Die böse Form: Design an der Grenze des guten Geschmacks 9783034610476, 9783034607216

The fascination of evil A blood stained shower curtain, a lighter that shows an airplane about to collide with the Twi

145 103 8MB

German Pages 120 Year 2011

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Die böse Form: Design an der Grenze des guten Geschmacks
 9783034610476, 9783034607216

Table of contents :
EINLEITUNG: DARF MAN DAS?
VORSICHT WITZ! DESIGN ZWISCHEN ANMASSUNG UND PERSIFLAGE
WENN KINDER BÖSE SPIELE TREIBEN
WIE WIR AN DEN DINGEN UNSERE MORAL ERPROBEN
INVERTIERT! DER KITSCH UND DAS BÖSE
DIE SCHÖNHEIT DER SCHUSSWAFFE
MYTHOS BLUT
EKEL, SEX, FÄKALHUMOR
DIE BESCHWÖRUNG DER TRIEBKRAFT
DAS HEIL DER KÖRPERTEILE
SCHÖNE GESTALT VERLIERT SICH BALD
BILDNACHWEIS
IMPRESSUM

Citation preview

die böse form

die Bös e For m Design an der Grenze des guten geschmacks

Karen Bofinger [HG.] Birkhäuser basel

i n h a lt



 Ei nleit ung: Darf man das?

6

 Vo rsicht Wit z!

10



 D esign zwischen An maSS ung



 u n d Persiflage 

15

W   e nn k inder b öse spiele treiben

18

W   i e wir an den dingen

 u n sere moral erproben 22

 Invert iert !

 de r k itsch und das Böse 31

 Di e schönheit der sc h usswaf f e

45

 Mythos b lut

55

 Ekel , Sex, Fäk alhumor

71

 Di e b eschwörung d er Triebkraf t

87

 DAS HEIL DER KÖRPERTEILE

105

 S ch öne gestalt verliert sic h bald

118 bildnachweis 

120 impressum

Darf man das?

In diesem Buch geht es um Blut, Gewalt und Waffen, um Sex und Genitalien, um Eingeweide, Körperflüssigkeiten und Verwesung. Es geht, kurz gesagt, um schöne Dinge. Denn das ist es doch, worum es sich bei Design handelt? Konsumgegenstände sollen in der Regel positive Emotionen wecken und jegliches körperliche oder moralische Unbehagen vermeiden – schließlich soll der Impuls des ‹Haben-Wollens› dominieren.1 Klassische Produktwerbung will Freude vermitteln, Liebe, Luxus und Wertschätzung. Doch schaut man sich in der Welt der Dinge um, was entdeckt man? Waffen als Lampenständer, Skelette als Dekormalerei, Penisse als Flaschenverschluss, tote Ferkel als Sparbüchse, Radios in Busenform, blutiges Geschirr, abgehackte Köpfe als Handtaschen und herausgerissene Zungen als Sitzgelegenheit. Nähme man all diese Motive als das, was sie in der Realität sind, müsste es einen ekeln, schaudern und entsetzen: Es sind böse Dinge. Natürlich, stopp, da dürften wir uns einig sein: Die wahren bösen Dinge sind Waffen, die Menschen töten, Luxusprodukte, die Ressourcen verschwenden oder Konsumgüter, die von Kindern produziert werden.2 Dinge an sich können nicht wirklich böse sein, man kann nur Böses mit ihnen tun. Ethisches Design bedeutet heute, die genannten Faktoren auszumerzen, nachhaltig und sozial bewusst zu produzieren. An die Einheit des ‹Wahren, Guten und Schönen›, und daran, dass eine ästhetisch wertvolle und qualitätsbewusste Gestaltung uns zu besseren Menschen macht, wie es etwa Bauhaus und Werkbund proklamierten, glauben wir längst nicht mehr. Aber wie steht es mit dem Umkehrschluss? Was sagt es über uns, unsere Gesellschaft, unsere Werte aus, dass die Dingwelt voller sexueller und gewalttätiger Motive ist? Die Political Correctness wurde längst durch Trash, Ironie und Camp unterwandert. Fern davon, direkt

1  Vergleiche hierzu etwa die Ausstellung ‹ Design+Emotion› 2008 im Landesmuseum Karlsruhe sowie Karen Bofinger: ‹Kann man Gefühl e gestalten?› in form – The Making of Design 231, 2010, S. 32– 43. 2 Eine sehenswerte Ausstellung zu diesem Thema hat das Berliner Museum der Dinge 2009 konzipiert. ‹ Böse Dinge› wurde im Anschluss 2011 in erweiterter Form im Gewerbemuseum Winterthur gezeigt. 6

bedroht zu sein, können wir in unserer sicheren, sauberen, demokratischen Gesellschaft eine wohlige Freude am Ekel empfinden, Sexismus ironisch sehen und latente Aggressionen und Ängste ins Lächerliche ziehen. Die Unantastbarkeit des Lebens und das Gewaltverbot zum Beispiel gehören zu den höchsten Werten unserer Gesellschaft, ja, wir dehnen sie selbst auf Tiere aus. Dennoch stellen wir uns einen Messerhalter in die Küche, bei dem eine menschliche Figur von den Klingen durchbohrt wird. Glaubte man an Voodoo-Zauber, die Folgen wären schrecklich. Man macht sich nicht unbedingt gemein mit ihren symbolischen Aussagen, doch man goutiert solche ‹bösen Dinge›, widmet sie um zu Symbolen eines besonderen Geschmacks und Witzes. Man reagiert positiv, wie gewünscht bei Konsumgütern: Man lacht. Aber darf man darüber lachen? Rainer Funke zumindest gibt in seinem Beitrag

[ ab Seite 18 ]

das Go: Denn auch und

gerade Witze förderten moralische Normen zu Tage und stellten sie neu zur Diskussion. Die Ansätze der Gestalter, deren Objekte wir in diesem Buch versammelt haben, sind unterschiedlich. Die einen treibt die Lust an der Provokation, die anderen ein pennälerhafter Humor – gerade in den Weiten des Scherzartikelhandels wird unbefangen mit Gewalt und Ekel gespielt, man legt die Seife in Form von Scheiße ins Bad und freut sich diebisch über die verdutzten Gesichter. Genauso kann Spielzeug, das mit Tabus spielt, wahre Begeisterungsstürme auslösen, wie Claus Richter in seinem Text

[ ab Seite 15 ]

beschreibt, – auch wenn und gerade

weil es vielleicht pädagogisch nicht besonders wertvoll ist. Für die anderen entfaltet das Geschmacksverletzende, Grenzüberschreitende, ja, Hässliche einen eigenen Reiz, der eine tiefliegende emotionale Seite anrührt. Es gibt eine Poesie des Ekligen, eine Ästhetik des Hässlichen, eine Schönheit des

7

Schrecklichen. Die Porzellanfiguren von Jessica Harrison etwa strahlen eine zarte Melancholie aus, während sie blutige Gedärme vor sich her tragen; Polly van der Glas’ Schmuckstücke aus echten Zähnen und Haaren lassen einen zunächst zurückschrecken und verkörpern gleichzeitig Vergänglichkeit auf emotionale Weise – grazil und grausig. Der ein oder andere Designer will auch politisch sein und mit seinen Objekten zum Nachdenken anregen, zum Beispiel Gewaltverherrlichung und Sexismus anprangern. Er will – aber kann er auch? Das Design hat ein grundlegendes Problem: Es definiert sich zwangsläufig zuerst durch den Schein, die äußere Form. Es steht daher unter dem Generalverdacht, oberflächlich zu sein. Das führt beim Rezipienten zu einer gewissen Unklarheit. Handeln Alexander Reh oder Philippe Starck, die Waffen zu Möbeln machen, nach dem ‹Schwerter zu Pflugscharen›-Prinzip, prangern mithin das Waffengeschäft an, – oder leisten sie einer Ästhetisierung des Schreckens Vorschub, dessen Absatzmarkt bevorzugt die Wohnungen von Kriegsherren und Kriminellen sein dürften? 3 Unsere Augen nehmen nicht wahr, dass die Designer von Dorothy mit ihrem irritierenden Baumschmuck in Handgranatenform eine Wohltätigkeitsorganisation unterstützen. Sie sehen nur, dass hier eine Waffe zum Schmuck wird. Genauso wenig sieht man dem ‹Boob Scarf› von Lourdes Corugedo an, dass er Geld einbringt für eine Brustkrebs-Stiftung. Man denkt nur im ersten Moment ‹wie witzig›, um vielleicht im nächsten Augenblick schon peinlich berührt zu sein ob des Scherzes mit den hängenden nackten Brüsten, die man eigentlich noch nicht mal in der Sauna gerne sieht. Ob Scherz oder Statement: In diesem Buch mischen wir all diese Produkte unbefangen. Der Bildteil ist thematisch strukturiert, und soll dennoch zum freien visuellen Schlendern

3  VERGLEICHE hierzu Seite 10 ff.

8

einladen, wir haben unseren Assoziationen freien Lauf gelassen und schlagen in den Zwischentexten den Bogen zu Archäologie, Kunst, Geschichte und Kultur – denn hier finden sich erstaunliche formale Vorläufer und gedankliche Parallelen; auf Bezüge zu Kitsch und Handwerkstradition, die böse Inversion des Traditionellen, gehe ich auch in meinem Essay [ ab Seite 22 ] genauer ein. In der Präsentation der Dinge machen wir keinen Unterschied zwischen Produkten von Stardesignern und Scherzartikeln, zwischen Kunstwerken, Einzelstücken und Massenprodukten. Darf man das? Oder ist das ungebührliches Vermischen von High und Low, E- und U-Kultur? ‹Shiva›, die Penis-Vase, 1973 entworfen vom großen Designer Ettore Sottsass und die Penis-Tasse aus dem Geschenkeshop: Das waltende Prinzip des phallischen Männerscherzes scheint dasselbe. Allenfalls unterscheiden diese Dinge sich in der Kunstfertigkeit ihrer Ausführung und ihrer materiellen Qualität. Wie genau baut er sich auf, jener haarscharfe Grat zwischen Kunst, gutem Design und üblem Trash? Die jeweils dahinterstehende Haltung sieht man den Produkten eben nicht an. Dass Sottsass in den Achtzigern mit seiner Gruppe Memphis geltende Gestaltungsprinzipien auf den Kopf stellen wollte, und dabei leider oft unfähige Nachahmer fand, die seine Philosophie nicht verstanden und allein auf den Effekt setzten, beschreibt Volker Albus unter anderem in seinem Beitrag

[ ab Seite 10 ] .

Sottsass erlitt damit quasi das glei-

che Schicksal wie das Bauhaus, dessen architektonische Ideen ungewollt tristen Plattenbauten den Weg ebneten. Der Diskurs bestimmt die Bedeutung, aber nicht den Anschein. Das Nebeneinanderstellen der Objekte in diesem Buch darf daher nicht als oberflächliche Gleichmacherei verstanden werden, sondern als anstößiger Denkanstoß: Wo die Grenze des Vertretbaren liegt, ob es eine gibt, kann jeder nur für sich selbst bestimmen.

AUTORIN: Karen Bofinger Karen Bofinger war 2009 und 2010 Textchefin der Zeitschrift ‹ form – The Making of Design › und arbeitet heute als freie Journalistin in Berlin.

9

vorsicht witz! desiGn zwischen anmassunG und PersiFlaGe

Als ausgesprochen traurig oder gar depressiv werden die achtziger Jahre wohl kaum in die Designgeschichte eingehen. Im Gegenteil. Mit der Gründung der Gruppen Alchimia und Memphis war klar, wohin die Reise gehen würde: Bunt und lustig, schräg und spielerisch sollte es werden. Und nicht wenige empfanden wie Emilio Ambasz, in den siebziger Jahren Designkurator des MoMA in New York: Als er die Memphis-Kollektion das erste Mal sah, fühlte er sich an das Verhalten kleiner Kinder erinnert, die die sie umgebende Welt der Dinge vollkommen unvoreingenommen wahrnehmen – also weder die Bedeutung noch die Wertigkeit noch die Funktion eines Möbels oder sonstiger Gegenstände des Erwachsenenhaushalts kennen. Das führe dann dazu, so Ambasz weiter, dass etwa ein Stuhl zu einer Lokomotive, einem Lesepult oder einer schrägen Liege ‹umfunktioniert› werden könne. Treffender hätte man das neue Design kaum charakterisieren können. Denn Sottsass und seinen Jüngern ging es tatsächlich um nichts anderes, als darum, die scheinbar fest vereinbarten Konstanten der funktionalistisch geprägten Entwurfskultur auf den Kopf zu stellen. Und dieses Prinzip stellte eigentlich alles in Frage, was die letztendliche Form als Objekt unserer Haushaltswelt definiert: die Konstruktion, die Symbolik, die Materialität, die Farbigkeit. Allzu viele hatten diesen Ansatz jedoch nicht begriffen. Für die Mehrzahl der Epigonen reduzierte sich Memphis auf eine dreidimensionale Umsetzung Disney’scher Lautmalerei: Blubb!, Blobb!, Boing!, heißt: auf das Ergebnis – aber nicht auf das Prinzip.

10

her chair fabio noVembre casamania , 2008

Daran hat sich bis heute offenbar nichts geändert. Mehr noch: die das schlichte Gemüt beglückenden Knubbelund Knautschformen überwuchern noch die profansten Haushaltsartikel wie Schuh-, Nagel- oder Klobürsten oder ganze Autokarosserien. Beliebt ist, was erheitert, unterhält oder ganz einfach lustig aussieht: Bürsten in Form von Igeln, SpaghettiLöffel, deren Zinken einer Punkfrisur nachempfunden sind oder Flaschenöffner, die wie ein Frosch oder andere Großmäuler der Tierwelt daherkommen – all das gehört heute zum Repertoire seriöser Fachgeschäfte.  Ist das nun originell oder gar witzig? Originell vielleicht, witzig bestimmt nicht, aber auf jeden Fall clever – letzteres allerdings nur unter Marketinggesichtspunkten. Witzig schon deshalb nicht, weil sich diese Art von Witz, die allein auf dem Verfremdungs- und Verwechslungsprinzip basiert, sehr schnell verbraucht, eigentlich nur einmal wirkt. Das mag bei den aufgeführten Kleinteilen nicht so dramatisch sein, führen sie doch eher ein Schattendasein in Unterschränken und Schubladen. Peinlich wird es jedoch immer dann, wenn solche Ding gewordenen Witze eine nicht zu übersehende räumliche Dominanz erreichen, sich also als Dauerkalauer ins Blickfeld drängen. Wie im Fall von Fabio Novembre und seinem Stuhl ‹Her›. In diesem Werk von 2008 verformte der sich gern als Macho gerierende Italiener die Rückseite einer an den berühmten ‹Panton Chair› erinnernden Sitzschale zur Hinter[n]ansicht einer knieenden jungen, natürlich nackten Frau. Den Kopf und die Arme ließ er kurzerhand weg, denn, so wird er sich gesagt haben, wer braucht denn schon diese Körperteile, wenn man eh nur die Fleischpolster dieses sich devot andienenden Geschöpfs benutzen will? Aber, Spaß beiseite, dieses Machwerk ist einfach nur daneben, hier stimmt nichts: Die Dame [oder das, was von

11

ihr übrig geblieben ist], ist nicht nur viel zu zierlich, obendrein kniet sie in einer Position, aus der heraus sich keinerlei Kraft entwickeln lässt. Letztlich fungiert ihr Körper nur als Relief, hat also nur die Funktion, voyeuristisches Verlangen zu befriedigen.  Nun ist Fabio Novembre nicht der erste, der sich per Transformation an einer Hommage an den weiblichen Körper versucht; die Kunst- und Designgeschichte ist voll von derartigen und durchaus gelungenen Beispielen. Man denke nur an Dalí, Mollino, Pesce oder Newson. Und auch was das Attribut sexistisch anbelangt, lässt sich mit Allen Jones’ Skulpturengruppe ‹Hatstand, Table, Chair› [1969] ein ebenso umstrittener Vorläufer benennen. Gleichwohl besteht zwischen diesen zu Gebrauchsmöbeln umgerüsteten Dominas und Fabio Novembres Stuhlfigurinen ein wesentlicher Unterschied. Der Künstler Jones porträtierte, wenn auch drastisch, mit seinen knapp geschürzten Damen ein ganz bestimmtes Phänomen seiner Zeit, während es dem Designer Novembre tatsächlich nur um eine Benutzung geht – und das ist dann nur noch diffamierend. Eigentlich sollte man meinen, dass solche feinen Un­terschiede zwischen Kunst und Design einem doch relativ erfolg­ reichen Protagonisten des zeitgenössischen Designs geläufig sein sollten. Und man fragt sich, was Fabio Novembre geritten haben mag, derartig in die unterste Schublade des Machismo zu greifen. Vielleicht wollte er einfach nur einen anderen Großen der Branche toppen: Philippe Starck, der 2005 mit seinen ‹Gun Lamps› eine durchaus vergleichbare Irritation auslöste. Kategorisch betrachtet handelt es sich bei diesen Lampen um eine Art Readymade – auf das goldene, senkrecht fixierte Modell [Aluminiumdruckguss] eines Waffenklassikers [­Beretta, Kalaschnikow AK47, M16] ist ein schwarzer Lampenschirm montiert. Starck nutzt existierende Produkte, um daraus etwas völlig anderes zu

12

kreieren. So weit, so gut. Nur: Was prädestiniert die Form einer Handfeuerwaffe, einer Maschinenpistole oder eines Sturmgewehrs zur Nutzung als Ständer einer Stehleuchte, abgesehen davon, dass sie eine langgestreckte Form haben? Genauso gut könnte man auch einen Spaten, eine Axt oder eine Salami als Vorlage nehmen; auch die sind lang und schlank und liegen, genau wie das adaptierte Waffenarsenal, gut in der Hand. Aber selbst dieses Gut-in-der-Hand-liegen ist für die utilitäre Qualität, für Handling und Funktion einer Stehlampe völlig bedeutungslos: Alle drei Waffen werden ja nur als statisches Bauteil genutzt. Aber seien wir fair, lassen wir den Meister selbst zu Wort kommen: ‹Leicht, funktional, erschwinglich und elegant – mit mehr als hundert Millionen bis heute offiziell produzierten Einheiten ist die Kalaschnikow eine der Erfolgsstorys des industriellen Designs unserer Zeit. Das Gold der Waffen repräsentiert das geheime Einverständnis zwischen Geld und Krieg. «Table Gun» symbolisiert den Osten, «Bedside Gun» symbolisiert Europa, «Lounge Gun» steht für den Westen. Der schwarze Lampenschirm symbolisiert den Tod.› Wie bitte? Gold … Geld … Krieg, schwarz … Tod. Ei ei ei! Das ist schon nicht mehr schlecht, das ist absurdes Gefasel.  Denn eines hätte einem wie Starck von vornherein klar sein müssen: dass man hier das eigentliche Motiv mit Sicherheit nicht als ‹kritisch› versteht, sondern dass genau das Gegenteil passiert, nämlich eine Fetischisierung dieser Waffenklassiker auf hohem Niveau, und dass das Design damit eine eindeutig zynische Note erhält. Mehr noch: Starck macht sich zum Apostel solch geschmacklicher Abgründe. Sei es Kalkül oder Naivität, mit diesen von ihm, dem Stardesigner schlechthin, designten Objekten gibt er jedem, der sich mit dieser Art ästhetischer ­Heroisierung von Waffen identifiziert, eine Art Ablass zur Hand,

13

der jederzeit als Verteidigung genutzt werden kann. Denn wer auch immer etwas gegen diese Leuchten sagen wird, dem wird man, mit leicht echauffiertem Unterton, unisono in die Parade fahren: Aber die sind doch von Starck! Starcks Fehlgriff legt die Frage nahe, inwieweit ein so heikler Themenkreis wie Krieg / Waffen / Tod oder die auf diesen verweisenden motivischen Versatzstücke überhaupt für das De­ sign von Gebrauchs- oder Dekorationsgütern genutzt werden können. Es existiert ein ganzes Arsenal entsprechender Produkte: Zu Öllämpchen umfunktionierte Handgranaten, Teppiche in Form von am Boden liegenden Leichen, Bettwäsche, die der Grafik von Todesanzeigen nachempfunden ist oder ein Stifthalter, bei dem der Stift eine ‹Stichwaffe› darstellt, die senkrecht in der Brust einer kleinen Plastikfigur steckt. Allein schon diese Kurzbeschreibungen machen deutlich, um was es den meisten Entwerfern solcher Artikel geht: um schwarzen Humor, teilweise mit einem Hauch von Gesellschaftskritik angereichert. Nun kann man über solche ‹Scherze› trefflich streiten. Gleichwohl muss man dieser Unterhaltungsform zugestehen, dass sie höchst eingängig ist und dass sie letztlich Geschmackssache ist. Vor allem aber trägt sie kein missionarisches Sendungsbewusstsein vor sich her, wie es Starck mit seinen Luxuskandelabern tut. Kurzum: das kann man machen. Klar, der Witz nutzt sich sehr schnell ab, es mag auch den Einen oder Anderen verletzen – aber es ist immerhin nicht verlogen.

AUTOR: Volker Albus Volke r Albus ist Professor für Produktdesign und Prorektor der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe .

14

wenn kinder Böse sPiele treiBen

Spielzeug ist ein so weites und herrliches Feld. Es gibt pädagogisch wertvolles Spielzeug, wundervolles hochwertiges Holzspielzeug und natürlich die Weiten von Feld und Flur, in denen Kinder wunderbar mit Matsch, Steinen und allem, was Mutter Natur uns gegeben hat, ihrer Fantasie freien Lauf lassen können. Und dann gibt es das böse Spielzeug, von dem Eltern ihre Kinder fernhalten wollen, das aber eine derart unfassbar magische Anziehungskraft auf die kleinen Unschuldslämmer ausübt, dass es – mittels Tränen und cholerischer Wutausbrüche – doch seinen Weg in die Kinderzimmer der Welt findet. Zum Glück! Ich mag dieses Spielzeug, es transportiert eine gesunde Portion Wahnsinn und Unvernunft in die Weltmodelle junger Menschen und bereitet sie hervorragend auf die Irrungen und Wirrungen des modernen Lebens vor. Einer der Großmeister des bösen Spielzeugs ist der 1974 verstorbene Spielzeugdesigner Marvin Glass. Eine seiner frühesten und legendärsten Erfindungen waren die bis heute sehr beliebten ‹Yakity-Yak Talking Teeth› aus dem Jahr 1949: ein Aufziehspielzeug, dessen Reiz darin bestand, ein klapperndes Gebiss zum Schrecken der Eltern oder der großen Schwester munter schnatternd über den Tisch hüpfen zu lassen. Der Damm für herrlich unvernünftiges oder sogar pädagogisch äußerst verwerfliches Spielzeug war gebrochen. 1958 brachte der Spielzeughersteller Kilgore ein ‹Junior Dynamite Blaster›Spiel auf den Markt, dessen Reiz darin bestand, mittels Pressluft jede erdenkliche Ecke des Elternhauses spielerisch in die

15

chamber of horrors guillotine aurora , 1979 re-edited by Polar lights über round 2 llc

Luft zu jagen. Styropor-Backsteine und Trümmerteile waren Teil des Sets. Ein wahrlich erquickliches Bild, sich ein adrettes Kind der fünfziger Jahre vorzustellen, das wochenlang anarchistische Sprengungen im Kinderzimmer und im gepflegten Garten durchführt. Auch der Ekel war und ist ein beliebter Attraktor für spielfreudige Kinder. So debütierte die Firma Hasbro 1964 mit einem Spiel namens ‹Pie Face›, dessen Kernziel darin bestand, einem der Mitspieler mittels einer technisch raffiniert kons­ truierten Schleuder eine echte oder mit Rasierschaum simulierte Torte ins Gesicht zu werfen. Eine herrliche Sauerei und sicher Ursache für viele unrettbar verklebte Kinderpullover. Keinesfalls zu vergessen ist bei dieser Aufzählung natürlich Mattels geniale Erfindung aus dem Jahr 1976, das legendäre Produkt ‹Slime›: eine grüne schleimige Masse, zum Verkauf abgefüllt in kleine, aparte Plastikmülltonnen. Ich selbst war in früher Kindheit geradezu ‹Slime›-süchtig, der zähflüssige grüne Glibber rann faszinierend langsam durch meine zarten Kinderhände und natürlich auf alle teuren Sofas und neugekauften Kleidungsstücke und fand schlussendlich auch den Weg in die frisch gewaschenen Haare. Die siebziger Jahre waren eine wundervolle Zeit für böses Spielzeug. Milton Bradley feierte Erfolge mit einem Baukasten für Schrumpfköpfe [‹Vincent Price Shrunken Head Apple Sculpture Set›], der es dem aufgeweckten und von Forscherdrang beseelten Heranwachsenden ermöglichte, aus ver­ trockneten Äpfeln und einem Set aus Haarteilen, Plastikaugen und anderen ekelerregenden Gesichtsteilen eigene kleine Schrumpfköpfe herzustellen. Hasbro und Ideal Toys eröffneten 1979 mit ‹I vant to bite your finger› die Möglichkeit, im Laufe eines Spiels von einem Plastikvampir in den zarten Kinderfinger

16

gebissen zu werden [inklusive künstlicher Blutstropfen]; und der Hersteller Aurora schockte weltweit mit dem ausgesprochen geschmacklosen Plastikbausatz ‹Chamber of Horrors Guillotine›, dem detailgetreuen Modell einer Guillotine inklusive bemitleidenswertem Verurteilten, dem nach liebevoller Bastelarbeit mit dem kleinen Gerät spielerisch der Kopf vom Rumpf getrennt werden konnte. Doch auch die letzten Jahrzehnte boten großes unvernünftiges und böses Spielvergnügen. Mattels kurzlebige ‹Mad Scientist›-Serie von 1987 erlaubte es den kleinen Wissenschaftlern, unschuldigen Monsterwesen das Fleisch vom Gesicht zu ziehen oder sie langsam und genüsslich in einer Pseudo-Salzsäure aufzulösen. Ebenso wundervoll konnten sie bei Hasbros ‹Operation Brain Surgery› ab 2002 die Operation am offenen Gehirn üben. Alles im Namen der Wissenschaft natürlich! Gutes unvernünftiges Spielzeug, und damit komme ich zum Ende meines Lobgesanges, ist immer auch anarchistisches Spielzeug, es erschreckt wohlmeinende Aufpasser und ergötzt sich am spielerischen Tabubruch. Es gibt da endlose Möglichkeiten! Schließen möchte ich daher mit dem leider völlig vergriffenen Spiel ‹Kaba Kick›, das Takara Tomy 1992 auf den japanischen Markt brachte. ‹Kaba Kick› war die herzallerliebst gestaltete Umsetzung des in der Literatur gerne beschriebenen tödlichen Glücksspiels ‹Russisches Roulette›: Anstatt eines echten Revolvers mit tödlicher Kugel konnten die wagemutigen Spieler ein pistolenförmiges pinkes Nilpferd an ihre Schläfe setzen, das im Unglücksfall mit zwei kleinen hervorschnellenden Nilpferdfüßen den Kopf des Spielers attackierte. Ich weiß jetzt, was ich mir zu Weihnachten wünsche, und wenn ich es nicht kriege, werfe ich mich auf den Boden und schreie. Das hat bisher immer geklappt.

Autor: Claus Richter Claus Richter arbeitet als Künstler und Autor in Frankfurt.

17

wie wir an den dinGen unsere moral erProBen

Als ich zur Schule ging, hatten eine zeitlang Witze über Schwule Konjunktur. Es war ein regelrechter Wettstreit darum entbrannt, wer mit den gemeinsten, sexistischsten, rassistischsten, bösesten Witzen die meisten Lacher provozierte. Für den einen oder anderen entstand auf dem Weg zur eigenen sexuellen Identität so eine Atmosphäre der Bedrängnis. Die unterschwellige Homophobie hatte eine allgemein akzeptierte Ausdrucksform gefunden und wirkte nun noch repressiver als vorher. Andererseits wurde durch diese Witze ein komplexes moralisches Thema, das bis dahin eher im Verborgenen geblieben war, überhaupt erst angesprochen. Es schlossen sich ernsthafte Diskussionen an, die einigen erst klarmachten, dass es achtenswerte Liebe zwischen Menschen desselben Geschlechts geben kann. Andere freilich nutzten die Witze, um ihre Homophobie zu festigen. Mit ‹bösen Dingen›4 verhält es sich ähnlich wie mit Witzen: Sie können moralische Normen pointiert zu Tage fördern und Bewertungen provozieren. Es sind ganz besonders moralisch zugespitzte Konsumgegenstände, mit denen wir etwas tun, was unser Verhalten als Konsumenten generell prägt: Wir dehnen den Prozess unserer Identitätssuche und Positionierung in sozialen Milieus von der Pubertät bis ins Alter aus. Als Konsumbürger treibt uns eine permanente Suche danach, die eigenen, ganz besonderen Ideale mit den dazu passenden, ganz besonderen Konsumgütern auszufüllen. Kaufakte erscheinen als Akte der Lebensformgestaltung, bei denen wir in Dialog mit uns selbst treten. In dem Maße, wie der Druck zur Individualisierung steigt, relativiert sich auch das klassische Egoismusverbot. Parallel zur bürgerlichen verbreitet sich eine zweite Moral, eine

4

Was sind ‹böse dinge›? das museum der dinge / WerkbundarchiV berlin

hat 2009 in der gleichnamigen ausstellung folgende kategorien aufgest e llt : fö r d e r u n g Vo n g e Wa lta k z e P ta n z ; J u g e n d g e fä h r d e n d e s s P i e l z e u g ; kinderarbeit [durch arbeit Von kindern entstandene Produkte]; ressourcenVerschWendung; umWelt Verschmutzung; kadaVer-chic [z .b. tiertroPhäen ]; artenschutzVerbrechen [dinge aus materialien Von geschützten ≥ 18

zitrusPresse angie knetman inkognito gmbh, 2006

Moral der Amoralität. ‹Du sollst andere lieben!› wird ergänzt durch: ‹Du darfst, Du musst Dich selbst lieben!› Die Konsum­ artikel sollen beides leisten: Sie sollen das Erlebnis des Sieges des Einzelnen über die Anderen symbolisieren und gleichzeitig dessen Integration in ein Milieu bewerkstelligen. Markennamen und Slogans wie ‹Égoïste› oder ‹Geiz ist geil!› meinen: ‹Du darfst egoistisch sein!› und ‹Dazu darfst Du, musst Du auch böse sein oder mit dem Bösen spielen!› Die antisoziale Umwertung gerät zur sozialen Bindekraft. Die Revolte gegen die Moral zur Vermeidung der Anstrengung einer normgerechten Selbstausrichtung ist selbst zur Norm geworden, die nicht minder zwingend ihre Saugnäpfe auf die Seelen legt. Je brutaler etwa das Äußere von Sport Utility Vehicles [SUV] erscheint, umso beliebter sind diese bei vielen, die sie sich nicht leisten können. Mag zwar sein, dass dadurch einerseits ein Gefühl von Chancenlosigkeit verstärkt wird. Andererseits wird im SUV das Lebensgefühl der Reichen und Mächtigen vorstellbar und grundsätzlich erreichbar: symbolische Teilhabe. Darin liegt eine nicht zu unterschätzende Antriebskraft der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich unter Zuhilfenahme von gestalteten Produkten Aufstiegshorizonte zu zeichnen. Im Besitzenwollen, Besitzen oder Nutzen spezieller Konsumgegenstände findet man den Ausdruck bestimmter Lebensstile, Haltungen und Weltanschauungen. In diesem Zusammenhang etablieren sich vielfach verzweigte Spiele, bei denen unterschiedliche Abstände zu den gegebenen Verhaltensnormen justiert werden können. Dinge zum Beispiel, die aus der Sicht des Selbstverwirklichungsmilieus5 als besonderer Ausweis von Spießigkeit gelten [wie Gartenzwerge oder Kuckucksuhren], können durch ironische Platzierung zu Zeichen für besondere Stärke und Coolness avancieren: Man kann sich die Nähe des

Tieren]; Sexismus; Rassismus; Überzogenes Exklusivitätsgehabe [Vgl .: Imke Volkers: Böse Dinge . Eine Enzyklopädie des Ungeschmacks. Begleitheft zur Ausstellung, S. 27f.] 5  Vgl . Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Frankfurt/Main 1992.

19

Hässlichen und Bösen leisten, man ist nicht mehr gefangen im Reflex der Ablehnung des Kitsches. Das Maß an Sentimentalität wird dosierbar. Heute können wir Spaß haben an blutiger, gewaltverherrlichender, provokativer Gestaltung, mit der wir die Grenzen der Political Correctness, der Moral austesten und über­schreiten. Diese bösen Dinge bieten auch die Möglichkeit, symbolische Handlungen zu vollziehen. Auf einer Plastikkarikatur der Bundeskanzlerin eine Zitrone auszupressen, allein die Möglichkeit dazu zu haben, kann vieles bedeuten:  

 Ich setze mich über die Macht der Bundeskanzlerin hin­weg. Ich akzeptiere Angela Merkel nicht als Respektsperson. Ich bin stark. Ich respektiere die Würde von Angela Merkel nicht und will sie indirekt verletzen. Ich halte Angela Merkel nicht für fähig, sich in der Politik durchzusetzen. Ich halte sie für eine Loserin. Ich räche mich symbolisch an ihr für ihre Politik, die mich negativ tangiert oder die ich für falsch halte. Ich bin witzig und möchte dafür anerkannt werden. In der Spezifik meiner Witzigkeit kommt Intelligenz oder eine andere persönliche Stärke zum Ausdruck. Ich gehöre einer Gemeinschaft witziger, intelligenter Menschen an. Dementsprechend kann es also gelingen, mit einer

simplen Saftpresse ein Statement für sich und andere zu formulieren und damit eine moralische, politische oder soziale Position zu beziehen. Das Ding kann somit zum Vehikel individueller Sinngebung werden, gerade weil es eine gewisse Bosheit und Brutalität impliziert. Natürlich gibt es dabei auch bedenkliche Tendenzen. Jede Tugend zu ironisieren, mündet letztlich in Sarkasmus und

20

gegenseitiger Gleichgültigkeit. Aber was kann man tun? Zugespitzt gesagt: Das Verbot von Nazi-Symbolen verhindert nicht das Aufkommen von Neonazi-Ideologie, es kann sie bestenfalls in ihrer visuellen Ausbreitung behindern. Mit weniger ‹bösen Dingen›, weniger Kitsch und Trash wird die Welt nicht automatisch besser. Und völlig vergeblich ist es, wenn Designer oder Intellektuelle versuchen, in selbstgefälliger Weise durch gestalterische Normen das Volk zu erziehen. Das 20. Jahrhundert ist voll von solchen misslungenen Vorhaben. Werkbund, Neues Wohnen, Bauhaus, Funktionalismus, die Design-Direktiven der DDR, die ‹gute Form› und so weiter: Sie sind vielleicht nicht als DesignInnovationen misslungen, wohl aber als Programme zur Verbesserung der Menschen und ihrer Moral. Was kann man also tun? Nur eines: darüber sprechen! Wir brauchen einen entwickelten öffentlichen Diskurs über Design, einen Diskurs darüber, wie die Menschen in ihren unterschiedlichen Milieus die Dinge deuten, wie sie die Dinge des Alltags nutzen, um sich selbst und anderen gegenüber ihrer Moral zu vergewissern, sie in Frage zu stellen, mit den Dingen Brücken zu anderen Menschen zu schlagen, soziale Identität zu schaffen, zu festigen oder zu erneuern.

Autor: Rainer Funke Rainer Funke ist Professor für Designtheorie und Philosophie im Fachbereich Design der Fachhochschule Potsdam.

21

invertiert! der kitsch und das Böse

Sentimentalität, sanfte Sehnsucht und Liebesschmerz: In den Weiten des klassischen Kitsches ist alles rosa. So rosa, dass eine neue Gestaltergeneration nun mitten hineinschlägt in diese Wattewolke, hier ein wenig Blut verspritzt und dort ein paar Waffen hineinschmuggelt. Die Britin Jessica Harrison etwa köpft die zierlichen Porzellanfigurinen von Royal Doulton, zieht ihnen die Haut vom Gesicht oder reißt ihnen die Gedärme aus dem Leib. Die Niederländerin Judith Montens zeigt einen Autounfall auf einem Zierteller, inklusive goldener Öllache; der Deutsche Stefan Strumbel baut Kuckucksuhren aus Knochen, Waffen und toten Tieren, meist neonfarben. Alle drei bedienen sich bekannter Topoi: Die Kuckucksuhr, der Zierteller, die Nippesfigur – sie stehen emblematisch für die konfliktfreie Welt der reichen Rührseligkeit, für das Wohnzimmer mit Armlehnschonern aus Spitze, für Heimatfilm und Traumschiff-Sehnsucht. Der amerikanische Kunstkritiker Clement Greenberg definierte Kitsch in den dreißiger Jahren als ‹Inbegriff alles Unechten im Leben unserer Zeit›.6 Hier aber wird gerade die grausame Seite der Realität in den Kitsch hineingezogen, die Idylle weicht dem Inferno, und überhaupt wird alles von innen nach außen gekehrt. Die einst klaren Grenzen zwischen Design, Kunst und Kitsch wurden längst unterlaufen. Es ist eine verwirrende Dreiecksbeziehung: Einst wurde der Begriff Kitsch als Gegensatz zur Kunst geprägt. Wie Kunst hat er keine wirkliche Funktion, allerdings wurde er als minderwertig erachtet, geeignet nur für infantile Gemüter, beschränkt auf das Sentimental-Dekorative. Die einfache, günstige Reproduzierbarkeit ist Kennzeichen des Kitsches. Serielle Massenproduktion aber ist auch typisch für

6

clement greenberg: ‹aVant-garde and kitsch›, Partisan reVieW 6 :5 [1939]

34–49 : ‹kitsch is mechanical and oPerates by formulas. kitsch is Vicario u s e x P e r i e n c e a n d fa k e d s e n sat i o n s. k i ts c h c h a n g es ac c o r d i n g to st y l e , but remains alWays the same . kitsch is the ePitome of all that is sPurious in the life of our times. kitsch Pretends to demand nothing of its customers excePt their money – not eVen their time .› 22

fiVe star crockery Judith montens, 2009

Designobjekte, die sich jedoch zusätzlich durch ihre praktische Funktionalität auszeichnen. Die Protagonisten der neueren sogenannten Design-Art allerdings arbeiten zunehmend in Editionen und Kleinauflagen und erheben ihre Gebrauchsobjekte damit in die Sphäre serieller Kunst; während sich Künstler wie Strumbel gleichzeitig wiederum an alltäglichen Gebrauchsgegenständen abarbeiten. Kitsch wird heute überall ironisch zitiert: zum einen durch die Künstler, von Pop Art über Pierre et Gilles bis Jeff ­Koons. Zum anderen gilt uns im Alltag die Ironisierung als probate Umgangsweise mit dem Traditionellen. Wir können nun mal nicht verleugnen, was uns kulturell geprägt hat – aber bitte mit Distanz. Ab den späten Neunzigern hingen in den deutschen Szene-Wohnungen auf einmal Hirschgeweihe; Wackeldackel und Marienfigur wurden süffisant platziert und galten als Ausweis besonderer Stilsicherheit. Der Heimat- und Devotionalienkitsch war auf der Metaebene angelangt. Die Bewertungsmaßstäbe und Kontexte hatten sich verändert, doch allein sie definieren im Einzelfall, ob ein und dasselbe Objekt nun als Geschmacklosigkeit gilt oder als Statement. Kitsch ist da keine ästhetische Kategorie mehr, sondern eine soziale. Die bösen Umdeutungen nun treiben die Ironisierung auf eine neue Höhe: Nicht nur der Kitsch wird hier ironisiert, sondern auch der Schrecken. Der Bruch mit der traditionellen Form, freilich, er soll die Wirkung verstärken. Die Spannung zwischen Schön und Schrecklich hebt die Objekte auf eine emotionale Zwischenebene: Wie nur soll man auf sie reagieren? Man kann das als subversive Strategie der künstlerischen Kritik an gesellschaftlichen Missständen sehen, als puren Zynismus oder als Provokation. Während Stefan Strumbel unsere Heimat-Stereotypen hinterfragen will, bezieht sich Judith Montens gar auf

23

die Wunderkammern des Barock, die Faszination der eigentlich nutzlosen Tätigkeit des Sammelns. Und wenn das niederländische Studio Job in der Kollektion ‹Industry› die schönsten Intarsienschränke fabriziert, die statt Blütenranken Gasmasken und Atommeiler zeigen, weisen sie einerseits auf die Zerstörung unserer Umwelt durch die Industrie hin. Doch gleichzeitig liefern sie ein hochqualitatives Stück traditioneller ornamentaler Handwerkskunst in Tulpenbaum und Ahorn ab, das – wenn auch auf satirisch-dunkle Art – einfach schön ist. Das Spiel mit dem Alten und Altbekannten, das Umdeuten, Austauschen, Invertieren, birgt grundsätzlich die Gefahr, eine eventuell immanente Kritik einzulullen: In unserer durch­ ironisierten Welt der ständig distanzierten Haltung, wer will da diese schönen schrecklichen Dinge als Kritik verstehen, oder sie gar als aufrüttelnd empfinden? Wer soll sich noch auskennen, wer was wann wie gemeint hat? Die Gartenzwergindustrie führt den Beweis, dass der Kreislauf inzwischen vollkommen ist. Die Zipfelmützenträger sind der Inbegriff des deutschen Kitsches, die Produzenten jedoch haben sich längst angepasst an die heute gängige ironische Ruppigkeit: Es gibt nun auch Zwerge, die den Stinkefinger zeigen, ein Messer im Rücken haben oder den Hintern blank ziehen. Auch sie stehen im Schrebergarten. Kitsch, hat der Literaturwissenschaftler Walther Killy Anfang der sechziger Jahre ge­wettert, sei auf nichts anderes ausgerichtet als auf Reiz und Stimmung.7 Auch der ins Böse umgedeutete Kitsch bliebe demzufolge Kitsch, nur die Weltenstimmung hätte sich geändert. Nicht Rührseligkeit, sondern Provokation. Nicht heile Welt, sondern Grausamkeit. Unsere stärksten Emotionen sind die negati­ven: Angst, Ekel, Wut. Doch auch einen makaberen Zierteller kann man nur an die Wand hängen. Nippes hat die Welt noch nie verändert.

AUTORIN : Karen Bofinger 7  Walther Killy: Deutscher Kitsch. Ein Versuch mit Beispielen. Vandenhoeck & Ruprecht, 8. Auflage , Göt tingen 1978. Weiterführende L iteratur: Konrad Paul Liessmann: Kitsch! Oder warum dieser schlechte Geschmack der eigentlich gute ist. Brandstät ter Verlag, Wien 2002; Konrad Paul Liessmann: ‹Jenseits von Gut und Böse›. NZZ Folio 12 / 03, T hema: Kitsch und Kult. 24

G RUSELNI P P ES

Der Schriftsteller Hermann Broch sagte in den fünfziger Jahren, Kitsch sei eine Manifestation des radikal Bösen. Er argumentierte aus einer Hal­tung, die Ästhetik und Moral in eins setzte, und dachte dabei an den üblichen Romantik-Nippes. Inzwischen hat der Kitsch das Böse selbst vereinnahmt – mal als Spaß im Schrebergarten, mal aus einer künstlerischen Grundhaltung heraus: Jessica Harrison etwa geht es beim Sezieren klassischer Porzellanfiguren um die Erforschung der Beziehung zwischen unserem Körper und den Dingen.

Rosamund Jessica Harrison, 2010 Einzelstück

26

gartenzwerg mit häufchen 100% Zwergen-Power Anfang der 1980 er-Jahre

27

HOME SWEET HOME

Kritische Ästhetik: Stefan Strumbel hinterfragt mit seinen Pop-Art-Kuckucksuhren die Klischees süddeutscher Gutbürgerlichkeit, während bei Studio Job friedliche Naturmotive wie Libellen und Schmetterlinge auf Gasmasken, Atommeiler und Panzer treffen und so als zeitgenössisches Memento mori wirken. Handwerklich aber bleiben die Gestalter der Tradition verhaftet: Schnitzereien wie Intarsienarbeiten sind hochqualitative Umsetzungen lang bewährter Handwerkstechniken.

Edition Clock 6 Stefan Strumbel Circleculture Gallery, 2010 Einzelstück

28

Cabinet, Industry Studio Job, 2008 Collection Mit terrand + Cramer, Genf Schwarz gefärbter Tulpenbaum und weiSS gefärbter Vogelaug enahorn, Polyurethan-Lack , poliert; 120 × 170 × 50 cm

29

Die Sc hönhe it de r Sch u sswa ff e

Nach offiziellen Schätzungen sterben jährlich weltweit mindestens 740 000 Menschen durch Schusswaffen. Doch wer will so genau wissen, wie viele es wirklich sind? Eines scheint klar: Waffen sind böse. Oder? Waffenliebhaber würden widersprechen, und es gibt viele von ihnen. Sie sagen ‹Nicht die Waffe ist böse, sondern der, der ihren Abzug betätigt› oder ‹Ich hasse Krieg, aber ich liebe Waffen›. Sie preisen deren Schönheit und Präzision, die großartigen Ingenieurleistungen. Waffenfreunde kommunizieren in Kürzeln: MP5 oder M12? AK47 oder M4A1? H&K oder Colt? Eines dieser Kürzel hat es sogar in die Umgangssprache geschafft: 08/15 hieß das Maschinengewehr, das im Ersten Weltkrieg erstmals flächendeckend bei allen deutschen Soldaten zum Einsatz kam. Waffen sind Alltag. Auf Facebook existieren dutzende Gruppen namens ‹I love guns›, ihre Mitglieder teilen Fotos von in Gold ziselierten Sonderanfertigungen und Kalaschnikows auf ­Blümchenbettdecken. Sie sind vermutlich auch die Käufer der Buttons und T-Shirts, auf denen Milton Glasers berühmtes New-York-Logo zu ‹I love guns› umgewidmet wird. In den USA gilt das Recht, eine Waffe zu besitzen, noch immer als unantastbar. In der Schweiz wurde 2009 das Tragen echt aussehender Spielzeugwaffen verboten.

31

G RANATENSCHAR F

Alltagssprache ist nicht sehr sensibel: Man tut etwas ‹bis zur Vergasung› oder findet jemanden ‹granatenmäßig scharf› – die Begriffe haben sich längst von ihrem Ursprung gelöst. Auch das Parfüm ‹Flowerbomb› will niemandem den Kopf wegsprengen, sondern die Assoziation eines blumigen Luxusfeuerwerks beschwören. Der moralische Anspruch der ‹Xmas Declarations› ist da höher, die Beziehung direkter: Gerade in der beschaulichen Weihnachtszeit soll der Baumschmuck an Kriegsopfer erinnern; ein Teil des Erlöses wird gespendet.

Xmas Declarations Dorot hy Suck UK , 2009

32

Flowerbomb Viktor & Rolf L’Oréal , 2005

33

DER HEISSE STUHL

‹Waffen sind unsere neuen Ikonen›, erklärte Philippe Starck. ‹Leicht, funktional, günstig und elegant, über hundert Millionen mal produziert, ist die Kalaschnikow eine Erfolgsgeschichte des Industriedesigns.› Dass das mehr nach Lob denn nach Kritik am Waffenhandel klang, dass das Gold verherrlichte, statt tödliche Geldgier zu symbolisieren, das fanden nur andere. Und ist der Stuhl des gebürtigen Texaners Reh aus Patronenhülsen nun der Vollzug von ‹Schwerter zu Pflugscharen›, sinnvolles Recycling – oder nur sehr texanisch?

Table Gun Lamp [Gun Collection] Philippe Starck Flos, 2005

34

Fully Loaded Chair, BLACK Alexander ReH REHAB, 2007 EDITION : 15

35

B OM B OM B UNT

Lassen wir es den Musikproduzenten Pharrell Williams selbst erklären: ‹Ich sehe mich im Spiegel, schattenboxend, kicking ass, und denke: was für eine lächerliche MachoVariante von mir […] Ich bin nur einer, der vorm Spiegel steht und versucht, sich vorzustellen, wie es wäre, jung zu sein und in den Krieg ziehen zu müssen. Ach, wie unhöflich von mir, ich hab dich stehen lassen! Setz dich.› Die Bonbonfarben sollen übrigens auch bei Simone Michelis ‹The Bomb› die friedliche Umwidmung des Kriegsgerätes symbolisieren.

The Tank [baby blue ] Pharrell Williams Galerie Emmanuel Perrotin, 2009

36

The Bomb Si mone Micheli Adrenalina , 2010

37

NELKENREVOLUTION

Die portugiesische Nelkenrevolution von 1974, die sich gegen die Diktatur des ‹Estado Novo› wehrte, verdankt ihren Namen den Blumen, die sich die Aufständischen in die Gewehrläufe steckten: Es war ein fast unblutiger Umsturz. Von den Hippies über die friedlichen Putschisten in Thailand bis zu den Revolutionären in Tunis haben sich viele dieser Symbolik bedient. Die ‹Love & Peace Collection› des taiwanesischen Studios Biaugust verkauft sich am besten in den USA. Heißt das nun, dass das der friedliebendste aller Staaten ist?

A PEACEFUL BOMB [Love & Peace collection] Biaugust, 2008–2010

38

Gun Vase Suck Uk , 2003

39

TATORT K Ü CHE

Zur Gewalt am Frühstückstisch möchten weder Raffaele Iannello noch Jean Christophe Karich mit ihren Designs aufrufen, darauf legen sie Wert. Alles nur Ironie! Andererseits … Es ist früher Morgen. Montag. Das Kaffeepulver ist alle. Der Toast ist verbrannt. Aus der Dusche kam nur kaltes Wasser. Das Finanzamt hat schon wieder einen Brief geschickt. Dein Mann versteckt sich grunzend hinter der Zeitung. Da war ein fremdes Haar an seiner Jacke. Und dann steht da diese Tasse. Sie liegt so gut in der Hand …

Fisticup™ Jean CHRistophe Karich Fred, 2009

40

Voodoo Knife Set Raffaele Iannello RISCB Commodities, 2003 2. Edition 2010

41

P C OR NOT P C

Nein, nein, an Konzentrationslager soll diese Gasmaskendusche natürlich nicht erinnern, das wäre ja gar zu makaber! Chris Dimino wollte vielmehr eine nützliche Verwendung für all die Gasmasken finden, die die Amerikaner nach 9/11 gehortet haben, so sagt er. Ist doch praktisch, sogar mit Seifenablage! Das BinLaden-Feuerzeug – gefunden auf einem Souvenirmarkt im kambodschanischen Phnom Penh – ist ja auch nur dafür gedacht, damit mahnende Gedenkkerzen anzuzünden. Wozu denn sonst?

F euerzeug Osama bin Laden Boerda Smoking Set Co Ltd., vor 2005

42

Gas Mask Shower Head Chris Dimino, 2007 Prototyp

43

My thos Blu t

Blut ist heilig. In Judentum und Islam darf das Blut geschlachteter Tiere nicht verzehrt werden; im Christentum wird durch das Blutvergießen Jesu der Bund mit Gott erneuert, Blutreliquien werden hoch verehrt. Die Darstellung des leidenden oder gar des toten Christus am Kreuz wurde ab der Gotik üblich, zuvor sah man den Gottessohn siegreich und lebendig; jetzt hatte er eine klaffende Seitenwunde. Aber Blut im Bild – damit war man noch lange vorsichtig. Selbst in der naturalistischen Darstellung einer Metzgerei von Annibale Carracci, um 1580 entstanden, ist kein Blut zu sehen; auch Schlachtengemälde des 19. Jahrhunderts blenden es meist aus. In der Gegenwart aber wird Blut immer wieder zum Mittel der Kunst: Der Österreicher Hermann Nitsch zitiert in seinen Aktionen archaische Ritu­ale der Blutmystik, der Brite Marc Quinn schuf 1991 ein plastisches Selbstbildnis aus 4,5 Litern seines Blutes. Noch immer wird eine solche Verwendung von Blut als skandalös empfunden. Gleichzeitig aber schwingt beim Gedanken an Blut immer auch die romantische Idee der Blutsbrüderschaft, der Hingabe, mit. So soll Angelina Jolie ihrem [inzwischen Ex-] Ehemann B ­ illy Bob Thornton einst ein Fläschchen ihres Blutes geschenkt haben – das er nach der Scheidung angeblich sofort entsorgt hat.

45

medium rare

fleisch essen heißt blut essen. das new museum in new york bezeichnet antonio murados scheinbar blutverschmiertes gedeck daher als ‹fast barocke reflexion des Verzehrs einer mahlzeit›. eine reflexion ganz anderer art vollzog antje gerwien: im rahmen des studienprojekts ‹das böse› an der universität Weimar spielte sie in ihrer fiktiven kampagne ‹reVital advertising› makaber-ironisch mit den themen tod und alter. so eingängig, dass man sich unwillkürlich schützend ans handgelenk fasst.

salome coFFee set antonio murado sargadelos factory für das neW museum neW york , 2007 edition: 15

46

revital advertisinG [schneideBret tchen ] antJe gerWien uni Weimar, 2005 einzelstück

47

DIE F AR B E , IHR B LUT

Wie geht es Ihnen heute? Ob Sie hier jeweils Blut oder tropfende rote Farbe sehen, lässt sich wie ein RorschachTest deuten. John Nouanesing entwarf den Tisch nach der Trennung von seiner Freundin: Er malte, die Farbe tropfte – und sein gebrochenes Herz blutete. Der Japaner Kouichi Okamoto hat sich im Übrigen bereits daran gewöhnt, dass seine liquide Lampe oft als Requisite für Splatterfilme gedeutet wird: Die Gedanken der Menschen seien nun mal frei und unergründlich.

Liquid Lamp Kouichi Okamoto Kyoue i design, 2008

48

Paint Or Die But Love Me John Nouanesing Domeau & Pérès, 2008

49

ECHT P SYCHO

Es gibt Menschen, die, wenn sie nach Hause kommen, stets prüfen, ob sich hinter dem Duschvorhang ein Einbrecher versteckt. Hitchcocks ‹Psycho› hat dem Badtextil jede Unschuld geraubt; blutige Handabdrücke entfalten da eine eigenwillige Wirkung zwischen Ablehnung und Faszination. Dieser ‹Es ist so schlimm, dass man nicht wegschauen kann›Effekt hat auch das niederländische Studio Oooms zu dem blutigen Teppichmotiv inspiriert. Wobei in diesem Fall zwischen ‹Echt› und ‹Fake› weniger große Verwechslungsgefahr besteht.

Blood Bath Shower Curtain Spinning Hat

50

roadkill carPet oooms, 2001 anfertigung auf bestellung

51

PlayFul dead

spielerische tabubrüche: zeichentrickfilme wie roadrunner oder die fiktive serie ‹itchy & scratchy› aus den ‹simpsons›, in der ständig die maus die katze zersägt, aufspießt oder köpft, haben adam arber zu seinen ‹roadkill toys› inspiriert. Was als zeichentrick zur kinderunterhaltung taugt, wird in dreidimensionaler form offenbar als jugendgefährdend wahrgenommen: arber selbst sieht seine süß-grotesken kuscheltiere als ironisches erwachsenenspielzeug. auch Patricia Waller macht in ihren teils überlebensgroßen künstlerischen häkelobjekten das zeichentrickgrauen greifbar, und hinterfragt die behütete idylle.

who killed BamBi? Patricia Waller, 2008 Wolle , stoff, füllWat te , kunststoff; häkelarbeit; 80 × 60 × 45 cm

52

sPlodGe [roadkill toys] adam arber, 2005

53

Eke l , Se x, Fä ka l hu mor

Im Grunde dreht sich das Leben um Sex und Scheiße. Zweijährige haben Freude an ihrem Kot, daran, dass sie lernen, ihn zu kontrollieren, manche spielen gar damit, verschmieren ihn im Kinderzimmer – Sigmund Freud definierte das als anale Phase. Darauf folgt die phallische Phase, in der spielt das Kind lieber mit seinen Geschlechtsteilen – es wird erwachsen. Und schließlich wallt das Ganze in der Pubertät auf; im typischen Pennälergag spielen Ekel, Sex und Fäkalhumor eine große Rolle. Manch einer löst sich nie wieder von diesen Erfahrungen: Wird uro- oder koprophiler Anhänger von Natursekt und Kaviarspielen im Schlafzimmer. Oder macht daraus große Kunst: Jeff Koons wurde in den Neunzigern berühmt für die Penetrationsbilder und -skulpturen, die ihn mit seiner Frau, dem Pornostar ­Cicciolina, zeigen. Paul ­McCarthy legte 2008 einen riesigen aufblasbaren Hundehaufen vor das Zentrum Paul Klee in Bern; Andreas Serrano verfrachtete 1987 ein Kruzifix in ein Glas voll Urin. Aber Piero Manzoni übertrifft sie alle: Er füllte 1961 seinen Kot in Dosen und verkaufte diese als ‹Merda d’artista›. 2008 erzielte eine Dose bei Sotheby’s Mailand 84 750 Euro. Das ist moderne Alchimie.

55

h ä u s l i c h e G e w a lt

stumm dienen sie uns, obwohl sie leiden: mr. P lässt sich ‹mit freuden› durch computerkabel und co fesseln, und ein haustier dient sich selbstlos als bleistiftspitzer an: ‹steck deinen stift hinein, und das arme kleine kätzchen miaut protestierend – das würdest du doch auch?›, schreibt der hersteller. gemeinhin gelten frühe und wiederholte gewalttaten gegen tiere ja als frühzeichen einer psychischen störung, häufig sind sie in der kindheit von serienvergewaltigern und -mördern nachzuweisen.

mr.P one man tied chaiyut PlyPetch ProPaganda , 2006

56

Sharp-end Luke Haslam-Jones Slam Design Ltd, 2003

57

F R Ü HERZIEHUN G

Für Gewaltverherrlichung im Kinderzimmer muss man gar nicht erst Ballerspiele bemühen: Das Huhn hört erst auf zu lärmen, wenn man es fest genug würgt – im Zeichentrick ist das ja auch lustig! Ob man das vielleicht einmal bei der kleinen Schwester …? Der ‹Kackel Dackel› hingegen erzieht zu Ordnung: Füttert man ihn mit Knetmasse, macht er Häufchen: ‹Wer als Erster drei Häufchen aufgesammelt hat, bekommt einen Dackel-Chip und ist der Gewinner!› Wenn das mit den lauwarmen Häufchen im Park doch nur genauso funktionierte!

Kackel Dackel Goliath Toys, 2010

58

das völliG verrÜckte huhn Playtastic™

59

SCHEISS G L Ü CKLICH

Das japanische Wort für ‹glücklich› klingt so ähnlich wie die Kurzform für ‹Kacke›, daher sind HäufchenDesigns in allen Variationen in Japan extrem beliebt. Als die Schwedin Emma Megitt ihre ‹Pee & Poo›-Kuscheltiere als Abschlussarbeit entwarf, dachte sie nie daran, diese auch zu produzieren – sie hatte die Fangemeinde deutlich unterschätzt. Denn nicht nur in Japan ist man von dem, was hinten rauskommt fasziniert, auch der US-Markt ist begeistert. Lecker!

Oh Deer! The Super Dooper Reindeer Pooper [ Candy Dispenser ] Jelly Belly

60

Pee & Poo Cuddly Toys Emma Megit t Actuate Industries Entwurf 2004 Produktion ab 2006

61

körPersäFte

eigentlich geht es im badezimmer ja eher darum, sich von diversen körpersäften zu befreien. auch die sauberkeit des badezimmers ist für die meisten menschen von größter bedeutung, der markt spezieller Putzmittel ist riesig, am besten ist alles auch noch antibakteriell. hier aber gibt es, ‹rotz bei jedem druck›, wie der Vertriebspartner stolz verkündet. endlich mal richtig rumsauen! sich sauber fühlen? ach … immerhin riecht die seife nach cappuccino.

nose shower Gel disPenser über igeschenke .de

62

ooPs – the doG did it – PooP soaP audra l . synol-kruger kruger's creations, 2010

63

Geschmackvoll

dem leben etwas Würze zu geben, auch visuell, das ist hier wohl der grundgedanke. salz- und Pfeffersets scheinen – ebenso wie kaffeetassen – prädestiniert für ungewöhnliche designs: ein bisschen koks auf das frühstücksei, ein wenig sex auf dem tisch, eine kleine geschmacksexplosion oder etwas zeit für andacht – die omnipräsenz der streuer in den haushalten führt dazu, dass es für jede noch so absurde formgebung irgendwo den passenden käufer gibt. außerdem sind sie so klein, dass man sie ganz schnell verschwinden lassen kann, wenn sich seriöser besuch ankündigt.

salt & PePPer shakers daVid shrigley, Polite comPany shot oF sPice über enJoymedia .ch Brain ankul assaVaViboonPan, ProPaganda

64

Bones christoPher stiles, stiles in clay ohne titel designer unbekannt schweinerei streuer über racheshoP.de dashhound salt & PePPer kikkerland design inc., 2002 taste eXPlosion™ thabto maria studio mango, Present time , 2009 65

L ’ AMUSE - G u EULE

Schlucken, nicht spucken! Die ‹Cream Filled Willies› sind eine Gaumenfreude der besonderen Art, die einerseits auf orale Sexpraktiken verweist, andererseits aber auch ein herzhaftes Abbeißen à la Lorena Bobbitt erlaubt. Ob das vorspieltauglich ist und ‹die Mädchen scharf macht›, wie die Verkäufer sagen, sei dahingestellt. Die ‹Chocolate Hand Gun› kommt im schaumstoffgepolsterten Waffenkoffer daher, Schokopatronen sind separat zu erwerben. Auf damit in den Kampf gegen das Übergewicht!

Cream Filled Willies über RacheshoP.DE

66

Solid Chocolate Hand Gun über Chocolateammo.com

67

klick. mich. an.

das internet ist porno: nach schätzungen drehen sich mindestens 12 Prozent aller Webseiten um sex; über google deutschland wird sex als suchbegriff rund 16,6 millionen mal pro monat angefragt. da ist es nur konsequent, dass der einschlägige orion-Versand auch computerzubehör verkauft – frauentorsi liegen einfach gut in der hand. Weiter vertiefen wollen wir diese beziehung von frau und technik aber nicht. obwohl: ob andy kurovets bei seinem tamponusb-stick an ein sicheres datenversteck gedacht hat?

sanitary tamPon usB andy kuroVets, 2009 konzePt

68

Sexy Body Mouse über OrioN.DE

69

Die Bes c hwörung de r T r i eb kr a f t

In der Maslowschen Bedürfnispyramide steht der Sex ganz unten: Er zählt dem Psychologen Abraham Maslow zufolge zu den Existenzbedürfnissen, genau wie Essen, Atmen oder Schlafen. Kein Wunder also, dass sich Darstellungen von Genitalien und Beischlaf von alters her größter Beliebtheit erfreuen. Die Triebkraft muss ständig stimuliert werden, sonst wird der Mensch antriebslos; ohne Sex kein Fortschritt. Wollust und Frivolität scheinen dem Menschen von Natur aus nahe: Die Venus von Willendorf, entstanden rund 25 000 Jahre vor Christus, hat riesige Brüste und ausgeprägte Schamlippen. Auch die erotischen Keramikgefäße der südamerikanischen Moche [circa 1.–8. Jahrhundert] sprechen eine deutliche Sprache – Penisse als Henkel, Vulven als Ausguss, Sexszenen als Vollplastik. Bevor Pompeij 79 nach Christus unter Asche und Lava versank, erfreuten sich auch dort die Bewohner an unzähligen Penissen, ob auf dem Straßenpflaster, als Türklopfer oder Lampenhalter. Ganz zu schweigen von den zahlreichen erotischen Fresken, nicht nur in den Bordellen. Auch die alten Griechen bemalten ihre Vasen exzessiv mit Beischlafszenen. Der Archäologe nennt diese Darstellungen übrigens Symplegmata. Das klingt einfach kultivierter als Pornografie.

71

G ENITALKITSCH

Busen und Vaginen dieser Welt vereinigt Euch! Kampf der phallischen Diktatur! Die weibliche Weihnachtskugel macht den Christbaum zum Baum der Versuchung – wobei die chinesischen Porzellanhersteller die Brust gar nicht als solche erkannten, und den ‹Stöpsel› zunächst als Makel empfanden. Die Lichtschalter in Cory Marcs Atelier hingegen lassen nun wirklich keinerlei Raum für Mehrdeutigkeit. Schließlich ist sein oberstes Ziel, ‹heftige Reaktionen hervorzurufen›. Und sei es das Gefühl, sofort die Beine zusammenkneifen zu müssen.

Clicktoris Cory Marc, 2002

72

Christmas Eve / Brustbaumkugel Laura Strasser, Benedikt Braun Donkey Products, 2008

73

das mass aller dinGe

für einen schwanz gilt dem Volksmund nach das gleiche wie für eine Waffe – es kommt immer darauf an, was man damit anstellt. es finden sich ja allerlei praktische anwendungen für phallische formen. im großen sind das hochhäuser, besonders schön zu sehen bei Jean nouvels ‹torre agbar› in barcelona. aber am besten eignet sich der Penis naturgemäß für alles, was mit reinstecken oder aufspießen zu tun hat: grillspieße, flaschenkorken, handtuchhalter. ein echtes multitool.

Blumenvase shiva et tore sot tsass, bd barcelona design, 1973 PlÜschPuschen Penis über orion.de Pecker muG PiPedream Products haPPy man Bot tle stoPPer Paladone Products ltd. Penis salz- und PFeFFerstreuer über orion.de BiG Boy GrillsPiess über racheshoP.de 74

Penis Put ter PiPedream Products handtuchhalter Penis über orion.de strohhalm JumBo straw über orion.de Penis seiFe über racheshoP.de

75

körPerschall

rülpsen, furzen, schnarchen: körpergeräusche sind uns in der regel unangenehm. nur wenige ausnahmetalente schaffen es, mit ihnen melodiöse abfolgen zu erzeugen – und bewerben sich damit dann bei ‹das supertalent›. zeit für elektronische abhilfe: streicht man über die rechte Pobacke des ‹asspeaker› wird die musik lauter, tätschelt man die linke, wird sie leiser. und dass aus einem schönen dekolleté nur schöne klänge kommen, liegt ja nahe.

assPeaker JaVad yazdani, mohsen tafazzoly, younes daneshVar, 2008 konzePt

76

BooB radio über orion.de

77

HÖCHST ERLÖSEND

Sex ist erlösend. Jesus Christus ist der spirituelle Erlöser. Barack Obama ist der Heilsbringer Amerikas. Dildos schaffen Abhilfe bei Abwesenheit eines Partners. Also muss ein Dildo in Jesus- oder Obama-Form ja wohl die höchste Erlösung bieten? So oder ähnlich muss man sich wohl die Gedankenketten vorstellen, die zu diesen Entwürfen geführt haben. Die Designer von Divine Intervetions fassen es kurz: ‹Jesus war Zimmermann, jetzt ist er das Superwerkzeug›. Einer der netteren Kommentare auf ihrer Website lautet: ‹Ihr werdet in der Hölle brennen›.

Head O State Ozam Group LLC, 2008

78

Jackhammer Jesus Nigel Ramsbot tom, Erik Core Divine Interventions, 1999

79

B ÖSE DIN G ER

Kuschelig, weich, warm war es damals an der Mutterbrust, und Essen gab es auch. Wie im Schlaraffenland! Um sich dorthin zurückzuversetzen, bieten sich allerlei Hilfsmittel an: Die Busen-Wärmflasche auf dem Bauch, am Fuß kuschelige Busen-Puschen, eingemummelt in den Busen-Schal und in der Hand eine Busen-Tasse mit heißer Milch, kann man beruhigt in Embryonalhaltung einschlafen. Wer hat da bitte vorschnell etwas von Sexismus gesagt?

Wärmflasche Boobie Warmer   Über Orion.de

80

BooBie Pillow über orion.de Busen-aschenBecher über orion.de BooBie BlindFold über racheshoP.de Busen PlÜsch-hausschuhe über orion.de trinkBecher Busen

über orion.de

BooB scarF lourdes corugedo, 2007 81

ANRICHTE

Ob ‹Nyotaimori› nun eine alte japanische Tradition ist, ein neumodischer Touristengag oder eine hartnäckige moderne Legende, darüber sind sich offenbar nicht einmal die Japaner einig. Sushi auf dem Körper einer nackten Frau zu servieren klingt jedenfalls nicht nach etwas, das die deutsche Lebensmittelaufsicht freuen würde. Einig sind sich dagegen viele Kulturen darin, dass Frauen in die Küche gehören. So oder so.

Bodylicious Hiroshi Tsunoda Designcode , 2008

82

Zitronenpresse Busen über Racheshop.de

83

schösslinGe

männer stoßen zu, frauen empfangen, das ist eben so. auch auf dem sideboard: atelier Van lieshouts lampe steht klar in der tradition archaischer fruchtbarkeitssymbole, der Phallus ist fast comichaft übertrieben, die stoßdynamik erkennbar. the Plug und stephanie rollin hingegen holen das versteckte weibliche empfängnisorgan ans licht – formal einem doldenreichen blütenständer ähnelnd, ist es bereit, blumen zu empfangen.

Fertility lamP atelier Van lieshout, 2009

84

uterus vase the Plug & stePhanie rollin, 2008 edition: 20

85

Das He il de r Körp ert ei l e

Per definitionem ist das Körperteil ein Teil, gehört also zu einem Ganzen, kann aber auch isoliert betrachtet werden. Das wird dann natürlich auch gemacht. Kopf ab, Hand ab, Finger ab: Die Entfernung eines Körperteils wird schon im Alten Testament als gerechte Strafe empfohlen. Mitglieder der japanischen Mafia können ihr Versagen angeblich durch Selbstamputation eines Fingerglieds sühnen. ­Lorena ­Bobbitt schnitt ihrem Mann 1993 den Penis ab, weil er sie wiederholt vergewaltigt hatte. Nicht als Strafe, sondern im Gegenteil, zur Abwendung von Unheil, dienten Wall­­ fahrern Mini-Körperteile, meist aus gestanztem Silberblech gefertigt. Diese Gebildvotive haben stets die Form des Körperteils, das Leiden verursacht; die Nepomukzunge etwa schützt vor übler Nachrede. Die bekannteste Votivgabe aber ist das flammende Herz – erbeten wird Linderung bei Liebesschmerz. Ein Organ als Liebesbeweis zu verschenken, das ist heute massentauglich: Das Herz hat eine stilisierte Form gefunden, die niemand mehr mit dem pochenden Muskel in der Brust verbindet. Aber würde man auch Brot essen, das wie ein verwesender Arm aussieht, gebacken vom thailändischen Backkünstler ­Kittiwat ­Unarrom?

87

DIE NEUE INNERLICHKEIT

Man soll sich ja öfter auf sein Innerstes konzentrieren. Die Mitte finden. Sich seines Körpers bewusst werden. Um sich etwa das Rauchen abzugewöhnen, immer wieder visualisieren, wie der schwarze Teer langsam jede Verästelung in der Lunge verdreckt. Bewusst verdauen, beim Essen schon an die Darmbewegungen denken, durch die der letzte unverdauliche Rest nach außen transportiert wird. Ommmm. Man könnte aber auch einfach nicht an seine Innereien denken und nur genießen.

Aspira AshTray Finding Cheska , 2004

88

Flat Surgery #1 [Anatomy Rug ] Mathieu Lehanneur mit Romain Guilet und Thomas Schnür Carpenters Workshop Gallery, 2009 Edition: 8+4 AP

89

HELLE KÖ P F CHEN

Alexander Lerviks Gehirn kann man für 10 000 Euro kaufen, zuletzt hat das ein französischer Gehirnchirurg getan. Im Schein des hellen Köpfchens kann er sich nun kluge Gedanken machen. Inspiriert wurde der Designer von der ornamentalen Schönheit einer wissenschaftlichen Abbildung des menschlichen Gehirns, daraufhin legte er sich in einen MR-Scanner und wandelte die so dokumentierte Form seines Hirns in ein Leuchtobjekt um. Bei Jason Freenys Zauberwürfel geht es weniger um Schönheit als um Intelligenz: Will man ihn lösen, muss man sich ganz schön den Kopf zerbrechen.

MYBrain lamp Alexander Lervik Gallery Pascale , 2007 Editio n: 100

90

Brain Cube Jason Freeny, 2011 Prototyp

91

SCHLUCKSTU B E

Als die Fluggesellschaft Virgin Atlantic diese Urinale in ihre Lounge am New Yorker JFK Airport einbaute, liefen die Feministinnen Sturm. Auch aus der Wiener Opernpassage wurden die Objekte nach heftigen Protesten entfernt: Zu frauenfeindlich, sexistisch, Oralverkehr und Urophilie verherrlichend seien sie. Für die – weibliche! – Designerin Meike van Schijndel stand hingegen der Spaß im Vordergrund. Kobi Levis Inspiration war rein formaler Art: Die Lasche eines Schuhs ähnelt doch einer Zunge … das musste weitergedacht werden!

Tongue Kobi Levi, 2005 Einzelstück

92

KisseS! Meike van Schijndel Bathroom Mania , 2005

93

KÖR P ERKONTAKT

Mysophobie, Verminophobie oder Bacteriophobie bezeichnen die Angst vor Dreck und Bakterien, mit denen man etwa beim Benutzen fremden Geschirrs oder bei Körperkontakt in Berührung kommen oder sich anstecken könnte. Was aber hilft bei Phobien? Konfrontationstherapie! Benutze man regelmäßig Geschirr, das scheinbar lippenstiftbeschmiert oder verdreckt sei, stelle sich ein Gewöhnungseffekt ein – durch den man im besten Fall die Phobie überwinden könne, so Designerin Danielle Spector. Für alle Furchtlosen hingegen sei das Geschirr einfach lustig.

Mouth Tea Set Danielle Spector Reshape Studio Entwurf 2004 Überarbeitung 2010

94

Teeth Mug Lee Weilang Afterain Design, 2009

95

sitzFleisch

der menschliche körper hat sich ja seit Jahrtausenden bewährt, warum sollten seine formen da nicht für stabile möbel taugen? Während sich martin nash diebisch über das Piercing und den speichelartigen glanz seines zungenstuhls freut, widmet der designer dzmitry samal seine ‹human furniture collection› explizit dem männlichen körper – der ziehe sonst meist den kürzeren gegenüber dem weiblichen. außerdem seien die möbel ein statement gegen homophobie. da sage noch mal einer, design sei nur oberflächliches styling!

human Furniture collection dzmitry samal , 2009

96

lick-n-sit chair martin nash nash studios and nashfx, 2009 einzelstück

97

KO P F LOS

Seine ‹Woofers› seien ‹funktionaler Kitsch›, sagt Sander Mulder, ‹groteske Objekte›, geboren aus dem Wortspiel ‹woofer› [Tieftöner] und ‹to woof› [bellen]. Derart geköpft fehlen allerdings eindeutig die treuen Hundeaugen! Auch Susan Kniffin Davidson zerteilt das Süße in irritierende Stücke: In ihrem Laden finden sich etwa Schalen in Form umgedrehter Babyköpfe und Fliesen, aus denen sich feiste Ärmchen strecken. Modell stehen dafür keine echten Babys, sondern Puppen. Nur als Info für alle Menschenrechtsaktivisten.

Woofer Sander Mulder, 2008

98

Baby Head Bowl Susan Kniffin Davidson, 2010 Handgefertigt

99

NUTZTIERHALTUN G

Bei BrewDog wollten sie es schlicht auf die Spitze treiben – das stärkste Bier: 55 %. Dazu das teuerste: 500 Britische Pfund pro Flasche. Und das verstörendste: verpackt in tote Tiere. Das ist Guerilla-Marketing der harten Sorte. Die Macher legen dabei Wert darauf, dass die sieben Hermeline, vier Eichhörnchen und der Hase der Edition eines natürlichen Todes gestorben sind. Das gilt auch für die Ferkel, die Colin Hart zu Sparschweinchen befördert. Morddrohungen von Tierschutzaktivisten erhielt er trotzdem.

Piglet bank Colin Hart The Cheeky, 2010 Anfertigung auf Bestellung

100

The End of History Brewdog, 2010 Edition: 12

101

schrecklich Faszinierend

‹als ich meiner mutter von dem einfall erzählte, konnte ich kaum glauben, was da aus meinem mund kam›, sagt sebastian errazuriz. aber die idee einer entenlampe ließ ihn nicht mehr los – zu mysteriös, makaber, schön, humorvoll, seltsam erschien sie ihm, alles zugleich. anziehung und abstoßung sind nur einen gedanken voneinander entfernt. auch olivier goulets ‹skin-bag› ist solch ein zwitter: man will sie anfassen, obwohl das eigens entwickelte material wie nackte haut wirkt, frisch abgezogen – und damit eklig.

the duck lamP [death series] sebastian errazuriz , 2002 einzelstück

102

skinBaG oliVier goulet, 2000

103

S c höne Gesta lt v e rlie rt si ch ba l d

Mitten im Prunk kam die Melancholie. Das Barock, jenes überbordend verzierte, goldglänzende Zeitalter, war auch die Hochzeit der Beschwörung der Vergänglichkeit. ­Alles was wir haben, wird uns auch genommen – angesichts von Pestseuchen und Religionskriegen war dies nicht zu leugnen. ‹Ach! was ist alles diß / was wir vor köstlich achten / Als schlechte Nichtigkeit / als Schatten / Staub vnd Wind›, dichtete Andreas Gryphius, und auf den niederländischen Stillleben welkten die Blumen. Einerseits zeigten sie Reichtum, prächtige Silberpokale, exotische Früchte – doch wer die komplexe Emblematik entschlüsseln kann, weiß, dass die Tulpe auch auf den Crash der Tulpenbörse 1637 verweist, die Fliege auf ihr kurzes Leben, die Früchte auf ihr Verderben. Die Dauerbrenner der Vanitas-Symbolik sind Schädel und Skelett: Sie finden sich in allen Zeiten, in Mosaiken des Altertums, als Anamorphose in Hans ­Holbeins Werk ‹Die Gesandten› von 1533 oder als Vexierbild im Gemälde ‹All is Vanity› von Charles Allan Gilbert von 1892. Heute werden Vanitas-Attribute an Halloween spielerisch eingesetzt; und Blogs wie Streetanatomy.com sammeln ihre Manifestationen auf T-Shirts, Geschirr oder in der Street-Art: Vanitas ist jetzt Pop.

105

F ASHION VICTIMS

Judith und Holofernes, Salome und Johannes der Täufer: Frauen, die Männer köpfen, werden in der Kulturgeschichte durchaus goutiert. Frauen haben jedoch nicht nur ein Faible fürs Köpfen, sondern auch für Taschen – beide Vorlieben werden perfekt befriedigt durch den ‹Head Hand Bag› von Raw-Edges. Die Künstlerin Iris Schieferstein vereint dann auch die dritte weibliche Passion – Schuhe – mit der Mythologie: Der umgeschneiderte Pferdefuß verweist auf Pegasus. Übrigens war der Aufruhr um ihre Pferdeschuhe größer als bei jenen aus Kuhfüßen – Mädchen lieben eben Ponyhöfe.

Horseshoes Iris Schieferstein, 2007 Einzelstück

106

Head Hand Bag Yael Mer, Shay Alkalay [Raw-Edges Design Studio] Royal College of Art, 2006

107

MEMENTO MORI

Schönheit ist vergänglich; was bleibt von ihr nach dem Tod? Das Vanitas-Motiv beherrschte das Barock, doch die Frage ist eine ewige. Vladi Rapaport interpretiert alte holländische Stillleben in Form von Möbeln; Polly van der Glas tastet sich hautnah heran, macht aus menschlichem Haar und Zähnen Schmuck, der ein leichtes Befremden hinterlässt: Zu intim sind diese toten, nie lebendigen Teile des Körpers. Beide Gestalter entdecken die Schönheit jenes Todes, der die Schönheit vernichtet hatte.

Sterling Silver Human Tooth Ring Polly van der Glas, ab 2006 individuelle Einzelstücke

108

Vanitas Collection Vladi Rapaport, 2008 Edition: 12; Lampe: Einzelstück

109

KNOCHENDICHTE

‹Es ging mir nicht so sehr darum, an den Tod zu erinnern, sondern eher darum, uns unsere Zerbrechlichkeit bewusst zu machen›, sagt Sture Pallarp, und spricht von den vielen Geschichten und Schicksalen, die sich hinter nüchternen Röntgenbildern verbergen. Das Einschalten der Lampe macht sie nicht sichtbar, aber erahnbar. Auch John Dickinsons Knochentisch wirkt fragil: Die Beine scheinen einzuknicken, doch sie halten noch.

X-ray Lamp Sture PallarP mit Elin Hedlund und Emmelie Karlström, 2008 Einzelstück

110

Bone Game Table John Dickinson, 1977 Holz und Farbe; 76,2 × 105,41 × 105,41 cm

111

Beinhart

die thorakotomie, das aufsägen des brustkorbs, um etwa herzoperationen durchzuführen, erfordert kraft, und wohl jedem Patienten wird angst und bange bei der Vorstellung. unsere rippen und knochen, sie schützen und stützen uns – ihre stabilität hat etwas Vertrauenerweckendes, daran will man nicht rühren. das gute bone chinaPorzellan heißt übrigens so, weil der sogenannten fritte knochenasche beigemischt ist – diese führt auch hier zu einer sehr hohen kantenschlagfestigkeit.

Bone china skeleton Plate simon young, Jenny Vaughan re [re-found obJects], 2010

112

riB caGe For iPad daVe ryo lau sWitcheasy, 2010

113

FleischBeschau

nekrophilie oder leichenwitz? ‹inspiriert haben mich all meine lieblingszombie-filme›, sagt cassandra Willms, ‹als ich den fertigen dildo dann sah, fand ich ihn urkomisch, und ich dachte, wenn nur eine verklemmte alte schachtel bei diesem anblick ein wenig würgen muss, hat er seinen zweck erfüllt.› auch diddo Velema liebt den bösen Witz seines ‹shark suits› – am liebsten stellt er sich vor, wie ein surfer darin aus dem Wasser zurück an den strand kommt …

shark suit diddo Velema , 2009 PrototyP

114

zomBi art dildo cassandra Willms necronomicox, 2010

115

Bildnachweis

10 Fabio Novembre, n ovembre.it;

Adrenalina

casamania.it;

adrenalina.it

Foto: Settimio Benedusi round2corp.com 18 I nkognito Gesellschaft f ür faustdicke Überraschungen mbH,

40 J . C. Karich industrial

worldwidefred.com

j essicaharrison.co.uk z wergen-power.com 28 s tefan strumbel

peeandpoo.com 62 F oto:

raffaeleiannello.com

Thomas J. Becksmann

42 F oto:

63 K ruger’s Creations

Richard S. Ehrlich

e tsy.com/shop/­

43 C hris Dimino, 2011

KrugersCreations 64  o ben [v.l.n.r.]

chrisdimino.com 46 A ntonio Murado;

Foto: Oliver Rath

n ewmuseumstore.org

Gallery, Berlin

Thomas J. Becksmann 61 K iss&Bajs i Sverige AB

Design Studio

New Museum

Circleculture

Thomas J. Becksmann 60 F oto:

41 R affaele Iannello

stefanstrumbel.com oliver-rath.com

Foto:

design studio FRED

27 100  % Zwergen-Power

goliathtoys.de 59 P laytastic

suck.uk.com

inkognito.de

montens.nl

slamdesign.co.uk 58 G oliath Toys GmbH

39 S uck UK

10999 Berlin,

26 J essica Harrison

propagandaonline.com 57 S lam Design Ltd

biaugust.com

karichdesign.com;

Design: Knetman

Company Ltd.

38 biaugust CREATION OFFICE

Erkelenzdamm 11–13,

22 J udith Montens

56 P ropagandist

Simonemicheli.com;

Casamania,

15 Round 2 LLC



politecards.com; Design: David Shrigley

Foto: Peter Gabriel 47 A ntje Gerwien

P olite Company

davidshrigley.com

e njoymedia.ch 64  u nten

u ni-weimar.de/­

circleculture-gallery

Projekte/einblick/­

.com

einblick2003/student.

Company Ltd.

php?student=gerwien;

propagandaonline.com,

29 S tudio Job studiojob.nl Ausstellungen: Design des Arts et du Design,

Foto:

Paris; Studio Job Gallery,

Kyouei design

w earedorothy.com; Suck UK suck.uk.com 33 V iktor & Rolf viktor-rolf.com 34 P hilippe Starck Starck.com; Flos spa flos.com 35 A lexander reh, REHHAB rehhab.com 36 C ourtesy Galerie Emmanuel Perrotin, Paris perrotin.com Foto: Guillaume ­Ziccarelli

Design:

Kyouei design kyouei-ltd.co.jp

32 D orothy

Propagandist

48 Kouichi Okamoto,

Miami, Miami; Pavillon

Antwerpen

118

37 S imone Micheli

49 J ohn Nouanesing

Ankul Assavaviboonpan 65  l inks [v.o.n.u.]

C hristopher Stiles



F oto:

stilesinclay.com

j ohnnouanesing.fr;

Thomas J. ­Becksmann

Domeau & Pérès



r acheshop.de

domeauperes.com



K ikkerland Design Inc.

50 Sp inning Hat s pinninghat.com Foto: enjoymedia.ch 51 D esigned by OOOMS oooms.nl 52 Patricia Waller patriciawaller.com; Courtesy Galerie

k ikkerland.com

T habto thabto.co.uk 65  r echts Present Time presenttime.com Design: Studio Mango studiomango.nl

Deschler

66 r acheshop.de

deschler-berlin.de

67 C hocolateAmmo.com

Copyright:

68 A ndy Kurovets

2011, ProLitteris, Zürich 53 A dam Arber, Compost Communications Ltd roadkilltoys.com

a ndykurovets.com 69 Orion.de 72 C ory Marc corymarc.com

73 S tudio Laura StraSSer l aura-strasser.de;

vanderglas.com.au

Donkey Products

Carpenters Workshop

Foto: Terence Bogue

GmbH & Co. KG

Gallery

donkey-products.com

cwgdesign.com

BD Barcelona Design b dbarcelona.com Design: Ettore ­Sottsass



P ipedream Products pipedreamproducts.com



O rion.de 74  r echts [v.o.n.u.]

90 A lexander Lervik l ervik.se; Gallery Pascale gallerypascale.com 91 J ason Freeny moistproduction.com 92 Kobi Levi kobilevidesign.



O rion.de

blogspot.com



Paladone Products Ltd.

Foto:



R acheshop.de

paladone.com 75 [ v.o.n.u.]

Ilit Azoulay 93 B athroom Mania! BV b athroom-mania.com

P ipedream Products

Design:

­pipedreamproducts.com

Meike van Schijndel



O rion.de

Foto:



O rion.de



R acheshop.de

Coen Dekkers/BNO 94 R eshape Studio

76 D esign: Javad Yazdani,

reshapestudio.com

Mohsen Tafazzoly,

95 a fterain design studio

Younes Daneshvar ideavim.com 77 O rion.de 78 Ozam Group LLC headostate.com 79 D ivine Interventions d ivine-interventions. com 80 O rion.de 81  l inks [v.o.n.u.] o rion.de; Mitte: Racheshop.de 81  r echts Lourdes Corugedo uncleblistersorphanage .com 82 H iroshi Tsunoda h iroshitsunoda.com; DesignCode designcode.es 83 racheshop.de 84 Atelier Van Lieshout ateliervanlieshout.com 85 u [email protected] Foto: Andres Lejona 88 F inding Cheska findingcheska.com

119

1 08 P olly van der Glas

m athieulehanneur.fr;

74  l inks [v.o.n.u.]

89 M athieu Lehanneur

a fteraindesign.com 96 S amal Design samaldesign.com 97 M artin Nash of Nash Studios and NashFX nashfx.com 98 Sander Mulder S andermulder.com Foto: Diewke v/d Heuvel 99 S ue Davidson, Kniffin Pottery susankniffindavidson. etsy.com 1 00 t he Cheeky thecheeky.com 1 01 B rewDog Ltd. brewdog.com 1 02 S ebastian Errazuriz meetsebastian.com 1 03 O livier Goulet skinbag.net 1 06 I ris Schieferstein iris-schieferstein.de Foto: Bridget Weber 1 07 R aw-Edges Design ­Studio raw-edges.com

1 09 V ladi Rapaport vladirapaport.nl 1 10 Sture Pallarp sturepallarp.se 1 11 F oto: San Francisco Museum of Modern Art, Gift of Macy’s California 1 12 RE re-foundobjects.com 113 SwitChEasy switcheasy.com 1 14 D iddo Velema bydiddo.com 1 15 n ecronomicox.com Design: Cassandra Willms

Impressum

Konzept Karen Bofinger T exte Volker Albus Karen Bofinger Rainer Funke Claus Richter LEKTORAT Karen Bofinger Berit Liedtke P rojektkoordination Berit Liedtke Ulrike Ruh C overgestaltung, Layout und Satz Modulator [bigliotti, previsic], Luzern C overmotive Siehe S. 26, 33, 34, 37, 50, 57, 64, 65, 72–74, 76, 81, 85, 88, 92–99, 100, 102, 113 und Bildnachweis L ithografie und Produktion ActarBirkhäuserPro, Barcelona – Basel www.actarbirkhauserpro.com V ertrieb ActarBirkhäuserD, Barcelona – Basel – New York www.actarbirkhauser-d.com Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Über­ setzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. Dieses Buch ist auch in englischer Sprache erschienen [ISBN 978-3-0346-0722-3]. ©   2011 Birkhäuser GmbH, Basel Postfach, 4002 Basel, Schweiz Part of ActarBirkhäuser Gedruckt auf säurefreiem Papier, hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff. TCF ∞ P rinted in SPAIN

IS BN 978-3-0346-0721-6 987654321 www.birkhauser.com