Die Bonner Republik 1960-1975 - Aufbrüche vor und nach »1968«: Geschichte - Forschung - Diskurs 9783839448571

Die Bonner Republik ist als Zeit des Wiederaufbaus und beginnender Prosperität in das regionale, politisch-nationale und

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Die Bonner Republik 1960-1975 - Aufbrüche vor und nach »1968«: Geschichte - Forschung - Diskurs
 9783839448571

Table of contents :
Inhalt
Die Bonner Republik als Forschungsschwerpunkt
1968 in der Theorie und in der Region
Achtundsechzig als Problem der historischen Forschung und der politischen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland
Aufruhr am Rhein?
„Unsere politische Universität war die Theke.“
Konzepte von Modernität 1: Bauen
Das Strukturprinzip der allseitigen Verflechtung
„Begegnungsanreiz“
Konzepte von Modernität 2: Zeigen
„Jeder Mensch ein Künstler“
Konzepte von Modernität 3: Schreiben
„Widerstand der Realität gegen das vorschnelle Sinnbedürfnis“
In Deutschland überflüssig?
Autorinnen und Autoren
Namensregister
Ortsregister

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Gertrude Cepl-Kaufmann, Jasmin Grande, Ulrich Rosar, Jürgen Wiener (Hg.) Die Bonner Republik: 1960–1975 – Aufbrüche vor und nach »1968«

Histoire  | Band 157

Gertrude Cepl-Kaufmann (Prof. Dr. phil.), geb. 1942, Literaturwissenschaftlerin, Leiterin des Instituts »Moderne im Rheinland« an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Jasmin Grande (Dr. phil.), geb. 1978, ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und stellv. Leiterin des Instituts »Moderne im Rheinland« an der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf. Ulrich Rosar (Prof. Dr.), geb. 1968, ist Lehrstuhlinhaber am Institut für Sozialwissenschaften der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Dekan der Philosophischen Fakultät. Jürgen Wiener (Prof. Dr.), geb. 1959, ist Kunsthistoriker am Institut für Kunstgeschichte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und im Vorstand des Arbeitskreises zur Erforschung der »Moderne im Rheinland« e.V.

Gertrude Cepl-Kaufmann, Jasmin Grande, Ulrich Rosar, Jürgen Wiener (Hg.)

Die Bonner Republik: 1960–1975 – Aufbrüche vor und nach »1968« Geschichte – Forschung – Diskurs

Für die Förderung des Bandes danken wir dem Landschaftsverband Rheinland und der Anton-Betz-Stiftung der Rheinischen Post e.V.

Dieser Band erscheint als Gabe des Arbeitskreises zur Erforschung der »Moderne im Rheinland« e.V.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, CC BY-SA 3.0, commons.wikimedia.org Innenlayout: Hannah Schiefer Satz: Hannah Schiefer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4857-7 PDF-ISBN 978-3-8394-4857-1 https://doi.org/10.14361/9783839448571 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Die Bonner Republik als Forschungsschwerpunkt   Zur Konzeption eines Themas im Kontext von Wissenschaft und Öffentlichkeit im 21. Jahrhundert – Ein Werkstattbericht und eine Einleitung Gertrude Cepl-K aufmann, Jasmin Grande, Ulrich Rosar, Jürgen Wiener  | 7

1968 in der Theorie und in der Region Achtundsechzig als Problem der historischen Forschung und der politischen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland Thomas Gerhards  | 27

Aufruhr am Rhein? ‚1968‘ in regionaler Perspektive Uta Hinz | 77

„Unsere politische Universität war die Theke“. Dieter Klemm über Floh de Cologne, eine neue Form des Musiktheaters und Politik in der Bonner Republik Verena Meis | 111

Konzepte von Modernität 1: Bauen Das Strukturprinzip der allseitigen Verflechtung. Systemarchitektur westdeutscher Universitäten und Gesamthochschulen (1960 –1980) Jürgen Wiener  | 127



„Begegnungsanreiz“. Freiraumplanung und Gartenkunst im Universitätsbau der 1960er und 1970er Jahre im Rheinland Christof Baier | 197

Konzepte von Modernität 2: Zeigen „Jeder Mensch ein Künstler“. „Naive Malerei“ in der Bonner Republik (1960er und 1970er Jahre) Hans Körner | 229

Konzepte von Modernität 3: Schreiben „Widerstand der Realität gegen das vorschnelle Sinnbedürfnis“. Dieter Wellershoff und sein Programm eines Neuen Realismus Volker C. Dörr | 269

In Deutschland überflüssig? Alfred Döblin (1878–1957) und die Bonner Republik Winfrid Halder | 307

Autorinnen und Autoren | 331 Namensregister | 335 Ortsregister | 341

Die Bonner Republik als Forschungsschwerpunkt Zur Konzeption eines Themas im Kontext von Wissenschaft und Öffentlichkeit im 21. Jahrhundert – Ein Werkstattbericht und eine Einleitung Gertrude Cepl-Kaufmann, Jasmin Grande, Ulrich Rosar, Jürgen Wiener

Mit einem Fokus auf um das Jahr 1968 legt die Forschungsgruppe zur Bonner Republik nun ihren zweiten Band vor.1 Die Beiträge gehen auf die jährliche Ringvorlesung des Forschungsverbunds zurück, der auf einer Kooperation des Instituts „Moderne im Rheinland“ an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und der Stadt Düsseldorf beruht. Die Kooperationspartner*innen präsentieren damit aktuelle Forschungsperspektiven in der Öffentlichkeit. Darüber hinaus bietet das Format der Ringvorlesung als öffentliches Diskursangebot die Möglichkeit, über Lesarten, Bedeutungen und Inhalte des Forschungsfeldes zu diskutieren. Die Drucklegung der Ringvorlesung wiederum gibt Gelegenheit, über die Entwicklungen des Forschungsfeldes sowie der Forschungsgruppe zu reflektieren.

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1. Konstituierungsprozesse – die D üsseldorfer F orschungsgruppe zur B onner R epublik Für das Jahr 2014 stieß der Landschaftsverband Rheinland unter der Federführung von Thomas Schleper ein Verbundprojekt mit dem Titel 1914 – Mitten in Europa. Das Rheinland und der Erste Weltkrieg an, das den Beginn des Ersten Weltkriegs 100 Jahre zuvor zum Anlass nahm, mit einer Vielzahl an Aktivitäten in den Bereichen Kultur und Wissenschaft auf die „Urkatastrophe des 20.  Jahrhunderts“ aufmerksam zu machen und damit zugleich Fragen nach der Aktualität von Krieg sowie nach Strategien seiner Verhinderung virulent werden zu lassen. Als Beiratsvorsitzende war Gertrude Cepl-Kaufmann von Anfang an eng in die Ausdifferenzierung der inhaltlichen Gestaltungsmerkmale eingebunden. Weitere Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats aus der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und des An-Instituts „Moderne im Rheinland“ waren die Historiker*innen Gerd Krumeich und Susanne Hilger sowie der Kunsthistoriker Jürgen Wiener. Auf der Basis dieser Kooperation zwischen Kulturpraxis, lokal- und regionalpolitischer Ebene sowie universitärer Wissenschaft in einer Region zu einem Schwerpunktthema entstand gemeinsam mit dem Sozialwissenschaftler und Dekan der Philosophischen Fakultät Ulrich Rosar die Idee, auf die erprobte Forschungskooperation anhand eines neuen und eigenen Themenfeldes, der Bonner Republik, aufzubauen. Auch hierbei ging es um den Ausbau einer regionenspezifischen Forschungskompetenz von Düsseldorf aus, sowie um die Einbindung interessierter Akteure in der Stadt. Parallel zu den Gesprächen auf institutioneller und städtischer Ebene konstituierte sich an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf eine Gruppe von Wissenschaftler*innen, die die Kompetenzen der individuellen Forschungsbiografie in einen neuen, interdisziplinären Forschungsschwerpunkt zur Bonner Republik versammelten. Dieser Gruppe gehören Ulrich Rosar aus der Sozialwissenschaft, aus dem Forschungsbereich „Moderne im Rheinland“ Gertrude Cepl-Kaufmann, Jasmin Grande und Jürgen Wiener, der zugleich im Forschungsschwerpunkt die Kunstgeschichte gemeinsam mit Christof Baier, Hans

Die Bonner Republik als Forschungsschwerpunkt

Körner und Ulli Seegers vertritt, Beate Fieseler, Stefanie Michels und Guido Thiemeyer aus der Geschichtswissenschaft, Volker Dörr aus der Germanistik, Ursula Hennigfeld aus der Romanistik, Maren Butte aus der Medien- und Kulturwissenschaft und Simone Dietz aus der Philosophie an. Als Beitrag zum Forschungsdiskurs und als Mittel zur Verständigung über den jeweiligen Fachzugriff wurden drei Ringvorlesungen für die Wintersemester 2016/17, 2017/18 und 2018/19 konzipiert, in denen die Vortragenden anhand exemplarischer Themen Fachpositionen zur Bonner Republik erörtern und mit den Zuhörer*innen diskutieren. Auf der Ebene des Nachdenkens über ein Forschungsfeld geht es hierbei um den Transfer einer „aggregative Interdisciplinarity“ zu einer „Egalitarian Collaboration“.2 Entsprechend Wilhelm Voßkamps Forschungen über „Interdisziplinarität in den Geisteswissenschaften“, stehen die Ringvorlesungen im Zeichen der „Orientierung“ und „Einübung“.3 Mit der gemeinsamen Publikation wird die nach Voßkamp zweite Phase, die „Konstituierungsphase“ eröffnet, in der „eine Verständigung über Grundbegriffe“ bereits erfolgt ist und in der über einen „definitorischen Minimalkonsens die Voraussetzung für einen ersten Gruppenkonsens“ gelegt wurde.4 Als eine Veranstaltungsreihe an öffentlichen Orten im städtischen Raum, mit der die Kompetenzen und Interessen der Bürger*innen in der Stadt aktiviert – sei es in Form von Lebenserinnerungen, sei es in Form von privaten Sammlungen oder anderer Motivationen – und in den Wissenschaftsdiskurs aufgenommen wurden, zielte die Ringvorlesung konzeptionell auf eine Verortung in der Region, um von hier aus die Thematik in einem Spannungsfeld von „Diskurs – Forschung – Öffentlichkeit“5 entfalten zu können. Die Intention war es also auch, einen von der Institution Universität her gedachten Wissenschaftsbegriff aufzubrechen und darüber in Kooperation mit weiteren forschenden Akteuren in Museen, Archiven, Vereinen und ihren institutionellen Trägern wie den Kommunen oder dem Landschaftsverband die Forschungskompetenz einer Region zu einem von und in ihr geprägten Forschungsschwerpunkt zu versammeln. Auf der Basis von Thomas S. Kuhns Überlegungen, nach denen die Erkenntnis- und Vermittlungsdimension von Wissenschaft ein Grup-

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penprozess ist,6 und, anknüpfend an aktuelle Perspektiven wie etwa die Profilierung der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf als Bürgeruniversität7 oder wie die Konzeption von Forschungsförderformaten auf Stifterseite,8 verstehen wir den Impuls als Forschungsverbund zur Bonner Republik als Beitrag zum Nachdenken über aktuelle Herausforderungen der Wissenschaft. Teil dieser Überlegungen sind Fragen des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses, dessen Nivellierung im Zuge einer Öffnung entgegengewirkt werden muss, z.B. durch die Benennung und Darstellung der jeweiligen individuellen, aber eben auch institutionell geprägten Zugriffe und Sinnebenen.9 Im Vordergrund steht also eine Ausdifferenzierung der Profile, die darüber hinaus nach der jeweiligen Anschlussfähigkeit fragt. Denn zumindest über den Zugriff auf das im Netz abgelegte Wissen sind die Akteure und Fragestellungen miteinander verbunden. Am Ausbau dieser Dimensionen arbeitet auch der vorliegende Band. Dementsprechend trugen die Wissenschaftler*innen ihre Thesen an wechselnden Orten in der Stadt vor, die in ihrer jeweiligen Ausrichtung Dimensionen des Forschungsprojektes abdeckten: • im Forum Freies Theater Düsseldorf, • im Goethe Museum Düsseldorf/ Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, • im Gerhart-Hauptmann-Haus, • im Haus der Universität, • in der Universitäts- und Landesbibliothek, • in der Zentralbibliothek der Stadtbüchereien Düsseldorf In der Auswahl der Veranstaltungsorte spielte die Möglichkeit, über das Profil der unterschiedlichen Orte unterschiedliche Interessent*innen anzusprechen und ortsspezifische Wissensverständnisse aufzunehmen, eine besondere Rolle, so stellt z.B. die Zentralbibliothek am Düsseldorfer Hauptbahnhof einen Knotenpunkt transkultureller Wissens- und Vermittlungskonzepte dar, während das Forum Freies Theater (FFT) für einen gesellschaftskritischen Diskurs über progressive Theater- und Performanceformate steht. Das Museum als Ort der Stadtkultur sowie das Stadtarchiv als Ort der, vielleicht noch zu ent-

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deckenden Stadtgeschichte sind gerade im historischen Kontext der Bonner Republik Räume von besonderer Relevanz für eine Vernetzung zwischen universitären Forschungsdiskursen und außeruniversitären Wissensbegriffen.

2. Welche B onner R epublik? Z um F orschungsschwerpunkt Den ersten Impuls im Zugriff auf das Thema stellt eine Irritation in der aktuellen Rezeption dar, denn diese ist so dezidiert positiv, dass selbst gezielte Gegenschreibungen, wie sie Frank Witzel und Philipp Felsch 2016 in BRD noir unter dem Stichwort der „alten BRD“ vorgenommen haben, mehr zur Etablierung des idealisierenden Rückblicks beitragen können als gegen sie.10 Gerade in Abgrenzung zur Berliner Republik wird eine Erinnerung an eine bessere, eben die Bonner Republik stark gemacht,11 wobei insbesondere die aus Bonn und dem Rheinland bestehende Erinnerungslandschaft eine Rolle spielt:12 „Wenn es stimmt, dass sich jede Zeit in der Mythologie ihrer jüngeren Vergangenheit bespiegelt, dann reflektierte sich die Berliner in der Harmlosigkeit der Bonner Republik.“13, wie Witzel und Felsch feststellen und dann ein potentiell idyllisch konnotiertes Landschaftsbild bewusst als antiurbane, heimattümelnde Provinz gegenschreiben: „Politisch unpolitisch und ästhetisch unergiebig: Wer von der neuen Hauptstadt aus die alten Bundesländer bereiste, wurde den Eindruck nicht los, in eine von der Geschichte abgehängte Provinz zu kommen. Im Gegensatz zu den östlichen Landesteilen hatten die Fußgängerzonen und sonstigen Bausünden der Siebziger- und Achtzigerjahre nicht einmal Ruinenromantik zu bieten, sondern waren einfach nur hässlich.“14

Als beendetes, sowohl zeitlich als auch räumlich begrenztes Konstrukt eignet sich diese Übergangsphase mit Regierungssitz Bonn in besonderer Weise zur Abgrenzung in historischen und gegenwärtigen Perspektiven und ist in diesem Rahmen, u.a. anlässlich des 200. Grün-

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dungsjubiläum der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn zum Thema geworden, wenn diese sich unter politik- und sozialwissenschaftlicher Perspektive dem Verhältnis von Universität, Stadt und Politik, insbesondere im 20. Jahrhundert, widmet.15 Dabei steht zur Frage, worauf konkret mit dem Begriff Bonner Republik verwiesen wird? Dass die mit dem Begriff konnotierten und transportierten Bedeutungsdimensionen komplex sind und über den Zeitraum und den Regierungsort hinausweisen, legt nicht erst die aktuelle Rezeption in den Medien dar. Auch ein Blick in den Begriffsgebrauch in der historischen Öffentlichkeit zeigt, dass Bonner Republik gegenüber Bundesrepublik Deutschland mit anderen Sinnebenen beladen ist. So wird generell davon ausgegangen, dass der Begriff Mitte der 1950er Jahre geprägt wurde, Fritz René Allemanns 1957 erschienener Band Bonn ist nicht Weimar gilt als Multiplikator der Formulierung Bonner Republik, mit der fortan eine Differenz zur gescheiterten ersten Weimarer Republik kommuniziert werden sollte.16 Dem Begriff der Bonner Republik, so ließe sich festhalten, wohnt also von vornherein eine übergeordnete Bedeutung inne, mit der die Nachkriegszeit nach 1945 sich von der Vergleichbarkeit mit der Nachkriegszeit nach 1918 abgrenzte. Verwendet wurde der Begriff allerdings, so Axel Schildt, der damit auf eine weitere Konnotation aufmerksam macht, eher nicht von der Bundesrepublik, sondern „von der ‚nationalen‘ Propaganda der DDR in eindeutig negativer Konnotation, zeitweise in der Version vom ‚Staat der Bonner Spalter‘“.17 Auch in Manuel Beckers Differenzierung von drei Bedeutungsebenen weist der gesellschafts- und politikgeschichtliche Zugriff eine Selbstbegrenzung auf, um den nostalgischen Anteil der Lesart zu bestimmen, den Witzel und Felsch überschreiben, indem sie einen sozialund kulturgeschichtlichen Fokus setzen: „(1.) Innen- und gesellschaftspolitisch steht der Begriff ‚Bonner Republik‘ für eine rückblickend betrachtete beachtliche demokratische Stabilität, die auf zwei wesentlichen Pfeilern ruhte: ökonomische Prosperität und parteipolitische Kontinuität. […]

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(2) In außenpolitischer Hinsicht akzentuiert die Chiffre ‚Bonner Republik‘ bewusst verschiedene Charakteristika der neuen Hauptstadt nach dem Zweiten Weltkrieg: Die kleinstädtische Prägung der Stadt am Rhein symbolisierte auf ihre eigene Art die Absage an jegliche Form von neu aufkeimenden Allmachtsfantasien. Die offen demonstrierte Bescheidenheit wurde zum Programm des neuen Deutschlands nach dem Krieg erhoben. Der Baustil der Bonner Regierungsbauten und der deutschen Botschaften im Ausland legt bis heute ein beredtes Zeugnis davon ab. Prägend für die ‚Bonner Republik‘ war eine äußerst defensive Auffassung der Kategorie ‚Macht‘. Ein Verzicht auf nationale Alleingänge und ein uneingeschränkter Multilateralismus gehörten seit ihren Kindertagen zur Staatsraison. […] Die deutsche Außenpolitik war in erster Linie ökonomisch imprägniert. Deutschland beteiligte sich an der Bewältigung internationaler Krisen vor allem mit Geld. […] (3) Die ‚Bonner Republik‘ definierte sich drittens maßgeblich vor dem Hintergrund ihrer Geschichte, und zwar in erster Linie in Bezug auf die ‚totalitäre Erfahrung‘. Waren die 1950er Jahre noch primär dem Wiederaufbau des zerstörten Landes gewidmet, so arbeitete sich die Bundesrepublik in Intellektuellen- und Akademikerkreisen bereits seit der ‚Fischer-Kontroverse‘ im Jahre 1961 und gesamtgesellschaftlich darauf folgend seit der Mitte der 1960er Jahre dauerhaft an der nationalsozialistischen Vergangenheit ab. Nicht selten wurde in diesem Zusammenhang vor allem unter Intellektuellen vielfach mit dem eigenen Land gehadert.“18

Der Zugriff Beckers aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive stellt einen Überblick bereit, an den mit der Überprüfung und Hinterfragung der festgestellten Bedeutungsebenen vor dem Hintergrund z.B. der „Chiffre“ 1968 oder auch der Postmoderne angeknüpft werden kann. Beckers Zugriff fordert also zu einer disziplinären Erweiterung auf, insbesondere durch die kunst-, literatur-, geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer. Die Möglichkeiten, die sich hierbei aus geschichtsund literaturwissenschaftlichen Theorien ergeben, zeigt z.B. Benedikt Wintgens in seiner kulturpoetischen Befragung von Wolfgang Köppens „Das Treibhaus“.19 Dementsprechend lässt sich die Relevanz der Matrix Bonner Republik nicht nur auf der politischen Ebene feststellen, sondern auch im Verhältnis künstlerischer Kreativität zum Konzept

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von Gesellschaften. So z.B. ist Josef Beuys politisches Engagement ein Teil der Gründungsgeschichte der „Grünen“, das „Atelier Bauermeister“ in Köln steht als Knotenpunkt eines Netzwerks von Avantgarde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Musik und Kunst, Rolf Dieter Brinkmann, dessen Lebensort Köln in Werk und Rezeption präsent ist, ist auch ein Dokument der postmodernen Inszenierung von Köln als urbanem Raum.20 Auch die Anfänge der Postmoderne, die mit dem Versuch künstlerisch andere Schwerpunkte zu setzen und im Kontext von Internationalisierung und Kommerzialisierung aller provisorischen Beschaulichkeit eine Absage erteilte21 oder auch die Anfänge der ‚Demokratiemüdigkeit‘, für die eine Vielzahl an Politik-Affären verantwortlich gemacht werden, von vertuschter Vergangenheit über Verschleierungstaktiken von Machtmissbrauch bis finanzieller Vorteilspolitik, stehen für das Megametanarrativ des sowohl zeitlich als auch räumlich begrenzten Topos der Bonner Republik. Dem steht die Rezeption der Chiffre „1968“ entgegen, die von Metropolen wie Berlin oder Paris ausgeht und in der die Kernregion der Bonner Republik nicht als aktivistischer Ereignisort eine Rolle spielt.22 Zudem ist der Gebrauch des Begriffes disziplinär different, wie die Gespräche in der Forschungsgruppe zeigten. In der Sozialwissenschaft ist Bonner Republik als Fachbegriff vertraut, in der Geschichtswissenschaft wird er in ein kritisches Verhältnis zum Begriff der Bundesrepublik gebracht und in der Kulturwissenschaft handelt es sich nicht um einen ja auch potentiell epochal zu verstehenden Fachbegriff, im Gegenteil. In der Zusammenschau dieser Vielfalt an Adaptionen gilt es zu fragen, wie sich ein gemeinsamer Zugriff auf den Gegenstand entwickeln lässt, der die Perspektive für den Umgang mit den divergenten Aufladungen integriert. Die Utopieforschung in ihrer Ausrichtung auf funktionsgeschichtliche Fragestellungen ließe sich hier als eine Möglichkeit anführen, die Formel als einen Versuch einer positiven Selbstbelegung zu befragen. Auch der Beitrag von Felsch und Witzel zur BRD Noir bietet einen, wenngleich nicht auf Bonn und das Rheinland fokussierten, Ansatz, in dem Provinz z.B. nicht räumlich, sondern zeitlich gedacht wird.23

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Ausgehend von dem Begriff des Chronotopos wäre hier auch die Verbindung von zeitlicher und räumlicher Signatur anzubringen und mit der Spezifik des Temporären, des Übergangs zu verbinden. Mit dieser Ausrichtung arbeitet die Forschergruppe an der Bonner Republik als MetaErinnerungsort. Sie verbindet damit die Qualitäten des wissenschaftlichen Paradigmas Erinnerungsort im Sinne von Pierre Noras lieu de memoire zu einem gemeinsamen Nenner vieler weiterer Erinnerungsorte im engeren Sinne (z.B. Gruppe 47, Institut für Sozialforschung, ‚Wirtschaftswunder‘, ‚Vertreibung‘, ‚Gastarbeiter‘, ‚Stunde Null‘, Darmstädter Gespräche, ‚Die Unfähigkeit zu trauern’, ‚Zweite Moderne‘, etc.). Wir gehen von der Beobachtung aus, dass sich diese Erinnerungsorte immer nur im Zusammenspiel mehrerer Akteure aus verschiedenen Teilsystemen der Gesellschaft (legislative und exekutive Politik, Rechtsordnung, Bevölkerungsentwicklung/Biopolitik, Architektur, Medien, Literatur, Kirche) etablieren konnten. Dabei können bestimmte Akteure in unterschiedlichen Subsystemen auftauchen, wo sie mit anderen Akteuren und Netzwerken Verbindungen eingehen. Daher ist unsere Ausgangsthese, dass die gesellschaftlichen und kulturellen Äußerungsformen und Ausdrucks- und (Selbst-)Wahrnehmungsweisen der Bonner Republik nicht als nachgeschalteter Ausdruck einer Sichtbarmachung einer identitären Politik gleichsam als deren symbolische Formen zu begreifen sind, sondern dass sehr unterschiedliche Akteure bzw. Netzwerke mit unterschiedlichen Identitätsstrategemen aktiv an dem teilhaben und das formieren, was das komplexe Phänomen Bonner Republik in seinen vielfältigen und vielschichtigen Ausprägungen auszumachen scheint. Die verschiedenen Medien und ihre jeweiligen Archive machen nicht nur sichtbar, was die politischen Entscheidungsträger im Rahmen der westlichen Integrations- und Blockbildungsprozesse durchgesetzt haben, sondern sind wesentlich Produzent*innen spezifisch bundesrepublikanischer Weisen von Identitätspolitik und Identitätserfahrung, die z.B. dann sichtbar werden, wenn die Formel Bonner Republik auf ihr Verhältnis zu parallelen räumlichen, organisatorischen oder politischen Konstruktionen, die über sie hinaus dau-

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ern und z.B. Teil der Berliner Republik sind: Welche Rolle spielt z.B. NRW in der Konstruktion der Formel Bonner Republik? Ist es möglich, die Bonner Republik von einem Ort zu denken, der nicht Bonn und das Umfeld ist? In welchem Verhältnis steht die Formel von der Bonner Republik zur Bezeichnung Bundesrepublik? Welche Rolle spielt die Trope „Westen, westlich“ für die Konstruktion der Bonner Republik, auch mit Blick auf Formulierungen wie „Ankommen im Westen“, die sowohl im Kontext von Gastarbeit als auch der Wiedervereinigung fällt.24 Folglich werden die frühen Jahrzehnte der Bundesrepublik nicht als parallele Linien in den damit befassten historischen Wissenschaftsdisziplinen verstanden, die hier und da synchrone Seitenblicke erlauben, sondern als ein – inter- und transdisziplinär mit den Archiven (im Sinne Michel Foucaults) zu erforschendes – dichtes und emergentes Geflecht politischer, gesellschaftlicher und kultureller Eliten in Reaktion auf ereignisgeschichtliche Konstellationen, die ihrerseits Akteure sind und sich dem unmittelbaren Zugriff der Eliten auch entziehen können. Die neue und gerade im transdisziplinären Verbund mit den externen Institutionen wirksame Perspektive besteht darin, die verschiedenen Weisen der Sichtbarwerdung der Bonner Republik überhaupt erst im Zusammenwirken der beteiligten Disziplinen unter Einschluss der externen Partner*innen darstellbar zu machen.

3. Z um B and Im Fokus des zweiten Bandes steht die Chiffre 1968, dementsprechend widmen sich die ersten vier Beiträge „1968 in der Theorie und in der Region“. Thomas Gerhards gibt einen Überblick über den Forschungsdiskurs zu 1968 und fragt nach den mittel- und langfristigen Auswirkungen. In der Frage, welche Implikationen 1968 begleiten und welche Forschungsdesiderate noch nicht im Blick sind, zeigt er, wie Berlin als mythischer Ursprungsort gehandelt wird und zugleich 1968 als eine Art Gretchenfrage des demokratischen Potentials der Zeit gehandhabt wird. Sein Plädoyer für einen Fokus auf NRW als Beleg für die Relevanz von 1968 jenseits der Metropolen führt Uta Hinz in ihrem Beitrag

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zu „Aufruhr am Rhein? ‚1968‘ in regionaler Perspektive“ weiter. Ausgehend von den politischen Reformbestrebungen der Hochschullandschaft Nordrhein-Westfalens, u.a. mit der Gründung und dem Ausbau neuer Universitäten z.B. in Bochum, Aachen und Düsseldorf, zeigt sie, wie das politische Klima in NRW andere Voraussetzungen für Kooperation und Konfrontation setzte und damit zu anderen Ereignissen sowie Fragen an die Chiffre 1968 kommt. Die Beiträge von Uta Hinz und Thomas Gerhards sind im Rahmen des von ihnen geleiteten Projektes 1968 und die Folgen in Düsseldorf entstanden. Im dritten Beitrag dieses Abschnitts führt Verena Meis ein Interview mit Dieter Klemm über die Zeit mit Floh de Cologne, künstlerische Ausdrucksformen und die Region als künstlerischer Diskurstiegel. Auch Dieter Klemm hebt die Frage nach Bildung und Wissenstransfer für den Zeitraum hervor und berichtet z.B. von Auftritten der Band mit Arbeiter*innen und der Frage, wie Kommunikation zwischen verschiedenen Wissensgesellschaften funktioniert. Die drei nächsten Abschnitte fragen nach der Modernität einer Zeit, gemeint ist damit nicht eine epochale Zuordnung, sondern Moderne/Modernität als diskurstheoretischer Begriff, der das Verhältnis einer Zeit zu sich selbst untersucht, bzw. nach der Zeitgemäßheit fragt. Für die Bonner Republik als einer Epoche, die intensiv über ihre Bauten, insbesondere im Umfeld von Regierungssitz- und Hauptstadt-Debatten,25 rezipiert wird, untersuchen Jürgen Wiener und Christof Baier Universitätsbauten und die sie umgebenden Freiräume im Rheinland. Dabei zeigt Jürgen Wiener, wie die Universitätsplanungen in Anbetracht der steigenden Studierendenzahlen heute eine gänzliche Fehlplanung darstellen, aber im Konzept stark von der Bereitstellung von Bildungsressourcen und Bildungsnotwendigkeit geprägt sind. Anhand von sieben Universitätsbauten zeigt er, wie die verschiedenen Konzepte aneinander anknüpfen und jeweils versuchen, Möglichkeiten der Bildungsgerechtigkeit für eine Wissensgesellschaft bereitzustellen. Die Grundlage hierfür legt ein Bildungsverständnis, das von vornherein als vernetzt zwischen den verschiedenen Lebensbereichen verstanden wird und das sich z.B. in der Freiraumplanung der Universitäten wiederfindet, wie Christof Baier zeigt. Ausgehend von den amerikanischen

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Studierendenprotesten werden die Bildungsinstitutionen zunehmend als Orte sozialer Interaktion begriffen, die Angebote hierfür bereitstellen müssen, um das vermittelte Wissen tauglich für eine Anwendung jenseits der Universitäten zu machen. Ein besonderes Beispiel hierfür stellt das von Georg und Rosemarie Penker gestaltete Außengelände der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf dar, das mit dem Begriff der Raumplastik die Freiraumgestaltung zur synästhetischen Raumerfahrung konzipiert. Ausstellungen als Inszenierungen, die in besonderer Weise Position zu ihrer Zeit und deren Lesarten von Wissen beziehen, stehen im Zentrum des dritten Abschnitts zu „Konzepten von Modernität: Zeigen“. Hans Körner untersucht hierin einen Trend, der, als „naive Kunst“ betitelt, unterschiedliche Anbindungen an weitere Strömungen und Zeitbefragungen der Kunst erfahren hat. Wenngleich die im Kontext „Naiver Kunst“ oder auch autodidaktischer Kunst ausgerufenen Wettbewerbe und ihre Ergebnisse durch die Profanität der Themen – Schiffe und Häfen – sowie die eingereichten Idyllen irritieren, ermöglicht die jeweilige Interpretation des Begriffs „naiv“ jedoch ein Befragung, inwiefern eine Gesellschaft Offenheit oder Distanz generiert. So stellt jeder Versuch aus dem Naiven eine Art von a priori im Gegensatz zu einer bewussten Vereinfachung zu entwickeln immer einen Verlust an Intellektualität im Kunstbegriff und damit auch in dessen subversivem, also avantgardistischem Potential dar. Der letzte Abschnitt widmet sich schließlich dem Schreiben, allerdings nicht über mit dem Trend der „Naiven Kunst“ vergleichbare Bewegungen wie die Dortmunder Gruppe 61 oder der Werkkreis Literatur der Arbeitswelt. Volker C. Dörr nimmt Dieter Wellershoffs Programm des Neuen Realismus in den Blick und zeigt, wie Wellershoff mit marktrelevanten Positionen arbeitet. Vor allem aber legt er dar, wie Wellershoff zwischen dem im literaturwissenschaftlichen Studium erlernten Poetikbegriffen und der frühen Moderne zu einem der Zeit verpflichteten Literaturprogramm kommt. Mit Winfrid Halders Beitrag über die Frage, wessen Stimmen in der Bonner Republik Gehör fanden und welche Diskurse verstanden wurden, geht der Blick – in der

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Reihung anachronistisch –, zurück in die frühe Bonner Republik und verbindet den ersten Band mit dem zweiten Band. Die Sinnebenen der 1960er lassen sich, so das Plädoyer der Anordnung der Beiträge, nicht ohne die Diskursstrategien der 1950er verstehen. Für die Förderung der Druckkosten danken wir dem LVR und der Anton-Betz-Stiftung der Rheinischen Post e.V.

A nmerkungen 1 | Cepl-Kaufmann, Gertrude/Grande, Jasmin/Rosar, Ulrich/Wiener, Jürgen (Hrsg.): Die Bonner Republik. Teil I: 1945–1963. Gründungsphase und Adenauer-Ära. Geschichte – Forschung – Diskurs. Bielefeld: transcript 2018. Bei der hier abgedruckten Einleitung handelt es sich um eine aktualisierte und ergänzte Version der Einleitung in Band 1. 2 | Vgl. die Typologies of Interdisciplinarity von Padberg, Britta: The Center for Interdisciplinary Research (ZiF) – Epistemic and Institutional Considerations, in: Weingart, Peter/Padberg, Britta (Hg.), University Experiments in Interdisciplinarity: Obstacles and Opportunities, Bielefeld: transcript 2014, S. 95–113, hier S. 103ff. Jürgen Wiener weist in seinem Beitrag über Das Strukturprinzip der allseitigen Verflechtung. Systemarchitektur westdeutscher Universitäten und Gesamthochschulen (1960-1980) auf die Anfänge des Begriffs Interdisziplinarität aus den Naturwissenschaften hin. Zur Geschichte, Aktualität und Kritik interdisziplinärer Forschung und einer Differenzierung zu den Naturwissenschaften vgl. ebd. B. Padberg, Interdisciplinary Researchv, S. 95–113. 3 | Voßkamp, Wilhelm: Interdisziplinarität in den Geisteswissenschaften (am Beispiel einer Forschungsgruppe zur Funktionsgeschichte der Utopie), in: Kocka, Jürgen (Hg.), Interdisziplinarität. Praxis – Herausforderungen – Ideologie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1987, S. 92-105. 4 | Vgl. W. Voßkamp, Interdisziplinarität in den Geisteswissenschaften, S. 98. 5 | So lautet der Untertitel der Ringvorlesungen: Die Bonner Republik. Diskurs – Forschung – Öffentlichkeit, vgl. hierzu auch ein 2016 durch

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den LVR gefördertes und am An-Institut „Moderne im Rheinland“ erarbeitetes Konzeptpapier zu einem Kompetenzzentrum „Das Rheinland in Europa“. 6 | Vgl. Thomas S. Kuhns „Vorwort“, auf das sich auch Wilhelm Voßkamp bezieht, in: Krüger, Lorenz (Hg.), Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1978, S. 43. 7 | Vgl. hierzu den Rektoratsbeschluss Wissen teilen – Transferstrategie der Heinrich-Heine-Universität (HHU) vom 02.02.2017: „Als Bürgeruniversität legt [die HHU] besonderen Wert darauf, ein wichtiger Teil des gesellschaftlichen Lebens der Stadt und Region Düsseldorf zu sein, und sieht sich verpflichtet, durch ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse und mit ihrer intellektuellen Ausstrahlungskraft die sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungsprozesse verantwortungsvoll mitzugestalten. Mit diesem Profil rekurriert die HHU auf das Selbstverständnis des Bürgertums in der Aufklärung, deren großes Ziel es war, die Gesellschaft durch Fortschritt, Rationalität, Bildung und Emanzipation mitzugestalten. Das Programm für eine bürgerliche Gesellschaft ging und geht auch heute noch Hand in Hand mit den Prinzipien der autonomen Wissenschaft. Denn das SichLösen von Vorurteilen, das kritische Hinterfragen vermeintlicher Wahrheiten, freies und vernunftgeleitetes Denken bestimmen jegliche wissenschaftliche Arbeit.“ http://www.forschung.uni-duesseldorf.de/fileadmin/redaktion/ZUV/Dezernat_2/Abteilung_2.2/Dokumente/170214_aktuell_Internet_Transferstrategie_HHU.pdf, 11.09.2020. 8 | vgl. das Gespräch zwischen Johannes Vogel, Generaldirektor des Berliner Museums für Naturkunde, und Wilhelm Krull, Generalsekretär der VolkswagenStiftung: „Ein Hunger für Wissenschaft ist da, doch wir stillen ihn nicht.“, in: Impulse. Das Magazin der VolkswagenStiftung (2018), S. 8–11. Weiter zum Thema aus der Perspektive der Öffentlichkeitskommunikation im gleichen Heft: Wegner, Stefan: Das grosse public missunderstanding, S. 13–15. 9 | Zum Begriff der Transdisziplinarität im Kontext der Partizipation vgl. Hanschitz, Rudolf-Christian/Schmidt, Esther/Schwarz, Guido, Transdis-

Die Bonner Republik als Forschungsschwerpunkt

ziplinarität in Forschung und Praxis. Chancen und Risiken partizipativer Prozesse, 2009: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009, S. 185–197. 10 | Witzel, Frank/Felsch, Philipp: BRD Noir. Berlin: Matthes & Seitz 2016 (= Fröhliche Wissenschaft). Dass die Kontrastierung der Abgründe mit den Idealisierungen einhergeht, wie sie Felsch und Witzel über den in der Titelmatrix angezeigten Transfer zum film noir vorgenommen haben, in dem die scheinbare Idylle den Raum für verbrecherische Entgleisung bietet, zeigt z.B. ein Interview des Regisseurs Kilian Riedhof anlässlich seines ARD-Zweiteilers Gladbeck dar, in dem dieser angibt: „Es war die Begegnung mit dem Animalischen. Das traf die Bonner Republik unvorbereitet, weil nach dem Dritten Reich die direkte Auseinandersetzung mit dem Bösen weitgehend verdrängt worden war. Aber nun saß das Monster mitten in einer Fußgängerzone, dem Inbegriff bundesdeutscher Alltäglichkeit. Polizei und Staat standen ihm gelähmt gegenüber. Presse und Schaulustige ließen sich rauschhaft von ihm verführen. Und die Geiseln waren seiner Willkür schutzlos ausgeliefert.“ vgl. Hannes Roß, Kulturredakteur des Sterns im Interview mit Kilian Riedhof, https://www.stern.de/kultur/tv/-gladbeck--regisseur---einland-liess-sich-vom-sog-des-animalischen-mitreissen--7890614.html, veröffentlicht am 07.03.2018, Zugriff 12.09.2020. 11 | Vgl. hierzu den www.blog-der-republik.de, z.B. die Beiträge „Dank an die Bonner Republik“ vom 6.9.2017 von Friedhelm Ost oder „Bonn – Berlin – Was hat’s gebracht? Eine Polemik“ ebenfalls vom 6.9.2017 von Wolfgang Wiemer oder „Merkels Merksätze: Ganz ohne Pathos“ von Wolfgang Tönnesmann vom 16.9.2017: „Die Bonner Republik war eine Republik ganz ohne Pathos. Auch wenn zuweilen leidenschaftlich gestritten und gut geredet wurde, auch in Wahlkämpfen, so schien es doch einen Konsens zu geben: Beim Reden alle Register der Rhetorik ziehen, nein, das tut man nicht.“ Der Blog der Republik versteht sich als Ergänzung zum Mainstream in der politischen Öffentlichkeit. 12 | Vgl. z.B. die Geschichten, die Matthias Brandt, mit Rückgriff auf die Erinnerungen seiner Kindheit unter dem Titel Raumpatrouille, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2016 versammelt hat. Auch die große Aufmerksamkeit in allen Medien, die der Umzug des „Bundesbüdchens“ auf sei-

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Gertrude Cepl-Kaufmann, Jasmin Grande, Ulrich Rosar, Jürgen Wiener

nen alten Platz, gefunden hat, weisen auf die Relevanz des Erinnerungsbildes Bonner Republik hin, vgl. z.B. : https://www.deutschlandfunk.de/ bundesbuedchen-der-zeitungskiosk-der-bonner-republik.2907.de.html?dram:article_id=482896, 12.09.2020. 13 | Felsch/Witzel, BRD Noir, S. 7. 14 | Ebd. 15 | https://www.200jahre.uni-bonn.de/de, 12.09.2020 16 | Tatsächlich findet die Begriffskombination Bonner Republik z.B. in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bereits 1949 Verwendung durch den Frankreich-Korrespondenten Paul Medina, vgl. Medina, Paul: Warum Frankreich zögert?, in: FAZ 19.11.1949, S. 2; Ders.: Die wunde Stelle. Nachklänge aus Paris, in: FAZ, 07.12.1949, weitere Artikel von Paul Medina 1950, in denen es um die französische Perspektive um Beitritt und Rolle der BRD in der EU geht. 17 | Vgl. z.B. Schildt, Axel: Abschied vom Westen? Zur Debatte um die Historisierung der „Bonner Republik“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 10 (2000), S. 1207–1212, hier S. 1208. 18 | Becker, Manuel: Geschichtspolitik in der ‚Berliner Republik‘: Konzeptionen und Kontroversen, Wiesbaden: Springer VS 2013, S. 14f. 19 | „Mein Buch versteht sich als Beitrag zur historischen Demokratieforschung. Betonen möchte es die Historizität und damit auch Fragilität von Demokratie und Parlamentarismus, deren Formen weder statisch noch zeitlos sind. Hervorgehoben wird vielmehr der prozesshafte Charakter der Demokratie, die in der Nachkriegszeit zunächst etabliert und erlernt wurde – und die es seitdem zu leben, zu bewahren und zu reformieren gilt.“ Wintgens, Benedikt: Das Treibhaus. Die politische Kulturgeschichte eines Romans. Düsseldorf: Droste 2019, S. 19f. 20 | Vgl. z.B. den Abschnitt zu „Der Kölner Kreis“ im Brinkmann-Handbuch: „Seine Freunde in Köln bewundern ihn. Zu seinem Lebensstil in dieser Zeit gehören die großen Popkonzerte, Kinobesuche, die Kneipen, der Jazz- und Beatclub Storyville. Nächtelang zieht er mit Freunden durch die Stadt. Die lokale Szene bietet einen reizvollen Mix aus Musik, Literatur, bildender Kunst, Happening und Film, der Brinkmanns Spektrum bis in den Multimediabereich hinein enorm erweitert.“ Fauser, Markus: „Wo aber ist das Leben?“, in: Brinkmann-Handbuch. Leben

Die Bonner Republik als Forschungsschwerpunkt

– Werk – Wirkung, hrsg. v. Markus Fauser, Dirk Niefanger, Sibylle Schönborn, Berlin: J. B. Metzler 2020, S. 3–19, hier S. 9. 21 | Vgl. Husslein, Uwe (Hrsg.): Pop am Rhein, Köln: Walther König 2008. 22 | Vgl. dazu die Aufsätze von Ute Hinz und Thomas Gerhards in diesem Band. 23 | „F: Vielleicht ist Provinz gar kein geografischer Ort, sondern eine Lebensphase… / W: Genau, Provinz ist auch ein Alterszustand, weil man sich nur in einem engen Umfeld bewegt.“ in: Felsch/Witzel, BRD Noir, S. 19.24 | Vgl. Grabbe, Katharina: Deutschland – Image und Imaginäres. Zur Dynamik der nationalen Identifizierung. Berlin/Boston 2014. Zum Begriff des Westens als Trope vgl. Sakai, Naoki: „The dislocation of the West“, in: Traces. A multilingual Journal of cultural Theory and Translation. Specters of the West and the Politics of Translation, hrsg. v. Naoki Sakai, Yukiko Hanawa, Ithaca: Cornell University 2001, S. 71–94. 25 | Ziegler, Merle: Kybernetisch regieren. Architektur des Bonner Bundeskanzleramtes 1969–1976. Düsseldorf: Droste 2017; Plessen, Elisabeth: Bauten des Bundes 1949–1989. Zwischen Architekturkritik und zeitgenössischer Wahrnehmung. Berlin: DOM 2019.

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1968 in der Theorie und in der Region

Achtundsechzig als Problem der historischen Forschung und der politischen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland Thomas Gerhards

Ein halbes Jahrhundert nach den Ereignissen, die in Deutschland mit der knappen Chiffre „Achtundsechzig“ erfasst werden, kann nur sehr bedingt davon gesprochen werden, dass sich Geschichts- und Sozialwissenschaften und interessierte Öffentlichkeit über einen festen Ort einig sind, den die „Jugendrevolte“1 in der Bonner Republik einzunehmen habe: 68 war eine antiautoritäre Revolte der Jugend und „Irritationserfahrung“2, eine „Lebensstilrevolution“ oder kulturelle Wahrnehmungsrevolution, ja sogar eine „Revolution im Weltsystem“ – so einige der prominenten und bedeutungsschweren Schlagworte. Bezeichnenderweise besteht schon keine Übereinkunft in der Verwendung zentraler Begriffe: aufgrund seiner geringen Spezifik wird zwar gerne von 68 gesprochen, „Achtundsechziger“ suggeriert hingegen eine Gruppenidentität oder gar generationelle Einheitlichkeit, die zunehmend kritisch hinterfragt wird. Noch problematischer wird es bei einer Bezeichnung wie „Studentenbewegung“, die weniger wegen ihres sprachlichen Ausschlusses von Studentinnen kritisiert wird als wegen der Beschränkung auf diese zahlenmäßig kleine Gruppe. Schließlich dürfte klar sein, dass Begriffe wie „Revolte“ und „Revolution“ sehr unterschiedliche Sachverhalte beschreiben können, ganz abgesehen von der Problematik, dass hier sehr schnell politische Werthaltungen der

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Betrachter ins Spiel kommen, die methodisch nicht mehr kontrollierbar sind.3 Auch die kürzlich vorgelegten modernen Synthesen4 belegen daher einmal mehr die „Unbestimmtheit“ und „suggestive Kraft der Chiffre“, in die „sich je nach Bedarf alles Mögliche hineinprojizieren [lässt], was irgendwie mit grundlegendem kulturellem und politischem Wandel assoziiert wird und bestätigend oder ablehnend aufgerufen werden soll.“5 Die Bedeutungsvielfalt führt mittlerweile nicht mehr nur zu ebenso weitreichenden wie schwer belegbaren Aussagen darüber, was 68 eigentlich war. Wichtiger noch scheint in zahlreichen populärwissenschaftlichen Medien, vor allem jedoch in der parteipolitischen Auseinandersetzung, eine Antwort auf die Frage zu sein, welche mittel- und langfristigen Auswirkungen quasi „anrechenbar“ sind.6 Schaut man genauer hin, kann schließlich der Eindruck entstehen, als kristallisiere sich um die Formel 68 eine politische Stellvertreterdiskussion, die geeignet ist, eine Trennlinie zwischen Demokraten und Anti-Demokraten zu ziehen. Drei Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit illustrieren diese Frontstellung: „Heute sind viele ihrer Themen nicht nur in den Mainstream eingegangen, sondern sie definieren geradezu die Loyalität zum System. Wer gegen Umweltschutz oder Frauenemanzipation ist oder sich gar ausdrücklich gegen die 68er wendet, dürfte im heutigen Deutschland aller Wahrscheinlichkeit nach Anhänger der AfD sein und als solcher zur freiheitlich demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes in einem zumindest ambivalenten Verhältnis stehen, während viele politische Projekte der 68er mittlerweile im Grundgesetz verankert sind, also die maximale Systemkanonisierung erfahren haben.“7

Leider wird nicht gesagt, um welche konkreten „Projekte“ es sich dabei handelt. Dass etwa der Umweltschutz ein Erbe der 68er sei, wird in der Forschung kaum vertreten. Sehr klar ist jedoch die Grundthese: Gegen 68 sind die Vertreter der AfD und alle diejenigen, die ein ambivalentes Verhältnis zum Grundgesetz haben.

Achtundsechzig als Problem

„Fünfzig Jahre nach 1968 wird es Zeit für eine bürgerlich konservative Wende in Deutschland. Linke Ideologien, sozialdemokratischer Etatismus und grüner Verbotismus hatten ihre Zeit. Der neue Islamismus attackiert Europas Freiheitsidee und Selbstverständnis und darf seine Zeit gar nicht erst bekommen. Darum formiert sich in Deutschland eine neue Bürgerlichkeit. Auf die linke Revolution der Eliten folgt eine konservative Revolution der Bürger. Wir unterstützen diese Revolution und sind ihre Stimme in der Politik.“8

Ob der damalige kommissarische Bundesverkehrsminister und ehemalige CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt „zur freiheitlich demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes in einem zumindest ambivalenten Verhältnis“ steht, sei dahingestellt.9 Auffällig ist hingegen das augenscheinlich konservative Verständnis von Bürgerlichkeit, das bei Dobrindt zum Ausdruck kommt: hier geht es nicht um den selbstbewussten und zivilgesellschaftlich engagierten Bürger, wie er etwa im französischen citoyen gemeint ist, sondern lediglich um vermeintlich bürgerliche Werte wie Treue oder Familiensinn.10 Die unmittelbaren Reaktionen auf die Verwendung des Begriffs der „Konservativen Revolution“11 waren zwar kritisch; das hier zu hörende antidemokratische Hintergrundrauschen des Begriffs führte jedoch nicht zu ernsthaften Rücktrittsforderungen. So ist es fraglich, ob die „kulturelle Hegemonie“, die Dobrindt zu erobern bestrebt ist, nicht längst von Rechts besetzt wird. Sein Artikel in der „Welt“ hat aber gewissermaßen als konservativer Neujahrsgruß die erwartbaren Reaktionen hervorgerufen und diese wohl auch absichtsvoll provozieren wollen.12 Der ehemalige Aktivist Daniel Cohn-Bendit echauffierte sich schließlich in einem Interview mit der „Rheinischen Post“: Es rege ihn auf, „wenn ein Politiker wie Alexander Dobrindt, der 68 noch in kurzen Hosen steckte, verkündet, er wolle das Erbe von 68 eliminieren. Dann denke ich mir: Hör auf, Junge, geh lieber joggen! […] Ich hab‘ keine Lust, mich mit den Dummheiten eines Dobrindts über 68 auseinanderzusetzen, lieber beschäftige ich mich mit seinen Dummheiten von heute.“13 In den Zitaten erscheinen die „Pro-68er“ als die Modernen, Fortschrittlichen, ja sogar als die Demokraten schlechthin – ihre Kritiker

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und Verächter als rückwärtsgewandt und demokratieverachtend. Insofern hängen die „Dummheiten von heute“ durchaus mit der Perzeption der „68er von gestern“ zusammen. Mag der politische Streit um die „richtige“ Erinnerung an 68 auch insofern nachvollziehbar sein, als er in erster Linie der politischen Identitätsbildung dient und damit nicht zwangsläufig einem Wahrheitspostulat unterliegt. Aber auch „wissenschaftlichen“ Auseinandersetzungen, die anderen Mechanismen gehorchen (sollten), wohnt gelegentlich ein nicht geringerer Furor inne, wie insbesondere die Auseinandersetzung um Götz Alys „Unser Kampf“ im Jahre 2008 gezeigt hat.14 Aly hatte einige durchaus bedenkenswerte Thesen und Einsichten präsentiert, etwa zur fehlenden Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus.15 Darüber wurde jedoch kaum diskutiert, da schon der um größtmögliche mediale Aufmerksamkeit heischende Titel Analogieschlüsse provozierte, die selbst heute noch für empörte Gegenreaktionen sorgen.16 Auch 50 Jahre nach der „Studentenbewegung“ gibt es also kein Ende der intellektuellen und wissenschaftlichen Debatte um ihre Bedeutung für die politische Kultur und nur wenig Konsens über ihren historischen Ort in der Geschichte der Bundesrepublik. Schon 2008 hat Norbert Frei pointiert festgestellt, dass das deutsche 68 „überkommentiert und untererforscht“ sei.17 Im Folgenden soll es um die Frage gehen, warum auch 50 Jahre nach dem Höhepunkt der Ereignisse allenfalls von einem Minimalkonsens gesprochen werden kann, wenn es um die Bewertung der Jugendrevolte und ihre konkreten Folgen geht.18 Der Dissens in der politischen Öffentlichkeit muss hier nicht weiter verfolgt werden, er ist zu offensichtlich und wird alle Jahre wieder reaktiviert. Der Hamburger Zeithistoriker Axel Schildt hat kürzlich zwischen drei Betrachtungsebenen unterschieden: die der Erzählungen der von ihm so bezeichneten „Erlebniselite“ (also in der Hauptsache die heute noch bekannten Protagonisten der Revolte), die der (geschichts)politischen Deutungskämpfe, und schließlich die der zeithistorischen Betrachtung. Die Zeit der Vermischung dieser drei Ebenen sei nun an ihr Ende gekommen, nun schlage endgültig „die Stunde der historischen Betrachtung“.19 Daran anschließend lässt sich die Frage formulieren: Wie ist es aber um die historische Forschung bestellt, welche Ergebnisse hat sie bislang

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zutage gefördert, die als Grundlage einer historisch informierten Meinungsbildung dienen können? Grundlage der Analyse sind in erster Linie die in den letzten 20 Jahren zahlreich erschienenen Handbücher zur Geschichte der Bundesrepublik und die jüngsten Synthesen zur 68er-Bewegung. Im Idealfall erfüllen sie den Anspruch, den Christina von Hodenberg und Detlef Siegfried für die Geschichtsschreibung zu 68 im Allgemeinen formuliert haben: „die öffentliche Diskussion ein Stück weit zu qualifizieren“.20 Die Analyse zur Frage, welchen Ort 68 in der Geschichte der Bonner Republik einnimmt, erfolgt hier in drei Schritten: Wo ereignete sich 68 oder das, was wir heute noch damit verbinden? Was war 68 eigentlich: Studentenbewegung, Jugendrevolte, Kulturrevolution, APO – oder all‘ das zusammen? Und schließlich, eng damit verbunden, die Frage: Wer waren die 68er, an deren Wirken sich heute noch die Geister scheiden? Gerade die Fragen nach dem „Wer“ und dem „Was“ sorgen bis heute für heftige Kontroversen. Erst die enge Verknüpfung dieser Komplexe ermöglicht meines Erachtens eine halbwegs befriedigende Antwort auf die Frage, warum 68 auch heute noch ein so stark umstrittenes Stück Zeitgeschichte ist.

Wo

lag

68? „Brennpunkte der 68-Revolte waren die USA, Berlin, Paris und Italien […].“21

Dieser Satz des österreichischen Historikers Karl Vocelka ist einleuchtend, macht aber auch stutzig durch den Vergleich von Ländern und Städten. Will man sich mit der Frage beschäftigen, „wo“ 68 gelegen hat, dann kommt man in der Tat schnell zu dem Ergebnis, dass es in den USA nicht nur die Westküste und insbesondere Berkeley waren, die von studentischen Protesten ergriffen wurden. Denkt man an Frankreich, verfällt man ebenso automatisch auf den „Pariser Mai“. Italien wurde demgegenüber als Ganzes von einer revoltierenden Jugend erfasst, zudem – ähnlich wie in Frankreich – mit einer wesentlich stärkeren

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Verbindung zur organisierten Arbeiterschaft als etwa in Deutschland, wo eine Beeinflussung der Arbeiter durch Intellektuelle aufgrund einer traditionsreichen und stabilen Arbeiterkultur mit starker Gewerkschaftsbewegung kaum erfolgreich sein konnte.22 Richtet man den Fokus vor allem auf Deutschland, dann springt West-Berlin ins Auge, die „Frontstadt des Kalten Krieges“ mit ihrer starken US-amerikanischen Präsenz:23 „Es ist alles andere als Zufall, dass sich im Falle der Bundesrepublik Deutschland diese Radikalisierung zuerst und am schärfsten in West-Berlin abspielt. In der geopolitischen Abkapselung entsteht eine eigene Studentenbewegung und aus ihr heraus etabliert sich wiederum ein ganz spezifisches Milieu, eine linksradikale Szene wie sie nirgendwo sonst zu finden ist. Von vorentscheidender Bedeutung ist dabei ganz gewiss das Koordinatensystem des Kalten Krieges: West-Berlin ist eine Insel im Ostblock. In dieser Stadthälfte drückt sich wie an keinem anderen Ort sonst sowohl die deutsche Teilung als auch der Systemkonflikt zwischen Kapitalismus und Kommunismus aus. Da hier beide Machtblöcke unmittelbar aufeinanderprallen, steht die westliche Stadthälfte politisch und kulturell wie unter Strom.“24

Nicht zuletzt der Vietnamkrieg gilt als eines der wichtigsten handlungsleitenden Motive auch der deutschen Studentenbewegung, weshalb es nicht überrascht, dass sich bekannte Aktionen wie das „Pudding-Attentat“ auf den US-amerikanischen Vizepräsidenten Hubert Humphrey im April 1967 oder der berühmte Internationale Vietnamkongreß im Januar 1968 in Berlin ereigneten und sich gegen die Politik der USA wendeten. Dass es sich dabei im Normalfall keineswegs um Anti-Amerikanismus handelte, wurde damals wie heute oft genug übersehen.25 Vielmehr war es ein intellektueller Anschluss an das Port Huron-Statement von 1962, in dem die Empörung über den Verrat der „amerikanischen Werte“ einen kraftvollen Ausdruck fand.26 Schenkt man einem der prominentesten Protest-Akteure der damaligen Zeit Glauben, dann entsprang die Fokussierung auf Berlin einer strategisch begründeten Absicht. Laut Dieter Kunzelmann haben er, Rudi Dutschke und andere während eines berühmten Treffens

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in Kochel am See im Juni 1966 nicht nur die Bildung der nachmalig berühmten Kommune I beschlossen; hier soll auch die Entscheidung gefallen sein, den Fokus zukünftiger Aktionen auf Berlin zu richten, dieses „idealtypische Provokantenparadies“: denn während etwa in München, wo der Bamberger Kunzelmann eine Zeitlang gelebt hatte, nahezu jede subversive Aktion schnell und wirkungslos verpuffe, sorge in Berlin allein schon die Springer-Presse dafür, dass selbst die kleinste Regelverletzung ein gewaltiges publizistisches Echo hervorrufe.27 Die 68er waren clever genug, das mediale Interesse für die eigenen Zwecke zu nutzen, wie nicht zuletzt die Kommune I immer wieder unter Beweis stellte.28 Niemand würde behaupten wollen, dass sich 68 in Deutschland nur – oder vor allem – in Berlin abgespielt habe; zumindest Frankfurt am Main findet im Allgemeinen noch Erwähnung als der „intellektuelle Quellort“ der Studentenbewegung.29 In den wissenschaftlichen Darstellungen ist jedoch auffällig, wie stark alles auf Berlin hin orientiert ist, hier spielten sich gewissermaßen die großen „Haupt- und Staatsaktionen“ der Studentenbewegung ab, die ins kulturelle Gedächtnis eingegangen sind: Der Tod Benno Ohnesorgs als „generationsstiftende[s] Ereignis“,30 das besagte Pudding-Attentat, der Internationale Vietnamkongreß, die Gründung der Kommune I, der Mordversuch an Rudi Dutschke, die „Schlacht am Tegeler Weg“31 – Berlin gilt als der mythische Ursprungsort der „68er-Bewegung“.32 Das geht bis hin zu einem aktuellen Reiseführer ins 68er-Deutschland, der 36 „Schauplätze der Revolte“ vorstellt, von denen 27 in Berlin liegen.33 In der medialen Erinnerung finden oft nur noch die bundesweiten Osterunruhen im Anschluss an das Dutschke-Attentat und der Sternmarsch auf Bonn im Mai 1968 Erwähnung; über Ereignisse mit nur lokaler oder regionaler Ausstrahlung liest man auch in den Handbüchern meist recht wenig. Die starke Fokussierung auf West-Berlin ist in jüngster Zeit wiederholt kritisch hinterfragt worden, von einem „Kult der Metropolen“34 war aus lokalhistorischer Sicht die Rede. Zahlreiche Ausstellungen in der Bundesrepublik haben 2017 und 2018 gezeigt, dass 1968 auch in der vermeintlichen „Provinz“ zum Teil massive Auswirkungen hatte, diese jedoch in der kollektiven Erinnerung – und damit in den öffent-

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lichen Debatten – kaum Erwähnung finden. Die Bücher von Detlef Siegfried und Christina von Hodenberg haben hingegen verdeutlicht, wie wichtig die Einbeziehung der vermeintlichen „Provinz“ in die Analyse forschungspraktisch ist.35 Tatsächlich hat die Konzentration auf Berlin Folgen für die Darstellung und Bewertung der 68er-Bewegung als Ganzes. Besonders folgenreich scheint hier die Verknüpfung mit einem der wichtigsten historiographischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zu sein: Die deutsche Geschichtsschreibung der letzten 20 Jahre wurde geprägt von einem Trend, den man als „Globalisierung“ bezeichnen könnte. Zentrale Begriffe methodischer Debatten sind heute „transnational“ und „Globalgeschichte“. Stärker noch als schon in den 1990ern gerät die Historiographie gerade dann in den Ruch des Provinziellen, wenn sie sich allein im nationalstaatlichen Rahmen bewegt.36 Das Thema 68 zwingt geradezu zur transnationalen Betrachtungsweise, will man das Phänomen in seiner ganzen Komplexität erfassen. So wurde etwa im wichtigsten theoretischen Organ des SDS, der „Neuen Kritik“, regelmäßig über die Ereignisse in den USA berichtet – von einem deutschen Studenten, der an der Ausarbeitung des berühmten Port-Huron-Statement beteiligt war.37 Es ist daher kein Zufall, dass manche Autor*innen in der Schilderung der Ereignisse mit inter- und/oder transnationalen Zusammenhängen einsetzen, etwa mit dem „transnationalen Protest in einem Jahrzehnt des Wandels“38 oder der Bedeutung der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und der dortigen Studentenbewegung,39 über die es zu einem Transfer moderner Protestformen wie dem Sit-in kam.40 In der Tat sind die transnationalen Zusammenhänge von elementarer Bedeutung für das Verständnis der 68er, die sich gegenseitig beobachteten und voneinander lernten, den genannten Beispielen ließen sich problemlos weitere hinzufügen. Eine mögliche, wenn auch gewiss nicht notwendige, Folge dieser Ausrichtung liegt in der Vernachlässigung nationaler Spezifika sowie regionaler und lokaler Besonderheiten. Mit Sebastian Conrad hat einer der profiliertesten deutschsprachigen Vertreter der Globalgeschichte auf diese Problematik hingewiesen:

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„Noch deutlicher wird die Spannung zwischen räumlicher Gleichzeitigkeit und längeren internen Prozessen bei der Diskussion ,globaler Momente‘. Ein Beispiel dafür sind Arbeiten, die das Jahr 1968 als globalen Wendepunkt behandeln. Dabei wird auf die Gleichzeitigkeit der Ereignisse verwiesen […]. Und in der Tat waren die Bewegungen miteinander verbunden, beobachteten sich gegenseitig, übernahmen Elemente des politischen Diskurses und Protestformen wie das Sit-in. Aber jenseits dieser Verbindungen, die auch bei vielen Akteuren zum Gefühl einer internationalen Bewegung beitrugen, blieben die jeweiligen lokalen Kontexte doch ganz zentral. Die Entstehungsbedingungen, die politischen Anliegen, die gesellschaftlichen Folgen unterschieden sich meist ganz fundamental – selbst wenn etwa die Kritik am Vietnamkrieg an vielen Orten die politische Rhetorik färbte.“41

Die internationale 68er-Bewegung zeichnet sich nicht nur durch ihren transnationalen Charakter mit jeweils nationalen Spezifika aus;42 hinzu kommen jeweils auch noch lokale Besonderheiten, die von Stadt zu Stadt verschieden sein konnten, vor allem im Hinblick auf die Universitäten: mit ihrem universalen Geltungsanspruch waren die sozialen Bewegungen der 1960/70er Jahre „zugleich lokal und global“.43 Thomas Großbölting hat jüngst in einer kleinen Studie zu „68 in Westfalen“ die These vertreten, dass die Abläufe in Städten wie Münster stark von den Agenden der dortigen Akteure geprägt wurden, ebenso von der örtlichen Sozialstruktur. Schon die vergleichsweise oft kleine Zahl der Protagonisten vor Ort44 (auch in Berlin) lege es nahe, sich eben nicht nur auf die großen Zentren zu beschränken; zwar wurde auch in Westfalen über den Vietnamkrieg und die „Dritte Welt“ diskutiert, handlungsmotivierend waren jedoch in erster Linie lokale und nationale Themen wie vor allem die Notstandsgesetze. Die internationalen Großereignisse bildeten dazu lediglich die „Begleitmusik“.45 Diese Beobachtungen sind nicht nur als Ergänzung zur bisherigen Forschung wichtig, sondern haben eine grundsätzliche Aussagekraft: Um das Phänomen 68 richtig zu verstehen, kann es nicht ausreichend sein, nur die „Protest-Metropolen“ in den Blick zu nehmen. Nordrhein-Westfalen ist

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dafür ein gutes Beispiel: Bis in die frühen 1960er Jahre gab es hier nur vier Universitäten (Aachen, Bonn, Köln, Münster), die dann sukzessive von Neugründungen wie Bochum, Bielefeld, Dortmund und Düsseldorf46 ergänzt wurden – das bevölkerungsreichste Land der BRD verzeichnete auch die höchste Studierendenzahl.47 Dennoch wurde mit einigem Recht die These vertreten, dass 68 hier gewissermaßen nur mit einer „Phasenverschiebung“ eine Rolle spielte: Blieb es 1968 selbst noch vergleichsweise ruhig an den Universitäten, änderte sich die Situation mitunter dramatisch in den 1970er Jahren.48 Bedeutet das aber, dass 68 in NRW nur eine nachrangige Rolle spielte? Wenn dem so wäre, hätte es allenfalls eine nachgeordnete Relevanz für den soziokulturellen und politischen Wandel außerhalb West-Berlins. Die Einschätzung von Lokalhistoriker*innen klingt jedoch anders, wie erneut Thomas Großbölting belegt: „Die Institutsbesetzung im November 1968 im damaligen Bochum-Querenburg, das Go-In in die Christmette des Jahres 1968 in Gütersloh oder die ,Schlacht um das Fürstenberghaus‘ im Juni 1969 in Münster – keines dieser oder der vergleichbaren Ereignisse in Westfalen erreichte bundesweit Aufmerksamkeit. Jedes aber konnte für sich verbuchen, dass es im unmittelbaren Umfeld für wichtige Veränderungen der bisherigen Gegebenheiten stand.“49

Bochum-Querenberg, Gütersloh, Münster – ein wenig klingt diese Ansammlung wie ein ironischer Seitenhieb auf die Berlin-Fixierung des deutschen 68er-Geschichtsbildes. Auch hier ist kritisch zu fragen, ob eine Ergänzung der Berliner „Haupt- und Staatsaktionen“ um die „provinziellen“ Highlights nicht eine weitere Problematik aufzeigt: Die beschränkte Sicht auf lokal-mediale und/oder bundes-mediale Großereignisse, die unter dem Signum „Protest“50 firmieren, vernachlässigt zu häufig die Frage nach der Reaktion des Staates, der von den aktivistischen Studierenden vor allem als autoritär empfunden wurde. Auch hier zeigt sich jedoch eine große Bandbreite an Handlungsoptionen für die Länderregierungen, die zwischen „Repression oder Toleranz“ lagen.51 Oft war es gerade das Agieren der Polizei, das verschärfend oder deeskalierend wirken konnte, und das war regional und lokal recht unterschiedlich.

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Insbesondere die harschen Reaktionen der Berliner Polizei und der Behörden im Umfeld des Schahbesuchs sorgten bundesweit für große Empörung, die weit über den Kreis der Studierenden hinausging. Jürgen Habermas etwa wies darauf hin, dass die Polizei – noch aus der Weimarer Zeit herrührend – „als eine Bürgerkriegsmiliz geschult“ und daher „nicht auf die politische Rolle nonkonformistischer Minderheiten vorbereitet“ gewesen sei.52 Auf einer Gedenkveranstaltung zum Tode Ohnesorgs in Köln hielt der Soziologe Erwin K. Scheuch eine Rede, die nicht mit Kritik an der Springer-Presse sparte, aber ebenso das verantwortungslose Handeln der Polizei anprangerte.53 Am Ende war der öffentliche Druck in Berlin so groß, dass Polizeipräsident und Regierender Bürgermeister demissionieren mussten.54 Auch in Nordrhein-Westfalen kam es zu zahlreichen Polizeieinsätzen gegen demonstrierende Studenten, die in nicht seltenen Fällen zu einer Verschärfung der Situation in den Städten sorgten: etwa in Bonn anlässlich des Schahbesuchs55 oder bereits im Herbst 1966 in Köln bei der sog. KVB-Schlacht zwischen Studierenden und Schülern sowie den lokalen Verkehrsbetrieben, ausgelöst durch Fahrpreiserhöhungen56 – laut dem Zeitzeugen Claus Leggewie eine „Ouvertüre zivilen Ungehorsams“.57 Trotz dieser teils heftigen Auseinandersetzungen kann für NRW aber nicht davon gesprochen werden, dass die Begegnung zwischen Polizei und Demonstrierenden allein auf Repression beruht hätte. So durften Ende 1967 beispielsweise über 100 Studierende einige Wochen lang die Polizei auf ihren Streifen begleiten, um ein Gefühl für deren Arbeit zu bekommen, und auch aufseiten der Polizei lässt sich wenigstens ein partielles Verständnis für die Anliegen der Jungakademiker konstatieren. Erst durch die beständige Konfrontation änderte sich sukzessive auch das noch aus Weimarer Zeiten herrührende militärische Selbstverständnis in der Polizeiausbildung hin zu mehr Bürgernähe.58 Die Reaktionen der politischen Elite – und damit des von der APO so oft verunglimpften „Establishments“ – fielen mithin gelegentlich differenzierter aus, als es das nachträglich oft artikulierte Gefühl einer repressiven Grunderfahrung vermittelt. Während etwa in Bayern mit dem Gedanken gespielt wurde, eine der Ludwigsburger Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen nachgebildete Stelle zur Erfassung

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radikalisierter Studenten einzurichten,59 zeigte sich die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen vergleichsweise gelassen im Umgang mit der Jugendrevolte. Ministerpräsident Heinz Kühn (SPD) verkündete daher im Januar 1969 im Landtag zufrieden: „Hier hat es kein München, kein Frankfurt, kein Hamburg, kein Berlin und kein Heidelberg gegeben.“60 Demgegenüber stehen wiederum die Bemühungen der Bundesinnenministerkonferenz, aufgrund der Erfahrungen mit den Unruhen ihre Sicherheitskonzepte enger miteinander abzustimmen, bis hin zu Planspielen zur Einschränkung der Grundrechte.61 Ergebnisse wie diese sind allein durch Forschungen im lokalen und regionalen Raum möglich und um zahlreiche Aspekte zu erweitern. Zu fragen ist – um nur einige Beispiele zu nennen – nach dem Einfluss der Studierenden und ihrer Aktionen auf die Hochschulpolitik des jeweiligen Landes; hier sind landeshistorische Vergleiche aufgrund der föderalistischen Traditionen zwingend erforderlich;62 nach der lokalen Bedeutung der zahlreichen politischen Clubs, die als „Korsett der APO“ charakterisiert wurden;63 nach lokalen (Land-)Kommunen in den Städten und auf dem platten Land, die teilweise nachhaltigere Folgen hatten als die urbanen Ereignisse;64 nach alternativen Buchläden, die zu „Zentren des alternativen Lebensstils“ wurden;65 nach unterschiedlichen lokalen Reaktionen auf die „Haupt- und Staatsaktionen“ wie etwa die Springer-Proteste;66 oder nach der bislang noch wenig erforschten Jugendzentrumsbewegung.67 Mochten sich solche Institutionen teilweise auch erst in den frühen 1970er Jahren gebildet haben, so gehören sie gleichwohl zur breiten Strömung der soziokulturellen Wandlungsprozesse, die nicht nur die Großstädte transformierte.68 68 war überall, aber überall anders. Was im internationalen Maßstab längst herausgearbeitet wurde, ist für die nationale Ebene vielfach noch nachzuholen. Die Geschichtsschreibung zur 68er-Bewegung hat hier im Prinzip den Fokus der großen Leitmedien der 1960er Jahre übernommen. Freilich gab es immer schon eine regionale und lokale Erinnerungskultur, die aber erst in den letzten Jahren auch wissenschaftlich produktiv erschlossen wird und darauf wartet, in die bundesdeutsche Überlieferung integriert zu werden. Wenn auf die Frage

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nach dem „wo“ bislang v.a. mit Berlin und Frankfurt geantwortet wird, obwohl 68 ein transregionales Ereignis war, dann muss der Blick viel stärker auf die Provinzen gerichtet werden; zumindest sollte schärfer herausgearbeitet werden, wie Zentren und Peripherien miteinander kooperierten und aufeinander reagierten. Die wesentlichen Motive konnten lokal sehr unterschiedlich sein. Die Konzentration auf Berlin hat schließlich auch mit der lang geübten Fokussierung auf die politischen Ereignisse zu tun, mit der Einschätzung von 68 als hauptsächlich politischer Protestbewegung. Die größte mediale Aufmerksamkeit wurde dabei gewöhnlich den dortigen Ereignissen gewidmet, das hatten Kunzelmann und andere völlig richtig analysiert. Historisch stellt sich damit aber die Frage, was 68 überhaupt war. Der alleinige Blick in die Chroniken lokaler, nationaler und internationaler Proteste reicht dabei jedoch nicht mehr aus.

Was

war

68?

Die Frage nach dem „was“ ist nur auf den ersten Blick banal. Beschäftigt man sich auch nur oberflächlich mit dem Thema, ergeben sich bei dem Versuch einer Antwort sehr schnell noch mehr Fragen, insbesondere in Verbindung mit der Frage nach dem „wer“. Diese beiden Aspekte sollen hier jedoch aus analytischen Gründen voneinander getrennt werden; wichtig in unserem Zusammenhang ist vor allem, welche Bedeutung die Antworten auf die Fragen nach dem wo, was und wer für die Deutung von 68 hat. In einem Lexikon zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert heißt es zum Stichwort „Achtundsechziger Bewegung“: „Ausgehend von West-Berlin verdichteten sich zwischen 1967 und 1969 verschiedene lokale Protestmilieus zur A[chtundsechziger] B[ewegung]. Sie wurde v.a. getragen von Studierenden und richtete sich gegen Missstände an den Hochschulen, gegen den Vietnamkrieg und zunehmenden Rechtsradikalismus. Als soziale Bewegung forderte sie kulturellen Pluralismus, sexuelle Liberalisie-

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rung und partizipator[ische] Demokratie als Teilelemente einer grundlegenden Umformung der Gesellschaft. […]“ Sie war „Teil einer internationalen Aufbruchsbewegung, die v.a. die westl[iche] Welt erfasste. Sie zerfiel seit 1969 in eine Vielzahl konkurrierender Gruppierungen und beeinflusste die westdt. Gesellschaft weniger umittelbar polit[isch] als hinsichtl[ich] der polit[ischen] Kultur, Lebensstile und kulturellen Präferenzen.“69

Detlef Siegfried versucht hier eine recht präzise und damit inhaltlich eingeschränkte Definition vorzunehmen, indem er sie zeitlich auf die Jahre 1967/69 begrenzt und sozial auf die Gruppe der Studierenden reduziert. In der Forschung ist es eher die Ausnahme, diese gängige Chiffre (und v.a. die darin jeweils mitschwingenden Bedeutungsvielfalten) angemessen zu reflektieren,70 obgleich längst bekannt ist, dass es sich etwa bei den „68ern“ um eine nachträgliche Konstruktion handelt, die erst seit den frühen 1980er Jahren in Deutschland Verbreitung gefunden hat und in aktivistischer Konkurrenz zu den „78ern“ stand, die auch als „lost generation“ bezeichnet worden sind.71 Die soziale Begrenzung von 68 als „Studentenbewegung“ ist problematisch, weshalb Siegfried jüngst selbst den Begriff der „Jugendrevolte“ favorisierte, da er neben den Studierenden auch die revoltierenden Schüler und Lehrlinge erfasse.72 An diesem Punkt stellen sich weitere Fragen: Ist der Begriff der „Revolte“ tatsächlich angemessen, verstanden sich doch nicht wenige Aktivisten der Bewegung als „Revolutionäre“ im Gefolge Che Guevaras und anderer Vorbilder? Erstrebten andere wiederum nicht eine „Kulturrevolution“, und wäre dieser Begriff überhaupt analytisch brauchbarer wegen seiner mehr als deutlichen Anklänge an das maoistische China? Wie verträgt sich damit das häufig gebrauchte Etikett der „Neuen Linken“, die sich ideologisch durch eine Äquidistanz zur „alten“ sozialdemokratischen, aber eben auch kommunistischen Linken auszeichnete?73 Und erweitert die „Neue Linke“ wiederum nicht die soziale Gruppe der Studierenden (oder allgemeiner der Jugend) um ältere Genossinnen und Genossen, die bereits in den 1950er Jahren die „New Left“ oder „Nouvelle Gauche“ in Europa und den USA aus der Taufe hoben? Schließlich ist auch noch an den zeitgenössisch oft verwendeten Begriff der „Außerparlamentarischen Opposition“ (APO) zu erinnern,

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der auf Rudi Dutschke selbst zurückgehen soll.74 Gebildet wurde er als Reaktion auf das Zustandekommen der Großen Koalition im Dezember 1966 und fiele damit zeitlich mit der „Studentenbewegung“ 1967/69 zusammen; das schlösse aber zahlreiche zivilgesellschaftliche Bewegungen wie v.a. die Anti-Notstandskampagne aus, die keineswegs nur von Studierenden getragen wurde. Oder war die Studentenbewegung nur ein Teil der APO, neben der Ostermarsch-Bewegung u.a.?75 Am Ende muss sich jeder Versuch einer adäquaten Begriffsbildung mit dem Problem auseinandersetzen, dass mit 68 eine Vielzahl zum Teil ausgesprochen heterogener kultureller, politischer und sozialer Bewegungen gemeint sein kann, die teilweise eng miteinander verbunden waren, aber nicht widerspruchslos ineinander aufgingen: „Die in der Chiffre ,1968‘ verflochtenen heterogenen Stränge müssen im Detail entwirrt werden, um den den öffentlichen Diskurs beherrschenden Extremurteilen zu entgehen.“76 68 als Studentenbewegung macht tatsächlich den Kern dessen aus, was wir bis heute den zahlreichen Handbüchern zur deutschen Geschichte oder zur Geschichte der Bundesrepublik entnehmen können und was demgemäß in den öffentlichen Debatten thematisiert wird. Insbesondere in älteren Darstellungen findet sich dabei die bereits konstatierte Fokussierung auf West-Berlin und die dortigen politischen Ereignisse, die quasi Gleichsetzung mit der APO und in Verbindung damit die herausgehobene Stellung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), der nach dem Eintritt Rudi Dutschkes zumindest dort antiautoritäre Positionen aus dem Ideenkreis der Neuen Linken vertrat. Damit ist oftmals auch festgelegt, 68 als Teil der politischen Geschichte zu behandeln, mithin als eine kurzlebige politische Bewegung der Linken, die als außerparlamentarische Opposition hauptsächlich von jungen Menschen getragen wurde, zumeist Studierenden. Bedenkt man deren relativ geringe Zahl in Deutschland zu dieser Zeit (ca. 300.000 Menschen), dann erscheint die Protestbewegung als das „Aufbegehren von Angehörigen des Bildungsbürgertums bzw. der Mittelschicht“, als „Epiphänomen der Modernisierung.“77 Die APO selbst wird dabei gelegentlich auch als „antiparlamentarische Opposition“ charakterisiert,78 was sich nicht zuletzt unter Verweis auf Johannes

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Agnolis damals weit verbreiteter Schrift „Transformation der Demokratie“ recht gut belegen lässt.79 Der Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmansegg hat angesichts dieser Tatsachen gefragt: „Wie erklärt sich, daß die Studentenbewegung, die wirklich eine Studentenbewegung war und an die Universitäten gebunden blieb, dazu wenig Sympathien bei der Bevölkerung genoß und auch nicht sehr alt geworden ist, die Bundesrepublik verändern konnte?“80

Eine überzeugende Antwort darauf findet Kielmansegg selbst nicht, spricht vielmehr von einigen „Rätseln“, die Historiker*innen an dieser Stelle zu lösen hätten. Umso bemerkenswerter, dass er dennoch davon ausgeht, dass 68 die Bundesrepublik verändert habe. Ob im- oder explizit gehen alle Historiker*innen davon aus, dass die Studentenbewegung eine überdurchschnittliche zeitgenössische Relevanz und damit historische Bedeutung hatte – warum sonst sollte man sich teilweise so ausführlich mit ihren Aktionen und Zielen auseinandersetzen. Aber worin lagen diese Ziele? Wer hat sie formuliert, und wer ist ihnen dann gefolgt? Auch wenn man, wie bisher geschehen, 68 in erster Linie als Studentenbewegung oder Jugendrevolte charakterisiert, gilt Edgar Wolfrums Grundeinsicht uneingeschränkt: „Was als ,die 68er‘ erscheinen mag, war in Wahrheit eine recht heterogene Bewegung, und ,die‘ Ideen von 1968 hat es nicht gegeben, bestenfalls ein Konglomerat verschiedenster Gedanken(splitter) aus Marxismus, Kapitalismuskritik, Klassen- und Imperialismustheorie, vor allem undogmatischer und damals vergessener Autoren, auch aus den Gebieten Psychoanalyse und analytischer Sozialpsychologie.“81

Bei den oben bereits erwähnten „Haupt- und Staatsaktionen“, die mit der Bewegung in Zusammenhang gebracht werden, handelte es sich um klassische politische Themen, die etwa Hans-Ulrich Wehler vier großen Themenbereichen zuordnet: 1) Vietnamkrieg; 2) Notstandsgesetze; 3) Angst vor einem „neuen Faschismus“; 4) der Streit um die Bildungskatastrophe.82 Diese Auswahl entspricht recht genau dem The-

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menspektrum, das bereits in den ersten wissenschaftlichen Darstellungen markiert wurde, als diese in den 1970er Jahren erschienen.83 Einzig der Anti-Springer-Protest, der eine große integrierende Wirkung in der gesamten Republik hatte, wäre hier noch hinzuzufügen.84 Eine weitere wichtige Einschränkung ist jedoch an dieser Stelle zu machen: Die Angst vor dem „neuen Faschismus“, oder anders formuliert: Die Frage nach den fortdauernden politischen Belastungen der bundesrepublikanischen Gesellschaft durch das Erbe des Nationalsozialismus, die seit den 1980ern konstitutiv für das öffentliche Image und das generationelle Selbstverständnis der 68er ist,85 tauchte in den gerade zitierten Darstellungen von Bauß und Langguth noch nicht als wichtiges Thema der Studentenbewegung auf. Auch in frühen Quellensammlungen fehlen darauf oft weiterführende Hinweise.86 Der Rekurs auf den Nationalsozialismus war unvermeidbar, aber „auch banalisiert und als Chiffre für nahezu alle kritisierten Elemente der westdeutschen Gegenwart verwandt: Autoritäre Strukturen, undemokratische Verfahren und repressive Erziehungsmethoden wurden pauschalisiert als Beleg für die weiterwirkenden Traditionen des ,Faschismus‘ begriffen und dadurch gewissermaßen unrettbar delegitimiert – selbst wenn solche und ähnliche Erscheinungen auch in anderen Ländern auftraten, die keine nationalsozialistische Herrschaft erlebt hatten.“87

Zu denken wäre in dieser Hinsicht etwa an das autoritäre Verhalten der staatlichen Exekutive, das in westlichen Ländern mit einer längeren demokratischen Tradition, als die Bundesrepublik sie hatte, teilweise ungleich härter ausfiel; die stigmatisierende Bezeichnung von Polizisten als „Nazis“ wurde zu einem international gebräuchlichen Code,88 wie überhaupt Bezugnahmen auf den Nationalsozialismus auch außerhalb Deutschlands verbreitet waren. Ob daher für diese Zeit auch von einer transnationalen Banalisierung des Nationalsozialismus gesprochen werden kann, müsste erst noch intensiver untersucht werden. Die Studentenbewegung allein als politische Bewegung begreifen zu wollen, greift zu kurz, auch wenn politische Fragen heute noch oft im Zentrum insbesondere medialer Debatten stehen. Die neuere his-

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torische und sozialwissenschaftliche Forschung belegt die bereits erwähnte Heterogenität der Bewegung immer wieder aufs Neue: „politische Protestbewegung, Generationenkonflikt, Kulturrevolution, Renaissance marxistischen Denkens, Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, Durchbruch einer liberalen Sexualmoral, Entstehung einer neuen Frauenbewegung, Verharmlosung und Legitimation von Gewalt bis hin zum Terrorismus.“89

Die hier gewählten Begriffe sind nur eine kleine Auswahl und ließen sich problemlos um zahlreiche weitere Etikette vermehren. Deutlich wird vor allem eines: 68 wird nicht allein als eine politische Bewegung von Studierenden verstanden, sondern auch als eine kulturelle. Spätestens hier wird das Feld der positiven wie negativen Zuschreibungsmöglichkeiten nahezu uferlos; 68 wird ein Containerbegriff, mit dem popkulturelle Phänomene wie etwa der Siegeszug der Beat-, Pop- und Rockmusik ebenso verbunden wird wie die Lebensstilrevolution der Kommunen und Wohngemeinschaften. Sobald von „Kultur“ in Verbindung mit 68 die Rede ist, taucht auch sehr schnell der Komplementärbegriff „Revolution“ auf: War 68 also eine „Kulturrevolution“, oder – anders formuliert – eine „Wahrnehmungsrevolution“, die vielleicht nicht politisch unmittelbar erfolgreich war, aber das Denken so vieler Menschen ändern konnte, dass die Welt danach eine andere wurde?90 Die Frage, was 68 war, ist daher eng verbunden mit der Frage nach dem Erfolg oder Misserfolg der Bewegung. Reichlich grob heißt das entsprechende Kapitel in Wehlers Gesellschaftsgeschichte: „Die 68er-Bewegung: Triumph oder Debakel?“ Betrachtet man die politischen Ansprüche und Ziele der Bewegung, insbesondere des Berliner SDS, dann kann man Wehlers Schlussurteil durchaus zustimmen, dass die Bewegung „rundum gescheitert“ sei: „Die Reideologisierung im Verlauf eines fanatisch geführten Kulturkampfes der ,Progressiven‘ gegen das ,Establishment‘ verursachte jedoch ,Verletzungen‘, welche die ,Protest-Geschädigten‘, zu denen schließlich immer mehr anfangs reformbereite Persönlichkeiten gehörten, zu einer politisch ,keineswegs

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unwirksamen Partei‘ machten. Einige allgemeine Defizite treten nicht minder deutlich zutage.“91

Der Soziologe Andreas Anter hat darauf kurz und bündig geantwortet: 68 war eigentlich überhaupt nicht politisch, sondern ein Pop-Phänomen, das als solches gar nicht „scheitern“ könne; erst aus seinem popkulturellen Ursprung rühre seine Faszination bis zum heutigen Tag.92 Bei alledem handelte es sich nicht um unmittelbar sichtbaren oder gar quantifizierbaren Protest im klassischen politischen Sinne, aber um Anzeichen einer Lebensstilrevolution,93 die sich ebenso mit 68 verbindet und keineswegs nur in den medialen Zentren zu finden war. Ohnehin ist mittlerweile strittig, ob die (lebens)kulturellen Aspekte nicht wesentlich stärker zu gewichten wären als die politischen, wenn man das eigentlich revolutionäre Motiv in erster Linie in der „unpolitischen“ Absicht sieht, ein individuell befriedigendes Leben zu führen, das dem Ideal der Selbstverwirklichung möglichst nahe kommen sollte: „Lediglich politisierende Subkulturen, rebellische Studenten oder streikende Arbeiter als Triebkräfte der Entwicklung anzunehmen, läuft auf eine folkloristische Betrachtung besonders spektakulär auftretender Gruppen hinaus.“94

Das kann hier nicht weiter verfolgt werden. Insbesondere die Forschungen der letzten 15 Jahre, etwa zur Popkultur, sollten aber deutlich gemacht haben, dass der fast schon klassische Antagonismus bei der Beurteilung der 68er kaum noch aufrecht zu erhalten ist: demnach sei die Bewegung politisch erfolglos geblieben, während sie auf kulturellem Gebiet durchaus reüssieren konnte.95 Diese Interpretation war und ist eingebettet in die seit den späten 1970er Jahren anhaltenden Deutungskämpfe, denen unterschiedliche Konzepte des Politischen zugrunde liegen.96 Der Rede vom „politischen Scheitern“ der 68er liegt ein staatszentrierter Politik-Begriff zugrunde, der Kultur lediglich als akzidentell begreift. Versteht man darunter jedoch nicht länger ein abgeleitetes Überbauphänomen und akzeptiert, dass „kollektive kulturelle Wahrnehmungen, Erfahrungen und Deutungen soziale Verhältnisse begründen und verändern können“97 – dann eröffnen sich wiederum

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neue Perspektiven auf die Frage, welche Auswirkungen die vermeintliche „Revolution“ mittel- und langfristig eben auch politisch hatte.98 Als Vertreter*innen einer Neuen Linken war das dem antiautoritären Teil der 68er sehr wohl bewusst, wenn sie die Veränderung der Welt nicht mehr länger nur über das Klassenbewusstsein und die Erringung staatlicher Macht erstrebten, sondern das sozial engagierte Individuum ins Zentrum ihres politischen Denkens stellten. Als revolutionär handelndes Subjekt war nicht mehr länger die Arbeiterklasse gedacht, sondern das politisch aufgeklärte Individuum. Die Revolutionierung der Gesellschaft sollte eben alle sozialen Institutionen erfassen – von der Ehe über die Fabrik und das Theater bis hin zur Regierung. Teile der 68er agierten mithin mit einem grenzenlosen Politikbegriff, dem in der Forschung erst seit einigen Jahren ausreichend Beachtung geschenkt wird. „Das Private ist politisch“ – dieser Leitspruch der Neuen Frauenbewegung veränderte das Verständnis von politischer Praxis fundamental und wurde zu einem der Kernelemente der 68er-Bewegung.99 Eine wichtige und bleibende Lehre war dabei, dass politische Praxis auch außerhalb der Parteien stattfinden konnte, „dass man sich ganz unmittelbar und anlassbezogen für politischen und gesellschaftlichen Wandel einsetzen konnte“.100 Seit Ende der 1990er Jahre haben einige größere Forschungsprojekte sehr klar herausgearbeitet, dass weite Gesellschaftsbereiche in den 1960er Jahren fundamentalen Wandlungsprozessen kultureller, politischer und mentaler Art unterlagen. Man hat daher von den „langen 60er Jahren“ gesprochen, die bis ca. 1973 andauerten. Die in unserem Zusammenhang entscheidende Frage ist daher, wie die „68er-Bewegung“ in diesen „dynamischen Zeiten“ der „Demokratisierung“ und des „gesellschaftlichen Aufbruchs“ einzuordnen ist,101 ohne die 68er gegen diese Zeitstrukturen gewissermaßen ausspielen und damit ihrer historischen Eigenständigkeit als soziale Bewegung berauben zu wollen.102 Auf diese Frage gibt es unterschiedliche Antworten, die nicht zuletzt stark vom jeweiligen methodischen Zugriff und der Fragestellung abhängen: Geschlechtergeschichtlich findet die Frage nach der Bedeutung von 68 gewiss eine andere Antwort als mit einem klassischen politikhistorischen Ansatz. Es lassen sich jeweils gute Argumente finden,

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68 nur als abschließenden oder gar überschießenden Teil eines Liberalisierungsprozesses zu begreifen, der dieser Liberalisierung teilweise auch entgegenstand – oder die für 68 als wichtigen Katalysator eines kulturellen Aufbruchs sprechen, der mittelfristig auch die politische Mentalität änderte. Einigkeit besteht jedoch darüber, dass 68 nicht singulär zu betrachten ist: hier wurde nichts angeschoben, was nicht zumindest in Ansätzen bereits vorher zu erkennen und angelegt war. Daher greift es auch viel zu kurz, dieses Jahr allein als „linkes Datum“ zu bezeichnen.103 Dass es auch ein „rechtes“ oder „bürgerliches“ Datum war, lässt sich an Beispielen aus der jüngeren Forschung belegen, die ebenfalls die enge Verzahnung von „Kultur“ und „Politik“ aufzeigen: Die Burschenschaften standen beispielsweise keineswegs allen politischen Forderungen ihrer „linken“ Kommiliton*innen kritisch gegenüber und empörten sich genauso über den Tod Ohnesorgs; die CDU reagierte inhaltlich auf ihre Stimmverluste sowie einen neuen „Zeitgeist“ und modernisierte sich; und selbst die katholische Kirche stellte sich spätestens seit dem Vatikanischen Konzil einem Demokratisierungsprozess.104 Aber auch diese Bespiele sind eine weitere Aufforderung dazu, den Fokus nicht allein auf das ominöse Jahr 68 und seine medienwirksamen urbanen Proteste zu legen, sondern diese Ereignisse innerhalb der gesamtgesellschaftlichen Entwicklungstrends zu verorten, wie es in der historischen Forschung auch längst gängige Praxis ist. Umstritten bleibt jedoch die Gewichtung der Studentenbewegung im Rahmen dieser Umbrüche. Ulrich Herbert hat diese Zusammenhänge wie folgt analysiert: „Angesichts des Abdriftens eines Teils der kritischen Jugend in den Linksradikalismus rückten erhebliche Teile des konservativen und deutschnationalen Spektrums des Bürgertums seit den späten 1960er Jahren aus der Position der kulturkritischen Verächter der Massendemokratie in die Rolle der Verteidiger von Republik und Westbindung gegen die neokommunistische Herausforderung – ein Prozess, dessen historische Bedeutung derjenigen der linken Protestbewegung nicht nachsteht.“105

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Was bedeutet das aber für die Frage, wer überhaupt ein 68er war? Wurden die „konservativen und deutschnationalen“ Vertreter des Bürgertums etwa gerade durch die „eigentlichen“ 68er gewissermaßen eingemeindet?

Wer

waren die

68 er?

Die Chiffre der 68er ist seit den 1980er Jahren ein fester Bestandteil der politischen Sprache geworden und wird nach wie vor auch in der Wissenschaft genutzt, um damit einen generationellen Zusammenhang zu beschreiben, der über den engen Kern der eigentlichen Aktivistinnen und Aktivisten hinausreicht. Seit Karl Mannheims Überlegungen in den 1920er Jahren wird darum gerungen, was eine Generation ausmacht, was sie prägt, wie Generationsbildungsprozesse verlaufen und wie sie historisch wirksam sind. Laut Axel Schildt ist das Konzept der Generation aber „penetrant von Klischees“ überwuchert, Detlef Siegfried hält es „nicht unbedingt für erkenntnisfördernd“.106 Auch Ulrich Herbert lehnt es als „universales Deutungskonzept“ ab, es sei im Vergleich zu Prädestinationskategorien wie Klasse, Ethnie oder Geschlecht weniger hilfreich.107 Gleichwohl wird es nach wie vor verwendet, gerade die 68er-Geschichtsschreibung scheint ohne den Begriff nicht auszukommen, die politische Öffentlichkeit erst recht nicht.108 Die vielfältigen Diskussionen um das Generationskonzept sollen hier nicht nachvollzogen werden, alle Handbücher zu 68 oder zur Geschichte der Bundesrepublik gehen darauf mehr oder weniger intensiv ein.109 Wichtig in unserem Zusammenhang ist die Frage, wer gemeinhin als 68er zu verstehen war und ist und welche Rolle die 68er als Generation für die Geschichte der Bundesrepublik spielten. Jürgen Habermas hat schon 1967 in einem weiterhin sehr lesenswerten Beitrag einige heute noch gültige Beobachtungen formuliert: „Diese Studenten gehören zur ersten Generation, deren Erinnerung nicht mehr durch die Naziperiode und deren unmittelbare Folgen bestimmt ist; zur ers-

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ten Generation, die ökonomische Unsicherheit und relative Armut nicht mehr kennt; zur ersten Generation, die den institutionellen Rahmen der Bundesrepublik nicht mehr hat entstehen sehen, sondern die sozialstaatliche Massendemokratie und die organisierten Formen des Kapitalismus einfach als die bestehende Ordnung kennt. Diese Studenten haben daher keine persönlichen Erfahrungen mit politischem Terror, keine Erfahrungen mit ökonomischen Krisen, keine Erfahrungen mit wirklichen politischen Alternativen zur bestehenden Ordnung und – mit organisierter Opposition.“110

Habermas setzt seine Analyse fort und benennt die wichtigsten politischen Grundhaltungen dieser Generation, etwa die Kritik an der Leistungsgesellschaft, am ungleich verteilten Einkommen, an den Ersatzbefriedigungen der kapitalistischen Moderne, an der Ausbeutung der „Dritten Welt“ durch die Industrienationen und vieles mehr. Er spreche dabei jedoch nur „von einer relativ kleinen, sehr mobilen Minderheit, deren Einstellung aber […] symptomatisch ist für einen Entwicklungstrend.“ Das „neoanarchistische Weltbild“ dieser Studenten sei „von dem Eindruck geprägt, daß die gesellschaftlichen Institutionen zu einem relativ geschlossenen, konfliktfreien und selbstregulativen, dabei gewaltsamen Apparat geronnen sind. Aufklärung und Opposition kann nur noch von nicht korrumpierten einzelnen am Rande des Apparates betrieben werden; wer eine Funktion in ihm übernimmt, und sei sie noch so unwichtig, wird integriert und gelähmt.“

Habermas markiert zahlreiche wichtige Punkte, die bis heute Gegenstand der Diskussion über 68 und die 68er sind. Das kann hier nicht detailliert nachvollzogen werden. In unserem Zusammenhang ist es wichtig, dass die 68er-Generation erstens von Studierenden gebildet wird, zweitens klein an Zahl ist und drittens ihrem vermeintlichen politischen Selbstverständnis nach definiert wird – es handelt sich also um eine elitäre Gruppierung.111 Schließlich, mit Habermas‘ Schlussätzen dieser Passage, kommt viertens noch etwas Weiteres hinzu, das zentral wurde für die (Selbst-)Deutung der 68er:

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„Wir Älteren sind von den Protestspielen schockiert: unbekümmert um schlimme Parallelen, durchbrechen die Studenten Freiheit verbürgende Normen in der Absicht, sie als Ausdruck repressiver Toleranz zu entlarven.“

Gemeint ist also der zitierte Generationenkonflikt (oder gelegentlich sogar Generationenbruch),112 der zwar zum Repertoire jeder Generationserfahrung gehört, laut Habermas aber in den 1960er Jahren eine besondere, weil ins Prinzipielle gehende Ausprägung gefunden habe. An die Stelle der recht gesichtslosen Figur der „Älteren“ als konkurrierende Generation der 68er sind in den letzten Jahren die 45er getreten, also die Vertreter einer um 1930 herum geborenen Generation.113 Sie zeichnete aufgrund ihrer Kindheitserfahrung im Nationalsozialismus und der entbehrungsreichen Nachkriegszeit ein ausgesprochener Hang zum Pragmatismus aus, eine weitgehende politische Ideologieferne bei einer gleichzeitig starken Präferenz für ein einiges Europa und eine klare Anbindung an den Westen. Durch günstige sozioökonomische Konstellationen rückten viele von ihnen bereits mit Anfang 30 auf wichtige Positionen an den Universitäten, in Verlagen und Feuilletons und behielten sie bis fast ans Ende des 20. Jahrhunderts. Mit Blick auf diese Generation ist ein zentraler Mythos um die 68er zerstört worden. Eckart Conze formuliert das sehr deutlich: „Die Bundesrepublik ist 1968 nicht umgegründet worden, doch sie hat sich in den 1960er Jahren grundlegend gewandelt. [...] Die politische Kultur der Republik war am Ende des Jahrzehnts nicht mehr dieselbe wie am Anfang. Sie war liberaler, westlicher geworden. Die Wegbereiter dieses Wandels waren nicht die in den 1940er Jahren geborenen Studenten, sondern die Generation der ,45er‘, jene in den 1920er oder 1930er Jahren geborene politische Generation, deren Angehörige sich seit den späten 1950er Jahren auf allen Ebenen für eine liberalere, eine westlichere Demokratie einsetzten, die die Fortwirkung traditionell deutscher Ordnungsvorstellungen in Politik und Gesellschaft kritisierten und durch ihre Kritik und ihr öffentliches Engagement zur Herausbildung einer Staatsbürgergesellschaft beitrugen, die nun Gestalt annahm.“114

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Über die Gründe der teilweise massiven Konfrontationen gerade dieser beiden Gruppen wissen wir noch vergleichsweise wenig.115 Aus der Retrospektive erscheint es aber ausgesprochen merkwürdig, dass sich manche politischen Invektiven gleichermaßen gegen ehemalige Nazis richteten wie gegen 45er wie Ralf Dahrendorf, Jürgen Habermas oder Erwin K. Scheuch.116 Die jüngsten Untersuchungen zum „Bund Freiheit der Wissenschaft“, dem sich manche ehemals Linksliberale und Sozialdemokraten wie Richard Löwenthal, Wilhelm Hennis oder Hermann Lübbe zuwandten, zeigen jedoch eindringlich, dass einige Vertreter dieser Generation mit großer Verbitterung auf gelegentlich grenzüberschreitende Aktionen der studentischen Aktivisten reagierten und sich nicht zuletzt von der Politik, insbesondere der SPD, allein gelassen fühlten.117 Freilich gab es auch hier Gegenbeispiele die belegen, dass Kommunikation und Konsens möglich war, zumal die Studierenden vielleicht einer Generation angehören mochten, aber natürlich keineswegs alle politisch gleich gesinnt waren. Ralf Dahrendorf etwa stellte sich der Diskussion offensiv, weil er von der Notwendigkeit gesellschaftlicher Konflikte überzeugt war; Hans-Ulrich Wehler berichtet aus Köln und Berlin ähnliches, dass allein Diskussionsbereitschaft schon viel zur Entschärfung der Lage beitragen konnte.118 Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass 68 keineswegs zwangsläufig als „linkes Datum“ bezeichnet werden muss. Zwar stehen Rudi Dutschke und der SDS, der Vietnamkrieg oder die Kommune 1 weiterhin im Fokus der Aufmerksamkeit und verfestigen sich im kulturellen Gedächtnis als monolithische Erinnerungsblöcke durch die mediale Reproduktion der immer gleichen Fotografien; dennoch wird zunehmend erkannt, dass 68 auch an konservativen Gruppierungen nicht spurlos vorbeiging.119 Wie stellten sich etwa die konservativen Studierenden des RCDS zu ihren linken Kommiliton*innen? Bei der Integration von Gegner*innen, und erst recht von (desinteressierten) Mitläufer*innen hat die Geschichtsschreibug noch einen großen Nachholbedarf.120 Laut Anna von der Goltz gab es verschiedene 68er-Generationen, die sich gegenseitig beobachteten und in ihren Selbstbeschreibungen einander

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befruchteten. Neben den linken 68ern rekurriert sie auf eine „moderate right-wing ,counter-generation‘“, die in die Geschichtsschreibung zu reintegrieren sei, und daneben noch auf die ostdeutschen 68er, die erst seit wenigen Jahren intensiver erforscht werden:121 „We are not dealing with a single generation of 1968, but with diverse generations of German 68ers.“122 Im Sinne Karl Mannheims ließen sich diese „Gegen-Generationen“ problemlos in das Modell der politischen Generationen integrieren, da in einem Generationszusammenhang durchaus differierende und sich gegenseitig selbst heftig bekämpfende Generationseinheiten denkbar sind.123 Im internationalen Zusammenhang hat Richard Vinen darauf hingewiesen, dass aufgrund der jeweiligen Zusammensetzung des aktivistischen Lagers (etwa in Frankreich und Italien) die Frage nach dem Alter der Akteure nicht einheitlich zu beantworten sei und darüber hinaus auch die Klassenlage (oder in manchen Fällen auch die ethnische Zugehörigkeit) quer zur Kategorie der Generation liege: so habe eine 26-jährige Arbeiterin in Italien bereits zwölf Jahre Berufserfahrung hinter sich gebracht, ganz im Gegensatz zu den mitdemonstrierenden Studierenden aus bürgerlichen Familien.124 Wie Detlef Siegfried weist auch er nach, dass manche linke Aktivist*innen das Generationenmodell sogar strikt ablehnten, da sie sich als Vertreter*innen einer ernsthaften politischen Revolte verstanden, nicht als medial verniedlichte jugendliche Rebellen.125 Die Einwände gegen das gängige Generationenmodell von Christina von Hodenberg sind hingegen fundamentaler. Sie moniert völlig zu Recht die Marginalisierung weiblicher 68er in der Geschichtsschreibung und erst recht in der Erinnerungskultur. Ihr Hauptargument lautet, dass der „stille Protest“ der Frauen gegen ihre gesellschaftliche Zurücksetzung mittelfristig wesentlich erfolgreicher gewesen sei, während von der politischen Rebellion der zu drei Vierteln männlichen Studierendengeneration kaum etwas übrig blieb. Durch eine stärkere Einbeziehung der Frauen – womit nicht nur Studentinnen gemeint sind – werde wohl auch das Modell des Generationenkonflikts obsolet, da es eine „generationsübergreifende weibliche Solidarität“ völlig außen

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vor lasse, während das bislang gepflegte 68er-Bild in der Hauptsache männlich geprägt ist.126 Man(n) wird sich diesem Thema nicht länger entziehen können, die Geschlechterperspektive intensiver und entschiedener in die historische Analyse der 68er-Bewegung miteinzubeziehen.127 Manche Argumentationen Hodenbergs sind aber durchaus kritisch zu betrachten: die „erfolgreichen“ und „stillen“ Frauen in Konkurrenz zu den „erfolglosen“ und „lauten“ Männern – das klingt doch wieder sehr nach der zu überwindenden binären Option zwischen Kultur und Politik, zwischen privat und öffentlich, als sei der Kampf der Frauen für ihre Rechte nicht eminent politisch. Die Geschlechterdifferenz an die Stelle des Generationenkonflikts zu setzen würde zudem bedeuten, lediglich eine monokausale Differenzkategorie durch eine andere zu ersetzen. Fraglich ist zudem, ob sich die Geschlechterdifferenz in der Hauptsache als Konfrontation beschreiben lässt, oder ob es nicht ebenso auch Felder konsensualen sozialen Handelns gegeben hat – zwischen den Generationen, zwischen den Geschlechtern, zwischen den Klassen, zwischen Professor*innen und Studierenden usw. Auf dieses Nebeneinander von Konflikt, Konsens und Kooperation hatten Hodenberg und Siegfried in einem instruktiven Aufsatz vor einigen Jahren selbst noch hingewiesen,128 und tatsächlich lässt sich mit Blick auf die jüngere Forschung immer wieder feststellen, dass das medial so verbreitete Bild des konfliktbeladenen Aufbruchs und des (gesellschafts)politischen Protests einem differenzierteren Blick weichen sollte, der den breiten Handlungsraum zwischen Konsens und Konflikt unterschiedlicher Akteure stärker ausleuchtet. Einige Hinweise müssen hier genügen. Die in der historischen Forschung herangezogenen Daten aus zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Erhebungen legen es beispielsweise nahe, zwischen den Generationen grundsätzlich seit ca. 1960 von einem wachsenden gegenseitigen Verständnis auszugehen: Erwachsene reagierten zunehmend toleranter auf die Kinder und Jugendlichen bei der Erprobung neuer Verhaltensweisen und beim politischen Engagement, während diese selbst auch wesentlich mehr Verständnis für die älteren Generationen zeigten, als das Bild vom Generationenkonflikt

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glauben machen will. 1970 erklärten 92% der Eltern und 87% der Jugendlichen, ein gutes gegenseitiges Verhältnis zu haben; in der Forschung wurde sogar argumentiert, dass die Lebensweise der Jugend vorbildhaften Charakter annehmen und von den Eltern kopiert werden konnte.129 Dahinter mag sich der vielberufene „Wertewandel“ in der deutschen Gesellschaft verborgen haben, der die klassischen Sekundärtugenden nun endgültig zugunsten von postmaterialistischen Werten wie Selbstverwirklichung, Partizipation und Offenheit ablöste.130 Doch ist auch hier Vorsicht geboten und Differenzierung angeraten, da Kontinuität und Wandel durchaus parallel auftreten können und jede Veränderung auch immer wieder Beharrungskräfte hervorruft, die gerade in diesem Fall zu selten noch in die Betrachtung einfließen.131 Anders, als ein heute noch gängiger und öffentlich weit verbreiteter Mythos glauben machen will,132 wurde dieses oft gute Verhältnis zwischen Eltern und ihren Kindern zumeist auch nicht von der Frage nach den Taten der Eltern im Nationalsozialismus gestört. Konrad H. Jarausch hat diesen Topos wie folgt formuliert: „In der Anklage der schuldbeladenen Väter spielte der Vorwurf der Verantwortung für die NS-Verbrechen eine zentrale Rolle, da sich die rebellierenden Söhne dadurch besonders überzeugend von den überkommenen nationalen Werten absetzen konnten.“133

Die oft zitierte Anklage der Jüngeren an die Väter (von den Müttern ist hier meist nicht die Rede) ist zwar individuell nachweisbar, war aber eher ein marginales Phänomen. Christina von Hodenberg stellt dazu kurz und bündig fest: „Der Vater-Sohn-Konflikt und der biographisch begründete Antifaschismus scheiden mithin als Triebkräfte von Achtundsechzig weitgehend aus.“134 Das Problem der Elitenkontinuität vom Nationalsozialismus zur Bundesrepublik war zwar durchaus bekannt und wurde durch die prominenten Fälle wie Hans Globke, Heinrich Lübke und andere aktualisiert und thematisiert. Für die Universität Bonn ist aber beispielsweise belegt, dass es neben der Aufdeckung der

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NS-Vergangenheit von Professoren auch das Beschweigen derselben gab, die Angriffe der 68er mithin „höchst selektiv“ (C.v. Hodenberg) waren und nicht zuletzt davon abhingen, wie das aktuelle Verhältnis eines belasteten Professors zu den Studierenden war.135 In den Familien selbst zeigten sich politisch aktive Studierende meist recht zögerlich bei der Anklage der eigenen Eltern, zumal sich in den 1960er Jahren die familiären Konstellationen modifizierten und eine stärkere Kooperation mit den Kindern erstrebt wurde.136 Nicht zuletzt die familiären Verhältnisse einiger 68er-Berühmtheiten wie etwa Dieter Kunzelmann, der ein ausgesprochen liebevolles Verhältnis zu seinen Eltern pflegte, sind Beispiele dafür.137 „Trau keinem über 30“ ist ein vielzitierter Spruch der Zeit und stammt im Übrigen aus den USA – als sprichwörtliches Signum der zeitgenössischen Realität in den 1960er Jahren taugt er jedoch kaum.138 Ein weiteres Beispiel für die Fragilität des Generationskonzepts und die Vielfalt des Verhaltens „potentieller“ 68er sind die vor einigen Jahren untersuchten „43er“. Dabei handelt es sich um 44 Universitätshistoriker*innen, die im Jahr 1943 geboren wurden. Ihrem generationellen Profil nach wären sie alle als 68er zu bezeichnen, tatsächlich aktiv waren jedoch die wenigsten von ihnen. Sie gehörten mehrheitlich einer Gruppe an, „die die Gesellschaft und die deutsche NS-Vergangenheit distanziert-kritisch wahrnahmen, ohne zur Studentenbewegung im engeren Sinne zu gehören.“139 Nahezu alle zeigten zwar großes Interesse an den Ereignissen, nahmen an politischen Debatten teil, lasen die entsprechenden Zeitschriften, besuchten Demonstrationen usw. Als positiv vermerken die meisten aber insbesondere die Liberalisierung im Umgang mit den Dozierenden, die Lockerung der Kleiderordnung, der Übergang zum Duzen untereinander. Der neuralgische Punkt, wo Skepsis in Ablehnung umschlägt, war jedoch bei den meisten spätestens dann erreicht, wenn es zu gewaltsamen Aktionen kam; dabei war es unerheblich, ob es sich „nur“ um „Gewalt gegen Sachen“ handelte. Ein differenziertes Generationenmodell der 68er müsste freilich auch diese Studierenden umfassen. Der Münsteraner Historiker Hans-Ul-

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rich Thamer hat das autobiographisch recht pragmatisch umschrieben. Er würde sich „auch irgendwo als 68er bezeichnen, auch wenn ich nicht einer hochschulpolitischen Gruppierung angehörte und auch nicht zu Radikalismen neigte. Aber ich habe diese Debatten mit Leidenschaft mitgeführt, und habe in den Jahren 1967/68 sehr oft Vortragsveranstaltungen besucht oder später an einem Teachin teilgenommen.“140

Auch die 43er belegen durchaus, dass 68 als wichtiges Ereignis eines Generationszusammenhangs betrachtet wurde, das von den jeweiligen generationellen Einheiten aber sehr unterschiedlich wahrgenommen werden konnte. In diesem Sinne ist Hodenberg bei ihrem abschließenden Resümee zuzustimmen: „Achtundsechziger war und blieb, wer mit dem eigenen Leben experimentierte, um gegen staatliche und patriarchalische Autoritäten die Utopie einer freieren, gleicheren Gesellschaft zu realisieren. Es gab linke, linksliberale, liberale, ja sogar einige konservative Achtundsechziger – und nicht zuletzt Zehntausende von Frauen, die ihr Privatleben und damit autoritäre Hierarchien ins Wanken brachten.“141

Der Begriff der 68er wurde Ende der 1970er Jahre in Deutschland erfunden142 und als Selbstbeschreibung seit den 1980er Jahren zunehmend gepflegt und medial weiter verbreitet. Im Laufe der Zeit hat er sich insbesondere als Bezugsjahr linker politischer Identität etablieren können, wurde aber immer wieder teils heftig diskutiert. Erst in jüngster Zeit wird er von der Geschichtswissenschaft inhaltlich problematisiert und diversifiziert. Wenn als wesentliches historisches Faktum der 1960er Jahre die vielfältig konstatierten Wandlungsprozesse in Kultur und Politik hervorgehoben werden, ist es nicht mehr ausreichend, mit den 68ern die meist männliche Deutungselite in West-Berlin und anderen markanten Universitätsstädten zu begreifen. Der populäre Begriff der 68er müsste demnach erweitert werden. Wer ließe sich also überhaupt sinnvoll als 68er bezeichnen, bei all‘ den genannten metho-

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dischen und inhaltlichen Vorbehalten? Wenn das Konzept der Generation aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive revisionsbedürftig ist; wenn sich hinter der 68er-Generation daher eine Vielgestaltigkeit politischer und kultureller Werthaltungen verbirgt, die sich zwar nicht ausschließen, in wichtigen Fragen wie der Geschlechter- und der Gewaltfrage jedoch nicht geteilt wurden; und wenn zudem der NS-Bezug als wesentliches inhaltliches Merkmal der im Sprachgebrauch etablierten Generationskonstruktion und der daraus resultierenden Konflikte von 68 mehr oder weniger ausscheidet – welchen Sinn (und welche inhaltliche Berechtigung) hat es dann überhaupt noch, historisch und politisch weiterhin von den 68ern zu sprechen?

S chluss Die „langen 60er Jahre“ waren mehr als eine Dekade dynamischer und weitgehender Umbrüche, in der sich nicht nur die deutsche Gesellschaft und mit ihr die politische Mentalität entscheidend änderte. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welche Rolle die Studentenbewegung dabei gespielt hat: Leiteten die 68er einen entscheidenden Bruch zur Liberalisierung der jungen BRD ein, markierten sie damit eine Epochenscheide zwischen der autoritären Adenauer-Republik und der liberalen Bonner Republik, die damit endlich im Westen ankam? Dieses Bild hatte sich seit den 1980er herausgeschält. Was in der politischen Alltagssprache mit 68 identifiziert wird – Protest, Aufbruch, Gewalt, Radikalität, Kulturrevolution und vieles mehr – steht bei detaillierterer Betrachtung aber für eine wesentlich größere Vielfalt: 68 fand nicht nur in einigen wenigen Städten mit mehr oder weniger großen Universitäten statt, sondern fand seinen Widerhall auch an Schulen, in der Provinz, bei arbeitenden Lehrlingen. In diesem Sinne steht 68 für eine wesentlich breitere Reformbewegung, für die diese Chiffre aber kaum angemessen ist. Das zeigt sich schon bei Betrachtung der „Generation“ der 68er selbst, für die es zwar generationsstiftende Ereignisse in den 1960er Jahren gab, ohne dass diese jedoch beispielsweise eine politische Haltung determiniert hätten;

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nicht jeder Angehörige der vermeintlichen 68er-Generation war daher qua definitionem ein Aktivist der politischen Revolte. Eine enge Variante des Begriffs dürfte sich in erster Linie auf die radikalen Studierenden fokussieren, wie Jürgen Habermas es zeitgenössisch vorformuliert hat. Eine weite Variante, wie sie etwa die kulturhistorisch inspirierte Geschichtsschreibung favorisiert, umschließt neben den politisierten männlichen Aktivisten auch die sich eher unpolitisch gebenden, aber am kulturellen Wandel der Zeit partizipierenden „Mitläufer*innen“ dieser Zeit. Noch ganz am Anfang steht die historische Integration der wie auch immer gearteten „Gegner*innen“ der Studentenbewegung und der Modernisierung. Es hat sich gezeigt, und das wäre intensiver zu erforschen, wie „linke“ und „rechte“ 68er sich bekämpften, interagierten und sogar kooperierten. Die oft reproduzierte generationengeschichtliche Polarisierung blendet zudem die intergenerationellen Zusammenhänge und Kooperationen der 1960er Jahre aus: Am Kampf gegen die Notstandsgesetze waren beispielsweise „Alte“ und „Junge“ beteiligt, Professor*innen und Studierende, aber eben auch Gewerkschafter. Auch die Empörung über den Tod Benno Ohnesorgs und grundsätzlicher noch das oft repressive Verhalten der Polizei im ganzen Bundesgebiet wurde vielfach geteilt, die Anti-Springer-Kampagne wurde inhaltlich auch von der Gruppe 47 und anderen Intellektuellen unterstützt. Die 68er wollten die Gesellschaft ändern, aber das wollten die 45er durchaus auch; als Intellektuelle, Journalisten und Professor*innen waren sie seit Ende der 1950er Jahre auch längst dabei. All‘ dies war Ausdruck einer tiefgreifenden sozialen Veränderung, die Ereignisse (und Akteure) seit Juni 1967 somit nur ein Teil dieses Prozesses. Im Sinne einer multiperspektivischen Vielfalt der Zugänge böte es sich daher vielmehr an, gerade in der politischen Sprache eher von den 60ern (im Sinne der Sixties) zu sprechen: als einer Chiffre, die im beschriebenen Sinne objektive Zeitstruktur und individuelle Handlungsmöglichkeiten der Zeitgenossen integriert. Auch wenn sich die Lebenszeit der – wie auch immer aktiven – 68er dem Ende zuneigt und damit diese Deutungskämpfe einem Ende ent-

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gegengehen, wird 68 so lange ein wichtiger Bezugspunkt politischer Identitätsbildung bleiben, wie mit dem Datum in erster Linie Gesichter und politische Grundhaltungen verbunden werden. Aufzulösen wäre diese binäre Optik zugunsten eines historischen Bildes, das weniger nach einzelnen Akteuren und ihren politischen Vorstellungen in urbanen und universitären Zentren fragt, als dass es die gesamten 60er Jahre in den Blick nimmt: als eine Zeit des soziokulturellen Wandels, die teilweise ausgesprochen konfliktreich zwischen Älteren und Jüngeren verlief. Gleichzeitig lernten sie aber beständig voneinander, in einem Wechselspiel aus Konfrontation und Kooperation, aus Dissens und Konsens, aus radikalem Protest und Reform. Die Liberalisierung der Bundesrepublik und ihre Verankerung im Westen war also keineswegs das Projekt einer kleinen und linksradikalen studentischen Minderheit, sondern das Produkt einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. So kann es mithin auch heute nicht um die Wiedergewinnung an „Bürgerlichkeit“ gehen, die im Kampf gegen die angebliche kulturelle Hegemonie der 68er zu erreichen sei, und noch weniger um eine „konservative Revolution“, die vermeintlich „bürgerliche Werte“ zu neuen Ehren bringen möchte. Die Wandlungsprozesse der langen 1960er Jahre waren im Grunde bereits ein Verbürgerlichungsprozess zu einer civil society. An dessen Ende hatte sich eine transformierte Gesellschaft herausgebildet, für die politischer Streit zum demokratischen Alltag gehörte, für die politische Partizipation jenseits von Wahlentscheidungen und Parlamentsdebatten Normalität zu werden begann. Das bedeutet keineswegs, um des aktuellen politischen Friedens willen in eine Leisetreterei um das Thema 68 zu verfallen. Ganz im Gegenteil: für die politische Kultur einer Demokratie ist Streit essenziell. Eine wichtige Lehre aus den 60ern könnte jedoch darin bestehen, dass geschichtspolitischer Streit nur dann produktiv ist, wenn er auf informierter Grundlage ausgetragen wird. Das wohlfeile politische Argument ersetzt nicht die Kenntnis der konkreten Zusammenhänge. An deren Aufarbeitung mitzuwirken, bleibt eine wichtige Aufgabe der Zeitgeschichtsschreibung.

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A nmerkungen 1 | Die vielfältigen Begrifflichkeiten für die Sache werden weiter unten thematisiert. Im Aufsatz selbst gibt es keine Präferenz, weshalb Studentenbewegung (als historischer Terminus, daher nicht: Studierendenbewegung), Jugendrevolte usw. ohne klare Präferenz benutzt werden. „68“ oder „68er“ werden im Folgenden ohne Anführungszeichen benutzt. 2 | Kraushaar, Wolfgang: 1968. 100 Seiten, Ditzingen: Reclam 2018, S. 25. 3 | Zur begrifflichen Problematik vgl. Siegfried, Detlef: 1968. Protest, Revolte, Gegenkultur, Ditzingen: Reclam 2018, S. 11f. 4 | Vgl. dazu die Sammelrezension: Gerhards, Thomas: „Irritationserfahrung, Jugendrevolte, Gewaltentgrenzung. Der historische Ort der 68er-Bewegung im Lichte neuerer Gesamtdarstellungen“, in: Das Historisch-Politische Buch 66 (2018), S. 483–495. 5 | Siegfried: 1968, S. 10. 6 | Vgl. aus der Fülle der Erscheinungen z.B. das Cicero-Heft vom Juni 2017 mit dem Titel „Der Muff von 50 Jahren. Die 68er: Bilanz einer selbstgerechten Generation“, in dem zahlreiche Zeitgenossen und ehemalige Aktivisten gefragt werden, ob „68: Fluch oder Segen“ gewesen sei. Friedrich Christian Delius’ lapidare Antwort darauf: „Sorry, aber dümmer kann man nicht fragen. Und unhistorischer auch nicht.“ (Cicero, S. 23) Vgl. auch Das Parlament, Nr. 2–3, 8. Januar 2018, S. 2, das einleitend zu seiner Themenausgabe Redakteure von „Focus“ und „taz“ kontrovers argumentieren lässt, ob es auch ohne 68 eine „offene Gesellschaft“ in der Bundesrepublik gäbe. 7 | Möllers, Christoph: „Friedliche Totalpolitisierung. Jugendliche Erinnerung an eine Generation“, in: Susanne Schüssler (Hg.), Wetterbericht. ’68 und die Krise der Demokratie, Berlin: Klaus Wagenbach 2017, S. 11– 17, S. 12f. Der Beitrag erschien erstmals in: FAZ vom 18. August 2017. 8 | Dobrindt, Alexander: „Wir brauchen eine bürgerlich-konservative Wende“, in: Die Welt vom 4. Januar 2018. 9 | Seine Ausführungen stellten in erster Linie wohl eine radikalisierte Variante des Zehn-Punkte-Plans der CSU nach der Bundestagswahl 2017 dar. Dort heißt es unter Punkt 8: „Genauso gefährlich wie ein radikaler Populismus von rechts ist der blinde Populismus gegen rechts.

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Alles, was nicht im Geist der Alt-68er steht, gilt als rechts und damit schlecht. Debatte muss wieder in der ganzen Breite stattfinden, nicht nur hinter vorgehaltener Hand oder in den Meinungshöhlen im Internet. Das ist das beste Rezept gegen Radikalisierung.“ (N.N.: „CSU: Konservativ ist wieder sexy. Zehn-Punkte-Plan im Wortlaut“, in: FAZ vom 8. Oktober 2017). 10 | Vgl. dazu bereits Lucke, Albrecht von: 68 oder neues Biedermeier. Der Kampf um die Deutungsmacht, Berlin: Wagenbach 2008, S. 59–65. 11 | Vgl. Weiß, Volker: Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes, Stuttgart: Klett-Cotta 2017, S. 39–63, über einen der Vordenker der „Neuen Rechten“, Armin Mohler, der den Begriff der „Konservativen Revolution“ für antidemokratische Strömungen der 1920er Jahre geprägt hat. Insgesamt zur Thematik auch Wagner, Thomas: Die Angstmacher. 1968 und die Neuen Rechten, Berlin: Aufbau 2017. 12 | Der linke Politologe und 68er-Aktivist Frank Deppe hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass gerade in Bayern seit 1945 nur mit insgesamt vier Jahren Unterbrechung die CSU die Staatsregierung leitet und diese gerade in den 1960er Jahren eine Art „Speerspitze“ gegen die Jugendrevolte darstellte (vgl. dazu jetzt Rohstock, Anne: Von der „Ordinarienuniversität“ zur „Revolutionszentrale“? Hochschulreform und Hochschulrevolte in Bayern und Hessen 1957–1976, München: Oldenbourg 2012). Vgl. Deppe, Frank: 1968: Zeiten des Übergangs. Das Ende des „Golden Age“, Revolten & Reformbewegungen, Klassenkämpfe & Eurokommunismus, Hamburg: vsa 2018, S. 97. Der in diesem Zusammenhang oft wiederholten Legende eines linken oder linksliberalen Mainstreams in den großen Medien lässt sich entgegenhalten, dass die konservative „Bild-Zeitung“ seit Jahrzehnten das meistverkaufte Blatt in Deutschland ist, und dass den (links-)liberalen Leitmedien wie „Spiegel“ und „Süddeutscher Zeitung“ die „Frankfurter Allgemeine“ oder „Die Welt“ entgegenstanden und -stehen. 13 | Cohn-Bendit, Daniel: „Wir hatten die irrwitzigsten Ideen. Er war Teil der Studentenproteste von 68 und ging den Weg durch die Institutionen bis ins EU-Parlament. Ein Mythos ist die Zeit für ihn nicht“, in: Rhei-

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nische Post vom 18. Januar 2018, S. C1. Alexander Dobrindt wurde erst 1970 geboren. 14 | Vgl. Siegfried, Detlef: „Furor und Wissenschaft. Vierzig Jahre nach ,1968‘“, in: Zeithistorische Forschungen 5 (2008), S. 130–141. 15 | Vgl. Wildt, Michael: „Die Angst vor dem Volk. Ernst Fraenkel in der deutschen Nachkriegsgesellschaft“, in: Monika Boll (Hg.), „Ich staune, dass Sie in dieser Luft atmen können.“ Jüdische Intellektuelle in Deutschland nach 1945, Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuchverlag, S. 317–344, hier S. 333f. 16 | Vgl. Funke, Hajo: Antiautoritär. 50 Jahre Studentenbewegung: die politisch-kulturellen Umbrüche, Hamburg: vsa 2017, S. 76–82; W. Kraushaar: 68er-Bewegung, S. 115–124. 17 | Frei, Norbert: 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München: dtv 2017, S. 229. In der Neuauflage modifiziert er jedoch dieses Urteil (ebd., S. 235f.). 18 | Vgl. Hodenberg, Christina von/Siegfried, Detlef: „Reform und Revolte. 1968 und die langen sechziger Jahre in der Geschichte der Bundesrepublik“, in: Dies. (Hg.), Wo „1968“ liegt. Reform und Revolte in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, S. 7–14, hier S. 8. 19 | Schildt, Axel: „1968“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 77, 3. April 2018, S. 7. 20 | Vgl. C.v. Hodenberg, D. Siegfried: Reform und Revolte, S. 7. 21 | Vocelka, Karl: „Die Studentenrevolte 1968“, in: Oliver Rathkolb/ Friedrich Stadler (Hg.), Das Jahr 1968 – Ereignis, Symbol, Chiffre, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Unipress 2010, S. 209–220, hier S. 210. 22 | Vinen, Richard: 1968. Der lange Protest. Biografie eines Jahrzehnts, Piper: München 2018, S. 303. Vgl. auch die einschlägigen Beiträge in dem Band von Gehrke, Bernd/Horn, Gerd-Rainer (Hg.): 1968 und die Arbeiter. Studien zum „proletarischen Mai“ in Europa, Hamburg: vsa 22018. 23 | Dieser Aspekt wird besonders stark betont von Kielmansegg, Peter Graf: Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland, Berlin: Siedler 2000, S. 326f., der in West-Berlin ein „Amalgam aus Republikflüchtlingen Ost […] und ,Republikflüchtlingen‘ West“ wirksam sieht.

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24 | Kraushaar, Wolfgang: „Berliner Subkultur: Blues, Umherschweifende Haschrebellen, Tupamaros und Bewegung 2. Juni“, in: Martin Klimke/ Joachim Scharloth (Hg.), 1968. Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung, Stuttgart – Weimar: Metzler 2007, S. 261–275, hier S. 261. 25 | D. Siegfried: 1968, S. 203. Eine Gleichzeitigkeit von Anti-Amerikanismus und Amerikanisierung durch Übernahme entsprechender Protestformen betont Winkler, Heinrich August: Geschichte des Westens. Vom Kalten Krieg zum Mauerfall, München: C.H. Beck 2014, S. 501. 26 | Vgl. Ebbinghaus, Angelika (Hg.): Die 68er. Schlüsseltexte der globalen Revolte, Wien: Promedia 2008, S. 111. 27 | Kunzelmann, Dieter: Leisten Sie keinen Widerstand! Bilder aus meinem Leben, Berlin: Transit 1998, S. 49. 28 | D. Siegfried: 1968, S. 42. 29 | N. Frei: 1968, S. 93. Vgl. auch Conze, Eckart: Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, München: Siedler 2009, S. 339f. u. 345f. 30 | E. Conze: Suche nach Sicherheit, S. 349; Herbert, Ulrich: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München: C.H. Beck 2014, S. 857. 31 | Vgl. auch die Chronik in Becker, Thomas P./Schröder, Ute (Hg.): Die Studentenproteste der 60er Jahre. Archivführer – Chronik – Bibliographie, Köln u.a.: Böhlau 2000, S. 96–301, die zwar die Protestereignisse in ganz Deutschland zu erfassen sucht, ihren Rahmen jedoch durch Berliner und Frankfurter Ereignisse erhält: Die Anti-Tschombé-Proteste im Dezember 1964, von Rudi Dutschke und dem SDS organisiert, und die Auflösung des Bundes im Frühjahr 1970. Auch in der jüngst erschienenen Chronik von Kraushaar werden laut Ortsregister West-Berlin und Frankfurt/M. mit Abstand am häufigsten genannt; Kraushaar, Wolfgang: Die 68er-Bewegung international. Eine illustrierte Chronik. 4 Bände, Stuttgart: Klett-Cotta 2018. 32 | Vgl. Klessmann, Christoph: Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955-1970, Bonn: BpB 1988, S. 265; Schildt, Axel/Siegfried, Detlef: Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik – 1945 bis zur Gegenwart, München: Hanser 2009, S. 281; Wolfrum, Edgar: Die ge-

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glückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart: Klett-Cotta 2006, S. 261f. 33 | Juchler, Ingo: 1968 in Deutschland. Schauplätze der Revolte, Berlin: bebra 2018; vom gleichen Autor auch: 1968 in Berlin. Schauplätze der Revolte, Berlin: bebra 2017. 34 | Holl, Kurt/Glunz, Claudia (Hg.): 1968 am Rhein. Satisfaction und ruhender Verkehr, Köln: Emons 22008, S. 8. 35 | D. Siegfried: 1968; Hodenberg, Christina von: Das andere Achtundsechzig. Gesellschaftsgeschichte einer Revolte, München: C.H. Beck 2018. 36 | Vgl. als problemorientierten Überblick Cornelißen, Christoph: „Transnationale Geschichte als Herausforderung an die Europa-Historiographie“, in: Friedrich Wilhelm Graf u.a. (Hg.), Geschichte intellektuell. Theoriegeschichtliche Perspektiven, Tübingen: Mohr Siebeck 2015, S. 389–404. 37 | Zu den Transferprozessen zwischen der BRD und den USA vgl. Schmidtke, Michael: Der Aufbruch der jungen Intelligenz. Die 68er Jahre in der Bundesrepublik und den USA, Frankfurt/M. – New York: Campus 2003. 38 | So eine Kapitelüberschrift bei E. Conze: Suche nach Sicherheit, S. 331. 39 | Angster, Julia: Die Bundesrepublik Deutschland 1963–1982, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2012, S. 59–61. 40 | Vgl. Klimke, Martin: „Sit-in, Teach-in, Go-in: Zur transnationalen Zirkulation kultureller Praktiken in den 1960er Jahren“, in: Martin Klimke/ Joachim Scharloth (Hg.), 1968. Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung, Stuttgart – Weimar: Metzler 2007, S. 119-133; Kraushaar, Wolfgang: „Die transatlantische Protestkultur“, in: Ders., 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur, Hamburg: Hamburger Edition 2000, S. 53–80. 41 | Conrad, Sebastian: Globalgeschichte. Eine Einführung, München: C.H. Beck 2013, S. 99f. Vgl. auch Gassert, Philipp/Klimke, Martin: „Intro-

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duction: 1968 from Revolt to Research“, in: Dies. (Hg.), 1968: Memories and Legacies of a Global Revolt (Bulletin of the German Historical Institute, Suppl. 6), Washington: GHI 2009, S. 5–24, hier S. 11–14. 42 | Das betont jüngst wieder R. Vinen: 1968, S. 9–11. Den Zusammenhang von Vergleich und Transfer hebt hingegen schon hervor: Paulmann, Johannes: „Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer. Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts“, in: Historische Zeitschrift 267 (1998), S. 649–685. 43 | Gödde, Beate: „Globale Kulturen“, in: Akira Iriye (Hg.), Geschichte der Welt. 1945 bis heute: Die globalisierte Welt, München: C.H. Beck 2012, S. 535–669, hier S. 600. 44 | Der SDS hatte in Nordrhein-Westfalen zu seiner Hochzeit nur wenig mehr als 200 Mitglieder, in Bonn etwa spielte er nur eine untergeordnete Rolle. Vgl. dazu Dohms, Peter/Paul, Johannes: Die Studentenbewegung von 1968 in Nordrhein-Westfalen, Siegburg: Rheinlandia 2008, S. 31–36. Wichtig in diesem Zusammenhang auch Neidhardt, Friedhelm/ Rucht, Dieter: „Protestgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1950-1994: Ereignisse, Themen, Akteure“, in: Dieter Rucht (Hg.), Protest in der Bundesrepublik. Strukturen und Entwicklungen, Frankfurt/M., New York: Campus 2001, S. 27–70, hier S. 37, die für die 1950er Jahre eine höhere Teilnehmerzahl bei Demonstrationen belegen, während es in den 1960er Jahren in der Summe mehr Protestkundgebungen gab als zuvor. 45 | Großbölting, Thomas: 1968 in Westfalen. Akteure, Formen und Nachwirkungen einer Protestbewegung, Münster: Ardey 2018, S. 12, 23, 32. 46 | Zur erst 1965 gegründeten Universität Düsseldorf vgl. jetzt Gerhards, Thomas/Hinz, Uta: „Die Universität Düsseldorf und die Studentenbewegung seit den 1960er Jahren“, in: Düsseldorfer Jahrbuch 89 (2019), S. 313–342. 47 | Einen Vergleich zwischen Berlin und NRW bietet Spix, Boris: Abschied vom Elfenbeinturm? Politisches Verhalten Studierender 1957– 1967. Berlin und Nordrhein-Westfalen im Vergleich, Essen: Klartext 2008.

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48 | Dohms, Peter: „Studentenbewegung und nordrhein-westfälische Landespolitik in den 60er und 70er Jahren“, in: Geschichte im Westen 12 (1997), S. 175–201, hier S. 197. 49 | T. Großbölting: 1968 in Westfalen, S. 139. 50 | Vgl. dazu jetzt die erste Gesamtdarstellung von Gassert, Philipp: Bewegte Gesellschaft. Deutsche Protestgeschichte seit 1945, Stuttgart: Kohlhammer 2018. 51 | A. Rohstock: Ordinarienuniversität, S. 155. 52 | Habermas, Jürgen: „Studentenprotest in der Bundesrepublik (1967)“, in: Ders., Kleine Politische Schriften (I–IV), Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981, S. 217–238, hier S. 227. 53 | P. Dohms, J. Paul: Studentenbewegung, S. 93f. 54 | Vgl. dazu jetzt ausführlich Michels, Eckard: Schahbesuch 1967. Fanal für die Studentenbewegung, Berlin: Chr. Links 2017, hier v.a. S. 223–287. 55 | Zur polizeilichen Situation in Bonn vgl. Bothien, Horst-Pierre: Protest und Provokation. Bonner Studenten 1967/1968, Essen: Klartext 2007, S. 50–52. 56 | P. Dohms, J. Paul: Studentenbewegung, S. 88. 57 | Leggewie, Claus: 50 Jahre ’68. Köln und seine Protestgeschichte, Köln: Greven 2018, S. 80. 58 | Petzolt, Lukas: Die Studentenbewegung der späten 1960er und 1970er Jahre in Nordrhein-Westfalen. Unveröffentlichte Master-Arbeit, Düsseldorf 2018, S. 59, 63f., 76. Die Arbeit wertet die zugänglichen Polizeiakten im Landesarchiv Duisburg aus. 59 | A. Rohstock: Ordinarienuniversität, S. 239. 60 | Plenarprotokoll des Landtags NRW vom 21. Januar 1969. Stenographische Berichte des Landtags NRW, 6. Wahlperiode, Band 3, 48. Sitzung, Düsseldorf 1970, S. 1906 B. Allgemein dazu P. Dohms: Studentenbewegung und nordrhein-westfälische Landespolitik, und P. Dohms, J. Paul: Studentenbewegung, S. 59–62. 61 | Vgl. zu diesen Plänen A. Rohstock: Ordinarienuniversität, S. 231–236. 62 | Vgl. zu den Entwicklungen in Bayern und Hessen A. Rohstock: Ordinarienuniversität; als knappe Zusammenfassung dies.: „Nur ein Nebenschauplatz.“ Zur Bedeutung der „68er“-Protestbewegung für die westdeutsche Hochschulpolitik, in: Udo Wengst (Hg.), Reform und Re-

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volte. Politischer und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik Deutschland vor und nach 1968, München: Oldenbourg 2011, S. 45–59. Wichtig ist nicht zuletzt der Nachweis, dass eine vermeintlich weltweite Harmonisierung der Bildungssysteme im lokalen Bereich nicht nachvollzogen werden kann, eine allgemein formulierte „Demokratisierung“ als Signum der 1960er Jahre in der Bundesrepublik zumindest an den Hochschulen fragwürdig erscheint. 63 | D. Siegfried: 1968, S. 110. 64 | T. Großbölting: 1968 in Westfalen, S. 143. 65 | T. Großbölting: 1968 in Westfalen, S. 108. Zum „Verband linker Buchläden“ vgl. jetzt Sonnenberg, Uwe: Von Marx zum Maulwurf. Linker Buchhandel in Westdeutschland in den 1970er Jahren, Göttingen: Wallstein 2016. 66 | Zum Vgl. zwischen Berlin und NRW vgl. B. Spix: Abschied vom Elfenbeinturm, S. 490–496. 67 | Als Beispiel aus der Lokalforschung für Lippe in NRW vgl. Schmidt, Hans-Gerd: Die 68er-Bewegung in der Provinz. Vom Rock ’n‘ Roll und Beat bis zur Gründung der Grünen in Lippe, Bielefeld: AJZ 2013, S. 248–319. 68 | Vgl. dazu den aktuellen Sammelband von Paulus, Julia (Hg.): „Bewegte Dörfer“. Neue soziale Bewegungen in der Provinz 1970–1990, Paderborn: Schöningh 2018. 69 | Siegfried, Detlef: „Achtundsechziger Bewegung“, in: Axel Schildt (Hg.), Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert. Ein Lexikon, München: C.H. Beck 2005, S. 20f. 70 | Vgl. hierzu v.a. Kraushaar, Wolfgang: 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur, Hamburg: Hamburger Edition 2000; ders.: Die 68er-Bewegung international, Bd. 1, S. VI–VIII; ders.: Achtundsechzig. Eine Bilanz, München: Piper 2008, S. 56–64; D. Siegfried: 1968, S. 9–12. In internationaler Perspektive jetzt R. Vinen: 1968, S. 15–43. 71 | Vgl. zum medialen Generationenkonstrukt „68er“ jetzt Stallmann, Martin: Die Erfindung von „1968“. Der studentische Protest im bundesdeutschen Fernsehen 1977-1998, Göttingen: Wallstein 2017; zur transnationalen Perspektive vgl. Behre, Silja: Bewegte Erinnerung. Deutungskämpfe um „1968“ in deutsch-französischer Perspektive, Tübin-

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gen: Mohr Siebeck 2016, hier S. 109f.; zur Generationenkonkurrenz zu den „78ern“ schon A.v. Lucke: Biedermeier, S. 13f; Schildt, Axel: Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, Frankfurt/M.: Fischer 1999, S. 187f. Der Begriff der „génération perdue“ kam in Frankreich übrigens Ende der 1970er Jahre als Bezeichnung für die 68er auf (S. Behre: Bewegte Erinnerung, S. 113–117). 72 | D. Siegfried: 1968, S. 11. Diese Differenzierung schon bei C. Klessmann: Zwei Staaten, S. 269. 73 | Zur Bedeutung der Neuen Linken als „kognitiver Konstitution“ der Bewegung vgl. Gilcher-Holtey, Ingrid: Die 68er-Bewegung. Deutschland – Westeuropa – USA, München: C.H. Beck 42008, S. 11–24. 74 | D. Siegfried: 1968, S. 152. 75 | Vgl. dazu auch die Quellensammlung von Otto, Karl A. (Hg.): APO. Die außerparlamentarische Opposition in Quellen und Dokumenten (1960–1970), Köln: Pahl-Rugenstein 1989, die zeitlich die gesamten 1960er Jahre abdeckt. 76 | C.v. Hodenberg, D. Siegfried: Reform und Revolte, S. 11f. 77 | P. Gassert: Bewegte Gesellschaft, S. 105. Görtemaker, Manfred: Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/M.: Fischer 2 2012, S. 152f. Ähnlich C. Klessmann: Zwei Staaten, S. 272. 78 | P. Borowsky: Deutschland 1945 bis 1969, S. 318; C. Klessmann: Zwei Staaten, S. 272. 79 | Vgl. dazu Kraushaar, Wolfgang: Die blinden Flecken der 68er-Bewegung, Stuttgart: Klett-Cotta 2018, S. 149–169, und Müller, Jan-Werner: Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert, Berlin: Suhrkamp 2013, S. 308–312. 80 | P.G. Kielmansegg: Nach der Katastrophe, S. 326. 81 | E. Wolfrum: Die geglückte Demokratie, S. 264. Affirmativ zu den vermeintlichen „Ideen von 1968“ M. Görtemaker: Kleine Geschichte der Bundesrepublik, S. 165. Zur Ideengeschichte der 68er vgl. jetzt Hanloser, Gerhard: Lektüre und Revolte. Der Textfundus der 68er-Fundamentalopposition, Münster: Unrast 2017, und den klassischen Aufsatz von Kraushaar, Wolfgang: „Denkmodelle der 68er-Bewegung“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 22–23 (2001), S. 14–27.

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82 | Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Fünfter Band: Bundesrepublik und DDR 1949–1990, München: C.H. Beck 2008, S. 313f. Ähnlich auch E. Wolfrum: Die geglückte Demokratie, S. 266f. 83 | Gemeint sind die Dissertationen von Bauß, Gerhard: Die Studentenbewegung der sechziger Jahre in der Bundesrepublik und Westberlin. Handbuch, Köln: Pahl-Rugenstein 1977, und Langguth, Gerd: Die Protestbewegung in der Bundesrepublik Deutschland 1968–1976, Köln: Verlag Wissenschaft und Politik 1976, die das Thema einerseits von einem politisch linken (Bauß), andererseits konservativen (Langguth) Standpunkt bearbeiten. 84 | Vgl. dazu jetzt Jung, Dae Sung: Der Kampf gegen das Presse-Imperium. Die Anti-Springer-Kampagne der 68er-Bewegung, Bielefeld: transcript 2016. 85 | Wichtige Ansätze jetzt bei M. Stallmann: Die „Erfindung“ von 1968, S. 127f. 86 | Die Sammlung von Miermeister, Jürgen/Staadt, Jochen (Hg.): Provokationen. Die Studenten- und Jugendrevolte in ihren Flugblättern 1965–1971, Darmstadt: Luchterhand 1980, weist der Auseinandersetzung mit dem NS kein eigenes Kapitel zu und wird in der Einleitung auch nicht bei Aufzählung der Schwerpunkte der Bewegung (S. 8) erwähnt. Heute in Vergessenheit geraten, erfährt man hier jedoch, dass das berühmte Hamburger Plakat „Unter den Talaran, Muff von 1000 Jahren“ sich ursprünglich gegen das antiquierte Zeremoniell bei der Rektoratsübergabe richtete, keineswegs gegen die NS-Vergangenheit von Hochschullehrern. Nur eine Quelle (S. 54) greift dieses Thema auf. K.A. Otto (Hg.), APO, S. 13f., zählt 1989 „Neofaschismus“ und „ehemalige NS-Aktivisten in öffentlichen Ämtern“ zum breiten Themenkatalog der APO, ohne dass sich diese Themen jedoch in der Quellensammlung selbst signifikant widerspiegeln würden. 87 | U. Herbert: Geschichte Deutschlands, S. 855; ders.: „Liberalisierung als Lernprozeß. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte – eine Skizze“, in: Ders. (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland, S. 7–49, hier S. 47. Ähnlich auch: J. Angster: Bundesrepublik Deutschland, S. 64; E. Conze: Suche nach Sicherheit, S. 337; E. Wolfrum: Die geglück-

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te Demokratie, S. 267. W. Kraushaar: Die blinden Flecken der 68er-Bewegung, S. 170–187, analysiert das Verschwinden der Kritik am Antisemitismus seit Mitte der 1960er Jahre in der Neuen Linken. In den vergangenheitspolitischen Debatten spielte er tatsächlich keine Rolle, die Emigrationsbiographien deutscher Juden wie Ernst Fraenkels oder Richard Löwenthals waren sogar oft unbekannt; vgl. dazu M. Wildt: Die Angst vor dem Volk. 88 | Vgl. Mark Kurlansky: 1968. Das Jahr, das die Welt veränderte, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2005, S. 145. 89 | E. Wolfrum: Die geglückte Demokratie, S. 269. 90 | Vgl. Siegfried, Detlef: Sound der Revolte. Studien zur Kulturrevolution um 1968, Weinheim – München: Juventa 2008, und Gilcher-Holtey, Ingrid (Hg.): „1968“ – Eine Wahrnehmungsrevolution? Horizont-Verschiebungen des Politischen in den 1960er und 1970er Jahren, München: Oldenbourg 2013. 91 | H.-U. Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, S. 317. 92 | Bahners, Patrick/Cammann, Alexander: Bundesrepublik und DDR. Die Debatte um Hans-Ulrich Wehlers „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“, München: C.H. Beck 2009, S. 158f. 93 | Vgl. J. Angster: Bundesrepublik Deutschland, S. 59, die von einer „Individualisierung der Lebenstile“ spricht. 94 | D. Siegfried: Sound der Revolte, S. 25. 95 | Vgl. dazu die einordnenden Ausführungen bei E. Wolfrum: Die geglückte Demokratie, S. 268f. 96 | Vgl. dazu Behre, Silja: „Horizont-Ende? Kämpfe um die Erinnerung der 68er-Bewegung. Eine deutsch-französische Perspektive“, in: Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.), Wahrnehmungsrevolution, S. 95–110, hier S. 101–106. 97 | D. Siegfried: Sound der Revolte, S. 26; ebenso ders.: Time is on my Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen: Wallstein 32017. 98 | Vgl. dazu die Beiträge in I. Gilcher-Holtey (Hg.): Wahrnehmungsrevolution, und dies.: 68er Bewegung, S. 111–125. Wichtig auch für die internationalen Zusammenhänge die Studien in Schildt, Axel/Siegfried, Detlef (Hg.): Between Marx and Coca-Cola. Youth Cultures in Changing European Societies 1960–1980, New York u.a.: Berghahn 2006.

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99 | D. Siegfried: Sound der Revolte, S. 19. 100 | E. Conze: Suche nach Sicherheit, S. 354. 101 | Hier sei nur auf die drei umfangreichen Sammelbände der genannten Forschungsprojekte verwiesen: Frese, Matthias/Paulus, Julia/ Teppe, Karl (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn u.a.: Schöningh 2003; Herbert, Ulrich (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration und Liberalisierung 1945–1980, Göttingen: Wallstein 22003; Schildt, Axel/Siegfried, Detlef/Lammers, Karl Christian (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg: Christians 2000. 102 | I. Gilcher-Holtey (Hg.): Wahrnehmungsrevolution, S. 8 (Einleitung der Herausgeberin). 103 | A.v. Lucke: Biedermeier, S. 35. 104 | Hampel, Benedikt: Geist des Konzils oder Geist von 1968? Katholische Studentengemeinden im geteilten Deutschland der 1960er Jahre, Berlin u.a.: LIT 2017; Schmidt, Daniel: „Die geistige Führung verloren. Antworten der CDU auf die Herausforderung ,1968‘“, in: Franz-Werner Kersting u.a. (Hg.), Die zweite Gründung der Bundesrepublik. Generationswechsel und intellektuelle Wortergreifungen 1955–1975, Stuttgart: Steiner 2010, S. 85–107; Stickler, Matthias: „Wir sind doch nicht die SA der Professoren! – Das studentische Verbindungswesen und die Achtundsechzigerbewegung“, in: Gerrit Dworok/Christoph Weißmann (Hg.), 1968 und die 68er. Ereignisse, Wirkungen und Kontroversen in der Bundesrepublik, Wien u.a.: Böhlau 2013, S. 69–99; B. Spix: Abschied vom Elfenbeinturm, S. 493. Erhellend zum Verhalten der Burschenschaften auch das zeitgenössische Spiegel-Interview von Harenberg, Werner: „In Couleur hinter der Roten Fahne?“ SPIEGEL-Interview mit den Sprechern der Deutschen Burschenschaft Albrecht Glaser, Eckart von John und Rainer Neumann, in: Der Spiegel Nr. 25, 1968, S. 54–57. 105 | U. Herbert: Geschichte Deutschlands, S. 865. Aus persönlicher Erinnerung findet sich der Gedanke auch bei Wehler, Hans-Ulrich: „Eine lebhafte Kampfsituation“. Ein Gespräch mit Manfred Hettling und Cornelius Torp, München: C.H. Beck 2006, S. 194. 106 | A. Schildt: Ankunft im Westen, S. 181; D. Siegfried: 1968, S. 23.

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107 | Herbert, Ulrich: „Drei politische Generationen im 20. Jahrhundert“, in: Jürgen Reulecke (Hg.), Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München: Oldenbourg 2003, S. 95–114, hier S. 95 und 114. 108 | Der konservative „Cicero“ sprach im Juni 2017 etwa von der „Bilanz einer selbstgerechten Generation“. 109 | Stellvertretend sei hier die instruktive Studie genannt: Bavaj, Riccardo: „‘68er‘ versus ‚45er‘. Anmerkungen zu einer ,Generationsrevolte‘“, in: Heike Hartung u.a. (Hg.), Graue Theorie. Die Kategorien Alter und Geschlecht im kulturellen Diskurs, Köln u.a.: Böhlau 2007, S. 53–76. Dazu der häufig zitierte Aufsatz von U. Herbert: Drei politische Generationen. 110 | Hier und für das Folgende: J. Habermas: Studentenprotest in der Bundesrepublik, S. 231–233. 111 | Rudolf Schörken und M. Rainer Lepsius haben darauf hingewiesen, dass der Generationsbegriff am besten nur auf bildungsbürgerliche Schichten oder Eliten anzuwenden sei. Vgl. R. Bavaj: „68er“ versus „45er“, S. 58. 112 | So etwa R. Vinen: 1968, S. 46, allerdings in Anführungszeichen. 113 | Vgl. dazu Moses, Dirk A.: „Eine Generation zwischen Faschismus und Demokratie“, in: Neue Sammlung 40 (2000), S. 233–263. Moses hat den Begriff der „45er“ in der historischen Forschung populär gemacht, er wurde aber bereits früher, etwa von Heinz Bude, in der Soziologie verwendet. Die Generation selbst ist schon seit Helmut Schelskys Begriffsbildung der „skeptischen Generation“ in den 1950er Jahren ein Begriff, seit den 1980er Jahren wird häufig auch der Begriff der „Flakhelfer-Generation“ verwendet – und damit freilich der Anteil von Frauen sprachlich negiert. 114 | E. Conze: Suche nach Sicherheit, S. 356. Ähnlich auch: U. Herbert: Drei politische Generationen, S. 108f.; ders.: Liberalisierung als Lernprozess, S. 45; E. Wolfrum: Die geglückte Demokratie, S. 268. 115 | Vgl. aber die Studien von Bavaj, Riccardo: „Deutscher Staat und westliche Demokratie. Karl Dietrich Bracher und Erwin K. Scheuch zur Zeit der Studentenrevolte von 1967/68“, in: Geschichte im Westen 23 (2008), S. 149–171; ders.: „,Verunsicherte Demokratisierer.‘ ,Liberal-kritische‘ Hochschullehrer und die Studentenrevolte von 1967/68“, in: Dominik Geppert/Jens Hacke (Hg.), Streit um den Staat. Intellektuelle

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Debatten in der Bundesrepublik 1960–1980, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, S. 151–168. 116 | Vgl. R. Bavaj: „68er“ versus „45er“, S. 55. 117 | Wehrs, Nikolai: Protest der Professoren. Der „Bund Freiheit der Wissenschaft“ in den 1970er Jahren, Göttingen: Wallstein 2014, S. 108–147. 118 | Meifort, Franziska: Ralf Dahrendorf. Eine Biographie, München: C.H. Beck 2017, S. 165–170; H.-U. Wehler: „Eine lebhafte Kampfsituation“, S. 191f. 119 | Vgl. Hacke, Jens: Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006. 120 | Im Zuge der Diskussion um Hans-Ulrich Wehlers Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik monierte Joachim Scholtyseck, dass es interessant sei zu erfahren, „was die große Zahl derjenigen bewegt hat, die nichts mit ,1968‘ zu tun hatten und nicht mit ,1968‘ zu tun haben wollten.“ Zit. in P. Bahners, A. Cammann (Hg.): Bundesrepublik und DDR, S. 160. 121 | Wolle, Stefan: Der Traum von der Revolte. Die DDR 1968, Berlin: Chr. Links 2008. 122 | Goltz, Anna von der: „Generations of 68ers“. Age-Related Constructions of Identity and Germany’s ,1968‘“, in: Cultural and Social History 8 (2011), S. 473–490, hier S. 485f. 123 | Vgl. dazu U. Herbert: Drei politische Generationen, S. 95. 124 | R. Vinen: 1968, S. 49. 125 | D. Siegfried: 1968, S. 21; R. Vinen: 1968, S. 48. Vgl. auch D. Kunzelmann: Widerstand, S. 17. 126 | C.v. Hodenberg: Das andere Achtundsechzig, S. 108–112. 127 | Vgl. dazu auch R. Bavaj: „68er“ versus „45er“, S. 69. 128 | Vgl. C.v. Hodenberg, D. Siegfried: Reform und Revolte, S. 11. 129 | Vgl. hierzu insgesamt Siegfried, Detlef: „,Trau‘ keinem über 30?‘ Konsens und Konflikt der Generationen in der Bundesrepublik der langen sechziger Jahre“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 45 (2003), S. 25–32, hier S. 29; ders.: 1968, S. 21–24. 130 | Vgl. D. Siegfried: 1968, S. 19–21. Ebenso U. Herbert: Geschichte Deutschlands, S. 842.

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131 | Vgl. beispielsweise zum Thema Wertewandel und Familie Großbölting, Thomas: „Von der ,heiligen Familie‘ zur Lebensgemeinschaft mit Kind(ern). Religion, Familienideale und Wertewandel zwischen den 1950er und 1970er Jahren“, in: B. Dietz u.a. (Hg.), Gab es den Wertewandel?, S. 227–243. Vgl. auch Thiemeyer, Guido: Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Zwischen Westbindung und europäischer Hegemonie, Stuttgart: Kohlhammer 2016, S. 58. Zur jüngeren Diskussion um den Wertewandel insg. die Beiträge in Dietz, Bernhard u.a. (Hg.): Gab es den Wertewandel? Neue Forschungen zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel seit den 1960er Jahren, München: Oldenbourg 2014; als knapper Überblick zum Wertewandel der 1960er Jahre das Kapitel bei E. Wolfrum: Die geglückte Demokratie, S. 253–261. 132 | Vgl. beispielsweise die Süddeutsche Zeitung vom 2. Juni 2017: „Elf Dinge, die uns die 68er-Bewegung hinterlassen hat“, wo es u.a. heißt: „Viele junge Menschen fingen nun an, ihre Eltern zur Rede zu stellen. Danach war klar, dass 1933 keine braunen Männchen von einem fremden Planten auf die Erde geschwebt kamen, die sie 1945 wieder fluchtartig verlassen hatten. Erst die radikale Thematisierung der NSZeit durch die neue Generation ließ die einzigartige Monstrosität von Auschwitz ins Bewusstsein der Deutschen eindringen.“ 133 | Jarausch, Konrad: Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945–1995, München: DVA 2004, S. 89. 134 | C.v. Hodenberg: Das andere Achtundsechzig, S. 76. Wichtig dazu auch Schildt, Axel: „Die Eltern auf der Anklagebank? Zur Thematisierung der NS-Vergangenheit im Generationenkonflikt der bundesrepublikanischen 1960er“, in: Christoph Cornelißen u.a. (Hg.), Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan nach 1945, Frankfurt/M.: Fischer 2 2004, S. 317–332, hier v.a. S. 325. Vgl. aber N. Frei: 1968, S. 79–88 („Die Geburt einer Generation aus dem Geist der NS-Kritik“). 135 | Vgl. H.-P. Bothien: Protest und Provokation, S. 17–30, und C.v. Hodenberg: Das andere Achtundsechzig, S. 56–58 und 67; so auch die Berlin und NRW vergleichende Einschätzung bei B. Spix: Abschied vom Elfenbeinturm, S. 496. 136 | A. Schildt: Die Eltern auf der Anklagebank, S. 325.

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137 | D. Kunzelmann: Widerstand, S. 17: die „Liebe meiner Mutter und die Aufgeschlossenheit, Liberalität und auch Großzügigkeit meines Vaters“ hätten zu seinem ungewöhnlichen Selbstbewusstsein und dem „enormen Drang“ nach Autonomie beigetragen. Die jüngere Forschung kommt, bei aller Vorsicht aufgrund der Datenlage, zur Ansicht, dass gerade radikale Studierende in Italien und Deutschland oft aus sozialdemokratischen Elternhäusern stammten. Vgl. C.v. Hodenberg: Das andere Achtundsechzig, S. 55. 138 | Vgl. R. Vinen: 1968, S. 45. 139 | Stambolis, Barbara: Leben mit und in der Geschichte. Deutsche Historiker Jahrgang 1943, Essen: Klartext 2010, S. 145. 140 | Ebd. 141 | C.v. Hodenberg: Das andere Achtundsechzig, S. 193. 142 | Zur Etablierung des Generationenetiketts nach der erstmaligen Verwendung durch den Journalisten Klaus Hartung im Kursbuch des Jahres 1978 vgl. M. Stallmann: Die Erfindung von „1968“, S. 66–69; ebenso S. Behre: Bewegte Erinnerung, S. 109–175, v.a. S. 109–124. Auch in Frankreich setzte die Rede von der Generation erst zehn Jahre nach dem Mai 68 ein.

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Aufruhr am Rhein? ‚1968‘ in regionaler Perspektive Uta Hinz

Die Protestbewegung, die Ende der 1960er Jahre die Bonner Republik in Aufruhr versetzte, war für die Miterlebenden vielfach aufwühlend und biografisch prägend. Während auch die Erinnerung an ‚1968‘ bis heute öffentlich polarisiert, hat in der Geschichtswissenschaft eine historische Kontextualisierung eingesetzt, die den um 1968 aufbrechenden Protest in deutlich früher einsetzende Transformationsprozesse der ‚langen‘ 1960er Jahre einordnet.1 Die 68er-Revolte gilt weniger als Auslöser, denn als „Bestandteil“2 längerfristiger Prozesse sozialen, politischen und kulturellen Wandels in der westdeutschen Gesellschaft. Abgeschlossen ist die wissenschaftliche Verortung von ‚1968‘ nicht, 3 was auch in der Vielschichtigkeit der Ende der 1960er kulminierenden Protest- und Aufbruchsphänomene begründet liegt – die als Generationenkonflikt, Jugendrevolte, Kultur- bzw. Lebensstilrevolution4 oder auch „Wahrnehmungsrevolution“ des Politischen bezeichnet werden.5 Inwiefern diese in sich verflochtenen Stränge eine gesellschaftliche Liberalisierung und Demokratisierung beschleunigten, überlagerten oder – durch einen „Polarisierungsschub“6 – eher bremsten scheint nicht abschließend geklärt. Impliziert, wie Wolfgang Kraushaar bemerkt, die „Chiffre“ 1968 doch Phänomene eines „fundamentalen Angriff[s]“ auf Identitätsmuster und Werte wie gleichermaßen tiefgreifende politisch-gesellschaftliche Reformimpulse.7 In der anhaltenden wissenschaftlichen Diskussion fallen aber auch Einseitigkeiten im historischen Bild der ‚68er-Revolte‘ zunehmend auf:

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nicht zuletzt die lange sehr starke Fokussierung auf wenige Protagonist*innen und Protestzentren. Zweifellos waren es besonders die dramatischen Ereignisverläufe in West-Berlin und ihre mediale Vermittlung, die Dynamik und Verlauf der Protestbewegung in der gesamten Republik beeinflussten; von der Erschießung des friedlich demonstrierenden Studenten Benno Ohnesorg durch den Polizisten Karl-Heinz Kurras während des Schah-Besuchs am 2. Juni 1967 bis zu den eskalierenden Oster-Protesten nach dem Attentat auf Rudi Dutschke im April 1968. Trotzdem wird aktuell zu Recht angemahnt, dass in der Fokussierung auf wenige Protestzentren und Gruppen die Gefahr einer „Verengung und Verzerrung des Blicks“ liegt.8 Um nicht Stereotypen ungeprüft fortzuschreiben, erfordert eine genauere Vermessung der sozialen Struktur, Reichweite und Wirkungen der Protestbewegung eine Erweiterung des Blicks, der – wie jüngst von Christina von Hodenberg und Thomas Großbölting gefordert – auch die vermeintlichen Peripherien des Protests einbeziehen muss.9 Besonders durch regionale oder lokale Zugänge können Themen und Argumentationsmuster, aber auch Handlungsmuster und Akteursgruppen dicht und vor dem Hintergrund der sozialen Konstellationen vor Ort beschrieben werden. Im regionalen Vergleich lassen sich Spezifika wie auch Schnittmengen von Kritik und Protest herausarbeiten. Auf dieser Basis können differenziertere Aussagen sowohl über die gesellschaftliche „Tiefenwirkung“10 von ‚1968‘ wie über die im Protest artikulierten Wertorientierungen, Denkmuster und politisch-gesellschaftlichen Postulate getroffen werden. Anhand der vergleichsweise gut untersuchten Studentenbewegung in Nordrhein-Westfalen soll im Folgenden zunächst verdeutlicht werden, dass sich selbst im studentischen Milieu Protest in sehr unterschiedlichen Formen und mit kontextbedingten Themenschwerpunkten manifestierte. Die bereits vorliegenden quellenbasierten Studien zu einzelnen Regionen und Universitäten11 wie auch der landesweite Vergleich von Peter Dohms und Johann Paul12 belegen eine Varianz von Ereignisverläufen, welche gängige 68er-Bilder erheblich ausdifferenzieren. Ziel der vergleichenden Skizze ist weder eine umfassende Darstellung der Studentenbewegung an nordrheinwestfälischen Universitäten noch ihre Kontrastierung mit den Protest-Hotspots der Republik.

Aufruhr am Rhein?

Schon die grundlegende Arbeit von Dohms und Paul hat gezeigt, dass sie vergleichsweise gemäßigt blieb.13 Akzentuiert wird stattdessen die Bedeutung regionaler wie lokaler Spezifika und Konstellationen. Wirft sie doch nicht nur die Frage auf, ob variante Verlaufsmuster für ‚1968‘ vielleicht typischer sind als die Ereignisverläufe in Berlin oder Frankfurt,14 sondern damit erneut auch die Frage, welche Elemente und Motive den Protest in seiner Breite doch verbanden. Mit Blick auf die soziale Breiten- wie Tiefenwirkung von 1968 wird anschließend der Blick gezielt auf einen ereignisarmen Ort und damit auf einen Punkt gelenkt, der für die soziale Verortung von ‚1968‘ ebenso wichtig erscheint wie eine weitere regionale Differenzierung. Am Beispiel der im Aufbau befindlichen und selbst im Landesvergleich extrem ruhigen Universität der Landeshauptstadt Düsseldorf15 lässt sich zeigen, wie sich Gesellschaftskritik um 1968 gerade auch unterhalb einer Schwelle manifester Proteste artikulierte. Mikrohistorisch zu fassen sind mit diesem Perspektivwechsel gleichsam Tiefenströmungen von Aufbruch, Kritik und Protest, anhand derer sich Elemente eines Umbruchs im Denken über Politik und Gesellschaft ebenfalls weiter spezifizieren lassen.

C harakteristika der H ochschullandschaft N ordrhein -Westfalens in den 1960 er J ahren Spezifisch war im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen zu Zeit der Revolte nicht nur die landespolitische Konstellation. Regierte doch hier seit 1966 keine Große Koalition – das Schreck- und Feindbild der außerparlamentarischen Opposition – sondern eine sozialliberale Regierung unter SPD-Ministerpräsident Heinz Kühn.16 Wie weitere Landespolitiker äußerte Kühn zwischen 1967 und 1969 wiederholt ein gewisses Verständnis für die wahrgenommene Unzufriedenheit, Unruhe und das „Aufbegehren“ der jungen Generation.17 Johannes Rau diskutierte – noch als Fraktionsvorsitzender der SPD im Landtag – Anfang Februar 1968 mit Rudi Dutschke auf einer Podi-

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umsdiskussion in der voll besetzten Stadthalle Wattenscheid über die Frage „Sind wir Demokraten?“.18 Kann diese politische Konstellation auch als entschärfender Faktor gesehen werden,19 so führte die hochschulpolitische Situation in Nordrhein-Westfalen zu einer speziellen Konfliktstruktur. Schon seit Beginn der 1960er Jahre befand sich die Universitätslandschaft an Rhein und Ruhr im Umbruch und war Gegenstand einer höchst ambitionierten Reformpolitik.20 Hintergrund war ein im Bund wie im Land beträchtlicher Problemstau, der bis heute mit dem zeitgenössischem Begriff der „Bildungskatastrophe“ (Georg Picht) charakterisiert wird.21 Die Universitäten Nordrhein-Westfalens platzten bildlich gesprochen aus allen Nähten, Klagen über Dozentenmangel und überfüllte Hörsäle häuften sich. Die Zahl der Studierenden stieg im Land von 46.000 1960/61 auf mehr als 80.000 im Jahr 1967/6822 und verteilte sich bis Mitte der 1960er Jahre auf die Universitäten Bonn, Köln, Münster und die RWTH Aachen. Angesichts fehlender Kapazitäten und beständig steigender Studierendenzahlen23 ging es – nach Gründung der neuen Ruhr-Universität Bochum sowie dem Ausbau der RWTH Aachen und der Medizinischen Akademie Düsseldorf zu Volluniversitäten24 – der sozialliberalen Koalition um weiteren Kapazitätsausbau, aber auch um eine Modernisierung universitärer Strukturen. Organisationsformen der alten Ordinarienuniversität sollten neuen gesellschaftlichen Bedürfnissen angepasst und demokratisiert werden, womit eine grundsätzliche und kontrovers geführte Diskussion über die gesellschaftliche Funktion universitärer Lehre und Forschung verbunden war.25 Zugleich wurde die Reform der Hochschulen mit dem gesellschaftspolitischen Ideal sozialer Durchlässigkeit und Chancengleichheit im Zugang zu (Hochschul-)Bildung verbunden.26 Durch den bis Mitte der 1970er Jahre anhaltenden Gründungsboom27 und die mit ihm verbundene Reformagenda waren die universitären Konstellationen im Land zur Zeit der bundesweiten Studentenbewegung zum einen extrem unterschiedlich: Neben Traditions-Universitäten wie Bonn oder Münster existierte mit Bochum bereits eine moderne Neugründung. Zum anderen führten hochschulrechtliche Innovationen der Landesregierung zu Kontroversen und Konflikten auf allen Ebenen, die ein ganzes Jahrzehnt andauern sollten. Den Auftakt bildete der Entwurf eines Landeshochschulgesetzes Ende der

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1960er Jahre, der als Angriff auf die Hochschulautonomie wahrgenommen wurde und eine Abwehrfront von Professor*innen, Mittelbau und Studierenden provozierte.28 Wie allerdings die als notwendig erachtete Modernisierung von Universitätsverfassungen, zeitgemäße Lehr-, Forschungs- und Organisationsstrukturen oder eine demokratisierte Hochschulselbstverwaltung aussehen sollten, blieb zwischen Landesregierung und Universitäten ebenso umstritten wie zwischen Hochschullehrer*innen und Studierenden. Diese hochschulpolitischen Konflikte waren, wie die vorliegende Forschung zeigt, in der studentischen Bewegung an Rhein und Ruhr um 1968 ein zentraler Faktor. Sie führten auch zu einer gewissen Phasenverschiebung, die an den landesweit massiven Protestaktionen gegen das Landeshochschulgesetz ab 1969 besonders deutlich wird.29

H öhepunkte der M obilisierung variante P rotestverläufe

und

Nicht nur landespolitische Konstellationen, auch spezifisch regionale und lokale Dynamiken, Schwerpunkte und Rhythmen studentischen Protests gilt es bei einer genaueren Vermessung von ‚1968‘ noch stärker zu akzentuieren. Sicher mit Blick auf die bundesweiten Osterunruhen nach dem Attentat auf Rudi Dutschke konstatierte Ministerpräsident Heinz Kühn am 19. April 1968 im Landtag, die Zahl der „SDS-Ideologen“ im Land habe bislang nicht ausgereicht, um Nordrhein-Westfalen zu einem „besonderen Kerngebiet“30 der Revolte zu machen. In der Tat waren Konfrontationen zwischen Protestierenden und Polizei am Osterwochenende weitgehend ausgeblieben. Nur in Essen hatte der Versuch, die Auslieferung von Springer-Medienerzeugnissen zu blockieren, zu Auseinandersetzungen zwischen rund tausend Demonstrant*innen und 700 Bereitschaftspolizisten geführt – inklusive Wasserwerfer-Einsatz.31 Diese auch von Dohms und Paul betonte „relative Stille“ im Land, selbst auf dem Höhepunkt bundesweiter Proteste,32 bedeutet allerdings nicht, dass öffentliche Manifestationen von Trauer und Wut an den Universitäten im Land marginal blieben. Die brutale Erschießung von Benno Ohnesorg durch den Polizisten Karl-Heinz

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Kurras in Berlin, die an den Universitäten einen regelrechten Schock auslöste, hatte im Juni 1967 in NRW an jeder Universität mindestens 1.500 bis 2.000 Studierende zu Trauermärschen und Gedenkveranstaltungen mobilisiert.33 Auch nach den Schüssen auf Rudi Dutschke am 11. April 1968 war die Mobilisierung nach den vorliegenden Studien ähnlich hoch. An den Tagen nach dem Attentat bekundeten wiederum jeweils zwischen 1.000 und 4.000 Studierende öffentlich ihren Protest.34 Wie Thomas Großbölting hervorhebt, beschränkte sich der landesweite Protest an Ostern 1968 zudem bei weitem nicht auf die Hochschulen und vernetzte sich vor Ort mit weiteren Akteursgruppen.35 Selbst in der extrem aufgeladenen Atmosphäre der „Osterunruhen“ überwogen dabei allerdings – mit Ausnahme der Springer-Blockadeversuche in Essen (und auch Köln) – eher traditionelle Protestformen: Demonstrationen und Kundgebungen.36 An den Universitäten wurden sie von meist breiten studentischen Bündnissen getragen und teils in Kooperation mit den Rektoraten geplant bzw. durchgeführt. Auf der Bochumer Kundgebung am 13. April sprachen neben dem AStA-Vorsitzenden auch Rektor Kurt Biedenkopf, der Bochumer Soziologe Urs Jäggi und Oberbürgermeister Fritz Heinemann.37 Unter Biedenkopfs Vorsitz wandte sich die Landesrektorenkonferenz am 15. April zudem mit einer Erklärung an die Studierenden, in der sie das Attentat auf Rudi Dutschke, das „mit Recht überall Empörung und Unruhen ausgelöst“ habe, klar verurteilte.38 In der Forschung bislang weniger betont wird dagegen ein Wandel im bis dahin eher ruhigen nordrheinwestfälischen Protestverlauf, der sich besonders in der letzten Maiwoche 1968 vollzog. In dieser Woche, in der in Bonn der Bundestag über die Notstandsgesetze entschied, kam es zugespitzt formuliert zu einer kurzen universitären Turborevolte an Rhein und Ruhr. Studentische Aktionen beschränkten sich bei weitem nicht auf die Teilnahme an zentralen Protestkundgebungen wie dem durch das Kuratorium Notstand der Demokratie am 11. Mai organisierten Sternmarsch auf Bonn, bei dem sich circa 50.000 Notstandsgegner im Hofgarten versammelten.39 Der Mai 1968 begann an Rhein und Ruhr mit einer Welle von Teach-ins und Informationsstreiks innerhalb der Universitäten. Die Zahl der an diesen Diskussionsveranstaltungen

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teilnehmenden Studierenden wird durchweg als hoch bezeichnet.40 Vorlesungen wurden umfunktioniert, um über die Implikationen der Gesetze zu diskutieren und mancherorts Artikel für Artikel zu besprechen.41 Nicht immer verliefen die Veranstaltungen ohne Zwischenfälle. Bei einer Diskussion mit Bundesinnenminister Ernst Benda am Abend des 8. Mai in der Aula der Kölner Universität, kam es erst nach anfänglichen Störungen und Eierwürfen zu einer intensiven Diskussion.42 Folgt man den verschiedenen Einzeldarstellungen, wurden Streiks und Diskussionen insgesamt aber mit Ernst und großer Sachbezogenheit durchgeführt. Ende Mai, besonders in den Tagen der Bundestagsabstimmung, kulminierten die landesweiten Aktionen dann allerdings in konfrontativeren Formen,43 bei denen der Protest nicht nur in Form von Demonstrationen und Kundgebungen auf die Straßen getragen wurde,44 sondern auch durch Verkehrsblockaden,45 Sternmärsche46 und Go-ins in öffentliche Veranstaltungen.47 An den Universitäten Bonn, Köln und Bochum gipfelten die Aktionen in der Verbarrikadierung von Universitätseingängen, die in Köln mit der kurzfristigen Umbenennung in Rosa-Luxemburg-Universität verbunden war.48 In der hoch emotionalisierten Stimmung der letzten Maitage kam es dabei auch zu Handgreiflichkeiten mit Universitätsprofessor*innen, in Bonn (nicht zum ersten Mal) zu einem Polizeieinsatz auf dem Campus.49 Schon am 20. Mai hatte eine Vollversammlung an der Ruhr-Universität Bochum gar zum Generalstreik aufgerufen: „Schon einmal hat ein deutsches Parlament sich selbst den Todesstoß versetzt. Mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933 begannen die furchtbaren Jahre nationalsozialistischer Willkür. Mit den Notstandsgesetzen von 1968 droht uns erneut die Entmündigung des Staatsbürgers. Uns bleibt noch ein letztes Mittel, unseren Willen deutlich zu machen: der Streik.“50

Selbst wenn sich an den genannten konfrontativen Aktionen, wie Goins oder der Sperrung von Universitätseingängen aktiv eher kleinere Gruppen von Studierenden beteiligten,51 fällt die Zuspitzung in der Wahl der Protestformen Ende Mai doch auf. Charakteristisch an den skizzierten studentischen Notstandsaktionen im Land scheint zudem

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eine zumindest versuchte Vernetzung mit vor Ort jeweils unterschiedlichen außeruniversitären Gruppen, was direkt zur eingangs betonten auch lokalen Differenzierung führt, die sich anhand dergut dokumentierten Protestverläufe an den Universitäten Bonn und Bochum besonders deutlich zeigen lässt. In der Universitäts- und Verwaltungsstadt Bonn entstammten die 1967 gut 14.100 Studierenden52 zu einem hohen Prozentsatz einem bürgerlich-akademischem Milieu, viele kamen nicht aus der Region.53 Die Universität hatte eine lange geisteswissenschaftliche Tradition und war insbesondere auch durch ihre Nachbarschaft zu Regierung und Parlament geprägt. Politik war im kleinen Bonn gleichsam täglich präsent.54 Vor diesem Hintergrund beginnt die Protestgeschichte in Bonn deutlich vor 1968.55 Wie Horst-Pierre Bothien zeigt, fand ab Mitte der 1960er Jahre ein Politisierungsschub statt, nicht zuletzt durch die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, die sich an der Person des in Bonn lehrenden Luftfahrtmediziners Siegfried Ruff und seiner Verstrickung in verbrecherische Menschenversuche im Konzentrationslager Dachau entzündete.56 Ab 1967 spitzten sich die Konfrontationen an der Philosophischen Fakultät zu. Kennzeichnend scheint dabei eine Wechselwirkung zwischen Provokationen einzelner Studierendengruppen, besonders dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) um Hannes Heer,57 und den Reaktionen von Professor*innen und Rektorat. Zugleich kam es zu einer starken Polarisierung der organisierten Studierendenschaft in ein linkes, ein gemäßigtes und ein konservatives Lager. Im Frühjahr 1967 gipfelte diese in der Gründung einer Studentengewerkschaft, die sich als linke Opposition gegen AStA und Studentenparlament konstituierte.58 Die in Bonn oft mittels gezielter Regelverletzung durchgeführten Aktionen lesen sich wie eine Mikrogeschichte gängiger 68er-Bilder. Proteste gegen die Diktator*innen der Welt und den Vietnamkrieg finden sich darin ebenso59 wie provozierende Auftritte bei Universitätsfeierlichkeiten,60 Aktionen gegen NS-belastete Personen oder NPD-Veranstaltungen.61 Im Wintersemester 1967/68 schwelte ein Konflikt um die Einführung einer studentischen „Vorlesungskritik“ über Monate.62 Zeigen lässt sich am Beispiel Bonn aber auch, wie nicht nur universitäre, sondern auch

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staatliche Amtsträger vor Ort hilflos, überfordert und mit teils völlig überzogenen Sanktionsmaßnahmen reagierten. Der wohl bekannteste Fall ist die Einkesselung von rund 100 studentischen Demonstrant*innen durch die Polizei nach der symbolischen Niederlegung eines Dornenkranzes für die Opfer des Schah-Regimes im Bonner Hofgarten, während seines Besuchs in der Bundesstadt Ende Mai 1967.63 Der Polizeieinsatz endete mit einer universitären Solidarisierungswelle und weiteren Protesten, unmittelbar vor den Schüssen auf Benno Ohnesorg in Berlin.64 Wie wenig souverän auch das Bonner Rektorat auf Protest reagierte, selbst wenn kritische Fragen weniger provokant als durch den SDS aufgeworfen wurden, verdeutlicht der Eklat um die „KZ-Baumeister-Lübke“-Aktion im Februar 1968.65 Nach Medienberichten über die NS-Vergangenheit von Bundespräsident Heinrich Lübke, Ehrensenator der Universität Bonn, forderte der SDS die Aberkennung der Ehrensenatorwürde. Auf die Ablehnung eines Gesprächstermins von Seiten des Rektors, der nur mit dem gewählten AStA sprechen wollte, reagierte der SDS mit einem Rektorats-Go-in am 6. Februar 1968. Das Eindringen ins leere Arbeitszimmer des Rektors verlief nach Bothien recht höflich, wenig später wurde allerdings im dort befindlichen Ehrenbuch der Universität unter Heinrich Lübkes Unterschrift der Zusatz KZ-Baumeister entdeckt.66 Das Go-in (das mit sieben 1969 eingestellten Strafanzeigen endete) war aber nur ein Teil des Eklats. Der zweite folgte einen Tag später: Ein auch durch weitere studentische Gruppen gefordertes Aufklärungsgespräch mit dem Rektor über den „Fall Lübke“ endete nach Rangeleien vor dem Raum mit Gesprächsabbruch und Tumult. Der Rektor verließ den Ort des Geschehens und rief die Polizei zur Räumung,67 was wiederum nicht nur zu Protestgraffitis wie „Vorsicht – Polizeiterror in der Uni“68 führte, sondern zu erneuten Solidarisierungsprozessen.69 Das Beispiel verdeutlicht zum einen den im spezifischen Bonner Protestumfeld insgesamt konfrontativen Konfliktverlauf,70 zu dem das provokative Verhalten des Bonner SDS ebenso beitrug wie die Reaktionen universitärer Autoritäten und der Polizei. Es zeigt aber auch, dass es gerade Diskussionsverweigerung und als repressiv wahrgenommene Verhaltensmuster waren, die über ‚radikale‘ Gruppen hinaus Kritik und Protest verstärkten.

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Deutlich anders stellen sich Konstellationen und Verlauf an der Ruhr-Universität Bochum (RUB) dar, die Ende 1965 als erste Neugründung im Land den Lehrbetrieb aufgenommen hatte. Die Entwicklung eines studentischen hochschulpolitischen Engagements verlief zunächst schleppend.71 Fast die Hälfte der Anfang 1967 gut 4.200 Studierenden72 waren Pendler*innen aus der Region.73 Der Anteil an Akademikerkindern unter den Immatrikulierten war mit 25% etwas niedriger, der aus Arbeiterfamilien leicht (7.5% statt 5%), aus Angestelltenfamilien deutlich höher als im Bundesschnitt (40% statt 28%).74 Spezifisch war an der neuen RUB eine ‚modernisierte‘, in Abteilungen und Fachbereiche gegliederte Universitätsstruktur.75 Über die Universitätsverfassung, und damit über die Frage studentischer Mitbestimmung in universitären Gremien, war allerdings gerade in der Hochphase der Studentenbewegung erst noch zu entscheiden.76 Auf die Ausgestaltung universitärer Partizipation auf allen Ebenen, die Gestaltung und personelle Besetzung neuer Institute, die Struktur von Studiengängen sowie die Rechte der Studierendenschaft konzentrierten sich daher, besonders ab 1967/68, die Konflikte an der Bochumer Universität.77 Studentische Aktionen zu allgemeinpolitischen Themen, nicht zuletzt von Seiten des SDS und des Sozialdemokratischen Hochschulbunds (SHB), fanden auch an der Ruhr-Universität bereits vor dem tödlichen Schuss auf Benno Ohnesorg statt. Im Februar 1967 organisierte der SDS eine Aufklärungskampagne zum Vietnamkrieg,78 zur gleichen Zeit erregte die Einladung des NPD-Politikers Adolf von Thadden zu einer Podiumsdiskussion durch das Corps Marchia breiteren Protest.79 Einen ersten Eklat provozierte in Bochum indes nicht der SDS, sondern der AStA-Vorsitzende Lothar Ermrich. Bei der Immatrikulationsfeier im Mai 196780 kritisierte er die bisherige Praxis studentischer Mitwirkung innerhalb der Fachbereiche, bei der „die Studenten nur noch als demokratisches Aushängeschild“ dienten.81 Einige Professoren verließen demonstrativ den Saal. Trotzdem blieben die Beziehungen studentischer Organe und Gruppen zu Professoren und universitären Autoritäten selbst auf dem Höhepunkt der bundesweiten Proteste vergleichsweise sachlich.82 Nur während der Notstandsproteste kam es – wie oben erwähnt – Ende Mai auch in Bochum zu einigen Handgreiflichkeiten,

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die ohne Polizei beigelegt wurden.83 Unmittelbar nach dem Attentat auf Rudi Dutschke suchten der seit Wintersemester 1967/68 amtierende Rektor, der erst 38-jährige Jurist Kurt Biedenkopf,84 mehrere Professor*innen und auch der Bochumer Oberbürgermeister den AStA auf, um Solidarität auszudrücken und für den 13. April 1968 eine gemeinsame Kundgebung vorzuschlagen.85 Konfrontativ wurde das Verhältnis in Bochum vor allem Ende 1968, als um den Entwurf für die neue Hochschulverfassung gestritten wurde. Wenn auch nur kurzfristig kam es jetzt zu Go-ins in Senatssitzungen, studentischen Ultimaten und einer Besetzung von Dekanatsräumen, die am 17. Dezember 1968 zum ersten Polizeieinsatz an der RUB führten.86 Der Protestverlauf an der Bochumer Universität weist insofern eine im Vergleich zu Bonn deutlich andere zeitliche und thematische Dynamik auf. Durch die Reaktionen innerhalb der Universität verlief er insgesamt weniger konfrontativ und fokussierte sich stärker auf konkrete Demokratiedefizite – in- und außerhalb der eigenen Hochschule. Unterschiede finden sich auch bei der Wahl möglicher Bündnispartner*innen auf dem Höhepunkt der landesweiten Studierendenproteste im Mai 1968. Unterstützte das Bonner Aktionskomitee beim Protest gegen die Notstandsgesetze aktiv das Kuratorium „Notstand der Demokratie“,87 suchte die vom Bochumer SHB geführte „Ruhr-Aktion gegen die Notstandsgesetze“ (wenn auch wenig erfolgreich) den Schulterschluss mit lokalen Gewerkschafter*innen und Arbeiter*innen.88

„Tiefenströmungen “ von G esellschaftskritik : Das B eispiel D üsseldorf Trotz der, wie skizziert, deutlich verschiedenen Verläufe und kontextbedingten Ausprägungen löst sich die studentische Protestbewegung Ende der 1960er Jahre nicht in eine Vielzahl lokaler Sonderfälle auf. Im Gegenteil öffnet gerade die Perspektive auf Spezifika vor Ort zugleich den Blick für Verbindendes. Ungeachtet jeweils unterschiedlicher Radikalität, Protestmilieus und thematischer Schwerpunkte lassen sich

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Schnittmengen ermitteln. Als ein Kristallisationspunkt erweist sich dabei die Kritik an bestehenden Strukturen und Autoritäten, die mit mehr oder weniger vehement artikulierten Demokratisierungs- und Partizipationsforderungen konfrontiert wurden. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, findet sich diese Kritik an autoritären Verkrustungen und Diskursverweigerungen in Politik und Gesellschaft als „Tiefenströmung“ selbst dort, wo um 1968 kaum revoltiert wurde: an der ebenfalls jungen Universität Düsseldorf, die aufgrund der dort „rudimentären“ studentischen Proteste bislang wenig Forschungsinteresse geweckt hat.89 Die aus der Medizinischen Akademie hervorgegangene Universität Düsseldorf war 1965 gegründet worden, der Aufbau einer Mathematisch-Naturwissenschaftlichen und Philosophischen Fakultät steckte Ende der 1960er Jahre allerdings noch in den Anfängen. Erst ab Sommersemester 1969 existierte für beide Fakultäten ein entsprechendes Lehrangebot,90 ein Campus samt Gebäuden für die neuen Institute erst ab 1973. Von den 1.347 Düsseldorfer Studierenden des Wintersemesters 1967/68 waren 1.272 an der Medizinischen Fakultät eingeschrieben,91 hauptsächlich in höheren Semestern. Entsprechend lag ihr Altersschnitt (auch der Anteil an Verheirateten) höher als im studentischen Durchschnitt.92 Diesem Profil entsprachen auch die beiden Vorsitzenden des Universitäts-AStA im Jahr 1967/68, Jürgen Falck und Bernd Gutenberger. Beide waren fortgeschrittene Studenten der Medizin. Hochschulpolitisches Leben war in Düsseldorf um 1968 noch wenig etabliert, die meisten politischen Hochschulgruppen bildeten sich erst zu Beginn der 1970er Jahre. Ein Flugblatt der bereits Anfang 1968 gegründeten Gruppe des Liberalen Studentenbundes (LSD) beklagte die „absolute Gleichgültigkeit der meisten Düsseldorfer Studenten“.93 Öffentliche Protestaktionen von Studierenden der Universität waren selbst in der Hochphase der Proteste 1967 und 1968 wenig zahlreich und in ihrer Form äußerst gemäßigt. Die größte Demonstration von Studierenden fand auch in Düsseldorf nach der Erschießung Benno Ohnesorgs statt, am 8. Juni 1967. Zwei Tage zuvor hatte der AStA der Universität eine von Jürgen Falck und Bernd Gutenberger unterzeichnete Stellungnahme formuliert, die zwar deutliche Zweifel an der offiziellen „Notwehr“-Darstellung äußerte und ein „derartiges Vorgehen

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mit der Waffe“ auf das Schärfste verurteilte.94 Der „tragische Tod“ des Studenten galt dem Düsseldorfer AStA als Folge eines „unkontrolliert emotionalen Aneinandergeraten[s] der Demonstranten und der Polizei“.95 Er sei daher ein „ernster Anstoß“ dazu, „umgehend zu einer sachlichen Auseinandersetzung der anstehenden Probleme [sic!] zurückzufinden.“96 Von „spektakulären Demonstrationen“ wolle der AStA der Universität Düsseldorf aus diesem Grund absehen. Stattdessen plante er mit der „übrigen Düsseldorfer Studentenschaft“ eine Kranzniederlegung am Berliner Bären, als „Ausdruck tiefer Erschütterung“ und „Bekenntnis zum Recht auf freie, disziplinierte Meinungsäußerung“.97 Ein sich der Kranzniederlegung mit fünfzehn Schweigeminuten am 8. Juni dann doch anschließender Schweigemarsch durch die Stadt, dem sich rund 2.000 Studierende der Universität, der Kunstakademie, der Höheren Fachschulen und der Staatlichen Ingenieursschule Duisburg anschlossen, ging auf die Initiative der Evangelischen Studentengemeinde zurück.98 Nach den Schüssen auf Rudi Dutschke am 11. April 1968 kam es in Düsseldorf zwar zu spontanem Protest in der Stadt,99 der AStA beließ es dagegen zunächst bei einer Erklärung, in der er das Attentat verurteilte, sich vor allem aber deutlich vom SDS distanzierte. Er mahnte die Studierenden zur Besonnenheit, um „Ausschreitungen“ zu vermeiden, die zwar vielleicht verständlich, der Gesamtsituation aber nicht dienlich seien.100 Erst für den 17. April, fast eine Woche nach dem Attentat, rief der Universitäts-AStA zu einer Demonstration mit Kundgebung auf. Die Ankündigung dazu war an Zurückhaltung erneut kaum zu übertreffen: „Wir wollen der Düsseldorfer Bevölkerung zeigen, daß die Studentenschaft kein aufgebrachter Haufen ist, sondern sich im Gegenteil darum bemüht, tatsächlich vorhandene Mißstände in unserer Gesellschaft aufzuzeigen und wohlüberlegte Änderungsvorschläge zu machen.“101

Es gehe in der Veranstaltung darum, „gegen einseitige Meinungsmanipulation der Presse [zu] protestieren, die das Attentat auf Rudi Dutschke erst möglich gemacht hat“.102 Zugleich wurde jede Form des Radikalismus, wie die Springer-Blockaden, abgelehnt.103 Als es im

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Verlauf der Kundgebung mit 300 Teilnehmenden zu einem heftigen Wortgefecht zwischen dem Marburger SDS-Mitglied Rainer Neef und einem Düsseldorfer Medizinstudenten kam und der AStA-Vorsitzende Falck die Kundgebung beenden wollte, schlug ihm aus dem Publikum deutlicher Unmut entgegen.104 Während der landesweiten Proteste gegen die Notstandsgesetze im Mai 1968 blieb der AStA der Universität Düsseldorf inaktiv.105 Aktionen, die in der Landeshauptstadt durchaus stattfanden, gingen von anderen Gruppen aus – von Aktivist*innen an der Kunstakademie und an Düsseldorfer Fachschulen, von Gewerkschafter*innen und nicht zuletzt von Schüler*innen.106 Dass es an der Düsseldorfer Universität in den folgenden Jahren durchaus nicht weiter so ruhig blieb, hat Frank Sparing schon 2003 betont.107 Bereits im Frühjahr 1969 kam es in Düsseldorf anlässlich der ersten Lesung des umstrittenen Landeshochschulgesetzes im Landtag zu massiven Protesten, in deren Verlauf Demonstrierende Straßen und Plätze der Stadt durch Sit-ins blockierten, gegen die polizeiliche Absperrung vor dem Landtag vorgingen und symbolisch eine „Holthoff-Puppe“ verbrannten.108 Mit Blick auf „Tiefenströmungen“ von Protest und Kritik ist an dieser Stelle allerdings auch festzuhalten, dass ein kritisches Hinterfragen staatlicher Autoritäten, Unmut und der Hinweis auf „vorhandene Mißstände“ sich selbst in den zitierten, extrem wenig konfrontativen Statements des Düsseldorfer AStA finden. Gleiches gilt für Kritik an universitären Strukturen und die Forderung nach hochschulpolitischer Demokratisierung, die der AStA-Vorsitzende im Mai 1968 in einem kurzen Zeitschriftenbeitrag formulierte: Eine Universität, an der auch Assistent*innen und Studierende sich für Lehre und Forschung verantwortlich fühlten, dürfe nicht länger „autoritären Charakter“ haben.109 Erneut betonte er die Notwendigkeit, sachlich zu bleiben und Reformen nicht „mit verschwommenen, ideologisch verbrämten Vorstellungen“ zu betreiben.110 Transparenz und die Möglichkeit zu sachgerechter Kritik und Mitbestimmung auch der Studierenden waren für ihn allerdings eine Grundbedingung. Neben diesem hochschulpolitischen Demokratisierungsanspruch betonte Falck zugleich den stets „gesellschaftspolitischen Bezug“ und notwendig kritischen Charakter von Wissenschaft. Eine „kritische bildungs- oder auch gesellschafts-

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politische Betrachtungsweise“ lasse gerade das Medizinstudium zwar bislang kaum aufkommen. Die Zäsur des „denkwürdigen 2. Juni 1967 in Berlin“ hätte aber dazu geführt, „daß bisher inaktive Studentenschaften, auch in Düsseldorf, über Hochschule und Gesellschaft nachzudenken begannen und daran gingen, bisher nur dumpf empfundenes Mißbehagen dingfest zu machen.“111 Solches Missbehagen wurde nachweislich in der nach dem Tod Benno Ohnesorgs durch eine Gruppe Medizinstudierender gegründeten ersten Unabhängigen Studentenzeitung der Universität dingfest gemacht, mit dem aussagekräftigen Namen Pro These 67. In den bis 1969 erschienenen sieben Heften griffen studentische Beiträge nicht nur zentrale Themen und Postulate der bundesdeutschen wie internationalen Protestbewegungen auf. Sichtbar werden in den Artikeln auch neue politische Orientierungen, Denkmuster und Argumentationen der studentischen Autor*innen. Wiederholt kritisierten abgedruckte Beiträge Ausbeutung und Elend in der ‚Dritten Welt‘,112 den Krieg in Vietnam,113 aber auch das zerstörerische nukleare Waffenarsenal der Supermächte.114 Sarkastische Kritik richtete sich gegen die „Meinungsmanipulation“ des Springer-Konzerns,115 Gewalt gegen Demonstrierende und – auch hier – besonders gegen die Notstandsgesetzgebung der Großen Koalition. In der dritten Nummer 1968 druckte die Redaktion den „Vorschlag für ein erstes Gesetz zur Einführung der Volkssofortstrafjustiz (Minderheitenregelungsgesetz)“ des Club Voltaire in Hannover ab, mit sich steigernden ‚Disziplinierungsmaßnahmen‘ für jugendliche Demonstranten und Intellektuelle.116 Auf der gleichen Seite findet sich eine Todesanzeige für die Demokratie: „Am 30. Mai 1968 verschied nach kurzem Kampf erneut die DEUTSCHE DEMOKRATIE. In tiefer Trauer die Hinterbliebenen. Die Bestattung wird als Notstandsübung in der nächsten Zeit stattfinden.“117

Eine Karikatur auf dem Titelbild zeigte die Große Koalition aus CDU und SPD als wurmstichiges Hinterteil, die Notstandsgesetze als deren entsprechend unappetitliches Produkt.118 Im Artikel Ostern brachte ein Redaktionsmitglied im vorausgehenden Heft seine Sicht der Proteste

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nach dem Attentat auf Rudi Dutschke zum Ausdruck. Gegen die weit verbreitete Haltung in Politik und Bevölkerung – „Studenten sollen lernen und sich nicht mit Politik beschäftigen“ – setzte er ein Zitat John F. Kennedys, nachdem jeden Tag für die Freiheit zu kämpfen sei, um sie nicht zu verlieren.119 Er betonte, erst durch Diffamierung und bewusste Falschmeldungen der Presse seien „die Demonstrationen häufiger und eindringlicher“ geworden: „Trotz der riesigen Anstrengungen der Studenten, die sich jahrelang bemühten, sachlich zu diskutieren: Es hörte einfach niemand hin – was natürlich die bequemste Art ist, einer Auseinandersetzung [...] aus dem Wege zu gehen.“120

Staat und Gesellschaft verweigerten eine offene Diskussion mit Phrasen von „Disziplin“ und „Ordnung“ sowie dem unqualifizierten Hinweis auf die langen Haare der Protestierenden. Sein als Frage formuliertes Fazit lautete: „Steine, Tomaten und Pudding sind einer sachlichen Auseinandersetzung nicht gerade dienlich, aber seit wann sind Gummiknüppel eine demokratische Lösung?“121 Nicht allein bei politischen Themen lässt sich der Tenor in der Düsseldorfer Pro These 67 als Kritik an als autoritär empfunden Strukturen und als Forderung nach einer tiefgreifenden Demokratisierung von Politik und Gesellschaft zusammenfassen. Auch die Strukturen der eigenen universitären Lebenswelt wurden entsprechend kritisiert. Unter Rubriken „Wir stellen zur Diskussion“ oder „Auf ein Wort“ wurde das autoritäre Auftreten von Dozierenden im Studienalltag aufs Korn genommen,122 in anderen Beiträgen für die Einrichtung eines Soziologischen Instituts gestritten.123 Satirisch kommentierte ein Beitrag Ende 1968 auch die Auseinandersetzungen in der Professor*innenschaft, nachdem mit knapper Mehrheit der Verzicht auf Talare bei der feierlichen Rektoratsübergabe beschlossen worden war.124 Zu diesem Thema publizierte die Pro These 67 zudem gleich zwei Karikaturen, von denen eine zwei Professoren im Talar als Nosferatu-artige Wesen darstellte.125

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Zweifellos darf die Breitenwirkung einer Zeitschrift, deren neun Redaktionsmitglieder immer wieder zur Mitarbeit aufriefen und die Passivität ihrer Kommilitonen beklagten,126 nicht überschätzt werden. Gleichwohl zeigt die Düsseldorfer Pro These 67, dass Kritik an verkrusteten, undemokratischen und illiberalen Strukturen in Politik und Gesellschaft gerade auch abseits großer Demonstrationen artikuliert wurde. Exemplarisch dafür ist eine Besprechung von Alexander und Margarete Mitscherlichs Buch Die Unfähigkeit zu trauern: „Das Kapitel über repressive Moral, Tabu, Ressentiment und Kulturheuchelei sind erst in letzter Zeit wieder bestätigt worden. Man muß sich nur die haßerfüllten Gesichter angesehen haben, die lustvoll die Jagd auf Studenten bejahten, nachdem von oben die Startzeichen gegeben worden waren, um zu verstehen, was das heißt: Kulturheuchelei.“127

Nicht nur verfestigte Protestbilder weiter aufzubrechen und zu differenzieren, auch die zuletzt skizzierten kritischen Tiefenströmungen verstärkt zu untersuchen, könnte ein Weg sein, ‚1968‘ gesellschaftlich noch genauer zu verorten. Wie sich das Denken über Politik, Demokratie und gesellschaftliche Strukturen, Partizipation und individuelle Selbstbestimmung gerade unterhalb einer Schwelle manifester Proteste in den jüngeren Generationen wandelte, ließe sich – wie hier an der Düsseldorfer Pro These 67 – anhand zahlreicher weiterer publizistischer Zeugnisse nachvollziehen und spezifizieren. Zu überprüfen wäre damit nicht allein, welche Themen, Postulate oder Denkmodelle der 68er-Bewegung128 in welchen Facetten rezipiert, übernommen, der eigenen Lebenssituation angepasst oder auch abgelehnt wurden. Über einen breiteren Zeitraum angelegt, ließe sich zugleich trennschärfer vermessen, in welchen (welchen kursiv) Bereichen vom kurzen Beben 1968 tiefer reichende Dynamiken ausgingen, welche die politische Kultur der Bonner Republik langfristig veränderten.

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A nmerkungen 1 | Vgl. z.B. Schildt, Axel/Siegfried, Detlef/Lammers, Karl Christian: „Einleitung“, in: Dies. (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, 2. Aufl., Hamburg: Christians 2003, S. 11–20; Schildt, Axel: „Materieller Wohlstand – pragmatische Politik – kulturelle Umbrüche. Die 60er Jahre in der Bundesrepublik“, in: Ebd., S. 21–53; Hodenberg, Christina von/Siegfried, Detlef: „Reform und Revolte. 1968 und die langen sechziger Jahre in der Geschichte der Bundesrepublik“, in: Dies. (Hg.), Wo „1968“ liegt. Reform und Revolte in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, S. 7–14. Frese, Matthias/Paulus, Julia: „Geschwindigkeiten und Faktoren des Wandels – die 1960er Jahre in der Bundesrepublik“, in: Dies./Karl Teppe (Hg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn u.a.: Schöningh 2003, S. 1–23. 2 | Doering-Manteuffel, Anselm: „Westernisierung. Poltisch-ideeller und gesellschaftlicher Wandel der Bundesrepublik bis zum Ende der 60er Jahre“, in: Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hg.), Dynamische Zeiten, S. 311–341, S. 311. 3 | Vgl. den Beitrag von Thomas Gerhards: „Achtundsechzig als Problem der historischen Forschung und der politischen Kultur in Deutschland“ in diesem Band. 4 | Frei, Norbert: 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München: dtv 2008, S. 209f. 5 | Gilcher-Holtey, Ingrid: „Einleitung“, in: Dies. (Hg.), „1968“ – Eine Wahrnehmungsrevolution? Horizont-Verschiebungen des Politischen in den 1960er und 1970er Jahren, München: Oldenbourg 2013, S. 7–12. 6 | Kersting, Franz-Werner: „‚Unruhediskurs‘. Zeitgenössische Deutungen der 68er-Bewegung“, in: Matthias Frese/Julia Paulus/Karl Teppe (Hg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch, S. 715–740, S. 720. 7 | Kraushaar, Wolfgang: Achtundsechzig. Eine Bilanz, Berlin: Propyläen 2008, S. 288.

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8 | Hodenberg, Christina von: Das andere Achtundsechzig. Gesellschaftsgeschichte einer Revolte, München: Beck 2018, S. 9–11, das Zitat S. 11. 9 | Ebd. Ebenso Großbölting, Thomas: 1968 in Westfalen. Akteure, Formen und Nachwirkungen einer Protestbewegung, Münster: Ardey 2018, S. 7–12; Schmidt, Hans Gerd: Die 68er-Bewegung in der Provinz. Vom Rock’n’Roll und Beat bis zur Gründung der Grünen in Lippe, Bielefeld: AJZ 2013, S. 16. 10 | So Thomas Großbölting, 1968 in Westfalen, S. 12. 11 | Zu nennen sind neben den Beiträgen im bereits 1998 erschienenen Themenband „Der gesellschaftsgeschichtliche Ort der ‚68er‘-Bewegung“ der Westfälischen Forschungen 48 (1998) insbesondere die neueren monografischen Regionalstudien von Thomas Großbölting: 1968 in Westfalen (2018) sowie von Hans-Gerd Schmidt: Die 68er-Bewegung in der Provinz (2013). Zu „1968“ in Bonn: Bothien, Horst-Pierre: Protest und Provokation. Bonner Studenten 1967/68, Essen: Klartext 2007; sowie die neue Untersuchung von Hodenberg, Christina von: Das andere Achtundsechzig.(2018). Die Ereignisse in Bochum beschreibt zeitnah, auch auf Basis studentischer Interviews, die Dissertation von Rieser, Daniel: Die Studentenbewegung an der Ruhr-Universität Bochum vom Wintersemester 1965/66 bis zum Sommersemester 1971, Diss. Univ. Bochum 1973. Die Ereignisse in der Universität und Stadt Köln beleuchtet der Katalog von Holl, Kurt/Glunz, Claudia (Hg.): 1968 am Rhein: Satisfaction und ruhender Verkehr, überarb. Neuausgabe, Köln: emons 2008. 12 | Dohms, Peter/Paul, Johann: Die Studentenbewegung von 1968 in Nordrhein-Westfalen (= Ortstermine; Bd. 22), Siegburg: Rheinlandia 2008. Eine erste Einordnung unternahm bereits: Dohms, Peter: „Studentenbewegung und nordrhein-westfälische Landespolitik in den 60er und 70er Jahren“, in: Geschichte im Westen 12 (1997), S. 175–201. 13 | Peter Dohms/Johann Paul: Studentenbewegung von 1968, S. 13. 14 | So jetzt auch Thomas Großbölting: 1968 in Westfalen, S. 12 und S. 17f. 15 | Die Ereignisse an der Universität Düsseldorf wurden im Rahmen eines studentischen Lehr- und Forschungsprojekts 1968 und die Folgen in Düsseldorf im Sommersemester 2017 und Wintersemester 2017/18

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auf der Basis einer bislang eher übersichtlichen Literaturlage beleuchtet. Grundlegend: Sparing, Frank: „‚…nicht mit verschwommenen, ideologisch verbrämten Vorstellungen wollen wir Hochschulreform betreiben, sondern einzig und allein sachbezogen.‘ Die Studierenden der Universität Düsseldorf und die ‚außerparlamentarische Opposition‘ 1967/68“, in: Wolfgang Woelk/Frank Sparing/Karen Bayer/Michael G. Esch (Hg.), Nach der Diktatur. Die Medizinische Akademie Düsseldorf vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die 1960er Jahre, Essen: Klartext 2003, S. 393–424. Einige weitere Hinweise in: Plassmann, Max/Süssmuth, Hans: Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Von der Gründung bis zur Exzellenz, Düsseldorf: düsseldorf university press 2015. 16 | Seit 1966 stellte die SPD mit Fritz Holthoff auch den Kultusminister, ehe Kühn die Hochschulkompetenz im Juli 1969 an sich zog und 1970 den jungen Bildungspolitiker Johannes Rau an die Spitze des neu gestalteten Ministeriums für Wissenschaft und Forschung berief. Düding, Dieter: „Heinz Kühn (1912–1992)“, in: Seven Gösmann (Hg.), Unsere Ministerpräsidenten in Nordrhein-Westfalen. Neun Porträts von Rudolf Amelunxen bis Jürgen Rüttgers, Düsseldorf: Droste 2008, S. 126–153, S. 144. 17 | Zahlreiche Beispiele und Zitate bei: Peter Dohms/Johann Paul: Studentenbewegung von 1968, S. 13–31. 18 | Eine ausführliche Beschreibung der Diskussion bei Kozicki, Norbert: Aufbruch im Revier. 1968 und die Folgen, Essen: Klartext 1993, S. 23–27. 19 | Peter Dohms: Studentenbewegung und nordrhein-westfälische Landespolitik, S. 197. 20 | Vgl. dazu z.B. Kenkmann, Alfons: „Von der bundesdeutschen ‚Bildungsmisere‘ zur Bildungsreform in den 60er Jahren“, in: Axel Schildt/ Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hg.), Dynamische Zeiten, S. 402–423, zur Hochschulexpansion als landespolitischem „Kraftakt“ in NRW insbesondere S. 415–417. 21 | Bundesweit hatten sich die Studierendenzahlen an den Universitäten von Beginn der 1950er bis Anfang der 1960er Jahre auf 350.000 mehr als verdreifacht und stiegen weiterhin kontinuierlich auf über eine Million im Jahr 1985. Zahlen nach: Wolbring, Barbara/Franzmann, Andreas: „Einleitung“, in: Dies. (Hg.), Zwischen Idee und Zweckorientierung. Vorbilder und Motive von Hochschulreformen seit 1945, Berlin:

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Akademie Verlag 2007, S. 7–11, S. 7. Trotz dieser „Überfüllungskrise“ bestand zugleich ein Mangel an ausgebildeten Akademiker*innen, dem mit Expansion und Hochschulreformen begegnet werden sollte. Vgl. Rudloff, Wilfried: „Die Gründerjahre des bundesdeutschen Hochschulwesens: Leitbilder neuer Hochschulen zwischen Wissenschaftspolitik, Studienreform und Gesellschaftspolitik“, in: Ebd., S. 77–101, hier S. 79f. 22 | Zahlen nach Peter Dohms/Johann Paul: Die Studentenbewegung von 1968, S. 37. 23 | Von 1970 bis Ende der 1970er Jahre verdreifachte sich die Zahl der Studierenden im Land nahezu von 100.000 im Jahr 1970 auf 282.000 1978/79. Zahlen nach: Peter Dohms: Studentenbewegung, S. 196. 24 | Diese Projekte hatte bereits die CDU-geführte Regierung unter Ministerpräsident Franz Meyers seit Beginn der 1960er Jahre beschlossen. Vgl. Nonn, Christoph: Geschichte Nordrhein-Westfalens, München: Beck 2009, S.103. 25 | Wilfried Rudloff: Die Gründerjahre, S. 79–81. 26 | Ebd., S. 102-104; Düding, Dieter: „Reform und Krisenmanagement. Die Jahre 1966-1983“, in: Christian Reinicke/Horst Romeyk (Red.), Nordrhein-Westfalen. Ein Land in seiner Geschichte. Aspekte und Konturen 1946-1996, Münster: Aschendorff 1996, S. 417–441, hier S. 426–428. 27 | Mit den neuen Universitäten in Bochum, Dortmund und Bielefeld, den 1972 gegründeten Gesamthochschulen Duisburg, Essen, Paderborn, Wuppertal und Siegen sowie der Fernuniversität Hagen (1974). 28 | Peter Dohms/Johann Paul: Studentenbewegung von 1968, S. 101. 29 | Ebd., S. 116; Thomas Großbölting: 1968 in Westfalen, S. 61 Bei einer zentralen Protestkundgebung, am 23. April 1969 in Düsseldorf, legten 2.000 bis 3.000 Studierende den Verkehr in der Stadt lahm und verbrannten vor dem Innenministerium eine Strohpuppe, die NRW-Kultusminister Fritz Holthoff darstellte. 30 | Zit. nach: Peter Dohms/Johann Paul: Studentenbewegung von 1968, S. 13. 31 | Norbert Kozicki: Aufbruch im Revier, S. 14–18. 32 | Peter Dohms/Johann Paul: Studentenbewegung von 1968, S. 13. 33 | Zu Münster: Thomas Großbölting: 1968 in Westfalen, S. 38. In Aachen zogen am 8. Juni 2.000 Teilnehmer*innen schweigend und mit

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schwarzen Fahnen durch die Stadt. In Köln kam es zu gleich mehreren Protestmärschen mit insgesamt mehr als 6.000 Teilnehmern. Zahlen nach Peter Dohms/Johann Paul: Studentenbewegung von 1968, S. 94 und S. 103. In Bochum demonstrierten am 7. Juni 1.500 Studierende in der Stadt. Das entspricht einem Anteil von 30% aller dort Eingeschriebenen; vgl. Peter Dohms/Johann Paul: Studentenbewegung von 1968, S. 132; sowie: Daniel Rieser: Die Studentenbewegung an der Ruhr-Universität Bochum, S. 14. Tags darauf versammelten sich nochmals 800 Studierende zu einer Gedenkfeier, bei der auch Rektor Heinrich Greeven sprach; vgl. Jähnichen, Traugott/Friedrich, Norbert: „Krisen, Konflikte und Konsequenzen – Die 68er Bewegung und der Protestantismus an der Ruhr-Universität Bochum“, in: Westfälische Forschungen 48 (1998), S. 128–155, S. 129. In Bonn, wo es (wie in Aachen) bereits vor der Erschießung Benno Ohnesorgs zu Protesten gegen den Schah-Besuch in der Bundeshauptstadt gekommen war, dauerten die verschiedenen Kundgebungen – besonders eine Mahnwache – mehrere Tage an; vgl. Horst-Pierre Bothien: Protest und Provokation, S. 39f.; Christina von Hodenberg: Das andere Achtundsechzig, S. 19–44. Als geschätzte Gesamtzahl der Protestierenden bundesweit nennt Christina von Hodenberg, ebd. S. 34, 100.000. 34 | In Münster versammelten sich rund 1.000 Studierende am Lamberti-Brunnen (Thomas Großbölting: 1968 in Westfalen, S. 46f.). In Köln fanden ab dem 13. April mehrfach Demonstrationen und Kundgebungen statt, an denen sich, laut der bei Peter Dohms/Johann Paul: Studentenbewegung von 1968, S. 94f., genannten Zahlen, insgesamt rund 4.000 Studierende beteiligten. In Bochum nahmen, nach einer ersten spontanen Demonstration mit 150–250 Teilnehmern am Abend des Attentats, an der zentralen Kundgebung in der Stadt am 13. April 1968 rund 1.500 Studierende teil (vgl. ebd., S. 134; sowie Daniel Rieser: Die Studentenbewegung an der Ruhr-Universität Bochum, S. 44–46). Auch in Bonn versammelten sich, nach ersten spontanen Protesten am 11. April auf der Adenauerallee, am 16. April rund 1.000 Studierende zu einem Marsch durch die Innenstadt (Horst-Pierre Bothien: Protest und Provokation, S. 53f.). Zum Vergleich: Die Studierendenzahl lag in Bochum im Wintersemester 1966/67 bei rund 4.200, wuchs aber bis zum WS 1969/70 auf

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10.000 an (Stallmann, Hans: Euphorische Jahre. Gründung und Aufbau der Ruhr-Universität Bochum, Essen: Klartext 2004, S. 249). In Bonn waren im Sommersemester 1967 rund 14.100 Studierende immatrikuliert (Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Vorlesungsverzeichnis für das Winter-Semester 1967/68, Bonn: Universitäts-Buchdruckerei o.J., S. 270); in Köln im Sommersemester 1967 über 17.000 Studierende (Universität zu Köln. Vorlesungsverzeichnis für das Sommersemester 1968, Köln o.J., S. 241). 35 | Thomas Großbölting: 1968 in Westfalen, S. 42–47. Er verweist z.B. auf den noch wenig beachteten Punkt, dass sich der Protest nach dem Attentat auf Rudi Dutschke vor Ort mit den traditionellen Ostermärschen vernetzte. So kamen zur zentralen Kundgebung in Dortmund an die 10.000 Menschen. 36 | In Köln kam es bei einer Demonstration am Karsamstag in der Stadt zu lauten „Ho-Tschi-Minh“-, „Che Guevara“- und „Rudi Dutschke“-Rufen, in der Nacht zum Ostersonntag blockierten weitere 300–400 Demonstrant*innen die Ausfahrten des Kölner DuMont-Verlags. Vgl. Peter Dohms/Johann Paul: Studentenbewegung von 1968, S. 94f.; Kurt Holl/ Claudia Glunz: Satisfaction und Ruhender Verkehr, S. 114. 37 | Daniel Rieser: Die Studentenbewegung an der Ruhr-Universität Bochum, S. 46; sowie: Güse, Wiebke: „Die verschüttete Tradition: Studentische Hochschulpolitik vor 1968. Das Beispiel Bochum“, in: Westfälische Forschungen 48 (1998), S. 191–215, S. 211. 38 | Zit. nach: Peter Dohms/Johann Paul: Studentenbewegung von 1968, S. 21. 39 | Zahl nach: Christina von Hodenberg: Das andere Achtundsechzig, S. 77, die besonders die gesellschaftliche Breite des Protestbündnisses betont. Allein aus Bochum fuhren sieben Busse zum Sternmarsch; vgl. Daniel Rieser: Die Studentenbewegung an der Ruhr-Universität Bochum, S. 50. 40 | In Bonn fand am 11. Mai 1968 ein Teach-in in der gut gefüllten Beethovenhalle statt, am 15. Mai ein Vorlesungsstreik (Horst-Pierre Bothien: Protest und Provokation, S. 57 und S. 60). In Köln sollen an einem Informationstag zu den Notstandsgesetzen am 8. Mai 1968 1.000 Studierende teilgenommen haben, in Aachen an einem Teach-in im Audimax am

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15. Mai sogar 2.500 Studierende, Assistent*innen und Professor*innen. Am gleichen Tag fand in Bochum ein Streik-Teach-in mit 600 Teilnehmer*innen statt, bei dem auch ein Informationsstreik für den 16. Mai beschlossen wurde. Vgl. Peter Dohms/Johann Paul: Studentenbewegung von 1968, S. 95, S. 104 und S. 134. 41 | So beispielsweise beim Informationsstreik in Bochum am 16. Mai im Audimax, mit bis zu 1.000 Teilnehmer*innen; vgl. Daniel Rieser: Die Studentenbewegung an der Ruhr-Universität Bochum, S. 51. 42 | Peter Dohms/Johann Paul: Studentenbewegung von 1968, S. 95. 43 | Christina von Hodenberg: Das andere Achtundsechzig, S. 78, bemerkt, dass die Studierenden immer „verzweifelter“ versuchten, auch die Bevölkerung gegen die Notstandgesetzgebung zu mobilisieren. 44 | In Bochum demonstrierten am 27. Mai 1.000 Studierende, zusammen mit 1.000 Arbeiter*innen Bochumer Betriebe in der Stadt und zogen zur IG-Metallverwaltung. Tags darauf zogen Studierende in Aachen in einem Schweigemarsch durch die Stadt; vgl. Peter Dohms/Johann Paul: Studentenbewegung von 1968, S. 136 und S. 105. 45 | So in Münster; vgl. Thomas Großbölting: 1968 in Westfalen, S. 51f. 46 | Ein solcher fand am 28. Mai in Köln, nach einem gemeinsamen Beschluss von Studierenden und Schüler*innen statt; am gleichen Tag demonstrierten Studierende auch gemeinsam mit Gewerkschafter*innen der Kölner IG Druck und Papier; vgl. Kurt Holl/Claudia Glunz: Satisfaction und Ruhender Verkehr, S. 132 und S. 134. Zur Bedeutung der Notstandsproteste in der lange zu wenig beachteten Schülerbewegung um 1968: Gass-Bolm, Torsten: „Revolution im Klassenzimmer? Die Schülerbewegung 1967–1970 und der Wandel der deutschen Schule“, in: Christina von Hodenberg/Detlef Siegfried (Hg.), Wo „1968“ liegt, S. 113–138, hier S. 120. 47 | So in Aachen, wo am 29. Mai 1968 um die 200 Protestierende mit einem Go-in die Aufführung des Fröhlichen Weinbergs im Stadttheater zum Abbruch brachten; vgl. Peter Dohms/Johann Paul: Studentenbewegung von 1968, S. 105. Gleiches versuchten um die 300 Studierende und Schüler am gleichen Tag im Bochumer Schauspielhaus, wurden aber durch die Polizei aus dem Theater geworfen (ebd., S. 137). In Bonn

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kam es am 29. Mai infolge eines Sit-ins vor dem Stadttheater, wo Bundespräsident Heinrich Lübke feierlich ein Orden verliehen werden sollte, zu einer polizeilichen Räumung und Ermittlungen der Staatsanwaltschaft; vgl. Horst-Pierre Bothien: Protest und Provokation, S. 61f. 48 | Zu den Ereignissen in Köln am 30. Mai 1968, bei denen das Hauptgebäude der Universität durch eine Holzbarrikade versperrt und mit Farbe in „Rosa Luxemburg Universität“ benannt wurde: Peter Dohms/Johann Paul: Studentenbewegung von 1968, S. 95f.; sowie die Bildcollage in: Kurt Holl/Claudia Glunz: Satisfaction und Ruhender Verkehr, S. 136–141. Zu Bonn: Horst-Pierre Bothien: Protest und Provokation, S. 62f. Zur nur kurzfristigen Verbarrikadierung der Ruhr-Universität Bochum: Daniel Rieser: Die Studentenbewegung an der Ruhr-Universität Bochum, S. 55 sowie Peter Dohms/Johann Paul: Studentenbewegung von 1968, S. 136. 49 | In Köln kam es nicht nur zu Tätlichkeiten zwischen studentischen Blockierer*innen und Gegendemonstrant*innen, welche die Barrikade zu stürmen versuchten, sondern auch zu einem Handgemenge mit einem Byzantinistik-Professor. Um die Lage zu beruhigen, begab sich Kultusminister Fritz Holthoff persönlich nach Köln; vgl. Peter Dohms/ Johann Paul: Studentenbewegung von 1968, S. 95f. Die Verbarrikadierung der Universitätszugänge in Bonn in den letzten Maitagen, wo es bereits zuvor zu einer viertägigen Besetzung des Hörsaal 1 gekommen war, wurde durch die herbeigerufene Polizei beendet (Horst-Pierre Bothien: Protest und Provokation, S. 63). In Bochum endete die Verbarrikadierung der Eingangstüren ohne Polizei, durch das Eingreifen von Rektor Kurt Biedenkopf und anwesender Studierwilliger. Es blieb bei Wortgefechten und einigen Rangeleien; vgl. Peter Dohms/Johann Paul: Studentenbewegung von 1968, S. 136. 50 | Zit. nach Daniel Rieser: Die Studentenbewegung an der Ruhr-Universität Bochum, S. 53f., hier S. 53. 51 | Zu den Go-ins vgl. oben, Anm. [47]. An der Verbarrikadierung in Bochum sollen 100 bis 200 Studierende beteiligt gewesen sein; vgl. Daniel Rieser: Die Studentenbewegung an der Ruhr-Universität Bochum, S. 55.

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52 | Im Sommersemester 1967 waren in Bonn insgesamt 14.130 Studierende eingeschrieben. Vgl. Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn: Vorlesungsverzeichnis für das Winter-Semester 1967/68, S. 270. 53 | Ebd., S. 270. Zum Profil der Universität Horst-Pierre Bothien: Protest und Provokation, S. 9; Peter Dohms/Johann Paul: Studentenbewegung von 1968, S. 65f. 54 | Peter Dohms/Johann Paul: Studentenbewegung von 1968, S. 66; Christina von Hodenberg: Das andere Achtundsechzig, S. 13. 55 | Vgl. Peter Dohms/Johann Paul: Studentenbewegung von 1968, S. 68f.; sowie Horst-Pierre Bothien: Protest und Provokation, insbesondere S. 17–20 und S. 31. Bothien erwähnt z.B., dass bereits 1962 während der Spiegelaffäre 2.000 Studierende mit einem Schweigemarsch unter dem Motto „Rettet die Demokratie“ demonstriert hatten. 56 | Horst-Pierre Bothien: Protest und Provokation, S. 18–20. Zu den Bonner NS-Skandalen auch: Christina von Hodenberg: Das andere Achtundsechzig, S. 49f. Sie weist, auf Basis von Zeitzeugeninterviews, allerdings darauf hin, dass gerade der unangemessene Polizeieinsatz im Umfeld des Bonner Schah-Besuchs Ende Mai 1967 von damaligen Aktivist*innen weit häufiger als politisierendes Schlüsselerlebnis genannt werde, als die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit. 57 | Zu Hannes Heer ausführlicher: Christina von Hodenberg: Das andere Achtundsechzig, S. 45–52. 58 | Peter Dohms/Johann Paul: Studentenbewegung von 1968, S. 70; Horst-Pierre Bothien: Protest und Provokation, S. 39. Der Studentengewerkschaft gehörten neben dem SDS auch der Sozialdemokratische Hochschulbund (SHB), der Liberale Studentenbund Deutschlands (LSD) und die Humanistische Studentenunion (HSU) an, die Bothien dem linksliberalen Spektrum zuordnet. 59 | So bei einer durch SDS und SHB organisierten Vietnamwoche im Mai 1966, bei der auch eine Podiumsdiskussion mit Ulrike Meinhof, Rudi Dutschke und dem Bonner Politikwissenschaftler und Zeithistoriker Hans-Adolf Jacobsen stattfand; vgl. Horst-Pierre Bothien: Protest und Provokation, S. 31f. 60 | Vgl. z.B. Horst-Pierre Bothien: Protest und Provokation, S. 40–46, zum „Griechenland“-Protest im Umfeld der 150-Jahr-Feier der Universität Bonn 1968.

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61 | Ebd., S. 28–31, zum „Fall Prof. von Weber“ und zur Störung des Auftritts des NPD-Bundesvorsitzenden Adolf von Thadden in der Bonner Beethovenhalle im Oktober 1968. 62 | Ebd., S. 73–80. 63 | Rund 60 Personen wurden im Anschluss verhaftet und polizeilich verhört. Vgl. Christina von Hodenberg: Das andere Achtundsechzig, S. 20f. und S. 33; Horst-Pierre Bothien: Protest und Provokation, S. 35–39. 64 | Horst-Pierre Bothien: Protest und Provokation, S. 39. 1.200 Studierende protestierten auf dem Münsterplatz, Kritik an der Polizeiaktion äußerten in diesem Fall auch Professor*innen sowie der Rektor der Universität. 65 | Dazu ausführlich: Christina von Hodenberg: Das andere Achtundsechzig, S. 45–51; Horst-Pierre Bothien: Protest und Provokation, S. 2027; Peter Dohms/Johann Paul: Studentenbewegung von 1968, S. 81–84. 66 | Horst-Pierre Bothien: Protest und Provokation, S. 21f. 67 | Ebd., S. 22–24. 68 | Abgebildet ebd., S. 26. 69 | Ebd., S. 27; Christina von Hodenberg: Das andere Achtundsechzig, S. 50. 70 | So auch Peter Dohms/Johann Paul: Studentenbewegung von 1968, S. 115. Christina von Hodenberg: Das andere Achtundsechzig, S.13, betont, dass die Zusammenstöße zwischen Studierenden und Polizei in Bonn „an Radikalität West-Berliner Verhältnissen kaum nachstanden“. 71 | Daniel Rieser: Die Studentenbewegung an der Ruhr-Universität Bochum, S. 6f. und S. 23; Peter Dohms/Johann Paul: Studentenbewegung von 1968, S. 123f. Im Mai 1967 beteiligten sich an einer Abstimmung über die Satzung der Studierendenschaft nur rund 36% der Studierenden. Wiebke Güse: Die verschüttete Tradition, S. 203f., weist dagegen darauf hin, dass bis 1967 bereits drei studentische Zeitschriften gegründet wurden, die für hochschulpolitische Fragen zu mobilisieren suchten und eine „linke Meinungshegemonie“ bildeten. 72 | Im Wintersemester 1966/67 lag die Studierendenzahl in Bochum bei gut 4.200 (Peter Dohms/Johann Paul: Studentenbewegung von 1968, S. 123), wuchs aber bis zum WS 1969/70 auf 10.000 an (Hans Stallmann: Euphorische Jahre, S. 249).

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73 | Peter Dohms/Johann Paul: Studentenbewegung von 1968, S. 123f. 74 | Zahlen nach: Ebd., S. 124. 75 | Zu dieser Struktur, die vor allem eine interdisziplinäre Kooperation über die klassischen Fakultätsschranken hinweg fördern sollte und auch neu konzipierte Studiengänge vorsah; Wiebke Güse: Die verschüttete Tradition, S. 195. 76 | Verabschiedet wurde 1965 eine vorläufige Verfassung, die eine Mitbestimmung von Assistent*innen und Studierenden auf Abteilungsebene, im Universitätskonvent sogar eine drittelparitätische Besetzung vorsah; vgl. Peter Dohms/Johann Paul: Studentenbewegung von 1968, S. 128. Auch der Kommission zur Umarbeitung der vorläufigen Verfassung, der Kurt Biedenkopf vorsaß, gehörte ab Ende 1966 ein studentischer Vertreter an. Dazu: Wiebke Güse: Die verschüttete Tradition, S. 201 und S. 203. 77 | Peter Dohms/Johann Paul: Studentenbewegung von 1968, S. 125; Thomas Großbölting: 1968 in Westfalen, S. 66. Die Entwicklung ging dabei von den Fachbereichen aus, wobei das Sozialwissenschaftliche Institut besonders im Brennpunkt stand. Vgl. Wiebke Güse: Die verschüttete Tradition, S. 205–209. Zur Entwicklung an der Evangelisch-theologischen Fakultät jetzt: Sarx, Tobias: Reform, Revolution oder Stillstand? Die 68er-Bewegung an den Evangelisch-Theologischen Fakultäten Marburg, Bochum und der Kirchlichen Hochschule Berlin, Stuttgart: Kohlhammer 2018. 78 | Nach Daniel Rieser: Die Studentenbewegung an der Ruhr-Universität Bochum, S. 9, beteiligten sich an einer abschließenden Demonstration rund 200 Studierende. 79 | Ebd., S. 8f. 80 | Ebd., S. 10–12; Peter Dohms/Johann Paul: Studentenbewegung von 1968, S. 125f. 81 | Zit. nach Daniel Rieser: Die Studentenbewegung an der Ruhr-Universität Bochum, S. 11. In einem Artikel in der Bochumer Studentenzeitung hatte Ermrich diese Kritik im Vorfeld noch schärfer formuliert, von studentenfeindlichem Verhalten der Professor*innen gesprochen und auch in Bochum einen hierarchisch-autoritären Geist konstatiert, der jede Reform verhindere; vgl. Wiebke Güse: Die verschüttete Tradition, S. 207.

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82 | Einen sogar kooperativen Aspekt betont Wiebke Güse: Die verschüttete Tradition, S. 210. 83 | Peter Dohms führt das Ausbleiben von Eskalationen 1967/68 an der RUB nicht zuletzt auf das Verhalten von Rektor Biedenkopf zurück, der es vermieden habe, in „Provokationsfallen und Eskalationsspiralen“ zu laufen. Vgl. Peter Dohms/Johann Paul: Studentenbewegung von 1968, S. 139. 84 | Zu Biedenkopf, einem anerkannten Reformer im Bereich Hochschulpolitik, Wiebke Güse: Die verschüttete Tradition, S. 200f. 85 | Ebd. S. 211. Peter Dohms/Johann Paul: Studentenbewegung von 1968, S. 134, zitieren in diesem Zusammenhang allerdings auch die zornige Reaktion des Bochumer AStA-Vorsitzenden auf Biedenkopfs Teilnahme an der Kundgebung am 13. April in Bochum. Er warf dem Rektor vor, die Proteste „kanalisieren“ und von hochschulinternen Reformkonflikten ablenken zu wollen. 86 | Peter Dohms/Johann Paul: Studentenbewegung von 1968, S. 128f.; Daniel Rieser: Die Studentenbewegung an der Ruhr-Universität Bochum, S. 81–93. Während studentische Verfassungsentwürfe eine generelle Drittelparitat in allen Gremien vorsahen, beinhaltete der vom Rektor vorgelegte Arbeitsentwurf zwar eine Beteiligung von Assistent*innen und Studierenden, sicherte Professor*innen aber eine deutliche Mehrheit in allen Gremien zu (vgl. Daniel Rieser: Ebd., S. 84f.). Nach dieser Konfrontation beruhigte sich die Lage wieder, vor allem durch Zugeständnisse im Verfassungsentwurf für die Universität, dem im Sommersemester 1969 schließlich auch der AStA zustimmte (ebd., S. 94–100 und S. 123–128). 87 | Horst-Pierre Bothien: Protest und Provokation, S. 56. 88 | Zur „Ruhr-Aktion“ Daniel Rieser: Die Studentenbewegung an der Ruhr-Universität Bochum, S. 52–61; sowie Peter Dohms/Johann Paul: Studentenbewegung von 1968, S. 135–137. Bei einer Demonstration am 27. Mai 1968 zogen einmalig und recht spontan 1.000 Arbeiter*innen mit rund 1.000 Studierenden und Schüler*innen vor das Gebäude der Bochumer IG-Metall, um die Gewerkschaftsfunktionäre zu einer Stellungnahme gegen die Notstandsgesetze zu bewegen. Weitere Versuche, Arbeiter*innen in den Betrieben zum Niederlegen der Arbeit zu bringen, scheiterten allerdings kläglich.

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89 | Peter Dohms/Johann Paul: Studentenbewegung von 1968, S. 123, erschien Düsseldorf im landesweiten Vergleich als wenig lohnend, wurde daher in die Untersuchung nicht einbezogen. 90 | Erst zum Sommersemester 1969 nahmen Fächer, wie Germanistik, Geschichte, Anglistik und Romanistik an der Philosophischen Fakultät ihren Lehrbetrieb auf; vgl. Universität Düsseldorf. Personal- und Vorlesungsverzeichnis, Sommersemester 1969, o.O. o.J. 91 | Zahlen nach: Universität Düsseldorf. Personal- und Vorlesungsverzeichnis, Wintersemester 1968/69, o.O. o.J., S. 28; dort die Studierendenzahlen der beiden vergangenen Semester. 92 | Frank Sparing: Die Studierenden der Universität, S. 402. 93 | Flugblatt der neu gegründeten Düsseldorfer Gruppe des Liberalen Studentenbundes (LSD), hier zitiert nach ebd., S. 421. 94 | AStA der Universität Düsseldorf: „Stellungnahme zu den Vorfällen in Berlin“, vom 06.06.1967. UAD, 1/5, Nr. 77. 95 | Ebd. Hervorhebung i.O. 96 | Ebd. 97 | Ebd. 98 | Vgl. Frank Sparing: Die Studierenden der Universität, S. 404–406, sowie: „2000 gedachten Benno Ohnesorgs“, in: Düsseldorfer Nachrichten, Nr. 132, 09.06.1967. 99 | Noch in der folgenden Nacht zu Karfreitag war es in der Altstadt laut Presse zu spontanem Protest von 60–80 meist „jungen Leuten“ und Protestparolen auf Häuserwänden und Denkmälern gekommen. Am Karfreitag, dem 12. April, zog eine Demonstration mit 250 Teilnehmern, mit wiederholten Sitzstreiks auf Kreuzungen und Straßenbahnschienen, vom Hauptbahnhof zum Grabbeplatz. Vgl. „Protestaktionen nach Anschlag auf Dutschke“, in: Düsseldorfer Nachrichten, Nr. 87, 13.04.1968. 100 | Ebd. 101 | „Kein aufgebrachter Haufen“, in: Düsseldorfer Nachrichten, Nr. 90, 17.04.1968. 102 | Ebd. 103 | Ebd.

Aufruhr am Rhein?

104 | „Demonstration ganz ohne Krawall“, in: Düsseldorfer Nachrichten, Nr. 91, 18.04.1968. 105 | Frank Sparing: Die Studierenden der Universität, S. 414. 106 | Zu den Teach-ins an den Schulen in der Stadt: „Notstand auch in den Schulen. Viele lebhafte Diskussionen und ein Teach-in“, in: Düsseldorfer Nachrichten, Nr. 114, 16.05.1968; sowie „Chronik 68/69“, in: Comene. Schülerzeitschrift am Comenius-Gymnasium [Düsseldorf], nr. 3 (1969), S. 18–21. An einer Demonstration mit zuletzt 700 Teilnehmer*innen, die am Abend des 15. Mai 1968 durch die Stadt zum Schadowplatz zog, waren laut einem Zeitungsbericht neben Studierenden und Schüler*innen auch „Arbeiter“, „Hausfrauen“ [!] und Mütter mit Kinderwagen beteiligt. Vgl. „Klümpkes für Demonstranten. Rund 700 protestierten gestern gegen die Notstandsgesetze“, in: Düsseldorfer Nachrichten, Nr. 114, 16.05.1968. 107 | Frank Sparing: Die Studierenden der Universität, S. 422 und S. 424. 108 | Fritz Holthoff (SPD) war Kultusminister des Landes NRW. Zu studentischem Protest an der Universität Düsseldorf nach 1968: Vollmer, Judith/Plassmann, Max: „40 Jahre ‚1968‘ – 30 Jahre Studierendenstreik 1977/78. Studentischer Protest im Spiegel der Plakat- und Flugblattsammlungen des Universitätsarchivs Düsseldorf“, in: Jahrbuch der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, 2007/2008, S. 669–685; sowie jetzt: Gerhards, Thomas/Hinz, Uta: „Die Universität Düsseldorf und die Studentenbewegung seit den 1960er Jahren“, in: Düsseldorfer Jahrbuch. Beiträge zur Geschichte des Niederrheins 89 (2019), S. 321–350. 109 | Falck, Jürgen: „Studentenvertretung heute“, in: Düsseldorf. Illustrierte Zeitschrift für die Gäste der Landeshauptstadt, 1968, Nr. 2, S. 52–53, hier S. 53. 110 | Ebd., S. 52. 111 | Ebd. 112 | Vgl. „Unser täglich Brot gib uns heute, in: Pro These 67. Unabhängige Studentenzeitung an der Universität Düsseldorf, 1968, Nr. 2 [=3], S. 4–6; sowie „Am Beispiel Brasilien“, in: Ebd., S. 6f.

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113 | Vgl. „Quo vadis Amerika?“, in: Pro These 67, 1968, Nr. 2, S. 4–6; „Sehr geehrter Herr K.“, in: Pro These 67, 1968, Nr. 4 [=5], S. 9. 114 | Z.B. „Von der Verantwortung der Wissenschaft“, in: Pro These 67, 1968, Nr. 1, S. 4f.; „Weltkrieg, damit das Weltbild stimmt?“, in: Ebd., S. 7; „Law and Order“, in: Pro These 67, 1969, Nr. 1, S. 8; sowie „Sicherheit“, in: Ebd., S. 11. 115 | „Auf ein Wort“, in: Pro These 67, 1968, Nr. 2 [=3], S. 9f.; „Über eine neue seelsorgerische Funktion des Herrn A. C. Springer“, in: Ebd., S. 10f. 116 | Pro These 67, 1968, Nr. 2 [=3], S. 3. Der fiktive Paragrafenkatalog reichte vom einfachen Beschimpfen einer Person (§ 1), die in „beleidigender Absicht auf der Straße oder in öffentlichen Gebäuden oder Verkehrsmitteln einen Bart oder eine Brille oder lange Haare oder als weibliche Person kurze Röcke trägt oder Student oder auch nur Intellektueller ist und dieses offen erkennen läßt“. Er endete mit „schweren Fällen und wenn Demonstrationsabsicht vorliegt“, worauf „nach den Strafen aus § 1 und § 2 fahrlässige Tötung durch einen Polizeibeamten in Zivil und Notwehr“ erfolge. 117 | Ebd. 118 | Ebd., Titelblatt. 119 | „Ostern“, in: Pro These 67, 1968, Nr. 2, S. 3. 120 | Ebd. 121 | Ebd. 122 | Vgl. z.B. „Wir stellen zur Diskussion“, in: Pro These 67, 1968, Nr. 2 [=3], S. 9; „Auf ein Wort“, ebd., S. 9f. 123 | „Soziologie – kein Fach für Mediziner?“, in: Pro These 67, 1969, Nr. 2, S. 3f. Gezeichnet war der Artikel von der Düsseldorfer Hochschulgruppe des Liberalen Studentenbund Deutschlands. 124 | „Professoren protestieren“, in: Pro These 67, 1968, Nr. 4 [= 5], S. 2. 125 | Pro These 67, 1969, Nr. 1, Titelblatt; sowie Pro These 67, 1968, Nr. 4 [= 5], Titelblatt. Zum Beschluss, in dessen Folge mehrere Professoren und Dozenten der Rektoratsübergabe aus Protest fern blieben vgl. Frank Sparing: Die Studierenden der Universität, S. 419.

Aufruhr am Rhein?

126 | „Erst kommt das Fressen…“, in: Pro These 67, 1968, Nr. 4, S. 8. Zu einer nur spärlich besuchten Vollversammlung schrieb die Redaktion: „Es gibt, so wie es scheint, so gut wie nichts, womit sich die Düsseldorfer Kommilitonen hinter dem Ofen hervorlocken lassen. Mit Politik, Protest und Widerstand schon gar nicht. Das wissen wir.“ 127 | „Buchbesprechung: Alexander und Margarethe Mitscherlich. Die Unfähigkeit zu trauern“, in: Pro These 67, 1968, Nr. 4, S. 5f., das Zitat S. 5. 128 | Kraushaar, Wolfgang: „Denkmodelle der 68er-Bewegung“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 22–23 (2001), S. 14–27.

Z itierte Q uellen Universitätsarchiv Düsseldorf (UAD), Bestand 1/5, Nr. 77: Ankündigung von studentischen Vollversammlungen (1966–1968). Comene. Schülerzeitschrift am Comenius-Gymnasium [Düsseldorf], Nr. 1–4 (1968/1969). Düsseldorfer Nachrichten, Jg. 92–93 (1967/1968). Falck, Jürgen: „Studentenvertretung heute“, in: Düsseldorf. Illustrierte Zeitschrift für die Gäste der Landeshauptstadt, 1968, Nr. 2, S. 52–53. Pro These 67. Unabhängige Studentenzeitung an der Universität Düsseldorf, Nr. 1–7 (1968/1969).

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„Unsere politische Universität war die Theke.“ Dieter Klemm über Floh de Cologne, eine neue Form des Musiktheaters und Politik in der Bonner Republik Verena Meis

„Hervorgegangen aus der schlichten Lust am Spott und am Theater waren die Flöhe über die Jahre das profundeste Musikkabarett und lange Zeit die einzige satirisch-politische Rockband der Bundesrepublik“, schrieb die Süddeutsche Zeitung im Mai 1983, als sich Floh de Cologne auflösten. Verena Meis sprach mit Dieter Klemm über das Wirken der Flöhe von 1966 bis 1983 im Kontext der kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Umbrüche in der Bundesrepublik Deutschland. 1966 hast Du Dein Studium der Theaterwissenschaft in Köln begonnen. Wie hast Du die Stadt Köln damals erlebt? Ich habe die Stadt als quirlig, spannend und aufregend erlebt: In Köln war ich nicht nur Student, sondern ein freier Mensch. Ich studierte bei Rolf Badenhausen, der in den 1930er Jahren Assistent von Gustaf Gründgens war. Verheiratet war Badenhausen mit der Schauspielerin Elisabeth Flickenschildt, die unter Gründgens u.a. am Düsseldorfer Schauspielhaus und am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg arbeitete. Badenhausen war ein sehr interessanter Mensch, der uns mit viel Akribie, aber auch Nachdenklichkeit, Theaterleidenschaft vermittelte. „Was machen Sie nachts, Meister?“, war seine Reaktion, wenn wir uns über die Menge an Lesestoff beschwerten. Er lacht.

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Abbildung 1: Floh de Cologne (v.l.n.r.), unten: Dieter Klemm, Hans-Jörg Frank, Dick Städtler, oben: Vridolin Enxing, Theo König.

Fotografie: Sibylle Bergemann, (c) Floh de Cologne.

„Unsere politische Universität war die Theke.“

Wie kamst Du in Köln mit dem Theater in Berührung? Die Theaterwissenschaft in Köln verfügte über eine Studiobühne. Dort wurden jedes Jahr ein bis zwei Inszenierungen erarbeitet. Der Regisseur Hansi Frank, mein späterer Mitstreiter bei den Flöhen, fragte mich, ob ich nicht mitspielen wolle. Ich bekam die Hauptrolle in Dyskolos. Der Menschenfeind, einer Komödie des griechischen Dichters Menander. Wolfgang Neumann, der später Unterhaltungschef des ZDF wurde, übernahm damals die Rolle des jugendlichen Helden. Nach Dyskolos folgte in der Regie von Martin Girod Trommeln in der Nacht von Bertolt Brecht. Das waren meine ersten praktischen Theatererfahrungen in Köln. Außerdem hörte ich immer wieder von einem studentischen Kabarett, das regelmäßig im Franziskaner am Gürzenich spielte und Begeisterung auslöste. Hansi Frank gehörte auch dazu. Schließlich besuchte ich eine Vorstellung, Studierende zahlten damals 3 DM Eintritt. Ich war von der Power und Professionalität der Beteiligten vollends baff. Der Abend war für mich ein Aha-Erlebnis, das Erlebte rüttelte an meiner gesamten Gedankenwelt. Das war Floh de Cologne. Wie hast Du die bundesrepublikanische Demokratie der Bonner Republik erlebt? Was hast Du im Deutschland der 1960er Jahre in Frage gestellt? Lange nicht so viel wie die Flöhe. Mir war natürlich bewusst, dass in Deutschland Nationalsozialisten in Deutschland weiterhin in Ämtern saßen, von Hans Globke, Chef des Bundeskanzleramts bis hin zu vielen weiteren Funktionären in Justiz, Polizei und Bundeswehr. Eine ausgeprägte politische Haltung, die mich außerhalb des Staates gestellt hätte, besaß ich zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht. Durch die Arbeit mit den Flöhen, durch die intensive Auseinandersetzung mit Literatur, Theater und schließlich Kabarett wurde ich jedoch zunehmend politisiert. Das dritte Programm der Flöhe, das Vietnam-Programm von 1967 trug den Titel SimSAladimbambaSAladUSAladim und stellte schonungslos die Verbrechen der USA in Vietnam dar. Und dies nicht als Nummern-Kabarett, sondern in einer 25-minütigen durchgehenden Show, die so eine Intensität entwickelte, dass am Ende nicht

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applaudiert wurde. Man verließ die Show schweigend. Im Rückblick waren es vor allem zwei Motive, die mich politisch bewegt haben: zum einen die personelle faschistische Kontinuität in die Bonner Republik hinein und zum anderen die imperialistische Politik der USA. Es ist also keineswegs so gewesen, dass Ihr zusammengekommen seid und ein fertiges politisches Weltbild hattet? Nein. Floh de Cologne war für uns eine Art Denkschule, eine Werkstatt, in der wir politisches Bewusstsein entwickelten. Kurz nach der Uraufführung des Vietnam-Programms 1967 fragte mich Hansi Frank, ob ich nicht Interesse hätte, bei Floh de Cologne mitzumachen, da jemand ausschied. Ich war selbstverständlich Feuer und Flamme. Es gab eine Art Einstellungsgespräch. Er lacht. Und dann begann ich, dort mitzumachen, zunächst als Geschäftsführer. Heute würde man Manager sagen. Bald zog es mich auf die Bühne. Und obwohl ich nicht singen konnte und auch kein Instrument beherrschte, wurde ich integriert, hauptsächlich als Schauspieler und Sprecher. Die wirtschaftlichen Geschicke der Truppe leitete ich auch weiterhin. Karl Bresgen, der Wirt im Franziskaner am Gürzenich, unserer Spielstätte, war Humanist und gehörte, soweit ich dies richtig erinnere, zur DFU, zur Deutschen Friedensunion. Bresgen war uns sehr wohlgesonnen und freute sich, dass wir zweimal pro Woche sein Hinterzimmer mit 99 Plätzen bespielten. Miete mussten wir keine zahlen, und er lieh uns für Gastspiele sogar sein Auto. Nach den Vorstellungen setzten wir uns an seine Theke und diskutierten stundenlang und vehement, das Thema: Politik. Unsere politische Universität war die Theke im Franziskaner am Gürzenich. An der Theke entwickelten und festigten wir unser politisches Bewusstsein. Irgendwann fragte mich Gerd Wollschon, ‚Chef-Texter‘ bei Floh de Cologne: „Dieter, bist Du eigentlich Kommunist?“ Ich sagte damals: „Ich weiß nicht.“ Heute würde ich wahrscheinlich ja sagen. Er lächelt. An der Theke wurden wir jedenfalls zu Sozialisten.

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Wie gestaltete sich bei Floh de Cologne der Prozess von der Themenfindung bis zur Aufführung? Gerd Wollschon schrieb zunächst. Wir kamen dann zur Sichtung der Texte zusammen: Bestenfalls hatte Gerd eine Idee für die Rahmung des Stücks, schlimmstenfalls lieferte er lediglich Textfragmente. In diesem Fall arbeiteten wir gemeinsam an Text und Umsetzung. Wir funktionierten dann wie eine Redaktion. So entstand durch Gerds Ideen und die gemeinsame Weiterentwicklung ein komplettes Programm. Gelegentlich gab es auch Texte von Gastautoren, zum Beispiel von Peter Handke. Als ein weiteres politisches Leitmotiv unserer Programmatik kristallisierte sich – neben US-Imperialismus und Nazi-Vergangenheit – Konsumkritik heraus: Uns ging auf, dass der Kapitalismus nahezu allein dadurch existierte, dass er die Bevölkerung konsumieren ließ und – alltagssprachlich gesprochen – dumm hielt. Im Herbst 1976 verließ Gerd die Gruppe aus persönlichen Gründen. Von da an schrieben Hansi Frank und Theo König die meisten Texte, Peter Maiwald wurde in zwei Programmen Gast-Texter. Was verbindest Du mit dem Begriff der Bonner Republik? Zunächst Gemütlichkeit. Die Bonner Republik erschien behäbiger als die – wenn man sie so nennen möchte: – Berliner Republik. Grund dafür lieferte nicht nur die Einwohnerzahl von Bonn im Vergleich zu Berlin, sondern mehr noch die über die Jahre zugenommene Stärke des kapitalistischen Systems. Damals existierten – ganz in der Nähe und in großen Teilen der Welt – auch sozialistische Staaten. Nach 1989 und dem Zusammenbruch des Sozialismus entfesselte sich der Kapitalismus für meine Begriffe. Globalisierung steht für mich für den entfesselten Kapitalismus. Wie gestaltete sich Euer Verhältnis zu sozialistischen Staaten? Was bedeutete Euch die DDR? Unsere künstlerische Arbeit setzte sich mit der Bundesrepublik und den hiesigen Verhältnissen auseinander. Wir sympathisierten zwar mit der DDR, ernsthaft auseinandergesetzt haben wir uns mit ihr zunächst

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nicht. Der Mauerbau oder der Einmarsch in Prag waren natürlich Diskussionsthemen, zu denen wir eine bestimmte Haltung entwickelten. Die Existenz sozialistischer Staaten lag uns sehr am Herzen, Panzer in Prag lehnten wir entschieden ab. 1973 traten Floh de Cologne das erste Mal bei den Weltfestspielen der Jugend in Ost-Berlin auf. Wie kam es dazu? Wir waren Teil der bundesrepublikanischen Delegation. Eingeladen hatte uns die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ). Wir traten damals vor 60.000 Menschen auf dem Alexanderplatz auf. Für uns persönlich ein sehr emotionales Erlebnis: Zehntausende junge Menschen aus aller Welt feierten gemeinsam und forderten Frieden. Durch die Teilnahme ergaben sich Freundschaften, Gesprächspartner aus der DDR. Wir lernten z.B. den Oktoberklub kennen. Später traten wir auch mehrmals auf dem vom Oktoberklub 1970 begründeten Festival des politischen Liedes auf und gingen zweimal in der DDR auf Tournee. Relativierten die DDR-Aufenthalte Euren Blick auf den real existierenden Sozialismus? Es waren die Aufenthalte, die uns das erste Mal überhaupt einen Blick gestatteten. Das, was wir meinten, zu wissen, stammte aus TV und Zeitung. Bezeichnend war für mich persönlich, dass das Miteinander in der DDR ein anderes war. Im Vergleich zur Bundesrepublik herrschte ein unverkennbar menschlicheres Miteinander. Das habe ich erfahren, gefühlt, gesehen. 1969 heißt es in der Regierungserklärung von Bundeskanzler Willy Brandt: „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“ Was dachten die Flöhe? Vor dem Hintergrund der Notstandsgesetze und Berufsverbote kam uns dieser Satz wie eine Lüge vor. Ein Slogan, der durchaus gut ankam, aber nicht eingehalten wurde. Bei allen politischen Ansätzen Willy Brandts handelte es sich um Klein-Klein: sozialdemokratischer Reformismus statt Revision des kapitalistischen Systems.

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Abbildung 2: Floh de Cologne (v.l.n.r.), Dieter Klemm, Dick Städtler, Vridolin Enxing, Theo König, Gerd Wollschon, Hans-Jörg Frank.

Fotografie: elan. (c) Floh de Cologne.

Willy Brandts Biografie stellte einen Gegenentwurf zu den Werdegängen dar, die man bislang in der bundesrepublikanischen Politik kannte: Willy Brandt ging ins Exil und in den Untergrund, er leistete Widerstand gegen die Nazis. Die CDU denunzierte ihn. Habt Ihr Euch mit Willy Brandt solidarisiert oder war diese Art von KleinKlein der Tagespolitik für Euch irrelevant? Viel spannender fand ich den Umstand, dass es erneut ganz offiziell Kommunisten in unserem Land gab. Die DKP gründete sich 1968. Dies war für mich wesentlich relevanter als der Umstand, dass die CDU auf Willy Brandt herumhackte.

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Wie gestaltete sich der Anbahnungsprozess zwischen der DKP und Floh de Cologne? Die Annäherung war ein längerer Prozess. Ab den späten 1960er Jahren spielten wir zumeist Gastspiele, waren in der ganzen Republik auf Tour und wohnten lediglich noch in Köln. Wir traten damals oft bei Veranstaltungen der Gewerkschaftsjugend, der Sozialistischen Deutschen Arbeiter-Jugend (SDAJ) oder auch der DKP selbst auf. Da ergaben sich dann selbstverständlich Gespräche, Annäherungen, Diskussionen. So merkten wir im Laufe der Jahre, dass es mit der DKP eher als mit anderen Parteien – und auch den Nebenströmungen – Übereinstimmungen gab. Das vorherrschende Bild der DKP ist das einer orthodoxen, hierarchischen Kader-Partei. Die Flöhe hingegen wirkten antiautoritär. Da trafen selbstverständlich ganz unterschiedliche Kulturen aufeinander. Wir lernten in der DKP aber auch beeindruckende Menschen kennen, z.B. Manfred Kapluck, ein ganz großer Kommunist. Im Übrigen gab es seitens der DKP nie auch nur den Hauch eines Versuchs, sich in unsere Programme einzumischen. Damals hatte die DKP unter Künstlern und Intellektuellen einen großen Einfluss. Viele Künstler, Musiker, Schriftsteller solidarisierten sich mit ihr, waren teils auch Mitglied: Hannes Wader, Franz Josef Degenhardt, Dieter Süverkrüp, Peter Maiwald, Uwe Timm, um hier nur Einige zu nennen. Wie beeinflusste dies Eure künstlerische Arbeit? Unser letztes genuines Kabarett-Programm war Zwingt Mensch raus. Im Sommer 1968 gastierten wir damit im Rationaltheater in München. Wir erhielten sehr gute Kritiken, innerhalb weniger Tage waren die Vorstellungen, die sich über vier Wochen zogen, komplett ausverkauft. In München diskutierten wir sehr intensiv: Uns missfielen die Steuerberater, die Hals-Nasen-Ohrenärzte, die Rechtsanwälte, die mit ihren Gattinnen und einem Fläschchen Sekt an Tischen vor uns saßen und sich scheckiglachten, so als wollten sie sagen: So drastisch hat es uns noch niemand gegeben. Wir fühlten uns wie Clowns für das Großbür-

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gertum, das wollten wir nicht. Obwohl wir damit wahrscheinlich hätten in Rente gehen können. Wir wollten jedoch nach wie vor die Welt verändern, sie einreißen, sie verbessern. Dazu waren Zuschauer nötig, so dachten wir, die bereit waren, ihr Denken und ihr Leben zu ändern, die sich in ihren Grundfesten noch erschüttern ließen, die bereit waren zuzuhören und sich überzeugen zu lassen. Wer konnte das sein: junge Menschen. Lehrlinge, Schüler, Studenten. 1968 traten wir bei den Internationalen Essener Songtagen auf und standen mit Frank Zappa und den Mothers of Invention und Tuli Kupferberg und den Fugs auf der Bühne der Gruga-Halle. Da wurde uns klar, dass man mit Musik viel mehr erreichte, da kam uns die Idee der Rock-Oper. Was verstanden die Flöhe unter einer Rock-Oper? Es war nicht rein konzertant, was Ihr machtet. Ihr wart keine Musikgruppe im klassischen Sinn. Ihr wart aber auch keine Theater- oder Kabarettgruppe. Wir verbanden deutsche Texte mit rockmusikalischen und visuellen Elementen. In mehrere Programme integrierten wir z.B. Filmsequenzen und Dia-Projektionen. Es waren multimediale Shows. Wir entwickelten gewissermaßen eine eigene Form von Musiktheater. Wir kamen vom Theater, merkten aber, mit Text und Theater kommen wir nicht sehr weit. So kombinierten wir Text und Theater mit Musik und erarbeiteten uns eine ganz eigene Form des Musiktheaters. Das erste Programm, dass wir nach der Kabarett-Zeit konzipierten, hieß Das siebte Programm und stellte im Grunde unseren ersten Versuch in Richtung Rock-Theater dar. Die Bühnenanlage, die Boxen bauten wir uns selbst. Musikalisch verstärkte uns Dick Städtler, sozusagen der Rock-Musiker unter uns, unser Leadsänger. Das siebte Programm war ein erster Versuch, kein großer Wurf. Das folgende Programm, dass in Richtung Musiktheater ging, war dann Fließbandbabys Beat-Show. Inhaltlich klarer, zwingender, logischer, auch weil wir die Figur des Fließbandbabys erfanden. Das war schon ganz ordentlich. Sexualität und Pornographie waren ebenso Thema. Die sexuelle Befreiung war ja auch ein großes Thema der 1968er Generation. Mit dem Programm tourten

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wir auch intensiv. Wir spielten Fließbandbabys Beat-Show z.B. auch in Ahrensburg, wo ich aufwuchs und meine Eltern zu der Zeit noch lebten. Wir traten im Theatersaal einer Mittelschule auf. Kommentar meiner Mutter: Das ging ja hart her bei Euch. Er lacht. In Fließbandbabys Beat-Show ging es um den Themenkomplex entfremdete Arbeit, Konsumverhalten und -zwänge und den widersinnigen Versuch, mittels Konsum den Sinn des Lebens zu finden. Die Flöhe konzipierten keine reinen Tonträger. Das Album, der Tonträger, die LP war sozusagen obligatorisches Nebenprodukt. Es gab eine Ausnahme: die Geyer-Symphonie. Das Filmstudio Heynowski und Scheumann fragte damals an, ob wir Songtexte zu einem geplanten Dokumentarfilm über den deutschen Unternehmer Friedrich Flick – mit dem Titel Das Trauerspiel – beisteuern würden. Wir stimmten zu. So kam Peter Voigt zu uns, später ein sehr bekannter Dokumentarfilmer in der DDR. Ihm war es gelungen, die komplette Trauerfeier von Friedrich Flick zu filmen, mit all den Trauerrednern, von Franz-Josef Strauß über Hermann Josef Abs bis Ludwig Erhard, die Crème de la Crème der deutschen Politik und Wirtschaft. So collagierte Peter Voigt sein Filmmaterial und unsere Songs. Wir erhielten dabei die Rechte für Bühne und LP. So machten wir die Geyer-Symphonie in Rock-Dur, damals im Studio von Dieter Dierks in Stommeln. Diesmal entstand erst während der Arbeit an der Platte, die Idee, daraus auch ein Bühnenprogramm zu entwickeln. Die einzige Ausnahme, bei der zuerst die LP entstand. In das Bühnenprogramm integrierten wir Sequenzen aus Peter Voigts Film und kommunizierten mit den Filmbildern. Das war eine schöne Sache. Auf der Trauerfeier wurde Friedrich Flick selbstverständlich als groß und edel, nahezu als Retter der Menschheit, als großzügig dargestellt. Friedrich Flick war jedoch ein Kriegsverbrecher, einer der übelsten Kapitalisten. Dies brachten wir auf der LP zum Ausdruck, indem wir z.B. Ausschnitte aus den Trauerreden kommentiert und die Unternehmen, an denen Flick beteiligt war, benannt haben. Mit kabarettistischen und musikalischen Mitteln haben wir die andere Seite des Friedrich Flick aufgedeckt. Uns interessierte seine Rolle in der Nazizeit, seine Rolle als Waffenfabrikant, als Arbeitgeber von Zwangs-

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arbeitern. Selbstverständlich war uns auch bewusst, dass er eine der Säulen der Bundesrepublik darstellte. Und zwar eine faule Säule. Euch ging es vor allem darum, junge Menschen zu erreichen, ihr Bewusstsein für politisch relevante Fragestellungen zu schärfen. Eure Aufmerksamkeit richtete sich auf die Lehrlingsbewegung, das Gewerkschaftsmilieu. Ganz ketzerisch formuliert: fünf Akademiker unter Malochern. Fünf Akademiker in einer Lebenswelt mit nur punktuellen Berührungspunkten. Du bist nicht der erste, der uns dies entgegenhält: Inwiefern können Künstler und Intellektuelle gewissermaßen von außen Arbeiter erziehen? Eine Frage, über die Marx ebenso nachdachte. Meines Erachtens sind wir dazu verpflichtet, denjenigen, denen die Möglichkeit fehlt, etwas zu erkennen, mitzuteilen, was wir weshalb für besser erachten. Genau das machten wir. Ein Lehrer erklärt seinen Schülern auch, was sie noch nicht wissen. So ähnlich sehe ich auch die Rolle der Intellektuellen und Künstler gegenüber denen, die sich mit gewissen Fragen nicht oder weniger intensiv auseinandersetzen. Interessant, dass Du das Bild des Lehrers und Schülers bemühst, weil es sich dabei ja weniger um ein Verhältnis auf Augenhöhe handelt. Insofern ist das Bild schlecht, der Gedanke dahinter jedoch nicht. Denn wir ließen uns ja auch auf Diskussionen ein. So wurde nicht indoktriniert, sondern angeboten und diskutiert. Ein Grundsatz war sehr bald, nach jeder Vorstellung mit dem Publikum zu diskutieren. Zu Beginn machten wir dies von der Bühne aus, was sich als keine gute Idee herausstellte. Meist führten dabei die Leute das große Wort, die sich gern selbst reden hörten. So verlagerten wir die anschließende Diskussion ins Foyer und diskutierten mit Einzelnen, in Gruppen. So kamt Ihr nun auch mit Lehrlingen, Facharbeitern ins Gespräch. Ein Milieu, Berufsbilder, mit denen man innerhalb seines Privatlebens nicht zwangsläufig konfrontiert war. Wie wichtig war Euch dieser Kontakt, wenn Floh de Cologne für Euch selbst auch eine Art Denkschule zur politischen Entwicklung darstellte?

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Wir probten damals mehrere Programme in gewerkschaftlichen Bildungseinrichtungen, z.B. im IG Metall Bildungszentrum Sprockhövel oder auch bei der damaligen IG Druck und Papier. Selbstverständlich kapselten wir uns während der Probenzeit nicht ab, sondern trafen uns mit Gewerkschaftern, beim Essen oder auch später an der Theke. Wir suchten den Kontakt. Es galt natürlich nicht: Wir wollen mal hören, was diese fremden Wesen zu sagen haben. Das waren ja genau diejenigen, die wir mit unseren Bühnenprogrammen ansprachen. Deshalb war es schön, sich auch von Angesicht zu Angesicht austauschen zu können. Mit denen, die im Idealfall auch die Revolution machen. Die Revolution machen wir zusammen. Er lacht. Bei einem der Gespräche in Sprockhövel kam das Thema soziale Absicherung auf: Als wir offenbarten, dass wir keine Rentenversicherung und einige von uns auch keine Krankenversicherung besaßen – gut, wir waren jung. Er lacht. – waren alle völlig baff. Nach dem Motto: Dass es so etwas gibt. Das gab uns andererseits über unseren Versicherungsstatus zu denken. Auch darüber, wie sich der ‚normale‘ Arbeiter der Welt, dem Leben gegenüber verhält. Wir jungen Künstler erachteten Absicherung nicht als lebensnotwendig. Was hat Euch – Euer inneres Gefüge, die Organisation Eurer künstlerischen Arbeit – von anderen Bands unterschieden? Bei uns herrschte das Prinzip der Einstimmigkeit, d.h. jeder Satz, jede Note, jedes Wort, das auf der Bühne zu hören war, beruhte auf Konsens. Einstimmigkeit oder nichts. Ein Prinzip, das vielleicht nicht bei allen Bands existiert. Zudem herrschte auch im Bereich Finanzen Gleichberechtigung. Jeder erhielt 1/5 dessen, was nach anfallenden Kosten übrigblieb.

„Unsere politische Universität war die Theke.“

Wenn Musik heute politisch ist, dann geht es vielmehr um Identitäts- statt Klassenpolitik. Die Flöhe warfen durchweg die soziale Frage als Grundelement linker Politik auf. Mir erscheint es heute dringend notwendig, die soziale Frage wieder in den Fokus zu rücken. Es erscheint mir heute äußerst dringlich, Missstände nicht nur zu verwalten, sondern auch über sie zu singen, zu schreiben, Filme zu machen. Das passiert sicher, aber zu wenig.

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Konzepte von Modernität 1: Bauen

Das Strukturprinzip der allseitigen Verflechtung Systemarchitektur westdeutscher Universitäten und Gesamthochschulen (1960–1980) Jürgen Wiener

Die Massenuniversität erhielt seit 1964 sowohl über die mehr als zwei Dutzend neuen Universitäten als auch über den Ausbau aller alten Universitäten ihr bauliches Erscheinungsbild. Rückblickend mag es scheinen, dass sie mit der Studentenbewegung korreliert, die mit der Jahreszahl 1968 auf einen nicht nur temporal zu kurz greifenden Begriff gebracht wird.1 Die Massenuniversität war zwar ein zentraler Akteur in der Durchsetzung bildungs- und gesellschaftspolitischer Ideen wie Demokratisierung der Hochschule, Bildungsgerechtigkeit, Chancengleichheit, Studium für Arbeiterkinder und Frauen (damals: „Mädchen“), doch hatte der Universitätsbauboom, der 1968 in seine produktivste Phase eintrat, allenfalls indirekt mit den studentischen Unruhen zu tun. Ihre Kritik an infrastrukturellen Defiziten im tertiären Sektor rannte bei den Hochschulplanern offene Türen ein und wurde entsprechend instrumentalisiert. Zeitgleich zum Aufkommen des Begriffs ‚Massenuniversität‘2 war die Politik längst gegen die „Überfüllung der Hochschulen“ aktiv geworden.3 Jahre bevor 1964 das Schlagwort von der „Bildungskatastrophe“ in der demografisch stark wachsenden BRD aufkam4 und Ralf Dahrendorf für Bildung als Bürgerrecht und für die Förderung von Begabungsressourcen in bildungsfernen Schichten als demokratische Notwendigkeit eintrat,5 planten Bund und Länder bereits umfänglich Hochschulen. Der 1958 gegründete Wissenschaftsrat,

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der in seiner Zusammensetzung unter Beteiligung von „Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens“ wie z.B. „Vorstände[n] der Industrie und der Bundesbank“ eine Matrix für das demokratisch ähnlich bescheiden legitimierte gegenwärtige Gremium des Hochschulrats war, forderte unverzüglich neue Hochschulen, bezifferte die Investitionen dafür bis 1964 auf 2,1 Milliarden Mark6 und äußerte sich 1962 ausführlich in den Anregungen des Wissenschaftsrates zur Gestaltung neuer Hochschulen.7 Bereits ein Jahr zuvor wurde in Stuttgart der mit Horst Linde besetzte Lehrstuhl für Hochschulbau eingerichtet. Linde, der sich seit mindestens 1947 mit Typenplanung im Hochschulbau befasst hatte und an allen Hochschulplanungen Baden-Württembergs beteiligt war, gab ab 1969 die vier Bände Hochschulplanung. Beiträge zur Struktur- und Bauplanung heraus8 und baute ab 1963 ein Archiv zum Hochschulbau auf. Seit 1962 leitete Fritz Eller, damals noch im Düsseldorfer Büro HPP tätig, das ebenfalls zwischen Baupraxis, Bausystemforschung und Dokumentation agierende Institut für Schulbau der RWTH Aachen. Die nur scheinbar mutigen Forderungen des Wissenschaftsrats überholte die Wirklichkeit schon bald. Die geforderten Haushaltsmittel waren in Relation zu den tatsächlichen Ausgaben der folgenden 25 Jahren nur ein schüchternes Auftaktsignal. Sie hätten gerade einmal für die Ikone der neuen Massenuniversität, die Ruhr-Universität Bochum, gereicht, die vermutlich das teuerste Einzelbauprojekt der Bundesrepublik vor 1989 war. Bund und Länder gaben 38 Milliarden allein in den Jahren 1970–85 für den Hochschulbau aus.9 Zusammen mit den Bauten, die davor und danach entstanden,10 dürften es schätzungsweise 50 Milliarden DM gewesen sein. Diese Summe entspricht einem heutigen Wert von 80 Milliarden Euro,11 die auch den bildungs(bau)politischen Investitionsstau der Gegenwart kontrastscharf konturieren. Die neuen Gebäude waren Akteure des bis dahin größten Wandels in der Geschichte der Universitäten. Unter Berufung auf die Defizite der tertiären Infrastruktur wurde das gigantische Bauprojekt Massenuniversität von allen vier etablierten Parteien angestoßen.12 Es wurde gegen den Widerstand vieler Professor*innen, die um ihre Exklusivität und Autonomie fürchteten, zum gezielten Medium der strukturellen Transformation der Universität.13 Wenn an diesen Orten die Ideen der

Das Strukturprinzip der allseitigen Verflechtung

68er in den Jahren danach entfaltet, differenziert, popularisiert und auch in ihrer Komplexität reduziert wurden, war dies nolens volens auch durch die baulich ermöglichten Aufnahmekapazitäten induziert, mit denen das bürgerliche Konzept einer kleinen Bildungselite ausgehebelt wurde. Die langfristig hohe Steuereinnahmen garantierende Neukonfigurierung von Bildungsmacht über die neuen und baulich erneuerten alten Universitäten war eine elementare Möglichkeitsbedingung für überfällige gesellschaftliche Reformen, für gesellschaftlichen und ökonomischen Aufstieg aus Schichten, die davon bislang weitgehend ausgeschlossen waren. Der visuelle Anschein trügt freilich auch. Bildungsgerechtigkeit wird nicht allein durch den baulich forcierten, leichteren Zugang zum Studium an Universitäten mit deutlich mehr Studienplätzen gelöst. Mehr Universitätsbauten trugen und tragen dazu bei, dass die Zahl der studierenden „Arbeiterkinder“ stieg (wodurch diese langfristig weniger werden),14 aber die architektonische Präsenz der Massenuniversität verhinderte nicht, dass der Zugang der unteren Schichten zum Studium in Deutschland seit Langem stagniert. Auch schließt ein Studienabschluss prekäre Lebensverhältnisse nicht aus. 1945 existierten auf dem Gebiet der westlichen Besatzungszonen 25 Universitäten und technische Hochschulen. Die Siegermächte hatten bereits bis 1948 in Saarbrücken, Mainz und Berlin Universitäten gegründet. Bundesdeutsche Neugründungen setzten erst 1962 mit Bochum ein. Bis 1989 kamen 26 weitere hinzu.15 Der Ausbau der Universitätslandschaft war zwar kein genuines Projekt der SPD, doch tat sie sich gerade in ihrem wichtigstes Wählerland besonders hervor. Von den zehn Neugründungen in NRW – das sind 37% der alten BRD – erfolgten acht in Zeiten sozialdemokratisch geführter Regierungen. Sechs davon waren Gesamthochschulen, die als sozialdemokratisches Hochschulformat gelten können. Diese Situation verweist auf einen Nachholbedarf im bevölkerungsreichsten Bundesland, auf das ökonomische Potential und auf den bevorstehenden Strukturwandel mit einer rückläufigen Schwerindustrie.16 Im Jahr 1960 studierten in der BRD 6% eines Jahrgangs, 1970 bereits 12%, 1980 fast 20% und 2013 über 58% (seither minimal rückläufig). 1968 waren 400.000 Studierende eingeschrieben, aktuell (2018) sind es

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trotz geburtenschwacher Jahrgänge 2,87 Millionen (davon zwei Drittel an Universitäten) – 2,5 mal so viel wie für 1980, als der Hochschulbau schon abebbte, prognostiziert worden war. Bei nur überschaubaren Erweiterungen studieren heute drei- bis sechsmal mehr Menschen an den neuen Universitäten, als die Planung zugrunde gelegt hatte.17 Absolut wie relativ bietet kein Bundesland mehr Studienplätze als NRW. Das heißt aber auch, dass etwa 27,5% aller Studierenden in Deutschland in demjenigen Bundesland (in dem 21,5 % der Bevölkerung leben) studieren, das die bei weitem schlechteste Relation zwischen hauptamtlichen Professor*innen und Studierenden aufweist18 – anders gesagt: in dem für den tertiären Bildungssektor wichtigsten Bundesland wurde in Bauten als leistungsfähige Akteure der Bildungspolitik eher investiert als in Personal. Dass Studium trotz eines inzwischen jahrzehntelangen Investitionsstaus mehr oder weniger funktioniert, ist wesentlich der bis 1989 realisierten Infrastruktur zu verdanken. Schon aus diesem Grund hätte in den Landeshaushalten der Aufwand für Erhalt und Pflege der Gebäude deutlich höher veranschlagt werden müssen anstatt gelegentlich mit Gebäuden mit begrenzter Funktionalität, aber erhöhtem Repräsentationsaufwand nachzulegen. Auch von daher stellt sich die Frage, wie sich ein Land über seine Universitätsbauten, die Ausdruck und Motor von Bildungspolitik und damit auch eines gesellschaftlichen Selbstverständnisses sind, präsentiert. Es fällt zumindest auf, dass viele der renommiertesten deutschen Architekt*innen keine größeren Aufträge im Hochschulbau hatten.19 Oft planten Hochbauämter, meist unter zentralistischen Vorgaben und gelegentlich in Kooperation mit privaten Büros, die die nötigen Bauvolumina nicht hätten bewältigen können. Anders als Theater, Museen und Kirchen sollten, so Willy Brandts Bildungsminister Klaus von Dohnanyi, Universitäten keine Repräsentationsbauten sein, 20 sondern verantwortungsvollen Umgang mit den Steuermitteln signalisieren. Nicht nur deswegen blieb ihnen die architekturgeschichtliche Würdigung meist versagt, zumal der Kanon der Bauten, auf die sich Forschung konzentrierte, bereits 1970 feststand. Dieser ist unvollständig, historisch unpräzise und für gestalterische Qualitäten wenig sensibel, auf die es vielen Planern allerdings auch nicht ankam. Denn mit dieser

Das Strukturprinzip der allseitigen Verflechtung

Bauaufgabe verschob sich das Planen von der Gebäude- zur Stadtplanung21 und damit auch das Begründungs- und Begriffsrepertoire, in dem ein Soziologisierungsschub manifest wird. Es ging nicht mehr um Schlösser für die Wissenschaft, in denen Bildung Herrschaft symbolisiert. Hauptanliegen war es, Bedarfsplanungen und standardisierte Bausysteme zu entwickeln,22 die die Universitätsgebäude für den Wandel der Wissenschaften offen halten würden und ihn gerade dadurch beherrschbar zu machen. Offen meinte insbesondere interdisziplinäre Offenheit, zu der die Bauten anstiften sollten. Der als fortschrittlich konnotierte Leitbegriff ‚Interdisziplinarität‘ war von Anfang an instrumenteller Natur. Er meinte nicht intellektuelle Horizonterweiterung, sondern „natur- und ingenieurwissenschaftliche Zweckforschung“.23 Für Horst Linde bedeutete „interdisziplinäre Kooperation“ nicht nur Planungsbedingung,24 sondern Strategie, um das Ideal des einsamen Gelehrten auszuhebeln. Auch als Reaktion auf das Verhalten vieler Professor*innen während des Nationalsozialismus, aber auch wegen eines autokratischen Elite- und Hierarchiedenkens25 sollte die vielgepriesene Freiheit der Wissenschaft gerade im Namen der Demokratisierung der Hochschulen Einschränkungen hinnehmen. Denunziert wurde die fachliche Autonomie und mit ihr ein Professor*innenverständnis, das nur den eigenen Forschungsinteressen frönt. Das Strukturideal der Gesamthochschulen wie der Reformuniversitäten war der als „gegenwarts-orientiert“ begriffene und legitimierte Fächerverbund über eine „Schwerpunktbildung“26 in einem fächerübergreifenden „Team“, in dem die fortschreitende Ausdifferenzierung von Wissen übertragbar wird. Es zählt zur Vorgeschichte heutiger „Zielvereinbarungen“, die möglichst in einen Sonderforschungsbereich münden sollen. Das Format SFB als zentrales Steuerinstrument von Wissenschaft wurde 1968 eingeführt, und Lindes Bände zur Hochschulplanung gehören zu den frühen Früchten dieses Formats – ein wissenschaftspolitischer hermeneutischer Zirkel. Mit explizitem Verweis auf Forderungen des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds plädierte Linde programmatisch für das sich aus der Logik der „Struktur- und Organisationsanalysen“ respektive der „Struktur- und Bedarfsplanung“ ergebende Prinzip des „Forschungs-

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verbunds“ in „Abteilungen“ und damit für einen „Verlust der Planungsautonomie in den jeweils kleineren Entscheidungsbereichen“27 respektive für den „Verlust des Universalismus beim einzelnen, [denn] nur kooperierende Teams vereinigen in sich das gesamte gegenwärtige Wissen eines Arbeitsgebietes.“28 Die primär noch mit der „Demokratisierung der Hochschule – Hochschule in der Demokratie“29 und dem „gesellschaftlichen Bedarf“30 und dann erst ökonomisch legitimierte Steuerung der Forschung zielte schon damals auf noch immer virulente hochschulpolitische Stereotypen und Phrasen in Gestalt von Verschulung, Schnellstudium, hohen Absolventenquoten, zwischen den Disziplinen angesiedelten Studiengänge, Evaluation („Effizienzkontrollen“) und Gegenwartsbezug.31 Vieles, was linke Argumentarien einst begründet hatten, eignete sich ein neoliberales Wissenschaftsverständnis umgehend an. Der gemeinsame Nenner waren die „Machtchancen“,32 um die es dezidiert schon damals ging. Es lag indes nicht (oder allenfalls indirekt) an der autoritär instrumentellen und später dann auch im ,neuen Geist des Kapitalismus‘ adaptierten Seite dieser Offenheit und Flexibilität, wenn die oft noch im Bau befindlichen Universitätsgebäude seit Mitte der 1970er-Jahre scharf kritisiert wurden. Die Kritik, für die Alexander Mitscherlichs Unwirtlichkeit der Städte die Stichworte lieferte, entzündete sich wie bei den Großsiedlungen auf eine als menschenfeindlich erlebte Planungshybris. Nachdem die Unterschichten baulich entsorgt waren, war nun Stadtreparatur angesagt. Gegenüber dem nun favorisierten Kleinen, Nostalgischen und Heimeligen wurden die „Cluster“ und „Megastrukturen“, die in den 1950er Jahren aus einer progressiven Perspektive heraus das architektonische Denken revolutioniert hatten, nun pauschalisierend in die Nähe des Totalitären gerückt. Die neuen Universitäten haben neben ihrer suburbanisierten Randlage ästhetische, im vermeintlichen Stilbegriff ‚Brutalismus‘ liegende Gemeinsamkeiten mit vorgeblich gesichtslosen „Trabantenstädten“. Diese sind aber weniger ein ästhetisches Problem – zumal wenn sich das ästhetische Urteil nur auf Material und Dimension erstreckt –, sondern ein soziales Problem. Die Übertragung einer negativen Sozialsemantik auf die Universität funktioniert schon deshalb nicht, weil ge-

Das Strukturprinzip der allseitigen Verflechtung

meinsame Klischees wie Masse und Gleichmacherei an Universitäten und Trabantenstädten auf sehr verschiedene Milieus treffen. Der meist mit dem Material Beton assoziierte Brutalismus ermöglichte strukturelle Analogien zwischen einer Trabantenstadt und einer neuen Universität und ist schon deswegen weniger als Stil denn als eine planungs- und produktionsethische Haltung zu bezeichnen, für deren Umsetzung das Material Beton eine Reihe von Vorteilen bot, das über seine Sichtbarkeit auch das Ethos selbst sichtbar machte. Allerdings ging der Glaube an den Beton mit seinem konstruktiven und formalen Potential in dem Augenblick verloren, als er massenhaft, sichtbar und in großen Formaten eingesetzt wurde, weil die Widersprüche zwischen einem Erlösungsanspruch, der sozialen Realität und oftmals banalen ästhetischen Lösungen greifbar wurden. Das Resultat war aber nicht Verzicht auf Beton. Heute wird mehr denn je mit ihm gebaut – nur sehen soll man ihn in der Regel nicht, obwohl führende Architekten seit Ende der 1980er-Jahre erneut seine Schönheit gezeigt haben. Wo das konstruktive Offenlegen einmal die bauliche Ethik der Moderne mit einer eigenen faszinierenden Ästhetik markierte, wurde und wird Beton seit den 1980er-Jahren in oft aufdringlicher Weise hinter Steinplatten, vorgemauerten Klinkern, lackiertem Blech oder Glas versteckt. Gerade die Banalität der effekthascherischen Verkleidung half, die ästhetischen Stärken brutalistischer Universitäten (Kirchen, Rathäusern, Museen, Schulen etc.) und ihr inhärentes soziales Potential wiederzuentdecken. Ein – neben der Offenheit – weiteres, als demokratisch gedachtes Grundprinzip dieser Ethik bestand gerade bei den neuen Universitäten in Gebäudeclustern, bei denen einzelne Bauten – und damit auch einzelne Fächer – nicht gleicher sind als andere. Folglich war es eine Idee dieser Ethik der Gleichberechtigung gleichwertiger Fächer, das Cluster als unabgeschlossen und erweiterbar zu konzipieren33 und gerade im Zusammenspiel mit der Freiraumplanung34 „organisch“ wachsen zu lassen. Oder auch schrumpfen zu lassen, denn das Konzept schloss auch ein, dass das einmal Gewachsene aufgrund von Prozessen, die manche als metabolisch beschrieben, verschwinden oder in gewandelter Form neuen Nutzungen zugeführt werden kann. Die Realität sind aber wenig integrierte Neubauten auf dem Areal von einst anspruchs-

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voll geplanten Sozial- und Ökologieräumen, als hätte es die paradigmatische Planungseinheit von Verkehrs-, Nutz- und Rekreationsflächen im Brutalismus nie gegeben. Die scheinbar immaterielle Wissensproduktion, die im einsamen Gelehrten ihr lange gültiges Klischee hatte, bedarf enormer materieller Bedingungen. Die Größe der dezentrierten Universitäten, ihre Unübersichtlichkeit, selbst wenn sie wie in Bochum Sichtbarkeit zum Prinzip erhoben, und das mitunter jedes menschliche Maß Missachtende der Ensembles liegen auch in der Natur der Sache. Die Abwendung der perhorreszierten Bildungskatastrophe mit Hilfe von Bauensembles, die flächenexpansiver sind als Fabrikanlagen und eigene Stadtteile für Zehntausende Studierende und Tausende von Mitarbeiter*innen in kooperierenden Abteilungen bilden, war schon aufgrund der Immobilienpreise und des Flächenbedarfs nur durch einen suburbanen oder allenfalls auf innenstadtnahen Industriebrachen errichteten Campus möglich.35 Der aus dem nordamerikanischen Universitätssystem kommende Campustypus war in Deutschland schon deswegen nicht identisch übertragbar, weil die Universitätsstruktur breiter aufgestellt ist als bei den oft spezialisierten Campuscolleges, in denen Lehrende und Studierende enger zusammen leben.36 Grundsätzliche Fragen, die sich angesichts eines Universitätssystems, das möglichst vielen Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten einen Abschluss ermöglichen soll, waren: 1) Wie ist angesichts klein- bis mittelstädtischer Dimensionen und eines breiten Fach- und Funktionsspektrums systemisch zu planen, ohne auf die inzwischen von der brutalistischen Avantgarde kritisierte Funktionsentmischung à la Charta von Athen zurückzufallen?37 Wie kann man 2) schnell und günstig (im Sinne von standardisierter oder genormter Präfabrikation und tayloristischer Arbeitsteilung), und solide (im Sinner eine langfristigen, sich immer wieder ändernden Nutzung) bauen? Und wie kann 3) der demokratische Anspruch der Bauten auch visuell vermittelt werden? Westdeutsche Universitätsplaner registrierten den Universitätsneubau weltweit und wussten folglich, dass es für die angestrebten Dimensionen keine vergleichbar großen Vorbilder gab.38 Schon der begrenzten Anregungen wegen musste das nötige Wissen erst interdis-

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ziplinär erarbeitet werden. Das geschah vor allem an den Instituten in Stuttgart und Aachen. Daher überrascht auch nicht, dass gerade dort Reform- und Gesamthochschulen favorisiert wurden. Nur in Kooperation waren Bedarfsermittlungen für Forschende, Studierende, Verwaltung, technisches Personal und für den dinglichen Bedarf vieler Fächer durchführbar. Methode und Programm bedingten sich mithin wechselseitig. Dabei widerlegte das Planen in Megastrukturen das ohnehin missverstandene Moderneaxiom von der sich aus der Funktion ergebenden Form, war doch paradoxerweise das enorme Funktionsspektrum nur durch funktionale und formale Neutralität zu bewältigen. Die Planung einer Universität – Bochum ist das Paradigma schlechthin – erforderte weit mehr als schöne Oberflächen vor Raumfolgen. Noch vor Beginn der Bauplanung sind soziologische und volkswirtschaftliche Erhebungen nötig. Die Bauleitplanung musste in neuer Weise die Benutzerbedarfe erfragen und entwickelte eine neue Qualität der Einbindung betroffener Benutzer, wenn auch das formale Ergebnis anders als im partizipativen Strukturalismus in den Niederlanden deutlich überpersonal ist. Sodann war sie auf soziologische Forschungen angewiesen, denn sie musste die Bevölkerungsentwicklung ebenso im Blick haben wie die gesellschaftlichen Schichten, aus denen die Nutzer der universitären Bildungseinrichtung zu rekrutieren waren.39 Die Bauplanung selbst umfasste Gebäude, die an sich große Formate und einen hohen Durchlauf von Menschen haben wie die Bibliothek, die Mensa, die Verwaltung, zentrale Hörsaalgebäude, sodann weitere Hörsäle verschiedener Größe, Seminar-, Übungs-, Labor- und Institutsräume, Rechenzentrum, Tierlabors, Werkstätten, Lager etc. Sie umfasste die Verkehrsplanung für öffentliche und private Verkehrsmittel und die inneruniversitäre Logistik, Freiraum- und Wohnraumplanung, Energie- und Wasserversorgung (teilweise netzunabhängig), Zusatzeinrichtungen wie Läden, Supermärkte, Kindergärten, sogar Kirchen, gegebenenfalls wie in Bochum als Teil einer eigenen „Universitätswohnstadt“. Und dabei war höchste Eile geboten. Geschwindigkeit und – auch deswegen, aber auch als gesellschaftliche Verantwortung gegenüber den Steuerzahler*innen – niedrige Kosten waren das politische Gebot. Das wiederum traf sich mit den seit den 1920er-Jahren gehegten tay-

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loristischen Fantasien zu einem maschinellen Bauen nach Vorbild von Fabriken. Bei der Campusuniversität konvergierten klassisch moderne Utopien eines Bauens in großen Formaten mit einer brutalistischen Kritik an eben dieser Moderne, die ihren eigenen Ansprüchen an Rationalisierung, Standardisierung und maschineller Präfabrikation nicht gerecht geworden war, sowie mit einem neuen prozessualen und systemischen Denken, für das unter anderem Kybernetik und Chaostheorie bekanntere Modelle darstellen. Anders als die Zwischenkriegsmoderne fand der strukturalistische Ansatz zu einer „Ästhetik auf der Grundlage mechanisierter Bautechnik und mechanisierter Aufbauprozesse“,40 auch wenn er primär nicht auf das Ästhetische zielte, sondern Funktionalität radikalisierte.41 Die Gestalt war einerseits Mittel zum Zweck für ein billiges, variables, „wachsendes“ Bauen, sollte aber andererseits genau die asketische Zurückhaltung gegenüber Verlockungen des schönen Scheins ausdrücken. Daher zählte die demokratiegemäße Finanzplanung zu den Akteuren einer Architekturästhetik in großen Formaten, von der die Gegenwart gerade auch in ökonomischer Hinsicht zehrt und noch mehr zehren würden, wenn den Bauten eine vergleichbar verantwortungsbewusste Pflege ermöglicht worden wäre. Musterbeispiel ist die einst „größte Baustelle Europas“. Um aber die Bauten der Ruhruniversität zu verstehen, muss zuvor ein Blick nach Marburg geworfen werden (Abb. 1, 2). Die Philipps-Universität ist die einzige erweiterte alte Universität, für die die Forschung Interesse an der Identifizierung von Prototypen zeigte. Die Kanonbildung in deutschen Universitätsneubauten setzte schon ein, als viele Hochschulbauten noch nicht fertig, ja zu einem größeren Teil noch nicht einmal geplant (mitunter noch nicht einmal vorgesehen) waren. Schon von daher ist evident, dass sich die Texte gegenüber dem Objektbestand verselbständigt haben. Obwohl an allen 55 westdeutschen Universitäten größere Gebäudekomplexe entstanden,42 beschränkte Stefan Muthesius seine 2001 vorgelegte Auswahl der deutschen Postwar Universities auf Berlin (FU), Bielefeld, Bochum, Konstanz, Marburg, Regensburg und Ulm. Sie beruht mit Ausnahme Marburgs auf den frühen Neugründungen und den Planungen in Baden-Württemberg. Sie alle hatte bereits Linde dokumentiert und legte damit die Basis für einen auch

Das Strukturprinzip der allseitigen Verflechtung

Abbildung 1: Philipps-Universität Marburg, Naturwissenschaftliche Bauten auf den Lahnbergen, Helmut Spieker, Kurt Schneider u. a., Planung ab 1961; Lageplan.

Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Philipps-Universit%C3%A4t_ Marburg#/media/File:Uni_Marburg_FB_Biologie_02.JPG.

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Abbildung 2: Philipps-Universität Marburg, Naturwissenschaftliche Bauten auf den Lahnbergen: Helmut Spieker, Kurt Schneider u. a., Ausführung 1965–71 (Planung ab 1961).

Hnilica, Systeme und Strukturen.

hier verzerrenden Mythos von den Anfängen, der viele wichtige Objekte ignoriert.43 Seine Bände erzeugten, systemtheoretisch gesprochen, auch blinde Flecken, darunter insbesondere die Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, die nicht einmal in den Blick der Forschung zu den NRW-Universitäten geriet.44 Sie gehört zu den frühesten Gründungen, wurde seit 1967 realisiert und nahm bereits kritisch zu aktuellen Bausystemen Stellung. Der nun von der Stadt- und Raumplanung bestimmte Architekturbegriff transformierte auch die Methoden der Rezeption und der Erzählung. Beste Voraussetzungen für das neue Narrativ bot die von einem eigens gegründeten Universitätsbauamt geleitete Marburger Erweiterung der Naturwissenschaften auf einem Areal, das mit 250 ha größer war als das vieler Neugründungen und den bisherigen Baubestand der Universität um das Sechsfache überbieten sollte. Hier wurde das so-

Das Strukturprinzip der allseitigen Verflechtung

genannte Marburger (Bau)System eingeführt, das hinsichtlich serieller Megastrukturen und in seinem Glauben an preiswerte, standardisierte Präfabrikation nach dem Motto ‚Günstiges Bauen = industrielles Bauen‘ nicht nur alles hinter sich ließ, was bis dahin in Deutschland ausprobiert worden war, sondern auch das Planungsdenken wie die Ästhetik fast aller deutschen Campusuniversitäten bis in die späten 1970er-Jahre beeinflusste, obwohl es in dieser spezifischen Form nirgends wiederholt wurde.45 Die Fertigteile des Marburger Bausystems, das Helmut Spieker in seiner Diplomarbeit bei Egon Eiermann entwickelt hatte und nun in der Praxis erproben konnte, lieferte eine Feldfabrik am Baugelände. Wichtigste Rationalisierungsbedingung für das systemische Konzept, bei dem jedes Teil „in seiner Beziehung zum ganzen System gesehen werden“ muss,46 war die Rasterung, die in der Planung wie ein Schachbrettmuster über das Gelände gelegt wurde. Sie ist bereits ein Vielfaches des standardisierten Raumeinheiten-Quadratmoduls von 7,22 m, das seinerseits bis auf eine Ausgangsgröße von 15 cm zurückgeführt werden kann. Die standardisierte Raumeinheit setzt sich aus vier Stützen und einer von ihnen getragenen Platte zusammen. Diese als Tisch bezeichnete und durch umlaufende Flucht- und Wartungsbalkons erweiterte Raumzelle aus Beton kann prinzipiell unendlich zu einem organisch anmutenden Zellencluster multipliziert werden. Nach außen wurden die Bauten mit Fensterelementen ausgespannt, nach innen durch flexible Trennwände geteilt. Auch wenn die Außengestalt erklärtermaßen nicht im Fokus des auf das Konstruktive konzentrierten Konzepts stand, gilt auch hier, dass die Erscheinung eines Gebäudes immer Signifikat und Signifikant zugleich ist. Auch hier gilt, dass es nicht möglich ist, nicht-ästhetisch und bedeutungsfrei zu sein, mithin nicht zu kommunizieren. Das ahnte man auch in Marburg. Die Lösung mit ihren dunkel eingefassten teils weiß gefassten teils verglasten Flächen erinnert an Fachwerk und an traditionelle Bauten Japans, die nach dem modularen Prinzip der Rollteppiche entwickelt sind und die im Zuge des damaligen Interesses an der Zen-Ästhetik großen Widerhall fand. Sie wurde nicht zuletzt auch in Kenzo Tanges Gebäude der Präfektur Kagawa erkannt.47 Die Marburger Selbsthistorisierung hob allerdings mehr auf Zisterzienserbauten und die in der Marbur-

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ger Altstadt präsente Fachwerkarchitektur ab, auch um zu kaschieren, wie sehr die Bausysteme Kenzo Tange ästhetisch und konstruktiv verpflichtet waren. Die konstruktiven wie ästhetischen Hoffnungen erfüllten sich nicht. Als die 1965 begonnene Umsetzung 1971 endete, war nur ein Bruchteil des vorgesehenen Bauvolumens fertig. Grund war auch der schlechte bauliche Zustand, der dem System angelastet wurde. Tatsächlich wurde es in dieser Form an keiner anderen Hochschule übernommen. Es galt als zu autoritär, zu teuer, zu unflexibel. Autoritär ist dabei zeittypischer Jargon nicht weniger als das Partizipatorische und Emanzipatorische von Zellenstrukturen bei anderen Architekten der Zeit. Es ist dies eine Kritik im Namen desselben Systems, für das man Marburg explizit stark gemacht hatte. Nicht das System in seinen Details, aber das spezifische strukturalistische Denken im minimalistischen Stützen-Decken-Konzept fand viel Nachahmung und mit ihr die Ästhetik serieller Oberflächenreliefs bei Hochschulbauten, die dann wirklich zu einem ästhetischen Offenbarungseid tendierten (s.u.). Teuer war dieses Bauen nur in Relation zu den Systemen, die in der Beschäftigung mit ihm entwickelt wurden, beginnend mit der Ruhruniversität, die zu einer Chiffre für ihre Zeit geworden ist. Die Ruhruniversität (Abb. 3–7) war und ist ein Projekt der Superlative.48 Sie ist das größte, teuerste und am meisten verdichtete – und neben Marburg auch am besten erforschte – deutsche Universitätsbauensemble. Nur dem Namen nach wurde eine Fakultätsstruktur realisiert, insofern die Gebäudegruppen N, G, M und I für Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Medizin und – das war wegweisend – Ingenieurwissenschaften stehen. Die eigentlichen Struktureinheiten sind aber die Abteilungen. Die zu Verfügung stehende Fläche von 5 qkm hätte für eine Stadt von 50.000 Einwohnern gereicht. Tatsächlich halten sich inzwischen allein auf dem Universitätsgelände an normalen Uni-Tagen fast so viele Menschen auf. Zunächst für 10.000, dann für 15.000 Studierende kalkuliert, betrugen die Gesamtkosten 2,5 Milliarden DM (umgerechnet über 4 Milliarden €). Die seit langem laufenden Renovierungen übersteigen ebenfalls die Milliardengrenze.

Das Strukturprinzip der allseitigen Verflechtung

Abbildung 3: Ruhr-Universität Bochum, „Baumassenplan“, Ausführungsplanung 1963.

Die Universität Bochum. Gesamtplanung.

Den bereits hochdotierten offenen Ideenwettbewerb, an dem auch Linde prämiert teilgenommen hatte und zu dem außerdem Stars wie Walter Gropius, Mies van der Rohe, Arne Jacobsen und Hauptvertreter der Strukturalismus wie Van den Broek&Bakema und Candelis, Josic&Woods (beide Büros waren Teil des Team Ten, das die beiden letzten CIAM-Kongresse bestimmt hatte) eingeladen worden waren, gewann das durch Verwaltungsbauten bekannt gewordene Düsseldorfer Büro HPP, das aber seinen Entwurf mit demjenigen des Hochbauamts, das außer Konkurrenz angetreten war, abzustimmen hatte. Dieses schlug eine Verteilung einheitlicher Baukörper beidseits einer Tangente zur geplanten Schnellstraße vor. Südöstlich in Richtung Tal sollte das Klinikum entstehen. Offensichtlich standen Le Corbusier Planungen für den Aufbau der Saint-Dié Pate, in denen er seine antiurbanen Stadtfantasien von 1922 zwar auflockerte, aber an der grundsätzlichen Konzeption baulicher Verdichtung festhielt, um möglichst

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Abbildung 4: Ruhr-Universität Bochum, Ausführungsmodell 1963, von Hentrich Petschnigg und Partner (HPP) und Hochbauamt.

Die Universität Bochum. Gesamtplanung.

viel – wenig genutzten – Grünraum zu gewinnen.49 Der wohl kaum zufällig auffallend ähnliche Vorschlag von HPP50 sah die ebenfalls parallel angeordneten Hochhausscheiben etwa 200 Meter weiter nach Westen vor und enthielt eine die Tangente kreuzende Achse. Das Klinikum sollte ebenfalls im Südosten nahe des Ölbachs bzw. der Ruhr entstehen. Insgesamt waren die Baugruppen über das Gelände verteilt. Die Überarbeitung des Wettbewerbs war daher kein Kompromiss, sondern

Das Strukturprinzip der allseitigen Verflechtung

Abbildung 5: Ruhr-Universität Bochum, Gebäudegruppe N, Eller, Moser, Walter (EMW), Ausführung ab 1964, Südseite.

Fotografie: Jürgen Wiener.

eine einseitige Zuspitzung, die der von den Politiker*innen geforderten Fächerkooperation verpflichtet war51 in der naiven Annahme, dass dafür räumliche Nähe genüge. Aus der Kooperation, die baulich im „Strukturprinzip der allseitigen Verflechtung“52 zu erfüllen sei, wurde ein architektonisch diktierter Kooperationsbefehl. Die nun deutlich größer geplanten Baublöcke im „Meer der Wissenschaft“, wie die nicht nur angesichts einer Bergbaustadt schiefe Metapher lautete, konzentrieren sich auf ein Zehntel des vorhandenen Areals. Das hätte selbst Le Corbusier nicht gefallen. Das Ergebnis ist eine vielfach kritisierte Bildungsmaschine, kritisiert von Hentrich selbst, der von Kasernen sprach.53 Und Henry-Russel Hitchcock erkannte in der von HPP veranlassten Monografie über HPP eine „gigantic totality of the complete university plant“, dessen Bauten in ihrer schier endlosen Wiederholung der Tausende von identischen Details „very heavy and somewhat inhuman“ seien.54 Sie bedienen, so

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Abbildung 6: Ruhr-Universität Bochum, Gebäudegruppe N, Eller, Moser, Walter (EMW), Ausführung ab 1964, Nordseite.

Fotografie: Jürgen Wiener.

Bruno Klein, geradezu die „Erwartungen an das Image einer Region, in der die Moderne und ihre Krise Hand in Hand gehen.“55 Wegen möglicher Bergbauschäden wurden die Bauten auf dem zur Ruhr abfallenden Gelände weiter südlich als zunächst vorgesehen errichtet.56 Die 13 dreibündigen super-blocks, um einen Begriff von Kenzo Tange zu benutzen,57 messen 113 x 24 x 40 m und haben acht bis dreizehn Geschosse. Verteilt auf vier Quadranten stehen sie auf einem 1000 x 450 Meter großen Sockel, unter dem sich Zufahrtsstraßen und Parkhäuser finden – wohl die erste autogerechte Uni überhaupt. Autogerecht impliziert eine Fußgängerzone als zentrales Kreuz der Anlage: Die Höhenzonierung zum Schutz der Fußgänger, wie sie Tange für das Tokioter Rathaus entwickelt und 1959 in Otterlo vorgestellt hatte,58 reserviert das zentrale Kreuz für die Gemeinschaftsbauten Mensa, Audimax, UB, Verwaltung, Musisches Zentrum, Hörsaalzentren und Grünanlagen. Das sogenannte Forum respektive die Agora, wie sie der

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Abbildung 7: Ruhr-Universität Bochum, Schema Stecksystem.

Die Universität Bochum. Gesamtplanung.

für den Hochschulbau zuständige Ministerialdirigent Fridolin Hallauer nannte, sollte Begegnungsort sein. Dies blieb weitgehend Rhetorik von einer Universität als sozialem Ort. In der Ausführungsplanung der super-blocks übernahm das Büro Eller Moser Walter, das sich 1964 von HPP abnabelte, den naturwissenschaftlichen Bereich. Auch an ihren Bauten, qualitativ sicherlich die besseren, wurde das auf Kostensenkung zielende, in einer Feldfabrik hergestellte Stecksystem aus Pfeilern und Decken eingesetzt, das an Spielzeugbaukästen dieser Zeit erinnert und die Marburger Systemein-

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heit des Tisches mit umlaufendem Flucht- und Wartungsbalkon variiert. Dabei wird an wenigen Stellen das Skelett als Loggia offengelassen, die zugleich Zeichen der Offenheit und des fließenden Übergangs von innen nach außen ist. Die Bochumer Konstruktion besteht nicht nur aus einem „Fertigteilsteckbau“, sondern will dies auch zeigen.59 Nahezu plagiiertes Vorbild war die auf dem letzten CIAM-Kongress in Otterlo von Tange selbst vorgestellte Präfektur Kagawa in Takamatsu.60 Wie dort sind in der Mitte die Versorgungskerne (Aufzug, Treppe, Toiletten) untergebracht, die über das Dach hinausragen und dort skulpturale Akzente setzen. Tanges Vorbild zum Trotz war die Gesamtanlage weniger eine „Architekturvision“ denn ein Anachronismus. Die in der Raumplanung identischen Blöcke erinnern eher an geschichtsvergessene monumentale und monotone Blockserien der Zwischenkriegs-Avantgarde (Le Corbusier, Hilberseimer mit ihren eher als polemische Diskussionsbeiträge denn als zu realisierende Konzepte zu verstehenden Visionen) und auf Gebäudeebene an die Parallelblöcke für die Uni Freiburg (1955–61) von Otto Ernst Schweizers, dem Lehrer Lindes, oder Rolf Gutbiers Kollegiengebäude für die TH Stuttgart (1961). Neu ist nur die Tange abgeschaute Formensprache. Insbesondere das Ganzheitsdenken widersprach den systemischen Prinzipien von Flexibilität, Offenheit, Mobilität, Prozessualität, Komplexität, mit denen nun die kritische Architekturtheorie des Brutalismus ihre Väter kritisierte. Die Avantgarde, wie sie 1959 in Otterlo präsent war und dort vom Team Ten dominiert wurde (Bakema, Candilis, Woods, Aldo van Eyck, Peter und Alison Smithson), sah Zellencluster, Netz-, Gitter- und andere serielle Strukturen vor, denen die Unabschließbarkeit letztlich inhärent ist, und bei denen paradoxerweise angesichts einer sich durch unerbittlichen Ornamentverzicht definierenden Moderne das Planen zu einem monumentalen abstrakten Ornamentrapport respektive einem Makroornament wie beim Marburger Schachbrettmuster gerät. Sie prägten auch viele Bochumer Wettbewerbsbeiträge, von denen viele zeitgemäßer waren als die Ausführungsplanung. Die meisten Entwürfe boten eine Mischung aus Hochhausscheiben und flächenextensiven,

Das Strukturprinzip der allseitigen Verflechtung

an die Topografie angepassten Gitterstrukturen, bei denen anders als bei HPP und dem Hochbauamt die Landschaft mitplanen durfte. Zwar sind serielle Strukturen in erster Linie funktionale Bedingung standardisierter Bausysteme, doch lassen sie sich auch ästhetisch im Sinne eines all-over wie in Jackson Pollocks Malerei oder von seriellen Strukturen etwa der Gruppe Zero lesen. Am meisten wurden die ornamentalen Makrostrukturen bestimmend bei den Entwürfen des Teams Candilis, Josic&Woods, des Büros Van den Broek/Bakema und noch mehr bei dem damals vieldiskutierten Essener Architekten Eckhard Schulze-Fielitz. Sie alle zählten damals zur strukturalistischen Avantgarde. Noch radikaler als das Team Ten war das mit stark utopisch-theoretischen Ansätzen operierende internationale Netzwerk Groupe d’Etudes d’Architecture Mobile (GEAM) bzw. Studiengruppe für mobiles Bauen. Schulze-Fielitz,61 der ihr angehörte, nutzt das vor allem als Raumtragewerk eingesetzte Mero-System nicht nur um Raumweiten zu erzielen, die den modernen Forderungen nach Einheitsräumen entgegenkamen. Das Mero-System wurde vielmehr einer der Ausgangspunkte für eine generelle, die Mobilität ins Zentrum stellende Transformation architektonischen Denkens, insofern dieses System auf Raum- und Baufolgen bis hin zu jederzeit veränderbaren, gleichsam schwebenden „Raumstädten“ angewandt wird. Mit diesen sogenannten Megastrukturen wurde eine neue Dimension der Entmaterialisierung des Bauens und der Verstetigung des Ephemeren eingeläutet. Die Praxis des Universitätsbaus ging trotz ihres Bekenntnisses zu dynamischen Systemen und Strukturen nicht so weit. Dennoch zählen fast alle deutschen Campusuniversitäten zu dem, was architektonischer Strukturalismus oder strukturalistischer Brutalismus genannt werden kann und eine Art Organizismus im Computerzeitalter darstellt. Manche Bochumer Modelle erinnern an Molekülstrukturen oder kleinere Zellverbindungen oder (Quasi)Kristallstrukturen, die in der Realität nur aus der Luft oder dem Weltraum erfahrbar gewesen wären und so ein neues Blickregime in der Architektur kreierten. Das zugleich funktionale wie ästhetische Prinzip ist modular und basiert auf potentiell unendlich wachsenden „patterns of growth“.62 So lautete ein zentraler,

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Abbildung 8: Freie Universität Berlin, Entwurf von Candilis, Josic & Woods für die sogenannte Rostlaube, 1962/63.

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fortschrittsgläubiger und auf Steigerung der Auto-Mobilität zielender Begriff der Smithsons, der noch weit von den „limits of growth“63 entfernt war, die den neuen ökologisch dominierten Diskurs bestimmten, als an vielen Universitäten die Bautätigkeit vor dem Abschluss aller Planungen eingestellt wurde – von Weiterwachsen nicht zu reden. Auch dafür war Marburg exemplarisch. Marburg war, wie gesagt, die erste deutsche Uni mit einem allseitigen Quadratrapport, als würden riesige Küchenfliesen über die Landschaft gelegt (die dabei auf das genormte kartografische Raster Bezug nehmen). Der Tisch als Grundeinheit des Marburger Bausystems ist ein unmittelbarer Effekt der Logik von patterns. Das damals meist diskutierte Vorbild für ein Quadratmodulraster war das ebenfalls in Otterlo vorgestellte Waisenhaus von Aldo van Eyck. In Otterlo war auch das aus Le Corbusiers Büro hervorgegangene Büro Candilis, Josic&Woods, das bei der Planung für die geisteswissenschaftliche Fakultät in Toulouse-Le Mirail die Lektion van Eycks schon gelernt hatte und kurz danach die Pläne für Toulouse bei dem Wettbewerb für die FU in Berlin (Abb. 8) variieren sollte.64 In

Das Strukturprinzip der allseitigen Verflechtung

Berlin basiert die Megastruktur ebenfalls auf präfabrizierten Systemteilen aus vier Stützen und quadratischer Decke, doch ist der „quadratische Schematismus“ für die Gestaltung visuell prägender, indem sich offene und geschlossene, nur zwei Geschosse hohe, flache Einheiten abwechseln, wie sie Candilis und Woods bei ihrer Tätigkeit in Marokko kennengelernt hatten.65 Der Wechsel von Innen und Außen sowie der räumlichen und logistischen Relationen sollten erst durch die Benutzer und ihre Bewegungsmuster genauer festgelegt werden. Hier sollte, so die Idee, Kooperation durch das definiert werden, was sich – idealerweise ahierarchisch, informell und selbstorganisierend, ja autopoietisch – nicht zuletzt im Umgang mit den Dingen zu befristet stabilen Einheiten formieren würde. Es ist eine Sequenz von Atriumhäusern, die aufgrund einer restriktiven Praxis ungleich weniger variiert wurde, als es das Modell verhieß. Die Höfe durften etwa aus Kostengründen nicht betreten werden. Abermals war die dürftige Gebäudepflege ein Faktor für das Scheitern des Konzepts. Die Dynamiken der Selbstorganisation bedürfen, so paradox dies scheint, werterhaltender Maßnahmen der Verstetigung, die in Etatplanungen meist nicht vorgesehen sind, andernfalls wird langfristig die Idee eines kostengünstigen Bauens unterminiert. Berlin war nur eine Variante von Architektur, die unter dem „Strukturprinzip der allseitigen Verflechtung“ Kommunikationsprozesse zur Förderung innovativer Forschung anschieben und das sich verändernde, komplexe System der Organisation und Produktion von Wissen unterstützen sollte. Daher verwies die Forschung – letztlich unter vorkybernetischen methodischen Vorzeichen der Ikonologie – auf die Kybernetik als Paradigma der Universitätsplanung.66 Die Texte der Planer bestätigen dies zumindest nicht unmittelbar, sie agieren zwar in einem ähnlich konturierten Beobachtungs- und Reflexionsraum, doch mit mehr Vorbehalt. Sie signalisieren vielmehr eine Planungsskepsis angesichts einer kaum noch beherrschbaren Datenmenge und Fülle an Akteuren sowie einer immer kürzeren Gültigkeit stabilisierter Strukturen67 und strahlen keineswegs eine modernistische Euphorie des Regelns und Steuerns aus.

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Zwar griff die neue Architekturtheorie in ihrem Bemühen, den Intellektuellenstatus von Architekten neu zu umreißen, (natur)wissenschaftstheoretisch aus, und verwendeten bei ihren verbalen Vermittlungen die auch in der Kybernetik wichtigen Begriffe und Phänomene wie Struktur, System, Prozess, Dynamik, Netz, Information, Kommunikation, Element, Beziehung, Muster. Diese beruhten jedoch weniger auf theoretischer Rückversicherung bei den Protagonisten und Vordenkern von Kybernetik, System-/Chaostheorie und Konstruktivismus als auf praktischen Disziplinen wie Stadt-, Raum- und Verkehrsplanung, Soziologie, Wirtschaftswissenschaften, industriellen Produktionssystemen und Datenverarbeitung. Den Bedarf nach einer Theorie, die auf den neuen Leitwissenschaften Informationstechnologie und Soziologie (mit der Systemtheorie als gemeinsamer Schnittmenge) basiert und gegenüber der für die Zwischenkriegsjahre bestimmenden simplen Form-Funktion-Konstruktion-Gleichung für letztlich ästhetisch dominierte Bauten auf eine Komplexität abhebt, die im Grunde aber ein auf Pluralität umgestellter Funktionalismus blieb und folglich Ästhetisches nachordnete, bezog man aus aktuellen Architekturdebatten, für die der letzte CIAM-Kongress in Otterlo 1959 (und seine Publikation 1961) das wichtigste und zugleich globale Forum war. In dem dort propagierten Strukturalismus wurden die an politische und soziologische Paradigmen erinnernden Leitbegriffe wie Offenheit, Veränderbarkeit, Vorläufigkeit, Vernetzung, Verflechtung, Kooperation, selbstbestimmtes Arbeiten in dynamischen, demokratischen Prozessen debattiert und umgehend rezipiert. Lindes Hochschulplanung-Bände sind kein baubürokratisches Gegenmodell, sie versuchen vielmehr eine komplexe und ausdifferenzierte Übersetzung des Strukturalismus in die Praxis. Sie nehmen die Komplexität und Dynamiken ernst, die nicht leicht mit einer Kodifizierung zu harmonisieren sind. Wenn zu den identifizierten Faktoren bei der Bestimmung des Systems Universität auch Offenheit, Veränderbarkeit, Individualität und Zufall zählen, dann meint systemisches Denken gerade nicht Ubiquität identischer Konzepte, sondern Bestimmung aller Parameter für ein je eigenes System. Die Planung verlagert sich dabei von der Findung von formalen Lösungen zur Identifizierung der Mus-

Das Strukturprinzip der allseitigen Verflechtung

ter der technischen und sozialen Bedingungen. So argumentierten jedenfalls auch die Smithsons: „[W]e must consider every community in its particular total complexity, in its particular environment. (The ecology of the situation). […] For each particular community one must invent the structure of its sub-division.“68

In diesem Sinn und zugleich darüber hinausgehend wurde gegen ein als Planungspositivismus verstandenes traditionelles Planen für das „Provisorium“69 plädiert, das für die „Hochschule im Zeitalter der Information“70 die Möglichkeit künftiger Änderungen offen hält,71 da sich bereits während der Beobachtung des Feldes dieses verändert – das erinnert eher an Heisenbergs Unschärferelation. Anders als im klassisch modernen Funktionalismus heißt Planung nun „Planung für anonyme Nutzung“ und „Planen auf Vorrat“.72 Für die sich permanent erneuernde, prozessual unabschließbare Universität73 bedeutet die „Dynamik der Entwicklung“ einen „Abbau des Normativen“, bei dem „der Glaube der Planenden an die Planbarkeit und erneute Stabilisierung eines zunehmend dynamischer werdenden Hochschulsystems angegriffen wird.“74 Trotz aller verbalen Reserviertheit scheint sich das Unplanbare gleichwohl gut und schnell planen zu lassen. Das Patentrezept ist ziemlich simpel und zielt auf „Standardisierung“ und „Rationalisierung der Bauherstellung“75 als kostenminimierende Medien der Beschleunigung. Offenbar gilt: je komplexer das System, desto einfacher die Lösung (respektive desto größer die Komplexitätsreduktion). Sie besteht aus vier Stützen, die eine Decke tragen als Basis für ausgefachte, ihre Struktur offenlegende Skelettbauten mit offenen Grundrissen. Der modulare Skelettbau nach Art des Marburger Tisches ist der global gültige und ästhetisch gleich-gültige bauliche Minimalismus schlechthin in der Moderne. Und er bestimmt, mag er einem ästhetischen Interesse noch so sehr eine verbale Absage erteilen, die Ästhetik – wenn man so will: den Stil – der Gebäude. Das, was eine Gemeinsamkeit zwischen den verschiedenen Campusuniversitäten stiftet, sind ästhetische Phänomene. Es ist das Material (einschließlich Materialfarbe), die kubische Baustruktur auf der Basis eines ausgespannten Stahlbetonskeletts, das

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Abbildung 9: Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, diagrammatischer Plan (Planung ab 1964).

Archiv der Heinrich-Heine-Universität.

auf Modulen und Rastern beruht: ein Stil, der sich über das Desinteresse am Stil ausgebildet hat. Nicht-Stil geht auch nicht. Funktional komplexe Großplanungen, wie sie die Architekturgeschichte in diesen Dimensionen nicht kannte, fordern ein Planen vor dem Planen von Gebäuden, sie fordern das auf den Einsatz von Computern angewiesene Sammeln und Auswerten von so vielen Informationen wie möglich. Die neue Quantität und Qualität des architektonischen Wissens mündet dann in die aus Flächennutzungsplan und Bebauungsplan bestehende Bauleitplanung, die, zeitlich nicht zufällig parallel zu den Trabantenstadt- und Universitätsplanungen, 1960 begrifflich überhaupt erst offiziell normiert wird. Credo war damals, dass Hochschulplanung nicht mehr in erster Linie Gebäudeplanung ist, sondern einer langfristig angelegten Bauleitplanung „als Synthese von gruppendynamischen Prozessen“ bedarf.76 Folglich muss das Bauen selbst zum partizipativen Prozess werden.77

Das Strukturprinzip der allseitigen Verflechtung

Abbildung 10: Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, schematischer Plan (Planung ab 1964).

Archiv der Heinrich-Heine-Universität.

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Abbildung 11: Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, schematischer Plan (Planung ab 1964).

Archiv der Heinrich-Heine-Universität.

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Bedingung, Ausdruck, Medium und Stil eines megastrukturellen Planens waren die Diagramme (Abb. 9–14) etwa zu den Relationen zwischen den Instituten oder zu logistischen Bewegungsmustern und Vernetzungen zwischen Stadt und Land. Sie sind symbolische Formen des neuen Planerhabitus und das Medium, in dem sich das statistische Material verdichtet. „Das Strukturprinzip der allseitigen Verflechtung“, wie es die Bochumer Ausschreibung gefordert hatte, blieb nicht auf Diagramme beschränkt, sondern wurde auch zur Baumetapher und im Fall von Duisburg sogar zu einem gebauten Bild. Das Erscheinungsbild der erweiterbaren und kaum Hierarchien zulassenden Raster und Cluster78 ist nicht nur die Gestalt, die sich aus Konstruktion und Funktion ergibt, sondern zugleich auch die in ihr anschauliche Bedeutung, gerade weil sie Funktionalität nicht sichtbar macht. Der in den technologischen Innovationen der industriellen Revolution gründende materialistische Glaube der Zwischenkriegsmoderne an die Allmacht von Material, Konstruktion und Funktion in der Architektur weicht einem eher immateriellen Ansatz, der Begriffen wie Informationsverarbeitung, Algorithmus, Programmierbarkeit verpflichtet ist. Sie alle sind sowohl Bedingung als auch Effekt des Mediums Computer. Elektronische, zunehmend seriell gefertigte Rechner der Nachkriegszeit führten zu einem technologischen Paradigmenwechsel, der sowohl Katalysator wie Nutznießer beim Strukturwandel von der Industrie- zu einer Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft war und ist. Nicht zufällig waren die Technischen Universitäten, von denen der Hochschulbau seine wichtigsten Impulse erfuhr, auch die Orte, an denen die ersten leistungsfähigen Rechner standen oder entwickelt wurden. Die vorgebliche Ordnungsmacht der Zahlen führte nicht selten zu Systemen der Gebäudenummerierung, die zwar in sich kohärent sind, die aber viele nicht durchschauen, da sie mit der Systemlogik nicht vertraut sind und sich folglich daran nicht orientieren können. Sie gehören zur Black Box brutalistischer Universitäten. Ähnliche Ordnungsmuster prägen auch Lindes Bände zur Hochschulplanung, die keiner linearen Erzähllogik folgen. Sie sind vielmehr aus einer numerisch gekennzeichneten Struktur von Subsystemen der Aufgabe Hochschulbau entwickelt, bei denen nicht die Paginierung,

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sondern römisch-arabische Ziffernkombinationen (z. B. „VIII 192“) indiziert werden. Diagramme und Zahlentabellen treten oft an die Stelle eines Fließtextes und stehen für ein scheinbar strukturierteres System der Wissensrepräsentation und Wissensaneignung. Die Nummerierung wie die nach Diagrammen und Zahlencodes geordnete Struktur von Lindes Büchern ist indes ein rekursives Phänomen, bei dem die Planungsregeln des Hochschulbaus auf die topologische Ordnung der Bauten und der Bücher über sie angewandt werden.79 Die Systeme der Gebäudekennzeichnung verweisen bereits auf die vom Blickfeld der Individuen nicht beherrschbare Vielzahl an Gebäuden. Dabei besteht Unübersichtlichkeit aus der Perspektive der Fußgänger unabhängig davon, ob eine geometrisch stringente Disposition vorliegt (Bochum) oder ein Cluster scheinbar willkürlich verteilter Bauvolumina (Marburg), die erst durch ihre Nutzung ihre Ordnung erfahren, oder eine Kombination aus beidem (Berlin).80 Die Logik der Flexibilität, Offenheit, Vorläufigkeit, Prozessualität etc. weist die Sichtbarkeit von Identität zurück. Denn sie basiert auf Struktureinheiten, die definitionsgemäß neutral und identitätslos sind. Die Multiplikation von Einheiten ist nicht nur Ausdruck, sondern auch Bedingung von Wachsen (oder Schrumpfen) und Neukombinieren auch in der Zukunft, die andere Anforderungen (andere Themen, andere Fächer mit anderen Werkzeugen, Maschinen und Medien) an die Gebäude stellt als die Gegenwart, von der aber selbst nicht restlos gewiss ist, was sie verlangt. Der Strukturbegriff koppelt konzeptionell Ordnung und Offenheit dialektisch. Darin lag sein besonderer Reiz. Daher wird vom struktursetzenden Kleinen aus durch Multiplikation ins Große geplant und nicht divisiv vom Ganzen ins Kleine. Strukturelemente können bedürfnisabhängig neu kombiniert und individuell immer wieder anders gefüllt werden. Sie bilden die überdauernde Einheit in der wandelbaren Mannigfaltigkeit, und zwar als eine mittlere Größe zwischen den variablen Großformen (durch Veränderung in den Gruppierungen der aus vielen Struktureinheiten zusammengesetzten Cluster) und der variablen Kleinform (durch die Ausgestaltung innerhalb einer Struktureinheit). Das extremste und im Wortstil pointierteste Beispiel des neuen Planungshabitus war ein Wettbewerbsentwurf für Bremen, den

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Abbildung 12: Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, schematischer Plan (Planung ab 1964).

Archiv der Heinrich-Heine-Universität.

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ihre Autoren als Containerterminal für ein „Topologisches Bau- und Lernprozesskonglomerat“ für „ein neuartiges Material-, Mensch- und Energieversorgungssystem“ begriffen (Abb. 12).81 Die Raumeinheiten sind nicht mehr die Tische, die, einmal versetzt, ihren Ort nicht mehr ändern, sondern präfabrizierte Container, die ein Brückenkran immer wieder neu kombinieren kann. Das meist nur metaphorisch verstandene, aber seit der Gruppe GEAM wörtlich gemeinte Ideal mobiler Architektur wird hier für die „Notwendigkeit“ eines „perfekten Systems“ (so der Architekt Lyubo-Mir Szabo) beschworen.82 Das Containermodell belegt, wie sehr der Strukturalismus die Radikalisierung moderner Maschinenherrschaftsfantasien sein konnte. Totale Offenheit, die vorgeblich nicht von außen eingreift, wird zu Hybris, pervertiert sich ins Gegenteil. Denn die Container setzen die totale Normierung von in sich nicht mehr variablen Raumzellen voraus. Ding und Mensch sind austauschbare Funktionsteile einer vordergründig billigen Wissenschaftsmaschine, die in der Praxis einer in ständigem Austausch begriffenen Wissenschaft auf ewig teure Ersatzteile vorhalten müsste. Teuer wird es auch, weil das System ständiger Umgruppierungen immer eine Vielzahl von Zellen betrifft, die sich wiederum auf weitere Zellen auswirken, die innerhalb des Kooperationsimperativs mit den neuen Verbundeinheiten nicht kooperieren können oder wollen. Hier würde die hegemoniale Mehrheits- und Mainstreamwissenschaft den Schutz der Minderheiten und mit ihm das Gelehrtenideal eines Humboldt oder eines Hieronymus im Gehäus unterminieren. Gegen die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der Wissenschaft auf dem Papier wäre schon vor der ersten Containersetzung eine Unterscheidung zwischen Gleichen und Gleicheren zu treffen und alsbald sichtbar – im Übrigen tendieren solche Unterscheidungen zu mehr oder weniger langfristiger Verstetigung. Architektur würde so in kürzester Zeit ihre Machtstrukturen sichtbar machen, mehr als es die Universitätsschlösser je konnten. Systemlogisch betreibt jede Konstituierung befristeter Relationen auch Ausgrenzung. Das Containersystem tappt genau in die Falle, die mit ihm vermieden werden wollte. Jedes neu konfigurierte Konglomerat bedeutet die Bildung neuer Lehr- und Forschungskartelle.

Das Strukturprinzip der allseitigen Verflechtung

Abbildung 13: Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, schematischer Plan (Planung ab 1964).

Archiv der Heinrich-Heine-Universität.

Und so technizistisch es anmutet, ist es doch auch eine altbackene semantische Referenz auf eine moderne Hafenstadt. Auch der radikalste Funktionalismus scheint nicht ohne topologisch rückversicherte Semantiken auszukommen. Wäre das Lernprozesskonglomerat jemals rea-

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Abbildung 14: Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, schematischer Plan (Planung ab 1964).

Archiv der Heinrich-Heine-Universität.

lisiert worden, hätte es eher in seiner Hafenmetaphorik (Mobilität, Verbindung ferner Orte, globaler Austausch, Wissensumschlagsplatz) als im Wissenschaftsalltag funktioniert. Die menschenverachtende Bremer Idee mit ihren hegemonialistischen Perspektiven ist im Übrigen weniger utopisch, als es scheint. In Düsseldorf dienen seit Jahren Dutzende

Das Strukturprinzip der allseitigen Verflechtung

Abbildung 15: Lyubo-Mir Szabo, Heinz Behrendt, Wolfgang Rathke: Wettbewerbsbeitrag „Topologisches Bau- und Lernprozesskonglomerat“ für die Universität Bremen, 1967.

Hnilica, Systeme und Strukturen. von gestapelten Containern als Ersatzbauten während der umfangreichen Sanierungsarbeiten der geisteswissenschaftlichen Gebäude. Die Naturwissenschaften erhalten für den gleichen Zweck Ersatzneubauten. Die Ausführung mit einem festen Bausystem schützt stärker vor solchen Dynamiken der Hegemonialisierung universitärer Teilbereiche. Allerdings sind selbst Universitäten mit einem festen Raumrasternetz davor nicht gefeit, wie ebenfalls in Düsseldorf (Abb. 13–15) deutlich wird, wo die teilweise von renommierten Architekturbüros entworfenen Neubauten ostentativ die Vereinbarkeit mit dem bildungsdemokratischen Einerlei der brutalistischen 1960er- und 1970er-Jahre einschließlich ihrer Außenraumplanung verweigern. Damals durfte nur die fächerübergreifende Bibliothek als Herz der Anlage eine eigene Physiognomie haben. Nun wird baulich sichtbar, welche Fächer zählen und welche nicht. Humanities matter möchte man angesichts der mehr oder weniger eleganten Neubauten für die Juristen, Mediziner, Wirtschafts- und jetzt auch für die Naturwissenschaften sagen, selbst wenn es nur Provisorien sind. Es ist kaum Zufall, wenn Geistes- und Sozialwissenschaften außen vor bleiben. Hier

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Abbildung 16: Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Gebäude der 23er Gruppe, Ausführung 1968–1977 (Planung ab 1964).

Fotografie: Jürgen Wiener.

hat ein neoliberales Effizienz-, Qualitäts- und Exzellenzdenken, das bestimmte Wissenschaftsbereiche als höherwertig erachtet als andere, seine Reviere architektonisch sichtbar markiert. Sie werden somit zu Zeichen des Postdemokratischen.83 Die strukturalistische Lektion wird dabei gezielt ignoriert. Das Resultat ist eine ästhetische Zerstückelung, bei der jeder Neubau das Alte noch älter aussehen lässt. Obwohl heute mehr denn je disziplinäre Kooperation erwartet wird, geht die Architektur als Ort solcher Kooperation nicht mehr darauf ein, sondern betreibt Repräsentation. Wenn Sonja Hnilica weitgehend zutreffend behauptet: „Vierzig Jahre später muss man konstatieren, dass an keinem Ort in größerem Rahmen in der Logik der Systeme angedockt, ausgewechselt oder weitergebaut wurde,“84 dann lag dies nicht an der Architektur. Die mit mehr

Das Strukturprinzip der allseitigen Verflechtung

Abbildung 17: Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Gebäude der 22er und 23er Gruppe, Ausführung 1968–1977 (Planung ab 1964).

Fotografie: Jürgen Wiener.

oder weniger evidenten Zeichen operierenden signature buildings mit Identitätsanspruch sind – auf Kosten des Gesamtbildes – Ausdruck und Instrument eines diskursiven Rückschritts in Zeiten vor der strukturalistischen Vergangenheit, die freilich weniger fortschrittlich war, als sie uns weismachen wollte. Gerade in Düsseldorf waren Andockstellen vorgesehen, da Erweiterungsoptionen hier relevanter waren als an anderen Universitätsbauensembles, für die dies eher habituell in Anspruch genommen wurde. An der HHU war tatsächlich in vielen Punkten unklar, wofür geplant werden sollte, als im Herbst 1964 die Planung begann, weshalb der strukturalistische Gestus mehr mit der Realität korrelierte als andernorts und das Universitätsgelände tatsächlich eine fortgesetzte Baustelle ist. Prozessdynamik war hier konkreter als in Bochum und Marburg. „Flexi-

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bilität und interdisziplinäres Denken“, die für ihren Planer Kurt Hesse die bestimmende Planungsfaktoren waren,85 hieß hier ständiges Nachjustieren bis in die Disposition und Oberflächen der Gebäude hinein. Doch nicht nur diese besondere Situation ist es, die der Düsseldorfer Universität ein eigenes Profil unter den neuen Universitäten gibt. Eine Volluniversität, die sie heute ist, war nicht vorgesehen, von einer Universität mit mehr als nur zwei Fakultäten – eine medizinische und eine naturwissenschaftliche wie kurz danach in Ulm der Wunsch der Mediziner – gingen damals die wenigsten aus. Ein bisschen Ethik und Sprachausbildung sollte aber auch sein, in welchem Umfang und welchem institutionellen Rahmen war noch unklar. Der Lehrermangel spielte dann den Geisteswissenschaften in die Karten. Und so musste immer größer geplant werden, allerdings in dem Rahmen, den Hesse schon 1964 skizziert hatte. Gerade an der sich ständig vergrößernden Universität Düsseldorf war eine große Fülle an personalen und nonpersonalen Akteuren mit disparatesten Bedingungen beteiligt, die deutlich machen, dass mit wenigen Begriffen wie Bildungsnotstand, Vernetzung der Fächer und Brutalismus das Phänomen nicht zu fassen ist.86 Gleichzeitig zeigt sich aber auch ein Beharrungspotential der Architektur, die in ihren Grundzügen von Anfang an feststand und allen strukturellen Transformationen trotzte, weil sie die Flexibilität einlöste, die den jüngeren Bauten abgeht.87 Prozesshaftigkeit ist, selbst wenn damals von metabolistischen und strukturalistischen Ideen permanenter Fortschreibung, Abstoßung und nur knapp befristet stabiler räumlicher Konfigurationen fantasiert wurde, dialektisch auf ein beharrendes bauliches Gefüge angewiesen. Die Architektur ist nicht nur das Materielle, das dem scheinbar Immateriellen der Wissensproduktion einen festen Ort gibt, sondern eine basale pfadabhängige Möglichkeitsbedingung für Wissens(trans)formation. Das heißt auch, dass nicht kurzerhand bei Bedarfsverschiebung oder Funktionsdefiziten Bauten ausradiert werden – es sei denn, man reißt ab und baut es ganz ähnlich wieder auf wie in Bochum. Um die Jahreswende1964/65 waren für die Düsseldorfer Universität nur zwei Fakultäten, Medizin und Naturwissenschaften, einschließlich einer bescheidenen geisteswissenschaftlichen Arrondierung vorgese-

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Abbildung 18: Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Gebäude der 25er Gruppe, Ausführung 1968–1977 (Planung ab 1964).

Fotografie: Jürgen Wiener.

hen. Dafür entstanden die für diese Zeit auch an anderen Universitäten üblichen Diagramme (Abb. 9–14), in denen sich Datenerhebungen und Kooperationswahrscheinlichkeiten verbildlichen. Ähnliche Diagramme zu Relationen und Dynamiken lassen sich auch für die Verkehrsplanung, Energieinfrastruktur, Bezüge zu Nachbarstädten etc. zeigen.88 Drei Jahre später, als bereits die ersten Gebäude entstanden, sah es nicht nur konkreter aus, sondern es gab nun auch eine andere Schwerpunktverteilung. Die Anteile der Natur- und Geisteswissenschaften sind nun gegenüber der Medizin enorm gewachsen. Nun wurde detailliert ausgearbeitet und in unterschiedlichen diagrammatischen Weisen dokumentiert, was in der Grobstruktur schon 1964 feststand. Von einer durch dicke bunte Pfeile dynamisierten Topografie über ein Gebäudedispositionsschema mit einer im Mittelteil versetzen Vertikalachse geht es zu den Zuweisungen an die Fakultäten. Die mittige Querachse ist für die zentralen Einrichtungen reserviert. Ein als Verfügungszentrum bezeichnetes Gebäudeensemble diente kurz hintereinander verschiedenen Instituten provisorisch als Unterkunft.89 In der nächsten

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Abbildung 19: Université Paris VI/VII, Edouard Albert, 1963–72.

Fotografie: Jürgen Wiener.

Stufe sind die Gebäude detailliert eingezeichnet, die Vernetzung mit der Stadt ist aber noch schematisch. Auch bei herangezoomten Plänen bleiben diagrammatische Bewegungsdynamiken erhalten. Sie sollen zeigen, wie der Kern der Anlage der versetzten Grundstruktur eine Zentrierung gibt.90 Im letzten Plan ist die Mitte der Knotenpunkt eines Rasters, das so angelegt ist, dass es, wie die gestrichelten Platzhalter deutlich machen, nach drei Seiten erweitert werden kann. Die Umsetzung hielt sich nicht daran. Die Rasterstruktur bei den Naturwissenschaften wurde zugunsten versetzter, aber miteinander verbundener Blöcke aufgegeben, wobei auch das Verhältnis der Pfeiler zu den Trägern, Fensterelementen und Flucht- und Wartungsbalkonen verändert wurde (Abb. 16–18). Das erste System wurde in Düsseldorf nicht nur technisch, sondern auch funktional und ästhetisch ständig nachgebessert, hatte aber von Anfang mit der Entscheidung für die bunten, der Orientierung dienenden Fensterelemente ein ganz eigenes Profil. Das ständige Überprüfen des eigenen Standpunkts prägte auch den Umgang mit Vorbildern. Von den wenig früher begonnenen Universitäten wurden Anregungen entnommen, um sich zugleich von ihnen abzusetzen. In der Produktion wurde die Präfabrikation von durchaus ähnlichen Strukturelementen in Feldfabriken abgelehnt zugunsten des günstigeren Ortbetons. In der Raumplanung wurde weder die totale Verdichtung wie in Bochum noch das Cluster von Marburg noch das strikte Raster von Paris VI–VII (Abb. 19) adaptiert, sondern eine Mit-

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Abbildung 20: University of Illinois Chicago, Circle Campus, Walter Netsch (von Skidmore, Owings and Merrill), 1963–65.

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te zwischen ihnen gefunden. Nach Bochumer Vorbild sollte der Zentralbereich in der querstehenden Mitte realisiert werden. Auch wurde die durch Georg Penkers Landschaftsplanung exzellent ambientierte Universität weder ins Zentrum noch an die Peripherie gesetzt, sondern schloss nahe der medizinischen Akademie eine städtebauliche Lücke und erweiterte das städtische Grün. Die Düsseldorfer Planung war noch autogerechter als in Bochum, und schützte im Inneren noch mehr davor.

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Abbildung 21: Universität Konstanz, Horst Linde, Wilhelm von Wolff u.a., 1970–83 (Planung ab 1966).

Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Universit%C3%A4t_Konstanz#/media/ File:Luftaufnahme_Universit%C3%A4t_Konstanz.jpg.

Eine maßvolle Mitte prägt auch die zwei- und dreibündigen Einzelbauten. Der Marburger Tisch wird auf ein Baukörperkonzept angewandt, das weder den super-block noch das Netz noch das Cluster präferiert und doch von allen dreien profitiert. Die drei- bis achtgeschossigen Gebäude bilden, da sie in sich und untereinander eine aufgelockerte Silhouette haben, keine bedrohliche Masse. Je nach Standort erscheinen sie als Block, Scheibe oder Cluster. Für das Skelett mit zurückgesetzter Füllung orientierte man sich an Marburg und dem Circle Campus der University of Illinois von Walter Netsch aus dem Büro Skidmore, Owings and Merrill, das in Düsseldorf das exquisite Gebäude der amerikanischen Botschaft realisiert hatte. Ganz anders zur Landschaft verhält sich die Universität Konstanz,91 die dem Universitätskonzept von Linde, der den Masterplan vorlegt hat, am meisten entspricht (Abb. 21, 22). Die an amerikanischen Vorbildern ausgerichtete, alle Bedarfsanalysen ignorierende und sich als

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Abbildung 22: Universität Konstanz, Grundsteinlegung 1970.

Wikipedia: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/4/45/ Universit%C3%A4t_Konstanz_Grundsteinlegung.jpg.

ranking-bewusste Elite-Universität begreifende „Reformuniversität“, die in Sektionen und Fachbereiche (ohne Institute) gegliedert ist, ist stark methodologisch ausgerichtet und begreift die Ausbildung ihrer 11.000 Studierenden als der Forschung nachgeordnet. Abseits der Stadt in einem Waldgebiet oberhalb des Sees ist sie nur bedingt erweiterbar – und wenn sie erweitert wurde, dann im Rahmen der Vorgaben. Für die auf gerade einmal 9 ha errichtete und stark verdichtete Anlage war einmal mehr die Vernetzung der Disziplinen gefordert, konkret der natur-

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und geisteswissenschaftlichen. Wie in Marburg wird für diesen Ort des „Zusammenkommens“ die Metapher der Altstadt bemüht, als wäre das Ganze gewachsen und nicht eine modernistische Setzung. Schon die Grundsteinlegung war eine ikonografische performance. Die über ein Quadrat verflochtenen Seiten verweisen auf die bauliche Rationalität eines Quadratrasters und auf interdisziplinäre Vernetzung. Neben der Anordnung der Fakultäten um die zentrale Bibliothek ist die Zonierung von Hochhäusern im oberen Teil und Flachbauten im unteren das Hauptprinzip der Gebäudecluster. Man könnte auch sagen: die Geisteswissenschaften liegen zu Füßen der überragenden Naturwissenschaften. Oder: Der Gleichheitsanspruch hält nicht einmal der Planung stand. Trotz der Zentrierung fällt auf, dass die in den Umraum ausgreifenden Blöcke der Konstanzer Geisteswissenschaften der Struktur des Gebäudebereichs 23 der Düsseldorfer Universität ähnlich sind. Diesen Bezug bestätigen zwei Details: die buntfarbige Gebäudemarkierung, die eine Neuerung der HHU war, und die um die Ecken geführten Holzbänke, wie sie der Düsseldorfer Lichtensteinsaal aufweist. Das „Strukturprinzip der allseitigen Verflechtung“ bei äußerster Verdichtung fand seine monumentalste Form in der zweiten Reformuniversität, die ebenfalls am Waldrand oberhalb der Stadt errichtet wurde.92 In Bielefeld (Abb. 23) wurde die These, dass Nähe und informelle Kommunikation interdisziplinäre Forschung fördert, zum baulichen Credo. Helmut Schelsky, der wie die Konstanzer Ikone Robert Jauß eine veritable nationalsozialistische Vergangenheit hatte,93 konzipierte mit seinem Zentrum für interdisziplinäre Forschung nicht nur den Ausgangspunkt der neuen Universität, sondern lieferte auch die Stichworte für den Wettbewerb: „interfakultative Zusammenarbeit/Interdisziplinarität, Funktionalität, Flexibilität und Erweiterbarkeit“ lauteten die Stichworte.94 Für die Sieger des Wettbewerbs hieß dies eine „Lernfabrik“,95 für den damaligen Rektor einen „wissenschaftlichen Großbetrieb“96 – beide Male ohne jeden maliziösen Unterton. Doch weder dies noch Bielefeld als Ort nachmaliger Systemtheorie reichen hin, um in dem Ensemble den „in systemtheoretischer Hinsicht gelungenste[n] Universitätsbau“97 auszumachen. Die Systemtheorie ist heute zwar visuell auf dem Gelände besonders präsent, aber nur durch die Wegena-

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Abbildung 23: Universität Bielefeld, Peter Kulka u.a. 1972–76 (Planung ab 1969).

Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Universität_Bielefeld#/media/File: Universität_Bielefeld_Luftaufnahme.jpg.

men des Geländes.98 Weit von Luhmanns methodischer Komplexität in der Beobachtung komplexer gesellschaftlicher Prozesse entfernt, ist das Gebäude selbst ein starr gerastertes Gefüge, das, sofern es erweitert würde, noch starrer würde. Es besteht aus zwei Längs- und 13 Querscheiben99 mit Treppen-Aufzugs-Türmen an den Schmalseiten. Die vernetzten Baukörper erweisen sich als Synthese der Ruhr-Universität und Paris VI/VII. Herz der Anlage ist die 250 Meter lange, glasgedeckte Halle, die zwischen den Längsscheiben alle Fakultäten verbindet. Hier wurde das Düsseldorfer Bandforum zu einer Passage im Sinne jener von Walter Benjamin zum Emblem erhobenen Vorform des Warenhauses. Das Flanieren, das zur symbolischen Form des intendierten Wissenschaftsbetriebs stilisiert wurde,100 heißt im universitären Alltag in erster Linie, die Mensa ohne Regenschirm zu erreichen. Was gegenüber den Vorbildern heraussticht, sind die Treppentürme. Sie sind keine Erfindung der Bielefelder Architekten, sondern wur-

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Abbildung 24: Gesamthochschule Essen (heute Universität Duisburg-Essen), Lageplan.

Hoppe-Sailer/Jöchner/Schmitz, Ruhr-Universität Bochum.

den im bundesdeutschen Hochhausbau mit Egon Eiermanns Bonner Abgeordnetenhaus („Langer Eugen“) eingeführt. Als Scharnierstellen sollten sie zu einem Markenzeichen und zum Stolz des NRW-Hochschulbaus der 1970er-Jahre werden,101 zum Stolz zumindest des Ministerialdirigenten Hallauer. Sie kommen an der TU Dortmund102 und den Gesamthochschulen Duisburg, Essen (Abb. 24), Paderborn, Siegen, Wuppertal und Hagen vor. An fast allen waren Eller-Moser-Walter (EMW) beteiligt, die nach ihrer Trennung von HPP immer mehr zu den NRW-Staatsarchitekten wurden. Es fällt freilich auf, dass die Autorschaft dieser Bauten eher verschwiegen wird. Für diese Hochschulen wurde die an der RWTH angesiedelte „Zentrale Planungsstelle für Hochschulbauten“ (ZPH) bzw. „Zentrale

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Abbildung 25: Hochschulbausystem NRW 75.

Hoppe-Sailer/Jöchner/Schmitz, Ruhr-Universität Bochum.

Planungsstelle zur Rationalisierung von Landesbauten NRW“ (ZPL)103 eingerichtet, an der unter Mitwirkung von Fritz Eller das Hochschulbausystem namens NRW 75 entwickelt wurde. Getestet wurde es in Dortmund, bevor es zum planerischen Allroundmittel wurde, das den involvierten freien Architekten, die für Vielfalt und Individualität sorgen sollten, jedoch nur wenig Spielraum ließ. NRW 75 bestand darin, die zwei- oder dreibündigen Blöcke und Scheiben aus präfabriziertem

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Abbildung 26: Gesamthochschule Essen (heute Universität Duisburg-Essen), verschiedene Architekten unter Anwendung des Hochschulbausystems NRW 75, 1972–77, Ansicht.

Fotografie: Jürgen Wiener.

Sichtbetonskelett mit Flucht- und Wartungsbalkon an den Schmalseiten mittels oktogonaler Treppen- und Aufzugstürme (teilweise unterschiedlich hoch) in Zweier-, Dreier- und Viererbündeln flexibel zu verbinden. Flexibel hieß: in den drei Winkeln 180°, 135° und 90°. Zweck war es, die konstruktiv aufwendigeren Versorgungskerne innerhalb der Gebäude einzusparen.104 Der Flexibilität gelingt indes nicht einmal die Anpassung an topografische Vorgaben. Trotz innenstadtnaher Lage wurde in Essen ein Campuskonzept wie am Stadtrand realisiert. Statt Stadtreparatur betrieben die Planer*innen Stadtverdrängung nach einem technokratisch-zentralistischen Einheitsrezept ohne ästhetisches Gespür für das spezifische städtebauliche Potential. Diese Bauten erfuhren von Anfang an scharfe Kritik. Wirkung zeigte sie aber erst in Duisburg. Nach der Errichtung des NRW 75-Baus LE105 begann das Büro EMW, das vorher wesentlich am Einheitsbrei beteiligt war, erneut zu planen. Es konnte sich nun mehr Zeit lassen und durfte das neue Konzept erstmals auch öffentlich ausstellen. Es enthielt die damals schon so bezeichneten Keksdosen, mit denen die Duisburger Gesamthochschule eine ganz eigene architektonische co-

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Abbildung 27: Gesamthochschule Duisburg (heute Universität Duisburg-Essen), Bauten für Physik und Ingenieurwissenschaften, Eller Moser Walter, 1981–91.

Fotografie: Jürgen Wiener.

porate identity erhielt (Abb. 27). Den maximal fünfgeschossigen Rundbauten, deren Backsteinoberfläche sich an der Umgebung orientiert, liegt ein Dreiecksraster106 zugrunde. Die Spitzen der Dreiecke bilden die Mittelpunkte der meist aufgeständerten Trommeln. Die Innenhöfe dazwischen sind bepflanzt. Manche haben eingelassene Sitzbänke aus Klinkern. Auch das konnte man von der Heinrich-Heine-Universität lernen. Das Ensemble erinnert an Molekülstrukturen und mechanisches Räderwerk. Das war Absicht, denn es sind Bauten für die Physik und die Ingenieurwissenschaften. Anregungen kamen auch von afrikanischen Runddörfern – eine Semantik, die Gemeinschaft, Einheit und Kommunikation meint, und die auch zur Politik passt. EMW bemühten sie auch für den Düsseldorfer Landtag. Hier wie in Duisburg ist in der Planung die Gestaltung wichtiger als das standardisierte Modell. In Duisburg planten EMW in engem Austausch mit der Universität, ohne dass Semantisierung auf Kosten der Funktionalität betrieben wurde. Daher ist auch die postmoderne Sichtbarkeit der Metaphorik

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ein Paradigmenwechsel gegenüber dem sehr abstrakt gedachten „Meer der Wissenschaft“ in Bochum. Und sie signalisiert noch einen anderen Paradigmenwechsel: Im Gebäude LE sind die Geistes- und Sozialwissenschaften untergebracht. Mit Schönheit belohnt wird, wer höhere Wertschöpfung verspricht. Mit dem Abschied von der egalitären Interdisziplinarität zugunsten der neoliberal postdemokratischen Nützlichkeitsrhetorik hält die soziale Distinktion auch visuell Einzug in diejenige Bildungsinstitution, die, mit Bourdieu gesprochen, immer schon die feinen Unterschiede sowohl abbildet als auch produziert. Chancengleichheit besteht nicht nur zwischen den sozialen Schichten nicht, sie besteht nicht einmal zwischen den Wissenschaftsbereichen. Die Forschung zu den Universitätsbauten vor und nach 1970 historisiert diese mit Begriffen aus der Systemtheorie oder der Kybernetik. Eher implizit ist damit ein technokratischer Optimismus unter politisch fortschrittlichen Vorzeichen gemeint. Die Bauten sind aber nicht nur Vergangenheit, sondern werden noch lange Gegenwart sein. Vermutlich würde Vieles heute kaum anders gemacht – mit dem Vorteil, auf Archive zurückgreifen zu können. Tatsächlich tat man, was unter den gegebenen Bedingungen zu tun war – nämlich das Bauen zu verwissenschaftlichen. Das damals Erreichte basierte auf einem Schub in der Wissensproduktion und in der sich darauf einstellenden und damit auch mitwirkenden architektonischen Praxis. Insofern war Interdisziplinarität eine Art selffulfilling prophecy in der Praxis. Später selbstgefällig schick designte Bauten hinzuzufügen ist etwas anderes als das komplette System Universität baulich von Grund auf neu zu erfinden und zu entfalten. Wenn dabei Fehler gemacht wurden, dann auch, weil das strukturalistische Denken nicht konsequent genug angewandt wurde, die Politik zu eigenmächtig agierte und der Planungsakt zu früh zentralisiert wurde. Die unglaublich schnelle Bewältigung riesiger „Baumassen“,107 ohne dass Universitäten wie Gewerbegebiete oder Trabantenstädte aussehen, ist eine historische Leistung, die weit über jede Kritik am bröckelnden Beton erhaben ist. Das Problem war nie der

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Beton, sondern seine Missachtung als Tatsache. Das Problem ist eher, dass man die Logiken und das Potential von damals schlechtredete, um dann einen Gemischtwarenladen zu produzieren, der jede architektonische corporate identity ausschließt. System, Struktur, Prozess, Interaktion, Offenheit etc. waren nicht nur das hinter dem Planen stehende, systemische Konzept für das neue Leitbild interdisziplinärer Wissenschaft, sondern sie waren auch das ethische und ästhetische Prinzip einer in Baumassen organisierten Architektur, die sich auf gesellschaftliche Makrosysteme berief und sich als sozialverantwortliches Bauen für die Masse begriff. Dabei stand eine eigene Ästhetik nicht im Fokus der brutalistischen Strukturalisten, für die die Nachkriegsuniversität zu einem Hauptschauplatz ihrer Ideen von einem industrialisierten Bauen in dynamischen Großstrukturen wurde. Auch deswegen ist die deutsche Campusarchitektur zwischen 1962 und 1978 die wohl signifikanteste Bauaufgabe in der mittleren Phase der alten Bundesrepublik. Dass sie heute nicht nur zu ihrem Schutz ästhetisch gerechtfertigt wird, bestätigt einmal mehr, dass jedes System eigene Weisen des Ästhetischen produziert, die über semiotische Rückkoppelungen be- oder verurteilt werden. Meint die betonbasierte strukturalistische Architektur Planungstechnokratie für die anonyme Masse, ist sie Signum und Instrument bildungspolitischer Integrations-, Partizipations- und Emanzipationsprozesse oder ist sie eine wesentliche Vorbedingung für die neoliberale Wende zu einer kompetitiven Bildungspolitik?

A nmerkungen 1 | Vgl. zuletzt etwa: Keim, Michaela: „Zwischen Tradition und Reform. Die Universität zu Köln in den 1960er Jahren“, in: Michaela Keim/Stefan Lewejohann (Hg.), Köln 68! protest.pop.provokation (Begleitband zur Ausstellung des Kölnischen Stadtmuseums und der Universität zu Köln), Mainz: Nünnerich-Asmus Verlag 2018.

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2 | Vgl. Jaspers, Karl/Rossman, Kurt: Die Idee der Universität: Für die gegenwärtige Situation entworfen, Berlin: Springer 1961. 3 | Bartz, Olaf: Wissenschaftsrat und Hochschulplanung. Leitbildwandel und Planungsprozesse in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1957 und 1975, Diss., Köln 2005, S. 73. Vgl. auch ders.: Der Wissenschaftsrat. Entwicklungslinien der Wissenschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1957–2007, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2007. 4 | Picht, Georg: Die deutsche Bildungskatastrophe. Analyse und Dokumentation, Olten-Freiburg i. Br.: Walter Verlag 1964. Picht prognostizierte, dass bis 1970 „sämtliche Hochschulabsolventen Lehrer werden müssten, wenn unsere Schulen ausreichend mit Lehrern versorgt sein wollen.“ In der Tat herrschte trotz der gestiegenen Studierendenzahlen Anfang der 1970er Jahre ein akuter Lehrermangel. 5 | Dahrendorf, Ralf: Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik, Bramsche: Nannen Verlag 1965. 6 | Bartz, O.: Wissenschaftsrat und Hochschulplanung, S. 70. Zugleich forderte der Wissenschaftsrat eine Erhöhung der Personalkosten um 75 %. 7 | Wissenschaftsrat (Hg.): Anregungen des Wissenschaftsrates zur Gestaltung neuer Hochschulen, Tübingen: Mohr-Siebeck 1962. 8 | Linde, Horst (Hg.): Hochschulplanung. Beiträge zur Struktur-und Bauplanung, 4 Bde., Düsseldorf: Werner-Verlag 1969–1971. 9 | Planungsausschuss für den Hochschulbau (Hg.): 15 Jahre Rahmenplanung für den Hochschulbau 1970–85. Eine Dokumentation, Bonn 1985, S. 31. Neben den detaillierten Angaben zu den Kosten gibt die Publikationen einen Überblick über die numerische Entwicklung der Studienberechtigten, Studienanfänger, Studienplätze und des wissenschaftlichen Personals. 10 | Schmidt, Hans-Ulrich: Institutsbauten. Hochschulgebäude in der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. vom Zentralarchiv für Hochschulbau Stuttgart, München (u. a.): K.G. Saur Verlag 1980; Schmidt listet einen Großteil von Institutsbauten (ohne zentrale Einrichtungen) auf, die bereits in den 1960ern begonnen und teilweise auch schon fertiggestellt wurden; vgl. auch Finger, Herbert: Hochschulbauten. Institutsgebäude, München: Callway Verlag 1973.

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11 | Berechnung mit http://www.lawyerdb.de/Inflationsrechner.aspx. Zugrunde gelegt wurde dabei ein mittlerer Zeitpunkt von 1971. 12 | Da sich Bund und Länder die Ausgaben im Universitätsbau annähernd teilten (47,7 % bzw. 52,3 %), waren an den politischen Entscheidungen auf Bundes- wie auf Landesebene alle vier Regierungsparteien (meist in Zweierkoalitionen) beteiligt. Daher trifft die These von Sonja Hnilica, dass der „Hochschulbau zu einem der großen sozialdemokratischen Projekte der Wirtschaftswunderzeit“ wurde, nicht zu, sofern ‚sozialdemokratisch’ parteibezogen (und nicht als ein Demokratiekonzept) verstanden wird. Auch war das sogenannte Wirtschaftswunder im engeren Sinn um 1970 schon Vergangenheit. S. Hnilica, Sonja: „Systeme und Strukturen. Universitätsbau in der BRD und das Vertrauen in die Technik“, in: Wolkenkuckucksheim, Internationale Zeitschrift zur Theorie der Architektur 19, Heft 33 (2014), S. 213–235, hier S. 212. 13 | In der Ausbauphase der Hochschulen waren Professuren ohne Habilitation um 1970 keine Seltenheit. Die im Nationalsozialismus geborenen Jahrgänge hatten, sofern es sich um Männer handelte, die Gnade der späten Geburt, während sich die Situation für die geburtenstarken Jahrgänge in der Zeit der auch demografisch legitimierten Universitätsgründungen bereits gedreht hatte. Die Jahrgänge des Wirtschaftswunders lernten die neuen Hochschulen als Massenuniversitäten weit über die geplanten Aufnahmekapazitäten hinaus kennen und waren einem starken Konkurrenzdruck in der akademischen Karriere ausgesetzt. Daran hat sich nichts verbessert. Mit jedem Ausbau ging eine relative Verknappung der Studienplätze und akademischen Stellen einher. 14 | Die Wahrnehmung von 1970 war eine andere. Die Tatsache, dass an der Ruhr-Universität wenige Jahre nach der Aufnahme des Lehrbetriebs der Anteil an Arbeiterkinder unter den Studierenden sich mehr als verdoppelte (Anstieg von 6 % auf 13 %), wurde als großer bildungspolitischer Erfolg gewertet; vgl. H. Linde: Hochschulplanung, Bd. 4, S. 75. 15 | Dieser Aufsatz befasst sich nur mit dem Neubauten von Universitäten und Gesamthochschulen (die sich heute alle Universitäten nennen) mit mindestens zwei Fakultäten. Nicht thematisiert werden die Bauten spezialisierter Studieneinrichtungen öffentlicher, privater oder

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konfessioneller Art mit Promotionsrecht (Pädagogische, theologische oder Wirtschaftshochschulen, Sport-, Kunst-, Musikhochschulen oder Verwaltungs-, Bundeswehr- und Polizeihochschulen), ebenso nicht die heute Hochschulen genannten früheren Fachhochschulen ohne Promotionsrecht. 16 | Die Industrialisierung der Region hatte keinen entsprechenden Ausbau der Bildungslandschaft zur Folge. In dem am dichtesten besiedelten Gebiet Deutschlands, wo zwischen Mönchengladbach und Dortmund 1960 über 8 Millionen Menschen lebten, bestand vor der Ruhr-Universität keine Universität. Nicht zufällig fielen die Beschlüsse erst nach den ersten Krisen der Montanindustrie. 17 | Z. B. beträgt in Düsseldorf die Zahl der Studierenden 35.000 (angenommen wurden hingegen 6.000), in Bochum 43.000 (gegenüber 10.000), in Bielefeld 25.000 (gegenüber 3.600). Die damals schon als sparsam kalkulierten Räume reichen schon lange nicht mehr aus, auch nachdem „Sozialräume“ für Studierende in Unterrichts- und Institutsräume umgewandelt wurden. 18 | Die Relation von 78 Studierenden je hauptamtlicher Professur (gegenüber etwa 41 in Thüringen) liegt weit über dem selbst schon wenig stolzen Bundesdurchschnitt von 60. In den Zahlen des Wissenschaftsministeriums, die den Wissenschaftsstandort NRW als den besten in Deutschland anpreisen, wird diese Evidenz verschwiegen; vgl.https://www.mkw.nrw/fileadmin/Medien/Dokumente/Zahlen__ Daten__Fakten_Wissenschaft_in_NRW.pdf, 10.03.2019. Der Anteil der Universitätsstudierenden ist in NRW 1,36 Mal höher als im Bundesdurchschnitt. Noch deutlicher ist die Situation an den Neugründungen. Etwa 53% aller Studierenden, die auf dem Territorium der alten BRD an einer der neugegründeten Universitäten studieren, sind in NRW eingeschrieben. Aktuell sind an NRW-Universitäten etwa 500.000 Studierende eingeschrieben, doppelt so viel wie in Bayern auf Platz zwei. Dabei ist der Anteil der Studierenden an der Bevölkerung der höchste unter den bundesdeutschen Flächenstaaten. In NRW sind mehr Studierende eingeschrieben als in Niedersachen, Sachsen, Rheinland-Pfalz, Hamburg, Brandenburg, Thüringen, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vor-

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pommern, Sachsen-Anhalt, Bremen und Saarland zusammen, in denen knapp 38 % der bundesdeutschen Bevölkerung leben. 19 | Zu nennen sind etwa Otto Bartning, Hans Scharoun, Rudolf Schwarz, Hans Schwippert, Bernhard Pfau, Egon Eiermann, Sep Ruf, Johannes Krahn, Paul Schneider Esleben, Josef Lehmbrock, Gottfried Böhm, Harald Deilmann, Werner Ruhnau, Hans Schilling, Oswald Mathias Ungers, Joachim Schürmann, obwohl viele von ihnen an Kunst- oder Technischen Hochschulen lehrten. 20 | von Dohnanyi, Klaus: „Eine Konzeption für den Universitätsbau I“, in: Bauwelt 63, Heft 5 (1972), S. 182–184, hier S. 182. 21 | H. Linde: Hochschulplanung, Bd. 1, S. 4, spricht davon, dass „der Begriff des Planenden ausgeweitet wurde vom Hochbau- und Städtebauplaner auf Fachleute der Struktur-, Bedarfs- und Betriebsplanung“, und, ebd., S. 5, von der „Ausweitung des Planungsbedarfs von der Bauplanung auf die Struktur- und Bedarfsplanung“, die auch einen erhöhten Theoriebedarf einschließt. 22 | Joch, Robert K.: „Vergleichende Untersuchung von Universitätsbausystemen“, in: Information 7, Heft 29 (1974), S. 73–79; ders.: Bausysteme im Hochschulbau. Bericht über den Verlauf der Untersuchung, in: Information 9, Heft 33 (1976), S. 38–40; Bouché, Reinhard (u.  a.): „Bausysteme im Hochschulbau – Institutsbauten. Auswertung der Datenerhebung für die Bereiche Planung, allgemeine Gebäudeangaben, Flächen- und Raummaße und Maßkoordination“, in: Information 10, Heft 36 (1977), S. 11–15; Staatliche Hochbauverwaltung des Landes Baden-Württemberg, Planungsgruppe für Institutsbau (Hg.): Standardisierung im Hochschulbau. 2. Bericht der Planungsgruppe für Institutsbau, Karlsruhe 1969; H. Linde: Hochschulplanung, Bd.3, Kapitel Standardisierung, S. 121–225; Länderarbeitsgemeinschaft Hochbau (Hg.): „Empfehlungen zur Standardisierung im Hochschulbau“, in: Information 13, Heft 40 (1980). 23 | H. Linde: Hochschulplanung, Bd. 1, S. 113. Die Empfehlungen des Wissenschaftsrates zum Ausbau der wissenschaftlichen Einrichtungen waren in allererster Linie an den kostenintensiven Bedarfen der Naturund Ingenieurwissenschaften ausgerichtet. Die in diesen Fächern zu-

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nehmende und zunehmend zum Problem werdende Spezialisierung wurde, während die Geisteswissenschaften universaler ausgerichtet blieben, zum Ausgangspunkt für Reformen, deren Rhetorik die Geisteswissenschaften trotz anderer Bedingungen in Forschung und Lehre übernahmen. Systemtheoretisch geschult, wissen sie, dass die Adaption hegemonialer Begriffe in der Wissenschaftsförderung Vorteile verschafft. In den science studies war und ist es hingegen eher üblich, die Naturwissenschaften zu historisieren als die Abhängigkeit der Geisteswissenschaften von naturwissenschaftlichen Modellen, Diskursen und Leitbegriffen. 24 | Ebd., S. 114. 25 | Ebd., S. 112, machte mit Verweis auf entsprechende Studien das hierarchische System der Universitäten und ihre Laufbahnplanung dafür verantwortlich, dass viele Nachwuchskräfte in die Wirtschaft und/oder ins Ausland abwanderten, und nicht die seither noch verschärfte Situation eines langen, entbehrungsreichen und doch unsicheren Qualifikationsdurchlaufs bei geringerem Lohn. 26 | Gemeint war damit (ebd., S. 114) „die Beschränkung auf einige große Fächergruppen, deren Auswahl und Zusammensetzung durch ein übergeordnetes Thema oder durch einen regionalen Betrachtungsbereich“ erfolgt. Helmut Schelskys Forderung nach Zusammenarbeit naher Universitäten zielte in dieselbe Richtung; vgl. Mikat, Paul/Schelsky, Helmut: Grundzüge einer neuen Universität. Zur Planung einer Hochschulgründung in Ostwestfalen, Gütersloh: Bertelsmann 1966. 27 | H. Linde: Hochschulplanung, Bd. 1, S. 11. 28 | Ebd., S. 13. Demgegenüber wurden die „für die Forschung nachteiligen Fakultäts- und Institutsgrenzen“ (ebd. S. 114) mit ihren autonomen Ordinariaten als kontraproduktiv deklariert. 29 | Ebd., S. 8, 121–124. 30 | Ebd., S. 112. Der gesellschaftliche Bedarf wurde auch deswegen so stark gemacht, weil es wesentlich um die Lehrerausbildung ging. 31 | In den USA spricht man mittlerweile von „presentism“. Das Wort ist kritischer perspektiviert als ‚Präsentismus‘ im Deutschen, da es nicht nur um die Sicht einer „aktuellen Forschung“ auf die Vergangenheit geht, sondern um den Bedeutungsverlust historischer Geisteswissen-

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schaften gegenüber Disziplinen mit Gegenständen der Gegenwart. Vgl. https://www.historians.org/publications-and-directories/perspectives -on-history/may-2002/against-presentism, 20.01.2018. 32 | H. Linde: Hochschulplanung, Bd.1, S. 112. 33 | Die neoliberale Ablehnung brutalistischer Architektur produziert ihre eigenen Ironien. An der Heinrich-Heine-Universität wurden an den brutalistischen Gebäuden Anschlussstellen für den Weiterbau vorgehalten, die nicht genutzt werden, während das als eleganter Solitär geplante und die Ensemblewirkung empfindlich störende „Oeconomicum“ wegen seiner dysfunktionalen Relation von (wenig) Nutz- und (großen) Verkehrsflächen erweitert wurde. 34 | Vgl. dazu den Beitrag von Christof Baier in diesem Band. 35 | Das Plädoyer von H. Linde: Hochschulplanung, Bd. 4, S. 57, für einen Campus impliziert, dass die Unterbringung der Institute in Häusern, die über die Stadt verstreut sind, den neuen Erfordernissen von Forschung und Lehre nicht mehr gerecht werden. 36 | Minta, Anna: „Hochschulkonzepte und Campusarchitekturen in den USA“, in: Richard Hoppe-Sailer/ Cornelia Jöchner/Frank Schmitz (Hg.), Ruhr-Universität Bochum. Architekturvision der Nachkriegsmoderne, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2015, S. 111–117. 37 | Die Kritik erfolgte insbesondere auf den beiden letzten CIAM-Tagungen in Dubrovnik und vor allem Otterlo; vgl. Newman, Oscar: CIAM ’59 in Otterlo. Arbeitsgruppe für die Gestaltung soziologischer und visueller Zusammenhänge (Dokumente der Modernen Architektur Bd. 1, hrsg. von Jürgen Joedicke), Stuttgart: Karl Krämer Verlag 1961. Die dort präsentierten Architektur- und Stadtplanungstheorien und -konzepte wurden auch für den kurz danach einsetzenden Universitätsbau in Deutschland wichtig. So spricht H. Linde: Hochschulplanung, Bd. 4, S. 51, etwa davon, dass „möglichst viele Einrichtungen so zu lokalisieren [sind], daß sie sowohl von der Hochschul- als auch der Stadtbevölkerung genutzt werden können. Auf diese Weise sollen Gefahren einer ideellen und räumlichen Grenze zwischen beiden beseitigt und Kommunikationschancen angeboten werden. […] Die Lage von Sozial-, Kultur-, Lehrund Forschungseinrichtungen sowie Wohn- und Erholungsgebieten sollte daher funktionelle Verflechtungen zwischen Hochschule und

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Stadt, etwa in einer stadträumlichen ‚Verflechtungszone‘, zulassen.“ Die Wirklichkeit sieht meist anders aus. 38 | Die wichtigsten Ansätze zum zeitgenössischen Universitätsbau in den USA und in England (aber auch Frankreich, Skandinavien und Niederlande) planten nicht in Dimensionen, die sich aus dem deutschen Universitätssystem ergaben. Vgl. Muthesius, Stephan: The Postwar Universities. Utopianist Campus and College, New Haven-London: Yale University Press 2001. 39 | Vgl. auch H. Linde: Hochschulplanung, Bd. 4, S. 51. 40 | So lautet die deutsche Übersetzung von „to develop an esthetic appropriate to a mechanized building technique and a mechanized scale of operation“ (Smithson, Alison und Peter: „London Roads Study“, in O. Newman: CHIAM ’59, S. 73–78, hier S. 73), in dem Beiheft: Deutsche Übersetzung. 41 | Architektonisches Denken nahm nun die funktionalistische und ästhetikskeptische Theorie beim Wort und strebte eine Vollendung der moralisierenden Moderne aus dem Geist der als Wahrheit begriffenen Funktionsgerechtigkeit an, als schlössen sich Schönheit und Wahrheit aus. So schreibt etwa Posener, Julius: „Architektur in der industriellen Welt“, in: Ulrich Weisner (Hg.), Bauen in der Industriellen Welt. Eine Dokumentation zur Architektur der Universität Bielefeld (Ausstellungskatalog Kunsthalle Bielefeld), Bielefeld 1975, S. 15–17, hier S. 16, im Zusammenhang mit der Universität Bielefeld: „Es wurde auf das verzichtet, was man gemeinhin Gestaltung nennt und was oft auf eine Verschleierung hinausläuft: eine Art Kosmetik.“ 42 | Neubauensembles deutscher Universitäten konnten sein: 1) die Erweiterung wie in Köln oder in Frankfurt am Main (sie finden in der Forschung kaum Beachtung); 2) die Erweiterung alter Universitäten durch Neubauten auf einem entfernten Campus, mit dem das Areal oft um ein Vielfaches übertroffen wurde. Hierbei wurden nur Marburg und Stuttgart beachtet, es trifft aber auf fast alle alten Universitäten zu, darunter mit bemerkenswerten Lösungen etwa in Darmstadt/Bau der Architekturfakultät, Braunschweig/Physikalische und Pharmazeutische Institute, Münster/Bauten von Werner Lehmann für die Anorganische Chemie und die Angewandte Physik; Würzburg/ Bibliothek und Mensa

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von Alexander von Branca; 3) neue Universitäten als Campusuniversitäten, die in der Forschung bei Weitem dominieren. 43 | Linde war beteiligt an Neubauten der Universitäten in Freiburg, Karlsruhe, Konstanz, Mannheim, Stuttgart, Tübingen und Ulm. Seine Perspektive ist auf der Basis des Jahres 1969 nachvollziehbar. Wenn aber S. Muthesius: Postwar Universities u. a. trotz eines gestiegenen Schrifttums auf Lindes Auswahl rekurriert und sie dadurch erst zu einem Kanon macht, wird eine differenzierte Würdigung verfehlt. Als gelungene Ensembles, bei denen mitunter kritisch auf die Anfänge reagiert wurde, seien genannt: Bayreuth, Eichstätt, Würzburg, Augsburg, Trier, Bremen, Kiel. Der auf Megastrukturen genormte Blick führte zudem dazu, dass eine Reihe teils guter Einzelbauten vor/um 1960 (etwa in Stuttgart, Saarbrücken, Freiburg, Berlin, Köln) kaum wahrgenommen wurden. 44 | Zu nennen sind insbesondere S. Hnilica: Systeme und Strukturen; Hnilica, Sonja/Jager, Markus: „Die Universitäten im Ruhrgebiet. Hochschulbau zwischen Reform- und Massenuniversität“, in: R. Hoppe-Sailer/ C. Jöchner/F. Schmitz: Ruhr-Universität Bochum, S. 99–110; dies.: „Competing Building Systems: Post- War University Architecture in the Ruhr Area“, in: Robert Carvais u.a. (Hg.), Nuts & Bolts of Construction History. Culture, Technology and Society, Paris: Picard 2012, S. 463-470. Sie sprechen von vier „Schwestern“ bei den Universitäten des Ruhrgebiets. Der Begriff ist topografisch, konzeptionell und formal-ästhetisch problematisch. Schwestern wären die Gesamthochschulen Essen, Wuppertal, Siegen und Paderborn sowie das Hauptgebäude in Hagen konzeptionell und ästhetisch. Gestalterisch zu einem größeren Teil auch Dortmund, Duisburg gehört nur mit einem Bau dazu, der gerade am wenigsten das Gesicht des Campus prägt. Die Universität in Düsseldorf – die Stadt wurde einst „Schreibtisch des Ruhrgebiets“ genannt – wiederum ist ohne Bochum nicht denkbar. ‚Ruhrgebiet‘ ist eher eine mentale Topografie, die auf der politisch-administrativen Ebene zu zwei Landesteilen und drei Bezirken gehört. 45 | Schneider, Kurt u. a.: „Ein Bausystem für Hochschulinstitute. Universitätsbau in Marburg“, in: Bauwelt 55 (1964), S. 841–863; Universität Marburg: Marburger Bausystem, Marburg 1971; Fritzsche, Werner u. a.: Universitätsbauten in Marburg 1945–80. Baugeschichte und Liegen-

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schaften der Philipps-Universität (Schriften der Universitätsbibliothek Marburg 116), Marburg 2003; Langenberg, Silke: „Suche nach Systemen. Hochschulbau in der Bundesrepublik (1960–1980)“, in: Uta Hassler/ Catherine Dumont d’Ayot (Hg.), Bauten der Boomjahre, Paradoxien der Erhaltung, Gollion: Infolio éditions 2009, S. 164–181 und 309–313; dies.: Bauten der Boomjahre. Architektonische Konzepte und Planungstheorien der 60er und 70er Jahre, Dortmund: Wulff Verlag 22011; dies.: „Flexibilität und Zweckmäßigkeit. Das Marburger Bausystem“, in: Wolkenkuckucksheim 17 (2012), S. 76–85; dies.: „Marburger Bausystem – origines, modifications, histoire et avenir“, in: Franz Graf/Yvan Delomontey (Hg.), Architecture industrialisée et préfabriquée. Connaissance et sauvegarde, Lausanne: Presses polytechniques et universitaires romandes 2012, S. 208–213; dies. (Hg.), Offenheit als Prinzip. Das Marburger Bausystem, Sulgen: Niggli Verlag 2013; S. Hnilica: Systeme und Strukturen; Berkemann, Karin: „Das ‚Marburger Bausystem‘. Zum ersten Fertigteilkonzept im bundesdeutschen Hochschulbau“, in: Denkmalpflege und Kulturgeschichte 4 (2011), S. 14–21; Katharina Schaal (Hg.), Von mittelalterlichen Klöstern zu modernen Institutsgebäuden. Aus der Baugeschichte der Philipps-Universität Marburg, Münster-New York: Waxmann 2019. 46 | Marburger Bausystem 1971, S. 12. 47 | S. Hnilica: Systeme und Strukturen, S. 216; zu der Modularität vergleiche Odenthal, Julia: Andere Räume – Räume des Anderen. Die Rezeptionsgeschichte der japanischen Architektur in der deutschen und japanischen Kunst- und Architekturgeschichte, München: Iudicium Verlag 2015; zur Wahrnehmung der Bauten Tanges als typisch japanisch, vgl. die Diskussion in O. Newman: CIAM ’59, S. 182. 48 | „Wettbewerb Universität Bochum“, in: Bauwelt 54, Heft 19/20 (1963), S. 533–551; Der Minister für Landesplanung, Wohnungsbau und öffentliche Arbeiten des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Die Universität Bochum. Gesamtplanung, Stuttgart-Bern: Karl Krämer Verlag 1965; ders.: Die Ruhruniversität Bochum. Baudokumentation 1965, Düsseldorf: Werner-Verlag 1965; ders.: Die Ruhruniversität Bochum. Baudokumentation 1966, Düsseldorf: Werner-Verlag 1967; Grimm Tilemann (Hg.): Materialien zur Geschichte der Ruhr-Universität. Bauidee und Baugeschehen, Bochum: Gesellschaft der Freunde der Ruhr-Universität

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Bochum 1972; Hallauer, Friedolin: „Baugeschichte der Ruhr-Universität Bochum. Fakten und Wertungen nach 25 Jahren“, in: Universität und Politik. Festschrift zum 25-jährigen Bestehen der Ruhr-Universität Bochum. Bochum: Gesellschaft der Freunde der Ruhr-Universität Bochum 1990, S. 201–241; von Cube, Alexandra: Die Ruhr-Universität Bochum. Bauaufgabe – Baugeschichte – Baugedanke. Eine kunsthistorische Untersuchung, Diss. Bochum 1992; Stallmann, Hans: Euphorische Jahre. Gründung und Aufbau der Ruhr-Universität Bochum, Essen: Klartext 2004; R. Hoppe-Sailer/ C. Jöchner/F. Schmitz: Ruhr-Universität Bochum; Schmidtke, Oliver: „Die Architektur der Ruhr-Universität Bochum sowie der Universität Bielefeld und ihre Entsprechung im technokratischen Deutungsmuster von Wissenschaft“, in: Barbara Wolbring und Andreas Franzmann (Hg.), Zwischen Idee und Zweckorientierung. Vorbilder und Motive von Hochschulreformen seit 1945, Berlin: Akademie Verlag 2007, S. 137–182; S. Hnilica/M. Jager: Universitäten im Ruhrgebiet; Klein, Bruno: „Aufbruch und Krise. Die Ruhr-Universität Bochum“, in: Klaus Gereon Beuckers (Hg.), Architektur für Forschung und Lehre, Kiel: Ludwig Verlag 2010, S. 243–257. 49 | Vgl. B. Klein: Aufbruch und Krise, S. 251f. 50 | Ebd., S. 248, spricht davon, dass in gewisser Weise der Wettbewerbspreis auch an das außer Konkurrenz angetretene Staatshochbauamt ging. Und nach wie vor gilt: „Diese Eigentümlichkeit des Wettbewerbsund Planungsverlauf[s] ist nie ernsthaft problematisiert worden.“ (ebd. S. 250). Das gilt auch für Apfelbaum, Alexandra/ Schmitz, Frank: „Universitas durch Dichte. Der Ideenwettbewerb zur Ruhr-Universität 1962/63“, in: R. Hoppe-Sailer/ C. Jöchner/F. Schmitz: Ruhr-Universität Bochum, S. 59–77, die, S. 72, ebenso auf die Problematik hinweisen wie H. Stallmann: Euphorische Jahre, S. 152. 51 | Erben, Dietrich: „Konstruktivismus in Architektur, Politik und Wissenschaft“, in: R. Hoppe-Sailer/ C. Jöchner/F. Schmitz: Ruhr-Universität Bochum, S. 47–58, hier S. 48 mit Bezug auf: Empfehlungen zum Aufbau der Universität Bochum. Denkschrift des Gründungsausschusses, veröffentlicht vom Kulturministerium des Landes Nordrhein-Westfalen, Bochum 1962.

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52 | Zitiert nach D. Erben: Konstruktivismus, S. 48, der die entsprechende Passage aus dem Ausschreibungstext für den Ideenwettbewerb abdruckt. 53 | A. Cube: Ruhr-Universität Bochum, S. 123; Hentrich, Helmut: Bauzeit. Aufzeichnungen aus dem Leben eines Architekten, Düsseldorf: Droste 1995, äußerte sich zu diesem seinem größten Auftrag mit keinem Wort in seiner Autobiografie, worauf D. Erben: Konstruktivismus, S. 49, hingewiesen hat. 54 | Hitchcock, Henry Russell: HPP Bauten und Entwürfe, Düsseldorf-Wien: Econ 1973, S. XXI. Die deutsche Übersetzung mildert diese Kritik ab. 55 | B. Klein: Aufbruch und Krise, S. 244. 56 | Vgl. H. Stallmann: Euphorische Jahre, S. 159–170. 57 | Tange, Kenzo: „Tokyo City Hall, Kagawa Prefectural Office“, in: O. Newman: CIAM ’59 , S. 170–184, hier S. 178. Auch Walter Netsch übernahm für den Circle Campus in Chicago diese Zonierung. 58 | Vgl. K. Tange: Tokyo City Hall, S. 175. Die Ideen dafür sind schon in den 1920er-Jahren bei Le Corbusier und Ludwig Hilberseimer ausgeprägt, damals aber noch ohne jede empirische Not, sondern als Vision einer wunderbar mobilen Zukunft. Das „protecting the pedestrian’s rights“ ist Effekt eines damals sich formierenden Widerstands gegen die Beeinträchtigung von Fußgänger*innen durch das Auto, dem eine tiefere Zone zugewiesen wird. 59 | D. Erben: Konstruktivismus, S. 54. 60 | K. Tange: Tokyo City Hall, Die Publikation der Kongressakten von Otterloo liegt in einer für den Leser chaotisch anmutenden Form vor. Das Denken in Strukturen und Diagrammen führte offensichtlich dazu, dass beim Medientransfer die Erfordernisse für eine Vermittlung an Leser nicht mehr beherrscht werden. Auch hier zeigt sich, wie der Mangel an ästhetischem Bewusstsein dysfunktional wird. 61 | Strauß, Stephan: Eckhard Schulze-Fielitz und die Raumstadt. Diss., Dortmund 2005. 62 | A. and P. Smithson: London Roads Study, S. 73. Das Denken der Smithsons ist das optimistische Denken des auf massenhafte Saturierung zielenden – bzw. die Saturierungsgrenze immer wieder verschiebenden – späten Kapitalismus, des Wegwerf-Konsum-Kapitalismus, der

Das Strukturprinzip der allseitigen Verflechtung

im Auto den Fetisch schlechthin von Moderne sieht: „to make use of the possibilities offered by a ‚throw-away’ technology.“, S. 73; diesen Aspekt verharmlost die deutsche Übersetzung, die von „der auf maximalen Güterkonsum ausgerichteten Technologie“ spricht (Beiheft zu. S. 66–74). 63 | So lautete der Titel einer im Auftrag des Club of Rome erstellten Studie: Donella Meadows u. a. (Hg.), The Limits to Growth, New York: Universe Books 1972 (deutsch: Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1973). Die „limits to growth“ folgen den „patterns of growth“ anderthalb Jahrzehnte später, als man etwa in der „Energiekrise“ ein Bewusstsein für die limitierten „Rohstoffe“ zu entwickeln begann, auf die die metabolistischen Fantasien unabdingbar abgewiesen sind. 64 | H. Linde: Hochschulplanung, Bd.1, S. 46. 65 | Candilis und Woods gehörten zu dem von Le Corbusier im Rahmen der Unité d’Habitation in Marseille gegründeten Atelier des Batisseurs, dessen für Afrika zuständigen Bereich die beiden in Tanger und Casablanca leiteten; vgl. Tom: Another Modern. The Post-war Architecture and Urbanism of Candilis-Josic-Woods, Rotterdam: Nai, 2005. Zur FU Berlin vgl. Kiem, Karl: Die Freie Universität Berlin (1967–73). Hochschulbau, Team-X-Ideale und tektonische Phantasie, Weimar: VDG Verlag 2008. 66 | Zu nennen wären hier insbesondere die Forschungen von S. Hnilica: Systeme und Strukturen; zuletzt und ausführlich: Hnilica, Sonja: Der Glaube an das Große in der Architektur der Moderne. Großstrukturen der 1960er und 1970er Jahre, Zürich: Park Books 2018. 67 | Das Bekenntnis zur Komplexität der Systeme impliziert, dass architektonische Planung nicht mehr umfassend beherrschbar ist, sondern sich nur auf befristete Stabilisierungen einstellen kann und zugleich für neue Phänomene offengehalten werden muss. Die Bücher von H. Linde: Hochschulplanung sind selbst ein sprechender Beleg dafür. Ihnen gelingt es nicht, die vielen in diagrammatischen Kästen verteilten Themenfelder bzw. „Einzelbereiche“ homogenisierend zu koordinieren, weil sich der Gegenstand schon während seiner Bearbeitung verändert. H. Linde: Hochschulplanung, Bd. 1, S. 4 spricht daher von einem „Problembuch“ statt von einem „Rezeptbuch“. Sein Wort von der

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„Verringerung der zeitlichen Gültigkeit aller Aussagen im Struktur- und Bedarfsbereich“ (ebd., S. 11) gilt auch für die eigene Forschung, für die eine Neuauflage nur bei umfassender Überarbeitung möglich gewesen wäre. Ernst Neuferts Bauentwurfslehre, die auch für die Bauaufgabe Hochschule eine Grundlage für Normierung und Standardisierung war, erschien 2016 in der 41. Auflage. 68 | A. und P. Smithson: London Roads Study, S. 69. 69 | H. Linde: Hochschulplanung, Bd. 1, S. 11. Das Provisorische ist Teil der zeittypischen Rhetorik. Tatsächlich ist ein großer Teil des Raumprogramms weder anonym noch sonderlich befristet. 70 | Ebd., S. 13. Beim „Zeitalter der Information“ bezieht sich Linde auf Carl Friedrich von Weizsäckers dreiteilige Systematisierung der Geschichte (Zeitalter der Materie, der Energie, der Information). 71 | Ebd., S. 11: „Nötig ist die Möglichkeit zur ständigen Aufgabe früherer Bindungen und Festlegungen angesichts neuer Informationen.“ 72 | Ebd., S. 12 und 13. 73 | Ebd., S. 4; ebd., S. 77, argumentiert Linde gegen einen „festgelegten Endzustand“ wie bei den Universitäten in Albany und, S. 113, in Bochum. Sein Wort von einem „Zwischenzustand einer unbefristeten und ständig fortzusetzenden Arbeit“ (ebd. S. 4) betraf zwar sein Buch, gilt aber auch für seine Idee von Hochschule. 74 | Ebd., S. 13. Beim „Unplanbaren“ dürfte sich Linde auch auf Rudolf Schwarz, Von der Bebauung der Erde, Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1949, S. 225–244, bezogen haben. 75 | Ebd., S. 12. 76 | H. Linde: Hochschulplanung Bd. 4, S. 80. 77 | Burckhardt, Lucius/Förderer, Walter: Bauen ein Prozess, Teufen: Arthur Niggli Verlag 1968. Förderer entwarf die für den brutalistischen Hochschulbau wichtige Hochschule St. Gallen (1959–64). 78 | ‚Cluster‘ ist im heutigen Sprachgebrauch ein wenig strukturiertes Konglomerat, während das Wort bei den A. und P. Smithson: London Roads Study, S. 69, gegen die Planungshybris der Charta von Athen, ein Gebilde mit (einer eher zufälligen) Struktur ist, in der das Offene als Möglichkeitsbedingung für Prozessdynamiken enthalten ist, es ist „a pattern of association“, also ein bestimmtes Muster der Zusammen-

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kunft (es soll an die Stelle von Haus, Straße, Stadtteil, Stadt treten, die alle „patterns of association“ sind, wobei ‚association‘ nicht nur personal, sondern auch als nicht-personal mittels Medien gedacht wird). 79 | In Düsseldorf entzogen sich die Naturwissenschaften bezeichnenderweise dieser Kennzeichnung. Dort steht zusätzlich zu den Zahlen ‚Mathematik’ oder ‚Physik’ an den Gebäuden. Der Glaube an die absolute Ordnungsmacht von Zahlen war gerade in denjenigen Fächern schon längst erschüttert, aus denen man die systemischen Modelle zu beziehen glaubte. 80 | Insgesamt gibt es ein großes Spektrum, das von großer Regelmäßigkeit bis zu wenig strukturierten Clustern reicht. Letztlich gibt es so viele Campustypen, wie es Campusuniversitäten gibt. Die Bochumer Wettbewerbsbeiträge belegen die geringe Reichweite von Lindes Typologieansatz, der nicht auf die Typologie von Gebäuden, sondern von Bauensembles zielt, wie man sie von den auf wenige Grundmodelle reduzierbaren Stadttypologien der Urbanistik seit dem 19. Jahrhundert kennt (1. das konzentrische, gewachsene Modell; 2. das hippodamäische geometrische Raster; 3. Das lineare Modelle, gegebenenfalls mit sich kreuzenden Linien; 4. Kombinationen aus diesen Grundtypen). Die Modelle 1–3 sind selten rein ausgeprägt, sondern treten oft in Mischform auf (nicht anders ist es bei den Campusuniversitäten). Eine differenziertere typologische Ordnung, wie sie ein systemtheoretischer Definitionszwang präferiert, ist schon deswegen eine wenig zielführende Komplexitätsreduktion, weil die topografisch-morphologischen Bedingungen und die jeweiligen Bedingungen des Wachstums mit ihren spezifischen Schwerpunktsetzungen durch personale wie nichtpersonale Akteure zu unterschiedlich sind. Entsprechend emergieren individuelle Lösungen. 81 | Publiziert wurde der Entwurf in: „Ergebnis des Ideenwettbewerbs Universität Bremen“, in: Bauwelt 58, Heft 42/43 (1967), S. 1053–1075. Das Zitat stammt von den Architekten des Entwurfs: Szabo, Lyubo-Mir: „Anonyme Arbeitsgemeinschaft Testament“, in: Rolf Wedewer/Thomas Kempas (Hg.), Architektonische Spekulationen, Düsseldorf: Droste 1970 (ohne Paginierung). 82 | Bauwelt 58, S. 1062.

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83 | Zu Begriff und Kriterien von Postdemokratie vgl. Rancière, Jacques: „Demokratie und Postdemokratie“, in: Alain Badiou u.a. (Hg.), Politik der Wahrheit, Wien: Verlag Turia und Kant 1997, S. 94–122; Crouch, Colin: Postdemokratie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008. 84 | S. Hnilica: Systeme und Strukturen, S. 228. 85 | Hesse, Kurt: Planen und Bauen für die Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf in den Jahren 1964–1980, Manuskript im Besitz der Institut für Kunstgeschichte der Heinrich-Heine-Universität, S. 11. Zur Architektur- und Kunstgeschichte der Heinrich-Heine-Universität vgl. Wiener, Jürgen/Hülsen-Esch, Andrea von/Körner, Hans (Hg.): Campuskunst, Düsseldorf: Düsseldorf University Press 2014. 86 | Viele andere Universitäten hatten – Bielefeld vielleicht ausgenommen – ebenfalls keine stringenten Verläufe, bei denen am Ende herauskam, was anfangs beschlossen worden war. Im Falle Düsseldorfs war der Prozess jedoch besonders kompliziert. Einige der Akteure und Mikroprozesse in Düsseldorf sind: die Bildungspolitik im Kulturministerium; die Lage in der Stadt (Geschenk des Geländes, das für viel mehr als eine arrondierte Medizinische Fakultät geeignet war; Düsseldorf als Gartenstadt, Grundwasserfluss unter dem Gelände) und ihre infrastrukturellen Möglichkeiten und Defizite; ebenso die Lage in der Region; die sich ständig ändernden finanziellen, bautechnischen, produktionsstrukturellen, energetischen, ästhetischen und sozialen Rahmenbedingungen; auch die Unterteilung von NRW in Rheinland und Westfalen, die Industrialisierung und ihre Migrationsbewegungen, die Verteilung und Entwicklung der Bevölkerung vor/nach 1960; der wirtschaftliche Aufschwung bei der Integration in das von den USA dominierte westlich-kapitalistische Wirtschaftssystem; der steigende Bedarf an hochqualifizierten „Fachkräften“; der Zwang sich ideologisch gegenüber den sozialistischen Staaten zu beweisen; interne Widerstände (Ordinarienuniversität versus Abteilungsuniversität, medizinische Universität mit Anhang versus Universität mit einem Schwerpunkt auf Lehrer*innenausbildung, das wiederum ein breiteres Fächerspektrum voraussetzt), politische Widerstände auf der Makroebene (Streit zwischen Finanz- und Kultusministerium; Geldfluss bzw. Geizen mit Mitteln), die Eingliederung der Fachhochschule Düsseldorf und der Pädagogischen Akademie Neuss etc.

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87 | Bezeichnender- und paradoxerweise wurde das von Christoph Ingenhoven entworfene Oeconomicum, aufgrund seines Missverhältnisses von Verkehrs- zu Nutzfläche erweitert, während die erweiterbar konzipierten Bauten in ihren Ausdehnungen verbleiben. 88 | Gerade in diesen Punkten profitierte die Düsseldorfer Planung von den Forschungen an Lindes Institut; vgl. K. Hesse: Planen und Bauen, S. 10. 89 | Die Nutzung der ersten Gebäude als Verfügungszentrum orientierte sich an Bochum, wo die inzwischen abgerissenen Bauten A und B der I-Gruppe teilweise schon 1965 fertig waren. 90 | Die Mischung aus Raster, Cluster und Rückgratstruktur war in Düsseldorf früher ausgebildet als bei der von S. Muthesius: The Postwar Universites, in den Kanon aufgenommenen Universität Regensburg. 91 | Oettinger, Klaus/Weidhase, Helmut: Eine feste Burg der Wissenschaft, Neue Universität in einer alten Stadt Konstanz am Bodensee, Konstanz: Verlag Friedrich Stadler 1985; von Wolff, Wilhelm: „Das unbekannte Gesamte. Zur Baugeschichte der Universität Konstanz“, in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 128 (2010), S. 181–212; von Marlin, Constanze/Schmedding, Anne/ Reiter, Inka: Gebaute Reform. Architektur und Kunst am Bau der Universität Konstanz, München: Hirmer 2016. 92 | Erben, Dietrich: „Die Architektur der Universität Bielefeld“, in: Jürgen Büschenfeld/Bettina Brand/Andrea Preiver (Hg.), Wechselwirkungen. Bielefeld – Stadt mit Universität oder Universitätsstadt. Bielefeld: KunstSinn Verlag 2010, S. 12–20. 93 | Dies wirft die Frage auf, inwieweit diskursive Strukturen des Nationalsozialismus (Gemeinschaft, Kontrolle, Jugend, Arbeit für die große Idee, Ressentiments gegenüber einem liberalen Begriff von Forschungsautonomie etc.) die Konzepte der Reformuniversitäten beeinflussten. 94 | https://de.wikipedia.org/wiki/Universität_Bielefeld, 20.01.2018. 95 | Vgl. J. Posener: Architektur in der industriellen Welt. 96 | Storbeck, Dietrich: „Struktur und Baugestalt“, in: U. Weisner: Bauen in der Industriellen Welt, S. 11–13. 97 | S. Hnilica: Systeme und Strukturen, S. 225. Ihre Behauptung „Der Bau inszeniert und organisiert Kommunikation“ (ebd., S. 227) im Sinne

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Luhmanns Systemtheorie, die tatsächlich erst 15 Jahre nach dem Wettbewerb umfassend vorlag, ist eine ikonologische post-festum-Interpretation, die Texte braucht, damit sich Werke materialisieren können. Gerade das Konzept von dem „hochempfindlichen Kommunikationsprozess“ von Wissenschaft als „im Wesen nicht materielle Produktion“ (Grotemeyer, Peter: „Grußwort des Rektors der Universität zur Eröffnung der Ausstellung“, in: U. Weisner: Bauen in der Industriellen Welt, S. 7), wird durch die Masse an architektonischem Material konterkariert. Die „verblüffende Korrespondenz“ (ebd., S. 227) der vernetzten Architektur zu Luhmanns Systemtheorie ließe sich auch bei Krankenhäusern, Wohnsiedlungen, Verwaltungsbauten u.a. zeigen, gerade weil Architektursysteme lange vor Luhmann als verknüpfbare „patterns“ konzipiert wurden. 98 | Sie lauten etwa Obere Randbedingung, Untere Randbedingung, Gedankengang, Sequenz, Definition, Konsequenz, Synthese, Heuristik, Dynamik und Entwicklungsgang. 99 | Die Querverbindung von zwei Scheiben durch eine weitere Scheibe scheint im deutschen Hochhausbau von HPP für die Laboratoriumsbauten (1959–63) für BASF in Ludwigshafen entwickelt worden zu sein; vgl. H. R. Hitchcock: HPP Bauten und Entwürfe, S. 48f. 100 | Vgl. Braungart, Wolfgang: „„Epochale“ Architektur. Das Gebäude der Universität Bielefeld“, in: Sonja Asal/Stephan Schlak (Hg.), Was war Bielefeld? Eine ideengeschichtliche Nachfrage, Göttingen: Wallstein 2009, S. 36–63. 101 | Das System wurde auch bei Fachhochschulen eingesetzt, wie etwa beim Ingenieurwissenschaftlichen Zentrums (IWZ) der FH Köln. 102 | Lorf, Gunther: Planen und Bauen für die Universität Dortmund. 1964 bis 1993, Dortmund 1994; Langenberg, Silke: „Universität Dortmund – von der Maschinenbauschule zum neuen Hochschulmodell“, in: Geschichte im Westen 20 (2005), S. 74–88. 103 | Der Name hat sich mehrfach geändert: Die „Zentrale Planungsstelle zur Rationalisierung von Landesbauten Nordrhein-Westfalen“ (ZPL) wurde dann zum „Landesinstitut für Bauwesen und angewandte Bauschadensforschung“ (LBB) und schließlich zum „Landesinstitut für

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Bauwesen des Landes Nordrhein-Westfalen“ (LB); vgl. auch S. Hnilica/M. Jager, Universitäten im Ruhrgebiet S. 110. 104 | Die Versorgungskerne in Bochum wurden zunächst errichtet, bevor die präfabrizierten Decken um die Kerne herum zusammengesteckt wurden: vgl. Bochum. Gesamtplanung, S. 115. 105 | Eller, Fritz: „Gesamthochschule Duisburg“, in: Baumeister 1978, S.113–116. Nach dem System wurde das Gebäude LE zwischen UB und Bahntrasse errichtet. 106 | Dreiecksraster setzte das Büro HPP seit etwa 1960 sehr häufig ein vgl. H. R. Hitchcock: HPP Bauten und Entwürfe, passim. A. und P. Smithson: London Roads Study, S. 74 schlugen davor schon ein Dreieckraster diagrammatisch für das Verkehrssystem von London vor; ebenso die Kantine von Olivetti, die ebenfalls in Otterlo vorgestellt wurde (O. Newman: CIAM ’59, S. 98–101), und von HPP auch in anderer Hinsicht rezipiert wurde. 107 | H. Linde: Hochschulplanung, Bd. 4, S. 103f. Zur Visualisierung dieses Phänomens wurde auch ein eigener Plantypus entwickelt.

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„Begegnungsanreiz“ Freiraumplanung und Gartenkunst im Universitätsbau der 1960er und 1970er Jahre im Rheinland Christof Baier

Inmitten anschwellender Proteste an der University of California, Berkeley, sprang am 1. Oktober 1964 der Student Mario Savo auf das Dach eines Polizeiautos, in dem der gerade festgenommene ehemalige Student Jack Weinberg saß, und hielt eine spontane Rede. Über 30 Stunden wurde das von hunderten Studierenden eingekesselte Polizeiauto festgehalten. Dieser Vorfall gilt als Initialzündung für die „Free Speech Movement“. Der Ort dieses historischen Sprungs auf ein Polizeiauto war die Sproul Plaza, ein zentraler Platz der Universität, der in den nächsten Jahren Schauplatz zahlreicher Kundgebungen und Versammlungen werden sollte. Interessanterweise war dieser Platz erst zwei Jahre zuvor nach einer Neugestaltung eingeweiht worden. Nach einem Entwurf, den die Architekten Vernon DeMars, Donald Reay und Donald Hardison gemeinsam mit dem renommierten Landschaftsarchitekten Lawrence Halprin erarbeitet hatten, war dieser Platz als neuer zentraler Eingangsbereich des Universitätscampus realisiert worden. Alison Moore schrieb 2015 über Halprins Intentionen, „Sproul Plaza was designed to be a place for social interaction“; die folgenreichen Massenkundgebungen hätten auf dem neugestalteten Platz so öffentlich wie möglich „in front of the Sproul Hall administration building“ stattgefunden, „just as its designer had intended“.1 Selten ist das soziale und politische Potential des öffentlichen Raums der Universität im 20. Jahrhundert so markant sichtbar wie bei der Sproul Plaza – und selten lässt sich der Zusammenhang zwischen

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der Intention eines landschaftsarchitektonischen Entwurfs und der Nutzung eines Platzes so plakativ herausstellen. Dass der öffentliche Raum einer Universität in den 1960er und 1970er Jahren aber ein in vielerlei Hinsicht hochgradig aufgeladener Raum und damit eine nicht zuletzt politisch prekäre Planungsgröße war, dürfte allen, die in diesen Jahren einen Universitätsneubau oder gar eine Universitätsgründung planten, bewusst gewesen sein.

R eformuniversität

als landschaftsarchitektonische G estaltungsaufgabe An den Planungen der Universitätsneubauten der 1960er und 1970er Jahre waren zahlreiche führende Landschaftsarchitekten beteiligt. In den USA sei neben Halprin auf Thomas Church, Garret Eckbo, Dan Kiley oder Hideo Sasaki verwiesen. In der Bundesrepublik waren Hans Luz und Walter Rossow für die Freiräume der Universität Stuttgart verantwortlich, für Marburg Peter Latz sowie Günther Grzimek. In Köln gestaltete Gottfried Kühn über mehrere Jahrzehnte das Universitätsgrün und in Bonn war Heinrich Raderschall tätig.2 Die Freiräume der Universitäten in Bochum und Düsseldorf wurden nach Entwürfen von Georg Penker gestaltet. Auch ein Blick auf die 1969 eingereichten Wettbewerbsbeiträge zum Neubau der Universität Bielefeld zeigt mit Günther Grzimek, Gottfried und Anton Hansjakob oder Georg Penker die Beteiligung von Landschaftsarchitekten, die heute, in der Rückschau, als prägende Persönlichkeiten ihres Fachs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland gelten. Die Landschaftsarchitekten nahmen, so lässt sich konstatieren, in den 1960er und 1970er Jahren intensiv an der Ausgestaltung der neuen Bauaufgabe Universität teil.3 Interessant ist, dass in der offiziellen Bestandsaufnahme des Bielefelder Bauwettbewerbs der Landschaftsarchitekt Georg Penker als gleichberechtigter, wenn auch spezialisierter Entwurfsbearbeiter geführt wird.4 Tatsächlich war Penker 1969 ein ausgewiesener Fachmann

„Begegnungsanreiz“

für die Planung und Gestaltung der Freiräume umfassender Universitätsneubaukomplexe: Seit 1964/65 war er an den Planungen für die Universität Düsseldorf beteiligt. Gemeinsam mit dem Düsseldorfer Planungsteam (Friedhelm Sieben, Bernward von Chamier, W. Wiese, Kurt Hesse und Klaus Röhrs) hatten Georg und Rosemarie Penker bereits 1965/66 als Gartenarchitekten am Ideenwettbewerb für den Neubau der Universität Bremen teilgenommen und einen 2. Rang erreicht.5 1966 gewannen Georg und Rosemarie Penker den „Wettbewerb zur Entwicklung und landschaftlichen Planung des Erholungsschwerpunktes am geplanten Bochumer Stausee einschließlich des Geländes der Ruhr-Universität Bochum“. Durch die Realisierung der Universitätsfreiräume in Bochum und Düsseldorf sowie die Teilnahme an den Wettbewerben in Bielefeld und Bremen war Georg Penker zweifellos mit den zeitgenössischen Diskussionen um die Reformuniversität und ihre bauliche Gestalt bestens vertraut. Die Frei- und Grünflächen, die in den Verantwortungsbereich der Landschaftsarchitekten fielen, waren keineswegs nur schmückendes Beiwerk. Dies zeigte sich in Deutschland beispielsweise, als 1969 ein Wettbewerb zum Neubau der programmatisch maßgeblich von dem Soziologen Helmut Schelsky geprägten Reformuniversität Bielefeld durchgeführt wurde.6 In einem 1974 publizierten Beurteilungskonzept für die dabei angewandten Auswahlkriterien heißt es: „Die Universität Bielefeld ist als Reform-Universität konzipiert, wobei davon auszugehen ist, daß Reform die Öffnung und schrittweise Annäherung herkömmlicher Institutionen zu neuen, z. T. noch nicht völlig abgeklärten und bestimmten Strukturen bedeutet. Eine Reformuniversität kann daher keine dauerhafte Gliederung an ihren Anfang stellen und läßt auch von vornherein stets Änderungen und Auflösungen von Schwerpunkten und die Erweiterung um neue Schwerpunkte erwarten; sie muß vor allem auch in der Lage sein, neue Wege zu erproben, d. h. Experimente zu machen. Daher muß die bauliche Anlage gerade für eine Reformuniversität eine besonders große Flexibilität aufweisen, damit wünschenswerte Entwicklungen nicht durch eine zu starre Anlage behindert werden [...].“7

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Wie schwierig es war, eine Form für eine solche Reformuniversität zu finden, zeigte sich in dem heftigen Streit, der um den ersten Platz im Wettbewerb entbrannte. Auf Platz eins hatte das Preisgericht mit dem Entwurf von Klaus Köpke, Peter Kulka, Katte Töpper, Wolf Siepmann und Helmut Herzog eine Lösung gesetzt, die in äußerster Verdichtung und Kompaktheit zehn standardisierte Scheibenhochhäuser um eine zentrale Halle versammelte – in gewissem Sinne eine Fortschreibung des Bochumer Models. Auf Platz zwei kam der in vielem völlig konträre Entwurf von Joachim Bender, Gerhard Bense, Bernward von Chamier, Jörg Forßmann, Klaus Röhrs und Jan Wolter. Das Preisgericht lobte „eine Parkuniversität […] mit phantasievollen Massengliederungen, die in hohem Maße den Strukturbedingungen dieser Universität, aber auch dem Ort und der Landschaft gerecht wurden.“8 Auch wenn es schon 1967 massive Proteste der Bochumer Studierenden gegen „Universitätsbau-Monsterprojekte“ gegeben hatte,9 setzte sich in Bielefeld letztlich die Unterbringung der gesamten Universität in einem ähnlich hoch verdichteten Baukörper durch. Reformuniversität meinte für Bielefeld vor allem Interdisziplinarität, die programmatische Verknüpfung verschiedener Disziplinen. Als bauliches Äquivalent für die konzeptionellen Vorgaben, also die Forderung nach interfakultativer Kommunikation und Zusammenarbeit, Interdisziplinarität, Funktionalität und Flexibilität entschied sich die Jury schließlich für den Entwurf einer großen Halle. In der zweigeschossigen Halle sollten in Bielefeld Interdisziplinarität und Flexibilität in der tagtäglichen Begegnung generiert werden. Rückblickend konstatierte jedoch Dietrich Storbeck, der ab 1971 als Prorektor für „Struktur, Planung und Bauangelegenheiten“ der Bielefelder Universität die Gründungsphase intensiv erlebt und mitgestaltet hatte, auch wenn sich das Konzept der großen Halle für den Universitätsbetrieb als „äußerst tragfähig erwiesen habe“, sei doch der in der Realisierung des Gesamtkonzepts entstandene Mangel an sozialen Räumen, an Pausenräumen und studentischen Arbeitsplätzen der Grund dafür, dass sich Studierende in der großen Halle „weitgehend heimatlos“ fühlten.10 Offensichtlich haben der von der Architektur der Halle ausgeübte „Zwang zur Kommunikation“ und der dort sauber organisierte und klar struk-

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turierte „hochempfindliche Kommunikationsprozess“ doch nicht alle kommunikativen Bedürfnisse einer Universität bedienen können.11 In Bielefeld, Konstanz, Bochum, Regensburg, Marburg, Köln oder Düsseldorf war Reform einer der wichtigsten Begriffe in den Debatten um den Ausbau der bundesdeutschen Hochschullandschaft seit den späten 1950er Jahren. Neben neuen Zielen in der pädagogischen Ausbildung, neuen Bildungskonzepten und der stärkeren Einbeziehung der sozialen Ansprüche der Studierenden standen auch Reformen der Gesamtstruktur der Universitäten im Sinne einer neuartigen Vernetzung der Disziplinen im Fokus. Ganz wesentlich betraf diese Reformorientierung auch die baulichen Strukturen und die Frei- und Grünräume der neuen Universitäten. Zentrale Freiräume wie etwa der Forumsplatz der Ruhr-Universität Bochum sollten, so der für den Bochumer Bau hauptverantwortliche Ministerialdirigent Fridolin Hallauer 1965, „zum Hauptbegriff und zur kennzeichnenden Form der Bauidee: Kooperation und Begegnung“ ausgebaut werden.12 „Verflechtung“ war ein wichtiges Schlagwort auch für die Freiraumplanung.13 In Konstanz etwa entschied sich die federführende „Planungsgruppe für den Bau der Universität Konstanz“ für ein Baukonzept, welches „eine räumliche Verflechtung mit möglichst großem Begegnungsanreiz“ bot.14 Der Soziologe Peter Jokusch, der die „Hochschule als sozialen Ort“ und als Ort der sozialen Interaktion betrachtet wissen wollte, forderte diesbezüglich: „Ein Campus muss als Ganzes konzentriert sein, während die sozialen Räume dezentralisiert werden müssen.“15 Entsprechend entstanden in Konstanz in den Innenräumen, aber auch im Außenraum, etwa dem von Eugen Schneble 1972 geschaffenen Terrassenbereich des Forums, zahlreiche anspruchsvoll gestaltete Verweil- und Begegnungsorte, die man „Common Center“, „Rekreationsraum“ oder auch „Erfrischungsraum“ nannte. Stefan Muthesius betont, diese Räume seien „designed to encourage students to meet one another and that meant ‚spontaneous‘ and ‚less intensive [beiläufig]‘ kinds of meetings.“16 Zusammenfassend ergeben sich drei markante Fragestellungen. Erstens waren die seit den frühen 1960er Jahren in der Bundesrepublik in großem Maßstab erbauten Universitäten Orte, die in vielerlei Hinsicht

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– etwa bildungs- und sozialpolitisch oder auch architektonisch – in besonderem Maße im Fokus der Öffentlichkeit standen. Die Großprojekte sollten die bundesdeutsche Bildungslandschaft reformieren. Dabei wies man den baulichen Strukturen und insbesondere den Freiräumen eine große, durchaus aktive Rolle zu. Die Freiräume der Universitäten waren ein wesentlicher Teil der technischen, wissenschaftlichen, pädagogischen und sozialen Infrastruktur – sie waren Hauptorte der Bildungsreform. Häufig sollten die Freiräume jene Defizite ausgleichen, welche zwischen der propagierten „Universität als sozialem Raum“ und der gebauten Realität schnell sichtbar geworden waren. Zweitens können die Universitätsneubauten und ihre Freiräume mit dem Schlagwort der „Urbanität durch Dichte“ thematisiert werden.17 Maßstab und räumliches Organisationsmodel der Universitäten der Boomjahre lieferte die Städtebautheorie der Zeit. Der leitende Planer des Konstanzer Universitätsbaus Wilhelm von Wolff äußerte 1982 rückblickend, die Menschen sollten „durch die Universität wandern können wie in einer Altstadt, Plätze und Gassen sollte es geben für zwangloses Zusammenkommen, vielleicht Geheimnisvolles hier und dort, um Erwartungen zu wecken.“18 Auch Horst Linde, der einflussreiche Leiter des 1961 an der TH Stuttgart gegründeten Lehrstuhls für Hochschulplanung, sprach 1965 von einer „Stadt der Wissenschaften“ mit „kurzen Fußwegen“ und einer „vom Verkehr kaum berührten ‚Agora‘“.19 Dichte im Sinne des Schlagwortes von „Urbanität durch Dichte“ ist ein charakteristisches Kennzeichen der bundesdeutschen und westeuropäischen Universitätsbauten der 1960er und 1970er Jahre. Dichte meint dabei eine räumliche ebenso wie funktionale und nutzungsorientierte Dichte. Die Universitätsneubauten dieser Jahre haben ganz überwiegend eine solche stark verdichtete großmaßstäbliche Gebäudestruktur zum Ziel. Die Großstrukturen der Komplexbebauung etwa der Ruhr-Universität in Bochum erzeugen merkwürdige, außenliegende ‚Innenräume‘: öffentliche, teils aufwendig gestaltete Freiräume, die als dezidiert städtischer, urbaner Raum im Sinne der alten europäischen Stadt wahrgenommen und genutzt werden sollten. Die universitären Freiräume wurden als urbane Begegnungsräume verstanden, als Räume einer öffentlichen Kommunikation; Räume mit „Begegnungs-

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anreizen“,20 die Lehrende und Lernende zusammenführen, Fakultätsgrenzen überwinden und so Interdisziplinarität stiften und dennoch die Begegnungen regelhaft-steuerbar halten sollten. Schließlich spielen drittens die neuen Positionierungen der Kunst im öffentlichen Raum eine entscheidende Rolle. Minimal Art, Happening oder Land Art suchten seit den frühen 1960er Jahren, von den USA ausgehend, neue Materialien und vor allem neue Räume für Kunst. Die zeitgenössische Skulptur der 1960er Jahre konnte zum einen ausdrücklich ortsspezifisch sein, indem sie „Werk, Betrachter und Ort zu konkreten raumzeitlichen Situationen zusammenschließt“.21 Zum anderen aber nehmen raumbezogene Arbeiten dieser Jahre auch eine „Selbstverortung in einem diskursiven Feld“ vor. Rückblickend fasste Rosalind Krauss diese Entwicklung 1979 in die Idee der „Sculpture in Expanded Field“. Dabei meint „Expanded Field“ eben jene Bezüge zwischen der Skulptur und ihrem nicht-skulpturalen Umfeld, die auch vielen gartenkünstlerischen Freiraumprojekten der Zeit eigen sind. Das „erweiterte Feld“, in dem Skulptur agiert, beschreibt Krauss als Kraftfeld, welches „von der Opposition von Architektur und Landschaft“, von Kultur und Natur, von Gebautem und Ungebautem bestimmt wird. In eben diesem Kraftfeld, schwankend zwischen konkretem und diskursivem Ortsbezug, bewegt sich auch die Freiraumgestaltung einiger Universitätsneubauten in den 1960er und 1970er Jahren.

U niversität zu Köln – vom H ausgarten zur R aumplastik 22 Wie groß der Bruch zwischen Idee und Gestaltung eines universitären Freiraums in den 1950er und in den 1960er/1970er war, lässt sich exemplarisch an den Bauten der Universität zu Köln zeigen. Drei Bauprojekte sind dabei von Interesse: die Freiräume im und am Gebäudekomplex der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät, die Freiräume des sogenannten Uniforums am Albertus-Magnus-Platz und schließlich die Terrasse zwischen den Physikalischen und Chemischen Instituten.

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Freiräume der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät Zwischen 1954 und 1960 wurde nördlich des Hauptgebäudes der Universität zu Köln als erster großer Neubau nach 1945 das Gebäude für die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät errichtet. Der Bauplatz dieser für die Nachkriegsjahrzehnte der Bundesrepublik so bedeutenden Fakultät 23 lag zwischen Universitätsstraße und Grüngürtel. Der Entwurf für das WISO-Gebäude stammt von Wilhelm Riphahn, einem der renommiertesten Architekten der Zeit und Hauptvertreter der Architektur der Moderne und der Nachkriegsarchitektur im Rheinland. Die Grün- und Freiraumplanung wurde dem Landschaftsarchitekten Gottfried Kühn übertragen. Kühn war anschließend bis in die späten 1970er Jahre für die Gestaltung aller Freiflächen der Universität zu Köln verantwortlich. Riphahn nahm in seinem Entwurf die Bauflucht und zahlreiche Bauformen des Hauptgebäudes auf, entschied sich jedoch für den roten Ziegelstein als ästhetisch prägendes Material. Er teilte den Baukomplex in drei Baukörper: In einem quer zum Grüngürtel gestellten Scheibenhochhaus werden Institutsbüros und Seminarräume untergebracht. Nördlich davon steht frei ein großer polygonaler Hörsaal. Südlich nimmt ein um drei Höfe geordneter Flachbau – der „Seminarkomplex“ – die Bibliotheksräume und vor allem, zum Grüngürtel hin vortretend, drei weitere achteckige Hörsäle auf. Der Landschaftsarchitekt hatte die Aufgabe, die Parkplatzflächen nördlich des Gebäudes und entlang der Universitätsstraße, die Grenzflächen entlang und im Übergang zum Grüngürtel sowie die drei Innenhöfe (Brunnenhof, Rosengarten, Rhododendrongarten) zu gestalten. Während sich Kühn bei den Parkplätzen bemühte, die Dynamik des Autoverkehrs aufzugreifen, wählte er für die Grenzflächen am Grüngürtel und vor allem für die Innenhöfe eine Formensprache, die sich wie viele öffentliche Räume der Zeit an der Gestaltung des Hausgartens orientierte. (Abb. 1) Der nördlichste Hof etwa, der sogenannte Brunnenhof, weist neben den namensgebenden drei Brunnen ein zeittypisches unregelmäßiges Pflaster aus Naturstein in Polygonalverband

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Abbildung 1: Gottfried Kühn: Brunnenhof im WISO-Gebäude der Universität zu Köln, Pflanzplan, o. J. (wohl Nov. 1958).

Quelle: UdK Archiv, Sign. PL 3934.

sowie eine vergleichsweise reiche Bepflanzung mit Bäumen, Büschen und dutzenden Arten von Stauden und Polsterpflanzen auf.24 In dieser Form entsprach der aus den angrenzenden Räumen detailliert wahrnehmbare Brunnenhof dem Hausgarten der 1950er Jahre. Das ist zweifellos der architektonischen Vorgabe angemessen und erstaunlich repräsentativ. Auch in den übrigen Innenhöfen und den

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Grenzflächen zum Grüngürtel wurde ein erstaunlicher Reichtum an Pflanzen und Wegführungen inszeniert. Für ein Institutsgebäude einer Massenuniversität jedoch ist ein solcher, auf achtsame Nutzung, Pflanzenkenntnis und hohe gärtnerische Pflegebereitschaft setzender Gartenraum nicht wirklich optimal.

Uniforum Ende der 1950er Jahre war der Platzbedarf der Universität zu Köln so sehr gewachsen, dass umfangreiche Neubauten geplant werden mussten.25 Ins Auge fasste man das Areal direkt westlich des alten Hauptgebäudes. Hier gab es noch aus den Gründungsjahren der Universität einen quadratischen, von einer Platanenreihe umfangenen Rasenplatz direkt vor dem Eingang des Hauptgebäudes. Aus einem Wettbewerb für die Gestaltung des „Uniforums“ ging der Architekt Rolf Gutbrod als Sieger hervor. Gutbrod entwarf ein locker gruppiertes Ensemble von stark plastisch-monolithisch gestalteten Betonbauten für eine Bibliothek und ein Hörsaalgebäude. Städtebaulich mitgedacht war das spätere Philosophikum. Grundidee Gutbrods war es, in der Achse des Hauptzugangs zum Hauptgebäude über die tiefer gelegte Universitätsstraße hinweg, einen zentralen Platz („Uniforum“) zu etablieren, um den herum die neuen Bauten angeordnet werden sollten. Für die Gestaltung der Freiräume wurde ein zeittypisches Team gebildet. Neben den Architekten Rolf Gutbrod trat der Landschaftsarchitekt Gottfried Kühn – soweit ist das recht konventionell. Als Dritter im Bunde stieß ein damals noch wenig bekannter Künstler, der gerade 30-jährige Jürgen Hans Grümmer hinzu. Die Zusammensetzung dieses Teams und die Entscheidungsfreiheit und Offenheit seiner Arbeit am Freiraumkonzept des Uniforums sind eine eingehendere Untersuchung wert. Hier muss es genügen, die Unterschiede zu der gerade abgeschlossenen Realisierung der Grünflächen am WISO-Gebäude zu benennen. Künstler, Architekt und Landschaftsarchitekt konzipierten und realisierten ab Anfang der 1960er Jahre eine integrale Gestaltungsplanung des Kölner Universitätsgeländes zwischen dem Hauptgebäude mit dem, durch die teilweise Deckelung der Universitätsstraße erwei-

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Abbildung 2: Universität zu Köln, von Rolf Gutbrod, Gottfried Kühn und Jürgen Hans Grümmer gestalteter Freiraum zwischen Hörsaalgebäude und Bibliothek.

Fotografie: Christof Baier, Feb. 2017.

terten, Albertus-Magnus-Platz, den „hängenden Gärten“ entlang der tiefer gelegten Universitätsstraße, dem Hörsaalgebäude, der Universitätsbibliothek und den zugehörigen Freiräumen. Die Arbeit des Teams umfasst zum einen die von Grümmer dominierte Gestaltung der Bodenflächen mit aufwendigen Mosaikarbeiten und phantasiereich gestalteten Sitzmöglichkeiten, die sich vom Eingang des Hauptgebäudes über den Albertus-Magnus-Platz bis in den Eingangsbereich des Hörsaalgebäudes erstrecken.26 Wesentlicher Bestandteil des künstlerischen Konzepts Grümmers ist die Verschmelzung der Innen- und Außengestaltung zu einem Gesamtkunstwerk. Das ist vor allem am Hörsaalgebäude noch heute eindrucksvoll erlebbar. Zum anderen entstanden die wohl stärker von Kühn und den Vorgaben Gutbrods bestimmten Wasserflächen sowie die stark plastischen, asymmetrischen Pflanzflächen, die vom Hintereingang des Hörsaalgebäudes bis zur Universitätsbibliothek die Außengestaltung als Teil des

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Gesamtwerkes fortführen. (Abb. 2) Auch hier war die Korrespondenz mit der äußeren Fassadengestaltung und der Innengestaltung von Hörsaalgebäude und Universitätsbibliothek von besonderer Relevanz. Die massigen, asymmetrisch-skulptural wirkenden Betonbauten der brutalistischen Architektur, die frei im Raum angeordnet sind, stellten der Freiraumplanung am Kölner Uniforum in den 1960er Jahren eine anspruchsvolle Aufgabe. Kunst spielt bei der Gestaltung der Freiräume nun eine tragende Rolle. Künstlerisch gestaltete Flächen, Wände und Sitzgelegenheiten sollten das konzeptionell bei den neuen Universitäten so dringend gewünschte Aktivierungspotenzial steigern. Kunst sollte Aufenthalt, zufällige Begegnung und Kommunikation, kurz, alle positiven Eigenschaften der dichten Urbanität, stiften. Auch die Grünflächenplanung nach Entwürfen von Gottfried Kühn passt sich den neuen Bedingungen an. Sie besitzt eine gesteigerte skulpturale Ausdruckskraft, setzt auf einfachere, stärkere Formen und offenbart eine dramatisch reduzierte Pflanzenauswahl; so gibt es keine Stauden oder Polsterpflanzen mehr, sondern vor allem Bäume, Sträucher und Rasen.

Terrasse zwischen den Physikalischen und Chemischen Instituten Zwischen 1968 und 1975 wurden südlich des Hauptgebäudes, parallel zum Grüngürtel, die Gebäudekomplexe der Physikalischen und Chemischen Institute errichtet. Die Entwürfe stammten von Willy Kreuer. Es handelt sich um versetzt angeordnete Flachbauten, die sich, in der Achse leicht gegeneinander gedreht, unterschiedlich weit in den Grüngürtel hineinschieben. Durch ein locker schwingendes Wegenetz, ein leicht, aber deutlich wahrnehmbar bewegtes Bodenprofil und lockere Baumpflanzungen erzeugt Gottfried Kühn hier eine parkartig-landschaftliche Einbindung der Flachbauten in den Freiraum des Grüngürtels. Zwischen den beiden Institutsgebäuden ist, zum Grüngürtel hin, eine längliche Terrasse platziert. (Abb. 3) Schon in den frühesten erhal-

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Abbildung 3: Universität zu Köln, von Willy Kreuer entworfene Terrasse zwischen den Gebäuden der Chemischen und Physikalischen Institute, links der Innere Grüngürtel.

Fotografie: Christof Baier, Okt. 2019.

tenen Entwürfen von Willy Kreuer kommt diese abstrakt geschichtete Terrasse vor.27 Auffallend sind hier die stark plastischen, sperrig-abstrakten Formen sowie die Vielzahl der auf dieser Terrasse realisierten Sitzgelegenheiten. Wie am Albertus-Magnus-Platz dienen die Formen nicht nur der Markierung und Gestaltung der Übergangssituation zwischen der universitären Architektur und der Landschaft des Grüngürtels. Vielmehr sollte die Gestaltung wohl auch hier ein ‚informelles‘ Zusammenkommen der Studierenden und Lehrenden zwischen Arbeit, Studium und Freizeit provozieren, „Begegnungsanreize“ schaffen. Der auf der Terrasse geschaffene Ruheraum mit seinem belvedereartigen Ausblick in den hier zum Campusgrün umgedeuteten Freiraum des Grüngürtels soll Begegnung und Kommunikation stiften.

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P enkers U niversitätsplastiken in D üsseldorf 1966 hatten Georg und Rosemarie Penker den Wettbewerb für die Gestaltung der Freiräume der Ruhr-Universität Bochum gewonnen.28 Mit den Entwürfen hatten sie nach Aussage Georg Penkers auf die „Gigantomanie und der Kompromisslosigkeit des Bauwerks“ reagiert.29 In diese Richtung ging etwa zeitgleich auch die Kritik Raoul Hübners an dem Bochumer Universitätsbau. Hübner monierte 1967 vor allem das fehlende „kooperationale Konzept“: „Vom Mangel irgendeiner unterstützenden architektonischen Vorgabe her gesehen, entblättert sich die groß ausposaunte Kooperationsideologie als ein verlogenes Geschwätz.“30 Diesem zentralen Kritikpunkt stimmten noch im gleichen Jahr auch Mitglieder des Stuttgarter Lehrstuhls für Hochschulplanung und Entwerfen zu: „Raoul Hübner spricht von kommunikationshemmenden Monumentalbauten. ‚Es lohnt sich nicht, um die Bauten herumzugehen‘ – das ist ein ernster Vorwurf. Eine Hochschule ist mehr als ein Produktionsbetrieb. Auf den fatalen Zusammenhang zwischen gebauter Langeweile, fehlender bildnerischer und erlebnismäßiger Anregung und daraus möglicherweise folgender geistiger Leere hat Mitscherlich in seiner Streitschrift ‚Von der Unwirtlichkeit unserer Städte‘ hingewiesen.“31

Schließlich empfehlen die Fachleute eine soziologisch-empirische Untersuchung der „Zusammenhänge zwischen baulicher Gestalt und Gruppenbildung“. Indirekt wird so auch die immense Bedeutung einer anspruchsvollen Freiraumplanung unterstrichen. Ähnlich hatte ein namentlich nur mit den Initialen „sma“ benannter junger Architekt in der Studentenzeitung „Ruhr-reflexe“ mit Blick auf das 1967 noch unfertige Forum gefordert: „Neben den differenzierten Nützlichkeitserwägungen muß die emotionale Funktion berücksichtigt werden, die natürliche Kommunikation beinhaltet und

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die der Begegnung von Lehrenden und Lernenden, dem Leitbild ‚Interdisziplinärer Kooperation‘ den Ausgangs-, Mittel- und Höhepunkt bietet. Nur dann wird Dichte, Konzentration und Urbanität erlebt werden.“32

Rückblickend bestätigt Hans Jürgen Taurit, damals Gartenbauinspektor im Staatshochbauamt für die Universität Bochum, die Bedeutung dieser frühen Kritik für Penkers Konzept der Bochumer Freiraumgestaltung. Taurit schrieb 1970 über die „nüchterne industrielle Bauform der Universität“, die von der Grünplanung eine „künstlerische Aussage“ gefordert habe.33 Der kommunikationshemmenden Konzeption der Hochbauten begegnete die Freiraumplanung durch emotional wirksame, spezifisch künstlerische Mittel. Die „bildnerische[n] und erlebnismäßige[n] Anregung[en]“ der Landschaftsarchitektur sollten Kommunikation, sollten Kooperation stiften und so Grundfunktionen der Reformuniversität garantieren. In Bochum versuchten die Verantwortlichen, diesen Forderungen mit der Gestaltung des Forums, des von Penker entworfenen Querforum Ost und der Innenhöfe sowie durch „Kunst am Bau“ nachzukommen. Weitere Freiräume, die diesen Anforderungen entsprechend gestaltet wurden, finden sich in der Universität Konstanz mit Eugen Schnebles 1972 geschaffenem Terrassenbereich des Forums und der von Ladislav Minarik 1977–79 im südwestlichen Hof der Sozialwissenschaften in Auseinandersetzung mit der Land Art realisierten „landschaftsprägenden Außenraumgestaltung“.34 Im Sinne eines solchen „Begegnungsanreizes“ sowohl für Studierende und Lehrende der verschiedenen Disziplinen, als auch der Studierenden unter sich, des Verständnisses der Universität als sozialer Raum, stellen Georg Penkers plastische Freiraumgestaltungen auf dem Campus der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf eine eigenständige Lösung dar. Geplant wurden die Bauten und Freiräume der Düsseldorfer Universität ab 1964, realisiert wurden sie bis in die späten 1970er Jahre.35 Das Planungsteam unter der Leitung von Friedhelm Sieben vom Staatshochbauamt für die Universität Düsseldorf bestand aus Kurt

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Abbildung 4: Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, „urban gestalteter Fußgängerbereich“ mit geneigter Ebene und Gehen am Hang am Gebäude 23.01., Entwurf: Georg Penker um 1968.

Fotografie: Christof Baier, Sept. 2019.

Hesse, Georg Penker und anderen. Die einzelnen Baukomplexe wurden von verschiedenen Architekten und Architektengruppen entworfen. Früh im Planungsprozess fiel die Entscheidung, den Auto- vom Fußgängerverkehr zu trennen und als Haupterschließungsachse der Universität eine Fußgängerzone auszubilden. Die von Nord nach Süd führende Fußgängerachse durchzieht die in mehreren Clustern angeordneten Universitätsbauten – Penker nennt sie „urban gestalteter Fuß-

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Abbildung 5: Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, „Deich als eine[r] aus Klinkern geprägte[n] Großskulptur“ mit Blick auf Gebäude 23.01., rechts Gebäude 22.01., Entwurf: Georg Penker um 1968.

Fotografie: unbekannter Fotograf, um 1975, Archiv Georg Penker.

gängerbereich als Deich“.36 Auf Höhe der Bibliothek, wo einst das Universitätszentrum mit Audimax und Mensa geplant war, tritt eine zweite Querachse als „landschaftlich gestalteter Ostwestgrünzug“ hinzu. Das von Penker gewählte Material, der rote ‚rheinische‘ Ziegelstein, definiert mit seiner markanten Farbigkeit und seiner Pflasterstruktur bis heute eindeutig die Freiräume der Düsseldorfer Universität. Die Materialität und das kleinteilige Muster der Pflasterung sind in dem

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Umfeld der aus vorgefertigten Betonteilen montierten Universitätsbauten als deutliche Marker, als Zeichen für Urbanität und Dichte im Sinne der alten europäischen Stadt zu lesen. Ein weiteres Charakteristikum der universitären Freiräume ist bis heute ihre intensive, plastisch-künstlerisch wirkende Gestaltung. (Abb. 4) So scheint etwa den sich von der Mensa nach Süden bewegenden Studierenden, Lehrenden, Angestellten und Besuchern der gepflasterte Boden des Fußwegs plötzlich in Bewegung zu geraten – der Weg wird zur geneigten Ebene, Gleichgewicht muss gesucht werden, ein Gehen wie an einem Hang wird erforderlich. Zwischen den klobigen, vom brutalistischen Charme des Schalungsbetons geprägten Kuben der Hörsaal- und Institutsgebäude scheint hier, in einem zentralen Bereich des Campus, der Boden zu schwanken, wegzurutschen. Von Westen betrachtet, erschließt sich an derselben Stelle eine weitere gestalterische Eigenart: Die oben so seltsam bewegte Fußgängerachse entpuppt sich aus dieser Perspektive als Krone eines etwa vier Meter hohen, gepflasterten ‚Deichs‘. Mit seiner sanft angeschwungenen Böschung, in welche Treppenläufe betont kunstvoll integriert sind, besitzt dieser ‚Deich‘ eine große plastische Ausdruckskraft. Penker spricht ausdrücklich von „artifiziell gestaltete[n] Klinkerböschungen“, von dem „Deich als eine[r] aus Klinkern geprägte[n] Großskulptur“.37 (Abb. 5) Von ähnlicher Prägnanz ist die Gestaltung einer Freiraum-Sequenz in der 1970 von Kurt Hesse und Hans-Walter Albien geplanten und bis 1975 realisierten Gebäudegruppe 26. Von Nord nach Süd zieht sich diese Sequenz durch fünf Innenhöfe. Der erste, nördliche Innenhof, der zum nördlich angrenzenden Freiraum offen ist, wird von einer rasenbedeckten Bodenskulptur geprägt, die in ihrer Ausrichtung und Form in die Sequenz einleitet, die Besucher hineinzieht. Diesem nördlichen Innenhof antwortet an der Südseite ein ebenso offener, ebenfalls von einer rasenbedeckten Bodenskulptur strukturierter, südlicher Innenhof. In den folgenden drei Innenhöfen realisierte Penker große ziegelsteinerne Plastiken. Die auffälligen gepflasterten Strukturen ziehen sich in einem Hof schneckenförmig zu einer Sitzbank zusammen und werfen sich gegenüber zu einem bastionsartigen Gebilde mit geneigten Pflasterflächen auf. (Abb. 6) In einem anderen Hof zieht sich die Ziegelsteinplastik wie eine einseitig ausgeschälte und mit Sitzstufen

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Abbildung 6: Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Innenhof im 26er-Gebäudekomplex (26.11./26.12.) mit den Ziegelsteinplastiken „Schnecke“ & „Bastion“, Entwurf: Georg Penker 1970.

Fotografie: Christof Baier, Nov. 2019.

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Abbildung 7: Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Innenhof im 26er-Gebäudekomplex (26.21./26.22.) mit Ziegelsteinplastik „Dünenlandschaft“, Entwurf: Georg Penker 1970.

Fotografie: Christof Baier, Nov. 2019.

versehene Düne durch den Hof – wiederum eine Gegenbewegung an der anderen Schmalseite provozierend. (Abb. 7) Immer betonen diese Gebilde das Plastische, das Künstlerische ihrer Formbildung. Penker nennt auch diese ziegelsteinernen Hofplastiken „artifiziell gestaltet“.38 Zu ihrer Wirkung trägt vor allem die Art und Weise bei, wie das eigentlich biedere, industriell gefertigte und genormte Material Ziegelstein in fein säuberlichem Verband zur künstlerischen Formung der Oberflächen dieser Bodenplastiken genutzt wurde. Im Gegenüber zu der in einem standardisierten Stützensystem mit leicht wirkenden Füllungen aufgelösten, seriellen Architektur, markieren die dezidiert künstlerischen, starken plastischen Formen dieser Innenhöfe Individualität. Die Individualität des konkreten Standorts – Düsseldorf am Niederrhein – ist damit ebenso gemeint, wie die Individualität der sich hier außerhalb

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Abbildung 8: Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, zentraler Bereich der Fußgängerzone zwischen Gebäudegruppen 25 und 26, Entwurf: Georg Penker 1970, Foto: unbekannter Fotograf, um 1975.

Archiv Georg Penker.

ihrer direkten Lern-, Lehr- und Forschungsumgebung der Massenuniversität zwanglos versammelnden Menschen.39 Die östlich parallel liegende Sequenz von Innenhöfen der 26er-Gebäudegruppe ist geprägt durch eine facettenreiche Wasserlandschaft. Hier sollen neben dem Zuschnitt und der differenzierten Bepflanzung der Wasserbecken auch die durch Engführung in Kanälen und einen kleinen Springstrahl einst provozierten Fließgeräusche die Fantasie anregen, zwanglosen Aufenthalt stiften. Ihren Höhepunkt erreichte die plastische Freiraumgestaltung einst im Zentrum der von Hörsälen flankierten, besonders „urban“ ausgebildeten Fußgängerachse zwischen den Gebäudegruppen 25 und 26. (Abb. 8) Der gestalterische Aufwand, der bei Anlage und Ausstattung der Freiflächen des Campus der Heinrich-Heine-Universität betrieben

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Abbildung 9: Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Platanengruppen am „Deich“.

Fotografie: Christof Baier, Nov. 2015.

wurde, zeigt sich entlang der als „urbane Fußgängerachse“ ausgebildeten Haupterschließungsachse auch an anderen Elementen, etwa an der Platane. Dieser für die Urbanität rheinischer Metropolen wie Köln, Bonn oder Düsseldorf so charakteristische Baum wird entlang der Achse gewissermaßen sprechend: Immer ist er in Reih und Glied gesetzt, mal in einfacher Reihe, mal in einfacher Alleeform, mal als Sechs-Form, wie wir sie vom Würfel kennen. Im Rahmen dieser typisch urban wirkenden, strengen Anordnung schafft lediglich die Kronenform markante Unterschiede. Platanen mit schirmartig geschnittenen Kronen, sogenannte Kopfplatanen, markieren Bereiche, die vornehmlich als Wegräume gedacht sind.40 Sie versuchen dort, inmitten des hektischen Massenbetriebs, zusammen mit dem Ziegelpflaster die sonntägliche Ruhe einer Uferpromenade zu stiften. (Abb. 9)

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Abbildung 10: Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Fußgängerzone zwischen Gebäudegruppen 25 und 26 während der Ausstellung Campus Beautiful (April/Mai 2019), rechts Malte Urbans Arbeit „Wall (000=XXX)“.

Fotografie: Christof Baier, April 2019.

Platanen mit unbeschnittener, sich frei entfaltender Krone hingegen markieren Aufenthaltsräume, also Orte, an denen man sich niederlassen, unterhalten und ausruhen kann. Im Ergebnis wird mit Blick auf das Spektrum an öffentlichen Räumen, das von engen Weg- und Straßenräumen bis zu weiten und offenen Freiflächen reicht, ein großes Angebot unterschiedlich definierter Aufenthalts- und Durchgangsräume deutlich. Auffällig ist die Vielzahl an offensichtlichen, sich gestalterisch oft geradezu aufdrängenden, aber auch verschwiegen-verborgenen Verweilmöglichkeiten, etwa die zahlreichen Sitzgelegenheiten, sei es auf den angeböschten Ziegelsteinmauern am Rand der Rasenflächen, auf den Brüstungsmauern des Deichs oder auf den mit Ziegelsteinen belegten oder mit Rasen bepflanzten Bodenplastiken.

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Die seltsamen, zunächst etwas befremdlichen Ziegelsteinplastiken und „Großskulpturen“ in den Freiräumen der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf sind letztlich zweierlei: Einerseits sind sie Zeugnisse eines Defizits. Die neuen Universitäten des Baubooms der 1960er und 1970er Jahre sind in der Realisierung keine sozialen Orte geworden. Dies wurde schon deutlich, bevor sie ganz fertiggestellt waren. Die Planungen Georg Penkers, die „Begegnungsanreize“ schaffen, die auf den Wegen und Plätzen der Universität „zwangloses Zusammenkommen“ dadurch provozieren sollten, dass sie „vielleicht Geheimnisvolles hier und dort, um Erwartungen zu wecken“ 41 implementierten, reagierten auf diesen früh empfundenen Mangel. Damit sind die so intensiv gestalteten Freiräume andererseits auch Zeugnisse einer Utopie. Penker versuchte in Düsseldorf, wie auch in Bochum, dem Defizit durch eine explizit verstandene „poetischen Gartenkunst“ zu begegnen. In einem Gespräch über seine Freiraumplanungen für die Ruhruniversität Bochum sagte Penker: „Gartenkunst impliziert nicht unbedingt Poesie. Poesie ist an die kleine Form gebunden. Großartige Parks z. B. mögen uns in Erstaunen versetzen, uns überwältigen. Poetisch sind sie nur bedingt. Als Beweis mag die Selbstvergessenheit der Menschen im poetischen Garten gelten, die in der Literatur oftmals beschrieben wurde. Poetische Gärten sind begehbare Kunstwerke. Werden wir beim Betrachten eines Gemäldes, einer Skulptur, einer Architektur selbstvergessen? Ich glaube nicht. Wir sind vielleicht erstaunt, auch hingerissen. In einem poetischen Garten jedoch können wir sehr wohl selbstvergessen sein. Zurück zur Gartenkunst. Wir sprechen von Garten KUNST, nicht von der Gartengestaltung von Zweckanlagen zum Gebrauch – Kunst ist immer ohne Zweck. Poesie, auch in der Gartengestaltung, ist unabdingbarer Teil des Menschseins und damit Notwendigkeit.“42

Das Implementieren einer solchen „poetischen Gartenkunst“ und einer durch diese ausgelösten „Selbstvergessenheit“ in einem so komplexen Gefüge wie einer Universität, ist riskant und auch heute noch provokativ. Das erwies sich in den letzten Jahren, als wir, Lehrende und Studierende des Instituts für Kunstgeschichte, an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, das Projekt Campus Beautiful realisierten.43 In dem

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Teilprojekt CampusKunst waren Studierende der Kunstakademie Düsseldorf eingeladen, die von Penker gestalteten Freiräume der Universität mit den Mitteln der Kunst zu befragen, zu interpretieren und zu aktivieren.44 (Abb. 10) Das Engagement der Studierenden, die Resonanz bei den Künstler*innen und die Reaktionen der Besucher*innen der Ausstellung zeigten das immer noch vorhandene Potential dieser Freiräume. Zu dem besonderen Zeugniswert tritt hier ein Aufforderungscharakter für die Zukunft: Die Bewahrung und Weiterentwicklung der von Georg Penker gestalteten, prägnanten Freiräume ist eine Aufgabe, die den künftigen Charakter der Universität maßgeblich positiv beeinflussen kann.

A nmerkungen 1 | Moore, Alison: Lawrence Halprin and the Plaza That Changed the World, 6.10.2015. (https://experiments.californiahistoricalsociety.org/ lawrence-halprin-and-the-plaza-that-changed-the-world/, 2.1.2020). 2 | Zu Gottfried Kühn siehe https://www.udk-berlin.de/universitaet/universitaetsarchiv/digitale-praesentationen/der-gartenarchitekt-gottfried-kuehn-und-sein-archiv/ (10.1.2020), sowie Bund Deutscher Garten- und Landschaftsarchitekten BDGA e.V. (Hg.): VIII. Kolloquium – Universitätsgrünplanung, 1970, S. 7–12. Hans Luz entwarf u. a. das „Grüne U“ in Stuttgart; Walter Rossow wurde als aktives Werkbund-Mitglied und z. B. durch die Grünplanung für den Deutsche Pavillon auf der Weltausstellung in Brüssel bekannt; Heinrich Raderschall entwarf in Bonn und Umgebung zahlreiches Siedlungsgrün und war für die Grünplanung für die Beethovenhalle in Bonn verantwortlich; Peter Latz wurde mit dem Landschaftspark Duisburg-Nord berühmt und Günther Grzimek schuf den Olympiapark München. 3 | Land Nordrhein-Westfalen (Auslober): Universität Bielefeld. Bauwettbewerb Ergebnisse, 1969. Darin: Günter Grzimek für die „Landschaftsgestaltung“ verantwortlich beim Entwurf von Jochen Brandi, S. 52; der „Garten- und Landschaftsarchitekt“ Rudolf Skribbe beteiligt am Entwurf von Harald Deilmann, S. 54; Gartenarchitekten Bayer und Wagenfeld bearbeiten die „Landschaftsgestaltung“ im Entwurf von Artur

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Hellat, S. 54; Gottfried Hansjakob arbeitet als Garten- und Landschaftsarchitekt am Entwurf von Egon Konrad und Reinh. Mähler, S. 56; Georg Penker am Entwurf von Bähr & Gansfort und Heinz Döhmen, S. 56. Als Fachberater gehört der „Dipl.-Gärtner“ Klaus Stärtzenbach dem Preisgericht an, S. 1. Siehe außerdem die Beiträge in: Garten + Landschaft, 1978, Heft 8 (Themenheft zu „Freiraumplanung an Hochschulen“, in Wuppertal, Duisburg, Aachen, Augsburg, Tübingen, Düsseldorf, Regenburg, Hohenheim, Forum Siegen). 4 | Mit seinen Wettbewerbspartnern Rolf Bähr und Karl Heinz Gansfort hatte Penker bereits in Bochum zusammengearbeitet, siehe Baier, Christof: „Universität und Ruhrlandschaft. Interview mit Georg Penker“ (Neuss, 29. August und 16. September 2014), in: Richard Hoppe-Sailer/ Cornelia Jöchner/Frank Schmitz (Hg.), Ruhr-Universität Bochum. Architekturvision der Nachkriegsmoderne, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2015, S. 211. 5 | Bauwelt 1967, Heft 42/43, S. 1057. 6 | Mälzer, Moritz: Auf der Suche nach der neuen Universität. Die Entstehung der Reformuniversitäten Konstanz und Bielefeld in den 1960er Jahren, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016. 7 | Zitiert nach: Schmidtke, Oliver: Die Architektur der Ruhr-Universität Bochum sowie der Universität Bielefeld und ihre Entsprechung im Deutungsmuster technokratischer Wissenschaft“, in: Andreas Franzmann/ Barbara Wolbrink (Hg.), Zwischen Idee und Zweckorientierung. Vorbilder und Motive von Hochschulreformen seit 1945 in Deutschland, Schriftenreihe „Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel“, Berlin: Akademie-Verlag 2007, S. 137–189, hier S. 166. 8 | M. Mälzer: Auf der Suche nach der neuen Universität, S. 370. 9 | Hübner, Raoul: „Der Irrationalismus mit der ‚Rationalität‘ in Bochum“. Zuerst veröffentlicht in Ruhr-Reflexe, der Zeitschrift der Studentenschaft an der Ruhr-Universität Bochum Heft 4/1967; dann in: Bauwelt 1967, H. 19, 461–464. Weitere anschließende Diskussionen zu dem Thema in den Heften 23 und 41 dieses Jahrgangs. 10 | Storbeck, Dietrich: „Neue Universität. Standort und Baustruktur. Erfahrungen aus dem Aufbau der Universität Bielefeld“, in: Günther Pflug/ Hansjochen Hancke (Hg.), Die neue Bibliothek. Festschrift für Harro

„Begegnungsanreiz“

Heim zum 65. Geburtstag, München: Saur 1984, S. 350, hier zitiert nach M. Mälzer: Auf der Suche nach der neuen Universität, S. 374f. 11 | Braungart, Wolfgang: ‚Epochale‘ Architektur. Das Gebäude der Universität Bielefeld, in: Sonja Asal/Sephan Schlak (Hg.): Was war Bielefeld? Eine ideengeschichtliche Nachfrage. Göttingen: Wallstein 2015. Zitiert nach: Hnilica, Sonja: „Systeme und Strukturen“. In: Wolkenkuckucksheim, Internationale Zeitschrift zur Theorie der Architektur. Vol. 19, Issue 33, 2014, S. 227, cloud-cuckoo.net/fileadmin/issues_en/issue_33/ article_hnilica.pdf (10.1.2020). 12 | Hallauer, Fridolin: „Die Bochumer Universitätsidee und einige Gedanken zu ihrer Verwirklichung“, in: Der Minister für Landesplanung, Wohnungsbau und öffentliche Arbeiten des Landes NRW (Hg.), Die Universität Bochum. Gesamtplanung, Stuttgart u. Bern: Krämer 1965, S. 15; hier zitiert nach Jöchner, Cornelia: „Wo Wege sich kreuzen. Die räumliche Logik des Bochumer Campus“, in: Richard Hoppe-Sailer/Cornelia Jöchner/Frank Schmitz (Hg.), Ruhr-Universität Bochum. Architekturvision der Nachkriegsmoderne, Berlin: Gebr. Mann 2015, S. 31–45, hier S. 40. 13 | Siehe den Beitrag von Jürgen Wiener in diesem Band. Zum „Verflechtungsmodell der RUB“ siehe C. Jöchner: Wo Wege sich kreuzen. 14 | Maier, Franz Georg: „Bauplanung einer neuen Universität“, in: Konstanzer Blätter für Hochschulfragen, 29 (1970), S. 9–12, hier S. 10. Zitiert nach M. Mälzer: Auf der Suche nach der neuen Universität, S. 361. 15 | Jokusch, Peter: „Die Hochschule als sozialer Ort“, in: Horst Linde (Hg.), Hochschulplanung. Beiträge zur Struktur- und Bauplanung, Düsseldorf: Werner-Verlag 1970 S. 82–86, hier zitiert nach Kieser, Clemens: „Stadt, Haus oder Insel? Die Universität Konstanz als gebaute Utopie“, in: Klaus Gereon Beuckers (Hg.), Architektur für Forschung und Lehre. Universität als Bauaufgabe, Kiel: Ludwig 2010, S. 259–280, hier, S. 268f. 16 | Zu den verwendeten Bezeichnungen der Verweil- und Begegnungsräume und dieses Zitat siehe Muthesius, Stefan: The Post-War University: Utopianist Campus and College, New Haven, Conn. [u. a.]: Yale Univ. Press 2000, S. 239. 17 | Siehe dazu allgemein Beckmann, Karen: „Urbanität durch Dichte? Geschichte und Gegenwart der Großwohnkomplexe der 1970er Jahre“, Bielefeld: transcript 2015; konkret bezogen auf den Universitätsbau

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siehe Apfelbaum, Alexandra/Schmitz, Frank: „Universitas durch Dichte. Der Ideenwettbewerb zur Ruhr-Universität 1962/63“, in: Richard Hoppe-Sailer/Cornelia Jöchner/Frank Schmitz (Hg.), Ruhr-Universität Bochum. Architekturvision der Nachkriegsmoderne, Berlin: Gebr. Mann 2015, S. 59–78. 18 | Wolff, Wilhelm von: Universitätsplanerei 1964–1970. Werkstattgespräch in Freiburg am 23. März 1982, masch. Manuskript, S. 6; hier zitiert nach: C. Kieser: Stadt, Haus oder Insel?, S. 259–280, hier S. 267. 19 | Linde, Horst: Gedanken eines Architekten zum Bau wissenschaftlicher Hochschulen. 1. Colloquium im April 1964, Stuttgart 1965, S. 22f., hier zitiert nach Kieser 2010, S. 268. 20 | Von Franz Georg Maier 1970 so benutztes Schlagwort der „Planungsgruppe für den Bau der Universität Konstanz“. Siehe M. Mälzer: Auf der Suche nach der neuen Universität, S. 361. 21 | Dies und die folgenden Zitate aus Lüthy, Michael: „Expanded Field/ Rosalind Krauss“, in: Brigitte Franzen/Kasper König/Carin Plath (Hg.), skulptur projekte münster 07, Köln: König 2007, S. 356f. 22 | Zum Begriff Raumplastik siehe: Trier, Eduard: „Raumplastik – Ein gelehrter Wahn?“, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, 23. Bd. (1993), S. 9–18. 23 | Mit Alfred Müller-Armack, Theodor Wessels oder Heinrich Rittershausen waren wichtige Akteure der von Konrad Adenauer und Ludwig Erhard praktizierten Wirtschaftspolitik an dieser Fakultät tätig. Siehe dazu Heimbüchel, Bernd: „Die neue Universität. Selbstverständnis, Idee und Verwirklichung“, in: ders./Klaus Pabst (Hg.), Kölner Universitätsgeschichte, Bd. 2 (Das 19. und 20. Jahrhundert), Köln/Wien: Böhlau 1988, S. 404–429; 443–468. 24 | Unter anderem: weidenblättrige Hängemispel (Cotoneaster salicifolius floccosus), geschlitztblättriger Silber-Ahorn (Acer ‚Wieri‘), runzelige Zwergmispel (Cotoneaster bullatus), Perückenstrauch (Cotinus coggygria), Prachtglocke (Enkianthus campanulatus), runzelblättriger Schneeball (Viburnum rhytidophyllum), Blüten-Hartriegel bzw. amerikanischer Blumen-Hartriegel (Cornus florida), Lorbeermispel, Zaubernuss (Hamamelis).

„Begegnungsanreiz“

25 | Das Gesamtkonzept früh formuliert in Wagner, Wolfgang: Neubauplanung der Universität zu Köln, Köln: Photostelle der Univ. 1959. 26 | In einer zweiten Planungs- und Bauphase wurde das Philosophikum nach Plänen des Staatshochbauamtes von 1971 bis 1973 errichtet und der Künstler J. H. Grümmer nach einem beschränkten künstlerischen Wettbewerb damit beauftragt, die davorliegende Außenfläche in die im ersten Bauabschnitt realisierte Gesamtkonzeption zu integrieren. 27 | Zahlreiche Entwurfszeichnungen von Willy Kreuer sind im Architekturmuseum der TU Berlin erhalten. 28 | Zu Penkers Freiraumplanung an der RUB siehe mein Interview mit Georg Penker (C. Baier: Universität und Ruhrlandschaft) und v.a. Wegmann, Thomas M.: „Naturnahe Gestaltung der Grünanlagen in den Querforen West und Ost der Ruhr-Universität Bochum durch den Gartenarchitekten Georg Penker“, in: Die Gartenkunst 28 (2016), Heft 2, S. 351–374. 29 | C. Baier: Universität und Ruhrlandschaft, S. 211. 30 | Hübner, Raoul: „Der Irrationalismus mit der ‚Rationalität‘ in Bochum“, in: Bauwelt 1967, Heft 19, S. 462. 31 | Aminde, Hans-Joachim/Conradi, Peter/Niermann, Manfred: „Zur Diskussion um die Ruhr-Universität Bochum“, in: Bauwelt 1967, Heft 41, S. 1013. 32 | Anonym (Initialen „sma“): „Die eigenen Leitbilder nicht erfüllt? Architekturkritische Reflexionen zur Gestaltung der Bochumer Universität“, in: Ruhr-Reflexe 4 (März/April) 1967, S. 15. (http://wirgruenderstudenten.de/wp-content/uploads/2015/06/Ruhr-reflexe_4_opt.pdf, 2.1.2020) 33 | Taurit, Hans Jürgen: „Grünplanung Ruhr-Universität Bochum“, in: Universitätsgrünplanung. BDGA. 8. Kolloquium, Bonn 1970, S. 15–22. 34 | Universität Konstanz (Hg.): Gebaute Reform: Architektur und Kunst am Bau der Universität Konstanz, München: Hirmer Verlag 2016, S. 162. 35 | Zur Architektur- und Kunstgeschichte der Heinrich-Heine-Universität vgl. Wiener, Jürgen/Hülsen-Esch, Andrea von/Körner, Hans (Hg.): Campuskunst, Düsseldorf: Düsseldorf University Press 2014; darin auch Fröhlich, Heike: „Georg Penkers Landschaftsgestaltung der Heinrich-Heine-Universität“, S. 263–329; siehe auch Baier, Christof: „Außen-

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anlagen des Campus der Heinrich-Heine-Universität, Bilk“, in: Christof Baier/Stefan Schweizer/Doris Törkel (Hg.), Gärten und Parks in Düsseldorf, Düsseldorf: Grupello Verlag 2017, S. 261–266. 36 | Dies und das Folgende aus Penker, Georg: Im Dialog mit der Natur. Landschaftsarchitektur seit 1960, Köln: Wienand 1997, S. 54. 37 | G. Penker: Im Dialog mit der Natur, S. 54. 38 | G. Penker: Im Dialog mit der Natur, S. 57. Die Bezeichnungen „Schnecke und Bastion“ und „Dünenlandschaft“ in den Bildunterschriften Abb. 6 & 7 sind nachträglich von mir gesetzt und sollen den Kunstwerkcharakter unterstreichen. 39 | Die östlich parallel liegende Sequenz von Innenhöfen des 26er-Gebäudes ist geprägt durch eine facettenreiche Wasserlandschaft, die es vermag, Emotionen zu erzeugen. 40 | Sichtbar auf den Abbildungen Abb. 4, 5, 9 und 10. 41 | Formulierung von Wilhelm von Wolff von 1982, siehe oben Anm. 18. 42 | Interview des Autors mit Georg Penker (Neuss, 29. August und 16. September 2014). 43 | Das von Gina Möller und mir im Rahmen eines Projektseminars initiierte und im Rahmen der „Bürgeruniversität“ von der Rektorin der HHU, Frau Prof. Dr. Steinbeck, geförderte Projekt Campus Beautiful bestand aus mehreren, von den Studierenden im Herbst 2018 und Frühjahr 2019 sehr eigenständig durchgeführten Teilprojekten. Siehe: https://www. campusbeautiful.de/, 11.1.2020. 44 | Katalog zu der im April/Mai 2019 durchgeführten Ausstellung: Campus Beautiful, hg. v. Paulina Menke, Maren Knapp Voith, Niklas Peine, Timm Schmitz; mit Beiträgen der Herausgeber*innen sowie von Christof Baier und den Künstler*innen Emil Walde, Philipp Boshart, Paul Budniewski, Dennis Wintermeyer, Eliza Ballesteros, Steffen Jopp, Philipp Nilles, Chris Pawlowski, Malte Urban, Sabrina Podemski und Jana Jess, Düsseldorf 2019.

Konzepte von Modernität 2: Zeigen

„Jeder Mensch ein Künstler“ „Naive Malerei“ in der Bonner Republik (1960er und 1970er Jahre) Hans Körner

I nseln

des

G lücks

11.130 Bilder, gemalt von Menschen der Bundesrepublik Deutschland, wurden 1972 für einen Wettbewerb eingereicht, den Ende 1971 das Museum in Hamburg-Altona zusammen mit der Zeitschrift Stern und der Hamburger Westbank AG ausgeschrieben hatte. Der Wettbewerb stand allen in Deutschland ansässigen Laien- und Sonntagsmaler*innen offen. Sie mussten das 18. Lebensjahr vollendet haben. Ihre Werke (die Technik blieb der freien Wahl überlassen) durften nicht größer als 1,20 auf 1,20 m sein, und sie mussten sich auf die Thematik „Schiffe + Häfen“ einlassen,1 eine ikonographische Spezifizierung, die dem Ausstellungs- und Sammlungsprofil des Hamburg-Altonaer Museums, sowie dem Sitz der Illustrierten Henri Nannens und der Bank entsprach. Einige wenige reichten ältere Arbeiten ein; die Mehrzahl der Teilnehmenden beteiligte sich mit Bildern, die in dem Vierteljahr vom Datum der Ausschreibung bis zum Termin der Einreichung entstanden. Im Vorfeld richtete sich der Wettbewerb sowohl an „akademisch orientierte Laienmaler“ als auch an die „naiven“. Unter den Preisträger*innen und den Ausgestellten spielten freilich nur die als „naiv“ angesehenen eine Rolle, da, wie die Ausrichter einleitend festhielten, unter den „Naiven“ „die qualitätsvollen bzw. originären Arbeiten überwogen“.2

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Abbildung 1: Landsiedel-Eicken, Rosemarie, Hamburg, 1972.

Schiffe + Häfen. Laienmaler zeigen ausgewählte Arbeiten aus dem „Wettbewerb deutscher Laien- und Sonntagsmaler“, veranstaltet von: Altonaer Museum in Hamburg, Stern-Magazin, Hamburg, Westbank AG, Hamburg, Hamburg 1972, S. 10.

100 Bilder wurden preisgekrönt; weitere 50 in die Ausstellung und in die den Wettbewerb dokumentierende Publikation mit aufgenommen. Den 1. Preis sprach die Jury Rosemarie Landsiedel-Eicken, einer in Kassel lebenden Musiklehrerin, für eine Ansicht des Hamburger Hafens zu. (Abb. 1) Da, wie eben zitiert, die Ausrichter des Wettbewerbs künstlerische Qualität und Originalität eher bei den „naiven“ Beiträgen sahen, wird Rosemarie Landsiedel-Eickens Hafenbild als „naives“ Gemälde klassifiziert worden sein. Was macht dieses Bild zu einem naiven Bild? Thomas Grochowiak, Künstler, Mitbegründer der Künstlergruppe „Junger Westen“, über zweieinhalb Jahrzehnte Direktor der Städtischen Museen in Recklinghausen und fast dreißig Jahre maßgeblich für die Ruhrfestspiele verantwortlich, hatte die „naive Malerei“ der

„Jeder Mensch ein Künstler“

Abbildung 2: Kloss, Maria, Großes Hafenbild, 1972.

Schiffe + Häfen. Laienmaler zeigen ausgewählte Arbeiten aus dem „Wettbewerb deutscher Laien- und Sonntagsmaler“, veranstaltet von: Altonaer Museum in Hamburg, Stern-Magazin, Hamburg, Westbank AG, Hamburg, Hamburg 1972, S. 11.

„Kumpels von der Ruhr“ ins Zentrum seiner kulturpolitischen Aktivitäten gestellt, als eine Möglichkeit, die aktuelle Kunst im Ruhrgebiet und das Ruhrgebiet insgesamt kulturell zu profilieren; er war also einschlägig. Im Wettbewerb Schiffe + Häfen übertrug man Thomas Grochowiak den Jury-Vorsitz. Sein Beitrag für den Katalog von Schiffe + Häfen nennt Kriterien, an denen man „naive“ Bildnerei erkennen könne: Grochowiak konstatierte das Fehlen der korrekten Perspektivkonstruktion, „maßstäbliche Unrichtigkeiten“, das Fehlen von Schatten und den Verzicht auf „anatomische Genauigkeit und Proportionen“, insgesamt eine persönliche „Handschrift, die oft eine gewisse Hilflosigkeit verrät“.3 Inhaltlich dominierten Bilder der Sehnsucht, bildliche Reisen in die verklärte Vergangenheit oder die „kleinen Freuden [...] im All-

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Abbildung 3: Hennecke, Dodo, Noahs Arche, 1959.

Schiffe + Häfen. Laienmaler zeigen ausgewählte Arbeiten aus dem „Wettbewerb deutscher Laien- und Sonntagsmaler“, veranstaltet von: Altonaer Museum in Hamburg, Stern-Magazin, Hamburg, Westbank AG, Hamburg, Hamburg 1972, S. 17.

tag“. „Sie sehen offenbar alles oder vieles wie mit den Augen glücklicher Kinder [...], unter deren Händen sich banale Alltäglichkeiten poetisch verklären und verwandeln.“4 Legt man diese Kriterien an das preisgekrönte Bild Rosemarie Landsiedel-Eickens an, erklärt sich das Urteil der Jury ohne weiteres: Gegenstände und Menschen im Bild werfen keine Schatten. Nur ungefähr berücksichtigte die „naive“ Malerin, dass Entfernteres im Gemälde kleiner erscheinen müsste. Die Möwen beispielsweise, die rechts oben von den im Ausflugsdampfer Stehenden angelockt werden, müssten, vergleicht man sie mit den im Bildvordergrund den wimpelgeschmückten Vergnügungsdampfer Betretenden, monströs groß sein.

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Abbildung 4: Fraßa, Lucie, Hafenstraße, 1972.

Schiffe + Häfen. Laienmaler zeigen ausgewählte Arbeiten aus dem „Wettbewerb deutscher Laien- und Sonntagsmaler“, veranstaltet von: Altonaer Museum in Hamburg, Stern-Magazin, Hamburg, Westbank AG, Hamburg, Hamburg 1972, S. 41.

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Und zwischen den Menschen auf der Brücke zum Vergnügungsdampfer und dem zuvorderst auf der Bank links unten Sitzenden kommt es erneut zu einem Maßstabssprung. Von einer perspektivisch überzeugenden Raumerschließung kann keine Rede sein. Die Hamburg-Vedute im Hintergrund liegt auf nur leicht erhöhtem Horizont, wohingegen wir den Hafen in Aufsicht sehen. Letzteres auch nicht konsequent: Mit einigen Schiffen oder Booten sind wir auf Augenhöhe. Auf das Schiff rechts unten blicken wir dagegen fast direkt von oben. Und es ist ein Bild der heilen Welt. Kein Bild eines Standortes der modernen Industrie und der modernen industriellen Arbeit, sondern Freizeitvergnügen, der Blick des Touristen, die Perspektive der Hafenrundfahrt. Diese Kriterien halten sich in fast allen Exponaten der Ausstellung durch. Nur eine kleine Auswahl sei genannt. Maria Kloss, im Katalog angegebener Beruf: Hausfrau, zeigte in ihrem mit dem 7. Preis bedachten Gemälde ebenfalls den Hafen nicht als Ort der Arbeit, sondern als Ort des Freizeitvergnügens. (Abb. 2) Ungeachtet perspektivischer Vorschriften, aber sehr dekorativ, und kompositorisch sehr kalkuliert platzierte sie Blaskapelle, Liebespaar, einen Spaziergänger mit Dackel und vom Rücken gesehene Zuschauer vor das Hafenpanorama. Den fünften Preis sprach man der Hausfrau und Sekretärin Dodo Hennecke zu, die das Rahmenthema des Wettbewerbs nutzte, um ihr schon 1959 gemaltes idyllische Bild der Arche Noah nach der Sintflut einzureichen. (Abb. 3) Heile Welt selbst auf dem Straßenstrich der Hamburger Hafenstraße und im Bordell (Lucie Fraßa, Hafenstraße, 1972). (Abb. 4) Keine moralische Wertung, keine Sozialkritik, sondern Folklore des Seemannslebens. Es sind dies alles gemalte Inseln des Glücks. Deshalb überrascht auch der vierte Preis, Greta-Maria Scherzers Hinterglasbild mit dem Seemann a. D., nicht, (Abb. 5) und es überrascht nicht, dass man eben dieses Bild für das Cover des Ausstellungskatalogs wählte. Der Seemann verbringt seinen Lebensabend gemeinsam mit seinem gelandeten Schiff auf einer kleinen blumenreichen Insel. Mehr noch: das Stück Meer, aus dem die kleine Insel gestiegen ist, ist in dunklerem Blau gehalten, wirkt so selbst als eine ausgegrenzte Wasserinsel im Meer. Anspielungen auf aktuelle gesellschaftliche Probleme blieben marginal. Vielleicht darf man als Ausnahme das für den Wettbewerb von

„Jeder Mensch ein Künstler“

Abbildung 5: Scherzer, Greta-Maria, Seemann a. D., 1972.

Schiffe + Häfen. Laienmaler zeigen ausgewählte Arbeiten aus dem „Wettbewerb deutscher Laien- und Sonntagsmaler“, veranstaltet von: Altonaer Museum in Hamburg, Stern-Magazin, Hamburg, Westbank AG, Hamburg, Hamburg 1972, S. 53.

der in Frankfurt lebenden Hausfrau Hildegard Lackschéwitz eingereichte Gemälde nennen. (Abb. 6) Es zeigt Die Töchter der Revolution, wurde 1969 gemalt und die vermutliche Allusion auf 1968 manifestiert sich in der roten Fahne, die in der Mitte eines Bootes flattert, dessen vorderer und hinterer Schiffsschnabel jeweils mit einem kahlen Männerkopf geschmückt sind. Revolutionär ist bestenfalls die Freizügigkeit der Darstellung – vier nackte Frauen stehen, sitzen im Boot; zwei weitere planschen im Wasser. Weltpolitisch war man in den 1960er Jahren in der Kuba-Krise von einem atomaren dritten Weltkrieg verschont geblieben. Der Krieg der USA gegen Nordvietnam (ab 1965) stellte das Konzept des „gerechten Krieges“ in Frage, mobilisierte in den USA, auch in Europa und eben

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Abbildung 6: Lackschéwitz, Hildegard, Die Töchter der Revolution, 1969.

Schiffe + Häfen. Laienmaler zeigen ausgewählte Arbeiten aus dem „Wettbewerb deutscher Laien- und Sonntagsmaler“, veranstaltet von: Altonaer Museum in Hamburg, Stern-Magazin, Hamburg, Westbank AG, Hamburg, Hamburg 1972, S. 64.

auch in der Bundesrepublik massiven gesellschaftlichen Widerstand, der über den gegebenen Anlass hinausgehend, das „System“ grundsätzlich in Frage stellte. Die 68er hatten die Systemfrage gestellt und in jedem Fall geleistet, dass die individuell vielleicht unbewusste, politisch dagegen durchaus gewollte Verdrängung dessen, was im Dritten Reich im deutschen Namen an Verbrechen begangen wurde, ins gesellschaftliche Bewusstsein zurückgeholt wurde. Kurzum, wenn man historisch bei allen Abstrichen die Leistung der 60er und 70er Jahre auf den Punkt bringen will, dann so, dass sie die heile Welt als eine in hohem Maße unheile entlarvten. Umso peinlicher berührt die Weltfremdheit solcher Bilder, wie sie sich seit der Zeit um 1960 inflationär im Kunstmarkt breitmachten,

„Jeder Mensch ein Künstler“

umso unangenehmer berührt das Make Up, das die „naive“ Imagerie der heilen Welt über die politische und gesellschaftliche Wirklichkeit zu legen versuchte. Und ästhetisch ist ein Gutteil dieser Bilder ja auch grenzwertig. Muss ich Ihnen solche visuellen Banalitäten zumuten? Und es ist ja nicht so, dass ich eigens für Sie ausgesuchte Negativbeispiele gewählt hätte. Tausende und Abertausende von Bildern, die in diesen Jahrzehnten in diesem und anderen Kontexten unter dem Zeichen der „naiven“ Kunst produziert und vermarktet wurden, bewegen sich auf diesem Niveau oder darunter. Es kann freilich nicht darum gehen, sich verspätet zu entrüsten oder sich auf Kosten dieser Malerinnen und Maler zu amüsieren – was hier in den 1960er und 1970er Jahren im Kunstbetrieb geschah, war relevant und die Bilder sind in den Jahrzehnten, die die große Zeit der Pop-Art und die Entstehung der Fluxus-Bewegung erlebten, kunstgeschichtlich noch nicht einmal anachronistisch. Selbstverständlich setzte es nicht erst in dem für diese Publikation ausgegrenzten Zeitraum ein, dass man Bilder als „naive“ Kunst klassifizierte. Es begann im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert mit der Rezeption des Zöllners Henri Rousseau durch die Avantgarde – Alfred Jarry, Robert Delaunay, Guillaume Apollinaire, Pablo Picasso, nicht zu vergessen: Der Blaue Reiter. Ein Höhepunkt in der Begegnung von sogenannter „naiver Malerei“ und Avantgarde liegt dann in den 1920er Jahren – auf Seiten der Avantgarde ist nicht zuletzt Le Corbusier zu nennen. Wilhelm Uhde war in der Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg der entscheidende Sammler, Händler und Kunstliterat. Anders als die Mehrzahl der Apologeten der „naiven“ Kunst in den 1960er und 1970er Jahre sah Uhde keinen Widerspruch in seinem Einsatz für die Avantgarde im Allgemeinen, für Picasso im Besonderen und dem Engagement für diejenigen Maler, die er zuerst unter dem Titel der „Maler des heiligen Herzens“, später als „Moderne Primitive“ berühmt machte, im Falle der Séraphine Louis allererst entdeckte, die er sammelte, mit denen er handelte, über die er schrieb. 1911 hatte Wilhelm Uhde die erste Monographie über den Zöllner Rousseau publiziert und 1912 die erste Einzelausstellung für Rousseau organisiert. Als er nach dem Krieg 1924 nach Frankreich zurückkehrte, überstieg das bereits hochpreisige Oeuvre Henri Rousseaus sein Budget. Er widmete sich jetzt den Ma-

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ler*innen, die für ihn den Kanon der „modernen Primitiven“ nach und neben Rousseau formierten: André Bauchant, Camille Bombois, Séraphine Louis, Louis Vivin. Uhdes Buch Fünf primitive Meister (1947) bildet sowohl den kunstliterarischen Abschluss als auch die Basis für das Kommende. „Maler des heiligen Herzens“, „Moderne Primitive“, „Naive“ sind also kein Alleinstellungsmerkmal der 1960er, 1970er Jahre.

„N aive Kunst “ „N aive Kunst “

versus Avantgarde – als neue „Volkskunst “

Was sich in den 1960er und 1970er Jahren tat, war ein neues Verhältnis zur Avantgarde. Die „naive“ Kunst, von der Avantgarde im späten 19. Jahrhundert entdeckt, für die Ziele der Avantgarde verfügbar gemacht, wurde nun von kulturkonservativer oder -reaktionärer Seite gegen die Avantgarde ausgespielt. Der Katalog der aus Bundesmitteln erworbenen und 1974 auf (Ausstellungs)Wanderschaft geschickten Sammlung Naiver Kunst aus Deutschland stellte die „unbefangene“ naive Kunst polemisch der als allzu „intellektuell“ verdächtigten modernen Kunst gegenüber. Der „Überdruß [...] an der stetig wachsenden intellektuellen Überfrachtung, Theoretisierung und hochgezüchteten Ästhetisierung im Leben und im Raum der Kunst“ habe „die Sehnsucht nach einem unkomplizierten, einfachen Leben“ und damit „Neigung und Liebe“ zu den Bildern der Naiven wachgerufen.5 Mit Nachdruck wurde 1964 im Katalog einer Ausstellung des Österreichischen Gewerkschaftsbundes anlässlich der Ruhrfestspiele in Recklinghausen die künstlerische „Leistung“ der Autodidakten gewürdigt, „die ihre Wurzeln nicht im abgestandenen, ästhetizierenden Akademismus hat.“6 Thomas Grochowiak konstatierte teilnahmsvoll als Motivation für die Produktion „naiver“ Kunst den „Überdruß an einer stetig wachsenden intellektuellen Überfrachtung und hochgezüchteten Ästhetisierung im Raum der Kunst“.7 Zudem, auch das im Unterschied zur älteren Kunstgeschichte der „Maler des heiligen Herzens“, der „Modernen Primitiven“ usw., kam es

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Abbildung 7: Schmidt, Helmut, Der Hahn, 1962.

Italiaander, Rolf: Spass an der Freud. Sonntagsmaler und naive Maler. Unbekannte Talente und auch Prominente, Hamburg 1974, S. 71.

in den 1960er und 1970er Jahren zu einer regelrechte Inflation „naiver“ Kunst. Allenthalben produzierten Laien Bilder, darauf spezialisierte Galerien schossen aus dem Boden, Sammlungen entstanden, die Museen kauften an, Publikationen überschwemmten den Kunstbuchmarkt. Es war nicht allein der kleinbürgerliche Sonntagsmaler und die Hausfrau, die zum Pinsel griffen. Politiker reihten sich in die Massenbewegung ein: Helmut Schmidt malte (Abb. 7) eher im Stil Otmar Alts, dessen künstlerisches Credo „Kunst, die man erklären muss, ist langweilig“, allerdings auch von den Propagandisten der „Naiven“ geteilt wurde. Nahe an der Malerei von Grandma Moses blieb dagegen der

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Abbildung 8: Ertl, Josef, Mäuseturm auf der Bühler Höhe, o. J.

Italiaander, Rolf: Spass an der Freud. Sonntagsmaler und naive Maler. Unbekannte Talente und auch Prominente, Hamburg 1974, S. 113.

„Jeder Mensch ein Künstler“

Abbildung 9: Krüss, James, Spanischer Junge mit Melone, 1968.

Italiaander, Rolf: Spass an der Freud. Sonntagsmaler und naive Maler. Unbekannte Talente und auch Prominente, Hamburg 1974, S. 135.

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Abbildung 10: Sommer, Elke, Bauernhochzeit, 1971.

Italiaander, Rolf: Spass an der Freud. Sonntagsmaler und naive Maler. Unbekannte Talente und auch Prominente, Hamburg 1974, S. 73.

„Jeder Mensch ein Künstler“

Abbildung 11: Bach, Vivi, Theater, 1972.

Italiaander, Rolf: Spass an der Freud. Sonntagsmaler und naive Maler. Unbekannte Talente und auch Prominente, Hamburg 1974, S. 81.

langjährige Landwirtschaftsminister Josef Ertl (FDP), (Abb. 8) der im übrigen in seinem Ministerium auch Ausstellungen von Laienmalern organisierte: „Kollegen malen“, so das Überthema.8 Literaten malten naiv, beispielsweise der Kinderbuchautor James Krüss. (Abb. 9) Schauspielerinnen und Sängerinnen wie Elke Sommer und die aus Dänemark auf den deutschen Film- und Schlagermarkt importierte Vivi Bach malten naiv (Abb. 10, 11), und ihre künstlerischen Betätigungen verblieben nicht im privaten Rahmen. Elke Sommer stellte in den USA und in Deutschland erfolgreich aus.9 Vivi Bach

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Abbildung 12: Stowasser, Elke, Promenade an der Donaulände, o. J.

Italiaander, Rolf: Spass an der Freud. Sonntagsmaler und naive Maler. Unbekannte Talente und auch Prominente, Hamburg 1974, S. 223.

wurde unter anderem von Friedensreich Hundertwasser gesammelt und bewundert. Die Vorliebe Hundertwassers für „naive Malerei“ kam auch insofern nicht von ungefähr, als dass seine Mutter, Elke Stowasser, in den letzten Jahren vor ihrem Tod 1972 sich ihren Traum, malen zu dürfen, erfüllte.10 Selbstverständlich malte sie „naiv“. (Abb. 12) Sind das alles naive Individuen gewesen? Was auch immer man von den politischen Führungsfiguren der Bundesrepublik dieser Jahrzehnte halten mag, zumindest im herkömmlichen Sinne wird man sie nicht als naiv bezeichnen wollen. Ein naives Gemüt unterstellt man wohl auch nicht dem literarischen Vater von Timm Thaler oder den in diesen Jahrzehnten gefeierten Stars Elke Sommer und Vivi Bach. Durfte man ihre Bilder trotzdem als „naive“ etikettieren und rezipieren? Es gab unter den maßgeblichen Literat*innen (auf dem Kunstmarkt ohne-

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Abbildung 13: Epple, Bruno, Bub mit Drachen, 1974 .

Zuck, Rüdiger: Der naive Maler Bruno Epple. Sein Leben, sein Werk, sowie eine allgemeine Abhandlung über naive Malerei, Konstanz, 1977, S. 41.

dies) zumindest den Trend, „naive“ Bilder nicht notwendig an die Voraussetzung eines naiven Gemüts zu koppeln. Nur drei Autoren seien herausgegriffen: Rüdiger Zuck, der einflussreiche Verfassungsrechtler, lange auch Vorsitzender des Verfassungsrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer,11 hatte sich mit Leidenschaft der Beschäftigung mit „naiver“ Kunst verschrieben. Er zerschlug kurzerhand den Link zwischen persönlicher Naivität des als naiv klassifizierten Künstlers und dem als naiv klassifizierten Werk.

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Abbildung 14: Epple, Bruno, Clown’s Liebe, 1974.

Zuck, Rüdiger: Der naive Maler Bruno Epple. Sein Leben, sein Werk, sowie eine allgemeine Abhandlung über naive Malerei, Konstanz, 1977, S. 55.

„Im übrigen gehe ich [...] davon aus, dass der Kunstcharakter auch eines naiven Bildes allein an der Qualität und Originalität des Bildes zu messen ist, daß das naive (oder nicht naive) Gemüt seines Urhebers über die Besonderheiten dieses Kunstwerks gegenüber anderen nichts aussagt.“12

Und an anderer Stelle: „Da die Naivität der naiven Malerei nicht in der Psyche des Künstlers liegt, ist der ‚bewußt Naive‘ stilkritisch genauso zu behandeln wie der ‚Unbewußte‘“.13 Dazu ist zu sagen, dass diese

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Abbildung 15: Krettek, Felizitas, Naive Malerei. Materialien – Motive – Techniken (1979), Niedernhausen 1984, Titelseite.

Krettek, Felizitas: Naive Malerei. Materialien – Motive – Techniken (1979), Niedernhausen 1984, Titelseite.

programmatischen Aussagen sich in einer Monographie über Bruno Epple finden. Epples Bilder mag man sich gut als Illustrationen in pädagogisch wertvollen, weil harmlosen Kinderbüchern vorstellen – doch würden auch wir heute mit Rüdiger Zuck „nicht daran zweifeln können, daß wir es bei ihm [bei Epple, HK] mit einem genuinen naiven Maler zu tun haben, mit einem der Großen dieser Kunst, dessen Werk, nach menschlichem Ermessen unsere Zeit überdauern wird“?14 (Abb. 13, 14) Rolf Italiaander, Literat, langjähriger Sekretär der Freien Akademie der Künste in Hamburg, Kunstsammler und Gründer des Museums Rade bei Hamburg,15 hatte ebenfalls keine Vorbehalte dagegen,

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Abbildung 16: Der Spiegel, 52/1961 (20. 12. 1961), Titelseite.

Der Spiegel, 52/1961 (20. 12. 1961), Titelseite.

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Künstler in den Kreis der „naiven“ Kunst einzulassen, „die mit ‚völligem Bewußtsein‘ naiv malen, obwohl sie selber keineswegs unbefangen oder gar einfältig sind, sondern zu der sogenannten Bildungsschicht gehören.“16 Zuck und Italiaander, beide referierten mit ihrem ‚offenen‘ Naivitätsbegriff unausgesprochen auf Oto Bihalji-Merin, dem umtriebigsten Promotor naiver Kunst in diesen Jahren, der einen eigenen Abschnitt seines Bestsellers Die Naiven der Welt den „bewußt Naiven“ gewidmet hatte.17 „Naive Kunst“ war damit, und auch das gehört zu den Charakteristika der Szene der 1960er und 1970er Jahre, zum Stil geworden. Als solche war sie schließlich auch lehr- und lernbar. „Naive Maler“, so definierte Felizitas Krettek, „schöpfen ausschließlich aus ihrem unverbildeten Talent: fachliches Können und fundiertes Wissen um die Perspektive oder andere Gesetzmäßigkeiten der Malerei sind ihnen Nebensache. Ihre Darstellungen basieren vielmehr auf Eingebungen des Gemüts.“18 Doch kurz nach dieser „Eigenlichkeits“-Definition folgt die Aufforderung: „Was hält uns davon ab, ihnen nachzueifern? Versuchen wir es doch auch einmal! Sehr schnell wird man erkennen, daß gerade naive Malerei leicht erlernbar ist.“19 In diesem Sinne verspricht die Buchrückseite: „Naiv kann jeder malen, er muss es nur versuchen. Wie er zum Erfolg kommt, wird in diesem Buch beschrieben.“ Und dieses Versprechen löst das Buch von Felizitas Krettek denn auch ein: Von der Wahl des Bildträgers bis zum Auf-AltMachen durch künstliche Patinierung wird der interessierte Laie zum „naiven“ Malen angeleitet. (Abb. 15) Was begonnen hatte als Kunst von Außenseitern, rezipiert von einer ästhetischen Elite, begann sich in den Jahren um 1960 zu entgrenzen. Für die neue Öffentlichkeit der „naiven“ Kunst spricht bereits, dass der Spiegel in seiner Weihnachtsausgabe vom 20.12.1961 den Kulturteil mit einem längeren Artikel über „Naive“ einleitete und Henri Rousseaus Kind mit Hampelmann auf die Titelseite setzte. (Abb. 16) Einige weitere Daten und Fakten seien angeführt, die belegen, dass die Jahre um 1960 für die Geschichte der „naiven“ Kunst entscheidend waren.

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Abbildung 17: Paps (Rusche, Waldemar), Bauerhof im St. Jürgenland (bei Bremen), 1960, Berlin, Staatliche Museen.

Kohlmann, Theodor: Laienmalerei aus Deutschland und Österreich. Die Sammlung des Museums für Deutsche Volkskunde (= Schriften des Museums für Deutsche Volkskunde Berlin, Bd. 5), Berlin 1979, S. 99.

Thomas Grochowiak hatte für das Ruhrgebiet Pionierarbeit geleistet. Er fasste den Entschluss, die im Krieg zerstörte Sammlung an Volkskunst des Vestischen Museums in Recklinghausen nicht neu aufzubauen, sondern durch eine Kollektion „naiver Kunst“ zu ersetzen, eine Absicht, die ab 1956 verwirklicht werden konnte. Damit begann im größeren Stil die Musealisierung der „Naiven“. 1965 gelang es Irmgard Feldhaus, der langjährigen Direktorin des Clemens-Sels-Museums in Neuss, 5 Gemälde und 35 Zeichnungen des als „deutscher Rousseau“ gerühmten Adalbert Trillhaase anzukaufen. Das war der Grundstock für eine große Sammlung „naiver Kunst“, 20 die auch hier an die Stelle der im Krieg dezimierten volkskundlichen Bestände trat.

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Zeitlich dazwischen nutzte auch das Museum für deutsche Volkskunde in Berlin den Trend, um das Konzept einer Volkskundlichen Sammlung mit Laienmalerei zu aktualisieren und zu popularisieren. Lothar Pretzell sah sich 1959 vor die Aufgabe gestellt, die im Krieg weitgehend zerstörte volkskundliche Sammlung in Berlin neu aufzubauen. Von Anfang an trug er sich mit der Absicht, die Laienmalerei in seine Ankaufspolitik einzubeziehen. Das erste Gemälde eines Laienmalers, das er 1960 für seine Sammlung erwarb, war der Bauerhof im St. Jürgenland (bei Bremen).21 (Abb. 17) Dass Pretzells Wahl gerade auf ein Werk dieses „naiven“ Künstlers fiel, ist bezeichnend für das offene Konzept von „naiver“ Kunst der 1960er und 1970er Jahre. Waldemar Rusche arbeitete als Chefarzt der Augenabteilung des St. Josefs-Stifts in Bremen. 1951 begann er auf Anraten seiner Tochter zu malen.22 1959 richtet man für ihn in Bremen die erste Einzelausstellung aus. Als „naiver“ Maler legte Rusche sich den Künstlernamen „Paps“ zu, „damit“, so seine Begründung, „die Patienten nicht merken, dass ihr Doktor malt und mißtrauisch in seine übrigen Fähigkeiten werden.“23 Einer der renommiertesten Ophtalmologen Norddeutschlands24 stieg also zu einem der renommiertesten „naiven“ Maler Deutschlands auf.

„A uthentische N aive “? Der Wettbewerb Schiffe + Häfen, mit dem dieser Beitrag einsetzte, geriet zu einem beachtlichen und für Bank und Illustrierte werbewirksamen Erfolg. An diesen Erfolg schloss die vom 4.11.1974 bis zum 12.1.1975 im Münchner Haus der Kunst gezeigte Ausstellung Die Kunst der Naiven an, eine sehr umfangreiche Ausstellung mit ca. 500 Exponaten von 165 Malern und Bildhauern. In dem Wettbewerb Schiffe + Häfen und in dieser von Oto Bihalji-Merin kuratierten Ausstellung, die nach der Münchner Station nach Zürich in das Kunsthaus wanderte, kulminierte das Interesse an der so genannten „Naiven Kunst“ in der Bundesrepublik Deutschland. Es war der Höhepunkt und der Anfang vom Ende. In den 1980er Jahren ging es bergab. Gegen die inflationäre Hausfrauen- und Sonntagsmalerkunst wurde jetzt das Konzept des „authen-

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tischen Naiven“ gestellt. Der Wunsch, Kriterien für die Authentizität „naiver“ Kunst als wahrhaftiger „naiver“ Kunst an der Hand zu haben, war selbstverständlich lange vorher da, doch systematisch reinigte erst die 1981/1982 zuerst im Kulturhistorischen Museum Bielefeld und anschließend im Norddeutschen Landesmuseum in Hamburg-Altona gezeigte Ausstellung Naive Kunst. Geschichte und Gegenwart das Terrain. Matthias T. Engels umriss das Ziel der Ausstellung: Aufgabe sei es gewesen, „im Rahmen einer exemplarischen Demonstration zur klärenden Verdeutlichung dessen beizutragen, was mit Fug und Recht wirklich als naive Kunst bezeichnet werden kann.“ Als ein wesentliches Kriterium nannte er ihre Unabhängigkeit „von zeitlichen Einflüssen“ und das Fehlen eines „Wandel(s) der bildnerischen Tendenzen“. Kurz: der „authentische Naive“ nimmt keine Einflüsse von außen auf und sein Werk kennt keine stilistische Entwicklung.25 Künstlerisch muss der authentische Naive im Stand der Unschuld sein, darf also keine einschlägige Ausbildung genossen haben. Nur mit halbem Bedauern notierte Engels, dass in der Gruppe der falschen, weil professionell vorgebildeten Naiven und nun sich „naiv“ Gebärdenden, die Frauen dominieren.26 (Wenige Jahre vorher noch – 1975 – war einleitend zum Katalog einer Naiven-Ausstellung in der Höchster Jahrhunderthalle die Dominanz der malenden Frauen innerhalb der „Naiven“ demgegenüber u. a. auf die dem Geschlecht eigene „unreflektierte [...] Unmittelbarkeit“ zurückgeführt worden.27) Arsen Pohribny zählte in seinem Beitrag zum Bielefelder und Hamburg-Altonaer Katalog von 1981/82 als Modalitäten des „authentischen Naiven“ die „Isoliertheit (besonders des künstlerischen Analphabetentums)“, den „Rückgriff in die Tiefenschichten der Psyche und das unvermittelte Hervorbrechen der Urbilder und Kurzformeln“ auf.28 Der Wind hatte sich gedreht. Malten die „Naiven“ der 1960er und 1970er Jahre bevorzugt Inseln, faktisch wie im Wettbewerb Schiffe + Häfen oder metaphorisch – Inseln des Glücks in einer unheilen Welt –, so musste der „naive“ Künstler jetzt selbst eine „Insel“ werden, herausgenommen aus der Geschichte, isoliert von Einflüssen von außen, im Idealfall ungebildet. Bruno Epple, den einer der Protagonisten der Naivenforschung, Anatole Jakovsky, 1976 noch als „den zur Zeit größ-

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ten deutschen naiven Maler“ gepriesen hatte, erntete jetzt nur noch Verachtung. Matthias T. Engels wertete Epple als „künstlerisch unqualifizierte(n) Laienmaler“ ab. Seine Bilder „demonstrieren in geradezu exemplarischer Weise genau das, was die pseudonaive von der wirklich authentisch naiven Malerei unterscheidet: die Übernahme und Aneignung naiv-primitivistischer Ausdrucksformen und deren manieristische Umsetzung in eine eigene Stilistik, das rationale Kalkül der Bilderfindung, den penetrant routinierten Schematismus der Darstellung und vor allem das Fehlen jeder elementaren künstlerischen Überzeugungskraft, die den naiven Künstler dazu befähigt, aus der Not seines ungeschulten bildnerischen Vermögens eine Tugend zu machen.“29 Ausdrücklich wird einleitend zum Verriss des „naiven“ Malers Epple darauf verwiesen, dass er als Lehrer für Deutsch und Geschichte am Gymnasium in Radolfszell arbeite.30 Bildung war zum Ausschlusskriterium aufgestiegen. Susanne Grimm, die 1991 eine reich bebilderte Publikation mit dem programmatischen Titel Authentische Naive, auf den Kunstbuchmarkt brachte, bedauerte es, dass die Meinung noch verbreitet sei, Naivität sei eine Eigenschaft der entsprechenden Kunstwerke. Demgegenüber müsse die Einstellung des Künstlers zur Wirklichkeit und zu seiner Kunst eine naive sein, damit man mit Recht von authentischer naiver Kunst sprechen dürfe.31 „Nachahmer und Pseudonaive seien dem Glauben verfallen, man könne, unabhängig von der persönlichen Einstellung zur Welt, ein naives Bild schaffen.“32 Die Kritik Susanne Grimms richtet sich gegen die Entgrenzung des Naivitätsbegriffs in den 1960er und 1970er Jahren. In gewisser Hinsicht bedeutete das unscharfe Naivitätskonzept der 1960er und 1970er Jahre aber eine Rückkehr zum Naivitätskonzept des französischen 17. Jahrhunderts und der französischen Aufklärung. Dieses alte Naivitätskonzept sei zumindest knapp skizziert: Das in so vielem verbindliche Wörterbuch der Academie Française von 1694 kennt zwei Bedeutungen des Wortes „naiv“: Naiv bedeute „Simpel, dumm, einfältig.“ Dieser negativen Bedeutung des Wortes „naiv“ stellt das Wörterbuch freilich eine positive gegenüber, die Bedeutung nämlich, die das Wort „naiv“ in der Welt der Kunst hat. „Naiv. Natürlich, ungeschminkt, ohne Künstlichkeit. Es bedeutet auch, daß jemand gut

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die Wahrheit darstellt und gut die Natur nachahmt.“33 Diese positive Bedeutung des Naivitätsbegriffs dürfte für das späte 17. Jahrhunderts die relevantere gewesen sein. So wurde ins Dictionnaire des François Pomey von 1671 nur die positive Version aufgenommen: „Naiv: naiv darstellen, eine Person natürlich darstellen.“34 Dementsprechend definiert 1690 dann auch Furetières Lexikon: „Naiv sagt man bezüglich eines Gemäldes oder einer Rede, das (die) gut die Sache darstellt, so wie sie ist.“35 Anders als bei Pomey ist bei Furetière auch die negative Bedeutung des Naivitätsbegriff vermerkt, mit der bei Furetiere diesmal der unzivilisierte Bauer abqualifiziert wird. Wenn Naivität für eine wahre, ungeschminkte, natürliche Form der bildlichen oder sprachlichen Darstellung steht, dann steht zu erwarten, dass das 18. Jahrhundert das Jahrhundert des anderen Rousseau, des Jean-Jacques Rousseau, sich noch stärker damit identifizieren konnte. In der Tat findet sich, hier bezüglich der Rhetorik, geradezu ein enthusiastischer Lobpreis der Naivität als künstlerisches Kriterium in dem sehr einflussreichen kunstliterarischen Traktat des Charles Batteux von 1746: „Diese Qualität (des Naiven d. V.) allein beinhaltet fast alle anderen. Sie beinhaltet die Wahrheit, die Stimmigkeit, die Klarheit; sie erzeugt Wärme, Energie, das Volle und das Weiche; sie enthält alle Schönheiten und überdeckt fast alle Fehler.“36 In diesem Reden über Kunst ist Naivität eine Darstellungsqualität. Batteux war sich selbstverständlich auch der negativen Verwendung des Begriffs bewusst. Er traf deshalb eine genaue Unterscheidung, die sich im Französischen an den unterschiedlichen Konnotationen des bestimmten und des unbestimmten Artikels festmachen lässt. „Man muß zwischen einer Naivität und der Naivität unterscheiden. Man spricht von einer Naivität bei einem Gedanken, bei einem Einfall, bei einem Gefühl, der/das gegen unseren Willen geäußert wird und der selbst ins Unrecht setzen kann. Es ist jeweils eine Äußerung, die dem Leichtsinn, der Lebhaftigkeit, der Unwissenheit, der Dummheit und oft all dem zugleich verdankt ist. Solcherart ist die Antwort einer Frau gegenüber ihrem sterbenden Mann, der ihr (für die Zeit nach seinem Tod, HK) einen neuen Ehemann ans Herz gelegt hatte. ‚Nimm

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Abbildung 18: Picasso, Pablo, Demoiselles d’Avignon (Detail), 1907, New York, Museum of Modern Art.

Rubin, William (Hg.): „Primitivism“ in 20th Century Art. Affinity of the Tribal and the Modern, Katalog der Ausstellung, New York, The Museum of Modern Art u. a. 1984, I, New York, 1984, S. 264.

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Abbildung 19: Mbuya-Maske, Zaire, Musée Royal de l‘Afrique Centrale, Tervuren, Belgien.

Rubin, William (Hg.): „Primitivism“ in 20th Century Art. Affinity of the Tribal and the Modern, Katalog der Ausstellung, New York, The Museum of Modern Art u. a. 1984, I, New York, 1984, S. 264.

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diesen. er paßt zu Dir, glaub mir.‘ ‚Mein Gott‘, sagte die Frau, ‚an den hab‘ ich schon gedacht.‘“

Von dieser Form von Naivität setzt Batteaux die Naivität als künstlerisches Stilprinzip ab: „Die Naivität ist im Gegensatz dazu nur die Sprache der Offenheit, der Freiheit, der Einfachheit; in ihr ist nichts Reflektiertes, keine Mühe, kein Studium. In der naiven Rede ist all das enthalten, aber es wirkt so, als ob das alles nicht da wäre.“ Gemeint ist, dass derjenige, der eine als naiv zu charakterisierende Rede hält, bei der Verfertigung der Rede zwar sehr reflektiert vorgegangen sein wird, sich vermutlich ordentlich bemüht und vorbereitet hat, dass aber dem Zuhörer das alles verborgen bleiben soll. Es wird ihm verborgen, weil „[i]m Falle der Naivität alles, der Gedanke, die Darstellungsform, die Worte, aus dem Gegenstand selber erwachsen sind; alles ist ungekünstelt aus dem Thema entwickelt.“37 Im Unterschied zum naiven Menschen, dessen Unbedachtheiten ihn in die diversen Verlegenheiten bringen, unterschied Batteux somit naive Kunst, die ungekünstelt ist, nicht geschraubt, wahrhaftig, dem gemalten oder beschriebenen Gegenstand angemessen. Dass ein solches Kunstwerk nicht einem simplen Kopf erwachsen kann, verstand sich für Batteux von selbst. Spätestens seit den 1980er Jahren war die gewusste oder vermutete oder unterstellte naive Psyche das maßgebliche Authentizitätskriterium und anders als für Batteux – auch für Schiller im Übrigen – das entscheidende Distinktionsmerkmal. Naivität war also jetzt wieder in die Psyche des Künstlers zurückverlegt worden. Fraglich, ob das als Gewinn zu verzeichnen ist. Dass im Zutrauen in die Authentizität der „naiven“ Künstler (um von den anderen, ähnlich konnotierten Grenzbereichen der Kunstgeschichte, wie der Kunst der psychisch Kranken oder der „art nègre“ ganz zu schweigen) auch eine Zumutung steckt, dass das Lob, das einem „authentischen Naiven“ gilt, auch eine Form von Unmündigkeitserklärung ist, muss in aller Deutlichkeit hervorgehoben werden. Der „naive“ Künstler war jetzt wieder der domestizierte Wilde aus der Nachbarschaft. In dem jetzt wiederbelebten Kult des dank passender persönlicher Schlichtheit echten „Naiven“ war auch der kolonialistische Gestus wiederbelebt worden, mit dem im späte-

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ren 19. und im frühen 20. Jahrhundert afrikanische und ozeanische Bildnerei als paradigmatisch ursprünglich und unberührt angeeignet wurde. (Abb. 18, 19)

„J eder M ensch

ein

Künstler “

Ist es demgegenüber nicht ungemein erfrischend, dass vor den Säuberungsaktionen im Zeichen des „authentischen Naiven“ der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Josef Ertl, und die in den 1960er Jahren vielleicht wichtigste Botschafterin des deutschen „Fräuleinwunders“ in den USA, Elke Sommer, „naiv“ malten? Darf man wirklich darüber spotten, dass von den 150 aus den Entsendungen für den Wettbewerb Schiffe + Häfen ausgestellten und im Katalog publizierten Gemälden 50 von im Katalog als Hausfrauen ausgewiesenen Malerinnen stammen? Und ist es nicht bemerkenswert, dass Hausfrauen, Politiker, Stars und professionelle Künstler sich den Kunstmarkt und die Aufmerksamkeit der Kunstöffentlichkeit teilten? Und ist dieser Hype des „falschen Naiven“ wirklich aus der Zeit gefallen? Nochmal ein Zitat von Rüdiger Zuck: „Wie immer man zu ihren Ergebnissen stehen mag: nach den soziologischen Bedingungen, unter denen sie entstanden ist, steht sie – quantitativ – erst am Anfang. Es wird noch mehr Freizeit geben, und noch mehr Zivilisationsdruck – das wird weitere Begabungsreserven lösen.“38

Naive Kunst also als Möglichkeit der Selbstverwirklichung des von den Produktionsverhältnissen nicht mehr zur Gänze in Beschlag genommenen Menschen. Bereits Georg Schmidt hatte in seinem Katalogbeitrag für die große Ausstellung Das naive Bild der Welt, die 1961 in Baden-Baden, Frankfurt und Hannover gezeigt wurde, „die Verkürzung der Arbeitszeit und damit die Zunahme der Freizeitbeschäftigung“ als soziologische Phänomene benannt, „die das naive Malen stark befördert haben.“39 So haben auch Karl Marx und Friedrich Engels das his-

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torische Telos der Kunst beschrieben: „In einer kommunistischen Gesellschaft gibt es keine Maler, sondern höchstens Menschen, die unter Anderm auch malen.“40 Dieses Diktum von Marx und Engels, das sie Stirners Feier des Kunstwerks als „egoistisch[es]“, nicht arbeitsteiliges Erzeugnis des großen Einzelnen entgegenhielten, sollte die Funktion der Kunst in der klassenlosen Gesellschaft beschreiben. Erstmals in der Geschichte, wie später Engels (Zur Wohnungsfrage) ausführte, sei dank der industriellen Revolution die Produktionskraft auf eine solche Höhe gebracht, dass „bei verständiger Verteilung der Arbeit unter alle“ allen auch die nötige Muße für die rezeptive und produktive Beschäftigung mit der Kunst (mit Bildungsgütern insgesamt) bleibe, die bislang ausschließlich die herrschende Klasse für sich beansprucht habe.41 Jeder Mensch ein Kunstkenner, jeder Mensch ein Künstler, ideologisch abgebremst, pragmatisch auf die gesellschaftliche Situation der Nachkriegszeit bezogen, begleitete diese marxistische Utopie das gesellschaftliche Projekt der „naiven“ Kunst in den 1960er und 1970er Jahren. Der Arbeiter oder Angestellte, der in seiner Freizeit oder nach seiner Pensionierung den Pinsel in die Hand nimmt, ist einer der „Menschen, die unter Anderm auch malen“. Und der Erfolg, der nach Kriegsende zunehmend der „Kunst der Naiven“ in einer breiten Öffentlichkeit, im Kunsthandel, in der Kunstkritik, in der Kunstgeschichte zuteil wurde, Erfolg, der in den 1960er und 1970er Jahren kulminierte, dieser Erfolg lieferte den tatsächlichen oder vermeintlichen, in jedem Fall willkommenen Nachweis, dass „Menschen, die unter Anderm auch malen“ nicht notwendig hinter denen zurückstehen, die nur malen. Und wenn man schon einmal soweit ist, Leser*innen eines kunsthistorischen Aufsatzes zuzumuten, Karl Marx und Friedrich Engels mit Rosemarie Landsiedel-Eicken, mit Greta-Maria Scherzer, auch mit Vivi Bach zusammenzubringen, dann ist man vielleicht nicht allzu sehr schockiert, wenn sich ein weiterer Vergleich der später in den pseudo-naiven Keller gesperrten Maler und Malerinnen mit in den 1960er/1970er Jahren im offiziellen Kunstbetrieb prominenten Figuren und Aktionen anschließt.

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Die in den 1960er und 1970er Jahren als „naiv“ klassifizierte und vermarktete Imagerie ist affirmativ als Öffnung der von der Professionalität gezogenen Grenzen, als Ventil für Kreativität, als Weise der Selbstverwirklichung durch Kunst zu verstehen. Analog: Jospeh Beuys’ Konzept der „sozialen Plastik“ postuliert die Öffnung des Kunstbegriffs, läuft aber auf die messianische Offenbarung hinaus: „Wenn jemand meine Werke sieht, trete ich in Erscheinung“, und Telos ist die „plastische“ Formung des „neuen Menschen“, mithin die „Veränderung der menschlichen Natur“.42 Es waren die links- und rechtsfaschistischen Ideologien des 20. Jahrhunderts, die sich die Schaffung des „neuen Menschen“ auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Joseph Beuys im übrigen reklamierte in einer Diskussion im Anschluss an ein Gespräch mit Wulf Herzogenrath ausdrücklich für den sich selbstverwirklicht habenden neuen Menschen die Freiheit, faschistisch sein zu dürfen.43 Übersieht man die gelegentlich problematischen Konnotationen und die impliziten Konsequenzen des Beuysschen Konzepts – und dank der Glättungen, die Kunstgeschichte und Kunstbetrieb vorgenommen haben, fällt das leicht –, dann ist der berühmteste Satz von Joseph Beuys „Jeder Mensch ist ein Künstler“ emanzipatorisch. Er impliziert – und an dieser Stelle darf das eben zur „naiven“ Kunst Geschriebene paraphrasiert werden – Öffnung der von der Professionalität gezogenen Grenzen, postuliert ein Ventil für Kreativität, reklamiert Selbstverwirklichung durch Kunst. Dass Beuys diesen Satz nicht auf die zeitlich parallele Massenbewegung von „naiven“ Laienmalern bezogen wissen wollte, versteht sich von selbst. Doch weshalb sollte man es nicht tun? Von sehr anderer gesellschaftlicher Seite herkommend und mit sehr anderen ästhetischen Vorstellungen nähern sich der „erweiterte Kunstbegriff“ des Joseph Beuys und der Aufstand der Laienmaler gegen die Vorherrschaft der professionellen Kunst. Joseph Beuys, zumindest dann, wenn man ihn nicht ganz versteht, war für den Kunstbegriff und in der Konsequenz für die Praxis der Kunst befreiend. Die zeitlich parallele so genannte „naive“ Kunst war es auch. Zu den bleibenden Verdiensten der Kunst und des politischen Engagements von Beuys gehört der ökologische Ansatz. Joseph Beuys engagierte sich sehr früh für die „grüne“ Bewegung.

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„Seit dem Frühjahr 1977 wurden in der Bundesrepublik grüne Listen gegründet. Im Jahr 1979 kandidierte Joseph Beuys für das Europaparlament als Direktkandidat für ‚Die Grünen‘ und gewann Rudi Dutschke für gemeinsame Wahlkampfauftritte. Die AUD löste sich zugunsten der ‚Grünen‘ (heute: Bündnis 90/ Die Grünen) auf. Am 11. bis 12. Januar 1980 nahm Beuys am Gründungsparteitag der ‚Grünen‘ in Karlsruhe und am 16. Februar 1980 an deren Landesmitgliederversammlung in Wesel teil. Für den Landtagswahlkampf in Nordrhein-Westfalen eröffneten die „Grünen“ am 16. März ein Informationsbüro in Düsseldorf; Beuys gestaltete Plakate und führte eine Kampagne für die Partei durch.“44

Anatole Jakovsky beklagte in einer seiner vielen einschlägigen Publikationen zur „naiven Kunst“ die „Verkehrsstauungen auf den Autobahnen [...], den Sauerstoffmangel in unseren Städten, die wachsenden Lärmwerte, die uns Tag und Nacht überfallen, die Schändung der Natur, die Roboterisierung und fortschreitende Entmenschlichung des Individuums.“45 Tauscht man den Begriff der „Roboterisierung“ gegen den der Digitalisierung, dann ist diese 1976 zuerst publizierte Zivilisationskritik erstaunlich aktuell. Und man muss zumindest zur Kenntnis nehmen, dass die „naive“ Kunst angesichts dieses Befundes als konstruktive Kritik definiert werden konnte. So zumindest hat es Jakovsky verstanden: „In diesen grausamen, entsetzlichen und zugleich wunderbaren Zeiten, wo einer von uns auf dem Mond spazierengeht und dabei versucht, seine vielfältigen irdischen Abneigungen zu vergessen, seine täglichen Kümmernisse, die nur den Arbeitslohn erbringen für irgendeine ungewisse Zukunft, die plötzlich schmutzig, heuchlerisch und schwarz erscheint … In diesen Zeiten gibt es kein besseres Hilfsmittel und vielleicht sogar Heilmittel als die Gemälde der Naiven, mit Himmeln, die man nicht blauer machen könnte, mit reiner Luft und mit Sonne ringsum. Hier sind Vitamine der Seele. [...] Die derzeitige Beliebtheit der Naiven Malerei ist nicht anders zu erklären.“46

Eine „Art von experimenteller Ökologie“ nannte Jakovsky die damals aktuelle Prominenz der „Naiven Malerei“, „die die künstlerischen Möglichkeiten bei den veränderten Umweltbedingungen abtastet“.47 Sind

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die Epples und die Landsiedel-Eickens also doch politisch, vielleicht sogar politisch relevant über den historischen Tag hinaus, indem sie, wie es Jakovsky ja suggerierte, im 1976 noch kaum absehbaren ökologischen Diskurs und im ebenso in den Konsequenzen nicht absehbaren Diskurs über die Weltherrschaft des Algorithmus kritisch mitsprechen? Das, was die vielen Hausfrauen und Hausmänner, die Sonntagsmaler*innen und die malenden Rentner*innen, die künstlerisch zu sich findenden Politiker*innen und Literat*innen, die Schauspieler*innen, die Schlagersänger*innen, kurz: die Kleinbürger*innen und die Großbürger*innen, die Arbeiter*innen und die Kapitalist*innen, die Anonymen und die Berühmten in den 1960er und 1970er Jahren auf den Kunstmarkt geworfen haben, verdient Interesse. Das ist nicht als Resümee misszuverstehen, sondern als Artikulation der Problematik eines sich kunsthistorischen und ästhetischen Kategorisierungen entziehenden Phänomens.

A nmerkungen 1 | Wietek, Gerhard/Nannen, Henri/Hoose, York: „Schiffe + Häfen“, in: Schiffe + Häfen. Laienmaler zeigen ausgewählte Arbeiten aus dem „Wettbewerb deutscher Laien- und Sonntagsmaler“, veranstaltet von: Altonaer Museum in Hamburg, Stern-Magazin, Hamburg, Westbank AG, Hamburg, Hamburg: Westbank AG 1972, S. 2–3, S. 2. 2 | G. Wietek / H. Nannen / Y. Hoose, Schiffe + Häfen, S. 2 3 | Grochowiak, Thomas: „Einige Markierungen zur naiven Malerei“, in: Schiffe + Häfen. Laienmaler zeigen ausgewählte Arbeiten aus dem ‚Wettbewerb deutscher Laien- und Sonntagsmaler‘, veranstaltet von: Altonaer Museum in Hamburg, Stern-Magazin, Hamburg, Westbank AG, Hamburg, Hamburg: Westbank AG 1972, S. 3–5, S. 4. 4 | Th. Grochowiak, Einige Markierungen, S. 5. 5 | Zit. n. Engels, Mathias T.: Naive Malerei, Herrsching: Pawlak 1977, S. 8. 6 | Schmitt, Robert: „Laienkunst in Österreich“, in: Katalog der Ausstellung, Laienkunst in Österreich, 18. Ruhrfestspiele, Rathaus Recklinghausen: Bauer 1964, o. S.

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7 | Th. Grochowiak, Einige Markierungen, S. 5. 8 | Italiaander, Rolf: Spass an der Freud. Sonntagsmaler und naive Maler. Unbekannte Talente und auch Prominente, Hamburg: Christians 1974, S. 113. 9 | R. Italiaander, Spass an der Freud, S. 74. 10 | R. Italiaander, Spass an der Freud, S. 222. 11 | https://www.kanzlei-zuck.de/of-counsel/, 1.7.2017. 12 | Zuck, Rüdiger: Der naive Maler Bruno Epple. Sein Leben, sein Werk, sowie eine allgemeine Abhandlung über naive Malerei, Konstanz: Stadler 1977, S. 26. 13 | R. Zuck, Bruno Epple, S. 34. 14 | R. Zuck, Bruno Epple, S. 40. 15 | https://de.wikipedia.org/wiki/Rolf_Italiaander, 2. 7. 2017. 16 | R. Italiaander, Spass an der Freud, S. 10. 17 | Bihalji-Merin, Oto: Die Naiven der Welt (1971) Eltville: Rheingauer 1986, S. 273ff. 18 | Krettek, Felizitas: Naive Malerei. Materialien – Motive – Techniken (1979) Niedernhausen: Falken 1984, S. 6. 19 | F. Krettek, Naive Malerei, S. 6f. 20 | I. Feldhaus, Naive Kunst im Clemens-Sels-Museum Neuss, Recklinghausen 1983, S. 3. 21 | Kohlmann, Theodor: Laienmalerei aus Deutschland und Österreich. Die Sammlung des Museums für Deutsche Volkskunde (= Schriften des Museums für Deutsche Volkskunde Berlin, Bd. 5), Berlin: Museum für Deutsche Volkskunde 1979, S. 5. 22 | O. Bihalji-Merin, Die Naiven der Welt, S. 295. 23 | Zit. n. Th. Kohlmann, Laienmalerei, S. 97. 24 | Werke und Werkstatt naiver Kunst, Katalog der Ausstellung, Ruhrfestspiele 1971, Recklinghausen: Städtische Kunsthalle 1971. 25 | Engels, Mathias T.: „Naive Kunst,“ in: Naive Kunst – Geschichte und Gegenwart, Katalog der Ausstellung, Bielefeld, Kulturhistorisches Museum 1981, Hamburg: Altonaer Museum, Norddeutsches Landesmuseum 1981/1982, S. 5–12, S. 8. 26 | M. T. Engels, Naive Kunst, S. 10.

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Hans Körner

27 | Nedde, Dietmar: Das Bild der Naiven. Private Formen der Gestaltung in unserer Zeit, Katalog der Ausstellung, Höchst: Jahrhunderthalle 1975, S. VII–XIV, S. XIII. 28 | Pohribny, Arsen: „Auf der Suche nach der Eigenart naiver Bilder“, in: Naive Kunst – Geschichte und Gegenwart, Katalog der Ausstellung, Bielefeld, Kulturhistorisches Museum 1981, Hamburg: Altonaer Museum, Norddeutsches Landesmuseum, 1981/1982, S. 13–15, S. 13. 29 | M. T. Engels, Naive Kunst, S. 11. 30 | M. T. Engels, Naive Kunst, S. 11. 31 | Grimm, Susanne: Authentische Naive. Das Erlebnis des Unmittelbaren, Stuttgart: Hatje 1991, S. 20, 23. 32 | S. Grimm Authentische Naive, S. 23. 33 | Zit. n. Henn, Claudia: Simplizität, Naivität, Einfalt: Studien zur ästhetischen Terminologie in Frankreich und in Deutschland, 1674–1771, Zürich: Juris 1974, S. 114. 34 | Zit. n. C. Henn, Simplizität, Naivität, Einfalt, S. 114. 35 | Zit. n. C. Henn, Simplizität, Naivität, Einfalt, S. 114. 36 | Zit. n. C. Henn, Simplizität, Naivität, Einfalt, S. 114. 37 | Zit. n. C. Henn, Simplizität, Naivität, Einfalt, S. 118. 38 | R. Zuck, Bruno Epple, S. 33. 39 | Schmidt, Georg: „Was ist ein ‚peintre naïf’“?, in: Das naive Bild der Welt. Peinture naive du monde. Naive Art of the World, Katalog der Ausstellung, Baden-Baden, u. a. 1961, S. 13–16, S. 15. 40 | Marx, Karl/Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie (1845/46). Zit. n. Karl Marx/Friedrich Engels, Über Kunst und Literatur, II, Berlin: Dietz 1968, S. 351. Das folgende wiederholt eine Passage aus Körner, Hans: Laienkunst im Ruhrgebiet als naive Kunst?, in: Outdoor and Outside. Die Outsiderszene im Ruhrgebiet, Katalog der Ausstellung, Recklinghausen: Kunsthalle 2010, S. 21–29, S. 21f. 41 | Engels, Friedrich: Zur Wohnungsfrage (1872/73). Zit. n. Karl Marx/ Friedrich, Engels: Über Kunst und Literatur, II, Berlin: Dietz 1968, S. 362. 42 | Körner, Hans/Steiner, Reinhard: „‚Plastische Selbstbestimmung‘? Ein kritischer Versuch über Joseph Beuys“. In: Das Kunstwerk 3 (1982), S. 32–41, S. 35. 43 | H. Körner / R. Steiner, „Plastische Selbstbestimmung“, S. 40.

„Jeder Mensch ein Künstler“

44 | https://de.wikipedia.org/wiki/Joseph_Beuys, 3. 7. 2017. 45 | Jakovsky, Anatole: Naive Malerei, (1976 niederl.), Freiburg: Herder 1976, S. 31. 46 | A. Jakovsky, Naive Malerei, S. 31. 47 | A. Jakovsky, Naive Malerei, S. 31.

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Konzepte von Modernität 3: Schreiben

„Widerstand der Realität gegen das vorschnelle Sinnbedürfnis“ Dieter Wellershoff und sein Programm eines Neuen Realismus Volker C. Dörr

Zu Beginn des Jahres 1965 erschien in der Zeitschrift Die Kiepe, der – so der Untertitel – Literarische[n] Hauszeitschrift des Verlages Kiepenheuer & Witsch, Köln, ein kurzer, gerade einmal eine halbe Spalte langer Artikel aus der Feder des Verlagslektors Dieter Wellershoff. Wellershoff, 1925 in Neuß (heute: Neuss) geboren, hatte in Bonn u.a. Germanistik und Kunstgeschichte studiert und war dort 1952 mit einer Arbeit über Gottfried Benn promoviert worden, deren Entstehen Benn selbst 1951 in seiner berühmten Rede Probleme der Lyrik mit deutlichem Wohlbehagen erwähnt.1 1959 war Wellershoff bei Kiepenheuer und Witsch eingetreten, wo er als Lektor die Neue Wissenschaftliche Bibliothek aufbauen sollte. (Eberhard Lämmert und Jürgen Habermas, beides berühmte Bonner Kommilitonen Wellershoffs, 2 betreuten im Übrigen deren Literaturwissenschafts- bzw. die Soziologie-Reihe.3) Nachdem Otto F. Best Ende 1959, wie Wellershoff sich erinnert, vom Verleger Joseph Caspar Witsch in einer peinlichen Szene im Beisein Wellershoffs nach allen Regeln der Kunst abgekanzelt und der weitgehenden Unfähigkeit geziehen worden war,4 war Wellershoff zudem in Bests Nachfolge „das sogenannte deutsche Lektorat“, also die deutschsprachige Belletristik,5 übertragen worden, und damit gehörten Äußerungen in

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der Hauszeitschrift des Verlags, auf der Grenze zwischen Literaturprogrammatik und Marketing, sozusagen zum Kerngeschäft Wellershoffs. Der Titel von Wellershoffs Kiepe-Text, Neuer Realismus, sollte schon bald darauf so etwas wie ein Markenzeichen werden – weniger allerdings vielleicht das Schibboleth einer tatsächlichen Gruppe oder gar Schule als vielmehr ein gruppierendes Etikett für einige gleich oder auch nur ähnlich Gesinnte – ein Etikett, das aber wohl dennoch nicht erst ex post von Literaturkritik und -wissenschaft, sondern schon von Verlags- und Lektoratsseite, nicht zuletzt aus Marketing-Erwägungen, appliziert worden ist. (Die Begriffsprägung „Neuer Realismus“ selbst geht wohl auf einen Beitrag von Walter Höllerer in der Zeitschrift Akzente zurück.6) Tatsächlich ist nachweislich früh in der Literaturkritik von einer spezifischen literarischen Gruppierung gesprochen worden – vor allem im Bezug auf die sechs Autoren, deren fotographische Porträts den Kiepe-Text einrahmen: Rolf Dieter Brinkmann, Nicolas Born, Günter Seuren, Günter Herburger, Günter Steffens und Paul Pörtner. Bereits einen Monat nach Erscheinen des Kiepe-Texts bespricht Heinrich Vormweg Nicolas Borns Roman Der zweite Tag in der Zeitung Die Welt explizit als einen „Roman eines Autors der ‚Kölner Gruppe‘“.7 Wie es nicht anders zu erwarten ist, wenn ein Begriff im Wesentlichen dadurch geprägt werden soll, dass ein besonderes Epitheton ihn von einem überkommenen Konzept unterscheidet, arbeitet auch Wellershoff sich in dem kleinen, aber prominenten Text kontrastiv an einem anderen, älteren Konzept von Realismus ab – allerdings, ohne dass das markiert würde, und womöglich auch ohne dass er selbst es so gesehen hat. Denn das Modell, das Wellershoff als Gegenmodell zu seinem eigenen vorstellt und als „jetzt […] wieder möglich“ charakterisiert, erweist sich bei genauerer Betrachtung weniger als eines nicht-realistischer Literatur (von der Wellershoff es explizit abgrenzt) denn vielmehr als eines, das in wesentlichen Punkten mit dem Bürgerlichen Realismus etwa Fontane’scher Provenienz übereinstimmt. In seinem Text beschreibt Wellershoff zunächst aber den Status Quo der Literatur „in den vergangenen Jahren vor allem in Deutschland“,8 indem er konstatiert, jene habe „einen starken Zug ins Phantastische oder Groteske gehabt“ – wofür Wellershoff selbst an anderer

„Widerstand der Realität gegen das vorschnelle Sinnbedürfnis“

Stelle Günter Grass als Beispiel anführt;9 auch Gerhard Zwerenz und Peter Weiss stehen bei ihm für diese Richtung.10 Alternativ habe sie „sich der Herstellung gegenstandsentlasteter Textmuster gewidmet“; damit meint er vor allem die sprachspielerischen Experimente von Autoren wie Helmut Heißenbüttel, Max Bense und Franz Mon.11 Die vorgenommene Setzung positiver Charakterisierungen beginnt dann zunächst wieder negativ: mit einer Absage an Metaphysik (wobei er andernorts Kafka als Beispiel für den „metaphysischen Roman“ nennt12). Im Neuen Realismus aber werde, in einer als „dialektisch“ apostrophierten Weise, das Ende der Metaphysik nicht einmal behauptet, sondern schlicht vorausgesetzt. Und weiter heißt es: „An Stelle der universellen Modelle des Daseins, überhaupt aller Allgemeinvorstellungen über den Menschen und die Welt tritt der sinnlich konkrete Erfahrungsausschnitt, das gegenwärtige alltägliche Leben in einen [!] begrenzten Bereich. Der Schriftsteller will nicht mehr durch Stilisierung, Abstraktion, Projektion seiner Erfahrungen in ein Figurenspiel eine abgeschlossene Geschichte, Allgemeingültigkeit und beispielhafte Bedeutung erreichen, sondern versucht möglichst realitätsnah zu schreiben, mit Aufmerksamkeit für die Störungen, Abweichungen, das Unauffällige, die Umwege, als den Widerstand der Realität gegen das vorschnelle Sinnbedürfnis.“13

Offenbar ist für Wellershoff das Herstellen von „Allgemeingültigkeit und beispielhafte[r] Bedeutung“ durch Projektion der „Erfahrungen“ des Schriftstellers das Gegenteil von „realitätsnah[em]“ Schreiben. Und deswegen – wohl: weil es so idealistisch ist – scheint er es eher nicht als überhaupt irgendwie realistisch aufzufassen; allein: genau hier besteht die Nähe zum Bürgerlichen Realismus. Wie sich noch zeigen wird, kann sich Wellershoff von einem solchen Konzept von, pointiert gesagt, idealistischem Realismus gar nicht distanzieren, sondern gerät mit dem, worum es ihm geht, notwendigerweise in dessen Nähe. Eher im Sinne Wellershoffs wäre an dieser Stelle wohl der abgrenzende Hinweis auf etwa mythisierende Tendenzen in der Nachkriegsliteratur, die einem „vorschnelle[n] Sinnbedürfnis“ in hohem Maße Rechnung tragen.14

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Zur Abwehr des bisher herrschenden Regiments der „allgemeinen Vorstellungen und Begriffe“ lasse der so verstandene Neue Realismus „überall das Konkrete hervor[dringen], stellenweise kommt es zu einer Inflation der sinnlichen Einzelheiten“. Und solche positiven Beschreibungen sind es, die die Nähe von Wellershoffs Konzept zu dem des Nouveau Roman15 ausstellen, ja Assoziationen etwa an Alain Robbe-Grillets Roman La Jalousie (1957) mit seiner tatsächlichen „Inflation der sinnlichen Einzelheiten“, die der Allgemeinheit von Begriffen vollständig entbehrt, geradezu erzwingen. Schon dort erscheinen, wie Wellershoff es für sein Projekt eines Realismus fordert, „Gegenstände […] nicht mehr bloß [als] Handlungsrequisit oder Detail der Kulisse, sondern sie sind für sich da“. Die Dinge haben also, so könnte man neudeutsch im Anschluss an das Paradigma der Thing Studies formulieren, eine agency, also Handlungsmacht.16 „Körperempfindungen und Gefühlsbewegungen“, heißt es bei Wellershoff weiter, – und auch dies ist nicht nur eine Forderung an eine erst noch zu schreibende deutsche Literatur, sondern bereits eine treffende Charakterisierung der vorliegenden französischen (die Wellershoff in dem knappen Text im Übrigen mit keiner Silbe erwähnt) – seien weniger als „pathetische Begleitung der Handlung“ gedacht; vielmehr erscheinen sie oft als „widersprüchlich, irrational und spontan“. Zur Darstellung kommen solle damit eine „Welt im Zustand der Unruhe, die sich im Prozeß befindet und nicht überschaubar, fertig und verfügbar ist“. In narratologischer Hinsicht folgt daraus, dass „Distanz und Überblick des allwissenden Erzählers“ aufgegeben werden, und in dieser Formulierung schlägt sich natürlich Wellershoffs Bonner Germanistik-Studium nieder; womöglich hat er sich ja mit seinem Kommilitonen Eberhard Lämmert, der 1952 über Aufbauformen und Fügemittel des Erzählens promoviert wurde, über die seinerzeitige Standard-Terminologie verständigt. Den „allwissenden Erzähler“ jedenfalls sollen „subjektive, begrenzte, momentane und bewegte Perspektiven“ ablösen, also dynamische Formen von, wie man heute mit Gérard Genette sagen würde, (variablen) internen Fokalisierungen.17 Implizit deutet sich an dieser Stelle dann ein Bezug auf filmische Verfahren an, der später an anderer Stelle noch ausgebaut werden

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wird,18 wenn Wellershoff davon spricht, dass diese „bewegte[n] Perspektiven“ durch „Wechsel zwischen Nah- und Fernsicht, Zeitdehnung und Zeitraffung“ zustande kommen sollen. Der kleine Text schließt, indem er dem Einwand vorzubeugen sucht, mit den vorgeschlagenen Erzählverfahren ginge das Moment der Gesellschaftskritik „phantastische[r], groteske[r], satirische[r] Literatur“ verloren; denn der „neue Realismus“ – der eben zum Zeitpunkt der Niederschrift noch kein Gegenstand mit dem Eigennamen „Neuer Realismus“ ist – „kritisiert sie [sc. die Gesellschaft] durch genaues Hinsehen. Es ist eine Kritik, die nicht von Meinungen ausgeht, sondern im Produzieren der Erfahrung entsteht.“ Dieser letzte Punkt aber ist vielleicht nicht maximal überzeugend, und es ist der einzige, der den Neuen Realismus nicht als stilistische Neuerung begreift, sondern sein Funktionieren und seine (gesellschaftliche) Funktion beschreibt. (Deutlich wird hier auch, dass Wellershoff für sich die Mitte der 1960er Jahre dann allgemein vollzogene „Erhebung einer historisch interessierten Soziologie zur Leitwissenschaft“19 vornimmt.) Dass Kritik, gewissermaßen scheinbar induktiv, „im Produzieren der Erfahrung entsteh[en]“ soll und nicht etwa in der „Reproduktion“, erscheint dabei eine entlarvende Formulierung. Denn wenn die Erfahrungen produziert werden, stellt sich doch die Frage nach dem Standpunkt, den Vorentscheidungen, ja Vorurteilen der produzierenden Instanz, also desjenigen, der wahrnimmt. Erwartbar ist doch, dass wenn schon nicht die unterbleibende logische Verbindung, so doch die Auswahl und auch das Arrangement der inflationär präsentierten „sinnlichen Einzelheiten“ ein gerüttelt Maß an Vorentscheidungen und damit an Voraussetzungen für diese Vorentscheidungen fordern – oder anders: eben doch „von Meinungen ausgeh[en]“. D.h. letztlich geht auch Wellershoffs Realismus in die Idealismus-Falle, in die schon Fontane getappt war. Ein kleiner Trost ist vielleicht, dass das Gegenteil auch schwer vorstellbar ist, denn so automatique kann eine écriture kaum wirklich sein, dass sie von Ideologemen ihres Autors vollständig unabhängig wäre. Auf diesen Zusammenhang wird zurückzukommen sein.

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Was man der Programmatik aber auch ablesen kann und was ihr auch schon abgelesen worden ist: dass Wellershoff sich immer noch an Gottfried Benn abarbeitet. Neben Autoren wie Beckett ist es vor allem der Gegenstand seiner Bonner Dissertation, gegen den Wellershoff, „dessen Anteil an Benns enormer Popularität nach dem Zweiten Weltkrieg nicht hoch genug eingeschätzt werden kann“,20 an einem „auf Gesellschaft und Geschichte bezogenen Erkenntnis- und Wahrheitsanspruch“ festhält.21 Für Wellershoff, dessen Auseinandersetzung mit Benn in seiner Studie Gottfried Benn. Phänotyp dieser Stunde (die 1958 als erstes Buch Wellershoffs bei Kiepenheuer und Witsch erschien22) als „eindeutig von der Auseinandersetzung mit der eigenen Zeit sowie Zeitgeisthaltungen inspiriert“ erscheint, 23 antwortet Benn (wie Beckett, Hemingway, Camus auch) auf eine der grundsätzlichsten krisenhaften Erfahrungen der Moderne: auf den Verlust jeglicher metaphysischer Behaustheit des Menschen.24 In Wellershoffs Essaysammlung Der Gleichgültige, die 1963 als Resultat einer Überarbeitung vierer 1962/63 an der Universität München gehaltener Vorlesungen erschien, heißt es dazu, die Werke der vier Genannten „bezeugen eine tiefgreifende Unsicherheit im Verhältnis von Ich und Welt, wenn nicht gar einen radikalen Bruch“ sowie, kurz und knapp, das „Ende der Metaphysik“ – und weiter: „Der absolute Bezugspunkt ist verlorengegangen, von dem aus die Welt als ein vorgegebener, allgemein verbindlicher Sinnzusammenhang verständlich wäre.“25 Von dieser letzten Feststellung: über den Verlust des Bezugspunktes für einen Sinnzusammenhang der Welt, rückt Wellershoffs Programm des Neuen Realismus nicht ab, im Gegenteil: jene ist eine der zentralen Prämissen für dieses. Die These allerdings, dass Wellershoff in seinem „erkenntnistheoretische[n] Skeptizismus“ von Benn beeinflusst sei und auch die Diagnose des „Transzendenzverlust[s]“ teile, was einen „perspektivischen Wahrheitsbegriff“ sowie die „Diskontinuität der Persönlichkeit“ zur Folge habe,26 führt doch ein wenig in die Irre der vergleichbaren Akzidenzien bei wesentlichen Unterschieden: Zum einen ist mit „erkenntnistheoretischer Skeptizismus“ wohl Wellershoffs Position eher getroffen als diejenige Benns, der eher Abscheu gegenüber der ubiquitären ‚Verhir-

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nung‘ zeigt; zudem macht es wohl einen fundamentalen Unterschied aus, ob man den „Transzendenzverlust“ als geistesgeschichtliches Faktum konstatiert oder ob man sichtlich an ihm leidet; das Gemeinsame: dass man ihn wahrnimmt, verschwindet hier hinter den Differenzen der Haltungen gegenüber der Wahrnehmung. Gerade Benns Werk erscheint Wellershoff in diesem Sinne als „konzentrierter Ausdruck der Problematik der Epoche“.27 Was Benn, nicht nur in Wellershoffs Sicht, beklagt hat, ist Grundtenor der Moderne gewesen – und grundiert als stetiges Lamento in Teilen auch noch die Post- und Postpostmoderne: Es ist die Klage über den allgemeinen Relativismus als „Verlust jedes allgemeinverbindlichen Inhaltes, die Zerstörung des Wert- und Wahrheitsbegriffes“, 28 die zu bedauern recht eigentlich sinnlos ist: weil die Alternativen meist, um es freundlich zu sagen, heillos unterkomplex sind – oder um es weniger freundlich zu sagen: nur allzu häufig ins wenigstens Faschistoide tendieren. Benn jedenfalls, so Wellershoff, konnte „den Abbau der Metaphysik und die entschlossene Diesseitigkeit des modernen Bewußtseins nur als rapiden Rangverlust des menschlichen Daseins begreifen“.29 Dass Benn aber keine legitimen Antworten zu geben gewusst hat, folgt schon aus dessen kurzem, aber durchaus entschiedenem, ja geradezu heftigem Engagement für den Nationalsozialismus im Jahre 1933. Wellershoff hat sich im Übrigen nicht dazu verleiten lassen, aus seiner angemessen schonungslosen Ideologiekritik auch eine Abwertung der Ästhetik des Ästhetizisten Benn abzuleiten. Vielmehr hat er etwa die Montageverfahren der späten Prosa Benns durchaus geschätzt – und womöglich seine Entdeckung, den jungen Rolf Dieter Brinkmann, der wiederum seine Affinität zu Benn deutlich ausgestellt hat, darin beeinflusst.30 Die zuweilen vertretene These aber, dass Wellershoff die Gründe für Benns nationalsozialistisches Engagement in dessen „Autonomie-Ästhetik“ gesehen habe, 31 bedarf doch der Präzisierung, denn sie gründet auf einem unscharfen Autonomie-Begriff. Als autonome Literatur begreift man sinnvollerweise eine solche, die frei ist, sich selbst ihre Gesetze zu geben, und nicht etwa gezwungen ist, ihr fremde inhaltliche Bestimmungen z.B. ideologischer Art anzuerkennen.32 In diesem Sinne wäre eine Literatur, die zum Engagement für politische Ziele, egal wel-

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cher Couleur, gezwungen würde, nicht autonom. Autonome Literatur ist aber stets frei, sich für alles Mögliche zu engagieren (oder auch gar nicht), während eine Literatur, die sich zur Enthaltsamkeit gegenüber allem Außerästhetischen zwingt – und das gilt etwa auch für Benns anti-nihilistisch gemeinten Ästhetizismus –, eher autark zu nennen wäre (um nicht zu sagen: autistisch). Wellershoff selbst hat 1986, im Vorwort zur Neuauflage seiner zuerst 1958 erschienenen Studie Gottfried Benn. Phänotyp dieser Stunde im Rekurs auf Hans Robert Jauß’ Positionsnahme gegen Hans-Georg Gadamers Konzept des Klassischen als desjenigen, was der Hermeneutik nicht bedarf,33 darauf insistiert, dass das Problem in „Benns Vorstellung vom statischen, in sich ruhenden, vollkommenen Kunstwerk“ liegt: „Die rezeptionsästhetische Diskussion der letzten Jahrzehnte“, so Wellershoff Mitte der 1980er-Jahre weiter, „hat wieder deutlich gemacht, daß Kunstwerke kein von ihren Betrachtern unabhängiges Leben haben, sondern durch sie mitkonstituiert, gedeutet, verändert werden, also Schnittpunkte von historisch sich wandelnden Wahrnehmungsund Erfahrungsprozessen sind und nicht die aus der menschlichen Geschichte herausragenden erhabenen Immobilien einer geschichtstranszendenten Kulturwelt, zu der vor allem der späte Benn sie hochgefeiert hat.“34

Zu ergänzen wäre: Ein ähnliches ‚Hochfeiern‘ hat Gadamer für das Klassische ebenfalls unternommen. Worin Benn für Wellershoff jedenfalls aber nicht beispielhaft ist, ist die ästhetizistische Blindheit gegenüber der Welt, die dann eben den NS-Faschismus als Angebot eines neuen geschichtlichen Sinns35 verkennen konnte. Benn hatte sich, so Wellershoff in Der Gleichgültige, „mit seinem polemischen Kahlschlag der politischen, sozialen und humanitären Kategorien beraubt, mit denen er Hitlers Machtergreifung als ein Unheil hätte definieren können. Da er die Welt zur sinnlosen Faktizität herabgewürdigt hatte, mußte es ihm nur konsequent erscheinen, daß sich ein diktatorischer Wille ihrer bemächtigte und dem ‚naturalistischen Chaos‘ eine Form aufzwang. […] Wie der Künstler wird auch der Diktator gerufen von der ‚formfordernden Gewalt des Nichts‘. Ihre Prinzipien sind die gleichen: Durch Zucht, Ordnung, Strenge

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und unerbittliche Härte gegenüber dem Material transzendieren sie das Bestehende und prägen einen Stil.“36

Eine Form, die aufgezwungen, ein Stil, der geprägt wird, und die beide politisch, sozial und humanitär indifferent sind: das sind Kategorien des Ästhetizismus; mit Kunstautonomie hat das nichts zu tun. Und genau von diesem Ästhetizismus, der, indem er sich in künstlicher Blindheit gegenüber dem Sozialen hält, in die Falle des Politischen tappt, grenzt sich Wellershoff (nicht nur) mit seinem Konzept eines Neuen Realismus ab. Eine der ersten und insgesamt prominentesten Reaktionen auf die Programmatik wie auch auf Vertreter der von Wellershoff unter dem Etikett ‚Neuer Realismus‘ etablierten Programmschiene des Verlages Kiepenheuer und Witsch stammt aus der Feder des bis zu seinem Tode im Jahr 2015 – um das Mindeste zu sagen – stets streitbaren Gerhard Zwerenz. Sie erschien 1967 in der Streit-Zeit-Schrift, die von der „Eremiten-Presse“ des Verlegers V.  O. Stomps genau zu solchen Zwecken herausgegeben wurde, und trug den wenig Zweifel an der ausgedrückten kritischen Haltung lassenden Titel Das neue Geschwätz. Und dass Zwerenz den Neuen Realismus im Untertitel einen Kölner Realismus nennt, soll bestimmt keiner Reverenz an die Domstadt Ausdruck verleihen, sondern eher eine lokal begrenzte Wirkung assoziieren – oder noch deutlicher: Provinzialismus. Zwerenz rekonstruiert hier den ja offenbar intendierten Anschluss des Neuen Realismus an den französischen Nouveau Roman und charakterisiert jenen als Ausdruck eines „Adoptionssyndrom[s]“.37 Die von Zwerenz unterstellte Anpassung jedenfalls habe zweierlei Entscheidendes übersehen – oder anders: weder die damit intendierte negative noch die positive Selbstpositionierung gehe auf. Zum einen richte sich der Nouveau Roman „in Frankreich gegen die vorhandene etablierte Literatur“, allein: „eine vergleichsweise etablierte, herrschende Literatur gibt es in Deutschland nicht. In der deutschen Literatur fehlen die verbindenden Merkmale des Stils und der Ideologie; zwischen Grass, Bachmann und Jens beispielsweise genau

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jene Gemeinsamkeiten, die etwa zwischen Sartre und Camus, bei allen sonstigen Gegensätzen, bestanden. Mithin entfällt in Deutschland der Grund, dem alten Stil einen neuen, der herrschenden Schreibweise eine axiomatisch neue entgegenzustellen. Wer hier verändernd wirken und junge Autoren ermutigen will, muß die etablierte Literatur anders angreifen. Gerade dies unterließ Wellershoff. Er suchte sich kurioserweise bei der Gruppe 47 anzuschließen, ganz so, als müsse diese auf Nepotismus (nicht auf Stil oder Ideen) gegründete Gemeinschaft ihm applaudieren. Sie tat’s, in wohlverstandener Wahrung ihrer Interessen, zögernd und später gar nicht mehr.“38

Der unterstellte Anschluss an die Gruppe 47 erscheint so eindeutig gewünscht aber nicht, wie Zwerenz insinuiert – zumal von einem konsensuellen Programm der Gruppe 47 zum Zeitpunkt von Wellershoffs Debüt dort, 1960, schon nicht mehr die Rede sein konnte (was Zwerenz, wohl unfreiwillig, selbst aufdeckt: wie soll man sich konzeptuell an „Nepotismus“ anschließen?); vielmehr befand sie sich „in einer Phase zunehmender Desintegration, die nicht zuletzt von den Kritikern geprägt wurde“. Mit seiner „Enttabuisierung des Realismus-Begriffs“, die nicht zuletzt auf die Zustimmung des eine immer entscheidendere Stimme gewinnenden Marcel Reich-Ranicki stieß, profilierte Wellershoff sich vielmehr in einer Kontroverse innerhalb der Gruppe 47.39 (Von seinem Verleger wird Wellershoff ein stärkeres Engagement in der Gruppe 47 übrigens eher nicht nahegelegt worden sein, denn Witsch stand dieser offenbar, wohl auch aus politischen Gründen, sehr reserviert gegenüber – während andere Verlage, ganz prononciert etwa die Deutsche Verlags-Anstalt, sie als eine Art „Autorenreservoir“ nutzten.40) Da Zwerenz zumindest in seiner eigenen Einschätzung mit dem mangelnden Establishment und dem fehlenden Verbindenden zwei Existenzgründe des Neuen Realismus erledigt hat, „bleibt nur ein dritter Grund übrig: die Werbung“. „Wellershoffs Arbeit“ als Lektor richte sich, so Zwerenz, „gegen den Suhrkamp Verlag, der weithin und nicht grundlos als führend in der Förderung jüngerer Autoren gilt“: „Wollte Wellershoff, Cheflektor bei Kiepenheuer & Witsch, ein Parallel- und auch Kontrastprogramm entwerfen, mußte ihm der ‚neue realismus‘ dazu gerade

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recht kommen. Mit Hilfe dieses Programms ließ sich das zunächst zwangsläufig mäzenatische Vorhaben dem geldgebenden Verlag gegenüber erst einmal durchsetzen. Auch konnte man, in einer theoriefreundlichen Zeit, bei der Kritik auf Sympathie rechnen. Letzteres erwies sich allerdings bald als Fehlspekulation. Die Kritik war zwar den Theorien geneigt, den danach verfaßten Büchern aber schon weniger.“41

Zwerenz war im Übrigen nicht allzu lange Zeit zuvor noch selbst als Autor bei Kiepenheuer und Witsch gewesen, und Wellershoff schätzte ihn offenbar zu Beginn seiner Lektorentätigkeit als Autor sehr, wie sich seiner Einschätzung der Situation bei Kiepenheuer und Witsch zum Zeitpunkt der Übernahme des „deutschen Lektorats“ ablesen lässt: „Da lag vieles brach. Außer Heinrich Böll und Gerhard Zwerenz gab es keine nennenswerte deutsche Gegenwartsliteratur.“42 Im September 1961 dann kam es aus recht unklaren Gründen – wohl weil der sowieso auch wenig konziliante Zwerenz das Gefühl hatte, von seinem Verlag nicht hinreichend unterstützt zu werden – zum Bruch mit Witsch und zum Verlagswechsel.43 In seiner Replik auf Zwerenz nun agiert Wellershoff, wie man zugeben muss, kaum eleganter, indem er dessen Kritik als Rüpelei charakterisiert: Zwerenz, so Wellershoff, „rempelt mich nur an, weil er glaubt, auf diese Weise Profil zu gewinnen als ein kraftvoller Poet“. Und dann folgt ein Ausflug in die (Küchen-)Psychologie, der hier aber wegen einer geographischen Pointe nicht unterschlagen werden soll: „Wahrscheinlich muß er sich auch noch einen seelischen Ausgleich dafür verschaffen, daß ich ihm in Düsseldorf in einer öffentlichen Diskussion gesagt habe, sein vermeintlich ursprüngliches Fabulieren sei nur die rhetorische Ausbreitung längst abgeleierter Klischees.“44

Aber von der Wäsche, die womöglich ausgerechnet in Düsseldorf – immerhin die Heimatstadt von „Persil“ – beschmutzt worden ist und hier bei Wellershoff gewaschen wird, zurück zur Kölner Programmatik. Mit Zwerenz’ Text stehen seit spätestens 1967 drei Positionen im Raum, zwischen denen seinerzeit kaum zu vermitteln war, die aber leicht zu

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vermitteln sind, weil sie wohl alle als Aspekte ihre Berechtigung haben: als Antwort auf die Frage nämlich, ob es sich beim Neuen Realismus um eine echte Schule, d.h. um die Gemeinsamkeit einer Produktionsgemeinschaft, oder um ein Etikett, das in der (kritischen) Rezeption appliziert worden ist, oder schließlich um ein schlichtes Marketinginstrument handelt. Helmut Peitsch konstatiert: „Es war […] keineswegs nur die Kritik, die post festum Gemeinsamkeiten erfand, sondern schon die Verlagsankündigungen akzentuierten die Zusammengehörigkeit der wichtigsten Autoren von Kiepenheuer und Witsch unter dem Stichwort des Neuen Realismus.“ Allerdings ist auch wieder fraglich, ob die vorliegende „Zusammengehörigkeit“ von den Verlagsankündigungen nur „akzentuiert“ worden ist; denn zugleich muss Peitsch konzedieren, dass Zwerenz mit seinem Vorwurf der „Werbung“ auch nicht vollständig falsch gelegen habe, weil der „Neue Realismus“ für Wellershoff eben auch ein „Markenzeichen“ des Verlags sein sollte.45 Sicher gehören Marketing-Erwägungen, die sich etwa in Paratexten wie Umschlagtexten („U4“) niederschlagen, eher auf die Produktions- als auf die Rezeptionsseite der Literatur; kategoriell dasselbe wie intentionale Akte der Autor*innen (wie der des Zusammenschlusses zu einer Gruppierung, gar einer Schule) werden jene dadurch nicht. Wahrscheinlich ist die Wahrheit ein wenig komplexer, wenn auch nicht wirklich kompliziert: Wellershoff wird als Lektor eine gewisse Gemeinsamkeit literarischer Erzähltexte – untereinander wie auch mit seinen eigenen Vorstellungen – auf seinem Schreibtisch aufgefallen sein; er wird sie zugleich konzeptuell zu fassen gesucht wie auch lektorierend sicher nicht geschwächt haben; die Etikettierung wie auch die Verwendung des Etiketts in Verlagsankündigungen etc. hat selbstverständlich normierend auf die Rezeption gewirkt und auch nachfolgende entsprechende Produktionen wohl eher nicht verhindert. Ob diese im 20. Jahrhundert ganz standardmäßige Rückkopplungsschleife (verglichen mit dem 21. Jahrhundert fehlen noch Momente wie der pseudo-schwarmintelligente „Amazon“-Kundenkommentar und Empfehlungen vom Typ „Kunden, die x gekauft haben, haben auch y gekauft“) die Außenseite einer echten ‚Schule‘ darstellt, lässt sich wohl schwerlich eindeutig beantworten.

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Die sechs Autoren jedenfalls, deren Porträts den Kiepe-Text umrahmen, seien ein einziges Mal zu einem Gespräch zusammengetroffen und haben teilweise, wie Wellershoff selbst auch, später explizit berichtet, dass sie sich nie als Gruppe verstanden haben – worauf Eike Vollmuth bereits 1979 in seiner Dissertation über Wellershoff hingewiesen hat, weswegen er auch dezidiert von einer „nichtexistente[n] ‚Kölner Schule‘“ spricht.46 Der Begriff „Schule“ ist, Wellershoffs Erinnerung zufolge, in diesem Zusammenhang zuerst bereits 1964 auf einem Autorentreffen mit dem Verleger Witsch in Kronenburg in der Eifel gefallen.47 Dieses Treffen fand vom 3. bis 5. Juni 1964 pittoresker- und vor allem irritierenderweise im ehemaligen Haus des ab 1933 an der Düsseldorfer Kunstakademie tätigen NS-Monumentalmalers Werner Peiner statt, in dem auch schon Göring und Goebbels zu Gast gewesen waren und in dem Peiner eine Meisterschule für systemverherrlichende Kunst betrieben hatte, wie sich in Frank Möllers monumentaler Studie zur Verlegertätigkeit von Joseph Caspar Witsch nachlesen lässt.48 Tatsächlich irritiert von heute aus gesehen das offenbar wenig ausgeprägte Bewusstsein für die Altlasten des Ortes – und das, wo das respektheischende Anwesen durchaus die Anmutung einer kleinen privaten SS-Ordensburg hatte. Interessant ist auch das merkwürdige Verhalten, das der wohl berühmteste Autor aus Wellershoffs vorgeblicher Schule bei diesem Treffen an den Tag gelegt hat: Rolf Dieter Brinkmann. Hiervon berichtet der ehemalige Vertriebsleiter von Kiepenheuer und Witsch, Jörg Schröder: „Am zweiten Tage war Rolf Dieter Brinkmann dran, und sein Text ekelte mich an, nicht wegen des Inhalts, der Zersetzung aller möglichen Organe, nein, das konnte einen nicht aufregen, das hatte man alles schon gelesen, Lautréamont und Expressionismus und Benn, das war nichts Schockierendes für einen geübten Literaturmediziner. Weshalb mich sein Krebstext anekelte? Ich war bisher noch nie einem Autor begegnet, der grün war im Gesicht. Das lag nicht an seiner Identifikation mit dem Text, er hatte einfach Lampenfieber. […] Bevor er anfing, zu lesen, beschwerte er sich dann in einem wüsten Ausfall darüber, daß er überhaupt lesen müsse, beschimpfte alle Anwesenden, aber auch Gott und die Welt.

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Das war sie, diese Attitüde, die in seinen späteren Aufwallungen und Beschimpfungen immer wiederkam. Solch einen Randalierer kann man, je nach Gusto, sensibel oder eben einen Kotzbrocken nennen. Jemand, der Schwierigkeiten mit sich und seiner Umwelt hat und der das in wüster Form, je nach Intensität der Schwierigkeiten, rausläßt, anderen damit auf den Wecker geht. […] Ich sagte also laut: ‚Laßt ihn doch, wenn er nicht lesen will.‘ Da stand Heinrich Böll auf, als guter Mensch von Köln und sprach von hinten dumpf aus den Arkaden heraus, legte seinen Kopf schief, wie das gute Menschen machen, hob zu einem Beruhigungssermon an, man müsse das verstehen, daß dies eben ein junger Autor sei; also nicht freies Geleit für Brinkmann, aber schon sehr dieser Ton überirdischen Verständnisses.“49

Doch zurück zu Wellershoff und seinem Konzept. In dem Essay Wiederherstellung der Fremdheit, der in dem Band Literatur und Veränderung. Versuche zu einer Metakritik der Literatur 1969 bei Kiepenheuer und Witsch publiziert wurde, nutzt Wellershoff die kritischen Reaktionen auf das Konzept zur Schärfung des Begriffs des Neuen Realismus. Seiner Darstellung zufolge handelt es sich eigentlich um ein dialogisch entwickeltes Konzept, das seine konzeptuelle Fassung womöglich erst in der Auseinandersetzung mit Reaktionen auf erste weniger programmatische Äußerungen erhalten hat; denn zunächst habe er den Begriff nur geprägt, „um die Richtung meiner Interessen ungefähr zu bezeichnen […]. [E]s war die beiläufige, improvisierende Benennung einer Perspektive, aber Gewohnheit und Widerspruch haben den Begriff dingfest gemacht.“50 Von der Heftigkeit der Reaktionen auf die vorgebliche terminologische Improvisation ist Wellershoff offenbar überrascht worden, denn weiter heißt es: „Überall stieß ich auf Vorurteile. Sie lagen wie Krokodile auf ihren Sandbänken und schnappten, wenn ich das Wort ‚Realismus‘ gebrauchte.“51 (In einem dieser Krokodile lässt sich natürlich unschwer Gerhard Zwerenz wiedererkennen.) Die Vehemenz der Gegenangriffe erklärt Wellershoff letztlich mit einem Missverständnis: damit,

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„daß man unter Realismus nicht eine unabschließbare Tendenz verstand, die fortschreitende, und sich dauernd verändernde Artikulation der grundsätzlich unausschöpfbaren Wirklichkeit, sondern dabei an erstarrte Konzepte dachte, etwa an die oberflächliche Milieutreue und die schablonenhafte Psychologie, wie sie zum Beispiel heute im Kriminalroman üblich ist. Sicher war der Begriff in Deutschland auch durch die Nachbarschaft des sozialistischen Realismus tabuisiert.“52

Zur Erinnerung: Dieser Rückblick stammt aus dem Jahre 1969, also aus einer Zeit, in der die von Willy Brandt und Walter Scheel initiierte und erst zu wirken beginnende neue Ostpolitik noch als Unterhöhlung der von Adenauer vorangetriebenen Westbindung, wenn nicht als Vaterlandsverrat, perhorresziert wurde. Schon indem er auf das Tabu auch nur einer Nähe zum sozialistischen Realismus hinweist, deutet sich an, dass Wellershoff gegen den weit verbreiteten Antikommunismus – den sein Verleger im Übrigen aufs Entschiedenste und Merkwürdigste beförderte53 – auf eine Aufweichung der Fronten des Kalten Krieges setzte.54 Erneut macht Wellershoff im späteren Essay vor allem deutlich, von welcher Art von Literatur er sich mit seinem Begriff, der wie so viele Begriffe als Gegenbegriff stärker konturiert ist denn als positiv gesetzter Begriff, kontrastiv abzusetzen sucht: Es sind das Groteske einerseits, das Metaphysische andererseits, wobei hier ganz deutlich wird, dass Wellershoff bei Letzterem weniger an Andeutungen eines metaphysischen Restes denkt, wie man sie etwa bei Kafka vorfinden (oder doch zumindest in ihn hineingeheimnissen) kann. Offenbar meint Wellershoff vielmehr die Versuche einer metaphysischen Wiederbehausung wie etwa durch den selbsternannten Kafka-Adepten Hermann Kasack, der 1947 mit seinem Erfolgsroman Die Stadt hinter dem Strom nicht weniger zu liefern meinte als eine geschichtsphilosophisch-mythisch-metaphysische Sinngebung der angeblich nur scheinbar so nihilistischen Moderne mitsamt des Zweiten Weltkriegs: „Für mich war Realismus zunächst nur ein grober Unterscheidungsbegriff, mit dem ich mich abgrenzen wollte von der manieristischen und grotesken Literatur vor allem in Deutschland, einer Stilrichtung, die mit fantastischen Erfindun-

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gen, parodierender [!] Rhetorik und Allegorien arbeitet und überall die bizarren Effekte sucht. Ich distanzierte mich damit auch von der metaphysischen Literatur, die immer noch universelle Daseinsmodelle und Sinnbilder, wenn auch vielleicht der Sinnferne schafft.“55

Mit „Sinnbilder […] der Sinnferne“ sind Kafkas Romane womöglich angemessen zu beschreiben; „universelle Daseinsmodelle“ aber haben in der frühen Nachkriegszeit vor allem Autoren wie Kasack (oder auch Hans Erich Nossack und Ernst Jünger) geliefert.56 Wenn Wellershoff in der Folge das für ihn „entscheidende Kriterium“ dessen, was in der Literatur für „konservativ und traditionell“ zu halten sei, benennt, dann assoziiert das genau solche Literatur – sowie noch, überraschender-, und von Wellershoff eher nicht intendierterweise, etwas anderes: Was Wellershoff hier explizit ablehnt, ruft implizit nichts anderes auf als den Bürgerlichen Realismus Fontane’scher Prägung: „nämlich die Tendenz, die Realität durch Abstraktion und Stilisierung radikal zu vereinfachen und zu ordnen zu einem Bild aus wenigen sinnvoll ausgewählten, sinnvoll aufeinander bezogenen und deshalb bedeutend wirkenden Elementen, zu unterstellen, das sei der ideale, vom Unwesentlichen gereinigte Bauplan der nur scheinbar so verwirrenden, undurchschaubaren und deshalb bedrängenden Wirklichkeit, die nun im Sinnbild gebannt und geklärt, durch eine Form distanziert und verfügbar gemacht sei. Dieser geheime Platonismus schafft bequeme Gemeinplätze und sperrt die Erfahrung in seine institutionell werdenden Muster ein.“57

Das „vom Unwesentlichen [G]ereinigte“ ist aber exakt das, was Fontane in seinem programmatischen Text Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 explizit zum Gegenstand der Literatur des Bürgerlichen Realismus bestimmt und was sich genau deswegen im höchsten Maße als das „Ideale“ erweist.58 Hier zeigt sich erneut die dem Konzept des Realismus offenbar grundsätzlich immanente Überbietungslogik; denn wie schon durch den später so genannten Naturalismus, der sich selbst ja in Teilen als

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eigentlicherer Realismus verstand, wird hier ein angeblich nur angeblich realistisches Konzept durch ein angeblich wirklich realistisches Konzept überboten. Wenn Wellershoff seinen Neuen Realismus als „immer neue[n] Versuch“ bestimmt, „etablierte Begriffe und Ordnungsgestalten aufzulösen, um neue bisher verbannte Erfahrungen zu ermöglichen, das Gegenteil also einer Wiederholung und Bestätigung des Bekannten“,59 dann scheint eine implizite Bezugnahme auf Brechts Konzept der Verfremdung ebenso auf wie auf Hegels diesem zugrundeliegenden Diktum, demzufolge „das Bekannte […] darum, weil es bekannt ist, eben nicht erkannt“ ist.60 Deutlicher noch wird dieser Rekurs direkt in der Folge, wenn Wellershoff programmatisch formuliert: „Unter Routine und schablonenhafter Informiertheit verschwindet die Realität, wird formal und abstrakt. Realistisches Schreiben wäre die Gegenbewegung, also der Versuch, der Welt die konventionelle Bekanntheit zu nehmen und etwas von ihrer ursprünglichen Fremdheit und Dichte zurückzugewinnen, den Wirklichkeitsdruck wieder zu verstärken, anstatt von ihm zu entlasten.“61

Dabei sieht Wellershoff durchaus auch die grundsätzlich positive Leistung einer Entlastung vom „Wirklichkeitsdruck“: In seinen anthropologischen Erwägungen beruft er sich in diesem Punkt „auf Arnold Gehlen, der in seiner Anthropologie verständlich gemacht hat, daß das diffuse Reizchaos, dem der Mensch aufgrund seiner biologischen Unspezialisiertheit oder Weltoffenheit ausgeliefert wäre, abgefangen und geordnet werden muß durch kulturelle Schemabildungen, Denk- und Wahrnehmungsgewohnheiten, die er als vermittelnde und distanzierende Instanzen in die Subjekt-Objektbeziehung einschiebt und die ein Ersatz sind für die einfachen Reizbilder, die das Instinktverhalten der Tiere regeln.“62

Weil der Mensch als „Mängelwesen“63 (so ja die berühmt-berüchtigte Formel Gehlens) über keine Instinkte verfügt, die ihm Reaktionen auf Reize vorgäben, muss er seine Wirklichkeit schematisch ordnen; Lite-

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ratur ermöglicht ihm Freiräume eines alternativen Handelns, das dem negativen Effekt dieser Schemata: der Verfestigung der Realität zur (vorgeblichen) Alternativlosigkeit, entgegenzuwirken vermag. Auf dieser Höhe der Abstraktion stellt sich aber ja doch die Frage, wie solche Literatur eigentlich konkret aussehen soll. Als formales Paradigma eines solchen realistischen Erzählens verweist Wellershoff nun, im Essay, ausführlich auf den Film, der sowohl metaphorisch wie auch medienkomparatistisch als Bezugsgröße eingeführt wird: „Realistisch […] wäre eine bewegte, subjektive Optik, die durch Zeitdehnung und Zeitraffung und den Wechsel zwischen Totale und Detail, Nähe und Ferne, Schärfe und Verschwommenheit des Blickfeldes, Bewegung und Stillstand, langer und kurzer Einstellung und den Wechsel von Innen- und Außenwelt die konventionelle Ansicht eines bekannten Vorgangs und einer bekannten Situation so auflöst und verändert, daß eine neue Erfahrung entsteht. Die subjektive Blickführung, verwandt den Kamerabewegungen des Films, demontiert die konventionellen Sinneinheiten, zerlegt und verzerrt sie, isoliert Einzelheiten, macht sie auffällig, zeigt das Fremde, Ungesehene im scheinbar Bekannten und fügt neue ungewöhnliche Komplexe zusammen.“64

Zerlegung und Verzerrung von „konventionellen Sinneinheiten“, die Isolation von Einzelheiten, oder kurz: eine „Technik der Dissoziation“, sollen zum Einsatz kommen und dem Leser zu Bewusstsein bringen, „daß der Ordnungsgrad der Realität immer überschätzt wird“ oder, wie man heute zumindest in kulturwissenschaftlich informierten Kreisen sagen würde, dass die Kontingenz dessen, was konventionell als Realität angenommen wird, immer unterschätzt wird. Der Grund dafür liege, so Wellershoff, in der „Realitätsabwehr des rationalen Sehens“, einem quasi Ideologie-stabilisierenden Verfahren zur Ausblendung des Kontingenten, des ‚Zufälligen‘ und ‚Sinnlosen‘ ebenso wie dessen, was sich zur eigenen Ideologie inkonsistent verhält: des ‚Widersprüchlichen‘.65 In narratologischer Hinsicht erweist sich dies als Ruf nach der Perspektivierung auf Figuren und deren Inneres – modernistisch gesprochen, nach variablen internen Fokalisierungen –, und zwar so, dass die Irritationen der Wahrnehmung, die Effekte derjenigen Reali-

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tätspartikel, die sich dem Vorgefassten gerade nicht fügen, ausgestellt werden. Denn der Einsatz der Alternative: auktoriale Erzähler, die die Kontingenz dekretieren würden, bedeutete, den Teufel der Ideologie mit einem ideologischen Beelzebub auszutreiben – oder, etwas weniger wohlwollend formuliert, er würde ausstellen, was sich kaum vermeiden lässt: Es ist zwar immer ein etwas billiges Argument – aber das heißt ja nicht, dass es immer auch falsch ist –, wenn man bemerkt, dass die Gewissheit der Ungewissheit auch eine Gewissheit ist. (Sokrates hätte in letzter Konsequenz eigentlich seine Unsicherheit darüber formulieren müssen, ob er wirklich nichts weiß.) Was dann in der Perspektive auf die Figuren und deren Ungewissheiten dargestellt werden soll, konkretisiert Wellershoff unter Verweis auf Nathalie Sarrautes Konzept des „Subdialogs“: „das unaufhörliche Entstehen flüchtiger, unfertiger Gedanken, die nicht oder nicht unmittelbar zu Wort kommen und dem wörtlich Gesagten widersprechen oder sich schließlich in ihm vermummen“.66 Der Grund desjenigen, was da als „flüchtig“ und „unfertig“ entsteht, zeigt seine nahe Verwandtschaft zu Sigmund Freuds Konzept des Unbewussten, wenn Wellershoff mit deutlichem Anklang an freudianische Psychoanalyse formuliert: „Durch die Verlegung der Perspektive in einen der Sprechenden, also durch ihre Subjektivierung richtet sich die Aufmerksamkeit auf die unreglementierten Antriebe und kaum bewußten Motivationen des Sprechens und auf die Verdrängungen, Verschiebungen und Veränderungen, die stattfinden, wenn sie formuliert werden.“67

Neben der Verlagerung der Perspektive ins Innere der Figuren als Raum der Unsicherheit plädiert Wellershoff aber auch für eine stärkere Aufmerksamkeit auf eine Ausdrucksseite: auf die „Körperreaktionen der Menschen“. Was er hier projektiert, ist eine Art Hermeneutik des unbewussten Körperausdrucks. „Denkbar“ sei nämlich, „daß diese Vorgänge“ – Wellershoff nennt paradigmatisch „erbleichen, schwitzen, zittern oder in Ohnmacht fallen“ –,

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„die ja, kaum bewußt, immer ablaufen, die Wichtigkeit einer zweiten selbständigen Sprache bekämen, die das bewußte Handeln, Denken und Sprechen dauernd begleitet. Einem solchen Blick erschiene das menschliche Verhalten wahrscheinlich weniger personhaft und bewußt und vielleicht sogar beängstigend irrational, aber er erfaßte besser die geheimen Impulse, die die Person unterlaufen und durchfluten und die vielleicht ihr gehemmtes und abgespaltenes Leben sind.“68

Ein Problem aber stellt sich hier ja ganz unabweisbar: So „geheim“ sind die „Impulse“ in der Literatur ja nicht, weil sie doch vom Autor erfunden und in einer fiktiven möglichen Welt angesiedelt sind. Hier gilt wie immer: Literatur ist kein Erkenntnisinstrument sui generis; vielmehr ist sie ein Instrument zur Darstellung von Erkenntnis – und v.a. Wahrnehmung. Für den Autor gilt, dass er nur darstellen kann, was er sich vorher zur Darstellung vorgenommen hat (häufig ja nicht einmal das). Er kann seinen eigenen literarischen Text nur sehr eingeschränkt zur Erkenntnis des ihm zuvor Unbekannten verwenden. (Eine winzige Ausnahme wäre eben die écriture automatique.) Das ist eine herzerfrischend banale Erkenntnis. Sie wird erschütternd häufig übersehen. Im hier ausführlich zitierten Essay Wiederherstellung der Fremdheit kommt Wellershoff auf zwei eigene Romane zu sprechen, von denen der erste im Folgenden als Beispiel für die von Wellershoff gemeinten literarischen Verfahren kurz vorgestellt werden soll, bevor dann noch kurz Rolf Dieter Brinkmann in den Blick genommen werden soll, der das Programm des Neuen Realismus allerdings geradezu sprengen wird. Wellershoffs Roman Ein schöner Tag – der Titel ist ironisch – erschien, nach Teilvorabveröffentlichungen in den Zeitschriften Merkur und Akzente, 1966 in dem Verlag, in dem Wellershoff als Lektor tätig war. Die Handlung des Romans ist einigermaßen belanglos und definitiv nicht das Wesentliche des Inhalts, der seinerseits die eindeutige Signatur der Nachkriegszeit trägt. Der Klappentext gibt den Inhalt des Romans durchaus treffend wieder, was ja wahrlich nicht selbstverständlich, im Falle der Personalunion von Autor und Cheflektor aber doch auch wieder ein wenig erwartbar ist; dort heißt es:

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„Sein [sc. Wellershoffs] Roman zeigt am Beispiel von drei Personen – Vater, Tochter und Sohn – das versteckte Leben einer Familie, das Gegeneinander der heimlichen Wünsche, Ängste und Aggressionen, den gestauten Lebenshunger, der immer wieder in unerwarteten Handlungen ausbrechen kann. Der Vater tut alles, um die Familie zusammenzuhalten, aber das phantastische Projekt eines Hausbaus, das die Idylle wiederherstellen soll, treibt die Familie erst recht auseinander.“69

Und das Geld, mit dem der Vater den Hausbau finanzieren will, soll aus dem sog. Lastenausgleich stammen, also aus Ansprüchen nach dem Lastenausgleichsgesetz aus dem Jahre 1952, mit dem die Bundesregierung Vermögensschäden von Bundesbürger*innen, die infolge des Zweiten Weltkriegs eingetreten waren, ausgleichen wollte. Weiter heißt es im Klappentext: „Der Sohn nimmt eine Reise zum Anlaß der Flucht und gerät in ein vages Abenteuer“ – gemeint ist ein sexuelles Abenteuer –, „eine Freiheit, der er nicht gewachsen ist. Auch die Tochter, die schon lange versucht, sich zu befreien, verläßt den Vater, um dem Bruder zu helfen und selbst etwas zu erleben.“70 Man sieht: ein durchaus erbaulicher Text, der von dem bleiernen Zeitempfinden der mittleren 1960er-Jahre sowie dem Muff, der sich ja nicht nur unter Talaren fand, durchdrungen ist und die latenten gesellschaftlichen Spannungen spüren lässt, die sich etwa zwei Jahre nach seinem Erscheinen entladen werden. Konkret geschildert wird vor allem der Alltag, aber nicht aus der Überschau etwa eines auktorialen Erzählers, sondern als „Erlebnisreflex der Familienmitglieder“.71 Der Roman beginnt mit folgenden Sätzen, die das Erwachen des Vaters schildern: „Obwohl er schon wach ist, sieht er es noch immer. Es sind durchsichtige Blasen, die knisternd stillstehen und sich untereinander nur bewegen, wenn eine von ihnen platzt. Einige sind sehr groß, dazwischen sitzen kleinere in unregelmäßigen Formen und dazwischen wie ein versickerndes Gesprühe noch kleinere, die er kaum noch sieht.“72

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Das beschreibt kein Geschehen, sondern rein subjektive Wahrnehmung auf der Grenze zwischen Traum und Tagesgeschäft. In formaler Hinsicht bemerkenswert ist, dass wie im Zitat der gesamte Roman, durchaus ungewöhnlich, im Präsens formuliert ist – deutliches Signal dafür, dass das „Zeiterleben“ der Figuren, wie es in der Wellershoff-Monographie von Werner Jung heißt, „ganz auf die gelebte Gegenwart, die Alltäglichkeit in ihrer grauen Lebenswelt eingestellt ist“.73 Paradoxerweise gilt tatsächlich, dass die grammatisch hergestellte Gegenwart des Erzählten vor allem die Zukunftslosigkeit der Figuren sinnfällig werden lässt, die im Hier und Jetzt alles tun, nur eines nicht: im starken Sinne leben. Oder, wie der Autor selbst es gefasst hat: Ein schöner Tag „war im Präsenz [!] geschrieben und folgte bewußt einer zwanghaften Chronologie, die die Zeit zu einer Folge zäher Gegenwarten machte, in denen alles stillzustehen und sich zu schwerfälligen Widerständen zu verdicken drohte. Das war die strukturelle Lösung, die ich für das Thema eines zukunftslosen, gefesselten Lebens gefunden hatte.“74

Die Vergangenheit des gut 20 Jahre zurückliegenden Krieges ist in diversen (Alt-)Lasten präsent; aufgearbeitet ist sie nicht. Dieser Zusammenhang bleibt aber in die singuläre Zeichenhaftigkeit des Bezugs auf das Lastenausgleichsgesetz gewissermaßen eingekapselt: Der Roman beschreibt, auf der Oberfläche quasi-phänomenologisch, eine kleine Zahl perspektivenloser Leben, die in einem familiären, aber keinem explizit gesellschaftlichen Zusammenhang stehen. Es werden Symptome geschildert, eine Diagnostik findet (zumindest anscheinend) nicht statt. Von der Kritik ist Wellershoffs Programm samt seiner Umsetzung gemischt aufgenommen worden. Der später u.a. als Merkur-Herausgeber hochberühmte Karl Heinz Bohrer wirft Wellershoff in einem längeren Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vor, indem er in einer „äußersten Subjektivität der Perspektive“ der Figuren „das Allernächste, Vorgänge am eigenen Körper, Farben, Geräusche der nächsten Umgebung [registriere]“, letztlich dem Leser, außer mühseligen Lektüreerfahrungen, wenig zu bieten: „Der Autor erfindet nichts mehr, sondern arrangiert ein ‚Bewußtsein‘, das zwar Erfahrungen des eige-

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nen Bewußtseins enthält, aber – ohne Rollenprosa zu werden – den Beschränkungen von Raum und Zeit buchstäblich unterliegt.“75 Gemeint ist offenbar, dass die „äußerste[] Subjektivität“ der Figuren nicht erfunden ist, sondern in „Erfahrungen des eigenen Bewußtseins“ des Autors gründet. Das bedeutet aber insofern, so könnte man paradox formulieren, einen originellen Vorwurf, als er jedem gemacht werden könnte, der ein Innenleben von literarischen Figuren schildert. Subjektivität kann schließlich schlechterdings nicht von außen beobachtet werden; sie wird immer, im Analogieschluss aus dem eigenen Bewusstsein, vom Beobachter unterstellt. Originell ist der Vorwurf hier, weil die Kritik sonst eher, salopp formuliert, in die Realismus-Falle getappt ist, indem sie die Prätention von vorurteilsfreier, gewissermaßen nackt-phänomenologischer Schilderung der Alltagsrealität für genau das hält, was sie nicht ist, was sie einerseits nicht sein kann, andererseits nicht sein will: die vorurteilsfreie Schilderung der Alltagsrealität.76 Eines der wohl frühesten Zeugnisse der akademischen Rezeption Wellershoffs stammt wie dieser aus dem Rheinland: Im Wintersemester 1966/67 hielt Peter Kern, nachmals Professor für Ältere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Bonn, dortselbst im Oberseminar von Benno von Wiese, das unter dem Thema „Literaturkritische Übungen zur zeitgenössischen Dichtung“ stand, ein Referat über Wellershoffs Roman, das von Wiese dann als Aufsatz in den 1968er-Jahrgang der von ihm mitherausgegebenen Zeitschrift für deutsche Philologie aufgenommen hat. Dort lobt Kern den Roman für die innere Stimmigkeit, mit der er eine „Dauerkrise“ zeige, deren „Grund“ in den „Personen“ liege: in deren „Mangel an Aktivität, Energie, zielbewußtem und konsequentem Handeln und Denken“.77 Er moniert hingegen: „Der Roman zeigt viel zu wenig die Verflochtenheit seiner Personen in bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse, der Rahmen bleibt allzu privat ‚beschränkt‘, als daß der Leser seine Welt darin zu erkennen vermöchte; die Romanfiguren benehmen sich allzu krankhaft und machen es dem Leser dadurch nicht besonders leicht, ihre Stelle einzunehmen und damit ihr Problem zu dem seinigen zu machen.“

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Dahinter steht ein grundsätzlicheres Programm, denn, so Kern, nur wenn der Roman „auf ein weitaus verbreiteteres Phänomen unserer Gesellschaft aufmerksam“ machen wolle, könnte er „mit einem allgemeinen Interesse rechnen“.78 Diese radikale Position, der zufolge ein „allgemeines Interesse“ für einen Roman nur dann aufzubringen ist, wenn der Leser „sich darin erkennt“ – und zwar in einer „Verflochtenheit […] in bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse“, die auch seine eigenen sind –, ist deswegen auch wissenschaftssoziologisch bemerkenswert, weil sich hier, (ausgerechnet) in Benno von Wieses Oberseminar, eine entscheidende Wende abspiegelt, die das Fach Germanistik parallel zu innerliterarischen Entwicklungen gerade zeitgleich, beginnend mit dem Germanistentag Ende 1966 in München79 und dann v.a. im Gefolge der 68er-Ereignisse und ‑Veränderungen, vollzog: die Wende hin zu größerer gesellschaftlicher Relevanz, ja gesellschaftlicher Einflussnahme. Kern gerät hier durchaus in die Nähe zu Positionen, die sich 1968 deutlich wahrnehmbar formieren werden und die später meist, fälschlicherweise,80 unter dem Stichwort „Tod der Literatur“ subsumiert und v.a. mit dem Namen Hans Magnus Enzensberger verbunden werden. In radikaler Zuspitzung bedeuten sie eine Abrechnung mit der Literatur nach 1945, die nur eine „Entlastungs- und Ersatzfunktion“ für gesellschaftlich-politische Veränderungen erfüllt habe, die nach dem Ende der NS-Herrschaft eben ausgeblieben seien. Der Grund dafür sei letztlich in der Marktkonformität der Literatur zu suchen;81 und der einzige Ausweg für eine Erneuerung der Literatur bietet sich Enzensberger, wie anderen auch, in Dokumentar- und Reportageliteratur als Formen gesellschaftlicher Einflussnahme.82 Zwar plädiert Kern nicht für eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse – das wäre Benno von Wiese wohl auch nicht zuzumuten gewesen –, aber doch für deren entschiedene, schonungslose Diagnostik. Gegen Enzensberger und andere hat Wellershoff hingegen generell dezidiert auf ein Recht der Literatur zur Darstellung des Privaten eben als eines Politischen gepocht83 sowie noch genereller darauf, in einem Möglichkeitsraum schlechterdings alles, auch das „Abseitige, Verrückte und Destruktive“, durchzuspielen.84 Ihm schien die strikte Alternative

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zwischen einem gesellschaftskritischen und -politischen Engagement einerseits und andererseits dem freien Spiel, das die Vertreter*innen der erstgenannten Fraktion meist unter den Verdacht der bloß unterhaltenden Massenware gestellt haben, falsch gestellt. Vielmehr plädierte er für deren Synthese unter der Formel „Fiktion und Praxis“.85 Kurz zusammengefasst kann man Wellershoffs Auffassung der Funktion von Fiktion, die den Zusammenhang des Neuen Realismus weit überschreitet, folgendermaßen charakterisieren: Fiktionale Literatur ermöglicht dem Leser, als eine „Simulationstechnik“,86 Erfahrungen zu machen, die ihm seine Realität nicht bietet, was ihm „erlaubt […], fremde Verhaltens- und Denkweisen in seinen Erfahrungsspielraum mit einzubeziehen“.87 Damit wird zum einen der Raum des Wirklichen auf das Mögliche hin erweitert, worin ja schon Aristoteles die Funktion von Literatur gesehen hat;88 zum anderen handelt es sich aber eben nicht einfach um Informationen für den Leser, sondern um die Ermöglichung von „Erfahrungen“, auf einem „Spielfeld für ein fiktives Handeln“, ohne „wirkliches Risiko“,89 – ein Modell, das mit vielen Fiktionalitätskonzepten im Einklang steht. Indem Wellershoff darauf hinweist, dass dem Leser damit zugleich ermöglicht wird, im Bezug auf die Gesellschaft „weniger normenkonform“ zu sein,90 schließt er die Lücke zwischen Fiktion und gesellschaftskritischem Engagement. Allerdings handelt er sich damit, im Bezug auf sein Konzept eines Neuen Realismus, ein Problem ein: Denn keineswegs ist unmittelbar einsichtig, wie ein fiktives Handeln in einem Raum des Möglichen zugleich eine genauere Erkenntnis des Wirklichen ermöglichen soll. Aber diese Spannung zwischen dem Fiktionalen und dem Faktualen ist nicht nur für alle Konzepte realistischen fiktionalen Erzählens nicht gelöst, sondern auch für die Literatur als Ganze nicht. Es wäre also zu viel verlangt, diese Lösung von Wellershoff einzufordern. In dem 1969 publizierten Essay Fiktion und Praxis wird die Kollision dieser beiden Momente deutlich: Wenn Wellershoff feststellt, dass „[d]er Leser des Abenteuerromans […] sich auf die waghalsigsten Unternehmungen ein[lässt], weil er weiß, daß er dabei nicht umkommen wird“, dann beschreibt das genau jene technische Auffassung von

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Fiktionalität als Simulationsraum, in dem ein risikoloses Handeln im Modus des Als-ob möglich ist. Wenn er im unmittelbaren Anschluss daran einschränkt, hier, wie im „Reiseroman“, handele es sich aber um „bloß extensive Beschreibungen der Lebenspraxis“, die „neuen Stoff in gewohnten Kategorien [bringen], während die eigentliche Literatur […] vor allem die gewohnten Schemata der Erfahrung angreift und verändert“,91 dann lässt sich Letzteres auf den Nouveau Roman beziehen (wie es in Wellershoffs Text in der Folge geschieht) oder eben auf den Neuen Realismus – aber es hat mit der Funktion von Fiktion als „Simulationstechnik“ nichts zu tun. Die einzige Gemeinsamkeit zwischen beiden Modellen besteht in dem Moment der „Belastung“ des Lesers mit einer für ihn neuen Erfahrung;92 aber das Neue liegt einerseits im übersehenen, verstellten Wirklichen, andererseits im Möglichen. Das Ziel beider Modelle aber, so wird in den späteren Schriften Wellershoffs deutlicher, ist die „Utopie einer repressionslosen Gesellschaft“;93 und notwendig für den Weg dahin ist eine gewisse mentale Mobilität, die ermöglicht wird durch das Einüben von Reaktionen dem Unvertrauten gegenüber94 – wodurch allerdings das darzustellende Mögliche doch implizit eingeschränkt wird auf das Erwünschte. Wenn Literatur das Bedürfnis ihrer Rezipient*innen nach alternativen Erfahrungen, das aus der Schematisierung der Lebenswirklichkeit entsteht, stillt, dann hat das nicht nur nichts mit diesem utopischen Moment zu tun, es kann auch kontraproduktiv wirken – im Sinne von Brechts und Adornos Kritik an der Unterhaltungsindustrie. Man ‚lebt‘ dann eben ein richtiges Leben bloß in der Literatur; an seinem falschen realen Leben ändert man nichts. Aber zurück zum von Peter Kern erhobenen Vorwurf, das krankhafte Private verstelle den Blick auf das defizitäre Gesellschaftliche: Wellershoff war als Alumnus der Bonner Universität in der fraglichen Oberseminarsitzung anwesend und gab, wie Kern berichtet, in der Diskussion von dessen Referat „zu bedenken, daß auch das Krankhafte und seine Symptome repräsentativ für unsere Gesellschaft sein könnten. Ihn freilich habe mehr die ‚Binnenstruktur‘ dieses krankhaften Zustandes interessiert als seine Genese.“95

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Ulrich Tschierske fasst es in seiner Wellershoff-Monographie folgendermaßen: Wellershoffs Romane liefern eher „exemplarische Zustandsbilder der Gesellschaft“ und weniger die „literarische Darstellung ihrer bestimmenden Determinanten“.96 Noch genauer besehen liefert er zwar keine explizite Schilderung der „Determinanten“, wohl aber doch deren „literarische Darstellung“ – wenn auch eben implizit und im Wesentlichen in Form von Leerstellen. Aber die Gründe für die dargestellte Hoffnungslosigkeit liegen eben nicht in der Individualpsychologie der Figuren, sondern sind eher sozialpsychologischer Natur, und das macht gewissermaßen die allegorische Dimension der Figuren aus: Im Hintergrund des subjektivistisch geschilderten Geschehens wird mit „Krieg, Flucht, Heimat- und Mutterverlust“ sowie dem Lebensraum Großstadt ein Zusammenhang sichtbar, dessen neurotisierende Qualität etwa Alexander Mitscherlich beschrieben hat.97 Zudem sind die Leere als weiteres bestimmendes Moment des Romans, die Artikulationsunfähigkeit der Figuren sowie ihre Geschichtsvergessenheit98 Konstituenten auch der politischen Stagnation der Bundesrepublik im Übergang vom späten Ludwig Erhard zur großen Koalition der Jahre 1966–69. Die Repräsentativität des krankhaften Privaten für das defizitäre Soziale ist auch von der zeitgenössischen Literaturkritik wahrgenommen worden: Gerda Zeltner, offenbar eine Spezialistin für den Nouveau Roman und damit für eines der Gewährskonzepte Wellershoffs, betont dessen soziologisches Gespür und konstatiert: „es besteht kein Zweifel darüber, daß das hier dargestellte Verhalten als Krankheit gemeint ist: eine Krankheit unserer Zeit, unserer Gesellschaft. […] Den ganz begrenzten Erfahrungen, die hier zur Sprache kommen, wächst eine allgemeine Gültigkeit zu, weil eben unser Dasein aus begrenzten und unsicheren Erfahrungen besteht.“99

Das Stichwort Soziologie nennt auch Heinrich Vormweg in seiner Besprechung im Deutschlandfunk, wenn er den Roman vor der Folie der „gar nicht so seltenen Versuche in den letzten Jahren, Sichtweise und

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Ergebnisse der Soziologie in die Literatur einzubringen“, liest, denen er aber deutlich geringere „Überzeugungskraft“ zuschreibt als Wellershoffs Roman.100 Die Formulierung, der zufolge Wellershoff versucht habe, in einen Roman, der doch vorgeblich die Dinge und die Sinneseindrücke für sich selbst sprechen lassen will, „Sichtweise und Ergebnisse der Soziologie einzubringen“, deutet dabei letztlich auf den fundamentalen Widerspruch des Konzeptes – ohne dass das gesehen worden wäre: Genau wie man einer inzwischen zur scheinbaren Binsenweisheit mutierten epistemologischen Erkenntnis Karl Poppers zufolge ohne vorgängige Theorie keine Beobachtungen machen kann (weil man ohne vorgefasste Kategorien gar nichts sieht),101 genauso kann man auch in einem literarischen Text die Dinge nicht einfach für sich selbst sprechen lassen. Man wird dies immer nach Maßgabe einer vorgefassten Weltsicht tun, aus der abgeleitet wird, was denn die Dinge sagen sollen, wenn sie sprechen. Das muss allerdings nicht notwendigerweise ein „Sinnbedürfnis“ befriedigen – so tief geht der Widerspruch also nicht –, weil ein entscheidender Unterschied bestehen bleibt: derjenige zwischen behaupteter Kausalität und Finalität. Es macht einen wesentlichen Unterschied aus, ob Gegenstände so arrangiert werden, dass sie den Eindruck erwecken, sie zeigten soziale Ursachen für psychische Probleme, oder ob die Darstellung von Vorgängen vorgibt, im Rahmen einer großen vorgefassten Erzählung zu stehen, die etwa, positiv, am Ende alles im göttlichen Heil aufgehen oder, negativ, überall den Untergang des Abendlandes sich vollziehen sieht. Zwar besteht „unser Dasein“ tatsächlich, mit Gerda Zeltner gesprochen, „aus begrenzten und unsicheren Erfahrungen“, aber, von wenigen avantgardistischen Ausnahmen abgesehen, bedeutet vor allem der Erzähltext immer insofern eine massive Reduktion der Komplexität der Welt, als er ihr einen Rahmen gibt, einen Ausschnitt setzt. Und es gilt seit Lessings Metapher des Trauerspiels als „Schattenriß“ der Schöpfung:102 Was man im verkleinerten Zusammenhang sieht, ist eine performative Leistung der Literatur, keine konstative, d.h. die Literatur stellt eine Welt dar, ja sie stellt sie her, sie bildet sie nicht ab. Das gilt für alle Formen der Kunst,

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selbst für die Fotografie, von der doch mancher annimmt, sie würde nur abbilden, was es schon gibt. Dass aber, wie Wellershoff formuliert, der Neue Realismus die Gesellschaft allein „durch genaues Hinsehen“ „kritisiert“ und damit eine „Kritik, die nicht von Meinungen ausgeht, sondern im Produzieren der Erfahrung entsteht“, formuliert, ist schlechterdings nicht möglich – weil die Kritik schon weitgehend vorgeprägt sein muss, denn sonst sieht man nichts, jedenfalls nichts Kritikwürdiges. Dass in dieser Hinsicht bereits Ein schöner Tag Wellershoffs Programm umsetzt, ist womöglich deutlich geworden. In formaler Hinsicht wird die Umsetzung noch ausgefeilter werden. Auch wenn die Erzählerinstanz in Ein schöner Tag stets deutlich auf die Figuren fokalisiert und damit durchaus von einer „subjektive[n] Optik“ die Rede sein kann: von einer „Technik der Dissoziation“, vom „Wechsel zwischen Totale und Detail, Nähe und Ferne, Schärfe und Verschwommenheit des Blickfeldes, Bewegung und Stillstand, langer und kurzer Einstellung“ und einem „Wechsel von Innen- und Außenwelt“, der „die konventionelle Ansicht eines bekannten Vorgangs und einer bekannten Situation so auflöst und verändert, daß eine neue Erfahrung entsteht“,103 kann eigentlich erst in Wellershoffs nächstem Roman Die Schattengrenze von 1969 die Rede sein, wo dann aber die Dissoziation so fortgeschritten ist, dass – anders als in Ein schöner Tag – kaum noch deutlich wird, von wem eigentlich was gerade erzählt wird und wie das Erzählte sich kausal und temporal zu anderem Erzählten verhält. Die Schattengrenze erzählt die Geschichte eines um seine Provision betrogenen und dann entlassenen Möbelvertreters, der zunächst versucht, sich als Autohändler durchzuschlagen, in Autodiebstähle verwickelt wird, aus Angst vor der Verhaftung flieht und völlig zerrüttet endet.104 Wellershoff selbst beschreibt den Roman durchaus treffend als Buch, „in dem die verschiedensten Handlungsfolgen und Zeiten, in dem Gedachtes und Wahrgenommenes dauernd sich mischen sollten“.105 Und das erreicht er mit einem letztlich filmischen Erzählverfahren, das mit (unvermittelten) „Überblendungen“ und „Rückblenden“ arbeitet.106

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Für den Roman Ein schöner Tag gilt dies in dieser Radikalität noch nicht. Interessanterweise gilt es aber bereits für einen Text, der mit der Vorstellung auf derselben Seite wie Wellershoffs Kiepe-Artikel gewissermaßen im paratextuellen Modus auf das Konzept des Neuen Realismus bezogen wird. Neben den sechs Autorenfotografien findet sich auf der ersten Seite der Kiepe-Ausgabe auch eine Rezension eines Buchs, das von einem der Porträtierten stammt. Es handelt sich um Rolf Dieter Brinkmanns Erzählungsband Die Umarmung von 1965, und die Rezension stammt von Marcel Reich-Ranicki. (Bei der ersten Erzählung des Bandes, Der Arm, handelt es sich offenbar um diejenige, die Brinkmann 1964 bei dem denkwürdigen Treffen in Kronenburg vorgetragen hat.) Reich-Ranicki stellt fest – und das steht ja durchaus in Einklang mit Wellershoffs Konzept –, dass es sich bei den sechs sog. Erzählungen eher um „exakte Studien“ handelt: „Beschreibungen und Impressionen, Zustandsschilderungen und Momentaufnahmen, Assoziationen und Reminiszenzen werden aneinandergereiht […]. Gelegentlich läßt die Großaufnahme die Details und Gegenstände in monströsen Ausmaßen erscheinen, hier und da wird – in derselben Absicht – die Zeitlupe angewandt…“107

Reich-Ranicki macht also explizit auf die filmischen Verfahren bei Brinkmann aufmerksam, die Wellershoff als formale Möglichkeiten zunächst nur angedeutet, später, im Essay Wiederherstellung der Fremdheit dann ausformuliert und in Die Schattengrenze literarisch umgesetzt hat. In inhaltlicher Hinsicht betont Reich-Ranicki die „grausame Kritik des Lebens“, die in den Erzählungen zum Ausdruck komme. Steht dies noch durchaus im Einklang mit Wellershoffs Programm, so haben der dem Text abgelesene „Abscheu“ und die These, das Buch „verdanke[] seine Entstehung zunächst einmal dem Ekel vor dem Menschen“, wenig mit Wellershoffs durchaus menschenfreundlichen Intentionen zu tun. Vielmehr deuten sie doch auf Brinkmanns weitere Entwicklung voraus, die ihn zu so etwas wie der Inkarnation der Provokation des

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deutschen Literaturbetriebs um 1970 machen wird, wenn er etwa in Rom, Blicke mit obsessiver Obszönität und obszöner Obsession u.a. mit der Italiensehnsucht der Deutschen seit Goethe abrechnen wird. Das hat dann mit Wellershoffs Konzept des Neuen Realismus nichts mehr zu tun. Bald nach seinem Debüt hat Brinkmann sich aus diesem Zusammenhang herausgeschrieben, dem er zuvor aber womöglich doch wichtige erzähltechnische Impulse gegeben hat. Es soll nicht schlechterdings behauptet werden, dass Wellershoff sich das Filmische seines Erzählens bei Brinkmann abgeguckt hat; aber gebremst hat dessen Text die weitere Entwicklung seines Lektors bestimmt auch nicht.

A nmerkungen 1 | Benn, Gottfried: „Probleme der Lyrik“, in: ders.: Gesammelte Werke in vier Bänden, hg. v. Dieter Wellershoff, Bd. 1: Essays, Reden, Vorträge, Wiesbaden: Limes 31965, S. 494–532, hier S. 531; vgl. dazu Jung, Werner: „Bloß eine Anleitung für Mitläufer? Wellershoff und Benn“, in: Walter Delabar (Hg.), Gottfried Benn (1886–1956). Studien zum Werk, Bielefeld: Aisthesis 2007, S. 251–268, hier S. 253f., Fn. 5. 2 | Vgl. Wellershoff, Dieter: „Residuum der Freiheit oder befreites Gebiet“, in: Kiepenheuer & Witsch 1949–1974, Köln: Kiepenheuer und Witsch 1974, S. 65–89, hier S. 70. 3 | Vgl. Peitsch, Helmut: „‚Kleine Schritte‘ zum Neuen Realismus. Dieter Wellershoff als Leser und Lektor“, in: Manfred Durzak/Günter Helmes (Hg.), Dieter Wellershoff. Studien zu seinem Werk, Köln: Kiepenheuer und Witsch 1990, S. 58–88, hier S. 67f. 4 | Vgl. Möller, Frank: Dem Glücksrad in die Speichen greifen. Joseph Caspar Witsch, seine Autoren, sein Verlagsprogramm und der Literaturbetrieb der frühen Bundesrepublik, Köln: Kiepenheuer und Witsch 2015, S. 239. 5 | D. Wellershoff: Residuum der Freiheit, S. 72. 6 | Höllerer, Walter: „Veränderung“, in: Akzente 11 (1964), H. 5/6, S. 397; vgl. dazu Ewenz, Gabriele: „Dieter Wellershoffs Konzeption des ‚Neuen Realismus‘ und seine Kritik an der Dortmunder Gruppe 61“, in: Ute Ger-

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hard (Hg.), „Schreibarbeiten“ an den Rändern der Literatur. Die Dortmunder Gruppe 61, Essen: Klartext 2012, S. 261–271, hier S. 264. 7 | Vormweg, Heinrich: „Die Fortbewegung ändert nichts“, in: Die Welt. WdL 14, 8.7.1965, S. 332; zit. nach Vollmuth, Eike H.: Dieter Wellershoff – Romanproduktion und anthropologische Literaturtheorie. Zu den Romanen ‚Ein schöner Tag‘ und ‚Die Schattengrenze‘, München: Fink 1979, S. 14. 8 | Wellershoff, Dieter: „Neuer Realismus“, in: Die Kiepe 13 (1965), Nr. 1, o.P. [S. 1]; dort auch, sofern nicht anders angegeben, die folgenden Zitate. 9 | [Wellershoff, Dieter:] „Dieter Wellershoff antwortet [auf Gerhard Zwerenz]. Wer oder was worauf beruht“, in: Streit-Zeit-Schrift 6 (1967), H. 1, S. 56. 10 | Vgl. E. Vollmuth: Romanproduktion, S. 49. 11 | Vgl. ebd., S. 52. 12 | D. Wellershoff: Dieter Wellershoff antwortet, S. 56. 13 | In einem späteren Selbstzitat Wellershoffs heißt es „in einem begrenzten Bereich“; beim Wortlaut „einen“ im Kiepe-Text handelt es sich also offenbar um einen Druckfehler (Wellershoff, Dieter: „Wiederherstellung der Fremdheit“, in: ders.: Literatur und Veränderung. Versuche zu einer Metakritik der Literatur, Köln/Berlin: Kiepenheuer und Witsch 1969, S. 82–96, hier S. 86). 14 | Vgl. Dörr, Volker C.: „Auferstanden aus Ruinen. Rückwärtsgewandtheit am literarischen Neubeginn nach 1945“, in: Gertrude Cepl-Kaufmann/Jasmin Grande/Ulrich Rosar/Jürgen Wiener (Hg.), Die Bonner Republik 1945 – 1963 – Die Gründungsphase und die Adenauer-Ära. Geschichte – Forschung – Diskurs, Bielefeld: transcript 2018, S. 97–132. 15 | Vgl. auch den Hinweis bei G. Ewenz: Dieter Wellershoffs Konzeption, S. 265. – Im Kontext des Nouveau Roman, wie auch bei Wellershoffs philosophischem Gewährsmann Arnold Gehlen, taucht zudem bereits der Begriff eines neuen Realismus auf; vgl. H. Peitsch: ‚Kleine Schritte‘, S. 64. 16 | Vgl. Knipp, Raphaela: „Narrative der Dinge. Literarische Modellierungen von Mensch-Ding-Beziehungen“, in: Dinge und Maschinen in

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der Kommunikation. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 40 (2012), S. 46–61. 17 | Vgl. Genette, Gérard: Die Erzählung. 3., durchges. u. korr. Aufl. Paderborn: Fink 2010, S. 121–124. 18 | Zum Zusammenhang (und zur Spannung) zwischen Wellershoffs filmischen Erzählverfahren und seinen Arbeiten fürs Fernsehen vgl. Bügner, Torsten: Lebenssimulationen. Zur Literaturtheorie und fiktionalen Praxis von Dieter Wellershoff, Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag 1993, S. 112–135. 19 | H. Peitsch: ‚Kleine Schritte‘, S. 64. 20 | W. Jung: Bloß eine Anleitung?, S. 253. 21 | H. Peitsch: ‚Kleine Schritte‘, S. 66. 22 | Dies geschah auf Einladung des damaligen Lektors Rolf Schroers; vgl. T. Bügner: Lebenssimulationen, S. 44. 23 | W. Jung: Bloß eine Anleitung?, S. 266. 24 | Ebd., S. 267. 25 | Wellershoff, Dieter: Der Gleichgültige. Versuche über Hemingway, Camus, Benn und Beckett, Köln/Berlin: Kiepenheuer und Witsch 1963, S. 9f. 26 | E. Vollmuth: Romanproduktion, S. 34. 27 | W. Jung: Bloß eine Anleitung?, S. 256. 28 | D. Wellershoff: Der Gleichgültige, S. 77. 29 | Ebd., S. 90. 30 | Vgl. W. Jung: Bloß eine Anleitung?, S. 259. 31 | H. Peitsch: ‚Kleine Schritte‘, S. 59f. Von einer Kritik Wellershoffs an Benns „These der Kunstautonomie“ spricht bereits E. Vollmuth: Romanproduktion, S. 34. 32 | Vgl. Luhmann, Niklas: „Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst“, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 620–672. – In Wellershoffs eigenen Äußerungen begegnen beide Verwendungen von ‚autonom‘ nebeneinander: Wenn er in einer kurzen Skizze der Sozialgeschichte die Entwicklung um 1800 und die Ablösung des Mäzenatentums durch den

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Literaturmarkt so charakterisiert, „daß der Schriftsteller jetzt nicht mehr gebunden ist an ein persönliches Normen repräsentierendes Gegenüber“ (Wellershoff, Dieter: „Fiktion und Praxis“, in: ders.: Literatur und Veränderung. Versuche zu einer Metakritik der Literatur, Köln: Kiepenheuer und Witsch, 1969, S. 9–32, hier S. 19), dann meint das Autonomie im produktiven technischen Sinne (wie bei Luhmann); wenn er konstatiert, „daß im 19. Jahrhundert, gipfelnd bei Mallarmé, die Idee ihrer [sc. der Literatur] bezugslosen Autonomie entstehen konnte“ (ebd., S. 24), dann meint das den polemischen Begriff von Autonomie, der oft mit der (ebenfalls häufig missverstandenen) Formel „l’art pour l’art“ identifiziert wird. 33 | Vgl. Jauß, Hans Robert: „Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft“, in: ders.: Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 144–207. 34 | Wellershoff, Dieter: Gottfried Benn. Phänotyp dieser Stunde. Eine Studie über den Problemgehalt seines Werkes, [Neuauflage] Köln: Kiepenheuer und Witsch 1986, S. 13. 35 | Benn, Gottfried: „Der neue Staat und die Intellektuellen“, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. IV: Prosa 2, hg. v. Gerhard Schuster in Verbindung mit Ilse Benn, Stuttgart: Klett-Cotta 1989, S. 12–20. 36 | D. Wellershoff: Der Gleichgültige, S. 92. 37 | Zwerenz, Gerhard: „Das neue Geschwätz. Der Kölner Realismus“, in: Streit-Zeit-Schrift 6 (1967), H. 1, S. 53–56, hier S. 53. 38 | Ebd. 39 | Vgl. H. Peitsch: ‚Kleine Schritte‘, S. 76-79, Zitat S. 77. 40 | F. Möller: Dem Glücksrad in die Speichen greifen, S. 238. 41 | G. Zwerenz: Das neue Geschwätz, S. 54. 42 | Wellershoff, Dieter: „Vielstimmiges Intermezzo. Meine Zeit als Lektor“, in: ders.: Der lange Weg zum Anfang. Zeitgeschichte, Lebensgeschichte, Literatur, Köln: Kiepenheuer und Witsch 2007, S. 259–284, hier S. 263f.; vgl. F. Möller: Dem Glücksrad in die Speichen greifen, S. 207. 43 | Ebd., S. 217. 44 | D. Wellershoff: Dieter Wellershoff antwortet, S. 56. 45 | H. Peitsch: ‚Kleine Schritte‘, S. 71f.

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46 | Vgl. E. Vollmuth: Romanproduktion, S. 19f., Zitat S. 13; vgl. auch T. Bügner: Lebenssimulationen, S. 49. 47 | Vgl. H. Peitsch: ‚Kleine Schritte‘, S. 76. 48 | Vgl. F. Möller: Dem Glücksrad in die Speichen greifen, S. 241–248. 49 | Schröders frühe Jahre am Rhein (4), TAZ-Blog von Schröder & Kalender; zit. nach F. Möller: Dem Glücksrad in die Speichen greifen, S. 247f. 50 | D. Wellershoff: Wiederherstellung der Fremdheit, S. 85. 51 | Ebd. 52 | Ebd., S. 86. 53 | Zu „Witschs gegen den Kommunismus gerichtete[r] Verlagsaktivität“, die Kiepenheuer und Witsch in den 1950er Jahren geradezu zum „‚Hausverlag‘ Bonner Ministerien und Behörden“ werden ließ, vgl. Möller, Frank: Das Buch Witsch. Das schwindelerregende Leben des Verlegers Joseph Caspar Witsch, Köln: Kiepenheuer und Witsch 2014, S. 369–432, Zitate S. 369. 54 | H. Peitsch: ‚Kleine Schritte‘, S. 69. 55 | D. Wellershoff: Wiederherstellung der Fremdheit, S. 86. – Statt „parodierender“ hätte es womöglich „paradierender“ heißen sollen. 56 | Vgl. Dörr, Volker C.: Mythomimesis. Mythische Geschichtsbilder in der westdeutschen (Erzähl-)Literatur der frühen Nachkriegszeit (1945– 1952), Berlin: Erich Schmidt 2004 (Philologische Studien und Quellen, H. 182). 57 | D. Wellershoff: Wiederherstellung der Fremdheit, S. 87. 58 | Vgl. Dörr, Volker C.: „Idealistische Wissenschaft. Der (bürgerliche) Realismus und Gustav Freytags Roman ‚Die verlorene Handschrift‘“, in: Norbert Oellers/Hartmut Steinecke (Hg.), ‚Realismus‘? Zur deutschen Prosa-Literatur des 19. Jahrhunderts, Berlin: Erich Schmidt 2001 (Zeitschrift für deutsche Philologie. Sonderheft), S. 3–33. 59 | D. Wellershoff: Wiederherstellung der Fremdheit, S. 87. 60 | Hegel, Georg W. F.: Phänomenologie des Geistes, hg. v. Hans-Friedrich Wessels, Hamburg: Meiner 2006 (Philosophische Bibliothek, Bd. 414), S. 25 (Vorrede). 61 | D. Wellershoff: Wiederherstellung der Fremdheit, S. 88. 62 | D. Wellershoff: Fiktion und Praxis, S. 18; vgl. dazu E. Vollmuth: Romanproduktion, S. 83.

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63 | Vgl. Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Berlin: Junker und Dünnhaupt 1940. 64 | D. Wellershoff: Wiederherstellung der Fremdheit, S. 89. 65 | Ebd., S. 90. 66 | Ebd., S. 92. 67 | Ebd. 68 | Ebd., S. 93. 69 | Wellershoff, Dieter: Ein schöner Tag. Roman, Köln/Berlin: Kiepenheuer und Witsch 1966 (Klappentext). 70 | Ebd. 71 | E. Vollmuth: Romanproduktion, S. 139. 72 | D. Wellershoff: Ein schöner Tag, S. 7. 73 | Jung, Werner: Im Dunkel des gelebten Augenblicks. Dieter Wellershoff – Erzähler, Medienautor, Essayist, Berlin: Erich Schmidt 2000, S. 145. 74 | D. Wellershoff: Wiederherstellung der Fremdheit, S. 94. 75 | Bohrer, Karl Heinz: „Was bleibt der Phantasie?“, in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.03.1967; zit. nach W. Jung: Im Dunkel, S. 141. 76 | Günter Blöcker etwa spricht von einem „Nachschreiben der alltäglichen Wirklichkeit“ (Blöcker, Günter: Erkundung unserer Alltäglichkeit. Dieter Wellershoffs erster Roman „Ein schöner Tag“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1.10.1966; zit. nach E. Vollmuth: Romanproduktion, S. 138). 77 | Kern, Peter: „Dieter Wellershoff, Ein schöner Tag“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 87 (1968), S. 631–642, hier S. 637 78 | Ebd., S. 641f. 79 | Vgl. zu dessen Vorgeschichte Conrady, Karl Otto: Miterlebte Germanistik. Ein Rückblick auf die Zeit vor und nach dem Münchner Germanistentag, in: Diskussion Deutsch 19 (1988), S. 126–143. 80 | Vgl. Briegleb, Klaus: „Literatur in der Revolte – Revolte in der Literatur“, in: Klaus Briegleb/Sigrid Weigel (Hg.), Gegenwartsliteratur seit 1968. München/Wien: Hanser 1992 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 12), S. 21–72, hier S. 43. 81 | Enzensberger, Hans Magnus: „Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend“, in: Kursbuch 15/1968, S. 187–197, hier S. 190.

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82 | Vgl. Späth, Sibylle: „Rettungsversuche aus dem Todesterritorium“. Zur Aktualität der Lyrik Rolf Dieter Brinkmanns, Frankfurt a.M./Bern/ New York: Peter Lang 1986 (Literarhistorische Untersuchungen, Bd. 6), S. 117f. 83 | Vgl. Tschierske, Ulrich: Das Glück, der Tod und der „Augenblick“. Realismus und Utopie im Werk Dieter Wellershoffs, Tübingen: Niemeyer 1990, S. 17. 84 | Wellershoff, Dieter: Die Arbeit des Lebens. Autobiographische Texte, Köln: Kiepenheuer und Witsch 1985, S. 247; zit. nach U. Tschierske: Das Glück, der Tod und der „Augenblick“, S. 15. 85 | D. Wellershoff: Fiktion und Praxis, S. 9 [Hervorh. V.D.]; vgl. dazu E. Vollmuth: Romanproduktion, S. 63f. 86 | D. Wellershoff: Fiktion und Praxis, S. 21. 87 | Ebd., S. 23. 88 | Vgl. Aristoteles: Poetik. Übersetzt und erläutert von Arbogast Schmitt, Berlin: Akademie-Verlag 2008 (Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 5), S. 13f. (1451a35, Kapitel 9). 89 | D. Wellershoff: Fiktion und Praxis, S. 22. 90 | D. Wellershoff: Fiktion und Praxis, S. 23. 91 | Ebd., S. 22. 92 | E. Vollmuth: Romanproduktion, S. 105. 93 | Ebd., S. 135. 94 | Ebd., S. 129. 95 | P. Kern: Ein schöner Tag, S. 642, Fn. 4. – Mit der Verschränkung von Individuellem und Sozialem befindet sich Wellershoff erneut im Einklang mit Arnold Gehlen – sowie auch mit Alexander und Margarete Mitscherlich; vgl. E. Vollmuth: Romanproduktion, S. 117. 96 | U. Tschierske: Das Glück, der Tod und der „Augenblick“, S. 28. 97 | Vgl. E. Vollmuth: Romanproduktion, S. 144–148, Zitat S. 144. 98 | Vgl. W. Jung: Im Dunkel, S. 145. 99 | Zeltner, Gerda: „Ein schöner Tag“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 19.11.1966; zit. nach W. Jung: Im Dunkel, S. 140. 100 | Vormweg, Heinrich: „Ein schöner Tag (Typoskript)“, in: Bücher im Gespräch, DLF vom 04.09.1966, S. 9; zit. nach W. Jung: Im Dunkel, S. 140.

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101 | Vgl. Popper, Karl: Logik der Forschung. Nachdruck der 10., verb. und vermehrten Auflage. Tübingen: Mohr Siebeck 2002, S. 71. 102 | Vgl. Lessing, Gotthold Ephraim: Hamburgische Dramaturgie, in: ders.: Werke, in Zusammenarbeit mit Karl Eibl, Helmut Göbel, Karl S. Guthke, Gerd Hillen, Albert von Schirnding und Jörg Schönert, hg. v. Herbert G. Göpfert, Bd. 4: Dramaturgische Schriften, München: Hanser 1973, S. 229–720, hier S. 598 (79. Stück). 103 | Siehe Fn. 64. 104 | Für eine genau Rekonstruktion des „in eine Bilderfolge“ ‚aufgesplitterten‘ Plots, der sich tatsächlich „nur mühsam erschließen“ lässt, vgl. E. Vollmuth: Romanproduktion, S. 210f., Zitat S. 212. 105 | D. Wellershoff: Wiederherstellung der Fremdheit, S. 94f. 106 | Zur „Filmstruktur“ des Romans vgl. E. Vollmuth: Romanproduktion, S. 271-279, Zitat S. 275. 107 | [Reich-Ranicki, Marcel:] „Marcel Reich-Ranicki über Rolf Dieter Brinkmann“, in: Die Kiepe 13 (1965), Nr.1, o.P. [S. 1]; dort auch die folgenden Zitate.

In Deutschland überflüssig? Alfred Döblin (1878–1957) und die Bonner Republik Winfrid Halder

I. Z wei Tage

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Erst auf der Fahrt mit einem französischen Militärzug von Paris über Straßburg hinein nach Deutschland kam Alfred Döblin beim Blick in die Zeitung das Datum zu Bewusstsein: es war der 9. November, der 9. November 1945.1 Ein geschichtsträchtiger Tag also: Genau 27 Jahre zuvor war die erste deutsche Republik ausgerufen worden, genau 22 Jahre zuvor war der Putschversuch Hitlers und seiner Helfer in München gescheitert, genau 7 Jahre zuvor hatten vielerorts im inzwischen eben doch von Hitler und seinen Paladinen beherrschten Deutschland die Synagogen gebrannt, womit die brutalste und mörderischste Phase der antisemitischen Verfolgung eröffnet wurde.2 Nun lag Deutschland zertrümmert und besetzt am Boden, militärisch besiegt, politisch gescheitert, moralisch zutiefst diskreditiert. Das ganze monströse Ausmaß der im deutschen Namen begangenen Verbrechen gegen jüdische und ungezählte andere Menschen wurde erst erahnbar. Der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess gegen die wichtigsten Exponenten der NS-Diktatur, die sich nicht wie Hitler und Goebbels ihrer Verantwortung durch Selbstmord entzogen hatten, oder die nicht hatten fliehen können, sollte wenige Tage später eröffnet werden.3

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Auch für Döblin ganz persönlich hatte dieser Tag große Bedeutung: Nach 12 Jahren, 9 Monaten und 7 Tagen betrat er erstmals wieder deutschen Boden, als er an seinem Bestimmungsort Baden-Baden den Zug verließ.4 Der gebürtige Stettiner, studierte Arzt und Schriftsteller war 67 Jahre alt.5 Nur knapp zwei Wochen später schrieb Döblin an das befreundete Ehepaar Artur und Elvira Rosin in New York. Die Rosins waren deutsche Emigranten jüdischer Herkunft wie Döblin und hatten den 1940 mit knapper Not aus dem von der Wehrmacht besetzten Frankreich entkommenen, in die USA weiter emigrierten Autor, dem es im Land der unbegrenzten Möglichkeiten nicht gelang, beruflich und materiell Fuß zu fassen, lange Zeit großzügig unterstützt.6 An die Rosins also schrieb Döblin am 25. November 1945: „Was für eine sonderbare Existenz ich führe, in m[einem] Alter, es war bequemer drüben, aber es ließ sich ja nicht halten, und hier kann ich etwas Nützliches leisten; meine Schublade war schon drüben voll von Manuscripten [sic], die liegen blieben, auch das wird anders werden, viele Verlagsprojekte werden genannt.“7

Am 29. April 1953 bestieg Alfred Döblin mit seiner Frau auf dem Mainzer Hauptbahnhof den Zug nach Paris mit dem festen Entschluss, nicht wiederzukehren.8 Er hatte mithin 7 Jahre, 5 Monate, 3 Wochen und 2 Tage in den westlichen Besatzungszonen beziehungsweise der jungen Bundesrepublik Deutschland, der Bonner Republik also, gelebt. Am Tag vor seiner Abreise, also am 28. April 1953, schrieb der inzwischen 74-jährige Döblin an Theodor Heuß. Der FDP-Politiker, Gelehrte und Autor Heuß amtierte seit dem 12. September 1949 als erster Bundespräsident.9 Döblin und das Staatsoberhaupt der Bonner Republik kannten sich indes schon weitaus länger: Bereits in den 1920er Jahren waren sie einander begegnet, als beide führend im Schutzverband deutscher Schriftsteller tätig waren. Döblins Brief an Heuß begann: „Hochverehrter Herr Bundespräsident, lieber Herr Heuß, Vor [sic] etwa sieben Jahren meldete ich mich bei Ihnen […] und kündigte meine Rückkehr nach

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Deutschland an. Es war ein übereilter Brief. Es wurde keine Rückkehr, sondern ein etwas verlängerter Besuch. Ich kann nach den sieben Jahren, jetzt, wo ich mein Domizil in Deutschland wieder aufgebe, mir resumieren [sic]: es war ein lehrreicher Besuch, aber ich bin in diesem Lande, in dem ich und meine Eltern geboren sind, überflüssig […].“10

Verflogen war also Döblins Optimismus, „Nützliches leisten“ zu können, enttäuscht seine Hoffnung, auch als Autor in Deutschland wieder Wirkung entfalten zu können. Was war geschehen, welche Erfahrungen hatte er in der jungen Bonner Republik und während deren Vorgeschichte gemacht, um zu derart deprimierenden Schlüssen zu kommen? Die Beantwortung dieser Fragen, die ich im Folgenden versuchen werde, scheint mir in zweierlei Hinsicht wichtig und erhellend zu sein. Einerseits wird damit ein Lebens- und Schaffensabschnitt eines der bedeutendsten deutschen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts näher betrachtet, der über weite Strecken in den sechs Jahrzehnten seit Alfred Döblins Tod am 26. Juni 1957 wenig oder gar keine Aufmerksamkeit aus der Geschichts- und der Literaturwissenschaft erfahren hat.11 Kaum ein anderer Autor vergleichbarer Prominenz wurde und wird derart einseitig mit nur einem einzigen Buch in Verbindung gebracht wie Döblin, und das ist natürlich Berlin Alexanderplatz. Dies war übrigens bereits zu Lebzeiten Döblins so und er hat darunter gelitten.12 Denn es gibt – zumindest in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts – kaum einen anderen Schriftsteller, der ein derart vielfältiges, eine ungeheure Fülle von Themen und Erzählformen umfassendes Werk vorgelegt hat wie Döblin. Er hat nicht nur vor Berlin Alexanderplatz schon geschrieben und publiziert, sondern insbesondere auch danach – rein äußerlich betrachtet sogar erheblich mehr, selbst wenn man den Blick nur auf das Romanschaffen verengt.13 Ich wage allerdings die These, dass nur Wenige, selbst in einer bildungsaffinen und literaturinteressierten Leserschaft, über einen vollständigen Überblick über die zehn Romane beziehungsweise mehrbändigen Erzählwerke verfügen, die Döblin zwischen 1933 und 1956 veröffentlicht hat. Dieses auf den ersten Blick jedenfalls nicht ohne wei-

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teres verständliche Ungleichgewicht in der Wahrnehmung des Autors Döblin gilt es zu untersuchen. Denn die nur geringe Aufmerksamkeit, die sein literarisches Schaffen aus der Zeit nach 1933 auch nach seiner frühen Rückkehr aus dem Exil auf sich zu ziehen vermochte,14 begründete wesentlich die tiefe Enttäuschung, die Döblin schließlich veranlasste, der jungen Bonner Republik den Rücken zu kehren. Zuvor soll allerdings noch der zweite Aspekt genannt sein, unter dem mir die Beantwortung der hier gestellten Fragen nach den Gründen für Döblins Scheitern und seine Desillusionierung im ersten Nachkriegsjahrzehnt bedeutsam erscheint. Der „Fall Döblin“ hat – wie ich meine – exemplarisch erhellenden Charakter, wenn es einem darum zu tun ist, wichtige Mentalitäten, Denkweisen und Meinungskonjunkturen aufzuzeigen, die Einfluss auf das politische Geschehen in der jungen Bonner Republik ausgeübt haben. Damit wird auch ein Terrain in den Blick genommen, auf dem sich der Historiker zuhause fühlen darf – ein solcher ist der Autor des vorliegenden Beitrags, eine literaturwissenschaftliche Analyse ist hier also schon aus rein fachlichen Gründen nicht intendiert. Ich werde im Folgenden drei Problembereiche behandeln, die einerseits für die Wahrnehmung und Bewertung, die Alfred Döblin zwischen 1945 und 1953 in Deutschland erfuhr, ausschlaggebende Bedeutung hatten, und die andererseits aber auch für seine eigene Erfahrung maßgeblich waren. Es geht also um das öffentliche Verhalten Döblins und die Reaktionen darauf.

II. D er O berst

und der

D ichter

Döblins Rückkehr nach Deutschland – oder genauer: seine Einreise in eine der westlichen Besatzungszonen – schon im November 1945 war ungewöhnlich. Er dürfte in der Tat einer der ersten prominenten Emigranten überhaupt gewesen sein, die zurückkehrten – jedenfalls wenn man die meist erheblich jüngeren Männer beiseite lässt, die als kämpfende Angehörige einer der Armeen der Anti-Hitler-Koalition zurückgekommen waren, etwa Klaus Mann oder Stefan Heym.15

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Anders als Döblin beabsichtigten auch nur wenige deutsche Emigranten zu einem so frühen Zeitpunkt wieder nach Deutschland zu gelangen. Das weithin zerstörte, unter dramatischen Versorgungsmängeln leidende Land war wenig anziehend; ungewiss war für die meisten, die überhaupt Rückkehrabsichten hegten, wie und wovon sie, wieder „daheim“, leben sollten. Erheblich größere Bedeutung als individuelle Überlegungen hatte jedoch der Umstand, dass die Westalliierten Genehmigungen zur Einreise in das Besatzungsgebiet für Personen, die nicht ihren Besatzungsstreit- oder -verwaltungskräften angehörten, nur ausgesprochen restriktiv erteilten. Dies hatte mit ihrer besatzungspolitischen Konzeption zu tun.16 Alfred Döblin kam bezeichnenderweise eben auch nicht als Privatperson zurück, sondern als Angehöriger der militärischen Besatzungsverwaltung der französischen Zone. Er hatte sich schon im Mai 1945, unmittelbar nach der deutschen Kapitulation, von seinem amerikanischen Wohnsitz in Hollywood aus an französische Freunde und Bekannte gewandt, um Möglichkeiten einer Beschäftigung im französischen Besatzungsgebiet in Erfahrung zu bringen. Dabei nutzte er nicht zuletzt Kontakte, die aus seiner kurzzeitigen Beschäftigung im Pariser Ministère d’Information 1939/40 herrührten.17 Ende August 1945 lag ihm die Zusage vor, dass er „une bonne place“ erhalten solle, „würdig bezahlt“.18 Voraussetzung dafür wiederum war, dass Döblin schon seit Oktober 1936 französischer Staatsbürger war. Dabei handelte es sich um ein ziemlich ungewöhnliches Privileg, das nur sehr wenigen der etwa 100.000 Deutschen, die zwischen 1933 und 1939 nach Frankreich emigriert waren, zuteil geworden war.19 Döblin, dem wie so vielen anderen die deutsche Staatsbürgerschaft von den NS-Behörden aberkannt worden war, verdankte dies dem damaligen französischen Botschafter in Berlin, André François-Poncet, mit dem er gut bekannt war.20 François-Poncet, studierter Germanist, war auch nach 1945 wieder eine Schlüsselfigur der französischen Deutschlandpolitik 21 und sollte sich immer wieder als zuverlässiger Helfer Döblins erweisen. Nach Erhalt einer grundsätzlichen Zusage aus Frankreich verließ Döblin Ende September 1945 Hollywood, am 18. Oktober war er wieder in Paris, das er am 10. Juni 1940, vier Tage vor der Besetzung der

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Stadt durch die deutsche Wehrmacht, fluchtartig hatte verlassen müssen. Nach einer Einweisung im Ministère de l’Éducation brach er am erwähnten 9. November 1945 nach Baden-Baden auf22, wo sich das Hauptquartier der französischen Besatzungsverwaltung in Deutschland (Gouvernement Militaire de la Zone Française d’Occupation – GMZFO) befand. Döblin trat in den Dienst der Direction de l’Éducation publique.23 Dort wollte er „Nützliches leisten“ – zugleich aber war der (Wieder-)Eintritt in den französischen Staatsdienst in einem Alter, in dem heute die meisten an ein Rentnerdasein denken, für Döblin der ersehnte Ausweg aus einer jahrelangen beklemmenden materiellen Misere in den USA. Döblin, spätestens seit dem spektakulären Erfolg von Berlin Alexanderplatz (erschienen im Oktober 1929) bis 1933 zweifellos ein sehr gut verdienender Schriftsteller, der auch international bekannt geworden war und zeitweilig als Anwärter auf den Literaturnobelpreis gegolten hatte24, war dort schlicht ein Almosenempfänger. Döblins Hauptaufgabe als Mitarbeiter der Direction de l’Éducation publique in Baden-Baden bestand in der Prüfung von Manuskripten, die deutsche Autorinnen und Autoren eingereicht hatten. Von seiner Empfehlung hing es ab, ob eine Druckgenehmigung erteilt wurde oder nicht – denn in der französischen Zone galt wie in allen anderen Besatzungszonen, dass Veröffentlichungen jeglicher Art einer Lizensierung durch die Besatzungsverwaltung bedurften.25 Döblin war also, um es unumwunden auszudrücken, in der Zensurabteilung tätig. Er bemühte sich nach Kräften, auch persönlich wieder in Kontakt mit deutschen Autorinnen und Autoren zu kommen, vor allem solchen, die in Südwestdeutschland, also im französischen Besatzungsgebiet lebten. Alte Freunde befanden sich kaum darunter – die waren zumeist entweder tot, wie der 1941 in Berlin verstorbene Oskar Loerke, oder noch in der Emigration. Döblin hatte es folglich überwiegend mit Kolleginnen und Kollegen zu tun, die in Deutschland geblieben waren, mehr oder auch weniger Distanz zum NS-Regime gehalten hatten oder sich selbst der sogenannten „Inneren Emigration“ zurechneten.26 Zwischen beiden Gruppen, den emigrierten und den nicht-emigrierten Autorinnen und Autoren, war aber bereits im Sommer 1945 – noch be-

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vor Döblin wieder in Europa war – eine heftige öffentliche Kontroverse ausgebrochen, die sich letztlich um die Frage drehte, wer sich „patriotischer“ und „ehrenhafter“ verhalten hatte: die, die gegangen waren, weil sie gegen Hitlers Regime waren, oder die geblieben waren, obwohl sie – zumindest der eigenen Lesart nach – ebenfalls dagegen waren, aber im Lande „aushalten“ wollten. Exponenten der beiden sich bald auch persönlich attackierenden Parteien waren einerseits Thomas Mann, der Aufforderungen aus den USA nach Deutschland zurückzukehren, brüsk von sich wies, und andererseits der Schriftsteller Frank Thieß.27 Döblin selbst hielt sich weitgehend abseits, seine Tätigkeit in Deutschland war gleichwohl überschattet von der nachhaltigen Vergiftung des Klimas zwischen Emigranten und Nicht-Emigranten. Aus der Perspektive der Autorinnen und Autoren, die wieder gedruckt werden wollten, musste Döblin als derjenige erscheinen, der über ihr literarisches Sein oder Nicht-Sein entschied – was allerdings eine Fehleinschätzung war, denn Döblin hat wiederholt betont, dass er zu von ihm geprüften Manuskripten zwar ein Votum abgab, nicht aber befugt war, abschließend über die Genehmigung einer Veröffentlichung zu entscheiden. Eine gute Voraussetzung für ein kollegiales Miteinander war Döblins Tätigkeit indes gleichwohl gewiss nicht. Dazu kam, dass Döblin auch bei öffentlichen Auftritten nicht selten in französischer Uniform erschien. Dies führte dazu, dass kolportiert wurde, Döblin sei als hochrangiger französischer Besatzungsoffizier zurückgekehrt. Er stand damit in Diensten der Besatzungsverwaltung, die sich nach der sowjetischen in der deutschen Bevölkerung der allergrößten Unbeliebtheit erfreute. Zwar fühlten sich viele Deutsche damals berechtigt, auch über die amerikanischen und britischen „Besatzer“ zu schimpfen, bei den französischen Kräften gab es allerdings mehr reale Gründe für Klagen von deutscher Seite. Bei der Eroberung von Teilen Südwestdeutschlands durch französische Truppen Ende 1944/Anfang 1945 war es mancherorts zu schwerwiegenden Ausschreitungen gegen Teile der Zivilbevölkerung gekommen,28 die zwar bei weitem nicht das Ausmaß von Gewaltsamkeit annahmen, das beim Vormarsch der Roten Armee herrschte, dennoch haben sich diese Ereignisse nachhaltig im kollektiven Gedächtnis festgesetzt.29

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Dazu kam, dass Frankreich, das nach der Befreiung von der deutschen Besatzung 1944/45 im staatlichen Wiederaufbauprozess auch von heftigen inneren Konflikten gekennzeichnet war, eine inhaltlich inkonsistente, daher zuweilen willkürlich erscheinende Besatzungspolitik betrieb, die zugleich von den westlichen Alliierten die mit Abstand rigideste Reparationspolitik umfasste. Aus französischer Sicht völlig verständlich, von der von Demontagen und sonstigen Beschlagnahmungsmaßnahmen betroffenen, ohnehin schlecht versorgten deutschen Bevölkerung aus gesehen ebenso verständlich eine ungemeine Belastung, während es die Menschen in der britischen und der amerikanischen Zone scheinbar besser hatten. Darüber hinaus leistete sich Frankreich eine Besatzungsverwaltung, die bezogen auf die Kopfzahl der Bevölkerung seiner Zone personell rund vier mal so viele Beschäftigte hatte wie die amerikanische Militärregierung.30 Da alle Besatzungsmächte die Praxis übten, ihre Verwaltungskräfte in beschlagnahmten Gebäuden in deutschem Eigentum unterzubringen, schlug dies wiederum sehr unmittelbar auf die Bevölkerung durch – es verschärfte die ohnehin durch Flüchtlinge, Vertriebene, Bombengeschädigte etc. gegebene Wohnungsnot.31 Die französische Uniform, in der Döblin öffentlich auftrat, löste also bei vielen Menschen damals per se Negativreaktionen oder zumindest Irritation aus. Günter Weisenborn, Widerstandskämpfer, vom NS-Regime eingesperrt und nur knapp mit dem Leben davongekommen32, also gewiss unverdächtig, diesem in irgendeiner Form nachzutrauern, hat Döblins ersten Besuch im Nachkriegs-Berlin im Juli 1947 miterlebt: „Wir blickten alle gespannt zur Tür, als Döblin hereinbegleitet wurde. Ja, da war er, der kleine bebrillte Mann. Einige begannen bereits in die Hände zu klatschen. Aber plötzlich wurde es still. Der Mann, der dort in der Tür erschien, hatte das Gesicht Döblins, aber es war ein französischer Major in Uniform. Die Hände sanken verblüfft herab. Nur die allgemeine Höflichkeit, die einem Gast zustand, breitete sich aus […] und niemand sprach die Worte, die den Berliner Schriftsteller begrüßen sollten. Nichts gegen französische Offiziere, wir hatten viele von ihnen schätzen gelernt – aber war dies wirklich unser Döblin? War dies seine

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Heimkehr, oder war es nur der flüchtige Besuch eines alliierten Offiziers? […] Döblin wirkte als fremder Gast und reiste bald wieder ab.“33

So wie Weisenborn ist es offenbar vielen ergangen – und die bittere Ironie an der Sache: Döblin war gar kein französischer Offizier. Vergeblich hat er sich bereits im Juni 1948 in einem Leserbrief gegen dieses Missverständnis gewandt: Seine Stellung bei der Direction de l‘Éducation publique war die eines chargé de mission, dessen Rang lediglich als dem eines Offiziers assimilé galt.34 Der uniformtragende, dem Rang eines Offiziers lediglich formal angenäherte Zivilist Döblin hat das Unterscheidungsvermögen seiner Zeitgenossen damals wohl überfordert. Als er 1946 auch noch eine (längst zuvor noch im Exil entstandene)35 Erzählung unter dem Titel Der Oberst und der Dichter veröffentlichte, leistete er dem landläufigen Missverständnis noch mehr Vorschub – die Legende vom französischen „Oberst Döblin“ war langlebig. Und sie hat Döblin in Nachkriegsdeutschland geschadet.

III. „[…] stimmte / Schamlos ein freches K irchenlied an , so die irreligiösen G efühle / Seiner Zuhörer verletzend […]“ Günter Weisenborns Wahrnehmung, dass dieser Mann in französischer Uniform nicht mehr „unser Döblin“ war, haben sicherlich viele Menschen in Nachkriegsdeutschland geteilt. Die Distanz, die durch die Emigration und die französische Uniform entstanden war, wurde allerdings in Teilen der deutschen Gesellschaft noch durch einen weiteren Umstand verstärkt: Der Mann, der sich Alfred Döblin nannte, und in den 1920er Jahren noch als Protagonist einer atheistischen und zugleich dezidiert kirchenkritischen Weltanschauung galt, war zurückgekehrt als bekennender Christ, ja schlimmer noch – horribile dictu – als bekennendes Mitglied der römisch-katholischen Kirche. Tatsächlich hatte sich Döblin am 30. November 1941 in der Blessed Sacrament Church in Hollywood taufen lassen. Davor und danach nahm er inten-

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siven Glaubensunterricht bei drei Jesuiten-Patres, die an dieser Kirche Seelsorgedienst taten. Döblin stammte aus einer weitgehend assimilierten, die religiöse Tradition kaum lebenden jüdischen Familie und hatte 1912 den förmlichen Austritt aus der jüdischen Gemeinde vollzogen.36 Hinsichtlich seiner persönlichen Haltung zu religiösen Fragen hatte er seither bis zu seiner Taufe einen langen, keineswegs immer geradlinigen Weg hinter sich. Seine diesbezügliche Einstellung wandelte sich vor 1941 mehrfach grundlegend.37 Die Wendung zum Christentum (durchaus nicht von vorherein zur römisch-katholischen Kirche) vollzog sich dann nicht zuletzt unter dem Eindruck seiner Erfahrungen auf der Flucht durch das unter dem deutschen Angriff zusammenbrechende Frankreich im Sommer 1940. Zwar hat er in seinem im Exil in den USA verfassten Buch „Schicksalsreise“ darüber eingehend Bericht erstattet38, dieses Buch erschien allerdings erst Ende 1949. Vor seiner Rückkehr nach Deutschland dürfte dort kaum jemandem bekannt gewesen sein, dass er nun als Katholik zurückkehrte. Schon zuvor hatten selbst Menschen aus der engsten persönlichen Umgebung Döblins auf den Schritt zur Taufe mit Unverständnis, ja mit Feindseligkeit reagiert. Das gilt etwa für Artur und Elvira Rosin, mit denen es darüber beinahe zum Bruch gekommen wäre. Exemplarisch sei ferner auf Bert Brecht verwiesen, der mit Döblin seit den frühen 1920er Jahren befreundet war.39 Als sich Döblin auf einer von Brechts Ehefrau Helene Weigel organisierten Feier zu seinem 65. Geburtstag am 14. August 1943 in Santa Monica vor Augen und Ohren beinahe der gesamten deutschen Emigrationsprominenz in Kalifornien von Lion Feuchtwanger über Thomas Mann bis zu Franz Werfel als inzwischen gläubiger Christ „outete“, war das Publikum überwiegend konsterniert. Und Brecht war regelrecht empört, maßlos enttäuscht von einem Schritt, den er als Verrat und als intellektuelle Abdankung eines seiner großen literarischen Vorbilder betrachtete – und nicht nur er. Brecht reagierte sich in einem äußerst sarkastischen, ja bitterbösen Gedicht ab, aus dem eine Zeile hier als Kapitelüberschrift firmiert.

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Döblin, der von dieser Art Reaktion in keiner Weise überrascht wurde, hat seinen status confessionis längere Zeit diskret behandelt40, vor allem aber seit Kriegsende 1945 auch öffentlich dazu gestanden. Schon im Oktober 1946 veröffentlichte er eine Art religiösen Rechenschaftsbericht unter dem Titel Der unsterbliche Mensch.41 Es handelte sich um Döblins erste größere Nachkriegsveröffentlichung in Deutschland überhaupt. Die Schriftstellerin Elisabeth Langgässer – Katholikin, aber wegen ihres Vaters vom NS-Regime als „Halbjüdin“ verfolgt42 – war eine der Wenigen aus dem Kollegenkreis, die Verständnis und Respekt zeigte. Sie schrieb bald darauf an Döblin: „Dieses Buch wird in Berlin die literarischen Kreise zum Sieden, Toben und Rasen bringen. Dass Einer (der früher einer von ihnen war) vor dem Kreuz niederfällt und anbetet, mag noch angehen, und wenn er gar ein Franzose ist, wird es sogar als neueste literarische Mode ‚verziehen‘, dass aber ein solcher Geist seine Konversion nicht in ästhetischen Kategorien vollzieht, sondern zuletzt hinkniet wie ein alter Bauer – etwas schwerfällig, mit steifen Knien – und auch so betet: (also nicht spekuliert und auch keine Hymnen loßläßt – beides wäre einfacher und billiger!!) ‚Seele Christi, heilige mich. Leib Christi, erlöse mich. Blut Christi, tränke mich –‘ das darf nicht sein. Denn das ist ja gelebt, um Gottes Willen! Das ist Zeugnis! Das ist ganz einfach die persönlich erlebte und begrenzte Wahrheit eines Mannes, der schrecklicherweise noch dazu Döblin heißt. Welch eine Katastrophe!“43

Der angebliche französische Besatzungsoffizier, einstige Religionskritiker und jetzt fromme katholische Konvertit Döblin, nein, der passte vielen überhaupt nicht in ihr Weltbild. Dies zumal dieser Alfred Döblin kaum mehr etwas gemein zu haben schien mit dem berühmten Autor aus der Zeit vor 1933. Die Konversion jedenfalls verstärkte bei Teilen des Publikums die Distanz zum vermeintlich „anderen“ Döblin.

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IV. H abent

sua fata libelli

Alfred Döblin war einer der fruchtbarsten deutschen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Er schrieb unablässig aus der Überfülle seiner Invention – dementsprechend umfangreich ist sein Gesamtwerk. In der Emigration zunächst in der Schweiz, dann in Frankreich hat Döblin allen Schwierigkeiten zum Trotz bis 1939 sechs Romane veröffentlicht – oder drei je nach Zählweise, darunter einen dreibändigen. In den USA hat Döblin mit ungebrochener Schaffenskraft weitergeschrieben – und nicht ein einziges Buch veröffentlicht. Anders als etwa Thomas Mann oder Lion Feuchtwanger ist es Döblin nie gelungen, einen amerikanischen Verleger zu finden. Dies hatte nicht zuletzt mit seiner mangelnden Fähigkeit – und Bereitschaft – zu tun, Fremdsprachen im Allgemeinen und Englisch im Besonderen zu lernen.44 Dass Döblin hoffte, mit der raschen Rückkehr nach Deutschland auch seine umfangreichen ungedruckten Manuskripte auf den deutschen Buchmarkt bringen zu können, wurde schon erwähnt. Auch hierin allerdings wurde er weitgehend enttäuscht. Warum? Einerseits gab es den S. Fischer-Verlag, der Döblins Werke bereits seit 1914 veröffentlicht hatte und bei dem Berlin Alexanderplatz zum Welterfolg geworden war,45 nicht mehr in der Form wie bis 1933. Mit Gottfried Bermann Fischer, der Teile des S. Fischer-Verlages in der Emigration weitergeführt hatte, hatte sich Döblin entzweit. Er musste sich folglich in Deutschland einen neuen Verlag suchen. Dies wurde dann schwieriger als erwartet: Der angebliche französische Besatzungsoffizier Döblin war nunmehr Katholik und veröffentlichte 1946 ein religiöses Buch, nämlich „Der unsterbliche Mensch“ im Freiburger Karl Alber-Verlag.46 Der war angeschlossen an den Herder-Verlag, also an einen der wichtigsten katholischen Traditionsverlage in Deutschland.47 Zwischen 1948 und 1950 erschien bei Alber auch das Werk, das Döblin für das schlechterdings wichtigste aus seiner Arbeit in der Emigration hielt: Das zwischen Ende 1937 und Mitte 1943 entstandene, schon äußerlich gewaltige „Erzählwerk“ November 1918. Eine deutsche Revolution.48 Darin geht es äußerlich in einer Mischung aus Tatsachenroman und fiktionaler Handlung um die Tage zwischen dem 9. November 1918

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und dem 15. Januar 1919, also zwischen der Ausrufung der Weimarer Republik und dem Mord an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg.49 Inhaltlich indessen handelt es sich um den großangelegten Versuch Döblins, die tiefer liegenden Ursachen für das Scheitern der ersten deutschen Republik und die Heraufkunft der nationalsozialistischen Diktatur literarisch auszuloten. Ein zeitgeschichtliches Werk also.50 Lediglich dessen erster Band war noch 1939, für das deutsche Publikum allerdings praktisch unerreichbar, im Amsterdamer Querido Verlag erschienen. Die drei Folgebände brachte Döblin ungedruckt aus den USA mit. Ihre Veröffentlichung hatte in seinem Bestreben „Nützliches zu leisten“ Vorrang, da er hoffte, damit einen wichtigen Beitrag zur politischen Neubesinnung in Deutschland zu leisten. Dieses Unterfangen wurde indes ein krasser Fehlschlag. Ironie der Geschichte zu Beginn: Der Neudruck des ersten Bandes unterblieb, da die französische Zensurbehörde – also Döblins eigene Instanz! – die Druckgenehmigung verweigerte. Die Handlung von Band I spielt über weite Strecken im Elsass am Ende des Ersten Weltkriegs, stark autobiographisch geprägt, denn Döblin war dort zwischen Anfang August 1917 und Mitte November 1918 als deutscher Militärarzt stationiert.51 Die Zeichnung der zwiespältigen Haltung von Teilen der elsässischen Bevölkerung war Döblins Vorgesetzten 1947 offenbar zu heikel.52 Also erschienen nur die Folgebände bei Alber – und wurden ein geschäftlicher Misserfolg, wenig verkauft, selten besprochen.53 Dies hatte gewiss mehrere Ursachen: Teile des bürgerlichen, nicht-katholischen Lesepublikums griffen gar nicht erst danach – gemäß der überkommenen Devise des protestantischen Bildungsbürgertums „catholica non leguntur“ – katholische Dinge werden gar nicht erst zur Kenntnis genommen. Bei den bildungsbürgerlichen Schichten, die schon vor 1933 literaturinteressiert waren, war Döblin auch nicht unbedingt in guter Erinnerung. Als die gutbürgerliche Frankfurter Zeitung im Sommer 1929 einen Vorabdruck von Berlin Alexanderplatz brachte, den die ebenfalls bürgerliche Voßische Zeitung zuvor abgelehnte hatte, hagelte es empörte Protestbriefe. Da gab es also mehrfache Vorbehalte. Abschreckend auf manchen potentiellen Leser mag auch der schiere Umfang von über 2.200 Seiten54 des Gesamtwerks gewirkt haben.

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Vielleicht aber interessierten sich sozialdemokratische Leserinnen und Leser dafür? Immerhin war Döblin in den 1920er Jahre eine Zeitlang SPD-Mitglied gewesen. Und die Gründung der ersten Republik war ja ganz wesentlich ein Werk der damaligen Parteiführung um Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann. Jetzt, 1949/50, war die SPD die stärkste Oppositionskraft, die bei der ersten Bundestagswahl fast sieben Millionen Stimmen erhalten hatte.55 Gerade im sozialdemokratischen Milieu aber musste Döblins Sicht auf den November 1918 auf heftigen Widerspruch treffen. Denn seine Interpretation des Verhaltens von Ebert, Scheidemann und insbesondere Gustav Noske fiel äußerst negativ aus. Sie hatten den Erfolg der Revolution, so Döblins Lesart, zugunsten des Paktes mit den militärischen Machthabern des alten Systems verhindert. Und sie waren aus seiner Sicht mitverantwortlich für den Mord an Liebknecht und Luxemburg sowie zahlreiche andere Gewalttaten. So gewiss es ist, dass man aus geschichtswissenschaftlicher Sicht gegen Döblins sehr einseitige Sichtweise erhebliche Einwände erheben muss56, so gewiss führte diese auch beim wissenschaftlich nicht unbedingt informierten Publikum schon damals zu einer entschiedenen Abwehrhaltung. Die SPD unter ihrem Vorsitzenden Kurt Schumacher – der seine Parteilaufbahn als junger Mann am Ende des Ersten Weltkrieges just unter Ebert, Scheidemann und Otto Braun in Berlin begonnen hatte, also die Ereignisse selbst miterlebt und dabei sehr entschieden gegen Liebknecht und Luxemburg Stellung bezogen hatte57 – die SPD unter Schumacher also war bezeichnenderweise gerade dabei, die 1933 vom NS-Regime zerschlagene Friedrich-Ebert-Stiftung wiederaufzubauen. Ebert ist bis heute eine der wichtigsten Identifikationsfiguren der Sozialdemokratie.58 Da konnte Döblin, dem Ex-Genossen, der sich von der SPD bereits 1926 im Protest getrennt hatte,59 und der nun – wie die Kommunisten! – Ebert & Co. „heruntermachte“, nur Ablehnung entgegenschlagen. Dies umso mehr als die Negativgestalten aus sozialdemokratischer Sicht, Karl Liebknecht und vor allem Rosa Luxemburg, bei Döblin verhältnismäßig gut wegkommen. Wurde Döblin daher von der damals in Westdeutschland noch starken KPD60 bejubelt? Keineswegs. Denn

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Döblin zeigt auch Liebknecht und Luxemburg nicht als strahlende Lichtgestalten: Liebknecht erst zögernd, dann übereilt handelnd und so zum Misserfolg der Revolution ungewollt beitragend, und Luxemburg gequält von visionären Einbildungen, die zuweilen an Hysterie grenzen, schließlich im Zwiegespräch mit – keinem anderen als dem Teufel!61 Das konnte natürlich gestandenen kommunistischen Materialisten nicht gefallen. Zur Regierung Adenauer der Bonner Republik hatte Döblin auch ein gespanntes Verhältnis. Zwar war der Kanzler bekanntlich seinerseits katholisch, allerdings war Döblin entsetzt vor allem von der Praxis der sogenannten „Entnazifizierung“, die von der CDU unter dem pragmatischen Adenauer mehrheitlich mitgetragen wurde. Warum allzu viele Verantwortungsträger der NS-Diktatur in der jungen Bonner Republik ganz oder weitgehend unbehelligt blieben, ist ein komplexes Thema.62 Das sei hier festgestellt, ohne näher darauf eingehen zu können – um ein Ruhmesblatt in der Geschichte der Bonner Republik“handelt es sich dabei jedoch ganz gewiss nicht, im Gegenteil, auch das sei festgestellt. Döblin erlebte das ganz hautnah mit: 1948 sagte er im sogenannten Spruchkammerverfahren gegen Erwin Guido Kolbenheyer als Zeuge aus. Döblin kannte Kolbenheyer seit den späten 1920er Jahren, als beide Mitglieder der Preußischen Akademie der Künste, Sektion Dichtkunst, waren. So wie Döblin 1933 in die Emigration ging, so wurde aus dem rechtsnationalen Kolbenheyer einer der Profiteure des NS-Regimes, vielfach ausgezeichnet und viel Geld verdienend. Auch aufgrund von Döblins Aussage wurde Kolbenheyer von der Spruchkammer als „belastet“ eingestuft – er ging in Revision und wurde dadurch zum unbeschadet bleibenden „Mitläufer“ herabgestuft.63 Derartige Weichspülgänge waren keineswegs die Ausnahme, sondern die Regel. Lediglich 1,4 Prozent aller Spruchkammerentscheidungen verwiesen die Betroffenen in die zur Bestrafung vorgesehenen Kategorien der „Hauptschuldigen“ und der „Belasteten“.64 Döblin war nicht der einzige, der dies als Hohn auf die Opfer betrachtete. Und die katholische Leserklientel, goutierte diese den nunmehr katholischen Autor Döblin? Immerhin waren 1950 rund 23,2 Millionen

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Menschen in der Bonner Republik zumindest formal Mitglieder der römisch-katholischen Kirche.65 Doch auch hier stieß Döblin auf wenig Gegenliebe. Einerseits mag da das Konvertiten nicht selten entgegengebrachte Misstrauen ob ihrer „wahren Glaubenstreue“ mitgespielt haben. Dies beeinträchtigte deutlich Döblins Publikationserfolg: Als er einen Verlag für die Erzählung Die Pilgerin Aetheria suchte, ein „Lieblingswerk“ Döblins, wie seine Ehefrau Erna überliefert hat – da winkten der Alber- und dann auch der Herder-Verlag ab. Angeblich hatte man Bedenken, ob das Werk auf amtskirchlicher Seite Zustimmung finden würde. Döblin war tief enttäuscht.66 Und auch sonst konnte wohl die katholische Leserschaft der unmittelbaren Nachkriegszeit mit November 1918 nicht allzu viel anfangen, denn es gibt keine sozialdemokratischen, keine kommunistischen, aber auch keine katholischen Lichtgestalten darin. Die fiktive Hauptfigur, der Lehrer und Kriegsversehrte Friedrich Becker, bekehrt sich zwar zum Christentum, aber keineswegs zu einem kirchenfrommen, im Gegenteil. Und: Die einzige durchgängig positiv dargestellte fiktive Figur, die elsässische Krankenschwester Hilde, wird zwar als fromme Katholikin dargestellt – entspricht jedoch in ihrer Haltung gegenüber Männern (einschließlich Becker) keineswegs den geltenden katholischen Moralvorstellungen. Döblin ist als Autor also im „katholischen Milieu“ nicht angekommen.67 November 1918 blieb liegen, weitgehend unbeachtet. Bezeichnenderweise ist eine vollständige Ausgabe erst 1978 – zu Döblins 100. Geburtstag – beim DTV-Verlag erschienen. Habent sua fata libelli – auch Bücher haben ihre Schicksale. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Döblin große Schwierigkeiten hatte, seinen letzten, neuerlich eine starke religiöse Komponente enthaltenden Roman Hamlet oder die lange Nacht hat ein Ende überhaupt gedruckt zu sehen. Nach diversen Absagen westdeutscher Verlage bekam er doch noch eine – sogar begeisterte – Zusage. Die kam vom Verlag Rütten & Löning – aus Ost-Berlin. Dort hatte insbesondere Peter Huchel für Döblins Werk geworben. Ermöglicht wurde die Publikation aber vor allem durch den Segen des DDR-Kulturministers Johannes R. Becher.68

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Becher war ein alter Freund und Weggefährte Döblins schon seit den 1920er Jahren. Beide hatten ihre Freundschaft über deutliche weltanschauliche Differenzen hinweg gerettet: Becher wurde 1923 KPD-Mitglied und blieb – formal – Kommunist bis zu seinem Tod.69 Döblin war beständig ein erklärter Gegner der Politik der KPD und vor allem ein harscher Kritiker der stalinistischen Sowjetunion, in der Becher stromlinienförmig die Emigration überlebt hatte. Mit den anderen kommunistischen Moskau-Emigranten Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht war er 1945 von der Roten Armee an die Schalthebel der Macht in der SBZ/DDR befördert worden. Döblin sah nun also seinen Roman in der DDR gedruckt und erfolgreich vertrieben – bald gab es eine westdeutsche Lizenzausgabe – dass er sich aber offenbar mit den Kommunisten „da drüben“ gemein machte, das war für viele in der Bonner Republik im Zeichen der unversöhnlichen Fronten des Kalten Krieges höchst diskreditierend. Ein französischer Besatzungsoffizier, Ex-Sozialdemokrat, Bürgerschreck der 1920er Jahre, jetzt angeblich katholisch, trotzdem offenkundig Kommunistenfreund – das ging gar nicht in der jungen Bonner Republik!

V. U nd

als ich wiederkam , da kam ich nicht wieder



„Und als ich wiederkam, da – kam ich nicht wieder“ – dies schrieb Döblin bereits Anfang 1946.70 Im Grunde handelte es sich um eine treffliche Zusammenfassung seines Lebens und seiner Erfahrungen in der Bonner Republik. Er hatte dort zwar auch Freunde, Förderer und Unterstützer: Theodor Heuß wurde schon genannt, der Berliner Bildungssenator und CDU-Politiker Joachim Tiburtius müsste angefügt werden. Beide haben sich erfolgreich darum bemüht, dass Döblin, in seinen letzten Lebensjahren krankheitsbedingt kaum noch arbeitsfähig, nicht wieder in Armut versank, sondern staatliche Entschädigungszahlungen für sein Emigrationsschicksal erhielt.71 Auch Kollegen

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traten für ihn ein: Der Katholik Reinhold Schneider etwa, die dezidierten Nicht-Katholiken Arno Schmidt und Wolfgang Koeppen ebenso.72 Die waren allerdings jeder für sich ausgeprägte Einzelgänger und daher nur von begrenztem Einfluss. Schmidt und Koeppen haben allerdings auch wiederholt betont, dass ihnen Döblin eine literarische Vorbildfigur war. Dies hat später mit Nachdruck auch Günter Grass getan, der war allerdings in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch zu jung und unbekannt. Persönlich begegnet ist er Döblin nie, obwohl er ihn emphatisch als „seinen Lehrer“ apostrophierte.73 Die in der Bonner Republik so einflussreich werdende „Gruppe 47“ (zu der Grass erst 1955 stieß) hielt es mit Döblin so wie mit den meisten anderen älteren Emigranten auch – man ignorierte sie weitgehend. Die „Landsergeneration“ der Hans Werner Richter, Alfred Andersch und Heinrich Böll wusste mit dem Avantgardisten der Weimarer Republik, in der sie zumeist noch zu jung für die Literatur gewesen waren, nicht viel anzufangen.74 Immerhin hat jedoch ein Angehöriger der „Gruppe 47“ eine ziemlich treffende, sarkastische Denkweise in der jungen Bundesrepublik aufs Korn nehmende Analyse von Döblins Scheitern nach 1945 vorgelegt, nämlich Wolfgang Weyrauch. Diese sei abschließend zitiert: „Nur in ganz wenigen Zeitschriften und Zeitungen ist der Roman [November 1918] Döblins besprochen worden. Warum? Weil … a) ‚Karl und Rosa‘, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, um Himmelswillen Kommunisten sind, oder Sozialisten, oder jedenfalls irgend so etwas Rotes, und das muß man totschweigen; totgeschwiegen ist halb getötet – und Juden sind sie auch noch […] b) [Weil] sich dieser Döblin erfrecht, sie wieder zum Leben zu erwecken, selber ein Jude, selber ein alter Sozi, Armenarzt in Berlin, sicher im Ostsektor – ach ja, gab es damals noch nicht, ist ja egal; und Emigrant ist er auch noch. Ist wohl später Katholik geworden, wird wohl Tarnung sein. c) [Weil] das Buch eine faule Kiste ist. […] Der Döblin hängt irgendwie […] mit der französischen Militärregierung zusammen. […] Der Döblin läßt, ferner, seine Rosa im Gefängnis – da gehört sie hin – immer mit Engeln reden, eine merkwür-

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dige Angelegenheit […] ist auch literarisch sonderbar; Roman sonst realistisch geschrieben, sehr realistisch, zu realistisch […].“75

Alfred Döblin saß in der Bonner Republik, die stark vom politischen, aber auch konfessionellen Lagerdenken geprägt war, zwischen vielen Stühlen. Dies verhinderte, dass er nicht auch nur entfernt an seine Wirksamkeit als Autor vor 1933 anknüpfen konnte, obwohl er im Vergleich zu anderen Emigranten ausgesprochen früh nach Deutschland zurückgekehrt ist. Dass er sich gegen Ende seines Lebens in der Bonner Republik überflüssig fühlte, ist unschwer nachzuvollziehen..

A nmerkungen 1 | Vgl. Döblin, Alfred: Autobiographische Schriften und letzte Aufzeichnungen, Lizenzausgabe, Frankfurt/M., Wien, Zürich: Verlag 1978, S. 434. 2 | Zum 09. November vgl. z. B. das Dossier auf der Internetseite der Bundeszentrale für politische Bildung: http://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/172172/der-9-november, 05.02.2019. 3 | Die Hauptverhandlung des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses wurde am 20. November 1945 eröffnet; vgl. Kastner, Klaus: Die Völker klagen an. Der Nürnberger Prozess 1945-1946, Darmstadt: Verlag 2005, S. 54ff. 4 | Döblin hatte Berlin am 28. Februar 1933 nachts verlassen, am 2. März 1933 in Konstanz die deutsch-schweizerische Grenze überschritten; vgl. Meyer, Jochen: Alfred Döblin 1878–1978 (Marbacher Kataloge 30), 4. veränd. Aufl., Marbach am Neckart: Deutsche Schillergesellschaft 1998, S. 34. 5 | Zu Biographie und Werk Döblins informieren umfassend Schoeller, Wilfried F.: Alfred Döblin. Eine Biographie, München: Hanser 2011 u. Sander, Gabriele: Alfred Döblin, Stuttgart: Reclam 2001. Neuerdings existiert auch als verhältnismäßig knapper biographischer Überblick Bernhardt, Oliver: Alfred Döblin, München: dtv 2017, ähnlich knapp ist Arnold, Armin: Alfred Döblin (Köpfe des 20. Jahrhunderts, Bd. 129), Ber-

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lin: Morgenbuch 1996. Immer noch hilfreich ist Prangel, Matthias: Alfred Döblin, Stuttgart: Metzler 1973. Die Lebensbeschreibung von Schröter, Klaus: Döblin, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978 wird demgegenüber Döblins Schaffen nach 1933 kaum gerecht. 6 | Zu Döblins Leben im Exil vgl. Sander: Döblin, S. 48ff. bzw. Schoeller: Döblin, S. 401ff. 7 | Döblin, Alfred: Briefe, Olten, Freiburg i. Br.: Walter 1970, S. 327. 8 | Vgl. Meyer: Döblin, S. 53 u. Schoeller: Döblin, S. 792ff. 9 | Vgl. Pikart, Eberhard: „Heuss, Theodor“, in: Neue Deutsche Biographie 9 (1972), S. 52–56 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118550578.html#ndbcontent, 28.01.2019. 10 | Döblin: Briefe, S. 458. 11 | Vgl. Sander, Gabriele: „Rezeptionsgeschichte“, in: Sabina Becker (Hg.), Döblin-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart: Verlag 2016, S. 1–11; S. 1ff. 12 | „Das Buch war ein Erfolg beim Publikum und man nagelte mich auf den […] ‚Alexanderplatz‘ fest. Es hat mich nicht gehindert, meinen Weg weiterzuverfolgen und die Leute, die Schablonenarbeit verlangen, zu enttäuschen.“ Döblin: Autobiographische Schriften, S. 445. Die anhaltende Dominanz von „Berlin Alexanderplatz“ zeigt sich auch in Zahlen: Seit 1965 bis 2017 wurden im Taschenbuchformat von Döblins Werken etwa 1,3 Millionen Exemplare verkauft, davon allerdings allein rund eine Million Exemplare des Berlin-Romans; vgl. Bernhardt: Döblin, S. 168. 13 | Vgl. Becker: Döblin-Handbuch, S. 125ff. 14 | Umfassend erst untersucht von Kiesel, Helmuth: Literarische Trauerarbeit. Das Exil- und Spätwerk von Alfred Döblin, Tübingen: de Gruyter 1986, S. 1ff. 15 | Vgl. Bauer, Christian/Göpffert, Rebekka: Die Richtie Boys. Deutsche Emigranten beim US-Geheimdienst, Hamburg: Hoffmann u. Campe 2005, S. 34ff. 16 | Vgl. Krauss, Marita: Heimkehr in ein fremdes Land. Geschichte der Remigration nach 1945, München: Verlag 2001, S. 7ff. u. S. 137ff. sowie dies.: „Westliche Besatzungszonen und Bundesrepublik Deutschland“, in: Claus-Dieter Krohn u. a. (Hg.): Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933–1945, 2. Aufl., Darmstadt: WBG 1998, Sp. 1161–1171; Sp. 1161ff.

In Deutschland überflüssig?

17 | Vgl. Meyer: Döblin, S. 41f. 18 | Vgl. Döblin: Briefe, S. 322. 19 | Vgl. Vormeier, Barbara: „Frankreich“, in C.-D. Krohn u. a.: Handbuch, Sp. 213–250; Sp. 213ff. 20 | Vgl. Meyer: Döblin, S. 38f. 21 | Vgl. François-Poncet amtierte von 1931 bis 1938 als französischer Botschafter in Berlin, seit 1948 war er politischer Berater des Chefs der französischen Besatzungsverwaltung in Deutschland, von 1949 bis 1955 fungierte er als Alliierter Hoher Kommissar und französischer Botschafter in Bonn; vgl. http://www.academie-francaise.fr/les-immortels/ andre-francois-poncet bzw. https://www.hdg.de/lemo/biografie/andre-francois-poncet.html, 29.01.2019. 22 | Vgl. Meyer: Döblin, S. 47. 23 | Zur Organisation und Funktion der französischen Militärregierung in Deutschland vgl. Wolfrum, Edgar: „Gouvernement Militaire de la Zone Française d’Occupation (GMZFO)“, in: Wolfgang Benz (Hg.), Deutschland unter alliierter Besatzung 1945–1949/55. Ein Handbuch, Berlin: Akademie 1999, S. 267–271; S. 267ff. 24 | Vgl. Bernhardt: Döblin, S. 88ff. 25 | Vgl. Schildt, Axel: „Kultur und geistiges Leben“, in: Benz: Handbuch, S. 134–140. 26 | Vgl. Zimmermann, Hans Dieter: „,Innere Emigration‘ – Ein historischer Begriff und seine Problematik“, in: Frank-Lothar Kroll/Rüdiger von Voss (Hg.), Schriftsteller und Widerstand. Facetten und Probleme der Inneren Emigration, Göttingen: Wallstein 2012, S. 45–61. 27 | Vgl. Krauss: Heimkehr, S. 73f. u. Rathgeb, Eberhard: Deutschland kontrovers. Debatten 1945 bis 2005, Lizenzausgabe, Bonn: BpB 2005, S. 20ff.; die wichtigsten einschlägigen Diskussionsbeiträge versammelt und kommentiert Grosser, J. F. G. (Hg.): Die große Kontroverse. Ein Briefwechsel um Deutschland, Hamburg, Genf, Paris: Nagel 1963. 28 | Vgl. Kershaw, Ian: Das Ende. Kampf bis in den Untergang. NSDeutschland 1944/45, Sonderausgabe, München: DVA 2011, S. 416f. 29 | Vgl. Wolfrum, Edgar: Die Rache der Franzosen, in: https://www.zeit. de/2000/21/Die_Rache_der_Franzosen, 05.02.2019.

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30 | Vgl. Wolfrum, Edgar: „Französische Besatzungspolitik“, in: Benz: Handbuch, S. 60–72; S. 60ff. 31 | Vgl. Führer, Karl Christian: „Wohnungen“, in: Benz: Handbuch, S. 206–209. 32 | Vgl. Benz, Wolfgang/Pehle, Walter H. (Hg.): Lexikon des deutschen Widerstands, akt. Lizenzausgabe, Frankfurt/M.: Fischer 2004, S. 405. 33 | Zit. n. Meyer: Alfred Döblin, S. 430f. 34 | Vgl. Meyer: Alfred Döblin, S. 431f. 35 | Vgl. Bernhardt: Döblin, S. 146f. 36 | Vgl. Bernhardt: Döblin, S. 40. 37 | Näheres hierzu bieten die Beiträge des Sammelbandes Sauerland, Karol (Hg.): Alfred Döblin – Judentum und Katholizismus (Literarische Landschaften, Bd. 12), Berlin: Duncker & Humboldt 2010. 38 | Hier verwendete Ausgabe: Döblin: Autobiographische Schriften, S. 103–426. 39 | Vgl. Bernhardt: Döblin, S. 66ff. u. Meyer: Döblin, S. 279ff. 40 | Während des Zweiten Weltkrieges und der andauernden Judenverfolgung durch das NS-Regime vermied es Döblin weitgehend seine Konversion öffentlich bekannt zu machen, da er fürchtete, dass dies gewissermaßen als „Verrat“ an der Sache des leidenden europäischen Judentums aufgefasst werden könnte. 41 | Hier verwendete Neuausgabe: Döblin, Alfred: Der unsterbliche Mensch. Ein Religionsgespräch/Der Kampf mit dem Engel. Religionsgespräch (Ein Gang durch die Bibel) (Gesammelte Werke, hg. v. Christa Althen, Bd. 17), Frankfurt/M.: Fischer 2016. 42 | Vgl. Frommholz, Rüdiger: „Langgässer, Elisabeth“, in: Neue Deutsche Biographie 13 (1982), S. 596–599 [Online-Version]; URL: https://www. deutsche-biographie.de/pnd11856949X.html#ndbcontent, 24.03.2020. 43 | Zit. n. Meyer: Alfred Döblin, S. 389. 44 | Vgl. Sander: Döblin, S. 67ff. 45 | Vgl. Meyer: Döblin, S. 18ff. 46 | Vgl. Meyer: Döblin, S. 386f. 47 | Vgl. http://www.verlag-alber.de/verlag/index_html, 05.02.2019. 48 | Die Entstehungsgeschichte und inhaltliche Schwerpunktsetzungen wurden detailliert untersucht von Althen, Christina: Machtkons-

In Deutschland überflüssig?

tellationen einer deutschen Revolution. Alfred Döblins Geschichtsroman „November 1918“ (Münchener Studien zur literarischen Kultur in Deutschland, Bd. 18), Frankfurt/M. u. a.: P. Lang 1993. 49 | Hier verwendete Ausgabe: Döblin, Alfred: November 1918. Eine deutsche Revolution. Erzählwerk in drei Teilen. Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918, Frankfurt/M.: Fischer 2008; Ders.: November 1918. Eine deutsche Revolution. Erzählwerk in drei Teilen. Zweiter Teil. Erster Band: Verratenes Volk, Frankfurt/M.: Fischer 2008; Ders.: November 1918. Eine deutsche Revolution. Erzählwerk in drei Teilen. Zweiter Teil. Zweiter Band: Heimkehr der Fronttruppen, Frankfurt/M.: Fischer 2008; Ders.: November 1918. Eine deutsche Revolution. Erzählwerk in drei Teilen. Dritter Teil: Karl und Rosa, Frankfurt/M.: Fischer 2008. 50 | Vgl. Sander: Döblin, S. 200ff. 51 | Vgl. Bernhardt: Döblin, S. 53f. 52 | Vgl. Meyer: Döblin, S. 462f. 53 | Hilfreich ist hier das Grundlagenwerk von Schuster, Ingrid/Bode, Ingrid (Hg.): Alfred Döblin im Spiegel der zeitgenössischen Kritik, Bern: A. Francke 1973. Während hier zu „Berlin Alexanderplatz“ 26 rasch nach dessen Publikation erschienene, oft ausführliche Besprechungen nachgewiesen sind, fanden sich zum Gesamtwerk „November 1918“ lediglich 11 Rezensionen; vgl. a. a. O., S. 207–266 u. S. 399–416. 54 | Die Angabe bezieht sich auf die oben genannte bislang jüngste Ausgabe im S. Fischer-Verlag. 55 | Vgl. Ritter, Gerhard A./Niehuss, Merith: Wahlen in der Bundesrepublik Deutschland. Bundestags- und Landtagswahlen 1946–1987, München: Beck 1987, S. 74. 56 | Einen differenzierten Blick aus Sicht der modernen Forschung bietet Jones, Mark: Am Anfang war Gewalt. Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik, Lizenzausgabe, Bonn: Propyläen 2017, bes. S. 46ff. 57 | Vgl. Merseburger, Peter: Kurt Schumacher. Der schwierige Deutsche, 3. Aufl., Berlin: DVA 1997, S. 42ff. 58 | Vgl. https://www.fes.de/stiftung/geschichte/, 05.02.2019. 59 | Vgl. Meyer: Döblin, S. 26. 60 | Bei der ersten Bundestagswahl im August 1949 hatte die KPD 5,7 %

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der abgegebenen Stimmen und damit 15 Sitze im westdeutschen Parlament erhalten; vgl. Pötzsch, Horst/Halder, Winfrid: Deutsche Geschichte von 1945 bis zur Gegenwart. Die Entwicklung der beiden deutschen Staaten und das vereinte Deutschland, Reinbek, München: Lau 2015, S. 96. 61 | Vgl. Döblin: November 1918. Karl und Rosa, bes. S. 339ff. 62 | Vgl. Pötzsch/Halder: Deutsche Geschichte, S. 36ff. 63 | Vgl. https://www.literaturportal-bayern.de/nachlaesse?task=lpbestate.default&id=1141, 05.02.2019 u. Wistrich, Robert: Wer war wer im Dritten Reich. Ein biographisches Lexikon. Anhänger, Mitläufer, Gegner aus Politik, Wirtschaft, Militär, Kunst und Wissenschaft, München: Harnack 1987, S. 208. 64 | Vgl. Königseder, Angelika: „Entnazifizierung“, in: Benz: Handbuch, S. 114–117. 65 | Vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1226/umfrage/ anzahl-der-katholiken-in-deutschland-seit-1965/, 05.02.2019. 66 | Vgl. Döblin: Briefe, S. 500f. 67 | Bezeichnend ist, dass Döblin auch bei Kranz, Gisbert (Hg.): Lexikon der christlichen Weltliteratur, Freiburg, Basel, Wien: Herder 1978, fast völlig ignoriert wird. Kranz, katholischer Theologe und Literaturwissenschaftler, war zweifellos einer der besten Kenner der Materie. 68 | Vgl. Meyer: Döblin, S. 481ff. 69 | Vgl. Dwars, Jens-Fietje: Johannes R. Becher. Triumph und Verfall. Eine Biographie, Berlin: Aufbau 2003, bes. S. 97ff. 70 | Döblin: Autobiographische Schriften, S. 431. 71 | Vgl. Meyer: Döblin, S. 504. 72 | Vgl. Meyer: Döblin, S. 511ff. 73 | Vgl. Grass, Günter: „Über meinen Lehrer Döblin“, in: Christina Althen (Hg.): Alfred Döblin. Leben und Werk in Erzählungen und Selbstzeugnissen, Düsseldorf: Artemis und Winkler 2006, S. 9–15. 74 | Vgl. Arnold, Heinz Ludwig: Die Gruppe 47, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2004, S. 46ff. 75 | Zit. n. Meyer: Alfred Döblin, S. 389.

Autorinnen und Autoren

Baier, Christof, Dr. phil., Studium der Kunstgeschichte, Kulturwissenschaften und Neueren und Neuesten Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Promotion 2007, bis 2011 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am dortigen Institut für Kunst- und Bildgeschichte, Lehrstuhl für Geschichte der Architektur und des Städtebaus. 2012–2020 Juniorprofessor für Geschichte der europäischen Gartenkunst am Institut für Kunstgeschichte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Wintersemester 2020/21 Vertretungsprofessur am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Geschichte von Architektur, Städte- und Festungsbau sowie Gartenkunst und Landschaftsarchitektur der Neuzeit und des 20. Jahrhunderts; Geschichte der Kunstgeschichte, insbesondere zu Leben und Werk des Kunsthistorikers und Volkskundlers Wilhelm Fraenger (1890 –1964). Cepl-Kaufmann, Gertrude, Prof. Dr. phil., Studium der Germanistik, Geschichte, Volkskunde und Pädagogik in Bonn. Promotion (1972) und Habilitation (1997) an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; Apl. Prof. für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft u. Akademische Direktorin ebd.. Leiterin des An-Instituts „Moderne im Rheinland“. Forschungen zur Literaturgeschichte und Kultursoziologie, komparatistische Forschungen zur Literatur und Kultur der Moderne, bes. im westeuropäischen Dreiländereck. Regionale – internationale Archivund Ausstellungsprojekte. Dörr, Volker C., Prof. Dr. phil., Studium der Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte in Bonn. Promotion ebd. 1997. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistischen Seminar der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Habilitation 2002, danach Oberassistent sowie Akademischer Oberrat auf Zeit in Bonn. 2010 Professor für Neuere deut-

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sche Literaturgeschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, seit Wintersemester 2010/11 Inhaber eines Lehrstuhls für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Forschungen zur Literatur und Ästhetik der Weimarer Klassik, zur Nachkriegsliteratur, zur Deutsch-türkischen Gegenwartsliteratur sowie zu Fragestellungen der Inter-/Transkulturalität. Gerhards, Thomas, Dr. phil., Studium der Geschichte und Germanistik in Düsseldorf, Promotion ebd. 2009; 2005 –2015 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Max Weber-Gesamtausgabe (Bayerische Akademie der Wissenschaften), 2016/17 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichtswissenschaften der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; seither Wissenschaftliche Lehrkraft ebd. Forschungen und Quelleneditionen zur Historiographiegeschichte und politischen Kultur in Deutschland, zur Geistes- und Wissenschaftsgeschichte sowie zur Studentenbewegung der 1960er Jahre. Grande, Jasmin, Dr. phil., Studium der Germanistik und Anglistik in Düsseldorf, Promotion ebd. 2010 zur Wissenschaftsgeschichte des Phantastischen in der Literatur, seit 2011 stellv. Leiterin des Instituts „Moderne im Rheinland“ an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und wiss. Mitarbeiterin am dortigen Institut für Kunstgeschichte, Lehrbeauftragte am Institut für Germanistik sowie Koordinatorin des interdisziplinären Forschungsverbunds zur „Bonner Republik – ein paradoxaler Chronotopos“. Habilitiert zur Zeit über regionale Kulturgeschichtsschreibung. Forschungen zur Moderne/Modernität und Avantgarde in regionaler Perspektive, Wissens- und Kulturtheorie, Ausstellungsgeschichte, Interdisziplinarität, #glasgalaxien. Halder, Winfrid, Prof. Dr. phil., Studium der Geschichte und Politikwissenschaft in München und Freiburg i. Br., Promotion (1992) an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br., Habilitation (1999) an der TU Dresden, seit 2006 Direktor der Stiftung Gerhart-Hauptmann-Haus in Düsseldorf, Honorarprof. Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (2015).

Autorinnen und Autoren

Forschungen zur Geschichte des deutschen Kaiserreichs u. zur Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Hinz, Uta, Dr. phil. Studium der Neueren und Neuesten Geschichte, Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität Freiburg. Promotion ebd. 2000. Bis 2008 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere Geschichte an der HHU Düsseldorf, bis 2015 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Max Weber-Gesamtausgabe. Bis 2018 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere Geschichte an der HHU und Durchführung des interdisziplinären Lehrprojekts „1968 und die Folgen in Düsseldorf“. Seit 2019 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der HHU Düsseldorf. Forschungen zur Militär-, Alltags- und Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs sowie zur Politik- und Sozialgeschichte der Bundesrepublik. Körner, Hans, Prof. Dr. phil. Geboren 1951 in Würzburg. Studium der Kunstgeschichte, Geschichte, Klassischen Archäologie und Philosophie in Würzburg, Salzburg und München. Promotion 1977 und 1986 Habilitation an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 1978 bis 1990 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Universitäten in Mainz und München. 1987, 1989, 1990 und 1991 Gastdozent an der Sorbonne (Paris IV). 1992–2017 Lehrstuhlinhaber am Institut für Kunstgeschichte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. 2006 Gastprofessor an der Ecole des hautes études en sciences sociales (EHESS), Paris. 2014 Visiting Scholar an der National Taiwan Normal University, Taipei. Forschungsschwerpunkte: Mittelalterliche Grabmalskunst, Spätmittelalterliche Druckgraphik, Malerei der Italienischen Renaissance, Französische Kunst und Kunstlitertatur (17.–20. Jh.), Die Kunstgeschichte des Tastsinns, Die Geschichte des Ornaments, Rahmengeschichte, Outsider Art, Sakralkunst des 20. Jahrhunderts. Meis, Verena, Dr. phil., Studium der Germanistik, Medien- und Theaterwissenschaft in Düsseldorf und Bochum. Promotion zum Thema „Fäden im Kopf. Theatrales Erzählen in Thomas Bernhards Prosa“, bis 2018 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik an der

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Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Seit 2019 Dramaturgin am FFT (Forum Freies Theater) Düsseldorf. Mitbegründerin des Qualleninstituts, Mitglied im Rat der Künste Düsseldorf. Forschungen zu Tentakularität als medial-ästhetische Denkstruktur der Gegenwart, zu Übertragungsraten und -arten, das Wasser betreffend, zu Gegenwartstheater, -performance und Popkultur, insbesondere Floh de Cologne, Deichkind und Engelbert. Rosar, Ulrich, Univ.-Prof. Dr. rer. pol., Jahrgang 1968, Studium der Soziologie, der Politikwissenschaft und der Psychologie 1991–1995 in Düsseldorf, Promotion 2001 in Bamberg und Habilitation 2009 in Köln. 2010 Berufung auf der Lehrstuhl für Soziologie, insbesondere Methoden der empirischen Sozialforschung der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Besondere Arbeitsschwerpunkte sind die Vorurteils- und Diskriminierungsforschung sowie die Politische Soziologie. Von November 2014 bis Februar 2015 Prodekan und von März 2015 bis Februar 2019 Dekan der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Wiener, Jürgen, Professor Dr. phil., Studium der Kunstgeschichte, Archäologie, Geschichte und Volkskunde in Würzburg. Promotion ebd. 1989. Ab 1990 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kunstgeschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, seit 1991 Akademischer Rat. Habilitation 2002, danach Vertretungsprofessur am Institut für Kunstgeschichte der Universität zu Köln. Seit 2007 Professor für Kunstgeschichte an der Heinrich-Heine-Universität. Forschungen zur italienischen und französischen Skulptur, Architektur und Bauornamentik des Hoch- und Spätmittelalters, zur Gartenskulptur der Frühen Neuzeit, zur historistischen und modernen Architektur im Rheinlands sowie zur Sakralkunst der Moderne.

Namensregister

Abs, Josef 120 Adenauer, Konrad 57, 224, 283, 321 Adorno, Theodor W. 294 Agnoli, Johannes 42 Albien, Hans Walter 214 Allemann, Fritz René 12 Alt, Otmar 239 Alys, Götz 30 Andersch, Alfred 324 Anter, Andreas 45 Apollinaire, Gouillaume 237 Bach, Vivi 243f., 259 Bachmann, Ingeborg 277 Badenhausen, Rolf 109 Bähr, Rolf 222 Bakema, Jaap 141, 146f. Bartning, Otto 181 Batteux, Charles 254, 257 Bauchant, André 238 Baumeister, Mary 14 Becher, Johannes R. 322f. Beckett, Samuel 274 Bermann Fischer, Gottfried 318 Behrendt, Heinz 161 Benda, Ernst 83 Bender, Joachim 200 Benjamin, Walter 269 Benn, Gottfried 269, 274ff.

Bense, Gerhard 200 Bense, Max 273 Best, Otto F. 269 Beuys, Joseph 14, 259ff. Biedenkopf, Kurt 82, 87, 101,104, 105 Bihalji-Merin, Oto 249, 251 Böhm, Gottfried 183 Bohrer, Karl-Heinz 290 Böll, Heinrich 279, 282, 324 Bombois, Camille 238 Born, Nicolas 270 Bothien, Horst-Pierre 84, 85, 102 von Branca, Alexander 185 Brandi, Jochen 221 Brandt, Willy 115f., 130, 283 Brandt, Matthias 21 Braun, Otto 320 Brecht, Bertolt 112, 285, 294, 316 Bresgen, Karl 113 Brinkmann, Rolf Dieter 14, 23, 270, 275, 281f., 288, 289f. Bude, Heinz 72

Camus, Albert 274, 278 Candilis, George 146f., 148f, 189 von Chamier, Bernward 197f. Church, Thomas 196 Cohn-Bendit, Daniel 29, 61

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Conrad, Sebastian 34 Conze, Eckart 50 Le Corbusier 141, 143, 146, 148, 188, 189, 237

Dahrendorf, Ralf 51, 127 Degenhardt, Franz Josef 116 Deilmann, Harald 181, 223 Delaunay, Robert 237 DeMars, Vernon 197 Deppe, Frank 61 Dierks, Dieter 120 Döblin, Alfred 307–330 Döblin, Erna 322 Dobrindt, Alexander 29, 62 Döhmen, Heinz 222 von Dohnanyi, Klaus 130 Dutschke, Rudi 32f., 41, 51, 53, 78f., 81f., 87, 89, 92, 99, 102, 261

Ebert, Friedrich 320 Eckbo, Garret 189 Eiermann, Egon 139, 172, 181 Eller, Fritz 128, 143, 144, 145, 172f., 175 Engels, Friedrich 258f. Engels, Matthias T. 252 Enzensberger, Hans Magnus 292 Epple, Bruno 245ff., 252f., 261 Erhard, Ludwig 120, 224, 295 Ermrich, Lothar 86, 104

Ertl, Josef 239f., 258 van Eyck, Aldo 146, 148

Falck, Jürgen 88, 90 Feldhaus, Irmgard 250 Felsch, Philipp 11, 14 Feuchtwanger, Lion 316, 318 Flick, Friedrich 120f. Flickenschildt, Elisabeth 111 Fontane, Theodor 270, 273, 284 Forßmann, Jörg 200 Frank, Hansi 113ff. Fraßa, Lucie 233f. Gadamer. Hans-Georg 278 Gansfort, Karl Heinz 222 Gehlen, Arnold 285, 300, 305 Genette, Gérard 272 Girod, Martin 113 Globke, Hans 54, 113 Goebbels, Heinrich 281, 307 von Goethe, Johann Wolfgang 299 Göring, Hermann 281 Grass, Günter 271, 277, 324 Grimm, Susanne 253 Grzimek, Günther 198, 222 Grochowiak, Thomas 230f., 238, 249 Gropius, Walter 141 Gründgens, Gustaf 111 Guevara, Che 99 Gutbrod, Rolf 206f. Gutenberger, Bernd 88

Namensregister

Greeven, Heinrich 98 Grümmer, Jürgen Hans 206f., 225

Habermas, Jürgen 37, 48–51, 58, 269 Hallauer, Fridolin 145, 172, 201 Halprin, Lawrence 197f. Handke, Peter 115 Hansjakob, Gottfried 198, 222 Hansjakob, Anton 198 Hardison, Donald 197 Hartung, Klaus 75 Heer, Hannes 84 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 285 Hellat, Artur 221f. Heinemann, Fritz 82 Heißenbüttel, Helmut 271 Hemmingway, Ernest 274 Hennecke, Dodo 232, 234 Hennis, Wilhelm 51 Herburger, Günter 270 Herzog, Helmut 200 Herzogenrath, Wulf 260 Hesse, Kurt 164, 199, 211f., 214 Heuß, Theodor 308f., 323 Heym, Stefan 310 Hitchcock, Henry-Russel 143 Hitler, Adolf 307, 310 Hnilica, Sonja 138, 161f., 179 Holthoff, Fritz 90, 96, 97, 101, 107

Hübner, Raoul 210 Humphrey, Hubert 32 Hundertwasser, Friedensreich 243f.

Italiaander, Rolf 239–247, 249 Jacobsen, Arne 141 Jacobsen, Hans-Adolf 102 Jäggi, Urs 82 Jakovsky, Anatole 252, 261 Jarausch, Konrad H. 54 Jarry, Alfred 237 Jauß, Hans Robert 170, 276 Jens, Walter 277 Jokusch, Peter 201 Josic, Alexis 141, 147, 148 Jung, Werner 290 Jünger, Ernst 284

Kafka, Franz 271, 283 Kapluck, Manfred 118 Kasack, Hermann 283f. Kennedy, John F. 92 Kern, Peter 291, 294 Kiley, Dan 199 Klein, Bruno 144 Klemm, Dieter 17, 111–123 Kloss, Maria 231, 234 Koeppen, Wolfgang 14, 324 Kohlmann, Theodor 250 Kolbenheyer, Erwin Guido 321 König, Theo 112, 115, 117

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Die Bonner Republik

Konrad, Egon 222 Köpke, Klaus 200 Krahn, Johannes 180 Krettek, Felizitas 247, 249 Kreuer, Willy 208f., 225 Krüss, James 241, 243 Kühn, Gottfried 198, 204–209, 221 Kühn, Heinz 38, 79, 81, 96 Kunzelmann, Dieter 32f. 39, 55, 75 Kupferberg, Tuli 119 Kulka, Peter 171, 200 Kurras, Karl-Heinz 78, 82

Lackschéwitz, Hildegard 235f. Lämmert, Eberhard 269, 272 Landsiedel-Eicken, Rosemarie 230, 232, 259, 261 Langgässer, Elisabeth 317 Latz, Peter 198, 221 Leggewie, Claus 37 Lehmbrock, Josef 181 Lehmann, Werner 183 Lessing, Gotthold Ephraim 296 Liebknecht, Karl 319ff., 324 Linde, Horst 129, 131, 136, 141, 169, 183, 185, 189, 191, 202 Loerke, Oskar 312 Louis, Séraphine 237f. Löwenthal, Richard 51 Lübbe, Hermann 51 Lübke, Heinrich 54, 85, 103 Luhmann, Niklas 171, 195, 301, 302

Luxemburg, Rosa 319ff., 324 Luz, Hans 199, 221

Mähler, Reinhard 222 Maiwald, Peter 114, 118 Mallarmé, Stéphane 302 Mann, Klaus 310 Mann, Thomas 313, 316, 318 Mannheim, Karl 48, 52 Marx, Karl 121, 258f. Meadows, Donella 189 Medina, Paul 22 Meyers, Franz 97 Mitscherlich, Margarete 93, 305 Mitscherlich, Alexander 93, 132, 210, 295, 305 Mohler, Armin 61 Moore, Alison 197 Moser, Erich 143, 144, 145, 172, 175 Moses, Grandma 239 Müller-Armack, Alfred 224 Muthesius, Stefan 136, 201

Nannen, Henri 229 Neef, Rainer 90 Netsch, Walter 167f., 188 Neufert, Ernst 190 Neumann, Wolfgang 113 Nora, Pierre 15 Noske, Gustav 320 Nossack, Hans Erich 284

Ohnesorg, Benno 33, 37, 47, 58, 78, 81, 85f., 88, 91, 98

Namensregister

Pahlavī, Schah MoḥammadReża 35, 76, 83, 96, 100 Paps siehe Waldemar Rusche Peiner, Werner 279 Penker, Georg 18, 167, 198f., 210–222, 225 Penker, Rosemarie 8, 210–221 Petschnigg, Hentrich 142 Pfau, Bernhard 181 Picasso, Pablo 237, 255 Picht, Georg 80, 178 Pieck, Wilhelm 323 Pohribny, Arsen 252 Pollock, Jackson 147 Poncet, André François 311, 327 Popper, Karl 296 Pörtner Paul 270 Pretzell, Lothar 251

Raderschall, Heinrich 198, 221 Rathke, Wolfgang 161 Rau, Johannes 79, 96 Reay, Donald 197 Reich-Ranicki, Marcel 278, 298 Richter, Hans Werner 324 Riedhof, Kilian 21 Rittershausen, Heinrich 224 Robbe-Grillets, Alain 272 Rohe, Ludwig Mies van der 141 Röhrs, Klaus 199f. Rosin, Artur 308, 316 Rosin, Elvira 308, 316 Rossow, Walter 198, 221 Rousseau, Henri 237f., 249f. Rousseau, Jean-Jacques 254

Ruff, Siegfried 84 Ruhnau, Werner 181 Rusche, Waldemar 250, 251f.

Sartre, Jean-Paul 278 Sasaki, Hideo 198 Savo, Mario 197 Scharoun, Hans 181 Scheel, Walter 283 Scheidemann, Philipp 320 Schelsky, Helmut 72, 170, 182 Scherzer, Greta-Maria 234f., 259 Scheuch, Erwin K. 37, 51 Schildt, Axel 12, 30, 48 Schilling, Hans 181 Schmidt, Arno 324 Schmidt, Georg 258 Schmidt, Helmut 239 Schneble, Eugen 201 Schneider, Kurt 137f. Schneider-Esleben, Paul 181 Schneider, Reinhold 324 Scholtyseck, Jochen 73 Schröder, Jörg 281f. Schulze-Fielitz, Eckhard 147 Schumacher, Kurt 320 Schürmann, Joachim 179 Schwarz, Rudolf 181, 190 Schweizer, Otto Ernst 146 Schwippert, Hans 181 Seuren, Günter 270 Sieben, Friedhelm 199, 211 Siepmann, Wolf 200 Skribbe, Rudolf 221

339

340

Die Bonner Republik

Smithson, Peter 146, 148, 151, 188, 190, 195 Smithson, Alison 146, 148, 151, 188, 190, 195 Sokrates 287 Sommer, Elke 242ff., 258 Spieker, Helmut 137ff. Städtler, Dick 112, 117, 119 Stärtzenbach, Klaus 222 Steffens, Günter 270 Stirner, Max 259 Stomps, Victor Otto 277 Strauß, Franz-Josef 120 Storbeck, Dieter 200 Stowasser, Elke 244 Süverkrüp, Dieter 118 Szabo, Lyubo-Mir 158, 161

Tange, Kenzo 139, 140, 144, 146, 186 Taurit, Hans Jürgen 211 von Thadden, Adolf 86, 103 Thamer, Hans-Ulrich 56 Thieß, Frank 313 Tiburtius, Joachim 323 Timm, Uwe 118 Töpper, Katte 200 Trillhaase, Adalbert 250

Uhde, Wilhelm 237f. Ulbricht, Walter 323 Ungers, Oswald Matthias 181

Vivin, Louis 238 Vocelka, Karl 31 Voigt, Peter 120 Vollmuth, Eike 281 Vormweg, Heinrich 270, 295 Voßkamp, Wilhelm 9 Wader, Hannes 118 Weigel, Helene 318 Weisenborn, Günter 314f. Weinberg, Jack 197 Weiss, Peter 271 Wellershoff, Dieter 269–306 Werfel, Franz 316 Wessel, Theodor 224 Weyrauch, Wolfgang 324 Wiese, W. 199 von Wiese, Benno 291f. Witsch, Joseph Caspar 269, 278, 281, 303 Witzel, Frank 11f., 14, 21 von Wolff, Wilhelm 168, 202 Wollschon, Gerd 114f. Woods, Shadrach 141, 147–149, 189 Wolter, Jan 200

Zappa, Frank 119 Zeltner, Gerda 295f. Zuck, Rüdiger 245ff., 249, 258 Zwerenz, Gerhard 271, 277–280, 282

Ortsregister

Aachen 17, 36, 80, 97, 98, 99, 100, 128, 135, 222 Ahrensburg 120 Amsterdam 319 Athen 134, 190 Augsburg 185, 222

Baden-Baden 258, 308, 312 Baden-Württemberg 136 Bamberg 33 Bayern 37, 61, 66, 180 Bayreuth 185 Berkeley 31, 197 Berlin 14, 16, 31, 33–39, 51, 79, 82, 85, 91, 115, 129, 136, 148f., 156, 251, 311f., 314, 317, 325, 327 Bielefeld 36, 97, 170f., 180, 184, 197, 192, 198–201, 252 Bochum 17, 36, 80, 82–87, 95, 97–105, 128f., 134ff., 141– 147, 155f., 163f., 166f., 172, 176, 180, 185, 187, 190f., 193, 195, 198, 199–202, 210f., 220, 222 Bonn 11f., 14, 16, 33, 36f., 54, 65, 80, 82ff., 98–103, 115, 198, 218, 221, 269, 291

Bremen 156, 161, 185, 199, 251 Bundesrepublik/BRD 11, 12ff., 16, 22, 27, 30–33, 36, 41ff., 48ff., 50, 54, 57, 59, 67, 69, 73, 111, 115f., 121, 127ff., 177, 179f., 198, 201, 204, 229, 236, 244, 251, 261, 295, 308, 324, 325

Casablanca 189 Chicago 167 China 40

Darmstadt 15, 184 Deutsche Demokratische Republik/DDR 12, 114, 115, 120, 322f. Deutschland 12f., 27ff., 32f., 40f., 43, 56, 61, 63, 75, 111, 113, 129, 130, 134, 139, 180, 183, 198f., 229, 238, 243, 250f., 270, 277f., 283, 295, 307–320 Dortmund 18, 36, 86, 99, 172f., 180, 185 Duisburg 66, 89, 99, 155, 172, 174f, 185, 221, 222

342

Die Bonner Republik

Düsseldorf 7, 8, 10, 17, 18, 20, 80, 87, 88–91, 95f., 106, 138, 152, 153, 154,157, 159–164, 168, 180, 185, 191, 192, 193, 199, 201, 210 –213, 215 –222, 261, 279

Eichstätt 185 Essen 81, 82, 119, 172, 174, 175, 185 Europa/EU 8, 22, 40, 50, 61, 235, 313

Frankreich 22, 31, 52, 68, 75, 184, 237, 277, 308, 311, 277, 308, 311, 313–319, 323, 327 Frankfurt am Main 33, 38, 39, 79, 184, 235, 260 Freiburg 146, 183

Gütersloh 36 Hagen 97, 172, 185

Kiel 185 Kochel am See 33 Köln 14, 22, 36f., 51, 80, 82f., 95, 98–101, 111, 113, 118, 184f., 198, 201, 203–206 Kronenburg 281, 298 Kuba 235

Ludwigsburg 37 Mainz 129, 308 Mannheim 185 Marburg 90, 104, 136 –140, 145, 146, 148, 151, 156, 163, 166, 168, 170, 184, 198, 201 Marokko 149 Mönchengladbach 180 München 35, 38, 119, 274, 292, 307 Münster 35, 36, 55, 80, 98, 103 Neuss 192, 250, 269

Hamburg 38, 111, 180, 229–236, 239–244, 247, 252, 262, 258 Hannover 91, 258 Heidelberg 38 Hohenheim 222 Hollywood 311, 315

New York 255, 308 Niederlande 184, 308 Nordrhein-Westfalen/NRW 15–17, 35, 37, 38, 65, 78, 79, 82, 96f, 107, 129f., 138, 172ff., 180, 192 Nürnberg 307, 325

Italien 33, 54, 77

Ost-Berlin 116, 324

Kalifornien 316 Karlsruhe 185, 261

Otterlo 144, 146, 148, 150, 183, 195

Ortsregister

Paderborn 97, 172, 185

Wattenscheid 80

Paris 14, 31, 166, 171, 307f., 311 Prag 116

Weimar 12 West-Berlin 32f., 36, 39, 41, 56, 62f., 103, 78f. Westdeutschland 320 Westfalen 35, 36, 37 Wuppertal 172, 185, 222 Würzburg 185

Radolfszell 253 Recklinghausen 230, 238, 250 Regensburg 136, 201 Rheinland 7, 11, 14, 17, 180, 192, 197, 204

Saarbrücken

129, 185 Santa Monica 316 Schweiz 318 Siegen 172, 185, 222 Sowjetunion 323 Sprockhövel 122 Stettin 308 Stommeln 120 Straßburg 307 Stuttgart 128, 135, 146, 185, 198, 202, 210, 221

Tanger 189 Tervuren, Belgien 256 Tokio 144 Toulouse 148 Trier 185 Tübingen 185, 222

Ulm 181, 164, 185 United Kingdom 313f. USA 31, 32, 34, 40, 55, 112, 113, 182, 192, 198, 203, 235, 247, 258, 308, 312ff., 318f.

Vietnam, Nordvietnam 32f., 35, 39, 42, 51, 84, 86, 91, 113f.

Zaire 256 Zürich 251

343

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