Die Bildung des Geschmacks: Über die Kunst der sinnlichen Unterscheidung [1. Aufl.] 9783839417461

Der Geschmack - als Sinnengeschmack und als Kunstgeschmack - ist das Vermögen der Differenzierung, das Wahrnehmen und Re

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Die Bildung des Geschmacks: Über die Kunst der sinnlichen Unterscheidung [1. Aufl.]
 9783839417461

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Der Geschmack. Sinnliches Geschehen und ästhetisches Vermögen
Bildung und Erziehung
Die Tischgemeinschaft als ästhetisch-moralische Anstalt. Über Bildung, Geschmack und Essthetik
Benimmerziehung
Lessing oder Sex – Geschmacksfragen an das aktuelle Theater. Ein Dialog zwischen Theaterwissenschaft und Pädagogik
Vernunft, Technik und Kunst
Der Geschmack der Vernunft. Eine Spurensuche
Geschmackssache Automobil
Musikalischer Kitsch
Erfahrungen des Anderen
In dulci jubilo – süße Musik, bitte sehr!
Der Geschmack einer fremden Kultur: Japan
Sinn und Geschmack fürs Unendliche
Autorenverzeichnis

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Eckart Liebau, Jörg Zirfas (Hg.) Die Bildung des Geschmacks

Ästhetik und Bildung | Hg. von Eckart Liebau und Jörg Zirfas | Band 5

Eckart Liebau, Jörg Zirfas (Hg.)

Die Bildung des Geschmacks Über die Kunst der sinnlichen Unterscheidung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Sebastian Ruck, Jörg Zirfas Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1746-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung Eckart Liebau & Jörg Zirfas Der Geschmack. Sinnliches Geschehen und ästhetisches Vermögen…………......

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Bildung und Erziehung Jörg Zirfas Die Tischgemeinschaft als ästhetisch-moralische Anstalt. Über Bildung, Geschmack und Essthetik………………….......... 17 Eckart Liebau Benimmerziehung……………………............................................. 45 Leopold Klepacki & André Studt Lessing oder Sex – Geschmacksfragen an das aktuelle Theater. Ein Dialog zwischen Theaterwissenschaft und Pädagogik….... 63

Vernunft, Technik und Kunst Peter Bernhard Der Geschmack der Vernunft. Eine Spurensuche........................ 91 Gerd Schmidt Geschmackssache Automobil………………………..…................ 115 Eckhard Roch Musikalischer Kitsch…………………………………..................... 131

E r f a h r u n g e n d e s An d e r e n Konrad Klek In dulci jubilo – süße Musik, bitte sehr!........................................ 157 Peter Ackermann Der Geschmack einer fremden Kultur: Japan............................... 189 Peter Bubmann Sinn und Geschmack fürs Unendliche………….......................... 215

Autorenverzeichnis……………………………………………….. 227

Einleitung

Eckart Liebau & Jörg Zirfas

Der Geschmack Sinnliches Geschehen und ästhetisches Vermögen

Am Anfang ist wohl nicht das Wort oder die Tat, sondern die Sinnlichkeit. Denn die erste Reaktion eines Neugeborenen ist eine sinnliche Reaktion, in der es seine angenehmen, doch oftmals wohl eher unangenehmen Empfindungen gelegentlich sehr laut und deutlich zum Ausdruck bringt. Welchen Geschmack nun das Neugeborene mit auf die Welt bringt, ist bislang noch nicht ausreichend erforscht. Doch dass der Geschmack eine Geschmackssache ist, lässt sich schon an frühkindlichen Reaktionen ablesen. So zeigen sich schon früh Präferenzen für das Süße und gegen das Salzige, Saure oder Bittere. Auch können verschiedene Arten von Süße schon von Anfang an unterschieden werden. Schließlich weiß man auch, dass der mit dem Geschmack eng verbundene Geruch schon früh ausgebildet ist, so dass die Neugeborenen ihre Mütter am Geruch erkennen und binnen einer Woche in der Lage sind, den mütterlichen Geruch von dem anderer Personen zu unterscheiden. Der physiologische Geschmack resultiert biologisch betrachtet aus den Geschmacksknospen, die nicht nur auf der Zunge, sondern im gesamten Mund- und Rachenraum zu finden sind. Im Kleinkindalter ist ihre Zahl am größten, max. gibt es hier 10.000. Allerdings gibt es auch Zeitgenossen, die nur rund 2000 dieser Knospen aufweisen. Im Alter von 20 Jahren nimmt ihre Zahl ab; die Abnahme beschleunigt sich mit 45 Jahren, so dass man als 80jähriger nur noch ein Drittel der ursprünglichen Zahl besitzt. Entscheidend ist freilich nicht die bloße Zahl der Geschmacksknospen, entscheidend ist die auf Habitualisierung und Erfahrung beruhende Fähigkeit zur Wahrnehmung. Physiologisch betrachtet gibt es vier große Geschmacksrichtungen: salzig, süß, bitter, sauer. Seit einigen Jahren rechnet man noch eine fünfte Richtung dazu, den umami Geschmack, den Wohlgeschmack oder abgerundeten Geschmack. Ob sich unser physiologisches Geschmacksempfinden in dieser Typologie er-

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EINLEITUNG

schöpft, ist fraglich: So lässt sich der scharfe Geschmack in diesem Fünfeck ebenso wenig wieder finden wie etwa der Geschmack von Lakritz. Interessant ist, dass sich eine Geschmacksrichtung über alle kulturellen Grenzen hinweg etabliert hat: das Süße. Wo immer man den Zucker eingeführt hat, ist er nicht mehr ausrottbar. Hinter diesem Sachverhalt steckt ein Trick der Evolution, denn Zucker steht für kohlehydrathaltige, energiereiche Nahrung. Wann immer man in eine Schokolade beißt, glaubt man – oder „glauben“ unsere Gene –, dass man sich richtig gestärkt hätte – was ggf. auch den Trostfaktor dieses Lebensmittels erklärt. Umgekehrt gibt es auch eine angeborene Aversion gegen Bitteres, denn dieses signalisiert dem Organismus i.d.R. eher eine Gefahr, denn zahllose, dem Menschen abträgliche, Gifte schmecken eben bitter. Doch der Geschmack als physiologisches Geschehen ist letztlich ein multisensorisches Geschehen: Geschmack ist über den Geruch und das Aroma mit der Nase verknüpft; über Temperatur und Konsistenz mit der Hand und dem Haptischen; über Form und Farbe mit dem Auge (das ja bekanntlich mitisst) und über Essgeräusche auch mit dem Hören. Und er ist ein, wenn man so will, komplexes anthropologisches Geschehen. Denn im Geschmack spielen Gefühle eine wichtige Rolle – angenehme oder auch unangenehme Erfahrungen etwa mit Omas Milchreis; die Phantasie geht in das Schmecken mit ein, vor allem dann, wenn es sich um sogenannte aphrodisische Mahlzeiten (Diner à Deux) handelt; im Schmecken und Geschmack gibt es einen ganzen kulturellen Überbau an Normen, Werten und Praktiken, die mit ihnen einhergehen – konkrete und weniger konkrete Anforderungen bezüglich des Kauens, des Essverhaltens, des Empfindens und Bewertens. Und schließlich werden im Geschmack auch Erinnerungen bedeutsam – Marcel Prousts Combray und Walter Benjamins Berlin sind auch im wörtlichen Sinne geschmacksbildend gewesen! Geschmack ist somit eingelagert in ein spezifisches Ambiente von Räumlichkeit und Zeitlichkeit, Sozialität und Kulturalität, Körperlichkeit und Individualität. Der physiologische Geschmack, so wird behauptet, ist kulturell codiert. Was uns schmeckt und was wir als ekelhaft empfinden, bekommen wir durch Erziehung und Sozialisation auf ganz unterschiedliche Weise beigebracht. Ge10

ECKART LIEBAU & JÖRG ZIRFAS: DER GESCHMACK

schmack zu haben, bedeutet somit zu signalisieren, dass man zu einer bestimmten sozialen Schicht, Kultur oder Zivilisation gehört. Gleichzeitig verweist der Geschmack auf ein bestimmtes Körperschema, insofern er ausdrückt, was als lieblich und hässlich, schön und aufregend, ekelhaft und abstoßend empfunden und aufgenommen und abgestoßen, verdaut und assimiliert wird. Der Geschmack verweist darauf, welchen Körper man als gesund, schön und bedeutend erlebt. Er drückt somit ein symbolisches Verhältnis zu sich, den Mitmenschen und der Welt körperlich aus. Als solcher ist er eine bestimmte Reaktion, die mit einer Einstellung verknüpft ist, die wiederum ganz spezifische Kontakte und Handlungen ausklammert. Dass der Essgeschmack letztlich sozialer und pädagogischer Natur ist, kann man sich z.B. an den bürgerlichen Debatten um das stumpfsinnige Sich-Vollfressen des niederen Pöbels und um die überkandidelte nouvelle cuisine der oberen Zehntausend verdeutlichen. Man erkennt hier auf der einen Seite den Geschmack als Bestätigung von Askese und Hygiene und auf der anderen Seite den Abscheu vor der Herrschaft des Körpers und der Völlerei bzw. den Abscheu vor einem zu hohen finanziellen und zeitlichen Aufwand für die Nahrungsaufnahme und einem als unpassend empfundenen Preis-Leistungs-Verhältnis – der Luxus der Spitzenküche ist dann nicht nur unangemessen, sondern unmoralisch. Das gilt auch für das andere Extrem – auch die Billig-Küche in der Fast-Food-Version wird hier als verderbliches unmoralisches Angebot angesehen, und nicht nur verachtet, sondern auch als ekelhaft empfunden. Im Mittelpunkt dieser Diskussionen steht zunächst und zumeist die Frage nach der Tugend der Mäßigung, die hier zwischen Askese und Körperbeherrschung auf der einen und der Völlerei und der Herrschaft des Körpers auf der anderen Seite vermitteln soll. Diese ästhetisch-moralische Norm muss so verinnerlicht werden, dass man sie nicht jedes Mal neu diskutieren muss. Essen und Trinken, so die bürgerliche Idealnorm, dient lediglich dazu, den Bedarf an lebenswichtigen Kalorien zu decken und die Nahrung optimal zu verwerten. Es darf schon gut schmecken, aber der verfeinerte – oder auch der grobschlächtige – Genuss darf nicht das Ziel sein. Daran hat man Geschmack gefunden. „Der Geschmack bewirkt, dass man hat, was man mag, weil man mag, was man hat“ – so hat es Pierre Bourdieu formuliert (1979: 285f.) 11

EINLEITUNG

Betrachtet man den Geschmack nicht nur als ein physiologisches Geschehen, sondern als ein allgemeines ästhetisches Vermögen, so erscheint er als Kompetenz, Ähnlichkeiten und Unterschiede wahrzunehmen, Gleiches vom Ungleichen zu unterscheiden, ästhetische Identitäten und Differenzen benennen und bewerten zu können. Das setzt voraus, dass das Individuum in Geschmacksbelange involviert ist. Geschmack setzt die leibliche und sinnliche Teilnahme an materiellen, kulturellen oder sozialen Sachverhalten voraus: Ich habe mir Gegenstände einverleibt, zu Gemüte geführt oder ihre soziale Bedeutungs- und Verwendungsweise kennen gelernt. Geschmack ist ästhetische Kompetenz – das Feststellen und Reflektieren einer schmeckenden Unterscheidung: Homo sapiens sapiens. Der Geschmack hat also seine eigene Moral. Er teilt die Welt in gut und schlecht ein, verweist auf das, was aus aisthetischen, ästhetischen, moralischen, sozialen oder politischen Gründen nicht sein sollte. Diesen diktatorischen Zug des Geschmacksinns konstituiert in der Abgrenzung zum Nicht-Kulturellen und zum Wider-Natürlichen eine kollektive Identität des „Gesunden“. Insofern ist der Geschmack in hohem Maß sozial, verweisen Geschmacksobjekte ebenso in hohem Maße auf spezifische Gesellschafts- und Kulturformen und sind somit weitgehend durch soziale Tabus bestimmt. Der Geschmack klassifiziert in einem doppelten Sinne: Er teilt die Welt in angenehm und unangenehm ein; und er teilt die Menschen einer bestimmten Geschmacksgruppe zu. Dazu noch einmal Pierre Bourdieu: „Geschmack klassifiziert – nicht zuletzt den, der die Klassifikationen vornimmt. Die sozialen Subjkete, Klassifizierende, die sich durch ihre Klassifikationen selbst klassifizieren, unterscheiden sich voneinander durch die Unterschiede, die sie zwischen schön und hässlich, fein und vulgär machen und in denen sich ihre Position in den objektiven Klassifizierungen ausdrückt oder verrät“ (ebd.: 25). Die Geschmacksbildung beginnt immer mit Kleinigkeiten, die mit Wohlgefallen, Interesse und Zuneigung aufgegriffen werden. Man muss den Geschmack erfahren lernen. Hierbei lassen sich idealtypisch fünf Modelle der Geschmacksbildung unterscheiden. • Das objektive Modell des Geschmacks definiert Geschmack durch feststehende Kategorien und Vorstellungen von Harmonie, Symmetrie etc. Was als geschmackvoll gelten muss liegt außerhalb der Sinne des Subjekts. Geschmack bedeutet 12

ECKART LIEBAU & JÖRG ZIRFAS: DER GESCHMACK









hier das Erfassen eines Schönheitskanons. Orientiert an den Fernsinnen Auge und Ohr gilt den klassischen Schönheitstheorien seit der Antike nur dasjenige als schön, das man in Zahlenverhältnissen ausdrücken, d.h. was man wie in Malerei und Musik messen kann: Etwas ist schön oder nicht – und daher per se geschmackvoll oder geschmacklos. Das subjektive Modell des Geschmacks definiert Geschmack über individuelle Präferenzen. Hier liegt Geschmack innerhalb der subjektiven Sinnlichkeit, in der Originalität der subjektiven Einbildungskraft: Über Geschmack lässt sich nicht streiten. Im subjektiv-objektiven Modell des Geschmacks basiert Geschmack auf einem interesselosen Wohlgefallen (Kant), d.h. auf einer subjektiven Einschätzung, die für alle Menschen Geltung beansprucht. Geschmack ist der Versuch, ein individuelles Urteil als allgemeingültiges zu begründen: Alle sollen das Gleiche schön finden können, es soll also als schön und geschmackvoll gelten. Im sozialen Modell des Geschmacks wird Geschmack definiert über die unterschiedliche Geltung von ästhetischen Inhalten und Formen im sozialen Raum, Geschmack liegt im Geschmacksempfinden einer Gruppe, etwa des Bildungsbürgertums. Geschmack ist ein soziales Konstrukt im Herrschaftszusammenhang: Der Geschmack der Herrschenden gibt das Vorbild bzw. den Bezugspunkt für den Geschmack der Beherrschten: Das ist nur etwas für die oberen Zehntausend, das ist nichts für uns… Das phänomenale Modell des Geschmacks definiert Geschmack über die Fülle und die Vielfalt von Erscheinungsund Erlebnisformen. Schönheit liegt hier im quantitativen und qualitativen Schnittfeld von subjektiven Begegnungsformen und objektiven Gegebenheiten. Geschmack wird verstanden als Sich-Einlassen und Reflektieren der Art und Weise der Begegnung mit dem Gegenstand. Geschmack wird also gebildet: Die Welt wird umso reicher, je mehr ich sie aufnehmen und differenzieren kann, und vice versa.

Seit dem 2. Weltkrieg verliert der „gute Geschmack“ seinen guten Nahmen nicht nur in der Kunstszene. Er steht dort nur noch für das Gefällige, die Mode oder die Dekoration. Dies ist mit der Abkehr von normativen Modellen des Geschmacks in der Kunst er13

EINLEITUNG

klärbar. Während man dort immer weniger sagen konnte, was denn im Einzelnen guter Geschmack war, wird dieser zu einem der zentralen Begriffe in den Sozial- und Kulturwissenschaften. Forschungen zu Lebensstilen, Zeitgeist, Massengeschmack und Geschmacksbildung und -diktatur nehmen in den letzten Jahren einen breiten Raum ein. Diese Forschungen nehmen einen gewandelten Stellenwert des guten Geschmacks aufgrund gesellschaftlicher Umwälzungen zur Kenntnis: Streng hierarchische Gesellschaften stellten ihren guten Geschmack sichtbar in leicht erkennbaren Attributen aus, die zugleich den sozialen Rang wie den dazu gehörenden Lebensstil signalisierten. Liberale und egalitäre (Massen-)Gesellschaften bedürfen der „feinen Unterschiede“ in der Mode, im Verhalten, in speziellen Vorlieben, um die Distinktionen zwischen den sozialen Gruppierungen noch sichtbar zu machen. Geschmack lässt sich somit weniger allein an Äußerlichkeiten des Gegenüber gleichsam ablesen, sondern muss aus seinem gesamten habituellen Umgang mit Natur und Kultur erschlossen werden. Werden die Geschmäcker diffiziler, erfordert das von den Einzelnen ein höheres Maß an Geschmacksdarstellung wie ein höheres Maß an Geschmacksreflexion. Geschmack, so könnte man sagen, wird in der Moderne individueller, differenzierter und reflexiver zugleich. Nach wie vor signalisiert Geschmack gesellschaftliche Verortung und Status: Man liebt, was man hat, und man hat, was man liebt. Da lohnt es sich vielleicht nicht, über den Geschmack zu streiten, doch für einen eigenen einzutreten, scheint durchaus sinnvoll zu sein. Oder anders: Wer glaubt, es lohne sich nicht für einen Geschmack zu streiten, ist geschmacklos.

Literatur Benjamin, Walter (1972): Berliner Kindheit um Neunzehnhundert. Gesammelte Schriften Bd. IV.2. Frankfurt/M: Suhrkamp, S. 235–304. Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Proust, Marcel (1967): Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

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Bildung und Erziehung

Jörg Zirfas

Die Tischgemeinschaft als ästhetisch-moralische Anstalt Über Bildung, Geschmack und Essthetik „Die Tischzeit ist die merkwürdigste Periode des Tages und vielleicht der Zweck, die Blüte des Tages.“ Novalis, Fragment Nr. 1681 „Das Wort Geschmack (taste) gehört ins Eßzimmer, in der Kunstbetrachtung hat es nichts zu suchen.“ Wolfgang Hildesheimer, Marbot. Eine Biographie

Einleitung Der Titel der Tischgemeinschaft als ästhetisch-moralische Anstalt ist natürlich eine Anspielung auf die Theaterprogrammatik des 18. Jahrhunderts, in der – paradigmatisch bei Lessing – das Theater als „Schule der moralischen Welt“ (Lessing, 2. Stück) verstanden worden ist. Die durchaus plausibel wirkende Vermutung, dass man im Theater etwas für das Leben in der Welt lernen kann, nämlich Eloquenz, Menschenkenntnis, Beherrschung des körperlichen und sprachlichen Ausdrucks, Selbstbewusstsein und soziales Verhalten usw., also Kompetenzen, die für das korrekte Rollenhandeln und für repräsentative Aufgaben in der Öffentlichkeit unerlässlich sind, diente den Theatertheoretikern seinerzeit als eine Legitimationsstrategie für ein durchaus zweifelhaftes künstlerisches Genre. Seit nunmehr drei Jahrzehnten haben kulinarische Themen wie Lebensmittel, Kochen, Essen, Esstisch, Gastmähler, eat art etc. auch Eingang in die Human-, Sozial- und Kulturwissenschaften gefunden, so dass man mittlerweile von einer kulturwissenschaftlichen Kulinaristik oder auch von Food Studies, ja von einem „gastrosophical turn“ (Lemke)1 spricht, der sich in den letzten Jahren, 1

Der Begriff der Gastrosophie, die man als die philosophische Wissenschaft des Essens definieren kann, stammt wohl von dem Schriftsteller und Gelehrten Eugen von Vaerst, der 1852 ein Buch mit dem Titel: Gastrosophie oder Lehre von den Freuden der Tafel vor-

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BILDUNG UND ERZIEHUNG

in denen sich diese Wissenschaften zunehmend dem Alltag und seinen Banalitäten und Wunderlichkeiten zugewandt haben, noch einmal verstärkt hat.2 In diesem Sinne soll hier gefragt werden: Was und wie lernt man am Esstisch? Inwieweit lässt sich auch das gemeinsame Essen als pädagogische Anstalt des ästhetischen und moralischen Geschmacks verstehen? Wie lässt sich gastrosophische Ästhetik, d.h. eine Ästhetik des kulinarischen Geschmacks, oder kurz eine Essthetik des Essens und des Esstisches skizzieren (Lembke 2007)?3 Wie geht der kulinarische Geschmack mit dem ästhetischen Geschmack zusammen, ob und inwieweit ist der Geschmacksinn ein am Esstisch kultivierter Sinn? Um diese Fragen zu beantworten, möchte ich in folgenden Schritten vorgehen: Zunächst soll aus einer kulturhistorischen Perspektive danach gefragt werden, ob auch die alten Griechen Geschmack hatten bzw. wie es zur Herausbildung einer ästhetischen Kompetenz namens Geschmack gekommen ist. In einem zweiten Schritt soll dann in einem soziologischen Blickwinkel der gemeinsame Geschmack im Essensritual im Mittelpunkt stehen. Danach wird – drittens – pädagogisch die Geschmackserziehung beleuchtet

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legte, in dem er sieben Forschungsbereiche benannte: 1. Freuden der Tafel, 2. Kochkunst, 3. Ästhetik, 4. Physiologie und Chemie, 5. (Gutes) Benehmen, 6. Diätetik, 7. Soziales und Ökonomisches. Vgl. etwa das für die hier verhandelte Thematik einschlägige Buch von Därmann und Lemke (2008). Der Text handelt nicht von der Ästhetik der neuen (futuristischen) Küchen, von Eat Art, Eventgastronomie und Geschmackstheatern oder von einem ausgearbeiteten Konzept des Kochens als Lebenskunst. Hier lässt sich mit Lemke (2007) an die futuristischen Kochkünste um Filippo Marinetti erinnern, an Daniel Spoerri sog. Fallenbilder, an Kochvorlesungen von Peter Kubelka über die „Fast Food Hominiden“ oder an die cooking battles von Tiravanija. In diesem Zusammenhang müsste man auch auf die politische Dimension einer Geschmacksphilosophie eingehen, die den Prozess der Emanzipation von der Befreiung der Frauen vom Einkauf, Kochen und Abwaschen erwartet (Männer als bread-winner, Frauen als food server), und die den nutritiven Funktionalismus einer konvenienten Fremdverköstigung als kapitalistischen Futurismus einer nahrungsindustriellen Emanzipation beider Geschlechter kritisiert. In den Kontext einer politischen Essthetik gehören auch die interventionistischen Küchen, z.B. eines Joseph Beuys mit seinem Modell des Künstlers als Küchenchef, die Küchen der Roten Gourmet Fraktion (RGF), die Volxküchen und das Kochen gegen Rechts sowie die Küchen der Öko-, Food-Justice- und Slow-Food-Bewegungen.

JÖRG ZIRFAS: DIE TISCHGEMEINSCHAFT

und schließlich wird viertens philosophisch mit Kant die Frage geklärt, warum man beim Essen reden muss, wenn man denn ästhetisch und moralisch zugleich sein möchte.

1. Vom Schmecken zur ästhetischen Kompetenz oder Hatten die alten Griechen Geschmack? Für Johann Joachim Winkelmann (1717-1768) war diese Frage geradezu unsinnig, denn er behauptet: „Der gute Geschmack, welcher sich mehr und mehr durch die Welt ausbreitet, hat sich angefangen zuerst unter dem griechischen Himmel zu bilden“ (Winkelmann 1991: 3). Wüsste man nicht, dass sich dieses Zitat in den „Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst“ von 1755 befindet, worin sich Winkelmann ausgiebig zu Fragen der Schönheit der Kunst, der Natur und der Wissenschaft äußert, so könnte man vielleicht meinen, dass er sich auch auf das Essen und das Schmecken bezieht. Um Sie nun ein wenig auf den Geschmack zu bringen und Ihnen gleichzeitig anzudeuten, welche Interpretamente man aus einer kulturhistorischen Perspektive gewinnen kann, eine kleine Kostprobe aus Homers „Ilias“: „Also sprach und führt’ sie hinein der edle Acheilleus, / setzte sie dann auf Sessel und Teppiche, schimmernd von Purpur. / Eilig sprach er darauf zu Patroklos, der ihm genaht war: / Einen größeren Krug, Menoitios’ Sohn, uns gestellet! / Misch auch stärkeren Wein, und jeglichem reiche den Becher; / Denn die wertesten Männer sind unter mein Dach jetzt gekommen. / Jener sprachs; da gehorchte dem lieben Freunde Patroklos. / Selbst nun stellt’ er die mächtige Bank im Glanze des Feuers, / Legte darauf den Rücken der feisten Zieg’ und des Schafes, / Legt’ auch des Mastschweins Schulter darauf voll blühenden Fettes. / Aber Auteomedon hielt, und es schnitt der edle Achilleus; / Wohl zerstückelt er das Fleisch und steckt’ es alles an Spieße. / Mächtige Glut entflammte Menoitios’ göttlicher Sohn jetzt. / Als nun die Loh ausgebrannt, und des Feuers Blume verwelkt war, / Breitet’ er hin die Kohlen und richtete drüber die Spieße, / Sprengte mit heiligem Salz und dreht’ auf stützenden Gabeln. / Als er nunmehr es gebraten und hin auf Borde geschüttet, / Teilte Patrokolos Brot in schöngeflochtenen Körben / Rings um den Tisch, und das Fleisch verteilte selber Achilleus; / Setzte sich dann entgegen dem göttergleichen Odysseus, / Dort an der anderen

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BILDUNG UND ERZIEHUNG

Wand, und gebot, dass Patroklos opfere den / Göttern; dieser gehorcht und warf die Erstling’ ins Feuer. Und sie erhoben die Hände zum leckerbereiteten Mahle“ (Homer 1982: IX. 199-221).

Folgt man sozial- und kulturwissenschaftlichen Rekonstruktionen, so stellt das zitierte Gastmahl des Achill mit den Fleischberge vertilgenden Männern, die ihr Mahl mit Wein hinterspülen, nur begrenzt die Praxis der alltäglichen Mahlzeiten im alten Griechenland dar (vgl. Wilkins/Hill 1995). Hier waren vielmehr Honig, Eier, Mehl, Meeresfrüchte, Nüsse, Gemüse, Wein, Olivenöl, Getreide und Hülsenfrüchte Hauptbestandteile der Mahlzeit. Auf diesen realen Essensgeschmack soll hier nicht eingegangen werden.4 Ich werde auch keine von dieser Szene ausgehende historische Rekonstruktion einer Abfolge der Grundtypen von Mahlzeiten vornehmen, etwa vom heidnisch-antiken Gastmahl, über das jüdische Pessach-Mahl, das christliche Abendmahl (Refektorium des Klosters), das Diner der feudalen Gesellschaft, der Sonntagstisch der bürgerlichen Gesellschaft bis hin zum Imbiss der Postmoderne (vgl. Neumann 2005a) – und die mit ihnen verbundenen Formen, Prozesse und Funktionen in pädagogischer, ästhetischer und moralischer Hinsicht nachzeichnen. Es soll hier allerdings angedeutet werden, wie es dazu kam, dass der Geschmack nicht nur etymologisch so eng mit dem 4

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Vgl. hierzu die einschlägigen Werke von André 1998 und Dalby 1998. – Um kurz den Geschmack der Griechen zu skizzieren: Diese ernährten sich durch die Grundnahrungsmittel (sitos) Linsen (als Suppe), Gerste (als Brei oder Keks) und Weizen (als Brotlaib). Dazu aß man als Beilage (opson) Gemüse, Käse, Eier, Fisch, gelegentlich Fleisch. Vor dem Essen gab es Appetitanreger in Form von kleinerem, gut gewürztem opson und Oliven, für Gäste Parfüm und Kränze; nach dem Essen (mit Wasser vermischten) Wein, Kuchen, Süßigkeiten, Nüsse sowie Frisch- und Trockenobst (Dalby 1998: 44ff.). Essenseinladungen für Männer wurden als umfassende Form der Bedürfnisbefriedigung verstanden, in der jeder Fleischeslust Genüge getan wurde, durch: Lebensmittel, Wein, Musik, Theater, Philosophie, Erotik etc. „Bei solchen Gelegenheiten war natürlich niemand nur Publikum: Alle waren Darsteller. Und Männer, die sinnlichen Vergnügen abhold waren (meist einfach ,Philosophen‘ genannt) mochten sich wohl fragen, welchen Part sie selbst spielen sollten: den des leidenschaftslosen Beobachters oder des Beobachters, der der Versuchung unterliegt – oder den des Gastes, der sich früh auf den Heimweg macht“ (ebd.: 168).

JÖRG ZIRFAS: DIE TISCHGEMEINSCHAFT

Schmecken verbunden ist. Warum hat sich der Geschmacksbegriff vom Umfeld der Küche und des Gaumens emanzipiert und ist zu einem umfassenden Begriff für Ästhetik, Moral und soziale Differenzierung geworden? Warum beziehen wir heute die Frage, ob die Griechen Geschmack hatten, primär nicht auf Essen und Trinken, sondern eher auf die Fähigkeit, sublime Differenzen in kulturellen Belangen wahrzunehmen und auszudrücken? In den einschlägigen kulturhistorischen Studien werden nicht die alten Griechen für diese „Geschmacksveränderung“ verantwortlich gemacht, sondern das 17. Jahrhundert. Diese wurde wohl seit Mitte jenes Jahrhunderts vollzogen und Geschmack zu einem Leitbegriff persönlicher Lebens- und Umweltgestaltung. Entscheidend für diesen Prozess waren drei Autoren: Der erste ist Baltasar Gracian, ein spanischer Schriftsteller und Rektor des Jesuitenkollegs in Tarragona (1601-1658), der mit seinem Werk „El Discreto“ (1646), den Geschmack als durch Erfahrung und Reflexion erworbene Kunstfertigkeit verstand, der in allen Lebenslagen die richtigen Entscheidungen, frei von Vorurteilen, zu treffen in der Lage sei. Der zweite für die Geschmackstheoriebildung wichtige Autor ist der Herzog Françoise La Rochefoucauld, ein französischer Moralist (1613-1680) der in seinem Werk „Des goûts“ (1678) Geschmack als durch unreflektierte Spontaneität befähigte Urteilskraft definierte, die Besonderheiten und Einmaligkeiten von Menschen, Dingen und Kunstwerken festhalten könne. Und der dritte bedeutsame Autor ist der englische Philosoph Graf von Shaftesbury (1631-1713), der im Buch „Soliloquy: Or, Advice to an Author“ von 1710, das die Verteidigung der Kunstkritiker zum Gegenstand hat, nicht nur den Geschmack als Beurteilung und kompetente Wahl verstand, sondern auch für Geschmackstandards und die Bildung des Geschmacks eintrat.5 5

Vgl. auch den von Voltaire stammenden Artikel „Goût“ in der „Enzyklopädie“, der den Zusammenhang von sinnlichem und ästhetischem Geschmack sowie von Bildung vor dem Hintergrund einer natürlichen, objektiven Ästhetik des Schönen folgendermaßen darstellt: „Dieser Sinn, diese Gabe, unsere Nahrungsmittel zu unterscheiden, hat in allen bekannten Sprachen jene Metapher hervorgebracht, die durch das Wort Geschmack das Gefühl für die Schönheiten und die Mängel in allen Künsten ausdrückt. Es ist ein Unterscheidungsvermögen, das genauso schnell ist wie das der Zunge und des Gaumens und das wie diese der Reflexion zuvorkommt; […] es ist häufig unsicher und verlegen, da es nicht einmal weiß, ob

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BILDUNG UND ERZIEHUNG

Erst sehr viel später wird Immanuel Kants (1724-1804) Geschmacksästhetik in der „Kritik der Urteilskraft“ (1790) bedeutsam, in der der Geschmack als der Versuch bestimmt wird, ein individuelles Urteil als allgemeingültiges auszugeben. So ist die Schönheit, obwohl es keinen allgemeinen Begriff für sie gibt, etwas, was allen Menschen mit Notwendigkeit gefällt. Kant widerlegt damit auch den häufig bemühten Topos vom rein individuellen Geschmack, über den sich nicht streiten ließe, als Unwahrheit. Was sich im Übrigen auch an einer banalen Einsicht zeigen lässt: Denn Übereinstimmungen im Geschmack zeigen sich nicht nur im sozialen Miteinander, sondern auch darin, dass ganze Industriezweige recht angenehm von einem Standardgeschmack bzw. einer Standardisierung des Geschmacks leben können. Betrachtet man im engeren Sinn Essen und Trinken bei Tisch, so muss wohl auch noch die „Physilogie du goût“ von 1825 genannt werden, an der der Jurist Jean Anthèlme Brillat-Savarins (1755-1826) über 25 Jahre lang gearbeitet hat und die im Untertitel mit den „Gedanken über das höhere Tafelvergnügen“ für denjenigen Feinschmecker aufwartet, der nicht nur die Höhen und Tiefen des Geschmacks kennen lernen möchte, sondern auch danach fragt, wie „[…] sich die Ernährung auf die Moral, auf Phantasie, Geist, Urteil, Mut und Anschauung des Menschen, mag er nun wachen oder schlafen, handeln oder ruhn“ auswirkt (BrillatSavarin 1991: 20).6

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ihm das, was man ihm darbietet, gefallen soll, und da es zuweilen ebenso der Gewöhnung bedarf, um sich herauszubilden. […] Der Kunstgeschmack prägt sich stärker aus als der Sinnengeschmack; denn beim physischen Geschmack wollte die Natur […] nur erreichen, dass die Menschen generell empfinden lernen, was für sie notwendig ist; aber der geistige Geschmack braucht mehr Zeit, um sich herauszubilden. […] Es heißt, man solle über den Geschmack nicht streiten; das ist richtig, wenn es sich um den Sinnengeschmack handelt […]. […] Anders verhält es sich in den Künsten. Da sie wirkliche Schönheiten aufweisen, gibt es einen guten Geschmack, der sie erkennt, und einen schlechten Geschmack, der sie nicht erkennt […]“ (Voltaire 2001: 211ff.). Vgl. allgemein zur Geschmacksbildung der französischen (Pariser) Oberschicht im Zeitalter der Aufklärung: Camporesi (1992), der in dieser Zeit eine neue ratio convivalis ausmacht, in der eine geometrische Ordnung mit einer mathematischen Vernunft so kombiniert werden, dass kulinarisch eine „Vielfalt der Gedecke“ mit der „Leichtigkeit der Nahrungssubstanzen“ einhergehen kann. Interes-

JÖRG ZIRFAS: DIE TISCHGEMEINSCHAFT

Folgt man diesen Quellen, so lassen sich drei Punkte festhalten: 1.: die Griechen (aber auch die Deutschen) haben den Geschmack nicht erfunden; 2. der Geschmack wird zum Vergleichsgenerator unmittelbarer Sinneseindrücke und zum Ausgangpunkt einer, das gesamte Leben umfassenden Wahl, denn auch die Ethik und die Politik werden zur Geschmackssache und 3. auf die Bildung des Geschmacks kommt es an, wenn es darum geht, kompetent zu entscheiden und zu wählen (vgl. Rath 1997). Der Geschmack ist nunmehr ganz allgemein das Vermögen, Ähnlichkeiten und Unterschiede wahrzunehmen, Gleiches vom Ungleichen zu unterscheiden. Das setzt voraus, dass das Individuum in Geschmacksbelange involviert ist. Geschmack setzt die leibliche und sinnliche Teilnahme an materiellen, kulturellen oder sozialen Sachverhalten voraus: Ich habe mir Gegenstände einverleibt, zu Gemüte geführt oder ihre soziale Bedeutungs- und Verwendungsweise kennen gelernt. So lässt sich die These aufstellen: „dass die Geburt des Geschmacks als Organ sozialer und kultureller Orientierung in jenem Augenblick erfolgt, wo die gemeinsame Mahlzeit – über ihren religiösen oder philosophischen Stellenwert hinaus – auch zu einer Bühne lebensweltlicher Orientierung und kultureller Ausdifferenzierung wird“ (Neumann 2005b: 207).

Geschmack ist ästhetische Kompetenz – das Feststellen und Reflektieren einer schmeckenden Unterscheidung. Nicht umsonst wird der moderne Mensch als Homo sapiens sapiens verstanden, frei übersetzt: das vernünftig schmeckende Tier. Denn das lat. sapere lässt sich nicht nur mit wissen und kennen, sondern auch mit schmecken und riechen übersetzen. Insofern hatten auch die Griechen Geschmack, wenn ihnen auch unser Wort dafür fehlte: dem Begriff nach ist die gemeinsame Mahlzeit auch bei den Griechen ein Ort der Herstellung von geschmackvollen Atmosphären und kulturellen Differenzierungen. Im „Wörterbuch“ der Brüder Grimm von 1854, das die historische Entwicklung vom Schmecken zum Geschmack zusammenfasst, kann man dann unter dem Lemma Geschmack lesen: sant ist der Hinweis, dass mit dieser neuen Ordnung das Auge „zur letzten Instanz des subtilsten Geschmacks, zum sensiblen Werkzeug für das Maß und die morphologische Bewertung“ reüssiert (ebd.: 13); vgl. diesbezüglich die folgende Passage zu Roth (s.u.).

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BILDUNG UND ERZIEHUNG

„Das wort hat zwei ganz verschiedene bedeutungen, die doch sachlich nahe verwandt sind und jede selbst wieder in zwei seiten entwickelt: der geschmack der nase und der geschmack des mundes (subjectiv und objectiv). [...] 3) innerlich, übertragen vom körperlichen geschmack auf den geschmack der seele. [...] 4) in anwendung auf das schöne, der geschmack oder vollständig der gute geschmack. um 1700 übertragen aus dem franz. bon goût (das seinerseits wahrscheinlich dem spanischen buen gusto entnommen ist). a) in ursprünglicher bedeutung, die vom zeitalter Ludwigs XIV. ausgehende und den Franzosen nachgeahmte geistes- und geschmacksrichtung in kunst und poesie. [...] z) die art, wie man fühlt und denkt, die denk- und anschauungsweise [...].“7

Meine These lautet daher: Der Geschmack ist deshalb zu einem universellen ästhetischen und kulturellen Generator geworden, weil er als der Schnittpunkt von individueller Leiblichkeit und sozialer bzw. kultureller Allgemeingültigkeit gelten kann. Die kulturellen und sozialen Anforderungen schreiben sich gleichsam in die Intimität des Körpers ein und umgekehrt finden die individuellen körperlichen Präferenzen in kulturellen Symboliken und Praktiken ihren Ausdruck.8 Im Geschmack verständigt man sich zugleich über soziale wie individuelle Werte und Bedeutungen, über Sinnlichkeiten und Ästhetik, über Natürliches und Kulturelles. Geschmack ist die leiblich-kulturelle Schlüsselstelle für Differenz und Identität. Mit ihm lässt sich festhalten, wer man ist – indem man z.B. danach sieht, was und wie man isst – und inwiefern man sich von anderen – und deren Nahrungsmitteln und Essverhalten – unterscheidet. Der Geschmack spürt das Gleiche im Gleichen auf und er identifiziert das Ungleiche im (vermeintlich) Glei7

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In der Sozioanalyse von Pierre Bourdieu (1982) werden drei Geschmackshaltungen differenziert: 1. Notwendigkeitsgeschmack; 2. ambitionierter Geschmack und 3. Luxusgeschmack: „conspicuous consumption“. Guter Geschmack bedeutet dementsprechend Kompetenz im Umgang mit eigenen und fremden Unterschieden; schlechter Geschmack kann dementsprechend mehrfaches bedeuten: 1. Ich kann nicht differenzieren. 2. Ich lasse nur meine Differenzierungen gelten. Oder aber: 3. Ich übertrage unzulässigerweise Unterscheidungen von einem Gebiet auf das andere. Als Gründe für das lust- und genussvolle Erleben des Essens können gelten: die Befriedigung elementarer Bedürfnisse, die besondere Qualität der sinnlichen Empfindungen, der starke Bezug zur Körperlichkeit und Subjektivität oder auch Assimilations- und Verschmelzungswünsche.

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chen.9 Er generiert Echtheit und Wirklichkeit; er drückt sich elementar in der Gegenwart aus, verweist über seine Erinnerungsträchtigkeit auf Vergangenheit und entwirft über die mit einer leiblichen Gebundenheit versehene Kontinuität Zukunft. Daher sind die Kehrseiten des Geschmacks – etwa Ekelerfahrungen – für die Menschen so belangvoll, denn diese Erfahrungen stellen die Welt und das Selbst gleichermaßen in Frage. Nicht umsonst werden sie häufig als „geschmacklos“ erlebt (Zirfas 2004).

2. Essen als Gemeinschaftsritual Peter Høeg schreibt: „Wir essen schweigend. Wenn ich mit Fremden esse – so wie jetzt– oder großen Hunger habe – so wie jetzt –, kommt mir immer die rituelle Bedeutung der Mahlzeit in den Sinn. Dann erinnere ich mich an meine Kindheit, an das Verschmelzen des feierlichen Beisammenseins mit großen Geschmackserlebnissen. Den rosafarbenen, leicht schäumenden Walspeck, der aus einer Gemeinschaftsschüssel gegessen wurde. Das Gefühl, daß im großen und ganzen alles im Leben zum Teilen da ist“ (Høeg 1997: 107).10

Warum essen wir gemeinsam? Für diese Frage gibt es eine Reihe von Erklärungen: Die Evolutionstheorie legt nahe, das gemeinsame Mahl als eine Institution in der Frühzeit der Menschheit zu verstehen, die aufgrund der Arbeitsteilung und der Unzuverlässigkeit der Nahrungsmittel bedeutsam erschien; weil nicht immer alle jagen konnten und auch nicht immer alle etwas von der Jagd mit nach Hause brachten, sollte, um den Bestand der Gruppe nicht zu gefährden, das gemeinsame Mahl das Überleben aller gewährleisten. Eine kulturelle Lesart versteht das gemeinsame Essen als Überwindung des Naturalismus, d.h. als einen Ort der Enkultura9

„Ritter-Sport ist deswegen als Schokoladenfirma so erfolgreich, weil sie es uns mit der Hilfe ihrer Serie von Mini-Schokoladentäfelchen möglich macht, eine große Palette des Unterscheidens von Geschmäckern des Schokolade-Essens in relativ kurzer Zeit nacheinander zu realisieren“ (Brock 2005: 203). 10 Zur Bedeutung des Teilens als symbolische Handlung der Markierung von Zusammengehörigkeit und Differenzierung vgl. Baudy 1983, Rancière 1994.

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tion, an dem das natürliche Essen in ein kulturelles Setting von Nahrungsmitteln, Techniken, Zeit- und Raumstrukturen sowie Bewertungen und Symboliken integriert wird. Die Mahlzeit erscheint als das Urmodell von Kultur. Deshalb isst man auch so gerne am Küchentisch. Im ethnologischen Blickwinkel ist nämlich die Küche der Ort der Kultur, der Frau und auch des Lebens. Die Küche stellt die Vermittlung von Natur und Kultur (Lévi-Strauss) oder die Verschiebung von einer „culture of performance“ zu einer „culture of meaning“ (Gumbrecht) dar. Sie ist gleichsam ein Transformationsraum zwischen den Körpern und dem Universum, in dem die soziale und kulturelle Sprache einverleibt wird, in dem die Gesellschaft unbewusst ihre eigene Struktur zum Ausdruck bringt. Wo das Rohe in das Gekochte übergeht, hat die Zivilisation über die Natur gesiegt. Eine soziologische Interpretation des gemeinsamen Essens hebt vor allem auf die Tischgemeinschaft als Ort der – entweder hierarchisch oder auch wechselseitig strukturierten – sozialen Ordnung und Kontrolle ab. In einem pädagogischen Zugang schließlich wird das gemeinsame Essen zu einem Erziehungs- und Bildungsmedium, bei dem im Rahmen eines inter- wie intragenerationalen Zusammenhangs zentrale Habitualisierungsleistungen in kognitiver wie in leiblicher Hinsicht erzielt werden können (vgl. Audehm 2007). Essen wird in diesen Perspektiven vor allem als gemeinsame Angelegenheit betrachtet; und das individuelle Essen von FastFood wird oftmals deshalb nicht als Mahlzeit verstanden, weil ihm der soziale Charakter fehlt.11 Das Essen wird dazu genutzt,

11 Zu den Verfechtern einer kommunitären Imbisskultur zählt dagegen u.a. Heinrich Böll, der Trinkhallen, Würstchenbuden und Kioske als „neue Orte der Menschlichkeit“ bezeichnet; die modernen Kettenrestaurants fördern dagegen eher die Isolation und Anonymität.– Für den Wandel zur Imbisskultur in Deutschland macht man die Soldaten in den britischen und amerikanisch besetzten Zonen verantwortlich, die daran gewöhnt waren, im Gehen zu essen. In den 1960er Jahren setzte sich der Imbiss dann durch; die erste Filiale von MacDonalds eröffnete 1971. Mitte 1990 gab es 15.200 McDonalds-Filialen in ca. 80 Ländern mit 28 Millionen Gästen, die für 26 Milliarden Dollar Umsatz sorgten: Geschmacksverirrte oder Sinnsucher? „Der Hamburger ist eben mehr als ein Stück Hackbraten: Er ist ein sinnlich-übersinnliches Ding. Das Moment des Über-

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um soziale Zugehörigkeiten und Gemeinsamkeiten herzustellen, wie bei religiösen Mahlzeiten, nach Friedens- und Vertragsverhandlungen, festlichen privaten Essen – oder eben auch und vor allem: in alltäglichen familiären Mahlzeiten. Insofern ist das Essen auf einer (religiös-)symbolischen Ebene ein Versprechen des Sozialen, ein Ort der Kommunion, in dem der Empfang des Mahls zugleich die Öffnung zur Gemeinschaft bedeutet (vgl. Barlösisus 1999: 165ff.).12 Das gemeinsame Essen als gemeinsames Essenteilen verbindet, insofern gilt gegen Brecht: Beim Essen und Trinken kommt erst die Moral – und dann das Fressen. Und so können wir bei Susanne Langer (1984: 158) lesen, dass „die überzeugendste symbolische Geste“ die des Essens sei. Der Essenstisch ist ein symbolischer Ort des Übergangs, der die vereinzelten Mitglieder z.B. einer Familie zum gemeinschaftlichen Handeln versammelt. Das Essen ist das Symbolische schlechthin, insofern die Realisierung des Symbolischen daran gebunden ist, das etwas an einem anderen wieder entdeckt wird; das griechische symbolon bezeichnet die auseinander gebrochene Tonscherbe, und gilt seitdem als Zeichen für das Zusammenbringen, das Zeichen und Bezeichnetes trennt, um es später wieder zu vereinigen. Das gemeinsame Mahl hat enorme symbolische und rituelle Bedeutung schon dadurch, als es nicht nur den Zeitpunkt der Mahlzeit innerhalb des Tagesablaufes festlegt, sondern auch die Dauer der Mahlzeiten festlegt sowie den Rhythmus des Tages vorgibt. Denn das Wort „Mahl“ wird etymologisch in einen Zusammenhang mit „Mal“: mit „Zeitpunkt“, „festgesetzte Zeit“ gebracht. Und welche Macht wäre wohl größer als die über die Zeit des Menschen? Das Essensritual verweist darauf, dass man als sinnlichen macht gerade seine Geschmacklosigkeit aus“ (Christoph Wagner, zit.n. Jütte 2005: 54). 12 So gesehen besteht werktags durchaus Anlass zur Sorge in Deutschland: Lediglich in fünf Prozent aller deutschen Haushalte essen Familien drei Mahlzeiten zusammen; zwei Drittel der Familien finden sich überhaupt nicht oder lediglich einmal am Tag zu einer gemeinsamen Mahlzeit ein. Bei einem Fünftel kommt es werktags zu überhaupt keiner Mahlzeit. Die Familiengemeinschaft existiert vor allem am Wochenende: Vier Fünftel aller Familien sitzen am Wochenende bei drei Mahlzeiten fast vollständig am Tisch. Und: zwischen 80 und 90 Prozent der Kinder schätzen den Familientisch als einen Ort der Kommunikation, Gemütlichkeit und Entlastung von Sorgen (Furtmayr-Schuh 1996: 39).

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Gemeinschaft nur dann existieren kann, wenn man sich zeitliche und räumliche Grenzen setzt, die für alle Gültigkeit besitzen. Dass diese Grenzen nicht permanent zur Disposition gestellt werden dürfen, um dem Einzelnen den moralischen, sozialen, kommunikativen Sinnhorizont einer Gemeinschaft deutlich zu machen, erscheint einsichtig; die Gemeinschaft würde auseinander fallen, käme jeder zu einer anderen Zeit zum Tisch. Gemeinschaften bleiben solche, so die hier implizite These, wenn sie ihre eigenen Ursprünge und Grenzen vergessen. Und sie leisten dieses Vergessen, so der zweite Schritt, durch rituelles Verhalten. Denn dieses sorgt dafür, dass man nicht ständig diskutieren muss. So heißt es in der Regel kurz und knapp: „Sei bitte pünktlich zum Essen!“ Dass am Essenstisch das Soziale seinen Sieg über das Individuelle davonträgt, hat vor allem Georg Simmel herausgearbeitet. Simmel geht dabei von einem Paradox aus: Was ich esse, schmeckt nur mir alleine, da es von keinem anderen gegessen werden kann. Doch wenn alle gemeinsam essen und das darüber hinaus häufig tun, kann die „exklusive Selbstsucht des Essens“ eine Form der Vergemeinschaftung erreichen, die selbst „durch höher gelegene und geistige Veranlassungen“ kaum jemals erzielt wird, so Georg Simmel (1957: 244). Die mit dem Essen vor allem verbundenen sinnlichen Wahrnehmungen sind, im Gegensatz zu Hören, Sehen (und Tasten), eher unsozial, weil die mit ihnen verbundenen Gefühle und Affekte im individuellen Esser selbst verhaftet verbleiben. Doch kann dieser kulinarische Egoismus durch die Kultivierungsleistungen und Sozialisierungsprozesse von gemeinsamen Mahlzeiten aufgehoben werden, die wiederum leibliche Effekte, „stoffliche Interessen“ zeitigen. Simmel versteht die Mahlzeit vor allem als soziale Ästhetisierung organischer Bedürfnisse, die das Individuum mit der Gesellschaft verbindet. Dazu rechnet er die Regelmäßigkeit einer gemeinsamen Mahlzeit, den geregelten Handlungsablauf beim Essen, die Hierarchie bei den Mahlzeiten: die Suppe wird zuerst gegessen etc., das Essen von abgeschlossenen, individuellen Tellern, das durch das Essen von gleichem Geschirr in einer höheren formalen Gemeinsamkeit aufgehoben wird, die ästhetische Gestaltung und Präsentation von Speisen, Esstischen und Esszimmern und schließlich die Normierung von Essgebärden:

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„Die Essgebärden des Ungebildeten sind hart und ungelenk, aber ohne überpersönliche Reguliertheit; die des Gebildeten besitzen diese Regulative, indem sie beweglich und frei wirken – wie ein Symbol davon, dass die soziale Normierung ihr eigentliches Leben erst an der Freiheit des Individuums gewinnt, die sich auf diese Weise als das Widerspiel des naturalistischen Individualismus zeigt“ (ebd.: 246f.)

Noch in Unkenntnis der modernen performativen Künste fasst er zusammen: „Während die Schönheit des Kunstwerkes ihr Wesen in der Unberührtheit hat, die uns in Distanz hält, ist es das Raffinement der Tafel, dass ihre Schönheit doch einladend sei, in sie einzubrechen“ (ebd.: 248). Das gemeinschaftliche Essen wäre unter dem physiologischen Aspekt der Nahrungsaufnahme somit nicht als natürlicher Ausdruck der sozialen Verfasstheit des Menschen zu interpretieren, sondern als ein ritualisierter Versuch der Gemeinschaft, die unverfügbaren Grenzen der Gemeinschaft zu definieren und aufrechtzuerhalten. Das gemeinschaftliche Essen wäre so die symbolische Geste par excellence, weil es dem Einzelnen die Gemeinschaft dort noch deutlich macht, wo er den größten Abstand zu ihr hat. Der (Essens-)Geschmack sichert die leibliche und soziale Zugehörigkeit und Einbindung in Gemeinschaften und Kulturen. Daher tendieren Mahlzeiten oftmals zu Veranstaltungen einer geschlossenen Gesellschaft und daher werden Fremde auffällig häufig mit unterschiedlichen Gerichten in Verbindung gebracht – so werden Deutsche etwa als „Krauts“ oder Italiener als „Spaghettiesser“ bezeichnet. Beim Essen und Trinken können Menschen lernen und erfahren, dass das Individuelle mit dem Allgemeinen konvergieren kann. Das gemeinsame Essen arbeitet mithin an dem Paradox, das Nichtvermittelbare zu vermitteln – die Unhintergehbarkeit des physiologisch Individuellen im sozialen Allgemeinen aufzuheben.

3. Erziehung und Bildung bei Tisch Gelegentlich bedient sich auch die Pädagogik einer kulinarischen Metaphorik, wenn es etwa heißt, dass man Kinder nicht „überfüttern“ solle, wenn man ihr wiederholendes Üben mit „Wiederkäuen“ vergleicht, wenn man sie auffordert, ein Ergebnis „auszuspucken“, oder wenn man feststellt, dass sie das vorgegebene Pensum

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an Lehrstoff wohl noch nicht „verdaut“ hätten. Der Pädagoge sieht sich in diesen Zusammenhängen gerne als ein Kochkünstler, der den Eleven geistige Nahrung verabreicht, die diesen auch noch schmecken soll. Und obwohl sich dieser Sprachgebrauch nicht allgemein bildend ausgewirkt hat, hat er doch beim Essen am Tisch seine Relevanz. Der Geschmack bietet einen sehr direkten Überblick und eine Orientierung in unübersichtlichen Lebenswelten: daher ist er auch mit einem (heimlichen) Lehrplan der Kontrolle, Disziplin und Sanktionen verknüpft (vgl. Pazzini 1994). Wenn daher der Geschmack diese enorme Bedeutung für die Einzelnen wie die Gesellschaft hat, so sind wohl auch die Moral und die Pädagogik nicht weit entfernt. Gerade am Essenstisch werden die wichtigsten kulturellen und ästhetischen Codierungen, nämlich die der Hierarchie und der diversen Funktionen der verschiedenen Sinne bei der Konstruktion von Selbst und Welt pädagogisch geformt. Hier wird der Geschmack als Medium der Weltwahrnehmung und Weltbeurteilung ausdifferenziert; hier wird der Geschmack durch die Art und Weise der pädagogischen Ritualisierung zu einer spezifischen Form der Orientierung und Beurteilung der Welt ausgebildet und hier wird schließlich der Geschmack als spezifische Kombination von Materialität, Symbolizität und Kommunikativität entwickelt. Wir brauchen uns hier nur an die Essregeln und die Esstabus zu erinnern. Essregeln sind leibliche Regeln, sie sind emotional hoch besetzt und drücken eine kollektive Moral aus, die vor allem Bewusstsein herrscht: „Man isst nicht vom Teller des anderen!“, „Nimm das Messer nicht in die linke Hand!“, „Halte dich gerade!“. Wer würde bestreiten, Moral und Geschmack nicht auch bei Tische gelernt zu haben. Die These, die hier also vertreten wird, lautet völlig unkulinarisch: Das Essen ist die pädagogische Veranstaltung der gemeinsamen Selbstbeherrschung. Moral, Askese, Diät, Hygiene und Ökonomie gehen hier mit einer Moral der Ordnung, des Fleißes und der Sparsamkeit, mit Geschmack und Ästhetik, kurz: mit der rationalen Selbstbeherrschung Hand in Hand – mag diese auch gelegentlich durch das genuß- und lustvolle Essen – etwa im Bürgertum – unterbrochen werden. Dabei sind für die abendländische Einschätzung des Essens zwei Momente entscheidend (vgl. Lemke 2008): Die patriarchalische Botschaft, dass Frauen in die Küche gehören und dass weib30

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liche Küchenarbeit etwas Minderwertiges sei und die rationalistische Botschaft, dass die Gaumenfreuden den Menschen versklaven, ihm seine eigentliche Freiheit rauben. Dabei werde ich im Folgenden nicht auf die patriarchalische, sondern auf die rationalistische Botschaft eingehen. Im Mittelpunkt der pädagogischen Diskussionen steht hier zunächst und zumeist die Frage nach der Tugend der Mäßigung, die hier zwischen Askese und Körperbeherrschung auf der einen und der Völlerei und der Herrschaft des Körpers auf der anderen Seite vermitteln soll (Kleinspehn 1987). Vor dem Hintergrund der abendländischen Trennung des Menschen in ein Geist- und ein Körperwesen vermuten nicht nur die Pädagogen, dass die größte Gefahr für die moralische Haftbarkeit der Menschen neben der triebhaften Kraft der Sexualität von den Lüsten des Essens und Trinkens ausgeht. In den diätetischen Vorschlägen der Pädagogen geht es daher meistens um die Verlängerung, nicht um den Genuss des Lebens: Sustine et abstine, ertragen und enthaltsam sein, so wussten schon die Stoiker, bestimmen eine Lebensweise, in der die Macht der Vernunft über die des Leibes triumphiert. Auch für die Nobilitierung der Rationalität beim Essen gibt es ein schönes literarisch-kulinarisches Beispiel, in dem vor allem die sinnliche Sublimierung des Essens durch das Auge als Rationalisierungsstrategie verständlich gemacht wird – ohne dass hier einer anorektischen Pädagogik das Wort geredet würde. „Nach der Suppe trug man den garnierten Tafelspitz auf, das Sonntagsgericht seit unzähligen Jahren. Die wohlgefällige Betrachtung, die er dieser Speise widmete, nahm längere Zeit in Anspruch als die halbe Mahlzeit. Das Auge des Bezirkshauptmanns liebkoste zuerst den zarten Speckrand, der das kolossale Stück Fleisch umsäumte, dann die einzelnen Tellerchen, auf denen die Gemüse gebettet waren, die violett schimmernden Rüben, den sattgrünen, ernsten Spinat, den fröhlichen, hellen Salat, das tadellose Oval der jungen Kartoffeln, die in schmelzender Butter schwammen und an zierliche Spielzeuge erinnerten. Er unterhielt merkwürdige Beziehungen zum Essen. Es war, als äße er die wichtigsten Stücke mit den Augen, sein Schönheitssinn verzehrte vor allem den Gehalt der Speisen, gewissermaßen ihr Seelisches; der schale Rest, der dann in Mund und Gaumen gelangte, war langweilig und musste unverzüglich verschlungen werden. Die schöne Ansicht der Speisen bereitete dem Alten ebensoviel Vergnügen wie ihre einfache Beschaffenheit. Denn er hielt auf ein sogenanntes ,bürgerliches‘ Essen:

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ein Tribut, den er seinem Geschmack ebenso wie seiner Gesinnung zollte; diese nannte er eine spartanische. Mit einem glücklichen Geschick vereinigte er also die Sättigung seiner Lust mit den Forderungen der Pflicht. Er war ein Spartaner. Aber er war ein Österreicher“ (Roth 2006: 33f.).

Das Beispiel verdeutlicht nicht nur, dass der Geschmack nicht nur ästhetisch, sondern immer auch moralisch ist, dass also die Art und Weise, wie man isst, immer auch eine ethische Relevanz besitzt. Lemke (2008: 218) formuliert hier kategorisch: „Das Essen ist moralisch, ob’s einem schmeckt oder nicht.“ Mit jedem Ma(h)l, stehen also nicht nur ästhetische, sondern auch moralische, politische, ökonomische, ökologische und soziale Fragen auf dem Speiseplan. Am Tisch nehmen wir leiblich Stellung zu zentralen Fragen des alltäglichen Lebens, weil wir buchstäblich die Welt auf dem Tisch haben. Geschmack ist ein Eintopf aus unterschiedlichen Ingredienzien von Selbst- und Weltbezügen, von ästhetischen und ethischen, von politischen und sozialen, von natürlichen und kulturellen, von geschlechtlichen und pädagogischen und nicht zuletzt auch von chemischen Zutaten. Natürlich geht der Geschmack nicht nur in den traditionellen Unterscheidungen von genießbar und ungenießbar, wohlschmeckend und Ekel erregend, oder noch anders: in süß, sauer, salzig, bitter oder unami (würzig) auf. Es gibt endlos viele Geschmackserfahrungen, die nicht auf einfache molekulare Strukturen und Gebilde zurückgeführt werden können. Dabei erscheint der essende „mündige“ Mensch heute mehr denn je als ein „ent-mündigter“, werden ihm doch Nahrungsmenge, Essenszeiten, Geschmacksrichtungen und Lebensmittelzusammensetzungen durch die Essensmoral von Pädagogen und Medizinern, Diätpropheten und Fitnessmissionaren vorgeschrieben. Zuwiderhandlungen werden dagegen mit entsagungsvoller Therapie und schlechtem Gewissen sowie mit sozialer Missachtung angesichts einer überbordenden Körperlichkeit bestraft. In jüngster Zeit hat man daher in den Kontexten der Lebenskunstdebatte und der Gesundheitsdiskussion eine Erziehung bzw. eine Bildung des Genusses gefordert. Essen, Trinken und Genießen soll vom Säuglingsalter an bewusst erlernt und trainiert werden. Eine Bildung des Genusses fördere zum einen die Wahrnehmungs-, Urteils- und Gestaltungsfähigkeit eines schönen Lebens und zum anderen erhöhe es die Chancen einer gesunden Lebens-

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führung, gilt doch Genussfähigkeit als Ressource für Lebensfreude und körperliche wie seelische Gesundheit. Genuss- und Geschmackserleben werden in Verbindung gebracht mit: „Ausgeglichenheit und Stressabbau, dem Wahrnehmen körperlicher Entkrampfung und Stabilisierung, der Regeneration der persönlichen Belastbarkeit, der Erhöhung der sinnlichen Wahrnehmungsschärfe, positiver Stimulierung der Lebensgrundstimmung und der Steigerung des Erlebens körperlicher Attraktivität“ (Bergler 2005: 91).

Dabei wird im Kontext dieser Debatten nicht nur der Geschmack, sondern vor allem der Genuss diskutiert. Der Genuss ist ein verzögertes Geschmackserlebnis, das etwas Gegessenes oder Getrunkenes auskostet. Im Genuss hat der Geschmack Zeit, seine Qualitäten hinsichtlich von Anziehung und Abstoßung zu entfalten; der Genuss gibt den Speisen und Getränken die Gegenwart, Geschmackserlebnisse sinnlich-intensiv zur Kenntnis zu nehmen, seine Geschmackslust auszukosten. So genannte Genießer, Menschen mit ausgeprägter Genussfähigkeit, ziehen positive Bilanzen aus ihrem Genusserleben, ihrem Genussstil und ihren Genusserfahrungen; für Nichtgenießer bedeutet Genießen ein Stresserlebnis, das mit Gesundheitsbeeinträchtigungen auf psychischer und physischer Ebene einhergeht.13 Vor allem sind beim Aufbau von Genussfähigkeit – einmal mehr – die Mütter gefragt: Je besser der Geschmack der Mutter, desto besser die geschmackliche Vorbildung der Kinder (wahrscheinlich bestimmen schon vorgeburtliche Geschmackserfahrungen spätere Geschmacksvorlieben). Es gilt, der „geschmacklichen Klonung“, der Nivellierung und Uniformierung des Geschmacks, durch multilaterale Ernährungskonzerne etwas Zureichendes entgegen zu setzen. Denn mittlerweile weiß man, dass Menschen nicht erst etwas mögen und dann essen, sondern dass sie etwas mögen, weil sie es gegessen haben. Der Geschmack an Fett und Zucker sowie die Fixierung auf amerikanischem Baby-Niveau mit konsumfreudigem mouthfeeling soll einem kritischen Geschmack weichen, der sich wesentlich einem spielerischen, differenzieren13 Die meisten Genussfähigen soll man in Deutschland im Süden antreffen, in: Rheinland Pfalz, Hessen, Saarland, Baden-Württemberg, Bayern; zur „Hierarchie der Genüsse“: 1. Urlaub, 2. Familie, 3. Sex/ Liebe, 4. Essen – ab dem 33 Lebensalter tauschen 3. und 4.

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den und kritischen Umgang mit den Lebensmitteln verdankt. Der drohende Geschmacks- und Wirklichkeitsverlust durch industriell manipulierte Ernährungsprodukte (z.Zt. 18 künstliche Aromastoffe) soll gebremst werden durch den Verzehr von artgerechten, natürlich erzeugten Lebensmitteln. Denn beim heutigen Lebensmittelangebot kommt es, häufig nicht mehr auf den Geschmack, sondern auf hygienische, ernährungsphysiologische oder ökologische Qualitäten an. Und beim Einkauf werden weniger die Lebensmittel, denn ihre Verpackungen wahrgenommen, die uns mit ihren Farben, Formen und Symboliken Lustgewinn und Lebensqualität versprechen. Seit den fünfziger Jahren ist im Übrigen festzustellen, dass die Werbung für Nahrungsmittel immer stärker darauf abhebt, dass diese schmackhaft seien oder den Geschmack verfeinerten. Weltweit kommen pro Jahr mehr als zehntausend neue Produkte auf den Markt, von denen die meisten zum sog. Convenience food gehören. In Deutschland hat sich der Verbrauch tiefgekühlter Fertigprodukte innerhalb weniger Jahre verdoppelt; die Deutschen kaufen derzeit ca. 20 Kilogramm Gefrorenes jährlich. Diese Entwicklung kommt einer „kulinarischen Entmündigung“ (Lemke 2007: 136) gleich, die sich in der nahen Zukunft eines molekulargastronomisch und nutrigenomischen Schlaraffenlandes von Functional Food, Food Design, Nutriceuticals und Nano Food durch die Standardisierung des Essens und des Geschmacks wohl noch zu verschärfen droht. Auch für die Essthetik braucht es Wissen, eine kulinarische Alphabetisierung von gastrosophischen Kenntnissen und Informationen, eine kulinarische Performierung von gastrosophischen Praktiken und eine kulinarische Sensibilisierung für einen guten Geschmack. Geschmackswahrnehmungen sind komplexe Erkenntnis- und Identifizierungsprozesse: Der Geschmack ist „als Sinnestätigkeit der Geschmack des jeweils Wahrgenommenen, sofern der Wahrnehmende einen Sinn dafür hat, ein Verstehen, Wissen, Kenntnisse davon hat“ (ebd.: 169). D.h. der Geschmack lässt sich als ein Erkenntnisvermögen, als Sachkenntnis und Urteilskraft, verstehen, die Nahrungsmittel, Gerichte und Präsentationsund Essensformen umfasst, als ein Wissen von Herkunft, Herstellung, Zubereitung von Speisen und ein diesbezügliches Können und Wählen, das schon beim Einkauf beginnt. Dieses Wissen und

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Können umfasst ebenso die „Realität“ von Lebensmitteln, als auch ihre symbolischen und imaginären Bedeutungen. Ziel einer essthetischen Bildung ist die Verfeinerung und Differenzierung eines praxis- und erfahrungsgesättigten, eben eines geschmackvollen Wissens. Ansatzpunkt einer gastrosophischen Pädagogik ist die kulinarische Entmündigung, die durch Food Designer, Geschmacksmanipulatoren, Aromaexperten, Diätfuturisten und Molekularingenieure betrieben wird. Nicht mehr die resignative Haltung eines Nichtwissenwollens über Herkunft und Hersteller, Entwicklungen und Effekte von Nahrungsmitteln und Zubereitungsformen steht hier im Mittelpunkt, sondern die Wahl eines selbstbestimmten essthetischen Lebens. Essen ist, wenn es denn gelingt, Lebenskunst. Ästhetische Bildung muss daher auch essthetische Bildung umfassen, Geschmacksunterricht für alle Altersklassen zur Selbstverständlichkeit werden. Nur der Auf- und Ausbau kulinarischer Intelligenz und Kompetenz kann der gastrosophischen Selbstentfremdung entgegenwirken und die Lust an kulinarischer Kreativität wecken, die Voraussetzung für ein gelingendes gastrosophisches Leben ist. Wird eines nicht allzu fernen Tages das Recht auf gesunde Lebensmittel und richtigen Geschmack zu einem Menschenrecht? Dann würde wohl auch der ästhetische Schulkanon erweitert werden müssen, und neben dem augenorientieren Kunstunterricht und den ohrenorientierten Musikunterricht, käme der gustatorische Geschmacksunterricht zum flächendeckenden Einsatz: Genuss- und Geschmackstraining in der Schule.

4. Kritik des Schmeckens oder Immanuel Kants Geschmack am Gespräch Immanuel Kant schreibt: „Das Wohlleben (...) ist eine gute Mahlzeit in guter (und wenn es sein kann auch abwechselnder) Gesellschaft; von der Chesterfield sagt, dass sie nicht unter der Zahl der Grazien und nicht über die der Musen sein müsse. Wenn ich eine Tischgesellschaft aus lauter Männern von Geschmack (ästhetisch vereinigt) nehme, so wie sie nicht bloß gemeinschaftlich eine Mahlzeit, sondern einander selbst zu genießen die Absicht haben (...): so muss diese kleine Tischgesellschaft nicht sowohl die leibliche Befriedigung – die ein jeder für sich alleine haben kann –, sondern das gesellige Vergnügen, wozu jene nur das Vehikel zu sein schei-

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nen muß, zur Absicht haben: wo dann jene Zahl eben hinreichend ist, um die Unterredung nicht stocken, oder auch in abgesonderten kleinen Gesellschaften mit dem nächsten Beisitzer sich teilen zu lassen, befürchtet werden muss“ (Kant 1984: 617f.).

In der eingangs angesprochenen Zeit der Aufklärung wurde nicht nur das Theater nobilitiert, der Übergang vom Schmecken zum Geschmack vollzogen und die Ästhetik in den Bedeutungshorizont philosophischer und kultureller Überlegungen gerückt, sondern auch ein Modell der Tischgemeinschaft formuliert, das wie kein anderes, Ästhetik und Moral, Geschmack und Pflicht kritisch miteinander in Beziehung setzt. Dieses Modell finden wir in Kants „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht abgefasst“ von 1802. Statt nur gemeinsam zu philosophieren, soll man nach Kant gemeinsam essen und trinken. Und Kant empfahl ebenso ein gemeinsames Mahl mit dem Ziel, Menschen über das Gespräch hinaus durch Schönheit, Leiblichkeit und „Munterkeit“ zu verbinden; in diesem Sinne ist das einsame Essen für einen philosophierenden Gelehrten „ungesund“. Beim Essen und Trinken geht es weniger ums Schmecken, denn um eine gemeinsame Geschmacksbeurteilung, um eine wechselseitige Kultivierung eines allgemeinen Sinnes für einen guten und schönen Geschmack. „Es ist keine Lage, wo Sinnlichkeit und Verstand, in einem Genusse vereinigt, so lange fortgesetzt und so oft mit Wohlgefallen wiederholt werden können, – als eine gute Mahlzeit in guter Gesellschaft“ (ebd.: 567f.). Der Geschmack selbst eines bescheidenen Mahls lässt sich somit zum Geschmack an der Wahrheit sublimieren, und die Lust an Essen und Trinken wird durch die Lust am esprit einer räsonierenden Essgemeinschaft einer philosophischen Lebensweise gerecht, die sich nur in Ausnahmefällen eine geistige Diät verordnet. Auf der anderen Seite kommt derjenige, der sich in bescheidener Einsamkeit seinem Essen zuwendet, einem „Idioten“ gleich – ein Wort, das im Griechischen auf einen Menschen verweist, der, von der Gesamtheit der Bürger ausgeschlossen, nur Privatperson ist. Als ausgeschlossener Teil des Sozialen kann er keinen Anteil an der Vernunft haben, die sich ausschließlich in der sprechenden und essenden Öffentlichkeit erzeugt. Die Parodie auf diesen Zusammenhang gibt Luis Buñuels Film „Das Gespenst der Freiheit“ (1974): Während eine Gruppe von Menschen sich auf Kloschüs-

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seln Zeitung lesend um einen Tisch versammelt, verspeist in einem einsamen verriegelten Kabuff ein Mann seine Mahlzeit. Aber warum ist das einsame Mahl für den Philosophen ungesund (ebd.: 619)? Und warum rückt Kant im Paragraphen 59, der vom „höchsten moralisch-physischen Gut“ handelt, die gemeinsame Mahlzeit in den Mittelpunkt der Betrachtung? Zunächst muss diese Platzierung erstaunen, denn die beim Essen vor allem angesprochenen Sinne des Riechens und Schmeckens hatte Kant vorab hart verurteilt: Sie sind für ihn „mehr subjektiv als objektiv“, sie machen den Menschen durch ihre Reizwirkung abhängig und sie sind außerdem weniger lehrhaft und belehrbar, weil die Menschen durch sie so stark affiziert werden (ebd.: 450). Dagegen werden die Fernsinne Sehen und Hören von Kant hoch geschätzt: Das Sehen, weil es den Menschen am wenigsten mit den Gegenständen in Berührung bringt – und insofern dem Freiheitscharakter des Menschen am nächsten kommt – gilt ihm als der edelste Sinn. Doch der wichtigste Sinn ist das Hören, weil sich mit ihm die Menschen „am leichtesten und vollständigsten mit andern in Gemeinschaft der Gedanken und Empfindungen bringen“ können, während der Taube selbst inmitten der Gesellschaft zur Einsamkeit verdammt ist (ebd.: 448, 455). Kant lehnt mithin den einfachen Sinnengeschmack, den kulinarischen Geschmack „der Zunge, des Schlundes und des Gaumens“ (ebd.: 451) zugunsten des komplexeren Reflexionsgeschmacks bzw. des ästhetisch-moralischen Geschmacks ab (vgl. Bourdieu 1982: 756ff.). Was den Menschen unmittelbar schmeckt, hat für Kant keinen Geschmack, denn dieser entwickelt sich aus der Differenzierung von Reiz und Schönheit oder Angenehmem und Genuss. Das vulgäre Schmecken und Riechen ist Kant zu tierisch-empirisch, da es den Menschen auf seine sinnliche Existenz erniedrigt. „Der Geschmack ist jederzeit noch barbarisch, wo er die Beimischung der Reize und Rührungen zum Wohlgefallen bedarf, ja wohl gar diese zum Maßstabe seines Beifalls macht“ (Kant 1981: 138). Anders formuliert: Das transzendentale Ich isst und trinkt nicht; und wenn schon das sinnliche Ich essen und trinken muss, so soll es dabei wenigstens öffentlich reden, damit das individuelle Schmecken zum ästhetisch-moralischen Geschmack sublimiert werden kann. Kant propagiert somit die Strategie einer dégustation, den Versuch, dem Materiellen ein Höchstmaß an Kulturellem, Moralischem und Ästhetischem abzugewinnen. Der 37

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Zweck des Essens ist dem Essen nicht immanent, sondern transzendent: Er liegt in der ästhetischen und moralischen Kommunikation.14 Während also das Angenehme auf eine gegenwärtige subjektive Befriedigung der Bedürfnisse zielt, ist das Schön-Moralische auf das Gemeinsame, d.h. bei Kant auf die gemeinsame (geschmackliche) Zukunft gerichtet (Kant 1983: 90). Jetzt wird auch deutlich, warum der Philosoph nicht alleine essen soll: Er verliert den Geschmack am Universellen, wenn er nicht mit anderen ins Gespräch kommt. „Der genießende Mensch, der im Denken während der einsamen Mahlzeit an sich selbst zehrt, verliert allmählich die Munterkeit, die er dagegen gewinnt, wenn ein Tischgenosse ihm durch seine abwechselnden Einfälle neuen Stoff zur Belebung darbietet; welchen er selbst nicht hat ausspüren dürfen“ (Kant 1984: 620).

Für Kant ist entscheidend, dass wir unseren individuellen (kulinarischen) Geschmack mit anderen teilen möchten. Dazu müssen wir in eine Diskussion mit anderen eintreten. So bildet sich der ästhetische Geschmack weniger beim Essen, denn beim Reden. Anders formuliert: Bei Kant führt die Konzentration der Kulinarik auf die Lust dazu, dass rein essthetische Urteile aus dem Bereich der Ästhetik ausgespart bleiben, da diese einer Erkenntnis des allgemeingültigen Geschmacks im Wege stehen.15 Dem vulgären Esser und Trinker ist das Mahl nur Mittel zum Zweck der Bedürfnisbefriedigung; dem geschmackvollen Esser und Trinker ist das Mahl Medium der Intellektualität und Moralität. Er verachtet das sinnliche Behagen und ekelt sich vor dem undistanzierten Genuss, weil er weiß, dass man sich mit der bloßen Einverleibung mit den Gegenständen gemein macht, und dass man im schwelgenden Essen und Trinken seine Freiheit riskiert. Wir halten, sagt Kant, diejenigen für „grob und unedel“, „die kein Gefühl für die schöne Natur haben (...) und sich bei der Mahlzeit oder der Bouteille am Genusse bloßer Sinnesempfindungen hal14 Zu den sozialen und pädagogischen Dimensionen des Tischgesprächs vgl. Keppler 1995. 15 Die Programmatik einer „Kritik der kulinarischen Vernunft“ mit ihren ästhetischen, analytischen, dialektischen und metakritischen Momenten liefert Röttgers 2008.

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ten“ (Kant 1981: 236). An anderer Stelle heißt es, dass „[...] die sogenannten festlichen Traktamente (Gelag und Abfütterung) ganz geschmacklos sind“ (Kant 1984: 618). Kurz: Mahlzeiten bergen die Gefahr der Entfremdung des Menschen von seiner eigentlichen, ästhetisch-moralischen Würde. Fleisch und Wein unterlaufen das Telos des Weltbürgertums. Tendenziell hat Essen für Kant etwas Bedrohliches, da das Gegessene in den Menschen eindringt und die chemische Wirkung des Gegessenen auf ihn einwirkt. Der Menschen setzt sich damit der Außenwelt und dem nicht ganz kontrollierbaren Anderen, horrible dictu, der Lust aus. Der geschmacklich-subjektiven Einverleibung, die von außen und nach innen verläuft, setzt Kant eine rhetorische Entäußerung entgegen, die von innen nach außen in die Öffentlichkeit zielt. Kant propagiert daher weder einen Heißhunger des Gaumens, noch einen des Auges, sondern einen Heißhunger des Sprechens. Das Mündliche betrifft bei ihm nicht das Speisen, sondern das Reden.16 Obwohl Kant um die Gemeinsamkeit von Essgewohnheiten und habituellen Geschmacksgewohnheiten weiß, mangelt ihm der kulinarische Geschmack zugleich an substantieller Intersubjektivität und Allgemeinheit wie an Vielfältigkeit und Differenz. Während im Sprechen miteinander die Vielfalt unterschiedlicher Meinungen wechselseitig beurteilt werden kann, lehnt sich der Schmecker zufrieden zurück. Das Angenehme und Behagliche hat für Kant immer einen bedrohlichen Unterton, denn mit ihm steht die Weiterentwicklung der gesamten Menschheit auf dem Spiel. Daher muss bei einer guten Mahlzeit auch auf Musik und Frauen verzichtet werden: Diese lassen kein vernünftiges Gespräch aufkommen. Kultivierung und Zivilisierung als Vorstufen zur Moralisierung der Menschen lassen sich nur durch einen Distanz- und Reflexionsgeschmack bewerkstelligen. Mit diesem ästhetisch-mora-

16 Mit Sigmund Freud kann man fragen, ob die ästhetischen Urteile nicht auf den oralen (essthetischen) Urteilen aufbauen. Denn: „Die Urteilsfunktion hat im wesentlichen zwei Entscheidungen zu treffen. Sie soll einem Ding eine Eigenschaft zu- oder absprechen, und sie soll einer Vorstellung die Existenz in der Realität zugestehen oder bestreiten. (...) In der Sprache der älteren, oralen Triebregungen ausgedrückt: das will ich essen oder will es ausspucken, und in weiterführender Übertragung: das will ich in mich einführen und das aus mir ausschließen“ (Freud 1982: 374).

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lischen Diskurs erhebt Kant, wie Bourdieu (1982: 766) formuliert das „Monopol auf Menschlichkeit“. Und dieses betrifft dann vor allem auch die Geschmacksurteile, von denen Kant behauptet, dass sie die Moralität befördern, vor allem dann, wenn es sich nicht nur um Urteile des Sinnengeschmacks, sondern des sogenannten Reflexionsgeschmacks handelt, der sich auf die Manieren (mores) bezieht. Schmecken negiert und transformiert den Einzelnen an das Gegessene; Übereinstimmung im Geschmack negiert und transzendiert den Einzelnen an die ästhetisch-moralische Vernunftgemeinschaft. Die gesitteten ästhetischen Manieren färben hier sozusagen auf die innere Moralität ab. Der vernünftige Geschmack skizziert somit die Grenzen der Urteilskraft einer vernünftigen Weltgemeinschaft der Esser und Trinker. Nach Immanuel Kant sollten Tischgespräche dem Schema Erzählen, Räsonieren und Scherzen folgen. Zunächst also Neuigkeiten des Tages, dann, nachdem der erste Appetit befriedigt ist und die Gesellschaft lebhafter wird, darf räsoniert werden. Eine lebhafte Diskussion sorgt dann auch für den „Appetit für Schüssel und Bouteille“, so dass gemeinschaftlich kontrovers debattiert und kräftig gespeist und getrunken wird. Nach diesen Anstrengungen und einer gewissen Mattigkeit angesichts des Genossenen verfällt man dann dem Witz, zum Teil auch, um den gelegentlich anwesenden Frauenzimmern zu gefallen, wobei es sich empfiehlt, sexuelle Anspielungen ohne allzu grobe Detaillierungen vorzunehmen: „und so endigt die Mahlzeit mit Lachen“ (Kant 1984: 621f.). Kant gibt dann auch einige, immer noch aktuelle Hinweise zur sprachlichen Gestaltung eines animierenden, geschmackvollen Gastmahls. Man soll erstens einen Stoff auswählen, der für alle interessant und unterhaltsam ist, ohne das er Anlass zu Kontroversen geben kann; soll zweitens keine tödliche Stille, sondern nur Pausen eintreten lassen und drittens nicht unnötig vom Thema abschweifen. Darüber hinaus verbietet sich jede Form von Rechthaberei und sollte es doch zu einem kleineren Disput kommen, so empfiehlt es sich fünftens, sein Temperament im Zaum zu halten, so dass „wechselseitige Achtung und Wohlwollen immer hervorleuchte“ (ebd.: 622). Das Sapere aude bekommt mit der „Anthropologie“ Kants einen anderen neuen Sinn: Nicht mehr nur: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!, sondern auch: Habe Mut, dich des gemeinsamen Geschmacks zu bedienen! Und auch eine ess40

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thetische Umformulierung der vier prominenten (anthropologischen) Fragen der „Logik“ von Kant (1982: 448): „Was kann ich wissen?, Was soll ich tun?, Was darf ich hoffen?, Was ist der Mensch?“ erscheint sinnvoll: Was kann ich einkaufen?, Was soll ich kochen?, Was darf ich essen?, Was spricht der Mensch beim Essen?

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Eckart Liebau

Benimmerziehung

Benimm-Diskurse – eine Vorbemerkung Im „manager magazin“ vom 17.5.2008 findet sich folgender Hinweis: „Menschen, die moderne Umgangsformen beherrschen, sind beruflich und privat im Vorteil. Fehlen dagegen gute Manieren, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie in das nächste Fettnäpfchen treten. Ermitteln Sie im Knigge Test, wie souverän Sie sich auf dem gesellschaftlichen Parkett bewegen.“

„Gutes Benehmen ist WIEDER gefragt“, stellt Ingrid Leifgen im Online-Familienhandbuch des Staatsinstituts für Frühpädagogik fest (Leifgen 2007). Folgende Eindrücke gibt sie wieder: „Abiturfeier […]: Jan nimmt Glückwünsche stolz entgegen, im schwarzen Anzug, weißen Hemd, Krawatte. Neben ihm steht stolz sein Vater – in schwarzen Jeans und rotem Polo-Shirt“ (ebd.). „Schüleraustausch. Luisa, 15, erzählt von ihrem Besuch in der rumänischen Partnerschule. ‚Rumänische Jungs‘, sagt sie, ‚benehmen sich viel besser als deutsche. […] Sie halten einem Mädchen auch schon mal die Tür auf oder helfen einem den Koffer zu tragen‘“ (ebd.).

Die heutige Elterngeneration reibe sich erstaunt die Augen: Anstand, Ordnung, Regeln, Sitte – klang das nicht nach autoritärer Unterdrückung? Und nun das – junge Leute, denen Höflichkeit und Anstand wichtig sei (vgl. ebd.)? Die Autorin findet sich da in guter Übereinstimmung mit dem Allgemeinen deutschen Tanzlehrerverband, der eine „Renaissance des guten Tons“ feststellt und im Ton der Zeit formuliert: „Gutes Benehmen ist cool“ (ADTV 2005): Mit einem Anti-Blamier-Programm bietet der ADTV das, was „die Kids suchen: Orientierung und Hilfestellung“ (ebd.). (Da geht es neben den Tischmanieren und

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einem email-Knigge in 12 Punkten übrigens auch um die Drogenprävention). In Bremen installierte Willi Lembke, damals Bildungssenator der Hansestadt, im Jahr 2003/04 an einem Schulzentrum für die fünften Klassen ein Unterrichtsfach „Umgangsformen, Benehmen, Verhalten“1. Dieser Versuch wurde allerdings nach kurzer Zeit wieder aufgegeben. Aussichtsreicher scheint da schon das Modell des Saarlands, das eine immerhin 80-seitige Broschüre zum Thema aufgelegt und allen Schulen zur Verfügung gestellt hat, die besonders auf die vierten und fünften Klassen zielt, und dann noch einmal auf die 8. bis 10. im Blick auf Bewerbung und Beruf. „Respect & Co“ heißt das Werk, das im Jahr 2005 erschienen ist (Ministerium für Bildung 2005). Der Minister betont in seiner Einleitung, dass „Anstand und Benehmen“ ebenso zu einer „guten Bildung“ gehören wie „Wissen und Können“ (ebd.). Fünf große Kapitel gibt es da, mit durchaus differenzierten und diskursiv orientierten Inhalten und Aufgabenvorschlägen zu den Themen „Miteinander reden“, „Miteinander umgehen“, „Mein und Dein“, „Verhalten in der Öffentlichkeit“ und schließlich „Übergang ins Berufsleben“. In Erlangen nun hat eine Arbeitsgruppe „Gemeinsame Verhaltensregeln an allen Erlanger Schulen“ erarbeitet, die im Frühjahr 2008 an alle Schulen verteilt worden sind. Diese sehen folgendermaßen aus (s. nächste Seite): Gegen die allgemeinen Ziele dieses Katalogs ist nichts einzuwenden: Wer wünschte sich nicht eine kinderfreundliche Schule mit ansprechendem und erfolgreichem Unterricht in angenehmer Lern- und Arbeitsatmosphäre mit leistungsfähigen, konzentrierten und vorbereiteten Schülerinnen und Schülern in gemeinsam gestalteten, sauberen und aufgeräumten Klassenzimmern? Wer wünschte sich nicht rücksichtsvolles Verhalten, angenehme Atmosphäre, Achtung der persönlichen Rechte und Würde sowie gegenseitigen Respekt? Und wer wünschte sich nicht gemeinsame Erziehungsziele von Eltern und Schule?

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Weiterführende Informationen unter: http://de.wikipedia.org/ wiki/Umgangsformen,_Benehmen,_Verhalten (Abruf 16.2.2010).

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Abb. 1: Gemeinsame Verhaltensregeln an allen Erlanger Schulen, 2008 Dass die Wirklichkeit diesen Idealen nicht entspricht, weiß man ja; sonst brauchte man solche Ideale nicht. Ob allerdings die konkretisierenden Regelkataloge geeignet sind, einen tragfähigen Weg zur Umsetzung der Ideale zu beschreiben, scheint eher zweifelhaft; es ist eine bunte, nach keinem erkennbaren Prinzip geordnete Mixtur aus nach wie vor allgemeingültigen gesellschaftlichen Benimmregeln („gegenseitiges Grüßen“), allgemeinen moralischen Prinzipien („gegenseitige Achtung und Toleranz“), Elementen der Schulordnung („keine gefährlichen Gegenstände“) und 47

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zahlreichen mehr oder minder frommen Wünschen – von „Ausgeruhtheit“ über „Pünktlichkeit“ und „Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Schule auf dem Schulweg und bei Schulveranstaltungen“ bis hin zur „Information der Eltern und Schüler über alles Wesentliche durch die Schule“ – und schließlich dem Wunsch, „dass die Eltern eine positive Einstellung zur Schule fördern und die Elternabende besuchen“. Man darf nicht allzu große Hoffnungen auf die segensreiche Wirkung solcher gemeinsamer Verhaltensregeln setzen – gute Schule baut auch im Bereich sozialen Lernens auf anderen Voraussetzungen auf. Woher stammt eigentlich der große und in regelmäßigen Abständen immer wieder belebte Glaube an Benimmregeln? Woher stammt die Hoffnung, auf diese Weise „Chaos“ in den Griff zu bekommen? In drei Schritten und einer kurzen Schlussbemerkung will ich mich dem Thema nähern. Zunächst geht es um das Wort und den Begriff des Benehmens; dann, zweitens, um Blicke auf die Kultur- und Sozialgeschichte und drittens wird die Theorieund Normengeschichte thematisiert. Der Aufsatz schließt mit einer kurzen Überlegung zur Frage der Manieren.

1. Benehmen Man kann sich nicht nicht benehmen, könnte man in Anlehnung an Paul Watzlawick sagen, der das ja bekanntlich vom Kommunizieren behauptet hat (Watzlawick u.a 1969). Aber stimmt das? Dass jemand „kein Benehmen“ habe, „sich nicht benehmen“ könne, gehört ebenfalls zu den alltäglichen Behauptungen. Das „Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts“, das von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften betreut und ins Netz gestellt wird, benennt zwei Bedeutungen des Begriffs, von der mich hier allerdings nur die erste, alltägliche interessiert – auf die „papierdeutsche“ des „sich ins Benehmen Setzens“ will ich hier nicht näher eingehen. Benehmen ist die: „Art, wie sich jmd. in seiner Umwelt bewegt, Betragen: ein gewinnendes, feines, korrektes, zurückhaltendes, ruhiges, bescheidenes, (un)freundliches, hochfahrendes, auffallendes, linkisches, flegelhaftes B. haben, zeigen; er hat kein gutes B.; umg. jmdm. B. (gutes Benehmen, Anstand) beibringen (…); Verhalten: sein B. kommt mir sonderbar vor; er konnte

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sich ihr B. nicht erklären (…)“ (http://www.dwds.de/?kompakt =1&sh =1&qu=Benehmen; Abruf 16.2.2010).

Benehmen hat demnach also eine eher normative und eine eher empirische Bedeutung. Das zeigt sich auch in den Synonymen des Begriffs: Allüren und Sitte, Aufführung und Manieren, Behaben und Gebaren, Art und Benimm, Verhalten und, besonders hübsch und mir ganz neu, Benehmität, werden da angeführt (vgl. ebd.). „Betragen und Verhalten“ also – in meiner niedersächsischen Grundschulzeit der fünfziger Jahre gab es das, wenn ich mich recht erinnere, als Kopfnote, neben der „Beteiligung am Unterricht“. Benimmerziehung zielt ersichtlich nicht auf den neutralen empirischen Begriff des Benehmens, also auf Verhalten überhaupt, sondern auf den normativen, auf die Förderung guten, die Zurückdrängung und Verhinderung schlechten Benehmens, auf anständiges Betragen, auf die Orientierung an Regeln gegenüber Mensch und Welt. Die automatisch berechneten Kollokationen aus dem Kerncorpus des Digitalen Wörterbuchs zeigen denn auch die Worte „anständig“, „gut“, „schlecht“, „gegenüber“ und „Regel“ als zentrale Bezugsworte auf. Offen bleibt da freilich, wie es sich denn mit dem Benehmen sich selbst gegenüber verhält, ob es das überhaupt gibt und geben kann. Moralisch ist das allerdings die entscheidende Frage. Die Regeln richtigen Benehmens muss man lernen. Was richtiges Benehmen ist und wie es zu erlernen ist, das stand und steht natürlich nicht ein- für allemal fest; es ist historisch und kulturell so variabel wie Gesellschaften und Menschen es nun einmal waren und sind. Ethnologie und Kulturgeschichte zeigen die Bandbreite. Wir leben hier und heute, im Deutschland und Europa des 21. Jahrhunderts; und deswegen soll es um einige Stationen auf dem für uns unmittelbar relevanten Entwicklungsweg gehen.

2. Was zu lernen war: Drei kultur- und sozialgeschichtliche Einblicke 2.1 Robinson Daniel Defoe war beinahe 60, als sein erster Roman Robinson Crusoe im Jahre 1719 erschien. Als Journalist war er schon zuvor er-

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folgreich; er schrieb so überzeugend, dass Robinson Crusoe vom breiten Lesepublikum zunächst für authentisch gehalten wurde. Darauf legte er es auch an, denn, noch unter puritanischem Einfluss, kam ihm das Erfinden von Geschichten dem Lügen gefährlich nahe – besser ein fake als ein Roman! Man kennt die Geschichte; sie gehört zum – immer noch – festen Bestand des literarischen Erbes. Rousseau hat sie dem jugendlichen Emilé als erste und einzige Lektüre zugedacht (Rousseau 1762); der Philanthrop Joachim Heinrich Campe hat 1779/80 eine dann sehr erfolgreiche entschärfte Version für Kinder auf den Markt gebracht: „Robinson der Jüngere“. Das Motiv ist immer wieder aufgegriffen und auch mehrfach verfilmt worden. Ich halte mich an die Urversion, an Defoe und zitiere die deutsche Übersetzung von Karl Altmüller aus dem Jahre 1869. An wenigen Beispielen soll gezeigt werden, wie dem geretteten Wilden, Freitag, die ersten Regeln des Benehmens beigebracht werden. „Ich sah wie er zitterte, als ob er ebenso sterben zu müssen glaube wie seine beiden Feinde. Auf mein Winken […] kam er näher und kniete alle zehn bis zwölf Schritte nieder, um seine Dankbarkeit dafür anzudeuten, dass ich ihm das Leben gerettet. Ich sah ihn lächelnd und freundlich an und forderte ihn mit Winken auf, noch näher zu kommen. Endlich befand er sich dicht neben mir, kniete abermals nieder, küsste die Erde, legte den Kopf auf den Boden, ergriff meinen Fuß und stellte diesen auf meinen Kopf. Er wollte damit, wie es schien, andeuten, dass er für alle Zeit mein Sklave sei [Robinson zumindest will es so deuten; E.L.]“ (Defoe’s Robinson Crusoe).

Nachdem er seinem neuen Herrn einen ersten Dienst erwiesen hat, indem er einem erwachenden, nur betäubten und noch nicht erschlagenen Gegner gekonnt den Kopf abschlug, beginnt Robinson sein pädagogisches Programm, und zwar, ganz wie es sich nach Kant (1803) gehört, mit der Befriedigung der Grundbedürfnisse, also der „Wartung“: Er führt seinen Sklaven zur Wohnhöhle (Wohnung); er gibt ihm zu essen und zu trinken (Nahrung); er lässt ihn dort schlafen (Bett). „Disziplinierung“ und „Kultivierung“ folgen dann im Schnelldurchgang: Der Wilde bekommt einen Namen („Freitag“) und in die Sprache eingeführt:

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„Zunächst brachte ich ihm bei, dass er Freitag heißen solle, weil ich an diesem Tag ihm das Leben gerettet hatte. Ich lehrte ihn ferner mich ‚Herr‘ anzureden, ‚ja‘ und ‚nein‘ zu sagen und die Bedeutung beider Worte zu verstehen. Indem ich ihm Milch aus einem irdenen Topf zu trinken gab, zeigte ich ihm, wie ich selbst daraus trank und mein Brod darin eintauchte, damit er es mir nachthue, und er that es auch sofort unter Zeichen, dass ihm das sehr wohl behage. Während der folgenden Nacht blieb ich mit ihm an jenem Orte, sobald aber der Tag angebrochen war, forderte ich ihn auf, mir zu folgen, da ich ihm Kleider geben wollte. Er schien sehr froh darüber zu sein, da er völlig nackt war“ (ebd.).

Ein entscheidender Schritt der Disziplinierung ist die Errichtung des Kannibalismus-Tabus: Freitag ist ja (noch) „Cannibale“ und möchte seinen Hunger an den erschlagenen Gegnern stillen: „Hierüber ließ ich ihn meine ganze Entrüstung merken, drückte meinen Schauder davor aus und that, als ob ich mich bei dem bloßen Gedanken daran übergeben müsste“ (ebd.). Freitag unternimmt kurze Zeit darauf noch einen zweiten Anlauf, der nun allerdings radikaler gestoppt wird: „Ich hatte ihm nämlich begreiflich gemacht, dass ich ihn niederschießen würde, wenn er sich erfreche, sein Verlangen zu befriedigen“ (ebd.). Das war es dann aber auch; „Zivilisierung“ und „Moralisierung“ finden zunächst nicht statt. Freitag lernt die Regeln, wie der Sklave des Engländers sich anständig zu benehmen hat. Robinson: „Ich erachtete es für meine Pflicht, ihn in allem zu unterweisen, was ihn nützlich und geschickt machen könnte. Besonders gab ich mir Mühe, ihn sprechen und mich verstehen zu lernen“ (ebd.). Wartung also, Disziplinierung, Kultivierung – der Wilde hat die gleichen Stufen zu durchlaufen wie das Kind; er muss die Regeln des angemessenen, des anständigen Benehmens erlernen. Er muss sich vor dem Unanständigen ekeln. Und selbstverständlich ist es der Herr, der die Regeln diktiert. 2.2 Tonio Kröger Knapp 200 Jahre später ist der Zivilisationsprozess weiter fortgeschritten; das gilt auch für den Unterricht in Benimmregeln. In der besitz- und bildungsbürgerlichen Gesellschaft der Jahrhundertwende kam dabei dem Tanzen und dem Tanzunterricht besondere Bedeutung zu: Der Tanzunterricht war zugleich Anstands-

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unterricht und sollte zum gewünschten Schliff im Benimm führen. In Thomas Manns Novelle Tonio Kröger (1903, T.M. war da 28) erfahren wir, wie sich die „Angehörigen von ersten Familien“ – und nur die! – „reihum in den elterlichen Häusern“ versammelten, um sich „Unterricht in Tanz und Anstand erteilen zu lassen“ (Mann 1973: 18). „[…] zu diesem Behufe kam allwöchentlich Ballettmeister Knaak eigens von Hamburg herbei. Francois Knaak war sein Name, und was für ein Mann war das! ‚J’ai l’honneur de me vous représenter’, sagte er, ‚mon nom est Knaak‘. […] Und dies spricht man nicht aus, während man sich verbeugt, sondern wenn man wieder aufrecht steht, – gedämpft und dennoch deutlich. Man ist nicht täglich in der Lage, sich auf französisch vorstellen zu müssen, aber kann man es in dieser Sprache korrekt und tadellos, so wird es einem auf deutsch erst recht nicht fehlen.‘ Wie wunderbar der seidig schwarze Gehrock sich an seine fetten Hüften schmiegte! In weichen Falten fiel sein Beinkleid auf seine Lackschuhe hinab, die mit breiten Atlasschleifen geschmückt waren, und seine braunen Augen blickten mit einem müden Glück über ihre eigene Schönheit umher […]. Jedermann ward erdrückt durch das Übermaß seiner Sicherheit und Wohlanständigkeit. Er schritt – und niemand schritt wie er, elastisch, wogend, wiegend, königlich – auf die Herrin des Hauses zu, verbeugte sich und wartete, dass man ihm die Hand reiche. Erhielt er sie, so dankte er mit leiser Stimme dafür, trat federnd zurück, wandte sich auf dem linken Fuße, schnellte den rechten mit niedergedrückter Spitze seitwärts vom Boden ab und schritt mit bebender Hüfte davon […]. Man ging rückwärts und unter Verbeugungen zur Tür hinaus, wenn man eine Gesellschaft verließ, man schleppte einen Stuhl nicht herbei, indem man ihn an einem Bein ergriff oder am Boden entlang schleifte, sondern man trug ihn leicht an der Lehne herzu und setzte ihn geräuschlos nieder. Man stand nicht da, indem man die Hände auf dem Bauch faltete und die Zunge in den Mundwinkel schob; tat man es dennoch, so hatte Herr Knaak eine Art, es ebenso zu machen, dass man für den Rest seines Lebens einen Ekel vor dieser Haltung bewahrte. Dies war der Anstand“ (ebd.: 19).

Die sichere Beherrschung der Form, der Sinn für Distinktion, für Abgrenzung, Unterscheidung, die selbstverständliche Einverleibung der Konvention, der Ekel vor der Regelverletzung – darum geht es hier. Die Kinder der Bürger lernen, wie sie sich als Bürger, also zivilisiert, zu benehmen haben. Aber der Tanzlehrer ist, bei 52

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aller Beherrschung der Form und der Zeremonie und allem Eindruck, den er damit machen mag, doch schon für die Kinder eben nicht mehr als der Tanzlehrer; ihr gegenwärtiger und künftiger Status ist ein anderer, höherer, bürgerlicherer, zivilisierterer. Der Tanzlehrer führt in die Regeln ein, von denen sie mehr profitieren als er. Und so bleibt, allen Vorbildcharakters und aller Nachahmensnotwendigkeit zum Trotz, die soziale Distanz zum Tanzlehrer gewahrt – Tonio nimmt die fetten, bebenden Hüften kühl als Teil eines insgesamt albernen, prätentiösen Gehabes wahr. 2.3 Wie in schlechten Romanen Ein Geschäftsessen aus den Fünfziger Jahren beschreibt, hintersinnig bissig, Heinrich Böll 1956. Dass beim Geschäftsessen frühestens nach dem Dessert übers Geschäftliche zu reden ist, gehört damals noch zum festen Normen-Bestand. Manchmal muss darüber auch gar nicht geredet werden, wenn nämlich das geschickte Arrangement, die feinen Manieren, das Gespräch (fast ganz) überflüssig machen. Der Erzähler, noch neu im Geschäft, hofft auf einen großen Auftrag für das Ausschachtungsunternehmen, in das er eingeheiratet hat. Seine Frau kennt sich dagegen in Sachen angemessenes Benehmen aus: „Bertha hatte meinen Anzug ausgewählt: dunkler Rock, eine etwas hellere Hose und die Krawattenfarbe neutral. Solche Dinge hat sie zu Hause gelernt und im Pensionat bei den Nonnen. Auch, was man den Gästen anbietet: wann man den Kognac reicht, wann den Wermut, wie man den Nachtisch assortiert: es ist wohltuend, eine Frau zu haben, die solche Sachen genau weiß“ (Böll 1986: 156f.).

Zu Gast ist das Ehepaar Zumpen; Herr Zumpen ist Chef der Kommission, die die Aufträge vergibt. Während die Frau des Erzählers in der Küche bleibt, „um aus einer Tube Mayonnaise auf die Appetithappen zu drücken; sie mach das nett; herzförmige Muster, Mäander, kleine Häuschen“ (ebd.: 157), zeigt der Erzähler den Zumpens die Wohnung. „Als wir ins Eßzimer zurückkamen, hatte Bertha serviert; auch das hatte sie nett gemacht, so schön und doch sehr natürlich, und es wurde ein gemütliches Essen. Wir sprachen über Filme und Bücher, über die letz-

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ten Wahlen, und Zumpen lobte die verschiedenen Käsesorten, und Frau Zumpen lobte den Kaffee und die Törtchen. Dann zeigten wir Zumpens die Fotos von unserer Hochzeitsreise. […] Wir tranken jetzt wieder Kognac, und als ich aufstehen und den Karton mit den Fotos aus unserer Verlobungszeit holen wollte, gab mir Bertha einen Wink […]“ (ebd.: 157f.).

Allerdings hat der Erzähler diesen Wink nicht recht begriffen. Und so bedurfte es noch kleiner Umwege, kleiner Korrekturen am Angebot und eines diskret ausgeschriebenen Schecks (wieder weiß Bertha, wie), bis das Geschäft unter Dach und Fach ist, zum beiderseitigen Vorteil, wenn auch jenseits der gesetzlichen Regeln. Die Benimmregeln zwischen den Eingeweihten funktionieren perfekt; die Manieren schließen hier das stillschweigende Einverständnis über den Betrug ein. Mayonnaiseherzchen geben die Tarnung. Aber der Neuling kapiert es nicht gleich; er muss es erst lernen. Dass der Ekel vor der Verletzung der Form keineswegs automatisch den Ekel vor der Verletzung des Rechts und der Gerechtigkeit einschließt, dass bestes Benehmen nicht vor kriminellen Machenschaften schützen muss, ist bekannt; das deutlichste Beispiel ist vielleicht die Steuerehrlichkeit. Benimmerziehung kann ebenso als Kultivierung des Wilden, als Zivilisierung der Jugend und als Entmoralisierung des Umgangs von Erwachsenen verstanden werden – die Regeln allein retten offenbar nicht. Was aber dann? Vielleicht hilft wiederum ein Blick in die Geschichte, nun aber in die der Theorie.

3. Was zu lernen sei: Knigge Benimmerziehung ist in Deutschland untrennbar mit dem Namen „Knigge“ verknüpft. 1.160.000 Ergebnisse bringt Google innerhalb von 0,12 Sekunden: Knigge-Seminare, der umfassende KniggeRatgeber, der große Knigge, Manieren per Mausklick, richtig ist wichtig, wie gut können Sie sich benehmen, Knigge-Akademie, Benimmregeln für den Alltag, richtiges Benehmen ist erlernbar, das Knigge-ABC, Business-Knigge usw. usw. Das ist nur eine kleine Auswahl dessen, was sich beim „Googlen“ eröffnet. Offenbar ist der Bedarf nach Benimm-Rat und Benimm-Regeln groß.

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Allerdings hat das, was da an Benimm- und Manieren-Ratschlägen gegeben wird, mit dem berühmtesten Werk des Adolph Freiherr Knigge, dem erstmals 1788 und dann 1790 in überarbeiteter Fassung erschienenen Buch Über den Umgang mit Menschen, in der Regel nichts zu tun. Abb. 2: Adolph Freiherr Knigge

1752 ist der Freiherr in Bredenbeck bei Hannover geboren, 1796 mit nur 44 Jahren in Bremen gestorben. Er war ein verarmter Adliger. Als er 11 Jahre alt war, starb die Mutter, als er 14 war, starb der Vater. Er erbte Schulden in Höhe von 130.000 Reichstalern. Immerhin setzten ihm die Gläubiger eine jährliche Rente von 500 Reichstalern aus. Knigge hat in Göttingen von 1769 bis 1772 Jura und Kameralistik studiert, er war dort Hausgenosse von Georg Christoph Lichtenberg – es mag sein, dass dessen Witz und Spott Knigge auf seinem freilich schon in der Familie angelegten Weg zum radikalen Aufklärer noch einmal befördert hat. Unverschämte verarmte gebildete Adlige hatten es auch damals nicht leicht. Knigge hat ein ziemlich unstetes Leben geführt, von Geldnot geplagt, rasch die Stellen wechselnd und von Ort zu Ort ziehend – 1790 landete er schließlich in Bremen als Oberhauptmann der großbritannischhannoverschen Regierung. Politisch-kulturell hat er sich schon ab 1773 intensiv in den geheimen Logen und Orden seiner Zeit engagiert, war Freimaurer und ab 1780 Organisator des radikalen Illuminatenordens in Norddeutschland, aus dem er allerdings nach verlorenem Machtkampf 1784 ausgeschlossen wurde; dennoch blieben solche Bünde bis zum Tod weiter sein Hauptanliegen. Knigge war ein geradezu obsessiver Dauerschreiber. Er hat ein sehr umfangreiches literarisches Werk hinterlassen, und nicht nur das, er war auch Komponist, Übersetzer, Leiter einer Theatertruppe – und nebenbei auch verheiratet und Vater einer Tochter. 55

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Aber berühmt wurde nur ein Werk: eben Über den Umgang mit Menschen, eines der erfolgreichsten und wichtigsten Bücher der deutschen Aufklärung. Drei Teile hat das umfangreiche Werk; und es beschäftigt sich durchgängig und sehr differenziert mit der Frage, wie es einfachen Bürgersleuten gelingen kann, mit Anstand durchs Leben zu kommen, im Umgang mit den Menschen in ihren verschiedensten Erscheinungsformen und Beziehungen und auch im Umgang mit sich selbst. Es handelt sich also ausdrücklich nicht um ein Benimmbuch, sondern eher um einen feinsinnig-kritischen, manchmal freilich auch ziemlich groben Kommentar zu den Widrigkeiten und Problemen, die das gesellschaftliche Leben an den Menschen stellt, der sich auch als Bürger behaupten muss: „Warum man den Leuten nicht in die Rede fallen dürfe; dass wir einen Teller, oder was uns dargereicht wird, auch dann abnehmen müssen, wenn wir nichts davon behalten wollen, damit der andre nicht die Mühe habe, es unsertwegen in der Hand zu tragen; […] dass es sich nicht schicke, in Gesellschaften in das Ohr zu flüstern, bei Tafel krumm zu sitzen, unanständige Gebärden zu machen […] und dergleichen Regeln mehr zu geben, dazu ist hier nicht der Ort. Leuten von gewissem Stande und einer nicht ganz gemeinen Erziehung ist das in der ersten Jugend schon eingeprägt worden“ (Knigge 2008: 65ff.).

Dass Knigge die Fragen des Benimms für schlechterdings trivial, also für Fragen der frühkindlichen Erziehung hielt, ist deutlich. Vielleicht gehören sie da auch am ehesten hin. Es geht ihm um ganz etwas anderes: „Sei, was Du bist, immer ganz und immer derselbe! Nicht heute warm, morgen kalt; heute grob, morgen höflich und zuckersüß; heute der lustigste Gesellschafter, morgen trocken und stumm wie eine Bildsäule!“ (ebd.: 71).

So beschäftigt sich der erste Teil des Werkes mit allgemeinen Fragen menschlichen Umgangs mit anderen und sich selbst. Der zweite Teil ist den persönlichen Beziehungen gewidmet – Alter, Geschlecht, Freundschaft, Liebe, Dankbarkeit etc. sind hier die Themen. Der dritte Teil schließlich entwickelt die Pflichten, die aus den „zusammengesetzten Verhältnissen“ stammen, also aus

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dem Umgang mit Menschen aus verschiedenen Ständen und schließlich auch mit den Tieren. Man kann den „Umgang mit Menschen“ als ein soziologischpsychologisches Buch über den Takt lesen – „Verlange nicht einen übermäßigen Grad von Kultur und Aufklärung, von Leuten, die bestimmt sind, im niedern Stande zu leben!“ (ebd.: 340) – aber auch als ein politisch-pädagogisches Buch einer ziemlich subversiven Aufklärung. Über den Umgang mit Hofleuten und ihresgleichen schreibt Knigge aus genauer Kenntnis: „Ich fasse hier die Bemerkungen über den Umgang mit Hofleuten und mit solchen Personen überhaupt, die in der sogenannten großen Welt leben und den Ton derselben angenommen haben, zusammen. Leider wird dieser Ton, den Fürsten und Vornehme […] angeben und ausbreiten, von allen Ständen, die einigen Anspruch auf feine Lebensart machen, nachgeäfft. Entfernung von Natur; Gleichgültigkeit gegen die ersten und süßesten Bande der Menschheit; Verspottung der Einfalt, Unschuld, Reinigkeit und der heiligsten Gefühle; Flachheit; Vertilgung, Abschleifung jeder charakteristischen Eigenheit und Originalität; [das klingt wie bei Werther 1774; E.L.] Mangel an gründlichen, wahrhaftig nützlichen Kenntnissen; an deren Stelle hingegen Unverschämtheit, Persiflage, Impertinenz, Geschwätzigkeit, Inkonsequenz, Nachlallen; Kälte gegen alles, was gut, edel und groß ist; Üppigkeit, Unmäßigkeit, Unkeuschheit, Weichlichkeit, Ziererei, Wankelmut, Leichtsinn; abgeschmackter Hochmut; Flitterpracht als Maske der Bettelei; schlechte Hauswirtschaft; Rang- und Titelsucht; Vorurteile aller Art; Abhängigkeit von den Blicken der Despoten und Mäzenaten; sklavisches Kriechen, um etwas zu erringen; Schmeichelei gegen den, dessen Hilfe man bedarf, aber Vernachlässigung auch des Würdigsten, der nicht helfen kann; [das klingt schon sehr nach französischer Revolution; E.L.] Aufopferung auch des Heiligsten, um seinen Zweck zu erlangen; Falschheit, Untreue, Verstellung, Eidbrüchigkeit, Klatscherei, Kabale; Schadenfreude, Lästerung, Anekdotenjagd; lächerliche Manieren, Gebräuche und Gewohnheiten – das sind zum Teil die herrlichen Dinge, welche unsre Männer und Weiber, unsre Söhne und Töchter von dem liebenswürdigen Hofgesindel lernen – das sind die Studien, nach welchen sich die Leute von feinem Tone bilden. Da wo dieser Ton herrscht, wird das wahre Verdienst nicht nur bloß übersehn, sondern soviel als möglich mit Füßen getreten, unterdrückt, von leeren Köpfen zurückgedrängt, verdunkelt, verspottet. […] Es gibt aber drei Mittel, allen diesen Ungemächlichkeiten auszuweichen, indem man nämlich entweder sich mit der großen Welt unbefangen läßt oder aber in derselben seinen graden

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Gang fortgeht, ohne sich durch alle diese Torheiten anfechten zu lassen, oder endlich, indem man den Ton derselben studiert, und soviel es ohne Verleugnung des Charakters geschehen kann, mit den Wölfen heult“ (ebd.: 340ff.).

Mit solchen Sätzen machte man sich bei der Obrigkeit nicht gerade beliebt; das war weder karriereförderlich noch gutes Benehmen. Natürlich war es ein unmögliches Projekt, das der freie Herr Knigge – so nannte er sich angeblich gerne selbst – sich da vorgenommen hatte. Aber das Ergebnis konnte sich sehen lassen; es ist gerade wegen seiner Alltagsnähe bis heute eine höchst anregende und spannende Lektüre, die einem immer noch auf viele Fragen des Umgangs mit Menschen sehr hilfreiche Hinweise zum Nachdenken – und zwar auch über sich selbst – im Blick auf Bürgermut und Anstand gibt, auch unter widrigen Verhältnissen: ein moralisches Buch also, ein exzellentes Beispiel für Aufklärung und Selbstaufklärung, für Zivilisierung und Moralisierung. Benimm, Manieren ohne Moral hält Knigge schlicht für abgefeimt. Freilich: Das pädagogische Buch über die moralische Erziehung hat er nicht geschrieben; es gibt nur zwei kleinere, allerdings sehr feine Stellen über den Umgang mit Kindern; wenigstens eine sei hier angeführt: „Der Umgang mit Kindern hat für einen verständigen Mann unendlich viel Interesse. Hier sieht er das Buch der Natur in unverfälschter Ausgabe aufgeschlagen. Er sieht den wahren, einfachen Grundtext, den man nachher oft mit Mühe nur unter dem Wuste von fremden Glossen, Verzierungen und Verbrämungen herausfinden kann; die Anlage zu der Originalität in den Charakteren, die nachher leider mehrenteils entweder ganz verlorengeht oder sich hinter der Maske der feinern Lebensart und konventionellen Rücksichten versteckt, liegt noch offen da; über viel Dinge urteilen Kinder, von Systemgeist, Leidenschaft und Gelehrsamkeit unverführt, weit richtiger als Erwachsene; sie empfangen manche Eindrücke weit schneller, haben noch eine große Anzahl Vorurteile weniger gefaßt – kurz, wer Menschen studieren will, der versäume nicht, sich unter Kinder zu mischen!“ (ebd.:157f.).

Man möchte es den Verfassern von allerlei Benimmregeln raten. Das pädagogische Buch über die moralische Erziehung hat dann Kant (1803) geschrieben, dessen Kategorien der Wartung, Disziplinierung, Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung ja

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auch in diesem Text aufgegriffen werden. Was Knigge praktisch durchführt, wird bei Kant theoretisch begründet (ohne dass Kants Modell darin aufginge): Regeln ohne Moral, Regeln ohne moralischen Grund und ohne moralische Perspektive tragen nicht und sind auch nicht legitimierbar. Das galt damals und es gilt heute immer noch.

Schluss Dass Manieren und gutes Benehmen hilfreich sein können für das Projekt humanen Zusammenlebens, ist unbestritten. Aber der bloße Rückgriff auf Regeln und Normen hilft nicht weiter, auch wenn er so sympathisch vorgetragen wird wie von Prinz Asfa-Wossen Asserate in seinem wunderbaren Buch über Manieren (2009). Ohne Moral, ohne das Benehmen auch sich selbst gegenüber, gibt es keine Verständigung und keine Gerechtigkeit auf der Welt. Und ohne Moral helfen die besten Manieren nichts. Parzival hat es erfahren: Zwar bekommt der junge Parzival, frisch gebadet, neu bekleidet und gegürtet bei seinem Lehrmeister Gurnemanz gute Ratschläge, wie er sich als Ritter zu benehmen hat, aber den einfachen Satz: „Ihr sollt nicht viel fragen“ (Eschenbach 1998: 174) missversteht er in „stumpfer Trägheit“. Vor dem König des Jammers, angesichts großen Leids, „wollte er nicht ungezogen sein und scheute sich deshalb zu fragen“ (ebd.: 243). Damit aber vergibt er die Chance, den leidenden Anfortas zu erlösen. Am nächsten Morgen, als alles zu spät ist, schallt ihm nur noch der Spott eines Burgknappen hinterher: „Ihr seid eine Gans! Hättet Ihr doch nur den Schnabel bewegt und Euren Wirt gefragt! Viel Ehre habt Ihr in stumpfer Trägheit versäumt“ (ebd.: 251).

Das hat man davon, wenn man die Moral nicht beherzigt. Dass auch das eine ästhetische Frage ist, ist freilich eine andere Geschichte. Wovon sie handelt und wie sie ausgeht – das kann man bei Friedrich Schiller und Pierre Bourdieu lesen.

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Literatur Asserate, Asfa-Wossen (42009): Manieren. München: dtv. Böll, Heinrich (1956/1986): „Wie in schlechten Romanen“. In: Gidion, Jürgen u.a. (Hg.): Literatur & Welt. Lesebuch für Gymnasien, 9./10. Schuljahr. Hannover: Schroedel: S. 156-162. Campe, Joachim Heinrich (1779-1780): Robinson der Jüngere. Ein Lesebuch für Kinder. Campe: Hamburg. Eschenbach, Wolfram von (1998): Parzival. Studienausgabe. Berlin/New York: de Gruyter. Kant, Immanuel (1803/1968): „Immanuel Kant über Pädagogik“. In: Kant. Werke, Bd. XII. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 691-761. Manager Magazin 5 (2008): „Benehmensmanagement“. Knigge, Adolf Freiherr (1790/2008): Über den Umgang mit Menschen. Frankfurt a.M.: Fischer. Mann, Thomas (1922/1973): „Tonio Kröger“. In: Ders.: Tonio Kröger. Mario und der Zauberer. Frankfurt a.M.: Fischer, S. 9-66. Rousseau, Jean-Jacques (1762/1971): Emile oder über die Erziehung. Paderborn: Schöningh. Watzlawick, Paul/Beavin, Janet H./Jackson, Don D. (1969): Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Bern u.a.: Huber.

Internet ADTV 2005: Renaissance des guten Tons – Benimmseminar für Jugendliche: http://root.futec-ag.de/news/newsarchiv.php? action=detail &portal=westfalen-gastro.de&id=1039 (Abruf 16.2.2010). Defoe’s Robinson Crusoe. Aus dem Englischen von Karl Altmüller. Leipzig 1869: http://gutenberg.spiegel.de/index.php?id =5&xid=404&kapitel=1&cHash=6e2a6b888c# gb_found (Abruf 16.2.2010). DWDS „Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts“: http://www.dwdIs.de/woerterbuch (Abruf 16.2.2010). Gemeinsame Verhaltensregeln an allen Erlanger Schulen, 2008. Abb. 1: http://www.asg-er.de/fileadmin/uploads/walther/

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Verhaltensregeln/erlanger_verhaltensregeln.pdf (Abruf 16.2. 2010). Knigge, Adolph Freiherr: http://www.google.de/search?hl =de&client=firefox-a&rls=org.mozilla:de:official&hs=dbK&q= Knigge&start=10&sa=N (Abruf 16.2.2010). Knigge, Adolph Freiherr: Abb. 2: http://gutenberg.spiegel.de/ gutenb_load/autoren/bilder/knigge.jpg (Abruf 16.2.2010). Knigge, Adolph Freiherr. Biographie: http://de.wikipedia.org/wiki/ Adolph_Freiherr_Knigge (Abruf 16.2.2010). Leifgen, Ingrid (2007): Gutes Benehmen ist wieder gefragt: http://www.familienhandbuch.de/cmain/f_Aktuelles/a_Er ziehungsfragen/s_1127.html (Abruf 16.2.2010). Ministerium für Bildung, Saarland: respect & co. Eine saarländische Initiative zur Werte- und Verhaltenserziehung: http:// www.aktion-respekt.saarland.de/ (Abruf 16.2.2010). Umgangsformen, Benehmen, Verhalten: http://de.wikipedia.org/ wiki/Umgangsformen,_Benehmen,_Verhalten (Abruf 16.2. 2010).

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Lessing oder Sex – Geschmacksfragen an das aktuelle Theater Ein Dialog zwischen Theaterwissenschaft und Pädagogik

Einleitung Dass der Umgang mit dem Geschmack eine heikle Angelegenheit sein kann, beschreibt Gotthold Ephraim Lessing im neunzehnten Stück seiner Hamburgischen Dramaturgie wie folgt: „Es ist einem jeden vergönnt, seinen eigenen Geschmack zu haben; und es ist rühmlich, sich von seinem eigenen Geschmacke Rechenschaft zu geben suchen. Aber den Gründen, durch die man ihn rechtfertigen will, eine Allgemeinheit erteilen, die, wenn es seine Richtigkeit damit hätte, ihn zu dem einzigen wahren Geschmacke machen müsste, heißt aus den Grenzen des forschenden Liebhabers herausgehen und sich zu einem eigensinnigen Gesetzgeber aufwerfen“ (Lessing 1981: 102).

Man sieht die Probleme: Hier finden sich die Gegensätze von Subjekt (als personifizierte Meinung) und Objekt (als allgemein gültige Norm) zudem mit dem heißblütigen Furor der Liebe und der kühl aburteilenden Justitia metaphorisch verbunden – der Grad zwischen doktrinärem Autismus und diskursiver Beliebigkeit scheint schmal. Das gilt auch für Lessing selbst: Legendär sind seine Polemiken, die sich – wie auch von Zeitgenossen empfunden – oft am Rande der Geschmacklosigkeit bewegten; theatergeschichtlich bedeutsam ist in diesem Zusammenhang der so genannte Hanswurst-Streit, d.h. den früh-aufklärerischen Zwist zwischen Obrigkeit (und den dazugehörigen Normen und Geboten) und dem vergnügungswilligem Volk, den Lessing stellvertretend mit Gottsched führte: „Seitdem die Neuberin, sub auspiciis Sr. Magnifizenz des Herrn Prof. Gottscheds, den Harlekin öffentlich von ihrem Theater verbannte, haben alle deutsche Bühnen, denen daran gelegen war, regelmäßig zu heißen, dieser Verbannung beizutreten geschienen. Ich sage, geschienen;

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denn im Grunde hatten sie nur das bunte Jäckchen und den Namen abgeschafft, aber den Narren behalten. Die Neuberin selbst spielte eine Menge Stücke, in welchen Harlekin die Hauptperson war. Aber Harlekin hieß bei ihr Hänschen, und war ganz weiß, anstatt scheckicht gekleidet. Wahrlich, ein großer Triumph für den guten Geschmack!“ (Lessing 1981: 97).

Es sind scheinbar Details, die den (guten) Geschmack von seinem Gegenteil trennen: „Lessing oder Sex“ – eine auf den ersten Blick vermeintlich geschmacklose Zusammenstellung zweier inkompatibel scheinender Begriffe und deren semantischer Horizonte. Zugegebenermaßen geht es dabei auch ein wenig um einen argumentativen Effekt: Hätte man diesen Text schlicht „Geschmacksfragen an das Gegenwartstheater“ genannt, hätte man also auf die tendenziell polemische Begriffsopposition verzichtet, so würde manches hier im Folgenden überhaupt nicht verhandelbar sein. Dies ist jedoch nur der pragmatische Aspekt der Titelgebung. Der andere resultiert aus der Beobachtung, dass den beiden wissenschaftlichen Disziplinen Theaterwissenschaft und Pädagogik oftmals diametrale Perspektiven auf das Phänomen Theater attestiert werden. Auf einer Oberflächen-Ebene wird dann schnell mit dem Etikett des Inkommensurablen argumentiert: Die Trennung im Sinne eines „entweder/oder“ scheint dabei zunächst einmal ein genuin moralisch-pädagogisches Anliegen zu sein, während man dem Theater das verbindende „und“ als ästhetische Möglichkeit durchaus zutrauen darf: „Lessing und Sex“ – warum sollte das aus theatraler Sicht a priori geschmacklos sein? Die strukturelle Problematik, die sich auf einer tieferliegenden Ebene hinter diesem systematischen Kurzschluss verbirgt, gilt es nun genauer zu betrachten. Unter dem Vorzeichen einer künstlerisch-ästhetischen Betrachtung ist es offenbar nicht nur möglich, sondern eher sogar notwendig, das „oder“ in ein „und“ zu verwandeln. Die relativierende Frage hierbei ist nur, wie derartige Verbindungen in der Praxis wahrgenommen werden: Als progressiver Wandel einer Kunst oder als stilistische und/oder inhaltliche Verfehlung? Als paradigmatische Untermauerung dieser Frage soll exemplarisch eine Passage aus einem Interview mit dem Regisseur Peter Zadek, einem der bedeutendsten deutschsprachigen Theaterregisseure der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, herausgegriffen werden: Es

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geht um die äußerst kontrovers aufgenommene Verkörperung des Othello durch Ulrich Wildgruber im Jahre 1976. „PZ: [...] Othello ist der Tradition nach ein gerader nobler, toller, schöner, gutgewachsener und so weiter bisschen dummer Neger. Und der Wildgruber ist ein nicht sehr großer, nicht sehr schlanker, kaputter, intellektuell zerfaselter, verfahrener Spinner. Also wirklich alles genau das Gegenteil. [...] Wildgruber ist immer eine dreiviertel Stunde früher da und malt sich an. Der hat sich von der dritten Probe an angemalt, in allen Variationen, die man sich vorstellen kann [...] und da haben wir zum Beispiel festgestellt, dass es abfärbt. Und das ist ein ganz wesentliches Element der Inszenierung geworden. BH: Heißt das, dass die Schminke abfärbt? PZ: Ja, Schminke färbt halt ab, schwarze Schminke färbt ab. BH: Und das soll man merken? PZ: Ja. [...]“ (Zadek 1990: 132ff.).

Dies ist die etwas flapsig-derbe Umschreibung einer durchaus ästhetisch hoch spannungsreichen, zugleich aber wohl auch provozierenden und deshalb viel diskutierten Form theatraler Darstellung. Aus wissenschaftlicher Sicht ist jedoch genau hier sofort eine weitere sachliche Relativierung anzubringen: Es ist gänzlich ein Unterschied, ob eine Inszenierung dezidiert provozieren möchte oder, ob sie als provokant wahrgenommen wird. Beides muss nicht unbedingt zusammenfallen. Künstlerische Intentionen und Publikumswahrnehmungen sind beileibe nicht immer deckungsgleich. Das gilt übrigens auch für das andere Extrem. Selbst Aufführungen eines dramatischen Klassikers, also eines durch den Bildungskanon legitimierten Werkes, die aufgrund ihrer ästhetischen Erscheinung mit dem widersinnigen Begriff der Werktreue belegt werden, müssen nicht zwangsläufig zur moralischen und ästhetischen Erbauung des Zuschauers beitragen. Also kurz: Ein abfärbender Ulrich Wildgruber auf der Bühne ist eben kein Garant für Provokation und Lessings Nathan bürgt nicht automatisch für eine pädagogisch wertvolle Bildung des Zuschauers. Warum das so ist, das lässt sich nur beantworten, wenn man sowohl den Geschmack der Theatermacher als auch den Geschmack des Theaterpublikums inklusive ihrer jeweiligen historischen und strukturellen Bedingungshintergründe genauer betrachtet. Die hier nun zu behandelnden Fragen lassen sich daher wie folgt zusammenfassen: Wer macht auf Basis welcher Voraussetzungen warum 65

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welches Theater und wer sieht sich das dann unter welchen Voraussetzungen warum an?

1 . H i s t o r i s c h e B e g r ü n d u n g s ve r s u c h e : Ist das Theater eine pädagogisch-moral i s c h e An s t a l t , e i n U n t e r h a l t u n g s m e d i u m oder ein ästhetischer Elfenbeinturm? Seit der Entstehung des europäischen Theaters im antiken Griechenland übernimmt diese Kunstform wie keine andere eine anthropologische, eine politische, eine soziale und damit immer auch eine pädagogische Funktion. Der Gedanke der Erziehung und Bildung des Menschen durch das Theater erscheint so alt, wie die Kunstform selbst. Blickt man in die Theatergeschichte zurück, dann zeigt sich, dass v.a. der moralisch-pädagogische Anspruch an das Theater über weite Strecken dazu geführt hat, diese Kunst inhaltlich und formal verbessern zu wollen, d.h. in ihrer Wirkkraft zu stärken. Eine punktuelle Auswahl von theoretischen Anforderungen an das Theater soll dies kurz verdeutlichen. • Aristoteles: „Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung, die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt“ (Aristoteles 1982: 19). • Johann Christoph Gottsched: „Die Tragödie belustiget, indem sie erschrecket und betrübet [...] und schicket ihre Zuschauer allezeit klüger, vorsichtiger und standhafter nach Hause“ (Gottsched 1739: 543f.). • Gotthold Ephraim Lessing: „Die Bestimmung der Tragödie ist diese: sie soll unsre Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, erweitern. [...] Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch“ (Lessing 1794: 554). • Erwin Piscator: „Ganz bewusst Spiegel der Zeit und der sie gestaltenden Kräfte zu sein, das ist die Tendenz des politischen Theaters“ (Piscator 1928: 627). • Bertolt Brecht: Die nicht-aristotelische Dramatik ist „bemüht, ihren Zuschauer ein ganz bestimmtes praktisches, die Änderung der Welt bezweckendes Verhalten zu lehren“ (Brecht 1957: 37).

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Nun blieb es natürlich nicht bei bloßen Forderungen; das Ziel war dabei stets eine Beförderung der theatralen Praxis. Ein Blick in die Sozialgeschichte des Theaters zeigt, dass all diese Forderungen stets einhergingen mit theatralen Normierungs-, Reglementierungs- und Kanonisierungstendenzen. Als systematisch wichtig erscheint es an dieser Stelle anzumerken, dass im Hinblick auf die hier angeführten Standpunkte, Forderungen und Zuschreibungen offensichtlich eine Verengung der theatralen Genres auf Tragödie und episches Theater vollzogen wird. Dieser Umstand ist jedoch nicht einer mangelnden Systematik geschuldet, sondern trägt einem historischen Umstand Rechnung. Der Grund für die Verengung der Perspektive lässt sich in einem spezifischen, historisch fundierten, Legitimitätsgefälle zwischen Tragödie und Komödie finden: Die Unterhaltungsfunktion des Theaters sieht sich seit Aristoteles unter wirkungsästhetischen Gesichtspunkten systematisch benachteiligt. Das Theater darf nicht nur bloßes Amüsement sein; vielmehr soll es bildend, belehrend und erbauend wirksam werden. Die einzigen bedeutenden Ausnahmen hiervon sind das Elisabethanische Theater, das Barocktheater und – mit Einschränkungen hinsichtlich ihrer originären gesellschaftlichen Stellung – die Commedia dell’arte. Die überaus erfolgreiche Idee der englischen Renaissance, Theater als professionelles Unterhaltungsgeschäft zu etablieren und die universalistische Repräsentationsfunktion des Barocktheaters haben, zeitlich bzw. geographisch begrenzt, das moralische Deutungsmuster durchbrochen. Das bedeutendste zeitgenössische Beispiel für die Wirksamkeit des tragisch-moralischen Deutungsmusters ist das Musical, das über weite Strecken auch heute noch, v.a. in pädagogischen Kontexten, immer wieder als reine Oberflächen-Show mit mangelhaftem Inhalt diskriminiert wird. Als theatrales Genre hat es die Komödie vor diesem Hintergrund über lange Zeit nicht bzw. nur in speziellen Ausformungen geschafft, das Etikett der seichten, niveaulosen und damit der inadäquaten Unterhaltung des Publikums abzulegen. Manche Varianten der Komödie haben das moralische Deutungsmuster explizit aufgenommen: Die Grotesken Dürrenmatts, wie etwa „Die Physiker“, wären hier ein Beispiel deutschsprachiger Dramatik, die die komische Maskerade in der Erscheinung des Paradoxen zu einem allgemeingültigen moralischen Akt werden lassen (vgl. 67

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Dürrenmatt 1985: 91ff.). Die absurden Stücke Becketts produzieren ebenfalls eine Form der Komik, die in den moralischen Kanon des Theaters integriert werden kann. Die sinnentleerten Existenzen, die Beckett in unauflöslicher zirkulärer Zwangsläufigkeit präsentiert, zeichnen sich oftmals dadurch aus, dass ihnen etwas grotesk-komisches, etwas Clownhaftes zu Eigen ist, das sich bisweilen durch das Nicht-Geschehen in derbe Situationskomik wandelt (vgl. Esslin 1965: 33f.). Der Zuschauer muss lachen. Doch diese Komik ist in ihrer Gestalt der Frage nach dem Wider-Sinn schon weit entfernt von dem, was das moralische Deutungsmuster gemeinhin in einer pejorativen Art und Weise als Komödie erachtet. Das Lächerliche, oberflächlich Lustige oder Belustigende, das Närrische und Possenhafte wurde seit der Aufklärung systematisch abgewertet. Einzig diejenigen Dimensionen und Aspekte des Komischen, die eine Integration in die bildungsbürgerliche Ideologie eines literarisierten Theaters erlaubten, durften einen Prozess der ästhetisch-theatralen Kultivierung durchlaufen (vgl. Kreuder 2005: 170). Die Macht des moralisch-bildungsbürgerlich-hochkulturellen Deutungsmusters ist also in der Tat nicht zu unterschätzen, auch wenn die Sozialgeschichte des Theaters immer wieder belegt, dass die moralische Bestimmung von Sinn und Zweck des Theaters oftmals den Geschmack und die Wünsche eines Großteil des Publikums nicht mit in Betracht zog. Somit handelt es sich hierbei um pädagogische Präskriptionen spezifischer Wirkungsästhetiken seitens der Träger genau dieser Auffassung von Theater. Dem Theater wird dabei seit der Antike die Fähigkeit einer ästhetisch begründeten kollektiven moralischen Wirksamkeit attestiert und damit die Übertragbarkeit des Ästhetisch-Artifiziellen in das Soziale proklamiert. In der attischen Polis konnte das Theater die moralischethischen, als allgemeingültig verfassten, Ansprüche mutmaßlich sogar noch bewältigen. Der gemeinsame Welterfahrungshintergrund, das kollektivierte anthropologische Selbstverständnis und der einheitliche Bildungsstand der Athener Vollbürger ermöglichte es dem Theater tatsächlich, die Funktion zu übernehmen, beispielhaft menschliche Schicksale zu erörtern, mit dem Ziel, kollektive Wahrnehmungs-, Reflexions- und Handlungsmechanismen in Gang zu setzen (vgl. Brauneck 1993: 74ff.).

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Die Aufklärungsidee, das Theater in eine Sittenschule der Bürger zu verwandeln, zielte auf den gleichen Wirkungseffekt ab. Gottscheds Kampf gegen das derb-komische Possenreißertum der Wanderbühnen und Lessings Begründung des bürgerlichen Trauerspiels markieren dabei die beiden Eckpunkte des Kampfes für ein Theater aufklärerischer Vernunft an dessen Ende ein Theater von Bürgern für Bürger stehen sollte (vgl. Brauneck 1996: 772ff.). Auf Lessings Wirken hin sollte der Realisierungsort dieses Theaters das 1767 in Hamburg gegründete Nationaltheater werden. Das Theater zur Begründung einer aufgeklärten Nation scheiterte jedoch kläglich am Geschmack des Publikums, das nicht von der Bühne herab moralisch belehrt, sondern unterhalten werden wollte. Das Possenreißertum und die Hanswurstiaden der fahrenden Bühnen waren anscheinend auch bei den Bürgern beliebter. Der hehre Anspruch des Theaters und der Geschmack des Publikums klafften zu weit auseinander. Piscator und Brecht intendierten über 150 Jahre später mit ihren Konzeptionen des Epischen Theaters ebenfalls ein zeitgemäßes Theater, d.h. ein Theater für das Zeitalter der Technik bzw. der Wissenschaft. So unterschiedlich die Stücke und Inszenierungen auch waren, so war es doch das grundsätzliche Ziel von beiden, durch das Theater eine Veränderung der politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten zu bewirken. Der Zuschauer sollte aktiviert, also zu gesellschaftsverändernden Handlungen bewegt werden. Das hatte jedoch in beiden Fällen zur Voraussetzung, dass sich der Zuschauer produktiv auf die Inszenierungen einlassen konnte und in der Lage war, die dargestellten gesellschaftlichen, politischen, historischen usw. Zusammenhänge überhaupt zu verstehen. Piscators ästhetischer Weg bestand dabei zunächst im produktiven Einsatz der technischen Möglichkeiten der Zeit, wie z.B. mechanischer Bühnenelemente, Filmeinspielungen, Geräuscheinblendungen usw., aber auch von Elementen der damals völlig neuartigen filmischen Ästhetik. Das Theater Piscators musste in der Radikalität seines Belehrungs- und Aufforderungscharakters jedoch tendenziell illusionär bleiben, da nur ein kleiner Teil des Publikums gewillt war, das Theater als Instrument des Befreiungskampfes der Arbeiterklasse anzuerkennen. Angesichts des enormen Erfolgs des Reinhardtschen Amüsiertheaters setzte Bertolt Brecht deshalb auf einen Ausgleich von Unterhaltung und Belehrung. Die Brechtsche Dialektik von Er69

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kenntnis und Kunstgenuss wollte den Zuschauer nicht – wie auch immer – indoktrinieren, sondern ihn zum permanenten kritischreflektierenden Denken bewegen. Die eigenen Inszenierungen Brechts bezeugen den Erfolg dieses Konzeptes; Brecht behielt den Zuschauer in seinen Wünschen und Wahrnehmungen permanent im Auge (vgl. Fischer-Lichte 1999: 333ff.). Festzuhalten bleibt an dieser Stelle zunächst die Vermutung eines theatralen Mythos’ und einer theatralen Tatsache: nämlich derjenige der Möglichkeit der Fokussierung inhaltsgebundener moralischer Belehrbarkeit des Zuschauers von der Bühne herab und diejenige des theatralen Unterhaltungswunsches der Zuschauer. Hat der Geschmack der Zuschauer also doch mehr Einfluss auf die Gestalt des Theaters, als man zunächst annehmen mag? Vor dem Hintergrund marktwirtschaftlicher Aspekte scheint diese Vermutung zumindest naheliegend zu sein, denn der ästhetische Anspruch und das künstlerische Selbstverständnis finden nicht nur im Privattheaterbetrieb sondern insbesondere auch im öffentlich subventionierten Theaterbereich ihre Grenzen bei den finanziellen Gegebenheiten. Kein Theater kann es sich leisten, den Geschmack des Publikums gänzlich außer Acht zu lassen. Radikalisiert man diese Abhängigkeit des Theaters von seinem Publikum, dann könnte man vorläufig und thesenhaft festhalten, dass spätestens seit dem Beginn der Moderne der Geschmack des Zuschauers gewichtiger wurde, als derjenige der Theatermacher. Zu einer grundsätzlichen Veränderung der gesellschaftlichen Legitimationsgrundlagen des Theaters und der damit zusammenhängenden Argumentationslogiken hat das jedoch bis jetzt nicht geführt. Relativierend anzumerken ist an dieser Stelle aber, dass sich das Theater seit den Bestrebungen der europäischen Theateravantgarde im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts und nicht zuletzt mit der Idee des Postdramatischen Theaters am Ende des 20. Jahrhunderts immer wieder der Vorherrschaft des literarischdramatischen Theaters entledigen wollte. D.h. die aktuelle Theaterlandschaft geht bei weitem nicht in der bildungsbürgerlichmoralischen Definition auf. Ob das jedoch als ein Akt der Annäherung des Theaters an das Publikum gewertet werden kann, ist doch eher zu bezweifeln. Es ist vielmehr so, dass mit der Ausweitung dessen, was begrifflich und damit ästhetisch als Theater bezeichnet bzw. erachtet werden kann, zeitgleich auch eine Multi70

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plikation der Motivationsmöglichkeiten für einen Theaterbesuch jenseits bildungsbürgerlicher Intentionen stattgefunden hat. Vieles ist heute im und für das Theater legitim. Die dem Theater zugeschriebene gesellschaftliche Funktion bedingt sich dennoch auch heute unübersehbar in Bildung, Hochkultur und Moral und nicht in Unterhaltung. Genau deshalb erscheint vielen Menschen, nämlich denen, die nicht diesem Deutungsmuster anhängen, das Theater auch als langweilig, verstaubt, dröge usw. Der Erlebnis- bzw. Spaßaspekt, der beispielsweise bei anderen gesellschaftlichen Gruppen stärker gewichtet wird, scheint im Theater noch immer nicht legitimiert zu sein. Bei dieser Bestandsaufnahme aus erziehungswissenschaftlicher Sicht bleibt die Position des „ästhetischen Elfenbeinturms“, die man weniger drastisch auch als Autonomieanspruch des künstlerischen Wollens der am Produktionsprozess Theater beteiligten Personen begreifen kann, noch unberücksichtigt und markiert so folgendes Problem, das der Regisseur Adolf Dresen wie folgt beschreibt: „Die Verwandlung des Theaters zum bürgerlichen Theater, in dem Literatur benutzt wird, ist für das Theater immer auch eine existentielle Bedrohung gewesen. Wenn es in die bürgerliche Gesellschaft eingegliedert ist, ist es tot; wenn es nicht eingegliedert ist, ist es unwirksam. So befindet es sich in einem sonderbaren Zwischenzustand, den man heute als Theatermann immerzu vor sich hat, weil jeder Schauspieler diesen Konflikt in sich trägt. Er ist gleichzeitig Künstler mit einem Totalitätsanspruch, und andererseits ganz einfach Arbeitnehmer. Beides ist er gleichzeitig. In diesen Konflikt ist er hineingestellt, und er lässt sich immer schwerer bewältigen“ (Dresen, zit.n. Mainusch 1989: 50).

Anders gesagt: Gewinnt der Anspruch einer spezifisch theatralperformativen Kunstausübung in der Produktion die Überhand, so lassen sich die sicht- und mit anderen Sinnen erlebbaren Ergebnisse nur schwer in ein eher auf das Kognitive gerichtetes Bildungsprogramm integrieren, wenn sich dessen ästhetische Definitionsgrundlagen, die unter anderem auch von einer Zweckfreiheit der Kunst sprechen, nicht ad absurdum führen lassen wollen. Dominiert der Angestelltenstatus diese Produktion, so wird einer Zweckfreiheit erst Recht nicht beizukommen sein – und das angesprochene Problem zu einem Dilemma.

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Für bildungstheoretisch auf Theater bezogene Überlegungen kommt erschwerend hinzu, dass sich der Begriff des Theaters in den letzten Jahrzehnten so stark gewandelt hat wie in den davor liegenden 2500 Jahren nicht (vgl. Schoenmakers/Studt 2007). Diese Wandlung hat auch mit der säkular notwendigen Legitimation der Funktion von Theater für Mensch und Gesellschaft zu tun und ist mutmaßlich eher aus der Richtung der Theaterschaffenden maßgeblich geprägt worden, als dass der Zuschauer und sein Geschmack hier regulierend eingegriffen hätten. Spätestens im 20 Jahrhundert ist dies durch die Etablierung des Kunstanspruchs, mit dem die oben angeführten Emanzipationsbewegungen wider dem literarisch-dramatischen Einfluss eng verflochten sind, durch die charismatische Figur des Regisseurs erfolgt, der zwischen eigenem Kunst-Anspruch und den vielfältigen Erwartungen der zuschauenden Wirklichkeiten, d.h. dem Normalbesucher, dem Kunstliebhaber im Abonnement oder den kontextualisierenden Fachbesuchern aus Wissenschaft, Kritik und Kulturadministration, zu vermitteln hat. Seine künstlerische Autonomie generiert sich aus dem Feld schöpferischer Interpretationen und den Geschmäckern der Adressaten; der Regisseur definiert und personalisiert durch sein artifiziell-ästhetisches Handeln – man spricht dann gewöhnlich von „Stil“ oder „Handschrift“ der Regie – die stark individualisierten Standpunkte und Interessen der Zuschauer an das Theater. So versucht er einen möglichst großen Einfluss auf die Erwartungshaltungen des Publikums ausüben zu können, um so per Theater-Angebot die Geschmacks-Nachfrage zu regeln. Dieses ökonomische Modell von Angebot und Nachfrage funktioniert unter künstlerischen Bedingungen nur dann, wenn entweder für beide Seiten ein Konsens herrscht bezüglich der Vereinbarung, was man unter Kunst verstehen will, oder das Prinzip der Verschwendung gilt: „Für mich ist es vor allem die anachronistische Produktionsweise des Theaters, die es immer noch reizvoll und wichtig macht. Das Theater als Produktionsort kennt keinen Shareholdervalue. Es ist ein Unternehmen, das unmöglich zu dem Zweck betrieben werden kann, mehr herauszuholen als man investiert hat. Und wenigstens eine Institution, bei der das so ist, braucht die Gesellschaft, wo Menschen in ihrer Arbeit mehr investieren als sie je zurückkriegen können. Das trifft übrigens wirklich für alle zu, die sich am Theater die Finger verbrennen: Der Aufwand

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steht in keinem Verhältnis zum Ergebnis. Auch wenn das Theater strategisch denkt oder wenn es noch so angepasst ist, es ist einfach kein Ort der Zweckrationalität und des Kalküls. Das erhält ihm eine fast singuläre, vom Aussterben bedrohte Erkenntnischance. Wenn man es pathetisch schief ausdrückt: Das Theater ist der Fuß in der Tür, die hinter der Aufklärung und ihrer Dialektik zuzufallen droht. Wenn man ihn herauszieht, ist die Tür zu“ (Umathum 2005: 208).

Hierin steckt die gegenwärtige Legitimation, die als ernsthafter Spaß am Erleben – und als spät-aufklärerische Durchhalteparole – daherkommt. Um derart wirksam zu werden, braucht es den Zuschauer – und dessen Kompetenz zur Mitverantwortung; d.h. vor der „Entdeckung des Zuschauers“ (vgl. Fischer-Lichte 1997) steht dessen Selbst-Erkenntnis: Er muss sich über seinen Status im Klaren sein; d.h. er muss sich als Co-Produzent und Aktant im Feld theatral-performativer Bedeutungserzeugung bewusst werden, um aus dieser Perspektive seinen Anspruch an das Theater zu äußern, was sich durchaus als Geschmack(serwartung) ausformuliert sehen kann. Das ist jedoch ein langer Weg, auf dessen Teilabschnitten die pädagogisch motivierten Erwartungshaltungen und didaktischen Wirkabsichten eine längere und vehementere Diskurs-Geschichte haben als das Nachdenken über die tatsächliche Wirkung des Theaters selbst – nicht zuletzt kann man das an der Tatsache des relativ kurzen Bestands der Disziplin Theaterwissenschaft, die als professioneller Stichwortgeber für diese Vorgänge fungieren könnte, festmachen. Dass sich der Anspruch an den (oder auch vom) Zuschauer zur verantwortungsbewusst ausgeübten Kompetenz der Kooperation und Koproduktion nicht voraussetzungslos haben lässt, wurde an dem weiter oben angemerkten Umstand deutlich, dass sich die pädagogischen Bemühungen Lessings an der Hamburger Wirkungsstätte ohne nennenswerten Publikumszuspruch abspielten. Die pädagogischen und theaterpraktischen Verdienste Lessings werden jedoch unsichtbar, wenn man das Modell des Nationaltheaters auf sein praktisches Scheitern reduziert; immerhin verdanken wir Lessing die implizite Begründung einer Profession, die im Bereich der internen Kommunikation im Theater wesentlich über Geschmacksfragen wacht – nämlich die der Dramaturgie. Dies ist ganz im Sinn der systemtheoretischen Argumentation Luhmanns (vgl. Luhmann 1995): Die Herausbildung einer theore-

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tisch ausgerichteten, internen Kommunikation (und damit eines autopoetischen Systems des Kunstwollens, der Kunst selbst) ist Indiz für das Fortschreiten der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung. Dabei steht der von Lessing verkörperte Dramaturg zeitlich noch vor der Etablierung der gegenwärtig immer wieder als Hort der Geschmacklosigkeit angefeindeten Instanz der Regie. Regie (als mögliche Form eines säkularen Kunst-Wollens) gerät theatergeschichtlich durch das Herausbilden fester, regelmäßiger, d.h. unter dem Kuratel einer ordnungspolitischen Instanz stehender, Truppen und Spielstätten erstmals in den Blick. Es sind die Prinzipale, die durch ihren primären Zugriff auf Stückvorlagen und Stoffe die Inhalte und formal-ästhetischen Überlegungen der Umsetzung in der Inszenierung bestimmen. An ihrer Person lässt sich die beginnende Institutionalisierung der Theaterproduktion festmachen. Die Ansicht, dass der Schauspieler selbst für seine Leistung verantwortlich sei, wird sukzessive zugunsten eines Plädoyers für eine theaterinterne Kontrollinstanz argumentativ verschoben, bzw. zu dieser in ein neues Verhältnis gesetzt. So probiert die von Christlob Mylius 1750 herausgegebene Schrift „Versuch eines Beweises, dass die Schauspielkunst eine freye Kunst sey“ einerseits eine (soziale) Aufwertung des Theaters (und seiner Beteiligten) und andererseits die Kopplung des Theaters an die sich langsam heranbildende bürgerliche Gesellschaft. Gerade letzteres ist für die Entstehung des modernen Theaters besonders bedeutsam, da die Loslösung vom höfisch-künstlichen Prinzip des Theaters und die Ausbildung eines eigenen Selbstverständnisses der theatralen Repräsentation zusammengedacht werden müssen. Hierzu sind die „Herren des Theaters“, wie Mylius sie nennt (vgl. Heeg 2000: 174ff.), nötig, die die Umsetzung der Theaterkunst nach bestimmten bürgerlichen Vorgaben kontrollieren und somit die Anbindung des Theaters an die bürgerliche Gesellschaft sicherstellen. In diesem Zusammenhang stehen dann auch die pädagogischen Bemühungen um eine Berechenbarkeit der Inszenierung durch den Zugriff auf den Darsteller und die Darstellungskonventionen, die man an einer Institutionalisierung der Ausbildung nachvollziehen kann. Im Gründungsakt der ersten deutschen Schauspielakademie 1753 sagte Konrad Ekhof zur Eröffnung:

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„Lassen sie uns also, meine Damen und Herren, die Grammatik der Schauspielkunst studieren [...], und uns mit den Mitteln bekannter machen, durch deren Anwendung wir zu der Fähigkeit gelangen, die Ursachen von allem einzusehen, nichts ohne hinlänglichen Grund zu reden noch zu tun und den Namen eines Freykünstlers mit Recht zu verdienen“ (Ekhof zit.n. Kathrein 1965: 9).

Diese – oben bereits angedeutete – Notwendigkeit der Bewertung von Darstellung sollte durch eine stärkere Bindung an den Dramenautor sichergestellt werden; intensive Leseproben sollten zu einer „Concertierung des Spiels“ (ebd.: 26) führen, das wiederum gerade durch die Bindung an ein Regelwerk berechenbar vermittelt werden sollte – sei es innerhalb der Ausbildung an der Akademie selbst, sei es an den Zuschauer: „Dass Ekhof zunächst einmal reine Erzieheraufgaben im Handwerklichen der Schauspielkunst leisten musste, ehe er an einen Zusammenklang des Spiels sowohl im geistigen Sinn als auch im mechanischen denken konnte, zeigt deutlich die Schwierigkeiten und Probleme, vor denen Ekhof als Spielleiter stand. Jedoch finden wir bei Ekhofs Vorgehen – von den Leseproben an, über die Erörterungen der Rolle und der Charaktere, der Festlegung des Spiels und der Aufführung nachfolgenden gemeinschaftlichen Kritik, bis zur gemeinsamen Auseinandersetzung mit den theoretischen Anleitungen, ihrer Problemstellung und Hintergründe – den Willen zu einer allgemeinen Zusammenarbeit, die unweigerlich zu einem fugenlosen Ensemblespiel von geistigem und handwerklichem Zusammenklang hätte führen müssen, wenn diese Ideen konsequent befolgt worden wären“ (Kathrein 1965: 7ff.).

Es klingt an, dass dies eher nicht der Fall war und lässt auf ein problematisches Verhältnis der Geschmäcker innerhalb wie außerhalb der eigentlichen theatralen Kommunikation schließen. Ekhof selbst jedoch ist für die praktische Beförderung von Lessings Theoremen überaus relevant. Die Begeisterung für den kurzen Auftritt Ekhofs in einem nach Ansicht Lessings doch eher schwachen Stück formuliert jener im zweiten Stück der Hamburgischen Dramaturgie wie folgt: „Ein ihm ganz eigenes Talent ist dieses, dass er Sittensprüche und allgemeine Betrachtungen, diese langweiligen Ausbeugungen eines verlegenen Dichters, mit einem Anstande, mit einer Innigkeit zu sagen weiß,

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dass das Trivialste von dieser Art in seinem Munde Neuheit und Würde, das Frostigste Feuer und Leben erhält“ (Lessing 1981: 20f.).

So ist nebenbei auch ein Miteinander von interpretierter Literatur und ästhetischem Anspruch des darstellerisch-theatralen Tuns gewährleistet; von einem ästhetischen Elfenbeinturm, der in seinem Kunstanspruch hermetisch geschlossen wäre, kann also in der diskursiven wie auch theatralen Praxis zu Zeiten Lessings angesichts seiner offenen Worte nicht die Rede sein.

2. Was sollen und was wollen wir sehen, wenn wir ins Theater gehen? Die historischen Ausführungen lassen deutlich erkennen, dass die ästhetisch-formale Weiterentwicklung der theatralen Kunst immer wieder auch zu Irritation geführt hat, wobei man hier differenzieren muss zwischen einem methodischen Wandel in der Kunst der theatralen Darstellung, der mit veränderten Vorstellungen von dem, was Theater sein soll, verbunden ist und einem ästhetischen Wandel, der mit neuen Formen veränderte Blicke auf tradierte Inhalte werfen möchte. Es ist ein grundlegender Unterschied, ob Lessing einen natürlichen, gemäßigten Schauspielstil fordert, weil dies seine Idee des bürgerlichen Trauerspiels nötig macht, oder ob Peter Zadek 1988 mit Gert Voss im „Kaufmann von Venedig“ einen Shylock auf die Bühne bringt, der als völlig assimilierter Jude und smarter Banker selbst über antisemitische Bemerkungen witzelt. Die Frage danach, was wie theatral präsentiert wird, muss also daher stets in doppelter Hinsicht beantwortet werden: in inhaltlicher und in formaler. Zunächst ein pseudo-empirischer Befund: Nämlich ein Blick in den Spielplan des Staatstheaters Nürnberg, sowie, sozusagen zur Kontrolle und zum Vergleich, in die aktuellen Spielpläne des Deutschen Theaters in Berlin, des Bochumer Schauspielhauses und des Hamburger Thalia Theaters jeweils im Hinblick auf die Premieren von 2007 und 2008. Es ist offensichtlich, dass diese Auswahl an Spielstätten subjektiv und stark selektiv ist. Eine ernsthafte empirische Untersuchung von Spielplänen müsste ein differenziertes Auswahlraster entwickeln oder eine Totalerhebung

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an allen öffentlichen Theatern anstellen. Es soll hier auch nur um einen Hinweis, ein Indiz, gehen. • Berlin: Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespeare Kommentar, Don Carlos, Groß und Klein, Onkel Wanja, Ein Sommernachtstraum, Die Ratten, Die Wildente. • Bochum: Wie es euch gefällt, trotzdem, Gespenster, Die Katze auf dem heißen Blechdach, Genannt Gospodin, Der Alptraum vom Glück, Der Zauberer von Oz, Pool, Motortown, Maria Stuart, Die Ratten, Macbeth. • Hamburg: Leonce und Lena, Happiness, Die Räuber, Kasimir und Karoline, Momo, Urfaust, Vor Sonnenaufgang. • Nürnberg: Tartuffe, Endspiel, Die Dreigroschenoper, Torquato Tasso, Besuch bei dem Vater, Pornographie, Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui, Ein bisschen Ruhe vor dem Sturm. Was fällt dabei auf? Nun, es sind zunächst zwei Aspekte, die erwähnenswert sind: Die großen Klassiker des Theaters erfreuen sich erstens nach wie vor großer Beliebtheit, werden jedoch zweitens deutlich kontrastiert mit Stücken zeitgenössischer Schriftsteller. Für den Kanon des Theaters bedeutet das einerseits ein deutliches Verhaftetsein in der Tradition des bürgerlich-hochkulturellen Bildungskanons und andererseits eine Öffnung hin zu Inhalten, die selbst jedoch wiederum einen eigenen Kanon konstituieren, nämlich den zeitgenössischen Kanon des Theaters, der formal sehr stark mit dem in Verbindung steht, was als Postdramatisches Theater (vgl. Lehmann 2001) bezeichnet wird. Zwei Dimensionen scheinen daher für die Beschaffenheit dieser Kanones von besonderer Bedeutung sind: Ein dem Inhalt dieser Stücke zugesprochener besonderer Gehalt und ein der Form dieser Stücke attestierter herausgehobener ästhetischer Mehrwert. Die in den großen, öffentlich geführten Theatern aufgeführten Stücke entstammen also folglich spezifischen Tradierungs-, Aushandlungs- und Selektionsprozessen. Kanontheoretisch ist dies ein folgerichtiger Vorgang, denn ein Kanon definiert Dazugehörigkeiten und produziert dadurch Abgrenzungen. Kultur- und sozialgeschichtlich betrachtet, ist ein Kanon daher ein Mechanismus zur Aufrechterhaltung von Hegemonien, da er von denjenigen gesellschaftlichen Schichten aufgestellt und tradiert wird, die auch die historisch gewachsene kulturelle Definitionsmacht in einer Gesellschaft besitzen. Bezogen auf das Theater würde dies heißen, 77

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dass v.a. Intendanten, Regisseure, Schriftsteller und Kritiker die machtvollsten Legitimations- und Selektionsinstanzen für den theatralen Kanon darstellen und eben doch gerade nicht der Zuschauer, der sich in Kontexten des staatlich institutionalisierten Repertoiretheater-Betriebs auch heute noch – zumindest in der großen Tendenz – aus Angehörigen des ästhetisch eher konservativen gehobenen Bürgertums zusammenzusetzen scheint. Doch ist das wirklich so? Welche Rolle spielt die Definitionsmacht der Theatermacher tatsächlich und welche Bedeutung hat der Publikumsgeschmack nun wirklich? So lässt sich fragen, in welchem Verhältnis die Geschmäcker der Theatermacher und des Theaterpublikums strukturell zueinander stehen, wie sie beschaffen sind und ob und inwiefern sie sich decken bzw. verschieden sind. Inhaltlich sieht sich das Theater offenbar auch heute noch über weite Strecken der Tradition des bürgerlich-hochkulturellen Kanons verpflichtet. D.h. das Theater fungiert in dieser Hinsicht als Wächter und Bewahrer von moralischen Werten sowie ästhetischen Normen und von inhaltlichen Identifikationsstrukturen einer doch spezifischen Gesellschaftsschicht. Dem Publikumsgeschmack, der sich in derselben Tradition wiederfindet, scheint das entgegenzukommen. Die gesellschaftliche Bedeutung, bzw. die dem Theater attestierte gesellschaftlich bedeutsame Funktion, steht in enger Verbindung zum Hochkulturschema, das auch heute noch vom gebildeten Bürgertum gestützt und durch dessen Selbstverständnis maßgeblich geprägt wird. In postmodernpluralistischen Gesellschaften verändern sich zwar derartige Strukturen dadurch, dass es viele, deutlich voneinander abgrenzbare, tendenziell gleichwertige Stil- und Geschmacks-Gruppen gibt, doch bleiben dabei – zumindest für das Theater – die Distinktionsmacht des bildungsbürgerlichen Kanons und die damit zusammenhängenden Kunst-, Geschmacks- und Bildungsvorstellungen noch nahezu unangetastet. Dies hängt mutmaßlich mit subjektiven bzw. kollektivierten Relevanzstrukturen zusammen. Kultursoziologisch gesehen (vgl. Bourdieu 1982: 171ff.), ist ein Theaterbesuch nicht in allen Sozialräumen einer Gesellschaft gleich relevant. Selbst unter dem Vorzeichen deutlich erodierter Klassenstrukturen und individualisierter, d.h. pluralisierter, Lebensformen, kann mit Pierre Bourdieu auch heute noch gesagt werden, dass der Theaterbesuch nur in ganz bestimmten sozial78

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räumlichen, nämlich in bildungsbürgerlichen und intellektuellen Kontexten Teil des Lebensalltags ist, weshalb sich wenigstens im Kern aus strukturell-theoretischer Perspektive auch heute noch eine Vormachtstellung des hochkulturellen Deutungsmusters hinsichtlich dessen ergibt, was wie im Theater in Erscheinung treten soll. Dadurch, dass ein Kanon jedoch keineswegs als rein museales Gebilde zu sehen ist, sondern er immer auch auf ihn verändernden Austauschprozessen über seine Bedingungen und Funktionen beruht, erscheint auch die Integration der, inhaltlich und formal als tradierenswert erachteten, zeitgenössischen Stücke in den Kanon als zunächst problemlos. Publikum und Theatermacher sind sich hier also scheinbar einig. Schwieriger wird es jedoch im Hinblick auf die präsentative Form der Stücke. Kultursoziologisch betrachtet, treffen hier nämlich nun doch zwei unterschiedliche Sinne für kulturelle Distinktion aufeinander (vgl. Bourdieu 1982: 405ff.), obwohl beide Gruppen, Theatermacher und Theaterpublikum, zumindest tendenziell, dem gesellschaftlichen Raum mit dem höchsten kulturellen Kapital angehören und dadurch einen herrschenden Geschmack repräsentieren. Die hier zu erörternde These lautet deshalb: Der Hauptgruppe der regelmäßigen Besucher des öffentlich getragenen Theaterbetriebs ist ein gewisser Hang zum Insistieren auf traditionelle Sehgewohnheiten und traditionelle Regeln des Theaters, d.h. auf heute konventionelle Formen der Aufführung und auf Methoden der schauspielerischen Darstellung, die im Kern zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch Konstantin Stanislawskis psychologischen Bühnenrealismus begründet wurden, zu Eigen. Ja, ein Großteil des Theaterpublikums scheint die theatralen Geschehnisse – so die zweite These an dieser Stelle – durch die Brille, die Stanislawski dem Theaterpublikum aufgesetzt hat, zu betrachten. Man erwartet sich ein strukturell kohärentes Stück, das von Schauspielern getragen wird, die ganzheitlich eine Rolle verkörpern, sich psychologisch in sie einfühlen, und in dem der Inhalt angemessen, stringent und verständlich transportiert wird. Der Geschmack der Theatermacher, und übrigens stellenweise auch derjenige von „professionellen“ Theaterzuschauern, wie etwa Kritikern, Theaterwissenschaftlern, Kunst- und Kulturmanagern und freiberuflichen Künstlern, steht dazu in einer signifikanten Differenz. Hier rücken die Brechung und die Infragestellung 79

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des Traditionellen und Konventionellen in das Zentrum der Distinktion. In dieser Perspektive muss bzw. soll das Theater nicht mehr ganzheitlich kohärent, nicht mehr zwingend logisch, nicht mehr dramatisch-illusionär und nicht mehr psychologisch fundiert sein. Vielmehr will man „ein Theater der Wahrnehmung, des Prozesses, ein Theater, das die theatralen Mittel – Raum, Körper, Zeit – neu erkundet und sie nicht mehr unter das Primat des Textes stellt“ (Matzke 2006: 9). Das Theater wird aus dieser Perspektive eher zu einem offenen System, das permanent sich selbst erforscht. Der traditionell sozialisierte Theaterzuschauer im besten Sinne eines Laien, findet hier, im Zuge einer intendierten Dekonstruktion theatraler Konventionen, jedoch zunehmend seine Grenzen. Zu verwirrend, zu unnahbar, zu anschlusslos, zu fragmentarisch, zu ziellos erscheint das Präsentierte. Das Theater gefällt nicht, weil es nicht dem entspricht, was man sich erwartet. Das war jedoch schon zu Zeiten der historischen Theateravantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts genauso, wie auch zu Zeiten Lessings. Vielleicht ist das Ärgernis des Publikums oder, besser gesagt: die Missachtung des Theaters durch diejenigen, die hingehen, ja auch konstitutiv für diese Kunstform? Vielleicht bedarf das Theater ja wirklich des ständig krittelnden und räsonierenden Abonnenten, der zweifelsohne der wichtigste Partner des öffentlichen Theaterbetriebs ist, sogar mehr als des professionellen Kritikers, damit es etwas hat, an dem es sich reiben und dadurch weiterentwickeln kann? Das ist in der Tat eine spannungsgeladene These: Theater als anthropologische Konstante des Ärgerns – ein historischer Bogen von allgemein formulierten, alle angehenden und kollektiv verfassten Ärgernissen (Motto: Die Götter und wir) bis zum individualisiert und tribalisiert vollziehenden Sich-Ärgern (das Ich als Gott), wobei das Ärgern und der Geschmack produktiv ineinander verschränkt sind und sich Innovationen – u.a. die zur Beförderung der theatralen Praxis – an den Grenzen der jeweils gültigen Normen abspielen. Jedoch kommt dieses Modell spätestens mit der Aufklärung ins Stocken. Dass sich das Ärgern vorwissenschaftlich äußert (was zumeist auch am Vokabular erkennbar ist) und sich der Geschmack als erkenntnistheoretische Kategorie eher despektierlich behandelt sieht, haben wir Kant und seiner Kritik der Urteilskraft zu ver80

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danken: „Das Wohlgefallen, welches das Geschmacksurteil bestimmt, ist ohne alles Interesse“ (Kant 1974: 116). Diese hier konstatierte Begriffslosigkeit des Schönen, das im Gegensatz zum mit Interesse verfolgten Guten steht, ist eine folgenreiche Aussage; vermochte Kant das Geschmacksurteil (und auch das schöpferische Genie) noch durch einen Appell an den überindividuell verfassten sensus communis zu legitimieren, so ist das, was wir Gegenwartsmenschen uns darunter vorstellen wollen, diffus und theoretische Spekulation – und unter Umständen auch Ursache für akademische Elaborate. Dabei ist das Bild der produktiven Verschränkung von Ärger und Geschmack attraktiv, denn: Wer sich in seinem Leben – ob professionell oder als Laie – mit Theater beschäftigt, hat mindestens einmal das Gefühl, dass dieses doch ohne Theater viel besser wäre. Das kann sich in einem plötzlichen Wutanfall, in verzweifelter Fassungslosigkeit oder als schleichender Prozess äußern; in jedem Fall ist man fest entschlossen, sich vom Theater endgültig verabschieden zu müssen, um sich umso konzentrierter dem Schauspiel seines Lebens zuzuwenden. Keiner hat das schöner formuliert als Roland Barthes, der in seinen Schriften zum Theater sehr ausführlich und differenziert die Geschmacksfrage und Geschmackssache Theater erörtert: „Ich habe das Theater immer sehr geliebt, und dennoch gehe ich fast nie mehr hin“ (Barthes 2001). Mit der Loslösung des Theaters aus rituellen, magischen und/ oder religiösen Kontexten und der damit immer neu erfolgten, weil legitimierend notwendigen kulturellen Kodierung wurde die Frage, was Theater sei, immer auch zur Frage des Geschmacks. Die Instanzen und Akteure, die diese Frage formulieren, entstammen dem jeweiligen Leitsystem der internen Ordnung von Gesellschaft. Man begegnete dem Theater oft mit Skepsis (vgl. Vietta 2007: bes. 207-224) oder vereinnahmte es für politischideologische Zwecke (vgl. Kolesch 2006) – es würde an dieser Stelle zu weit gehen, den jeweiligen Theatergeschmack als Ausprägung von Kultur(geschichte) vorzustellen (vgl. Fiebach 2007); wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass sich das (Geschmacks-) Urteil nicht voraussetzungslos haben lässt und sich stets im Wechselverhältnis zwischen Machern und Adressaten modellierte. Spätestens mit dem Einsetzen der historischen Avantgarden zum Ende des 19. Jahrhunderts und dem gleichzeitigen Aufkom81

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men der Massenkultur wurden die Fragen des Geschmacks (und damit die Grenzen des Tolerierbaren, des Geschmacklosen) immer mehr Sache der Produzenten und somit weiter zugespitzt – und damit immer schwieriger zu beantworten; was die (kleinbürgerliche) Pädagogik in diesem Kontext nicht daran hindert, auf diese Prozesse mit einer verstärkt dogmatischen Auffassung von dem, was als guter Geschmack zu verstehen sei, zu reagieren (vgl. Bollenbeck 1999). Das immer größere Auseinanderklaffen von Regelund Wirkungsästhetik bewirkt unter anderem den Verlust von ethischen, d.h. eigentlich handlungsorientierten Kategorien bei der Bewertung der Kunst; der handelnde Mensch – ein vermeintlich konstitutives Element des Theatralen – wird so marginalisiert (radikal in den mechanischen, formalistischen Theater-Entwürfen) oder zum Gegenstand einer banalen Nabelschau, die mit spekulativem Material angereichert ist; im Gegenwartstheater wird allzu oft aus der Möglichkeit eines Lessing und Sex ein prüdes Lessing oder Sex – d.h. die blutleere Pflege eines Kanoninhalts oder die experimentelle Behauptung einer Suche, die ohne Ort und Adressat bleibt. Um die entscheidende Frage danach zu beantworten, welches Theater man mag, muss man zunächst einmal klären, was man unter „Theater“ verstehen will. Dieses Verständnis ist grundlegend für die Markierung des Begriffs; sie gibt automatisch einen semantischen Horizont vor, an dem sich unsere Vor-Urteile orientieren. Sobald sich diese Vor-Urteile als Erwartung an das, was man selbst für Theater hält, ausgeprägt und entsprochen sehen, so gibt es kein Problem: Die so gemachten Erfahrungen sind erwartet und wirken stabilisierend auf mein (Vor-)Urteil zurück. Wird jedoch meinen Vor-Urteilen nicht entsprochen, d.h. weichen die gemachten Beobachtungen und Erlebnisse signifikant von dem ab, was ich mir unter „Theater“ vorgestellt habe, so kehren sich diese gegenteiligen Erfahrungen gegen mich. Man entfernt sich jedoch so von der eigentlichen Absicht, den Theater-Begriff (auch ganz wörtlich: das, was man als Theater begreift) zu differenzieren; mit diesen Erläuterungen wird nur das Gelingen oder Scheitern der Wirkung des Theaters beschrieben. Ersteres macht die Frage überflüssig, für Letzteres kommt sie zumeist zu spät. Unlängst entzündete sich der Streit um das Theater an einer Macbeth-Inszenierung von Jürgen Gosch, die zur generellen Auseinandersetzung über das „Für und Wider von Inszenierungen 82

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[taugt] [...]. Hat man doch durch die Lektüre von launig-scharfen Theaterkritiken oder gar Verrissen gelernt, dass sich damit ganz famos über die Zulässigkeit von Inszenierungsmitteln, aber auch ganz grundsätzlich über Sinn und Unsinn einer Theateraufführung streiten lässt“ (Gutjahr 2008: 13). Gosch ließ „Macbeth“ von Männern spielen, die die meiste Zeit spärlich kostümiert agierten und die rohe Brutalität des im dramatischen Stoff Behandelten unter massiver Nutzung von Theaterblut visualisierten. Dieses Vorgehen wurde als „Ekeltheater“ bezeichnet; eine Chiffre für das die eigenen theatralen Mittel überbetonende Regietheater, das seither mit „Blut, Fäkalien, Gewalt, Obszönitäten, Sex und Nacktheit auf der Bühne assoziiert“ (ebd.: 15) wird. Wird man gefragt, ob man dieses Theater mag, so scheiden sich also die Geister: Wenn man auf die dramatische Vorlage, bzw. auf den dramatischen Text und das in diesen eingeschriebene Programm, die Autorität des Dichterwortes usw. rekurriert und sein an diesen Aktanten geeichtes Vorstellungsvermögen zu einem diesbezüglichen Theaterbegriff modelliert, so wie man es von den so genannten „Werktreue-Debatten“ her kennt, wird die Antwort auf die Frage erwartbar (negativ) sein. Innerhalb der Vorstellung einer geschlossenen Werk-Repräsentation, die ihren Ausgang bei den schulmeisterlichen Pädagogen des 16. Jahrhunderts nimmt, und die von den Apologeten der Aufklärung (Stichwort Lessing) und der ästhetischen Bildung (Stichwort Schiller) fortgeführt wurde – gilt der zugrunde liegende Text als Referenz; Theater ist demnach nur Mittel zum Zweck, der dramatischen Sprache einen Raum zu geben. Jürgen Gosch setzte in seiner Fassung des „Macbeth“ offensichtlich andere Mittel zu anderen Zwecken ein – es gelten die ästhetischen Kennzeichen eines „Theaters im Zeitalter seiner Beschleunigung“ (Ostermeier 1999) und dessen konkrete Markierung von Körperlichkeit im Gegensatz zur sich zunehmend mediatisierenden Lebenswirklichkeit. Stellt man sich die Frage, ob man dieses Theater mag, so muss man hochgradig differenzieren: Zum Beispiel über die Wertigkeit, die dem Shakespeareschen „Macbeth“ im Zuge der (inszenatorischen) Aktualisierungsstrategie zukommt; oder über das der Figurenzeichnung innewohnende Menschenbild; oder über die Herstellung von penetranter Präsenz, die formalen Mittel der Darstellung etc. – alles Dinge, über die man sich ärgern kann. Jedoch alles Dinge, über die man strei83

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ten kann (und muss); Lessing hätte auch diesen Abend zum Gegenstand einer Betrachtung gemacht und sich Bestandteile herausgesucht, um sie seinem Geschmacksurteil auszusetzen. Auch wenn man relativierend konstatieren muss, dass sich sein Urteil unter anderen Rahmenbedingungen als den unseren gebildet hätte – jedoch geht es nicht um den Gehalt des Urteils, sondern um die Gestaltung des Urteilens. Hier scheint das Offene, Unabgeschlossene allemal angebrachter als das schon vorher Feststehende und somit Hermetische. So bleibt Raum für Überraschungen und unvermutete Einsichten, auch wenn uns die manchmal nicht gefallen.

3. Fazit: Warum gehen wir heute (noch) ins Theater? Gehen wir ernsthaft heute ins Theater, weil es uns nicht mehr gefällt? Gehen wir ins Theater, um danach etwas zerreden zu können? Glaubt man der bereits erwähnten Selbsteinschätzung von Roland Barthes, dann ist diese These als ambivalent zu bewerten: „Ich habe das Theater immer sehr geliebt, und dennoch gehe ich fast nie mehr hin. Das ist ein Wandel, der mich selbst stutzig macht. Was ist geschehen? Wann ist es geschehen? Habe ich mich verändert? Oder das Theater? Liebe ich es nicht mehr oder liebe ich es zu sehr?“ (Barthes 2001: 19).

Welche Gründe lassen sich also heute für einen Theaterbesuch finden? In postmodern-pluralistischen Zeiten erscheint auch das Motivationsspektrum für die Rezeption von Kunst sehr breit: Unterhaltung, sozialer Umgang, Selbstbefremdung, avantgardistisch-ästhetische Selbstversicherung und bildungsbürgerliche Selbstversicherung, kontemplativer Genuss des hochkulturell Kanonischen usw. Das alles erscheint heute aus Sicht der Zuschauer und aus der Sicht des Theaters als möglich. All dies sind daher mögliche und gleichberechtigte Horizonte des zeitgenössischen Theaters. Das aktuelle Theater erscheint uns als ein kontingentes. Was aber bleibt dem Zuschauer dabei? Was bedeutet uns das aktuelle Theater?

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LEOPOLD KLEPACKI & ANDRÉ STUDT: GESCHMACKSFRAGEN

Der provokanten These Peter Brooks (vgl. Brook 1989: 77ff.), das Theater tauge nicht für soziale und politische Kritik, da ein Kunstwerk noch nie einen besseren Menschen hervorgebracht habe, ließe sich entgegenhalten, dass das Theater als Kunstform nahezu immer etwas mit dem Menschsein zu tun hat und es deshalb konstitutiv ein reflexives Element aufweist. Auf Basis dieser anthropologischen Betrachtungsweise des Theaters geht es heute vielleicht wirklich weniger um die Rezeption dessen, was man normalerweise als Inhalt eines Stückes bezeichnet, sondern eher um die subjektive Wahrnehmung von beliebigen, prinzipiell gleichwertigen subjektiven Handlungsmöglichkeiten. Aus einer bildungstheoretischen Perspektive heraus könnte man deshalb schließlich sagen, dass für den Zuschauer hier möglicherweise tatsächlich der Umstand der Selbst-Befremdung im Sinne einer Destabilisierung oder Umstrukturierung seiner eigenen Bedeutungssysteme, seiner eigenen Selbst- und Weltwahrnehmung, im Prozess der theatralen Rezeption tendenziell wichtiger wird. Vielleicht sind es in Zeiten der Pluralisierung und Individualisierung gerade die Befremdungen, die neue Orientierung geben können. Wenn in den sog. postmodernen Gesellschaftsformen eine fortschreitende substanzielle Pluralisierung von Lebensentwürfen, Wissens- und Kulturformen, Sozialbeziehungen, Berufsformen usw. zu verzeichnen ist, dann sind die sich für das Individuum eröffnenden Möglichkeitshorizonte doppelt gerichtet: Zum einen ergeben sich Chancen durch Vielfalt, zum anderen Orientierungsnöte vor dem Hintergrund kontingenter prinzipiell gleichwertiger Varianten. Die daraus resultierenden Entscheidungszwänge erfordern reflektierte Prozesse subjektiver kultureller Suchbewegungen (vgl. Ziehe 1992: 117ff.). Ein Theater, das fragt, ist vor diesem Hintergrund eventuell adäquater, als ein Theater, das vorgibt, Antworten zu wissen. Doch welche Fragen kann das Theater eigentlich stellen? Und wer beantwortet sie dann? In seinem Essay „Theater ist Schreiben im Sand“ geht der belgische Theaterregisseur Luk Perceval (2005: 11ff.) davon aus, dass die Menschheit ihr Bedürfnis nach Sinngebung im Theater ritualisiert habe, obwohl das Theater in keiner Weise in der Lage sei, eine Antwort auf die Sinnfrage zu geben. Es erscheint absurd, dass die Suche danach dennoch sowohl die Theatermacher als auch das Theaterpublikum motivieren würde. Das Theater selbst 85

BILDUNG UND ERZIEHUNG

manifestiert sich dadurch im Prinzip der Suche, das auf ein konstitutives Nicht-Wissen verweist: „Aus der Tatsache, dass das Theater jede Form von Antwort schuldig bleibt, Künstler wie Zuschauer dazu zwingt, die Stille, die Leere zu akzeptieren, sie ohne Erklärung ins Leben zurückwirft, ohne bestechende Logik, können wir lernen, mit leeren Händen diesem Suchen zu vertrauen – der scheinbar einzige Sinn des Sinnlosen“ (Perceval 2005: 12).

Bei aller anstrengenden Zumutung dieses Sachverhalts, sollte man sich dennoch glücklich schätzen, denn – folgt man der Argumentation Peter Steins – ist es kaum vorstellbar, „dass das Theater heute noch einmal erfunden werden könnte. Das Theater mit seinem Insistieren auf Gegenwärtigkeit, auf dem einen Spielort, auf der Beteiligung der Zuschauer – ich frage mich, ob das in unsere Zeit noch passt. Es ist vielleicht besser, man verhält sich anders, dann kommt man besser über die Runden, zumindest sagen das die Apparate“ (Stein zit. n. Mainusch 1989: 117).

Vielleicht gehen wir also doch gerade aus dem Grund ins Theater, weil wir uns Fragen stellen möchten, die sonst nicht aufgeworfen werden. Vielleicht ist die zentrale Frage dabei, warum das, was wir da sehen, eigentlich nicht das ist, was wir uns einbilden sehen zu wollen. Das uns Fremde ist also nicht unbedingt geschmacklos. Es wirft nur Fragen auf, die sich mitunter der Beantwortung entziehen.

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Vernunft, Technik und Kunst

Peter Bernhard

Der Geschmack der Vernunft Eine Spurensuche

„So viel ist gewiß: wer einmal Kritik gekostet hat, den ekelt auf immer alles dogmatische Gewäsche“ (Kant IV: 190).1 Diese Feststellung trifft Immanuel Kant 1783 in seinen Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. Dabei bezeichnet er mit der zur Kost empfohlenen Kritik den in der Kritik der reinen Vernunft entfalteten Denkstil und mit dem Ekel hervorrufenden, dogmatischen Gewäsche alle Formen der alten, als unhaltbar erwiesenen Metaphysik (vgl. Bernhard 2003). Für ein tieferes Verständnis dieses ganz eigenartigen Geschmacksurteils empfiehlt sich ein Blick in Kants Anthropologie: „Man kann die Empfindungen der äußeren Sinne in die des mechanischen und des chemischen Einflusses eintheilen. Zu den mechanisch einfließenden gehören die drei obersten, zu denen von chemischem Einfluß die zwei niedern Sinne. Jene sind Sinne der Wahrnehmung (oberflächlich), diese des Genusses (innigste Einnehmung). – Daher kommt es, daß der Ekel, ein Anreiz, sich des Genossenen durch den kürzesten Weg des Speisecanals zu entledigen (sich zu erbrechen), als eine so starke Vitalempfindung den Menschen beigegeben worden, weil jene innigliche Einnehmung dem Thier gefährlich werden kann. Weil es aber auch einen Geistesgenuß giebt, der in der Mittheilung der Gedanken besteht, das Gemüth aber diesen, wenn er uns aufgedrungen wird und doch als Geistes-Nahrung für uns nicht gedeihlich ist, widerlich findet (wie z. B. die Wiederholung immer einerlei witzig oder lustig sein sollender Einfälle uns selbst durch diese Einerleiheit ungedeihlich werden kann), so wird der Instinct der Natur, seiner los zu werden, der Analogie wegen gleichfalls Ekel genannt, ob er gleich zum inneren Sinn gehört“ (Kant VII: 157f.).2 1 2

Kant wird nach der Akademie-Ausgabe mit römischen Ziffern für die Bandabgabe zitiert. Ergänzend heißt es an einer Nachlassstelle: „Ekelhaft ist falscher Witz, oft wiederholte Einfälle, langweilige Erzählung, Selbstlob“ (Kant XV: 473).

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VERNUNFT, TECHNIK UND KUNST

Die sich im Ekel manifestierende Analogie von äußerem und innerem Sinn könnte einen Philosophen der Aufklärung zum Pessimismus veranlassen. Neigt doch der äußere Sinn nicht per se zu dem ihm Zuträglichen, im Gegenteil: „Von einem durch Gewürze und andere Zusätze den Geschmack erhebenden Gerichte sagt man ohne Bedenken, es sei angenehm, und gesteht zugleich, daß es nicht gut sei; weil es zwar unmittelbar den Sinnen behagt, mittelbar aber, d. i. durch die Vernunft, die auf die Folgen hinaussieht, betrachtet, mißfällt“ (Kant V: 208).

Allerdings ist von dem Königsberger Philosophen überliefert, dass er jeder Speise selbst angerührten Senf zugab, nicht wegen des Geschmacks, sondern wegen der der Gesundheit so förderlichen Wirkung, womit die Hoffnung begründet scheint, dass man dem Widerstreit von Geschmack und Vernunft nicht hilflos ausgeliefert ist. Darüber hinaus ist allgemein bekannt, dass man an zuträgliche Speisen herangeführt werden muss, um sie wirklich schätzen, d.h. geschmacklich auskosten zu können. Auch hier scheint die Analogie zu gelten, denn wie empfehlenswert auch heute noch die Lektüre der Kritik der reinen Vernunft sein mag, so ist sie doch eine schwer verdauliche Kost, wenn sie unvorbereitet verabreicht wird. Auf welche Weise also sollte eine Ausbildung des inneren Sinnes betrieben werden? Abb. 1: Kant beim Senf anrühren (Zeichnung von 1801)

In der europäischen Geistesgeschichte (aber nicht nur hier) hat sich diesem beschwerlichen Weg die Disziplin der Logik, die sich als eine medicina mentis verstand, verschrieben. Freilich, zu Kants Zeiten war dieser Senf des Geistes längst als nutzlose, scholastische Begriffsakrobatik in Misskredit geraten. Die allgemeine Einschätzung wird recht gut von

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PETER BERNHARD: DER GESCHMACK DER VERNUNFT

Kants Zeitgenossen und Experten auf dem Gebiet des Genießens, Johann Wolfgang von Goethe, dargestellt, wenn er in seinem Faust Mephisto erklären lässt: „Mein teurer Freund, ich rat Euch drum zuerst Collegium Logicum. Da wird der Geist Euch wohl dressiert, in spanische Stiefeln eingeschnürt, daß er bedächtiger so fortan hinschleiche die Gedankenbahn.“ (Goethe 2000: V. 1910-15)

Dieser weit verbreiteten Meinung widersprach jedoch eine andere Person, die ebenfalls zur selben Zeit wie Kant lebte, nämlich die Freyinn Philippine Knigge, Tochter des Freiherrn Adolph Knigge, der seit der Publikation seines Werkes Über den Umgang mit Menschen im Jahr 1788 als Experte des guten Geschmacks gilt. Einerseits zu Recht, andererseits zu Unrecht, denn Knigges Intention bestand nicht im Verfassen einer Anstandsfibel. Dementsprechend finden alle die Dinge, die man heute mit seinem Namen assoziiert – wie man ein Weinglas richtig zu halten hat oder das Besteck auf dem Tisch anzuordnen ist – im Ursprungstext keinerlei Erwähnung (sie wurden erst in späteren Auflagen nach Knigges Tod ergänzt). Der gebürtige Freiherr von Knigge, der als glühender Anhänger der Aufklärung sein „von“ ablegte, um sich fortan „freier Herr Knigge“ zu nennen, hatte für die auf höfischen Konventionen beruhenden Benimmregeln wenig übrig. Sein berühmtes Buch sollte es deshalb dem dritten Stand der Bürger ermöglichen, sich diese Regeln nur soweit anzueignen, als es erforderlich war, um sich in den bornierten Adelskreisen sicher und selbstbewusst zu bewegen. Der größte Teil des Buches widmet sich aber solchen Anstandsregeln, die ein anständiges Miteinander von Mensch zu Mensch (und von Mensch zu Tier) ermöglichen sollen. Im Jahre 1789 – ein Jahr nach dem berühmten Buch des Vaters und sechs Jahre nach Kants Prolegomena – veröffentlichte Philippine Knigge den Versuch einer Logic für Frauenzimmer. In der Vorrede erfährt der Leser, dass Sie von ihrem Vater in dieser Disziplin unterrichtet wurde. Zugleich gibt die Autorin Auskunft über die Motivation, die sie zum Abfassen dieses Werkes veranlasste:

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VERNUNFT, TECHNIK UND KUNST

„Ich fühlte den Einfluß, den diese Wissenschaft auf die Ordnung meiner Begriffe gehabt hatte; ich fühlte, wie sehr Diejenigen Unrecht haben, welche die Logic als einen elenden, unnützen Wortkram verwerfen, und ich glaubte, es würde andern Personen meines Geschlechts nicht unangenehm noch unnütz seyn, wenn ich den Genuß, welchen mir das Studium der Logic gewährt hatte, mit ihnen theilte“ (Knigge 1789: Vf.).

Abb. 2: Titelblatt von Knigges Buch

Nach diesen kurzen Bemerkungen schreitet die Freyinn unmittelbar zur Tat. Es folgt eine in äußerst klarer Sprache abgefasste Einführung in die Logik, die alle wesentlichen Lehrstücke des damaligen Kanons enthält, unterteilt in fünf Kapitel: Kapitel 1: Von den Begriffen, Kapitel 2: Von der symbolischen Erkenntnis, Kapitel 3: Definitionslehre, Kapitel 4: Urteilslehre und schließlich Kapitel 5: Die Syllogismen (vgl. Thiel 1996). Die Autorin traut sich sogar eine kleine Innovation zu: Sie ersetzt die künstlichen Memorialworte der traditionellen Logik (die in Logikschriften seit dem ausgehenden Mittelalter immer wieder als „barbarisch“ kritisiert wurden) durch Worte der Alltagssprache. Da sie dabei aber nur die Reihenfolge der Vokale berücksichtigt, wird die darin codierte Rückführungsmethode unmöglich (vgl. Bernhard 2001: 18-39). Zudem sind viele ihrer Beispiele nicht unmittelbar einsichtig. So ersetzt sie den scholastischen Ausdruck „Fesapo“ durch „Geschmacklos“. Gemäß der allein von ihr berücksichtigten Vokalfolge e-a-o müsste dieser Schluss die Form „Kein A ist B, alle B sind C, also sind einige A nicht C“ besitzen. Knigge nennt als Beispiel dafür jedoch „Niemand kann das Wesen Gottes ergründen; wer das Wesen Gottes ergründet, müsste Gott selbst gleich seyn; also ist der Mensch Gott nicht gleich“ (Knigge 1789: 132).

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PETER BERNHARD: DER GESCHMACK DER VERNUNFT

Was die spezifisch genussvollen Qualitäten dieser angeblich so kurzweiligen Geistes-Nahrung betrifft, so kommt Knigge darauf nicht mehr zurück. Sie war wohl der Meinung, dass die in den einzelnen Kapiteln gemachten Ausführungen für sich selber sprächen – eine Ansicht, die sich auch bei späteren Generationen findet. So erklärte Ludwig Wittgenstein in seinem Tractatus logicophilosophicus lapidar: „Die Logik muss für sich selber sorgen“ (Wittgenstein 1966: 5.473). Der Tractatus hat bezüglich seiner Textgestalt einen strengen Aufbau. Jeder einzelne Gedankengang – viele davon nur aus einem einzigen Satz bestehend – ist mit einer Dezimalnummer versehen, aus welcher man seine argumentative Position (und damit sein „Gewicht“) im Gesamtsystem ersehen kann. Eine eigenwillige Gliederung und zahlreiche Hervorhebungen geben dem Tractatus darüber hinaus eine charakteristische Form, die Wittgenstein sehr wichtig war. Als er erfuhr, dass sein Werk in den von Wilhelm Ostwald herausgegebenen Annalen der Naturphilosophie publiziert werden sollte, brachte er in einem Brief an Russell umgehend seine Besorgnis zum Ausdruck: „Wenn er [Ostwald] es nur nicht verstümmelt! Liest Du die Korrekturen? Dann bitte sei so lieb und gib acht, daß er es genau so druckt, wie es bei mir steht. Ich traue dem Ostwald zu, daß er die Arbeit nach seinem Geschmack […] verändert“ (Wittgenstein 1921: 157).

Kurz nach der Veröffentlichung wurde der Tractatus intensiv in einem Zirkel namhafter Naturwissenschaftler, Mathematiker und Philosophen, darunter Moritz Schlick und Rudolf Carnap, in Wien diskutiert. Vor allem für die Jüngeren des später so genannten „Wiener Kreises“ bedeutete die Lektüre des Tractatus den entscheidenden Schritt zu einer metaphysikfreien, positivistischen Weltauffassung, die eine der wichtigsten Strömungen der Philosophie des 20. Jahrhunderts bilden sollte. Wittgenstein selbst hatte seinem Werk gegenüber eine ganz eigene Einstellung, wie Carnap in seinen Erinnerungen sehr eindrücklich beschreibt: „[Wittgensteins] Ansichten und Auffassungen von Menschen und Problemen, auch theoretischen Problemen, glichen mehr denen eines Künstlers als denen eines Wissenschaftlers. [...] Wenn er anfing, seine Meinung zu bestimmten philosophischen Problemen zu formulieren, spürten wir häufig den inneren Kampf, der in diesem Augenblick in ihm stattfand, [...]. Wenn dann endlich, manchmal nach anhaltendem, zä-

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hem Bemühen, seine Antwort kam, stand seine Erklärung vor uns wie ein neu erschaffenes Kunstwerk [...]. Nicht, daß er auf seiner Ansicht dogmatisch bestand. Obwohl manche Formulierungen im Tractatus so klingen, als gäbe es keine Möglichkeit des Zweifels, äußerte er oft das Gefühl, daß seine Feststellungen unzureichend seien. Aber der Eindruck, den er auf uns machte, war der, als käme ihm die Erleuchtung durch göttliche Inspiration, so daß wir einfach das Gefühl haben mußten, jede nüchterne Bemerkung oder Analyse käme einer Entweihung gleich. Es gab somit einen auffallenden Unterschied zwischen Wittgensteins Einstellung zu philosophischen Problemen und der Schlicks oder meiner eigenen. Unsere Einstellung war nicht allzu verschieden von derjenigen, die Wissenschaftler zu ihren Problemen haben. Uns galt die Erörterung von Zweifeln und Einwänden anderer als der beste Weg, eine neue These auf dem Gebiet der Philosophie ebenso zu prüfen wie auf dem Gebiet der Wissenschaft; Wittgenstein hingegen duldete keine kritische Prüfung durch andere, wenn erst einmal, durch einen Akt der Inspiration, Einsicht erlangt war. Ich hatte manchmal den Eindruck, daß die bewußt rationale und unemotionale Haltung des Wissenschaftlers und gleichermaßen alle Ideen, die im Geruch der ,Aufklärung‘ standen, Wittgenstein zuwider waren“ (Carnap 1993: 41).

Carnaps Einschätzung wurde durch Wittgensteins Freund, den Architekten Paul Engelmann, bestätigt, der bemerkte, dass Wittgenstein mit seinem Tractatus für die Philosophie das leisten wollte, was Karl Kraus für die Literatur und Adolf Loos für die Architektur geleistet hatten (vgl. Engelmann 2006: 125-131). Zweifellos hinterlässt die Lektüre des Tractatus bei jedem Leser einen besonderen Nachgeschmack. Dabei steht jedoch nicht zu befürchten, dass, wer einmal vom Tractatus gekostet hat, fortan der Wissenschaft mit Abscheu begegnet. Es wird hier allerdings ersichtlich, dass die Vernunft nicht nur den Vernünftigen schmeckt. In Sachen Geschmack hatte Wittgenstein ebenfalls seine ganz eigene Position. In einem Brief an Norman Malcolm schrieb er im Oktober 1945: „Ich freue mich kolossal auf die geistige Nahrung, die Du mir versprochen hast. Wenn ich Deine Krimis lese, frage ich mich oft, wie jemand ,Mind‘3 lesen kann – dieses impotente und abgewirtschaftete Blatt –, so3

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Mind war bereits damals eine der international renommiertesten Fachzeitschriften der Philosophie.

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lange es die Möglichkeit gibt, die Krimis von Street & Smyth zu lesen. Nun ja, jeder nach seinem Geschmack“ (Wittgenstein 1987: 160f.).

Wittgenstein hatte zu dieser Zeit bereits eine Wende in seinem Denken vollzogen. Er begriff nun die von ihm mitbegründete sprachanalytische Philosophie als eine Philosophie der Alltagssprache, so als wollte er sich doch noch einem Aufklärer – nämlich Joachim Heinrich Campe – anschließen, der bereits 1813 mahnte: „Jeder hat freilich das Recht zu bestimmen, was er bei seinen Worten gedacht wissen will; aber Klugheit und guter Geschmack rathen doch, uns dabei nicht zu weit vom Sprachgebrauche zu entfernen“ (Campe 1813: 42). Als anschauliche Manifestation von Wittgensteins Geschmack gilt gemeinhin das Haus, das er 1926 für seine Schwester Margarethe Stonborough-Wittgenstein in der Wiener Kundmanngasse errichtete (vgl. Leitner 2000). Wittgenstein führte diesen Bau im Stile des Neuen Bauens mit äußerster Akribie aus, ohne Rücksicht auf dadurch entstehende Zusatzkosten oder zeitliche Verzögerungen. Wittgensteins zweite Schwester Hermine erinnerte sich später: „Den stärksten Beweis für Ludwigs Unerbittlichkeit in bezug auf Maße gibt vielleicht die Tatsache, daß er den Plafond eines saalartigen Raumes um drei Zentimeter heben ließ, als beinahe schon mit dem Reinigen des fertiggebauten Hauses begonnen werden sollte“ (Wittgenstein 1944: 208).

Die vollendete Villa bezeichnete sie als „steingewordene Logik“. Diese intuitiv unterstellte Affinität zwischen Wittgensteins Philosophie und seiner Architektur sollte später aus berufenem Munde unterschiedlicher Provenienz Unterstützung erfahren. So konstatierte der Philosoph Georg Henrik von Wright: „Das Gebäude ist bis in die kleinste Einzelheit […] [Wittgensteins] Werk und überaus charakteristisch für seinen Schöpfer. Es ist von jedem Schnörkel frei und gekennzeichnet durch eine strenge Genauigkeit der Maße und Proportionen. Seine Schönheit ist von der gleichen schlichten und statischen Art, wie sie auch den Sätzen des Tractatus eignet“ (von Wright 1987: 23).

Ebenso bemerkte der Designer und ehemalige Direktor der Ulmer Hochschule für Gestaltung Otl Aicher: „der ,traktat‘ und der bau 97

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atmen denselben rigorismus. dort die eingekochte form des denkens, hier die fabrik der reinen form, die totalität der ästhetik“ (Aicher 1992: 111). Die in diesen Zitaten konstatierte Gemeinsamkeit zwischen Buch und Haus findet schließlich durch Wittgenstein selbst ihre Bestätigung, wenn dieser erklärt: „[M]eine Überzeugungen bilden [...] ein Gebäude“ (Wittgenstein 1977: 102; vgl. Paden 2007). Dabei äußerte er sich über sein gebautes Werk recht unzufrieden. In sein Notizbuch schrieb er einige Jahre nach Fertigstellung der Villa: „In aller großen Kunst ist ein WILDES Tier: gezähmt. […] Alle große Kunst hat als ihren Grundbaß die primitiven Triebe des Menschen. Sie sind nicht die Melodie (wie, vielleicht, bei Wagner), aber das, was der Melodie ihre Tiefe und Gewalt gibt. [...] Im gleichen Sinn: mein Haus für Gretl ist das Produkt entschiedener Feinhörigkeit, guter Manieren, der Ausdruck eines großen Verständnisses (für eine Kultur, etc.). Aber das ursprüngliche Leben, das wilde Leben, welches sich austoben möchte – fehlt. Man könnte also auch sagen, es fehlt ihm die Gesundheit“ (Wittgenstein 1984: 502f.).

Abb. 3 u. 4: Erste Seite des Tractatus, Palais Stonborough in Wien

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PETER BERNHARD: DER GESCHMACK DER VERNUNFT

In diesen Ausführungen ist Nietzsches Einfluss nicht zu übersehen. Wittgensteins Bezugnahme auf das Motiv des gezähmten, wilden Tieres findet sich bei diesem in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Geschmack: Bei der Begegnung mit einem Erhabenen, der „behängt mit hässlichen Wahrheiten, seiner Jagdbeute, [...] aus dem Walde der Erkenntnis“ zurückkehrt, erklärt Zarathustra: „Vom Kampfe kehrte er heim mit wilden Tieren: aber aus seinem Ernste blickt auch noch ein wildes Tier – ein unüberwundenes! Wie ein Tiger steht er immer noch da, der springen will; aber ich mag diese gespannten Seelen nicht, unhold ist mein Geschmack allen diesen Zurückgezogenen. Und ihr sagt mir, Freunde, dass nicht zu streiten sei über Geschmack und Schmecken? Aber alles Leben ist Streit um Geschmack und Schmecken! Geschmack: das ist Gewicht zugleich und Wagschale und Wägender; und wehe allem Lebendigen, das ohne Streit um Gewicht und Wagschale und Wägende leben wollte! Wenn er seiner Erhabenheit müde würde, dieser Erhabene: dann erst würde seine Schönheit anheben, – und dann erst will ich ihn schmecken und schmackhaft finden“ (Nietzsche 1980: IV, 150f.).

Nietzsche verwarf Kants Unterscheidung zwischen Reflexionsgeschmack und Sinnengeschmack – des äußeren wie des inneren – als Illusion und beschrieb alle Kunst als eine Synthese von der in Apollo verkörperten aufbauend-formenden und der auflösendgewalttätigen Triebkraft, welche die Griechen in der Gestalt des Dionysos verehrten. So konnte Nietzsche in seinem Willen zur Macht proklamieren: „Die Größe eines Künstlers bemißt sich nicht nach den ,schönen Gefühlen‘, die er erregt, das mögen die Weiblein glauben. Sondern nach dem Grade, in dem er sich dem großen Stile nähert, in dem er fähig ist des großen Stils. Dieser Stil hat das mit der großen Leidenschaft gemein, daß er es verschmäht zu gefallen; daß er es vergißt zu überreden; daß er befiehlt; daß er will [...]. Über das Chaos Herr werden, das man ist, sein Chaos zwingen, Form zu werden; Nothwendigkeit werden in Form: logisch, einfach, unzweideutig, Mathematik werden; Gesetz werden“ (Nietzsche 1996: 565).

Dieser Darstellung des Künstlers, der in seinem Schaffen sich und Andere im wahrsten Sinne bildet, schließt auch Wittgenstein sich

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an, wenn er bemerkt, dass die „Arbeit an der Philosophie [...] – wie vielfach die Arbeit in der Architektur – eigentlich die Arbeit an Einem selbst [ist]“ (Wittgenstein 1984: 472). Und offensichtlich teilt Wittgenstein auch Nietzsches Grundeinstellung zur Bedeutung der Vernunft. Bei Nietzsche ursprünglich gegen die technisch-naturwissenschaftliche Rationalitätseuphorie des ausgehenden 19. Jahrhunderts gerichtet, lässt er seinen Zarathustra verkünden: „Der Leib ist eine grosse Vernunft [...]. Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du ,Geist‘ nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner grossen Vernunft“ (Nietzsche 1980: IV, 39). Von dieser Emphase nicht unbeeindruckt versuchte bereits die Architektengeneration der Jahrhundertwende, einen mit Nietzsches Philosophie konformen Stil zu schaffen. Vor allem die Begründer des Jugendstils waren fast ausnahmslos Nietzscheverehrer, wie der Belgier Henry van de Velde, der von Elisabeth Förster-Nietzsche mit dem Umbau der Villa Silberblick – Nietzsches letzter Weimarer Wohnstätte – beauftragt wurde. In den Augen des Architekturkritikers Paul Fechter war dies die richtige Wahl, denn, so erklärte er: „Nietzsches Bildwelt, wie sie sich vor allem im Zarathustra darstellt, ist die [...] Welt der kurvenden Linien und bedeutsam schwingenden Flächen, [...] die Welt des Jugendstils, der eleganten Kurven, die denen seines Denkens entsprechen, wenn er der Exaktheit und Geradlinigkeit elegant ausweicht – die Welt von Henri van de Velde [sic]“ (Fechter 1935: 371).

Dieser Jugendstil mit seinen „kurvenden Linien und bedeutsam schwingenden Flächen“ muss allerdings begriffen werden als eine Reaktion auf den damals vorherrschenden Historismus, dessen „groteskes Neben- und Uebereinander aller möglichen Stile“ (Nietzsche 1980: I 163) bereits von Nietzsche vehement bekämpft wurde. Vor diesem Hintergrund eröffnet sich eine gänzlich andere Perspektive, die der Schriftsteller Max von Münchhausen nach seinem Besuch von van de Veldes Haus in Weimar artikuliert: „[Man] ist dort von einer wohltuenden Klarheit und Ruhe umgeben, schon rein physiologisch wirkt sein Styl aufs vorteilhafteste, rein und kalt und klar wie er ist. [...] Ich sehe da doch eine Analogie und innere Verwandtschaft zwischen der Reinlichkeit Nietzsche’scher Schriften

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und der Reinlichkeit van de Veld’schen Styls!“ (von Münchhausen 1902, S. 370).

Von dieser Sichtweise führt ein direkter Weg zur Nietzscheanischen Interpretation des Neuen Bauens. Als prononcierter Vertreter dieser Bewegung entwarf der Architekt Ludwig Hilberseimer 1924 den Plan für eine Hochhausstadt, die er mit den Worten kommentierte: „Große Massen bei Unterdrückung der Vielerleiheit nach einem allgemeinen Gesetz zu formen, ist, was Nietzsche unter Stil überhaupt versteht: der allgemeinste Fall, das Gesetz wird verehrt und herausgehoben, die Ausnahme wird umgekehrt beiseite gestellt, die Nuance weggewischt, das Maß wird Herr, das Chaos gezwungen Form zu werden: logisch, unzweideutig, Mathematik, Gesetz“ (Hilberseimer 1927: 103).

Abb. 5: Großstadtentwurf von Ludwig Hilberseimer Hilberseimer hatte sich schon früh Nietzsches Kunstverständnis zu Eigen gemacht (vgl. Bernhard 2009a). Dabei galt ihm die Entdeckung des Dionysischen, d.h. des ebenso gewaltsamen wie lebensbejahenden Elements in der Kunst als die große Leistung des Philosophen. In einem Artikel mit der Überschrift „Der Wille zur Architektur“ bezeichnete Hilberseimer die bauliche Umsetzung dessen als „schöpferischen Rationalismus“ (Hilberseimer 1923: 133). 1928 wurde Hilberseimer Professor am Bauhaus, der ersten

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Hochschule für Design, die konsequent eine rationalistische Geschmacksbildung forcierte. Der Gründer und erste Direktor der Anstalt, Walter Gropius, stellte dieses Ziel unter die Devise „Kunst und Technik – eine neue Einheit“ und verkündete: „Ein Ding ist bestimmt durch sein Wesen. Um es so zu gestalten, daß es richtig funktioniert – ein Gefäß, ein Stuhl, ein Haus –, muß sein Wesen zuerst erforscht werden; denn es soll seinem Zweck vollendet dienen, d.h. seine Funktionen praktisch erfüllen, haltbar, billig und ,schön‘ sein“ (Gropius 1925: 5; vgl. Bernhard 2007b).

Gropius’ Nachfolger Hannes Meyer radikalisierte diesen Funktionalismus unter Verwendung einer Wortschöpfung, die eine physiologisch vermittelte geistige Abneigung zum Ausdruck bringt. Programmatisch erklärte er: „alle dinge dieser welt sind ein produkt der formel: (funktion mal ökonomie). alle diese dinge sind daher keine kunstwerke: alle kunst ist komposition und mithin zweckwidrig. [...] die idee der ,komposition‘ eines seehafens scheint zwerchfellerschütternd!“ (Meyer 1928: 12). Dabei waren die Avantgardisten des Bauhauses zum Teil überrascht darüber, wie schnell ihr rationalistisches Design akzeptiert wurde. So bemerkte Marcel Breuer zu seiner Erfindung der Stahlrohrmöbel: „als ich vor zwei jahren meinen ersten stahlklubsessel fertig sah, dachte ich, daß dieses stück unter meinen sämtlichen arbeiten mir am meisten kritik einbringen würde. es ist in seiner äußeren erscheinung sowie im materialausdruck am extremsten; es ist am wenigsten künstlerisch, am meisten logisch, am wenigsten ,wohnlich‘, am meisten maschinenmäßig. das gegenteil des erwarteten trat ein. das interesse modernistischer und nichtmodernistischer kreise zeigte mir deutlich die umstellung der zeitgesinnung, die umstellung vom launischen zum gesetzmäßigen. wir haben nicht mehr das bedürfnis, auf kosten der wirklichkeit phantastische, doch bald überlebte schnörkel des geschmacks, oder des stils (auch des ,modernen‘) zu schaffen, oder zu verehren“ (Breuer 1928: 133).

Aufgrund dieser Umstellung des Zeitgeistes ist es sicher nicht verfehlt, den Adressatenkreis von die neue linie – eine von dem Bauhäusler Herbert Bayer in serifenloser Schrifttype gestaltete Zeitschrift – im Untertitel als „Menschen mit Geschmack“ zu bezeich-

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nen (vgl. Rössler 2007). Jedenfalls scheint in Breuers Stahlrohrmöbeln Gropius’ Vision von Design als einer Synthese von Kunst und Technik verwirklicht. Ein solches tertium kann allerdings von der disjunktiv verfahrenden, vorherrschenden ökonomischen Vernunft nicht erfasst werden. Dementsprechend erklärte das Oberlandesgericht Düsseldorf im April 2002 den von Breuer entworfenen Stahlrohrhocker B9 zu einem urheberrechtlich geschützten Kunstobjekt. Das Urteil erging in einer Streitsache zwischen dem niedersächsischen Möbelproduzenten Tecta und der in Sachsen-Anhalt ansässigen L.&C. Stendal Metallmöbel GmbH um die Verwertungsrechte des Breuer-Hockers. Während Tecta vom Berliner Bauhaus-Archiv die Lizenz zur Produktion erworben hatte, argumentierte L.&C., dass das Möbelstück nicht als lizenzfähiges Kunstwerk, sondern als Gebrauchsgegenstand mit dem Charakter eines industriellen Serienproduktes anzusehen sei. Unterstützung fand jede Partei bei je einem der beiden Erbeverwalter des Bauhauses: Während das Berliner Bauhaus-Archiv von dem Kunstcharakter der am Bauhaus entworfenen Objekte ausging (und immer noch ausgeht) und deshalb das Warenzeichen „original bauhaus modell“ vergibt (wie in diesem Falle an Tecta), erklärte die Stiftung Bauhaus Dessau schon vor der Urteilsverkündung, dass der Hocker in jedem Falle ein Alltagsgegenstand und somit kein Kunstwerk sei (vgl. Rossmann 2002).

Abb. 6: Hocker B9 von Marcel Breuer 103

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An der Urteilsbegründung, die die Position des Bauhaus-Archivs unterstützt, ist bemerkenswert, dass gerade die rationale Erscheinung des Hockers als Merkmal seines Kunstcharakters gewertet wird. Diesbezüglich wird konstatiert: „Der Hocker von Breuer basiert auf der Idee, Proportionen und Nüchternheit als Grundlage eines multifunktionalen Möbels zu nutzen. [...] Gerade in der bewußten Reduktion auf das Wesentliche liegt der besondere ,Pfiff‘ des Objektes. [...] Die Wirkung des Hockers B9 beruht – wie oben dargelegt – entscheidend auch auf der Wirkung des Materials Stahl, das glänzend ist und kühl wirkt, und gerade dadurch dem Stuhl eine besondere Nüchternheit und Klarheit verleiht“ (OLG Düsseldorf, Urteil vom 30.4.2002: I-20 U 81/01).

In der Tat existierte am Bauhaus die Überzeugung, dass ein Gegenstand eine ästhetische Aufwertung erfährt, wenn man ihn mit Attributen der Vernunft versieht. So gab der Bauhausmeister Josef Hartwig für die Neugestaltung von Schachfiguren folgende Begründung: „Da die Funktion der Dinge das elementarste ihres Wesens ist, [...] so kann bei der Gestaltung des Schachspiels nur der eine Weg zum Ziele führen, indem man die Steine je nach ihrer Gangart und ihrem Wert versinnbildlicht“ (Hartwig 1924: 187; vgl. Bernhard 2009c).

Diese rational begründeten Formen beschrieb Hartwig hinsichtlich ihrer optischen Wirkung aber auch als ästhetische Qualitäten: „Die Steine sind nicht nur in der Ansicht, sondern auch in der Draufsicht deutlich zu unterscheiden und breiten sich in ihrer mäßigen Höhe reliefartig über das Spielbrett aus. Die quadratischen Felder desselben bilden mit den kubischen Steinen zusammen eine Formeinheit von außerordentlicher Klarheit“ (Hartwig 1924: 188).

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Abb. 7: Prospektblatt für das Bauhaus-Schachspiel In unmittelbarer Entsprechung artikulierte Carnap für den Neopositivismus: „Auch wir haben ,Bedürfnisse des Gemütes‘ in der Philosophie; aber die gehen auf Klarheit der Begriffe, Sauberkeit der Methoden, Verantwortlichkeit der Thesen“ (Carnap 1998: XV). Carnap konstatierte diesbezüglich auch „eine innere Verwandt105

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schaft [...], dieselbe Grundhaltung, denselben Stil des Denkens und Schaffens. Es ist die Gesinnung, die überall auf Klarheit geht“ (Carnap 1998: XV). Während Carnap eher vage von „Bedürfnissen des Gemütes“ redete, scheute sich sein Gesinnungsgenosse, der Polnische Logiker Alfred Tarski, nicht, in diesem Zusammenhang von Ästhetik zu sprechen. An einem dafür ungewöhnlichen Ort – seiner Schrift „Die semantische Konzeption der Wahrheit und die Grundlagen der Semantik“ – bemerkte er: „[I]ch glaube, [...] daß es für den Fortschritt der Wissenschaft schädlich ist, die Bedeutung einer Untersuchung ausschließlich oder hauptsächlich an ihrer Nützlichkeit und Anwendbarkeit zu messen. […] [E]s gibt meiner Meinung nach auch andere wichtige Faktoren, die bei der Bestimmung des Wertes einer wissenschaftlichen Arbeit nicht unterschätzt werden dürfen. Ich habe den Eindruck, daß es einen speziellen Bereich sehr tiefer und starker menschlicher Bedürfnisse hinsichtlich der wissenschaftlichen Forschung gibt, die in mancher Hinsicht ästhetischen [...] Bedürfnissen ähnlich sind. Und mir scheint auch, daß die Befriedigung dieser Bedürfnisse als eine bedeutende Aufgabe der Forschung angesehen werden sollte“ (Tarski 1944: 181).

Diese Position wollte Carnap nicht propagieren. Er plädierte stattdessen umgekehrt dafür, die Maßstäbe von Wissenschaftlichkeit auch im Bereich der angewandten Kunst geltend zu machen. Als er zu einer Vortragsreihe ans Bauhaus eingeladen wurde, notierte er in sein Tagebuch: „In der Diskussion sagte ich, dass die theoretische Arbeit der Bauhaeusler nicht von Metaphysik frei wird. Beispiel ,Rot ist schwer‘ usw.; nur als psychologische Aussage gerechtfertigt“ (Carnap 1929: 19.10). Carnap zielte damit auf die am Bauhaus lehrenden Malermeister Kandinsky und Klee ab. Beide nahmen für sich in Anspruch, die aus ihrer Sicht rationalen Prinzipien der modernen Kunst als einen unverzichtbaren Bestandteil ins Curriculum der ersten „Hochschule für Gestaltung“ einzubringen. So führte Kandinsky zu seinem Unterricht aus: „Der junge und besonders der anfangende Künstler muss von vornherein an ein objektives, das heißt wissenschaftliches Denken gewöhnt werden. [...] Durch Vertiefung in die Elemente, welche die Bausteine der Kunst sind, bekommt der Studierende – außer der Fähigkeit des logischen Denkens – die notwendige innere Fühlung zu den Kunstmitteln“ (Kandinsky 1926b: 90f.).

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Der Herausgeber von Kandinskys Schriften, der ehemalige Bauhausstudent Max Bill, erklärte später: „ich bin der auffassung, es sei möglich, eine kunst weitgehend aufgrund einer mathematischen denkweise zu entwickeln. (...) es darf in diesem zusammenhang auch auf die rolle von paul klee hingewiesen werden, dessen ,bildnerisches denken‘ einer bildnerischen logik entspringt, die alle elemente einer lehre aufweist, in der die gesetzmäßigkeiten der fläche mit imagination gehandhabt werden“ (Bill 2001: 79).

Klee und Kandinsky waren als Vertreter der Avantgarde inspiriert von der Vision des Gesamtkunstwerks, der großen Synthese aller Künste, in der Formen, Farben und Klänge zu einer Einheit verschmelzen, was vor allem bei Kandinsky in der Verwendung eines synästhetischen Vokabulars zum Ausdruck kam. So konnte er in nicht metaphorischer Bedeutung von „schweigenden Farben“, „schweren Formen“ oder dem „Klang einer Fläche“ reden (vgl. Kandinsky 1926a). Dementsprechend lehnte er wie Klee die positivistische Farbenlehre von Wilhelm Ostwald vehement ab (vgl. Bernhard 2009b: 176-179). Während Carnap in den Lehren von Klee und Kandinsky pseudorationale Scheintheorien erblickte, hätte Kant mit seinem Diktum „das Genie gibt der Kunst die Regel“ vermutlich milder geurteilt. Auch bezüglich des äußeren Sinnengeschmacks standen sich Kandinsky und Kant näher: Paul Klees Sohn, „Felix Klee[,] weiß von einem Abendbrot zu berichten, das ihn sehr beeindruckt haben muss: ,Normalerweise unterhält man sich doch beim Essen. Das war bei Kandinsky nicht der Fall. Kandinsky saß wie ein Prophet am Tisch, hatte ein Buch neben sich und las während des Essens darin. Ich weiß noch heute, dass es Bratkartoffeln mit Schinken gab. Und auf jeden Happen strich Kandinsky sich eine dicke Schicht schärfsten Senfs‘“ (Kandinsky 2008: 64).

Kandinsky war bis zu seiner Berufung ans Bauhaus 1922 an den Moskauer VChUTEMAS (Höhere Staatliche Künstlerische Werkstätten) tätig. Dort war man bestrebt, die moderne Kunst in den Dienst der neuen, klassenlosen Gesellschaft zu stellen. Vor allem in der Strömung des so genannten „Konstruktivismus“ wurde eine handwerkliche Herstellung von Gebrauchsgegenständen als überholt kategorisch abgelehnt und stattdessen eine uneinge107

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schränkte technisch-maschinelle Produktionsweise gefordert. Dabei sollte die Konstruktion des Gegenstandes stets sichtbar sein, d.h. Schrauben, Nieten, Schweißnähte usw. sollten nicht verborgen werden, sondern klar und deutlich als solche zu erkennen sein. Auf diese Weise sollten alle maschinell, d.h. technisch-rational hergestellten Gegenstände wie Lampen, Stühle, Häuser usw. nicht nur die Sinne, sondern auch den Intellekt ansprechen, oder anders formuliert: Die Vernünftigkeit der Konstruktion sollte sinnlich erfassbar sein. Damit war ein revolutionäres Kunstverständnis formuliert: Der äußere Sinn sollte fortan als Medium des inneren Sinnes dienen (worin dann letztendlich die Urteile des von Kant so genannten Reflexionsgeschmacks gründen sollten), d.h. als schön galt von nun an die sinnlich erfahrbare Vernunft. In diesem Punkt besaß der Konstruktivismus freilich bedeutende Vorläufer. Gemünzt auf „die göttliche Vernunft“ hatte etwa Johann Georg Hamann ähnliche Gedanken, was bereits damals durchaus gesehen wurde. So konstatierte Hegel: „Was Hamann seinen Geschmack an Zeichen nennt, ist, dass ihm alles gegenständlich Vorhandene (...) nur gilt, insofern es vom Geiste gefaßt, zu Geistigem geschaffen wird“ (Hegel 1970: 316). Und es war auch Hegel, der die Denkfigur sinnlich vermittelter Vernunft aus der Theologie, durch die Philosophie in die Kunst überführte, so dass sich Gottfried Semper noch ein halbes Jahrhundert später darüber empören konnte, dass „der Kunstgenuss Verstandesübung“ (Semper 1860: XVIIIf.) geworden sei. Nicht unbeeinflusst vom Konstruktivismus verband man auch am Bauhaus die rationalistischen Designprinzipien mit sozialreformerischem Anspruch. Zur Neugestaltung des Schachspiels erklärte Hartwig: „Als Imitation des Kampfes zwischen zwei feindlichen Heeren wurde das Schach über ein Jahrtausend lang gespielt, bis es sich in den letzten zwei Jahrhunderten immer mehr zum rein abstrakten Verstandesspiel entwickelte. [...] War in früheren Zeiten die naturalistisch figürliche Darstellung [...] das Gegebene und einzig Richtige, so zwingt uns die heutige Bedeutung des Schachspielens zur abstrakten Gestaltung der Spielsteine“ (Hartwig 1924: 187).

Dabei fanden die Bauhäusler Unterstützung von Seiten der Politik. Vor allem in den linken Parteien begriff man Geschmacksbildung als Aufklärung und vertrat in einer propagierten Allianz der

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Vernunft die Positionen des Bauhauses. So belehrte der sozialdemokratische Abgeordnete Heinrich Peus mit Bezug auf die von Gropius entworfene Arbeitersiedlung Dessau-Törten seine Genossen: „Seht euch die neuen Fassaden der Häuser an! Glatte Wände, und die Fenster schauen aus einfachen Rahmen. Sie wollen nur sein, was sie sind. Vergleicht damit die alten Fensterrahmen, Säulen mit Simsen und Kapitälen, [...] alles nur protzender Schein, alles verlogen, zwecklos und überflüssig kostspielig. Seht euch eure Schränke an! Auch da Säulen, die nichts tragen, [...] Bekrönungen, die nur den Erfolg haben, daß der Schrank unter Umständen jahrelang nicht abgewischt wird, weil die Bekrönungen daran hindern. [...] Nehmt sie herunter und steckt sie in den Ofen! Das erste mal, daß sie nützlich sind. Die Schränke wären dann nicht so schön? Geschmacksache? Und wenn es das wäre, könnten wir doch heute einen anderen Geschmack haben. Aber nein, im Augenblick, wo wir uns des ganzen Scheins, der in dieser Bekrönungsspielerei liegt, bewußt werden, wo wir erkennen, daß der einfache, aber lieber gediegene, nur vom Zweckgedanken geformte Schrank diesen Quark von allem möglichen Brimborium nicht an sich haben darf, kommen wir dazu, den neuen Stil auch allein schön zu finden“ (Peus 1926: 257f.).

Abb. 8: Siedlung Dessau-Törten Die Adressaten dieser Bildungsmaßnahme, die Bewohner DessauTörtens, verweigerten jedoch ihrem Parteiführer in dieser Angele-

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genheit die Gefolgschaft und verliehen zudem ihrer Renitenz durch Umbaumaßnahmen einen architektonischen Ausdruck (vgl. Heinecke/Krehl/Steets 2003). 4 Ob dieses Verhalten optimistisch oder pessimistisch stimmen sollte, kann hier nicht entschieden werden. In jedem Falle ist es verträglich mit Kants in der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht getroffenen Feststellung: „Am Menschen [...] sollten sich diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln“ (Kant VIII: 18). Ebenfalls wird hieran deutlich, dass Adorno auch von Geistes-Nahrung spricht, wenn er konstatiert: „Zur Befriedigung des konkreten Hungers der Zivilisierten gehört, daß sie etwas zu essen bekommen, wovor sie sich nicht ekeln, und im Ekel und in seinem Gegenteil wird die ganze Geschichte reflektiert“ (Adorno 1997: 392).

B i l d n a c hw e i s e Abbildung 1: Clasen 1924: 27. Abbildung 2: Knigge 1789: Titelseite. Abbildung 3: Wittgenstein 1966: 30. Abbildung 4: © Margherita Spiluttini, Wien. Abbildung 5: Hilberseimer 1927: 19. Abbildung 6: © dpa. Abbildung 7: © Bauhaus-Archiv Berlin. Abbildung 8: Gropius 1930: 190.

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Der Philosoph Helmuth Plessner betrachtet Anfang der 1930er Jahre die Siedlung Dessau-Törten von einem übergeordneten Standpunkt als adäquaten Ausdruck der Zeit. Dabei verkennt er zwar nicht die „innere Affinität“ zu sozialistischem Gedankengut, betont jedoch, „daß das neue Formwollen politisch indifferent ist wie alles echt Geistige“ (Plessner 2001: 80; vgl. Bernhard 2007a).

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Gert Schmidt

Geschmackssache Automobil

Vorbemerkung Ökonomen haben zweifelsfrei ermittelt: In sogenannten entwickelten Gesellschaften ist die Anschaffung und der Unterhalt von Automobilen nach dem Hausbau und nach Wohnkosten der für die durchschnittliche Familie finanzstärkste Investitionsposten für nicht-lebendige Güter im ökonomischen Lebenslauf. Aus sozialund kulturwissenschaftlicher Sicht kann die Behauptung gewagt werden: Kaum ein anderes nicht-lebendiges Produkt in der modernen Lebenswelt ist mit Blick auf die Bedeutung von Geschmacksbeurteilung vergleichbar mit dem Automobil; ungeachtet aller rationalen Erwerbs- und Gebrauchserwägungen sind sowohl die Anschaffungsentscheidung eines Automobiles wie auch seine Nutzung in hohem Maße von Geschmacksbeurteilungen – sei es der eigenen oder der antizipierten von anderen – begleitet. Schließlich gilt es zu erwägen, dass die Präsenz/Anschauung des Artefaktes Automobil sozialen Geschmacksstandards und ästhetischer Wahrnehmung ausgesetzt ist. Nicht nur das individuelle Auto, sondern auch die Automobile als Menge/Vielzahl hergestellter Skulpturen, als nicht-natürliche Gegenstände in der Umwelt, platziert auf Straßen und Parkplätzen oder auch in „offener Landschaft“, provozieren geschmacksbezogene Urteile. Es bedarf keiner besonderen Anstrengung der „Bildersuche“: Nicht immer ist der Anblick von Automobilen ein ästhetischer Genuss:1

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Viele werden sich erinnern: Besonders deutlich wird die „automobile Besetzung“ unserer normal erlebten Landschaft in Erinnerung an gedenkwürdige autofreie Samstage vor dem Hintergrund der ersten Ölkrise in den 70er Jahren – und hier mag die Erinnerung nachhaltig sein: die beachtliche Besetzungspräsenz von Automobilen ward besonders deutlich in der Erfahrung, dass an autofreien Samstagen „eigentlich“ der Anblick der fehlenden Autos der „hässliche Fremdkörper“ im Landschaftsbild gewesen ist.

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VERNUNFT, TECHNIK UND KUNST

Freilich zeigt sich die Präsenz des Automobils in der modernen Normalumwelt als „Ästhetik“ auch in anderer Weise: Man muss schon ein hoch entwickelter Auto-Feind sein, um etwa die Skulptur eines Jaguar XK 120 aus den beginnenden 50er Jahren nicht als „schön“ zu empfinden.

1. Von der Sache mit dem Geschmack z u r G e s c h m a c k s s a c h e Au t o m o b i l Philosophie, Ökonomie, Soziologie und die meisten Kulturwissenschaften sind nicht unwesentlich auch Geschmackswissenschaften – da geht es um das Allgemeine und Gemeine, um Schönheit und Erhabenheit, um Vornehmheit und Banausentum. Und für Sozialwissenschaftler etwas fachlicher geht es beim Thema „Schönheit“ um soziale Differenzierung, Distinktionsmechanismen, Macht- und Herrschaftsprozesse, Gruppenbildung, Durchsetzung normativer Standards, Ethik und Esoterik. Analytisch und empirisch bearbeitet werden u.a. Herstellungsprozesse von „Schönem“, Geltungsformen des „Schönen“ und Wandel von Standards und positiven und negativen Sanktionsweisen bezüglich „Schönheit“. 2

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Hilflos bleibt, wer etwa „Geschmack“ übergreifend definieren will – „Geschmack“ wird als Thema vielgestaltig entfaltet, ein allgemein gültiger Geschmacksbegriff bleibt wohl ein leeres Konstrukt. – Ist man in Sachen „Geschmack“ erst mal auf den Geschmack gekom-

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GERT SCHMIDT: GESCHMACKSSACHE AUTOMOBIL

So ist Immanuel Kants – für den Geschmack an die Urteilskraft der Sinne gebunden ist – „Über Geschmack lässt sich nicht diskutieren“ – gegen flottes Erstlesen – wunderbar doppeldeutig: Eine erste Deutung behauptet die Geltung absolut eindeutiger normativer Fixierung. Die zweite Deutung vermittelt relativistische Öffnung bis zur Beliebigkeit. Empirische Kultur- und Sozialwissenschaft spürt dann den geltenden Relationen von Nicht-Beliebigkeit nach. Friedrich Schillers schönes Projekt der ästhetischen Erziehung ist offensichtlich geschmacks-orientiert! Die sozialwissenschaftlichen Klassiker Thorsten Veblen, Werner Sombart und Georg Simmel sind dem Tatbestand Geschmack als sozioökonomischer und kultureller Gestaltungskraft moderner Lebensweltstrukturen energisch und nicht immer „geschmacks(urteils)frei“ nachgegangen. Norbert Elias hat gar den Zivilisationsprozess vom frühen Mittelalter bis in die Gegenwart hinein auch als GeschmacksEvolution decodiert. Vance Packard schließlich hat mit seinen „Status-Seekers“ moderne Gesellschaftsbeschreibung via Wuchtigkeit von Geschmacksentscheidungen vorgestellt – und auch Pierre Bourdieus großer Versuch, Strukturen, Prozesse und Spannungslagen sozialer Ungleichheit mit und jenseits von Karl Marx und Max Weber analytisch zu fassen, ist außerordentlich „geschmacks-voll“!3

2. Zur gesellschaftlichen Einbettung d e s Au t o m o b i l s Das Thema „Geschmackssache Automobil“ verweist auf ein paar anthropologische und soziale Grundlagen von Automobilität. A. Zunächst einmal ist das Auto in mehrfachem Sinne sinnliche Gestalt: Das Auto wird „er-sehen“, „er-tastet“, „er-hört“ und „er-

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men, so bleibt fast nichts mehr geschmacks-los – aber manches wird „geschmacklos“! Auch an unserem Institut, dem Institut für Soziologie der Universität Erlangen-Nürnberg, wird dem Geschmack als sozialem Phänomen nachgeforscht bzw. nachgeschmeckt. Die Kollegen Ilja Srubar und Michael v. Engelhardt arbeiten „geschmacksintensiv“, ebenso wie die MitarbeiterInnen Aida Bosch und Stefan Bauernschmidt.

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VERNUNFT, TECHNIK UND KUNST

rochen“. Automobile sind Augenweide“, „Tastfläche“, „Ohrenschmaus“ und „Nasenfreude“.

Und schließlich gibt es dann auch „höher verdichtete“ Erfahrungsund Erwartungsaussagen zur Sinnlichkeit des Automobils (s. unten stehendes Bild). Die Geschmackssache Automobil wird in allen Sinndimensionen gesellschaftlich bereits früh vermittelt und erlernt. Es scheint so, dass der Erziehungsprozess hin zum Erfahrungs-/Sinnlichkeitsobjekt Automobil mit den Kinderjahren nicht abgebrochen wird, kennen wir doch durchaus das Phänomen der Verführung Älterer zur Begeisterung für Oldies und anderes mehr.

Selbst die ‚gut‘ entwickelten Standard-Formeln der Auto-Kritik/ Ablehnung/Verteufelung im Namen schlichter und höherer Vernunft dokumentieren geltende Bedeutung des Vehikels Auto in der – ‚unserer‘ – Gesellschaft.

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GERT SCHMIDT: GESCHMACKSSACHE AUTOMOBIL

Die außerordentlich intensive Einarbeitung des Autos in Gesellschaftlichkeit ist immer wieder auch in die ‚Moderne‘ diskutierenden, gesellschaftstheoretischen Reflexionen ‚aufgenommen‘ worden – von Pierre Bourdieus Analyse sozialer Milieus und Habitus bis hin zu Bruno Latours Verdichtungen der Relationierung von Mensch-Ding und Sozialität. B. Nun zum zweiten Schritt der sozialwissenschaftlichen Engfassung unseres Themas: Das Automobil als Skulptur. Basal ist das Automobil ein „Haus-Rad“ – eines, dem in der kulturhistorischen Entwicklung in erstaunlichem Umfange höchst effektiv „Haus-Rat“ – d.h. alle möglichen Dinge von Radio, Telefon, Liegesitze, Aschenbecher und Zigarettenanzünder bis hin zur „Hausbar“ und zur Blumenvase – eingebaut worden ist! Doch blicken wir zunächst auf die Gestalt Automobil, die mit höchst unterschiedlichen „Anfragen“ – Wünschen/Funktionen/Erwartungen/Ängsten etc. – verbunden ist: Schutz, Transport, Schönheit, Bequemlichkeit etc.

Die beiden Bilder zeigen – in leicht polarisierender Absicht – die Bedeutung des Aspektes Schale/Außenhaut von Automobil. „Dazwischen“ gibt es bekanntlich reichhaltig Varianten in der Gemengelage von Funktionsbestimmung, Schmuck und sozialer Distinktion. C. Automobile werden von vielen Akteuren und Instanzen produziert – auch mit Blick auf „Geschmack“. Mode – Trend – Ausweis von Status, Beruf, Alter, Region etc. – all diese Dinge finden Niederschlag in historisch-spezifische Kon-

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stellationen des gesellschaftlichen Machens von Automobilen und Automobilkultur (Automobilismus). Als Beispiele anregender Verknüpfungs-Gedanken: Während sich die faktische Rolle von Oldtimer-Clubs für die Wirklichkeit von Automobilismus vermutlich auf die Formulierung von gesetzlichen Aussagen etwa bei der Besteuerung von Fahrzeugen begrenzen mag, haben sie über thematisch relevante politische Gruppierungen (Hersteller, Parteien und Automobilclubs) immer wieder beachtliche Erfolge bei der Gestaltung von Automobilismus (durchgesetzte Normen zu Abgasmengen und Crash-Anforderungen). Keine Frage auch, dass Entwicklung von Sozialstruktur und speziell ökonomischer Ungleichheit in vielen westeuropäischen Gesellschaften das Marktgeschehen im Autosektor sichtbar beeinflusst hat.4 D. Solche Differenzbetrachtung in der Absicht von Gesellschaftsvergleich führt zügig zum Topos: Kulturelle Differenzen der Ansichtssache „Automobil“. Differenzgesichtspunkte lassen sich zunächst einmal mit Blick auf jede gegebene historische Gesellschaft ansetzen: Genderbezug, Alter, gesellschaftlicher Status mit Blick auf Ökonomie, Religionszugehörigkeit, etc. Besonders spannend wird die Rekonstruktion von Differenzierungen ohne Frage aber auf der Ebene zwischengesellschaftlicher Betrachtung: Wirtschafts- und Sozialstruktur, Rechtsrahmen, herrschende Ideologie und Glaubensvorstellungen, Bedeutung von Familie, auch natürliche Umweltfaktoren u.a.m. Der Blick auf einige besonders hochgradig kulturspezifische Ausprägungen zu Auto und Automobilismus sollten das Interesse an Vergleich und Verstehen des Eigenen fördern:5

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Der europaweite Erfolg des Renault-Modelles DACIA ist nicht ohne Verweis auf sozio-ökonomische Veränderungen verstehbar. Prestigious Frontgestaltung von Automobilen unterschiedlicher kultureller und sozialer Referenz.

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Beachtliche Differenzen und Differenzierungsprozesse gibt es aber zweifellos nicht nur zwischen kulturell voneinander „entfernten“ Gesellschaften: Für unseren sogenannten westlichen Kulturkreis etwa ist das Spannungsverhältnis von der Normativität durch technische Ästhetik auf der einen Seite und marktorientierter (marktwahrnehmender und marktgestaltender) Skulpturierung des Automobils höchst relevant: Walter Gropius versus Harley Earl. Auch fürs Folgende genügt der Blick auf unsere Kultur! Die Gestalt der Geschmackssache Automobil dringt ein in andere Lebensweltbereiche – die Ansicht Auto wird „übertragen“: Das Automobil illustriert, bereichert, standardisiert, pervertiert – je nach „Geschmack“! Ein paar mehr oder minder eindrucksvolle, Geschmacksurteile provozierende Bilder:

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Auto-Geschmäcklerisches hat längst auch die Hoch-Kultur erobert! Andy Warhol etwa hat sich nicht nur Liz Taylor und Marylin Monroe als Models genommen, sondern auch den famosen 300 SL Flügeltürer von Mercedes Benz. Und schließlich noch ein ein neuer Kontext in Sachen „Geschmackssache Automobil“: Hier ein Wandteppich aus der Ausstellung „Lust am Auto“ am Museum für Technik und Arbeit in Mannheim (2004/2005). Das Wandbild, für die Ausstellung gestaltet von der Bühnenbildnerin Tina Klitzing, nutzt ein Renaissance-Altarbild zum Thema „Jesus Christus’ Einzug in Jerusalem“ als Hintergrund zur Gestaltung geradezu ekstatischer Geschmacksfindung am Automobil (hier ein Chevrolet Bel Air 1957).

3 . Z u r H i s t o r i e d e s An s i c h t s g e g e n s t a n d e s Es geht um das Ineinandergreifen von Technik, Kultur und Ökonomie des Automobilismus und hier sei nur sehr knapp ein Stück Geschichte der Entwicklung von Automobil und Automobilisierung, auch mit Relevanz für die Evolution von Geschmack und Geschmacksnormierung, angezeigt. Vermittelt werden hier für genauere Analysen technisch-

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ökonomische Grenzen, die historisch gegeben waren, sowie Verhaltenskultur und Ideen sowie zeitgenössische Phantasien mit Blick auf Komfort, Funktionsfähigkeit, Geschwindigkeit und Motorenkraft, Besitzerstolz und soziale Distinktion sowie allgemein geltende gesellschaftliche Geschmackslagen. Die Frage nach dem „Was ist schön“ wird umgesetzt als „Was trifft den Geschmack“ über lange Motorhauben, über große Fenster, über Anlehnung an Stromlinienformen (unabhängig davon, ob physikalisch begründet oder nur ästhetisch gemeint), üppigen Chromschmuck etc. – die Geschmacksurteilsbildung erfolgt denn in spannendem Wechselspiel mit anderen die Gestalt des Automobils beeinflussenden Rahmenbedingungen (vgl. Brass/Seiffert 2007).

Die beiden folgenden Abbildungen aus den 50er und den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts illustrieren beispielhaft das ästhetische „Zusammenspielen“ von Automobildesign und Architektur: ein Mercedes Benz Cabrio passt geschmacklich ebenso gut zur Stuttgarter „Weissenhof-Siedlung“ wie die ausschwingende Heckflosse eines 59er Chevrolet zur Gestalt der Berliner Kongresshalle (heute: Haus der Kulturen) – auch „Schwangere Auster“ genannt.

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Historisch lassen sich grob drei Epochen der sozialökonomischen Aneignung des Automobils mit Bedeutung nicht zuletzt auch für die Sache der Geschmackssache Automobil skizzieren: Der klassischen Autoidee von Henry Ford – ein Autotyp für (fast alle) – folgt ab Mitte der 20er Jahre ausgehend von den USA die auf soziale Differenz zielende Marktbearbeitung des Angebotes Automobil auf einem sich entfaltenden Wohlstandsmarkt – die Autoidee von Alfred Sloan (General Motors) „Jeder gesellschaftlichen Statusgruppe ihren Autotyp!“. Ende des letzten Jahrhunderts folgt die Gestaltung der Vehikel Automobil nicht mehr nur sozioökonomischen Status-Kriterien sondern zunehmend auch unterschiedlichen Lebensweltarrangements. Erhebliche Herausforderungen stellen sich den Auto-Designern heute mit Blick auf die Balancierung von: Markenidentität einerseits und Differenzierung der Gestaltung für die verschiedenen Marktsegmente andererseits – wobei dem Anspruch auf sozial-generalisierte Differenzsetzung noch durch die Notwendigkeit der Chance individueller Nuancierung gewissermaßen „eins drauf gesetzt“ wird!

4 . D i e G e s t a l t u n g d e r „ G e s c h m a c k sw a r e “ – R i s i k o u n d C h a n c e a u f d e m M ar k t A. Hier lohnt zunächst der Blick auf die berühmte Formel des Industriedesigners Raymond Loewy „Hässlichkeit verkauft sich schlecht“ – wobei man manchmal versucht sein mag, ein Fragezeigen zu setzen! Empirisch geltender marktwirksamer Geschmack lässt sich offensichtlich nicht umstandslos mit ‚Schönheit‘ identifizieren – „Interessant“, „Cute“, „Extravagant“, „Abweichung“ etc. sind Markt-

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chancen-relevante Ästhetik-Bezugsgrößen. Offensichtlich hat manche den vermeintlichen Schönheitsstandards nicht entsprechende Karosserie – zumindest vorübergehend! – Erfolg als Marktprodukt. Dies gilt für die verschiedenen Varianten des Hummers, wie auch für den ästhetisch sehr strapaziösen BMW X6 und einige gut verkäufliche SUVs. Berühmt ist auch eine zweite Formel von Raymond Loewy – gewissermaßen eine sozialwissenschaftlich und kulturwissenschaftlich außerordentlich starke Zauberformel: MAYA – „Most advance – Yet Acceptable“. Der legendäre Citroen DS 19/21 ist ein Beispiel erfolgreicher Nutzung dieser Formel – andere Autogeschichten forciertfortschrittlichen Designs zeigen eher Scheiternsgeschichten auf: Etwa die Geschichte des Ro 80 (unabhängig von seiner Motorenproblematik war er auch als Design riskant), des berühmten Chrysler Airflow aus den 30er Jahren in den USA oder des Audi A 2 – hier zeigte sich als Risiko (Prognose-Unsicherheit) das Spannungsverhältnis zwischen ästhetischer Herausforderung und ökonomischer marktmäßiger Realisierungschance. B. Eine weitere empirisch valide allgemeine Orientierungsformel: „Der Krieg ist der Vater – auch von Geschmack!“ Das Jagdflugzeug Lookheed P38 „Lightning“ inspirierte angeblich den Chefdesigner Harley Earl von General Motors zur Einführung von Heckflossen als Gestaltungselement von Automobilen.

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Sowohl der Erste wie auch der Zweite Weltkrieg haben in außerordentlich erfolgreicher Weise ästhetische Standards für Gebrauchsgüter insbesondere auch im Bereich der Transportmittelindustrie vermittelt. Flugzeuge und Raketen dienten als Elemente des Automobildesigns, insbesondere in den 50er Jahren von den USA ausgehend. C. Marktrelevant ist schließlich auch das sog. Customizing als „Geschmack-Machen“ – die Individualisierung als Protest und Innovation. In diesem Zusammenhang ist es lohnend, einen Blick auf den DDR-„Trabant“ als höchst variantenreich realisiertes Objekt von Customizing zu werfen:

5 . H e r a u s f o r d e r u n g e n d e s Au t o m o b i l i s m u s a m Beginn des 21. Jahrhunderts Die Entwicklungen der neueren gesellschaftlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen in Sachen Geschmackssache Automobil sind mit den folgenden Stichworten skizziert: Globales Wachstum der Industrie, neue Märkte und neue Konsumsphären, Differenzierungsschübe und zunehmender Wettbewerb auch via Design und Modellvarianten in den „gesättigten Automärkten“, Spreizung der Einkommensstruktur mit Belebung des Marktes von kleinen Automobilen und sog. Billigautos, Wandel der Automobilkultur: Rückgang der emotiona-

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len Autoorientierung, zunehmende Bedeutung von Modalverkehrssystemen und anderes, steigende Bedeutung von Randkulturen des Automobilismus: Exotisierung und Nostalgisierung und schließlich forcierte Differenzierung der Automobilnutzung und der Orientierung zum/am Automobil: Individualisierung als Mode. In der Diskussion sind die Effekte sich andeutender Veränderungen der Automobilismuskultur – sowohl in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht: Wie tiefgreifend wird eine anstehende Revision unseres Automobilismus sein? Allerdings: Die Weiterentwicklung unseres gegenwärtigen emphatischen Automobilismus hat wohl noch für eine gute Weile Chancen – in der Gestalt des indischen Massenautos TATA für die emergent markets (und evtl. in modifizierter Form auch darüber hinaus) und in der Gestalt der künftigen Mercedes S-Klasse, gezeigt auf der Frankfurter Autoshow 2007:

Der Blick in die Welt schließlich muss den Autobauern und Händlern weltweit Freude und Sorge vermitteln:

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Freude an den Chancen des Neuen – sowohl neuer Märkte wie auch neuer technischer Lösungen. Aber auch Sorge mit Blick auf die Kosten des Abschieds von manchen Elementen des etablierten Modells des Automobilismus.

6 . Ab s c h l i e ß e n d e N o t i z Es geht um die Rede von der nötigen/wahrscheinlichen ‚Neuerfindung‘ des Automobils vor dem Hintergrund von Ressourcenproblemen, Klimawandel und kulturellen Wandlungen in den sog. entwickelten Industriegesellschaften. Der im 20. Jahrhundert weltweit etablierte Automobilismus – die hiermit verbundene Technologie, Wirtschaftsdynamik und Kultur – stehen auf dem Prüfstand. Man darf gespannt sein auf Neu-Er-Findungen der ästhetischen Gestaltung von Mobilität – insb. auch von Vehikeln ‚Individueller Massenmobilität‘. Zukunftsvisionen aus der Vergangenheit der Zukunftsdiskussion mögen anziehende und abstoßende Anregungen bergen:

Die Idee des „Fliegenden Autos“ wird immer mal wieder neu entdeckt (hier eine amerikanische Vision/Fiktion aus den 50er Jahren). Weltraumfantasien haben insbesondere in den 60er Jahren Karriere gemacht (Sentinel). Und das neueste Stadt-Vehikel ist kaum mehr als Fortsetzung des Autos zu erkennen, sondern eher als „Mobil-Handy“ (Toyota). Ästhetisch und technisch auffallend ist sicher auch die Wiedergeburt des Einrades als Automobil(ersatz) der Zukunft in einer Studie von Peugeot. Die Vorstellungen einer Zukunft individueller Massenmobilität reichen schließlich weit in die Zeit nach dem fossilen Automo-

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bilismus hinein – loslassen wollen wir das Lenkrad offensichtlich nicht so rasch!

Literatur Braess, Hans-Hermann/Seiffert, Ulrich (Hg.) (2007): Automobildesign und Technik. Formgebung, Funktionalität, Technik. Wiesbaden: Friedrich Vieweg & Sohn. Canzler, Weert/Schmidt, Gert (Hg.) (2003): Das Zweite Jahrhundert des Automobils. Technische Innovationen, ökonomische Dynamik und kulturelle Aspekte. Berlin: edition sigma. Canzler, Weert/Schmidt, Gert (Hg.) (2008): Zukünfte des Automobils. Aussichten und Grenzen der autotechnischen Globalisierung. Berlin: edition sigma. Edsall, Larry (2009): Triumphe des Automobil-Designs. Von Darris Rolls Royce Phantom zu Fiskers BMW Z8. Wiesbaden: White Star. Möser, Kurt (2002): Die Geschichte des Autos. Frankfurt a.M./ New York: Campus. Tumminelli, Paolo (2004): Car Design. Kempen: teNeues.

Die Bilder sind dem eigenen Fotoarchiv des Autors oder dem Internet entnommen.

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Eckhard Roch

Musikalischer Kitsch

Einleitung De gustibus non disputandum est. Über Geschmack ist nicht zu streiten. Diese alte Weisheit lässt sich auf alle Künste anwenden. Aber sie enthält zugleich auch einen latenten Widerspruch, denn über kaum einen Aspekt der Kunst ist so viel gestritten worden und wird noch heute so viel gestritten wie über den Geschmack. Das gilt vor allem für die Kunst, welche den Geschmack – also ganz subjektive Empfindungen – in besonderer Weise anzusprechen scheint – die Musik. Noch immer ist die aus dem 19. Jahrhundert stammende Meinung, Musik sei eine „Sprache der Gefühle“ weit verbreitet. Was jedoch der Einzelne beim Hören von Musik wirklich fühlt oder empfindet1, lässt sich schwer sagen. Ein jeder von uns kennt die Schwierigkeit, einem Bekannten seine Eindrücke von Musik mitzuteilen. Das Kommunizieren musikalischer Gefühle fällt schwer oder ist vielleicht sogar unmöglich. Dennoch oder gerade deswegen spielt der Geschmack in der Musik eine bedeutendere Rolle als in den anderen Künsten. Während die Kenntnis bestimmter Stilrichtungen oder Werke der bildenden Kunst oder Literatur einen allgemeinen Maßstab für den gebildeten Mitteleuropäer darstellt, zieht sich der Musikliebhaber nur zu gern auf seine eigene, ganz private Geschmacksrichtung zurück. Da gibt es den Klassik-Liebhaber neben dem Rock- und Pop-Fan mit seinen zahlreichen Facetten. Der Opernfreund und Anhänger des ‚Gesamtkunstwerkes‘ steht neben dem Verfechter der reinen Instrumentalmusik. Der eine lässt überhaupt nur Johann Sebastian Bach gelten, während der andere Mozart und Beethoven oder Richard Wagner bevorzugt. Jeder nach seinem Geschmack. In der aktuellen Rock- und Popkultur spielt die geschmacksgesteuerte Gruppenbildung sogar eine noch weitaus größere Rolle. Das Be1

Da es sich beim Hören von Musik um äußere Reize handelt, wäre es musikpsychologisch exakter, hier nur von „Empfindungen“, statt von Gefühlen, die innere Zustände darstellen, zu sprechen.

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kenntnis zu dieser oder jener Stilrichtung, der einen oder anderen Rockgruppe oder einem bestimmten Star entscheidet über die soziale Akzeptanz in der Schule oder im Freundeskreis. Trotzdem scheint musikalischer Geschmack weitgehend der persönlichen Entscheidung anheimgestellt. Eine Bildungsinstanz, die über den guten oder schlechten musikalischen Geschmack verbindlich entscheidet, gibt es nicht und kann es nicht geben. Musik ist die Geschmackssache schlechthin. Mit einer Ausnahme vielleicht – dem musikalischen Kitsch. Wer Kitsch mag, verrät Unbildung und schlechten Geschmack. So ist es in der bildenden Kunst oder Literatur und so ist es auch in der Musik. Denn ähnlich wie beim Urteil über Schönheit und Hässlichkeit, weiß jeder genau, was er für Kitsch hält. Über Geschmack lässt sich in der Musik nicht streiten – über Kitsch jedoch sehr wohl. Was aber ist das überhaupt – musikalischer Kitsch?

1. Definitionen Was fällt uns zum Begriff des Kitsches ein? „Gartenzwergidylle“, „Mondschein-Romantik“, „hohles Pathos“ und „Trivialität“, „Unechtes“ oder „(Nach-)Gemachtes“, „Falsches“, „Kunstgewerbe“ statt Kunst, „billige Schleuderware“ und „süßlicher Tand“ oder einfach „Geschmacklosigkeit“? Gewiss – all das sind Assoziationen, die zum Kitsch gehören, aber sie machen für sich allein genommen noch keinen Kitsch aus. Kitsch ist ein vielschichtiges Phänomen. Trotzdem gab und gibt es immer wieder Versuche, den Begriffsinhalt in markigen Sätzen auf den Punkt zu bringen. So definierte beispielsweise K. M. Michel: „Kitsch ist billiger Tand, naiver Krimskrams, Rückstand infantiler Tagträume – Kitsch ist luxuriöser Pomp, raffiniertes Narkotikum, teuflisches Blendwerk“(Thuller 2007: 8). Von Frank Wedekind, der ein Theater-Stück mit dem Titel Kitsch plante, stammt die Formel: Kitsch ist die heutige Form von Gotisch, Rokoko und Barock (vgl. Kliche 2005: 274), wodurch wohl vor allem das Moment des Unzeitgemäßen und Nachgemachten ausgedrückt sein soll. Offenbar gibt es also keinen Kitsch an sich. Vielmehr können Stilelemente oder Kunstwerke, die zu früheren Zeiten durchaus die Würde der Kunst besaßen, später zu Kitsch werden. Kitsch hat eine Geschichte, er ist ein historisches, kein objektives Phänomen.

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ECKHARD ROCH: MUSIKALISCHER KITSCH

Das Substantiv Kitsch kam erstmalig 1881 in Berliner Künstlerkreisen auf und vereint auf sich Bedeutungen, für die es keinen Terminus ante quem gibt (ebd.: 272). In den folgenden Jahren verbreitete sich das Wort inflationär. Ältere Begriffe wie „schlechter Geschmack“, „Dilettantismus“, „Mode“, „Schund“, „Kolportage“, „Trivialkunst“ usw. wurden in den Hintergrund gedrängt. Sie erfassen Momente und Seiten des vielschichtigen Begriffs Kitsch, ohne mit ihm deckungsgleich zu sein (ebd.: 272f.). In anderen Sprachen – mit Ausnahme vielleicht des spanischen „lo cursi“ und des russischen „gjikjcnm“, die sich aber nicht allgemein durchsetzen konnten – gibt es zum deutschen Ausdruck „Kitsch“ kein wirkliches sprachliches Äquivalent. So wurde das deutsche Wort bald zu einem Internationalismus und ist es bis heute geblieben (ebd.: 273). Die Etymologie des Wortes Kitsch ist zwar unklar, doch lassen sich verschiedene, an sich stichhaltige Erklärungsversuche benennen, die freilich vor allem das jeweils zugrundeliegende Verständnis des Begriffes Kitsch zu bestätigen suchen. Die wichtigsten seien hier genannt: 1. Die Ableitung von engl. „sketch“ (= Skizze, Studie, Schema). Nach Avenarius hätten vor allem amerikanische Touristen im München der 70iger und 80iger Jahre von dortigen Malern etwas Kleines und Billiges als Andenken, eben „a sketch“, verlangt. Und so sei das Wort allmählich durch den Tourismus eingeschleppt worden. Eine Deutung, die auf das Unechte, Nachgemachte und die Massenkultur des Kitsches abzielt. 2. Ein zweiter Versuch leitet das Wort von mundartlich (Südwestdeutschland) „kitschen“ (= den Straßenschlamm mit der Kotkrücke [Kitsche] zusammenscharren) ab. Kitsch als Schund und Abfall. 3. Eine weitere mundartliche Ableitung, diesmal aus Mecklenburg und dem Rheinland, bezieht sich auf „kitschen“ im Sinne von „schnellem Entlangstreichen“ und bezeichnet den Kitsch somit als das Flüchtige, Billige, für den schnellen Konsum Gemachte. 4. Die vierte Ableitung beruft sich auf das russische Verb „rbxbn]cf“, welches so viel wie sich brüsten, sich für mehr ausgeben als man ist, bedeutet.

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5. In Schwaben und Süddeutschland bedeutet Kitsch mundartlich ein kurzes Holz, den Abfall und „verkitschen“, das in den Gaunersprachen und dem Rotwelschen zu finden ist, so viel wie im Kleinen handeln, verkaufen. 6. Und schließlich sei noch die Ableitung vom jiddischen „verkitschen“ erwähnt, was so viel bedeutet wie: Jemandem etwas andrehen, was er nicht braucht. Das Wort Kitsch bildet die Grundlage des Begriffes Kitsch, in dem durchaus heterogene Bedeutungen zusammengefasst und gebündelt werden, so dass aus deren Summe eine neue Qualität entsteht (ebd.: 275f.). Die Geschichte der Begriffsbildung lässt sich für bildende Künste und Kunstgewerbe an einigen markanten Stationen ziemlich genau umreißen. So organisierte der Direktor des Stuttgarter Landesgewerbemuseums, Edmund Pazaurek, 1909 eine Ausstellung unter dem Titel Geschmacksverirrungen im Kunstgewerbe, mit welcher er den pädagogischen Zweck einer Geschmackserziehung durch Beispiel und Gegenbeispiel verfolgte. Beispiele des schlechten Geschmackes, welche sich durch „Fehler gegen das Material“, „gegen die Zweckform und Technik“, „gegen die Kunstform und den Schmuck“ auszeichneten, gipfelten in einer Abteilung, welche unter dem Begriff „Kitsch überhaupt“ zusammengefasst wurde: Sogenannter Hurra-Kitsch (kitschige Darstellung von Weltkriegsgreueln), Devotionalien-Kitsch (Heiligenbilder usw.), Fremdenandenken-Kitsch, Geschenk-Kitsch, Vereins-Kitsch (z. B. rückständige Studentenkunst), Aktualitätskitsch (z. B. Auswüchse der ZeppelinBegeisterung nach 1908) und schließlich Reklamekitsch (vgl. ebd.: 274). Die Stuttgarter Kitsch-Sammlung wurde bis zum Ende des 1. Weltkrieges gezeigt und hatte eine durchgreifende nationale und internationale Wirkung. Massenhaft besucht und immer wieder in der Presse besprochen, trug sie ganz wesentlich zur Verbreitung des Wortes Kitsch bei und konstituierte die wesentlichen Inhalte, die den Begriff des Kitsches fortan bestimmten. Die erste, eigens dem Kitsch gewidmete wissenschaftliche Studie stammt aus dem Jahre 1925. Ihr Verfasser, Fritz Karpfen, versucht darin eine Typologie des Kitsches: Der religiöse Kitsch, der exotische Kitsch, Kitsch der Stube, Hurra-Kitsch, Kunstgewerbe-Kitsch, Plakat-Kitsch, der architektonische Kitsch. Der musikalische Kitsch fehlt in dieser Klassifikation (vgl. ebd.). 134

ECKHARD ROCH: MUSIKALISCHER KITSCH

Im Laufe eines halben Jahrhunderts nimmt der zuvor diffuse Begriff allmählich Bedeutungen wie Schund, Abfall, schlechte, seichte oder Nicht-Kunst, Produkte des schlechten (Massen-) Geschmacks, epigonenhafter Gebrauch von Stilen und Formen in sich auf. Er wird Teil eines „kulturellen Kampfkonzepts“ (Pierre Bourdieu) gegen die Geschmacksverirrungen und die Dekadenz der heraufziehenden Massenkultur des Industriezeitalters. Der Anwendungsbereich des Begriffes greift von der Malerei auf das Theater, das Kunsthandwerk und das junge Massenmedium des Filmes (Kino-Kitsch) über. Die Begriffsintention wird differenziert. „Kitschen“ in der Produktion, „verkitschen“ in der Distribution und „kitschig“ in der ästhetischen Rezeption (ebd.: 275). Als Hauptmerkmale des Kitsches gelten vor allem Inadäquatheit, Heterogenität und Dysfunktionalität. Kitsch löst die Dinge aus ihrem ursprünglichen Kontext heraus und versetzt sie in neue, unangemessene Zusammenhänge. Man denke hier beispielsweise an die Apollons und Aphroditen der beliebten griechischen Restaurants. Sie sind nicht nur am falschen Platz, sondern auch aus billigem Material gefertigt und viel zu klein. Griechische Antike im Gartenzwergformat. Trotz aller dieser Definitionsversuche und Herleitungen bleibt der Begriffsinhalt des Wortes Kitsch jedoch äußerst vage. Ein Umstand, der die Schwierigkeit, aber auch den Reiz des Begriffes ausmacht. Sinnvoller als jede theoretische Spekulation darüber, was Kitsch ist oder nicht ist, ist daher die praktische Demonstration. Nicht zufällig waren ja die Kitschausstellungen und Kitschanthologien so erfolgreich. Da Kitsch ein Begriff ist, der erst sekundär von Literatur und bildender Kunst auf die Musik übertragen wurde, sollen die einzelnen Kitsch-Kriterien anhand von Vergleichen, gewissermaßen vom Gesicherten auf das Ungesicherte schließend, diskutiert werden.

2. Kitschproduktion Jegliche Produktion von Kunst setzt nicht nur einen Gegenstand, sondern vor allem ein entsprechendes Material voraus. Das Material hat direkten Einfluss auf den Kunstcharakter und den Wert des hergestellten Objektes. Das scheint insbesondere bei der Plastik unmittelbar einleuchtend zu sein. Das Material Gold z.B. ist

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besonders wertvoll und wird daher nur für besondere Objekte, wie fürstliche oder kultische Gegenstände, und nicht für den Gebrauch des Alltags verwendet. Die Nachbildung eines solchen Gegenstandes aus vergoldetem Silber, Eisenblech oder gar Kunststoff ist nicht nur nichts wert, sondern verstößt gegen das Gesetz des Materials. Sie täuscht vor, mehr wert zu sein, als sie es wirklich ist, weshalb sie unter Umständen zum Kitsch werden kann. Doch gibt es überhaupt einen solchen Aspekt von Material in der Musik? Wenn ja, dann nur in einem metaphorischen Sinn. So kamen beispielsweise zurzeit Beethovens verschiedene mechanische Musikinstrumente auf, welche mit Walzen bestückt werden konnten, die dann verschiedene beliebte Melodien in recht mechanischer Weise abspielten. Hier dient als Beispiel eine Aufnahme von Händels berühmtem Largo aus seiner Oper Serse (Xerxes), gespielt vom Wandspielschrank „Polyphon“ aus dem Musikinstrumentenmuseum Leipzig (Hörbeispiel 1).2 Mögen uns heute dabei die Ohren wehtun! Aber empfanden die Zeitgenossen das schon als Kitsch? Als man Beethoven entrüstet von der Transkription einer seiner Kompositionen auf Flötenuhr erzählte, soll er erwidert haben, die Uhr spiele doch immerhin besser als das Orchester des Theaters am Kärntner Tor! Bestimmte Musik scheint gegen derlei Materialverstöße überhaupt immun zu sein. Das gilt vor allem für die Musik vor 1800, bei welcher die Instrumentation entweder gar nicht vorgeschrieben oder doch auf eine variable Besetzung je nach den bestehenden Möglichkeiten hin konzipiert ist. Noch heute leidet ein Präludium von Bach ästhetisch nicht wesentlich darunter, wenn es statt auf einer Silbermannorgel auf einem elektronischen Instrument gespielt wird. Das Material eines Kunstwerkes ist jedoch nicht nur unter dem Aspekt der Angemessenheit und des Wertes von Bedeutung, sondern auch unter dem der Form. Der David des Michelangelo beispielsweise verdankt seine typische Körperhaltung bekanntlich der Form des Marmorblockes, den Michelangelo zu diesem Zweck erwarb. Der Künstler hat diese Form dem Material abge-

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Demjenigen, der dieses Musikstück – und die im folgenden genannten – zur Hand hat, wird empfohlen, es als musikalischen Geschmacksverstärker zum Artikel zu hören.

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ECKHARD ROCH: MUSIKALISCHER KITSCH

rungen, indem er seinen Ausdruckswillen mit den Möglichkeiten des Steinblockes in Einklang brachte. Die Form des David ist hier offenbar nicht nur ein Produkt der Phantasie, sondern zugleich eine Funktion des Materials. Gießt man das Original in Gips nach, entfällt diese Funktionalität und die Figur wird zum Kitsch. Ähnlich verhält es sich mit den von Stahlträgern gestützten Spitzbögen der neugotischen Kirchen: Sie haben keine tragende Funktion mehr und werden somit zum bloß nachgemachten Ornament, freilich ohne deshalb schon gleich Kitsch zu sein. Es gibt diese Art von Verstoß gegen Material auch in der Musik. Ein Beispiel wäre etwa die Verwendung von Stilelementen aus der Musik früherer Epochen in einem aktuellen musikalischen Kunstwerk, sofern damit nicht ein erkennbares Stilzitat beabsichtigt ist. Einen Materialverstoß stellt im Grunde auch die Aufführung einer ehemals funktionalen Gattung wie einer Kirchenkantate im bürgerlichen Konzertsaal dar. Aber entsteht dadurch schon musikalischer Kitsch? Wohl kaum. Anders verhält es sich da schon mit der Verwendung von Klangmaterialien, die dem musikalischen Kontext überhaupt fremd oder unangemessen sind, beispielsweise dem Einsatz von realistischen Geräuschen wie Gewehrsalven oder Kanonendonner in komponierter Musik. Ein Beispiel dieser Art stammt ausgerechnet von Beethoven: In merkwürdiger, aus heutiger Sicht fast parodistischer Manier, schrieb der einstige Napoleonverehrer für die Feier der Sieger in Wien die sogenannte Schlachtsymphonie Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria, op. 91 (Hörbeispiel 2). Sie wurde am 8. und 12. Dezember 1813 im Saal der Wiener Universität und am 27. Februar 1814 im Wiener Redoutensaal aufgeführt und hatte beim Publikum sogar mehr Erfolg als die gleichzeitig auf dem Programm stehende Siebte Symphonie. Schon 1810 hatte E.T.A. Hoffmann die Schlachtmusiken und Battaglien der sogenannten Programmmusiker als hoffnungslose Verirrungen des musikalischen Geschmackes gegeißelt, weil sie die unplastischste der Künste, die Musik, plastisch aufgefasst hätten (vgl. Hoffmann 1810: 637). Es ist der plumpe Naturalismus der Darstellung, welcher solche musikalischen Produktionen in die Nähe des Kitsches rückt. Für Hoffmann war jede plastischmusikalische Nachahmung überhaupt Musik minderer Qualität. Aber lässt sich ein solches Argument wirklich verallgemeinern? Auch die berühmte Szene am Bach aus Beethovens Pastoralsym137

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phonie F-Dur, op. 68 frönt mit ihrer Vogelstimmenimitation einem unverhohlenen Naturalismus, der für uns heute leicht in den Verdacht des Kitsches gerät. Es ist vor allem die Coda des 2. Satzes, der Szene am Bach, in der man über den Wellenbewegungen des Baches deutlich die von Beethoven selbst bezeichneten Vogelstimmen hört (Hörbeispiel 3). Der Naturalismus dieser „Szene“ ist – trotz Beethovens vorsorglicher Anweisung „Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei“ unbestritten. Doch die Originalität der Konzeption und die thematische Integration des Naturmaterials in den Formverlauf der Komposition lassen jeden Verdacht des Kitsches sofort absurd erscheinen. Das eigentliche Material der Musik entstammt – im Unterschied zu anderen Künsten – jedoch nicht der Natur, sondern ist grundsätzlich ideeller Art. Material der Musik sind nicht etwa die einzelnen Töne, die in tonaler Musik ja immer die gleichen sind, sondern historisch gewachsene Formen der harmonisch-melodischen und rhythmischen Organisation dieser Töne. Nicht bei den Einzeltönen, sondern bei den funktionalen und stilistischen Vorgaben der Musik einer Zeit setzt das Komponieren an. In der Kunstmusik seit dem 19. Jahrhundert unterliegt das musikalische Material allerdings nicht mehr einem zu erfüllenden Regelwerk wie noch im 18. Jahrhundert, sondern im Gegenteil dem Prinzip der Originalität. Die Qualität und der Wert dieser Musik beruhen auf der ständigen Neuorganisation des musikalischen Materials. Der Berliner Musikwissenschaftler Tibor Kneif hat das Arbeiten im musikalischen Material einmal als Dialektik von Figur und Gegenfigur beschrieben. Komponieren besteht demzufolge – vereinfacht gesagt – aus dem Erzeugen von Gegenfiguren zu schon bestehenden Figuren. Je origineller die neuen Gegenfiguren aber sind, desto leichter und schneller nutzen sie sich ab (vgl. Kneif 1971). Sie werden trivial oder banal. So wurde die Verwendung der hohen Violinen in Wagners Vorspiel zu Lohengrin (Hörbeispiel 4) von Th. W. Adorno als die eigentliche Erfindung der Klangfarbe im Sinne einer neuen kompositorischen Dimension gerühmt (Adorno 1971: 69). Bei ihrer nachgemachten Verwendung jedoch, etwa im Film, verkommt der bei Wagner dramaturgisch begründete Silberklang der Violinen (das Vorspiel schildert die Herabkunft des heiligen Grals durch eine Engelsschar) zum banalen Effekt, einer Wirkung ohne Ursa138

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che, einem fast kunstgewerblichen Mittel der Klangmalerei. „Die Kitschgrenze beginnt“, schrieb der Schweizer Dirigent Hermann Scherchen, „wo die bloßen Materialreize nicht in die höheren Stufen der Kunst einzugehen vermögen“ (Scherchen zit.n. Dahlhaus 1967: 66). Dabei müssen die nachgemachten Produktionen nicht unbedingt schlechter komponiert sein als die „echten“. Wie Carl Dahlhaus bemerkte, stimmen der ästhetische und kompositionstechnische Begriff von guter und schlechter Musik seit dem 19. Jh. nicht mehr zusammen, sondern klaffen sogar auseinander (Dahlhaus 1970: 44). Ein Stück im Palestrinasatz, eine Messe oder Motette im „alten Stil“ könnten kompositionstechnisch noch um 1900 gut komponiert sein, im ästhetischen Materialsinne seien sie jedoch trivial. Die Entstehung einer Trivialmusik, die nicht „schlecht komponiert“ zu sein braucht und dennoch ästhetischer Geringschätzung verfällt, ist – so Dahlhaus – die Kehrseite des emphatischen, eben auf dem Originalitätsprinzip beruhenden, Musikbegriffs der Romantik (ebd.). Indem schon von Wilhelm Heinrich Wackenroder, Ludwig Tieck, E.T.A. Hoffmann und Robert Schumann die metaphysische Würde der Musik ins Unermessliche gesteigert worden war, sei alle Musik, die dem Anspruch, tönende Poesie zu sein, nicht entsprach, entweder als „prosaische“ Musik, wie Schumann es nannte, oder als Kitsch (für den im 19. Jahrhundert das Wort noch fehlte) erschienen (ebd.: 45). Die vormals funktionale, nun aber ohne es zu verleugnen, „prosaische“ Musik ist nach Dahlhaus – trivial. Wenn sich diese prosaische Musik jedoch in bewusst täuschender Absicht als „poetische“ ausgibt, dann entsteht – Kitsch. Kitsch ist nach Dahlhaus der Griff zum Höchsten, ohne dass der ästhetische Anspruch kompositorisch eingelöst wird. Ähnliche Kitsch-Definitionen kennen wir schon aus der Literatur, der bildenden Kunst und dem Kunstgewerbe. Ist es, so wäre nach alledem zu fragen, da prosaische Musik ohne Poesie ja eben nur trivial ist, am Ende gar nicht die Musik, sondern nur der falsche poetische oder auch funktionale, d.h. außermusikalische Anspruch, welcher kitschig erscheint? Die Rolle der romantischen Verklärung, welche der Musik gerade im Trivialroman oft zukommt, könnte dafür sprechen. Wer kennt nicht jene Szene von Winnetous Tod in Karl Mays gleichnamigem Roman, welche Generationen von jugendlichen Lese139

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rinnen und Lesern zu Tränen gerührt hat? Walther Killy nahm diese Passage in seine Sammlung „Deutscher Kitsch“ auf (Killy 1962: 98). Man mag über die literarische Qualität dieser Szene denken wie man will. Wie aber verhält es sich mit der im Roman erwähnten Musik? Die Musik vollbringt hier nichts Geringeres als das Wunder einer Bekehrung: Winnetou, der „edle Wilde“, hört sterbend das Ave Maria aus der Feder Karl Mays mitten im Wilden Westen und wird Christ! Zweifel an dieser wunderbaren Kraft der Musik dürften berechtigt sein. Das Ave Maria aber – das gibt es wirklich! (Hörbeispiel 5: Karl May, Ave Maria). „Der Componist hatte“, heißt es im Roman, „keine nach Effect haschenden Modulationen, keine kunstreichen Wiederholungen und Umkehrungen, keine anspruchsvolle Verarbeitung des Motivs angewendet. Die Composition erbaute sich nur aus den naheliegenden, leitereigenen Accorden, und die Melodie war einfach wie diejenige eines Kirchenliedes“(Kühne/Lorenz 1999: 32f.). Das Ave Maria Karl Mays mag also trivial sein. Aber Kitsch ist es nicht, weil ihm der erhaben-poetische Anspruch, den nur der Romantext stellt, fehlt. Warum aber finden wir ein anderes, viel berühmteres Ave Maria, nämlich jenes von Charles Gounod – ich unterstelle es einmal – als kitschige Edelschnulze (Hörbeispiel 6), obwohl doch Bachs C-Dur Präludium aus dem Wohltemperierten Klavier, welches die Grundlage (das Material) bildet, weder als trivial noch als kitschig bezeichnet werden kann? Ist es nur die Kombination von Ave Maria, also Gebet, und instrumentaler Fingerübung, welche den überhöhten Anspruch dieser ‚Bearbeitung‘ nicht einzulösen vermag? Oder ist es die ‚barbarische‘ Hervorzerrung der latent in den gebrochenen Akkorden des Präludiums verborgenen, sentimentalen Melodie, welche wir als unschicklich und geschmacklos empfinden? Oder ist es – wie Dahlhaus meint – die Versetzung des Gebetes in die Sphäre der Salonmusik, welche Gounod mit seinem Ave Maria bedient? Als Kontrastbeispiel echter Salonmusik möge ein „Czárdás“ den Unterschied zwischen pseudoreligiösem Edelkitsch und prosaischer Trivialmusik verdeutlichen (Hörbeispiel 7). Solche Musik mag zwar trivial sein, aber sie tritt mit dem Charme von echter Zigeunermusik auf: viel Geigenschmalz und auch Sentimentalität. Aber eben eine Musik, die sich dazu bekennt. Zudem verhindert

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die unbestreitbare Virtuosität des Stückes jeden Gedanken daran, dass es sich hier um Kitsch handeln könnte. Kitsch hingegen verbindet Trivialität mit metaphysischem Anspruch. Freilich müsste dann, was die Sentimentalität und den pseudo-religiösen Anspruch angeht, mit gleichem Recht wie Gounods Ave Maria auch Schuberts gleichnamige Komposition dem Kitsch zuzuordnen sein! (Hörbeispiel 8). Ist es nur die Autorität des unvergleichlichen Liedkomponisten Franz Schubert, die hier beim Urteil des Kitsches zögern lässt? Ästhetische Geschmacksurteile haben immer mit Autorität zu tun! Alle Aussagen über Musik bleiben freilich reines Geschwätz, sobald sie nicht den technischen Befunden abgezwungen werden, sagt Adorno (1993: Fragment Nr. 8). Ist es aber überhaupt möglich, musikalischen Kitsch anhand konkreter musikalischer Merkmale dingfest zu machen? Einen vieldiskutierten Versuch, objektive Kriterien des Kitsches anhand des Notentextes zu verifizieren, unternahm Carl Dahlhaus in einem Beitrag „Über musikalischen Kitsch“. Am Notentext müsse gezeigt werden können – so Dahlhaus – wie sich Einfaches von Trivialem, Sentiment von Sentimentalität, ausdrucksvoll Schönes von Kitsch unterscheidet (Dahlhaus 1967: 66f.). Das Beispiel war bewusst schwierig gewählt, weil von einem Komponisten komponiert, dem man nicht gern die Produktion von Kitsch nachsagen will: Peter Tschaikowskys Andante cantabile aus seiner 5. Symphonie, e-moll op. 64 (Hörbeispiel 9). Gewissermaßen eine lectio difficilior der Kitsch-Analyse. Die ersten vier Takte der Hornmelodie umschreiben das Tongerüst cis-d-g-fis, beruhen also auf einer einfachen D-Dur-Kadenz. So weit so gut. Aber Tschaikowsky verleiht dieser selbstverständlichen Rückkehr zur Tonika durch schwer akzentuierte Vorhalte einen Nachdruck, der den schematischen Vorgang wie etwas schwer Errungenes erscheinen lässt. Durch diese Emphase – so Dahlhaus – werde das Einfache zunächst trivial. Dem Kitsch verfalle Tschaikowskys Kantilene jedoch dadurch, dass sie über die Emphase noch hinaus zu streben suche. Die Instrumentation, der Hornklang über tiefen Streicherakkorden, beschwöre romantische Ferne, die, wie E.T.A. Hoffmann einst formulierte, „geheimnisvolle, in Tönen ausgesprochene Sanskrita [die heilige Sprache] der Natur, welche die Brust des Menschen mit unendlicher Sehnsucht erfüllt“ (Hoffmann zit.n. Dahlhaus 1967: 67). Diese Melodie aber rede nicht Sanskrit, sondern im 141

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Operntonfall; die schluchzenden Akzente und inständigen Tonwiederholungen seien die eines Tenors. Aber auch das wäre noch erträglich, wenn es auf dem Boden des Affektes bliebe und nicht in die Höhen des poetischen Ideals entschwebe. Erst aus der Mischung des Trivialen mit Poesie resultiere die Kitschwirkung. Aufdringlicher Affekt und romantische Entrückung, Ferne des Geisterreichs der Musik und die Nähe der Theaterrampe verschwimmen ineinander. Die irdisch drängende Liebe dolce con molto espressione, dekoriere sich als himmlische. So weit Dahlhaus. Die klar formulierte These über dieses „kitschige Andante“ löste in der anschließenden Diskussion heftige Reaktionen aus. Heinz Becker hielt es für gefährlich, vom Material her sagen zu wollen, dies oder jenes sei Kitsch (vgl. ebd.: 68). Walter Wiora meinte, dass man bei der Erörterung des Kitschphänomens Tschaikowsky besser außer Betracht lassen solle. Er schlug vor, zwischen kitschigen Musikstücken und solchen die anfällig sind, kitschig vorgetragen zu werden, zu unterscheiden und daher anstelle vom Notentext von der Klangform auszugehen. Des Weiteren forderte er, das Kitschige vom Banalen zu trennen. Kitsch sei Trivialität mit Prätention (vgl. ebd: 69). Dieser Formel stimmte auch Dahlhaus zu: Kitsch sei anspruchsvoll, er strebe über sich hinaus, mit kleinbürgerlichem Zug zum Höheren (ebd.: 69f.). Mag ein solches Kitschurteil bei einem Komponisten wie Tschaikowsky also fraglich erscheinen, bei einem Salonstück des 19. Jahrhunderts wie dem berühmten Gebet einer Jungfrau von der polnischen Komponistin Tekla Badarzewska (Erstpublikation in Warschau 1856) trifft es gewiss zu.

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Dieses Klavierstück war Ende des 19. Jahrhunderts extrem populär und wurde für sehr viele verschiedene Besetzungen bearbeitet. Das Stück hebt mit der großen Geste eines Virtuosenstückes an (Theatervorhang in Oktaven, Vorschläge) was freilich die musikalische Dürftigkeit dieses „Salon-Gebetes“ nicht zu übertünchen vermag (Hörbeispiel 10: Tekla Badarzewska, Gebet einer Jungfrau (Wandspielschrank „Symphonien“, Musikinstrumentenmuseum Leipzig). Was das junge Fräulein wohl erbitten mag, erfahren wir nicht. Doch sollten wir der Komponistin dankbar sein, dass sie ein Stück absolut reiner Instrumentalmusik schrieb, und uns somit die Pein eines entsprechenden Textes erspart. Als Pendant zum „Gebet“ schrieb Badarzewska später noch das ähnlich seichte und nahezu gleich aufgebaute Erhörte Gebet, bevor sie 1861 starb. Das „Gebet einer Jungfrau“, welches sich nicht nur gebärdete, „als ob“ es ein virtuoses Klavierstück sei, sondern auch dem Kitschkriterium der Sentimentalität und massenhaften Verbreitung in den Salons entsprach, bildet gewissermaßen ein musikalisches Gegenstück zum massenhaft verbreiteten religiösen Devotionalien-Kitsch des 19. Jahrhunderts. Kitsch im Religiösen beginnt da, wo die ursprünglichen Glaubensinhalte verlorengegangen sind, aber immer noch vorgetäuscht werden. Das makellos gemalte Madonnenbild oder der mädchenhaft schöne Jesus mit lockigem Haar sind kitschig, weil sie den Anspruch, Symbol religiöser Andacht zu sein, nicht einzulösen vermögen. Vor diesem Hintergrund mag die Beliebtheit sowohl des Gounodschen als auch des Schubertschen Ave Maria als andachtsvolle Umrahmungsmusik bei Beerdigungen nochmals zu denken geben. Eine Musik, die von den letzten Dingen handeln soll. Der Anspruch dieses Gebetes ist ja tief in der volkstümlichen Marienfrömmigkeit verwurzelt: „Heilige Maria, bitte für uns Sünder. Jetzt und in der Stunde unseres Todes.“ Dieser Anspruch des Gebetes, welches bekanntlich auch den Hauptbestandteil des traditionellen Rosenkranzgebetes bildet, erfüllt für den Gläubigen durchaus seine Funktion. Durch Schuberts stimmungsvolle Vertonung erhält das schlichte Gebet jedoch eine neue, emphatische Dimension. Die innere Empfindung wird ästhetisch zur Schau gestellt, der Glaube durch Stimmung ersetzt: Wo der Geist aber schwach wird und der Glaube fehlt, bleibt nur noch reine Sentimentalität.

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Eine besondere Form des Devotionalien-Kitsches rankt sich um die Vorstellung vom Schutzengel, der den Schlaf der Kinder behüten soll.

Abb. 1: David Godbold, America's Hope Nr. 3, 1990/1991, Tusche auf Leinwand, 172x129, Dun Laoghaire, Co. Dublin

Hier wirken Darstellung und Bildtitel gemeinsam am Eindruck des Kitsches. Die musikalische Version eines solchen Kinderglaubens komponierte Engelbert Humperdinck in seiner erfolgreichen 144

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Märchenoper Hänsel und Gretel, mit dem berühmten Abendsegen aus der zweiten Szene des zweiten Bildes (Hörbeispiel 11: Engelbert Humperdinck, Hänsel und Gretel, Abends will ich schlafen gehen). Ein Kinderlied in einer Märchenoper. Zweifellos sentimental. Aber der Text stammt aus Des Knaben Wunderhorn, und die Melodie zitiert ein Sterbelied aus dem 15. Jahrhundert. Das Material ist also echt (vgl. Irmen 1989: 100f.). Wo sind da falsches Pathos und Prätention? Dieser Gefahr erliegt der in Wagners Nachfolge stehende Humperdinck bezeichnenderweise erst in der folgenden Traumvision (Hörbeispiel 12: ebd., Traumvision). Man muss die kitschige Engelsparade mancher Inszenierungen hierzu gar nicht sehen. Die Gefahr des Kitsches liegt hier vielmehr in der Übersteigerung der musikalischen Mittel. Das große Pathos des Musikdramas will zum Kindermärchen einfach nicht passen. Humperdinck, der mit seinem Stück ja durchaus keine bloße Kinderoper, sondern ein Märchen für Erwachsene im Sinn hatte, das von den letzten Dingen des Lebens handelt, mutet seiner Musik hier eine Symboldimension zu, die sie aus sich heraus nicht zu leisten vermag. Wir werden sehen, dass eine entsprechende Inszenierung jedoch durchaus zu anderen Interpretationen führen kann.

3. Interpretation und Vermarktung: Das Geschäft mit dem Kitsch Musikalische Interpretation ist die musikspezifische Form der Vermarktung musikalischer Kunstwerke. Musik lässt sich ja nicht verkaufen wie ein Buch oder Bild. Sie erhält ihre Verbreitung vor allem durch ihre Interpreten. Zwar gibt gerade das Gebet einer Jungfrau ein Beispiel dafür, wie kitschige Kunst für den Massenbedarf des Durchschnittsbürgers produziert wird und den Anspruch virtuoser Kunstausübung auch für den minder befähigten Interpreten erhebt, aber musikalischer Kitsch lässt sich an der Billigkeit der Herstellung allein nicht definieren. Auch nicht an der billigen, massenhaften Verbreitung. Niemand käme auf die Idee, die zu Tausenden verkauften CD-Aufnahmen Beethovenscher Symphonien als Kitsch zu bezeichnen. Neben jener Musik, welche durch die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit dem Urteil des Kitsches verfällt, gibt

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es, wie Walter Wiora meinte, aber auch eine solche, welche selbst zwar nicht kitschig ist, jedoch leicht durch ihren Gebrauch und ihren kulturellen Kontext zum Kitsch werden kann; eine Musik, die gewissermaßen kitsch-anfällig oder kitsch-gefährdet ist. Ein ähnlicher Effekt von Unangemessenheit, wie wir ihn in Form ahistorischen Komponierens bereits kennengelernt haben, kann mit den Kunstprodukten auch sekundär, im Zuge ihrer Verbreitung und Vermarktung entstehen. Lassen Sie mich dazu ein Beispiel aus eigener Erfahrung erzählen. Es war vor über 25 Jahren, als ich zusammen mit einer Gruppe von Studenten der Musikwissenschaft an der Ostberliner Humboldt-Universität mit einem musikalischen Kitschprogramm durch die Stadt und ihre Umgebung zog. Ein Kitschprogramm! In einem Anfall von jugendlichem Übermut hatten wir Studenten uns zusammengetan, um musikalischen Kitsch – die Hauptnummer war Tekla Badarzewkas Gebet einer Jungfrau – zu interpretieren. Der Anlass selbst schon litt unter der Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Keiner der Beteiligten war professioneller Musiker und nur die Unterstellung des musikalischen Kitsches, also des musikalischen „als ob“ legitimierte uns, überhaupt öffentlich aufzutreten. Den Beginn unseres Programms bildete Carl Loewes Lied Die Uhr, vorgetragen von unserem Bassisten, der – wie es heute oft auch im Konzertbetrieb wieder üblich ist – das Lied nicht nur sang, sondern auch durch Mimik und Gestik unterstützte. „Ich trage wo ich gehe, stets eine Uhr bei mir“: So beginnt das Lied, und wenn unser Sänger dazu mit nachtwandlerischem Schritt und verträumtem Blick, eine Taschenuhr in der Hand haltend, hereinspaziert kam, so war der Lacherfolg für den gesamten Abend sicher. Aber ist dieses Lied, bei dem es ja nicht um eine mechanische Uhr, sondern um die Uhr des Lebens geht, wirklich Kitsch oder hatten wir es nur – zugegeben etwas billig – durch die Art unserer Interpretation ins Lächerliche gezogen und somit parodiert? (Hörbeispiel 13: Carl Loewe, Die Uhr). Die Parodie ist von Kitsch und Verkitschung sehr wohl zu unterscheiden. Unter Parodie versteht man die Umbildung einer an sich ernstgemeinten Sache durch Beibehaltung ihrer Form und durch Unterlegung eines heiteren Inhalts zu komischer und lächerlicher oder verspottender Nachbildung, definierte Kurt 146

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Herbst in einem Aufsatz über die Grenzen zwischen Kitsch und Parodie in der Musik (Herbst 1935: 505). Wir hatten Loewes Uhr also nicht verkitscht, sondern nur parodiert, ohne dem Wert des Liedes damit wirklich Abbruch zu tun. Es sind in der Regel ja nicht etwa die unbedeutenden oder gar minderwertigen Kunstwerke, welche parodiert werden. Man denke an Mozarts Zauberflöte oder Wagners Tristan und Isolde, letzteres ein Jahrhundertwerk, bei dem die Parodie Tristanderl und Süßholde noch vor dem Original auf die Bühne kam. Es gibt in Wagners musikdramatischem Stil aber sehr wohl einige Details, die in den Verdacht des Kitsches geraten könnten. Schon Friedrich Nietzsche kritisierte an Wagner „den Missbrauch überlieferter Mittel, ohne das rechtfertigende Vermögen“, die „Überlebendigkeit im Kleinsten“, den „Affekt um jeden Preis“ (Nietzsche 1969: 41). Das alles scheint vor allem zuzutreffen auf ein Stück aus Wagners Walküre, das auch als Instrumentalstück berühmt wurde – den sogenannten Walkürenritt. Ein Stück Musik, das für sich allein kaum Bestand hat und dessen scheinbar platter Naturalismus dem echten Symphoniker ästhetisches Unbehagen bereitet. Aber: Es ist ja eben keine symphonische, sondern dramatische Musik, deren martialischer Reitergestus ein grausiges Geschehen auf der Bühne wirkungsvoll begleitet: Die Walküren sammeln die „Wal“, d.h. die Erschlagenen, unter sarkastischem Kommentar vom Schlachtfeld auf (Hörbeispiel 14: Richard Wagner, Die Walküre, Walkürenritt). Natürlich ist das kein Kitsch, sondern eine wirkungsvolle Theatermusik, die aus dem Kontrast des trivial-naturalistischen Reiterrhythmus und des blutigen Geschehens auf der Bühne geradezu selbstparodistisch ihren schaurigen Effekt zieht. Durchaus kann die Parodie aber auch gewisse Eigenheiten und Schwächen des Originals durch Vereinseitigung und Übertreibung hervorkehren, wie etwa Gabriel Faurés Souvenir de Bayreuth, das mit dem Motiv ebendieses Walkürenritts beginnt (Hörbeispiel 15). Der ganze Ring des Nibelungen im 4-Minuten Postkartenformat. Ein Ring des Nibelungen zum Mitnehmen und in die Tasche stecken, ähnlich wie andere Souvenirs auch – aber Kitsch ist das nicht! Wie Fauré mit seinem Klavierstück die Wagnersche Musik ihres substantiellen Orchesterklanges entkleidet und die berühmte 147

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Leitmotivtechnik auf ein bloßes Themenpotpourri reduziert, das ist geradezu analytisch und witzig zugleich! Fehlt jedoch diese dramatische oder parodistische Distanz gegenüber einem Instrumentalstück wie dem Walkürenritt, so entsteht Kitsch wie in jenem Western, wo diese Musik den Kampf eines einsamen Revolverhelden gegen einen Trupp herangaloppierender Halunken illustriert. Das ist nur noch plumper Naturalismus, keine Parodie mehr. Die vormals dramatisch motivierte Musik wird hier unter ihrem Wert benutzt und für billige Zwecke verschleudert. Die moderne Kommunikationstechnik hat ganz neue Möglichkeiten solcher Verschleuderung von Musik zu banalen Zwecken entdeckt. Man denke an Mozarts Kleine Nachtmusik in der Telephonwarteschleife oder Melodien aus Bizets Carmen als Handy-Klingelton! Freilich wird durch solche Zweckentfremdung nicht die Musik selbst verkitscht. Es ist vielmehr ihr unangemessener Gebrauch, welcher albern und kitschig wirkt. Eine derartige Veränderung des Charakters von Musik durch Kontextverschiebung kann aber auch im umgekehrten Sinne geschehen. Wir erinnern uns noch einmal an Humperdincks Märchenoper Hänsel und Gretel, welche in der Traumvision und an verschiedenen anderen Stellen den Stil des Naiven hin zum Pathos des Musikdramas und der Ästhetik des Erhabenen durchbrach. Im Jahre 2004 kam im Erfurter Opernhaus Hänsel und Gretel neben dem traditionellen Stück auch als „Märchen für Erwachsene“ auf die Bühne. Das idyllische Märchen, versetzt in die Gegenwartswelt von „sozialer Unterschicht“ (ein Unwort des Jahres 2007), Rauschgift, Prostitution und Kindesmissbrauch! Der romantische Wald – ein Müllplatz, das Knusperhäuschen der Hexe – das Lustkabinett eines Kinderschänders! Und dazu Humperdincks romantische Musik! Geht so etwas überhaupt? Ja, es funktioniert, zum Erstaunen des Publikums und der Produzenten selbst. Und das Überraschende daran ist: Es gab keinen Skandal, sondern Humperdincks sonst zuweilen kitschig anmutende Musik steigert sich infolge ihrer Unangemessenheit zu einer erschütternden Anklage. Sie wächst in diesem Kontext über sich selbst hinaus

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Abb. 2: Erfurter Inszenierung von Hänsel und Gretel (Werbematerial)

Psychische Energien von Musik lassen sich in bestimmten Kontexten scheinbar regelrecht aufrechnen. Je stärker der Kontrast und die Distanz zwischen Musik und Gegenstand, desto mehr Energie wird freigesetzt. So will beispielsweise die Verwendung eines gregorianischen Chorals als Hintergrundmusik zu einer Dokumentation von Rekordversuchen mit raketengetriebenen Automobilen in der Wüste Nevada überhaupt nicht passen – erzielt jedoch eine Wirkung, die den Zuhörer erschauern lässt. Nicht immer freilich gelingt der Versuch, ein Musikwerk durch Kontextverschiebung zu überhöhen, weil man glaubt, den tieferen oder vermeintlich beabsichtigten Intentionen der Musik auf die Sprünge helfen zu müssen: So veranstaltete der WDR im Jahre 2006 eine Aufführung von Gustav Mahlers Zweiter Symphonie, der sogenannten Auferstehungssymphonie, als multimediales Gesamtkunstwerk, bei welchem bestimmte elementare Figuren als sichtbare Gestalten der Musik dreidimensional in den Raum projiziert wurden (Hörbeispiel 16). Mahlers Musik rufe geradezu nach Visualisierung, erklärte der österreichische Künstler Johannes Deutsch, von dem die „Visualisierung“ stammte. Den Zuhörern freilich wurde zum rechten Genus dieser Visionen das Tragen einer 3D-Brille zugemutet, eine physische Pein, für welche das 149

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gebotene Spektakel kaum zu entschädigen vermochte – trotz enormem Aufwand. Zwölf Hochleistungsrechner waren zur Realisierung des eher dürftigen Ergebnisses eingesetzt und produzierten damit – laut unserer Definition des Missverhältnisses von Substanz und Wirkung – Computer-Kitsch im Großformat! Wer sagt eigentlich, dass Kitsch immer klein sein müsse? Und billig war dieses geschmacklose Spektakel auch nicht! Zur unfreiwilligen Parodie geriet es dann, als das Stromnetz wegen Überlastung zusammenbrach und – fast wie eine Erlösung – kurzzeitig eine ganz konventionelle Übertragung von Mahlers Symphonie eingeblendet werden musste. „Die technische Störung bitten wir zu entschuldigen“ – lautete der lapidare Kommentar nach der Sendung.

4. Wir Kitschmenschen3 „In jedem Menschen steckt [...] Kitsch, weil Kitsch der kürzeste Weg zur Versöhnung mit den Lebensumständen zu sein scheint“. So formulierte es der Philosoph und Kunsthistoriker Burghart Schmidt (zit.n. Thuller 2007: 8). Vielleicht hängt damit die wenig kämpferische, eher versöhnliche Haltung des Kitschmenschen zusammen. Wenn sein Objekt entlarvt wird, verteidigt er es kaum, sondern liebt es weiter und leidet still mit ihm. Es besteht kein Zweifel daran, dass das Bedürfnis nach Erlösung aus dem grauen Alltag seit dem 19. Jahrhundert bis heute stets im Wachsen begriffen ist – und damit das Bedürfnis nach leichter Befriedigung – also nach Kitsch. „Warum sollte man diesen Weg nicht einschlagen?“, fragt Burkhart Schmidt. Wichtig sei es, die Kitsch-Objekte endlich als notwendige Ingredienzien eines schönen Lebens und als Alltagsästhetik anzuerkennen. Was das Herz rührt und was unsere Sinne reizt, sei Balsam für Herz und für die Seele. Sollte man Kitsch wirklich ablehnen oder gar bekämpfen, wenn er doch so vielen Menschen Trost spendet? Nur wer niemals Trost und Zuspruch benötigt, der suche noch weiter nach plausiblen Argumenten gegen den Kitsch (vgl. ebd.: 9).

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Eine Formulierung von Ludwig Giesz (zit. n. Dahlhaus 1967: 63).

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Dem könnte zwar sehr wohl widersprochen werden, aber keine noch so wohlmeinende Argumentation kann die Realität von Kitsch im Alltag, in der Werbung, in Film und Fernsehen und natürlich in der Musik wegdiskutieren. Man denke nur an die Besucherzahlen der großen Musicals wie Cats oder Das Phantom der Oper von Andrew Lloyd Webber, um nur den vielleicht erfolgreichsten Komponisten dieses Genres zu nennen. Darf eine Ästhetik so weltfremd sein, dass sie sich über das Urteil der Massen einfach hinwegsetzen kann? Wohl kaum! Aber ist die Diskussion um den Kitsch, die von Anfang an eine pädagogische Dimension besaß, damit an ihrem Ende angelangt? Hat sich die Vernunft dem Bedürfnis, die Bildung der Realität zu beugen? Die Antwort dürfte leicht zu geben sein: Das Argument von der trostspendenden Wirkung des Kitsches trügt. Kitsch vermag keinen wahren Trost zu spenden, sondern lenkt von den Problemen, die gelöst werden müssen, nur ab, indem er sie mit einer bunten Lackschicht überzieht. Kitsch ist letztlich also reaktionär. Deshalb ist er zu kritisieren und zu bekämpfen. Lassen Sie mich in Anbetracht dieser These noch einmal auf das Kitschprogramm meiner Berliner Studentenzeit zurückkommen. Während wir mit diesem Programm allerorten wahre Lacherfolge feierten, weil das Publikum den Kitsch oder auch nur die kitschige Situation richtig erkannte, erlebten wir damals jedoch auch eine für uns fast beängstigende Ausnahme. Bei einem unserer Auftritte bestand das Publikum aus Mitgliedern eines Potsdamer Lehrerinstitutes, vorwiegend Musikpädagogen. Wir waren ausdrücklich eingeladen worden und glaubten, uns gerade hier des Erfolges sicher sein zu dürfen. Aber es sollte anders kommen. Kein Gesicht verzog sich zu einem Lachen. Eisige Kälte schlug uns entgegen. Hatten die braven Musiklehrer die Parodie gar nicht bemerkt oder war es nur die angeborene Furcht aller Ideologen vor der Satire, die Scheu vor einer unberechenbaren Distanz, die hier die Gesichter zur Maske erstarren ließ? Nur mit Mühe brachten wir das Programm zu Ende und waren froh, als wir diesen beklemmenden Saal endlich verlassen durften. Erst draußen machten wir uns mit einem schallenden Gelächter Luft. Waren wir nicht soeben Zeugen einer wirklich „kitschigen“ Rezeption unseres doch gar nicht ernst gemeinten Programms geworden?

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Es ist regelmäßig diese zu große Nähe des Rezipienten zu seinem Objekt, seine Unfähigkeit zum distanzierten Urteil, welche die Ästhetik des Kitsches ausmacht. Warum wird man eine Fuge im Stile Bachs, selbst wenn sie nur nachgemacht ist, niemals als Kitsch bezeichnen können? Weil hier die Subjekt-Objekt-Relation eindeutig durch ein „objektives“, distanziertes Urteil darüber bestimmt wird, ob die Handwerksregeln erfüllt sind oder nicht. Vor kitschiger Rezeption freilich ist – fast – keine Kunst geschützt. Vor allem die immer noch beliebte Auffassung von Musik als einer „Sprache der Gefühle“, welche scheinbar unreflektierte Hingabe fordert, nähert sich gefährlich einer kitschigen Rezeption. Wer bei romantischer Musik gern sentimental wird, etwa bei Schuberts Ave Maria die Augen schließt oder gen Himmel hebt und beim Liebestod aus Wagners Tristan und Isolde (Hörbeispiel 17) unbewusst im Gefühlsüberschwall zu versinken droht, – der schwebt zumindest in großer Gefahr. Dass diese Musik solch unbedingte Hingabe offenbar zu fordern scheint, hat man ihr häufig zum Vorwurf gemacht. In Wirklichkeit trifft die Schuld aber nicht die Musik, sondern ihre Rezipienten. Wie muss Wagner verliebt gewesen sein, dass er eine solche Musik schreiben konnte, soll Kaiser Wilhelm nach dem Besuch des Tristan gesagt haben (vgl. Wagner 1982: 185). Zu Wagners großem Ärger. Nicht das Erleben, sondern die Sehnsucht danach gäbe einem ein solches Werk ein, äußerte er gegenüber Cosima. Er sei dazu bestimmt gewesen, im Leben immer das auszuführen, was er zuvor dichtete (vgl. ebd.: 684). Das Zusammenleben Wagners mit Cosima gestaltete sich dann in der Tat zu einer Art sentimentalem Liebesroman und sein Briefwechsel mit König Ludwig II. von Bayern oder „Parsifal“, wie seine Freunde ihn nannten, stand kitschiger KolportageLiteratur in nichts nach. Das Leben ist Kitsch, wenn es der Kunst nicht standhält, sagt Robert Musil (vgl. Musil 2004: 55). Und im Leben, nicht in der Kunst, gibt es offenbar auch so etwas wie ein Recht auf Kitsch. Freilich nicht im Sinne der Nivellierung ästhetischer Werte, sondern als die Freiheit, Kitsch zu erkennen und über ihn – zu lachen. Denn die einfachste Art, dem Kitsch beizukommen, ihn in seiner angemaßten Ernsthaftigkeit zu entlarven, sind Humor und Ironie. Wie im Leben, so in der Kunst. Und vielleicht ließe sich der Kitsch auf diese Weise sogar künstle-

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risch rehabilitieren, wenn wir mit Schiller ausriefen: Ernst ist das Leben, heiter sei die Kunst!

Literatur Adorno, Theodor W. (1971): Versuch über Wagner. In: Gesammelte Schriften Bd. 13. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. (1993): Beethoven. Philosophie der Musik. Fragmente und Texte. Hg.v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M.: Theodor W. Adorno Verlag. Dahlhaus, Carl (Hg.) (1967): Studien zur Trivialmusik des 19. Jahrhunderts. Regensburg: Bosse. Dahlhaus, Carl (1970): Analyse und Werturteil (= Musikpädagogik. Forschung und Lehre, Bd. 8). Hg.v. Sigrid Abel-Struth. Mainz: Schott. Herbst, Kurt (1935): „Die Grenzen zwischen Kitsch und Parodie in der Musik“. In: Die Musik 27/1935, S. 504-507. Hoffmann, Ernst T. A. (1810): „Rezension zu Beethovens 5. Symphonie“. In: Allgemeine Musikalische Zeitung 1810, S. 637. Irmen, Hans-Josef (1989): Hänsel und Gretel. Studien und Dokumente zu Engelbert Humperdinks Märchenoper. Mainz: Schott. Killy, Walther (1962): Deutscher Kitsch. 8. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Kliche, Dieter (2005): „Kitsch“. In: Barck Karlheinz/Fontius, Martin/Schlenstedt, Dieter/Steinwachs, Burkhart/Wolfzettel, Friedrich (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 3. Stuttgart: Metzler. Kneif, Tibor (1971): „Bedeutung, Struktur, Gegenfigur – Zur Theorie des musikalischen ‚Meinens‘“. In: IRASM 1971/2, S. 213229. Kühne, Hartmut/Lorenz, Christoph F. (1999): Karl May und die Musik. Hg.v. Lothar und Bernhard Schmid. Bamberg: KarlMay-Verlag. Musil, Robert (2004): Nachlaß zu Lebzeiten. 24. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Nietzsche, Friedrich (1969): „Der Fall Wagner“. In: Ders. KSA, Bd. 6/3. Berlin/New York: de Gruyter.

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VERNUNFT, TECHNIK UND KUNST

Thuller, Gabriele (2007): Kitsch, Balsam für Herz und Seele. Stuttgart: Belser. Wagner, Cosima (1982): Die Tagebücher. Bd. 2: 1873-1877. Editiert u. kommentiert v. Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack. München/Zürich: Piper.

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Erfahrungen des Anderen

Konrad Klek

In dulci jubilo – süße Musik, bitte sehr!

In dulci jubilo Nun singet und seid froh: Unsers Herzens Wonne Leit in praesepio Und leuchtet als die Sonne Matris in gremio. Alpha es et O. (Strophe 1)1

Für viele ist dieses In dulci jubilo eines der musikalischen Kennzeichen von Weihnachten. Das Thema soll aber nicht solch „süßer Jubel“ speziell als Weihnachtsmusik, sondern ‚süße Musik‘ als allgemeiner Topos geistlicher Musik sein. An einigen Beispielen wird gezeigt, welch essentielle Bedeutung der Topos der Süßigkeit – lateinisch „dulcedo“ oder „suavitas“ – in der abendländischen, religiös, also christlich ausgerichteten Musiktradition hat. Dabei ergibt sich ein großer Bogen von diesem spätmittelalterlichen Lied bis zu den aktuellen 100-Jahre-Jubilaren Hugo Distler und Olivier Messiaen.2 In dulci jubilo, süßes Jubilieren in Tönen ist heute in einem bemerkenswerten, vielleicht sogar singulären gesellschaftlichen Konsens auf Weihnachten programmiert, bzw. auf die ganze Zeitphase der Weihnachtsvorbereitung mit den Weihnachtsmärkten. Das omnipräsente Weihnachtsgeklingel muss harmonisch lieblich sein, in mehr oder weniger schnulzigen Terzklängen daher kommen. Die Hochkultur mit ihren Weihnachtskonzerten

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Im diesem Text zugrunde liegenden Vortrag eingespielt in der Vertonung von Michael Praetorius, aus: Polyhymnia Caduceatrix et Panegyrica [1619]. Ausführende: Taverner Consort (Andrew Parrott). EMI CDC 7 47633 2. Köln 1987. Notenausgabe Praetorius 1933: Bd. XVII, 566. Beide 1908 geborenen Komponisten wurden 2008 als Jubilare vielfach gewürdigt. Das Datum des Vortrags fiel exakt auf den 100. Geburtstag des Nürnbergers Hugo Distler.

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zeigt ihrerseits klare Präferenz für Dur-Seligkeiten aus dem Stilbereich des Hochglanz-Barock. Für die speziellen Food-Angebote dieser Wochen gilt analog: Es müssen süße Sachen sein. Für Mittelfranken als weltweites Zentrum der Lebkuchen-Produktion ist das ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Kann man Lebkuchen aber auch während des Jahres essen oder gar verschenken? Ein Test beim zurückliegenden Pfingsturlaub in Südfrankreich mit Nürnberger SchmidtLebkuchen als Gastgeschenk ergab als Reaktion zunächst totale Überraschung und Abwehraffekt – „Es ist doch gar nicht Weihnachten!“; dann aber bald die etwas verschämte, Zustimmung heischende Bemerkung: „Wir werden damit aber nicht bis Weihnachten warten!“ Süßigkeiten, mit religiöser Konnotation aufgeladen, nicht nur an Weihnachten, süße Musik all over the year, das ist eine Herausforderung an die gesellschaftlichen Geschmackskonventionen.3

In dulci jubilo – Himmelsmusik In dulci jubilo – das Lied mit diesem Incipit hat bereits eine lange, vorreformatorische Geschichte, ehe es zu Beginn des 17. Jahrhunderts vom protestantischen Musik-Enzyklopädisten Michael Praetorius (ca. 1571 – 1621) in volltönender Klangpracht präsentiert wird.4 Es gibt 8-zeilige und 10-zeilige Strophenformen, Varianten in der Anzahl der Strophen, verschiedene, gleichwohl ähnliche Melodieformen, überliefert als Neumen ohne Rhythmus, im geraden Rhythmus oder im tänzerischen Dreierrhythmus wie bei Praetorius. Die hymnologische Fachwissenschaft hat gerade bei diesem Sujet ein ambitioniertes Betätigungsfeld.5 3

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Vgl. dazu den Film Chocolat von Lasse Hallström (2001), wo in einem französischen Städtchen das gesellschaftliche Gefüge durcheinander gerät, als eine Auswärtige mitten in der Fastenzeit in der Nähe der Kirche eine Chocolatrie eröffnet. Praetorius hat wie kein zweiter in umfangreicher Publikationstätigkeit das Repertoire geistlichen Singens im deutschsprachigen protestantischen Raum seiner Zeit erschlossen. Siehe als jüngste und bis dato umfänglichste Arbeit mit Forschungsüberblick: Harzer 2006. Beim Incipit des Liedes gibt es in der Überlieferung beide Schreibweisen „iubilo“ und „jubilo“. Bei Praetorius (und der ihm folgenden Liedrezeption) steht laut Werkausgabe „jubilo“ (Praetorius 1933: Bd. XVII, 566).

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Für unsere Themenstellung wesentlich ist ein frühes Textzeugnis, das dieses Lied in einem signifikanten Zusammenhang zitiert. Der Mystiker Heinrich Seuse (gestorben 1366 in Ulm), berichtet in seiner geistlichen Vita von einer Vision, die er während einer wegen großer Leiden sich selbst auferlegten Buße hatte, und zwar am Engelfest, also Michaelis, 29. September. Bereits am Vorabend vernimmt er „Gesang der Engel und lieblichen himmlischen Klang“, welcher von einem Engel dechiffriert wird als „die Weise, welche die Auserwählten am Jüngsten Tage voll Freude singen werden, nun sie gewiss sind, dass sie immerwährender, ewiger Freude teilhaftig sein werden“ (Seuse übertragen v. Hofmann zit.n. Praßl 2000: 67). Am Engelfesttag selbst erlebt er als Steigerung einen himmlischen Tanzreigen von Jünglingen, die ihn mit hineinziehen und dabei anstimmen „ein froelichez gesengeli von dem kindlin Jesus, daz sprichet also: In dulci jubilo […]“. Der Mystiker berichtet weiter von sich als dem „Diener“: „Do der diener horte den geminten namen Jesus also susseklich erklingen, do ward sin herz und sinne alse recht wol gemut, daz ime verswand, ob er ie liden hat gehabt“ (Seuse zit.n. Harzer 2006: 135f.). Das Lied In dulci jubilo steht demnach allgemein für das Singen der Engel im Himmel, das Singen in ewiger Freude, welches die körperliche Dimension des Tanzens einschließt. Und das visionäre Erleben dieser süßen Klänge, wo auch „der geliebte Namen Jesu so süßlich erklingt“, lässt die irdische Leiderfahrung völlig vergessen. Es wird dem Mystiker dabei ganzheitlich, mit Herz und Sinnen, so wohl zu Mut, dass ihm die Erinnerung an seine Leiden entschwindet. Das heißt Trost erfahren, wie er abschließend bemerkt: „Dis und derley himelsches trostes ward ime unzallich vil in den selben jaren“ (ebd.); wobei diese Jahre speziell als Leidenszeiten benannt werden. Der geschmackliche Topos „süß“ ist Korrelat der alle Wahrnehmung leitenden, gleichsam intimen Beziehung zu Jesus. Wenn der „geliebte“ Jesus-Name6 zu hören ist, so klingt das süß; wenn die Engel vom Kindlein Jesus singen, so ist das ein dulcis iubilus.

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Mit dem Hymnus (zum Namensfest Jesu) Jesu dulcis memoria, einer verliebt-schwärmerischen Huldigung des Jesusnamens, gibt es ein weiteres signifikantes Lied aus derselben Zeit mit Motivverwandtschaften (vgl. Harzer 2006: 146).

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O Jesu parvule, Nach dir ist mir so weh; Tröst mir mein Gemüte, O puer optime; durch alle deine Güte, O princeps gloriae, Trahe me post te. (Strophe 2 nach Praetorius)

„Trahe me post te“ ist die aus der mittelalterlichen Brautmystik enstammende, elementare Bitte, Jesus möge die gläubige Seele aus der leidbestimmten irdischen Welt befreien, indem er sie in die himmlische Welt zu sich hinüber zieht.7 Die deutsch-lateinische Mischform des Liedtextes ist konstitutiv seit Beginn der Überlieferung.8 Das ist für ein geistliches Liedsujet aus jener Zeit bemerkenswert, wird dann aber typisch für die Liedform der Cantio, die dem volkstümlichen Singen in Inhalt wie Melodieduktus nahesteht. Spezifisch für Praetorius und die an ihn sich anschließende, weitere Rezeption des Liedes im Protestantismus ist die Reinigung des Textes von allen marianischen Huldigungen, deren es in der Überlieferung einige, teilweise vollmundige gab, namentlich in der vierten, abschließenden Strophe. O Patris caritas, O nati lenitas! Wir wären all verloren Per nostra crimina, So hat er uns erworben Coelorum gaudia: Eya wären wir da!

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Ubi sunt gaudia, Nirgends mehr denn da. Da die Engel singen Nova cantica, Und die Schellen klingen In regis curia: Eya wären wir da! (Strophen 3 und 4 nach Praetorius)

Im Hintergrund steht Motivik des biblischen Hoheliedes: „Zieh mich dir nach, so wollen wir laufen“ (Hohelied 1,4), sowie des Johannes-Evangeliums: „Und ich, wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich alle zu mir ziehen“ (Jesus-Logion Johannes 12,32), jeweils in der Fassung der Luther-Übersetzung 1984. Zu den verschiedenen Erklärungsmodellen für diese Sprachform siehe: Harzer 2006: 138-140. Es spricht einiges dafür, die Entstehung solcher Mischpoesie in Frauenklöstern zu verorten.

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Das Weihnachtsgeschehen wird hier nicht fokussiert oder entfaltet. Es ist allerdings Aufhänger, Ansatzpunkt9 für gerade im Sprachwechsel ekstatische, christologische Huldigungen, welche das Knäblein Jesus mit ins Unermessliche entgrenzenden Hoheitstiteln belegen. Die vollmundigsten sind „A und O“ aus dem Schlusskapitel der Bibel (Offenbarung 22,13) und der Gottestitel „princeps gloriae“ aus dem Psalter (Psalm 24, 7-10).10 Auf seiten der Menschen geht es um die Teilhabe an den himmlischen Freuden, den „coelorum gaudia“, wie sie durch das mit Weihnachten begonnene Erlösungswerk als Zukunftsperspektive eröffnet ist. „Eya wärn wir da“ ist so der christliche Stoßseufzer schlechthin, ein bemerkenswerter Seufzer darin, dass er die Sphäre des Leidens schon übersprungen hat und voller Gewissheit als „süßer Jubel“ gleichsam in Trance „Eya, eya“ lallt. Ein protestantischer Liededitor des Reformationsjahrhunderts, Lukas Lossius, bringt den Gesang in seiner Psalmodia 1553 mit einer dreistrophigen Fassung zwar unter den Weihnachtsgesängen, aber mit der Überschrift „Adhortatio Ecclesiae ad spirituale gaudium de misso Filio Dei in hunc mundum, & eius beneficiis aeternis“11 (Lossius zit.n. Ameln 1985: 40). In beigefügten Marginalien wird die dritte Strophe inhaltlich unter dem Begriff „laetitia“ akzentuiert und als die unaussprechliche Freude des ewigen Lebens erklärt (vgl. Ameln 1985). Der süße Jubel ist also dezidiert nicht das auf Weihnachten fokussierte „Stille-Nacht“-Säuseln heutiger Weihnachtsmarkt-Berieselung, sondern die alle irdischen Grenzen transzendierende, himmlische Musik. Die Vertonung des Liedes durch Michael Praetorius ist denn auch eine reine Klang-Orgie. Schon die Angabe „cum Tubis“ im Titel, also mit Trompetteria, macht das deutlich. Die Umsetzung der vierten Strophe erzielt innerhalb des längst erreichten, vollen Blechbläserlärms noch weitere Steigerungen durch rhythmische Verkürzungen, sozusagen himmlische Ekstase vorstellend. Am 9

Es finden sich aber aus vorreformatorischer Zeit zahlreiche Belege für die Einbindung des Liedes in Weihnachtsspiele (Harzer 2006: 154f.). 10 „Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehren einziehe [...]“ (Luther-Übersetzung 1984); heute Introitus-Psalm zum ersten Advent. 11 „Ermunterung der Kirche zur geistlichen Freude über den in diese Welt gesandten Gottessohn und seine ewigen Wohltaten.“

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Ende sollen die Trompeten einfach weiter improvisieren. Die Ekstase lässt sich nicht mehr in Notentext fassen.12 Als Praetorius dann 1621, zwei Jahre nach dieser Notenpublikation stirbt, wird nicht ohne inhaltliche Konsequenz formuliert, er sei „in die Himlische Capell transferirt“ worden (Grossmann 1623 zit.n. Faksimilieausgabe v. Wolff/Melamed 1994: 18).13 Wenn man heute in einem Dolce-musica-Ranking – „Was ist die süßeste Musik?“ – dieses Praetorius-Opus bewerten lassen würde, käme es wohl kaum auf einen Spitzenplatz, eher an den Schluss der Tabelle. Wie hier prachtvoll lärmend „die Schellen klingen“, steht ziemlich konträr zu dem, was heute unter „Süßer die Glocken nie klingen“ erwartet wird. Und die komplexe Rhythmik des mehrchörigen Satzes taugt gewiss nicht zum genüsslichen Mitschunkeln.

In dulci jubilo – eine „süße“ Melodie? Von der opulenten Praetorius-Inszenierung absehend sei nun ein Blick geworfen auf die konkrete Gestalt der Melodie des Liedes, speziell auf deren Kopfzeile und ihr spezifisches SüßigkeitsPotenzial. Eine von dem Hymnologen Konrad Ameln vorgelegte Zusammenstellung von ähnlichen Melodie-Incipits, die vorwiegend aus Quellen des 16. Jahrhunderts stammend, ist hier erhellend (Ameln 1985: 48):

12 Die Einspielung bei EMI (s. Anm. 1) löst diese Aufgabenstellung auf faszinierende Weise. 13 Das von Burckhard Grossmann 1623 herausgegebene musikalische Sammelwerk Angst der Hellen und Friede der Seelen enthält 16 Vertonungen des 116. Psalms; darunter auch eine, die als Praetorius’ letzte Komposition vorgestellt wird und mit dem zitierten Hinweis des Herausgebers auf den Tod des Komponisten versehen ist.

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Notenbeispiel 1: Die Initial-Formel Während diese Initial-Formel dank In dulci jubilo für uns heute den Topos Weihnachtslied markiert, bedeutet sie im Zeitkontext des 16. Jahrhunderts nichts derart Spezielles. Es ist das Initium des 5. Psalmtones in der lydischen Tonart mit Grundton F, belegbar mit verschiedenen Texten, mit dem Sterbelied des greisen Simeon ebenso wie mit einem Dankpsalm (Variante A). Allerdings wurde dieser Psalmton, der im Kontext heutiger Dur-Moll-Tonalität mit der großen Terz als dritte Tonstufe wie F-Dur klingt, schon im ausgehenden Mittelalter als eher festlich empfunden und für die „Psalmi maiores“ bestimmt (ebd.: 47). Im 16. Jahrhundert wird dann namentlich im Wechsel der Tonstufen 5-6-5 ein besonderer Affektgehalt erkannt. Die hier unterlegten Worte erhalten emphatischen Nachdruck: „ist freundlich“ (A 2), „der Vater“ (B), „sanctissimum“ (C). Interessant ist, dass es zahlreiche Varianten von In dulci jubilo gibt, die im Initium die sechste Stufe gar nicht führen. Ameln führt zur Variante E nicht weniger als sieben Belege auf. Der Schritt zur sechsten Stufe kommt dann erst zu Beginn der dritten 163

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Zeile, offensichtlich nach dem Vorbild des Liedes O Jesu parvule (ebenfalls ein deutsch-lateinisches Mischlied), wo der Schritt 5-6 das Wort „tröste (mein Gemüte)“ sinnenfällig akzentuiert.14 Das Wort „iubilo“ drängt aber zu einem „Jubilus“, wie in der Gregorianik die Verzierung auf eine Wortsilbe genannt wird, und so kommt ab etwa 1470 auf die Schlusssilbe „-o“ die für den Psalmton typische 5-6-5-Wechselnote, namentlich, wo als Rhythmus der tänzerische Dreiertakt fixiert ist (F). Beispiel H weist voraus auf den nächsten zu besprechenden Süße-Musik-Kasus: die 1599 publizierten Lieder von Philipp Nicolai. Das Incipit von Wachet auf, ruft uns die Stimme enthält dasselbe Tonmaterial, es fehlt nur die vierte Tonstufe zugunsten eines gleichsam instrumentalen Weckrufmotivs mit erster, dritter und fünfter Stufe, den Naturtönen einer Bläserfanfare. Überblickt man alle greifbaren, zu In dulci jubilo analogen Incipit-Melodiebildungen aus vorreformatorischer wie reformatorischer Zeit,15 lässt sich durchaus ein Übergewicht des WeihnachtsSujets feststellen. Das bekannte Resonet in laudibus mit seinen zahlreichen Varianten bis hin zum späteren Joseph, lieber Joseph mein ist wohl das prominenteste Beispiel. Hier setzt die Melodie allerdings bei der fünften Stufe ein und nicht psalmtonartig beim Grundton. Das ist Implikat der wohl konstitutiven Begleitung mit BordunQuinten, typisch für Hirtenmusik, wie sie zum WeihnachtsSetting gehört. Da der 5. Psalmton solche Begleitung am besten ermöglicht, wird Lydisch und das hieraus sich entwickelnde FDur zur verbreitetsten Weihnachtslied-Tonart. Die Melodie von In dulci jubilo schließt mit dem Einsatz beim Grundton aber deutlicher an das Initium des Psalmtons, weniger an die Hirten-Bordunquinten an. Das spezifische Potential dieses Psalmtons, mit der großen Terz in der dritten Tonstufe und der emphatischen sechsten Stufe ‚süße Musik‘ sinnlich erfahrbar zu machen, wird genutzt. Im Initium markiert die dritte Stufe zwar den Anfang des Wortes „iubilo“, dient aber vor allem als Durchgang zum pointierenden 5-6-5-Tonwechsel. Im weiteren Verlauf der Melodie ist das Spezifische der Terz allerdings bei „unsers Herzens Won-ne“/ „und leuchtet als die Sonne“ zu schmecken. Dass zudem bei Zeile 4 und 6 ein Melisma am Zeilenende vom 14 Wiedergabe der vollständigen Melodien bei: Ameln 1985: 71-78. 15 Das ist möglich anhand der in der Edition Das deutsche Kirchenlied (Stalmann 1998ff.) bereits vorliegenden Notenbände.

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Grundton weg zur Terz führt, ist eine stilistische Besonderheit und spezifische Modifikation gegenüber dem Melodie-Vorbild O Jesu parvule, wo diese Zeilen jeweils auf der zweiten Tonstufe enden.

Notenbeispiel 2: In dulci jubilo, die komplette Melodie (Ameln 1985: 73) Die Melodie lässt sich also an Einzelmerkmalen als speziell süße Musik benennen.16 Darin macht sie den Blick auf das Kindlein Jesu in der Krippe transparent für die dahinter bzw. darüber stehende himmlische Dimension des ewigen, „lieblichen“ Freudengesangs der Engel. Bei alten Weihnachtsbildern sind „süße“ kleine Engel, die in den verschiedensten Konstellationen herum schwirren, ein fester Topos. Das ist weit mehr als Staffage. Die Engel verweisen darauf, dass mit dem Kind in der Krippe das Tor zum Himmel offen steht, der Weg zur himmlischen Freude für die Gläubigen frei gemacht ist. Der Dreier-Rhythmus der Melodie setzt sich im Laufe der Überlieferung erst allmählich durch, wobei allgemein die rhythmische Profilierung und Fixierung von Musik eine sehr späte Entwicklung in der Renaissance-Zeit ist. Über Jahrhunderte hinweg ist es beim Liedgesang dem Sänger überlassen, den Rhythmus zu wählen (vgl. ebd.: 44). Im durchgehenden doppelten Dreier-Takt geformt, entspricht In dulci jubilo dem WiegenliedTopos, wie er vom potentiellen Sitz im Leben beim Kindleinwie16 Diese Süßigkeits-Merkmale ließen sich vielfach ebenso an weltlichen Liedern aufzeigen. Vgl. die im Beitrag von Eckhard Roch in diesem Band genannte Vorlage Bruder Conrad der lag sich aus dem 15. Jahrhundert zu Humperdincks Abendsegen. Weltliche ‚Lieblichkeit‘ mutiert bei sogenannter Kontrafaktur, Übertragung in den geistlichen Bereich, aber zum Signet für himmlische Süßigkeit.

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gen in Weihnachtsspielen gefordert war. Als dann um 1600 die Lehre von tempus perfectum (Dreiertakt) und tempus imperfectum (Zweier-/Vierertakt) fixiert ist, wird der Dreiertakt als Tripla analog dem Dreieck in der darstellenden Kunst zum Symbol vollkommener göttlicher Wirklichkeit und damit zum Spezifikum von himmlischer Engelsmusik. Die Vertonung von Praetorius als grandiose, bis in rhythmische Raffinessen hinein elaborierte Tripla-Musik stellt genau das vor, macht hörbar und erlebbar, was Mystiker Seuse im 14. Jahrhundert als Schau in himmlische Wirklichkeiten beschrieben hat.

Ewig in dulci jubilo – Süße Musik gegen die Pest Dass das semantische Bezugsfeld solch süßer Musik über weihnachtliche Topoi hinausreicht, zeigen exponiert die beiden berühmten Lieder Philipp Nicolais (1556-1608), welche den Auftakt bilden zu einer breiten Mystik-Rezeption im Protestantismus bis in die Barockzeit hinein. Als im Jahre 1597 in Unna in Westfalen eine fürchterliche Pestepidemie wütet, beginnt der lutherische Pfarrer Philipp Nicolai, bis dato publizistisch bekannt als fanatischer Polemiker gegen die Calvinisten, sich in Meditationen über das ewige Leben zu vertiefen. Die Frucht davon ist ein umfängliches Trostbuch mit dem Titel Frewden Spiegel deß ewigen Lebens, das 1599 im Druck erscheint. Als Anhang beigegeben sind drei vom Autor gedichtete Lieder, zwei davon mit eigener Melodie: Wie schön leuchtet der Morgenstern und Wachet auf, ruft uns die Stimme. Diese beiden textmusikalischen Gesamtkunstwerke finden sofort eine rasante Verbreitung, werden Hits über Jahrhunderte der Gesangbuch- und Kirchenmusikgeschichte hinweg (vgl. Klek 1999).17 Man nennt sie seit dem 19. Jahrhundert König und Königin der Choräle. Ihrem Autor haben sie einen Platz in jedem Musiklexikon gesichert.18 Wenden wir uns zuerst dem ersten, mit sieben Strophen längeren Lied zu: 17 Im derzeit gültigen Evangelischen Gesangbuch (1993) sind die Lieder (in leicht modifizierten Textfassungen) unter Nr. 70 („Morgenstern“) und Nr. 147 („Wachet auf“) geführt. 18 Dass man als Pfarrer mit der Erfindung von exakt zwei Melodien sozusagen musikalisch unsterblich werden kann, ist singulär in der Kulturgeschichte. „Süße Musik“ macht’s möglich.

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Notenbeispiel 3: Wie schön leuchtet der Morgenstern, Strophe 1, in originaler Tonhöhe (Nicolai zit.n. Kurzke in Becker u.a. 2001: 146). Auch hier haben wir im Incipit das Tonmaterial des 5. Psalmtons, ohne den wegen h oder b unsicheren 4. Ton, dafür mit Betonung der dritten und sechsten Tonstufe: „Wie schön leuch-tet der Morgen-stern“. In der dritten Strophenzeile „die sü-ße Wurzel Jesse“ ist die emphatische sechste Stufe gezielt dem Kennwort ‚süß‘ zugewiesen. Nach der Wiederholung kommt es zur Terzschaukel lieb-lich, freund-lich. Das sind die beiden Worte, welche in Luthers Bibelübersetzung die lateinischen Varianten von ‚süß‘ wiedergeben. Die folgende dreimalige, viersilbig asyndetische Aneinanderreihung von vollmundigen Jesus-Epitheta setzt jeweils bei der dritten Tonstufe an. Für heutige Ohren, die vom terzenseligen 19. Jahrhundert herkommen und dessen Verlängerung in heutige 167

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musikalische Trivialformen gewohnt sind, ist so ein lieb-lich, freund-lich und die Terzfixierung nichts besonderes, aber am Ende des 16. Jahrhunderts fällt das in einem geistlichen Lied auf. Es ist eine sonderbare musikalische Süßigkeit, wie sie damals nur in weltlichen Erzählliedern statthaft war, wo Ohrengefälligkeit ja ein wichtiges Wirkkriterium ist. Auch dieses Lied hat Praetorius alsbald künstlerisch verarbeitet und der – nach einigen technischen Verzögerungen – schließlich 1619, also nur 20 Jahre nach Erstpublikation des Liedes erschienenen Sammlung Polyhymnia Caduceatrix et Panegyrica beigegeben.19 Der Text dieses Liedes, das in der originalen Überschrift als „Geistlich Braut-Lied der gläubigen Seelen“ kenntlich gemacht wird, bringt in der sechsten Strophe die Metapher der „süßen Musica“: Zwingt die Saiten in Cythara und laßt die süße Musica ganz freudenreich erschallen: daß ich möge mit Jesulein dem wunderschönen Bräutgam mein in steter Liebe wallen. Singet,/ springet, jubilieret,/ triumphieret,/ dankt dem Herren. Groß ist der König der Ehren. (zit.n. Kurzke in Becker u.a. 2001: 147)

Am Ende der vorausgehenden Strophe ist in „Eia“-Verzückung die Gewissheit des ewigen Lebens artikuliert worden: „Eia! Eia! Himmlisch Leben/ wird er geben/ mir dort oben. Ewig soll mein Herz ihn loben.“ (Strophe 5, 7-12)

Dieses ewige Loben soll sich also als „süße Musica“ gestalten, die „ganz freudenreich“ erschallt und zum einen das Spiel von Instrumenten – „Zwingt die Saiten in Cithara“, zum andern wiederum die körperliche Dimension einschließt: „Singet, springet“. Wer nun in den Nöten einer Pestzeit dieses Lied singt und spielt mit 19 Im zugrunde liegenden Vortrag wurde an dieser Stelle die erste Strophe in der Einspielung von Parrott (s. Anm. 1) vorgestellt.

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seiner charakteristischen, süßen Melodik, erhält im irdischen, tristen Leben einen Vor-Geschmack von den zu erwartenden ewigen Freuden im Himmel. Dieser Vor-Geschmack im Medium der Musik ist der sinnlich erfahrbare Trost in eigentlich trostlosen Zeiten, ist konkret Gegenmittel gegen den Gestank der Pest. Solcher Trost wird jedem Christen zugänglich im Lied, das er mitsingen kann oder als Gottesdienstbesucher im künstlerisch ausgestalteten Tonsatz zu hören bekommt. Mit diesem Lied entwindet Pfarrer Nicolai diesen Trost der Exklusivität der Mystiker-Kreise, wo exquisite visionäre Gaben Voraussetzung für besondere geistliche Erfahrungen sind. Ein inhaltliches Spezifikum der Dichtung ist hier die Fokussierung auf das lutherische „solus Christus“. Der Autor würfelt wie in einem Kaleidoskop oder – modern betrachtet – wie in einem Videoclip alle möglichen biblischen Bilder durcheinander, die in der Christusmystik des Mittelalters eine Rolle spielen. Es ist vor allem die im Hohelied Salomons und im als Quelle angegebenen 45. Psalm bestimmende Bildwelt zweier Liebenden, Braut und Bräutigam, die bezogen wird auf das Verhältnis zwischen Glaubendem und Christus: „Er ist mein Schatz, ich bin sein Braut“ (Strophe 5,5). Auch der Morgenstern der Kopfzeile meint Christus. Dies ist die letzte Christustitulatur der Bibel (Offenbarung 22,16). Die auch im selben biblischen Zusammenhang stehende, heute eher von den weihnachtlichen Lesungen her bekannte Metapher von der Wurzel Jesse (Jesaja 11,1) bekommt dichterisch als Entsprechung zum „schön leuchtenden“ Morgenstern das Epitheton ‚süß‘. ‚Süß‘ ist Grundwort der mittelalterlichen Mystik in der Weise, dass es all das charakterisiert, was Gottes heilvolle Zuwendung zum Menschen benennt. In lutherischer Konsequenz („solo verbo“) muss damit auch Gottes Wort süß sein und Philipp Nicolai dichtet: „Dein süßes Evangelium ist lauter Milch und Honig“ (Strophe 2,5).

Die alttestamentliche Wendung „Milch und Honig“20 ist in diesem Süßigkeiten-Wortfeld naheliegend und de facto ein Standardtopos. 20 „[...] in ein Land, darin Milch und Honig fließt“ (2. Mose 3,8) ist zentraler Topos der Exodus-Geschichte, welche den Glauben Israels an den Gott Jahwe begründet.

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Nicolais Lied ist in der Fülle seiner Bilder sozusagen verrückt, ein in alltäglichen Sprachkonventionen nicht zu fassender Song an den Star Jesus, der von seinen Anhängern nicht weniger emphatisch begehrt wird wie heute ein Star der Pop-Szene. Nur einmal, genau in der Mitte des Liedes (Strophe 4,4), wird diese Bezugsperson namentlich angeredet: „O Herr Jesu“, also mit dem schon biblisch bezeugten Huldigungsruf der Christen „kyrios Iesous“. Die Intention des Liedes ist, Jesus als Objekt der Begierde sozusagen herbei zu zwingen, um damit das Leiden auf Erden los zu werden. Das Lied endet: „Komm du schöne/ Freudenkrone,/ bleib nicht lange, deiner wart ich mit Verlangen.“ (Strophe 7, 9-12)

Diese Schlussstrophe diente im Luthertum denn auch oft als Sterbegebet. Das Singen oder Musizieren des Liedes lässt die reale Distanz zwischen Braut und Bräutigam, zwischen Diesseits und Jenseits überspringen. Vom zweiten, dreistrophigen Nicolai-Lied Wachet auf, ruft uns die Stimme sei hier nur der Schluss betrachtet. In Umsetzung des Gleichnisses Matthäus 25, 1-10 vom kommenden Bräutigam und den zehn ihn (in unterschiedlicher Bereitschaft) erwartenden Jungfrauen bezeugt das Lied die Realität dieser Erfahrung für den Glaubenden und endet mit der Vision vom endzeitlichen, ewigen Abendmahl zusammen mit Christus als Freudenmahl: Kein Aug hat je gespürt, kein Ohr hat je gehört solche Freude. Des sind wir froh io, io ewig in dulci iubilo. (Strophe 3, 7-12)

„Ewig in dulci iubilo“. Wieder ist der ‚süße Jubel‘ Topos für die ewige Freude, die allen Gläubigen verheißen ist. Sie übersteigt alle mit Auge und Ohr sinnlich wahrnehmbaren Freuden, aber es gibt eben diesen Vorgeschmack des Süßen. Viele Menschen haben diese Schluss-Strophe heute mit einer bestimmten Musikalisierung im Ohr, mit Bachs Schluss-Satz aus der Kantate BWV 140 zu diesem Lied. Dieser Bach-Choral wird

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etwa bei jedem Ulmer Landesposaunentag von tausenden Bläsern auf dem Münsterplatz als Höhepunkt des Festes zelebriert. Er ist als vierstimmiger Liedsatz so kanonisch geworden, dass er es in den bundesweiten Stammteil des 1993 eingeführten Evangelischen Gesangbuchs (EG) geschafft hat und zwar in der exponierten Position der Schlussnummer 535. Dort lesen und singen die Gläubigen am Ende aber nicht „in dulci jubilo“, sondern die seit dem 19. Jahrhundert verbreitete Textglättung: „Des jauchzen wir/ und singen dir/ das Halleluja für und für.“

Ist musikalisches Schmecken, Vorkosten ewiger Freuden theologisch verdächtig? Vielleicht weil es in Konkurrenz tritt zum von ordinierten Theologen verwalteten Altarsakrament, wozu eingeladen wird mit dem Psalmvers „Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist“ (Psalm 34,9)?21 Als nicht Gesangbuchkompatibel gilt wohl vor allem die sprachliche Ekstase: „Des sind wir froh, io, io“. – Auch das Lied „In dulci jubilo“ gibt es so im Evangelischen Gesangbuch nicht. EG Nr. 35 bietet nur die komplett eingedeutschte, viel geschmacksärmere Fassung „Nun singet und seid froh“. Bachs Choralsatz zu Nicolais Schlussstrophe enthält zwei bemerkenswerte Gestaltungsdetails in den Außenstimmen. Eine einzige Violine, die als (höher klingende) Violino piccolo zuvor in der Kantate eine Arie bestritten hat, ist angewiesen, die Melodie eine Oktave höher mitzuspielen; ein Transzendenzsymbol, zumal die Violine im Barock das Himmelsinstrument schlechthin symbolisiert. Der Bass, Repräsentant der Erdverbundenheit, hat hier eine für Choralsätze ungewöhnlich bewegte, Leichtigkeit suggerierende Führung. Am Beginn wird das Dreiklangssignal der Melodie quasi im Kanon nachgesungen. Jeder einschlägig sozialisierte Chorbassist hat das so internalisiert, dass er es noch im Schlaf sin-

21 Dieser Psalmvers in der lateinischen Fassung der Vulgata-Bibel ist tatsächlich Ansatzpunkt für den Süßigkeitskult der mittelalterlichen Mystik, denn: was Luther mit „freundlich“ übersetzt, heißt da „dulcis“. Vgl. die diesen Psalmvers aufgreifende Wendung in dem 1524 im direkten Wittenberger Umfeld Luthers entstandenen Lied Herr Christ, der einig Gotts Sohn (Elisabeth Cruciger): „daß wir hier mögen schmecken/ dein Süßigkeit im Herzen/ und dürsten stets nach dir“ (EG 67, Strophe 3, 5-7).

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gen kann. Solchermaßen nehmen selbst die erdverhafteten Bässe an der engelhaften Seinsweise der Oberstimme teil, erhalten einen Vor-Geschmack der himmlischen Freuden.22

Voller Freud – ohne Zeit Das Thema „süße Musik“ kann nicht behandelt werden ohne Einblendung zum einzigartigen 17. Jahrhundert-Phänomen „PaulGerhardt-Lieder“.23 Zum Paul-Gerhardt-Jubiläum 2007 (400. Geburtstag) ist unter vielem anderen eine CD mit zeitnahen Liedvertonungen publiziert worden, unter dem Titel Voller Freud ohne Zeit24. Dies ist eine Wendung aus der Schlussstrophe des Weihnachtsliedes „Fröhlich soll mein Herze springen“: „Mit dir will ich endlich schweben/ voller Freud/ ohne Zeit dort im andern Leben.“ (EG 36, Strophe 12, 4-7)

Die letzten drei Liedstrophen, die als Anrede an das Jesuskind in der Krippe einen Zusammenhang bilden, beginnen mit der Anrede „Süßes Heil“: „Süßes Heil, lass dich umfangen,/ laß mich dir,/ meine Zier, unverrückt anhangen.“ (Strophe 10, 1-3)

Auch hier dreht sich also alles um das enge und emotional stark aufgeladene Verhältnis zu Jesus, das seine Erfüllung im ewigen Leben finden wird. Paul Gerhardts Lieder traten ihren Siegeszug in die Welt mit den musikalischen Fassungen an, die ihnen die beiden Berliner Kantoren Johann Crüger (1598-1662) und Johann Georg Ebeling (1637-1676) gegeben hatten. Als Standardform gab Crüger die Gestalt des vierstimmigen Vokalsatzes mit zwei instrumentalen Oberstimmen vor, eine satztechnisch durchaus ambitionierte Angelegenheit. Das menschliche Singen wird so durch die Instru22 Diese Bassstimme hat auch eine zahlensymbolische Dimension. Es sind 119 = 7 x 17 Töne, ein bei Bach nicht singuläres Transzendenzsymbol. 23 Vgl. den Verweis auf ein Pfingstlied Paul Gerhardts im Beitrag von Peter Bubmann in diesem Band. 24 Voller Freud ohne Zeit. Musik um Paul Gerhardt. Ausführende: Movimento. Edition chrismon. Frankfurt 2007.

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mente überhöht in Dimensionen, welche die Vox humana übersteigen, ein deutliches Transzendenzsymbol. Crügers Nachfolger Ebeling übernimmt in seiner 120 Nummern umfassenden PaulGerhardt-Liedausgabe (Ebeling 1666/67 zit. n. Faksimileausgabe v. Kemp 1975) diese Satzform und weist die Instrumentalstimmen explizit den Violinen zu, während Crüger die Besetzung noch variabel ließ (vgl. Liebig 2008). Das ist nicht zuletzt eine symbolische Präzisierung, denn die Engel auf Barockaltären und an Orgelprospekten spielen Violine. Gerade mit Violinoberstimmen wird menschlicher Gesang zur „süßen Musica“ geadelt, zum VorGeschmack der vollen himmlischen Freude ohne vergängliche Zeit. Auch Musik, die stärker die Ferne von Gott und infolgedessen die Sehnsucht nach der vollen Freude akzentuiert, kann süße Musik sein, etwa Ebelings Satz zu Paul Gerhardts Lied, das die Worte von Psalm 42 umsetzt. In der Lutherbibel beginnt dieser Psalm mit den Worten: „Wie der Hirsch schreiet nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott zu dir. Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott.“

Mit Paul-Gerhardt ist zu singen:25 Wie der Hirsch in großen Dürsten schreiet und frisch Wasser sucht, also sucht dich Lebensfürsten/ meine Seel in ihrer Flucht; meine Seele brennt in mir,/ lechzet, dürstet, trägt Begier nach dir, o du süßes Leben,/ der mir Leib und Seel gegeben.

Affektreicher lässt sich Sehnsucht wohl schwerlich artikulieren, und die Anrede des Begehrten fasst wiederum alles in den Topos „süß“: „o du süßes Leben“. Dass auch der Melodiehöhepunkt von Ebeling exakt bei „süßes Leben“ gesetzt wird, verwundert nicht.

25 Text in moderner Umschrift. Zur Musik vgl.: Voller Freud ohne Zeit (s. Anm. 24), Track 5.

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Notenbeispiel 4: Cantus-Stimme des Paul-Gerhardt-Liedes: Wie der Hirsch in großen Dürsten (Ebeling 1666/67 zit.n. Faksimileausgabe v. Kemp 1975: 228). Als süße Musik können diese vokalinstrumentalen Sätze Crügers und Ebelings gerade dann erlebt werden, wenn so vollkommen wie auf der genannten CD in reinen Terzen intoniert wird. Ex contrario formuliert: Die moderne, sogenannt gleichschwebende Klavierstimmung, welche die Oktave in zwölf exakt gleiche Halbtöne teilt, taugt nicht zum Vor-Geschmack himmlischer Freuden. Da ist keine Terz rein, alles schwebt gleichermaßen unrein. Musikhistorisch setzte sich die Etablierung der Terz als Konsonanz erst zu Lebzeiten Paul Gerhardts und seiner Kantoren durch. Voraussetzung dafür, dass Schlussklänge eine (große) Terz enthalten können, war die vollkommene Reinheit dieser Terz. Nur sie kann ‚süß‘ empfunden werden, alles andere wäre unerträglich bitter. Der kleine Unterschied zwischen einer reinen und einer unreinen Terz markiert die Trennung von Welten, letztlich ist es der Gegensatz von Himmel und Hölle. Die Etablierung der reinen Dur-Terz aber hat die Kunstmusik in exponierter Weise gleichnisfähig gemacht für die Süßigkeit der himmlischen Freuden.

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Komm, du süße Todesstunde Johann Sebastian Bachs Musik gilt spätestens seit der zweibändigen Bach-Biographie Philipp Spittas (1873/1880) als der Inbegriff evangelischer Kirchenmusik. An zwei Beispielen sei deren spezifisches Süßigkeits-Potential aufgezeigt. Die Kantate BWV26 161 zum 16. Sonntag nach Trinitatis beginnt mit einer für Bach’sche Kantatenverhältnisse sehr schlichten Musik. Es musizieren nur zwei Blockflöten und Continuo-Bass, keine sonstigen Streichinstrumente oder Bläser. Die Tonart ist gleichfalls elementar: vorzeichenfreies C-Dur. Die Blockflöten spielen oft in Terz- oder Sextparallelen, ihr Verhältnis zueinander ist sozusagen konfliktfrei. Was motiviert Bach bei der 1715 oder 1716 für die eher kammermusikalischen Verhältnisse in der Weimarer Hofkapelle konzipierten Kantate zu dieser Besetzung und dieser Diktion? Aus dem Textincipit „Komm, du süße Todesstunde“ fordert das Stichwort „Todesstunde“ sogenannte „stille Musik“ mit den leisesten verfügbaren Instrumenten, den Blockflöten27. Dass diese präzise flauto dolce heißt, prädestiniert sie vollends für das „Komm, du süße Todesstunde“. Der von der Altstimme solistisch vorgetragene Kantatentext im ersten Satz lautet: „Komm, du süße Todesstunde, da mein Geist Honig speist aus des Löwen Munde.“

Die Hörer der Bach-Zeit konnten diese heute abwegig erscheinende Formulierung als sinnträchtig nachvollziehen. Es war damals in der Predigtpraxis und in gedruckter Erbauungsliteratur üblich, Bibelstellen aus den verschiedensten Zusammenhängen hermeneutisch aufeinander zu beziehen.28 Hier wird die Sterbesehnsucht, wie sie der Apostel Paulus etwa in 2. Korinther 5,8 oder 26 BWV = Bach-Werke-Verzeichnis (Schmieder 1950). 27 Vgl. die Besetzung von Blockflöten und Gamben in der berühmten, frühen Memento-mori-Kantate Bachs Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit (BWV 106), genannt „Actus tragicus“. 28 Die Bibelwort-Bezüge in Bachs Kantatenlibretti sind im BachKommentar von Martin Petzoldt aufgelistet. Bezüglich Kantate BWV 161 vgl.: Petzoldt 2004: 450f; Mautner 1997: 123-191.

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Philipper 1,23 formuliert, mit einer ziemlich abseitigen Geschichte aus dem Alten Testament (Richter 14, 6-9) verknüpft, wo Simson aus dem Aas des von ihm getöteten Löwen Honig entnimmt und dann ein Rätsel formuliert: „Speise ging aus vom Fresser und Süßigkeit vom Starken“ (V. 14). Dies dient in der Kantate als Assoziations-Hintergrund, um das Hören der Musik mit HonigGeschmack anzureichern und den Hörern sozusagen das Wasser im Mund zusammenlaufen zu lassen.

Notenbeispiel 5: Kantate BWV 161, Ausschnitt aus dem Eingangssatz mit Choral-Cantus-firmus der Orgel (4. System) (NBA: Bd. I/23: 6).29 Bei der Wiederholung des Textes spielt die Orgel zur süßen Musik der Blockflöten eine bekannte Kirchenliedmelodie. Von der Prägung durch Bachs Passionen her verbinden heutige Hörer damit das Passionslied O Haupt voll Blut und Wunden. Dieses Lied Paul Gerhardts war 1715 aber noch nicht im Weimarer Gesangbuch arriviert. Die Melodie ließ zeitgenössische Hörer das Sterbelied Herzlich tut mich verlangen nach einem sel’gen End assoziieren. Die inhaltliche Verbindung der Sterbebitte des Arientextes mit dieser 29 NBA = J.S. Bach, Neue Ausgabe sämtlicher Werke (Bach 1954-2007).

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Choralstrophe ist evident. Hermeneutisch leistet das Melodiezitat zweierlei: Einerseits bringt es den vielleicht auch für den Weimarer Hofgemeinde-Hörer ungewöhnlich saftigen Arientext des Hofpoeten Salomo Franck (1659-1725) in Korrelation zu einem vertrauten Lied und macht ihn so verstehbar als intensivierte Sterbebitte. Andrerseits erfährt der als Standard rezipierte Choraltext durch die Verknüpfung mit der Ariendichtung eine hermeneutische Anreicherung. Das Verlangen nach einem gelingenden Lebensende wird stark sinnlich intensiviert, eben durch Evokation des Geschmackssinnes mit dem Bild vom süßen Honig aus Löwenmund. Der Honiggeschmack kommt hier nicht wie gewöhnlich aus den Waben von vergleichsweise harmlosen Bienen, sondern aus dem Munde des eigentlich todbringenden Löwen. Damit wird deutlich, dass diese Süßigkeit stärker ist als der Tod. Die Musik klingt, wie benannt, gleichfalls „dolce“. Ein kompositorischer Trick Bachs ist, die Choralmelodie, die eigentlich in Phrygisch steht, der traurigsten aller Kirchentonarten, in der Harmonisierung soweit möglich nach C-Dur umzudeuten. Der Melodie-Grundton E wird als die Terz von C-Dur aufgefasst, und der ganze Eingangssatz steht ebenso definitiv in C-Dur. Was ausgerechnet die Todesstunde süß macht, verrät die Fortsetzung des Arientextes: „Mache meinen Abschied süße, säume nicht, letztes Licht, dass ich meinen Heiland küsse.“

Der Tod hebt die Trennung zwischen Glaubendem und Christus auf, ermöglicht endlich die intimste Gemeinschaft, das Küssen, wie es zur Braut-Bräutigam-Metaphorik gehört und auch im auf den Messias gedeuteten Psalm 2, auf den hier angespielt wird, steht: „Küsset den Sohn“ (Psalm 2,11).30 Im 19. Jahrhundert hat man solche Texte als geschmacklos bezeichnet und als Hindernis für eine breitere Rezeption der Bach-Kantaten betrachtet. Dem wäre entgegen zu halten, dass diese poetischen Ergüsse im Gegen30 Die heutige Luther-Übersetzung heißt philologisch korrekt: „Küsst seine Füße mit Zittern“. Vgl. demgegenüber die eindrückliche Vertonung von „Küsset den Sohn“ durch Felix Mendelssohn Bartholdy in der doppelchörigen Motette zu Psalm 2 Op. 78,1 (1843/44).

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teil besonders geschmackvoll im Wortsinn sind, insofern sie den Geschmackssinn erst anregen. Aus dieser Kantate sei noch das aufwändig musikalisierte, zweite Rezitativ besprochen. Der Text lautet: „Der Schluß ist nun gemacht, Welt, gute Nacht! Und kann ich nur den Trost erwerben, in Jesu Armen bald zu sterben: Er ist mein sanfter Schlaf. Das kühle Grab wird mich mit Rosen decken, bis Jesus mich wird auferwecken, bis er sein Schaf führt auf die süße Lebensweide, da mich der Tod von ihm nicht scheide. So brich herein, du froher Todestag, so schlage doch, du letzter Stundenschlag!“ (Kantate BWV 161, Satz 4)

Im Unterschied zum ersten Rezitativ, das als „Secco“ nur mit Continuo begleitet wird, bietet Bach hier im Accompagnato sämtliche beteiligten Instrumente auf, also Blockflöten und Streicher. Das unterstreicht die Definitivität der einleitend gemachten Aussagen: „Der Schluss ist schon gemacht, Welt, gute Nacht, Welt gute Nacht!“ Solche Weltverachtung ist die Kehrseite der überaus starken Christuserwartung, wie sie die betörend süße Instrumentation den Ohren einschmeichelt. Eine definitive C-Dur-Kadenz setzt Bach bei „bis Jesus mich wird auferwecken“. Das folgende Bild von der „süßen Lebensweide“ lässt er überraschend uninstrumentiert und akzentuiert es so. Man vernimmt das Wort des AltSolisten alleine31 mit affektierten triolischen Schlenkern um b, was harmonisch als Septime, also als dritte Terz zu C fungiert. Die ganze letzte Rezitativpassage über hört man dann auf dem hohen C in der Blockflöte das Sterbeglöcklein bimmeln. 31 Die Alt-Stimme ist im Barock primär hohe (Männer-)Stimme, darin symbolfähig für die Stimme des Glaubens, der sich über die Niederungen des irdischen Lebens zu erheben vermag. Zu einer „süßen“ Verschmelzung von Vokalalt und hohen Blockflöten kommt es nur mit einer in den Höhen „dünner“ werdenden, männlichen AltStimme. Vgl. die Einspielung der Kantate durch das Bach Collegium Japan (Masaaki Suzuki) mit dem Altisten Yoshikazu Mera: Bach Cantatas Vol. 5. BIS-CD-841, Åkersberga 1997.

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Erst in den letzten Jahrzehnten ist in dörflichen Kontexten der Brauch in Abusus gekommen, dass ein Todesfall sofort nach Eintreffen der Todesnachricht im Pfarrhaus durch Läuten einer hohen Sterbeglocke angezeigt wird. Das Erschrecken ob dieses Bimmelns ist für mich als Dorfkind eine frühkindliche Elementarerfahrung: es ist wieder jemand gestorben! Bach gelingt es, diesen Schrecken durch betörend süße Musik ins Gegenteil zu verkehren; im Text heißt es als Conclusio: „So brich herein, du froher Todestag.“ Beiläufig sei noch erwähnt, dass die beiden exponierten Blockflöten in diesem Rezitativ zusammen 224 Töne spielen, das ist 2x112, die Summe von „CHRISTUS“ nach dem Zahlenalphabet: Es ist eben die zu erwartende, unmittelbare Begegnung mit Christus, welche dem Tod den Schrecken nimmt.

Komm, süßes Kreuz Die für Bach-Kenner nächstliegende Assoziation bei der Metapher „süß“ führt wohl zur Bass-Arie im zweiten Teil der MatthäusPassion, welche mit den Worten beginnt: „Komm, süßes Kreuz, so will ich sagen, mein Jesu, gib es immer her.“ (NBA: Bd. II/5, Nr. 57)

Dem korrespondiert im ersten Teil dieser Passion eine Bass-Arie, die in ähnlicher Weise die Bereitschaft artikuliert, das Jesu zugefügte Leiden selbst zu übernehmen: „Gerne will ich mich bequemen, Kreuz und Becher anzunehmen, trink ich doch dem Heiland nach.“ (ebd.: Nr. 23)

Bei dieser Arie mit unisono spielenden Streichern heißt es im Mittelteil: „Denn sein Mund, der mit Milch und Honig fließet, hat den Grund und des Leidens herbe Schmach/ durch den ersten Trunk versüßet.“

Jesus, selber schuldlos, erleidet also die bitteren Konsequenzen des menschlichen Versagens – im Bild des Leidenskelches, bzw. de facto am Kreuz –, und macht dadurch für die Gläubigen alles

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Leiden süß.32 Das entspricht der Tradition mittelalterlicher Kreuzesmystik, wo in der Passionsmeditation jedes Detail des grausamen Geschehens bis hin zu den Marterwerkzeugen für süß erklärt wird, weil es ein Instrument ist, das dem ewigen Heil der Menschen dient (vgl. Ohly 1989). Bachs Transferleistung solch inhaltlicher Vorstellungen in spezifische musikalische „Süßigkeits“Komponenten sei aufgezeigt hinsichtlich der Instrumentalbesetzung. Die Instrumentation der Arie Komm, süßes Kreuz war in der Erstfassung der Matthäus-Passion (1727) klanglich sehr erlesen. Eine Laute hatte konzertierend zu spielen. Auch in der JohannesPassion (1724/25) gibt es ursprünglich ein Lautenstück (NBA: Nr. 19)33. Die Laute spielt der Liebhaber, wenn er vor dem Fenster der Angebeteten schmachtet. Es ist das Instrument für die intimsten Töne. Offensichtlich hatte Bach später keinen Lautenisten mehr oder der Klang erwies sich als doch zu leise für den Kirchenraum, so dass in beiden Passionen die Laute später ersetzt wurde. In der Matthäus-Passion spielt seit 1736 die Gambe, das zartere und wegen des Obertonreichtums „süßere“ der Streichinstrumente im Bass. Unabhängig von dieser Arie mit dem Kennwort „süß“ im Initium wird bei der Matthäus-Passion im Gegenüber zur JohannesPassion allgemein mehr „Süßigkeit“ festzumachen sein, nämlich an der Bevorzugung der im Klang etwas näselnden Oboen da caccia. In der auf Komm, süßes Kreuz folgenden, nächsten Arie Sehet, Jesus hat die Hand, uns zu fassen ausgespannt (NBA: Nr. 60) spielen diese beiden in tiefer Lage klingenden Oboen überwiegend „süße“ Harmonien in Terzen oder Sexten, während in der JohannesPassion die Sätze mit Oboen voll sind mit Vorhaltsbildungen und Dissonanzen, etwa im Eingangschor oder in der Arie Von den Stricken meiner Sünden (NBA: Nr. 7). Auch bei der letzten Arie der Matthäus-Passion (NBA: Nr. 65), die mit ihrem schwingenden 12/8-Takt besticht, worin das Erlöstsein spürbar, förmlich zu schmecken ist, spielen die Oboen da caccia mit, den satten Streicherklang charakteristisch einfärbend, sozusagen verzuckernd. 32 Die Wendung „sein Mund, der mit Milch und Honig fließet“ spielt ebenfalls auf die Szene mit dem Löwen im Richter-Buch, Kap. 14, an. 33 In diesem Arioso findet sich die Textpassage: „du kannst viel süße Frucht von seiner Wermut brechen.“

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„Mache dich, mein Herze rein, ich will Jesum selbst begraben, denn er soll nunmehr in mir/ für und für/ seine süße Ruhe haben.“

„Süße Ruhe“ wird hier in faszinierender Weise in schwingender 12/8-Takt-Musik erschlossen. Im Rezitativ zuvor hieß es: „Der Friedensschluss ist nun mit Gott gemacht, denn Jesus hat sein Kreuz vollbracht. Sein Leichnam kommt zur Ruh […].“

Dass aller Kampf ein Ende hat, bedeutet nicht Totenstille, sondern Leben, erlöstes Leben ohne Konfliktpotential. Das Bild, Jesus im eigenen Herzen zu begraben, ist ein starker Ausdruck für größtmögliche Nähe, ja Identitätsübertragung. Der tote Jesus sorgt sozusagen fortan für den Herzschlag des Gläubigen, lässt ihn von seinem Innersten aus leben, gut leben. So hat auch für den leidenden Jesus der Kreuzestod seinen Sinn erhalten („vollbracht“) und verliert alle Bitterkeit, wird zur „süßen Ruhe“. Vielleicht ist es speziell die Süßigkeit in der musikalischen Transformation, welche Bachs Matthäus-Passion bis heute zum Publikumsrenner macht. Alle aktuellen kritischen Anfragen an die Sühne-Vorstellungen in Bibel, Arientexten und Chorälen prallen zurück vor dieser Musik, deren süßem Geschmack man einfach nicht widerstehen kann. Gerade an der Matthäus-Passion wird deutlich, dass süße Musik nicht nur etwas für Weihnachten ist. Vielmehr läuft sie da zur Hochform auf, wo sie sich der Realität des Bitteren, des Leidens, stellt und deren Wahrnehmung in Wohlgeschmack transformiert.34 Zwischenbemerkung Das nun fällige, heikle Kapitel zum 19. Jahrhundert entfällt. Heikel, weil in der Gefahr fachwissenschaftlich arroganter Abwertung, wäre die Erörterung, wie vormals sinnträchtig dargebotene musikalische Süßigkeit zu inflationärem Gebrauch von Süßlichem mutiert und in der Reproduktion von Klischees spezifischen Sinn wie auch Eigengeschmack verliert. Verwiesen sei allerdings auf den Beitrag von Eckhard Roch in diesem Band. 34 Das kann man auch als spezifischen Hintersinn des Films Chocolat benennen, der ja in der Passionszeit spielt.

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Von einem einschlägigen Liedtitel, der evidente Motivanklänge an die barocke Süßigkeitskultur enthält, sei wenigstens der Anfang zitiert: „Süßer die Glocken nie klingen als zu der Weihnachtszeit: ’s ist als ob Engelein singen wieder von Frieden und Freud.“ (Friedrich Wilhelm Kritzinger, 1816-1890)

Zwei musikalische Geschmacksproben aus dem 20. Jahrhundert sind allerdings unerlässlich in Reverenz an zwei herausragende 100-Jahre-Jubilare (2008).

T e r z e nw o h l k l a n g u n d p r o t e s t a n t i s c h e s P r i n z i p Hugo Distler, am 24. Juni 1908 in Nürnberg geboren, erst 34-jährig durch Suizid am 1. November 1942 aus dem Leben geschieden – wohl weil er seine Lebensangst nicht zu bändigen wusste und sich ihm keine „süße Ruhe“ erschloss (vgl. Distler-Harth 2008) –, gehört zur Generation der Komponisten, welche ihre Musiksprache profilierten in dezidierter Entgegensetzung zu allem Süßlichen, wie es aus ihrer Sicht Kennzeichen des zu überwindenden 19. Jahrhunderts war. Die Rückwendung zum ganz Alten sollte neue Orientierung geben. Auch die Süße Bachs war suspekt, Leitbilder suchte und fand man im sogenannt „Vorbarocken“. Vorrang der Polyphonie versus das Diktat des Harmonischen hieß nun die Devise, die sich harmonisch etwa im Ersetzen der Terz durch die nicht als Konsonanz erlebbare Quarte oder im Hantieren mit Sekund-Reibungen niederschlug. Was aber geschieht, wenn sich in einem solchen Kontext Hugo Distler den oben besprochenen „süßen“ Liedern Philipp Nicolais von 1599 zuwendet? Diese gehören ja zu der als vorbildlich erklärten „vorbarocken“ Epoche. Das „süßere“ von beiden, Wie schön leuchtet der Morgenstern, bearbeitet Distler nur in kleineren Formen, als Choralvorspiel mit Begleitsatz für Orgel und als dreistimmigen Liedsatz für Chor. Wachet auf, ruft uns die Stimme aber wird sogar doppelt in künstlerischem Großformat erschlossen. Es gibt eine groß angelegte, dreisätzige Orgelpartita dazu (op. 8,2; 1933) und eine anspruchsvolle Motette in der Geistlichen Chormusik

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(op. 12,6; 1935), wo alle drei Liedstrophen durchkomponiert sind. Was Distler hier sichtlich fasziniert, ist der Weckruf-Gestus in einer Zeit, als „Deutschland, erwache“ von allen Seiten erschallt. So dominiert ungeachtet der Terzschritte in der Melodie denn auch am Anfang die Signal-Quarte, unterlegt mit „Wachet auf“, allerdings als geheimnisvoller Ruf aus der Stille der Nacht, nicht als plakatives „Erwache!“.

Notenbeispiel 6: Hugo Distler: Wachet auf, ruft uns die Stimme op. 12,6, Schluss der 2. Strophe 183

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Konkret in den Blick genommen sei die zweite Strophe, die klanglich intim gehalten ist und den Chor quasi nur als Background zu zwei Sopran-Solostimmen bringt. Die Solistinnen setzen nie parallel in Terzen ein (wie Bachs Oboen in der Matthäus-Passion), sondern singen stets kanonisch hintereinander, und wenn sie im weiteren Verlauf parallel geführt sind, dann in Quarten. Die C-DurTerz haben sie zum ersten Mal nur kurz am Ende des Stollens vor der Wiederholung. Erst ab „Hosianna“ wird es in den Solopartien Sext- und Terzklang-freundlicher; beim Stichwort „Freudensaal“ singen Soprane und Tenöre im Chor tatsächlich ein Melisma um den Grundton c in Terz-Parallelen und die Solistinnen bekräftigen mit einem sechs Schläge gehaltenen Ton die C-Dur-Terz definitiv. Der Schlussklang des Chores auf „Abendmahl“ bringt die C-DurTerz e pointierend in Alt und Sopran 2 sogar doppelt. Sie wird aber durch den dazu gesetzten Quartklang h-fis der beiden Solosoprane gezielt ins Flirren gebracht. Gleichwohl klingt dieser Mittelsatz für Distlers Stil ungewöhnlich „süß“. Die Terz erhält Gültigkeit als Klangsymbol zu den Transzendenzmetaphern „Freudensaal/Abendmahl“. Durch die Brechung des Schlussklangs mit der h-fis-Quarte wird aber die Unverfügbarkeit der Transzendenzerfahrung unterstrichen. Der Terzenwohlklang ist nicht mehr statthaft als sinnlich erfahrbarer Vorgeschmack, wie in der Barockmusik; oder als etwas zum realen Greifen und Schmecken wie die Lebkuchen an Weihnachten. Das vom Theologen Paul Tillich (1886-1965) so genannte „protestantische Prinzip“ (Tillich 1962) der dialektischen Brechung hat sich auch musikalisch durchgesetzt.

Katholischer Wohlklang Olivier Messiaen, geboren am 10. Dezember 1908 in Avignon, gestorben am 27. April 1992 in Paris, weltweit als Komponist wie als Lehrer hoch geschätzt, ist ein vom Zeh bis zur Haarspitze religiöser, streng katholischer Mensch, der fast alle Noten, die er niederschreibt, durch geistliche Gehalte determiniert und gleichwohl im atheistischen 20. Jahrhundert zum Star der musikalischen Avantgarde avanciert (vgl. Hill/Simeone 2007). Viele Verehrer seiner Kunst haben allerdings gestaunt und sich darüber gewundert, wie Messiaen dazu kam, in seinen späten Werken so ungeniert den harmonischen Wohlklang, die Terz, den Dur-Dreiklang, bisweilen

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noch angereichert durch die „Sixt ajutée“, als probates Mittel des Komponierens zu restituieren. Dazu ein Beispiel. Der letzte der großen Orgelzyklen Messiaens, Livre du Saint Sacrement, komponiert 1984, widmet sich dem katholischen Zentralthema des Heiligen Sakraments, der Eucharistie, in protestantischer Nomenklatur: dem Abendmahl.35 In 18 Sätzen entfaltet Messiaen dazu den Kosmos seiner spezifischen Orgel-Klangsprache, die bekanntlich auch die Wiedergabe von Vogelstimmen einschließt, wie sie Messiaen auf seinen Reisen in alle Welt aufgezeichnet hat. Die Sätze 14, 15 und 16 bilden insofern den Kulminationspunkt des Zyklus, als es hier um den Vollzug der Eucharistie geht. Satz 14 ist überschrieben mit „Gebet vor der Kommunion“. Ein schlichtes, einstimmig vorgetragenes, gregorianisches Alleluja wird kontrastiert mit leisen Klangflächen in mystisch wirkender Schwebungs-Registrierung, wie sie für die katholische Organistenpraxis seit dem Ende des 19. Jahrhunderts typisch ist. Die Akkordfolgen lösen sich jeweils in einen C-Dur-Dreiklang mit beigemischter Sexte auf („Sixt ajutée“), was für erklärte Avantgardisten in Musiktheorie wie -praxis als Inbegriff kitschiger Süßlichkeit gilt. Satz 15 heißt „Die Freude der Gnade“ und stellt ein reines Vogelgesang-Stück dar. Überwiegend in Palästina aufgenomme Vögel zwitschern ohne Unterlass und symbolisieren die spirituelle Freude beim Empfang des Sakraments. Satz 16 ist komplementär zu Satz 14 überschrieben: „Gebet nach der Kommunion“. Zur Überschrift gehören bei Messiaen stets noch ein oder auch mehrere Zitate aus der Bibel, von den Kirchenvätern oder aus mystischen Schriften des Mittelalters. Hier wird Bonaventura zitiert mit „Mon parfum et ma douceur, ma paix et ma suavité [...]“. Die beiden zentralen Geschmacksbegriffe der Mystiker für Süßigkeit sind also dabei – „dulcedo“ und „suavitas“ –, dazu für den Geruchssinn: „parfum“36. Am Schluss dieses „Un peu lent“ vorzutragenden Satzes steht reines A-Dur, ein Klang, der als solcher bei Messiaen substanziell die göttliche Liebe repräsentiert. Die Süßigkeit und Ungetrübtheit 35 Auf die Wiedergabe der französischen Originaltitel bei den Einzelsätzen wird im Folgenden verzichtet. 36 Biblischer Bezug ist 2. Korintherbrief 2,14: „Gott aber sei Dank, der uns allezeit Sieg gibt in Christus und offenbart den Wohlgeruch seiner Erkenntnis durch uns an allen Orten!“ (Luther-Übersetzung 1984).

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dieses A-Dur kann im Werkkontext als Auflösung des vorausgehenden, clusterartig dichten Klanges kaum als störend, vielmehr als stimmig empfunden werden. Messiaens Musikstil ist gerade darin phänomenal, dass man einen Dur-Dreiklang mitten in hoch dissonanter Musik nicht als Stilbruch empfindet. Die essentiell religiöse Motivation für solchen Wohlklang, sein spezifischer geistlicher Sinn, wird durch die stimmigen musikalischen Prozesse neu ins Recht gesetzt. So wird man die Süßigkeit von Messiaens Klängen als sinnlich verführerische Apologie des katholischen Glaubens im 20. Jahrhundert zu würdigen haben.

Notenbeispiel 7: Olivier Messiaen: Livre du Saint Sacrement, Schluss von Satz 16

Literatur und Musik Ameln, Konrad (1985): „Die Cantio ‚In dulci iubilo‘“. In: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 29/1985, S. 23-78. Bach, Johann S. (1954-2007): Neue Ausgabe sämtlicher Werke [NBA]. Hg. v. Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen u. v. Bach-Archiv Leipzig. Kassel u.a.: Bärenreiter. Becker, Hansjakob/Franz, Ansgar/Henkys, Jürgen/Kurzke, Hermann/Reich, Christa/Stock, Alex (Hg.) (2001): Geistliches Wunderhorn. Große deutsche Kirchenlieder. München: Beck. Distler-Harth, Barbara (2008): Hugo Distler. Lebensweg eines Frühvollendeten. Mainz: Schott Music. Harzer, Dore (2006): In dulci iubilo. Fassungen und Rezeptionsgeschichte des Liedes vom 14. Jahrhundert bis zur Gegenwart (= Mainzer hymnologische Studien, Bd. 17). Tübingen: Francke.

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Hill, Peter/Simeone, Nigel (2007): Messiaen. Aus dem Englischen v. Birgit Irgang. Mainz: Schott Music. Kemp, Friedhelm (Hg.) (1975) : Paul Gerhardt: Geistliche Andachten, samt den übrigen Liedern und den lateinischen Gedichten. [Faksimileausgabe von: Ebeling, Johan G. (Hg.) (1666/67): Pauli Gerhardi. Geistliche Andachten, samt den übrigen Liedern und den lateinischen Gedichten. Berlin]. Bern u.a.: Francke. Klek, Konrad (1999): „400 Jahre Erfolgsgeschichte. Philipp Nicolais Lieder“. In: Württembergische Blätter für Kirchenmusik 66/5, S. 3-11. Liebig, Elke (2008): Joh. Georg Ebeling und Paul Gerhardt. Liedkomposition im Konfessionskonflikt. Die Geistlichen Andachten Berlin 1666/67. Frankfurt a.M.: Lang. Mautner, Martin-Christian (1997): Mach einmal mein Ende gut. Zur Sterbekunst in den Kantaten Johann Sebastian Bachs zum 16. Sonntag nach Trinitatis. Frankfurt a.M.: Lang. Messiaen, Olivier (1985): Livre du Saint Sacrement. Paris: Alphonse Leduc. Ohly, Friedrich (1989): Süße Nägel der Passion. Ein Beitrag zur theologischen Semantik. Baden-Baden: Koerner. Petzoldt, Martin (2004): Die Geistlichen Kantaten des 1. bis 27. Trinitatis-Sonntages (=Bach-Kommentar, Bd. I). Stuttgart/Kassel u.a.: Bärenreiter. Praetorius, Michael (1928-1940): Gesamtausgabe der musikalischen Werke von Michael Praetorius. Bearbeitet v. Wilibald Gurlitt. Mehrere Bde. Wolfenbüttel-Berlin: Kallmeyer. Praßl, Franz K. (2000): „Das Mittelalter“. In: Möller, Christian (Hg.): Kirchenlied und Gesangbuch. Quellen zu ihrer Geschichte. Ein hymnologisches Arbeitsbuch (= Mainzer hymnologische Studien, Bd. 1).Tübingen: Francke, S. 29-68. Schmieder, Wolfgang (1950): Bach-Werke-Verzeichnis [BWV]. Thematisch-systematisches Verzeichnis der musikalischen Werke von Johann Sebastian Bach. Leipzig: Breitkopf & Härtel. Spitta, Philipp (1873/1880): Johann Sebastian Bach, 2 Bde. Leipzig: Breitkopf & Härtel. Stalmann, Joachim (Hg.) (1998ff.): Das deutsche Kirchenlied. Kassel u.a.: Bärenreiter-Verlag. Tillich, Paul: Der Protestantismus als Gestaltung und Kritik (Gesammelte Werke VII). Stuttgart 1962. 187

ERFAHRUNGEN DES ANDEREN

Wolff, Christoph/Melamed, Daniel R. (Hg.) (1994): Anguish of Hell and Peace of Soul: A Collection of Sixteen Motets on Psalm 116. (= Harvard Publications in Music 18). [Faksimileausgabe von: Grossmann, Burckhard (Hg.) (1623): Angst der Hellen und Friede der Seelen. Jena: Weidner]. Cambridge/ Mass. u.a.: Harvard University Press.

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Peter Ackermann

Der Geschmack einer fremden Kultur: Japan

Einleitung Welcher Geschmack fehlt hier, in Europa, in Deutschland eigentlich? Diese Frage darf durchaus gestellt werden, wenn jemand von einem fremden kulturellen Umfeld – in diesem Fall Japan – in ein westeuropäisches Land kommt, oder dahin zurückkehrt.1 Durch die Veränderung des örtlichen Bezugsrahmens wird bewusst, dass Präferenzmuster für Stimuli, welche Vertrautheit, Orientierungssicherheit und ‚Wohlgefühl‘ verliehen haben, plötzlich nicht mehr – oder nicht in der erwarteten Form – „greifen“. Wir alle kennen wohl den Wechsel eines räumlichen Rahmens, aus dem bestimmte Stimuli auf uns eindringen. Unsere Orientierungsprozesse müssen sich dabei in der Regel erst lange und mühsam an den neuen Rahmen gewöhnen, zum Beispiel wenn wir von einer klimatischen Region in eine andere gelangen, wo die Luft anders in die Nase sticht, oder von einem Breitengrad zu einem andern, wo das Licht andere Eigenschaften besitzt. So verstehe ich denn hier „Geschmack“ als etwas, das auf einem sinnlichen Stimulus – in seiner Grundbedeutung zuerst einmal im Munde – fußt, auf den leiblichen Menschen intensiv einwirkt und 1

„Fremd“ sind zunächst bestimmte geographische Gegebenheiten; mit „fremd“ spreche ich aber hier auch folgende Tatsache an: Die Diskurse, welche in Westeuropa über einen sehr langen Zeitraum die Dynamik des Wandels der materiellen und parallel dazu der seelisch-emotionalen Welt geprägt haben, ebenso wie die spezifischen Flüsse des Informationstauschs, durch welche diese Dynamik in Gang gehalten worden ist, sind nicht, oder nur in jüngerer Gegenwart und nur in Form eines punktuell übernommenen, nach entsprechenden Kontakten und Übersetzungen plötzlich erwerbbaren Wissens in einer für die japanische Lebensgestaltung relevanten Form wirkungsmächtig gewesen; dafür verfügt das Land über eine eigene historisch gewachsene Wandlungs- und Entwicklungsdynamik.

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(obschon durch gezielte Gewöhnungsprozesse langfristig prägbar) als spontane Reaktion nicht steuerbar ist. Empfinde ich diese Einwirkung als angenehm, suche ich nach Wiederholung. Mit Geschmack bezeichne ich, anders ausgedrückt, etwas, das sich in einem bestimmten räumlichen Rahmen bildet durch die dort mögliche repetitive Selektion (gegebenenfalls auch Reproduktion) bestimmter Stimuli, die mir Wohlgefühl vermitteln, und die ebenso repetitive Vermeidung von Stimuli, die mir dieses Gefühl nicht vermitteln. In diesem Aufsatz frage ich danach, wie in Japan Präferenzmuster einerseits und vom Umfeld gelieferte Stimuli andererseits aufeinander bezogen sein könnten. Naheliegenderweise kann jedoch für eine komplexe Gesellschaft wie Japan mit seinen denkbar heterogenen Formen der Lebensgestaltung, die sich auf der Zeitachse auch in die verschiedensten Richtungen weiter entwickeln, keine eindeutige Antwort gegeben werden. Wohl aber lassen sich Felder benennen, in denen ein bestimmtes Angebot an Stimuli besteht, welches die Ausprägung bestimmter, von unserer Erfahrungswelt her betrachtet nicht oder nicht so erwarteter Präferenzmuster mit einiger Wahrscheinlichkeit fördert. Der Blick richtet sich also auf das Angebot – den Input – an Stimuli, die Präferenzmuster gestaltet haben könnten, und nicht darauf, welcher Output im Einzelfall dabei herauskommt. Am Ende dieses Aufsatzes sollen aber die Ergebnisse einer kleinen Befragung den Aspekt des Outputs – der von konkreten Individuen vollzogenen Umsetzung von Präferenzmustern – zumindest anreißen. Bei der Überlegung, welche Stimuli Präferenzmuster haben bilden können, scheint es sinnvoll, einen möglichst ausgedehnten Begriff von „Raum“ zu benutzen, um der Vielfalt an Input gerecht zu werden, das das leiblich-seelische Wohlgefühl bestimmt. Primär tritt der Mensch in Bezug zu Stimuli, welche die Natur vorgibt, doch entstehen Präferenzmuster auch, indem ich in Beziehung trete zu anderen Menschen, zu unsichtbaren, vorgestellten „Kräften“ einschließlich verstorbener Menschen, oder zu all dem, was innerhalb eines längeren historischen Verlaufs komplexe Implikationsmuster hat bilden und die Diskurse einer für meinen Raum konstitutiven und dominierenden Zahl von Menschen hat prägen können. Somit seien hier folgende vier „Räume“ betrachtet: der natürliche Raum, der soziale Raum, der transzendente Raum, und der historische Raum. 190

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Nach einer – hier aus Platzgründen relativ kursorischen – Diskussion dieser vier „Räume“ sei abrundend die Frage gestellt, ob sich so etwas wie eine Konstante finden lässt, die das auf die sinnliche Wahrnehmung wirkende Input innerhalb bestimmter Bahnen zu halten sucht und damit auch den Selektionsprozessen von als angenehm empfundenen Stimuli eine bestimmte Richtung verleiht. Eine erkennbare Richtung von Selektionsprozessen könnte dabei als „Geschmack“ bezeichnet werden.

Der natürliche Raum Der Raum wirkt auf mich durch die natürliche Form, in der er da ist: Etwa durch Farben, Licht, Luft, Geruch, oder taktile Dimensionen wie die Wirkung des Bodens auf die Füße. Japan ist, zum einen, durch ein feuchtes und während vieler Monate auch feucht-heißes Klima geprägt, das die Üppigkeit der Flora und die kraftvolle Ausprägung ihrer Farben im Jahreskreislauf fördert, zugleich aber auch eine besondere Sensibilität schafft für kaze-tooshi, „Luftzirkulation“. Zum andern sei hier die Vermutung geäußert, dass das bis in die jüngste Vergangenheit weitgehende Fehlen eines überregionalen kulturellen Selbstdarstellungsanspruchs eine extreme Schlichtheit in der Gestaltung des persönlichen und privaten Umfelds aufrechterhalten hat. Damit verblieb fast jede Form des Bauens auf einer gewissermassen „primitiven“ Stufe der Naturverbundenheit. Erwähnenswert ist zudem, dass Stein grundsätzlich nicht als Baumaterial für Häuser verwendet wurde (vgl. z.B. Taut 1997; Engel 1964; Yagi/Hati 1982; Kawashima 1986; Hibi 1987; aber auch Daniell 2008). Zusammengenommen führen die genannten zwei Faktoren – Klima und Schlichtheit – dazu, dass sich der Mensch in einer Ästhetik vertraut und aufgehoben fühlt, die durch pflanzliche Baumaterialien wie Holz, Bambus, Riedgras oder Papier charakterisiert und so angelegt ist, dass Luft (Luftzirkulation) eine bestimmende Größe darstellt; das Feste, Abschließende einer Wand besitzt hier eine ausgesprochen negative Konnotation. Um diesen Kernbereich des Eigenen2 herum „ereignet sich“ der stete Wechsel

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Einer Verwendung des Begriffs „Wohnen“ muss mit Vorsicht begegnet werden; traditionellerweise ist eher von „Sich-Niederlegen“

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der Farben, Formen, Geräusche und Gerüche der Pflanzen-, Tierund Menschenwelt.3 In hohem Grad bedeutsam für die ans Wohlbefinden gekoppelte ästhetische Grundorientierung ist die Tatsache, dass der Raum nicht nur prinzipiell in alle Richtungen offen (oder nur, bei Bedarf, durch Sichtschutz abgegrenzt) ist, sondern dass er auch im Inneren in seiner Grundform keinerlei Möbel aufweist, zumindest nicht Möbel, die unverrückbar stehen. Der somit leere Raum ist höchstens durch seine Anordnung in einer bestimmten Himmelsrichtung in Bezug auf seine soziale Wertigkeit, jedoch nicht funktional bestimmt; er dient also ebenso dem Schlafen wie dem Essen, Zusammensitzen oder Arbeiten.4 Damit wird im Individuum, das in diesem Raum aufwächst, eine enge mentale Koppelung verankert zwischen Ästhetik – hier im Sinne von Lebensraumgestaltung – und Leere, Luft und materieller Schlichtheit. Vor dem Hintergrund eines sich nicht aufdrängenden, grundsätzlich schmuck- und möbellosen Raums lenken die sich in ihm befindenden Menschen alle Aufmerksamkeit auf sich. Die Gestaltung von Raum folgt somit hauptsächlich sozialen Regeln, d.h. der dem Individuum eine Art sichtbare Würde verleihenden Anordnung, ja „Präsentation“ von Menschen mit ihren Gesten und Gefühlen.5 Was die wenigen Gegenstände betrifft, die das ästhetische

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(für die Nacht), „Ort für Kleinkinder“, sowie „Ort, an dem man zusammenkommt und isst“ zu sprechen. Der Anime-Film Tonari no Totoro (My Neighbor Totoro) von Hayao Miyazaki (1988), in dem es auch darum geht, wie Kinder und Jugendliche zu einer körperlich und geistig „normalen“ Entwicklung zurückfinden können, zeigt die japanische Raumgestaltung und die entsprechende Raumnutzung in ihren Grundelementen auf sehr eindrucksvolle Weise. In Nordeuropa bildet die Heizung (Feuerstelle, Kachelofen u.a.) einen entscheidenden Faktor der Raumgestaltung und -nutzung und stellt eines der Hauptelemente der – durch sie klar definierten – „Stube“ dar. In Japan wird bei Kälte traditionellerweise ein Holzkohlebecken in den Raum gestellt, in dem man sich gerade befindet; seit langem werden auch kleine Ölöfen benutzt, oder ein Tisch mit einer übergroßen Decke (unter die man, am Boden sitzend, die Füsse stecken kann) mit einem Kohlebecken oder einer Infrarotlampe darunter. Beliebige Bücher zur japanischen Etikette (jap. reigi oder reigi sahô) beschreiben und illustrieren diesen Aspekt von „Mensch im Raum“ sehr ausführlich.

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Grundempfinden mitbestimmen, also etwa das Papier der Schiebetüren, das feine Riedgrasgeflecht, das die Oberfläche der Bodenmatten bildet, oder Essschalen, Kissen, Ausrollmatrazen oder Arbeitsutensilien, so treten diese im sonst leeren Raum hervor und erfordern gerade deshalb auch eine besonders sorgfältige, alle Sinne ansprechende Durchgestaltung. Das gleiche gilt für die Kleider, die im Raum getragen werden; es ist wohl kein Zufall, dass Menschen in Japan auffallend sensibel sind für die Frage: „Wie erscheine ich im Raum?“. Ein Blick in den modernen japanischen Raum zeigt, dass auch da – gerade auch in billigen Hochhauswohnungen – meistens alle genannten ästhetischen Grundkonzepte von Raum gewahrt sind, allem voran – und deshalb das strenge Schuhverbot – die Nutzung der gesamten Bodenfläche als Lebens- und Tätigkeitsraum. Die wohl einzige, allerdings dramatische Veränderung ist die in den 1970er Jahren erfolgte Einführung von Raumkühlgeräten, die erstmals in der Geschichte des japanischen Raums feste Wände nach außen und feste Raumteilungen im Inneren erforderlich machten.6 „Geschmack“ sei – trotz aller Wandlungen in der Gegenwart – deshalb grundsätzlich in Beziehung gesetzt zu: Durchlässigkeit nach außen, Wahrnehmung des Kleinen vom Gesamtraum her, Unabgeschlossenheit, an der Beobachtung schlichter Gegebenheiten in der Natur geschulte Formgestaltung.7

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Diese Veränderung wirkt sich besonders auf das Raumerleben der Kinder und Jugendlichen aus, die nun in gekühlten (bzw. im Winter vom selben Gerät beheizten) „Kapseln“ spielen und studieren. Die „Hässlichkeit“ einzelner Gebäude darf hier nicht unerwähnt bleiben: Neben Gebäuden für „Wohnen und Leben“ bilden auch solche, die zum Zwecke des Geschäfts mit auffälligsten Formen und grellsten Farben auf sich aufmerksam machen, einen integralen Bestandteil der japanischen Siedlungslandschaft. Daneben hat der Staat mit seinen Schulen und Amtsgebäuden einen Stil schmucklosesten Zweckbauens hervorgebracht, der Maxime folgend: „Billig, aber für alle“. Doch auch in diesen Gebäuden finden sich Spuren des traditionellen Raumverständnisses, etwa bezüglich der Nichtabgeschlossenheit.

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Der soziale Raum Der Raum wirkt auf mich durch die Personen, die in ihm sind: ihre Bewegungen, ihre leibliche Nähe oder Ferne, ob sie für mich Gefahr oder Gewinn bedeuten, oder ob sie mir emotional ermöglichen, Atmung und Puls auf einem angenehmen Wert zu halten. Vieles spricht dafür, dass die „soziale Ästhetik“, die soeben im Zusammenhang mit dem natürlichen Raum angesprochen wurde, in Japan die alles-bestimmende Größe darstellt. Der beschriebene, durch die Bauform gegebene und als Teil der natürlichen Umgebung empfundene häusliche Raum unterstützt, dadurch dass er nicht mehr als einen Rahmen für soziales Geschehen bildet, das Bedürfnis, eben dieses soziale Geschehen spezifisch durchzugestalten.8 Die Gestaltung des sozialen Raums in Japan besitzt aber noch weitere stützende Kräfte. An vorderster Stelle ist dabei eine Gesellschaftsordnung zu nennen, die den Menschen als Element in einem durch die Natur vorgegebenen Mechanismus erst von Leben-Empfangen und dann von Leben-Gewähren versteht.9 Das bedeutet, dass ein sozialer Raum stets restlos in Beziehungen des Empfangens und Gebens zu gliedern ist.

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Neben allen japanischen Einführungen in allgemeine Verhaltensnormen (reigi, reigi sahô, manâ) ist hier an jedes beliebige Handbuch zu Kankonsôsai („Anweisungen für Zeremonien im Zusammenhang mit Erwachsenwerden, Heiraten, Sterben, und bedeutungsvollen Abschnitten im Jahres- und Lebenslauf“) oder zur Vorbereitung auf den Firmeneintritt (shûshoku), besonders auch in Bezug auf die Verhaltensregeln bei der Pflege der Gemeinschaft, hinzuweisen. Vgl. ferner auch: YWCA 1998; Hendry 1987; Morsbach 1994; Taplin 1995; Rupp 2003. Ich verweise hier auf die ungebrochen gültige Schematisierung des „Weltenprinzips“, die man etwa bei Tempeln oder Lebensberatungsstellen in Form von Tafeln einsehen kann und die auch vielen japanischen Management-Konzepten zu Grunde liegt; die „Grundbausteine“ dabei sind die „Komplementarität aller Dinge“ (Yin und Yang) und das (geregelte Fließen von) „Energie“ (ki). Vgl. alle japanischen Materialien zu koyomi (Kalender), alle japanischen Materialien zu eto und jikkan jûnishi (die 10 Kalender- und 12 Tierkreiszeichen); ferner etwa: Nosco 1990 (v.a. zur Rolle des I ching und der Philosophie von qi); Nosco 1997; Kiba 1997; De Bary/Bloom 1999.

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Für diese Gesellschaftsordnung der Neuzeit, von der anzunehmen ist, dass sie im Gefolge des Erlasses zahlreicher Ordnungsverfügungen im 17.Jahrhundert und anschließend bis zum Ende der Feudalzeit 1867 alle Lebensbereiche durchdrang (vgl. z.B. Masao 1974; De Bary1981; Kracht 1986, 2000; Totman 1993; Jansen 2008), war das Prinzip der Komplementarität, d.h. der eindeutigen Regelung, wer, wann, wie, was, empfängt bzw. gewährt, „heilig“; ohne eine solche Regelung würde – so der stets wiederholte Grundsatz – die entstehende Unordnung die Gemeinschaft funktionsuntüchtig machen. Diese im Naturverständnis wurzelnde Sichtweise des Menschen als Element in einem sozial durchgestalteten Raum bildete aber auch nach der Feudalzeit die Orientierungs- und Legitimationsgröße für die soziale Ordnung, einerseits mangels Erfahrung mit einer anderen Ordnungsvorstellung, andererseits aber auch, weil sie den politischen und wirtschaftlichen Interessen Japans im 20. Jahrhundert diente und als tragende Säule für eine gewinn-erwirtschaftende und gewinn-verteilende Konsum- und Leistungsgesellschaft mit ihrer komplementären Grundfigur von Kunde und Verkäufer verstanden wurde.10 Der soziale Raum wird statisch durch Seins- und dynamisch durch Handlungsformen gestaltet, bei denen kein kleinstes Detail unerheblich sein kann, weil es als ordnungs- und damit existenzsichernd gesehen wird. Auch die Sprache wird auf sehr bewusste Weise als Element der Handlungsebene verstanden, deren Funktion in der Signalisierung von Ordnung im sozialen Raum liegt – lexikalisch, in der Modifizierung von Wort- und Satzendungen, aber auch emphatisch, phonologisch, thematisch, und in Bezug auf die Aussagegliederung.11 10 Vgl. dazu alle japanischen Materialien zum Training von Verhalten am Arbeitsplatz und/oder in der Öffentlichkeit; zudem im Prinzip alle Schriften von Konosuke Matsushita; oder alle japanischen Schulbücher für das Fach Shakai (Sozialkunde). 11 Eine zentrale Rolle spielt dabei die kompetente Anwendung von keigo, d.h. der regelhaften Nutzung der Sprache, um präzise die soziale Beziehung (zum Beispiel relatives Alter, zu meiner Gruppe oder nicht zu meiner Gruppe gehörend bzw. in welcher Weise und über welche Mittelspersonen mit mir vernetzt u.a.) des Sprechers zum Angesprochenen und zum Besprochenen zu markieren. Vgl. dazu alle japanischen Handbücher für verbales Verhalten, ferner etwa: Lewin 1969; Bachnik/Quinn 1994; Maynard 1998; Donahue 1998.

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Historisch gesehen dürften die als dichtes Netz von kulturellen Zentren über das Land verteilten jôkamachi (Burgstädte mit einem lokalen Feudalherrn) für die relative Einheitlichkeit der Vorstellung, was einen gut funktionierenden sozialen Raum ausmacht, mitverantwortlich sein (vgl. z.B.: Gutschow 1976; McClain 1982; Sorensen 2004).12 Weil dabei Ordnung – dem angenommenen Prinzip des Universums entsprechend – der Komplementarität aller Dinge bedarf, richtet sich in einem solchen Raum ästhetische Gestaltung am Grundsatz aus, eben diese Komplementarität zu betonen: nehmende und gebende Haltung, empfangende und gewährende Bewegung, oder auch Schälchen, welche Speisen enthalten, die zu den Tagen im Jahreskreislauf passende Farben, Konsistenzen und Geschmacksrichtungen komplementär zueinander in Beziehung setzen. Komplementarität als Voraussetzung für einen funktionierenden sozialen Raum fördert ein Denken, welches abstrakten Prinzipien – d.h. hier Vorstellungen von Lebensgestaltung, die sich nicht unmittelbar auf etwas Konkret-Vorgegebenes antwortend bezieht – geringen Stellenwert beimisst und stattdessen die positionsspezifische Gestaltung des Menschen im sozialen Raum hervorhebt. Dies zeigt sich etwa in der Betonung und ästhetischen (auch sprach-ästhetischen) Durchgestaltung von Eigenschaften wie weiblich – männlich, jünger – älter, Gast – Gastgeber, oder unerfahrenere Person – erfahrenere Person, gewährt aber auch etwa der Ausprägung alters- oder berufsspezifischer Ästhetiken13, und selbst der skurriler Personengruppen, einen oft sehr sichtbaren Ort im Gefüge des sozialen Raums. So ist es wohl kein Zufall, dass gerade das geordnete, oft rigide wirkende Japan – wegen seiner Tendenz zur Spezifizierung und gerade nicht zur Generalisierung – Rahmenstrukturen gewährleistet, die günstig gewesen sind für viele der abenteuerlichsten und unerwartetsten Entwick-

12 Sehr viele Burgstädte sind heute noch als solche erkennbar; vgl. deren jeweilige Selbstdarstellung im Internet. Allerdings gilt zu beachten, dass dagegen nur recht wenige historische Untersuchungen zu ländlichen Siedlungen und deren internen Strukturen zugänglich sind. 13 Es gibt dazu im Japanischen zahlreiche spezifische Anleitungsbücher für Personen, die eine Laufbahn in einem bestimmten Gewerbe anstreben. Ich habe mich mit dem Thema näher auseinandergesetzt etwa in: Ackermann 2004.

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lungen der Gegenwart, sei es im Design, in der Jugendkultur oder beim Lifestyle. Solche Entwicklungen sind m.E. nur denkbar vor dem Hintergrund einer stets präsenten Frage, wie sich ein Individuum in Bezug zu seiner Gruppe, und diese in Bezug zur Außenwelt, spezifisch gestalten kann oder muss. Anders gesagt: Die Allgemeingültigkeit der positionsspezifischen Markierung des Menschen im sozialen Raum fördert die intensive Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich in detailreicher, äußerlich durchgestalteter Individualität, wie sie bei einem kontext-unabhängigeren Selbstbild eher irrelevant erscheinen würde.14 Zudem erfordert der soziale Raum, da er sich primär auf konkrete Erscheinungs- und Handlungsformen stützt, die Identifikation des Menschen mit seiner Körperlichkeit – seinen Gliedern, seinen Bewegungen und seiner Kleidung: „Ich bin, so wie ich mich als körperliches Wesen in den sozialen Raum einfüge.“ „Geschmack“ in Japan sei also auch definiert als von Menschen im Raum in ihrer spezifischen Körperlichkeit in Erscheinen und Handeln her bestimmt. Diese Körperlichkeit kann in hohem Masse Lust am Spielerischen manifestieren, solange sie sich funktional durch ihre Spezifik auf den sozialen Raum antwortend legitimiert.

Der transzendente Raum Der Raum wirkt auf mich durch seine Bezüge zu Transzendentem: Verschafft er mir, vor dem Hintergrund der universellen Furcht vor Tod, Verlust, Versagen oder Krankheit, die Zeichen, die ich für mein Wohlbefinden brauche? Schon ein kurzer Aufenthalt in einer traditionellen alten oder ländlichen Siedlung zwingt zur Erkenntnis, dass Raum im Japanischen wohl gesamthaft als sakraler Raum bezeichnet werden darf. Die Vielfalt und Allgegenwart von sichtbaren Bezugspunkten zu Kräften, denen man dankt und die man zugleich um etwas bittet, 14 Hier sei nur auf die ungeheuer große Zahl von Zeitschriften zur Selbstgestaltung (Mode, Frisur, Make-up, Nagelpflege, Accessoires u.v.a.m.) hingewiesen; bei der Frage nach dem Vorgehen bei der Wahl eines bestimmten Aussehens antworten viele Personen, das Vorbild dafür sei einer Zeitschrift entnommen.

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fällt auf. Umgekehrt ist in Japan die Integration von „nichtsakralen“ Dingen – etwa Spielplätzen, Autos oder Reklametafeln für Waschmaschinen – in Räumen auffallend, die wir gewohnheitsmäßig als sakral einstufen würden, also etwa in Schrein- und Tempelgärten. Wie wirkt sich das auf die Bildung von „Geschmack“ aus? Bei dieser Frage lohnt sich wieder die Überlegung, wie die ästhetische Gestaltung des Umfelds beschaffen ist, in dem ein Mensch im Lauf seines Erwachsenwerdens das Grundgefühl von Vertrautheit entwickelt, welches Wohlbefinden schenkt und damit geschmacksprägend wirken kann. In Japan, so sei hier behauptet, verwischt das Umfeld Grenzen zwischen sakral und nicht sakral und führt so zu einer hohen Bereitschaft, den sinnlichen impact der Außenwelt ungefiltert an sich herankommen zu lassen. Gleichzeitig schafft dieses Umfeld auch eine Bereitschaft, in allen Bereichen des Lebens Schnittstellen mit dem Transzendenten zu erkennen; besonders hervorgehobene – aber eben nicht die einzigen – Schnittstellen sind dabei die vielen Schreine und Tempel, speziell gekennzeichnete Steine, markante Bäume oder Berge, aber auch Gräber, sowie prachtvolle Feste (matsuri),15 auf deren Geschichte und Funktionen hier nicht näher eingegangen werden kann.16 Die moderne japanische Großstadt lässt eine Sakralität des Raums in der beschriebenen Art sicher nicht mehr erkennen. Dies dürfte aber mit Blick auf die Gestaltung von Geschmack nicht das Entscheidende sein. Für entscheidend halte ich das unveränderte 15 Die einfachste Übersicht bieten die Stichwörter „Japanese festivals“, matsuri, kagura, bon und bon-odori, ferner auch ennichi. 16 Japan versteht sich selbst gerne als Kultur, die auf animistischen Grundorientierungen beruht und in deren Mittelpunkt sich unzählige Gottheiten befinden; es bezeichnet dies als „shintoistisch“. Eine Diskussion zum Shintô würde an dieser Stelle viel zu weit führen, da hier auch die bewusste Überbetonung sogenannter „autochtoner Gottheiten“ im Rahmen der Nationenbildung im 19.Jahrhundert mitschwingt. Beachtenswert ist auf jeden Fall, dass autochtone Gottheiten bzw. deren Aufenthaltsorte und Schreine sich in großer Zahl auch innerhalb des Geländes buddhistischer Tempel finden (gegenüber welchen sich der national gefärbte Shintô gerade abzuheben sucht); bloß in den politischen Machtzentren Japans werden autochtone Gottheiten in offensichtlich systematischer Weise separat für sich verehrt. Vgl. etwa: Hardacre 1989; Breen/Teeuwen 2000; Antoni 2001; Lokowandt 2001.

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Bewusstsein der Möglichkeit, dass alles und jedes – also auch eine Pokemon-Figur, ein Handy-Telephon, ein Stein oder ein Auto, ebenso wie eine Tempelstatue – Gegenstand von Dankbarkeit (kansha) und Bitte (o-negai) sein darf und die Kraft in sich enthalten kann, Gesundheit und Wohlbefinden zu vermitteln. Mit anderen Worten: Alles kann – in japanischer Perspektive – Gegenstand der beiden Grundelemente des Transzendenzbezugs sein, nämlich „Dankbarkeit“ und „Bitte“, unabhängig davon, ob es von Menschenhand geschaffen wurde oder nicht (vgl. Reader 1991, 1998). Bei der Wahrnehmung des breiten ‚Dienstleistungsangebots‘ der Institutionen, die für die Vermittlung transzendenter Wirkungskräfte da sind, darf vor allem deren wichtige – historisch fundierte – Funktion nicht außer Acht gelassen werden, über das Grundgesetz allen Lebens zu wachen, nämlich die ordnungsgemäße Paarung des Weiblichen mit dem Männlichen, und damit die Herstellung des Bezugs zwischen den menschlichen und den kosmischen Kräften. Dies beinhaltet zum einen den Grundsatz, dass der Mensch seine geschlechtsspezifischen Merkmale in ästhetischer Durchgestaltung, etwa in Musik, Tanz oder Pose, kundtut, zum andern dass konkrete Darstellungen der Geschlechtsorgane als Bilder, Skulpturen oder gekennzeichnete Objekte in der Natur zum Gegenstand von Dankbarkeit und Bitte gemacht werden.17 Auch die lange Tradition, Freudenviertel als eine Art „sakralen Raum“ (zur Regenerierung der Kräfte) zu betrachten, besaß auf die historisch gewachsenen Formen des Geschmacks entscheidenden Einfluss (vgl. z.B. Gerstle 1989; Downer 2002), und in heutigen Großstädten ist zumindest noch die Funktion etwa von Tempeln und Schreinen gut sichtbar, Liebes- und Heiratswünsche – Fortpflanzungswünsche – der „Transzendenz“ zu übermitteln.18 Nicht nur Leben und Wachstum, auch Krankheit und Tod sind Dimensionen, die nach Objekten und Handlungen rufen, durch die das Individuum einen Bezug zur Transzendenz herzustellen vermag. Hierbei sei nicht nur an die zahlreichen Institutionen er17 Heute teilweise der Öffentlichkeit verborgen; als bekannte sichtbare Beispiele unter vielen seien genannt: Der Komaki Tagata Schrein (dem männlichen Symbol gewidmet), der Inuyama Ôagata Schrein (dem weiblichen Symbol gewidmet), der Asuka Nimasu Schrein, der Uwajima Taga Schrein. 18 Vgl. etwa Stichworte wie „love charms“, enmusubi, omamori, Aizen Myoo.

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innert, die Schutz vor bzw. Genesung von Krankheit versprechen und dafür eine Vielzahl von sinnlich ansprechenden, betrachtbaren, riechbaren, hörbaren, tastbaren, schmeckbaren und fühlbaren Gegenständen bereitstellen, sondern auch an jene zentrale Stelle im Haus, an der Kommunikation mit den Verstorbenen möglich ist, nämlich den Hausaltar.19 Eine eingehende Befragung japanischer Jugendlicher zeigte auf, dass die meisten von ihnen bei „Transzendenz“ als erstes an den Hausaltar denken, d.h. die unmittelbare Schnittstelle zwischen den Lebenden und den Toten des Hauses (vgl. Ackermann 2006). Diese Allgegenwart der Verstorbenen, die auch in den oft nicht nach außen abgegrenzten Grabanlagen sichtbar ist, unterstützt wiederum die Annahme, dass das Japanische alle denkbaren Phänomene – auch solche, die mit dem Tod verbunden sind – in seine Alltagsrealität und damit in sinnliche Kontexterfahrung einbaut, allerdings, so möchte ich behaupten, nicht in Befolgung ästhetischer Regeln, sondern im Rahmen der Frage, inwieweit sie funktional notwendig und nützlich sind. Es versteht sich, dass Handlungen und Gegenstände, die den Menschen mit dem transzendenten Raum verbinden und dadurch positive Wertigkeit besitzen, gerade indem sie Wachstum, Vitalität, Gesundheit und dem Weiterleben dienen, sehr lebenslustige und äußerst spielerische Züge annehmen können. In der Tat ist die Aufforderung, positive Lebensgefühle zu pflegen und nach außen deutlich zu manifestieren, allgegenwärtig.20 Sie hat – wie man beim Verstoß gegen diese Regel herausfinden kann – eine Wurzel in der Angst vor der Ausstrahlkraft negativer Gefühle, die auf das Ich zurückwirken und es krank machen können. Die von buddhistischer Seite in den Alltagsdiskurs eingebrachten Vorstellungen von Karma und von Transmigration und Reinkarnation21 führen überdies unschwer zur Vorstellung, dass 19 Eine besonders sorgfältige Darstellung des Bezugs zu den Verstorbenen einschließlich der Rolle des Altars findet sich bei: Caillet 1994; vgl. auch Caillet 2002. 20 In allen Verhaltensbüchern und -anweisungen ist akarui (hell, heiter) ein Schlüsselbegriff. 21 Zu Tod und „was danach kommt“ vgl. etwa: Kretschmer 1999; Nakamaki 2003; Stone 2008; ferner beliebige Materialien zu Kankonsôsai („Anweisungen für Zeremonien im Zusammenhang mit Erwachsenwerden, Heiraten, Sterben, und bedeutungsvollen Abschnitten im Jahres- und Lebenslauf“); außerdem Stichworte zu „Cycle of Suf-

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eine von der Vorsehung irgendwo hinbeorderte „Seele“ eine Kraft bildet, die mich zu etwas führen will.22 Die damit verbundene Annahme, dass eine positive Kraft in allem enthalten sein kann, verstärkt nur die „Sakralisierung“ des Raumes, indem alles und jedes – selbst von Menschenhand Geschaffenes – positiv wirkende, dem Menschen helfende Energie zu besitzen imstande ist. Natürlich finden die in einem solchen Kontext entwickelten Formen von Geschmack ihren Platz im Arsenal von aktiven, schöpferischen Gestaltungsideen, oder fördern mindestens eine hohe Bereitschaft, solche passiv zu akzeptieren.

Der historische Raum Der Raum wirkt auf mich durch Bezüge zur Vergangenheit: Er ist geprägt vom Geschmack – von den Bestrebungen nach Wohlbefinden – früherer Generationen, und er bildet einen Spiegel deren selektiver Prozesse bei diesen Bestrebungen. Präferenzmuster unterliegen den Mechanismen von sanction and reward – Ablehnung und Anerkennung. Das heißt, sie werden individuell erworben und konkret sichtbar, hörbar, riechbar, tastbar oder schmeckbar in die Lebensgestaltung eingebracht in bewusster oder unbewusster Auseinandersetzung mit der Frage, wie ich dadurch nach außen ausstrahle. „Geschmack“ kann sich aber auch nur bilden, indem das „Außen“ bestimmte sinnlich erfahrbare Formen liefert, die mitbestimmen, was zum Bestand einer vertrauten, eben „meiner“ Umgebung gehört – egal, ob ich sie akzeptiere oder nicht. Es geht also darum, hier auf den Raum zu schauen, in dem ein doch nicht beliebiges, sondern durch historische Prozesse der Ablehnung bereinigtes und der Anerkennung legitimiertes Angebot an Mustern zur Verfügung gestellt worden ist, mit denen Menschen ihre Umwelt sinnlich gestalten, um sie dann rückwirkend wiederum sinnlich zu erfahren. Die historischen Prozesse der Anerkennung und positiven Bewertung von menschlicher Identität weisen in Japan eine spezifering“, „Reincarnation“, en („Karma“), tensei rinne („Wiedergeburt und Ewiger Kreislauf“), hotoke („Buddha(werdung)“), kuyô („Darbringungen an Verstorbene“). 22 Das in der Umgangssprache hauptsächlich verwendete Stichwort ist en („Karma“).

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fische Konstante auf, die etwa bei der Beobachtung von Lernprozessen besonders ins Auge sticht. Lernprozesse werden auffallend deutlich mit der Forderung verbunden, „mit dem ganzen Körper zu lernen“ (karada de oboeru);23 die praktische Umsetzung dieser Maxime lässt sich beim stark „bewegungsfluss-orientierten“ Körpereinsatz bei der mütterlichen Unterweisung von Kleinkindern, in der Grundschulausbildung, in Klubaktivitäten, ebenso wie bei der firmeninternen Ausbildung beobachten, und besonders natürlich auch beim Lernen von Handwerk, Speisezubereitung oder traditionell gepflegten Fertigkeiten wie etwa Pinselschreiben. Lernen bedeutet demnach die Internalisierung von Bewegungen, indem man sich ganzheitlich-körperlich an einen gegebenen Raum anpasst und dort übt, seine eigene Bewegungsenergie adäquat in den – der Auffassung nach – allem Lebendigen innewohnenden Energiefluss (ki) einzubringen (vgl. z.B. Yasuo 1993; Tohei 2001).24 Wohlbefinden – und die Identifikation mit einem Geschmack, der dieses Wohlbefinden gewährleistet – fußt demnach, so sei hier behauptet, in einer historisch legitimierten Lernstrategie, die die Wertigkeit einer sich anpassenden Bewegung an oberste Stelle setzt. Umgekehrt werden Formen des Geschmacks als „todbringend“ sanktioniert, die einem Bewegungsfluss keinen Raum lassen, also zum Beispiel Dinge, die zu dicht, zu eng, oder an Rändern und Grenzen zu wenig offen erscheinen. Der Ausdruck shinde iru („es ist tot, weist keine Bewegung auf, atmet nicht“) ist denn auch eine in Japan häufig verwendete Kritik an Gegenständen oder Personen, die einem missfallen. Das Essen ist für die genannten Charakteristika von Geschmack ein gutes Beispiel. Ausgangspunkt für Essen bildet die Orientierung an der Notwendigkeit, sich alle verschiedenen Geschmacks-, Geruchs-, Konsistenz- oder Farbelemente in aufeinander abgestimmten Mengen einzuverleiben, um sich insofern wohlzufühlen, als man so seinen Körper – ganz wörtlich – 23 Persönliche Erfahrung bei Lernprozessen im Bereich Kalligraphie oder Musik; die Aussage gilt sinngemäß aber auch für die zahlreichen Lernprozesse, die rhythmisch, tänzerisch und/oder zu einer Melodie ablaufen. Sehr auffallend sind japanische Kochbücher, in denen fast immer der Bewegungsfluss der Hand mit abgebildet ist. 24 Hier lassen sich durchaus auch die zahlreichen Bücher zu japanischen „Kampfkünsten“ (budô) anführen, etwa jûdô, aikidô, kendô, karate(dô) u.a.

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„nährt“.25 Die Essenszubereitung kann aber immer nur für den Augenblick mit der notwendigen Perfektion ausgeführt werden; am nächsten Tag erfordert die Anpassung an eine wiederum nächste Konstellation im natürlichen und sozialen Raum eine neue Struktur des Essens. Geschmack kann in einem derartigen Rahmen der sich ständig anpassenden Bewegung der Vorstellung von systematischer Rationalisierung – von Vereinfachung durch aufwandsparende Handlungskonzepte – keinen positiven Wert verleihen, weil sie im Widerspruch stehen würde zum „Gesetz der Welt“, also zur Akzeptanz des Wandels. Ich gehe davon aus, dass der häufig unterschwellig spürbare Widerstand, von einer Idee des Abgeschlossen-Fertigen aus zu denken, auf diesem Wertesystem beruht. Nicht nur Essen, sondern etwa auch Baden (vgl. Hendry 1986; Smith 2001)26, Schreiben, oder irgendeine berufliche Tätigkeit wie Verkaufen oder Holzbearbeiten, sind gleichermaßen als „sakrale“, und das soll hier heißen: die leibliche Existenz gewährleistende Handlung ästhetisch durchgeformt. Der Hintergrund, vor dem diese Formung geschieht, ist die historisch an die Spitze der Wertehierarchie gesetzte Annahme, dass Form stets lebensnährend sein, also die Energien der Anpassung an die Fließformen des Universums spiegeln muss.27 Demnach muss Form auch die Spannung zwischen Perfektion und Auflösung erkennen lassen – 25 Die Sorgfalt, mit der selbst in einfachen Familien auf die Kombination einer großen Vielfalt an verschiedenen Speisesorten geachtet, und die Menge an kleinen und kleinsten Schälchen, die jeder einzelnen Speise – oft nur einige Bohnen oder ein kleines Stück Gemüse – „zur Verfügung gestellt“ wird, ist ein beeindruckender Aspekt des Alltags. Zum Essen und den dafür verwendeten Schalen vgl. etwa: Leach/Yanagi/Hamada 1990; Richie 1992, 1993; Kijima/ Driussi 2001; Tsuchiwa/Yamamoto 2003; Kosaki/Wagner/von Holzen 2004; Fujii 2005. Vgl. auch Stichworte wie urushi („Lackwaren“), setomono („Porzellan, Keramik, Töpferware“), yakimono („Keramik“). 26 Siehe auch die Stichwörter „Hot Springs“, onsen. 27 Ich verweise hier vor allem auf „Axiome“ medizinischer Prägung, die traditionellerweise dem „Nähren“ und „Durchfließen“ zentralen Stellenwert verleihen. Vgl. auch: Lock 1984; Holland/Lanphear 2000; Asuka/Cauvin/Houdart/Gautier 2003. Im Alltag gut sichtbar sind Handlungen, die als „Entkrampfung zwecks Freilegen der Fließbahnen“ gesehen werden (etwa „Massage“, shiatsu, kräftiges Bewegen sowie Ziehen und „Entzerren“ der Glieder u.a.).

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ERFAHRUNGEN DES ANDEREN

nicht auf Grund einer ästhetischen Regel, sondern auf Grund einer pragmatischen, weil die Forderung, gesundheitserhaltend zu sein, zugleich zur Perfektion des Augenblicks als auch zur Anpassung an die Erfordernisse des nächsten Augenblicks zwingt.28 Entsprechend dürfte Essen der Bereich sein, in dem Geschmack in Japan – in doppeltem Sinn – auf ganz besonders charakteristische Weise fassbar ist. Als Zusatzgedanke sei hier angefügt, dass sich im Bereich des Essens – auch stellvertretend für andere Bereiche des japanischen Alltagslebens – deutlich zeigt, wie weit in Japan Geschmack heute noch Wertigkeiten aus dem historischen Raum spiegelt, indem die oben geschilderten Grundsätze auch auf die Zubereitungs- und Verzehrweise der riesigen Fülle ausländischer Speisen auf dominante Weise Einfluss haben (vgl. Andoh 2005; Lawson 2005; De Mente 2007; Cwiertka 2007). Zusammenfassend betrachtet stellt der historische Raum also die Koordinaten zur Verfügung, an denen sich positive und negative Bewertungen bestimmter Grundmuster des Umgangs mit den fünf Sinnen orientieren. Diese Bewertungen sind – vielleicht entscheidend – geprägt von den „Dienstleistungen“, welche die Institutionen (zum Beispiel buddhistische Tempel) angeboten haben, die eine Vermittlungsfunktion zwischen Mensch und einem transzendenten Sinnhorizont ausüben. Diese „Dienstleistungen“, die ihrerseits wiederum immer in einem politisch gewollten Umfeld eingebettet sind (vgl. z.B. Hur 2007; Paramore 2009), greifen im Prinzip auf Traditionen von Lehren und Übungen zur Bewahrung und Nährung von Lebensenergie (ki) zurück.

Gibt es eine erkennbare Richtung b e i S e l e k t i o n s p r o z e s s e n vo n S t i m u l i ? Lässt sich so etwas wie eine Konstante finden, die das, was auf die sinnliche Wahrnehmung einwirkt, innerhalb bestimmter Bahnen 28 Vgl. die oft riesengroßen Kompendien namens saijiki („Sammlung von saisonalen Begriffen“), in denen für jeden Tag und jede Periode des Kalenders „das Passende“ vezeichnet ist (in erster Linie, um die korrekten saisonalen Motive für haiku-Gedichte zur Verfügung zu haben, in erweiterem Sinn aber auch als Überblick über das jeweils korrekt Passende bei Essen, Kleidung, Dekoration, Farben, Grußformeln u.v.a.m.).

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zu halten sucht? Kann man von einer Richtung sprechen, in denen die Selektionsprozesse von als angenehm empfundenen Stimuli verlaufen und die wir als „Geschmack“ bezeichnen könnten? Für uns mag eine Darstellung wie im Vorangehenden von Wandlung und Fließen, von Perfektion des vergänglichen Augenblicks oder von der Komplexität der Ausbalancierung des je Spezifischen in einem Ganzen – und dies auf allen Sinnesebenen – leicht zu einer Mystifizierung des Japanischen führen. Vielleicht verweist diese Tendenz zur Mystifizierung aber gerade darauf, dass etwas bei uns so nicht vorhanden ist. Der historische Raum in Japan zeigt uns – und damit sei der Bogen zum Anfang geschlossen, wo die Bedeutung der Schlichtheit hervorgehoben wurde, mit der der Mensch auf den natürlichen Raum antwortet – dass es sich hier in der alltäglichen Lebensrealität um nichts Mystifizierenswertes handelt. So pragmatisch orientiert die Rezeption des natürlichen, sozialen und transzendenten Raums ist, so pragmatisch wird auch die Tatsache rezipiert, dass man sich im Leben körperlich wohlfühlen muss, dass dies den Einbezug aller Sinne gleichermaßen erfordert und dass diese Sinne gar nicht anders können, als im Wandel der Kontexte immer neue Bedürfnisse anzumelden. Wohlbefinden heißt demnach nicht, von Anstrengung entlastet zu sein; es heißt, in nie endender körperlicher Bemühung um gestalterische Adaption – sei es bei der Aneignung einer Körperbewegung, beim Gedichtschreiben, oder bei der Essenszubereitung – sich um die Aufrechterhaltung von Lebensenergie zu kümmern. Wohlbefinden heißt also Genuss und Anstrengung zugleich, oder anders: Wohlbefinden heißt, Lebensenergie spüren durch immer neue Ausbalancierungen je spezifischer, sich komplementär zueinander verhaltender Größen in einem dafür vorgesehenen, offenen Raum. Die Kräfte im historischen Raum in Japan, welche Mechanismen von sanction und reward gestaltet haben, förderten demnach die Herstellung von Produkten und Formen und verliehen diesen eine hohe Wertigkeit, die einen Geschmack verraten, der an der ganz lapidaren Überlegung geschult worden ist, wie Lebensenergie generiert, gewahrt, „genährt“, und individuell leiblich ebenso wie sozial erfahren werden kann. Dieser Geschmack fehlt uns – so die hier aufgestellte These – auf der Ebene der dominanten Wertigkeit, mit der er in Japan alle Räume durchdrungen hat. 205

ERFAHRUNGEN DES ANDEREN

Wie werden Selektionsprozesse und Präferenzmuster real gehandhabt? Der Blick dieses Aufsatzes war auf den Input gerichtet und hat danach gefragt, welche Stimuli aus vier verschiedenen Konzepten von „Raum“ bestimmte Selektionsprozesse und Präferenzmuster mit einiger Wahrscheinlichkeit gefördert haben. Im Sinne einer weiteren Vertiefung der oben dargestellten Sachverhalte sei nun zum Schluss auch die konkrete Einzelperson in das Bild einbezogen. Ein Diskussionsseminar mit Studenten aus Japan (2009) hatte sich das Ziel gesetzt, herauszufinden, wie der „Geschmack“ der einzelnen Teilnehmer beschaffen sei. Auch wenn die Diskussion nur in sehr kleinem Rahmen mit 15 Personen stattfand, halte ich die Ergebnisse wegen ihrer auffallend deutlichen Stoßrichtung bei Prioritätensetzungen und einer als durchaus überraschend zu bezeichnenden thematischen Abfolgestruktur für interessant genug, um sie hier zu präsentieren. Wie sollte man nun aber vorgehen, um eine Aussage zu „Geschmack“ zu gewinnen? Mit unserem Wort „Geschmack“ assoziierbare japanische Begriffe legen sich stark auf positive Eigenschaften fest und sprechen nicht davon, dass der Mensch als Grundcharakteristikum einen „Geschmack“ hat.29 Der allgemein

29 Japanische Begriffe, die spezifische Aspekte von „Geschmack“ ansprechen, sind: suki („(das) habe ich gern“); konomi („das was ich so weit wie möglich anderen Dingen vorziehe“); shikô („mein Lieblings-…“); akanukete iru („städtisch elegant, verfeinert, im Stil hauptstädtisch sein, ein gewisses Etwas an sich haben“); sensu (in jüngerer Zeit sehr häufig verwendet; = englisch „sense“, d.h. „einen Sinn (Geschmackssinn) für etwas haben, Gespür haben“); omomuki („Formvollendetheit und Eleganz, etwas Stilvolles und Feines“); yûga („durch seine Eleganz und Anmut ein angenehmes, ruhiges Gefühl vermittelnd“); kôshô („besonders hochstehend, edel, vornehm“); iki („anziehend, reizvoll, eine gewisse (männliche oder weibliche) Erotik ausstrahlend“); kakkôii („gut, „toll geformte äußere Erscheinung; jemand, der sich der Blicke anderer bewusst ist und entsprechend leicht provokativ-elegant daherkommt“); o-share („schön herausgeputzt, recht auffällig aber dennoch elegant, modisch-verfeinert sein“). Negative Konnotation besitzen die Abwesenheit bzw. die Deplaziertheit der genannten Eigenschaften, sowie Begriffe wie: shumi ga warui („ästhetisch nicht ansprechend“), oder das in der

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gefasste, nicht ausdrücklich positiv oder negativ wertende Begriff „Geschmack“ selbst lässt sich nicht direkt ins Japanische übersetzen. Ich wählte für das Gespräch schließlich zwei Fragen, die eher indirekt über eine tieferliegende, den Alltag in breiterer Form beeinflussende Geschmacksprägung Auskunft geben sollten, nämlich: 1. Was vermissen Sie eigentlich „atmosphärisch“ hier in Deutschland? und 2. Wenn schon ein positiv besetzter Begriff von „Geschmack“ verwendet werden soll, dann derjenige der Feinheit, Vornehmheit und ruhigen Würde (hin ga ii); was ist für Sie also hin ga ii? Beide Frageblöcke zeitigten bezeichnenderweise Antworten,30 die die Körperlichkeit sehr stark in den Mittelpunkt stellten, dem auf der Zeitachse Wahrgenommenen – also dem Sich-Wandelnden und Fließenden – eine hohe Bedeutung zumaßen, den Stellenwert des Optischen – besonders dessen, was bewegungslos „da“ ist – erstaunlich gering erscheinen ließen, und die Komplementarität durchaus hervorhoben, d.h. einer Ästhetik das Wort redeten, die nicht „ist“, sondern auf etwas re-agiert; eine Ästhetik, die nicht sagt, „etwas ist schön“, sondern „ich fühle mich wohl“. Dass die Antworten idealisierend sind, braucht hier nicht betont zu werden; die Struktur der Idealisierungen herauszufinden war ja geradezu eine Absicht der Frage. Was vermissen Studenten aus Japan hier in Deutschland? Antwortrunde 1: Akustisches: Wir vermissen Karaoke im kleinen, intimen Kreis, wo man sich wohl fühlt;31 wir vermissen, dass man vielen Dingen eine Melodie gibt (hyôshi wo tsukeru), Rhythmik und Melodien benutzt, um sich Dinge zu merken; Verkäufer nutzen in Japan Melodien und Ausrufe, Lastwagen können Außenlautsprecher haben, die sagen, dass sie jetzt nach rechts bzw. links abbiegen. heutigen Umgangssprache immer häufigere dasai („auf geradezu peinliche Weise ästhetisch ‚daneben‘ sein“). 30 Die Antworten wurden derart gewonnen, dass jede(r) pro Antwortrunde einmal um einen Beitrag gebeten wurde; einige bestätigten dabei das Gesagte, ohne eine eigene Meinung zu äußern. 31 Diese Antwort könnte stellvertretend sein für die atmosphärische Intimität und Körpernähe, die für Kontexte der Entspannung, etwa nach der Arbeit oder bei einem Ausflug, charakteristisch ist.

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ERFAHRUNGEN DES ANDEREN

Antwortrunde 2: Taktiles: Es fehlen uns die tatami-Matten (mit Riedgras überzogene Bodenmatten), auf denen man direkt den Boden unter dem Körper spüren kann (jibeta), wo man sich hinlegen und die Beine weit von sich strecken kann. Antwortrunde 3: Olfaktorisches: In Europa tut die Nase weh; es riecht nach Parfum, oder Farbe. Gerüche in Japan sind Regen, tatami, Erde, Holz; das macht ruhig.32 Antwortrunde 4: Wasser: Es fehlt uns das japanische Bad; sich ins dampfend-heiße Wasser setzen zu können. Antwortrunde 5: Essen: Gemüse – es gibt in Europa keine Vielfalt von gutem Gemüse;33 die vielen kleinen Nasch-Süßigkeiten, matcha-Süssigkeiten, senbei („crackers“), surume („getrockneter Tintenfisch“) fehlen auch. Antwortrunde 6: Es fehlen uns die Landschaft, die Berge ringsum, die Glühwürmchen, das Meeresrauschen, die klare Struktur der 4 Jahreszeiten, der Duft der kinmokusei-(Duftoliven-)Blüten. Antwortrunde 7: Es fehlt uns, dass alle Leute um einen herum Japaner sind. Antwortrunde 8: Licht: Es fehlen uns die grossen japanischen Fenster. In Europa sind die Fenster klein; in Japan kann man alle Fenster öffnen. Es gibt keine Wände (kabe), man ist nicht eingesperrt. In Europa bleibt die Luft im Zimmer stehen. Antwortrunde 9: Es fehlen uns – wie schon gesagt – die tatamiMatten: Sie riechen gut, sie machen ein ruhiges Gefühl, man kann sich auf ihnen entspannen, man kann seine futon (Schlafmatraze) darauf legen. Antwortrunde 10: Die Toiletten kosten in Europa, das ist schrecklich. In Japan offeriert man eine Toilette (tsukatte kudasai!). Japanische Toiletten sind warm und sie geben oft Vogelgezwitscherlaute von sich, um anderes zu übertönen.

32 Interessant bei dieser Antwort ist die Tatsache, dass es im realen Japan wegen der hohen Luftfeuchtigkeit häufig nach Moder und Schimmel riecht. 33 Mit Sicherheit verweist diese Antwort auf die sehr aufwendige Zubereitung einer Fülle von verschiedenen Gemüsesorten, welche als Repräsentation des jeweiligen Kalenderzeitpunkts wahrgenommen und je individuell für sich in kleinen Schälchen aufgetischt werden.

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Was strahlt für Studenten aus Japan Feinheit, Vornehmheit und ruhige Würde aus? Antwortrunde 1: Die Eigenschaften shitoyaka („anmutig, bescheiden, sittsam“); enryo („Zurückhaltung, Rücksicht“); urusakunai („nicht laut, belästigend sein“); iwanai koto („Dinge nicht sagen“). Antwortrunde 2: Die Eigenschaften ugoki ga nameraka („die Bewegungen sind glatt“); sumuuzu ni ugoku („sich fließend bewegen“); gatagata shinai koto („keinen Lärm verursachend, der durch das Aufeinandertreffen zweier Gegenstände entsteht“). Antwortrunde 3: Verhalten wie amari koe ga ôkikunai („eher leise sprechen“); kotobazukai ga kirei („eine schöne Sprechweise“); die Schuhe am Eingang elegant ausziehen und umdrehen (damit sie wieder zur Eingangstür schauen). Antwortrunde 4: Wie schon gesagt: die Eigenschaft shitoyaka („anmutig, bescheiden, sittsam“); ferner o-gyôgi ga ii („sich anständig betragen“). Antwortrunde 5: bunmeika sarete iru („zivilisiert sein“); mehr sein und mehr haben, als was es minimal zum Leben braucht; „man könnte theoretisch mit den Schuhen das Haus betreten, aber ‚zivilisiert‘ sein heißt, dass man das nicht tut“. Antwortrunde 6: kotobazukai („die Wahl des sprachlichen Ausdrucks“); desu – masu (Verb-Endungen benutzen, die signalisieren: „ich teile Ihnen das höflich mit“). Antwortrunde 7: tachii furumai („die Art wie man da ist und wie man sich bewegt, Verhalten“); dôsa („Bewegungen“). Antwortrunde 8: Die Eigenschaften yawarakakute yasashii („weich und liebenswürdig“); hito ni konomareru („sich so verhalten, dass man von anderen geschätzt wird“); sono ba no kûki wo yawarakaku suru koto („in der Lage sein, die ‚Luft‘ – d.h. die Athmosphäre – in der betreffenden Situation sanft zu machen“).

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Peter Bubmann

Sinn und Geschmack fürs Unendliche

Einleitung Religion ist Geschmackssache – sagen die einen, und wollen sie damit in den Bereich privater Beliebigkeit verbannen. Religion ist Geschmackssache – sagt Friedrich Schleiermacher und verfolgt das umgekehrte Ziel, den Gebildeten unter den Verächtern der Religion ebendiese als ein öffentlich relevantes Gut schmackhaft zu machen. Er reduziert die Religion gerade nicht zum persönlichen Dekor und also zu einer Frage der privaten Innenausstattung. Er versucht aufzuzeigen, dass ein spezifisch menschliches Vermögen, seine besondere Weise des In-der-Welt-Seins verkümmert, wenn der Sinn und der Geschmack für das Unendliche nicht gepflegt werden. So lässt sich Schleiermachers Programm als Beitrag ästhetisch-religiöser Bildung verstehen, als ein Plädoyer gegen religiöse Geschmacklosigkeit. Schleiermacher bietet seinen Lesern in den berühmt gewordenen „Reden“ von 1799 einen Kursus für den guten religiösen Geschmack an. Er hat dabei solche Menschen im Blick, die sich für „religiös unmusikalisch“ halten oder sich angewidert von einer Religionsform abwenden, die durch Dogmatismus bestimmt ist. Oder auch solche, die Religion als Begründungsfigur für gesellschaftlich erwünschtes Verhalten, also die Moral funktionalisieren und sie so zum Schmiermittel der Wertevermittlung machen. Er will verdeutlichen, dass die theoretische wie die moralische Wahrheit nicht an die Ursprungserfahrung von Religion heranreicht. Es geht vielmehr um eine urtümliche Erfahrung, für deren Bezeichnung Schleiermacher ästhetische Kategorien benutzt: Sinn und Geschmack, oder auch Anschauung des Unendlichen. Im Anschluss daran lässt sich heute fragen: Was hat Religion mit dem Geschmack zu tun? Und was könnte eine geschmackvolle Religionsausübung sein?

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ERFAHRUNGEN DES ANDEREN

1. Schmecken und Geschmack – biblische Spuren Geschmack kommt von Schmecken. Im Hebräischen tauchen das Verb und das Substantiv für „schmecken“ (‫ )טעם‬zum einen im wörtlichen Sinne des Geschmackssinns auf: Das Manna, das das Volk Israel in der Wüste isst, hatte einen „Geschmack wie Semmel mit Honig“ (Ex 16,31). Zum anderen kann die Wortwurzel auch ein Wahrnehmen der Wohltaten Gottes in einem weiteren Sinn meinen: Im Weisheitspsalm 119,66 bittet der Beter Gott: „Lehre mich Geschmack (‫ )טעם‬und Erkenntnis.“ In der Lutherübersetzung heißt es „Lehre mich heilsame Einsicht und Erkenntnis.“ Hier sind in einem Begriff der Wahrnehmungs-Sinn des Schmeckens und gesellschaftlich-normative Erwartungen an den Lebensstil und Unterscheidungsleistungen der Urteilskraft verbunden. Diese begriffliche Verbindung ist also nicht erst für den deutschen Geschmacksbegriff der Neuzeit charakteristisch, sondern schon für den biblisch-hebräischen.

2. Versuch eines differenzierten Geschmacksbegriffs Bei Schleiermacher taucht der Begriff des Geschmacks zwar an einer zentralen Stelle auf, nämlich in seiner 2. Rede aus den Reden über die Religion von 1799. „Geschmack“ ist allerdings nicht der tragende Begriff seiner Religionstheorie. Zunächst heißt Religion für ihn „Anschauen des Universums“ (vgl. für das Folgende: Wenz 1999). Diese Anschauung zeichnet sich dadurch aus, dass sie alles Einzelne, jedes Lebensmoment als einen Teil des Ganzen sieht, „alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen“ (Schleiermacher 1980, I/2: 214). In der Religion vereinen sich nun ursprünglich Anschauung und Gefühl. Es ist ein Gefühl, in dem sich das Subjekt des SichGegeben-Seins gewahr wird, und zwar in der Doppelheit von Fremdbestimmtheit und der Selbsttätigkeit überhaupt. Als Anschauung und Gefühl ist Religion anderes als Weltanschauung (also Metaphysik) und anderes als Moral und Ethik. Sie darf auch nicht für diese beiden Erkenntnisweisen funktionalisiert werden. Schleiermacher will Religion als eigenständiges Drittes verstehen. Allerdings bildet dieses Dritte gleichsam den notwendigen Hu-

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PETER BUBMANN: SINN UND GESCMACK FÜRS UNENDLICHE

musboden für Metaphysik wie Moral. Und genau im Abschnitt über diese Verhältnisbestimmung von theoretischer Vernunft, moralischer Praxis und religiöser Erfahrung als Anschauung und Gefühl fallen nun die entscheidenden Sätze zum Thema „Geschmack“: „Spekulazion und Praxis haben zu wollen ohne Religion, ist verwegener Übermuth, es ist freche Feindschaft gegen die Götter, es ist der unheilige Sinn des Prometheus, der feigherzig stahl, was er in ruhiger Sicherheit hätte fordern und erwarten können. Geraubt nur hat der Mensch das Gefühl seiner Unendlichkeit und Gottähnlichkeit, und es kann ihm als unrechtes Gut nicht gedeihen, wenn er nicht auch seiner Beschränktheit sich bewusst wird, der Zufälligkeit seiner ganzen Form, des geräuschlosen Verschwindens seines ganzen Daseins im Unermesslichen. Auch haben die Götter von je an diesen Frevel gestraft. Praxis ist Kunst, Spekulazion ist Wissenschaft, Religion ist Sinn und Geschmak fürs Unendliche. Ohne diese, wie kann sich die erste über den gemeinen Kreis abentheuerlicher und hergebrachter Formen erheben? Wie kann die andere etwas besseres werden als ein steifes und mageres Skelet?“ (ebd.: 212; Hervorhebung P.B.).

Die ethische Lebenspraxis bzw. Lebenskunst – so ließe sich paraphrasieren – bedarf der religiösen Geschmackserfahrung, um mehr als nur zufällige oder konventionelle Lebensformen zu erzeugen. Und die theoretische Vernunft, die Metaphysik, bleibt fleischlos, abstrakt und abgenagt wie ein Skelett ohne die religiöse Erfahrung. In der zweiten Auflage der „Reden“ hat Schleiermacher übrigens den Begriff der „Anschauung“ zugunsten des „Gefühls“Begriffs zurücktreten lassen. Das rückt die religiöse Erfahrung noch stärker in den Bereich nichtvisueller ästhetischer Prozesse. Allerdings darf man dieses Gefühl nicht in einen absoluten Gegensatz zum Denken setzen. Denn für Schleiermacher ist dieses Gefühl identisch mit dem unmittelbaren Selbstbewusstsein (Wenz 1999: 18f.). Das religiöse Gefühl und so auch der religiöse Geschmack des Unendlichen sind damit nichts Anti-rationales und dürfen nicht einfach mit unterbewussten oder unbewussten Zuständen verwechselt werden. Dieses Gefühl ist vielmehr eine Art „unmittelbares Existentialverhältnis“ (Schleiermacher 1980, I/10: 318), eine gleichsam transzendentale Selbsterfahrung als Selbstvertrautheit.

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ERFAHRUNGEN DES ANDEREN

Man hat Schleiermacher vorgeworfen, mit der Bestimmung von Religion als Sinn und Geschmack fürs Unendliche habe er den Bereich der christlichen personalen Gottesbeziehung verlassen und eine allgemeine, eher mystische Religionserfahrung beschrieben. Aber für Schleiermacher sind das gar keine Gegensätze. Er ist ja auch nicht bei der etwas formalen Bestimmung der religiösen Erfahrung als Anschauung des Universums stehen geblieben. Er hat später seine „Christliche Glaubenslehre“ vorgetragen, die den Gehalt des christlichen Dogmas neu zu formulieren versucht. Der in den „Reden“ beschriebene Sinn und Geschmack fürs Unendliche wird also präzisiert durch eine kritische Reformulierung der christlichen dogmatischen Traditionsbestände und so in den öffentlichen Diskurs gebracht. Wenn wir die Formel benutzen, Religion sei Sinn und Geschmack fürs Unendliche, geht es demnach nicht um eine allzu schlichte Reduktion von Religion auf sinnliche Kostproben. Manche Event-Liturgie und manche hübsch gestaltete Mette bei Bildungsveranstaltungen tendiert zu solchen ästhetischen Verkürzungen. Selbst dort, wo seriös argumentiert wird, findet sich öfter ein leicht penetranter apologetischer Unterton: Die Ästhetik soll’s richten, der Geschmack des Heiligen muss wieder her, nur so lässt sich Religion heute retten. Solche Einseitigkeiten sind als Gegenbewegung gegen ethische Verkürzungen von Religion in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts durchaus verständlich. Der Religionspädagoge Joachim Kunstmann fordert etwa programmatisch, Religion sei primär ein ästhetisches Erleben, das entsprechender Bildung bedarf: „Das Heilige als der gespürte Moment aufscheinenden Lebens, dessen, was uns vorausliegt, was uns vorgegeben ist, des ‚Universums’, ist konstitutives Element eines entfalteten Bewusstseins. Gebunden bleibt eine entsprechende Entfaltung an eine Bildung der Sinne. (...) Wer seine Sinne nicht ausgebildet hat, – sehen, hören, tasten, schmecken – dem kann der integrale Sinn von heiliger Stimmung, Atmosphäre und Aura nicht zugänglich werden. (...) Sinn und Geschmack für das Heilige erfordern zweck- und funktionsfreie Geschmacks-Bildung als Sinn-Bildung via Sinnen-Bildung“ (Kunstmann 2001: 64).

Kunstmann knüpft unmittelbar an Schleiermacher an, wenn er schreibt:

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„Religion ist Geschmackssache: das gilt keineswegs im Sinne persönlicher relativistischer Beliebigkeit, sondern gerade umgekehrt: ein ästhetisch kultivierter und sensibilisierter Geschmack für das Leben darf im besten Sinne als religiös bezeichnet werden“ (Kunstmann 2002: 423).

Bei ihm wird dann allerdings diese ästhetische Signatur von Religion und von Bildung sofort in eine ungute Frontstellung gegen kognitive und ethische Identitätsbildung gebracht. Dass Geschmack als Verbindung von existentieller Ergriffenheit und Urteilskraft auf die Kultivierung eines auch kognitiven Unterscheidungsvermögens angewiesen bleibt, wäre demgegenüber zu unterstreichen. Nicht allzu weit entfernt vom Geschmacksbegriff Schleiermachers hat Hans-Georg Gadamer in seinem Hauptwerk „Wahrheit und Methode“ die Entwicklung des Geschmacksbegriffs nachgezeichnet (Gadamer 1990: 40-47). Er arbeitet heraus, dass Geschmack – als philosophischer Begriff – zunächst ein moralischer Sinn war, der zu unterscheiden weiß, was wirklich zum Leben gehört. Der gute Geschmack wird dann zum Ideal einer bürgerlichen Gesellschaft, ist also nichts Privates, sondern ein gesellschaftliches Phänomen. Der Geschmack erhebt zugleich Geltungsansprüche. Geschmack ist – anders als die Mode – nicht einfach ein Bestimmtwerden durch die Allgemeinheit, durch Konvention und Manipulation. Vielmehr liegt für Gadamer der Kern des Geschmacks in einem Unterscheidungsvermögen, das sich im eigenen Urteil betätigt und nicht einfach dem allgemeinen Urteil ausliefert ist. Der gute Geschmack ist sich dabei „der Zustimmung einer idealen Gemeinschaft sicher“(Gadamer 1990: 43), postuliert also eine mögliche Verständigung über den guten Geschmack. Der Geschmack ist also eine Art Erkenntnisvermögen: „Geschmack wie Urteilskraft sind Beurteilungen des Einzelnen im Hinblick auf ein Ganzes, ob es mit allem anderen zusammenpasst, ob es also ‚passend’ ist. Man muß dafür ‚Sinn’ haben – demonstrierbar ist es nicht“ (ebd.: 43).

Was bedeutet ein solcher Geschmackssinn auf die Religion angewandt?

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3 . G r u n d vo l l z ü g e r e l i g i ö s e n G e s c h m a c k s 3.1 Geschmack als Unterscheidungsleistung zwischen Geschöpf, Schöpfung und Schöpfer Religiöser Geschmack im jüdischen wie christlichen Sinn ist eine Grunderfahrung von Geschöpflichkeit: Indem ich mich von der Fülle des Lebens, vom Urheber aller Dinge, ansprechen und ergreifen lasse, erfahre ich mich zugleich eingefügt in ein viel größeres Ganzes, eben die Schöpfung. Die primäre Unterscheidungsleistung des guten religiösen Geschmacks ist diejenige zwischen Gott und Geschöpf. Deshalb kommt es in einem geschmackvoll religiösen Leben darauf an, Schöpfer und Schöpfung nicht zu verwechseln, also sein Herz nicht an Endliches zu hängen, statt auf den Schöpfer zu vertrauen. Der religiöse Geschmack schmeckt die Stimmigkeit der Lebensprozesse, oft gegen den Augenschein einer häufig genug lebenszerstörend erscheinenden Natur. Mit dieser Stimmigkeitserfahrung verbindet sich das Gefühl des existentiellen Staunens darüber, dass es inmitten der Unwirtlichkeit kosmischer Galaxien einen blauen und lebensfreundlichen Planeten gibt, der offenbar so als Lebensraum gewollt ist. Das Staunen verbindet sich daher mit dem Dank über diesen geschenkten Lebensraum. Das Dankgebet, exemplarisch das Tischgebet als Dank für Gottes Gaben ist daher ein wesentlicher Praxisvollzug geschmackvoller Religion. Nicht nur das Essen, das Leben überhaupt schmeckt besser unter dem Vorzeichen des Dankes. Die positive Schöpfungs-Erfahrung als Stimmigkeitserfahrung des Universums (im Sinne Schleiermachers) wertet das Einzelne, den einzelnen Menschen nicht ab. Im Gegenteil. Der Mensch gilt diesem Geschmack nicht als unbedeutend, als letztlich jederzeit ersetzbares Element am Weltgeschehen. Der religiöse Geschmack geht von der Einzigartigkeit und unzerstörbaren Personwürde eines jeden Menschen aus. 3.2 Vorgeschmack gelingenden Lebens Jesus von Nazareth ist der Vorschmecker des Reiches Gottes. Sein Leben und Geschick ist Ausdruck dieses Geschmacks. Er hat diesen Geschmack so intensiv gekostet und dadurch verkörpert, dass ihn die Christenheit als Sohn Gottes bekennt. Im Johannesevange220

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lium (Kap. 2,1-12) wird das Wirken Jesu präzise mit dem Geschmackssinn verkoppelt, indem das erste, und damit exemplarische Wunder Jesu ein Geschmackswunder ist: Jesus wandelt geschmackloses Wasser in besten Wein. Das bringt zum Ausdruck, dass sich in Jesu Wirken die Fülle des Lebens in der Form eines gelingenden sinnlichen Festes zeigt. Jesus findet sich in der Mitte des Festes und ist dessen eigentliches Zentrum. Dieser Vorgeschmack des gelingenden erfüllten Lebens wird allerdings der harten Realität menschlicher Entfremdung ausgesetzt. Jesus verweist beim letzten Mahl vor seiner Gefangennahme ausgerechnet beim gemeinsamen Essen und Trinken auf seinen Verräter (Mk 14,17-21). Die Konsequenz des Verrats, der menschlichen Unfähigkeit, die Fülle des Lebens zu ergreifen, ist, dass Jesus den bittern Kelch des Todes trinken muss. Noch am Kreuz führen die Berichte der Evangelisten den Sinn des Schmeckens mit dem Tod Jesu zusammen. Jesus wird Essig gereicht (Mk 15,36). Und auch die Auferstehungserfahrung wird (unter anderem) im Vorgang des Schmeckens geschildert (vgl. Lk 24,13-35): Was wir einmal geschmeckt haben, erkennen wir wieder. So geht auch den Jüngern bei Emmaus beim Brotbrechen und Essen der Sinn dafür auf, dass der Tod Jesu nicht das Ende des Vorgeschmacks des Reiches Gottes war, sondern erst eigentlich seine Bestätigung. Von diesem Schmecken her deuten sie dann rückblickend ihren Weg mit Jesus. Die Geschmacksprobe führt zum Aufschließen des Verstehens, zu hermeneutischen Prozessen, zum neuen Verständnis der Heiligen Schrift und der Worte Jesu. Das Geschmackserleben wird so zur umfassenden Erfahrung der Auferstehung. 3.3 Die Geschmacksvielfalt der Gegenwart Gottes im Heiligen Geist Der Heilige Geist ist die Präsenz des Heilswirkens Gottes in unserem Leben und damit die Wirkkraft des guten religiösen Geschmacks. Was diese Kraft bewirkt, hat die Tradition im dritten Artikel des Glaubensbekenntnisses formuliert: Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben. Guter religiöser Geschmack zeigt sich darin, dass die Glaubenden die Gemeinschaft der Glaubenden suchen. Das unterstrich schon Schleiermacher. Für ihn ist der Begriff der Geselligkeit zent-

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ral. Kirche bildet sich als Form wechselseitiger Mitteilung. Geschmackvolle Religion ist soziale Religion, nicht religiöser Individualismus. Zum zweiten: Der Geist wirkt Vergebung der Sünden. Das meint eine Erfahrung des Zuspruchs, die einen Neuanfang im Leben ermöglicht. Geschmackvolle Religion sieht den Menschen im Zeichen dieses Zuspruchs, fixiert ihn also nicht auf sein Handeln im Zustand der Entfremdung. Es gibt nicht nur ein Bilderverbot der Darstellung Gottes. Es ist auch verboten, den Menschen auf sein gewordenes Erscheindungsbild festzulegen. Zum dritten: Der Geist wirkt Erfahrungen der Auferstehung, des Lebens wider allen Tod. Geschmackvolle Religion ist daher Praxis des Trostes und der Feier des Lebens inmitten einer vom Tod bedrängten Welt. Sie ist eine Praxis des Aufstehens gegen den Tod. Dazu zählt auch das Verteilen und Teilen der Schöpfungsgaben im gemeinsamen Mahl, der Agape. Schließlich: Der Geist stiftet Erfahrungen des ewigen Lebens, er ermöglicht also die Teilhabe an der Fülle des Lebens, am Universum im Sinne Schleiermachers. Das geschieht unter den Bedingungen des endlichen Lebens nur vorläufig und symbolisch im sakramentalen Mahl. Aber die Hoffnung besteht, dass es sich bei den vorläufigen Geschmacksproben tatsächlich um einen Vorgeschmack des ewigen Reiches Gottes handelt.

4. Geschmacklose Religion Es gibt geschmacklose Religion. Damit meine ich zunächst nicht die milieutheoretisch erklärbaren Vorbehalte von Hochgebildeten gegenüber Batik-Hungertüchern, Kreistänzen und religiösen Kitschballaden der evangelikalen Lobpreismusik. Solche ästhetischen Distinktionen beweisen nur, dass die gesellschaftlichen Geschmackskulturen auch innerhalb der Glaubensgemeinschaften existieren. Die religiöse und theologische Geschmacklosigkeit greift tiefer und kennt verschiedene Grundvarianten. Immer jedoch ist sie eine Sünde wider den Heiligen Geist, d.h. ein NichtWahrhabenwollen seiner Wirkung: Eine Variante ist der religiöse Fundamentalismus. Er verwechselt den ursprünglich ästhetischen religiösen Sinn fürs Unendliche mit der Zustimmung zu bestimmten theologischen Lehren. Die dogmatische Vorstellung tritt an die Stelle des religiösen Geschmacks.

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Geschmackvolle Religion hingegen ist sich bewusst, dass die ursprüngliche Gotteserfahrung vorreflexiv ist und zugleich auf sprachlichen und rituellen Ausdruck angewiesen, um als gesellige Religion wirksam zu werden. Geschmackvolle Theologie weiß dabei um die Unmöglichkeit, mit menschlichen Ausdrucksmitteln Gott angemessen zum Ausdruck zu bringen. Geschmackvolle Religion und Theologie bewahren sich daher die Fähigkeit zur kritischen Selbstdistanzierung. Gott ist immer noch anders als das, was wir von ihm denken. Die Selbstrelativierung, ja auch die Selbstironie zählt daher zu den Tugenden geschmackvoller Theologie. Weil dem so ist, ist geschmackvolle Religion und Theologie des Christentums zugleich ökumenisch orientiert. Sie unterstellt, dass der religiöse Geschmack der Anderen auch kein schlechter sein muss, dass es ihnen vielleicht sogar gelegentlich besser gelingt, religiöse Erfahrung zum Ausdruck zu bringen. Geschmacklos sind daher alle Formen eines rechthaberischen Konfessionalismus, aber auch der religiösen Gleichmacherei, die die verschiedenen Kontexte religiöser Geschmacksurteile für unwichtig halten. Eine hochentwickelte Variante geschmackloser Theologie ist der Versuch, denkerisch den Geschmack einer harmonischen und leidfreien Schöpfung zu sichern, also die so genannte Theodizee, d.h. die Rechtfertigung Gottes angesichts des Leids in der Welt. Hier überschreitet der Mensch seine Kompetenzen als Geschöpf und will gerne dem Schöpfer einen besseren Bauplan der Schöpfung anempfehlen oder durch raffinierte Umdeutung den Plan verschönern. Geschmackvolle Religion hingegen wird die Erfahrung der Unstimmigkeit der Naturprozesse und der Geschichte nicht durch Interpretation wegzuerklären versuchen. Vielmehr wird sie auch den Erfahrungen der fehlenden Stimmigkeit Raum geben, etwa in Formen der Klage und auch der Anklage Gottes. Die Erfahrung stimmiger Geborgenheit im Universum (im Schleiermacher’schen Sinn) wird hart mit Erfahrungen des Verlorenseins und des zerstörten Lebens konfrontiert, ohne gleich dialektisch vermittelt zu werden. Das Kreuz von Golgatha darf nicht einfach nur zur überholten Vorgeschichte von Ostern funktionalisiert werden. Geschmackvolle christliche Theologie kann daher nie nur theologia gloriae, sondern muss immer auch theologia crucis sein.

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5. Geschmacksproben christlicher Religion: Sakramente Im Christentum haben sich einige religiöse Handlungsvollzüge etabliert, an denen sich die religiöse Geschmacksbildung immer wieder prüfend orientieren kann, weil sich in ihnen der Sinn und Geschmack für Gott verdichtet. Hier sind wesentliche Grundaspekte guten religiösen Geschmacks wahrzunehmen. Wir nennen diese Handlungsvollzüge Sakramente, weil wir davon ausgehen, dass sich in ihnen der Heilsratschluss Gottes, sein unergründliches Geheimnis zu erkennen gibt (griechisch „mysterion“, was dann in der lateinischen Bibel (Vulgata) mit sacramentum übersetzt wird). Im Sakramentsbegriff wiederholt sich noch einmal, was zum religiösen Geschmack insgesamt gesagt wurde: In der Wahrnehmung eines sinnenhaften, endlichen Geschehens ereignet sich eine Transzendenz-Erfahrung der Unendlichkeit, des Heils- und Lebenswillens Gottes. In der Taufe ist es eine ursprüngliche Differenzerfahrung, die wahrgenommen und gestaltet wird: Das entfremdete Leben – die Tradition nennt es Sünde – wird symbolisch abgewaschen und ertränkt. Der Glaubende erschmeckt ein neues Leben. Mit den Worten eines Pfingstliedes von Paul Gerhardt: Zieh ein zu deinen Toren V. 2: „Zieh ein, laß mich empfinden / und schmecken deine Kraft, / die Kraft, die uns von Sünden / Hilf und Errettung schafft. / Entsünd’ge meinen Sinn, / daß ich mit reinem Geiste / dir Ehr und Dienste leiste, / die ich dir schuldig bin. V. 3: Ich war ein wilder Reben, / du hast mich gut gemacht; / der Tod durchdrang mein Leben, / du hast ihn umgebracht / und in der Tauf erstickt / als wie in einer Flute / mit dessen Tod und Blute, / der uns im Tod erquickt“ (Paul Gerhardt 1653, EG 133).

Geschmackvolle Religion rechnet mit Transformationen des Lebens, mit Veränderungen und Neuaufbrüchen. Das christliche Leben beginnt mit einer solchen umstürzenden Veränderung und Neuwerdung im Symbol der Taufe.

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Im Sakrament des Abendmahls verbinden sich Nachgeschmack und Vorgeschmack: Erinnerung des Heilsgeschehens in Jesus Christus und Vorgeschmack des endzeitlichen Reiches Gottes. Das Abendmahl ist eine konzentrierte Geschmacksprobe christlicher Religion. Es ist kein Zufall, dass hier das Schmecken als religiöser Geschmackssinn zum Zuge kommt. „Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist“ (Ps 34,9). Dieses Schmecken geschieht in der Geselligkeit der Tischgemeinschaft, heute wenigstens noch als gemeinsamer Kreis beim Abendmahl oder als gemeinsamer Gang zum Abendmahl sichtbar. Im Zentrum der Abendmahlsliturgie stehen die Erinnerungsworte an Jesu letztes Mahl und Dankgebete (die Eucharistie, in die der Dank für die Köstlichkeit der Schöpfungsgaben eingeschlossen ist). Guter christlich-religiöser Geschmack ist ohne solche Erinnerung und ohne das Element des Danks nicht vorstellbar. Christlicher Glaube und religiöser Geschmack hängen eng zusammen. Religiöse Bildung ist daher immer auch Geschmacksbildung und damit ästhetische Bildung. Die Sinne werden geschärft für die Fähigkeit, im Endlichen zugleich das Unendliche zu schmecken. Zugleich wird ein Unterscheidungs-Sinn eingeübt, eine praktische Urteilskraft, die das schöne erfüllte Leben vom entfremdeten, zerstörerischen Leben zu unterscheiden weiß. Religiöse Bildung dient mithin der Ausbildung eines wachen Sinns und eines differenzierten Geschmacks fürs Unendliche, für die menschenfreundliche Inkarnation und Transzendenz Gottes.

Literatur Gadamer, Hans-Georg (1990): Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Gesammelte Werke Bd. 1: Hermeneutik I. Tübingen: Mohr. Kunstmann, Joachim (2001): Sinn und Geschmack des Heiligen. Zeitanalyse in religionspädagogischer Absicht. In: Praktische Theologie 36, S. 55-65. Kunstmann, Joachim (2002): Religion und Bildung. Zur ästhetischen Signatur religiöser Bildungsprozesse (RPG, Bd. 2). Gütersloh u.a: Kaiser u.a.

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Schleiermacher, Friedrich D.E. (1980ff.): Kritische Gesamtausgabe (KGA). Hg.v. Hans-Joachim Birkner u.a. Berlin/New York: de Gruyter. Wenz, Günther (1999): „Sinn und Geschmack fürs Unendliche. F. D. E. Schleiermachers Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern von 1799“. (Philosophisch-Historische Klasse; Sitzungsberichte 1999/3). München: Verlag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.

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Autoren verzeichnis Alle Autoren sind Mitglieder des Interdisziplinären Zentrums Ästhetische Bildung an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg:

PETER ACKERMANN, Professor für Japanologie PETER BERNHARD, Privatdozent für Philosphie PETER BUBMANN, Professor für Praktische Theologie KONRAD KLEK, Professor für Kirchenmusik LEOPOLD KLEPACKI, Akademischer Rat für Pädagogik ECKART LIEBAU, Professor für Pädagogik ECKHARD ROCH, Professor für Musikwissenschaft GERT SCHMIDT, Professor em. für Soziologie ANDRÉ STUDT, Akademischer Rat für Theater- und Medienwissenschaft JÖRG ZIRFAS, Professor für Pädagogik http://www.iz.aesthetische.bildung.phil.uni-erlangen.de

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Ästhetik und Bildung Günter Gödde, Jörg Zirfas (Hg.) Takt und Taktlosigkeit Über Ordnungen und Unordnungen in Kunst, Kultur und Therapie Oktober 2011, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1855-6

Eckart Liebau, Jörg Zirfas (Hg.) Dramen der Moderne Kontingenz und Tragik im Zeitalter der Freiheit 2010, 232 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1436-7

Eckart Liebau, Jörg Zirfas (Hg.) Die Kunst der Schule Über die Kultivierung der Schule durch die Künste 2009, 174 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN 978-3-8376-1199-1

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Ästhetik und Bildung Eckart Liebau, Jörg Zirfas (Hg.) Die Sinne und die Künste Perspektiven ästhetischer Bildung 2008, 276 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-910-7

Eckart Liebau, Jörg Zirfas (Hg.) Schönheit Traum – Kunst – Bildung 2007, 288 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-831-5

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