehen der Marine in China und bestimmte sogar, welche Schiffstypen in Ostasien eingesetzt wurden oder welchen Rang der Geschwaderchef mit Rücksicht auf die anderen Mächte bekleiden durfte 108 . Dies beeinträchtigte aber nicht die Präsenz und die Einsatzfähigkeit des Geschwaders. Im Gegenteil: Auf Wunsch des Auswärtigen Amtes wurde es während des russisch-chinesischen Konfliktes sogar wieder verstärkt, um die politische Präsenz Deutschlands in Fernost unter Beweis zu stellen 109 . Das Ostasiengeschwader wurde in den 80er Jahren zu einem Instrument deutscher Außenpolitik in China, ohne daß diese militärische Anwesenheit Deutschlands in Übersee das Verhältnis zu den anderen Mächten gefährdete. Es symbolisierte die formale Gleichheit mit den anderen Großmächten, ohne dabei diese Gleichheit faktisch auf die Probe zu stellen. Anläßlich der französisch-chinesischen Kriegsgefahr war das Auswärtige Amt dann auch nicht bereit, eine längere Abwesenheit der Schiffe aus Fernost zu dulden: Technische Schwierigkeiten und militärische Bedenken seien für einen Rückzug nicht akzeptabel 110 . Die „Wilhelmstraße" wollte sich mit den anderen Mächten über gemeinsame Schutzmaßnahmen für seine Staatsangehörigen verständigen und mußte dazu selbst etwas in den Händen haben 1 1 1 . Tatsächlich kam eine kurzfristige intensive, bündnisähnliche Zusammenarbeit mit den Engländern zustande, die als Bestätigung des außen- und militärpolitischen Kurses in Übersee gewertet wurde 112 . Die kaiserliche Kriegsmarine, die sich durch kolonieähnliche Projekte mehr Bewegungsfreiheit und Einfluß verschaffen wollte, wurde in China von einer Außenpolitik beherrscht, die ihre sicherheitspolitischen Prinzipien konsequent durchzusetzen verstand. Rüstungswirtschaftliche und militärische Ansprüche in China konnten sich bis Mitte der 80er Jahre, wie auch in den 1920er Jahren, nur in einem vorgegebenen politischen Rahmen entfalten, der

108

Im Hinblick auf eine Unterordnung unter den Befehl anderer Streitkräfte bei möglichen gemeinsamen militärpolitischen Aktionen lehnte Bismarck auch weiterhin einen Admiral als Kommandeur des Ostasiengeschwaders ab. Bismarck an Wilhelm I., 15. 3. 1880, ebd., R M 1 / 2 3 8 5 ; Admiralität an Wilhelm I., 7. 4. 1880, ebd.; Bismarck an Stosch, 19. 4. 1880, ebd.

109

Brandt an AA, 10. 5. 1877 und 21. 4. 1878, ebd., R M 1 / 2 3 8 1 . AA an Admiralität, 17. 5. 1881 und 28. 10. 1882, ebd., RM 1 / 2 3 8 2 . Gesandtschaft Peking an Bismarck, 2 0 . 1 1 . 1883, ebd., RM 1 / 2 3 8 5 . AA an Admiralität, 2 5 . 1 1 . 1883, ebd., RM 1 / 2 3 8 2 ; Gesandter Graf Münster, London, an Bismarck, 2 6 . 1 1 . 1883, ebd. Geschäftsträger Gesandtschaft Peking, Tattenbach, an Bismarck, 2 5 . 1 1 . 1883, PA, Abt. IA Chi/China 1 / 7 . Am 1 1 . 1 . 1885 gab es schließlich eine gemeinsame englische, russische, amerikanische und deutsche Erklärung zum Schutz ihrer Staatsangehörigen. AA an Caprivi, 1 1 . 1 . 1885, BA-MA, RM 1 / 2 3 8 3 .

110 111 112

93

von der Rücksichtnahme auf die anderen Großmächte mitgeformt wurde. Wirtschaftliche und politische Veränderungen führten aber im Verlauf der 1880er Jahre sowohl innerhalb Deutschlands als auch bei den Beziehungen des Deutschen Reiches zu den anderen Mächten zu mehr Konfrontation anstatt zu mehr Kooperation, eine Entwicklung, die Anfang der 1930er Jahre ihre Parallele fand. Aus einem traditionellen Machtverständnis heraus war der preußisch-deutsche Staat weder in der Innen- noch in der Außenpolitik bereit, auf eigene Ansprüche zu verzichten. Neue politische Entwicklungen und Konzeptionen sollten sich auch auf die Chinapolitik auswirken.

c) Wirtschaftliche, militärischen

politische und strategische Interessen an und industriellen Modernisierung Chinas

einer

Die koloniale Expansion der Großmächte Ende des 19. Jahrhunderts wurde von national-spezifischen Ursachen bestimmt, die sich bereits in den 70er Jahren ausprägten. W i e die französische Politik durch die Niederlage von 1 8 7 0 / 7 1 zu einem Umdenken veranlaßt wurde und für das zu einer neuen Großmacht vereinte Deutschland außereuropäische Probleme an Bedeutung gewannen, so konzentrierte sich Englands pragmatische Politik immer stärker auf die Erhaltung des Empire. Der Begriff des Empire erhielt durch neue ökonomische und gesellschaftliche Theorien jedoch eine andere Qualität. Das Empire sollte nicht mehr nur als ordnende und zentralisierende Macht die Leistungen der englischen Nation und die Überlegenheit der weißen Rasse verkörpern, sondern auch neuen Aufschwung und Modernität verheißen. Dabei beinhaltete die Empirepolitik durchaus einen offensiven Machtanspruch gegen die als zukünftige Weltreiche gesehenen Großmächte Rußland und Nordamerika 1 . W a r die englische Politik Mitte des Jahrhunderts ausschließlich bemüht gewesen, die Wirtschaft zu unterstützen, ohne dabei selbst in die Abhängigkeit von wirtschaftlichen Entwicklungen zu geraten, so veränderte sich ihre Haltung bis in die 90er Jahre immer stärker zu einer zielbewußten, staatlich gelenkten imperialistischen Politik. Die allmähliche Umkehrung des Prinzips „Flagge folgt Handel" und die Schaffung von territorialen Interessenzonen führten den kolonialen Imperialismus der Großmächte bis zur Jahrhundertwende zu einem Höhepunkt 2 . Zum einen sollten koloniale Märkte als Ausgleich für die aufgrund der „Zweiten Industriellen Revolution" — dem Aufkommen der Chemie- und Elektroindustrie — oftmals verlorengegangene Konkurrenzfähigkeit wiederbelebt und durch Schutz- und Vorzugszölle abgeschottet werden. Zum anderen sollten nicht koloniale Gebiete, die bereits geöffnet waren, jedoch der englischen Wirtschaft bislang keine besonderen

1

Rohe, S. 60 ff.; Schulz, S. 139 ff.

2

W . J. Mommsen, Faktoren, S. 618 ff.; ders., Phänomen, S. 14 ff.; Schulz, S. 137 f.

94

Vorteile gebracht hatten, intensiver erschlossen werden. Gerade in China hatte eine immer stärker werdende Konkurrenz den Engländern ihre wirtschaftliche Führungsrolle streitig zu machen versucht 3 . Politisch war der französisch-chinesische Krieg zum Wendepunkt der bis dahin zumeist solidarischen Politik der Westmächte geworden 4 . Die Stagnation und schließlich sogar der Rückgang des Chinahandels von Anfang bis Mitte der 80er Jahre hatten die englischen Kaufleute zunächst nur beunruhigt. Trotz seines erneuten Anwachsens bis Mitte der 90er Jahre um fast 80 % im Vergleich zu 1886 empfand die britische Chinawirtschaft die Situation dann jedoch als angespannt und gefährlich: Durch die Abwertung der chinesischen Währung um fast die Hälfte gegenüber dem Pfund wurde die — nach chinesischer Statistik — wertmäßige Verdoppelung des Handels von 1872 bis 1893 relativiert 5 . Weitaus beunruhigter waren die englischen Kaufleute aber über die Umstrukturierung des Chinahandels: Seidenprodukte verdrängten den traditionellen Exportartikel Tee von der ersten Stelle, Stoffprodukte Opium als Hauptimportartikel. Die Engländer konnten bis Mitte der 90er Jahre ihre absolute Stellung sowohl im Anleihegeschäft 6 als auch in der Übersee- und Küstenschiffahrt noch festigen 7 , gleichzeitig verringerte sich innerhalb eines Jahrzehnts ihre Beteiligung am Chinahandel aus britischen Besitzungen einschließlich Hongkong von 80 % auf ca. 60 %. Noch erschreckender erschien die Bilanz des Mutterlandes: Bis in die 70er Jahre waren noch ca. 40 % des chinesischen Außenhandels mit England abgewickelt worden, bis Anfang der 90er Jahre fiel dieser Anteil auf unter 20 % zurück. Nach einer Zeit wirtschaftlicher Stagnation und englischen Handelsmonopols in China begann ab Mitte der 80er Jahre mit der Stabilisierung der Wirtschaftsbeziehungen ein internationaler Konkurrenzkampf um den chinesischen Absatzmarkt 8 . Die englische Regierung, die sich bis Anfang der 80er Jahre in China lediglich der russischen Expansion im Norden des Reiches widersetzte, sah in der territorialen Besitzergreifung Frankreichs im Südwesten während der 1880er Jahre und vor allem in der russisch-französischen finanziellen Zusammenarbeit in der Mandschurei ab Anfang der 90er Jahre eine gefährliche Provokation des offenen Marktes. Nur durch massive politische Interventionen hatten die Engländer China schon nach den chinesisch-französischen Auseinan-

3

Baumgart, S. 89 f.; Gallagher/Robinson, S. 187 ff.; W . Mommsen, S. 626 ff. Aufzeichnung AA, 10. 7. 1891, PA, Abt. IA Chi/China 7/1. J. Chen, S. 31 ff. 5 Von 1881 bis 1885 fiel der cninesische Außenhandel von 163,364 Mill, auf 156,206 Mill. Haikwan Taels (HKT) und stieg bis 1893 w i e d e r auf 267,955 Mill. HKT. Tabelle bei Cheng, S. 259. Remer, Investments, S. 68. Zum kontinuierlichen Wertverfall des HKT vgl. die Tabelle bei dems., Trade, S. 250. 6 Remer, Investments, S. 48 f. 7 Tabellen bei Cheng, S. 18 f., und Hou, S. 61, 227. 8 Preußische Gesandtschaft bei d e n Hansestädten an den Vorstand f ü r auswärtige Angelegenheiten, Hamburg, 15. 2. 1888, StAHH, CL VI 14a Vol. 3/2. Sargent, S. 284.

4

95

dersetzungen vor einer Aufteilung bewahren können (Li-Fournier-Konventionen vom 11. Mai 1884 und 9. Juni 1885). Obwohl die englische Regierung im Gegensatz zu den Kaufleuten China nicht für das „El Dorado of the Age"9 hielt, schloß sie sich der Auffassung der Chinalobby an, die dem gewaltsamen Vorgehen der ausländischen Konkurrenz die Schuld an der Instabilität des englischen Chinahandels gab. Ziel der britischen Politik war es daher, dem britischen Kaufmann wieder eine faire Chance zu geben und das Prinzip der „Offenen Tür" gegen jegliche Politik der Interessensphären und gegen eine drohende Aufteilung Chinas aufrechtzuerhalten 1 0 . Schon mit der Burmakonvention von 1886 war der englischen Regierung nach dem französischen Vorgehen in Tongking und dem chinesisch-französischen Grenzvertrag ein erfolgreicher Gegenzug gegen den französischen Expansionismus gelungen. Großbritannien verfügte jetzt von Indien aus ebenfalls über eine direkte Landverbindung nach China, von der es hoffte, daß sie zur weiteren Ö f f n u n g des Zentralreiches beitragen würde. Den nachfolgenden kolonialen Aktivitäten Frankreichs in Indochina — 1887 Erwerb Kambodschas — begegnete die britische Politik mit Verträgen mit Malaya, Siam und Tibet, das ab 1890 in das System des Grenzhandels zwischen Indien und China einbezogen wurde 11 . Auch die französischen Eisenbahnsonderrechte im Südwesten, die China 1885 auf Druck Frankreichs entgegen den Meistbegünstigungsklauseln der „ungleichen Verträge" erstmalig ausschließlich einer Macht gewährt hatte, glich England durch ähnliche Zusagen der Chinesen für den Norden Chinas aus. Im Gegensatz zu den Franzosen gelang es den Engländern tatsächlich, über staatlich geförderte Anleihegeschäfte der Hongkong and Shanghai Bank und der Großfirma Jardine Matheson & Co. bis Mitte der 90er Jahre drei Eisenbahnlinien für die Chinesen zu bauen: eine weniger bedeutende auf Formosa und die Linien Tientsin —Peking sowie Tientsin —Chung-huo-so in der Mandschurei 1 2 . Eine Abschaffung der Likin-Zölle brachte die britische Diplomatie jedoch nicht zuwege, obwohl sie Entgegenkommen bei den Opiumeinfuhren nach China signalisierte. Die chinesische Zentralregierung erklärte sich zwar formal zu Modifizierungen bereit, die aber praktisch nicht verwirklicht werden konnten, da sie gegen die Provinzen nicht durchzusetzen waren 1 3 . Dagegen erreichten die Briten Mitte der 80er Jahre eine weitere Öffnung des oberen Yangtze, in dessen Gebiet sie den Handel zunächst unangefochten kontrol-

9 10

11 12 13

96

Hyam, S. 358 f. Gallagher/Robinson, S. 190 ff.; Platt, S. 72 ff., 115 ff., 141 f., 263 ff., 360 ff. Der französische Kolonialimperialismus w a r im Gegensatz zum englischen rein machtpolitischer Natur. Ziebura, Faktoren, S. 85 ff. S. Hu, S. 73 ff., 96 f.; Joseph, S. 46 ff. Brandt, China, S. 3 ff., 40; M o r s e / M c N a i r (Hrsg.), S. 418 ff., Schmidt, S. 18 f. (Tabelle). Reichsamt des Innern a n Senat von Bremen, Ende 1 8 9 1 / A n f a n g 1892, mit Bericht Gesandter v. Brandt, StAHB, 3/A3.C.3/138.

Herten14. Aber auch in diesem wichtigsten Absatzgebiet Chinas, das die Briten eindeutig als ihre eigene Interessenzone reklamierten, machte sich insbesondere mit dem deutschen Chinahandel eine neuerliche Konkurrenz bemerkbar 15 . Die größte Gefahr für ihren Warenhandel nach China sahen die britischen Kaufleute daher immer stärker in der deutschen Chinawirtschaft, die sie nicht wegen kolonialer Ambitionen, sondern im direkten wirtschaftlichen Vergleich fürchteten. Dieser wurde durch eine — ihrer Ansicht nach — übermäßige Unterstützung der deutschen Diplomatie verfälscht. An der harten Haltung der Deutschen bei den Revisionsverhandlungen während der 1870er Jahre, die zwar nichts Wesentliches bewirkt, aber auf die britischen Händler Eindruck gemacht hatte, sollte sich, so forderte die englische Chinawirtschaft, die Regierung in London endlich ein Beispiel nehmen und nach Art der „blood and iron sentiments of v. Brandt" ihrerseits den Handel wirksamer unterstützen 16 . Obwohl sich die englische Regierung ab Mitte der 80er Jahre dazu gezwungen sah, die wirtschaftliche und politische Führungsrolle Großbritanniens offensiv zu vertreten, war sie doch noch keineswegs bereit, dem Chinahandel direkt zu helfen oder Maßnahmen gegen die ausländische Wirtschaftskonkurrenz zu ergreifen. Die Zusammenarbeit zwischen Foreign Office und britischen Kaufleuten trat zwar mit der Gründung einer eigenen Handelskammer für China 1889 in eine neue Phase, es ergaben sich jedoch nur geringe Auswirkungen auf die alltäglichen Geschäfte, für die sich die britischen Konsuln mit Hinweis auf ihre gesellschaftliche Stellung nicht zuständig erklärten 17 . Ihren treuesten Anhänger bei diesem kompromißlosen Festhalten am Prinzip des freien Marktes in China fand die britische Politik in den Vereinigten Staaten, die sich wie die Briten durch einen freien Wettbewerb nicht nur im Reich der Mitte, sondern in ganz Ostasien die größten Vorteile versprachen. Allerdings hatten es die Vereinigten Staaten bis dahin in China nicht vermocht, eine stringente politische Konzeption zu verfolgen. Die amerikanische Chinapolitik schwankte schon seit den „ungleichen Verträgen" zwischen den Extremen Kooperation und Konfrontation. Der gemäßigten Politik der 60er Jahre schloß sich, vor allem geprägt durch die amerikanischen Gesandten in China, seit den 70er Jahren eine härtere Gangart an, die den Chinesen geringe Verständigungsbereitschaft vorwarf und 1882 sogar zu einem Verbot chinesischer Einwanderung in die USA führte. Auf der einen Seite wollte das State Department zwar die Chinesen als gleichberechtigte Partner akzep-

14

Preußische Gesandtschaft bei den Hansestädten an Senat von Bremen, 9. 6. 1887, 30. 6. 1888, 9. 4. und 8. 5. 1890, StAHH, CL VI 14a Vol. 2 / 2 f Inv. 1. Brandt an Bismarck, 2 6 . 1 . 1890, StAHB, 3 / A 3 . C . 3 / 8 6 .

15

Sargent, S. 285; Verchau, Europa, S. 31 f.

16

Pelcovits, S. 131 ff.; Die Internationalen Beziehungen, S. 45 f.

17

Pelcovits, S. 157 ff.; Steeds, S. 52 f. 97

tieren, auf der anderen Seite erkannte es die politische Notwendigkeit, mit den Europäern, die zunehmend zu einem kompromißlosen Durchgreifen in China bereit waren, zu einer Verständigung zu gelangen. Als Ausweg aus diesem Dilemma bot sich in den 1890er Jahren die von den Engländern propagierte Politik des offenen Marktes an, die neben dem Vorteil des politischen Kompromisses gleichzeitig die Möglichkeit eines wirtschaftlichen Neubeginns im Reich der Mitte mit sich brachte 1 8 . Chinas Anteil am Gesamtaußenhandel mit den Vereinigten Staaten war nämlich seit den 60er Jahren von 3 % auf 2 % gesunken, da sich die wirtschaftlichen Bemühungen der Amerikaner bis in die 90er Jahre stärker auf Japan konzentriert hatten, das zwar nicht die Größe des chinesischen Marktes bieten konnte, dafür aber seine Wirtschaft mit Nachdruck modernisierte 19 . Im Meiji-Reich stand neben der Reform der Verfassung, des Rechtswesens und der Streitkräfte die wirtschaftliche Umgestaltung des Landes an erster Stelle der Modernisierungsbemühungen. Nach der Anfangsphase der 70er und frühen 80er Jahre, die durch die Einfuhr industrieller Produkte — zumeist Maschinen — und die Ausfuhr von Tee und Seide geprägt wurde, ging die japanische Wirtschaft schon bald dazu über, selbst Industrie- und Fertigwaren zu exportieren. Die Rohstoffknappheit zwang die Japaner jedoch, weiterhin den größten Teil aller Rohprodukte zu importieren. Wegen der kürzeren Transportwege verlagerte sich der japanische Außenhandel dabei immer stärker von Europa nach Ostasien und Amerika. Angesichts der explosiven Wirtschaftsentwicklung des Kaiserreiches und im Hinblick auf das Fernziel einer Großmachtposition schien nach dem industriellen Durchbrach Anfang der 90er Jahre eine intensivere Durchdringung des pazifischen Raumes zur Sicherung von Rohstoffquellen lediglich eine Frage der Zeit zu sein 2 0 . Die japanischen Interessen hatten sich bereits seit längerer Zeit vor allem auf den alten chinesischen Tributstaat Korea als vorgeschobenen Brückenkopf territorialer und wirtschaftlicher Expansion auf dem ostasiatischen Kontinent konzentriert. Den Chinesen waren die Bemühungen der Japaner um Korea schon in den 1870er Jahren nicht entgangen. Um nicht wie bei Taiwan in eine Auseinandersetzung mit Japan zu geraten, empfahl die chinesische Zentralregierung den Koreanern, eigene Kontakte mit den westlichen Mächten aufzunehmen, da nur auf diese W e i s e eine japanische Annexion abzuwenden sei. Angesichts des chinesisch-französischen Krieges kam es sogar zu einer chinesisch-japanischen Verständigung, die den Japanern größere Mitbestimmungsrechte in Korea einräumte. Auseinandersetzungen über den weiteren politischen Kurs Koreas führten schließlich zum chinesich-japanischen Krieg von 1894/95, der den Japanern Anlaß gab, ihre expansionisti18

Adams, S. 192 ff.; Anderson, S. 1 ff„ 234 ff„ 163 ff.; M. Mason, S. 133 ff. Brandt an Bismarck, 20. 7. 1882, PA, Abt. IA Chi/China 1 / 5 .

19

M o r s e / M c N a i r (Hrsg.), S. 431 ff.

20

Allen, History, S. 30 ff., 65 ff., 161 ff.; Dettmer, S. 119 ff.

98

s e h e n Pläne durchzusetzen, u n d den C h i n e s e n das S c h e i t e r n ihrer bisherigen M o d e r n i s i e r u n g s b e m ü h u n g e n drastisch verdeutlichte 2 1 . Die c h i n e s i s c h e n R e f o r m v e r s u c h e w a r e n n a c h dem c h i n e s i s c h - f r a n z ö s i s c h e n Krieg ausschließlich von militärstrategischen Erfordernissen b e s t i m m t worden. Der W i d e r s t a n d g e g e n M o d e r n i s i e r u n g s m a ß n a h m e n ließ erheblich n a c h ; selbst die antimodernistische Hofpartei erkannte die Notwendigkeit, sich w e s t l i c h e r T e c h n i k zu b e d i e n e n , nicht zuletzt um ihren e i g e n e n Einfluß g e g e n die M a c h t fortschrittlich gesinnter Bürokratenkreise aufrechtzuerhalten. N e b e n Li Hung-chang hatte die „Selbststärkungsbewegung" mit dem Generalgouverneur von Nanking, Liu K'un-yi, und dem G e n e r a l g o u v e r n e u r von W u h a n , Chang Chih-tung, E n d e der 8 0 e r Jahre n e u e starke Fürsprecher erhalten. Die regionalen Führer h a t t e n i n s b e s o n d e r e von d e m a n w a c h s e n d e n Landhandel profitiert, da die Provinzbehörden w e g e n der Desorganisation des c h i n e s i s c h e n Z o l l w e s e n s alle A b g a b e n für sich b e h i e l t e n , die bei Grenzgeschäften erhoben wurden22. Von e i n e m planmäßigen W i r t s c h a f t s a u f b a u konnte d a h e r k e i n e R e d e sein. Die Stellung des c h i n e s i s c h e n A u ß e n h a n d e l s g e g e n ü b e r d e m W e s t e n verschlechterte sich trotz k o n s t a n t e r Z u w a c h s r a t e n erheblich. S o w u r d e der Importhandel, vor allem im verkehrsmäßig e r s c h l o s s e n e n Y a n g t z e - G e b i e t , nun häufig über w e s t l i c h e Firmen a b g e w i c k e l t , w e l c h e die a l t e i n g e s e s s e n e n chin e s i s c h e n Kaufleute im B i n n e n h a n d e l auszuschalten drohten. Bei d e m ohnehin ausschließlich vom W e s t e n kontrollierten c h i n e s i s c h e n Exporthandel gew a n n die j a p a n i s c h e Konkurrenz an B o d e n , die durch Billigstangebote auf d e m T e e - und Seidemarkt die c h i n e s i s c h e Ausfuhr g e f ä h r d e t e . Nur auf dem industriellen Sektor k o n n t e n A n f a n g der 9 0 e r Jahre aufgrund staatlicher Initiativen einige Erfolge erzielt w e r d e n . Private G e s c h ä f t s l e u t e beteiligten sich h i n g e g e n kaum an industriellen Projekten, obwohl die offizielle Seite bemüht war, n e b e n den „government supervised merchant undertakings" e i n e n e u e Art der Z u s a m m e n a r b e i t zu finden, die s o g e n a n n t e n „joint government and merchant enterprises", bei d e n e n privates Kapital o h n e staatliche Kontrolle angelegt werden sollte 2 3 . Neben d e r Eröffnung v o n B e r g w e r k e n in Kwangtung und Kwangsi, der Modernisierung von älteren M i n e n , dem Ausb a u des T e l e g r a p h e n n e t z e s und dem Aufbau n e u e r Textilfabriken standen vor allem der E i s e n b a h n b a u und die Eisen- und Stahlproduktion im Vordergrund 2 4 . Hatte s c h o n die Iii-Krise die militärstrategische Notwendigkeit, E i s e n b a h n e n zu b a u e n , aufgezeigt, so legte der chinesisch-französische Krieg diese Infra-

21 22 23 24

Zu Korea Kindermann, Ferner Osten, S. 80 ff.; Morse/McNair (Hrsg.), S. 392 ff. Hsü, Rise, S. 346 ff. Beckmann, S. 149 f.; Joseph, S. 48 f. Preußisches Ministerium für Handel und Gewerbe an Handelskammer Dortmund, 10. 6. 1887, W W A , K 1/Nr. 4 6 / 1 . Preußische Gesandtschaft bei den Hansestädten an Senatskommission

für auswärtige Angelegenheiten,

Bremen,

30.9.

1889,

StAHB,

3/A3.C.3/108. 99

strukturschwäche erneut schonungslos offen. Der mit Li Hung-changs Hilfe 1884 gegründeten „Chinese Railway Company" gelang es schließlich, bis Mitte der 90er Jahre 411 km Schienen zu verlegen. Der größte Teil der ausländischen Anleihen — von 1887 bis 1893 1,3 Millionen Pfund 25 — wurde für den Bau verwendet. Die Strecke verlief nach einem Entschluß der Zentralregierung von Peking nach Tientsin und von dort nach Norden in die Mandschurei, um dem russischen Expansionsdrang sichtbar entgegenzutreten, der mit seinen Plänen zum Bau einer transsibirischen Eisenbahn nach Vladivostok über chinesisch-mandschurisches Gebiet die Sicherheitsinteressen der Mandschu-Dynastie unmittelbar berührt hatte. Auch die Regierung in Peking setzte sich nun immer stärker für eine militärische und rüstungswirtschaftliche Modernisierung ein 26 . So konzentrierten sich die Arsenale nunmehr verstärkt auf eine eigene Stahlproduktion. Jedoch konnte weder eine Standardisierung des Rüstungsmaterials noch eine Unabhängigkeit von ausländischem Rohmaterial erreicht werden. Die 1890 von Li Hung-chang gebaute erste chinesische Stahlfabrik in Shanghai, die zum Kiangnan-Arsenal gehörte, produzierte zwar mit der gleichen Qualität wie der Westen, ihre Kosten für das ausländische Führungspersonal machten die Produktion aber immer noch unrentabel 27 . Etwa zwei Drittel der Gesamtausgaben der Zentralregierung für alle chinesischen Arsenale flössen zeitweise in diesen Rüstungsbetrieb, allgemein „the Krupp of China" genannt und im 19. Jahrhundert das größte chinesische Arsenal. Wegen fehlender Spezialmaschinen konnte dieser Betrieb bis zum chinesisch-japanischen Konflikt jedoch nur wenige Geschütze liefern 28 . Auch das von Chang Chih-tung errichtete Hanyang-Arsenal, das sich bis Anfang des 20. Jahrhunderts zum bedeutendsten Rüstungsbetrieb entwickelte, war nicht in der Lage, für die kriegerischen Auseinandersetzungen Mitte der 1890er Jahre Rüstungsmaterial herzustellen und zu liefern. Bereits als Generalgouverneur der Liangkwang-Provinzen hatte Chang Mitte der 80er Jahre die ersten Maschinen aus Großbritannien geordert und unter dem Eindruck des Grenzkrieges gegen Frankreich eine vom Westen unabhängige Produktion angestrebt. Sowohl das Arsenal als auch das dazugehörige Eisen- und Stahlwerk nahmen jedoch erst 1894 ihre Produktion auf, obwohl neben Mitteln des kaiserlichen Hofes auch Gelder chinesischer Kaufleute und auslän-

25

Vgl. Tabelle bei Hou, S. 227.

26

Brandt an Bismarck, 2 4 . 8 . 1884, PA, Abt. IA Chi/China 1 / 9 ; Brandt an Bismarck, 1 7 . 1 2 . 1884, ebd., China 4 / 1 ; Brandt an Caprivi, 25. 6. 1890, ebd.; Brandt an Caprivi, 5. 5. 1892, ebd., China 5 / 4 .

27

Die Personalkosten stiegen wegen des ausländischen technischen Führungspersonals — darunter auch deutsche Ingenieure —, das allerdings nur in den größeren Arsenalen anzutreffen war, auf bis zu 90 % des Gesamtetats eines chinesischen Rüstungsbetriebes. Th. Kennedy, Kiangnan Arsenal, S. 275 ff.

28

Brandt an Caprivi, 7 . 9 . und 1 8 . 9 . 1892, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 4 . Th. Kennedy, Coming of the W a r , S. 660.

100

dische Anleihen zur Verfügung standen. Chinas Aufrüstung blieb daher bis zum chinesisch-japanischen Krieg vollständig von westlichen Lieferungen abhängig 29 . Auch bei der Ausbildung moderner Truppen waren die chinesischen Militärreformer gezwungen, auf westliche Instrukteure zurückzugreifen. Die teure Ausbildung von chinesischen Offizieren im Ausland hatte sich nicht bewährt und sollte nur noch in Ausnahmefällen erfolgen. Neben der Vergrößerung der Flotte und dem Ausbau der Befestigungen — vor allem um Port Arthur und Weihaiwei — planten die Reformer daher hauptsächlich den Aufbau von militärtechnischen oder militärtaktischen Schulen unter der Leitung westlicher Offiziere. Die Zahl westlich ausgebildeter Soldaten stieg bis Mitte der 90er Jahre auf 100 000, von denen etwa drei Fünftel auch mit modernen Waffen ausgerüstet waren. Den größten Anteil davon stellten die unter Li Hung-changs Führung 1888 zur sogenannten Peyang-Armee zusammengefaßten Verbände der Nordprovinzen, die über Zoll- und Likineinkünfte finanziert wurden 30 . Obwohl die chinesischen Machthaber in den 80er Jahren etwa 25 % des gesamten Staatseinkommens für militärische Zwecke ausgaben, ging die Modernisierung der Streitkräfte, von wenigen zentralen Provinzen abgesehen, an den größten Gebieten Chinas vorbei 31 . Bereits der chinesisch-französische Krieg hatte die Schwachstellen des chinesischen Militärsystems bloßgelegt, die vor allem im organisatorischen Bereich lagen: Der militärische Regionalismus und die Rivalitäten der einzelnen Machthaber verhinderten koordinierte Aktionen; es fehlte sowohl im rüstungswirtschaftlichen als auch im militärstrategischen Bereich eine einheitliche Führung 32 . Mit der 1884/85 neu geschaffenen kaiserlichen Admiralität unter dem modernisierungswilligen Prinzen Ch'un waren die Chancen für eine straffere Kommandogewalt und eine höhere Effektivität der Rüstung noch einmal gestiegen. Die Macht des Generalgouverneurs von Chili, der als Vizepräsident dieser Behörde eingesetzt wurde, hatte ihren Höhepunkt erreicht. Er kontrollierte neben seinen eigenen Yangtze-Truppen als Generalkommissar für die nördliche Verteidigung fast alle Truppen im Norden zu Land und zu Wasser. Sein herausragendes Amt innerhalb der kaiserlichen Admiralität verschaffte ihm ein Inspektionsrecht sowohl über die anderen, ihm nicht direkt unter-

29

Chesneaux, Bd 1, S. 264 f.; Th. Kennedy, Chang Chih-tung, S. 157 ff.

30

Powell, S. 36 ff.; Schrecker, S. 5 ff.

31

Szechwan verfügte bei einer Stärke von 35 0 0 0 Soldaten, die nicht nach westlichem Muster

ausgebildet waren,

auch

über 16

Krupp-Kanonen.

Geschäftsträger

Frhr.

v. Sternburg, Peking, an Caprivi, 6. 8. 1893, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 4 . Zu den Streitkräften Yunnans Brandt an Bismarck, 1 2 . 4 . 1890, ebd., China 5 / 3 . Chesneaux, B d l , S. 262 ff. 32

Die Nord- und die Südflotte hatten es z. B. kategorisch abgelehnt, der Fukien-Flotte gegen französische Angriffe zu Hilfe zu kommen. Brandt an Bismarck, 1 4 . 1 2 . 1889, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 3 . Bland, S. 149; Th. Kennedy, Arms, S. 121 ff.

101

stellten Flotten als auch über die meisten Arsenale, die der neuen Zentralbehörde zugeteilt worden waren. Sein Einfluß erstreckte sich selbst bis in die Mandschurei 3 3 . Das Ursprungsland der Mandschu-Dynastie, das neben den nördlichen Provinzen Zentralchinas am meisten von ausländischen Expansionsbestrebungen bedroht schien, war ab Mitte der 80er Jahre zu einem Schwerpunkt der militärischen Modernisierungsversuche geworden. Zusätzlich zu den mandschurischen Bannertruppen wurden ab 1886 eine Amur- und eine Iii-Armee aufgebaut, die beide der kaiserlichen Admiralität unterstellt waren und ihre Waffen aus mandschurischen Arsenalen bezogen, welche diese aus dem Ausland kauften oder nachbauten. Li Hung-chang entwickelte in der kaiserlichen Admiralität jedoch wenig Initiative für diese neuen mandschurischen Armeen, da sie unmittelbar die Macht des Hofes stärkten. Auch die Hofpartei, die den Einfluß des Generalgouverneurs bedrohlich anwachsen sah, hielt nichts von dem Unterstellungsverhältnis der Truppen in der Mandschurei; sie wurden daher schon Anfang der 90er Jahre einer neuen kaiserlichen Militärbehörde, der „Landesverteidigungskommission", unterstellt. 1893 wurde mit dem Tode Prinz Ch'uns die kaiserliche Admiralität ganz aufgelöst. Der Kompetenzwirrwarr im rüstungswirtschaftlichen und militärorganisatorischen Bereich war nun wieder der gleiche wie vor 1884. Selbst eine Unterstellung aller neu aufgestellten Truppen unter ein einheitliches nationales Kommando erschien angesichts der modernisierungsunwilligen Haltung der Mandschus und des eigensüchtigen Widerstandes einiger Gouverneure unmöglich. Schließlich ordnete der kaiserliche Hof, der sich bereits ab 1888 intensiver dem Aufbau eines neuen Sommerpalastes als den militärischen Reformen widmete, Anfang der 1890er Jahre sogar eine drastische Reduzierung der Rüstungsausgaben an 3 4 . Am Vorabend des chinesisch-japanischen Krieges scheiterte die einige Jahre zuvor erwartungsvoll begonnene militärische Modernisierung an internen Schwierigkeiten, insbesondere an der Führungs- und Organisationsunfähigkeit der chinesisch-mandschurischen Oberschicht. Auch die kurzfristig intensivierten Rüstungskäufe im Ausland vor Ausbruch der bewaffneten Auseinandersetzungen konnten am Ausgang des Konfliktes nichts mehr ändern. Alle westlichen Beobachter schätzten die chinesische Verteidigungsfähigkeit mehr als skeptisch ein. Obwohl z. B. bis 1894 die vier chinesischen Flotten — die Regionalflotten in Canton und Foochow sowie die Süd- und die Nordflotte in Woosung und Tientsin — auf 67 relativ moderne Einheiten angewachsen

33

Brandt an Caprivi, 8. 8. 1891, zur Besichtigung der chinesischen Flotte auf der Reede bei Taku, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 4 ; Brandt an Caprivi, 27. 9. 1891, ebd. Hsü, Rise, S. 364 ff.; Spector, S. 180 ff.

34

Brandt an Bismarck, 19. 4. 1887, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 2 ; Brandt an Bismarck, 2. 5. 1890, ebd., China 5 / 3 ; Brandt an Caprivi, 13. 3. und 4. 8. 1891, ebd., China 5 / 4 ; Konsulat Tientsin an Caprivi, 16. 4. 1893, ebd. Spector, S. 190 ff.

102

waren, standen insgesamt nur 18 Schiffe einsatzbereit zur Verfügung, davon sechs aus Deutschland 35 . Rüstungslieferungen waren auch von Mitte der 1880er bis Mitte der 1890er Jahre ein wesentlicher Bestandteil deutsch-chinesischer Wirtschaftsbeziehungen geblieben. Die Einstellung der Reichsregierung zu Rüstungsgeschäften mit dem Reich der Mitte hatte sich indes grundlegend geändert, da die kolonial-expansionistischen Auseinandersetzungen der anderen Großmächte um China eine Modifizierung der vordem an den Tag gelegten Zurückhaltung erzwangen. Obwohl der Bewegungsspielraum der deutschen Chinapolitik weiterhin sehr gering blieb, versuchte die politische Führung des Deutschen Reiches dennoch, den Anschluß in China nicht zu verpassen, ohne dabei jedoch mit den anderen Mächten in Konflikt zu geraten. Weniger die innerchinesische Entwicklung oder gar eine eigene Chinakonzeption beeinflußten dabei das Vorgehen Berlins als vielmehr innen-, wirtschafts- und machtpolitische Erwägungen. Die zweite Depression von 1882 bis 1886 hatte in Deutschland zu einer Wiederannäherung von liberalen Handelskreisen und schutzzöllnerisch gesinnten Industriellen geführt. Beide Gruppen forderten immer lauter von der Reichsregierung eine staatliche Kolonialpolitik als Ausweg aus der Krise. Nicht nur die Schwerindustrie mußte erkennen, daß ihre Schutzzollkonzeption — Garantie billiger Ausfuhren durch hohe Inlandspreise — wegen des weltweiten Rückgangs der Stahlnachfrage als Folge des verlangsamten Eisenbahnbaus nicht länger tragfähig war. Sondern auch für die gesamte deutsche Industrie verstärkte sich durch das Anwachsen der neuen Industriezweige Motor, Elektro, Chemie, die ebenfalls der Auslandsmärkte dringend bedurften, die Notwendigkeit zu exportieren. In Anbetracht der steigenden Produktionsraten waren Industriekreise davon überzeugt, mehr als zuvor auf Exporte angewiesen zu sein. Aber allein die Industrielieferungen nach Rußland, die 1875 noch 2 4 % der deutschen Exporte betragen hatten, schrumpften auf 5 % im Jahre 1884. Die Exportmisere — Rußland war einst Hauptabsatzgebiet — erleichterte einerseits das Bündnis von Agrariern und Industriellen, erhöhte andererseits aber den Ausfuhrzwang auf überseeische Märkte, die zum wirtschaftlichen Überleben unentbehrlich zu sein schienen. Dennoch zeigten Industrielle, Bankiers und Reeder zunächst kein großes Interesse daran, im überseeischen Ausland mit viel Risiko zu investieren, um dadurch den Absatz zu beleben. Das Großkapital hielt sich zurück und wartete auf Maßnahmen des Staates 36 . Der Handel hatte sich bislang zwar für Exportförderungsmaßnahmen staatlicher und privater Natur, längerfristige Planungen und Verträge, mehr Koordination und eine effektivere Organisation der Auslandsgeschäfte ausgespro35

Geschäftsträger Frhr. v. Sternburg, Peking, an Caprivi, 6. 8. 1893, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 4 ; Gesandter Frhr. v. Schenck an Caprivi, 16. 7. 1894, ebd., China 5 / 5 . Bland, S. 31, 2 2 6 ff., 235 ff.; Spector, S. 220 ff.

36

Böhme, Politik, S. 38 ff.; Wehler, Bismarck, S. 115 ff.

103

chen, den Protektionismus der Agrarier und der Schwerindustriellen aber strikt abgelehnt. Die Krisensymptome der 80er Jahre nährten jedoch in liberalen Kreisen, die das britische Kolonialreich als erfolgreiches Beispiel vor Augen hatten, immer stärker die Überzeugung, daß die von den Schutzzöllnern als notwendig erachteten kolonialen Ergänzungsräume durchaus mit eigenen Vorstellungen vereinbar seien. Insbesondere begrüßten die Handelskreise die Forderung nach einer schlagkräftigen Flotte zur Absicherung eigener Handelsräume. Die Befürworter einer Flotte in den Hansestädten forderten schon seit geraumer Zeit zusätzlich zu staatlichen Subventionen und Interventionen zugunsten der Wirtschaft Schutzgarantien der Reichsregierung, welche die Ausfuhr sichern sollten 37 . Die Bismarcksche Politik beschäftigte sich jedoch erst Mitte der 80er Jahre ernsthaft mit kolonialen Projekten. In der Tradition des preußisch-deutschen Obrigkeitsstaates war sie als Hüter der Volkswirtschaft davon überzeugt, der Wirtschaftskrise nicht länger tatenlos gegenüberstehen zu dürfen. Unter dem Druck der dynamischen und expansiven Wirtschaftskräfte in Deutschland schienen Kolonien das probateste Mittel, den Außenhandel wieder zu festigen und auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise Hilfe und Entlastung zu bringen. Der Erwerb von territorialem Besitz in Afrika (1884/85) war daher zunächst nur ein weiterer Schritt einer staatlich gelenkten antizyklischen Konjunkturpolitik, nachdem Protektionismus und Exportförderung versagt hatten. Überdies hoffte der Reichskanzler, mit Hilfe dieses pragmatischen Wirtschaftsexpansionismus im Innern sowohl eine Zusammenarbeit mit den Liberalen und damit eine Erweiterung der Sammlungsbewegung, als auch ein e Ablenkung von sozialen Spannungen und eine erneute nationale Integration zu erreichen, d. h., hier bot sich eine neue Möglichkeit der Herrschaftslegitimierung und -Stabilisierung 38 . Trotz der kolonialen Ambitionen blieb die deutsche Außenpolitik in der Ära Bismarck defensiv; sie trug mit ihrem „Gegeneinanderausspielen" der jeweiligen politischen Strategien jedoch zu der allgemeinen Entfremdung der Großmächte bei. Schon in der Übergangszeit von Bismarck zu Caprivi verkrampfte sich das Verhältnis zu den Seemächten Großbritannien und USA vor allem auf der wirtschaftlichen Ebene. Die Beziehungen zu den Landmächten Frankreich und Rußland blieben zudem auch im militärstrategischen Bereich äußerst anfällig und labil. Dennoch zweifelte die militärische Führung zu keinem Zeitpunkt daran, die Sicherheit des Deutschen Reiches garantieren zu können 3 9 . 37 38

39

Geiss, S. 44 ff.; Rosenberg, Bismarckzeit, S. 52 ff.; Ullmann, S. 160 ff. Auch das durch Auswanderungen — von 1871 bis 1890 etwa 3,3 Mill. Deutsche, die zu 90 % in die USA gingen — verlorengehende Arbeitspotential meinte die politische Führung in den Kolonien gut einsetzen zu können. Botschafter Saint Vallier, Berlin, an Außenminister Duclerc, 20.11. 1882, DDF 1 8 7 1 - 1 9 1 4 , l e Série, Bd3, No. 61. Geiss, S. 12 ff.; Wehler, Bismarck, S. 46 ff. Rosenberg, Bismarckzeit, S. 258 ff.; Valentin, S. 46 ff., 76 f.

104

An Selbstbewußtsein hatte es der siegreichen Linienarmee, die ihren politischen und sozialen Sonderstatus in der Verfassung des Deutschen Reiches bestätigt fand und eine breite gesellschaftliche Basis von den konservativen Aristokraten bis zum Kleinbürgertum hinter sich wußte, bereits in den 70er Jahren nicht gefehlt. Obwohl sich das Militär nicht als eigene Machtorganisation, sondern als Instrument des Monarchen in der Innen- und Außenpolitik sowie als Garant der sozialen Ordnung fühlte, entwickelte es durchaus eigene Vorstellungen zur Absicherung des monarchisch-halbabsolutistischen Systems: Das militärische Element sollte in der Politik stärker in den Vordergrund treten und Deutschland als Militärstaat ausgebaut werden 40 . Die Marine, die mit Caprivi als Nachfolger von Stosch wiederum einen General an ihrer Spitze hinnehmen mußte (1883—1888), verlor allerdings zunehmend an Einfluß. Sie mußte sich aufgrund des Ausbaus der Landmacht ab Mitte der 80er Jahre von ehrgeizigen Überseeplänen trennen und zum ungeliebten, nicht gerade dem Prestige förderlichen Küstenschutz zurückkehren. Außerdem hatte die Marineführung auch Bismarcks sicherheitspolitische Überlegungen zu akzeptieren, die vom Gleichgewicht auf den Meeren ausgingen -und dem Deutschen Reich nur den Status einer Seemacht zweiten Ranges zuwiesen 41 . Obwohl der Primat der Politik gegenüber dem Militär unter Bismarck gewahrt bleiben konnte, gewann das militärstrategische, vom Zweifrontenkrieg ausgehende Denken jedoch immer größeren Einfluß auf politische Überlegungen. Hatten Divergenzen der politischen und militärischen Führung über Präventivkriege, Truppenstärken und potentielle Gegner zunächst noch kaschiert werden können, so traten sie während der „Doppelkrise" der Jahre 1886/87, der Spannungen zu Rußland und Frankreich, offen zutage. Schon seit Mitte der 70er Jahre bezog der Generalstab, der den deutsch-französischen Gegensatz als feste Größe ansah, auch die Möglichkeit eines Bruches mit Rußland in sein strategisches Kalkül ein. Die Wirtschaftskonkurrenz zwischen dem Deutschen Reich und dem Zarenreich sowie die Balkanorientierung Rußlands führten zu der Annahme unausweichlicher militärischer Auseinandersetzungen an zwei Fronten. Ab Mitte der 80er Jahre verstärkte sich, sehr zum Mißfallen der auf Ausgleich bedachten Diplomatie, in militärischen Kreisen die Ansicht, möglicherweise eine Flucht nach vorn antreten zu müssen 42 . Die Kolonialpolitik trug der Generalstab nur aus Prestigeerwägungen für das Deutsche Reich mit. Eindeutiger als bei der politischen Führung galt eine überseeische Kolonialherrschaft nur als Zwischenspiel kontinentaleuropäischer Expansionspläne. Die militärische Führung hielt auch Ende der 80er Jahre trotz des Rückversicherungsvertrages an ihren offensiven Plänen im

40 41 42

Fenske (Hrsg.), Reich, S. 6 ff., 16 ff.; Messerschmidt, Armee, S. 107 ff. Ganz, Role, S. 83 ff.; Messerschmidt, Geschichte, S. 228 ff.; Verchau, Europa, S. 86 ff. Fenske (Hrsg.), Reich, S. 26 ff.; Wehler, Krisenherde, S. 149 ff.

105

Osten fest: Ein kontinentaleuropäischer Großwirtschaftsraum, getragen durch ein Bündnis Deutschlands mit Österreich-Ungarn und der Türkei, sollte die Position des Deutschen Reiches gegenüber den anderen Großmächten sichern und festigen 43 . Unter dem Eindruck der „Doppelkrise" gelang es der militärischen Führung sogar, eine Erhöhung der Heeresstärke auf 470 000 Mann im Reichstag durchzusetzen. Dagegen scheiterten ihre Annäherungsversuche an die Industrie, das Verhältnis zwischen Militär und Wirtschaft blieb ambivalent. Das preußische Kriegsministerium hielt an seiner traditionellen Reserviertheit gegenüber der privat-kapitalistischen Rüstungswirtschaft fest. So hatte es noch in den 80er Jahren versucht, die Monopolstellung Krupps beim Geschützbau (Nickelstahl-Kanonen) durch eigene Entwicklungen zu unterlaufen. Auch Anfang der 90er Jahre erfolgten trotz der intensiven Aufrüstung nur geringe Bestellungen an modernsten Waffen 4 4 . Die private Rüstungsindustrie war daher weiterhin auf Auslandsgeschäfte angewiesen 45 . Auch wenn die Militärs noch keinen größeren Einfluß auf den Wirtschaftsbereich erlangten, so rückten sie doch bis Ende der 80er Jahre immer stärker von der Bismarckschen Verständigungspolitik ab. Konservative und militärische Kreise bekundeten offen ihr Mißfallen an der Innen- und Außenpolitik. Bereits 1890 zerbrach daher das von Bismarck 1887 zusammengefügte Reichstagskartell aus Konservativen und Nationalliberalen. Der Sturz des Kanzlers wurde vor allem zum Sieg alternativer militärischer Konzeptionen in der Sicherheitspolitik. Militärische Stärke anstatt politischer Ausgleich bestimmte fortan die Außenbeziehungen des Deutschen Reiches, was sich in der Zeit von Mitte bis Ende der 90er Jahre erstmals am augenfälligsten in Ostasien zeigen sollte 46 . Die deutsche Chinapolitik der 80er und der frühen 90er Jahre stand jedoch noch ganz im Zeichen der zurückhaltenden Bismarckschen Überseepolitik. Die deutsche Wirtschaft in China blieb von der großen Politik zunächst so gut wie unbeeinflußt. Der deutsche Chinahandel hatte die wirtschaftliche Krise bis Mitte der 80er Jahre auch ohne größere staatliche Hilfe gut überstanden, zumal sich seine Geschäftsbeziehungen zu ausländischen Industrieunternehmungen intensivierten. Bis Ende der 80er Jahre konnten die wirtschaftlichen Kontakte sogar gut ausgebaut werden, insbesondere auf dem Gebiet der Chemie- und Metallwaren. Auch die Einfuhren aus China — Häute, Galläpfel, Federn, Eiprodukte — stiegen beträchtlich 47 . Dennoch hielt

43

Böhme, Politik, S. 38 ff.; Hillgruber, Großmacht. S. 22 ff.

44

Vgl. die Tabelle in: Verzeichnis . .., HA Krupp, W A X a 200. Vgl. Anhang, Tabelle 6.

45

Messerschmidt, Geschichte, S. 376 f.

46

Hillgruber, Bismarcks Außenpolitik, S. 193 ff.; Stürmer, Konservatismus, S. 153 ff.;

Von 1890 bis 1892 wurden nur ca. 120 Kanonen geliefert.

Ziekursch, Bd 2, S. 398 ff. 47

Die sonstige deutsche Ausfuhr nach China bestand hauptsächlich aus Woll- und Baumwollwaren, Bier, Spirituosen, Kurzwaren und aus Stahl, Eisen und Maschinen.

106

die deutsche Wirtschaft in China ihre Stellung langfristig für bedroht. Zum einen sahen die Kaufleute die Geschäfte durch schlechte Verkehrsverbindungen zwischen Deutschland und China gefährdet; zum anderen fürchteten die Chinafirmen, von der ausländischen Konkurrenz aus den größeren Industriegeschäften, wie Eisenbahn- und Straßenbau, herausgedrängt zu werden, die sich nach dem französisch-chinesischen Krieg anbahnten. Nach Ansicht der Kaufleute hatte die Reichsregierung bereits Anfang der 80er Jahre während der Exportkrise den Stellenwert des Chinahandels unterschätzt und es versäumt, eine rentable Schiffahrtslinie nach Fernost einzurichten. Zum Schaden der deutschen Wirtschaft würden nun die Chinafirmen auf englische Zwischenhändler angewiesen bleiben, obwohl gerade die deutsch-englische Konkurrenz auf dem chinesischen Markt immer stärker werde. Zudem bestehe die Gefahr, daß die militärpolitischen Aktionen der anderen Großmächte und die daraus resultierenden Vorrechte in China die sehnlichst erwarteten größeren Bestellungen unmöglich machten 4 8 . Die deutschen diplomatischen Vertreter in China, voran der Gesandte v. Brandt, wiesen die Reichsregierung immer wieder eindringlich auf die Bedeutung des chinesischen Marktes hin, gaben aber vor allem dem Chinahandel selbst die Schuld, daß deutsche Industrieerzeugnisse bislang nur in einem relativ geringen Maße nach China abgesetzt würden. Die Kaufleute würden sich viel zu sehr mit ausländischen Waren beschäftigen, statt die Erzeugnisse der deutschen Industrie genügend bekannt zu machen, und zu wenig auf die Wünsche der chinesischen Verbraucher eingehen. Tatsächlich konnte die Wirtschaft Deutschlands in den 1880er Jahren durchschnittlich nur 3 % bis 5 % zu den chinesischen Gesamteinfuhren beitragen 49 , während der deutsche Handel in China mit seinen rund 70 Firmen 50 jährlich etwa für 40 Millionen Mark — ungefähr 7 % des gesamten chinesischen Imports — Waren ins Reich der Mitte lieferte. Nach Ansicht der deutschen Konsuln sollten die Chinakaufleute durch ein umfangreiches Ausfuhrmusterlager in Bei Farben besaß Deutschland in China quasi ein Monopol. Die Einfuhren setzten sich außer aus den genannten W a r e n noch aus Matten, Seide, Tee und Gewürzen zusammen. Insgesamt stieg die Einfuhr aus China nach Deutschland von 1,3 Mill. Mark im Jahre 1880 auf 7,8 Mill. Mark im Jahre 1890 (das waren 0,2 % der Gesamteinfuhr Deutschlands). Der W e r t der Ausfuhr nach China stieg im selben Zeitraum von 7,0 Mill. auf 29,9 Mill. Mark (0,9 % der Gesamtausfuhr). Diese Zahlen aus dem Statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich, Bde 1 8 8 0 ff., dürften unter den tatsächlichen Werten liegen, da der Zwischenhandel über außerdeutsche Verschiffungshäfen oftmals nicht berücksichtigt w e r d e n konnte. Vgl. auch Handelsbericht Konsulat Tientsin, 25. 8. 1884, PA, Abt. IA C h i / C h i n a 1 / 9 . Glade, S. 97 f. 48

Der deutsche Anteil an der Übersee- und Küstenfahrt stieg von Ende der 70er bis Ende der 80er Jahre von 5 % auf 8 %, aber nur, weil er von dem Niedergang des amerikanischen Anteils von 7 % auf 0 , 3 % profitieren konnte. Brandt, China, S. 139 (Tabelle); Hou, S. 61 (Tabelle). S. auch Anhang, Tabelle 5.

49

S. Anhang, Tabelle 3.

50

Ch. Chen, S. 321.

107

Shanghai auf die Leistungsfähigkeit der deutschen Industrie hinweisen. Die Industrie müsse sich auf billigere Waren konzentrieren und nicht den Japanern und Engländern den Markt überlassen 51 . Auch das Reichskanzleramt, das sich finanziell ganz auf die afrikanischen Kolonialprojekte konzentrierte, verwies Mitte der 80er Jahre auf die erheblichen Anstrengungen, welche die deutsche Chinawirtschaft grundsätzlich selbst zu erbringen habe, um konkurrenzfähig zu bleiben 52 . Die allgemeinen Erwartungen konzentrierten sich jedoch immer stärker auf eine wirksame staatliche Außenhandelsförderung nach China, zumal Privatinitiativen einer Banken- und Industriegruppe, bestehend u. a. aus der Firma Krupp sowie der Deutschen Bank und der Discontobank, scheiterten 53 . Engländer und Chinesen lehnten eine deutsche Beteiligung an der englischen Kriegsanleihe an China von 1885 ab. Auch der Versuch, mit Hilfe einer Studienkommission Geschäfte abzuschließen, blieb erfolglos. Nachdem sich ein wirtschaftlicher Mißerfolg der afrikanischen Kolonialprojekte abgezeichnet hatte, bot sich für die Wirtschaft China als der geeignete Absatzmarkt der Zukunft an, wie es ja auch die französischen und englischen Erfolge im Eisenbahngeschäft zu bestätigen schienen. In einem an das Auswärtige Amt gerichteten Schreiben zeigte ein Bankenkonsortium Anfang des Jahres 1888 für den Bestand der deutschen Chinawirtschaft die Alternative auf: „die Errichtung eines kleinen, an dem gegenwärtigen Handelsverkehr sich anlehnenden, zum Verfolgen weiterer Ziele ungeeigneten Instituts" oder „einer wirklich einflußreichen Bank im Interesse der deutschen Industrie", mit der sich auch Geschäfte mit der chinesischen Regierung verwirklichen ließen 54 . Die Reichsregierung konnte sich angesichts des englischen Widerstandes gegenüber weiteren deutschen Kolonialprojekten in Afrika nicht länger den Argumenten der Finanz- und Industriekreise verschließen, um einen Exportaufschwung nicht zu gefährden. Mit finanziellen Hilfestellungen des Staates in China sollte das Scheitern kolonialer Projekte in Afrika kompensiert werden. Das Reich der Mitte schien mit seinen anlaufenden Modernisierungsbemühungen gute Voraussetzungen für industrielle Großprojekte zu bieten. Das Deutsche Reich beteiligte sich daher 1889 über die „Preußische Seehand-

51

Auszug aus dem Protokoll der Deputation für Handel und Schiffahrt vom 9.1. 1883 zu einem Bericht des Generalkonsulats Shanghai, StAHH, CL VI 14a Vol. 1/Fase. 1/14; Abschrift Bericht Konsulat Tientsien an AA, 9.5. 1883, ebd., CL VI 14a Vol. 2/10d Inv. 1; Reichskanzleramt an Senat von Bremen, 3.12. 1889, StAHB, 3/A3.C.3/119. Mohr, Wirtschaftsbeteiligung, S. 226. 52 Reichskanzleramt an Länderregierungen, 21.9. 1888, StAHH, CL VI 14a Vol. 2 / l g Inv. 1. 53 Müller-Jabusch, S. 6 ff.; Stolper/Häuser/Borchardt, S. 34 ff.; Strasser, S. 12 ff., 27 ff. 54 Preußische Gesandtschaft bei den Hansestädten an Vorstand für auswärtige Angelegenheiten, Hamburg, 18.4. 1888, StAHH, CL I Lit T Nr. 9c Vol. 2/Fasc.'12b; Bankenkonsortium (u. a. Deutsche Bank, Discontobank, Bankhaus Bleichröder und Warschauer) an AA, 16. 2. 1888, ebd.

108

lung" an der Gründung einer Deutsch-Asiatischen Bank (DAB). Es behielt sich sogar den Vorsitz des Aufsichtsrates vor, um einen möglichst großen Einfluß auf die Vergabe von Projekten auszuüben. Ein finanzielles Risiko meinte die Regierung dabei nicht einzugehen, denn trotz der passiven Handelsbilanz hatte sich Deutschland aufgrund der Einnahmen aus den Staatsbetrieben und der Anlage privater Vermögen in Staatspapieren zu einem beachtlichen Kapitalausfuhrland entwickelt 55 . Mit einer starken Finanztätigkeit der neuen Bank in Ostasien, durch die erstmalig eine engere Zusammenarbeit zwischen Großbanken und dem Deutschen Reich institutionalisiert wurde, erhoffte sich die Reichsregierung, einen von England unabhängigen Geldmarkt zwischen Deutschland und China aufzubauen, der „unseren industriellen Interessen als Vermittler dienen" könnte 56 . Schon auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise Mitte der 1880er Jahre hatte die deutsche Regierung erste Schritte in Richtung einer direkten Unterstützung des Chinahandels unternommen. Nachdem die Subventionierung einer Schiffahrtslinie nach Fernost Anfang der 80er Jahre noch kategorisch abgelehnt worden war, schloß die Reichsregierung mit dem Norddeutschen Lloyd am 4. Juli 1885 einen Vertrag über eine Reichspostdampferlinie nach Ostasien. Auf diese Weise hoffte sie, der ausländischen Konkurrenz besser entgegentreten zu können, die immer mehr subventionierte Linien in Dienst stellte. Die politische Führung hielt die Übernahme von einem Drittel der Kosten durch das Reich für gerechtfertigt, da es Deutschland bislang nicht gelungen sei, sich auf dem chinesischen Absatzmarkt einen gebührenden Anteil zu verschaffen, und „keine fremdländische Vertretung für die deutsche Industrie" im Ausland erwünscht war 5 7 . Der Norddeutsche Lloyd konnte aber die in ihn gesetzten Erwartungen bei weitem nicht erfüllen. Es gelang ihm nur, die private deutsche Kingsin-Linie aus dem Chinageschäft zu verdrängen. Vor allem der neuen skandinavischen Konkurrenz, die schließlich etwa 70 % der Verluste des deutschen Anteils an der Gesamttonnage auffing 58 , hatte er nichts entgegenzusetzen. Er erwirt55

Die Deutsch-Asiatische Bank wurde von der Industrie äußerst willkommen geheißen. Direktion der Firma Krupp an Friedrich Alfred Krupp, 11. 2. 1889, HA Krupp, FAH III B 100. Zu den Anfangsjahren der DAB Strasser, S. 112 ff. Müller-Jabusch, S. 20 ff., Rosendorff, S. 120; Stolper/Häuser/Borchardt, S. 40 ff.

56

Bismarck an Staatssekretär Boetticher, Reichsamt des Innern, 18. 5. 1888, zitiert in: Müller-Jabusch, S. 323 f. Preußische Gesandtschaft bei den Hansestädten an Senat von Hamburg, 12. 3. 1890, StAHH, CL VI 14a Vol. 2 / 2 f Inv. 1. Reichsamt des Innern an Senat von Bremen, 16. 4. 1890, StAHB, 3 / A 3 . C . 3 / 1 1 9 .

57

England unterhielt insgesamt 38 subventionierte Postdampferlinien (davon 5 nach Ostasien), Frankreich 21 (6), Österreich 7 (1), Italien 6 (4). Die neue deutsche Postdampferlinie wurde von der Industrie lebhaft begrüßt. Schreiben des Vereins zur Wahrung wirtschaftlicher Interessen in Rheinland und Westfalen an Handelskammer Bremen, 25. 5. 1886, HKHB, H I 4 5 d / l . Flügel, S. 72 f., 252 f.; Stoecker, Deutschland, S. 175 ff.

58

Der deutsche Anteil an der Gesamttonnage sank von 1887 bis 1892 von 9 % auf 6,4 %. Tabelle bei Hou, S. 61.

109

schaftete bis 1893 lediglich ein Defizit von etwa 2,2 Millionen Mark. Das Fehlen von Zubringerdiensten in den Küstengewässern wirkte sich nachteilig aus, wo vor allem die Chinesen der deutschen Schiffahrt zu schaffen machten, indem sie die Fahrt nach Japan, dem größten ostasiatischen Umschlagplatz für Kohle, zu monopolisieren suchten. Auch der deutsche Küstendienst geriet immer weiter in Bedrängnis und verlor seinen Anteil an der Gesamtfracht bis auf 15 % 59 . Trotz aller staatlichen Unterstützungsmaßnahmen und obwohl der deutsche Anteil am chinesischen Außenhandel von ca. 3,5 % Mitte der 80er Jahre auf 5,1 % Mitte der 90er Jahre anstieg 60 , blieben die Erfolge, gemessen an den phantastischen Vorstellungen von 300 Millionen potentiellen Verbrauchern, kläglich. Daran änderte auch die Tatsache nichts, daß Deutschland immerhin nach Großbritannien, Japan, den Vereinigten Staaten und Rußland Platz fünf unter den Außenhandelspartnern Chinas einnahm. Die Situation auf dem chinesischen Markt war nach Auffassung der Wirtschaft im Hinblick auf weitere Geschäfte labil und risikoreich 61 . Zwar konnten bei hochqualifizierten Produkten und modernen Technologien erhebliche Gewinne auf Kosten der europäischen Konkurrenz, insbesondere der Engländer, verbucht werden, die Japaner, die sich auf den Nachbau deutscher Artikel spezialisierten, drängten mit ihren billigen Angeboten aber immer stärker nach vorn. Nicht nur die britischen, sondern auch die weitaus geringeren deutschen Exporte nach China gerieten Anfang der 1890er Jahre zunehmend unter japanischen Konkurrenzdruck. Selbst die Hoffnungen in die Deutsch-Asiatische Bank erwiesen sich als verfrüht. Das 1890 unter Führung dieser Bank gegründete (Banken-)„Konsortium für Asiatische Geschäfte", das über Anleihegeschäfte mit der chinesischen Zentralregierung Eisenbahnbauten finanzieren und so für die deutsche Industrie Aufträge erzielen wollte, konnte nur kleinere Anleihen an Provinzführer vergeben; die größte davon war eine Anleihe über 1 Million Pfund an das Hanyang-Arsenal Chang Chih-tungs. Der deutsche Chinahandel, der sich nach Ansicht der Diplomaten auch weiterhin mehr um seine eigenen Profite kümmerte, als auf die Monopolisierungsbestrebungen der ausländischen Konkurrenz zu achten, zeigte kaum Interesse an der neuen Industriebank und wickelte seine Geschäfte weiterhin über die Hong59

Der Küstendienst des Norddeutschen Lloyd befand sich erst im Aufbau. Besonders auf dem Yangtze wollte er durch den Aufkauf englischer Reedereien ins Geschäft kommen. Ab 1894 konnte der Norddeutsche Lloyd schließlich nach der Umstellung auf eine vierzehntägliche Fahrt nach Europa Gewinne erzielen. Jahresberichte des Norddeutschen Lloyd, NdLl. Gesandtschaft Peking an AA, 21. 3. 1893, StAHH, CL VI 14a Vol. 3 / 2 . Preußisches Ministerium für Handel und Gewerbe an Handelskammer Dortmund, Juni 1892, W W A , K 1 / N r . 4 8 / 3 .

60

S. Anhang, Tabelle 3.

61

Der W e r t der Einfuhr aus China nach Deutschland stieg bis 1893 auf 16 Mill. Mark (0,4 % der Gesamteinfuhr des Deutschen Reiches), der W e r t der Ausfuhr aus Deutschland nach China auf 33,3 Mill. Mark (0,1 % der Gesamtausfuhr). Schrecker, S. 5 ff.; W u , S. 48 ff. S. Anhang, Tabelle 3.

110

kong and Shanghai Bank ab, zum Schaden der Deutsch-Asiatischen Bank, die schon 1892 keine Dividenden mehr zahlen konnte 62 . Die deutsche Politik in China orientierte sich auch Ende der 80er Jahre noch an dem Verhalten und den Wünschen der anderen Großmächte, sie traf jedoch im Rahmen ihrer sicherheits- und machtpolitischen Möglichkeiten in Ostasien immer häufiger eigene Unterstützungsmaßnahmen für die Wirtschaft, um nicht ein potentiell wichtiges Absatzgebiet zu verlieren. Die Handelsberichte der Konsulate wurden nicht nur umfassender und detaillierter, sondern wiesen die deutschen Firmen auch gezielt auf gute Geschäftsmöglichkeiten hin 63 . Selbstverständlich war die Reichsregierung bereit, weiterhin Kriegsschiffe zum Schutz des deutschen Handels gegen Seeräuber in chinesischen Gewässern zu stationieren. Sie forderte die Chinakaufleute sogar auf, mehr Geld für die 1886 gegründete deutschsprachige Zeitung „Ostasiatischer Lloyd" zur Verfügung zu stellen und sich journalistisch den Verunglimpfungen der englischen Konkurrenz zu widersetzen. Damit sollte keinesfalls England politisch brüskiert werden, vielmehr suchte die Reichsregierung nach der weiteren Abkühlung des Verhältnisses zu Frankreich und Rußland infolge der „Doppelkrise" gerade mit den Engländern ein engeres Einvernehmen in China. Bismarck wurde in London persönlich vorstellig, um auf das Problem der niedrigen Zölle im französischen und russischen Landhandel mit China für die deutsche Wirtschaft aufmerksam zu machen und ähnlich geringe Sätze auch für alle Importe über See zu fordern. Obwohl die bedrohliche finanzielle Situation in China das staatliche Risiko sehr hoch erscheinen ließ, wollte die Reichsregierung auch weiterhin der deutschen Chinawirtschaft gegen die ausländische Konkurrenz helfen, da diese ohne Unterstützung des Reiches — so meinte nun auch Berlin — keine Perspektive mehr habe 64 . Die deutsche Chinapolitik vermochte es wie die deutsche Chinawirtschaft bei allem Engagement jedoch nicht, die chinesische Entwicklung richtig einzuschätzen, sondern überschätzte die Möglichkeiten und Auswirkungen der wirtschaftlichen Modernisierungsbestrebungen. Nur eines hatte die politische Führung in Berlin zweifellos schon frühzeitig genau erkannt: Da sich vor allem die Rüstungslieferungen im Zuge der chinesischen Militärreformen bislang als der am besten zu kalkulierende Faktor der deutschen Chinawirtschaft erwiesen hatten, sollten diese als wirtschaftsstrategischer Orientierungs- und politischer Ausgangspunkt der deutschen Interessen in China be62

63

64

Gesandtschaft Peking an AA, 21. 3. 1893, StAHH, CL VI 14a Vol. 3/2. Müller-Jabusch, S. 51 ff.; Strasser, S. 112 ff. Reichsamt des Innern an Senat von Hamburg, 22. 9. 1892, StAHH, CL VI 14a Vol. 2 / l g Inv. 1. Preußische Gesandtschaft bei den Hansestädten an Senatskommission für auswärtige Angelegenheiten, Bremen, 25.1. 1887, StAHB, 3/A3.C.3/48. Preußische Gesandtschaft bei den Hansestädten an Senatskommission für auswärtige Angelegenheiten, Bremen 30. 9. 1889, ebd., A3.C.3/108. 111

sonders gefördert werden. Um der heimischen Schwerindustrie aus ihrer Absatzkrise herauszuhelfen, war die Reichsregierung seit Mitte der 1880er Jahre durchaus bereit, offizielle Militärinstrukteure nach China zu entsenden. Die Chinesen hatten bereits Anfang der 1880er Jahre versucht, für die in Deutschland bestellten Kriegsschiffe taktische und technische Instrukteure anzuwerben. Insbesondere die kaiserliche deutsche Kriegsmarine unterstützte die Bitte des chinesischen Gesandten, die Abstellung von Marineoffizieren als Instrukteure für das Torpedowesen zu befürworten, das im Norden Chinas mit den ersten beiden Schiffen aus Deutschland aufgebaut werden sollte 65 . Die Marineführung, die an einer Ausnutzung der Werftkapazitäten interessiert war, hatte sich schon zuvor für den Verkauf der Schiffe eingesetzt und sich auch für den Bau der erst nach dem chinesisch-französischen Krieg ausgelieferten Panzerkorvetten verwendet. Der Auslieferungsstopp des Auswärtigen Amtes, von dem Ende 1884 außer den Kriegsschiffen noch 18 000 Skeyer-Gewehre und eine Schießwollfabrik betroffen waren, sollte mit dem Hinweis entkräftet werden, daß die Bestellungen schon vor dem Krieg erfolgt seien, englische Handelshäuser ebenfalls Waffen lieferten und es nicht feststehe, ob das Kriegsmaterial überhaupt gegen Frankreich und nicht nur gegen Japan verwendet werde 6 6 . An Bismarcks grundsätzlicher Entscheidung vermochten die Einwände allerdings nichts zu ändern. Aus wirtschaftspolitischen Überlegungen aber kam der Kanzler den Chinesen bei den Bestellungen der Kriegsschiffe entgegen und schlug auch die Bitte des Gesandten um Instrukteure nicht ab. Schließlich, so hieß es etwas überheblich in einem Antwortschreiben des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes an Li Feng-pao, unterhalte Deutschland im Gegensatz zu den Seemächten und Rußland freundschaftliche Beziehungen zu China. Bereits Ende 1883 nahmen daher der vom Dienst beurlaubte und nach China kommandierte Kapitänleutnant Hasenclever und der Maschinist Fleischer als erste offizielle Instrukteure des Deutschen Reiches in China nach einer kurzen Tätigkeit an der Militärakademie in Tientsin ihren Unterricht in Weihaiwei an der neu gegründeten Torpedoschule auf 67 . Den Bemühungen Li Feng-paos, während des Krieges gegen Frankreich ehemalige Offiziere und Unteroffiziere in Deutschland anzuwerben, stand die politische Führung in Berlin allerdings ebenso ablehnend gegenüber wie dessen einst geäußertem Wunsch nach Ausbildung chinesischer Offiziere in Deutschland. Obwohl das Auswärtige Amt Anfang 1885 Brandt noch mitteilte, alle, auch privaten Anstrengungen des chinesischen Gesandten in dieser

65

Brandt an Bismarck, 9. 7. 1881, PA, Abt. IA Chi/China 1 / 4 ; Admiralität an AA, 2 1 . 1 0 . 1882, und Antwort AA, 2 2 . 1 0 . 1882, ebd., China 1 / 5 .

66

Stosch an Staatssekretär des AA, 1 1 . 1 . 1881, BA-MA, R M 1 / 2 1 7 9 . Kriegsministerium an Admiralität, 2 4 . 1 . 1881, ebd.; Li Feng-pao an Stosch, 2 6 . 1 . 1 8 8 2 ebd. Admiralität an AA, 2 6 . 5 .

885, Aufstellung der deutschen Kriegsmateriallieferungen an China, PA,

Abt. IA Chi/China 5 / 1 . Manchester, S. 183 f. 67

112

Konsulat Tientsin an Bismarck, 20. 5. 1884, ebd., China 1 / 8 .

Hinsicht seien gescheitert, hatten doch einige ehemalige Soldaten ohne Einwilligung der Behörden Deutschland auf eigene Faust verlassen, um in die Dienste Li Hung-changs an der Militärakademie in Tientsin zu treten. Die prompte Reaktion der „Wilhelmstraße" auf diese Eigenmächtigkeiten ließ keinen Zweifel an der neutralen Haltung des Deutschen Reiches im chinesisch-französischen Krieg zu: Alle deutschen Instrukteure in China wurden aufgefordert, sofort ihren Dienst zu quittieren. Um Frankreich keinen Vorwand zu irgendwelchen Vorwürfen zu geben, Deutschland habe China militärisch unterstützt, wurde erwogen, diese Anweisung zumindest bis zur Beilegung des Konfliktes aufrechtzuerhalten 68 . Allerdings hatte das Auswärtige Amt bereits Ende 1884 Brandt, der im Auftrag der chinesischen Zentralregierung wegen einer offiziellen Entsendung deutscher Offiziere nach Beendigung der Auseinandersetzungen in Berlin vorstellig geworden war, angewiesen, diese Angelegenheit ganz geheim weiterzuverfolgen. Die politische Führung des Deutschen Reiches war zwar keinesfalls daran interessiert, sich in Ostasien in eine Konfrontationsstellung gegen eine andere Großmacht zu manövrieren, sie war aber davon überzeugt, wie bei den afrikanischen Kolonialprojekten die anderweitigen Bindungen Englands und Frankreichs ausnützen zu müssen. Das Auswärtige Amt wollte zunächst jedoch präzisere Angaben über eine mögliche Stellung von Instrukteuren in China 69 . Der chinesische Gesandte in Deutschland machte schon bald eindeutig klar, welche Prioritäten die Zentralregierung nach Beendigung des Krieges bei den Kontakten mit der Reichsregierung setzen werde. Peking war der Ansicht, „Einkaufshäuser für die chinesische Regierung gebe es in Europa genug, aber Instrukteure fehlten sowohl bei den Arsenalen als auch bei den chinesischen Truppen 70 ." Die Reichsregierung erlaubte schließlich in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre beurlaubten oder aus dem aktiven Dienst ausgeschiedenen Offizieren, Unteroffizieren und Ingenieuren die Ausreise nach China 71 . Diese wurden bei der Peyang-Armee mit der Aufstellung eines Musterregiments aus Infanterie-, Kavallerie- und Artillerietruppenteilen betraut. Bei der Peyang-Flotte, die unter der Führung des englischen Generalinspekteurs Captain Lang stand, beschäftigten sie sich mit der Ausbildung der Schiffsartillerie, der Na-

68

Brandt an Bismarck, 2 . 1 0 . 1884, ebd., China 1 / 9 ; AA an Brandt, 4. 10. 1884, ebd.; AA an Caprivi, 1 5 . 1 0 . 1884, ebd.; AA an Brandt, 2 5 . 1 . und 15. 5. 1885, ebd., China 5 / 1 ; Brandt an Bismarck, 8. 9. 1886, ebd.

69

Brandt an Bismarck, 11. 8. 1884, und Antwort Bismarck, 13. 8. 1884, ebd., China 1 / 8 .

70

Auszug aus einem Brief F. Marcotty, Firma Mauser, nach einem Gespräch mit dem chinesischen Gesandten an Waffenfabrik Mauser, 15. 5. 1885, MA, Protokolle der internen Privatkorrespondenz der Direktoren.

71

K.-ch. Lee (S. 27 ff.) geht bei insgesamt 43 ausländischen Instrukteuren von 19 deutschen aus. 113

vigation und der Einweisung in die Technik eines Schiffes sowie mit dem weiteren Ausbau des Torpedowesens 7 2 . Die offiziell ausgesuchten und entsandten deutschen Instrukteure waren im allgemeinen gut angesehen. Die Chinesen zeigten sich von ihren Leistungen beeindruckt. Hingegen hatte die deutsche Gesandtschaft mit den von Li Feng-pao privat angeworbenen Soldaten ernsthafte Schwierigkeiten. Des öfteren drängte Brandt beim Auswärtigen Amt darauf, die Leitung aller Instrukteure einem höheren Offizier zu übertragen und bei allen Beratergruppen einen Kern aus aktiven Offizieren zu bilden, um dienstlichen und privaten Querelen wirkungsvoll zu begegnen, die dem Ruf des deutschen Militärs außerordentlich schadeten. Der Gesandte konnte zwar einige Zerwürfnisse zwischen Chinesen und Deutschen an der unter englischer Leitung stehenden Militärakademie glätten und auch einige „Elemente" (Brandt), denen er „Faulheit", „Taktlosigkeit" und „Unbotmäßigkeit" vorwarf, „beseitigen", die Instrukteure in Tientsin, die er erst nach mehrmaligen Interventionen als „brauchbar" bezeichnete, blieben aber das Sorgenkind der deutschen diplomatischen Vertretung in Peking. Sie waren bei den Chinesen wegen ihres Benehmens und Auftretens nicht besonders geschätzt 7 3 , so daß sich erst nach Ausbruch des chinesisch-japanischen Krieges außer Chili auch andere Provinzen um deutsche Instrukteure bemühten 7 4 . Die Entscheidung der politischen Führung des Deutschen Reiches, Chinas militärische Modernisierung zu unterstützen, wurde primär von wirtschaftlichen Überlegungen bestimmt. Vor allem die Befürchtung, angesichts der ausländischen Konkurrenz ohne Militärinstrukteure keine Rüstungsgüter nach China mehr absetzen zu können, hatte den Meinungsbildungsprozeß beeinflußt. Neben wirtschaftspolitischen spielten aber wohl — w e n n auch nur am

72

Artillerie: Major v. der Goltz, Major Wang (in Deutschland ausgebildeter chinesischer Offizier); Infanterie: Leutnante v. Schewen, v. Hanneken, Schmidt; Kavallerie: Leutnant a. D. Lehmann; Schiffsartillerie: Geschützinstrukteur Heckmann (ehemals in Diensten der Firma Krupp); Torpedowesen: Kapitänleutnant Hasenclever. Maschinist Fleischer; Navigation und Technik: Oberingenieure Meineke und Kühl, Ingenieure Albrecht und Hoffmann, Deckoffizier Plambeck, Bootsmann Mildebroth. Alle Offiziere kamen aus Preußen. Konsulat Tientsin an Bismarck, 20. 5. 1884, PA, Abt. IA Chi/China 1 / 8 ; Brandt an AA, 23. 7. 1885, ebd., China 5 / 1 ; Brandt an Caprivi, 7. 7. 1890, ebd., China 5 / 3 ; Vizekonsul Lenz, Chefoo, an Caprivi, 30. 8. 1894, ebd.. China 5 / 5 . Deutsche Instrukteure in Tientsin: Major a. D. Pauli, Leutnante a. D. Glasenapp und

73

Heck, Unteroffiziere a. D. Kausch und Zahl, Meisteraspirant Haukisch. Brandt an Bismarck, 11. 8. 1884, ebd., China 1 / 8 ; Brandt an Bismarck, 23. 7. 1885, 26. 7. und 8. 9. 1886, ebd.. China 5 / 1 ; Brandt an Caprivi, 23. 12. 1890, ebd., China 7 / 1 . 1892 berichtete Brandt noch von deutschen Ausbildern in der Provinz Anhui, die etwa

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2000 Soldaten in den Gebrauch fremder W a f f e n einwiesen. Ob es sich dabei um Verkaufsagenten oder um taktische Instrukteure handelte, ließ sich nicht ermitteln. Möglicherweise waren es deutsche Berater aus Chili, die vorübergehend in Anhui tätig waren. Brandt an Caprivi, 17. 1. 1892, ebd., China 5 / 4 ; Schenck an Caprivi, 9. 12. 1894, ebd., China 5 / 5 .

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Rande — auch bündnispolitische und militärstrategische Überlegungen eine Rolle. Eine Stärkung der chinesischen Verteidigungsfähigkeit lag durchaus im Interesse der an Machtmitteln schwachen deutschen Politik in Ostasien. Bereits 1883, ein Jahr nach den Amerikanern, die sich ebenfalls für eine „Offene Tür" im Norden einsetzten 75 , hatte die Reichsregierung einen Vertrag mit Korea abgeschlossen und damit ihre Bereitschaft zur Absicherung dieses Einfallstors nach Nordchina und in die Mandschurei dokumentiert. Nicht nur durch Worte, sondern auch durch Taten suchte sich Berlin den beiden stärksten Verfechtern einer Politik des offenen Marktes in China, England und Amerika, anzunähern. Über eine Zusammenarbeit mit den angelsächsischen Mächten hinaus mögen auch strategische Denkspiele einer möglichen chinesischen zweiten Front gegen Rußland eine Rolle gespielt haben — zumindest solange, wie sich Berlin über die Ergebnisse und Auswirkungen der chinesischen Militärreformen noch nicht eindeutig im klaren war und noch gewisse Hoffnungen in sie setzte 76 . Ansätze euro-asiatischer Kontinentalblockvorstellungen ließen sich durchaus auch in den militärpolitischen Beziehungen des Deutschen Reiches zu anderen Ländern während der 1880er Jahre feststellen: Ein euro-asiatisches Allianzsystem mußte die strategische Lage Kontinentaleuropas erheblich verbessern und ein neues Machtgebilde weltpolitischer Dimensionen entstehen lassen. Je nach den politischen Zielvorstellungen, am unterschiedlichsten verkörpert von Bismarck und dem peußisch-deutschen Generalstab, insbesondere unter seinem Chef, dem Grafen v. Waldersee (1888—1891), wurde Rußland als Verbündeter oder als Gegner in diese Überlegungen einbezogen. Neben China richteten sich die diesbezüglichen Interessen der Reichspolitik auf Japan und vor allem auf die Türkei. In Japan hatten seit Mitte der 70er Jahre diejenigen Kräfte die Oberhand gewonnen, welche das Militärwesen statt nach dem französischen nach dem deutschen Beispiel reformieren wollten. Wie sich die Modernisierung des Erziehungs- und des Rechtswesens schon nach preußischem Vorbild vollzog, so festigte sich nach der Einführung eines japanischen Generalstabes (1878) auch die deutsche Richtung bei der militärischen Erneuerung. Mit Hilfe dieser neuen militärischen Führungsinstanz konnten die japanischen Militärs, die nach politischer Eigenständigkeit strebten, ihren Sonderstatus weiter konsolidieren. Ab Mitte der 80er Jahre intensivierte sich der deutsche Einfluß auf die japanischen Militärreformen und den Aufbau der Meiji-Armee. Kaum zu überschätzen war dabei die Wirkung der aus Deutschland abkommandierten Generalstabsoffiziere, deren Tätigkeit auf taktischem, logistischem und organisatorischem Gebiet die Japaner so überzeugte, daß sie 1889 die französische Militärmission entließen. Dennoch gelang es den Deutschen keines75

Die amerikanische Politik wollte hier vor allem den englischen Einfluß zurückdrängen.

76

Zu den deutsch-koreanischen Beziehungen und zu Bismarcks strategischen Überlegun-

Brandt an Bismarck, 9. 7. 1881, ebd., China 1 / 4 . gen Stoecker, Deutschland, S. 130 ff. 115

wegs, die japanischen militärischen Modernisierungsbemühungen nach eigenen Vorstellungen auszurichten. Die Lieferungen modernster Kruppscher Kriegsgeräte blieben bis Mitte der 90er Jahre viel zu gering, als daß sie Anlaß zu konkreten militärstrategischen Überlegungen hinsichtlich einer aussichtsreichen Zusammenarbeit gegen eine andere Großmacht hätten geben können. Kurz vor Ausbruch des chinesisch-japanischen Krieges wurden zudem alle Instrukteure vom Dienst suspendiert. Japan verzichtete fortan auf ausländische Hilfe auf dem militärischen Sektor 77 . Im Gegensatz zu Japan, das sich einer politischen Beeinflussung vehement widersetzte, scheiterte eine militärische deutsche Einflußnahme in der Türkei Anfang der 90er Jahre am Zusammenbruch der militärischen Modernisierungsbemühungen. Bismarck hatte es wie im Falle Japans und Chinas Anfang der 80er Jahre deutschen Offizieren erlaubt, an einer Reorganisation der osmanischen Armee mitzuwirken, die 1877/78 von der russischen vernichtend geschlagen worden war und seitdem auf Revanche sann. Obwohl militärische Reformen vollkommen versagten, konnte die deutsche Rüstungsindustrie Mitte des Jahrzehnts in erheblichem Ausmaß modernstes Material liefern 78 . Erste Verträge über den Bau einer Bagdadbahn (1888) unterstrichen den hohen wirtschaftspolitischen und militärstrategischen Stellenwert der Türkei in der deutschen Außenpolitik 79 . Das Deutsche Reich hielt jedoch trotz aller vagen militärpolitischen Pläne einer euro-asiatischen Kontinentalallianz an seiner zurückhaltenden Politik gegenüber den anderen Großmächten fest, auch gegenüber Rußland, das Bismarck Ende der 80er Jahre noch keineswegs als potentiellen Partner aufgegeben hatte. Die Reichsregierung versuchte, auch in China bei allem militärischen Engagement jede direkte Konfrontation zu vermeiden, und strebte weiterhin ein kooperatives Vorgehen aller Vertragsmächte an 80 . Die von einer enormen Pressekampagne begleiteten russischen Vorwürfe, deutsche Militärberater würden chinesische Truppen in der Mandschurei gegen Rußland 77

Verzeichnis . . . , HA Krupp, W A X a 200. Krebs, S. 18 ff.; Ienaga, S. 32 ff.; Presseisen, Aggression, S. 49 ff.

78

Verzeichnis . . ., HA Krupp, W A X a 200. 1 8 8 5 / 8 6 wurden allein 957 Krupp-Kanonen geliefert. Deutsche Militärberater im Osmanischen Reich hatten eine lange Tradition. Schon Helmuth v. Moltke d. Ä. hielt sich von 1835 bis 1839 auf einer Art „Inspektionsreise" in der Türkei auf. Moltke, Halbmond, passim. Ausführlich zur deutschen Militärmission in der Türkei in den 1880er Jahren Wallach, S. 30 ff.; Tibi, S. 11 ff.

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80

116

Das Deutsche Reich bemühte sich, trotz technischer Schwierigkeiten, 1887 ein Kriegsschiff in Tientsin zur Verfügung zu stellen, um eine Übereinkunft mit den anderen Mächten zum Schutz der Häfen von 1883 zu erfüllen. AA an Caprivi, 10. 6. und 1 5 . 1 1 . 1887, BA-MA, RM 1/2384. Caprivi sagte sogar als Reichskanzler dem französischen Botschafter in Berlin seine Unterstützung beim Vorgehen gegen chinesische Aufriihrer zu, die aber kaum militärisch relevant sein könne, da Deutschland nur wenig Militär in Chili unterhalte. Botschafter Herbette an Außenminister Ribot, 1 8 . 9 . 1891, DDF 1 8 7 1 - 1 9 1 4 , l e Série, Bd 9, No. 15.

ausbilden, konnten die diplomatischen Vertreter in China guten Gewissens auf das entschiedenste zurückweisen. Sollten die politische und die militärische Führung in Berlin tatsächlich wie mit der Türkei jemals über eine rüstungswirtschaftliche Kooperation hinaus an eine engere militärische Zusammenarbeit mit China in der Mandschurei gegen Rußland gedacht haben, so wurden sie durch die chinesischen Realitäten schnell eines Besseren belehrt 8 '. Gerade in der Mandschurei waren sowohl die chinesische als auch die russische Aufrüstung deutscherseits ganz genau verfolgt worden. Über deutsche Ingenieure sowie über zivile und militärische Verkaufsagenten im Dienste deutscher Industriefirmen konnte sich das Auswärtige Amt durchaus ein zuverlässiges Bild machen. Nach Auskunft des in den Diensten der Firma Krupp stehenden Majors a. D. Richter waren z. B. sämtliche Befestigungen völlig unzureichend; selbst der russische Oberst Sokolowski, zu dem die Gesandtschaft in Peking gute Kontakte unterhielt, räumte ein, sie könnten „sans coup de fusil" genommen werden. Bei den Truppen sah es anders aus. Während die Russen über etwa 22 000 bestens ausgebildete und ausgerüstete Soldaten an der chinesischen Nordgrenze verfügten, unterschied sich auch der Eindruck der Peyang-Armee und der Peyang-Flotte kaum von den desolaten militärischen Zuständen in der Mandschurei 82 . Über militärische Modernisierungsversuche in China machte sich Berlin daher bald keine Illusionen mehr. Die Berichte der Instrukteure und diplomatischen Vertreter aus China sprachen eine eindeutige Sprache: Es fehle den Militärschulen an Geld; die chinesischen Offiziere zeigten kein Interesse an der Ausbildung; das Material sei in einem schlechten Zustand; die Flotte, deren Manövrierfähigkeit nur mit deutschen Maschinisten aufrechterhalten werden könne, dürfe nicht überschätzt werden; selbst Li Hung-chang sei überzeugt, mit der jetzigen Anzahl deutscher Instrukteure genug getan zu haben 8 3 . Trotzdem blieben die chinesischen militärischen Modernisierungspläne für Deutschland Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre von politischem Interesse.

81

Brandt an Bismarck, 12. 7. 1886, PA, Abt. IA Chi/China 7 / 1 ; Brandt an Bismarck, 8. 8. 1886, ebd., China 5 / 1 .

82

Brandt an Caprivi, 5. 5. 1892, ebd., China 5 / 4 . Stoecker, Deutschland, S. 226 f.

83

Die Vermutungen Stoeckers über geheime deutsch-chinesische Bündnisverhandlungen entbehren jeder Grundlage. Bei den Gesprächen des chinesischen Gesandten in England, Marquis Tseng, mit Bismarck Mitte 1886 ging es — selbst nach französischer Auffassung — lediglich um wirtschaftliche und missionarische Probleme. Geschäftsträger Raindre, Berlin, an Außenminister Freycinet, 2. 8. 1886, DDF 1 8 7 1 - 1 9 1 4 , l e Série, Bd 5, No. 275. Auch Stoeckers Aussage (Deutschland, S. 255), „daß die militärischen Potenzen des chinesischen Reiches nach 1885 in Europa allgemein überschätzt wurden" — und China damit gleichsam bündnisfähig, ja sogar als Partner erstrebenswert geworden wäre —, traf zumindest für Deutschland, das sich kaum Illusionen über die militärische Stärke Chinas machte, in keiner W e i s e zu. 117

Die Führung in Berlin konnte zwar unter den gegebenen Umständen nicht ernsthaft daran denken, China als einen potentiellen Verbündeten gegen Rußland aufzubauen. Sie wußte aber den Nutzen einer chinesischen Aufrüstung für ein Offenhalten der Absatzgebiete im Norden Chinas durchaus richtig einzuschätzen. Ein möglicher Aggressor würde einen wie auch immer gearteten militärischen Widerstand Chinas nur mit offener Gewalt und größeren Operationen brechen können, die unweigerlich die Intervention aller anderen Großmächte hervorrufen mußten. Darüber hinaus halfen Rüstungslieferungen aus Deutschland ins Reich der Mitte, auch wenn sie längst nicht mehr so hoch waren wie in den 80er Jahren, der von der Exportkrise mitgenommenen deutschen Schwerindustrie über Absatzschwierigkeiten hinweg. Der deutschen Unterstützung der chinesischen Militärreformen kam somit vor allem eine wirtschaftspolitische Bedeutung zu. Erst zu Beginn des letzten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts kündigten sich mit den verlangsamten chinesischen Aufrüstungsbemühungen neue Absatzschwierigkeiten an. Mit Hilfe von Instrukteuren und vor allem mit massiver diplomatischer Unterstützung war es der Reichsregierung jedoch zuvor gelungen, die rüstungswirtschaftliche Position Deutschlands in China gegen eine immer härter werdende ausländische Konkurrenz auszubauen, auch wenn sich die Erwartungen der deutschen Rüstungsindustrie bei weitem nicht erfüllten 84 . Die Versuche der chinesischen Zentralregierung, bereits vor Beendigung des Krieges gegen Frankreich neue militärorganisatorische und rüstungswirtschaftliche Reformen einzuleiten, hatten in deutschen Wirtschaftskreisen tiefes Mißtrauen hervorgerufen. Die Bemühungen des chinesischen Gesandten und des eigens zu diesem Zweck in die Heimat gereisten deutschen Direktors des Arsenals in Tientsin, Janß, von einer deutschen Waffenfabrik die Option für die Lieferung eines einheitlichen Gewehrsystems für ganz China zu erlangen, schienen zwar alle Befürchtungen zu widerlegen, Frankreich zwinge China zu sofortigen militärischen Sondervereinbarungen. Die Reaktion der zunächst konsultierten Gewehrfabrik Mauser spiegelte aber die allgemeine Skepsis der deutschen Rüstungsindustrie wider: Es sei „eine feststehende Tatsache, daß die Chinesen (bislang) so viele Gewehrsysteme gekauft haben, als davon überhaupt bekannt sind"; eine Änderung dieses Kaufverhaltens sei kaum zu erwarten; außerdem gefährde der absehbare Friede mit Frankreich wohl die Geschäfte der deutschen Rüstungsindustrie mit China 85 . Tatsächlich beunruhigten Berichte und Gerüchte zum französisch-chinesischen Friedensvertrag nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch die politische Führung in Deutschland. Die Botschaft in Paris meldete eine Zusage der chinesischen Regierung, sich bei zukünftigen Geschäften vorzugsweise

84

Brandt an Bismarck, 4 . 1 1 . 1885 und 8. 9. 1886, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 1 ; Brandt an Bismarck, 6. 5. 1889, ebd., China 5 / 3 ; AA an Caprivi, 10. 9. und 18. 9. 1891, ebd., China 5 / 4 ; Vizekonsul Lenz, Chefoo, an Caprivi, 30. 8. 1894, ebd., China 5 / 5 . Franz Marcotty, Bevollmächtigter der Waffenfabrik Mauser, Berlin, an Waffenfabrik

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Mauser, 7 . 4 . 1885, MA, Privatkorrespondenz. 118

an Frankreich zu werden. Analysen Brandts schienen diese Vermutungen zu bestätigen. Darüber hinaus berichtete der Gesandte, die Chinesen meinten, für die Heeresrüstung genug getan zu haben, da die Franzosen bei einem längeren Krieg doch noch von den chinesischen Streitkräften geschlagen worden wären. Alles deute darauf hin, daß nun nur noch die chinesische Marine ausgebaut werde, und dabei könnten die Lieferungen der deutschen Rüstungsindustrie nur schwer mit den englischen konkurrieren 86 . Alle Befürchtungen erwiesen sich jedoch als unbegründet. Die diplomatischen Interventionen der Gesandtschaft bei der Zentralregierung und das Entgegenkommen in der Militärberaterfrage zeitigten erste Erfolge. Brandt gelang es sogar, am 25. Januar 1886 den neuen Präsidenten des Tsungli Yamen, Prinz Ching, zu einer Erklärung zu veranlassen, daß Deutschland bei allen Schiffs-, Waffen-, Eisenbahn- und Anleihegeschäften bevorzugt behandelt werden solle 87 . Die Reichsregierung mußte Anfang der 90er Jahre jedoch offen eingestehen, daß es zu den erwarteten Großaufträgen noch nicht gekommen sei, weder bei Kriegsmaterial noch bei anderen Industrieprodukten 68 . Schon nach der Hochkonjunktur für Rüstungslieferanten während des chinesisch-französischen Konfliktes — die Firma Krupp konnte allein 1884/85 nach China 411 Geschütze absetzen 89 — waren die Erwartungen der Schwerindustriellen bitter enttäuscht worden. Neue Geschäftsabschlüsse wurden lediglich bei bestimmten Produkten getätigt, da sich die chinesische Regierung während des Krieges finanziell übernommen hatte und die zahlreiche ausländische Rüstungskonkurrenz sich gegenseitig die Geschäfte wegnahm. Engländer und Franzosen begannen, Kriegsmaterial über ihre Militärattaches unter Preis abzusetzen. Die Firma Krupp konnte bis 1889 mit Hilfe Li Feng-paos und mit großer Unterstützung deutscher Regierungsstellen immerhin noch weitere 368 Geschütze liefern, hauptsächlich an Li Hung-chang und seine von Deutschen reformierte Peyang-Armee 90 . Dagegen gelang es der Firma Mauser bis 1887 nur, 7 600 bereits 1882 bestellte Repetiergewehre vom Modell 71/84 zu verkaufen, obwohl der Arsenaldirektor Janß vor seiner Abreise versichert hatte, daß er „seinen ganzen Einfluß dahin geltend machen [werde], damit die chinesische Regierung ihren ganzen Bedarf an Handfeuerwaffen bei der W.[affenfabrik] M.[auser] bestellt" 91 . Nachdrücklich

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88

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Staatssekretär Reichsmarineamt an Staatssekretär des AA, 2. 9. 1891: Aufstellung über die chinesische Flotte, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 4 ; Botschaft Paris an Bismarck, 25. 6. 1885, ebd., China 4 / 1 . K-ch. Lee, S. 119 f. Brandt an Bismarck, 9. 4. 1886, mit deutschem und chinesischem Text der Erklärung, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 1 . Brandt an Bismarck, 9. 4. 1886, ebd.; Brandt an Bismarck, 25. 5. 1886, ebd., China 7 / 1 . Hallgarten, Imperialismus, Bd 2, S. 352; Möring, S. 88 ff. Verzeichnis . . ., HA Krupp, W A X a 200. Vgl. Anhang, Tabelle 6. Li Hung-chang an A. Krupp, 17. 6. 1880, ebd., FAH II B 302; Verzeichnis . . ., ebd., W A X a 200. Vgl. Anhang, Tabelle 6. F. Marcotty an Firma Mauser, 15. 5. 1885, MA, Privatkorrespondenz.

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forderte der Gesandte v. Brandt, der immer noch an die chinesische Zusage von 1886 glaubte, die deutsche Rüstungsindustrie angesichts dieser Entwicklung etwas verärgert auf, endlich über bessere Verkaufsmethoden bei Waffengeschäften nachzudenken. Sie müsse vor allem pünktliche Lieferungen anstreben und auf die Qualität der Erzeugnisse achten, damit „das Terrain, welches die deutsche Diplomatie der deutschen Industrie erschlossen hat, derselben erhalten bleibt" 92 . Tatsächlich war insbesondere das Chinageschäft der deutschen Werften von der, wie in deutschen Rüstungskreisen selbst zugegeben wurde, besser arbeitenden englischen Schiffbauindustrie bedroht. Diese hatte sich auf Kriegsschiffe spezialisiert und versuchte mit allen Mitteln, über Robert Hart und den chinesischen Gesandten in London, Marquis Tseng, die deutsche Produktion in den Augen der Chinesen zu diskreditieren. Trotzdem vermochten es die Werften, die Engländer in China hart zu bedrängen. Mit Hilfe des deutschen Gesandten gelang es 1885 und 1888, von den jeweiligen Bestellungen über vier Panzerkorvetten jeweils zwei nach Deutschland zu holen; alle acht Schiffe wurden sogar mit Krupp-Kanonen armiert 93 . Wie die englischen Aktivitäten bei der Aufrüstung der chinesischen Marine, so schränkten französische Initiativen deutsche Geschäfte bei dem verstärkten Ausbau der Küstenbefestigungen ein. Zum Ärger der deutschen diplomatischen Vertretung in Peking übertrugen die Chinesen trotz aller Zusagen die Fortifikations- und Hafenarbeiten bei den beiden umfangreichsten Projekten, Port Arthur und Weihaiwei, französischen Industriefirmen. Diese bemühten sich außerordentlich geschickt, gute Beziehungen zu Li Hung-chang herzustellen, um dem Einfluß der deutschen Militärinstrukteure auf den maßgebendsten Militärreformer Ende der 80er Jahre gegenzusteuern 94 . Obwohl die deutsche Industrie auch Anfang der 1890er Jahre immer noch enorme Vorteile durch die Anwesenheit deutscher Militärberater hatte, die sich sehr für Material aus Deutschland einsetzten, trafen die chinesischen Sparmaßnahmen im Rüstungsbereich die Firmen hart. Trotz einer neuen Ver-

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Brandt an Bismarck, 25. 11. 1885, HKHB, Hp II 8 3 / 3 . AA an Admiralität, 1. 12. 1885, BA-MA, R M 1 / 2 1 8 1 . Brandt an Bismarck, 1 7 . 1 1 . und 3 0 . 1 1 . 1 8 8 5 , PA, Abt. IA Chi/China 5 / 1 ; Admiralität an AA, 2. 7. 1889: Tabelle über chinesische Schiffsbestände, ebd., China 5 / 4 ; Brandt an Bismarck, 2. 7. 1889, ebd. Firma Vulcan an Caprivi, 8 . 1 0 . 1885, BA-MA, RM 1 / 2 1 8 1 ; Firma Schichau an Admiralität, 2 6 . 1 1 . 1 8 8 5 , ebd.; AA an Admiralität, 3 0 . 1 1 . 1885, ebd.; Firma Vulcan an Caprivi, 15. 2 . 1 8 8 6 , ebd., RM 1 / 2 1 8 2 ; AA an Admiralität, 1 9 . 1 2 . 1 8 8 6 , ebd.; Gesandtschaft Peking an Caprivi, 16. 8. 1887, ebd., RM 1 / 2 1 8 3 ; AA an Caprivi, 30. 12. 1887, ebd. Konsulat Tientsin an Bismarck, 4 . 1 2 . 1887, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 2 ; Brandt an Bismarck, 1 8 . 1 1 . 1888, ebd.; Brandt an Caprivi, 7. 7. 1890, ebd., China 5 / 3 ; Schenck an Caprivi, 16. 7. 1894, ebd., China 5/5. Le Fevour, S. 86 ff.

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kaufsagentur in China, der Firma Mandl & Co. 95 , welche die Geschäfte insbesondere in anderen Regionen Chinas außerhalb Chilis intensivieren sollte und dies auch zur Zufriedenheit Alfred Krupps einigermaßen verstand 96 , konnte die Essener Firma von 1890 bis 1893 nur noch 156 Kanonen absetzen 9 7 . Die Skepsis, die Alfred Krupp in einem Schreiben an seinen Sohn Friedrich Alfred, der ab 1887 die Firma führte, gegenüber dem Chinageschäft geäußert hatte, schien sich zu bewahrheiten. Denn auch die Geschäfte mit der Mandschurei, die mit dem beginnenden Eisenbahnbau und der Modernisierung der Mandschu-Truppen Ende der 80er Jahre noch einmal höchste Erwartungen geweckt hatten, kamen nach dem Tod des Leiters der kaiserlichen Admiralität, Prinz Ch'un, fast vollständig zum Erliegen 98 . 1890 hatte die Firma Krupp sogar noch erwartungsvoll zwei Fachleute für den Eisenbahn- und Befestigungsbau, Regierungsbaumeister Baur und Oberst a. D. Vogel, aus ihren Diensten entlassen und mit Unterstützung der Reichsregierung, die nun verstärkt auch die Tätigkeit ziviler Berater in chinesischen Diensten förderte 99 , in die Mandschurei entsandt. Beide konnten zwar verschiedene Details über die Transsibirische Eisenbahn in Erfahrung bringen, aber keine Aufträge von chinesischer Seite für deutsche Firmen vermitteln. Schon bald wurde klar, daß die kaiserliche Regierung nicht mehr daran dachte, irgendwelche neuen Anschaffungen zu tätigen. Auch die technischen Vertreter der Firma Gruson, eines Tochterunternehmens des Essener Betriebes, mit deren Hilfe Krupp nach Li Hung-changs Einflußverlust unter neuem Namen in der Mandschurei wieder besser ins Geschäft einsteigen wollte, kamen zu dem gleichen Ergebnis 100 . Die Berichte des Angestellten Koehler und des Hauptmanns a. D. Pierkowski waren eindeutig: Die Chinesen, die sich militärisch völlig überschätzten, gäben sich lieber mit alten Mauser- und Winchestergewehren sowie ihren wenigen Krupp-Kanonen zufrieden, als weiter Geld in die Rüstung gegen Rußland und Japan zu stecken 1 0 1 .

95

Ab 1. 7. 1895 war die Firma Mandl & Co. auch für die Germania-Werft und das Grusonwerk als Vertreter in China tätig. Bohner, S. 94 f.

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Brandt an Caprivi, 27. 9. 1981, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 4 . Th. Kennedy, Chang Chihtung, S. 160 ff. Verzeichnis . . ., HA Krupp, W A X a 200. Vgl. Anhang, Tabelle 6. A. Krupp an F. A. Krupp, 19. 5. 1885, ebd., FAH II B 356. Briessen, S. 42 f.; Stoecker, Deutschland, S. 212 ff.

97 98

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Neben Baur und Vogel war z. B. auch noch Regierungsbaumeister Scheidtweiler in chinesischen Diensten tätig. Auch hier versprach man sich Aufträge für den Eisenbahnbau. Ministerium für Handel an Regierungspräsidium Düsseldorf, 13. 9. 1890, HStAD, Regierung Düsseldorf/13 306.

100

Die Firma Gruson lieferte von 1891 bis 1893 insgesamt 75 Kanonen nach China. Verzeichnis . . ., HA Krupp, W A X a 200.

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Brandt an Caprivi, 25. 6 . 1 8 9 0 , PA, Abt. IA Chi/China 4 / 1 ; Brandt an Caprivi, 5. 5 . 1 8 9 2 , ebd., China 5 / 4 ; Konsulat Tientsin an Caprivi, 1 6 . 4 . 1893, ebd.; Schenck an Caprivi, 20. 4. und 16. 7 . 1 8 9 4 , ebd., China 5 / 5 ; Konsulat Tientsin an Hohenlohe-Schillingsfürst, 15. 4. 1895, ebd. 121

Bis zum chinesisch-japanischen Krieg kamen aufgrund des Versagens der Zentralregierung sowie der Provinzgouverneure nicht nur der Ausbau und die Ausbildung der Peyang-Armee und der Peyang-Flotte vollständig zum Erliegen, sondern auch die Entwicklung des seit Ende der 80er Jahre mit großer deutscher finanzieller und technischer Hilfe geförderten Hanyang-Arsenals stagnierte. Die deutschen Handelsfirmen, die sich gerade bei den Rüstungsgeschäften am Yangtze stark engagiert hatten, mußten auf die Rückzahlung ihrer Lieferkredite für Maschinen warten. Mit diesen sollten Mauser-Gewehre und Krupp-Kanonen selbst hergestellt werden, um teure Neukäufe zu umgehen. Aufgrund eines Kompetenzstreites zwischen Li Hungchang und Chang Chih-tung über die Kontrolle des Arsenals konnten die ersten 15 000 nachgebauten Mauser-Gewehre erst 1896 ausgeliefert werden. Auch die Aufforderung Chang Chih-tungs an den technischen Leiter des Arsenals, Ingenieur Söbel, Kriegsmaterial bei deutschen Firmen in Hankow und Shanghai zu bestellen, und an Regierungsbaumeister Hildebrandt, die Armierung aller Yangtze-Forts vorzunehmen, ergingen — wie das Ersuchen um neue Militärinstrukteure — erst nach Ausbruch der Feindseligkeiten mit Japan. Trotz uneingeschränkter Unterstützung von seiten der Reichsregierung und partieller Erfolge blieben die großen Geschäfte für die deutsche Schwer- und Rüstungsindustrie auf dem chinesischen Markt bis Mitte der 90er Jahre aus 102 . Die erste Periode der chinesischen Modernisierungsbestrebungen bis Mitte der 90er Jahre brachte nur wenige wirtschaftliche Erfolge. Obwohl die Bemühungen der Reformer nach der inneren Stabilisierung der MandschuHerrschaft in der zweiten Hälfte der Restaurationsphase neben rüstungsindustriellen Projekten auch der Entwicklung der Gesamtwirtschaft galten, konnten nur wenige Fabriken und kapitalkräftige Betriebe westlichen Zuschnitts errichtet werden, die zudem noch von importierten Rohstoffen und halbfertigen Produkten abhängig blieben 103 . Zu dieser staatlich geförderten und gelenkten Industrialisierung kamen im bescheideneren Umfang private Initiativen, die in Form von Gesellschaften insbesondere den Aufbau der Leichtindustrie vorantrieben. Die Vermischung von westlichen Handels- und Produktionsmethoden mit dem chinesischen Bürokratismus minderte jedoch die Effektivität der Industriebetriebe. Hinzu kam die permanente Finanzkrise des chinesischen Staates, dem es nicht gelang, im Inland private Geldgeber in ausreichender Zahl zu finden, die zu investieren bereit waren. Die Zentralund die Regionalbehörden blieben daher auf ausländische Unterstützung an-

102

103

Schenck an Caprivi, 9 . 1 2 . 1894, ebd. Th. Kennedy, Chang Chih-tung, S. 171 f.; Teng/ Fairbank (Hrsg.), S. 110 ff. Chesneaux, Bd 1, S. 216 ff.

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gewiesen und gerieten durch private und staatliche Anleihen, aber auch durch ausländische Berater in immer größere Abhängigkeit vom Ausland 104 . Der einsetzende Anschluß Chinas an den Welthandel bedeutete einen tiefen Einschnitt in das chinesische Wirtschafts- und Sozialleben. Der Import westlicher Fertigwaren führte in vielen Wirtschaftssektoren zu einem Ende der existenzsichernden Handarbeit; die Konkurrenz für die traditionellen chinesischen Exportprodukte Tee und Seide auf dem Weltmarkt bewirkte, bei noch kaum vorhandener industrieller Rohstoffausfuhr, eine permanent negative Handelsbilanz. Neben inneren Krisen trugen die Verluste von Randgebieten und traditionellen wirtschaftlichen Einflußzonen an die westlichen Mächte zu einer Verschlechterung des Lebensstandards bei, obwohl sich die Ernteerträge seit den 1840er Jahren ständig erhöhten. Die Situation im Innern drohte aufgrund sozialer Spannungen nach der relativen Ruhe der 80er Jahre in den 90er Jahren wieder labiler zu werden 1 0 5 . Den äußeren Bedrohungen konnte die chinesische Führung trotz großer Anstrengungen bis in die 90er Jahre nicht wirksam begegnen. Wie im wirtschaftlichen Bereich blieben auch auf militärischem Gebiet die Modernisierungsbestrebungen in der Anfangsphase stecken. Obwohl Militärreformen und Aufrüstung die meisten Gelder verschlangen, die in China aus staatlichen Mitteln für Modernisierungsmaßnahmen ausgegeben wurden, war die Kampfkraft der chinesischen Streitkräfte gering. Aus den Konflikten mit Japan, Rußland und Frankreich zog die politische und militärische Führung die falschen Konsequenzen. Die meisten reformbereiten chinesischen Militärführer meinten, allein bei der materiellen Rüstung den Großmächten ebenbürtig werden zu müssen, um ihnen militärisch erfolgreich entgegentreten zu können. Trotz des technischen Rückstandes fühlten sie sich den „Barbaren" auch weiterhin überlegen und sahen auch keine Veranlassung, das konfuzianistische Wertsystem zu revidieren. Eine effektive militärische Kooperation und Koordination gab es daher nicht. Nicht nur jede Provinz und die zentralen Institutionen in Peking machten das, was sie für ihren Bereich für opportun hielten, sondern es herrschten auch bei der gesamten militärischen Führung Inkompetenz, Nepotismus und Profitdenken. Da ausländische Militärinstrukteure lediglich das tun sollten, was den höheren chinesischen Offizieren wenig Unannehmlichkeiten bereitete, wurde ihren Anweisungen kaum Folge geleistet. Die Unfähigkeit und Inflexibilität der militärischen Führung führte gegen Japan zu einem vollständigen Desaster, auch bei noch so gut ausgebildeten und ausgerüsteten Truppen 106 . Von den großen politischen Zielen der chinesischen Restaurationspolitik der 1860er bis 1890er Jahre — Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung im Innern sowie Ebenbürtigkeit mit dem Westen — konnte nur das erste mit Hil104

105 106

Bis Anfang der 90er Jahre betrugen die Schulden des chinesischen Staates etwa 45 Mill. HKT (ungefähr 14 Mill. Pfund). Allen, Enterprise, S. 261; King, History, S. 17 ff. J. Chang, S. 4 ff.; Chesneaux, Bd 1, S. 216 ff.; Hsü, Rise, S. 3 f. Bland, S. 235 ff.; Fairbank, Treaty System, 257 ff. 123

fe westlicher Waffentechnik, wenigstens vorübergehend, erreicht werden. Die Untauglichkeit des Versuchs, sich auf wirtschaftlichem und militärischem Gebiet mit dem Westen messen zu wollen, wurde bei allen außenpolitischen Krisen überdeutlich. Die Zentralregierung war jedoch nicht bereit, größere Initiativen zu ergreifen und umfassende Modernisierungsprogramme zu erarbeiten. Auch ab Mitte der 80er Jahre, als der Hof versuchte, die militärische Modernisierung zu systematisieren, waren die Anweisungen aus Peking eher mit den Maßnahmen provinzieller chinesischer Verwaltungen als mit denen einer starken Zentralinstanz zu vergleichen. Infolgedessen verfestigten sich die regionalen Strukturen im wirtschaftlichen, militärischen und politischen Bereich. Die persönliche Macht einzelner lokaler militärischer und politischer Führer stieg auf Kosten eines nach außen schlagkräftigen Gesamtstaates und einer im Innern effektiv arbeitenden Bürokratie 107 . Die „Selbststärkungsbewegung" innerhalb der chinesischen Oberschicht scheiterte daher auch nicht am Widerstand der konservativen Opposition, der reaktionären Hofpartei und der meisten Literatenbeamten, sondern an ihren eigenen falschen Vorstellungen von Modernisierung, die sie zu sehr eigenem Profitdenken und traditionellen Prinzipien unterordnete. Sie meinte, bei einer Beibehaltung des restaurativen politischen und sozialen Systems den technischen Rückstand gegenüber dem Westen lediglich durch die Übernahme neuer Methoden ausgleichen zu müssen, um dadurch die äußere Machtlosigkeit zu überwinden und die eigene Kontrolle über die chinesische Gesellschaft zu festigen. Selbst die Protagonisten westlichen Einflusses dachten niemals daran, China zu einem modernen Staat umzugestalten. Eine Modernisierung des Reiches wurde von ihnen nicht als komplexer Prozeß aus politischen, ideologischen, wirtschaftlichen und sozialen Komponenten angesehen, der nur mit festen Konzeptionen vorangetrieben werden konnte. Sie beschränkten sich vielmehr auf isolierte Projekte im wirtschaftlichen und militärischen Bereich, ohne dabei eine gesellschaftliche Resonanz anzustreben. Die Langsamkeit der wirtschaftlichen und militärischen Erneuerung sowie deren geringe Erfolge führten jedoch zu einer Radikalisierung im Innern. Die Mißerfolge stärkten auf der einen Seite die konservativen Isolationisten, auf der anderen Seite erleichterten sie aber auch die Bildung einer aggressiven neuen Elite aus westlich orientierten Studenten sowie europäisch ausgebildeten jungen Offizieren. Diese schreckten nach dem Fiasko des verlorenen Krieges gegen Japan (1895) nicht davor zurück, die althergebrachten konfuzianistischen Gesellschaftsstrukturen in Frage zu stellen 108 . Mit dem chinesisch-japanischen Krieg kam nicht nur die erste Periode der chinesischen Modernisierungsbemühungen, sondern auch der erste Versuch westlichen Eindringens ins Reich der Mitte zu einem Ende. Nachdem die er-

107 108

Chesneaux, Bd 1, S. 219 f.; King, History, S. 22 f.; Spector, S. 253 ff. Franke/Trauzettel, S. 326 ff.; Spector, S. 152 ff., 190 ff.; zur Genesis der neuen Eliten Beckmann, S. 36 ff.; W . Franke, China, S. 90 ff.

124

ste Phase der Einflußnahme bis Mitte der 70er Jahre von der Beseitigung der wirtschaftlichen und politischen Restriktionen in China mit teilweise militärischen Mitteln geprägt war, führte die zweite Phase zu einer Stabilisierung sowie zu einem Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen durch die Regelung von Grenz- und Handelsfragen. Diese Konsolidierungsphase weckte auf westlicher Seite durch den Anschein einer beginnenden Industrialisierung im Reich der Mitte größte Hoffnungen, zumal die weltweiten Absatzkrisen die nationalen Wirtschaften auf das äußerste belasteten. Wirtschaftliche Zugeständnisse sollten durch politische Konventionen erreicht werden, ohne daß gegen die aufrüstende Zentralregierung wieder aktiv vorgegangen werden mußte. Es gelang den Großmächten tatsächlich durch eine zurückhaltende und kooperative Politik gegenüber den Mandschus und den Provinzmachthabern, die Lage im Innern des Kaiserreiches zu stabilisieren und auf diese Weise gute Voraussetzungen für eine Belebung der Wirtschaft zu schaffen. Waren die westlichen Kaufleute bei ihren Geschäften bis in die 80er Jahre zunächst noch auf sich gestellt, so veranlaßte die Angst, von den potentiellen Möglichkeiten des chinesischen Marktes abgeschnitten zu werden, die einzelnen Regierungen zu stärkeren staatlichen Hilfen für ihren nationalen Chinahandel 109 . Durch das Aufbrechen der alten Vasallenstaaten Chinas, das schließlich zwischen die territorialen Neuerwerbungen der Mächte eingekeilt wurde, hofften Rußland, Frankreich und England, den Handel mit dem chinesischen Kernland zu intensivieren. Die Rivalitäten der Mächte um die vermeintlichen „vast potentials" 110 der chinesischen Kerngebiete bewahrten jedoch das Zentralreich vor einer Aufteilung und beließen ihm einen halbkolonialen Status, bei dem der Einfluß des Westens sich letztlich nur auf bestimmte Küstenregionen beschränkte. Die japanische Aggressionspolitik gegenüber China gefährdete dann nicht nur den wirtschaftlichen, sondern auch den politischen und militärischen Status quo der Großmächte im Fernen Osten, die sich dadurch zu einer noch offensiveren Politik als bislang genötigt sahen. Gerade das wirtschaftlich und militärisch erstarkende Deutsche Reich, das sich auf der Schwelle zur Weltmacht fühlte, war der Meinung, es müsse sich erstmals in Ostasien stärker engagieren 111 . Bis in die 1880er Jahre hatte die freihändlerisch ausgerichtete und sich an den Großmächten orientierende Wirtschaftspolitik des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches den Chinahandel der deutschen Wirtschaft ohne nennenswerte Unterstützung auf sich allein gestellt gelassen 112 . Die deutsche Chinawirtschaft, insbesondere die Rüstungsindustrie, konnte jedoch nach vielen Mühen und Anläufen ihre Geschäftsgrundlage im Reich der Mitte aus eigener Kraft erweitern. Ihr gelang bis Mitte der 1890er Jahre in einem nur halbherzig modernisierten China mit einer modifizierten staatli-

109 110 111 112

Joseph, S. 50 ff.; Remer, Trade, S. 63 ff. Ebd., S. 232. Brandt, Dreiunddreißig Jahre, Bd 2, S. 314 ff.; Franke/Trauzettel, S. 325 f. Glade, S. 120 f.

125

chen Unterstützung dann sogar ein bemerkenswerter Aufschwung. Bei den Rüstungslieferungen dürfte die deutsche Schwerindustrie der englischen sogar ebenbürtig geworden sein 113 . Zwar waren die möglichen lukrativeren Eisenbahngeschäfte mit China im Vordergrund der industriellen Bemühungen geblieben, aber da die Chinesen hier keine größeren Projekte in Angriff nahmen, hatten die Rüstungslieferungen ihre besondere Bedeutung behalten. China entwickelte sich wie schon Anfang der 70er Jahre ab Mitte der 80er Jahre zu einem Absatzland erster Ordnung für die private deutsche Rüstungsindustrie. Die wirtschaftliche Situation erschien der deutschen Schwerindustrie wie auch der gesamten deutschen Wirtschaft in China am Vorabend des chinesisch-japanischen Krieges aufgrund der neuerlichen restriktiven chinesischen Wirtschaftspolitik jedoch weiterhin als äußerst labil, so daß die Rufe nach staatlichen Unterstützungsmaßnahmen Mitte der 1890er Jahre immer lauter wurden. Auch nach Ansicht der staatlichen Führungseliten in der Ära nach Bismarck mußte die Außenwirtschaft aus innen- und wirtschaftspolitischen Gründen weiter gefördert werden. Zudem durfte das Ansehen der auch außerhalb Europas immer stärker engagierten deutschen Großmacht auf internationalem Parkett keinen Schaden nehmen. Darüber hinaus machte sich bei der Formulierung der außenpolitischen Grundsätze der 90er Jahre der Einfluß der Militärs stärker bemerkbar. Das militärische Denken, das die Sicherheit des Deutschen Reiches und seine politische Existenz durch Aufrüstung und eine Politik der Stärke garantieren wollte, verdrängte zunehmend die politischen Prinzipien des Ausgleichs und des Kompromisses. Nicht nur die Exportwirtschaft, sondern auch die politische und militärische Führung meinten schließlich, weitere chinesische Widerstände gegen eine umfassende Industrialisierung oder neue ausländische Ansprüche und Vorteile auf dem wirtschaftsstrategisch wichtigen Absatzmarkt China nicht hinnehmen zu dürfen. Das Vorgehen gegen die japanische Aggressionspolitik in China wurde zum Ausdruck einer seit Anfang der 90er Jahre zunehmend offensiveren imperialistischen Politik des Deutschen Reiches.

113

Schrecker, S. 5 ff. Genaue Vergleichszahlen lassen sich kaum finden. Nach Stoecker, Germany, S. 35 f., stand der deutsche Waffenhandel in China an erster Stelle. Nachweise dazu sind noch nicht erbracht.

126

4. GESCHEITERTE DEUTSCHE WELTMACHTKONZEPTIONEN UND VERGEBLICHE M O D E R N I S I E R U N G S M A S S N A H M E N IM REICH DER MITTE. DIE MILITÄRISCHE UND WIRTSCHAFTLICHE DURCHDRINGUNG CHINAS BIS Z U M UNTERGANG DES CHINESISCHEN KAISERREICHES ( 1 8 9 4 - 1 9 1 1 )

a) Antimodernistische eine

chinesische

militärische

Reaktionen

Interventionspolitik

als in

Vorwand

für

China

Der Schock der Niederlage im Krieg gegen Japan von 1 8 9 4 / 9 5 wirkte im Reich der Mitte wie ein Fanal. Noch nie zuvor war den Chinesen die eigene S c h w ä c h e so deutlich geworden wie gerade in dieser Auseinandersetzung mit der benachbarten asiatischen Macht, die bis dahin an Stärke und Ansehen hinter dem konfuzianistischen China zu stehen schien. Bereits wenige Monate nach Ausbruch der Feindseligkeiten hatte sich Ende Juli 1894 die vernichtende Niederlage Chinas zu Land und zu W a s s e r abgezeichnet. Die Japaner beschränkten sich nicht darauf, an ihrem Interventionsvorwand festzuhalten und Aufstände in Korea niederzuschlagen, sondern die Kampfhandlungen dehnten sich immer weiter auf die Mandschurei und Nordchina aus. Den größtenteils westlich ausgebildeten ca. 100 000 M a n n starken PeyangTruppen im Norden, der ca. 500 000 Mann starken Mandschurei-Armee sowie der Nordflotte mangelte es zwar nicht an modernen W a f f e n , aber die unzureichenden verkehrstechnischen Möglichkeiten und die fehlenden Unterstützungsmaßnahmen aus dem Süden 1 wirkten sich wie die schlechte Qualität der selbst hergestellten W a f f e n , die fehlende Koordination, die dezentralisierte Befehlsgebung und der geringe Einsatzwille der Soldaten katastrophal auf die chinesische Kriegführung aus 2 . W e g e n der ausbleibenden l e d i g l i c h etwa 20 000 Soldaten aus Nanking von nochmals insgesamt etwa 150 000 Mann starken im Süden vorhandenen, besser ausgerüsteten Truppen wurden überhaupt in Marsch gesetzt; außerdem konnten vier kleinere Einheiten der drei südlichen Flotten die sechs in England und die vier in Deutschland gebauten modernen Kriegsschiffe unterstützen. Zum Kriegsverlauf Morse/McNaire, S. 401 ff.; Powell, S. 32 ff. 2

Vgl. die hervorragende Analyse der japanischen und der chinesischen Streitkräfte während des Krieges sowie des Kriegsverlaufs von Premierleutnant L. Pflaum beim Königlich Bayerischen Generalstab von 1 8 9 4 / 1 8 9 5 , in: KA, GenStab/265. In einem Bericht des Konsulats Tientsin hieß es, die Forts seien z. T. noch nicht armiert, die Kruppund Gruson-Geschütze alle verstaubt. Konsulat Tientsin an Caprivi, 18. 3. 1894, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 5 .

127

Unterstützung der Großmächte für China während der militärischen Auseinandersetzungen sah sich Li Hung-chang, der als Generalgouverneur von Chili gleichzeitig Hochkommissar für Korea war, daher schon bald gezwungen, direkte Friedensverhandlungen mit Japan aufzunehmen. Der den Chinesen von den Japanern schließlich diktierte Friede von Shimonoseki (17. Mai 1895) forderte die Autonomie Koreas, die Abtretung Taiwans sowie des Südteils der Liaotung-Halbinsel mit Dairen und Port Arthur, die Öffnung weiterer Städte für den japanischen Handel, die Erlaubnis neuer exterritorialer Niederlassungen und 200 Millionen Taels Kriegsentschädigung 3 . Diese nicht nur militärische, sondern auch politische Katastrophe führte in China zu verschiedenartigen Auswirkungen in allen gesellschaftlichen Bereichen und löste innenpolitische, wirtschaftliche und soziale Veränderungen von großer Tragweite aus oder verstärkte sie. Ideologisch begründete gewaltsame Auseinandersetzungen um den künftigen Kurs des Mandschu-Reiches kündigten sich im Innern zwischen Reformern und Traditionalisten an, die beide mit dem damaligen Zustand Chinas nicht länger einverstanden waren. Die konkreten Neuerungen hielten sich zunächst jedoch in Grenzen. Alles deutete vielmehr darauf hin, daß es mit der oberflächlichen, bislang rein (militär-)technischen Modernisierung unverändert weitergehen würde 4 . Obwohl vor der modernen Militärmacht der Japaner nicht nur die militärische, sondern auch die wirtschaftliche Fassade der staatlich verordneten Modernität Chinas zusammengebrochen war, kam es im wirtschaftlichen Bereich zu keinen einschneidenden Reformen. Der Dirigismus der Bürokratie wurde weitgehend aufrechterhalten. Das wirtschaftspolitische Primärziel der Pekinger Zentralregierung nach dem Krieg, die Kapitalbasis als Voraussetzung für weitere technische Modernisierungsmaßnahmen zu erweitern, konnte daher nur mit Hilfe ausländischer Anleihen verfolgt werden. Der heimischen Wirtschaft fehlte aufgrund schlechter Erfahrungen auch weiterhin das Vertrauen in die eigene Regierung. Peking hatte jedoch größtes Interesse daran, den Industrialisierungsprozeß weiterzuführen, um sein innen- und außenpolitisches Ansehen zu verbessern. Diese Umstände verschafften ausländischen Investoren und Industriellen trotz aller Widrigkeiten allmählich die Gelegenheit, sich in moderne Sektoren, wie z. B. in den Textilbereich und den Eisenbahnbau, stärker als bislang einzuschalten. Während China versuchte, sich außenpolitisch an Rußland als Nachbar- und Schutzmacht anzunähern, profitierten vor allem das kapitalkräftige England und Frankreich von dieser langsamen wirtschaftlichen Öffnung des Landes. Neue militärische Reformversuche nach Beendigung des chinesisch-japanischen Krieges schienen zunächst auch der deutschen Stellung im Reich der Mitte entgegenzukommen 5 .

3

4 5

Zum chinesisch-japanischen Krieg vgl. K.-ch. Lees Beitrag in: W . Franke (Hrsg.), China-Handbuch, S. 211 ff. Zu den Wandlungen und Belastungen des chinesisch-japanischen Verhältnisses nach dem Krieg Jansen, passim. Cheng, S. 210 ff.; Franke/Trauzettel, S. 327 f. King, History, S. 75 ff.

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Schon Anfang 1895 hatten die Südprovinzen die Initiative zu weiteren Rüstungsmaßnahmen und zur militärischen Modernisierung ergriffen, nicht zuletzt aus Angst, die japanische Aggression, die bis dahin mehr als regionaler Konflikt im Norden angesehen worden war, könnte sich auch gegen sie selbst richten. Dabei tat sich insbesondere Chang Chih-tung hervor, der ab Ende 1894 Liu K'un-yi in Nanking als Generalkommissar für die Verteidigung des Südens vertrat. Von seinen Plänen, zwei neue Brigaden als Kern einer ganz nach deutschem Muster auszubildenden und mit deutschen Waffen auszurüstenden neuen Yangtze-Armee — die sogenannte „Self-strengthening Army" — aufzustellen, alle Arsenale zu privatisieren, eine Militärakademie und neue Militärschulen zu bauen, ließ sich allerdings neben der Umgestaltung seiner Leibgarde in Wuhan zu einem modernen Verband nur die Bildung einer Brigade von 3000 Mann in Nanking verwirklichen. Diese bestand erstmals aus ausgesuchten und gut bezahlten Soldaten. Ihre Offiziere kamen zumeist sogar aus Literatenkreisen. Liu K'un-yis vorsichtige Zurückhaltung nach seiner Rückkehr 1896 auf seinen Posten und die Skepsis der Hofpartei verhinderten jedoch weitere Modernisierungserfolge 6 . Statt dessen setzte sich in Militärkreisen immer stärker die Ansicht durch, der Einfluß der „Westler" müsse drastisch vermindert werden. Liu K'un-yi verlegte schließlich sogar die neue Brigade aus der Provinzhauptstadt Nanking nach Woosung in Kiangsu, um weiteren Streitereien mit antiwestlichen Generalen aus dem Weg zu gehen, denen die modernen, nach deutschem Vorbild ausgebildeten Truppen ein Dorn im Auge waren 7 . Auch im Norden nahm Ende der 90er Jahre in höheren traditionalistischen Militärkreisen der Widerstand gegen den seit Mitte des Jahrzehnts von reformerisch gesinnten Intellektuellen in Peking propagierten, vermeintlich umfassenden Modernisierungskurs größere Formen an. Die von einigen neu angeworbenen deutschen Instrukteuren unterrichtete moderne Kerntruppe einer zukünftigen größeren kaiserlichen Zentralarmee („Newly Created Army"), die unter der Führung des vormaligen kaiserlichen Wirtschaftskommissars für Korea, Yüan Shih-k'ai, in Tientsin entstehen sollte, wurde aber auf Drängen traditionalistischer Kreise schon 1898 mit anderen, weniger guten Verbänden wieder zu einer Nordarmee alten Musters zusammengefaßt. Den Oberbefehl übernahm auf Druck einflußreicher militärischer Führer der zum Generalgouverneur von Chili ernannte Lu Yung-t'ing. Trotz Einschränkung seiner Befehlsbefugnisse vermochte es Yüan Shih-k'ai allerdings wie die Gouverneure am Yangtze, die bereits modernisierten Truppen aus allen innen- und außenpolitischen Wirren herauszuhalten und so vor einer Zerschlagung durch die aufständische Boxerbewegung und alliierte Truppen zu bewahren. Mit den reformierten Truppenteilen blieb auch nach der Jahrhundertwende in den Händen der Gouverneure ein Modernisierungspotential von nicht zu unter-

6 7

Th. Kennedy, Chang Chih-tung, S. 171 ff.; Powell, S. 82 ff. Th. Kennedy, Coming of the War, S. 676 ff.; Powell, S. 54 ff. 129

schätzender Kraft weiter bestehen. Dagegen scheiterte die „Reformbewegung der 100 Tage" (11. Juni — 16. September 1898), eine Mischung aus Reformation und Restauration, schon frühzeitig am Widerstand reformfeindlich gesinnter Kreise am Hof, in der Bürokratie und im Militär®. Im Gegensatz zur „Selbststärkungsbewegung", die versagte, weil sie nicht bereit war, die gesellschaftlichen Voraussetzungen einer technischen und militärischen Modernisierung zu schaffen, hatte die Reformbewegung junger Literaten seit Mitte der 80er Jahre gerade die Änderung politischer wie sozialer Institutionen und Strukturen angestrebt, um China zu neuer Größe zu verhelfen. Obwohl die Intellektuellen westliche Vorbilder nicht mehr nur in der Wissenschaft, in der Industrie und im Militärwesen, sondern auch in Recht, Philosophie, Literatur und Verfassung anerkannten, waren sie überzeugt, weiterhin vom Konfuzianismus ausgehen zu müssen. Nur eine neue Interpretation sei erforderlich, um eine vernünftige Anpassung der traditionellen Lehre an die gesellschaftlichen Bedürfnisse zu erreichen. Die Aufgabe der zyklischen Geschichtsvorstellung zugunsten einer progressiven Zukunftsvision würde eine Modernisierung nicht mehr nur notwendig, sondern sogar erstrebenswert machen. Selbst der Imperialismus der Mächte müßte nicht nur als Überfall auf China, sondern auch als Verbreitung des universellen Fortschritts und der modernen Zivilisation angesehen werden. Gerade nach dem Krieg von 1894/95, der das Selbstbewußtsein erheblich verletzt hatte, sollte nach Ansicht der Reformer das nunmehr verstärkt durch Japan transformierte westliche Vorbild nicht länger nur Theorie bleiben. Eine neue wirtschaftliche, politische und soziale Ordnung wurde auch in der Praxis angestrebt 9 . Die Reformer unter K'ang Yu-wei meinten, mit dem jungen Kaiser und der Dynastie als Ausgangspunkt ihre Vorstellungen von einer Reform der Institutionen nach japanischem Vorbild durchsetzen zu können. Die Chancen dazu wurden nicht schlecht beurteilt. Die Zentralregierung hatte sich seit der Übernahme der Regentschaft durch Kaiser Kuang-hsü (1888) allmählich von ihrer starren, traditionalistischen Betrachtungsweise der politischen Geschehnisse entfernt und sich mit westlichen Denkkategorien vertraut gemacht. Werte wie Gleichberechtigung und Souveränität rückten nunmehr stärker ins Bewußtsein 10 . Die dann tatsächlich vom Kaiser verkündeten Reformedikte gefährdeten aber nicht nur die Stellung des mandschurischen Adels, sondern auch die gesellschaftliche und politische Position der gesamten chinesischen Oberschicht. So stellte z. B. die befohlene Eingliederung westlichen Bildungsgutes in das Erziehungssystem die Einheitlichkeit des gesamten konfuzianistischen Systems in Frage. Die kurze Reformphase nach dem chinesisch-japanischen

8

Nagata, S. 81 ff.; Teng/Fairbank (Hrsg.), S. 88 ff.

9

H. Chang, passim; Huang, S. 61 ff., 104 ff.; Hughes, S. 104 ff.

10

J. Chen, S. 2 7 0 ff.; W . Franke, China, S. 93 ff.

130

Krieg scheiterte daher nur vordergründig an der Weigerung Yüan Shih-k'ais, Lu Yung-t'ing gewaltsam als Oberbefehlshaber der Nordtruppen wieder abzulösen, und an der Intrige der Kaiserinwitwe Tz'u-hsi, der es gelang, Kuang-hsü unter Hausarrest zu stellen und selbst wieder die Macht zu übernehmen. In Wirklichkeit war die Reformbewegung wegen der ungefestigten Stellung des Kaisers und der politischen Unerfahrenheit der sie tragenden Akademiker von vornherein ohne reale Erfolgsaussichten gegenüber der tief verwurzelten konfuzianistischen Gesellschaftsstruktur gewesen. Ihr Versagen beeinflußte aber das Denken radikaler revolutionärer Kreise, die eine Modernisierung mit den Mandschus als aussichtslos einschätzten. Das Scheitern der Reformbewegung trug auch mit dazu bei, den Konfuzianismus als politisches und soziales System zu diskreditieren 11 . Die Niederlage gegen Japan hatte aber nicht nur den Reformern, sondern auch der traditionalistischen Hofpartei Auftrieb gegeben, die sich in ihrer Auffassung bestätigt sah, daß ein Abweichen von der konfuzianistischen Politik und eine zu starke Anlehnung an andere Mächte nur schädlich sein könnten. Der Sieg über die Reformbewegung gab ihnen neuen, innenpolitischen Rückhalt bei ihren antiwestlichen Bestrebungen, die durch den dominierenden Einfluß des Auslandes im chinesischen Militärwesen reichlich Nahrung fanden. Als Verbündeter war ihnen hierzu die Boxerbewegung höchst willkommen. Der gewalttätige Geheimbund der Boxer, der seit Mitte der 90er Jahre immer häufiger in Erscheinung trat, verfolgte keine Sozialrevolutionären Ziele. Wie alle traditionellen chinesischen Aufstandsbewegungen zeichnete ihn eine ambivalente Stoßrichtung nach Innen aus: Er wandte sich vor allem gegen die Mandschu-Herrschaft, die versuchte, mit Steuererhöhungen ihre Kriegsschulden aufzubringen. Zugleich sahen die Landbewohner aber ihre existenzsichernde bäuerliche Gewerbewirtschaft immer stärker auch durch ausländische Importe und eine zunehmende Industrialisierung im Textilbereich bedroht. In Shantung, Chili und Shansi, wo große Naturkatastrophen in den Jahren 1895 bis 1900 zu Hungersnöten geführt hatten, stellte die Bauernbewegung schließlich milizartige Verbände auf. Anstatt gegen Verwaltungsmißstände gingen die von reaktionären Beamten beeinflußten Boxer jedoch gegen ausländische Missionsstationen vor, in denen sie die eigentlichen Wurzeln allen Übels auszumachen meinten 12 . Konnten zur Zeit der „Selbststärkungsbewegung" größere Konflikte vermieden werden, so führte das Bündnis unzufriedener Bauern mit der herrschenden traditionalistischen Elite, die im Christentum einen Angriff auf die Familie und damit auf das soziale System sah, Ende des 19. Jahrhunderts zu neuen fremdenfeindlichen Ausschreitungen 13 . Viele westliche Missionare, deren

11

Franke/Trauzettel, S. 330 ff.; Kindermann, Entstehungsgeschichte, S. 26 ff.

12

W . Franke, Jahrhundert, S. 80 ff.; Kindermann, Entstehungsgeschichte, S. 26 ff.

13

Hughes, S. 53 ff.; Latourette, S. 547 ff. 131

Zahl sich seit den Tientsiner Verträgen beträchtlich erhöht hatte, traten tatsächlich mit einer solchen rassistischen Arroganz und Überheblichkeit gegenüber den Chinesen auf, daß diese oftmals meinten, sich nur noch mit gewaltsamen Mitteln wehren zu können. Die Missionare spiegelten mit ihrem moralisch begründeten Reformanspruch aber nur die vorherrschende Meinung der sozialen Oberschicht ihrer Heimatländer wider, die lediglich Verachtung für die Rückständigkeit der Chinesen aufbrachte, das Reich der Mitte als minderwertige, halbzivilisierte Welt abqualifizierte und es als Objekt kolonialer Ausbeutung betrachtete. Um so heftiger reagierten die Mächte auf die Übergriffe gegen ihre Staatsangehörigen und vereinzelte wirtschaftliche Boykottmaßnahmen gegen ihren Handel. Nicht zu Unrecht befürchteten sie schon seit der Ausschaltung der Reformer eine Beendigung der chinesischen Modernisierungsanstrengungen und eine neuerliche völlige Abkapselung, die ein Ende aller wirtschaftlichen Hoffnungen bedeutet hätte 14 . Die Aufstände waren zwar spontan und keineswegs gelenkt, ihre Teilnehmer konnten aber vor einer Strafverfolgung durch die Behörden so gut wie sicher sein. Nur in Shantung wurden sie von Yüan Shih-k'ai hart bestraft. Die Angriffe gegen die „Westler" fanden ihren Höhepunkt in der Besetzung Pekings und der Vertreibung der Fremden im Juni 1900, bei der sich der Hof völlig passiv verhielt. Nachdem Kreise um die Kaiserinwitwe geschickt falsche Informationen verbreitet hatten, daß die gegen die Boxer vorrückenden westlichen Truppen die Dynastie stürzen wollten, erklärte der Hof am 21. Juni 1900 den Westmächten sogar den Krieg und verbündete sich offiziell mit den Aufrührern. Alle Generalgouverneure im Süden sowie Yüan Shih-k'ai verweigerten jedoch den Gehorsam und blieben mit ihren Truppen neutral. Auch Li Hung-chang, der nach den militärischen Niederlagen gegen Japan zwar als Generalgouverneur von Chili abgelöst worden war, bis 1898 als Minister des Tsungli Yamen die Außenpolitik Chinas aber maßgeblich mit beeinflußte, kam als neuerlicher Generalgouverneur von Liangkwang dem kaiserlichen Hof nicht zu Hilfe. Während die provinziellen Kräfte aus den Verwicklungen in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts gestärkt hervorgingen, mußte die Mandschu-Dynastie, beeinflußt von einer traditionalistischen Hofclique und Beamtenschaft, ihre bislang schwerste innen- und außenpolitische Niederlage hinnehmen 1 5 . Die gemeinsame Intervention der Großmächte aus Anlaß der Boxerunruhen bedeutete für das Reich der Mitte nicht nur eine weitere Demütigung, sondern sie leitete auch den letzten Abschnitt der westlichen Durchdringung des Kaiserreiches ein, der zu dessen Ende beitrug. Neben den harten Friedensbedingungen — 450 Millionen Taels Entschädigung, Schleifen der TakuForts, Sperrung der Waffeneinfuhr auf zwei Jahre, Sühnegesandtschaften — setzte der Westen eine Weiterführung des Reformkurses durch, der durch

14

W . Franke, China, S. 107 ff.; Varg, S. 25 ff., 68 ff., 105 ff.

15

H. Li, S. 185 ff., 241 f.; Teng/Fairbank (Hrsg.), S. 86 ff.

132

den wachsenden Einfluß der traditionalistischen Kräfte gefährdet worden war. Die Chinesen mußten auch einer Umwandlung ihrer bislang kollegial von anderen Zentralverwaltungen mit geführten Außenbehörde in ein eigenständiges Außenministerium (Wai-wu pu) zustimmen. Eine Aufteilung Chinas unterblieb schließlich nur deshalb, weil durch das Einlenken der Zentralregierung eine politische, wirtschaftliche und militärische Stabilisierung der Lage im Reich der Mitte Anfang des 20. Jahrhunderts wieder möglich erschien und weil die Großmächte unter sich weniger einig waren denn je 1 6 . Die Hochphase des Imperialismus hatte seit Mitte der 90er Jahre nicht nur zu einer weiteren Öffnung Chinas, sondern auch zu einer Einbeziehung des ganzen ostasiatischen Raumes in die große Politik der Mächte geführt. Waren die chinesisch-japanischen Auseinandersetzungen zunächst noch als lokale, untergeordnete Streitigkeiten zweier asiatischer Länder abgetan worden, so forderten die Friedensbedingungen Japans den massiven Widerstand aller Großmächte heraus, die um ihren Einfluß im Reich der Mitte bangten. Auf diplomatischen Druck (Einspruch von Shimonoseki, 23. April 1895) Rußlands, Frankreichs und Deutschlands, des sogenannten „Ostasiatischen Dreibundes", mußte sich Japan schließlich in der japanisch-chinesischen Konvention vom 8. November 1895 für weitere 30 Millionen Taels Kriegsentschädigung bereit erklären, auf die Liaotung-Halbinsel und die dortigen Häfen wieder zu verzichten 17 . Nur England hatte es aus machtpolitischen Überlegungen doch noch vorgezogen, nicht an dem Einspruch von Shimonoseki gegen Japan teilzunehmen. Schon der langsame Niedergang der wirtschaftlichen Vorherrschaft in China hatte der englischen Regierung die Notwendigkeit einer weiteren Verstärkung des staatlichen Engagements zur Erschließung der Rohstoffe, zur Belebung des Binnenhandels und der Exporte deutlich gemacht. Die neuen britischen Pläne basierten größtenteils auf großzügigen Staatsanleihen, die der Pekinger Zentralregierung gewährt werden sollten. Seit Anfang der 1890er Jahre war der britischen Regierung darüber hinaus immer stärker daran gelegen, durch eine Modernisierung der ostasiatischen Länder nicht nur neue Märkte zu erschließen, sondern auch ein strategisches Gegengewicht zu den russischen Expansionsbestrebungen in Fernost zu schaffen. Gerade im Bau der Transsibirischen Eisenbahn sah die Regierung in London eine ernste Gefahr für ihre wirtschaftlichen und militärischen Interessen in Ostasien. Die sich zusehends verstärkende Zusammenarbeit des Zarenreiches mit Frankreich wurde als ein direkter Angriff auf die britischen Positionen im Fernen Osten gewertet, den London insbesondere durch eine engere Kooperation mit dem militärisch und industriell überraschend schnell modernisierten Japan abzublocken hoffte. Eine formale Interessenkoalition gegen das japanische Kaiserreich schien daher Mitte der 90er Jahre unangebracht zu sein' 8 . W . Franke, Stufen, S. 152 ff.; Gütter, S. 122 f. " Brandt, China, S. 51 f.; Kindermann, Ferner Osten, S. 87 f. 18 Hou, S. 227 (Tabelle); Hölzle, S. 122 ff.; Jannasch, S. 161 ff.; Zabel, S. 52. 16

133

Der britischen Ostasienpolitik, die 1894 bis 1898 von einer möglichen militärischen Auseinandersetzung Englands mit Frankreich in Afrika zeitweilig gelähmt wurde, war jedoch mit dieser Strategie zunächst kein Erfolg beschieden. Im Gegensatz zu Frankreich und Rußland verlor London durch seine Annäherungsbemühungen an Japan in China immer weiter an Gewicht. Die chinesische Konzession zum Bau einer Eisenbahn von Burma nach Yunnan (1897) konnte die umfassenden wirtschaftlichen Vorteile, welche die Chinesen der französisch-russischen Allianz nach deren Intervention gegen die Japaner gewährten, nicht ausgleichen. Obwohl es London gelang, mit dem Deutschen Reich 1896 und 1898 zwei Anleihen von je 16 Millionen Pfund in China zu zeichnen und damit demonstrativ ein Gegengewicht zu der französisch-russischen Obligation von 1895 über 21 Millionen Pfund zu schaffen 1 9 , wurde auch die deutsche Vorgehensweise in Fernost immer stärker primär als antibritisch aufgefaßt. In England entstand das Trauma einer Isolation in Fernost und einer Verdrängung vom chinesischen Markt, das nach einer erneuten Modifizierung der China- und Ostasienpolitik verlangte 20 . Die Einigung Englands und Frankreichs in Faschoda (1898) über Interessensphären in Afrika ließ ebensolche Lösungen für China auf wirtschaftlichem Gebiet zweckmäßig erscheinen, zumal Rußland und Frankreich durch weiteren Konzessionserwerb ihre eindeutige Anwartschaft auf Nord- bzw. Südchina zu erkennen gaben. Angesichts der zunehmend fremdenfeindlichen Politik der Chinesen und des eigennützigen, aggressiven Vorgehens der anderen Mächte war auch Großbritannien Ende des Jahrzehnts immer mehr bereit, seinen bis dahin vertretenen Standpunkt eines uneingeschränkten und gleichberechtigten Zugangs zum chinesischen Markt aufzugeben. Mit Hilfe von weiteren Bergwerks- und Eisenbahnkonzessionen — die wichtigste war die Konzession einer Bahn von Nanking nach Shanghai — vertrat London fortan seine eigene Vormachtposition am Yangtze gegenüber den anderen Mächten kompromißloser und offensiver. Die Yangtze-Region wurde als letzte Bastion des eigenen Einflusses in China angesehen. Allerdings wiesen die englischen Politiker die radikalen Vorstellungen der Wirtschaftskreise zurück, die wie in den 70er Jahren das Yangtze-Gebiet zum britischen Protektorat erklären wollten, da London unter allen Umständen vermeiden wollte, daß sich die Politik wirtschaftlicher Interessensphären zu einer formalen Aufteilung Chinas entwickelte. Dennoch schien die Gefahr der faktischen Aufteilung des chinesischen Reiches greifbar nahe zu sein, als sich Großbritannien mit Rußland am 28. April 1899 über die Einteilung Chinas in Interessenzonen für den Eisenbahnbau einigte. Dieser Vertrag sicherte dem Zarenreich die Anwartschaft auf alle Eisenbahnkonzessionen nördlich von Peking und England diejenigen in Zentralchina zu. Konnte die englische Regierung der deutschen Landung in Kiaochow (1897) und der russischen Annexion Port

19

Der deutsche Anteil von jeweils 50 % betrug insgesamt ca. 25 Mill. Mark. Wu, S. 41 f.

20

Platt, S. 277 ff.; Verchau, Europa, S. 10 ff.

134

Arthurs und Dairens (1899) noch mit der sofortigen Besetzung Weihaiweis begegnen und damit eine weitere Inbesitznahme chinesischen Territoriums unterbinden, so hatte England wegen seiner schwachen militärischen Position infolge des Burenkrieges jedoch der russischen Politik der Stärke während der Boxerunruhen nichts mehr entgegenzusetzen. Die einzige Chance, den halbkolonialen Status quo in China so weit wie möglich zu erhalten, sah das Foreign Office zum einen in einer Stärkung der chinesischen Behörden nach deren Säuberung von traditionalistischen Kräften; zum anderen meinte die englische Regierung, nach dem Scheitern einer umfassenden politischen Verständigung mit dem Deutschen Reich um die Jahrhundertwende, bei der sie zuvor zu weitreichenden Zugeständnissen am Yangtze bereit gewesen war, auf ein formales Bündnis mit Japan nicht länger verzichten zu können. England und Japan schlössen am 30. Januar 1902 einen Beistandspakt, der die Position der beiden Mächte in Ostasien und ein geöffnetes China garantieren sollte 21 . Japan war es damit erstmals gelungen, eine Allianz mit einer führenden Großmacht abzuschließen. In den nächsten Jahren nutzte die politische Führung des Meiji-Reiches diesen politischen Rückhalt ohne Zögern zu einem erneuten Expansionsversuch in Ostasien. Aus geglückter Symbiose von Finanz- und Handelskreisen mit der Feudalaristokratie hatte sich in Japan ein überaus starkes Zusammengehörigkeits- und Nationalgefühl entwickelt. Das japanische Volk fühlte sich durch einen geschichtlichen Auftrag dazu berufen, Asien unter seiner Herrschaft von den „weißen" Eindringlingen zu befreien. Der Sieg über China bestätigte schließlich nur diese Auffassung, da er zu der erhofften Anerkennung durch den Westen und zu einer allmählichen Revision der „ungleichen Verträge" aus den 1850er Jahren führte. Der Einspruch von Shimonoseki, der in Japan als tiefe Schmach empfunden wurde, wies aber die japanischen Großmachtträume unvermittelt wieder in ihre Schranken. Lediglich in Korea konnte Tokyo seine Position trotz westlicher Gegenbestrebungen festigen. Um den „Westlern" jedoch ein für allemal entgegentreten zu können, blieb Ende der 90er Jahre nur der Weg in eine totale Aufrüstung 22 . Im Gegensatz zu England hatten es die anderen Großmächte im Verlauf des letzten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts mit einer imperialistischen Offensivpolitik bislang unbekannten Ausmaßes vermocht, ihre Stellung in Fernost und insbesondere auf dem ostasiatischen Kontinent wirtschaftlich, politisch und strategisch zu verbessern. Frankreich gelang es, durch seine Beteiligung am Einspruch von Shimonoseki die französisch-russische Annäherung, die 1895 einen Höhepunkt in einer Handelskonvention gegen England fand, zu 21

Salisbury an MacDonald, Peking, 6 . 4 . 1898: Grundlage der englischen Politik sei es, die Integrität der Zentralregierung in China aufrechtzuerhalten, BDOW, Bd 1, No. 49; Salisbury an MacDonald, 2 2 . 7 . 1898, ebd., No. 55; MacDonald an Salisbury, 2 5 . 7 . 1898, ebd.. No. 56. Steeds, S. 52 ff.; L. Young, S. 169 ff.

22

Crowley, S. 7 ff.; Allen, History, S. 30 ff., 65 ff., 161 ff. 135

vertiefen. Mit dieser Rückendeckung konnte es weitere Erfolge bei seiner aggressiven Expansionspolitik in China erzielen. Neben der Eröffnung neuer Bergwerke in Yunnan, Kwangsi und Kwangtung, dem Wiederaufbau des Arsenals in Foochow durch die französische Industrie und geringeren Zöllen im Landhandel mit Vietnam mußten die Chinesen als „Dank" auch einem Ausbau der indochinesischen Grenzbahn auf eigenem Gebiet zustimmen. Das industriell kaum konkurrenzfähige Frankreich hatte sich schon immer gegen einen offenen Markt in China ausgesprochen, doch blieben seine eigenen wirtschaftlichen und politischen Ziele relativ eng auf eine Interessensphäre in Südchina begrenzt, die es 1898 mit der Annexion von Kwangchow und dem Erwerb einer Eisenbahnkonzession für die Strecke von Hanoi nach Yunnan auszubauen suchte. Die französischen Interessen im Reich der Mitte zielten vornehmlich auf finanzielle Beteiligungen an politisch abgesicherten Großprojekten anderer Länder. Frankreich fand in dem kapitalarmen Rußland einen komplementären Partner, dessen ökonomisch und militärstrategisch motivierte Eisenbahnpolitik französische Banken größtenteils finanzierten 23 . Das Zarenreich hatte seit Anfang der 1890er Jahre mit dem Bau der Transsibirischen Eisenbahn eine offensive Etappe in seiner Fernostpolitik eingeleitet, die das bislang von England bestimmte strategische Gleichgewicht in Ostasien grundlegend veränderte. Eine russische Annäherung an Japan scheiterte zwar an den japanischen Forderungen nach russischen Zusagen für ein japanisch kontrolliertes Korea: Die pragmatische Politik des einflußreichen russischen Finanzministers Graf Witte wandte sich gegen die territorialen Ambitionen der Japaner und zog eine friedliche Durchdringung und wirtschaftliche Erschließung einer gewaltsamen Öffnung und Aufteilung des Reiches der Mitte vor, um China als Partner gegen England zu gewinnen. Der Einspruch von Shimonoseki bot aber die gute Gelegenheit, sich als Retter Chinas zu erweisen und die Pläne einer um 500 Meilen kürzeren Eisenbahnverbindung durch die Mandschurei nach Vladivostok doch noch zu verwirklichen. Gleichzeitig hoffte St. Petersburg, den Grundstein für einen potentiellen Kontinentalbund mit Frankreich und Deutschland gegen England zur Absicherung der femöstlichen Expansion zu legen 24 . Die Kalkulation der Russen, daß sich nach dem japanischen Vordringen für China eine politische und militärische Notwendigkeit ergeben müsse, sich mit seinem alten Gegenspieler in der Mandschurei zu verständigen, schien voll aufzugehen. In Paris wurde mit französischer Unterstützung schon am 23. November 1895 eine russisch-chinesische Bank gegründet, welche die Finanzierung der „Chinesischen Ostbahn" sicherstellte. Da der Alleininhaber dieser Bank faktisch Rußland war, sollten außerdem die Zölle für die über diese Bahn eingeführten Waren nur noch zwei Drittel der üblichen chinesischen Einfuhrzölle betragen. Darüber hinaus wurden im sogenannten

23 24

Brandt, China, S. 40 ff.; Verchau, Europa, S. 31 ff. W . J. Mommsen, Zeitalter, S. 167 f.; Stingi, S. 118 ff., 151 ff.

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Li(Hung-chang)-Lobanov-Vertrag vom 3. Juni 1896 25 weitere geheime Abmachungen geschlossen, die neben der Stationierung russischer Truppen entlang der neuen Bahnlinie militärpolitische Zugeständnisse Chinas im Norden des Reiches beinhalteten. Die mit den Erfolgen zunehmend militanter werdende Ostasienpolitik Rußlands forderte entgegen den Ratschlägen Wittes von den Chinesen des weiteren eine Konzession für den Bau einer Eisenbahnverbindung von der „Chinesischen Ostbahn" zu den besetzten Häfen in der Südmandschurei sowie neue Sonderrechte im Norden Chinas (Konvention vom 27. März 1898 und Vertrag vom 7. Mai 1898). Rußland gelang es in den Jahren 1895 bis 1898, sich „freie Hand" in der Mandschurei zu verschaffen, deren wirtschaftliche Bedeutung mit der verkehrstechnischen Erschließung sprunghaft stieg. Infolge der Boxerintervention konnte das Zarenreich schließlich sogar die ganze Mandschurei besetzen. Auch nach dem englisch-japanischen Bündnis zeigten sich die Russen den Chinesen gegenüber nur scheinbar kompromißbereit. Die russisch-chinesische Mandschurei-Konvention (7. April 1902) sah wohl den Rückzug der Truppen aus der Mandschurei binnen 18 Monaten vor, doch das Zarenreich hielt sich nur anfänglich an diese Zusage. Die russischen Annexionsbestrebungen auf dem ostasiatischen Kontinent, die von den Chinesen nicht unterbunden werden konnten, mußten freilich zwangsläufig zu einer Konfrontation mit der Expansionspolitik Japans führen 26 . Wie Japan war es auch den Vereinigten Staaten nicht gelungen, sich mit dem russischen Vorgehen im Reich der Mitte abzufinden. Pläne einer Zusammenarbeit mit dem Zarenreich hatten sich schon früh zerschlagen. Im Gegensatz zu den Engländern konnten die Amerikaner nicht auf große Interessensphären am Yangtze zurückgreifen. Insbesondere die amerikanischen Industriekonzerne, für welche die japanische Textilindustrie zu einer gefährlichen Konkurrenz in Fernost wurde, drängten jedoch immer stärker auf den chinesischen Markt, um ihre Produktionsüberschüsse abzusetzen. Allerdings fanden sie dabei zunächst wenig Rückhalt in Finanzkreisen. Auch die amerikanische Regierung ließ sich aus sicherheitspolitischen Überlegungen zu keinen direkten Unterstützungsmaßnahmen bewegen, obwohl sie ihre grundsätzliche Bereitschaft zu größeren politischen Aktivitäten schon mehrmals bekundet hatte 27 . Bei dem Wettlauf um Konzessionen und Interessensphären Ende der 1890er Jahre in China gingen die USA daher fast leer aus. Aufgrund ihrer relativen politischen und militärischen Schwäche und der Konzentration ihrer Kräfte auf den Krieg mit Spanien waren sie nicht in der Lage, sich gegenüber den Europäern oder den Chinesen durchzusetzen 28 . Als Ausweg aus diesem Di25 26 27

28

Auszüge des Vertragstextes in: Teng/Fairbank (Hrsg.), S. 130 f. Sumner, S. 324 ff.; Willoughby, Rights, Bd 2, S. 422 ff. Jerussalimskij, Imperialismus 19. Jahrhundert, S. 589 ff., 654; Wehler, Handelsimperia^ lismus, S. 65 ff. Lediglich die Anwartschaft auf den Bau der Eisenbahnlinie Canton-Hankow ließ sich durchsetzen. Wegen Kapitalmangels wurde die Konzession jedoch 1904 an die Chinesen zurückverkauft. Zu den Eisenbahnkonzessionen der Großmächte ausführlich Schmidt (mit Tabelle), S. 19 ff. 137

lemma zwischen wirtschaftspolitischen Exportzwängen und machtpolitischer Unterlegenheit bot sich allein die erneute Propagierung des längst überholt erscheinenden Prinzips der „Offenen Tür" in China an. Um den Ausbau des amerikanischen Wirtschaftseinflusses auf den chinesischen Markt auch ohne politische und militärische Machtmittel sicherzustellen, forderte die Regierung der Vereinigten Staaten in einer Note vom November 1899 die anderen Mächte auf, förmlich die administrative und territoriale Integrität Chinas anzuerkennen. Darüber hinaus müsse jegliche Beeinträchtigung der Rechte anderer Länder im Reich der Mitte vermieden und ferner gleiche Frachtgebühren und die Anerkennung der normalen chinesischen Zollsätze in den jeweiligen Einflußzonen gewährleistet werden. Trotz der allgemein geringen Resonanz erklärte Washington am 20. März 1900 offiziell, daß die Reaktion der angeschriebenen Staaten positiv gewesen sei. Die sich zuspitzende Lage im Innern Chinas und zwischen den Mächten in Ostasien ließ allen Beteiligten einen Widerspruch inopportun erscheinen. Das Verlangen nach einer „Open Door Policy" in China wurde in der Folgezeit zum vordergründigen Postulat auch aller europäischen Großmächte, die sich zunehmend durch eine großangelegte panasiatische Offensivpolitik Japans herausgefordert sahen 29 . Auch die deutsche Chinapolitik wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder mit den Auswirkungen des japanischen Expansionismus konfrontiert, der schon im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts zusehends eine aggressive Fernostpolitik mit bestimmt hatte: Waren schon die Erwartungen, welche die deutsche Wirtschaft und Politik zur Überwindung der erneuten Depressionsphase Anfang der 90er Jahre an den chinesischen Markt geknüpft hatten, nicht in Erfüllung gegangen, so hatte der japanische Sieg über das Reich der Mitte nicht nur das deutsche Konzept einer selbständigen militärischen Absicherung Chinas scheitern lassen, sondern auch die Hoffnungen auf einen unbegrenzten chinesischen Absatzmarkt als eitel erwiesen. Die deutsche Ostasienpolitik, die sich Mitte der 90er Jahre zwischen englischen und russischen Großmachtinteressen relativ frei zu bewegen meinte, zögerte jedoch nicht, durch ein größeres Engagement im Fernen Osten ihre Bereitschaft zu bekunden, die Außenwirtschaft stärker als bislang zu unterstützen. Unmißverständlich machte Berlin aber auch seine Absicht deutlich, daß es dabei größere Macht und Handlungsfreiheit innerhalb der Mächtekonstellation gewinnen wollte. In der deutschen Außenpolitik der 1890er Jahre konnten sich damit endgültig diejenigen politischen Strategien durchsetzen, welche die Außenpolitik Bismarcks verwarfen und den Übergang von einer halbhegemonialen Kontinentalpolitik zu einer offensiven Weltpolitik propagierten. Schon der Nachfolger Bismarcks im Reichskanzleramt, der vormalige Chef der kaiserlichen Admiralität, Graf v. Caprivi, hatte eine Erneuerung des Rückversicherungsvertrages mit Rußland, dessen politische Beziehungen zum Deutschen Kaiserreich aufgrund des Lombardverbotes für russische Anleihen

29

Hunt, S. 277 ff.; Willoughby, Rights, Bd 2, S. 67 ff.

138

in Deutschland seit 1887 auf einem Tiefpunkt angelangt waren, nicht mehr für opportun gehalten. Das Bündnis mit Österreich und Italien entwickelte sich immer stärker zum alleinigen Dreh- und Angelpunkt deutscher Außenund Sicherheitspolitik, zumal eine breitere politische Basis für eine Zusammenarbeit mit dem liberalen England nicht in Sicht schien. Langfristig gesehen blieb es dennoch das erklärte Ziel der Außenpolitik Caprivis, England in den Dreibund einzubeziehen, ohne jedoch dabei den Status eines Juniorpartners der Weltmacht annehmen zu müssen oder gar in einen Krieg gegen Rußland hineingezogen zu werden. Deutsches Werben um Rußland und Frankreich, die sich 1894 nach einer gemeinsamen Militärkonvention (1892) in einem Zweibund auch politisch enger zusammenschlössen, diente dagegen lediglich der Ablenkung von europäischen Problemen und der Irritation der politischen Gegner 30 . Innenpolitisch konnte die Situation des Deutschen Reiches Mitte der 90er Jahre wegen wachsender wirtschaftspolitischer Interessengegensätze keinesfalls als stabil bezeichnet werden 3 1 . Erst die Verwirklichung der neuen Flottenpläne schien in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre geeignet zu sein, eine erneute Sammlung des gesamten zerstrittenen bürgerlichen Lagers zu ermöglichen. Die mit der englisch-französischen Entfremdung in Übersee Mitte der 90er Jahre gestiegenen Chaficen einer neuen kolonialpolitischen Offensive fanden im Flottengedanken ihren aggressivsten Ausdruck. „Die Marine lockte nicht nur diejenigen, denen sie ein späteres Kolonialreich mit vermehrtem Handel in Aussicht stellte, sondern zog auch die Schwerindustrie und ihre Zulieferer an, denen lukrative Rüstungsaufträge winkten 32 ." Auch die Agrarier waren über den ideologisch begründeten Englandhaß durchaus für eine Flotte zu begeistern. Und selbst das Besitz- und Bildungsbürgertum konnte durch eine geschickte Flottenpropaganda, die den Schutz seiner Interessen in den Vordergrund stellte, ein nationales „Flottenkaisertum" akzeptieren 33 . Bereits Mitte der 90er Jahre hatte der neue Reichskanzler Hohenlohe-Schillingsfürst die durch die Abwendung Rußlands nach Ostasien entstandene größere außenpolitische Bewegungsfreiheit genutzt. Neue kolonialpolitische Aktivitäten, die von der Prämisse größerer Gegensätze der englischen Politik zu Rußland, Frankreich und den Vereinigten Staaten als zu Deutschland ausgingen, führten sogar zu einer vorübergehenden Schwerpunktverlagerung der deutschen Außenpolitik von Europa nach Übersee. Hinter der von dem Geheimen Rat v. Holstein maßgeblich geprägten gemäßigten Expansionspoli-

30

Ziekursch, Bd 2, S. 23 ff.

31

Zu Caprivis vergeblichem Versuch eines politischen Ausgleichs der wirtschaftlichen Interessen und zu der Entfremdung zwischen Agrariern und Industriellen Böhme, Thesen, S. 39 ff.; Weitowitz, S. 1 ff., 148 ff., 204 ff., 242 ff.; Ziekursch, Bd 2, S. 57 ff.

32

Berghahn, Rüstung, S. 18.

33

Ebd., S. 11 ff., 129 ff.; ders., Ziele, S. 59 ff.; Kehr, Primat, S. 149 ff.; Salewski, S. 64 ff.; Ullmann, S. 172 ff. 139

tik des Auswärtigen Amtes stand jedoch kein festgeformtes imperialistisches Programm aus politischen, nationalen und ökonomischen Motiven. Die deutsche Außenpolitik unternahm mit ihrer Offensive außerhalb Europas vielmehr den riskanten Versuch, die Engländer von der Stärke Deutschlands und damit endlich von der Nützlichkeit eines Bündnisses in Europa zu überzeugen, das eine lose Hegemonie des Reiches auf dem Kontinent garantieren sollte. Über den Umweg einer Expansion in Übersee wollte Berlin sich endgültig eine von Wirtschaftskrisen nicht zu erschütternde europäische Stellung sichern und Deutschland auf diese Weise Weltgeltung verschaffen 34 . Nachdem die japanischen Forderungen an die Chinesen bekannt geworden waren, hatte die Reichsregierung daher, wenn auch erst nach langem Zögern, ihre neutrale Haltung in den japanisch-chinesischen Auseinandersetzungen aufgegeben. Durch einen gemeinsamen Einspruch mit Rußland und Frankreich wollte das Auswärtige Amt die dem Handel gefährliche japanische Expansion stoppen und aus der erwarteten Dankbarkeit der Chinesen selbst wirtschaftliche und politische Vorteile im Reich der Mitte ziehen. Darüber hinaus hoffte Berlin, zunächst durch eine Annäherung an Rußland im Fernen Osten einen Keil in das rassisch-französische Zweier-Bündnis zu treiben sowie die russische Politik weiterhin in Ostasien zu beschäftigen. Eine umfassende Zusammenarbeit mit Frankreich und Rußland gegen England sollte allerdings von vornherein vermieden werden 3 5 . Die Hoffnungen, als gleichberechtigter Partner an der Seite Rußlands und Frankreichs im Reich der Mitte zu stehen, ohne sich in eine gemeinsame kontinentale Front gegen England zu begeben, mußte die „Wilhelmstraße" jedoch schon bald wieder aufgeben. Bereits durch die französisch-russische Anleihe an China Mitte 1895 sah sich die deutsche Chinapolitik hintergangen. Die Stimmung im Auswärtigen Amt schlug schon bald wieder zugunsten Englands um, das sich seit Beginn der chinesisch-japanischen Auseinandersetzungen an einer gemeinsamen politischen Linie mit Deutschland in Ostasien interessiert zeigte. Die deutschen Bemühungen konzentrierten sich daher nach dem sich abzeichnenden Alleingang Rußlands und Frankreichs in Wirtschaftsfragen wieder verstärkt auf eine wirtschaftliche Kooperation mit den Engländern im Reich der Mitte, obwohl letztere seit Shimonoseki bei den Chinesen an Ansehen verloren hatten 36 . Da sich China gegenüber den Russen und Franzosen bereits erkenntlich gezeigt hatte, hegte die „Wilhelmstraße" überhaupt keinen Zweifel an einem chinesischen Entgegenkommen gerade im Eisenbahnbereich. Nachdem sich das deutsch-englische Projekt eines Ausbaus der Tientsin-Peking-Bahn bereits Anfang 1896 zerschlagen hatte, sprachen deutsche diplomatische Kreise gera34

Frauendienst, S. 13 ff.; Weitowitz, S. 227 ff.

35

Hohenlohe-Schillingsfürst an Wilhelm II., 19. 3. 1895, GP, Bd 9, Nr. 2 2 2 7 ; Promemoria Brandt an AA, 8 . 4 . 1895, ebd., Nr. 2 2 3 8 ; Marschall an Schenck, 1 4 . 1 0 . 1894, ebd., Nr. 2217; E. Carroll, S. 3 3 0 ff.; Fabritzek, Drache, S. 18 f.

36

Hallgarten, Imperialismus, Bd 2, S. 349 ff.; Jerussalimskij, Bismarck, S. 501 f.

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dezu von einer „moralischen Verpflichtung" Chinas, Deutschland die Konzession der Hankow-Peking-Bahn abzutreten. Selbst ein Besuch Li Hung-changs in Berlin Mitte 1896 brachte aber keine konkreten Vereinbarungen, da der chinesische Minister als Ausgleich für Zugeständnisse eine Erhöhung der chinesischen Seezölle forderte. Zur gleichen Zeit weckte der Baubeginn der „Ostchinesischen Eisenbahn" schlimmste Befürchtungen in Deutschland, da dies eindeutig als Affront gegen deutsche und englische Interessen im Norden bewertet wurde. Die endgültige chinesische Entscheidung, den Bau der Hankow-Peking-Bahn Mitte 1897 an ein belgisches Syndikat zu vergeben, das durch französische Gelder unterstützt wurde, rief dann in Berlin helle Empörung hervor. Allerdings waren die deutsche Industrie und Finanz selbst nicht ganz unschuldig an dieser wirtschaftlichen Niederlage gewesen, da sie sich nicht auf eine einheitliche Finanzierung hatten einigen können 37 . Neben der Hoffnung auf Eisenbahnkonzessionen hatten sich die Erwartungen der deutschen Chinapolitik Mitte der 1890er Jahre auf eine weitere Unterstützung der chinesischen militärischen Reorganisation gerichtet. Berlin rechnete damit, in nicht allzu ferner Zukunft eine großangelegte Militärmission ins Reich der Mitte zu entsenden, die erstmalig den Aufbau einer einheitlichen chinesischen Armee gewährleisten und damit neben Rüstungsund Industrielieferungen auch einen stärkeren politischen Einfluß Deutschlands in China sicherstellen sollte. Zu Beginn des chinesisch-japanischen Krieges hatten sich außer bei der Peyang-Flotte und bei der Küstenartillerie in Weihaiwei keine privaten deutschen Militärinstrukteure mehr in chinesischen Diensten befunden; die Ausbildung der Landtruppen, sofern diese überhaupt stattfand, lag damals in englischen und amerikanischen Händen 38 . Doch schon frühzeitig versuchten die deutschen Berater Li Hung-changs, Seezolldirektor Detring und sein Schwiegersohn, der in der Gunst des Generalgouverneurs ebenfalls avancierte ehemalige Militärinstrukteur v. Hanneken, ihren Einfluß auf die geplante Neuorganisation einer Zentralarmee geltend zu machen. Ihr Plan, bereits zu Beginn des Krieges mit Hilfe mehrerer hundert deutscher Offiziere und Unteroffiziere eine neue kaiserliche Armee aufzubauen 39 , scheiterte schließlich aber trotz aller Bemühungen, auch der deutschen diplomatischen Dienststellen. Nachdem im Norden die Gespräche Ende 1894 ergebnislos verlaufen waren, wandte sich Hanneken auch an Chang Chih-tung, der zu diesem Zeitpunkt in Nanking für den Aufbau der Yangtze-Armee mit Hilfe der Vertretung der Firma Krupp in China, Mandl &

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38

39

Schenck an Hohenlohe-Schillingsfürst, 23.9. 1895 und 17.2. 1896, PA, Abt. IA Chi/ China 4 / 1 ; Heyking an Hohenlohe-Schillingsfürst, 2 3 . 1 1 . und 8 . 1 2 . 1896, ebd., China 4 / 2 ; Heyking an AA, 10. 7. und 18. 7. 1897, ebd., China 4/3. Vizekonsulat Chefoo an Caprivi, 3 0 . 8 . 1894: Fleischer (Torpedowesen), Heckmann (Schiffsartillerie), Plambeck (Navigationsinstrukteur), Schnell (ehemals bei Krupp, Küstenartillerie in Weihaiwei), ebd., China 5/5. Detring an AA, 11. 5. 1895: Geplant waren 1 Oberst, 3 Stabsoffiziere, 12 Hauptleute, 231 Leutnante, 421 Unteroffiziere, 15 Ärzte, 63 Zahlmeister, ebd. 141

Co., schon 48 ehemalige deutsche Offiziere und Unteroffiziere unter Major v. Reitzenstein angeworben hatte, ohne die diplomatischen Vertretungen einzuschalten. Die Rückkehr Liu K'un-yis machte aber auch hier den Kontakten ein Ende. Zudem weigerten sich die privat verpflichteten Instrukteure von vornherein, sich einer offiziellen Militärmission des Reiches unterzuordnen und damit ihre Unabhängigkeit zu verlieren 40 . Das Auswärtige Amt sah durch die ablehnende Haltung der chinesischen Behörden zusehends seine Pläne gefährdet, die deutsche Machtbasis in Übersee im Hinblick auf englische Zugeständnisse in Europa auszubauen. Darüber hinaus fühlte sich die politische Führung auch noch persönlich hintergangen, zumal die „Wilhelmstraße" am Ende des Krieges offiziell von der chinesischen Gesandtschaft in Berlin um Militärberater ersucht worden war. Das „Berliner Tageblatt" meldete bereits, daß demnächst mehrere aktive deutsche Offiziere in chinesische Dienste treten würden und daß dazu schon eine Armeeverordnung ausgearbeitet werde 4 1 . Tatsächlich waren die Vorbereitungen schon so weit gediehen, daß mit Oberst Liebert, dem Kommandeur des Grenadierregiments Prinz Carl von Preußen (2. Brandenb.) Nr. 12, bereits der Chef einer amtlichen Beratergruppe mit Kommandogewalt bei der chinesischen Zentralregierung feststand. Selbst die Gespräche mit Li Hungchang konnten an der Zurückhaltung der Chinesen nichts mehr ändern, auch wenn die „Wilhelmstraße" ihre Wünsche noch einmal ultimativ klar machte. Die Chinesen waren zwar an „Instrukteuren" nach bisherigem Muster interessiert, unter dem Druck traditionalistischer Generale aber nicht an „Kommandeuren", denen sie die Befehlsgewalt hätten abtreten müssen 42 . Das Auswärtige Amt zeigte sich indes nicht bereit, in diesem Punkt nachzugeben. Zum einen garantierte gerade die Kommandogewalt ein uneingeschränktes Einwirken auf den chinesischen Militärapparat, zum anderen hatte die „Wilhelmstraße" immer noch das unrühmliche Beispiel der Militärschule in Tientsin aus den 1880er Jahren vor Augen 43 . Auch schienen sich in Nanking wieder Streitigkeiten mit und unter den privat angeworbenen Beratern abzuzeichnen. Die Berichte des deutschen Gesandten Freiherrn v. Heyking ließen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig, lief doch die Weigerung der ehemaligen Soldaten, sich deutschen Kommandobehörden zu unterstellen, den radikal nationalistischen Ansichten des neuen Reichsvertreters in Peking vollständig zuwider: Bei den mit den modernisierten Truppen nach Woosung verlegten deutschen Soldaten handle es sich, so der Gesandte, um

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Schenck an Hohenlohe-Schillingsfürst, 8 . 1 . 1895, ebd.; AA an Hohenlohe-Schillingsfürst, 10. 3. 1895, ebd.; Aufzeichnung AA über Schreiben Hanneken, 10. 2. und 16. 2. 1896, ebd., China 5/6. Bericht im „Berliner Tageblatt", 12. 7. 1895, ebd., China 5/5. Schenck an AA, 11. 6. 1895, ebd.; Aufzeichnung AA, 6. 2. und 22. 2. 1896, ebd., China 5 / 6 ; AA an Graf Hohenthal, 21. 5. 1896, ebd.; Brandt an AA, 29. 5. 1896, ebd.; Schenck an AA, 7. 6. 1896, ebd.; AA an Preußisches Kriegsministerium, 11. 6. 1896, ebd. S. o. S. 114.

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ein „sonderbares Korps deutscher Instrukteure"; ihnen mangele es neben einer soliden Ausbildung auch an Disziplin und gutem Benehmen; ihre Führer seien „Pseudo-Offiziere", die Unteroffiziere von „sozialdemokratischen Elementen" durchsetzt 44 . Die diplomatischen Bemühungen, die Zentralregierung doch noch zugunsten einer Militärmission umzustimmen, gingen noch bis Mitte 1897 weiter. Dabei verwies die Gesandtschaft in Peking gegenüber den Chinesen vor allem auf die guten Erfolge der drei über die chinesische Gesandtschaft in Berlin offiziell angeworbenen deutschen Ausbilder bei der Truppe Yüan Shih-k'ais. Auch die ausländerfeindliche Stimmung an den Militärschulen in Nanking und Wuhan schien sich unter dem Druck der reformfreundlichen Regierung in Peking allmählich zu wandeln, so daß die deutschen Vertreter noch einmal Hoffnung schöpften. Nicht den Deutschen, sondern den Russen gelang es aber schließlich, unter Hinweis auf den Geheimvertrag von 1896 von Li Hung-chang die Zusage zu erhalten, daß neue Truppen — zumindest im Norden — nur durch russische Instrukteure ausgebildet werden dürften. Einige russische Berater befanden sich dann Ende 1897 bereits bei chinesischen Truppen in Chili und in der Mandschurei. Dagegen waren seit der Anwerbung des Hauptmanns Falkenhayn und des Leutnants Ganz 1896 nach Wuchang keine neuen deutschen Instrukteure nach China ausgereist und die Beratergruppen auf jeweils drei Mitglieder in Nanking, Tientsin und Wuchang geschrumpft 45 . Die Versuche des Auswärtigen Amtes und seiner diplomatischen Vertretung, die gesamten chinesischen Landstreitkräfte umfassend und einheitlich nach deutschem Muster zu modernisieren, waren, wie die Eisenbahnpläne, schon zwei Jahre nach dem hoffnungsvollen Einspruch von Shimonoseki endgültig gescheitert 46 . Diese Entwicklung bedeutete nicht nur eine diplomatische Niederlage, sondern widersprach auch diametral den Vorstellungen der militärischen Führung in Deutschland 47 . Deutsche Militärinstrukteure in China hatten als In44

Heyking an Hohenlohe-Schillingsfürst, 1 1 . 1 0 . 1896, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 6 .

45

Heyking an Hohenlohe-Schillingsfürst, 7 . 5 . 1899, ebd., China 5 / 9 ; Abschrift Bericht Prinz Heinrich an Wilhelm II., 27. 5. 1899: Folgende Instrukteure waren noch verblieben: Tientsin: NN; W u c h a n g : Leutnante a.D. Hoffmann, Fuchs, Wetzel; Nanking: Hauptmann Lobbe, Leutnante a.D. Toepfer, Tettenborn, ebd.

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Militärattache, St. Petersburg, an Hohenlohe-Schillingsfürst, 1 4 . 1 1 . 1896, ebd., Abt. IA C h i / C h i n a 5 / 6 ; Heyking an Hohenlohe-Schillingsfürst, 4 . 1 . , 1 7 . 1 . , 5 . 7 . und 1 5 . 8 . 1897, ebd., China 5 / 7 .

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Bis in die 1 8 8 0 e r Jahre war China in den kontinentalen Überlegungen der deutschen Landstreitkräfte keine besondere Bedeutung zugemessen worden. Obwohl Militärbehörden bis zu diesem Zeitpunkt kaum großen W e r t auf eine Unterstützung der privaten deutschen Rüstungswirtschaft im Chinageschäft legten, hatten sie Militärinstrukteure für das Reich der Mitte allerdings nicht grundsätzlich abgelehnt. Diese waren zumeist bereits aus dem aktiven Dienst ausgeschieden oder wurden ohne weitere Geldund Sachbezüge beurlaubt, so daß sie den Militäretat nicht belasteten. Gegen eine umfassende Unterweisung chinesischer Soldaten in deutschen Streitkräften hatte sich die

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teressenvertreter deutschen Rüstungsmaterials in den letzten Jahren für die Militärs an Bedeutung g e w o n n e n , seitdem die Chinesen Anfang der 1890er Jahre immer stärker dazu übergegangen waren, billigere ältere W a f f e n aus Heeresbeständen fabrikneuen Waffen vorzuziehen 4 8 . Die finanziellen Schwierigkeiten Chinas führten zu intensiven wirtschaftlichen Kontakten deutscher Militärbehörden mit der chinesischen Armee. China galt Mitte der 90er Jahre im Gegensatz zu internationalen Spannungsgebieten in Afrika als bevorzugtes Absatzland für gebrauchte oder ungebrauchte deutsche Depotwaffen. Das preußische Kriegsministerium beabsichtigte sogar, den Zwischenhandel über W a f f e n h ä n d l e r und Chinahandelshäuser auszuschalten und die lukrativen und problemlosen Geschäfte von Regierung zu Regierung zu tätigen. Einem überaus erfolgreichen Verkauf w ä h r e n d der ersten Hälfte des Jahrzehnts — allein B a y e r n konnte ca. 1 1 0 0 0 0 G e w e h r e und 583 Millionen Patronen n a c h China absetzen 4 9 — folgten jedoch n a c h dem chinesischjapanischen Krieg völlig unbefriedigende Ergebnisse 5 0 . Schlecht sah es auch bei den Reorganisationsplänen der chinesischen Marin e aus, die den Vorstellungen deutscher Industrieller über marinetechnische, rüstungswirtschaftliche Großprojekte im Reich der Mitte zuwiderliefen. Nach Meinung der chinesischen Marineführung sollten alsbald englische Offiziere, die besser qualifiziert seien als deutsche, für eine in Kiaochow neu aufzustellende Flotte als Berater angeworben w e r d e n . Chinesische Rüstungsaufträge im Marinesektor w a r e n demzufolge für die deutsche Industrie kaum zu erwarten. Unter diesen Voraussetzungen wies das Auswärtige Amt die Gesandtschaft an, verstärkt für die Anstellung privater Marineinstrukteure ein-

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militärische Führung hingegen stets ausgesprochen, da sich dies auf den normalen Ausbildungsablauf hemmend auswirken mußte. Deutsche Militärbehörden kümmerten sich daher, von einigen Einladungen zu Truppenbesuchen abgesehen, kaum um die wenigen Chinesen, die von Rüstungs- und Industriefirmen in Deutschland ausgebildet wurden. Die letzten, insgesamt 14, chinesischen Offizieranwärter hatten in der Zeit von August 1889 bis Dezember 1890 eine technische und militärische Unterweisung auf dem firmeneigenen Versuchsplatz Krupps in Meppen erhalten. Schon Li Hung-chang hatte Anfang der 80er Jahre beabsichtigt, ältere Gewehre aus deutschen Armeebeständen zu kaufen, um die finanziellen chinesischen Rüstungsmittel besser auszunutzen. Am Einspruch des Auswärtigen Amtes, das sich wegen der russisch-chinesischen Grenzstreitigkeiten reserviert gezeigt hatte, waren diese Geschäfte zunächst jedoch gescheitert. Brandt an AA, 3. 5.1880, PA, Abt. IA D/121 Nr. 19 secr./l. AA an Preußisches Kriegsministerium, 12. 5. 1880, ebd. Bayerisches Kriegsministerium an General-Militärkasse, 12.12. 1892, KA, AVI 6b/9b. Bayerischer Militärbevollmächtigter, Berlin, an Bayerisches Kriegsminislerium, 9 . 3 . 1893, KA, AVI 6b/9b; Preußisches Kriegsministerium an Bayeris'.n >s Kriegsministerium, 9. 8. 1893, ebd. Aufzeichnung AA, 7. 3. und 17. 8.1889, PA, Abt. IA Chi/China 5/1; Preußisches Kriegsministerium an AA, 9.5. 1896, ebd., China 5/3; Preußisches Kriegsministerium an Reichskanzlei, 29. 8. 1898, ebd., China 15/3.

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zutreten. Gerade im maritimen Bereich forderten die deutschen Industriellen, die sich immer stärker auf die anlaufende Seerüstung in Deutschland umzustellen begannen, ein gezieltes Eingreifen der deutschen Reichsregierung, da die deutsche Rüstungsindustrie nach Beendigung des chinesisch-japanischen Krieges kaum noch Aufträge nach China habe tätigen können 5 1 . Bis Mitte der 1890er Jahre waren die Chinesen zum größten ausländischen Abnehmer deutschen Kriegsmaterials geworden, und Industrie wie Handel hatten an dem Absatz von Rüstungsgütern in den Spannungsraum gut verdient. Das Rüstungsgeschäft nach China war jedoch nach dem Friedensschluß von Shimonoseki drastisch gefallen. Hatte Krupp, weiterhin unangefochten Hauptvertreter deutscher Rüstungsinteressen in China, noch von 1894 bis 1896 452 Kanonen absetzen können — über 5 0 % der deutschen Ausfuhr nach China bestand zu diesem Zeitpunkt aus Kriegsmaterial 5 2 —, mußte sich die Firma 1897 lediglich mit 3 Geschützen begnügen 5 3 . Die Erwartungen, die der Essener Betrieb in die über seine Vertreterfirma an den Yangtze vermittelten Instrukteure gesetzt hatte, erfüllten sich nicht. Von diesem Geschäftseinbruch war aber nicht nur der Krupp-Konzern betrofffen, sondern auch alle anderen exportorientierten Rüstungsfirmen konnten nur noch wenig Material in China absetzen 5 4 . Selbst das alltägliche Rüstungsgeschäft, das in Süd- und Mittelchina fast monopolartig in den Händen der Firmen Mandl, Carlowitz, Siemssen sowie Arnold & Karberg lag, machte bei der allgemeinen Rezession keine Ausnahme. Die Chinesen hatten zwar einen großen Teil ihrer modernen Rüstungsgüter — etwa 500 Geschütze — an die Japaner verloren, hielten sich aber immer noch für so gut ausgerüstet, daß die ohnehin begrenzte Neuaufstellung und Reorganisation von Truppen zunächst keine größeren Käufe von neuem Kriegsmaterial notwendig machten. Zudem fehlten, nicht zuletzt wegen des Widerstandes traditionalistischer Kreise, die notwendigen Geldmittel, um die Bewaffnung der Streitkräfte weiter zu modernisieren 5 5 . Auch die Hoffnungen, die sich insbesondere der Essener Konzern wegen seiner privilegierten Beziehungen zum vormaligen Generalgouverneur von Chili zunächst noch bei dem Besuch Li Hung-changs gemacht hatte, erwiesen sich schon bald als trügerisch. W i e Friedrich Alfred Krupp vertraten nach den vorausgegangenen Enttäuschungen nicht nur ei-

51

Heyking an Hohenlohe-Schillingsfürst, 16. 5. 1897, ebd., China 5 / 7 .

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Zusammenstellung des Handelsstatistischen Büros über den Schiffs- und Warenver-

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Verzeichnis . . ., HA Krupp, W A X a 200. Vgl. Anhang, Tabelle 6. Botschaft London an

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Gesandtschaft Peking an AA, o.D. (ca. 1900): Zusammenstellung der von der Firma

kehr von Hamburg nach China 1 8 9 1 - 1 8 9 5 , Juni 1896, StAHH, B VIc/12 Bd IV. Hohenlohe-Schillingsfürst, 13. 7. 1900, PA, Abt. IA Chi/China 24 Nr. 1 6 / 1 . Mandl (und anderen) gelieferten W a f f e n : während des Kriegs: England 347, Frankreich 186, Österreich keine, USA keine; bis 1 9 0 0 : England 78, Frankreich 26, Österreich 9, USA 81, ebd., China 5 / 9 . 55

Bülow an Chef des Generalstabes, 10. 7. 1 9 0 0 : Aufstellung der 1 8 9 4 - 1 9 0 0 gelieferten W a f f e n und Munition, ebd. Verzeichnis . . ., HA Krupp, W A X a 200.

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nige Rüstungsproduzenten, sondern wohl auch die meisten deutschen Wirtschaftsführer den Standpunkt, daß politischer und militärischer Druck in China fortan wirksamer sei als Preis und Qualität der Waren 5 6 . Der wirtschaftliche Aufschwung in Deutschland seit Mitte der 90er Jahre, der nach Ansicht der gesamten Wirtschaft zu seiner Stabilisierung ständig neuer Absatzmärkte bedurfte, ließ Ostasien noch stärker ins Blickfeld von Handel und Industrie treten als in den vorangegangenen Jahrzehnten. Zwar konnte sich insbesondere der deutsche Chinahandel am Yangtze dank seiner guten Beziehungen zu Chang Chih-tung so gut entwickeln, daß er sogar zu einer ernsten Konkurrenz für die Engländer wurde. Diese verteidigten aber hartnäckig ihre vermeintlich letzte Stellung im Reich der Mitte und spielten ihre traditionellen politischen und organisatorischen Vorteile im Chinageschäft immer stärker aus. Neben den Engländern erschwerten zunehmend auch Japaner und Amerikaner die deutschen Geschäfte 57 . Die wirtschaftlichen Konzessionen in Tientsin und Hankow, die Deutschland schon 1895 als bislang einzigen „Dank" der Chinesen für seine diplomatische Hilfe gegen die Japaner erhalten hatte, waren nach Ansicht der Kaufleute im internationalen Konkurrenzkampf kaum von Wert. Nur wenige Projekte hatten sich nach Auffassung der Chinawirtschaft überhaupt realisieren lassen. Die Erwartungen der seit Mitte der 1890er Jahre auf dem chinesischen Markt überproportional expandierenden deutschen Firmenniederlassungen erfüllten sich bei weitem nicht 5 8 . Der Warenaustausch des Deutschen Reiches mit China hatte sich zwar in dem Zeitraum von 1893 bis 1897 fast verdoppelt, aber nur die Einfuhren nach Deutschland konnten mit 200 % überdurchschnittlich wachsen. Die deutschen Exporte stiegen dagegen bis 1896 lediglich um ca. 40%, 1897 lagen sie sogar wieder unter dem Wert von 1893 5 9 . Allerdings waren die Handelskreise im Gegensatz zur Industrie nicht bereit, zur Überwindung der Absatzflaute mit deutschen Regierungsstellen direkt zusammenzuarbeiten und möglicherweise ihre Unabhängigkeit zu verlieren. Die vom preußischen Innenministerium, vom Auswärtigen Amt und vom Centraiverband Deutscher Industrieller (CVDI) 1897 geförderte Ostasienkommission fand wenig Gegenliebe bei den Chinakaufleuten, da die Mission ausschließlich die deutsche

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F. A. Krupp an Richthofen, AA, 19.1. 1898, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 8 . Krupp an Chinesische Gesandtschaft, Berlin, 3.12. 1897, Boelcke (Hrsg.), Nr. 68; Firma Krupp an Wilhelm II., 3 . 1 2 . 1897, ebd., Nr. 68a. So ernannte England seinen Generalkonsul in Shanghai zum Superintendenten des britischen Handels, der einem Zusammenschluß aller in China tätigen britischen Firmen vorstand. Auf amerikanischer Seite wurde die „American Asiatic Association" gebildet. Aufzeichnung Senat von Hamburg, 2 7 . 1 1 . 1896, StAHH, B VIc/11 Bd III. Die Zahl der deutschen Firmen in China stieg von 1893 bis 1897 um 3 0 % . J. Chen, S. 32 f.; O. Franke, Erinnerungen, S. 76 ff. S. Anhang Tabelle 1.

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Textilindustrie unterstütze, die ohnehin gegen die Produkte der Engländer am Yangtze nicht konkurrenzfähig sei. Dagegen schlössen sich die Chinakaufleute den lauten Vorwürfen der Wirtschaft in Deutschland an: Das Auswärtige Amt verharre untätig und habe noch immer keine Eisenbahnkonzession ausgehandelt, während England, Rußland und Frankreich über niedrige Eisenbahnzölle ihre Handelsbeziehungen mit China intensivieren könnten. Auch die deutsche Eisen- und Stahlindustrie stimmte nunmehr voll in die Kritik an der „Wilhelmstraße" ein, obwohl sie sich zunächst noch zurückgehalten und wie die Diplomaten auf eine Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen mit Japan als Ausgleich für China gehofft hatte 60 . Obwohl die deutsche Ostasienpolitik unmittelbar nach dem Einspruch von Shimonoseki noch nicht daran dachte, sich vom „Ostasiatischen Dreibund" loszusagen, um die vermeintliche Unterstützung Frankreichs und Rußlands in China nicht aufs Spiel zu setzen, versuchte Berlin doch, das verärgerte Japan zu besänftigen. Das fernöstliche Inselreich schien nach seinem Sieg zunächst einmal der weitaus geeignetere wirtschaftliche, politische und militärische Partner als das angeschlagene China zu sein. Die vormaligen Drohungen gegen die neue asiatische Großmacht waren ohnehin zum größten Teil überzogenen Geltungsansprüchen aus der Umgebung des Kaisers entsprungen. Das Auswärtige Amt hätte es viel lieber gesehen, wenn die Japaner ihre Forderungen zurückgeschraubt hätten, um eine Intervention überflüssig zu machen. Schon Anfang 1896 gelang es daher den kompromißbereiten Diplomaten, einen deutsch-japanischen Handelsvertrag auf gleichberechtigter Basis zu schließen, der den alten („ungleichen Vertrag") von 1869 mit seinen verbrieften Privilegien für Deutschland ablöste. Die „Wilhelmstraße" hoffte, so nicht nur den deutsch-japanischen Warenaustausch zu beleben, sondern auch die Kontakte zum japanfreundlichen England zu intensivieren 61 . Das Interesse der deutschen Industrie galt nach der Niederlage der Chinesen ebenfalls zunächst Japan. Von dem Handelsvertrag erwartete sie eine starke Belebung der Ostasiengeschäfte, denn nach Ansicht der Wirtschaftskreise war der deutschen Handel mit dem modernisierungsbereiten Japan, der nur etwa zwei Drittel des deutsch-chinesischen Warenaustausches ausmachte, bislang viel zu kurz gekommen 62 . Selbst die so einträglichen Rüstungslieferungen nach China sollten von nun an nur mit größter Rücksichtnahme und Geheimhaltung weitergeführt werden, um die Japaner nicht zu verärgern, da diese schon während des Krieges größere Zurückhaltung auf diesem Gebiet gefordert hatten. Wie die Prognosen für das potentielle Rüstungsgeschäft mit China viel zu optimistisch gewesen waren, so erfüllten sich auch die an den

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Denkschrift der Reichsregierung über die deutschen Niederlassungen Tientsin und Hankow, 23. 3. 1898, als Anlage beim Protokoll des Senats von Hamburg, 30. 3. 1898, StAHH, C Ill/g 2. Jerussalimskij, Eindringen, S. 1846 ff.

61

Marschall an Hatzfeldt, 6. 4. 1895, GP, Bd 9, Nr. 2235. Rotenhan, AA, an Radolin, 6. 7. 1895, B e h n e n (Hrsg.), Nr. 55.

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Bloch, S. 4 f. 147

deutsch-japanischen Handelsvertrag geknüpften Erwartungen bei weitem nicht. Japanische Importzölle von 10 % hatte die deutsche Wirtschaft nicht erwartet, und mit größeren Exporten aus dem rohstoffarmen Japan war ohnehin kaum zu rechnen. Obwohl sich die deutsche Ausfuhr nach Japan bis Ende der 1890er Jahre tatsächlich mehr als verdoppeln konnte und um die Jahrhundertwende ca. 50 % höher war als die nach China, lag daher das Hauptaugenmerk von Handel und Industrie bald wieder eindeutig auf dem Reich der Mitte, das allein mit seinem Yangtze-Gebiet mehr zu bieten schien als ganz Japan. Nach Ansicht der gesamten Chinawirtschaft drohte China jedoch bei den größeren Modernisierungsmaßnahmen, die Mitte 1897 anscheinend endlich begannen, für Deutschland zu einer ebensolchen Enttäuschung zu werden wie Japan, falls nicht endlich etwas Konkretes unternommen werde, um territoriale und handelspolitische Vorteile der anderen Mächte zu kompensieren. Die Notwendigkeit, einen Stützpunkt in Besitz zu nehmen, wurde bei den diplomatischen Vertretern immer eindringlicher vorgebracht 63 . Auch in der Chinapolitik des Auswärtigen Amtes hatte bereits nach dem Scheitern der Gespräche mit Li Hung-chang die Erwerbung eines Stützpunktes als Kompensation für die diplomatische Hilfeleistung gegen Japan einen höheren Stellenwert erhalten 64 . Unmittelbar nach den enttäuschend verlaufenen Verhandlungen stellte der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Freiherr Marschall v. Bieberstein, in seinen Aufzeichnungen über den Besuch des chinesischen Ministers fest, daß unter den gegebenen Umständen wohl auch eine deutsche Militärmission für Deutschland von geringerem Nutzen sein würde als der Erwerb eines Stützpunktes. Die deutsche Vertretung in Peking hatte schon Ende 1894 unter Hinweis auf die bedeutenden Handelsinteressen im Reich der Mitte davor gewarnt, territoriale Erwerbungen rundweg abzulehnen, sollten die anderen Großmächte einen aggressiven Expansionskurs einschlagen. Mit dem offensiven Verhalten Rußlands und Frankreichs schien nun allen politischen Beteiligten in Berlin ein Landerwerb immer notwendiger zu werden. Auch der Gesandte in China ließ keinen Zweifel an seinen Vorstellungen aufkommen: „Ich habe . . . in . . . Äußerungen Li Hung-changs (nicht) die leiseste Neigung, auf unsere Interessen Rücksicht zu nehmen, finden können. Hier hilft nur Gewalt 65 ." Heyking erhielt schließlich den Auftrag, einen geeigneten Platz zu suchen und eine Vereinbarung mit China auf friedlichem Weg zu erreichen. Der deutsche Diplomat betrachtete

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Bericht Dr. W i e g a n d über seine Reise nach Ostasien, 5. 4. 1899, StAHB, 2 / R l i m m l . Jerussalimskij, Bismarck, S. 5 0 0 ff.; Wu, S. 49 ff.

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Aufzeichnung Marschall, 2 2 . 6 . und 2 5 . 1 1 . 1896, PA, Abt. IA Chi/China 7 / 1 . Bee,

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Heyking an AA, 2 5 . 1 2 . 1896, über ein Gespräch mit Li nach dessen Rückkehr, PA, Abt.

S. 84 ff.; Irmer, S. 27 ff. IA Chi/China 4 / 2 . 148

die beginnenden Verhandlungen jedoch nur als Ablenkungsmanöver und schlug schon bald Amoy für eine gewaltsame Annexion vor 66 . Das Auswärtige Amt blieb aber bei seiner Politik, lediglich diplomatischen Druck auf China auszuüben, und orientierte sich besonders an einer möglichen Reaktion der anderen Mächte, die auf diplomatische Fühlungnahmen hinsichtlich eines deutschen Stützpunktes Anfang 1897 eindeutig ablehnend geantwortet hatten. Die „Wilhelmstraße" hielt es daher für völlig ausgeschlossen, den Vorschlag Heykings aufzugreifen und mit einer Besetzung des Vertragshafens Amoy die Engländer am Yangtze zu provozieren. Durch ihr zögerndes und ambivalentes Verhalten, das weder Rußland und Frankreich, noch England und vor allem nicht den neuen Wirtschaftspartner Japan reizen, Deutschland aber trotzdem den ihm gebührenden Anteil in China sichern sollte, drohte der deutschen Außenpolitik im Spannungsfeld kontinentaler Machtansprüche und weltpolitischer Ambitionen die Stützpunktfrage zu entgleiten. Die aufstrebende kaiserliche Marine konnte sich daher — vergleichbar dem wachsenden Einfluß der Militärs auf die deutsche Chinapolitik seit Anfang der 1930er Jahre — immer stärker zur treibenden Kraft entwickeln, um schließlich die China- und Ostasienpolitik vor vollendete Tatsachen zu stellen 67 . Die vom Auswärtigen Amt unter Freiherrn v. Marschall vertretenen, europäisch ausgerichteten Zielvorstellungen einer begrenzten Überseepolitik wurden in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts immer mehr von einer rein machtpolitisch orientierten Marinepolitik überlagert. Diese fixierte sich geradezu auf eine Auseinandersetzung mit England, dem potentiell stärksten Gegner Deutschlands, um dem Reich bei einem zukünftigen für unvermeidlich gehaltenen Kampf um die Weltherrschaft das Schicksal zu ersparen, auf das Niveau eines Agrarstaates zurückzufallen. Eine schlagkräftige Flotte schien das geeignetste Mittel, Deutschlands Sicherheit auf seinem Weg zu einer Weltmacht zu garantieren und es vor englischen Angriffen zu bewahren 68 . Mit Unterstützung des Kaisers, der immer häufiger unmittelbar in militärische und politische Probleme eingriff, war es der Marine gelungen, allmählich die rein instrumentale Funktion Bismarckscher Prägung zu überwinden und zu einem eigenständigen Machtfaktor zu avancieren. Gerade in bezug auf Kolonien vermochte die Marineführung, seit 1888/89 aus dem Oberkom-

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Marschall an Hollmann, Reichsmarineamt (RMA), 1 1 . 3 . 1895, und Antwort, 1 7 . 4 . 1895, BA-MA, RM 5 / 5 9 2 8 . Schenck an Hohenlohe-Schillingsfürst, 2 3 . 1 1 . 1894, GP, Bd 9, Nr. 2221;

Hohenlohe-Schillingsfürst

an Marschall,

1.9.

1895,

ebd., Bd 14, 1,

Nr. 3648; Marschall an Radolin, 2 5 . 1 0 . 1895, ebd., Nr. 3653; Aufzeichnung Klehmet, AA, 18. 3. 1896, ebd., Nr. 3662. 67

Denkschrift Admiral v. Diederichs, 1 9 0 6 / 1 9 0 8 , BA-MA, N 255, Bd 24. Aufzeichnung Klehmet, AA, 2 8 . 1 1 . 1 8 9 6 , GP, Bd 1 4 , 1 , Nr. 3669. Gérard, Berlin, an Außenminister Hanotaux, 2 6 . 1 . 1 8 9 7 , DDF 1 8 7 1 - 1 9 1 4 , l e Série, Bd 13, No. 131. Heyking, Briefe, S. 10 ff.; dies., Tagebücher, S. 170 ff.; Möller, S. 39 ff.; W o o d , S. 12 ff.

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Deist, Flottenpolitik, S. 10 ff.; P. Kennedy, Strategieprobleme, S. 182 ff.

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mando, dem Marinekabinett und dem (politischen) Reichsmarineamt bestehend, immer stärker, eine eigenständige und einheitliche Politik zu betreiben, die von interessierten industriellen Kreisen aufmerksam verfolgt wurde. Die guten Beziehungen des Kaisers zur Kriegsgeräteindustrie hatten dazu beigetragen, die alten Querelen zwischen Militär und privaten Rüstungsproduzenten endgültig zu überwinden. Davon profitierte insbesondere der Krupp-Konzern, dem ab 1895 mit der „Rheinischen Metallwaren- und Maschinenfabrik Düsseldorf" (Rheinmetall) ein ernsthafter Konkurrent bei der Herstellung von schwerindustriellem Rüstungsmaterial erwachsen war. Mit der vom Kaiser favorisierten maritimen Aufrüstung hoffte die Essener Firma, das ganz große Geschäft zu machen, und hatte zu diesem Zweck die Germania-Werft in Kiel gekauft 69 . Das persönliche Regiment Wilhelms II. und dessen demonstrativ betonte Stellung als Oberbefehlshaber der kaiserlichen Marine sowie als Oberster Feldherr des deutschen Heeres festigten nicht nur das Ansehen der Seestreitkräfte, sondern auch das Heer büßte nichts von seiner Vorrangstellung ein, obwohl der Monarch aus seiner besonderen Zuneigung zur Marine kein Hehl machte; das traditionelle Selbstverständnis blieb ungebrochen. Die 1892 langsam anlaufende Aufrüstung zu Lande, das 1894 im Reichstag durchgesetzte Quinquennat und die ab 1896/97 vollzogene umfangreiche Erneuerung der Artillerie ließen keine Einbuße an politischer Macht oder militärischen Machtmitteln erkennen. Im Gegenteil: Durch eine modifizierte militärische Doktrin des Zweifrontenkrieges wurde die Bewegungsfreiheit der politischen Führung noch weiter eingeschränkt 70 . Im Gegensatz zur politischen Führung hatten sich bei der obersten militärischen Führung — nicht zuletzt unter dem Einfluß des Kaisers — Mitte der 90er Jahre immer stärker Strategien entwickelt, die sich primär und kompromißlos gegen die Westmächte richteten, um dem Deutschen Reich entweder den ihm gebührenden Platz einer mehr kontinental oder einer mehr überseeisch ausgerichteten Führungsmacht zu sichern. Versuche, diese zunächst umrißhaften Planungen eigenmächtig, möglichst schnell und ohne außenpolitische Absicherung in praktische Politik umzusetzen, stellten in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre den Primat der politischen Führung ernsthaft in Frage. Erst nach dem konzeptionellen Schulterschluß der 1897 ernannten Staatssekretäre des Auswärtigen und des Marineamtes, Bernhard v. Bülow und Alfred Tirpitz, der auch vom Generalstabschef v. Schlieffen gebilligt wurde, eröffnete sich dem Deutschen Reich um die Jahrhundertwende die Perspektive einer militärischen und politischen Gesamtplanung auf dem Weg zu einer Weltmacht. Tirpitz, der die Grandzüge seiner Flottenpolitik Mitte der 90er Jahre während seiner Zeit als Chef des Stabes im Oberkommando entwickelt hatte,

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Köhne-Lindenlaub, S. 136 f.

70

Berghahn, Rüstung, S. 256 ff.; Craig, S. 278 ff.

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stand von Anfang an dem Erwerb überseeischer Besitzungen, soweit diese nicht rein wirtschaftlich ausgerichtet waren, und einem potentiellen Kreuzerkrieg gegen England, wie ihn der Kaiser und Gruppierungen in der Marineführung ins Kalkül zogen, skeptisch gegenüber. Er war vielmehr davon überzeugt, so lange mit Hilfe von Linienschiffen in heimischen Gewässern ohne überseeische Stützpunkte Druck auf den weltpolitischen Rivalen ausüben und damit auch den Überseehandel wirksam schützen zu können, bis Deutschland selbst maritime Führungsmacht und militärisch zum Aufbau eines Kolonialreiches fähig sei 71 . Primärziel des Staatssekretärs war es, eine starke Flotte unter Hinweis auf ihre wirtschaftliche Bedeutung mit Hilfe des Reichstages und der öffentlichen Meinung überhaupt erst einmal zu einem gesellschaftspolitischen Anliegen zu machen. Durch einen stufenweisen Ausbau der Marinestreitkräfte sollte das strategische Ziel einer antibritischen Schlachtflotte allerdings verschleiert werden, um keine englischen Gegenmaßnahmen zu provozieren, aber auch um die Wirtschaftslobby zu beruhigen, die stärker auf den unmittelbaren Schutz des Handels Wert legte 72 . Sein Entwurf zum Flottengesetz von Anfang 1898 sah daher nur geringe finanzielle Forderungen an den Reichstag vor und stellte sowohl bei der Art der Bauvorhaben als auch bei der Anzahl der Schiffe den Schutz des Seehandels vor einer Verteidigung der Küste an die erste Stelle der jeweiligen Begründung 73 . Einflußreiche Kreise innerhalb der Marine, speziell das Oberkommando, das sich von der Führung des Reichsmarineamtes immer weiter ins Abseits gedrängt sah, setzten sich dagegen massiv für die sofortige Erwerbung von ausländischen Stützpunkten und die Weiterführung einer umfassenden offensiven Marinepolitik in Übersee ein. Mit Rückendeckung Wilhelms II. nahmen die Hochseestreitkräfte um die Jahrhundertwende demonstrativ Besitz von den Karolinen, Marianen, den Palau- und Teilen der Samoa-Inseln 74 . Auch nach der von Tirpitz durchgesetzten Umformung der unabhängigen obersten militärischen Kommandostelle in einen Admiralstab der Marine (1899) gelang es dem Reichsmarineamt erst nach einer gewissen Übergangszeit, den politischen Einfluß der Marinetechnokraten zurückzudrängen, die einem geplanten, durchkalkulierten Weltmachtstreben nur hinderlich zu sein schienen, und den Kaiser von einer Kreuzerflotte abzubringen 75 . Als Ergänzung und Absicherung der von Tirpitz vertretenen Weltmachtpläne bot sich Bülows außenpolitische Konzeption einer „Politik der freien Hand" geradezu an. Im Gegensatz zu den Zielsetzungen des Auswärtigen Amtes Mitte der 90er Jahre hatten dessen politische Vorstellungen ein engeres Zu-

71 72 73

74 75

Berghahn, Ziele, S. 62 ff.; Verchau, Jachmann, S. 68 ff. Denkschrift Tirpitz, 3 . 1 . 1896, BA-MA, N 253, Bd 3. Denkschrift Tirpitz zum 2. Flottengesetz, Juni 1897, ebd., Bd 4; Entwurf eines Gesetzes, Anfang 1898, ebd., RM 3/11 665. Boelcke, Meer, S. 304 ff. Ganz, Colonial Policy, S. 43 ff.; Salewski, S. 46.

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sammengehen des Reiches mit Rußland gegen das geschwächte England durchaus als sinnvoll erscheinen lassen. In enger Anlehnung an Überlegungen von Tirpitz zielte die Außenpolitik des Staatssekretärs daher von vornherein auf ein Aufbrechen des britischen Imperiums ab. Nach einem Machtverlust Englands könnte dann letztlich auch das Zarenreich, so Bülow, kein nennenswerter Gegner weiterer hegemonialer Bestrebungen Deutschlands auf dem Kontinent mehr sein. Für die gefährliche Übergangsphase der maritimen Aufrüstung zur Weltmacht mußte das Deutsche Reich zunächst jedoch — und gerade hier stimmten Bülow und Tirpitz überein — an ausgeglichenen Beziehungen mit England festhalten. Gleichzeitig erhoffte sich der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, dessen gestiegener Einfluß auf die gesamte Politik Ende des Jahrhunderts in seiner Ernennung zum Reichskanzler (17. Oktober 1900) Ausdruck fand, durch diese Art des Vorgehens die sich erneut abzeichnende Sammlungsbewegung des bürgerlichen Lagers zu stabilisieren 76 . Trotz Bülows Bemühungen um eine großangelegte Sammlung von reaktionären bis liberalen Gruppierungen ließ sich ein festes und dauerhaftes Bündnis bürgerlicher Kräfte jedoch nicht erreichen. Mit den überzogenen Weltmachtplänen der von den Schwerindustriellen unterstützten „Alldeutschen" wollten die Handelskreise nichts gemein haben. Gleichwohl wurde die Maxime „trade follows flag" zur Sicherung von Absatzgebieten gegen die imperialistischen Bestrebungen der anderen Mächte immer stärker auch von liberalen Gruppierungen akzeptiert, vor allem von enttäuschten Wirtschaftskreisen in Ostasien 77 . Sofort nach dem Ausbruch der chinesisch-japanischen Auseinandersetzungen in Korea hatte das Oberkommando der Marine eine Kreuzerdivision nach Ostasien verlegt, um, falls nötig, dortige deutsche Interessen zu wahren. Waren bislang nur zeitweise operative Verbände in überseeische Gewässer ausgelaufen, so war die militärische Führung diesmal durchaus bereit, Druck auf Gegner mittlerer Größe wie Japan oder China auszuüben, um Deutschlands Macht zu demonstrieren. Alle Marinebehörden erkannten trotz unterschiedlicher strategischer Konzeptionen die gute Möglichkeit, für das Reich in Ostasien endlich einen Stützpunkt zu erwerben, der die logistische Situation der Seestreitkräfte erheblich verbessern würde. Immer wieder wies die Marineführung auf die günstige außenpolitische Lage zu einem solchen Schritt Mitte der 1890er Jahre hin. Auch der Kaiser drängte verstärkt darauf, einen „Festen Punkt" in China in Besitz zu nehmen. Für das Reichsmarineamt stand eine Erwerbung in der Nähe der chinesischen Hauptstadt, vorzugsweise in Shantung, z. B. Kiaochow, als Ausgangspunkt für Territorialbesitz in Nordchina und weitere Stützpunkte im Vordergrund der Überlegungen. Das Ober76 77

Hillgruber, Großmacht, S. 36 ff., Winzen, S. 25 ff., 231 ff. Immediatvortrag Tirpitz über den Verlauf der Flottenkommission, 7. 5. 1900, BA-MA, N 253, Bd 5. Baasch, Bd 2, S. 861 ff. Deist, Flottenpolitik, S. 328 ff.; Ganz, Colonial Policy, S. 35 ff.

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kommando sah dagegen in der Besetzung Amoys oder eines anderen Hafens im Süden die beste Gelegenheit, gegen englische Interessen vorzugehen. Gleichzeitig hoffte es, in dem vom Zerfall bedrohten China eine Einflußsphäre am Yangtze für die deutsche Chinawirtschaft zu sichern. Von dem Gedanken einer politisch und militärisch nicht durchsetzbaren Okkupation des gesamten Yangtze-Gebietes wurde unter dem Einfluß von Tirpitz und seinen langfristigen strategischen Überlegungen jedoch schnell wieder Abstand genommen. Der Admiral verstand es, wirtschaftliche statt machtpolitische Argumente in den Vordergrund der Diskussion innerhalb der Marine zu stellen 78 . Der neue Staatssekretär des Reichsmarineamtes konnte mit seiner Lageanalyse schließlich die Marineleitung überzeugen: An der wirtschaftlichen Beherrschung des Yangtze-Gebietes solle als politisches Fernziel festgehalten werden; eine Besitzergreifung Amoys komme jedoch nicht in Frage, da den noch militärisch stärkeren Engländern kein Grund gegeben werden dürfe, selbst den Yangtze zu besetzen. Dagegen habe Rußland zwar gewisse Rechte in Kiaochow, sei aber generell stärker an einem Hafen als Endpunkt einer möglichen Eisenbahnverbindung von der „Ostchinesischen Eisenbahn" zur Südmandschurei interessiert und deshalb wohl zu Kompromissen bereit; des weiteren liege Kiaochow in unmittelbarer Nähe Pekings und biete als Ausgangspunkt einer eigenen Eisenbahnverbindung ins Hinterland gute Standortvorteile für eine wirtschaftliche Expansion in China unter dem prestigeträchtigen Schutz der kaiserlichen Marine. Die von dem Gesandten Freiherrn v. Heyking vorgebrachten Gegenargumente, der Hafen Tsingtao verspreche im Gegensatz zu Amoy erst in einigen Jahren wirtschaftliche Erfolge, und die Chinesen seien selbst an einer militärischen Nutzung der KiaochowBucht interessiert, entkräftete der Admiral mit der Überlegung, Deutschland könne dann anstelle der Engländer die Marineinstrukteure stellen. Mit einer Besetzung Kiaochows hoffte Tirpitz, liberale Wirtschaftskreise und ebenso das „Zentrum" seiner Politik zu verpflichten; schließlich könne auch der Steyler-Mission in Shantung, für die sich Deutschland seit 1882 verantwortlich fühlte, durch militärische Präsenz ein besserer Schutz gegen die Boxer zuteil werden 79 . Das Augenmerk der obersten militärischen Führung lag nach dieser grundsätzlichen Entscheidung bereits seit Mitte 1897 allein auf der politischen Absicherung des Kiaochow-Unternehmens und auf der Suche nach einem Vor-

78

RMA an Admiral Knorr, 5 . 1 0 . 1895, BA-MA, RM 5 / 5 9 2 8 ; Chef der Kreuzerdivision, Hoffmann, an Admiral Knorr, 26. 8. 1895 und 24. 3. 1896 mit Denkschrift von Kapitän z. S. Jaeschke, ebd.; Stellungnahme des RMA zur Denkschrift Jaeschke, 2. 6 . 1 8 9 6 , ebd. Bericht Premierleutnant Pflaum bei dem Königlich Bayerischen Generalstab von 1 8 9 4 / 1 8 9 5 , KA, GenStab/2 65.

79

Tirpitz an Admiral Knorr, 5. 9. und 7 . 1 2 . 1 8 9 6 , BA-MA, RM 5 / 5 9 2 9 ; Heyking an Tirpitz, 12. 8. 1897, ebd. Ganz, Role, S. 90 f. Zu den deutschen Missionaren Stoecker, Deutschland, S. 242 ff. 153

wand für die Intervention. Im August konnte sich der deutsche Kaiser im Petersburger Abkommen mit dem Zaren zwar lediglich über eine Mitbesetzung der Kiaochow-Bucht einigen, die bislang von russischen Kriegsschiffen im Winter als eisfreier Ankerplatz genutzt worden war, die Ermordung deutscher Missionare durch die Boxer lieferte aber einen so trefflichen Vorwand für ein militärisches Eingreifen, daß die Besetzung Tsingtaos am 14. November 1897 vollzogen wurde. Die Bemühungen der politischen Führung, zuvor noch weitere diplomatische Absicherungen zu erreichen, waren allerdings vergeblich gewesen. Auch Tirpitz hatte sich gegen ein übereiltes und gewaltsames Vorgehen in China ausgesprochen, da er bei möglichen außenpolitischen Komplikationen um seine Flottenvorlage fürchtete. Sein Einfluß reichte aber noch nicht dazu aus, die geplante Aktion weiter aufzuschieben 80 . Die Besetzung Kiaochows wurde schließlich vom Kaiser und vom Oberkommando der Marine entgegen den Bedenken des Reichsmarineamtes und des Auswärtigen Amtes angeordnet. Politische Überlegungen mußten militärischer Gewalt weichen. Die Marine nutze den Machtverlust der politischen Führung angesichts des wachsenden Einflusses kontinentaler und kolonialer militärischer Strategien auf die Außenpolitik zur Durchsetzung ihrer Überseepläne, die mit dem Kiaochow-Projekt ihren Auftakt fanden. Das Auswärtige Amt hatte dagegen Ende 1897 einen großen Teil der Initiative in der Chinapolitik verloren. Tirpitz sah in der territorialen Erwerbung allerdings von vornherein weniger einen militärischen Stützpunkt auf dem Weg zu neuen Kolonien als vielmehr einen vielversprechenden Handelsplatz für die deutsche Wirtschaft und ein wertvolles Prestigeobjekt für die Marine 81 . Noch vor der Unterzeichnung des von Deutschland erzwungenen KiaochowVertrages 82 zwischen dem Deutschen Reich und China (6. März 1898) hatte das Reichsmarineamt auf Betreiben von Tirpitz im Februar 1898 offiziell die Verwaltung des neuen deutschen Schutzgebietes übernommen. Kurze Zeit später wurden die ersten Kontakte mit interessierten Wirtschaftskreisen über den Aufbau Tsingtaos und die Erschließung des Hinterlandes in Shantung aufgenommen 83 . Der Staatsvertrag ermöglichte Deutschland die Pacht des Kiaochow-Gebietes auf 99 Jahre und sicherte als wichtigstes Ergebnis dem

80

Tirpitz an Kommandierenden Admiral, Dezember 1896, BA-MA, N 253, Bd 4 4 ; Tirpitz an Hohenlohe-Schillingsfürst, 1 0 . 1 1 . 1897, ebd. Stingl, S. 130 ff.; Winzen, S. 429. Oberkommando der Kriegsmarine an Wilhelm II., 1 2 . 1 1 . 1897, BA-MA, RM 5 / 5 9 3 0 ;

81

Tirpitz an Kommandierenden Admiral, Dezember 1896, ebd., N 253, Bd 4 4 ; Jaeschke an Tirpitz, 19. 12. 1897, ebd., Bd 45; Denkschrift Admiral v. Diederichs 1 9 0 6 / 1 9 0 8 , ebd., N 255, Bd 24. Vgl. Befehl Wilhelm II. an Diederichs, 6 . 1 1 . 1897, GP, Bd 14, 1, Nr. 3687; Hohenlohe-Schillingsfürst an Wilhelm II., 6 . 1 1 . 1897, ebd., Nr. 3688; Wilhelm II. an Hohenlohe-Schillingsfürst,

7.11.

1897,

ebd.,

Nr. 3689.

Jerussalimskij,

Bismarck,

S. 4 9 6 ff.; Möller, S. 61 ff. 82

Textauszug abgedruckt bei Ch. Chen, S. 308 ff.

83

AA an Tirpitz, 9. 2. 1898, PA, Abt. IA Chi/China 2 0 / 1 ; Schreiben, o.N., an AA, 27. 2. 1898, ebd. Kiaochow-Vertrag abgedruckt bei Behnen (Hrsg.), Nr. 86.

154

Deutschen Reich die bevorzugte Behandlung bei allen Wirtschaftsunternehmungen in der Provinz Shantung zu. Dieses Privileg wurde sogleich mit dem Erwerb von drei Eisenbahnkonzessionen und der Bergbaurechte innerhalb eines 15 km breiten Streifens zu beiden Seiten der Eisenbahnstrecken realisiert. Trotz der Unsicherheit geologischer Gutachten drängte das Reichsmarineamt auf eine schnelle Nutzbarmachung des Gebietes, um bald erste konkrete Ergebnisse vorweisen zu können. Die Weitergabe der Eisenbahn- und Bergbaurechte an das von Industrie- und Finanzkreisen gegründete Shantung-Syndikat (l.Juni 1899) führte schon am 14. Juni 1899 zur Gründung der Shantung-Eisenbahn-Gesellschaft (SEG) und am 21. August 1899 zur Gründung der Shantung-Bergbau-Gesellschaft (SBG). Bei beiden Gesellschaften behielt sich das Reich wie bei der Deutsch-Asiatischen Bank die Oberaufsicht vor, mußte dafür aber der Wirtschaft den militärischen Schutz der geplanten Großprojekte garantieren 84 . Die Erwartungen von Tirpitz erfüllten sich jedoch nicht. Übergriffe der Boxer gegen Missionare und übereifrig vorgehende Wirtschaftsvertreter, die Minen bereits erwarben, bevor die genaue Streckenführung der ersten Eisenbahnlinie überhaupt feststand, führten zu militärischen Einsätzen deutscher Marinetruppen sogar innerhalb Shantungs. Das Reichsmarineamt befand sich daher in dem Konflikt, den ordnungsgemäßen und erhofften schnellen Bau der Eisenbahn durch den Einsatz von Truppen zu gewährleisten oder als vertragsbrüchig und unternehmerfeindlich dazustehen. Die Shantung-Eisenbahn-Gesellschaft lehnte zudem den Verständigungsvorschlag der Marinebehörde ab, die Praxis der Engländer am Yangtze nachzuahmen und aus eigener Tasche Zahlungen an die Mandarine zu leisten, um so die Führung der Boxer zu korrumpieren. Tirpitz war aber auch auf dem Höhepunkt der Fremdenfeindlichkeit nicht bereit, einen unbegrenzten militärischen Schutz zu gewährleisten, um nicht angesichts der beginnenden bewaffneten Intervention der anderen Mächte gegen die Boxer in Chili durch Machtdemonstrationen in Shantung eine Aufteilung Chinas zu provozieren. Deutschland hätte sich in einem solchen Fall wegen seiner relativen militärischen Schwäche in Fernost wohl oder übel mit Shantung bescheiden müssen. Die Berufung des Befehlshabers der Peyang-Armee, Yüan Shih-k'ai, zum Gouverneur und die Verlegung eines Teils seiner Truppen nach Shantung, die hier hart gegen die Boxer vorgingen, bewahrte das Reichsmarineamt jedoch zunächst vor weiteren Schwierigkeiten 85 . Schon unmittelbar nach seiner Berufung zum Staatssekretär hatte Tirpitz versucht, gute Beziehungen zu den reformbereiten chinesischen Militärführern am Yangtze und in Nordchina herzustellen. Er hoffte, der im Aufbau begriffenen deutschen maritimen Rüstungsindustrie auf diese Weise größere Bauaufträge zu vermitteln und so zu ihrer Stabilisierung beizutragen. Aber nicht

84

Tirpitz an Gouverneur Kiautschou, 2 2 . 2 . 1899, BA-MA, RM 3 / 7 0 1 4 . Loch, S. 40 ff.; Preyer, S. 141 ff.

85

Bülow an Tirpitz, 8. 7 . 1 9 0 0 , BA-MA, RM 3 / 7 0 1 6 ; SEG an RMA, 1 1 . 1 0 . 1 9 0 0 , ebd.; SEG an Tirpitz, 1 . 1 1 . 1900, ebd.; SEG an Direktion SEG, 2 7 . 1 0 . 1900, ebd. 155

nur vom wirtschaftlichen, sondern auch vom militärischen Gesichtspunkt erschien es wichtig, einen Teil der chinesischen Marine in deutschen Händen zu wissen, um bei ihr einen größeren englischen und französischen Einfluß zu verhindern. Ohne Zögern griff das Reichsmarineamt daher auch den Vorschlag Heykings auf, sieben von China schon in Deutschland bestellte Kriegsschiffe 86 durch deutsche Soldaten überführen zu lassen, die anschließend in chinesischen Diensten als Marineinstrukteure in Kiaochow tätig bleiben sollten. Das Reichsmarineamt verstand es, die Hoffnungen der deutschen Rüstungsproduzenten neu zu beleben. Nach der Besetzung Tsingtaos war Tirpitz überzeugt, wie erhofft die alten chinesischen Pläne aufgreifen und Kiaochow zu einem Ausbildungszentrum der chinesischen Marine ausbauen zu können 8 7 . Das Vorhaben ließ sich jedoch Anfang 1898 nicht durchführen. Allerdings weigerten sich nicht die Chinesen, etwa aus Verärgerung über die Besetzung Kiaochows, die Schiffe abzunehmen, sondern die deutschen Werften, die im Auftrag der chinesischen Gesandtschaft die Überführung der Schiffe in eigener Regie übernommen hatten, lehnten die Mitwirkung von Offizieren außer Diensten wegen deren geringen technischen Ausbildungsstandes ab. Aktive Offiziere wollte und konnte der Chef des Marinekabinetts, Freiherr v. Senden und Bibran bei der knappen Personallage der im Aufbau befindlichen Flotte aber nicht zur Verfügung stellen. Die voreiligen und kaum durchdachten Überlegungen von Tirpitz, 120 Offiziere zu Diensten oder außer Diensten unter Leitung eines aktiven höheren Offiziers zu einer Marinemission in China zusammenzufassen, scheiterten daher schon in der Anfangsphase 88 . Die Pläne einer deutschen Marinemission wurden Ende des Jahres 1898 — jetzt mit deutlicher Unterstützung Bülows — aber wieder aufgegriffen, als feststand, daß die Engländer einen Aufbau der chinesischen Marine generell ablehnten, falls ihnen keine Kommandogewalt eingeräumt würde. Obwohl das Reichsmarineamt in den nächsten Jahren weder die Zusammenarbeit mit der chinesischen Marine noch überhaupt mit reformbereiten Militärs in Chi-

86

Vier Torpedoboote und drei Kreuzer waren kurz nach dem chinesisch-japanischen Krieg bei der Schichau- bzw. bei der Vulcan-Werft bestellt worden. AA an Krupp, 17. 12. 1897, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 8 ; Aufzeichnung Klehmet, AA, 1 9 . 1 2 . 1897, ebd.

87

Konsulat Tientsin an Hohenlohe-Schillingsfürst, 15. 4. 1895, ebd., China 5 / 5 ; Heyking an Hohenlohe-Schillingsfürst, 28. 9. und 1 3 . 1 0 . 1897, 26. 9. und 2 5 . 1 2 . 1898, ebd., China 5 / 8 ; Tirpitz an Bülow, 2 1 . 1 . 1898, ebd.; Tirpitz an Kommandierenden Admiral, 6. 11. 1896, ebd.

88

Allerdings w a r der Staatssekretär auch nicht bereit, als Ersatz die privat angeworbenen deutschen Militärinstrukteure aus Woosung, deren Verträge teilweise Mitte 1898 gekündigt wurden, für Kiaochow zu übernehmen. Tirpitz, der schon als Kommandeur des Ostasiengeschwaders (Mai 1 8 9 6 - M a i 1897) seine Antipathie gegenüber diesen „Beratern" nicht verborgen hatte, dachte ausschließlich an Spitzenkräfte. Reitzenstein an Adjutant von Prinz Heinrich, 29. 7. 1898, ebd., China 5 / 8 ; Mitte 1898 blieben noch 22 Instrukteure in Woosung. Bülow an Tirpitz, 19. 2. 1898, ebd.; AA an RMA, 2 0 . 4 . 1898, ebd., China 2 0 / 1 ; Tirpitz an AA, 9. 5. 1898, ebd.

156

na zu intensivieren vermochte, sah es keine Veranlassung, größeren militärischen Druck auf die Chinesen auszuüben, zumal Yüan Shih-k'ai den deutschen Interessen in Shantung durchaus wohlwollend gegenüberstand. Vor allem fürchtete Tirpitz den potentiellen Widerstand der anderen Großmächte, der leicht zu einem größeren Konflikt hätte eskalieren und seinen Schlachtflottenplänen gerade in der labilen Anfangsphase der Aufrüstung zur Weltmacht gefährlich werden können 89 . Der Staatssekretär des Reichsmarineamtes hatte schon mit Unbehagen das Vorgehen des Oberkommandos der Marine verfolgt, das mit der Entsendung einer zweiten Kreuzerdivision unter dem Bruder des Kaisers, Prinz Heinrich, im Dezember 1897 die Verbände in Ostasien zu einem schlagkräftigen Geschwader zusammenfaßte. Die militärischen Aktionen in Tsingtao, die in den folgenden Jahren zu weiteren territorialen Annexionen in der Südsee führten, paßten nicht in seine Konzeption, zur Absicherung der maritimen Aufrüstung Deutschlands Konflikte weitgehend zu vermeiden. Schon frühzeitig mahnte Tirpitz daher das Oberkommando, Tsingtao nicht als Teil und Ausgangspunkt eines militärischen Stützpunktsystems für die Hochseeflotte in Ostasien zu betrachten, wesentlich seien vielmehr die wirtschaftlichen Momente der Marinepräsenz in Fernost und die Wirkung auf die Öffentlichkeit in Deutschland 90 . Tirpitz sah sein Anliegen, die Besetzung Kiaochows als Trumpf für die Flottenpropaganda auszunutzen und mit einem raschen Aufbau des Schutzgebietes zu einer Musterkolonie einen Werbeeffekt für die Marinepolitik zu schaffen, ständig gefährdet. Der Admiral wandte sich strikt gegen weitere territoriale Annexionen. Pläne des Oberkommandos, Kiaochow doch noch als Kompensationsobjekt für vertraglich zugesicherte Sonderrechte am Yangtze zu behandeln, welche die Engländer nur noch mehr provozieren mußten, als es die Okkupation schon getan hatte, lehnte er ebenfalls ab. Einer Kommandierung von 1500 Soldaten Marineinfanterie durch das Oberkommando nach Tsingtao konnte Tirpitz sich zwar nicht widersetzen, er trat aber den Versuchen Prinz Heinrichs entschieden entgegen, in China wie auch in fernöstlichen Gewässern die Politik eines „Weltpolizisten" zu treiben 91 . Für eine Marine als „Überseefeuerwehr" war innenpolitisch keine Unterstützung zu gewinnen, zumal die erste Begeisterung über den militärischen Handstreich in Kiaochow die Realitäten in China nicht lange zu überdecken vermochte 92 . Wirtschaftskreise hatten sich durch den spektakulären Erfolg in Kiaochow

89

Tirpitz an Senden und Bibran, 3 1 . 1 2 . 1897 und 4. 5. 1898, BA-MA, RM 2 / 9 0 5 ; Heyking an AA, 3. 8. 1897, ebd.; Senden und Bibran an Tirpitz, 7 . 1 . und 23. 5. 1898, ebd.

90

Notiz Tirpitz, Dezember 1897, ebd., N 253, Bd 45; Tirpitz an Kommandierenden Admiral, 3. 1., 5. 1. und 24. 1. 1898, ebd., RM 5 / 5 9 3 1 . Ganz, Role, S. 133 ff.; Röhl, Deutschland, S. 230 ff.; Schrecker, S. 44.

91

Organisationsvorschlag des RMA, 24. 4 . 1 8 9 8 , BA-MA, N 253, Bd 39. O. Franke, Erinnerungen, S. 1 0 0 ff.; Heyking, Tagebücher, S. 248, 257 ff., 270.

92

Tirpitz an Diederichs, 21. 1. 1898, BA-MA, RM 5 / 5 9 3 1 ; Denkschrift Admiral Diederichs, 1 9 0 6 / 1 9 0 8 , ebd., N 255, Bd 24. Schüddekopf, S. 54 ff., 90 ff.; Winzen, S. 94 ff. 157

nur vorübergehend vom Yangtze ablenken lassen. Industrie und Hochfinanz, die sich bislang mit ihrem Engagement in China wegen der unsicheren politischen und finanziellen Verhältnisse sehr zurückgehalten hatten, begrüßten einhellig das Eingreifen der Marine. Doch urteilten sie von Anfang an skeptisch über Tsingtao, das nur durch eine Verbindung ins Innere als Eingangspforte ins Reich der Mitte zu weiteren Bodenschätzen in Shantung und Shansi nützlich sei. Von Anfang an waren sich diese Kreise darüber im klaren, daß gerade die weitere Ausdehnung zum Yangtze nicht vernachlässigt werden dürfe, und versuchten daher, auf die politische Führung entsprechend einzuwirken. Bereits Anfang 1897 war die Deutsch-Asiatische Bank als Wortführerin des „Konsortiums für Asiatische Geschäfte" mit Großbritannien und China in Verhandlungen über den Bau einer Bahn von Tientsin zum Yangtze eingetreten. Nach der Intervention in Kiaochow konnten sich die Beteiligten unter dem Eindruck der Ereignisse schließlich vorläufig darauf einigen, daß deutsche Unternehmen die Bahn zur Hälfte bauen sollten, falls eine endgültige Verständigung erreicht werde. Zudem schien mit der Gründung der Shantung-Eisenbahn-Gesellschaft (SEG) und der Shantung-BergbauGesellschaft (SBG) Mitte 1899 ein Anfang gemacht zu sein, der auf eine weitere Unterstützung des Reiches hoffen ließ 9 3 . Schon bald legte sich die erste Begeisterung über die industriellen Großprojekte in Shantung wieder. Für die Tientsin-P'ukow-Bahn war kein Baubeginn abzusehen, und bei der SEG wie bei der SBG machten sich mit den Boxerunruhen die ersten Schwierigkeiten bemerkbar. Mögliche Strafexpeditionen gegen die Boxer wurden zwar als machtpolitische Demonstration und Zeichen guten Willens nach außen hin stürmisch begrüßt, der tatsächliche Nutzen für die Wirtschaft aber von vornherein angezweifelt. Vielmehr befürchteten deutsche Wirtschaftskreise, ähnlich wie Tirpitz, als Folgewirkung eine Aufteilung Chinas, bei der Deutschland auf Shantung beschränkt bleibe, das noch viele Jahre zu seiner Erschließung von Kiaochow aus benötige, ganz abgesehen von dem vollständigen Verlust des wirtschaftlich wichtigen Yangtze-Gebietes 9 4 . Am Yangtze hatte sich seit dem Kiaochow-Vertrag aufgrund der restriktiven Wirtschaftspolitik der Engländer die Situation erheblich verschlechtert. Für den deutschen Handel mit China, der von einer unmittelbaren Belebung seiner Geschäfte durch einen Stützpunkt überzeugt gewesen war, zeichnete sich nicht zuletzt deshalb schon bald wieder ein düsteres Zukunftsbild vom chinesischen Markt ab. W ä h r e n d der Export deutscher W a r e n nach China zunächst bis 1898 weiter stieg, um die Jahrhundertwende jedoch etwa auf den Stand von 1897 zurückfiel, verringerten sich die Importe aus China wegen der inneren Unruhe sogar um ca. 50 % 9 5 . Zuwachsraten hatte das Ein-

93

Heyking an Hohenlohe-Schillingsfürst, 27. 2. 1899, PA, Abt. IA Chi/China 7 / 3 . Reisebericht Dr. Wiegand, 5. 4. 1899, StAHB, 2 / R l i m m l .

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Denkschrift Deutsche Handelskammer für Ostasien an RMA, 25. 5. 1898, BA-MA, R M

95

Ausführliche Zahlen bei Wu, S. 49.

3 / 6 7 2 5 ; Allgemeine Zeitung, 18. 6. 1898, ebd. E. Böhm, S. 122 ff.; Möring, S. 88 f.

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greifen der Marine in Nordchina dem deutschen Chinahandel nicht gebracht. Im Gegenteil: Durch die Überbetonung des Militärischen drohte der wirtschaftliche Aspekt aus dem Blickfeld zu geraten. Anstelle weiterer militärischer Prestigeaktionen forderten die Kaufleute direkte Hilfe, z. B. bei der Yangtze-Schiffahrt, die ausschließlich in englischen Händen lag. Der mit Unterstützung des Reiches erfolgte Einstieg des kapitalkräftigen Norddeutschen Lloyd und der HAPAG in die chinesische Küstenschiffahrt unterstrich dann nach Ansicht der Chinakaufleute erstmals wieder wirtschaftliche Prioritäten in der deutschen Chinapolitik. Gleichzeitig gelang damit dem Auswärtigen Amt, nicht zuletzt durch die Rückendeckung von Generalstab und Reichsmarineamt, ein erster Beweis seiner zurückgewonnenen Initiative in der Chinaund Ostasienpolitik 96 . Seit der Besetzung Kiachows hatten sich die Aktivitäten der „Wilhelmstraße" in Fernost darauf konzentriert, die Militäraktion nachträglich bei den anderen Mächten politisch abzusichern und in der Chinapolitik wieder eine einheitliche Führung unter eigener Regie herzustellen. Dabei sollten ein Ausgleich zwischen den verschiedenartigen Interessen der deutschen militärischen Führungsorgane an Ostasien gefunden sowie das Vertrauen der Wirtschaft wiedergewonnen werden. Der Schwerpunkt der Wirtschaftspolitik des Auswärtigen Amtes sollte sich daher wieder eindeutiger von Japan nach China verlagern. Insbesondere den Vorstellungen des traditionellen Handels als Basis der gesamten deutschen Chinageschäfte, der von der ausländischen Konkurrenz immer stärker bedrängt wurde, wollten die Diplomaten nun wieder größere Aufmerksamkeit schenken. Obwohl das Auswärtige Amt nicht bereit war, die Wiedergutmachungsvorschläge der Chinesen für den Mord an den Missionaren zu akzeptieren, strebte es mit der Einigung über Kiaochow einen längerfristigen Ausgleich und geänderte vertragliche Vereinbarungen an. Ganz im Sinne der Wirtschaft sollten die Chinesen nicht noch stärker verärgert und — um die eigene Aufrüstung nicht zu gefährden —die Beziehungen zu den anderen Großmächten nicht weiter belastet oder gar eine größere militärische Auseinandersetzung riskiert werden. Ein Ausgleich mit China wurde zum vordringlichen Anliegen der deutschen Fernostpolitik. Noch im November 1897 intensivierte das Auswärtige Amt daher seine Bemühungen, das von den Seestreitkräften geschaffene fait accompli nicht zu einem außenpolitischen Nachteil für Deutschland werden zu lassen. Keinesfalls sollten dabei endgültige Absprachen eingegangen, sondern durch eine Politik des Lavierens weitere Vorteile erzielt werden 9 7 .

96

R e i s e b e r i c h t Dr. W i e g a n d , 5 . 4 . 1899, StAHB, 2 / R l i m m l . R e i c h s a m t d e s I n n e r n a n S e n a t v o n B r e m e n , 10. 4. u n d 24. 5. 1899, HKHB, H p II 8 3 / 4 . AA a n S e n a t v o n B r e m e n , 27. 6. 1899, StAHB, 3 / A 3 . C . 3 / 1 8 6 .

97

AA an K o m m a n d i e r e n d e n Admiral, 1 1 . 1 2 . 1897, BA-MA, RM 5 / 5 9 3 1 . Aufzeichnung AA, 1 5 . 1 1 . 1 8 9 7 , GP, Bd 1 4 , 1 , Nr. 3701. Rede B ü l o w s im Reichstag, 6 . 1 2 . 1897, Behnen (Hrsg.), Nr. 85. Vauvineux, St. Petersburg, an Außenminister Hanotaux, 5 . 1 2 . 1897, D D F 1 8 7 1 - 1 9 1 4 , l e Serie, Bd 13, No. 374. 159

Die anderen Großmächte hatten sich von Anfang an gegenüber dem deutschen Vorgehen reserviert gezeigt. So konnte von einer tragfähigen Vereinbarung der obersten militärischen Führung mit Rußland bald keine Rede mehr sein. Die Russen, die auf ihre bisherigen Abmachungen mit China verwiesen, forderten Deutschland vielmehr auf, alle Militärberater aus der Mandschurei und aus ganz Nordchina nach Shantung zurückzuziehen. Das Auswärtige Amt sah zwar in den russischen Forderungen kein unüberwindbares Hindernis für eine Verständigung, erwartete aber als Entgegenkommen ein Einwirken des Zarenreiches auf die Chinesen, den Kiaochow-Vertrag so schnell wie möglich zu unterzeichnen. Obwohl es den Russen nicht gelang, die Reichsregierung darüber hinaus zu anderen Verpflichtungen primär gegen England zu bewegen, konnte Bülow noch eine weitere Zusage von St. Petersburg erwirken: Die Ausbildung der chinesischen Marine sollte entsprechend den Vorstellungen von Tirpitz allein deutschen Instrukteuren überlassen bleiben 98 . England beobachtete diese deutsch-russischen Kontakte von Anfang an mit großer Sorge. Auch in Richtung Großbritannien hatte die deutsche Politik sofort nach der Besetzung Kiaochows Beschwichtigungsversuche unternommen. Doch die mißtrauischen Engländer forderten vom Deutschen Reich verbindliche Zusagen, China offenzuhalten und, wenn nötig, gegen Rußland politisch und militärisch vorzugehen; als Gegenleistung sollte Deutschland allerdings seine Interessensphäre in Shantung weiter ausdehen dürfen. Die Reichsregierung war jedoch zu keiner antirussischen Politik zu bewegen, und die wirtschaftliche Konkurrenz am Yangtze belastete die deutsch-englischen Beziehungen immer stärker. Nach der deutsch-englischen Verständigung über die Reorganisationsanleihe für China im März 1898 fand lediglich auf privatwirtschaftlicher Ebene eine Zusammenarbeit statt, die schließlich den Präliminarvertrag von 1899 für die Tientsin-P'ukow-Bahn ermöglichte. Während die englische Politik versuchte, alle weiteren Projekte des Reiches am Yangtze abzublocken, bemühte sich die „Wilhelmstraße", englisches Kapital aus deutschen Unternehmungen in Shantung fernzuhalten und entsprechende Absprachen der Industrie und der Finanz zu hintertreiben. Mit diesem mehr als reservierten Kurs gegenüber den Engländern in Ostasien lag Bülow im Gegensatz zu seinen Amtsvorgängern ganz auf der Linie der zunehmend antiwestlich eingestellten obersten militärischen Führungskreise des Reiches".

98

Heyking an AA, 2 5 . 1 2 . 1897, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 8 ; Bülow an Gesandtschaft Peking, 2 5 . 1 2 . 1897, ebd.; Gesandtschaft St. Petersburg an AA, 2 8 . 1 2 . 1897, ebd.; Bülow an Radolin, 3. 1. und 4 . 1 . 1 8 9 8 , ebd.; Heyking an Hohenlohe-Schillingsfürst, 16. 5. und 31. 5. 1898, ebd.; Bülow an Radolin, 3 . 1 . 1898, GP, Bd 14,1, Nr. 3745. Holstein an Hohenlohe-Schillingsfürst, 9 . 1 1 . und 1 0 . 1 1 . 1897, 18. 2. 1898, in: Hohenlohe-Schillingsfürst, Reichskanzlerzeit; Aufzeichnung Hohenlohe-Schillingsfürst, 1 0 . 1 1 . 1897, ebd.

" S a l i s b u r y an Lascelles, Berlin, 1 2 . 1 . 1898, BDOW, Bd 1, No. 3; MacDonald an Salisbury, 1. 3. 1898, ebd., No. 21. Hatzfeldt an AA, 1. 4. 1898, GP, Bd 14,1, Nr. 3784; Aufzeichnung Wilhelm IL, 2 2 . 8 . 1898, ebd., Nr. 3865; Bülow an Hatzfeldt, 2 3 . 1 . 1898, ebd., Nr. 3752.

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Die optimistischen Vorstellungen des Auswärtigen Amtes über die weitere Entwicklung der deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen wurden jedoch durch die sich immer weiter zuspitzende Boxerkrise entscheidend gefährdet. Die Befürchtungen, Rußland könne den ganzen Norden einschließlich Pekings und England das Yangtzetal zum Interessengebiet erklären, beeinflußten maßgeblich die weitere Chinapolitik der „Wilhelmstraße". Das Auswärtige Amt machte allerdings der militärischen Führung unmißverständlich klar, daß es nur zusammen mit anderen M ä c h t e n gegen die Boxer vorgehen wolle. Dabei sollte nach Auffassung Bülows jedoch die Gelegenheit genutzt werden, die anderen Staaten in Ostasien gegeneinander auszuspielen und der deutschen Politik weitere Vorteile zu verschaffen. Der unausweichliche Prozeß der Aufteilung Chinas mußte nach Ansicht des Staatssekretärs so lange wie möglich hinausgezögert werden, da sich die wirtschaftliche Lage eines zur Weltmacht expandierenden Deutschen Reiches auch in China nur zum Besseren entwickeln könne. Alle politischen Optionen im Reich der Mitte seien daher zum Vorteil Deutschlands, w e n n eben möglich, auch weiterhin offenzuhalten. Selbst nach der Ermordung des deutschen Gesandten, v. Ketteier, hielt das Auswärtige Amt deshalb eine überzogene militärische Machtentfaltung im Reich der Mitte nicht für opportun 1 0 0 . Eindeutig ablehnend verhielt sich auch der Staatssekretär des Reichsmarineamtes gegenüber größeren Militäraktionen, die vom preußischen Kriegsministerium als federführende Dienststelle gegen die Boxer bereits geplant und vom Admiralstab unterstützt wurden. Lediglich einer sofortigen Verstärkung der Marineinfanterie durch das I. und II. Seebataillon stimmte Tirpitz nach Ausbruch der Unruhen zu. Das Reichsmarineamt stellte sich auf den Standpunkt, daß etwaige Strafexpeditionen in Zusammenarbeit mit den anderen Großmächten ausschließlich Sache der Armee seien. Auch für den Seetransport umfangreicher Truppenverbände des Heeres erklärte sich die Marineführung von vornherein nicht für zuständig. Zwar bot Tirpitz nach der Ermordung Kettelers in Peking seine volle Unterstützung in allen organisatorischen Fragen einer militärischen Intervention an, doch durften seiner Meinung nach keinerlei finanzielle Aufwendungen zu Lasten der Marine gehen und womöglich das zweite Flottengesetz gefährden. Nach einhelliger Auffassung des Reichsmarineamtes sollte das Bauprogramm ohne Rücksicht auf die Chinastreitkräfte, die schon in Ostasien waren oder noch entsandt würden, verwirklicht werden. Vor allem durch enge Kontakte zur Wirtschaft, die ebenfalls an einer Ausdehnung des Konfliktes in China nicht interessiert

100

Richthofen an Bülow, 28. 6. und 1. 7. 1900, PA, Abt. IA Chi/China 24 Nr. 4 / 1 . Meldung aus St. Petersburg, 29. 6. 1900, BA-MA, RM 3 / 4 7 4 8 ; Meldung aus Japan, 5. 7. 1900, ebd.; Chef des Admiralstabes an RMA, 6. 9. 1900, ebd.; AA an RMA, 25. 5. 1900, ebd., RM 3 / 4 7 5 0 . Bülow an Wilhelm II., 19. 6. 1900, GP, Bd 16, Nr. 4528; Bülow an AA, 3. 7. 1900, ebd., Nr. 4546; Aufzeichnung Derenthall, 27. 8. 1900, ebd., Nr. 4622.

161

sein konnte, hoffte die Marineführung, mäßigenden Einfluß auf die bevorstehenden Aktionen zu nehmen 1 0 1 . Insbesondere Shantung wollte Tirpitz aus Rücksicht auf die Wirtschaftsinteressen, aber auch aus Angst vor einem erneuten Hochspielen der KiaochowFrage durch die Mächte aus größeren Kampfhandlungen heraushalten. Das Schutzgebiet sollte nicht zum Operationsgebiet werden und weiterhin dem Oberbefehl des Reichsmarineamtes unterstellt bleiben. Yüan Shih-k'ai war der Marineführung Garant genug, daß die deutsche Position in Shantung gewahrt blieb. Eher wurde ein rigoroses Vorgehen der preußisch-deutschen Armeeführung befürchtet, die sich nach den spektakulären Erfolgen der Marine in den vorangegangenen Jahren selbst in Übersee profilieren und die eigenen, nicht unerheblichen wirtschaftlichen Interessen an einer militärischen Modernisierung Chinas doch noch durchsetzen wollte 102 . Nachdem von den Russen 1897 die Anstellung ihrer Instrukteure in Nordchina und der Mandschurei auf Kosten deutscher Interessen erreicht worden war, hatten auch die Engländer ein Jahr später versucht, am Yangtze gegen deutsche Militärberater vorzugehen. Sie wollten in der eigenen Interessenzone diese wirtschaftlichen und auch potentiell militärischen Störenfriede nicht länger hinnehmen. Wenn auch letztlich das Vorhaben scheiterte, die deutschen Berater vom Yangtze zu vertreiben, da die Generalgouverneure in Nanking und Hankow nicht bereit waren, den Anweisungen des aus Peking mit Vollmachten der Zentralregierung entsandten englischen Truppeninspekteurs Beresford Folge zu leisten, so sah die Armeeführung in Preußen doch ihre wirtschaftlichen Möglichkeiten langfristig bedroht. Schon ließen sich Fortifikationspläne im Norden, die nach dem chinesisch-japanischen Krieg für die deutsche Industrie Aufträge und für die Heeresdepots umfangreiche Lieferungen versprachen, infolge der russischen Militärprivilegien für Nordchina und nach der Besetzung Port Arthurs durch Rußland (Dezember 1897) nicht mehr verwirklichen 103 . Das erfolgreiche Vorgehen der Marine in Kiaochow hatte nun verdeutlicht, wie die eigenen Interessen gegenüber den anderen Großmächten zu sichern waren. Auch den zunehmend militanter werdenden Widerstand der chinesischen Traditionalisten, der dem überkommenen preußischen Herrschaftsverständnis des Militärs völlig zuwiderlief, wollte die Armeeführung nicht länger hinnehmen 1 0 4 .

Verfügung RMA, 2 1 . 6 . und 5 . 7 . 1900, BA-MA, RM 3 / 7 5 9 5 ; Protokoll einer Sitzung

101

über eine Expedition nach Ostasien, 6. 7. 1900, ebd., RM 3 / 4 7 4 5 ; Tirpitz an Wilhelm II., Juli 1900, ebd.; Chef des Admiralstabes an Tirpitz, 2. 7. 1900, ebd.; RMA an Preußisches Kriegsministerium, Juli 1900, ebd., RM 3 / 4 7 5 3 . Preußisches Kriegsministerium an RMA, 15. 7. 1900, BA-MA, R M 3 / 4 7 5 3 ; RMA an

102

Preußisches Kriegsministerium, 18. 7. und 21. 7. 1900, ebd.; Denkschrift zu Kiautschou, Oktober 1900, ebd., RM 3 / 7 1 2 0 . 103

Konsulat Tientsin an Hohenlohe-Schillingsfürst, 1 8 . 4 . 1896, PA, Abt. IA C h i / C h i n a

104

Jerussalimskij, Bismarck, S. 584 ff., 713 ff.

5 / 6 ; Heyking an Hohenlohe-Schillingsfürst, 23. 11. 1896, ebd.

162

Aber selbst in Heereskreisen gab es wie bei der Marine einflußreiche Stimmen, die sowohl eine harte überzogene Reaktion gegen die Ausschreitungen der Boxer in Peking als auch ein weiteres expansionistisches Vorgehen Deutschlands in Ostasien verhindern wollten. Der Generalstab hatte sich bereits deutlich gegen das eigenmächtige Vorgehen der Marine in Kiaochow und Fernost ausgesprochen. Ein bewaffneter Konflikt schien über längere Zeit weder gegen die Chinesen aussichtsreich zu sein, noch wollte die Armee auf diese Weise in eine militärische Auseinandersetzung mit anderen Mächten verwickelt werden. Gerade Rußland sollte durch keine größere militärische Intervention in Nordchina unnötig provoziert werden. Schlieffen sah wie Tirpitz bei einer Massierung ausländischer Truppen in Peking nur gefährliche Konfrontationsmöglichkeiten mit den Großmächten auf Deutschland zukommen, das zudem bei allen Operationen in China logistisch auf die Schiffskapazitäten Englands angewiesen bleiben mußte. Zwar war die Armeeführung wegen einer möglichen militärischen Besetzung und Aufteilung Nordchinas beunruhigt über die große Anzahl von Truppen, die in Rußland (ca. 10 000 Soldaten) und Japan (ca. 14 000 Soldaten) bereitgehalten wurden, aber schließlich sollte lediglich eine weitere Brigade zur Aufrechterhaltung der deutschen Ansprüche als Expeditionskorps nach China entsandt werden. Rechnete man diese Truppen zu den 3300 deutschen Marinesoldaten hinzu, die schon in China standen, wären die Deutschen etwa gleich stark gewesen wie die Engländer (ca. 7000 Soldaten), die Amerikaner (ca. 5700 Soldaten) und die Franzosen (ca. 5400 Soldaten) 105 . Generalstab und Reichsmarineamt blieben äußerst skeptisch gegenüber der massiven militärischen Machtentfaltung, die Kaiser, Admiralstab und preußisches Kriegsministerium mit einem Schiffsverband von 15 Einheiten sowie einem Expeditionskorps von 13 000 Soldaten Mitte des Jahres 1900 in fernöstlichen Gewässern und in China veranstalteten 106 . Zu Beginn der verstärkten Aufrüstung zu Land und zu Wasser, die eine zukünftige deutsche Weltmachtstellung garantieren sollte, mußte nach der Besetzung Kiaochows eine erneute unkontrollierte Machtentfaltung in Ostasien zu einem Sicherheitsrisiko für das Deutsche Reich werden. Indem Tirpitz den flexiblen außenpolitischen Kurs Bülows unterstützte, gelang es ihm, allmählich die Gefahr einer weiteren Eskalation deutscher Provokationen in Fernost zu bannen. Eine Erklärung des Kriegszustandes für das Schutzgebiet konnte das Reichsmarineamt zwar nicht verhindern; das preußische Kriegsministerium bestand auf seiner Auffassung, daß militärische vor wirtschaftliche Interessen gingen. Eine Landung des Expeditionskorps erfolgte aber im September in Taku, dem nächstgelegenen Hafen Pekings, und nicht in Tsingtao. Das Reichsmarineamt vermochte es zudem, das Hauptau105

106

H. v. Bülow, S. 184 ff., 210 f.; Heyking, Tagebücher, S. 208, 214 ff., 223 ff., 230 ff., 248, 254, 257 ff., 270. Heyking, Briefe, S. 117 ff.; dies., Tagebücher, S. 273 f., 290; Aufzeichnung Moltke 4. und 7. 7. 1900, 9. 7. und 8. 8. 1900, Moltke, Erinnerungen.

163

genmerk des Admiralstabes, der eine angebliche amerikanische Intervention zum Schutz amerikanischer Missionare in Shantung als Vorwand zu größeren demonstrativen militärischen Operationen vor Kiaochow ausnutzen wollte, auf den Yangtze zu richten. Hier mußte die Anwesenheit deutscher Seestreitkräfte den wirtschaftlichen und politischen Plänen von Tirpitz in China eher entgegenkommen 107 . Der Staatssekretär des Reichsmarineamtes hatte nach dem Sturz der Reformpartei in China und der Einigung Rußlands und Englands über Eisenbahninteressensphären klar erkannt, daß die deutsche Politik in China langfristig in eine Isolation geraten müßte, wenn sie sich nur auf das Boxerproblem und Shantung konzentrierte. Die beste Möglichkeit, Deutschlands Stellung in China zu festigen und damit die deutsche Überseewirtschaft für die eigenen Aufrüstungspläne zu gewinnen, war — und hier stimmte er mit dem Staatssekretär des Auswärtigen Amtes völlig überein —, eine bessere wirtschaftliche Position am Yangtze aufzubauen. Die militärische Schwäche der Engländer um die Jahrhundertwende in Fernost bot die Chance, die seit einiger Zeit kränkelnde deutsche Chinawirtschaft durch eine wirtschaftspolitische Offensive im Hauptabsatzgebiet des Reiches der Mitte wiederzubeleben. Das Expeditionskorps des deutschen Heeres und der respektable operative Schiffsverband, der sich auf Drängen von Tirpitz nun im Mündungsgebiet des Yangtze aufhielt, bildeten ein Instrumentarium, das sowohl gegen die chinesischen Kriegsgegner als auch gegen die Interessen der anderen Mächte — zumindest für kurze Zeit — nutzbar gemacht werden konnte 108 . Wie im Reichsmarineamt konzentrierten sich auch in der „Wilhelmstraße" die Überlegungen dabei ganz auf England. Großbritannien erschien als der wegen des Burenkrieges zur Zeit schwächste und damit am meisten beeinflußbare wirtschaftliche und politische Konkurrent, und der von den Engländern kontrollierte Yangtze war auch anerkanntermaßen das Gebiet, das für alle Wirtschaftsgruppen in Deutschland an erster Stelle stand. Zudem hatten die dortigen Gouverneure bereits ihre Neutralität gegenüber den Großmächten und der Zentralregierung in Peking erklärt, so daß militärische Aktionen in diesem Gebiet gegen chinesische Truppen kaum notwendig werden würden. Jedem politischen Beobachter war daher klar, wessen Ansprüche die deutschen Kriegsschiffe auf dem Yangtze tatsächlich in Frage stellten 109 . Bereits Mitte Juni 1900 hatte das Auswärtige Amt Verhandlungen mit England aufgenommen, die von deutscher Seite fast ausschließlich im Hinblick auf Zugeständnisse am Yangtze geführt wurden. Die Briten merkten schon bald, daß sie ihre alten Vorstellungen von einer globalen Zusammenarbeit mit Deutschland gegen Rußland nicht durchsetzen konnten. Sie durchschauten die deutsche Taktik, Privilegien in Shantung aufzugeben, um sich neue 107

Schrecker, S. 130 ff.

108

Chef des Admiralstabes an RMA, 1 4 . 7 . 1900, BA-MA, RM 3 / 4 7 7 6 ; RMA, 19. 7. und 27. 7. 1900, ebd., RM 3 / 4 7 4 7 .

109

H. v. Bülow, S. 398 f.; Röhl, Deutschland, S. 243 f.; Zabel, S. 412 ff.

164

Aufzeichnung

Rechte am Yangtze zu sichern. Geschickt intensivierte das Auswärtige Amt zudem die Kontakte zu Rußland. Eine mögliche Verbindung deutscher und russischer Truppen in Nordchina zu einem gemeinsamen schlagkräftigen Verband und die vorübergehende Überlegenheit deutscher Kriegsschiffe auf dem Yangtze schienen für London schließlich nur noch den Ausweg eines Vertrages mit Deutschland offenzulassen, um die eigenen Ansprüche so weit wie möglich zu sichern 110 . Das deutsch-englische Yangtze-Abkommen vom 16. Oktober 1900, einen Tag vor der Ernennung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes zum Reichskanzler geschlossen, wurde für kurze Zeit zum größten Triumph von Bülows Außenpolitik der „freien Hand": Es dokumentierte die Anwendung des von den Vereinigten Staaten wieder ins Gespräch gebrachten Prinzips der „Offenen Tür" in ganz China, sicherte die territoriale Integrität des Reiches der Mitte und behielt sich Schritte gegen Dritte vor, die diese Prinzipien mißachteten. Das Auswärtige Amt hatte es vermocht, die Initiative in der deutschen Fernostpolitik zurückzugewinnen, indem es eine mittlere politische Linie zwischen den expansionistischen Interessen der Wirtschaft, dem europäischen und kolonialen Sendungsbewußtsein und dem überzogenen Prestigedenken des Kaisers und seiner Militärtechnokraten sowie den kontinentalen und maritimen Weltmachtplänen der militärischen Aufrüstungsstrategien steuerte. Der Chinapolitik der „Wilhelmstraße" war es gelungen, sich von den Folgen der militärischen Aktion der Besetzung Kiaochows mit ihren wirtschaftlichen Nachteilen und der Einengung auf Shantung zu befreien und als gleichberechtigter Vertragspartner Englands neben den beiden führenden Großmächten Rußland und Großbritannien seine Ansprüche in ganz China anzumelden. Weitere politische Erfolge blieben der deutschen Chinapolitik allerdings versagt, denn die Grenzen der Bülow-Tirpitzschen Schaukelpolitik, der Weltpolitik der „freien Hand", wurden schon bald sichtbar 111 . Nach dem Ausgleich mit England und den engen politischen Konsultationen und Absprachen mit Rußland schien allein noch ein separates Übereinkommen mit Japan oder dessen Beteiligung am Yangtze-Abkommen zu einer Führungsrolle Deutschlands in China zu fehlen. Obwohl nach Bülows Fernostkonzeption die wirtschaftspolitischen Prioritäten Deutschlands im Reich der Mitte lagen, dachte das Auswärtige Amt keineswegs daran, die Japaner nun völlig dem englischen Einfluß zu überlassen. Dazu kam dem fernöstlichen Inselreich infolge seiner immensen Aufrüstung als militärstrategischer Faktor bei den imperialen Auseinandersetzungen der Großmächte um die Jahrhundertwende eine viel zu große Bedeutung zu. Die hohen Verkaufszah-

110

Aufzeichnung AA, 27. 7. 1900, PA, Abt. IA Chi/China 24 Nr. 4 / 1 ; Aufzeichnung AA, 5. 12. 1900, ebd., China 24 Nr. 4 / 4 ; Botschaft London an AA, 1 6 . 1 2 . 1900 mit Text des Yangtze-Abkommens, ebd. Lascelles an Salisbury, 1 5 . 6 . 1900, BDOW, B d 2 ; Memorandum Foreign Office, 13. 9. 1900, ebd. Bülow an Hatzfeldt, 1 4 . 1 0 . 1900, GP, Bd 16, Nr. 4743. Stingi, S. 323 ff.; L. Young, S. 193 ff.

1,1

Schrecker, S. 140 ff.; Winzen, S. 90 ff.; MacMurray (Hrsg.), Bd 1, S. 263.

165

len deutscher Rüstungsgüter — allein Krupp lieferte Ende der 1890er Jahre 486 Kanonen an Japan 112 — ließen eine militärpolitische Verbindung auch nicht abwegig erscheinen. Die Reichsregierung versuchte daher, mäßigend auf das Oberkommando der Marine bzw. den Admiralstab einzuwirken, die sich durch die ständigen japanischen diplomatischen Attacken gegen das Kiaochow-Gebiet provoziert fühlten. Gerade der Staatssekretär des Reichsmarineamtes strebte einen politischen Ausgleich mit Japan an, um eine mögliche maritime japanisch-englische Partnerschaft zu verhindern 113 . Die Japaner, die sich sowohl durch die Besetzung Tsingtaos als auch durch die deutschen Seeoperationen im Pazifik unmittelbar militärisch bedroht fühlten, wollten jedoch ohne Beteiligung Englands als Garantiemacht keine vertraglichen Vereinbarungen abschließen. Großbritannien schien ohnehin der geeignetere Bündnispartner zu sein, zumal von Deutschland gegen die immer gefährlichere russische Annexionspolitik in Ostasien kaum Hilfe zu erwarten war. Dagegen hatten die Engländer Japan sofort nach Unterzeichnung des Yangtze-Abkommens ohne Konsultation mit dem Vertragspartner definitiv erklärt, daß die Interventionsklausel des Vertrags bei einem Beitritt Tokyos auch für die Mandschurei gelte und damit gegen Rußland anzuwenden sei. Obwohl die Reichsregierung aus Prestigegründen weder formal noch aus sicherheitspolitischen und strategischen Überlegungen auch inhaltlich einen solchen Schritt gutheißen konnte und unter diesen Umständen nicht bereit war, einen japanischen Beitritt zu akzeptieren, verhandelte sie doch mit Japanern und Engländern weiter. Die Annahme, England durch „Zugeständnisse" in China für die gefährliche Übergangsphase der Aufrüstung doch noch an den europäischen Dreibund zu binden, erwies sich jedoch schon bald als illusorisch 114 . Zum einen machte sich in Großbritannien seit der Beendigung des Burenkrieges in den einflußreichen ostasiatischen Wirtschaftskreisen immer stärker eine antideutsche Stimmung bemerkbar; London fühlte sich nach Kiaochow in China durch das Yangtze-Abkommen zum zweitenmal von Deutschland politisch und wirtschaftlich ausgespielt 115 . Zum anderen hatten die Engländer neue Vertragsverhandlungen mit den Chinesen aufgenommen. Ohne die notwendigen politischen und militärischen Machtmittel im Rücken, wie sie Rußland und Deutschland in China besaßen, erschien es ihnen zweckmäßig, ei-

112

Verzeichnis . . ., HA Krupp, W A X a 200. Loch, S. 18 ff.; Schmidt-Richberg, S. 42.

113

Boelcke (Hrsg.), S. 159; Hallgarten, Imperialismus, Bd 2, S. 403, Anm. 1; H. Li, S. 129 ff.

1,4

Meldung des „Wolffs Nachrichtenbüros",

28.3.

1901, PA, Abt. IA Chi/China

24

Nr. 4 / 4 . Bülow an Hatzfeldt, 11. 2. 1901, GP, Bd 16, Nr. 4 8 1 2 ; Aufzeichnung Holstein, 27. 3. 1901, ebd., Nr. 4837. Memorandum Bertie, 11. 3 . 1 9 0 1 , BDOW, Bd 2, No. 54; Lascelles an Lansdowne, 17. 3. 1901, ebd., No. 35 und 23. 3. 1901, No. 77; Lansdowne an Lascelles, 5. 4. 1901, ebd., No. 70. 115

Bülow an Chef des Admiralstabes, 2 3 . 1 1 . 1900, GP, Bd 16, Nr. 4 7 6 6 ; Bülow an Hatzfeldt, 7 . 1 2 . 1900, ebd., Nr. 4 6 8 2 ; Aufzeichnung Holstein, 1 4 . 1 2 . 1900, ebd., Nr. 4686. Lascelles an Salisbury, 3 0 . 1 0 . 1900, BDOW, Bd 2, No. 22, und 1 8 . 1 . 1901, No. 25.

166

nen moderaten Kurs einzuschlagen. So versprach die englische Regierung den Chinesen vor allem, bei den Boxerentschädigungsforderungen mäßigend auf die anderen Mächte einzuwirken. Gerade in diesem Punkt meinte die Reichsregierung aber, in keinem Fall nachgeben zu können 1 1 6 . Um nach der Beendigung des großspurigen Auftretens und der provokativen Machtentfaltung zu Beginn des neuen Jahrhunderts außen- und innenpolitisch nicht an Prestige zu verlieren, waren sowohl die oberste militärische als auch die politische Führung in Deutschland nicht bereit, den Chinesen und Engländern entgegenzukommen. Der Z w e c k des Expeditionskorps, so hatten beide allenthalben in Berlin offiziell argumentiert, sei es, die Chinesen zu größtmöglichen vertraglichen Zugeständnissen zu zwingen. Obwohl die Besetzung Pekings und des Gesandtschaftsviertels durch die Boxer bereits vor Eintreffen der deutschen Truppen unter Generalfeldmarschall Graf v. Waldersee gewaltsam beendet werden konnte, war die Reichsregierung daher schon nicht bereit gewesen, den von China angebotenen sofortigen Friedensverhandlungen vor der Landung eigener Verbände zuzustimmen. Nach den spektakulären Anfangserfolgen der neuen Fernostpolitik sah sich die Regierung in Berlin n e b e n den außenpolitischen Schwierigkeiten zusätzlich mit innenpolitischen Auseinandersetzungen über ihren Chinakurs konfrontiert: Die finanziellen Aufwendungen für die 46 „Strafexpeditionen" gegen die Boxer hatten für das Reich bis März 1901 insgesamt 250 Millionen Mark betragen und heftige Kritik des Reichstages hervorgerufen 1 1 7 . Mit der Annahme russischer Unterstützung gegen die — infolge der englischen Rückendeckung — wenig kompromißbereit verhandelnden Chinesen bei der Durchsetzung des Boxerprotokolls (7. September 1901) bezog die deutsche Chinapolitik endgültig eine grundlegende antijapanische und antibritische Haltung. Damit war die Chance für eine weitreichende Verständigung mit England auch über Ostasien hinaus, die das Yangtze-Abkommen eröffnet hatte, zunächst vertan. Kurz nach dem englisch-japanischen Bündnisabkommen gab die Reichsregierung den Engländern zu verstehen, daß sie nicht bereit sei, möglicherweise gegen Rußland in der Mandschurei vorzugehen und dem Ausgleich zwischen England und Japan beizutreten. Diese Erklärung fiel den Politikern um so leichter, als die Russen den Deutschen schon vor der Mandschurei-Konvention einen allmählichen Rückzug aus Nordchina und ein großzügiges Entgegenkommen in der Mandschurei signalisiert hatten. Obwohl das Deutsche Reich keinen der erhofften Sondervorteile in China durchsetzen konnte, war Berlin mit dem Recht der Truppenstationierung am Yangtze und in Chili sowie mit dem Hauptteil der finan-

116

Botschaft London an AA, 9 . 1 . 1901. PA, Abt. IA Chi/China 24 Nr. 4 / 4 ; Mumm an AA, 1. 3. 1901, ebd., China 24 Nr. 1 3 / 1 . Hatzfeldt an AA, 19. 2. 1901, GP, Bd 16, Nr. 4866; Bülow an Wilhelm II., 21. 2. 1901, ebd., Nr. 4868, und 10. 5 . 1 9 0 1 , Nr. 4911. Lascelles an Lansdowne, 26. 2. 1901, B D O W , Bd 2, No. 31. Noailles, Berlin, an Außenminister Delcassé, 22. 6. 1901, DDF 1 8 7 1 - 1 9 1 4 , 2e Sèrie, Bd 1, No. 245.

117

Loch, S. 70 ff., 131 ff.; Winzen, S. 308 ff.

167

ziellen Kriegsentschädigung der Chinesen (90 Millionen Taels, ungefähr 300 Millionen Mark) zufrieden. Der vorherrschende Eindruck innerhalb der deutschen politischen und militärischen Führung, in Ostasien nicht länger von dem imperialen Vorbild abhängig zu sein, sondern als gleichberechtigte, eigenständige Großmacht, die selbst einen Führungsanspruch anmeldete, auftreten zu können, schien noch einmal die Richtigkeit des außenpolitischen Schaukelkurses der „freien Hand" zu bestätigen und die ungeheure Gefahr des englisch-japanischen Bündnisses für die zukünftige deutsche China- und Fernostpolitik zu überdecken 118 . Die Besetzung Kiaochows und die Intervention gegen die Boxer hatten mit dazu beigetragen, sowohl die politische als auch die militärische Führung des Deutschen Reiches zu einer besseren Abstimmung ihrer Konzeptionen und Vorstellungen über Deutschlands Weg in die Zukunft zu zwingen. Das Ziel eines weltpolitischen Führungsanspruchs war dabei unumstritten, der Weg über eine europäisch-kontinentale Hegemonie oder eine maritim-imperiale Nachfolge des britischen Empires jedoch nur verschwommen erkennbar. Die seit Bismarck traditionell moderate Außenpolitik konnte sich dabei allerdings in der „Politik der freien Hand" nur vordergründig gegen radikalere Strömungen behaupten. Sie wurde vielmehr — wie nach der Machtergreifung Hitlers — immer mehr zum Instrument neuer offensiver militärpolitischer Strategien, die sowohl eine gesellschaftliche Festigung im Innern als auch eine territoriale Expansion nach außen forderten. Die Diplomatie verlor dabei zusehends an Einfluß auf die sicherheitspolitischen Entscheidungen in der Außenpolitik. Nach dieser generellen Festlegung des weltpolitischen Kurses um die Jahrhundertwende konnte nach Ansicht aller Verantwortlichen in Berlin ein zu starkes militärisches Engagement in Fernost und in China — wie überhaupt in Übersee— jedoch für die nächste Zukunft eher gefährlich als nützlich sein — die Kontinuitätslinien in den Jahren 1933 bis 1935 scheinen hier unübersehbar zu sein. Wirtschaftliche Momente sollten in den deutsch-chinesischen Beziehungen zunächst wieder allein vorherrschen, zumal die Ausgangssituation nach den vermeintlich durchschlagenden politischen Erfolgen äußerst günstig erschien. Wenn sich auch die politische und die militärische Führung Deutschlands darüber einig waren, daß die deutsche Wirtschaft aufgrund ihrer wachsenden Stärke größtenteils aus eigener Kraft und ohne Zusammenarbeit mit dem Ausland auf längere Sicht die uneingeschränkte Führung auf dem chinesischen Markt erringen werde, so blieb doch der Grad des dazu immer noch notwendigen Engagements des Reichs umstritten, zumindest bis zu den machtpolitischen Verschiebungen in Fernost um die Mitte des neuen Jahrzehnts.

1,8

StvStS AA an Bülow, 26. 7. 1901, GP, Bd 16, Nr. 4 9 3 0 ; Bülow an Wilhelm II., 7. 9. 1901, ebd., Bd 18,1, Nr. 5392. Memorandum Bertie, 9. 11. 1901, BDOW, Bd 2, No. 91.

168

b) Deutsche

Wirtschafts- und Rüstungspolitik in China zwischen Mandschu-Reformen und nationalem chinesischen Aufbegehren

Die innere Entwicklung Chinas von der Jahrhundertwende bis zur chinesischen Revolution von 1911/12 war geprägt von dem Versuch der Dynastie und der Zentralregierung, die Modernisierung des Landes voranzutreiben. Zum einen hatte die Intervention der Mächte im Boxerkrieg deutlich gemacht, daß diese keinesfalls länger bereit waren, weitere Widerstände gegen eine vollständige Öffnung des Reiches der Mitte hinzunehmen. Zum anderen wurde es den Verantwortlichen in Peking auch selbst immer bewußter, daß sie sich neuen reformerischen Bestrebungen im eigenen Land nicht länger widersetzen konnten, ohne ihre eigene Position zu gefährden. Alle Versuche, einen Reformkurs zwischen dynastischen Ansprüchen und partikularistischen Gentry-Interessen sowie zwischen einer größtenteils orthodoxen konfuzianistischen Literatenoberschicht, neuen, reformerisch ausgerichteten Wirtschaftseliten und revolutionären Intellektuellen zu steuern, mußten schließlich jedoch an den nur halbherzig durchgeführten Modernisierungsbemühungen scheitern. Die von der Regierung in Peking angestrebten „Reformen von oben" zielten auf eine Verbesserung des Bildungssystems, eine Modernisierung der Verwaltung und schließlich auch der Verfassung, insbesondere jedoch auf eine Reorganisation der Streitkräfte sowie auf eine stärkere Industrialisierung und verkehrstechnische Erschließung des Landes. Die Zentralregierung wollte ihre eigenen Aktivitäten dabei vor allem auf die Schwer- und Rüstungsindustrie, den Abbau von Bodenschätzen und den Eisenbahnbau konzentrieren 1 . In anderen Bereichen plante sie, auch privatwirtschaftlichen Initiativen größeren Raum zu gewähren. Der chinesischen Privatwirtschaft gelang es daher, sich zunehmend der Bevormundung durch die Verwaltung zu entziehen und nicht nur wirtschaftliche, sondern auch kulturelle Bindungen zum Westen zu vertiefen. Trotz der soziopolitischen Hemmnisse und bürokratischen Einschränkungen konnten einige kapitalkräftige Betriebe erfolgreich arbeiten. Geringe Unterstützung durch die Regierung und vor allem fehlende infrastrukturelle Maßnahmen ließen jedoch keine Umstrukturierung der Wirtschaft in einen leistungsfähigen Bereich der Gesellschaft zu. Nur teilweise glückte die Übernahme westlicher Technik. Insbesondere auf dem Land blieben die Kleinbetriebe mit ihren primitiven Arbeitsmethoden vorherrschend, so daß es bis zum Ersten Weltkrieg lediglich gelang, einen kleinen Teil des nutzbaren Bodens intensiv zu bearbeiten. Der konfuzianistische Staat vermochte schließlich nicht einmal mehr, die wachsende Bevölkerung zu ernähren 2 .

1

Chan, S. 137 ff., H. Chang, S. 274 ff.

2

J. Chen, S. 360 ff.; King, History, S. 87 ff.

169

Alle Anstrengungen der Regierung, die Wirtschaft über eine Nationalisierung des Eisenbahnbaus in den Griff zu bekommen, waren ohne Erfolg geblieben. Überdimensionale, unkoordinierte, zum Teil vom Ausland aufgezwungene staatliche Anschaffungen im industriellen, vor allem im rüstungsindustriellen Bereich und die hohen Boxerentschädigungen hatten die Zahlungs- und Garantieverpflichtungen gegenüber dem Ausland erhöht. Es fehlte daher immer mehr an Geld für Reformen und wirtschaftliche Investitionen, obwohl der Seezollsatz auf Betreiben der Engländer im Boxerprotokoll erstmals seit einem halben Jahrzehnt wieder dem realen Warenwert (von 1897/98) angepaßt worden war. Am Vorabend der Revolution lagen fast alle wichtigen Wirtschaftsbereiche in ausländischen Händen. Der Einfluß des Auslandes auf die chinesische Wirtschaft war insbesondere im Anleihesektor und bei direkten Investitionen manifest. Zwar befanden sich 1911 nur etwa 4 0 % der Eisenbahnen in direktem ausländischen Besitz, aber 93 % konnten über finanzielle Beteiligungen kontrolliert werden, ebenso 84 % der Schiffahrt und fast 1 0 0 % der Eisen- und Stahlindustrie. Nur die ausschließlich von privaten Unternehmern betriebene Textilindustrie lag zu 75 % in chinesischen Händen. Lediglich in diesem Sektor erhofften sich chinesische Finanzkreise Gewinne, die ansonsten ihr Geld weiterhin im Ausland anlegten. Dies führte zu einem enormen Kapitalabfluß und machte den Staat noch abhängiger von ausländischen Finanzierungen. An eine Einschränkung der militärischen Modernisierung dachten chinesische Regierungskreise nun auch im Gegensatz zu früheren Anläufen nicht länger, besonders nicht nach dem Sieg der Japaner über Rußland (1905), dem entscheidenden Wendepunkt in den Beziehungen zwischen den westlichen und den asiatischen Ländern 3 . Die Niederlage in den militärischen Auseinandersetzungen mit den Großmächten und der von diesen durchgesetzte weitere Modernisierungskurs hatten die chinesische Führung schon bald nach dem Boxerprotokoll zu neuen Militärreformen und Rüstungsanstrengungen veranlaßt. Eine Reduzierung der Truppen, ihre Reorganisation, Neubewaffnung und Ausbildung sowie eine Unterweisung der Offiziere und Unteroffiziere nach westlichen Methoden an neu einzurichtenden Militärschulen, deren Abschlüsse die traditionellen Militärexamina ersetzen sollten, standen im Mittelpunkt der Bemühungen. In allen Provinzen sollten daher nach und nach moderne militärische Ausbildungsstätten gegründet werden. Nach dem Tod Li Hung-changs (1901), des einflußreichsten Promotors westlicher Modernisierung, beschränkten sich die konkreten Erneuerungsanstrengungen zunächst aber auf die Einflußbereiche Chang Chih-tungs und Yüan Shih-k'ais. Lediglich in neun weiteren Provinzen waren darüber hinaus erste Reformbemühungen zu erkennen 4 .

3

Hsü, Rise, S. 519 ff.; Remer, Investments, S. 202 f., 214 ff.

4

Bischof Anzer an Gouverneur Kiautschou, 6. 3. 1901, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 1 0 ; Gesandtschaft Peking an Bülow, 23. 4. 1901, ebd.

170

In Tientsin und Wuchang wurde auf die bereits Ende der 1890er Jahre nach westlichem Muster modernisierten Verbände zurückgegriffen, welche die Boxerunruhen wegen der Neutralität der Gouverneure unbeschadet überstanden hatten. Der 1901 zum Generalgouverneur von Chili ernannte Yüan erhielt zu deren weiterem Ausbau die größten finanziellen Zuwendungen. Er bekam den schon früher von der Zentralregierung wiederholt erteilten Auftrag, als Generalkommissar der nördlichen Verteidigung mit Hilfe seiner eigenen Truppen und der Ende 1901 von Liu K'un-yi aus Woosung abgegebenen 4 000 westlich geschulten Soldaten eine neue Nordarmee zur Verfügung des Kaisers aufzubauen. Ende 1903 entsprachen nur die Truppen Changs und Yüans, ca. 18 000 Soldaten, und dazu noch 1 000 Mandschu-Elitesoldaten westlichen Ansprüchen. Dagegen schätzte der Kommandeur der deutschen Gesandtschaftswache in Peking, Major Graf v. Montgelas, der gleichzeitig ab 1901 die Aufgaben eines Militärattaches wahrnahm, die restlichen ca. 175 000 „modern" ausgebildeten Soldaten nur zu zwei Dritteln als ziemlich brauchbar und ansonsten als minderwertig ein; auch die 150 000 Mann der traditionellen mandschurischen Bannertruppen seien kaum von Bedeutung5. Die Anstrengungen, den Ausbildungsstand zu verbessern, wurden weiter intensiviert. Dabei vertraute sich auch Yüan Shih-k'ai, der nach der Intervention gegen die Boxer anstelle der entlassenen deutschen erst russische und dänische Ausbilder anstellte, immer mehr japanischen Militärs an. Deren Ausbildungsmethoden hatten bereits seit Ende der 90er Jahre bei Chang Chih-tung großen Zuspruch gefunden. Die Japaner verstanden es geschickt, ihre Position gerade im Süden gegenüber den Europäern auszubauen, indem sie die Sympathien der Chinesen für die japanischen militärischen Modernisierungserfolge und die chinesischen Vorbehalte gegenüber den „weißen" Unterdrückern ausnutzten. Selbst ein Besuch Prinz Heinrichs bei den Generalgouverneuren am Yangtze während seiner Zeit als Oberbefehlshaber des Kreuzergeschwaders in Ostasien bewirkte da nicht viel: Mitte 1902 besaßen die Japaner, wie auch die deutschen Militärinstrukteure, eine eigene Militärschule in Wuchang, Anfang 1902 eine in Foochow, und Ende 1902 wurde ebenfalls in Nanking nach japanischen Vorschriften ausgebildet 6 . Die russische Aggressionspolitik in der Mandschurei, die sich trotz aller Erklärungen des Zarenreiches nach der chinesisch-russischen Konvention weiter verstärkte, bewirkte schließlich auch eine offizielle Annäherung zwischen China und Japan auf Regierungsebene. Auf der einen Seite hatte das fernöstliche Inselreich, das schon vor den Boxerunruhen seine 1894 erbeuteten chinesischen Kriegsschiffe als Zeichen guter Nachbarschaft zurückgegeben hatte, keine Zweifel daran gelassen, daß es mit China in Zukunft militärisch

5 6

Militärattache, Peking, an Preußisches Kriegsministerium, 3 . 1 0 . 1903, ebd., China 5 / 1 3 . Militärattache, Peking, an Gesandtschaft Tokio, 8 . 8 . 1898, ebd., China 5 / 8 ; Gesandtschaft Tokio an AA, 1 . 1 2 . 1899, ebd.; „Nationalzeitung", 19. 4. 1900, ebd., China 5 / 9 ; Mumm an Bülow, 4 . 1 . , 2 0 . 9 . und 1 7 . 1 2 . 1901, ebd., China 5 / 1 0 ; Generalkonsulat Shanghai an AA, 2 5 . 1 2 . 1902, ebd., China 24 Nr. 4 / 5 .

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zusammenarbeiten wolle. Auf der anderen Seite meinte das Reich der Mitte nach dem Diktat der Großmächte von 1901, in Japan, das in Shimonoseki de facto ebenso vom W e s t e n hintergangen worden sei wie China im Boxerprotokoll, einen asiatischen Verbündeten von Rang zu erhalten. Die Verantwortlichen der militärischen Modernisierung in China, Yüan Shih-k'ai und Chang Chih-tung, sandten nach dieser vermeintlichen Klärung der Fronten auf höchster Ebene eine größere Anzahl von Offizieren zur Ausbildung nach Japan. Darüber hinaus beschäftigten sie jeder einen japanischen Generalstabsoffizier, der über einen längeren Zeitraum je 60 Instrukteure aus Japan für ihre Truppen a n w e r b e n sollte. In Peking selbst wurde ein zentraler japanischer Militärstab eingesetzt. Zumindest finanziell hatten die Chinesen mit ihren neuen japanischen Ausbildern schon einen Vorteil g e w o n n e n : Deren Gehälter waren nur halb so hoch wie die der europäischen Berater 7 . Erstes Ergebnis der institutionalisierten chinesisch-japanischen Zusammenarbeit auf militärischem Gebiet waren die Reformvorschläge einer 1903 geschaffenen Reorganisationskommission („Commission for Army Reorganisation"), die maßgeblich von Yüan Shih-k'ai beeinflußt wurde. Sie sahen die Schaffung einer obersten Kommandoinstanz in Peking für alle chinesischen Truppen und Arsenale, die Errichtung zweier Militärakademien in Peking und Wuchang, die reichseinheitliche Standardisierung der Ausbildung und Ausrüstung sowie eine zentrale Beschaffung, genaue Rekrutierungsvorschriften und die Umorganisation der gesamten Landstreitkräfte vor 8 . Trotz einer entsprechenden Regulative der Zentralregierung von 1905 kamen die meisten Vorstellungen bis zum Ende des Kaiserreiches nicht über das Planungsstadium hinaus. Vor allem die Zentralisierungsvorhaben scheiterten an dem Widerstand der Provinzen. Lediglich in Chili und Hupei kam es zu einer vergleichsweise einheitlichen Ausbildung und Organisation der Truppen sowie zu einer annähernd planmäßigen Verwirklichung des Programms 9 . Dagegen scheiterten die Pläne im rüstungswirtschaftlichen Bereich bereits im Ansatz. Nach der Zerstörung eines großen Teils der modernen Ausrüstung bei der Intervention der M ä c h t e um die Jahrhundertwende und dem im Boxerprotokoll erzwungenen zweijährigen Einfuhrverbot von Kriegsmaterial jeglicher Art, das durch kaiserliches Edikt vom 29. August 1901 bereits vor dem Boxerprotokoll in Kraft trat, bemühten sich die Chinesen, ihre Eigenproduktion weiter zu steigern, um die Verluste auszugleichen, allerdings ohne Erfolg. Die finanziellen, personellen und strukturbedingten Schwierigkeiten des

7

Gesandtschaft Peking an Bülow, 1 2 . 3 . 1902, ebd., China 5 / 1 0 ; Gesandtschaft Peking an Bülow, 2. 11. 1902, ebd., China 5 / 1 1 . Teng/Fairbank (Hrsg.), S. 209 ff.

8

Danach sollte jede der 18 Provinzen ein Armeekorps zu zwei Divisionen mit insgesamt 15 Bataillonen ä 500 Mann aufstellen, die Hauptstadt zusätzlich noch einmal zwei Armeekorps, ein chinesisches und ein mandschurisches, zu je 50 0 0 0 Mann. Generalkonsulat Shanghai an AA, 24. 3. 1903, PA, Abt. IA C h i / C h i n a 5 / 1 1 . Hatano, S. 371 ff.

9

Deutsche W a f f e n - und Munitionsfabriken an AA, 2 6 . 2 . 1904, PA, Abt. IA C h i / C h i n a 5 / 1 4 . Powell, S. 166 ff.

172

19. Jahrhunderts änderten sich im Rüstungsbereich nicht 10 . Die Anweisungen aus Peking, Waffen nur noch selbst herzustellen, erwiesen sich als ebenso utopisch wie die Forderungen, unumgängliche Bestellungen im Ausland ausschließlich über die Zentrale vorzunehmen. Die rüstungswirtschaftliche Abhängigkeit von den Großmächten, von technischen Spezialisten und Verkaufsberatern ausländischer Rüstungsfirmen blieb bestehen 1 1 . Konnte eine Reform der Landstreitkräfte trotz dieser rüstungswirtschaftlichen Mißerfolge wenigstens noch ansatzweise durchgeführt werden, so wurde die Modernisierung der Seestreitkräfte bis zum Ende des Jahrzehnts völlig vernachlässigt. Zwar wurde Mitte 1901 das Vorhaben aufgegeben, die Ende der 1890er Jahre in England und Deutschland gekauften wenigen modernen Kreuzer aus Geldmangel zu verkaufen, die militärische Führung in Peking überließ aber sowohl die Nord- als auch die Südflotte zunächst ihrem Schicksal. Konkrete Flottenpläne des Kriegsministeriums, ein Marineamt unter englischer Führung und ein neues Marinearsenal unter französischer Leitung zu bauen sowie die Marineschule in Tientsin wiederzuerrichten, schlugen Mitte des Jahrzehnts fehl. Obwohl die Reorganisation der chinesischen Marine schließlich in erster Linie am Geldmangel der Zentralregierung scheiterte, wurde sie aber auch deshalb nicht in Angriff genommen, weil die einflußreichen Japaner nicht an einer Modernisierung von Seestreitkräften interessiert sein konnten, die sie selbst,primär bedrohten 12 . Hingegen sahen die Japaner bei ihrer Unterstützung der Heeresmodernisierung in China von Anfang an vor allem den strategischen Nutzen für eine — potentielle — Auseinandersetzung mit dem Zarenreich. Die Furcht der Chinesen, die mit Japan bereits 1901 geheime Absprachen zur Sicherung der Mandschurei getroffen hatten, vor einem weiteren Vordringen Rußlands in Zentralchina war so groß, daß Yüan Shih-k'ais Nordarmee, unterstützt durch starke Kräfte aus Wuchang, aus Anlaß der russisch-japanischen Auseinandersetzung um Korea gegen russische Truppen Stellung bezogen, die in der Mandschurei verblieben waren. Tatsächlich kam es dann auch zu Scharmützeln zwischen chinesischen Verbänden, die von japanischen Offizieren geführt wurden, und russischen Truppenteilen; nach dem japanischen Sieg bei Mukden erhielt die japanische Armee sogar offene logistische Unterstützung von Seiten der Chinesen. Nicht nur die Stellung Yüan Shih-k'ais gegenüber

10

Konsulat Hankow an AA, 27. 2. 1904, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 1 4 ; Militärbericht 61, Gesandtschaft Peking, 7. 11. 1906, ebd., China 5 / 2 0 . Th. Kennedy, Kiangnan Arsenal, S. 301 ff., 328 ff.

11

Bischof Anzer an Gouverneur Kiautschou, 12. 3. 1901, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 1 0 ; Gesandtschaft Peking an AA, 23. 7. 1904, ebd., China 5 / 1 4 ; Militärbericht 49, Gesandtschaft Peking, 2 8 . 9 . 1905, ebd., China 5 / 1 7 ; Rex an Bülow, 1 0 . 5 . 1908, ebd., China 5 / 2 3 . AA an RMA, 27. 2. 1904, BA-MA, RM 3 / 6 7 2 8 . Powell, S. 338 ff.

12

Firma Carlowitz an AA, 6. 8. 1901, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 1 0 ; Gesandtschaft Peking an AA, 12. 3. 1903, ebd., China 5 / 1 1 ; Gesandtschaft Peking an AA, 25. 9. und 1 2 . 1 0 . 1906, ebd., China 5 / 1 9 ; Militärbericht 43, Gesandtschaft Peking, 26. 9. 1906, ebd. 173

den immer noch sehr einflußreichen antimodernistischen chinesischen Militärführern schien durch den Krieg gefestigt worden zu sein, sondern auch die Position und der Einfluß der japanischen Instrukteure bei den chinesischen Truppen schienen offensichtlich durch den „Sieg der gelben Rasse" gesicherter denn je. Die Japaner, die sich dem chinesischen Dienstbetrieb im Gegensatz zu den Europäern ungezwungener anpaßten und selbst bei den reformfeindlichen chinesischen Generalen kaum Unwillen erregten, erklärten sich bereit, China noch stärker als zuvor bei der militärischen Modernisierung zu helfen. Ungefähr 40 Instrukteure in ganz China und vor allem die fast ausschließlich in Japan ausgebildeten höheren Offiziere der modernisierten Truppen ließen dem Westen nach dem japanischen Sieg über Rußland keinen Zweifel an der bedrohlichen Situation, und zwar nicht nur ihrer eigenen militärischen Position, sondern überhaupt ihrer politischen und wirtschaftlichen Stellung im Reich der Mitte 13 . In allen chinesischen Führungskreisen wurde die japanische Art und Weise der Modernisierung, die sich sogar der westlich-russischen als überlegen erwiesen hatte, als nachahmenswertes Vorbild angesehen. Die nationalen Errungenschaften Japans, dessen innere Geschlossenheit und äußeren Erfolge beeindruckten vor allem die kaiserliche Regierung in Peking, die sich fortan an dem Ziel orientierte, ein ebenso starkes und geeintes China unter mandschurischer Führung zu schaffen. Machterhaltung und -ausweitung der Dynastie traten bei den Modernisierungsbemühungen der Zentralregierung zusehends in den Vordergrund. Der immanente Widerspruch, den auch die Modernisierung Japans nicht lösen konnte, nämlich auf der einen Seite das traditionelle Machtsystem absichern, auf der anderen Seite in allen Bereichen moderne westliche Methoden übernehmen zu müssen, wurde dabei immer deutlicher 14 . Die Ambivalenz der Reformmaßnahmen zeigte sich insbesondere im Bildungsbereich. Schon seit 1898 förderte Peking den Ausbau eines zeitgemäßen Schulsystems. Bis dahin hatte die moderne schulische Ausbildung, die in den 90er Jahren durchaus in China an Ansehen gewann und daher ständig zunahm, zumeist in den Händen von ausländischen Missionsgesellschaften gelegen. Trotz des Widerstandes der Literaten öffnete sich das chinesische Bildungswesen nach dem Boxerkrieg westlichen Einflüssen immer weiter. Schwierigkeiten bereitete jedoch die Einordnung der neuen Schulabschlüsse in das traditionelle hierarchische Prüfungssystem. 1905 wurde zwar das alte konfuzianistische Ausleseverfahren abgeschafft, das System der Bürokratie wandelte sich dadurch aber nicht. Die Absolventen der neuen Schulen erhielten weiterhin traditionelle Beamtengrade. Die fachlichen Kompe13

Gesandtschaft Peking an Bülow, 1 . 4 . 1904, ebd., China 5 / 1 4 ; Militärbericht 58, Gesandtschaft Peking, 1 3 . 1 0 . 1905, ebd., China 5 / 1 7 . Bericht Adjutant Gouverneur Kiautschou über die chinesischen Herbstmanöver 1905, 1 1 . 1 0 . 1905, BA-MA, RM 3 / 7 0 8 2 ; Gesandtschaft Peking an AA, 16. 11. 1906, ebd., RM 3 / 6 8 3 2 .

14

Suhl, S. 27 ff.; Teng/Fairbank (Hrsg.), S. 164 ff.

174

tenzen der 1907 neu geschaffenen Aufsichtsbehörde über das Bildungswesen blieben begrenzt, zumal die überwiegende Anzahl der kritischen Intellektuellen ihre Ausbildung auch weiterhin im Ausland, zumeist in Japan, erhielt. Der Eingangstest, den die zurückgekehrten Studenten als Voraussetzung für die Verwaltungslaufbahn ablegen mußten, war zudem äußerst einfach gehalten. Auf diese Weise hoffte die Regierung, das wachsende Potential der westlich ausgebildeten Nachwuchskräfte auf ihre Seite zu ziehen und die verkrusteten hierarchischen Strukturen aufzubrechen. In Wirklichkeit führte jedoch gerade das inflationäre Anwachsen der neuen westlich orientierten Elite aus Studenten, Kaufleuten und Militärs zum Zusammenbruch der monarchischen Ordnung in China 15 . Zum einen fehlte den im Ausland ausgebildeten und mit neuen Wertvorstellungen und politischen Systemen konfrontierten Akademikern und Offizieren nach ihrer Rückkehr jeglicher Bezug zum konfuzianistischen Staat. Zum anderen konnte das konfuzianistische Gesellschaftssystem diese Außenseiter nicht integrieren. Die reaktionären Gentry-Kreise, die mit der Abschaffung der Prüfungsordnung ihre enge Beziehung zum Hof verloren sahen, bangten um ihre soziale Stellung. Eine Verständigung mit den neuen gesellschaftlichen Führungseliten erschien ihnen unmöglich. Obwohl die chinesische Oberschicht schließlich tief gespalten war, blieben die Strukturen der bäuerlichen Gesellschaft erhalten und die große Masse der Landbevölkerung von diesen Veränderungen in den höheren sozialen Schichten unberührt. Die Modernisierung von Bildung und Ausbildung, die Erosion des konfuzianistischen Systems und die teilweise Neubesetzung staatlicher Schlüsselpositionen mit modern ausgebildeten Intellektuellen ging allerdings einher mit einer wachsenden nationalen Begeisterung in weiten Teilen der Bevölkerung, die vor allem von den revulutionären Bewegungen gefördert wurde 16 . Die Revolutionäre, die Anhänger in allen gesellschaftlichen Gruppierungen fanden, orientierten sich zwar wie die Reformer der 1890er Jahre an den politischen und sozialen Systemen des Auslandes, sahen aber keine Möglichkeit mehr, nach den schleppend vorangebrachten Reformen mit der eigenen Regierung zusammenzuarbeiten. Ihr mit den japanischen Modernisierungserfolgen erwachender Panasiatismus, Nationalismus und Patriotismus zielte auf eine Beseitigung der „ungleichen Verträge" und der Fremdherrschaft, aber vor allem auf die Abschaffung der Dynastie sowie — wenn auch zumeist mehr deklamatorisch — auf eine Demokratisierung im Innern auf der Basis einer Parlamentarisierung und einer Agrarreform. Nach dem Sieg der „gelben" Japaner über die „weißen" russischen Eindringlinge fanden Verständigungsbemühungen der Revolutionäre mit dem alten, zu solchen Leistungen

,5

Beckmann, S. 198 ff.; Rohrbach, Bd 134, S. 19 ff.; Y. Wang, S. 54 ff., 90 ff. Von den im Ausland studierenden Chinesen gingen in die USA: 1875 = 100, 1900 = 200 und 1910 = 500; nach England: 30, 100 und 300; nach Japan: keiner, 300 und 30 000. Holcombe, S. 90 ff.

16

J. Chen, S. 91 ff., 151 ff., 202 ff.; O. Franke, Deutschland, S. 104 ff. 175

als unfähig erachteten Regime endgültig ein Ende. Die Periode der intellektuellen Vorbereitung der Revolution ging über in die Phase kämpferischer Aktionen. Trotz des militanten Nationalismus, der zunächst seinen Ausdruck in Boykotten westlicher Waren fand, entwickelte sich auch weiterhin keine primär antikapitalistische, sondern vielmehr eine antimandschurische Bewegung. Man ging gegen den anmaßenden Machtanspruch des Westens in China vor, ohne sich allerdings grundsätzlich gegen dessen imperialistische Ideologien zu wenden, die mit ihren sozialdarwinistischen Grundzügen die von nationaler Größe träumenden Revolutionäre ansprachen 17 . Trotz aller intellektuellen Entfremdung blieben in Wirklichkeit auch die revolutionären Gruppierungen von traditionellen Denkweisen geprägt. Bei der angestrebten radikalen Abschaffung der institutionellen Ordnung und der Umformung der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Strukturen bestand weiterhin eine Ambivalenz zwischen kultureller Tradition und äußerlicher Modernität. Obwohl fast einhellig nach altem Brauch allein der Dynastie die Schuld an der schlechten innen- und außenpolitischen Situation gegeben wurde, waren die sich revolutionär gebenden neuen Eliten von höchst unterschiedlichen gesellschaftlichen Zielvorstellungen durchdrungen. Die revolutionäre Gegenregierung in Nanking, die China am 1. Januar 1912 zur Republik erklärte, sollte schließlich nicht lange Bestand haben, obwohl die Mandschu-Dynastie zu diesem Zeitpunkt politisch de facto am Ende und zu keinem nachhaltigen Widerstand mehr fähig war 18 . Für die Westmächte schien mit den revolutionären Wirren die Zeit der willfährigen Zugeständnisse und der erpreßten Zusagen endgültig vorbei zu sein 19 . Obwohl nach der Intervention gegen die Boxer die Unabhängigkeit Chinas in allen Bereichen zunehmend verloren zu gehen drohte, hatten es die Chinesen schon bald besser als im 19. Jahrhundert verstanden, ihre umworbenen ökonomischen Ressourcen und ihre geopolitische Mittellage auszuspielen und die Großmächte gegeneinander aufzubringen. Der Westen mußte allmählich erkennen, daß eine Industrialisierung Chinas, die auf den Prinzipien moderne Lohnarbeit, ausreichendes Kapital und mechanisierte Produktion basierte, ohne eine Anpassung auch der politischen und sozialen Strukturen des Landes an westliche Vorbilder auf die Dauer zum Scheitern verurteilt sei. Dennoch fanden die revolutionären Bestrebungen in China keine offene Unterstützung, sondern sie schienen vielmehr die kontinuierliche Wirtschaftsentwicklung zu gefährden und vor allem das Vordringen der Japaner zu fördern. Mit den Erfolgen der Revolutionäre schwanden daher auch die Hoffnungen der ausländischen Mächte, im Reich der Mitte wirtschaftlichen und politischen Einfluß zugunsten weiterer Reformen im Innern und umfassender Kooperation nach außen auszuüben, wie es ihren in den

" W . Franke, Jahrhundert, S. 86 ff.; Gasster, Reform, S. 67 ff.; Jaenicke, S. 78 ff. 18

Kindermann, Entstehungsgeschichte, S. 26 ff.; Opitz, Aufbruch, S. 23 ff.

19

Cheng, S. 210 ff.; Zabel, S. 42 ff.

176

Jahren nach der Jahrhundertwende über industrielle Großprojekte noch gelungen war 20 . Im Rahmen der seit 1900 verstärkten wirtschaftlichen Aktivitäten der Großmächte in China hatte sich die Erschließung der Bodenschätze als schwierigstes Problem erwiesen. Die Qualität der Rohstoffe und die Möglichkeiten ihres Abtransportes waren weitaus schlechter, als es geologische und verkehrstechnische Gutachten des 19. Jahrhunderts erhoffen ließen. Vor allem der ausländische Eisenbahnbau, den die Chinesen durch ein nationales Programm von Rückkäufen und Neubauten ab 1905 mehr behinderten als unterstützten, führte kaum zu der erwarteten infrastrukturellen Durchdringung des Landesinnern 21 . Erfolgversprechender schienen dagegen direkte Investitionen in die chinesische Wirtschaft oder Anleihen an die chinesische Regierung zu sein. Hatten diese Finanztransaktionen seit den 1860er Jahren bis 1902 noch 788 Millionen US-Dollar betragen, so stiegen sie bis 1914 auf 1 610 Millionen US-Dollar. Während sich die Regierungsanleihen in diesem Zeitraum um ca. 80 % erhöhten (von 284 auf 525 Millionen US-Dollar), konnten sich die Wirtschaftsinvestitionen sogar mehr als verdoppeln (von 503 auf 1 084 Millionen US-Dollar). Die ausländischen Staatsanleihen, die bislang fast ausschließlich Kriegsentschädigungen und militärischen Modernisierungsmaßnahmen gedient hatten, gingen nach der Jahrhundertwende zu über 90 % in den Eisenbahnbau und in industrielle oder administrative Projekte. Neues Hauptinvestitionsgebiet wurde dabei neben Shanghai und der Yangtze-Region nunmehr die Mandschurei. Nicht nur Rußland und Japan, sondern auch England und vor allem die USA investierten hier, um sich an der vielversprechenden wirtschaftlichen Entwicklung zu beteiligen und den politischen Einfluß der Russen und Japaner einzudämmen 22 . Waren die Methoden der einzelnen Mächte bei ihrem Vorgehen im Reich der Mitte auch teilweise unterschiedlich, so versuchten doch alle, mit einem national erwachenden China Wirtschaftspolitik zu treiben und ihre eigenen strategischen Positionen in Ostasien zu verbessern. Diese Erwartungen basierten auf der Prämisse, daß die Modernisierungsbestrebungen China bald zu dem Status einer wirtschaftlichen Großmacht mit unbegrenzten Absatzmöglichkeiten verhelfen würden. Trotz der politischen Destabilisierung Chinas schien die Entwicklung des Handels im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts dieser Hoffnung recht zu geben. Der gesamte Außenhandel des Reiches der Mitte stieg bei einer stabilen Währung in dem Zeitraum von 1900 bis 1913 immerhin von ca. 370 Millionen Haikwan Taels auf ca. 926 Millionen pro Jahr. Obwohl bei den Exporten nach China die Opiumlieferungen von der Jahrhundertwende bis zur Revolution um zwei Drittel zurückgingen und auch die Ausfuhr von Textilprodukten stagnierte, konnten Lieferungen

20

Gütter, S. 148 f.; Wertheimer, Bahnen, S. 85 ff.

21

Cheng, Tabelle S. 19; Preyer, S. 84 ff.; Schmidt, S. 25 ff.

22

Remer, Investments, S. 72 ff.

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von Maschinen und anderen Industriegütern diese Verluste mehr als ausgleichen 23 . Nicht ganz so günstig entwickelten sich für die Westmächte die Importe aus China. Der Rückgang von Tee- und Seidelieferungen wurde zwar durch Kohle, Eisen und andere Erzgeschäfte aufgefangen, die Handelsbilanz Chinas verschlechterte sich aber dennoch immer weiter. Nach Ansicht des Auslandes korrelierte diese unbefriedigende Entwicklung des chinesischen Exporthandels unmittelbar mit der sich zuspitzenden Situation im Innern des Landes. Die Frage, ob eine Beseitigung der Mandschu-Herrschaft wirtschaftliche und politische Vorteile brächte, oder ob eine umfassende Hilfe für die Dynastie einträglicher wäre, beschäftigte daher um 1910 die Großmächte weit intensiver, ohne sie allerdings zu konkreten Aktionen zu veranlassen. Nur das Deutsche Reich hatte bereits seit einigen Jahren versucht, wegen seiner selbstverschuldeten politischen Isolation, die sich seit der Jahrhundertw e n d e in Ostasien deutlich verstärkte, und wegen seiner unbefriedigenden wirtschaftlichen Situation auf dem chinesischen Markt vermehrt auf die Politik des mandschurischen Kaiserhauses einzugehen 24 . Obwohl China schon bald nach der Jahrhundertwende wieder aus dem Brennpunkt deutscher Politik verschwunden war, behielt es eine weitaus größere politische Bedeutung, als es sie in der Bismarck-Zeit jemals besessen hatte, zumal die Außenpolitik des Reiches eine engere Zusammenarbeit mit anderen Großmächten außerhalb Zentraleuropas für wenig opportun hielt. Die Verbesserung der französisch-englischen Beziehungen durch eine umfassende Einigung über koloniale Fragen (Entente Cordiale von 1904) und die Hinwendung Rußlands nach Europa infolge des verlorenen Krieges gegen Japan bewirkten indes eine temporäre Modifizierung der deutschen Außenpolitik. Eine nunmehr angestrebte konkrete Verständigung mit dem Zarenreich, das Frankreich in einen auf den europäischen Raum bezogenen Defensiwertrag einbeziehen wollte, schlug 1905 jedoch fehl 25 . Die kontinentale Politik und damit eine potentielle Frontstellung gegen Rußland traten nun wieder stärker in den Vordergrund, zumal auch eine weitere Prämisse deutscher Weltpolitik, nämlich die dauerhaften Rivalitäten zwischen England und Rußland, mit der Einigung beider Staaten über Interessensphären in Asien (1907) hinfällig wurde. Das Deutsche Reich fühlte sich seit der Marokkokrise von 1906 immer stärker isoliert. Dennoch hielt die Reichsregierung mit der Aufrüstung zu Land und zu See weiter an ihren offensiven weltpolitischen Endzielen fest. Obwohl die französisch-englischen und die russisch-englischen Verbindungen noch keineswegs festgefügt waren, kam ein politischer Ausgleich nicht zustande. Verständigungsversuche mit Rußland scheiterten an der politischen Konfrontation des Dreibundpart-

23 24 25

Cheng, S. 203 ff.; Hou, S. 227. Hsü, Rise, S. 519 ff.; Remer, Trade, S. 21 ff. Frauendienst, S. 15 ff.; Hauser, S. 225 ff.

178

ners Österreich mit dem Zarenreich auf dem Balkan und an den eigenen wirtschaftlichen Ambitionen im Südosten. Die Eigendynamik der Flottenrüstung verhinderte auch nach dem engeren Zusammenrücken von England und Frankreich infolge der zweiten Marokkokrise (1911) trotz aller Bemühungen des neuen, ab 1909 amtierenden Reichskanzlers v. Bethmann Hollweg eine politische Annäherung an die Engländer. Politische und wirtschaftliche Ansprüche in der Welt und in Mitteleuropa führten zu einer Frontstellung gegenüber fast allen anderen Mächten und statt zu einer Führungsrolle Deutschlands zu einer politischen Isolierung des Reiches, zu der die eigenständige Politik der militärischen Führung nicht unwesentlich beigetragen hatte 26 . Weit günstiger als die politische schien jedoch — zumindest vordergründig — die wirtschaftliche Situation des Deutschen Reiches nach 1910 zu sein. Der wirtschaftliche Aufschwung von 1896 bis 1913, der nur durch kleinere Einbrüche 1901/02 und von 1907 bis 1909 unterbrochen wurde, hatte nach der Jahrhundertwende in Deutschland geradezu explosionsartige Züge angenommen: Das Deutsche Reich entwickelte sich zur ersten Industrienation des europäischen Kontinents 27 . Trotz der Expansion blieben aber die strukturbedingten Defizite der deutschen Wirtschaft unübersehbar. Seit der Erhöhung der Zölle zu Beginn des Jahrhunderts und der wirtschaftspolitischen Koalition aus Schwerindustriellen und Agrariern, die sich gegenseitig Flottenrüstung und Weltpolitik sowie wirtschaftlichen Protektionismus und Heeresrüstung garantierten, liefen die ökonomischen Interessen der Gesamtwirtschaft und die wirtschaftspolitischen Zielvorstellungen der herrschenden konservativen Gruppierungen oftmals auseinander. Die Erneuerung der bilateralen Handelsverträge aus den 1890er Jahren fiel insgesamt nicht besonders günstig aus, so daß nicht nur bei der Exportindustrie, sondern auch bei der Hochfinanz eine tiefe Verunsicherung herrschte. Die deutschen Banken sahen sich zudem immer mehr gezwungen, Anleihen sogar aus kapitalärmeren Ländern aufzunehmen, um die Aufrüstung zu finanzieren. Angesichts dieser Entwicklung zeigten sich die Finanzkreise nicht länger bereit, eigene Initiativen zu ergreifen und ohne weitreichende politische Absicherung größere Risiken im Ausland einzugehen, und zogen die Sicherheiten des Inlandsmarktes vor 28 . Der Leidtragende dieses Wechsels von einer „Weltmarktpolitik" zu einer „Weltmachtpolitik" war insbesondere die Außenwirtschaft, die trotz diplomatischer Unterstützung auf eine geregelte Exportfinanzierung verzichten mußte. Denn die Reichsregierung lehnte es ab, für Auslandsgeschäfte Bürgschaften zu übernehmen, wenn diese mit potentiellen Gegnern des Deutschen Reiches abgeschlossen werden sollten. Die deutsche Außenhandelsbilanz 26

Berghahn, Rüstung, S. 4 1 9 ff.; Hillgruber, Hegemonie, S. 195 ff.; Ziekursch, Bd 2,

27

Flügel, S. 293 ff.; Rosenberg, Bismarckzeit, S. 2 5 9 ff.

28

Geiss, S. 12 ff.; Strasser, S. 16 ff.; Schulz, S. 157 ff.

S. 128 ff., 196 ff.

179

blieb dann auch bis zum Ersten Weltkrieg negativ, zumal den Kolonien mit 0,5 % der deutschen Ausfuhr nur eine geringe Bedeutung zukam. Der Außenhandel des Deutschen Reiches, dessen Exporte zu drei Vierteln aus Halbfertig- und Fertigwaren und dessen Importe zu 70 % aus Rohmaterialien bestanden, richtete sein Augenmerk deshalb schon frühzeitig verstärkt auf neutrale überseeische Märkte Südamerikas und Ostasiens. Hier vor allem hoffte er, mit Hilfe politischer Garantien des Reiches und infolgedessen auch finanzieller Unterstützung der deutschen Banken seine Absatzschwierigkeiten zu überwinden 29 . Der Chinahandel, auf dem nach den militärischen Interventionen des Deutschen Reiches im Reich der Mitte um die Jahrhundertwende die Erwartungen eines großen Teils der deutschen Wirtschaft ruhten, erzielte jedoch bis zur chinesischen Revolution nur ein begrenztes Wachstum. Anstatt des ersehnten Aufschwungs gab es vor allem bis zum Ende des Jahrzehnts nur eine bedrückende Stagnation. Zu dieser enttäuschenden Entwicklung trugen zum einen das erwachende chinesische Nationalgefühl und die sich verschärfende ausländische Konkurrenz — besonders der Japaner — bei, zum anderen zunächst auch die anfänglichen Querelen zwischen Auswärtigem Amt und Militärführung über die Ausgestaltung der Chinapolitik: Nachdem das Militär um die Jahrhundertwende seinen Einfluß auf die Außenpolitik weiter gefestigt hatte und in sicherheitspolitischen Fragen geradezu dominierend geworden war, dachte es nicht mehr daran, sich aus der Chinapolitik zurückzuziehen — Parallelen zur Chinapolitik Anfang der 1930er Jahre sind hier unverkennbar. Kiaochow sollte als Prestigeobjekt der Marine und als Bindeglied zur deutschen Wirtschaft vorrangig ausgebaut werden, Militärberater sollten den wirtschaftlichen Interessen des Heeres förderlich sein — Vorhaben, die in China wie auch in der „Wilhelmstraße" auf wenig Gegenliebe stießen. Schon während der Boxerunruhen hatte das Auswärtige Amt den Nutzen von deutschen Militärinstrukteuren in China angezweifelt und vor möglichen gefährlichen Verwicklungen gewarnt, die der „Politik der freien Hand" abträglich sein müßten. Nach Beendigung der Auseinandersetzungen, die von den Chinesen infolge des harten Vorgehens der „Westler" immer mehr als Kampf gegen die „weißen Unterdrücker" angesehen worden waren, schien ein japanischer Einfluß auf die chinesische Militärpolitik nicht länger aufzuhalten zu sein; zudem zogen die Japaner die militärische Modernisierung in China offenbar unwiderruflich an sich. Rüstungsgeschäfte, soweit sie überhaupt möglich waren, sollten daher besser über traditionelle Geschäftsverbindungen abgewickelt werden und vorrangig privaten Initiativen, wie schon in anderen Wirtschaftsbereichen, nun auch das Chinageschäft überlassen bleiben. Das Auswärtige Amt wollte Militärberater in China zukünftig nur noch als reine Privatangelegenheit der Wirtschaft betrachten, die es lediglich

29

Hillgruber, Großmacht, S. 40 ff.; Stolper/Häuser/Borchardt, S. 43 ff.

180

in der üblichen Weise zu unterstützen galt 30 . Technische Berater seien nach den negativen Erfahrungen der Chinesen während der Intervention gegen die Boxer vermutlich effektiver als „vorbelastete" Militärinstrukteure. Diese waren tatsächlich sowohl in Tientsin als auch in Nanking und Wuchang am Anfang des Boxerkrieges entlassen worden. Einige, wie z. B. Falkenhayn, traten in die Dienste des Ostasiatischen Expeditionskorps, die meisten indes bewarben sich nach Beendigung der Feindseligkeiten wieder in chinesische Dienste. Yüan Shih-k'ai lehnte allerdings eine Wiedereinstellung unter dem Vorwand angeblicher Zusagen an Rußland ab. In Wirklichkeit übernahmen jedoch wie auch an anderen Orten die Japaner das Kommando in Chili 31 . Die diplomatische Vertretung des Deutschen Reiches in Peking teilte in bezug auf die Militärinstrukteure nicht ganz die Meinung ihrer vorgesetzten Dienststelle. Sie unterstützte die zurückhaltende Position der „Wilhelmstraße" im großen und ganzen, versuchte diese jedoch zu modifizieren: Da die Provinzen nicht ohne weiteres in Zukunft japanischem Einfluß überlassen bleiben dürften, müßten einzelne Berater, wenn auch ohne direkte Unterstützung der Reichsregierung, die primär wirtschaftlichen Interessen des Deutschen Reiches in China weiterhin wahren. Die Zeit westlicher Militärmissionen — und hier stimmte die Gesandtschaft wieder vorbehaltlos mit Berlin überein — sei allerdings mit der steigenden Sympathie für die Japaner in China ein für allemal vorbei. Wie das Auswärtige Amt, so versprach sich auch die deutsche Vertretung von der unter japanischer Leitung beginnenden Neuorganisation der Streitkräfte nicht allzu viel. Nach den bisherigen Erfahrungen würden die Chinesen wohl kaum in der Lage sein, eine moderne Armee aufzustellen 32 .

30

Bülow an Ketteier, 29. 4. 1900, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 9 .

31

Leutnant Kuhn, Leutnant Trettner und Unteroffizier Schaller, bis dahin bei Yüan Shihk'ai an der Militärschule in Tientsin tätig, übernahmen den Aufbau der Polizeitruppen in Shantung. Als Nachfolger von Falkenhayn und Ganz, die nicht mehr eingestellt wurden, kamen von Nanking nach W u c h a n g die Oberleutnante Fuchs, Toepfer und Hoffmann. In Nanking erhielt Oberleutnant Tettenborn die Beraterstelle, ab 1902 Leutnant Graf Praschma, der von Chang Chi-tung in dessen Zeit als kommissarischer Generalgouverneur von Nanking eingestellt wurde. Außerdem verblieben noch im KiangnanArsenal Artillerist Jürgens (seit 1898), im Hanyang-Arsenal Ingenieur Müller, an der Torpedoschule W h a m p o a Herr Hummel, der noch vom Generalgouverneur von Canton Li Hung-chang berufen worden war, und bei der Peyang-Flotte die Instrukteure Heckmann und Basse. Gesandtschaft Peking an Bülow, 29. 7. 1901, PA, Abt. IA Chi/ China 5 / 1 0 ; Mumm an Bülow, 17. 5. 1902, ebd.; Militärberater Carl Fuchs an AA, 8. 8. 1902, ebd., China 5 / 1 1 ; Gesandtschaft Peking an AA, 6. 3. 1903, ebd.; Konsulat Kanton an Bülow, 15. 9. 1901, ebd., China 2 7 a / l ; Chef des Admiralstabes an Reichskanzler, 21. 1. 1902, ebd., China 24 Nr. 4 / 5 .

32

Gesandtschaft Peking an Bülow, 2 9 . 7 . und 1 4 . 9 . 1901, ebd., China 5 / 1 0 ; Gesandtschaft Peking an AA, 19. 3. 1902, ebd.; Gesandtschaft Peking an AA, 3 . 1 0 . 1902, ebd., China 5 / 1 1 . 181

In den deutschen militärischen Dienststellen hingegen rief das japanische Vordringen schon bald größeres Mißfallen hervor. Die Militärs teilten hinsichtlich der Erfolgsaussichten eigenständiger chinesischer Modernisierungsbemühungen die Ansicht der Politiker und Diplomaten, wollten sich aber keinesfalls von den Japanern aus dem lukrativen Rüstungsgeschäft drängen lassen, das indirekt der eigenen Aufrüstung zugute kam. Unmittelbar nach den negativen Erfahrungen des Boxerkrieges hatte die deutsche militärische Führung einer erneuten Aufrüstung Chinas zwar ablehnend gegenübergestanden, ihre Bedenken aber angesichts des ungehemmten japanischen Vorgehens schon bald wieder aufgegeben. Der deutsche Militärattache berichtete resignierend, daß Deutschland dem russischen und vor allem dem japanischen Einfluß in China auf die Dauer im militärischen und rüstungswirtschaftlichen Bereich nichts entgegensetzen könne, falls das Auswärtige Amt bei seiner restriktiven Haltung gegenüber der Entsendung von Instrukteuren bleibe. Die Militärkreise dachten daher nicht daran, sich dem moderaten und abwartenden Kurs der „Wilhelmstraße" anzuschließen 33 . Besonders die Marine spielte ihre Sonderstellung voll aus. Über Kiaochow und Shantung wollte die Marineführung, in Anknüpfung an ehrgeizige Militärprojekte aus den 1890er Jahren, aus Gründen des Prestiges ihren Einfluß auf die deutsch-chinesischen rüstungswirtschaftlichen Beziehungen weiter ausbauen. Obwohl eine Reorganisation der Truppen in Shantung auf chinesischer Seite noch gar nicht zu erkennen war und auch das Projekt einer Militärschule in Tsinanfu noch in den Anfängen steckte, sah das Reichsmarineamt schon 1902 die deutschen Vorrechte bedroht und forderte ein offensives und kompromißloses Vorgehen gegen potentielle japanische Militärberater34. Das geschickte Taktieren der deutschen Gesandtschaft unter ihrem neuen Leiter, Mumm v. Schwarzenstein, verhinderte jedoch ein weiteres Aufbrechen der Meinungsunterschiede zwischen Auswärtigem Amt und militärischer Führung und bewirkte statt dessen eine Annäherung der Standpunkte. Mit einer Lösung der Militärberaterfrage in Shantung gelang es den Diplomaten, den Ansprüchen der Marine die Schärfe zu nehmen. Nach einem diplomatisch geschickten Vorpreschen der Gesandtschaft bei der chinesischen Zentral- und bei der Provinzregierung Shantungs wurde den deutschen Wünschen entsprochen und ein deutscher sowie ein österreichischer Offizier, beide aus der Besatzungsbrigade, an die Militärschule nach Tsinan berufen (1903). Schon zuvor hatte sich die diplomatische Vertretung in China durchaus in Übereinstimmung mit dem Auswärtigen Amt dafür eingesetzt, chinesische Militärschüler in Deutschland auszubilden und damit den empfindlichen Chinesen entgegenzukommen, anstatt neue Militärberater nach China zu verpflichten 35 . 33

AA an Gesandtschaft Peking, 10. 3. 1902, ebd., China 5 / 1 0 ; AA an Wilhelm II., 11. 5. 1902, ebd.; Gesandtschaft Peking an AA, 20. 9. 1902, ebd., China 5 / 1 1 .

34

RMA an AA, 24. 2. 1902, ebd., China 5/10. Bei den beiden Beratern in Tsinan handelte es sich um Leutnant Frhr. v. SeckendorffGutend und den Österreicher Leutnant Baur. Mitte des Jahrzehnts waren als deutsche

35

182

Obwohl sie die traditionell reservierte Haltung deutscher Militärs gegenüber einer Ausbildung von Chinesen in Deutschland kannten, bestanden die Diplomaten auf diesem Vorgehen, das ihrer Meinung nach den rüstungswirtschaftlichen Interessen des Deutschen Reiches in China eher förderlich sei als die Entsendung von Militärberatern, die dort ständig mit chinesischen Offizieren zusammenarbeiten müßten, die dem Westen feindlich gesonnen seien. Chang Chih-tungs Anfrage, ob je acht Offizierschüler aus Nanking und Wuchang nach Deutschland zur Ausbildung kommen könnten, wertete das Auswärtige Amt als erfreuliches Zeichen der Wiederanknüpfung rüstungswirtschaftlicher Beziehungen zwischen dem deutschen und dem chinesischen Kaiserreich. Trotz großer Vorbehalte entschloß sich die damit in Zugzwang geratene militärische Führung, ihre Zustimmung zu erteilen, vor allem, um dem japanischen Einfluß in China endlich wirksam entgegenzutreten. Wilhelm II. genehmigte nach langem Zögern die Kommandierung von 11 chinesischen Militärschülern in den Befehlsbereich des XI. Armeekorps 36 . Das preußische Kriegsministerium als federführende Dienststelle behielt sich allerdings mit Zustimmung des Kaisers die konkrete Durchführung der Ausbildung der chinesischen Offizierschüler in Deutschland vor. Es dachte eher daran, die Chinesen nur als Beobachter zuzulassen, als sie an modernen Waffen zu unterrichten. Wichtiger schien es, gute Kontakte zu knüpfen, die sich dann bei der Bestellung von Rüstungsmaterial auswirken mußten. Gegenüber den Japanern hingegen schlössen die Militärs ein Entgegenkommen wie bei den Chinesen völlig aus. Die Ablehnung der Japaner, deutschen Seeoffizieren ihre Rüstungseinrichtungen zu zeigen, ihre politische Kooperation mit den Engländern und vor allem die Gefährdung deutscher rüstungswirtschaftlicher Interessen in China bewirkten schließlich, daß Heer und Marine im Krieg von 1904/05 geschlossen eine prorussische Haltung einnahmen. Lediglich die nicht unbedeutenden Rüstungsgeschäfte der deutschen Privatindustrie mit Japan in der ersten Hälfte des Jahrzehnts schwächten die harte Haltung der Militärs etwas ab, konnten sie jedoch nicht entscheidend ändern. Den deutschen Militärbehörden gelang es nämlich gleichzeitig, an ihre alten Erfolge im Rüstungsgeschäft mit China aus den 1890er Jahren wieder anzuknüpfen 37 . Zunächst hatte ein Waffenauslieferungsverbot, das die Großmächte aus Anlaß der Boxerunruhen schon 1900 für drei Jahre verhängten, die Lieferungen

Berater in Shantung tätig: 1 Berater bei der Provinzialbehörde, 1 Militärinstrukteur, 1 Lehrer an der Hochschule, 1 Leiter der Poliklinik und 1 Polizeiausbilder. Außerdem gab es dort 6 japanische, 5 englische, 1 amerikanischen, 1 österreichischen und 1 französischen Berater. Gesandtschaft Peking an AA, 24. 8. 1903, ebd., China 5 / 1 3 ; Generalkonsulat Shanghai an AA, 28. 6. 1906, ebd., China 5 / 1 9 . 36

Gesandtschaft Peking an AA, 19. 3. 1902 und 20. 3. 1903, ebd., China 5 / 1 0 ; Generalkonsulat Shanghai an AA, 13. 3. 1903, ebd.; AA an Kriegsministerium, 14. 3. und 4. 7. 1903, ebd.; Gesandtschaft Peking an AA, 1. 8. 1903, ebd., China 5 / 1 3 .

37

AA an Gesandtschaft Peking, 2. 9. 1903, ebd., China 5 / 1 3 ; Preußisches Kriegsministerium an AA, 30. 8. 1903, ebd. Stingl, S. 449 ff. 183

gebrauchter Waffen aus den Beständen der deutschen Streitkräfte nach China zum Erliegen gebracht. Den Japanern, die sich diesem Embargo nicht anschlössen, war es in dieser Zeit gelungen, den gesamten Verkauf gebrauchter Gewehre, die zur Ausrüstung der neuen Armee- und Polizeieinheiten als erstes benötigt wurden, an sich zu ziehen, zumal die Chinesen die ihnen im Boxerprotokoll auferlegten Einfuhrrestriktionen nicht sonderlich genau nahmen. Das Auswärtige Amt hingegen achtete mit Rücksicht auf die anderen Mächte strikt auf die Einhaltung der Waffenausfuhrbestimmungen. Yüan Shih-k'ais Nordarmee wurde schließlich mit japanischen Gewehren ausgestattet, weil die „Wilhelmstraße" jegliche Ausfuhrerlaubnis oder Unterstützung für deutsche Firmen verweigerte 38 . Deutsche Firmen mußten sich zwar des öfteren den Vorwurf des Auslandes anhören, am Waffenschmuggel einträglich zu verdienen, nach Ermittlungen der Gesandtschaft und der Polizeibehörden in Deutschland konnte das Auswärtige Amt aber guten Gewissens das Gegenteil versichern: Nur Aufträge aus der Zeit vor 1900 seien noch ausgeführt worden; erst nach Beendigung des Lieferverbots würden deutsche Firmen die Lieferungen wieder aufnehmen. Obwohl die „Wilhelmstraße" deutsche Militärberater in China ablehnte, da diese keinen wirtschaftlichen Nutzen brächten und nur das Mißtrauen anderer Mächte bezüglich neuer deutscher Interessenzonen weckten, standen die Diplomaten Rüstungsexporten auf einen offenen chinesischen Markt prinzipiell positiv gegenüber. Das Auswärtige Amt war sich darüber im klaren, daß Waffenlieferungen ein „Hauptfeld der deutschen Chinapolitik" 39 bleiben müßten, solange das Deutsche Reich noch nicht endgültig die wirtschaftliche Vormacht in China errungen habe, auch wenn das Rüstungsgeschäft immer wieder zu unliebsamen Konfrontationen mit anderen Mächten führe 40 . Die zurückhaltende Strategie der deutschen Gesandtschaft und des Auswärtigen Amtes nach der Jahrhundertwende im Rüstungsgeschäft mit China schien zunächst Erfolg zu haben 41 . Trotz japanischer Militärberater hatten

Firma Mandl an AA, 1 5 . 1 2 . 1901, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 1 0 ; Firma Mandl an Deut-

38

sche W a f f e n - und Munitionsfabriken, 1 5 . 1 2 . 1901, ebd.; Kommandant „Iltis" an Kommando Kreuzergeschwader, 6 . 1 2 . 1901, ebd.; Deutsche W a f f e n - und Munitionsfabriken an AA, 3. 6. 1903, ebd., China 24 Nr. 1 6 / 3 . Marineattache, London, an RMA, 5. 7. 1900, BA-MA, RM 3 / 4 7 4 9 . „Hamburgische Correspondenz", 2 0 . 1 0 . 1900 und 2 0 . 2 . 1901, StAHH, SK 1 5 8 - 9 . 39

AA an Wilhelm II., 9. 3. 1903, PA, Abt. IA Chi/China 24 Nr. 1 6 / 3 . Oberpräsident der Rheinprovinz an Ministerium des Innern, 3 . 1 2 . 1902, ebd., China 24

40

Nr. 1 6 / 2 ; AA an Preußisches Kriegsministerium, 14. 5. 1903, ebd., Abt. IA D / 1 2 1 Nr. 19 secr./5. Stingl, S. 4 0 9 ff.; Wilhelmy, S. 610. Bülow an Mumm, 2 1 . 1 0 . 1900, PA, Abt. IA Chi/China 24 Nr. 1 6 / 1 ; Gesandtschaft Pe-

41

king an AA, 9. 4 . 1 9 0 1 , ebd.; Gesandtschaft Peking an AA, 5. 2. 1902, ebd., China 5 / 1 1 ; Gesandtschaft Peking an AA, 1 0 . 7 . und 2 1 . 1 0 . S. 162 ff. 184

1903, ebd., China 5 / 1 3 ;

Powell,

sich die alten deutschen privaten Geschäftsverbindungen bewährt. Nach der Aufhebung des Waffenausfuhrverbots (1903) konnten die deutschen Chinafirmen, allen voran Teige, Karberg, Siemssen und Carlowitz, wieder groß ins Rüstungsgeschäft einsteigen. Neben Patronen, Pulver und Maschinen, ja sogar ganzen Gewehrfabriken 4 2 lieferten sie vor allem wieder Gewehre aus deutschen Depots 4 3 . Auch unter Verzicht auf neue deutsche Militärinstrukteure stieg der Anteil der Rüstungslieferungen am deutschen Export nach China 1903 wieder auf ca. 7 %, ohne daß dabei „Sonderlieferungen" wie militärisches Großgerät (Schiffe, Geschütze) statistisch erfaßt wurden 4 4 . Gerade diese letztgenannten Geschäfte großindustrieller privater deutscher Rüstungsproduzenten blieben allerdings unerheblich und ließen schön vor der Mitte des Jahrzehnts neue Schwierigkeiten ahnen 4 5 . Obwohl die Rüstungsgeschäfte mit den Chinesen sich aufgrund der kriegsbedingten japanischen Lieferschwierigkeiten von 1903 bis 1904 mehr als verdreifachten und mit 8,7 Millionen Mark wieder an der Spitze der deutschen Exportgüter ins Reich der Mitte rangierten — ihr Anteil am Ausfuhrhandel des Deutschen Reiches mit China betrug wie Ende der 1890er Jahre immerhin ca. 15 % 46 —, zeichnete sich nach der russischen Niederlage und dem Durchbruch nationaler und panasiatischer Strömungen in China schon bald ein drastischer Rückgang der Lieferungen ab. Die Rüstungsexporte sanken auf ca. 5 % der Ausfuhr nach China im Jahre 1906 und versprachen auch für die Zukunft keine Steigerung. Die militärische und politische Führung in Deutschland zeigte sich enttäuscht, zumal auch die Entwicklung des Prestigeobjektes Kiaochow längst nicht so verlief, wie sich das besonders Marine —, aber auch Handelskreise vorgestellt hatten 4 7 .

42

Rex an Biilow, 3 1 . 1 2 . 1907, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 2 3 .

43

Ostasiendetachement an Wilhelm II., 2 4 . 1 0 . 1 9 0 6 , PA, Abt. IA Chi/China 5 / 1 9 ; Militärbericht 25, Botschaft Tokio an Preußisches Kriegsministerium, 8. 4. 1903, ebd., China 24 Nr.

16/3.

""Vgl. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, Bde 1 9 0 5 - 1 9 1 4 . Bei den Statistischen Jahrbüchern für das Deutsche Reich wird ab Bd 1905 rückwirkend für die Zeit ab Ende der 1890er Jahre der Warenaustausch „mit hervorragenden Meistbegünstigungsstaaten" genauer aufgeschlüsselt. Bei den Angaben über Rüstungsverkäufe von Deutschland nach China fehlen Angaben über „Großgerät" wie Schiffe oder Geschütze; aufgeführt werden nur „Handfeuerwaffen", „gefüllte Waffenpatronen" oder „Artilleriezünder, Patronen, Gewehre". W e r t und Umfang der Waffenlieferungen dürften daher höher gewesen sein, als in den Statistischen Jahrbüchern angegeben. Genauere Zahlen wären wohl zu erhalten, wenn sich der W e r t der Lieferungen der Firma Krupp, die quasi über ein Monopol bei den Geschützen verfügte, ermitteln ließe und dann addiert werden könnte. 45

Vgl. dazu die geringen Lieferungen der Firma Krupp in: Verzeichnis . .., HA Krupp, W A X a 200. Vgl. Anhang, Tabelle 6.

46

S. Anm. 44 zu diesem Kapitel.

47

Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, Bde 1905—1914.

185

Die Geschäfte des Chinahandels mit Kiachow waren um die Jahrhundertw e n d e zunächst gut angelaufen. Sie wurden aber hauptsächlich mit der „Ostasiatischen Besatzungsbrigade" in Peking und Tientsin sowie mit den Marineeinheiten in Tsingtao abgewickelt. Mit den chinesischen Märkten in Shantung selbst bestand nur ein geringer Verkehr. Schon frühzeitig machte sich hier eine japanische Handelskonkurrenz bemerkbar, der die geringe Entfernung zum Mutterland zugute kam. Allen Verantwortlichen war zwar klar gewesen, daß größere Erfolge erst erwartet werden konnten, nachdem der Hafen Tsingtao ausgebaut und eine verkehrstechnisch leistungsfähige Verbindung ins Hinterland fertiggestellt war. Die allmähliche Enttäuschung der deutschen Kaufleute war aber dennoch offensichtlich; die Kritik wurde nach Beendigung der Boxerunruhen und dem Rückgang der Lieferungen immer deutlicher. Ein für die Zukunft geplanter umfangreicher Warenaustausch über Tsingtao mußte — so meinten die Händler immer klarer zu erkennen — entweder den Wirtschaftsverkehr über Chefoo, die alte Handelsstadt Shantungs mit ihrem bisherigen Vertragshafen gefährden, oder, und das war nach den bisherigen Beobachtungen wahrscheinlicher, er konnte sich nicht gegen diesen traditionellen Handelsweg ins Innere behaupten 4 8 . Das Reichsmarineamt hielt jedoch an seinen Erschließungsvorhaben in Kiaoc h o w und Shantung fest, da der Yangtze durch die massive wirtschaftliche Gegenoffensive der Engländer und Japaner seit dem militärischen Rückzug des Reiches nach der Intervention gegen die Boxer und nach dem YangtzeVertrag an Aktualität verloren hatte, wie auch die wachsende Krise von Handel und Schiffahrt verdeutlichte. Gerade wegen der Mißstimmung in Exportkreisen über den Abbruch der kolonialpolitischen Aktivitäten in Ostasien w a r die Marineführung an der Aufrechterhaltung eines deutlichen Zeichens der Verbundenheit zur Überseewirtschaft interessiert. Als Alternative zum Yangtze wollte sie das deutsche Schutzgebiet zur weiteren Öffnung Shantungs und als neues Eingangstor nach Nord- und Zentralchina ausbauen und zu diesem Z w e c k Tsingtao zu einem modernen wirtschaftlichen Zentrum gestalten 4 9 . Die Entwicklung Kiaochows schien dieser Konzeption anfänglich zu entsprechen. Nicht nur die Gewinne, die durch den Eisenbahnbau erzielt werden konnten, waren erheblich — Deutschland lieferte zunächst allein 670 Güterw a g e n und Lokomotiven —, sondern mit dem fortschreitenden Ausbau der Strecke kam es auch zu befriedigenden Ergebnissen im Handelsverkehr ins Landesinnere. 8 0 % der W a r e n , die über die Küstenschiffahrt und ab 1904 auch im monatlichen direkten Verkehr der HAPAG aus Deutschland Tsingtao erreichten, gingen als Durchgangsgut ins Hinterland. Die kritischen, der Marineführung nicht genehmen Stimmen verstummten daher allmählich. Die 48

Gouverneur Kiautschou an RMA, 19. 2 . 1 9 0 2 , BA-MA, RM 3 / 6 7 2 7 ; Konsulat C h e f o o an AA, 31. 7. 1902, ebd.; Denkschrift Seezolldirektor Ohlmer, Januar 1898, ebd., R M 5/5931.

49

186

Feng, S. 252 ff.; Preyer, S. 141 ff.

Absatzerfolge infolge des rassisch-japanischen Krieges taten ein übriges; immerhin stieg der Handel Tsingtaos von 1903 bis 1905 um 3 0 % . Dennoch bestand schon bald kaum noch Anlaß zur Zufriedenheit. Die Ausfuhr über Chefoo war trotz der im März 1904 fertiggestellten Shantung-Bahn bis Tsinanfu wegen der besseren Schiffsverbindungen noch neunmal höher als über Tsingtao. Die Einfuhr, zu 25 % zollfreies deutsches Bergbau- und Eisenbahnbaumaterial, bestand ansonsten zu 80 % aus japanischen Waren. Während sich der deutsche Handel über Tsingtao in erster Linie nur um das zollfreie und profitable Kiaochow- und Konzessionsgeschäft kümmerte, lagen die Importe ins Landesinnere fast ausschließlich in den Händen chinesischer Kaufleute 50 . Daß der Einfuhrhandel fast überwiegend von chinesischen Firmen kontrolliert wurde, kam den nationalen Ambitionen der Chinesen allerdings sehr entgegen. Zum einen hatten sie schon bald nach dem Boxerprotokoll erfolgreich eine eigene Schutztruppe für den deutschen Berg- und Eisenbahnbau in Shantung aufgestellt, um weiteren Strafexpeditionen des Deutschen Reiches ins Landesinnere die Berechtigung zu entziehen. Zum anderen waren sie dazu übergegangen, Aktien der Shantung-Eisenbahn- und der ShantungBergbau-Gesellschaft aufzukaufen, um größeren Einfluß auf die Weiterführung der Industrieprojekte zu nehmen. Neben dem passiven Widerstand bei der Vergabe neuer Bergbaukonzessionen wurde die Erschließung eigener Kohleminen und sogar die Öffnung neuer Plätze als Konkurrenz für Tsingtao in Aussicht genommen. Die Marineführung in Deutschland meinte aber zunächst, diese chinesische Gegenbewegung ignorieren zu können, und tat pessimistische Prognosen als „Schwarzmalerei" ab. Obwohl sich zudem schon wiederholt herausgestellt hatte, daß die meisten Bodenschätze in Shantung keineswegs von ausreichender Qualität waren, verwies sie weiterhin unbeirrt auf die „großen Erzlager" und Kohlevorräte, die „auf Menschenalter hinaus" ausreichten, eine Industrialisierung zu erleichtern. Die Entwicklung wirtschaftlicher Großprojekte, wie z. B. der Ausbau einer eigenständigen deutschen Eisenindustrie im Landesinnern, schien keineswegs gefährdet zu sein 51 . Das Auswärtige Amt hatte sich dagegen schon frühzeitig gegen solche gigantischen und utopischen Aufbaupläne der Marine in Shantung ausgesprochen. Schon aus Kompetenzgründen sollten die Rechte der Marineverwaltung allein auf Kiaochow beschränkt bleiben. In scharfer Form wurden daher die Vorstöße des Gouvernements Kiaochow zurückgewiesen, Shantung aus-

50

Denkschrift Seezolldirektor Ohlmer, April 1905, BA-MA, RM 5 / 5 9 3 1 ; Denkschrift RMA über die Entwicklung Kiautschous, Oktober 1903 - Oktober 1905, ebd., RM 3 / 7 1 2 0 ; Prinz Heinrich an Truppel, Gouverneur Kiautschou, 1 1 . 1 . 1903, ebd., N 224, Bd 32.

51

Immediatvortrag RMA, 3 0 . 9 . 1901, ebd., RM 3 / 7 0 1 8 ; Geschäftsbericht SEG, 1 1 . 1 1 . 1904, ebd.; Gouverneur Kiautschou an RMA, 10. 6. und 13. 8. 1904, ebd., RM 3 / 7 0 5 8 ; Kritik des Gouverneurs Kiautschou, Truppel, an der Denkschrift des Seezolldirektors Ohlmer, 13. 6. 1905, ebd., RM 3/6729.

187

schließlich als Einflußgebiet der kaiserlichen deutschen Marine zu akzeptieren. Zudem erkannte die „Wilhelmstraße" nicht nur deutlich, daß die Besetzung und spätere Pacht Kiaochows das allgemeine Ansehen Deutschlands in China erschüttert hatten, sondern sie war sich auch darüber im klaren, daß vor allem Engländer und Japaner es nicht hinnehmen würden, wenn die Deutschen Shantung noch länger als quasi-koloniales Hinterland behandelten. Die politische Führung stellte sich daher nach der Jahrhundertwende eindeutig gegen die Konzeption der Marine, die Ansprüche des Deutschen Reiches in Shantung wirtschaftlich, politisch und militärisch von Tsingtao aus zu vertreten. Die einzige Möglichkeit, das Hinterland Kiaochows für die deutsche Wirtschaft nutzbar zu machen, lag nach Ansicht der Diplomaten in der Gewährung eines freien Zugangs zu industriellen Projekten für alle Interessierten und in einem wirtschaftlichen Ausgleich mit den Chinesen. Zu diesem Zweck sollte ein neues Abkommen über Kiaochow mit Peking geschlossen werden 52 . Als sich mit den militärischen Erfolgen über Rußland ein Höhepunkt japanischen Einflusses und chinesischen Selbstbewußtseins abzuzeichnen begann, mußte auch die Marineführung, die bei den Gesprächen mit der chinesischen Seite zunächst nicht nur die alten wirtschaftlichen Privilegien für Kiaochow gewahrt wissen, sondern darüber hinaus auch noch eine generelle Zollfreiheit für alle deutschen Waren aus und über Kiaochow nach Shantung erreichen wollte, schließlich froh sein, daß sie die Pläne des Auswärtigen Amtes aufgreifen und überhaupt noch ein neues separates Zollabkommen für Kiaochow abschließen konnte, das weiterhin einen ungehinderten Warenverkehr ins Landesinnere garantierte. Der bisherige Freihafen Tsingtao und das zollautonome Kiaochow-Gebiet wurden zum 1. Januar 1906 bis auf eine Freihandelszone wieder der chinesischen Zollhoheit unterstellt. Allerdings sollten 30 % der Zolleinnahmen an das Gouvernement abgeführt werden und in Kiaochow selbst hergestellte Güter nicht dem chinesischen Eingangszoll unterliegen 53 . Mit dem Erlöschen der Tarifautonomie Kiaochows endeten auch die Bestrebungen der Marine, durch politischen und militärischen Druck wirtschaftliche Prestigeerfolge in Shantung zu erzwingen. Das Reichsmarineamt hoffte aber, in Tsingtao und Kiaochow über möglichst geringe offizielle Beteiligung und mit einem Höchstmaß an Privatisierung die Wirtschaftskreise auch weiterhin für sich zu gewinnen. Auch das militärische Engagement sollte sich nur noch auf „Friedensaufgaben" beschränken, da es dem Reichsmarineamt viel wirksamer erschien, Tsingtao als Basis der Verständigung mit China aus-

52

Gouverneur Kiautschou an RMA, 22. 3. 1902, ebd., RM 3 / 6 8 3 0 ; Bülow an Tirpitz, 20. 4. 1902, ebd. Kahler, S. 84 ff., Mohr, Gedanken, S. 22 ff.

53

Gouverneur Kiautschou/RMA, 1 0 . 2 . und 3 1 . 1 0 . 1904, BA-MA, RM 3 / 7 0 5 8 ; Denkschrift RMA über die Entwicklung Kiautschous, Oktober 1905, ebd., RM 3 / 7 1 2 0 . AA/ Handelskammer Bremen, 6 . 4 . 1905, HKHB, K 0 / 1 5 ; Handelskammer 25. 4. 1905, ebd. Feng, S. 227.

188

Bremen/AA,

zubauen und die wirtschaftliche Entwicklung über kulturelle Tätigkeiten zu fördern 54 . Schon seit der Übernahme der Verwaltungsbefugnisse war die Marine bestrebt gewesen, Tsingtao ohne Rücksicht auf konfuzianistische Traditionen und die chinesische Sozialordnung als eine Musterkolonie aufzubauen. Insbesondere die Landreform, die ausschließlich dem Gouvernement Kiaochow die Bodenverkaufsrechte zusicherte und nach der alle drei Jahre der Wert des Grundbesitzes neu taxiert wurde, sowie das vorbildliche Verwaltungswesen bildeten den ersten erfolgreichen Versuch in China, eine Agrar- und Sozialreform durchzuführen. Die Bildungseinrichtungen standen den Verwaltungs- und Sozialeinrichtungen in keiner Weise nach. Die erste deutsche Schule, die nicht einer Missionsgesellschaft unterstand und in Tsingtao seit 1905 existierte, wurde 1907 durch eine Hochschule ergänzt 55 : Einen größeren deutschen wirtschaftlichen Erfolg im Schutzgebiet und in Shantung gab es nach dem Bau der Shantung-Eisenbahn dann trotz aller Bemühungen allerdings nicht mehr. Im Gouvernement wurden sogar einige der wenigen vorhandenen deutschen Fabriken wegen Absatzschwierigkeiten von den Chinesen aufgekauft und ins Innere des Landes verlegt. Die ab 1902 aufgebaute „Deutsch-chinesische Seidenindustrie-Gesellschaft" mußte 1909 aufgelöst werden, ebenso die „Deutsche Gesellschaft für Bergbau und Industrie", auf der insbesondere die Hoffnungen der Rohstoffindustrie gelegen hatten. Gerade der Bergbau hatte die in ihn gesetzten Erwartungen bei weitem nicht erfüllt, so daß weder das Auswärtige Amt noch das Reichsmarineamt an eine weitere Konzessionsvergabe an deutsche Firmen dachten. Selbst die Qualität der Kohle eignete sich offensichtlich bestenfalls für den Eisenbahnbetrieb, keinesfalls aber für Schiffe. Von den ca. 180 000 t Schiffskohle, die jährlich in Tsingtao verbraucht wurden, wurden daher noch etwa drei Viertel über Japan importiert; nicht zuletzt deshalb wuchs der japanische Einfluß in Kiaochow bedrohlich. Aber auch die Importe aus Japan selbst betrugen 1907 schon 5 0 % der Gesamteinfuhren über Tsingtao für das Hinter-

54

Aufzeichnung RMA, 10. 5. 1898, BA-MA, RM 3 / 7 0 1 4 ; Reichsschatzamt an RMA, 1 . 1 0 . 1898, ebd.; DAB an RMA, 27. 4. 1899, ebd., RM 3 / 7 0 1 5 ; RMA an Chef des Admiralstabes, 11. 4. 1908 und Antwort, 6. 5. 1908, ebd., RM 5 / 5 9 8 9 . Walle, Kreuzergeschwader, S. 14 ff.; Schrecker, S. 203 ff. Bereits die Boxerunruhen hatten den über China informierten Kreisen in der deutschen Wirtschaft, in Politik und Wissenschaft Anlaß zu Überlegungen gegeben, den zukünftigen Einfluß Deutschlands im Reich der Mitte besser über „Kultur" anstatt über „Kanonen" auszuüben: Die nationale und kulturelle Aufbruchstimmung in China verlange geradezu nach Anlehnung, Unterstützung und Orientierung. Der Gedanke, das Deutsche Reich als das Beispiel einer modernen Kulturnation darzustellen, nahm jedoch erst Mitte des Jahrzehnts konkrete Gestalt an. Vgl. dazu auch z. B. die Rede von Tirpitz am 4. 2. 1908 in der „Deutschen Kolonialgesellschaft, zit. in: Preyer, S. 158 f.

55

Meyer-Waldeck, S. 133 ff.; Michelsen, S. 255 ff.; O. Franke, Erinnerungen, S. 121 ff.; Linde, Jahresfeier, S. 229 ff.; Mohr, Deutschtum, S. 272 ff.; Ullmann, S. 214 ff.

189

land. Das Deutsche Reich folgte nach England (25 %) und den Vereinigten Staaten (15%) erst an vierter Stelle. Bei den Exporten aus Shantung über Tsingtao mußte sich Deutschland ebenfalls — nach Frankreich, England und Rußland — mit dem vierten Platz begnügen 56 . Die industriellen Fehlschläge und Widersprüchlichkeiten in den Planungen, die allgemeine Stagnation der wirtschaftlichen Entwicklung und der nationalistische Widerstand der Chinesen entfachten schließlich zur Zeit des Konjunkturtiefs Ende des ersten Jahrzehnts eine heftige Diskussion in Deutschland über die Nützlichkeit des Kiaochow-Projekts, das bis 1907 das Reich immerhin 110 Millionen Mark gekostet hatte. Das Auswärtige Amt zog nicht nur den Verkauf der Shantung-Eisenbahn-Gesellschaft in Erwägung, um zumindest das ständige chinesische Mißtrauen gegenüber der deutschen Politik und einer möglichen weiteren Expansion in Shantung zu beseitigen, sondern in der „Wilhelmstraße" stand auch eine Aufgabe Kiaochows als Zeichen der Verständigung mit einem national erwachenden China ernsthaft zur Debatte 57 . Von diesem Gedanken nahm die Reichsregierung nur infolge einer — allerdings kurzfristigen — günstigen Handelsentwicklung des Schutzgebietes und seines Hinterlandes im Jahre 1909 Abstand. Tsingtao entwickelte sich für kurze Zeit zum Hauptumschlagplatz der Eisenbahnmaterialimporte für den Bau der Tientsin-P'ukow-Bahn, den Engländer und Deutsche aufgrund ihrer Konzessionen von 1898 mit zehnjähriger Verspätung nun doch noch aufnahmen 58 . Dennoch blieben die wesentlichen strukturbedingten Probleme der deutschen Wirtschaft in Kiaochow und Shantung weiterhin ungelöst. Die deutschen Kaufleute in Tientsin litten nach wie vor an den — vom Eisenbahngeschäft abgesehen — geringen Exportmöglichkeiten der deutschen Wirtschaft ins Innere Shantungs. Auch 1910 lag der Einfuhrhandel über das Schutzgebiet — zum größten Teil ausländische Waren — noch immer fast ausschließlich in chinesischen Händen. Selbst die Ausfuhren aus dem Landesinnern nach Deutschland über andere chinesische Häfen waren wesentlich höher als die über Tsingtao. Darüber konnte auch die Tatsache nicht hinwegtäuschen, daß Tsingtao bis 1910 auf den sechsten Platz der umschlagstärksten Häfen Chinas vorgerückt war, denn der Gesamthandel betrug nur etwa ein Zehntel des Umschlags von Shanghai und ungefähr ein Drittel desjenigen von Hankow und Tientsin. Auch der direkte Warenverkehr von Deutschland nach Tsingtao war seit 1905 ständig gesunken und betrug 1910/11 nur noch knapp ein Viertel (ca. 2,55 Millionen Mark) des Rekordjahres 1903 (10,3 Millionen Mark). Die direkten Ausfuhren stiegen vor 1910 lediglich auf 0,3 Millionen Mark. Daher waren auch die deutschen Überseelinien nicht gewillt, Tsingtao

56

Rex an Bülow, 2 . 1 2 . 1907, BA-MA, RM 3 / 7 0 2 4 ; RMA an Admiralstab der Marine, 3. 2. 1908, ebd., RM 5 / 5 3 6 5 ; Gouverneur Kiautschou an RMA, 2. 3 . 1 9 0 9 , ebd., RM 3/7031.

57

A A a n RMA, 15. 3 . 1 9 0 9 , ebd., RM 3/7039. Rohrbach, Bd 134, S. 230 ff.; Stingl, S. 461. Denkschrift des RMA über die Entwicklung Kiautschous, Oktober 1909—Oktober 1910, BA-MA, RM 3 / 7 1 2 0 ; Aufzeichnung des RMA zu Kiautschou, o.D. (ca. 1911), ebd., RM 3/7131. Röser, S. 58 ff.; Ruland, S. 89.

58

190

öfter anzulaufen als bislang. Für sie blieb Shanghai der wichtigste Handelsplatz und Tsingtao nur eine Nebenstelle. Das Schutzgebiet konnte die in es gesetzten Erwartungen einer wirtschaftlichen und industriellen Drehscheibe für China bei weitem nicht erfüllen. Ohne dringend erforderliche finanzielle Unterstützung seitens des Reiches oder der Großfinanz, die sich aufgrund der vorangegangenen industriellen Mißerfolge in China äußerst zurückhielten, sahen sich Industrie und Handel am Vorabend der chinesischen Revolution kaum noch in der Lage, in Kiaochow weiter zu investieren. Hemmend für die Investitionsbereitschaft der deutschen Wirtschaft erwies sich auch die Tatsache, daß die gesamten wirtschaftlichen Beziehungen des Deutschen Reiches mit den anderen Gebieten Chinas nicht als vorteilhaft bezeichnet werden konnten, obwohl hier die Geschäfte nach dem Yangtze-Abkommen zunächst gut angelaufen waren, und zwar ohne daß militärisches Engagement oder irgendwelche politische Unterstützung dazu beigetragen hätten 59 . Das Auswärtige Amt, das die Chinapläne der deutschen Militärs stets kritisierte, hatte es nämlich bis Mitte des Jahrzehnts seinerseits nicht verstanden, auf die Entwicklung im Reich der Mitte richtig zu reagieren. Die politische Führung verharrte zunächst in Selbstzufriedenheit über die vermeintlichen Erfolge der vergangenen Jahre. Die deutsche Großmachtposition in Ostasien schien gefestigt und der Einfluß auf den chinesischen Markt gesichert zu sein, so daß die „Wilhelmstraße" es weder für nötig hielt, den deutschen Chinahandel zu fördern, noch den Chinesen zu weit entgegenzukommen. Sie sprach sich daher zunächst strikt gegen eine von Peking erbetene Abänderung oder Ergänzung des deutschchinesischen Handelsvertrages aus den 1860er Jahren zugunsten der Chinesen aus und tat das Vorgehen anderer Staaten als für Deutschland nicht richtungweisend ab. Einem 1902 zwischen England und China geschlossenen Wirtschaftsvertrag (McKay-Vertrag), der durch kleinere Zugeständnisse an die vom Boxerprotokoll hart getroffenen Chinesen der englischen Chinawirtschaft Vorteile verschaffen sollte, maß das Auswärtige Amt fälschlicherweise keine Bedeutung zu. Die ziemlich vage gehaltene Hauptvereinbarung, bei Abschaffung der Likin-Zölle im Gegenzug die Seezölle auf 12 % anzuheben, sahen die Diplomaten zurecht als undurchführbar und damit als nutzlos an. Die positive psychologische Wirkung dieses mehr politischen als wirtschaftlichen Ausgleichs auf ein gedemütigtes China wurde jedoch unterschätzt. Erst als dann auch die USA und Japan Sonderverträge mit den Chinesen abschlössen 60 , entwickelte das Auswärtige Amt größere Aktivitäten 61 .

59

Aufzeichnung des Journalisten Dr. Polly, 12. 5. 1911, PA, Abt. IA Chi/China 7 / 5 . Gouverneur Kiautschou an RMA, 4. 2. und 18. 5. 1911, BA-MA, RM 3 / 6 7 3 2 ; Handelskammer Tsingtau an RMA, 11. 7. 1912. Zahlen nach Preyer, S. 128, und W u , S. 54.

60

Die USA schlössen ihren Vertrag am 8 . 1 0 . 1903, die Japaner am 3 0 . 1 0 . 1903. AA an

61

Aufzeichnung AA, 6. 5. 1901, PA, Abt. IA Chi/China 24 Nr. 1 3 / 1 . Aufzeichnung Reichs-

Reichsschatzamt, 2 3 . 1 1 . und 2 7 . 1 1 . 1903, BA, R 2 / 1 6 3 7 . schatzamt, 8. 12. 1903, BA, R 2 / 1 6 3 7 ; AA an Reichsschatzamt, 3. 7. 1906, ebd., R 2 / 1 6 3 8 . Protokoll der Senatssitzung Bremen, 2 2 . 1 . 1904, HKHB, Hp II 8 3 / 4 .

191

Die „Wilhelmstraße" schätzte die deutsche Stellung in China gerade im Hinblick auf die sich verschärfenden russisch-japanischen Auseinandersetzungen allerdings als so gut ein, daß sie beabsichtigte, vor der Aufnahme von Verhandlungen über einen generellen Handelsvertrag die Zentralregierung zunächst zu einer Modifizierung des Vertrages über die Tientsin-P'ukow-Bahn zu bewegen. Die japanischen Kriegserfolge veränderten die Situation 1905 jedoch grundlegend. Hastig begonnene Verhandlungen erwiesen sich schon bald als wenig aussichtsreich, da die Chinesen Deutschland sogar nicht länger die Meistbegünstigung gewähren wollten. Die Gespräche endeten schließlich ergebnislos. Der Vertrag von 1861 blieb, einschließlich seiner unmaßgeblichen Modifizierung von 1880, weiterhin in Kraft — w e g e n seiner einseitigen Vorteile für das Deutsche Reich allerdings kaum zum Schaden des deutschen Chinahandels 6 2 . Abgesehen von diesen — fehlgeschlagenen — diplomatischen Bemühungen, den deutsch-chinesischen Handelsvertrag den Realitäten anzupassen, hatte das Auswärtige Amt in den Jahren nach der Jahrhundertwende lediglich über finanzielle Zuwendungen an die deutsche Schiffahrt in und nach China zur Erstarkung der deutschen Chinawirtschaft beigetragen. Schon Ende 1898 war zwischen dem Deutschen Reich, dem Norddeutschen Lloyd und der HAPAG, die nunmehr gemeinsam alle vierzehn Tage die Ostasienfahrt und einen Zubringerdienst nach Kiaochow betreiben sollten, ein neuer Subventionsvertrag geschlossen worden, um das Warenaufkommen aus Deutschland im Reich der Mitte zu erhöhen. Obwohl sich seit dem Baubeginn der Transsibirischen Eisenbahn nicht nur die wirtschaftliche Bedeutung der Mandschurei und Nordchinas enorm gesteigert hatte, sondern auch der Landweg als Verkehrsverbindung von Ostasien nach Europa ständig an wirtschaftlichem Wert gewann — allein von 1896 bis 1899 verdreifachte sich das Frachtaufkommen —, sahen die deutschen Wirtschaftsführer und Politiker noch Anfang des neuen Jahrzehnts für die absehbare Zukunft zum Seeweg keine Alternative 6 3 . Solange die W a r e n aus Europa zu Land noch die gleiche Zeit brauchten (ca. 46 Tage) wie zur See, dafür der Transport mit dem Schiff aber dreimal billiger war, rentierte sich nur der weitaus schnellere Personenverkehr, der jedoch wegen seines mangelnden Komforts keine Konkurrenz für die Personenschiffahrt nach Ostasien bedeutete. Nach Ansicht deutscher Experten konnte erst die Verwirklichung einer schon in den 1890er Jahren geplanten Südverbindung über Turkestan, Shensi und Shansi nach Zentralchina und ein Anschluß an die englischen und französischen Netze in Asien den Eisenbahnverkehr aus Europa erheblich fördern. Bis dahin mußten rentable und günstige Schiffsverbindungen nach China für den Absatz deutscher W a r e n von außerordentlicher Wichtigkeit bleiben 6 4 .

62

Reichsschatzamt an Reichsamt des Innern, 3. 7. 1906, BA, R 2 / 1 6 3 8 . O. Franke, Erinnerungen, S. 98 f., 119 f.

63 64

Preyer, S. 94 ff.; Schumacher, S. 935 ff., 961 ff. Konsulat Harbin an AA, 2 2 . 1 1 . 1909, BA, R 2 / 1 6 3 9 . Jahresbericht 1904, NdLl. Baumgart, S. 19.

192

Diese Kalkulation schien zunächst aufzugehen, zumal es den beiden Schifffahrtsgesellschaften wider Erwarten binnen kürzester Frist gelang, einen gut organisierten Anschlußdienst in der chinesischen Küstenfahrt aufzubauen, der besonders dem deutschen Yangtzehandel zugute kam. Von den insgesamt 18 chinesischen und ausländischen Schiffen auf dem Yangtze stellten die deutschen Linien immerhin zehn 65 . Außerdem brachten der Transport und die Versorgung des deutschen Expeditionskorps und des Kreuzergeschwaders gute Gewinne, allerdings nur bis zum stufenweisen Abzug der Truppen, von denen die letzten 1902 Shanghai verließen. So schnell, wie die deutsche Schiffahrt zu Beginn des Jahrhunderts, nicht zuletzt durch die Anwesenheit deutscher Truppen, in China stärker Fuß gefaßt hatte, so rasch war sie bereits in der Mitte des Jahrzehnts aufgrund der japanischen, chinesischen und englischen Konkurrenz in eine Krise geraten. Die Ursache lag primär im katastrophalen Rückgang der Küstenfahrt, die auch den Norddeutschen Llyod und die HAPAG zwang, nach und nach ihren Frachtdienst auf dem Yangtze wieder völlig einzustellen 66 . Obwohl durch den russisch-japanischen Krieg die Frachtraten in der Überseefahrt noch einmal gestiegen waren, bewirkte die konjunkturelle Tiefphase von 1907/08, die infolge amerikanischer Silberverkäufe zu einem Währungstief und einem Kaufkraftschwund in China führte, auch hier einen Einbruch. Bis zum Ersten Weltkrieg konnte sich die deutsche Schiffahrt in Ostasien zwar wieder stabilisieren, aber nie ein ähnliches Niveau erreichen wie der deutsche Handel nach China, der überdies wie im 19. Jahrhundert nach wie vor erhebliche Geschäfte über England, Frankreich und Rußland abwickelte 67 . Die Interessen des Chinahandels lagen im Yangtze-Gebiet und seit der Jahrhundertwende vor allem auf der von Rußland geöffneten Mandschurei. Schon seit den 1860er Jahren hatte der Handel nach Russisch-Fernost und in das mandschurische Hinterland eine bedeutende Rolle im deutschen Ostasiengeschäft gespielt. Bis Anfang der 1890er Jahre wurden immerhin ca. 48 % des Gesamtaußenhandels der Mandschurei über Vladivostok mit

65

66

67

Aufzeichnung AA, 21. 1. 1905, PA, Abt. IA Chi/China 24 Nr. 4/8. Kommando des Kreuzergeschwaders an Wilhelm II., 13.4. und 11.6. 1905. BA-MA, RM 5/5998. Gehrke, S. 391 ff.; Wertheimer, Leistungen, S. 37 ff. Durch die Aktivitäten in der Übersee- und Küstenfahrt stieg der deutsche Anteil an der Gesamttonnage Chinas 1902 auf 16,2 %, nachdem er noch 1897 6,4 % betragen hatte; er fiel aber bis 1907 auf 10,5 % zurück und betrug 1913 nur noch 8,6 %. Reisebericht Dr. Wiegand, 5.4. 1899, StAHB, 2/R l i m m l ; Königlich Preußische Gesandtschaft in Mecklenburg und bei den Hansestädten an Senat von Bremen, 30.3. 1901, ebd., 3/A3.C.3/195. Gesandtschaft Peking an AA, 30.4. 1903, BA, R 2/1637. Promemoria Kingsin-Linie 1897, StAHB, 2/M.6.b.4.c.2b; Reichsamt des Innern an Senat von Bremen, 28. 2. 1897, ebd.; Gesetzesvorlage im Bundesrat, 23.12. 1897, ebd. Generalkonsulat Shanghai an Reichskanzler, 15.1. 1912, HKHB, Hp II 83/6. Jahresberichte 1897-1919, NdLl. Geschäftsbericht 1907 der DAB, ADB. Cecil, Ballin, S. 63 ff.; Glade, S. 113 ff. 193

Deutschland und nur 30 % mit Rußland getätigt. Obwohl die russische Wirtschaft ab Mitte der 90er Jahre dazu übergegangen war, deutsche Interessen zu verdrängen, blieben deutsche Handelsfirmen mit Hilfe größerer eigener Investitionen weiterhin im Geschäft, da sie vor allem von den Neben- und Nachfolgegeschäften des mandschurischen Eisenbahnbaus profitieren konnten. Warenlieferungen, die über Vladivostok ins Innere des Landes zu den Baukolonnen transportiert wurden, moderne Industrieanlagen entlang der Bahnlinie oder Kohle aus Cardiff für russische Schiffe erwiesen sich vor dem russisch-japanischen Krieg als lukrative Geschäfte. Der Krieg selbst brachte dann dem deutschen Handel mit Russisch-Fernost und der Mandschurei einen noch größeren Aufschwung. Die gänzlich der „Politik der freien Hand" verpflichtete Prognose des Auswärtigen Amtes, die deutschen Kaufleute würden sich trotz der zugespitzten politischen Lage „bei der bekannten Rührigkeit" schon selbst arrangieren 68 , schien sich zu erfüllen. Etwa ein Drittel der deutschen Gesamtausfuhr nach China ging in diesen Kriegsjahren in die Mandschurei; zusätzlich lieferten die deutschen Handelsfirmen noch im gleichen Umfang englische und amerikanische Waren in das Krisengebiet. Erst die rigorose Wirtschaftspolitik Japans gegen alle nichtasiatischen Konkurrenten, nachdem es in der Mandschurei faktisch die Macht übernommen hatte, führte zu einer tiefen Krise des deutschen Handels in dieser Region, zumal die japanbegeisterten Chinesen den angeblich panasiatischen Nationalismus der Japaner zunächst noch stärker als bislang unterstützten und japanische Waren sogar vom Likin-Zoll befreiten 69 . Nach den japanischen Kriegserfolgen gingen aber nicht nur die mandschurischen Gebiete für die deutsche Wirtschaft verloren, sondern auch die Märkte Mittel- und Südchinas gerieten stärker unter japanischen Einfluß. Zwar stiegen die deutschen Im- und Exportgeschäfte mit China in der Zeit von 1901 bis 1910 gleichermaßen um 50%, aber es gab wie schon in den letzten Jahren vor der Jahrhundertwende erhebliche jährliche Schwankungen und keineswegs einen kontinuierlichen Anstieg. Der deutsche Anteil am chinesischen Außenhandel wuchs zudem mit jeweils einem Prozentpunkt von Mitte der 1890er Jahre bis 1905 längst nicht in dem erhofften Umfang. Mit 7 % der Marktanteile lag die deutsche Chinawirtschaft 1910 weit hinter dem Chinahandel der Engländer, Japaner und Amerikaner zurück. Wenn sich auch die einzelnen Handelsprodukte im deutsch-chinesischen Warenaustausch kaum änderten — Sesam, Bettfedern und Tee auf der einen, Indigo, Drahtstifte und Eisenbahnschienen auf der anderen Seite —, so entwickelte sich die Handelsbilanz für Deutschland doch allmählich negativ. Wie schon in den Krisenjahren 1897 und 1901 importierte das Deutsche Reich auch am Ende des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts wieder mehr Waren aus China,

68

AA an Reichsschatzamt, 1 4 . 1 0 . 1903, BA, R 2 / 1 6 3 7 .

69

Militärbericht 58, Gesandtschaft Peking, 1 3 . 1 0 . 1905, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 1 7 . Deutsche Vereinigung Shanghai an Reichskanzler, 23. 6. 1906, HKHB, Hp II 8 3 / 4 . Geschäftsbericht 1905 der DAB, ADB. Sieveking, S. 282, 290 ff.

194

als es dort selbst abzusetzen vermochte. Der deutschen Wirtschaft war es weder gelungen, den japanfreundlichen chinesischen Nationalismus aufzufangen, noch sich den Erfordernissen des chinesischen Marktes anzupassen 70 . Anstatt sich auf den Handel mit den Waren zu konzentrieren, die in China anerkanntermaßen die besten Verkaufschancen hatten und den weitaus größten Teil der chinesischen Einfuhren ausmachten, versuchte die deutsche Chinawirtschaft nach dem Boxerkrieg, vor allem technisch hochwertige schwerund leichtindustrielle Produkte abzusetzen. Die Wirtschaftsführer hielten es nicht für aussichtsreich, wie Japan und die USA auf dem Gebiet der Textilindustrie, dem zukunftsträchtigsten Markt Chinas, mit England in Konkurrenz zu treten, obwohl sie sich durchaus bewußt waren, bei dem angestrebten steigenden Absatz stärker als bislang auf die Wünsche der Chinesen eingehen zu müssen. Nur wenige Stimmen, wie der deutsche Direktor des chinesischen Seezolldienstes in Chefoo, machten auf die Möglichkeiten aufmerksam, welche die Einfuhr von Baumwolle böte, und wiesen darauf hin, daß die Japaner vor allem mit industriellen Erzeugnissen aus der Textilbranche ihren Anteil am chinesischen Außenhandel von 1894 bis 1904 fast verdreifacht hätten 7 1 . Die deutsche Wirtschaft orientierte jedoch ihre Bemühungen in China weiterhin ausschließlich an den Erfordernissen des eigenen Marktes — und entsprach damit augenfällig dem eigenständigen Weltmachtkurs der Reichsregierung 7 2 . Enttäuschungen waren daher vorprogrammiert: Die industriellen Lieferungen der gesamten Leichtindustrie, die sich gute Chancen ausgerechnet hatte, blieben bis Mitte des Jahrzehnts weit hinter dem traditionellen Geschäft der Konsumgüterindustrie zurück; beispielsweise konnte die führende Firma der deutschen Elektroindustrie, Siemens & Halske, außerhalb Tsingtaos als größtes Projekt lediglich eine elektrische Zentrale für Peking liefern, und das auch nur über ihr Büro in Tokyo und mit Hilfe der alten Chinafirma Mandl & Co. 7 3 . Günstiger sah es für den Chinahandel aus. Zunächst hatte sich zwar die Industrie durch den Yangtze-Vertrag so gute Geschäftsmöglichkeiten erhofft,

70

Gesandtschaft Peking an Bülow, 2 8 . 5 . 1903, PA, Abt. IA C h i / C h i n a 5 / 1 2 ; Aufzeichnung des Journalisten Dr. Polly, 1 2 . 5 . 1911, ebd., China 7 / 5 . Kommando Kreuzergeschwader an W i l h e l m II., 28. 7. 1904 und 11. 2. 1905, BA-MA, R M 5 / 5 9 9 8 . H. v. Bülow, S. 45 f.; Etienne, S. 1 ff.; W e g e n e r , S. 1005.

71

Denkschrift Seezolldirektor Ohlmer, April 1905, BA-MA, RM 3 / 6 7 2 9 . Preußisches Ministerium für Handel und Gewerbe an Handelskammer Dortmund, 19. 9. 1898, W W A , K 1 / Nr. 4 9 / 4 .

72

Gesandtschaft Peking an AA, 16. 7. 1906, BA, R 2 / 1 6 3 8 . Militärbericht 64, Gesandtschaft Peking, 2 0 . 1 0 . 1905, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 1 7 .

73

Die Erwartungen blieben jedoch weiterhin groß. Noch am 1 . 1 . 1904 gründeten die Siemens-Schuckertwerke in Shanghai, wiederum in Verbindung mit der Firma Mandl, ihr erstes technisches Büro in China, das die gesamte Vertretung außerhalb der Mandschurei übernehmen sollte. Bericht über das erste Geschäftsjahr, SAA, 1 1 / L b 593 (Berliner).

195

daß sie den kostspieligen Zwischenhandel übergehen wollte — derartige Überlegungen wurden dann in den 1920er und 1930er Jahren erneut angestellt —, aber nach der wirtschaftlichen und ideologischen Offensive der Japaner dachte niemand mehr ernsthaft daran, die Chinafirmen auszuschalten. Den Handelshäusern gelang es, trotz der Stagnation der Geschäfte mit Deutschland ihre Stellung weiter auszubauen. Sie mußten sich dafür allerdings den schon im 19. Jahrhundert wiederholt erhobenen Vorwurf gefallen lassen, sie kümmerten sich allzu sehr um die Geschäfte der anderen Mächte. In der Tat betrug ihr Anteil am chinesischen Außenhandel bis zum Ersten Weltkrieg ca. 25 %; ein Viertel aller amerikanischen Exporte lief über deutsche Händler, die den Handel Tsingtaos zu 45 % und den Hankows zu 80 % kontrollierten 74 . Daß die modernen Sektoren der deutschen Industrie nicht in dem erhofften Umfang Abschlüsse mit China tätigen konnten, lag nicht primär an der wachsenden Reserviertheit der Chinesen und schon gar nicht daran, daß sich die deutschen Chinakaufleute zu stark auf ausländische statt auf deutsche Waren konzentrierten. Vielmehr litt das technische Geschäft, das im Gegensatz zum Handel mit Konsumgütern, der von den Kaufleuten selbst finanziert wurde, von Krediten abhängig war, unter der geringen Risikobereitschaft der deutschen Banken; auch nach dem Ersten Weltkrieg sollte sich an dieser Zurückhaltung wenig ändern. Selbst im „neutralen" China wurden nur noch sichere Kapitalanlagen, z. B. in Regierungsgeschäften, vorgenommen, nachdem die allgemeine Blütezeit des deutschen Kapitalexports nach Übersee seit den 1880er Jahren mit den sich verschärfenden internationalen Krisen zu Ende gegangen war. Die Deutsch-Asiatische Bank, die zu Ausgang der 1890er Jahre wegen schlechter Abschlüsse noch Ausgleichszahlungen von anderen deutschen Banken erhalten hatte, erholte sich zwar durch die Shantung- und Tsingtao-Projekte, trat aber darüber hinaus nicht als Vermittler oder gar als Finanzier weiterer Geschäfte auf. Die für derartige Finanztransaktionen notwendige Kooperation mit anderen Vertragsmächten, namentlich mit den Engländern, wollten die Kaufleute wegen politischer Vorbehalte lieber vermeiden 75 . Gestützt durch die seltene Zusammenarbeit von Schwerindustrie und Finanzkreisen sowie massive finanzielle und diplomatische Unterstützung des Reiches konnte als einziges Großprojekt außerhalb Shantungs lediglich der Bau der Tientsin-P'ukow-Bahn verwirklicht werden (1908—1912). Hatten sich bei diesem Vorhaben Engländer und Deutsche zunächst nicht über genaue Modalitäten der 1898 erworbenen Konzessionen einigen können, so zögerten ab 1903 die selbstbewußter auftretenden Chinesen die Abschlußverhandlungen immer wieder hinaus. Eine Einigung kam nur zustande, weil Berlin schließ74

Kommando Kreuzergeschwader an Wilhelm II., 12. 8 . 1 9 1 1 , BA-MA, RM 5 / 6 0 0 0 . Mohr, Deutschtum, S. 268 ff.; W i d m a n n , S. 100, 118 ff.

75

Kommando Kreuzergeschwader an Wilhelm II., 1 2 . 4 . und 1 1 . 8 . 1905, BA-MA, RM 5 / 5 9 9 8 . Pohl, S. 79 ff.; Rosendorff, S. 105 ff., 118 ff.; Vinnai, S. 143.

196

lieh bereit war, für die Baugenehmigung seines Abschnitts auf wesentliche Teile der Konzessionen zu verzichten, welche die Errichtung der Westseite des Shantung-Eisenbahndreiecks vorsahen. Trotz der Verständigung verkümmerte das Vorhaben schließlich von einem für die Zukunft geplanten eigenständigen Wirtschaftsunternehmen zu einem reinen Finanzierungsgeschäft, das unter chinesischer Oberleitung blieb und bei dem lediglich bevorzugt deutsches Material benutzt werden sollte 76 . Die deutsche Chinapolitik, seit der Jahrhundertwende durch die außenpolitische Strategie der „freien Hand" zunehmend isoliert und wirtschaftlich von den anderen Mächten bedrängt, hatte es bis zum Ende des Jahrzehnts nicht vermocht, zu ihren Gunsten Einfluß auf die Ansätze zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Modernisierung in China zu nehmen. Vielmehr war die von der politischen Führung anfangs favorisierte Konzeption gescheitert, auf der Basis des Erreichten eine Wirtschaftsoffensive einzuleiten, ohne dabei durch ein übermäßiges staatliches Engagement in China die deutschen weltpolitischen Interessen zu gefährden. Das Deutsche Reich, auf sich allein gestellt, verfügte über kein wirksames wirtschaftspolitisches Instrumentarium, um die eigenen Vorstellungen in einem national erstarkenden China durchzusetzen. Die Möglichkeit einer intensiveren Zusammenarbeit mit den Chinesen wurde durch die Ignoranz und die zurückhaltende Vertragspolitik des Auswärtigen Amtes ebenso verhindert wie durch die Intransigenz des Reichsmarineamtes und durch dessen Prestigeobjekt Kiaochow, das eine belastende Enklave im Reich der Mitte blieb und sich nicht zum erhofften Tor zum chinesischen Markt entwickelte 77 . Dennoch bestand nach Ansicht aller maßgeblichen Kreise in Deutschland die politische und wirtschaftliche Notwendigkeit unverändert weiter, den chinesischen Markt als Warenabnehmer und Rohstofflieferanten — gerade im Hinblick auf eine verstärkte Förderung industrieller Rohstoffe — zu erhalten und weiter auszubauen. Außerdem traten militärstrategische und rüstungsindustrielle Aspekte, nach denen China zu einem möglichen wirtschaftlichen oder sogar militärischen kontinentalen Partner gegen das Zarenreich aufgebaut werden sollte, im Zusammenhang mit der vermeintlichen „Einkreisung" Deutschlands ab Mitte des Jahrzehnts stärker als je zuvor in den Vordergrund der Überlegungen — Mitte der 1930er Jahre sollte es zu einer ähnlichen Akzentsetzung kommen. Nach Auffassung des Auswärtigen Amtes konnte wie in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts gerade eine engere militärische Zusammenarbeit mit den Chinesen zur Überwindung der permanenten industriellen Absatzkrise der Chinawirtschaft beitragen. Hatten nicht nur die gewalttätige Konfrontation mit China zu Beginn des Jahrhunderts, sondern auch das vorsichtige Taktieren gegenüber den anderen Mächten bislang

76

Liang, Connection, S. 13; Schmidt, S. 134 ff.

77

Geschäftsbericht 1908 der DAB, ADB. Preyer, S. 150 ff.; Stingl, S. 385 ff. 197

lediglich begrenzte, auf wirtschaftliche Erfolge zielende militärische Beziehungen mit China als sinnvoll erscheinen lassen, so eröffnete die überraschende Abwendung der Mandschus von den Japanern am Ende des Jahrzehnts völlig neue Perspektiven. Anstelle Japans, das sich seit der Jahrhundertwende bei der Ausbildung chinesischer Streitkräfte quasi ein Monopol erworben hatte, suchte die angeschlagene kaiserliche Zentralregierung in Peking als letzten Ausweg nach neuen Verbündeten, um die vom wachsenden japanischen Expansionismus bedrohte Einheit des Reiches zu retten und vor allem die revolutionären nationalistischen Gegner der Dynastie im Innern zu zerschlagen 7 8 .

c) China

als geplanter

Eckpfeiler deutscher in Ostasien

Weltpolitik

Der kaiserliche Hof in Peking fühlte sich seit Mitte des ersten Jahrzehnts außen- und vor allem innenpolitisch mehr und mehr bedroht. Schon seit dem Frieden von Portsmouth zwischen Japan und Rußland (5. September 1905) und dem erzwungenen chinesisch-japanischen Nachfolge vertrag (22. Dezember 1905), die zwar beide de jure die chinesische Suzeränität über die Mandschurei anerkannten, de facto aber zu einer Aufteilung des MandschuStammlandes in ein russisches und ein japanisches Interessengebiet führten, sah sich China mit einer neoimperialistischen Politik Japans konfrontiert. Die Zentralregierung in Peking erkannte, daß die Japaner China nur so weit aufrüsten würden, wie es ihren eigenen Interessen nutzte, und daß das Reich der Mitte dabei immer abhängiger von ihnen werden mußte. Die japanischen Instruktionsoffiziere sollten daher nach dem Plan des Pekinger Kriegsministeriums nur noch für eine Übergangszeit weiter ausbilden, bis die chinesischen Militärs selbst in der Lage seien, diese Aufgabe zu übernehmen. Schon Ende 1906 mußte eine große Zahl japanischer Berater ihren Ausbilderplatz bei den chinesischen Streitkräften verlassen 1 . Überdies sollten neue Divisionen ohne japanische Hilfe aufgestellt werden und, wie schon vier der sechs modernisierten Divisionen der Peyang-Armee, der Aufsicht des zu mächtig werdenden Yüan Shih-k'ai entzogen und dem Kriegsministerium direkt unterstellt werden. Durch die weitere Aufstellung modernisierter Truppen sollten vor allem die ausgreifenden Unruhen im Süden beigelegt werden 2 .

78 1

Schmidt, S. 143 ff.; Zabel, S. 421 ff. Militärbericht 26, Gesandtschaft Peking, 24. 6. 1905, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 1 6 ; Militärbericht 44, Gesandtschaft Peking, 15. 9. 1905, ebd.

2

Ostasiendetachement an Wilhelm II., 2 4 . 1 0 . 1906, ebd., China 5 / 1 9 . Botschaft Tokio an Bülow, 14. 12. 1906, ebd., China 5 / 2 1 ; Ostasiendetachement an Wilhelm II., 8 . 1 . 1907, ebd., China 5 / 2 0 . Powell, S. 20 ff.

198

Zusätzlich zu den außenpolitischen Schwierigkeiten infolge der unverhohlenen japanischen Wünsche in bezug auf die Mandschurei war es im Innern zu größerer Unzufriedenheit gerade unter den Streitkräften gekommen, welche die militärischen Erfolge Japans und die angesehene Stellung der japanischen Armee dem Versagen der Mandschu-Dynastie und ihrer eigenen gesellschaftlich niedrigen Position gegenüberstellten. Mit dem Tod der Kaiserinwitwe Tz'u-hsi (1908) drohte das mühsam aufrechterhaltene Gleichgewicht innerhalb der chinesisch-mandschurischen Führung endgültig zusammenzufallen. Die südlichen Provinzen, die es seit der Mitte der 1880er Jahre verstanden hatten, sich aus allen Konflikten herauszuhalten, begannen, sich von dem Bündnis mit den Mandschus zu lösen. An den Militärschulen im Süden, an denen der japanische Einfluß weit ausgeprägter und unkontrollierter war als im näheren Einflußbereich der Zentralregierung, konnte selbst die Möglichkeit von antimandschurischen Aufständen nicht mehr ausgeschlossen werden. Aber auch innerhalb der konservativen chinesischen Beamtenschaft in Peking wuchs die offene Antipathie gegenüber der glücklosen Ch'ing-Dynastie immer stärker an. Der kaiserliche Hof nahm in dieser Lage zu einem absolutistischen Zentralismus Zuflucht, um die Regierungsgewalt allmählich an eine Art mandschurische Militärregierung zu übertragen. Die chinesischen Zentralbehörden verwandelten sich in der Folge zunehmend in von Militärs geführte Kommandozentralen des Mandschu-Hofes 3 . Mit kaiserlichem Edikt vom 15. Juli 1909 übernahm Prinz Tsai-feng, der für seinen minderjährigen Sohn, Kaiser Hsün-t'ung, die Macht sichern wollte, sogar selbst den Oberbefehl über alle Land- und Seestreitkräfte. Ein eigener Generalstab und ein Marineministerium sowie die Reorganisation des Kriegsministeriums sollten eine effektivere Zentralisierung der militärischen Befehlsgebung ermöglichen als bislang. Nicht nur die Anfang des Jahrhunderts noch mit den Japanern geplanten Militärreformen in den Provinzen sollten weiter gefördert werden, sondern die Aufmerksamkeit Pekings konzentrierte sich auch besonders auf die Aufstellung neuer Mandschu-Gardeverbände und den Ausbau der Nordarmee. Der Hof traute den meisten modernisierten chinesischen Truppen — am Vorabend der Revolution etwa 200 000 Mann — nicht mehr, da sie im Süden von Revolutionären durchsetzt zu sein schienen 4 . Tatsächlich vermochten die modernisierten Truppen nur auf den ersten Blick den Anschein zu erwecken, sie könnten wenigstens Ruhe und Ordnung im

3

Beckmann, S. 208 f.; Holcombe, S. 87 ff.

4

Die Zahlenangaben über die modernisierten Truppen schwanken beträchtlich: Chef des Admiralstabes an AA, 2 1 . 2 . 1 9 1 1 : 12 Divisionen (120 0 0 0 Mann), 10 Brigaden (62 000), Gardetruppen (8 000), PA, Abt. IA Chi/China 5 / 2 8 . Großer Generalstab an Königlich Bayerischen Generalstab, Bericht 2. Vierteljahreshälfte 1 9 1 1 : 9 Divisionen und 21 Brigaden (ca. 200 000 Mann), KA, GenStab/208. Die Literatur spricht bisher von 16 modernisierten Divisionen und ebensovielen Brigaden, davon 7 Divisionen und 4 Brigaden, die sich noch einigermaßen loyal gegenüber den Mandschus verhielten. Powell, S. 70 ff., Schrecker, S. 43 ff. 199

Innern aufrechterhalten. In Wirklichkeit aber mangelte es ihnen an den notwendigen Voraussetzungen, um zu einem Faktor der Stabilität zu werden: Das sogenannte modernisierte Offizierkorps bestand neben den japanisch gebildeten Führern aus alten Bannertruppen- und abgemusterten Marineoffizieren sowie aus umfunktionierten Zivilbeamten und westlich erzogenen Studenten, die versuchten, in der Armee Karriere zu machen. Seine Verschiedenartigkeit und Zuverlässigkeit entsprach damit in etwa dem vorhandenen Sammelsurium an Waffen. Zu alledem gewährten die Japaner den Revolutionären, die in den Streitkräften des separatistischen Südens eine immer größere Anhängerschaft fanden, nun offen direkte materielle Unterstützung, um ihre wirtschaftlichen und politischen Ziele in Nordchina und der Mandschurei auch gegen die Mandschus durchzusetzen 5 . Ein Aufstand von zwei Bataillonen Infanterie in Canton konnte nur noch mit Truppen aus dem Norden niedergeschlagen werden, da Peking auf die Südtruppen kaum noch Einfluß hatte 6 . Die Unruhe in den Streitkräften war schließlich nicht mehr zu kontrollieren. Überall kam es ab Oktober 1911 zu größeren Meutereien gegen die Mandschu-Herrschaft. Etwa die Hälfte der Verbände im Süden schloß sich den Revolutionären an und ermöglichte deren Erfolge sowie die Ausrufung der Republik in Nanking 7 . Hatten die von Prinz Tsai-feng erneut vorangetriebenen Reformen schon die Revolutionäre nicht mehr beschwichtigen können, so vertieften sie überdies noch die Entfremdung zwischen Herrscherhaus und konservativen Chinesen auf das nachhaltigste. So beschleunigte das Programm zur Verstaatlichung der Eisenbahnen sowie die geplanten Neubaustrecken die offenen antimandschurischen Erhebungen, die sich nun schon seit Ende 1910 durch kleinere Aufstände angekündigt hatten. Diese Art von Reformen wurde von den westlich orientierten Eliten und ihren neuen Gentry-Sympathisanten, die weniger die Unterdrückung der revolutionären Bestrebungen als vielmehr den Verlust der traditionellen provinziellen Eigenständigkeit fürchteten, eindeutig als weiterer Versuch der Zentrale verstanden, ihre Macht auszudehnen. Als letzten Ausweg beabsichtigte der Hof, doch noch mit Yüan Shih-k'ai als Heerführer und neuem Generalgouverneur in Hankow, später als Ministerpräsident und voll rehabilitiertem Oberbefehlshaber der Nordtruppen (ab 8. November 1911), gegen den rebellierenden Süden vorzugehen; aber auch dieser Plan scheiterte an Yüans Kompromißbereitschaft gegenüber den aufständischen Militärführern. Aber nicht nur die Unzuverlässigkeit und Untätigkeit der eigenen Militärs zwangen die Mandschus am 12. Februar 1912

5

Botschaft Washington an Biilow, 2 3 . 1 0 . 1907, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 2 2 ; Ostasiendetachement an Wilhelm II., 16. 3. 1908, ebd., China 5 / 2 3 .

6

Militärbericht 4, Gesandtschaft Peking, 1 3 . 1 . 1910, ebd., China 5 / 2 6 ; Konsulat Nanking an AA, 2. 2 . 1 9 1 0 , ebd. Großer Generalstab an Königlich Bayerischen Generalstab, 1. 7. 1909, KA, GenStab/208. Powell, S. 261 ff.

7

Militärbericht 15, Gesandtschaft Peking, 25. 6. 1911, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 2 8 ; Militärbericht 16, Gesandtschaft Peking, 9. 7. 1911, ebd. Kähler, S. 9 ff.

200

letztlich dazu, abzudanken und die Schuld für alle Mißstände und Fehlentwicklungen in China nach alter Tradition auf sich zu nehmen 8 , sondern auch die ambivalente Haltung der Großmächte, die bis auf das Deutsche Reich kaum mehr bereit waren, die Zentralregierung zu stützen 9 . Nach den Boxerunruhen hatte sich zunächst das allgemeine internationale Interesse am Fernen Osten erheblich verringert. China war nicht länger Mittelpunkt der Weltpolitik, blieb jedoch wegen seiner bedeutenden strategischen Lage und seiner wirtschaftlichen Möglichkeiten ein wichtiger Schnittpunkt der großen Politik der Mächte. Denn als Grundlage eines generellen politischen Ausgleichs der Mächte in Fernost, der sich nach dem völlig unerwarteten Sieg Japans über das Zarenreich als das wichtigste Problem für eine Stabilisierung Ostasiens bis zum Ersten Weltkrieg herausschälen sollte, wurde eine Einigung über China immer bedeutsamer. Besonders für Petersburg, das durch den verlorenen Krieg nicht nur außenpolitisch, sondern infolge der von der Niederlage ausgelösten Revolution (1905/06) auch innenpolitisch geschwächt wurde, gewann eine Annäherung an andere Großmächte entscheidendes Gewicht 10 . Die verheerende Niederlage in Ostasien, die Rußland u. a. zur Abtretung der Liaotung-Halbinsel und der Südmandschurischen Eisenbahn an Japan und zum Rückzug auf die Nordmandschurei zwang, hatte dem Zarenreich die Gefährlichkeit seines ungehemmten Expansionismus aufgezeigt und es zu Zugeständnissen bewogen. Mit England einigte sich Petersburg schließlich am 31. August 1907 über Afghanistan und Persien sowie über eine Abgrenzung der beiderseitigen Interessensphären in Zentralasien. Mit Japan vereinbarte die russische Regierung bereits am 30. Juli 1907 die gegenseitige Anerkennung von Interessengebieten im Fernen Osten. Obwohl sich der Schwerpunkt der russischen Außenpolitik wieder eindeutiger nach Europa verlagerte, ermöglichten diese russisch-japanische Entente und vor allem das weitaus konkretere Abkommen mit den Japanern über die Aufteilung der Mandschurei in Interessenzonen (4. Juli 1910) den Russen nochmals eine, wenn auch maßvolle Fernostexpansion. Gerade die politischen Absprachen mit anderen Mächten in Asien erhöhten erneut die Handlungsfreiheit des Zarenreiches und versetzten es Ende des Jahrzehnts in die Lage, das verlorene wirtschaftliche Terrain in China zurückzuerobern. Die schwierige außenpolitische Situation des revolutionsgeschwächten Mandschu-Reiches erlaubte Rußland trotz der Verwicklungen auf dem Balkan eine neuerliche militärpolitische Offensive, die darauf zielte, die Mongolei als selbständigen Staat aus dem chinesischen Reich herauszubrechen 11 .

Militärbericht 50, Gesandtschaft Peking, 2 1 . 8 . 1910, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 2 6 . Powell, S. 307 ff. 9 Franke/Trauzettel, S. 335 ff.; Schmidt, S. 26 ff. 1 0 Haumann, S. 23 ff.; Treue, Rußland, S. 507 ff.; Glatfelter, S. 1 ff., 250 ff. " Kindermann, Ferner Osten, S. 131 ff.; Stingl, S. 530 ff. 8

201

Frankreich, Rußlands Juniorpartner in China, hatte es trotz seiner Rolle als Finanzier der Expansionspolitik des Zarenreiches von Anfang an verstanden, in Ostasien nicht auf einen Konfrontationskurs zu den anderen Mächten zu geraten 12 . Das Reich der Mitte stellte für die konzeptionslose französische Außenwirtschaftspolitik in Übersee seit Ende der 1890er Jahre trotz aller Investitionen kaum einen solchen wirtschaftlichen und politischen Faktor dar, daß sich eine Auseinandersetzung gelohnt hätte. Vielmehr ließ die Sicherung der prestigebeladenen Kolonien in Indochina politische Absprachen als vorrangig erscheinen. Dem Beispiel Rußlands folgend, schloß Paris 1907 ebenfalls ein Übereinkommen zur Abgrenzung von Interessensphären mit Japan, das den Norden Chinas immer mehr als seinen natürlichen wirtschaftlichen Ergänzungsraum betrachtete 13 . Hatten sich die Japaner bis zum Krieg gegen Rußland vor allem auf eine wirtschaftliche Erschließung Koreas konzentriert, so nahmen sie nach 1905, beflügelt von den militärischen Erfolgen und mit einer doppelt so starken Armee und Marine im Rücken wie Ende der 1890er Jahre, die seit Shimonoseki zurückgestellte kontinentalexpansionistische Politik in der Mandschurei wieder auf. Diese Region entwickelte sich zunehmend aus militärstrategischen und wirtschaftspolitischen Gründen zum wichtigsten japanischen Interessengebiet auf dem asiatischen Festland 14 . Eine politische Verständigung mit dem Westen sollte daher die vermeintlich legitimen Interessen und Ansprüche Japans in diesen chinesischen Gebieten bestätigen. Diese Strategie schien sich realisieren zu lassen, als die Annexion Koreas (1910), die Japan unter Ausnutzung der beginnenden Unruhen in China durchführte, auf keinen Widerspruch bei den anderen Mächten stieß. Selbst die Amerikaner, die das Prinzip der „Offenen Tür" in Ostasien am eindringlichsten verkündeten, machten keinerlei Anstalten, militärisch zu intervenieren. Sie nahmen auch die japanisch-russischen Vereinbarungen von 1910 über die Aufteilung der Mandschurei widerspruchslos hin, die das japanisch-amerikanische Ausgleichsabkommen über den Fernen Osten (Root-Takahira-Abkommen vom 30. November 1908) mit seiner ausdrücklichen Anerkennung der territorialen Integrität Chinas de facto außer Kraft setzten 15 . Seit den 1890er Jahren war in der amerikanischen Politik die Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität durch Expansion geradezu zu einem Dogma erhoben worden 16 . Die Hoffnungen, China zu einem Absatzgebiet erster Ordnung zu erheben, hatten sich allerdings spätestens seit dem Sieg der chinesischen Reaktionäre 1898 und der territorialen Annexionen der europäischen Baumgart, S. 8 9 f.

12 13

Hallgarten, Imperialismus, Bd 2, S. 246 ff.; Ziebura, Faktoren, S. 126 ff.

14

Allen,

History,

S. 30 ff.,

65 ff.,

161 ff.;

Dettmer,

S. 119 ff.;

Remer,

Investments,

S. 414 ff. 15

Crowley, S. 11 ff.; Dettmer, S. 122 ff.

"Williams, S. 217 ff. 202

S. 4 1 8 ff.; Wehler,

Imperialismus

vor

1914,

S. 188 ff.;

ders.,

Aufstieg,

Mächte wieder zerschlagen. Durch die Verkündung der „Open Door Policy", die Washington in enger Anlehnung an die traditionelle Kolonialmacht Großbritannien durchsetzen wollte, meinte die neue westliche pazifische Großmacht, noch am ehesten eine künftige wirtschaftliche Suprematie in Ostasien erreichen zu können* 7 . Die amerikanische Regierung dachte indes nicht daran, sich dabei auf waghalsige militärische Auseinandersetzungen einzulassen. Japanische und russische Expansions- und Annexionsabsichten wollte das State Department durch eine geschickte „Dollardiplomatie" abblocken 1 8 und durch Anleihegeschäfte mit den Chinesen die russiche und japanische Offensivpolitik eindämmen 19 . In bündnispolitischen Fragen gegenüber dem Reich der Mitte hielt sich Washington allerdings zurück. Dies bedeutete zwar keineswegs eine Kapitulation der amerikanischen Wirtschaftspolitik vor den Japanern in China, die Vereinigten Staaten hielten an ihren langfristigen wirtschaftlichen und politischen Zielen fest, aber direkt wollten die Amerikaner das bedrohte Mandschu-Regime nicht unterstützen, zumal sich England in Ostasien weiterhin an Japan band 20 . Die britische Regierung, die mit den militärischen Interventionen der anderen Großmächte um die Jahrhundertwende ein Ende ihrer unangefochtenen Führungsposition im Reich der Mitte hinnehmen mußte, war nach dem japanisch-russischen Krieg von dem Kalkül ausgegangen, das politische und strategische Gleichgewicht in pstasien nur durch eine Allianz mit Japan auf gleichberechtigter Basis erhalten zu können. Zum einen wollte sie den russischen Hegemoniebestrebungen und der Möglichkeit eines neuen „Ostasiatischen Dreibundes" eine starke Koalition entgegenstellen. Zum anderen hoffte London aber auch, durch ein enges Bündnis Japan beeinflussen und den amerikanischen Wirtschaftsexpansionismus unter Kontrolle halten zu können. Unmittelbar nach der russischen Niederlage wurde daher der englisch-japanische Bündnisvertrag am 12. August 1905 und nochmals am 13. Juli 1911 verlängert, obwohl die britische Regierung den Japanern gewisse Präferenzen in der Mandschurei einräumen mußte. Diese global-strategischen Überlegungen, bei denen die Sicherung des Empires absolute Priorität besaß, ließen sich um so leichter verwirklichen, als das wirtschaftliche Hauptinteresse der englischen Regierung seit den negativen Erfahrungen des Buren-Krieges weitaus stärker als jemals zuvor auf den eigenen Inlands- und Kolonialmärkten lag 21 . Obwohl die Regierung in London trotz heftiger Proteste der englischen Chinakaufleute an ihrem moderaten Kurs gegenüber den Chinesen festhielt 22 ,

17

Kindermann, Spannungsfeld, S. 41 ff.; McCormick, passim.

18

Latourette, S. 617 ff.; Varg, S. 167 ff., 319 ff.

19

Wehler, Imperialismus vor 1914, S. 186 ff.; ders., Handelsimperialismus, S. 72 ff.; Willoughby, Rights, Bd 2, S. 175 ff.

20

O. Franke, Großmächte, S. 368 ff.; Hyam, S. 365 f.

21

Louis, S. 7 f.; L. Young, S. 295 ff.

22

Botschaft London an Bülow, 9. 8. 1902, PA, Abt. IA Chi/China 24 Nr. 1 3 / 1 ; M u m m an AA, 9. 8. und 7. 9. 1902, ebd. Pelcovits, S. 2 8 9 ff.; Platt, S. XII ff., X X V ff. 203

ging der wirtschaftliche Einfluß Großbritanniens im Reich der Mitte rapide zurück 23 . Gerade Japan, der politische Verbündete Englands im Fernen Osten, entwickelte sich dort zum größten wirtschaftlichen Konkurrenten und zog schon 1913 mit Großbritannien im Chinahandel fast gleich. England wurde allmählich zu einem imperialen Eindringling unter vielen, der durch seine historisch gewachsene Position immer noch über die beste Ausgangslage verfügte, längst jedoch nicht mehr als unumstrittene Führungsmacht galt 24 . Das Prinzip der „Offenen Tür" in China war daher Ende des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts kein Dogma britischer Ostasienpolitik mehr und die bei der wirtschaftlichen Modernisierung des Landes versagende Mandschu-Regierung in englischen Augen nicht unersetzbar 25 . Für Deutschland war dagegen seit der Niederlage des Zarenreiches in Asien die kaiserliche Regierung in Peking mit ihrem militärischen Reform- und Aufrüstungsprogramm immer stärker zum Dreh- und Angelpunkt seiner Fernostpolitik geworden. Im Gegensatz zu England, Frankreich, Rußland, Japan und den Vereinigten Staaten hatte es das Deutsche Reich versäumt, einen generellen politischen Ausgleich mit anderen Großmächten in Asien zu suchen. Wenn auch erst in der zweiten Hälfte des ersten Jahrzehnts definitiv die Chance zu einer Verständigung vertan wurde und sich sogar erst Ende des Mandschu-Reiches die Fronten gegenüber den machtpolitischen Gegenspielern in Ostasien verhärteten, so waren entscheidende Grundlagen für die deutsche Sonderstellung in Fernost doch schon unmittelbar nach der Jahrhundertwende gelegt worden. Eine politische Annäherung an Japan, wie sie um 1900 sowohl in Diplomaten- als auch in Marinekreisen noch als durchaus wünschenswert gegolten hatte, erschien höchst unzweckmäßig, um die Aufmerksamkeit und das Mißtrauen Rußlands nicht von Japan und England auf Deutschland zu lenken 2 6 . Allenfalls hätte eine russisch-japanische Verständigung, um die sich die Reichsregierung dann auch vergeblich bemühte, und die damit verbundene Möglichkeit eines schlagkräftigen euro-asiatischen Blocks gegen Großbritannien eine Modifizierung der deutschen Ostasienpolitik bewirken können 2 7 . Eine engere Zusammenarbeit mit Rußland allein und möglichst gegen Japan und England wiederum scheiterte zum einen daran, daß Deutschland jegliche Spitze gegen Großbritannien vermeiden wollte und einen neuen „Ostasiatischen Dreibund" mit dem „Erbfeind" Frankreich ablehnte, und zum anderen das Zarenreich seinerseits wegen französischer Vorbehalte und der an-

23

Pelcovits, S. 301 ff.; Remer, Investments, S. 229 ff., 355 ff.

24

Mohr, Gedanken, S. 68 ff., M o r s e / M a c N a i r (Hrsg.), S. 494 ff.

25

Brandt, Eisenbahnunternehmungen, S. 1 3 6 ff.; Giitter, S. 12 ff.

26

Grimm, S. 30 ff.; Klein, Chinapolitik, S. 821 ff.

27

AA an Gesandtschaft Peking, 1 8 . 1 . 1902, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 1 0 ; AA an Wilhelm II., 2 9 . 1 . 1902, ebd.; Muram an Biilow, 28. 1. 1902, ebd., China 24 Nr. 1 3 / 1 ; Biilow an Wilhelm II., 4. 2. 1902, ebd., China 24 Nr. 4 / 5 ; Biilow an Gesandtschaft Tokio, 5. 2. 1902, ebd.

204

tideutschen neopanslawistischen Stimmung im Land an einer Vertiefung der bilateralen Beziehungen nicht sonderlich interessiert war 28 . Sich vertraglich an England, sozusagen als Juniorpartner, in Fernost zu binden, galt in Berlin von vornherein als indiskutabel. Allein mit den Vereinigten Staaten, welche die Reichsregierung ihrerseits in das Schlepptau der eigenen politischen Vorstellungen zu nehmen hoffte, sah die politische Führung reelle Chancen zu einer Vereinbarung, stieß damit jedoch bei den anglophilen Amerikanern auf wenig Entgegenkommen 29 . Mit der Niederlage und der politischen Neuorientierung Rußlands nach Europa geriet die deutsche Politik in Ostasien dann endgültig in eine Sackgasse. Weder durch eine privaten Initiativen überlassene Wirtschaftspolitik in China noch durch eine Politik der „freien Hand" gegenüber den anderen Großmächten hatten sich die erhofften Erfolge erzielen lassen. Schon um 1905 war die selbstgenügsame „laissez-faire"-Konzeption der deutschen Ostasien- und Chinapolitik der Jahrhundertwende nicht mehr tragfähig. Notwendige Konsequenzen wurden aber, wie auch in anderen Bereichen der Außen- und Militärpolitik, nicht gezogen. Die deutsche Politik verfolgte bis zum Ersten Weltkrieg zu keinem Zeitpunkt ernsthaft die Absicht, in Fernost mit einer anderen Großmacht in Form eines Bündnisses zusammenzugehen. Durch die Einigung der Mächte im asiatischen Raum über Deutschland hinweg geriet das Reich in der Folgezeit daher immer weiter in eine Oppositionshaltung zu den weltpolitischen Rivalen. Parallel zu dieser Entwicklung zogen Berliner Regierungskreise einen vertraglichen Ausgleich mit den Chinesen immer stärker ins Kalkül. Die Reichsregierung dachte dabei nicht nur langfristig an ein Ausschalten der ausländischen Konkurrenten auf dem chinesischen Markt, sondern erhoffte sich auch, in Zusammenarbeit mit dem „Juniorpartner" China das Geflecht der internationalen Beziehungen in Ostasien zu ihren Gunsten zu verändern und damit die eigenen weltpolitischen Vorstellungen durchzusetzen. In einem gegen innere und äußere Gegner rüstenden Mandschu-Reich bot sich vor allem eine Intensivierung der rüstungswirtschaftlichen und militärpolitischen Beziehungen an, um die deutsch-chinesische Partnerschaft zu verbessern. Japanischen Widerstand gegen dieses Vorgehen, auf den keine größere Rücksicht genommen werden sollte, kalkulierte die Reichsregierung ein; gravierende Einsprüche der anderen Großmächte wurden nicht erwartet, da die Japaner die Militär- und Rüstungsbeziehungen zu China zum Schaden aller westlichen Industrienationen beinahe monopolisiert hatten. In Berlin überwogen eindeutig die zu erwartenden strategischen Vorteile und vor allem die konkreten Möglichkeiten im schwerindustriellen Bereich, die der Aufrüstung in Deutschland zugute kommen mußten.

28

Botschaft St. Petersburg an AA, 8. 2. 1904, ebd., China 24 Nr. 4 / 8 ; Gesandtschaft Peking an AA, 16. 5 . 1 9 0 4 , ebd., China 5 / 1 4 ; Kommando Kreuzergeschwader an Wilhelm II., 1 . 1 0 . 1904, ebd. Steinberg, S. 1976 ff.

29

Gesandtschaft Peking an AA, 20. 7. 1903, PA, Abt. IA Chi/China 24 Nr. 1 6 / 3 . Boelcke, Meer, S. 253 ff.; Stingl, S. 574 ff. 205

Bei der militärischen Führung des Deutschen Reiches war seit 1906 immer stärker die Bereitschaft in den Vordergrund getreten, militärstrategische und rüstungswirtschaftliche Pläne auch ohne Rücksicht auf politische Überlegungen durchzusetzen: Die Marine hatte zwar nach dem zweiten Flottengesetz unter dem Einfluß von Tirpitz mit einem schrittweisen Rückzug aus Übersee begonnen — außer in das Prestigeobjekt Kiaochow flössen nur noch wenige finanzielle Mittel in die Kolonien —, statt dessen wurde aber die heimatnah operierende Schlachtflotte weiter zügig ausgebaut. Der Übergang Englands zum Dreadnought-Bau (1906) erforderte dann eine zusätzliche quantitative wie qualitative neue Antwort im Rüstungsbereich, sollten die angestrebten weltpolitischen Ziele noch erreicht werden. Obwohl der Flottenplan zu diesem Zeitpunkt schon so gut wie gescheitert war, da England keineswegs bereit schien, eine Einschränkung seiner Seemacht und damit seiner imperialen Führungsrolle hinzunehmen und Deutschland unbegrenzt zur See rüsten zu lassen, konnte sich die Marineführung zu einem solchen Eingeständnis nicht durchringen und erzwang weitere Rüstungsanstrengungen. Mit Hilfe neuer Anleihen setzte ein maritimes Wettrüsten ein, das erst gedrosselt wurde, als Anfang des zweiten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts feststand, daß nicht nur die politische, sondern auch die militärische Konzeption von Tirpitz an Englands politischer Standhaftigkeit und der neuen englischen Seestrategie einer Fernblockade gescheitert war 3 0 . Ähnlich wie im maritimen Bereich verlor die politische Führung in Deutschland auch immer mehr Einfluß auf die Landstreitkräfte und deren strategische Konzeptionen. Die russische Balkanpolitik ließ in den Operationsplänen den alten Gedanken eines Präventivkrieges im Osten aus den 1880er Jahren wieder aufleben. Die Zusage des neuen Chefs des Generalstabes, Helmuth v. Moltke d. J., Deutschlands einzigem engeren politischen und militärischen Verbündeten, Österreich, auch dann Hilfe zu gewähren, wenn dieser selbst kriegerische Aktionen begann, bedeutete eine genaue Umkehrung der Defensivstrategie Bismarcks, wie sie der vormalige Reichskanzler mit der Anlehnung an die Donaumonarchie verfolgt hatte. Diese Tatsache mußte um so fatalere Folgen haben, als trotz dieser Blankozusage an Österreich am Schlieffenplan festgehalten und die Aufrüstung zu Land, durch die sich die anderen europäischen Mächte zunehmend bedroht sahen, nicht eingeschränkt wurde. Trotz der Prioritäten für die Rüstung der Seestreitkräfte war es dem Heer gelungen, seine Modernisierung mit der Verlängerung des Quinquennats von 1904/05 weiter fortzuführen 31 . Von den Aufrüstungsprogrammen bei Heer und Marine profitierte die deutsche Rüstungswirtschaft am meisten. Hatten schon die maritimen Beschaffungsvorhaben nach der Jahrhundertwende den Rüstungsbetrieben einen ungeahnten Aufschwung gebracht, so vergrößerten sich deren wirtschaftliches

30

Ganz, Colonial Policy, S. 47 f.; Deist, Reichsmarineamt, S. 116 ff.; Herwig, S. 73 ff.

31

Burchardt, S. 51 ff.; Craig, S. 282 ff.; Schulz, S. 165 ff.

206

Eigengewicht und teilweise auch deren politische Einflußmöglichkeiten durch die parallel anlaufende Heeresmodernisierung seit der Mitte des Jahrzehnts noch weiter. Einen wesentlichen Beitrag leistete dazu die propagandistische Unterstützung der Aufrüstung in der Öffentlichkeit durch nationale und imperialistische Verbände. Als weitaus effektiver erwiesen sich allerdings für einige Industrielle ihre persönlichen Beziehungen zum Kaiserhaus und zu Reichsbehörden. Besonders der Krupp-Konzern profitierte von seiner Vorzugsstellung bei den Hohenzollern und seinen guten Verbindungen zur Reichsregierung und vermochte bei Rüstungsaufträgen zumeist alle inländischen Konkurrenten auszustechen 32 . Der Essener Firma gelang es so nach dem Tod Friedrich Alfred Krupps (1902), unter der Leitung von dessen Tochter Bertha und deren Mann (seit 1906), dem Legationsrat im Auswärtigen Amt und vormaligen Legationssekretär an der Gesandtschaft in Peking, Gustav Krupp v. Bohlen und Halbach, bis zum Ersten Weltkrieg ihre Führungsrolle unter den deutschen Rüstungsproduzenten weiter auszubauen 3 3 . Weitaus schwerwiegender als diese Vermischung staatlicher und rüstungswirtschaftlicher Interessen waren jedoch die innen- und außenpolitischen Konsequenzen der Aufrüstung. Die auswärtigen Beziehungen wurden destabilisiert, die Reichsfinanzen litten, und selbst die bürgerliche Sammlung zerbrach schließlich 34 . Flottenbau, Weltpolitik und Sammlungsbemühungen hatten sich mit ihren immanenten wirtschaftlichen und politischen Widersprüchen letztlich nicht als integrierende, sondern als desintegrierende Faktoren in einer Gesellschaft mit strukturbedingter Dauerkrise zwischen den ökonomischen, politischen und sozialen Notwendigkeiten moderner industriekapitalistischer Produktionsweisen und den unzeitgemäßen realen Machtverhältnissen erwiesen. Die Versuche, mit Hilfe einer weltmachtorientierten Außen- und einer rüstungsorientierten Wirtschaftspolitik innenpolitisch aus den divergierenden Zielvorstellungen der einzelnen gesellschaftlichen Gruppierungen eine systemstützende Einheitsfront herzustellen, führten lediglich zu minimalen Erfolgen und statt dessen zu einem Anwachsen der inneren und äußeren Konflikte 35 . Nur vorübergehend konnte die Krise der bürgerlichen Sammlungsbewegung mit Hilfe der sogenannten „Linksliberalen" 1906 doch noch einmal überwunden werden. Der „Bülow-Block" akzeptierte schließlich Mehrausgaben für die Seerüstung, ohne eine angesichts der hohen Verschuldung dringend erforderliche Reichsfinanzreform in Angriff zu nehmen. Dennoch waren die Risse im bürgerlichen Bündnis nur oberflächlich gekittet. Der „Bülow-Block" zerbrach 1909 an der konservativen Verweigerungspolitik gegen längst über-

32

Von 1896 bis 1899 wurden ca. 6 000 Geschütze von der Firma Krupp geliefert. Verzeichnis . . ., HA Krupp, W A X a 200. Manchester, S. 215 ff.; Menne, S. 180 ff., 200 ff. " V e r z e i c h n i s . . . , HA Krupp, W A X a 200. Manchester, S. 212 ff.; Menne, S. 238 ff., 282 ff.; Messerschmidt, Geschichte, S. 376 ff.; Schmidt-Richberg, S. 118 ff. 34 35

Berghahn, Rüstung, S. 305 ff. Ders., Flottenrüstung, S. 386 ff.; Stürmer, Bismarcks Deutschland, S. 20 f.; Ullmann, S. 178 ff. 207

fällige Steuerreformpläne und an dem dadurch provozierten Widerstand aus dem gesamten liberalen Lager. Während die „Alldeutschen" und andere nationale Gruppierungen den Wechsel zu einer imperialen Kontinentalpolitik forderten und ihnen eine wirtschaftliche und sogar militärische Expansion im Osten unausweichlich erschien, verlangten die „liberalen Imperialisten" größere Freiheiten im Innern und die Fortführung einer offensiven Weltund Überseepolitik: Die deutsche Außenpolitik unter dem neuen, um einen Ausgleich mit England bemühten Reichskanzler v. Bethmann Hollweg solle sich insbesondere gegenüber fortgeschrittenen Entwicklungsländern wie Ägypten, Persien, Indien, der Türkei und China als Alternative zu den Machtblöcken Großbritannien und Rußland präsentieren 36 . Im Reich der Mitte hatte das Auswärtige Amt bereits nach den ersten japanischen Kriegserfolgen gegen Rußland begonnen, seine zurückhaltende Politik aufzugeben, um durch ein betontes Entgegenkommen China als wirtschaftlichen Ergänzungsraum zu behalten und Peking als politischen Partner für Deutschland zu gewinnen. Obwohl tiefgreifende Änderungen in der deutschen Chinapolitik nach außen hin zunächst kaum zu erkennen waren, paßte sich die politische Führung unter dem Primat vermeintlich strategischer Notwendigkeiten im Verhalten zu den anderen Mächten in Ostasien zunehmend dem offensiven Expansions- und kompromißlosen Aufrüstungskurs von Heer und Marine an. Die traditionell gemäßigten Expansionsvorstellungen, die trotz Bülows Weltmachtkonzeption in der deutschen Außenpolitik nach der Jahrhundertwende noch zu erkennen gewesen waren, hatten 1906 mit der Entlassung des Geheimen Rats Holstein auch im Auswärtigen Amt ein Ende gefunden. Schon zuvor wurde die restriktive Politik in der Frage der Militärinstrukteure aufgegeben, um dem wachsenden Einfluß der Japaner in China aktiv entgegenzutreten, der nicht länger unterschätzt und verharmlost werden durfte. Zwar hatte der Kaiser nach Anhörung des preußischen Kriegsministeriums den Vorschlag des Auswärtigen Amtes noch abgelehnt, allein schon aufgrund der militärischen Erfolge Japans deutschen Instrukteuren finanzielle Zuschüsse des Reiches zukommen zu lassen, um so mit der kostengünstigeren Ausbildung der Japaner zu konkurrieren, aber der Vorschlag der Gesandtschaft in Peking, in Zukunft als Militärberater aktive Offiziere aus der „Ostasiatischen Brigade" zu verwenden, wurde von deutschen Militärkreisen aufgegriffen. Die militärische Führung entschloß sich, ständig zwei Offiziere bei deutschen Verbänden in China für einen möglichen Einsatz als Instrukteure bereit zu halten. Darüber hinaus sollte sogar drei Offizieren jährlich als Vorbereitung auf ihre Verwendung in chinesischen Diensten ein Studium am Orientalistischen Seminar in Berlin ermöglicht werden 3 7 . 36 37

Pogge v. Strandmann, S. 369 ff.; Ziebura, Grundfragen der Außenpolitik, S. 543 ff. Gesandtschaft Peking an AA, 19. 3. 1902, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 1 0 ; Gesandtschaft Peking an Bülow, 12. 4. 1903, ebd., China 5 / 1 2 ; M u m m an Bülow, 1 9 . 1 2 . 1903, ebd., China 5 / 1 3 ; AA an Preußisches Kriegsministerium, 16. 5. 1904, ebd., China 5 / 1 4 .

208

Die Militärs in Deutschland erwärmten sich von etwa 1905 an immer stärker für den Gedanken einer militärischen Zusammenarbeit mit China, obwohl die Zweifel an deren Nützlichkeit niemals völlig beseitigt wurden. Schon seit der Expedition gegen die Boxer war das Interesse des Großen Generalstabes an militärpolitischen Vorgängen in Ostasien kontinuierlich gestiegen. Aufmerksam hatte er, nicht zuletzt mit Hilfe des deutschen Militärattaches an der Gesandtschaft in Peking, vor allem den Aufbau der chinesischen Nordarmee, aber auch das militärische Vermögen und Verhalten der Chinesen im russisch-japanischen Krieg verfolgt. Eine reformierte und aufgerüstete chinesische Armee mußte als Bündnispartner des deutschen Heeres genau die Zangenwirkung auf das Zarenreich ausüben, wie es eine russisch-französische Zusammenarbeit auf das Deutsche Reich tat; oder sie konnte die Japaner von militärischen Aktivitäten im Reich der Mitte abhalten und damit möglicherweise eine aus strategischen Überlegungen erwünschte Frontstellung Japans gegen Rußland oder die Angelsachsen unterstützen 38 . Der äußerst schlechte Eindruck, den eine vom preußischen Kriegsministerium eingeladene chinesische Militärmission bei den Herbstmanövern 1905 in Deutschland hinterließ, warf allerdings besonders deutlich die zentrale Frage auf, ob die militärischen Führer des Landes, die „seit vielen hundert Jahren über ihren geliebten Klassikern gesessen und gegen nichts einen größeren Widerwillen gehabt [hätten] als gegen Trommelwirbel und Kanonendonner" 39 , eine Modernisierung der Streitkräfte überhaupt durchsetzen könnten. Auch die genaue Beobachtung der chinesischen Aufrüstung, so mußten die deutschen Militärs zugeben, ergab keine unbedingt positiven Ergebnisse. Die Vorstellung der Chinesen, das Planziel einer Aufstellung von 36 Divisionen in dem Zeitraum von 1908 bis 1912 noch verwirklichen zu können, obwohl erst acht vollständig und zehn halb aufgestellt waren, erschien der militärischen Führung in Deutschland viel zu utopisch. Dennoch kalkulierte sie die chinesische Armee als potentiell strategisch bedeutenden Faktor ein. Da sich die außen- und militärpolitische Situation des Deutschen Reiches seit 1905 ständig verschlechterte, mußte jede sich bietende Möglichkeit genutzt werden, um neue Partner zu gewinnen. Noch 1906 befahl die militärische Führung die Verkleinerung der „Ostasiatischen Brigade" auf ein 700 Mann starkes Detachement und den Rückzug der Marinebesatzungstruppen in Shantung aus Kaomi und Kiaochow auf Tsingtao, um den Chinesen Entgegenkommen zu signalisieren 40 . Das preußische Kriegsministerium erlaubte

38

Vortrag des Hauptmanns im Bayerischen Generalstab Rauchenberger, 2 8 . 1 . 1899, KA, GenStab/206; Großer Generalstab an Bayerischen Generalstab: Mitteilungen über fremde Armeen, 5 . 1 0 . 1907 und 6. 1 0 . 1 9 0 8 , ebd., GenStab/207. Militärattache, Peking, an Preußisches Kriegsministerium, 3. 8. 1903, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 1 3 .

39

Ruhstrat, S. 7 f.

40

1 9 0 9 wurde auch das Ostasiendetachement aufgelöst sowie die 150 Mann Gesandtschaftsschutzwachen der Marine unterstellt, die insgesamt noch 1000 Mann Besatzungstruppen in Kiaochow unterhielt. Preußisches Kriegsministerium an AA, 9. 2. und

209

schließlich sogar 1908 chinesischen Militärschülern die Ausbildung an der Feldartillerieschule 4 1 . Dieses Privileg, Soldaten an modernsten W a f f e n auszubilden, wurde auch der Türkei zugestanden. Obwohl die von Deutschen geleiteten militärischen Reformbemühungen seit Mitte der 1890er Jahre gescheitert waren, war das Ansehen Deutschlands im Osmanischen Reich gestiegen. Die deutsche Wirtschaft und Rüstungsindustrie, namentlich Krupp, konnten um die Jahrhundertwende erhebliche Profite verbuchen. Der Einfluß der deutschen Militärberater blieb jedoch äußerst gering. Insbesondere die türkische Nationalbewegung, die wie in China gerade unter jüngeren Offizieren starken Zulauf hatte, wandte sich strikt gegen die für den Sultan arbeitenden deutschen Instrukteure und forderten deren Abberufung. Die Einigung Rußlands mit England in Asien und die davon ausgehende unmittelbare russische Bedrohung der Türkei auf dem Balkan bewirkten jedoch allmählich ein Umdenken, so daß nach der jungtürkischen Revolte von 1908, die sich letztlich nicht gegen die Monarchie selbst, sondern gegen die unfähige Bürokratie gerichtet hatte, die militärischen Kontakte mit Deutschland sogar weiter intensiviert werden konnten. Diese Annäherung kam der militärischen Führung des Deutschen Reiches hinsichtlich ihrer zunehmenden Frontstellung gegen die Flügelmächte sehr entgegen. Die Ausbildung türkischer Soldaten in Deutschland wurde forciert — mehrere hundert türkische Offizierschüler kamen nach der Revolution nach Deutschland — und die Zahl deutscher Militärinstrukteure in der Türkei verdoppelt 4 2 . Dagegen hatte sich die Situation für deutsche Militärberater in China trotz aller Bemühungen der Reichsregierung nach dem Sieg der Japaner immer weiter verschlechtert. Der Beratervertrag des deutschen wie auch des österreichischen Offiziers an der Militärschule in Tsinan wurde gekündigt, die deutsch ausgebildete Schulungstruppe in W u c h a n g aufgelöst; die beiden dort noch verbliebenen deutschen Instrukteure 4 3 fanden lediglich eine neue Ver-

6. 5. 1905, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 1 6 . Bayerischer Militärbevollmächtigter, Berlin, an Bayerisches Kriegsministerium, 2 5 . 9 . 1905, KA, M k r / 1 8 4 ; Großer Generalstab an Bayerischen Generalstab, 1. 7. 1905, ebd., GenStab/208. Powell, S. 272 ff.; Rohrbach, Bd 134, S. 504 ff. 41

Gesandtschaft Peking an AA, 2 . 1 . 1908, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 2 3 ; Preußisches Kriegsministerium an AA, 7 . 1 . 1908, ebd.; AA an Preußisches Kriegsministerium, 1 4 . 1 . 1908, ebd. Die ersten Chinesen, die zur Ausbildung an die Feldartillerieschule kamen, waren die Leutnante W a n g Hsian-tschou, Djin Hai, Dscho Yün und W a n g Tschou. Preußisches Kriegsministerium an AA, 2 6 . 1 . 1908, ebd.

42 43

Wallach, S. 85 ff. Fuchs und Toepfer; Hoffmann blieb, nachdem er 1903 chinesische Militärschüler begleitet hatte, in Deutschland, s.o. Kapitel 4. 2., Anm. 31. AA an Preußisches Kriegsministerium, 6. 6. 1903, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 1 1 .

210

Wendung in der topographischen Abteilung 44 . Die Militärberaterstelle in Nanking konnte nur gehalten werden, weil die militärischen Dienststellen in Deutschland nach ihrem anfänglichen Zögern nun doch bereit waren, einem neu angestellten Offizier aus der „Ostasiatischen Brigade" finanzielle Hilfe zukommen zu lassen, um so die Chinesen bei ihren Aufwendungen zu entlasten 45 . Obwohl im Gegensatz zu Wuchang, wo 30 Japaner den beiden deutschen Instrukteuren gegenüberstanden, in Nanking nur zwei japanische Offiziere lehrten, war der deutsche Einfluß nach der Ernennung des neuen, antideutschen Generalgouverneurs Tuan Fang, der wenig später die deutschen Firmentechniker im Kiangnan-Arsenal entließ 46 , auch dort völlig ausgeschaltet 47 . Ende 1907 kam deutschen Militärberatern in ganz China keine wirtschaftliche oder politische Bedeutung mehr zu. Die Reichsregierung zog daraus unmittelbare Konsequenzen: Da die Hoffnungen, die in die Militärinstrukteure und die zur weiteren Anstellung bereitgehaltenen aktiven Offiziere gesetzt worden waren, sich nicht zu erfüllen schienen, sollte nur noch alle zwei Jahre ein Offizier zur Übernahme eines Beraterpostens zur Verfügung stehen 4 8 . Auch die nach Deutschland entsandten chinesischen Militärschüler erfüllten die Vorstellungen der deutschen Behörden nicht. Während in Japan bald tausende von chinesischen Soldaten ausgebildet wurden, kamen nach Deutschland nur wenige Militärschüler. Sogar deren Rückkehr lehnten die japanbegeisterten Provinzmachthaber am Yangtze oftmals ab. Überdies wurden die in Deutschland ausgebildeten chinesischen Militärs in untergeordnete und einflußlose Positionen eingesetzt, in denen sie nach kurzer Zeit wieder in den „alten Schlendrian" 49 verfielen. Sie konnten jedenfalls nie den Einfluß im militärischen oder gar politischen Bereich ausüben, mit dem Berlin gerechnet hatte 50 . Die militärische und auch die politische Führung des 44

Mumm an Bülow, 8. 5. 1905, ebd., China 5 / 1 4 ; Konsulat Kanton an AA, 1 4 . 1 0 . 1904, ebd., China 5 / 1 5 ; Graf Praschma an Generalstab, 14. 10. 1904, ebd.; Militärbericht 60, Gesandtschaft Peking, 13. 10. 1905, ebd., China 5 / 1 7 ; Militärbericht 31, Botschaft Tokio an Preußisches Kriegsministerium, 13. 6. 1906, ebd., China 5 / 1 9 .

45

Tettenborn kehrte, nachdem er 1903 chinesische Militärschüler nach Deutschland begleitet hatte, nicht wieder nach China zurück, sondern blieb bis zu seinem Tod 1908 bei Rheinmetall. Neuer Militärinstrukteur in Nanking wurde Hauptmann Bleyhoeffer. Generalkonsulat Shanghai an AA, 2 4 . 5 . 1903, ebd., China 5 / 1 1 ;

Generalkonsulat

Shanghai an AA, 12. 3. 1906, ebd. China 5 / 1 8 . 46

Basse ging als Verkaufsagent zu der Firma Bielfeld. Generalkonsulat Shanghai an AA, 22. 8. 1907, ebd., China 5 / 2 1 .

47

Militärbericht 10, Gesandtschaft Peking, 24. 4. 1907, ebd. Powell, S. 231 ff.

46

Militärbericht 35, Gesandtschaft Peking, 9. 8. 1906, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 1 9 ; Militärbericht 1, Gesandtschaft Peking, 26. 2. 1908, ebd., China 5 / 2 3 ; Preußisches Kriegsministerium an AA, 1 4 . 1 . 1911, ebd., China 5 / 2 8 . Preußisches Kriegsministerium an RMA, 14. 7. 1909, BA-MA, RM 2 / 9 0 5 .

49

Konsulat Nanking an AA, 2. 2. 1910, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 2 6 .

50

Militärbericht 35, Gesandtschaft Peking, 9 . 8 . 1906, ebd., China 5 / 1 9 ; Rex an Bülow, 2 1 . 6 . 1907, ebd., China 5 / 2 2 ; Militärattache, Peking, an Preußisches Kriegsministerium, 23. 1. 1908, ebd., China 5 / 2 3 . 211

Deutschen Reiches hielten jedoch an China als potentiellen Bundesgenossen fest, trotz aller Enttäuschungen auch auf rüstungswirtschaftlichem Gebiet. Das Auswärtige Amt hatte zunächst in der vom chinesischen Kriegsministerium 1906 geplanten Neubewaffnung der gesamten Streitkräfte eine gute Gelegenheit für das Deutsche Reich gesehen, sich im rüstungswirtschaftlichen Bereich stärker zu engagieren. Die „Wilhelmstraße" war der Auffassung, gerade auf dem Gebiet der modernen Rüstungstechnik ein Mittel gefunden zu haben, um den japanischen Einfluß in China abzublocken. Denn bei aller Japanorientierung bestand nach wie vor bei den chinesischen Militärs ein Interesse an deutscher Spitzentechnik 51 . Ohne langes Zögern billigte die „Wilhelmstraße" daher ein Ersuchen der neu gegründeten Firma „Deutsche Waffen- und Munitionsfabriken, Berlin", ab 1897 Alleinaktionär der Waffenfabrik Mauser in Oberndorf, den Absatz des Mauser-Gewehres, das „bisher in fast allen Kulturstaaten zur Einfuhr gelangt" sei 52 , in China zu unterstützen. Neue deutsche Mauser-Gewehre vom Typ M 98/07, Kaliber 7,9 mm, von denen 1904 lediglich als Muster 1000 Stück nach China verkauft worden waren, hatten bislang bei den Chinesen, welche die japanischen vom Kaliber 6,5 mm vorzogen, keinen Anklang gefunden. Auch der Kompromißvorschlag des „Inspekteurs für das chinesische Waffenwesen", des vormaligen Agenten der Firma Krupp, Heckmann, daß alle Truppen am Yangtze im Gegensatz zum Norden mit Mauser-Gewehren ausgerüstet werden sollten, falls die Firma das Kaliber verkleinere, war ohne Wirkung geblieben 53 . Doch die massiven Interventionen der Diplomaten in Peking schienen sich schon bald positiv auszuwirken. Bereits Ende 1906 sollte das neue „System Mauser" als Standardgewehr in allen modernisierten chinesischen Divisionen eingeführt werden. In Wirklichkeit verzögerten sich die Bestellungen aber weiter, denn die Chinesen verwiesen auf ihren permanenten Geldmangel und auf das immer noch unzureichende Kaliber 7,0 mm der Gewehre M 98/07, von denen 1907 nur knapp 5000 gekauft wurden. Aber selbst von dem in Oberndorf dann eigens entwickelten Gewehrtyp „China Modell 07",

Dem Krupp-Konzern gelang es z. B., 35 Kanonen aus dem Grusonwerk nach Shantung

51

zu liefern. Außerdem vermochte er es bis 1907 dank der Vorliebe der Yangtze-Gouverneure für deutsche Waffen, immerhin 92 Geschütze aus dem Essener Betrieb in den Süden Chinas zu verkaufen. Ein beträchtlicher Anteil der Rüstungslieferungen an den Yangtze lag daher auch nach den japanischen Prestigeerfolgen über Rußland noch in deutschen Händen. Militärbericht 48, Gesandtschaft Peking, 13. 2. 1904, ebd., China 5 / 1 4 . Verzeichnis . . ., HA Krupp, W A X a 200. 52

Zitat aus: AA an Gesandtschaft Peking, 2 8 . 1 1 . 1906, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 2 0 ; vgl.

53

Telegramm der chinesischen Zentralregierung an alle Generalgouverneure und Gou-

auch Deutsche W a f f e n - und Munitionsfabriken an AA, 15. 11. 1906, ebd. verneure der Provinzen, Übersetzung aus der „Shanghai Sin w e n pao", 2 1 . 1 2 . 1905, HA Krupp, W A IV 2014. Konsulat Hankow an AA, 27. 2. 1904, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 1 4 ; Generalkonsulat Shanghai an AA, 4 . 1 2 . 1904, ebd., China 5 / 1 5 ; Preußisches Kriegsministerium an AA, 2. 4. 1906, ebd., Abt. IA D / 1 2 1 Nr. 19 s e c r . / 6 ; AA an Preußisches Kriegsministerium, 13. 4. 1906, ebd. 212

das mit dem Kaliber 6,8 mm den chinesischen Vorstellungen entsprach, kauften die Chinesen schließlich nur 10 800 5 4 . Nicht nur die „Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken", sondern auch alle anderen Rüstungsproduzenten mußten schon bald erfahren, daß das Kriegsministerium erst nach einer neuen generellen Entscheidung bereit sein würde, die geplante einheitliche Neubewaffnung in Angriff zu nehmen. Die Versuche Krupps, durch Empfänge für chinesische Diplomaten, Militärs und Studienkommissionen in Essen und Meppen Einfluß zu nehmen und die Überlegungen der Zentralregierung zu beschleunigen, nutzten nicht viel. Die Waffengeschäfte stagnierten weiter. Gleichwohl wurde sowohl in Essen als auch in Berlin die Bedeutung erkannt, die den chinesischen Bemühungen um eine Standardisierung der Waffen für die weiteren Rüstungslieferungen ins Reich der Mitte und damit dem politischen Einfluß in China zukam 55 . Bereitwillig entsprach daher das Auswärtige Amt den Wünschen der Firma Krupp um offizielle Unterstützung für eine Spezialdelegation unter Hauptmann a.D. Ahlers, die mit der neuen Generalvertretung des Essener Konzerns in China, der Firma Carlowitz 56 , eng zusammenarbeiten sollte. Für das von den Chinesen veranstaltete Probeschießen zwischen Krupp, dem französischen Rüstungskonzern Schneider Creuzot und der Rheinischen Maschinenfabrik (Erhardt), die 1907 für die neue Ausstattung der Artillerie der geplanten 36 modernisierten Divisionen in die engere Wahl gekommen waren, stellte die Reichsregierung sogar der Essener Firma Soldaten des „Ostasiatischen Detachements" zur Verfügung. Die Rheinische Maschinenfabrik hatte sich hingegen vergeblich um die Unterstützung des Reiches bemüht 57 . Obwohl ein Mißbrauch staatlicher Macht wegen der persönlichen Beziehungen der Konzernspitze in Essen zu Diplomatenkreisen gerade im Fall der Wirtschaftsinteressen Krupps in China offensichtlich war, ließen sich wirtschaftspolitische Motive bei dem Vorgehen der „Wilhelmstraße" nicht leugnen. Die Diplomaten versuchten mit ihrem einseitig ausgerichteten Engagement, den Chinesen so weit wie möglich entgegenzukommen, die schon seit

54

Belege der Hauptbuchhaltung, MA; Register zum Conto Current, Bde 7 und 9, ebd.; Gedenkblatt zum Besuch der chinesischen Militär-Studienkommission bei der Waffenfabrik Mauser am 21. 6. 1910, ebd.; Geschäftsprotokolle, ebd.

55

Gesandtschaft Peking an AA, 7 . 2 . 1904, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 1 4 ; Kommandant „Hertha" an Kreuzergeschwader, 16. 4. 1904, ebd.; Gesandtschaft Peking an AA, 15. 9. 1905, ebd., China 5 / 1 6 ; Militärbericht 61, Gesandtschaft Peking, 7 . 1 1 . 1906, ebd., China 5 / 2 0 . Besuch einer Delegation des Kiangnan-Arsenals in Essen, 1 8 . 1 . 1905, HA Krupp, W A IV 2014; Besuch einer chinesischen Studienkommission, 28.—30. 8. 1906, ebd.; Besuch des chinesischen Gesandten in Deutschland bei Krupp, ebd.

56

Beutler, S. 64 ff.; Bohner, S. 94 f.

57

Rheinische Metallwaren- und Maschinenfabrik an AA, 23. 5. 1905, PA, Abt. IA Chi/ China 5 / 1 6 ; Militärbericht 92, Gesandtschaft Peking, 2 1 . 2 . 1906, ebd., China 5 / 1 8 ; Rheinische Metallwaren- und Maschinenfabrik an AA, 1 8 . 1 . 1907, ebd., Abt. IA D/121 Nr. 19 s e c r . / 6 . 213

längerer Zeit auf eine generelle Ausschaltung des Zwischenhandels und die Beschränkung von Rüstungsgeschäften auf einzelne, staatlich autorisierte Firmen als Voraussetzung für weitere Abschlüsse drängten — Forderungen, die in China dann auch in den 1920er und 1930er Jahren erneut erhoben wurden. Im Gegensatz zu dem nicht so bedeutenden Verkauf von Kriegsmaterial aus deutschen Depotbeständen über die Chinahandelshäuser sollten die nach Ansicht des Auswärtigen Amtes wirtschaftspolitisch und strategisch wichtigen Geschäfte mit China durch das Reich weitgehend mitbestimmt und kontrolliert werden. Die begleitenden Absprachen zu Rüstungsgeschäften zwischen der chinesischen Militärregierung und der Reichsregierung erhielten in den Jahren nach 1910 geradezu Vertragscharakter 58 . 1907 war allerdings eine Entscheidung über die zukünftige Bewaffnung der chinesischen Artillerie trotz aller Hilfestellung aus Berlin noch nicht gefallen. 1908 wurden nochmals Probeschießen durchgeführt, aber die Chinesen zögerten auf Intervention Frankreichs eine offizielle Entscheidung über die Neuausrüstung der Artillerie immer wieder hinaus 59 . Auch als das Auswärtige Amt und die Gesandtschaft, für die eine Unterstützung der Essener Firma weiterhin ein „nationales Interesse" 60 bedeutete, schließlich von der neuen Mandschu-Militärregierung die Zusage erhielt, daß Krupp-Geschütze zu Einheitsgeschützen für ganz China bestimmt und jährlich mindestens neun Batterien, d. h. 54 Geschütze, abgenommen würden, konnte nicht von einem Durchbruch deutscher Vorstellungen gesprochen werden. Die Absatzzahlen blieben weiterhin viel zu gering. Krupp konnte zwar von 1907 bis 1909 insgesamt über 200 Kanonen liefern, und selbst die Maschinenfabrik in Düsseldorf vermochte mit „großzügiger" Unterstützung des Auswärtigen Amtes eine Geschützbatterie nach China zu verkaufen. Die anderen Rüstungslieferungen aus dem Deutschen Reich hatten dagegen aber 1909 mit 2,4 Millionen Mark und einem Anteil von 4 % am deutschen Export nach China ihren tiefsten Punkt in diesem Jahrzehnt erreicht 61 . Zudem war bei den sich ankündigenden inneren Auseinandersetzungen in China eine Verzögerung der militärischen Modernisierungsbemühungen der Mandschus nicht länger auszuschließen. Darüber hinaus stellte die englische und vor allem die amerikanische Investitionsoffensive („Dollardiplomatie") Ende des Jahrzehnts die erhoffte deutsche Vorzugsstellung bei der Zentralregierung zumindest in Frage. Dennoch hielten die politische und die militäri-

58

Konsulat Hankow an Bülow, 2 3 . 4 . 1904, ebd., China 5 / 1 4 ; Gesandtschaft Peking an AA, 24. 4. 1907, ebd., China 5 / 2 1 ; Gesandtschaft Peking an AA, 4. 7. 1907, ebd., China 5 / 2 2 . Kahler, S. 79 f.

59

Militärbericht 38, Gesandtschaft Peking, 26. 9. 1907, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 2 2 ; Militärbericht 15, Gesandtschaft Peking, 8 . 4 . 1908, ebd., China 5 / 2 3 . Bericht Hauptmann Müller über die Manöver in der Provinz Anhui, August 1908, BA-MA, RM 3 / 7 0 8 9 .

60

Rex an Bülow, 14. 8. 1908, PA, Abt. IA D/121 Nr. 19 secr./6.

61

AA an Rheinmetall, 8 . 1 . 1909, ebd., Abt. IA Chi/China 5 / 2 4 . V e r z e i c h n i s . . . , HA Krupp, W A X a 200. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, Bde 1 9 0 7 - 1 9 0 9 .

214

sehe Führung in Deutschland an ihrer Aufrüstungspolitik im Reich der Mitte zur Verwirklichung ihrer wirtschaftspolitischen und militärstrategischen Zielvorstellungen unbeirrt fest. Bündnispolitische Alternativen, wie sie sich im Zuge der Einigung der anderen M ä c h t e im ostasiatischen Raum ergaben, schenkte Berlin wie schon zuvor keine größere Beachtung 6 2 . W i e in der ersten Hälfte des Jahrzehnts sah die Reichsregierung weiterhin allein in einer Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten die größten Vorteile, zumal die Beziehungen zu Washington im Gegensatz zu den europäischen Großmächten als nicht besonders belastet galten. Schon 1906 bestanden im Auswärtigen Amt Pläne zu einem Abkommen mit den USA gegen die englisch-japanische Allianz. Die wegen der aggressiven Mandschureipolitik Japans zunehmend antijapanische Stimmung in der amerikanischen Öffentlichkeit, die in ihrer Heftigkeit nur mit der Ablehnung chinesischer Einwanderer in den 1890er Jahren zu vergleichen war, hatte in Berlin entsprechende Hoffnungen geweckt. Auch die Marine stand hinsichtlich des Wettrüstens der Großmächte einem maritimen Bündnis mit den USA aufgeschlossen gegenüber. Obwohl die Regierung in Washington bereits Anfang 1907 mit Rücksicht auf England ihr Desinteresse signalisierte, hielt Berlin angesichts des neuen „Viererkartells" in Ostasien die letzte Entscheidung für noch nicht gefallen. Die in Amerika ernstgenommenen Befürchtungen der Chinesen vor einer Aufteilung ihres Reiches nach der Einigung Japans mit England, Rußland und Frankreich von 1907 erkannte die deutsche Außenpolitik als Chance, die USA doch noch als Partner eigener weltpolitischer Zielvorstellungen zu gewinnen. Yüan Shih-k'ais von der deutschen Diplomatie unterstützte Initiative, Deutschland, China und die Vereinigten Staaten zu einem Schutzbündnis zu vereinen, kam den Vorstellungen des Auswärtigen Amtes sehr entgegen 6 3 . In der Folgezeit verblaßte jedoch — parallel zu dem Machtverfall Yüan Shih-k'ais während des mandschurischen Herrschaftswechsels — aus Angst vor japanischen Repressalien das Interesse Pekings an einem deutsch-amerikanisch-chinesischen Dreibund. Gegenüber dem nun rein deutschen W e r b e n für ein Integritätsabkommen mit China zeigten sich die Amerikaner allerdings äußerst reserviert. W i e zu Beginn des Jahrzehnts wollten sie sich keinesfalls von dem aufrüstenden Deutschen Reich in eine militärisch unverantwortliche Konfrontationsstellung und mögliche Auseinandersetzungen mit anderen Mächten hineinziehen lassen, zumal die Engländer eindeutig zu erkennen gegeben hatten, daß sie bei einem potentiellen Konflikt zwischen Japan und den USA nicht auf Seiten ihres asiatischen Verbündeten stehen würden. Nach dem für die deutsche Ostasienpolitik empfindlichen Rückschlag des japanisch-amerikapischen Vergleichs (Root-Takahira-Abkommen von Ende

62

Gesandtschaft Peking an AA, 14. 9. 1909, PA, Abt. IA C h i / C h i n a 5 / 2 5 ; Militärbericht

63

Rex an Bülow, 2 5 . 1 1 . 1907, ebd., C h i / C h i n a 5 / 2 3 . Rex an Bülow, 7 . 1 2 . 1907, GP, Bd

54, Gesandtschaft Peking, 3 . 1 1 . 1909, ebd. 25,1, Nr. 8556, Wood, S. 23 ff., 37 ff.

215

1908) war die Politik der „freien Hand" und des Lavierens zwischen den Großmächten in Fernost de facto gescheitert, vor allem, weil es Berlin nach 1905 nicht verstanden hatte, sich mit Japan zu verständigen 64 . Obwohl die Ostasienpolitik des Auswärtigen Amtes seit Mitte des Jahrzehnts China eindeutig in den Mittelpunkt ihrer Aktivitäten stellte, war die gewachsene politische und militärische Bedeutung Japans in der „Wilhelmstraße" nicht unbemerkt geblieben. Schon 1906 wurden die Gesandtschaften in Tokyo und Berlin zu Botschaften erhoben. Auch der deutschen Militärführung schienen intensive Gespräche mit den Japanern sinnvoll zu sein. In deutschen Heereskreisen war die generelle Ablehnung des japanischen Militärs aus der Zeit um die Jahrhundertwende nach dessen Sieg über Rußland einer gewissen Bewunderung gewichen; ab Anfang 1907 kam schließlich sogar ein deutsch-japanischer Offizieraustausch in Gang. An der strikten Ablehnung des japanischen Herrschaftsanspruchs über den vermeintlich zukünftigen kontinentalen Bundesgenossen China änderte sich bei den Diplomaten und den Militärs dadurch allerdings nichts 65 . Ganz andere Prioritäten hatte dagegen schon seit Mitte des Jahrzehnts die Marineführung gesetzt. War sie noch 1904/05 mit logistischer Unterstützung der russischen Flotte zu Hilfe gekommen, so konzentrierte sie sich schon bald nach der Niederlage des Zarenreiches auf Japan. Marinekreise versuchten, an die von Tirpitz um die Jahrhundertwende eingeleiteten Annäherungsbemühungen an das ostasiatische Inselreich anzuknüpfen, um bei dem beginnenden Wettrüsten zur See die Japaner als neuen strategischen Verbündeten zu gewinnen oder zumindest einen Keil in das englisch-japanische Bündnis zu treiben. Während das Heer nach dem russisch-japanischen Krieg die Position des Militärattaches in China mit einem eigenen Etat ausstattete, richtete die Marine in Japan die Stelle eines Marineattaches ein. China blieb dagegen für die Marineführung nur noch als wirtschaftlicher Partner interessant, der eine Expansion der deutschen Schwer- und Rüstungsindustrie erleichtern konnte. Die völlig vernachlässigte chinesische Flottenrüstung ließ das Reich der Mitte schwerlich zu einem maritimen Verbündeten deutscher Flottenpläne werden 6 6 . Zwar sprach sich Tirpitz weiterhin für deutsche Militärberater in China aus, um rüstungswirtschaftlich nicht an Einfluß zu verlieren, das Reichsmarineamt lehnte aber eine Ausbildung chinesischer Marineschüler in Deutschland oder eine Unterweisung chinesischer Truppen in Kiaochow strikt ab, um die Japaner nicht zu verärgern. Tirpitz unterstützte das Vorgehen des Heeres, chinesische Offiziere zu Manövern einzuladen und die deutschen Verbände in China zu reduzieren, wandte sich selbst jedoch aus „Raummangel" 67 gegen eine gleichzeitige Übernahme chinesischer Seekadetten. Der Vorschlag, 64

Hölzle, S. 126 f.; Die internationalen Beziehungen, S. 138 f.

65

Stingl, S. 468 ff.

66

Meisner, S. 24 f.; Schrecker, S. 2 0 0 ff.

67

Tirpitz an StS des AA, 3 1 . 1 2 . 1905, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 1 7 .

216

eine Marineschule im Schutzgebiet einzurichten und die Werft in Tsingtao zum Bau von Kriegsschiffen für China weiter auszubauen, wurde von vornherein abgelehnt. Die Marine sah im Gegensatz zum kontinental denkenden Heer und Auswärtigen Amt keine Vorteile in einer militärpolitischen Partnerschaft mit dem Reich der Mitte, die durch ihre unwägbaren Risiken einem maritimen Weg zur Weltmacht eher abträglich sein mußte. Dieses Ziel schien durch eine politische und militärische Annäherung an Japan leichter erreichbar. Der Marineführung gelang es jedoch in der Folgezeit nicht, sich mit ihrer Auffassung in der Ostasienpolitik durchzusetzen — ganz im Gegensatz zu den Nationalsozialisten in den 1930er Jahren 68 . Das Reichsmarineamt mußte eingestehen, daß ein Übereinkommen mit den Vereinigten Staaten im Pazifik, womöglich sogar ein Dreibund mit China, deutsch-japanische Vereinbarungen überflüssig machen, ja, diese wegen der Japanophobie der Amerikaner und Mandschus einen deutsch-amerikanischchinesischen Ausgleich geradezu hintertreiben würde. Zudem versicherte das Auswärtige Amt, daß die deutsche Stellung in China durch die japanische Expansion auch ohne Vertrag mit Tokyo nicht gefährdet sei. Hatten deutsche Diplomatenkreise zu Beginn des Jahrzehnts eine japanische Beteiligung am Yangtze-Abkommen noch strikt abgelehnt, so standen sie nun auf dem Standpunkt, Japan habe sich mit seiner frühen Erklärung zum Yangtze-Abkommen am 29. Oktober 1900 dem englisch-deutschen Ausgleich de facto angeschlossen und akzeptiere folglich die deutsche Position in China. Im Gegensatz zu Frankreich, das Indochina schützen wolle, benötige Deutschland keine gesonderte Vereinbarung mit Japan. Die Verständigung zwischen Japan und England sowie zwischen Japan und Rußland sei ohnehin nur oberflächlich; früher oder später müsse es zu erneuten Auseinandersetzungen unter den Vertragsmächten in Ostasien kommen 69 . Selbst das für die Regierung Bülow enttäuschende Root-Takahira-Abkommen, das die Isolation Deutschlands in Fernost abrundete, änderte nichts an dem Kurs der Reichsregierung in der Ostasienpolitik, obwohl sich das Auswärtige Amt angesichts der vorbereiteten deutsch-englischen Ausgleichsbemühungen generell gesprächsbereiter zeigte als bislang. Auch den Diplomaten wurde immer bewußter, wie bedrohlich angesichts der japanischen Strategie, sich den Rücken für eine weitere Expansion auf dem ostasiatischen Kontinent durch Verträge freizuhalten, die Situation für das Deutsche Reich in Fernost tatsächlich war. Die 1909 schließlich zwischen Berlin und Tokyo

68

Gesandtschaft Peking an AA, 17. 12. 1904, ebd., China 5 / 1 5 ; Rex an Bülow, 19. 4. 1908, ebd., China 5 / 2 3 ; RMA an AA, 25. 4. 1908, ebd. RMA an AA, 17. 7. 1903, BA-MA, RM 2 / 1 2 2 5 ; Denkschrift des RMA zum Immediatvortrag, 2 9 . 1 0 . 1904, ebd., RM 2 / 9 0 5 ; Prinz Heinrich an Gouverneur Kiautschou, Truppel, 7. 8. 1904, ebd., N 224, Bd 32.

69

Militärbericht 85, Gesandtschaft Peking, 15. 2. 1907, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 2 0 ; Rex an Bülow, 10. 5. 1908, ebd., China 5 / 2 3 ; Botschaft Washington an AA, 9. 12. 1908, ebd.; AA an Botschaft Washington, 1 2 . 1 2 . 1908, ebd.; AA an Preußisches Kriegsministerium, 28. 2. 1909, ebd. 217

aufgenommenen Ausgleichsverhandlungen blieben jedoch ohne Ergebnis und brachten keine Klärung darüber, ob Japan dem Yangtze-Abkommen verpflichtet sei und somit Kiaochow und den freien Zugang Deutschlands in ganz China anerkenne 70 . Nach dem Ausbruch der revolutionären Wirren in China, dem japanisch-russischen Abkommen über die Mandschurei und der japanischen Annexion Koreas schien es allerdings so, als sei die Reichsregierung unter Bethmann Hollweg doch noch zu einem vertraglichen Ausgleich mit Japan bereit, auch um eine Verständigung mit England positiv zu beeinflussen. Vor allem sprach die Entwicklung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Japan trotz des Rückgangs der Rüstungslieferungen 71 für einen solchen Vertrag. Wenn die Importe aus Japan auch weiterhin zu wünschen übrig ließen — immerhin konnten sie sich von 1905 bis 1911 verdoppeln —, so übertrafen die deutschen Exporte nach Japan diejenigen nach China 1911 noch um ca. 5 %. Während Berlin schließlich auf ein deutsch-chinesisch-japanisches Dreierabkommen drängte, bestand Tokyo jedoch auf bilateralen Vereinbarungen. Die politische und die militärische Führung des Deutschen Reiches lehnten dies allerdings ab, weil sie China durch einen umfassenden Ausgleich mit Japan nicht brüskieren wollten. Die Wunschvorstellung, daß langfristig Japan sich mit den anderen Mächten überwerfen müsse und daß Deutschland daher seine weltpolitischen Ziele mit einem unter deutscher Anleitung modernisierten China doch noch durchsetzen könne, blieb selbst nach der Verlängerung des japanisch-englischen Bündnisvertrages bestimmend für die politische Strategie der Reichsregierung in Ostasien. Mit dem unausgesprochenen Verzicht auf eine Vereinbarung mit Japan nach dem vorläufigen Scheitern der deutsch-englischen Verständigungsbemühungen infolge der zweiten Marokkokrise entschied sich die Reichsregierung endgültig für einen weltpolitischen Alleingang zwischen den Mächten. Die Stellung des Deutschen Reiches in China schien sich Mitte 1911 aufgrund der wachsenden Abhängigkeit der Mandschus und ihrer Militärbefehlshaber von deutscher Militär- und Rüstungshilfe seit Ausbruch der Unruhen sogar so gefestigt zu haben, daß Berlin meinte, selbst auf eine bislang stets für wünschenswert erachtete amerikanische „Hilfestellung" verzichten zu können 7 2 . Ein Eingehen auf — diesmal von den USA favorisierte — Dreibundgedanken mit China verfolgte die politische Führung lediglich noch pro forma, um das deutsche Ansehen im Reich der Mitte weiter aufzubessern 73 . Den Vorschlag zu erneuten Gesprächen zwischen Deutschland, den Vereinigten Staaten und China hatte die Mandschu-Militärregierung bereits 1910 an70

Botschaft Tokio an AA, 26. 1. 1909, ebd., China 24 Nr. 4 / 1 0 . Stingi, S. 597 ff.

71

Konnte der Krupp-Konzern von 1904 bis 1908 noch über 200 Geschütze an die japanische Armee verkaufen, so schrumpfte der Absatz bis 1911 auf 151 Kanonen. Verzeichnis . . ., HA Krupp, W A X a 200.

72

Cambon, Berlin, an Außenminister Poincaré, 2. 2 . 1 9 1 2 , DDF 1 8 7 1 - 1 9 1 4 , 3e Série, Bd 1, No. 578. Bloch, S. 4 f.; Stingi, S. 262 ff., 659 ff.

73

Hölzle, S. 126 f.; Stingi, S. 609 ff.; Die internationalen Beziehungen, S. 138 f.

218

gesichts der wieder aufgenommenen japanisch-deutschen Verhandlungen gemacht, die in Peking Befürchtungen über einen politischen Frontenwechsel des rüstungswirtschaftlich und militärisch wichtigsten Partners hervorriefen. Vor allem die Amerikaner zeigten sich nach den japanisch-russischen Vereinbarungen über die Mandschurei, die sie als unmittelbar gegen ihre eigenen Interessen gerichtet ansahen, von einer engeren Zusammenarbeit gegen die „Annexionsmächte" angetan. Im Gegensatz zu 1907/08 lehnte die Reichsregierung aber nun ein Integritätsabkommen für China ab. Zu diesem Zeitpunkt dachte Berlin allerdings noch nicht definitiv daran, die Gedanken eines deutsch-amerikanisch-chinesischen Dreibundes ein für allemal aufzugeben. Vielmehr wollten Politiker und Militärs zunächst den Verlauf der Ausgleichsbemühungen mit Japan und insbesondere England abwarten, um ihren Verhandlungsspielraum nicht einzuengen, zumal die beginnenden Unruhen in China doch Zweifel an einem Bündnis mit Peking weckten. Der Verlauf der Revolution, der die Macht der chinesischen Militärs weiter festigte, und die Beendigung der englisch-deutschen und japanisch-deutschen Gespräche modifizierten die Auffassung der Reichsregierung über eine Dreibundkonzeption jedoch entscheidend 74 . Auf die ohnehin politisch in Fernost immer mehr im Schlepptau der Engländer segelnden Amerikaner, die zudem dem germanophilen Mandschu-Militärregime skeptisch gegenüberstanden, sollte zukünftig verzichtet werden. Dennoch begrüßte Berlin nach außen hin die erneute Initiative der Mandschu-Regierung über ihren Sonderbotschafter Liang Tung-yen, den bisherigen Präsidenten des Wai-wu pu, und zeigte sich bereit, die Amerikaner für ein separates Souveränitätsabkommen für die Stammlande der Mandschus zu gewinnen. Die intern angestellte Vermutung, daß die Regierung in Washington eine solche eindeutig promandschurische und antirussische sowie antijapanische Vereinbarung ablehnen werde, bestätigte sich schon bald. Das Ansehen des Deutschen Reiches stieg jedoch wie erwartet bei der Pekinger Militärregierung gewaltig, die überzeugt war, in der Reichsregierung ihren besten Verbündeten gefunden zu haben 75 . Die Vorstellungen der politischen und militärischen Führung in Deutschland, daß sich die Interessengegensätze der anderen Mächte in Ostasien als schwerwiegender als jegliche Bündnisvereinbarung erweisen müßten und daß das Deutsche Reich daher mit Hilfe einer aktiven Politik in China dazu beitragen könnte, ein neues, seinen weltpolitischen Zielsetzungen entsprechendes Vertragssystem aufzubauen, hatten sich als utopisch herausgestellt. Dennoch waren die Hoffnungen, durch ein verstärktes diplomatisches, mili74

Rex an Bülow, 2 8 . 2 . 1909, PA, Abt. IA Chi/China 7 / 5 ; Rex an Bethmann Hollweg, 22. 9. 1910, ebd., China 5 / 2 7 ; Chef des Admiralstabes an AA, 21. 2. 1911, ebd., China 5 / 2 8 . Aufzeichnung StS des AA, 10. 2. 1910, GP, Bd 32, Nr. 11 6 8 7 ; Bethmann Hollweg an Wilhelm II., 2 1 . 1 0 . 1910, ebd., Nr. 11 729.

75

Botschafter Graf v. Bernstorff, Washington, an Bethmann Hollweg, 10. 6 . 1 9 1 1 , GP, Bd 32, Nr. 11 735. Stingi, S. 630 ff.

219

tärisches und vor allem rüstungsindustrielles Engagement im Reich der Mitte Einfluß zu gewinnen, China als politischen Partner aufzubauen und den chinesischen Markt für deutsche Produkte weiter zu öffnen, mit der Errichtung der Mandschu-Militärherrschaft ihrer Erfüllung einen großen Schritt näher gekommen. Die revolutionären Auseinandersetzungen in China und die wachsende Bedrohung des Landes von außen hatten sich mit der parallel verlaufenden Militarisierung des konfuzianistischen Staates für Deutschland nicht als eine Entwicklung dargestellt, welche die Reichsregierung hätte veranlassen können, sich von China abzuwenden. Im Gegenteil: Aufgrund eines privilegierten Verhältnisses zu der Mandschu-Militärregierung schienen die Beziehungen Deutschlands zu China in der revolutionären Phase gefestigter denn je zu sein und ließen für die Zukunft hoffen. Obwohl die Schwierigkeiten selbst bei den von beiden Seiten favorisierten Rüstungsgeschäften kaum zu übersehen waren, meinte die Reichsregierung immer zuversichtlicher, gerade hier untrügliche Anzeichen für eine erfolgreiche Partnerschaft zu erkennen. Mit General Ying Chang, dem vormaligen Gesandten in Berlin und neuen Kriegsminister der Regierung des Prinzregenten, General Yang Chang, dem Chef des Heeresreformamtes in Nanking, der seine militärische Ausbildung in Potsdam erhalten hatte, sowie Prinz Ts'ai Tao, dem C h e f des Generalstabes, traten nach 1910 Militärs an die Spitze Chinas, die Deutschland mehr als wohlgesonnen waren. Hatten die Chinesen ein Jahr vor Ausbruch der revolutionären Wirren der deutschen Gesandtschaft bereits die Zusage erteilt, Krupp-Kanonen" als Einheitsgeschütze für die Modernisierung der Artillerie vorzusehen, so war die Militärregierung nun zu einem weiteren Entgegenkommen gewillt: Indem sie sich für irrtümlich in Österreich vorgenommene Bestellungen entschuldigte, zeigte sie sich zu umfangreicher Kooperation bereit. Die übermittelte schriftliche Erklärung des Marine- und des Kriegsministeriums vom 5. November 1910 7 6 , daß China in Zukunft vorzugsweise nur noch deutsche Geschütze bestellen werde, falls es seinen Bedarf nicht selbst decken könne, schien der Anfang einer intensiven rüstungswirtschaftlichen Kooperation zu sein 7 7 . Selbst die aufgrund der Unruhen in China enorm gestiegenen Preise für ältere W a f f e n hielten die stark angeschlagene Mandschu-Militärregierung nicht davon ab, allein aus bayerischen Beständen in den Jahren 1 9 1 0 / 1 1 noch ca. 42 000 gebrauchte, aber kriegsverwendungsfähige, und ca. 22 000 ungebrauchte Mauser-Gewehre über deutsche Chinafirmen zu kaufen sowie aus sächsischen Beständen u.a. sechs Batterien Feldartillerie und über das

76

Anlagen zu Gesandtschaft Peking an AA, 27. 11. 1910, PA, Abt. IA Chi, China 5 / 2 7 .

77

Gesandtschaft Peking an Bülow, 2 9 . 1 2 . 1906, ebd. China 5 / 1 9 ; Rex an Bülow, 2 . 1 2 . 1908, ebd., China 5 / 2 4 ; „Berliner Tageblatt", 1. 7. 1911, ebd., China 5 / 2 8 . Bethmann Hollweg an Wilhelm II., 21. 1 0 . 1 9 1 0 , GP, Bd 32, Nr. 11 729. Zu der österreichischen Politik von 1900—1913, auch speziell zu den Rüstungslieferungen, die oft zur Konkurrenz für die deutschen wurden, K.-h. Lee, S. 218 ff.

220

Reichsmarineamt 300 Maschinengewehre zu erwerben. Allein die einzelnen deutschen Heeresverwaltungen verdienten auf diese Weise an der militärischen Modernisierung Chinas seit Mitte der 1890er Jahre bis zum Ende der Mandschu-Dynastie etwa 25 bis 30 Millionen Mark, die wiederum in die Aufrüstung des Deutschen Reiches flössen 78 . Trotz der guten Verkaufschancen für ältere deutsche Gewehre erschwerten die inneren Unruhen und die nicht eindeutig geklärte Frage, ob auch die Provinzen oder nur die Zentralregierung Käufe tätigen konnten — ähnlich wie später in den 1930er Jahren —, die Waffengeschäfte der Chinafirmen. Zudem traten die schon länger anhaltenden internen Probleme des deutschen Waffenhandels aus Heeresbeständen nach China offen zutage. Vor allem das Auswärtige Amt beklagte sich darüber, gerade im Hinblick auf die revolutionären Auseinandersetzungen in China zu oft übergangen zu werden, so daß auch Lieferungen an Revolutionäre erfolgten 79 . Dagegen sah der Chinahandel die Schuldigen der Unstimmigkeiten allein in den Waffenhandelsfirmen, die noch mit am Geschäft beteiligt waren, ständig die Preise erhöhten und die chinesischen Behörden verärgerten, so daß diese trotz der hohen Absätze weniger Waffen kauften als erhofft 80 . Auch die guten Chancen, welche die deutsche Schwerindustrie aus Anlaß des Besuchs einer Militär- und Marinekommission 1910 insbesondere für maritime Rüstungslieferungen zu erkennen meinte, verwirklichten sich nicht 81 . Schon 1909, als der Direktor der Vulcan-Werft, Zimmermann, die sich ständig verbessernde Atmosphäre der deutsch-chinesischen Beziehungen ausnutzen wollte, aber mit leeren Händen aus China zurückkam, waren die deutschen Erwartungen enttäuscht worden. Das Mißtrauen des Oberbefehlshabers der chinesischen Marine, Admiral Sha, der neben Prinz Ts'ai Tao die Mission nach Europa und in die USA führte, in die deutschen Werften konnte auch zwischenzeitlich nicht abgebaut werden. Bevollmächtigte der Firma Krupp waren zudem in China im

78

AA an Königlich Sächsisches Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten, 29. 9. 1910, PA, Abt. IA D/121 Nr. 19 secr./7; RMA an AA, 26. 3. 1910, ebd. Carlowitz & Co. an Bayerisches Kriegsministerium, 2 0 . 9 . 1911, KA, MKr/4441; Firma Diederichs an Bayerisches Kriegsministerium, 28. 9. 1911, ebd. Kahler, S. 80.

79

R e x an Bülow, 14. 8. 1908, PA, Abt. IA Chi/China 15/6; Königlich Sächsisches Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten an AA, 6 . 1 . 1910 und Antwort AA, 7. 1. 1910, ebd., Abt. IA D/121 Nr. 19 secr./7. Preußisches Kriegsministerium an Bayerisches Kriegsministerium, 2 1 . 1 1 . 1907, KA, AVI 6b/9d.

80

Die schlechten Erfahrungen beim Absatz ins Reich der Mitte ließen die bayerischen Militärbehörden daher am Vorabend der chinesischen Revolution Geschäfte ausschließlich über die erfahrenen Chinafirmen Carlowitz & Co. sowie Diederichs abwikkeln. Bayerischer Militärbevollmächtigter, Berlin, an Bayerisches

Kriegsministerium

18. 2. 1893, KA, AVI 6b/9b; Bayerisches Generalkonsulat, Hamburg, an Bayerisches Kriegsministerium, 13. 7 . 1 8 9 5 , ebd., A VI 6b/9c; Bursian an Bayerisches Kriegsministerium, 23. 9. und 25. 9. 1909, ebd., A VI 6b/9d; Carlowitz & Co. an Bursian, 1. 7. 1909, ebd.; Aufzeichnung Bayerisches Kriegsministerium 28. 9. 1911, ebd. MKr/4441. 81

Zum späten Zeitpunkt der Marinemission s.o. Kapitel 4. 2.

221

Vorfeld der Reisevorbereitungen so ungeschickt mit Schmiergeldern umgegangen, daß sich die Chinesen bereits von vornherein brüskiert fühlten. Die Marinemission, die fünf Wochen in England, aber lediglich fünf Tage in Deutschland blieb, übertrug der Vulcan- und der Germania-Werft allerdings doch noch den Auftrag zum Bau von zwei Flußkanonenbooten und der Schichau-Werft die Herstellung eines Torpedobootes 82 . Auch Anfang 1911 standen die rüstungswirtschaftlichen Annäherungsbemühungen unter keinem guten Stern. Daß der Besuch des deutschen Kronprinzen in Ostasien wegen Pestgefahr scheiterte, war noch das kleinste Übel. Viel schwerer wog, daß auch General Yin Chang seine Rüstungsbestellungen in Deutschland gegen die starke japanfreundliche Oppositionspartei unter den chinesischen Militärs nicht durchzusetzen vermochte. Trotz allem konnte sich das Deutsche Reich von 1909 bis 1911 mit ca. 65 % den größten Anteil der ausländischen Rüstungslieferungen nach China sichern. Waffenlieferungen lagen wieder mit 5 % an der Spitze der deutschen Exportgüter nach China. Auf keinem Gebiet des Waffenexports ins Reich der Mitte nahm Deutschland aber eine monopolartige Stellung ein, auch nicht — trotz der schriftlichen Zusage der Chinesen — bei Artillerielieferungen. Krupp lieferte von 1910 bis zum Ende des chinesischen Kaiserreiches lediglich noch acht Kanonen und erhielt ansonsten nur unverbindliche Bestellungen einiger lokaler Militärführer 83 . Außerdem trat genau das ein, was deutsche Militärkreise immer schon befürchtet hatten: Die Kampfkraft der chinesischen Truppen war zu gering, um die mit der inneren Schwäche Chinas wachsende russische Bedrohung der Mongolei abzuwehren; statt dessen begannen die modernisierten, zum großen Teil aber auch revolutionierten Verbände, sich gegenseitig zu bekämpfen. Die Hoffnungen auf eine gewinnbringende militärstrategische kontinentale Zusammenarbeit zwischen Deutschland und China mußten daher erst einmal aufgegeben werden. Trotz der — wie verantwortliche Stellen annahmen — vorübergehenden Schwierigkeiten blieben in Deutschland die Erwartungen auf eine umfassende militärpolitische und rüstungswirtschaftliche Kooperation mit China weiter bestehen, zumal an der Deutschlandfreundlichkeit der einflußreichsten Militärführer des Nordens, einschließlich des als Heerführer reaktivierten Yüan Shih-k'ai, weiterhin kein Zweifel bestand 84 . 82

In England wurden 2, in den USA 1 Kreuzer bestellt, sogar in Japan 2 Kanonenboote. Militärbericht 31, Gesandtschaft Peking, 1. 8. 1909, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 2 3 ; Carlowitz & Co. an AA, 26. 8. 1910, ebd., China 5 / 2 7 ; Militärbericht 13, Gesandtschaft Peking, 18. 5. 1913, end.; China 5 / 3 0 . Militärbericht 12, Gesandschaft Peking an Preußisches Kriegsministerium, 15. 3. 1909, BA-MA, RM 3 / 6 8 3 2 .

83

Schreiben, o.N„ 27. 9 . 1 9 1 0 , PA, Abt. IA Chi/China 5 / 2 7 ; Aufzeichnung AA, 27. 9 . 1 9 1 0 , ebd.; Gesandtschaft Peking an AA, 2 . 1 0 . und 2 7 . 1 1 . 1910, ebd.; Rex an Bülow, 2 7 . 1 1 . 1910, ebd.; Rex an Bethmann Hollweg, 2 7 . 1 1 . 1910, ebd. Anlage zum Einfuhrbericht 1910, BA-MA, RM 3 / 6 8 3 1 . Verzeichnis . . ., HA Krupp, W A X a 200. Vgl. Anhang, Tabelle 6. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, Bde 1905—1914.

84

Großer Generalstab an Königlich Bayerischen Generalstab: Bericht für das 2. Vierteljahr 1911, KA, GenStab/208.

222

Bis zum Ende des Mandschu-Regimes verhandelte die Firma Krupp dann auch mit Kriegsminister General Yin Chang, der die aktuellen Probleme bei den Bestellungen mit neuen chinesischen Planungen erklärte, über das zukünftige Mammutprojekt eines riesigen Zentralarsenals, das alle anderen Arsenale in den Provinzen überflüssig und die militärische Macht der Generalgouverneure im Süden einschränken mußte — Planungen, die in den 1930er Jahren wieder aufgenommen werden sollten. Außerdem wurde über kurzfristige Lieferungen von 900 Geschützen und 200 000 Gewehren gesprochen — Projekte im Umfang von ca. 50 Millionen Mark —, mit denen die Macht der Militärregierung in Peking wieder stabilisiert werden sollte. Selbst die Abdankung der Mandschus brachte diese Gespräche nur vorübergehend zum Erliegen 85 . Als in der Endphase der revolutionären Auseinandersetzungen Yüan Shihk'ai de facto die Regierungsgewalt in Peking übernahm, schienen sich die Erwartungen der Reichsregierung auf eine prodeutsche Entwicklung der Revolution — ähnlich wie in der Türkei — nur zu bestätigen, obwohl das plötzliche Ende der Dynastie wie der Beginn der inneren Unruhen dann doch, vor allem bei der militärischen Führung, ernste Zweifel an der Stabilität und dem Wert der deutsch-chinesischen Beziehungen aufkommen ließen. Die jungtürkische Revolution hatte allerdings gezeigt, daß militärische Verbindungen sogar revolutionären Veränderungen standzuhalten vermochten. Wegen der chinesischen Unwägbarkeiten sollte eine Konfrontation mit anderen Mächten im Reich der Mitte in unmittelbarer Zukunft auf jeden Fall vermieden werden. Eher dachte die Reichsregierung unter Bethmann Hollweg daran, die eigenen Ansprüche zumindest vorübergehend zurückzuschrauben und durch eine Kooperation mit den anderen Großmächten die als bedrohlich angesehene Übergangsphase nach dem Rücktritt des mandschurischen Herrscherhauses zu überwinden. Vor allem den sich nach langer Stagnation endlich abzeichnenden stärkeren Aufschwung der Chinawirtschaft wollte die politische Führung in Berlin keinesfalls gefährden, auch um die heimische Wirtschaftsexpansion weiter zu fördern, die nach wie vor als Voraussetzung für eine Festigung der gesellschaftlichen Verhältnisse Deutschlands im konservativ-obrigkeitsstaatlichen Sinne galt. Mit ihrer „Politik des Dritten Weges" meinte die Reichsregierung, nicht nur den militärstrategischen und außenpolitischen Zielsetzungen des Deutschen Reiches, sondern auch den wirtschafts- und innenpolitischen Erfordernissen gerecht zu werden. Die vor allem von den „liberalen Imperialisten" propagierte Konzeption einer engeren wirtschaftlichen, politischen und militärischen Zusammenarbeit mit den weiter zu modernisierenden Entwicklungsländern statt mit anderen Mächten fand immer stärkeren Anklang auch in

85

Krupp an Kiderlen-Waechter, AA, 2 9 . 1 . 1911, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 2 8 ; Rex an Bethmann Hollweg, 9. 4. 1911, ebd. Direktor Dreger an Krupp, 13. 11. 1908, HA Krupp, FAH IVc 191.

223

konservativen Kreisen. Bei der Verwirklichung dieses politischen Modells, das ein eigenes Bündnissystem der „Schwellenländer" unter deutscher Führung präjudizielle, wurde langfristig auch das Risiko einer Konfrontation mit den Großmächten in Übersee in Kauf genommen. Gerade China als eine der potentiellen „Großmächte" durfte im Rahmen dieser modifizierten weltpolitischen Strategie des Deutschen Reiches daher dem deutschen Einfluß nicht verlorengehen, obwohl die tatsächlichen Modernisierungserfolge der Chinesen bis dahin eher kläglich geblieben waren. Verfolgt man rückblickend die unzureichenden und untauglichen chinesischen Modernisierungsbemühungen von den 1890er Jahren bis zum Ende der Mandschu-Herrschaft, so muß man feststellen, daß sie die in sie gesetzten Erwartungen der Großmächte bei weitem nicht erfüllen konnten, obwohl die zweite Periode des Modemisierungsprozesses nach dem chinesisch-japanischen Krieg zunächst gut angelaufen war. Der wachsende Einfluß von reformerisch gesinnten Intellektuellen, die im Gegensatz zur versagenden „Selbststärkungsbewegung" der Literatenbeamten auch eine Änderung der politischen und sozialen Strukturen anstrebten, versprach eine weitere Öffnung des Landes und größere Industriegeschäfte insbesondere im Textil- und schwerindustriellen Bereich. Mit der Niederlage der Reformer, welche die Festigkeit der traditionellen Gesellschaftsordnung unterschätzt hatten, gegen die traditionalistische Gegenbewegung, die den aufständischen Boxergeheimbund gegen den Westen auszunutzen verstand, schien jedoch ein Ende der chinesischen Modernisierungsbemühungen gekommen zu sein. Obwohl der Westen schließlich mit der Niederschlagung der Boxer die Fortführung des Reformkurses in allen Bereichen erzwang, verlief die Wirtschaftsentwicklung auch weiterhin enttäuschend. Der ausländische Einfluß nahm zwar ständig zu, da chinesische Wirtschaftskreise immer noch nicht bereit waren, die von der Zentralregierung nun entschiedener verordneten und auch weitgehend kontrollierten Reformmaßnahmen finanziell zu tragen. Die wirtschaftlichen Erfolge der „Westler" blieben aber trotz relativ hoher Anleihen und Investitionen ziemlich gering; insbesondere die industriellen Rohstoffimporte aus China ließen zu wünschen übrig. Die traditionell agrarisch geprägte chinesische Wirtschaftsstruktur, der passive Widerstand der Bevölkerung, die geringe verkehrstechnische Erschließung, die dezentralisierte und desorganisierte Verwaltung sowie das Fehlen eines einheitlichen Finanzsystems ließen keine umfassende wirtschaftliche Modernisierung zu. Diese beschränkte sich schließlich auf wenige Wirtschaftssektoren und auch nur auf einige Provinzen Chinas. Das Innere des Landes mit mehr als der Hälfte der Bevölkerung blieb davon fast völlig unberührt. Neben dem Yangtze-Gebiet wurde lediglich die Mandschurei unter russischem und japanischem Einfluß weitgehend erschlossen 86 .

86

Remer, Trade, S. 231 ff.

224

Lag dem Westen primär an einer durchgreifenden, nicht nur halbherzig vorangetriebenen wirtschaftlichen Modernisierung, so war die von den japanischen Erfolgen begeisterte nationalistische und antimandschurische Bewegung der Studenten, Kaufleute und Soldaten der Meinung, daß darüber hinaus auch soziale und politische Reformen dringend in Angriff genommen werden müßten. Allerdings dachten die neuen wirtschaftlichen und militärischen Eliten dabei eher an eine Umverteilung der Macht zu ihren Gunsten als an tiefgreifende gesellschaftliche Erneuerungen. Dem Druck der äußeren Bedrohung, traditionell partikularistischer Gentry-Interessen und des revolutionären Machtbegehrens, zeigte sich der kaiserliche Hof nur für kurze Zeit gewachsen. Die wenigen Reformen, die das Mandschu-Regime zu seinem eigenen Überleben durchsetzen wollte, erwiesen sich zudem als selbstzerstörerisch für die Dynastie und ließen die ganze Ambivalenz der Modernisierung für den konfuzianistischen Staat erkennen. Neben dem Bildungssektor traf dies vor allem für den militärischen Bereich zu, in dessen Erneuerung die Mandschus ihre ganzen innen- und außenpolitischen Hoffnungen setzten. Die Zentralregierung hatte zunächst beabsichtigt, die Streitkräfte in Zusammenarbeit mit den Provinzen und den sogar von den konservativen chinesischen Militärs akzeptierten Japanern zu modernisieren. Nach dem entscheidenden Machtzuwachs des Regionalismus und des Nationalismus aufgrund der japanischen Aktivitäten richteten sich die Militärreformen jedoch immer stärker gegen den „militärischen Partner" Japan und vor allem gegen die innere Bedrohung. Eine Stabilisierung der Mandschu-Herrschaft konnte zu diesem Zeitpunkt allerdings kaum noch von militärischer Seite erwartet werden. Auch wenn die Truppen nur noch wenig Ähnlichkeit mit den Privatarmeen der Taiping-Periode aufwiesen, so war der traditionelle regionale und soziale Aufbau der Streitkräfte des 19. Jahrhunderts doch erhalten geblieben. Die alten ungelösten Mißstände im militärischen Bereich — Korruption und Nepotismus — und die gravierenden Fehler im rüstungswirtschaftlichen Sektor — eine unübersehbare Vielfalt von uneffektiven Arsenalen und Waffen, die zudem dem Gelände kaum angemessen waren — schienen unüberwindbar zu sein. Zu diesen strukturbedingten Schwächen kam mit den Militärreformen der Mandschus der untaugliche Versuch hinzu, ein regimetreues Offizierkorps zu bilden. Die gesonderte Ausbildung der Militärs im In- und Ausland löste die Sicherheitsprobleme der Regierung in Peking nicht, sondern schuf statt dessen eine eigenständige Elite, die zwar weder die intellektuellen Fähigkeiten besaß wie die Studenten, noch über die finanziellen Möglichkeiten der Compradoren-Kaufleute verfügte, dafür aber die militärischen Machtmittel des Staates kontrollierte. Sowohl die Mandschu-Dynastie als auch die Revolutionäre gerieten in den letzten Jahren des Kaiserreiches bei der Durchsetzung ihrer Ziele immer stärker in die Abhängigkeit der Militärführer. Nicht die revolutionären Intellektuellen, sondern die einflußreichen Militärbefehlshaber der Nordtruppen, die Peyang-Clique Yüan Shih-k'ais, welche die Ch'ing-Dy225

nastie zum Rücktritt nötigten und die alte Bürokratenelite in Peking entmachteten, waren dann auch die eigentlichen Sieger am Ende des konfuzianistischen Systems. W e n n sich die Militärs auch mit der Gentry- und Wirtschaftselite arrangierten, so gaben sie doch für die nächsten Jahrzehnte die eigentliche Macht nicht mehr aus ihren Händen. Die Vertragsmächte standen dem Niedergang der Mandschus mit deren wirtschaftlichen Mißerfolgen immer gleichgültiger gegenüber, hielten sich aber von den extremen promandschurischen oder prorevolutionären Positionen der Deutschen und Japaner fern. Parallel zum Rückgang der englischen Vormachtstellung im Fernen Osten war es den Mächten in den 1890er Jahren zumeist mit Militäraktionen gelungen, in dieser Region größeres politisches Gewicht zu erlangen. Gerade den Engländern erschien es daher vorteilhafter, ihre jeweiligen Positionen in Ostasien durch vertragliche Vereinbarungen abzusichern, um größere Konfrontationen zu vermeiden, als das Reich der Mitte aufzuteilen und die territoriale Expansion weiter fortzusetzen. Trotz aller unterschiedlichen Zielsetzungen sahen auch alle anderen Großmächte außer dem Deutschen Reich Vorteile in einer sicherheits- und machtpolitischen Verständigung in Fernost, da durch diese sowohl die einzelnen Interessengebiete — z. B. in der Mandschurei und am Yangtze — als auch mit der zunächst propagierten Politik der „Offenen Tür" die eigenen wirtschaftlichen Ansprüche in China weiterhin erhalten blieben. Waren die Mächte schon nicht bereit gewesen, das Reich der Mitte an diesen Vereinbarungen zu beteiligen, so zeigten sie erst recht kein Interesse daran, ihren Ausgleich durch ein Engagement für das versagende politische System in China zu gefährden und dadurch womöglich in größere Auseinandersetzungen hineingezogen zu werden. Seit 1905 hatte sich zudem nicht nur die Mächtekonstellation in Ostasien, sondern auch die Situation Chinas so verändert, daß gegen Ende der Mandschu-Herrschaft selbst England und die Vereinigten Staaten die Integrität des Reiches der Mitte nicht länger als ein Dogma ansahen. Eine Zusammenarbeit mit Japan zur Sicherung des Empires bzw. zur langfristigen Verwirklichung einer amerikanischen Wirtschaftshegemonie in Ostasien schien eindeutig vorteilhafter zu sein, als in China auf Konfrontationskurs zur japanischen Expansionspolitik zu gehen. Obwohl die Westmächte sich bemühten, das Reich der Mitte weiterhin zu stabilisieren, um wirtschaftlich und politisch das Beste für sich dabei herauszuholen, wurde das Prinzip der „Open Door" immer stärker zur Fiktion. Ob „ungleiche Verträge", militärischer Interventionismus oder opportunistischer Ausgleich — China war stets nur Objekt in der großen Politik der Mächte, genauso wie seine ihm aufgezwungene Modernisierung lediglich Mittel zur Durchsetzung wirtschaftspolitischer Wunschvorstellungen anderer blieb. Im Gegensatz zu den anderen Großmächten sah das Deutsche Reich ab Mitte des ersten Jahrzehnts eine engere Zusammenarbeit mit der Mandschu-Regierung durchaus als vorteilhaft an. Dabei stand jedoch, wie bei seinen weltpolitischen Rivalen, kaum die Absicht im Vordergrund der Überlegungen, 226

China bei der Lösung seiner vielfältigen Probleme wirklich zu helfen; vielmehr schien sich das Reich der Mitte, das seine Modernisierungsbemühungen vor allem auf den militärischen Bereich konzentrierte, dem zur Weltmacht aufrüstenden Deutschland als rüstungswirtschaftlicher und strategischer Partner anzubieten. Hatte sich die deutsche Politik gegenüber China in den 1880er Jahren, abhängig von den Bemühungen um einen Ausgleich in Europa und die Erhaltung der kontinentalen Großmachtposition, zunächst noch an den von China versprochenen wirtschaftlichen Möglichkeiten ausgerichtet und ein Offenhalten des chinesischen Marktes in den Mittelpunkt seiner Aktivitäten gestellt, so überlagerte ab Mitte der 1890er Jahre eine offensive militärische Machtpolitik immer stärker die zurückhaltende Chinapolitik des Auswärtigen Amtes, die zur Absicherung des chinesischen Wirtschaftsraumes für die deutschen Exportinteressen offenbar versagte. Traditionelle diplomatische Methoden griffen nicht, Militärmissionsprojekte scheiterten, Absprachen und Bündnisse mit anderen Mächten verfehlten ihre Absicht. Herkömmliche Vorgehensweisen entwickelten sich statt dessen zum eigenen Nachteil und schienen die Großprojekte der deutschen Wirtschaft zu gefährden, die des chinesischen Marktes bedurften, um den Aufschwung aus der Depressionsphase sicherzustellen. Das Scheitern der chinesischen Reformbemühungen, die traditionalistische antiwestliche Gegenbewegung in China, die in den Boxerunruhen eskalierte und die Erfolge der deutschen Wirtschaft bedrohte, lieferten der kaiserlichen Marine und dem deutschen Heer den hinreichenden Vorwand, in China zu intervenieren. Die Okkupation Kiaochows und die Intervention im Boxerkrieg waren Ausdruck einer konsequenten Verwirklichung vermeintlicher wirtschafts- und machtpolitischer Möglichkeiten, die traditionelle diplomatische Institutionen augenscheinlich nicht zu nutzen verstanden, und verdeutlichten den mit dem „persönlichen Regiment" des Kaisers gestiegenen Machtanspruch des Militärs in außenpolitischen Fragen. Der politischen Führung gelang es jedoch in der Folgezeit in Zusammenarbeit mit dem Teil der Militärführung, der mehr in global-strategischen Kategorien dachte, weitere überhastete koloniale Projekte in Ostasien zu unterbinden und statt dessen die Konzeption einer planmäßigen und geheimzuhaltenden Aufrüstung durchzusetzen, welche die Sicherheit des Deutschen Reiches in der labilen Übergangsphase zu einer Weltmacht nicht gefährden sollte. Die Reichsregierung verstand es, mit der von ihr propagierten „Politik der freien Hand" einen Kompromiß zwischen dem kontinentalen und dem überseeischen Führungsanspruch von Heer und Marine zu schließen und trotz der Verselbständigung des Militärs in der Außenpolitik den Primat des Politischen aufrechtzuerhalten, allerdings nur, weil der offensive Weltmachtansatz beibehalten und in sicherheitspolitischen Fragen die militärischen Prioritäten anerkannt wurden 8 7 .

87

Kehr, Primat, S. 121 ff.; Thoß, S. 45 ff. 227

Die unter der Prämisse des Weltmachtanspruchs um die Jahrhundertwende neu konzipierte deutsche Chinapolitik verwarf schließlich keineswegs die Ergebnisse der militärischen Alleingänge im Reich der Mitte, sondern war gewillt, auf ihnen weiter aufzubauen. Dennoch gab es anfänglich Meinungsverschiedenheiten und Kompetenzstreitigkeiten über Pläne und Konzeptionen zwischen dem Auswärtigen Amt und den Militärbehörden. Das Reichsmarineamt, das sich über Kiaochow eine prestigeträchtige Brücke zu Handel und Industrie offenhalten wollte, lehnte eine moderate Politik gegenüber dem Ausland und den Chinesen in Shantung ab. Auch die Führung der Landstreitkräfte war nicht bereit, einzugestehen, daß über einen Truppenabzug hinaus selbst ein geringes militärisches Engagement des Reiches in China — sei es über Militärberater oder im rüstungswirtschaftlichen Bereich — die Abschirmungs- und Ablenkungsphase auf dem Weg zur Weltmacht möglicherweise gefährdete, indem es Konflikte mit den anderen Großmächten provozierte. Im Gegensatz zu den Militärs sah sich die „Wilhelmstraße", die mit einer Politik des Lavierens nicht nur jegliche Konfrontation mit den anderen Mächten vermeiden, sondern auch jegliche Kooperation mit diesen überflüssig machen wollte, die Position Deutschlands in China zudem so gefestigt, daß wirtschaftspolitische Interessen auch ohne größere staatliche Hilfe verwirklicht werden konnten. Die militärische und die politische Führung stellten trotz aller Unterschiede in der Vorgehensweise das gemeinsame Endziel deutscher Ostasienpolitik, die Wirtschaftshegemonie auf dem chinesischen Markt, niemals in Frage. Auch Japan bot mit seiner stärker expandierenden Wirtschaft keine Alternative zu den zukünftigen Möglichkeiten im Reich der Mitte, zumal Vorstellungen einer euro-asiatischen Allianz Deutschlands, Rußlands und Japans wegen der russisch-japanischen Feindschaft sowie der Rücksichtnahme des Deutschen Reiches auf das Zarenreich kaum entwickelt waren und daher größere wirtschaftliche und politische Aktivitäten des Reiches gegenüber Tokyo nicht zu unterstützen vermochten. Der chinesische Nationalismus wie auch das unflexible Verhalten der deutschen Industrie, die sich nicht dem chinesischen Markt anpaßte, sondern nur ihre strukturbedingten Absatzschwierigkeiten beheben wollte, gefährdeten jedoch schon bald den geplanten wirtschaftlichen Durchbruch in China. Die Niederlage Rußlands und seine politische Wendung nach Europa stellten darüber hinaus die gesamte „Politik der freien Hand" in Fernost in Frage, da einem Ausgleich mit Japan, wie ihn England infolge des militanten deutschen Vorgehens in Fernost um die Jahrhundertwende schon geschlossen hatte, nun eine immer größere Bedeutung zukommen mußte. Die Reichsregierung zeigte sich allerdings nicht bereit, ihre im Ansatz offensive, wenn auch bis dahin eher zurückhaltend verfochtene Chinakonzeption zu modifizieren, nachdem die um die Jahrhundertwende festgelegte Planung einer Aufrüstung zur Weltmacht zusehends an Eigengewicht gewonnen hatte. Der beginnende Rüstungswettlauf ließ anstelle eines Ausgleichs mit den anderen Mächten gerade eine engere militärische und rüstungswirtschaftli228

che Kooperation mit dem Mandschu-Reich als sinnvoll erscheinen. Dabei bot sich nach Ansicht der Reichsregierung die Chance, sowohl den chinesischen Markt weiter zu erschließen, als auch der „Einkreisung" des Deutschen Reiches begegnen zu können. Auch die Führung der Landstreitkräfte sah im Fernen Osten, wenn überhaupt nur im Mandschu-Reich einen Partner zur Durchsetzung ihrer kontinentalhegemonialen Überlegungen. Das gesteigerte Interesse des Generalstabes am Reich der Mitte nach 1905 resultierte vor allem aus Chinas strategischer Bedeutung im Hinblick auf Rußland, sei es als direkter Bündnispartner Deutschlands oder als militärischer Eckstein, um den japanischen Expansionismus gegen das Zarenreich abzulenken — derartige Vorstellungen wurden in der 1930er Jahren wiederbelebt. Wirtschaftliche Überlegungen zu China beschränkten sich hingegen in Militärkreisen — anders als in der Aufrüstungsphase vor dem Zweiten Weltkrieg — wie in den 1890er Jahren ausschließlich auf den Absatz von veraltetem Kriegsgerät, obwohl sie die Aktivitäten der privaten deutschen Rüstungswirtschaft im Reich der Mitte uneingeschränkt begrüßten. Trotz des wachsenden militärischen Einflusses auf die Chinapolitik blieb es daher der Diplomatie überlassen, die rüstungswirtschaftlichen Beziehungen zum Mandschu-Reich zu koordinieren. Zwar büßten die deutschen Militärinstrukteure in China ihre Wirksamkeit infolge des gestiegenen japanischen Einflusses ein, doch vermochte die „Wilhelmstraße" über enge diplomatische Kontakte eine Art offizieller zwischenstaatlicher Rüstungsgeschäfte zu eröffnen. Mit dieser Unterstützung gelang es der politischen Führung nicht nur, der von ausländischer Konkurrenz stark bedrängten und seit Ende der 1890er Jahre stagnierenden deutschen Chinawirtschaft zu helfen, sondern sie leistete auch der von der Regierung Bethmann Hollweg sammlungspolitisch angestrebten allgemeinen Integration von Wirtschaft und Politik weiter Vorschub 88 . Außenpolitisch geriet die Reichsregierung in China allerdings immer stärker von einem Isolations- auf einen Konfrontationskurs zu den anderen Mächten, als sie sich die Militarisierung des konfuzianistischen Staates für ihre wirtschaftspolitischen Pläne im Reich der Mitte und für ihre weltmachtpolitischen Vorstellungen zunutze machen wollte. Obwohl mit dem Auseinanderfallen des mandschurischen Kaiserhauses nicht nur die strategische Komponente in den Beziehungen Deutschlands zum Reich der Mitte wegfiel, sondern auch die gesamte Chinakonzeption des Deutschen Reiches in Frage gestellt wurde, hoffte die Reichsregierung auch weiterhin, über ihre militärpolitischen Verbindungen die deutsche Stellung bei den Chinesen zu halten und zu festigen. Sie war ebenfalls davon überzeugt, durch eine Politik des „Dritten Weges" langfristig in Übersee doch noch ihre weltpolitischen Ziele verwirklichen zu können.

88

Frauendienst, S. 4 ff.; Petzina, Zwischenkriegszeit, S. 60 ff.

229

5.

ERSTER WELTKRIEG UND DROHENDER ZERFALL CHINAS. KULMINATIONSPUNKT UND ZUSAMMENBRUCH DES DEUTSCHEN CHINAHANDELS (1911-1919)

Das Ende des chinesischen Kaiserreiches und die Ausrufung der Republik schienen zunächst insbesondere denjenigen Großmächten in Ostasien größere Vorteile zu verschaffen, die der Mandschu-Dynastie zurückhaltend gegenübergestanden, jedoch keine territorialen Ambitionen gegenüber dem Reich der Mitte verfolgt hatten. Die Westmächte taten allerdings nichts, den nationalen Gedanken in China weiter zu festigen und die Erneuerungsbewegung zu sozialen Reformen zu ermutigen. Auch galt ihr Hauptaugenmerk in einem republikanischen China weiterhin allein der Durchsetzung wirtschaftspolitischer Vorstellungen. Innerchinesische Probleme konnten dabei nur auf Resonanz stoßen, soweit sie übergeordnete sicherheits- und machtpolitische Interessen im Fernen Osten berührten. Wie das Deutsche Reich wandten sich deshalb auch die anderen Vertragsmächte nicht etwa den revolutionären chinesischen Intellektuellen zu, die mit ihren verschwommenen Programmen im Ausland eher Mißtrauen erweckten. Sie orientierten statt dessen ihre Bemühungen stärker an den sich teilweise zwar modernistisch gebenden, aber insgesamt zumeist konservativ gesinnten Wirtschafts- und Militärkreisen, welche die Monarchie abgeschafft hatten, ihre Privilegien jedoch beibehalten wollten 1 . Eine internationale Anleihe von 25 Millionen Pfund, mit der die Mächte beabsichtigten, so schnell wie möglich eine Reorganisation des chinesischen Finanzsystems und damit eine Weiterführung der wirtschaftlichen Modernisierung zu erreichen, verzögerte sich trotz aller Dringlichkeit jedoch bis Mitte 1913. Zum einen wehrten sich die Chinesen dagegen, Privilegien als Preis für die finanziellen Hilfen zu gewähren: Als Deckung der Anleihe sollten nicht nur die chinesischen Salzzölle direkt auf ausländische Banken überwiesen werden, sondern die geldgebenden Staaten wollten sich auch die unmittelbare Kontrolle und Oberaufsicht über die Verwendung der Gelder durch Berater in höchsten Positionen sichern. Zum anderen kamen die Verhandlungen zu keinem baldigen Abschluß, weil die Mächte untereinander ihre jeweiligen Sonderinteressen durchsetzen wollten. Erst am 12. April 1913 konnte die Anleihe unterzeichnet werden, nachdem sich allmählich die kompromißbereiten chinesischen Militärkreise gegenüber der revolutionären Bewe-

1

Großer Generalstab an Königlich Bayerischen Generalstab: Bericht für das 2. Vierteljahr 1911, KA, GenStab/208. Rosthorn, S. 11 ff. 231

gung im Innern durchgesetzt und sich die Amerikaner aus dem alten deutsch-amerikanisch-englisch-französischen „Viermächtekonsortium" von 1911/12 zurückgezogen hatten. Die Vereinigten Staaten stimmten der von Frankreich initiierten Erweiterung des Konsortiums um Japan und Rußland nicht zu, um ihre Ablehnung des aggressiven japanischen und russischen Expansionismus in der Mandschurei, der Mongolei und in Turkestan kundzutun. Die neue Außenwirtschaftspolitik der Wilson-Administration zielte stärker als zuvor auf eine „moralische" Eroberung des chinesischen Marktes 2 . Die Gelder der Aufbauanleihe nutzten — ganz im Sinne der Großmächte — vor allem den Plänen der nach der sogenannten „Zweiten Revolution" zunächst unangefochten herrschenden Militärclique Yüan Shih-k'ais. Dieser war schließlich für ein gutes Verhältnis zu seinen Geldgebern sogar bereit, auf weitere Randgebiete Chinas zu verzichten. Die vormalige Koalitionsregierung aus Revolutionären und Militärs hatte sich noch 1912 ausdrücklich aus nationalen Gründen für eine Fortführung der Kolonisationspläne der Mandschus ausgesprochen, mit denen diese seit Ende des vorangegangenen Jahrzehnts von den inneren Schwierigkeiten ablenken und den territorialen Ansprüchen der Mächte entgegentreten wollten 3 . Die territorialen Zugeständnisse der chinesischen Militärregierung — im Vertrag vom 5. November 1913 mit Rußland über eine Teilautonomie der Äußeren Mongolei und im Vertrag vom 3. Juli 1914 mit England über eine faktische Selbstregierung Tibets — mußten vor allem die Japaner zu neuen imperialistischen Aktivitäten in der Mandschurei und der Inneren Mongolei verleiten, die längst offen darauf abzielten, die nachrevolutionäre Schwächeperiode in China auszunutzen 4 . Von einer, wenn auch nur taktischen Zusammenarbeit Japans mit den revolutionären Intellektuellen in China wie noch einige Jahre zuvor konnte keine Rede mehr sein, zumal es diesen augenscheinlich nicht gelang, ihr Ziel einer national gefestigten Republik durchzusetzen. Sun Yat-sen, der von den Vorstellungen des Reformers K'ang Yu-wei inspirierte Führer der Revolutionäre, war schon bei der Abdankung der Mandschu-Dynastie durch die tatsächlichen Machtverhältnisse gezwungen worden, mit den Militärbefehlshabern Kompromisse einzugehen und Yüan Shih-k'ai zum neuen Präsidenten der chinesischen Republik proklamieren zu lassen (15. Februar 1912) 5 . Der in Hawaii ausgebildete Sun hatte sich bereits in den 1890er Jahren mit Gleichgesinnten zu einem Geheimbund („Gesellschaft zur Entwicklung Chinas") zusammengeschlossen und über den vor allem von Japan beeinflußten „Vereinigten Revolutionsbund" (seit 1905) versucht, seine revolutionären Ziele durch ein Programm der „Nationalisierung" und „Mobilisierung" zu verwirklichen. Seine Vorstellungen enthielten mit der „Lehre von den fünf Ge2

Geschäftsbericht 1912 und 1913 der DAB, ADB. Collis, S. 131 ff.; Stingl, S. 689 ff.

3

Powell, S. 330 ff.

4

Kommando Kreuzergeschwader an RMA, 1 . 1 2 . 1912, BA-MA, RM 5 / 6 0 0 1 . Crowley, S. 18 ff.; King, History, S. 96 ff.

5

Powell, S. 330 ff.

232

walten" als Kernpunkt neben revolutionären Elementen allerdings auch noch traditionelle konfuzianistische Merkmale. Ein politischer Ausgleich schien daher — altem chinesischem Brauch folgend — von vornherein besser zu sein als ein Bürgerkrieg gegen die Militärs, dessen Ausgang ohnehin mehr als fraglich gewesen wäre 6 . De revolutionäre Bewegung erwies sich in der Folgezeit gegenüber den machtbesessenen Militärführern, welche die Revolution nur als zeitlich begrenzten Kompromiß zur Überwindung der Mandschu-Herrschaft angesehen hatten, als viel zu schwach, um ihre Ziele ohne inneren und äußeren Beistand durchzusetzen 7 . Die Revolutionäre, die auch von chinesischen Wirtschaftskreisen kaum noch unterstützt wurden, für welche die politische Stabilität längst wieder an erster Stelle stand, vermochten der vom Ausland gestärkten militärischen Ordnungsmacht bereits Mitte 1913 nichts mehr entgegenzusetzen. Selbst die w a c h s e n d e äußere Bedrohung des alten Reiches während der revolutionären Schwächeperiode hatte recht bald ihre einigende Wirkung auf Revolutionäre und Militärs verloren. Den Militärmachthabern erschien es zweckmäßiger, ihre Position im Innern zu festigen, als sich — trotz aller nationalen Empörung in China — auf militärische Abenteuer mit den Großmächten einzulassen. Die Unabhängigkeitserklärung aufständischer Provinzen gegen die beginnende Willkürherrschaft Yüan Shih-k'ais konnte daher keine nachhaltige Wirkung erzielen. Der Versuch einer Weiterführung der Revolution wurde von den Militärs im Keim erstickt 8 . Sun Yat-sens Absicht, eine nationale, eine demokratische und eine soziale Revolution in einem Zuge durchzusetzen, war zunächst gescheitert. Übrig blieben lediglich die Beseitigung der Mandschu-Dynastie und der formale Übergang zur Republik. Aber nicht nur der Druck der neuen Militär- und der städtischen Wirtschaftselite, sondern auch interne Schwierigkeiten waren den intellektuellen Revolutionären zum Verhängnis geworden. Der Zusammenschluß von ehemaligen revolutionären Geheimbünden zur Partei der Kuomintang (KMT) im August 1912 vermochte nicht, über die strukturbedingten Defizite der revolutionären Bewegung hinwegzutäuschen. Ihre Heterogenität, die bisher noch durch das verbindende Band der antimandschurischen Einstellung hatte ausgeglichen werden können, ihre unzureichende Organisation und der fehlende Kontakt zur bäuerlichen Bevölkerung, bei der die Erneuerer weniger Prestige besaßen als die alte Literatenschicht, ließen die Revolutionäre schließlich zu Werkzeugen in der Hand der in Wirklichkeit den politischen Kurs bestimmenden Militärs werden 9 .

6

Zu Sun Yat-sens Aufstieg überblicksartig Viechtbauer/Wegmann, S. 113 ff.

7

Kindermann, Ferner Osten, S. 140 ff.

8

Militärbericht 30, Gesandtschaft Peking, 11. 8. 1912, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 2 9 ; Militärbericht 4 4 / 4 5 , Gesandtschaft Peking, 1 . 1 2 . 1912, ebd., China 5 / 3 0 ; Konsulat Kanton an Bethmann Hollweg, 23. 5. 1913, ebd.; Militärbericht 4, Gesandtschaft Peking, 28. 5. 1913, ebd.

9

Shao, S. 283 f.; Y. W a n g , S. 497 ff.

233

Der soziale und politische Aufstieg des chinesischen Militärs seit Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich zwar als revolutionär für das konfuzianistische System, aber insgesamt als reaktionär für die gesellschaftliche Entwicklung Chinas erwiesen. Der Sieg der neuen Militärelite wurde letztlich im wesentlichen zu einem Erfolg des Traditionalismus und der Restauration. Ein gesellschaftlicher Entwicklungsprozeß, der Mitte des 19. Jahrhunderts in China begonnen hatte und vom Versuch der Modernisierung gekennzeichnet war, fand mit der Herrschaft der Militärs seinen ersten Abschluß. Innere und äußere Unruhen sowie das Versagen der zuvor durchaus funktionierenden konfuzianistischen Bürokratie gegenüber der vom W e s t e n aufgezwungenen Erneuerung hatten die mandschurischen Machthaber veranlaßt, Militärs auf h o h e Verwaltungsstellen in den Provinzen zu setzen. Die Offiziere nutzten diese Stellungen zunächst noch nicht zu einer Erweiterung ihrer Befugnisse gegenüber dem zivilen Sektor aus. Die Zentralinstanzen mußten lediglich insgesamt weitere Kompetenzen zugunsten der provinziellen Führungsebenen abtreten. Die Militärführer betrachteten ihre Position vielmehr als Gelegenheit, in der traditionellen Bürokratenhierarchie weiterzukommen. Die Macht des militärischen Apparates nahm jedoch im Laufe der Zeit immer weiter zu, auch weil es die Militärs — gemessen an anderen Führungsschichten — einigermaßen verstanden, sich westliche Technik zunutze zu machen. Zunächst beschränkten sich konkrete Erfolge allerdings nur auf den militärischen Bereich. Später weitete sich aber durch Erziehungs- und Ausbildungsreform sowie die generelle Verbreitung westlichen Gedankengutes im Reich der Mitte auch das politische und gesellschaftliche Urteilsvermögen der Soldaten. Die Modernisierungserfolge der Japaner, die in China insbesondere durch die Leistungen des japanischen Militärs augenfällig wurden, führten darüber hinaus zu einer allgemeinen Anhebung des sozialen Prestiges des Soldatenberafes an sich 1 0 . Selbst die bislang antimilitaristische alte konfuzianistische Elite fühlte sich schließlich von den Chancen angesprochen, die das Militär zu bieten schien. W e i t e Kreise der Gentry erkannten, daß der militärische Bereich den Vorteil der modernsten Ausbildungsmöglichkeiten in China und im Ausland bot, die sich weit über die rein militärischen Gebiete hinaus erstreckten. Sie glaubten auch, gerade mit Hilfe der Streitkräfte in Zukunft die innen- und außenpolitische Entwicklung Chinas mitbestimmen und ihre eigene Macht festigen zu können. Der revolutionäre Gärungsprozeß in der Endphase des Kaiserreiches war daher von einer zunehmend antimandschurischen Haltung der konservativen Bürokratenelite und wachsenden Militarisierung der Gentry gekennzeichnet. Diese Entwicklung trug — über die enge soziale Verbundenheit hinaus — wesentlich dazu bei, daß sich bereits kurz nach dem Sturz der Mandschus die alte ländliche und die neue militärische Führungsschicht ihre Herrschaft gegenseitig garantierten. Die von den Militärs kontrollierte

10

W . Franke, Jahrhundert, S. 104 ff.; Y. Wang, S. 299 ff., 497 ff.

234

pseudo-republikanische Ordnung gründete sich auch weiterhin auf die alte gesellschaftliche Basis und ließ die sozialen Privilegien der Gentry unangetastet11. Für die deutsche Chinapolitik am Vorabend und während des Ersten Weltkrieges hätte sich die Entwicklung der chinesischen Republik zu einem Militärstaat nach dem Sturz der Mandschu-Zentralregierung, die auf eine umfassende Kooperation mit dem Deutschen Reich Wert gelegt hatte, an sich nur vorteilhaft auswirken können. Tatsächlich gefährdeten daher dann auch nicht primär die innerchinesischen Verhältnisse die wirtschaftlichen und politischen Interessen des Deutschen Reiches in China, sondern die sich bis zu einem Krieg in Europa zuspitzenden krisenhaften Beziehungen zu England, Frankreich und Rußland. Insbesondere die rasche Kriegserklärung Japans in Ostasien und der nachmalige Kriegseintritt der USA auf Seiten der Alliierten bedrohten die deutsche Position im ehemaligen Mandschu-Reich. Aber erst die völlige Niederlage Deutschlands sollte die Stellung der Deutschen in China entscheidend erschüttern und die einer verfehlten Weltmachtpolitik entsprungenen Hegemonialpläne auf dem chinesischen Absatzmarkt — zumindest vorübergehend — in Vergessenheit geraten lassen. Selbst das endgültige Scheitern der deutsch-englischen Flottenverständigung (Anfang 1912) und die Destabilisierung in Europa durch die Balkankriege (1912/13) hatten keine Kursänderung der deutschen Außenpolitik bewirkt. Trotz der gemäßigten Ausgleichspolitik Bethmann Hollwegs, die bis zuletzt eine Fixierung der deutschen Expansionsbestrebungen auf Osteuropa zu verhindern suchte und sich statt dessen für ein stärkeres Engagement in Südamerika und Ostasien einsetzte, um eine mögliche Konfrontation mit den anderen Großmächten auf dem Kontinent zu vermeiden, war die Rückkehr zu einer traditionell defensiven europäischen Sicherheitspolitik vertan. Längst hatten sozialdarwinistisch begründete und vermeintlich kontinentale Expansionszwänge sowie (wehr-)wirtschaftliche Großraumvorstellungen in der Politik einen so hohen Stellenwert erlangt, daß nicht nur der Bündnispartner Österreich, sondern das Deutsche Reich selbst durch territoriale Verschiebungen in Südosteuropa gefährdet schien. Die Reichsregierung zeigte sich schließlich bereit, unter Hinnahme eines hohen Risikos weiterhin das Vorgehen Österreichs auf dem Balkan zu decken, zumal nach der Verlängerung des Dreibundes (1912) die Position der Mittelmächte offensichtlich gefestigt schien. Mutmaßungen über ein Nachgeben Rußlands und ein Einwirken Englands auf Frankreich unterschieden die politische Führung allerdings von dem offensiven Standpunkt der Militärs, die mit dem Festhalten am Schlieffen-Plan einen Krieg an zwei Fronten bewußt in Kauf nahmen 12 . Trotz der Billigung kriegerischer Auseinandersetzungen in weiten Teilen der Bevölkerung war die deutsche Wirtschaft im August 1914 kaum auf den 11 12

Hatano, S. 375 ff.; Holcombe, S. 111 ff. E. Böhm, S. 202 ff.; F. Fischer, Bündnis, passim; Hillgruber, Großmacht, passim; W e h ler, Kaiserreich, S. 101 ff.; Witt, S. 146 ff. 235

Krieg vorbereitet. Eine institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Staat hatte es vor dem Ersten Weltkrieg — ganz im Gegensatz zu den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg — nicht gegeben, obwohl ab 1912 im Zuge der militärischen Kriegsvorbereitungen die Reglementierungen von seiten der Reichsregierung zunahmen 13 . Nur vereinzelt flössen auch weiterhin rüstungswirtschaftliche Überlegungen in operative Planungen ein. Zwar sah sowohl die politische als auch die militärische Führung in dieser Nachlässigkeit eine mögliche Gefahr für eine zukünftige Kriegführung, aber im allgemeinen sollten die notwendigen Initiativen lieber der Privatwirtschaft selbst überlassen und so lange wie möglich eine engere Kooperation umgangen werden. Einerseits wehrten sich die Industriellen vehement gegen jegliche staatliche Kontrolle; andererseits trat aber auch trotz der zunehmenden Verfilzung zwischen Bürokratie und Industrie seit den 1890er Jahren das traditionelle Mißtrauen des preußisch-deutschen Obrigkeitsstaates gegenüber dem privaten rüstungswirtschaftlichen Bereich angesichts wachsender neuer Probleme wieder stärker in Erscheinung. Obwohl die Reichsregierung die Außenwirtschaft — insbesondere die Auslandsverkäufe der Rüstungsindustrie — auf das nachhaltigste unterstützte, um die Produktionskapazitäten im Inland zu festigen und die Wirtschaftskrise zu überwinden, blieben die Differenzen doch weitaus bestimmender als der Wunsch nach geregelter Kooperation und umfassenden Planungen. Militärs und Politiker beanstandeten vor allem, daß sich die Schwerindustrie trotz steigender Rivalitäten um Marktanteile immer stärker in internationalen Kartellen zusammenschloß. Weit schwerwiegender als diese Vorbehalte wirkte sich allerdings das Dogma des schnellen Krieges, das militärische Stellen dazu verleitete, ökonomische Überlegungen als nicht besonders wichtig einzustufen, auf die kriegswirtschaftlichen Vorbereitungen des Deutschen Reiches aus. Selbst im außereuropäischen deutschen Handel machte sich die Auffassung der militärischen Führung, nach Kriegsausbruch in kürzester Zeit neue industrielle Absatz- und Versorgungsgebiete erschließen zu können, am Vorabend des Krieges immer nachhaltiger bemerkbar 14 . Die deutsche Außenwirtschaft zeigte sich schon seit geraumer Zeit von diesen auf Europa zentrierten Planungen der Militärs angetan, versprachen sie doch für die Zukunft erheblich risikolosere Geschäfte. Wenn die deutsche Wirtschaft vor dem Ersten Weltkrieg auch weit davon entfernt war, sich staatlichen Konzeptionen anzuvertrauen oder unterzuordnen, so hatte sie doch in der Hoffnung auf größere Gewinne in Europa bereits nach Ausbruch der Balkankrisen ihre Aktivitäten in Übersee im Hinblick auf die zu erwartenden entscheidenden Auseinandersetzungen eingeschränkt. Umfangreiche Geschäftsabschlüsse wurden vermieden, soweit sie nicht staatlich ab-

13

Burchardt, S. 190 ff., 224 ff.; Ullmann, S. 194 ff.

14

Ein Waffenausfuhrverbot

wurde daher erst im August 1914 erlassen.

S. 138 ff.; Jindra, S. 154 ff; Menne, S. 2 7 0 ff., 290 ff.

236

Burchardt,

gesichert waren. Dann allerdings zeigten sich die Wirtschaftskreise sogar bereit, das starke, von der politischen Konzeption des „Dritten Weges" geprägte Engagement des Auswärtigen Amtes im Außenhandel zu akzeptieren. Selbst wenn dieses faktisch — zumindest bei Industriegeschäften — einer Mitbestimmung gleichkam, ermöglichte die politische Beteiligung doch ohne größeres Eigenrisiko weiterhin respektable Profite. Die deutsche Chinawirtschaft konnte — ähnlich wie Ende der 1930er Jahre — aufgrund der guten militärpolitischen Beziehungen des Deutschen Reiches zu den chinesischen Militärmachthabern vor dem Krieg die besten Erfolge in ihrer bisherigen Geschäftstätigkeit erzielen, obwohl allerdings auch hier die Absetzbewegungen nach Europa immer augenfälliger wurden 15 . Die Erschließung des chinesischen Marktes war für die deutsche Ostasienpolitik auch nach Abdankung der Mandschus und trotz der nachfolgenden anhaltenden inneren Wirren in China von größter Bedeutung geblieben. Die deutschfreundliche Peyang-Militärclique versprach endlich den erwarteten wirtschaftlichen Durchbruch und das Ausschalten der ausländischen Konkurrenz. Obwohl das ehemalige Reich der Mitte mit der Revolution für das Deutsche Reich strategisch an Bedeutung verloren hatte, zeigten sich nicht nur die Diplomaten bemüht, die Verbindungen zu den neuen chinesischen Machthabern aufrechtzuerhalten und zu vertiefen, sondern auch die Militärs äußerten zunächst noch ihr Interesse an einer Weiterführung der militärpolitischen Kontakte. Der Absatz von veraltetem Kriegsgerät aus Depotbeständen, der nicht unerheblich zur Finanzierung der eigenen, ab 1912 forcierten Rüstung beitrug, stand dabei allerdings wie zu Beginn des Jahrhunderts wieder eindeutig im Vordergrund 16 . Gerade den Verkauf von Rüstungsmaterial wollte das Auswärtige Amt trotz dessen unbestrittener wirtschaftlicher Bedeutung aber vorerst einmal eingeschränkt wissen, um die anderen Großmächte bei der sich zuspitzenden Lage auf dem Balkan nicht mit undurchsichtigen Aktionen in Fernost zu verunsichern und womöglich eine Intervention in China zu provozieren. Diese hätte angesichts der militärischen Schwäche des Deutschen Reiches in Ostasien die Vorstellungen von einer wirtschaftlichen Hegemonie Deutschlands in China frühzeitig beenden müssen. Wegen der unübersichtlichen Entwicklung in Europa und im revolutionären China war die „Wilhelmstraße" daher zunächst durchaus zu einem moderaten Kurs gegenüber den anderen Mächten und insbesondere gegenüber Japan bereit. Die politische Führung Japans, in der sich seit der prononciert ablehnenden Haltung Deutschlands gegenüber einem Ausgleichsvertrag immer stärker antideutsche Kreise durchzusetzen begannen, hatte sich bereits Ende 1911 mit scharfen Stellungnahmen gegen die Weiterführung deutscher Kriegsmaterial-

15

Hansen, S. 25 ff.; Jindra, S. 133 ff.; Petzina, Zwischenkriegszeit, S. 9 ff.

16

Sächsisches Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten an AA, 6 . 1 . und 1 8 . 1 . 1912, PA, Abt. IA D / 1 2 1 Nr. 19 s e c r . / 7 . 237

lieferungen an die mandschurischen Truppen gewandt. Auf ihre Einwirkungen hin reagierte der von den projapanischen chinesischen Revolutionären kontrollierte Süden sogar mit Boykotten deutscher Waren und offenen Angriffen gegen deutsche Firmen. Die deutschen Waffengeschäfte waren aber auch darüber hinaus in die Schußlinie der Kritik geraten. Nicht nur die anderen Mächte, sondern auch die chinesische Zentralregierung beklagte sich über das skrupellose Geschäftsgebaren deutscher Handelsfirmen. Die Chinakaufleute hatten begonnen, neben den Nordtruppen zugleich die Revolutionäre zu beliefern, um im Süden einen Verlust der Geschäfte an die Japaner zu vermeiden 17 . Das Auswärtige Amt sprach sich daraufhin Ende 1911 sogar für einen vorübergehenden vollständigen Stopp der Rüstungslieferungen nach China aus 18 . Ein generelles Waffenausfuhrverbot kam jedoch auf Intervention des preußischen Kriegsministeriums nicht zustande. Über die Erklärung der strikten Neutralität hinaus sollte lediglich bis zur Beendigung der Unruhen bei Waffengeschäften mit China Zurückhaltung geübt und eine Einschränkung der Lieferungen angestrebt werden 1 9 . Sogar diese Selbstrestriktion blieb aber in Wirklichkeit wirkungslos. Das revolutionäre China, das vor allem an leicht zu bedienenden und billigen Handwaffen für die inneren Auseinandersetzungen interessiert war, bot sich den Militärs und den deutschen Handelsfirmen viel zu sehr als verläßlicher Kunde an, als daß diese sich die guten Absatzmöglichkeiten hätten entgehen lassen. Während der revolutionären Phase konnten die deutschen Streitkräfte — wenn auch teilweise auf Kosten der Verkäufe der privaten heimischen Rüstungsindustrie 20 — schließlich ca. 91 % aller nach China importierten Waffen liefern, allein Preußen aus seinen Depots von Mitte 1912 bis Mitte 1914 ca. 260 000 Mauser-Gewehre des veralteten Typs M 88 2 1 .

17

Generalkonsulat Shanghai an AA, 3 0 . 1 1 . 1911, ebd., Abt. IA Chi/China 24 Nr. 1 6 / 4 . Haxthausen an Bethmann Hollweg, 14. 12. 1911, GP, Bd 32, Nr. 11 811.

18

Notiz AA, 19. 1 1 . 1 9 1 1 , PA, Abt. IA Chi/China 7 / 5 ; „Berliner Zeitung", 9 . 1 2 . 1911, ebd.; AA an Gesandtschaft Peking, 3. 8. und 2 4 . 1 2 . 1911, ebd.

19

AA an Generalkonsulat Shanghai, 8. 2. 1912, ebd., China 5 / 2 9 ; AA an Sächsisches Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten, 8 . 1 . und 2 9 . 1 . 1912, ebd., Abt. IA D/121 Nr. 19 s e c r . / 7 .

20

Konsulat Hongkong an Bethmann Hollweg, 8 . 1 2 . 1913, ebd., 121 Nr. 19 s e c r . / 8 . Die Waffenfabrik Mauser vermochte 1913 nur noch 2 5 0 von 12 000 bestellten Gewehren ihres China Modells 07 zu liefern, dazu 1913 1 6 1 0 Pistolen und 1914 4847 Pistolen vom Modell 1910 6,3 mm. Register zum Conto Current, Bde 7 - 9 , MA.

21

Sächsisches Kriegsministerium an AA, 1 7 . 6 . 1912, PA, Abt. IA D / 1 2 1 Nr. 19 secr./8. Preußisches Kriegsministerium an Bayerisches Kriegsministerium, 7. 4. und 7 . 1 0 . 1913, KA, M K r / 4 4 4 3 ;

Bayerisches

Kriegsministerium an Preußisches

Kriegsministerium,

2 4 . 4 . 1913, ebd.; Preußisches Kriegsministerium an Bayerisches Kriegsministerium, 8. 4. 1914, ebd., M K r / 4 4 4 4 . Hamburgische Polizeibehörde an Senatskommission für Reichs- und auswärtige Angelegenheiten, 28. 5. 1912, StAHH, SK 1 5 8 - 9 .

238

Die nach Japan blickende Marine ließ sich dagegen von der politischen Führung weiterhin zu keinen Zugeständnissen bewegen. Sie lehnte es nicht nur ab, chinesische Offiziere in ihrem Befehlsbereich auszubilden 22 , sondern auch deutsche Rüstungslieferungen über Kiaochow zuzulassen, das während der Auseinandersetzungen in China streng neutral bleiben sollte 23 . Selbst eine finanzielle Unterstützung der zwei noch verbliebenen deutschen Militärinstrukteure, die von Yüan Shih-k'ai nun anstatt an der Mandschu-Militärakademie im chinesischen Kriegsministerium eingesetzt wurden 24 , fand anders als Ende des ersten Jahrzehnts kein Entgegenkommen mehr. Im Gegensatz zu dem auf Waffenabsatz bedachten preußischen Kriegsministerium vermochte die Marine auch die Argumente des Auswärtigen Amtes in bezug auf die Nützlichkeit von Beratern im Umkreis des chinesischen Präsidenten nicht zu akzeptieren 25 . Die „Wilhelmstraße" hatte sich zwar angesichts der zunehmend feindlicheren Haltung der Mächte gegenüber der deutschen Rüstungspolitik in China auch Anfang 1912 noch für eine Zurückhaltung des Reiches bei der Entsendung neuer Militärinstrukteure ausgesprochen. Nachdem aber allen Beobachtern der chinesischen Verhältnisse klar geworden war, daß auch in der neuen Republik mit den innenpolitischen Erfolgen der Peyang-Clique die militärische Rüstung an erster Stelle der Modernisierungsanstrengungen stehen würde, hatte das Auswärtige Amt schließlich sogar die Kommandierung eines höheren aktiven deutschen Offiziers als Chefberater des Präsidenten für erforderlich gehalten, um dem deutschen Einfluß in China noch mehr Geltung zu verschaffen. Die sich mit der Erneuerung des Dreibundes in Europa politisch und strategisch stabilisierende Situation ließ den Diplomaten einen erneuten offensiven Vorstoß in der Chinapolitik nicht länger als unzweckmäßig erscheinen, zumal sich die erste Unruhe unter den Großmächten in Ostasien nach dem Sturz der Dynastie gelegt zu haben schien 26 .

22

Militärattache, Peking, an Preußisches Kriegsministerium, 25. 6. 1913, PA, Abt. IA Chi/ China 5 / 3 0 ; Gesandtschaft Peking an Bethmann Hollweg, 25. 6. 1913, ebd. Mitte 1914 wurden 2 von 3 chinesischen Offizieren in Deutschland von der chinesischen Militärregierung abgelöst, die nur noch ausgesuchte Leute nach Deutschland schicken wollte. Der letzte Offizier, Oberleutnant Tsing Kuan-yao, der seit 1910 in Deutschland war, blieb auch während des Krieges da und bot sich an, Kontakte zum chinesischen Militär zu halten. Aufzeichnung AA, 7. 3. 1917, ebd., China 7 / 6 .

23

Verbalnote Chinesische Gesandtschaft, Berlin, an AA, 2 8 . 1 0 . 1913, ebd., China 5 / 3 1 ; Tirpitz an StS AA, 1 7 . 1 1 . 1913, ebd. Gouverneur Kiautschou an RMA, 2 4 . 1 0 . , 26. 10. und 13. 12. 1912, 15. 1. 1913, BA-MA, RM 3 / 6 8 3 1 ; AA an RMA, 26. 7. und 18. 8. 1913, ebd., RM 3 / 6 8 3 3 .

24

Hierbei handelte es sich um Major Dinkelmann und Hauptmann Bleyhoeffer. Militärbericht 31, Gesandtschaft Peking, 18. 8. 1912, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 2 9 .

25

Haxthausen an Bethmann Hollweg, 26. 7. 1912, ebd.; Preußisches Kriegsministerium an AA, 22. 9. 1912, ebd.; AA an Haxthausen, 28. 8. 1912, ebd. AA an Wilhelm II., 2. 8. 1912, ebd., China 2 7 a / 2 .

26

Generalkonsulat Shanghai an AA, 2 7 . 1 0 . 1912, ebd., China 5 / 3 0 .

239

Das Chefberaterprojekt scheiterte aber Ende 1912 an dem Einfluß der Japaner und der von ihnen immer noch unterstützten antideutschen revolutionären Fraktion der chinesischen Regierung unter Verkehrsminister Sun Yat-sen, der den Deutschen offen die Unterstützung des Mandschu-Regimes vorwarf. Den Japanern war es dank ihrer Beziehungen sogar gelungen, erstmalig das deutsche Monopol der Waffenlieferungen nach Shantung zu durchbrechen. Suns Vorbehalte gefährdeten darüber hinaus die Einstellung des Krupp-Direktors Baur als technischen Berater des Präsidenten, die dem Auswärtigen Amt wegen der geplanten verkehrstechnischen Erschließung des Landes weitaus wichtiger erschien als Militärinstrukteure, da diese nur formal gesehen in einflußreichen Positionen saßen, tatsächlich aber kaum Einfluß auf chinesische Rüstungsprojekte nehmen konnten 2 7 . Dennoch hielt das Auswärtige Amt aus politischen Gründen an ihnen fest und genehmigte noch Mitte 1914 die Anstellung eines dritten Instruktionsoffiziers zum Ende des Jahres28. Die Reichsregierung, welche die neuen chinesischen Militärmachthaber wie vormals die Mandschu-Regierung fest auf ihrer Seite wähnte, dachte mit zunehmender Festigung der Herrschaft Yüan Shih-k'ais nicht mehr daran, den Japanern und deren revolutionären chinesischen Verbündeten die Zukunft Chinas zu überlassen und damit ihre eigenen Wirtschaftsinteressen aufzugeben, obwohl sich die politischen Beziehungen zu Japan dadurch immer weiter verschlechterten. Während die Japaner die Kuomintang noch vor der „Zweiten Revolution" mit 200 000 Gewehren und 72 Geschützen aufrüsteten, setzte das Auswärtige Amt in deutschen Wirtschaftskreisen durch, daß Kriegsmateriallieferungen aus Deutschland nur über solche Konzessionshäuser gingen, die ausschließlich Verkäufe an die Zentralregierung in Peking tätigten. Mitte 1913 wurde den deutschen Firmen eindeutig zu verstehen gegeben, daß eine Unterstützung des Südens unerwünscht sei 29 . Die japanischen Beschuldigungen, Deutschland verletze wie 1911 die Neutralität, indem es

27

28

29

Militärbericht 18, Gesandtschaft Peking, 10. 4. 1912, ebd., China 5/29; Militärbericht 36, Gesandtschaft Peking, 29. 9. 1912, ebd., China 5/30; Gesandtschaft Peking an AA, 4.12. 1912, ebd., China 27a/2; Gesandtschaft Peking an AA, 10. 8. 1913, ebd., China 27a/3; Aufzeichnung AA, 25. 1. 1913, ebd.; Baur an AA, 30. 6. 1913, ebd. Ruland, S. 88. Major Dinkelmann, persönlicher Berater — neben anderen Ausländern — des Präsidenten Yüan Shih-k'ai, wurde der Übersetzungskommission zugeteilt. Hauptmann Bleyhoeffer war an der Offizierschule in Peking tätig, Hauptmann König als persönlicher Berater von Yüan Shih-k'ais Sohn Yüan Ko-ting. Alle Instrukteure gingen nach der Verschärfung der Spannungen um Kiaochow in das Schutzgebiet zurück. Sie sollten erst dann wieder auf ihre alten Positionen zurückkehren, wenn dies militärisch zu vertreten sei. AA an Gesandtschaft Württemberg, Berlin, 25.10. 1913, PA, Abt. IA Chi/ China 2 7 b / l ; RMA an AA, 27.10. 1913, ebd.; Militärbericht 12, Gesandtschaft Peking, 23.11. 1913, ebd., China 5/31. Konsulat Kanton an Bethmann Hollweg, 12. 6. und 13. 6. 1913, ebd., China 5/30; Militärbericht L'0, Botschaft Tokio, Hauptmann v. Falkenhausen, 17. 7. 1913 und 5.1. 1914, ebd., China 5/31; Militärbericht 30, Gesandtschaft Peking, 11.8. 1912, ebd., China 5/29; Aufzeichnung AA, 29. 6. 1912, ebd., Abt. IA D/121 Nr. 19 secr./8.

240

die Nordtruppen mit Waffen und Offizieren unterstütze, wies Berlin allerdings in „scharfer Gegenrede" zurück. Obwohl die Unterdrückung der revolutionären Bewegung durch Yüan Shih-k'ai nicht nur gewünscht, sondern auch gefördert wurde, wollte die Reichsregierung weiterhin jegliche Parteinahme in China nach außen vermeiden und damit verhindern, daß sich außer Japan auch noch andere Großmächte provoziert fühlten. Diese sahen durch die sich immer besser entwickelnden Beziehungen des Deutschen Reiches zu den chinesischen Militärmachthabern nur ihre Befürchtungen aus dem Ende der Kaiserzeit bestätigt, daß ihr eigener Einfluß in China zusehends gefährdet sei 30 . Den Vorwurf aus Wirtschaftskreisen an die „Wilhelmstraße", daß durch solche rein politisch motivierten Lieferschwerpunkte in China, verbunden mit einem gleichzeitigen äußeren Wohlverhalten gegenüber den anderen Mächten, die Rüstungsgeschäfte eher hinter den Erwartungen zurückbleiben mußten, wurde allerdings nicht akzeptiert. Nach Ansicht des Auswärtigen Amtes wurde eine noch umfangreichere rüstungsindustrielle Expansion auf dem chinesischen Markt weniger durch die japanische Chinapolitik, die nach der Niederlage der revolutionären Bewegung dem Beispiel Deutschlands folgend stärker auf Yüan Shih-k'ai einging, und durch das Mißtrauen der Mächte oder durch die selbst auferlegten Lieferrestriktionen eingeschränkt als vielmehr durch die Konkurrenz der deutschen Industriefirmen untereinander. Schon unmittelbar nach der Abdankung der Dynastie waren aus Deutschland neben Waffen aus Depots wieder neuwertige Rüstungsgüter — Gewehrfabriken, Arsenalmaschinen oder Geschütze — geliefert worden. Dabei hatten aber zunächst nur die Japaner und Österreicher, die als einzige neben den Deutschen nach dem Sturz der Mandschus noch stärker am chinesischen Rüstungsgeschäft beteiligt waren, die von der „Wilhelmstraße" nachhaltig unterstützten Monopolisierungsbestrebungen der Firma Krupp für schwerindustrielle Rüstungsgüter auf dem chinesischen Markt gefährdet. Nachdem die Rheinische Metallwarenfabrik Düsseldorf allerdings Anfang 1913 über die Handelsfirma Diederichs & Co. doch noch größer ins Chinageschäft einsteigen konnte, sahen die Diplomaten die Notwendigkeit der eigenen engen Verbindung mit dem Essener Konzern diskreditiert. Außerdem schienen wie am Ende des letzten Jahrzehnts wieder einmal das geschlossene Auftreten Deutschlands auf dem militärindustriellen Sektor in China und damit langfristig die deutschen Absatzchancen bedroht 31 . Die Konkurrenzsituation erschütterte das Vorhaben des Auswärtigen Amtes, Krupp als offiziellen Vertreter des Reiches quasi „Staatsgeschäfte" abschließen zu lassen und damit den Chinesen entgegenzukommen, die weiterhin 30

Rex, Tokio, an AA, 30. 7. 1913, GP, Bd 32, Nr. 11 854; StS AA v. Jagow an Rex, 30. 7. 1913, ebd., Nr. 11 855. Conty, Pékin, an Außenminister Pichon, 2 9 . 7 . 1913, DDF 1 8 7 1 - 1 9 1 4 , 3e Série, Bd 7, No. 493.

31

Gesandtschaft Peking an AA, 20. 8. 1913, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 3 1 ; AA an Krupp, 31. 8. und 6. 9. 1913, ebd.; Krupp an AA, 11. 2. 1914, ebd. 241

Geschäftsabschlüsse nur auf höchster Ebene wünschten. Auf Drängen der deutschen Gesandtschaft war es Anfang 1912 gelungen, die schriftliche Zusage der Mandschu-Regierung von 1910, bevorzugt deutsches Kriegsmaterial zu bestellen, von Yüan Shih-k'ai allein auf die Firma Krupp bezogen bestätigen zu lassen. Aber schon die gleichzeitigen Bemühungen der „Wilhelmstraße", die österreichischen Rüstungsfirmen zusätzlich von sich aus, wenn schon nicht zu einem Marktverzicht, so doch wenigstens zu einem Preiskartell mit Krupp zu bewegen, scheiterten. Auch die Angebote der Düsseldorfer Fabrik blieben Anfang 1914 trotz allen Drängens von Seiten der Diplomaten schließlich 1 5 % billiger als vergleichbare Offerten des Essener Konzerns 32 . Die Besorgnis des Auswärtigen Amtes stieg, als parallel zu dieser Entwicklung auch die finanzielle Zurückhaltung der deutschen Rüstungsfirmen in China zunahm. Die „Wilhelmstraße" sah durch die Abwendung der Schwerindustrie von China — wie auch in der mangelnden Unterstützung der Militärs — die Vorzugsstellung Deutschlands bei Yüan Shih-k'ai in Gefahr, der gerade beabsichtigte, sich politisch und wirtschaftlich durch ein Bündnis mit dem Deutschen Reich zu verbinden. Nicht umsonst wollten sich die Diplomaten gegen die Japaner und gegen Sun Yat-sen stark gemacht und die Militärmachthaber durch Informationen gegen die Revolutionäre unterstützt haben. Immerhin war es gelungen, für die von Yüan Shih-k'ai unter Druck und Aufsicht der Mächte wieder aufgenommenen umfangreichen Modernisierungsprojekte im Vergleich zum Ausland die meisten [zivilen) Berater — unter ihnen auch Baur — in einflußreiche Positionen zu vermitteln 33 . Die Rüstungsindustrie blieb aber trotz des Konjunktureinbruchs in Deutschland reserviert und war nicht mehr bereit, finanzielle Risiken oder Kompromisse auf dem chinesischen Markt einzugehen, da die steigenden Spannungen auf dem europäischen Kontinent bald höhere Gewinne im Inland und in Europa versprachen. Krupp wollte — zur großen Verärgerung des Auswärtigen Amtes — weder 1914 von einer erneuten Ausreise Baurs etwas wissen noch sich für 1915 auf eine Federführung bei dem wieder aufgegriffenen Projekt eines chinesischen Zentralarsenals einlassen 34 .

32

Haxthausen an Bethmann Hollweg, 1 4 . 4 . 1912, ebd., China 5 / 2 9 ; Militärbericht 18, Gesandtschaft Peking, 1 9 . 4 . 1912, ebd.; Militärbericht 7, Gesandtschaft Peking, 9 . 3 . 1913, ebd., China 5 / 3 0 ; AA an Gesandtschaft Peking, 13. 3. 1913, ebd.

33

Gesandtschaft Peking an AA, 27. 7. 1913, ebd., China 5 / 3 1 ; Gesandtschaft Peking an AA, 1 0 . 8 . 1913, ebd., China 2 7 a / 3 ; Haxthausen an Bethmann Hollweg, 1 6 . 1 1 . 1913, ebd., China 2 7 a / 4 ; Gesandtschaft Peking an Bethmann Hollweg, 16. 7. 1914, ebd.

34

Haxthausen an AA, 6. 5. 1914, PA, Abt. IA C h i / C h i n a 2 7 a / 4 ; Gesandtschaft Peking an AA, 27. 7. 1913, ebd., China 5 / 3 1 ; Rheinische Metallwaren- und Maschinenfabriken an AA, 16. 9. 1913, ebd.; Firma Diederichs an AA, 17. 9. und 1 4 . 1 0 . 1913, ebd.; Krupp an AA, 21. 9 . 1 9 1 3 , ebd.; AA an Krupp, 22. 10. 1913, ebd.; Carlowitz & Co. an AA, 22. 12. 1914, ebd., China 5 / 3 2 ; Hintze, Peking, an AA, 2 4 . 1 1 . 1 9 1 5 ; ebd.; Baur an AA, 28. 12. 1915, ebd.; Carlowitz & Co. an Krupp, 8. 2. 1916, ebd. Maltzan an Bethmann Hollweg, 31. 7. 1914, GP, Bd 32, Nr. 11 986.

242

Nachdem die vom Auswärtigen Amt und von der Diplomatie in China angebahnten und unterstützten privaten deutschen Rüstungsgeschäfte trotz des Sturzes der Dynastie erheblich gesteigert werden konnten und die Handelsund Industriefirmen zunächst selbst noch bereit gewesen waren, kleinere Anleihen für ihre Finanzierung zur Verfügung zu stellen 35 , hatte der Absatz von Rüstungsmaterial infolge des nachlassenden Interesses der Industrie für überseeische Geschäfte im Verlauf des Jahres 1913 erste Stockungen erfahren. Die Rüstungslieferungen fielen mit 6 % Anteilen an der statistisch erfaßten Ausfuhr nach China gegenüber 15 % weit geringer aus als 19 1 2 36 , zumal auch die chinesischen Militärmachthaber aufgrund ihrer expansiven Ausgabenpolitik über immer weniger Kapital verfügten, um Bestellungen bei den risikoscheuen deutschen Firmen tätigen zu können. Obwohl die diplomatische Unterstützung nicht nachließ, drohte die sich passiv verhaltende und zerstrittene deutsche Rüstungsindustrie in China schon am Vorabend des europäischen Krieges an ihren eigenen Vorbehalten zu scheitern. Den Japanern gelang es zudem erfolgreich, einen Großteil der bislang antijapanischen Militärmachthaber des Nordens durch Drohungen und Versprechungen auf ihre Seite zu ziehen und nach und nach Deutschland als Hauptrüstungslieferanten Chinas abzulösen 37 . Die Stornierung sämtlicher Rüstungslieferungen an das Ausland durch die Reichsregierung im August 1914 setzte dann nicht nur für einen längeren Zeitraum einen Schlußstrich unter die zusehends unerfreulichere rüstungswirtschaftliche Zusammenarbeit des Deutschen Reiches mit China am Vorabend des Ersten Weltkrieges, sondern leitete auch den kriegsbedingten Niedergang der gesamten deutschen Chinawirtschaft ein, die in den vorangegangenen Jahren, genau wie vor dem Zweiten Weltkrieg, einen starken Aufschwung genommen hatte 38 .

35

Z. B. Carlowitz & Co. ca. 8 Mill. Mark, Jebsen & Co. 227 2 5 0 Pfund. AA an Gesandtschaft Peking, 6. 3. 1912, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 2 9 ; Haxthausen an Bethmann Hollweg, 2. 7. und 24. 7. 1912, ebd.; Militärbericht 30, Gesandtschaft Peking, 11. 8. 1912, ebd.; Militärbericht 13, Gesandtschaft Peking, 18. 5. 1913, ebd., China 5 / 3 0 . Ch. Chen, S. 83.

36

Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, Bde 1905—1914. Aus der Firmenstatistik von Krupp (Verzeichnis . . ., HA Krupp, W A X a 200. Vgl. Anhang, Tabelle 6) ließen sich für den Essener Konzern keine genauen Angaben für das Jahr 1913 mehr ermitteln. Lieferungen im W e r t von 21 Mill. Mark, wie Kindzorra (S. 26 ff.) angibt, dürften kaum getätigt worden sein.

37

Krupp gelang es zwar noch einmal Anfang 1912, 12 Geschütze nach Shansi abzusetzen. Der Kommandeur der 27. chinesischen Division und Militärmachthaber der Mandschurei lehnte aber z. B. unter dem Druck der Japaner technische Instrukteure und W a f f e n der Essener Firma Mitte 1914 ab. Carlowitz & Co. an AA, 7 . 1 1 . 1913, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 3 1 ; Firma Diederichs an Krupp, 1 1 . 1 . 1914, ebd., Konsulat Mukden an Bethmann Hollweg, 24. 5. und 31. 5. 1914, ebd., China 5 / 3 2 . Stingl, S. 707 ff.

38

Von dem Waffenausfuhrverbot waren 18 Geschütze der Firma Krupp für China betroffen. Krupp an AA 19. 8. 1914, PA, Abt. IA D / 1 2 1 Nr. 19 s e c r . / 9 . Jindra, S. 154 ff. 243

Neben dem Rüstungsmaterial, das in der revolutionären Ubergangsphase mit an vorderster Stelle der Lieferungen aus Deutschland nach China gestanden hatte 39 , war es der deutschen Wirtschaft schon nach 1910 gelungen, dank der sich verbessernden Beziehungen ins Reich der Mitte auch andere Industriewaren nach China abzusetzen. Die relativ rasche Beruhigung der Situation im Innern des Landes nach den beiden Revolutionen von 1911/12 und 1913, die sich nur partiell auf die Geschäfte auswirkten und den Handel lediglich für kurze Zeit lähmten 40 , ließ die deutsche Chinawirtschaft 1913 schließlich mit ca. 10 % des Gesamtanteils am chinesischen Außenhandel hinter Japan und Großbritannien auf Platz drei der ausländischen Handelsländer gelangen 41 . Im Gegensatz zum 19. Jahrhundert und zum ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts vermochte die Produktionsgüterindustrie nun die Konsum- und Fertigwarenlieferungen aus Deutschland nach China zu übertreffen. Im gegenseitigen Handel beider Länder setzte sich der Trend (landwirtschaftliche) „Rohstoffe gegen Industrielieferungen" immer stärker durch. Das Deutsche Reich kam 1913 immerhin schon als Lieferland für 6 0 % aller von China im Ausland gekauften Waren potentiell in Frage. Davon konnten die in China ansässigen 296 deutschen Handelsfirmen, deren Zahl sich seit der Jahrhundertwende weit mehr als verdoppelt hatte, ein Fünftel tatsächlich liefern 42 . Insbesondere das Vordringen der deutschen Elektro-, Maschinen- und Chemieindustrie nahm explosionsartige Formen an. Gerade diese Industriezweige nutzten die guten Geschäfte und verwirklichten den langgehegten Wunsch, in China ausschließlich durch eigene Büros oder Vertreterfirmen tätig zu werden 4 3 . Sie nahmen damit zwar dem deutschen Chinahandel beträchtliche Teile seiner Geschäftsmöglichkeiten weg 44 , dafür gelang es ihnen aber, das Farbengeschäft mit Anilin und Indigo praktisch zu monopolisieren. Etwa 50 % der Maschineneinfuhr Chinas — vor allem zur Papierherstellung — kamen schließlich aus Deutschland; hochwertige Stahle, welche die Chinesen nicht selbst herzustellen vermochten, Straßenbahnen, Kraftwerke und Kon-

39 40

Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, Bde 1 9 0 5 - 1 9 1 4 . Kahler, S. 79 f. Kommandant „Nürnberg" an RMA, 21. 8. 1913, BA-MA, RM 3 / 6 0 0 2 . Siemens Electrical Engineering Co. an Stammhaus, Berlin, 1 5 . 1 1 . 1911, SAA, 1 5 / L p 194. Geschäftsberichte 1 9 1 0 - 1 9 1 2 der DAB, ADB. Jahresbericht 1913, NdLl.

41

An der Spitze stand Großbritannien (einschließlich seiner Dominions) mit ca. 19 %, gefolgt von Japan mit 18,7 % und den USA mit 7,4 %. Die deutschen Warenlieferungen über Hongkong nach China wurden in den chinesischen Statistiken nicht erfaßt. Durch Umrechnungen aus der deutschen Statistik versuchte der Verfasser, einen Gesamtindex zu errechnen. Umrechnung nach Hou, S. 20 f.; Mohr,

Wirtschaftsbeteiligung,

S. 224 ff.; Wu, S. 4 9 f. 42

1870 waren es noch 7 % g e w e s e n . Ch. Chen, S. 324 f.; Röser, S. 58 ff.

43

Die Siemens Electrical Engineering Co. GmbH, gegründet am 30. 6. 1910 und am 7. 5. 1914 umbenannt in Siemens China Co., war Vertreter für Siemens & Halske, SiemensSchuckertwerke, Gebr. Siemens, Siemens Bros. Dynamo W o r k s Ltd. und Siemens Bros. & Co. Ltd. Dazu ausführlich Wettlauffer, S. 23 ff.

44

Hänisch, S. 105 ff.

244

densatoren standen weit oben auf der Lieferskala deutscher Waren 4 5 . Dabei blieb die Handelsbilanz jedoch für das Deutsche Reich mit einer Einfuhr von 130,5 Millionen Mark und einer Ausfuhr von 122,8 Millionen Mark weiterhin negativ, da die Chinesen ebenfalls ihre Exporte nach Deutschland — hauptsächlich Baumwolle, Eigelb, Rindshäute, Seide und Tee sowie vor allem Sesam und Sojabohnen — steigern konnten 46 . Die industriellen Rohstofflieferungen aus China waren allerdings, ganz anders als Mitte der 1930er Jahre, völlig unbedeutend. Hochwertige Erze wie Arsen, Blei, Wolfram, Zink und Zinn, die ohnehin nur in geringen Mengen gefördert wurden, gingen fast ausschließlich an Japan und die Vereinigten Staaten 47 . Das Kiaochow-Projekt konnte trotz der guten Einfuhrgeschäfte und der neutralen Haltung während der chinesischen Revolution die großen Hoffnungen des Chinahandels nicht erfüllen. Das Vordringen der Japaner, die auf lange Sicht mit ihren Plänen, Europa mit billigen japanischen und chinesischen Waren über die Transsibirische Eisenbahn zu überschwemmen, als große Gefahr für die deutsche Wirtschaft angesehen wurden, bedrohte nach der Revolution unmittelbar die Geschäftsmöglichkeiten in Shantung 48 . Ihre Versuche, insbesondere Bergwerke und Gruben aufzukaufen, nahmen ständig zu; ihre Geschäftsverbindungen mit den Chinesen gestalteten sich immer intensiver 49 . Die Auflösung der deutschen Gesellschaften zur wirtschaftlichen Erschließung der Provinz setzte sich dagegen auch im zweiten Jahrzehnt weiter fort. 1913 übernahm die Shantung-Eisenbahn- die Shantung-Bergbau-Gesellschaft, deren Bergbaukonzessionen bei weitem nicht das erbrachten, was zunächst erwartet worden war 50 . Selbst die Shantung-Eisenbahn-Gesellschaft mußte nach Beendigung der Materiallieferungen für die Tientsin-P'ukow-Bahn einen Rückgang ihrer Frachtraten in Kauf nehmen. Sie schien in Zukunft in noch viel stärkerem Maße, als zunächst angenommen, durch diese mit deutschen Geldern erbaute Konkurrenzlinie gefährdet zu sein. Die Baumwollausfuhr aus Südshantung orientierte sich bereits mehr nach Tientsin als nach Tsingtao 51 .

45

46 47 48 49

50

51

Hamburgisches Kolonialinstitut an Senatskommission für Reichs- und auswärtige Angelegenheiten, 14.3. 1914, StAHH, C I / d l l 9 . Alexander/Durand, S. 823 ff.; Preyer, S. 92 f. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, Bde 1 9 0 5 - 1 9 1 4 ; Wu, S. 59 f. Kahler, S. 74 ff.; Preyer, S. 92 f. Sartorius Frhr. v. Waltershausen, S. 46 ff. Geschäftsberichte 1 9 1 3 - 1 9 1 4 der DAB, ADB. Generalkonsulat Yokohama an Vorstand für auswärtige Angelegenheiten, Hamburg, 6. 5. 1914, StAHH, C I / d l l 7 . Von den ca. 150 Mill, t Kohle, die jährlich in China gefördert wurden, kamen nur 800 000 t aus Shantung. Gouverneur Kiautschou an RMA, 1 6 . 1 . 1912, BA-MA, RM 3/7025. AA an RMA, 16. 6.1912, ebd., RM 3/6732; Denkschrift des RMA über die Entwicklung Kiautschous 1912, ebd., RM 3/7132; Denkschrift des RMA über die Entwicklung Kiautschous 1913, ebd., RM 3/7133; Konsulat Tsinanfu an Gouverneur Kiautschou, 18. 11. 1913, ebd., RM 3/6833. Bericht Handelskammer Tsingtau, 1 9 1 1 - 1 9 1 3 , . W W A , S 6/Nr. 1018. Müller-Jabusch, S. 149 ff. 245

Insbesondere bedrohte jedoch nach Ansicht der deutschen Kaufleute in unmittelbarer Zukunft das restriktive Verhalten der deutschen Finanzwirtschaft die Chinageschäfte. Die Deutsch-Asiatische Bank hatte infolge der Kooperation des Deutschen Reiches mit der Mandschu-Zentralregierung ihre zurückhaltende Position gegenüber Geschäftsanleihen in China zunächst gelockert; während der anhaltenden revolutionären Unruhen war sie jedoch zu ihrer starren Haltung zurückgekehrt 52 . Der Vorwurf der Bank, die großen deutschen Chinahäuser wickelten ihre Geschäfte nach wie vor lieber mit der Hongkong and Shanghai Bank ab, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß nach der Auszahlung des deutschen Anteils an der Reorganisationsanleihe für Yüan Shih-k'ai, die zudem vom Deutschen Reich innerhalb des erweiterten „Viermächtekonsortiums" abgesichert war, weder den Chinesen noch der deutschen Wirtschaft weitere private Gelder von der Deutsch-Asiatischen Bank zur Verfügung gestellt wurden. Zwar war es seit dem weltweiten Wirtschaftseinbruch von 1907 das Bestreben der deutschen Chinakaufleute gewesen, in verstärktem Maße eine engere Zusammenarbeit mit einem deutschen Geldinstitut zu suchen. Unter diesen Umständen liefen aber auch weiterhin nur ca. 50 % der Geschäfte des deutschen Chinahandels bis zum Ersten Weltkrieg über die Deutsch-Asiatische Bank, die als reine Industriebank im Hinblick auf bessere Kriegsprofite in Europa durch ihren Kapitalabzug seit 1913 sogar die Geschäftsgrundlagen der gesamten deutschen Chinawirtschaft gefährdete 5 3 . Neben der Finanz hielten die Chinakaufleute, die sich angesichts der steigenden Anzahl von Geschäften unter Ausschluß des Handels immer weiter übergangen fühlten, aber auch die deutsche Industrie „bei aller Anerkennung ihrer sonstigen Rührigkeit" für unfähig, den weiteren Anforderungen des chinesischen Marktes gewachsen zu sein. Zum einen bedrohten die Industriellen mit ihrer wachsenden Konkurrenz untereinander eine stabile Entwicklung auf dem chinesischen Absatzmarkt. Zum anderen seien sie nicht in der Lage, den japanischen Billigprodukten oder der amerikanischen Verkaufsstrategie geeignete Mittel entgegenzusetzen. Außerdem fehle ihnen bei ihrer primär rüstungswirtschaftlichen Ausrichtung der Geschäfte der Blick für den chinesischen Markt der Zukunft: die landwirtschaftliche Erschließung des Landes. Mit ihrer Abwendung vom chinesischen Markt zugunsten europäischer Pläne — 1938/39 wiederholte sich eine ähnliche Verlagerung zugunsten des vom nationalsozialistischen Deutschland favorisierten japanischen Kaiserreiches — unterstreiche nach Ansicht der Chinahandelskreise die Industrie nur ihre Perspektivelosigkeit in Ostasien. Obwohl trotz der sich verschärfenden internationalen politischen Situation immer noch mehr als die Hälfte der Handelsgeschäfte mit dem Ausland abgewickelt werden konn52 53

Kdo. K r e u z e r g e s c h w a d e r a n RMA, 14. 5. u. 26. 8. 1912, BA-MA, R M 5 / 6 0 0 1 . W u , S. 49. K o n s u l a t T s i n a n f u an RMA, 10. 3. 1913, BA-MA, RM 3 / 6 7 3 3 . P r e u ß i s c h e G e s a n d t s c h a f t H a m b u r g , a n V o r s t a n d f ü r a u s w ä r t i g e A n g e l e g e n h e i t e n , H a m b u r g , 28. 4. 1914, S t A H H , C I / d l 2 2 . M o h r , G e d a n k e n , S. 102 ff.; Strasser, S. 115 ff.

246

te, forderten die deutschen Chinakaufleute daher Ende 1913/Anfang 1914 von der Reichsregierung angesichts der nicht gerade günstigen Zukunftsaussichten der deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen ein noch größeres staatliches Engagement im Chinahandel. Insbesondere sollte der konsularische Dienst verstärkt, die Presse- und Kulturarbeit erweitert und mit staatlicher Hilfe eine Organisation aufgebaut werden, welche die Chinageschäfte von Handel, Industrie und Finanz koordinieren müsse 54 . Die Reichsregierung hatte schon aus eigener Initiative seit dem Konjunktureinbruch von 1907 in Deutschland und der zunehmenden Militarisierung des Mandschu-Regimes nicht nur ihre Bemühungen auf militärischem und rüstungswirtschaftlichem Gebiet verstärkt, sondern wie in den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts auch ihre finanziellen Anstrengungen erhöht. Vor allem private Kapitalanleger sollten so zu weiteren Finanzgeschäften im Reich der Mitte animiert werden, um den Aufschwung des Chinahandels zu ermöglichen. Dieses Vorhaben gelang jedoch nur in bescheidenem Umfang. Bis 1914 konnte Deutschland zwar seine dritte Stelle hinter Großbritannien und Japan bei den Gesamtinvestitionen des Auslandes in China halten, ebenso — infolge des 24 %igen Anteils (ca. 123 Millionen Mark) an der „Fünfmächte-Anleihe" von 1913 — wie seinen zweiten Rang hinter Großbritannien bei den öffentlichen Anleihen. Dagegen kam Deutschland aber bei den privaten Anleihen, die wie alle Kapitalgeschäfte federführend von der Deutsch-Asiatischen Bank abgewickelt wurden, nicht über den sechsten Platz hinaus 55 . Auch die massiven Drohungen der „Wilhelmstraße" nach der „Zweiten Revolution", eine neue deutsche Bank für China zu gründen, welche die mit den Militärmachthabern geplanten deutsch-chinesischen Gemeinschaftsprojekte finanzieren sollte, bewogen die Deutsch-Asiatische Bank lediglich dazu, für kleinere industrielle Anleihen sowie für den von China nun selbst ins Auge gefaßten Bau der Eisenbahn-Südtrasse in Shantung Gelder bereitzuhalten. Keines der zunächst so aussichtsreich erscheinenden Kooperationsprojekte konnte jedoch wegen der ständigen Vorbehalte der Industrie- und Finanzkreise bis zum Ersten Weltkrieg tatsächlich in Angriff genommen werden 56 . Das starke finanzielle Engagement des Deutschen Reiches in China seit 1910 basierte wie das militärische und rüstungswirtschaftliche allerdings nicht primär auf wirtschaftlichen, sondern vor allem auf politischen Überlegungen. Anders als noch zur Zeit von Bülows Kurs der „freien Hand" und der damit verbundenen restriktiven Kapitalexportpolitik war die politische Führung infolge der außenpolitischen Konzeption des „Dritten Weges" zu stärkeren finanziellen Aktivitäten in „Schwellenländern" bereit, ohne daß die Banken

54 55 56

Alexander/Durand, S. 826 ff.; J. Bohm, S. 530 ff.; Vollerthun, S. 615 ff. Vgl. die Tabellen bei Remer, Investments, S. 76 f., 98 f., 138. Strasser, S. 123 ff.; Suhl, S. 98 ff.; Vollerthun, S. 620.

247

diese Vorstellungen wegen des wirtschaftlichen Risikos jedoch vorbehaltlos nachvollzogen hätten. Nach der zweiten Anleihe des Reiches für die Tientsin-P'ukow-Bahn von 191 0 5 7 gelang es mit der Beteiligung an der von den Amerikanern initiierten „Hukwang" (Canton-Hankow)-Eisenbahnanleihe für die Mandschus vom 20. Mai 1911 58 , nicht nur eine weitere wirtschaftliche Erschließung des Yangtze-Gebietes vorzubereiten, sondern auch mit den anderen Mächten in China über die finanziellen Fragen in politischem Kontakt zu bleiben. Ein Festhalten am „Viermächtekonsortium", dem Japan und Rußland nicht angehörten, versprach immerhin die Möglichkeit, das „Viererkartell" doch noch zu sprengen und England von Japan und Frankreich vom Zarenreich zu trennen. Darüber hinaus schienen aber angesichts der sich zuspitzenden Situation in Europa insbesondere Gesprächskontakte mit den USA von Vorteil zu sein 59 . Bereits die endgültig gescheiterten Verständigungsbemühungen über einen Flottenausgleich mit den Engländern, der Sturz der Mandschus und die sich verschlechternden Beziehungen zu den Japanern hatten die Vereinigten Staaten noch einmal in den Mittelpunkt der deutschen Ostasienpolitik gerückt, obwohl Berlin zwei Jahre zuvor noch der Ansicht gewesen war, auf eine Zusammenarbeit mit den Amerikanern in China verzichten zu können. Die USA boten sich angesichts der konjunkturellen Talfahrt seit 1913 und der verschärften internationalen Lage stärker als zuvor als potentieller Partner des Deutschen Reiches an. Gerade die deutschen Finanzkreise, die das Auswärtige Amt für seine Überseepolitik gewinnen wollte, hatten schon seit längerer Zeit auf ein engeres Zusammengehen mit den Amerikanern gehofft, um die politisch bedingten Vorbehalte gegenüber Geschäftsverbindungen mit England und Rußland auszugleichen. China schien sich zudem trotz der geänderten militärpolitischen Situation immer noch als Bindeglied eines deutsch-amerikanischen Ausgleichs anzubieten, zumal auch Yüan Shih-k'ai angesichts der innen- und außenpolitischen Bedrohung seiner Militärherrschaft und der Gefahr, die der Integrität Chinas drohte, diese Dreierverbindung weiter favorisierte. Obwohl zunächst der gut entwickelte Handel Tsingtaos mit den USA und insbesondere das gemeinsame Drängen des Auswärtigen Amtes und des State Departments auf eine Nichtintervention der Großmächte im revolutionären China weiteren Anlaß zu Hoffnungen gegeben hatten, wurde dann mit dem Rückzug der Vereinigten Staaten aus dem Anleihekonsortium augenfällig, daß die Amerikaner an einer politischen Bindung in Ostasien, gleich welcher Art, nicht länger interessiert waren und sich ganz auf ihre eigene Kraft verließen 60 .

57

Der deutsche Anteil betrug 63 %, d. h. ca. 38,6 Mill. Mark. W u , S. 42 f.

56

Der deutsche Anteil betrug 25 %, d. h. ca. 30,6 Mill. Mark. Ebd.

59

Müller-Jabusch, S. 181 ff.; Treue, Rußland, S. 523 ff.

60

Denkschrift des RMA über die Entwicklung Kiautschous, Oktober 1901, BA-MA, RM 3 / 7 1 2 0 . Geschäftsbericht 1909 der DAB, ADB. M a x Warburg, Bankier, an Zimmermann, AA, 20. 3. 1913, GP, Bd 32, Nr. 11 956. Peter, S. 36 ff.

248

Außer der gescheiterten Verständigung mit den USA verschlechterte sich das Verhältnis des Deutschen Reiches im Verlauf des Jahres 1913 nicht nur zu Japan, sondern auch zu den anderen Mächten in Ostasien zusehends. Die rüstungswirtschaftliche Zusammenarbeit mit den chinesischen Militärmachthabern und auch der infolge der Wirtschaftskrise wachsende Konkurrenzkampf um den Absatz- und Rohstoffmarkt China belasteten die internationalen Beziehungen. Sowohl die Japaner, die sich durch die militärische Aufrüstung Chinas direkt betroffen sahen, als auch Engländer, Russen und Amerikaner fühlten sich durch die industriellen Erfolge der Deutschen insbesondere in der Mandschurei und am Yangtze brüskiert. Den inneren Problemen und Sorgen der deutschen Chinawirtschaft wurde dabei naturgemäß keine Beachtung geschenkt. Die umfassende Modernisierung, die China nach Beendigung der „Zweiten Revolution" wieder aufnahm und verstärkt voranzutreiben begann, schien vielmehr den Deutschen die meisten, geradezu monopolartigen Vorteile zu verschaffen. Eine offene Konfrontation der anderen Mächte mit Deutschland war daher auch in China nicht mehr auszuschließen 6 1 . Diplomatische Annäherungsbemühungen an England, mit denen das Auswärtige Amt im Hinblick auf die drohende Kriegsgefahr in Europa versuchte, die Situation in Ostasien zu entschärfen, kamen über ein Versuchsstadium nicht mehr hinaus, obwohl die Reichsregierung mit Rücksicht auf eine Verständigung mit den Briten einen Austritt aus dem Anleihekonsortium nach amerikanischem Vorbild nicht vollzogen hatte. Auch Gespräche mit dem Zarenreich über eine Verwirklichung der seit mehreren Jahren geplanten transkontinentalen (Eisenbahn-)Südverbindung von Berlin über Moskau nach Tsingtao durch die von Rußland beanspruchte Mongolei, welche die Reichsregierung daraufhin Anfang 1914 aufnahm, blieben ohne Ergebnis. Die politische Führung in Berlin hatte es 1913 zwar abgelehnt, ein formelles Bündnis mit China gegen das russische Vorgehen in der Mongolei zu schließen, da der strategische und politische Nutzen für das Deutsche Reich bei der militärischen und außenpolitischen Schwäche der Chinesen gleich Null gewesen wäre und die Russen sich nur unnötig provoziert gefühlt hätten. Auf keinen Fall wollte Berlin bei allen Ausgleichsbemühungen in Fernost aber die günstige Situation für das Deutsche Reich in China ungenutzt und sich von den anderen Mächten auf wirtschaftliche oder politische Zugeständnisse verpflichten lassen 62 . Die alten wirtschaftlichen Hegemoniepläne auf dem chinesischen Markt mußten nicht — wie zunächst befürchtet — aufgegeben werden. Der politische Rückzug der USA sowie die territorialen Ansprüche und die Uneinigkeit der anderen Großmächte in China ließen eine Fortführung nicht nur der

61 62

Peter, S. 56 ff., 78 ff.; Morozov, S. 148 ff., 160 ff. Gouverneur Kiautschou an RMA, 15. 4. 1914, BA-MA, RM 3/7032. Alexander/Durand, S. 825 ff.

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Rüstungspolitik, sondern der gesamten Chinakonzeption wie zur Zeit der Mandschus möglich erscheinen. Dennoch war sich Berlin darüber im klaren, den günstigen innerchinesischen Gegebenheiten durch größere Rücksichtnahme entgegenkommen zu müssen, um die herrschenden chinesischen Militärs nicht in die Arme der Japaner zu treiben. Das Auswärtige Amt plante, China über eine weitreichende partnerschaftliche Zusammenarbeit, die primär an die engen rüstungswirtschaftlichen Beziehungen anknüpfen sollte, fest an Deutschland zu binden und weiter zu industrialisieren. Um so mehr mußte daher in Diplomatenkreisen die beginnende Absetzbewegung der deutschen Finanz und Industrie auf erbitterten Widerstand stoßen — anders als vor dem Zweiten Weltkrieg, als der japangläubige Ribbentrop die „Wilhelmstraße" führte. Das Deutsche Reich erkannte schließlich die Militärregierung Yüan Shih-k'ais am 8. Oktober 1913 in einer Verbalnote ohne Vorbedingungen und Gegenleistungen an, um den Chinesen wenigstens auf politischer Ebene Entgegenkommen zu signalisieren 63 . Nach der Revolution von 1911 hatte das Auswärtige Amt vor der Anerkennung der neuen Republik noch Forderungen erhoben. Neben einem „Kulivertrag", der vor allem der Sicherstellung der landwirtschaftlichen und industriellen Erwerbstätigkeit in Deutschland im Falle eines europäischen Krieges gedient haben dürfte, und der Gleichstellung der deutschen mit der englischen Sprache stand die Anerkennung von deutschen Schulabschlüssen zunächst im Mittelpunkt der Überlegungen 64 . Angesichts der günstigen politischen Entwicklung in China strebten Diplomatenkreise jedoch immer stärker ein umfassendes Wirtschafts- und Verkehrsabkommen zwischen dem Deutschen Reich und China auf gleichberechtigter Basis an, das den nationalen und wirtschaftlichen Interessen Pekings besonders entsprechen mußte. Die „Wilhelmstraße" dachte dabei an eine Rückgabe aller Konzessionen in Shantung und erwartete dafür als Gegenleistung eine intensive deutsch-chinesische Zusammenarbeit bei großangelegten Industrie-, Rohstoff- und Investitionsgeschäften. Angestrebt wurde die vollständige Industrialisierung Shantungs sowie der Aufbau einer Eisen- und Hüttenindustrie und die Erschließung der umfangreichen chinesischen Erzvorkommen in den Nachbarprovinzen. Diese konnten in den Augen der Diplomaten zunächst einmal als ein in absehbarer Zeit verfügbarer Gegenwert für deutsche Industrielieferungen und modernste Technologie angesehen werden, die durch einen großen Beraterstab vermittelt werden sollte. Als erstes Projekt sollten die alten Eisenbahnpläne für Shantung verwirklicht werden, um für die weiteren Vorhaben die infrastrukturellen Voraussetzungen zu schaffen 6 5 .

63 64

65

Briessen, S. 72 ff.; Stingl, S. 427 ff. AA an Gesandtschaft Peking, 19. 3. 1912, PA, Abt. IA Chi/China 7/5. DAB an RMA, 6 . 1 1 . 1912, BA-MA, RM 3/7032; Gouverneur Kiautschou an RMA, 10. 5. 1912, ebd., RM 3/6732. Konsulat Tsinanfu an RMA, 25. 7. 1913, BA-MA, RM 3/7032; Konsulat Tsinanfu an Gouverneur Kiautschou, 1 8 . 1 1 . 1913, ebd., RM 3/6833. Peter, S. 13 f.

250

Gerade auf dem Verkehrssektor bedurfte es nach Ansicht des Auswärtigen Amtes neuer Initiativen, nicht nur um Tsingtao weiterhin konkurrenzfähig zu halten, sondern auch um überhaupt den Anschluß an den ausländischen Eisenbahnbau in China nicht zu verlieren 66 . Das Angebot der Chinesen, die geplanten Strecken in eigener Regie und nur mit deutscher Unterstützung zu bauen, kam den Diplomaten daher sehr entgegen. Obwohl belgische und französische Syndikate u. a. eine direkte Konkurrenzlinie zur Shantung-Bahn von der Küste Kiangsus ins Landesinnere planten, war das Desinteresse der Shantung-Eisenbahn-Gesellschaft und des deutschen Kapitals sowohl an der Südlinie von der Shantung-Bahn zur Tientsin-P'ukow-Bahn (Kaomi-Ichoufo) als auch an einer Verbindung mit der alten Provinzhauptstadt Chefoo (Chefoo-Weihsin) nicht zu beheben gewesen. Auch einer unbedingt notwendigen Erneuerung der Hauptlinie, die allein etwa 160 Millionen Mark kosten sollte, und einer Weiterführung der Hauptstrecke nach Westen (Tsinanfu-Shuntefu) als Verbindung zur geplanten transkontinentalen Südtrasse hatten Industrieund Finanzkreise skeptisch gegenübergestanden. Mit dem Eisenbahnvertrag zwischen dem Deutschen Reich und der Militärregierung Yüan Shih-k'ais vom 31. Dezember 1913 gelang dem Auswärtigen Amt jedoch allen Widerständen zum Trotz noch einmal ein Erfolg bei seinen Bemühungen zur Erschließung des chinesischen Marktes. China verpflichtete sich, den Bau der Bahnen zu übernehmen. Die deutschen Industrie- und Finanzkreise wollten dazu Berater, die Anleihen und das Material zu angemessenen Konditionen zur Verfügung stellen, obwohl sie den Plänen der „Wilhelmstraße", sich in absehbarer Zukunft stärker auf Shantung und vor allem Kiaochow zu konzentrieren, nicht weniger skeptisch gegenüberstanden als dem Chinageschäft im allgemeinen 67 . In der Konzeption der deutschen Chinapolitik am Vorabend des Ersten Weltkrieges kam nach Ansicht der Diplomaten dem Schutzgebiet angesichts der wachsenden Konfrontation mit den anderen Großmächten und der Vorzugsstellung des Deutschen Reiches bei der Militärregierung eine herausragende Bedeutung zu. Trotz bislang enttäuschter Hoffnungen und permanenter Schwierigkeiten wollte das Auswärtige Amt Tsingtao als Symbol deutsch-chinesischer wirtschaftlicher und politischer Kooperation und deutscher Präsenz in Ostasien weiter fördern. In Anbetracht der sich verschärfenden internationalen Spannungen und des politischen Drucks von Japan, Rußland und England auf China erschien Berlin eine Weiterentwicklung Kiaochows als wirtschaftliche Operationsbasis für den chinesischen Markt weiterhin vorteilhaft zu sein, um einer möglichen Verdrängung aus fremden Interessengebieten entgegenzuwirken. Selbst der Reichstag, der Kiaochow bislang eher skep66

67

Von den 12 000 km Eisenbahnstrecke in China bauten die Deutschen nur ca. 10 %. Linde, Deutschland, S. 224; Stingl, S. 713 f. DAB an RMA, 29. 4.1913, BA-MA, RM 3/7032; Gouverneur Kiautschou an RMA, 26. 3. 1913, ebd. Bericht Handelskammer Tsingtau, 1 . 9 . 1913, WWA, S 6/Nr. 1018. Linde, Deutschland, S. 219 ff.; Müller-Jabusch, S. 234 ff.

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tisch gegenübergestanden hatte, stimmte 1914 diesen Vorstellungen der Reichsregierung zu, Nzumal sich das Schutzgebiet seit 1912 erstmals seit seinem Bestehen allein finanzierte 68 . Von der Flucht vieler kapitalkräftiger und einflußreicher Chinesen vor den revolutionären Unruhen in das sichere Tsingtao hatte das deutsche Pachtgebiet nicht nur wirtschaftlich profitiert, sondern die Vertreter der alten Literatenelite wie die reichen chinesischen Kaufleute zeigten sich von dem gut funktionierenden staatlich kontrollierten Gemeinwesen Kaiochow, das offensichtlich als Beispiel für eine gesellschaftliche Weiterentwicklung Chinas nach autoritär-obrigkeitsstaatlichem Muster angesehen wurde, mehr als angetan. Mit dem Sieg der chinesischen Militärmachthaber und der Restauration der alten Machtstrukturen bahnte sich — ganz im Sinne des Auswärtigen Amtes — neben den militärischen und (rüstungs-)wirtschaftlichen Beziehungen eine weitere zukunftsträchtige Verbindung zwischen Deutschen und Chinesen an. Die Gelegenheit, das Deutsche Reich als gesellschaftliches Modernisierungsvorbild für China aufzubauen, gedachte die „Wilhelmstraße" deshalb durch eine Intensivierung der kulturellen Kontakte gerade in Tsingtao zu nutzen. Die alten Pläne der Reichsmarine aus den 1890er Jahren, in China ein „deutsches Hongkong" zu errichten, schienen mit dem neuen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Engagement des Deutschen Reiches in Kiaochow in greifbare Nähe gerückt zu sein. Daß damit insbesondere den japanischen Expansionsbestrebungen und auch den überspitzten Sicherheitsinteressen des ostasiatischen Kaiserreiches diametral entgegengewirkt wurde, war sich die politische Führung in Berlin durchaus bewußt, ohne jedoch eine Kurskorrektur an ihrem Konfrontationskurs in China vorzunehmen 69 . Die japanische Regierung war schon mit dem Ausgang der chinesischen Revolution äußerst unzufrieden gewesen, da unter Yüan Shih-k'ai die innerchinesischen Gegensätze, die der Verwirklichung der eigenen kontinentalen Pläne nur dienlich sein konnten, unterdrückt worden waren und China sich wieder zu stabilisieren begann. Mit Ausbruch des europäischen Krieges und dem Rückzug der Europäer aus Fernost meinte Japan, wie zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, jedoch auf dem Weg zur Vorherrschaft in Ostasien endlich einen Schritt weiterkommen zu können. Mit der „Befreiung" Kiaochows von den Deutschen (7. November 1914) wurde nicht nur ein Widersacher der eigenen Pläne ausgeschaltet, China zu einem Satellitenstaat zu machen, sondern auch ein Anlaß gegeben, in Zentralchina militärisch Fuß zu fassen, ohne Gegenmaßnahmen der anderen Mächte fürchten zu müssen. Yüan Shih-k'ai sah sich schließlich genötigt, den 21 ultimativ gestellten japanischen Forderungen nachzugeben, die hauptsächlich umfassende Rechte für Japan in Shantung, der Mongolei und der Mandschurei und eine schwerin-

68 69

Romberg, S. 49 ff.; Schrameier, S. 91 f. Gouverneur Kiautschou an RMA, 15.10. 1912, BA-MA, RM 3/6833; Konsulat Tsinanfu an Gouverneur Kiautschou, 1 8 . 1 1 . 1913, ebd.; Bericht HandelskammerTsingtau, 20. 5. 1914, ebd., RM 3/6733; Burdick, S. 8 f.; Meyer-Waldeck, S. 133 ff.

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dustrielle, rüstungswirtschaftliche und militärische Abhängigkeit Chinas von seinem östlichen Nachbarn beinhalteten. Trotz des Nachgebens des chinesischen Präsidenten unterstützten die Japaner zunächst die aufflackernde nationalistische Oppositionsbewegung in Südchina, obwohl gerade diese an den Abmachungen Anstoß nahm. Ein potentieller Bürgerkrieg in China kam den Vorstellungen Tokyos immer noch eher entgegen als eine Zusammenarbeit mit einer kompromißbereiten chinesischen Zentralregierung 70 . Lediglich die Haltung des Auslandes schien in dieser Situation die Verwirklichung der japanischen Hegemoniepläne in Ostasien noch gefährden zu können. Die anderen Großmächte, die einen zusätzlichen militärischen Konflikt im Fernen Osten unbedingt vermeiden wollten, hatten zwar das chinesische Nachgeben begrüßt, machten aber kein Hehl aus ihrer generellen Ablehnung der japanischen territorialen Expansion. Nur das militärisch von Deutschland in Europa stark bedrohte Rußland, das auf die logistische Unterstützung der Japaner angewiesen war, zeigte sich in einer geheimen Militärallianz vom 3. Juli 1916 bereit, China dem ostasiatischen Kaiserreich zu überlassen, um es von einem Ausgleich mit dem Deutschen Reich abzuhalten. Japan legte allerdings auf die langfristige Anerkennung seiner Chinapolitik durch die militärisch starken westlichen Mächte, die nach Beendigung des europäischen Konflikts wieder in der Lage sein würden, ihr Augenmerk intensiver nach Fernost zu richten, weitaus größeren Wert 7 1 . Trotz alliierter Zugeständnisse an Japan infolge potentieller politischer und militärischer Erfolgsaussichten des Deutschen Reiches in Europa und Asien blieben die Vorbehalte des Westens gegen eine Fortführung der offensiven japanischen Politik in China aber weiter bestehen. Die undurchsichtige Haltung der Großmächte ließ die Japaner schließlich sogar wieder eine engere Zusammenarbeit mit der chinesischen Militärregierung in Peking suchen, die durch finanzielle Hilfen der japanischen Politik stärker verpflichtet werden sollte 72 . Insbesondere Großbritannien, das einen katastrophalen Niedergang seines Chinahandels zugunsten der Japaner und Amerikaner hinnehmen mußte, machte bei Kriegseintritt der USA (6. April 1917) eindeutig klar, daß es nicht länger gewillt war, eine weitere Monopolisierung der Wirtschaft in Ostasien durch Japan hinzunehmen 73 . Der englische Außenhandel mit China hatte seit 1915 neben den kriegsbedingten Ursachen auch unter den sich verschlechternden Beziehungen zu

70

Ch'i, W a r l o r d Politics, S. 42 ff., 85 ff.; Collis, S. 137 ff.

71

Peter, S. 199 ff., 238 ff.; Willoughby, Rights, Bd 1, S. 209 ff.

72

China erhielt monatlich ca. 20 Mill. Y e n . Willoughby, Rights, Bd 2, S. 1002 ff.

73

Der Anteil Großbritanniens (einschließlich seiner Dominions, ohne Hongkong) am chinesischen Außenhandel sank von ca. 18 % auf 11 % im Jahre 1917; der amerikanische Anteil stieg im selben Zeitraum von 7,5 % auf 15 %, der japanische von 18 % auf 32 %. Preußisches Kriegsministerium an AA, 13. 9. 1918, PA, Abt. IA Chi/China 7 / 1 0 . Marineattache, Den Haag, an Admiralstab, 1 . 8 . 1918, BA-MA, RM 8 / 1 0 6 1 ; Preußisches Kriegsministerium an Admiralstab, 2 1 . 8 . 1918, ebd., RM 5 / 2 6 9 3 ; Marineattache, Den Haag, an RMA, 1 . 1 1 . 1918, ebd., RM 2 0 / 4 8 6 .

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den Chinesen zu leiden, da die englische Regierung als Reaktion auf die „21 Forderungen" mehr als nur einen symbolischen Protest erwartet hatte. Die Engländer hielten jedoch trotz dieser bislang schwersten Briiskierung der chinesischen Integrität und der Rechte der Vertragsmächte an Japan als politischem Verbündeten in Ostasien fest. Zu Beginn des Krieges hatte sich die Regierung in London noch gegen einen japanischen Angriff auf Kiaochow ausgesprochen, in dem schon eindeutig der erste Schritt zu der später vollzogenen weiteren Expansion auf dem ostasiatischen Kontinent erkannt wurde. Die Angst, die Deutschen könnten sich durch eine freiwillige Rückgabe des Schutzgebietes und der Shantung-Konzessionen nicht nur während des Krieges, sondern auch für die Nachkriegszeit bei den Chinesen eine vorteilhafte Ausgangsbasis für weitere wirtschaftliche Aktivitäten schaffen, veranlaßte die Engländer aber zunächst zur Hinnahme des japanischen Vorgehens im Fernen Osten. Mit Hilfe von Zugeständnissen wollte London von vornherein ein Abgleiten Japans ins deutsche Lager verhindern. Zudem hoffte die englische Außenpolitik immer noch, durch vertragliche Vereinbarungen und Absprachen die japanische Chinapolitik am besten zügeln zu können. Als Gegenleistung für japanische territoriale Einschränkungen im pazifischen Raum, in dem sich die Japaner seit der Besetzung der deutschen Kolonien (Oktober 1914) bedrohlich ausbreiteten, war die britische Regierung sogar bereit, ein wirtschaftliches Engagement der Japaner auf dem chinesischen Markt vorübergehend hinzunehmen 74 . Gleichzeitig versuchte die englische Politik allerdings, China durch Anleihen zu stützen, um den japanischen Einfluß während des Krieges nicht übermächtig werden zu lassen. Um die Chinesen politisch stärker an sich zu binden und die eigenen wirtschaftlichen Ansprüche auf dem chinesischen Markt zu bekunden sowie dem Deutschen Reich den entscheidenden wirtschaftspolitischen Schlag in Ostasien zu versetzen, wollte die britische Regierung darüber hinaus das neutrale China zu einem Kriegseintritt auf seiten der Alliierten bewegen. Auch militärische Überlegungen, neben den ca. 150 000 Kriegsarbeitern für England und Frankreich chinesische Truppen im Vorderen Orient und in Deutsch-Ostafrika einzusetzen, mögen dabei von Bedeutung gewesen sein 75 . Wenn auch die britische Regierung die japanische Schlüsselstellung in Ostasien nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges akzeptierte und vorerst nur auf ein japanisches Einlenken und Einsehen hoffen konnte, so zeigte sich London vor allem unter dem Aspekt des wirtschaftlichen Neubeginns nach dem Krieg aber keinesfalls bereit, den Plan eines geöffneten chinesischen Marktes völlig aufzugeben. Nicht die „21 Forderungen", sondern der drohende ter74

Chi, S. 28 ff.; Collis, S. 145 ff.

75

Reuter-Meldung, 8 . 5 . 1917, PA, Abt. IA Chi/China 7 / 7 ; Telegramm Sun Yat-sen an Lloyd George, 24. 5. 1917, ebd.; Admiralstab an AA, 29. 7. 1918, ebd., China 7 / 1 0 ; Gesandtschaft Den Haag an AA, 12. 3 . 1 9 1 9 , ebd., China 7 / 1 1 . Ausarbeitung „China, Japan und Wir", 20. 3. 1915, BA-MA, N 224, Bd 13. Willoughby, Rights, Bd 1, S. 1005.

254

ritoriale Zerfall Chinas in einem Bürgerkrieg, den die Japaner durch die Opposition gegen Yüan Shih-k'ai bewußt förderten, und ein verstärktes Werben Deutschlands um Japan als Verbündeten im Fernen Osten schienen die britische Ostasienkonzeption in der Mitte des Krieges allerdings entscheidend zu gefährden. Nach dem endgültigen Ausfall Frankreichs als bedeutender Macht in Fernost durch seine frühzeitige militärische Niederlage in Europa eröffnete sich jedoch zu Beginn des Jahres 1917 für die Regierung in London mit der Abkehr der Amerikaner vom Neutralimus eine gute Gelegenheit, ihre Stellung gegenüber den Japanern und den Einfluß der britischen Wirtschaft auf dem chinesischen Markt wieder zu festigen. Japan und China sollten in Zusammenarbeit mit den USA endgültig durch Zugeständnisse, aber auch durch politischen Druck auf die Linie der Alliierten gebracht werden. Zudem erhoffte sich London auch, mäßigend auf die sich weiter verschärfenden inneren Auseinandersetzungen in China einwirken zu können, die langfristig allein die japanische Position in Ostasien stärken mußten 76 . Nachdem die Militärs die Kuomintang in den Untergrund gezwungen und das Parlament aufgelöst hatten, war die Politik Yüan Shih-k'ais wie zuvor weit davon entfernt geblieben, gesellschaftliche Reformen aufzugreifen und einen inneren Ausgleich anzustreben. Sein reaktionärer Kurs, der sich auf die Militärmaschinerie der Peyang-Armee stützte, zielte vielmehr auf die Gründung einer eigenen neuen Dynastie, die ein von oben national geeintes und militärisch starkes China in die Zukunft führen sollte. Neben der außenund innenpolitischen Situation bot aber auch die innere Verfassung des Militärregimes dazu wenig Erfolgsaussichten. Die Militärclique aus Chili war trotz ihrer westlichen Waffen nicht in der Lage, ganz China zu kontrollieren. Sie konnte nur in einzelnen Provinzen ihre Herrschaft unmittelbar ausüben. Einige hauptsächlich von Japan beeinflußte Generale der Südtruppen wandten sich zudem entschieden gegen Yüans Reichsinteressen und lösten sich immer weiter von ihm. Der Nord-Süd-Gegensatz erreichte mit der Unabhängigkeitserklärung von acht Provinzen unter Führung Yunnans (25. Dezember 1915) ihren Höhepunkt. In den nachfolgenden Generalskriegen der sogenannten „Dritten Revolution", die weit heftiger durchgeführt wurde als diejenigen von 1911/12 und 1913, erlitt Yüan gegen den von den Japanern unterstützten Süden schwere Niederlagen 77 . Durch die inneren Auseinandersetzungen verringerte sich nicht nur das moderne Rüstungspotential Chinas drastisch, sondern die gesamte bis dahin erreichte Modernisierung der Streitkräfte fiel in sich zusammen, da die einzelnen regionalen Militärführer wieder anfingen, sich eine eigene Hausmacht aufzubauen, und dabei Quantität der Qualität und Modernität der Truppen vorzogen. Weitaus nachteiliger aber mußte sich für die Entwicklung Chinas 76 77

Chi, S. 7 ff.; Louis, S. 17 ff. Gesandtschaft Peking an Bethmann Hollweg, 1 5 . 1 1 . 1915, PA, Abt. IA Chi/China 27b/ 1. Ausarbeitung „China, Japan und Wir", 2 0 . 3 . 1915, BA-MA, N 224, Bd 13. Tien, S. 116 ff.; E. Young, S. 105 ff. 255

auswirken, daß es eine einheitliche politische Führung für das Land in den folgenden zwei Jahrzehnten de facto nicht mehr gab, obwohl nach dem Tod Yüans (28. Juni 1916) und dem endgültigen Scheitern der Peyang-Hegemonie eine Zentralregierung und sogar ein wieder einberufenes Parlament in Peking weiterbestanden. Die Unterstützung dieser zentralen Institutionen war allerdings allein schon durch die „warlords" des Nordens, die sich um das Erbe Yüans stritten, mehr als ungewiß 78 . Nach dem gescheiterten Staatsstreich mandschutreuer Generale, welche die Monarchie wieder einführen wollten, dazu den Präsidenten stürzten und das Parlament vorübergehend abschafften, konnte sich Ende 1917 in Peking zwar erneut eine Regierung etablieren 79 , deren Autorität aber schon bald von einer provisorischen Gegenregierung in Canton angezweifelt wurde, an der die seit dem Tod Yüans wieder aktiver werdende Kuomintang maßgeblich beteiligt war. Die Herrschaft regionaler Militärs über beide Regierungen stand dennoch zu keinem Zeitpunkt in Frage. Aber nicht nur die Kämpfe zwischen Nord und Süd gingen weiter, auch die Militärgruppierungen blieben untereinander zerstritten. Wechselnde lokale Allianzen einzelner Militärmachthaber führten immer wieder im ganzen Land, dessen Provinzen um 1920 faktisch alle unter einer eigenen Militärverwaltung standen, zu regionalen militärischen Auseinandersetzungen 80 . Die Revolution von 1911/12 hatte zwar das Ende des chinesischen Kaiserreiches herbeigeführt und auch einen Schlußstrich unter die Existenz eines konfuzianistischen Staates gezogen. Mit dem Sturz der Monarchie war aber auch das einigende Band zerrissen, das China bis dahin noch zusammengehalten, gefestigt und gestärkt hatte. Eine Einflußsteigerung des Auslandes, bei der insbesondere die japanischen Interventionsdrohungen wie ein Damoklesschwert über dem Reich der Mitte hingen, und eine zunehmende Dezentralisierung und Führungslosigkeit im Innern waren die Folge. Nicht das Scheitern des Konstitutionalismus und des Republikanismus erwies sich dabei als besonders gefährlich, sondern die den nationalen und gesellschaftlichen Interessen Chinas zuwiderlaufende Verbindung von Militarismus und Regionalismus, die sich nach dem Tod Yüan Shih-k'ais durchsetzte. Mit dem Tod des Präsidenten-Generals erfuhr jedoch nicht nur die innere Entwicklung Chinas eine nochmalige nachhaltige Veränderung, sondern auch die deutsch-chinesischen Beziehungen gerieten angesichts der kriegsbedingten Schwäche des Deutschen Reiches ohne die Unterstützung ihres einflußreichen chinesischen Förderers schon bald in eine Krise 81 .

78

Staatspräsident Li Huan-yung und das Parlament tendierten stärker nach den USA, Ministerpräsident Tuan Ch'i-jui hingegen stärker nach Japan.

79

Generalkonsulat Shanghai, Knipping, an Hertling, 1 0 . 1 2 . 1917, PA, Abt. IA Chi/China

80

Gesandtschaft Peking an AA, 2 . 9 . 1916, ebd., China 7 / 6 . Ch'i, Warlord Politics,

81

Fairbank, United States, S. 194 ff.; Shao, S. X X V ff.

7 / 9 ; Gesandtschaft Kristiania an Hertling, 4. 5. 1918, ebd., China 7 s e c r . / l . S. 15 ff., 76 ff.; Chi, S. 115 ff.; Domes, Vertagte Revolution, S. 34 ff.

256

Der Beginn des Ersten Weltkriegs hatte im Deutschen Reich eine tiefgreifende Veränderung der Großmacht- und Weltmachtpläne zu einem aggressiven und militanten kontinentalen Expansionismus bewirkt, bei dem radikale Zielvorstellungen die liberal-imperialistischen Pläne Bethmann Hollwegs in den Hintergrund drängten; vor allem aber hatte er die endgültige Verschiebung des Primats der politischen zugunsten der militärischen Führung ausgelöst. Neben den Kriegszielen in Mittel- und Osteuropa — Schaffung eines neuen Siedlungs- und wirtschaftlichen Ergänzungsraumes — hielten die politischen Vorstellungen der militärischen Führung als zweiten Schritt an dem Plan einer deutschen Weltmachtstellung mit Front gegen England fest. Dem nach außen geeint und gefestigt erscheinenden Militär gelang es damit, zum Bindeglied zwischen neueren weltpolitischen und traditionell kontinentalen deutschen Machtansprüchen zu werden, zumal es schon seit 1911/12 zu einer Annäherung der Strategien der Marine- und der Heeresführung gekommen war. Tirpitz hatte bereits im Hinblick auf das Scheitern der deutsch-englischen Flottenverhandlungen und angesichts der erneuten Verständigung zwischen Japan und England seine Weltmachtkonzeption durch die Forderung einer vorübergehenden Schwerpunktverlagerung von einer überseeischen zu einer transkontinentalen Strategie mit Japan als Partner gegen Rußland modifiziert. Nach dem ersten Balkankrieg, der Zunahme der kontinentaleuropäischen Bedrohung und der eindeutigen Prioritäten der Heeresrüstung 82 waren sich Marinekreise endgültig darüber klar geworden, daß die Schlachtflotte auf absehbare Zeit lediglich als Instrument der Absicherung einer kontinentalen Hegemonie tauglich sein könne. Mit einem umfassenden Kreuzerkrieg wollte die Marineführung statt dessen versuchen, die drohende englische Fernblokkade zu überwinden, ein Unterfangen, das ab 1917 noch nicht einmal durch den uneingeschränkten U-Boot-Krieg gelang 83 . Auch Heereskreise standen diesen globalen Überlegungen, mit der Schlachtflotte gegen England die Flanke im Westen und mit Japan gegen das Zarenreich die Flanke im Osten zu festigen, aufgeschlossen gegenüber, garantierten sie doch den absoluten Primat der Landkriegführung. Selbst der ansonsten japanophobe Kaiser liebäugelte mit dem Gedanken einer deutsch-japanischen Militärallianz gegen Rußland. Einen Einfluß auf konkrete Planungen fanden diese Konzeptionen am Vorabend des Krieges allerdings nicht, zumal das Militär auf Drängen der politischen Führung die Hoffnung auf einen Ausgleich mit England nicht aufgab und kompromißlos an China als Partner in Ostasien festhielt. Seit Kriegsbeginn erschien der Marineführung, in der Tirpitz weiter an Einfluß verlor, ein Auslaufen der Schlachtflotte zu offenen Seeschlachten dann nicht mehr opportun, weil sie den weltpolitischen Bündniswert des Deutschen Reiches nichts aufs Spiel setzen wollte. Dagegen gewann der Gedanke, Japan als Verbündeten zu gewinnen, immer größere Be82 83

Berghahn, Rüstung, S. 42 ff.; Craig, S. 282 ff. O. Franke, Großmächte, S. 357; Schüddekopf, S. 107 ff. 257

deutung. Die Fernostpolitik des Deutschen Reiches wurde schon bald an dieser Intention ausgerichtet, auch weil China unter den kriegswirtschaftlichen Gegebenheiten Deutschland nicht mehr allzu viel bieten konnte 8 4 . W i e die militärische und politische Führung hatte auch die Privatwirtschaft von Anfang an die Versorgungslage und die Rohstofffrage als wirtschaftliches Zentralproblem angesehen; vor allem die Industrie, bis zu 5 0 % von ausländischen Rohstoffen abhängig, mußte schon bald eingestehen, daß sie sich mit der schnellen Annexion und Nutzbarmachung eines mitteleuropäischen Ergänzungsraumes verkalkuliert hatte. Die ungenügende Rohstoffbevorratung der Wirtschaft (etwa nur sechs Monate) machte statt dessen Rohstofflieferungen aus Übersee unentbehrlich. Trotz der alliierten Blockade gelang es zunächst noch, über Drittländer Importe zu tätigen. Diese wurden jedoch mit einer zunehmenden Überwachung der Wirtschaftsbeziehungen der Neutralen mit Deutschland durch die Alliierten (ab Mitte 1916) immer spärlicher. Aus China konnte allerdings schon seit Kriegsbeginn wegen der Kontrolle der chinesischen Exportwirtschaft durch England und in wachsendem Maße auch durch Japan kaum noch mit Lieferungen gerechnet werden, obwohl für die deutschen Handelshäuser im ehemaligen Mandschu-Reich zunächst kein Grund zur Besorgnis bestand und die Stellung Deutschlands eher gefestigt schien, weil die Chinesen dem Widerstand des Deutschen Reiches in Tsingtao höchste Anerkennung zollten 8 5 . Die Kriegserklärung der Japaner an Deutschland (23. August 1914) und der Fall Tsingtaos (7. November 1914) 8 6 ließen jedoch selbst dem sinophilen Auswärtigen Amt eine Realisierbarkeit seiner ehrgeizigen Wirtschaftspläne in China höchst zweifelhaft erscheinen. W e n n auch unter den gegebenen machtpolitischen Verhältnissen in Fernost die Beziehungen zum Reich der Mitte keineswegs vernachlässigt werden sollten, um möglicherweise noch während des Krieges, spätestens aber nach Friedensschluß wieder stärker Fuß zu fassen, so sah sich die politische Führung dennoch gezwungen, auf die strategischen Überlegungen der militärischen Führung konsequenter einzugehen. Hatten die Diplomaten unmittelbar vor und nach Ausbruch des Krieges in Europa Bündnisangebote an Japan nur aus taktischen Gründen ausgesprochen, um das ostasiatische Kaiserreich zu neutralisieren, so erforderte die bedrohliche Hilfe der Japaner an Rußland ein weitaus entschiedeneres Umdenken in der Fernostpolitik der „Wilhelmstraße" 8 7 .

84

Kahler, S. 110 ff.; Salewski, S. 91 ff.

85

Wulf, S. 20 ff., 73 ff.

86

Eine kampflose Übergabe des Schutzgebietes an die Japaner wurde abgelehnt. Es kapitulierten schließlich 3 500 Marinesoldaten und 2 0 0 0 Reservisten vor einer vielfachen Übermacht. 1 300 Soldaten gerieten z. T. für 6 Jahre in japanische Gefangenschaft. Marineattache, Tokio, an RMA, 7. 2. 1912, BA-MA, RM 3 / 2 9 2 4 ; RMA an Wilhelm II., 5. 3. 1912, ebd., RM 3/2590. Burdick, S. 58, 84, 197; Chi, S. 1 ff., 19 ff.; W o o d , S. 42 ff.

07

Zu dem Komplex der deutsch-japanischen Beziehungen während des Ersten Weltkrieges vgl. die Untersuchung von Hayashima.

258

Die Führungen der See- und der Landstreitkräfte drängten nun immer stärker darauf, Japan als strategischen Partner zu gewinnen. Das Heer wollte nicht nur die Lieferungen von japanischem Kriegsmaterial nach Rußland unterbinden, sondern strebte darüber hinaus auch eine Ablenkung der russischen Armee im Fernen Osten an. Auch die Marine bestand darauf, mit dem japanischen Kaiserreich endlich eine Übereinkunft zu treffen, selbst unter Inkaufnahme von größeren Zugeständnissen. Sie sah durch die japanische Okkupation Kiaochows nur ihre alten Vorbehalte gegenüber einer Ostasienpolitik bestätigt, die wegen ihrer Prioritäten für China zu keiner rechtzeitigen vertraglichen Vereinbarung gekommen war. Für eine Allianz mit Japan gegen Rußland, die der erste Schritt in Richtung auf ein zukünftiges Seebündnis gegen England sein sollte, wollte die Marine ohne große Umschweife auch vertraglich auf ihre Musterkolonie verzichten. Trotz aller geplanten Hinwendung zu Japan bestanden in Militärkreisen wie im Auswärtigen Amt dennoch keine Meinungsverschiedenheiten darüber, daß neben Südamerika vor allem der ostasiatische Kontinent — und damit China — in Zukunft der potentiell wichtigste überseeische Absatzmarkt bleiben würde. Allerdings waren sich alle auch darüber im klaren, daß „der Weg zur Beteiligung in China [. ..] von nun an hauptsächlich über das politische Anmeldezimmer Japan führen [müsse]" 88 . Obwohl zu Beginn des Krieges an einer von den Militärs dominierten Interessenkoalition von politischer und militärischer Führung in Deutschland hinsichtlich der Wirtschafts- und Militärpolitik in Ostasien kaum mehr gezweifelt werden konnte, blieben die transkontinentalen Bündnisvorstellungen doch äußerst verschwommen. Neben dem Wunschziel aus der Vorkriegszeit einer Koalition der „Zentralmächte" Deutschland, Türkei, China stand unter dem Eindruck des Krieges als Zukunftsbild eine Allianz zwischen Deutschland, Japan und dem wohl in absehbarer Zeit geschlagenen Zarenreich. Auch alle Bündnisvariationen zwischen diesen Zielvorstellungen schienen nicht unvorstellbar zu sein. Nach dem erwarteten endgültigen Sieg des Deutschen Reiches sollte das „Deutschtum" jedoch auf jeden Fall Vorreiter einer kulturellen und wirtschaftlichen Erneuerung Asiens werden. Zur Forcierung einer wie auch immer gearteten euro-asiatischen Allianz — hier zeigen sich deutlich Parallelen zum Zweiten Weltkrieg — und zur Umgehung der englischen Seeblockade wurde daher kurzfristig eine Landverbindung über die Türkei, Persien und Afghanistan in den Fernen Osten angestrebt. Von dieser transkontinentalen Achse wurde sowohl die Eröffnung neuer wirtschaftlicher (China) als auch militärischer und politischer (Japan) Perspektiven erwartet. Dabei kam dem Osmanischen Reich zunächst die größte Bedeutung zu 89 . 88

89

Ausarbeitung „China, Japan und Wir", 20. 3. 1915, BA-MA, N 224, Bd 13; Admiralstab an RMA, 9. 9. 1916, ebd., RM 3/4584. O. Franke, Deutschland, S. 22 ff. Gesandtschaft Peking an AA, 2 4 . 1 . 1917, PA, Abt. IA Chi/China 7/6. Stellvertretendes Generalkommando des I. Bayerischen Armeekorps an Bayerisches Kriegsministerium, 12.8. 1915, KA, MKr/41. Seeckt an Landesdirektor v. Winterfeldt, 29.10. 1915, in: Meier-Welcker, Seeckt, S. 715 ff. 259

Trotz des militärischen Debakels im Balkankrieg von 1912 war den deutschen Militärberatern in der Türkei kaum Schuld zugewiesen worden. Nach 35jähriger deutscher Ausbildung, so mußten türkische Armeekreise zugeben, wäre die Abwendung von Deutschland einer schnellen Reorganisation abträglich gewesen. Schon 1913 gelang es dem deutschen Heer daher, eine 42 Mann starke Militärmission zu entsenden. Diese erhielt jedoch anders als zuvor auf Betreiben der Militärführung in Berlin volle Befehlsbefugnis über die türkischen Truppen. Ein deutscher General wurde zudem Anfang 1914 zum neuen Inspekteur der türkischen Armee ernannt. Die Türkei entwickelte sich zusehends zu einem militärischen Protektorat des Deutschen Reiches, bis zum Ersten Weltkrieg allerdings noch ganz entgegen den Vorstellungen des Auswärtigen Amtes, das durch diese offensive Militärpolitik seine Ausgleichsbemühungen mit England und Rußland unnötig gefährdet sah. Im Gegensatz zum revolutionären China hatte das Osmanische Reich für die deutschen Militärs jedoch nicht an strategischer Bedeutung verloren. Nach Kriegsausbruch erreichte Deutschland in einem Bündnisvertrag (August 1914) tatsächlich die Zusage der Türkei, die Eckpfeiler potentieller Verbindungslinien zwischen England und Rußland zu zerstören und gegen den Kaukasus sowie gegen Ägypten vorzurücken. Die Militärmission wurde anschließend bis 1916 auf 200 Soldaten erhöht. Deutsche Kriegskredite von ca. 5 Milliarden Mark und Rüstungslieferungen zwischen 600 und 800 Millionen Mark sollten darüber hinaus die Türkei zu größeren Aktivitäten bewegen und türkische Rohstofflieferungen (Erze und Getreide, bis 1918 für ca. 350 Millionen Mark) kompensieren. Dennoch richtete sich das Mißfallen der türkischen Militärs schon bald gegen die Deutschen. Der von der deutschen Armeeführung durchgesetzte Vorstoß der 6. türkischen Armee gegen Persien, Afghanistan und den Irak (1916) scheiterte kläglich. Eine Verbindung in den Fernen Osten blieb Illusion. Die Position Deutschlands in China geriet, abgeschnitten zur See und zu Land, damit immer mehr in Gefahr, zumal selbst die prodeutschen chinesischen Militärmachthaber angesichts alliierter Versprechungen keine Vorteile mehr in einer Rücksichtnahme auf ein kriegsgeschwächtes Deutsches Reich erkennen wollten 90 . Yüan Shih-k'ai hatte zwar schon beim Vorrücken der japanischen Truppen auf Tsingtao nicht militärisch auf seiten der Deutschen eingegriffen, obwohl die Japaner in grober Mißachtung der zuvor von China erklärten Neutralität chinesisches Territorium verletzten. Die Regierung in Peking, welche die nachfolgende Besetzung Kiaochows als ungeheure Provokation auffaßte, jedoch größere Konflikte um des eigenen Überlebens willen zu vermeiden suchte, verhielt sich aber weiterhin bewußt deutschfreundlich. Bis Mitte 1915 konnte der deutsche Chinahandel daher durchaus noch befriedigende Ergebnisse erzielen, da auch die chinesischen Firmen die deutschen Kaufleute uneingeschränkt unterstützten. Der Importhandel der Handelshäuser aus

90

260

F. Fischer, Griff, S. 4 9 ff.; Wallach, S. 125 ff., 236 ff.

dem nicht deutschen Ausland nach China mußte im Gegensatz zu den Exporten über deutsche Firmen aus China kaum leiden. Selbst die Störung des Schiffsverkehrs nach Deutschland konnte durch einen Rückgriff auf Warenbestände und — ähnlich wie 1939/40 durch eine Forcierung der Im- und Exporte nach China über die Transsibirische Eisenbahn — durch eine Öffnung der amerikanischen Handelswege einigermaßen ausgeglichen werden, wenn auch der Ausfall der heimischen Lieferungen nach und nach zu einer Verknappung des Angebots und zu wettbewerbsschädigenden Preissteigerungen führte. Die größte Furcht der deutschen Firmen bestand daher zunächst vor einem weiteren Vordringen der Japaner in China, die mit Hilfe von Verordnungen ihrer Militärverwaltung in Tsingtao den gesamten dortigen Handel an sich zogen. Allmählich wurde aber auch der Druck der Alliierten, insbesondere der Engländer, immer stärker. Großbritanniens Verbot des Handels mit Deutschland für Firmen innerhalb seiner Hoheitsgebiete (7. August 1914) und die Requirierung deutscher Schiffe und deutschen Firmeneigentums innerhalb seiner Einflußzonen und Niederlassungen in China (besonders in Hongkong) hatten schon zu Beginn des Krieges zu hohen Verlusten geführt. Schließlich blieben nur noch Chinesen den deutschen Handelshäusern in China als Kunden erhalten 91 . Der europäische Krieg zeitigte damit doch einschneidendere Auswirkungen auf den Chinahandel, als die Handelshäuser anfangs glauben wollten. Trotzdem sahen deutsche Handelskreise 1915 noch keine Veranlassung, ihre hegemonialen Vorkriegsziele auf dem chinesischen Markt aufzugeben. Im Gegenteil, der „Ostasiatische Verein" (OAV)92, der Verband des deutschen Ostasienhandels, bekundete in einer Denkschrift über „Kriegsziele in China" 93 seine Enttäuschung über das chinesische Verhalten in Tsingtao: Wenn China nicht freiwillig wolle, dann müsse es eben nach Kriegsende zu einer kulturellen und wirtschaftlichen Anlehnung an das Deutsche Reich gezwungen werden. England und Frankreich sollten sich zu einer Abtretung Indochinas bzw. von Stützpunkten auf dem Weg nach Ostasien bereitfinden, so daß Deutschland

91

Beispielsweise wurden bei Siemens 1915 zwei Kondensationsturbosätze für Kohlegruben in Hankow bestellt, deren Lieferang teilweise noch vor 1918 erfolgte, die Endmontage aber erst 1921. Wettlauffer, S. 27. Konsulat Tsinanfu an RMA, 26. 8 . 1 9 1 6 , BA-MA, RM 3 / 6 7 3 4 . Geschäftsbericht 1914 der DAB, ADB. AA an Senat von Hamburg, 5 . 1 0 . 1914, StAHB, 3 / A 3 . C . 3 / 3 1 1 . Auszug aus Brief Gustav Amanns an Hugo Stinnes, 24. 8. 1914, SAA, 5 0 / L m 312; Bilanz Siemens China Co., 31. 10. 1915, ebd., 1 5 / L a 610. Grosse, S. 126 ff., 139 ff.

92

Der OAV, der bei seiner Gründung am 13. 3 . 1 9 0 0 123 Mitglieder umfaßte, steigerte die Mitgliederzahl bis zum Ersten Weltkrieg auf 288. Bis zu diesem Zeitpunkt widmete er sich kulturellen und gesellschaftlichen Belangen, erst seit dem Kriegsausbruch traten wirtschaftliche Fragen in den Vordergrund. Nach dem Ersten Weltkrieg war der OAV die Interessengemeinschaft der deutschen Firmen in Ostasien und der offizielle Repräsentant der Handelskammern. Fünfundsiebzig Jahre Ostasiatischer Verein e. V., S. 1 ff.

93

Denkschrift des OAV: Kriegsziele in China, 2 6 . 1 . 1915, PA, Abt. IA Chi/China 7 / 6 . 261

von Kiaochow aus den Norden und von Tongking aus den Süden des ostasiatischen Kontinents kontrollieren könne. Diese Wunschvorstellungen berücksichtigten im zweiten Kriegsjahr jedoch nicht mehr im entferntesten die politischen und wirtschaftlichen Realitäten, weder in Europa noch in Ostasien und auch nicht in China. Yüan Shih-k'ais Koalitionsversuch mit den Japanern seit deren „21 Forderungen" hatte zwar nichts an der generellen prodeutschen Einstellung der Chinesen geändert, den deutschen Handel durch Restriktionen der Regierung aber allmählich zum Erliegen gebracht 94 . Die politischen und militärischen Führungscliquen Chinas sahen nach dem Tod Yüan Shih-k'ais in dem immer stärker geäußerten Wunsch der europäischen Alliierten nach einem Vorgehen gegen Deutschland nicht nur die Chance, wirtschaftspolitische Zugeständnisse von den Großmächten zu erreichen, sondern auch die Möglichkeit, von sich aus gegenüber dem Deutschen Reich als einer der alten Vertragsmächte ihre eigenen nationalen und außenpolitischen Ziele durchzusetzen, um so im Innern an Reputation zu gewinnen. Der Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit Deutschland (14. März 1917) ließ erstmals einen seit mehr als einem halben Jahrhundert gehegten chinesischen Wunsch Wirklichkeit werden: den Entzug der Exterritorialität und sonstigen Sonderrechte sowie die Wiederinbesitznahme der territorialen Konzessionen, die unter Zwang einer Großmacht überlassen worden waren 9 5 . Das Vorgehen der Chinesen zielte aber weder auf eine vollständige Abwendung von Deutschland, noch wollte es die Deutschen in China brüskieren oder gar provozieren. Zwar wurde das gesamte Marinedetachement interniert, das 1909 die Einheiten des Heeres als Gesandtschafts- bzw. Konsulatswache in Peking und Tientsin abgelöst hatte. Die Militärtechniker der Rüstungsfirmen durften aber ebenso in ihren Stellungen verbleiben 96 wie ein Großteil der zivilen deutschen Berater, die in den letzten Jahren vor dem Krieg in alle möglichen Positionen gelangt waren. Nur die höheren deutschen Beamten im Seezoll- und Postdienst wurden beurlaubt oder bei Weiterzahlung der Gehälter vom Dienst suspendiert. Allen Deutschen in chinesischen Diensten wurde es darüber hinaus freigestellt, im Hinblick auf einen möglichen Kriegseintritt Chinas gegen Deutschland, der vor allem von den

94

Die (ungenaue) chinesische Statistik verzeichnet für 1915 noch deutsche Importe im Wert von 160 000 HKT, gibt den Anteil des deutschen Handels am chinesischen Außenhandel für 1917 dann mit 0 % an. Die deutsche Schiffsbeteiligung sank von 8 , 6 % (1913) auf 0,1 % (1916). Feng, S. 232 f.; Hou, S. 60 f. Vgl. auch Gesandtschaft Peking an AA, 2. 9. 1916, PA, Abt. IA Chi/China 7 / 6 .

95

Reuter-Meldung, 1 4 . 3 . 1917, PA, Abt. IA Chi/China 7/6. Peter, S. 259 ff.; Wood, S. 47 ff.

96

„China Press", 15. 5. 1917: Es blieben 2 Instrukteure im Hanyang-Arsenal, 4 im Kiangnan-Arsenal, und die jeweils 5 Instrukteure an der Torpedoschule in Nanking sowie an der Marineschule in Chefoo betreuten die Boote, die 1 9 1 2 / 1 9 1 3 in Deutschland gekauft worden waren, PA, Abt. IA Chi/China 7/7.

262

Amerikanern immer eindringlicher gefordert wurde, ihre Verträge zu kündigen und das Land zu verlassen 97 . Nach dem Rückzug aus dem Anleihekonsortium und der damit vollzogenen Loslösung von der politischen Vormundschaft Englands in Ostasien hatten es die Amerikaner zunächst vorgezogen, ihren neu geschaffenen Freiraum durch eine erstmals völlig unabhängige und eigenständige Politik im Fernen Osten zu nutzen. Diese konzentrierte sich weiterhin auf China, das trotz der isolationistischen Strömung im eigenen Land der amerikanischen Wirtschaft weiter verpflichtet bleiben sollte, allerdings wie zuvor im Rahmen einer traditionell passiv verstandenen „Open-Door"-Konzeption. Die Amerikaner vermieden daher strikt jegliche Parteinahme für oder gegen eine andere Großmacht in Ostasien. Washington sah allerdings die Stabilität der neuen ostasiatischen Republik und die Lösung ihrer inneren Angelegenheiten als unabdingbare Voraussetzung für weitere wirtschaftliche Erfolge auf dem chinesischen Absatzmarkt an, auf dem die amerikanische Wirtschaft beabsichtigte, das Erbe der kriegsgeschwächten Europäer anzutreten. Entschieden wandte sich die amerikanische Außenpolitik daher — wie auch die japanische — zunächst gegen das Vorhaben der europäischen Alliierten, China am Krieg gegen Deutschland zu beteiligen und womöglich wirtschaftlich zu schwächen. Erst als der militärische Expansionismus der Japaner sich als gefährlich für die amerikanischen Pläne erwies, zeigte sich Washington den englischen Wünschen gegenüber konzilianter. Die Japaner waren zwar wegen politischer Proteste des State Departments zu einer geringfügigen Modifizierung ihrer Forderungen an China bereit gewesen, hatten diese aber schließlich doch ohne Rücksicht auf amerikanische Interessen durchgesetzt 98 . Die amerikanische Regierung neigte angesichts des kräftezehrenden Kriegsverlaufs in Europa und der Aggressivität der Japaner in Fernost immer stärker dazu, ihre Zurückhaltung aufzugeben und die gespannte weltpolitische Situation zu ihren Gunsten auszunutzen. Als selbsterwählte zukünftige Führungsmacht waren die Vereinigten Staaten bestrebt, sowohl die europäischen als auch die asiatischen Mächte in ein „partnerschaftliches Abhängigkeitsverhältnis" zu Washington zu bringen, das eine Nachkriegsordnung unter dem Primat der USA in Europa und Ostasien ermöglichen sollte. Unter diesen Prämissen erschien es den Amerikanern besonders wichtig, England als potentiellen militärischen und politischen „Stellvertreter" in Europa und Asien zu stützen sowie Japan im Fernen Osten zum Verzicht auf eine weitere Expansionspolitik zu bewegen und als Verbündeten zu gewinnen. Die Chancen dazu standen nicht schlecht, da sich die Japaner bei der von den Amerikanern angestrebten umfassenden Friedensregelung nach dem Krieg eigene

97

Gesandtschaft Den Haag an AA, 25. 4. und 13. 6. 1917, ebd.; Gesandtschaft Peking an AA, 12. 7. 1917, ebd., China 2 7 a / 4 ; Gesandtschaft Den Haag an AA, 29. 3. und 4. 4. 1917, ebd., China 7 / 6 . Chi Chen, S. 52 ff.; Mohr, Gedanken, S. 10, 44.

98

Generalkonsulat Shanghai, Knipping, an Reichskanzler Graf v. Hertling, 2 0 . 1 2 . 1917, PA, Abt. IA C h i / C h i n a 7 / 9 . Fass, World W a r I, S. 111 f.; Hunt, S. 297 ff.

263

Vorteile versprachen. Mit Hilfe von Zusagen an Japan in China (Anfang 1 9 1 7 ) " gelang es den westlichen Alliierten tatsächlich, deren Ansprüche bis zur Überwindung der kriegsbedingten Schwächeperiode in Europa erst einmal zu zügeln 100 . Durch ein gemeinsames Vorgehen mit den japanischen Truppen gegen die russischen Kommunisten in Sibirien (ab Mitte 1918) sollten die Interessen Japans von China abgelenkt werden 1 0 1 . Unter dem Eindruck der Zusammenarbeit von Engländern, Japanern und Amerikanern waren die Chinesen von den Großmächten noch 1917 dazu bewogen worden, sich — wenn auch nur formal — am Krieg gegen Deutschland zu beteiligen (Kriegserklärung vom 14. August 1917). Sowohl die Japaner als auch die Amerikaner hatten sich schließlich unter dem Aspekt potentieller machtpolitischer Absprachen in Ostasien außerstande gesehen, ihr vormaliges Interesse an einem neutralen China gegenüber englischem Drängen aufrechtzuerhalten. Ihre wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Überlegungen schoben die Vorbehalte Chinas in den Hintergrund, das mit vagen Versprechungen in bezug auf eine Revision der „ungleichen Verträge" und eine Lösung der Shantung-Frage auf die Friedenskonferenz vertröstet wurde 102 . Allerdings hatten es die Machthaber in China schon bislang durchaus verstanden, durch ein ständiges Hinauszögern ihrer Entscheidung über eine Kriegserklärung an das Deutsche Reich wichtige politische und wirtschaftliche Zusagen zu erhalten: Unter anderem wurden die Seezollsätze auf 5 % des realen Warenwertes von 1917 angehoben; ein Moratorium stundete die chinesischen Boxerentschädigungen an die alliierten Großmächte für fünf Jahre; umfassende Anleihen — bis 1920 etwa 36 Millionen Pfund 103 — konnten nicht nur die Geldschwierigkeiten der herrschenden Militärs zumindest vorübergehend beheben, sondern kamen auch der wirtschaftlichen Modernisierung zugute 104 . Der machtpolitische Wechsel zu den Militärs hatte sich zunächst kaum auf die Wirtschafts- und Sozialstruktur des Landes ausgewirkt. Das Landesinnere blieb von den revolutionären Wirren verschont. Der Großteil der städtischen Bevölkerung verhielt sich den neuen Machthabern gegenüber passiv und nahm wenig Notiz von den Geschehnissen. Der Modernisierungsprozeß ging zwar im industriellen Sektor langsam weiter, er bewirkte aber keine generellen ökonomischen und sozialen Veränderungen. Anstöße zu wirtschaftlicher

99

In einer Geheimnote an Japan stellte Großbritannien im Februar 1917 Kiaochow in Aussicht; auch die USA erkannten im Lansing-Ishii-Agreement ( 2 . 1 1 . 1917) spezielle Rechte der Japaner in China an. Briessen, S. 78 f.; Chi, S. 85 ff.

100

Chi, S. 115 ff.; Dettmer, S. 125 ff.

101

Kindermann, Ferner Osten, S. 162 ff.

102

Causey, S. 4 ff.; Glaime, S. 32 ff.

103

Hou, S. 226.

104

US Gesandtschaft Peking an Secretary of State, 3. 8. 1917, FRUS 1917, I, S. 89, und 21. 8. 1917, ebd., S. 99. Fabritzek, Drache, S. 93 ff.

264

und technischer Innovation kamen nicht etwa von der wirtschaftspolitisch völlig unbedarften neuen chinesischen Militärelite, sondern wurden — vergleichbar mit den Zuständen zur Zeit der Herrschaft der Literatenbeamten — weiterhin von außen in Gang gesetzt 105 . Der durch den europäischen Krieg bedingte Rückgang der Importe von Industriewaren nach China machte dann jedoch den verstärkten Aufbau eines eigenen Produktionsapparates notwendig. Der Zwang zur Eigenproduktion konnte allerdings wegen der mangelnden Erschließung der Rohstoffe und der unterentwickelten Infrastruktur des Landes weder die Produktionsmittelindustrie noch die Schwerindustrie wesentlich beleben, obwohl die chinesischen Militärmachthaber ihr Augenmerk gerade auf den letzten Bereich konzentrierten 106 . Allein die Textilindustrie vermochte überproportional zu expandieren, trotz aller Widerstände der Japaner, die ständig versuchten, die chinesischen Produkte auf dem Weltmarkt durch Dumpingpreise zu unterbieten 1 0 7 . Ein noch größerer Aufschwung wurde allerdings durch fehlende technische Möglichkeiten verhindert. Zwar stiegen die Importe von Maschinen von 1,45 Millionen Taels (1900) über 7 Millionen (1910) kurz nach dem Krieg auf 24 Millionen (1920), doch konnten die Vereinigten Staaten die ausbleibenden europäischen Lieferungen während des Krieges nicht vollständig ausgleichen, so daß um 1920 in China ein spürbarer Mangel an technischem Gerät herrschte. Die Kriegskonjunktur führte alles in allem zu einer bescheidenen industriellen und kommerziellen Expansion Chinas. Daran änderte auch die Tatsache nichts, daß sich die chinesischen Industriebetriebe zu einem beträchtlichen Teil in ausländischen Händen befanden. Die steigenden Baumwollwarenund Sojabohnenexporte, die Seide und Tee immer stärker als wichtigste Ausfuhrgüter verdrängten, bewirkten schließlich sogar eine Belebung des chinesischen Außenhandels und einen Rückgang der negativen Handelsbilanz 108 . Erstmals seit dem Eindringen des Westens vor einem dreiviertel Jahrhundert schien es der chinesischen Wirtschaft zu gelingen, ihre passive Rolle gegenüber den Mächten zu überwinden und diesen mit deren eigenen Wirtschaftsmethoden als ernsthafter Konkurrent entgegenzutreten, eine Entwicklung, welche die daniederliegende deutsche China Wirtschaft allerdings nicht berühren konnte. Auch der schwer angeschlagene deutsche Handel bekam von dieser kurzfristigen Erstarkung der chinesischen Wirtschaft am Ende des Ersten Weltkrieges kaum noch etwas zu spüren, weder im positiven noch im

105 106

107 108

Geschäftsbericht 1911 der DAB, ADB. W . Franke, Jahrhundert, S. 122 ff.; Shao, S. 281 f. Militärbericht 13, Gesandtschaft Peking, 7.12. 1913, PA, Abt. IA Chi/China 5/31. DAB an RMA, 6 . 1 1 . 1912, BA-MA, RM 3/7031; Gouverneur Kiautschou an RMA, 25.9. 1912, ebd. Geschäftsbericht 1913 der DAB, ADB. Röser, S. 14 f. Der Wert der Importe von 1914 konnte erst 1919 wieder überschritten werden. Im selben Zeitraum stiegen die chinesischen Exporte um 80 % und die passive Handelsbilanz verringerte sich von ca. 213 Mill. HKT auf ca. 16 Mill. HKT. Cheng, S. 258 f.

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negativen Sinne. Trotz vielfacher Versuche war es der Reichsregierung nicht geglückt, die deutsche Stellung in China wenigstens unterhalb der offiziellen Ebene aufrechtzuerhalten, geschweige denn die politische Position des Deutschen Reiches in Fernost zu verbessern 109 . Die Idee eines euro-asiatischen Blocks gegen die angelsächsischen Mächte war ab Ende 1916 von der neuen obersten militärischen Führung in Deutschland nach der Krise der deutschen Truppen an der Westfront weitaus entschiedener aufgegriffen worden als zuvor. Die Protagonisten der Ostpläne um den Generalquartiermeister bei der „Dritten Obersten Heeresleitung" (OHL), Ludendorff, und seinen engsten Vertrauten, Oberst Bauer, hofften angesichts der günstigen Lage an der Ostfront, Rußland zur Verwirklichung dieser Ziele für sich gewinnen zu können. Der militärische Sieg über die revolutionsgeschwächte Flügelmacht im Osten schien den kontinentalen Vorstellungen dann sogar weiter entgegenzukommen, als zuvor angenommen worden war. Selbst in Anbetracht der drohenden Niederlage im Westen war die „Dritte Oberste Heeresleitung" daher weder bereit, ihre Vorstellungen von einem allgemeinen „Siegfrieden" noch ihre Annexionspläne in Osteuropa aufzugeben. Der neu zu schaffende deutsche „Wehrstaat" konnte nach Ansicht der Reichsführung auf den Wirtschafts- und Siedlungsraum im Osten nicht verzichten, zumal die innenpolitische Krise in Deutschland die obrigkeitsstaatliche Struktur des Reiches immer stärker bedrohte 110 . In Fernost hatte sich seit dem Kriegseintritt der USA die Situation für Deutschland, ähnlich wie dann auch im Zweiten Weltkrieg, kontinuierlich verschlechtert. Bemühungen der „Wilhelmstraße", die Chinesen davon zu überzeugen, daß Deutschland doch noch gestärkt aus dem Krieg hervorginge, um eine Bindung Chinas an die Alliierten zu verhindern, blieben ebenso erfolglos wie der Versuch, die alten Dreibundgedanken wiederzubeleben 111 . Annäherungsbemühungen an die Amerikaner in China waren dem Auswärtigen Amt hinsichtlich der amerikanischen Vorstellungen eines zukünftigen, für alle gleichermaßen geöffneten chinesischen Marktes zunächst als durchaus erfolgversprechend erschienen. Aufmerksam registrierten zudem die deutschen Diplomaten schon vor dem Tod Yüan Shih-k'ais die opportunistische projapanische Politik der chinesischen Militärmachthaber, genauso wie das nachmalige Anwachsen einer stark nach Japan orientierten neuen Oppositionsbewegung von Seiten der Kuomintang in Südchina. Diese Bestrebungen innerhalb Chinas sollten in den letzten Kriegsjahren mehr als nur einmal Anlaß zu deutsch-japanisch-chinesischen Ausgleichsversuchen werden 112 . Gleichzeitig mit den militärischen Bemühungen um eine Landverbindung über die Türkei, Persien und Afghanistan in den Fernen Osten hatte das Auswärtige Amt bereits 1915 versucht, über den neuen Gesandten in China

109

Hickmann, S. 74 ff.; Röser, S. 14 ff.

1.0

Dehio, Gedanken, S. 309 ff.; W . J. Mommsen, Phänomen, S. 22 f.

1.1

Peter, S. 185 ff., 218 ff.; Stingl, S. 76 ff.

112

Engram, passim.

266

und überzeugten Verfechter transkontinentaler Vorstellungen, Admiral Hintze, engere Kontakte mit Japan aufzunehmen und neue Bündnispläne zu unterbreiten 113 . Die Reichsregierung zeigte sich zwar zu einem größeren Entgegenkommen gegenüber den Japanern bereit, sie war aber keineswegs damit einverstanden, auf eine Erschließung des chinesischen Marktes für alle Zeiten zu verzichten. Mit dieser ambivalenten Ostasienpolitik zwischen aktuellen strategischen und militärpolitischen Notwendigkeiten sowie zukünftigen wirtschaftlichen Möglichkeiten vermochte die politische und die militärische Führung des Deutschen Reiches vor Beendigung des Krieges allerdings nicht, Deutschland als Partner in den Augen der Japaner interessant zu machen, die sich von guten Beziehungen zu den Alliierten weitaus mehr versprachen. Das auf dem ostasiatischen Kontinent erfolgreich operierende Japan meinte, bei seinen Expansionsplänen in Fernost auf die Fürsprache des geschwächten Deutschen Reiches nicht angewiesen zu sein, obwohl dessen potentiell wichtige Unterstützung bei der Schaffung einer Nachkriegsordnung in Ostasien durch eine undiplomatisch kompromißlose, harte Haltung auch nicht von vornherein verspielt werden sollte. Die nach dem Kriegseintritt Chinas sowie der sich abzeichnenden militärischen Niederlage Rußlands noch stärker forcierten Bemühungen der Reichsregierung um gute Beziehungen zu Japan und um eine russisch-japanisch-deutsche Allianz scheiterten schließlich ebenfalls 114 . Neben den Plänen einer transkontinentalen Achse über Rußland mußten die Vorstellungen einer Verbindung über den Mittleren Osten eindeutig in den Hintergrund treten, wenn auch die deutsche Präsenz in der Türkei seit 1916 ständig weiter ausgebaut wurde. Die Entsendung einer eigenen Fliegertruppe mit 400 Flugzeugen, die Vergrößerung der Militärmission auf 800 Mann bis 1918 und die Aufstellung eines „Deutschen Asienkorps" aus 18 000 Soldaten in der Türkei richteten sich jedoch zunächst primär gegen die englische Position im Nahen Osten. Zur Entwicklung neuer euro-asiatischer Konzeptionen mit der Türkei als Ausgangspunkt dürfte es angesichts der Spannungen mit dem Osmanischen Reich über die wirtschaftliche Nutzung des Kaukasus nach der Niederlage Rußlands und dem allmählichen Zusammenbruch der Palästinafront dann kaum noch gekommen sein. Die Türken versuchten zudem, sich politisch den Alliierten anzunähern, die das Osmanische Reich aus der Front der Mittelmächte herauslösen wollten. Mit der freiwilligen Kündigung der deutschen Militärmission (Oktober 1918) und deren Ausweisung hoffte die Türkei, angesichts der Niederlage die Westmächte zu einem Entgegenkommen bewegen zu können 1 1 5 .

113 114

115

Vgl. dazu vor allem Hayashima, S. 73 ff. Gesandtschaft Peking an AA, 2. 9. 1916, PA, Abt. IA Chi/China 7 / 6 ; Gesandtschaft Peking an Bethmann Hollweg, 1 7 . 1 0 . 1916, ebd.; Gesandtschaft Den Haag an AA, 3. 6. 1917, ebd., China 7/7. Ausführlich Hayashima, S. 86 ff. Wallach, S. 163 ff.

267

Weniger die Türken als Kriegsverbündete Deutschlands, als vielmehr die Chinesen sahen sich in den letzten Monaten des Krieges und insbesondere unmittelbar nach der Niederlage des Deutschen Reiches von den Alliierten gedrängt, kompromißlos gegen die Deutschen in ihrem Land vorzugehen. Die chinesische Regierung zeigte sich von diesen Forderungen nicht gerade angetan, obwohl dabei die prinzipielle Deutschlandfreundlichkeit der Militärmachthaber kaum eine besondere Rolle spielte. Schon die Opposition des chinesischen Parlaments und des Staatspräsidenten Li Huan-yung gegen die beabsichtigte Kriegserklärung des japanorientierten Ministerpräsidenten General Tuan Ch'i-jui an das Deutsche Reich war kaum als offener Sympathiebeweis für Deutschland gemeint. Hinter dieser Uneinigkeit in Regierungskreisen standen zum einen die Absicht, weitere Zusagen von den Großmächten zu erlangen, zum anderen aber handfeste innenpolitische Rivalitäten. Die schließlich vollzogene Kriegserklärung, die als Begründung die Gefährdung der Kulitransporte an die Alliierten durch den uneingeschränkten U-BootKrieg vorgab, war in China allerdings alles andere als populär 116 . Obwohl alle völkerrechtlichen Verträge aufgekündigt, die Deutschen — außer in den Bergwerksbetrieben und bei der Eisenbahn — aus chinesischen Diensten entlassen und sämtliche deutsche Schiffe beschlagnahmt wurden, blieben die deutschen Kaufleute weiterhin unbehelligt. Neben einem Handelsverbot für Chinesen mit Deutschen erfolgte zunächst nur die Liquidation der Deutsch-Asiatischen Bank und eine Einstellung der Anleihezahlungen und der Boxerentschädigung. Erst der massive Druck der Alliierten und deren verbindliche Zusage einer chinesischen Teilnahme an der Versailler Friedenskonferenz veranlaßten die chinesischen Behörden Ende 1917 doch noch, deutsches Firmen- und Privateigentum zu konfiszieren und ab Mitte 1918 auch mit vereinzelten Deportationen von Deutschen aus China zu beginnen. Dennoch bestand nach Ansicht deutscher Handelskreise angesichts der größtenteils freundlichen Stimmung in der chinesischen Oberschicht, die versuchte, so weit wie möglich Leben und Eigentum der Deutschen zu sichern, selbst Ende 1918 kein Grund zur Besorgnis, wenn auch der Handel völlig brach lag und keine Besserung in Sicht war 1 1 7 . Die Angst, das Deutsche Reich könnte nach dem Friedensschluß in kurzer Zeit seine alte Stellung in China wiedererlangen, ließ jedoch die westlichen Alliierten Anfang 1919 — oftmals über die Köpfe der Chinesen hinweg — härter gegen die China-Deutschen vorgehen. Tatsächlich war überall nicht nur die Passivität der chinesischen Regierungsbehörden gegenüber dem „Kriegsgegner" Deutschland auffallend, sondern partiell konnten sogar schon wieder Unterstützungsmaßnahmen lokaler und provinzieller chinesischer Ver1,6

Chinesische Gesandtschaft, Berlin, an AA, 14. 2. 1917, PA, Abt. IA Chi/China 7 / 6 ; Ge-

117

„Norddeutsche Allgemeine Zeitung", 2 6 . 5 . 1917, ebd., China 7 / 7 ; „Peking Gazette",

sandtschaft Peking an AA, 4. 3. 1917, ebd. 6. 6. 1917, ebd.; Reuter-Meldung, 16. 8. 1917, ebd., China 7 / 8 ; Aufzeichnung AA, o. D., ebd.; „Neue Preußische Zeitung", 9 . 1 0 . 1917, ebd., China 7 / 9 .

268

waltungen für Deutsche festgestellt werden. Nach umfassenden diplomatischen Interventionen in Peking wurden ^auf Veranlassung der Alliierten erstmals Repatriierungen von Deutschen in größerem Umfang vorgenommen. Nur etwa ein Viertel aller Deutschen vermochte schließlich mit Hilfe chinesischer Freunde im Land zu bleiben. Während sich die politische Führung in Deutschland auf eine unnachgiebige Haltung der Alliierten bei den Friedensverhandlungen einstellen mußte, begannen die Westmächte, welche die Kapitalknappheit der Chinesen ausnutzten, in China bereits den von den chinesischen Behörden konfiszierten deutschen Grundbesitz zu ersteigern und anschließend weiterzuverkaufen. Der deutschen Chinawirtschaft drohte unmittelbar nach dem Kriegsende in Europa, sowohl personell als auch materiell, für längere Zeit die Existenzbasis entzogen zu werden. Dennoch sollte China auch nach dem Krieg für die deutsche Wirtschaft, aber auch für die deutsche Außen- und Militärpolitik Anlaß zu Hoffnungen und verstärkten Aktivitäten bleiben 118 .

118

Bericht des RMA über die Ausweisung der Deutschen, o. D. (1918/1919), BA-MA, Fase. 5908/Fspec. III/9. US Gesandtschaft Peking an Secretary of State, 29.11. 1918, FRUS 1918, I, S. 121 f.

269

6.

DEUTSCHER REVISIONISMUS UND CHINESISCHE WIRREN. DIE DEUTSCHE WIRTSCHAFTSPOLITIK IN CHINA UND DIE ERRICHTUNG DER KUOMINTANG-HERRSCHAFT (1919-1928)

a) Die Wiederannäherung der beiden „Verliererstaaten" und die Belebung des deutschen Chinageschäfts Die Folgen des Ersten Weltkrieges ließen die Weiterführung der Modernisierung Chinas nicht nur zu einem vordringlichen Anliegen des geschlagenen Deutschen Reiches, sondern auch der alliierten Siegennächte werden. Die wirtschaftliche Stagnation in den Industrieländern 1 unterstrich immer stärker die Notwendigkeit, neben dem Absatz- vor allem den unerschöpflich erscheinenden chinesischen Rohstoffmarkt zu erschließen. Die Chancen zu einer Öffnung des Landes wurden jedenfalls von den Westmächten nicht schlecht beurteilt. Durch ein Anknüpfen an die eigene Vorgehensweise der Vorkriegszeit beabsichtigte vor allem Großbritannien, mögliche Widerstände in China zu überwinden und seine Geschäfte wiederzubeleben. Wenn auch die Neufassung des Systems der „ungleichen Verträge" zu einem erklärten Ziel britischer Chinapolitik der 20er Jahre wurde, so stand doch in der unmittelbaren Nachkriegspolitik Englands in Ostasien die Wiederherstellung eines ungefährdeten und geöffneten chinesischen Marktes eindeutig im Mittelpunkt. Die zunächst abwartend moderate Haltung und die wirtschaftspolitische Offensive der Engländer ließen keinen Zweifel daran aufkommen, daß London gegebenenfalls sogar dazu bereit gewesen wäre, in China militärisch zu intervenieren, falls die eigenen Interessen allzu sehr bedroht schienen. Zwar war es der britischen Politik gelungen, die Deutschen als unliebsame Konkurrenten aus dem Chinahandel auszuschalten und 1919 bereits wieder größere wirtschaftliche Erfolge zu erzielen, sie vermochte es aber nicht, den wirtschaftlichen Einfluß der Japaner entscheidend zu schwächen 2 . Japan hatte es ohne Zweifel verstanden, seine im Krieg gewonnene Position zu festigen. In Shantung und vor allem in der Südmandschurei kontrollierte es von seinen „Pachtgebieten" aus fast sämtliche Industriebetriebe. Eisenerz

1

Petzina, Zwischenkriegszeit, S. 7 ff.

2

Der Anteil Großbritanniens a m Außenhandel Chinas stieg von 11 % (1917) auf 19 % (1919) und 30 % (1920). Der Anteil der USA betrug jeweils 15 %, 17 % und 16 %, derjenige Japans 33 %, 28 % und 27 %. Cheng, S. 258 f.; Louis, S. 17 ff. 271

und Kohle wurden nach Japan in größeren Mengen ausgeführt, als in China selbst verbraucht. 1919 konnten japanische Häfen sogar den Im- und Exportumschlag Hongkongs mit China übertreffen. Tokyo gehörte zwar neben Paris, London, Brüssel und Washington dem von den Engländern initiierten neuen „Fünfmächte-Konsortium" an, dem es mit seinen Anleihen — 1919/20 ca. 16 Millionen Pfund 3 — gelang, die Exporte nach China wiederzubeleben und die unliebsame Konkurrenz kleinerer Länder auszuschalten. Eine politische Verpflichtung der Japaner auf die Linie des Freihandels konnte aber durch diese wirtschaftliche Kooperation zu keiner Zeit erreicht werden. Im Gegenteil, die britisch-japanischen Gegensätze vergrößerten sich zusehends wegen der finanziellen japanischen Alleingänge in der Mandschurei, so daß auch der Fortbestand des Konsortiums gefährdet war. Erst auf amerikanischen Druck vermochte es sich neu zu formieren und weitere Anleiheverträge mit China, insbesondere zur Modernisierung und zum weiteren Ausbau des Eisenbahnnetzes, zu schließen 4 . Trotzdem machten die zähen Beratungen der Konsortiumsmitglieder 1923 deutlich, daß eine gemeinsame langfristige Wirtschaftspolitik der Vertragsmächte in China gescheitert war. Das bedeutete gleichzeitig auch, daß die amerikanische Politik des Ausgleichs und der Suche nach einem kollektiven Vorgehen der Großmächte im pazifischen Raum ihre erste Niederlage hinnehmen mußte 5 . Die Vereinigten Staaten waren nach dem Ersten Weltkrieg nicht bereit gewesen, ihre Vorstellungen einer „Pax Americana", den Aufbau und die Sicherung eines unteilbaren Weltmarktes unter amerikanischer Führung, aufzugeben. Sie hatten es daher — auch aus innenpolitischen Überlegungen — vorgezogen, dem ursprünglich von ihnen selbst als Ausdruck internationaler Solidarität und Alternative zum Bolschewismus ins Leben gerufenen Völkerbund nicht beizutreten, da dieser von den europäischen Siegermächten beherrscht zu werden drohte 6 . Das State Department war ohnehin der Auffassung, den amerikanischen Einfluß im Fernen Osten und die generelle Sicherheit dieser Region nach den unzureichenden Regelungen der Versailler Friedensverträge für die außereuropäischen Gebiete nur durch ein eigenständiges Vertragswerk für den Pazifik aufrechterhalten zu können. Im Gegensatz zu Südamerika, wo sie sich stark genug fühlten, ihre schon 1823 in der „Monroe-Doktrin" angemeldeten Führungsansprüche durchzusetzen, suchten die USA in Ostasien den politischen Ausgleich insbesondere mit Großbritannien und Japan 7 .

3

Hou, S. 276 f. China erhielt Anleihen über 22,5 Mill. Pfund. Hou, S. 226 f. Zum Stand der Eisenbahnbauten in China im Jahre 1914 vgl. die Karte im Anhang bei Schmidt, zum Stand von 1931 vgl. Remer, Investments, S. 118. Eine Studie zum Bau der Eisenbahnen durch die Westmächte in China in den 1920er Jahren bleibt ein Desiderat. 5 Pan, S. 23; Rische, S. 40 ff. 6 Grami, S. 9 ff. 7 Fairbank, United States, S. 289 ff. 4

272

Obwohl die amerikanische Außenpolitik nach dem Krieg noch lange zögerte, mit einer offenen Stellungnahme zugunsten Chinas die Japaner zu brüskieren, neigte Washington doch immer stärker dazu, in Anlehnung an England ein moderates Vorgehen Japans im ostasiatischen Raum vertraglich zu erzwingen. Bereits mit dem Rückzug der Alliierten aus Russisch-Fernost (1920) signalisierten die Amerikaner dem fernöstlichen Inselreich, daß sie nicht länger gewillt seien, ihm weitere Unterstützung auf dem ostasiatischen Kontinent und speziell in China zukommen zu lassen. Ausschlaggebend für die amerikanische Außenpolitik blieb wie vor und während des Krieges die Überlegung, eine Aufteilung des zukunftsträchtigen chinesischen Marktes auf jeden Fall verhindern zu müssen 8 . Von gleicher Bedeutung für die Vertragspolitik der USA in Ostasien Anfang der 20er Jahre war sicherlich die Besorgnis, England und Japan könnten trotz aller wirtschaftlichen Gegensätze doch zu einem erneuten politischen Ausgleich in Fernost gelangen und ihre 1902 eingegangene Allianz nochmals verlängern. Mehr als die ökonomischen Rivalitäten mit Japan in China beunruhigte die Vereinigten Staaten schon seit längerer Zeit die japanische Flottenrüstung, die sich im Falle eines erneuten englisch-japanischen Bündnisses noch stärker gegen die eigenen Sicherheitsinteressen richten mußte. Beide politischen Ziele, nämlich ein militärisches Gleichgewicht im pazifischen Raum bei Nicht-Verlängerung des englisch-japanischen Bündnisses und ein geöffnetes China konnte die amerikanische Politik schließlich durchsetzen 9 . Der Viermächte-Pakt und das Washingtoner Flottenabkommen vom 13. Dezember 1921 setzten die Ausgleichs- und Sicherheitspolitik der Großmächte im Fernen Osten aus den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg fort, wenn auch mit sichtbarem Machtzuwachs der Amerikaner 10 . Im Neunmächte-Vertrag vom 6. Februar 1922 11 wurde im Gegensatz zu den vagen Aussagen der Vorkriegsvereinbarungen der Großmächte das Prinzip der „Open Door" in China erstmals in einem Abkommen mit den Chinesen eindeutig festgeschrieben; allerdings blieb dessen Durchführung, wie die Zukunft zeigen sollte, allein dem Gutdünken der Mächte überlassen, da Sanktionsbestimmungen fehlten. Darüber hinaus beinhaltete der Vertrag die konkrete Zusage der Japaner, sich aus den besetzten Gebieten der Sowjetunion sofort und aus Shantung und Kiaochow schrittweise zurückzuziehen. Des weiteren war beabsichtigt,

8

Clubb, Conflict, S. 14 ff.

9

Buckley, S. 127 ff.; Fairbank, United States, S. 289 ff.

10

Der Viermächte-Vertrag zwischen den USA, England, Frankreich und Japan ersetzte die britisch-japanische Allianz; das Flottenabkommen setzte die Flottenstärken zwischen

den

USA,

Großbritannien,

Japan,

Frankreich

und

Italien

im

Verhältnis

5 :5 :3 :1,75 :1,75 fest, Buckley, S. 127 ff. 11

Die Unterzeichner des Neunmächte-Vertrages waren neben den USA, England, Frankreich, Japan und China auch Italien, Belgien, die Niederlande und Portugal. Text des Vertrages in: Willoughby, Controversy, S. 685 ff. 273

einige Jahre später die chinesischen Seezölle, die sich 1923 wie schon in den vorangegangenen Jahren nur auf 5 % des effektiven Warenwertes beliefen, auf über 5 % anzuheben. China sollte schrittweise die Tarifautonomie und schließlich die volle Souveränität erlangen 12 . Trotz der stabilisierenden Wirkung der Washingtoner Verträge auf den ostasiatischen Raum zeichneten sich mit ihnen doch Entwicklungen ab, welche die Stellung der Großmächte in Fernost wesentlich verändern sollten. Weite Teile der japanischen Bevölkerung fühlten sich, durch die militärischen Erfolge der Kriegszeit geblendet, wie schon mit den Vereinbarungen von 1895 nun erneut 1922 um die Früchte des Sieges gebracht. Sie sahen die alten Vorbehalte bestätigt, die Westmächte hintertrieben die japanischen Großmachtinteressen im Fernen Osten. Vor allem radikale Offizierkreise, insbesondere der Besatzungs-(Kwantung-)Armee in der Mandschurei, und ultrarechte Geheimgesellschaften vermochten diese antiwestlich-nationalistische Stimmung politisch zu nutzen 13 . Die tatsächlichen Verlierer in Ostasien waren allerdings nicht die Japaner, sondern die europäischen Siegermächte des Ersten Weltkrieges. Nicht so sehr für Frankreich, das mit seiner quasi-hegemonialen Stellung auf dem europäischen Kontinent bis Mitte der 20er Jahre eine hinreichende wirtschaftliche und politische Kompensation fand, als vielmehr für Großbritannien, die alte politische und wirtschaftliche Führungsmacht in Fernost, brachten die Veränderungen in Ostasien den größten Verlust an Prestige und Einfluß. Mit der Anerkennung der Ergebnisse der Washingtoner Konferenz hatte London zwar seine Sicherheitsinteressen im Pazifik zu wahren vermocht, dafür aber als Preis die Teilung der politischen und militärischen Vorherrschaft mit den Amerikanern akzeptieren müssen. Konnten die Amerikaner und Japaner ihre Position auf dem chinesischen Markt bis Mitte der 20er Jahre festigen 14 , so erfüllten sich die wirtschaftlichen Hoffnungen Londons nach den guten Anfangserfolgen 1919/20 nicht. Der Kursverfall der chinesischen Währung um fast 4 0 % von 1921 bis 1926 1 5 traf den englischen Außenhandel hart. Die japanischen wirtschaftlichen Hegemonialbestrebungen und die russische Präsenz verhinderten zudem eine englische Durchdringung des zukunftsträchtigen mandschurischen Marktes 16 . Des weiteren richtete sich die wachsende antiwestliche Stimmung der Chinesen primär gegen den ehemaligen Haupt-

Gesandtschaft Peking an AA, 2 3 . 2 . 1923, StAHB, 3 / A 3 . C . 3 / 3 2 7 . Drechsler, Deutsch-

12

land, S. 9 ff.; King, History, S. 96 ff.; Kuo, Komintern, S. 50 ff.; Ghosh, S. 344 ff. Pelz, S. 9 ff.; Storry, S. 115 ff.; zum Verhältnis von Militär und Agrarsektor Havens,

13

passim. 14

Japan wurde schließlich zur stärksten ausländischen Wirtschaftsmacht in China. Röser, S. 30 ff.; A. Young, Effort, Anhang 23.

15

Remer, Trade, S. 260 ff.

16

Collis, S. 175 ff., 203 ff.; Louis, S. 31 ff.

274

Vertreter der imperialistischen Mächte: Großbritannien mußte von 1920 bis 1925 einen Rückgang seines Handels mit China um 4 0 % hinnehmen 1 7 . Schon seit seinem erzwungenen Kriegseintritt gegen Deutschland fühlte sich China stärker denn je zum Objekt internationaler Machtpolitik degradiert; durch die Ergebnisse der Versailler Friedenskonferenz sah es sich gleichfalls betrogen und hintergangen 18 . Weder die finanziellen Zuwendungen noch die politischen Zugeständnisse von 1917 stellten die hochgespannten Erwartungen zufrieden, mit der Friedensregelung endlich ein gleichberechtigtes Mitglied der neuen Völkergemeinschaft zu werden. Die Tatsache, daß China de jure zu den Siegern des Weltkrieges gehörte und auch in den Völkerbund aufgenommen wurde, konnte nicht über seine empfindliche außenpolitische Niederlage in Versailles hinwegtäuschen. Das Deutsche Reich mußte zwar auf seine Privilegien und Konzessionen in China verzichten, eine allgemeine Vertragsrevision der „ungleichen Verträge" stand aber nie auf der Tagesordnung der Friedenskonferenz. Im Gegenteil, die chinesische Abhängigkeit wurde durch die Vereinbarungen über Shantung, in denen Japan die Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches antrat 19 , erneut festgeschrieben. Die Enttäuschung über Versailles führte trotz aller Beteuerangen der Westmächte bezüglich nachfolgender vertraglicher Verbesserungen schon 1919 zu einer tiefen Verstimmung der Chinesen. Insbesondere die Haltung der chinesischen Intellektuellen, die angesichts der innerchinesischen Probleme dem westlichen Vorbild größte Sympathie entgegengebracht hatten, wurde zunehmend kritischer 20 . Im Gegensatz zur „Selbststärkungsbewegung" und zur Reformpolitik, an deren Ende die industrielle bzw. die institutionelle Anpassung an den Westen gestanden hatte, strebte eine neue kulturelle Bewegung in China seit 1915 auch die vollständige Übernahme des weltanschaulichen Gedanken- und Kulturgutes der westlichen Mächte an. Die geistige Erneuerungsbewegung, die von den Intellektuellen ausging und Verbindung zum Volk suchte, wandte sich strikt gegen Traditionalismus und Konservatismus, die trotz aller revolutionären Umformungen immer noch die ideologische Basis der chinesischen Gesellschaft bildeten. Nach Ansicht der kulturellen Erneuerer habe die Entwicklung Chinas gerade in den vorangegangenen Jahren seit der Revolution gegen die Mandschu-Herrschaft gezeigt, daß die chinesische Gesellschaftsordnung dem Vergleich mit der westlichen nicht standhalten könne. Kulturelle Innovationen wie Abschaffung der Literatensprache und Ausbau

17

Der Anteil Großbritanniens (einschließlich seiner Dominions) a m Gesamthandel mit China sank von 30 % auf 14,2 %, der amerikanische stieg in demselben Zeitraum von 10 % auf 16,4 %, der japanische von 27 % auf 27,9 %. Cheng, S. 2 5 8 f.; Röser, S. 30 ff. A. Young, Effort, Anhang 23.

18 19

Zu den Zielen Chinas in Versailles: Glaime, S. 32 ff. S. dazu den Vertrag von Versailles, Teil IV, Abschnitt II China, Artikel 1 5 6 - 1 5 8 , in: Der Vertrag von Versailles.

20

Causey, S. 4 ff.; Martin, Germany, S. 593 ff. 275

des Erziehungssystems sollten daher nach Auffassung der meisten Intellektuellen zugleich eine Überwindung des bestehenden sozialen Gefüges mit einer Emanzipation des Individuums aus dem Familienverband und eine Beseitigung der politischen Herrschaft der Militärmachthaber bewirken. Die kulturelle Erneuerungsbewegung entwickelte sich auf dieser Basis immer stärker zu einer geistig revolutionären Nationalbewegung. Zur Rettung und zur Weiterentwicklung Chinas sollte in allen Bereichen das konkrete westliche Vorbild herangezogen werden, obwohl es seine eigenen Anfälligkeiten gerade im Weltkrieg augenfällig demonstrierte. Nur einige wenige Intellektuelle maßen dabei dem Konfuzianismus für die Zukunft noch einen Wert zu. Die gebildeten Schichten fühlten sich dem liberal-demokratischen Ideal Amerika und dem Beispiel Wilsonscher Politik verpflichtet; der Marxismus dagegen fand in diesen Kreisen auch nach der Oktoberrevolution kaum Anklang 21 . Diese radikale Neuorientierung des bisher sinozentrischen chinesischen Denkens war in der Anfangsphase der Bewegung kosmopolitisch ausgerichtet und zielte auf eine gleichberechtigte Teilnahme am politischen, sozialen und geistigen Leben der übrigen Welt. Angesichts des enttäuschenden Verhaltens des Westens auf der Versailler Friedenskonferenz wurde diese Bewegung ab Anfang 1919 jedoch zunehmend nationalistisch. Die Zukunftspläne der kulturellen Erneuerer drohten am imperialistischen Verhalten der Japaner in China und an dessen Billigung durch die Westmächte zu scheitern. Auf dem Höhepunkt der kulturellen Erneuerungsbestrebungen brach der chinesische Nationalismus schließlich in der „Vierte-Mai-Bewegung" durch. Drei Tage bevor sich die japanischen „21 Forderungen" von 1915 zum vierten Male jährten, demonstrierten ca. 5000 Studenten in Peking, mit denen sich Kaufleute und Händler solidarisierten. Japanische Waren wurden in ganz China boykottiert. Auch das befristete militärische Zusammengehen von chinesischen Militärmachthabern im Norden und Japanern in der Mongolei und der Mandschurei gegen das revolutionäre Rußland konnte über den massiven Widerstand der Chinesen gegen die japanische Unterdrückungspolitik nicht hinwegtäuschen, der bis zur Einbindung der Japaner in den Neunmächte-Vertrag von 1922 anhielt. Die kulturell-ideologische Revolution von 1919 bewirkte aber nicht nur das Ende einer defensiven chinesischen Außenorientierung, sondern sie wurde, wie die republikanische von 1911/12, zum Wegbereiter der nationalen chinesischen Revolution, die ab Mitte der 20er Jahre in verstärktem Maße die Grundideen der kulturellen Bewegung wieder aufgriff 22 . Die nationale Erweckung eines „Neuen China" zeigte jedoch zunächst kaum unmittelbare Auswirkungen auf die konkrete politische, wirtschaftliche und 21

J. Chen, S. 380 ff.; W . Franke, Jahrhundert, S. 138 ff.; Hsü, Rise, S. 582 ff.

22

Th. Röhn an Carlowitz & Co., 31. 5. 1 9 2 0 : Bericht über die politische und wirtschaftliche Situation in China während der Phase der kulturellen Revolution, PA, Pol. Abt. IV, Po 2 Chi/1. Gesandtschaft Peking an AA, 23. 2 . 1 9 2 3 über die chinesischen Boykotte japanischer W a r e n und deren Erlöschen, HKHB, Hp II 8 3 / 7 .

276

soziale Entwicklung des Landes; Militarismus und Regionalismus blieben die dominierenden gesellschaftlichen Strukturelemente 23 . Zwar gab es seit 1919 wieder ein Parlament in Peking, wie der Staats- und der Ministerpräsident diente es aber mehr als Fassade einer machtlosen Zentrale, die das Land lediglich nach außen repräsentierte 24 . Der Niedergang des republikanischen Staates in den 20er Jahren ging mit dem weiteren Verfall der Regierungsmacht in Peking einher 25 . Die Konsolidierung einzelner Machtzentren in China wurde vor allem durch die außerordentlich prekäre Finanzlage der Zentralregierung gefördert, die lediglich die vom Ausland kontrollierten Seeund Salzzolleinnahmen erhielt. Weitere Gelder standen nicht zur Verfügung, da die Eisenbahnen als ehemalige Einnahmequelle infolge der permanenten militärischen Auseinandersetzungen in desolatem Zustand waren und die regionalen Militärmachthaber die Steuern zurückhielten 26 . Trotz aller partikularistischen Bestrebungen bei den Militärs gab es jedoch auch Ansätze zur Zusammenarbeit, die sich insbesondere in einem Streben nach engeren Verbindungen und besserer Kommunikation ausdrückten. Außer dem Wunsch einzelner Machthaber, Modellprovinzen aufzubauen, ließen sich dabei — allerdings mit Ausnahme der von der Kuomintang beeinflußten Machtzentren im Süden — keine ideologischen Gemeinsamkeiten und weltanschaulichen Programmvorstellungen ausmachen. Der Pragmatismus der Peyang-Clique erwies sich immer noch als die stärkste Kraft. Gerade den nördlichen „warlords" gelang es dann auch, die Zentralregierung ihren Einflüssen zu unterwerfen. In permanenten militärischen Auseinandersetzungen seit Anfang der 20er Jahre stritten die drei größten Militärfraktionen des Nordens, die Anfu-, die Chili- und die Fengt'ien-Clique, darum, ihre Macht in Peking durchzusetzen. Zunächst gelang es 1920 Chang Tso-lin, dem mächtigsten Militärmachthaber der Mandschurei, den seit 1917 regierenden Ministerpräsidenten, Tuan Ch'i-jui, mit Hilfe der Japaner abzusetzen 27 . Wenn die Großmächte auch jeweils verschiedene Fraktionen der nördlichen Militärmachthaber unterstützten, so erkannten sie doch immer die gerade herrschende Regierung in Peking an, um ihre finanziellen Forderungen aus Anleihen durchzusetzen 28 . Obwohl die Zentralregierung dadurch zusätzlich geschwächt wurde, dachten die Westmächte nicht daran, China weiter entgegenzukommen, als es ihnen im Hinblick auf ein Zurückdrängen Japans nötig erschien. Die Macht der „warlords" des Nordens war ihnen weiterhin der

23

Shao, S. X X X V ff.

24

Nathan, passim.

25

Allein von 1 9 1 8 - 1 9 2 8 gab es 26 Premierminister. Ch'i, Warlord Politics, S. 1 ff.

26

Gesandtschaft Peking an AA, 23. 2. 1923, StAHB, 3 / A 3 . C . 3 / 3 2 7 . Jahresbericht Siemens

27

Bericht Carlowitz & Co., 18. 8. und 2 2 . 1 2 . 1 9 2 1 , HA Krupp, W A IV 1936. Ch'i, Warlord

China Co. 1 9 2 1 / 2 2 und 1 9 2 2 / 2 3 , SAA, 1 7 / L c 73. Politics, S. 55 ff., 151 ff., 179 ff. Zu Chang Tso-lin und seinen Aufstieg zur Macht im Nordosten sowie seinen Beziehungen zu den Japanern McCormack, passim. 28

Chesneaux, Bd 2, S. 109 f. 277

beste Garant gegen wachsende revolutionäre antiwestliche Umtriebe im Süden und für eine weitere wirtschaftliche Ausbeutung des Landes 29 . Das Wiedereindringen der Europäer nach dem Ersten Weltkrieg in den chinesischen Markt und dessen Überschwemmung mit westlichen Produkten Anfang der 20er Jahre beendete den kurzfristigen Aufschwung der chinesischen Wirtschaft. Die Orientierung am westlichen Modell bei der forcierten Industrialisierung des Landes während des Krieges hatte sich nicht ausgezahlt. Die meisten chinesischen Produkte konnten auch weiterhin nicht mit den westlichen konkurrieren, und die Abhängigkeit der chinesischen Wirtschaft nahm weiter zu. Das Ausland kontrollierte die chinesischen Finanzen und beteiligte sich immer stärker an chinesischen Industrieunternehmen. Minen, Eisenbahnen, Nachrichtensysteme, schwerindustrielle und Schiffahrtsbetriebe gerieten fast ausnahmslos in die Hände ausländischer Unternehmen und Banken, insbesondere der Japaner und Engländer. Der Grund lag vor allem in der Zurückhaltung des privaten chinesischen Kapitals. Die chinesischen Banken weigerten sich, wie unter der Mandschu-Herrschaft, Gelder zur Verfügung zu stellen, da ihnen in dem bürgerkriegsähnlichen Chaos eine sinnvolle Reorganisation der Wirtschaft unmöglich erschien 30 . Eine Verringerung der Rüstungsanstrengungen stand jedoch nicht zur Diskussion, da Waffen und Soldaten für die Militärmachthaber grundsätzliche Bedeutung zur Absicherung ihrer politischen Macht besaßen. Die Ausgaben für das Militär — bei einer Teuerungsrate von über 5 0 0 % in den Jahren 1916 bis 1928 31 — konnten aber nur durch rigorose inflationäre Praktiken im Innern aufgebracht werden, da die Großmächte wegen der inneren Unruhen kaum noch Gelder für die Rüstung zur Verfügung stellten 32 . Der katastrophale Währungsverfall infolge der Rüstung und die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen führten schließlich zu einem einschneidenden Absinken des Lebensstandards in China. Daraus wiederum resultierten Lohnkämpfe und Streiks in den Städten, in denen sich mit der fortschreitenden Industrialisierung auch Arbeiterprobleme stärker artikulierten. Besonders betroffen wurden die ausländischen Besitzungen, die ab 1923 die Enttäuschung der Chinesen über den Ausgang der Washingtoner Konferenz zu spüren bekamen 3 3 . Neben den wachsenden Unterschieden in der Entwicklung Nord- und Südchinas durch die Konzentrierung der Industrialisierung auf den Nor-

29 30

Nathan, S. 281 ff.; Sheridan, passim. „Ostasiatische Rundschau", 1. 5 . 1 9 2 1 , H W W A , B 9 4 / q N r . 501. Hickmann, S. 74 ff.; Röser, S. 14 ff.

31

Ch'i, Warlord Politics, S. 167 ff.

32

Von 1917 bis 1 9 1 9 erhielt China noch Anleihen über 8 Mill. Pfund für den militärischen Bereich, dann aber flössen für diesen Sektor, abgesehen von 75 000 Pfund (1920) und 1 3 0 0 0 0 Pfund (1925), bis zum chinesisch-japanischen Krieg keine Gelder mehr ins Reich der Mitte. Hou, S. 227 f.

33

Gesandtschaft Peking an AA, 23. 2. 1923, StAHB, 3 / A 3 . C . 3 / 3 2 7 . ]. Chen S. 316 ff.; Ch'i, Warlord Politics, S. 125 f.; Widmann, passim; Wilson, S. 4 f.

278

den 34 machten sich nun auch immer größer werdende Gegensätze zwischen Stadt und Land bemerkbar. Die Militarisierung Chinas hatte sich schon seit der Jahrhundertwende nachteilig auf die bäuerliche Gesellschaft ausgewirkt. Vor allem nach dem Krieg traf die Herrschaft der Militärs dann aber die Landbevölkerung eindeutig härter als die Städte, deren neue bürgerliche Händler- und Unternehmerklasse die Verbindungen zu den Großmächten als Schutzgarantie auszunutzen verstand. Die finanziellen Lasten und sonstigen Willkürakte, unter denen im alten Agrarsystem die Bauern zu leiden hatten, erreichten Anfang der 20er Jahre ihren Höhepunkt. Eine Förderung der landwirtschaftlichen Technisierung oder ein sozialer Ausgleich waren von den Militärmachthabern, die oftmals selbst den größten Grundbesitz besaßen, nicht zu erwarten, ebensowenig eine Besteuerung der größeren Einkommen. Die Notwendigkeit, Finanzmittel zu beschaffen, erhöhte jedoch den Druck der Militärs auf das Land, so daß die willkürliche Machterhaltung die steuerliche Ausbeutung der Bevölkerung mehr und mehr verschärfte. Während die Verarmung und Verschuldung der Klein- und Pachtbauern drastisch zunahm, wuchs parallel dazu die Konzentration des Landbesitzes in den Händen einiger weniger, da Militärs wie Gentry den Boden weiterhin als die beste Kapitalanlage und als einträglichere Einnahmequelle betrachteten als die Modernisierung der Wirtschaft. Die unerträglichen Pachtzinsen und die zunehmenden Übergriffe der Soldateska führten zu einer erheblichen Landflucht, zur Bildung von Räuberbanden und zu lokalen Aufständen. Der militärische Regionalismus trieb das Land immer weiter auf den Abgrund zu 35 . Trotz der chaotischen Zustände blieb der chinesische Handel lebensfähig. Wie zu Zeiten der Boxerkriege gingen auch in den Wirren der 20er Jahre die Geschäfte weiter. Insbesondere die Außenwirtschaft setzte ihre positive Entwicklung fort. Zwar vergrößerte sich mit der Exportoffensive der Westmächte 1920/21 die negative Handelsbilanz zunächst, schwächte sich dann aber wieder ab. Obwohl der Mangel an Kapital zu einer sinkenden Produktion von Rohstoffen führte, die auf dem Weltmarkt besonders gefragt waren, konnten die chinesischen Ausfuhren in den Jahren 1920 bis 1925 in stärkerem Maße (ca. 30 %) gesteigert werden als die Einfuhren (ca. 25 %) 36 . Bei allen Vorbehalten des Auslandes gegenüber der inneren Entwicklung Chinas schienen die Ergebnisse des chinesischen Außenhandels dennoch auf eine ausbaufähige Wirtschaftsstruktur hinzuweisen. Die potentielle wirtschaftliche Bedeutung des riesigen Landes stand für die ausländischen Mächte eindeutig fest, und ihr Vertrauen in den chinesischen Markt blieb ungebrochen 37 .

34

Otte, S. 106 ff.

35

Augustin, S. 285 f.; Chesneaux, Bd 2, S. 110 ff., 124 ff., 135 ff.

36

Die chinesischen Ausfuhren stiegen von 541 631 0 0 0 HKT (1920) auf 776 353 0 0 0 HKT (1925), die Einfuhren von 762 250 000 HKT auf 947 865 0 0 0 HKT. Cheng, S. 258 f.

37

Carlowitz & Co. an Krupp, 27. 10. 1921 und 8. 8. 1923, HA Krupp, W A IV 1936. Rische, S. 4 0 ff.

279

Auch die deutsche Wirtschaft sah in China bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit wieder einen erstrebenswerten Handelspartner. Angesichts der steigenden Exporte der anderen europäischen Mächte schien ein erfolgreicher wirtschaftlicher Wiederanfang durchaus möglich zu sein. Politische, insbesondere kriegsbedingte Hindernisse wollte die Chinalobby dabei auf keinen Fall gelten lassen. Das Vertrauen in die eigene Stärke war trotz der Niederlage ungebrochen. Dagegen wollte die Reichsregierung mit neuen Verträgen zunächst die unabdingbaren Rahmenbedingungen für eine erneute wirtschaftspolitische Annäherung Deutschlands an China schaffen. Zwar waren sich die Politiker der Bedeutung einer schnellen Anknüpfung außenwirtschaftlicher Kontakte für die Gesundung der deutschen Wirtschaft im klaren, aber die Reichsregierung w a r selbst durch innere Auseinandersetzungen um die junge Weimarer Republik zu sehr in Anspruch genommen, um der Außenpolitik Priorität einräumen zu können. Obwohl die deutsche Politik nach dem Frieden von Versailles 38 von Anfang an revisionistisch war, bestimmte prinzipiell Rücksichtnahme auf die Siegermächte die konkreten Außenbeziehungen des Deutschen Reiches. Dennoch geriet Deutschland Anfang der 20er Jahre in eine außenpolitische Isolation, vor allem durch das ungeschickte Taktieren in der Reparationsfrage. Trotz der Annahme des Londoner Ultimatums vom 5. Mai 1921 blieb die Reichsregierung bei ihrer Politik des passiven Widerstandes, förderte die heimische Inflation und lehnte eine Stabilisierung der Währung aus eigener Kraft ab 39 . Gleichzeitig beabsichtigte sie, über eine Intensivierung der Verbindungen zu denjenigen Ländern, die dem Deutschen Reich nicht grundsätzlich feindlich gegenüberstanden, den wirtschaftlichen wie auch den politischen Wiederaufstieg Deutschlands herbeizuführen. Zu diesem Konzept gehörte zum einen der Ausbau der Beziehungen zu südamerikanischen und ostasiatischen Staaten, die mit der Zusicherung gleichberechtigter und gleichwertiger Beziehungen dem Deutschen Reich freundschaftlich verpflichtet werden sollten, zum anderen eine Verstärkung der Kontakte zur Sowjetunion und zu den Vereinigten Staaten, die den Versailler Vertrag nicht unterzeichnet hatten und mit denen Berlin am 24. August 1921 einen Sonderfriedensvertrag abschließen konnte 40 . Hingegen tat die Reichsregierung kaum etwas, um das Mißtrauen der anderen Westmächte abzuschwächen. Ein Beitritt zum Völkerbund wurde abgelehnt; die Zahlungsmoral bei den Reparationsleistungen nahm ständig ab. Erst der französische Gewaltakt der Rheinland- und Ruhrbesetzung (ab 11. Januar 1923) bewirkte ein Umdenken. Die von England angeregte Kommerzialisierung des Reparationsproblems wurde von der Reichsregierung nun bereitwillig aufgegriffen. Der Dawes-Plan vom August 1924 ermöglichte 38

39 40

Wurm, passim. Vgl. auch den Text des Versailler Vertrages in: Der Vertrag von Versailles. W. Fischer, S. 24 ff.; Petzina, Zwischenkriegszeit, S. 77 ff. Beitel/Nötzold, S. 22 ff.

280

Deutschland Mitte der 20er Jahre schließlich einen unerwarteten wirtschaftlichen Aufschwung sowohl im Inland als auch im Außenhandel. Selbst die konservativen Führungsschichten, die der neuen Republik zunächst ablehnend gegenübergestanden hatten, brachten der Reichsregierung desto größeres Vertrauen entgegen, je weiter diese ihre wirtschaftspolitische Handlungsfreiheit zurückgewinnen konnte 41 . Die den Staat tragenden Parteien hatten nach der Ausrufung der Republik die Hilfe der überkommenen Machtträger des monarchischen Regimes in Anspruch genommen, um revolutionären, reaktionären und partikularistischen Bewegungen wirksam entgegentreten zu können. Nicht nur die Wirtschafts- und Sozialstruktur blieb daher erhalten, sondern auch die politische und gesellschaftliche Machtposition der staatstragenden Schichten sowie die geistige Tradition des preußisch-deutschen Obrigkeitsstaates setzten sich ungebrochen fort. Insbesondere das Militär verstand es, trotz der Niederlage im Krieg seine Stellung in der Gesellschaft wieder zu festigen. Mit der Propagierung der „Dolchstoßlegende" 42 mobilisierte es erfolgreich die Anhänger der traditionellen Ordnung gegen alle demokratischen Bestrebungen. Das antidemokratische Bündnis der alten Eliten wurde immer mächtiger. Revanchistisches Denken gewann mit den sich ausbreitenden Wunschvorstellungen einer Totalrevision der Kriegsergebnisse auch wieder Einfluß auf die Außenpolitik 43 . Der englisch-französische und der englisch-russische Gegensatz förderten alte Vorstellungen von einer neuerlichen „Politik der freien Hand", um eine Großmachtstellung in Europa wiederzugewinnen. Gegenkonzepte zu der nach Westen orientierten „Erfüllungspolitik" der Reichsregierung galten durchaus als realistisch. Gerade die extrem antikommunistischen rechten Gruppierungen sahen in einer deutsch-russischen „Schicksalsgemeinschaft" eine Möglichkeit zur Wiederherstellung des alten Reiches und forderten eine Öffnung nach Osten sowie eine Hinwendung zum euro-asiatischen Kontinent. Den maßgeblich von der Wirtschaft und den Ostprotagonisten im Auswärtigen Amt unterstützten Bemühungen um eine erneute Öffnung des russischen Marktes war im Handelsabkommen zwischen der Sowjetunion und dem Deutschen Reich vom 6. Mai 1921 ein erster Erfolg beschieden, der im Vertrag von Rapallo (17. April 1922) seine politische Dimension erhielt. Auch wenn den Schwerindustriellen — an ihrer Spitze Krupp und Stinnes — von Anfang an klar war, daß die wirtschaftlichen Beziehungen zur Sowjetunion nur ein Zwischenspiel bei dem für die Zukunft wieder angestrebten Einstieg auf dem Weltmarkt sein konnten, förderten gerade sie wegen des akuten Rohstoffmangels Anfang der 20er Jahre die neue deutsche Ostorientierung. Dagegen verhielten sich die „modernen" Industrien eher zurückhaltend: Der

41

Graml, S. 151 ff., 173 ff.; Heiber, S. 148 ff.

42

Heiber, S. 65 ff.

43

Hallgarten, Hitler, S. 27 ff.; Stürmer, Bismarcks Deutschland, S. 20 f.; Carsten, passim. 281

Erste Weltkrieg hatte sich nicht als Zäsur, sondern als Katalysator eines wirtschaftlichen Strukturwandels erwiesen. Die verarbeitende und die Leichtindustrie waren daher, im Gegensatz zur Montan- und Schwerindustrie, auf dem internationalen Markt schon frühzeitig wieder konkurrenzfähig 44 . Der vollständige Verlust der Außenmärkte während des Krieges und das Bewußtsein einer vermeintlich politisch begründeten wirtschaftlichen Dauerkrise hatten in großen Teilen der Wirtschaft die Forderung nach einem Rückzug des Staates aus dem wirtschaftlichen Bereich hervorgerufen. Das Verlangen nach Freiräumen und einem Ende der kriegsbedingten staatlichen Bevormundung war neben wirtschaftlichen Überlegungen Anfang der 20er Jahre allerdings auch geprägt von der Sorge um die Erhaltung des privatwirtschaftlichen Systems und des eigenen politischen Einflusses. Von außen her schienen die enormen Reparationsforderungen die Unabhängigkeit zu gefährden; im Innern sah die Wirtschaft ihre Machtstellung durch den Parlamentarismus bedroht, der den bislang direkten Zugang zur Regierung zu verbauen schien, so daß der Bund Deutscher Industrieller (BDI) und der Centraiverband Deutscher Industrieller (CVDI) im Februar 1919 im Reichsverband der Deutschen Industrie (RDI) fusionierten. Trotz aller Ressentiments gegenüber der Weimarer Republik blieb die Wirtschaft jedoch bei einer pragmatischen Vertretung ihrer Interessen, die sich allein an den eigenen Vorteilen orientierte. Gerade in der Außenwirtschaft wurden daher schon bald wieder engere Kontakte mit staatlichen Organen aufgebaut 45 . Auch die Wiederanknüpfung der Beziehungen mit China war zunächst gekennzeichnet durch die Unabhängigkeitsbestrebungen der deutschen Wirtschaft, die mit den Vorstellungen der Chinapolitik des Auswärtigen Amtes nur teilweise übereinstimmten. Die Chinawirtschaft wollte sich keinesfalls staatlichen Plänen unterordnen und lieber ganz auf die Hilfe der Politiker verzichten. Frei vom Makel der Kriegsschuld und ohne Hilfe des republikanischen Systems, dem sie mißtraute, meinte die Wirtschaft, leichter in Ostasien wieder Fuß zu fassen. Aufmerksam hatten Wirtschaftskreise registriert, daß die Enttäuschung der Chinesen über die Haltung der Westmächte bei den Friedensverhandlungen vor allem Deutschland zugute kam. Die chinesische Regierung sah unmittelbar nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrages von weiteren Konfiskationen deutschen Eigentums ab und erklärte, da Peking dem Pariser Vertrag die Unterschrift verweigert hatte, am 15. September 1919 einseitig den Friedenszustand mit dem Deutschen Reich 46 . Auch das Auswärtige Amt erkannte in diesen Aktionen erste Anzeichen, welche die Bereitschaft der chinesischen Regierung zu einer wirtschaftlichen Wiederannäherung und einen politischen Ausgleich signalisierten, wie ihn auch

44

Hillgruber,

Großmacht,

S. 31 ff.;

Menne,

S. 340 ff.;

Petzina,

Zwischenkriegszeit,

S. 33 ff. 45

Weisbrod, S. 31 ff., 87 ff., 152 ff., 395 ff.; Wulf, S. 74 ff., 241 ff., 314 ff.

46

Gesandtschaft Den Haag an AA, 2 1 . 9 . 1919, PA, Abt. IA Chi/China 7 / 1 2 . Causey, S. 1 ff., 16 ff.

282

die deutsche Diplomatie nach dem erzwungenen Verzicht auf alle deutschen Privilegien in China 47 auf gleichberechtigter Basis anstrebte. Die Vertreter der deutschen Chinawirtschaft wollten dagegen nichts von größeren Kompromissen, Zugeständnissen und Rücksichtnahmen in China wissen. Keinesfalls sollten die „legitimen Ansprüche" — z.B. auf ein Niederlassungsrecht — aufgegeben werden, wie es der Ostasiatische Verein in einer Stellungnahme zu einer Denkschrift des Deutsch-Chinesischen Verbandes über „Friedensziele in China" formulierte 48 . Im Hinblick auf die sich 1919 abzeichnenden guten Verbindungen zu den im ehemaligen Reich der Mitte dominierenden Japanern waren die Kaufleute nicht bereit, alte Privilegien in China aufzugeben. Schon Ende 1918 hatten deutsche Handelskreise den Japanern zu verstehen gegeben, daß sie im Interesse eines deutsch-japanischen Ausgleichs auf Kiaochow keinen Wert mehr legen und auf alle Ansprüche gegenüber Japan verzichten würden, falls Tokyo das deutsche Pachtgebiet behalten wollte. Als Gegenleistung erhofften deutsche Firmen japanische Hilfe auf dem chinesischen Markt 49 . Die Hoffnungen der Kaufleute, mit Hilfe der Japaner ins Chinageschäft zurückkehren zu können, schienen sich nach der Unterzeichnung des Japan begünstigenden Versailler Vertrages tatsächlich zu erfüllen. Schon ab Mitte 1919 gelang es deutschen Firmen, über ihre japanischen Vertretungen oder mit direkter Hilfe der in China immer noch allmächtig erscheinenden Japaner auf dem chinesischen Markt erneut Fuß zu fassen und erste kleine Lieferungen zu tätigen. Der Handel mit China nahm 1920 sogar relativ rasch wieder zu, auch dank einiger Kredite der Yokohama Specie Bank für deutsche Handelshäuser und der Wiedereinreise von Deutschen, die nach Japan deportiert worden waren 5 0 . Gerade die personelle Repräsentanz in China wollten die Handelskreise nach der offiziellen Aufhebung des Handelsverbotes mit Deutschen durch die chinesische Regierung Anfang Februar 1920 so schnell wie möglich wieder verstärken, sehr zum Mißfallen des Auswärtigen Amtes, welches das problematische Verhältnis zwischen China und Deutsch-

47

48

49

50

Artikel 128—134 des Versailler Vertrages legten u. a. fest: Abtretung der Konzessionen Hankow und Tientsin, Verlust der Meistbegünstigung und der Exterritorialität, Verzicht auf Ansprüche aus Internierung und Repatriierung. Der Vertrag von Versailles. Deutsch-chinesischer Verband an AA, 29.10. 1918: Denkschrift über die deutschen „Friedensziele in China", PA, Abt. LA Chi/China 7/11; Stellungnahme des OAV zu dieser Denkschrift an AA, 25. 2. und 18. 7. 1919, ebd. Denkschrift des OAV „Kriegsziele in China", 26. 1. 1915, ebd., China 7/6. Handelskammer Hamburg an Deputation für Handel und Schiffahrt, 2 5 . 1 . 1921, StAHH, IC/2b 6. Kindzorra, S. 51 ff. 1919 betrugen die deutschen Exporte nach China ca. 160 000 HKT. 1920 war der Handelsumfang zwischen Deutschland und China immerhin schon wieder auf 7,2 Mill. HKT angestiegen, der deutsche Anteil am chinesischen Außenhandel lag bei 0,5 %. Cheng, S. 258 f.; Feng, S. 232 f.; Wu, S. 91.

283

land mit Rücksicht auf die nationale Empfindlichkeit der Chinesen erst durch politische Verträge klären wollte 51 . Der Chinahandel sah dagegen für grundlegende politische Vereinbarungen keine Notwendigkeit und war überzeugt, auf die Hilfe der Diplomatie verzichten zu können, die sich bei Verhandlungen mit den Chinesen lediglich auf Zollfragen konzentrieren sollte. Die chinesischen Boykotte japanischer, teilweise auch englischer und französischer Waren erweckten bei den deutschen Kaufleuten den Eindruck, die Chinesen warteten nur auf die Rückkehr der Deutschen. Trotz des immer noch anhaltenden englischen Drucks gegen Deutsche in China und der bedrohlichen Verarmung der Handelsfirmen gingen die Firmen davon aus, daß in absehbarer Zeit alles wieder so sein könne wie vor dem Krieg, wenn die Reichsregierung die Maßnahmen der Wirtschaft lediglich flankierend unterstütze und nicht versuche, den Handel zu bevormunden. Nach Ansicht der Chinakaufleute sollte vor allem die geplante Neuorganisation des diplomatischen Dienstes in China — im Gegensatz zu der Zeit vor dem Krieg — hauptsächlich auf die Belange der Wirtschaft ausgerichtet sein, ohne jedoch dem Staat ein größeres Mitspracherecht einzuräumen. Ein neues Kreditinstitut sollte ausschließlich für die gesamte Chinawirtschaft — und nicht wie die Deutsch-Asiatische Bank nur für die Industrie — insbesondere Austauschgeschäfte von Rohstoffen gegen Fertigwaren unter Einbeziehung des Handels durch staatliche Kredite fördern. Darüber hinaus wünschten die Kaufleute einen engeren Zusammenschluß von Handelshäusern und Industriefirmen, um Konkurrenz untereinander zu vermeiden und den chinesischen Compradorenhandel auszuschalten 52 . Deutsche Finanz- und Industriekreise vertraten nur in Detailfragen eine andere Meinung. Für beide Wirtschaftsgruppierungen stand nach dem Krieg ein schneller Wiedereinstieg auf dem chinesischen Markt außer Frage. Die Vorbehalte des Auswärtigen Amtes wurden ebensowenig wie in den Handelskreisen geteilt. Die Deutsch-Asiatische Bank bemühte sich, durch eine deutsch-chinesische Bankgründung ihr konfisziertes und liquidiertes Vermögen wiederzuerlangen. Die Industrie sah nach dem Krieg den fernöstlichen Markt als zukunftsträchtig an, da die Asiaten bei ihrem niedrigen Entwicklungsniveau auf westliche Technik angewiesen seien. W i e der Chinahandel meinten auch Finanz- und Industriekreise, nahtlos an die alten Expansionspläne anknüpfen zu können. In der deutschen Wirtschaft regten sich keine Zweifel, ob China seine Modernisierungsprojekte nun endlich verwirklichen

51

1 9 2 1 lebten schon wieder ca. 1250—1350 Deutsche in China, da Anfang 1919 nicht genügend Transportraum für weitere Repatriierungen zur Verfügung gestanden hatte. 1916 hatte die Zahl der in China ansässigen Deutschen bei ca. 3792, 1918 bei 2651, 1 9 1 9 bei 1335, 1920 bei 1013 gelegen und stieg bis 1924 auf 2733. Konsulat Tientsin an AA, 23. 2. 1920, PA, Abt. IA Chi/China 7 / 1 5 . Causey, S. 25 ff.

52

Übersee Verkehrs AG an AA, 7. 6. 1919, PA, Abt. IA Chi/China 7 / 1 1 ; Gesandtschaft Bern an AA, 1 7 . 1 . 1920, ebd., China 7 / 1 4 .

284

und sich dabei verstärkt an Deutschland orientieren werde, so daß größere Geschäfte unmittelbar bevorstünden 53 . Die tatsächliche Situation der deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen sah jedoch um 1920 ganz anders aus, als sich die Chinawirtschaft einzureden versuchte. Wohl konnte sich die deutsche Wirtschaft an potentiell größeren chinesischen Bestellungen interessiert zeigen; sie wäre indes kaum in der Lage gewesen, solche umfangreichen Lieferungen überhaupt durchzuführen, da sowohl industrielle Fertigungs- als auch Transportkapazitäten fehlten 5 4 . Der vorteilhafte Wechselkurs von Tael und Mark 55 , der durch die günstige Entwicklung der chinesischen Währung bis 1921 und die kriegsbedingte Abwertung der Mark entstanden war, konnte daher gar nicht wahrgenommen werden. Darüber hinaus hatten die Chinesen die Zölle gegenüber dem Deutschen Reich durch einen Erlaß des Finanzministeriums vom 15. Januar 1920 auf 10 % bis 20 % des Warenwertes neu festgelegt, eine merkliche Erhöhung gegenüber den 5 %, welche die Vertragsmächte zahlen mußten. Einträglichere Geschäfte gegen eine starke ausländische Konkurrenz schienen schon aus diesem Grund nur schwer möglich zu sein 56 . Zudem erklärten sich die chinesischen Behörden weder bereit — wie sie es bei privatem Kleinbesitz schon getan hatten —, auch Grundstücke und Gebäude deutscher Firmen zurückzugeben und deren Liquidation zu beenden, noch ließen sie neue deutsche Firmengründungen zu. An eine schnelle Rückzahlung liquidierter Vermögenswerte der Deutsch-Asiatischen Bank oder der deutschen Industrieund Handelsniederlassungen war bei der Kapitalknappheit der Chinesen ohnehin nicht zu denken 57 . Die deutsche Chinawirtschaft, die Anfang 1921 erst wieder mit wenigen Firmen in China vertreten war 58 , blieb allen hochfliegenden Plänen der Handels-, Finanz- und Industriekreise zum Trotz in der unmittelbaren Nachkriegszeit auf kleinere Gelegenheitsgeschäfte und die Zusammenarbeit mit 53

OAV an AA, 3. 3. 1918, ebd., China 7 / 1 0 ; OAV an AA, 18. 7. 1919, ebd., China 7 / 1 1 ; Th. Röhn an Carlowitz & Co., 31. 5. 1920: Bericht über die politische und wirtschaftlic h e Situation während der Phase der kulturellen Revolution, ebd., Pol. Abt. IV, Po 2 C h i / 1 . Deutscher Überseedienst an Handelskammer Bremen, 2 0 . 1 0 . 1920, HKHB, Hp II 8 3 / 7 . Dewall, S. 45 ff.; Müller-Jabusch, S. 2 5 4 ff.

54

Siemens China Co. an Stammhaus, Berlin, 2 . 1 2 . 1919, SAA, 5 0 / L m 312.

55

Causey, S. 16 ff.

56

Ohne diese neue Festlegung der Zolltarife, die das generelle Interesse der Chinesen an guten Verbindungen zur deutschen Wirtschaft noch einmal unterstrich, hätte der deutsche Handel nach der Aufkündigung der alten Verträge und der Kriegserklärung genau w i e alle anderen Nicht-Vertragsmächte bei Lieferungen nach China spezielle Zolltarife zwischen 3 0 % und 1 0 0 % zahlen müssen. Aufzeichnung AA, 23. 9. 1919, PA, Abt. IA Chi/China 7/12.

57 58

Causey, S. 13 ff.; Feng, S. 232 ff. Causey, S. 25 ff.; Glaime nennt (S. 54 f.) bereits für Ende 1920 wieder 7 Firmen. Die Zahlenangaben bei Ch. Chen (S. 322) lauten für 1 9 1 5 : 296 Firmen, 1 9 1 6 : 281, 1919: 2, 1 9 2 0 : 9, 1 9 2 1 : 92 und 1924: 253.

285

chinesischen und neutralen Handelsfirmen sowie auf fremdes Kapital angewiesen. Obwohl die Chinesen sicherlich daran interessiert waren, den Handel mit Deutschland wieder zu intensivieren, standen bei ihnen seit den Erfahrungen von Versailles außenpolitische und völkerrechtliche Aspekte bei allen Wirtschaftsplänen und Modernisierungsbestrebungen stärker als jemals zuvor im Mittelpunkt. Die Kaufleute vermochten jedoch nicht, den inneren Wandel Chinas und die veränderte politische Situation in Ostasien mit ihrem Prestigeverlust für die gesamte weiße Rasse in den ersten Nachkriegsjahren richtig einzuschätzen, und drängten nach altbewährter Manier wieder auf den chinesischen Markt 59 . Die politische Führung des Deutschen Reiches suchte im Gegensatz zur deutschen Wirtschaft sofort nach Kriegsende nach einem Ausgleich und nach neuen vertraglichen Vereinbarungen mit China, um den chinesischen Markt auch nach den Auseinandersetzungen und den politischen Veränderungen in Fernost für Deutschland zu erhalten. Die eindrucksvolle Stellung Japans als fernöstlicher Großmacht und die Versailler Friedensverhandlungen zeigten dem Auswärtigen Amt jedoch relativ früh die Schwierigkeiten seines Vorhabens. Insbesondere Kiaochow, über dessen Rückgabe sich politische Kreise zu keiner Zeit irgendwelche Illusionen machten, verdeutlichte das ganze Dilemma der deutschen Fernostpolitik. Zwar wollte die Reichsregierung angesichts der Niederlage — wie schon während des Krieges — auf das Ziel einer möglichst engen politischen Verbindung mit den Japanern hinarbeiten. Im Hinblick auf die Brisanz der Kiaochow-Frage, deren „Entscheidung von weittragender Bedeutung für unsere zukünftigen Beziehungen zu Japan und China seien und damit auch auf diejenigen zu England und den Vereinigten Staaten zurückwirken [werde]" 60 , dachte Berlin aber nicht daran, durch allzu großes Entgegenkommen bei den Versailler Verhandlungen eine Art Alleinverantwortung am Schicksal Kiaochows einzugestehen und womöglich die Chinesen für die Zukunft als potentiellen Partner zu verlieren 61 . Auch sahen die Diplomaten bei einer vertraglichen Abtretung des Pachtgebietes an die Japaner Entschädigungsansprüche deutscher Firmen in Millionenhöhe auf das Reich zukommen 62 . Die von den Alliierten erzwungene Regelung zugunsten der Japaner brachte die deutsche Fernostpolitik in die Bedrängnis, die das Auswärtige Amt vorausgesehen hatte: China machte Deutschland Vorwürfe, den Versailler Ver-

59

Handelssachverständiger Gickermann an AA, 27. 7. 1920, PA, Pol. Abt. IV, Po 2 Chi/1.

60

AA an RMA, 3. 2. 1919, BA-MA, Fase. 6 0 0 6 / 9 .

61

Aufzeichnung der Marinefriedenskommission, 1 7 . 3 . 1919, ebd.; Denkschrift RMA,

Siemens China Co. an Stammhaus, Berlin, 4. 7. und 3. 8. 1920, SAA, 2 0 / L a 229.

1. 4. 1919, ebd., Fase. 6 0 0 5 / C 25; Chef des Admiralstabes an Marinefriedenskommission, 17. 5. 1919, ebd., RM 6 / 2 3 3 . 62

Gesandtschaft Den Haag an AA, 1 2 . 3 . 1919, PA, Abt. IA Chi/China 7 / 1 1 . Aufzeichnung RMA, 15. 5. 1919, BA-MA, Fase. 6 0 0 6 / 9 ; Aufzeichnung Chef des Admiralstabes, 7. 8. 1919, ebd., Fase. 5 9 0 8 / F s p e c . III/9. Bürden, S. 19 ff.

286

trag unterschrieben und chinesische Interessen hintertrieben zu haben. Erste deutsche Bemühungen, die diplomatischen Kontakte zu den Chinesen über Holland, das die Geschäfte des Deutschen Reiches seit Abbruch der Beziehungen in Peking vertrat, oder über Dänemark, das die Interessen Chinas in Deutschland wahrnahm, wiederherzustellen, scheiterten daher im Spätsommer 19 1 9 63 . Auch die chinesischen Delegierten beim Völkerbund verhielten sich in der Frage einer Wiederaufnahme offizieller Beziehungen äußerst zurückhaltend. Da die chinesischen Diplomaten vorgaben, keine Verhandlungsvollmachten zu besitzen, konnten zwar Gespräche stattfinden, aber nur wenige konkrete Ergebnisse erzielt werden. Das Auswärtige Amt hielt es daher angesichts der mißlichen außenpolitischen Situation Deutschlands Anfang der 20er Jahre für um so dringender, die politischen Beziehungen zu Japan auszubauen. Die Aussichten dazu schienen günstig, da die Spannungen zwischen den Westmächten und der asiatischen Großmacht weiter zunahmen. Wie die deutsche Wirtschaft, die nach den chinesischen Reaktionen auf die Friedensverträge davon überzeugt war, sich in China in nächster Zukunft auf das japanische Kaiserreich stützen zu müssen, so gab auch die Reichsregierung nach Versailles der Rücksichtnahme auf japanische Interessen in Fernost oberste Priorität bei einem politischen Neubeginn in Ostasien 64 . Im Gegensatz zu der profitorientierten Chinawirtschaft hielt jedoch das Auswärtige Amt weiterhin ein behutsames diplomatisches Vorgehen in China statt eines überhasteten Drängens für unbedingt notwendig, um den durch Versailles belasteten deutsch-chinesischen Beziehungen gerecht zu werden und gleichzeitig die insgeheim favorisierte politische Annäherung zwischen Deutschland, Japan und China zu fördern. Obwohl die Ansichten der Kaufleute und Diplomaten in grundsätzlichen Fragen der Ostasienpolitik durchaus übereinstimmten 65 , wandte sich das Auswärtige Amt daher strikt dagegen, mit irgendwelchen konkreteren Schritten diplomatischen Verhandlungen mit den Chinesen zuvorzukommen. Die „Wilhelmstraße" lehnte darum mit dem Hinweis auf die Empfindlichkeit der Chinesen gegenüber den Angehörigen der alten „imperialistischen Chinalobby" Firmenvertreter als offizielle Vertreter der Weimarer Republik oder politische Vermittler ab. Auch die nach Ansicht der Diplomaten übereilten Anleihevorschläge und Fusionsbestrebungen

63

64

65

Gesandtschaft Den Haag an AA, 12. 7. 1917, PA, IA Chi/China 7 / 8 ; Aufzeichnung AA, 17. 7. 1919, ebd., China 7 / 1 1 ; Gesandtschaft Den Haag an AA, 21. 9. 1919, ebd., China 7/12. Aufzeichnung AA, 1 5 . 1 0 . 1919, ebd., China 7 / 1 1 ; Aufzeichnung AA, 2 1 . 1 0 . 1919, ebd., China 7 / 1 2 ; Aufzeichnung AA, 1 2 . 2 . 1920, ebd., China 7/14. Zu den Positionen der Deutschen und Chinesen auf der Konferenz von Versailles: Glaime, S. 32 ff. Als erste Ziele sollten erreicht werden die Rückgabe von Privateigentum, die Wiederaufnahme des Handels sowie des Anleihedienstes und eine Verstärkung der Kulturarbeit des Deutschen Reiches. Aufzeichnung AA über eine Besprechung der Reichsbehörden mit dem OAV, 12. 4. 1919, BA-MA, Fase. 6 0 0 6 / 9 . 287

der Deutsch-Asiatischen Bank mit chinesischen Banken fanden kein Gehör. Die Bank sollte vielmehr — wie bis zum Ersten Weltkrieg — auch in Zukunft ein potentielles Instrument in den Händen der deutschen Politik in China bleiben 66 . Neben politischen Argumenten mögen bei diesen Überlegungen auch Kompetenzfragen im Zuge der Reorganisation des Auswärtigen Amtes und des konsularischen Dienstes eine Rolle gespielt haben 6 7 . Die staatlichen Organe beabsichtigten keinesfalls, ihre einmal erworbenen umfassenden Mitspracherechte in allen Bereichen der deutsch-chinesischen Beziehungen trotz der großen außenpolitischen Schwierigkeiten nach dem Ersten Weltkrieg wieder aufzugeben 68 . Dieses zurückhaltende Vorgehen der Reichsregierung gegenüber China kam den Intentionen der Chinesen entgegen, die keine Eile bei den Anfang 1920 beginnenden Verhandlungen mit dem Deutschen Reich zeigten, da sie als Unterzeichner des Friedensvertrages von St. Germain mit Österreich (10. September 1919) als „assumed signer" von den Vorteilen des Versailler Vertrages profitierten. Erste konkrete diplomatische Fühlungnahmen hatten wohl schon im Dezember 1919 durch den bekannten chinesischen Literaten und Reformpolitiker Liang Ch'i-ch'ao in Berlin stattgefunden, der sogar vom neuen Reichspräsidenten Ebert empfangen wurde. Kontaktversuche über Japan, mit dem das Deutsche Reich schon seit längerer Zeit intensive Verhandlungen führte, dürften sich bei der nationalistischen Einstellung der Chinesen nach Versailles dagegen kaum als ergiebig erwiesen haben. Ab Februar 1920 hielt daher als Pendant zur Verhandlungskommission des Generalkonsuls v. Borch in China nur der „inoffizielle Vertreter" der chinesischen Regierung, Dr. Chang Yun-kai, die Beziehungen zum Auswärtigen Amt aufrecht 69 . Die Chinesen ließen eindeutig erkennen, daß sie zu größeren Zugeständnissen in der Einreisefrage, bei der Rückgabe deutschen Eigentums oder in Handelsfragen nur im Zusammenhang mit einem allgemeinen politischen Ausgleich zwischen gleichberechtigten Partnern bereit seien. Einflußreiche chinesische Wirtschafts- und Diplomatenkreise gaben offen zu, vor allem an einem Modellvertrag gegen die restaurative Politik der Alliierten in China interessiert zu sein. Dieses Abkommen sollte zeigen, daß China gute Beziehungen zu anderen Staaten pflegen könne, auch ohne ihnen politische Sonderrechte einzuräumen. Eine diplomatische Vereinbarung zwischen Deutschland und China schien daher nicht besonders schwierig zu sein. Doch die Verhandlungen kamen nicht voran. Denn nicht nur die Chinesen wurden durch

66

DAB an AA, 21. 5. 1920, PA, Abt. IV WiChi/Wirtschaft 1 3 / 1 ; Aufzeichnung Knipping, 26. 5. 1920, ebd.

67

Zur Reorganisation des AA vgl. Doß, passim.

68

Aufzeichnung AA, 2 1 . 1 0 . 1919, PA, Abt. IA Chi/China 7 / 1 2 ; AA an DAB, 21. 1. 1920, ebd., China 7 / 1 4 ; Aufzeichnung AA, 7. 7. 1919, ebd., China 7 / 1 5 .

69

Bericht London „Times", 20. 9. 1919, ebd., China 7 / 1 2 ; Aufzeichnung AA, 9 . 1 2 . 1919, ebd., China 7 / 1 3 ; Aufzeichnung AA, 2 3 . 1 . 1920, ebd., China 7 / 1 4 . Bürden, S. 29 ff.; Ch. Chen, S. 60 ff.; MacMurray (Hrsg.), Bd 2, S. 1485.

288

innenpolitische Schwierigkeiten immer entscheidungsunfähiger, sondern auch die Reichsregierung wollte Zeit gewinnen, da sie im Falle günstiger Vereinbarungen mit China den Argwohn der Westmächte fürchtete und insbesondere meinte, auf die neu geknüpften Beziehungen zu Japan Rücksicht nehmen zu müssen 70 . Der Sturz der Regierung Tuan Ch'i-jui konnte darüber hinaus, so kalkulierte die deutsche Diplomatie, die Situation Deutschlands in der China- und Ostasienpolitik nur verbessern. Sowohl der mächtigste Militärmachthaber des Nordens, Chang Tso-lin, der mit den Japanern gegen die Russen vorging, als auch die starke revolutionäre Oppositionsbewegung des Südens — hauptsächlich unter Sun Yat-sens Einfluß — galten in Deutschland als japanfreundlich. Noch 1920 unterschätzten die Politiker in Berlin die antijapanische Grundstimmung und die tiefen politischen Bewußtseinsveränderungen, welche die Friedensverträge und die „Vierte-Mai-Bewegung" in China bewirkt hatten. Die Verantwortlichen der deutschen Chinapolitik blieben — nicht viel anders als die Chinawirtschaft — in ihren traditionellen Vorstellungen über die Machtverhältnisse in China befangen, die ihnen trotz aller nationalen Demütigungen der Chinesen durch die Japaner einen kurzfristigen chinesisch-japanischen Ausgleich möglich erscheinen ließen 71 . Selbst nach den ersten Erfolgen bei den Verhandlungen in Peking — die Chinesen stellten endlich die Liquidation deutschen Eigentums in China ein und zogen sich aus der alliierten Reparationskommission zurück — hielt das Auswärtige Amt immer noch an seinen Plänen fest, Japan bei den zukünftigen deutsch-chinesischen Beziehungen als Partner ins Spiel zu bringen. Die „Wilhelmstraße" ging dabei von der Überlegung aus, daß sich eine günstige wirtschaftspolitische Konstellation für das Deutsche Reich entwickeln könne, wenn China die Rohstoffe, Deutschland das technische Wissen und Japan das Geld einbrächten. Obwohl die Diplomaten vor allem aus Gesprächen mit dem chinesischen Vertreter in Berlin allmählich erkannten, daß gerade Japan ein wesentliches Hindernis auf dem Weg zu einer erneuten Verständigung mit China war, wurden die Kontakte zu den Japanern intensiviert. Die deutschen Diplomaten versuchten auch weiterhin, die Chinesen von der politischen Notwendigkeit einer engen Kooperation Deutschlands mit Japan zu überzeugen, indem sie einerseits auf das unterkühlte Verhältnis des Deutschen Reiches zu England und Frankreich verwiesen und andererseits die Vorteile einer solchen Partnerschaft für China selbst betonten. Dieses politische Taktieren verzögerte die Ausgleichsverhandlungen ebenso wie die häufigen Einsprüche deutscher Kaufleute, die keine finanziellen Nachteile hin-

70

Aufzeichnung AA, 1 2 . 2 . 1920, PA, Abt. IA Chi/China 7 / 1 4 ; Abschrift Bericht Borch,

71

Konsulat Tientsin an AA, 2 3 . 2 . 1920, ebd., Abt. IA Chi/China 7 / 1 5 ; Aufzeichnung

3 1 . 1 . 1920, ebd., Pol. Abt. IV/Po 2 C h i / 2 . Knipping, 9. 3. 1920, ebd. Marinekommandoamt, Abt. II, an AA, 1 2 . 1 1 . 1919, BA-MA, RM 2 0 / 4 8 6 .

289

nehmen wollten und Entschädigungszahlungen von der chinesischen Regierung forderten 72 . Im Verlauf des Jahres 1920 gelangte auch die Reichsregierung zu der Einsicht, daß sich eine generelle Verständigung zwischen Deutschland, China und Japan als unmöglich erweisen mußte. Außerdem stellten sich auch die Hoffnungen, China werde bei einem bilateralen Ausgleich den Deutschen besonders entgegenkommen, als trügerisch heraus. Das neue Selbstwertgefühl der Chinesen hatte sich zu einer solchen nationalen Empfindlichkeit gesteigert, daß sie sich nur noch mit einem „gestandenen Mann" 7 3 als Vertreter des Deutschen Reiches in Peking wie dem seit dem 2. Dezember 1920 in Tokyo akkreditierten deutschen Botschafter Solf zufriedengeben wollten 74 . Die endlich Anfang 1921 intensivierten Verhandlungen zwischen Berlin und Peking führten am 20. Mai desselben Jahres zu einem vertraglichen Abschluß 75 , da schließlich sowohl für China als auch für Deutschland die offensichtlichen Vorteile einer Verständigung die bestehenden Vorbehalte mehr als ausglichen. Nicht nur die Reichsregierung hatte in Anbetracht ihrer außenpolitischen Schwäche viele ihrer Vorstellungen und Pläne aufgeben müssen, sondern auch die außen- und innenpolitisch stark bedrängten Chinesen hatten nicht alle ihre Wünsche durchsetzen können. Das Deutsche Reich verzichtete nochmals, wie bereits in den Artikeln 128—134 des Versailler Vertrages 76 , ausdrücklich auf alle Privilegien aus sämtlichen Verträgen, einschließlich der Boxerentschädigung, und zahlte sofort vier Millionen chinesische Dollar in bar und weitere vier Millionen chinesische Dollar in Anleihen der Hukwang- und Tientsin-P'ukow-Eisenbahn als Kriegsentschädigung 77 . Die chinesische Regierung verpflichtete sich ihrerseits, alles noch konfiszierte Eigentum zurückzugeben, und sagte zu, nach einer abschließenden Regelung der Kriegsentschädigungsforderungen den Erlös für das bereits liquidierte Eigentum deutscher Firmen zurückzuzahlen und den Anleihedienst wieder aufzunehmen 78 . Wie die Chinesen hofften, diesen ersten Vertrag auf der Basis der Gleichberechtigung mit einem ausländischen Partner für weitere Verhandlungen mit den anderen Mächten bei der geplanten Washingtoner Konferenz nutzen zu

72

Generalkonsulat in Indien an AA, 1 7 . 8 . 1920, PA, Pol. Abt. IV/Po 2 C h i / 1 ; Siebert, Tientsin, an AA, 15. 7. 1920, ebd.

73

Handelssachverständiger Gickermann an AA, 27. 7. 1920, ebd.

74

Aufzeichnung Knipping, 7. 9. 1920, ebd., Pol. Abt. IV/Po 2 C h i / 2 .

75

Text der „Vereinbarung zur Wiederherstellung des Friedenszustandes" bei Ch. Chen, S. 312 ff.

76

Ebd.; vgl. auch den Versailler Vertrag, Abschnitt II, China, in: Der Vertrag von Versailles.

77

Der chinesische Dollar, auch mexikanischer (Silber-)Dollar genannt, löste seit der Revolutionszeit von 1 9 1 1 / 1 9 1 2 allmählich den HKT als Währungseinheit ab. 1 HKT entsprach ungefähr 1,5 mex. Dollar. King, Geld, S. 394 ff.; Rische, S. 150.

78

Fabritzek, Drache, S. 83 ff.; Mohr, Gedanken, 4 8 ff.

290

können, so wollte die Reichsregierung angesichts der vom Westen vorangetriebenen umfangreichen Industrialisierung Chinas potentiell größere Geschäfte der deutschen Wirtschaft nicht durch politische Hindemisse blockieren. Sie war bestrebt, für einen zeitweiligen oder gänzlichen Verzicht auf vermeintliche oder tatsächliche Ansprüche Deutschlands in China zukünftige wirtschaftliche Möglichkeiten nicht zu gefährden. Überdies konnte Berlin mit der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zu China wie mit dem Handelsabkommen mit der Sowjetunion und dem Friedensschluß mit den Vereinigten Staaten nach dem Londoner Ultimatum gegenüber den Westmächten eine gewisse außenpolitische Handlungsfreiheit demonstrieren. Aus diesem Grund sollte in Ostasien nicht nur China, sondern auch Japan weiterhin Aufmerksamkeit und Entgegenkommen gezeigt werden 7 9 . Die deutsche Ostasienpolitik versuchte daher auch nach dem deutsch-chinesischen Vertrag, die Verbindungen zum fernöstlichen Kaiserreich zu intensivieren. Keinesfalls sollte der Fehler aus der Vorkriegszeit wiederholt werden, die Japaner politisch, militärisch und wirtschaftlich zu unter-, die chinesischen Modernisierungsbestrebungen hingegen zu überschätzen. Wirtschaftlich schienen sich Anfang der 20er Jahre neue Perspektiven zu eröffnen. Die Japaner mußten nicht nur auf westlichen Druck die während des Ersten Weltkrieges von ihnen besetzten potentiellen Absatzgebiete in Fernost zum großen Teil räumen, sondern mußten sich auch zunehmend auf dem ostasiatischen Kontinent wieder gegenüber einer wachsenden ausländischen Konkurrenz behaupten. Der deutsche Außenhandel mit Japan selbst wurde davon jedoch nicht berührt. Die Exporte von Deutschland nach Japan konnten dem Wert nach schon 1923 das Ergebnis des besten Vorkriegsjahres im Ostasienhandel übertreffen, während die Ausfuhren nach China erst 1926 wieder höher lagen als 1913. Der deutsche Exporthandel ins ostasiatische Inselreich, der in den 20er Jahren etwa ein Viertel bis ein Drittel über dem nach China lag, knüpfte damit an die erfolgreichen Jahre 1910/11 an, die nur 1912/13 durch die enge wirtschaftspolitische Kooperation des Deutschen Reiches mit den chinesischen Militärmachthabern und den nachfolgenden Krieg in Europa unterbrochen worden waren. Kopfzerbrechen bereiteten dagegen die unbefriedigenden Importe aus dem rohstoffarmen Japan, die nur ca. 1 0 % bis 1 5 % der chinesischen ins Deutsche Reich ausmachten und um die Hälfte geringer waren als vor dem Krieg 80 . Das ostasiatische Kaiserreich konnte daher kaum eine Alternative, sondern nur eine Ergänzung zum chinesischen Markt bieten 81 .

79

80 81

Gesandtschaft Peking an AA, 2 . 1 1 . 1921, BA, R 2/1912. Glaime, S. 80 ff.; Wood, S. 21 ff., 49 ff. Zu den statistischen Hinweisen Bloch, S. 4 f., 10 f. Carlowitz & Co. an Krupp, 2 7 . 1 0 . 1 9 2 1 , HA Krupp, WA IV 1936. Die Berichte der Firma Carlowitz an Krupp stellen ausgezeichnete Analysen der Situation auf dem chinesischen Markt und der deutschen Möglichkeiten dar. 291

Den politischen Aspekten kam deshalb bei einer Annäherung des Deutschen Reiches an Japan bis Mitte der 20er Jahre größere Bedeutung zu. Vorsicht schien allerdings wegen des ambivalenten Verhältnisses der angelsächsischen Mächte zu Japan geboten, um sich nicht in eine neue Konfliktsituation hineinzumanövrieren. Trotzdem beabsichtigte die deutsche Außenpolitik, die unbestrittene Großmachtposition Japans so weit wie möglich auszunutzen und die Japaner als politischen Bündnispartner gegen die Versailler Ordnung zu gewinnen. Dagegen blieb der bündnispolitische Aspekt bei den Beziehungen des Deutschen Reiches zu China in den folgenden Jahren von untergeordnetem Interesse. In Deutschland wurde den Verbindungen zu den Chinesen dennoch als einer „wirtschaftspolitischen Allianz der Außenseiter" 82 durchaus Bedeutung zugemessen 83 . Der deutschen Wirtschaft gelang in China nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages ein vielversprechender Wiedereinstieg. Allerdings behielt wie vor 1921 die politische Dimension bei allen Wirtschaftsfragen große Geltung, da an eine Trennung von Politik und Wirtschaft in China in keiner Weise mehr zu denken war. Die deutsche Chinawirtschaft wurde allmählich zur Aufgabe ihrer Vorstellungen gezwungen, sie könne ohne staatliche Einmischung in die Geschäfte auskommen. Die Chinesen ließen ihrerseits ein gewisses Entgegenkommen erkennen. Aus dem Verlust der exterritorialen Rechte entstanden den Deutschen bei der anwachsenden Fremdenfeindlichkeit sogar eher Vorteile. Auch die Tatsache, daß die Chinesen dem Deutschen Reich faktisch die Meistbegünstigung gewährten, obwohl die Deutschen laut Artikel 264 des Versailler Vertrages kein Anrecht auf Gegenseitigkeit bei der Meistbegünstigung hatten, signalisierte das chinesische Interesse an guten Beziehungen 84 . China blieb aber dennoch weiterhin politisch eher den Alliierten verpflichtet, von denen es auf der Washingtoner Konferenz größere Zugeständnisse erhoffte. Die Machtlosigkeit des Deutschen Reiches, die den Deutschen in China viele Sympathien einbrachte, hatte durchaus ihren politischen Preis. So stellte sich China in der Oberschlesienfrage zur großen Enttäuschung in Deutschland eindeutig auf die Seite der Westmächte. Erst der NeunmächteVertrag entkrampfte dann das politische Verhältnis Chinas zum Deutschen Reich. Zum einen konnte endlich das leidige Shantungproblem gelöst werden; zum anderen trugen die Chinesen der Tatsache nun weitaus mehr Rechnung, daß Deutschland als einzige Macht auf seine Privilegien verzichtet hatte. Der Revisionismus gegen die vom Westen aufgezwungene Ord-

82 83

Martin, Beraterschaft, S. 21 f. Zu Japan und den deutsch-japanischen

Beziehungen

Engram, passim;

Ratenhof,

S. 35 ff.; Martin, Germany, S. 596 f. 84

In dem Notenwechsel zum Vertrag von 1921 gewährten die Chinesen den Deutschen eine zeitlich begrenzte Meistbegünstigung bis zum 1 0 . 1 . 1923, die dann ohne formelle Vereinbarung stillschweigend weitergewährt wurde. Berliner Vertretung der Handelskammer Hamburg an Handelskammer Hamburg, 7 . 1 2 . 1928, HKHH, Akt. C h i / 3 9 .

292

nulig wurde zum politisch-ideologischen Bindeglied zwischen Deutschland und China. Einer engeren Zusammenarbeit waren jedoch Grenzen gesetzt. Zu wenig hatten das von innerer Zerrissenheit geplagte China und das durch den Krieg geschwächte Deutsche Reich einander politisch zu bieten. In den Wirtschaftsbeziehungen wurden sogar Mitte der 20er Jahre größere Schwierigkeiten sichtbar, nachdem sich zunächst ein wirtschaftlicher Durchbruch Deutschlands auf dem chinesischen Markt abzuzeichnen schien 85 . Schon 1921/22 waren aus holländischen und englischen Lagern deutscher Firmen und — wegen des Verlustes der deutschen Flotte — mit Hilfe ausländischer Schiffe weitaus mehr deutsche Waren nach China gelangt, als die chinesische Statistik angab 86 . Ab 1923 rief die Entwicklung der deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen selbst im Ausland Erstaunen hervor. Der deutsche Ein- und Ausfuhrhandel mit China stieg in ungeahntem Ausmaß 87 . Bei den Exporten aus Deutschland handelte es sich vor allem um Verbrauchsgüter; neben Thermosflaschen, Sturmlaternen, Bier, Nadeln und Papier konnten insbesondere Elektrowaren und Maschinen abgesetzt werden. Die Importe aus China spezialisierten sich zusehends auf Pelze, Felle, Ölsaaten, Strohgeflechte und Erze; die Einfuhren von Tee, Reis und Seide gingen dagegen zurück. Darüber hinaus gelang es dem deutschen Chinahandel, wieder ins Geschäft mit Fremdfabrikaten einzusteigen und sich am Handel anderer Länder mit China zu beteiligen. Gebrauchte amerikanische Maschinen aus Europa erwiesen sich als lukrative Handelsgüter. Der amerikanisch-chinesische Warenaustausch lief wie vor dem Krieg oftmals über deutsche Firmen 88 . Während die Geschäfte mit dem immer noch japanisch kontrollierten Nordchina über Tientsin und Tsingtao schlecht gingen, konnten die Kaufleute vor allem in der Mandschurei, dessen Wirtschaft Chang Tso-lin möglichst schnell modernisieren wollte, mit hochtechnisierten deutschen Industriegütern trotz der japanischen und russischen Expansionsbestrebungen gute Erfolge erzielen 89 .

85 86

87

88

89

Causey, S. 106 ff.; Röser, S. 78 f. Ungefähr ein Viertel bis ein Drittel mehr Waren, als in der Statistik aufgeführt, die für 1921 einen deutschen Warenwert von ca. 20 Mill. HKT angibt. Deutsche Statistiken sind erst wieder ab 1923 erschienen. Handelskammer Hamburg an OAV, 31. 5. 1923, HKHH, Akt. Chi/46. Röser, S. 89 ff. Generalkonsulat New York an AA, 5. 10.1923, PA, Abt. IV WiChi/Wirtschaft 13/1. Gesandtschaft Peking an AA, 23. 3. 1923, BA R 43 1/56. AA an RWiM, 17. 3. 1922, HKHH, Akt. Chi/46. AA an Gesandtschaft Peking, 8. 2. 1922, StAHB, 3/A3.C.3/322; Gesandtschaft Peking an AA, 23.2. 1923, ebd., 3/A3.C.3/327. Wochenbericht des Deutschen Wirtschaftsdienstes, 2/1923, HKHB, Hp II 83/7. Beispielsweise eröffnete die Siemens China Co. am 15.10. 1923 eine neue Filiale in Mukden. Wettlauffer, S. 33. Carlowitz & Co. an Krupp, 30. 5. 1922, HA Krupp, WA IV 1936. Siemens Jahresbericht 1923/1924, SAA, 20/La 229. Albers, S. I f f . ; Möring, S. 107 ff. 293

Die deutschen Händler hatten es vermocht, durch neue Organisationsformen die Geschäfte zu beleben. Sie griffen dabei auf die aus der Not geborene, aber erfolgreiche deutsch-chinesische Kooperation aus der unmittelbaren Nachkriegszeit zurück. Die Pläne, sich in der alten imperialen Haltung der Vorkriegszeit oder als Verbündeter der neo-imperialistischen japanischen Macht wieder einzuführen, hatten die Kaufleute angesichts der Entwicklung in China schließlich doch aufgegeben 9 0 . Chinesische Unternehmen mit deutscher Beteiligung oder gemischte deutsch-chinesische Firmen würden, so kalkulierten die Deutschen, dem gestärkten Nationalgefühl der Chinesen am besten entgegenkommen. Über den Aufbau regelrechter „Absatz- und Wirtschaftsgemeinschaften" auf gleichberechtigter Basis hofften die Chinakaufleute vor allem, für die Zukunft den gewinnträchtigen Rohstoffhandel an sich zu ziehen. Diese hochgespannten Hoffnungen verflüchtigten sich jedoch schon bald, da die Chinesen kapitalkräftigere amerikanische, japanische und englische Geschäftshäuser als Partner zur Gründung eigener chinesischer Außenhandelsfirmen vorzogen 9 1 . Auch verbargen sich hinter dem vordergründigen Aufstieg der deutschen Wirtschaft in China weitere schwerwiegende Probleme. Der Transport deutscher W a r e n war von der ausländischen Schiffahrt weitaus abhängiger als vor dem Krieg. Zwar hatten deutsche Reedereien (HAPAG, Norddeutscher Lloyd, Stinnes, Rickmers) ab 1922 die Fahrt nach China mit englischer und amerikanischer Kapitalhilfe wieder aufgenommen, an den Aufbau eigener Küstenverbindungen in den chinesischen Gewässern war aber keinesfalls zu denken. Trotz des fünften Platzes unter den Ländern, die sich am Transport des chinesischen Im- und Exporthandels beteiligten, konnte für die deutsche Chinafahrt bis Mitte der 20er Jahre die gewünschte Besserung nicht erreicht werden. Der deutsche Anteil blieb mit 1 , 9 % gering im Vergleich zu den Engländern und Japanern, w e l c h e die Schiffahrt in und nach China geradezu monopolisierten 9 2 . Als weitaus schwerwiegender erwies sich allerdings die schlechte Qualität der deutschen Lieferungen. Die große Enttäuschung der Chinesen über minderwertige Fabrikate führte häufig zu Reklamationen 9 3 . Die deutsche China-

90

Schon Ende 1921 leitete z. B. die Siemens China & Co. die Geschäfte ihrer Filialen in Harbin und Vladivostok wieder von der Zentrale in Shanghai aus und nicht mehr, wie seit dem Krieg, von Tokyo aus. Wetllauffer, S. 29.

91

Boyé an AA, 29. 11. 1922, PA, Abt. IV W i C h i / W i r t s c h a f t 1 3 / 1 ; Konsulat Mukden an AA, 6. 6. 1924, ebd. Wettlauffer, S. 29.

92

Generalkonsulat Shanghai an AA, 2 9 . 3 . 1924, BA, R 5 / 3 1 4 . Gesandtschaft Peking an AA, 2 3 . 2 . 1923, StAHB, 3 / A 3 . C . 3 / 3 2 7 ; Generalkonsulat Shanghai an AA, 2 3 . 3 . und 2 9 . 3 . 1923, ebd., 3 / A 3 . C . 3 / 3 2 8 . Die statistischen Angaben aus Hou, S. 60 f. Beutler, S. 72 ff.; Mohr, Wirtschaftsbeteiligung, S. 227. 1922 fuhren 126 Schiffe unter deutscher Flagge nach China und in chinesischen Gewässern, 1924 waren es schon 539. Ch. Chen, S. 326.

93

Man kann daher kaum von deutscher Zuverlässigkeit sprechen wie Widmann, S. 89 f.

294

Wirtschaft war sich grundsätzlich darüber im klaren, daß trotz der großen potentiellen Aufnahmefähigkeit des chinesischen Marktes nur tadellose Lieferungen die Gefahr verhindern konnten, aus den Geschäften verdrängt zu werden. Handel und Industrie machten sich gegenseitig Vorwürfe. Die Kaufleute hielten den Industriellen vor, mit ihrer miserablen Nachkriegsproduktion eine Absatzerweiterung erzielen zu wollen; die Industrie konterte, der Handel lasse es an Sorgfalt vermissen, nachdem das Hauptgeschäft anstatt von den Firmen in China von den Mutterhäusern in der Heimat übernommen worden sei. Eine erneute Entfremdung zwischen den Produzenten und Verkäufern, ähnlich wie vor dem Krieg, kündigte sich an, zumal die Industrie mit dem Umfang der Lieferungen nach China noch nicht vollauf zufrieden war 9 4 . Lediglich die Elektroindustrie zeigte sich von den Zuwachsraten, die nach dem Friedensvertrag erzielt wurden, im großen und ganzen angetan. Die Aufträge (z. B. Überlandkraftwerke, Fernsprechämter, elektrische Anlagen für Fabriken) nahmen derart zu, daß ab 1922 neben dem Siemenskonzern auch die Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft (AEG) mit eigenen Vertretungen in das Chinageschäft einstieg 9 5 . Dagegen blieben größere Abschlüsse im Anlagenbau, im Montan-, Eisen- und Stahlsektor aus. Zwar intensivierten sich die Kontakte auch hier wieder, aber angesichts der wirtschaftlichen Lage in China und Deutschland machten sich schwerindustrielle Kreise von Anfang an keine übermäßigen Hoffnungen. Die Versuche des Stinnes-Konzerns, die Rechte zur Ausbeutung von Bodenschätzen in den Provinzen Hupeh und Honan zu erwerben, scheiterten 1923; kapitalkräftigere amerikanische und französische Industriefirmen erhielten den Zuspruch 9 6 . Der Machtverlust der Regierung in Peking und die Geldknappheit in China ließen deutschen Industrieunternehmen kaum eine Chance. Aufgrund der inneren Unruhen bestanden keine Aussichten auf Aufträge von chinesischen Behörden. Zudem konnten die Großmächte durch ihre Anleihen alle größeren Projekte beeinflussen 9 7 . Deutsche Industriekreise waren sich daher schon frühzeitig bewußt, daß die Macht der Militärgouverneure gebrochen und China geeint und wirtschaftlich stabilisiert werden müsse, um deutschen Großprojekten auf zwischenstaatlicher Basis wieder eine Zukunft zu eröffnen 9 8 .

94

Siemes Jahresbericht 1 9 2 1 / 1 9 2 2 , SAA, 1 7 / L c 73; Siemens Jahresbericht ebd. Niedersächsische

Handelskammer an

Handelskammer Bochum,

1922/1923, 28.8.

1924,

W W A , K 2 / 3 3 5 . Helfferich, Beziehungen, S. 217 f. 95

Siemens China Co. an Stammhaus, Berlin, 1 6 . 8 . 1922, SAA 2 5 / L s 675. Wettlauffer,

96

AA an Gesandtschaft Peking, 3. 2. 1923, PA, Abt. IV WiChi/Wirtschaft 1 3 / 1 . Carlowitz

97

Großbritannien verzichtete z. B. auf die 1917 vertraglich ausgesetzten und 1922 wieder

S. 29 ff. & Co. an Krupp, 1. 8. 1921, HA Krupp, W A IV 1936. aufgenommenen Zahlungen der Boxerentschädigung zugunsten von Überweisungen an die Hongkong and Shanghai Bank. Beutler, S. 83. 98

Gesandtschaft Peking an AA, 2 . 6 . 1923, BA, R 4 3 1/56. Carlowitz & Co. an Krupp, 10. 10. 1922, HA Krupp, W A IV 1936. Siemens Jahresbericht 1 9 2 1 / 1 9 2 2 , SAA, 1 7 / L c 73; Geschäftsbericht, 31. 5. 1922, ebd., 1 5 / L a 610.

295

Auch die Reichsregierung vermochte zu Beginn der 20er Jahre angesichts der finanziellen Lage des Reiches die Kapitalknappheit der Privatwirtschaft im Auslandsgeschäft nicht auszugleichen. Allein in China fielen die privaten deutschen Kapitalanlagen von 572 Millionen im Jahre 1914 auf 145 Millionen Mark im Jahre 1 9 2 4 " . Die vom Reich mit kontrollierte Deutsch-Asiatische Bank bemühte sich zwar angestrengt, die alten Verbindungen wiederzugewinnen, konnte aber selbst nur durch hohe Kredite aus London und Paris über Wasser gehalten werden. Japanisches Kapital, das aufgrund der entspannten deutsch-japanischen Beziehungen hätte herangezogen werden können, bot sich für größere Geschäfte nur begrenzt an. Die Chinesen standen japanischen Geldern reserviert gegenüber und zogen westliche Kredite vor. Die Kapitalknappheit sollte sich als das schwierigste Problem der deutschen Chinawirtschaft in der Zwischenkriegszeit erweisen 100 . Die deutsche Chinawirtschaft hatte daher schon nach dem Friedensvertrag mit China versucht, die finanziellen Unzulänglichkeiten durch ein umfangreicheres kulturelles Engagement auszugleichen. Dabei kamen ihr die Nachkriegsaktivitäten der deutschen kirchlichen Auslandsmissionen entgegen, die China damals als Hauptfeld ihrer Tätigkeit ansahen. Die Missionen hatten mit amerikanischer Unterstützung als einzige deutsche Institutionen während des Krieges in China ihr Eigentum behalten dürfen. Wenn auch ihr Anteil an Missionsschulen und Krankenhäusern im Verhältnis zu den Angelsachsen, die ca. 95 % aller derartigen Einrichtungen betreuten, wie vor dem Krieg ziemlich gering blieb, so konnte dennoch mit ihrer Hilfe in China Sympathie für Deutschland gewonnen werden 101 . Trotz der Kapitalknappheit stellte die deutsche Wirtschaft erhebliche Mittel für kulturelle Projekte zur Verfügung. Im Mittelpunkt der kulturellen Offensive in China stand der Wiederaufbau der 1907 mit deutschen Mitteln in Shanghai errichteten T'ung-Chih-Universität 102 . Aber auch chinesische Schulen oder sinologische Institute in Deutschland erhielten Gelder aus Spenden der Wirtschaft 1 0 3 . Das Auswärtige Amt stand diesen Unterstützungsmaßnahmen aufgeschlossen gegenüber, da sie „zur Pflege unserer politischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit China von wesentlichem Nutzen" seien 1 0 4 . Es bemühte sich auch, über eigene finanzielle Zuwendungen für diese Pro-

99

W u , S. 90.

100

Carlowitz & Co. an Krupp, 2 7 . 1 0 . 1921, HA Krupp, W A IV 1936. Müller-Jabusch,

101

Aufhauser, S. 249 ff.; Kindzorra, S. 191 ff.

S. 284 ff. 102

1924 wurde die Universität Woosung bei Shanghai als chinesische Staatsuniversität wiedereröffnet. Ausführlich Linde, Jahresfeier, S. 229 f.

103

In den 20er Jahren gingen etwa 1 0 % der chinesischen Auslandsstudenten

nach

Deutschland. Liang, Connection, S. 23 ff. Bürden, S. 321 ff. Zur deutschen Kulturarbeit und zur Unterstützung durch die Wirtschaft Glaime, S. 134 f. 104

Aufzeichnung AA, 1 6 . 1 2 . 1921, PA, Pol. Abt. IV/Po 5 A Chi/1.

296

jekte die staatlichen Hilfen für die deutsche Chinawirtschaft zu intensivieren und die Kontakte zu ihr wieder zu verbessern 105 . Dem Versuch, die 1921 noch offengebliebenen Probleme — Wiederaufnahme des Anleihedienstes und gegenseitige Kriegsentschädigungsforderungen — zu lösen und damit die Rahmenbedingungen der deutschen Wirtschaft in China zu verbessern, kam bei den diplomatischen Bemühungen Priorität zu. Erst 1923 wurden die Verhandlungen auf Wunsch der Reichsregierung zwischen dem deutschen Gesandten in China, Adolf Boyé (ab Dezember 1921), und der Pekinger Regierung wieder aufgenommen, nachdem die Gespräche Ende 1922 zunächst wegen erneuter innerchinesischer Auseinandersetzungen zum Stillstand gekommen waren. Für das Auswärtige Amt, das mit der bevorstehenden Einigung mit den Alliierten in der Reparationsfrage sämtliche Verbindlichkeiten auch endlich gegenüber den übrigen Ländern regeln wollte, erwiesen sich wiederholte kritische Einwände des Chinahandels als weitaus unangenehmer und hinderlicher als die Forderungen der Chinesen 106 . Die deutschen Diplomaten hatten sich schon frühzeitig mit dem Vorschlag der Chinesen einverstanden erklärt, die Liquidationserlöse des deutschen Firmeneigentums gegen die Zahlung einer Kriegsentschädigung des Deutschen Reiches an China in Höhe von 100 Millionen chinesische Dollar aufzurechnen. Die Reichsregierung wollte dafür die Firmen aus Reichsmitteln prozentual abfinden. Die nachhaltigen Proteste des Ostasiatischen Vereins konnten nichts bewirken, nachdem auch die Deutsch-Asiatische Bank sich mit dem Vorgehen des Reiches einverstanden erklärt hatte. In einem „Notenwechsel zur Klärung noch offener Fragen zwischen dem Deutschen Reich und China" vom 6. Juni 1924 verpflichtete sich die Reichsregierung, nach Abzug der schon 1921 gezahlten Beträge (8 Millionen mexikanische Dollar) und der von den Chinesen anerkannten Forderungen der deutschen Firmen (34 Millionen mexikanische Dollar) sowie der neu festgelegten Entschädigung für die Deutsch-Asiatische Bank (15 Millionen mexikanische Dollar) die restlichen Reparationen an China (ca. 43 Millionen mexikanische Dollar) in Eisenbahnobligationen zu zahlen. Dafür sollte die Deutsch-Asiatische Bank als Emmissionsbank wieder zugelassen und der chinesische Anleihedienst für sämtliche Staatsanleihen des Reiches an China wieder aufgenommen werden. Die Handels- und Industriefirmen erhielten dafür als Ausgleich Reichsentschädi-

105

106

Sichtlich bemüht war das AA um eine Zusammenarbeit mit den neugegründeten deutschen Handelskammern in Tientsin (23. 8. 1922), Hankow (1. 4. 1922), Shanghai (1. 4. 1923), denen später weitere in Mukden und Canton folgten, und mit den deutschen Vereinigungen in Harbin, Tsinanfu und Tsingtao. Zweigstelle des AA für Außenhandel, Hamburg, an Handelskammer Hamburg, 25. 7. 1922, HKHH, Akt. Chi/8. Die Chinahandelsfirmen waren sehr besorgt, nach dem Entschädigungsgesetz vom 28.10. 1923 abgefunden zu werden. Sie hätten es lieber gesehen, wenn China selbst zahlte, wenn auch nur langsam. OAV an Stresemann, 14. 3. 1924, StAHH, IC/2a 7.

297

gungen von ca. 10 % bis 12 %, die Deutsch-Asiatische Bank von ca. 40 % ihrer vertraglich anerkannten Verluste 107 . Die Reichsregierung versuchte mit diesem Vorgehen, sowohl der Situation des Reiches gegenüber den Siegermächten vor der Unterzeichnung des Dawes-Planes als auch der deutschen Chinawirtschaft gerecht zu werden. Wichtigstes Verhandlungsziel war daher die Weiterzahlung der Zinsen von Seiten der Chinesen aus den deutschen Vorkriegsanleihen an China. Mit diesen chinesischen Zahlungen sollte die Kapitalbasis der Chinawirtschaft verbessert werden. Daher wollte die Reichsregierung auch eine Rückgabe von Obligationen an China möglichst gering halten. Barzahlungen zur Abgeltung der chinesischen Reparationsansprüche schienen allerdings unmöglich zu sein, da dem Anleihedienst aus eigenen Reparationsanleihen im Westen absoluter Vorrang eingeräumt werden mußte. Chinesische Entschädigungsgelder, die bereits seit 1921 auf ein englisches Reparationskonto überwiesen wurden, direkt an deutsche Firmen auszuzahlen, war zudem angesichts der finanziellen Forderungen der Siegermächte nicht möglich. Das Auswärtige Amt hielt deshalb an der „legitimen Heranziehung der Privatwirtschaft" zur Abgeltung der deutschen Reparationszahlungen an China fest. Je weniger Anleiheverpflichtungen der Chinesen an China zurückgegeben würden, desto eher konnte — so das Auswärtige Amt — eine für umfangreichere Industriegeschäfte notwendige Stabilisierung der Deutsch-Asiatischen Bank erreicht werden 1 0 8 . Weder die Pläne des Auswärtigen Amtes noch die Hoffnungen der Chinawirtschaft erfüllten sich bis Mitte der 20er Jahre. Bei den katastrophalen finanziellen Verhältnissen in China und der Machtlosigkeit des Deutschen Reiches in Ostasien war die Pekinger Regierung nicht bereit, die DeutschAsiatische Bank als Anleihebank wieder zuzulassen, geschweige denn den Anleihedienst wieder aufzunehmen. Zwar konnte der deutsche Außenhandel mit China erneut auf die vierte Stelle des chinesischen Gesamthandels mit dem Ausland vorrücken — sein allerdings nicht inflationsbereinigter Wert in chinesischer Währung erreichte etwa den Stand von 1913 —, der reale Anteil blieb aber mit 7 % nur so hoch wie 1910 109 . Noch nachteiliger wirkte es sich aus, daß der Ausfuhrboom der ersten Jahre nach dem Friedensvertrag endgültig vorbei war. Die deutschen Inflationsgeschäfte mit China fanden nach der Stabilisierung der deutschen Währung

107

Die deutschen Firmen erhielten vom Reich ca. 5 Mill. mex. Dollar Entschädigung, die DAB ca. 6 Mill., davon 4 Mill, vom Reich und 2 Mill, direkt von den Chinesen. Aufzeichnung AA, 3 0 . 1 1 . 1 9 2 2 , PA, Pol. Abt. IV/Po 2 C h i / 3 . Hamburgische Gesandtschaft, Berlin, an Senatskommission für die Reichs- und auswärtigen Angelegenheiten, 16. 4. 1924, StAHH, I C / 2 a 7. Geschäftsberichte 1 9 1 5 - 1 9 2 7 der DAB, ADB. Müller-Jabusch, S. 259 ff.

108

Hamburgische Gesandtschaft, Berlin, an Senatskommission für die Reichs- und auswärtigen Angelegenheiten, 16. 4. 1924, StAHH, I C / 2 a 7.

109

Cheng, S. 258 f.; Röser, S. 30 ff.

298

ein Ende. Nun erschwerte die Inflation in China, die trotz ihrer Höhe Anfang der 20er Jahre zunächst noch weitaus geringer gewesen war als in Deutschland, zunehmend die deutsche Ausfuhr. Die mangelnde Qualität der deutschen Waren und vor allem die Geldknappheit der deutschen Firmen machten sich Mitte der 20er Jahre weitaus nachteiliger bemerkbar als noch einige Jahre zuvor. Während die Exporte aus China nach Deutschland von 3,6 % (1923) auf 9 % (1925) der chinesischen Gesamtausfuhr stiegen, konnte sich der deutsche Anteil an der Gesamteinfuhr Chinas nicht verbessern (1923: 4,3 %, 1925: 4,2 %) 110 . Die deutsche Einfuhr aus China war damit dem Wert nach Mitte der 20er Jahre fast doppelt so hoch wie die Ausfuhr nach China 111 . Neben dem Kapitalmangel blieb die negative Handelsbilanz bis Mitte der 30er Jahre das Hauptproblem der deutschen Chinawirtschaft. Der Absatz der vom Export abhängigen deutschen Industrie auf einen der potentiell größten Märkte war zu Beginn der Erholungsphase der deutschen Wirtschaft nach der Annahme des Dawes-Plans alles andere als befriedigend. Bereits um 1920 waren sich die Wirtschaftskreise bewußt gewesen, daß die niedrigen Wechselkurse zwar temporär gute Möglichkeiten auf dem chinesischen Markt eröffneten, später aber eine umfassende staatliche Unterstützung unumgänglich sein würde. Schon frühzeitig hatte die deutsche Chinawirtschaft daher selbst versucht, ihre Ausgangsbasis zu verbessern, indem sie wieder an bewährte Geschäftspraktiken der Vorkriegszeit anknüpfte. Über die Wiederaufnahme rüstungswirtschaftlicher Beziehungen und guter Verbindungen zum chinesischen Militär in China hoffte sie, die Geschäftsgrundlage langfristig stabilisieren zu können. Die Industrie blickte hierbei bereits seit Anfang der 20er Jahre vor allem nach Südchina. Die Kuomintang-Gegenregierung in Canton schien die beste Aussicht zu bieten, China zu einigen und die Modernisierung auch zum Vorteil der deutschen Wirtschaft fortzuführen 112 .

b) Modernisierungsversuche der Kuomintang und deutsche Waffenlieferungen Sun Yat-sen war es Ende 1919 gelungen, die nationale Begeisterung der „Vierte-Mai-Bewegung" auszunutzen und die bis dahin äußerst zersplitterte Partei der Kuomintang zu straffen und neu zu gründen. Nach der Eroberung Cantons mit Hilfe des Militärmachthabers General Ch'en Ch'iung-ming ließ er sich am 7. Februar 1921 zum Gegenpräsidenten der Pekinger Regierung ausrufen 1 . Die unter dem zweifelhaften Schutz der örtlichen Cantoner Mili-

1,0 111

1,2 1

Cheng, S. 258 f.; Wu, S. 91 ff. Umrechnungen des Verfassers. Die Importe aus China stiegen von 97,2 Mill. Mark auf 228,5 Mill. Mark, die Exporte nach China von 102,4 Mill. Mark auf 117,9 Mill. Mark. Wu, S. 91 ff. Cheng, S. 258 f.; Wu, S. 91 ff. Domes, Vertagte Revolution, S. 62 ff.; Fass, World W a r I, S. 112 ff.

299

tärs dann Anfang der 20er Jahre aufgenommenen Bemühungen, mit einer neu formierten Partei die Wiedervereinigung des Landes vorzubereiten, erwiesen sich allerdings als vergeblich. Die Hoffnungen, ohne engere Verpflichtungen gegenüber ausländischen Mächten und nur mit deren sporadischen Hilfeleistungen die Macht in China an sich zu ziehen, erfüllten sich nicht. Wegen der militärischen Schwäche der Kuomintang fiel es den Militärmachthabern nicht schwer, das Bündnis mit Sun aufzukündigen und ihn zur Flucht nach Shanghai zu zwingen (Juni 1922) 2 . Unter den Mitgliedern der Kuomintang verstärkte sich — nicht zuletzt infolge dieser Entwicklung — immer weiter die Überzeugung, daß die inneren dogmatischen Auseinandersetzungen endlich zugunsten eines militanten Aktionismus aufgegeben werden müßten, damit die Partei ihre revolutionären Ziele noch erreichen könne. Die nationale, vom Militär getragene Revolution schien das einzige Mittel zum Erfolg zu sein. Dabei erkannten die Chinesen immer deutlicher, daß sie sowohl bei dem Aufbau einer schlagkräftigen revolutionären Organisation zur Mobilisierung der Massen als auch bei der Aufstellung und Bewaffnung eigener Streitkräfte auf die Hilfe des Auslandes angewiesen waren. Während sich die Abkehr von den westlichen Mächten und Japan seit den Washingtoner Verträgen noch weiter beschleunigte, war gleichzeitig die Bereitschaft erkennbar, ausschließlich mit solchen Ländern zusammenzuarbeiten, die China als gleichberechtigt anerkannten. Vor allem die revolutionserfahrene Sowjetunion bot sich mit ihrer antiwestlichen Ideologie geradezu als Bündnispartner an, obwohl Rußland nach dem Selbstverständnis der Kuomintang eher als historischer Gegenspieler und kaum als Vorbild für China angesehen wurde3. Bereits vor 1920 hatte Sun Yat-sen seine weltanschaulichen Überlegungen, die später unter dem Begriff „Sunyatsenismus" zu einem Modell für politische Befreiungsbewegungen in Entwicklungsländern wurden, durch die „Drei Grundlehren vom Volk" vervollständigt. Die Interpretation der Begriffe „Nationalgefühl", „Volksrecht" und „Volkswohl" orientierte sich dabei zunächst stark an westlichen Denkkategorien. Der chinesische Nationalismus sollte gleichberechtigt neben dem der anderen Mächte stehen. Trotz eines Vorgehens in drei Phasen — von einer militärischen Machtergreifung über eine Erziehungsdiktatur zum Konstitutionalismus — zielte die Verwirklichung der politischen Rechte des Volkes ursprünglich auf eine parlamentarische Demokratie. Die Wohlfahrt des Landes schloß revolutionäre Veränderungen im gesellschaftlichen Bereich aus. Sie sollten insbesondere durch eine gewaltlose Landreform erreicht werden. Vor allem die Pläne zu einer Industriereform verdeutlichten Sun Yat-sens Suchen nach engen Verbindungen mit dem Westen. Seine Industrialisierungsvorhaben, die durch internationale Hilfe bei

2

W . Franke, Jahrhundert, S. 167 ff.; Wiethoff, Neuere Geschichte, S. 123 ff.

3

Bürden, S. 12 ff.; Fass, Germany, S. 135 ff.; Näth, Voraussetzungen, S. 189 ff.

300

der Entwicklung Chinas verwirklicht werden sollten, ließen auf westlicher Seite große Erwartungen aufkommen 4 . Bei allen Ideen und Modernisierungsprojekten behielt jedoch das konfuzianistische Denken seinen Einfluß. Suns Ordnungsvorstellungen versuchten, die abendländische mit der chinesischen (Kultur-)Tradition zu verbinden: China brauche zwar den Westen als Übermittler der ureigensten chinesischen Wertvorstellungen, die in China vorübergehend verschüttet seien. Der Westen seinerseits benötige aber auch China, da dem ehemaligen Reich der Mitte nach den Veränderungen des Ersten Weltkrieges langfristig als neuer Hegemonialmacht Ostasiens eine tragende weltpolitische Rolle zukomme. China werde den Westen in seiner Entwicklung sogar überrunden, weil es als vorindustrielles Land noch nicht mit den Mißständen westlicher Industriegesellschaften behaftet sei. Den Chinesen werde die verkürzte Wiederholung allein der positiven historischen Erfahrungen des Westens gelingen, die durchaus mit einer kulturellen Restauration und einer Rückbesinnung auf die eigenen Tugenden in Einklang zu bringen seien. Die Überlegungen Suns zielten dabei besonders auf die Übernahme republikanischer und nationaler Errungenschaften. Im sozialen Bereich sollte China dagegen die Fehler des Westens nicht wiederholen und den westlichen Standard bei weitem übertreffen 5 . Die gesellschaftlichen Zielvorstellungen boten daher zwar bereits Anfang der 20er Jahre erste Berührungspunkte mit dem Kommunismus, aber erst während des sowjetischen Einflusses auf die Kuomintang wurden die gesamten nationalen Grundlehren nach sozialistischem Vorbild neu gefaßt und schließlich 1924 zum offiziellen Parteiprogramm erhoben. Die Vorstellungen über den chinesischen Nationalismus, der mehr und mehr als reine Integrationsideologie genutzt wurde, entwickelten sich zusehends zu einem bloßen Antiimperialismus. An die Stelle der parlamentarischen Demokratie trat das einer totalitären Staatsauffassung näher stehende Ziel der Volksherrschaft. Auch die Überlegungen zur Volkswohlfahrt wurden durch sozialistisches Gedankengut verfremdet. Obwohl das gesellschaftliche Harmoniemodell Sun Yatsens weiterhin die kommunistische Klassenkampfideologie verwarf, konnten bis Mitte der 20er Jahre neben den Grundlehren die sowjetisch inspirierten konkreten „Drei großen Anliegen" — Bündnis mit den Kommunisten, Unterstützung der Arbeiter- und Bauernbewegung, Zusammenarbeit mit der Sowjetunion — in der Kuomintang an Einfluß gewinnen 6 . 4

Suns „Plan for national reconstruction" enthielt folgende Schwerpunkte: 1. Entwicklung des Verkehrswesen; 2. Ausbau der Häfen: 3. Ausbau der größeren Städte nach europäischem Muster; 4. Verwertung der Wasserkraft; 5. Bau von Eisen-, Stahl- und Zementwerken, entsprechend dem chinesischen Bedarf; 6. Entwicklung des Bergbaus; 7. Entwicklung der Landwirtschaft; 8. Bewässerungssysteme in großem Maßstab in der Mongolei und in Sinkiang; 9. Entwicklung der Forstwirtschaft in Mittel- und Nordchina; 10. Kolonisierung der Mandschurei, der Mongolei, von Sinkiang, Kokonor und Tibet. King, History, S. 106 ff.; Sun, S. 43 ff., 225 ff.

5

Näth, Voraussetzungen, S. 79 ff., 191 ff., 218 ff.

6

Chesneaux, Bd 2, S. 155 f.; W . Franke, Jahrhundert, S. 164 ff.

301

Die Sowjets hatten sich schon seit Ende des Weltkrieges um eine Normalisierung der Beziehungen zu China bemüht, um ihren fortschreitenden außenpolitischen Machtverlust zu kompensieren. In einer Erklärung vom 25. Juli 1919 stellte die sowjetische Regierung die Aufgabe aller Sonderrechte und die Rückgabe der Ostchinesischen Eisenbahn in Aussicht. Revolutionäre Euphorie und sicherheitspolitische Überlegungen in bezug auf weißrussische und japanische Aktivitäten im asiatischen Grenzgebiet mögen zu diesem Schritt beigetragen haben. Nach dem Ende des Bürgerkrieges und dem Nachlassen des alliierten Interventionsdrucks in Europa und Ostasien wurden derartige Zugeständnisse gegenüber den Chinesen jedoch bald wieder vorsichtiger formuliert. Am 31. Mai 1924 wurden schließlich die diplomatischen Beziehungen zwischen der Sowjetunion und China offiziell wieder aufgenommen. Zwar verzichtete die Sowjetunion endgültig auf Exterritorialität, Boxerentschädigung und territoriale Konzessionen sowie auf alle Sonderrechte in der Mongolei, aber sie stimmte nur prinzipiell einem Rückkauf der Ostchinesischen Eisenbahn und der damit verbundenen Rechte in der Mandschurei zu. Vorläufig blieb es bei der gemischten sowjetisch-chinesischen Verwaltung der Bahn. Gesonderte Verträge mit Chang Tso-lin (20. September 1924) und anderen „warlords" im Norden und Nordwesten sowie großzügige personelle und materielle militärische Hilfe an diese Militärmachthaber sicherten das Übereinkommen mit der chinesischen Zentralregierung ab. Erst 1927 kam es zu erneuten Verhandlungen, als das politisch-ideologische Bündnis zwischen der Sowjetunion und der Kuomintang zerbrach 7 . Nach dem Übereinkommen ihres Chinabeauftragten Joffe mit Sun Yat-sen (Sun-Joffe-Abkommen vom Januar 1923) über die sowjetische Bereitschaft zur Regelung der Probleme der Ostchinesischen Eisenbahn und der Mongolei war es der Sowjetunion erstmals gelungen, stärker auf die revolutionäre Kuomintang-Bewegung einzuwirken 8 . Für Sun Yat-sens Zugeständnis, Einzelmitglieder der 1921 mit Unterstützung der Kommunistischen Internationale (KI) gegründeten Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) auch in die Kuomintang aufzunehmen, war Moskau bereit, die Kuomintang neu zu organisieren und ihre Streitkräfte aufzubauen 9 . Die Allianz aus Kuomintang und Kommunistischer Partei Chinas unter sichtbarer Beteiligung der Kommunistischen Internationale wurde 1924/25 weiter ausgebaut, nachdem der KuomintangKongreß von 1924 in der Erwartung eines sowjetischen Verzichts, das kommunistische Modell auf China zu übertragen, das Bündnis der nationalen

7

Drechsler, Deutschland, S. 9 ff.; Heinzig, Militärberater, S. 24 ff. Zu den Verträgen s. Dokument Nr. 79 in: Eudin/North (Hrsg.).

8

Im Gegensatz zu einer Sicherheits- und Koexistenzpolitik mit dem W e s t e n strebte die Sowjetunion in Asien weiterhin offen revolutionäre Veränderungen an. Sie geriet dabei zwar immer weiter in einen Konflikt mit den Angelsachsen, konnte aber besonders in China erste Erfolge erzielen. Bianco (Hrsg.), S. 74 ff.; Kindermann, Ferner Osten, S. 179 ff.

9

Chesneaux, Bd 2, S. 127 ff., 142 ff.; Opitz, Aufbruch, S. 28 ff.

302

Kräfte praktisch formalisiert hatte. Die Einheitsfront aus Kuomintang und Kommunistischer Partei verstand es, die antifeudalistischen, antimilitaristischen und antiimperialistischen Vorbehalte sowohl des bürgerlichen Lagers als auch der Arbeiter zu nutzen und bis Mitte der 20er Jahre ein beachtliches revolutionäres Potential in China zu schaffen 10 . Neben dem Aufbau einer straffen Parteiorganisation stand nach der Rückeroberung Cantons als territorial-revolutionäre Ausgangsbasis Anfang 1923 der militärische Bereich eindeutig im Mittelpunkt der Bemühungen von Kuomintang und Kommunistischer Partei. Den Kernpunkt der von der Kommunistischen Internationale gewährten Hilfe, die M. Borodin als Beauftragter der Sowjetunion ab Mitte 1923 in Canton koordinierte, bildete daher ab Mitte 1923 ein sowjetischer Militärberaterstab, der nach und nach zu einer größeren Militärmission ausgebaut wurde. Mitte 1924 konnte General Bluecher, der Chef der Militärberater, bereits die erste Ausbildung im Felde mit der neu gegründeten „Parteiarmee" durchführen. Weitaus größere Bedeutung kam jedoch der Militärakademie in Whampoa zu (gegründet am 16. Juni 1924), an der die militärpolitische Ausbildung des Offizierkorps nach sowjetischen Prinzipien erfolgte. Vor allem Kadetten, die der Kommunistischen Partei Chinas nahestanden, wurden hier zur Keimzelle einer Kaderarmee herangezogen, welche die Revolution mit militärischer Gewalt verwirklichen sollte. Die Parteiarmee vermochte sich bereits von Juli bis Oktober 1924 zum erstenmal zu bewähren, als sie einen von prowestlichen Cantoner Kaufleuten angezettelten Aufstand niederschlagen konnte 11 . Trotz der politischen und militärischen Erfolge breitete sich in den Reihen der Kuomintang auch Enttäuschung aus, da die Kommunisten offensichtlich ihre Vorstellungen von einem revolutionären Klassenkampf in China nicht aufgeben wollten. Die Suche nach einem Alternativpartner zur Sowjetunion blieb daher bis Mitte der 20er Jahre fester Bestandteil der Kuomintang-Politik, die eine engere wirtschaftspolitische Verbindung sogar mit Japan ins Kalkül zog, wenn das Inselreich die Gleichberechtigung Chinas anerkannte. Sowohl die Bemühungen Suns um eine Verständigung mit den nördlichen Militärmachthabern als auch seine erneuten Annäherungsversuche an den Westen blieben jedoch erfolglos. Sun war bei aller Suche nach Verständigung nicht bereit, die Beibehaltung der „ungleichen Verträge" für die Anerkennung einer von der Kuomintang geführten Zentralregierung durch die Mächte hinzunehmen. Auch nach seinem Tod (12. März 1925) wurden die Bindungen der Kuomintang an Moskau nicht gelöst, sondern eher verstärkt 12 . Die Westmächte hatten schon länger das sowjetische Vorgehen in China mit Sorge beobachtet und die Propaganda der chinesischen Kommunisten als Provokation aufgefaßt. Ab 1923 verstärkten sich infolge der Einheitsfront

10

Kuo, Komintern, S. 83 ff.; J. W a n g , S. 258 ff.

" Heinzig, Militärberater, S. 99 ff., 142 ff., 180 ff.; Thach, Nationalist China, S. 72 ff. 12

Domes, Vertagte Revolution, S. 108 ff. 303

auch ihre Vorbehalte gegenüber der Kuomintang. Die USA und Großbritannien bezichtigten Sun Yat-sen der ideologischen Verwandtschaft mit dem Kommunismus und einer zunehmend unfreundlicheren Haltung zum Westen 13 . Die hauptsächlich wirtschaftlichen Kontakte zwischen der Kuomintang und dem Westen, die sich bereits nach der Washingtoner Konferenz verschlechtert hatten 14 , brachen um die Jahreswende 1923/24 gänzlich ab, als die Kuomintang-Regierung nicht länger bereit war, Seezölle nach Peking abzuführen, und die Angelsachsen, Frankreich und Japan darauf mit einer Flottendemonstration antworteten. Die Engländer unterstützten schließlich sogar den Aufstand der Kaufleute in Canton nicht nur finanziell, sondern auch materiell durch Waffen- und Munitionslieferungen 15 . Bislang hatten die Großmächte nach dem Ersten Weltkrieg der Gefahr von Kriegsmateriallieferungen — insbesondere von Infanteriewaffen — nach China durchaus Rechnung getragen. Wenn auch das Waffenembargo, das die Großmächte am 5. Mai 1919 im Pekinger Gesandtschaftsabkommen aushandelten 16 , äußerst durchlässig erschien, weil es gewisse Lieferungen und Geschäftsmöglichkeiten zuließ, so schränkte es dennoch die Rüstungsimporte nach China erheblich ein. Darüber hinaus bekräftigten die Westmächte des öfteren in einzelnen Verordnungen 17 ihre restriktive Rüstungspolitik Anfang der 20er Jahre in China; ein amerikanisches Memorandum vom 25. Januar 1923 zur weiteren Einschränkung von Rüstungslieferungen fand große Zustimmung. Erst ab Ende 1923 wurden angesichts der revolutionären Entwicklung in Südchina die Kriegsgerätelieferungen in den Norden Chinas zu den dortigen „loyalen" Militärmachthabern intensiviert 18 . Lieferungen über Drittländer, die das Embargo nicht unterzeichnet hatten, boten für die Westmächte auch rein wirtschaftlich gesehen eine gute Gelegenheit, wieder umfangreicher, aber dennoch legal in das Rüstungsgeschäft mit China einzusteigen. Während aus England, Frankreich, Amerika, Italien und Japan 1924/25 erhebliche Mengen von Rüstungsmaterial in die Mandschurei und nach Nordchina gelangten, lieferte die Sowjetunion seit Oktober 1924 eine weitaus größere Anzahl von Waffen an die Südregierung nach Canton 19 . Nach13

W a g n e r an AA, 28. 12. 1921, 4. 1. und 19. 1. 1922, PA, Pol. Abt. IV/Po 5 A C h i / 1 . Wil-

14

W . Franke, Jahrhundert, S. 174 ff.

son, S. 31 ff. 15

Sie lieferten 6 0 0 0 - 7 0 0 0 M 88-Gewehre und 2 Mill. Patronen. Gesandtschaft Peking an AA, 25. 8. 1924, PA, Büro R M / 3 7 / 1 .

16

Unterzeichner waren Großbritannien, die USA, Japan, Frankreich, ein weißrussischer Vertreter, Portugal, Brasilien und Spanien. „Ostasiatische Rundschau". 1 . 5 .

1928,

H W W A , B 94/qNr. 2 IIb. 17

Großbritannien am 2. 6. 1919, Frankreich am 8 . 1 1 . 1919, die USA a-r 4. 3. 1922 und Belgien am 2 4 . 1 2 . 1924. Ebd.

18

Boyé an AA, 5. 4. 1923, PA, Pol. Abt. IV/Po 14 C h i / 1 .

19

RDI an AA, 24. 7 . 1 9 2 4 , ebd., Abt. IV W i C h i / W a f f e n A / l ; Gesandtschaft Peking an AA, 7 . 1 0 . 1924, ebd., Büro R M / 3 7 / 1 . „The China Press Shanghai", 24. 2. 1924, H W W A , B 9 4 / q N r . 2IIb; „The New Evening Post", 1 7 . 1 . 1925, ebd.

304

dem China noch 1922 mit 1 , 8 % aller Waffenlieferungen an 22. Stelle der Rüstungsimporteure der Welt gestanden hatte, war es 1925 mit 12,3 % bereits auf Platz eins vorgerückt 20 . Seit dem Ersten Weltkrieg hatte der militärische Regionalismus China mehr denn je von ausländischer Militärhilfe abhängig gemacht. Gefragt waren neben taktischen Ausbildern vor allem Techniker, welche die Eigenproduktion von Waffen während des Weltkrieges weiter vorantreiben sollten. Zunächst gelang es den Japanern, die Ausbildung aller chinesischen Truppen und die Oberleitung der chinesischen Arsenale und Werften fast ganz an sich zu ziehen. 1920 kündigten die meisten chinesischen Militärführer nach dem diskriminierenden Verhalten der Japaner gegenüber China jedoch die Verträge mit Japan, die 1918 sogar zu einem chinesisch-japanischen Verteidigungspakt geführt hatten 2 1 . Schwedische, dänische, russische, französische und auch deutsche Techniker und Berater vermochten nun wieder stärkeren Einfluß auf die Arsenale und die Truppen zu gewinnen. W i e in den 1870er bis 1890er Jahren versuchte jede Provinz, einen eigenen Rüstungsbetrieb aufzubauen. Nur Chang Tso-lin, der kontinuierlich in den 20er Jahren an japanischen Militärberatern festhielt 2 2 , konnte mit dem Mukden-Arsenal, das ca. 30 000 Arbeiter beschäftigte, bis Mitte der 20er Jahre eine leistungsfähige Fabrik errichten, die ungefähr so viel produzierte wie alle übrigen Rüstungswerkstätten in China zusammen 2 3 . Bei dem anhaltenden Trend zu regionalen Massenheeren — der Umfang der chinesischen Streitkräfte verdoppelte sich in den Jahren 1918 bis 1928 auf zwei Millionen Soldaten — und dem rapiden Materialverschleiß infolge der permanenten militärischen Auseinandersetzungen waren daher nur wenige Verbände mit relativ modernen chinesischen W a f f e n ausgerüstet 24 . Die chinesischen Militärführer sahen sich trotz der eigenen Anstrengungen im Rüstungsbereich gezwungen, wieder Kriegsmaterial im Ausland zu kaufen 2 5 .

20

Aufzeichnung AA, 2 2 . 1 1 . 1 9 2 6 , mit Aufstellung zur Einfuhr von W a f f e n und Munition nach Angaben der chinesischen Seezollstatistik, PA, Abt. IV W i C h i / W a f f e n A / 2 . Weitere Angaben im „Statistical Year Book of the Trade in Arms and Ammunition", ed. by the League of Nations, zit. in: Causey, S. 121. Vgl. auch Ch'i, Warlord Politics, S. 118 ff.

21

„Rheinisch-Westfälische Zeitung", 1. 3. 1917, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 3 2 ; Notiz AA,

22

Aufstellung der japanischen Berater bei McCormack, S. 120 f.

23

1 92 8 wurden monatlich in der Mandschurei bzw. in China produziert: Gewehre

29. 5. 1918, ebd. Rosthorn, S. 13 f.

7500/8500:

Patronen

9 0 0 0 0 0 0 / 9 500 000;

Pistolen

0/1250;

Maschinengewehre

70—80/72; Artilleriegeschütze keine genauen Zahlenangabe, nur: „large quantity"/300; Granaten 120 0 0 0 / 9 6 000. Ch'i, Warlord Politics, S. 119. Zur Reorganisation der Streitkräfte in der Mandschurei McCormack, S. 100 ff. 24

Bereits 1918 verfügte China nur noch über 50 größere Geschütze.

McCormack,

S. 106 ff. 25

Carlowitz & Co. an Krupp, 1 4 . 1 0 . 1922, HA Krupp, W A IV 1936. Ch'i, Warlord Politics, S. 55 ff., 76 ff., 118 ff. 305

Seit Anfang der 20er Jahre waren daher auch Rüstungslieferungen desjenigen Landes in China wieder gefragt gewesen, das vor dem Ersten Weltkrieg zu einem der größten Waffenexporteure nach China gezählt hatte. Auch die Kuomintang, die, wegen des Zusammenspiels der Reichsregierung mit den Militärmachthabern vor und während des Weltkrieges, dem wilhelminischen Reich zumindest bis zum Kriegseintritt Pekings abweisend gegenübergestanden hatte, hielt angesichts der veränderten politischen Situation nach den Versailler Vereinbarungen bessere Kontakte mit Deutschland für vorteilhaft. Neben den Beziehungen zur Sowjetunion maß Canton einer Annäherung an das Deutsche Reich schon frühzeitig entscheidende Bedeutung zu. Der wirtschaftspolitische Ausgleich zwischen Deutschland und der Sowjetunion schien die Überlegungen der Kuomintang, die immer stärker auf eine Zusammenarbeit der vom Westen bevormundeten Staaten setzte, nur zu bestätigen. Vor allem bei der Vorbereitung der nationalen Revolution erhoffte sie sich — auch als Korrektiv zu sowjetischer Hilfe — die rüstungswirtschaftliche Unterstützung des Deutschen Reiches. Doch die Klauseln des Versailler Vertrages und politische Vorbehalte gestalteten für Deutschland intensivere Verbindungen auf diesem Gebiet mit China — und insbesondere zur revolutionären Kuomintang — bis Mitte der 20er Jahre äußerst schwierig. Der Versailler Vertrag brachte nicht nur im militärtaktischen, sondern auch im militärpolitischen Bereich — Militärmissionen im Ausland wurden untersagt — und vor allem auf rüstungswirtschaftlichem Gebiet 2 6 rigorose Auflagen für Deutschland 27 . Wurde die Gültigkeit der Bestimmungen bei Waffen und Munition („hartes Kriegsgerät") nicht angezweifelt, so ging es in Gesprächen mit den Alliierten über die Zukunft der deutschen Rüstungswirtschaft vor allem darum, den Begriff des „Kriegsgerätes" so eng wie möglich zu definieren, um die Beschränkungen vor allem für den Außenhandel äußerst gering zu halten. Das gesetzliche Verbot der Ein- und Ausfuhr von Kriegsgerät vom 18. Dezember 1920 fand nicht die Zustimmung der Siegermächte. Erst das Londoner Ultimatum bewirkte eine endgültige Demobilisierung, teilweise Zerstörung der nicht erlaubten Rüstungsanlagen und eine genaue Festlegung des verbotenen Kriegsgerätes im Sinne der Westmächte (Gesetz vom 26. Juni 1921). Der deutschen Rüstungsindustrie gelang es zwar schon 1920 wieder, allein mit der erlaubten Ausfuhr von „weichem Kriegsmaterial" — z. B. Bekleidung, Zubehör und Ausrüstung — einen Anteil von 16,8 % am Welthandel mit Rüstungsgütern zu erzielen, bei „hartem Kriegsgerät" blieb sie aber in der Folgezeit unter der Aufsicht der Alliierten auf Planungs- und Entwicklungsstudien beschränkt 28 .

26

Zu den militärischen und rüstungswirtschaftlichen Bestimmungen des Versailler Vertrages s. dessen Teil V in: Der Vertrag von Versailles. Hansen, S. 27 ff.; Völker, Entwicklung, S. 212 ff.

27

Wohlfeil, S. 227.

28

Hansen, S. 35 ff.; Wohlfeil, S. 188 ff.

306

Schon nach dem Ersten Weltkrieg hatte die deutsche Rüstungswirtschaft daher begonnen, sich über Investitionen, Lizenzen und Patente stärker an ausländischen Fabriken zu beteiligen und die Produktion aus Deutschland zu verlagern. Holland, die Schweiz und die skandinavischen Länder boten für Rüstungsbetriebe wie Krupp, Mauser und Rheinmetall, für Flugzeugproduzenten wie Dornier, Rohrbach und Junkers und für Werften wie Germania, Weser und Vulcan die Gelegenheit, weiterhin, wenn auch in bescheidenem Umfang, im Geschäft zu bleiben 29 . Dabei konnte die Flexibilität der Industriellen zunächst kaum auf ein Entgegenkommen der militärischen Führung Deutschlands rechnen, die eine Art Wiederaufbau der deutschen Rüstungsindustrie im neutralen, aber dennoch vom Westen beeinflußbaren Ausland strikt ablehnte. Neue Wege im Rüstungssektor und eine Anpassung an die Realitäten blieben für die Militärs in der unmittelbaren Nachkriegszeit im Hintergrund der Überlegungen. Sie klammerten sich an ihre kompromißlosen Forderungen, die militärischen und rüstungswirtschaftlichen Beschränkungen aufzuheben. Erst die Bemühungen um die Sowjetunion trugen dann den Realitäten Rechnung und erleichterten eine gewisse Annäherung von Militär und Rüstungsindustrie 30 . Militärstrategische Überlegungen im Deutschen Reich, die sich nach dem Krieg insbesondere mit der Sicherung der deutschen Ostgrenze auseinandersetzten, knüpften an die russophile Tradition des preußischen Heeres und nicht zuletzt an die euro-asiatischen Kontinentalblockpläne der 3. Obersten Heeresleitung an. Ein Krieg gegen Rußland, auch unter einem kommunistischen Regime — dem ohnehin keine Überlebenschancen eingeräumt wurden —, stand nicht zur Debatte. Dagegen betrachtete die Marine engere Verbindungen zur Sowjetunion eher skeptisch. Obwohl sie keinesfalls bereit war, ihre Vorkriegsideologie einer deutschen See- und Weltgeltung aufzugeben, hoffte die Marine auf ein Einlenken der Angelsachsen zumindest in maritimen Militär- und Rüstungsfragen und bemühte sich um enge Beziehungen zu den Amerikanern und Briten 31 . Die neue Heeresleitung unter ihrem Chef General v. Seeckt wollte jedoch die Rote Armee, die selbst von den durch die Alliierten reorganisierten polnischen Streitkräften bedrängt wurde, als Partner gewinnen 32 . 29

Krupp beteiligte sich an der Firma Bofors in Schweden, Mauser an der Schweizerischen Industriegesellschaft Neuhausen, Rheinmetall an der Holländischen Industrieund Handelsgesellschaft (H.I.H.) und an der Waffenfabrik Solothurn in der Schweiz. Vgl. dazu auch Castellan, S. 275 ff.

30

Manchester, S. 336 ff.; Rahn, S. 214 ff.

31

Dülffer, Reichs- und Kriegsmarine, S. 417 ff.; Schreiber, S. 263 ff.; Rahn, S. 13 ff.

32

Der seit der Konferenz von Spa (6. 7 . 1 9 2 0 ) weiter vorangetriebene Abbau der Einwohnerwehren, Freikorps und Reichswehreinheiten ließ eine Zusammenarbeit mit dem russischen Generalstab zur Grenzsicherung im Osten geradezu unumgänglich erscheinen. Obwohl es bis 1921 keine konkreten Vereinbarungen gab, kam es dennoch schon zu ersten geheimen Kontakten deutscher Offiziere mit russischen Stäben und Militärbehörden. Carsten, S. 141 ff.; Vogelsang, S. 14 ff. Zur Rolle Seeckts: Meier-Welcker, Seeckt, S. 325 ff., 392; Rabenau, S. 305 ff.

307

Die Reichswehrführung kam allerdings immer mehr zu der Auffassung, in Rußland „weniger einen Verbündeten als [vielmehr] ein Ersatzteillager oder ein Hinterland mit Rohstoffen" 33 zu sehen. Durch eine Verlagerung eines Teils des Produktionsapparates in die westlichen Einflüssen entzogene Sowjetunion sollten notwendige Entwicklungsmöglichkeiten für die Rüstungsindustrie geschaffen werden, die in Deutschland nicht gegeben waren. Als Gegenleistung für eine Erhöhung des Ausbildungsstandes der sowjetischen Streitkräfte hoffte die Reichswehrführung, operative Erkenntnisse zu gewinnen und die taktische und technische Erprobung insbesondere von Panzern und Flugzeugen voranzutreiben. Genauere Absprachen der Reichswehr mit der Industrie über ein Vorgehen in der Sowjetunion verzögerten sich jedoch nach dem Wirtschaftsabkommen mit Moskau wegen diplomatischer Einwände gegen diese Projekte und anderweitiger wirtschaftlicher Interessen bis 1922 34 . Das Scheitern der ohne staatliche Unterstützung geführten schwerindustriellen Kooperationsbemühungen mit Frankreich führte dazu, daß die Pläne Seeckts zur Nutzbarmachung der Möglichkeiten im Osten auch für die Rüstungswirtschaft in den Mittelpunkt ihrer Konzeptionen traten. Nach einer ersten Zusammenarbeit Krupps mit dem Heereswaffenamt institutionalisierten sich die Kontakte schon bald in der Tarnorganisation „Gesellschaft zur Förderung gewerblicher Unternehmen" (GEFU), die ab Mitte der 20er Jahre noch von weiteren „Firmen" — z. B. vom „Wirtschaftskontor" (WIKO) — bei der Durchführung illegaler Rüstungsgeschäfte mit dem Ausland unterstützt wurde. Alle diese Aktivitäten sollten in den 30er Jahren den ebenfalls von Seeckt initiierten größeren deutsch-chinesischen Rüstungsgeschäften als Modell dienen, die dann über die „Handelsgesellschaft für industrielle Produkte" (HAPRO) abgewickelt wurden 35 . Die Ruhrbesetzung bewirkte eine weitere Verflechtung des militär-industriellen Komplexes, manifestiert durch die Gründung von „Schwarzen Fabriken" zur Herstellung verbotenen Kriegsmaterials im Inland. Trotzdem blieb es bis Mitte der 20er Jahre bei einem improvisierten, rein geschäftlichen Verkehr zwischen Reichswehr und Industrie. Die Rüstungsindustrie zeigte kaum Interesse an einer von der militärischen Führung geforderten Rohstoffbevorratung. Die Militärs kauften zwar für ihre geheimen Materiallager Kriegsgerät im Inland, griffen aber immer wieder auch auf Auslandsaufträge zurück. Selbst die militär-industrielle Kooperation in der Sowjetunion, die vorzugsweise geschäftlich über die „Stahl- und Maschinengesellschaft m. b. H." (STAMAG) unter ihrem Direktor Hans Klein, dem nachmaligen Chef der HAPRO, abgewickelt wurde 36 , blieb trotz ihrer herausragenden Stellung weit 33

Seeckt a m 7. 2. 1923 zu Adjutant v. Selchow, zitiert in: Hallgarten, Hitler, S. 25. Vgl. auch Manchester, S. 319; W u l f , S. 293 ff.

34

Beitel/Nötzold, S. 27 ff.; Geyer, Aufrüstung, S. 4 ff., 34 ff., 57 ff.

35

Hansen, S. 43 ff., 54 ff.; Speidel, S. 10 ff.

36

Nach Seeckts Äußerungen war es die STAMAG, die das „Rußland-Geschäft betreute". Notiz Direktor Dr. Jessen, Siemens, über ein Gespräch mit Seeckt, 17. 7. 1935, SAA, 1 1 / L m 167 (Jessen).

308

hinter den Erwartungen der Rüstungsindustrie zurück. Diese war von umfangreicheren Liefermöglichkeiten ausgegangen, als sich tatsächlich boten 37 . Die Reichsregierung, die 1923 erstmals konkreter in die geheimen Aufrüstungspläne der Reichswehr eingeweiht wurde, brachte den militärischen und rüstungswirtschaftlichen Aktivitäten zwar Interesse entgegen, war aber von den Eigeninitiativen der militärischen Führung und deren Kontakten zur Sowjetunion wenig erbaut, nicht anders als etwa ein Jahrzehnt später von den direkten Kontakten der Reichswehr nach China. Die politische Führung sah durch die offensichtliche Umgehung bzw. Übertretung der Friedensverträge außenpolitisch die Glaubwürdigkeit und innenpolitisch die Rechtsstaatlichkeit des Deutschen Reiches untergraben. Auch die Tatsache, daß auch die militärischen und rüstungswirtschaftlichen Beziehungen Deutschlands zu China intensiviert werden sollten, stieß kaum auf Gegenliebe des Auswärtigen Amtes, das in seiner Chinapolitik politische Rücksichten auf die Westmächte nehmen mußte 38 . Nach Kriegsende hatte die „Wilhelmstraße" ursprünglich einer Wiederaufnahme personeller und materieller militärischer Unterstützung für China nicht ablehnend gegenübergestanden. Bis zum Inkrafttreten des Versailler Vertrages blieb nicht nur die Industrie, sondern auch die Reichsregierung überzeugt, trotz ihrer Bemühungen um eine neue Grundlage in der Chinapolitik die traditionell guten militärischen und rüstungswirtschaftlichen Kontakte ungeachtet aller politischen Veränderungen weiter fortführen zu können. Noch 1919 zeigte Berlin großes Interesse daran, von der Germania-Werft gebaute U-Boote nach China zu verkaufen. Eine chinesische Militärmission nach Europa Ende desselben Jahres weckte ebenfalls große Hoffungen bei Industriellen und Politikern. Auch nach 1920 versuchte die „Wilhelmstraße", durch ein geschicktes Ausnutzen der Unklarheiten die Versailler Auflagen im Rüstungsbereich für die deutsche Chinawirtschaft so weit wie möglich zu mindern, ohne dabei jedoch gegen Recht und Gesetz zu verstoßen. Die Diplomaten verwandten sich nicht nur bei der Heeresleitung für eine Rangerhöhung des ehemaligen Militärberaters bei Yüan Shih-k'ai, Hauptmann z. D. König, der nach seiner Internierung als Teilnehmer an den Kämpfen um Tsingtao aus Japan wieder in seine alte Position an die Pekinger Militärakademie zurückgekehrt war 39 , sondern sie unterstützten auch Kontakte eines weiteren Offiziers der Kiaochow-Truppen, Oberleutnant v. Bernewitz, der sich aus Tientsin um die Vermittlung aus der Reichswehr entlassener Offiziere nach China bemühte 40 . 37

Völker, Entwicklung, S. 134 ff.

38

Hallgarten, Hitler, S. 21 ff.; Rahn, S. 207 ff., 2 3 0 ff.

39

König starb am 5. 2. 1921 als Major in China. Gesandtschaft Peking an AA, 5. 7. 1921, PA, Pol. Abt. IV/Po 13 Chi/1.

40

Er nahm z. B. Verbindung auf zu Rittmeister a. D. Blücher, Hauptmann a. D. Deiner und den Majoren a. D. E. und O. v. Stülpnagel. Außerdem traten Anfang der 1920er Jahre als Arsenalberater Hellwig, Müller und Hanke in chinesische Dienste. Konsulat Tientsin an AA, 29. 3. 1920, ebd.; Aufzeichnung AA, 8. 6. 1920, ebd.; Aufzeichnung AA, 1 7 . 1 . 1920, ebd., Abt. IA Chi/China 7 / 1 4 ; AA an R W M , 8. 5. 1920, ebd.

309

Die chinesischen Militärmachthaber zeigten sich seit Anfang der 20er Jahre sehr interessiert, deutsche militärische Berater, insbesondere Techniker und Ingenieure, für ihre kaum betriebsbereiten Arsenale zu gewinnen 41 . Das Auswärtige Amt hatte seinerseits zunächst nichts gegen Werbebemühungen in Deutschland. Der Artikel 179, so interpretierten die Diplomaten den Versailler Vertrag, verbiete lediglich eine offizielle „Mission" der deutschen Streitkräfte im Ausland, nicht aber die Tätigkeit einzelner Offiziere und Techniker. Die ausbleibenden Proteste der Alliierten schienen diese Sichtweise zu bestätigen. Mit seiner Deutung hoffte das Auswärtige Amt, nicht nur eine Belebung des Außenhandels, sondern Anfang der 20er Jahre vor allem den „Reichs-Arbeiter-Nachweis für Offiziere" (RANO) wirkungsvoll unterstützen zu können, der sich für die Weiterverwendung arbeitsloser ehemaliger Offiziere einsetzte. Für China sollten jedoch alle Vermittlungsaktivitäten rein privater Natur bleiben. Die Gefahren, die durch die innerchinesischen Unruhen und Umwälzungen gerade militärischen Beratern drohten, machten nach Ansicht des Auswärtigen Amtes jegliche offizielle Fühlungnahme unmöglich 42 . Zwar konnten infolge der alliierten Bestimmungen schon die von der chinesischen Zentralregierung 1917 getätigten Bestellungen von „hartem Kriegsgerät" bei der Firma Krupp — immerhin 72 Gebirgsgeschütze, 54 Feldgeschütze und 54 Haubitzen 43 — nicht mehr ausgeführt werden; mit Hilfe der privaten deutschen Arsenalberater gelang es den deutschen Handelsfirmen aber dennoch bis Mitte der 20er Jahre, erlaubtes „weiches Kriegsmaterial" nach China zu exportieren 44 . Neben Zubehörlieferungen von Krupp für Arsenalmaschinen waren dies vor allem Ersatzteillieferungen wie 5000 Kammerverschlüsse der Firma Mauser. Die Hoffnungen der deutschen Industrie, wieder stärker ins chinesische Rüstungsgeschäft einzudringen, konnten trotz der „laissezfaire"-Haltung der Reichsregierung gegenüber deutschen Beratern und Technikern in China damit jedoch nur teilweise erfüllt werden. Obwohl die Chinesen deutsches Rüstungsmaterial äußerst schätzten, blieb die Situation der Rüstungswirtschaft auf dem chinesischen Markt in noch weit größerem Maße als Ende der 1870er Jahre eher unbefriedigend 45 .

41

Vor allem Chang Tso-lin und Yen Hsi-shan (Shansi) bemühten sich auch um deutsche Berater. Carlowitz & Co. an Krupp, 14. 10. 1922, HA Krapp, W A IV 1936. Seps. Advisers, S. 11 ff.

42

RANO an AA, 12. 8. 1920, PA, Pol. Abt. IV/Po 13 C h i / 1 ; AA an RANO, 24. 8. 1920, ebd. Deputation für Handel, Schiffahrt und Gewerbe, Hamburg, an Senatskommission für die Reichs- und auswärtigen Angelegenheiten, Hamburg, 6 . 1 2 . 1924, StAHH, CL VII/ Lit Ke Nr. 13 Vol. 2 / F a s c . 36.

43

Preußisches Kriegsministerium an AA, 1 3 . 1 . 1917, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 3 2 .

44

Beispielsweise mit Unterstützung des seit Anfang der 1920er Jahre bei Marschall W u P'ei-fu tätigen deutschen Ingenieurs Moddo, des Majors a. D. Dammron, Hanyang-Arsenal, und des Maschinenmeisters Nielssen, Chengtu-Arsenal. Konsulat Hankow an AA, 16. 8. 1921, ebd., Pol. Abt. IV/Po 13 Chi/1; Vizekonsul Scheffler an AA, 5. 5. 1924, ebd.

45

Register zum Conto-Current, 24. 10. 1921, MA. Bloch, S. 20 f.; Ch'i, Warlord Politics, S. 122 ff.

310

Vor allem die wachsende Empfindlichkeit der Großmächte in China, die sich durch die immer schärfer werdenden antiwestlichen Parolen der chinesischen Nationalisten beunruhigt fühlten und daher alle Vorkommnisse aufmerksam verfolgten, schränkte umfangreichere eigenständige — möglicherweise sogar illegale — Aktivitäten der deutschen Rüstungsindustrie ein. Schon Mitte 1922 hatte die deutsche Gesandtschaft, ähnlich wie in den Anfangsjahren des „Bismarckreiches", vor einer Weiterführung sämtlicher Kriegsmateriallieferungen nach China gewarnt, die bei den sich zunehmend radikalisierenden chinesischen Auseinandersetzungen für Deutschland sowohl in China als auch im Ausland nur Unannehmlichkeiten verursachten. Die Diplomaten in Peking sprachen sich eindeutig für einen Anschluß des Deutschen Reiches an das amerikanische Memorandum aus, das nach dem Waffenembargo von 1919 auch die Lieferung von „weichem Kriegsmaterial" an die Chinesen unterbinden sollte. Auch das Auswärtige Amt- verwies gegenüber der deutschen Chinawirtschaft darauf, daß mit diplomatischen Hilfen nicht zu rechnen sei, wenn es in China infolge von Rüstungsgeschäften zu Schwierigkeiten komme. Obwohl die „Wilhelmstraße" erkannte, daß Reibungspunkte mit den Alliierten oder den Chinesen nur über eine völlige Einschränkung der Lieferungen deutscher Rüstungsexportfirmen vermieden werden könnten, beließ sie es zunächst nur bei ihren warnenden Hinweisen an die Firmen 46 . Die westlichen Großmächte fürchteten jedoch bei ihren Rüstungslieferungen an die nördlichen Militärmachthaber, mit deren Hilfe sie eine kommunistische Unterwanderung Südchinas verhindern wollten, insbesondere die deutsche Konkurrenz so sehr, daß sie schon bald die Anwesenheit von deutschen Militärberatern und die angeblich verbotenen Kriegsmateriallieferungen über das Reich nach China propagandistisch aufgriffen. Sie zwangen die Reichsregierung Mitte des Jahrzehnts zu einer kritischen Überprüfung ihres bislang eher wohlwollenden Standpunktes gegenüber deutschen Rüstungsgeschäften in China. Wenn sich Berlin auch bewußt war, daß hauptsächlich der erlaubte Transit und internationale Handel mit alten und neuen Waffen über Deutschland die Westmächte gegen das Reich in China aufbrachten, so wollten die Diplomaten der „Wilhelmstraße" nun jegliche Teilnahme von Deutschen an Rüstungsgeschäften mit China untersagen, um den beginnenden Annäherungsprozeß an den Westen nicht zu gefährden. Zwar war das Deutsche Reich dem Gesandtschaftsabkommen von 1919 wegen der fehlenden diplomatischen Beziehungen mit China nicht beigetreten und konnte daher Kriegsmateriallieferungen über Deutschland, die zumeist aus der Tschechoslowakei und der Schweiz kamen, nicht verbieten; die Reichsregierung hatte sich aber bereits mehrmals — wenn auch völkerrechtlich unverbind-

46

Boyé an AA, 24. 6. 1922, PA, Pol. Abt. IV/Po 2 Chi/2; Boyé an AA, 5. 4. 1923, ebd., Po 14 Chi/1; AA an OAV, 9. 4. 1923, ebd., Abt. IV WiChi/Waffen A / l ; Gesandtschaft Peking an AA, 14. 2. 1924, ebd. 311

lieh — gegenüber den Westmächten bereit erklärt, die Rüstungsausfuhr aus Deutschland nach China generell zu unterbinden. Die Kritik des Auslandes an der Reichsregierung verwies dabei insbesondere auf die Erklärung des deutschen Gesandten in Peking vom 10. Oktober 1921, in der das Deutsche Reich das Gesandtschaftsabkommen akzeptiert hatte 47 . Das Auswärtige Amt mußte jedoch Mitte der 20er Jahre erkennen, daß sich die deutsche Chinawirtschaft bei politischen Problemen wieder einmal wenig einsichtig zeigte. Auch ohne diplomatische Absicherung des Reiches und trotz der Rüstungsbeschränkungen war es dem deutschen Chinahandel im Gegensatz zur deutschen Industrie gelungen, mit Hilfe der Transitlieferungen aus dem Ausland über das Reich wieder beherrschend ins Kriegsgerätegeschäft mit China einzusteigen. Bei den Rüstungsexporten an die nordchinesischen Militärmachthaber konnte man trotz aller Anstrengungen der Westmächte fast von einer Monopolstellung der deutschen Kaufleute sprechen. 60 % aller Rüstungsimporte Chinas — mehr als in den 1870er und 1880er Jahren — kamen 1925 dem Verschiffungsland nach aus Deutschland; 1922 waren es noch 15 % und 1923 nur 20 % gewesen 4 8 . Sowohl die einzelnen Handelsfirmen als auch die Handelskammern lehnten angesichts dieser außerordentlichen Geschäftsmöglichkeiten jede weitere Beschränkung, die über den Versailler Vertrag hinausging, entschieden ab: Die Rüstungsgeschäfte mit China seien nicht illegal; englische und französische Firmen lieferten sogar trotz des Embargos und übernähmen selbst die Versicherung der scharf kritisierten Lieferungen über Deutschland 49 . Auch der Reichsverband der Deutschen Industrie — obwohl selbst kaum betroffen — zweifelte an der Zweckmäßigkeit eines Verbotes der Reichsregierung, da die Lieferungen dann den Weg über Länder wie Norwegen, Dänemark, Österreich und die Sowjetunion nähmen, die dem Embargo keineswegs beitreten würden, und Deutschland selbst am Handel mit Rüstungsgütern nach China nichts mehr verdienen könne. Auch andere Reichsbehörden wie das Reichsfinanzministerium sprachen sich gegen weitere Einschränkungen im Rüstungsgeschäft mit China aus: Das Deutsche Reich habe mit den Kriegsmaterialgesetzen vom Dezember 1920 und Juni 1921 genug Beschränkungen auf sich genommen; nur Schutzmaßnahmen des Empfängerlandes könnten sinnvoll die allerorts verurteilten, aber dennoch von allen Ländern praktizierten Rüstungslieferungen in das vom Bürgerkrieg zerrissene China unterbinden 50 . 47

Aufzeichnung Trautmann, 3. 2. 1927, ebd., HaPol. Abt./Handelspolitische Handakten/

48

Statistik der Einfuhr von W a f f e n und Munition nach Angaben der chinesischen See-

Gesandter Eisenlohr. zollstatistik von 1925, erstellt im AA, 2 2 . 1 2 . 1926, ebd., Abt. IV W i C h i / W a f f e n A / 2 . Causey, S. 121 ff. 49

AA an Senat von Hamburg, 3. 7. 1924, PA, Abt. IV W i C h i / W a f f e n A / l . „Ostasiatische Rundschau", 1. 5. 1928, H W W A , B 94/qNr. 2IIb.

50

RFiM an AA, 8 . 1 0 . 1 9 2 3 , PA, Abt. IV W i C h i / W a f f e n A / l ; RDI an AA, 24. 7. 1924, ebd.; Gesandtschaft Peking an AA, 4. 9. 1924; RDI an AA, 3. 10. 1924, ebd. Carlowitz & Co. an Krupp, 10. 1. 1923, HA Krupp, W A IV 1936. Ch'i, Warlord Politics, S. 118 ff.

312

Trotz seiner politischen Vorbehalte hielt das Auswärtige Amt nach diesen massiven Einsprüchen an der extensiven Auslegung des Artikels 179 des Versailler Vertrages und an der Erlaubnis zur Durchfuhr von Kriegsgerät nach China fest. Obwohl die deutsche Gesandtschaft immer wieder Maßnahmen zur Unterbindung der Rüstungsgeschäfte über deutsche Firmen gefordert hatte, die zum Teil von der Deutsch-Asiatischen Bank mitfinanziert würden und dem deutschen Ansehen in China und bei den Großmächten nur schadeten, konnte sich das Auswärtige Amt zu keinem generellen Verbot durchringen. Die „Wilhelmstraße" bedauerte zwar vor allem das Vorherrschen von altem deutschen Rüstungsmaterial in den Händen der chinesischen Militärmachthaber, das von deutschen Exporteuren seit Beendigung des Krieges aus ganz Europa nach China verkauft wurde, sie war aber trotz der alliierten Pressekampagne nicht bereit, den Annäherungsprozeß an die deutsche Wirtschaft und damit den gerade gewonnenen inneren Ausgleich in Deutschland durch eine Verschärfung der Versailler Vertragsbedingungen zu stören und weitere legitime Rechte des Reiches im Außenhandel aufzugeben. Eine anderslautende Entscheidung, so ließ Berlin die deutsche Botschaft in London im Januar 1925 wissen, widerspreche dem Abkommen von Barcelona vom 20. April 1921, dem das Deutsche Reich am 4. November 1924 beigetreten war und das die Freiheit des Durchgangsverkehrs verbindlich regelte. Mit diesem Taktieren zwischen wirtschafts- und innenpolitischen Interessen sowie außenpolitischen Überlegungen hielt die Reichsregierung Mitte der 20er Jahre zunächst das Problem der Rüstungslieferungen nach China prinzipiell für gelöst 51 . Gleichzeitig wies das Auswärtige Amt aber die deutsche Chinawirtschaft nochmals ausdrücklich darauf hin, daß die Reichsregierung keinesfalls bereit sein werde, Kaufleute bei Komplikationen im Rüstungsgeschäft mit China diplomatisch zu unterstützen 52 . Weitaus brisanter erschien dagegen dem Auswärtigen Amt das Mißtrauen des Westens gegenüber einem politischen Zusammengehen des Deutschen Reiches mit der Kuomintang oder mit der Sowjetunion in China. Die alliierte Propaganda betonte diese letzte Möglichkeit seit dem Rapallo-Abkommen weit stärker, als sie die Kriegsgerätelieferungen deutscher Firmen nach China beanstandete. Tatsächlich hatte es bereits nach dem Krieg erste deutschsowjetische Pläne in dieser Richtung gegeben. Die deutschen Chinakaufleute dachten dabei besonders an die Vorteile, die ihnen die Transsibirische Eisenbahn bieten könnte. Auch die Chinesen, vor allem Chang Tso-lin in der Mandschurei, waren von einer engeren deutsch-sowjetisch-chinesischen Kooperation angetan. Nach dem Wirtschaftsabkommen des Reiches mit der Sowjetunion sollte auf Weisung der Reichskanzlei das Zusammengehen mit

51

52

Gesandtschaft Peking an AA, 14. 2.1925, PA, Abt. IV WiChi/Waffen A/2; Generalkonsulat Tientsin an AA, 13. 8. 1924, ebd., Waffen A / l ; AA an Senat von Hamburg, 31. 5. 1925, ebd. AA an Reederei Schröder, 1 3 . 2 . 1925, ebd., Waffen A/2; AA an Botschaft London, 10.1. 1925, ebd., Waffen A / l ; AA an Botschaft Paris, 16. 5. 1925, ebd.

313

Rußland in der Mongolei und in der Mandschurei definitiv geklärt werden, falls die chinesische Zentralregierung einverstanden sei. Durch diese Verbindung erhoffte sich das Auswärtige Amt neben dem allgemeinen politischen insbesondere einen konkreten wirtschaftlichen Nutzen. Pläne eines deutschsowjetisch-chinesischen Syndikats zur Nutzbarmachung der Mongolei wurden daher in relativ kurzer Zeit ausgearbeitet 53 . Die Reaktionen der Alliierten auf Rapallo modifizierten jedoch die euro-asiatischen Vorstellungen der Reichsregierung. Das wirtschaftliche Interesse an der Mongolei blieb zwar weiterhin bestehen, aber bündnispolitische Vereinbarungen als Folge wirtschaftspolitischer Kooperation mit der Sowjetunion in Asien sollten nunmehr auf jeden Fall verhindert werden. Um jeglichen Zweifel auszuschließen, mußte daher das Engagement des Reiches in der Mongolei so gering wie möglich bleiben. Die sowjetischen Versuche, wenigstens die deutsche Chinawirtschaft für sich zu vereinnahmen, scheiterten nicht nur an Verkehrsschwierigkeiten, sondern auch an den ideologisch bedingten Unterschieden des sowjetischen und des deutschen Wirtschaftssystems. Selbst den traditionsreichen deutschen Firmen in Russisch-Fernost wurde schließlich nach einer unerwarteten Nachkriegsblüte durch kommunistische Aktivitäten und Wirtschaftsprogramme ihre Geschäftsgrundlage entzogen 54 . Wenn sich auch die alliierten Befürchtungen über eine deutsch-sowjetische Allianz in Nordchina schon bald als grundlos erwiesen, so blieb das Mißtrauen des Westens gegenüber der Chinapolitik des Deutschen Reiches doch erhalten. Weitaus intensiver als um die deutsch-russisch-(nord-)chinesischen Projekte hatte sich Deutschland nach Ansicht westlicher Diplomaten nach dem Ersten Weltkrieg nämlich um die revolutionäre Kuomintang bemüht, eine Tatsache, die besonders seit der Abkehr Sun Yat-sens vom Westen Anlaß zu großer Besorgnis gab. Sofort nach ihrem Einzug in Canton 1920 hatte die Süd-Regierung versucht, alte Kontakte zur Reichsregierung aus den letzten Kriegsjahren wieder aufzunehmen 55 . Im Gegensatz zur Zentralregierung, die 53

Aufzeichnung AA, 2 1 . 1 0 . 1919, ebd., Abt. IA Chi/China 7 / 1 2 ; Carlowitz & Co. an AA, 31. 5. 1920, ebd., Pol. Abt. IV/Po 2 C h i / 1 ; AA an Gesandtschaft Peking, 1 0 . 1 2 . 1921, ebd., Abt. IV W i C h i / W i r t s c h a f t 6 / 1 . Boyé an AA, 15. 3. 1922, ebd., Abt. IV WiChi/Wirtschaft 6 / 1 ; AA an Boyé, 24. 5. 1922,

54

ebd.; AA an Botschaft Moskau, 14. 10. 1922, ebd. 55

Bereits 1917 hatte sich Sun Yat-sen gegen einen Eintritt Chinas in den Krieg gegen Deutschland ausgesprochen und dafür die Hilfe des Deutschen Reiches erwartet. Seine Zusagen, sich in Japan für Deutschland einzusetzen und gegen die prowestliche Regierung Tuan Ch'i-jui in Peking vorzugehen, honorierte das Auswärtige Amt tatsächlich mit 2 Mill. Mark, die der deutsche Gesandte, Admiral v. Hintze, bei seiner Abreise aus China Ende 1917 in Canton übergab. Uber ihn wurden auch bis Kriegsende die Beziehungen zur KMT aufrechterhalten, die in Dänemark und Norwegen durch Gewährsleute an der chinesischen Gesandtschaft vertreten war. Die Vorschläge Suns zu einer weiteren Kooperation, die über seinen Vertrauen Abel Ts'ao — in Berlin oft unter dem Namen Ts'ao K'un-chen

314

anwesend

— der Reichsregierung

übermittelt

wurden,

dieses erst im Vertrag vom 20. Mai 1921 zubilligte, gab sie beschlagnahmtes deutsches Eigentum sofort frei. Das Deutsche Reich galt in Canton vor allem nach seinem diplomatischen Ausgleich mit China auf gleichberechtiger Basis als wünschenswerter Partner der Kuomintang. Sun Yat-sen, bei dem sich die Bewunderung für den wilhelminischen Militarismus und die Auffassung, Deutschland habe im Gegensatz zu den anderen Mächten China kaum unfreundlich behandelt, zu einer im Grunde opportunistischen Haltung vermischten 56 , sprach sich eindeutig für eine enge Verbindung mit den Deutschen aus. Zwar lehnte er, das Beispiel Yüan Shih-k'ais aus der Vorkriegszeit vor Augen, jedes Abhängigkeitsverhältnis ab, dachte aber an eine zeitweise politische Allianz mit Deutschland. Die Vorstellungen dazu unterbreitete in Berlin sein Verbindungsmann, General Chu Ho-chung, der sich ab Anfang 1921 in Deutschland aufhielt. Häufige direkte Kontakte mit dem deutschen Generalkonsul in Canton, Wagner, der mit Billigung der chinesischen Zentralregierung die Verbindungen der Reichsregierung zur Kuomintang aufrechterhielt, ohne daß diese dadurch aber offiziell anerkannt wurde, ließen das Auswärtige Amt bald den allzu großen Optimismus und die völlige Realitätsferne von Suns politischen Konzeptionen erkennen. Nach Suns Äußerungen zu schließen, könne allein Deutschland China Hilfe bringen; es solle ihn, Sun, unterstützen, die Macht in Canton weiter auszubauen, und dafür, quasi als Gegenleistung, China als Ersatz für verlorengegangene Kolonien betrachten 57 . Trotz der Deutschland gegenüber geäußerten unverhohlenen Drohung der Kuomintang, die wirtschaftliche Zusammenarbeit erst dann weiter auszubauen, wenn ein eigener Staatsvertrag abgeschlossen werde 5 8 , blieb die Reichsregierung angesichts dieser phantastischen Pläne Suns auf politischer Distanz zu Canton. Zum einen meinte sie, möglichen Ergebnissen der Washingtoner Konferenz über eine politische Neuordnung Chinas nicht vorgreifen zu können, zum anderen wollte das Auswärtige Amt die „warlords" des Nordens nicht durch eine formalisierte Verbindung zur Kuomintang provozieren. Die „Wilhelmstraße" beabsichtigte, an dem Vertrag mit der Zentralregierung in fanden jedoch in Deutschland kein größeres Interesse. Suns Pläne, durch eine Vereinigung mit den russischen Kommunisten und mit Hilfe deutscher Kriegsgefangener in Sibirien den Neuaufbau der chinesischen Republik militärisch durchzusetzen und dafür Hilfsgüter, vor allem Rohstoffe, nach Deutschland zu liefern, galten in Berlin angesichts der deutschen Niederlage als utopisch. Generalkonsulat Shanghai an Reichskanzler Graf v. Hertling, 2 0 . 1 2 . 1917, ebd., Abt. IA Chi/China 7 / 9 ; Gesandtschaft Kristiania an Hertling, 1 0 . 1 . 1918, ebd., China 7 s e c r . / l ; Gesandtschaft Kristiania an AA, 7.11., 2 0 . 1 1 . und 2 5 . 1 1 . 1918, ebd., China 7 / 1 1 ; Gesandtschaft Den Haag an AA, 2 5 . 1 . 1919, ebd. 56

Gesandtschaft Den Haag an AA, 12. 3. 1919, ebd., China 7 / 1 1 . Chi, S. 115 ff.

57

Vgl. Suns Äußerungen zu W a g n e r : „Kommen Sie, helfen Sie mir, organisieren Sie, als ob Sie ein Stück eigenes Land verwalten." Zitiert in: W a g n e r an AA, 1 . 1 2 . 1921, PA, Pol. Abt. IV/Po 5 A Chi/1. Die KMT erkannte den diplomatischen Ausgleich des Reiches mit Peking von 1921 nicht an. Mehner, Weimar — Kanton, S. 29 ff., 37.

58

315

Peking als Grundlage ihrer Beziehungen zu China festzuhalten und keine Zweifel an ihrer Haltung aufkommen zu lassen. Zudem wußte Berlin aus sicherer Quelle in Canton ganz genau, daß trotz der unnachgiebigen Haltung der Reichsregierung den deutschen Wirtschaftsverbindungen nach Südchina keine Nachteile entstehen würden, da die Kuomintang viel zu sehr an deutscher Hilfe interessiert war 5 9 . Auch die Gespräche, die Chu Ho-chung mit Unterstützung des letzten wilhelminischen Gesandten in China, Admiral v. Hintze, bei Krupp, Stinnes und Siemens führte, ließen durchaus auf größere Geschäfte hoffen 6 0 . Wenn auch das Auswärtige Amt auf Anraten der deutschen Vertretung in Peking, die sich scharf gegen die überzogenen Aktivitäten Hintzes bei der Kuomintang aussprach, jegliche offizielle Beteiligung bei der Anwerbung von Beratern für Canton in Deutschland ablehnte und damit die Erwartungen Sun Yat-sens weiter enttäuschte, scheiterten die Wirtschaftsgespräche keineswegs an politischen Vorbehalten Berlins oder Cantons: Zwar war die „Wilhelmstraße" zu keiner Zeit bereit, die strikte Neutralität in den innerchinesischen Auseinandersetzungen aufzugeben und Peking zu brüskieren, aber gegen eine private Anwerbung von Beratern durch die Kuomintang hatte die Reichsregierung, wie bei den anderen chinesischen regionalen Machthabera, nichts einzuwenden. Die in den Verhandlungen Chus und Hintzes vorbereiteten Verträge konnten mehr aus finanziellen denn aus politischen Gründen weder mit der Industrie noch mit zukünftigen Beratern tatsächlich abgeschlossen werden 6 1 . Standen die deutschen Experten angesichts der sich zuspitzenden Lage in Canton den für Mitte 1922 geplanten umfassenden Modernisierungsmaßnahmen skeptisch gegenüber, so scheiterten die Industrieprojekte endgültig am nicht vorhandenen Kapital in Deutschland und bei der Kuomintang. Die Abreise Chus Anfang 1922, der mit seinen Ergebnissen in Deutschland höchst unzufrieden war, schien die Kontakte des Deutschen Reiches zur Kuomintang zunächst zu beenden, zumal die Reichsregierung keinerlei Anstalten machte, ihre diplomatische Zurückhaltung doch noch aufzugeben 62 .

59

So versicherte Dr. Ma Chün-wu, in Deutschland ausgebildet und Sun Yat-sens rechte Hand, gegenüber dem Vertreter der DAB, Kullmann. Kulimann an AA, 5 . 1 1 . 1921, PA, Pol. Abt. IV/Po 5 A C h i / 1 .

60

AA an Baur, Krupp, 1 . 1 0 . 1921, ebd.; Aufzeichnung Knipping, 6. 3. 1922, ebd., Po 5 A C h i / 2 ; Aufzeichnung Knipping, 3 1 . 1 0 . 1921, ebd., Po 2 C h i / 2 . Zu den Bündnisplänen Fabritzek, Drache, S. 101 ff.

61

Es waren in Aussicht genommen worden: Prof. Schwinning, Technische Hochschule Dresden, für das Schulwesen, Geheimer Admiralitätsrat Schrameier für die Verwaltung, Oberbaurat Hildebrandt für das Eisenbahnwesen und Direktor Arnold für das Bankwesen. Aufzeichnung Bethcke, 18. 5. 1922, PA, Pol. Abt./Po 5 A Chi/2.

62

Chu Ho-chung an Reichskanzler Wirth, 24. 2. 1922, BA, R 43 1/56. Kirby, Germany, S. 34 f.

316

Dennoch zeigten sich bereits zu diesem Zeitpunkt die Großmächte höchst alarmiert. Trotz aller Dementis des Auswärtigen Amtes schien Deutschland sich nicht nur rüstungswirtschaftlich wieder stärker in China zu engagieren, sondern sogar einer militärischen Kooperation mit der Kuomintang nicht abgeneigt gegenüberzustehen. Schon Ende 1921 hatte Chu im Auftrag Suns, der von den deutschen Leistungen im Krieg beeindruckt war 63 , in Deutschland versucht, U-Boote zu kaufen und Generalstabsoffiziere anzuwerben. Die Voreingenommenheit der Kuomintang nach dem „Neunmächte-Vertrag" gegenüber dem Westen und die Spekulationen um die deutsch-russische Annäherung weckten bei den Alliierten dann seit Mitte 1922 die Sorge vor einer deutsch-sowjetisch-südchinesischen Militärallianz. Deutschland und Rußland, beide nicht am Washingtoner Ausgleich für den Pazifik beteiligt, schienen sich ein eigenes Bündnissystem für den Fernen Osten aufzubauen. Die Absicht Hintzes, einer Einladung Chus nach China nachzukommen, mußten diese Befürchtungen bestätigen, auch wenn die Reise des ehemaligen Gesandten wegen des Putsches in Canton unterblieb. Tatsächlich sah die Kuomintang nach dem Sun-Joffe-Abkommen noch stärker als zuvor die Möglichkeit, sowohl die Sowjetunion als auch Deutschland als Partner zu einer revolutionären Neugestaltung Chinas zu gewinnen. Bei der Verwirklichung von Suns Programm der militärischen Revolution von oben maß Canton der rüstungswirtschaftlichen und personellen Hilfe aus Deutschland große Bedeutung bei 64 . Die Tätigkeit des (seit Mitte 1922) neuen Beauftragten Suns bei der Reichsregierung, Teng Chia-yen 65 , konzentrierte sich daher auf die Anknüpfung rüstungsindustrieller und militärischer Kontakte, auf die Anwerbung von Militärberatern, den Kauf von Munition und Konstruktionsplänen zum Nachbau von Flugzeugen. Auf eine Unterstützung von deutschen Regierungsstellen konnte er dabei kaum hoffen. Die Reichsregierung hielt mehr denn je, vor allem angesichts des direkten Drucks der Alliierten während der Ruhrbesetzung, ein offizielles Engagement bei der Anwerbung von Militärberatern für ausgeschlossen. Sie berief sich gegenüber Teng auf die sonst so verpönten Einschränkungen des Versailler Vertrages und sah Möglichkeiten lediglich auf privater Basis. Diese restriktive Haltung erleichterte den Chinesen die Entscheidung, die militärische Modernisierung ausschließlich einer sowjetischen Militärmission anzuvertrauen 66 . Dennoch schien Berlin bereit, die wirtschaftlichen Beziehungen mit Canton auf eine festere Basis zu stellen. Größere Einwände aus Peking waren bei dem permanenten Machtzerfall der Zentralregierung, die an jeder Wirt63 64

65 66

Sun, S. 54 ff. Baur, Krupp, an AA, 30. 9. 1921, PA, Pol. Abt. IV/Po 5 A Chi/1; Notiz AA, 31. 3. 1923, ebd., Po 5 A Chi/2; Botschaft Washington an AA, 25. 9. 1922, ebd. Iriye, S. 14 ff. Ch. Chen, S. 82 ff.; Fass, Germany, S. 140 ff.; Kirby, Germany, S. 33 ff. Aufzeichnung Knipping, 28.8. 1923, PA, Pol. Abt. IV/Po 5 A Chi/2. Ch. Chen, S. 107 ff.; Mehner, Weimar - Kanton, S. 40 ff.

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schaftshilfe des Auslandes für China ein starkes Interesse haben mußte, kaum zu erwarten. Eine amtliche Kooperation im wirtschaftlichen Bereich mit einer in Canton neu gefestigten Kuomintang wurde als durchführbar und auch als wünschenswert angesehen, obgleich vor allem die Diplomaten in China skeptisch blieben. Für die deutschen Vertreter in Peking und Canton klangen auch Sun Yat-sens neuerliche Vorstellungen viel zu utopisch, als daß sie Anlaß zu größeren Hoffnungen geben konnten: Der Austausch von Rohstoffen gegen technisches Wissen auf Kompensationsbasis war noch vorstellbar, aber eine Revision des Versailler Vertrages und der Nachkriegsordnung zugunsten des Deutschen Reiches über eine Reorganisation der chinesischen Streitkräfte zu erreichen, schien allzu sehr an die alten wirklichkeitsfremden Ideen anzuknüpfen 67 . Auch die konkreten wirtschaftlichen Großprojekte von Anfang 1924 sah das Generalkonsulat Canton schon aus finanziellen Gründen scheitern, bevor die deutsche Wirtschaft überhaupt Vorschläge hierzu unterbreiten könne 68 . Noch als weitaus unrealistischer als Suns offen geäußerte Vorstellungen und sogar als gefährlicher in bezug auf die Verpflichtungen Deutschlands gegenüber den Westmächten schätzten die Chinadiplomaten Überlegungen Chu Ho-chungs ein, der als Deutschlandexperte der Kuomintang fungierte: Hinter seinen irrealen und diffusen Gedankengängen, Deutschland müsse kommunistisch werden, und die deutsche Großindustrie solle nach China auswandern, damit China in drei Jahren alle Verträge zerreißen könne, werde deutlich der Einfluß der Kommunistischen Internationale sichtbar. Insbesondere das rüstungswirtschaftliche Potential, über welches das Deutsche Reich im Gegensatz zur Sowjetunion in weitaus stärkerem Maße verfüge, wolle Canton nicht nur für den Sieg der chinesischen Revolution, sondern auch gegen die Vorherrschaft des Westens in China nutzen. Eindringlich warnten daher die Diplomaten in Berlin davor, auf die phantastischen Pläne der Kuomintang einzugehen. Chu, der auf seiner geplanten zweiten Reise nach Deutschland vor allem wieder die Kontakte „nationalistischer und ultrarechter Kreise", namentlich zu Hintze, suchen werde, müsse im Auge behalten werden. Kleinere Gewinne stellungsloser Militärs könnten den großen politischen Schaden gegenüber Frankreich und England nicht aufwiegen 69 . Das Auswärtige Amt blieb 1924 angesichts dieser pessimistischen, aber überzeugenden Lagebeurteilung aus China trotz aller wirtschaftlichen Erwartungen bei seinem vorsichtigen Kurs gegenüber der Kuomintang, ein Verhalten,

67

„You are disarmed, now you must arm China. That is most likely your only salvation". Äußerung Suns zitiert in: Generalkonsulat Kanton an AA, 2. 3. 1924, PA, Pol. Abt. IV/ Po 5 A C h i / 2 .

68

Aufzeichnung Knipping, 28. 8. 1923, ebd., Po 5 A C h i / 2 . Mehner, Rolle, S. 23 ff. Zu dem mit deutscher Hilfe durchzuführenden Wiederaufbauplan s. den Brief Sun Yatsens an Teng Chia-yen vom 18. 8. 1923, abgedruckt in: Kindermann (Hrsg.), Konfuzianismus, S. 137 f.

69

Generalkonsulat Kanton an AA, 2. 3. und 23. 3. 1924, PA, Pol. Abt. IV/Po 5 A Chi/2.

318

das sich bis zum Ende der Weimarer Republik im wesentlichen nicht mehr ändern sollte 70 . Namen von deutschen Rüstungsfirmen, die im Ausland die Bestimmungen des Versailler Vertrages zu umgehen versuchten, sollten daher auf keinen Fall an Sun weitergegeben werden, damit dieser in Canton keinen neuen Zweigbetrieb vorbereiten könne. Zwar sah die „Wilhelmstraße" in potentiellen Rohstofflieferungen ein beachtenswertes Argument für engere Kontakte; die zurückhaltende Neutralitätspolitik des Reiches nach der wirtschaftlichen Annäherung an den Westen, welcher der endgültige politische Ausgleich noch folgen sollte, erforderte aber ein äußerst vorsichtiges Taktieren, zumal die Cantoner Regierung immer stärker unter den Einfluß der Sowjetunion geriet. Eine politische Unterstützung der deutschen Schwerund Rüstungsindustrie und selbst der Kriegsmaterialgeschäfte des deutschen Chinahandels in Südchina blieb daher ausgeschlossen, wollte Deutschland nicht mit dem Westen in Fernost in eine gefährliche Konfrontation geraten 71 . Selbst der Reichsverband der Deutschen Industrie hatte sich in Anbetracht dieser Entwicklung in Canton zunächst weitgehend mit Eigeninitiativen oder Forderungen an die Reichsregierung zurückgehalten. Ausführliche Vorstellungen zu Industrie- und Rohstoffprojekten lagen allerdings vor. Doch hielten die Industriellen seit den schlechten Erfahrungen von 1922 eine Konkretisierung der Pläne kurzfristig für kaum möglich. Eine Hilfestellung des Reiches, die angesichts der Beschränkungen des Versailler Vertrages im schwer- und insbesondere im rüstungsindustriellen Außenhandel unbedingt notwendig gewesen wäre, war nach der Ruhrkrise in absehbarer Zeit kaum zu erwarten. Selbst Unterstützungsmaßnahmen der Reichswehr lagen aufgrund der im allgemeinen ziemlich losen Kontakte und verschiedenartigen Interessen zwischen Industriellen und Militärs außerhalb jeder realen Planung 72 . Das Militär verhielt sich bis Mitte der 20er Jahre gegenüber China ziemlich indifferent. Zwar hatte das preußische Kriegsministerium noch am Ende des Ersten Weltkrieges dem zukünftigen Rüstungsgeschäft mit China zur Stabilisierung der deutschen Schwerindustrie eine höhere Bedeutung beigemessen als Inlandsaufträgen; die Hoffnungen der deutschen Wirtschaft auf die Transsibirische Eisenbahnverbindung in der unmittelbaren Nachkriegszeit wurden daher voll und ganz geteilt. Aber bereits 1920 sah die Reichswehr in der finanziellen Unterstützung der Hochschule in Tsingtao den einzigen realistischen Ansatzpunkt, einen gewissen Einfluß auf China aufrechtzuerhalten. Wenn auch die militärische Führung Anfang der 20er Jahre die Möglichkeit eines Zusammengehens des Deutschen Reiches mit Rußland und China erkannte, so dürften solche Konzeptionen in den strategischen Planungen

70

Auch von einer „moralischen Unterstützung" der KMT konnte kaum die Rede sein.

71

AA an Generalkonsulat Kanton, 2 . 3 . 1924, PA, Pol. Abt. IV/Po 5 A Chi/2. Glaime,

Fass, Germany, S. 140 ff. S. 136 ff.; nicht ganz zutreffend Mehner, W e i m a r — Kanton, S. 40 ff. 72

Causey, S. 68 ff., 99 ff.; zur Industrialisierung vgl. auch die weniger überzeugenden Aussagen von Kindzorra, S. 97 ff. 319

wohl kaum über allgemeine Überlegungen hinausgekommen sein. Engere Beziehungen oder ein größeres Engagement in China erschienen der Reichswehr bei der desolaten Situation des chinesischen Reiches viel zu unrealistisch. Kontakte sollten dennoch aufrechterhalten werden, insbesondere zur antiwestlichen Kuomintang. Sowohl Chu Ho-chung, der Ende 1921 persönlich mit Seeckt in Verbindung stand, als auch Teng Chia-yen konnten daher für die Kuomintang Verbindungen ins Reichswehrministerium unterhalten — erste Grundlagen für eine intensivere Kooperation Anfang der 30er Jahre 73 . Zu Beginn der 20er Jahre konnten die Chinesen jedoch eine offizielle Unterstützung seitens der Reichswehr bei der Suche nach Beratern kaum erwarten, da das deutsche Interesse an China zu gering war. Die Kuomintang-Vertreter waren letztlich darauf auch gar nicht angewiesen; ihnen genügte die Vermittlung von privaten Verbindungen durch die aktiven Militärs, welche die Folgen der Demobilisierung für ihre arbeitslosen Kameraden so gering wie möglich halten wollten. Die höheren, aus dem aktiven Dienst ausgeschiedenen deutschen Offiziere verzichteten trotz ihrer zumeist verschwommenen kontinentalen euro-asiatischen Großraumvorstellungen gegen ein „angelsächsisches Imperium" auf eine Anstellung in China. Oberst a. D. Bauer, Ende der 20er Jahre stärkster Verfechter einer deutsch-chinesischen militärischen und rüstungswirtschaftlichen Zusammenarbeit und quasi Hintzes Nachfolger als Bindeglied zu China, lehnte z. B. 1923 ein Angebot des chinesischen Militärmachthabers Feng Yü-hsiang ab, der wie die Kuomintang später ebenfalls mit der Sowjetunion enger paktierte 74 . Auch Ludendorff war nicht bereit, Chus Einladung nach China zu folgen. Nicht ein möglicher, bei der ambivalenten Haltung der Diplomaten auch gar nicht realistischer Widerstand aus dem Auswärtigen Amt verhinderte daher — abgesehen von technischen Arsenalberatern — bis Mitte der 20er Jahre eine größere Anstellung von privaten deutschen Militärberatern in China, sondern deren eigene Vorbehalte. Sowohl die offizielle deutsche Militärführung unter Seeckt als auch die Protagonisten eines Ostimperiums um Ludendorff und Bauer sahen Chancen für eine wirksame und auch für das Deutsche Reich sinnvolle mili-

73

74

Preußisches Kriegsministerium an AA, 1 3 . 1 . 1917, PA, Abt. IA Chi/China 5 / 3 2 ; Aufzeichnung Trautmann, 23. 8. 1923, ebd., Pol. Abt. IV/Po 5 A C h i / 2 . A n f a n g 1923 w a r Trebitsch-Lincoln, ein alter Abenteurer und Berater in vielen Ländern, mit einer chinesischen Kommission nach Deutschland gekommen. Seinem Angebot, als Berater für Wirtschaftsfragen nach China zu gehen, stand Bauer aufgrund der Deutschland durch den Versailler Vertrag auferlegten Beschränkungen skeptisch gegenüber. Bauer riet Trebitsch-Lincoln, mit der zum Rheinmetall-Verband gehörenden S c h w e i z e r W a f f e n f i r m a Oerlikon Kontakt aufzunehmen. Im November 1923 lehnte Bauer abermals eine Reise n a c h China ab und ging statt dessen in die Sowjetunion; im Januar 1924 zog er eine Tätigkeit in Spanien erneut einer Anstellung in China vor. Erinnerungen der Luise Engeler, S. 100 ff., BA, Nachlaß Bauer, Bd 69. Vgl. auch Vogt, Oberst M a x Bauer. Generalstabsoffizier im Zwielicht, S. 419 f f . ; ders., Oberst M a x Bauer ( 1 9 2 8 - 1 9 2 9 ) , S. 96 f f .

320

tärische und rüstungswirtschaftliche Hilfe erst nach einer Stabilisierung der Verhältnisse in China 75 . Auch die Marineleitung zeigte zu Beginn der 20er Jahre — außer gegenüber Japan — an Ostasien kaum Interesse, obwohl Auslandsfahrten neben dem Schutz des Überseehandels und der Meeresforschung eindeutig im Vordergrund ihrer „Friedensaufgaben" standen. Wie in den 70er und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts wollte die Marine durch Fahrten deutscher Schiffe ins Ausland militärpolitische Erfordernisse 76 vor allem zur Selbstdarstellung und Propaganda nutzen, um ihre Existenzberechtigung zu beweisen und Kontakte zu Handel und Industrie neu zu knüpfen. Nach langem Zögern und ersten Erfolgen fand der Auslandsdienst ab Mitte der 20er Jahre auch wieder die Unterstützung des Auswärtigen Amtes. Die Reichsregierung ging allmählich dazu über, die Fahrten zu koordinieren und sie Ende der 20er Jahre sogar selbst als Mittel der Propaganda für das Reich einzusetzen. Waren bis 1924 nur europäische Länder besucht worden, so liefen Seestreitkräfte Mitte der 20er Jahre wieder südamerikanische Häfen an und — auf einer Weltreise 1926/27 — auch die Vereinigten Staaten und Japan 77 . Im Hinblick auf Japan hatten allerdings schon seit Beginn der 20er Jahre bei der Marine und insbesondere bei dem späteren Chef des militärischen Nachrichtendienstes, Canaris, Überlegungen bestanden, das fernöstliche Inselreich wie Spanien zu einem technischen Versuchsfeld für deutsche Seestreitkräfte auszubauen. Über den Austausch von Daten hinaus hoffte die Marineführung insbesondere, die Erfahrungen bei der Weiterentwicklung von U-Booten, die nach deutschem Muster und mit Hilfe deutscher Techniker gebaut werden sollten, nutzbar zu machen. Erste Kontakte zu den Japanern wurden bei der Übergabe von U-Booten geknüpft, die Deutschland nach dem Versailler Vertrag an Japan ausliefern mußte und die später zum Aufbau einer eigenen japanischen U-Boot-Waffe dienten. Wie das japanische Heer durch das Studium der Ludendorffschen Kriegskonzeptionen die totale Mobilmachung plante, so blickten auch die Vertreter der japanischen Seestreitkräfte, die den Engländern und Amerikanern mißtrauten, erwartungsvoll auf das deutsche Vorbild. Doch selbst Canaris mußte Mitte der 20er Jahre die begrenzten deutschen Möglichkeiten und die unzureichenden Gegenleistungen

75

Seeckts Überlegungen von 1923, den nachmaligen Chef des Truppenamtes, General Wetzell, der nach seiner Pensionierung von 1 9 3 0 bis 1934 als Berater bei der NankingRegierung tätig war, nach China zu entsenden, erwies sich angesichts der innerchinesischen Wirren nur für kurze Zeit als realistisch. Denkschrift Wetzells für Chiang Kaishek, Dezember 1931, BA-MA, MSg 1 6 0 / 3 . Vgl. auch Fu, Relations, S. 161; Geyer, Motive, S. 56 ff.; Seps, Advisers, S. 23 f.

76

Nämlich: die Bündnisfähigkeit und die technische Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen und die Aufrechterhaltung der militärischen Präsenz auf den Weltmeeren gewährleisten — durch diese drei Primärziele wollte die Marine ihre Nützlichkeit als militärisches Instrument trotz Beschränkungen dokumentieren. Rahn, S. 163 ff.

11

Dülffer, Reichs- und Kriegsmarine, S. 405 ff.; Rahn, S. 102 f.

321

der japanischen Marine eingestehen, die ihre neuen Erkenntnisse kaum zur Verfügung stellte. Trotzdem wurden die offiziellen Kontakte weiter aufrechterhalten, um Japan als potentiellen Bündnispartner gegen die Alliierten nicht zu verlieren. Deutsche Rüstungsfirmen, die bei den sporadischen Geschäften mit Japan Verluste machten, da die Japaner engere Geschäftsverbindungen ablehnten, erhielten zur Aufrechterhaltung ihrer Beziehungen eine finanzielle Entschädigung des Reiches. Obwohl sich die — w e n n auch insgesamt nur wenig ausgeprägten — militärstrategischen und militärpolitischen Interessen des Deutschen Reiches in Ostasien aufgrund der Präferenzen der Marine nach Japan orientierten, blieben für die deutsche Rüstungswirtschaft China und insbesondere die Modernisierungsbestrebungen der Kuomintang wichtiger 78 . Die fehlende Hilfestellung des Reiches sowohl in politischer als auch in militärischer Hinsicht setzte jedoch in Südchina den Hoffnungen der Rüstungsindustrie auf eine angemessene Beteiligung an der Aufrüstung der Kuomintang Mitte der 20er Jahre zunächst ein Ende. Im Gegensatz zum übrigen China gelang es wegen der äußersten Zurückhaltung der Reichsregierung im Einflußbereich Cantons nicht einmal, erlaubtes Rüstungsmaterial abzusetzen. Denn selbst technische Arsenalberater, die ihren Einfluß hätten geltend machen können, waren nur in bescheidener Anzahl in Canton vertreten. Erst Mitte 1924 vermochte die Kuomintang-Vertretung in Berlin doch noch, mit dem Geheimen Admiralitätsrat Schrameier, der vor dem Ersten Weltkrieg das Landproblem in Kiaochow lösen konnte, einen Chinafachmann zur Ausreise nach Canton zu bewegen. Dazu konnte noch Gustav Amann, vormals leitender technischer Angestellter der Siemens China Co. in Peking 79 , als Berater für Industriefragen gewonnen werden 8 0 . Amanns Bemühungen in Deutschland, als Bevollmächtigter Cantons Infanterie- und Fliegeroffiziere anzuwerben und durch Verhandlungen mit der deutschen Wirtschaft ein Industriesyndikat für Südchina zu gründen, waren Sun Yat-sens letzter Versuch, die Beziehungen zum Deutschen Reich zu vertiefen. Die Berichte der deutschen Gesandtschaft in Peking und des Generalkonsulats in Canton ließen jedoch weiterhin keinen Zweifel daran, daß ein größeres Engagement Deutschlands nachteilig wäre. Der Cantoner Regierung gelang es schließ-

78

Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, Schriftwechsel mit dem Marineattache der japanischen Botschaft. Berlin, 30. 6. 1922, BA-MA, RM 6/282. 79 Gustav Amann mußte wegen persönlicher Differenzen mit dem chinesischen Comprador von Siemens in Peking die Firma verlassen. Persönliche Aufzeichnung John H. D. Rabe, o. D. (ca. 1935), SAA, 12/Lh 638. 80 Der Chemiker Schöppe, zuständig für die Pulverherstellung, wurde durch Dr. Buhs im Arsenal Canton abgelöst; hinzu kam noch Major a. D. Paul Müller. Daß ein Hauptmann Charlottenburg in der Militärakademie in Whampoa tätig gewesen sei, ist angesichts der sowjetischen Vorherrschaft in Canton mehr als unwahrscheinlich. Generalkonsulat Kanton an AA, 6.10. 1924, PA, Pol. Abt. IV/Po 13 Chi/1. 322

lieh nur, zwei Fliegeroffiziere für kurze Zeit auf privater Basis zu verpflichten 8 1 . Sun Yat-sen und Chu Ho-chung hatten schon Anfang 1924 durch ihre Gespräche mit deutschen Diplomaten den Eindruck gewonnen, daß das Auswärtige Amt (rüstungs-)wirtschaftliche Beziehungen zwischen Deutschland und Südchina hintertreibe. Der erneute Ausgleichsvertrag Berlins mit der chinesischen Zentralregierung vom Juni 1924 schien diese Vermutungen zu bestätigen. Das Verhältnis zwischen der Reichsregierung und der Kuomintang verschlechterte sich weiter, als Cantoner Behörden im August ein Schiff der deutschen Reederei Rickmers beschlagnahmten, das schweizerische und belgische Waffen im Transit aus Deutschland an das von England unterstützte Freiwilligenkorps der Cantoner Kaufleute transportierte. Bis dahin hatten deutsche Handelsfirmen Kriegsgerät über Deutschland — sehr zum Mißfallen der Kuomintang — größtenteils nur nach Nordchina geliefert, um den Westmächten nicht noch mehr Anlaß zu Protesten zu geben. Waffengeschäfte mit unmittelbaren Gegnern der Kuomintang mußten jedoch in Canton als direkte Provokation aufgefaßt werden. Ende 1924 wurde der Vertreter der Kuomintang in Deutschland nach Canton zurückgerufen. Das Auswärtige Amt lehnte zwar ein Abschiedsabendessen nicht ab, doch der Reichskanzler blieb demonstrativ fern, um die Zurückhaltung der Reichsregierung unmißverständlich zu verdeutlichen 82 . Die Verbindungen zwischen Deutschland und der Kuomintang blieben nach der Etablierung der sowjetischen Militärmission zunächst auf ein Minimum beschränkt. In Canton waren selbst kleinere geschäftliche Betätigungen deutscher Handelsfirmen kaum noch möglich. Seit Ende 1925 erhob die Kuomintang zudem einen Zusatzzoll von 2,5 % auf alle Einfuhrwaren über See. Die angesichts des sowjetischen Vordringens in Südchina wachsende alliierte Propaganda gegen ein potentielles deutsch-sowjetisch-chinesisches Bündnis verfehlte schon Anfang 1925 bei der Reichsregierung, die immer größeren Wert auf eine Integration in den Westen legte, nicht ihre Wirkung. Ausdrücklich unterstrich die Reichskanzlei in einer Weisung, daß es ausschließlich bei der Anerkennung der chinesischen Zentralregierung bleibe und in Canton keinerlei Ambitionen bestünden. Mit dem Tod Suns kam es zum vorübergehenden Abbruch jeglicher politischen Kontakte. Der für die Beziehungen zum Ausland zuständige Fremdenkommissar der Kuomintang, Fu Pingch'ang, warf der Reichsregierung vor, sie orientiere sich zu sehr an den Westmächten. Deutschland habe daher nicht das leisten können, was Sun

81

82

Hauptmann a. D. Richard Walter, nachmaliger Direktor der Lufthansa und der deutsch-chinesischen Luftfahrtgesellschaft Eurasia, und Oberleutnant a. D. Ritter v. Greim, Ende des Zweiten Weltkrieges Oberbefehlshaber der Luftwaffe. Hänisch, S. 292. Generalkonsulat Kanton an AA, 23. 3. 1924, PA, Pol. Abt. IV/Po 5 A Chi/2; Gesandtschaft Peking an AA, 10. 5. und 18. 8. 1924, ebd., Büro R M / 3 7 / 1 . AA an Reichskanzleramt, 22. 3. 1925, BA, R 43 1/56.

323

Yat-sen sich vorgestellt habe. Die Sowjetunion kontrollierte deshalb den gesamten Modernisierungsprozeß in Canton 83 . Die Versailler Vertragsbestimmungen, der Ruhrkampf und die nachmaligen Verpflichtungen gegenüber den Westmächten ließen der Reichsregierung bis Mitte der 20er Jahre eine offene Unterstützung der industriellen, später hauptsächlich militärischen und rüstungswirtschaftlichen Modernisierungsversuche der Kuomintang-Gegenregierung inopportun erscheinen. Die Erwartungen der Industrie, über großangelegte Rüstungslieferungen vor allem an die Kuomintang wieder stärker auf dem chinesischen Markt einzusteigen, erfüllten sich daher nicht. Der Transithandel mit Waffen und der Export erlaubten Kriegsmaterials brachten lediglich den Chinahandelshäusern gute Geschäfte mit China. Das Ausbleiben schwerindustrieller Lieferungen und fabrikatorischer Großprojekte verhinderte jedoch den Anfang der 20er Jahre in der deutschen Chinawirtschaft erhofften Aufschwung. Die Reichsregierung kam zwar der Rüstungswirtschaft mit ihrer großzügigen Auslegung des Versailler Vertrages und der extensiven Handhabung der deutschen Nachfolgegesetze entgegen. Ein direktes Engagement des Reiches in China, wie es die Schwerindustrie schon seit dem Scheitern der ersten Gespräche mit der Kuomintang für notwendig hielt, widersprach aber politischen Vorbehalten in bezug auf die chinesische Zentralregierung und, vor allem seit der Annäherung Cantons an die Sowjetunion, nicht anders als unter Bismarck außenpolitischer Rücksichtnahme auf die Westmächte. Zudem stellten auch die Heeres- und die Marineleitung keine detaillierten Planungen über China an, ganz im Gegensatz zu ihren Ausarbeitungen konkreter Konzeptionen in bezug auf Rußland oder selbst ihren vagen Vorstellungen über Japan. Nicht vorhandene militärstrategische und militärpolitische Interessen an China beschränkten daher das Engagement der militärischen Führung auf ein Minimum. Der Absatz von Rüstungsmaterial versprach jedoch aufgrund der abzusehenden revolutionären Entwicklung in China für die Zukunft besonders gute Geschäftsmöglichkeiten. Die deutsche Chinawirtschaft war nach den deutlichen Mißerfolgen im Exportgeschäft längst bereit, ihre so oft beschworene Eigenständigkeit zugunsten staatlicher Unterstützung wieder etwas einzuschränken. Das ab Mitte der 20er Jahre zunehnpende Drängen der Industriellen auf wirksame Hilfe von seiten der Regierung sollte sich angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland immer weiter zu einer politischen Verpflichtung entwickeln. Außenpolitische Vorbehalte ließen der Reichsregierung trotz ihres ungebrochenen wirtschaftspolitischen Interesses jedoch weiterhin ein allzu starkes staatliches Auftreten in China unzweckmäßig erscheinen, so daß für wirtschaftliche und private Eigeninitiativen größere Freiräume blieben.

83

Aufzeichnung Reichskanzleramt, 2 3 . 3 . 1925, PA, Pol. Abt. IV/Po 2 C h i / 3 ; Gesandtschaft Peking an AA, 20. 9. und 1 0 . 1 0 . 1925, ebd., Po 5 A Chi/4.

324

c) Wunschvorstellungen Engagements

und Grenzen eines wirtschaftspolitischen im nationalrevolutionären China

Während sich die politische Situation in Europa nicht zuletzt dank der Bemühungen des Völkerbundes Mitte der 20er Jahre zu entspannen schien, entwickelte sich Ostasien zum Sorgenkind der Westmächte. Mit der im Juli 1925 einberufenen Chinakonferenz der Washingtoner Vertragsmächte gelang es zwar, die Ratifizierungsverfahren des Neunmächte-Vertrages endlich abzuschließen, so daß der Vertrag am 5. August 1925 völkerrechtlich in Kraft treten konnte; die den Chinesen gegenüber 1922 geäußerte Absicht, die Zollautonomie- und Exterritorialitätsfrage zu einem befriedigenden Abschluß zu bringen, mußte aber auf ihre Verwirklichung warten. Die Einsprüche Japans verhinderten sogar eine von den Westmächten prinzipiell zugestandene Erhöhung des Seezolls auf über 5 %. Die Suche der Vereinigten Staaten nach einer neuen Ordnung für den pazifischen Raum lief damit Gefahr, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch endgültig zu scheitern. Die Zerstrittenheit der Großmächte wurde um so deutlicher, je weiter sich die Chinesen von dem alten Vertragssystem lossagten und die Zölle selbständig erhöhten1. Konnten die in Canton durchgesetzten Zollerhöhungen von 1923/24 noch durch eine Demonstration militärischer Gewalt der Mächte rückgängig gemacht werden 2 , so forderten Mitte 1926 fast alle Provinzen in demonstrativer Einigkeit und Stärke 2,5 % bis 5 % höhere Zollgebühren. Die Verärgerung über die Unterdrückungspolitik des Auslandes ließ den Graben zwischen den Vertragsmächten und den Chinesen noch breiter werden. Auf eine wirkliche Unterstützung Großbritanniens und der USA mochte selbst im Norden Chinas kaum noch jemand setzen. Der längst überfällige Zusammenbruch der Zentralregierung in den Jahren 1925 bis 1927 verdeutlichte zudem augenfällig die Ohnmacht der alten, durch den Westen gestützten pseudorepublikanischen Ordnung. Die nationale Revolution wurde mehr und mehr als einzige Lösung für die innen- und außenpolitische Krise angesehen. Die Hoffnungen des größten Teils Chinas ruhten auf der Kuomintang-Regierung in Canton, bei der allein — von persönlichen Machtansprüchen einzelner Militärführer abgesehen — der russische und kommunistische Einfluß als Störfaktor galt. Selbst die Großmächte richteten in einer bemerkenswerten Sinnesänderung ihre Blicke immer erwartungsvoller nach Canton und auf die dortigen traditionell prowestlichen nationalistischen Kräfte, die als einzige noch in der Lage zu sein schienen, die mit dem Nordfeldzug der Streitkräfte der Kuomintang und der Kommunistischen Partei (ab 9. Juli 1926) realistisch gewordene Gefahr einer von der Sowjetunion gesteuerten kommunistischen Revolution in China aufzuhalten 3 .

1

Holcombe, S. 111 ff., 180 ff.; Iriye, S. 55 ff.

2

Konsulat Hongkong an AA, 14. 4. 1926, PA, Pol. Abt. IV/Po 5 A C h i / 5 .

3

Gesandtschaft Peking an AA, 1 3 . 1 2 . 1926, ebd., Büro R M / 3 7 / 1 . Siemens China Co. an OAV, 29. 11. 1926, SAA, 1 5 / L p 194. Chesneaux, Bd 2, S. 157 f.; Iriye, S. 72 ff.

325

Befürchtungen des Westens hinsichtlich einer japanisch-russischen Koalition erwiesen sich angesichts der erneuten Spannungen beider Mächte in der Mandschurei als grundlos 4 . Doch hatte der japanisch-sowjetische Vertrag zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen vom 20. Januar 1925 5 , den Moskau bewußt als Warnung an die USA verstand 6 , zweifellos die Isolation der sowjetischen Regierung in Asien beendet, welche die antikommunistisch ausgerichtete amerikanische Außenpolitik auf jeden Fall bewahren wollte. Der wachsende Einfluß der Russen, die sich immer stärker als die eigentlichen Herren in Süd- und Nordwestchina aufspielten 7 , fand daher zunächst insbesondere in den Amerikanern, die um ihre pazifischen Pläne fürchteten, seinen entschlossensten Widerpart. Aber auch bei den Engländern und Franzosen, welche die Sowjetunion schon am 2. Februar bzw. 28. Oktober 1924 anerkannt hatten, stiegen mit den Rüstungslieferungen der Russen an die Kaderarmee der Kuomintang und an Feng Yü-hsiang, der große Gebiete Westchinas und die Innere Mongolei (Suiyuan und Chahar) kontrollierte, die bereits seit 1923 geäußerten Befürchtungen einer Machtübernahme in China wieder 8 . Tatsächlich stellten die Kriegsgerätelieferungen der Sowjetunion für ca. 11 Millionen Rubel (ca. 7 Millionen HKT) die Rüstungsexporte der Westmächte nach China (für ca. 3,1 Millionen HKT) in den Jahren 1925/26 beträchtlich in den Schatten 9 . Trotz eines von der Zentralregierung erlassenen Waffeneinfuhrverbotes (2. September 1925) 10 und trotz Lieferbeschränkungen der Vertragsmächte während der revolutionären Auseinandersetzungen rangierte China daher bis 1928 ununterbrochen an vorderster Stelle unter den Ländern, die Kriegsmaterial importierten 11 . Obwohl die sowjetischen Aktivitäten die Stellung der Westmächte auf das äußerste bedrohten, lehnten diese eine weitere militärische Unterstützung der nördlichen Militärmachthaber ab. In Anbetracht der realen innenpolitischen Verhältnisse schien eine Verlängerung der militärischen Auseinandersetzungen wirtschaftspolitisch unklug zu 4

Zu den japanisch-russischen Spannungen Borch, Tokio, an AA, 1 8 . 1 . 1927, ADAP, B IV, Nr. 40. Iriye, S. 51 ff.

5

In diesem Vertrag wurde die Gültigkeit der Verträge von 1905 bestätigt, die Vertragspartner gewährten einander die Meistbegünstigung und planten eine wirtschaftliche Kooperation in der Mandschurei. Eudin/North (Hrsg.), S. 250 ff.

6

Interview des sowjetischen Botschafters in China am 2 4 . 1 . 1925 in Peking zum japanisch-russischen Vertrag, ebd., Nr. 82; Außenminister Chicherin in der „Prawda" am 2 2 . 1 . 1925 zum japanisch-russischen Vertrag, ebd., Nr. 81.

7

Generalkonsulat Kanton an AA, 8 . 1 0 . 1925, PA, Pol. Abt. IV/Po 5 A Chi/4.

»Wilson, S. 13 ff., 88 ff. 9

„Ostasiatische Rundschau", 1 . 5 . 1928, H W W A , B 9 4 / q N r . 2IIb. Kindermann, Ferner Osten, S. 2 3 9 ff. Zahlen nach „Statistical Year Book of the Trade in Arms and Ammunition", published by the League of Nations, zitiert in Causey, S. 121 ff.

10

Gesandtschaft Peking an AA, 29. 5. 1925, PA, Abt. IV W i C h i / W a f f e n A / 2 .

11

Angaben nach „Statistical Y e a r Book of the Trade in Arms and Ammunition", published by the League of Nations, zitiert in Causey, S. 121 ff.

326

sein. Erst 1928 bemühten sich die Angelsachsen wieder, ins Rüstungsgeschäft einzusteigen. Ihre langsam gesteigerten Kriegsmateriallieferungen, nunmehr an die Kuomintang, zielten dabei vor allem auf eine Unterstützung des rechten Flügels der Partei, den sie stärker an sich binden wollten, und auf einen größeren Einfluß bei der erwarteten Neuorganisation der Streitkräfte 1 2 . Bereits nach den ersten größeren antiwestlichen und antichristlichen, kommunistisch gesteuerten Aufständen nach dem Tod Suns in Shanghai und Canton, die nur durch ausländische Polizeieinheiten niedergeschlagen werden konnten 1 3 , hatten sich vor allem die Briten den gemäßigten KuomintangGruppierungen gegenüber kompromißbereit gezeigt und insbesondere auf ein Einlenken des neuen Oberbefehlshabers der zu einer „Nationalen Revolutionsarmee" (NRA) zusammengefaßten Streitkräfte Cantons (26. August 1925), Marschall Chiang Kai-shek, gehofft 1 4 . Während die Japaner und vor allem die Amerikaner 1 5 militärische Interventionen forderten, um der sich zunehmend zu einer populären Bewegung 1 6 ausdehnenden revolutionären Welle Einhalt zu gebieten, bestanden die Engländer auf ihrer Politik der Nichteinmischung. Obwohl die anwachsende Streitbewegung schließlich sogar ab Mitte 1925 zu einem Boykott britischer Waren in Canton und Hongkong führte, blieb die englische Regierung bei ihrem Kurs, lediglich eigene Interessen und das Leben britischer Staatsangehöriger zu schützen, ohne militärisch in die Offensive zu gehen. Selbst die territorialen Konzessionen in Hankow und Chinkiang, die Anfang 1927 von Aufständischen besetzt worden waren, wollte London den Chinesen für immer zurückgeben, um die chinesische Verständigungsbereitschaft nicht zu beeinträchtigen, welche die Engländer in der Tatsache zu erkennen meinten, daß in den von der Nationalen Revolutionsarmee eroberten Gebieten die Boykotte (10. Oktober 1926) 1 7 und die Streiks unterbunden wurden. Durch ein offenes Nachgeben in der Frage der staatlichen Anerkennung hoffte das Foreign Office, die Annäherung an die gemäßigten Kräfte in der Kuomintang weiter zu beschleunigen 1 8 .

12

Zu den Waffengeschäften der westlichen Mächte und der Sowjetunion OAV an AA, 8. 3. 1927, S t A H H / C L VII Lit Ke Nr. 13 Vol. 2 / F a s c . 36. London „Times", 1. 5. 1926, H W W A , B 94/qNr. 2IIb.

13

Die Unruhen richteten sich gegen England, Frankreich, Japan und die USA. Boye an AA, Juni/Juli 1925, Telegramme Nr. 1 1 5 - 1 2 5 , PA, Büro R M / 3 7 / 1 .

14

Domes, Vertagte Revolution, S. 133.

15

Die Amerikaner wollten vor allem das gewaltsame Vorgehen gegen ihre offen den Antikommunismus predigenden Missionare unterbinden. Chesneaux, Bd 2, S. 104 ff., 155 f.; W . Franke, Jahrhundert, S. 213 f.

16

Diese wurde auch „30. Mai-Bewegung" genannt. Am 30. 5. 1925 hatten ausländische Polizeioffiziere chinesische Demonstranten auf offener Straße erschossen.

Ienaga,

S. 57 f. 17

Konsulat Honkong an AA, 14. 10. 1926, PA, Pol. Abt. IV/Po 5 A Chi/6.

18

Iriye, S. 97 ff.; Thomson, S. 34 ff. 327

Als Chinag Kai-shek die kommunistisch gelenkte Shanghaier Kommune zerschlug (März/April 1927) und eine eigene Kuomintang-Militärregierung in Nanking errichtete (18. April 1927), fand sich die britische Politik schließlich bestätigt 19 . Durch den endgültigen Bruch Chiang Kai-sheks mit der Kommunistischen Partei Chinas und der Kommunistischen Internationale im Mai 1927 und der Abdrängung der chinesischen Kommunisten in den Untergrund (Juli 1927) war die Herrschaft eines Moskau hörigen Regimes in China verhindert worden. Dem britisch-sowjetischen Konflikt über subversive Tätigkeiten kommunistischer Gruppierungen in England, der durch die Frontstellung in China eine weltpolitische Dimension erhalten und Mitte 1927 zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Ländern geführt hatte, wurde durch die prowestliche Entwicklung in China allmählich die Schärfe genommen 20 . Dagegen nahm Ende der 20er Jahre die Entfremdung der Westmächte von Japan immer weiter zu 21 . Trotz der guten wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen den USA und Japan bis Mitte der 20er Jahre setzte sich bei den Japanern mehr und mehr die Meinung durch, von den Washingtoner Verträgen nur Nachteile zu haben. Obwohl die permanente Verschlechterung der sozialen Verhältnisse die japanische Außenpolitik weiterhin eine Anlehnung an den Westen suchen ließ, verstärkte sich die Ansicht, sowohl die Sozialordnung als auch die machtpolitischen Interessen in Asien nur durch ein eigenständiges außenpolitisches Vorgehen längerfristig erhalten und festigen zu können 22 . Dabei schob sich zusehends eine neue Generation von Politikern und insbesondere von Militärs nach vorn, die eine kompromißlose Haltung in innen- und außenpolitischen Fragen einnahm. Nicht so sehr die Marine, die immer noch auf eine für sie positive Revision des Flottenvertrages mit Hilfe der Angelsachsen hoffte, sondern radikale Offizierkreise des Heeres, die eine Annexion der Mandschurei zum Aufbau eines Verteidigungsstaates gegen die Sowjetunion als unabdingbar ansahen, griffen immer öfter in die japanische Chinapolitik ein. Durch einen Interessenausgleich zwischen Chiang Kai-shek und dem japanfreundlichen Chang Tso-lin, der in der Mandschurei selbständig bleiben sollte 23 , hofften die Militärs in Tokyo, die japanische Stellung im Nordosten Chinas weiter auszubauen 24 .

19

Chesneaux, Bd 2, S. 160 ff.

20

Vgl. auch Aufzeichnung Wallroth, 27. 5. 1927, AD AP, B V, Nr. 190. Domes, Vertagte Revolution, S. 214 ff.; Hildebrand, Weltreich, S. 22 ff.

21

Zu der ersten Annäherung Chiang Kai-sheks an die Westmächte und seiner Entfrem-

22

Zu den Konzeptionen einer eigenständigen japanischen Großmachtpolitik in den

23

Zu den Beziehungen Chang Tso-lins zu Japan und seinen sowie den japanischen Plä-

dung von Japan Louis, S. 1 2 9 ff.; Neugebauer, S. 30 ff. 1920er Jahren Dower, S. 35 ff. nen in bezug auf seine Person und die Mandschurei McCormack, S. 111 ff. 24

Iriye, S. 23 ff.; Morton, S. 51 ff.

328

Schon nach dem Scheitern der Chinakonferenz hatte die japanische Außenpolitik versucht, die bilateralen Beziehungen mit China zu vertiefen, um so dem angloamerikanischen und kommunistischen Einfluß in Ostasien entgegenzutreten. Die Wiederaufnahme des Nordfeldzuges nach der Beilegung innerer Streitigkeiten in der Kuomintang Anfang 1928 vereitelte jedoch schon bald auch das japanische Vorhaben, in Anlehnung an China eine eigene neue Ordnung für den Fernen Osten zu errichten. Die Eroberung Pekings durch die Streitkräfte Nankings (8. Juni 1928), die umfassende beiderseitige Annäherung von Chiang Kai-shek und Chang Hsüeh-liang, dem Sohn und Nachfolger Chang Tso-lins, mit eindeutiger Frontstellung gegen die Kwantung-Armee und die schließlich vollzogene „Wiedervereinigung" der Mandschurei und Chinas (29. Dezember 1928) beendeten zunächst die japanischen Träume von einer eigenen japanischen Interessenzone auf dem chinesischen Subkontinent 25 . Die japanische Armee zeigte sich jedoch keinesfalls bereit, diese Entwicklung widerspruchslos hinzunehmen. Bereits Mitte 1927 wurden die japanischen Truppen in Shantung verstärkt, um eigene Interessen gegenüber Ansprüchen der Kuomintang zu schützen. Der durch japanische Militärs provozierte Zusammenstoß japanischer und Truppen der Nationalen Revolutionsarmee (Tsinan-Zwischenfall vom 3. Mai 1928) führte zu einer tiefgreifenden chinesisch-japanischen Verstimmung, die erst mit Hilfe des Völkerbundes und nach dem Rückzug der Japaner aus Shantung in ihre Konzession in Tientsin vorübergehend beseitigt wurde. Das subversiv agierende japanische Militär scheute nicht einmal davor zurück, Chang Tso-lin zu ermorden (4. Juni 1928), um so einen Anschlag der Kuomintang vorzutäuschen und die eigene Regierung zu größeren Militäraktionen in China zu bewegen. Obwohl die Pläne der Armeeführung zu einem radikaleren Vorgehen zunächst scheiterten, war die Militarisierung der japanischen Außenpolitik nicht mehr aufzuhalten. Zunächst zeigte sich Tokyo — zumindest um den Anschein zu wahren — allerdings bemüht, wie der Westen mit China in Verhandlungen über eine Revision der „ungleichen Verträge" einzutreten 26 . Seit Anfang 1928 fanden Gespräche über die Abschaffung aller Sonderrechte zwischen der Nationalregierung in Nanking und den Westmächten statt, die ihre letzten Vorbehalte gegenüber einem Ausgleich mit der Kuomintang nach dem Durchsetzen des prowestlichen Flügels (Ende 1927) fallengelassen hatten. Die USA und Großbritannien schlössen im Juli bzw. Dezember bilaterale Vereinbarungen über eine Zollautonomie Chinas und die Gewährung gegenseitiger Meistbegünstigung, die am 1. Januar 1929 in Kraft traten. Die Nanking-Regierung wurde nach und nach von allen Staaten anerkannt und auch als Vertreter Chinas im Völkerbund akzeptiert. Belgien, Dänemark, Italien und Spanien verzichteten sogar auf ihre exterritorialen Rechte (1. Januar

25

Iriye, S. 110 ff., 130 ff., 191 ff., 222 f., 232 ff.; McCormack, S. 213 ff.

26

Domes, Vertagte Revolution, S. 302 ff. 329

1930). Die neuen, selbständig verkündeten chinesischen (Zwischen-)Zolltarife von 7,5 % bis 27,5 % des realen Warenwertes (ab 1. Februar 1929) bedeuteten allerdings für alle Vertragsmächte von vornherein nur eine Übergangslösung. Japan lehnte eine völkerrechtlich verbindliche Verständigung nach wie vor ab, obwohl es wie alle anderen Signatarstaaten zuvor auf Artikel 8 des Neunmächte-Vertrages — Festlegung der Zölle auf 5 % — verzichtet hatte. Der Nationalregierung gelang es erst im Mai 1930, mit den Japanern wenigstens ein „vorläufiges Tarifabkommen" zu schließen, das am 1. Januar 1931 in Kraft trat und endgültig die Festlegung autonomer Zolltarife ermöglichte. Im Gegenzug wurden die Likin-Zölle abgeschafft 27 . Durch politisches, wirtschaftliches und militärisches Entgegenkommen vermochten es die Westmächte, relativ schnell ihr Ansehen bei den Chinesen zu verbessern und wirtschaftliche Erfolge zu erzielen. Trotz der Boykotte konnte der Gesamthandel Großbritanniens und der USA mit China von 1925 bis Ende der 20er Jahre um 40 % bzw. 20 % steigen. Dagegen nahm sich die japanische Steigerungsrate von 1 5 % sehr bescheiden aus. Noch deutlicher wurde der Unterschied bei den Exportsteigerungen der Großmächte: Während Großbritannien und die USA ihre Ausfuhr nach China um 6 0 % bzw. 40 % anheben konnten, gelang den Japanern nur ein 5 %iger Zuwachs 28 . Insbesondere der Ausbau moderner Wirtschaftsbereiche und die Vermarktung neuer Technologien ermöglichten diesen angesichts der politischen Entwicklung in China zunächst für ausgeschlossen gehaltenen sprunghaften Anstieg angloamerikanischer industrieller Erfolge auf dem chinesischen Markt Ende der 20er Jahre 29 . Fehlten für den kapitalintensiven Wiederaufbau und Ausbau des fast ausschließlich militärisch genutzten Eisenbahnnetzes die notwendigen Gelder, da sich selbst der Westen bei einer Inflationsrate von ca. 35 % mit größeren Anleihen zurückhielt 30 , so konnten z. B. bei dem finanziell unproblematischen Verkauf von Autos und Motorrädern enorme Steigerungsraten erzielt werden 3 1 . Dabei verschob sich der Handel parallel zu den Erfolgen der Kuomintang — die Mandschurei ausgenommen 32 — immer weiter vom Nor-

27

Borch an AA, 26. 7. 1928, PA, Pol. Abt. IV/Po 2 C h i / 5 ; Trautmann an Gesandtschaft Peking, 9. 2. 1929, ebd., Büro S t S / O A / 4 . Gesandtschaft Peking an AA, 1 7 . 1 2 . 1928, 4 . 1 . 1929 und 12. 5. 1930, BA, R 2 / 9 8 9 5 .

28

Zahlenangaben aus Cheng, S. 258 f.; Ghosh, S. 344 f.; Röser, S. 31 ff.

29

Iriye, S. 223 ff.; Otte, S. 92 ff.

30

Von 1926 bis 1928 wurden nur ca. 1,7 Mill. Pfund als Anleihe gewährt. Zahlenangaben und Tabellen bei Allen, Enterprise, S. 260 f.; Hou, S. 227 f. Vgl. dazu auch Zentralstelle für den Wirtschaftsauslandsnachrichtendienst an Gesandtschaft der Hansestadt Bremen beim Reich, 12. 3. 1929, StAHB, 4,49-IA 4b 1 0 / 1 .

31

Der Verkauf von Autos steigerte sich von 1925 bis 1928 um ca. 40 %, bei Motorrädern lag die Steigerungsrate bei ca. 100 %. Rische, S. 176 f.

32

In der Mandschurei lebten nur 6 % der chinesischen Bevölkerung, der mandschurische Anteil am chinesischen Gesamthandel betrug aber 30 %, ebd., S. 92 ff.

330

den in den Süden Chinas. Insbesondere das Flugwesen, dessen wirtschaftliche, politische und militärische Vorteile für ein Land wie China auf der Hand lagen, wuchs mit dem Machtanstieg der Südregierung. Den Amerikanern gelang es sogar Ende 1928, mit Hilfe des amerikafreundlichen Aufbauministers Sun Fo, eines Sohns von Sun Yat-sen, die zivile Postluftfahrt der Nanking-Regierung zu monopolisieren und erstmalig am 17. April 1929 in einem Luftverkehrsabkommen die Gründung einer amerikanisch-chinesischen Luftverkehrsgesellschaft durchzusetzen. Mit der Ausdehnung der Herrschaft der Kuomintang schienen sich neben den rüstungswirtschaftlichen Möglichjeiten auch wieder umfassende zivilindustrielle Projekte für den Westen in China auf zutun 33 . Bereits Anfang 1928 bemühten sich Kuomintang-Kreise um Sun Fo, Sun Yatsens Industrialisierungsprogramm von Anfang der 20er Jahre durch einen Fünfjahresplan wieder aufleben zu lassen. Der große wirtschaftliche Sprung nach vorn sollte durch einen vorrangigen Ausbau des Transport- und des industriellen Bereichs erreicht werden. Die Verkehrserschließung des Landes und die Errichtung einer leistungsstarken Chemie-, Papier-, Maschinenbauund Elektroindustrie standen dabei im Mittelpunkt der Pläne. Neben staatlichen Initiativen sollten auch private finanzielle Aktivitäten gefördert werden. Dabei waren sich die verantwortlichen Politiker und Wirtschaftsfachleute darüber einig, auf die Hilfe des Auslandes zurückgreifen zu müssen. China sollte keinesfalls weiterhin als Dumpingfeld für ausländische Produkte dienen und auch seine alte Wirtschaftsautarkie wiedererlangen. Den prowestlichen, wirtschaftlich ausgerichteten rechten Kuomintang-Gruppierungen war aber schon nach Suns Tod klar, daß sich China dem Zwang der kapitalistischen Entwicklung nicht entziehen könne. Bei der Modernisierung des Landes könnten die Chinesen allein vom Westen lernen 34 . Der konservative Flügel der Kuomintang, die sogenannte „Westberge-Gruppe", hatte sich daher von Anfang an eindeutig gegen die antiimperialistischen Streikaktivitäten der von „linken" Kuomintang-Mitgliedern und der Kommunistischen Partei Chinas seit 1924 aufgebauten Arbeiter-, zu einem geringen Teil auch Bauerngewerkschaften gewandt. Für das rechte Lager stand die Suche nach einem Ausgleich mit dem Westen und eine Versöhnung mit dem chinesischen Bürgertum an erster Stelle seiner Überlegungen. Den vorübergehenden kommunistischen Einfluß — sei er nun sowjetischer oder chinesischer Prägung — wollte die rechte Gruppierung möglichst bald übergehen und beiseiteschieben. Selbst der angesehenen sowjetischen Militärberatergruppe, die 1925/26 mit ca. 60 Personen ihren Höchststand erreichte, mißtrauten die Anhänger der „Westberge-Gruppe". Mit dem Nordfeldzug, geplant als Demonstration der nationalen Souveränität gegenüber den Vertragsmächten und zur Überwindung des „warlordism", sollte keinesfalls eine

33

Kunst & Albers, passim. Wiethoff, Luftverkehr, S. 92 ff., 110 ff.

34

J. Chang, S. 6 ff., 54 ff., 78 f.; King, History, S. 112 ff.; Widmann, passim. 331

soziale Revolution in China in Gang gesetzt werden. Harte innerparteiliche Auseinandersetzungen mit" dem linken Parteiflügel unter Wang Ching-wei, dem Nachfolger Suns als Führer der Partei, kündigten sich an, als während der Stabilisierung der Herrschaft im Süden Aktionen unter der Landbevölkerung gegen Großgrundbesitzer anliefen, die der Kuomintang verbunden waren 35 . Wie die ausländischen Vertragsmächte richtete angesichts dieser Entwicklung auch die „Westberge-Gruppe" ihre Hoffnungen auf den Oberbefehlshaber der Nationalen Revolutionsarmee 36 . Chiang Kai-shek gelang es schließlich mit seinem Staatsstreich (März 1926), persönliche Machtambitionen zu verwirklichen und die Kuomintang zunächst wieder auf einen Kurs der mittleren Linie festzulegen 37 . Der beginnende Nordfeldzug spaltete die nationalrevolutionäre Bewegung und die Partei der Kuomintang jedoch erneut. Die militärische Führung der Nationalen Revolutionsarmee, die Chiang Kai-shek ergebene Whampoa-Clique, sah sich unter direkten Druck gesetzt, seitdem die Sowjetunion neues Kriegsgerät nur noch an Truppenteile lieferte, die dem linken Flügel anhingen. Dieser versuchte, wenn auch vergeblich, über eine Diktatur der von ihm beherrschten Parteiorganisation die völlige Kontrolle der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Entscheidung der Nationalregierung zu erlangen. Mit seinem harten Durchgreifen gegen die Arbeiterorganisationen in Shanghai hatte Chiang Kai-shek den Linken ihre wichtigste Basis entzogen 38 ; mit seinem Vorgehen gegen die sowjetischen Zivilberater und der — eigentlich ungern vollzogenen — Trennung von den Militärberatern, welche die Erfolge der Nationalen Revolutionsarmee gegen eine ca. siebenfache Übermacht im Norden operativ vorbereitet hatten 39 , gelang es dann Chiang Anfang 1927 allerdings, nicht nur den Westen zu beruhigen, sondern auch eine neue Koalition aus Militär, Großbürgertum und Grundbesitz zu gründen. Selbst die „Parteiregie-

Heinzig, Konkurrenz, S. 152 ff.; ders., Militärberater, S. 163 ff., 186 ff.; Kuo, Komin-

35

tern, S. 108 ff. Chesneaux, Bd 2, S. 162 ff.; Eastman, S. VII ff. Die „Westberge-Gruppe" erhielt ihren

36

Namen nach dem Versammlungsort der rechten Mitglieder des „Zentralen Exekutivkomitees" der KMT, die im November 1925 am Grab Sun Yat-sens in den „Westbergen" zusammen kamen. Domes, Vertagte Revolution, S. 137 ff. 37

Trotz der Säuberung des Militär- und Parteiapparates von den Kommunisten und der Ausweisung einiger sowjetischer Militärberater hielt der nun auch erste Mann in der Partei an d e m Bündnis mit Moskau fest. Für ein weiteres Stillhalten gegenüber den sowjetischen Interessen konnte er sogar auf ein Entgegenkommen der KI setzen, die sich dafür im Gegensatz zur KPCh für einen Feldzug entlang der Küste und nicht ins agrarisch strukturierte Landesinnere aussprach. Zu diesem Komplex vor allem Chesneaux, Bd 2, S. 177 f. Zur chinesischen Arbeiterbewegung und ihren Anfängen in den 1920er Jahren Schier,

38

S. 257 ff. Ca. 100 0 0 0 Mann der NRA standen ca. 700 000 Soldaten im Norden gegenüber, die al-

39

lerdings nicht unter einem einheitlichen Kommando zusammengefaßt waren. Chesneaux, Bd 2, S. 164 ff. 332

rung" des linken Kuomintang-Flügels in Wuhan, die sich bewußt als Gegenpol zur Militärregierung in Nanking etabliert hatte, geriet durch die wachsenden militärischen Erfolge der Nationalen Revolutionsarmee allmählich in Zugzwang 40 . Yen Hsi-shan, der Militärbefehlshaber in Shansi, hatte es bereits vor der Wiederaufnahme des Nordfeldzuges vorgezogen, rechtzeitig die Seiten zu wechseln. Auch Feng Yü-hsiang bekam wie die Komministische Partei Chinas bald keine Hilfe mehr von der Sowjetunion, die nach dem Einfrieren der diplomatischen Beziehungen zu Nanking Ende 1927 ihre revolutionäre Chinapolitik zunächst als gescheitert ansah, und leitete — wie es vor ihm schon viele Militärmachthaber getan hatten — eine Übernahme seiner Truppen in die Kuomintang-Streitkräfte ein. Mit der Wiederaufnahme der Zusammenarbeit mit Nanking und der Auflösung der Regierung in Wuhan (Februar 1928) zog schließlich der linke Flügel der Kuomintang die Konsequenzen aus dem Anschluß dieser ihm bislang nahestehenden „warlords" an Chiang Kai-shek. Dagegen setzte die Kommunistische Partei Chinas ihren Kampf mit Aufständen in Canton und Nanchang und der Gründung einer revolutionären Bauernarmee weiter fort 41 . Im Gegensatz zu den chinesischen Kommunisten vollzog sich schon bald nach der endgültigen Übernahme des Parteiapparates durch Chiang Kaishek, der sich am 10. Oktober 1928 zum Vorsitzenden einer neuen Nationalregierung wählen ließ, bei der Kuomintang ein Wandel von einer revolutionären Partei zu einer rein restaurativen Interessenkoalition zur Wahrung der Macht der sie immer stärker unterstützenden gesellschaftlichen Oberschichten. Der Grundstock einer nationalen Herrschaft war mit dem Nordfeldzug zwar gelegt worden, die Zweifelhaftigkeit der militärischen Siege mußte angesichts des noch längst nicht überwundenen Regionalismus, der Grenzprobleme und der auf dem Land an Einfluß gewinnenden Kommunisten aber schon bald offensichtlich werden 4 2 . Für die deutsche Chinawirtschaft und insbesondere für die deutsche Rüstungsindustrie ergaben sich mit dieser inneren Entwicklung Chinas jedoch zunächst völlig neue Perspektiven. Die lang erhoffte Modernisierung der Kuomintang schien sich doch noch zu verwirklichen. Die Reichsregierung hielt sich allerdings seit Mitte der 20er Jahre für viel zu sehr dem Westen verpflichtet, als daß sie zu voreiligen wirtschaftspolitischen Alleingängen in China bereit gewesen wäre. Besonders das militärische Vorgehen der Kuomintang hatte im Auswärtigen Amt Argwohn erregt. Trotzdem boten sich der „Wilhelmstraße" sowohl vor der Machtergreifung Chiang Kai-cheks als auch später wirtschaftliche und politische Möglichkeiten, welche die Stellung des Reiches gegenüber den westlichen Staaten und gegenüber den Chinesen zu 40 41

42

Bianco (Hrsg.), S. 76 ff.; Kuo, Komintern, S. 147 ff., 181 ff., 202 ff., 250 ff. Bowden, S. 45 ff.; Kindermann, Entstehungsgeschichte, S. 26 ff.; Thach, Nationalist China, S. 72 ff. Holcombe, S. 225 ff.; D. Jordan, passim. 333

stärken vermochten und sich durchaus mit der Revisionspolitik Stresemanns vereinbaren ließen. Der vormalige Reichskanzler setzte in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts als Außenminister den mit dem Dawes-Plan eingeschlagenen Kurs der Verständigung mit den Westmächten fort. Mit seiner Politik eines „Wandels durch Annäherung" sollte über den bloßen politischen Eintritt in die Völkergemeinschaft des Westens hinaus eine dauerhafte wirtschaftliche Integration in den westlichen Markt erreicht werden. Weniger durch eine militärische Gleichberechtigung als vielmehr durch den Aufbau einer wirtschaftspolitischen Machtbasis hoffte er, die alte Großmachtposition Deutschlands in Europa wiederzuerlangen. Trotz der Aussöhnungspolitik mit dem Westen, die im Vertrag von Locarno (1. Dezember 1925) und der Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund (8. September 1926) ihre sichtbarsten Erfolge fand 43 , war die Reichsregierung daher nicht bereit, die Kontakte zu Moskau abzubrechen. Die Sowjetunion sollte als politisches und wirtschaftliches Gegengewicht des Reiches zum Westen vielmehr helfen, die Handlungsfreiheit nach außen zu wahren und Deutschland nicht von Großbritannien und Frankreich abhängig werden zu lassen. Das Rechts- und Wirtschaftsabkommen zwischen Deutschland und der Sowjetunion (12. Oktober 1925) und den auf fünf Jahre geschlossenen Berliner Freundschafts- und Nichtangriffsvertrag (26. April 1926) sah die „Wilhelmstraße" bewußt als Fortführung der Annäherungspolitik von Rapallo 44 . Mit Hilfe einer politischen Balancepolitik zwischen dem Westen und der Sowjetunion wollte Stresemann sowohl eine Gleichberechtigung im Westen als auch eine territoriale Revision im Osten sowie eine eigenständige deutsche Weltpolitik durchsetzen 45 . Mit der außenpolitischen ging in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts auch eine innere Konsolidierung Deutschlands einher. Konservative und selbst monarchisch gesinnte Kreise sahen mit der von ihnen innerlich abgelehnten Republik von Weimar eine reelle Chance, die hegemoniale Stellung des Reiches in Mitteleuropa wiederherzustellen. Besonders der Erfolg der Reichsregierung, die Alliierten zu einem Abzug der Interalliierten Militärkontrollkommission (IMKK) bewogen zu haben (31. Januar 1927) trug zu diesem Einstellungswandel mit bei. Der Stillstand des außenpolitischen Höhenflugs nach den spektakulären Anfangserfolgen ließ jedoch die innen- und gesellschaftspolitischen Probleme wieder in den Vordergrund treten, zumal die wirtschaftliche Entwicklung des Deutschen Reiches auch nach 1924 trotz eines beachtenswerten Aufschwungs labil geblieben war 46 . Seit der Beendigung der einseitigen Meistbegünstigung für die Siegermächte und der Übernahme der Wirtschaftshoheit über die besetzten Gebiete (10. Januar 1925) war der deutschen Wirtschaft ein allmählicher Wiedereinstieg 43

Hildebrand, Außenpolitik, S. 16 f.

44

Beitel/Nötzold, S. 27 ff., 42 ff., 51 ff., 89 ff.; Bloch, S. 22 ff.

45

Hillgruber, Kontinuität, passim; Volgelsang, S. 25 f.

46

Heiber, S. 180 ff.; Wohlfeil, S. 188 ff.

334

auf den Weltmarkt gelungen. Trotzdem herrschte eine allgemeine Unzufriedenheit in Wirtschaftskreisen, da die wachsende Konkurrenz auf den überseeischen Märkten zu einer ständigen Verschiebung des Weltaußenhandels zuungunsten Europas führte. Die Produktionssteigerungen der Industrie waren daher vor allem Folge einer binnengesteuerten Wirtschaftsbewegung, die durch eine zunehmende Rationalisierung und Konzentration vor allem im schwerindustriellen, elektro- und chemotechnischen Bereich erzielt wurde. Es gelang dabei jedoch nicht, die strukturbedingten Schwächen der deutschen Industrie zu überwinden 47 . Darüber hinaus blieb der krisenanfällige Kapitalmarkt eine wesentliche Schwachstelle der deutschen Wirtschaft. Die wachsenden Importüberschüsse konnten lediglich mit ausländischen Krediten finanziert werden, und die Exportindustrie lebte zum großen Teil von ausländischen Anleihen 48 . Zudem beunruhigten Konjunktureinbrüche (1926) und erste Anzeichen einer Stagnation (seit 1928) die Wirtschaft immer stärker. Hinzu kam die Ungewißheit über die Reparationen. Die Rufe nach einschneidenden protektionistischen Maßnahmen wurden daher immer lauter 49 . Die Reichsregierung mußte zwischen diesen protektionistischen Forderungen und dem ausländischen Kapitaldruck ständig nach Kompromissen in ihrer Wirtschaftspolitik suchen. So blieb in den neuen Wirtschaftsverträgen mit anderen Staaten in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts die Meistbegünstigung generell bestehen. Die Zölle wurden jedoch erheblich erhöht 50 . Neben diesem Handelsprotektionismus konventioneller Art beabsichtigte die Reichsregierung, durch Exportförderungsmaßnahmen die heimische Wirtschaft weiter zu stabilisieren. Umfangreiche Kredite wie an die Sowjetunion 51 , die zusätzlich noch zu 60 % vom Reich und von den Ländern durch Ausfallbürgschaften abgesichert wurden, bewirkten aber auch eine wachsende formalisierte Verknüpfung von politischen und wirtschaftlichen Interessen. Auch die deutsche Chinawirtschaft konnte trotz aller anfänglichen Vorbehalte nicht umhin, in der zweiten Hälfte der 20er Jahre immer wieder auf eine politische und finanzielle Unterstützung des Reiches zu drängen, das seit 1925 um eine größere Handlungsfreiheit in Fernost bemüht war. Die im Namen aller Signatare an das Deutsche Reich gerichtete Einladung der USA (1. Oktober 1925), dem Neunmächte-Vertrag beizutreten, kam der Reichsregierung sehr gelegen, die sich Mitte des Jahrzehnts durch den vertraglichen Verzicht auf alte Rechte in China sowie die aufgrund ihrer restrik-

47

1 9 2 9 standen schließlich 10 Mrd. Mark deutsche Auslandsguthaben 25 Mrd. Mark Auslandsschulden gegenüber. Stegmann, S. 499 f.

48

W . Fischer, S. 35 ff.; Milward, Handel, S. 474 f.

49

Z w a r konnte das Bruttosozialprodukt in Deutschland 1 9 2 8 / 1 9 2 9 wieder den Stand von 1 9 1 3 erreichen, aufgrund des Rückgangs der Exporte erlangte das Deutsche Reich aber 1 9 2 9 nur noch 9,1 % — im Gegensatz zu 13,2 % im Jahre 1913 -

Anteil am Weltaußen-

handel. Petzina, Zwischenkriegszeit, S. 67 ff.; Stegmann, S. 500 ff. 50

Sie erreichten 1927 wieder den Stand von 1902.

51

1 9 2 6 : 300 Mill. Mark, 1 9 2 8 : 600 Mill. Mark. Beitel/Nötzold, S. 65 ff.

335

tiven Haltung in Militär- und Rüstungsfragen gespannten Beziehungen zur Kuomintang im vormaligen Reich der Mitte zusehends in die Ecke gedrängt sah. Von dem Beitritt zum Washingtoner Abkommen, den Stresemann in einer Note an den amerikanischen Außenminister Kellogg vom 17. Dezember 1925 ankündigte, versprach sich die Reichsregierung eine Überwindung der politischen Isolation in China. Nach Ansicht der Diplomaten in Berlin und Peking ließ sich der Vertrag mit den Zielen deutscher Chinapolitik durchaus vereinbaren, da keine Vorzugsstellung für irgendwelche Mächte vorgesehen sei („Offene Tür") und die Unversehrtheit des Landes garantiert werde. Die Zustimmung der Reichsregierung bekunde zudem den Willen Deutschlands, sich in die westliche Staatenwelt zu integrieren, und ermögliche dem Reich vor allem, wieder eine gleichberechtigte Stellung in Ostasien zu beziehen und politische Mitspracherechte in China auszuüben 52 . Sofort einsetzende Proteste Chinas, das schon gegen die Aufnahme der Mongolei in das deutsch-sowjetische Wirtschaftsabkommen Stellung bezogen hatte, wurden daher vom Auswärtigen Amt scharf zurückgewiesen. Für den deutschen Gesandten in Peking, Boyé, wie zunächst auch für das Auswärtige Amt war eine Revision der Position Deutschlands in China nur mit dem Westen und ohne Rücksichtnahme auf nationale chinesische Interessen oder gar Vorstellungen der Kuomintang möglich. Negative Stellungnahmen aus Cantón wurden daher mit dem Hinweis auf kommunistische Intrigen gegen Deutschland abgetan. Auch offizielle Einsprüche der Sowjetunion lehnte die „Wilhelmstraße" entschieden ab. Bereits zuvor hatte das Auswärtige Amt russische Angebote einer Kooperation bei der militärischen Reorganisation der Kuomintang-Streitkräfte angesichts der Vorbereitungen für Locarno als Störmanöver ebenso zurückgewiesen wie Vorschläge aus Moskau zu einer deutsch-französisch-sowjetischen Allianz oder einem deutsch-sowjetischen Zweierbündnis. Weitere sowjetische Vorstöße zu einer Zusammenarbeit in China wurden dann dilatorisch behandelt 53 . Nachdem kontinentalpolitische Strategien selbst angesichts des russisch-chinesischen und des russisch-japanischen Ausgleichs zunächst in Berlin als viel zu phantastisch verworfen worden waren 54 , ließen jedoch die Bemühungen um den Berliner Vertrag die Befürworter einer Ostorientierung in den diplomatischen Kreisen wieder Hoffnung schöpfen. Die Botschaften in Moskau und Tokyo bezogen eindeutig Stellung gegen einen Beitritt Deutschlands zum Neunmächte-Vertrag, da ein solcher Schritt die deutsch-sowjetische Ver-

Kabinettssitzung, 1 9 . 1 1 . 1925, Akten der Reichskanzlei. W e i m a r e r Republik. Die Kabi-

52

nette Luther I und II, Bd 2, Nr. 229. Aufzeichnung Trautmann, 30. 1. 1926, ADAP, B III. Nr. 41; Rundschreiben AA, 2 5 . 1 . 1928, PA, Pol. Abt. I V / P o 2 C h i / 4 . Cpusoy, S. 48 f. 53

Aufzeichnung Wallroth, 1 1 . 1 . 1926, ADAP, B III, Nr. 27; StS v. Schubert an Botschaft Tokio, 5 . 1 . 1926 (— Anmerkung bei Aufzeichnung Trautmann, SO. 1. 1926, ebd., Nr. 41); Str.jsemann an Botschaft Moskau, 19. 2. 1926, ebd., Nr. 72. AA an Reichskanzleramt, 3. 11. 1925, BA, R 43 1/56.

54

336

Rede Stresemann, Aufzeichnung, 14. 5. 1925, PA, Pol. Abt. IV/Po 2 C h i / 3 .

ständigung hintertreibe und einen wünschenswerten Ausgleich zwischen Berlin und Canton erschwere. Die Lösung der Schwierigkeiten der deutschen Fernostpolitik liege vielmehr bei einer bereits seit dem Weltkrieg propagierten engeren deutsch-japanisch-sowjetischen Zusammenarbeit und zwar auch außerhalb eines von Canton geführten Chinas 55 . Mitte 1926 sprachen sich zudem auch die deutsche öffentliche Meinung und große Teile des Reichstages in Anerkennung des nationalen Einigungswillens der Chinesen für eine Verständigung der Reichsregierung mit Südchina und gegen einen Beitritt Berlins zum Neunmächte-Vertrag aus. Im Auswärtigen Amt bröckelte angesichts dieses massiven Widerstands allmählich die prowestliche Front der Befürworter des Vertrages. Statt dessen konnte sich in der Chinapolitik nach den außenpolitischen Erfolgen Deutschlands auch in Europa zusehends ein Neutralitätskurs stabilisieren 56 . Die Neutralitätspolitik der Reichsregierung in China, die sich Ende 1926 bewußt als eigenständiger Weg zwischen den Bürgerkriegsparteien und zwischen den Mächten verstand, suchte zwar weiterhin die Nähe zum Westen, wollte sich aber keinesfalls in den russisch-angelsächsischen Konflikt in China einmischen oder sich von irgendeiner Macht in eine chinafeindliche Position drängen lassen. Eine endgültige Unterzeichnung des Neunmächte-Vertrages wurde daher kaum noch ernsthaft erwogen. Das ständige Hinauszögern des Ratifizierungsverfahrens suchte Berlin nach außen hin mit dem Entscheidungsrecht des Canton freundlich gesinnten Reichstages zu kaschieren 57 . Das Auswärtige Amt war überzeugt, angesichts des immer stärkeren nationalen Aufbegehrens der Chinesen nur durch eine strikte Zurückhaltung die primär wirtschaftlichen Interessen des Deutschen Reiches in China wahren zu können 58 . Dabei dachte die „Wilhelmstraße" jedoch keineswegs daran, die Verbindungen zu Japan einschlafen zu lassen, das der Reichsregierung im-

55

Besonders der deutsche Botschafter in Tokyo, Solf, drängte auf eine intensive deutsche Vermittlung in den russisch-japanischen Spannungen, welche die Deutschland nützliche englisch-russische Gegnerschaft in Ostasien verringern mußten. Solf an AA, 19. 3. 1927, AD AP, B V, Nr. 6.

56

AA an Gesandtschaft Peking, 9 . 1 2 . 1926, PA, Büro R M / 3 7 / 1 ; AA an Gesandtschaft Peking, 8 . 4 . 1927, ebd., Büro S t S / O C h i / 2 . Solf an Schubert, 2 . 2 . 1926, AD AP, B III, Nr. 45; Brockdorff-Rantzau, Moskau, an AA, 1 3 . 2 . 1926, ebd., Nr. 61; Aufzeichnung Trautmann, 24. 3. 1926, ebd., Nr. 97.

57

Aufzeichnung AA, 21. 3. 1927, PA, Büro S t S / O C h i / 2 ; Schubert an Botschaft London, 4. 4 . 1 9 2 7 , ebd., Pol. Abt. IV/Po 2 C h i / 4 ; Schubert an Gesandtschaft Peking, 14. 4 . 1 9 2 7 , ebd. Aufzeichnung Michelsen, 2. 12. 1926, ADAP, B III, Nr. 2 4 0 ; Schubert an Boyé, 2 4 . 1 2 . 1926, ebd., Nr. 251; Wallroth an Botschaft London, 1 2 . 2 . 1927, ebd., B IV, Nr. 135; Schubert an Gesandtschaft Peking, 14. 4. 1927, ebd., B V, Nr. 84.

58

Als der Kreuzer „Emden" am 1 4 . 1 1 . 1926, dem Jahrestag der Kapitulation Tsingtaos, zu einer Weltreise auslief und höchste Marinekreise aus diesem Anlaß die deutschen Kolonien nur als äußerlich und temporär verloren bezeichneten, verwahrte sich das Auswärtige Amt eindeutig gegen solche forschen W o r t e . R W M an AA, 2 3 . 1 1 . 1926, PA, Pol. Abt. IV/Po 2 C h i / 4 ; AA an R W M , 1 0 . 1 2 . 1926, ebd. 337

mer noch wie Anfang der 20er Jahre politisch der potentiell nützlichste Verbündete in Fernost zu sein schien 59 . Nicht nur die Befürworter eines prosowjetischen Kurses des Reiches sahen in Japan einen geeigneten Bundesgenossen für eine selbständigere Außenpolitik als bislang, auch die eher westlich orientierten Diplomaten rechneten damit, durch ein Wiederaufleben des Gedankens eines deutsch-japanischchinesischen Zusammengehens die englische Politik zugunsten Deutschlands stärker beeinflussen zu können. Vor allem hoffte die Reichsregierung auf eine politische Unterstützung seitens der Japaner im Völkerbund. Als Gegenleistung war die „Wilhelmstraße" Anfang 1928 sogar bereit, auf eine prochinesische Stellungnahme bei den chinesisch-japanischen Zwischenfällen in Shantung und in der Mandschurei zu verzichten 60 . Aber auch wirtschaftlich gewann das ostasiatische Kaiserreich für Deutschland in der zweiten Hälfte der 20er Jahre an Bedeutung. Die nach wie vor dürftigen japanischen Exporte nach Deutschland wurden bilanzmäßig mit den steigenden Sojaimporten aus der Mandschurei in einer Art Dreieckshandel befriedigend verrechnet 61 . Auch die Einfuhrrestriktionen der Japaner, die sich ab 1924 insbesondere gegen die stark auf dem japanischen Markt expandierende deutsche chemische Industrie richteten, konnten in einem Vertrag der IG Farben (1926) und schließlich in einem Handelsvertrag zwischen dem Deutschen Reich und Japan (17. April 1927) entschärft werden. Weitgehende Zugeständnisse bei den Zöllen waren allerdings genauso wenig zu erreichen, wie nach dem Nordfeldzug ein deutsch-japanisch-chinesischer Ausgleich noch ernsthaft zur Debatte stehen konnte 62 . Deutsch-japanisch-chinesische Bündnisgedanken scheiterten wie deutsch-japanisch-russische Verständigungsbemühungen an dem ungestümen Expansionsdrang der Japaner auf dem ostasiatischen Kontinent 63 . Gerüchte über eine fernöstliche Entente der „Zukurzgekommenen", so mußte selbst deren eifrigster Befürworter, Botschafter Solf, Ende 1927 zugeben, entbehrten mittlerweile jeder realen Grundlage 64 . Das Auswärtige Amt reizte jedoch die russische wie die japanische Karte bis Ende der 20er Jahre in Ostasien weiter, wenn auch die Bedeutung der Sowjetunion in China durch den Bruch mit Nanking ständig sank. Für die

59

Schubert an Gesandtschaft Peking, 28. 7. 1927, ADAP, B VI, Nr. 73; Solf an AA, 13. 2. 1928, ebd., B VIII, Nr. 87. Glaime, S. 93 ff., 114 f.

60

Köpke an Gesandtschaft Lissabon, 29. 5. 1928, ADAP, B IX, Nr. 47.

61

S. Anhang, Tabelle 2.

62

Solf an AA, 25. 3. 1927, ADAP, B V, Nr. 32. Bloch, S. 20 f.

63

Solf an AA, 3 0 . 8 . 1927, ADAP, B VI, Nr. 158; Solf an AA, 2 8 . 1 0 . 1927, ebd., B VII,

64

Solf an Ritter, 2 1 . 1 2 . 1925, ebd., B III, Nr. 10; Stresemann an Botschaft Tokio, 18. 2.

Nr. 56. 1926, ebd., Nr. 71 ; Aufzeichnung Solf, 12. 8 . 1 9 2 6 , ebd., Nr. 178; Botschaft Tokio an AA, 1 8 . 1 . 1927, ebd., B IV, Nr. 4 0 ; Solf an AA, 14. 2. 1927 ( = Anmerkung zu Wallroth an Botschaft London, 12. 2. 1927, ebd., Nr. 135). Ratenhof, S. 35 ff.

338

deutsche Chinapolitik blieb Rußland vor allem wegen einer geplanten deutschen Flugverbindung ins ehemalige Reich der Mitte interessant, die das Auswärtige Amt, die Pläne der Amerikaner vor Augen, für die zukünftigen wirtschaftspolitischen Beziehungen zwischen China und Deutschland als wertvoll einschätzte. Die „Wilhelmstraße" wollte sich allerdings keinesfalls als Fürsprecher der Sowjetunion bei der Kuomintang verwenden. Das Auswärtige Amt riskierte es nicht, sich durch einseitige Parteinahme für Moskau entweder mit den Westmächten, die sich mit Nanking Anfang 1928 vertragsmäßig zu einigen schienen, oder vor allem mit der Kuomintang politisch zu überwerfen, zumal die Situation der deutschen Chinawirtschaft nicht gerade optimistisch stimmte 65 . Trotz der Unruhen nach Sun Yat-sens Tod (12. März 1925) war der deutsche Handel mit China zunächst überraschend schnell wieder in Gang gekommen. Die Importe nach Deutschland hatten in voller Höhe aufrechterhalten werden können, der Exportrückgang war glimpflich geblieben. Durch ihr neutrales Verhalten gelang es den Geschäftsleuten, während der nachfolgenden innerchinesischen Auseinandersetzungen überall im Land ihren Geschäften weiter nachzugehen. Im Kuomintang-regierten Cantón erzielten die deutschen Kaufleute sogar die höchsten Umsätze aller Ausländer, selbst einschließlich der Russen. Bei den deutschen Handelsfirmen in China herrschte daher noch 1926 relative Zufriedenheit. W e n n auch die chinesische Geldentwertung die Geschäfte weniger lukrativ machte, so blieb doch die Finanzierung des Handels durch englische Banken sichergestellt. Selbst die deutschen Reedereien zeigten sich mit ihrer Umsatzsteigerung — seit den vorangegangenen Jahren um ca. 75 % — durchaus zufrieden, obwohl ihr Anteil von 3,2 % am ausländischen Schiffsverkehr nach China Ende des Jahrzehnts noch weitaus geringer war als 1913 (8,6 %)66. Zwar wurde wegen der unsicheren Lage weiterhin auf eine Wiederaufnahme der Flußschiffahrt verzichtet, im direkten Warenverkehr aus Deutschland und Europa mit den Häfen im Landesinnern gelang es aber, die deutsche Stellung weiterhin auszubauen. In Wuhan betrug der deutsche Anteil am direkten Überseeverkehr sogar 40 %. Diese direkten Verbindungen begrüßten die deutschen Handelsfirmen außerordentlich, die trotz der herausragenden Positionen im Warenverkehr mit der Heimat die ausländische Konkurrenz immer stärker zu spüren bekamen 67 . Im Gegensatz zum deutschen Importhandel nach China, der ausschließlich in den Händen deutscher Firmen blieb, gelang es nämlich vor allem den nach dem Krieg gegründeten chinesischen Ausfuhrfirmen, ins Exportgeschäft nach 65

Runderlaß AA, 2 5 . 1 . 1928, PA, Pol. Abt. I V / P o 2 C h i / 4 ; AA an Gesandtschaft Peking, 22. 6. 1928, ebd., Po 2 C h i / 5 . Stresemann an Botschaft Moskau, 2 0 . 1 2 . 1927, ADAP, B VII, Nr. 220.

66 67

S. Anhang, Tabelle 5. Gesandtschaft Peking an AA, 20. 9. 1925, PA, Pol. Abt. I V / P o 5 A C h i / 4 ; RDI an AA, 1 7 . 1 0 . 1925, ebd., Abt. IV W i C h i / W a f f e n A / 2 .

339

Deutschland einzusteigen. Der Sojabohnenimport aus der Mandschurei, der Mitte des Jahrzehnts mit ca. 35%, 1929 mit über 6 0 % an erster Stelle der deutschen Einfuhren aus China stand 68 , wurde zudem immer stärker von japanischen Händlern monopolisiert. Die deutschen Firmen zogen sich vor dem japanischen und amerikanischen Kapitaleinsatz, der auch die Russen nach und nach auf ihre nordmandschurischen Gebiete abdrängte, zusehends aus den drei östlichen Provinzen auf Süd- und Mittelchina zurück. Hier gelang es ihnen, vor allem chemische Produkte — pharmazeutische Erzeugnisse und Kunstseide standen im Vordergrund des täglichen Handels — unter Umgehung der alten Zwischenhandelsmetropole Hongkong auf dem Shanghaier Markt anzubieten. Lieferungen industrieller Rohstoffe nach Deutschland aus den mittleren Provinzen boten darüber hinaus im Gegensatz zu der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg lukrative Geschäftsmöglichkeiten 69 . Als weitaus unangenehmer als die ausländische Handelskonkurrenz erwies sich allerdings für die deutschen Chinafirmen das Bestreben der heimischen Industrie, die Zwischenhändler beim Export auszuschalten. Vor allem die Schwer- und die Maschinenbauindustrie, die noch immer nicht die erhofften Zuwachsraten erreichen konnte, gab nur zu gern den Handelsfirmen die Schuld an der Exportmisere: Seien vor dem Krieg noch direkte Geschäfte mit den selbständigen Importhandelshäusern in China möglich gewesen, so steuerten nun gemischte Im- und Exportgroßhandelsfirmen von Deutschland aus den Warenverkehr. Diese Großfirmen lehnten zudem Barzahlungen an die industriellen Produzenten ab, obwohl bei der Kapitalknappheit gerade die Sicherstellung der Finanzierung größerer Geschäfte Sache und Risiko der Kaufleute sein müsse 70 . Den Versuchen der Industrie, über eigene Agenten in China Waren abzusetzen, war jedoch letzten Endes — wie vor dem Krieg — kein durchschlagender Erfolg beschieden. Die meisten industriellen Exportgeschäfte nach China liefen weiterhin über die Handelshäuser. Nur wenigen Firmen der Produktionsgüterindustrie aus dem Elektro- und Chemiebereich, wie Siemens und IG Farben, gelang es, an ihre marktbeherrschende Stellung vom Beginn des 20. Jahrhunderts anzuknüpfen und eigene technische Filialen oder kaufmännische Büros in China zu errichten. Selbst dann blieben aber die deutschen Handelsfirmen als Untervertreter weiter im Geschäft 71 .

68

Bloch, S. 18 f.; W u , S. 91 f.

69

Carlowitz & Co. an Krupp, 22. 2. 1929, HA Krupp, W A IV 1936. DIHT an Mitglieder,

70

Zentralstelle für den Wirtschaftsauslandsnachrichtendienst an Vertretung der Hanse-

5. 9. 1927, W W A , K 2 / 3 3 5 . Bloch, S. 20 f.; Kunst & Albers, S. 17 f. stadt Bremen beim Reich, 20. 3. 1926, StAHB, 4,49-IA 4b 1 0 / 1 . Handelskammer Düsseldorf an Mannesmann, 2. 6. 1929, HStAD, R W 4 9 / 4 4 / H . Gutehoffnungshütte an Handelskammer Bochum, 20. 10. 1924, W W A , K 2 / 3 3 5 ; Niederrheinische Handelskammer an Handelskammer Bochum, 2 4 . 1 0 . 1924, ebd. 71

DIHT an Mitglieder, 15. 9. 1927, HKHH, Akt. Chi/7. Hänisch, S. 224 ff.; Wettlauffer, S. 29 f.

340

Während die vom IG Farbenkonzern monopolisierte chemische Industrie seit Mitte der 20er Jahre mit großen Farben-, Kunstdünger- und Stickstofflieferungen ungefähr an ihre Vorkriegserfolge in China anknüpfen konnte und die Elektroindustrie nur einen geringen Geschäftsrückgang zu verzeichnen hatte, wurde für die deutsche Stahl-, Maschinenbau- und Werkzeugindustrie der chinesische Markt auch in der zweiten Hälfte der 20er Jahre eine Enttäuschung. Die großen Hoffnungen, die aus der wirtschaftlichen Stabilisierungsphase resultierten und durch die Boykotte angelsächsischer Waren in China entscheidend verstärkt wurden, erfüllten sich nicht, da es Amerikanern und Engländern, von deren Warenverkehr und Krediten der Außenhandel Chinas abhing, ziemlich rasch gelang, ihre wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu überwinden. Die Lieferungen der wichtigsten Einfuhrartikel Chinas, Garne, Baumwoll-, Woll- und Textilwaren — von jeher keine Domäne der Deutschen —, blieben fest in englischen und japanischen Händen. Bei landwirtschaftlichen Maschinen, Kraftwagen, Motorrädern und Flugzeugen ließ sich die führende Position Japans und Amerikas mit der schwachen Stellung der Deutschen kaum noch vergleichen. Deutschland, das vor dem Krieg auf dem Sektor neuer Technologien den chinesischen Markt beherrscht hatte, schien nunmehr den Anschluß verpaßt zu haben. Im Gegensatz zu Japan und den USA, die z. B. von 1925 bis 1929 allein 11 574 Kraftwagen lieferten, führte das Deutsche Reich in demselben Zeitraum insgesamt nur 108 Fahrzeuge nach China aus 72 . Auch die deutschen Pläne, den modernen und zukunftsträchtigen Sektor Flugzeugbau mit dem Ziel auszubauen, eine Fluglinie über die Sowjetunion nach China und später auch ein Liniennetz in China zu errichten, scheiterten vorerst, obwohl die vom Reich unterstützte Deutsche Lufthansa die Verhandlungen mit den Chinesen selbst übernommen hatte 73 . Der Amerikalobby der Nanking-Regierung, der neben Sun Fo vor allem Außenminister C. T. Wang und Finanzminister T. V. Soong angehörten, vermochte die deutsche Chinawirtschaft zunächst nichts Entsprechendes entgegenzusetzen 74 . Sogar die Mandschurei, die mit ihren Modernisierungsanstrengungen für die Maschinenbauindustrie bislang immer noch die einträglichsten Geschäftsmöglichkeiten geboten hatte, drohte allmählich verlorenzugehen. Mit dem dortigen Rückgang des deutschen Handels begannen auch die Absätze der deutschen Schwer- und Rüstungsindustrie in Kirin, Heilungkiang und Fengtien zu schwinden. Ende 1927 waren die Erwartungen zwar noch einmal ge-

72

In den Jahren 1925 bis 1929 exportierten die USA und Japan zusammen 319 Motorräder

73

Völker, Entwicklung, S. 134 ff.

nach China, Deutschland nur 28. Hänisch, S. 220; Rische, S. 176 f. 74

Gesandtschaft Peking an AA, 22. 5. 1926, PA, Büro R M / 3 7 / 1 ; Generalkonsulat Kanton an AA, 9. 2. 1927, ebd., Abt. IV W i C h i / W i r t s c h a f t 6 / 1 . DIHT an Mitglieder, 5. 9. 1927, W W A , K 2 / 3 3 5 . Siemens Jahresbericht 1 9 2 4 / 1 9 2 5 , SAA, 1 5 / L a 610; Siemens Jahresbericht 1 9 2 5 / 1 9 2 6 , ebd., 2 0 / L a 229. Zu den Geschäften der Firma Siemens in China von 1 9 2 4 - 1 9 2 9 : Kunst & Albers, S. 1 ff.; Wiethoff, Luftverkehr, S. 104 ff. 341

stiegen, als es gelang, eine komplette Sprengstoff-, Gewehr-, Pulver- und Geschützfabrik in Mukden zu errichten. Die politische Krise nach dem Tod Chang Tso-lins ließ die Verwirklichung weiterer größerer Projekte aber nicht mehr zu. Außer kleineren Posten von Feldbahnmaterial vermochte die deutsche Chinaindustrie nichts mehr in die Mandschurei zu liefern 75 . Wenn auch Handel und Schiffahrt im allgemeinen über ihre Geschäfte in China nicht klagen konnten, so sahen doch die Statistiken der deutschen Chinawirtschaft für die zweite Hälfte der 20er Jahre nicht übermäßig zufriedenstellend aus. Obwohl wertmäßig der Umfang des deutsch-chinesischen Warenaustausches von 1929 sowohl bei den Importen (370,7 Millionen RM) als auch bei den Exporten (185,1 Millionen RM) 7 6 eine Höhe erreicht hatte, die vor dem Zweiten Weltkrieg nach der offiziellen Statistik nicht mehr erzielt wurde und den Höchststand des Vorkriegshandels aus dem Jahre 1913 (253,3 Millionen RM) — allerdings ohne die inflationäre Entwicklung zu berücksichtigen — um mehr als das Doppelte übertraf, blieben die Defizite doch unübersehbar: Der Stagnation der deutschen Exporte nach China, die in den Jahren von 1925 bis 1929 lediglich von 4,1 % auf 5,9 % der chinesischen Gesamtimporte anstiegen, stand eine aufgrund der Sojabohneneinfuhr 77 geradezu bedrohliche Zunahme der deutschen Importe aus China in demselben Zeitraum von 9,6 % auf 14 % des chinesischen Gesamtexports gegenüber 78 . Über diese negative Handelsbilanz konnten die Angaben in der chinesischen Seezollstatistik nur schwerlich hinwegtrösten, welche die Ausfuhr nach Deutschland über ausländische Firmen nicht erfaßte 79 . Vor allem der weite Abstand zu den Großmächten im Hinblick auf das Ausmaß der Gesamthandelsbeziehungen mit China blieb zum Verdruß der Chinawirt-

75

Siemens China Co. an Stammhaus, Berlin, 26. 10. 1927 und 5. 7 . 1 9 2 8 , SAA, 1 5 / L p 194; Siemens Jahresbericht 1 9 2 7 / 1 9 2 8 , ebd., 2 0 / L a 229.

76

W u , S. 21 f.

77

1 92 4 wurden für 35,5 Mill. RM Sojabohnen eingeführt, im Rekordjahr 1929 für 239,1

78

Auch die gestiegene Zahl der Deutschen und der deutschen Firmen in China deutet

Mill. RM. Bloch, S. 18 f. höchstens auf die großen Erwartungen hin, läßt aber die tatsächliche Situation des Handels unberücksichtigt. 1913 waren 2 9 4 9 Personen und 296 Firmen in China ansässig, 1928 3926 und 319. Cheng, S. 218 f.; Wu, S. 21 f. Bei den Importwerten für W a r e n aus Deutschland hingegen stimmen die chinesischen

79

Angaben mit den deutschen in etwa überein. Ebd. Auch der Vergleich des prozentualen Anteils des Chinahandels a m Gesamthandel des Deutschen Reiches ließ keine positive Deutung zu. Bei den Exporten vermochten sich die Ausfuhren nach China seit 1913, dem besten Vorkriegsjahr, von 1,2 % auf 1,4 % im Jahre 1 9 2 9 zu steigern, fielen aber im Vergleich zum inflationsbedingten Warenverkehr von 1924 um 0,4 % ab. Bei den Gesamtimporten des Reiches betrugen die Einfuhren aus China 1913 1,2 % bzw. 1924 1 , 4 % , 1 9 2 9 hatten sie jedoch in Anbetracht der gestiegenen Rohstoffeinfuhren für Nahrungsmittel — bei steigender Tendenz — mit 2,8 % schon doppelt so viele Anteile am deutschen Importhandel wie die Ausfuhren am deutschen Exporthandel. Ebd., S. 49 f., 91. Mohr, Wirtschaftsbeteiligung, S. 227, kommt zu falschen Exportwerten. 342

schaft bestehen. Die Stellung Deutschlands auf dem chinesischen Markt war daher keinesfalls mit der von 1913 vergleichbar 8 0 . Die deutsche Industrie hatte Ende der 20er Jahre in China den Nachkriegseinbruch trotz aller Anstrengungen und partieller Erfolge n o c h nicht ü b e r w u n d e n . Und auch die Zukunft sah angesichts der amerikanischen Pläne, die in ihrer Gigantomanie den überspannten Zielsetzungen der Kuomintang um nichts nachstanden, kaum b e s s e r aus 8 1 , da eine merkliche Steigerung der Exporte über industrielle Rüstungsgeschäfte, die sich seit den 1 8 8 0 e r Jahren als solide Stütze der deutschen Chinawirtschaft erwiesen hatten, w e g e n der reservierten Haltung der Reichsregierung nicht zu erwarten war. Allein schon der Transithandel deutscher Firmen mit W a f f e n stellte seit Beginn der Einigungsfeldzüge die offiziell verkündete neutrale Position des Deutschen Reiches in China z u n e h m e n d in Frage. O b w o h l das Auswärtige Amt zunächst lediglich verärgert versicherte, daß es sich dabei w i e Anfang der 2 0 e r Jahre ausschließlich um „einfache Geschäfte" o h n e „politischen Hintergrund" 8 2 handele, sahen sich die deutschen Diplomaten doch immer stärker unter Druck gesetzt. Die russische Presse und die der Kuomintang warfen den Deutschen vor, sie lieferten n a c h Norden; die nördlichen Provinzen wiederum unterstellten den deutschen W a f f e n h ä n d l e r n eine Unterstützung der revolutionären B e w e g u n g ; und die westlichen G r o ß m ä c h t e forderten schließlich den vollständigen Stopp der Kriegsmateriallieferungen aus Deutschland und drohten sogar mit Interventionen 8 3 . Auch die deutsche Gesandtschaft in Peking appellierte angesichts dieser massiven Pressekampagn e n gegen das Reich zum wiederholten M a l e an die Berliner Zentrale, die W a f f e n g e s c h ä f t e endlich zu verbieten 8 4 . Dagegen w a r n t e n die deutschen Chinakaufleute vor e i n e m Verzicht auf W a f f e n l i e f e r u n g e n , entsprach doch der jährliche Verkaufswert bestellter W a f f e n und neuer ausländischer Fabrikate, die insbesondere über traditionelle Tsingtaoer Geschäftsverbindungen importiert wurden, mit 30 Millionen M a r k etwa e i n e m Viertel der gesamten deutschen Ausfuhr eines Jahres nach

80

Der deutsche Anteil am chinesischen Gesamthandel betrug 1913 1 0 % , 1928 8 % , der britische 19 % bzw. 13,5 %, der amerikanische 7,4 % bzw. 15,1 % und der japanische 1 8 , 7 % bzw. 2 4 , 9 % (die Angaben für 1913 beziehen Hongkong nicht ein, dessen W a renexport aller Länder — ausgenommen Deutschland — nach China 29,2 % der chinesischen Einfuhren ausmachte). A. Young, Effort, Anhang 23. Die deutschen Zahlen wurden vom Verfasser mit Hilfe von Umrechnungen bereinigt. Zahlen aus Cheng, S. 258 f.; Hou, S. 20 f.; Röser, S. 31 ff.; Wu, S. 49 f.

81

Zu den amerikanischen Plänen Rische, S. 102 ff. Wallroth an Botschaft London, 12. 2. 1927, ADAP, B IV, Nr. 135.

82 83

Gesandtschaft Peking an AA, 1 6 . 5 . 192*5, PA, Pol. Abt. W i C h i / W a f f e n A / 2 ; Brockdorff-Rantzau an AA, 3 . 1 2 . 1926, ebd.; Gesandtschaft Peking an AA, 25. 2. 1927, ebd., Büro S t S / O C h i / 2 .

84

Laut Statistik kamen ca. 60 % der von China eingeführten Rüstungsgüter aus Deutschland. Tabelle bei Causey, S. 121 ff.

343

China. Darüber hinaus treffe ein gesetzlicher Lieferstopp, so argumentierten die Kaufleute weiter, den Norden besonders hart und bringe dem Süden und damit der Sowjetunion ungerechtfertigte Vorteile, da die Waffengeschäfte mit den Militärmachthabern im Norden wesentlich bedeutender seien als die sporadischen Lieferungen ins südliche China. Ein solches Vorgehen widerspreche daher offen dem Neutralitätskurs des Reiches im vormaligen Reich der Mitte. Statt dessen schlug der Ostasiatische Verein, der sich in jenen Jahren immer stärker zum kompetenten und geschätzten Ansprechpartner des Auswärtigen Amtes entwickelte, im März 1927 eine freiwillige Einschränkung der Lieferungen durch Kaufleute und Reeder vor. Der Ostasiatische Verein und der Verband deutscher Reeder verpflichteten sich, Waffengeschäfte nach China von „deutschen Häfen oder auf deutschen Schiffen" zu unterlassen 85 , um dem Ansehen Deutschlands nicht weiter zu schaden. Diese Lösung schien den Diplomaten der „Wilhelmstraße", welche die Argumente des Chinahandels voll akzeptierten, die praktikabelste zu sein, nicht zuletzt auch deshalb, weil so der nach dem Abzug der Interalliierten Militärkontrollkommission geplanten gesetzlichen Neuregelung der Ausfuhrbestimmungen von Kriegsgerät nicht vorgegriffen werden mußte 86 . Bereits im September war das Gentlemen's Agreement mit den Kaufleuten und Reedern allerdings so gut wie gescheitert. Trotz der Zusage einer Selbstbeschränkung bei Waffenexporten gingen die Lieferungen deutscher Firmen nach China in unverändert starkem Maße, wenn auch unter fremder Flagge, weiter. Allein die Reederei Rickmers charterte dazu sieben ausländische Dampfer 87 . Es entsprach auch nicht den Vorstellungen der Diplomaten, wenn Lieferungen deutscher Handelshäuser über das Ausland und Transporte ausländischer Firmen über deutsche Häfen vorgenommen wurden, obwohl dieses Vorgehen vollkommen legal und auch nicht vereinbarungswidrig war. Zudem kam es immer wieder zu unerlaubten Übertretungen im Zollbereich. Verwaltungs- und Polizeimaßnahmen der Hansestädte gegen falsche Deklarierungen konnten solche Lieferungen wegen unzureichender gesetzlicher Bestimmungen nicht stoppen 88 , denn das neue „Gesetz über die Ausfuhr von Kriegsgerät" vom 27. Juli 1927, das die Bestimmungen von 1921/22 weiter entschärfte, verbot zwar die Ausfuhr, nicht aber den Transit von W a f f e n durch Deutschland in andere Länder. Die Beschlagnahme von Rickmers- und HAPAG-Schiffen, die Waffen und Munition an die Gegenregierung in Wuhan

85 86

87

88

OAV an AA, 8. 3., 24. 3. u n d 2. 4. 1927, HKHB, HP II 83/7. A u f z e i c h n u n g T r a u t m a n n , 3 . 2 . 1927, PA, HaPol.Abt./Handelspolitische H a n d a k t e n / G e s a n d t e r Eisenlohr. A u f z e i c h n u n g b e t r e f f e n d W a f f e n l i e f e r u n g e n nach China, 14.1. 1927, BA, R 43 1/56. A u f z e i c h n u n g T r a u t m a n n , 7 . 4 . 1927 ( = A n m e r k u n g bei Boye, 14. 3. 1927, Nr. 247), ADAP, B IV. Zentralstelle f ü r d e n W i r t s c h a f t s a u s l a n d s n a c h r i c h t e n d i e n s t a n Vertretung der Hansestadt Bremen b e i m Reich, 5. 8. 1928, StAHB, 4,49-IA 4b 10/1. Anfrage in d e r Bremer Bürgerschaft, 20. 9. 1927, HKHB, Hp II 8 3 / 7 . Reederverein der H a n s e s t a d t Bremen an H a n d e l s k a m m e r Bremen, 9. 5. 1927, StAHB, 3/A3.C.3/342.

344

zu liefern versuchten, durch Nankinger Behörden erwies sich schließlich als vorläufiger Höhepunkt der von der ausländischen Presse hochgespielten Skandale deutscher Rüstungslieferungen nach China. Obwohl im Auswärtigen Amt daraufhin niemand mehr an der Notwendigkeit einer behördlichen Regelung zweifelte, bemühten sich die Diplomaten zunächst um ein internationales Verbot von Waffenlieferungen im Transit nach China und kamen dem Chinahandel damit nochmals entgegen 89 . Ein offizieller Vorstoß der englischen Regierung Anfang 1928 über ihren Botschafter in Berlin, Sir Ronald Lindsay, die Reichsregierung solle jegliche Rüstungsgeschäfte, sei es nun mit eigenen Erzeugnissen 90 oder im Transithandel über Deutschland, verbieten, und ein scharfer Protest der Nanking-Regierung bewirkten im Auswärtigen Amt jedoch größere Aktivitäten hinsichtlich eigener gesetzlicher Maßnahmen. Sowohl die Engländer, die sich mittlerweile ganz auf einen Sieg der Kuomintang in China eingestellt hatten, als auch die Kuomintang-Führung in Nanking sahen wegen der deutschen Waffengeschäfte mit den nördlichen Militärmachthabern die geplante Fortführung des Einigungsfeldzuges in Richtung Peking bedroht. Gespräche deutscher diplomatischer Vertreter mit dem Fremdenkommissar der Kuomintang, Kuo Taich'i, ließen dieses Mal ein hartes Durchgreifen der Chinesen befürchten, falls das Reich nicht zu einem schnellen Einlenken bereit war. Zwar gestand Kuo offen zu, daß die Nationale Revolutionsarmee die Beschlagnahme hauptsächlich deswegen durchführe, um ihre eigenen Bestände aufzufrischen, und es viel lieber sähe, wenn Deutschland offiziell Rüstungsmaterial nach Südchina liefere, die gegenwärtige Situation erfordere aber zunächst einmal primär ein Verbot aller Lieferungen und ein scharfes Vorgehen der Kuomintang-Behörden bei irgendwelchen Verstößen 91 . Das Auswärtige Amt, das schlimmstenfalls sogar mit einem Abbruch der informellen Beziehungen zur Kuomintang rechnete, wollte auf keinen Fall das Ansehen Deutschlands bei Chiang Kai-shek durch Waffengeschäfte mit den Gegnern der Kuomintang aufs Spiel setzen, und seien diese für den deutschen Chinahandel auch noch so lukrativ. Auch der Ostasiatische Verein begrüßte schließlich das „Gesetz über den Waffenhandel nach China" vom

89

Boyé an AA, 10. 9. 1927, PA, Pol. Abt. IV/Po 13 C h i / 1 ; Generalkonsulat Shanghai an AA, 20. 9. 1927, ebd., Po 2 C h i / 4 ; Aufzeichnung AA, 9. 1. 1928, ebd., Büro S t S / O A / 4 .

90

Neben „weichen" Rüstungsgütern war auch die Ausfuhr von Jagdwaffen und Pistolen zu privaten Zwecken nach den Bestimmungen des Versailler Vertrages erlaubt. Eine Kontrolle konnte natürlich im Ausland nicht mehr gewährleistet werden. Mauser lieferte z. B. in den 20er Jahren 1 5 0 0 Pistolen und 750 000 Patronen nach China. Aufzeichnung betreffend Waffenlieferungen nach China, 1 4 . 1 . 1927, BA, R 43 1/56. Handelskammer Hamburg an Carlowitz & Co., 1. 9. 1927, HKHH, Akt. C h i / 2 0 .

91

Aufzeichnung AA, 4. 1. 1928, PA, Büro S t S / O A / 4 ; AA an Botschafter Lindsay, 20. 3. 1928, ebd. AA an Senat von Hamburg, 2 1 . 2 . 1928, StAHH, CL VII Lit Ke Nr. 13 Vol. 2 / F a s c . 37. Generalkonsulat Shanghai an AA, 20. 2. 1928, StAHB, 3 / A 3 . C . 3 / 3 4 2 . 345

31. März 1928 9 2 , das für ein Jahr alle Waffenlieferungen sowohl aus und über Deutschland als auch generell von Deutschen in das ehemalige Reich der Mitte verbot. Eine weitere Annäherung an Nanking und die Aussicht auf größere Geschäfte wollten weder die Diplomaten noch die Kaufleute verbauen, da die Ausdehnung der Herrschaft der Kuomintang über ganz China zu diesem Zeitpunkt auch in Deutschland nur noch als eine Frage der Zeit angesehen wurde 9 3 . Die „Wilhelmstraße" wollte allerdings keinerlei Zweifel aufkommen lassen, daß das Waffenausfuhrverbot des Deutschen Reiches nach China bei allem Entgegenkommen gegenüber der Kuomintang vor allem voll und ganz dem neutralen und zurückhaltenden Kurs der Reichsregierung in der Chinapolitik entsprach. Die heiklen, wenn auch einträglichen Rüstungsgeschäfte nach China waren unterbunden worden. Der Wunsch der Kuomintang-Regierung nach deutschen Militärberatern als Ersatz für die entlassenen Russen wollten die Diplomaten erst gar nicht zu einem Problem für die deutsche Chinapolitik werden lassen. Mißtrauisch zeigte sich das Auswärtige Amt daher gegenüber Versicherungen des Reichs Wehrministeriums, ein neuer militärischer Emissär der Kuomintang, General Ch'en Shao-wu, der sich seit August 1927 in Deutschland aufhielt, wolle nur die Infanterieschule in Dresden besuchen und sonst keine Anliegen vortragen 94 . Die Nachricht, daß Chiang Kai-sheks Militärregierung auf Fürsprache des vormals in Deutschland ausgebildeten Generals Li Nai beabsichtige, nach der Verlegung der Offizierschule von Whampoa nach Nanking im Deutschen Reich 15 Militärberater anzuwerben, veranlaßte die „Wilhelmstraße" sogar zu der offiziellen Verlautbarung, nicht nur verschärft auf die strikte Einhaltung des Artikels 179 des Versailler Ver-

92

93

94

OAV an Deputation für Handel, Schiffahrt und Gewerbe, 5. 4. 1928, StAHH, CL VII Lit Ke Nr. 13 Vol. 2/Fasc. 37. Die Reeder hingegen blieben dem neuen Gesetz gegenüber skeptisch. Reederverein der Hansestadt Bremen an Handelskammer Bremen, 9. 5.1927 und 1. 3. 1928, HKHB, Hp II 83/7. Gesandtschaft Peking an AA, 21. 6. 1927, StAHB, 3/A3.C.3/342; Erläuterungen des AA zum Gesetzentwurf, 24. 5. 1928, ebd. Senatsreferent an Senatskommission für die Reichs- und auswärtigen Angelegenheiten, 3. 3. 1928, StAHH, CL VII Lit Ke Nr. 13 Vol. 2/Fasc. 37. Zum deutschen Waffenhandel, wenn auch ohne schlüssige Interpretation, Bürden, S. 128 ff. Schon seit Mitte des Jahrzehnts tat das Auswärtige Amt alles, was in seiner Macht stand, um das Anwerben von militärischen Beratern, gleich welcher Art und von welchen chinesischen Stellen auch immer, in Deutschland zu verhindern. Auch Chang Tso-lins Wünschen nach deutschen Offizieren, mit denen er den Einfluß der japanischen Berater einschränken wollte, wurden vom Auswärtigen Amt regelmäßig abschlägig beschieden. Sogar den Besuch von Offizieren aus Siam lehnte die „Wilhelmstraße" kategorisch ab. Unter allen Umständen wollte sich die politische Führung auf militärischem Gebiet aus den Konflikten zwischen den Großmächten oder zwischen den einzelnen chinesischen Machthabern heraushalten. AA an RWM, 2.10. 1925 und 7 . 1 2 . 1926, PA, Pol. Abt. IV/Po 13 Chi/1. AA an Gesandtschaft Bangkok, 2. 6. 1927, ADAP, B V, Nr. 202.

346

träges achten, sondern auch jegliche privaten Aktivitäten verhindern zu wollen. Militärberater, so stellten die Diplomaten lakonisch fest, seien in China noch nie von Nutzen g e w e s e n . Das Auswärtige Amt w a r n t e die „Bendlerstraße" eindringlich davor, Anfragen militärischer Regierungsstellen in Canton nach deutschen Offizieren und Technikern für einen geplanten Arsenalbau entgegenzunehmen, und sei es auch nur über Mittelsmänner des Ministeriums 9 5 . Die militärische Führung dachte jedoch nicht daran, personelle und materielle Hilfestellung beim Aufbau der Herrschaft der Kuomintang zu leisten. Bis zum Bruch der Kuomintang mit Moskau hatte das Heer, das seit Mitte der 20er Jahre entgegen den W ü n s c h e n des Auswärtigen Amtes seine Beziehungen zur Roten Armee auf technischem und taktischem Gebiet vertiefte 9 6 , w e gen seiner Ostkontakte auf den in China engagierten „Partner" Sowjetunion Rücksicht n e h m e n müssen. Die Militärs wollten nun, n a c h dem Fehlschlag der geheimen Aufrüstung durch den Skandal um Lipezk 9 7 und die LohmannAffäre 9 8 , keinesfalls mit zweifelhaften militärpolitischen Aktivitäten auf einen Konfrontationskurs zur politischen Führung geraten, von der sie finanzielle, politische und moralische Zustimmung für ein erstes Rüstungsprogramm nach dem Krieg erwarteten 9 9 . Die Marine verhielt sich gegenüber China ohnehin nach wie vor passiv. Sie orientierte sich weiterhin nach Japan und konnte dabei sogar mit einem gewissen W o h l w o l l e n der Politiker rechnen 1 0 0 .

95

96 97

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99

100

Gesandtschaft Peking an AA, 24.10. 1926, PA, Pol. Abt. IV/Po 14 Chi/1; AA an RWM, 10.12. 1926, ebd.; AA an RWM, 10. 9. 1927, ebd., Po 13 Chi/1; RWM an AA, 15. 11. 1927, ebd., Po 2 Chi/4. Speidel, S. 9 ff.; Wohlfeil, S. 233 ff. Ein militärpolitischer Skandal entwickelte sich Anfang 1927 durch das Bekanntwerden von geheimen Lieferungen der Junkers-Werke für das Flugzentrum der Reichswehr in der Sowjetunion, Lipezk, das seit 1924 immer stärker ausgebaut wurde. Heiber, S. 185 ff. Wie die getarnten Abwicklungsfirmen für die von der Reichswehr getätigten illegalen rüstungswirtschaftlichen Auslandsgeschäfte aus Deutschland rote Zahlen erwirtschafteten, so erbrachten auch die nach dem Chef der Seetransportabteilung benannten „Lohmann-Unternehmungen" der Marine im Ausland Verlustzuweisungen von 13,2 Mill. Mark. Carsten, S. 253 ff., 401 ff.; Dülffer, Reichs- und Kriegsmarine, S. 415 ff. Dagegen dürfte es zu geheimen Geschäften von staatlicher Seite mit China über die von der Reichswehr kontrollierten Firmen GEFU oder W1KO bis Ende der 20er Jahre kaum gekommen sein. Sicherheit und Geheimhaltung waren bei China keinesfalls gewährleistet, wie der journalistische Wirbel um Waffenlieferungen im Transithandel durch Deutschland fast täglich bewies. RWM an AA, 8.10. 1925 und 10.12. 1926, PA, Pol. Abt. IV/Po 13 Chi/1. Geyer, Motive, S. 62 f. Schon der erste Besuch eines Kriegsschiffes des Deutschen Reiches in Japan nach dem Ersten Weltkrieg (23. 7.1926) hatte internationales Aufsehen erregt und ganz im Sinne der politischen Führung die neu gewonnene außenpolitische Handlungsfreiheit Deutschlands in Ostasien verdeutlicht. Bericht der japanischen Presse, 24. 7. 1926, BAMA, RM 6/282. Solf an AA, 26. 8. 1926, AD AP, B III, Nr. 185. Rahn, S. 173 ff. 347

Die Reichsregierung billigte beispielsweise einen Besuch japanischer Offiziere beim Kommando der Ostseestation. Die Vermittlung von Rüstungsgeschäften deutscher Firmen — vor allem optischer Geräte des Zeiss-Konzerns — durch die Marine nach Japan wurde vom Auswärtigen Amt, anders als bei China, offiziell toleriert. Die Rüstungsindustrie wurde geradezu aufgefordert, sich Japan stärker als bislang zuzuwenden 101 . Gerade die Schwer- und Maschinenbauindustrie, die auch in der zweiten Hälfte der 20er Jahre weiterhin andere Auffassungen in Rüstungsfragen vertrat als die Militärs 102 , war jedoch Anfang 1928 nicht bereit, den politischen Prioritäten der deutschen Ostasienpolitik für Japan und dem — ihrer Ansicht nach überzogenen — Neutralitätskurs der Reichsregierung in China Folge zu leisten und den Japanern und Amerikanern den chinesischen Markt kampflos zu überlassen, obwohl es ihr zu Beginn der Herrschaft der Kuomintang sowohl an realen Geschäftserfolgen als auch an persönlichen Beziehungen und dem notwendigen Kapital mangelte. Bereits 1926 hatte der Chinaausschuß des Reichsverbandes der Deutschen Industrie beschlossen, auch ohne Rückendeckung aus Berlin intensiver als bislang auf die Programme der Kuomintang einzugehen und sich chinesischen Wünschen besser anzupassen. In den folgenden Jahren wurde alles Erdenkliche — sogar über die ansonsten gemiedenen Exporthäuser — von privatindustrieller Seite unternommen, um rechtzeitig vor Vergabe der größeren Projekte auf dem chinesischen Markt etabliert zu sein. Trotz aller Vorbehalte und Skepsis rechnete sich die Schwerindustrie für die Zukunft jährliche Bestellungen von etwa 40 Millionen Mark aus, ca. 45 % mehr als Mitte der 20er Jahre 103 . Geradezu unverzichtbar erschien jedoch den Industriellen bei allen eigenen Aktivitäten eine personelle und vor allem eine finanzielle Unterstützung durch das Reich, wenn schon direkte politische Hilfestellungen nicht zu erwarten waren. Ein Ausbau des amtlichen Auslandsnachrichtendienstes für die Wirtschaft und das Einsetzen von Handelssachverständigen bei den diplomatischen Missionen galt in Erwartung des geplanten Wirtschaftsausbaus als unbedingt notwendig. Vor allem aber wurde eine staatliche Exportförderung für China nach Art der Russenkredite erhofft und immer eindringlicher vom Reich gefordert 104 .

101

Bericht der japanischen Presse, 24. 7 . 1 9 2 6 , BA-MA, RM 6 / 2 8 2 ; Marineleitung an Kommando der Ostseestation, 1 4 . 5 . 1927, ebd.; Carl Zeiss an Marineleitung, 15. 3. 1927, ebd.; AA an Botschaft Tokio, 2 6 . 1 . 1927, AD AP, B IV, Nr. 69.

102

Hansen, S. 161 ff.; Thomas, S. 54 ff.

103

RDI an Mitglieder, 26. 2 . 1 9 2 6 , SAA, 1 5 / L g 536; Reisebericht Schubert, 4. 9. 1928, ebd., 1 5 / L c 277; Aufzeichnung Siemens China Co., 8. 12. 1928, ebd., 2 5 / L s 675. Deutsche Lastwagenfabrik an Handelskammer Düsseldorf, 2 9 . 6 . 1926, HStAD, R W 4 9 / 4 1 / 1 ; Mannesmann an Handelskammer Düsseldorf, 16. 4. 1929, ebd., R W 49/44/11.

104

Jahresbericht Siemens China Co. 1 9 2 7 / 1 9 2 8 , SAA 2 0 / L a 229. DIHT an AA, 9. 2. 1929, W W A , K l / C X X I I I / 3 7 ; DIHT an Handelskammer Dortmund, 2 1 . 1 0 . 1930, ebd. AA an RFiM, 4. 9. 1928, BA, R 2 / 1 9 1 2 . Causey, S. 128 ff.; Ch. Chen, S. 243 f.

348

Neben dem Wiederaufbau des Konsulardienstes, der allerdings im Vergleich zu den anderen Mächten eher dürftig blieb und den Vorkriegsstand nicht wieder erreichte 105 , hatte das Reich bislang finanziell nur die kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und China weiter gefördert. 1926 gelang es auf diese Weise, die Berufung von deutschen Hochschullehrern über die Vermittlung des in Deutschland ausgebildeten Vizepräsidenten der Sun-Yatsen-Universität, Professor Chu Chia-hua, nach Canton zu ermöglichen und damit nach dem Tod Suns erstmals wieder Kontakte zur Kuomintang aufzunehmen 1 0 6 . Ansonsten hatten sich die Reichsbehörden in finanziellen Fragen in bezug auf China jedoch außerordentlich zurückgehalten, ganz anders als Mitte der 1880er Jahre bei der Gründung der Deutsch-Asiatischen Bank 107 . Gerade die Deutsch-Asiatische Bank bereitete allerdings der Reichsregierung nunmehr größeres Kopfzerbrechen. Dem Geldinstitut war es nicht gelungen, mehr als 2 Millionen chinesische Dollar aus den Vorkriegsanleihen zurückzuerhalten. Trotz der Zusage von 1925 nahm China den Anleihedienst nicht wieder auf. Die chinesischen Schuldner forderten zunächst die Rückzahlung ihrer Anleihedotationen in Höhe von 7 Millionen Goldmark, die gezahlt worden waren, damit die deutschen Banken ihnen die Gelder zur Verfügung stellten. Die Chinesen wollten auf keinen Fall anerkennen, daß diese Zahlungen unter die deutsch-chinesischen Ausgleichsverträge fielen und damit als erledigt zu betrachten seien. Den deutschen Bankiers bot sich daher ein düsteres Bild vom chinesischen Markt. Darüber hinaus sahen sie unter rein finanziellen Gesichtspunkten keine Anzeichen für eine durchgreifende Gesundung der chinesischen Wirtschaft: Der tatsächliche Einfluß Chiang Kai-sheks erstrecke sich kaum über Nanking hinaus; die Verarmung des Landes gehe weiter; die Bahnen seien unbrauchbar und die Wasserstraßen versandet. Für finanzielle Hilfen an China oder die deutsche Chinawirtschaft — so die Bankiers — fehlten bei der eigenen Kapitalschwäche noch immer die notwendigen Voraussetzungen 108 . Das Auswärtige Amt wies daher die vom Reichswirtschaftsministerium zur Exportförderung ausgearbeiteten Bestimmungen für Exportbürgschaften in bezug auf China zwar nicht prinzipiell zurück — einzelne Versicherungsverträge mit Industriellen wurden 1927 von der Deutschen Revisions und Treu-

105

England besaß insgesamt 16, die USA 18, Frankreich 21 und Japan 44 Vertretungen in China, das Deutsche Reich hingegen nur 10 (1 Gesandtschaft, 4 Generalkonsulate — in Shanghai, Tientsin, Canton und Hankow — und 5 Konsulate — in Harbin, Mukden, Tsinanfu, Tsingtao und Chungking). Vor dem Ersten Weltkrieg hatte es noch weitere deutsche Konsulate in Changsha, Foochow, Nanking, Swatao, Amoy und Pakhoi gegeben. Causey, S. 137 (nicht genau); Mohr, Wirtschaftsbeteiligung, S. 229.

106

Credner, S. 238 ff.

107

Aufzeichnung

Baiser,

22.8.

1927,

PA,

Handakten

(Handelspolitik)/Ritter/China/

1. Cheng, S. 228 ff.; Kunst & Albers, S. 15 f. 108

Aufzeichnung Wallroth, 1 2 . 1 2 . 1926, PA, Handakten Direktoren/Wallroth/China, Japan, S i a m / 3 1 ; Generalkonsulat Shanghai an AA, 20. 8 . 1 9 2 7 , ebd., Abt. IV W i C h i / W i r t schaft 6 / 1 . Geschäftsbericht 1928 der DAB, ADB.

349

hand AG 109 durchaus mit Zustimmung der „Wilhelmstraße" geschlossen —, aber die Tarife hielten sich entgegen den Erwartungen der Industrie an den allgemein sonst üblichen Rahmen. Längerfristige Darlehen und Hilfen bei Anleihen waren vorerst nicht zu erwarten, obwohl eine interministerielle Konferenz Mitte 1927 beschlossen hatte, zu gegebener Zeit Ausfallbürgschaften des Reiches, wie sie schon im Russengeschäft praktiziert wurden, von bis zu 50 % zu gewähren, um so die Finanzierung von Geschäften der Deutschen in China gegen die Konkurrenz der anderen Länder zu erleichtern. Die Reichsregierung verhielt sich auch nach der offensichtlichen Annäherung Chiang Kai-sheks an den Westen in finanziellen Fragen gegenüber der Nanking-Regierung zurückhaltend. Schon seit Beginn des Nordfeldzuges waren sich die Politiker darüber einig gewesen, erst eine diplomatische Anerkennung der Kuomintang-Regierung durch das Deutsche Reich abzuwarten 110 . Um diese Anerkennung in die Wege zu leiten, ließ das Auswärtige Amt Anfang 1928 den deutschen Unterhändler bei den deutsch-chinesischen Vertragsverhandlungen von 1921, v. Borch, nach China ausreisen, der gleichzeitig den erklärten Gegner der Kuomintang, den Gesandten Boyé ablösen sollte. Borch, der sich darauf einstellte, sein Beglaubigungsschreiben schon bald einem neuen chinesischen Staatspräsidenten überreichen zu können, nahm sofort intensive Kontakte mit Regierungskreisen in Nanking auf. In Gesprächen mit dem chinesischen Handels- und Industrieminister H. H. K'ung, einem Schwager T. V. Soongs, und weiteren Interessenvertretern der Shanghaier Wirtschaftsoligarchie in der Nanking-Regierung, versuchte er ab Mitte 1928, ein neues Handelsabkommen vorzubereiten. Zuvor waren durch die Eroberung Pekings durch die Nationale Revolutionsarmee im Juni und die Vereinbarungen der Amerikaner mit Nanking vom 25. Juli 1928 bei der Reichsregierung die letzten politischen Vorbehalte gegenüber einer Anerkennung der Kuomintang gefallen. Das neue Zolltarifabkommen sollte entsprechend chinesischen und deutschen Wünschen nicht wie das amerikanische zu einem Staatsvertrag ausgebaut werden. Vielmehr wollten die deutschen und chinesischen Diplomaten — auch mit einer politischen Spitze gegen die Westmächte — an den Vertrag von 1921 anknüpfen, der die völlige Gleichberechtigung Chinas beinhaltete 111 . 109

Die Deutsche Revisions und Treuhand AG, deren Hauptanteile sich im Besitz der staatseigenen Holdinggesellschaft „Vereinigte Industrie-Unternehmungen" befand, trat als Vermittler des Kreditgebers — zumeist des Reiches — bei Kreditgeschäften aller Art auf. Sie überprüfte das Geschäftsrisiko sowie die Kreditwürdigkeit des Antragstellers und des Geschäftspartners.

1.0

Boyé an AA, 1 3 . 1 2 . 1926, AD AP, B III, Nr. 245. DIHT an Mitglieder, 1 1 . 1 . 1927, W W A , Kl / C X X I I I / 3 7 ;

Metallwarenfabrik

Hohenwickede

an

Handelskammer

Dortmund,

21. 2. 1927, und Antwort, 3. 3. 1927, ebd.; Erklärung des RWiM, 3. 3. 1927, ebd. 1.1

Das Deutsche Reich wartete bis zur Anerkennung der KMT-Regierung durch die anderen Großmächte, ehe es selbst diesen Schritt vollzog. Borch an AA, 8. 6. und 26. 7. 1928, PA, Pol. Abt. IV/Po 2 C h i / 5 . Aufzeichnung Michelsen, 10. 7. 1928, AD AP, B IX, Nr. 128, und 12. 7. 1928, Nr. 138. Bürden, S. 90 ff.

350

Für eine erneute Anerkennung der chinesischen Zollautonomie, nun auch gegenüber der Nanking-Regierung, waren die Chinesen bereit, dem Deutschen Reich offiziell die Meistbegünstigung zu garantieren. Die Kuomintang konnte damit in eleganter Weise ihr Ziel einer Anerkennung in der Kontinuität der chinesischen Zentralregierung erreichen. Die Reichsregierung vermochte ihre Vorstellungen einer vertraglichen Absicherung der Meistbegünstigung durchzusetzen, die zwar auch nach der vollen handelspolitischen Souveränität des Reiches von beiden Staaten praktiziert worden war, deren Weiterführung nach der faktischen Anerkennung der Zollautonomie Chinas durch die USA dem Deutschen Reich aber ohne Vertrag ein zu großes Risiko zu sein schien. Daß es sich bei dem „Vertrag über Zoll- und verwandte Angelegenheiten" vom 17. August 1928 in der Tat mehr um einen Zusatzvertrag handelte, der in Artikel I die Gleichbehandlung in Zollfragen und in Artikel II lediglich den baldmöglichen Abschluß eines eigenständigen Handelsvertrages vorsah, entsprach den deutschen Interessen. Trotz großer Hoffnungen für die Zukunft blieb die Reichsregierung wie auch in den vorangegangenen Jahren angesichts der noch längst nicht vollständig gelösten inneren und äußeren Probleme im ehemaligen Reich der Mitte realistisch genug, das wirtschaftliche Vermögen Kuomintang-Chinas nicht zu überschätzen und das Reich nicht mit gewagten Modemisierungsprojekten finanziell zu überfordern 112 . Zwar war die Reichsregierung im finanziellen Bereich zu einem gewissen Engagement bereit, ohne aber Ende 1928 im geringsten an eine Verwirklichung der Pläne der interministeriellen Konferenz von 1927 zu denken. Neben der sporadischen Weitergewährung von „normalen" Exportkreditversicherungen durch die vom Reich geförderte Hermes Kreditversicherungsbank 1 1 3 unterstützte die Reichsregierung lediglich die Deutsch-Asiatische Bank mit der Zusage, die Hälfte der chinesischen Dotationsrückforderungen zu übernehmen. Eine neu belebte Verbindung deutscher Banken, das „Konsortium für asiatische Geschäfte", erklärte sich schließlich bereit, die andere Hälfte zu tragen 114 . Die Deutsch-Asiatische Bank konnte damit eine ordentliche Bilanz für die Jahre 1915 bis 1927 vorlegen und nun auch von finanzrechtlicher Seite nach dem Ersten Weltkrieg einen neuen Start im Chinageschäft versuchen. Infolge der Gründung der chinesischen „Central Bank of Nanking" und der allmählichen Stabilisierung des Silberkurses im Laufe des Jahres 1928 vermoch-

112

Borch an AA, 1 1 . 8 . und 1 7 . 8 . 1928, PA, Büro S t S / O A / 4 ; Aufzeichnung Michelsen, 3 . 1 0 . 1928, ebd. AA an Landesregierungen, 1 . 1 2 . 1928, HKHH, Akt. Chi/39.

113

Neben der „Frankfurter Allgemeinen Versicherungsgesellschaft AG" versicherte die „Hermes Versicherungsbank" Ausfuhrgeschäfte auf privater Basis. Der Versicherte mußte stets einen Teil des Ausfalls selbst tragen. Die Schadensfälle konnten Anfang der 1930er Jahre aus den Prämien gedeckt werden.

1,4

DAB an RFiM, 15. 7. 1932, Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und der DAB vom 3. 7. 1928, BA, R 2 / 1 4 937. Müller-Jabusch, S. 276 ff. 351

te das Bankhaus, wieder größer ins private Kreditgeschäft einzusteigen. Allerdings lehnte es eine umfangreichere Modernisierungsanleihe, wie sie das Generalkonsulat Shanghai Ende 1928 im Hinblick auf eine Verbesserung der deutschen Exporte nach China vorschlug, im Namen des Konsortiums ab, da die vorgesehenen Reichsausfallgarantien ein Drittel des Anleihewertes nicht überschritten. Angesichts dieser restriktiven Haltung von Banken und politischer Führung fühlte sich die Industrie bei der beginnenden Stagnation Ende der 20er Jahre auf dem zukunftsträchtigen chinesischen Markt weiterhin im Stich gelassen und war immer mehr bereit, sich nach anderen Partnern umzusehen, da das Auswärtige Amt trotz aller Erfolge der Kuomintang nicht willens zu sein schien, seine zurückhaltende Politik in China aufzugeben 115 . Mit dem Zurückdrängen des europäischen, vor allem des englischen Handels auf dem chinesischen Markt Anfang der 20er Jahre hatten die seit Beginn des Ersten Weltkrieges einsetzenden eigenständigen Modernisierungsbemühungen der chinesischen Wirtschaft ein schnelles Ende gefunden. Vorübergehende industrielle Eigeninitiativen wurden durch eine auf Absatz bedachte ausländische Konkurrenz rigoros unterdrückt. Die feste Wiederanbindung an den internationalen Markt brachte die alte Labilität in das chinesische Wirtschaftssystem zurück. Wie in anderen Bereichen schlugen auch auf dem militärischen Sektor die eigenen Bemühungen fehl. Fremde Ratgeber konnten die Militärmachthaber leicht von der Güte ausländischer Rüstungsfabrikate überzeugen. Die finanzielle und materielle Abhängigkeit von den Großmächten zwang die Chinesen wie vor dem Krieg generell zu einem stärkeren Eingehen auf ausländische Modernisierungsvorstellungen. Die wirtschaftliche Ausbeutung und nationale Unterdrückung Chinas setzte sich trotz der weltweit propagierten Völkerverständigung weiter fort. Infolge des Zerfalls der inneren Ordnung und des regionalen Militarismus, mit dem die permanente Destabilisierung des chinesischen Reiches seit einem dreiviertel Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichte, verlief die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes zunächst in den 20er Jahren noch schlechter als zur Zeit der Mandschu-Herrschaft. Mit Chinag Kai-sheks Abwendung von den Sowjets und seiner Annäherung an den Westen schienen sich allerdings doch noch eine neue Phase der Stabilität und eine durchgreifende Modernisierung Chinas nach westlichem Muster anzubahnen. Wie die „Selbststärkungsbewegung" und die chinesischen und mandschurischen Reformer es getan hatten, so gaben auch KuomintangKreise vor, durch eine Politik der Reformen von oben China wiedererstarken zu lassen. Gleichwohl deuteten erste Anzeichen wiederum lediglich auf eine stärkere Militarisierung des öffentlichen Lebens und auf ein neues Bündnis 115

Aufzeichnung Wallroth, 12. 12. 1926, PA, Handakten Direktoren/Wallroth/China, Japan, S i a m / 3 1 ; Generalkonsulat Shanghai an AA, 2 3 . 1 0 . 1928, ebd., HaPol. Abt./Handelspolitische Handakten/Gesandter Eisenlohr; Aufzeichnung AA, 2 . 1 1 . 1928, ebd., Büro R M / 3 7 / 2 . Generalkonsulat Shanghai an AA, 13. 7. 1928, BA, R 2 / 1 9 1 2 .

352

der alten und neuen Eliten zur Absicherung ihrer gesellschaftlichen und politischen Macht hin. Diese Koalition aus Militärelite und alter Gentry-Oberschicht war in Wirklichkeit Ende der 20er Jahre noch keinesfalls gefestigt. Im Innern schränkten regionale Militärführer und vor allem der Widerstand der Kommunistischen Partei Chinas die Befugnisse der neugeschaffenen zentralen Regierungsinstanzen ein; von außen bedrohten die alten annexionistisch gesinnten Nachbarn, Rußland und vor allem Japan, die territoriale Integrität des Landes. Nach Beendigung des Krieges in Europa, der die europäischen Mächte um einen Großteil ihres Einflusses in Fernost gebracht hatte, war es den Engländern nur durch enge Anlehnung an die USA geglückt, ihr Gewicht als Großmacht in China zurückzugewinnen, das nach wie vor Dreh- und Angelpunkt der Großen Politik in Ostasien blieb. Zwar konnten die Westmächte die Japaner relativ rasch durch Fortsetzung ihrer Vertragspolitik aus der Vorkriegszeit politisch und militärisch auf dem ostasiatischen Kontinent in die Schranken weisen; wirtschaftlich mußte aber insbesondere England bis Mitte der 20er Jahre starke Einbußen in Kauf nehmen. Für weitaus gefährlicher als die Japaner hielten die Angelsachsen dennoch die von Moskau gesteuerten kommunistischen Aktivitäten in China, von denen sie ihre wirtschaftlichen Hegemonialbestrebungen auf dem chinesischen Markt und ihre gesamte strategische Position in Fernost bedroht sahen. Ende der 20er Jahre hatte es dennoch den Anschein, als ob der Westen mit seinem pragmatischen Kurs zur inneren und äußeren Stabilisierung Chinas seine wirtschaftlichen und politischen Vorstellungen durchsetzen könne. Den Engländern und Amerikanern war es — wie in den 70er und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts in enger Anlehnung an die „Selbststärkungsbewegung" der chinesischen Führungsschicht — nochmals gelungen, in einem Ausgleich mit der Kuomintang ihren informellen Wirtschaftsimperialismus gegenüber territorialen Interessen und Einflußzonenplänen anderer Mächte durchzusetzen. Damals hatten sich Franzosen und Russen den englischen Konzeptionen eines allgemein zugänglichen Zentralreiches zu beugen. Nun schienen auch das ostasiatische Kaiserreich und die neue kommunistische Großmacht den dominierenden angelsächsischen Einfluß in Kuomintang-China hinnehmen zu müssen, ganz zu schweigen von Deutschland, dessen wirtschaftliche, politische und militärische Möglichkeiten den Vergleich mit anderen Großmächten nicht länger zuließen. Selbst die ungestüm auf den chinesischen Markt zurückdrängende deutsche Wirtschaft mußte bald erkennen, daß nur ein behutsames Eingehen auf die national erwachenden Chinesen weitere Geschäftsmöglichkeiten eröffnen konnte. Erst die politischen Verträge auf der Grundlage der Gleichberechtigung schufen dann die Voraussetzungen zur Wiederbelebung des Handels, dessen schnelle Erfolge jedoch fast ausschließlich auf Inflationsgeschäften basierten. Für die deutsche Chinawirtschaft ergab sich daher schon relativ früh wieder die Notwendigkeit, staatliche Unterstützung zu fordern, wenn sie auch in Erinnerung an die bürokratische Bevormundung während der 353

Kriegszeit zu Regierungsstellen lieber auf Distanz blieb. Die politische Führung war zwar bereit, auf eine sinnvolle Zusammenarbeit einzugehen, bis Mitte der 20er Jahre beschränkte sich das Entgegenkommen aber nur auf die Suche nach einem politischen Ausgleich mit den Chinesen als Voraussetzung deutscher Wirtschaftsaktivitäten. Ansonsten hielt die Berliner Regierung an einer „laissez-faire"-Haltung fest, um auf diese Weise den wirtschaftspolitischen Schwierigkeiten in Deutschland und der brisanten innenpolitischen Situation in China am besten zu entsprechen. Die erfolgreiche Vertragspolitik Stresemanns Mitte der 20er Jahre ergab allerdings neue Perspektiven. Die Meinungsverschiedenheiten der Großmächte in Ostasien und die Möglichkeit des Beitritts zum Neunmächte-Vertrag öffneten dem Deutschen Reich das Tor zu einer aktiven, wenn auch nicht offensiven Chinapolitik. Das Reich zeigte sich im Rahmen allgemein als unerläßlich erachteter Exportförderungsmaßnahmen durchaus zur Hilfe für die deutsche Chinawirtschaft, die sich in ihren Erwartungen enttäuscht sah, bereit und war wie in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts gewillt, Verkehrs- und Transportverbindungen sowie das Kapitalgeschäft zu stützen. Allerdings ergab sich nicht wie zur Zeit der Wirtschaftskrisen der 1870er und 1880er Jahre die Notwendigkeit, den schwerwiegenden Verlust des russischen Marktes mit einer Steigerung der Übersee-, namentlich der Chinageschäfte aufzufangen. Im Gegenteil: Die Wirtschaftsbeziehungen mit der Sowjetunion schienen gesichert zu sein, und die politische Führung in Berlin dachte bei der finanziell höchst prekären Situation Deutschlands kaum daran, den Forderungen der Industrie nachzugeben und der Chinawirtschaft ähnliche Kreditbedingungen wie den Russengeschäften einzuräumen. Neben fehlenden innenund außenpolitisch gewichtigen Anreizen und Voraussetzungen überwog dabei insbesondere die Skepsis gegenüber der wirtschaftlichen Leistungskraft und Modernisierungsfähigkeit der angeschlagenen chinesischen Republik. Potentiell größeren, möglicherweise auch illegalen Rüstungslieferungen, die der deutschen Industrie in China noch hätten weiterhelfen können, mangelte es an notwendiger staatlicher Unterstützung. Auch die Reichswehr zeigte sich nicht gewillt, auf diesem Gebiet Initiativen zu ergreifen. Im Gegensatz zum 19. Jahrhundert und vor allem zur Vorkriegszeit bestand bei den Militärs selbst am Handel mit alten deutschen W a f f e n kein unmittelbares wirtschaftliches Interesse. Die militärische Führung verfügte über keinerlei Rechte und Ansprüche mehr auf die im Transit verschobenen beschlagnahmten deutschen Kriegswaffen. Das unterkühlte Verhältnis zur Rüstungsindustrie konnte nicht wie im Falle der Sowjetunion durch militärpolitische und strategische Überlegungen überbrückt werden. Das militärisch zersplitterte und wirtschaftlich zerrüttete China blieb bis zum Ende der 20er Jahre in den Konzeptionen der Reichswehr unbeachtet. Eher waren vor allem Marinekreise überzeugt, daß die Verbindungen mit den Japanern in Ostasien nicht abreißen dürften. Damit lag die militärische Führung ganz auf der Linie des wie in den 1870er und 1880er Jahren in der Ostasienpolitik unangefochten tonangebenden Auswärtigen Amtes. W i e die Diplomaten 354

schon seit längerer Zeit, so verfolgten jedoch auch die Militärs die Stabilisierung der Herrschaft der Kuomintang mit wachsendem Interesse. Für die deutsche Industrie hatte sich Ende des Jahrzehnts die von der Nanking-Regierung angestrebte weitere Modernisierung Chinas als letzte Möglichkeit herauskristallisiert, die latente Krise im Überseehandel zu überwinden. Angesichts des akuten Kapitalmangels erschienen unmittelbare staatliche Hilfen unumgänglich, um gegen die angelsächsische Vorherrschaft auf dem chinesischen Markt bestehen zu können. Während das Auswärtige Amt in den folgenden Jahren immer mehr zu der Überzeugung kam, über eine vergrößerte personelle Repräsentanz des Deutschen Reiches in China und über private oder internationale Initiativen doch noch größeren Einfluß auf die chinesische Modernisierung ausüben zu können, sollte eine von der Reichswehr initiierte rein militärische Konzeption, die den auf Aufrüstung ausgerichteten wirtschaftlichen Modernisierungsplänen der Kuomintang-Führung weit eher entgegenkommen mußte, in industriellen Kreisen weit stärkere Aufmerksamkeit finden. Im Gegensatz zu den Diplomaten, die wie in der Übergangsphase der 20er in die 30er Jahre im Zuge der wieder aufgenommenen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Revisionsverhandlungen mit den Alliierten auch in China stärker auf internationale Lösungen drängten und auf ein gleichberechtigtes gemeinsames Vorgehen der Mächte setzten, wollte die neu gefestigte militärische Führung die Beschränkungen für Deutschland nicht länger hinnehmen und die volle Souveränität des Reiches, wenn nötig, einseitig durchsetzen.

355

7.

DEUTSCHE AUFRÜSTUNGSPOLITIK UND NATIONALER WIEDERAUFBAU CHINAS. DIE MILITÄRINDUSTRIELLE KOOPERATION MIT DER REGIERUNG CHIANG KAI-SHEK (1928-1938)

a) Äußere

und innere Bedrohung der chinesischen Modernisierung und die aktive Chinapolitik der Reichswehr

Die beiden Hauptanliegen der neuen chinesischen Regierung in Nanking, die Wiedererlangung der nationalen Souveränität und die Stabilisierung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse, scheiterten in den ersten Jahren ihres Bestehens sowohl an äußeren Einflüssen als auch an inneren Schwierigkeiten. Die Westmächte hatten sich trotz ihres Entgegenkommens in Zollfragen bei den 1928 aufgenommenen bilateralen Verhandlungen zu keinen entscheidenden Zugeständnissen bereit erklärt. Die Chinesen vermochten nur Teilerfolge zu erzielen, wie die Auflösung der „Mixed Courts" Ende der 1920er/Anfang der 1930er Jahre und die Rückgabe einiger territorialer Konzessionen (z. B. Weihaiwei 1930). In den grundsätzlichen Fragen der exterritorialen Gerichtsbarkeit zeigte sich der Westen wie die Japaner jedoch nach wie vor unnachgiebig 1 . Noch weit erfolgloser als der Verhandlungsweg erwies sich allerdings für die Chinesen der Versuch, durch eine Art revolutionärer nationaler Selbstbefreiung die Sonderrechte der Großmächte zu beseitigen. Die Besetzung des sowjetischen Generalkonsulats in Harbin und die Gefangennahme sowjetischer Bürger (27. Mai 1929), die Beschlagnahme des Telegraphensystems der Ostchinesischen Eisenbahn und die Absetzung des sowjetischen Personals durch Chang Hsüeh-liang (10. Juli 1929) sowie der Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Moskau (17. Juli 1929) provozierten lediglich die militärische Intervention einer russischen Sonderarmee in der Mandschurei. Nach heftigen Gefechten, bei denen die Chinesen den weit über 100 000 sowjetischen Soldaten unter dem ehemaligen Generalberater in chinesischen Diensten, Bluecher, nichts entgegenzusetzen hatten, mußte sich Nanking bereits im Dezember in einem Vertrag zur Anerkennung des status quo ante verpflichten. Die nationalen Bestrebungen der Chinesen erfuhren einen erneuten Rückschlag. Es hatte sich gezeigt, daß die Machthaber Chinas nicht

1

J . Chen, S. 316 ff.; Iriye, S. 253 ff. 357

in der Lage waren, einen bewaffneten Kampf um die Souveränität durchzustehen, zumal sich Chiang Kai-shek schon seit Anfang 1928 wieder gezwungen sah, militärisch gegen oppositionelle Militär- und Parteigruppierungen vorzugehen 2 . Der Bruch mit der Militärfraktion in der Nanking-Regierung — zunächst mit den Militärmachthabern in Kwangsi — hatte sich für Chiang als unvermeidbar herausgestellt. Die „warlords" zeigten sich nicht bereit, die geplanten Militärreformen mitzutragen und damit ihre militärische Eigenständigkeit aufzugeben. Die Demobilisierung der chinesischen Streitkräfte, von denen die Nationale Revolutionsarmee mit 230 000 Soldaten nur ca. 10 % ausmachte, wäre unweigerlich auf ihre Kosten gegangen. Als sich Mitte 1930 die aus der Regierung ausgeschiedenen mächtigen Militärmachthaber Nordchinas, Feng Yühsiang und Yen Hsi-shan, mit dem über Chiangs zunehmende Machtfülle 3 unzufriedenen linken Parteiflügel der Kuomintang unter Wang Ching-wei zu einer gemeinsamen Opposition verbanden, kam es zu einem größeren Bürgerkrieg 4 . Erst das Eingreifen Chang Hsüeh-liangs, der im September Kansu und Shansi besetzte, entschied den Konflikt zugunsten der Nationalen Revolutionsarmee. Die Situation im Innern erwies sich damit allerdings kaum als geklärt. Am l . J u n i 1931 schlössen sich linke wie rechte parteiinterne Gegner Chiangs in Kwangtung und Kwangsi zu einer Gegenregierung zusammen. Nur die Empörung über das Vorgehen der Japaner in der Mandschurei (ab September 1931) bewirkte schließlich die Beilegung der Auseinandersetzungen und die Gründung einer Canton-Nanking-Koalitionsregierung (28. Dezember 1931). Dennoch erstreckte sich die tatsächliche Macht der Zentrale in Nanking gut vier Jahre nach ihrer Gründung nur auf ca. 30 % des ehemaligen chinesischen Kaiserreiches. Der Norden stand unter dem politischen und militärischen Einfluß der Japaner; im Westen hatten sich neben der unabhängigen Äußeren Mongolei Satrapenstaaten gebildet, und selbst über die Südwestprovinzen bestand weiterhin nur eine fiktive Oberhoheit 5 . Aber nicht nur die nationale, sondern auch die gesellschaftliche Revolution hatte sich unter der Dominanz des Militärischen als undurchführbar erwiesen. Nur vordergründig war 1928 mit der Verwirklichung der zweiten Stufe in Sun Yat-sens Programm der Revolution von oben, der Phase der Erziehungsdiktatur, begonnen worden. Das Bündnis aus konservativer Land- und neuer städtischer Bourgeoisie konnte sich unter dem Schutz der Militärführer fest etablieren. Obwohl Chiang Kai-shek in der neuen Koalitionsregierung außer dem Amt des Vorsitzenden der Militärkommission und damit des

2

Zum chinesisch-sowjetischen Konflikt ausführlich Beioff, Bd 1, S. 375 ff.; Clubb, Conflict, S. 21 ff.; Lensen, Inheritance, S. 31 ff.

3

Neben dem Amt des Vorsitzenden der Nationalregierung hatte Chiang Kai-shek auch noch das Amt des Präsidenten des Exekutiv-Yüans ( = Premierminister) inne. Domes, Vertagte Revolution, S. 748.

4

Amann, S. 92 ff.; Clubb, Century, S. 153 ff.; Pause, S. 30 ff.

5

Beckmann, S. 4 2 9 ff.; Chesneaux, Bd 2, S. 202 ff.

358

Oberbefehlshabers der Streitkräfte (ab 6. März 1932) keine weitere Funktion ausübte 6 , gelang es gerade ihm, seine Position zusehends zu festigen und in Ansätzen eine faktische Militärherrschaft zu errichten. Nicht die gesellschaftliche, sondern die militärische Modernisierung trat dabei immer stärker in den Vordergrund der Reformbemühungen der Nanking-Regierung, um innere wie äußere Bedrohungen des autoritären Regimes abzuwehren 7 . Anfang der 30er Jahre lagen die Militärausgaben Chinas zwar um 300 % höher als noch Mitte der 20er Jahre, eine tiefgreifende personelle, materielle und organisatorische Erneuerung im militärischen Bereich war aber bislang trotz vielfältiger Ansätze ohne Erfolg geblieben. Von den ca. 2,2 Millionen Soldaten unterstanden bestenfalls 40 % der direkten Kommandogewalt Nankings. Die Ausrüstung der Truppen ließ mehr als zu wünschen übrig. 1,5 Millionen Gewehre, 200 veraltete Flugzeuge und Schiffe z.T. aus dem 19. Jahrhundert bildeten den materiellen Grundstock der chinesischen Streitkräfte. Die Produktion der Arsenale war weiterhin qualitativ und quantitativ völlig unzureichend 8 , so daß die Verbände ohne die Waffenimporte aus dem Ausland kaum zu militärischen Aktionen fähig gewesen wären. Ein umfassendes Modernisierungsprogramm, bei dem sich der Oberbefehlshaber der Nationalen Revolutionsarmee auf das preußisch-deutsche Vorkriegsvorbild konzentrierte und dabei von der Überlegung ausging, in dem wie China militärisch entwaffneten Deutschen Reich einen adäquaten Partner gefunden zu haben, wurde daher nach Beendigung des Bürgerkrieges verstärkt in Angriff genommen. Neben der Demobilisierung und Reorganisation der Truppen traten auf Anraten deutscher Berater eine Zentralisierung und Vereinheitlichung der Kommandogewalt sowie die Standardisierung der Waffen, der Aufbau einer leistungsfähigen Kriegsgeräteindustrie und die Verbesserung der Ausbildung in den Mittelpunkt der umfangreichen Reformbemühungen 9 . Dagegen blieben die Anstrengungen beim Aufbau einer produktiven nationalen Wirtschaft von Anfang an unzureichend und kamen über Anfangs- und Teilerfolge nicht hinaus. Insbesondere im landwirtschaftlichen Bereich versagten die völlig ungenügenden Reformansätze der Kuomintang-Regierung 10 . Auf dem Industrie- und Verkehrssektor ließen sich zwar gewisse positive Tendenzen erkennen, aber die Modernisierungs- und Nationalisierungserfolge blieben weit geringer, als vom Ausland erwartet bzw. befürchtet worden

6 7 8

9

10

Domes, Vertagte Revolution, S. 750 f. Eastman, S. 1 ff.; Oehlmann, S. 78 ff.; Tien, S. 7 ff. Beispielsweise produzierte das Hanyang-Arsenal im Nachbau pro Tag 100 Mauser Gewehre, 10 Maschinengewehre und 2 Krupp-Geschütze. Zentralstelle für den Außenhandel, 16. 3. 1920, StAHB, 4 , 4 9 - I A 4b 10/2. Domes, Vertagte Revolution, S. 576 ff.; Liu, S. 63 ff.; zum deutschen Vorbild Augustin, S. 273 ff. Chesneaux, Bd 2, S. 197 ff.; Osterhammel, Weltmarktabhängigkeit, S. 229 ff. Zum Versuch einer staatlichen Regelung auch Bericht der Chinastudienkommission des RDI, November 1930, BA, R 2 / 9 9 7 1 .

359

war. Die verordneten Programme der Nanking-Regierung bewirkten eher Unruhe bei den Mächten, als daß sie die Effektivität der Produktion spürbar erhöhten 1 1 . Die Verstaatlichungsvorhaben bei Schlüsselindustrien und im Rohstoff* und Transportbereich kamen nur langsam voran 12 . Lediglich auf dem finanziellen Sektor konnten günstige Ergebnisse erzielt werden. Finanzminister Soong vermochte die Kreditaufnahme im Ausland in den Jahren 1929 bis 1932 mit 700 000 Pfund so gering wie niemals zuvor in einem vergleichbaren Zeitraum seit dem Eindringen der Großmächte in China zu halten 13 . Mit der Gründung einer zentralen halbstaatlichen Bankengruppe 14 gelang es außerdem, ein den westlichen vergleichbares, nationales finanzwirtschaftliches Instrumentarium zu schaffen. Trotz der Weltwirtschaftskrise konnten die Exporte bis 1931 angesichts der einigermaßen günstigen Wechselkurse stabil gehalten werden 15 . Der Import- und der Gesamtaußenhandel erzielten sogar 1931 mit einem Wert von ca. 1,4 bzw. 2,35 Millionen HKT — allerdings stark relativiert durch eine Inflationsrate von annähernd 50 % seit dem Vorjahr — ein Rekordergebnis, obwohl der Seezoll aufgrund der autonomen Zolltarife seit dem 1. Januar 1931 auf bis zu 5 0 % des Warenwertes anstieg. Erst der Verlust der Mandschurei durch die militärische Aggression der Japaner verringerte 1932 gemäß dem Anteil der drei östlichen Provinzen am chinesischen Außenhandel die chinesischen Exporte um über 50 % und die Importe um ca. 12 % 1 6 . Nicht nur wirtschaftlich war damit das Überleben der Nanking-Regierung in Frage gestellt, sondern die Gründung einer von Japan abhängigen Republik Mandschukuo (1. März 1932) unter dem Regenten P'u-i, als Hsün-t'ung letzter Kaiser der 1912 abgedankten Ch'ing-Dynastie, und die Ausdehnung ihres Machtgebietes mit Hilfe japanischer Truppen nach Jehol (ab Januar 1933) bedrohte auch unmittelbar den Herrschaftsanspruch des Regimes. Schon der unerwartet erbitterte Widerstand der noch nicht zur Nationalen Revolutionsarmee gehörenden „19th Route Army" aus Südwestchina gegen die Japaner 11

Zum Mißtrauen des Auslandes gegenüber einer „Sozialisierungsgefahr": Bericht über die Sitzung des Chinaausschusses des RDI, 2 0 . 1 . 1930, HA Krupp, FAH, IV E 94. Die Großmächte hielten ihre Kredite wegen mangelnder (politischer) Sicherheiten oftmals zurück. Domes, Vertagte Revolution, S. 424 ff.; Fairbank, United States, S. 2 1 8 ff.

12

Zur Stagnation des industriellen Wachstums vgl. die Tabelle bei J. Chang, S. 6 0 ; Chesneaux, Bd 2, S. 1 9 0 ff. Zu Verstaatlichungsvorhaben vgl. auch Bericht der Chinastudienkommission des RDI, November 1930, BA, R 2 / 9 9 7 1 .

" Vgl. die Tabelle bei Hou, S. 228. Zur Finanzpolitik Soongs Reichsbankdirektor Schippel an RFiM, November 1930, BA, R 2 / 1 6 441. 14

Dieser Gruppe gehörten an: die Central Bank of China, die Bank of China, die Farmers' Bank

und

die

Bank

of

Communications.

Osterhammel,

Weltmarktabhängigkeit,

S. 233 ff. 15

Zu den Wechselkursen Pang, S. 13.

16

Zu den statistischen Angaben Cheng, S. 285 f.; vgl. auch Pang, S. 84 ff., und Geschäftsberichte 1931 und 1932 der DAB, ADB. Zu den Anteilen der Mandschurei a m chinesischen Außenhandel A. Young, Effort, Anhang 20 und 21.

360

in Shanghai hatte gezeigt, wie sehr sich gerade das Militär von den japanischen Übergriffen gedemütigt fühlte. Trotz der mit Japan in der Tangku-Vereinbarung (31. Mai 1933) beschlossenen Abtretung Jehols an Mandschukuo und der Entmilitarisierung von größeren Zonen um Peking und Tientsin sowie der Unterdrückung der antijapanischen Stimmung und der Konzentration der militärischen Kräfte gegen den erneut anwachsenden kommunistischen Widerstand im Innern konnte daher von einer generellen Fügung unter das Diktat der ausländischen Aggressoren wie zur Zeit der Mandschu-Herrschaft keine Rede mehr sein. Nanking dachte eher daran, möglichst viel Zeit und Kraft zu gewinnen und die innere Situation des Landes zu festigen, um dann zu gegebener Zeit die alten Grenzen Chinas wieder zu stabilisieren und die nationale Souveränität endlich durchzusetzen 17 . Diese eindeutige Verschiebung der Prioritäten von den außenpolitischen Zielsetzungen zugunsten der Innen- und Wirtschaftspolitik kam allen Großmächten in Ostasien sehr gelegen, die den nationalistischen Aktivitäten der Nanking-Regierung Ende der 20er/Anfang der 30er Jahre zumindest mit Befremden gegenübergestanden hatten. Vor allem Japan befürchtete, durch den chinesischen Nationalismus aus China hinausgedrängt zu werden. Tokyo hatte die Übergriffe gegen die Russen 1929 aufmerksam registriert und betrachtete auch sorgenvoll die verstärkt wieder aufgenommene Ansiedlung von Chinesen in der Mandschurei. In dem seit 1928 von den Machthabern der Kuomintang vermeintlich praktizierten „Staatssozialismus" meinten die Japaner zudem immer noch den Einfluß extrem antijapanischer kommunistischer Gruppierungen zu erkennen. Die Streitigkeiten zwischen chinesischen und japanischen Truppen in der Mandschurei Mitte 1931, die provokative einseitige Aufkündigung der Exterritorialität von Seiten Chinas nach dem Scheitern der Verhandlungen mit den Mächten und die Drohung Chang Hsüeh-liangs, gegen die Südmandschurische Eisenbahn (SMR) vorzugehen, nährten in Japan das Gefühl, von den Chinesen direkt bedroht zu werden. Der „MukdenZwischenfall" vom 18. September 1931, Auftakt der chinesisch-japanischen Auseinandersetzungen bis 1933, war jedoch keineswegs von China provoziert oder initiiert, vielmehr hatten japanische Offiziere der Kwantung-Armee selbst den Anschlag auf die Südmandschurische Eisenbahn ausgeführt 18 . Die Antwort der japanischen Militärs auf die eigenständig, und nicht wie gewünscht mit japanischer Hilfe, von den Chinesen in Angriff genommene „neue Ordnung" entwickelte sich schließlich zu einem regelrechten, wenn auch unerklärten Krieg zwischen China und Japan, der die Spannungen Tokyos zu den Westmächten weiter verschärfte 19 .

17

Domes, Vertagte Revolution, S. 262 f.

18

Zu dem aggressiven Expansionismus ultranationalistischer japanischer Militärs, ihren Vorstellungen von der Wiedergeburt eines moralisch erneuerten, militärisch starken Japan sowie den innenpolitischen und sozialen Bedingungen als Nährboden dieser Entwicklung grundlegend Ogata, passim; Beckmann, S. 429 ff.; Smethurst, passim.

19

Iriye, S. 285 ff., 300; Ratenhof, S. 20 f.

361

Obwohl sich seit den Washingtoner Verträgen eine engere wirtschaftliche Kooperation zwischen Japan und den Westmächten entwickelt hatte, waren die latenten Spannungen in den 20er Jahren nicht ausgeräumt worden. Die Japaner wurden zwar als ständiges Mitglied des Völkerbundrates anerkannt, die Verweigerung, die Gleichberechtigung der Rassen als Prinzip in die Satzung der internationalen Organisation aufzunehmen, betrachtete das ostasiatische Kaiserreich aber eindeutig als Diskriminierung. Die Beschränkung der Einwanderung von Japanern in die USA und in Commonwealthstaaten bestätigte nur diese Ansicht. Die Befürchtung, vom Westen mit Hilfe von Verträgen in ein starres Mächtesystem anglo-amerikanischer Prägung hineingezogen zu werden, wuchs nach dem Kellogg-Briand-Pakt 20 noch weiter und weckte in Japan das Gefühl einer außenpolitischen Isolation, das sich nach dem „Londoner Flottendiktat" 21 schnell zu der Empfindung nationaler Ohnmacht ausweitete. In Militärkreisen wurden Staatsstreichpläne geschmiedet; bei Attentaten auf Politiker agierten Militärs als Anstifter oder Täter. Wenn auch im Februar 1932 ein Militärputsch fanatischer Truppenteile gegen die gewählte Regierung in Tokyo scheiterte, so weitete die Militärführung in den nachfolgenden „Kabinetten der Experten" ihr verfassungsmäßiges Recht einer politischen Mitsprache immer stärker zu einer faktischen Militärherrschaft aus. Eine weitaus kompromißlosere Haltung in der Außenpolitik war die unausbleibliche Folge 22 . Bis dahin hatte die japanische Diplomatie versucht, den Mandschureikonflikt gegenüber den anderen Großmächten und auf internationaler Ebene herunterzuspielen. Kommunistische Provokationen in China, sowjetische antijapanische Aktivitäten und der Schutz der japanischen Eisenbahnen wurden als Vorwand für die Besetzung der gesamten Mandschurei Anfang 1932 genannt. Der zeitlich parallel verlaufende Angriff der kaiserlichen Marine auf Shanghai — sie wollte den Erfolgen des Heeres in China nicht nachstehen — wurde als Strafaktion gegen chinesische Angriffe auf japanische Mönche und als Reaktion auf chinesische Boykotte hingestellt. Bemühungen der Diplomaten, das Vorgehen der Militärs einzudämmen und mäßigend auf sie einzuwirken, mußten dagegen bei der vermeintlich rechtmäßigen Durchsetzung der Lebensinteressen der japanischen Nation auf dem ostasiatischen Kontinent ohne Erfolg bleiben 2 3 . Der Diplomatie blieb angesichts der nationalen Begeisterung von Anfang an nur die Möglichkeit, die militärische Ag-

20

Am 24. 8. 1928 auf Initiative der USA geschlossener Vertrag zur internationalen Ächtung des (Angriffs-)Krieges. Dieser Vertrag, dem sich mehr Signatare anschlössen als der Völkerbundssatzung, besaß allerdings keine Sanktionsmechanismen für Vertragsverletzungen. Vertragstext abgedruckt in Willoughby, Controversy, S. 688.

21

Auf der Londoner Flottenkonferenz von 1930 vermochten die Japaner ihre Vorstellungen über Bauquoten von Kriegsschiffen nicht durchzusetzen.

22

Crowley, S. 91 ff.; Krebs, S. 18 ff.

23

Zu den Motiven der japanischen Marine Ratenhof, S. 355, Anm. 13; vgl. außerdem besonders Ogata, passim; Crowley, S. 124 ff.

362

gression zu decken. Ohne Rücksprache mit den politischen Instanzen bereitete schließlich die Militärführung auch die Gründung einer eigenständigen zivilen Administration für die Mandschurei vor. Die von den Militärs zunehmend beherrschte und kontrollierte Regierung in Tokyo erkannte nicht nur am 15. September 1932 die Marionettenregierung in Changchun an, sondern Japan trat auch am 27. März 1933 aus dem Völkerbund aus, obwohl die Völkerbundsresolution vom 24. Februar 1933 lediglich die Empfehlung enthielt, zu Mandschukuo keine diplomatischen Beziehungen aufzunehmen, ansonsten aber eine direkte Verurteilung der Japaner vermied 2 4 . Der Völkerbund hatte sich bereits unmittelbar nach Ausbruch des Konfliktes auf Anrufung der Chinesen mit der Situation in der Mandschurei befaßt. Das Interesse der Genfer Institution an China mußte jedoch nicht erst geweckt werden. Schon bei der Eröffnung des ersten größeren Entwicklungsprogramms in der Geschichte des Völkerbundes (1929) war China eine Priorität unter den Empfängerländern eingeräumt worden. Anfang der 1930er Jahre wurde die Modernisierungshilfe auf Wunsch der Nanking-Regierung ausgedehnt. Ca. 2000 internationale Experten unterstützten die Chinesen auf pädagogischem und technischem Gebiet, in der Landwirtschaft, der Verwaltung und im Finanzbereich. Bis 1939 half die Genfer Organisation China wie keinem anderen Land. Allerdings wurde die Unterstützung immer geringer und kam ab Mitte der 30er Jahre fast ganz zum Erliegen. Die Rücksichtnahme auf Großmachtinteressen Japans und auf dessen Ansprüche auf dem ostasiatischen Kontinent ließen eine Fortführung der Stützungsmaßnahmen unzweckmäßig erscheinen. Japan hatte von Anfang an die Hilfeleistungen an China nur als politische Rückendeckung für die Kuomintang gesehen. Das Zurückweichen und Nachgeben der Westmächte, die den Völkerbund politisch prägten, vor der gewaltsamen Machtausdehnung der Japaner führten zu einem irreparablen Versagen und Prestigeverlust der Genfer Organisation 2 5 . Großbritannien, das von der Weltwirtschaftskrise besonders hart getroffen wurde, war von Anfang an bestrebt gewesen, zusammen mit den USA den Mandschureikonflikt zu lokalisieren, politische Aktivitäten auf den Völkerbund zu reduzieren und eher eine Vermittlerrolle zwischen China und Japan, ähnlich wie im russisch-chinesischen Konflikt, einzunehmen. Zu größerem politischen oder gar militärischen Druck zugunsten der Nanking-Regierung in Tokyo sah London keine Veranlassung, zumal sich die wirtschaftlichen Hoffnungen Englands in China nach den ersten Anzeichen einer Normalisierung Ende der 1920er Jahre bis 1931 nicht erfüllt hatten. Vielmehr meinten Londoner Regierungskreise bereits nach dem Grenzkonflikt Chinas mit Rußland, die Gefahr eines Abdriftens der eben erst gefestigten chinesischen Republik

24

Ienaga, S. 57 ff.; Ratenhof, S. 218 f., 255 ff.

25

Meienberger, passim; Neugebauer, S. 9 ff. Zum Völkerbund und zur Mandschureikrise ausführlich Ratenhof, S. 218 ff.; Thorne, S. 131 ff.

363

in ein erneutes Chaos zu erkennen. Mißtrauisch beobachtete das Foreign Office den militanten Nationalismus und den Verstaatlichungskurs im Wirtschaftsbereich. Trotz der restriktiven chinesischen Anleihepolitik vermochte London zunächst noch mit Hilfe des Boxerentschädigungsfonds bei der Hongkong and Shanghai Bank, an den die Chinesen nach dem Auslaufen des Moratoriums (1922) ihre Zahlungen zu leisten hatten und aus dem ihnen im Gegenzug nunmehr für ca. 4 Millionen Pfund Einkaufskredite zur Verfügung gestellt wurden, ziemlich gute Geschäfte zu tätigen. Erst die einschneidende Abwertung des Pfundes und der Verlust seiner Funktion als Leitwährung an den amerikanischen Dollar verdrängte Großbritannien 1931 auf dem chinesischen Markt vom zweiten auf den dritten Platz, hinter die führenden Japaner und die USA 2 6 . Weitaus empfindlicher als die bis dahin von den Japanern in der Mandschurei durchgeführten Militäraktionen mußte daher die Engländer der japanische Angriff auf Shanghai treffen, dem neben Hongkong wirtschaftsstrategisch wichtigsten Stützpunkt Großbritanniens in Ostasien. Das verstärkte politische Einwirken der englischen Regierung auf Japan fand jedoch nach dem Abschluß eines lokalen Waffenstillstandes für die Wirtschaftsmetropole Chinas (5. Mai 1932) und dem Rückzug der japanischen Truppen auf ihre Konzession schon wieder ein Ende. Obwohl die britische Außen- und Militärpolitik das ostasiatische Kaiserreich als einen zukünftigen potentiellen Kriegsgegner in Fernost einschätzte, sah sich London aus eigener militärischer Schwäche genötigt, selbst nach dem Austritt der Japaner aus dem Völkerbund an seiner Appeasementpolitik und an einem projapanischen Kurs in Ostasien festzuhalten. Erst nach langen Vorbehalten war die britische Regierung wie die französische überhaupt bereit gewesen, auf die Linie der amerikanischen Mandschureipolitik einzuschwenken, die auf der „Stimson-Doktrin" vom 7. Januar 1932 basierte und die Nichtanerkennung gewaltsam geschaffener Zustände proklamierte 2 7 . Trotz aller Erklärungen und Verlautbarungen war aber auch die Politik der Vereinigten Staaten gegenüber dem japanischen Vorgehen auf dem ostasiatischen Kontinent e h e r zurückhaltend als offensiv. Die Doktrin des amerikanischen Außenministers zielte in der Tradition der „Open-Door-Policy" vor allem auf die Bewahrung der Rechte der Amerikaner und die Absicherung der wirtschaftlichen Position der USA 2 8 . Washington zeigte sich unter dem Eindruck des weltwirtschaftlichen Einbruchs aber nicht bereit, die Führung in einer antijapanischen Allianz zu übernehmen. O f f e n e politische und wirtschaftliche Restriktionen gegen Japan bargen ein viel zu großes militärisches Risiko in sich und schienen auch gar nicht angebracht zu sein, zumal die

26

Notenwechsel zwischen China und Großbritannien, 2 2 . 9 . 1930, BA, R 2 / 1 6 441. Beutler, S. 83; Lensen, Inheritance, S. 170 f.; Louis, S. 1 4 0 ff.

" T e x t der „Stimson-Doktrin" in: Stimson an Peck, Nanking, 7. 1. 1932, FRUS 1932, III, S. 7 f. Blickenstorfer, S. 97 ff.; Ratenhof, S. 122 ff. 28

A. Young, Effort, Anhang 2 3 ; W u , S. 95.

364

Vereinigten Staaten durchaus für die vorgeblich antibolschewistische Militanz der Japaner Verständnis aufbrachten 29 . Wie Großbritannien setzte auch die Hoover-Administration daher auf die moralische Wirkung von Völkerbundsverhandlungen und konzentrierte sich auf ihre Mitarbeit in der LyttonKommission, die von der Genfer Institution zur Aufklärung der Vorfälle in der Mandschurei nach Ostasien entsandt wurde 30 . Selbst der erklärteste Gegner der japanischen militärischen Expansionspolitik auf dem ostasiatischen Kontinent, die Sowjetunion, betrieb eine Politik der Koexistenz mit Japan. Bei dem chinesisch-russischen Eisenbahnkonflikt war sogar eine gewisse japanisch-russische Interessenkongruenz zustandegekommen. Während die Sowjetunion jedoch gezögert hatte, angesichts der japanischen Präsenz ihre Truppen in der Mandschurei weiter vorrücken zu lassen, nahmen die Japaner auf russische Ansprüche, Privilegien und Besitzungen in den drei östlichen Provinzen Chinas kaum Rücksicht. Dennoch ließ sich Moskau wie die anderen Großmächte nicht zu Gegenmaßnahmen verleiten und legte weiterhin Wert auf politische Kontakte zu Tokyo. Obwohl die Japaner den russischen Vorschlag eines Nichtangriffsvertrages ausschlugen, dachte Moskau keinesfalls daran, die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen mit China (12. Dezember 1932) zu einer zweiten Front gegen Japan auszuweiten 31 . Die Gefahr einer weltpolitischen Isolation und insbesondere die antikommunistische Stimmung in Deutschland, die mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in politische Aktionen umgesetzt zu werden drohte, zwangen die Sowjets weiterhin zu einer wohlwollenden Haltung gegenüber dem militanten Aggressionskurs der Japaner 32 . Dagegen tat sich das Deutsche Reich schwer, unter der von Hitler geforderten außenpolitischen Zurückhaltung als Voraussetzung einer inneren Stabilisierung des nationalsozialistischen Regimes seine seit Mitte 1932 zunehmend antijapanische Haltung zu korrigieren. Wie schon in den 20er Jahren hatte die Reichsregierung zunächst noch auf eine Unterstützung der Japaner in internationalen Gremien, insbesondere in der Abrüstungsfrage gehofft. Unter den Kabinetten Papen und Schleicher mit ihrer gegen ein kollektives Sicherheitssystem ausgerichteten Politik vollzog sich jedoch ein Wandel zu einer härteren Haltung gegenüber Japan, das keine Anstalten machte, Deutschland in militärpolitischen Fragen gegen den Westen zur Seite zu stehen. Dafür gewann China in der von kontinentalen Grandvorstellungen geprägten Politik des neuen Reichsaußenministers Freiherr v. Neurath in Fernost wieder größere Bedeutung. Bislang war es vor allem die Reichswehr gewesen, die sich im ehemaligen Reich der Mitte zu Beginn der 30er Jahre stärker engagiert hatte. Brünings Außenpolitik, die auf Europa und die Reparations- und Abrüstungsproblematik zentriert war, zeigte demgegenüber kaum größeres In-

29

Borg, S. 518 ff.

30

Ebd.; Ratenhof, S. 87 ff., 263 f.; T h o m e , S. 2 8 8 ff.

31

Lensen, Inheritance, S. 185 ff.; Thach, Nationalist China, S. 51 ff.

32

A. Fischer, S. 67 ff.

365

teresse für die von nationalistischen Ambitionen und äußeren Interventionen geprägte Entwicklung innerhalb Chinas. Obwohl das Auswärtige Amt auf den Ausbau der deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen nach wie vor Wert legte, stand es China selbst angesichts der Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise eher reserviert gegenüber. Eine Gesundung der deutschen Wirtschaft versprach sich die Regierung Brüning weniger durch überseeische als durch binnenwirtschaftliche Aktivitäten und die Errichtung einer (mittel-) europäischen Großraumwirtschaft. Die Weltwirtschaftskrise hatte Anfang der 30er Jahre in allen Staaten einen neuen ökonomischen Nationalismus geweckt, in Deutschland jedoch darüber hinaus dem national-revisionistischen Aufbegehren gegen den Versailler Vertrag neue Nahrung verschafft. Die Reichsregierung zögerte nicht — auch angesichts des sich verschärfenden Drucks von innen —, die Außenwirtschaftspolitik als Mittel zur Wiedererlangung außenpolitischer Handlungsfreiheit einzusetzen. Die politische Führung wandte sich entschieden gegen Frankreichs Pan-Europa-Vorstellungen und den Plan einer europäischen Union, hinter dem sie ausschließlich französische Hegemonialbestrebungen vermutete und durch den eine Grenzrevision im Osten ein für alle Mal unterbunden worden wäre. Statt dessen plante die Regierung Brüning neben einer Einschränkung der Reparationszahlungen einen engeren Zusammenschluß der mitteleuropäischen Staaten unter deutscher Führung. Nicht nur das überaus (sicherheits-)empfindliche Frankreich, dessen Beziehungen zum Deutschen Reich 1931/32 auf einen Tiefpunkt angelangt waren, sondern auch Großbritannien und die USA sprachen sich jedoch entschieden gegen das deutschösterreichische Zollunionsprojekt vom 23. März 1931 aus, in dem sie einen ersten verdeckten Schritt zur wirtschaftlichen Großmachtstellung Deutschlands in Europa sahen. Die Ablehnung des Präferenzsystems durch den Haager Gerichtshof (5. September 1931) mit der Begründung, es verstoße gegen bestehende Verträge, ließ die Mitteleuropakonzeptionen der Reichsregierung bereits im Anfangsstadium scheitern. Die radikale Opposition von rechts fand dadurch neuen Zulauf, zumal die „Rechte" das weitere Festhalten der Reichsregierung an einer Reparationskonferenz mit dem Westen als offenen Verrat wertete. Dennoch verfolgte Brüning, der nach dem Rücktritt von Curtius im Oktober auch das Außenministerium übernommen hatte, seine Vorstellungen weiter, durch außenpolitische Erfolge in Europa und auf internationaler Ebene die innen- und wirtschaftspolitischen Krisenherde einzudämmen, ein Wunschdenken, das sich schon nach dem einjährigen Moratorium für die Reparationszahlungen (Hoover-Moratorium vom 6. Juli 1931) als irreal herausgestellt hatte. Der terroristische Widerstand im Innern nahm noch weiter zu 33 . Bereits die Anerkennung und spätere Ratifizierung des Young-Planes (12. März 1930), der die Höhe der Reparationsleistungen für die Dauer von 59 Jahren auf 500 Millionen Mark jährlich endgültig festlegte, war zu einem Katalysator rechter Sammlungserfolge gegen die „Weimarer Erfüllungspoliti-

33

Bracher, Anfangsstadium, S. 204 ff.; Schröder, S. 350 ff.

366

ker" geworden. Erstmals vermochten es die Nationalsozialisten, unter dem Eindruck steigender Arbeitslosenzahlen bei den Wahlen Ende 1930 größere Gewinne zu erzielen. Die Regierung Brüning, die einen monarchischen Konstitutionalismus favorisierte, sah sich immer stärker durch die nationalsozialistische Radikalisierung und Militarisierung der inneren Auseinandersetzungen herausgefordert, ohne allerdings geeignete Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Längst hatte sich nach dem Tod des Reichsaußenministers Stresemann (3. Oktober 1929), dem Rücktritt des Kabinetts Müller (Ende März 1930) und der Selbstaufgabe des Parlaments sowie dem allmählichen ideologischen Schulterschluß der Rechtsparteien mit der NSDAP die Wirtschaftskrise zu einer Krise des demokratischen Staates ausgeweitet, den zu stabilisieren der größte Teil der politischen Führung des Reiches nicht länger bereit war. Antidemokratisches, nationalistisches und imperialistisches Gedankengut fand schon seit Ende der 20er Jahre wieder stärker Resonanz in breiten Teilen der gesellschaftlichen Führungseliten. Insbesondere die wilhelminisch geprägten Militärs, die weiterhin ihre gemeinsamen Fronterlebnisse pflegten und ihren militärischen Zukunftsplänen nachhingen, wurden dabei zu einem der wichtigsten Wegbereiter der nationalsozialistischen Herrschaft 34 . Mit ihrem totalitären Staatsideal, ihrem Festhalten an weitgreifenden euroasiatischen Plänen und der vormals von den „liberalen Imperialisten" als Alternative zu England und Rußland vertretenen Konzeption des „Dritten Weges" trugen gerade die 1919 zwangspensionierten Offiziere und Soldaten sowie ihre reaktionären Anhänger in Wirtschafts- und Parteikreisen dazu bei, das spätwilhelminische Erbe zu bewahren. Vor allem der „harte Kern" der „Berliner Gruppe" um Ludendorff und dessen ehemalige „rechte Hand", Oberst a. D. Bauer, der sogenannte „Ludendorff-Kreis", hatte trotz personeller und ideologischer Aufweichungserscheinungen der ultranationalistischen Kreise bis Mitte der 20er Jahre seine revanchistischen Vorstellungen nicht etwa aufgegeben, sondern suchte vielmehr nach konkreten Möglichkeiten, in der Außen- und Innenpolitik aktiv zu werden. Im Gegensatz zu Bauer, der durch Aktivitäten im Ausland Veränderungen des internationalen Systems bewirken wollte, um Deutschland wiedererstarken zu lassen 35 , blieben für

34 35

Craig, S. 4 6 8 ff. Dahinter stand weit mehr — so utopisch und wirklichkeitsfremd dies auch klang —, als nur finanziellen oder persönlichen W ü n s c h e n einen politischen Sinn zu geben, wie Geyer (Motive, S. 56 f.) meint. Durch die Unterstützung einer nationalrevolutionären Front der ausgebeuteten Länder, wie der Türkei, Persiens, Indiens und Chinas, gegen die Sowjetunion und den W e s t e n sollte nach den Vorstellungen der rechten Ideologen von Nordafrika bis Ostasien ein Gegengewicht zu der Herrschaft der Großmächte aufgebaut werden, das Deutschland den Schritt zu einer Weltmacht wieder ermöglichen mußte. Einem im Innern autoritär gefestigten Deutschen Reich sollte dabei als wirtschaftlichem, politischem und militärischem Modernisierungsvorbild quasi die Rolle eines „großen Bruders" der jeweiligen Befreiungsbewegung zukommen. Denkschrift 1 von Oberst a. D. Max Bauer, abgedruckt in: Martin (Hrsg.), Deutsche Beraterschaft, S. 356 ff.; Kitchen, S. 199 ff.; Thoß, S. 47 ff.

367

Ludendorff auch nach dem gescheiterten Putsch von 1923 ein Zusammengehen mit Hitler und eine Umwälzung der Republik von innen im Vordergrund. Seine „Nationalsoziale Freiheitsbewegung" wurde wie Rosenbergs „Großdeutsche Volksgemeinschaft" zu einer der tragenden Gruppierungen der NSDAP, die Hitler zusehends zu einer mittelständischen Sammlungsbewegung auszubauen verstand. Als weitaus entscheidender für den Erfolg des Führers der Nationalsozialisten als die partielle weltanschauliche Gemeinsamkeit mit reaktionären Kreisen erwies sich allerdings die Zurückhaltung der aktiven Militärführung gegenüber den gewalttätigen Übergriffen der nationalsozialistischen Kampf verbände. Die von pragmatischen Überlegungen geprägte Neutralität der Reichswehr im Innern erleichterte Hitler Anfang der 30er Jahre seine Verständigungsbemühungen mit dem Bürgertum, das auf eine konservative Erneuerung des verhaßten Weimarer Systems hoffte 3 6 . Bis Ende 1929 hatte die militärische Führung mit der Reichsregierung politisch mehr oder weniger loyal zusammengearbeitet. Die beginnende Staatskrise ließ die Reichswehrführung jedoch sowohl in der Außen- als auch in der Innenpolitik einen eigenständigen Kurs einschlagen. Im Gegensatz zu Brüning und dem Auswärtigen Amt, das eine atlantisch ausgerichtete Außenpolitik verfolgte und einen revisionistisch-bilateralen (Österreich) und revisionistisch-internationalen (Völkerbund) Kurs steuerte, orientierte sich die Reichswehr an einer nationalistisch-militaristischen Konzeption zur Lösung der wirtschaftspolitischen Probleme. Die Weltwirtschaftskrise wurde angesichts der Lähmung der Großmächte als die Möglichkeit angesehen, die wirtschaftlich ausgerichtete Mitteleuropakonzeption und Reparationsdiplomatie durch eine machtpolitische Alternative bei den Revisionsbestrebungen zu ersetzen. Darüber hinaus trugen auch die katastrophale Situation der deutschen Rüstungsindustrie und deren Hilfeersuchen an den Staat zu den verstärkten politischen Aktivitäten der Reichswehr bei 3 7 . W a r die Wirtschaft zu Beginn der Absatzkrise mit Brünings binnenwirtschaftlichen und mitteleuropäischen Konzeptionen einverstanden gewesen, so verlangte nach dem Fehlschlag des deutsch-österreichischen Zollunionsprojektes insbesondere die Schwerindustrie größere Unterstützung in Übersee. Die politische Führung konnte mit Rücksicht auf die Westmächte weder den Forderungen der Industrie nach Aufhebung des Waffenausfuhrverbotes entsprechen noch auf die expansiven Wünsche der immer stärker werdenden Kolonialbewegung 3 8 eingehen; Reichswehrkreise hingegen erwiesen sich aber für den Reichsverband der Deutschen Industrie unter seinem neuen Vorsitzenden Krupp v. Bohlen und Halbach als durchaus interessierte Ansprechpartner sowohl für Produktions- als auch für Absatzfragen. Hatten sich

36

Martin, Beraterschaft, S. 26 ff.; Thoß, S. 385 ff., 482 ff.

37

Geyer, Konferenz, S. 174 ff.; Speidel, S. 19 ff.

38

Zur Kolon, albewegung und ihrer Rezeption durch Reichsregierung und NSDAP Hildebrand, Weltreich, passim; zur Einstellung der Industrie gegenüber Brüning Weisbrod, S. 481 ff.

368

die Militärs zunächst darauf konzentriert, ihre zwischenstaatlichen geheimen militärischen und rüstungswirtschaftlichen Kontakte aus den 20er Jahren weiter auszubauen, so wurde ab Ende 1931 die inländische Produktion forciert. Mit der strategisch, militär- und wirtschaftspolitisch bedingten Rückverlegung der Ausbildung und Herstellung ins Inland konnte sich erstmals seit dem Krieg wieder eine gemeinsame militär-industrielle Interessenfront formieren, die unter dem Eindruck der sich zuspitzenden inneren und äußeren Situation des Reiches 1932 sich zu einem offenen Bruch der Versailler Produktions- und Exportauflagen bereit zeigte 39 . Bereits nach dem für Deutschland unbefriedigenden Verlauf der vorbereitenden Abrüstungsgespräche hatten Reichswehrkreise in der von der Reichsregierung vorgebrachten Forderung nach allgemeiner Abrüstung nur noch einen Hebel zur Aufhebung der Rüstungsbeschränkungen und damit zu einer Neudefinition der Kräfteverhältnisse in Europa gesehen 40 . Die von der politischen Führung auf der seit Februar 1932 unter Federführung des Völkerbundes tagenden „Konferenz für die Herabsetzung und Beschränkung der Rüstung" 41 geforderte reale Gleichberechtigung mit den anderen Mächten sollte lediglich eine Wiederaufrüstung — wie sie mit dem zweiten Rüstungsprogramm weiter vorangetrieben wurde — absichern und für die Zukunft eine uneingeschränkte militärische Handlungsfähigkeit sicherstellen. Mit der Übernahme des Reichskanzleramtes durch Papen und des Reichswehrministeriums durch Schleicher konnte sich die militärische Zielsetzung in der Sicherheitspolitik endgültig durchsetzen, zumal nach Beendigung der von der politischen Führung in Deutschland bislang in den Mittelpunkt gestellten Reparationskonferenz in Lausanne (10. Juli 1932) und dem Scheitern von Papens bilateralen Ausgleichsgesprächen mit Frankreich und England sich auch die „Wilhelmstraße" unter ihrem neuen Hausherrn Neurath immer weiter der Position der Militärs annäherte. Das deutsche Ultimatum vom 25. Juli 1932, das entweder ein Abrüsten der anderen Mächte oder ein Aufrüsten für Deutschland forderte, und der Abzug der Delegation aus Genf verdeutlichten die entscheidende Akzentverschiebung in der Außenpolitik des Deutschen Reiches zugunsten einer Rüstungsfreiheit, mit der die nationale Sicherheit garantiert und die Verhältnisse in Europa neu geordnet werden sollten. Die Fünfmächte-Erklärung vom 11. Dezember 1932, die Deutschland die prinzipielle Gleichheit doch noch zusicherte, konnte an der harten Haltung der deutschen Diplomaten und Militärs nichts mehr ändern 42 . Anders als vor allem im Ausland erwartet worden war, beschränkte sich die nationalsozialistische Führung nach der Machtübernahme jedoch hauptsächlich auf innere Aktivitäten und versuchte, durch strikte Einhaltung der Ver-

39

Castellan, S. 283 ff.; Rautenberg, S. 204 ff.; Wollstein, S. 266 ff.

40

Geyer, Konferenz, S. 200 f.

41

Wohlfeil, S. 188 ff.

42

Messerschmidt, Außenpolitik, S. 547 ff.; zur Haltung der Marine Dülffer, Flottenabkommen, S. 249 ff.

369

träge nach außen hin die Kontinuität und Berechenbarkeit der deutschen Außenpolitik zu betonen. Durch taktisches Arrangieren mit Diplomatie, Militär und Wirtschaft vermochten die Nationalsozialisten zu verschleiern, daß eine traditionelle deutsche Großmachtpolitik lediglich als Voraussetzung einer rassenideologisch motivierten Expansionspolitik ungeahnten Ausmaßes gelten sollte 43 . Dem Auswärtigen Amt gelang es sogar, trotz der antikommunistischen Ressentiments der Nationalsozialisten, erneut ein Kreditabkommen über 140 Millionen Mark mit den Russen abzuschließen (25. Februar 1933). Die immer wieder aufgeschobene Ratifizierung des Schlichtungsabkommens von 1929 und der Verlängerung des Berliner Vertrages von 1931 (5. Mai 1933) durch das Deutsche Reich führten schließlich zu einer gewissen Entkrampfung der bilateralen Spannungen, wenn auch das Verhältnis zwischen Deutschen und Russen angesichts der nationalsozialistischen Feindbilder ambivalent blieb. Neurath verstand es, die mit Papen und Schleicher bereits stärker in das außenpolitische Kalkül gezogene euro-asiatische Karte wieder überzeugender zu spielen, um der beginnenden Westorientierung der Sowjetunion frühzeitig entgegenzuwirken 44 . An der kompromißlosen Haltung Deutschlands auf der Abrüstungskonferenz änderte sich jedoch nichts, zumal die Reichswehr unter Blomberg und seinem Chef des Ministeramtes, v. Reichenau, der später noch in der Chinapolitik eine wichtige Rolle spielte, ab Februar 1933 eindeutig die Verhandlungsführung bestimmte. Die Sprengung der Genfer Verhandlungen war damit vorprogrammiert. Ganz im Sinne der Hitlerschen „Staatspolitik", die vermeintliches Entgegenkommen im Viererpakt zwischen Deutschland, Frankreich, England und Italien demonstrierte, bedurfte die Auflösung des Systems der kollektiven Sicherheit jedoch außenpolitischer Absicherung. Schon mit der Teilnahme an der Londoner Weltwirtschaftskonferenz (Sommer 1933) war die „Wilhelmstraße" bestrebt gewesen, ihre Bemühungen um einen Ausgleich glaubhaft zu machen. Das Verlassen der Genfer Abrüstungskonferenz (14. Oktober 1933) und der Austritt des Deutschen Reiches aus dem Völkerbund (19. Oktober 1933) wurden daher durch bilaterale Gespräche mit Frankreich und England flankiert. Auch nach dem Machtwechsel in Berlin schien die deutsche Außenpolitik nach außen hin trotz ihrer Abwendung vom westlichen Sicherheitssystem zu einer Rücksichtnahme auf die Interessen der anderen Großmächte durchaus bereit zu sein. In Wirklichkeit hatten sich jedoch unter dem wachsenden Einfluß der Militärs Perspektive und Ausprägung außenpolitischer Aktivitäten entscheidend verändert. In der Chinapolitik des Deutschen Reiches wurde in der Endphase der Weimarer Republik und im Übergang zur nationalsozialistischen Herrschaft diese Entwicklung zu einem machtpolitischen Revisionismus mit offensiver Zielsetzung besonders deutlich 45 .

43

Bracher, Anfangsstadium, S. 210 ff.; Hillgruber, Großmacht, S. 62 ff.

44

Hildebrand, Deutsches Reich, S. 34 ff.; Wollstein, S. 106 ff., 209 ff. Zu den französisch-

45

Bennett, S. 307 ff.; Rautenberg, S. 77 ff.

sowjetischen Beziehungen vor allem Girauld, S. 39 ff.

370

Nach der Ratifizierung des deutsch-chinesischen „Vertrags über Zoll- und verwandte Angelegenheiten" (21. Januar 1929) war die Reichsregierung zunächst bei ihrem vorsichtigen und zurückhaltenden Kurs gegenüber der Nanking-Regierung geblieben. Entschieden wandte sich Berlin gegen eine von den Chinesen gewünschte Vermittlung im chinesisch-russischen Konflikt, wenn auch eine Interessenvertretung für beide Streitparteien nicht ausgeschlagen wurde. Unter allen Umständen wollte die „Wilhelmstraße" eine potentielle Brüskierung der Sowjetunion vermeiden und nach den gerade erst im Schlichtungsabkommen beigelegten Differenzen nicht schon wieder neue Streitpunkte schaffen. Selbst eine Anrufung des Völkerbundes von Seiten Chinas versuchten die deutschen Diplomaten zu hintertreiben, um Entscheidungen, die möglicherweise den Berliner Vertrag berührten, von vornherein auszuschließen. Einer Demarche der Vereinigten Staaten, die schließlich zur Beilegung der Streitigkeiten beitrug, schlössen die Deutschen sich daher nicht an 46 . Die Regierung Chiang Kai-shek verfügte in Deutschland keinesfalls über so viel politisches Gewicht, um die Reichsregierung in China zu unvorsichtigen Schritten zu verleiten. Auch den von den Chinesen bereits Ende 1928 vorgelegten Entwurf eines deutsch-chinesischen Handelsvertrags, den Diplomatenkreise offen als „Hohn" bezeichneten, lehnte das Auswärtige Amt als völlig unzureichend ab. Selbst die vom chinesischen Außenminister Mitte 1930 erneut vorgelegte, wesentlich überarbeitete Fassung fand nicht die Billigung der Chinapolitiker. Allerdings erregte weniger der Inhalt, der nach Ansicht des Handels ungefähr dem Vertrag von 1921 entsprach, als vielmehr der Versuch der Chinesen, die angestrebten neuen vertraglichen Vereinbarungen als Muster gegen die anderen Großmächte auszuspielen, das Mißtrauen des Auswärtigen Amtes, das infolgedessen keine Notwendigkeit zu einer neuerlichen Vertiefung der Kontakte mit den Chinesen sah und das Projekt dilatorisch behandelte 47 . Auch bei den konkreten deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen sah sich die Reichsregierung trotz der konjunkturellen Talfahrt weiterhin zu keinen außergewöhnlichen Maßnahmen veranlaßt. Das Reichswirtschaftsministerium wies Ausfallgarantien oder einen generellen Rahmenkredit wie bei den politisch und wirtschaftlich weit wichtigeren Russengeschäften entschieden zurück. Das Auswärtige Amt schloß zwar erhöhte Reichsgarantien bei Regierungsgeschäften mit China nicht generell aus, aber erst nach Beendigung der kurz zuvor wieder aufgenommenen Reparationsverhandlungen mit den Alliierten wollte es hier intensiver tätig werden. Auch Anleihen des

46

Zur deutschen Position im russisch-chinesischen Konflikt vgl. vor allem die Dokumente in: AD AP, B XII, Nr. 105, 108, 122, 233, und B XIII, Nr. 28, 169, 171, 189. Causey, S. 155 ff.; Liang, Connection, S. 43 ff.; Ratenhof, S. 22 f. Eine gesonderte Darstellung bleibt ein Desiderat.

47

Gesandtschaft Peking an AA, 2 6 . 1 0 . 1928, HKHH, Akt. C h i / 3 9 ; OAV an Handelskammer Hamburg, 6. 3. 1929, ebd. Gesandtschaft Hamburgs, Berlin, an die Senatskommission für die Reichs- und auswärtigen Angelegenheiten, 8. 3. 1929, StAHH, IC/2b 6. 371

wiederbelebten (Banken-)„Konsortiums für asiatische Geschäfte", wie sie die deutsche Chinawirtschaft forderte, stand die „Wilhelmstraße", ganz im Interesse der durch die Ereignisse in China verunsicherten Banken, wegen des hohen Risikos äußerst ablehnend gegenüber. Das Reichsfinanzministerium beharrte zudem zunächst auf der Regelung der alten, immer noch unerledigten Anleiheforderungen, bevor neue Mittel mit Unterstützung des Reiches nach China flössen. Trotz der neuen Zolltarife sahen die finanziellen Möglichkeiten Chinas zur Schuldentilgung jedoch alles andere als rosig aus. Wegen der wieder auflebenden inneren Auseinandersetzungen erhielt die Nanking-Regierung weit weniger Einnahmen, als sie erwartet hatte. Obwohl Berlin angesichts dieser Situation nur von einer partiellen Modernisierung Chinas ausging, bestand nach Ansicht der Diplomaten aber dennoch kein Grund, die Hoffnung auf größere Geschäfte völlig aufzugeben. Sie versprachen sich von deutschen Sachverständigen, die in der Lage wären, an Ort und Stelle die Realisierbarkeit eines Projektes zu überprüfen und dessen Vergabe an die deutsche Industrie zu vermitteln, einen Ausgleich der überkommenen, strukturbedingten finanziellen Defizite der Chinawirtschaft. Insbesondere eine Expertenkommission des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, die auf Einladung der Nanking-Regierung China besuchen sollte, nährte Mitte 1929 diese Hoffnungen 48 . 1928 hatte die „Wilhelmstraße" den Plänen Sun Fos noch ablehnend gegenübergestanden, der auf einer Weltreise auch in Deutschland für sein staatliches Industrialisierungs- und Modernisierungsprogramm geworben hatte. Seine Vorschläge, zunächst in Deutschland ein Komitee interessierter industrieller Kreise zu gründen, das später auf Einladung der Nationalregierung eine Kommission zu Verhandlungen nach China senden sollte, wurden zwar vom Reichsverband erwartungsvoll aufgenommen, die Skepsis der „Wilhelmstraße" obsiegte aber über die erfolgsgläubigen Industriellen, so daß weitere klärende Gespräche in Deutschland unterblieben. Die Diplomaten wiesen insbesondere darauf hin, daß es sich bei Sun Fo um keine offizielle Mission Nankings, sondern wohl eher um eine Eigeninitiative des Kuomintang-Führers handelte: Die Nanking-Regierung sei äußerlich und innerlich keineswegs so stabilisiert, daß sie mit einer Stimme spreche. Weitaus besser sei es angesichts der politischen Lage, Geschäftsverbindungen mit privaten Kreisen in China zu suchen. Die möglichen Vorbereitungen weiterer Kontakte sollten daher allein dem Reichsverband überlassen bleiben; eine amtliche Mithilfe komme nicht in Frage. Auch das Reichswirtschaftsministerium bekräftigte zunächst diese prinzipiellen Einwände gegen eine Intensivierung der deutschchinesischen Wirtschaftsbeziehungen über die staatlichen Industrialisierungsvorhaben Sun Fos. Diese könnten praktisch nur den USA nutzen, da in

48

Aufzeichnung Altenburg, 2. 11. 1928, PA, Büro R M / 3 7 / 2 ; Notiz Altenburg, 28. 2. 1929, ebd., Abt. IV W i C h i / W i r t s c h a f t 1A(D)/1. RFiM an AA, Dezember 1928, BA, R 2 / 1 9 1 2 . Aufzeichnung Michelsen, 12. 7. 1928, ADAP, B IX, Nr. 1 3 8 ; Aufzeichnung Michelsen, 2 1 . 1 . 1929, ebd., B XI, Nr. 29; Aufzeichnung Altenburg, 2 9 . 1 . 1929, ebd., Nr. 40.

372

Deutschland wegen der Zurückhaltung der privaten Banken im Chinageschäft kein Kapital zur Verfügung stehe 49 . Trotz aller Vorbehalte aus Regierungskreisen hielt die Industrie die Beziehungen zu führenden Politikern der Kuomintang jedoch aufrecht. Angebote zur Übernahme industrieller Großprojekte, die über deutsche Vermittler dem Reichsverband der Deutschen Industrie oder einzelnen Konzernen aus China unterbreitet wurden, schienen die Richtigkeit dieser Auffassung zu bestätigen 50 . Die formelle Bitte der Nanking-Regierung um Entsendung einer Kommission, die von Sun Fo in seiner neuen Position als Eisenbahnminister ausgesprochen wurde, führte auch im Auswärtigen Amt zu einem Meinungsumschwung: Dem Chinaausschuß der deutschen Industrie, der sich mit den Vorbereitungen der Expertenreise nach China beschäftigte, gehörten Mitte 1928 neben Vertretern des Handels und der Finanz auch Diplomaten an. Bislang hatte die Aufmerksamkeit der „Wilhelmstraße" nach anfänglichem Mißtrauen eher den privaten Projekten des ehemaligen Obersten Bauer — trotz dessen militaristischem Politikverständnis — gegolten, die der absatzschwachen Maschinenbau- und Schwerindustrie in kürzester Zeit chinesische Aufträge auch ohne Reichsunterstützung versprachen 51 . Die vom „Ludendorff-Kreis" propagierten Gedanken über moderne Kriegführung und einen militärisch geprägten Staatsaufbau hatten in den 1920er Jahren sowohl im nach Restauration strebenden Japan als auch im militärindustriell modernisierungswilligen Kuomintang-China großes Interesse ausgelöst. Schon Ende 1927 waren von General Li Chi-shen, dem Befehlshaber des Cantoner Militärs, über einen Neffen Professor Chu Chia-huas in Berlin erste Beziehungen wegen geplanter Arsenalbauprojekte zu dem in Wirtschaftskreisen bekannten Oberst a. D. Bauer aufgenommen worden. Daß Ludendorff selbst dabei maßgeblich beteiligt war, darf als sicher angenommen werden 5 2 . Bereits ein Jahr zuvor waren im Zuge der Intensivierung des wissenschaftlichen Austausches zur Sun-Yat-sen-Universität über Chu Chia-hua und Professor Matschoß, dem Vorsitzenden des Vereins deutscher Ingenieure, Kontakte nach Deutschland zu Bauer in bezug auf die Errichtung von Waffenfabriken geknüpft worden, die aber kurze Zeit später durch den Ein-

49

Generalkonsulat Shanghai an AA, 27. 2. 1928, PA, Pol. Abt. IV/Po 2 Chi/4; Aufzeichnung Dirksen, 23. 5. 1928, ebd. Aufzeichnung Michelsen, 10. 7. 1928, ADAP, B IX, Nr. 128, und 12. 7. 1928, Nr. 138.

50

G. Amann sprach im Auftrag K'ungs bezüglich eines Hafens für Tientsin bei der IG Farben, bei Siemens und der Gutehoffnungshütte vor. Ein Herr Ulderupp, im Dienste des chinesischen Verkehrsministeriums, entwickelte Projekte zum Aufbau einer chinesischen Handelsmarine. Amann an Trautmann, 2 1 . 6 . 1929, PA, Abt. IV WiChi/Wirtschaft 1A(D)/1; Aufzeichnung Michelsen, 2 8 . 1 1 . 1929, ebd., Büro R M / 3 7 / 3 .

51

Gesandtschaft Peking an AA, 2 2 . 1 . 1929, PA, HaPol. Abt./Handelspolitische Handakten/Gesandter Eisenlohr; Gesandtschaft Peking an AA, 19. 2. 1929, ebd., Abt. IV WiChi/Wirtschaft 1A(D)/1; RDI an AA, 27. 7. 1929, ebd.

52

Fu, Advisers, S. 164 ff.; Vogt, Oberst Max Bauer ( 1 9 2 8 - 1 9 2 9 ) , S. 98 ff.

373

sprach des Auswärtigen Amtes ohne greifbare Ergebnisse geblieben waren 53 . Auch Bauer stand noch 1927 den Cantoner Reorganisationsplänen, die er für wenig ausgereift hielt, eher skeptisch gegenüber. Allerdings bot sich nach dem Abzug der sowjetischen Berater und aufgrund des geschwächten Ansehens des Westens in China durchaus die Möglichkeit, die Vorstellungen einer nationalrevolutionären Front gegen eine angelsächsische und russische Vorherrschaft mit Hilfe einer gestärkten Kuomintang durchzusetzen. Bauer erhoffte sich von einer Reise nach China (15. November 1927 bis 24. März 1928) größere Klarheit. Von Anfang an betrachtete er sich dabei mehr als Ratgeber der Chinesen in wirtschafts- und militärpolitischen Fragen denn als Vertreter der deutschen Industrie 54 , auch wenn sich beides gut miteinander verbinden ließ. Gespräche mit Junkers sowie Oerlikon und der Holländischen Industrie- und Handelsgesellschaft (H.I.H.)55, beides ausländische „Töchter" von Rheinmetall, gingen daher der Reise wie selbstverständlich voraus. Gerade auf dem Gebiet des schwerindustriellen Kriegsmaterials und der Flugzeuge verfügte der ehemals im Quartiermeisterdienst tätige Offizier über ausgezeichnete Beziehungen, die dem Bestreben der Kuomintang nach modernster militärischer Ausrüstung besonders entgegenkamen und Bauer die Verwirklichung seiner Pläne erleichtern mußten 56 . Nicht nur die Militärbehörden der Provinz Kwangtung, die sich seit Beginn des Einigungsfeldzuges bei der militärischen Modernisierung von der Kuomintang-Führung vernachlässigt fühlten, sondern auch die Militärregierung in Nanking selbst benötigten zur Verwirklichung der militärpolitischen Pläne Mitte 1927 personelle und rüstungswirtschaftliche Hilfen des Auslandes immer dringender. Der zu erwartende Widerstand der nördlichen Militärmachthaber und auch der kommunistischen Partei machte nach dem Ausbleiben der russischen Lieferungen eine neuerliche ausländische Unterstützung unentbehrlich. Schon nach dem — wohl eher privaten — Vorfühlen des Generals Ch'en Shao-wu 57 , das im Auswärtigen Amt Ende 1927 großes Mißtrauen

53

Verein deutscher Ingenieure an AA, 1 . 1 2 . 1926, PA, Pol. Abt. IV/Po 13 Chi/1. Zur Kontaktaufnahme mit Bauer vgl. auch Erinnerungen von Beteiligten Nr. 1: Anwerben und Tätigkeit der Generalberater aus chinesischer Sicht, in: Martin (Hrsg.), Deutsche Beraterschaft, S. 310 ff.

54

Bauer erhielt keine Spesen mehr von der Firma Junkers, in deren Auftrag er zuvor oftmals in der Sowjetunion, in Spanien, in der Türkei und in Argentinien gearbeitet hatte. Bauer an Junkers, 14. 9. 1927 und 19. 2. 1929, BA, Nachlaß Bauer, Bd 47.

55

Luise Engeler, Bauers Sekretärin, und Bauer sprechen in ihren Aufzeichnungen von HAIHA, wohl eine Angleichung der Schreibweise an die Aussprache von H.I.H. Erinnerungen der Luise Engeler, S. 152 ff., BA, Nachlaß Bauer, Bd 69.

56

Ebd., S. 149 ff. Boyé an AA, 1 6 . 1 1 . 1927, PA, Handakten (Handelspolitik)/Ritter/Chin a / 1 . Seps, Advisers, S. 36 ff.; Vogt, Oberst Max Bauer. Generalstabsoffizier im Zwielicht, S. 441 ff.; Fox, M a x Bauer, S. 21 ff.

57

Hierbei handelte es sich wohl eher um den Versuch, die „Rickmers-Affäre" und die Beschlagnahme der Rickmers-Schiffe zu chinesischen Gunsten auszunutzen, als um konkrete Pläne einer offiziellen Hilfe des Deutschen Reiches für China. Ch. Chen, S. 107 ff.

374

erregt und zu einer Warnung an die Reichswehr geführt hatte 58 , war Chiang Kai-shek zu einem weiteren Anlauf in Deutschland entschlossen gewesen. Die von General Li Nai vorgeschlagene Anwerbung deutscher Offiziere sollte über eine neue, diesmal offizielle Kommission Nankings erfolgen, die sich auch um Modellwaffen für ein geplantes Zentralarsenal der Nationalen Revolutionsarmee in Shanghai zu kümmern hatte. Die diesbezüglichen Verbindungen zur deutschen Industrie hoffte die Nankinger Regierung über den schon „seit vielen Jahren in Deutschland gut bekannten Dr. Yüan" 5 9 herzustellen, der später auch — nach den Vorstellungen der Militärs — die gesamten Rüstungseinkäufe von Deutschland aus zentralisieren sollte 60 . Zur Durchführung dieser Pläne kam die persönliche Kontaktaufnahme Chiang Kai-sheks mit Bauer gerade recht, der von Chu Chia-hua bei Chiang eingeführt wurde 61 . Der Kuomintang-Führer fand in Bauers Äußerungen und vor allem in dessen zahlreichen Denkschriften seine eigenen Ansichten von einer Modernisierung von oben durchaus bestätigt. Bauers Konzeption einer gesamtwirtschaftlichen Reorganisation und Schaffung eines nationalen Wehrstaates durch Militarisierung und Industrialisierung traf genau den von Chiang seit der Errichtung der Militärregierung auch in der praktischen Politik vollzogenen Kurswechsel von einer sozialen Revolution zu einer konservativen Restauration 62 . Für die im März 1928 unter Führung der Generale Ch'en Yi und Li Nai nach Deutschland ausreisende Kommission der Nanking-Regierung konnte Bauer, der für die Modernisierungspläne der Kuomintang-Militärführung durchaus zur Verwirklichungschance sah, schließlich von Chiang als Begleiter gewonnen werden. Bei der Realisierung der Ende 1927 geplanten Aufgaben in Deutschland erhofften sich die Chinesen vor allem die Unterstützung der Reichsregierung. Offizielle Grüße von Chiang Kai-shek als Präsident der Nankinger Nationalregierung an Hindenburg und Stresemann sollten den Emissären helfen, die ersten Verbindungen herzustellen 63 . 58

Vgl. o. Kapitel 6c, S. 346 f.

59

Dr. Yüan ließ sich nicht näher ermitteln. Vermutlich handelt es sich um eine andere oder falsche Schreibweise des Namens von Dr. Yü Ta-wei, der auch David Yü genannt wurde. Carlowitz & Co. an Krupp, 6. 8. 1927, HA Krupp, FAH IVc 191.

60

Ebd.

61

Zu Chiang Kai-shek kam Bauer kaum durch die Vermittlung des Journalisten Wiegand, wie Vogt (Oberst M a x Bauer. Generalstabsoffizier im Zwielicht, S. 421 ff.) behauptet, da sich jener erst im Februar 1 9 2 9 bei dem KMT-Führer vorstellte. Erinnerungen der Luise Engeler, S. 201 ff., BA, Nachlaß Bauer, Bd 69. Vgl. dazu auch Erinnerungen von Beteiligten Nr. 1: Anwerben und Tätigkeit der Generalberater aus chinesischer Sicht, in: Martin (Hrsg.), Deutsche Beraterschaft, S. 310 ff.; Liang, Connection, S. 58 f.

62

Chiang Kai-shek an Bauer, 1 . 3 . 1928, BA, Nachlaß Bauer, Bd 43. Denkschrift 1 von Oberst M a x Bauer (1927), abgefaßt vor seiner Abreise nach China, in: Martin (Hrsg.), Deutsche Beraterschaft, S. 356 ff. Zum gemeinsamen Denkansatz der restaurativen chinesischen Militärs und der deutschen ultranationalistischen Offizierkreise, besonders im Gegensatz zu den sowjetischen Beratern, Augustin, S. 276 ff.

63

Chiang Kai-shek an Stresemann und Hindenburg, 22. 6. 1928, PA, Pol. Abt. IV/Po 2 Chi/5.

375

Tatsächlich war die Reichsregierung nicht abgeneigt, Bauer und den Chinesen so weit wie möglich entgegenzukommen. Hatte sich das Auswärtige Amt um die Jahreswende 1927/28 zunächst noch besorgt über ausländische Pressekampagnen und Proteste gegen Bauer gezeigt — vor allem die Japaner sahen in ihm eine ernsthafte Bedrohung ihrer eigenen Kooperationsprojekte mit Nanking —, so meinte die „Wilhelmstraße" nach ersten Gesprächen mit Bauer und Li Nai schon bald, den Kritiken des Auslandes widersprechen zu können. Mit Bauers Erklärung, weder deutsche Militärberater anwerben noch Kriegsgerät in Deutschland bestellen zu wollen, gaben sich die Politiker durchaus zufrieden, waren damit doch die Bedenken in bezug auf etwaige Verstöße gegen den Versailler Vertrag zunächst einmal gegenstandslos geworden. Außer Hauptmann a. D. Ritter, der lediglich als Kriegsgeschichtslehrer tätig werden sollte, beabsichtigte Bauer nach eigenen Angaben, nur holländische und schweizerische Militärberater anzuwerben und nur im Ausland Kriegsgerät zu kaufen. Er selbst sei ebenfalls kein Berater der Chinesen, sondern arbeite für die deutsche Industrie 64 . Diese Halbwahrheiten waren die Politiker um so eher bereit zu akzeptieren, als schon das Generalkonsulat in Shanghai darauf hingewiesen hatte, daß neben den militärischen Projekten wohl auch andere Aufträge winkten und die Kommission deshalb uneingeschränkt zu fördern sei. Auch Borch und der Dirigent für Ostasien in der Ostabteilung des Auswärtigen Amtes, Trautmann, sprachen sich für eine nachhaltige Unterstützung aus: Die Bewunderung der Kuomintang für Deutschland auf industriellem Gebiet müsse bei aller vorsichtigen Politik in China ausgenutzt werden. Zivile Experten, die Bauer gerade in Deutschland anzuwerben beabsichtige, könnten trotz des Kapitalmangels die Beteiligung der deutschen Wirtschaft am Wiederaufbau Chinas sichern. Zwar gingen Bauers Pläne einer Reichsbürgschaft für die Lieferung eines Arsenals dem Auswärtigen Amt entschieden zu weit; seine ständigen Versicherungen, nur das Wohl der deutschen Industrie im Auge zu haben, bewirkten aber in der „Wilhelmstraße" nicht nur eine wohlwollende Anerkennung seiner Wirtschaftspläne, sondern ließen die Diplomaten auch durchaus Partei ergreifen. Anders als in Sun Fo meinte die Reichsregierung in der Kommission Ch'en Yis, den selbst der Reichspräsident am 11. Juli 1928 empfing, einen akzeptablen Ansprechpartner gefunden zu haben 65 . Bereitwillig half das Auswärtige Amt bei der Vermittlung ziviler Sachverständiger, die sogar, wie Ministerialdirigent Schubart (Städtebau) und Regierungs-

64

Dirksen an Gesandtschaft Peking, 24. 7. 1928, ebd.; Bauer an AA, 26. 10. 1928, ebd., Po 13 Chi/1. Aufzeichnung Dirksen, 9. 8. 1928, ADAP, B IX, Nr. 223; Aufzeichnung Trautmann, 26. 10. 1928, ebd., B X, Nr. 83. Duden, S. 775; Fu, Advisers, S. 187 ff.

65

Generalkonsulat Shanghai an AA, 1 5 . 1 0 . 1928, PA, Pol. Abt. IV/Po 13 C h i / 1 ; Aufzeichnung Trautmann, 1 6 . 1 1 . 1928, ebd. Generalkonsul Thiel, Shanghai, an AA, 15. 3. 1928, ADAP, B VIII, Nr. 166; Trautmann an Generalkonsul Thiel, Shanghai, 13. 8. 1928, ebd., B IX, Nr. 2 3 2 ; Borch an AA, 30. 8. 1928, ebd., Nr. 268.

376

rat Professor v. Zanthier (Siedlungswesen), aus dem preußischen Staatsdienst beurlaubt wurden 66 . Schon bald nach Bauers erneuter Ausreise (13. November 1928) wurde die „Wilhelmstraße" dann jedoch durch Konsularberichte und das Verhalten der kurz zuvor bei der chinesischen Gesandtschaft in Berlin eingerichteten Handelsabteilung aufgebracht, die unter ihrem Leiter Dr. Yü Ta-wei das Anwerben von Militärberatern und den Kauf von Rüstungsmaterial in ganz Europa koordinieren sollte. Neben den offiziellen Bestellungen von Musterwaffen bei den von Bauer kontaktierten „Tochterfirmen" deutscher Rüstungskonzerne in Holland und in der Schweiz 67 , die über Bauers Sohn Ernst abgewickelt wurden, erregten sich die Diplomaten vor allem darüber, daß wohl doch, trotz aller gegenteiligen Versicherungen, ein deutscher Militärberaterstab in China im Aufbau begriffen war. Bereits seit Januar 1929, so wußten die Diplomaten, dachte die Nationale Revolutionsarmee daran, militärische Ausbildungskurse für Offiziere vom Bataillonskommandeur an aufwärts unter deutscher Leitung durchzuführen. Der Verdacht verstärkte sich immer mehr, daß deutsche Berater unter Verschleierung ihrer späteren wirklichen militärischen Tätigkeit angeworben wurden. Außer der Anstellung von Oberleutnant a. D. Dipl.-Ing. Fuchs (Verkehrsflugwesen), Rittmeister a. D. Freiherr v. Wangenheim (Verwaltung), Polizeimajor a. D. Wendt (Innere Sicherheit) und Bauer selbst als Generalberater plante die Handelsabteilung offensichtlich noch die Anwerbung von zehn weiteren militärisch geschulten Herren 68 . Allerdings bestimmten nicht persönliche oder juristische, sondern vielmehr politische Vorbehalte die ablehnende Haltung des Auswärtigen Amtes. Bereits Bauers Rückkehr hatte bei den Angelsachsen, den Franzosen und Japanern, die nach den Erfolgen der Nanking-Regierung in den Einigungsfeldzügen alle selbst daran interessiert waren, die militärische Modernisierung der chinesischen Truppen zu übernehmen, eine neue Welle von Mißtrauensäußerungen bewirkt. Die Politiker in Berlin befürchteten, im Ausland könne der Eindruck einer offiziellen deutschen Militärmission in China entstehen und damit eine unliebsame Störung der Arbeit der vom Reich im Gegensatz zu Bauer tatsächlich geförderten Militärberater in Südamerika provoziert werden. Zudem sah die „Wilhelmstraße" sich durch die harten chinesischen Presseangriffe in ihrer Auffassung bestätigt, daß Militärberater in Nanking bei der sich um die Jahreswende 1928/29 schon wieder zuspitzenden inner-

66

Außerdem traten die Professoren Keiper (Geologie) und Otte (Statistik) sowie Ingenieur Stoelzner (Telegraphie) in chinesische Dienste. Aufzeichnung Trautmann, 26. 10. 1928, AD AP, B X, Nr. 83.

67

Waurick (Mitarbeiter Bauers in Deutschland) an Bauer, 2 6 . 1 1 . 1 9 2 8 , BA, Nachlaß Bauer, Bd 46. Seps, Advisers, S. 75 ff.

68

Generalkonsulat Shanghai an AA, 2 5 . 1 . 1929, PA, Pol. Abt. IV/Po 13 C h i / 2 ; Aufzeichnung Michelsen, 1 0 . 1 . 1929, ebd., Büro S t S / O A / 4 . Bauer an chinesische Handelsabteilung, 20. 9. 1928 und 5. 2. 1929, BA, Nachlaß Bauer, Bd 4 4 ; Erinnerungen der Luise Engeler, ebd., Bd 69. 377

chinesischen Situation nur eine Gefahr für die China-Deutschen bedeuten müßten. Darüber hinaus hielt das Auswärtige Amt weiterhin an seiner Ansicht fest, Militärberater seien für die Verbesserung der deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen unmaßgeblich. Ein durchschlagender Einfluß auf deutsche Industriegeschäfte, so die Diplomaten, der sie allenfalls dazu bewegen könne, sich mit ihnen abzufinden, ließe sich wohl kaum konstruieren 69 . Obwohl sich das Auswärtige Amt über die geringen Möglichkeiten im klaren war, die Tätigkeit von Deutschen als Militärberater in China zu unterbinden, versuchte es, wie schon in den Jahren zuvor, daher alles, die Anstellung ehemaliger deutscher Offiziere zu verhindern. Außer einem Erlaß des Reichsinnenministeriums, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um einer Ausreise von potentiellen Militärberatern ins Ausland entgegenzuwirken — gedacht war vor allem an eine in der Praxis kaum durchführbare Verweigerung der Pässe —, waren mit Duldung der Alliierten bislang jedoch keine gesetzlichen Ausführungsbestimmungen zu Artikel 179 des Versailler Vertrages erlassen worden. Da die Einbehaltung von Pensionen der Soldaten und Offiziere, die im kaiserlichen Deutschland, nicht aber in der Reichswehr gedient hatten, ohne Aberkennung der Staatsbürgerschaft nach deutschem Gesetz nicht zulässig war, blieb dem Auswärtigen Amt daher nur eine generelle Warnung vor unliebsamen Überraschungen an alle nach China ausreisewilligen Militärs 70 . Der chinesischen Gesandtschaft machten die Politiker durch ein Aide-mémoire jedoch unmißverständlich klar, daß sie eine Visaerteilung für deutsche Militärberater als einen unfreundlichen Akt betrachteten 71 . Um seine Verstimmung den Chinesen gegenüber deutlich zum Ausdruck zu bringen, wies das Auswärtige Amt den Wunsch Yü Ta-weis, das Waffenhandelsgesetz mit China schon vor dem 1. Mai 1929 außer Kraft zu setzen, schroff und ohne die Möglichkeit des Widerspruchs zurück. Der neue chinesische Gesandte in Berlin, Chiang Tso-ping, und sein Legationssekretär, Liang Lone, erklärten hingegen, daß die Nanking-Regierung in militärischen Fragen eben nur Vertrauen zu Deutschland besitze. Sie verteidigten damit die trotz aller Einsprüche kurze Zeit zuvor erfolgte Anstellung zweier hochgestellter deutscher Offiziere — Generalmajor a. D. Gudowius und Generalleutnant a. D. Lindemann — als Lehrer für Militärgeschichte bzw. politische Ökonomie an der wiedereröffneten Militärhochschule in Peking. Deutsche Offiziere, so versuchte Chiang Tso-ping die „Wilhelmstraße" zu beruhigen, würden auch

69

Aufzeichnung Trautmann, 2 6 . 1 0 . 1928, AD AP, B X, Nr. 83; Köpke an Stresemann, 7. 3.

70

Aufzeichnung o. N., 25. 4. 1930, ebd., B XIV, Nr. 219. Eine Paßverweigerung war wenig

1929, ebd., B XI, Nr. 116; AA an Gesandtschaft Peking, 2 2 . 1 . 1929, ebd., Nr. 31. aussichtsreich, da ein Paß ohne Schwierigkeiten bereits vor der Anstellung durch ausländische Stellen besorgt w e r d e n konnte. 71

Aide-mémoire vom 20. 3. 1 9 2 9 als Anlage zur Aufzeichnung Michelsen, 20. 3. 1929, ebd., B XI, Nr. 130.

378

in Zukunft lediglich als Erzieher an Schulen und nicht etwa als Ausbilder im taktischen Bereich eingesetzt werden 72 . Während die Diplomaten in China allen neuerlichen Erklärungen aus dem Kreise Bauers nicht mehr so recht glauben mochten, klammerte sich das Auswärtige Amt zunächst noch weiter an die hoffnungsvollen Wirtschaftsperspektiven, die sich so gut in die eigene kapitalrestriktive Konzeption, die die Vermittlung von Zivilberatern favorisierte, einfügten, anstatt den von militärischen Denkkategorien geprägten realen Verhältnissen Rechnung zu tragen. Aussagen des Generalberaters, ein „militärisches Bollwerk" sei notwendig, um die Stellung von Wirtschaftsberatern zu sichern, interpretierten die Chinapolitiker offensichtlich nur einseitig in Richtung einer Wirtschaftskooperation, zumal Bauer sowohl einen neuen chinesischen Bürgerkrieg als auch eine personelle und materielle Neuorganisation der chinesischen Streitkräfte in absehbarer Zeit für unmöglich hielt. Zudem hatte Bauer tatsächlich schon bald nach seiner Rückkehr nach China Kontakte mit Vertretern deutscher Industriekonzerne über mögliche Lieferungen aufgenommen 73 . Diese machten seit dem Mißerfolg des Besuchs von Sun Fo in Deutschland ohnehin allein die Diplomaten für die Schwierigkeiten bei der Verwirklichung ihrer Geschäftspläne mit der modernisierungsbereiten Nanking-Regierung verantwortlich. Die „Wilhelmstraße" wollte daher keinesfalls durch ein Überbewerten der militärischen Aspekte oder ein möglicherweise gar ungerechtfertigtes Vorgehen gegen Bauer und die chinesische Handelsabteilung in Berlin ihre Verbindungen zur Chinawirtschaft noch weiter strapazieren und womöglich sogar größere Bestellungen verhindern. Trotz aller Vorbehalte und Befürchtungen in bezug auf personelle wie materielle militärische Hilfeleistungen begrüßten die deutschen Chinapolitiker daher prinzipiell auch noch Anfang 1929 Bauers Aktivitäten, zeigten Verständnis für seine Schwierigkeiten und Sympathie für sein Engagement zugunsten einer Weiterführung der wirtschaftlichen Modernisierung Chinas 74 .

72

Zur Auseinandersetzung des AA mit der chinesischen Gesandtschaft Anfang 1929 Aufzeichnung Michelsen, 10. 1. 1929, PA, Büro S t S / O A / 4 ; Aufzeichnung AA, 3. 5. 1927, ebd., Pol. Abt. IV/Po 13 C h i / 1 ; Aufzeichnung Lautenschlager, 2. 3. 1929, ebd., Po 13 C h i / 2 ; Aufzeichnung Lautenschlager,

22.2.

1929, ebd., Abt. IV WiChi/Wirtschaft

l A / 1 . AA an Gesandtschaft Peking, 22. 1. 1929, AD AP, B XI, Nr. 31 und Anmerkung: Schubert an Erdmannsdorff, 14. 4. 1929; Köpke an Stresemann,

7. 3. 1929, ebd.,

Nr. 116; Aufzeichnung Michelsen, 20. 3. 1929, ebd., Nr. 130. 73

Erinnerungen der Luise Engeler, S. 194 ff., BA, Nachlaß Bauer, Bd 69.

74

Aufzeichnung Gesandtschaftsrat W a g n e r über ein Gespräch mit Bauer, 5. 3. 1929, PA, Pol. Abt. IV/Po 13 Chi/2. Aufzeichnung Köpke, 5. 3. 1929, als Anmerkung zu Köpke an Stresemann, 7. 3. 1929, AD AP, B XI, Nr. 116; Aufzeichnung Trautmann, 11. 4. 1929 mit Schreiben Bauers, 26. 2. 1929, und Trautmann an Bauer, 20. 4. 1929 als Anlagen, ebd., Nr. 166. Kirby, Developmental Aid, S. 202 ff.; Vogt, Oberst M a x Bauer ( 1 9 2 8 - 1 9 2 9 ) , S. 99 ff. 379

Die nicht länger zu leugnende Militarisierung der Projekte und die Proteste des deutschen Chinahandels weckten jedoch in der „Wilhelmstraße" zunehmend Zweifel an der eigenen Nonchalance. Neben einer steigenden Zahl von ehemaligen deutschen Offizieren, die entgegen Bauers Zusicherungen Kurse für chinesische Offiziere abhielten, sah sich das Auswärtige Amt durch das Aufstellen einer eigenen Lehrtruppe unter deutscher Leitung alarmiert, deren Teilnahme an den Feldzügen Chiangs gegen Wuhan und nach Honan große Besorgnis und Verärgerung hervorrief. Darüber hinaus beteiligte sich Bauer nicht nur persönlich an einigen Operationen einschließlich der Planung, sondern richtete auch scharfe Angriffe gegen die Chinahandelshäuser, die um bis zu 1 0 0 % zu teures und oftmals unbrauchbares Rüstungsmaterial geliefert hätten. Dahinter witterten die deutschen Kaufleute allerdings weniger eine ernstzunehmende Kritik als vielmehr ein Komplott der Industrie, die immer häufiger versuchte, die Exporteure zu umgehen und direkte Geschäfte zu tätigen 75 . Industriekreise hatten den Handelsfirmen offen vorgeworfen, sie könnten sich nicht gegen internationale Konkurrenz durchsetzen, weil sie nicht gründlich genug arbeiteten 76 . Bei den Industriellen verstärkte sich die Auffassung, durch eine unmittelbare Zusammenarbeit mit der chinesischen Handelsabteilung in Berlin ihre Verkaufserwartungen erfüllen zu können. Selbst die Firma Krupp, die nach eigener Überzeugung durch Carlowitz in China gut vertreten war, schloß den Abschluß größerer Geschäfte mit Yü Ta-wei nicht länger aus 77 . Gerade in den Geschäftsaktivitäten des Leiters der chinesischen Handelsabteilung meinten der Ostasiatische Verein und die Hansestädte jedoch, eine ernste Gefahr zu erkennen: Yü unterstehe nur theoretisch der Kontrolle des Gesandten; in Wirklichkeit sei er als zentrale Instanz für Rüstungseinkäufe in Europa nur Chiang Kai-shek verantwortlich. Die von Yü angeordnete Pflicht zur Einholung der Genehmigung für Transport, Transit und Verfrachtung von Kriegsmaterial nach China bei seiner Abteilung schädige den deutschen Chinahandel, zumal nach der anzunehmenden Aufhebung des Waffenhandelsgesetzes größere Aufträge zu erwarten seien. Die Hamburger Exporteure fürchteten dabei vor allem eine Umwandlung der Handelsabteilung in eine Handelsdelegation nach sowjetischem Muster und damit eine Mo-

75

Aufzeichnung Lautenschlager, 6. 3. 1929, PA, Pol. Abt. IV/Po 13 C h i / 2 ; Borch an AA, 7. 6. 1929, ebd., Generalkonsulat Kanton an AA, 2 5 . 1 1 . 1929, ebd., Pol. Abt. IV/Gg.l.B Chi/1. Bauer an Waurick, 1 0 . 1 . 1929, BA, Nachlaß Bauer, B d 4 6 ; Erinnerungen der Luise Engeler, Februar 1929, ebd., B d 6 9 . Aufzeichnung Trautmann, 11. 4. 1929, AD AP, B XI, Nr. 166.

76

Der darüber hinaus erhobene Vorwurf, der Handel sei in China durch zu viele Firmen vertreten, ließ sich tatsächlich nicht von der Hand weisen: Seit Anfang der 20er Jahre hatte sich die Zahl der deutschen Handelsfirmen in China mehr als verdreifacht. Remer, Investments, S. 652.

77

Handelskammer Hamburg an DIHT, 7. 3. 1929, HKHH, Akt. C h i / 4 8 . Aufzeichnung Krupp, 8. 5. 1929, HA Krupp, FAH IV E 94.

380

nopolisierung der Bestellungen und eine Ausschaltung des Zwischenhandels 7 8 . Das Auswärtige Amt, das auf ein geschlossenes Auftreten der deutschen Chinawirtschaft angesichts der überwältigenden ausländischen Konkurrenz großen Wert legte, zeigte sich über die Klagen des Handels besorgt. Gespräche mit Yü Ta-wei Mitte 1929 ließen allerdings h o f f e n : Nur einzelne Regierungsaufträge seien über ihn geplant; ein Monopol wie bei den Russen werde nicht angestrebt 79 . Auch Bauer hatte sich schon einige Zeit zuvor zu einem Einlenken bereit erklärt. Warnungen aus Deutschland, sich nicht zu sehr auf militärische Projekte zu konzentrieren, sonst drohe ihm die geplante Studienkommission in Wirtschaftsfragen die Kompetenz streitig zu machen, waren von ihm nicht unbeachtet geblieben. Der Generalberater Chiang Kai-sheks schien zu begreifen, daß die Aktivitäten der deutschen Wirtschaft in China nicht ausschließlich über seine Person als „Generalagent der deutschen Industrie" und die Handelsabteilung laufen konnten. Bauer strebte daher zusehends eine enge Zusammenarbeit mit dem Reichsverband der Deutschen Industrie an und hielt auch bei allen zukünftigen Großaufträgen eine Mitwirkung des Handels für unerläßlich. In den Augen der Diplomaten dürfte diese Entwicklung die privaten Aktivitäten Bauers in China noch einmal zum Besseren gewendet haben 8 0 . Nach der Beteiligung des Auswärtigen Amtes bei der Vorbereitung der Expertenkommission waren auch die Streitigkeiten zwischen Handel und Industrie im gemeinsamen Chinaausschuß Mitte des Jahres beigelegt worden. Die Handelshäuser hatten bereits seit längerer Zeit eine institutionalisierte arbeitsteilige Zusammenarbeit von Handel und Industrie gefordert und eigene Verkaufsniederlassungen der Produzenten, die über technische Büros hinausgingen, strikt abgelehnt. Die Finanzierung von Geschäften mit chinesischen Kaufleuten wollten die Großfirmen selbst übernehmen, über günstige Bankkredite, möglichst vermittelt durch ein internationales Handelssyndikat unter neutraler holländischer Führung. Dagegen wollten die Industriellen, die sich nach der offiziellen Einladung der Chinesen an den Reichsverband der Deutschen Industrie sehr optimistisch zeigten, den durch vormalige Waffengeschäfte oftmals diskreditierten Handel möglichst schon aus der Chinakommission heraushalten. Mit Hilfe einer zentralen deutschen Finanzierungsstelle der Banken und Industrie unter erheblicher Beteiligung des Reiches wollte

76

79

80

Aufzeichnung Michelsen, 7. 5. 1929, PA, Pol. Abt. IV/Po 13 C h i / 2 ; Bericht des Zivilberaters Schubart, 11.12. 1933, ebd., Abt. IV WiChi/Wirtschaft 6 / 2 . Deputation für Handel und Gewerbe an Handelskammer Hamburg, 15. 2. 1929, HKHH, Akt. Chi/48; OAV an AA, 28. 3. 1929, ebd. Liang, Connection, S. 48 ff. Senatskommission an Handelskammer Bremen, 7. 5. 1929, über ein Gespräch des AA mit Yü Ta-wei, HKHB, Hp II 83/8. Telegramm Trautmann, 4 . 3 . 1929, als Anlage zu Generalkonsulat Shanghai an AA, 11. 5. 1929, PA, Abt. IV WiChi/Wirtschaft 1A(D)/1; Gesandtschaft Peking an AA, 22. 1. 1929, ebd., HaPol.Abt./Handelspolitische Handakten/Gesandter Eisenlohr; Gesandtschaft Peking an AA, 11. 2. 1929, ebd., Büro R M / 3 7 / 2 .

381

die Industrie die finanziellen Vorteile des Auslandes auf dem chinesischen Markt — vor allem durch die Rückkreditierung der Boxerentschädigungen — ausgleichen. Dagegen hatten Handelskreise, ähnlich wie das Auswärtige Amt, zunächst Bedenken angemeldet. Die Situation in China schien den Kaufleuten durch die an Schärfe wieder zunehmenden inneren Auseinandersetzungen alles andere als gefestigt, um risikoreiche Großprojekte sicher durchzuführen. An eine Verwirklichung des staatlichen chinesischen Wiederaufbauprogramms sei erst nach der Konsolidierung der Verhältnisse zu denken. Mit Unterstützung der Diplomaten, die eine Repräsentanz der gesamten deutschen Wirtschaft forderten, gelang es dem Handel dann doch noch, eigene Mitglieder für die Studienkommission zu benennen 8 1 . Trotz des ordnenden Einwirkens der „Wilhelmstraße" zahlten sich wegen der vor allem revisionspolitisch bedingten Zurückhaltung des Reiches die privaten Aktivitäten weiterhin nicht aus. Wenn sich auch mit der Schließung der chinesischen Handelsabteilung und der Abreise Yü Ta-weis nach dem plötzlichen Tod Bauers (5. Mai 1929) das Problem der nach dem Versailler Vertrag verbotenen Waffengeschäfte gelöst hatte, so ließ sich ein endgültiges Abdriften der Beraterschaft in den militärischen Bereich nicht mehr verhindern. Zu den 19 schon vorhandenen Militärinstrukteuren kamen sieben weitere, die bereits unterwegs waren. Weniger die oftmals unsachgemäß ausgeführten Rüstungsbestellungen, die noch von Bauer initiiert worden waren 8 2 , und schon gar nicht das Scheitern des Aufbaus einer Fliegerwaffe mit Junkersflugzeugen nach dem Ausscheiden Feng Yü-hsiangs aus der Nanking-Regierung (24. Mai 1929) wurden in Berlin als allzu großer Nachteil empfunden 83 . Eher bedauerten Wirtschaftsführer und Politiker, daß eine Realisierung der von Bauer in seinen Denkschriften immer wieder geforderten schwerindustriellen und infrastrukturellen Reformen nach dessen Tod aussichtslos schien 84 . Darüber hinaus sah sich der Reichsverband der Deutschen Industrie aufgrund des wieder aufflackernden Bürderkrieges laufend zu einer Verschiebung der „Studienreise" genötigt. Obwohl vor allem der Vorbereitungsausschuß unter Dr. Woidt von der AEG trotz zeitlicher Verschiebungen auf eine planmäßige Durchführung drängte, wurden sich die Verantwortlichen der deutschen Chinawirtschaft und Chinapolitik Anfang 1930 zunehmend darüber klar, daß auch nach Beendigung der anhaltenden Wirren und Kämpfe konkrete Aufträge über die Expertengruppe wohl kaum zu erwarten

81

Aufzeichnung Michelsen, 1. 3. 1929, ebd., Abt. IV WiChi/Wirtschaft 1A/1. Denkschrift F. W . Mohr an Handelskammer Hamburg, 25. 2. 1929, HKHH, Akt. Chi/48; Dresdner Bank an Handelskammer Hamburg, 18. 3. 1929, ebd.; DIHT an Handelskammer Hamburg, 3. 7. 1929, ebd. RDI an Mitglieder, 12. 4. 1929, SAA, 15/Lg 536; F . W . Mohr an Siemens, 22. 2. 1929, ebd. Widmann, S. 118 ff.

82

Julius Linnekogel, Hauptmann a. D., an Luise Engeler, 7 . 1 2 . 1929, BA, Nachlaß Bauer, Bd 69.

83

Wiethoff, Luftverkehr, S. 104 ff. Seps, Advisers, S. 10 ff.; Walsh, S. 502 ff.

84

382

waren. Weit mehr noch als diese unerfreuliche wirtschaftliche Aussicht beschäftigten das Auswärtige Amt allerdings die um sich greifende nationalsozialistische Haltung innerhalb der deutschen Beraterschaft und deren Verstrickung in den chinesischen Bürgerkrieg 85 . Gemäß Bauers Wunsch war Oberstleutnant a. D. Kriebel, ein alter Kampfgefährte Hitlers aus der Zeit des Münchner Putsches, im Juni 1929 an die Spitze der Beratergruppe getreten, um eine einheitliche Führung so lange zu gewährleisten, bis Ludendorff einen endgültigen Nachfolger bestimmen würde 86 . Bereits kurze Zeit später sah sich das Auswärtige Amt genötigt, bei der chinesischen Gesandtschaft zu protestieren, daß mit Kriebels Amtsübernahme immer mehr Nationalsozialisten angeworben würden, Personen, die eindeutig die Staatsform des Deutschen Reiches bekämpften. Hinweise auf eine Belastung der deutsch-chinesischen Beziehungen nutzten allerdings genauso wenig wie mahnende Worte über die Bürgerkriegsgefahren in China, welche die Diplomaten in Absprache mit dem Reichswehrministerium an die Adresse potentieller Bewerber richteten. Gerade die Aussicht, gegen von Kommunisten oder Franzosen ausgebildete Truppen kämpfen zu können, motivierte zukünftige Berater, denen sich durch ein forsches „Aufräumen mit den Roten" in China die verklärte Fortführung alter Kriegserlebnisse zu bieten schien 87 . Beruhigende Berichte der Gesandtschaft in Peking über den tatsächlichen Einfluß dieser deutschen Ratgeber, gegen die alle in Deutschland etwas vorliege, glätteten die Wogen des Mißtrauens in der „Wilhelmstraße" Anfang 1930 jedoch nur kurzfristig. Trotz Kriebels Versicherung, allein wirtschaftliche Projekte zu verfolgen, waren mit der Erweiterung der Lehrtruppen zu einer Division und deren erneutem Einsatz die Forderungen des Auswärtigen Amtes, an Feldzügen nicht mehr teilzunehmen, offen mißachtet worden. Scharfe Pressekampagnen des westlichen Auslandes gegen die kriegerische Tätigkeit der deutschen „Militärmission" ließen dann auch nicht lange auf sich warten. Obwohl kein Zweifel daran bestand, daß auch französische, japanische und amerikanische Offiziere bei den chinesischen Bürgerkriegsparteien als Berater tätig waren 88 , trafen die Berichte die deutsche Au-

85

AA an Gesandtschaft Peking, 31. 10. 1929, PA, Abt. IV/ WiChi/Wirtschaft 1A(D)/1. RDI an Mitglieder, 2 4 . 7 . 1929, SAA, 1 5 / L g 536; Protokoll des Chinaausschusses,

25.6.

1929, ebd.; Siemens China Co. an Stammhaus, Berlin, 25. 5. 1929, ebd. 86

Erinnerungen der Luise Engeler, PA. Nachlaß Bauer, Bd 69; Wiegand an Luise Engeler, 30. 6. 1929, ebd., Bd 70a. Office of Military History, Summary, passim.

87

Borch an AA, 1 4 . 1 2 . 1929, PA, Pol. Abt. IV/Po 13 Chi/2. Neunzert an Krummacher, 5. 9 . 1 9 3 0 , BA-MA, Msg 1 6 0 / 1 . Trautmann an Gesandtschaft Peking, 23. 9 . 1 9 2 9 , AD AP, B XIII, Nr. 31; Aufzeichnung o. N., 25. 4. 1930, ebd., B XIV, Nr. 219; Aufzeichnung Michelsen, 1 5 . 1 1 . 1930, ebd., B XVI, Nr. 57. Causey, S. 160 ff.

88

Beispielsweise befanden sich an der Kriegsakademie in Peking neben fünf deutschen auch sechs japanische Offiziere. Botschaft Tokio an AA, 1. 7. 1930, PA, Pol. Abt. IV/Po 13 C h i / 4 ; Konsulat Mukden an AA, 19. 7. 1930, ebd.; Wolff Telegraphen Büro, Meldung vom 28. 7. 1930, ebd. F. Lindemann, S. 59 ff.

383

ßenpolitik, die sich international und bilateral um eine umfassende Revision des Versailler Vertrages bemühte, besonders nachhaltig, da der damit implizierte Vorwurf des Vertragsbruchs die deutsche Verhandlungsposition von vornherein zu schwächen drohte89. Noch größere Unruhe lösten daher in diplomatischen Kreisen die ständig wachsenden Kriegsmateriallieferungen über deutsche Firmen nach China aus. Nach der Aufhebung des Pekinger Gesandten-Abkommens von 1919 im Frühjahr 1929 hatte sich die „Wilhelmstraße" einem Ablauf des Waffenhandelsgesetzes zum 1. Mai desselben Jahres nicht länger widersetzt, um das Verhältnis zur Regierung Chiang Kai-shek nicht unnötig zu belasten90. Ca. 40 % der chinesischen Waffenimporte von 1929 für ungefähr 3,9 Millionen HKT, hauptsächlich noch von der Handelsabteilung Yü Ta-weis in der CSR, Polen und Skandinavien geordert, waren in der zweiten Jahreshälfte über Deutschland geliefert worden91. Angesichts des sich verschärfenden Bürgerkrieges in China stand das Auswärtige Amt jedoch Anfang 1930 einem Ersuchen des chinesischen Gesandten, den illegalen Waffenhandel nach Nordchina zu unterbinden, nicht ablehnend gegenüber. Auch die Möglichkeit, die Kriegsmaterialausfuhr wieder völlig zu verbieten, wurde erwogen, nach Intervention des Reichswirtschaftsministeriums allerdings zunächst wieder verworfen. Der Argumentation, die unter der Wirtschaftskrise notleidenden Handelsfirmen dürften nicht noch weiter belastet werden, konnte nur schwer widersprochen werden. Die „Wilhelmstraße" befürwortete daher auch den Besuch einer chinesischen Marinemission im März 1930, die neue Aufträge versprach und schließlich sogar vom Reichspräsidenten sowie vom Reichswirtschafts- und vom Reichsaußenminister empfangen wurde92. Die Berichterstattung der ausländischen Presse, die sich hauptsächlich mit den Waffenlieferungen deutscher Firmen und deren Auswirkungen beschäftigte, obwohl die Nanking-Regierung klarstellte, daß auch alle anderen Großmächte Kriegsmaterial lieferten — von den Waffeneinfuhren nach China (15,5 Millionen HKT) kamen 1930 aus Japan 35% und nur 25% über Deutschland — veranlaßte die „Wilhelmstraße" jedoch Mitte 1930 zu neuen Überlegungen, das Gesetz von 1928 erneut zu erlassen93. Darüber hinaus er89

Zur Bewertung Kriebels und den Presseangriffen des Auslandes Gesandtschaft Peking an AA, 20. 2. 1930, PA, Pol. Abt. IV/Po 13 C h i / 3 . Borch an AA, 28. 11. 1929, ADAP, B XIII, Nr. 159.

90

Schubert an Botschaft Washington, 5 . 4 . 1929, PA, Büro R M / 3 7 / 2 ; Schubert an Botschaft Tokio, 14. 4. 1929, ADAP, B XI, Nr. 174.

91

Borch an AA, 3. 7. 1930, PA, Abt. IV WiChi/Wirtschaft/Rohstoffe und W a r e n / 1 5 ; AA an RWiM, 15. 7. 1930, ebd.

92

Aufzeichnung Lautenschlager, 26. 2. 1930, PA, Büro S t S / O A / 4 . Aufzeichnung Schoen,

93

Die Behauptung Mehners (Rolle, S. 76), Deutschland habe 1930 nahezu alle W a f f e n ge-

27. 3. 1930, ADAP, B XIV, Nr. 178; Aufzeichnung o. N., 25. 4. 1930, ebd., Nr. 219. liefert, ist völlig absurd. Gesandtschaft Peking an AA, 2. 7. und 17. 7. 1930, PA, Büro R M / 3 7 / 3 . Gesandtschaft Peking an AA, 3. 3. 1930, StAHB, 3 / A 3 . C . 3 / 3 4 2 ; Zentralstelle für Außenhandel, 3 1 . 1 0 . 1931, ebd., 4,49-IA 4b 1 0 / 2 .

384

hoben allmählich beide Streitparteien in China massive Vorwürfe gegen Deutschland, es bevorzuge die jeweils gegnerische Seite. Die eskalierende antideutsche Stimmung barg nach Ansicht des Auswärtigen Amtes nicht geringe Probleme in sich. Entschieden wandte es sich daher gegen Reichsgarantien für den Verkauf von Junkers-Flugzeugen an Yen Hsi-shan, zumal Bombenabwürfe aus diesem Flugzeugtyp von den Journalisten in China immer wieder kolportiert wurden. Trotz der außenpolitischen Risiken entschloß sich die „Wilhelmstraße" angesichts der wachsenden Wirtschaftsdepression allerdings zu keinen gesetzgeberischen Maßnahmen, nachdem das Reichswirtschaftsministerium, die Hansestädte und selbst die Gesandtschaft in Peking noch einmal eindringlich auf die existenzbedrohenden Nachteile für die in China als Spezialfirmen im Waffengeschäft angesehenen deutschen Handelsfirmen und die möglichen Auswirkungen für die heimische Rüstungsindustrie hingewiesen hatten. W e n n auch die Diplomaten eine schärfere Kontrolle der Rüstungsausfuhren hinsichtlich des Kriegsgerätegesetzes von 1927 durchsetzten und im Zweifelsfalle Gutachten der Prüfungsstelle der deutschen Industrie forderten, um die Einhaltung des Versailler Vertrages zu gewährleisten 9 4 , so ergriff das Auswärtige Amt doch Ende 1930 eindeutig Partei zugunsten der Chinawirtschaft gegen die erneuten Beschuldigungen der chinesischen Vertretung in Berlin. Die neue Brüning-Regierung war nicht bereit, zum vermeintlichen Vorteil der unmaßgeblichen Regierung in Nanking auch noch auf dem Gebiet der Rüstung ihre Beziehungen zu Chinahandel und Industrie zu belasten, da die Forderungen der zurückgekehrten Studienkommission schon genug Schwierigkeiten auf das Reich zukommen ließen 9 5 . Die Chinakommission, die sich trotz der Wirren von Ende März bis Juli 1930 unter Führung des Präsidialmitgliedes des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, Admiral a. D. Heinrich Retzmann, und des Chefredakteurs der „Deutschen Allgemeinen Zeitung", Theodor M. Strewe, als Generalsekretär in China aufgehalten hatte, war in ihren Gesprächen mit der staatlichen „National Construction Commission" (NACOCO) und einzelnen Wiederaufbaukommissionen vor allem auf schwerindustrielle Projekte und Anlagenbau eingegangen. Dagegen hatte der Chinaausschuß schon 1929 beschlossen, landwirtschaftliche Fragen nicht anzusprechen, da die deutsche Chinawirtschaft über keine Erfahrung verfüge und auf diesem Gebiet die „Sozialisierungsgefahr" von Seiten der Kuomintang-Regierung am größten sei 96 . Obwohl die deutschen Experten recht schnell erkennen mußten, daß sowohl beim Arsenal-, Eisenbahn- und Kraftwerkbau als auch auf dem Schiffahrt- und Luftfahrtsektor bei den Chinesen zumeist nur Vorplanungen bestanden, sahen sie durch-

94

Vertretung der Handelskammer Hamburg, Berlin, an Handelskammer Hamburg, 1 4 . 1 0 . 1930, HKHH, Akt. C h i / 2 0 .

95

Borch an AA, 21. 6. 1930, PA, Abt. IV W i C h i / W i r t s c h a f t l A ( D ) / 2 ; Borch an AA, 14. 6. 1930, ebd. Rohstoffe und W a r e n / 1 4 . Aufzeichnung Schoen, 19. 8. 1930, ADAP, B XV,

Nr. 188.

96

Bericht über die Sitzung des Chinaausschusses, 20. 1. 1930, HA Krupp, FAH IV E 94. 385

aus die Möglichkeit, die deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen langfristig im Sinne deutscher Erwartungen zu verändern 97 . Anstelle eines Austausches von landwirtschaftlichen Rohprodukten (Soja, Erdnüsse, Eier, Häute, Felle, Därme) gegen einzelne Industrieprodukte (Chemikalien, Maschinen, Eisen-, Elektro- und Metallwaren) sollten Lieferungen hochwertiger industrieller Rohstoffe als Gegenleistung für einen umfassenden Technologietransfer treten 98 . Dementsprechend lauteten auch die Hauptpunkte der Ende 1930 in Deutschland fertiggestellten Denkschrift 99 , die eindeutig die Handschrift der industriellen Interessenvertreter trug. Eine gesicherte Industriefinanzierung galt dabei als Dreh- und Angelpunkt zukünftiger Großaufträge. Da die DeutschAsiatische Bank, eine unter 51 ausländischen Banken in China, nur den geringsten Teil des deutschen Warenaustausches mit den Chinesen finanziere, müßten endlich die alten Vorschläge aufgegriffen und eine neue Exportkreditbank unter starker staatlicher Beteiligung gegründet werden 1 0 0 . Gerade die Unterstützung des Reiches werde angesichts der auch im Chinahandel einsetzenden katastrophalen Exportkrise zur unabdingbaren Voraussetzung. Auch der Ostasiatische Verein verlangte Anfang 1931 ebensolche Garantien und Kredite wie für die Russengeschäfte. Die Weltwirtschaftskrise erfordere schnellstens größere Absicherungen des Reiches im Außenhandel, auch um die heimische Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Nach einhelliger Meinung der deutschen Wirtschaft, die mit der Gründung einer ständigen Chinastudiengesellschaft (27. Januar 1931) 101 eigene Aktivitäten einleitete, seien die Scheinblüte des Chinahandels durch die Inflationsgeschäfte am Anfang der 20er Jahre und der Boom nach der Machtergreifung der Kuomintang endgültig vorbei. Reichskredite würden sofort benötigt; nach Überwindung der Depression bestehe für die deutsche Wirtschaft auf dem chinesischen Markt gegen die starke ausländische Konkurrenz überhaupt keine Chance mehr 102 .

97

In einem Bericht Dr. Jacobys, eines Vertreters der Finanz in der Chinastudienkommission, hieß es: „China ist wie früher Amerika das Land der unbegrenzten Möglichkeiten . . . (Es bietet] ein weites Feld für deutsche Aufbauarbeit". Chinastudienkommission. Bericht von Dr. Alfred Jacoby (ca. 1930), SAA, 1 5 / L g 536. Vgl. auch Generalkonsulat Shanghai an AA, 20. 6. 1930, PA, Abt. W i C h i / Wirtschaft 1 3 / 2 .

98

Generalkonsulat Shanghai an AA, 24. 5. 1930, PA, Wirtschaft l A ( D ) / 2 ; Generalkonsulat Tientsin an AA, 8. 7. 1930, ebd. RDI an Mitglieder, 26. 2. 1930, SAA, 1 5 / L g 5 3 6 ; Siemens China Co. an Stammhaus, Berlin, 29. 5. 1930, ebd.

99

Chinastudienkommission an RDI, 1 0 . 1 1 . 1 9 3 0 : Zusammenfassung der Denkschrift für den RDI, BA, R 2 / 1 6 441. Zu den Forderungen der Denkschrift vor allem Causey, S. 179 ff.

100

Pan, S. 60 ff.

101

Zur Gründung der China-Studiengesellschaft vgl. das „Protokoll der Gründungsversammlung der China-Studiengesellschaft vom 27. Januar 1931", in: Martin (Hrsg.), Deutsche Beraterschaft, S. 375 ff.

102

Niederschrift über die Sitzung des Chinaausschusses, Dezember 1930, PA, Pol. Abt. IV W i C h i / W i r t s c h a f t l A ( D ) / 3 . Siemens Jahresbericht 1 9 3 0 / 1 9 3 1 , SAA, 2 0 / L a 2 2 9 ; Siemens China Co. an Centralverwaltung, Berlin, 18. 11. 1932, ebd., 2 5 / L s 675. O. Fischer, S. 97 ff.; Kunst & Albers, S. 17 ff.

386

Die politische Führung in Berlin zeigte sich jedoch nicht bereit, auf die Argumente der Chinawirtschaft einzugehen. Vielmehr versuchte das Auswärtige Amt, die Verantwortung für die negative Entwicklung allein den Chinesen zuzuschieben. Curtius äußerte im Februar 1931 gegenüber dem scheidenden chinesischen Gesandten tiefe Enttäuschung: Aufträge seien nach der hoffnungsvollen Reise der Studienkommission ausgeblieben; Deutschland werde am Wiederaufbau Chinas nicht beteiligt; die Chinesen wollten statt dessen lediglich im Reich mißliebige Militärberater anwerben. Besonders betroffen zeigte sich der deutsche Außenminister darüber, daß China den Anleihedienst noch immer nicht wieder aufgenommen und Deutschland im Gegensatz zu allen anderen Gläubigern immer noch keine Einladung zu einer beginnenden Schuldenkonferenz erhalten habe, die immerhin die Umwandlung der Boxerentschädigung in neue Kredite in die Wege leitete 103 . Wenn sich auch der tatsächliche Wert der chinesischen Anleiheobligationen in Deutschland nach Schätzungen der Reichskreditgesellschaft und des Auswärtigen Amtes durch große Verpfändungen an das Ausland in den 20er Jahren von 23 Millionen Pfund (1916) auf ca. 7,5 Millionen Pfund (1930) - ca. 110 Millionen Mark — verringert hatte 104 , so war der Betrag immer noch bedeutend. Die Bemühungen des Reiches, eine Wiederaufnahme des chinesischen Anleihedienstes durchzusetzen, um aus diesen Geldern selbst wieder neue Kredite vergeben zu können, ließen daher auch nicht nach 1 0 5 . Weit weniger Initiative als auf dem Anleihe- und Kreditsektor entwickelten die Reichsvertreter bei der Übernahme von Exportgarantien. Sie zeigten 1931 trotz aller Proteste der Chinawirtschaft ein noch geringeres Entgegenkommen als in den Jahren zuvor. Hatten sich die zuständigen Stellen des Auswärtigen Amtes, des Reichswirtschafts- und des Reichsfinanzministeriums nach der Regelung der Reparationszahlungen durch den Young-Plan zunächst noch zu vereinzelten Garantiezusagen von 60 %, manchmal sogar 70 % durchgerungen 106 , nachdem eine genaue Prüfung der Liefer- und Zahlungsbedingungen keine Beanstandungen ergeben hatte, so verfuhren sie 1931 weitaus restriktiver. Die Deutsche Revisions und Treuhand AG durfte nur noch von Fall zu Fall bei Vorlage einer Genehmigung durch den chinesi-

103

104

105

106

Gesandtschaft Peking an AA, 1 1 . 1 2 . und 1 9 . 1 2 . 1930, 2 9 . 1 . 1931, BA, R 2/4227. Aufzeichnung Schoen, 27. 2. 1931, AD AP, B XVI, Nr. 240. Reichskreditgesellschaft an RFiM, 1 2 . 3 . 1929, BA, R 2 / 1 9 1 2 ; Zusammenstellung des AA, 15. 9. 1930, ebd., R 2 / 4 2 2 7 ; AA an RFiM, 16. 12. 1930 und 2 4 . 1 . 1931, ebd. Hou, S. 16 ff.; Remer, Investments, S. 138, Wu, S. 90. Gesandtschaft Peking an AA, 1 3 . 4 . 1931, PA, Abt. IV WiChi/Wirtschaft 1 A / 3 ; Aufzeichnung Michelsen, 8 . 5 . 1931, ebd., Pol. Abt. IV/Po 2 Chi/6. Aufzeichnung DAB, 28. 2. 1930, BA, R 2 / 1 4 937; RFiM an RWiM, 7. 3. 1931, ebd. Beispielsweise für Elektrizitätswerke von Siemens und die Lieferung von 100 Lokomotiven der Borsig-Werke. Borsig an RWiM, 18. 6. 1930, BA, R 2 / 1 6 626; Deutsche Revisions und Treuhand AG an Borsig, 2 4 . 1 1 . 1 9 3 0 , ebd.; AA an RWiM, 22. 2 . 1 9 3 0 , ebd., R 2 / 1 6 666; Niederschrift des Exportgarantieausschusses, 15. 8. 1930, ebd.

387

sehen Staatsrat Zusagen erteilen. Auch die Garantiezuweisungen der Hermes Bank für kleinere Geschäfte nahmen rapide ab. Die rasante Geldentwertung in China, die finanzielle Situation des Deutschen Reiches und die Deflationspolitik seiner Regierung sowie vor allem die europazentrierten Pläne Brünings fanden hier ihre konkreten Auswirkungen. Viele Verhandlungen über Großprojekte deutscher Industriefirmen führten schließlich zu keinem Abschluß. Die Geschäfte gingen an das Ausland, insbesondere im Eisenbahnbereich, bei dessen Modernisierung die Kuomintang die ersten konkreten Schritte unternahm 107 . Die Mitteleuropapläne des Reichskanzlers und seine atlantischen Präferenzen wirkten sich auch auf die transkontinentalen wirtschaftlichen und politischen Konzeptionen aus, die das Auswärtige Amt seit den frühen 20er Jahren bei aller Vorsicht und allen Vorbehalten nicht aus den Augen verloren hatte und die zuletzt in den Luftverkehrsprojekten zwischen Deutschland, der Sowjetunion und China manifest geworden waren. Obwohl der Vertrag über die Gründung einer deutsch-chinesischen Luftverkehrsgesellschaft (Eurasia) vom 27. Februar 1930, der faktisch der Lufthansa nach den Amerikanern als zweitem ausländischen Unternehmen das Betreiben einer Luftlinie in China ermöglichte, längst nicht den Erwartungen der Reichsregierung entsprach, da er sich zunächst nur auf den Frachtverkehr von Shanghai in den Norden und in die Mandschurei bezog, den Post- und Personenverkehr aber ausklammerte, hatte die „Wilhelmstraße" die Vereinbarungen als Schritt in die richtige Richtung begrüßt. Entgegen den Plänen des Reichsverkehrsministeriums, das eine vertraglich besser zu vereinbarende Südverbindung über Indien und die Türkei nach Europa favorisierte, um unmittelbar den Absatz von Flugzeugen zu steigern, hielten die Diplomaten wie Ende der 20er Jahre auch weiterhin an der Nordverbindung über Rußland fest. Trotz der Differenzen zwischen China und der Sowjetunion hoffte Curtius noch Mitte 1930, die Verbindungslücke zwischen der chinesischen Grenze und Moskau durch Dreierverhandlungen zu beseitigen 108 . Im Gegensatz zur deutschen Chinawirtschaft, die allein schon in einer potentiellen Verbesserung des transsibirischen Eisenbahnverkehrs für Produkte aus Deutschland eine enorme Steigerung der Absatzmöglichkeiten auf dem chinesischen Markt sah 109 , standen für das Auswärtige Amt wie auch für das außerordentlich interessierte

107

Aufzeichnung Schoen, 2. 2. 1931, PA, Büro R M / 3 7 / 3 ; Aufzeichnung Trautmann, 14. 2. 1931, ebd., Handakten Direktoren/Trautmann/China.

RFiM an Reichsbank, 20. 8.

1930, BA, R 2 / 1 6 441; Niederschrift über die Sitzung des Exportgarantieausschusses, 31. 3. 1931, ebd., R 2 / 1 6 6 7 5 ; Vereinigte Stahlwerke an Exportgarantieausschuß, 21. 4. 1931, ebd., R 2 / 1 6 678. 108

Aufzeichnung Köpke, 31. 12. 1929, AD AP, B XIII, Nr. 232; Curtius an Reichsverkehrsministerium, 3 0 . 4 . 1930, ebd., B IV, Nr. 228; Curtius an Reichsverkehrsministerium, 2. 6. 1930, ebd., B XV, Nr. 59; Runderlaß AA, 6 . 1 . 1931, ebd., B XVI, Nr. 137.

109

Handelskammer Bremen an Norddeutsche Wollindustrie, 4. 9. und 15. 9. 1930, HKHB, Hp II 8 3 / 8 . Die Frachtraten waren allgemein zu hoch. Bloch, S. XII.

388

Reichswehrministerium nicht nur rein wirtschaftliche, sondern auch politische Aspekte bei einer Verbesserung der deutsch-russisch-chinesischen Beziehungen im Vordergrund der Sondierungen 110 . Mitte 1931, auf dem Höhepunkt der Mitteleuropaoffensive Brünings, war das Interesse der Diplomaten allerdings auf ein Minimum geschrumpft. Nur noch äußerst reserviert äußerte sich schließlich der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, v. Bülow, in einem Gespräch mit dem chinesischen Vizeaußenminister Chia Chen-wang zu Fragen einer deutsch-russisch-chinesischen Kooperation und eines Austausches von Rohprodukten gegen Technologie 111 . Anstatt auf einer direkten wirtschaftspolitischen Zusammenarbeit wollte die „Wilhelmstraße" ihr Verhältnis zu China stärker auf den Aktivitäten des Völkerbundes aufbauen. Dabei schienen sich das Konzept Bauers zur langfristigen Steigerung des deutschen Einflusses und die Vorstellungen über eine Finanzierung von Projekten, die den Haushalt des Reiches nicht übermäßig belasteten, noch einmal verwirklichen zu lassen. Völkerbundsanleihen, denen die chinesischen Banken nicht so ablehnend gegenüberstanden wie Kreditangeboten aus dem Westen, boten allem Anschein nach die Chance für größere Aufträge. Expertenkommissionen der Genfer Organisation mußten deutschen Fachleuten die gewünschte und in Einzelfällen auch schon praktizierte Einflußnahme auf die chinesische Modernisierung ermöglichen 112 . Bereits Anfang der 30er Jahre hatte insbesondere die Verbindung zur Sun Yat-senund zur T'ung-Chih-Universität durch eine Vielzahl deutscher Lehrkräfte intensiviert werden können 1 1 3 . Chinesische Studenten an deutschen Hochschulen (bis 1931 ca. 450), vor allem in Berlin, versprachen darüber hinaus gute Kontaktmöglichkeiten für die Zukunft 114 . Wenn sich auch die Industrie der Unterstützung dieser potentiellen Lobby deutscher Wirtschaftsinteressen in China ganz im Sinne des Auswärtigen Amtes nicht entzog, so gab es doch Ende 1931 kaum noch eine Basis für eine Kooperation von Chinawirtschaft und Auswärtigem Dienst, da sich diplomatische Rezepte zur Lösung der Absatzkrise, insbesondere nach dem aus

1,0

Reichsverkehrsministerium an AA, 1 0 . 5 . 1930, BA, R 2 / 5 6 3 1 ; Curtius an Reichsverkehrsministerium, 2 . 6 . 1930, ebd.; R W M an Reichsverkehrsministerium, 1 9 . 6 . 1930, ebd.

111 112

Aufzeichnung B. W . v. Bülow, 1. 9. 1931, ADAP, B XVIII, Nr. 166. Schließlich gelangten beispielsweise Regierungspräsident a. D. Jaenicke, Postrat Lange, Prof. Dr. Reuleaux (Eisenbahnwesen) und Bankdirektor Sieveking (Finanzierung von Hafenausbauten) in einflußreiche Positionen. Trautmann an AA, 30. 3. 1933, PA, Abt. IV WiChi/Wirtschaft l A ( D ) / 3 . Interview mit dem Gesandten a . D . Fischer, BAMA, MSg 115g 1 6 0 / 3 7 . „Hamburger Correspondence", 1 1 . 1 1 . 1931, H W W A , B 9 4 / g 4 a Sml9.

113

Beispielsweise durch die dort tätigen Professoren Kardicke (Bakteriologe), Andresen (Anatomie), Martin (Chirurgie) und Barsier (Physiologie) sowie durch Forst- und Geologiefachleute, Hänisch, S. 291 ff.

114

Liang, Connection, S. 39 ff.; Liu, S. 87 ff.

389

politischen Opportunitätsgründen infolge des Mandschureizwischenfalls verhängten Ausreisestopps für weitere Experten, endgültig als unbrauchbar herausstellten 115 . Weit besser schien sich als neuer Partner in China die Reichswehr anzubieten, die seit Ende der 20er Jahre ihre Beziehungen zur Wirtschaft wieder zu intensivieren suchte und augenscheinlich bereit war, auf internationale politische Faktoren weniger Rücksicht zu nehmen. Wie der Reichsverband der Deutschen Industrie hatten im Gegensatz zum Auswärtigen Amt auch Reichswehrkreise nach der Beendigung des chinesischen Bürgerkrieges Ende 1930 trotz aller wirtschaftlichen Probleme kurzfristig die Möglichkeit zu weiterer industrieller und militärischer Modernisierung in China gesehen 1 1 6 . Dagegen war die militärische Führung in den vorausgegangenen beiden Jahren den Wünschen der „Wilhelmstraße" nur widerwillig gefolgt, chinesische Offiziere zu Lehrgängen und zur Truppenausbildung in Deutschland zuzulassen 117 . Die Anstellung der Chinesen, welche die Diplomaten mit dem Hinweis auf eine Gleichbehandlung mit den Japanern begründeten, die seit 1927 bei der Reichsmarine hospitierten, hatte die Reichswehr nur als notwendiges Übel akzeptiert. Bis zu diesem Zeitpunkt waren Anfragen von chinesischer Seite strikt abgelehnt worden. Die Militärs konnten in den Argumenten des Auswärtigen Amtes, analog zu den chinesischen Hochschülern auch über „militärische Studenten" die Kontakte zu China zu intensivieren, nichts Vorteilhaftes finden. Ende 1930 wandten sie sich trotz des gestiegenen Interesses an China strikt gegen eine Erweiterung der zugebilligten Stellenzahl, obwohl sich die Diplomaten für die Wünsche der chinesischen Gesandtschaft einsetzten. Die „Wilhelmstraße" wollte angesichts des chinesisch-englischen Vertrages über die Unterweisung von chinesischen Seeoffizieren in England und den Kauf von Kriegsschiffen bei der — wegen der geringen Teilnehmerzahl — politisch unproblematischen militärischen Ausbildung von Chinesen nicht abseits stehen. Militärkreise sahen diese Sachlage allerdings ganz anders. Auch in den folgenden Jahren lehnten sie eine Erweiterung der fünf

115

Zur deutschen Völkerbundskonzeption bezüglich China Generalkonsulat Tientsin an AA, 8. 7. 1930, PA, Abt. IV WiChi/Wirtschaft l A ( D ) / 2 ; Konsulat Genf an AA, 2 4 . 1 1 . 1931 und 2 4 . 3 . 1932, ebd., Wirtschaft l A ( D ) / 5 . Aufzeichnung Schoen, 7 . 5 . 1931, AD AP, B XVII, Nr. 116. Ratenhof, S. 29 ff.

1,6

AA an Gesandtschaft Peking, 8 . 1 2 . 1930, PA, Pol. Abt. IV/Po 13 C h i / 4 . Borch an AA,

117

Ende 1928 wurden zwei chinesische Offiziere in die Infanterieschule in Dresden auf-

24. 1. 1931, ADAP, B XVI, Nr. 186. genommen, Ende 1 9 2 9 zwei weitere, Leutnant Hsiang Djia-su und Hauptmann Sehen, zur Ausbildung in der Truppe zugelassen. R W M an AA, 4 . 1 . 1928 und 19. 9. 1928, PA, Pol. Abt. IV/Po 13 C h i / 1 ; Heeresstatistische Abteilung T 3 an AA, 15. 8. 1929, ebd., Po 13 C h i / 2 .

390

Ausbildungsplätze, selbst in der Heeresverwaltung, mit der Begründung ab, eine größere Belastung der Ausbildung sei völlig unakzeptabel 118 . Im Gegensatz zur traditionellen Reserviertheit in Fragen der Ausbildung in Deutschland hatten die Militärs an den Aktivitäten Bauers von Anfang an größeres Interesse gezeigt. Deutsche Militärberater wurden zwar ohne Genehmigung, aber durchaus mit Wissen der Reichswehr nach China vermittelt. Von einer Unterstützung oder irgendwelcher Hilfestellung konnte allerdings keine Rede sein. Die offizielle Haltung von Heer und Marine zur Nanking-Kommission Ch'en Yis war eher unterkühlt. Engere Kontakte zu Bauer schienen keineswegs angebracht und wurden von diesem bei seinen Vorbehalten gegenüber dem „Loyalitätskurs" der militärischen Führung wohl auch nicht gesucht. Durch Beziehungen zu Rechtsradikalen, die wie im Falle Bauer sogar wieder den Verdacht illegaler Auslandsaktivitäten beleben konnten, wollte das Militär seine guten Beziehungen zur politischen Führung nach den Affären der vorausgegangenen Jahre zunächst nicht gefährden. Dennoch hielt die „Heeresstatistische Abteilung" des Truppenamtes, T 3, — in Wirklichkeit zuständig für Auslandskontakte (Fremde Heere) — unter Oberst Kühlenthal seit 1929 inoffizielle Kontakte zu Militärberatern in China, deren Berichte mit Aufmerksamkeit verfolgt wurden 119 . Die krisenhafte Entwicklung der Beraterschaft unter Kriebel ließ dann jedoch der militärischen Führung die Suche nach einer neuen Form der Beziehungen zweckmäßig erscheinen. Die Ereignisse innerhalb der Beratergruppe und deren äußere Begleitumstände verstießen eindeutig gegen das Verständnis der Militärs von einer verantwortungsbewußten Führung im Sinne aktueller deutscher militärpolitischer Notwendigkeiten und wirkten dem Streben nach Einfluß und Kontrolle in allen sicherheitspolitischen und rüstungswirtschaftlichen Fragen entgegen. Die Berater nahmen oftmals nur untergeordnete Tätigkeiten in China wahr, die der Stellung von Gefreiten glich. Ihre Einwirlis Nur unter Zurückdrängung aller Bedenken hatte die Heeresleitung daher Anfang der 30er Jahre auch die Kommandierung japanischer Offiziere hingenommen, von deren Fähigkeiten sie nicht viel mehr hielt als von den chinesischen. Erst die Argumentation der Diplomaten, ein Gegengewicht zu französischen Offizieren in Japan bilden zu müssen, überzeugte die Reichswehr, die über die profranzösische Haltung der Japaner in Abrüstungsfragen zusehends verbittert war. Fischer an AA, 22. 5. 1931, PA, Pol. Abt. IV/Po 13 C h i / 5 ; Gesandtschaft Peking an AA, 21. 9. 1932, ebd., Po 13 C h i / 6 ; Fischer an AA, 1 . 1 0 . 1932, ebd.; London „Times", 2. 7 . 1 9 2 9 , ebd., Po 14 Chi/1. Aufzeichnung Schoen, 18. 8. 1930, ADAP, B XV, Nr. 187; Aufzeichnung Michelsen, 1 5 . 1 1 . 1930, ebd., B XVI, Nr. 5 7 ; AA an Botschaft Tokio, 1 7 . 1 2 . 1930, ebd., Nr. 110. Die Zahl der Ausbildungsstellen wurde nicht, wie Geyer (Motive, S. 61) fälschlicherweise annimmt, 1930 erhöht. Kehrig, S. 95 f.; Krebs, S. 19 ff. 119

Aufzeichnung Altenburg, 27. 9. 1928, PA, Pol. Abt. IV/Po 14 C h i / 1 ; Kriebel an seinen Bruder, 1 1 . 1 1 . 1929, ebd., Po 13 C h i / 2 ; Heeresstatistische Abteilung T 3 an AA, 2 3 . 1 1 . 1929, ebd. Krummacher an Oberst v. Brauchitsch, 2 0 . 4 . 1930, BA-MA, MSg 1 6 0 / 1 ; Briefwechsel Krummacher/Schmidtmann, ebd., 1 6 0 / 2 8 . F. Lindemann, S. 11 ff.; Vogt, Oberst Max Bauer. Generalstabsoffizier im Zwielicht, S. 464 ff. 391

kungsmöglichkeiten richteten sich nach dem jeweiligen individuellen Auftreten und waren äußerst begrenzt. Die Anstellungszusagen der Handelsabteilung erfolgten im Namen Chiang Kai-sheks, nicht der chinesischen Regierung, und boten den Soldaten und Zivilisten keine umfassenden Sicherheiten. Kriebel, der sich wie ein „Elefant im chinesischen Porzellanladen" 120 benahm, hatte zudem mit seinem anmaßenden Auftreten die zivilen Berater gegen sich aufgebracht. Auch die von Bauer geknüpften Verbindungen zur Industrie drohten verlorenzugehen, nachdem Anfang 1930 den Beratern von den Chinesen untersagt worden war, weitere Bestellungen vorzunehmen. Darüber hinaus schien sich wegen der Opposition Kriebels gegen Chiangs Reorganisationspläne für die Beraterschaft, durch die der „ad-interim-Generalberater" in seinen Kompetenzen erheblich beschnitten worden wäre, auch noch das Verhältnis zu den Chinesen entscheidend zu verschlechtern 121 . Die Verpflichtung des vormaligen Chefs des Truppenamtes (1927/28), General a . D . Wetzeil, zum 1. April 1930 als neuer Generalberater, um die sich Chu Chia-hua und Ludendorff seit 1929 bemüht hatten 122 , erkannte die „Bendlerstraße" schließlich als Chance, die Beraterschaft in China wieder zu disziplinieren, und als Gelegenheit, sich nach der Beendigung der russischchinesischen Auseinandersetzungen selbst stärker zu engagieren. Die Rücksichtnahme auf die Interessen des heimlichen Rüstungspartners Rußland war nicht mehr nötig. Vielmehr bot sich angesichts der Beratertätigkeit und der Waffenlieferungen des Westens und Japans nach China die Möglichkeit, die auf den vorbereitenden Abrüstungsgesprächen geforderte, aber verwehrte Gleichberechtigung wenigstens im Ausland, wenn auch nicht offiziell, so doch unübersehbar mit den gleichen Mitteln zu praktizieren. Mehr noch als eine frühe, verdeckte Demonstration militärischer Souveränität oder ein machtpolitisches Pfand für die revisionistischen Bestrebungen gegen West und Ost sahen die Militärs allerdings in der Beraterschaft einen Garanten zukünftiger militärischer und rüstungswirtschaftlicher Beziehungen 123 . Enge, vorläufig indirekte Kontakte zu Wetzell und eine Verbindungsstelle zu den Beratern sollten eine halboffizielle Anbindung der getarnten Militärmission an die Abteilung T 3 ermöglichen. Nur vordergründig gingen daher mit

120 121

Heeresstatistische Abteilung, T 3 an AA, 6. 3. 1930, PA, Pol. Abt. IV/Po 13 Chi/3. Chiang Kai-shek war weder mit der Kampfkraft der Truppen noch mit der Konzentration Kriebels auf rein militärische Dinge einverstanden. Er beabsichtigte daher, die Beraterschaft zu teilen: Kriebel sollte für den militärischen Bereich (Generalstab und Lehrdivision), Schubart für den zivilen Bereich und Lindemann für die Schulen und die Landesverteidigung zuständig sein. Generalkonsulat Shanghai an AA, 5. 3. 1930, ebd. Ausführlich zur „Kriebel-Krise" Aufzeichnung Altenburg, 1 3 . 1 . 1930, ebd.; Heeresstatistische Abteilung T 3 an AA, 6. 3. 1930, ebd.

122 123

Aufzeichnung Schoen, 21. 2. 1930, ebd. Mehner, Rolle, S. 77 ff. Dabei dürften Reichswehrkreise aber kaum an China als einen strategischen Faktor gegen Rußland gedacht haben, wie Seps (Advisers, S. 517 f.) behauptet. Besser Martin, Beraterschaft, S. 37 f.

392

der Entsendung Wetzells und anderer Offiziere über die Flugzeugfirma ARADO — wie die Getreuen Bauers vermuteten — die alten Konkurrenzkämpfe gegen die Vertretung von Junkers durch die Berater auf Kosten des Absatzes von Flugzeugen weiter. In Wirklichkeit konnte jedoch durch eine Zusammenarbeit der Reichswehr mit Oberstleutnant a. D. Brinckmann von der ARADO als alleinigem Vermittler bei der Verpflichtung von Beratern der störende Einfluß der chinesischen Gesandtschaft fast völlig ausgeschaltet werden. Der Typus des Beraters änderte sich dadurch in kurzer Zeit nicht unwesentlich: Nationalsozialisten, deren Aufmerksamkeit von der inneren Entwicklung in Deutschland beansprucht wurde, waren bei den Bewerbungen an die ARADO kaum noch vertreten. Statt dessen lockte unter den Aktiven der Reichswehr zunehmend das lukrative Angebot einer Stelle als Militärausbilder in China. Nur scheinbar machten Reichswehrstellen Soldaten, die in chinesische Dienste treten wollten, bei ihren Entlassungsgesuchen Schwierigkeiten. Reichswehrangehörige fühlten sich vor allem durch die Propaganda von Kameraden angesprochen, die bereits in China lehrten und nach Beendigung der Unruhen im Herbst 1930 die Möglichkeit einer ungestörten und gesicherten Aufrüstung und militärischen Modernisierung des Landes sahen 1 2 4 . Hatte sich Oberstleutnant Fischer, der für China zuständige Referent bei T 3 und vormalige Adjutant Seeckts und Führer der für die „Russengeschäfte" zuständigen Sondergruppe R, zunächst noch strikt gegen unmittelbare Beziehungen zu Wetzeil ausgesprochen, so führte die vermeintliche innere Festigung der Kuomintang-Herrschaft auch im Reichswehrministerium zu einer modifizierten Lagebeurteilung. Fischer teilte dem Auswärtigen Amt Anfang 1931 mit, daß zwar ein genereller Kurswechsel nicht beabsichtigt werde, daß aber sowohl Reichswehrminister Groener als auch der Chef der Heeresleitung Freiherr v. Hammerstein-Equord einverstanden seien, die Verbindungen zu China denen zur Türkei anzugleichen und alle personellen und materiellen Fragen direkt mit dem Generalberater zu klären, da von chinesischer Seite keine Indiskretionen zu befürchten seien. Die Ruhe nach den inneren Auseinandersetzungen schien der Abteilung T 3 eine Entwicklung militärischer und rüstungswirtschaftlicher Kontakte nach russischem Muster zu ermöglichen, zumal Chiang Kai-shek plante, die Anzahl der Musterdivisionen auf 12 aufzustocken, und sich offenbar eine militärische Modernisierung größeren Ausmaßes ankündigte 125 . Obwohl die Militärs in der „Bendlerstraße" vordringlich ihre Ziele über Wetzeil verfolgen wollten, kam ihnen der Wunsch Yü Ta-weis, der schon Anfang 1930 als „Spezialdelegierter für Handelsangelegenheiten" nach Deutschland zurückgekehrt war, nach besseren Beziehungen zwischen der chinesi124

Aufzeichnung Trautmann, 3. 2. 1931, PA, Pol. Abt. IV/Po 13 C h i / 4 . Interview des Ver-

125

Borch an AA, 2 7 . 1 1 . 1930, PA, Pol. Abt. IV/Po 13 C h i / 4 ; Aufzeichnung Trautmann,

fassers mit F. Pohle, 1 7 . 1 2 . 1980, und mit W . Stennes, 7. 3. 1980. 2 6 . 1 . 1931, ebd., Po 13 C h i / 5 . Aufzeichnung Michelsen, 1 5 . 1 1 . 1930, ADAP, B XVI, Nr. 57.

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sehen Gesandtschaft und dem Reichswehrministerium ebenso gelegen wie dessen Forderang nach einem Rahmenkredit für China ähnlich dem für Rußland. Der beginnende Meinungsaustausch, der unter dem Anspruch Yüs geführt wurde, die Handelsabteilung sei die maßgebliche Stelle für die deutsch-chinesischen Militär- und Rüstungsbeziehungen und T 3 könne allenfalls dabei mitwirken, gestalteten sich jedoch Anfang 1931 keineswegs unproblematisch. Eine Einigung über Kompetenz- und Organisationsfragen zeichnete sich nicht ab 1 2 6 . Fischers Dementi auf Gerüchte der Industrie, Reichswehr und Handelsabteilung hätten eine Vereinbarung über Lieferungen aus Heeresbeständen geschlossen, konnte daher kaum angezweifelt werden 1 2 7 . Entscheidend verbessert wurden allerdings die Beziehungen zu hochrangigen chinesischen Militärführern, deren Einfluß angesichts der realen Befehlsverhältnisse in den Kuomintang-Streitkräften bei zukünftigen militärindustriellen Projekten nicht unterschätzt wurde. Bereits Ende 1930 hatte die Abteilung T 3 General Yang die Teilnahme an militärischen Übungen in Deutschland erlaubt. General Whang, dem Leiter der chinesischen Delegation zur Vorbereitung der Abrüstungskonferenz, und drei weiteren Stabsoffizieren wurde im Januar 1931 ein Programm zum Besuch von Rüstungsbetrieben vermittelt; auch konnten die Generale Fan Hong und Bow Tso-hua einige Monate später wiederum an Truppenübungen teilnehmen. Dabei durften sich die Militärs der Unterstützung des Auswärtigen Amtes sicher sein, das sich in seiner positiven Auffassung zur Verbesserung persönlicher, informeller Kontakte bestätigt sah 128 . Dagegen hatte sich die „Wilhelmstraße" strikt gegen eine Anwerbung Wetzells nach China ausgesprochen. Einwände der Diplomaten, Wetzeil gefährde als erster deutscher Berater in China, der aktiv in der Reichswehr gedient habe, die Beziehungen zu den Westmächten und Japan im besonderen Maße, überdies sei statt politischem Nutzen vielmehr wirtschaftlicher Schaden aus seiner Tätigkeit zu erwarten, blieben ohne Wirkung auf die militärische Führung. Tatsächlich kündigten schon bald die zivilen Berater, die durch ihre Tätigkeit an wichtigen Stellen gerade eine Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen versprachen, ihre Kontrakte, nachdem es Schubart offiziell und mit Rückendeckung des preußischen Finanzministeriums abgelehnt hatte, sich nach Kriebel wieder einem rechtsradikalen ehemaligen Mitarbeiter Ludendorffs zu unterstellen und in seinem Wirkungsfeld weiter ein-

126

Borch an AA, 19. 3. 1930, PA, Pol. Abt. IV/Po 13 C h i / 3 ; Aufzeichnung Trautmann, 3. 2. 1931, ebd., Po 13 C h i / 4 ; Aufzeichnung Trautmann, 2 6 . 1 . 1931, ebd., Po 13 C h i / 5 ; Aufzeichnung Altenburg, 16. 4. 1931, ebd., Po 14 Chi/1.

127

AA an R W M , 18. 7. 1931, ebd., Abt. IV WiChi/Rohstoffe und W a r e n / 1 6 ; R W M an AA,

128

R W M an AA, 25. 8. 1930, ebd., Po 13 C h i / 4 ; R W M an AA, 22. 1., 6. 6. und 30. 6. 1931,

30. 7. 1931, ebd. ebd., Po 13 C h i / 5 . In den folgenden Jahren wurden diese Kontakte fortgesetzt und weiter ausgedehnt. R W M an AA, 6. 2. 1933, ebd., Abt. IV WiChi/Rohstoffe und W a r e n / 17.

394

geschränkt zu werden 1 2 9 . Erneute Fühlungnahmen des Auswärtigen Amtes zum Reichswehrministerium in dieser Angelegenheit zeitigten allerdings auch weiterhin keine Erfolge. Vielmehr beklagte Fischer, daß die Militärberater in China trotz ihres „Ansehens" bei Chiang Kai-shek von den diplomatischen Vertretern des Reiches schlechter behandelt würden als in Südamerika und in anderen Ländern. Weitere Warnungen der „Wilhelmstraße" Ende 1930/Anfang 1931, direkte Beziehungen zu den Beratern diskreditierten die deutsche Chinapolitik, tat die „Bendlerstraße" ebenso mit dem Hinweis ab, nur wenige Ausbilder würden in absehbarer Zeit noch von der Kuomintang gewünscht, wie den Vorwurf der Diplomaten, eine potentielle Ausweitung der Beratertätigkeit auch auf Chang Hsüeh-liang würde unmittelbar eine Verstimmung der Japaner provozieren 130 . Allmählich legte sich im Laufe des Jahres jedoch die Besorgnis des Auswärtigen Amtes, obwohl kurz vor dem Ausbruch der Spannungen zwischen der CantonKoalition und Nanking mit Spiegel und Sperling zwei Berater, die zuvor bei Feng Yü-hsiang gedient hatten, zu General Li Tsung-jen nach Kwangsi wechselten und damit die Auffassung der Diplomaten nur bekräftigten, die Militärberater seien immer dort zu finden, wo Streitereien drohten 131 . Berichte der Gesandtschaft bestätigten allerdings, daß im Gegensatz zu den drei zivilen deutschen Beratern in Nanking, die unter 20 ausländischen Instrukteuren noch verblieben waren, der Einfluß der Militärberater lediglich gering und unbedeutend sei. Die „Wilhelmstraße" hatte angesichts dieser Meldungen schließlich sogar nichts gegen den Vorschlag Fischers einzuwenden, in Sachen Militärberater anstatt schriftlich nur noch mündlich miteinander zu verkehren, um unnötige Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Ministerien zu vermeiden. Größere Sorgen als die eigenständigen Aktivitäten der Reichswehr in China machte dem Auswärtigen Amt seit geraumer Zeit dann auch vielmehr die chinesische Gesandtschaft, die sich seit der Rückkehr Yü Ta-weis zu einer reinen Interessenvertretung des chinesischen Militärs entwickelte. Während die politische Führung des Reiches angesichts ihrer Konzentration auf Mitteleuropa und den Völkerbund immer weniger Interesse an Militärberatern und den Chinakonzeptionen der Militärs zeigte, verschlechterten sich die deutsch-chinesischen diplomatischen Beziehungen 1931 infolge der neuerlichen Rüstungskäufe und Skandale um Waffenlieferungen erheblich 132 . Seit Mitte 1930 hatte Yü Ta-wei wieder versucht, an die alten Pläne aus der Zeit Bauers anzuknüpfen und die gesamten Rüstungslieferungen nach China zu kon-

129

Gesandtschaft Peking an AA, 4. 8. 1930, ebd., Pol. Abt. IV/Po 13 Chi/4; Preußisches Finanzministerium an AA, 9. 9. 1930, ebd. Fu, Advisers, S. 194 ff.

130

Schubert an Gesandtschaft Peking, 2 5 . 2 . 1930, PA, Büro R M / 3 7 / 3 . Aufzeichnung Trautmann, 5. 3 . 1 9 3 0 , ADAP, B XIV, Nr. 138; Aufzeichnung Schoen, 2 8 . 1 . 1 9 3 1 , ebd., B XVI, Nr. 193.

131

Gesandtschaft Peking an AA, 19. 8. 1931, PA, Pol. Abt. IV/Po 13 Chi/5. Gesandtschaft Peking an AA, 28. 6. 1931, ebd., Abt. IV WiChi/Wirtschaft 1A/3. Borch an AA, 2 4 . 1 . 1931, ADAP, B XVI, Nr. 186.

132

395

trollieren. Über Einfuhrscheine (Huchaos) wollte er die Hamburger Exporteure zur Offenlegung ihrer Geschäftsverbindungen nach China und ihrer Gewinne zwingen. Unumwunden gab er dabei zu, für die Nanking-Regierung möglichst viele direkte Abschlüsse mit der Industrie anzustreben, der er drohte, sie müsse schnellstens auf seine Vorschläge eingehen und größeren Idealismus für das deutsch-chinesische „Bündnis" zeigen, oder sie gehe leer aus. Aufgebracht durch die Proteste der Handelsfirmen und das anmaßende Verhalten Yüs, vor allem aber durch dessen wieder aufgenommene, im Inland illegalen und über das Ausland unerwünschten Waffenkäufe, forderte das Auswärtige Amt die Handelsabteilung ultimativ auf, ihre Tätigkeit in ein anderes Land zu verlegen. Yü zeigte sich allerdings nicht bereit, darauf einzugehen, denn trotz seiner Bemühungen seien über die Gesandtschaft nur 2 % bis 3 % aller Rüstungskäufe getätigt worden, die restlichen Geschäfte hätten deutsche Firmen privat abgewickelt 133 . Tatsächlich hatten es gerade die deutschen Handelsfirmen vermocht, im Kriegsgerätegeschäft zu bleiben und 1931 mit 3,4 Millionen HKT fast genauso viel nach China zu liefern wie 1930, obwohl die Rüstungsgeschäfte seit dem chinesischen Währungszusammenbruch sowie dem neuen Zolltarif für Waffen — 40 % statt bislang 22,5 % 134 — erheblich zurückgingen. Den deutschen Kaufleuten gelang es, fabrikneue Kriegswaffen, die in Deutschland nur illegal zu ordern waren, auf die sich aber das Interesse der Chinesen angesichts ihres Kaufkraftverfalls nunmehr bei Rüstungskäufen konzentrierte, auch für ausländische Industriefirmen aus der Schweiz, Holland, Österreich, Schweden und insbesondere Frankreich zu liefern. Dagegen gingen 1931 die direkten Rüstungsgeschäfte aus Deutschland nach China — mit Ausnahme von Stahllieferungen für das Hanyang-Arsenal — beträchtlich zurück 135 . Nur vordergründig schienen die Animositäten zwischen der chinesischen Gesandtschaft und der „Wilhelmstraße" beigelegt zu sein. Der „Rickmers-Skandal" deckte dann noch einmal mit aller Deutlichkeit die Problematik der deutsch-chinesischen Rüstungsverkäufe auf. Im August 1931 war in der ausländischen Presse hochgespielt worden, daß die Reederei Rickmers die Anweisungen aus Nanking befolgte, infolge der wachsenden Spannungen mit dem Süden die im Auftrag der Firma Siemssen nach Canton zu liefernden ausländischen Waffen nach Shanghai zu transportieren, und daß die südliche Gegenregierung daraufhin Boykottdrohungen gegen Deutschland ausstieß. Gerade England, Frankreich und Japan, auf deren Entgegenkommen die Regierung Brüning bei den Reparations- und Abrüstungskonferenzen

133 Verbalnote der Chinesischen Gesandtschaft, Berlin, an AA, 24. 4. 1930, PA, Abt. IV W i Chi/Rohstoffe und W a r e n / 1 4 ; Aufzeichnung Lautenschlager, 26. 6. 1930, ebd.; AA an Gesandtschaft Peking, 7. 7. 1930, ebd. 134

DIHT an Mitglieder, 14. 1. 1931, W W A , K 2 / 3 3 5 .

135

Polizeipräsident, Berlin, an Reichsministerium des Innern, 5. 3. 1931, PA, Abt. IV WiChi/Rohstoffe und W a r e n / 1 6 ; Preußisches Ministerium des Innern an Reichsministerium des Innern, 4. 6. 1931, ebd.; Aufzeichnung o. N., 6. 2. 1933, ebd., Rohstoffe und W a r e n / 1 7 . Kunst & Albers, S. 42 ff., 68 ff.

396

hoffte, übten Druck auf die Reichsregierung aus und warfen Berlin eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Chinas vor, um ihre eigenen florierenden Rüstungsgeschäfte mit China gegen die deutsche Konkurrenz zu schützen 1 3 6 . Harte Kritik richtete das Auswärtige Amt daher zunächst gegen die deutschen Kaufleute, die oft genug davor gewarnt worden seien, dem Ansehen des Deutschen Reiches Schaden zuzufügen, obwohl in Diplomatenkreisen von Anfang an offen zugegeben wurde, daß die Aufrüstung der Generale von Kwangsi und Kwangtung für die Chinawirtschaft verführerisch sein mußte 1 3 7 . Die Diplomaten betonten, daß sie keine Einwirkungsmöglichkeiten auf den Prozeß gegen die Firma Siemssen in Canton besäßen, und empfahlen darüber hinaus den Chinakaufleuten, lediglich auf die Auslieferung von zwei Schiffen der Rickmers- und der HAPAG-Reederei hinzuarbeiten, die Nanking mittlerweile ebenfalls beschlagnahmt hatte, und keinen Schadensersatz zu fordern 1 3 8 . Deutlich verärgert zeigte sich die „Wilhelmstraße" aber auch allmählich gegenüber der Kuomintang-Regierung in Nanking und deren Interessenvertretung in Berlin. Yü Ta-wei forderte die Handelsfirmen nicht nur auf, eindeutig loyal zu Nanking zu stehen, sondern nutzte deren Zwangslage auch ohne zu zögern aus, indem er darauf bestand, zukünftig auf jegliche Kommission im Rüstungsgeschäft zu verzichten 1 3 9 . Das Auswärtige Amt seinerseits warf Nanking vor, noch nicht einmal in der Lage zu sein, Deutschland vor der Hetzkampagne in Canton zu schützen 1 4 0 . Als Druckmittel wurde ganz offen die Wiederinkraftsetzung des Waffenhandelsgesetzes von 1928 erwogen, um die Regierung in Nanking zu zwingen, endlich auch die politische Interessenlage des Reiches gebührend zu berücksichtigen. Die Mißklänge zwischen der politischen Führung in Berlin und der in Nanking, die ihrerseits der deutschen Regierung vorwarf, sie stelle sich nicht eindeutig hinter die Interessen der von ihr anerkannten chinesischen Führung, verschärften sich zunächst noch während der japanisch-chinesischen Auseinandersetzungen 1 4 1 . 136

AA an Gesandtschaft Peking, 1 8 . 8 . 1931, mit ausführlichem Bericht zum „Rickmers-

137

AA an Staatsamt für auswärtige Angelegenheiten, Hamburg, 21. 8. 1931, ebd.; AA an

Zwischenfall", PA, Büro R M / 3 7 / 3 . Verband deutscher Reeder, 19. 4. 1930, ebd., Abt. IV WiChi/Rohstoffe und W a r e n / 1 4 . Mitte 1932 wurde die Firma Siemssen zur Rückerstattung des Kaufpreises von 100 000 mex. Dollar verurteilt. Der verantwortliche Leiter der Filiale in Canton, Herr Eckert, beugte sich 1934 dem Urteil, um größere Geschäfte nicht zu gefährden. Gesandtschaft Peking an AA, 7. 6. 1932, ebd., Pol.Abt. IV/Po 3 adh C h i / 1 ; Gesandtschaft Peking an AA, 1 8 . 1 0 . und 26. 11. 1934, ebd., Po 3 adh Chi/2. 139

Aufzeichnung Lautenschlager, 2 6 . 8 . 1931, ebd., Pol. Abt. IV/Po 2 C h i / 6 ; Runderlaß AA, 21. 8. 1931, ebd., Abt. IV WiChi/Rohstoffe und W a r e n / 1 6 ; Gesandtschaft Peking an AA, 31. 8. und 1. 9 . 1 9 3 1 , ebd.; Aufzeichnung Schoen, 4. 9 . 1 9 3 1 , ebd.; Aufzeichnung Lautenschlager, 14. 9. und 3 1 . 1 0 . 1931, ebd.

140 141

Zur antideutschen Bewegung in Canton Ch. Chen, S. 121 ff. Gesandtschaft Peking an AA, 23. 9. 1931, PA, Büro R M / 3 7 / 3 ; Generalkonsulat Kanton an AA, 1 5 . 9 . 1931, ebd., Abt. IV WiChi/Rohstoffe und W a r e n / 1 6 ; AA an Gesandtschaft Peking, 17. 9. 1931, ebd. 397

Hatte die Reichsregierung inzwischen den Militärberatern in China kaum Beachtung geschenkt, so veranlaßten die japanischen Presseangriffe, die seit Beginn der Kämpfe in Shanghai Anfang 1932 gegen die deutschen Instrukteure geführt wurden, die „Wilhelmstraße", Wetzell über den neuen Gesandten in Peking, Trautmann (seit dem 2. Oktober 1931), mehrmals eindringlich nahezulegen, die Berater aus allen militärischen Unternehmungen herauszuhalten. Zwar wies das Auswärtige Amt japanische Beschuldigungen, deutsche Ausbilder kämpften auf Seiten der Chinesen, mit der Bemerkung zurück, es könne sich, wenn überhaupt, nur um Freiwillige, aus der Militärberatergruppe ausgeschiedene Soldaten handeln; ohne Zweifel stand aber fest, daß ab Februar 1932 die von Wetzell neu aufgestellte 87. und 88. Musterdivision den Japanern bei Shanghai erheblichen Widerstand entgegensetzte. Wetzells bekannte Antipathie gegenüber Japan und seine Versuche, Flieger der Eurasia anzuwerben, veranlaßten die politische Führung in Berlin schließlich sogar zu der Drohung, dem General die für den weiteren Bezug seiner Pension notwendige Auslandsaufenthaltsgenehmigung zu entziehen, falls er sich nicht strikt an die Anweisungen des Auswärtigen Amtes halte 142 . Ganz auf der Linie der „Wilhelmstraße" lagen dagegen Anfang 1932 die Entscheidung des vormaligen Militärattaches in Japan (1910—1914) und vormaligen Kommandeurs der Infanterieschule Dresden (bis 1930), Generalleutnant a. D. v. Falkenhausen, der nach eigenem Bekunden nicht daran dachte, sich für Chang Hsüeh-liangs Kampf gegen die Japaner engagieren zu lassen, sowie der ablehnende Bescheid General a. D. Groeners, dem kurz nach seiner Demission als Reichswehrminister über Strewe die Gesamtleitung der Landesverteidigung Chinas angetragen worden war 1 4 3 . Das Auswärtige Amt war — sogar noch stärker als die Außenbehörden der anderen Großmächte — davon überzeugt, bei einer nach außen hin neutralen Haltung im chinesisch-japanischen Konflikt grundsätzlich eine projapanische Position einnehmen zu müssen. Die erhoffte Unterstützung von Seiten Japans in der Reparations- und insbesondere in der Abrüstungsfrage erforderte nach Ansicht der Diplomaten eine vollständige Zurückhaltung in der Mandschureiproblematik. Selbst dem Drängen der USA, endlich den Neunmächte-Vertrag mit seiner formellen Festlegung des Prinzips der „Offenen Tür" für China zu ratifizieren, wollte Brüning nicht nachgeben, um damit kein sichtbares Zeichen gegen die Japaner zu setzen 1 4 4 .

142

M e y e r an Hammerstein-Equord, 23. 2. 1932, AD AP, B XIX, Nr. 261. Vgl. vor allem Ratenhof, S. 149 ff., 165 f.

143

Zu Falkenhausen und Groener: Gesandtschaft Peking an AA, 1 7 . 4 . 1932, PA, Pol. Abt. IV/Po 13 C h i / 6 ; Falkenhausen an AA, 26. 4. 1932, ebd.; Aufzeichnung Michelsen, 10. 6. 1932, ebd.

144

Gesandtschaft Peking an AA, 2 1 . 3 . 1932, ebd.; Reichsverkehrsministerium an AA, 30. 5. 1932, ebd. Bülow an Mutius, 1 0 . 1 0 . 1931, AD AP, B XVIII, Nr. 234; Bülow an Botschaft Tokio, 12. 11. 1931, ebd., B XIX, Nr. 54; Köpke an deutsche Delegation, Genf, 18. 2. 1932, ebd., Nr. 257; Dirksen, Moskau, an Bülow, 23. 2. 1932, ebd., Nr. 2 6 4 ; Stimson an Prittwitz, 25. 5. 1932, FRUS 1932, III. Ratenhof, S. 137 ff.

398

Vor allem machten der politischen Führung angesichts ihrer außenpolitischen Zielvorstellungen die japanischen Beschuldigungen zu schaffen, Deutschland verstoße gegen das Kriegsgerätegesetz und liefere Waffen, ja sogar Giftgas nach China. Tatsächlich hatte bis Anfang 1932 kein unerlaubter Waffenhandel zwischen Deutschland und China stattgefunden 145 . Auch legale Rüstungslieferungen über Deutschland hielten sich in Grenzen, nachdem der Ostasiatische Verein nach dem „Rickmers-Zwischenfall" die Direktive ausgegeben hatte, Waffengeschäfte mit China seien äußerst bedenklich. Trotz einer chinesischen „Studienkommission für Munition und Bewaffnung", die sich im Mai in Deutschland aufhielt, konnte Yü Ta-wei nur kleinere Geschäftserfolge verbuchen. Der „Spezialdelegierte für Handelsangelegenheiten" verließ, enttäuscht von der harten Haltung des Auswärtigen Amtes, noch im selben Monat Berlin. In leitender Stellung der Waffenabteilung des chinesischen Kriegsministeriums bemühte er sich jedoch weiterhin, der Aufmerksamkeit der Reichswehr gewiß, um die Koordination und Vereinheitlichung deutscher Rüstungsexporte nach China 146 . Im Gegensatz zu Deutschland, dessen erlaubte Kriegsmateriallieferungen nach China 1932 gegenüber dem Vorjahr sogar sanken 147 , erzielten die Westmächte, nicht zuletzt mit Hilfe ihrer eigenen Militärberater, bis Anfang 1933 bei ihren Rüstungsgeschäften mit den Chinesen gleichwohl Rekordergebnisse 148 . Nur für zwei Wochen stoppten die Engländer, die allein im Januar und Februar 1933 20 000 Gewehre und 16 Millionen Patronen verkauften, ihre Rüstungslieferungen nach Fernost. Proteste der Chinesen, die sich gegenüber den von Rüstungslieferungen nahezu unabhängigen Japanern stark benachteiligt fühlten, sowie die mangelnde Kooperationsbereitschaft der anderen westlichen Mächte bewirkten die baldige Aufhebung der Restriktionen 149 . Anfang 1933 tätigten allerdings auch deutsche Handelsfirmen wieder größere Kriegsgerätelieferungen, allein Carlowitz für Bofors 60 Gebirgsgeschütze und für Solothurn 48 Flugabwehr-

145

Selbst Lieferungen von Pistolen und Gewehren der Mauser-Werke, die als Jagdwaffen deklariert werden sollten, zerschlugen sich im Laufe des Jahres. Polizeipräsident, Berlin, an Reichsministerium des Innern, 1 7 . 1 2 . 1932, PA, Pol. Abt. IV/Po 3 adh C h i / 1 ; Reichsministerium des Innern an Polizeipräsidenten, Berlin, 21. 4. 1932, ebd. Ergebnisse des laufenden Geschäftsjahres 1 . 1 0 . 1 9 3 0 - 3 0 . 9. 1931, MA, Protokolle und Interne Privatkorrespondenz; Carlowitz & Co. an Mauser, 28. 2. 1931, ebd.; Bericht der Schwäbischen Treuhand AG, 30. 9. 1933, ebd., Geschichte der Mauserwerke, ebd.

146

Polizeipräsident, Berlin, an Reichsministerium des Innern, 19. 7 . 1 9 3 2 , PA, Pol. Abt. IV/

147

Aufzeichnung AA, 6. 2. 1933, ebd., Abt. IV WiChi/Rohstoffe und W a r e n / 1 7 .

148

Amerikaner und Italiener verfügten seit Anfang der 30er Jahre über eigene Fluglehrer,

Po 3 adh C h i / 1 ; Gesandtschaft Peking an AA, 23. 2. 1933, ebd., Po 13 Chi/6.

die Engländer über Marineberater in China. Aufzeichnung Michelsen, 27. 4. 1934, ebd., Pol. Abt. IV/Po 13 C h i / 8 ; zu den Rüstungslieferungen der anderen Mächte Botschaft London an AA, 9 . 1 2 . 1 9 3 1 , ebd., Po 3 adh C h i / 1 ; „Börsenblatt", 11. 2 . 1 9 3 2 , ebd. 149

AA an deutsche Delegation, Genf, 1. 3 . 1 9 3 3 , PA, Pol. Abt. IV/Po 3 adh C h i / 1 ; Meldung des Wolff Telegraphen Büro, 28. 2 . 1 9 3 3 , ebd.; London „Times", 14. 3. 1933, ebd. „Manchester Guardian", 1. 4. 1933, H W W A , B 9 4 / q N r . 2IIb.

399

kanonen 1 5 0 . Geharnischte Proteste und Drohungen der Japaner, die im Jahr zuvor immer wieder versucht hatten, mit teilweise falschen Behauptungen über deutsche Militärberater und Rüstungslieferungen die Reichsregierung international zu diskreditieren, um so vom eigenen Vorgehen abzulenken und Berlin zu politischen Zugeständnissen zu bewegen, lösten nunmehr im Auswärtigen Amt, ganz anders als noch einige Monate zuvor, scharfe Repliken aus 1 5 1 . Hatte die Reichsregierung unter Brüning noch versucht, ein Versagen und damit eine Gefährdung des Völkerbundes in Ostasien zu vermeiden, mit dessen Hilfe Berlin seine revisionistischen Ziele durchsetzen wollte, und eine projapanische Politik auf der Linie des W e s t e n s betrieben, so änderte sich die deutsche Position gegenüber Japan nach dem Regierungswechsel zu Papen und der zunehmenden Militarisierung der Außen- und Sicherheitspolitik im Zuge des Ultimatums auf der Abrüstungskonferenz. Die negative Haltung der Japaner gegenüber deutschen Vorstellungen in der Abrüstungsfrage und ihre völlig konträren Zielsetzungen verdeutlichten Mitte 1932 unmißverständlich, daß Deutschland keinerlei Unterstützung von Seiten der ostasiatischen Großmacht erwarten konnte. In der „Wilhelmstraße" wich allmählich die Rücksichtnahme einer wachsenden Verärgerung über die japanische Intransigenz. Das Drängen Japans, Deutschland solle sich bei der Völkerbundsresolution vom Februar 1933 der Stimme enthalten, vermochte deutsche Regierungskreise zu keiner Reaktion mehr zu bewegen 1 5 2 . Auch wirtschaftlich schien Japan dem Deutschen Reich keine Perspektiven mehr zu bieten. Anfang 1933 zeichnete sich keine Stabilisierung des deutsch-japanischen Außenhandels ab, nachdem die deutschen Exporte von 1929 bis 1932 um ca. zwei Drittel gefallen und die ohnehin geringfügigen Importe nach Deutschland nochmals um mehr als 50 % zurückgegangen waren 1 5 3 . Die deutsche Wirtschaft war bereits Anfang der 30er Jahre weniger für Japan und stärker für das modernisierungswillige China als wichtigsten Handelspartner in Fernost eingetreten, da der Handelsvertrag mit dem ostasiatischen Kaiserreich von Ende der 20er Jahre die Hoffnungen keineswegs erfüllt hatte. Das Scheitern der Südosteuropakonzeption sowie das stärkere Eingehen Papens und Schleichers auf die (Export-)Bedürfnisse der Industrie ließen die Wirtschaftsführer endlich auf ein größeres Entgegenkommen der Reichsregierung in deutsch-chinesischen Wirtschaftsfragen hoffen 1 5 4 . Konsulat Chungking an Gesandtschaft Peking, 1 5 . 1 1 . 1932, PA, Pol. Abt. IV Po 3 adh

150

C h i / 1 ; Polizeipräsident, Berlin, an Reichsministerium des Innern, 1 7 . 1 2 . 1932, ebd. Wetzell an Brinckmann, 24. 1. 1933, BA-MA, MSg 1 6 0 / 4 . Kunst & Albers, S. 102 ff. 151

Trautmann an AA, 16. 1. und 5. 2. 1933, PA, Pol. Abt. IV/Po 3 adh C h i / 1 . Grew, Tokyo,

152

Aufzeichnung Bülow, 2 0 . 9 . 1932, ADAP, B XXI, Nr. 62; Aufzeichnung Czibulinski,

an Secretary of State, 1 7 . 1 . 1933, FRUS, 1933, III, S. 97 f., und 1 8 . 1 . 1933. S. 103. 20. 2. 1933, ADAP, C I, Nr. 28. Ratenhof, S. 1 7 0 ff. 153

Zu den deutsch-japanischen Wirtschaftsbeziehungen Aufzeichnung AA über die Lage im Fernen Osten, o. N. o. D. (wohl Anfang 1 9 3 3 nach dem Tangku-Waffenstillstand), PA, Pol. Abt. IV/Po 2 Chi/6. Bloch, S. 10 ff.

154

Bloch, S. 20 f.

400

In den Jahren 1931 und 1932 hatte sich für deutsche Produzenten und Kaufleute die Entwicklung auf dem chinesischen Markt, der als eine der letzten Möglichkeiten zur Überwindung der wirtschaftlichen Krisen angesehen wurde, nicht so günstig dargestellt wie erwartet. Der Silbersturz bewirkte nicht nur steigende Preise und einen ständig wachsenden Kaufkraftschwund, sondern gefährdete auch das gesamte chinesische Wiederaufbauprogramm. Im Gegensatz zu den anderen Großmächten sahen sich die deutschen Kaufleute und Industriellen dabei in einer besonders schwierigen Situation. Während Japaner, Engländer, Russen und Franzosen über territoriale Ausgangsbasen in unmittelbarer Nähe Chinas verfügten und sich die USA über ihre enormen kulturellen Aktivitäten große Vorteile verschafften, mußte die deutsche Chinawirtschaft mit Rücksicht auf die Interessen der M ä c h t e selbst in einem der wichtigsten und erfolgreichsten Teilbereiche, dem Rüstungsgeschäft, immer kürzer treten. Der erste Jahresbericht der Chinastudiengesellschaft von Anfang 1932 konnte diese pessimistische Sichtweise nur unterstreichen: Alle Verhandlungen über industrielle Großprojekte seien bislang an Finanzierungsfragen gescheitert. Zudem befänden sich nur noch 20 % derjenigen Chinesen in ihren Ämtern, mit denen die Studienkommission Verbindungen geknüpft habe. Der unerklärte Krieg zwischen China und Japan lasse in absehbarer Zeit auf keine Verbesserung hoffen. Als generelle Leitlinie wurde dabei in Kreisen der deutschen Chinawirtschaft die Besitzstandswahrung akzeptiert, die allerdings mehr und mehr bedroht schien 1 5 5 . Daß der Anteil der deutschen Reedereien HAPAG, Lloyd und Rickmers im Chinaverkehr mit 2 , 7 % weiterhin zu wünschen übrig ließ, beunruhigte kaum 1 5 6 . Die Halbierung der Ausfuhr aus Deutschland nach China im Zeitraum von 1929 bis 1932 von 185 Millionen auf 83 Millionen R M und der chinesischen Einfuhren nach Deutschland von 371 auf 177,1 Millionen RM gab hingegen zu besonderen Sorgen Anlaß 1 5 7 . Nur wenig tröstlich war dabei zunächst, daß der Abstand Deutschlands zu den USA, Japan und Großbritannien ungefähr der gleiche blieb wie in den 20er Jahren 1 5 8 . Als Lichtblick zeichnete sich einzig und allein eine Initiative des vormaligen chinesischen Handels- und Industrieministers K'ung ab, der bereits Ende 1931 in China die Gründung einer Gesellschaft ähnlich der Chinastudiengesellschaft zur Verbesserung der Wirtschaftsbeziehungen in Aussicht gestellt

155

Generalkonsulat Hankow an AA, 29. 1 2 . 1 9 3 1 , PA, Abt. IV W i C h i / W i r t s c h a f t lA(D)/5.

156

Zentralstelle für Außenhandel, 30. 1 2 . 1 9 3 1 , StAHB, 4 , 4 9 - l A 4b 1 0 / 2 . Von 1928 bis 1930 war der deutsche Anteil noch von 3,2 % auf 3,4 % gestiegen. Hou, S. 60 f.

157

Bloch, S. 10 ff.; Röser, S. 110 ff.; W u , S. 91 f.

158

Deutschlands Anteil am chinesischen Außenhandel fiel im Verhältnis zu 1928 lediglich um einen Prozentpunkt von ca. 8 % auf ca. 7 % zurück. DAB Geschäftsbericht 1932, ADB. Zur deutschen Ausfuhrstatistik Wu, S. 93 f. Zur Umrechnung von Mark in Yüan Martin (Hrsg.). Deutsche Beraterschaft, S. 4 5 8 f. Zum Vergleich der Anteile Japans, Großbritanniens und der USA am chinesischen Außenhandel A. Young, Effort, Anhang 23.

401

und damit um Vertrauen geworben hatte. K'ung, einer der engsten Vertrauten und Gefolgsleute Chiang Kai-sheks, hielt sich in seiner Eigenschaft als Spezialdelegierter zum Völkerbund seit Ende 1932 längere Zeit in Deutschland auf. Seine Pläne zur Gründung industrieller Unternehmungen mit deutscher Hilfe klangen durchaus realistisch und wurden von der Chinastudiengesellschaft hoffnungsvoll aufgenommen. Der Empfang des nachmaligen chinesischen Finanzministers und Vizepremiers durch den Reichsaußenminister demonstrierte dann auch erstmals die großzügigere und entgegenkommendere Haltung des Auswärtigen Amtes gegenüber den Wünschen der NankingRegierung, zumal K'ung Anfang 1933 Vizeadmiral a. D. Kinzel, den vormaligen Inspekteur der Küstenartillerie (bis Oktober 1932) und damaligen Beauftragten mehrerer namhafter deutscher Rüstungskonzerne und deren ausländischer Tochterfirmen (Zeiss, Rheinmetall, Krupp, Loewe), mit nach China nahm. Zum Verdruß der deutschen Gesandtschaft in Peking schien die neue Führung der „Wilhelmstraße" entgegen gewohnten Praktiken Rüstungsgeschäfte mit China nicht nur hinzunehmen, sondern unter dem Aspekt politischer Handlungsfreiheit und wirtschaftlicher Notwendigkeit sogar prinzipiell zu fördern, eine Einstellung, die dem Auswärtigen Amt allerdings zweifellos eine Annäherung an die modifizierte Chinakonzeption der Reichswehr erleichterte 159 . In der „Bendlerstraße" mußte sich spätestens nach den Gefechten bei Shanghai und Trautmanns Berichterstattung, daß die Chinesen zwar tapfer, aber eher wie unorganisierte Banden kämpften, die Erkenntnis durchgesetzt haben, China könne bezüglich der Produktions-, Lieferungs- und Ausbildungsmöglichkeiten in keiner Weise mit Rußland verglichen werden. Allerdings bedurften die Chinapläne des Militärs angesichts der neuen Priorität der Aufrüstung im Innern und der Überlegungen, der Wirtschaft stärker als bislang entgegenzukommen und sie allmählich der eigenen Strategie nutzbar zu machen, nur geringer Veränderungen. Vor allem der Rohstoffbezug und der Absatz von Rüstungsmaterial zur Festigung der eigenen Produktionskapazitäten standen ab Anfang 1932 eindeutig im Mittelpunkt der nunmehr ganz auf wirtschaftliche Momente angelegten Chinapolitik der Reichswehr. Die Zurückdrängung der militärischen Aspekte kam nicht nur der Industrie entgegen, sondern auch der „Wilhelmstraße", an deren Spitze Neurath unter Papen und Schleicher bereit war, den für die Sicherheit und Aufrüstung des Deutschen Reiches notwendigen militärstrategischen und rüstungswirtschaftlichen Erfordernissen in der Fernost- und Chinapolitik den gebührenden Platz einzuräumen 160 .

159

Deutsche Delegation, Genf, an AA, 2 5 . 1 1 . 1932, PA, Büro R M / 3 7 / 4 ; Aufzeichnung Neurath, 9. 1. 1933, ebd.; China-Studiengesellschaft an Gesandten Liu Wen-tao, Berlin, 1 9 . 1 . 1 9 3 2 , ebd., Abt. IV WiChi/Wirtschaft l A ( D ) / 5 ; Trautmann an AA, 17. 3 . 1 9 3 3 , ebd., Rohstoffe und W a r e n / 1 7 ; Trautmann an AA, 24. 3. 1933, ebd., Pol. Abt. IV/Po 3 adh Chi/2.

160

Geyer, Motive, S. 63 ff.; Martin, Beraterschaft, S. 42 ff.

402

Erste Ansätze einer neuen Zusammenarbeit von Reichswehr und Diplomatie in China ließen sich bereits Mitte des Jahres erkennen, als das Auswärtige Amt für die Weitergabe von detaillierten diplomatischen Berichten über die chinesischen Truppen den Dank der Militärs entgegennehmen konnte. Auch die Militärberater schienen die Verantwortlichen der „Wilhelmstraße" nicht mehr sonderlich zu interessieren, da diese nun eindeutig dem Kompetenzbereich des Reichswehrministeriums zugeordnet wurden. Zwar registrierten die Diplomaten etwas verärgert, daß Militärberater ihre Tätigkeit an die Front im Norden verlegten, doch gaben sie sich angesichts des gewandelten Verhältnisses zu Japan damit zufrieden, keine Einwirkungsmöglichkeiten zu haben, und bezeichneten jede Warnung vor Gefahren als „verlorene Mühe". Auch die Anstellung des Hauptmanns a. D. Mayer-Mader in Kwangsi und der Wechsel von Generalleutnant a. D. Lindemann in die Dienste der Cantoner Militärs riefen im Auswärtigen Amt keine Proteste hervor. In Diplomatenkreisen wurde wohl akzeptiert, daß Lindemann durchaus mit Duldung der „Bendlerstraße" als eine Art „privater Generalberater" in Kwangtung tätig wurde, zumal große Teile der deutschen Schwerindustrie meinten, kurzfristig weniger von Nanking erwarten zu können, das durch die Japaner und neue kommunistische Aktivitäten gebunden sei, als von den Rüstungsplänen des Cantoner Militärmachthabers General Ch'en Chi-t'ang 161 . Der Konsens der politischen und militärischen Führung über die Aufrüstung schien sich auch in der Chinapolitik zu bewähren. Bülows Intervention vom 10. Dezember 1932 162 bei dem Chef des Ministeramtes im Reichswehrministerium, v. Bredow, die Reichswehr möge darauf hinwirken, daß Wetzell, der sich seit Anfang Dezember an der Nordfront aufhielt, nicht mit Chang Hsüeh-liang gegen Japan zusammenarbeite, fand in Reichswehrkreisen durchaus Verständnis. Das Auswärtige Amt befürchtete, daß mögliche neuerliche Presseangriffe der Japaner gegen das illegale Verhalten deutscher Militärberater in China das Mißtrauen der Westmächte provozieren und damit die bevorstehenden ersten Ergebnisse der wieder aufgenommenen Abrüstungskonferenz gefährden mußten. Anfang 1933 erhielt die Militärberaterschaft von der „Bendlerstraße" strikte Anweisungen, ihren Aufgabenbereich nicht weiter nach Nordchina auszudehnen 163 . Weitere Anwerbungen über die ca. 65 in China tätigen Militärberater hinaus, die Brinckmann auf Wunsch Wetzells vornahm, lehnte die Abteilung T 3 ab; Generalleutnant a. D. Karlewski, der ausreiste, um Yü Ta-wei beim Aufbau einer zentralen Einkaufsabteilung für Rüstungsgüter zu helfen, sollte dem Generalberater diese Nachricht übermitteln. Zwar wollte Berlin keinesfalls den japanischen

>61 Gesandtschaft Peking an AA, 10. 5., 15. 5. und 9 . 1 2 . 1 9 3 3 , PA, Pol. Abt. IV/Po 13 C h i / 6 ; Fischer, R W M , an AA, 8. 2. 1933, ebd.; Trautmann an AA, 2 1 . 1 . 1933, ebd.; Aufzeichnung AA über die Lage im Fernen Osten, o. N., o. D. (wohl Anfang 1933), ebd., Po 2 Chi/6. F. Lindemann, S. 271 ff., 326 ff.; Seps, Advisers, S. 265 ff. 162

Bülow an Bredow, 1 0 . 1 2 . 1932, ADAP, B XXI, Nr. 215.

163

AA an Gesandtschaft Peking, 1 0 . 1 . 1933, PA, Pol. Abt. IV/Po 13 Chi/6. 403

Vorwurf anerkennen, daß von den Militärberatern irgendeine Gefahr ausgehe, aber dennoch waren weder Diplomaten noch Militärs damit einverstanden, daß der Generalberater und sein Adjutant Busekist sich in Peking aufhielten und daß Berater Stellungen in Jehol inspizierten 164 . Unter dem Eindruck des vom nationalsozialistischen Reichskanzler propagierten taktischen Kurses der außenpolitischen Zurückhaltung konnten Militärberater in Krisengebieten nicht akzeptiert werden. Größere Handlungsfreiheit für Deutschland im Fernen Osten bedeutete nach Ansicht der „Wilhelm-" wie der „Bendlerstraße" ebenfalls nicht, Japan als Großmacht mit weltpolitischer Bedeutung auf dem ostasiatischen Kontinent herauszufordern, zumal auch wirtschaftliche Überlegungen bezüglich der Mandschurei dagegen sprachen 165 . Die Reichsregierung hatte es bislang abgelehnt, auf japanische Angebote einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit in den drei östlichen Provinzen einzugehen, aber dennoch versucht, sich mit dem Regime in Changchun bilateral zu arrangieren, nachdem die Wirtschaft, die um ihr Eigentum in der Mandschurei bangte, schon seit Ende 1931 bereit gewesen war, sich den veränderten Gegebenheiten anzupassen. 1932 entschied der Ostasiatische Verein, die Geschäftsverbindungen über Japan aufrechtzuerhalten, allerdings mit neuen Tochterfirmen der in China alteingesessenen Handelshäuser, um Nanking nicht zu verärgern. Die Verselbständigung der Mandschurei, in die Deutschland nur ca. 7 % seiner Gesamtexporte nach China lieferte, mußte zwar — und darüber waren sich Wirtschaftskreise und Politiker im klaren — wirtschaftlich insbesondere den japanischen Protektoren zugutekommen. Trotz der geringen Exportinteressen in der Mandschurei konnte aber Berlin vor allem die Bedeutung der Sojabohnenimporte nicht leugnen, die weiterhin fast monopolartig in den Händen japanischer Firmen lagen und die, obwohl sie seit 1929 um fast 5 0 % gefallen waren, 1932 etwa 7 5 % der deutschen Gesamteinfuhr aus China sowie ca. 30 % der gesamten Fettstoffeinfuhren Deutschlands ausmachten 166 . Politische und wirtschaftliche Gründe sprachen daher dafür, daß es die Reichsregierung selbst nach dem japanischen Völkerbundaustritt und der Erregung über die Ankündigung der Japaner, die Mandatsherrschaft über die ehemaligen deutschen Südseeinseln zu behalten, was faktisch einer Annexion gleichkam, auf keine schwere Krise oder gar einen Bruch mit Japan anlegte. Sogar die japanophobe Reichswehr bestimmte einen ihrer ersten Militärattaches nach dem Krieg für Japan (1. April 1933), um der gestiegenen militärpolitischen Bedeutung des ostasiatischen Kaiserreiches Rechnung zu tra-

Vgl. dazu Dokument Nr. 1 0 : Zur Beratertätigkeit Wetzells während der Kämpfe um Je-

164

hol 1933, in: Martin (Hrsg.), Deutsche Beraterschaft, S. 3 8 0 ff. Gesandtschaft Peking an AA, 14. 3. 1933, PA, Pol. Abt. IV/Po 13 C h i / 6 . Ratenhof, S. 261 ff. 165

Zum neuen Kurs der Reichsregierung in der Fernostpolitik Ratenhof, S. 260 ff.

166

AA an Botschaft Tokio, 12. 4. 1932, ADAP, B XX, Nr. 46; Bülow an Dirksen, Moskau, 14. 6. 1932, ebd., Nr. 135; Aufzeichnung Gipperich, 8 . 1 1 . 1932, ebd., B XXI, Nr. 140. Kunst & Albers, S. 61 ff., 102 ff.; Ratenhof, S. 198 ff.

404

gen — eine Tatsache, die über das konkrete Ereignis hinaus noch einmal deutlich den neuen militärischen Souveränitätsanspruch des Deutschen Reiches und die unabhängige deutsche Politik in Fernost betonte. Weit mehr noch sollte allerdings die Chinareise Seeckts vom April bis Juli 1933 und die Art ihrer Durchführung durch die Persönlichkeit des Generalobersten den selbstbewußten Kurs der Reichsregierung in Ostasien demonstrieren. Die Fahrt des vormaligen Chefs der Heeresleitung verdeutlichte jedoch nicht nur den Konsens von Reichswehr, Wirtschaft und Diplomatie unter dem Primat der Aufrüstung, sondern sie ließ auch bereits die unterschiedlichen Auffassungen in der konkreten Ausgestaltung deutscher Fernostpolitik erkennen und legte die Streitpunkte frei, die zwischen Reichswehr und Diplomatie in China bis Mitte der 30er Jahre bedeutsam wurden 167 . Wenn auch zwischen der „Wilhelm-" und der „Bendlerstraße" keine prinzipiellen Auffassungsunterschiede darüber bestanden, China so schnell wie möglich als wirtschaftlichen Faktor nutzbar zu machen, so mußte die tatsächliche Ausprägung der Politik, sei es unter der Priorität außenpolitischer oder militärischer Prämissen, doch zu erheblichen Meinungsunterschieden führen, da die Militärs im Gegensatz zu der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg (rüstungs-)wirtschaftlichen Aspekten nicht zuletzt im Außenhandel besondere Beachtung bei der Aufrüstung schenkten. Die militärische Führung gewann dabei seit Mitte 1933, gestärkt durch die politische Zielsetzung des Reichskanzlers, einen „Wehrstaat" nationalsozialistischer Prägung als Voraussetzung eines territorialen Expansionismus zu schaffen, schließlich auch immer größeren Einfluß auf die Außenwirtschaftspolitik des Deutschen Reiches. Während das Auswärtige Amt weitere Kompetenzverluste hinnehmen mußte, vermochte die Reichswehr nach und nach, auch in der Chinapolitik ihre Vorstellungen immer stärker durchzusetzen.

b) Die deutsch-chinesischen Wirtschafts- und Rüstungsbeziehungen in der Phase der inneren Stabilisierung Chinas Die innen- und außenpolitische Entwicklung seit 1929 hatte der KuomintangFührung gezeigt, daß die erstrebte Gleichberechtigung Chinas mit den Großmächten noch längst nicht erreicht war und sich die völlige Souveränität nur nach einer weiteren inneren Konsolidierung, bei der Nanking auf die Hilfe des Westens noch stärker als zuvor angewiesen sein mußte, aus einer Position der wirtschaftlichen und militärischen Stärke verwirklichen lassen würde. Tatsächlich gelang es in den Jahren nach der Mandschureikrise, eine partielle Modernisierung durchzuführen. Der Beginn einer modernen ökonomischen Transformation zeichnete sich zumindest auf dem Handels- und Industriesektor ab, wenn sich auch die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise

167

Ratenhof, S. 289 ff.; Kehrig, S. 22 ff., 39 ff., 144 ff.; Presseisen, Germany, S. 37 ff. 405

noch bis 1935 als äußerst hemmend erwiesen. Weitaus nachteiliger machten sich allerdings die Unzulänglichkeiten in der Steuer-, Haushalts- und Anleihepolitik bemerkbar. Mit Handel und Industrie, die nur ca. 10 % bis 12 % des Nationaleinkommens erwirtschafteten, belegte die Kuomintang-Administration gerade die Bereiche der Wirtschaft am meisten mit Abgaben an die Zentralregierung, die am vordringlichsten ausgebaut werden sollten 1 . Weit mehr als die Aufbauinitiativen im industriellen Bereich stand jedoch eine Verstaatlichung des Wirtschaftslebens, welche die größtmögliche Einflußnahme auf die Entwicklung versprach, im Mittelpunkt der Wirtschaftspolitik Nankings. Regierungsgeschäfte verdrängten in der Außenwirtschaft immer häufiger privates Engagement; der Compradorenhandel wurde nach und nach völlig ausgeschaltet. In enger Kooperation mit den chinesischen Großbanken gründete die Kuomintang-Regierung halbstaatliche Unternehmen wie die „China Vegetable Oil Corporation" oder die „China Vegetable Silk Corporation", die weitgehende Monopolrechte erhielten. Der Trend zu einer problemlosen, da interessengleichen Zusammenarbeit von Verwaltungs- und Finanzkreisen aus dem letzten Viertel der 20er und dem ersten Viertel der 30er Jahre setzte sich ungebrochen fort. Sein Hauptaugenmerk richtete der bürokratische Kapitalismus Nankinger Prägung dabei allmählich auf die uneingeschränkte Kontrolle über den Rohstoffmarkt, der die meisten Einnahmen und Gewinne sowie eine Stabilisierung der chinesischen Außenhandelsverhältnisse versprach 2 . Trotz der enormen Produktionssteigerungen von 1933 bis 1936 — bei Kohle und Erzen um 50%, bei Edelmetallen sogar um 1 0 0 % (allein die Produktion von Wolfram stieg von 2000 t im Jahre 1923 auf 10 000 t im Jahre 1936) 3 — blieb die Handelsbilanz Chinas (ohne Mandschurei) jedoch nach wie vor negativ. Erst mit dem Übergang zum Goldstandard (3. November 1935) zeigten sich erste Anzeichen einer Besserung 4 . Dagegen scheiterten Reformen der Landwirtschaft Chinas völlig, so daß 50 % der chinesischen Einfuhr weiterhin aus Agrarprodukten bestand. Die Kuomintang zeigte sich nicht fähig und auch nicht willens, neben einer industriellen, finanziellen und verkehrstechnischen Modernisierung eine Erneuerung der übrigen vier Fünftel der Wirtschaft einzuleiten, geschweige denn soziale Reformen in Angriff zu nehmen. Nur wenige „legale" Landreformen

1

Chesneaux, Bd 2, S. 243 ff.; Eastman, S. 226 ff.; Hsü, Rise, S. 633 ff.; Tien, S. 82 ff.; A. Young, Effort, S. 311 ff.

2

Osterhammel, Weltmarktabhängigkeit, S. 226 ff., A. Young, Effort, S. 325 ff.

3

Cheng, S. 78 f., 118 f.; Rische, S. 136 ff.

4

Das Handelsbilanzdefizit Chinas (ohne Mandschurei) verringerte sich immerhin von ca. 471 Mill. HKT (1933) auf 151 Mill. HKT (1936) und betrug 1937 sogar nur noch 70 Mill. HKT und 1938 50 Mill. HKT. Cheng, S. 258 f. Deutsche Wirtschaftslage in Ostasien, hrsg. von der IG Farbenindustrie, o. D. (wohl Ende Februar 1940), BA-MA, W i II C / 2 . 3 (die Angaben dort in Standard Dollar, die Umrechnung HKT:Dollar im Verhältnis 1:1,5. Zu den chinesischen Wechselkursen vor allem Pang, S. 13; A. Young, Effort, S. 233 ff.

406

und kleinere Modernisierungsprogramme wurden von der Nanking-Regierung begonnen, bei weitem aber keine Änderung des antiquierten Bodenrechts durchgesetzt oder gar eine Reformbewegung auf dem Lande ins Leben gerufen. Die Unterdrückung der Bauern blieb bestehen, deren Verschuldung und Verarmung nahmen unerträgliche Formen an 5 . Die Kuomintang-Revolution degenerierte in den 30er Jahren endgültig zu einer rein technischen Modernisierung, bei der die Gesamtwirtschaft unterentwickelt und die überkommenen Strukturen der bäuerlichen chinesischen Agrargesellschaft erhalten blieben. Noch nicht einmal vordergründig gelang die von der Kuomintang propagierte Synthese aus Tradition und modernen westlichen Ideen, dazu erwies sich das „Nankinger System" gegenüber den wachsenden Problemen schon von seinem Aufbau her als völlig unzulänglich 6 . Das Fehlen eines eigenen Verwaltungsapparates ließ die Regierung auf die etablierten lokalen Honoratioren zurückgreifen, so daß die alten Landlords im Innern weitgehend Macht und Einfluß behielten. Wegen der Rücksichtnahme auf die Gentry und die größtenteils aus der ländlichen Oberschicht stammenden Militärs war der Staat selbst nur beschränkt handlungsfähig. Auch in den modernen Wirtschaftssektoren und Urbanen Gesellschaftsbereichen führte die Verkoppelung öffentlicher und privater Interessen lediglich zu einer Belebung der alten Institutionen in modernen Formen. Der „Beamten-Kapitalismus" konnte sich zu einem „neuen Mandarinat" in KuomintangChina entwickeln, dessen politische Führung sich aus Partei- und Verwaltungs- sowie hauptsächlich aus Militärkreisen rekrutierte. Die „neue Klasse" der westlich gebildeten und sozial mobilen Offiziere etablierte sich in fast allen Behörden und Institutionen auf zentraler und provinzialer Ebene. Sie entwickelte sich nicht nur zum wichtigsten Instrument der Kuomintang-Herrschaft, sondern allmählich auch durch ihre persönlichen Bindungen an Chiang Kai-shek zum eigentlichen Entscheidungsträger der Nanking-Regierung. Diese versuchte nach dem Verlust der Parteibasis Ende der 20er Jahre, loyale Cliquen und Gruppierungen für ihre Interessen zu gewinnen und einzusetzen, um damit den geringen Umfang der Kuomintang-Anhängerschaft, die zudem noch unzureichend organisiert war, zu kompensieren 7 . Bereits Anfang der 30er Jahre hatte sich die akademische Elite zum größten Teil ideologisch von der Kuomintang losgesagt. Naturwissenschaftler, Unternehmer, Mediziner und Ingenieure, die im Gegensatz zu der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in ihrer Mehrheit nicht in Japan, sondern in Europa und den USA ausgebildet worden waren, zeigten sich jedoch zunächst politisch desillusioniert und stellten persönliche Interessen in den Vordergrund. Ihre geringe soziale Bindung an das Land und an dessen vielschichtige Probleme ließ sie auch weiterhin oftmals ungewollt zu Werkzeugen der Regierung

5 6

7

King, History, S. 112 ff.; Oehlmann, S. 84 ff. Fairbank, United States, S. 226 ff.; W . Franke, Jahrhundert, S. 197 ff.; zur Krise in der Landwirtschaft in den 20er und 30er Jahren vor allem Durau, S. 94 ff. Holcombe, S. 269 ff., 297 ff.; Tien, S. 18 ff., 139 ff., 177 ff. 407

werden. Erst allmählich bildete sich eine neue intellektuelle Opposition heraus, gegen die erstmals 1 9 3 3 / 3 4 von offizieller Seite vorgegangen wurde. Hierbei kam den „Blue Shirts", einer 1931 als Reaktion auf die Cantoner Spaltungsbemühungen ins Leben gerufenen militanten Gruppierung, große Bedeutung zu. Diese neue „revolutionäre (Partei-)Elite", die sich vor allem aus der Whampoa-Clique und später aus Absolventen der Zentralen Militärakademie in Nanking zusammensetzte, forcierte den Personenkult um Chiang Kai-shek und propagierte den durchorganisierten Führerstaat 8 . Über das bei allen chinesischen Militärs - nicht zuletzt durch die Anwesenheit von Militärberatern aus dem Deutschen Reich — als nachahmenswert empfundene preußisch-deutsche militärische Vorbild hinaus deutete sich hier unübersehbar auch eine weltanschauliche Nähe zu den totalitären und faschistischen Staaten Deutschland und Italien an, zu denen immer wieder gute Kontakte gesucht wurden 9 . Vor allem die „Blue Shirts" waren es dann auch, die an dem Aufbau der „Bewegung Neues Leben" ab Frühjahr 1934 in Kiangsi zu einer personellen Ersatzbasis der Kuomintang beteiligt waren, nachdem sie weitgehend die Kontrolle über den staatlichen Sicherheitsapparat übernommen hatten. Durch die Verkündung eines Konglomerats von Ideen und Geboten sollte eine ideologische Beeinflussung und Umerziehung der Landbevölkerung im Sinne der Kuomintang-Führung eingeleitet werden 1 0 . Von der Wiederbelebung des Konfuzianismus erhoffte sich die Führung langfristig eine Disziplinierung, Vereinheitlichung und bessere Überwachung des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens in China. Kurzfristig diente die ideologische Offensive jedoch insbesondere der Untermauerung der militärischen Aktionen gegen die chinesischen Kommunisten, die 1931 in Kiangsi eine Räterepublik gegründet hatten und die Bevölkerung auf ihrer Seite wußten, da sie als einzige wirksame Initiativen bei der Landreform ergriffen 1 1 . In den 20er Jahren hatte sich die Kommunistische Partei Chinas unter dem Einfluß der Kommunistischen Internationale im Vergleich zu den Problemen der Arbeiter den Schwierigkeiten der Bauern nur vereinzelt angenommen. Auch nach der Niederlage gegen Chiang Kai-shek war die Partei trotz aller „Selbstkritik" auf ihrem traditionellen Kurs geblieben. Obwohl Streiks in den Städten bis Anfang der 30er Jahre keine sichtbaren Erfolge zeitigten, lehnte es die Parteiführung zunächst ab, die Initiativen Mao Tse-tungs, des vormaligen Leiters der Bauernabteilung der Kommunistischen Partei, auf dem Lande

Upshur, S. 264 f.; Y . W a n g , S. 146 ff., 3 7 8 ff., 465 ff.; zu den „Blue Shirts" Carlson,

8

S. 13 ff.; Eastman, S. 39 ff. Chiang sprach häufig z. B. mit Trautmann über das „deutsche Beispiel" und die Einfüh-

9

rung der Diktatur in China. Trautmann an AA, 31. 8. 1933, PA, Pol. Abt. IV/Po 2 C h i / 6 ; Trautmann an AA, 1. 3. 1935, ebd., Geheimakten 1 9 2 0 - 1 9 3 6 / I V / O A / C h i n a : Handel 11 Nr. 3 (Projekte Klein)/lII, Chesneaux, Bd 2, S. 294; Kirby, Germany, S. 145 ff. 10

Zum „New Life M o v e m e n t " vor allem Thomson, S. 155 ff.; Oehlmann, S. 88 ff.

11

Kindermann, Entstehungsgeschichte, S. 37 ff.; Näth, Chinas W e g , S. 86 ff.

408

zu unterstützen 12 . Erst der Zusammenbruch der Partei in den Städten unter dem Druck der Koumintang (1931/33) und die Flucht des Politbüros aufs Land in die Provinz Kiangsi lockerten die ideologisch verhärteten Fronten auf. Durchgreifende Landreformen, der organisierte Ausbau der Partei, eine ständige Verbindung zur Bevölkerung und deren Mobilisierung sowie der Neuaufbau einer Armee, die sich aus dem Volk rekrutierte, sollten zu Eckpfeilern einer neu zu schaffenden sozioökonomischen Ordnung in China werden 13 . Bereits Ende 1930 hatte Chiang Kai-shek versucht, den kommunistischen Gegner in Kiangsi mit militärischen Mitteln auszuschalten. Zwei weitere „Vernichtungsfeldzüge" fanden — wiederum ohne Erfolg — im Laufe des Jahres 1931 statt. Längst waren die kommunistischen Partisanen zu einem unerwartet starken Gegner geworden, der neue strategische Überlegungen und den Einsatz besserer Truppen erforderte. Erst im vierten und fünften Feldzug (1933/34) gelang es den Streitkräften Chiangs, der „Roten Armee", die sich auch auf Anraten Otto Brauns, ihres über die Kommunistische Internationale vermittelten deutschen militärischen Beraters, zu einem Stellungskrieg hatte herausfordern lassen, so große Verluste zuzufügen, daß die Kommunistische Partei Kiangsi aufgeben mußte 14 . Mit dem „Langen Marsch" (Oktober 1934 bis Oktober 1935), an dessen Ende nur noch ca. 10 % der aus Kiangsi geflohenen kommunistischen Partisanenverbände und Kader in Shensi ankamen, konnte sich nicht nur Mao Tse-tung endgültig in der Parteihierarchie durchsetzen; auch Chiang Kai-shek gelang durch die fast völlige militärische Ausschaltung seines in den vorausgegangenen Jahren gefährlichsten innenpolitischen Gegners ein wichtiger Schritt zur Festigung seiner Herrschaft 15 . Seit der Auseinandersetzung mit den Japanern war es nur noch zu vereinzelten Erhebungen gegen die Nanking-Regierung gekommen, die allerdings nicht ernsthaft in Gefahr gebracht werden konnte. Die größte von ihnen, die Fukien-Rebellion von 1933/34, scheiterte, da sie weder von den Kommunisten noch von oppositionellen Militärführern Hilfe erhielt, die sich untereinander viel zu sehr zerstritten hatten, als daß sie bereit gewesen wären, gemeinsam gegen die loyalen Truppen des Vorsitzenden des Militärkomitees anzutreten. Anfang 1936 verstand es Chiang zudem, sich durch innen- und außenpolitische Zugeständnisse mit Fen Yü-hsiang und Yen Hsi-shan weitgehend auszusöhnen, die beide zu Chiangs Stellvertretern ernannt wurden.

12

M a o war schon seit 1927 dazu übergegangen, kommunistische Basen im Hinterland der Städte Hunans und Kiangsis zu errichten und für eine nationale Revolution einzutreten, die vom Lande ausgehen müsse — Gedanken, die ihn in den Führungsgremien der KPCh zum Außenseiter stempelten. Albrecht, S. 351 ff.; Chesneaux, Bd 2, S. 212 ff.

13 14

W . Franke, Jahrhundert, S. 170 ff.; Hsü, Rise, S. 653 ff. Zu den Feldzügen gegen die Kommunisten ausführlich Clubb, Century, S. 194 ff.; Upshur, S. 136 ff. Zu Otto Braun: Heinzig, Konkurrenz, S. 155 ff.

15

Bianco (Hrsg.), S. 84 f.; Chesneaux, Bd 2, S. 2 4 6 ff.

409

Durch den Tod seines konservativen Rivalen Hu Han-min in Canton (12. Mai 1936) schien auch der Weg innerhalb der Partei und der Regierung für den Marschall endlich frei zu sein. Nach einem Anschlag auf den japanfreundlichen Ministerpräsidenten der Canton-Nanking-Koalition, Wang Ching-wei, hatte er bereits am 7. Dezember 1935 die Stellung des Präsidenten des Exekutiv-Yüans einer neuen Regierung übernommen 16 . Gegenüber T. V. Soong, der 1933 für eine weitaus größere Hervorhebung der industriellen Modernisierungskomponenten in starker Anlehnung an den Westen und den Völkerbund eingetreten war, vermochte Chiang schon längere Zeit mit seiner militärisch-nationalistischen Konzeption die Oberhand zu behalten 1 7 . Auch Sun Fo, der sich bemühte, liberalen Ideen in Nanking Geltung zu verschaffen, scheiterte schließlich an Chiangs Durchsetzungsvermögen. Das von ihm 1934 ins Leben gerufene Komitee zur Vorbereitung einer verfassunggebenden Versammlung blieb ohne Wirkung; neue Verfassungsentwürfe traten wie die vorläufige Verfassung von Anfang der 30er Jahre nie in Kraft 18 . Statt dessen weitete Chiang Kai-shek seine persönliche Vorherrschaft in dem polyzentrischen Nankinger Herrschaftssystem immer stärker aus. Er wurde eindeutig zum Mittelpunkt der Kuomintang-Koalition aus städtischem Großbürgertum, militärischen Technokraten und ländlicher Gentry-Aristokratie. Seine Macht erreichte ihren Höhepunkt, als es ihm im September 1936 gelang, nach der Partei auch noch die stets auf ihre Eigenständigkeit bedachten Provinzen Kwangtung und Kwangsi, die sich seit Mitte des Jahres vor allem gegen die Währungsreform auflehnten, vollständig seinem Kurs zu unterwerfen. Dennoch sah sich Chiang Kai-shek schon ein Jahr später genötigt, nach den Schüssen an der Marco-Polo-Brücke (7. Juli 1937), dem Beginn des unerklärten Krieges zwischen Japan und China, gerade mit den Kommunisten wieder die Zusammenarbeit zu suchen 19 . Die Regierung in Nanking hatte seit der Tangku-Vereinbarung 1933 Japan gegenüber eine konturlose Außenpolitik betrieben. Trotz ständiger japanischer Übergriffe betonte sie sehr zum Verdruß der nationalen Kräfte bis Mitte der 30er Jahre immer wieder ihren Willen zur Zusammenarbeit, ohne allerdings die Anerkennung der vollen Souveränität Chinas (einschließlich der Mandschurei) als Voraussetzung jeglicher Vereinbarungen aufzugeben und den Japanern wenigstens der Form nach entgegenzukommen. Die Proklamation des Regenten von Japans Gnaden in der Mandschurei, P'u-i, zum neuen Kaiser von Mandschukuo (1. März 1934) wurde in ganz China als ungeheure Provokation aufgefaßt, mußte von der Zentralregierung wegen ihrer wirtschaftlichen und militärischen Unterlegenheit jedoch mit Resignation hingenommen werden. Selbst die Westmächte empfanden dann die nach ihrem 16 17

18 19

Pause, S. 129 ff.; Schenke, Kampfplatz, S. 67 ff. Trautmann an AA, 4 . 1 . und 12. 6. 1933, PA, Abt. IV WiChi/Wirtschaft 1 A / 3 ; „Frankfurter Zeitung", 8 . 1 0 . 1 9 3 3 , ebd., Wirtschaft 1A/5. Borg, S. 53 ff.; Kunst & Albers, S. 70 ff. Beckmann, S. 453 ff.; Eastman, S. 133 ff. Kindermann, Ferner Osten, S. 330 ff.

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Verfasser, dem Direktor des Informationsbüros im japanischen Außenministerium, Amau Eji, benannte Verlautbarung als offene Brüskierung Chinas, nicht zuletzt weil sie auch ihre eigenen Privilegien bedrohte und ihnen ihre schwache militärische Position in Ostasien vor Augen führte. Aus der „Amau-Erklärung" (20. April 1934) ging klar hervor, daß Japan auch in Zukunft ein beachtliches Mitspracherecht in der chinesischen Politik beanspruchte: u.a. ständige Konsultationen vor Entscheidungen und das Monopol bei Kriegsmateriallieferungen. Der Kuomintang-Regierung blieb bei allen inneren Problemen wieder nichts anderes übrig, als die japanischen Forderungen herunterzuspielen und weiterhin auf direkte Konsultationen und ein Entgegenkommen Tokyos zu setzen. Wie unrealistisch diese Annahme allerdings war, sollte sich schon bald herausstellen 20 . Bereits Mitte 1934 nötigten die Japaner die chinesische Regierung, die Zolltarife von 1933 wesentlich zu verändern: Die neuen Tarife vom 3. Juli 1934 bedeuteten für die Waren, die China größtenteils aus Japan bezog, eine erhebliche Zollsenkung, bei Lieferungen z. B. aus den USA erhöhten sich die Abgaben hingegen um bis zu 43 % (Baumwolle). Bewaffneter Schmuggel über Nordchina brachte Nanking überdies um 50 % seiner regulären Zolleinnahmen aus japanischen Einfuhren. Verhandlungen mit japanischen Offiziellen führten jedoch lediglich zu weiteren einseitigen Vorteilen für das ostasiatische Inselreich. In den Ho-Umezo-Vereinbarungen vom 10. Juni 1935 — benannt nach den beiden Unterhändlern, dem chinesischen Heeresminister Ho Ying-ch'in und dem Kommandeur der japanischen Garnison in Tientsin, Umezo Yoshijiro —, mußten sich die Chinesen schließlich verpflichten, die Provinz Hopei militärisch zu räumen. Gleichzeitig sagte die Nanking-Regierung in einem Geheimabkommen zu, alle antijapanischen Boykotte und provokativen Maßnahmen im Norden zu unterbinden — eine Zusage, die sie dann auch gewissenhaft in die Tat umsetzte, um kriegerische Verwicklungen zu vermeiden. Mochte diese Politik des Nachgebens, die Chiang Kai-shek damit begründete, daß erst die Kommunisten als Hauptfeind im Innern besiegt werden müßten, bis zur Niederlage der Kommunistischen Partei während des „Langen Marsches" noch ihre Berechtigung gefunden haben, so ließ sich ab Ende 1935 ein solcher Kurs kaum mehr rechtfertigen 21 . Die Beschwichtigungspolitik Chiang Kai-sheks gegenüber den Japanern seit 1933 fand schließlich ihr für alle sichtbares Ende in der antijapanischen zweiten Einheitsfront aus Kuomintang und Kommunistischer Partei vom September 193 722 . Die Westmächte betrachteten diesen Kurswechsel der chinesischen Politik von einem flexiblen Nachgeben zu einem hartnäckigen Widerstand an der Seite der Kommunistischen Partei mit großer Sorge. Schon Anfang der 30er Jahre hatten sie für eine schnelle Beilegung der Auseinandersetzungen zwi-

20

Ebd., S. 351 ff.; Nieh, Entwicklung, S. 56 ff.

21

Osterhammel, Weltmarktabhängigkeit, S. 212 ff.; Upshur, S. 277 ff.

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W . Franke, Jahrhundert, S. 246 ff.; Upshur, S. 123 ff., 284 ff. 411

sehen Japan und China plädiert, ohne sich dabei über Gebühr für die nationalen Ansprüche der Chinesen einzusetzen. Neben globalpolitischen Faktoren, zu denen zweifellos auch das Zurückdrängen des Kommunismus in China gehörte, nahmen vielmehr in den 30er Jahren wirtschaftliche Aspekte den weitaus größten Stellenwert in der Chinapolitik der Mächte ein. Tatsächlich vermochte die „Verwestlichung" von Industrie, (Außen-)Handel und Verkehr in China durch eine großangelegte, oftmals nahezu aufgezwungene Unterstützung von seiten der Westmächte seit 1933 neue Ausmaße zu erreichen 23 . Der Einfluß des Westens auf das bäuerlich-ländliche Wirtschaftsleben blieb allerdings nach wie vor äußerst gering. Obwohl die Chinesen die Zoll- und Salzsteuern sowie die Postrechte endlich in eigener Verantwortung übernahmen und nur noch 13 von ehemals 33 territorialen Konzessionen in den Händen des Auslandes verblieben, besaßen die Großmächte dennoch weiterhin geradezu den Einfluß von Kolonialherren. Zu den exterritorialen Rechten und der militärischen Präsenz auf chinesischem Boden, einer nahezu 50 %igen Abhängigkeit der Steuereinkünfte Chinas von ausländischen Importen und einer erdrückenden Schuldenlast trat die finanzielle Vorherrschaft über fast die gesamten wichtigen industriellen Sektoren: Allein 98,8% der Eisenindustrie, 64 % der Textil- und 55 % der Elektroindustrie befanden sich in fremdem Besitz. Die großen Profite bei der industriellen Modernisierung Chinas unter der Kuomintang-Herrschaft machten daher weniger die Chinesen selbst als vielmehr die ausländischen Mächte 2 4 . Für Großbritannien, das Mitte der 30er Jahre den größten Anteil seiner Auslandsinvestitionen außerhalb des Empires in China tätigte, stand anders als noch im 19. Jahrhundert eine großzügige staatliche Unterstützung des Chinahandels außer Frage. Die Vorstellungen eines zumindest halb modernisierten, aufnähme- und absatzfähigen chinesischen Marktes sowie das Vertrauen in Chiang Kai-sheks Führungsqualitäten und sein erfolgreiches Taktieren gegenüber den Kommunisten trugen dazu bei, daß sich Chinalobby und Diplomaten mit den inneren und äußeren Gegebenheiten Chinas schon bald abfanden 25 . Dagegen versuchten die USA bei ihrem fast ausschließlich privaten Engagement von Anfang an, ihre moralische Verpflichtung herauszustreichen, Hilfe zu leisten und das Land allmählich in die volle Unabhängigkeit zu führen, ohne dabei traditionelle Interessen zu verfolgen. Das zumindest äußerlich entgegenkommende Verhalten der USA bei den chinesisch-japanischen Auseinandersetzungen Anfang der 30er Jahre und die großzügige Geste einer Getreide- und Textilanleihe für die von den Japanern hart bedrängte Nanking-Regierung war in der Kuomintang-Führung tatsächlich als Ver-

23

J. Chang, S. 112 ff.; Chesneaux, Bd 2, S. 195 ff.

24

Fairbank, United States, S. 215 ff.; A. Young, Effort, S. 306 ff. Die direkten Investitionen des Auslandes in die chinesische Wirtschaft, die seit dem Krieg ständig gestiegen waren, hatten dann auch in den 30er Jahren noch einmal erheblich zugenommen. S. Anhang, Tabelle 4.

25

412

Zu den Motiven in der Chinapolitik Großbritanniens Collis, S. 206 ff.; Endicott, S. 1 ff.

trauensbeweis aufgefaßt und durchaus wohlwollend vermerkt worden 26 . Das steigende Prestige und die wachsende Vorzugsstellung in chinesischen Wirtschaftskreisen wollte Washington vor allem durch eine geschickte (private) Kulturpropaganda über Missionare weiter festigen 27 . Gleichermaßen alarmierend für Großbritannien und die Vereinigten Staaten stellte sich dann allerdings der Verfall der chinesischen Währung und das kontinuierliche Schrumpfen des chinesischen Außenhandels dar, nach dem Verlust der Mandschurei bis 1935 nochmals um mehr als ein Drittel 28 . Der geradezu vorprogrammierte Anstieg der chinesischen Ein- und Ausfuhr nach der vom Westen in die Wege geleiteten Währungsreform demonstrierte jedoch augenfällig, wie einflußreich und gesichert die wirtschaftliche Stellung der beiden angelsächsischen Mächte (Großbritannien einschließlich seiner Dominions) Mitte der 30er Jahre auf dem chinesischen Markt in Wirklichkeit war. Sowohl im Ex- als auch im Importhandel konnten die Japaner, die wegen ihrer annektionistischen Politik ihr Ansehen in China verloren hatten, eindeutig auf Platz drei verwiesen werden 2 9 . Mehr noch als die Westmächte konnte jedoch Deutschland von den chinesischen Modernisierungsbemühungen und deren partiellen Erfolgen profitieren. Seine Beteiligung am ausländischen Schiffsverkehr in chinesischen Gewässern und nach China stabilisierte sich zwar nur bei 2,6 % 30 , der deutsche Anteil am Gesamtaußenhandel Chinas (ohne Mandschurei) steigerte sich aber überraschend von 7 % (1933) auf 18,2 % (1936). Die deutsche Chinawirtschaft nahm damit eine etwa mit der Japans und Großbritanniens (einschließlich seiner Dominions) vergleichbare Position ein. Bei den Importen aus China war der deutsche Handel selbst ohne die Einfuhren aus Mandschukuo mit 69,2 Millionen Mark — ca. 15,5 % der chinesischen Ausfuhr — auf Platz zwei unter den Abnehmerländern vorgerückt. Mit Ausfuhren von 125,8 Millionen Mark in den Herrschaftsbereich der Kuomintang-Regierung lag China 1936 immerhin auf Platz drei unter den außereuropäischen Exportländern Deutschlands, und mit 21,0 % Anteilen an der chinesischen Einfuhr nahm das Deutsche Reich noch vor den USA die erste Stelle bei den Importländern ein 31 .

26

Trautmann an Bülow, 2 4 . 8 . 1933, ADAP, C I, Nr. 410. Zum amerikanischen Einfluß Thomson, S. 21 ff., 204 ff.; A. Young, Effort, S. 376 ff.

27

Zu den Missionaren Latourette, S. 82 ff.; Thomson, S. 34 ff.; Varg, S. 86 ff., 212 ff.,

28

Vgl. die Tabelle bei Cheng, S. 258 ff.: Der chinesische Außenhandel betrug 1932:

29

Zu den Statistiken A. Young, Effort, Anhang 23; Ghosh, S. 345 ff.

30

Vgl. die Tabelle bei Hou, S. 61.

31

Gesamthandelswert 1936 der USA 23 %, Großbritanniens (einschließlich seiner Domin-

251 ff. 1 541 888 HKT (in tausend), 1 9 3 5 : 9 5 9 576 (in tausend).

ions) 16,0 % und Japans 15,4 %. A. Young, Effort, Anhang 23. Die deutsche Statistik in: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, Bde 1937—1942, und Bloch, S. 10 ff. Die chinesische Statistik in: Cheng, S. 258 f. Für die Umrechnung Mark in Yüan Martin (Hrsg.), Deutsche Beraterschaft, S. 4 5 8 f. S. Anhang, Tabelle 3.

413

Die Stellung des Deutschen Reiches bei den Chinesen und die Beziehungen zwischen Berlin und Nanking konnten Mitte der 30er Jahre als so gut wie lange nicht zuvor bezeichnet werden. China hatte sich in den Augen deutscher Wirtschafts-, Diplomaten- und Militärkreise immer stärker zu einem idealen Wirtschaftspartner entwickelt, der durch seine Verstaatlichungs- und Stabilisierungsprogramme nicht nur dem eigenen wirtschaftspolitischen Kurs besonders entgegenkam, sondern auch selbst zusehends die Verbindungen nach Deutschland als Vorbild der politischen und wirtschaftlichen Erneuerung zu intensivieren suchte. Unstimmigkeiten, die vor allem aus dem Gegensatz Cantón — Nanking und dessen Mißachtung durch deutsche militärische Dienststellen bei ihren Aktivitäten in China resultierten, zeitigten schließlich weit weniger Auswirkungen auf die sich anbahnende umfassende deutsch-chinesische Kooperation, als daß sie den fortschreitenden Machtverlust des Auswärtigen Amtes in der Chinapolitik dokumentierten. Die unter dem Primat der Aufrüstung von Militärs, Wirtschaftspolitikern sowie nationalsozialistischen Regierungskreisen durchgesetzten unkonventionellen M e thoden bei der Ausgestaltung der wirtschaftlichen Kontakte zu China nahmen die Diplomaten angesichts der vermeintlich revisionspolitischen Gemeinsamkeiten letztlich trotz aller Vorbehalte hin. Mitte der 30er Jahre hatte es noch den Anschein, als könne die militärische Führung im Hinblick auf die strategische Zielsetzung einer deutschen Hegemonie in Mitteleuropa neben der sicherheits- auch die zukünftige wirtschaftspolitische Entwicklung des Deutschen Reiches trotz der Machtübernahme Hitlers weitgehend allein bestimmen. Nicht das Auswärtige Amt, das bei allem Konsens mit der militärischen Führung über die Notwendigkeit einer „Wiederwehrhaftmachung" des Deutschen Reiches schwerwiegende Provokationen der anderen Großmächte unbedingt vermeiden wollte und einen Kurs des Abwartens verfolgte, sondern die Reichswehr hatte es ab Ende 1933 in enger Kooperation mit dem Reichskanzler vermocht, mit ihrem Programm uneingeschränkter Aufrüstung die außenpolitischen Entscheidungen immer stärker zu präjudizieren. In einer Art Interessenausgleich zwischen Hitler und Blomberg gelang es den Militärs, nach Ausschaltung der SA ihre Position als einzige Waffenträger der Nation zu festigen und ihre elitäre Stellung im Innern zu bewahren. Für diese Privilegierung w a r die Reichswehr bereit, nach dem Tod Hindenburgs (2. August 1934) den Eid auf Hitler abzulegen und formal im Wehrgesetz vom 21. Mai 1935 die Rechte des neuen Staatsoberhauptes als Obersten Befehlshabers der Wehrmacht anzuerkennen, ein Schritt, der die Fundamente nationalsozialistischer Herrschaft weiter absicherte und den Prozeß der Gleichschaltung der Gesellschaft vorantrieb 3 2 . Bei diesem inneren Gleichklang zwischen Militär und nationalsozialistischen Regierungskreisen stand daher außer Frage, daß sich die Doktrin der „Bendlerstraße" von einem kalkulierbaren Einsatz militä-

32

Craig, S. 5 1 4 ff.

414

rischer Mittel in der Außenpolitik durchsetzte. Bis Ende 1935 hatte das Truppenamt einen neuen Rüstungsplan ausgearbeitet, das als erste Stufe ein Risikoheer von 36 Divisionen für einen mitteleuropäischen Verteidigungskrieg nach allen Seiten und dann den Übergang zu einem 63 Divisionen starken Offensivheer vorsah 3 3 . Von einer durchorganisierten und realitätsbezogenen Steuerung der Aufrüstung durch das Reichswehrministerium — ab 16. Mai 1935 Reichskriegsministerium — konnte allerdings kaum die Rede sein. Z w a r löste Blomberg zum 1. November 1934 den Wirtschaftsstab unter Oberst Thomas aus dem Heereswaffenamt (HWaA) heraus und unterstellte ihn direkt dem neu geschaffenen Wehrmachtamt (WA), das aus dem Ministeramt hervorgegangen war (12. Februar 1934) und neben militärpolitischen auch alle anderen für die Streitkräfte bedeutenden Fragen zentral behandeln sollte. Dieser neuen Dienststelle „Wehrwirtschafts- und W a f f e n w e s e n " — ab Oktober 1935 „Wehrwirtschaftsstab" — im Wehrmachtamt gelangen aber nur Teilerfolge bei der Koordinierung der Aufrüstung. Erfolgreich gestaltete sich nur — zumal nach der Verkündung des neuen „Gesetzes über die Aus- und Einfuhr von Kriegsgerät" (6. November 1935) 3 4 — die Zusammenarbeit mit dem Reichswirtschaftsministerium, das sich daran interessiert zeigte, die Rüstungsanstrengungen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zugutekommen zu lassen. Insbesondere die engen Kontakte auf dem Gebiet des Außenhandels zu dem neuen kommissarischen Wirtschaftsminister Schacht (ab 3. August 1934), der bereits als Reichsbankpräsident (ab 7. März 1933) mit der Einführung von „Mefo-Wechseln" zu einer langfristigen, finanziell gesicherten Rüstungsfinanzierung beigetragen hatte, bewirkten, daß bis Mitte der 30er Jahre kaum Probleme bei der Verwirklichung des dritten Rüstungsprogramms auftauchten, das den entscheidenden Rüstungsschub in Deutschland hervorrief 3 5 . Die deutsche Aufrüstung wurde schließlich geradezu bestimmend für das politische Verhalten der anderen Mächte gegenüber dem Reich und dessen eigene außenpolitische Vorgehensweise. Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht zum 16. März 1935 und die dadurch endgültig vollzogene Loslösung vom Versailler Vertrag sowie die Besetzung der entmilitarisierten Zone des Rheinlandes und die Kündigung des Locarno-Vertrages am 7. März 1936 stellten zwar die deutsche Wehrhoheit uneingeschränkt wieder her, sie verlangten aber in der Logik der Militärs auch nach einer erneuten Beschleunigung und weiteren Forcierung der Aufrüstung. Nur vordergründig handelte es sich dabei jedoch ausschließlich um eine M a ß n a h m e zur schnellen Überwindung einer außen- und militärpolitischen Gefahrenzone. In Wirklichkeit

33 34

Hillgruber, Militarismus, S. 39 ff.; vor allem Müller, Armee, S. 30 ff. Reichsgruppe Industrie an AA, 1 9 . 1 1 . 1936, PA, HaPoI.Abt./Kriegsgerät, Handel mit Kriegsgerät, Außereuropa/I : Bericht über das erste Geschäftsjahr der Ausfuhrgemeinschaft für Kriegsgeräte.

35

Boelcke, Probleme, S. 20 ff.; Volkmann, NS-Wirtschaft, S. 231 ff. 415

vollzog sich der Wandel von einer Verteidigungs- zu einer Offensivrüstung und zu einer wirtschaftlichen und strategischen Kriegsvorbereitung, die Ende 1936 die Schaffung eines 102 Divisionen umfassenden Angriffsheeres bis 1941/42 ins Auge faßte 36 . Auch die Luft- und Seestreitkräfte nahmen an dieser Entwicklung teil 37 . Der Verzicht der Marine, die Bauquoten des Versailler Vertrages auch nach 1933 auszuschöpfen, und ihr nochmaliges Zurückstekken im deutsch-englischen Flottenvertrag (18. Juni 1935) implizierten trotz aller (vormaligen) Annäherungsbemühungen an den Westen keinesfalls eine Aufgabe des See- und Weltgeltungsanspruchs, sondern bedeuteten lediglich eine Rücksichtnahme auf Hitlers Werben um England und somit nur einen vorübergehenden Flottenverzicht, der schon Ende 1937 mit der Ausweitung der Baupläne hinfällig wurde 3 8 . Angesichts dieser Aufrüstungseuphorie hatte es daher das Auswärtige Amt unter Neurath nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten trotz der vorgetäuschten Kontinuität einer gemäßigt gouvernementalen deutschen Außenpolitik nicht lange vermocht, außenpolitische Rückschläge und eine Isolierung des Deutschen Reiches auf europäischer Ebene zu verhindern. Führte die provokative Aufrüstung Mitte 1934 zu einem Abbruch der bilateralen Gespräche mit den Franzosen und Engländern, so belasteten nationalsozialistische Aktivitäten in Österreich die Beziehungen zu Italien, das sich nach der Verkündung der allgemeinen Wehrpflicht mit England und Frankreich demonstrativ in der „Stresa-Front" (24. April 1935) zusammenschloß 39 . Obwohl sich die traditionellen Eliten in der „Wilhelm-" und der „Bendlerstraße" sowohl aus strategischem als auch aus wirtschaftlichem Interesse weiterhin um gute Kontakte zur Sowjetunion bemühten, bewirkten die antibolschewistischen Hetzkampagnen des „Außenpolitischen Amtes" (APA) der NSDAP unter Rosenberg und des Büros bzw. der Dienststelle des „Beauftragten der Reichsregierung für Abrüstungsfragen", Ribbentrop, die sich immer mehr zu Konkurrenzinstitutionen des Auswärtigen Amtes entwickelten, eine Verschlechterung des politischen Klimas 40 . Der deutsch-polnische Nichtangriffspakt (26. Januar 1934) verstärkte das Mißtrauen der Russen gegenüber dem

36 37

38 39 40

Geyer. Militär, S. 250 ff.; Müller, Ludwig Beck, S. 216 ff. Das „Zweite Rüstungsprogramm" hatte f ü r die g e p l a n t e n Luftstreitkräfte lediglich den Erwerb von 200 M a s c h i n e n vorgesehen. Das getarnte F l u g z e u g b e s c h a f f u n g s p r o g r a m m von 1933 beinhaltete schon die Produktion von 1000 Flugzeugen für eine Risikoluftw a f f e . Bei der V e r k ü n d u n g d e r allgemeinen W e h r p f l i c h t g e h ö r t e n zu den f l i e g e n d e n V e r b ä n d e n bereits 1800 M a s c h i n e n , bis E n d e 1936 schließlich 2700, die bis 1938 qualitativ erheblich umgerüstet w u r d e n . Deist, Aufrüstung, S. 399 ff., 473 ff.; Jacobsen, Außenpolitik, S. 401 f. Dülffer, Flottenabkommen, S. 249 ff.; Deist, Problem, S. 560 ff. Messerschmidt, Außenpolitik, S. 559 ff., 594 ff. Zu Auslandsorganisation der NSDAP (AO), APA und Büro b z w . Dienststelle Ribbentrop ausführlich Jacobsen, Außenpolitik, S. 29 ff., 73 ff., 252 ff.; Michalka, Ribbentrop, S. 112 ff.

416

nationalsozialistischen Regime in Deutschland noch weiter und ließ den Kreml, der im September 1934 dem Völkerbund beitrat, eine stärkere Anbindung an den Westen suchen. Hatten die deutschen Exporte nach Rußland 1933 noch 282 Millionen RM, d. h. 42,5 % aller sowjetischen Importe betragen, so erreichten sie 1935 mit 39 Millionen RM, d . h . 9 % der sowjetischen Einfuhren, die nunmehr von den Engländern kontrolliert wurden, den absoluten Tiefstand 41 . Dennoch blieb die deutsche Wirtschaft bis Mitte der 30er Jahre nicht ohne Erfolg. Schachts Konzept, über Arbeitsbeschaffung und Aufrüstung eine Vollbeschäftigung zu erreichen und diese als Motor eines neuerlichen Konjunkturaufschwungs zu nutzen, war auch von den Nationalsozialisten verstanden und akzeptiert worden, zumal er keineswegs daran dachte, die deutsche Wirtschaft wieder in das Weltwirtschaftssystem einzugliedern. Auch der Reichswirtschaftsminister betrachtete den Außenhandel letztlich als Devisenbringer und Rohstofflieferanten für die vermeintlich wirtschaftsstabilisierende Aufrüstung. Sein „Neuer Plan" vom 24. September 1934, der vor allem eine devisenbringende Exportförderung nach Südosteuropa und Südamerika vorsah und bei der angespannten Devisenlage jegliche Importüberschüsse zu vermeiden suchte, forderte weitere dirigistische Maßnahmen im Wirtschaftsbereich, da der Rückgang der Produktion um 50 % und des Außenhandels um 75% seit 1928 sich nach wie vor als alarmierend darstellte. Allein die rüstungswirtschaftlich wichtigen Rohstoffimporte — die Außenabhängigkeit des Deutschen Reiches betrug bei Eisenerzen über 50 %, bei Nichteisenmetallen zwischen 70 % und 95 % — waren um 86 % gesunken und gingen zudem Anfang 1934 nur zu ca. 1 6 % in die Produktionsgüterindustrie, zu ca. 45 % jedoch in die Verbrauchsgüterindustrie 42 . Mit Hilfe verschärfter Ein- und Ausfuhrregelungen erweiterten staatliche Überwachungsstellen schließlich die Devisenzwangswirtschaft von 1933 in ein Devisenrepartierungssystem, bei dem täglich im Außenhandel nur so viel ausgegeben werden durfte, wie eingenommen wurde. Weitaus erfolgreicher als diese Verbürokratisierung der Außenwirtschaft erwiesen sich allerdings neue bilaterale Handelsverträge, die Verrechnungsabkommen, meist zu stabilen Wechselkursen, oder einen direkten Warenaustausch nach sich zogen und einen Aufschwung des Außenhandels von 1934 bis 1936 um immerhin 1 9 % bewirkten 43 . Auch im deutschen Chinahandel zeichnete sich allmählich eine Verbesserung der Situation ab, obwohl er 1933/34 zunächst weiter zurückging und unter 41

Auch n a c h dem Abschluß eines neuen deutsch-sowjetischen Handelsvertrages vom 9. 4 . 1 9 3 5 bzw. eines Kreditvertrages über 2 6 0 Mill. RM verbesserten sich die Handelsbeziehungen nur schleppend. Doering, S. 169 ff.; Wollstein, S. 106 ff.

42

Petzina, Autarkiepolitik, S. 15 ff.; ders., Zwischenkriegszeit, S. 67 ff.; ders., Hauptprobleme, S. 18 f., 30 ff.

43

1935 wurden noch 1 7 % des Warenaustausches über Devisen, aber 8 3 % über Austauschgeschäfte abgewickelt. Boelcke, Goldpolitik, S. 296 ff.; Doering, S. 34 ff., 95 ff. 417

den japanischen Billigangeboten genau so zu leiden hatte wie unter den günstigeren Wechselkursen Englands und der Vereinigten Staaten aufgrund des dortigen Währungsverfalls, so daß viele kleinere Handelshäuser in finanzielle Schwierigkeiten gerieten und von Großfirmen aufgekauft wurden. Der Wertanstieg der chinesischen Währung nach den amerikanischen Silberaufkäufen und die vollends wiedergewonnene Geldstabilität Ende 1935 brachten die deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen jedoch erneut in Schwung, wenn sich auch die Devisenknappheit in Deutschland immer deutlicher bemerkbar machte. Die deutschen Importe aus China konnten daher mit 1 0 % von 1934 auf 1935 (von 51 auf 56,2 Millionen RM) und 2 0 % von 1935 auf 1936 (von 56,2 auf 69,2 Millionen RM) nur weitaus geringere Steigerungsraten erzielen als die Exporte aus Deutschland nach China mit 20 % bzw. 4 0 % (von 73 auf 90,5 bzw. 125,8 Millionen RM) in demselben Zeitraum 44 . Seit dem 1. April 1935 war die Zuteilung von Bardevisen im Chinageschäft amtlicherseits überhaupt nicht mehr vorgesehen. Käufe aus dem ehemaligen Reich der Mitte durften nur noch auf Konten deutscher Banken im Inland (Ausländersonderkonten für Inlandszahlungen, ASKI) entschädigt oder über private Verrechnungsgeschäfte mit behördlicher Genehmigung getätigt werden. Vorteile bot das allenfalls für Firmen, die sowohl im Im- als auch im Exportgeschäft tätig waren. Um auch weiterhin hochwertige Güter einzuführen, sahen sich die Einfuhrhäuser oftmals gezwungen, neue kostspielige Geschäftsverbindungen über Holland und England zu suchen 45 . Die Warenstruktur des Importhandels änderte sich deshalb bis 1936 nur unwesentlich. Der Anteil der (rüstungs-)wirtschaftlich wichtigen Erzeinfuhren stieg zwar seit 1933 von 3,1 % auf 8 %, erreichte aber hinter Wolle und Tierhaaren, Eiprodukten und Schmalz nur Platz vier bei den Ausfuhren Chinas (ohne Mandschurei) ins Deutsche Reich 4 6 . Dagegen boten die Exportgeschäfte Deutschlands mit China — hauptsächlich die Ausfuhr von Metallwaren aller Art (von Maschinen über Lokomotiven bis zu Nägeln), Farben, Chemikalien und Papier — Mitte der 30er Jahre allen Grund zu uneingeschränkter Zufriedenheit. Bis 1934 waren größere Abschlüsse noch an fehlenden Sicherheiten und Geldern gescheitert, so daß lediglich einige MAN-Motoren sowie Siemens- und AEG-Turbinen geliefert werden konnten 47 . Auch der Besuch T. V. Soongs in Berlin vom 21. bis 26. Juli 1933 als Abschluß einer Good-Will-Tour in westliche Industrieländer

44

Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, Bde 1 9 3 7 - 1 9 4 2 . Bloch, S. 10 ff.; Wu, S. 91 f.

45

Firma Melchers an Landesfinanzamt Weser-Ems, 19. 9. 1935, HKHB, 900 Ol, K 11 A; Reichsstelle für Devisenbewirtschaftung an Überwachungsstellen, 27. 3 . 1 9 3 5 , ebd., C I 2 2 a n . Bloch, S. 25 ff.; Hänisch, S. 268 ff.

46

Botschaft Shanghai an Botschaftsstelle Peking, 26. 4 . 1 9 4 1 , PA, Rep Chi/Paket 4 3 / W H 2 Nr. l b / 5 . Bloch, S. 28 f.

47

Siemens an RWiM, 6. 8. 1934, SAA, 2 5 / L s 675. Kunst & Albers, S. 102 ff.

418

war trotz aller Bemühungen der Diplomaten und Militärs und eines Empfangs durch Vizekanzler v. Papen kurzfristig ohne greifbare Erfolge geblieben 4 8 . ASKI- und Kompensationsgeschäfte boten dann allerdings die Möglichkeit, wieder stärker auf dem chinesischen Markt Fuß zu fassen. Mit Hilfe „dieser Krücken" hoffte die Chinawirtschaft, auch 1934 wieder Umsatzsteigerungen im deutsch-chinesischen Exporthandel zu erzielen und die eigene Position noch weiter zu festigen 49 . Sie machte sich dabei jedoch keine Illusionen über die zunehmende Beseitigung des freien Handels und über ihre Degradierung zum reinen Verwalter staatlich gelenkter Geschäfte. Alle potentiellen Kontakte über 100 000 RM mußten dem Handelssachverständigen (v. Winterfeldt) bei der diplomatischen Vertretung des Reiches in Peking zur Kontrolle und Koordination vorgelegt werden. Im Auftrag des Wirtschaftsministeriums ging die Reichswirtschaftskammer hart gegen den Mißbrauch der Konkurrenz deutscher Firmen untereinander vor. In solchen Fällen drohte der Ausschluß vom „Zusatzausfuhrverfahren" (ZAV), das eine zusätzliche Ausfuhrvergütung des Staates als Exportsubvention garantierte 50 . Genauso mißtrauisch und abwartend wie gegenüber dem staatlichen Gebaren, aber weitaus widerstandsbereiter zeigten sich die Chinafirmen allerdings bezüglich einer fortschreitenden Zurückdrängung des Handels durch direkte Geschäftsverbindungen der Industrie nach China. Einer wachsenden Anzahl von Vertretern von Industriewerken, neuen Industrieniederlassungen und einem Ausbau eigenständiger Warenlager der Industriebetriebe in China sollte durch eine engere Kooperation untereinander entgegengetreten werden. Der Trend, daß sich Banken und Industrieunternehmen zu Konsortialfirmen zusammenschlössen, an denen nur wenige bedeutende Chinahandelshäuser beteiligt waren, setzte sich jedoch weiter fort, auch weil sich die Mehrzahl der Handelshäuser wenig flexibel und risikobereit zeigte: Mitte 1935 befanden sich trotz aller Verstaatlichungstendenzen Kuomintang-Chinas erst drei Firmenvertretungen in der Hauptstadt Nanking; drei weitere standen vor der Eröffnung. Fast ausschließlich Großfirmen wie Siemssen, Carlowitz, Jebsen und Kunst & Albers führten Mitte des Jahrzehnts daher die herausragenden Geschäfte bedeutender deutscher Industriekonzerne wie Otto Wolff, Ferrostaal, Stahlunion, Krupp, Gutehoffnungshütte, Röchling, Siemens, Daimler und Mannesmann aus, wenn diese nicht ganz in eigener Regie abgewickelt wurden 51 .

48

Adjutant Papens an AA, 4. 7. 1933, PA, Büro R M / 3 7 / 5 ; Aufzeichnung Dieckhoff, 5. 7.

49

Siemens Jahresbericht 1 9 3 4 / 3 5 und 1 9 3 5 / 3 6 , SAA, 2 0 / L a 229. Albers, S. 48 ff.

50

Reichswirtschaftskammer an Handelskammern, 7. 5. 1935, HKHB, Hp II 8 3 / 9 . Han-

1933, ebd., Pol. Abt. IV/Po 13 Chi/7.

delskammer Nürnberg an Siemens-Schuckertwerke,

24. 5. 1935, SAA, 4 9 / L p

938.

Denkschrift Handelssachverständiger an AA, 24. 6. 1936, BA, R 2 / 1 6 622. Kunst & Albers, S. 90 ff. 51

Wirtschaftsstelle der AO: Wirtschaftsbericht China 1933, HKHB, Hp II 8 3 / 8 . Reichsgruppe Industrie an Wirtschaftspolitische Abteilung des AA, 31. 2. 1935, SAA, 4 9 / L p 9 3 8 ; Siemens-Schuckertwerke an Dipl.-Kaufmann Brandt, 16. 3. 1935, ebd.

419

Die Industrie hatte nach dem sich abzeichnenden Verlust der Russengeschäfte im Verlauf des Jahres 1933 ihre Hoffnungen immer stärker auf China als wirtschaftlichen Ergänzungsraum konzentriert. Der angloamerikanischen Kreditoffensive sollte auf dem chinesischen Markt eine deutsche Exportoffensive entgegengesetzt werden 5 2 . Dazu bot sich nach Ansicht der Industriellen als beste Voraussetzung eine Vertiefung der persönlichen Kontakte zu Chinesen in einflußreichen Positionen an, z. B. zu Chu Chia-hua, dem deutschlandfreundlichen Verkehrsminister in Nanking (6. März 1932—12. Dezember 1935), und zu den deutsch ausgebildeten Akademikern, deren Studium in Deutschland nun Früchte tragen sollte. Mehr als an den Einsatz von zivilen Beratern in China, deren Anzahl Mitte 1934 mit je einem Vertreter im Verwaltungs-, Post- und Forstbereich und zwei Instrukteuren im Eisenbahnsektor ohnehin recht bescheiden war, dachten die Wirtschaftsführer zudem daran, Ausbildungsplätze in der deutschen Industrie mit Chinesen zu besetzen 53 . Der Bericht des Direktors der IG Farben, ligner, der 1934/35 China bereiste, bestätigte nur die Richtigkeit des Weges, der darüber hinaus mit der Gründung des „China Clubs der deutschen Industrie" (1934) und dem „Deutschen Kulturverband in Nanking" (1935) eingeschlagen worden war: eine verstärkte Kulturpropaganda als flankierende Maßnahme zu den sich anbahnenden industriellen Anlagegeschäften großen Stils 54 . Otto Wolff — Gründer eines der größten deutschen Industriekonzerne nach dem Ersten Weltkrieg und Mitinitiator der Russengeschäfte von Anfang der 20er Jahre —, der wie ligner nach China reiste und damit die Bedeutung des chinesischen Marktes für die deutsche Industrie dokumentierte, war es im Februar 1935 erstmals gelungen, Austauschgeschäfte von enormer Größenordnung auf privater Kapitalbasis mit Nanking in die Wege zu leiten. Bereits um die Jahreswende 1934/35 hatte die Otto-Wolff-Gruppe den Auftrag erhalten, die Eisenbahnlinien Yushan — Nanchang und Yushan — Pinghsian in Kiangsi, jeweils Strecken von 300 km Länge, zu bauen, und einen Generalvertrag mit der Kuomintang-Regierung und der Bank of China abgeschlossen. Diese sagte dem Kölner Industriemagnaten dann auch zu, mit Hilfe von „promissory notes" im Auftrag Nankings die Bezahlung von weiteren 1500 und ChuEisenbahnkilometern, den Linien Nanchang — Hangchow chow —Kweiyang, von sechs Küsten- und sechs Flußdampfern und von 2000 Lastkraftwagen in Devisen oder in Wolfram- und Zinnlieferungen zu garantieren 55 . Im Gegenzug erklärte sich ein deutsches Bankenkonsortium unter 52 53

Causey, S. 286 f.; Nieh, Entwicklung, S. 8 9 ff. Bericht des ehemaligen Beraters Schubart, 1 1 . 1 2 . 1933, PA, Abt. IV WiChi/Wirtschaft 6 / 2 ; Trautmann an AA, 3. 8 . 1 9 3 4 , ebd., Wirtschaft 1 A / 6 . Siemens-Überseeabteilung an Vorstand, 5. 5. 1933, SAA, 3 7 / L a 529; Siemens Überseeabteilung an Studentenwohnheim Freiburg, 3 0 . 5 . 1934, ebd.; Siemens Überseeabteilung an Siemens China Co., 28. 9. 1933, ebd.

54

Fox, Klein Projects, S. 219 f.; Ruland, S. 195 ff.

55

Aufzeichnung RFiM über das Chinageschäft Otto Wolfis, 25. 5. 1935, BA, R 2 / 1 6 441; R W i M an RFiM, 13. 6. 1936, ebd., R 2 / 1 6 683. Bloch, S. 22 ff.; Briessen, S. 95 ff.

420

der Führung der Deutschen Bank, der Dresdner Bank und der Deutsch-Asiatischen Bank bereit, Otto Wolff Materialkredite zur Ausführung der Projekte zur Verfügung zu stellen. Genaueren vertraglichen Vorvereinbarungen folgten konkrete Abkommen, so daß die Firma Benz, die bereits 1934 die ersten Autos nach China verkauft hatte und an der Otto Wolff maßgeblich beteiligt war, ab 1936 die ersten Chassis mit Bosch-Elektronik für die eigene Automobilm'ontagefabrik, die in Kürze errichtet werden sollte, liefern konnte 56 . Nach Vollendung der 1904 begonnenen und in den 30er Jahren bis Ende 1936 von den Engländern finanzierten und gebauten Canton-HankowBahn wurde am 25. Dezember 1936 schließlich neben einem Abkommen über die Erneuerung der Peking-Hankow-Bahn auch noch der endgültige Vertrag über die Chuchow-Kweiyang-Bahn zwischen dem chinesischen Eisenbahnministerium und dem deutschen Chinakonsortium der Firmen Wolff, Stahlunion, Krupp und Ferrostaal unterzeichnet, für dessen Einhaltung die Chinesen mit der bereits fertiggestellten Strecke Nanchang — Pinghsian bürgten 5 7 . Maßgeblich zum Zustandekommen dieser und ähnlicher Abkommen deutscher Industriefirmen mit chinesischen Regierungsstellen, die allerdings größtenteils die Durchführung von Einzelprojekten gegen Devisenzahlungen regelten, trug neben den entgegenkommenden Sicherheitszusagen der Chinesen auch die Gewährung von Exportgarantien durch die Reichsregierung bei. Trotz anfänglicher Bedenken des Auswärtigen Amtes übernahm das Deutsche Reich über die Deutsche Revisions und Treuhand AG bei einem möglichen Ausfall der „promissory notes" die Absicherung von 70 % des Vertragswertes. Bereits 1934 waren solche Reichsausfallbürgschaften für Lieferungen von Lokomotiven der Firma Krupp im Werte von 400 000 RM gewährt worden. Weitere Garantiezusagen erteilten die Behörden 1935/36 für gleichartige Abschlüsse der Essener Firma und der AEG im Werte von mehreren Millionen Mark sowie für ähnliche Kontrakte über Maschinen- und Stahllieferungen, u. a. der Deutschen Maschinengesellschaft und der Vereinigten Stahlwerke, oder für elektrische Anlagen und Elektrowerke von Siemens China Co. 58 . Allzu eindeutig fielen angesichts der Devisenknappheit des Deutschen Reiches die positiven Stellungnahmen des Reichsfinanzministeriums Mitte der 30er Jahre zu den Industrielieferungen nach China aus, als daß Berlin seine restriktive Haltung von Anfang des Jahrzehnts hätte beibehalten können, zumal die vordergründig stabilen Verhältnisse in China auch

56

Hänisch, S. 307 ff.; Müller-Jabusch, S. 305 ff.

" F i s c h e r an Transocean, 11. 12. 1936, PA, Rep Chi/Paket 4 4 / W H 2 Nr. 3 c / 3 . Text der Verträge vom 2 5 . 1 2 . 1 9 3 6 : BA, R 2 / 1 6 690. „Frankfurter Zeitung", 2 2 . 1 2 .

1936,

H W W A , B 9 4 / g 4 a Sm2. 58

Niederschrift über die Sitzung des Exportausschusses, 1 2 . 1 2 . 1934 und 2 2 . 1 1 . 1935, BA, R 2 / 1 6 6 8 2 ; Niederschrift über die Sitzung des Exportausschusses, 31. 5. und 4. 6. 1935, ebd., R 2 / 1 6 6 4 5 ; Deutsche Revisions und Treuhand AG an Siemens-Schuckertwerke, 11. 6. 1935, ebd., R 2 / 1 6 670.

421

kaum noch Anlaß zu größeren Bedenken gaben. Die Chinageschäfte seien „wegen des Devisenausgleichs von größter Bedeutung"; auf sie dürfe „auch dann nicht verzichtet werden, wenn infolge der Unterbietung durch Länder mit abgewerteter Währung [England, USA] ein großer Teil der Geschäfte nur mit Verlustausgleich [Zusatzausfuhrverfahren] durchgeführt werden könne"; Nanking sei für Deutschland fast noch die einzige verbliebene Hoffnung, neue Devisen zu erwirtschaften 59 . Gerade aus diesem Grund meldete die „Wilhelmstraße" speziell gegen die Austauschprojekte Otto Wolfis allerdings erneut Bedenken an. Neben dem Grundsatz, nur einzelne Geschäfte zu fördern, da China nach wie vor keinen Vergleich mit Rußland und den diesbezüglich getroffenen großzügigen Regelungen standhalte, gefährdeten solche umfassenden Austauschverträge — seien sie auch privater Natur — auf längere Sicht den Außenhandel, weil sie schließlich keinerlei Devisen erbrächten. Dennoch lenkte das Auswärtige Amt ein. Obwohl Rohstofflieferungen als Gegenleistungen vorgesehen waren, deutete alles darauf hin, daß die Chinesen in Devisen zahlten — eine Annahme, die sich in den nächsten Jahren bestätigte 60 . Zur Genugtuung der Diplomaten konnte 1936 mit der chinesischen Regierung, die sich an einer Vertiefung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit dem „Modernisierungsvorbild" Deutschland äußerst interessiert zeigte, endlich sogar eine Verständigung über die bislang blockierte Rückzahlung der Anleihen der Tientsin-P'ukow- und der Hukwang-Bahn — immerhin nach dem Kurswert von 1933 noch ca. 50 Millionen RM — erzielt werden 6 1 . Damit schob sich das Deutsche Reich, im Gegensatz zu den privaten deutschen Anlegern und deren rückläufigen Einlagen in China 62 , unter Berücksichtigung der staatlich abgesicherten Eisenbahnkontrakte von Mitte der 30er Jahre mit einem Anteil von 89,4 Millionen US-Dollar wieder auf Platz vier — hinter den führenden Japanern, Großbritannien und den USA — unter den ausländischen Besitzern chinesischer Staatsobligationen vor 63 . An neuerlichen Reichsinvestitionen mit zurückfließenden Geldern auf dem chinesischen Markt zugunsten des Exporthandels dachten Berliner Regierungskreise im Gegensatz zu ihren Überlegungen Ende der 20er Jahre allerdings weniger. Einerseits verlangten die auf eine weitere Stabilisierung der Außenwirtschaft bedachten Chinesen immer eindringlicher, daß Deutschland

59

Vermerk RFiM, 1 6 . 1 2 . 1935, ebd., R 2 / 1 6 4 4 2 .

60

Trautmann an AA, 3 1 . 1 2 . 1934, AD AP, C III, Nr. 4 0 4 . Reichsbank an AA, 5 . 1 2 . 1935, PA, Rep Chi/Paket 4 0 / W F 1 - 2 / 3 .

61

Miiller-Jabusch,

S. 292 ff. Die privaten deutschen Investitionen in China sanken von 1931 bis 1936 von 75,0 Mill.

62

auf 59,1 Mill. US-Dollar. Damit lag Deutschland weit abgeschlagen hinter den anderen Mächten: Japan 1 117,8 Mill. US-Dollar, Großbritannien 1 059,3 Mill. USA 244,6 Mill. und Frankreich 142,0 Mill. Hou, Tafel 45. " J a p a n besaß chinesische Staatsobligationen in Höhe von 241,4 Mill. US-Dollar, Großbritannien von 161,5 Mill., Frankreich von 92,1 Mill., und die USA lagen mit 54,2 Mill. nur auf Platz fünf. Ebd. 422

seine positive Handelsbilanz abbaue, die nach der chinesischen Statistik mehr als doppelt so hoch erschien als nach der deutschen. Andererseits stellte auch auf deutscher Seite der Importhandel mit seiner trotz ASKI- und Verrechnungsgeschäften immer noch ungelösten Rohstoffbezahlung Mitte der 30er Jahre zusehends das größte Problem in den deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen dar, das einer baldigen Lösung bedurfte 64 . China hatte sich, ähnlich den deutschen Ausfuhrpraktiken bei Farben, Arzneimitteln und Stickstoff, bis 1935 wegen der Auffrischung seiner Devisenvorräte geweigert, wichtige industrielle Rohstoffe, insbesondere die für die Schwerindustrie in Deutschland so unentbehrlichen Wolframerze, auf Verrechnungsbasis zu liefern! und damit nicht nur die strapazierte Devisenbilanz des Deutschen Reiches weiter belastet, sondern auch indirekt die forcierte Aufrüstung der Wehrmacht in Frage gestellt. Die Bedeutung des Wolframs als Legierungsmetall war erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts erkannt worden 65 . Seit den 20er Jahren entwickelte es sich dann allerdings aufgrund seiner Zugfestigkeit und Hitzebeständigkeit „über Nacht zum wichtigsten Kriegsmetall" 66 . Mitte der 30er Jahre kamen etwa zwei Drittel der gesamten Wolframimporte Deutschlands, die etwa 7000—8000 t pro Jahr betrugen, aus China, dem Land mit den größten und bedeutendsten erschlossenen Wolframvorkommen der Welt, nachdem zunächst die Lieferungen ins Reich bis 1932 auf 800 t, ca. 50 % der Gesamteinfuhr, gesunken waren und seitdem auf die Vorräte aus dem vorausgegangenen Jahrzehnt zurückgegriffen werden mußte 67 . Obwohl sich die Bilanz des deutsch-chinesischen Handels ständig verbesserte, blieben jeweils im nationalen Interesse wichtige Fragen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit Deutschlands und Chinas ungeklärt. Schon T. V. Soong hatte daher bei seinem Besuch in Berlin zur einvernehmlichen Lösung der bilateralen Wirtschaftsprobleme einen staatlichen Rahmenvertrag über die genaue Regelung des deutsch-chinesischen Warenaustausches vorgeschlagen, dessen wesentlicher Bestandteil revolvierende Kredite sein sollten — Überlegungen, die entgegen allen Bedenken der „Wilhelmstraße" auch vom Reichswirtschaftsministerium im Einvernehmen mit der „Bendlerstraße" aufgegriffen wurden. Dabei konnten die Militärs an Aktivitäten und Projekte anknüpfen, die Seeckt vor, während und nach seiner Chinareise 1933 entfaltet hatte, und diese zu eigenständigen politischen Initiativen entwickeln sowie letztlich auch gegen die Einsprüche des Auswärtigen Amtes und dessen vorsichtige Politik durchsetzen 68 . 64

Kiep a n AA,

24.3.

1936,

PA, G e h e i m a k t e n

1920-1936/IV/OA/China:

Handel

11

Nr. 3 / 1 II. B o t s c h a f t Nanking a n AA, 27. 2. 1 9 3 6 , BA, R 2 / 9 9 7 1 . S. A n h a n g , Tabelle 3. 65

R e i c h s s t e l l e für D e v i s e n b e w i r t s c h a f t u n g a n Ü b e r w a c h u n g s s t e l l e n , 27. 3. 1 9 3 5 , H K H B , C I 2 2 a 17. H ä n i s c h , S. 3 2 3 ff.

66

Jäger, S. 1 4 ff. Z u r B e d e u t u n g d e s W o l f r a m s a u c h Jindra, S. 1 3 9 . M a n c h e s t e r , S. 3 2 8 .

67

Bloch, S. 2 8 f.

66

A u f z e i c h n u n g M i c h e l s e n , 2 5 . 7 . 1 9 3 3 , PA, Abt. IV W i C h i / W i r t s c h a f t 1 A / 4 . G e s a n d t s c h a f t Peking a n AA, 1 9 . 1 1 . 1 9 3 3 , BA, R 2 / 1 6 4 4 2 . S i e m e n s a n R W i M , 6. 8 . 1 9 3 4 , SAA, 2 5 / L s 675.

423

Seeckt hatte im Gegensatz zu Groener und Falkenhausen eine offizielle Einladung Chiang Kai-sheks, die auf Anregung Wetzells und Chu Chia-huas ausgesprochen worden war, Mitte 1932 angenommen, die Fahrt nach China aber wegen der unübersichtlichen politischen Situation während des Mandschureikonfliktes zunächst verschoben. Die Ankündigung des Generalobersten a. D. an das Auswärtige Amt Anfang 1933, er werde in Kürze eine Reise nach China antreten und glaube, ihm werde dort die Stelle eines obersten militärischen Beraters angeboten, löste in der „Wilhelmstraße" große Bedenken, aber auch ein gewisses Interesse aus. Zum einen befürchteten die Diplomaten, ein solches Unternehmen lasse sich nicht mit der nach außen streng neutralen Position Deutschlands im Fernen Osten vereinbaren, wecke den Argwohn des Westens und provoziere geradezu eine Verstimmung Japans. Zum anderen konnte allerdings kaum übersehen werden, daß sich Seeckt, den der Widerstand der Chinesen in den chinesisch-japanischen Auseinandersetzungen beeindruckte, mit seinen politischen Motiven völlig in Übereinstimmung mit den Kontinentalblockvorstellungen der Ostprotagonisten in der „Wilhelmstraße" befand, wenn er — anknüpfend an seine Konzeptionen aus den frühen 20er Jahren — davon ausging, daß das Deutsche Reich niemals mit dem Westen und Japan zusammengehen dürfe, sondern China aufbauen und mit den Chinesen und Russen ein Bündnis suchen müsse. Wie die Chinadiplomaten, welche die Wiederaufnahme des „Drahtes zu Moskau" nach der Verlängerung des Berliner Vertrages eindeutig begrüßten, so wollte auch Seeckt Deutschlands Engagement in China nicht gegen die Sowjetunion, sondern als Erweiterung der Bindung zu Rußland gedeutet wissen 69 . Mit allen Mitteln versuchte das Auswärtige Amt schließlich als Kompromiß zwischen konkreten politischen Erfordernissen und kontinentalen Konzeptionen den privaten Charakter des Chinabesuchs des vormaligen Chefs der Heeresleitung Mitte 1933 herauszustreichen, den dieser auch selbst ständig betonte. Die „Wilhelmstraße" begrüßte es, daß Seeckt darüber hinaus erwähnte, er dürfe nicht in chinesische Dienste treten und fahre ebenfalls nach Japan, falls er eingeladen werde. Auch Trautmann bemühte sich, den Generalobersten mit dem diplomatischen Korps in Peking zusammenzubringen, um bei den Mächten das Mißtrauen zu beseitigen. Selbst die deutsche Chinawirtschaft war zu guter Letzt davon überzeugt, daß hinter dem Besuch zwar eindeutig die Reichswehr stehe, meinte aber, insbesondere deren Interesse an einem deutsch-japanisch-chinesischen Ausgleich auszumachen. In Wirklichkeit verfolgte die „Bendlerstraße" jedoch ganz andere Ziele: die Stabilisierung der Beraterschaft und endlich — zugunsten der eigenen Aufrüstung — eine Ausweitung des Einflusses auf die rüstungswirtschaftliche und militärische Modernisierung in China 70 . 69

Aufzeichnung Völckers, 3. 4. 1933, PA, Büro R M / 3 7 / 5 . Tagebuch Seeckt, Eintrag 6. 5. 1933, BA-MA, N 247, Bd 135. Michelsen an Gesandtschaft Peking, 11. 4. 1933, ADAP, C I, Nr. 156. Liang, Connection, S. 45 f.

70

T r a u t m a n n an AA, 2 2 . 6 . 1933, PA, Pol. Abt. IV/Po 13 Chi/7. Trautmann an Bülow, 24. 8. 1933, ADAP, C I, Nr. 410. Gordon, Berlin, an Secretary of State, 12. 5. 1933, FRUS 1933, III, S. 320. Kunst & Albers, S. 74 ff.; Office of Military History, Summary, S. 4 f.

424

Die Beraterschaft und vor allem Wetzeil hatten angesichts der neuen wirtschaftlichen Prioritäten in der Chinapolitik der „Bendlerstraße" schon seit längerer Zeit den Vorstellungen der Berliner Militärs nicht mehr entsprochen. Wetzeil war es nicht gelungen, sich gegen die japanische oder während der Mandschureikrise gegen die französische Rüstungslobby in China durchzusetzen und dafür zu sorgen, daß — von Ausnahmen abgesehen — einheitliche Waffensysteme nach deutschen Lizenzen im Ausland bestellt wurden, die zukünftig durch größere Lieferungen aus Deutschland ergänzt werden konnten. Ein schlechtes Klima unter den deutschen Ausbildern ließ zudem die Beraterschaft keineswegs als ein homogenes Offizierkorps erscheinen. Darüber hinaus verschlechterte sich das Verhältnis des Generalberaters zu den Chinesen immer weiter, nicht nur, weil dieser auf Anweisung aus Berlin die Instrukteure von der chinesisch-japanischen Front zurückhielt, sondern auch, weil in der Canton-Nanking-Koalitionsregierung hohe chinesische Militärs an Chiang Kai-shek als Vorsitzenden der Militärkommission vorbei über das Kriegsministerium Einfluß auf die Beraterschaft nehmen wollten — ein Hauptgrund für die Einladung an Seeckt, von dessen Ansehen sich sowohl Chiang als auch Wetzell eine Festigung ihrer Position versprachen. Zwar wies Wetzell alle Vorwürfe zurück, daß er nichts erreicht habe: Er habe bei der Auseinandersetzung mit den Japanern eine Konzentration des wirtschaftlichen Aufbaus auf das rein Militärische nicht verhindern können, noch seien seine Forderungen nach einer Vereinheitlichung der Waffen oder einer verstärkten Ausbildung chinesischer Offiziere in Deutschland berücksichtigt worden 71 . Aber auch bei Chiang geriet der Generalberater, der nur über wenig politisches Geschick verfügte, zusehends in Mißkredit. Seeckts geplante Aktivitäten in China mußten der Reichswehr daher zweifellos entgegenkommen, zumal sie von Anfang an konkrete wirtschaftliche Ergebnisse versprachen 72 . Der Generaloberst war schon Ende 1930 über den Vater 73 des nachmaligen Militärberaters in Kwangsi, Mayer-Mader — dieser arbeitete zu diesem Zeitpunkt erfolgreich als Vermittler in Rüstungsgeschäften für die Chinafirma Kunst & Albers —, über die guten Möglichkeiten von Kriegsmateriallieferungen nach China informiert worden. Daraufhin dürfte Seeckt wohl auch seine Kontakte zu Hans Klein, dem Direktor der STAMAG, den er von früheren Russengeschäften kannte, wieder intensiviert haben. Mayer-Mader war es auch, der Seeckt Anfang 1932 den Professor Ma Chün-wu, den Präsidenten

71

Noch Anfang 1933 wirkte Wetzell auf Brinckmann ein, er solle sich bei Blomberg dafür einsetzen, daß zumindest fünf Offiziere jährlich in Deutschland ausgebildet werden könnten. Zu Wetzells Argumentation vor allem Denkschrift Wetzells für Chiang Kaishek, Dezember 1931, BA-MA, MSg 160/3.

72

Gilbert an Schmidtmann, 4 . 4 . 1961, BA-MA, MSg 1 6 0 / 3 7 ; Krey an Schmidtmann, o. D„ ebd. Fu, Relations, S. 170 ff.; F. Lindemann, S. 172 ff.; Seps, Advisers, S. 248 ff., 278 ff. Major a. D. Mayer-Mader.

73

425

der Universität Wuchow, vorstellte, der in Deutschland studiert hatte und maßgeblich an dem engeren Zusammenschluß von Kwangtung und Kwangsi beteiligt war. Ma weilte offiziell im Auftrag Marschall Li Tsung-jens in Deutschland, um durch neue Aufträge die Reorganisation der Provinz Kwangsi voranzutreiben, die wegen ihrer herausragenden militärischen Modernisierungsbemühungen bereits oftmals das „Preußen Chinas" genannt wurde. Inoffiziell suchte er auch für Canton und dessen Militärbefehlshaber Ch'en Chi-t'ang nach geeigneten Finanz- und Industriepartnern, welche die Fortführung der dortigen Aufrüstung sicherstellen sollten. Der Beauftragte der beiden Südprovinzen, in dessen Begleitung sich neben Mayer-Mader auch noch der Eigentümer der Firma Paelz befand, ein ehemaliger Angestellter bei Carlowitz & Co., dem die alleinige Übernahme eines Arsenalprojektes für Canton und Nanking zu risikoreich erschien, wurde schließlich sogar von Schleicher und Bredow empfangen. Zuvor hatten im Juli 1932 mehrere — mit Rücksicht auf Nanking — geheime Gespräche zwischen Ma, Mayer-Mader, Paelz und Seeckt stattgefunden. Auf Betreiben des letzteren wurde auch Klein hinzugezogen, der sich von Anfang an als Vertrauter des Reichswehrmmisteriums ausgab 74 . Seeckts Einwirken Mitte 1933 war es auch zu verdanken, daß in China wenigstens die Canton-Projekte zu einem erfolgreichen Geschäftsabschluß führten, nachdem sich die Kwangsi-Pläne wohl wegen Unstimmigkeiten zwischen Paelz und Klein zerschlagen hatten 75 . Der Generaloberst hatte nach seinem Besuch bei Chiang Kai-shek auf seiner Rückreise im Juli noch einmal in Canton Station gemacht, um direkte Gespräche mit den Militärführern des Südens zu führen, die sich dadurch äußerst geehrt fühlten. Dagegen dürfte der Einfluß des dortigen Militärberaters Lindemann entgegen allen Erwartungen in Berlin kaum zur Geltung gekommen sein. Hans Klein, der sich in Begleitung von Major a. D. Curt Preu bereits seit Mai in Canton aufhielt und anstatt mit Paelz mit der alten Chinafirma Siemssen gute Kontakte pflegte, gelang es schließlich, mit Ch'en Chi-t'ang definitiv übereinzukommen, in Par Kong-hou eine Gewehr- und Geschützfabrik im Wert von 6 Millionen Pfund zu bauen — ein Geschäft, das allerdings sofort das Mißtrauen der deutschen diplomatischen Vertreter weckte 76 .

74

Gesandtschaft Peking an AA, 18.10.1932, PA, Pol. Abt. IV/Po 3 adh Chi/1. Major Mayer-Mader an Seeckt, 29. 10. 1930, BA-MA, N 247, Bd 185; Major a. D. Mayer-Mader an Röhm, 20. 3. 1933, ebd., MSg 160/11. Liang, Connection, S. 50 ff.; Meier-Welcker, Generaloberst Hans v. Seeckt, S. 116 ff. 75 Wahrscheinlich weil Klein zu hohe Provisionsforderungen stellte, angeblich 10% des 12 Mill.-Projekt. Genauere Angaben konnten auch seine späteren Mitarbeiter in der HAPRO nicht mehr machen. Interview des Verfassers mit F. Busse und L. Werner am 12. 5. 1980. 76 Tagebuch Seeckt, Eintrag 6. 5. 1933, BA-MA, N 247, Bd 135. Trautmann an AA, 24. 8. 1933, ADAP, C I, Nr. 410. Interview Busse/Werner, 12. 5. 1980; Brief L. Werner an Verfasser, 22. 12. 1980. Eckert, passim; Meier-Welcker, Seeckt, S. 645 ff. 426

Voller Skepsis berichtete Generalkonsul Wagner, der in Canton die Aktivitäten Seeckts und Kleins sorgfältig beobachtet hatte, der „Wilhelmstraße" seine Eindrücke: Unannehmlichkeiten drohten nicht nur von Seiten Nankings und den anderen Großmächten; möglicherweise würden auch Reichsausfallgarantien beantragt, die „maßgebliche Kreise zu Hause" wohl schon erwogen hätten, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, daß diese die Reichsregierung offiziell in Rüstungsgeschäfte verwickeln müßten 77 . Tatsächlich hatte bereits im August 1932 Oberst Fischer von der Abteilung T 3 das Auswärtige Amt über das von Professor Ma vermittelte Angebot eines deutschen Kaufmanns informiert, das den Aufbau einer Rüstungsindustrie im Süden Chinas für ein kleines und modernes Heer vorsah und dafür Bahn- und Minenkonzessionen in Aussicht stellte. Darüber hinaus war zunächst auch der vormalige Direktor Mederer von der Rheinischen Maschinenfabrik (Erhardt) von den Südprovinzen damit beauftragt worden, für die Gewährung eines Monopolvertrages über die Antimon-Schürfrechte den Bau von Berg- und Hüttenwerken, Eisenbahnlinien und Stahlfabriken in Angriff zu nehmen. Wie in der Frage, die Aktivitäten der Militärberater in Krisengebieten einzuschränken, zeigten sich „Bendler-" und „Wilhelmstraße" zu diesem Zeitpunkt — Ende 1932/Anfang 1933 — allerdings noch einig darüber, wegen der japanischen Empfindlichkeiten und der problematischen Beziehungen zwischen Canton und Nanking diese außergewöhnlichen Geschäftsmöglichkeiten auf rein privater Basis zu belassen und keine staatliche Förderung in Erwägung zu ziehen, obwohl die deutsche Wirtschaft schnell zugreifen sollte. Angesichts der Aussichten, für (rüstungs-)industrielle Lieferungen rüstungswirtschaftlich außerordentlich wichtige Rohstoffe zu erhalten, konnte die Zurückhaltung der Reichswehr allerdings kaum von Dauer sein 78 . Schon bald stellte sich dann auch heraus, daß das Heereswaffenamt alle Aktivitäten Kleins in China maßgeblich gefördert hatte und nun einen Antrag auf Gewährung einer Reichsausfallbürgschaft in Höhe von 7 Millionen Mark nachdrücklich befürwortete. Eine Besprechung von Referenten des Auswärtigen Amtes, des Reichswehr- und des Reichswirtschaftsministeriums Ende 1933, auf der die Vertreter der „Wilhelmstraße" eine Unterstützung der Projekte durch das Reich wegen politischer Verwicklungen in China hinsichtlich der Cantoner Eigenständigkeiten und der Fukien-Rebellion eindeutig ablehnten, ergab jedoch, daß die Deutsche Revisions und Treuhand AG, die vom Wirtschaftsministerium mit der Prüfung des Antrages beauftragt worden war, eine Garantie Anfang Oktober aus formalrechtlichen Gründen bereits abgelehnt hatte: Hans Kleins STAMAG entspreche mit ihrer Rechtsstellung als reine Handelsfirma nicht den Voraussetzungen für die Gewährung einer Bürgschaft, die ausschließlich Industrie- und Konsortialfirmen zustehe. Damit 77

Trautmann an AA, 18. 9. 1933, ADAP, C I, Nr. 436.

78

Aufzeichnung Michelsen, 2. 8. 1932, PA, Pol. Abt. IV/Po 13 C h i / 6 ; Direktor Mederer an RDI, 7. 9. 1932, ebd., Po 3 adh C h i / 1 . Aufzeichnung Bülow, 27. 9. 1933, ADAP, C I, Nr. 463.

427

schien zunächst das Problem für die Diplomaten gelöst zu sein, die sich zwar nicht mehr prinzipiell wie noch einige Jahre zuvor gegen spektakuläre Rüstungslieferungen aus oder über Deutschland aussprachen, aber jegliche Beteiligung von offizieller Seite oder Verstöße gegen bestehende Verträge strikt verwarfen, wenn sich auch ansonsten der Trend von Ende 1932 fortsetzte und sich die ablehnende Haltung lockerte 79 . Pläne der Firma Krupp, Rüstungsbetriebe in Nanking zu errichten, wurden im November 1933 im Auswärtigen Amt durchaus befürwortet, allerdings mit dem Hinweis, daß die Sicherheiten genauestens überprüft werden müßten. Der Essener Konzern griff damit die Entwürfe für ein Zentralarsenal aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg wieder auf, nachdem H. H. K'ung bei seinem Aufenthalt in Deutschland um die Jahreswende 1932/33 die Industriellen dazu ermutigt hatte. Nach einem Schreiben T. V. Soongs an Krupp schmolzen allerdings die hochfliegenden Erwartungen eines Projektes von 500 Millionen US-Dollar auf eine Geschütz- und Munitionsfabrik von lediglich 26 Millionen zusammen, und selbst deren Ausführung war noch nicht abzusehen 80 . Auch die „Verkaufs-Mission" des Vizeadmirals a. D. Kinzel, die in der „Wilhelmstraße" wohlwollend verfolgt wurde und im Heereswaffenamt sowie im Truppenamt breite Zustimmung fand, zeitigte aufgrund der allgemein ungünstigen preislichen Situation im deutschen Chinahandel 1933/34 keine Erfolge, obwohl gerade die überaus abweisende Haltung der Diplomaten in China von Anfang 1933 allmählich einem größeren Entgegenkommen gewichen war. Hatte Trautmann zunächst noch jede diplomatische Hilfestellung strikt abgelehnt und Wetzell als Ansprechpartner empfohlen, so kam der Gesandte — nicht zuletzt wohl angesichts der Entwicklung in Deutschland — sogar schon bald zu der Überzeugung, daß es unbedingt neuer Instruktionen zur Interpretation des Versailler Vertrages und dessen Waffenrestriktionen bedürfe. Zwar machte Trautmann kein Hehl daraus, daß seiner Meinung nach deutsche Rüstungsfirmen allein schon wegen der Anwesenheit von Militärberatern auch ohne Unterstützung der Diplomaten auskommen könnten; er zeigte sich Ende des Jahres aber dennoch bereit, Kinzel „gewisse Hinweise" zukommen zu lassen, um die er sich, nach einer Mitteilung des Heereswaffenamtes an den Admiral, in „vertraulichen Gesprächen" bemühen wolle. Die modifizierte großzügige Haltung der „Wilhelmstraße" war schließlich auch an der diplomatischen Vertretung in Peking nicht spurlos vorübergegangen 81 .

79

Aufzeichnung Michelsen, 2 7 . 4 . 1934, PA, Pol. Abt. IV/Po 13 C h i / 8 ; AA an Gesandtschaft Peking, 1 . 3 . 1934, ebd., Geheimakten 1 9 2 0 - 1 9 3 6 / I V / O A / C h i n a : Handel 11 Nr. 3 (Projekte KIein)/lI. Gesandtschaft Peking an AA, 22. 4. und 9. 6. 1933, BA, R 2 / 1 6 663. Aufzeichnung Altenburg, 27. 11. 1933, AD AP, C II, Nr. 89.

80

Krupp an AA, 2 7 . 1 1 . 1934, PA, Geheimakten 1 9 2 0 - 1 9 3 6 / I V / O A / C h i n a : Handel 11 Nr. 3 (Projekte Klein)/ll. (Aufzeichnung), 22. 2. 1934, BA-MA, N 246, Bd 12. Aufzeichnung Bülow, 18. 9. 1933, ADAP, C I, Nr. 435, und 27. 9. 1933, ebd., Nr. 463.

81

Trautmann an AA, 14. 7. 1933 und 14. 2. 1934, ebd., Abt. IV WiChi/Rohstoffe und W a r e n / 1 7 ; Bericht Vizeadmiral Kinzel, 9. 8. 1933, ebd.; R W M an AA, 26. 9. 1933, ebd.

428

Allerdings brauchte sich das Auswärtige Amt bis Mitte der 30er Jahre keine Sorgen zu machen, daß sich die (erlaubten) Rüstungsgeschäfte nochmals, wie schon so oft, zu einem Politikum entwickelten. Die deutschen Rüstungslieferungen nach China stagnierten zunächst auf der ganzen Linie. Nicht nur Armeelastwagen, optisches Gerät, Bekleidung, Ausrüstung und Arsenalmaschinen waren wegen der schwierigen Währungsverhältnisse nur spärlich verkauft worden, auch die Waffenlieferungen aus dem Ausland über deutsche Chinafirmen hatten abgenommen und damit auch das Risiko, durch unerlaubte Geschäfte mit Provinzmachthabern politische Meinungsverschiedenheiten zwischen Berlin und Nanking zu provozieren. Dagegen blieben Waffenlieferungen deutscher Rüstungsfirmen aus dem Reich oder von ausländischen „Töchtern" — z. B. zwei Bofors-Batterien für die Nationale Revolutionsarmee — der „Wilhelmstraße" ein Dorn im Auge. Das Auswärtige Amt lehnte noch bis Anfang 1935 (unerlaubte) Kriegsgerätelieferungen strikt ab 82 . Schon Mitte 1933 hatten die Chinesen über T. V. Soong während seines Deutschlandbesuches erstmals seit dem Krieg wieder Waffen (u. a. 6000 Maschinengewehre und 100 2 cm-Kanonen von Rheinmetall) für insgesamt 10 Millionen RM im Deutschen Reich bestellt. Das Auswärtige Amt wandte sich entschieden gegen die befürwortende Stellungnahme der Militärs, die sogar den Antrag auf eine Reichsausfallgarantie über 2 Millionen Mark unterstützen wollten. Selbst das Argument des Reichswirtschaftsministeriums, die Aufträge verschafften 600 Arbeitern zwei Jahre lang Beschäftigung, konnte in der „Wilhelmstraße" keinen Eindruck machen: Durch eine Reichsbürgschaft drohten außenpolitische Schwierigkeiten; die Lieferung von Waffen sei nach wie vor ausgeschlossen. Der Vorschlag des Wirtschaftsministeriums, Rheinmetall solle über seine Tochterfirma Solothurn liefern, fand im Auswärtigen Amt kein Verständnis 83 . Auch 1934 zeigten sich die Diplomaten gegenüber verbotenen Kriegsgerätegeschäften von Firmen aus dem Reich zwar äußerlich etwas aufgeschlossener, blieben in der Sache aber weiterhin unnachgiebig. Vizeadmiral Kinzels Ersuchen an Trautmann, dieser möge ihm auf seiner zweiten Reise als Vertreter von Rheinmetall-Solothurn beim greifbar nahen Abschluß von Artilleriebestellungen im Wert von 20 Millionen Mark, verteilt auf fünf Jahre, behilflich sein, wiesen die Diplomaten in Berlin und Peking zurück. Dabei deuteten sie allerdings an, „gelegentlich und vertraulich die chinesische Regierung auf Waffen, die vom Waffenamt empfohlen werden, aufmerksam machen zu wollen" 84 . Das Kriegsgerätegesetz müsse jedoch aufgrund drohender Verwicklungen mit anderen Mächten, im Falle Chinas hauptsächlich mit Ja-

82

Polizeipräsident Berlin an Reichsministerium des Innern, 17. 5. 1933, ebd.; Trautmann an AA, 14. 2. 1934, ebd.; AA an Reichsstelle für Devisenbewirtschaftung, 8. 5. 1935, ebd., Rohstoffe und W a r e n / 1 8 ; AA an Gesandtschaft Peking, 6 . 6 . 1934, ebd., Pol. Abt. IV/Po 13 Chi/8. Kunst & Albers, S. 115 ff.

83

Aufzeichnung Michelsen, 10. 7. 1933, AD AP, C I, Nr. 357. Weinberg, Bd 1, S. 123 f.

84

Aufzeichnung Michelsen, 27. 4. 1934, PA, Pol. Abt. IV/Po 13 Chi/8. 429

pan, unbedingt eingehalten werden. Kinzel bewirkte daher auch keine Meinungsänderung im Auswärtigen Amt, als er im Mai nach Berlin meldete, Chiang Kai-shek habe entschieden, künftig ausschließlich deutsche Waffen über Yü Ta-wei als Vertreter des Kriegsministeriums zu kaufen, zunächst 24 15 cm-Feldhaubitzen 85 . Bereits 1931 hatte Yü als „Spezialdelegierter für Handelsangelegenheiten" in Deutschland wegen desselben Auftrags bei Rheinmetall vorgesprochen, war aber im Auswärtigen Amt und damals auch noch im Reichswehrministerium, das ihn an die Holländische Industrie- und Handelsgesellschaft verwies, auf Ablehnung gestoßen. Mitte 1934 stand dagegen eine geschlossene, wenig kompromißbereite Koalition aus Heereswaffenamt und Reichswirtschaftsministerium hinter Chiangs und Yüs Kaufabsichten, die nicht länger bereit war, sich vom Auswärtigen Amt überspielen zu lassen. Schacht verwies vor allem auf die Deviseneingänge; mit der Einhaltung des Versailler Vertrages werde es darüber hinaus ja auch nicht mehr so genau genommen, wie Waffengeschäfte mit Griechenland und der Türkei zeigten, auch wenn diese über Solothurn abgewickelt würden. Die Warnungen der „Wilhelmstraße", Japan, das bislang ausschließlich das schwere Artilleriematerial an China geliefert habe, müsse dadurch nicht nur seine geschäftlichen, sondern auch seine Sicherheitsinteressen bedroht sehen, Deutschland könne jedoch nicht auf die Japaner als politische Partner in Fernost verzichten, trafen in der „Bendlerstraße" auf wenig Gehör 86 . Reichenau, der Chef des Wehrmachtamtes, entgegnete in einer Referentenbesprechung im Oktober: „. . . so möge sich das Auswärtige Amt damit abfinden, daß die anderen Ressorts die Verantwortung übernehmen" 8 7 . Erst Hitlers Entscheidung, mögliche Lieferungen nicht mehr 1935 vorzunehmen, entspannte die Fronten wieder, zumal mit der deutschen Loslösung vom Versailler Vertrag nach der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht rechtliche Einwände immer haltloser wurden. Auch die „Wilhelmstraße" stimmte schließlich im September 1935 einer 90 %igen Exportgarantie durch die Reichskreditgesellschaft für das 1,6 Millionen-MarkProjekt zu, das nach der Verkündung des neuen Kriegsgerätegesetzes ab November ausgeführt wurde 88 . Bereits 1934 hatte das von Reichswehr- und Reichswirtschaftsministerium unter Druck gesetzte Auswärtige Amt die Einwände des deutschen Botschafters in Tokyo, v. Dirksen, gegen eine von Otto Wolff und Junkers im Auftrag

85

Pabst an Falkenhausen, 21. 3. 1934, BA-MA, N 246, Bd 12. Trautmann an AA, 21. 4.

86

Aufzeichnung Michelsen, 5. 6. 1931, PA, Abt. IV WiChi/Rohstoffe und W a r e n / 1 6 ; Auf-

1934, ADAP, C II, Nr. 412, und 17. 5. 1934, Nr. 454. zeichnung Voss, 6 . 1 0 . 1934, ebd., HaPoI. Abt./Handakten Clodius/Ohne Bezeichnung (China)/2. Aufzeichnung Erdmannsdorfs 26. 9. 1934, ADAP, C III, Nr. 220; Aufzeichnung Frohwein, 5 . 1 0 . 1934, ebd., Nr. 232. 87

Vermerk Frohwein, 1 9 . 1 0 . 1934, ADAP, C III, Nr. 258.

88

AA an RFiM, 13. 4. 1935, BA, R 2 / 1 6 655; Vermerk RFiM, 5. 8. 1935, ebd.; Deutsche Revisions und Treuhand AG an RFiM, 30. 9. 1935, ebd., R 2 / 1 6 657.

430

Chiangs konzipierte rein militärische Flugzeugfabrik zurückgewiesen, da eine Reichsgarantie nicht vorgesehen und damit die Reichsregierung nicht offiziell beteiligt sei. Mit der Aufnahme der Tätigkeit von Generalleutnant a. D. Streccius als Flugberater in Nanking schienen sich nämlich endlich neue Perspektiven für die deutsche Luftfahrtindustrie in China zu eröffnen, die bis dahin am meisten unter den restriktiven Bestimmungen des Versailler Vertrages zu leiden hatte 89 . Amerikanern und Italienern war es 1932 bzw. 1933 gelungen, neben der Ausbildung von chinesischen Flugschülern an amerikanischen und italienischen Kriegsschulen in Hangchow bzw. Loyang jeweils Luftwaffenberater zu etablieren und dementsprechend auch Material abzusetzen, bis 1935 immerhin ca. 150 Flugzeuge. Während die Amerikaner genau wie die Japaner und Franzosen wegen ihrer Waffenlieferungen nach Canton auf Anweisung Chiangs ihre Schulungseinrichtungen schließen bzw. ihre Kriegsgerätelieferungen fast ganz einstellen mußten, übernahmen die Italiener, die bei ihrem Engagement ihre antikommunistische Motivation nicht verbargen, von den Briten auch noch die Ausbildung der chinesischen Marine. Wesentlich zu diesem chinesischen Entgegenkommen hatte das Ansehen beigetragen, welches das faschistische Italien ähnlich dem nationalsozialistischen Deutschland im Kuomintang-regierten China genoß 90 . Entgegen allen Erwartungen der betroffenen Reichsbehörden vermochte es der deutsche Militärberaterstab daher auch zunächst nicht, sich bei Marineund Luftwaffenbestellungen der Chinesen gegenüber der italienischen Konkurrenz durchzusetzen, die, vor allem nach der „Stresa-Front", mit allen Mitteln gegen die deutschen Initiativen vorging 91 . Allerdings gelang es im Laufe des Jahre 1935, den Großteil der chinesischen Heeresaufträge (Gewehre, Panzer- und Flugabwehrkanonen, Brücken- und Nachrichtengerät) für deutsche Firmen zu gewinnen und den beherrschenden Einfluß der Engländer und Franzosen auf diesem Gebiet zu brechen 9 2 . Dabei kam den Deutschen in 89

Trautmann an AA, 16. 5. 1935, PA, Geheimakten 1 9 2 0 - 1 9 3 6 / I V / O A / C h i n a : Handel 11 Nr. 3 (Projekte Klein)/lII; Trautmann an AA, 30. 4. 1934, ADAP, C II, Nr. 373; Dirksen an AA, 5. 4. 1934, ebd., Nr. 379. Weinberg, Bd 1, S. 126.

90

Generalkonsulat Shanghai an AA, 13. 6. 1935, PA, Pol. Abt. IV/Po 13 C h i / 9 ; Dresdner

91

Botschaft Nanking an AA, 20. 6. 1935, ebd., Geheimakten 1 9 2 0 - 1 9 3 6 / I V / O A / C h i n a :

Bank an AA, 2 6 . 1 0 . 1933, ebd., Po 14 C h i / 1 ; Trautmann an AA, 2 9 . 1 1 . 1933, ebd. Pol 1 3 / 1 0 ; Trautmann an AA, 1 6 . 5 . 1935, ebd., China: Handel 11 Nr. 3 (Projekte Klein)/lII. 92

Die Franzosen hatten bislang nur 32 Geschütze von Schneider Creuzot geliefert, die Engländer z. B. 14 Flugabwehrgeschütze und 32 Kampfwagen. Die Bestellungen in Deutschland beliefen sich 1935 u. a. auf 20 3 cm-Tankabwehrkanonen, 20 7,5 cm-Minenwerfer, 36 Panzerwagen, 12 10 cm-Haubitzen, 40 3,7 cm-Flugabwehrkanonen, 20 7,5 cm-Flugabwehrkanonen, 2 0 0 2 cm-Maschinengewehre und 20 000 automatische Gewehre. Generalkonsulat Shanghai an AA, 13. 6. 1935, PA, Pol. Abt. IV/Po 13 C h i / 9 ; Generalkonsulat Kanton an AA, 2. 6. 1933, ebd., Abt. IV WiChi/Rohstoffe und W a r e n / 17. Memorandum R W i M an RFiM, 30. 8. 1937, BA, R 2 / 1 6 655. 431

China zugute, daß es den Chinesen noch nicht gelungen war, ihre Arsenale zu modernisieren, um wenigstens die wichtigsten Waffen in ausreichender Zahl und in befriedigender Qualität selbst herzustellen. Die Produktivität der Rüstungsbetriebe verfünffachte sich zwar seit dem Ersten Weltkrieg, nur wenige Arsenale — darunter die mit deutschen Maschinen ausgerüsteten bei Shanghai, Nanking und Canton — entsprachen aber den technischen Erfordernissen. Munitions- und Waffenkäufe im Ausland waren daher auch Mitte der 30er Jahre unumgänglich. Planlosigkeit und technisches Unvermögen auf seiten der Chinesen bewirkten jedoch, daß selbst die Lehrtruppenteile mit den unterschiedlichsten Waffensystemen — vom Browning-Maschinengewehr über Maxim-Haubitzen bis zur Solothura-2cm-Kanone — ausgerüstet wurden. Das Insistieren auf deutschen Produkten bei der Aufrüstung des chinesischen Heeres stellte sich aus der Sicht der Militärberater primär als eine für China militärische Notwendigkeit dar, weniger als eine Maßnahme im deutschen Wirtschaftsinteresse. Eindringlich wurden die deutschen Rüstungsfirmen aufgefordert, die Gunst des Augenblicks nicht durch schlechte Qualität und überhöhte Preise zu verspielen, zumal Yü Ta-wei als der Verantwortliche für die Bestellungen immer wieder die — im Gegensatz zu den italienischen — schlechten deutschen Rüstungsprodukte kritisierte 93 . Wenn auch die „Wilhelmstraße", bei Rüstungsexporten nunmehr völlig auf den Standpunkt von Wirtschaft und Militär eingeschwenkt, Ende 1935 durchaus gewillt war, die Beseitigung dieser Beanstandungen selbst mit Nachdruck zu vertreten, so zählte in den Augen der Diplomaten doch zunächst einmal, daß es der Rüstungsindustrie gelang, mit den Waffenbestellungen — allein die konzipierten Geschäfte von Rheinmetall betrugen ca. 45 Millionen RM 9 4 — an die Erfolge der deutschen Chinawirtschaft mit Zivilgütern anzuknüpfen: Dem finanziellen Engagement der Angelsachsen und der territorialen Expansion der Japaner in China konnte das Deutsche Reich Mitte der 30er Jahre eine schwerindustrielle und rüstungswirtschaftliche Offensive entgegensetzen, die ganz im Interesse der eigenen Aufrüstungspolitik lag. Dem Auswärtigen Amt konnte jedoch keinesfalls daran gelegen sein, der Wehrmacht die alleinige Initiative in der deutschen Chinapolitik zu überlassen, zumal damit nicht nur außenpolitische Komplikationen in Fernost vorprogrammiert, sondern auch innerhalb Chinas erhebliche Nachteile für die deutsche Position zu befürchten waren.

93

Falkenhausen an Brinckmann, 1 3 . 8 . 1935, PA, Geheimakten 1 9 2 0 - 1 9 3 6 / I V / O A / C h i na: Handel 11 Nr. 3 (Projekte Klein)/lII; Bericht Vizeadmiral Kinzel, 9 . 8 . 1933, ebd., Abt. IV WiChi/Rohstoffe und W a r e n / 1 7 . Aufzeichnung Krummacher. 3. 8. 1934, BAMA, MSg 1 6 0 / 5 ; Aufzeichnung o. N„ 22. 2. 1934, ebd., N 246, Bd l " . Auszug aus einem Schreiben von General der Infanterie von Falkenhausen (Nanking)