Die Bildung der Seele: Platons Konzeption eines lebendigen Wissens 9783495999653, 9783495490051

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Die Bildung der Seele: Platons Konzeption eines lebendigen Wissens
 9783495999653, 9783495490051

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Einleitung
1. Menschliche und politische Tugend: Platonische Differenzierungen und Prämissen
1.1 Die politische Brisanz von Erziehung und Bildung im platonischen Frühwerk
1.1.1 Aspekte der Apologie unter besonderer Berücksichtigung der Rhetorik
1.1.2 Die Problemstellung der Lehrbarkeit von Tugend (Protagoras, Menon)
1.2 Das Verhältnis von ἀρετή und τέχνη
1.2.1 Die Differenz von ἀρετή- und τέχνη-Wissen im Lichte der Paideia
1.2.2 Die Sorge um die Seele: Analogien von ἀρετή und τέχνη
1.3 Die Frage nach dem guten Leben
1.3.1 Menschliches Selbstverhältnis und menschliche Motivationsstruktur
1.3.2 Der philosophische Eros als poietische Kraft (Symposion)
1.3.3 Sophistischer Naturalismus
1.3.4 Güter der Polis und die Frage des Nutzens
2. Sokrates’ ›menschliche Weisheit‹ als Orientierungsmoment ethischen Wissens
2.1 Forschungsdebatte zum Begriff ethischen Wissens
2.2 Sokrates’ ›menschliche Weisheit‹ (Apologie)
2.2.1 Der delphische Spruch γνῶθι σαυτόν und die Dialektik menschlicher Begrenzung: Ein Exkurs
2.2.2 Die philosophische Relevanz des sokratischen Nichtwissens und der ›menschlichen Weisheit‹
3. Bedingungen des dialektischen Erkenntnisweges: Vier Aspekte eines ›prozessualen Wissens‹
3.1 Das Erfordernis der Ideen: Anamnesis und Ideenhypothese im Phaidon
3.2 Der Begriff der Methexis und die Urbild-Abbild-Relation im Liniengleichnis
3.3 Die Rolle des Bildlichen für das dianoetische Denken und das vermittelnde Moment der Mathematik (Politeia VI und VII)
3.4 Die Flucht zu den Logoi, der dialektische Weg und die Frage nach dem Guten (Phaidon, Politeia VII)
4. Seelischer Wandel: Das Motiv der Seelentherapie und der platonische Begriff der Scham
4.1 Bildung als Wandel des seelischen Zustandes
4.1.1 Zum Problem seelischer Veränderung
4.1.2 Das Verhältnis von Wissen und Seele
4.2 Der Begriff der Scham (αἰδώς)
4.2.1 Das vorklassische Konzept der Scham
4.2.2 Platons differente Bezugnahmen auf das vorklassische Schamkonzept und der Begriff αἰδώς im Mythos des Protagoras
4.3 Seelentherapie und Scham
4.3.1 Besprechungen (ἐπῳδαί) der Seele
4.3.2 Ruhe und Scham als Bestimmungen der Besonnenheit (Charmides)
4.3.3 Scham als ordnendes Moment der Seele (Charmides, Protagoras, Phaidros)
4.3.4 Der Zusammenhang von Seelentherapie und Scham
5. Phaidros: Falsche und wahre Gestalten seelischer Bildung
5.1 Die Rahmenhandlung und die ersten beiden Reden im Phaidros
5.1.1 Die Rahmenhandlung: Das einleitende Gespräch und die Naturszene am Flussufer des Ilissos
5.1.2 Die Rede des Lysias: Eros und Rhetorik im Zeichen sophistischer Verführung und Verführbarkeit
5.1.3 Die erste Rede des Sokrates: Natur und Eros im Kontext einer sophistischen Anthropologie
5.1.4 Die Frage nach einer kunstgemäßen Rede: Sokrates’ rhetorische Prüfung der Lysias-Rede und Lysias’ falsche Gestalt der Vernunft
5.2 Die Ambivalenz von Dichtung und dichterischer Begeisterung
5.2.1 Platons Kritik an der poetischen Kunst
5.2.2 Die poetische Mania
5.3 Die Palinodie: Der Seelenmythos und die Bildung der Seele
5.3.1 Zwei Prämissen des Seelenmythos: Die sokratische Frage der Selbsterkenntnis und der Unsterblichkeitsbeweis der Seele
5.3.2 Präliminarien zur mythologisch-bildlichen Darstellung im Phaidros
5.3.3 Das Bild der Seele
5.3.4 Das Schöne, die erotisch-philosophische Begeisterung und die Bildung der Seele
5.3.5 Die sokratische Selbsterkenntnis und die Palinodie als philosophische Rhetorik und Poetik
Literaturverzeichnis

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Ursula Ziegler

Die Bildung der Seele Platons Konzeption eines lebendigen Wissens

https://doi.org/10.5771/9783495999653 .

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Ursula Ziegler

Die Bildung der Seele Platons Konzeption eines lebendigen Wissens

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Gedruckt mit Unterstützung der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freunde, Förderer und Ehemaligen der Freien Universität Berlin e. V. (ERG)

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 2017 ISBN 978-3-495-49005-1 (Print) ISBN 978-3-495-99965-3 (ePDF)

Onlineversion Nomos eLibrary

1. Auflage 2022 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2022. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de

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Meinem Vater Norbert Ziegler †

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Vorwort

Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Disser­ tation, die 2017 vom Fachbereich Philosophie und Geisteswissen­ schaften der Freien Universität Berlin angenommen wurde. Die Arbeit wurde sowohl durch neue Textpassagen ergänzt als auch anderweitig gekürzt. An dieser Stelle möchte ich allen herzlich danken, die mich während meiner Dissertation unterstützt haben. Mein besonderer Dank gilt Frau Prof. Dr. Anne Eusterschulte, die meine Arbeit betreut und von Beginn an mit fachlichem Rat, Interesse und Vertrauen begleitet hat. Ihr verdanke ich zahlreiche Anregungen, die mich manche Perspektive neu überdenken ließen. Die stets konstruktiven Gespräche, ihre Resonanz auf gelesene Entwürfe und nicht zuletzt ihre Ermutigungen waren für mich von großem Wert. Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Michael Erler danke ich sehr herzlich für die Übernahme des Zweitgutachtens, für wertvolle Hinweise zu Platon und hilfreiche Kommentare zu meiner Arbeit. Die Gespräche, die ich mit ihm über Platon führen konnte, stellten für mich eine große Bereicherung dar. Ein herzliches Dankeschön geht an Frank Böhling, der einen großen Teil der Vorentwürfe meiner Arbeit kritisch durchsah und mir bei Fragen zum griechischen Text und auch sonst zur Seite stand. Ebenso möchte ich meinen ehemaligen Kolleginnen und Kollegen an der Freien Universität Berlin, auch den Studierenden meiner Lehrveranstaltungen zu Platon für lebendige Diskussionen danken. Der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freien Universität Ber­ lin danke ich für ihre Förderung dieser Veröffentlichung durch einen Druckkostenzuschuss. Für Beistand und Geduld danke ich meinen Freundinnen und nicht zuletzt meinen Eltern und meinem Mann Michael. Berlin, im August 2021

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Menschliche und politische Tugend: Platonische Differenzierungen und Prämissen . . . . . . . . . .

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1.1 Die politische Brisanz von Erziehung und Bildung im platonischen Frühwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Aspekte der Apologie unter besonderer Berücksichtigung der Rhetorik . . . . . . . . . . 1.1.2 Die Problemstellung der Lehrbarkeit von Tugend (Protagoras, Menon) . . . . . . . . . . . . . . .

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1.2 Das Verhältnis von ἀρετή und τέχνη . . . . . . . . . . . 1.2.1 Die Differenz von ἀρετή- und τέχνη-Wissen im Lichte der Paideia . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Die Sorge um die Seele: Analogien von ἀρετή und τέχνη . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.3 Die Frage nach dem guten Leben . . . . . . . . . . . 1.3.1 Menschliches Selbstverhältnis und menschliche Motivationsstruktur . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Der philosophische Eros als poietische Kraft (Symposion) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Sophistischer Naturalismus . . . . . . . . . . 1.3.4 Güter der Polis und die Frage des Nutzens . . .

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2. Sokrates’ ›menschliche Weisheit‹ als Orientierungsmoment ethischen Wissens . . . . .

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2.1 Forschungsdebatte zum Begriff ethischen Wissens . . .

142

2.2 Sokrates’ ›menschliche Weisheit‹ (Apologie) . . . . . . 2.2.1 Der delphische Spruch γνῶθι σαυτόν und die Dialektik menschlicher Begrenzung: Ein Exkurs

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Inhaltsverzeichnis

2.2.2 Die philosophische Relevanz des sokratischen Nichtwissens und der ›menschlichen Weisheit‹

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3. Bedingungen des dialektischen Erkenntnisweges: Vier Aspekte eines ›prozessualen Wissens‹ . . . . .

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3.1 Das Erfordernis der Ideen: Anamnesis und Ideenhypothese im Phaidon . . . . . . . . . . . . . . .

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3.2 Der Begriff der Methexis und die Urbild-Abbild-Relation im Liniengleichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.3 Die Rolle des Bildlichen für das dianoetische Denken und das vermittelnde Moment der Mathematik (Politeia VI und VII) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.4 Die Flucht zu den Logoi, der dialektische Weg und die Frage nach dem Guten (Phaidon, Politeia VII) . . . . . .

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4. Seelischer Wandel: Das Motiv der Seelentherapie und der platonische Begriff der Scham . . . . . . .

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4.1 Bildung als Wandel des seelischen Zustandes . . . . . . 4.1.1 Zum Problem seelischer Veränderung . . . . . . 4.1.2 Das Verhältnis von Wissen und Seele . . . . . .

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4.2 Der Begriff der Scham (αἰδώς) . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Das vorklassische Konzept der Scham . . . . . . 4.2.2 Platons differente Bezugnahmen auf das vorklassische Schamkonzept und der Begriff αἰδώς im Mythos des Protagoras . . . . . . . . . . . .

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4.3 Seelentherapie und Scham . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Besprechungen (ἐπῳδαί) der Seele . . . . . . 4.3.2 Ruhe und Scham als Bestimmungen der Besonnenheit (Charmides) . . . . . . . . . . 4.3.3 Scham als ordnendes Moment der Seele (Charmides, Protagoras, Phaidros) . . . . . . 4.3.4 Der Zusammenhang von Seelentherapie und Scham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

5. Phaidros: Falsche und wahre Gestalten seelischer Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Die Rahmenhandlung und die ersten beiden Reden im Phaidros . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Die Rahmenhandlung: Das einleitende Gespräch und die Naturszene am Flussufer des Ilissos . . . 5.1.2 Die Rede des Lysias: Eros und Rhetorik im Zeichen sophistischer Verführung und Verführbarkeit . . 5.1.3 Die erste Rede des Sokrates: Natur und Eros im Kontext einer sophistischen Anthropologie . . . 5.1.4 Die Frage nach einer kunstgemäßen Rede: Sokrates’ rhetorische Prüfung der Lysias-Rede und Lysias’ falsche Gestalt der Vernunft . . . . . . . 5.2 Die Ambivalenz von Dichtung und dichterischer Begeisterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Platons Kritik an der poetischen Kunst . . . . . 5.2.2 Die poetische Mania . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Die Palinodie: Der Seelenmythos und die Bildung der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Zwei Prämissen des Seelenmythos: Die sokratische Frage der Selbsterkenntnis und der Unsterblichkeitsbeweis der Seele . . . . . . . . 5.3.2 Präliminarien zur mythologisch-bildlichen Darstellung im Phaidros . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Das Bild der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4 Das Schöne, die erotisch-philosophische Begeisterung und die Bildung der Seele . . . . . 5.3.5 Die sokratische Selbsterkenntnis und die Palinodie als philosophische Rhetorik und Poetik . . . . .

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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411 418 426 444 463 481

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Einleitung

Platon verankert seine Dialoge in der politischen Lebenswelt und lenkt damit die Aufmerksamkeit nicht zuletzt darauf, dass die Suche und das Streben nach Wissen mit dem Lebensvollzug eng assoziiert sind. Die Frage nach einer guten Lebensführung ist dem Konzept von Erkenntnis und Wissen, wie es im frühen und mittleren Werk verhandelt wird, inhärent. Bildung meint vor diesem Hintergrund wesentlich Tugendbildung. In vielen platonischen Schriften ist die Frage der Bildung in einer mehr oder weniger ausdrücklichen Form präsent, zumeist im Kontext des sokratischen Gesprächs, aber auch in Verbindung mit bildlichen Darstellungen in Gestalt von Gleich­ nissen und mythologischen Narrativen. Begreift man Platons Bil­ dungskonzept als ›Bildung der Seele‹, dann ist dem Begriff der Seele selbst Rechnung zu tragen: Als Grundlage einer gelingenden Lebenspraxis bedeutet Bildung danach die seelische Verwirklichung von Tugend, die Ausbildung einer tugendgemäßen seelischen Ver­ fasstheit. Damit scheint ein Selbstverständnis platonischen Denkens formuliert, wonach Bildung auf die Arete der Seele, auf deren best­ möglichen Zustand zielt. Bei näherer Betrachtung wirft dieses Kon­ zept der Seelenbildung allerdings grundlegende Fragen auf, in deren Zentrum die Verschränkung und Korrelation von Erkenntnissuche und seelischem Wandel, von Wissensgewinn und seelischer Haltung stehen. Unter welchen Voraussetzungen realisieren sich Lernen und Erkenntnisstreben tatsächlich als seelischer Prozess und wie ist ein Ineinandergreifen von Wissensbildung und seelischer Veränderung zu verstehen? Denkt man an das von Sokrates ironisch gewendete Wollfadenbeispiel im Symposion (vgl. 175d–e),1 das illustriert, dass sich Tugend und Wissen gerade nicht wie Wasser, welches durch einen Faden vom volleren in das leerere Gefäß fließt, gleichsam von einer Seele in eine andere transferieren lassen, dann ist zudem offensichtlich, dass philosophische Erziehung nicht auf eine Lehre Zu den Quellenbelegen der platonischen Schriften, auch zu den Nachweisen anderer antiker Autoren vgl. die Erläuterungen am Eingang der Bibliografie.

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Einleitung

vorgegebener Inhalte zielt, seelische Formung und Bildung sich nicht durch ›Übertragung‹ eines schon verfügbaren Wissens oder durch ein auf die Praxis zu applizierendes Anleitungswissen vollziehen.2 In den Fokus rückt daher ein Wissen, welches die Tugend und die Frage nach dem guten Leben nicht nur zum Gegenstand hat und folglich nicht nur ein Wissen über die Tugend darstellt, sondern dem das seelenverändernde Moment in gewisser Weise selbst eingeschrie­ ben ist. Im Horizont dieses Wissens manifestieren sich die Frage der Motivation, inwiefern also ein solches Wissen für die Praxis konstitu­ tiv ist, und die Frage des Maßstabs für das Handeln und für das Streben nach Erkenntnis und Tugend selbst.3 Im Protagoras (vgl. 352b–c) akzentuiert Sokrates, dass viele dem fraglichen Wissen eine solche Kraft und Stärke nicht zutrauten, sondern vielmehr davon ausgingen, dass sinnliche Bedürfnisse und Neigungen, Emotionen und Leiden­ schaften gegenüber dem Wissen dominierten, dieses sich also jenen unterwerfe. Er selbst hingegen schreibe dem die Tugend betreffenden Wissen eine große Stärke und Führungskraft zu: Gelange ein Mensch zu diesem Wissen, leite es ihn notwendig zum Richtigen an, das Wissen bestimme dann sein Wollen, Streben und Handeln. Nimmt man diesen sokratischen Anspruch ernst,4 dann erhält die oben formulierte Korrespondenz von Wissensgewinn und see­ lischer Veränderung ein noch größeres Gewicht. Zeichnen sich Erkenntnis und Wissen durch die von Sokrates deklarierte Führungs­ kraft aus, dann liegt die Stärke eines solchen Wissens offenkundig gerade darin, dass seine Erlangung und die seelische Realisierung von Tugend einander bedingen. Die Erkenntnisbewegung ist danach mit dem seelischen Prozess eng assoziiert, das Wissen kann folg­ lich von diesem Prozess nicht abstrahiert werden, es bleibt an die

2 Vgl. dazu auch Michael Erler: Der Sinn der Aporien in den Dialogen Platons. Übungsstücke zur Anleitung im philosophischen Denken, Berlin/New York 1987, S. 65 ff. 3 Vgl. zu der Immanenz von Wissen und Praxis auch Wolfgang Wieland: Platon und die Formen des Wissens, 2., durchges. und um einen Anh. und ein Nachw. erw. Aufl., Göttingen 1999, S. 129. 4 Angesprochen ist damit auch die schon etwas ältere Debatte über die Frage der Akra­ sia und den sogenannten ›sokratischen Intellektualismus‹, die Sokrates’ Gleichsetzung von Tugend und Tugendwissen im Frühwerk kritisch beleuchtet. Die Problemstellung bleibt aber gerade für die Frage der Seelenbildung aktuell und wird deshalb in dieser Arbeit neu verhandelt.

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Einleitung

Seele des Wissenden gebunden.5 Im Hinblick auf den Lernprozess bedeutet dies zunächst, dass ein Lernender einerseits seiner Suche und seinen Erkenntnissen nicht distanziert gegenüberstehen kann, er aber andererseits zugleich fähig sein muss, eine innere Haltung des Abstands und der Distanz gegenüber dem Erlernten einzunehmen, denn nur eine solche Haltung ermöglicht Prüfung und Reflexion. Insbesondere kommt unter den hier dargelegten Prämissen aber ein Spannungsverhältnis von Platons Wissenskonzept in den Blick: Einerseits sollen die Erlangung von Wissen und das Wissen selbst eng mit dem seelischen Bildungsprozess und der seelischen Verfasst­ heit des Lernenden verbunden sein, andererseits muss Wissen aber unabhängig von individuellen Konditionen gedacht werden, denn Erkenntnisstreben und Wissen sind für Platon dem Anspruch von Wahrheit unterstellt. Der Erkenntnisprozess zielt aus platonischer Perspektive notwendig auf wahres Wissen. Die Prüfung und Klärung dieses Spannungsverhältnisses bilden ein wesentliches Leitmotiv dieser Arbeit. Sie wird zu zeigen versuchen, dass für Platon darin kein Widerspruch vorliegt. In der jüngeren Forschungsliteratur zu Platon wird der Zusam­ menhang von Wissen und der Frage nach dem guten Leben oftmals im Kontext der sokratischen Rechenschaftsgabe diskutiert.6 Auch in dieser Arbeit wird das λόγον διδόναι, die argumentativ-begründende Meinungs- und Wissensbildung und die damit verbundene Reflexion auf die Bedingungen, unter denen Aussagen formiert, präzisiert und verbessert werden, als eine der wesentlichen Grundlagen des platoni­ schen Wissenskonzepts verstanden. In dieser Hinsicht knüpfen die vorliegenden Untersuchungen an die Forschungsstudien an. Aller­ dings umfasst Platons Bildungs- und Wissensbegriff auch Momente, die über das Konzept der Rechenschaftsgabe hinausgehen, die aber für die Frage seelischer Bildung von größter Relevanz sind. Im Hinblick darauf setzt die Arbeit andere Akzente, sie macht sich diese Momente Vgl. dazu auch Wieland 1999, § 13–15, S. 224–263. Wielands Untersuchungen verdanke ich viele Impulse, jedoch teile ich nicht alle seine Thesen. Die Frageperspek­ tive Wielands scheint mir insofern eine andere zu sein, als seine Studie auf einen speziellen Wissensbegriff, nämlich auf den Begriff des Gebrauchswissens, zielt. Vgl. überdies die Schrift von Rainer Enskat: Authentisches Wissen. Was die Erkenntnis­ theorie beim Platonischen Sokrates lernen kann, in: ders. (Hg.): Amicus Plato magis amica veritas. Festschrift für Wolfgang Wieland zum 65. Geburtstag, Berlin/New York 1998, S. 101–143. 6 Dieser Forschungsdebatte ist ein eigenes Kapitel gewidmet (vgl. unten Kap. 2.1). 5

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Einleitung

zur Aufgabe. Hierbei verfolgt die Studie einen integrativen Ansatz, der es erlaubt, unterschiedliche, teilweise scheinbar divergierende Aspekte unter dem Begriff der Bildung gemeinsam in den Blick zu nehmen und ihre konstellativen oder wechselseitigen Beziehungen zu analysieren. Zugleich ist die Verschränkung oder Verflechtung von Motiven und Themen für den platonischen Text oftmals charak­ teristisch. Die Interpretationen werden deshalb, je nach Fragestellung und dialogischem Zusammenhang, das Augenmerk besonders auf die platonischen Verknüpfungen richten. Eine ausgezeichnete Rolle wird diese Lesart in Diskussion des Phaidros im letzten Kapitel dieser Arbeit spielen, der als Dialog die Interferenz seiner Inhalte in philosophisch-literarischer Gestalt zur Darstellung bringt. – Im Folgenden werden drei in sich gegliederte Thesen entwickelt, welche die Untersuchungsperspektiven der Studie leiten und deren Ausrich­ tung verdeutlichen. Eine Grundfigur des platonischen Bildungsverständnisses ist das suchende und forschende Lernen, was auf der anderen Seite die Frage aufwirft, wie pädagogische Anleitung und ›Lehre‹ zu verstehen sind. Vor allem im Frühwerk steht zur Diskussion, auf welche Weise jungen Menschen die Tugend vermittelt werden kann und ob eine solche Vermittlung überhaupt möglich ist. Sokrates’ Antwort darauf liegt in seiner Protreptik zur Selbstsorge und philosophischen Übung, in diesem Rahmen aber auch in seinen im elenktischen Gespräch entwickelten differenzierenden Bezugnahmen auf die Arete, mithilfe deren er die vorgetragenen Meinungen der Gesprächspartner und diese selbst zwar in die Aporie führt, zugleich aber auch für die Erkenntnissuche wesentliche, die Tugend und das gute Leben selbst betreffende Voraussetzungen und damit eine Orientierung aufzeigt. Vor diesem Hintergrund lenkt Sokrates das Augenmerk auf zwei für die Frage seelischer Tugendbildung zentrale Aspekte: Zum einen lässt er im Zuge der Meinungsprüfungen eine Form des menschlichen Selbstbezugs oder Selbstverhältnisses sichtbar werden, die mit den Handlungs- und Strebenszielen der Gesprächspartner eng verknüpft ist. Damit zusammenhängend richtet er zum anderen den Fokus auf die Schwierigkeit, die mit dem Ziel der Tugend- und Erkenntnissuche und damit auch dem Ziel von Erziehung und Bildung einhergeht. Dieses Ziel ist nicht in der Weise fassbar wie das Telos einer Techne, es ist kaum zu greifen und lässt sich nicht antizipieren, dennoch muss es aus platonischer Sicht die Richtung vorgeben. Die beiden von Sokrates problematisierten Aspekte führen zu der Frage nach der Vermittlung

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Einleitung

menschlichen Selbstbezugs und der Ausrichtung auf das Ziel der Suche, in deren Horizont auch menschliches Begehren und Streben zu betrachten sind. In dieser Hinsicht lautet die erste These, dass Platon mit der Suche und dem Streben nach Wissen zugleich Momente des seeli­ schen Selbstbezugs, der Selbsteinsicht und der Selbsterkenntnis auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlicher Gestalt kenntlich werden lässt und diese Momente für die Bildung der Seele zentral sind. Die selbstbezüglichen Momente sind mit der Frage nach dem guten Leben, folglich auch mit der Frage nach Orientierung und Ziel menschlichen Strebens als verschränkt oder vermittelt zu denken. Aus philosophischer Perspektive korrespondiert dem Selbstbezug bei Platon nicht nur ein Weltbezug im Sinne der Polis und des Anderen, sondern zugleich – und dies ist entscheidend – die Ausrichtung auf das höchste Gute.7 Nur unter dieser Vorgabe, so die Annahme, bedeutet die seelische Rückbezüglichkeit von Erkenntnis und Wissen für Platon eine Distanznahme zu den Abhängigkeiten des eigenen Lebens. In diesem Kontext muss die Frage nach der menschlichen Motivation und nach der Dynamik des Wissensprozesses auch zu Platons Eros-Konzept führen. Ebenso gilt es die Figur des sokratischen ›Wissens des Nichtwissens‹ im Hinblick darauf zu beleuchten, ob sie als Reflexions- und Orientierungsmoment des Erkenntnisprozesses fungiert. Geht man überdies davon aus, dass für den Erkenntnisweg die von Platon gezeichnete ›aufsteigende‹ Bewegung charakteristisch ist, dann muss die Diskussion des platonischen Wissens- und Bil­ dungskonzeptes – so die angegliederte These – den Ideen und ins­ besondere der Ausrichtung auf die Idee des Guten selbst Rechnung tragen. Zu vermuten ist, dass Selbst- und Ideenerkenntnis letztlich konvergieren und sich als zwei Momente eines Prozesses erweisen. 7 Darin unterscheidet sich das hier gekennzeichnete Konzept platonischer Selbstbe­ züglichkeit von den Ansätzen Hadots und auch Foucaults. Vgl. Pierre Hadot: Philo­ sophie als Lebensform. Antike und moderne Exerzitien der Weisheit, aus dem Franz. von Ilsetraut Hadot und Christiane Marsch, 2. Aufl., Berlin 2005 (Exercices spirituels et philosophie antique, Paris 1981); Michel Foucault: Hermeneutik des Subjekts. Vor­ lesung am Collège de France (1981/82), aus dem Franz. von Ulrike Bokelmann, Frankfurt/M. 2004 (L’herméneutique du sujet. Cours au Collège de France, 1981– 1982, Paris 2001), S. 15–110. Wieland (1999, S. 169 ff. u. bes. 312 ff.) auf der anderen Seite betont auch Platons Aufmerksamkeit für die reflexive Struktur der Orientierung am Guten und des auf das Gute sich richtenden Wissens. In der vorliegenden Arbeit sind die Frage des Selbstbezugs und die skizzierte Korrelation jedoch primär mit Blick auf das seelenverändernde Moment von Relevanz.

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Einleitung

Im Zentrum der Frage der Bildung der Seele steht notwendig auch der Begriff seelischen Wandels, für den die Periagoge des Höh­ lengleichnisses, die Umwendung des Blicks resp. der Seele, paradig­ matisch ist. Auch charakterisiert Platon die Umkehr- und Aufstiegs­ bewegung im Rahmen des Gleichnisses als Inbegriff der Paideia (vgl. R. VII 514a, 518b ff.). Das Höhlengleichnis wurde in der älteren und jüngeren Forschungsliteratur auch hinsichtlich des Periagoge-Begriffs oft und intensiv untersucht;8 in der vorliegenden Arbeit wird es des­ halb nur ergänzend herangezogen. Stattdessen werden zur Frage des Wandels der Seele solche Textpassagen einer genauen Betrachtung unterzogen, die Sokrates’ Konzept der Seelentherapie exponieren und die vermittels der sokratisch gezeichneten Motive seelischer Katharsis und Heilung das seelenbewegende Moment greifbar werden lassen bzw. die Aspekte einer seelischen Veränderung explizit in den Vor­ dergrund rücken. Dies führt zur zweiten These: Unter der Prämisse, dass seeli­ scher Wandel sich bei Platon primär als Problem des Übergangs und der Vermittlung zwischen sinnlich-somatischer Sphäre und dem Bereich der Vernunft, also zwischen Sensiblem und Intelligiblem, darstellt, zielen Therapie und Heilung der Seele auf ein Moment der Selbsteinsicht, das in spezifischer Weise das Seele-Leib-Verhältnis bzw. das Verhältnis von Vernunft und nicht-vernünftigen Strebungen betrifft – und zwar auch dort, wo Letztere, wie dies im Frühwerk der Fall ist, nicht in das Seelenkonzept integriert, sondern eher dem somatischen Bereich zugeordnet sind. Die leibliche und emotionale Seite des Menschen wird dadurch in den Bildungsprozess einbezogen. Im Rahmen seines Konzepts der Besonnenheit spielt hierbei Platons philosophisch ›transponierter‹ Begriff der Scham (αἰδώς) – so die weitere zentrale These in diesem Zusammenhang – als seelenregulie­ rende und seelentherapeutische Kraft eine exzeptionelle Rolle. Die Momente seelischer Veränderung, auf die Sokrates’ pädagogisch-the­ rapeutische Führung und seine Psychagogie zielen, sind als Aspekte der Periagoge zu verstehen. Konstitutiv für die Bildung der Seele ist schließlich Platons Begriff der Seele selbst und in Verbindung damit noch einmal das Vgl. stellv. zu einer Vielzahl an Literatur: Norbert Delhey: Περιαγωγὴ ὅλης τῆς ψυχῆς: Bemerkungen zur Bildungstheorie in Platons Politeia, in: Hermes. Zeitschrift für klassische Philologie 122 (1994), S. 44–54. Immer noch einschlägig zum Begriff der platonischen Paideia: Werner Jaeger: Paideia. Die Formung des griechischen Men­ schen, 3 Bde. (1934–1947), 3. und 4. Aufl., Berlin 1959, Bd. 2 u. 3. 8

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Einleitung

Motiv des platonischen Eros. In unterschiedlichen Zusammenhängen kontrastiert Platon ein sophistisch ›naturalistisches‹ Bild des Men­ schen mit seinem Begriff der ›wahren Natur‹ der menschlichen Seele, für welche er eine Verwandtschaft mit dem intelligiblen, göttlichen Bereich proklamiert. Diese wahre Natur des Menschen befähigt zum philosophischen Eros und zur Anamnesis der Ideen. In den Blick kommt damit eine anthropologische Fragestellung, deren Verschrän­ kung mit dem Begriff des Eros auf der Frage nach dem Antrieb menschlichen Strebens beruht. Insofern Platons Eros-Konzept aber auch das interpersonale Moment impliziert, wird diese Verschrän­ kung noch in einer weiteren Hinsicht evident: Die für den Menschen unverzichtbare zwischenmenschliche Liebe und Freundschaft, ebenso die über den Anderen vermittelte Selbsterkenntnis und nicht zuletzt das gemeinschaftliche Lernen und Sich-Bilden sind für das menschli­ che Dasein und für das Menschsein schlechthin elementar. Der Zusammenhang von Eros und Anthropologie tritt vornehm­ lich im Phaidros hervor. Die folgende dritte These ist deshalb vorran­ gig auf diesen Dialog hin ausgelegt: Platon fundiert sein Konzept der Seelenbildung in einer philosophischen Anthropologie, das heißt, sein Bildungsbegriff setzt ausdrücklich eine Reflexion auf das Bild des Menschen, auf sein Wesen und seine Möglichkeiten voraus. Es ist zum einen davon auszugehen, dass für Platons philosophisches Konzept einer Anthropologie die Frage der Selbsterkenntnis und letztlich die Verbindung von Ideen- und Selbsterkenntnis von grundlegender Bedeutung sind. Zum anderen wird angenommen, dass Platon seinen anthropologischen Ansatz in vielfacher Hinsicht mithilfe seines ErosKonzepts konturiert und er auf dieser Basis, in ›erotischem‹ Zusam­ menspiel von freundschaftlicher Gemeinschaft und philosophischer Liebe zum Schönen, seine ›wahre Gestalt‹ seelischer Bildung etabliert und begründet. Die Bildung der Seele, so die Gesamtthese der Arbeit, stellt sich bei Platon als Weg von Erkenntnis und Wissen dar, sie ist aber zugleich nicht auf einen epistemischen Vorgang im engeren Sinne beschränkt. Seelische Bildung führt vielmehr – dies gilt es anhand der in den Einzelthesen angeführten Aspekte zu zeigen – sowohl im pädagogischen Sinne als auch als Selbstbildung zu einem ›lebendigen Wissen‹, das vom Lebensvollzug und der seelischen Verfasstheit des nach Wissen Strebenden nicht zu lösen, aber dennoch auf Wahrheit ausgerichtet ist. In dieser Allianz von seelischem Vollzug und Wahr­ heits- resp. Ideenorientierung wird Wissen für Platon lebendig. Ziel

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dieser Arbeit ist es, die Bildung der Seele als dynamischen Prozess, als einen Vorgang seelischen Wandels und als lebendiges Wissen begreifbar zu machen. In letzter Instanz, auch dies wird zu erweisen sein, ist die Bildung der Seele bei Platon als eine Angleichung an das Göttliche (ὁμοίωσις θεῷ, Tht. 176b1) aufzufassen. Methodisch verfolgt die Arbeit eine Lesart des platonischen Textes, die dem Sachverhalt, dass Platon die Rolle der Sprache bzw. den Zusammenhang von Denken und Sprache gezielt zum Problem macht, Rechnung trägt. Sokrates bewegt sich im Gespräch zumeist auf verschiedenen Ebenen: Indem er sich einerseits auf die seelische Verfassung seiner Gesprächspartner und den situativen Kontext ein­ lässt, andererseits mit seinen Fragen auf höhere Erkenntnis- und Begründungsstufen eines verhandelten Gegenstandes zielt oder von diesen Stufen her denkt, lässt er verschiedene epistemische Niveaus einer infrage stehenden Begrifflichkeit aufleuchten. Zu ein und dem­ selben sprachlichen Ausdruck evoziert Sokrates, ausgehend von den Auffassungen seiner Gesprächspartner, oftmals verschiedene Ebenen des Verstehens. Auf der anderen Seite ist das vor allem in epistemischer Hin­ sicht relevante Bedeutungsspektrum sprachlicher Ausdrücke einer der Gründe dafür, dass eine Rede der Gefahr von Missverständnissen oder Missdeutungen ausgesetzt ist. Im Phaidros wird der schriftlich fixierten Rede attestiert, dass sie sich selbst nicht zu verteidigen vermag (vgl. Phdr. 275d–e), während für die mündliche Rede diese Option dann besteht, wenn der Sprecher seine Worte explizieren und begründen kann. Neben der Schriftkritik lässt sich aber in einem umfassenderen Sinne auch von einer platonischen Sprachkritik spre­ chen, insofern jede Rede, auch die mündliche, ohne Bindung an das selbsttätige Denken der Seele leer und unlebendig bleibt.9 Keine Rede, so erläutert Sokrates am Ende des Phaidros, ob geschrieben oder gesprochen, ist größerer Mühe wert, wenn sie nicht einer gründlichen 9 Vgl. dazu auch Tilman Borsche: Der Herr der Situation verliert die Übersicht. Bemerkungen zu Platons Schriftkritik und Derridas Platonkritik, in Kodikas/Code. Ars Semeiotica 9 (1986), S. 317–330, hier 319–321; Wolfgang Wieland: Platons Schriftkritik und die Grenzen der Mitteilbarkeit, in: Volker Bohn (Hg.): Romantik, Literatur und Philosophie. Internationale Beiträge zur Poetik, Frankfurt/M. 1987, S. 24–44, hier 30 ff.; ders. 1999, § 1, S. 13–38. Einen zusammenfassenden Überblick zu den Diskussionen um Schrift- als Sprachkritik bei Platon gibt Alexandra Kleihues: Der Dialog als Form. Analysen zu Shaftesbury, Diderot, Madame d’Épinay und Vol­ taire, Würzburg 2002, S. 28–39.

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Untersuchung und Prüfung unterzogen wurde (vgl. 277e). In Entspre­ chung dazu wird im dialogischen Prozedere oftmals eine von Sokrates forcierte kritische Distinktion sichtbar, die letztlich auf die Frage abhebt, ob eine Rede der aufrichtigen Erkenntnis- und Wahrheits­ suche verpflichtet ist oder nicht. Diese sokratische Unterscheidung steht im Zentrum der hier angestellten Betrachtungen zu Platons Reflexionen auf die Sprache. Platon ist sich der Schwierigkeiten, welche dem Verhältnis von Logos und Wahrheit innewohnen, in hohem Maße bewusst (vgl. Phdr. 276c).10 Auch vor diesem Hintergrund ist Sokrates’ differenzie­ render Umgang mit Begriffen für die Fragestellung dieser Arbeit von Belang. Wenn Sokrates über die etwaige aktuelle Untersuchungssi­ tuation hinaus verschiedene Ebenen und letztlich die philosophische Dimension eines Begriffs anklingen lässt – ohne diese explizit auszu­ führen oder den suchenden Gestus aufzuheben –, dann besteht sein Ziel nicht darin, den Bedeutungshorizont eines Terminus in Gänze auszuleuchten, und erst recht ist er nicht darauf aus, im Sinne der Vieldeutigkeit eines Begriffs einem sophistischen Relativismus das Wort zu reden. Sokrates’ analysierend-kritisches Vorgehen, das zen­ trale Begrifflichkeiten des ethisch-politischen und des pädagogischen Feldes gleichsam aufbricht, schafft vielmehr Schritt für Schritt Raum für Reflexion, Erkenntnisgewinn und Orientierung. Dieser Prozess ist für die Bildung der Seele elementar. Um diesem sprachkritischen Moment und der damit verbundenen Erkenntnisbewegung gerecht zu werden, ist ein textnahes Interpretieren unerlässlich. Die Studie ist daher in weiten Teilen einer eingehenden Texterschließung und dem dialogübergreifenden Textvergleich verpflichtet. Die Problematisierung des Verhältnisses und Zusammenhangs von Sprache und Denken, die in der Gestalt des Sokrates, wie Platon sie zeichnet, ihre unverwechselbare Signatur findet, schlägt sich in drei Hinsichten nieder: erstens in Platons Auseinandersetzung mit der Sophistik, zweitens in seiner Reflexion auf die oftmals traditio­ nelle Verankerung philosophisch relevanter Begriffe und schließlich drittens in dem Anspruch einer Korrespondenz von Inhalt und Dar­ stellungsform. Diese drei Aspekte sind für Platons Philosophie kon­ 10 Der Dialektiker, der die Idee des Guten ›geschaut‹ oder erkannt hat, vermag Platon zufolge wahre Logoi zu formulieren, wenn auch eine Aussagbarkeit der Idee selbst nicht mehr möglich ist. Das Verhältnis von Logos und Wahrheit wird am Ende des dritten Kapitels diskutiert.

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stitutiv; sie werden nachfolgend mit Blick auf die Themenstellung dieser Arbeit skizziert. Platons konfrontative Haltung gegenüber der Sophistik ist poli­ tisch, pädagogisch und philosophisch motiviert, denn das Scheinwis­ sen, das die Sophisten nach seiner Auffassung verkörpern, die damit verbundenen, sich nicht an objektiven Wahrheitsgehalten orientie­ renden, relativierenden Denkstrukturen, ebenso das in den Dialogen dargestellte berechnende Verschieben von Grenzen der Sittlichkeit oder rabulistische Methoden stellen aus platonischer Sicht für die Erziehung junger Menschen, die gesamte Polis und nicht zuletzt für die Philosophie selbst eine Bedrohung dar. Sophistische Argumen­ tationsfiguren und Vorgehensweisen müssen für Platon von dem Begriff der Philosophie ferngehalten werden.11 Platons Problemati­ sierung der Sprache findet einen ihrer wesentlichen Beweggründe in seiner Distanzierung von der Sophistik. Auf der anderen Seite verwendet Platon sophistisch geprägte Denkmuster und Strategien aber auch als eine Art Bezugsfläche, von der er sich zwar prononciert abgrenzt, die ihm aber auch dazu dient, seine eigene Philosophie zu profilieren. Platons Kritik an der Sophistik hat im Rahmen seiner Philosophie eine erkenntnisleitende Funktion. Der zweite Gesichtspunkt betrifft ebenfalls eine für die plato­ nische Philosophie charakteristische Verfahrensweise. Dass Denkan­ sätze und Begriffe ihre Vorläufer in traditionellen Zusammenhängen finden – in dichterischen Motiven, religiös geprägten Lehren oder in Sätzen, die lange Denkerfahrungen sedimentieren –, darf aus platoni­ scher Sicht weder ignoriert werden (Platons Kritik an der Sophistik setzt nicht selten bei deren Verwerfung traditioneller Wertbegriffe an), noch darf umgekehrt die bloße Berufung auf alte Quellen als hinreichendes Mittel betrachtet werden, um bestimmte Positionen zu legitimieren. In der sokratischen Unterredung wird das Augenmerk auf einen nuancierten Umgang mit ›alten Logoi‹ gelenkt: Anstelle einer bloßen Aneignung überlieferten Gedankenguts und des ver­ meintlichen Verfügens darüber wird das Bemühen um verständige

11 Vgl. dazu Heinrich Niehues-Pröbsting: Überredung zur Einsicht. Der Zusammen­ hang von Philosophie und Rhetorik bei Platon und in der Phänomenologie, Frank­ furt/M. 1987, S. 18 f.; ferner Theodor Ebert: Meinung und Wissen in der Philosophie Platons. Untersuchungen zum ›Charmides‹, ›Menon‹ und ›Staat‹, Berlin/New York 1974, S. 28 f.

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Deutung und Prüfung gefordert.12 Platon konturiert seine Fragestel­ lungen nicht selten in Rekurs auf vorklassische Denkmotive, wobei er mit seiner spezifischen Art und Weise einer kritischen Rezep­ tion einen vielfältigen und hinsichtlich seiner Philosophie produkti­ ven, nie beliebigen Umgang mit traditionellen Begriffen bezeugt: Er distanziert sich von althergebrachten Bedeutungsgehalten, um wiederum andere im Hinblick auf ihr philosophisches Potential zu beleuchten, adaptiert oder transformiert gezielt altes Wissen, hebt es auf die Ebene philosophischen Denkens oder verleiht ihm eine neue philosophische Aktualität. Dieser besondere und genuin philosophi­ sche Umgang mit Herkunft und Hintergrund von Begriffen wird in den vorliegenden Interpretationen immer wieder thematisch werden. Der dritte Aspekt bezieht sich auf die von Platon geforderte Korrespondenz von Inhalt und Form, in deren Horizont nicht nur die – seit Schleiermacher oft diskutierte – Dialogform, sondern auch Platons Rhetorik- und Dichterkritik, darüber hinaus aber auch sein positiv gewendetes ›ästhetisches‹ Verständnis einer philosophischen Redekunst und Poetik gesehen werden muss. Von einer Entsprechung oder Übereinstimmung von Inhalt und Form lässt sich Platon zufolge nur dann sprechen, wenn die Form nicht nur Mittel zum Zweck der Darstellung, sondern wenn sie selbst Bestandteil des Philosophierens ist. Der sprachkritische Ansatz, mit dem Platon sich sowohl von der sophistisch geprägten Rhetorik als auch der herkömmlichen Dichtung distanziert, prangert äußerlich bleibende Stilelemente oder sprachli­ che Techniken an, die danach zu einem leblosen und ›unbeseelten‹ Logos führen, der keinen Erkenntniszugang erlaube. Anders hinge­ gen verhält es sich mit einer Rhetorik und Poetik, deren Darstellungs­ form und -stil in den Dienst der inhaltlichen Sache und mehr noch des Philosophierens selbst gestellt werden: Solche Reden erzeugen aus platonischer Sicht lebendige Logoi. Dieser Zusammenhang impliziert eine weitere wesentliche Dimension des Bildungsbegriffes, auf die sich das Erkenntnisinteresse der Arbeit richtet: Platons Auseinander­ setzung mit der pädagogischen Wirkmacht der Rede. Die Auswahl der Texte aus dem platonischen Œuvre orientiert sich naturgemäß an den einzelnen Sachthemen. Hinsichtlich der 12 Hierin schließe ich an Studien von Erler zu Platons Haltung gegenüber der Tradi­ tion an. Vgl. u. a. Michael Erler: Legitimation und Projektion. Die »Weisheit der Alten« im Platonismus der Spätantike, in: Dieter Kuhn, Helga Stahl (Hg.): Die Gegen­ wart des Altertums. Formen und Funktionen des Altertumsbezugs in den Hochkul­ turen der Alten Welt, Heidelberg 2001b, S. 313–326, hier 319 f.

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Fragestellungen, für die der Rahmen der sokratischen Tugendbildung relevant ist – dazu gehören etwa die Frage der Lehrbarkeit von Tugend, die Frage nach Motivation und Ziel der Bildung, nach Formen menschlichen Selbstbezugs und der Reflexivität von Wissen, ebenso der Begriff seelischen Wandels und das Motiv der Seelentherapie –, dient in erster Linie das platonische Frühwerk als Referenz. Die haupt­ sächliche Textgrundlage für die Interpretationen sind hier Apologie, Protagoras, Gorgias, Menon, Charmides, Alkibiades I und die ersten beiden Bücher der Politeia; andere frühe Dialoge werden ergänzend hinzugezogen. Für die Diskussion des Ideenbegriffs, des Eros-Kon­ zepts, der Seele und der philosophischen Anthropologie Platons sind neben Phaidon und Symposion die dem mittleren Werk zugerechneten Dialoge Politeia und Phaidros entscheidend. Die Präferenz von Dialogen aus dem frühen und mittleren Werk Platons ist auch durch den Sachverhalt motiviert, dass in vielen der Texte der skizzierte sprachkritische Ansatz in seiner bildungsrelevan­ ten Dimension konkret hervortritt. Die meisten der herangezogenen Textstellen erlauben es, diesen Ansatz nachzuvollziehen und im Hinblick auf die Frage der Seelenbildung zu analysieren. Der Dialog Phaidros nimmt hierbei eine besondere Stellung ein: In dieser Schrift reflektiert Platon umfassend sowohl die sophistische als auch die von ihm lancierte philosophische Rhetorik aus einer pädagogischen Perspektive. Ein weiteres Auswahlkriterium war schließlich auch die in der Forschungsliteratur häufig zu findende Annahme, Platon habe im Frühwerk einen strengen Leib-Seele-Dualismus vertreten und diese Auffassung im mittleren Werk revidiert. Geprüft wird deshalb, inwiefern sich im Kontext des Konzepts der Seelenbildung Momente der Kontinuität zwischen früheren und späteren Dialogen abzeich­ nen.13 Ausgehend von den Erörterungen der Arete, von ihren pädago­ gischen und politisch-ethischen Implikationen, und von Sokrates’ Perspektiven auf eine (selbst)reflexive Wissensbildung und einen Wandel der seelischen Haltung spannt die Arbeit einen Bogen zu den ›falschen‹ und ›wahren‹ Gestalten seelischer Bildung im Phaidros. Auf der Basis seiner kritischen Kontrastierung von sophistischer und philosophischer Redepraxis zielt Platon, dies wird sich in diesem Richtungsweisend sind in dieser Hinsicht bereits die Arbeiten von Charles H. Kahn: Plato and the Socratic dialogue. The philosophical use of a literary form, Cam­ bridge 1996 u. Gabriela R. Carone: Akrasia in the Republic. Does Plato change his mind?, in: Oxford Studies in ancient philosophy 20 (2001), S. 107–148.

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Zusammenhang zeigen, insbesondere auf den Nachweis, dass sophis­ tische Praktiken seelischer Fehlleitung eine Neukonstitution von Bildung in Gestalt der sokratischen Seelenführung zwingend erfor­ derlich machen. Im Kontext des Eros als poietisch-seelenbildende Kraft avanciert Bildung zu einer ›Beflügelung‹ der Seele, wobei der seelische Bildungsprozess des Lernenden, so ist zu vermuten, mit der lebendigen und aktiven Erkenntnissuche und dem Streben nach Selbsterkenntnis des ›Lehrenden‹ selbst eng zusammenhängt.

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1. Menschliche und politische Tugend: Platonische Differenzierungen und Prämissen

Für Platons Frühwerk ist der Bezugsrahmen konventioneller und sophistischer Überzeugungen charakteristisch. Entsprechend tritt die politische Dimension der verhandelten Gegenstände deutlich hervor: Den Ausgang der Gespräche bilden Meinungen und Denkmuster, die mit der politischen oder alltäglichen Lebenspraxis assoziiert sind. Sokrates prüft durch seine Elenktik nicht nur die Meinungen und die Gesprächspartner selbst, sondern er lenkt durch die Ausrichtung seiner Fragen – je nach Gesprächszusammenhang nur implizit – die Aufmerksamkeit auch auf Voraussetzungen und Distinktionen, die letztlich den Unterschied zwischen philosophischer Orientierung auf der einen und konventionellem oder sophistischem Gedanken­ gut auf der anderen Seite in Bezug auf zentrale Begriffe kenntlich machen.1 Im Kontext von Erziehung und Bildung betreffen diese Differenzierungen besonders die Frage von Lehren und Lernen und das Verhältnis von ἀρετή und τέχνη. Die Themenfelder kennzeichnen den ersten Schwerpunkt dieses Kapitels: Ziel dieser Untersuchungen ist es, Sokrates’ Begründung der Zurückweisung sophistischer Lehr­ praktiken und vor diesem Hintergrund die sokratische Position selbst, also Aspekte der sokratischen Tugendbildung und das Konzept der Selbstsorge, herauszuarbeiten. Der zweite Schwerpunkt widmet sich der platonischen Frage nach dem guten Leben. Folglich rückt der Begriff des Guten, wie er insbesondere in frühen Dialogen und den ersten beiden Büchern der Politeia diskutiert wird, selbst in den Blick. Nach welcher Art oder Gestalt eines guten Lebens ein Mensch strebt, hängt von seinen Über­ zeugungen ab, die wiederum, so der sokratische Ansatz, ein spezifi­ sches Selbstverhältnis und eine bestimmte Motivationsstruktur indi­ Vgl. dazu auch Wolfgang Wieland: Platon und die Formen des Wissens, 2., durch­ ges. und um einen Anh. und ein Nachw. erw. Aufl., Göttingen 1999, S. 257 f.

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1. Menschliche und politische Tugend

zieren. An diese Fragestellung anknüpfend führt das Eros-Konzept im Symposion, welches auch die für Platon charakteristische Methode einer ›Begriffs-Transposition‹ kenntlich macht, auf den poietischen Prozess epistemischer Bildung. Schließlich erfordert das Motiv des guten Lebens auch eine Betrachtung von Platons Perspektiven auf sophistisch lancierte ›natürliche‹ Begründungsmuster menschlichen Verhaltens und auf die Güter der Polis. Die Rekonstruktion von Sokrates’ reflektierenden Bezugnahmen auf zentrale Begriffe bildet auf der Basis des in der Einleitung zu dieser Arbeit dargelegten sprachkritischen Ansatzes Platons unter anderem eine methodische Prämisse der nachfolgenden Interpretatio­ nen. Darüber hinaus betreffen viele Themengebiete dieses Kapitels die Fragestellung der gesamten Arbeit, weshalb sie hier nicht abschlie­ ßend behandelt, sondern an späteren Stellen erneut aufgegriffen und vertieft werden.2 Insbesondere wird Platons Begriff von Wissen im Zuge der gesamten Arbeit in seinen verschiedenen, die Frage der seelischen Bildung betreffenden Momenten entwickelt und entfaltet.

1.1 Die politische Brisanz von Erziehung und Bildung im platonischen Frühwerk Den Anspruch auf Erziehung und Bildung junger Menschen erheben sowohl Sophisten und Rhetoren als auch Platon mit seiner Philoso­ phie. Die in diesem Zusammenhang ausgetragenen Streitfragen, die sich vor allem an der Frage der Lehrbarkeit von Tugend entzünden, stellen für Platon nicht lediglich einen Schulstreit um konkurrierende Lehrmodelle oder rivalisierende Denkrichtungen dar. Vielmehr ist die Frage, wie junge Menschen zur Bildung durch Tugend angeleitet werden können, für ihn die pädagogische und damit auch politische Frage schlechthin. Den Auftakt der folgenden Untersuchungen bildet eine Betrach­ tung der Apologie: Sokrates’ Haltung und Programmatik, wie sie von Platon gezeichnet werden, treten in der Verteidigungsrede besonders prägnant hervor. Das stärkste und zugleich apodiktisch vorgetragene Motiv des Sokrates, dass nämlich die Frage des Gerechten in jedem Denken und Handeln ausnahmslos die Richtung vorgeben muss, In diesem ersten Kapitel findet sich deshalb eine relativ hohe Anzahl an Verweisen auf spätere Ausführungen.

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1.1 Die politische Brisanz von Erziehung und Bildung im platonischen Frühwerk

begründet den Bezugsrahmen für Platons politische Orientierung und für seine Abgrenzung von sophistisch-rhetorischen Denkweisen. Vor diesem Hintergrund werden in der Apologie Momente von Platons Rhetorikkritik kenntlich, die im letzten Kapitel dieser Arbeit in einem anderen und neuen Rahmen ihren Widerhall finden werden: Auf der Textgrundlage des Phaidros wird die für Platon zwar sehr kritisch zu beleuchtende, auf der anderen Seite aber auch – aus philosophischer Perspektive – neu zu gestaltende Allianz von Rhetorik und Bildung ausführlich diskutiert werden.

1.1.1 Aspekte der Apologie unter besonderer Berücksichtigung der Rhetorik Ein Anklang des Spotts, mit dem Sokrates der zeitgenössischen Rhetorik im Phaidros begegnen wird, findet sich auch im Proömium der Apologie: »Was wohl euch, ihr Männer Athens, von meinen Anklägern widerfahren ist, weiß ich nicht: Ich meinesteils hätte beinahe mich selbst unter ihrem Eindruck vergessen, so überredend haben sie gesprochen.«3 Die Ironie bleibt jedoch eine Nuance, die Ernsthaftigkeit der Lage wird sogleich deutlich spürbar: Sokrates reagiert mit diesem ersten Satz der Apologie einerseits auf die aktuel­ len Kläger in dem gegen ihn angestrengten Gerichtsverfahren, die, so die Voraussetzung dieses Anfangs, soeben ihre Anklagepunkte vorgetragen haben.4 Andererseits spielt Sokrates aber auch auf die von ihm so bezeichneten ersten Ankläger an, die schon lange zuvor und über Jahre hinweg falsche Gerüchte und Reden über ihn verbreitet hätten (vgl. Ap. 18a–e): Durch Diffamierungen und indem sie Neid 3

Ὅτι μὲν ὑμεῖς, ὦ ἄνδρες Ἀθηναῖοι, πεπόνθατε ὑπὸ τῶν ἐμῶν κατηγόρων, οὐκ οἶδα· ἐγὼ δ᾿ οὖν καὶ αὐτὸς ὑπ᾿ αὐτῶν ὀλίγου ἐμαυτοῦ ἐπελαθόμην, οὕτω πιθανῶς ἔλεγον. (Ap. 17a1–3) – Wenn nicht anders vermerkt, handelt es sich bei der deutschen Übertragung des platonischen Textes um meine eigene, häufig in Anlehnung an die Übersetzung Schleiermachers (vgl. dazu die Erläuterungen am Eingang der Bibliografie). 4 Zu den Umständen des Gerichtsprozesses vgl. Klaus Döring: Zweites Kapitel: Sokrates, die Sokratiker und die von ihnen begründeten Traditionen, in: ders. et al.: Sophistik, Sokrates, Sokratik, Mathematik, Medizin, in: Grundriss der Geschichte der Philosophie, begr. von Friedrich Ueberweg, Die Philosophie der Antike, Bd. 2/1, hg. von Hellmut Flashar, völlig neu bearb. Ausg., Basel 1998, S. 139–364, hier 150 ff.; Ernst Heitsch: Platon. Apologie des Sokrates, Übersetzung und Kommentar, Göttin­ gen 2002 (Platon Werke, Bd. I 2), S. 54 ff. u. 102 ff.; Günter Figal: Sokrates, 3., überarb. und erw. Aufl., München 2006, S. 23–29.

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1. Menschliche und politische Tugend

schürten, hätten viele versucht, die Jüngeren zu überreden, »andere aber auch, da sie selbst überredet worden sind, überredeten andere«.5 Auf dem Boden der langjährigen Nachreden seien die nun einge­ brachten jüngeren Anklagen erst gewachsen; »euch«, so Sokrates, »haben sie schon lange und auch jetzt heftig die Ohren angefüllt mit Verleumdungen«.6 Wenn Sokrates seine Verteidigungsrede also damit beginnt, dass im Kontext der gegen ihn gerichteten Anklagen den Athenern etwas widerfahren sei, dann meint er damit zuvörderst die πάθη, auf welche seine neuen und insbesondere seine alten Beschuldiger zielten: Ihre Reden sollten Affekte hervorrufen und die Adressaten dadurch ›sich gleichsam selbst vergessen‹;7 in ihrem Meinen und Urteilen sollten die Zuhörenden beeinflusst, Unsachlichkeit oder Misstrauen bestärkt werden. Mit seinen einleitenden Wendungen lässt Sokrates Praktiken und Wirkungsweisen der Rhetorik deutlich anklingen. Auch wenn er hinsichtlich der ersten Ankläger erläutert, dass es sich bei ihnen um viele handelte, von denen man nicht einmal den Namen wisse (vgl. 18c–d), diese also nicht im engeren Sinne als Redner gekennzeichnet sind, so lenkt er doch die Aufmerksamkeit darauf, dass die Kunst des Überredens (ἡ τοῦ πείθειν τέχνη) in diesen frühen Verleumdungen eine wesentliche Rolle spielte. Was aber hier von der Überredungs­ kunst getroffen wird, ist die Lebensweise des Sokrates und damit seine Existenz. Platons Kritik an der Rhetorik hat in den gegen Sokrates erhobenen Anklagen und in dessen Verurteilung einen ihrer entscheidenden Ursprünge.8

οἱ δὲ καὶ αὐτοὶ πεπεισμένοι ἄλλους πείθοντες (Ap. 18d3). ἐμπεπλήκασιν ὑμῶν τὰ ὦτα καὶ πάλαι καὶ νῦν σφοδρῶς διαβάλλοντες (Ap. 23e2–3). 7 Vgl. zu dem Ausdruck des ›Selbstvergessens‹ (oben Anm. 3) den Kommentar von Heitsch (2002, S. 44 f.): »Andere Ausdrücke sind ›bezaubern‹ (Prot. 328 d 4 κηλεῖν, Phdr. 242 d 1 καταφαρμάσσειν); ›schwindlig werden und nicht mehr sehen können‹ wie unter dem Schlag eines Boxers (Prot. 339 e 2 ἐσκοτώθην τε καὶ ἰλιγγίασα); […] ›zum Sklaven werden‹ (Euthyd. 303 c 2 καταδουλωθείς).« Vgl. auch den Kommentar zur Einleitungspassage der Apologie von Franz Josef Weber: Platons Apologie des Sokrates, mit einer Einf., textkrit. Apparat und Kommentar, 7., durchges. Aufl., Pader­ born u. a. 2002, S. 22 f. 8 Vgl. auch Heinrich Niehues-Pröbsting: Überredung zur Einsicht. Der Zusammen­ hang von Philosophie und Rhetorik bei Platon und in der Phänomenologie, Frank­ furt/M. 1987, S. 17. 5

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1.1 Die politische Brisanz von Erziehung und Bildung im platonischen Frühwerk

In Form einer literarisch stilisierten Rede stellt die Apologie eine Antwort auf die Anschuldigungen dar.9 Indem Sokrates in seiner Rede auf die langjährigen Verleumdungen rekurriert, rückt er zugleich sein Leben und seine Lebensführung ins Zentrum. Die Verteidigungsrede tritt als Selbstzeugnis des Sokrates hervor: Platon lässt Sokrates seine Art und Weise eines philosophischen Lebens darstellen und reflek­ tieren.10 Verteidigt wird in der Apologie die sokratische Lebensform, schließlich ist sie es, die das eigentliche Motiv der Anklage darstellt (vgl. 28a).11 Diese Lebensform impliziert die Sorge um die Seele (ἐπιμέλεια τῆς ψυχῆς) der anderen, die Sorge also, dass sie sich im Hinblick auf sich selbst an erster Stelle um Einsicht (φρόνησις), Wahr­ heit und die Tugend kümmern (vgl. 29d–30b). Deshalb verteidige er sich, so Sokrates, auch nicht um seiner selbst, sondern der Richter und Bürger willen (vgl. 30d), dass sie sich nicht an ihm, einem – wegen seiner Aufgabe – »Geschenk des Gottes« (τὴν τοῦ θεοῦ δόσιν, 30d8), vergingen: »In Gefahr sind die Richter, nicht der Angeklagte. Der Angeklagte betreibt, wie in seinem ganzen Leben (31 b 3), die Sache seiner Mitbürger: ein letztes Mal will er sie ›erwecken‹ aus dem töd­ lichen ›Schlaf‹ der Seelen zur unabdingbaren Bemühung um die Arete.«12 Weil Sokrates dies als seine genuine Aufgabe versteht, kann er formulieren, dass die Bürger sich mit seinem Tod vornehmlich selbst schadeten (vgl. 30c ff.).

9 Zur literarischen Form der Verteidigungsrede und zu der damit zusammenhängen­ den Frage ihrer Historizität vgl. Michael Erler: Platon, in: Grundriss der Geschichte der Philosophie, begr. von Friedrich Ueberweg, Die Philosophie der Antike, Bd. 2/2, hg. von Hellmut Flashar, völlig neu bearb. Ausg., Basel 2007, S. 99 u. 102; Ursula Wolf: Die Suche nach dem guten Leben. Platons Frühdialoge, Hamburg 1996, S. 31 f; Charles H. Kahn: Plato and the Socratic dialogue. The philosophical use of a literary form, Cambridge 1996, S. 88 ff.; Paul Friedländer: Platon, Bd. II: Die platonischen Schriften. Erste Periode (1928–1930), 3., verb. Aufl., Berlin/New York 1964, S. 143; Döring 1998, S. 150–156; Heitsch 2002, Appendix III, S. 189 ff. 10 Vgl. auch Figal 2006, S. 23: Die Apologie präsentiere das Bild des Sokrates »als Selbstbildnis«. 11 Weit weniger gilt Sokrates’ Verteidigung in der Apologie der gerichtlichen Klage selbst. Vgl. dazu Friedländer (1928–1930) 1964, Bd. II, S. 144 f. u. 150; Heitsch 2002, S. 193; Jacqueline Karl: Selbstbestimmung und Individualität bei Platon. Eine Inter­ pretation zu frühen und mittleren Dialogen, Freiburg/München 2010, S. 123; Thomas A. Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Interpretationen zu den frühen und mittleren Dialogen, Berlin/New York 1985, darin Kap. 16: ›Apologie – Kriton – Phaidon. Verteidigung auf drei Ebenen‹, S. 221–252, hier 230 f. 12 Szlezák 1985, S. 231.

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1. Menschliche und politische Tugend

Sokrates’ Haltung, angesichts seiner Lage nicht etwa sich selbst, sondern seine Mitbürger als Opfer zu exponieren – sind sie es doch auch, denen durch die Reden der Kläger ›etwas widerfahren‹ sei –, könnte als Ironie oder Sarkasmus gedeutet werden. Sokrates’ Verhal­ ten wäre dann entweder im Sinne einer höhnischen und sich von der alltäglichen Lebenswelt völlig distanzierenden Überheblichkeit oder als ironische Verstellung, mit der er zum letzten Mal seine Mitbürger vorführte, zu interpretieren. Folgt man der Apologie, dann meint Sokrates die Gefahr für die anderen aber vollkommen ernst, ebenso wie seine hier akzentuierte Behauptung, ein Nichtwissender zu sein.13 Die gegen Sokrates gerichteten Anschuldigungen bezichtigen ihn nun allerdings selbst, sich in sophistischer Weise betätigt zu haben. So lässt nicht nur der in der älteren Anklage enthaltene Vor­ wurf, er mache die schwächere Rede zur stärkeren bzw. aus Unrecht Recht und unterrichte solche Dinge gegen Geld,14 Sokrates als einen Sophisten erscheinen; auch die jüngeren, vor Gericht eingebrachten Anklagen der Asebie und der Verführung der Jugend15 verweisen auf eine Zugehörigkeit zur Sophistik, auf sophistische Praktiken und Machtinteressen. Sokrates verdeutlicht in den ersten Sätzen der Apologie, was er von diesen Anschuldigungen und von denjenigen, die sie vorbrachten, hält: Unter ihren vielen Lügen erstaune ihn am meisten ihre Behauptung, dass die Athener Gefahr liefen, von ihm getäuscht zu werden, weil er gewaltig sei im Reden. Dass sie sich nicht schämten, sogleich von ihm widerlegt zu werden, sei er doch – gemäß Die Frage, wie Sokrates’ Haltung des Nichtwissens ebenso wie seine Haltung und Selbstauszeichnung gegenüber seinen Mitbürgern in der Apologie einzuordnen sind, wird unten in Kap. 2.2.2 erörtert. 14 τὸν ἥττω λόγον κρείττω ποιῶν (Ap. 19b5–c1); ὡς ἐγὼ παιδεύειν ἐπιχειρῶ ἀνθρώπους καὶ χρήματα πράττομαι (19d9–e1). Zu der älteren Anklage gehört auch die Behaup­ tung, dass Sokrates sich als Naturforscher betätigt habe (vgl. Ap. 19a–e, auch 18b–c, 23d). Beide Anklagepunkte waren als Karikatur in den Wolken des Aristophanes anti­ zipiert worden. Vgl. Döring 1998, S. 143; Heitsch 2002, S. 64 f. 15 In der aktuellen Anklage vor Gericht wird Sokrates vorgeworfen, nicht an die Götter der Polis zu glauben, stattdessen neue dämonische Wesen einzuführen und darüber hinaus die Jugend zu verderben (vgl. Ap. 24b–c, auch 26b). In ähnlichem Wortlaut überliefert ist diese Anklage, die die Strafe des Todes fordert, bei Xenophon: Mem. I 1,1 und Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen, in der Übers. von Otto Apelt, unter Mitarb. von Hans Günter Zekl, neu hg. sowie mit Einl. und Anm. vers. von Klaus Reich, Hamburg 2015, II, 40. Vgl. dazu Döring 1998, S. 143 u. 150 ff.; Heitsch 2002, S. 54 f., Anm. 37 u. S. 102 ff. 13

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ihrer eigenen Sicht auf Reden – nicht im Geringsten gewaltig darin (vgl. 17a4–b5). Gewaltig oder stark im Reden zu sein (δεινὸς λέγειν, Ap. 17b3) wird vor allem den sophistisch geprägten Rhetoren attestiert.16 Im Rahmen von Gerichtsprozessen kennzeichnet der Ausdruck die gefragte rhetorische Kunst, seine Zuhörerschaft mitzureißen und in die Bahnen des eigenen Interesses zu lenken, auch indem man Wahres und Unwahres gezielt verschiebt, Unrecht verbrämt oder bagatellisiert, das Rechte hingegen verschleiert. Vor diesem Hinter­ grund erweist sich Sokrates’ Art und Weise der Rede in der Tat als aussagekräftiges Gegenargument der Anklage: So kündigt er an, sich nicht der bei Redekünstlern beliebten glanzvollen Redewendungen und geschmückten Figuren, auch nicht der anderen typischen rhetori­ schen Werkzeuge zu bedienen. Vielmehr wolle er in schlichten, zuvor nicht arrangierten Worten sprechen, so wie er es auf dem Markt zu tun pflegte (vgl. 17b–c). Den Täuschungen und vermeintlichen Wahrheitsbekundungen seiner Ankläger und sonstiger Redner setzt Sokrates mit Nachdruck sein Streben entgegen, die Wahrheit über die Dinge zu sagen, die zu seiner Verurteilung führten. Obwohl Sokrates’ Beteuerung, »die ganze Wahrheit« (πᾶσαν τὴν ἀλήθειαν, 17b8) zu sagen, ein durchaus gebräuchliches Instrument von Gerichtsrednern darstellt, wird durch seine prinzipielle Ablehnung jeder rhetorischen Verteidigungsstrategie, wie etwa auch der bekannten Mitleidserre­ gung, deutlich, dass seine Wahrheitsbekundung, im Gegensatz zu derjenigen der anderen Redner, glaubwürdig ist.17 In der Eingangspassage der Apologie werden die sophistische, manipulative Gestalt der zeitgenössischen Rhetorik und die sokrati­ sche Form der Rede kontrastiert. Während die anderen Redner ihr Auditorium nicht zuletzt auch dadurch zu vereinnahmen suchen, dass sie dasjenige herausstellen, was der Menge als richtig erscheint (vgl. Phdr. 259e–260a), bezieht sich Sokrates auf Zuhörer oder Gesprächspartner in anderer Gestalt. Auch er lässt sich auf diese ein, indem er von ihren Überzeugungen, ihren mentalen und verstan­ desmäßigen Voraussetzungen, darüber hinaus von dem situativen Vgl. dazu den Kommentar zu diesem Terminus von Weber 2002, S. 24 f. Vgl. zu Sokrates’ Beharren auf der Wahrheit auch Ap. 18a, 20d, 22a. Zum rheto­ rischen Instrument der Wahrheitsbehauptung, auch zur Erregung des Mitleids der Richter vgl. Heitsch 2002, S. 42 f., zu Sokrates’ Ablehnung des Evozierens solcher Affekte vgl. ebd., S. 142 f., dazu Ap. 34b–35d. 16 17

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Zusammenhang ausgeht. Diese Art der sokratischen Einlassung auf die seelischen Konditionen seines Gegenübers kennzeichnet viele der platonischen Dialoge und wird im Zuge dieser Arbeit immer wieder thematisch werden.18 Auch in der Apologie passt Sokrates seine Rede der Situation, deren Bedingungen und dem Auditorium an.19 Allerdings lässt Sokrates, indem er nicht den Gepflogenheiten der gewöhnlichen Gerichtsreden, sondern seinen eigenen Maßstäben folgt, keinen Zweifel daran, dass sich sein Sprechen zugleich kontext­ unabhängig stets an der Suche nach Wahrheit orientiert und dass er mit dieser Ausrichtung auch seine Gesprächspartner konfrontiert. Im Gorgias (vgl. 521c–522a) nimmt Sokrates im Gespräch mit Kallikles die Lage vor Gericht und seine eigene Haltung in gewisser Weise vorweg: Er werde, so Sokrates, in einer solchen Situation nichts vorzubringen wissen, denn er könne auch dann nicht zum Wohlgefallen anderer reden, sondern müsse sich auf das Beste aus­ richten. Ergehen werde es ihm deshalb wie einem Arzt, der im Namen der Kinder angeklagt würde, nur bittere und unangenehme Arznei verabreicht zu haben, aber nicht das, was den Kindern lieb sei, nämlich Süßigkeiten. Mit diesem Beispiel macht Sokrates kennt­ lich, warum seine Verteidigungsrede an ihre Grenzen stoßen wird. Mehrmals betont er in der Apologie, dass die Zeit vor Gericht zu kurz sei, um die Verleumdungen mit seiner Form der Rede auszuräu­ men.20 Auch ist die Verteidigungsrede zwar an ein größeres Publikum gerichtet, zugleich sind Sokrates’ Reden dafür im Eigentlichen nicht geeignet: Mit der Menge lassen sich keine Einsichten gewinnen.21 Philosophische Einsicht ermöglicht primär die genuin sokratische Gestalt der Rede, das διαλέγεσθαι, die konkrete Unterredung mit einem Gesprächspartner oder ein dialogischer Redevortrag gemäß der philosophischen Redekunst. In Sokrates’ Verteidigungsrede lassen Vgl. dazu bes. unten Kap. 4.3.1 u. 4.3.2. Dies zeigt Szlezák (1985, bes. 230 ff.) im Hinblick auf Apologie, Kriton und Phai­ don: In den drei Werken werde »eine zusammenhängende ›Verteidigung‹ des Philo­ sophen erkennbar, aufgefächert nach drei Anlässen vor unterschiedlichen Adressaten, die gemäß den Prinzipien einer philosophischen λόγων τέχνη mit unterschiedlichen Strategien behandelt und mit unterschiedlichen Inhalten konfrontiert werden« (ebd., S. 250). 20 Vgl. Ap. 24a, auch 19a, 37a–b. 21 »Philosophisch also, sprach ich, kann eine Menge unmöglich sein.« (Φιλόσοφον μὲν ἄρα, ἦν δ᾿ἐγὼ, πλῆτος ἀδύνατον εἶναι. R. VI 494a4) Übers. Schleiermacher (EiglerAusg., Bd. 4). Vgl. auch Grg. 455a; dazu Friedländer (1928–1930) 1964, Bd. II, S. 147; Karl 2010, S. 123 f., Anm. 8; auch Szlezák 1985, S. 236–238. 18

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bestimmte Elemente, nämlich die Berücksichtigung der situativen Bedingungen zusammen mit der Maxime, sich dem Primat der Wahrheit zu unterstellen, Grundcharakteristiken der philosophischen Redekunst aufscheinen (vgl. Phdr. 270b–274b). Indem Sokrates in der Apologie eine philosophische Form der Rede wählt, bleibt er auch vor Gericht seiner Lebensweise treu. Ähnlich wie es ihm all die Jahre bewusst war, durch die prüfenden Befragungen mehr und mehr die Missgunst seiner Mitbürger zu erregen (vgl. Ap. 21e), weiß Sokrates nun vor Gericht, dass er mit dieser Art der Rede diejenigen, die über die beantragte Strafe ihr richtendes Votum geben würden, nicht mild stimmen, sondern sie vielmehr gegen sich aufbringen werde (vgl. 24a). Dass er sich trotz dieses Wissens an diese Form der Rede halte, so führt Sokrates selbst aus, sei aber der Beweis dafür, dass er die Wahrheit sage (τεκμήριον ὅτι ἀληθῆ λέγω, 24a7). Hier zeigt sich die Paradoxie des Prozesses: Hätte sich Sokrates mithilfe sophistischer Methoden und der üblichen rhetorischen Techniken verteidigt, womit er die Anschuldigungen sophistischer Machenschaften bestätigt hätte, wäre das Urteil mit großer Wahrscheinlichkeit sehr viel milder ausgefallen. Im Gegensatz zu anderen zeitgenössischen Sokratikern22 weicht Platon in seinen Dialogen dem gegen Sokrates erhobenen Vorwurf sophistischer Tätigkeiten bzw. der vermeintlichen Nähe zwischen Sokrates und den Sophisten nicht aus. Ähnlich wie die Sophisten bringt auch Sokrates herkömmliche Glaubenssätze und Gewohnhei­ ten ins Wanken; auch vor ihm ist die »beruhigte Übereinstimmung mit den Konventionen der Gesellschaft«, die als δόξα immer auch »eine allgemein einleuchtende Ansicht sein will«, nicht sicher.23 Anders jedoch als die Sophisten, die vertraute δόξαi oftmals nur in ein neues Gewand kleiden oder Althergebrachtes durch unhinterfragte Ansichten substituieren, führt Sokrates herkömmliche Meinungen oder Überliefertes einer kritisch-reflexiven Betrachtung zu, er unter­ stellt sie dem λόγον διδόναι, der Rechenschaftsgabe. Hierbei dient Gemeint ist insbesondere Xenophon. Vgl. dazu Döring 1998, S. 143; auch HansGeorg Gadamer: Sokrates’ Frömmigkeit des Nichtwissens (1990), in: Gesammelte Werke, Bd. 7: Griechische Philosophie III: Plato im Dialog, unveränd. Taschenbuch­ ausg., Tübingen 1999, S. 83–117, hier 104: Xenophon zeichne Sokrates als einen »Wahrer der sittlichen und gesellschaftlichen Tradition seiner Stadt«. 23 Vgl. Gadamer (1990) 1999, S. 106 f., beide Zitate ebd. Vgl. auch Figal 2006, S. 59: »Je klarer man die Nähe des Sokratischen Denkens zu dem der Sophisten sieht, desto größer ist auch die Chance, die radikale Verschiedenheit beider zu sehen.« 22

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die sokratische Form der Prüfung und Widerlegung, die elenktische Kunst (ἔλεγχος), weder einem eristischen Selbstzweck noch dem Ziel der Durchsetzung spezifischer Interessen, sondern vielmehr allein der philosophischen Suche.24 Darüber hinaus geht es nicht um eine Destruktion des Traditionellen oder um einen Bruch mit diesem, son­ dern um ein Erneuern oder Neukonstituieren bisheriger Denkansätze in der Weise, dass ein integratives Moment hinsichtlich des Alten zumeist erkennbar bleibt: Gesucht wird eine neue Ebene der Begrün­ dung.25 Die Gültigkeit traditioneller Muster hat also auch hier nicht länger in selbstverständlicher Form Bestand. Der von Sokrates ein­ geschlagene Denkweg zeigt sich als Gratwanderung zwischen einer kritischen Bezugnahme auf die Tradition und einer Distanzierung von den Modernisierungsbewegungen der Sophistik und Rhetorik. In dieser Position bewegt sich Sokrates aber in einem Feld, das die Bürger Athens noch weniger einordnen können als dasjenige der Sophisten. Deutlich sichtbar wird dies am Beispiel des Anytos, der nach Meletos als zweiter Ankläger des Sokrates und zugleich als »Drahtzieher«26 der Klage vorgestellt wird. Im Menon (vgl. 91a–92d) erscheint Anytos als fundamentaler Gegner der Sophisten; er verurteilt deren Unter­ richt und verachtet diese zutiefst. Allerdings macht ihn Sokrates’ gegen die Sophisten gerichtete Skepsis bezüglich der Lehrbarkeit von

24 Vgl. dazu Jürgen Mittelstraß: Versuch über den Sokratischen Dialog, in: Karlheinz Stierle, Rainer Warning (Hg.): Das Gespräch, 2., unveränd. Aufl., München 1996, S. 11–27, hier 14–16. Mittelstraß konturiert die Gegensätzlichkeit von sophistischer und sokratischer ›dialektischer Kunst‹: Während die sophistische Form, die Eristik, eine für beliebige Zwecke nutzbare Kunstfertigkeit darstelle, in welcher das »Rechhaben zum (vermeintlichen) Ausweis von Rechttun« (ebd., S. 15, Hervorh. im Orig.) avanciere, sei die sokratische Dialektik dem Postulat der begrifflichen Strenge und zugleich der Wahrhaftigkeit verpflichtet; ganz anders als das sophistische Ver­ fahren verfolge sie eine Begründungs- und Verständigungsintention. 25 Erler, der diesen Umgang Platons mit der Tradition in verschiedenen Studien dis­ kutiert, unterstreicht, dass die platonische Rezeptionshaltung gerade auch von den Späteren besonders gewürdigt wurde: Vgl. Michael Erler: Legitimation und Projek­ tion. Die »Weisheit der Alten« im Platonismus der Spätantike, in: Dieter Kuhn, Helga Stahl (Hg.): Die Gegenwart des Altertums. Formen und Funktionen des Altertums­ bezugs in den Hochkulturen der Alten Welt, Heidelberg 2001b, S. 313–326, hier 317– 320; auch ders.: Platon, München 2006, S. 57–61, bes. 60 f.; ders.: Art. ›III. Kontexte der Philosophie Platons‹, in: Christoph Horn, Jörn Müller, Joachim Söder (Hg.): Pla­ ton-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, 2., aktual. und erw. Aufl., Stuttgart 2017, S. 64–104, hier 65 f. 26 Heitsch 2002, S. 56; vgl. auch ebd., S. 57 ff. u. Ap. 18b, 23e.

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Tugend nicht minder misstrauisch: Ganz im Gegenteil begegnet er dieser mit noch größerem Argwohn (vgl. Men. 94e).27 Durch die Bezugnahme auf überlieferte und gegenwärtige Vor­ stellungen und Normen der Polis und die gleichzeitige Konfrontation des Sokratischen und Sophistischen erfahren die platonischen Dialoge ihre Einbettung in die politische Lebenswelt. Die Rolle des Politischen und dessen Ausprägung am Ende des fünften vorchristlichen Jahr­ hunderts in Griechenland und besonders in Athen sollen deshalb in einem kurzen Exkurs beleuchtet werden, kennzeichnet das Politische zu dieser Zeit, so Ch. Meier, doch nicht nur einen wichtigen Bereich, sondern es ist als »das zentrale Lebenselement«28 zu verstehen, welches eine richtige Ordnung des Gemeinwesens erzeugen soll.29 Wie Aristoteles zu Beginn der Nikomachischen Ethik akzentuiert, umfasst die politische als fundamentale und wichtigste Wissenschaft die anderen Wissensfelder der Polis, so auch die Frage des richtigen Handelns und des guten Lebens.30 Der Stellenwert, den die Frage des Politischen im Zuge des fünften Jahrhunderts erhält und der Athen als eine politische Kultur kenntlich werden lässt, zeigt sich nicht zuletzt an dem ›politischen‹ Vokabular, das sich in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts herausbildet oder nun in besonderer Weise hervortritt: Im Wortfeld von πόλις und dem zugrundeliegenden Verb πολίζω gewinnen Begriffe wie ὁ πολίτης, ὁ πολιτικός oder τὸ πολιτικόν an Bedeutung.31 Vor allem aber kommt mit der sowohl begrifflichen als auch institutionellen Herausbildung der Politeia dasjenige zum Aus­ druck, was das griechisch-politische Leben kennzeichnet. Πολιτεία meint die Gesamtheit und das Zusammenleben der Bürger als Bürger: Vgl. dazu auch Figal 2006, S. 26 f. Christian Meier: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt/M. 1980, S. 17. 29 Zu einer ausführlichen Erörterung des Begriffs des Politischen in klassischer Zeit vgl. Ch. Meier 1980, S. 12–47. Übereinstimmungen zwischen der griechischen und heutigen Vorstellung erkennt Meier in der Auffassung des Politischen als einem Feld, in welchem durch das Zusammenwirken von politischen Einheiten und Untereinhei­ ten »eine Ordnung des Zusammenlebens geschaffen und praktiziert« werden soll (ebd., S. 16 f.); vgl. auch S. 34–36. Andererseits lassen jedoch vor allem die Begriffe der Polis und der Politeia die Unterschiede deutlich hervortreten. Vgl. ebd., S. 27–47; dazu auch Norbert Blößner: Dialogform und Argument. Studien zu Platons ›Politeia‹, Stuttgart 1997, S. 190–193. 30 Vgl. Aristoteles: EN I 1, 1094a26 ff. 31 Vgl. Ernst Vollrath: Art. ›Politisch, das Politische‹, in: HWPh, Bd. 7, Basel 1989, Sp. 1072–1075, hier 1072. 27

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die Bürgerschaft. Zugleich umfasst der Begriff sowohl das Bürgerrecht wie auch die politische Ordnung und Rechtmäßigkeit: »Die Polis wurde mit der Bürgerschaft identisch, der Begriff für Bürgerschaft (politeía) wurde zum Begriff rechter Verfassung, an dem sich der spe­ zifisch normative Sinn von politisch (als polis-gemäß) orientierte.«32 In Entsprechung dazu ist das Adjektiv ›politisch‹ zumeist positiv kon­ notiert: Es bedeutet das der Polis Gemäße und damit Rechtmäßige; mit dem Politischen verbindet sich das Allgemeine (κοινόν), das die Sache aller betrifft, d. h. aller freien Männer.33 Platon knüpft in seinen frühen und mittleren Dialogen uner­ müdlich an die das Zusammenleben und das politische Gemeinwe­ sen betreffenden Meinungen, an selbstverständliche Denkmuster, Ansprüche und Identifikationsmodelle an, um sie der sokratischen Prüfung zu unterziehen und um zugleich an konkreten, zur Lebens­ praxis gehörenden Denkgegenständen seine Philosophie zu entfalten. Insofern für Platon das philosophische Forschen von der Frage der Lebensweise nicht geschieden werden darf, mithin beide im Begriff der Philosophie konvergieren müssen, ist die sokratisch-platonische »Wendung zur Politischen Philosophie«34 nicht nur den historischen 32 Ch. Meier 1980, S. 40 (Hervorh. im Orig.). Meier zufolge erwuchs aus dieser Form der Bürgerschaft »eine welthistorisch einzigartige […] politische Identität«, die eine »weitgehende praktische Deckung des Kreises der Beteiligten an Politik mit dem der davon Betroffenen« zeitigte (ebd., S. 41), zumal eine von der πολιτεία abgehobene Staatlichkeit nicht existierte (vgl. ebd., S. 41, 253 ff. u. 288 f.). – Obwohl es deshalb einerseits berechtigt ist, die zentrale Stellung des Politischen bei den Griechen als Besonderheit hervorzuheben, darf diese andererseits – und eine solche Tendenz ist bei Meier erkennbar – nicht idealisiert werden. Bekanntlich besaß in Athen ein nur verhältnismäßig geringer Anteil der Bewohner das Bürgerrecht: Frauen, Sklaven und in der Stadt wohnende Fremde, die ihrerseits auch von politischen Handlungen und Entscheidungen betroffen waren, waren davon ausgeschlossen. Vgl. dazu Luciano Canfora: Der Bürger, in: Jean-Pierre Vernant (Hg.): Der Mensch der griechischen Antike, Essen 2004 (L’uomo greco, Rom 1991), S. 140–179, hier 144 ff. Überdies sei zu beachten, so Canfora, dass die Griechen für sich selbst reklamierten, sich »von jener Welt, die sie ›barbarisch‹ nannten«, politisch abzuheben (ebd., S. 144). – Zum posi­ tiven und im Krieg ermutigenden Verständnis der Polis als Bürgerschaft der freien Männer vgl. auch Thukydides VII, 77, 7 (dazu Canfora 2004, S. 157). 33 Antonyme von ›politisch‹ bildeten nach Ch. Meier (1980, S. 27 f.) die Adjektive ›privat‹, ›eigennützig‹ oder auch ›despotisch‹. 34 Heinrich Meier: Warum Politische Philosophie?, Stuttgart/Weimar 2000, S. 10. Die sich von der Vorsokratik unterscheidende Einsicht, »[d]aß die Philosophie […] politisch werden muss, um eine philosophisch tragfähige Grundlage zu erhalten«, sei das Kennzeichen der »Sokratischen Wende« (ebd., S. 22 f., Hervorh. im Orig.). Hin­ sichtlich deren Notwendigkeit und ihres Inhalts sei es unerheblich, inwieweit sie von

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Umständen geschuldet; vielmehr bildet sie für Platon ein Erfordernis. Eine politische Philosophie, so unterstreicht H. Meier, muss sich aber in der politischen Welt selbst verteidigen und begründen, bestehe doch zwischen dem Gemeinwesen, das auf Normen und Institutionen aufbaue und letztlich von dem Vertrauen in dieselben, ebenso von einer Identifikation mit den Konventionen getragen werden müsse, und einer Philosophie, die »auf rückhaltloses Fragen gegründet ist«, ein unaufhebbares, wenngleich dynamisches Spannungsverhältnis.35 Dieses Spannungsverhältnis bedürfe aber der stets gegenwärtigen Reflexion und Auseinandersetzung, wenn die zentrale »Frage nach dem Richtigen« – trotz oder gerade angesichts der oftmals kontro­ versen Anforderungen der philosophischen Sphäre auf der einen, der politischen auf der anderen Seite – den Ausblick bilden soll.36 Was in der Apologie vor dem drastischen Hintergrund des Prozesses gegen Sokrates seinen Anfang nimmt, nämlich die Verteidigung einer in das Politische eingebetteten Philosophie und einer damit verbundenen Lebensweise, bleibt im platonischen Œuvre nicht nur präsent, sondern bildet ein wesentliches Charakteristikum desselben. In der Apologie wird der philosophische und zugleich politische Weg des Sokrates durch die im Rückblick beschriebene (vgl. 20c ff.) und in der aktuellen Situation vor Augen geführte sokratische Lebens­ form manifestiert und deutlich von einer sophistisch-rhetorischen Denk- und Lebensart distinguiert. Wollte ihn jemand fragen, so erläu­ tert Sokrates (vgl. 28b), ob er sich nicht dafür schäme, sich mit solchen Dingen zu beschäftigen, die ihn nun in Gefahr bringen zu sterben, würde er entgegnen: »Du sprichst nicht schön, lieber Mensch, wenn du meinst, wer auch nur ein wenig wert ist, müsse die Gefahr um Leben oder den Tod beachten und nicht viel mehr allein darauf sehen, wenn er handelt, ob er gerecht oder ungerecht handelt, ob es die Werke eines Guten oder Schlechten sind.«37 Die hier gezeichnete unbeirrbare dem historischen Sokrates selbst oder ob sie zu einem größeren Anteil erst von dem platonischen Sokrates vollzogen wurde (vgl. ebd., S. 10). Zu der gesamten Thematik vgl. ebd. S. 9–27. 35 Vgl. H. Meier 2000, S. 20–22, Zitat S. 21; zur Verteidigung des philosophischen Lebens auch ebd., S. 12 ff. u. 18 f. 36 Vgl. H. Meier 2000, S. 16 u. 20 ff., Zitat S. 16. 37 »Οὐ καλῶς λέγεις, ὦ ἄνθρωπε, εἰ οἶει δεῖν κίνδυνον ὑπολογίζεσθαι τοῦ ζῆν ἢ τεθνάναι ἄνδρα ὅτου τι καὶ σμικρὸν ὄφελός ἐστιν, ἀλλ᾿ οὐκ ἐκεῖνο μόνον σκοπεῖν ὅταν πράττῃ, πότερον δίκαια ἢ ἂδικα πράττει, καὶ ἀνδρὸς ἀγαθοῦ ἔργα ἢ κακοῦ.« (Ap. 28b6–c1) Vgl. dazu Ap. 28e–29a. – Das in der Apologie mehrfach eingesetzte fiktive Gegenüber (vgl.

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Lebenshaltung des Sokrates, die dem als richtig Erkannten uneinge­ schränkte Priorität sogar gegenüber dem eigenen Lebenserhalt ein­ räumt, bildet einen Kontrast zum konventionellen Standpunkt.38 Pla­ ton kennzeichnet seine Figur des Sokrates und dessen Haltung als Paradigma einer philosophisch-politischen Lebensweise. Die Frage nach einem gerechten Denken und Handeln ist dafür grundlegend; das Gerechte bildet den wesentlichen Maßstab für jede Lebenssitua­ tion. An dieser Maxime orientiert sich die sokratische Rede und Sokrates’ Form eines bildend-pädagogischen Programms; mit einem rhetorischen ›Ohrenfüllen‹ und dem Schaffen von emotionalen Abhängigkeiten haben sie nichts gemein.

1.1.2 Die Problemstellung der Lehrbarkeit von Tugend (Protagoras, Menon) Die in der Apologie erhobene Anklage, die in ihrer älteren wie auch jüngeren Version den Vorwurf enthält, dass Sokrates sich in schädli­ cher Form als Lehrer betätigt habe (vgl. Ap. 19a–e, 24b–c), demons­ triert, dass mit dem Prozess gegen Sokrates auch die παιδεία, die Frage von Erziehung und Bildung, auf dem Spiel steht.39 In der Einleitung seiner Verteidigungsrede stellt Sokrates die gegen ihn gerichteten Anschuldigungen nicht nur dar (vgl. 18a ff.), sondern er lässt diese Rekapitulation zugleich in einen ironischen Beifall münden, der den selbsternannten sophistischen Lehrern gilt (vgl. 19e–20c): Diese Männer, die junge Menschen überredeten, sich gegen Geld unter­ richten zu lassen, und die beanspruchten, die ἀρετή, die Tugend oder das Gutsein des Menschen, 40 lehren zu können – es seien Leute wie u. a. 20c–d, 29c, 37e) kann als rhetorisches Stilmittel betrachtet werden. Vgl. dazu auch Heitsch 2002, S. 143. 38 Wenngleich Sokrates sich auf Helden der Ilias, besonders auf Achilleus, berufen kann (vgl. Ap. 28c–d; dazu Il. 18, 94 ff.). – Zu Sokrates’ unerschütterlicher Haltung gehört auch, dass er kein Bestreben zeigt, auf eine mildere Strafe wie Verbannung hinzuwirken (vgl. Ap. 37c ff.), und es zudem ausschlägt, zu fliehen (vgl. Cri. 44b ff.). 39 Vgl. auch Gadamer (1990) 1999, S. 102 f. 40 Die deutsche Übertragung ›Tugend‹ kommt der griechischen Bedeutung der menschlichen ἀρετή dann relativ nahe, wenn man mit dem Wort Tugend dessen ursprünglichen Sinngehalt, nämlich Tauglichkeit, Tüchtigkeit, Aufrichtigkeit und Kraft, verbindet (vgl. den Art. ›Tugend‹ in Friedrich Kluge: Etymologisches Wörter­ buch der deutschen Sprache, bearb. von Elmar Seebold, 24., durchges. und erw. Aufl., Berlin 2002, S. 934). Am Ende des 5. Jh.s v. Chr. gewinnt der ethische Aspekt der

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Gorgias, Prodikos oder Hippias von Elis –, müssten im Gegensatz zu ihm, der nie vorgab, jemandes Lehrer zu sein,41 wohl etwas davon verstehen. Ein jeder von ihnen müsste sich also glücklich preisen, wenn es sich tatsächlich so verhielte, dass er »in der in Frage stehenden Bestheit, nämlich der menschlichen und politischen Tüchtigkeit und Tugend, wissend sei«.42 Er, Sokrates, würde sich gewiss rühmen und großtun, besäße er das Wissen und die Kunst, diese zu lehren. Das Thema der Lehrbarkeit lenkt im Frühwerk den Blick auf die Frage, ob Tugendbildung durch äußere Anleitung grundsätzlich mög­ lich ist.43 Zur Diskussion steht, ob die Arete wie andere Lehrinhalte, etwa wie diejenigen eines Handwerks, gelehrt und gelernt werden kann bzw. ob sie überhaupt lehr- oder vermittelbar ist. Folgt man den sokratischen Erörterungen, dann liegt dieser Problemstellung eine noch grundlegendere voraus, nämlich die Frage, wie Tugend und Wissen zusammenhängen und um welche Art von Wissen es sich hierbei handelt. Wenn auch oftmals infrage gestellt, so wird der Sachverhalt, dass Wissen die Tugend konstituiert, im sokratischen Dialog vorausgesetzt: Die seelische Verwirklichung von Tugend und die Fähigkeit, richtig zu handeln, sind nach sokratischer Vorgabe mit diesem Wissen, das in den Dialogen vielfach Gegenstand der Untersuchung ist, untrennbar verbunden. Stete Reibungsfläche bilden in den Diskussionen die Lehrprak­ tiken der Sophisten, wobei mit dem Inhalt stets auch die Beschaffen­ heit eines pädagogischen Programms bzw. deren Verschränkung zur menschlichen Arete an Bedeutung; im Hinblick darauf ist auch Platons Verwendung des Begriffs zu betrachten. Als deutsche Übersetzungen sind neben ›Tugend‹ und ›Tüchtigkeit‹ auch ›Gutsein‹ und der auf Schadewaldt zurückgehende Ausdruck ›Best­ heit‹ geläufig. Vgl. zum Begriff der Arete Werner Jaeger: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, 3 Bde. (1934–1947), 3. und 4. Aufl., Berlin 1959, Bd. 1, S. 26 ff. u. Bd. 2, S. 212; Wolfgang Schadewaldt: Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen, Tübinger Vorlesungen Bd. 1 (1978), hg. von Ingeborg Schudoma, 7. Aufl., Frankfurt/M. 1995, S. 75 ff.; Peter Stem­ mer: Art. ›Tugend‹, I. Antike, in: HWPh, Bd. 10, Basel 1998, Sp. 1532–1548, hier 1532 ff. 41 ἐγὼ δὲ διδάσκαλος μὲν οὐδενὸς πώποτ᾿ ἐγενόμην (Ap. 33a5–6). 42 τῆς τοιαύτης ἀρετῆς, τῆς ἀνθρωπίνης τε καὶ πολιτικῆς, ἐπιστήμων ἐστίν (Ap. 20b4–5). 43 Vgl. zu dieser Fragestellung auch Anton Hügli: Die Bedeutsamkeit der Philosophie für das Geschäft der Bildung, in: Philosophie und Bildung, Bildung durch Philosophie. Philosophie et éducation, Éducation par la philosophie, Red. ders., Curzio Chiesa, Basel 2006 (Studia Philosophica, Vol. 65), S. 13–34, zur sokratischen Form einer pädagogischen Philosophie S. 24 ff.

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Debatte steht. Platons Auseinandersetzung mit der Sophistik zielt in diesem Zusammenhang nicht nur auf eine Widerlegung von deren Positionen, sondern insbesondere auch darauf, die Methoden der sophistischen Lehrer als strategisches Kalkül, das ihren Geltungsan­ spruch legitimieren und manifestieren soll, sichtbar werden zu lassen. In Analyse der sokratischen Gesprächsführung und des Gesprächs­ verlaufs wird in den folgenden Ausführungen Platons Kritik auf der Grundlage des Protagoras, in dem sowohl die sophistischen Strategien als auch Sokrates’ Umgang damit in exemplarischer Form hervortre­ ten, herausgearbeitet. Die Frage nach der Verbindung von Tugend und Wissen wird in einem ersten Ansatz im Rahmen des Menon erörtert. Vor dem Hintergrund der genannten Aspekte bildet der weitere Ausblick dieses Kapitels das sokratische Bildungskonzept selbst. Im Kontext der Diskussionen um Erziehung und Bildung ist die Arete allgegenwärtig. Sie ist der eigentliche Unterrichtsgegenstand der Sophisten und auch bei Platon bestimmt sie den pädagogischen Rahmen; er widmet ihr einen großen Teil seines Frühwerks. Von alters her war die Erziehung junger Männer mit der Arete aufs Engste verknüpft: Während die Verwendung des Wortes παιδεία erst relativ spät nachweisbar ist,44 stellte die ἀρετή bereits in archaischer Zeit das zentrale Motiv griechischer Bildung dar. In den homerischen Epen kennzeichnet die auf den Menschen bezogene Arete eine den männlichen Idealen und Normen der aristokratischen Gesellschaft entsprechende Tatkraft, Tüchtigkeit und Tapferkeit, eine insgesamt menschenmögliche Vortrefflichkeit, für die der Maßstab der Ehre zentral ist.45 Aber auch am Ende des fünften Jahrhunderts v. Chr. ist jede Konzeption von Bildung durch den Begriff der Arete geprägt, die nun zum Leitmotiv politischer Bildung avanciert: Zur Debatte steht die

44 Der früheste gesicherte Nachweis von παιδεία findet sich bei Aischylos: Th. 18; der Ausdruck ist hier noch ganz im Sinne von τροφή, des vor allem leiblichen Aufziehens von Kindern, zu verstehen. Vgl. dazu Dieter Bremer: Art: ›Paideia‹, in: HWPh, Bd. 7, Basel 1989, Sp. 35–39, hier 36; Michael Frede: Wissen und Bildung in der Antike, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 66/2 (2012), S. 169–186 (Redigierter Vor­ tragstext zur Eröffnung des ersten GANPH-Kongresses in Berlin am 04.10.2004), hier 171 f. 45 Vgl. Jaeger (1934–1947) 1959, Bd. 1, S. 23–62, bes. 25 ff.; dazu auch Pierre Hadot: Wege zur Weisheit oder Was lehrt uns die antike Philosophie?, aus dem Franz. von Heiko Pollmeier, Frankfurt/M. 1999 (Qu’est-ce que la philosophie antique?, Paris 1995), S. 27 f. u. bes. Joachim Latacz: Das Menschenbild Homers, in: Gymnasium. Zeitschrift für Kultur der Antike und humanistische Bildung 91 (1984), S. 15–39.

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Erziehung zur πολιτικὴ ἀρετή; die politische Tugend und Tüchtigkeit gelten nun als Voraussetzung rechten Handelns. Die politische Fokussierung von Erziehung und Bildung zielt auf die Frage, auf welche Weise junge Männer mit den Aufgaben der Polis, den πολιτικὰ πράγματα, vertraut gemacht werden bzw. auf welchem Weg sie die Befähigung zu politischem Handeln und zu Füh­ rungsrollen erlernen können.46 Die Heranbildung junger Männer zu tüchtigen Bürgern wird für eine machtvolle Polis als ausschlaggebend erachtet; sie sollen sich mit der Polis identifizieren, um deren Belange in Versammlungen, aber auch im Krieg bestmöglich zu erfüllen.47 Die im letzten Kapitel dargelegte Priorität des Politischen im Ausgang des fünften Jahrhunderts spiegelt Platon in der Apologie in gewisser Weise damit, dass die erste Gruppe, an die Sokrates sich in seiner im Rück­ blick dargestellten Befragung der Mitbürger wendet, die Politiker sind (vgl. Ap. 21b–22e): Ihnen obliegen die Angelegenheiten, die in der Polis als am wichtigsten erachtet werden. Die Größe, die sie aufgrund eines politischen Wissens charakterisieren könnte, schlägt in der sokratischen Befragung jedoch um in ihr Gegenteil. Die Anerkennung und Macht, die ihnen in der Polis verliehen werden, verleiten sie, so die Darstellung der Apologie, auch zur größten Selbstüberschätzung und Selbstverblendung. Zugleich betrifft die πολιτικὴ ἀρετή, anders als das fachspezifi­ sche Gutsein in einer bestimmten Kunst, jeden Bürger. Jeder recht­ schaffene Athener sollte demgemäß imstande sein, sich mit anderen über die politische Arete angemessen zu beratschlagen und auch Rat zu geben – dies entspreche, so führt Sokrates im Protagoras (vgl. 319b–d) aus, einem allgemeinen Selbstverständnis: Während bei den anderen Künsten, wie dem Haus- oder Schiffsbau, dem Schmiedoder Schusterhandwerk, klar zwischen Meistern (δημιουργοί) und Nicht-Sachverständigen unterschieden werde, zeige sich in den Rats­ versammlungen hinsichtlich der politischen Tugend und Kunst, dass ein jeder sich als sachverständig verstehe und sein Wort erhebe. Allerdings teilt Sokrates nicht die Auffassung einer Vielzahl seiner Mitbürger, dass jeder freie Mann auch fähig sei, die Jüngeren in der politischen Tugend angemessen zu erziehen und zu schulen.48 Vgl. Prt. 318e–319a; Men. 71e u. 91a. Vgl. dazu Frede 2012, S. 174 ff. 48 Eine Behauptung, die sich auch gegen die Lehrtätigkeiten der Sophisten richtet. So erklärt Anytos im Menon (vgl. 92d–e), dass jeder rechtschaffene Athener einen Lern­ 46 47

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Sokrates widerspricht dieser Vorstellung und führt an Beispielen aus, dass sich bei den besten und tüchtigsten Staatsmännern, allen voran Perikles, aber auch bei anderen ehrenwerten Bürgern erwiesen habe, dass sie große Mühe darauf verwendeten, ihre Söhne in verschiede­ nen Künsten unterrichten zu lassen, sie aber offensichtlich nicht imstande waren, ihre Nachkommen in der ihnen eigenen Kunst, der politischen Tugend und Bestheit, zu erziehen (vgl. Prt. 319e–320b; Men. 92e–94e).49 Die Frage danach, wer jungen Menschen die Arete zu vermitteln oder sie darin zu unterweisen vermag, und die Frage nach der Art und Weise der Tugenderziehung sind im Text assoziiert. Während die sophistischen Lehrer behaupten, die Arete in ihrem Unterricht zu lehren, sind viele Bürger, in argwöhnischer Haltung gegenüber den Sophisten, der Ansicht, dass sie selbst ihre Nachkommen am besten erziehen und folglich die politische Tugend weitergeben können. Sokrates zweifelt beide Auffassungen an, sowohl die sophistische eines expliziten Lehrens (διδάσκειν) und Lernens (μανθάνειν) als auch die konventionelle Einstellung einer generationenübergreifen­ den Weitergabe (παραδιδόναι), also einer, wie Sokrates es auch formu­ liert, Übernahme oder Übertragbarkeit der Arete von einem auf den anderen (παραληπτὸν ἄλλῳ παρ᾿ ἄλλου, Men. 93b5).50 Seine Skepsis freudigen in der politischen Tugend besser erziehen würde als die Sophisten. Eine ähnliche, nun auf Sokrates projizierte Ansicht vertritt Meletos in der Apologie: In dem kurzen Zwiegespräch, zu dem Sokrates ihn auffordert (vgl. Ap. 24b–28a), beharrt Meletos darauf, dass jeder athenische Bürger die Jugend besser machen und bilden könne, einzig Sokrates verderbe sie (vgl. 24d ff.). – Angesichts dessen, dass Meletos die Klage gegen Sokrates eingereicht hat, erscheinen seine Antworten kläglich. 49 Vgl. dazu auch Men. 89d–e; Alc. I 118d–119a; Grg. 503b f. u. 515c ff. 50 Vgl. Prt. 318e–320c; Men. 90b–93d. Innerhalb dieser beiden Dialoge können die angeführten Verben tendenziell den beiden Richtungen zugeordnet werden. So ver­ wendet Sokrates das Verb παραδιδόναι vornehmlich, um das konventionelle Verständ­ nis einer weitergebenden Vermittlung der Arete zu kennzeichnen (vgl. Men. 93b4–5 u. c8–d1; Prt. 319e3), während διδάσκειν eher das sophistische Unterfangen indiziert, welches entsprechend die Lehrbarkeit (διδακτόν) der Tugend voraussetzt (vgl. bes. Prt. 319a–c, 320b–c, 327e–328c; auch Men. 86c ff.). Vgl. dazu Michael Erler: Der Sinn der Aporien in den Dialogen Platons. Übungsstücke zur Anleitung im philosophischen Denken, Berlin/New York 1987, S. 62–67, dazu auch unten Anm. 63. Erler betont aber auch, dass die beiden sich ergänzenden Worte des Übergebens und Übernehmens, παραδοῦναι und παραλαμβάνειν, gerade auch für den sophistischen Kontext kenn­ zeichnend seien (ebd., S. 65 ff.). In beiden Dialogen werden die konventionelle und die sophistische Auffassung von Lehre teilweise verschränkt (vgl. dazu unten Anm. 67).

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bezüglich des konventionellen Standpunkts macht Sokrates seinen Mitbürgern verdächtig: Obwohl er keineswegs bestreitet, dass es viele rechtschaffene Bürger und Staatsmänner gab und gibt, stellt er etwa aus Anytos’ Blickwinkel damit deren Tüchtigkeit grundsätzlich in ein schlechtes Licht (vgl. Men. 93a, 94e). Indem Sokrates überdies in der Apologie akzentuiert, dass es nur wenige geben könne, welche imstande seien, die Jüngeren in der menschlichen und politischen Tugend zu bilden (vgl. Ap. 24d–25c), rückt er sich für seine Mitbürger in die Nähe der sophistischen Lehrer.51 Diesen begegnet er aber zugleich mit Ironie und Ablehnung. Wie oben bereits kenntlich wurde, ist Sokrates’ Position für seine Mitbürger und Gesprächspart­ ner schwierig zu greifen;52 für jemanden wie Anytos erscheint er in einem zwiespältigen Licht. Auf sokratischer Seite gilt die Emphase der Kritik in erster Linie den sophistischen Ambitionen. Im Protagoras fordert Sokrates mit der Artikulation seiner Auffassung, dass die politische Arete nicht lehrbar sei (vgl. Prt. 320b), den Sophisten zugleich auf, des­ sen gegenteilige These, dass sie also lehrbar sei, aufzuzeigen und nachzuweisen (ὑμῖν ἐπιδεῖξαι ὡς διδακτόν ἐστιν ἡ ἀρετή, 320b8–c1). Protagoras antwortet zunächst mit dem Mythos über die Entstehung der menschlichen Kultur (vgl. 320c–322d), wonach Prometheus, nachdem die sterblichen Gattungen hervorgekommen waren und Epi­ metheus unvermerkt schon alle Gaben und Fähigkeiten an Pflanzen und Tiere vergeben hatte, zur Rettung der Menschen bei Hephaistos und Athene »die kunstmäßige Weisheit zusammen mit dem Feuer« (τὴν ἔντεχνον σοφίαν σὺν πυρί, 321d1–2) stehlen musste, die den Menschen zunächst ein Wohlergehen sicherten. Sie sammelten sich in Gruppen und Städten, so heißt es in der Erzählung, um sich zu schützen, scheiterten aber am Zusammenleben, sodass Zeus, damit das menschliche Geschlecht nicht unterginge, ihnen die politische Kunst (πολιτικὴ τέχνη), nämlich »Scham und Recht« (αἰδῶ τε καὶ δίκην,

Auch aus sophistischer Sicht sind spezifische Lehrer erforderlich. Allerdings macht Protagoras durchaus die Konzession an die athenischen Bürger, dass sie alle Lehrer der Arete seien: Er stellt ihre Kompetenz nicht in Frage, sondern akzentuiert, dass er es nur ein wenig besser verstehe, andere gut und tüchtig zu machen; er wolle die Bürger nur unterstützen (vgl. Prt. 327e–328b). Damit weiß Protagoras sich selbst zu schützen (vgl. Figal 2006, S. 59 f.). 52 Wieland (1999, S. 259) charakterisiert Sokrates’ Standpunkt als »doppelte Front­ stellung«. 51

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322c2), verlieh. Alle, so verfügt Zeus am Ende der Erzählung, sollen an dieser Kunst teilhaben.53 Der Mythos des Protagoras lenkt die Aufmerksamkeit auf bestimmte anthropologische Voraussetzungen: Im Gegensatz zu den Tieren ist bei den Menschen die Herkunft ihrer Vermögen und Begabungen göttlicher Natur. Nicht nur die politische Kunst, auch die Fertigkeiten im Bereich der τέχναι sind göttlichen Ursprungs: Dem Menschen gebührt folglich eine Teilhabe am Göttlichen (θείας μετέσχε μοίρας, 322a3).54 Darüber hinaus werden die menschlichen Vermögen selbst differenziert, gegenüber dem kunstmäßigen Können erfahren die politischen Fähigkeiten eine Pointierung: Nur Zeus selbst kann diese den Menschen geben, Prometheus sind sie nicht zugäng­ lich (vgl. 321d). Auch wird die Notlage der Menschen vorrangig in Bezug auf das Zusammenleben hervorgehoben und die Befähi­ gung dazu von der politischen Kunst abhängig gemacht. Diese muss deshalb, im Unterschied zu den anderen Künsten, allen Menschen zukommen. Schon vor ihrer Verleihung durch Zeus wird das Fehlen der politischen Kunst und damit ihr Erfordernis mehrfach unterstri­ chen.55 Manuwald spricht von einer Betonung der »Höherwertigkeit der gemeinschaftsbildenden Werte gegenüber den technischen Fertig­ keiten«56 innerhalb der Erzählung. Im Dialog erscheint der Mythos als Teil der Beweisstrategie des Protagoras, dass die politische Tugend resp. die politische Kunst – beide Ausdrücke werden von Gesprächsbeginn an enggeführt – lehrbar sei. Im Anschluss an seine Darlegung des Mythos arbeitet sich Protagoras an den von Sokrates formulierten Argumenten ab (vgl. Prt. 322d–328d): Dass hinsichtlich der politischen Tugend ein jeder Rat erteilen dürfe, sei mit dem Mythos bewiesen, da die Teilhabe an der Arete jedem gebühre, sie gehöre zum Menschsein innerhalb einer Gemeinschaft ursprünglich dazu (vgl. 322d–323c). Dass sie andererseits dennoch gelehrt und gelernt werden müsse, zeige sich aber daran, dass doch niemand annehme, sie sei von Natur aus (φύσει, Der Mythos lehnt sich partiell an den überlieferten Prometheus-Mythos an, zeigt aber auch bedeutsame Unterschiede. Vgl. dazu Bernd Manuwald: Platon. Protagoras, Übersetzung und Kommentar, Göttingen 1999 (Platon Werke, Bd. VI 2), S. 177 f; zu weiteren Fragestellungen in Bezug auf den Mythos, auch zur Frage einer Verbindung zum historischen Protagoras, vgl. ebd., S. 168–180. 54 Vgl. dazu Manuwald 1999, S. 176. 55 Vgl. Prt. 321d4–5, 322b5 u. 7–8. 56 Manuwald 1999, S. 177; vgl. dazu auch ebd., S. 171, 173 u. 178 f. 53

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323c5) vorhanden oder ergebe sich von selbst (ἀπὸ τοῦ αὐτομάτου, 323c5–6). Vielmehr erlange ein jeder die Tugend nur »durch sorg­ fältiges Bemühen, durch Übung und Unterricht« (ἐξ ἐπιμελείας καὶ ἀσκήσεως καὶ διδαχῆς, 323d6–7). Schließlich wären Ermahnungen, Sanktionen und Bestrafungen hinsichtlich ungerechter Handlungen nicht zu rechtfertigen, wäre die Arete nicht lehr-, lern- und erwerbbar (vgl. 323c–324d). Bis ins Detail zeichnet Protagoras nach, wie sich nach seiner Auffassung die Erziehung zu Tugend und Tüchtigkeit in Elternhaus, Schule und schließlich durch den Zwang der Gesetze der Polis vollzieht (vgl. 324d–326e). Die Ursache davon, dass Söhne in dieser Tugend nicht genauso gebildet seien wie ihre Väter, liege, ähnlich wie beim Aulos-Spiel, allein darin begründet, dass auch hier nur diejenigen mit den besten angeborenen Anlagen (εὐφυέστατος, 327b8) sich als Meister zeigten. Im Verhältnis zu Ungebildeten und ohne Gesetz Aufwachsenden seien aber auch die weniger talentierten Söhne bis zu einem gewissen Grad in der politischen Arete gebildet (vgl. 326e–328d).57 Die Ungereimtheiten in Protagoras’ Ausführungen, die bei nähe­ rer Betrachtung offenkundig sind, wurden in der Literatur oft thema­ tisiert.58 Von größerem Interesse ist jedoch, dass Sokrates im Dialog­ fortgang der Apodeixis des Protagoras (vgl. 323c8) nicht widerspricht – jedenfalls nicht in unmittelbarer Form.59 Das gleichsam paradoxe Moment, dass nämlich die politische Tugend einerseits zum Mensch­ sein genuin dazugehört, sie ein Konstituens des Menschen darstellt, andererseits aber diese menschliche Disposition erst durch vielfältige Bemühung realisiert werden muss und dadurch Tugend erst erlangt

57 Der Beweis der Lehrbarkeit, so endet Protagoras, sei nun durch Mythos und Logos erbracht (vgl. Prt. 328c). Damit lässt er seine Argumentation gewissermaßen als Einoder Ganzheit erscheinen, zudem er das Ende seiner Rede an deren Anfang rückbindet (vgl. 320c). Vgl. dazu Manuwald 1999, S. 170 f. 58 Etwa die Inkonsequenz bezüglich seiner These, dass nur dasjenige bestraft werde, was grundsätzlich erlernbar sei und keinen angeborenen Mangel darstelle (vgl. Prt. 323c–324a). Vgl. zur Diskussion stellv. Manuwald 1999, S. 209–213; auch ebd., S. 181 f.; ebenso Figal 2006, S. 61. 59 Die im anschließenden Gespräch erörterte Frage der Einheit und Vielheit von Tugend (vgl. Prt. 328d–334c) demonstriert vor allem, wie wenig Protagoras von dem sokratischen Begriff der Tugend versteht bzw. wie unterschiedlich ihre Auffassun­ gen sind.

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wird, dürfte auch Sokrates als richtig erachten.60 Auch lässt Platon den Sophisten keinen ›falschen‹ Mythos erzählen: Die menschliche Teilhabe am Göttlichen, die Differenzierung der menschlichen Fähig­ keiten und die Hervorhebung der politischen Tugend kennzeichnen etwas aus platonischer Perspektive Richtiges. Überdies dürfte auch der von Protagoras erläuterte Sachverhalt, dass Kinder und junge Menschen durch Erziehung und Normen geprägt werden und mehr noch notwendig geprägt werden müssen, auf Sokrates’ Zustimmung stoßen.61 Dennoch werden sich Sokrates’ inhaltliches Verständnis der Arete und folglich sein Programm einer pädagogischen Bildung als von ganz anderer Art erweisen als die diesbezüglichen Auffassungen des Sophisten. Platons Kritik zeigt sich hier auf einer anderen Ebene. Noch vor der Illustration des Mythos hatte Protagoras erläutert, worauf sich sein Unterricht beziehe (vgl. Prt. 318d–319a). Von Sokrates danach gefragt, bekräftigt er, dass er mit seinem Unterrichtsgegenstand, also der politischen Kunst, in Aussicht stelle, junge Männer zu tüchtigen Bürgern auszubilden: Konkreter Lehrinhalt, so Protagoras, sei die Wohlberatenheit in der Verwaltung des eigenen Hauses, vor allem aber in den Belangen und Angelegenheiten der Polis; man lerne bei ihm die Befähigung, politisch zu handeln und zu reden.62 Protagoras unterstreicht, dass es zu seinem Selbstverständnis als Sophist gehöre, »Menschen zu erziehen« (παιδεύειν ἀνθρώπους, 317b4–5): Jedem, der bei ihm lerne, würde zuteil, schon am ersten Tag »besser geworden« (βελτίονι γεγονότι, 318a8) nach Hause zu gehen. Das politisch-pädagogische Ideal seiner Zeit im Hintergrund lässt Protagoras also wissen, dass man bei ihm das politische Agie­ ren erlerne, d. h. die notwendigen Fähigkeiten und Kenntnisse, um innerhalb der Polis in angesehener Weise zu handeln und aufzutreten. Diese im Dialog erste von Protagoras formulierte Bestimmung der politischen Tugend resp. Kunst bewegt sich ganz im Feld der den D. h., es ist davon auszugehen, dass Sokrates mit dieser Annahme grundsätzlich übereinstimmt; dies gilt jedoch nicht für Protagoras’ sophistische Deutungen dieses Ansatzes (vgl. z. B. Prt. 323b). 61 Auch dies betrifft wieder die prinzipielle Perspektive, nicht Protagoras’ Ausfüh­ rungen im Detail. Vgl. auch Figal 2006, S. 60–62; dazu das Erziehungsprogramm in der Politeia (II u. III 376c–412a). 62 τὸ δὲ μάθημά ἐστιν εὐβουλία περὶ τῶν οἰκείων, ὅπως ἂν ἄριστα τὴν αὑτοῦ οἰκίαν διοικοῖ, καὶ περὶ τῶν τῆς πόλεως, ὅπως τὰ τῆς πόλεως δυνατώτατος ἂν εἴη καὶ πράττειν καὶ λέγειν. (Prt. 318e5–319a2) Vgl. auch Men. 71e, 73a. 60

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Zeitumständen geschuldeten Vorstellungen: Die Ausbildung in der politischen Tugend wird funktional und instrumental, im Sinne eines spezifischen Könnens wie im Falle der anderen Künste, verstanden; die politische Arete ist danach selbst im Bereich der Techne zu verorten.63 Vergleicht man diese instrumentelle Bestimmung der politischen Tugend mit dem von Protagoras erzählten Mythos, dann wird ein Widerspruch offenbar: Der Mythos macht ausdrücklich darauf aufmerksam, dass die Kunstfertigkeiten der Technai zwar einen unerlässlichen Bestandteil des menschlichen Lebens darstellen, sie aber zugleich in nur unzureichendem Maße das Zusammenleben gewährleisten; das alleinige Können der Techne sichert dem Mythos zufolge das Überleben der Menschen nicht. Entsprechend ist auch eine funktional gedachte Wohlberatenheit in Belangen der Polis hinsichtlich der politischen Tugend nicht grundsätzlich falsch; aber der Begriff der Arete kann sich darin nicht erschöpfen. Tugend und Techne dürfen offensichtlich nicht im Sinne einer einfachen Analogie gedacht werden. In Anbetracht dieses Widerspruchs und im Blick auf beide Bestimmungen der politischen Tugend, auf die Protagoras sich beruft, also einerseits die Kennzeichnung der Tugend als eine Art Techne (vgl. Prt. 318c–319a), andererseits, im Kontext des Mythos, als Recht und Scham (vgl. 322c–d), zeichnet sich eine prinzipielle Kritik Platons an der Sophistik und an deren Methodik ab. Mit der ersten Charakterisierung der Tugend bedient Protagoras ganz den am kunst­ fertigen Können ausgerichteten Zeitgeist; dieser Rahmen rechtfertigt im Eigentlichen auch seinen Unterricht, gehört ein solcher doch notwendig zu jeder Techne dazu. Mit der zweiten Bestimmung als Recht und Scham, die Protagoras durch die Wendung Gerechtigkeit und Besonnenheit ergänzt, rekurriert er hingegen auf althergebrachte Konzepte, auf ein traditionelles Moment.64 Protagoras begibt sich 63 Vgl. auch Jörg Hardy: Jenseits der Täuschungen – Selbsterkenntnis und Selbstbe­ stimmung mit Sokrates, Göttingen 2011, S. 166: Hardy nennt es eine »instrumenta­ listische Auffassung« des Gutseins. Vgl. auch Figal 2006, S. 56–58. Erler (1987, S. 63 f.) hebt hervor, dass die für die Sophistik und ihre Lehre charakteristischen Aus­ drücke διδάσκειν und μανθάνειν, ebenso die Bezeichnungen für Lehrer und Schüler, διδάσκαλος und μαθητής, eng mit dem Feld der Techne bzw. dem Erlernen von Kunst­ fertigkeiten verbunden, überdies diese Begrifflichkeiten auch autoritativ konnotiert seien. 64 Hinsichtlich der politischen Kunst, so erläutert Protagoras im Anschluss an den Mythos, komme doch alles auf Gerechtigkeit und Besonnenheit an (δεῖ διὰ δικαιοσύνης

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mit dieser Bestimmung, ebenso mit seiner anschließenden Beschrei­ bung davon, wie sich Erziehung in Elternhaus, Schule und durch die Gesetze der Polis vollziehe, in die Welt herkömmlich anerkannter Vorstellungen.65 Seine konziliante Haltung gegenüber den Bürgern Athens, dass sie alle Lehrer der Tugend seien, wäre ohne den Rückgriff auf hergebrachte Denkmuster nicht möglich.66 Offensichtlich ist der Sophist bestrebt, eine scheinbare Nähe zwischen seinem sophisti­ schen und dem herkömmlichen Erziehungsmodell herzustellen.67 Platons Kritik zielt nun aber auf dieses Vorgehen: Deutlich wird, dass Protagoras, weit entfernt von einer reflexiven Bezugnahme, aktuelles resp. ›modernes‹ und traditionelles Gedankengut unvermittelt und in einem fast willkürlichen Nebeneinander aufgreift, um sie für seine Zwecke einzusetzen. Ein Nachdenken darüber, auf welche Weise die an der Techne ausgerichtete Tugendbestimmung einerseits und die im Sinne der Tradition zu verstehenden Tugenden andererseits zu beurteilen und darüber hinaus beide Seiten zu verknüpfen wären, fehlt in Protagoras’ Darstellung vollständig. Seine Darbietungen dienen einzig – in platonischer Schreibart – der Plausibilisierung seiner bezahlten Lehrtätigkeit und dem Schutz vor übler Nachrede.68 Betrachtet man die konventionelle Vorstellung einer Weitergabe der Arete von Vater zu Sohn, von den Älteren auf die Jüngeren, dann allerdings scheint Protagoras’ erste Bestimmung der politischen Arete und die Unterrichtung dieser politischen Techne eine attraktive Vorreiterstellung einzunehmen.69 Denn während die herkömmliche πᾶσαν ἰέναι καὶ σωφροσύνης, Prt. 323a1–2); vgl. auch 324d–325a. Der Begriff der Scham, wie er im Mythos des Protagoras hervortritt, ebenso die Frage danach, wie Recht und Scham traditionell zusammenhängen, werden unten in Kap. 4.2.2 u. 4.3.3 erörtert. In diesem Rahmen wird die mythologische Erzählung erneut aufgegrif­ fen werden. 65 Vgl. dazu auch Frede 2012, S. 175–178. 66 Vgl. oben Anm. 51. 67 Auch assoziiert Protagoras die von ihm gezeichnete herkömmliche Edukation (vgl. Prt. 323c–328d) mit seinem Begriff von Lehre und Lehrbarkeit durch die Behauptung, dass nicht nur das anerkannte Konzept von Tadel und Bestrafung, sondern auch die ausdrückliche Bemühung der Bürger um die Erziehung der Nachkommen zeige, dass jeder Athener die politische Arete für lehrbar halte (vgl. bes. 324c–d, 325b–c, 326e, 328c–d). Mit der Wiederholung dieser Aussage und der Verwendung von Begrifflichkeiten, die für die sophistische Lehre typisch sind, suggeriert Protagoras einen gewissen Einklang zwischen seiner und der konventionellen Position. 68 Vgl. auch Prt. 316c–317c; dazu Figal 2006, S. 59 f. 69 Vgl. zu den vermeintlichen Vorteilen des sophistischen Unterrichts Peter M. Stei­ ner: Psyche bei Platon, Göttingen 1992, S. 18 ff.

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Erziehung auf Affirmation und Nachahmung der vorhandenen Sitten und Muster, auf Anpassung und auf die »Bestätigung bestehender Verhältnisse« zielt,70 liegt in dem Versprechen der Sophisten, dass ein Lernender einen stetigen Fortschritt hin zum Besseren erfahre (ἀεὶ ἐπὶ τὸ βέλτιον ἐπιδιδόναι, Prt. 318a9), ein scheinbar dynamisches Moment (vgl. auch 318b–d). Zugesichert wird eine Entwicklung, welche nicht nur die einzelnen jungen Männer, sondern in mittelbarer Form auch die Polis betrifft: Das statische Moment der herkömmlichen Paideia scheint durch das dynamische Moment der sophistischen Erziehung durchbrochen zu werden. Protagoras suggeriert, dass man in seinem Unterricht die Mittel für ein erfolgreiches politisches Tun und Reden an die Hand bekommt und dass jeder – das heißt jeder, der sich den Unterricht leisten kann – dies zu erlernen vermag. Protagoras’ Selbstdarstellung seiner Lehre, dass er also einer­ seits, wie oben gesehen, eine Art Kontinuität zwischen herkömm­ licher und sophistischer Erziehung vorgibt, andererseits für den Bildungsbereich zugleich eine erneuernde Dynamik offeriert, birgt für Platon eine pädagogische und politische Brisanz. Beides gilt es für Platon zu entlarven, insbesondere auch die von dem Sophisten behauptete Dynamik und Attraktivität seines Unterrichts. Ein tat­ sächlich dynamisches Lernen muss aus platonischer Perspektive die Seele selbst betreffen und bewegen, das Erlernte darf im Blick auf die Arete nicht bloßes Mittel zu einem kalkulierten Zweck sein, das Besserwerden zielt, so signalisiert Sokrates im Frühwerk immer wieder, nicht auf ein äußerlich bleibendes Fortkommen, sondern auf den ganzen Menschen in seiner Lebensführung. Hinzu kommt, dass auch zum Unterrichtsrepertoire der Rhetorik und Eristik – auf andere Weise als im Kontext der herkömmlichen Erziehung – die Nachah­ mung, überdies das Formalisieren von Wissen gehören:71 Anpassung und Bestätigung beziehen sich in diesem Rahmen nicht mehr auf die bestehenden Verhältnisse, sondern auf die Lehrer und deren Vgl. Steiner 1992, S. 17 f., Zitat S. 17. Vgl. Steiner 1992, S. 19 f. Steiner weist auch auf jene Anziehungskraft der sophis­ tischen Lehre hin, die sich für einen Schüler in der Vorgabe eines mühelosen Lernens äußere oder im Beiseiteschieben von Selbstzweifeln, etwa wenn Lehrer ihren (bezah­ lenden) Schülern schmeicheln (vgl. Grg. 464b ff.) oder eine unreflektierte Selbstbe­ stätigung fördern. Zur sophistischen Form des Lernens als Nachahmen vgl. auch Erler 1987, S. 65. Beide Autoren verweisen in diesem Zusammenhang auf Euthd. 303e: Sokrates hebt hier das sophistisch verstandene schnelle Lernen durch Nachahmen hervor. 70 71

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Reden selbst. Die sokratische Forderung eines prüfenden Lernens liegt hier fern. Innerhalb der verschiedenen Formen sophistischer Lehre geht der Begriff der menschlichen und politischen Tugend, die vor dem Hintergrund des Mythos gerade auch die Gemeinschaft sichern soll, nicht auf. Umgekehrt zeigt sich damit auch, dass Form und Gestalt der Lehre wesentlich mit dem zugrunde gelegten Verständnis der Tugend zusammenhängen. Am Ende sowohl des Menon als auch des Protagoras konstatiert Sokrates, dass die Untersuchung der Tugend gegenüber der Diskussion ihres Lehrens und Lernens Priorität habe, müsse doch zuerst erforscht werden, was die Tugend sei.72 Im Menon bringt Sokrates in der Mitte des Dialogs mit der Was-ist-Frage auch die Frage des Wissens ins Spiel, die das Thema der Lehrbarkeit fortan bestimmt (vgl. Men. 86c ff.). So führt das Gespräch hier zu dem Zwi­ schenergebnis, dass Tugend eine bestimmte Form von Wissen (ἐπιστήμη) sei, nämlich vernünftige Einsicht (φρόνησις) (vgl. 87c– 89a): Alle äußeren Güter wie Reichtum, Stärke, auch Gesundheit, ebenso die der Seele zugehörigen wie Tapferkeit, Besonnenheit, Auf­ fassungsgabe oder Großzügigkeit seien nur gut und folglich nützlich, so führt Sokrates unter Zustimmung seines Gesprächspartners Menon aus, wenn sie mit Vernunft (σὺν νῷ, 88b5) vollzogen bzw. von dieser geführt, also insgesamt richtig gebraucht würden. Tugend herr­ sche dann in der Seele vor, wenn diese einsichtig (ἔμφρων, 88e3) leite und handle. Zuvor war die Lehrbarkeit der Arete unmittelbar an die Wis­ sensfrage geknüpft worden (vgl. Men. 86e–87c): Als Voraussetzung (ὑπόθεσις) für den weiteren Untersuchungsfortgang sollte gelten, dass die Tugend, wenn sie sich als eine Art Wissen erweise, lehrbar sei.73 Mit der Bestimmung der Arete als Phronesis, so stellt Menon nun fest, sei diese Prämisse erfüllt und die Tugend also lehrbar (vgl. 89c). Anders Sokrates: Er hinterfragt das Resultat, es folgt die oben schon angedeutete Debatte über die Frage, ob es Lehrer der Arete gebe, was Sokrates verneint (vgl. 89c–95a). Die These der Denn »bevor wir fragen, auf welche Weise die Menschen zur Tugend gelangen, müssen wir zuerst unternehmen, die Sache als solche zu untersuchen, was die Tugend überhaupt ist« (πρὶν ᾧτινι τρόπῳ τοῖς ἀνθρώποις παραγίγνεται ἀρετή, πρότερον ἐπιχειρήσωμεν αὐτὸ καθ` αὑτὸ ζητεῖν τί ποτ᾿ ἔστιν ἀρετή, Men. 100b4–6). Ähnlich äußert sich Sokrates auch zu Beginn des Menon (vgl. 71a–b) und am Ende des Protagoras (vgl. 361c). 73 Εἰ δέ γ᾿ ἐστὶν ἐπιστήμη τις ἡ ἀρετή, δῆλον ὅτι διδακτὸν ἂν εἴη. (Men. 87c5–6). 72

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Lehrbarkeit müsse folglich revidiert werden (vgl. 95a–96c), ebenso die Behauptung, dass Tugend Wissen sei.74 Beruhe die Arete aber nicht auf Wissen (ἐπιστήμη), dann offensichtlich auf der richtigen oder wahren Meinung (ὀρθὴ δόξα, ἀληθὴς δόξα), denn auch diese leite zu richtigem Handeln an und erfülle daher die Grundvoraussetzung der Tugend, gut und nützlich zu sein (vgl. 96d–99b). Das kritische Moment zeigt sich hier auf einer ähnlichen Ebene wie im Protagoras. So wenig wie der gleichnamige Sophist über den Ausdruck ›Recht und Scham‹ als Bestimmung der politischen Tugend nachdenkt, so wenig reflektiert Menon die Phronesis als Wissensform der Arete. In beiden Fällen passt die – in sokratischem Verstande durchaus zutreffende – Charakterisierung der Tugend nicht zu dem Lehr- und Tugendkonzept, welches die Gesprächspartner vor Augen haben. Auch im Menon wird ersichtlich, dass der gleichnamige Gesprächspartner gewissermaßen von einem Lehr- und Tugendmo­ dell in Analogie zur Techne ausgeht.75 Wenn Sokrates also die These, dass die Tugend mit vernünftiger Einsicht einhergehe bzw. diese die Arete ganz oder teilweise bestimme,76 mit dem Argument, dass es keine Lehrer der Arete gebe, im Menon in die Aporie führt, dann ist dieser Gesprächsverlauf dem Verständnisniveau der Gesprächspart­ ner geschuldet: Phronesis als Einsicht und vernünftige Überlegung ist weder durch die sich an der Techne orientierende sophistische Lehre, die Menon gegenwärtig ist,77 noch durch das konventionelle Konzept der Weitergabe von Tugend, das für Anytos ausschlaggebend war, einem jungen Menschen nahezubringen. Aus der Perspektive dieser Inkongruenz von Inhalt und Lehrformaten trifft Sokrates’ Argumentation, dass er keine Lehrer der Arete kenne, zu. Aber auch die These, dass die richtige, wahre Meinung hinrei­ chend für ein tugendhaftes Leben und Handeln sei, wird von Sokrates korrigiert (vgl. Men. 97d–98a): Richtige Meinungen seien zwar eine schöne Sache und würden auch Gutes bewirken, aber nur solange sie in der Seele verblieben, was aber nicht für lange Zeit der Fall sei. Die Dieser Schluss, den Sokrates als Frage formuliert und der die Zustimmung von Menon findet (vgl. Men. 98c–99b), ist freilich nicht in jeder Hinsicht zwingend. 75 In seiner ersten Bestimmung differenziert Menon die Arete nach bestimmten Per­ sonenkreisen (vgl. Men. 71e ff.), in den folgenden Bestimmungen charakterisiert er sie als spezifische Vermögen (73c–d, 77b u. 78b–d). 76 Φρόνησιν ἄρα φαμὲν ἀρετὴν εἶναι, ἤτοι ξύμπασαν ἢ μέρος τι; (Men. 89a3–4). 77 Menon erscheint als Sophistenschüler und Anhänger des Gorgias (vgl. Men. 71c– d, 76c, 95c); vgl. auch Erler 1987, S. 66 u. 86. 74

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richtige oder wahre Meinung sei als solche nicht viel wert; nur wenn man sie anbinde durch vernünftige Überlegung des Grundes (δήσῃ αἰτίας λογισμῷ, 98a3–4), würden die Meinungen erst zu Erkenntnis werden (πρῶτον μὲν ἐπιστῆμαι, 98a6). Erkenntnis und Wissen, die in der Seele bleiben, seien deshalb weit mehr zu schätzen als die richtige Meinung; unterscheiden würden sie sich aber durch das Gebundensein (δεσμῷ, 98a8). Es gehöre zu dem Wenigen, was er sicher wisse, so hebt Sokrates hervor, dass richtige Meinung und Wissen etwas Verschiedenes seien (vgl. 98b).78 Das Bild des seelischen Bandes deutet auf zweierlei hin: erstens auf das reflexive Moment von Wissen und zweitens auf die Notwen­ digkeit, den Blick auf das Wesentliche einer Sache zu richten. Zum einen müssen Argumentation und das Bilden von Meinungen über die Arete, folglich auch die gewonnenen Doxai selbst – sollen diese zu Erkenntnis und Wissen werden – an den aktiven Denkvollzug der Seele gebunden sein und gebunden bleiben, sonst entfliehen sie wie die Daidalos-Figuren (vgl. Men. 97d).79 Nachdenken und Begrün­ den entsprechen einer Art seelischen Rückbindung: Meinungen sind von demjenigen, der sie artikuliert, immer wieder einer prüfenden Betrachtung zu unterziehen; losgelöst von der seelischen Reflexion sind sie, wie Sokrates formuliert, nicht viel wert.80 Zum anderen assoziiert Sokrates das Bild des seelischen Anbindens mit dem Begriff der Anamnesis (vgl. 98a). Die Erinnerung an ein vorgängiges Wissen war zuvor in Bezug auf ein mathematisch-geometrisches Wissen ein-

In diesem Sinne ist auch der Abschluss des Gesprächs als Ironie zu betrachten: Mit dem Hinweis, dass das Handeln der Politiker allein auf richtiger Meinung, nicht auf Wissen beruhe, führt Sokrates hier aus, dass diesen in Hinsicht auf vernünftige Ein­ sicht die Tugend »durch göttliche Schickung« (θείᾳ μοίρᾳ, Men. 99e6) zuteilgeworden sein müsse, da sie doch Großes ohne Wissen und Vernunft vollbrächten, worin sie aber den Wahrsagern, Orakelsprechern und auch Dichtern glichen (vgl. Men. 99b–100c). Nicht ironisch meint Platon freilich seine Diagnose, dass die Politiker kein Wissen haben. – Zur Frage der göttlichen Begeisterung vgl. aber auch unten Kap. 5.2.2. Zur Diskussion des platonischen Wissensbegriffs als wahre gerechtfertigte Meinung vgl. die Darstellung der Forschungsdebatte unten Kap. 2.1. 79 Zu dem von Platon im Frühwerk häufig verwendeten Motiv des Entfliehens von Doxai, auch zu der Frage, wie dieser Unstetigkeit von Meinungen aus platonischer Sicht zu begegnen sei, vgl. Erler 1987, S. 78–96, zu Bild und Verständnis des Bandes im Menon ebd., S. 86 f. 80 Vgl. dazu auch Mittelstraß (1996, S. 12 f.), der den sokratischen Dialog als Unter­ brechung des Handelns zugunsten der Reflexion und des Nachdenkens über das (ver­ gangene und zukünftige) Handeln und seine Wirkungen herausstellt. 78

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und vorgeführt worden (vgl. 81a–86c): Danach trägt jede menschli­ che Seele wahres Wissen in sich, das sie, vor allem im fragenden Gespräch, erinnern und als Erkenntnis vergegenwärtigen kann.81 Indem Sokrates die Anamnesis im späteren Dialogzusammenhang wieder aufgreift, macht er deutlich, dass auch das Tugendwissen nicht im engeren Sinne gelehrt und gelernt wird, sondern – wie es anhand des geometrischen Beispiels gezeigt worden war – mithilfe von Fragen nur aus sich selbst hervorgeholt werden kann (ἀναλαβὼν αὐτὸς ἐξ αὑτοῦ τὴν ἐπιστήμην, 85d4). Gekennzeichnet ist damit die »Idee eines selbständigen Lernens«82. Zu dieser Art des Lernens als Erinnerung, so unterstreicht Sokrates, gehöre Wachheit und Mut, nämlich seine Suche auf das zu richten, was man noch nicht wisse.83 Die Gründe oder Ursachen (αἰτίαι), die im Vollzug des Nachdenkens zu suchen sind, können danach in der Seele nur durch Wiedererinnerung gefunden werden: Das Konzept eines vorgängigen Wissens verweist darauf, dass sich die Suche auf das Wesen einer Sache konzentrieren muss.84 Daran muss sich das ›Lehren und Lernen‹ orientieren. Von Dialogbeginn an lenkt Sokrates das Gespräch auf die beiden Momente, die durch das Bild des seelischen Bandes charakterisiert Die Menon-Passage zur Anamnesis wurde in der Literatur häufig diskutiert, wes­ halb hier nicht auf sie eingegangen wird. Einen prägnanten Überblick der Kontrover­ sen zu Platons Anamnesis-Begriff gibt Bernd Manuwald: Art. ›Wiedererinnerung/ Anamnesis‹, in: Christoph Horn, Jörn Müller, Joachim Söder (Hg.): Platon-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, 2., aktual. und erw. Aufl., Stuttgart 2017, S. 360–362, hier 361 f.; zur Anamnesis im Menon vgl. auch Hardy 2011, S. 186–192. Von größerer Relevanz für die Fragestellung dieser Arbeit ist die Darstellung der Anamnesis im Phaidon (vgl. dazu unten Kap. 3.1). 82 Mittelstraß 1996, S. 17. Das Anamnesis-Konzept ist nach Mittelstraß als Ausdruck der platonischen ›Theoria‹ aufzufassen, nämlich als metaphorische Darstellung der die Wissensbildung charakterisierenden theoretischen und praktischen Leistung, wel­ che sich auf die ›Objektivität‹ von Wissen und auf die ›Subjektivität‹ der Wissensbil­ dung gleichermaßen beziehe (vgl. ebd., S. 18). 83 Vgl. Men. 81d, 86a–c, 87b. Damit antwortet Sokrates auf das von Menon vorge­ brachte eristische Argument, dass man das, was man nicht wisse, auch nicht suchen könne und demnach überhaupt keine Suche möglich sei, weil man auf dasjenige, was man wisse, ebenso die Suche nicht richte (vgl. Men. 80d–81a). Sokrates hält diesem ἐριστικὸς λόγος (vgl. 80e2), welcher den Weg der Suche verneint, die Unsterblichkeit der Seele und das daraus folgende Anamnesis-Konzept entgegen. 84 Auch Erler (1987, S. 87) bezieht das Bild des Bandes auf die Suche nach dem Wesen einer Sache, womit aber die Ideen gemeint seien. Zur Betrachtung der früheren aus der Perspektive späterer Dialoge, wie etwa der Politeia, in welcher das dialektische Denken und sein Erkenntnisbereich der Ideen erst Gegenstand der Diskussion wer­ den, vgl. auch ebd., S. 95 f. mit Anm. 59. 81

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werden, hin: Die von Menon artikulierten Definitionen der Tugend – die Verwaltung der Polis bzw. des Hauses als Arete des Mannes bzw. der Frau (vgl. Men. 71e), seine Kennzeichnung der Arete als Fähigkeit, über Menschen zu herrschen (vgl. 73c–d), und schließlich als Vermögen, sich Schönes und Gutes zu verschaffen (vgl. 77b), gemeint sind damit Güter wie Reichtum, Gesundheit, Ansehen und politische Ämter (vgl. 78b–d) – ergänzt Sokrates jeweils mit dem Hinweis, dass doch Gerechtigkeit und Besonnenheit hinzukommen müssen (vgl. 73a–c, 73d, 78d–79a), außerdem der Blick auf die Tugend als auf eine einheitliche Gestalt zu richten sei (ἕν γέ τι εἶδος, 72c7, vgl. auch 74a8, 79b7–8). Dass jede der angeführten Handlun­ gen gerecht und besonnen ausgeführt werden müsse, wenn sie der Tugend gleichkommen solle, stimmt Menon vorbehaltlos auf der Basis seines herkömmlichen Verständnisses zu. Sokrates weist damit aber in eine andere Richtung, er greift die spätere Bestimmung der Arete als Phronesis gewissermaßen vor: Eine gerechte und besonnene Handlungsweise setzt die vernünftige Einsicht voraus. Diese sollte gewährleisten, dass menschliche Eigenschaften, Verhaltensmuster und Güter richtig gebraucht werden (ὀρθὴ χρῆσις, 88a4–5), sodass sie für den Menschen tatsächlich nutzbringend sind (vgl. 87c–89a). Die Phronesis, welche die Seele im Bereich der Praxis leiten soll, ist mit dem Gerecht- und Besonnensein genauso verknüpft wie mit dem reflexiven Moment, der seelischen ›Anbindung‹ der Meinungs­ bildung. Überdies lässt Sokrates’ wiederholter Hinweis darauf, dass nicht Teile der Tugend, sondern das Einheitliche oder Wesentliche der Arete gesucht werde (vgl. 72a–73c, 73e–77b, 79a–e), auch das zweite Moment des Bandes aufleuchten. Die Frage nach der Verschränkung von Arete und Wissen bildet einen zentralen Topos vieler früher Dialoge. Aus anderer als aus sokratischer Sicht wird sie aus sophistischem Blickwinkel thematisch: Nur in Form von Kenntnissen erscheint die Arete im engeren Sinne lehrbar. Die platonische Kritik an der Sophistik setzt häufig an deren Wissensverständnis an: Sokrates’ wiederkehrende Anspielungen auf die merkantile Ausrichtung der Unterrichtspraxis der Sophisten zie­ len weniger auf deren kaufmännisches Auftreten als darauf, dass sie ihren Unterrichtsinhalt, die Arete, wie eine verkäufliche Ware, folglich auch den Tugenderwerb wie den Kauf eines Gegenstandes

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anpreisen würden.85 So vergleicht Sokrates zu Beginn des Protagoras die sophistischen Lehrer mit Krämern und weist dabei den jungen Hippokrates, der bei Protagoras lernen möchte, darauf hin, dass es sich bei Lerninhalten (μαθήματα) nicht um solche Gegenstände handle, die man wie gekaufte Speisen in einem Gefäß wegtragen könne (vgl. Prt. 313c–314b). In kennzeichnender Weise verwendet Platon immer wieder das Bild eines transportablen Gegenstandes für die aus seiner Sicht falsche Annahme, dass Erkenntnis und Wissen in einem einfachen Sinne verfüg-, transferier- oder abrufbar seien.86 Die Vorstellung, dass Tugendwissen in einer gleichsam verge­ genständlichten Form lehrbar und anzueignen sei, attestiert Platon der sophistischen Lehrpraxis, welche danach die Verfügbarmachung von Tugendwissen ohne seelische Bemühung propagiert. Platon zeichnet diese Praxis als ein Konzept der Täuschung und Selbsttäu­ schung. Die Kenntnisse und Fähigkeiten, die Protagoras als Unter­ richtsinhalt vorgibt und die Menon als Tugend versteht, sind nicht schlechthin gut und nützlich, wie es der Arete-Begriff aus platoni­ scher Sicht voraussetzt, sondern sie sind instrumentalisierbar. Der sophistischen Auffassung von Tugend und Tugendwissen ermangelt das von Sokrates charakterisierte Band, das reflexive Moment und damit zusammenhängend die Ausrichtung auf das in einem philoso­ phischen Sinne zu denkende Gute. So lässt Menon mit jeder neuen Tugendbestimmung erkennen, dass er der sokratischen Richtung in Wirklichkeit nicht folgt (vgl. Men. 71e–79b). Ebenso kennzeichnet die Tugendlehre des Protagoras für Platon bestenfalls die Vermittlung spezifischer Kenntnisse; diese machen keine Rechenschaftsgabe und keine seelische Reflexion, die den ganzen Menschen herausfordern, Vgl. dazu Wieland 1999, S. 65 u. 246 f. Die Textstellen, welche die bezahlte Tätig­ keit der Sophisten akzentuieren, sind zahlreich, vgl. u. a.: Ap. 19e–20c; Prt. 310d, 313c, 328b; Sph. 223a–224e, 231d. Weitere Textstellen finden sich bei Wieland 1999, S. 65, Anm. 8 u. S. 247, Anm. 15. 86 Im Phaidros erscheint der gleichnamige Gesprächspartner mit einer Rede-Schrift­ rolle, die er wie einen Wissensschatz unter seinem Rock spazieren trägt (vgl. Phdr. 228d–e). Vgl. auch das in der Einleitung zu dieser Arbeit erwähnte Wollfadenbeispiel im Symposion (175d–e). Zu Platons Metaphorik und zu seiner kritischen Haltung gegenüber der Vorstellung eines gegenständlich-übertragbaren Wissens vgl. Wieland 1999, S. 237 f.; Erler 1987, S. 66 ff. Dazu Hadot 1999, S. 43: »Für Sokrates ist das Wis­ sen kein Ensemble von Aussagesätzen und Formeln, die man schreiben, mitteilen oder vorgefertigt kaufen kann. […] Das soll heißen, daß das Wissen […] kein vollendeter Inhalt ist, der durch Niederschrift oder sonst einen Diskurs direkt übertragbar ist.« – Die angesprochene Textstelle des Protagoras wird unten in Kap. 4.1.2 näher analysiert. 85

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notwendig. Der richtige Umgang mit dem Gelernten bleibt deshalb offen, weshalb dieses selbst dem Lernenden auch leicht zum Schaden gereichen kann.87 Die Sophisten vertreten den Standpunkt der Lehrbarkeit der Arete explizit. Aufgrund der sokratischen Auffassung, dass Tugend eine Form von Wissen sein muss, wurde in der Forschungsliteratur immer wieder angenommen, dass auch Sokrates, in ähnlicher Weise wie die Sophisten, im Protagoras und Menon den Standpunkt der Lehrbarkeit einnehme oder sich jedenfalls nicht davon abgrenze.88 Sokrates räumt aber in keinem der beiden Dialoge die Lehrbarkeit der Arete ausdrücklich ein; vielmehr bleibt dieser Anspruch von ihm infrage gestellt.89 Aufschluss darüber, wie aus sokratischer Perspek­ tive das Thema zu betrachten ist, geben generell seine Konzepte der Elenktik und Selbstsorge. Im Menon und Protagoras deuten aber auch die für die Vermittlung von Tugend verwendeten Verben darauf hin, wovon Sokrates sich distanziert und in welche Richtung seine Form der Tugendbildung zielt. Wie oben bereits kenntlich wurde, ist Sokrates’ Auffassung von Bildung weder durch das in sophistischem Kontext gebrauchte διδάσκειν noch durch die Ausdrücke παραδιδόναι und παραλαμβάνειν, die das konventionelle Verständnis einer genera­ tionenübergreifenden Weitergabe, aber auch die sophistische Vorstel­ lung einer ›Übergabe‹ von Tugend und Wissen anzeigen, beschreib­ bar.90 Demgegenüber kommt der Terminus παραγίγνεται ἀρετή, den Sokrates etwa in seinem abschließenden Satz im Menon (100b5) gebraucht,91 eher dem sokratischen Verständnis von Tugendbildung nahe. Auch wenn diese Wendung vielseitig zum Einsatz kommt,92 lässt sie ein Moment der sokratisch verstandenen Art und Weise von Lernen erkennen: Das Verb παραγίγνεσθαι signalisiert ein Zuteil­ werden, Zukommen und Sich-Einstellen von Tugend. Versteht man So warnt Sokrates seinen Begleiter Hippokrates entschieden davor, seine Seele dem Sophisten zu ›übergeben‹, denn diese könne durch den sophistischen Unterricht unversehens Schaden nehmen (vgl. Prt. 312b–c, 313a–314b). 88 Vgl. dazu etwa Christoph Horn: Antike Lebenskunst. Glück und Moral von Sokra­ tes bis zu den Neuplatonikern, Orig.-Ausg., 3. Aufl., unveränd. Nachdr., München 2014, S. 127–130 u. 134 f. 89 Dies betont auch Figal 2006, S. 60 ff. 90 Vgl. oben Anm. 50. 91 Zum Abschluss des Menon vgl. oben Anm. 72. 92 Auch Menon und Protagoras verwenden den Ausdruck, Menon für die Frage des Einwohnens der Arete von Natur aus (vgl. Men. 70a, 86d), Protagoras für das Gelangen zur Tugend durch eifriges Lernen (vgl. Prt. 323c). 87

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diese Begrifflichkeiten unter der Prämisse eines aktiven, prüfenden Bemühens, dann korrelieren sie mit einem Lern- und Bildungspro­ zess, der im Gegensatz zu den sophistischen Lehrversprechen nicht schnell, sondern langsam und schrittweise vonstattengeht. Gemeint ist ein Prozess, für den das heuristische Moment, das erforschende und entdeckende Lernen, das Suchen und Finden (εὑρίσκειν) im Sinne des Wiederfindens bzw. Wiedererinnerns charakteristisch ist.93 Ist Sokrates nun aber selbst als Lehrer der Tugend zu bezeichnen? In der Apologie formuliert er retrospektiv, dass es nicht sein Geschäft war, Menschen zu erziehen (vgl. Ap. 19d–e). Auch trifft der gegen ihn gerichtete Vorwurf, sich als Lehrer im Sinne der Sophistik betätigt zu haben, nicht zu. Dennoch wird Sokrates in den Dialogen als eine Art Pädagoge kenntlich. Sokrates’ elenktisches Wirken und sein Programm der gemeinsamen Suche können als pädagogisches Kon­ zept bezeichnet werden, weil sie voraussetzen, dass Tugendbildung von außen aktiviert und gefördert werden kann. Ein philosophischer Lehrer soll hinsichtlich des Sich-Einstellens, Zuteilwerdens oder Herausbildens von Tugend bei anderen vermittelnd wirken; Tugend und Tugendwissen selbst können jedoch nicht von Lehrer zu Schüler ver- oder übermittelt werden. Die Frage, ob Sokrates für eine Lehrbar­ keit der Tugend eintritt, ist deshalb im wörtlichen Sinne des Begriffs der Lehre, also auch im Sinne der sophistischen Lehrbarkeitsthese, eindeutig zu verneinen. Als orientierende Unterstützung und Füh­ rung in der Tugend- und Erkenntnissuche kommt dem sokratischen Elenchos aber zu, pädagogisch zu wirken. Die untersuchten Textstellen des Protagoras und Menon zeigen paradigmatisch, wie Sokrates durch seine Gesprächsführung sophis­ tische Strategien und Widersprüchlichkeiten offenlegt. Hierbei fun­ dieren Sokrates’ differenzierende Bezugnahmen auf Methoden und begriffliche Inhalte und Konzepte einerseits seine Kritik an den Lehr­ praktiken und Tugendmodellen der Sophisten, andererseits lassen sie in einer ersten Annäherung Facetten des sokratischen Begriffs von Tugendwissen und Bildung erkennen. An die Vorgabe eines Vgl. dazu Erler 1987, S. 68. – Vor diesem Hintergrund werden auch die Möglich­ keiten, die Menon am Dialogeingang zur Diskussion gestellt hatte – ob die Menschen durch Lehre, durch Übung, von Natur aus oder auf andere Weise zur Tugend gelangten (vgl. Men. 70a, dazu auch 86c–d, 89a ff.) –, im Sinne von Alternativen obsolet: Lernen durch richtige Führung, durch Übung und durch eine natürliche Disposition sind im Hinblick auf die Tugend zusammenzudenken. Vgl. dazu auch Hellmut Flashar: Der Dialog Ion als Zeugnis platonischer Philosophie, Berlin 1958, S. 120 f. 93

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heuristischen und prüfenden Lernens und eines reflexiven Wissens­ begriffs, welche die Disparität zwischen Sokratik und Sophistik deut­ lich hervortreten lassen, knüpfen die weiteren Erörterungen dieser Arbeit vertiefend an: Nur wenn die Seele des Lernenden von dem Lernvorgang selbst nicht unberührt bleibt, ist dieser als Prozess seelischer Wissensbildung zu kennzeichnen; ein solcher lässt sich nicht delegieren.

1.2 Das Verhältnis von ἀρετή und τέχνη Sokrates betrachtet die am Techne-Modell sich orientierende Auffas­ sung von Tugend mit Skepsis; dies erwiesen die vorherigen Ausfüh­ rungen. Der Begriff der Arete, das damit verbundene Wissen und die Frage der Tugendbildung gehen danach in dem Konzept der Techne nicht auf, sind vielmehr davon zu unterscheiden. Allerdings zieht Sokrates, wenn im Gespräch um die Bestimmung der Tugend gerun­ gen wird, vielfach und selbstverständlich Beispiele aus dem Bereich der Techne heran, die offenkundig dazu dienen sollen, den Begriff der Arete zu erhellen. Auch diese scheinbare Diskrepanz verweist darauf, dass Sokrates die Vielschichtigkeit von Begriffen im Gespräch philo­ sophisch fruchtbar macht: Ein Vergleich zwischen ἀρετή und τέχνη – darauf zielen die sokratischen Beispiele offensichtlich – ist dann aufschlussreich, wenn im Blick auf übereinstimmende Elemente die Grenzen der Vergleichbarkeit nicht aus den Augen verloren werden. Eine Entsprechung von Arete und Techne scheint sich zunächst hinsichtlich des Zusammenhangs von Prozess und Ziel anzudeuten. In beiden Fällen, sowohl bei der lernenden Ausrichtung auf ein tugendgemäßes Leben als auch im Hinblick auf das Erlernen oder Ausüben einer Techne, handelt es sich um einen Vollzug, der an einem Ziel orientiert ist und davon ausgehend bestimmten praktischen, epistemischen und strukturellen Momenten folgt. Gerade in diesem Kontext führt Sokrates aber die Grenzen einer Analogie von Arete und Techne deutlich vor Augen: Wiederum ist es der Begriff des Wissens, der, nun in Verbindung mit der Frage des Ziels, eine einfache Analogsetzung fraglich macht. Auf der anderen Seite zeichnen sich aber auch ähnliche Momente zwischen Tugend und Techne ab, insofern beiden ein praktisches Wis­ sen immanent ist. In einem zweiten Schritt werden deshalb analoge Perspektiven, die sich auf Fragen des praktischen Vollzugs und des

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praktischen Wissens beziehen, herausgearbeitet. Vor diesem Hinter­ grund führen die analysierenden Betrachtungen auf das sokratische Konzept der Selbstsorge.

1.2.1 Die Differenz von ἀρετή- und τέχνη-Wissen im Lichte der Paideia Nicht nur das Politische, sondern auch das Feld der τέχναι erfährt in der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts v. Chr. in Griechenland eine enorme Aufwertung. Meier nennt es »ein ausgeprägtes Bewußt­ sein menschlichen Könnens«94, also ein Bewusstsein der vorhande­ nen Fertigkeiten und Fähigkeiten im Handwerk, in der Medizin und in anderen Bereichen praktischen Wissens,95 welches besonders in Athen, so wird in der Literatur betont, zu der Tendenz führte, »alles menschliche Wissen als technê zu verstehen«.96 Das τέχνη-Wissen avanciert demnach zum Modell praktischen Wissens schlechthin.97 Insbesondere die sophistischen Lehrer des Gutseins (διδάσκαλοι ἀρετῆς), dies wurde oben kenntlich, betrachten ihren Unterricht aus dieser Perspektive (vgl. Prt. 318a ff.). Das Wissen einer Techne, ob verstanden als herstellende, hand­ werkliche Kunst, als gebrauchende Kunst, wie etwa diejenige des Steuermanns, oder als Kunst eines anderen Bereichs, bezieht sich auf ein spezifisches und überschaubares, auf ein nachvollziehbares Feld, was unter anderem seine Lern- und Lehrbarkeit begründet. Ihrer Struktur und ihrem Wesen nach bestimmt sich eine Techne im Ch. Meier 1980, S. 45. Das »Könnens-Bewußtsein« (vgl. ebd. S. 469 ff. passim) hatte zwar, wie Meier betont, nichts mit dem modernen Begriff des Fortschritts zu tun; dennoch werde mit ihm eine Art »Verbesserungsbewußtsein« (ebd., S. 444) der Lebensbedingungen sichtbar (vgl. ebd. S. 471 u. 435–469). 95 Der Techne-Begriff repräsentiert die Fertigkeiten bzw. das Können vieler unter­ schiedlicher Felder; er ist Ausdruck, so Ch. Meier (1980, S. 469), »der sachverständi­ gen Bewältigung künstlerischer, handwerklicher, schiffbaumeisterlicher, aber auch militärischer, politischer, konstitutioneller und erzieherischer Aufgaben«. Vgl. auch ebd., S. 472 f. Technai bestimmten sich grundsätzlich dadurch, »daß sie sich als nütz­ lich, lebensfördernd oder gar lebenserhaltend erweisen« (ebd., S. 472, Anm. 98, Her­ vorh. im Orig.). Vgl. auch Felix Heinimann: Eine vorplatonische Theorie der τέχνη, in: Museum Helveticum 18/3 (1961), S. 105–130, hier 105 ff. 96 Figal 2006, S. 56. 97 Vgl. Wolf 1996, S. 32 ff.; auch W. Thomas Schmid: Socratic Moderation and SelfKnowledge, in: Journal of the History of Philosophy 21 (1983), S. 339–348, hier 341. 94

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griechischen Denken von ihrem τέλος, von ihrem Zweck bzw. Ziel her, das sich in ihrem ἔργον, dem Werk oder Ergebnis der Kunst, realisiert:98 Wenn das Werk seine Funktion und damit den Zweck einer spezifischen Techne gut und angemessen erfüllt, dann zeichnen sich sowohl das Werk als auch der Fachkundige, der τεχνíτης, durch das ihnen spezifische Gutsein bzw. die ihnen eigene Tauglichkeit aus. So besitzt etwa ein Schiffsbauer die Arete hinsichtlich der Schiffs­ baukunst, wenn er ein funktionstüchtiges Schiff baut, dem dann seinerseits die Arete eines Schiffes zukommt.99 Das zu einer bestimm­ ten Techne gehörende Wissen umfasst Kenntnisse über Materialien und physikalische Gesetzlichkeiten, über fachgerechte Methoden und Regeln, Verfahrensweisen und Arbeitsabläufe; Bereich und Ordnung des Wissens können innerhalb der fachspezifischen Grenzen relativ klar umrissen werden. Das Verhältnis von Arete und Techne spielt für das Feld der Paideia und im Hinblick auf die ›Kunst des guten Lebens‹ im Frühwerk eine zentrale Rolle. Die Techne steht auf der einen Seite Modell für Zielorientiertheit und die Umsetzung von Wissen, für das damit verbundene Gelingen einer ausführenden Tätigkeit, die sich nicht bei Beliebigem aufhält, sondern strukturiert vorgeht; sie repräsentiert den praktischen Vollzug und Erfolg einer Sache. Auch aus sokratischer Perspektive prägt dieser an der Techne orientierte Ansatz notwendig die Frage der Tugend und einer gelingenden Lebensführung, denn auch diese soll, ähnlich wie das Ergon einer Techne, Form und Gestalt (εἶδός τι, Grg. 503e4) und die ihr eigene Ordnung gewinnen.100 Auf der anderen Seite kann aber die menschliche und politische Vgl. auch Aristoteles: EN I 1, 1094a6–9; auch z. B. Euthd. 291e–292a. Zu den Charakteristiken der Techne vgl. auch Jörg Jantzen: Die Sorge um die Seele. Zur Entdeckung der moralischen Bedeutung von »gut« in Platons Frühdialogen, in: Damir Barbarić (Hg.): Platon über das Gute und die Gerechtigkeit, Würzburg 2005, S. 63–71, hier 67 f.; Jaeger (1934–1947) 1959, Bd. 2, S. 192 f.; Wolf 1996, S. 34 f.; Horn 2014, S. 130. Die strukturellen Aspekte der Techne kommen nicht erst bei Aristoteles, sondern durch die sokratischen Beispiele bereits im platonischen Werk zur Anschau­ ung. 100 Vgl. Grg. 503d–504d. Sokrates vergleicht hier die für das Resultat einer Techne notwendige Ordnung (τάξις, κόσμος), also die Organisation und richtige Struktur des Ergebnisses, mit der anzustrebenden Ordnung der Seele. Vgl. dazu Günter Figal: Handlungsorientierung und anderes als das. Überlegungen zur Platonischen »Idee des Guten«, in: Rainer Enskat (Hg.): Amicus Plato magis amica veritas. Festschrift für Wolfgang Wieland zum 65. Geburtstag, Berlin/New York 1998, S. 144–153, hier 147 f. Figal verweist mit Blick auf die Frage nach einer Analogie von menschlichem Leben und Techne ebenso auf diese Textstelle des Gorgias, werde hier doch kenntlich, 98

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1.2 Das Verhältnis von ἀρετή und τέχνη

Arete nicht in gleicher Weise ins Werk gesetzt werden wie das Erzeugnis oder die Hervorbringung einer Kunst; ebenso und damit zusammenhängend sind Tugend- und Techne-Wissen notwendig zu unterscheiden. In der Forschungsliteratur wurde immer wieder die Auffassung vertreten, dass Sokrates im Frühwerk den Begriff der Arete in enger Analogie zu dem mit Fachwissen verbundenen Begriff der Techne versteht. Auch wenn diese Entsprechung in den frühen Dialogen diskutiert und problematisiert, auch in gewisser Weise auf deren Grenzen hingewiesen werde, sei doch davon auszugehen, dass nach sokratischem Standpunkt die Tugend als Techne zu deuten sei,101 demgemäß auch die Begriffe für das im philosophischen Sinne erstrebenswerte und für das mit der Techne verbundene Wissen wechselseitig verwendet werden und diese Wissensbegriffe im pla­ tonischen Frühwerk deshalb als austauschbar zu erachten seien.102 Diese Position wird in den vorliegenden Untersuchungen mit Skepsis betrachtet. Zwar trifft es zu, dass Sokrates für das gesuchte ethische Wissen verschiedene Begrifflichkeiten, durchaus auch wechselweise, gebraucht.103 Dennoch werden aber die Unterschiede zwischen dem Expertenwissen einer Techne und dem Begriff eines ethischen Wis­ sens der Sache nach deutlich erkennbar. Den folgenden Analysen liegt die Annahme zugrunde, dass in Betrachtung des Verhältnisses von Arete und Techne der Blick, wie oben schon angedeutet, auf dessen Ambivalenz gerichtet werden muss, also auf die von Sokrates signa­ dass »die Herstellung von etwas nur gelingt, wenn man sich vom unmittelbar Vor­ findlichen löst und nicht ›planlos und ziellos dieses und jenes aufsammelt‹, sondern einen Gesichtspunkt gewinnt, von dem aus sich das Vorfindliche als Material verste­ hen und strukturieren läßt« (ebd., S. 148). Das Zitat innerhalb des Zitats entspricht Grg. 503e2–3. 101 Vgl. dazu Horn 2014, S. 128 ff. 102 So formuliert Benson dieses aus seiner Sicht unter Platon-Interpreten ›konsen­ suale Prinzip‹ als eine Voraussetzung seiner Studie: »First, I will be following the virtual consensus of Socratic scholarship in treating Socrates’ knowledge vocabulary – primarily ἐπιστήμη (episteme), σοφία (sophia), τέχνη (techne) – and their cognates as essentially interchangeable.« (Hugh H. Benson: Socratic Wisdom. The Model of Knowledge in Plato’s Early Dialogues, NewYork/Oxford 2000, S. 10) Zu Autoren mit ähnlicher Auffassung vgl. ebd., Anm. 27. In den Ausführungen von Benson wird deutlich, dass er die Begriffe in ihrer gegenseitigen Substituierbarkeit auf ein Wissen »concerning ethical matters« (ebd., S. 11) bezieht (vgl. auch S. 32 ff.). 103 Sokrates verwendet neben ἐπιστήμη und σοφία, die sowohl Tugend- als auch Techne-Wissen kennzeichnen, etwa Begriffe wie φρόνησις, γνῶσις oder γνῶμη. Vgl. auch Hardy 2011, S. 15, Anm. 7.

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lisierte Gleichzeitigkeit einer Engführung von Tugend und Techne einerseits und ihrer Differenzierung andererseits. Vorausgesetzt wird also, dass Sokrates’ exemplifizierende Vergleiche mit der Techne das Verständnis der Tugend nicht nur auf der Basis ähnlicher Merkmale fördern sollen, sondern dass die Vergleiche, indem sie auf den ambi­ valenten Charakter des Tugend-Techne-Verhältnisses zielen,104 auch an die Problemstellungen, die mit Tugendwissen und Tugendbildung verbunden sind, heranführen und diese reflektieren sollen. Wenn Sokrates im Kontext der Tugendbestimmungen Beispiele aus dem Techne-Bereich heranzieht, dann wird die Ambivalenz aller­ dings oftmals nur andeutungsweise sichtbar. Um diese vor allem in Bezug auf das Verhältnis von Paideia und Techne zu konkretisieren, greifen die folgenden Ausführungen noch einmal eine Passage aus der Apologie auf, in der Sokrates mit einem fast unscheinbar anmutenden Beispiel die Grenzen der Vergleichbarkeit von Tugendbildung und Techne, ohne diese explizit auszuformulieren, pointiert hervortreten lässt. Mit dem Beispiel zeigt Sokrates mit wenigen, aber klaren Hinweisen auf spezifische und richtungsweisende Fragestellungen hinsichtlich der Tugend selbst hin. Mit seinem Rekurs auf die sophistischen Lehrer in der Apologie macht Sokrates sich deren Prämisse, die Paideia als einen der Techne analogen Unterricht aufzufassen, scheinbar zu eigen: Er vergleicht die menschliche Erziehung mit dem Zähmen und Trainieren von Tieren (vgl. Ap. 20a–b). Das Beispiel ist von Sokrates mit Bedacht gewählt: Entsprechend der Aufgabe etwa eines Zureiters, ein junges Pferd »gut und tüchtig in dem ihm zukommenden Gutsein zu machen« (καλώ τε κἀγαθὼ ποιήσειν τὴν προσήκουσαν ἀρετήν, 20a9–b1), obliegt es einem Erzieher darauf hinzuwirken, dass der zu Erziehende gut und tüchtig hinsichtlich der ihm gebührenden menschlichen und politi­ schen Arete wird. Sokrates bettet den Vergleich in ein im Rückblick geschildertes Gespräch mit dem reichen Athener Kallias über die Erziehung von dessen Söhnen ein. Kallias, so wird in der Darlegung deutlich, sieht offensichtlich nicht, was Sokrates mit dem Vergleich herausfordert:105 Die scheinbare Parallele lenkt die Aufmerksamkeit Vgl. zu der Ambivalenz auch Jantzen 2005, S. 65 ff.; Figal 1998, S. 148 ff.; Wolf 1996, S. 37; Heinimann 1961, S. 106. 105 Kallias, der zufrieden damit ist, dass seine Söhne von dem Sophisten Euenos von Paros – dieser wird im Phaidros als Redekünstler erwähnt (vgl. Phdr. 267a) – unterrichtet werden, widerspricht der von Sokrates offerierten Ähnlichkeit der beiden 104

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1.2 Das Verhältnis von ἀρετή und τέχνη

auf die Ungleichheit der beiden Fälle. Im Folgenden werden vier Aspekte dieser von Sokrates zwar zur Sprache gebrachten, aber nicht weiter ausformulierten Differenzierung am Beispiel der Kunst des Zureitens beleuchtet und analysiert.106 Das Telos der Kunst des Zureitens liegt darin, dass am Ende das Pferd in bester Weise beritten werden kann. Das Ergon dieser gebrauchenden Kunst ist zwar nicht in Form eines gegenständlichen Produkts fassbar, aber indem der Zweck feststeht, dass nämlich das Pferd als Reitpferd dienen und der Arete eines solchen gerecht werden soll, können die für die kunstmäßige Tätigkeit notwendigen, vielleicht facettenreichen, aber dennoch spezifischen Fachkenntnisse auf der Grundlage von Erfahrung hinreichend gekennzeichnet werden.107 Im Falle der Paideia liegen die Dinge anders: Das ›Werk‹ der Erziehung ist »das Leben als Mensch und Bürger«108 in seiner bestmöglichen Form. Unter der Voraussetzung einer Analogie mit der Kunst des Zureitens bezöge sich das Wissen der Erziehungskunst auf eine Ordnung, welche möglichst viele Zusammenhänge und Beziehun­ gen des menschlichen Lebens umfassen müsste; ausgestattet mit einem solchen Wissen wäre ein Erzieher imstande, alles, was das Menschsein anbelangt und diesem gebührt, was dem Einzelnen in der Gemeinschaft und dieser selbst zugehört, zu unterrichten. Ein solches Wissen würde jedes menschliche Maß sprengen; darauf Anspruch zu erheben, ist als haltlose und dem Menschen nicht gemäße Ambition zu charakterisieren (vgl. Ap. 20d–e), denn die Frage nach dem guten Leben betrifft nicht ein begrenztes Feld, sondern das gesamte Dasein, vor allem aber die Seele des Menschen. Was Sokrates also mit seinem Exempel erstens illustriert, ist die Ungleichheit bzw. Nichtvergleich­ barkeit des Rahmens von Wissen und Praxis, innerhalb dessen sich Arete und Techne jeweils bewegen. Daran anknüpfend verweist Sokrates’ exemplarische Gegenüber­ stellung zweitens darauf, dass sich die Arete als Ziel im Falle der Erzie­ Fälle nicht. Sokrates seinerseits lässt in seinem Bericht über das Gespräch die Ansicht des Kallias, dass seine Söhne in guten Händen seien, auf sich beruhen (vgl. Ap. 20b–c). 106 Die folgende Darstellung bzw. die Bezugnahme auf die (von Sokrates nur ange­ deutete) Kunst des Zureitens zur Erörterung der Distinktion zwischen Paideia und Techne stellt deshalb gewissermaßen eine ›Extrapolation‹ des expliziten ApologieTextes dar. Vgl. zu dem Beispiel auch Wolf 1996, S. 34 u. 36. 107 Für die Fertigkeit selbst ist freilich die übende Praxis unerlässlich; vgl. dazu das nächste Kap. 1.2.2. 108 Wolf 1996, S. 37; auch zum Folgenden vgl. ebd.

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hung als ungleich schwieriger in ihrer Bestimmung darstellt als im Falle der Techne. In beiden Fällen gilt aber, dass die Wissensebene der Arete bzw. das Wissen von deren Ordnung, wie es im Gorgias hieß (vgl. 503d ff.), für die Kunst selbst maßgeblich ist und sich deshalb von diesem Wissen die Kriterien für die Praxis, auch für die zu schaf­ fenden Bedingungen und Voraussetzungen der Ausübung der Kunst herleiten. Definiert man etwa die Arete eines Reitpferdes sowohl durch die Fähigkeit, angemessen auf die Impulse des Reiters zu reagie­ ren, als auch durch die Eigenschaften der Schnelligkeit und Geschick­ lichkeit, dann sind die Richtlinien für die Praxis des Zureitens in gro­ ßer Annäherung beschreibbar. Vermag der Zureiter oder auch jeder andere Technites das seiner Kunst entsprechende Ergebnis oder Werk nicht hervorzubringen, kann er also sein Ziel nicht verwirklichen, ist er im Sinne seiner Techne schlecht und untüchtig: Ihm ermangele, so betont Jantzen, das »Wissen vom Worum-willen«109. Hinsichtlich der Erziehung des Menschen entspricht das ›Wissen vom Worum-willen‹ dem die menschliche und politische Bestheit konstituierenden Wis­ sen. Dieses Wissen ist, wie es die frühen Dialoge vorführen, nur schwierig fassbar; es zeichnet sich zunächst durch eine gewisse Unbe­ stimmtheit aus und kann nicht in gleicher Weise wie das Arete-Wis­ sen einer Techne identifiziert werden. Darin aber liegen das Diffizile und Vielschichtige der Paideia und der Kunst des guten Lebens begründet: Das Ziel, also die menschliche Arete, das ihr zugehörige Wissen und letztlich das Gute, auf das die Tugend geht, können nicht vorgreifend definiert oder bestimmt werden. Dennoch muss das Ziel, auch in seiner zunächst so erscheinenden Unbestimmtheit, die Rich­ tung vorgeben, Kriterien und Maßstäbe der Praxis sind darauf ange­ wiesen.110 Gerade angesichts dieses fast paradoxal wirkenden Moments sind aus platonischer Perspektive sowohl die Vorgabe der sophistischen Lehrer, das Tugendwissen zu besitzen, als auch ande­ rerseits das eristische Argument, welches den Sinn der Wissenssuche

Jantzen 2005, S. 67. Auch im Bereich der Techne können Potentialität und Ziel eines Vorgangs nicht vollständig vorweggenommen werden; in praktischer Hinsicht müssen diese teilweise auch hier ohne umfassendes Wissen als Vorstellung antizipiert werden. Allerdings ist die Arete einer Techne allgemein definierbar, was im Falle der menschlichen Tugend weitaus schwieriger ist. Das philosophisch verstandene Feld von Erziehung und Bildung zeichnet sich durch eine spezifische Art der Unbestimmtheit aus, die mit der Frage des Ziels des Guten selbst zu tun hat. 109

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1.2 Das Verhältnis von ἀρετή und τέχνη

grundsätzlich in Frage stellt,111 für den Bildungskontext äußerst bri­ sant und explizit abzuwehren. Der Lernende muss, ähnlich wie im Falle der Techne, sich darin üben, auf Gestalt und Ordnung des Zieles hinzublicken (ἀποβλέπων, Grg. 503e1).112 Hierbei die richtige Orien­ tierung zu finden ist aber, ganz anders als im Rahmen der Techne, eine große seelische Herausforderung. Drittens evoziert Sokrates mit seiner parallelen Darstellung der Ausbildung von Tieren und der Bildung des Menschen den offenkun­ digen Unterschied zwischen den ›Objekten‹, auf die sich in einem Falle eine Techne, im anderen die Erziehung richtet. Auch wenn man die individuelle Eigenart von Tieren bedenkt, überdies im Blick auf andere Technai das Besondere jeder Hervorbringung oder eines hergestellten Produkts in Rechnung stellt: Ein zu Erziehender ist mit diesen nicht zu vergleichen. Die Entfaltung seines Gutseins hat in erster Linie mit ihm selbst qua Mensch zu tun. Veränderung und Bildung eines Menschen können von außen angeregt und unterstützt werden, aber sie kommen aus ihm selbst, aus seiner Seele. Die Kunst der Erziehung muss des­ halb grundsätzlich anders beschaffen sein als die Vorgehensweisen im Bereich der Tierzucht und der Technai insgesamt, wie unterschiedlich diese auch untereinander sein mögen.113 Damit zusammenhängend vergegenwärtigt das sokratische Beispiel auch den Sachverhalt, dass dem Erzieher und dem zu Erziehenden dieselbe Arete, dasselbe Gutsein zukommt, was auf den Technites und sein Werk freilich nicht zutrifft. Dieser eigentlich selbstverständliche Sachverhalt spielt in Platons Bildungskonzept eine maßgebliche Rolle: Wiederum in Abgrenzung von den sophistischen Lehrmethoden wird gerade in der Apologie deutlich, dass es nicht nur für den Lernenden entscheidend ist, ob er sich dem Streben nach Tugend und Erkenntnis aufrichtig zuwendet oder nicht, sondern dass sich auch der ›Lehrende‹ die­ ser Aufgabe immer wieder von Neuem stellen muss. Das aktive, Vgl. oben Anm. 83. Vgl. auch Figal 1998, S. 147 ff.; dazu oben Anm. 100. 113 Dass das kunstmäßige Trainieren von Tieren von der Herstellung eines Produkts grundlegend zu unterscheiden ist, impliziert Sokrates gewissermaßen, indem er es in die Nähe der Erziehung des Menschen rückt. Er spielt gleichsam damit, dass auch Tiere eine Art Eigenleben besitzen. Allerdings ist die sophistische Orientierung an der Techne im Bereich der Paideia etwas anders gelagert: Sie setzt nicht eine Analogie der ›Herstellung‹, sondern des Vorgangs der Bildung bzw. Ausbildung voraus. – Zu teil­ weise technologischen Tendenzen im Feld der Pädagogik in moderner Zeit, vor allem im 19., aber auch im 20. Jh., vgl. Hügli 2006, S. 19 f. 111

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lebendige Erkenntnisstreben des pädagogisch Führenden stellt eine wesentliche Prämisse des philosophischen Bildungskonzeptes dar. Dies wird im letzten Kapitel dieser Arbeit in Diskussion des Phaidros von zentraler Bedeutung sein; aber auch die gemeinsame Suche im Frühwerk manifestiert diese Voraussetzung.114 In diesem Kontext ist auf die Ausnahme unter den Technai, die Medizin, hinzuweisen. Auch sie richtet sich auf den Menschen und demgemäß ist auch hier dieselbe Arete, nämlich die Gesundheit, für Arzt und Patient gleichermaßen erstrebenswert. Hinzu kommt die medizinische Erfahrung, dass die Wirkung von Heilmitteln und The­ rapien durchaus individuell ist.115 Platons Bezugnahmen auf medizi­ nische Zusammenhänge und seine Verwendung eines medizinischen Vokabulars hinsichtlich der Seele werden vor diesem Hintergrund zu beleuchten sein. Insgesamt wird deutlich, dass nicht nur die Orientierung der Erziehungskunst selbst am Modell der Techne schnell an ihre Schran­ ken stößt; auch der Erkenntnisweg eines philosophischen Pädagogen ist kaum mit der fachlichen Ausbildung eines Techne-Lehrers ver­ gleichbar. Zwar sollte auch dieser idealerweise dem Forschen und Lernen verpflichtet bleiben. Allerdings muss ein künftiger Pädagoge aus platonischer Sicht die Bereitschaft und Fähigkeit mitbringen, den in der Politeia als sehr mühevoll charakterisierten Bildungsweg, den Weg der philosophischen Erkenntnissuche, selbst zu gehen. Erst in der Verwirklichung dieses Weges vermag der pädagogisch Führende, der philosophische Dialektiker, eine Orientierung, die sich letztlich auf die Idee des Guten bezieht, vorzugeben.116 Für den Lernenden ist, wie oben zu sehen war, die Ausrichtung auf das Ziel der Arete und des Guten sehr schwierig; die Suche ist mit großer Unsicherheit ver­ bunden. Kommt zu den Schwierigkeiten des ›Hinblickens‹ die Ver­ stellung des eigenen Blickes hinzu, dann kann offensichtlich nur der philosophisch versierte Pädagoge die Richtung aufzeigen; im Bild des Höhlengleichnisses gesprochen vermag nur er dem Höhlenbewohner zu helfen, die Fesseln zu lösen (vgl. R. VII 515c ff.). Schließlich zeichnet sich ein vierter Gesichtspunkt ab, der – nun nicht mehr bezogen auf das Beispiel in der Apologie – das Verhält­ Vgl. Ap. 23a; Chrm. 165b–c; La. 200e–201a; dazu Hügli 2006, S. 26 f. Vgl. auch Wolf 1996, S. 43 f. 116 Vgl. R. VII 514a–535a. Auch in diesem Punkt sei auf spätere Kapitel dieser Arbeit verwiesen, vgl. unten Kap. 3 u. Kap. 5.3.4. 114

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1.2 Das Verhältnis von ἀρετή und τέχνη

nis von Arete und Techne erhellt: Jedes einer Techne zugehörige Wissen kann seinem Zweck entfremdet werden, denn gerade ein Technites ist fähig, sein Fachwissen für ein seiner Techne wesensfrem­ des Ziel einzusetzen. So ist etwa ein Arzt imstande, mit seinem Wissen nicht nur auf Heilung, sondern auch auf die Verstärkung der Krankheit seines Patienten hinzuwirken.117 Für das platonisch verstandene Tugendwissen kann eine solche Ambivalenz, jedenfalls dem Anspruch nach, nicht zutreffen, da es sich um ein Wissen handelt, dem die richtige Orientierung notwendig immanent ist:118 Das dem Gutsein zugrundeliegende Wissen impliziert danach die ihm adäquaten Verhaltens- und Handlungsweisen. Allerdings trifft dies in gewisser Weise auch auf die Technai zu: Ein Arzt oder anderer Technites würde nicht mehr notwendig als ein solcher anerkannt, wenn er die seiner Techne gemäße Arete nicht anstrebte.119 Aber auch unter dieser Bedingung, dass das einer Techne zugehörige Wissen nur dann als ein solches gilt, wenn damit auf ein im Sinne der Techne gutes Ergebnis hingewirkt wird, bedürfen Techne und Techne-Wissen für ihren richtigen Einsatz und Gebrauch eines übergeordneten Wissens, einer »übergeordneten Instanz«120. Der Grund dafür liegt in einer begrifflichen Differenzierung, welche die Sophisten verkennen oder verkennen wollen, wenn sie Arete und Techne gleichsetzen, nämlich in der Differenzierung des Wortes ›gut‹ (ἀγαθός). Darauf wird in Diskussion des Begriffs des Nutzens am Ende dieses ersten Kapitels zurückzukommen sein. Das hier diskutierte Beispiel in der Apologie ist als Signal dafür zu verstehen, welcher sorgfältigen Betrachtung die Tugendbildung zu unterwerfen ist. Die Kritik an einer unreflektierten Gleichsetzung von Paideia und Techne bedeutet selbstredend nicht, dass die Technai von Platon diskreditiert würden; ganz im Gegenteil erfahren diese in ihrem Rahmen eine große Wertschätzung. Mit Beispielen einer 117 Beispiele finden sich in Hp.Mi. 366c ff.; R. I 332d f., 333e f. Vgl. dazu Wieland 1999, S. 254 f. 118 Vgl. Wieland 1999, S. 261: »Wer das die Tugend der Gerechtigkeit konstituierende Wissen besitzt, hat nicht nur die Fähigkeit, gerecht zu handeln, sondern er handelt notwendigerweise gerecht.« Vgl. dazu Prt. 352b ff. 119 Vgl. Jantzen 2005, S. 67 ff. 120 Wieland 1999, S. 255. Auch wenn eine Techne kunstgemäß ausgeführt wird, kann ihr Ergebnis oder auch sie selbst falsch gebraucht bzw. in einem spezifischen Kontext missbraucht werden. Vgl. auch ebd. S. 176 ff.; Hardy 2011, S. 20. Eine Form des über­ geordneten Wissens kündigte sich bereits im Menon mit dem Begriff der Phronesis und dem Bild des seelischen Bandes an (vgl. oben Kap. 1.1.2).

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1. Menschliche und politische Tugend

›technischen‹ Sachkompetenz illustriert Sokrates in den Dialogen oft­ mals, was es heißt, sich auf eine Sache zu verstehen.

1.2.2 Die Sorge um die Seele: Analogien von ἀρετή und τέχνη Die bisherigen Ausführungen zum Verhältnis von Arete und Techne konzentrierten sich auf deren Differenz. Zugleich weist der von Sokrates verwendete Ausdruck ἀνθρωπίνη καὶ πολιτικὴ ἀρετή (vgl. Ap. 20b) in gewisser Weise selbst auf den Techne-Begriff hin: Im gewöhn­ lichen Sprachgebrauch implizieren beide Adjektive die Ergänzung ›τέχνη‹, sodass in der sokratischen Wendung eine ἀνθρωπίνη τέχνη bzw. πολιτικὴ τέχνη anklingt. Angesprochen ist damit der Vollzugs­ charakter der menschlichen Tugend: Zum Gutsein gehört wesentlich die Verwirklichung dieses Guten selbst, d. h. die Entwicklung einer entsprechenden seelischen Haltung und deren praktische Umsetzung. Gemeinsame oder vergleichbare Momente zwischen Tugend und Techne sind deshalb primär im Feld des praktischen Wissens zu suchen. Allerdings werden auch in dieser Hinsicht Unterschiede bestehen bleiben: Aus philosophischer Perspektive kann die Praxis der Techne nur partiell zur Klärung der Verwirklichung von Tugend dienen bzw. dafür Modell stehen. Dem praktischen Wissen, das dem jeweiligen Vollzug von Arete und Techne zugrunde liegt und diesen erst ermöglicht, muss eine Kenntnis der Handhabung und ein Verstehen der Sache selbst inne­ wohnen, die mit einem davon abgehobenen theoretischen Wissen nicht einzuholen sind. Im Falle der Techne ist es offensichtlich, dass der Besitz eines – praktisch nicht realisierten – Wissens über Regeln, Gesetzlichkeiten und Methoden noch nicht einen guten Technites ausmacht. Vielmehr braucht etwa der Zureiter einen praktischen Sinn für seine Kunst, er muss in praktischer Hinsicht wissen, was zu tun ist. In der Ausführung einer Techne gehen theoretisches Wissen, also das Wissen um Voraussetzungen, Methoden und Ziel, und Praxis Hand in Hand. Die Sachkompetenz erlernt ein Technites hierbei wesentlich im praktischen Vollzug: Die Realisierung des Umgangs mit den Gegenständen der Techne, das Erlernen von Vorgängen, das Einüben von Handgriffen etc. sind als Knowing How zu kennzeichnen.121 Die Diskussion des Begriffs Knowing How als nicht-propositionale Wissensform geht zurück auf Gilbert Ryle: Knowing How and Knowing That. The Presidential

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1.2 Das Verhältnis von ἀρετή und τέχνη

Dieses geht auch mit einem somatischen Moment, einer geschulten Wahrnehmung und Sensibilität, einher: In dieser Hinsicht lässt sich im Bereich der Techne von dem Moment eines ›verleiblichten Wis­ sens‹ sprechen.122 Das Können eines Technites beruht im Ganzen auf einem Wissen, in dem Theorie und Praxis, theoretische Regeln und praktischer Umgang, gleichsam verschmelzen: Darin zeigt sich im eigentlichen Sinne das praktische Wissen einer Techne. Der einzige Weg, zu einem solchen Wissen zu gelangen, welches einen Technites erst fachkundig macht und die Ausbildung in seiner Techne maßgeb­ lich bestimmt, ist aber die Übung (μελέτη). Der zeitlich notwendige Bedarf kann hierfür individuell sehr unterschiedlich sein; aber die Übung muss, wie es das Wort selbst beinhaltet, regelmäßig und in Bezug auf die Sache mit Sorgfalt ausgeführt werden. Im Falle der Arete und der Kunst des guten Lebens tritt in diesem Zusammenhang ein Aspekt hervor, den Aristoteles zu Beginn der Nikomachischen Ethik exponiert, der aber auch für Platon Gültigkeit besitzt: Während die Ziele vieler Technai und anderer Wissenschaften außerhalb ihrer selbst liegen, da sie erst in ihren Ergebnissen oder Werken realisiert werden, gehört das Handeln gemäß der menschli­ chen Arete, also das gute Handeln (εὖ πράττειν), danach zu denjenigen Tätigkeiten (ἐνέργειαι, πράξεις), die um ihrer selbst willen ausgeführt werden – ähnlich wie beim Flötenspiel das Telos nicht außerhalb des Spieles liegt, sondern in dessen Vollzug oder Verwirklichung selbst.123 Die Praxis der Tugend zeichnet sich nach dieser Voraussetzung durch das in ihr selbst liegende Ziel aus. Allerdings sind auch die tugend­ gemäße Praxis und eine Tätigkeit nach Art des Flötenspiels zu unter­ scheiden: Denn während das Spielen eines Musikinstruments und auch die Wirkung dieses Spiels primär durch ihren Gegenwartsbezug gekennzeichnet sind, bewegt sich das ethisch gute Handeln in einem Rahmen, der über den gegenwärtig-zeitlichen Moment weit mehr Address, in: Proceedings of the Aristotelian Society 46 (1945–46), S. 1–16. Zu den aktuellen Debatten vgl. Günter Abel: Knowing-How: Indispensable but Inscrutable, in: Stefan Tolksdorf (ed.): Conceptions of Knowledge, Berlin/Boston 2011, S. 245– 267; Eva-Maria Jung: Gewusst wie? Eine Analyse praktischen Wissens, Berlin/Boston 2012. 122 Vgl. dazu Michael Polanyi: Implizites Wissen, übers. von Horst Brühmann, Frankfurt/M. 1985 (The Tacit Dimension, New York 1966), S. 23 ff. 123 Vgl. Aristoteles: EN I 1 u. 6; dazu auch Peter Stemmer: Der Grundriß der plato­ nischen Ethik. Karlfried Gründer zum 60. Geburtstag, in: Zeitschrift für philosophi­ sche Forschung 42 (1988), S. 529–569, hier 552.

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hinausweist, da es die Lebensführung und damit das menschliche Dasein in grundsätzlicher Weise betrifft. Die hier angedeuteten Differenzierungen werden zu Beginn des zweiten Buchs der Politeia von Glaukon zur Diskussion gestellt, der drei Arten des ἀγαθόν nacheinander unterscheidet: Das erste Gut sei ein solches, das nur um seiner selbst willen angestrebt werde, das zweite Gut um seiner selbst und seiner Folgen willen, das dritte Gut aber nur um seiner Folgen willen.124 Danach gefragt, zu welchem er die Gerechtigkeit zähle, entscheidet sich Sokrates für das Gut der zweiten Art, welches sowohl um seiner selbst als auch um dessentwillen, was daraus entstehe (δι᾿ αὑτὸ καὶ διὰ τὰ γιγνόμενα, R. II 358a1–2), wünschenswert sei. Die nachfolgenden Diskussionen im Dialog sollen aber auf den alleinigen Nachweis der Gerechtigkeit als ein um seiner selbst willen Erstrebenswertes zielen (vgl. 358b–e, bes. 358b4–7, d1–2). Darauf muss die Begründung des Gerechtseins als ein Gut beruhen, denn umgekehrt, so zeigt sich anhand der gewöhnlichen Anschauung, führt die bloße Ausrichtung auf die Folgen zu einer instrumentellen Auffassung der Gerechtig­ keit.125 Zugleich ist aber zu berücksichtigen, dass eine Praxis, die sich als tugendgemäßes Handeln, das um seiner selbst willen angestrebt wird, auszeichnen soll, für Platon durch Erkenntnis geleitet bzw. mit einem das Handeln konstituierenden Wissen verschränkt sein muss.126 Umgekehrt müssen sich aber auch Erkenntnis und Wissen in der Praxis selbst als Werk realisieren; in gewisser Hinsicht benötigen sie den praktischen Weg, denn das die Tugend begründende Wissen ist auf seine Verwirklichung angewiesen: Wie das technische Wissen an das Hervorbringen gebunden ist, so unterstreicht Jantzen, »ist das Tugendwissen leer, solange es sich nicht in der Praxis als Tugend 124 Vgl. R. II 357b–d. Zum ersten Gut gehören nach Glaukon Freuden und unschäd­ liche Vergnügen, durch die in der folgenden Zeit nichts weiter entstehe. Das zweite Gut enthalte das Vernünftigsein, das Sehen und Gesundsein. Schließlich sei ein Bei­ spiel für das dritte Gut die Einnahme von Arzneimitteln und die Heilkunst selbst, darüber hinaus auch der sonstige Gelderwerb (vgl. ebd.). Das Flötenspiel muss nach dieser Einteilung dem ersten, viele Technai dem letzten Gut zugerechnet werden. Vgl. dazu auch Stemmer 1988, S. 549 f. 125 In der von Glaukon gezeichneten gewöhnlichen Überzeugung der Menge stellt die Gerechtigkeit ein Gut der dritten Art dar: Sie selbst ist danach eine Last und deshalb kein Gut, aber in ihren Folgen nützlich (vgl. R. II 358a–359b). Vgl. dazu und zu der Frage, warum das Gerechtsein für Platon als ein unmittelbar erstrebenswertes Gut begründet werden muss, Stemmer 1988, S. 554–559 u. unten Kap. 1.3.3 u. 1.3.4. 126 Vgl. z. B. Grg. 466e–467a.

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1.2 Das Verhältnis von ἀρετή und τέχνη

bzw. tugendhafte Verrichtung einer Tätigkeit erweist«.127 Durch ihren Erkenntnis- und Wissenshorizont sind das Streben nach der Arete und das εὖ πράττειν auf ein Ziel ausgerichtet und doch zugleich Zweck an sich selbst. Der wissende Vollzug des Gutseins ist das Ergon der Arete: Praxis und Wissen der Tugend verbleiben in der platonischen Philosophie in einem unaufhebbaren Spannungsverhältnis; sie dür­ fen nicht unabhängig voneinander gedacht werden. In Anbetracht der Durchdringung von Wissen und Praxis spielt aber hinsichtlich des Vollzugs oder Werks der Arete nicht nur die in den frühen Dialogen erörterte Frage, was die Tugend ist, eine entschei­ dende Rolle, sondern es kommt auch dem Wie, der Art und Weise ihrer Ausführung, ihrer Verrichtung (ἀπεργασία) als gutes Handeln128 und zuvor noch des praktischen Vorgangs von Lernen und Bildung ein hoher Stellenwert zu. Zwar darf in Analogie zum Verhältnis von Wissensebene und Praxis die Wie-Frage im platonischen Sinne niemals abgelöst von der Was-Frage betrachtet werden; vielmehr hat letztere, wie dies auch schon im Falle der Frage der Lehrbarkeit zu beobachten war, Priorität: Von dem Was-die-Tugend-ist hängt das Wie ihrer Ausführung ab, soll diese nicht Gefahr laufen, zu einem arbiträren Tun zu werden. Dennoch kann das Wie als solches thematisiert werden. Die Antwort auf die Frage, in welcher Form ein Sich-Verstehen auf die Sache der Tugend erlernt werden kann, lautet dann aber ähnlich wie im Falle der Techne: Notwendig ist eine regelmäßige, langanhaltende und mit großer Sorgfalt vollzogene Übung. Hier gilt die Übung jedoch nicht dem Gegenstand einer Techne, sondern der Ausübende richtet die μελέτη auf sich selbst: Der Begriff der Selbstsorge (ἐπιμέλεια ἑαυτοῦ), der zum ersten Mal bei Platon in Erscheinung tritt, leitet sich aus dem älteren μελέτη ab.129 Es ist Jantzen 2005, S. 68. Vgl. Jantzen 2005, S. 67 f. 129 Vgl. Wilhelm Schmid: Selbstsorge. Zur Biographie eines Begriffs, in: Martin End­ reß (Hg.): Zur Grundlegung einer integrativen Ethik. Für Hans Krämer, Frankfurt/M. 1995b, S. 98–129, hier 98; ders.: Art. ›Selbstsorge‹, in: HWPh, Bd. 9, Basel 1995a, Sp. 528–535, hier 528; Michel Foucault: Hermeneutik des Subjekts. Vorlesung am Col­ lège de France (1981/82), aus dem Franz. von Ulrike Bokelmann, Frankfurt/M. 2004 (L’herméneutique du sujet. Cours au Collège de France, 1981–1982, Paris 2001), S. 24, 27, 114 f. Den Grundsatz der Selbstsorge führt Foucault auf Sparta zurück. Diese Regel, so Foucault, brachte hier keine intellektuelle Haltung zum Ausdruck, sondern stellte vielmehr ein politisches und materielles Standesprivileg dar: Der spartanische Aristokrat überlässt die Feldbestellung den Heloten, um sich um sich selbst zu küm­ 127

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eine übende, achtsame Tätigkeit, die sich auf die Seele bezieht und auf dem Streben nach Tugend basiert: Sich um die Seele zu sorgen (ἐπιμελεῖσθαι τῆς ψυχῆς) sowie um Einsicht und Wahrheit, darauf bedacht zu sein und darüber nachzudenken, so betont Sokrates in der Apologie, ist mit der Frage, ob jemand Tugend besitzt, unmittelbar verbunden (vgl. 29d–30b). Die von Sokrates artikulierte Selbstsorge lenkt die Aufmerksam­ keit auf die Frage des Wie: Auf welche Weise vermag ein Lernender das Sich-Einstellen von Tugend zusammen mit einem sokratischen Pädagogen zu üben? Wie kann er seine Seele pflegen und wie ist die Tugend zu verwirklichen? Muss ein Lernender auch in diesem Zusam­ menhang, wie im Falle der Techne, eine Art ›praktischen Sinn‹ für die Tugend und für die Kunst des guten Lebens entwickeln? Sokrates charakterisiert am Ende der Apologie sein Verständnis von Lernen: Es sei »dieses das größte Gut für den Menschen«, so unterstreicht er, »täglich über die Tugend zu reden und über die anderen Dinge, über welche ihr mich unterreden und mich selbst und andere prüfen hört, ein Leben ohne Prüfung aber ist dem Menschen nicht lebenswert«.130 Das größte Gut für den Menschen sei es, so heißt es wörtlich im Text, »täglich Reden oder Worte über die Arete hervorzubringen« (38a3). Damit kennzeichnet Sokrates eine Übung, die den Logos und das Sprechen selbst in den Fokus rückt. Die übende Tätigkeit besteht offensichtlich darin, Vorstellungen und Gedanken zur Sprache zu bringen, dem Logos in seiner immanenten Verbindung von Denken und Sprache gerecht zu werden, sich auf ein nachdenkendes Sprechen oder sprechendes Nachdenken einzulassen, die mündliche Sprache in einer sinnvollen Weise zu trainieren. Das erste wesentliche Moment dieser Übung besteht also im regelmäßigen Sich-Artikulieren: Es geht nicht um eine mehr oder weniger zufällige Unterhaltung, auch ist der Gegenstand nicht belie­ big, sondern der Sprechende muss sich immer wieder auf die Frage der Arete konzentrieren und sich in dieser Hinsicht disziplinieren. Bemüht sich ein Lernender darum, dann impliziert das Hervorbringen mern (vgl. ebd., S. 53 f.; Foucault beruft sich hierbei auf Plutarch, vgl. S. 64, Anm. 8). In philosophischer Hinsicht wird die pythagoreische Herkunft des Motivs der Selbst­ sorge unterstrichen (vgl. ebd., S. 34 f. u. 72 ff.; Schmid 1995b, S. 98). 130 τυγχάνει μέγιστου ἀγαθὸν ὂν ἀνθρώπῳ τοῦτο, ἑκάστης ἡμέρας περὶ ἀρετῆς τοὺς λόγους ποιεῖσθαι καὶ τῶν ἄλλων περὶ ὧν ὑμεῖς ἐμοῦ ἀκούετε διαλεγομένου καὶ ἐμαυτὸν καὶ ἄλλους ἐξετάζοντος, ὁ δέ ἀνεξέταστος βίος οὐ βιωτὸς ἀνθρώπῳ (Ap. 38a2–6).

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von Gedanken auch das Moment der Freude: Die mündliche Rede selbst erzeugt dann einen anregenden, lebendigen Rahmen. Mit dem Disziplinierungs- und Motivationsmoment hängt auch der zweite zentrale Aspekt dieser Übung zusammen: das Zwiegespräch mit dem anderen (oder auch mit sich selbst). Durch dieses wird die anspor­ nende und ermunternde Atmosphäre erst geschaffen. Die zum Aus­ druck kommenden Gedanken werden hinterfragt, getestet, geprüft und in dieser Gestalt auch immer wieder auf den Sprecher zurück­ gespiegelt. Der dritte Gesichtspunkt berührt die Frage des Habituel­ len. Der sprechend-übende Vollzug schließt als eine regelmäßige, sich wiederholende Tätigkeit einerseits ein habituelles Moment ein: Wie im Falle der Techne bedeutet der übend-erlernende Umgang eine Gewöhnung an die Sache selbst. Die Gewöhnung ist einerseits erforderlich; andererseits geht das übende Sprechen aber notwendig über den habituellen Aspekt hinaus: Nur die herkömmliche oder landläufige Tugend, so heißt es im Phaidon, entstehe »allein aus Gewöhnung und Übung, jedoch ohne Philosophie und Vernunft«131. Das Frühwerk ist vorwiegend dadurch geprägt, dass Sokrates seine Gesprächspartner zu der von ihm in der Apologie skizzierten Übung auf- und herausfordert. Grundlage des sokratisch verstande­ nen Lernens ist also die Übung darin, Vorstellungen und Gedanken in vernünftiger Form zur Sprache zu bringen, sie zu explizieren und korrigieren, zu konkretisieren und präzisieren. Den Rahmen bilden die sokratische Elenktik und die damit verbundene Auffor­ derung zur Rechenschaftsgabe:132 Das übende Sprechen über die Tugend soll argumentativ und begründend erfolgen. Zugleich zielt der Prozess nicht nur auf eine konsistente Meinungsbildung.133 Die Artikulation der eigenen, zumeist konventionellen Überzeugungen soll im Procedere der Rechenschaftsgabe in ein kritisches Nachdenken und Überlegen, in den reflexiven Vollzug, der sich im Menon (vgl. 131 ἐξ ἔθους τε καὶ μελέτης γεγονυῖαν ἄνευ φιλοσοφίας τε καὶ νοῦ (Phd. 82b2–3). Die Rede ist hier von der gewöhnlichen, »allgemein anerkannten und bürgerlichen Tugend« (τὴν δημοτικὴν καὶ πολιτικὴν ἀρετήν, 82a12–b1), die bestimmten eingeübten Verhaltensmustern entspricht. Vgl. dazu auch Wieland 1999, S. 192. 132 Die logisch-argumentative Gestalt des λόγον διδόναι wurde in der Forschungsli­ teratur oft diskutiert. Vgl. dazu unten Kap. 2.1. Sie steht in dieser Arbeit, wie in der Einleitung dargelegt, nicht im Vordergrund. 133 Vgl. auch Schmid 1995b, S. 102: Die Selbstsorge sei eng mit der Rechenschafts­ gabe verbunden; zugleich diene das sokratische Gespräch »nicht der letzten Klärung eines Sachverhalts, sondern der Sensibilisierung, um den eigenen Weg bewußter und klüger gehen zu können«.

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97d–98a) mit dem Bild des seelischen Bandes andeutete, münden, wobei das prüfende Fragen und Kommentieren des anderen, seine hinterfragende Spiegelung des Gesagten, nicht nur den Meinungsund Wissensstatus beleuchten, sondern insbesondere auch ein selbst­ reflexives Moment, ein Gewahrwerden des eigenen seelischen Status hinsichtlich der Arete, aktivieren und fördern soll. Das praktische Wissen im Kontext der Techne wurde oben als eine Art Verschmelzung von theoretischen Regeln und praktischer Handhabung charakterisiert; im Fokus stand das Knowing How eines Technites. Auch im Falle der Arete durchdringen sich Wissen und Praxis und auch hier wird innerhalb des Bildungsrahmens die Praxis als aufmerksame übende Tätigkeit kenntlich, die sich nun aber auf das Nachdenken und Sprechen bezieht: Im Zentrum der Übung stehen hier die Momente von Reflexion und Selbstreflexion. Damit kommt eine Wissensform in den Blick, die sich auf die infrage stehende Sache, nämlich die Tugend, nicht nur als auf ein Wissensobjekt bezieht, sondern die stets auch den Lernenden selbst einbegreift. Vor diesem Hintergrund zeigt sich eine weitere Analogie von Techne und Arete: Ähnlich wie das Knowing How und das praktische Wissen eines Tech­ nites von diesem nicht zu trennen sind, sondern ihn vielmehr selbst etwa als Handwerker ausmachen, so ist auch das praktische Wissen der Tugend notwendig an den danach Strebenden gebunden.134 In beiden Fällen wird das praktische Wissen durch und über die Übung vermittelt und ebenso die Bindung dieses Wissens an den Wissenden durch diese Form des Lernens intensiviert.135 Die Art und Weise und das Ausmaß dieser Art einer Wissensidentifikation sind im Falle von Techne und Arete aber deutlich verschieden, erwächst das praktische Wissen im Rahmen der Tugendbildung doch vornehmlich aus der seelischen, ›inneren‹ Tätigkeit: Zeichnet sich das praktische Wissen der Techne durch das Ineinandergreifen des kognitiv verstandenen theoretischen Wissens und des praktischen Umgangs aus, so kommt hinsichtlich der Tugend die seelisch reflexive und selbstreflexive Vgl. dazu Wieland 1999, S. 254 u. 260; Jantzen 2005, S. 68 f. In diesem Zusammenhang wird auch kenntlich, dass das Techne-Wissen nicht nur in einer gleichsam gegenständlichen Form lehrbar, sondern dass die durch den Lehrer geleitete sachliche Übung auch hier unverzichtbar ist. Berücksichtigt man diese Perspektive, dann übt Platon in Bezug auf die Sophistik nicht nur Kritik an der Gleichsetzung von Tugend- und Techne-Wissen und an einem gegenständlichen Wissensbegriff der Arete, sondern in gewisser Hinsicht auch an einem reduzier­ ten Techne-Begriff. 134

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Tätigkeit nicht nur hinzu, sondern sie bildet hier gleichsam die Vo­ raussetzung. In gewisser Weise ist diese Art der seelischen Tätigkeit das ›Handwerkszeug‹ des praktischen Wissens der Arete; sie steht im Blickpunkt des sokratisch verstandenen Lernens. Die von Sokrates akzentuierte und als Selbstsorge kenntlich wer­ dende Übung ist als dynamische Arbeit an sich selbst zu verstehen; ihr zugrunde liegt die Frage, unter welchen Voraussetzungen sich die seelische Haltung eines Lernenden zu verändern vermag. Der Begriff der Praxis bezieht sich in diesem Rahmen weniger auf ein solches Konzept ethisch guten Handelns, das ein weitgehendes Einsehen der Tugend schon voraussetzt, sondern vielmehr auf den Prozess von Lernen und Bildung, der auf die Arete als seelische Haltung, durch welche sich ein tugendgemäßes Handeln verwirklichen kann, hinzielt. Überdies zeigte sich, dass auch hinsichtlich der Arete nicht nur eine Abhängigkeit der Praxis von der Wissensebene zu beobachten ist: Für die Tugenderkenntnis als Prozess spielt die übende Praxis eine zentrale Rolle. In diesem Rahmen des übenden Erwerbs von Tugend und Tugendwissen wurden analoge Perspektiven von Tugend und Techne sichtbar. Deutlich wurde aber erneut, dass das Wissen von Tugend und Techne selbst, auch in praktischer Hinsicht, nicht mehr vergleichbar ist. Das antike Konzept der Selbstsorge (ἐπιμέλεια ἑαυτοῦ, cura sui) erfuhr vor allem durch die Studien von Foucault in den 1980er Jahren eine neue Aktualität.136 Foucault geht in seinen Analysen, die er, im Ausgang von Sokrates, auf eine weite Zeitspanne der abendländischen Antike richtet137 und welche er, wie er selbst sagt, den »Beziehungen von Subjekt und Wahrheit«138 widmet, von einer zentralen These aus, die er mit dem Begriff der »Spiritualität« (spiritualité) umschreibt:139 136 Vgl. Foucault (1981/82) 2004. Die folgenden Ausführungen nehmen auf die Vor­ lesungen vom 6. und 13. Januar 1982 Bezug, vgl. ebd., S. 15–110. Auch Michel Fou­ cault: Freiheit und Selbstsorge. Gespräch mit Michel Foucault am 20. Januar 1984, in: ders.: Freiheit und Selbstsorge. Interview 1984 und Vorlesung 1982, hg. von Helmut Becker et al., eingel. und übers. von Helmut Becker und Lothar Wolfstetter, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1993, S. 9–28. 137 Nämlich auf philosophische Denkansätze zwischen dem 5. Jh. v. Chr. und dem 4. bis 5. Jh. n. Chr. In diesem Zeitraum habe die Selbstsorge als eine Art Grundhaltung für die meisten philosophischen Richtungen eine zentrale Rolle gespielt. Vgl. Foucault (1981/82) 2004, S. 24 ff. 138 Foucault (1981/82) 2004, S. 16. 139 Bokelmann überträgt den Begriff spiritualité mit »Geistigkeit«: Vgl. Foucault (1981/82) 2004, S. 25, Anm. der Übersetzerin.

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Danach gilt für das antike Denken durch unterschiedliche Epochen und Entwicklungen hindurch, dass das »Subjekt als solches« nur dann Zugang zur Wahrheit zu erlangen vermag, wenn es sich wandelt und läutert, wenn es »an sich selbst die notwendigen Veränderungen vollzieht« und in gewisser Weise ein anderes wird, denn vorauszu­ setzen sei hinsichtlich der antiken Philosophie, »daß die Wahrheit dem Subjekt nicht durch einen einfachen Erkenntnisakt gegeben ist«, sondern ein Zugang zur Wahrheit nur dann möglich wird, wenn »das Sein des Subjekts« beteiligt und in den Prozess der Suche einbezogen ist.140 Der Terminus spiritualité, der diesen Bewegungen Ausdruck verleiht, umfasst für Foucault deshalb all jene Praktiken und Techniken einer Transformation oder Konversion, durch welche ›das Subjekt‹ in den Zustand gelange, Einsicht in Wahrheit, die ihrerseits für Glück und Seelenruhe stehe, gewinnen zu können.141 Das Konzept der Selbstsorge beruht Foucault zufolge generell auf diesen Prämissen. Als Begriff bleibe die Selbstsorge die ganze antike Zeit hindurch präsent, unterliege aber freilich, wie die Praktiken und Techniken auch, grundlegenden Wandlungen.142 Dennoch seien drei allgemeine, gleichsam zeitinvariante Aspekte herauszustreichen: Danach beschreibt die Sorge um sich selbst erstens eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein, d. h. eine Haltung, die sich zugleich auf sich selbst, den Anderen und die Welt beziehe. Zweitens gründe 140 Vgl. Foucault (1981/82) 2004, S. 32, alle Zitate ebd. Foucaults Verwendung des Subjektbegriffes auch im Hinblick auf die Antike hängt mit seinen Analysen des Begriffs der Macht zusammen: Im Blickpunkt stehen für ihn Fragen der Subjektivie­ rung, der Subjektwerdung, der Konstitution des Subjekts unter je spezifischen poli­ tischen und institutionellen Konstellationen und Machtbeziehungen einerseits, ande­ rerseits aber auch durch Praktiken des Selbst. Vgl. dazu Foucault (1984) 1993; ders.: Warum ich die Macht untersuche: Die Frage des Subjekts, in: Hubert L. Dreyfus, Paul Rabinow (Hg.): Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, mit einem Nachw. von und einem Interview mit Michel Foucault, aus dem Amerik. von Claus Rath und Ulrich Raulff, 2. Aufl., Weinheim 1994, S. 243–250. 141 Vgl. Foucault (1981/82) 2004, S. 33 ff. Unter neuzeitlichen Bedingungen würden sich die Vorzeichen hingegen umkehren: »[D]ie moderne Epoche der Beziehungen von Subjekt und Wahrheit«, so Foucault, beginne an dem Tag, »an dem wir voraus­ setzen, daß das Subjekt, so wie es ist, der Wahrheit fähig ist, daß aber die Wahrheit, so wie sie ist, das Subjekt nicht länger retten kann« (ebd., S. 37). 142 Von der sokratischen Form einer philosophischen Haltung und Übung über die verschiedenen Ausprägungen der Selbstpflege und Selbstkultur im Hellenismus und in der römischen Philosophie bis hin zur spätantiken christlichen Askese werde die Selbstsorge in einer immer wieder sich verändernden Gestalt kenntlich. Vgl. Foucault (1981/82) 2004, S. 24–28; auch Schmid 1995b, S. 100 u. 103 ff.

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die Selbstsorge in einer Aufmerksamkeit, die dazu führe, den Blick von Äußerem auf sich selbst umzukehren. Schließlich würden zur Selbstsorge drittens solche Übungen und Handlungen gehören, die man auf sich selbst richte, durch die man sich verändere und kläre.143 Die Annahmen, die Foucault seinen Auslegungen der antiken Texte vorausschickt, können auch als eine Art Matrix im Hinblick auf den platonischen Begriff der Selbstsorge verwendet werden. So spielt bei Platon das ›Sein des Subjekts‹ eine maßgebliche Rolle für die Erkenntnis- und Wahrheitssuche: Die Seele muss erst eine bestimmte Haltung gewinnen, bevor sie imstande ist, den philoso­ phischen Erkenntnisweg, der auf Wahrheit und die Idee des Guten zielt, konkret zu beschreiten. Platon beschreibt das Erlangen einer solchen Haltung als Wandlung, als seelische Umkehr: Diese kommt als περιαγωγή im Höhlengleichnis (vgl. R. VII 518d), andernorts als Ziel ›kurativer Behandlungen‹ der Seele oder als eine im Kon­ text des platonischen Eros-Konzeptes sich vollziehende Veränderung zum Ausdruck. In unserem Zusammenhang zeigte sich oben die als Selbstsorge gedeutete sokratische Übung als Bildungsprozess, der auf die Umkehr hinführen soll: Vermittelt über konventionelle Meinungen über die Tugend und mithilfe des sokratischen ›Lehrers‹ sollen die Reflexion auf Gedanken und Vorstellungen und gleichzeitig der Rückblick auf sich selbst, auf den eigenen seelischen Status, den Wandlungsprozess einleiten. Der Lernende muss sich hierbei im Verhältnis zu sich selbst, zum Anderen und zur Welt in seiner Haltung positionieren. Die Frage seelischer Umkehr und seelischen Wandels ist eng mit dem sokratischen Konzept von Selbsterkenntnis, mit dem Motiv der Seelentherapie und mit Platons Konzeptionen der Seele und des Eros verbunden. In diesen Zusammenhängen wird das selbst­ reflexive Moment erneut in den Fokus rücken und im Hinblick auf seine seelenverändernde Wirkung in seinen verschiedenen Aspekten diskutiert und vertieft werden.144 Foucault selbst hebt mit seinen Ausführungen bei Platon an. In Rekurs auf die Figur des Sokrates in der Apologie und im platonischen Frühwerk formuliert er eine weitere Grundannahme seiner Studien. Das delphische ›Erkenne dich selbst!‹ (γνῶθι σαυτόν), das Sokrates Vgl. Foucault (1981/82) 2004, S. 26 f. Vgl. dazu bes. unten Kap. 2.2.2, 4.3, 5.3.3 u. 5.3.4; zunächst wird dieses Moment auch hinsichtlich der Frage nach der menschlichen Motivation wieder aufgegriffen werden, vgl. unten Kap. 1.3.1. 143

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in sein philosophisches Denken integriert, müsse in einem unterge­ ordneten Verhältnis zur Selbstsorge gesehen werden: Diese bilde das Fundament, welches das delphische Gebot erst rechtfertige.145 Mit dieser Feststellung zielt Foucault auch auf eine Kritik an neuzeitlichen Lesarten und Denkrichtungen: Moderne philosophische Interpreten hätten das ›Erkenne dich selbst!‹ als eine Art begründendes Prinzip in den Vordergrund gerückt, während sie zugleich der Selbstsorge nicht den Platz einräumten, der diesem Konzept im antiken Denken gebührte.146 Im Kontext der sokratisch-platonischen Philosophie ist die von Foucault akzentuierte Priorität der Sorge um sich selbst gegenüber dem delphischen Gebot und der sokratischen Aufforde­ rung zur Selbsterkenntnis allerdings mit Vorsicht zu betrachten. Zum einen lässt der delphische Spruch im Horizont seiner traditio­ nellen Herkunft selbst kathartische Aspekte erkennen, die Sokrates in seinen Bezugnahmen auf den Spruch aufgreift. Zum anderen ist die sokratisch verstandene Selbsterkenntnis zwar gewissermaßen als Bestandteil des Selbstsorge-Konzepts zu begreifen; zugleich aber bildet das Streben nach Selbsterkenntnis Grundlage und Ziel dessel­ ben. Sokratische Selbsterkenntnis und sokratische Selbstsorge sind eng assoziiert; sie sind als gleichrangige, in enger wechselseitiger Verbindung stehende Konzepte zu verstehen.147 Insgesamt macht Foucaults Ansatz aber deutlich, dass auch bei Platon Erkenntnis und Wissen nicht ohne die Frage seelischer Veränderung, die Wahr­ heitssuche nicht ohne die Frage der Lebenshaltung gedacht werden können. In diesen Verbindungen gründet aber der platonische Begriff seelischer Bildung. Vgl. Foucault (1981/82) 2004, S. 19–23, bes. 19 u. 23. Vgl. Foucault (1981/82) 2004, S. 28–32. Den Grund dafür erkennt Foucault vor allem in dem (stellvertretend aufzufassenden) »cartesianischen Moment«, durch wel­ chen der delphische Spruch »philosophisch rehabilitiert«, die Sorge um sich selbst aber »disqualifiziert« wurde (vgl. ebd., S. 31, alle Zitate); auch ebd., S. 46 ff.: Die Abkop­ pelung des erkennenden Subjekts von der Notwendigkeit einer ›spirituellen‹ Arbeit an sich selbst habe sich allerdings schon lange vor dem 17. Jh. angebahnt. Zugleich sei aber die Anforderung an das Sein des Subjekts hinsichtlich der Erkenntnis nicht ver­ schwunden, sondern habe bei späteren Denkern, vor allem im 19. Jh., wieder an Bedeutung gewonnen. 147 An späterer Stelle spricht Foucault in Bezug auf den Alkibiades I selbst von einer engen Verschränkung beider Konzeptionen; Platon lasse dem ›Erkenne dich selbst!‹ hier eine wesentliche Rolle zukommen. Vgl. Foucault (1981/82) 2004, S. 95–97. – Zum delphischen Spruch und zur sokratischen Gestalt der Selbsterkenntnis in der Apologie vgl. unten Kap. 2.2. 145

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Ähnlich wie die Arete, die es als seelischen Zustand zu erlangen gilt, ist auch die sokratische Selbstsorge als ethisch-politisches Kon­ zept aufzufassen: Die Sorge um sich selbst betrifft stets das Zusam­ menleben in der Polis; sie ist im gleichen Zuge eine Sorge um seiner selbst wie um der Polis willen.148 Hervorgehoben wird die politische Ausrichtung der Selbstsorge im Alkibiades I:149 Sokrates führt seinen jungen Gesprächspartner, der eine Führungsrolle bzw. Machtposition in der Polis erstrebt und begehrt (vgl. Alc. I 104e–106c), zu dem Zugeständnis, dass die Grundlage jedes politischen Handelns und Führens die Sorge um sich selbst sein muss (vgl. 127d–e). Den Kontext bilden das für die sokratischen Dialoge charakteristische vermeintli­ che Wissen des Gesprächspartners (vgl. 106c–118b, 124b–127d), damit zusammenhängend die Frage bzw. kritische Beleuchtung der herkömmlichen Paideia (vgl. 118b–124b), auch die Betonung, dass die Selbstsorge nicht zu spät einsetzen darf, der sokratische Pädagoge folglich den richtigen Zeitpunkt erkennen muss, um einen jungen Mann darauf hinzulenken (vgl. 127d–e).150 Die Besonderheit des Alkibiades I besteht aber vor allem darin, dass im zweiten Teil des Dialogs (vgl. 127d ff.) die Frage des Selbst, auf das sich die Sorge rich­ ten soll (τὸ ἑαυτοῦ ἐπιμελεῖσθαι, 127e9), in spezifischer Form thema­ tisiert wird: Es sei dasjenige in uns, so erläutert Sokrates, welches sich der Sprache, des Körpers und seiner Teile bediene, nämlich die Seele (vgl. 129b–130e). In Analogie zum Handwerker und seinem Werk­ zeug als einem Verhältnis von Gebrauchendem und dem, was er gebraucht, charakterisiert Sokrates in dieser Passage mithilfe des Ver­ bes χρῆσθαι das Verhältnis von Seele und Körper bzw. das Verhältnis

Vgl. Ap. 29d ff.; dazu Schmid 1995b, S. 98 f. Das Werk wird zumeist wieder als echter Dialog Platons angesehen. Vgl. dazu Julia Annas: Self-knowledge in Early Plato, in: Dominic J. O’Meara (ed.): Platonic Investigations, Washington D.C. 1985, S. 111–138; Christian Pietsch: »Im Blick auf den Gott erkennen wir uns selbst«. Zu Platons Verständnis von Personalität im Alci­ biades maior, in: Alexander Arweiler, Melanie Möller (Hg.): Vom Selbst-Verständnis in Antike und Neuzeit. Notions of the Self in Antiquity and Beyond, Berlin/New York 2008, S. 343–357, hier 343, Anm. 1 mit weiteren Literaturangaben; auch Erler 2007, S. 290 f. 150 Vgl. dazu Foucault (1981/82) 2004, S. 54–63, 66–69, 85 f. Foucault hebt diesen Zeitpunkt als kritische Phase des Übergangs in das Erwachsenenleben besonders her­ vor. In seiner Behandlung der sokratisch-platonischen Selbstsorge bezieht sich Fou­ cault hauptsächlich auf Alkibiades I. 148

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der Seele zu allem, was sie gebraucht und auf das sie sich bezieht.151 Mittels der Beispiele scheidet Sokrates die Seele nicht nur vom Körper und allen Dingen und Werkzeugen, die sie umgeben, sondern er dif­ ferenziert gewissermaßen auch die Seele und ihre Bezüge zum Körper und zur Welt, um damit ihre exzeptionelle Stellung zu unterstreichen: Von der Seele resp. unserem Selbst geht danach jegliche Handlung und Steuerung, jeder Gebrauch und dessen Lenkung notwendig aus. Gerade deshalb muss sich die Selbstsorge in Form der sie selbst begründenden Rückbezüglichkeit – vermittelt über den Anderen, die Welt und den Ausblick auf das Ziel des Guten – auf dieses Selbst als Grundlage des Handelns richten. Der Vergleich mit dem Handwerker zielt auf die Frage des angemessenen und richtigen Umgangs mit allen uns betreffenden, gerade auch den politischen Pragmata. Ein adäqua­ tes politisches Handeln setzt aber eine bestimmte Haltung zu sich selbst voraus, das Führen anderer impliziert die richtige Führung sei­ ner selbst. Schließlich bleibt die Frage, ob das sokratische Selbstsorgekon­ zept auch leibliche Aspekte integriert. Im Falle der Techne wurde oben von einem ›verleiblichten Wissen‹ gesprochen, insofern die Hand­ habungen oftmals eine geschulte Sensibilität und Wahrnehmung voraussetzen. Bedürfen auch die Übungen im Sinne der Arete einer Art leiblichen Schulung und zielt überdies die Selbstsorge nicht nur auf eine gesunde Seele, sondern auch auf einen gesunden Leib?152 Im Alkibiades I scheint allein die Seele im Fokus der Selbstsorge zu stehen (vgl. 131a–132b). Auch kritisiert Sokrates häufig das landläufig in den Vordergrund gerückte Bemühen um materielle und körperliche 151 Vgl. dazu Foucault (1981/82) 2004, S. 79–86, bes. 81–84; vgl. auch zum Folgen­ den ebd.; dazu auch Pietsch 2008, S. 345–347. – Auf die Frage des Selbst und auf die für den Alkibiades I elementare Frage der Selbsterkenntnis (vgl. 132b ff.) wird an spä­ teren Stellen zurückzukommen sein. 152 Möchte man die Begriffe ›Körper‹ und ›Leib‹ im Hinblick auf Platon unterschei­ den, dann kann der Leib nicht unabhängig von der Seele gedacht werden. Pietsch (2008) spricht von »der leiblichen Existenz eines Menschen« (ebd., S. 347): Sie bilde für Platon »die unterste […] Ausformung des Selbst« und gründe in der Seele, die als »Organisationsprinzip des Körpers« fungiere (vgl. S. 349, beide Zitate ebd.). Das Leibliche repräsentiert dann den körperlich-sinnlichen Bereich, insofern er an den seelischen Bereich gebunden ist; zugleich stellt es ein Sensorium zur Welt dar. – In der modernen Philosophie ist der Ausdruck ›Leib‹ besonders durch die Phänomeno­ logie geprägt, die den Zusammenhang von Körper und Bewusstsein ins Zentrum rückt. Vgl. etwa Bernhard Waldenfels: Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phäno­ menologie des Leibes, hg. von Regula Giuliani, Frankfurt/M. 2000.

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1.2 Das Verhältnis von ἀρετή und τέχνη

Güter (vgl. Ap. 29d–30b): Auf die Erlangung dieser Güter sei die Selbstsorge nicht zu richten. Andererseits bedeutet aber der Sachver­ halt, dass materielle und somatische Belange keinen Vorrang erhalten bzw. menschliche Bemühungen sich nicht an erster Stelle darauf richten sollen, nicht, dass das Leibliche zu vernachlässigen wäre. Die Ausrichtung auf die Seele behält Priorität. Zugleich sind aber etwa die oben genannten, die sokratische Übung kennzeichnenden Aspekte der Disziplinierung und Motivation nicht unabhängig von einem leiblichen Moment zu denken. In gewisser Weise scheinen leibliche Aspekte einbezogen zu werden. Auch in dieser Hinsicht werden die späteren Erörterungen der Seelentherapie und von Platons Konzeptionen der Seele weitere Aufschlüsse geben. Inwiefern in platonischem Kontext von einem Training leiblicher und ästhetisch-sinnlicher Aspekte gesprochen werden kann, zeigt das Erziehungsprogramm der Politeia (Buch II u. III). Die musische und leibliche Erziehung der Wächter und Kinder in Form von Dichtung, Musik und Gymnastik (vgl. R. 376c–412b) wird in der Forschungsli­ teratur oftmals als eine Bildungsphase gedeutet, in welcher positiv bewertete Emotions- und Verhaltensmuster in habitueller Form trai­ niert und auf dieser Basis ethische und politische Normen internali­ siert werden sollen.153 In Anspielung auf das Bild des säenden Land­ manns im Phaidros (vgl. 276b ff.) wird von einer Kultivierung der Seele gesprochen, die einen ›fruchtbaren Boden‹ für die philoso­ phisch-dialektische Bildung bereiten soll.154 In anderer Hinsicht wird die leibliche Bildung in der Politeia nur als frühes Stadium der Paideia dargestellt (vgl. R. VI 498b): So heißt es, dass Kinder und junge Män­ ner sich mit einer ihnen gemäßen Bildung und Philosophie beschäf­ tigen und hierbei auch für ihren Leib größte Sorge tragen sollen, werde damit doch eine tragfähige Grundlage für die Philosophie geschaf­ fen.155 Im Erwachsenenalter gelte es aber, sich auf den seelisch-geis­ tigen Übungsplätzen anzustrengen und es dort auszuhalten. Mit 153 Vgl. Christopher Gill: Plato and the Education of Character, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 67 (1985), S. 1–26; auch Julia Annas: An Introduction to Plato’s Republic, Oxford 1981, S. 79 ff. 154 Vgl. Jan Szaif: Plato on the »cultivation of the soul« through philosophical knowl­ edge, in: Wolfgang Detel, Alexander Becker, Peter Scholz (Hg.): Ideal and Culture of Knowledge in Plato, Akten der 4. Tagung der Karl-und-Gertrud-Abel-Stiftung vom 1.-3. Sept. 2000 in Frankfurt, Stuttgart 2003, S. 25–35, hier 26 ff. Vgl. dazu auch Aristoteles: EN X 10, 1179b16–26. 155 Vgl. zu dieser Textstelle auch Schmid 1995b, S. 102 f.: Zu der Selbstsorge, die Pla­ ton hier für Heranwachsende beschreibe, »gehören diätetische Fragen und Fragen des

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1. Menschliche und politische Tugend

jedem Bildungsfortschritt muss danach das geistig-vernünftige Moment notwendig an Dominanz gewinnen, will ein Mensch nicht in der ›jugendlichen Phase‹ des Denkens und Handelns verbleiben. Allerdings sind in der Politeia die musisch-leibliche Erziehung und die philosophisch-intellektuelle Bildung (Buch VI u. VII) auch nicht strikt voneinander zu trennen. Bis zu einem gewissen Grad zeigt sich eine Korrelation: In beiden Bildungsphasen, so betont Gill, sei, in unterschiedlicher Gewichtung, die ganze dreiteilige Seele, wie sie in der Politeia dargestellt werde, involviert; auch in der ersten Phase würden vernünftige Zusammenhänge, hier als Überzeugun­ gen, geschult.156 Zugleich dürfen die Einflüsse des Musischen auf die Ausgewogenheit der Seele als von lebenslangem Wert erachtet werden: »The beneficial effects of mousike on the balance of our character-tendencies […] have to be sought after not only during childhood. The mature philosophical personality is still in need of them because, as Plato puts it, only ›logos mixed with mousike‹ can preserve arete for a whole lifetime (Rep. 549b).«157

1.3 Die Frage nach dem guten Leben »Ob aber die Gerechten auch besser leben als die Ungerechten und glücklicher sind, welches wir uns ferner vorgenommen haben zu betrachten, das müssen wir noch prüfen. […] Denn es ist nicht von etwas Belanglosem die Rede, sondern davon, auf welche Weise man leben soll.«158 Die Frage, wie man leben soll, wie ein gutes Leben gelingen kann, ist nicht nur mit der menschlichen und politi­ schen Arete unmittelbar verschränkt, sondern sie begründet auch im Wesentlichen die sokratisch-platonische Philosophie, bildet weit­ hin »den Resonanzboden«159 des platonischen Werkes. Platon folgt Umgangs mit den Lüsten […], welches Maß in allem angebracht ist, welche Übungen hierfür sinnvoll sind«. 156 Vgl. Christopher Gill: Plato’s Republic: An Ideal Culture of Knowledge, in: Wolf­ gang Detel, Alexander Becker, Peter Scholz (Hg.): Ideal and Culture of Knowledge in Plato, Stuttgart 2003, S. 37–55, hier 43 ff. 157 Szaif 2003, S. 30. 158 εἰ δὲ καὶ ἄμεινον ζῶσιν οἱ δίκαιοι τῶν ἀδίκων καὶ εὐδαιμονέστεροι εἰσιν, ὅπερ τὸ ὕστερον προυθέμεθα σκέψασθαι, σκεπτέον. […] οὐ γὰρ περὶ τοῦ ἐπιτυχόντος ὁ λόγος, ἀλλὰ περὶ τοῦ ὅντινα τρόπον χρὴ ζῆν. (R. I 352d2–6) Vgl. auch Grg. 500c. 159 Erler 2007, S. 430.

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1.3 Die Frage nach dem guten Leben

mit der Frage nach dem guten und richtigen Leben (εὖ ζῆν) einer­ seits herkömmlicher Denkart, wonach die Frage sowohl das sittlich Angemessene als auch das Streben nach einem glücklichen Leben umschließt.160 Andererseits befindet sich Platon mit der Frage in philosophischer Tradition:161 Wenn auch in sehr unterschiedlicher Ausprägung, so bedeutet ein gutes Leben für die antiken Philosophen doch generell die Verwirklichung der εὐδαιμονία als Inbegriff eines erfüllenden, andauernden Glücks.162 Insbesondere schafft Platon eine Basis für spätere Konzeptionen des Eudämonismus, indem er die Eudaimonia als ein solches Ziel bezeichnet, mit dem jedes Fragen an ein Ende gelange: Denn weshalb jemand glücklich sein wolle, so erklärt Diotima im Symposion (vgl. 205a), müsse nicht mehr gefragt werden; vielmehr scheine es doch so, dass das Antworten hier ein Ende (τέλος) habe.163 160 Vgl. Aristoteles: EN I 2, 1095a17–20; dazu Horn 2014, S. 64 f.; auch R. I 354a1– 2; Prt. 351b ff. 161 Vorplatonisch deuten sich philosophische Konzeptionen des Glücks, die sich dadurch auszeichnen, dass nicht primär äußere Güter als maßgeblich für ein gutes Leben erachtet werden, sondern die innere menschliche Verfassung, außer bei Sokra­ tes besonders bei Demokrit, aber auch bei Heraklit und Empedokles an. Vgl. dazu Horn 2014, S. 66 u. 69; Joachim Ritter: Art. ›Glück, Glückseligkeit‹, I. Antike, in: HWPh, Bd. 3, Basel 1974, Sp. 679–691, hier 679 f. In nachplatonischer Zeit stehen bekanntlich vor allem in der hellenistischen Philosophie Glückstheorien im Vorder­ grund. Vgl. Maximilian Forschner: Über das Glück des Menschen. Aristoteles, Epikur, Stoa, Thomas von Aquin, Kant, 2., unveränd. Aufl., Darmstadt 1994, S. 22–79; auch den Sammelband von Gerhard Ernst (Hg.): Philosophie als Lebenskunst. Antike Vor­ bilder, moderne Perspektiven, Berlin 2016. 162 In den letzten Jahrzehnten wurde der Eudämonie-Begriff der antiken Denkrich­ tungen, auch der platonische, vermehrt diskutiert. Von einer weiteren Erläuterung des Begriffs wird daher abgesehen (vgl. dazu Blößner 1997, S. 20 f., Anm. 36; Forschner 1994, S. 1 ff.). Eine umfassende Diskussion der Eudaimonia und des guten Lebens im antiken Denken bietet Horn 2014, zum Begriff der Eudaimonia vgl. bes. ebd., S. 62 ff.; vgl. auch die Studie von Julia Annas: The Morality of Happiness, New York/ Oxford 1993. – Im Hinblick auf Platon vgl. Hardy 2011, bes. S. 12 ff.; auch Naomi Reshotko: Socratic Virtue. Making the Best of the Neither-Good-Nor-Bad, Cambridge u. a. 2006, S. 135–192; Gregory Vlastos: Happiness and virtue in Socrates’ moral the­ ory, in: ders.: Socrates. Ironist and Moral Philosopher, Cambridge u. a. 1991a, S. 200– 232; Stemmer 1988. 163 Vlastos (1991a, S. 203) spricht in Bezug auf diese Textstelle vom »eudämonistischen Axiom«, welches für fast alle nachfolgenden Moralphilosophen in der Antike maßgeblich geworden sei: »This is that happiness is desired by all human beings as the ultimate end (telos) of all their rational acts.« Vgl. dazu Hermann Weidemann: Kants Kritik am Eudämonismus und die Platonische Ethik, in: Kant-Studien 92 (2001), S. 19–37, hier 19 ff.; Hardy 2011, S. 12 f.; Horn 2014, S. 76 f.

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1. Menschliche und politische Tugend

Bezugnahmen auf das Glück oder Glücklichsein finden sich im platonischen Werk vielerorts, wobei Platon mit diesen Rekursen häufig an das konventionelle Selbstverständnis, wonach jeder ein glückliches Leben erstrebt, anschließt.164 Während bei nachplatoni­ schen Denkern der Begriff der Eudämonie als letzter Grund unseres Strebens oftmals im Vordergrund steht,165 ist für Platon im Hinblick auf die Frage eines glücklichen Lebens der zentrale Terminus das Gute (τὸ ἀγαθόν): Nur durch das Zuteilwerden und den Besitz des Guten, so erläutert Diotima in der genannten Passage, erlange der Mensch Glück (vgl. Smp. 204e–205a); dieses Streben und diese Liebe seien allen gemein, denn »alle wollen, dass ihnen das Gute immer ist« (πάντας τἀγαθὰ βούλεσθαι αὑτοῖς εἶναι ἀεί, 205a6–7). Folglich führt nur das Gute dazu, dass der Mensch ›einen guten Daimon hat‹ (εὐδαίμων) bzw. von diesem geleitet wird.166 Fragt man nach dem Leben als nach einem gelingenden Leben, so kann dieses für Platon allein durch das Streben nach dem Guten gewährleistet werden: Das höchste Gute resp. die Idee des Guten ist für Platon das Ziel schlechthin, es ist der Zweck allen menschlichen Wollens, Strebens und Handelns (vgl. R. VI 505a–e). Die Frage, wie man leben soll, erweist sich deshalb als die Frage danach, in welcher Form der Mensch sich an dem Guten zu orientieren, sich ihm anzunähern, es annäherungsweise in epistemischer und selbsterkennender Hinsicht zu verstehen und als Tugend in der Seele und im Handeln zu reali­ sieren vermag. Die konstitutiven Bedingungen eines solchen Weges bilden das systematische Interesse der Dialoge. Stellt man die oben so bezeichnete und sich zunächst so darstellende Unbestimmtheit des Ziels der Tugendsuche in Rechnung, dann wird deutlich, dass in den dialogischen Erörterungen die Frage der Orientierungsfindung zentral ist. Gerade deshalb sind für Platon in einem ersten Schritt die unterschiedlichen Perspektiven auf das Gute zu beleuchten und zu reflektieren. Oftmals wird εὖ πράττειν als Ausdruck des Wohlbefindens in Verbindung mit εὐδαίμων oder εὐδαιμονεῖν verwendet: »[D]ie aber gut leben und sich wohlbefinden, sind glücklich« (τοὺς δὲ εὖ πράττοντας εὐδαίμονας εἶναι, Chrm. 172a2–3); vgl. auch Chrm. 173d, 174b–c; Alc. I 116b; Euthd. 278e–279a; Grg. 507c. In den Beispielen ist teilweise die konventionelle, teilweise die philosophische Ebene angesprochen. Zum Selbstverständnis des Strebens nach Glück vgl. auch Blößner 1997, S. 20 f. 165 Vgl. dazu etwa Horn 2014, S. 78 ff. 166 Zum wörtlichen Verständnis von εὐδαιμονία vgl. Blößner 1997, S. 20, Anm. 36: »[D]ie Etymologie wird empfunden, wie das Spiel mit ihr beweist«; vgl. dazu Phd. 107d; R. X 617e; Tim. 90c. Vgl. auch Horn 2014, S. 65; Erler 2007, S. 432. 164

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1.3 Die Frage nach dem guten Leben

In der Literatur zur Frage des guten Lebens bei Platon wird oftmals weniger der Begriff des Guten als vielmehr der Begriff der Eudämonie ins Zentrum der Erörterungen gerückt.167 Vlastos erkennt in dem Glücksbegriff Platons überdies eine ausschließlich individuelle Dimension. Bezugnehmend auf die obige Textstelle des Symposion formuliert er: »Here desire for happiness is strictly self-referential: it is the agent’s desire for his own happiness and that of no one else.«168 Aber auch für andere Interpretinnen und Interpreten steht das indivi­ duelle Moment im Vordergrund. Im Hinblick auf das höchste Gute als Ziel allen Wollens und Handelns, wie Platon es versteht, ist eine Annahme, wie Vlastos sie exponiert, allerdings zu hinterfragen. Das individuelle Verständnis des Menschen spielt für Platon eine zentrale Rolle. Zugleich aber ist das Streben nach dem Guten, wie der Begriff der Arete selbst, von vornherein auch mit der politischen Dimension verschränkt, diese ist von Anfang an einbegriffen. Aber auch wenn man das Individuelle nicht unabhängig von der politischen Perspektive denkt, ist das Streben nach dem Guten darüber hinaus in Verbindung mit der überindividuellen Ebene der Ideen zu betrachten: Die Suche und das Streben nach dem Guten sind in Platons Philoso­ phie durch einen Erkenntnisaufstieg charakterisiert, der in Form der Anamnesis zugleich eine seelische ›Rückkehr‹ zu den Ideen, letztlich zur Idee des Guten impliziert. Nur unter dieser Voraussetzung aber, dass die εὐδαιμονία nicht allein individuell, sondern zugleich sowohl in ihrer politischen Dimension als auch im Zusammenhang des Aufstiegs zu den Ideen und zur Idee des Guten aufgefasst wird, lässt sich in einem platonischen Sinne formulieren, dass der Begriff des Guten und der Begriff des Glücks als übergeordnetes Ziel aller menschlichen Bestrebungen konvergieren oder – wie von Diotima dargestellt – in eins zusammenfallen.

1.3.1 Menschliches Selbstverhältnis und menschliche Motivationsstruktur Im Horizont der Frage, was das menschliche Streben und Han­ deln motiviert, konzentrieren sich die folgenden Untersuchungen zunächst auf ein von Sokrates akzentuiertes ›gewöhnliches Selbst­ 167 168

Zu den Literaturangaben vgl. oben Anm. 162. Vlastos 1991a, S. 203, Anm. 14.

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verhältnis‹. In diesem Zusammenhang rücken allerdings solche dia­ logischen Beispiele in den Blick, welche gerade die individuelle Ausrichtung auf das je eigene Glück unterstreichen. Mit diesen exemplarischen Darstellungen, so die These, reflektiert Platon nicht nur die Ebene des durch konventionelle Anschauungen geprägten Denkens und Sprechens und das auf dieser Ebene sichtbar werdende menschliche Selbstverhältnis, sondern er macht mit den Beispielen insbesondere auch auf eine spezifische Verfasstheit des Menschen aufmerksam, die für die Frage des Begehrens und Strebens grund­ legend, mithin für den Menschen existenziell ist. Im Hinblick auf die Frage des Nützlichen, so die weitere Annahme, bietet die im alltäglichen Rahmen kenntlich werdende Verbindung von Selbstver­ hältnis und Motivation eine Aussicht auf deren Zusammenhang auf philosophischer Ebene. In einigen Dialogen lenkt Sokrates die Aufmerksamkeit seiner Gesprächspartner darauf, dass es im Interesse eines jeden stehe, das Gute zu wollen: Jeder Mensch, so heißt es etwa im Menon, habe in seinem Tun und Handeln das Gute immer schon im Blick, würde das Gute begehren (τῶν ἀγαθῶν ἐπιθυμεῖν, Men. 77c1–2).169 Für den Gesprächspartner Menon ist dies nicht nachvollziehbar. Vielmehr, so vertritt er die landläufige Meinung, begehrten viele das Schlechte (τῶν κακῶν ἐπιθυμοῦσιν, 77b8), einige, weil sie glaubten, es sei gut, andere aber wohlwissend, dass es schlecht sei (vgl. 77b–d). Aus der Perspektive des in der Polis als gut und richtig Erachteten zeigen sich demnach viele als nach dem Schlechten strebend. Sokrates hingegen bringt im Weiteren nicht nur das Gute mit dem Nützlichen, das Schlechte mit dem Schädlichen in Verbindung, was auch Menons Vorstellung entspricht; mehr noch bezeichnet er das Gute und das Schlechte als dasjenige, was einem Strebenden »selbst wird« oder »selbst zuteilwird« (γενέσθαι αὐτῷ, 77c8). Damit leuchtet der Rest der Argumentation, die auch Menon überzeugt, ein (vgl. 77d–78b):170 Wenn man davon ausgeht, dass das Gute mit dem Nützlichen und das Schlechte mit dem Schädlichen einhergeht, darüber hinaus, dass niemand sich selbst freiwillig schaden möchte und sich stattdessen an dem ausrichtet, was Nutzen verspricht, dann begehrt ein jeder für sich das, was er für gut hält (vgl. auch Prt. 358c–d). In gleicher Weise, Der Plural von τὸ ἀγαθόν verweist hier freilich auf das Gute im Sinne der Güter, die konventionell als erstrebenswert erachtet werden. Vgl. auch Men. 78b–d. 170 Vgl. dazu auch Wieland 1999, S. 169 f. 169

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1.3 Die Frage nach dem guten Leben

wie man nach Diotimas Worten nicht mehr danach zu fragen braucht, weshalb jemand glücklich (εὐδαίμων) sein wolle, bedarf es nun kei­ ner weiteren Begründung dafür, dass niemand freiwillig anstrebt, unglücklich (κακοδαίμων, Men. 78a5) zu sein. Dies aber bedeute, so folgert Sokrates, dass jeder das Gute begehre und danach strebe. Mit dem Streben nach dem für sich selbst Guten und Nützli­ chen kennzeichnet Sokrates einen Vorgang, der auf der alltäglichen Ebene das Wollen und Handeln des Menschen bestimmt, und zwar unabhängig davon, ob der Wollende oder Handelnde sich über die Nützlichkeit und Gutheit seiner Ziele täuscht oder nicht, und ebenso unabhängig davon, ob er sich in jedem seiner Schritte oder überhaupt darüber bewusst ist, dass er nach dem strebt, was ihm das Nützliche zu sein scheint. Wieland fasst den Sachverhalt so zusammen: »Das Gute ist in jedem Handeln präsent, weil jedes Ziel, – wie es die spätere Tradition ausdrückt –, immer nur sub ratione boni angestrebt werden kann. Das Gute steht als solches nicht mehr zur Disposition des Handelnden. Wohl aber kann sich der Handelnde irren, und zwar sowohl über das Ziel selbst als auch über die Tauglichkeit der Mittel, das Ziel zu erreichen.«171 Ähnlich wie im Menon argumentiert Sokrates auch im Gorgias (vgl. 467e–468e), allerdings wird er hier in seinen Formulierungen deutlicher und konkreter: Dass wir tatsächlich alles »um des Guten willen« (ἕνεκα τῶν ἀγαθῶν, 468a5)172 tun, so führt Sokrates seinen Nachweis, zeige sich daran, dass sowohl die Tätigkeiten, die an sich weder als gut noch als schlecht angesehen werden, wie etwa Gehen und Stehen, als auch jene Handlungen, die eindeutig als schlecht eingestuft werden, wenn man etwa jemanden töte, vertreibe oder seines Vermögens beraube, ihre Ursache doch darin hätten, dass wir im Falle, dass wir sie tun, der Meinung sind, es sei besser, in dieser Weise tätig zu werden, als es jeweils nicht zu tun. Wir wollen diese Dinge, so Sokrates, nicht einfach schlechthin um ihrer selbst willen, sondern wir wollen sie dann, wenn wir glauben, dass sie uns nützlich sind (vgl. 468c). Mit dieser Grundthese, nach der jeder Mensch sowohl in seinen alltäglichen Verhaltensweisen und Verrichtungen, über die er in der Regel nicht nachdenkt, als auch in bewusst durchgeführten Handlungen letztlich das Gute für sich selbst Wieland 1999, S. 173. Die Wendung wird mehrfach wiederholt, hier auch mit dem Singular τοῦ ἀγαθοῦ (Grg. 468b3–4 u.b7); vgl. dazu auch Grg. 499b–500d; Euthd. 278e ff. 171

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erstrebt, wird das Augenmerk auf die beiden eingangs genannten bzw. hier zur Diskussion stehenden Momente, die Frage des menschlichen Selbstverhältnisses und die Frage der Motivation, gelenkt. In unserem Wollen, Streben und Handeln sind wir nicht nur auf Sachverhalte und Ziele, sondern auch auf uns selbst bezogen; unsere vertraut-alltäglichen, ebenso unsere absichtsvoll-gezielt vollzogenen Tätigkeiten verweisen dadurch, dass wir sie für uns selbst als nützlich und gut annehmen, auf uns selbst zurück.173 Zumeist machen wir uns diesen Selbstbezug, der über ein unausgesprochen vorausgesetztes oder über ein explizit vorgestelltes Gut vermittelt ist, nicht bewusst, wir reflektieren ihn nicht: Gekennzeichnet ist damit das – hier so bezeichnete – gewöhnliche Selbstverhältnis, das gemeinhin mit den herkömmlich anerkannten Gütern und normativen Einstellungen der Gemeinschaft korrespondiert.174 Mit Sokrates’ Akzentuierung der prinzipiellen Ausrichtung des Menschen auf das Gute im Sinne eines für ihn Nützlichen wird aber nicht nur das dem Menschen immanente Selbstverhältnis erkennbar, sondern deutlich wird auch, dass in der Korrelation beider Bezüge – auf das Gute und auf sich selbst – erst die Möglichkeitsbedingung dafür liegt, sich orientieren und entscheiden zu können: Ein Mensch wird dadurch überhaupt erst fähig, sich zu verhalten und zu handeln. Damit ist aber der erste wesentliche Aspekt benannt, der in den oben skizzierten Passagen des Menon und Gorgias zum Vorschein kommt: Das gewöhnliche, noch unreflektierte Selbst­ verhältnis, auf das Sokrates in seinen Befragungen hindeutet, ist als 173 Im Kontext der Frage nach den reflexiven Strukturen von Wissen bei Platon unterstreicht auch Wieland (1999, S. 315 f.) die über das Gute vermittelte Selbstbe­ ziehung in Wissen und Handeln: »Denn das Gute markiert […] jenen Punkt, an dem deutlich wird, wie alle Intentionen des Wollenden und des Handelnden in letzter Instanz wieder auf ihn selbst zielen.« Jedoch habe man, wie Wieland zuvor betont, »von diesen Zusammenhängen gewöhnlich kein thematisches oder differenziertes Wissen. Man kann gewöhnlich keine Rechenschaft geben über jenes Gute, das man für sich immer erstrebt« (ebd., S. 173). Vgl. auch Peter Schulz: Freundschaft und Selbstliebe bei Platon und Aristoteles. Semantische Studien zur Subjektivität und Intersubjektivität, Freiburg/München 2000, S. 19 f. 174 Vgl. dazu auch Karl 2010, S. 76–78. Um das der Reflexion vorausliegende Selbst­ verhältnis zu kennzeichnen, spricht Karl in Rekurs auf Tugendhat von einem »unmit­ telbaren praktischen« Selbstverhältnis (ebd., S. 77 f.; vgl. Ernst Tugendhat: Selbstbe­ wußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen, 5. Aufl., Frankfurt/M. 1993, S. 28–33). Der Ausdruck ›unmittelbar‹ ist m. E. in diesem Zusam­ menhang etwas irreführend, weil der von Platon gezeigte primäre Selbstbezug des Menschen – wovon auch Karl ausgeht – schon ein vermittelter ist, auch wenn er selbst nicht reflektiert wird.

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1.3 Die Frage nach dem guten Leben

konstitutives und existenzielles Moment menschlicher Verfasstheit zu begreifen. Die Disposition, sich über die Vermittlung eines als richtig erachteten Guten, ob man dieses bewusst vor Augen hat oder gleichsam unbewusst voraussetzt, auf sich selbst zu beziehen, gibt dem Menschen erst eine Orientierung; dieser Zusammenhang ist für das menschliche Dasein auf jeder Ebene elementar. Exemplarisch vorgeführt wird die Korrelation zwischen gewöhn­ lichem Selbstverhältnis und der Ausrichtung auf ein vorgestelltes Gut in den frühen Dialogen. Im Umfeld der Frage, was das Besonnen-, Tapfer-, Gerecht- oder Frommsein ist, treten in den Antworten der Gesprächspartner überwiegend diejenigen Güter und Ziele hervor, die in der Polis als erstrebenswert, als καλὸν κἀγαθόν, erachtet werden. Es sind Muster des Gutseins und des Guten, die zum einen als ›schön‹ (καλóν), d. h. (moralisch) anerkennenswert, rühmlich und ehrenhaft, zum anderen als ›gut‹ (ἀγαθόν), d. h. vorteilhaft, günstig und nützlich für denjenigen, der sie erwirbt, gelten.175 Durch Sokrates’ Gesprächsführung geraten Selbstverständnis und Selbstgewissheit eigener Vorstellungen häufig aber deshalb ins Wanken, weil der Elenchos das selbstbezügliche Moment, das durch die Frage des (tatsächlichen) Nutzens von Gütern und die daran sich ausrichtende eigene Lebensweise, oftmals auch durch eine Identifikation mit den Meinungen selbst zum Ausdruck kommt, aufleuchten lässt. Gerade in diesem Kontext weist aber der Umgang mit eigenen Annahmen und Auffassungen auf die Lernfähigkeit eines Gesprächspartners hin: Richtungsweisend für den Fortgang der sokratischen Prüfungen ist es, ob ein Gesprächspartner bei seinen Überzeugungen verharrt, seine Haltungen und Selbstverständnisse also als Gewissheit betrachtet, oder ob er fähig ist, seine Meinungen als Meinungen und nicht als Wissen und somit auch die sokratische Prüfung anzuerkennen.176 Hierfür muss er allerdings imstande sein, seine Nützlichkeit verspre­ chende Orientierung in Bezug auf sich selbst und sein eigenes Leben hinterfragen zu lassen. Es zeigt sich also auch hier, dass die sokratische Selbstsorge keine einfache Übung ist und vieles abverlangt. Vor diesem Hintergrund sind auch die im Frühwerk zuweilen illustrierten Verunsicherungen zu betrachten. Die Dialogpartner sind in der Regel mit Bedeutung und Verwendung der konventionellen 175 Vgl. zu dieser Deutung des herkömmlichen Ausdrucks καλὸν καὶ ἀγαθὸν Hardy 2011, S. 13, Anm. 5. 176 Vgl. auch Wieland 1999, S. 284 f. u. 317.

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1. Menschliche und politische Tugend

Tugendbegriffe vertraut; ihrem eigenen Selbstverständnis nach fällt es ihnen leicht, in angemessener und anerkannter Form darüber zu sprechen. In der sokratischen Befragung gerät ihre gewohnte Rede über die Tugend aber in eine Konfusion, die Dinge liegen nicht mehr klar vor ihnen. So gesteht Alkibiades im gleichnamigen Dialog, in Verwirrung geraten zu sein (vgl. Alc. I 116e ff.), er komme sich ganz und gar seltsam vor (ἀτεχνῶς ἔοικα ἀτόπως ἔχοντι, 116e3) und habe nun sogar Angst um sich selbst ([δ]έδοικα […] περὶ ἐμαυτοῦ, 117a1). Gerade hinsichtlich des Gerechten und der Frage, was wirklich nütz­ lich ist, habe er unabsichtlich Entgegengesetztes geantwortet, seine Seele irre offenbar umher (πλανᾶσθαι τὴν ψυχήν, 117b3). Auf andere Weise greifbar werden die Irritationen im Laches: Diese Art der Rede, wie Sokrates sie fordere, sei für ihn, so der Dialogpartner, unge­ wohnt (ἀήθης, La. 194a7). Er könne es aber kaum ertragen und es mache ihn wahrhaft unwillig (ἀληθῶς ἀγανακτῶ, 194a8–b1), dass er dasjenige, was er in seinen Gedanken doch habe, nicht mehr zu sagen vermöge; es sei ihm plötzlich entflohen, sodass er es nicht mehr fest­ halten und fassen könne (ἄρτι διέφυγεν, ὥστε μὴ συλλαβεῖν, 194b3). Im Menon (vgl. 80a–b) lässt der Gesprächspartner Sokrates sogar als jemanden erscheinen, der andere bezaubere und betäube. In seinem berühmten Vergleich des Sokrates mit einem Zitterrochen unter­ streicht Menon, dass Sokrates bei seinem Gegenüber Verwirrung (ἀπορία), Erstarrung und Lähmung hervorrufe (ναρκᾶν ποιεῖ, 80a7). Obwohl er schon unzählige Male Reden über die Tugend gehalten habe, so beklagt sich Menon, und, wie ihm scheine, mit gutem Zuspruch der Vielen, wisse er nicht, was Sokrates ihm nun angetan habe. Die unbekannte und ärgerlich machende Unsicherheit, die Laches hinsichtlich seines sicher geglaubten Wissens im Gespräch mit Sokrates verspürt, das jähe Entfliehen seiner Gedanken und Meinun­ gen über die Tugend, die er oft und gut zu artikulieren vermochte, der aufkommende Zweifel des Alkibiades, dass seine Seele in Wirklich­ keit nur umherirre, das Verstört- und Gelähmtsein der Seele, das Menon Sokrates vorhält – alle diese Beschreibungen kennzeichnen ein Moment des Stagnierens, der Rat- und Orientierungslosigkeit. Beleuchtet wird eine mentale Unterbrechung des Gewohnten, des Selbstverständnisses eigener Meinungen in Bezug auf das Richtige und Gute und ebenso des Bildes, das man von sich selbst hat und von dem man sich überdies wünscht, dass es auch andere von einem haben; all dies ist nun in Frage gestellt. Haben die eigenen Glaubens­

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1.3 Die Frage nach dem guten Leben

sätze ihre Festigkeit verloren, ist aber ein Punkt erreicht, der den Raum für Reflexion eröffnet. Die von Sokrates ausgelöste Irritation wird im Gespräch nicht beruhigt. Gerade deshalb kann oder könnte sie einen Lernwilligen veranlassen, die Blickrichtung zu ändern, wobei auch eine nur kurze Blickwendung die Koordinaten des vorhe­ rigen Denkens bereits ein wenig zu verschieben vermag. Die Peria­ goge, die Umkehrung des Blicks, kann dann aber als ein in kleinen Schritten sich vollziehendes, gleichsam oszillierendes inneres Ringen aufgefasst werden. Die sokratische Selbstsorge oder Übung setzt hier an: Gewohntes Terrain zu verlassen heißt in diesem Kontext, seine Denk- und Sprachebene zu reflektieren. Das Höhlengleichnis führt bildhaft vor Augen, dass die Erschütterung des Weltbildes stets auch eine Wandlung des Selbstbildes bedeutet (vgl. R. VII 515c ff., 518b– 519b). In der Politeia macht Sokrates im Vorfeld der Gleichnisse deut­ lich, dass sich hinsichtlich des Gerechten und Schönen viele mit deren Schein zufrieden geben, das Gute für den Menschen aber eine andere Stellung einnehme: »Gutes aber genügt niemandem nur scheinbares zu haben, sondern jeder sucht, was gut ist, und den Schein verachtet hierbei schon jeder.«177 Damit ist der Horizont des sokratischen Elenchos gezeichnet, gibt dieser doch letztlich stets den Impuls, zu erforschen, ob man sich in seinem Denken, Wollen und Handeln auf ein scheinbares oder ein wirkliches Gut bezieht. Zugleich wird damit der von Sokrates betonte prinzipielle Bezug auf das Gute im menschlichen Streben und Handeln fundiert: Jeder will das, was er für das Gute hält; niemand will hingegen ein nur scheinbar Gutes, etwas, von dem er annimmt, dass es nicht wirklich gut ist. Wie aber auf der alltäglichen oder gewöhnlichen Ebene die Ausrichtung auf das als nützlich erachtete Gute mit einem Selbstverhältnis einhergeht, das noch unreflektiert ist, müssen die philosophische Ausrichtung auf die Tugend, also die Prüfung der Meinungen darüber, wie man leben soll, und das philosophische Erkenntnisstreben mit einem Selbstbezug korrelieren, der einer Reflexion unterzogen wird. Diese Reflexion bezieht sich einerseits auf die Güter, Handlungs- und Strebensziele, betrifft sie doch die Frage von deren Nützlichkeit. Aus platonischer Sicht ist aber nur dann ein wahrer Nutzen gegeben, wenn dieser eine 177 ἀγαθὰ δὲ οὐδενὶ ἔτι ἀρκεῖ τὰ δοκοῦντα κτᾶσθαι, ἀλλὰ τὰ ὄντα ζητοῦσιν, τὴν δὲ δόξαν ἐνταῦθα ἤδη πᾶς ἀτιμάζει; (R. VI 505d7–9) Übers. Schleiermacher (Eigler-Ausg., Bd. 4). Vgl. dazu auch R. II 382a; überdies Figal 1998, S. 145 f.

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Besserung des seelischen Zustandes bewirkt. Diesen anderen Nutzen muss deshalb die Seele andererseits für sich selbst einsehen, wenn aus bloßen Doxai über die Tugend, die jederzeit entfliehen können, Wissen werden soll. Die Reflexion auf die Ziele und auf das eigene Selbstverhältnis ist als ein Prozess zu verstehen. Im Hinblick auf die sokratische Unterredung heißt dies, dass der verbesserte Logos, d. h. die begründende, sich von der einfachen Meinung abhebende Argumentation, nur dann einen tatsächlichen Gewinn für den Lernenden darstellt, wenn dieser die modifizierte Ausrichtung auf die Frage des Nützlichen für sich selbst zu verstehen und in der Seele zu realisieren sucht. Nur in diesem Verstande bedeu­ tet eine zunehmende Reflexion von Sachverhalten auch einen verän­ derten, reflektierten Blick auf sich selbst bzw. die Rechenschaftsgabe der eigenen Meinungen zugleich eine Rechenschaftsgabe über die eigene Lebensführung.178 Auch die oben im Rahmen der Selbstsorge charakterisierte Wissensidentifikation, nach welcher das praktische Wissen der Tugend an den danach Strebenden gebunden ist, findet in dieser seelischen Einsicht eine ihrer Fundierungen. Insgesamt wird erkennbar, dass Platon mit der im Menon und Gorgias angedeuteten Korrelation zwischen dem Bezug auf das Gute und auf sich selbst im gewöhnlichen Dasein auf die wechselseitige Verbindung der Bezüge auf philosophischer Ebene anspielt. Der Erfolg der philosophischen Tugend- und Erkenntnissuche ist davon abhängig, ob ein Mensch vermittelt über sein Streben nach Wissen zu der gekennzeichneten Selbsteinsicht bereit ist. Der zweite Aspekt, der mit Sokrates’ Darstellung davon, dass jeder Mensch in seinem Wollen und Handeln auf das Gute ziele, in den Fokus rückt, betrifft das Thema der Motivation. Wenn man, wie dies in sokratisch-platonischem Kontext der Fall ist, von der Annahme ausgeht, dass das die Tugend konstituierende Wissen nicht nur ein Wissen über die Tugend darstellt, sondern dass dieses Wissen »den Wissenden unmittelbar zu motivieren«179 vermag, es also notwendig Vgl. dazu die oft zitierte Stelle im Laches: Wer sich auf ein Gespräch mit Sokrates einlasse, so erklärt Nikias hier den anderen Dialogpartnern, »der wird von diesem so lange ohne Unterbrechung im Gespräch herumgeführt, bis er dahin gelangt ist, über sich selbst Rede zu stehen, auf welche Weise er jetzt lebt, und wie er vorher sein Leben zugebracht hat.« (μὴ παύεσθαι ὑπὸ τούτου περιαγόμενον τῷ λόγῳ, πρὶν ἐμπέσῃ εἰς τὸ διδόναι περὶ αὑτου λόγον, ὅντινα τρόπον νῦν τε ζῇ καὶ ὅντινα τὸν παρεληλυθότα βίον βεβίωκεν, La. 187e9–188a2). 179 Wieland 1999, S. 262. 178

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ein tugendgemäßes Handeln hervorruft, dann muss gefragt werden, wie die »motivationale Kraft«180 einer solchen Erkenntnis- und Wis­ senskonzeption gedeutet werden kann. Im Protagoras umreißt Sokra­ tes im Ausgang von der Frage, was es heiße, gut oder schlecht zu leben (vgl. 351b ff.), die Problemstellung des Tugendwissens: »Den meisten aber scheint das Wissen so beschaffen zu sein, dass es weder stark noch führend noch herrschend ist. […] In unsachgemäßer Weise den­ ken sie über das Wissen wie über einen Sklaven, der von allen anderen herumgezogen wird.«181 Dagegen sei doch zu überlegen, so Sokrates weiter, ob das Wissen nicht etwas Schönes sei, sodass der wirklich Erkennende von nichts anderem beherrscht werde und das tue, was das Wissen ihm befehle, die wissende Einsicht also hinreichend sei, dem Menschen zu helfen.182 Im Kern beinhaltet das Motivationsproblem die Frage, unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen ein praktisch-normati­ ves Wissen es gleichsam mit sich bringt, dass sich der Inhaber eines solchen Wissens tatsächlich in Übereinstimmung mit diesem Wissen verhält bzw. in einer gegebenen Situation weiß, was das Richtige ist und entsprechend handelt.183 Die oben angeführte Text­ passage des Protagoras, damit zusammenhängend der sokratische Standpunkt, dass Tugend eine Form von Wissen ist,184 und die ebenso im Frühwerk von Sokrates artikulierte These, dass niemand freiwillig schlecht oder ungerecht handle, sondern dass ein solches Handeln auf Unwissen beruhe,185 implizieren, dass Sokrates das ethische Wissen oder Tugendwissen nicht nur als notwendige, sondern auch als hinrei­ chende Bedingung für die Tugend selbst und das ihr gemäße Verhalten und Handeln ansieht.186 Wirklichem Tugendwissen ist danach die Motivation richtigen und gerechten Strebens und Handelns inhärent. Hardy 2011, S. 25. δοκεῖ δὲ τοῖς πολλοῖς περὶ ἐπιστήμης τοιοῦτόν τι, οὐκ ἰσχυρὸν οὐδ᾿ ἡγεμονικὸν οὐδ᾿ ἀρχικὸν εἶναι· […] ἀτεχνῶς διανοούμενοι περὶ τῆς ἐπιστήμης ὥσπερ περὶ ἀνδραπόδου, περιελκομένης ὑπὸ τῶν ἄλλων ἁπάντων. (Prt. 352b3–c2). 182 ἤ καλὸν τε εἶναι ἡ ἐπιστήμη […] μὴ ἀν κρατηθῆναι ὑπὸ μηδενὸς ὥστε ἄλλ᾿ ἄττα πράττειν ἢ ἃν ἐπιστήμη κελεύῃ, ἀλλ᾿ ἱκανὴν εἶναι τὴν φρόνησιν βοηθεῖν τῷ ἀνθρώπῳ; (Prt. 352c3–7). 183 Zu unterschiedlichen Perspektiven auf die Motivationsfrage bei Platon vgl. Hardy 2011, S. 23–26, 47–51; Stemmer 1988; Vlastos 1991a; Wieland 1999, S. 129, 167 ff., 261–263. 184 Vgl. Men. 87c–89a; Prt. 359b–360e; La. 194c–199e; R. I 349b–351a. 185 Vgl. Men. 77d–e; Prt. 358c–d; Grg. 466a–468e, 488a. 186 Vgl. Horn 2014, S. 135. 180 181

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Diese als ›sokratischer Intellektualismus‹ bekannte Position wurde in der Literatur immer wieder hinterfragt. Nehamas skizziert die oftmals geäußerte Kritik: »The problem, then, seems to be this. Socrates’ ethical intellectualism makes him believe that once people acquire knowledge of virtue, they will be able to tell what the good thing to do is in all circumstances, and will in fact do it. […] But the transition from knowledge to action seems highly doubtful.«187 Zugrunde gelegt wird der Kritik an den sokratischen Thesen innerhalb der ›Intellektualismus-Debatte‹ zumeist ein definitorischer Wissensbegriff, nach welchem die Bestimmung von Tugend durch ein mehr oder weniger komplexes Gefüge von propositionalen Ele­ menten charakterisiert ist, die im Idealfall in sich konsistent sind. Angelehnt wird dieser Wissensbegriff an die sokratische Was-istFrage in den frühen Dialogen.188 Demgegenüber, d. h. gegenüber der Verknüpfung der sokratischen Thesen mit einem solchen Wissens­ begriff, zeigt die Erfahrung jedoch, dass die sachlich-definitorische Bestimmung eines ethischen Inhalts, auch wenn dieser tatsächlich verstanden und begriffen wird, allein nicht genügt, um den von Sokrates formulierten Anforderungen gerecht zu werden. Auch unter Voraussetzung des möglichen Erlangens einer zwar nicht vollendeten, aber doch komplexen begründeten Definition von Tugend scheint es einerseits fragwürdig, dass die Kenntnis einer solchen Definition dazu führt, in Bezug auf jede Situation und unter allen Bedingungen zu wissen, was die richtige Handlungsoption ist. Andererseits ist ebenso kaum davon auszugehen, dass aus dem Wissen der definitori­ schen Bestimmung von Tugend und einer daraus, im Rahmen einer bestimmten Situation, gewonnenen Kenntnis über eine angemessene 187 Alexander Nehamas: Virtues of Authenticity. Essays on Plato and Socrates, Princeton/New Jersey 1999, S. 28. Zu einer kritischen Erörterung der Problematik vgl. ebd., Kap. 2: ›Socratic Intellectualism‹, S. 27–58. Bereits Jaeger erwähnt den in der Literatur häufig zu findenden Vorwurf des Intellektualismus: Vgl. Werner Jaeger: Die platonische Philosophie als Paideia (1928), in: Konrad Gaiser (Hg.): Das Platon­ bild. Zehn Beiträge zum Platonverständnis, Hildesheim 1969, S. 109–124, hier 118. 188 Vgl. dazu die Fortsetzung des Zitats von Nehamas (1999, S. 28): »In addition, his [Socrates’, U. Z.] definitional intellectualism, his view that knowledge of the definition of virtue is necessary in order to tell what the good thing to do is, seems to make the acquisition of the knowledge necessary for the good life impossible. The Socratic project of teaching people how to be good appears to fail at two crucial places: it con­ siders a certain knowledge sufficient for right action when it is not, and it makes the acquisition of that knowledge impossible in the first place.« Vgl. dazu auch Hardy (2011, S. 24 f.), der ebenso auf dieses Zitat rekurriert.

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Haltung und Handlungsoption zwangsläufig folgt, dass jemand eine solche Haltung tatsächlich einnimmt und überdies die entsprechende Handlung ausführt. Kennen und Verstehen eines ethischen Inhalts oder einer ethischen Norm führen nicht notwendig dazu, dass ein Mensch in Übereinstimmung damit handelt. Vielmehr entspricht es bekanntlich zumeist der Realität, dass jemand ein hinlängliches Wissen etwa über das Gerechtsein besitzt, dass er dieses Wissen verstanden hat, sich aber dennoch nicht gemäß seiner Erkenntnis verhält. Skizziert ist damit das Handeln wider besseres Wissen, die ἀκρασία, nach der ein Mensch auf der Basis seines Wissens eine bessere Handlungsoption kennt als diejenige, die er in einer gegebe­ nen Situation wählt.189 Da unter den gekennzeichneten Prämissen die Möglichkeit der Akrasia aber stets besteht und ihr Eintritt mehr noch wahrscheinlich ist, darüber hinaus eine vollendete definitori­ sche Bestimmungsform von Tugendwissen nicht möglich ist, werden die Thesen des Sokrates, dass wissende Einsicht hinreichend für die Tugend selbst sei und ungerechtes, schlechtes Handeln deshalb auf Unwissen beruhe, in der Literatur herkömmlich als der oben genannte, für die alltagsrelevante Praxis infrage zu stellende ›Intellek­ tualismus‹ oder als ›sokratische Paradoxa‹ kritisiert.190 Dabei wird zu Letzteren auch die weitere Kernthese des Sokrates gerechnet, nach der Unrecht zu erleiden im Vergleich zum Unrechttun das geringere Übel für den Betroffenen selbst darstelle.191 Innerhalb der Textpassage des Protagoras, auf die oben Bezug genommen wurde, unterstreicht Sokrates, dass die meisten Menschen Emotionen und sinnlichen Bedürfnissen wie Zorn, Lust, Betrübnis Einen prägnanten Überblick zu modernen Debatten über die Frage der Akrasia, die sich mit den Positionen von Sokrates und Aristoteles auseinandersetzen und zugleich die Begrifflichkeiten der Akrasia und der Willensschwäche neu analysieren, bietet Julius Schälike: Willensschwäche. Ein Forschungsbericht, in: Information Phi­ losophie 34/5 (2006), S. 18–29. 190 Vgl. dazu Horn 2014, S. 165–168. Eine gute und kommentierte Übersicht zur älteren, überwiegend englischsprachigen Literatur, welche die ›sokratischen Paradoxa‹ diskutiert, gibt Klaus Jakobi: Sokrates’ Sprechen, wie Platon es schreibt. Beobachtun­ gen zum »Gorgias«, in: Utz Maas, Willem van Reijen (Hg.): Geteilte Sprache. Fest­ schrift für Rainer Marten, Amsterdam 1988, S. 3–25, Appendix, S. 20–25. Jakobi selbst hinterfragt den in Bezug auf die sokratischen Thesen verwendeten Ausdruck des ›Paradoxen‹ (vgl. ebd., S. 5 ff. u. 21). Eine kritische Haltung zu dem Vorwurf des ›sokratischen Intellektualismus‹ nehmen auch Kahn (1996, S. 226–257) und Hardy (2011, S. 24–26) ein. 191 Vgl. Grg. 468e–469c, auch 472d ff., 527b. Die sokratischen Thesen stehen in einem Zusammenhang. Vgl. Jakobi 1998, S. 3–20 u. unten Kap. 1.3.3. 189

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oder Furcht eine größere Macht zuschreiben würden als Erkenntnis und Wissen; jene beherrschten den Menschen danach mehr und stärker als diese (vgl. Prt. 352b–c). Dass das Phänomen der Akrasia die Realität bestimme, beschreibt Sokrates entsprechend als Auffas­ sung der Menge: Diese gehe davon aus, dass zwar viele das Bessere erkennen würden und es auch realisieren könnten, es aber dennoch, bemächtigt von Lust oder Unlust, nicht tun wollten (vgl. 352d–e). Sokrates selbst behauptet das Gegenteil, dass nämlich durch Erkennt­ nis und Wissen der Mensch den sinnlichen Antrieben und Emotionen gerade nicht mehr unterworfen sei, wobei er nicht in Abrede stellt, dass viele dem Angenehmen als einem vermeintlich Guten folgen. Allerdings hätten diese ihre Gründe und Perspektiven aus Unwissen falsch bemessen und abgewogen, sodass also die Schwäche gegenüber Lust und Unlust und das damit verbundene Handeln auf einem Mangel an Wissen beruhten (vgl. 353a–358e). Die in der Literatur an die frühen Dialoge gerichtete Kritik macht vor diesem Hintergrund geltend, dass mit dem sokratischen Konzept einer Gleichsetzung von Tugend und Wissen die nicht-kognitiven, also die volitionalen und emotionalen Anteile des Menschen zu wenig berücksichtigt würden.192 In Verbindung damit steht die ebenso in der Literatur häufig zu findende Annahme, dass Platon seit der Politeia, d. h. im Zuge seines Entwurfs des dreiteiligen Seelenkonzepts, die sokratischen Thesen der frühen Dialoge revidiere, sodass sich in Pla­ tons Werk zwei voneinander zu unterscheidende ethische Positionen abzeichneten, nämlich eine ›sokratische‹ und eine ›platonische‹ Posi­ tion.193 Diese Lesart blieb nicht unwidersprochen.194 Obwohl Platon zugestanden werden kann und muss, dass sich die inhaltlich-philo­ sophischen Akzente innerhalb seines Werkes verschieben, ist diese Auffassung zu hinterfragen. Hinsichtlich der Verbindung von Tugend Vgl. dazu Horn 2014, S. 167 f.; Hardy 2011, S. 23 f. Vgl. Gill 1985, S. 4 ff.; Gregory Vlastos: Socrates, in: Proceedings of the British Academy 74 (1988), S. 89–111; Terry Penner: Socrates and the early dialogues, in: Richard Kraut (ed.): The Cambridge Companion to Plato, Cambridge 1992, S. 121– 169, hier 127 ff.; Simo Knuuttilla: Emotions in Ancient and Medieval philosophy, Oxford 2004, S. 7–13. Zahlreiche Literaturangaben zu Vertretern des Standpunkts, dass Platon die ethischen Thesen der Frühdialoge einer Revision unterziehe, finden sich überdies in: Gabriela R. Carone: Akrasia in the Republic. Does Plato change his mind?, in: Oxford Studies in ancient philosophy 20 (2001), S. 107–148, hier 107 f., Anm. 2–5. 194 Carone (2001) argumentiert dezidiert gegen eine solche Zweiteilung des platoni­ schen Werks. Vgl. dazu auch unten Kap. 4.1.1 u. 4.3. 192

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und Wissen ist es zunächst notwendig, eine deskriptive Darstellung von einem normativen Konzept zu differenzieren.195 Vor allem aber gilt es zu beleuchten, ob der Wissensbegriff, auf dem der Vorwurf des ›sokratischen Intellektualismus‹ basiert, zutreffend ist oder ob nicht ein weiterer Begriff von Wissen, der verschiedene Elemente umfasst, auch bezüglich des Frühwerks zugrunde gelegt werden muss; als alleiniger Motivationsfaktor vermag ein definitorisches Tugendwissen jedenfalls nicht zu fungieren. Allerdings wird durch die Kritik deutlich, dass die Motivationsfrage es erfordert, die Rolle und Bedeutung nicht-kognitiver Neigungen und Strebungen im Kontext des sokratischen Konzepts der Tugendbildung zu untersuchen. Die vorliegende Arbeit geht von der Annahme aus, dass sich dem platonischen Konzept von Erkenntnis und Wissen nur unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Momente, die im Umfeld der Wissensfrage thematisch werden, angenähert werden kann. Die bisherigen Textinterpretationen ließen bereits verschiedene Aspekte dieses Feldes hervortreten. So wurde durch die Differenzierung von Arete- und Techne-Wissen besonders die Problematik des Zieles der Tugend- und Erkenntnissuche evident: Die Frage der Orientierung gewinnt deshalb einen umso höheren Stellenwert. Im Blick auf die Analogie von Tugend und Techne, die innerhalb bestimmter Grenzen sichtbar wurde, konnte andererseits gezeigt werden, dass die prakti­ sche Übung des Logos für das Tugendwissen konstitutiv ist, damit zusammenhängend aber die als Selbstsorge verstandene Arbeit an sich selbst auf eine reflexive und selbstreflexive Tätigkeit und demge­ mäß auf eine Veränderung der seelischen Haltung zielt. Vor diesem Hintergrund gibt die zuletzt aufgezeigte Korrelation zwischen der Ausrichtung auf das als nützlich erachtete Gute und dem damit ein­ hergehenden Selbstverhältnis eine weitere Richtung vor. Exponiert wird mit dieser Korrelation eine dem Menschen innewohnende, für ihn existenzielle Struktur der Orientierung, damit auch eine Struktur des Begehrens und Strebens. Diese wirft aber die Frage von Reflexion und Selbstreflexion erneut auf und konkretisiert sie: Eine höhere Reflexivität wird nur erreicht, wenn ein Mensch fähig ist, die Frage des Nützlichen im Hinblick auf seine Seele neu zu bewerten und zu erkennen.

Dies macht Kahn (1996, S. 243) hinsichtlich des Protagoras geltend. Vgl. zu dem Problemfeld insgesamt ebd., S. 243–257. Vgl. auch Erler 2007, S. 434 f. u. 379.

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Eine erste Antwort auf die Frage, worin die ›motivationale Kraft‹ des Tugendwissens besteht, wodurch also ein Mensch die Haltung gewinnt, seinem Wissen und seiner Einsicht zu folgen, was ihn zunächst überhaupt veranlasst und danach streben lässt, zu einem wirklichen Wissen über das Gutsein, das seine Seele betrifft, zu gelangen, kann nach dem bisher Dargelegten darin gefunden werden, dass die Suche und das Ziel als ein wesentlich Nützliches und Gutes für sich selbst erkannt werden müssen. Ähnlich wie die im alltäglichen Rahmen zwar nicht immer bewusste oder deutliche, aber dennoch vorhandene Vorstellung eines Guten eine bestimmte Strebensrelation auslöst, ruft danach auch – unter der Voraussetzung, dass ein Lern­ williger Sokrates folgt – das mit dem Erkenntnisweg verbundene, wenn auch nur zu ahnende Ziel eine bestimmte Orientierung und ein bestimmtes Streben hervor.196 Denn nur dann, wenn es für einen Menschen wirklich einsichtig ist, dass die philosophische Suche und das Ziel, durch welche sich der seelische Zustand der Arete realisiert, für sein eigenes Leben das Nützlichste und Beste ist, weil ihm das Gute dadurch ›selbst wird‹, wie es im Menon hieß, wird er, wenn er sich nicht selbst schaden will, in seinem Wollen und Handeln diesem Weg folgen. Unter dieser Prämisse wäre ein besonderer Impuls, der von außen in Bezug auf das Handeln hinzukommen müsste, nicht mehr nötig. Sind Begehren und Streben nach dem Ziel des Guten dem Wissen selbst eingeschrieben, dann wohnt dem Begriff ethischen Wissens das richtige Wollen bereits inne: Mit der Einsicht in die Nützlichkeit seiner Erkenntnis ist ein Wissensbeflissener bestrebt, Wissen und Tun in Einklang zu bringen; zugleich ist sein individueller Weg durch das Streben nach dem wahrhaft Guten in einen überindivi­ duellen Rahmen eingebettet. Die Schwierigkeiten liegen aber auf der Hand: Wie erkennt ein Lernwilliger das für ihn wirklich Nützliche? Wie gelangt er dazu, den – aus platonischer Sicht – anderen Nutzen für sich selbst einzusehen? Darüber hinaus ist es im Rahmen der menschlichen Möglichkeiten offenkundig, dass eine vollkommene Harmonie von Wissen und Handeln bzw. die gleichsam vollendete Gestalt ethischen Wissens ein Ideal bleibt. Unter der Annahme, dass der Vorwurf des ›Intellektualismus‹ entkräftet werden kann, nämlich 196 Der Politeia zufolge hat die Seele das Potential, das Gute zu ahnen, dass es etwas ist (ἀπομαντευομένη τι εἶναι, VI 505e1), auch wenn sie dabei schwankend und unfähig sei, es zu fassen (vgl. 505d–e; auch oben Anm. 177).

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auf der Basis der bisher dargelegten und im Zuge der Arbeit noch aufzuzeigenden Momente des platonischen Wissenskonzepts, welche auch hinsichtlich des Frühwerks sinnlich-emotionale und volitionale Anteile einbeziehen werden, bleibt demnach immer noch die Kritik an einer Idealität der platonischen Ethik virulent. Andererseits wie­ derum verkennt eine solche Kritik zumeist, dass sich die Potentialität oder Dynamis eines jeden Konzepts erst von seinem normativen Ideal her bestimmen und ermessen lässt. Der griechische Begriff der ἀρετή selbst ist dafür das Beispiel par excellence.197

1.3.2 Der philosophische Eros als poietische Kraft (Symposion) Die Frage, auf welche Weise Platon eine Struktur des Begehrens und Strebens nicht nur für die alltägliche oder gewöhnliche Ebene, sondern auch für seinen Begriff des Wissens sichtbar macht, führt zum platonischen Eros-Konzept im Symposion. Die Darstellung dieses Konzepts beginnt mit dem elenktischen Gespräch, das Sokrates mit seinem Vorredner Agathon führt, und erstreckt sich auf die detaillier­ ten Ausführungen der Priesterin Diotima, die Sokrates rückblickend schildert (vgl. Smp. 199c–212c).198 Hatte Agathon in seiner Lobrede (vgl. 194e–197e) den Gott Eros in jeder Hinsicht als Fülle und Voll­ endung dargestellt, als den unter den Göttern Schönsten, Besten und deshalb Glückseligsten, als ewig jungen Gott, der sich vor allem durch seine poetische Weisheit auszeichne, von deren Reichtum jeder Dichter und Künstler der Musen schöpfe, so charakterisiert Sokrates Eros ganz konträr als Mangel und Bedürftigkeit. Sokrates widerlegt Agathon (vgl. 199c–201c), indem er erläutert, dass dasjenige, worauf Eros als Liebe sich richte, notwendig etwas sei, dessen er selbst 197 Zu diesem Sachverhalt – in Bezug auf die Seele – vgl. Anthony A. Long: Platonic Souls as Persons, in: Ricardo Salles (ed.): Metaphysics, Soul, and Ethics in Ancient Thought. Themes from the work of Richard Sorabji, Oxford 2005, S. 173–191, hier 181 ff.; Knut Eming: Tumult und Erfahrung. Platon über die Natur unserer Emotionen, Heidelberg 2006, S. 14 f. 198 Zu einer ausführlichen Diskussion vgl. Kurt Sier: Die Rede der Diotima. Unter­ suchungen zum Platonischen Symposion, Stuttgart/Leipzig 1997; ebenso die ent­ sprechenden Aufsätze im Sammelband von Christoph Horn (Hg.): Platon. Sympo­ sion, Berlin 2012. Zum gesamten Werk vgl. überdies Georg Picht: Platons Dialoge »Nomoi« und »Symposion«, mit einer Einf. von Wolfgang Wieland, Stuttgart 1990 (Vorlesungen und Schriften), S. 321–551.

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ermangle (ἐνδεής), welches er also nicht habe und auch nicht selbst sei, denn sonst würde er es nicht begehren (ἐπιθυμεῖν). Eros sei folglich nicht selbst schön und gut, sondern die Liebe zum Schönen und Guten, das Verlangen und Streben danach.199 Wie aber Agathon mit seiner Beschreibung nicht nur seine eigene Kunst der Dichtung adelt, sondern sich auch selbst in die Nähe des Gottes rückt,200 klingt auch in Sokrates’ Worten die Note einer Selbstdarstellung an. Schon zuvor hatte er kundgetan, dass er sich vornehmlich auf ›die Liebesdinge‹ verstehe (vgl. 177d, 198d). Es ist die Eigenart des Eros, die Sokrates demnach für sich selbst begreift. Eros verkörpert also eine Defizienz, welche erst das Verlangen und Begehren hervorruft, er ist stets intentional, auf etwas bezogen, nämlich auf das, was er selbst nicht ist und nicht hat, was über ihn selbst hinausgeht. Mangel, Begehren und Liebe sind danach eng verknüpft (vgl. 200a, e).201 Der im Text undifferenziert bleibende Übergang zwischen Liebe und Liebendem, zwischen Eros als eine dem Menschen zukommende Kraft bzw. als Phänomen und dem erotisch Strebenden selbst, wird in der Literatur teilweise kritisiert: Besonders die Eigenschaft des Mangels treffe im engeren Sinne nur auf den Liebenden, nicht aber auf die Liebe zu.202 In seinen Darlegungen 199 Aus der Übereinkunft der Gesprächspartner, dass Eros stets die Liebe zum Schönen sei, leitet Sokrates kurzerhand auch die Liebe zum Guten ab (vgl. Smp. 201a–c) und bestätigt damit die in Platons Werk häufig zu findende Engführung des Schönen und Guten. Andererseits zeigt sich gerade im Kontext von Eros eine Differenzierung: Der später dargelegte Erkenntnisaufstieg zielt hier auf das wahre Schöne. Prononcierter als im Symposion wird Platon im Phaidros die ästhetische Konnotation des Schönen auf bestimmte Art auch hinsichtlich des philosophischen Eros geltend machen. Sie wird in diesem Rahmen diskutiert werden (vgl. unten Kap. 5.3.4). 200 Dies betont Luc Brisson: Agathon, Pausanias, and Diotima in Plato’s Sympo­ sium: Paiderastia and Philosophia, in: James H. Lesher, Debra Nails, Frisbee Sheffield (Hg.): Plato’s Symposium. Issues in Interpretation and Reception, Cambridge, Mass./ London 2006, S. 229–251, hier 245 f. Vgl. dazu auch Jörn Müller: Der Wettstreit über die Weisheit zwischen Poesie und Philosophie: Agathons Rede und ihre Prüfung durch Sokrates (193e–201c), in: Christoph Horn (Hg.): Platon. Symposion, Berlin 2012, S. 105–123, hier 108–111. 201 Vgl. zu den Charakterisierungen auch Rudolf Rehn: Der entzauberte Eros: Sym­ posion, in: Theo Kobusch, Burkhard Mojsisch (Hg.): Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschungen. Darmstadt 1996, S. 81–95, hier 85 ff.; Karl 2010, S. 66 ff. 202 Müller (2012, S. 113 ff.) referiert Positionen in der Literatur, welche die Schlüs­ sigkeit von Sokrates’ Elenchos der Agathon-Rede in Frage stellen. Der oben genannte Kritikpunkt unterstreicht, dass Sokrates den Liebenden und die Liebe identifiziere,

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bezieht sich Sokrates auf Eros als Phänomen, um jedoch Mangel und Begehren konkret zu machen, expliziert er diese in personalisierter Form (vgl. 200b–e).203 Die Kritik ist einerseits berechtigt, kann doch nur der Mensch selbst Mangel empfinden. Andererseits ist der von Platon gezeichnete Eros ein genuin menschliches Phänomen: Im Zustand des Eros sind das Phänomen Eros und die seelische Verfasstheit des vom Eros Ergriffenen nicht mehr zu unterscheiden, sondern eins.204 Um das Wesen von Eros darzulegen (ποῖός τις, 201e1), beruft sich Sokrates auf seine Unterredung mit der Priesterin Diotima, die ihn einst in Liebesdingen unterwiesen habe (vgl. 201d–203a): Ähnlich wie nun Agathon musste auch Sokrates, elenktisch geführt von Diotima, zunächst einsehen, dass Eros nicht selbst schön und gut, nicht »das Geliebte« (τὸ ἐρώμενον) und als solches Vollendete, wie es später in Anlehnung an das homoerotische Begriffsfeld heißt, son­ dern »das Liebende« (τὸ ἐρῶν) sei (204c1–6). Folglich ist Eros auch nicht hässlich und schlecht, sondern vielmehr, so die Priesterin, »ein Mittleres« (τι μεταξύ, 202a3) zwischen Weisheit und Unverstand, zwischen Unsterblichem und Sterblichem. Eros sei kein Gott, wie von den Vorrednern gepriesen, sondern ein Daimon, dem die Fähigkeit zukomme, zwischen Göttern und Menschen zu vermitteln und zu übersetzen. Dieses Wesensmerkmal als Mittleres verdanke er aber seiner Herkunft. Als Sohn von Penia und Poros (vgl. 203a–e) sei Eros einerseits stets bedürftig, in Not, unansehnlich und rau, andererseits aber auch einfallsreich und tapfer, ein Jäger: Immer dem Schönen und Guten nachstellend begehre er Weisheit und Wissen, verbringe »sein ganzes Leben lang philosophierend« (φιλοσοφῶν διὰ παντὸς τοῦ βίου, 203d7). ähnlich wie zuvor Agathon in seiner Rede Eros gleichsam äquivok sowohl als Gott wie auch als psychische Antriebskraft auffasste (vgl. ebd., S. 109). 203 Sokrates begegnet hier einem weiteren Problem: Grundsätzlich kann man etwas haben oder sein und es doch weiterhin begehren. In diesem Falle, so Sokrates, richte sich das Verlangen auf die Zukunft. Jeder Begehrende begehre das noch nicht Erfüllte. Vgl. auch unten Anm. 208. 204 Der Begriff des Eros wird später von Diotima weiter gefasst, nämlich auch als Triebkraft der sterblichen Natur (vgl. Smp. 207a–d) und als Antriebskraft verschie­ dener Arten menschlichen Strebens (vgl. 205a ff., bes. 208b ff.). Allerdings sind Sokrates’ und Diotimas Kennzeichnungen insgesamt auf den philosophischen Eros zugeschnitten. In dessen Rahmen sind Haben und Sein eng verbunden: Wissen oder Schönes zu besitzen, bedeutet danach, in der Seele wissend bzw. schön zu sein (zu einer Problematisierung vgl. ebenso Müller 2012, S. 113 f.).

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Es sind diese Eigenschaften, die, wie in der Literatur oftmals betont, eine Ähnlichkeit von Eros und Sokrates evozieren:205 Sokrates selbst verkörpert »den dämonischen Mann« (δαιμόνιος ἀνήρ, 203a5), das vermittelnde Wesen. Dass er im Symposion als Inbegriff des philosophischen Eros hervortritt, wird in der letzten Rede, in Alkibia­ des’ Enkomion auf Sokrates, manifestiert: Der silenhafte Sokrates erscheint hier als Erotiker, der nur die Schönheit der Seele, der Tugenden und des Wissens im Blick hat. Alkibiades konzediert aber auch, dass Sokrates in seiner Liebe zur Weisheit, welche ihm eine Art innere ›Göttlichkeit‹ verleihe (vgl. 216d–217a), seine, Alkibiades’ Liebe gewonnen habe.206 Als Liebhaber der Weisheit erscheint Sokra­ tes in Alkibiades’ Rede zugleich als ›Geliebter‹.207 Diotima markiert den mittleren Bereich zwischen Wissen und Unwissen als die Region des Philosophierens (vgl. Smp. 203e–204c). Die Charakterisierung des philosophischen Eros als μεταξύ rückt seine Kraft und Lebendigkeit in ein besonderes Licht: In seiner Dimension als ›Zwischenwesen‹ erzeugt Eros eine Gespanntheit, welche auf der einen Seite das Unwissen hinter sich, auf der anderen Seite aber auf das unsterbliche Wissen nur hinblicken, es jedoch nicht, jedenfalls nicht in vollendeter Form, erreichen lässt. Weder würden die Götter nach Weisheit streben, so betont Diotima, da sie schon weise sind, noch die Unwissenden, denn diese wissen um ihren Unverstand nicht und genügen sich darin (vgl. 204a).208 Folglich strebt nur derjenige, der sich seiner Bedürftigkeit bewusst ist, der also Einsicht in sein Unwissen gewinnt, nach Erkenntnis und Wissen – ein Topos, der das gesamte Frühwerk prägt. Die Spannung des Eros erinnert an Heraklits Satz von Bogen und Leier, auf den zuvor Eryximachos in Vgl. z. B. Rehn 1996, S. 88 u. 90; Karl 2010, S. 67. In einer Mischung aus Kränkung und Bewunderung schildert Alkibiades in seiner Rede (vgl. Smp. 215a–222a), wie er Sokrates zu verführen suchte, dieser aber von seiner körperlichen Schönheit vollkommen unbeeindruckt blieb (vgl. 216c–219e). Die Rollen zwischen ihm und Sokrates hätten sich verkehrt: Davon ausgehend, dass er der Geliebte sei, fand er sich in der Rolle des ›Liebhabers‹ wieder (vgl. 217c ff., 221d–222b), nämlich als Liebender von Sokrates’ innerer Schönheit. 207 Vgl. dazu Eva-Maria Engelen: Zum Begriff der Liebe in Platons Symposion, oder: Warum ist Diotima eine Frau?, in: Bochumer philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter, Bd. 6 (2001), S. 1–20, hier 16 f., zu Alkibiades’ Rollenwechsel innerhalb seiner Rede vgl. ebd., S. 12 f. 208 Die Stellung des Eros als Mittleres erweitert den Begriffsrahmen des Mangels: Dieser ist nicht absolut zu denken. Wer nach Wissen strebt, ist nicht unwissend, also nicht durch bloßen Wissensmangel bestimmt. 205

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seiner Rede Bezug genommen hatte: Die Sehne des Bogens oder die Saiten der Leier bilden danach das Eine (τὸ ἕν) in ihrer Entzwei­ ung, in entgegengesetzter Richtung auseinandergezogen stimmen sie in sich überein (διαφερόμενον αὐτὸ αὑτῷ συμφέρεσθαι); erst die Gespanntheit erzeugt aber die Stimmung (ἁρμονία), deren Kraft und Potentialität (187a4–6).209 Anders als Bogensehne und Saiten impli­ ziert die Spannung des Eros aber zugleich eine sehr klare Ausrichtung, nämlich die Orientierung am Schönen und Guten. Mit diesem Motiv einer gleichzeitigen (zweiseitigen) Gespanntheit und (einseitigen) Gerichtetheit, mit dem Platon nicht nur an Heraklit, sondern auch an die apollinische Tradition anknüpft,210 lässt er im übertragenen Sinne die Dynamis des Eros, die Begrenztheit und zugleich die Möglichkeiten des Menschen, hervortreten. Die Spannkraft des Eros verleiht dem Strebenden Unruhe ebenso wie Neugier, Ungeduld ebenso wie Vorfreude. Der Mensch verbleibt einerseits, auch wenn er philosophiert, in der ›gespannten Fügung‹, als Sterblicher wird er niemals vollkommen auf der Seite des (unsterblichen) Wissens stehen. Andererseits kann ihn die Liebe zum Schönen und Guten, wenn er sich tatsächlich daran orientiert, immer wieder über diese ›Fügung‹ hinausführen; im Symposion ist der Aufstieg zum wahren Schönen dafür das Sinnbild. Wie schon in den im letzten Kapitel erörterten Passagen des Menon und Gorgias tritt auch im Symposion die Ausrichtung auf das Gute und das Streben danach als Wesensmerkmal des Menschen her­ vor (vgl. 204c ff.): Alle begehrten letztlich das Gute, »sodass es nichts anderes gibt«, so die Priesterin, »welches die Menschen lieben, als das Gute.«211 Mit Sokrates’ Frage, welchen Nutzen Eros den Menschen gewähre, zeigt sich noch eine weitere Ähnlichkeit. Im Menon (vgl. 77c) war das Gute (und auch das Schlechte) als dasjenige bezeichnet worden, was dem danach Strebenden selbst zuteilwerde. Darauf führt auch Diotima den hier noch jungen Sokrates hin: Wer das Schöne und Gute liebe und ernsthaft danach strebe, es zu erlangen, der begehre, dass es ihm zuteilwerde, dass es seiner Seele selbst wird (Γενέσθαι αὑτῷ, Smp. 204d7, e4). Die seelische Veränderung ist im Streben ein­ begriffen, der Mensch verändert sich und gleicht sich dem Erstrebten Eryximachos erscheint als ein der Sophistik zugetaner Arzt, er versteht den Satz des Heraklit nicht (vgl. Smp. 187a–b). Dazu Heraklit: DK 22 B 51. 210 In Diskussion des delphischen Spruches wird das Motiv eine wichtige Rolle spielen (vgl. unten Kap. 2.2.1). 211 ὡς οὐδέν γε ἄλλο ἐστὶν οὗ ἐρῶσιν ἄνθροποι ἣ τοῦ ἀγαθοῦ. (Smp. 205e7–206a1). 209

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an, seelische Arete und die Ausrichtung auf das Gute korrespondieren unmittelbar. Zugleich ist der Ausdruck eine Reminiszenz an die sokra­ tische Form des Lernens, die oben als ein Zuteilwerden und Sich-Ein­ stellen von Tugend gekennzeichnet wurde: Das Streben nach Tugend ist immer auch Zweck an sich selbst. Anders als im Menon und Gorgias geht die Argumentation hin­ sichtlich der menschlichen Bezogenheit auf das Gute im Symposion von der Bedürftigkeit aus. Erwies sich dort auf der Ebene des gewöhn­ lichen Denkens und Tuns das für sich selbst als nützlich Erachtete als Ursache des Wollens und Strebens, so wird im Kontext des Eros zunächst der Mangel als auslösendes Moment prononciert. Dieser muss jedoch reflektiert und bewusst werden, um das Streben hervor­ zurufen. Ersichtlich wird dadurch, dass in den Dialogen unterschied­ liche Ebenen der Reflexion angesprochen sind. Allerdings erschöpft sich auch das Motivationsmoment des Eros nicht schlechthin in dem Begriff des (bewussten) Mangels. Zwar zeichnen Defizienz und Bedürftigkeit den Menschen als Sterblichen aus und können insofern als ›anthropologische Voraussetzungen‹ bezeichnet werden;212 auf der anderen Seite behält aber auch hinsichtlich des Eros das Strebensziel die Priorität. Unter Berücksichtigung der im Rahmen des Menon und Gorgias im vorigen Kapitel dargelegten sokratischen These, wonach die Ausrichtung auf das für sich selbst als richtig erachtete Gute für das menschliche Wollen und Handeln, für das Begehren und Streben konstitutiv ist, mithin jede menschliche Selbstbeziehung als eine über das Ziel des Guten vermittelte zu denken ist, müssen auch Reflexion und Bewusstsein des Mangels mit dem Ziel selbst zusammengedacht werden: Erst die richtige Orientierung löst die Bewusstwerdung des Mangels dessen, welches man erstrebt, und die damit verbundene Strebenskraft aus. Das Verlangen nach dem Guten führt Diotima auf das mensch­ liche Trachten nach Unsterblichkeit zurück (vgl. Smp. 207a ff.). Allen Menschen sei die Liebe gemein, das Gute immer haben zu wollen und auf diese Weise die εὐδαιμονία zu erlangen (vgl. 204c–205a, 205e– 206a, 207a). Das Wort ›immer‹ (ἀεί), welches die Priesterin in diesem Zusammenhang wiederholt verwendet, bezieht sie also auf etwas, das

212 Als solche werden sie von Karl (2010, S. 63–71) erörtert. Wie im Symposion deutlich wird und Karl unterstreicht, wird der Mangel in platonischem Kontext kei­ nesfalls pejorativ bewertet (vgl. ebd., S. 71).

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über das eigene endliche Dasein hinausgeht.213 Hierbei liegt das auf die Unsterblichkeit hinzeigende Streben schon im Wesen des Eros begründet, begehrt man danach doch stets das, was man selbst nicht ist oder hat. Im Gegensatz zu dem für die Griechen kulturell typischen Bestreben, sich nach Möglichkeit einen unvergänglichen Nachruhm durch ehrenhafte Taten zu sichern,214 steht Platons Begriff von Unsterblichkeit im Kontext von Wahrheit, Wissen, Ideen und unsterblicher Seele: Im Hinblick darauf kann ein Mensch, wenn er philosophiert, seine Endlichkeit immer wieder übersteigen. Als Hori­ zont ist das Unsterbliche im sterblichen Leben notwendig, um den Ausblick und Ausgriff über das Endliche hinaus zu gewährleisten. Ohne die Dimension des Unsterblichen würden auch die menschli­ chen Erkenntnisse, dies wird unten sichtbar werden, im bloßen Fluss des Werdens verbleiben. Die Frage, wie das Streben nach Unsterblichkeit im menschlichen Leben Erfüllung findet, beantwortet Diotima detailliert und umfang­ reich, indem sie sich auf die produktive Kraft beruft, die Eros aus­ zeichne (vgl. 206b ff.). Ins Zentrum ihrer Explikationen rückt Diotima die Begrifflichkeiten des Erzeugens und Zeugens (γέννησις, γεννᾶν), der Schwangerschaft, des Gebärens und der Nachkommenschaft (κύησις, τόκος), womit sie, in gewisser Hinsicht in Analogie zum Begriff des Eros selbst, unmissverständlich auf ein Vokabular aus dem Bereich der leiblichen Fortpflanzung rekurriert. Alle Menschen, so erklärt sie, seien sowohl dem Leib als auch der Seele nach fruchtbar oder schwanger (κυοῦσιν, 206c1), sodass, wenn die Zeit reif sei, »unsere Natur begehrt zu gebären« (τίκτειν ἐπιθυμεῖ ἡμῶν ἡ φύσις, 206c3–4) und »sich von großen Wehen zu befreien« (μεγάλης ὠδῖνος ἀπολύειν, 206e1). Das Verlangen nach Unsterblichkeit, so ihr Resü­ mee, realisiere sich in dem Eros innewohnenden Drang nach »Erzeu­ gung und Geburt im Schönen«215; darin verwirklichen sich die Werke des Eros, zeige sich Unsterbliches, wie es im Sterblichen sein kann (ἀθάνατον ὡς θνητῷ, 206e8). Das Vokabular, das Diotima verwendet, lenkt in prominenter Weise die Aufmerksamkeit auf spezifische

Vgl. dazu auch Karl 2010, S. 69 u. 108 f. Vgl. Smp. 208c–e. Das Verlangen nach unsterblichem Ruhm ist hier ironisch konnotiert; andererseits ist es für Platon aber auch nicht schlechthin abzuwerten. Vgl. dazu Karl 2010, S. 70 u. 106. 215 Τῆς γεννήσεως καὶ τοῦ τόκου ἐν τῷ καλῷ. (Smp. 206e5). 213

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Implikationen und wesentliche Inhalte des platonischen Eros-Kon­ zepts.216 Zunächst treten auf dieser sprachlichen Basis die Vitalität, Ener­ gie und Kraft zutage, welche die Menschen gewöhnlich aus dem Bereich der leiblichen Fortpflanzung kennen. Um das Machtvolle des Gebärens und Hervorbringens zu unterstreichen, verweist Diotima mehr noch auf die Tierwelt, werde doch gerade hier sichtbar, in welch gewaltigem Zustand sich die Lebewesen befinden, wenn sie zeugen, ihren Nachwuchs aufziehen und sich um ihn sorgen (vgl. 207a–d).217 In übertragener Gestalt sollen das Lebendige und Kraftvolle, der ›gewaltige Zustand‹, offensichtlich auch im Blick auf die Seele, wenn diese das ihr Gebührende, Einsicht und Tugend, in sich trage und es sie dränge, diese hervorzubringen, beleuchtet werden (vgl. 208e–209a). – Im Folgenden werden drei zentrale Motive des philosophischen Eros, die Diotimas Vokabular in den Vordergrund rückt, erörtert, wobei nicht nur das metaphorische Moment, sondern zunehmend auch die für Platon charakteristische Methode, Begrifflichkeiten aus ihrem gewöhnlichen Umfeld auf die philosophische Ebene zu ›trans­ ponieren‹, greifbar werden wird. Auf diese Methode wird am Ende resümierend zurückzukommen sein. Als zeugend-hervorbringende Kraft ist Eros erstens poietisch. Darin zeigt sich eine gewisse Gemeinsamkeit sowohl mit der Dich­ tung als auch dem Handwerk bzw. den demiurgischen Künsten, zieme doch allen, die erfinderisch sind, das genannte Erzeugen (vgl. Smp. 209a). Auch Agathon hatte den Gott Eros als Dichter gepriesen, von dessen poietischer Weisheit danach nicht nur alle musischen Künste profitieren, sondern auch jede andere Techne: Alle Künste erhielten ihre Ordnung erst durch die Liebe zum Schönen. Die poietische 216 Die vornehmlich weiblichen Konnotationen der von Diotima gebrauchten Wen­ dungen werden hier nicht eigens thematisiert. Eine stichhaltige Diskussion bie­ tet Engelen (2001), nach der die Tatsache, dass Platon eine Frau wählt, um Sokrates in die philosophischen Weihen und in seine eigene sokratische Fragetechnik einzu­ führen (vgl. ebd., S. 4), und die »weiblich besetzte Metaphorik« (ebd., S. 8) in den Beschreibungen des Erzeugens unmittelbar zusammenhängen: Platon benötige für seine Eros-Konzeption neben dem männlichen auch das weibliche Element, würde letzterem doch traditionell das aktive Hervorbringen im Liebesleben zugeschrieben (vgl. ebd., S. 7–11, bes. 11). Allerdings verkörpere Diotima damit nur »den anderen Teil des männlichen Selbst« und nicht »das lebendige andere Geschlecht« (ebd., S. 10). 217 Demonstriert werden soll, dass auch hier »die sterbliche Natur sucht, nach Vermögen immer zu sein und unsterblich« (ἡ θνητὴ φύσις ζητεῖ κατὰ τὸ δυνατὸν ἀεί τε εἶναι καὶ ἀθάνατος, Smp. 207d1–2).

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Weisheit des Gottes erscheint in Agathons Rede als Ursprung jedes produktiven Schaffens. Eros ist damit nicht nur die Ursache für die Erzeugung der Lebewesen, sondern auch für das menschliche Können schlechthin (vgl. 196d–197c). Trotz der konträren Kennzeichnung des Eros, im Falle des Agathon als Reichtum und Fülle,218 im Falle von Sokrates und Diotima als Mangel, deuten sich in der Rede des gefeierten Dichters Aspekte an, die auch Diotima akzentuiert: Auch wenn sie die Dichtung selbst nur als eine unter vielen Formen der Werke des Eros erwähnt, die unabhängig von der Philosophie als menschenmögliche Gestalten der Unsterblichkeit im leiblichen und seelischen Bereich hervortreten – wie das Zeugen und die Erziehung von Kindern (vgl. 208e), die schon erwähnten ruhmvollen Taten oder die Hervorbringungen der anderen Künste –, so zeichnet sie Eros doch grundsätzlich als poietisches Prinzip.219 Agathon scheint demnach ein bedeutsames Moment des philo­ sophischen Eros vorzuzeichnen. Dennoch sind Sokrates’ Elenchos und insbesondere seine unmittelbare Replik auf Agathons Rede als eindeutige Zurückweisung zu verstehen, die sich zunächst in seiner Anspielung auf Gorgias und seinem ironischen Lob der prächtigen Rede- und Stilfiguren manifestiert (vgl. 198a–c). Agathons Enkomion auf Eros ist in Aufbau, Zielsetzung und redekünstlerischer Gestalt eng mit der sophistischen Rhetorik assoziiert.220 Der Schlussteil seiner Rede offenbart die gorgianische »Kunst der Verzauberung durch das klingende Wort«221, die entsprechend begeisterten Beifall hervorruft (vgl. 198a). Aber auch Sokrates’ generelle Kritik an allen Vorrednern nimmt Agathon keineswegs aus (vgl. 198c–199b): Alle Reden hätten zwar Schönes über Eros zusammengetragen, allerdings auf willkürliche Art und nicht auf Wissen beruhend. Das Desinteresse an wirklicher Wissensfindung und die fehlende Wahrheitsorientie­ 218 Vgl. zu Agathons Illustration auch Müller 2012, S. 110. Da der Dichter aber Eros auch als Liebe zum Schönen darstellt, charakterisiert er ihn, gleichsam unbemerkt, nicht nur als Fülle bzw. Geliebten, sondern auch als Liebenden (vgl. ebd., S. 115; Smp. 197b). 219 Die Mehrfachbedeutung von ποίησις als einerseits Dichtung, andererseits als Benennung für jede Art der Hervorbringung, insbesondere der künstlerischen oder kunstfertigen, erläutert Diotima in Smp. 205b–c. Vgl. zu den Werken des Eros auch Karl 2010, S. 69 f. 220 Vgl. dazu Müller 2012, S. 115–119. 221 Picht 1990, S. 361; Brisson (2006, S. 245) betont in diesem Zusammenhang »an abundance of assonances« und die Verwendung von Alliterationen; vgl. auch Müller 2012, S. 110 f.

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rung, die damit zusammenhängende Priorität einer manipulativen, auf sinnliche Effekte setzenden Wirkung auf das Publikum, die mit Blick auf den Rede-Agon in Agathons Rede ihren Höhepunkt findet, spiegeln Hauptkritikpunkte Platons an der sophistisch geprägten Rhetorik, wie sie bereits im Rahmen der Apologie kenntlich wurden. Indem Sokrates den Lobreden auf Eros eine Scheinhaftigkeit attestiert (vgl. 198e), unterstreicht er, dass der philosophische Eros für deren Inhalt keine Rolle spielte. Sokrates’ Kritik an Agathon betrifft insbesondere auch das päda­ gogische Moment, das durch das homoerotisch-päderastische Motiv im Symposion präsent ist.222 Agathons Diktion, dass nur derjenige lehren könne, der gleichsam selbst aus dem Vollen schöpft,223 bildet nicht nur einen Kontrapunkt zu seiner eigenen epistemischen ›Leer­ heit‹, derentwegen er Sokrates’ Elenchos nichts entgegenzusetzen hat und kapituliert (vgl. 201b–c), sondern sie ist auch Sokrates’ pädagogischer Haltung der gemeinsamen Suche entgegengesetzt: Der pädagogisch Führende ist danach nicht von Wissen gesättigt; Weisheit und Tugend fließen gerade nicht, wie Sokrates mit dem Wollfadenbeispiel ironisch illustriert, vom einen zum anderen. Diese – in der Literatur oft zitierte – anfängliche Szene (vgl. 175c–e), in der Agathon scherzhaft auf eine Teilhabe an Sokrates’ Weisheit durch Berührung anspielt (ἁπτόμενός σου, 175c8), antizipiert das ›Übertra­ gungsmotiv‹ in seiner Rede, wonach jeder, auch der Unmusische, den Eros berühre, zum Künstler werde, da die Weisheit des Gottes auf ihn übergehe (vgl. 196e). Dahingegen basiert das pädagogische Verhältnis, wie Sokrates es versteht, auf gegenteiligen Prämissen: Die philosophisch-erotische Antriebs- und Erzeugungskraft wird beim Lernenden nur dann gefördert, wenn der ›Lehrende‹ selbst ein aktiv nach Erkenntnis Suchender ist. Agathons Enkomion und auch diejenigen der anderen Vorredner sind keine Reden, welche die Zuhörenden im Sinne von Wahrheit bilden, auch wenn scheinbar Richtiges darin anklingt. Der Begriff der Poiesis erscheint in Agathons und Diotimas Rede vor einem dis­ paraten Hintergrund, Prämissen und Ziel der Reden sind divergent. 222 Zum Begriff der παιδεραστία vgl. u. a. Brisson 2006, 229 ff. mit Anm. 2. Vgl. auch unten Anm. 227. 223 »Denn was jemand nicht hat oder nicht weiß, kann er weder einem anderen geben noch es ihn lehren.« (ἅ γάρ τις ἢ μὴ ἔχει ἢ μὴ οἶδεν, οὔτ’ ἂν ἑτέρῳ δοίη οὔτ’ ἂν ἂλλον διδάξειεν. Smp. 196e5–6).

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Agathons Konzeption des Eros ist nicht nur nicht durchdacht, sondern durch die fehlende Wahrheitsorientierung sind seine Darstellung poietischer Weisheit und das von Diotima proklamierte poietische Prinzip des philosophischen Eros – auf dieses wird unten zurückzu­ kommen sein – nicht vergleichbar. Die Inkonsistenz von Agathons Ausführungen hängt mit seiner verfehlten Zielsetzung, primär den eigenen Ruhm zu verfolgen, unmittelbar zusammen. Im Rahmen des Phaidros wird sichtbar werden, dass Platon der herkömmlichen Dichtkunst durchaus auch positive Momente abgewinnt, allerdings nur in den Zusammenhängen, in denen sie keine Allianz mit der sophistischen Rhetorik bildet.224 Der zweite Aspekt, den Diotimas Metaphorik exponiert, ist das interpersonale Moment. Ähnlich wie die leibliche Fortpflanzung hat auch der philosophische Eros wesentlich mit dem Anderen zu tun: Der seelisch Schwangere muss auf den richtigen Partner treffen, um zu erzeugen, wobei dieser eine auslösende Funktion übernimmt. Wer schon seit seiner Jugend nach Tugend und Phronesis strebe, so erläutert die Priesterin, sich insbesondere um Besonnenheit und Gerechtigkeit kümmere und diese in sich trage, gehe umher, um eine schöne und wohlgebildete Seele zu suchen, um im Schönen zu gebären (vgl. 209a–b): »Einem solchen Menschen gegenüber wird er sofort von Worten überströmen über die Tugend und darüber, wie ein tüchtiger Mann sein müsse und was er treiben solle; und sogleich unternimmt er es, ihn zu unterweisen; denn ich glaube, wenn er den 224 Dass Platon den göttlichen Enthusiasmus der Dichter, der nicht zu wahrem Wis­ sen, zuweilen aber zu wahren Meinungen führt, die der Dichter selbst jedoch nicht zu verteidigen vermag (vgl. Ap. 22b–c), nicht nur ironisch kommentiert, sondern in einem bestimmten Rahmen auch honoriert, trifft nach meiner Auffassung auf die Rede des Agathon nicht zu. Anders Müller (2012), der die Nähe von Agathons Rede zur sophistischen Rhetorik ausdrücklich expliziert, mit Blick auf das künstlerisch Produk­ tive des Eros aber auch eine Kontinuität zwischen Agathon und Diotima erkennt: Danach spiegeln Agathons Darstellungen zwar eine mangelnde epistemische Basis und die Inkonsistenz seiner Argumente, aber sie enthalten auch Richtiges (vgl. ebd., S. 115–122). – Die Differenz zwischen philosophischer und sophistisch-poetischer inhaltlicher Qualität ist m. E. aber nicht nur eine graduelle, sondern eine prinzipielle: Auch eine richtige Meinung avanciert aus platonischer Sicht im ›falschen‹ Kontext nicht zu Wissen. Übergänge zwischen Philosophie und Poesie erkennt Platon primär in philosophisch-literarischen Erzeugnissen; auch dies werden die Auslegungen des Phaidros zeigen. – Im Wettstreit zwischen der Weisheit des Agathon und der Weisheit des Sokrates, zwischen Poesie und Philosophie, sieht, mit anderer Stoßrichtung als Müller, auch Picht (1990) ein das Symposion formierendes Motiv (vgl. ebd., S. 363 f., 375 ff., auch 395 ff.).

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Schönen berührt und mit ihm verkehrt, dann zeugt und gebiert er, was er schon lange in sich trug.«225 Für die ›Entbindung‹ von Wissen ist Sokrates’ Hebammenkunst, die er im Theaitetos (vgl. 148e–151d) darlegt, zuständig. Auch wenn dieser Passus gleichsam das Pendant zu Diotimas Metaphorik see­ lischer Schwangerschaft bildet, ist der Akzent im Symposion ein etwas anderer, insofern nicht diese Kunst selbst und die mit ihr verbundenen Schwierigkeiten im Blick stehen, sondern die philoso­ phisch-freundschaftliche Liebe zweier Menschen. Aber auch hier wird ›Geburtshilfe‹ geleistet: Das Verlangen des mit Gedanken Schwangeren, sein Wissen als Logoi hervorzubringen, findet durch sein Gegenüber Realisierung und Erfüllung, mehr noch erkennt der Erzeugende im Spiegel seines Partners in gewisser Weise erst die Fülle seines Wissens, was sein Begehren nach seelischer Poiesis intensiviert. Entsprechend eignet dem Anderen eine vermittelnde Rolle, er regt den Prozess des Hervorbringens an und verstärkt ihn. Das Erzeugte aber wird »gemeinsam aufgezogen« (συνεκτρέφει κοινῇ, Smp. 209c4): Die Meinungen und Erkenntnisse über Tugend, Lebens­ führung und richtiges Handeln bilden den Mittelpunkt des Umgangs der Liebenden, darum ringen sie im Gespräch.226 Mit dem Gedeihen des Wissens wachsen die Liebenden selbst (vgl. 209c): Indem Diotima deren Gemeinschaft (κοινωνία) und Freundschaft (φιλία), die sich durch ein Miteinander und eine Gegenseitigkeit auszeichnen (πρὸς ἀλλήλους, 209c5), pointiert, grenzt sie diese Form der Liebe explizit von dem konventionellen homoerotischen Modell, welches die Vorre­ den dominierte, ab.227 Wie Engelen zu Recht unterstreicht, ist eine Homoerotik, die stark hierarchisch ausgerichtet ist und eine Passivität des Jüngeren verlangt, in pädagogischer und epistemischer Hinsicht für das platonische Eros-Konzept unbrauchbar.228 Zwar ist auch das von Diotima gezeichnete Verhältnis der Partner kein völlig reziprokes, insofern es zunächst nur einen Erzeugenden gibt, der den anderen 225 καὶ πρὸς τοῦτον τὸν ἄνθρωπον εὐθὺς εὐπορεῖ λόγων περὶ ἀρετῆς καὶ περὶ οἷον χρὴ εἷναι τὸν ἄνδρα τὸν ἀγαθὸν καὶ ἃ ἐπιτηδεύειν, καὶ ἐπιχειρεῖ παιδεύειν. ἁπτόμενος γὰρ οἶμαι τοῦ καλοῦ καὶ ὁμιλῶν αὐτῷ, ἃ πάλαι ἐκύει τίκτει καὶ γεννᾷ (Smp. 209b7–c3). Übers. Rehn 1996, S. 89. 226 Vgl. dazu Rehn 1996, S. 90 f. 227 Die Frage der freundschaftlichen Liebe und insbesondere die Verknüpfung von Paideia und Homoerotik sowohl in konventionellem Kontext als auch in ihrer plato­ nisch-philosophischen Transformation werden ausführlich unten in Kap. 5 diskutiert. 228 Vgl. Engelen 2001, S. 6, 9 f. u. 14 ff.

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unterweist; es bleibt aber offen, ob im gemeinschaftlichen Leben nicht doch eine Reziprozität eintritt. Von einer Rollenverteilung von Liebhaber und Geliebtem ist hier jedenfalls keine Rede mehr.229 Der philosophische Eros zeigt sich in dem gekennzeichneten Prozess seelischer Poiesis nicht von seiner Seite des Mangels, sondern – gleichsam mit Blick auf den ›Vater‹ (Πόρος) – von der des Reich­ tums. Fülle und Überfluss erinnern aber wiederum an Agathons ErosBegriff. Überdies wird, wie das obige Zitat verdeutlicht, noch einmal die Figur des Berührens aufgegriffen. Ähnlich wie zuvor erscheint dieses Motiv als initiierendes Moment von Bildung, allerdings wird es in seiner nun erneuten Wiederholung maßgeblich variiert, wodurch auch der Begriff der Fülle eine andere Gestalt erhält: Hier fließt nicht die Weisheit vom Vollen zum Leeren oder vom Musischen zum Unmusischen, vielmehr markiert die Berührung eine Gleichzeitigkeit des Hervorbringens auf der einen und des anregend-stärkenden Moments auf der anderen Seite, wobei dieses, so ist zu vermuten, im Begehren von Wissen gründet. Beide Partner sind aktiv involviert. Das Wissen selbst tritt deshalb in seiner ›Fülle‹ nicht als ein transfe­ rierbares hervor, sondern als eines, das im gegenseitigen Prozess, auch unter Anstrengung, als Logoi erzeugt wird, in der dialogischen Auseinandersetzung wachsen muss und nur dadurch lebendig ist und bleibt. Darüber hinaus spielt das Berührungsmotiv – wie schon zu Dia­ logbeginn in dem Geplänkel zwischen Agathon und Sokrates – auf die sinnliche Ebene an. Die Anziehungskraft körperlicher Schönheit und die darauf gehende sinnliche Liebe haben auch im Kontext des platonischen Eros-Konzepts eine anstoßende, entzündende Funk­ tion,230 wenngleich sie, wie der Aufstieg zum Schönen demonstriert, 229 Die Priesterin selbst erscheint als philosophische Lehrerin des noch jungen, aber lernwilligen, nach Wissen verlangenden Schülers Sokrates. In gewisser Weise über­ nimmt sie sowohl eine mäeutische als auch eine poietische Funktion. Die Ungleichheit der Wissensebenen von Diotima und Sokrates wird deutlich markiert (vgl. Smp. 201e, 207c, bes. 209e–210a), dennoch ist ihr Verhältnis nicht ein auf Dominanz und Abhängigkeit basierendes, hierarchisches, sondern ein freundschaftliches (vgl. Enge­ len 2001, S. 14 f.), das letztlich auf »das gleichberechtigte Gespräch zwischen den die Wahrheit Liebenden« (ebd., S. 15) zielt. Vgl. auch ebd., S. 17. 230 Finde der mit Wissen Schwangere, der erzeugen will, eine schöne und edle Seele, freue er sich am meisten, wenn beide, körperliche und seelische Schönheit, vereint seien (vgl. Smp. 209b). Vgl. Engelen (2001, S. 11 f.), die die Bedeutung der sinnlichen Liebe für das platonische Eros-Konzept betont: Platon negiere die sinnliche Liebe nicht, vielmehr gehe es darum, dass man auf den unteren Stufen nicht stehenbleibt.

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nur die unterste Stufe dieser Bewegung darstellen (vgl. 210a ff.). Was aber von der sinnlich-ästhetischen Ebene auf die philosophische Ebene freundschaftlicher Liebe ›herübergerettet‹ wird, ist das Moment der Anziehung und Sehnsucht. Diese beziehen sich nun auf die Seelen der Liebenden, weshalb sich die Wahl des Partners nicht an individuellen Vorlieben ausrichtet – solche kennzeichnen aus plato­ nischer Sicht den konventionellen Liebhaber –, sondern an der seeli­ schen Verwandtschaft, die in der Orientierung an einer wahrhaftigen Tugendsuche ihren Maßstab findet. Letztlich müssen beide Seelen dem Gesuchten selbst ähnlich sein.231 Dass sich die Poiesis des Eros nur im Schönen, niemals im Hässlichen vollziehen kann (vgl. 206c), erhält dadurch noch einmal einen Akzent: Das philosophische Streben impliziert das schöne, nämlich adäquate Zusammensein zweier phi­ losophisch verwandter Seelen.232 Der dritte Gesichtspunkt, der durch Diotimas Vokabular an Kon­ tur gewinnt, betrifft das für Eros charakteristische Ineinandergreifen des Vergänglichen und Unsterblichen im Begriff der philosophischen Poiesis. Diotimas sprachliche Wendungen führen darauf hin, dass jedes sterbliche Lebewesen nur in einem anderen seiner selbst, in welchem es ›sich fortpflanzt‹, Unsterblichkeit erlangt, was aber bedeute, dass immer »ein anderes Junges statt des Alten« (ἕτερον νέον ἀντι τοῦ παλαιοῦ, 207d3) zurückbleibe. Diese Veränderung vom Alten zum Neuen erfahre jeder Mensch fortwährend an sich selbst, denn nicht nur alles Körperliche erneuere sich unentwegt, sondern auch seelische Zustände wie Gewohnheiten, Charakter, Meinungen, Lust und Unlust (vgl. 207d–e). Auch wenn wir diesen unentwegten Wandel nicht im Detail an uns selbst wahrnehmen können, so wis­ sen wir, auch wenn wir uns zumeist nur größere Veränderungen vergegenwärtigen, doch darum. Allerdings macht dieser persistente 231 Vgl. dazu Michael Erler: Vom Werden zum Sein. Über den Umgang mit Gehörtem in Platons Dialogen, in: Elenor Jain, Stephan Grätzel (Hg.): Sein und Werden im Lichte Platons. Festschrift für Karl Albert, Freiburg/München 2001a, S. 123–142, hier 136 f. mit Anm. 42. – Im Kontext des Phaidros wird auch die Anziehungskraft des Schönen selbst ausdrücklich hervortreten (vgl. unten Kap. 5.3.4). 232 Hingegen macht die alleinige Bezogenheit auf den Partner, wie Aristophanes sie proklamiert (vgl. Smp. 189a–193d), eine richtig verstandene Liebe nicht tragfähig. Auch seine Rede antizipiert in gewisser Weise mit dem Begriff des Mangels und der nicht-hierarchischen Struktur des Liebesverhältnisses bestimmte Momente der Diotima-Rede (vgl. auch Engelen 2001, S. 13 ff.), allerdings wiederum innerhalb eines differenten Bezugsrahmens. So fehlt in der Rede des Komödiendichters der für Platon elementare Hinblick auf das Gute vollkommen.

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Wandel nach den Worten der Priesterin auch vor den menschlichen Erkenntnissen nicht Halt: »Weit wunderlicher als dieses ist, dass auch die Erkenntnisse sowohl entstehen als uns auch vergehen, und wir niemals dieselben sind im Hinblick auf die Erkenntnisse, sondern dass jede einzelne Erkenntnis dasselbe erleidet. Denn was man Bemühen heißt, bezieht sich auf eine weggegangene Erkenntnis. Vergessen nämlich ist das Fortgehen einer Erkenntnis, Bemühung aber fügt statt dem Fortgegangenen eine neue Erinnerung ein und bewahrt die Erkenntnis, sodass sie dieselbe zu sein scheint. Denn auf diese Weise wird alles Sterbliche erhalten«.233 Das im philosophischen Gespräch Hervorgebrachte als ein kon­ kretes, von der Seele erzeugtes Wissen ist demnach nicht von Dauer: Jede einzelne Erkenntnis bzw. jedes artikulierbare Wissenselement entsteht und vergeht. Zum einen, weil wir uns selbst stetig ändern und uns auch im Streben nach Wissen in einer fortwährenden Bewegung befinden, zum anderen ist aber auch die einzelne Erkenntnis als solche nach den Worten der Priesterin nicht von Bestand. Durch sorgfältige Beschäftigung und Übung (μελέτη) beziehen wir uns auf eine alte Erkenntnis, greifen durch Erinnerung auf, was dem Vergessen anheim zu fallen droht, schaffen dadurch aber eine neue Erkenntnis, wodurch die alte zwar gewissermaßen ›gerettet‹ werde, aber doch nur dadurch, dass die neue dieselbe zu sein scheint. Unser Wissen im Sinne einzel­ ner Erkenntnisse ist kein immerwährendes Gebilde, sondern es ver­ ändert sich, auch dann, wenn wir es als resilient erachten. Allerdings stehen sich alte und neue Erkenntnis nicht als fremde gegenüber, sondern das Alte setzt sich – der Metapher des Sich-Fortpflanzens gemäß – im Neuen fort, wird in diesem auf bestimmte Weise bewahrt, das Neue bleibt umgekehrt auf das Alte rückbezogen. In dieser Form, so Diotima, finde das Sterbliche Erhaltung, nicht so, dass es immer dasselbe sei wie das Göttliche, »sondern indem das Weggehende und Altgewordene ein anderes Neues von der Art zurücklässt, wie es selbst

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Πολὺ δὲ τούτων ἀτοπώτερον ἔτι, ὅτι καὶ αἱ ἐπιστῆμαι μὴ ὅτι αἱ μὲν γίγνονται, αἱ δὲ ἀπόλλυνται ἡμῖν, καὶ οὑδέποτε οἱ αὐτοί ἐσμεν οὐδὲ κατὰ τὰς ἐπιστεήμας, ἀλλὰ καὶ μία ἑκάστη τῶν ἐπιστημῶν ταὐτὸν πάσχει. ὅ γὰρ καλεῖται μελετᾶν, ὡς ἐξιούσης ἐστὶ τῆς ἐπιστήμης· λὴθη γὰρ ἐπιστήμης ἔξοδος, μελέτη δὲ πάλιν καινὴν ἐμποιοῦσα ἀντὶ τῆς ἀπιούσης μνήμην σῴζει τὴν ἐπιστήμην, ὥστε τὴν αὐτὴν δοκεῖν εἶναι. τούτῳ γὰρ τῷ τρόπῳ πᾶν τὸ θνητὸν σῴζεται (Smp. 207e5–208a8). Übers. in enger Anlehnung an Schleiermacher (Eigler-Ausg., Bd. 3).

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war«.234 Der Fluss der Erkenntnisse, das Entstehen, Vergehen und Neuentstehen, bildet eine Kontinuität, innerhalb derer das Wissen nicht identisch bleibt, sondern sich auf bewahrende Weise verändert; das Frühere ist im Späteren bis zu einem gewissen Grad ent- und erhalten.235 Das menschliche Erinnerungsvermögen (μνήμη) ist für diesen Prozess wesentlich, es schafft eine Verbindung im Denken, indem es die zeitliche Differenz überbrückt. Dass die Erkenntnisse wie sinnliche Dinge, Meinungen etc. von Diotima als sterbliche gekennzeichnet werden, ist im Kontext der platonischen Philosophie ernüchternd, was dieser Textstelle (Smp. 207e–208b) in der Literatur nicht selten die Zuschreibung eintrug, unplatonisch zu sein.236 Der Passus fällt aber aus dem Rahmen des platonischen Wissenskonzepts nicht heraus. Der Plural ἐπιστῆμαι zeigt an, dass hier nicht vom wahren, höchsten Wissen die Rede ist, auf welches als einzigartiges (τινὰ ἐπιστήμην μίαν, 210d7) nur der hinblickt und es erlangt, der die höchste Erkenntnisstufe erreicht hat, sondern von dem Wissen, das, wie Borsche unterstreicht, als diskursiv zu bezeichnen ist und zu dem man durch dialektische Suche gelangt. Die Erkenntnisse, von denen Diotima spricht, betreffen, aus­ genommen das höchste Wissen selbst, das ganze Feld menschlichen Wissens. Dieser gesamte Denk- und Erkenntnisbereich ist auf den Logos angewiesen, an diesen gebunden bzw. mit ihm unmittelbar verbunden.237 Indem aber die Erkenntnisse als Logoi erzeugt werden, sind sie immer auf etwas bezogen und als solche voneinander unter­ scheidbar;238 es sind keine voraussetzungslosen Wissenselemente, sondern bedingte und insofern endliche. 234 ἀλλὰ τῷ τὸ ἀπιὸν καὶ παλαιούμενον ἕτερον νέον ἐγκαταλείπειν οἷον αὐτὸ ἦν (Smp. 208b1–2). 235 Vgl. dazu Karl 2010, S. 113; zu einer eingehenden Erörterung der hier diskutierten Passage des Symposion ebd., S. 109–114. 236 Vgl. dazu, in kritischer Abgrenzung, Tilman Borsche: Was etwas ist. Fragen nach der Wahrheit der Bedeutung bei Platon, Augustin, Nikolaus von Kues und Nietzsche, 2. Aufl., München 1992, § 62, S. 71 f., zu Literaturangaben ebd., Anm. 94; auch Karl 2010, S. 111. 237 Im Blick auf die Politeia umfasst dieser Bereich das dianoetische, damit aber auch das mathematische Wissen; die Ausnahme hiervon bildet das noetische Wissen (vgl. Borsche 1992, S. 71 f. mit Anm. 93). Aber auch die Logoi des Dialektikers sind endlich. Diese Zusammenhänge werden vor dem Hintergrund des philosophischen Curricu­ lums im siebten Buch der Politeia ausführlich unten in Kap. 3.4 diskutiert. 238 Vgl. Borsche 1992, S. 72: »Λόγος und ἐπιστήμη aber gehören zusammen: Weder Erkenntnis noch Gedanke sind absolut, denn alles Bestimmte ist, was es ist, nur im

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Der von Diotima dargestellte Prozess macht aber auch die Dyna­ mik des platonischen Wissenskonzepts sichtbar. Die Erkenntnisse, die der Mensch produziert, können nicht als ewige fest- oder fortge­ schrieben werden: Jeder alte Satz, jeder alte Logos muss, um tatsäch­ lich Erkenntnis und Wissen zu sein, immer wieder neu erarbeitet, reflektiert und verstanden werden. Das Bild des seelischen Bandes im Menon, mit dessen Hilfe Sokrates Wissen von der richtigen Meinung unterschied, repräsentierte keine ›Fixierung‹ eines unveränderlichen Wissens, die als solche statisch wäre, sondern die Bindung von Wis­ sen an den prüfend-aktiven Denkvollzug der Seele, dem aber nicht Stillstand, sondern Bewegung immanent ist.239 Wie aber das Bild des Bandes zugleich den Blick auf das Wesentliche einer Sache lenkte, orientiert sich der poietische Prozess von Wissen im Symposion am wahren Schönen und daran, das Gute immer erlangen zu wollen. Als fortdauernder, sukzessiver Prozess sind seelische Einsicht und Wis­ senserzeugung durch Veränderung gekennzeichnet; in ihrer philoso­ phischen Ausrichtung unterscheiden sie sich jedoch wesentlich von allen anderen dem Fluss des Werdens unterworfenen Veränderungen: Der anzustrebende ›bessere Logos‹ zielt in philosophischer Hinsicht darauf, von perspektivischen Sichtweisen zunehmend unabhängig zu werden. Die Dynamik des Wissensprozesses lässt darüber hinaus erken­ nen, dass auch das Philosophieren selbst letztlich eine Übung bleibt. Diese schließt in gewisser Weise an die im Kontext der Selbstsorge hervorgetretene Übung des nachdenkenden Sprechens über die Arete als Vorgang eines reflexiven Lernens an. Epistemische Poiesis und Übung zeichnen sich durch eine ›performative‹ Note aus, insofern sie auf ein Wissen zielen, das notwendig an den reflexiven Vollzug des Denkens gebunden bleibt, in diesem Vollzug erst fassbar wird und so gefasst in Sätzen zum Ausdruck kommt.240 Ohne die Anbindung an den lebendig-denkenden Vollzug fehle der Rede, so heißt es im Phaidros, »die Hilfe des Vaters« (275e4), sodass sie schutzlos jeder beliebigen Deutung ausgesetzt sei. Dies gilt jedoch nicht nur für Unterschied gegen anderes.« Menschliches Wissen entstehe »als eine Antwort auf Probleme, d. h. auf Fragen, die sich wirklich stellen. Insofern bleibt es immer relativ, bezogen auf jeweils Gegebenes.« 239 Vgl. oben Kap. 1.1.2. 240 Den Kontrast dazu bilden formelhafte Wendungen, wie sie manche Gesprächs­ partner vor allem im Frühwerk einbringen, denen jede gedankliche Einordnung fehlt. Vgl. dazu Erler 2001a, S. 126–134.

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die Schrift, sondern auch für den mündlichen Logos, wenn dem Sprechenden die philosophische Orientierung und Übung ermangelt. Ganz anders die Rede des wahrhaft Wissenden, der einen »lebendigen und beseelten« (ζῶντα καὶ ἔμψυχον, 276a8) Logos erzeuge (vgl. Phdr. 275d–276a). Das Symposion zeichnet ein weites Spektrum des philosophi­ schen Eros: Ob jemand allein eine richtige Meinung (ὀρθὴ δόξα) hat, die er jedoch nicht begründen kann (vgl. Smp. 202a), oder ob er zu denjenigen Erkenntnissen aufzusteigen imstande ist (ἐπὶ τὰς ἐπιστήμας ἀγαγεῖν, 210c6–7), deren Schönheit man daran erkenne, dass der Wissende sich nicht mehr durch Sinnliches oder Belangloses versklave (vgl. 210d), macht einen erheblichen Unterschied. In der Darstellung des seelischen Aufstiegs, den Diotima als die nun höchste Ebene ihrer Ausführungen unterstreicht (vgl. 209e–210a), gewinnt die Verschränkung des Erkenntnisstrebens mit dem Begriff der Liebe noch einmal an Profil: Ausgehend vom einzelnen schönen Körper über die Schönheit aller Körper, die Schönheit in den Seelen und die der Bestrebungen, Sitten und Gesetze vollzieht sich der Aufstieg zur Schönheit der Erkenntnisse bis hin zum wahren Schönen selbst (vgl. 210a–212a). Das höchste Wissen, die Einsicht in die Idee des Schönen, beschreibt Platon hier wie andernorts mithilfe visueller Metaphern.241 Ähnlich wie sich aber dem Dialektiker erst nach einem langen, mühe­ vollen Erkenntnisweg die Idee des Guten zeigt (R. VII 531d ff.), muss auch der Liebende, der auf dieser Stufe »plötzlich« (ἐξαίφνης, Smp. 210e4) das wahre Schöne erblickt, die Ordnungen des bisherigen Schönen, das alle wesentlichen Felder des Daseins umfasst, das Sinn­ liche, die Seele, das politische Areal der Gemeinschaft und den epis­ temischen Bereich, Schritt für Schritt verstanden haben (vgl. 210e). Die Aufstiegsmetapher akzentuiert Anstrengung und Kraftaufwand; die Liebe zum Schönen erscheint aber als motivationales und ein die Mühe kompensierendes Moment. Die Darstellungen der Priesterin vermitteln eine Freude oder geistige ›Lust‹ am Philosophieren. Erkenntnistheoretisch beschreibt der Aufstieg den Weg vom Besonderen zum Allgemeinen, vom sinnfällig Schönen über die vielen 241 Vgl. Erler 2001a, S. 124: Damit trage Platon »dem Charakter der erstrebten Erkenntnisobjekte Rechnung«, nämlich den Ideen. Dass die Verben des Gesichtssinns im Symposion besonders stark hervortreten (vgl. 210e, 211d–212a), hängt aber offen­ sichtlich auch damit zusammen, dass hier die Idee des Schönen im Blick steht (dazu auch oben Anm. 199).

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Formen der Erkenntnis eines zunehmend allgemeineren Schönen bis zur Erkenntnis des Schönen an sich.242 Zugleich bedeutet jede höhere Ebene einen solchen Gewinn an Freiheit, durch welche der Liebende »neidlos« (ἀφθόνῳ, 210d6), also frei von einem Anhaften an Nebensächlichem, sich der Liebe zur Weisheit widmet. Angezeigt ist damit, dass das Glück, das ein Mensch auf der höchsten Stufe erfährt (vgl. 211d–212a), nicht auf bloßem Erkenntnisgewinn, sondern auf dem Wandel der Seele beruht. Prädestinierter Helfer hierfür ist aber Eros (vgl. 212b): Indem die Priesterin das Motiv des Gebärens schöner Reden auf verschiedenen Stufen des Aufstiegs aufgreift (vgl. 210a7– 8, c1–2, d4–6), wird deutlich, dass der Begriff der Liebe nicht nur das Begehren von Wissen, sondern auch die freundschaftliche Liebe und Gemeinschaft einschließt. Sie sind mit Blick auf das dialektische Gespräch für den seelischen Wandel und Erkenntnisgewinn konstitu­ tiv. Der Weg zur Schau des Schönen manifestiert das Streben nach Unsterblichkeit auf eminente Weise, insofern er auf ein zumindest punktuelles243 Heraustreten des Menschen aus der Gespanntheit zwischen Unwissen und Wissen zielt. Die Beschreibungen des wahren Schönen als Immerseiendes, sich niemals Veränderndes, als »das göttlich Schöne selbst« (αὐτὸ τὸ θεῖον καλὸν, 211e3) weisen signifi­ kant auf Platons Ideenbegriff hin.244 Noch einmal wird in diesem Zusammenhang das Berührungsmotiv aufgerufen: Hier ist es aber der Strebende selbst, der das Wahre berührt (τοῦ ἀληθοῦς ἐφαπτομένῳ, 212a5), nämlich geistig erfasst. Diese Einsicht bringt ein Mensch nicht mehr selbst hervor. Was er aber unter Voraussetzung seines Wissens erzeuge, sei wahre Tugend, nicht mehr deren Abbilder (vgl. 212a). Der philosophierende Erotiker, der im Zwischenbereich des Eros nach Weisheit strebt und den Aufstiegsweg nicht scheut, bringt nicht Wahres, aber doch wahrere Abbilder der Tugend als derjenige hervor, der im gewöhnlichen Denken verbleibt. Er hat den sich selbst genü­ genden Bereich des Unwissens hinter sich gelassen, als ein vom Eros Ergriffener ist er wissbegierig, seine Logoi bilden das hermeneutischVgl. Rehn 1996, S. 92. Vgl. Erler 2001a, S. 123. 244 Die detailreiche Darstellung des wahren Schönen (vgl. Smp. 210e–211b, 211d–e) als immer dasselbe Seiende (μονοειδὲς ἀεὶ ὄν, 211b1–2) zeigt eine deutliche Analogie zu Phd. 78c–d. Darüber hinaus scheidet Diotima sehr klar die vielen Erkenntnisge­ genstände (τὰ καλὰ μαθήματα, 211c6) von jenem einen (ἐκεῖνο τὸ μάθημα, 211c7). Vgl. auch Borsche 1992, S. 71 f. Anm. 93. 242

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verbindende Moment zwischen Sterblichem und Unsterblichem, das stetige Sich-Erneuern macht sein Wissen lebendig und lässt das Sterbliche am Unsterblichen teilhaben (vgl. 208b). Zugleich aber ist der Ausgriff auf das Unsterbliche philosophisch der Hinblick zur Idee; nur durch diese verlieren sich die Erkenntnisse nicht im heraklitei­ schen Werden, sondern sind identifizier- und bestimmbar.245 Aller­ dings vermag das Eros-Konzept im Symposion die Frage, wie ein Mensch das Feld des Unwissens transzendiert, nicht zu beantworten. Hierfür bleibt das Motiv der Periagoge maßgeblich. Diotimas Verwendung des Vokabulars aus dem Bereich der leiblichen Fortpflanzung für das philosophische Feld des Entstehens, Hervorbringens und Artikulierens von Erkenntnissen markiert die im platonischen Œuvre häufig zu findende ›Transposition‹ von Begrif­ fen oder Konzeptionen: Platon greift diese aus einem nicht-philo­ sophischen Umfeld auf und ›versetzt‹ sie auf die philosophische Ebene des Denkens. Diotimas Sprachgebrauch ist für diese Vorge­ hensweise exemplarisch: In ihrer neuen, philosophischen Umgebung erhalten die Begrifflichkeiten einerseits eine adaptierte und modifi­ zierte inhaltliche Bedeutung, andererseits lässt Platon aber auch deren herkömmlichen Gehalt und ihre der Alltagssprache entnom­ mene Bedeutung bis zu einem gewissen Grad mithören, sofern diese dem philosophischen Kontext nicht entgegenstehen. Mit dieser Art einer Transformation und Transposition werden die Begriffe auf der philosophischen Ebene weder in einer ausschließlich metapho­ rischen Weise verwendet noch in semantischer Hinsicht ganz neu definiert; dennoch gewinnen sie eine neue, eigene philosophische Bedeutung.246 In gewisser Weise demonstriert Platon damit auch eine spezifische Poiesis von Wissen.

Vgl. dazu unten Kap. 3.1. Zu Platons Methode der ›Transposition‹ herkömmlicher oder sophistischer Ansätze vgl.: Auguste Diès: Autour de Platon. Essai de critique et d’histoire, 2. tirage revu et corrigé, Paris 1972, S. 400 ff. Der aus der Musik herkommende Begriff wird in der Platon-Literatur immer wieder als Interpretationshilfe herangezogen, auch in dieser Arbeit. 245

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1.3.3 Sophistischer Naturalismus Platons Auseinandersetzung mit der Frage, wie man leben soll, wie ein gutes Leben gelingen kann, und seine damit verbundene Neuson­ dierung ethischen Wissens müssen auch vor dem Hintergrund der in der Literatur oft beschriebenen Krisenzeit betrachtet werden, welche über die bereits dargelegten historischen Aspekte hinaus die politische Situation in Athen in der zweiten Hälfte und besonders gegen Ende des fünften Jahrhunderts v. Chr. prägt. Die vielfältige Begegnung mit anderen Kulturen, die Erfahrung unterschiedlicher Sitten und reli­ giöser Formen, ebenso die Ereignisse des Peloponnesischen Krieges führten bekanntlich zu einer Relativierung tradierter Wertvorstellun­ gen und der Geltung und Autorität des Nomos.247 Durch Thukydides belegt, brachten die veränderten Bedingungen auch Modifikationen des Sprachgebrauchs mit sich: Die traditionellen Tugendbegriffe erfuhren eine Umwertung ihrer Bedeutungen, etwa dann, wenn die Sophrosyne nun als Einfalt und Feigheit gedeutet wurde; normative Ideale wurden teilweise in ihr Gegenteil verkehrt.248 Die Verschie­ bung von Maßstäben und die semantische Neubestimmung ethischer und politischer Termini sind gleichermaßen ein Indiz für Skeptizis­ mus, Verunsicherung und Willkür; aber auch für die folgenreiche Einsicht, dass die Normen der Polis auf Konventionen beruhen. Der Wandel von Sprache und normativ-praktischer Ordnung und Orientierung zeigt an, dass es denkmöglich geworden ist, νόμος und φύσις voneinander zu scheiden: Wenn Regeln und Gesetze, Sitten und Gebräuche auf Konventionen beruhen, dann ist der Nomos nicht ›naturgegeben‹; er ist demnach nicht von den Göttern, einer göttlichen Weltordnung oder einem göttlichen Vernunftprinzip abzuleiten, son­ 247 Zum Begriff der Krisenzeit und zu ihren Implikationen vgl. Peter Stemmer: Pla­ tons Dialektik. Die frühen und mittleren Dialoge, Berlin/New York 1992, S. 4–12; auch Jaeger (1928) 1969, S. 111 f. 248 Vgl. Thukydides III, 82, 4; dazu auch Grg. 491e ff. – Stemmer (1992, S. 7–12), der Thukydides’ Analyse des sprachlichen Wandels erläutert und präzisiert, hebt vor allem die bei Thukydides und in sophistischen Texten sich niederschlagende Erkenntnis hervor, dass Sprachgebrauch und praktische Verhaltensweisen bzw. deren Verände­ rungen in einem korrelativen Verhältnis stehen, sich also häufig gegenseitig bedingen (vgl. ebd., S. 7, zu weiterer Literatur ebd., Anm. 5 u. 6). Auch Platon greift die sprach­ lichen Neubewertungen auf, oftmals mit Verweis auf Prodikos von Keos, vgl. z. B. La. 197a–d; Chrm. 163d; Euthd. 277e–278a (auch dazu Stemmer 1992, S. 10 f. mit Anm. 12 u. 16).

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dern als menschliche Satzung oder Setzung, als θέσις, zu begreifen. Waren Autorität und Verbindlichkeit des Nomos zuvor durch den Bezug zum Göttlichen akkreditiert, so ist diese Verbindung nun teilweise aufgehoben. Einerseits wird mit der Einsicht in die konven­ tionelle Bedingtheit von Normen und mit der Relativierung überkom­ mener ethischer, religiöser und politischer Konzepte die Grundlage dafür geschaffen, in neue Richtungen zu denken und erstarrte Muster aufzubrechen. Andererseits drohen jedoch die Gesetze der Polis ihre Geltung und Bindung zu verlieren, da die Gefahr besteht, dass der Nomos »innerlich leer und unbeständig [bleibt], wenn der tragende Bezug zum Göttlichen und zu den Göttern im Grund der Gesetz­ gebung fehlt«.249 Es ist eine Gefahr, die Platon erneut in seinem Spätwerk, den Nomoi, und hier mit allem Nachdruck aufgreifen wird. Die Auflösung des traditionellen Bandes zwischen Nomos und Physis leistet darüber hinaus einer – allerdings nicht neuen – Denk­ weise Vorschub, welche auch die Physis ihres Bezugs zum Göttli­ chen enthebt und sie auf ein ›materialistisches‹ Charakteristikum reduziert.250 Insbesondere die Sophistik eignet sich diesen Begriff der Physis an, um ihn, in ihrer eigenen spezifischen Prägung, in Gegenüberstellung zum alten Nomos als neue Begründungsinstanz für ethische und politische Normvorstellungen zu etablieren.251 An mehreren Stellen pointiert Platon die sophistische Perspektive. So erklärt etwa Hippias von Elis im Protagoras, dass »das Gesetz, welches

Damir Barbarić: Der Ursprung der Gottlosigkeit, in: Dietmar Koch, Irmgard Männlein-Robert, Niels Weidtmann (Hg.): Platon und das Göttliche, Tübingen 2010, S. 30–41, hier 33. 250 Im zehnten Buch der Nomoi widmet sich Platon den Auffassungen atheistischer Lehren (vgl. Lg. X 888d–890a), wonach alles Körperliche aus den »völlig unbeseel­ ten« (παντελῶς ὄντων ἀψύχων, 889b4–5) Elementen Feuer, Wasser, Erde und Luft entstanden sei, die wiederum in φύσις und τύχη gründeten. Die Physis selbst erscheint danach als etwas leblos Körperliches, das durch Zufall und vernunftlose Notwendig­ keit bestimmt wird. Vgl. dazu Michael Bordt: Platons Theologie, Freiburg/München 2006, S. 191–196; Barbarić 2010, S. 39 f. – Zum historischen Kontext der materia­ listischen Denkrichtungen zur Zeit Platons, zu denen neben den sophistisch-relati­ vistischen auch die empirischen und mechanischen Theorien zu zählen sind, vgl. ebd., S. 33 f. Barbarić problematisiert aber auch den Ausdruck ›materialistisch‹, der wie viele andere nachplatonische Termini nur bedingt geeignet sei, diese Positionen adäquat zu beschreiben. 251 Vgl. dazu Walter Mesch: Platons Dialoge als hermeneutisches Problem, in: Inter­ nationales Jahrbuch für Hermeneutik, hg. von Günter Figal, Bd. 4: Platon und die Hermeneutik, Tübingen 2005, S. 27–57, hier 46 f. 249

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ein Tyrann der Menschen ist, vieles gegen die Natur erzwingt«.252 Überdies wird es nun möglich zu fragen, ob die Richtlinien und Gesetzlichkeiten der Polis, denen der Einzelne folgen soll, tatsächlich dem je eigenen Wohl und Nutzen dienen: Die herkömmlich selbstver­ ständliche Kongruenz zwischen der Vorstellung des eigenen guten Lebens und den Mustern und Standards der traditionellen Tugenden wird aufgebrochen. Die Sophistik stellt zur Diskussion, ob tradierte Deutungen etwa des Tapferseins oder gerechten Handelns als nützlich und zuträglich für das je eigene Leben anerkannt werden müssen oder ob nicht vielmehr neue Bestimmungen für das eigene Wohlergehen förderlicher sind: »In dem Begriff des dem eigenen Glück Zuträglichen findet die Sophistik den kritischen Maßstab für die Anerkennung oder Verwerfung überkommener (und auch aller anderen) Hand­ lungsempfehlungen. […] Der der Medizin entstammende Begriff des Zuträglichen, des συμφέρον, wird zu einem Schlüsselbegriff.«253 Die Lehren der Sophisten forcieren die neuen Denkrichtungen; Platon führt im Gorgias und im ersten Buch der Politeia zwei paradigmatische Ansätze vor.254 Im Gorgias ist es der Sophist Kallikles, der den Versuch unter­ nimmt, vor dem Hintergrund des modifizierten Begriffs der Physis deren Normativität zu begründen: Er lanciert einen auf der Macht des Stärkeren basierenden Naturalismus (vgl. Grg. 482d–484c). Deutlich formuliert Kallikles seine Prämisse eines Antagonismus von Physis und Nomos,255 die ihm als Grundlage seiner Ausführungen über das Gerechte und Ungerechte dient. In Rekurs auf die zuvor von Sokrates vertretene These, dass Unrecht zu erleiden besser sei, als Unrecht zu tun (vgl. 468e–469c, 473a, 474b–475b), erläutert Kallikles, dass nur dem herkömmlichen Nomos nach das Unrechtleiden das Schönere und das Unrechttun das Schlechtere sei. Diese Gesetzgebung sei 252 ὁ δὲ νόμος, τύραννος ὢν τῶν ἀνθρῶπων, πολλὰ παρὰ τὴν φύσιν βιάζεται (Prt. 337d2–3). 253 Stemmer 1988, S. 536 f.; zum Ausdruck συμφέρον vgl. auch ebd., Anm. 18. 254 Vgl. zu den beiden nachfolgend skizzierten Textpassagen bzw. sophistischen Argumentationsweisen auch Stemmer (1992, S. 13–25), der diese, auch in ihrem his­ torisch-politischen Kontext, ausführlich diskutiert. 255 »Denn diese beiden sind zum großen Teil einander entgegengesetzt, die Natur und das Gesetz« (ὡς τὰ πολλὰ δὲ ταῦτα ἐναντί᾿ ἀλλήλοις ἐστίν, ἥ τε φύσιν καὶ ὁ νόμος, Grg. 482e5–6). Kallikles akzentuiert die Gegensätzlichkeit, indem er die Wendungen »von Natur« bzw. »gemäß der Natur« (φύσει, κατὰ φύσιν) und »vom Gesetz« bzw. »nach dem Gesetz« (νόμῳ, κατὰ νόμον) wiederholt einsetzt.

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nämlich von den vielen schwachen Menschen gegen die Starken durchgesetzt worden (vgl. 483a–c), wohingegen es sich von Natur genau umgekehrt verhalte: Das konventionell als ungerecht geltende »Mehrhabenwollen« (τὸ πλεονεκτεῖν, 483c3–4) sei das Gerechte. »Die Natur selbst«, so Kallikles, »zeigt klar auf, dass es gerecht ist, dass der Bessere mehr hat als der Schlechtere, der Stärkere und Fähigere mehr als der Schwächere und Unfähigere«.256 Wie es sich auch in der Tierwelt oder unter Staaten zeige, herrsche der Stärkere notwendig über den Schwächeren. Dies aber sei »das Recht der Natur« (τὸ τῆς φύσεως δίκαιον, 484b1).257 Zu dem so verstandenen Schönen und Rechten gehöre es aber auch, seine Begierden nach Möglichkeit frei ausleben zu können (vgl. 491e–492c). Arete und Eudaimonia sind für Kallikles nicht in der tradierten Besonnenheit zu suchen, die höchstens Einfältige guthießen, sondern in Üppig­ keit, Ausschweifung und Ungebundenheit. Alles andere aber seien »menschliche Satzungen wider die Natur« (τὰ παρὰ φύσιν συνθήματα ἀνθρώπων, 492c7). Im ersten Buch der Politeia lässt Platon als einen weiteren Vertreter »der rabiaten Revision hergebrachter Überzeugungen«258 Thrasymachos auftreten. Dieser zielt in seiner Argumentation nicht wie Kallikles darauf, die Wortbedeutungen des Gerechten und Unge­ rechten in das Gegenteil ihres konventionellen Sinngehalts zu verkeh­ ren, sie also in einer gegenseitigen Umkehrung neu zu bestimmen;259 vielmehr bringt Thrasymachos die Frage des Nutzens ins Spiel (vgl. R. I 343b–344c): In vielfältigen Beispielen, Geschäfte, Ämter und Steuern betreffend, legt er dar, dass ein für gerecht gehaltenes Tun für den Betreffenden zumeist Schaden, das ungerechte Handeln hingegen stets Vorteile mit sich bringe; der Gerechte sei in all diesen Dingen schlechter bestellt als der Ungerechte. Uneingeschränkt einsichtig werde dies am Beispiel des Tyrannen: Alles, was man sonst für unge­ 256

φύσις αὐτὴ ἀποφαίνει αὐτό, ὅτι δίκαιόν ἐστιν τὸν ἀμείνω τοῦ χείρονος πλέον ἔχειν καὶ τὸν δυνατώτερον τοῦ ἀδυνατωτέρου (Grg. 483c8–d2). 257 Vgl. dazu Georg Picht: Die Fundamente der griechischen Ontologie, mit einer Einf. von Hellmut Flashar, Stuttgart 1996 (Vorlesungen und Schriften), S. 50–56. Picht führt Kallikles’ Position auf Platons Onkel Kritias zurück, der in einer seiner Schriften, die als Fragment überliefert ist, im Rahmen seiner Religionskritik das Recht des Stärkeren als Urzustand der Menschen, die Gesetzgebung als naturwidrig cha­ rakterisiert. 258 Stemmer 1992, S. 12. 259 Vgl. dazu Stemmer 1992, S. 14 f. u. 18.

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recht und ehrlos halte, Gewalt, Raub, jegliche Art der Veruntreuung, werde im Falle des Tyrannen, der nicht nur das Vermögen seiner Mitbürger, sondern diese selbst in seine Gewalt bringe, gerühmt und der Tyrann selbst glücklich gepriesen. In dieser nicht mehr zu stei­ gernden Ungerechtigkeit, die den Unrechttuenden zum Glücklichsten mache,260 erkennt Thrasymachos den hinlänglichen Beweis dafür, dass die Ungerechtigkeit jeweils weitaus nutz- und glückverheißender für den ist, der sie ausübt, als die Gerechtigkeit. Sokrates habe nicht verstanden, »dass die Gerechtigkeit und das Gerechte in Wirklichkeit ein fremdes Gut darstellen, nämlich den Nutzen für den Stärkeren und Herrschenden, dagegen den eigenen Schaden für den Gehorchenden und Dienenden«.261 Während also das Ansinnen, gerecht zu sein, auf gutmeinender Einfalt beruhe,262 sei derjenige, der ungerecht handle, vernünftig und klug, da er wisse, was ihm Vorteil verschafft (vgl. 348c–d). Nicht die Gerechtigkeit, sondern die Ungerechtigkeit sei anerkennenswert, nämlich kraftvoll und mächtig (ἰσχυρόν, 348e10); sie sei die eigentliche Arete (vgl. 348e–349a). Obwohl Thrasymachos sich in seiner Argumentation nicht wie Kallikles auf ein naturalistisches Konzept bzw. auf die Trennung von Nomos und Physis beruft, klingt in seinen Ausführungen eine Art Naturalismus an, insofern auch er in der Macht des Stärkeren das Gute erblickt. Es ist ein Begriff von Macht, der in der Tyrannis als einer ungehinderten Herrschafts- und Gewaltausübung seinen nicht zu überbietenden Höhepunkt findet. Das Ideal einer uneingeschränkten Pleonexie (vgl. R. I 349c), mit welchem notwendig auch der von Kallikles formulierte Anspruch eines möglichst freien Auslebens der Begierden zusammenhängt, wird von Thrasymachos und Kalli­ kles je anders begründet: Während Thrasymachos sich auf Zweck und Ziel bezieht, um seine Position zu erhärten, nämlich auf den 260

ἐὰν ἐπὶ τὴν τελεωτάτην ἀδικίαν ἔλθῃς, ἣ τὸν μὲν ἀδικήσαντα εὐδαιμονέστατον ποιεῖ (R. I 344a4–5). 261 ὅτι ἡ μὲν δικαιοσύνη καὶ τὸ δίκαιον ἀλλότριον ἀγαθὸν τῷ ὄντι, τοῦ κρείττονός τε καὶ ἄρχοντος ξυμφέρον, οἰκεία δὲ τοῦ πειθομένου τε καὶ ὑπηρετοῦντος βλάβη (R. I 343c3– 5). Thrasymachos bestätigt damit seine zuvor gegebene Definition des Gerechten als »das dem Stärkeren Zuträgliche« (τὸ τοῦ κρείττονος συμφέρον, 338c2 u. 339a3–4). Der Erlass von Gesetzen und damit die Bestimmung dessen, was gerecht ist, kommt danach primär den je Regierenden selbst zugute (vgl. 338e-339a, 343b). Vgl. dazu, dass Thrasymachos die Nomoi vor allem als verfügte Gesetze, Kallikles den Nomos auch als Sitte und Gewohnheit versteht, Stemmer 1992, S. 17. 262 Zu dem von Thrasymachos wiederholt verwendeten Adjektiv εὐήθης vgl. ebenso Stemmer 1992, S. 19 f.

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eigenen Nutzen und das eigene Glück, rekurriert Kallikles auf die Voraussetzung seiner Argumente, auf ›das Recht der Natur‹. Auch wenn die Argumentation also in einem Falle von ihrer Prämisse ausgeht, im anderen auf das Ziel ausgerichtet ist – und Sokrates seinen Elenchos der Situation gemäß anpasst –, handelt es sich dennoch um die zwei Seiten ein- und derselben Medaille,263 die Platon wohl in Entsprechung zu tatsächlich in der Polis geführten Debatten zur Sprache bringt: Das Richtige und Empfehlenswerte ist trotz ihrer unterschiedlichen Argumentationsweisen für Kallikles und Thrasymachos dasselbe. Dargestellt wird in beiden Fällen eine Konzeption des guten Lebens, welche dem je eigenen Nutzen und einer gewinnbringenden Übervorteilung anderer Priorität verleiht und die in dem an der Macht des Stärkeren ausgerichteten Ideal ihre Orientierung für ein glückliches Leben findet. Dieses Ideal lässt sich aber letztlich nur durch einen Naturalismus legitimieren. Die sophistischen, zu einer Auflösung traditioneller Wertbe­ griffe tendierenden Strömungen stellen in Platons Werk eine maß­ gebliche Reflexionsfläche dar.264 Obwohl es auch für Platon »keinen Rückweg zur ungebrochenen Geltung traditioneller Normen gibt«265 – ein solcher würde seinem philosophischen Ansinnen widerspre­ chen –, sieht er im Desavouieren und Devaluieren hergebrachter ethisch-politischer Strukturen eine große Gefahr für die Polis. Das destruierende Moment der Sophistik zielt aus seiner Sicht auch in einem zweiten Schritt kaum auf einen reflexiv-differenzierenden und damit konstruktiven Ansatz. Was den sophistischen Thesen aus Platons Perspektive entschieden fehlt, ist ein Zweck, der nicht bei nächstliegenden Interessen endet, und eine Fundierung, die der teleologischen, auf das Gute zielenden Struktur unseres Strebens und Handelns in der Weise gerecht wird, dass sie über mehrdeutige 263 Anders Stemmer (1992, S. 21–25), der die Differenz der Argumente herausstellt: Während Thrasymachos im Blick auf die Frage der Glückszuträglichkeit des Handelns allein prudentiell und utilitarisch argumentiere, setze Kallikles, indem er das Wort ›gerecht‹ in seinem deskriptiven, nicht aber in seinem empfehlenden Gehalt umwerte, mithilfe des Naturalismus auf eine neue Moral. – Meines Erachtens sind aber auch bei Kallikles utilitäre, bei Thrasymachos naturalistische Aspekte erkennbar. Letztlich aber wird mit beiden Argumentationsfiguren die gleiche sophistische Position aus zwei Perspektiven beleuchtet. 264 Vgl. dazu Mesch 2005, S. 46: »Wer sich Platons Philosophieverständnis nähern will, muß sich zunächst deutlich machen, daß es durch und durch als Metakritik der sophistischen Traditionskritik angelegt ist.« 265 Mesch 2005, S. 47.

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Ziele hinausweist. Die Handlungsorientierungen der traditionellen Tugenden werden durch die Sophistik ausgehebelt, aber nicht auf Ver­ nunft beruhend und für die Polis förderlich neu herausgebildet. Die oben dargelegten, sich auf der Basis eines Naturalismus bewegenden Ansätze verschärfen für Platon die politische Gefahr allerdings auf besondere Weise, insofern der sophistisch reduzierte Physis-Begriff eine unhintergehbare und gleichsam ›eindeutige‹ Begründungsin­ stanz ethisch-politischer Normen suggeriert. Dass die Frage, »auf welche Weise man leben soll«, im Gorgias (500c3–4)266 und im ersten Buch der Politeia (352d6) zur Diskussion gestellt wird, ist auch vor diesem Hintergrund zu sehen. Beide Dialoge fragen nach den Gründen und Motiven gerechten Handelns und mehr noch danach, ob es für ein solches Handeln überhaupt gute Gründe gibt. So thematisiert die Politeia nicht allein das Problem, wie Inhalt und Wesen der Gerechtigkeit zu bestimmen seien, sondern zunächst in ganz praktischer Hinsicht die Fragen, was einen Menschen veranlasse, dem gerechten oder ungerechten Handeln den Vorzug zu geben, von welchem Nutzen es für jemanden sei, sein Leben am Gerechten auszurichten, und woran sich wiederum der Nutzen selbst orientiere.267 Gerade im Hinblick darauf bringen die verschiedenen Gesprächspartner in den ersten beiden Büchern unterschiedliche Sichtweisen ins Spiel, wobei die Ausführungen des alten Kephalos und seines Sohnes Polemarchos eher herkömmliche Ansichten wider­ spiegeln (vgl. R. I 328c–336a), während die nachfolgenden Motive sophistisch geprägt sind. Thrasymachos’ Ausführungen widerlegt Sokrates unter anderem mit dem Argument, dass die Ungerechtigkeit Zwietracht und Hass verursache, letztlich also den Einzelnen wie auch die Polis handlungsunfähig mache und deshalb keine Basis für das Zusammenleben bilden könne (vgl. R. I 350d–352d).

Vgl. auch Grg. 492d5 (πῶς βιωτέον). Vgl. dazu die Studie von Stemmer (1988, bes. S. 535–541), demzufolge die Frage nach den Motiven gerechten Handelns in der Politeia Priorität hat: »Nicht, was es heißt, gerecht zu sein, sondern ob es Gründe gibt, gerecht zu sein, ist die eigentliche Themafrage der Politeia. Ihr gilt das erste Buch und der Dialogbogen vom zweiten bis zum neunten Buch.« (Ebd., S. 535) Vgl. auch Blößner 1997, S. 17–31. Zu der Thematik überdies Wieland 1999, S. 129 u. 167 ff.; Tilman Borsche: Die Notwendigkeit der Ideen: Politeia, in: Theo Kobusch, Burkhard Mojsisch (Hg.): Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschungen, Darmstadt 1996, S. 96–114, hier 98 f.; dazu aber auch unten Anm. 272. 266 267

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Von diesem Argument ausgehend trägt Glaukon im zweiten Buch vor, was, wie er selbst sagt, die Menge denkt (vgl. R. II 358e– 359b): Nach Meinung der Vielen treffe zu, was schon Thrasymachos sagte, dass nämlich das Unrechttun von Natur aus gut sei, dagegen das Unrechterleiden schlecht. Da allerdings das Übel, Unrecht zu erleiden, das Gute des Unrechttuns überrage und notwendig viele, wenn die Ungerechtigkeit herrsche, unter ihr litten, einigten sich die Menschen darauf, Gesetze zu errichten und Verträge untereinander zu schließen (νόμους τίθεσθαι καὶ συνθήκας αὑτῶν, 359a3), die das Unrechttun verurteilen. Diese Gesetze nannten sie das Gerechte. Die Gerechtigkeit, die auf diese Weise entstanden sei, werde folglich nur deshalb geehrt, weil das Unrechttun mit einer Schwäche einhergehe. Mit der Geschichte des Gyges und seines unsichtbar machenden Ringes (vgl. 359b–360d) besiegelt Glaukon die von ihm vorgetragene herrschende Meinung, dass jeder, der keine Sanktionen oder nachtei­ ligen Konsequenzen für sich selbst befürchten müsse, das ungerechte Handeln vorziehe: Denn »niemand ist freiwillig gerecht, sondern nur gezwungenermaßen […]. Jedermann glaubt nämlich, dass die Unge­ rechtigkeit ihm persönlich weit mehr nützt als die Gerechtigkeit«.268 Das Gerechte erscheint in Glaukons Darstellung ausschließlich als Konvention; zwei Nützlichkeitsaspekte werden gegeneinander abgewogen: Zugunsten des Schutzes vor dem Unrechterleiden vieler und daher zugunsten des Zusammenlebens muss auf den je eigenen unmittelbaren Vorteil verzichtet werden.269 Die Gerechtigkeit stelle folglich für die Menge eine Notwendigkeit dar, die allerdings zu den mühseligen, beschwerlichen Formen des Guten zähle; entspre­ chend werde sie nicht um ihrer selbst, sondern nur um ihrer Folgen willen geschätzt (vgl. R. II 357c–358c): Sie ist danach lediglich Mittel zu einem bestimmten Zweck.270 Glaukon kennzeichnet einen ὅτι ουδεὶς ἑκὼν δίκαιος ἀλλ᾿ ἀναγκαζόμενος […]. λυσιτελεῖν γὰρ δὴ οἴεται πᾶς ἀνὴρ πολὺ μᾶλλον ἰδίᾳ τὴν ἀδικίαν τῆς δικαιοσύνης (R. II 360c6–d1). – Indem Glaukon und später auch Adeimantos »die These der communis opinio« vortragen, »handeln sie freilich als advocati diaboli« (Blößner 1997, S. 17): Ihr Anliegen ist es, dass Sokrates die These widerlegt und die Gerechtigkeit selbst als erstrebenswertes Gut begründet (vgl. R. II 358b–d). 269 Mit der Explikation dieses Modells lässt Glaukon auch schon dessen vorauszu­ sehendes Scheitern anklingen: Aufgrund unterschiedlicher Machtverteilungen hat nicht jeder die gleiche Notwendigkeit, sich vor Unrecht schützen zu müssen, und somit auch nicht das gleiche Interesse, dem Kontrakt des Unterlassens von Unrecht zuzu­ stimmen. Vgl. R. II 359b, 360d u. Stemmer 1988, S. 555 f. 270 Vgl. dazu Wieland 1999, S. 170 f. 268

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politischen, instrumentellen Konventionalismus, der gewissermaßen einen Naturalismus im Sinne der Macht des Stärkeren voraussetzt, diesen aber zum Zweck des Zusammenlebens ›bändigen‹ soll. Für Platon aber ist ein Gerechtigkeits- und Staatsmodell, das allein auf Konventionen beruht, nicht tragfähig; dies gilt in besonderem Maße für das von Glaukon gezeichnete Modell.271 Deshalb bleibt die Frage, was Gerechtigkeit ist und was sie im Einzelnen bzw. in der Seele und in der Polis bewirkt, in der Politeia zentral.272 Glaukons Worte demonstrieren, warum die Standpunkte eines Kallikles oder Thrasymachos so brisant sind: In ihren Ansätzen explizieren die Sophisten dasjenige, was ohnehin jeder – wenn auch unausgesprochen – denkt (vgl. Grg. 492d). Mit ihrer Art und Weise, nach den Vor- und Nachteilen des Gerecht- und Ungerechtseins zu fragen, auch mit ihrer inhaltlichen Bestimmung des Nutzens selbst kommen die Sophisten verbreiteten Ansichten entgegen; 273 das Ver­ führungspotential ihrer Lehren hängt nicht zuletzt damit zusammen. Durch die zeitbedingte Sinnentfremdung alter Wertvorstellungen sind für viele Bürger die damit verschränkten Regeln zu einem nicht mehr nachvollziehbaren Pflichtprogramm geworden. Auf der anderen Seite, obgleich die innere Verbindlichkeit fehlt, sind Regeln und normative Tugendmuster auch nicht aufgehoben. Gerade deshalb gilt es den Schein zu wahren. Jeder hat demnach Interesse daran, in seinen Handlungen gerecht und tugendhaft zu wirken, aber nicht es tatsäch­ lich zu sein.274 Die meisten, so Glaukon, würden die Gerechtigkeit als etwas betrachten, um das man sich des Lohnes und der Ehre wegen bemühen, das man aber als solches besser meiden solle.275 271 Auch wenn ein Kontrakt weitaus sinnvoller gestaltet sein kann als derjenige, den Glaukon zeichnet, und zudem berücksichtigt wird, dass Verträge für ein Staatsgebilde unentbehrlich sind, bedürfen konventionelle Übereinkünfte aus platonischer Sicht stets einer höheren Beurteilungsinstanz. Vgl. auch Tht. 172a–b; dazu Erler 2007, S. 430. 272 Vgl. R. II 358b u. 367b: Beide, Glaukon und Adeimantos, fordern Sokrates auf, zu zeigen, was Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in der Seele verursachen. Vgl. dazu Borsche 1996, S. 99, auch ebd., S. 100: »Die Frage, was Gerechtigkeit ist, wird gestellt, weil sie beantwortet werden muß, wenn wir wahrhaft wissen wollen, ob, warum und – ggf. – wie wir gerecht leben sollen.« 273 Die Lehren der Sophisten spiegeln für Platon, so Stemmer (1988, S. 540), den »gelebten common sense«. Vgl. auch ebd., S. 536. 274 Vgl. Stemmer 1988, S. 540 u. 556; Blößner 1997, S. 18; Wieland 1999, S. 170 u. 262 f., Anm. 18. 275 Vgl. R. II 358a5–6; dazu R. I 344c3–4, R. VI 505d7–9.

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Vor diesem Hintergrund tritt nun aber auch die Signifikanz der von Sokrates im Menon und Gorgias prononcierten prinzipiellen menschlichen Ausrichtung auf das für das eigene Leben und Dasein als nützlich erachtete Gute aus einer weiteren Perspektive hervor.276 Platon begegnet damit auch der Herausforderung, die von den sophis­ tischen, utilitaristisch geprägten Thesen ausgeht. Er greift die Thesen auf und stellt sie in einen Rahmen, innerhalb dessen er den sophisti­ schen Ansatz widerlegen und zugleich seine eigenen Konzeptionen entwickeln kann. Das von den Sophisten auf der Grundlage eines Naturalismus explizierte Streben nach dem eigenen Nutzen als Vor­ teilsnahme des je Stärkeren überführt Platon in ein Konzept, welches die menschliche Orientierung am Nützlichen ebenso als gleichsam ›natürliches‹ Moment, als Konstituens des Menschseins konturiert, das jedoch zugleich einem sophistisch reduzierten Naturbegriff – und somit auch der Logik einer Macht des Stärkeren – die Basis entzieht und implizit einen anderen Begriff von Physis voraussetzt. Sokrates’ diesbezügliche Befragungen im Menon, Gorgias und den ersten beiden Büchern der Politeia zielen letztlich darauf, dem von den Sophisten propagierten und von der Menge goutierten ›natürlichen‹ Selbstverständnis, sich auf jedwede Art Vorteil verschaffen zu wollen, ein Konzept entgegenzuhalten, welches den der menschlichen Seele, ihrer ›Natur‹ gemäßen Eifer nicht als individualistisches Interesse an einem entsprechenden Ziel definiert, sondern vielmehr als ein auf das wahre Gute hinzielendes und für die Seele tatsächlich zuträg­ liches Bestreben.277 Sokrates schafft mit seiner Betonung der menschlichen Aus­ richtung auf das für sich selbst als nützlich verstandene Gute eine argumentative Basis, der die Gesprächspartner zustimmen müssen (vgl. Men. 77e–78b; Grg. 468a–e). Diese Ebene bildet ein Fundament zur Erklärung der menschlichen Strebens- und Motivationsstruktur. Im Transzendieren populärer Positionen macht Platon sichtbar, dass auch ein philosophisch Suchender im Hinblick auf Weg und Ziel das für sich selbst Nützliche erkennen muss, wenn er motiviert sein soll, diesen Weg zu gehen. Hierbei soll aber der utilitaristische Vgl. oben Kap. 1.3.1. Explizit zur Darstellung kommt dieses Konzept im Seelenmythos des Phaidros. In Distanzierung von einem naturalistisch begründeten Bild des Menschen und zugleich im Hinblick auf seinen philosophischen Begriff von Physis zeichnet Platon hier das aus seiner Sicht wahre Streben der Seele, das ihr gemäß ist. Zur Diskussion vgl. unten Kap. 5.3, bes. 5.3.4 u. 5.3.5. 276 277

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Ansatz der Sophisten und konventioneller Standpunkte nicht nur in seinen einzelnen Facetten, welche die ersten beiden Bücher der Poli­ teia vorführen, in die Aporie geführt, sondern als Ganzes dadurch widerlegt werden, dass Platon, in distinkter Abgrenzung von der sophistischen und populären Ebene, das Thema des Nutzens in die elementare Fragestellung des guten Lebens integriert.

1.3.4 Güter der Polis und die Frage des Nutzens Die Kluft, die sich zwischen Sokrates und seinen Gesprächspartnern auftut, hat wesentlich mit der divergenten Auffassung des Ziels des Guten zu tun. Anders als seine Gesprächspartner erkennt Sokrates seine Aufgabe darin, konventionell anerkannte Güter von dem Ziel des wahren Guten zu differenzieren und hierbei besonders auch den scheinbaren Charakter vieler Zielvorstellungen transparent zu machen. Die Relevanz der Frage der Güter zeigt sich in der Häufigkeit ihrer Thematisierung im Frühwerk: Zur Diskussion stehen die in der Polis als erstrebenswert erachteten Güter wie Ehre, Ansehen, Macht, Herkunft, Reichtum, körperliche Schönheit und Gesundheit. Auch die Tugenden, wie sie landläufig verstanden und ausgelegt werden, besonders die Haupttugenden der Besonnenheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit und Weisheit, sind – so ist sich Sokrates im Euthydemos mit seinem Gesprächspartner einig – zu den Gütern zu rechnen.278 Es handelt sich insgesamt um die auch traditionell geschätzten Güter. So wie diese selbst im gewöhnlichen Sinne des καλὸν κἀγαθόν – d. h. nach außen Anerkennung und für den Träger selbst Nutzen bringend – als wünschenswert gelten, so darf auch derjenige, der die Güter zu erlangen bemüht ist und demgemäß handelt, erwar­ ten, dass das Erscheinungsbild seines Verhaltens als καλὸν κἀγαθόν gewürdigt wird. Ganz in diesen Denkmustern bewegte sich etwa Menon, wenn er die Arete im dritten Anlauf als Vermögen bestimmte, sich Schönes, nämlich Wohlstand, Prestige, Ämter etc., verschaffen zu können (πορίζεσθαι).279 Die genannten Güter werden in diesem Dialog exemplarisch aufgelistet (vgl. Euthd. 279a–c). 279 Vgl. Men. 77b u. 78c–d. In den der Arete gewidmeten Dialogen bewegen sich die anfänglichen Tugendbestimmungen überwiegend im Rahmen des καλὸν κἀγαθόν, vgl. beispielsweise Chrm. 159a–161b. 278

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Im Euthydemos konturiert Sokrates den Rahmen der Diskussion mit der Frage nach dem Glück, wie wir also zu einem gelingenden Leben und Handeln (εὖ πράττειν), zu einem glücklichen Dasein zu gelangen vermögen (vgl. Euthd. 278e–279a). Durch die genannten Güter scheint das Glück realisierbar, in deren Reihe Sokrates dann auch dasjenige Gut stellt, welches doch alle für das größte hielten, die εὐτυχία, das Glück im Sinne günstiger, auf Zufall beruhender Umstände oder des glücklichen Erfolgs (vgl. 279c).280 Damit wird erkennbar, auf welcher Stufe die angesehenen Güter zunächst ran­ gieren. Später macht Sokrates in Rekurs auf diese Art der Güter überdies deutlich, dass man über sie nicht in der Weise sprechen könne, »als ob sie an und für sich von Natur aus gut wären« (ὅπως αὐτά γε καθ᾿ αὑτὰ πέφυκεν ἀγαθά, 281d4–5). Die gemeinhin als erstrebenswert erachteten Güter sind alle durch den gemeinsamen Nenner ihrer Ambivalenz gekennzeichnet, sie können zum Guten wie zum Schlechten gereichen oder gewendet werden. Wir nennen sie zwar nützlich, wie Sokrates wiederum in Übereinstimmung mit Menon feststellt, wissen aber, dass sie uns bisweilen auch schaden (vgl. Men. 87e–88a). Die Ambivalenz vor allem der äußeren Güter ist in der alltäglichen Wahrnehmung bewusst. Darüber hinaus richtet Platon den Fokus aber immer wieder darauf, die Zweideutigkeit auch hinsichtlich der konventionellen Maßstäbe der Tugend, der normier­ ten Muster und Paradigmen des Verhaltens und Handelns, auch im Kontext spezifischer Wissensstandards aufzuzeigen.281 Entsprechend beruhen die sokratischen Widerlegungen in den frühen Dialogen häufig darauf, dass den von den Gesprächspartnern zugrunde geleg­ ten Leitvorstellungen eine Ambiguität innewohnt, angesichts derer Sokrates lediglich Bedingungen aufzuzeigen braucht, unter denen sie nicht länger in dem von dem Dialogpartner intendierten Sinne Gültigkeit besitzen.282 Die ambivalenten Güter – auch als konditionale Güter oder prima-facie Güter bezeichnet283 – umfassen alles, was im Zusam­ menleben und Gefüge der Polis als ›schön und gut‹ vorgestellt wird. Sie sind dadurch charakterisiert, dass sie selbst nicht schlechthin gut Zu der hier erörterten Passage des Euthydemos vgl. auch Hardy 2011, S. 17–20. Vgl. Wieland (1999, S. 185 ff.), der diesen Punkt ausführlich erörtert. 282 Wieland (1999, S. 187–191) zeigt dies am Beispiel des Laches. 283 Vgl. Hardy 2011, S. 17 u. 19. Mit dem Ausdruck ›ambivalente‹ Güter folge ich dem Sprachgebrauch von Wieland (1999, S. 185–196). 280 281

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sind, ihnen also stets ein Gut vorausliegt, von dem her ihr eigenes Gutsein erst beurteilt werden kann; dessen Maßstab ist ihnen selbst äußerlich. Zu den hier in Rede stehenden Gütern gehören auch die Technai: Obwohl sie für das alltägliche Leben fundamental sind, sogar das Überleben der einzelnen Menschen wie auch der Gemeinschaft der Polis sichern und zu Steigerungen und Verbesserungen der Lebensverhältnisse führen, zeichnen sie sich dennoch durch Relati­ vität und Zweideutigkeit aus.284 Auch der kunstgemäße Vollzug einer Techne, dies wurde bereits kenntlich, und ein ihrer Funktion adäqua­ tes, vollendetes Resultat sind keine Garantie dafür, dass sie nicht dem ethisch-politisch Schlechten dient oder dieses verstärkt. Eine Techne und ihre Zielvorgaben enthalten keine Kriterien darüber, unter wel­ chen Bedingungen ihr Einsatz aus einer ethisch-politischen Perspek­ tive gut oder schlecht ist (vgl. Euthd. 288d ff.). Auf der anderen Seite räumt Sokrates den Künsten im Euthydemos eine Sonderstellung gegenüber den anderen Gütern ein, indem er den glücklichen Erfolg (εὐτυχία) mit der Weisheit (σοφία) assoziiert (vgl. 279d–280a). Ohne die Weisheit, d. h. im Falle der Künste ohne das kunstmäßige Wissen, bleibt jeder Erfolg zufällig; mit der Weisheit aber bedarf man des zufälligen Glücks im Grunde nicht mehr (vgl. 280b). Auf der Basis ihres kunstmäßigen Wissens erlangen die Kunstfertigen, indem ihnen ihr Werk gelingt, Glück; im Sinne des glücklichen Erfolgs sind sie im Rahmen ihrer Kunst »die Glücklichsten« (εὐτυχέστατοι, 279e2).285 Die Technai unterscheiden sich von den anderen ambivalenten Gütern, insofern ihnen eine eigene Struktur des Gutseins inhärent ist. Im Gesprächsfortgang indiziert Sokrates aber eine neue Ebene, indem er das wahre Glücklichsein (εὐδαιμονεῖν, Euthd., 280b6) als ein solches gutes Leben und Handeln zeichnet, das auf dem richtigen Gebrauch (ὀρθῶς χρῆσθαι, 281a3) der ambivalenten Güter basiert, die unter dieser Voraussetzung dem Menschen nachhaltig nutzen (vgl. 284 Vgl. dazu Grg. 512b–513a; Helmut Kuhn: Sokrates. Versuch über den Ursprung der Metaphysik (1934), München 1959, S. 90 f.; Jantzen 2005, S. 65; Hardy 2011, S. 20; auch oben das Ende von Kap. 1.2.1. 285 Sokrates verwendet den Ausdruck εὐτυχία hier zweifach, nicht nur in seiner Wort­ bedeutung des glücklichen Zufalls, sondern auch für das mit Weisheit verbundene glückliche Gelingen (vgl. auch Hardy 2011, S. 18, Anm. 14). Indem Sokrates aber das künstlerisch-wissende Gelingen als von dem zufälligen Glück unabhängig erklärt, separiert er die beiden Bedeutungen wiederum. – Das Glück des Künstlers ist nicht mehr mit dem zufälligen vergleichbar; allerdings gehört es auch nicht in das Feld des nachfolgend thematisierten eudämonistischen Glücks.

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1. Menschliche und politische Tugend

280b–281e). Notwendige und entschiedene Grundlage sind hierfür Wissen und Einsicht: Sokrates exponiert hinsichtlich des rechten Gebrauchs den Begriff für Erkenntnis und Wissen (ἐπιστήμη) als führende und in die richtige Richtung leitende Instanz der Praxis.286 Damit macht er auch deutlich, dass die Frage des guten, tugendge­ mäßen Lebens, die auf das Glück im Sinne der Eudaimonia zielt, über den Bereich der Techne hinausgeht bzw. auch diesem vorsteht. Die Güter – aus einer übergeordneten Perspektive gilt dies auch für die Technai – sind nicht selbst gut oder schlecht, sondern ihr Gut- oder Schlechtsein hängt von ihrem richtigen oder falschen Gebrauch ab, wobei letzterer, der unwissende Gebrauch, so Sokrates, ein Gut in ein Schlechteres überführe, als sein Gegenteil sei (vgl. 281d). Der richtige Gebrauch aber gründet wiederum in derjenigen Form von Wissen, die im Menon als seelisches Band, im Symposion und andernorts als an den prüfend-reflexiven Denkvollzug gebundene und auf das wahre Gute ausgerichtete Erkenntnis hervortrat. Die im alltäglichen Leben angesehenen Güter sind vor Instrumentalisierung und Miss­ brauch nicht gefeit; umgekehrt können sie, nicht durch zufälliges Glück, sondern auf einem lebendigen Erkenntnisstreben beruhend, zum gelingenden Leben beitragen. Darauf, dass jedes Gut, das dem Bereich der Erfahrung, der Konventionen und Normen angehört, der Ambivalenz unterworfen ist und einer übergeordneten Beurteilung bedarf, führt Sokrates in den Dialogen immer wieder hin.287 Das gewöhnliche Wollen, Streben und Handeln orientiert sich zumeist an internalisierten Gütern in ihrer verschiedenen Gestalt, an Handlungs- und Verhaltensmustern, äußeren Gütern, Errungen­ schaften der Technai, politischen oder anderen Standards. Bei diesen für sich selbst erstrebten Gütern kann man sich hinsichtlich ihres tat­ sächlichen Nutzens täuschen, auch die obersten Herrscher sind davor nicht geschützt.288 Zwar lässt Platon gerade in seinen politischen Werken, der Politeia und den Nomoi, kenntlich werden, dass das Erler­ nen und Einüben von vorgegebenen, gleichwohl geprüften, ethischen und politischen Regeln und Standards in frühen Erziehungsstadien 286 ἐπιστήμη ἦν ἡγουμένη καὶ κατορθοῦσα τὴν πρᾶξιν (Euthd. 281a8–b1). Durch mehrfache Wiederholung verleiht Sokrates dem Begriff der ἐπιστήμη in diesem Zusammenhang Nachdruck (vgl. 281a–b). 287 Vgl. auch Wieland 1999, S. 194 f., zur Frage des richtigen Gebrauchs auch ebd., S. 176 ff. u. 254 f. 288 Vgl. R. I 339b ff.; auch Grg. 466d ff.

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1.3 Die Frage nach dem guten Leben

durchaus sinnvoll und darüber hinaus auch für diejenigen angeraten ist, welchen die philosophische Reflexion verschlossen bleibt. Die übende Nachahmung vernünftiger Verhaltens- und Tugendmuster stellt in diesen Zusammenhängen sogar ein unbedingtes Erfordernis für die Polis und ihr Überleben dar. Im Blick auf die philosophische Bildung sind diese Strukturen aber zu überwinden, wobei ein erster Schritt die Bewusstmachung der eigenen handlungsorientierenden Ziele sein kann.289 Auf dieser Stufe befindet sich das sokratische mit dem sophistischen Programm in einer Konkurrenz: Auch sophistische Lehrer begrüßen eine Vergegenwärtigung der von ihnen favorisierten Ziele und distanzieren sich von habitualisierenden Lernstrukturen. Sokrates kann diese Art der Ziele zwar als ambivalente in den Wider­ spruch führen, allerdings bleibt die Frage des Nutzens virulent. Güter und Zielvorstellungen werden in der Regel unter Voraus­ setzung eines Nützlichkeitsaspekts erstrebt; umgekehrt ist dem Begriff von Nutzen die Frage nach dem Ziel immanent. Nutzen und Nützlichkeit sind nicht anders als zweckrelational im Sinne eines Wozu zu denken. Dass für Platon die Frage des Nutzens im Hinblick auf das gute Leben nicht ausgeklammert werden kann, wurde im Umfeld der Motivationsfrage im Menon und Gorgias sowie in den ersten beiden Büchern der Politeia kenntlich, wobei besonders Letz­ tere den Einfluss der Sophistik auf die herkömmlichen Meinungen der Bürger spiegeln (vgl. R. II 358e ff.). Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf die Frage, in welcher Form Sokrates Motive und Gründe für ein gerechtes oder ungerechtes Handeln mit seinen Gesprächspart­ nern diskutiert, argumentiert Stemmer, dass nicht nur die Sophisten, sondern auch Sokrates das Prädikat ›gut sein‹ (ἀγαθόν) in einem uti­ litären Sinne gebraucht:290 Zu beobachten sei, dass in der Politeia, aber auch in anderen platonischen Texten das Wort ἀγαθόν häufig in direkter Verbindung mit Ausdrücken des Nützlichen wie συμφέρον, ὠφέλιμον oder χρήσιμον stehe.291 Mehr noch, so Stemmer, werde ἀγαθόν durch diese Wendungen oftmals substituiert. Genauso wie der Begriff des Nützlichen selbst sei deshalb auch der Ausdruck ἀγαθόν bei Platon stets durch zwei Relationen bestimmt, nämlich durch eine Zweck- und eine Personenrelation. Eine Ausnahme davon bilde allein Vgl. dazu Hardy 2011, S. 47 ff. Vgl. Stemmer 1988, 542–549. 291 Zur Differenzierung der Begrifflichkeiten des Nützlichen vgl. Stemmer 1988, S. 545, Anm. 49. 289

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der singuläre Fall des höchsten Guts. Jede andere Verwendung von ἀγαθόν impliziere die Frage, wozu und für wen es gut ist.292 Wenn Sokrates der Gerechtigkeit ausstellt, ein Gut zu sein (ἀγαθόν), und Thrasymachos behauptet, sie sei ein fremdes Gut (ἀλλότριον ἀγαθόν, R. I 343c3) und damit zugleich für sich selbst ein Schaden, bzw. wenn überhaupt darüber diskutiert wird, ob die Gerechtigkeit oder die Ungerechtigkeit ein ἀγαθόν sei, dann ist Stemmer zufolge stets ein utilitäres Gutsein gemeint, das, wie auch die Ausdrücke des Nützlichen, unabhängig von einer moralischen Konnotation zu denken und zu behandeln sei.293 Die Relationen des so gedachten Gutseins kommen danach in der Politeia deutlich zum Vorschein: Die Personenrelation beziehe sich immer auf den Betrof­ fenen selbst, es gehe also um die Frage, ob etwa ein gerechtes oder ungerechtes Handeln für den Handelnden selbst gut oder nützlich sei. Neben diesem Selbstbezug sei dem Wort ἀγαθόν auch die Telos-Rela­ tion stets inhärent: Der Zweck des ἀγαθόν sei die εὐδαιμονία, es gehe um das Glück und Wohlergehen dessen, der über das ἀγαθόν verfüge. Das utilitarisch Gute beinhalte, wie der Begriff des Zuträglichen, die »eudaimonistische Ausrichtung«.294 Die reziproke Verwendung von ἀγαθόν und von Ausdrücken, die das Nützliche oder Zuträgliche indizieren, belegt Stemmer anhand zahlreicher Textstellen vor allem im Rahmen der ersten beiden Bücher der Politeia.295 Allerdings wird diese Engführung hier besonders im Umfeld sophistischer Thesen sichtbar. Aber auch andere Textstellen manifestieren eine enge Verbindung des Guten resp. der Tugend »Ein ἀγαθόν ist demnach etwas, dem ein, wie man sagen kann, ›utilitarisches‹ Gutsein zugesprochen wird. Wie etwas, was nützlich ist, für jemanden und zu etwas nützlich ist, so ist, was utilitarisch gut ist, für jemanden und zu etwas gut.« (Stemmer 1988, S. 545) Zum höchsten Gut und dessen Singularität vgl. ebd., S. 548 f. 293 Wenn Sokrates mit Thrasymachos streite, stehe nicht die Frage im Zentrum, ob gerechtes oder ungerechtes Handeln moralisch gut sei, sondern ob das Gerechtsein (als moralisch Gutes) oder das Ungerechtsein (als moralisch Schlechtes) utilitarisch gut sei (vgl. Stemmer 1988, S. 545). Beide, Sokrates und Thrasymachos, stellen danach das Moralische »in den Horizont des utilitarischen Gutseins« (ebd., S. 546). Da im Griechischen überdies nicht ἀγαθόν, sondern καλόν u. a. für das stehe, »was wir ›das moralisch Gute‹ nennen« (ebd., S. 546), seien beide Ausdrücke auseinanderzuhalten. 294 Vgl. Stemmer 1988, S. 546–548, Zitat S. 548; auch ebd., S. 549–554; ebenso Blößner 1997, S. 17 ff. 295 Vgl. Stemmer 1988, S. 542–545 mit Anm. 39–48. Auf eine Vielzahl platonischer Textstellen, die einen engen Zusammenhang des Guten und Nützlichen anzeigen, verweist auch Wieland (1999, S. 166, Anm. 20). 292

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1.3 Die Frage nach dem guten Leben

und des Nützlichen: Nicht nur die Sophisten stellen zur Diskussion, ob die Tugend Nutzen und Vorteil verschafft, sondern – so wird etwa im Charmides kenntlich – auch Sokrates dient der Begriff des Nutzens zuweilen als Kriterium für die Tauglichkeit einer Tugendbe­ stimmung.296 Dass die Besonnenheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit oder ein anderes Gutsein nutzstiftend sein müssen, daran kann auch für ihn kein Zweifel bestehen.297 Das Nützliche einer Tugend stellt also auch von sokratischer Seite eine Prämisse der Untersuchungen dar. Der Begriff des Nutzens erfährt bei Platon keine pejorative Konnota­ tion.298 Allerdings sind in diesem Zusammenhang zwei sprachliche Differenzierungen vorzunehmen, die in der Deutung des ἀγαθόν als ein grundsätzlich utilitäres Gutsein meines Erachtens zu wenig Beachtung finden: Die erste Differenzierung betrifft den Begriff des Nutzens selbst; die zweite zielt auf die Frage, ob das Gutsein und das Nützliche bei Platon über Gemeinsamkeiten hinaus in philosophi­ scher Hinsicht auch systematische Unterschiede aufweisen. Zunächst zum Begriff des Nutzens: Wenn Sokrates im Charmi­ des wiederholt darauf hinweist, dass eine Bestimmung der Sophro­ syne nur dann akzeptabel sei, wenn diese auch den Nutzen der Tugend ersichtlich mache, dann kommen in einem solchen Kontext freilich dieselben Ausdrücke des Nützlichen zum Einsatz wie in der Exposition eines sophistischen Standpunkts, der den Nutzen der Ungerechtigkeit proklamiert. Wortlaut und unmittelbarer Wortsinn des ›Nützlichseins‹ sind hier und dort die gleichen. Auf inhaltlicher Ebene ist der Unterschied jedoch fundamental: Die unreflektierte, unwissende Ausrichtung auf ambivalente oder scheinbare Güter kor­ reliert für Platon mit einem ebenso scheinbaren Nutzen; hingegen lässt sich im Falle des philosophischen Strebens nach Tugend von einem wohlverstandenen Nutzen sprechen. Auch das philosophisch verstandene Gutsein geht mit einem utilitären Moment einher: Das Streben danach ist nützlich für den Strebenden, und zwar im Hin­ blick auf ein gutes bzw. glückliches Leben. Im Gegensatz zu den individualistischen Ansätzen der Sophisten bezieht sich das utilitäre Moment hier jedoch von vornherein auf Individuum und Polis glei­ 296 Vgl. bes. Chrm. 167b, 169b, 171c–d, auch 164a–c, 174d–175a. Sokrates verwendet hier an allen Stellen ὠφέλιμον bzw. ὠφελία, um die Frage des Nutzens zum Ausdruck zu bringen. 297 Vgl. auch R. I 332e ff., 339b. 298 Vgl. dazu Wieland 1999, S. 166; zum Begriff des Nutzens bei Platon ebd., S. 165 ff.

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chermaßen: Das gute Leben und Gutsein des Einzelnen sind nicht unabhängig vom Gutsein des politischen Gemeinwesens zu denken, der philosophische Begriff der Arete zielt auf eine Approximation oder Konvergenz von individuellem und allgemeinem Nutzen.299 Diese inhaltliche Prämisse ist für Sokrates’ Gebrauch von Ausdrücken des Nützlichen, wenn er diese auf die Tugend anwendet, im Kontrast zur sophistischen Verwendung, konstitutiv. Darüber hinaus unterscheidet sich der philosophische Begriff des Nutzens aber auch von der konventionellen Perspektive: Die Annähe­ rung von allgemein-politischem und individuellem Interesse bedeutet für Platon nicht, Vor- und Nachteile bestimmter Nützlichkeitsaspekte gegeneinander abzuwägen, um daraus ein utilitäres Optimum für den Bürger in allgemeiner und individueller Hinsicht abzuleiten, wie es das von Glaukon dargelegte Modell implizierte. Vielmehr ist, wie schon zuvor gesehen, für Platon die Frage nach dem Ziel des Guten in Rechnung zu stellen: Durch dieses, das heißt auch durch das wahrhaftige Tugend- und Erkenntnisstreben, begründet sich erst die Nützlichkeit einer Sache. Durch die Idee des Guten, so heißt es in der Politeia, werde das Gerechte und alles andere erst nützlich, erhalte dadurch erst seinen Sinn (vgl. R. VI 505a). Im Hinblick auf das ganz andere Ziel300 scheidet sich das philosophische von dem sophistischen und gewöhnlichen Verständnis des Nutzens notwendig und elementar. Die zweite Differenzierung bezieht sich auf den Begriff des ›utilitarischen Gutseins‹, also auf die Annahme, dass mit dem Aus­ druck ἀγαθόν bei Platon, nicht anders als bei den Sophisten, der Nützlichkeitsaspekt im Vordergrund steht. Platon knüpft, so das Fazit am Ende des vorherigen Kapitels, an die alltägliche Ebene eines Nützlichkeitsdenkens an, um sie für die Frage der philosophischen Motivation fruchtbar zu machen. Zugleich aber distanziert er sich unmissverständlich von den gewöhnlichen und sophistischen Model­ len des Nützlichen: Das utilitäre Schema einer bloßen Mittel-ZweckRelation übernimmt Platon für seinen Begriff von Tugend und Gutem 299 Vgl. dazu Wieland 1999, S. 129 u. 169. Der Begriff des ›wohlverstandenen Nut­ zens‹ zeigt damit eine gewisse Nähe zum Begriff des ›wohlverstandenen Eigeninter­ esses‹. Vgl. dazu in Bezug auf Platon und Kant: Christoph Horn: Wille, Willensbe­ stimmung, Begehrungsvermögen (§§ 1–3: 19–26), in: Otfried Höffe (Hg.): Immanuel Kant. Kritik der praktischen Vernunft, 2., bearb. Aufl., Berlin 2011, S. 37–54, hier 44 f. 300 Im Gorgias betont Sokrates dieses Ziel als »etwas Anderes« (ἄλλο τι, 512d7). Vgl. auch Kuhn (1934) 1959, S. 90.

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1.3 Die Frage nach dem guten Leben

nicht. Zwar muss ein philosophisch Lernwilliger in dem Streben nach Tugend notwendig das für sich selbst Lohnenswerteste erblicken bzw. die Tugend, wie Sokrates formuliert, als prinzipiell nutzstiftend für den Strebenden betrachtet werden. Dies heißt jedoch nicht, dass ›gut‹ und ›nützlich‹ grundsätzlich zu identifizieren wären. Für das Gute in platonischem Kontext trifft nicht notwendig oder nicht allein zu, was für das Nützliche charakteristisch ist, nämlich dass es stets den Verweis auf ein anderes, hinsichtlich dessen es nutzbringend ist, impliziert: Gut kann etwas im Hinblick auf ein anderes, aber auch an und für sich selbst sein.301 Letzteres gilt nicht nur für das höchste Gut. Jede Frage nach dem Gutsein im Sinne der Arete zielt aus platonischer Perspektive auf eine Annäherung an das Gute selbst – in Form von (wieder)erkennender Einsicht in das Gute und seelischer Verwirklichung der Tugend. Vollzieht sich ein solcher Prozess mit Erfolg, dann wird die Tugend selbst zu einem Gut, welches nicht darin aufgeht, Mittel zu einem anderen Zweck zu sein. Die in der Seele sich realisierende Tugend – ein Vorgang, der stets dynamisch bleibt – ist nützlich für den Strebenden und sein Leben, aber sie ist auch ein Gut an und für sich selbst: Die Verwirklichung von Tugend bedeutet nicht primär, das Mittel zum Zweck des Glücks zu sein; vielmehr realisiert sich mit der Tugend selbst ein ausgewogenerer oder ausgewogener und damit glücklicher Zustand.302 Für Platon ist die Idee des Guten und die ihr adäquate Erkenntnisstufe das letzte Ziel menschlichen Strebens, Wollens und Handelns. Das Verhältnis zwischen Tugend und dem höchsten Guten bzw. zwischen menschlichem Gutsein und menschenmöglicher Erkenntnis des Guten und damit verbundenem Glück ist nicht als ein zweckrelationales zu beschreiben. Vielmehr 301 Vgl. Wieland 1999, S. 166: Der Ausdruck ἀγαθόν lasse sich sowohl als einstelliger (»an und für sich gut«) wie auch als mehrstelliger Prädikator (»in Beziehung auf etwas anderes gut«) verwenden; das Wort ›nützlich‹ werde hingegen allein mehrstellig gebraucht. 302 Vgl. dazu die etwas andere Lesart von Stemmer (1988, S. 549–554): In Bezug auf die drei Arten des Guten, die Glaukon zu Beginn des zweiten Buches erläutert (vgl. R. II 357b–d; auch oben Kap. 1.2.2), unterstreicht auch Stemmer, dass das erste Gut, welches nur um seiner selbst und nicht um seiner Folgen willen angestrebt werde und das deshalb – wie der Vollzug des Flötenspiels oder auch des Gerechtseins – durch und für sich selbst gut bzw. »Realisierung des angestrebten Glücks«, also »glücksun­ mittelbar« sei (ebd., S. 552), nicht in einem instrumentellen Verhältnis zum Glück stehe. Dennoch sei auch dieses Gut, durch sein konstitutives Verhältnis zum Glück, »telos-relational konzipiert« (ebd., S. 553); auch beim Gut der ersten Art handle es sich also um ein utilitiarisches Gutsein (vgl. ebd.).

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1. Menschliche und politische Tugend

ist hinsichtlich einer Beziehung zwischen sich realisierender Tugend und wahrem Guten an die platonischen Begriffe der Teilhabe oder der Abbildhaftigkeit zu denken. Der von Sokrates betonte Sachverhalt, dass das Streben nach Tugend und die Tugend selbst notwendig einen wohlverstandenen Nutzen mit sich bringen, heißt nicht, dass das philosophisch ver­ standene ἀγαθόν sich in einem utilitären Konzept erschöpft. Das philosophische Gutsein weist über die Mittel-Zweck-Relation des Nützlichkeitsbegriffs hinaus. Auch wenn man den moralisch-sittli­ chen Aspekt von dem Begriff des Gutseins bei Platon fernhalten möchte: Aus platonischer Perspektive zeigt jedes philosophische Gut­ sein eine Richtigkeit, eine richtige Orientierung hin zum Guten selbst an. Insofern wohnt auch der Tugend, gewissermaßen vorausgreifend, eine Absolutheit inne: Sie ist an und für sich ein Gut und nicht allein nützlich für etwas. In den vorliegenden Betrachtungen wird davon ausgegangen, dass die platonisch verstandene Tugend als seelische Einsicht und seelische Realisierung eine lebendige Vergegenwärtigung des Guten selbst darstellt, die sich nicht in einem Konzept des Nutzens und individuellen Glücksstrebens erschöpft. Die Tugend ist als Wissen, Haltung und Praxis ein für den Menschen realisierbares Abbild der Idee des Guten; sie impliziert vor diesem Hintergrund neben aller aktiv zu denkenden Mühe auch ein rezeptives Moment. Eudämonie bedeutet für Platon letztlich eine Ähnlichwerdung der Seele mit dem göttlichen Vorbild, wie es dem Menschen möglich ist (ὁμοίωσις θεῷ κατὰ τὸ δυνατόν, Tht. 176b1–2).303 Das philosophische Streben nimmt seinen Ausgang von der individuellen Ebene, transzendiert diese aber zugleich in verschiedener Hinsicht.

303

Vgl. Tht. 176a–177a; R. VI 500b–d; Ti. 90b–d; dazu Erler 2007, S. 377 u. bes. 431.

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2. Sokrates’ ›menschliche Weisheit‹ als Orientierungsmoment ethischen Wissens

Die prominente Stellung der Tugend im Frühwerk manifestiert Pla­ tons Bestreben, deren politisch-ethische und pädagogische Relevanz philosophisch neu zu fundieren. Ein solches Unterfangen, so zeigten es die Ausführungen zuletzt, muss vor dem Hintergrund der auf die Lebenspraxis zielenden Frage, auf welche Weise man leben soll, auch den die Güter der Polis betreffenden Problemhorizont einschließen: Wie ist mit den konventionell anerkannten Gütern umzugehen und wie sind diese hinsichtlich einer scheinbaren oder echten Gutheit ein­ zuordnen und zu bewerten? Unter welchen Bedingungen entstehen begründete Vorstellungen über richtige und falsche Verhaltensmuster und Handlungsorientierungen? Wann zeigt sich einem nach Wissen Strebenden die richtige Orientierung bzw. unter welchen Vorausset­ zungen ist er imstande, zwischen einem an scheinbaren Gütern und dem am wahren Guten ausgerichteten Lebensweg zu differenzieren? Grundlage richtiger Einschätzungen und angemessener Entscheidun­ gen ist für Platon die Verwirklichung der Tugend selbst, ihre seelische Realisierung.1 Insofern die Annäherung an einen solchen Seelenzu­ stand und der Erkenntnis- und Wissensweg eng korrelieren, zielen die Erörterungen von Tugend und Wissen im frühen und mittleren Werk auf einen Wissensbegriff, der die aufgeworfenen Problemstel­ lungen des Maßstabs und der Orientierung unmittelbar berührt.2 Von Belang ist zunächst aber nicht nur die Frage danach, wie der Prozess einer solchen Wissensgewinnung aussieht, sondern auch, wie dieser Prozess angestoßen wird: Unter welchen Voraussetzungen mündet ein Streben nach Tugend in den für Platon richtigen Erkenntnisweg? Vgl. dazu R. IV 443c–444a. Vgl. Tilman Borsche: Die Notwendigkeit der Ideen: Politeia, in: Theo Kobusch, Burkhard Mojsisch (Hg.): Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschungen, Darmstadt 1996, 96–114, hier 96 (Hervorh. im Orig.): »Wissensfragen sind Wertfra­ gen, Wissensfragen, Fragen von der Form, was etwas ist, dienen bei Platon letztlich stets der Bestimmung des guten Lebens.« 1

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2. Sokrates’ ›menschliche Weisheit‹ als Orientierungsmoment ethischen Wissens

Die nachstehenden Betrachtungen rücken zunächst eine For­ schungsdebatte in den Blick, die innerhalb der jüngeren Diskussionen um den Zusammenhang von Wissen und einer gelingenden Lebens­ führung bei Platon eine wichtige Rolle spielt. Im Zentrum der Studien stehen das Konzept der Rechenschaftsgabe (λόγον διδόναι) und die mit ihr zusammenhängenden Konditionen. Vor dem Hintergrund der skizzierten Forschungsstudien wird deutlich werden, dass sich der Frage- und Problemhorizont der vorliegenden Untersuchung in wesentlichen Punkten von demjenigen der Studien unterscheidet: Der Fokus dieser Arbeit richtet sich nicht primär auf die begründungs­ theoretische Ebene der Rechenschaftsgabe, sondern auf die Frage seelischer Bildung, also auf die Verschränkung von seelischer Verän­ derung und epistemischer Suche. Als entscheidendes Moment dieser Verschränkung erwies sich bereits die Korrespondenz von menschli­ chem Selbstbezug und der – von Platon ausdrücklich problematisier­ ten – Frage nach Orientierung und Ziel der Suche. In erneutem Aus­ gang von der Apologie widmet sich dieses Kapitel deshalb einem Aspekt, der diese korrespondierende Beziehung auf ganz eigene Weise thematisiert: Gemeint ist Sokrates’ ›Wissen seines Nichtwis­ sens‹ und seine damit verbundene ›menschliche Weisheit‹. Als wich­ tige Referenz der sokratischen Weisheit zeichnet sich der delphische Hintergrund ab: Auf diesen wird anhand der vorplatonischen litera­ rischen Tradition etwas ausführlicher eingegangen, um die in der Apologie kenntlich werdenden Transformationen delphischer Motive sichtbar zu machen. Sokrates’ spezifische Ausrichtung in der Apolo­ gie, die in gewisser Weise philosophische und religiöse Aspekte ver­ bindet, stellt, so die Annahme, kein eigenes Modell der Erkenntnis­ suche dar, welches nur dem situativen Kontext der Apologie geschuldet ist. Obwohl Sokrates’ ›menschliche Weisheit‹ andernorts im platonischen Werk nicht in dieser Weise hervortritt, gilt es zu prü­ fen, ob sie nicht als notwendiger Bestandteil der Wissenssuche, als ein das Erkenntnisstreben anstoßendes und orientierendes Moment aufzufassen ist.

2.1 Forschungsdebatte zum Begriff ethischen Wissens In der Forschungsliteratur werden oftmals zwei epistemische Zustände geltend gemacht, die nach Auffassung der Interpreten Pla­

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2.1 Forschungsdebatte zum Begriff ethischen Wissens

tons Konzept einer Epistemologie kennzeichnen. Zum einen handelt es sich danach um den Zustand eines perfekten, infalliblen Wissens, welches als göttliches Wissensideal für den Menschen unerreichbar sei. Der andere Zustand wird als die menschliche Form von Erkenntnis charakterisiert: Gemeint sei der Zustand des philosophisch-elenkti­ schen Wissens, für welches die Fallibilität signifikant bleibe, denn auch die bestmögliche Form dieses Wissens könne niemals vollkom­ mene Widerspruchsfreiheit beanspruchen.3 Die Differenzierung der beiden Wissenszustände geht vornehm­ lich auf Gregory Vlastos zurück, der aus Sokrates’ Behauptung, nicht wissend zu sein (vgl. Ap. 21b, d), auf eine zweifache Verwen­ dung des Wissensbegriffs in platonischem Kontext schließt: Die Dialoge machten vielerorts offensichtlich, dass Sokrates zwischen einem im strengen Sinne sicheren Wissen und einem durch die Methode des Elenchos zu gewinnenden Wissen, d. h. zwischen einem knowledge-c (certainty) und knowledge-e (elenctic), unterscheide,4 wobei das elenktische Wissen der rechtfertigbaren wahren Meinung resp. Überzeugung (justified true belief) gleichkomme.5 Dass Sokrates das knowledge-e nicht im Bereich der Doxa verorte, sondern damit dezidiert einen Wissenszustand anspreche, der durch das elenktischprüfende Verfahren erreicht werden kann, macht Vlastos an zwei Argumenten fest. Erstens werde im Text nicht nur Wissen im strengen Sinne, also Wissen mit einem höchsten Grad an Sicherheit, sondern auch die begründete wahre Meinung als ἀναμαρτήτον qualifiziert, was Vgl. Wolfgang Detel: Eros and Knowledge in Plato’s Symposium, in: ders., Alexander Becker, Peter Scholz (Hg.): Ideal and Culture of Knowledge in Plato, Akten der 4. Tagung der Karl-und-Gertrud-Abel-Stiftung vom 1.-3. Sept. 2000 in Frankfurt, Stuttgart 2003, S. 79–95, hier 79: »In the recent literature on Plato’s epistemology, some scholars seem to entertain the idea that Plato wanted to distinguish between two epistemic states having to do with knowledge, i.e. a state of perfect infallible knowledge that may not be within human reach, and a state of a lower form of knowledge that is within human reach, at least if humans philosophize in the right way.« Detel knüpft in seinen eigenen Studien ausdrücklich an diese Interpretation des platonischen Wis­ senskonzepts an. Vgl. ebd. S. 81 ff. u. ders.: Wissenskultur bei Platon und Aristoteles, in: Christof Rapp, Tim Wagner: Wissen und Bildung in der antiken Philosophie, Stuttgart 2006, S. 305–321, hier 309 ff. 4 Vgl. Gregory Vlastos: Socrates’ Disavowal of Knowledge, in: ders.: Socratic Studies, ed. by Myles Burnyeat, Cambridge u. a. 1994, S. 39–66, hier 49 u. 55 f.; vgl. auch die erste Fassung dieser Studie mit gleichem Titel in: Philosophical Quarterly 35 (1985), S. 1–31; ebenso Gregory Vlastos: Socratic Irony, in: ders.: Socrates. Ironist and Moral Philosopher, Cambridge u. a. 1991b, S. 21–44, hier 31 f. 5 Vgl. Vlastos 1994, S. 46, Anm. 24 u. S. 50 ff. 3

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2. Sokrates’ ›menschliche Weisheit‹ als Orientierungsmoment ethischen Wissens

in diesem Falle nicht ›unfehlbar‹ (inerrable), sondern, soweit dies für einen Wissenden absehbar sei, ›frei von Fehlern‹ (inerrant) bedeute.6 Zweitens beanspruche Sokrates, zwar nicht oft, aber doch unmissver­ ständlich, den Besitz eines Wissens, von dem er selbst überzeugt sei, dass es sich um die Erkenntnis moralischer Wahrheiten handle. So formuliere er in der Apologie, dass er wisse, dass Unrechttun schlecht und schändlich sei (vgl. 29b), andernorts, dass der gerechte Mann wissend und gut, der Ungerechte hingegen unwissend und schlecht sei (vgl. R. I 350c).7 Dieses Wissen, das Sokrates das seinige nenne, entspreche dem knowledge-e: Propositionen, die hinreichend begründbar seien und deren Leugnung sich im Elenchos nicht validie­ ren lasse.8 Das Paradox, dass Sokrates einerseits darauf insistiere, kein Wissen zu haben, andererseits jedoch zugleich ein moralisches Wissen für sich in Anspruch nehme, erweise sich als ein scheinbares: Im ersten Fall rekurriere Sokrates auf das sichere Wissen, im zweiten Fall meine er das durch sein eigenes prüfendes Verfahren gewonnene elenktische Wissen.9 Das sichere Wissen knowledge-c, das mit dem Begriff der Wahr­ heit selbst übereinstimme und dessen Selbstverständnis auf der vorsokratischen Metaphysik etwa des Parmenides basiere, bezieht sich nach Vlastos sowohl für Platon als auch für Aristoteles auf Prinzipien, die aus oder durch sich selbst und nicht durch oder vermittelt über anderes gewusst werden.10 Sokrates, wie er in den frühen Dialogen gezeichnet werde, sehe in diesem Wissen das göttlich infallible, von seinem eigenen Wissensstatus weit entfernte, perfekte Wissen. Das elenktische Wissen konstituiere sich für ihn hingegen aus einem Netz von Meinungen und Überzeugungen (set of beliefs), die so lange zu prüfen seien, bis eine möglichst große Konsistenz erreicht werde.11 Durch die sokratischen Widerlegungen trügerischer Vgl. Vlastos 1994, S. 49 ff.; dazu R. V 477e; Men. 96d–97c; Tht. 200e. Ebenso mache Sokrates im Gorgias bestimmte Voraussetzungen geltend, von denen er behaupte, mit Gewissheit zu wissen (εὖ οἶδα), dass sie wahr sind (vgl. Grg. 486e). Vgl. zu diesen und weiteren Beispielen Vlastos 1994, S. 43–48. 8 Vgl. Vlastos 1994, S. 55 f. 9 Vgl. Vlastos 1994, S. 58. 10 Vgl. hierzu Vlastos 1994, S. 52–55. Vlastos erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass für Platon auch die Prinzipien der Mathematik, die Vlastos als Axiome kennzeichnet, lediglich Hypothesen und noch kein sicheres Wissen darstellen (vgl. dazu R. VI 510b–511c). 11 Vlastos (1994, S. 58) spricht von einem »set of elenctically testable beliefs«. 6

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Ansichten kristallisiere sich zugleich die richtige Orientierung heraus. Allerdings würden die moralisch-ethischen Auffassungen im Sinne des knowledge-e aus Sokrates’ Perspektive auch bei weitreichender Verteidigung im Bereich möglicher Inkonsistenz verbleiben. Das Gewahrwerden bzw. das Bewusstsein (awareness) dieser stets invol­ vierten Unsicherheit, d. h. die Erkenntnis, dass unser Wissen letztlich fallibel sei, gehöre deshalb zum sokratischen Begriff menschlichen Wissens, wenn es sich um Wissen und nicht um bloße Meinung handeln solle, notwendig dazu.12 An Vlastos’ Lesart der sokratisch-platonischen Wissenskonzep­ tion schließen eine Reihe von Interpreten an, die vor dem Hinter­ grund der Frage eines menschenmöglichen Wissens die Endlichkeit oder Fragilität der epistemischen Konditionen des Menschen, seine besondere epistemische Situation hervorheben.13 Da jede Aussage über die Tugend und das gute Leben stets mit einer großen Anzahl anderer Aussagen logisch verbunden sei, die überdies unser ganzes Leben beträfen, sei es menschlich unmöglich, eine Sicherheit oder vollkommene Konsistenz innerhalb eines Verbundes ethischer Über­ zeugungen zu erlangen. Menschliche Erkenntnis bewege sich, wie es das Symposion illustriere, zwischen Nicht-Wissen und perfektem Wissen; innerhalb dieser Spanne sei es erstrebenswert, eine bestmög­ liche Kompatibilität zwischen Aussagen in Bezug auf eine Sache zu erreichen, sodass das ›Set‹ von Überzeugungen als Wissensanspruch begründbar sei.14 Erkenntnisfortschritt, wie ihn die Erkenntnisstufen Vgl. Vlastos 1994, S. 57 f.; auch S. 59–64. Vgl. Detel 2003, S. 79–81 u. ders. 2006, 309–315. Detel erkennt in der Auslegung sowohl des platonischen als auch des aristotelischen Wissensbegriffs im Sinne der beiden oben dargelegten epistemischen Zustände eine Ablösung von traditionellen Deutungsmustern: »Diese These ist in der gegenwärtigen Forschungslandschaft alles andere als trivial. Sie ist meines Erachtens ganz im Gegenteil Teil einer neuen Lesart, die sich gegen eine Jahrtausende alte Deutungstradition durchsetzen muss.« (Ebd., S. 309) Er skizziert die Arbeiten verschiedener Autoren, die mithilfe eines ›starken‹ und ›weichen‹ Begriffs von Wissen (vgl. ebd. S. 312 f.) der Auffassung von Vlastos im Ansatz folgen: Michael Frede: Plato’s Arguments and the Dialogue Form, in: James C. Klagge, Nicholas D. Smith (ed.): Methods of Interpreting Plato and His Dialogues, Oxford 1992 (Oxford Studies in Ancient Philosophy, Suppl. Vol. 1992), S. 201–220; Christopher J. Rowe: Plato on Knowing and Merely Believing, in: Wolfgang Detel, Alexander Becker, Peter Scholz (Hg.): Ideal and Culture of Knowledge in Plato, Stuttgart 2003, S. 57–68; Hugh H. Benson: Socratic Wisdom. The Model of Knowledge in Plato’s Early Dialogues, NewYork/Oxford 2000. Vgl. dazu Detel 2006, S. 311–315 mit Anm. 11–22; ders. 2003, S. 79–81 mit Anm. 2–10. 14 Vgl. Detel 2003, S. 80 f.; ders. 2006, S. 311–315 (auch zum Folgenden). 12

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im Symposion oder im Liniengleichnis signalisieren, vollziehe sich stets im Lichte des perfekten Wissensideals: Ausschlaggebendes Kri­ terium für den Begriff menschlichen Wissens und für epistemischen Progress ist nach Ansicht der Interpreten – dies deutete sich auch bei Vlastos an – die reflexive Einsicht in unseren eigenen epistemi­ schen Status, also in die Differenz von göttlichem Wissensideal und menschlicher Situation und zugleich in die Möglichkeiten epistemi­ schen Fortschritts.15 Der Frage nach dem sokratisch ›eudämonistischen Wissen‹ nachgehend, greift auch Hardy die von Vlastos skizzierte Wissens­ konzeption in ihren Grundzügen auf, wobei er das Konzept mensch­ lichen Wissens einer differenzierenden, weiterführenden Analyse unterzieht.16 Mit dem Begriff des eudämonistischen Wissens kenn­ zeichnet Hardy das für ein gelingendes Leben und die damit verbun­ dene Lebensweise notwendige Wissen, welches die richtigen bzw. glücksentscheidenden Handlungsziele und mit diesen zugleich die Fähigkeit einschließe, das eigene Leben auf gute, glückszuträgliche Art zu bestimmen und zu führen.17 In seiner handlungsleitenden Funktion zeige sich das eudämonistische Wissen als Fundament des Gutseins, der Arete, die in platonischem Kontext als gute, erstre­ 15 Zu seiner eigenen Deutung des platonischen Wissenskonzepts vgl. Detel 2003, S. 92–95. Trotz Diotimas Darstellung der Berührung der Idee des Schönen verbleibe ein Erkennender im erotischen Status der Suche. Im Sinne eines schwächeren Ver­ ständnisses der Ideeneinsicht (»thin conception of having insight into ideas«, ebd., S. 93, Hervorh. im Orig.) bedeute diese, dass der Suchende imstande sein muss, zwi­ schen der Idee selbst und ihren Instanzen zu unterscheiden; er müsse aber nicht fähig sein, die Idee in hinreichender Form zu definieren. Überdies argumentiert Detel dafür, dass der menschlich-epistemische Status aus Platons Sicht an den Bereich der Wahr­ nehmung gebunden bleibe (vgl. ebd., S. 92). Vgl. dazu auch Detel 2006, S. 313, Anm. 18. 16 Vgl. Jörg Hardy: Jenseits der Täuschungen – Selbsterkenntnis und Selbstbestim­ mung mit Sokrates, Göttingen 2011, Einleitung, S. 11–57 u. Kap. II: ›Grundzüge der Sokratisch-Platonischen Epistemologie‹, S. 71–105. Auch Hardy spricht von der sokratischen Verwendung des Wissensbegriffs in einem engeren und einem weiteren Sinne (ebd., S. 42 f.). Zur Gegenüberstellung der zwei epistemischen Zustände im Sinne des knowledge-c und knowledge-e vgl. ebd., S. 25, 32, 51–54 u. 77 f. 17 »Das glücksentscheidende Wissen, das Sokrates im Blick hat, ist die komplexe Fähigkeit einer Person, ihr Urteilen, Wollen und Handeln mit einem möglichst genauen Wissen über ihre vorrangigen Lebensziele zu lenken und mit den verschie­ denen, glücksrelevanten Dingen des Lebens […] erfolgreich umzugehen.« (Hardy 2011, S. 15) Vgl. auch ders.: Platon. Laches, Übersetzung und Kommentar, Göttingen 2014 (Platon Werke, Bd. V 3), S. 54 f.

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benswerte seelische Verfassung und zugleich als Quelle oder Agens von überlegten, für ein gelingendes Leben erfolgsversprechenden Handlungen aufzufassen sei; das glücksentscheidende Wissen sei notwendige und hinreichende Bedingung des Gutseins.18 Im Besitz dieses Wissens vermag eine Person, ihre Handlungskompetenzen richtig ein- und umzusetzen.19 Der Weg zur Erlangung des eudämonistischen Wissens und zur Entwicklung einer guten seelischen Verfassung ist, so Hardy, die Rechenschaftsgabe: Gemäß der sokratischen Was-ist-F-Frage ziele das λόγον διδόναι auf eine Definition von F, genauer, auf das Ideal eines definitorischen Wissens, welches Orientierung und Maßstab für die Prüfung unserer Meinungen über ein gelingendes Leben bzw. über die eigenen vorrangigen Handlungsziele und Handlungsmög­ lichkeiten sei. Das Wissensideal gebe die Richtung einer expliziten Genauigkeit vor, in deren Spiegel vermeintliches Wissen und Selbst­ täuschungen ans Licht treten würden; die Suche nach einem solchen Wissen sei deshalb der beste Schutz vor Fehleinschätzungen.20 Für Platon sei das perfekte definitorische Wissen, als letztes Ziel der Rechenschaftsgabe, das Ideenwissen, wobei die Idee in epistemologi­ scher Hinsicht als allgemeiner Sachverhalt bzw. als Gegenstand einer Was-ist-F-Frage aufzufassen sei.21 Über ein solches Wissen verfüge man genau dann, »wenn man jede Eigenschaft von F kennt, jede Frage, die sich auf eine bestimmte Eigenschaft von F bezieht, also richtig beantworten und mit diesem Wissen jede seiner Meinungen über F verteidigen kann«.22 Dieses Wissensideal ist freilich – ganz im Sinne des obigen knowledge-c – menschlich unerreichbar. Auch spricht sich Hardy, ähnlich wie die vorherigen Interpreten, dafür aus, dass Bedeutung und Wert ›menschlichen Wissens‹ gerade darin bestehen, sich seiner Differenz zum infalliblen Wissen bewusst zu sein.23 Das menschliche Wissen, das Sokrates in der Apologie meine, bewege sich, wie dies Vgl. Hardy 2011, S. 13–15, bes. 14. Vgl. Hardy 2011, S. 17–22. 20 Vgl. Hardy 2011, S. 15, 23–25, 36 f., 42 f., 51–54, bes. 52 f. 21 Vgl. Hardy 2011, S. 71; dazu ebd.: »Unter Wissen in einem engeren (propositio­ nalen) Sinne versteht Sokrates […] das Ideenwissen, d. h. das Wissen von erklä­ rungskräftigen Definitionen. Eine ›Was ist F?‹-Frage hinreichend zu beantworten heißt F zu definieren.« 22 Hardy 2011, S. 72. 23 Vgl. Hardy 2011, S. 75–77; auch S. 25 u. 31 f. 18

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auch oben kenntlich wurde, auf der Interimsebene zwischen dem Feld der Ignoranz und dem göttlichen Zustand. Mit Blick auf diese mittlere Ebene der Suche und Rechenschaftsgabe akzentuiert Hardy als Kriterium der Meinungsprüfung ein Wissen zweiter Ordnung, d. h. ein Wissen, das die epistemischen Bedingungen einer Meinungs­ bildung betrifft und zu einer reflektierten Einstellung führt:24 Möchte man die eigene oder die Meinung anderer hinsichtlich ihres Wahr­ heitsgehalts prüfen, müsse man sich zunächst darüber klar werden, unter welchen epistemischen Bedingungen die Meinung gebildet wurde bzw. ob diese in der gegebenen Situation die bestmöglichen waren. Die Meinungsprüfung muss deshalb, so Hardy, »alle jeweils relevanten empirischen und inferentiellen Gründe« einschließen, die für oder gegen eine Meinung, von der man vermutet, dass sie wahr ist, sprechen.25 Im sokratischen Dialog werde dieses Verfahren offenkundig:26 Wenn ein Gesprächspartner die fehlende Kohärenz zwischen seiner Meinung und anderen für wahr gehaltenen Meinungen hinsichtlich eines bestimmten Sachverhalts erkenne, müsse er seine Meinung revidieren, was zu einer verbesserten epistemischen Qualität sowohl der Meinungsbildung selbst als auch einer etwaigen korrigierten Mei­ nung führe. Die Reflexion auf die epistemischen Bedingungen einer Meinungsbildung vollzieht sich demnach im Zuge der Rechenschafts­ gabe selbst. Das Bemühen um Begründung und Verteidigung einer Meinung, die Einsicht in die mögliche Notwendigkeit ihrer Revision oder Korrektur sowie zugleich das Streben nach Kohärenz verschie­ dener Meinungen bezüglich eines Sachverhalts ließen die verbesse­ rungswürdigen Konditionen der Meinungsbildung hervortreten und führten sukzessiv zu Meinungen mit einem verbesserten epistemi­ schen Status: Der Gewinn der so verstandenen Rechenschaftsgabe seien »reflektierte Meinungen«27. Würden diese erneut auf ihre ›rele­ vanten empirischen und inferentiellen Gründe‹ geprüft und hierbei mögliche Fehlerquellen beachtet, begebe sich der Suchende auf eine nächsthöhere Stufe: Schließlich weiß er tatsächlich, dass er sich seine 24 Vgl. Hardy 2011, S. 37–45 u. 75–83. Zur Interimsebene bzw. zur Unterscheidung der drei Ebenen von Wissenszuständen vgl. ebd. S. 77–80; auch Hardy 2014, S. 55– 59. 25 Vgl. Hardy 2011, S. 38, Zitat ebd. 26 Vgl. zum Folgenden Hardy 2011, S. 37–45. 27 Hardy 2011, S. 38.

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Meinung in dem für ihn möglichen Rahmen unter den bestmöglichen epistemischen Bedingungen gebildet hat. Hier zeigt sich für Hardy der Übergang von der Ebene der Doxa zur Ebene des Wissens:28 Das best­ mögliche Wissen zweiter Ordnung, also das Wissen über den episte­ mischen Status der eigenen Meinungsbildung, führt danach zu einem Wissen erster Ordnung, zu gerechtfertigten wahren Meinungen. Die ›Befestigung‹ von Meinungen im Menon (vgl. 98a–b) charakterisiere den Übergang: Wer seine Meinung nachhaltig begründen kann, sich hierbei des epistemischen Status seiner Meinungsbildung bewusst ist und die Stimmigkeit mit anderen Meinungen zu gewährleisten ver­ mag, darf mit großer Zuversicht annehmen, dass die infrage stehende Meinung wahr ist. Es handle sich dann um »eine gerechtfertigte und epistemisch verfügbare Meinung«29, die im Sinne der Apologie dem menschlichen Wissen entspreche und mit gutem Recht zur Grundlage des eigenen Handelns gemacht werden dürfe.30 Die reflexive Einstellung zu den eigenen für wahr gehaltenen Meinungen war von Vlastos als awareness, als Aufmerksamkeit für die stets möglich bleibende Fallibilität, gekennzeichnet worden.31 Diese reflexiv-kritische Haltung wird von Hardy im Hinblick auf den Prozess der Meinungsprüfung und -bildung als ein Wissen zweiter Ordnung sowohl konkretisiert als auch ausdifferenziert. Die erfolgrei­ che Wissenssuche in Form der Rechenschaftsgabe, die Sokrates durch sein Widerlegen falscher Überzeugungen, aber auch durch die Bekräf­ tigung richtiger Meinungen forciere, führe zwar nicht zu einer voll­ endeten Tugend- resp. Ideenbestimmung, jedoch zu einer fortschrei­ tenden Verbesserung des epistemischen Status der Meinungsbildung und der epistemischen Qualität der Meinungen selbst.32 Schließlich stelle »das inferentielle Netz der wahren Meinungen einer Person«33, nämlich ein Netz von reflektierten gerechtfertigten Meinungen, eine Annäherung an das Definitionswissen der Arete dar. Die Prüfung der für eine gelingende Lebensführung relevanten Meinungen auf ihren Wahrheitsgehalt führe zu einem relativ genauen Wissen über unsere vorrangigen Lebensziele und zugleich zu einer Handlungsmotivation: Vgl. Hardy 2011, S. 41 f. Hardy 2011, S. 41. 30 Vgl. Hardy 2011, S. 40–43. 31 Vgl. Vlastos 1994 S. 57 f. u. 62 f.; auch Detel 2006, S. 312. 32 Vgl. Hardy 2011, S. 80 u. 84. Die Dialogpartner im Frühwerk zeigten allerdings sehr unterschiedliche Einstellungen (vgl. S. 81 f.). 33 Hardy 2011, S. 75. 28

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Aus der reflektierten Rechenschaftsgabe erwachse das gefragte eudä­ monistische Wissen.34 Die skizzierten Ansätze lassen mehrere Gemeinsamkeiten erkennen: Der platonische Begriff menschlichen Wissens, verstanden als das elenktische Wissen knowledge-e, basiert demnach auf dem zuletzt genannten, einen ethischen Sachverhalt bzw. das Gutsein betreffenden ›inferentiellen Netz‹ von wahren gerechtfertigten Mei­ nungen; im Ansatz war dieses Netz bei Vlastos als ›set of beliefs‹ kenntlich geworden. Als Verbund erfüllen die geprüften Meinungen nach Auffassung der Interpreten vor allem dann einen Wissensan­ spruch, wenn ihre Konsistenz optimiert werden kann; das Meinungs­ gefüge darf dann als Annäherung an das definitorische Ideenwissen verstanden werden. Für die Bildung von Meinungen, die zu Wissen führen sollen, wird als Voraussetzung die Reflexion des individuel­ len, aber auch allgemein menschlichen Wissensstatus bzw. dessen bewusst prüfende Einschätzung zugrunde gelegt. Bei allen Interpreten zeigt sich der Übergang von Meinung zu Wissen als ein fließender: Unter den genannten Prämissen entsteht danach aus der rechtfertig­ baren Meinung das menschenmögliche Wissen. Auch in dieser Arbeit werden – dies wurde bereits kenntlich – das λόγον διδόναι und damit einhergehend die Reflexion auf die Bedingungen der Rechenschaftsgabe, die in begründungstheoreti­ scher Form auf einen besseren oder stetig zu verbessernden Logos zielt, als elementar für Platons Wissens- und Tugendkonzept erachtet. Das Streben danach, seine Meinungen hinsichtlich ihrer argumentati­ ven Grundlegung und Konsistenz zu prüfen, ist ein zentrales Moment der platonischen Wissensbildung. Im Gegensatz zu den dargelegten Studien wird in der vorliegenden Untersuchung die logisch-argu­ mentative Ebene der Meinungsbildung allerdings nicht als alleinige Grundlage von Platons Wissens- und Bildungskonzept, das Ideal eines definitorischen Wissens nicht als hinreichende Voraussetzung für Maßstab und Orientierung der platonischen Erkenntnissuche auf­ gefasst. Zum einen widmen sich die hier angestellten Betrachtungen in prononcierter Form dem selbstbezüglichen Moment. Die reflexive Einstellung in Bezug auf die argumentative Meinungsbildung, die vor allem Hardy betont, ist von unbestrittener Relevanz; jedoch umfasst das selbstbezügliche Moment eine Vielzahl weiterer Aspekte, 34

Vgl. Hardy 2011, S. 25 f. u. 75.

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welche die seelische Haltung und seelische Veränderung, damit zusammenhängend die Vermittlung menschlichen Selbstbezugs über den Anderen und über das (höchste) Ziel der Suche betreffen. Diese Aspekte deuteten sich in Erörterung der sokratischen Selbstsorge, des menschlichen Selbstverhältnisses und des Eros-Konzepts bereits an; sie werden nachfolgend mit der Frage des sokratischen Nichtwissens in der Apologie, an späterer Stelle mit Blick auf das Seele-Leib-Ver­ hältnis und schließlich anhand von Platons Begriff der Seele weiter konkretisiert und vertieft. Zum anderen wird die Frage von Orientierung und Ziel in dieser Arbeit als wesentlicher und integraler Bestandteil des platonischen Erkenntnis- und Wissenskonzepts betrachtet. Die Diskussionen zur Arete im ersten Kapitel der Arbeit erwiesen den Blick auf das Ziel der Wissenssuche als problematisch, es kristallisierte sich ein paradoxales Moment heraus: Orientierung und Zielgerichtetheit sind einerseits konstitutiv für die epistemische Suche, sie geben die Kriterien und damit auch die Struktur der Suche vor; andererseits zeigt sich das Ziel des Erkenntnisweges für den Suchenden aber zunächst nur in einer Unbestimmtheit. Viele Erörterungen im Rahmen des sokratischen Dialogs kreisen um die Frage der Richtungsfindung; nicht zuletzt in Abgrenzung von sophistischen Tendenzen muss für Platon dem Erkenntnisweg und der seelischen Verwirklichung von Tugend eine maßgebende Zielgerichtetheit inhärent sein. Dieser Fragestellung ist deshalb explizit Rechnung zu tragen. Durch die in den oben skizzierten Studien hervorgehobene Prüfung der epistemischen Bedingungen können abzuwägende und auch richtungsweisende Aspekte hinsichtlich der argumentativen Bildung und Optimierung von Meinungen gewonnen werden. In platonischem Zusammenhang genügen diese Aspekte jedoch, so die Annahme hier, der Orientierung des Erkenntnisstrebens nicht in hinreichender Form. Maßstab und Zielrichtung sind bei Platon an die Voraussetzung der Idee gebunden; diese spielt aber in den aufgezeigten Studien, insofern sie über ein nicht zu erreichendes, perfektes Definitionswissen bzw. über dessen Gegenstand hinaus geht, keine oder eine nur untergeordnete Rolle.35 Die vorliegenden Untersuchungen setzen voraus, dass die Ideen und letztlich die Idee Vgl. dazu Borsche 1996, S. 104, Anm. 11. Borsche kritisiert an zeitgenössischen Interpreten, dass diese, »weil man Platon keine platonistische Zweiweltenlehre zumu­ ten« wolle (ebd., S. 105), den Ideen als eigentlichem Gegenstand des platonisch ver­ standenen Wissens zu wenig Beachtung schenkten.

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des Guten eine prinzipielle Notwendigkeit des platonischen Erkennt­ nis- und Wissenskonzeptes darstellen; dies wird im nächsten, dritten Kapitel zur Diskussion stehen, an dessen Ende auch der Übergang von Meinung zu Wissen erneut thematisch werden wird. Im Kontext dieses zweiten Kapitels steht mit den Ausführungen zur Apologie nicht Platons Ideenkonzept, aber dennoch die Frage nach einer sich von der Ebene der Rechenschaftsgabe abhebenden Orientierung im Zentrum. In Verbindung mit der Formulierung seines Nichtwissens nimmt Sokrates auf eine übergeordnete göttliche Ebene Bezug: Diese wird zwar nicht in verbaler Form fassbar, für Sokrates besitzt sie aber offensichtlich dennoch Eindeutigkeit. Die Bezugnahme auf diese Ebene macht erst die Akzentuierung seiner ›menschlichen Weisheit‹ verstehbar: Diese, so werden es die Untersu­ chungen zeigen, erschöpft sich jedoch nicht im Bewusstsein der Dif­ ferenz von göttlichem und menschlichem Wissen, sondern weist als spezifisches Wissensmoment der Erkenntnissuche darüber hinaus.

2.2 Sokrates’ ›menschliche Weisheit‹ (Apologie) Im platonischen Frühwerk bekundet Sokrates wiederholt, dass er dasjenige, wonach er seine Gesprächspartner frage, selbst nicht wisse. Zwar meinten diese, dass er davon eine genaue Kenntnis habe, dies sei aber nicht der Fall. Vielmehr, so entgegnet er etwa Kritias im Charmi­ des, »suche ich stets mit dir, was wir uns vorgenommen haben, weil ich es selbst nicht weiß«.36 Auch bezüglich seiner Hebammenkunst im Theaitetos betont Sokrates, dass diese ihn zwar dazu befähige, die seelischen Erzeugnisse der jungen Männer zu prüfen, ob diese nur Scheinbilder und deshalb zu verwerfen seien oder ob es sich um etwas Wahrhaftes handle. So verhelfe er den anderen dazu, ihre seelischen Erzeugnisse hervorzubringen, selbst sei er aber nicht weise, er habe kein Wissen darzubieten (vgl. Tht. 150b–e). Sokrates’ Bekenntnis seines Nichtwissens erscheint in der Apolo­ gie als wesentliches Moment seines Selbstzeugnisses und als Bestand­ teil seiner Verteidigung. In den Vordergrund rückt das sokratische Nichtwissen durch die ›Orakel-Geschichte‹, die, wie Sokrates selbst ζητῶ γὰρ μετὰ σοῦ ἀεὶ τὸ προτιθέμενον διὰ τὸ μὴ αὐτὸς εἰδέναι (Chrm. 165b8–c1). Vgl. auch Ap. 23a; La. 200e–201a; Men. 71b.

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2.2 Sokrates’ ›menschliche Weisheit‹ (Apologie)

unterstreicht, den Beginn seiner Verleumdungen markiert: Dem Spruch des delphischen Orakels zufolge ist niemand weiser als Sokra­ tes.37 Dieser Spruch, so legt Sokrates dar, habe ihn ratlos gemacht: »Was meint wohl der Gott und was für eine Art von Rätsel gibt er auf? Denn ich weiß doch für mich selbst, dass ich weder hinsichtlich der großen noch der kleinen Dinge weise bin.«38 Das Orakel bringt Sokrates in eine widersprüchliche Situation: Einerseits hat er für sich selbst die Gewissheit, dass er nicht weise oder wissend ist; andererseits ist es aber auch nicht möglich, dass das Orakel sich täuscht. Es bleibt kein anderer Weg als den göttlichen Spruch mit dem Wissen seines Nichtwissens in Einklang zu bringen. Dafür muss Sokrates aber, wie er sagt, die Aussage des Orakels prüfen (ἐλέγξων τὸ μαντεῖον, 21c1).39

Sein Freund Chairephon habe einst das Orakel befragt, ob jemand weiser sei als er, Sokrates. Die Pythia aber, die Priesterin des Tempels, habe dies verneint (vgl. Ap. 20c–21b). Zur Frage der Historizität der ›Orakel-Geschichte‹ vgl. Klaus Döring: Zweites Kapitel: Sokrates, die Sokratiker und die von ihnen begründeten Traditionen, in: ders. et al.: Sophistik, Sokrates, Sokratik, Mathematik, Medizin, in: Grundriss der Geschichte der Philosophie, begr. von Friedrich Ueberweg, Die Philosophie der Antike, Bd. 2/1, hg. von Hellmut Flashar, völlig neu bearb. Ausg., Basel 1998, S. 139– 364, hier 155; auch Ernst Heitsch: Platon. Apologie des Sokrates, Übersetzung und Kommentar, Göttingen 2002 (Platon Werke, Bd. I 2), S. 73 ff. – Wie Figal zu Recht betont, ist es in gewisser Weise müßig, nach der Historizität dieser Geschichte zu fragen: »Die Insistenz auf der Wahrheit der Orakel-Geschichte gehört zum Portrait [des Sokrates, U. Z.], wie Platon es zeichnet. Im Rahmen dieses Portraits aber muß die Geschichte wahr sein, weil sich ohne sie die eigentümliche Art des Sokratischen Philosophierens nicht verstehen läßt« (Günter Figal: Sokrates, 3., überarb. und erw. Aufl., München 2006, S. 34 f.). 38 »Τί ποτε λέγει ὁ θεὸς καὶ τί ποτε αἰνίττεται; ἐγὼ γὰρ δὴ οὔτε μέγα οὔτε σμικρὸν σύνοιδα ἐμαυτῷ σοφὸς ὤν« (Ap. 21b3–5). Zu der sokratischen Wendung vgl. Heitsch 2002, S. 65, Anm. 61. Vgl. überdies Figal 2006, S. 35: »Die Uneindeutigkeit des Ora­ kels, wie Sokrates sie betont, ist nicht außergewöhnlich, sondern gehört zu dessen Wesen.« Figal verweist auf ein Fragment des Heraklit: »Der Herr, dem das Orakel in Delphi gehört, sagt nichts und birgt nichts, sondern er bedeutet.« (ὁ ἄναξ, οὗ τὸ μαντεῖόν ἐστι τὸ ἐν Δελφοῖς, οὔτε λέγει οὔτε κρύπτει, ἀλλὰ σημαίνει. DK 22 B 93). 39 Sokrates stellt damit nicht seine eigene Gewissheit über die Autorität des Orakel­ spruchs, sondern unterzieht beide Seiten einer Prüfung. Vgl. dazu Figal 2006, S. 34– 39; Jacqueline Karl: Selbstbestimmung und Individualität bei Platon. Eine Interpre­ tation zu frühen und mittleren Dialogen, Freiburg/München 2010, S. 123–129; Michael Erler: Hilfe der Götter und Erkenntnis des Selbst. Sokrates als Göttergeschenk bei Platon und den Platonikern, in: ders., Theo Kobusch (Hg.): Metaphysik und Reli­ gion. Zur Signatur des spätantiken Denkens, Akten des Internationalen Kongresses vom 13.-17. März 2001 in Würzburg, München/Leipzig 2002, S. 387–413, hier 406. 37

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2. Sokrates’ ›menschliche Weisheit‹ als Orientierungsmoment ethischen Wissens

In der Apologie folgt Sokrates’ rückblickende Beschreibung der Befragung seiner Mitbürger, d. h. derjenigen Fachleute, die in der Polis als weise40 erachtet werden, denn wenn irgendwo, konnte sich doch unter diesen ein im Vergleich zu ihm Weiserer finden. Das Ergebnis seiner Untersuchungen ist ernüchternd (vgl. Ap. 21b–22e): Während Sokrates bei den Politikern nichts als Dünkel feststellen kann, haben die Dichter immerhin ihre schönen Werke vorzuweisen, allerdings haben sie selbst kein Wissen über das von ihnen Hervorgebrachte. Bei den Handwerkern hingegen findet Sokrates ein Wissen vor, zudem ein solches, das er selbst nicht besitzt, nämlich die fachlichen Kenntnisse ihrer Techne.41 Jedoch glauben auch sie, wie schon die zuvor Befragten, in »den anderen größten Dingen« (τἆλλα τὰ μέγιστα, 22d7) wissend zu sein, obgleich sie es nicht sind. Folglich muss Sokrates auch mit Blick auf die Handwerker konstatieren, dass diese sich, gerade weil sie sich über ihr Können im Klaren sind, für weise und kenntnisreich auch hinsichtlich solcher Dinge halten, die außerhalb ihres Bereichs liegen. Nicht die Begrenzung ihres Wissens ist das Problem, sondern ihre diesbezügliche falsche Selbsteinschätzung. Für die Befragten aller drei Gruppen gilt, dass sie sich hinsichtlich ihrer eigenen Unwissenheit als unwissend erweisen (ἀμαθὴς τὴν ἀμαθίαν, 22e3–4). Durch die Prüfung seiner Mitbürger versteht Sokrates nun die Bedeutung des Orakelspruches: Zwar teilt er mit diesen das Nichtwissen bezüglich der höchsten Dinge, aber er bemerkt zugleich, dass er im Gegensatz zu seinen Gesprächspartnern dasjenige, was er nicht weiß, auch nicht glaubt zu wissen (ὅτι ἃ μὴ οἶδα οὐδὲ οἴομαι εἰδέναι, 21d7–8).42 Um dieses wenige sei er also doch weiser als jene (vgl. 21d; 22e). Die scheinbare Unvereinbarkeit von Orakelspruch und der Gewissheit seines Nichtwissens ist damit aufgehoben. 40 Im alltäglichen Gebrauch bedeutet σοφóς, dass jemand klug und in seinem Bereich kundig ist, er im Sinne eines fachlichen Könnens »seine Sache versteht« (Figal 2006, S. 48). Darüber hinaus kann σοφóς aber auch heißen, hinsichtlich eines universelleren oder philosophischen Wissens gebildet zu sein. 41 Mit dieser Darstellung demonstriert Sokrates gewissermaßen eine dem gewöhn­ lichen Verständnis der Berufsstände entgegengesetzte Hierarchie. Vgl. auch Figal 2006, S. 47 ff. 42 Mit dem Symposion gesprochen, wird Sokrates somit von Anfang an als derjenige gezeichnet, der sich, anders als viele seiner Gesprächspartner, im Zwischenbereich des Eros bewegt. Im Frühwerk bildet die Unterscheidung zwischen ›wissen‹ und ›glauben zu wissen‹ einen zentralen Topos. Vgl. dazu Heitsch 2002, S. 79 f.; auch Hugh H. Benson: A Note on Socratic Self-Knowledge in the Charmides, in: Ancient Philosophy 23 (2003), S. 31–47, hier 31, Anm 2.

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2.2 Sokrates’ ›menschliche Weisheit‹ (Apologie)

Mit der Darlegung der Orakel-Geschichte und der Befragung seiner Mitbürger verweist Sokrates in der Apologie selbst auf den Prozess, durch welchen er sich des Wissens seines Nichtwissens bzw. des Wissens seiner Wissensgrenzen ausdrücklich gewahr wurde. Dieses in aktiver Form gegenwärtige Wissen um sein Nichtwissen nennt Sokrates »die menschliche Weisheit« (ἀνθρωπίνη σοφία, 20d8). Sie aber sei es, die ihm den schlechten Ruf und die üblen Nachreden einbrachte (vgl. 20c–e); steht sie doch auch in direktem Zusammen­ hang mit seiner elenktischen Kunst. Die Orakel-Geschichte fungiert in der Apologie als auslösendes Moment von Sokrates’ Befragung seiner Mitbürger: Sie wird als eine Art philosophische Ursprungsge­ schichte kenntlich.43 Zugleich werden mit dieser Geschichte Sokrates’ spezifisches Wissen seines Nichtwissens bzw. Sinn und Bedeutung seiner ›menschlichen Weisheit‹ eng an Delphi geknüpft. Der Bezug zu Delphi wird aber nicht nur durch das Orakel manifest. Sokrates beruft sich in der Apologie vielfach auf Apollon, den Gott von Delphi: »Denn als Zeugen meiner Weisheit, ob sie aber eine Art Weisheit ist und von welcher Art, werde ich euch den Gott in Delphi stellen.«44 Der delphische Gott ist für Sokrates der Maßstab seiner Weisheit (vgl. 23a). Er habe die Sache des Gottes stets über alles stellen müssen, auch wenn er sich dabei verhasst machte (vgl. 21e); nach seiner Weisung habe er gehandelt und ihm zu helfen, verstand er als seinen Auftrag; er stehe im Dienst dieses Gottes (vgl. 23b–c).45 Sokrates’ Wissen seines Nichtwissens und seine ›menschliche Weisheit‹ bilden in der Apologie die Basis seiner Prüfungskompetenz; die Relevanz dieses Wissens ist hier unhinterfragt. Allerdings machen Sokrates’ Darlegungen nicht unmittelbar evident, wie die Rede von seinem Nichtwissen und seiner Weisheit zu verstehen ist und welche Rolle diese spezifische Einsicht tatsächlich im Rahmen seiner Befra­ gungen und in seinem Denken überhaupt spielt. Warum stellt diese 43 Aus einer historischen Perspektive mag die Annahme berechtigt sein, dass Chai­ rephons Anfrage bei dem Orakel bereits eine Folge der sokratischen Prüfungen dar­ stellt (vgl. dazu Heitsch 2002, S. 75–79 u. Appendix IV, S. 197 ff; Ursula Wolf: Die Suche nach dem guten Leben. Platons Frühdialoge, Hamburg 1996, S. 38). Im Kontext der platonischen Komposition ist die Orakel-Geschichte jedoch anders zu bewerten. Vgl. auch oben Anm. 37; Hermann Gundert: Dialog und Dialektik. Zur Struktur des platonischen Dialogs, Amsterdam 1971, S. 14; Karl 2010, S. 128 ff. 44 Τῆς γὰρ ἐμῆς, εἰ δή τίς ἐστιν σοφία, καὶ οἵα, μάρτυρα ὑμῖν παρέξομαι τὸν θεὸν τὸν ἐν Δελφοῖς (Ap. 20e6–8). 45 Weitere Bezugnahmen auf Apollon finden sich in Ap. 21b, 29b–30a, 37e–38a.

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2. Sokrates’ ›menschliche Weisheit‹ als Orientierungsmoment ethischen Wissens

Art der Weisheit, die er seinen Mitbürgern voraushat, ein so zentrales Moment seiner Tätigkeit dar? In der Apologie findet der delphische Spruch γνῶθι σαυτόν, ›Erkenne dich selbst!‹, keine Erwähnung, dennoch stehen Sokra­ tes’ Bezugnahmen auf Delphi in engem Zusammenhang mit die­ ser Maxime bzw. der delphischen Religion selbst.46 Um der Frage des sokratischen Nichtwissens nachzugehen, werden im Folgenden zunächst traditionelle Deutungen des delphischen Spruches aufge­ griffen und mit Blick auf ihre sokratische Rezeption diskutiert. Dem Exkurs in die traditionellen Auslegungen liegt die Annahme zugrunde, dass diese eine relevante Bezugs- und Reflexionsfläche für Sokrates’ Ausführungen in der Apologie darstellen. Darüber hinaus werden auch solche Gesichtspunkte der delphischen Tradition präzi­ siert, die für die später diskutierte sokratische Seelentherapie von Belang sind. Die folgenden Erörterungen zu Delphi basieren vielfach auf Forschungsstudien; an diese anschließend wird aber, vor allem in Bezug auf den Begriff der Grenze, eine eigene Interpretation der vorklassischen Positionen entwickelt.

2.2.1 Der delphische Spruch γνῶθι σαυτόν und die Dialektik menschlicher Begrenzung: Ein Exkurs In ihrer ursprünglichen und zugleich umfassendsten Deutung wird die delphische Maxime ›Erkenne dich selbst!‹, die zusammen mit dem in der Antike ebenso berühmten Appell μηδὲν ἄγαν, ›Nichts zu sehr‹, als Inschrift am delphischen Tempel zu lesen war, als Aufforderung an den Menschen verstanden, sich als Mensch, das heißt als Sterblichen im Unterschied zu den Unsterblichen, zu erkennen.47 Obwohl über 46 Vgl. Sara L. Rappe: Socrates and Self-Knowledge, in: Apeiron 28 (1995), S. 1–24, hier 6; Christian Göbel: Griechische Selbsterkenntnis. Platon – Parmenides – Stoa – Aristipp, Stuttgart 2002, S. 25 f.; Hermann Tränkle: ΓΝΩΘΙ ΣΕΑΥΤΟΝ. Zu Ursprung und Deutungsgeschichte des delphischen Spruchs, in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft. Neue Folge 11 (1985), S. 19–31, hier 23 f. – Platon lässt an vielen Stellen seines Werkes den delphischen Spruch von Sokrates aufrufen: u. a. Alc. I 124b, 129a; Prt. 343a–b; Chrm. 164d–e; Phdr. 229e; Phlb. 48c; Ti. 72a. 47 Vgl. Wolfgang Schadewaldt: Der Gott von Delphi und die Humanitätsidee, Pful­ lingen 1965, S. 16 f.; Walter Burkert: Griechische Religion der archaischen und klas­ sischen Epoche, Stuttgart 1977, S. 232; Göbel 2002, S. 18–22. Als Zeugnis der frühen Deutung des Spruches gilt Plutarch: De E ap. Delph. 21, 394c. Plutarch war selbst

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2.2 Sokrates’ ›menschliche Weisheit‹ (Apologie)

die Urheberschaft des Spruches γνῶθι σαυτόν bereits in der Antike kontrovers diskutiert wurde und seine Herkunft bis heute ungeklärt ist, wird in der Literatur von einem frühen Zusammenhang des Spruches mit der Tradition des Ortes Delphi und seiner Priesterschaft ausgegangen.48 Bedeutung und Autorität des Spruches sind in der Religion des Apollon verankert. Die Mahnung an die Begrenzung des Menschen bzw. die Maß­ gabe seiner Differenz zu den Unsterblichen wird, folgt man der Auslegung von Schadewaldt, innerhalb der apollinisch-delphischen Religion mit einem charakteristischen Regulativ verknüpft. Danach soll sich der Mensch seiner Sterblichkeit nicht nur innewerden, son­ dern sich auch in Entsprechung dazu in seinem Fühlen, Streben und Denken verhalten: Die Sterblichkeit zu begreifen und zu akzeptieren, bedeute, ›menschengemäß‹ oder ›menschlich‹ zu leben.49 Obschon Menschen und Götter im griechischen Denken bekanntlich einem Kosmos zugehören und deshalb eine prinzipielle Ähnlichkeit und Verwandtschaft besitzen, ist die Sterblichkeit das entscheidende Cha­ rakteristikum des Menschen.50 Dabei umfasst die Bewusstmachung der Endlichkeit in der delphisch-apollinischen Tradition sowohl die Konstitution des Menschen, d. h. seine geistigen und physischen Vermögen, als auch die Vergänglichkeit seiner mit der umgebenden Welt und ihren wechselnden Bedingungen zusammenhängenden Möglichkeiten. Der delphische Spruch spricht einerseits das Wesen des Menschen an; andererseits und zugleich wird er als konkreter Appell an den Einzelnen gedeutet, der nach Delphi kommt, um sich Rat zu holen, und der durch den Spruch aufgefordert wird, seine eigene etwaige Vermessenheit oder Selbstüberhöhung zu erkennen: Der, der den Spruch liest, hat die Möglichkeit, sich darin wie in einem Priester in Delphi, wenn auch zu einem sehr viel späteren Zeitpunkt. Auch in Platons Nomoi (XI 923a) findet sich ein Hinweis auf den frühen Sinngehalt des Spruches. 48 Vgl. Markus Reiser: Erkenne dich selbst! Selbsterkenntnis in Antike und Urchris­ tentum, in: Trierer Theologische Zeitschrift 101 (1992), S. 81–100, hier 81 ff. (mit reichhaltigen Literaturangaben zur älteren Forschungsdiskussion); auch Schadewaldt 1965, S. 14 ff.; Tränkle 1985, S. 20 ff. 49 Vgl. Schadewaldt 1965, S. 17. 50 Vgl. Jean-Pierre Vernant: Einführung. Der Mensch des antiken Griechenland, in: ders. (Hg.): Der Mensch der griechischen Antike, Essen 2004 (L’uomo greco, Rom 1991), S. 7–30, hier 12–14; auch Burkert 1977, S. 283 u. 292. In der homerischen Ilias finden sich zahlreiche Stellen, an denen Apollon die Wahrung der Distanz zwischen Sterblichen und Unsterblichen wirkmächtig einfordert: vgl. Il. 5, 440–42; 16, 788 ff.; 21, 461–67; zu den Textstellen vgl. auch Schadewaldt 1965, S. 15 f.

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Spiegel zu sehen.51 Eng verbunden mit der delphischen Maxime ist deshalb die Warnung vor Hybris, die sich in spätarchaischer Zeit besonders an die Adresse der Adligen und ihre teilweise willkürli­ che Herrschaft und Tyrannei richtet.52 Die religiöse Direktive dient grundsätzlich der Ermahnung und Motivation zu einer »gesunden Gesinnung«, die auf Selbstbescheidung, Selbstbeherrschung und auf ein generelles Maßhalten zielt.53 Gekennzeichnet sind damit aber zugleich Charakteristiken und Verhaltensnormen der σωφροσύνη,54 deren Grundbedeutung als »›richtiges, ordentliches Denken, Sinnen und Trachten‹, wie es sich für den Menschen gebührt sich selbst, anderen und Gott gegenüber«55, beschrieben werden kann. Die ethisch-normative Wirkkraft der apollinischen Religion und des delphischen Spruches findet ihren Niederschlag auch in den literarischen Zeugnissen des fünften Jahrhunderts v. Chr., d. h. in der Dichtung und Historiographie. Anhand exemplarischer Textstellen bei Pindar, Sophokles und Herodot wird dies in der Forschungsli­ teratur dokumentiert.56 Allerdings wird nun, in den Werken des fünften Jahrhunderts, die Begrenztheit des Menschen häufig in einem Atemzug mit seiner Leistung und Stärke, mit der Vielgestalt seiner Kräfte, mit Ruhm und menschlicher Schönheit genannt. So preist Pindar in verschiedenen Oden begeistert die menschlichen Höhen Vgl. Göbel 2002, S. 18–22. Vgl. Jean-Pierre Vernant: Die Entstehung des griechischen Denkens, Frankfurt/M. 1982, S. 66 ff.; Göbel 2002, S. 18 f. 53 Vgl. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Erkenne dich selbst, in: ders.: Reden und Vorträge, Bd. II, 4., umgearb. Aufl., Berlin 1926, S. 171–189, hier 173, Zitat ebd.: Die adlige Gesellschaft, so Wilamowitz-Moellendorff, sollte durch den Spruch zur »Tugend der ›gesunden Gesinnung‹« erzogen werden. 54 Vgl. Wilamowitz-Moellendorff 1926, S. 173 f. 55 Karen Gloy: Platons Theorie der ἐπιστήμη ἑαυτῆς im Charmides als Vorläufer der modernen Selbstbewußtseinstheorien, in: Kant-Studien 77 (1986), S. 137–164, hier 142. 56 Den drei genannten Dichtern wird eine besondere Nähe zu Delphi zuerkannt. Vgl. Schadewaldt 1965, S. 21 ff.; Franz Dirlmeier: Apollon, Gott und Erzieher des helleni­ schen Adels (1939), in: ders.: Ausgewählte Schriften zu Dichtung und Philosophie der Griechen, hg. von Herwig Görgemanns, Heidelberg 1970, S. 31–47, hier 40–42; Martin P. Nilsson: Geschichte der griechischen Religion, Bd. 1: Die Religion Grie­ chenlands bis auf die griechische Weltherrschaft, 3., durchges. und erg. Aufl., Mün­ chen 1967, S. 748 f., 763 u. 766 f. Vgl. auch Hellmut Flashar: Familie, Mythos, Drama am Beispiel des Oedipus, in: Colloquium Helveticum 19 (1994), S. 51–74, hier 62 ff. u. 71; Eckard Lefèvre: Sophokles' Antigone – eine Tragödie zwischen ethischem Anspruch und Hybris, in: Freiburger Universitätsblätter 169 (2005), S. 11–24. 51

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2.2 Sokrates’ ›menschliche Weisheit‹ (Apologie)

und Erfolge, die »Üppigkeiten« und »geflügelten Mannhaftigkeiten«, um wenige Zeilen später den Menschen als »Eintagswesen«, eines »Schattens Traum« zu bezeichnen.57 Die Hervorhebung der Größe menschlicher Fähigkeiten wechselt mit einem pointierten Vokabular der Vergänglichkeit. Das unmittelbare Nebeneinander verweist offen­ kundig darauf, dass Potential und Begrenztheit des Menschen sich nicht gegenseitig ausschließen. Vielmehr spiegelt sich in diesem bei Pindar mehrfach zu findenden Verhältnis von einerseits Größe, ande­ rerseits Sterblichkeit des Menschen eine Einsicht, die sich bereits mit der delphischen Besinnung auf die menschliche Endlichkeit andeu­ tete: Es ist die Erkenntnis, dass die Akzeptanz der Begrenzung dem Menschen erst seinen Raum gibt, wobei nicht die Grenzen selbst, sondern erst das Einsehen in diese den Ort des Menschseins schafft.58 Die traditionelle Verbindung der delphischen Maxime und der Tugend der Sophrosyne kennzeichnet einen Maßstab, in dessen Horizont Hybris und Selbstüberhebung als der verzweifelte und zum Scheitern verurteilte Versuch erscheinen, aus den Grenzen des Menschlichen herauszutreten: Getrieben von Eitelkeit und Hochmut, von Herr­ schafts- und Anerkennungssucht erreicht der Mensch danach das Gegenteil des Gewünschten; er transzendiert die Schranken nicht, sondern wird, wie die in der Dichtung sedimentierte mannigfaltige Erfahrung zeigt, umso schmerzlicher in dieselben zurückverwiesen.59 Das delphische γνῶθι σαυτόν und der Appell an das richtige Maß sind auch in Sophokles’ Tragödien vielfach präsent.60 Die Spannung zwischen Größe und Endlichkeit des Menschen kommt mit besonde­ rer Deutlichkeit zu Beginn des ersten Chorliedes der Antigone zum Ausdruck: »Ungeheuer ist viel, doch nichts | So ungeheuer wie der

Zitiert wird hier die Achte Pythische Ode (P. 8, 89–96) von Pindar, übers. von Schadewaldt 1965, S. 23; zu weiteren exemplarischen Textstellen vgl. ebd., S. 23–26. 58 Vgl. dazu Schadewaldt 1965, S. 12 u. 20. 59 Die vor allem in den Tragödien vor Augen geführten jammervollen Einbrüche in ein menschliches Leben erscheinen oft als Verknüpfung von göttlich verhängtem Schicksal und selbst verschuldeter Hybris. Vgl. zu den Diskussionen über dieses Ver­ hältnis: Lefèvre 2005; Flashar 1994; Arbogast Schmitt: Freiheit und Subjektivität in der griechischen Tragödie?, in: Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjek­ tivität, Bd. 1, hg. von Reto L. Fetz, Roland Hagenbüchle, Peter Schulz, Berlin/New York 1998, S. 91–118. 60 Lefèvre (2005, S. 11–13) u. Flashar (1994, S. 59 u. 71) heben die ganz eigene Aus­ legung der delphischen Maxime durch Sophokles hervor. 57

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2. Sokrates’ ›menschliche Weisheit‹ als Orientierungsmoment ethischen Wissens

Mensch.«61 Mit dieser Bestimmung des Menschen als dem im Ver­ hältnis zu allem anderen Seienden Gewaltigeren oder ungleich Unge­ heureren (δεινότερον) zeigt sich das gespannte Verhältnis, innerhalb dessen sich der Mensch bewegt und das ihn letztlich selbst aus­ macht: Das δεινόν, das Gewaltige, Ungeheure, Starke, kann sich als das Kraftvolle, Große, außergewöhnlich Erfolgreiche äußern, aber es kann auch das Furchtbare, Gewalttätige und Zerstörerische sein. Das erste Chorlied der Antigone ist von dieser Gegenüberstellung geprägt: In allem Erfindungsreichtum der Kunst und im Ordnen der Städte schreite der Mensch bald zum Schlechten, bald zum Guten (vgl. 364– 366), er sei »allerfahren; unerfahren« (παντοπόρος· | ἄπορος, 358 f.), »hoch über der Stadt stehend; ausgeschlossen aus der Stadt« (ὑψίπολις· | ἄπολις, 369 f.).62 Ähnlich wie bei Pindar wird die Dyna­ mik und auch Dramatik einer Gleichzeitigkeit von Gegensätzen signalisiert, denen der Mensch nicht entkommen, mit welchen er im besten Fall aber lernen kann, umzugehen – und zwar im Sinne der Sophrosyne. Die Antonyme folgen im Chorlied unmittelbar aufein­ ander, die Allerfahrenheit kann in Ausweglosigkeit, das Hoch-überder-Stadt-Stehen in eine Heimatlosigkeit umschlagen. Die delphische Warnung vor Hybris schwingt unverkennbar mit: Die Bestimmung und Darstellung des Menschen im Chorlied gleichen einem Mahnruf. Das Aufrufen der Gegensatzpaare lässt aber auch an zwei Haupt­ attribute des Gottes Apollon denken, nämlich an Bogen und Leier, welche in einem zweifachen Sinn das Gegensätzliche thematisieren. Einerseits stellen Leier und Bogen selbst ein antagonistisches Paar dar: Unter den olympischen Göttern erfreut Apollon mit schönem Gesang und ausgleichendem Leierspiel, er ist Führer der Musen (Μουσαγέτης);63 Pfeil und Bogen hingegen weisen auf Krieg und Unheil, der Erste Gesang der Ilias führt dies drastisch vor Augen.64 Πολλὰ τὰ δεινά, κοὐδὲν ἀνθρώπου δεινότερον πέλει (Sophokles: Ant. 332 f.). Übers. Schadewaldt 1965, S. 25. 62 Eigene Übersetzung. 63 Vgl. Marion Giebel: Das Orakel von Delphi. Geschichte und Texte, griechischdeutsch, Stuttgart 2001, S. 13; Burkert 1977, S. 231; Schadewaldt 1965, S. 20. 64 Neun Tage wütet Apollon im Lager der Achaier mit klirrenden Pfeilen, um seinen Priester Chrysis zu rächen; am zehnten Tag aber tritt die Musik als versöhnendes Element hervor (vgl. Il. 1, 43 ff. u. 473–475). Vgl. dazu Dirlmeier (1939) 1979, S. 34– 37. Attribute und Charakteristiken von Apollon sind über die Jahrhunderte im Wandel begriffen. Das unheilbringende Element wird eher der frühgriechischen Zeit zuge­ rechnet. 61

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Andererseits stehen beide Attribute, Bogen und Leier, für ein Har­ monisieren der Gegensätze: Von Heraklit wird das synchrone Aus­ einanderstreben und Zusammenziehen von Sehne oder Saite als »widerstrebige Fügung« beschrieben.65 Auch im Chorlied der Anti­ gone werden auf der einen Seite die Gegensätze scharf konturiert, auf der anderen Seite wird aber auch hier ihr Ausgleich angestrebt. Im Kontext der apollinischen Religion lässt der delphische Spruch γνῶθι σαυτόν zunächst die Grenzen des Menschlichen in den Vordergrund treten und erinnert an die damit verbundene, notwen­ dige Besinnung auf die Distanz zum Göttlichen, durch die überhaupt erst der Ort des Menschseins und das menschliche Potential zu gewinnen sind. Eine solche Besinnung auf die Sterblichkeit gibt aber den notwendigen Impuls zu der Erkenntnis, dass Grenzen mit ihrer Bewusstmachung und Akzeptanz ihre Starrheit verlieren können, dass sie sich durch Einsicht verändern. Das ›Erkenne dich selbst!‹ indiziert nicht nur, dass Maßlosigkeit sowie Schein und Täuschung einer Selbstüberhöhung auf einen unheilvollen Weg führen, sondern es lässt auch offenbar werden, dass Anerkennung und Einsicht in eine Grenze über sie hinausblicken und sie in gewisser Weise sogar trans­ zendieren lassen.66 Aufgerufen wird mit der delphischen Maxime ein – im hegelschen Sinne – dialektisches Moment der Grenze, das vor allem in der Literatur des fünften vorchristlichen Jahrhunderts zum Ausdruck kommt: Die Erfahrung der Begrenztheit wird dann produktiv, wenn der Mensch diese als zu seinem Dasein gehörig mit einem gewissen Selbstverständnis anzunehmen vermag und nicht das Jenseits der Grenze für sich erzwingen will. Erst dann, so lässt sich der Spruch deuten, eröffnen sich neue Möglichkeiten. Zugleich erweist das erste Chorlied der Antigone, dass der Mensch sich möglichst in der Gespanntheit der Gegensätze, in der herakliteischen Dynamik ihrer Gleichzeitigkeit halten soll. Auch macht das Chorlied deutlich, dass das δεινόν des Menschen sich nur dann nicht als das Furchtbare und Zerstörerische, sondern ganz im Gegenteil als ein tatsächlich Großes und Außergewöhnliches heraus­ 65 »Sie verstehen nicht, wie es auseinander getragen mit sich selbst im Sinn zusam­ men geht: gegenstrebige Vereinigung wie die des Bogens und der Leier.« (οὐ ξυνιᾶσιν ὅκως διαφερόμενον ἑωυτῷ ὁμολογέει· παλίντροπος ἁρμονίη ὅκωσπερ τόξου καὶ λύρης. DK 22 B 51) Vgl. überdies Giebel 2001, S. 13: »Gegensätzliches zum Ausgleich zu bringen gehört zum Wesen Apollons«. 66 Denn »die Erkenntnis der Schranke besagt, daß das Beschränkte nicht alles ist« (Burkert 1977, S. 233).

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2. Sokrates’ ›menschliche Weisheit‹ als Orientierungsmoment ethischen Wissens

bildet, wenn der Mensch in dem dargelegten Sinne seine Grenzen versteht. Beide Motive, die Gespanntheit und die Erkenntnis der Grenzen, transformiert Platon in philosophische Ansätze: In ihrer Verschränkung wurden beide Motive, insbesondere dasjenige der Gespanntheit, bereits mit dem philosophischen Eros-Konzept im Symposion ersichtlich.67 Als sinnvoll erwies sich die Gespanntheit aber nur, wenn ihr zugleich eine Richtung innewohnt: Wie im Chor­ lied das Wohl des Menschen nicht auf die Seite seiner Zerstörungs­ kraft, sondern auf diejenige seiner tatsächlichen Größe hinzeigt, muss sich das menschliche Erkenntnisstreben in seiner Spannung zwischen Unwissen und Wissen auf das Schöne und Gute hin ausrichten. Die Kraft, die richtige Orientierung zu gewinnen, resultiert aber wiederum aus der besonnenen Einsicht in die menschlichen Grenzen, die vor Hybris und falscher Selbsteinschätzung bewahren soll. Das Einsehen der Grenzen – dies machte die obige Einführung in die Frage des sokratischen Nichtwissens deutlich – bildet ein zentrales Thema der Apologie: Die durch das Orakel manifestierte exzeptionelle Stellung des Sokrates hängt wesentlich mit dieser Art von Einsicht zusammen. Dass es sich hierbei nicht lediglich um die nicht weiter zu diskutierende Erkenntnis der Unerreichbarkeit göttlichen Wissens handelt, wird im nachfolgenden Kapitel im Näheren auseinanderge­ setzt. Sokrates greift das in den vorklassischen Zeugnissen zur Spra­ che gebrachte, sich auf das menschliche Dasein und die Lebenspraxis beziehende Gedankengut auf und lenkt es in eine philosophische Richtung, die jedoch das praktische Moment ebenso integriert. Die bisher dargelegten Gesichtspunkte, d. h. die mit den frühen Deutungen des delphischen Spruches einhergehende Mahnung an eine ›gesunde Gesinnung‹, das Bewusstmachen der menschlichen Begrenztheit und der Appell, diese zu akzeptieren, um den Ort des Menschseins zu erlangen, die damit einhergehende Erfahrung, dass Grenzen ihre Starrheit verlieren können, zugleich das Sich-Halten in der herakliteischen bzw. sophokleischen Spannung, führen in ihrer Verbindung und Komplexität zu einem weiteren elementaren Aspekt: Die delphische Maxime begründet auf dieser Basis ein therapeuti­ sches Moment. Dieses schließt zunächst an das frühgriechische Motiv der Reinigung von Hybris und Maßlosigkeit an. Zugleich aber sind

67 In diesem Zusammenhang wurde auch bereits auf Heraklits Satz von Bogen und Leier Bezug genommen (vgl. oben Kap. 1.3.2).

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2.2 Sokrates’ ›menschliche Weisheit‹ (Apologie)

von alters her Reinigung und Heilung, κάθαρσις und θεραπεία,68 mit dem Musischen verbunden: Ἐπῳδαί, Zauberlieder, musikalische Beschwörungen oder Tänze, sollen dazu beitragen, Krankheiten zu heilen. Den Terminus ἐπῳδή wird Platon im Charmides in prominen­ ter Weise für die sokratisch-philosophische Heilkunst verwenden.69 Auch Aristoteles setzt sich im Schlusskapitel seiner Politik mit einer ›musikalischen Katharsis‹ auseinander.70 Das therapeutische Motiv als Charakteristikum der delphischen Religion wird in seiner Verknüpfung von kathartisch-heilendem und musischem Moment wiederum in den Wesenszügen des Apollon sichtbar: Das Areal der Reinigung und Heilung und die musische Kunst gelten zusammen mit dem Feld des Orakels als zentrale Zustän­ digkeitsbereiche des Gottes.71 Im Kontext dieser drei Bereiche steht Apollon für ein Ordnung schaffendes Prinzip: bei der Wiederherstel­ lung von Gesundheit oder beim Ausgleich und Beherrschen von Gemütszuständen, bei der Befreiung von Seuchen oder Freveln und auch im Hinblick auf die richtige Verhältnissetzung des Menschen in Bezug zum Göttlichen. Daran anschließend gründet die Tugend der Sophrosyne in ihrem traditionellen Gehalt in der apollinischen Geordnetheit und Ordnung. Platon knüpft im Charmides ausdrück­ lich an das delphisch-therapeutische Motiv an: Der eigentlichen dialo­ gischen Erörterung der Besonnenheit wird hier Sokrates’ Darstellung seiner therapeutischen Methode vorausgeschickt (vgl. 155b–157c). Der Begriff der Katharsis wurde in den letzten Jahrzehnten vielfach diskutiert. Vgl. stellv. den Sammelband von Martin Vöhler, Bernd Seidensticker (Hg.): Katharsiskon­ zeptionen vor Aristoteles, Berlin/New York 2007; einen Überblick zu den Formen der Katharsis gibt die Einführung in den Sammelband, S. VII-XII. Innerhalb der vorklassi­ schen Zeit findet sich der Begriff vornehmlich im medizinischen und kultisch-rituellen Feld. Die Deutungsmomente der delphischen Maxime lassen aber auch ein ethisches und intellektuelles Moment bezüglich des Katharsisbegriffs aufscheinen, die sich mit dem rituellen Bereich überschneiden. 69 Vgl. dazu unten Kap. 4.3.1. Zum Begriff ἐπῳδή vgl. Pedro Laín-Entralgo: Die pla­ tonische Rationalisierung der Besprechung (ΕΠΩΙΔΗ) und die Erfindung der Psycho­ therapie durch das Wort, in: Hermes 86 (1958), S. 298–323, hier 299–302; zur vor­ philosophischen und philosophischen Bedeutung der Katharsis, auch zu ihrer Verknüpfung mit dem Musischen vgl. ebd., S. 314–321. 70 Vgl. Aristoteles: Pol. VIII 7; dazu den Aufsatz von Hellmut Flashar: Die musika­ lische und poetische Katharsis, in: Martin Vöhler, Bernd Seidensticker (Hg.): Kathar­ siskonzeptionen vor Aristoteles, Berlin/New York 2007, S. 173–179. 71 Zum Zusammenhang der drei Bereiche des Apollon vgl. Burkert 1977, S. 231–233; Schadewaldt 1965, S. 19 f.; auch Cra. 405a. Zu einer ausführlichen Darstellung des Apollonkults, auch in seinen Veränderungen, vgl. Nilsson 1967, S. 529–555. 68

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Hierbei greift Platon nicht nur den alten Begriff ἐπῳδή auf, sondern er überführt die innerhalb der delphischen Religion vorgezeichnete Verbindung von Heilung, musischem Moment und Sophrosyne – insbesondere im Charmides, aber auch andernorts – in ein philoso­ phisches Konzept. Damit zusammenhängend lässt auch das in den platonischen Dialogen oftmals verwendete medizinische Vokabular – wenn etwa von Krankheit oder Gesundheit der Seele oder der Polis die Rede ist – das delphische Heilmotiv aufscheinen. Mit welcher Bestimmtheit Platon auf das musische und das spezifisch musikali­ sche Moment in seiner Wirkung auf den Menschen Bezug nimmt, zeigt neben der Vielzahl seiner eigenen poetischen Narrative auch die musische Erziehung in der Politeia.72 In deren Rahmen konzediert Platon der Musik einen besonderen pädagogischen Stellenwert (vgl. R. III 398c–403c): Rhythmus und Harmonie (ῥυθμὸς καὶ ἁρμονία) würden deshalb eine führende Rolle in der Erziehung spielen, weil sie, selbst eine Wohlgeordnetheit in sich tragend, sich am stärksten in die Seele einprägten und sie auf diese Weise wohlgestaltet machten (vgl. 401d). Vor dem Hintergrund der hier angestellten Betrachtungen kann es kaum verwundern, dass die einzigen Musikinstrumente, die Sokrates nach der Reinigung der Musik für das Bildungsprogramm im Idealstaat gelten lässt, die Instrumente des Apollon, Lyra und Kithara, sind (vgl. 399d–e). Menschenbild und Verständnis der Sophrosyne wie der Tugend überhaupt sind auch in vorklassischer Zeit, von den homerischen Epen bis zur ersten Hälfte des fünften vorchristlichen Jahrhunderts, einem Wandel unterworfen. Auch charakterisieren und fokussieren die homerischen Epen, welche die Welt der Aristokratie präsentieren und zugleich an diesen obersten Stand adressiert sind, bekanntlich ein anderes Bild des Menschen als die Schriften Hesiods.73 Verände­ rungen zeigen sich überdies von der Ilias zur Odyssee und erst recht mit Blick auf spätere Textzeugnisse und die mannigfaltige Literatur des fünften Jahrhunderts. In den vorliegenden Erörterungen zu den Deutungsmustern der delphischen Maxime stehen die zeitlichen Wandlungen jedoch nicht im Vordergrund. Das erkenntnisleitende Interesse gilt vielmehr Tendenzen und Aspekten dieser Tradition, Vgl. R. II u. III 376c–412b; dazu schon oben Kap. 1.2.2. Vgl. Joachim Latacz: Das Menschenbild Homers, in: Gymnasium. Zeitschrift für Kultur der Antike und humanistische Bildung 91 (1984), S. 15–39, hier 37; auch Martin F. Meyer: Scham im klassischen griechischen Denken, in: Michaela Bauks, ders. (Hg.): Zur Kulturgeschichte der Scham, Hamburg 2011, S. 35–54. 72

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welche Sokrates’ Bezugnahmen auf Delphi in Platons Œuvre erhellen bzw. die insgesamt für Platons Rezeption der traditionellen Momente und seine daraus erwachsenden philosophischen Konzeptionen von Relevanz sind. Resümierend konnten in den hier entwickelten Diskussionen drei Hauptmotive aufgezeigt werden, welche mit dem delphischen Spruch in direkter Verbindung stehen: ein religiös-anthropologisches Motiv durch die Bestimmung des Menschen im Verhältnis zum Göttlichen, ein ethisch-lebenspraktisches Motiv im Kontext seines appellativen Charakters und der Bewusstmachung der Dialektik menschlicher Grenzen, schließlich ein therapeutisch-heilendes und zugleich musisches Motiv, das mit dem ordnend-apollinischen Prin­ zip der Sophrosyne assoziiert ist. Die drei Motive greifen ineinander und konturieren in gewisser Weise im Hinblick auf Platons frühes und mittleres Werk eine weitere Fragestellung vor, nämlich die Frage nach dem Zusammenhang von Selbsterkenntnis und Selbstsorge. In Diskussion des sokratischen Selbstsorgekonzepts wurde im ersten Kapitel dieser Arbeit bereits sichtbar, dass auch diese Frage für Platons Philosophie wesentlich ist. Schließlich soll der Blick noch auf ein weiteres, viertes Motiv der delphischen Maxime gelenkt werden, das die anderen gleichsam umschließt: Gemeint ist das politische Motiv. Das ordnende Element der apollinischen Tradition bezieht sich auf den Einzelnen und die Gemeinschaft gleichermaßen. So sind etwa die Warnung vor Hybris und der Appell zum Maßhalten gerade auch als Heilmittel für das Gemeinwesen zu betrachten. Die mit der Sophrosyne traditionell einhergehende Aufforderung zu einem angemessenen Verhalten und zur Selbstbescheidung ist hierbei stets auch daraufhin ausgelegt, den Konventionen und Erwartungen des Gemeinwesens gerecht zu werden.74 Die Stellung und Bestimmung des Menschseins betrifft nicht nur das Verhältnis zum Göttlichen, sondern innerhalb dieses Horizonts auch die Gemeinschaft, deren Zusammenhalt und Ord­ nung. Der delphische Spruch impliziert demnach auch die Frage von Standpunkt und Position des Einzelnen innerhalb der Gemeinschaft. Abschießend sei in diesem Zusammenhang kurz auf die in den letzten Jahrzehnten entflammte Forschungsdebatte über das Vgl. W. Thomas Schmid: Socratic Moderation and Self-Knowledge, in: Journal of the History of Philosophy 21 (1983), S. 339–348, hier 339–342; auch Göbel 2002, S. 18 f.

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Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft in der vorklassischen Dichtung, vor allem in den homerischen Epen und den späteren Tra­ gödien, verwiesen. Die Debatte spaltet sich im Wesentlichen in zwei konträre Richtungen,75 wobei beide Seiten unter Voraussetzung einer engen Verschränkung von Individuum und Gemeinschaft zunächst davon ausgehen, dass sich der Einzelne – gemäß den literarischen Zeugnissen – im Rahmen der konventionellen Standards, also des von der Gemeinschaft Erwarteten, auch in Achtung göttlicher Weisungen bewegt und den normativen Vorgaben in hohem Maße verpflichtet fühlt. Während aber aus Sicht der ersten Forschungsrichtung die Texte auf eine Standesgesellschaft hindeuten, innerhalb derer die dargestellten Helden kein besonderes Augenmerk für ihr eigenes Verhalten und die zu erfüllenden Verhaltenskodizes zeigten, die Pro­ tagonisten sich vielmehr primär von äußeren Wirkkräften in Gestalt institutionalisierter Sanktionen oder göttlicher Macht leiten ließen,76 erkennt – im Gegensatz dazu – die zweite Forschungsrichtung den literarischen Figuren ein reflexives Moment und damit auch eine Art individuelles Handeln zu. Der Mensch, wie er in den poetischen Texten der vorklassischen Zeit in Erscheinung tritt, überdenkt gemäß dieser zweiten Auffassung, jedenfalls teilweise, seine eigene Position im Verhältnis zu bestimmten Handlungsoptionen. Auch wenn ein Held im Nachhinein seine Fehler erkenne, verweise dies auf Hand­ lungsspielräume des Einzelnen.77 Vgl. zu dieser Kontroverse Arbogast Schmitt: Selbständigkeit und Abhängigkeit menschlichen Handelns bei Homer. Hermeneutische Untersuchungen zur Psycholo­ gie Homers, Stuttgart 1990, darin Kap. A: ›Historische Methode und Homerinter­ pretation‹, S. 12–71. Schmitt macht es sich in dieser Studie zur Aufgabe, die Thesen von Bruno Snell zu widerlegen. Snell lehnt es ab, in Bezug auf den homerischen Men­ schen von Entscheidung oder Eigenverantwortung zu sprechen, da es moderne Begriffe seien, die auf dem Prinzip der Spontaneität und des Selbstbewusstseins beruhten (vgl. ebd., S. 12 ff. u. 229 f., Anm. 2). Vgl. dazu Bruno Snell: Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Hamburg 1946. Zu weiteren Literaturangaben zu Snell und zu den Kontroversen vgl. Schmitt 1990, S. 229 f., Anm. 1 u. 6. Vgl. auch ders.: Der Einzelne und die Gemein­ schaft in der Dichtung Homers und in der Staatstheorie bei Platon. Zur Ableitung der Staatstheorie aus der Psychologie, Stuttgart 2000, S. 25–30. 76 Vgl. etwa Schmid 1983, S. 339–342; zu dieser Position auch Eric R. Dodds: Die Griechen und das Irrationale, aus dem Engl. von Hermann-Josef Dirksen, 2., unver­ änd. Aufl., Darmstadt 1991 (The Greeks and the Irrational, Berkeley 1951), S. 15–37. – Die beiden Forschungsrichtungen sollen hier allerdings nur sehr kursorisch skizziert werden. 77 Vgl. Schmitt 1990, 1998 u. 2000; auch Lefèvre 2005. 75

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2.2 Sokrates’ ›menschliche Weisheit‹ (Apologie)

Gleichwohl beide Forschungsperspektiven in je bestimmter Hin­ sicht ihre Berechtigung haben78 und man überdies die zweite Richtung bezüglich der starken These eines individuell ›selbstbestimmten‹ und ›freien‹ Handelns durchaus kritisch beleuchten darf, so lässt doch auch die delphische Maxime in ihren traditionellen Auslegungen auf ein eher dynamisch zu denkendes Verhältnis von Einzelnem und Gemeinschaft schließen: Die in dem delphischen Spruch ent­ haltene Aufforderung eines ›Sich-Fügens‹, sei es in Bezug auf die Sterblichkeit, sei es in Bezug auf die eigene Stellung innerhalb der Gemeinschaft, zeigt ihr Potential und ihre tatsächlich ordnend-stabi­ lisierende Wirkung nur dann, wenn das ›Sich-Fügen‹ mit Einsicht und demnach auch mit einer reflexiven Komponente einhergeht. In ihrem herkömmlichen Bedeutungsfeld der Selbstbescheidung und Selbstbeherrschung lässt auch die Sophrosyne das reflexive Moment aufleuchten.79 Das Einnehmen seiner Position innerhalb der Gemein­ schaft kann im Kontext der delphischen Tradition deshalb als eine Art ›wissendes Sich-Fügen‹ begriffen werden. Darüber hinaus spiegelt aber nicht nur die heutige Forschungs­ literatur, dass die vorklassischen Überlieferungen unterschiedliche, teilweise gegenläufige Tendenzen aufweisen. Auch Platon lässt in vielerlei Hinsicht erkennen, dass er um die verschiedenen Facetten des vorklassischen Gedankenguts weiß: In seinen Dialogen zeichnet er sowohl eher starr erscheinende traditionelle Muster von Tugend und Verhaltensvorstellungen als auch reflexive, auf Einsicht zielende Elemente althergebrachter Begrifflichkeiten, mit denen er zeigt, dass teilweise auch in traditionellen Konzepten ein bestimmtes philoso­ phisches Potential angelegt ist. Durch die Art und Weise seiner Rezeption macht Platon deutlich, dass er sich der verschiedenen, auch der im Kontext seiner Zeit favorisierten Auslegungsmöglichkei­ ten bewusst ist; von einem beliebigen Umgang mit traditionellen Motiven grenzt er sich hierbei ausdrücklich ab. Seine Figur des Sokrates lässt er mithilfe spezifischer Fragestellungen in impliziter wie auch expliziter Form bestimmte Begriffsverschiebungen reflektie­ ren und forciert damit eine Neukonstitution ethisch-philosophischer Wissenskonzeptionen. Auch die nachfolgenden Untersuchungen zur Rolle des sokratischen Nichtwissens und zu der Frage, wie es in episte­ mischer Hinsicht einzuordnen ist, sind in diesem Lichte zu betrachten. 78 Aufschlussreich und klärend argumentiert in diesem Zusammenhang Latacz 1984, S. 29–35. 79 Vgl. dazu Gloy 1986, S. 142 f.

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2.2.2 Die philosophische Relevanz des sokratischen Nichtwissens und der ›menschlichen Weisheit‹ Das Erinnern an eine ›gesunde Gesinnung‹ und ein besonnenes Verhalten, Warnungen vor Zügellosigkeit und Hybris und der damit verbundene Appell an eine angemessene Lebensweise finden sich im platonischen Werk in verschiedener Gestalt.80 Sokrates’ Ausein­ andersetzungen mit Kallikles im Gorgias und mit Thrasymachos im ersten Buch der Politeia, d. h. die Zurückweisung des Ideals der Pleonexie und eines ausschweifenden Lebensstils (vgl. Grg. 482b– 484c, 491e–494c), ebenso der Legitimierung eines auf Reichtum und Macht zielenden Vorteilsdenkens (vgl. R. I 338a–354a), lassen nicht zuletzt die delphische Maxime aufscheinen. Angesichts solcher an sinnlichem und materiellem Begehren sich ausrichtenden Meinungen knüpft Sokrates in seiner Argumentation wiederholt an den Gedan­ ken des richtigen Maßes an. Auch die anschaulichen Bilder der viel­ köpfigen und richtungslosen Begierde (vgl. R. IX 588c–e; Phdr. 230a) lassen die Relevanz einer auf Ausgleich zielenden Besonnenheit, die Warnung vor einem entfesselten Verhalten, damit zusammen­ hängend die Frage, wie die Natur des Menschen zu bestimmen sei, erkennbar werden. Diejenige Hybris, deren Bekämpfung Platon einen großen Teil seines Werkes widmet, ist in ihrem Auftreten – jedenfalls zunächst – weniger augenscheinlich als das zügellose Ausleben von Leidenschaften oder das exzessive Verlangen nach materiellem Besitz oder nach Macht: Gemeint ist die Anmaßung von Wissen.81 Schon in der Apologie wird nicht nur der Anspruch der Sophisten, das Tugendwissen zu besitzen und zu lehren, sondern auch die fal­ sche Selbsteinschätzung der befragten Bürger, in einem umfassenden Sinne wissend zu sein, prononciert beleuchtet (vgl. 19e–20c, 21b– 22e). Die Ursache dieser Art von Wissensansprüchen liegt sicher­ lich zum einen in der sophistisch geprägten und in der Literatur oftmals so bezeichneten ›attischen Aufklärung‹ begründet,82 in deren Zuge, dies wurde im Kontext des sophistischen Naturalismus bereits Vgl. beispielsweise Men. 73a–c; Grg. 478a ff., 506c–508c. Freilich hängt diese Anmaßung für Platon oftmals mit einem Machtdenken zusam­ men. 82 Vgl. Damir Barbarić: Der Ursprung der Gottlosigkeit, in: Dietmar Koch, Irmgard Männlein-Robert, Niels Weidtmann (Hg.): Platon und das Göttliche, Tübingen 2010, S. 30–41, hier 35. 80

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ausgeführt, der althergebrachte, sich auf eine göttliche Autorität berufende Nomos, die tradierten Tugendvorstellungen, ebenso das Verhältnis von Menschen und Göttern und mehr noch die Existenz der Götter selbst hinterfragt wurden.83 Trotz der Unterschiede zwi­ schen den verschiedenen Strömungen zeichnet sich insgesamt eine »Überheblichkeit (ὕβρις) nicht nur den Göttern, sondern vor allem dem gefügten Ganzen (κόσμος) gegenüber«84 ab, die einen mehr oder weniger ausgeprägten Hochmut hinsichtlich des menschlichen Wissens zeitigt. Zum anderen, und damit zusammenhängend, führt das besonders seit der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts sich herausbildende Bewusstsein, mithilfe der τέχναι viele Lebensbereiche in teilweise perfekt erscheinender Form erschließen zu können, zu dem Anspruch, in vielfacher Hinsicht im Besitz von Wissen zu sein. Das erste Chorlied der Antigone lässt dieses Bewusstsein deutlich zum Vorschein kommen, wenn von einem Erfindungsreichtum der Kunst die Rede ist, der sich auf Schifffahrt, Landbau, Fang und Unterjochung von Tieren bezieht, ebenso auf Sprache, Denken und Ordnung der Städte (vgl. Ant. 332–375). Der oben zitierte Antagonismus der ›Allerfahrenheit‹ und ›Unerfahrenheit‹ reflektiert aber zugleich die Grenzen dieses Könnens, mahnt die Aufmerksamkeit für dieselben an.85 In der Apologie führt Sokrates anhand der Handwerker exempla­ risch vor, dass das Können und Wissen im Bereich der Techne dazu verleitet, sich auch in anderen Gebieten und sogar hinsichtlich der ›höchsten Dinge‹ wissend zu dünken (vgl. 22d). Der von Sokrates im Blick auf seine Mitbürger charakterisierte Anspruch auf ein Wissen, dessen man in Wahrheit nicht mächtig ist, kann durch Überhebung, Hochmut und Blasiertheit, aber auch durch den Stolz auf seine Kunst und sein Können oder durch ein bestimmtes Ehrgefühl begründet sein. Immer jedoch handelt es sich – aus sokratischer Sicht – um eine Fehleinschätzung in Bezug auf sich selbst. Angesichts des dem Zeitgeist geschuldeten Selbstverständnis­ ses, in umfänglichem Maße kenntnisreich zu sein und sich nicht mehr allein an der Tradition orientieren zu müssen, vielmehr mit der Bürgerschaft eine politische Ordnung, mit den Künsten neue Vgl. zu den auch positiven Seiten dieser ›Aufklärung‹ Figal 2006, S. 57 f. Barbarić 2010, S. 34 f. Es sei diese Hybris, vor der Platon in Rekurs auf die del­ phische Weisheit nicht nur in der Apologie, sondern gerade auch in seinem Spätwerk, den Nomoi, warne. 85 Vgl. dazu auch Figal 2006, S. 56 f. u. oben Kap. 2.2.1. 83

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Lebensgrundlagen geschaffen zu haben, aber auch in Anbetracht der naturphilosophischen Lehren erscheint Sokrates’ Formulierung seines Nichtwissens weniger als eine bescheidene Geste, sondern sie mutet eher wie ein Affront gegenüber seinen Mitbürgern an: Im Vergleich zu diesen setzt Sokrates einen völlig anderen Maßstab, der ihm überdies als Folie dazu dient, das Wissen der anderen als ein vermeintliches und damit sie selbst in ihrer Dünkelhaftigkeit vorzuführen. Vor diesem Hintergrund greift es zu kurz, die sokratische Losung des Nichtwissens allein als delphische Selbstbescheidung, welche der Sokrates der Apologie noch verkörpere, zu kennzeichnen.86 Zwar ist es offensichtlich, dass Sokrates’ Wissen um sein Nichtwissen in der Apologie (vgl. 21b–22e) aufs Engste mit Delphi verknüpft ist;87 auch trifft mit Sokrates’ vielfachen Berufungen auf den Gott Apollon, in dessen Dienst er sich stellt, weiterhin zu, dass er in der Apologie als ein im Horizont der delphischen Religion stehender Mensch erscheint, dessen Frömmigkeit und Philosophieren nicht zu trennen sind.88 Aber auch wenn Sokrates betont, »dass in Wahrheit nur der Gott weise […] die menschliche Weisheit aber nur sehr wenig oder nichts wert ist«89 und er damit die Bewusstmachung der menschlichen Bedingungen im Verhältnis zum göttlichen Sein ganz im Sinne der delphischen Maxime in Erinnerung ruft, ist die Lösung der Frage, wie das sokratische Wissen des Nichtwissens im Näheren zu verstehen sei, nicht allein in einer Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit gegenüber dem Göttlichen zu suchen. Auf der anderen Seite ist Sokrates’ Bekundung seines Nichtwis­ sens im Kontext der Apologie auch nicht als die typische sokratische Ironie aufzufassen. Für die athenischen Mitbürger bedeuten die Befragungen, wie Sokrates sie im Rückblick beschreibt, eine Heraus­ forderung; diese signalisiert aber nicht notwendigerweise Sokrates’ Bestreben, mit seiner Behauptung des Nichtwissens den anderen ironisch-offensiv gegenüberzutreten. Die Darlegungen in der Apolo­ gie sind deshalb von solchen ›Understatements‹ zu unterscheiden, Vgl. u. a. Göbel 2002, S. 25 f. Vgl. auch Karl 2010, S. 129 f. 88 Vgl. dazu oben die Einführung in Kap. 2.2 mit Anm. 45 u. 46. Auch im Phaidon tritt Sokrates’ Nähe zu Apollon hervor (vgl. Phd. 58a–c, 60d, 84e–85b); dazu Barbara Zehnpfennig: Platon. Phaidon, griechisch-deutsch, übers. u. hg., Hamburg 1991, S. 176, 179 u. 190, Anm. 6, 28 u. 100. 89 τῷ ὄντι ὁ θεὸς σοφὸς εἶναι […] ὅτι ἡ ἀνθρωπίνη σοφία ὀλίγου τινὸς ἀξία ἐστὶν καὶ οὐδενός (Ap. 23a5–7). 86 87

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die Sokrates ganz im Sinne der griechischen εἰρωνεία tatsächlich andernorts offeriert:90 Wenn er etwa beteuert, die Klugheit seines Gegenübers wohl kaum übertreffen oder mit dessen Weisheit nicht konkurrieren zu können,91 dann zeigt sich hier die sokratische Ironie als verstellende Untertreibung, die überdies ein spöttisches Lob des anderen impliziert. Sokrates verwendet in diesen Zusammenhängen die ironische Figur des ›Sich-zum-Geringeren-hin-Verstellens‹, um seinem Gegenüber, in diesem Falle durchaus provokativ, dessen Großtun und vermeintliches Wissen vor Augen zu führen.92 Vlastos, für den Sokrates’ ironisches Understatement und dessen in der Apo­ logie formuliertes Wissen um sein Nichtwissen ein- und dasselbe sind, prägte in Verbindung mit seiner oben dargelegten Differenzie­ rung zwischen einem elenktischen Wissen (knowledge-e) und einem perfekten Wissen (knowledge-c) den Begriff der »komplexen Ironie« (complex irony):93 Sokrates’ Behauptung, nicht zu wissen, sei in Bezug auf das elenktische Wissen diejenige Art einer ironischen Rede, welche das Gegenteil vom Gesagten meine;94 hinsichtlich des perfekten Wissens meine Sokrates aber genau das, was er sage, dass er nämlich diesbezüglich keine einzige sichere Aussage machen bzw. Erkenntnis beanspruchen könne. Die komplexe Ironie des Sokrates

90 Zur Frage der εἰρωνεία vgl. Harald Weinrich: Art. ›Ironie‹, in: HWPh, Bd. 4, Basel 1976, Sp. 577–582, hier 577 f.; Wilhelm Büchner: Über den Begriff der Eironeia, in: Hermes 76 (1941), S. 339–358. 91 Vgl. beispielsweise Phdr. 236b ff.; Smp. 175d–e. 92 Vgl. Weinrich 1976, Sp. 578. Auch R. I 336b–338a: Thrasymachos wirft Sokrates in diesem Abschnitt seine bekannte Verstellung vor (ἡ εἰωθυῖα εἰρωνεία Σωκράτους, 337a4–5); Sokrates seinerseits behauptet auch hier sein Nichtwissen (vgl. 337d–e). Der ganze Zwischenpassus ist ironisch unterlegt. Zugleich wird aber deutlich, dass auch die sokratische Verstellung oftmals mehrdeutig ist: Sie stellt einerseits ein ›Understatement‹ dar, andererseits beinhaltet sie eine ernst gemeinte Kritik. 93 Vlastos 1991b, S. 32. 94 Als »contrarium ei quod dicitur intelligendum est« wird Quintilian (Inst. IX, 2, 44) diese Form der Ironie beschreiben. Vgl. dazu Vlastos 1991b, S. 21. Lange vor Quintilian ist ›das Gegenteil vom Gemeinten zu sagen‹ neben Verstellung und Untertreibung bereits ein Merkmal der griechischen εἰρωνεία (vgl. Weinrich 1976, Sp. 577 f.; Büchner 1941, S. 345). Vlastos betont allerdings zu Recht, dass sich die sokratische Ironie von der rhetorischen εἰρωνεία insofern unterscheide, als Letzterer ein täuschender Cha­ rakter zugeschrieben werde, was für die sokratische Ironie in dieser Weise nicht gelte (vgl. Vlastos 1991b, S. 21–30). Auch Platon verwendet εἰρωνικός unter anderem für denjenigen, der sich aus Eigennutz verstellt (vgl. Sph. 268a; Lg. X 908e; dazu Büchner 1941, S. 353 f.).

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zeichne sich also dadurch aus, dass er zugleich nicht meine und meine, was er sage.95 In dieser Arbeit werden, auch mit Blick auf die herausgearbei­ teten Momente der delphischen Maxime, hinsichtlich Sokrates’ Wis­ sen um sein Nichtwissen in der Apologie, aber auch in Bezug auf seine in den frühen Dialogen dargelegten Bekundungen, dass er dasjenige, wonach er frage, auch selbst noch nicht wisse,96 andere Voraussetzungen zugrunde gelegt. So wird weder angenommen, dass die sokratische Losung nur der gleichsam fromme Ausdruck einer Selbstbescheidung im Spiegel des Göttlichen ist, noch wird davon ausgegangen, dass Sokrates sein Nichtwissen in den genannten Fällen in ironischer Absicht hervorhebt. Aber auch die allgemeine Einsicht in die Unerreichbarkeit eines göttlich perfekten Wissens, auf die der nicht-ironische Teil von Vlastos’ ›komplexer Ironie‹ zielt und die auch anderen Interpreten als Deutung von Sokrates’ Wissen seines Nichtwissens dient,97 wird hier nicht als dessen primärer Gehalt erachtet, würde Sokrates damit doch lediglich auf die generellen Schranken unserer Erkenntnisfähigkeit hinweisen. In ihrer Relevanz geht eine solche Einsicht aber kaum über das religiös-anthropologi­ sche Deutungsmuster der delphischen Maxime hinaus: Die Bestim­ mung des Menschen in seiner Differenz zum Göttlichen erführe lediglich eine »erkenntnistheoretische Anwendung«98. Der delphi­ sche Gedanke menschlicher Angemessenheit schwingt in Sokrates’ Formulierung seines Nichtwissens unverkennbar mit, aber dessen Bedeutung erschöpft sich nicht darin. Zu überlegen gilt es vielmehr, warum Sokrates’ Wissen um sein Nichtwissen so eng mit seiner elenktischen Tätigkeit assoziiert ist. Sokrates’ Akzentuierung seines Nichtwissens wird in der Apolo­ gie mit den Wissensansprüchen seiner Mitbürger kontrastiert. Das Wissen, das sich Sokrates im Gegensatz zu diesen nicht anmaßt zu besitzen, betrifft im Ganzen die Frage des guten Lebens: Es bezieht Vgl. Vlastos 1991b, S. 32 u. ders. 1994, S. 58. Diese Auffassung der sokratischen Ironie wird von den Vertretern, welche die gleiche Zweiteilung des platonischen Wis­ sensbegriffs zugrunde legen (vgl. oben Kap. 2.1), zumeist geteilt. 96 Vgl. oben Anm. 36. 97 Vgl. Göbel 2002, S. 25 ff.; Tränkle 1985, S. 24. 98 Göbel 2002, S. 27, Anm. 68. – Ausgeschlossen wird darüber hinaus, dass es sich bei der sokratischen Formel um einen radikalen Skeptizismus handelt. Ein solcher wird auch in der Literatur weitgehend negiert: Vgl. Heitsch 2002, S. 77, Anm. 102 u. S. 89 f.; Karl 2010, S. 131, Anm. 27. 95

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sich auf die menschliche und politische Tugend (vgl. Ap. 20b), auf das καλὸν κἀγαθόν (vgl. 21d) und damit zusammenhängend auf die τὰ μέγιστα, die höchsten, größten oder wichtigsten Dingen (vgl. 22d–e). Das infragestehende Wissen hat nicht die ambivalenten Güter zum Inhalt, sondern das aus sokratischer Perspektive tatsächlich erstre­ benswerte Gute.99 In diesem Zusammenhang zeigt sich aber fast modellhaft das dialektische Moment der Grenze, das innerhalb des Deutungsbereichs der delphischen Maxime oben hervortrat: Wenn Sokrates seine ›menschliche Weisheit‹ als einen Vorgang charakte­ risiert, der ihn, vermittelt durch das göttliche Orakel und durch die Befragung der anderen, in aktiver Form der Tatsache bewusst werden lässt, dass er von sich selbst weiß, nicht wissend zu sein, ihn aber genau dieses Wissen bzw. dieser Wissensvorsprung, wie es das Orakel weissagte, gegenüber den anderen auszeichnet (vgl. 20c–23a), dann erweist sich dieser Prozess, delphisch gesprochen, als ein Blick über die Grenzen hinaus. Sokrates’ Reaktion auf das Orakel, das ihm nichts weniger offenbarte als der Weiseste unter seinen Mitmenschen zu sein (vgl. 21a–b), wird als das Gegenteil eines hybrischen Verlangens kenntlich: Die Orakelgeschichte unterstreicht mit Nachdruck, dass Sokrates vor der Versuchung einer Selbstüberhe­ bung gefeit ist. Das transzendierende Moment, das Sokrates gerade durch die Nicht-Anmaßung von Wissen erfährt, lässt die delphische Einsicht zum Tragen kommen, dass das Erkennen und Anerkennen der Grenzen diese selbst verändern und ein Mensch dadurch Potential und Ort seines Mensch- und Daseins erringt.100 Für Sokrates ist es der Platz, wie er in der Apologie in Bezug auf sich selbst sagt, »wohin der Gott mich stellte […] um mein Leben philosophierend zu verbringen und um mich selbst und andere zu prüfen«.101 Sokrates gewinnt mit seiner erlangten ›menschlichen Weisheit‹ den Ort der philosophischen Suche und der elenktischen Prüfung. Im Spiegel der Befragungen hatte er nicht nur gesehen, dass die Befragten sich wissend glauben, wo sie es nicht sind, sondern auch, dass er selbst der Täuschung eines geglaubten Wissens nicht unterliegt. Nach Vgl. auch Karl 2010, S. 127, Anm. 17; Heitsch 2002, S. 86, Anm. 117; Wolf 1996, S. 38 ff. 100 Vgl. auch Figal 2006, S. 53: »Der Satz vom Wissen des Nichtwissens deutet an, daß sich das bloß menschliche Wissen übersteigen läßt, ohne derart die Weisheit des Gottes für sich selbst in Anspruch zu nehmen. Dieser Überstieg ist Philosophie.« 101 τοῦ δὲ θεοῦ τάττοντος […] φιλοσοφοῦντά με δεῖν ζῆν καὶ ἐξετάζοντα ἐμαυτὸν καὶ τοὺς ἄλλους (Ap. 28e4–6). 99

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Darstellung der Apologie begreift Sokrates durch den Prozess der Befragung, dass ein geglaubtes Wissen den Blick für die wahrhafte Erkenntnissuche verstellt, auch dass sein Wissen des Nichtwissens eine spezifische innere Einstellung impliziert, nämlich die Haltung der Suche, die ihn von den anderen unterscheidet (vgl. 22e). Überdies, so stellt er fest, verringert ein vermeintliches Wissen den Wert eines tatsächlich vorhandenen, wie im Falle der Handwerker: Ihre Fehlein­ schätzung verdeckte das nützliche Wissen ihrer Kunst (vgl. 22d–e).102 Mit der Verstellung des Blicks bzw. dem Grad der Anmaßungen, vor allem der politisch ambitionierten, wächst aber aus platonischer Perspektive das politisch Unheilvolle. In diesem Zusammenhang sei noch einmal auf die Figur des Alkibiades verwiesen: Während dieser sich im gleichnamigen Dialog Alkibiades I auf die sokratische Erörte­ rung über die Konsequenzen eines vermeintlichen Wissens einlässt und sogar einsieht, den Vorhang der Eitelkeiten beiseiteschieben zu müssen103 – im Zuge der längeren einführenden Unterredung gesteht Alkibiades zu, dass er im Hinblick auf das politische Feld, innerhalb dessen er Macht erlangen und die Athener beraten wolle, im Eigentlichen kein Wissen und deshalb auch keinen Maßstab habe, aufgrund deren er das tatsächlich Vorteilhafte oder Unvorteilhafte für die Polis in gegebenen Situationen beurteilen könne (vgl. Alc. I 104e– 118b)104 –, wird mit der Gestalt des Alkibiades im Symposion vor Augen geführt, dass dieser zwar das sokratische Anliegen versteht, es aber dennoch vorzieht, sich dem Ruhm und Bann der Menge zu ergeben (vgl. Smp. 215d–216a). Es handelt sich um die Art und Weise eines Machtaufbaus und -erhalts, die auf Scheinwissen basiert.105 Die Selbsttäuschungen hinsichtlich des eigenen Wissensstatus und die Vgl. dazu auch Figal 2006, S. 49. Zu einer ausführlichen Diskussion darüber, wie Alkibiades angeregt wird, sein Verhalten und seine Rolle in der Polis zu reflektieren, vgl. Julia Annas: Self-knowledge in Early Plato, in: Dominic J. O’Meara (ed.): Platonic Investigations, Washington D.C. 1985, S. 111–138, hier 115–129. 104 Vgl. im Weiteren Alc. I 118b–127d: Am Ende dieses elenktischen Gesprächs im ersten Teil des Dialogs weiß Alkibiades, dass er nicht weiß, was die Tugend und ein gutes politisches Handeln sind. Vgl. dazu Christian Pietsch: »Im Blick auf den Gott erkennen wir uns selbst«. Zu Platons Verständnis von Personalität im Alcibiades maior, in: Alexander Arweiler, Melanie Möller (Hg.): Vom Selbst-Verständnis in Antike und Neuzeit. Notions of the Self in Antiquity and Beyond, Berlin/New York 2008, S. 343–357, hier 345. 105 Das abschreckende Beispiel ist der historische Alkibiades als real-politischer Akteur selbst. Zur historischen und zur platonischen Figur des Alkibiades vgl. Georg 102

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2.2 Sokrates’ ›menschliche Weisheit‹ (Apologie)

Gefahr für die Polis gehen Hand in Hand. Vor diesem Hintergrund bringt Sokrates den formelhaften Ausdruck »zu wissen, was man weiß und was man nicht weiß« (εἰδέναι ἅ τε οἶδεν καὶ ἅ μὴ οἶδεν) als gleichsam politisches Grundwerkzeug immer wieder in Anschlag.106 Die Apologie porträtiert Sokrates als Inbegriff des Philosophie­ renden, dessen Blick gerade nicht verstellt, sondern frei für die Suche nach Erkenntnis und Tugend ist, der sich auch nicht auf bereits Erlangtem ausruht oder sich damit zufriedengibt. Wenn Sokrates also die Suche nach dem Guten ernsthaft betreibt, dann findet er sich jedoch zwangsläufig in der oben gekennzeichneten paradoxalen Situation wieder, wonach sich der Suchende einerseits an dem über­ geordneten, der Erkenntnissuche und Verwirklichung von Tugend erst Orientierung gebenden Ziel ausrichten muss, dieses Ziel aber andererseits für den Suchenden weithin unbestimmt ist.107 Auch wenn man es als ›das Gute‹ benennt, so lässt es sich doch, wie es in der Politeia heißt, allenfalls erahnen (vgl. R. VI 505e), es ist vorausgreifend weder bestimm- noch verfügbar. Nicht zuletzt bezieht sich Sokrates’ Nichtwissen selbst auf die Frage des Guten. Allerdings lassen Sokrates’ Gewissheit hinsichtlich seines eige­ nen Weges in der Apologie und seine elenktische Führung in den frühen Dialogen erkennen, dass er auf dieses Ziel dennoch Bezug zu nehmen vermag. Denn wie seine Kunst der Unterredung zeigt, weiß er um deren Richtung und Richtigkeit, er kennt Kriterien und Maßstäbe. Eine orientierende Lenkung der Gespräche, die an die Situation und vor allem an den seelischen Zustand der Gesprächspartner angepasst, hierbei aber zugleich stets zielgerichtet ist, wäre sonst nicht möglich. Geht man von dem Ziel des Guten aus, dann muss das Gute Sokrates in gewisser Weise vor Augen stehen, es muss für ihn auf eine bestimmte Art erkennbar oder gegenwärtig sein. Wenn aber in der Apologie Sokrates’ Wissen um sein Nichtwissen bzw. die ›menschliche Weisheit‹ sehr eng mit seiner Fragetätigkeit assoziiert werden und sich vermittels der Orakel-Geschichte als Voraussetzung des Elenchos darstellen,108 dann ist zu vermuten, dass Sokrates’ Einsicht in sein Picht: Platons Dialoge »Nomoi« und »Symposion«, mit einer Einf. von Wolfgang Wieland, Stuttgart 1990 (Vorlesungen und Schriften), S. 368–394. 106 Chrm. 169e8; vgl. auch Alc. I 117b–d; Men. 84a–c; zu der Wendung auch Schmid 1983, S. 342 f. 107 Vgl. oben Kap. 1.2.1 und das Ende von Kap. 2.1. 108 Vgl. auch Thomas A. Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Interpretationen zu den frühen und mittleren Dialogen, Berlin/New York 1985, darin

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Nichtwissen und der für ihn mögliche Hinblick auf das Ziel des Guten zusammenhängen. Im Kontext der sokratischen Lebensweise wird in der Apologie die Ausrichtung auf das Gute und Gerechte an Delphi, an den delphischen Gott gebunden. Der Gott selbst hat Sokrates an den Platz der philo­ sophischen Suche gestellt, an dem dieser die anderen zur Sorge um ihre Seele ermuntern und ermahnen soll.109 Von diesem Ort zu fliehen ist für Sokrates auch angesichts des Todes keine Option: Denn dann, so sagt er, wäre er tatsächlich feige, ungerecht und gottlos zu nennen und in diesem Falle dürfte man ihn zu Recht vor Gericht führen (vgl. 28e–30a). Sokrates’ hervorgehobene Berufung auf Apollon mag einerseits dem philosophisch ungebildeten Auditorium vor Gericht wie auch der Anklage der Asebie gelten.110 Andererseits geht die im Horizont von Delphi stehende Begründung seiner eigenen unbeirrba­ ren Orientierung und seines Elenchos darüber hinaus. In expliziter Form beruft sich Sokrates auf Apollon, implizit bezieht er sich damit aber auch auf das Göttliche als solches: Obwohl der Ausdruck τὸ θεῖον in der Apologie nicht vorkommt, verweist Sokrates’ Gewissheit der Instanz des Gottes auch auf die Gewissheit einer Art göttlichen Gegenwärtigkeit. Von Interesse ist deshalb, wie ›das Göttliche‹ in diesem Zusammenhang betrachtet werden kann. Im Hinblick auf den Begriff des Göttlichen reflektiert Gadamer die Verwendung des grammatischen Neutrums bei den griechischen Denkern, insbesondere bei Platon:111 Während der Gebrauch des Plurals, wie im Falle von τὰ ἀγαθά oder τὰ θεῖα, zumeist auf einen umfassenden Bereich bzw. eine nicht ausdifferenzierte Vielheit hin­ Kap. 16: ›Apologie – Kriton – Phaidon. Verteidigung auf drei Ebenen‹, S. 221–252, hier 223: »Die ›menschliche Weisheit‹, deren Kern das Bewußtsein des eigenen Nicht­ wissens ist, setzt sich direkt um in die sokratische Prüfung der üblichen Wissensan­ sprüche, die für den Geprüften Sorge um seine Seele ist, für Sokrates aber Gottes­ dienst.« 109 Vgl. dazu auch Erler 2002, S. 400 ff. 110 So argumentiert Szlezák 1985, S. 250: »Je geringer die Kompetenz der Hörer im Umgang mit Logoi, desto höhere Autorität muß der Dialektiker zur Stützung seiner Sache anrufen: vor der zur Philosophie unfähigen Menge der fünfhundert Richter beruft er sich für sein Tun auf einen göttlichen Auftrag; die Autorität, die hinter ihm steht, ist der Gott von Delphi.« Vgl. auch Erler 2002, S. 405 f. Zum Vorwurf der Asebie vgl. Ap. 18c, 24b–c, 29a. 111 Vgl. Hans-Georg Gadamer: Sokrates’ Frömmigkeit des Nichtwissens (1990), in: Gesammelte Werke, Bd. 7: Griechische Philosophie III: Plato im Dialog, unveränd. Taschenbuchausg., Tübingen 1999, S. 83–117, hier 84–87.

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zeige, stehe das Neutrum im Singular, also τὸ ἀγαθόν oder τὸ θεῖον, für das Eine, für dasjenige, was der Vielheit gemeinsam ist, und das im Kontext solcher Begrifflichkeiten einerseits durch eine Ungreifbarkeit und Unbestimmtheit charakterisiert ist, sich aber andererseits »doch wie etwas von ausgezeichneter Bestimmtheit, die sich heraushebt wie eine bleibende Hinsicht, eine ἰδέα«112 ausnimmt. Das Neutrum führe in einer solchen Verwendung den »besonderen Charakter der Gegenwärtigkeit« mit sich und weise zugleich »auf die Grenzen, die nicht nur dem sokratischen Wissen, sondern allem menschlichen Wissen gesetzt sind«, hin.113 In diesem Sinne drückt τὸ θεῖον eine ›unbestimmte Bestimmtheit‹, die nicht ausbuchstabiert werden kann, aus: »›Das Göttliche‹ ist nicht ein bestimmtes unter den göttlichen Dingen, über die man meint Bescheid wissen zu können […]. ›Das Göttliche‹ ist etwas anderes, eine Gegebenheit, die man nicht fas­ sen kann und deren Dasein man als allgegenwärtig weiß, in eben dem Sinne unbestimmter Gegenwart, den das Neutrum zu evozie­ ren weiß.«114 Die Deutung des Göttlichen, so Gadamer, oblag in griechischem Kontext zunächst den Dichtern, schließlich aber ebenso den Dichter­ philosophen.115 In der Apologie tritt in Gestalt des Sokrates, mit seiner Nähe zur delphischen Religion und seiner Akzentuierung, dass er auf Weisung des Gottes handle, die Erfahrung einer Gegenwärtigkeit des Göttlichen hervor, wobei sich die sokratische Frömmigkeit als eine bestimmte Haltung dem Gott und dem Göttlichen gegenüber äußert.116 Vor dem Hintergrund der delphischen Tradition ist davon auszugehen, dass Sokrates’ Wissen um sein Nichtwissen auf die immer wieder ins Denken zu rufende Bewusstmachung der Gegen­ wärtigkeit des Göttlichen verweist; zugleich kann das Göttliche aus sokratisch-platonischer Perspektive nur als ein Gutes verstanden wer­ den. Das Wissen des Nichtwissens soll offensichtlich darauf aufmerk­ sam machen, dass es eine solche Gegenwärtigkeit im menschlichen Leben, im Denken und Handeln gibt, dass sie allerdings vornehmlich Gadamer (1990) 1999, S. 85, Anm. 1. Gadamer (1990) 1999, S. 87 (beide Zitate). 114 Gadamer (1990) 1999, S. 87. 115 Vgl. Gadamer (1990) 1999, S. 98: »Die Dichter sowohl wie die ersten Prosa­ schriftsteller, die wir Philosophen nennen, und die Dichterphilosophen, die sich selbst dichterisch ausdrückten, sind alle Deuter des Göttlichen.« Vgl. auch ebd. S. 89 ff. 116 Zum griechischen Ausdruck des Frommseins (εὐσεβής) als eine Haltung gegen­ über den Göttern und göttlichen Dingen vgl. ebenso Gadamer (1990) 1999, S. 84 f. 112

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dann erfahrbar ist, wenn ein Strebender tatsächlich für die Suche offen ist und sich etwaigen hybrischen Neigungen nicht hingibt. Nach Darstellung der Apologie beruht Sokrates’ Wissen seines Nichtwissens auf der Gleichzeitigkeit einer aufrichtigen Zuwendung zum Bereich des Göttlichen einerseits und des unnachgiebigen Bemühens darum, Nichtverstandenes zu prüfen, andererseits, auch wenn dieses, wie der Orakelspruch, selbst göttlichen Ursprungs ist. Bewahrte die Aufmerksamkeit für die Gegenwärtigkeit des Göttlichen Sokrates bereits vor Wissenshybris, so resultierte das Bewusstsein seines spezifischen Wissens, die ›menschliche Weisheit‹, erst aus der Prüfung. Mit der Bezugnahme auf das Göttliche und der gleich­ zeitigen philosophischen Reflexion zeigt sich gewissermaßen eine Engführung religiöser und philosophischer Komponenten. In Gestalt des Sokrates, dies wird nachfolgend noch weiter konkretisiert, wider­ spricht sich eine solche Verbindung von Religiösem und Philosophi­ schem aber nicht.117 Sokrates’ Wissen um sein Nichtwissen und seine ›menschliche Weisheit‹ werden in der Apologie weder als ein formales noch als ein thematisches Wissen, auch nicht als eine Fähigkeit charakterisiert. Im Kontext der Orakel-Geschichte hatte Sokrates sein spezifisches Wissen als ein »Von-sich-selbst-Wissen« (σύνοιδα ἐμαυτῷ, 21b5), also als ein explizit selbstbezügliches Wissen gekennzeichnet.118 Sokrates’ Selbstwissen bewegt sich auf einer reflektierten und damit ganz anderen Ebene als das im ersten Kapitel diskutierte ›gewöhnliche Selbstverhältnis‹, aber das strukturelle Moment der Vermitteltheit des Selbstbezugs über das Gute, welches ein Mensch für sich selbst als ein solches anerkennt, ist beiden gemeinsam: Im Hinblick auf das, was uns als das Gute vor Augen steht, so zeigte sich oben, korrespondieren menschliches Streben und der Bezug auf uns selbst.119 Ebenso wurde in diesem Zusammenhang festgestellt, dass in der Korrelation der Ausrichtung auf ein Gut und des Bezugs auf sich selbst erst die Möglichkeitsbedingung dafür liegt, sich orientieren und handeln zu 117 Aus einer anderen Frageperspektive betont auch Erler (2002, S. 399 ff.) ein Nebeneinander von religiösen Aspekten und philosophischem Diskurs in platoni­ schem Kontext bzw. in Gestalt des platonischen Sokrates. Religiöse Erläuterung und philosophische Begründung würden hier keinen Gegensatz bilden, sondern seien als komplementär zu betrachten (vgl. ebd. S. 404 ff.). Vgl. auch Gadamer (1990) 1999, S. 101–117. 118 Vgl. oben Anm. 38. 119 Vgl. oben Kap. 1.3.1.

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können. Sokrates’ delphisch geprägte Aufmerksamkeit für die Gegen­ wärtigkeit des Göttlichen, in welchem er das Gute erkennt, führt zu dem selbstbezüglichen Wissensmoment seines Nichtwissens, das, damit zusammenhängend, auch über seine Orientierung an der del­ phisch-apollinischen Sophrosyne und Lebensweise vermittelt ist. Auf einer weiteren Stufe, so pointiert die Apologie, macht Sokrates im Zuge der Befragung seiner Mitbürger sich sein Selbstwissen eigens bewusst, er reflektiert darauf. Auf der Basis dieser Reflexion, die wiederum über die anderen und seine politische Umwelt vermittelt ist, erkennt Sokrates seine ›menschliche Weisheit‹: Diese begründet und legitimiert für ihn selbst seine Prüfungskompetenz. Sokrates’ reflektierter Selbstbezug, der sein Wissen um sein Nichtwissen umfasst und der über das Göttliche, die anderen und die Frage der Tugend vermittelt ist, bildet das Fundament seiner philosophischen und elenktischen Praxis. Auf dieser Stufe hat sich Sokrates, folgt man seinem Selbst­ zeugnis in der Apologie, von äußerlichen Dingen, von deren Rang und Stellenwert in der Polis, befreit. Seine Beschäftigung und sein Kümmern gelten nicht den Dingen, die allen wichtig sind, sie gelten weder Reichtum noch Ämtern noch öffentlichen Reden (vgl. 36b–c), sondern primär der Frage, so formuliert Sokrates selbst, wie er jeden Einzelnen dazu bewegen könne, »dass er sich nicht eher um irgendet­ was von dem Seinigen sorge, bis er für sich selbst gesorgt habe, wie er möglichst gut und vernünftig werde«.120 Die Unterscheidung, »sich um das Seinige sorgen« und »sich um sich selbst sorgen«, findet sich in gleicher Form im Alkibiades I (vgl. 127e–128a). Mit der sprachlichen Trennung des Seinigen (τῶν ἑαυτoῦ) und des Selbst (ἑαυτοῦ) lenkt Platon ausdrücklich den Blick auf die inhaltliche Differenzierung der Selbstsorge, d. h. vor allem darauf, dass die Dinge, die zu uns gehören, wie etwa Besitz, Reputation oder unser Körper, uns oftmals als unser eigentliches Selbst, dem wir unter dieser Prämisse viel Zeit und Mühe schenken, erscheinen. Richtet sich unsere Sorge um uns selbst primär auf die konventionell anerkannten Güter und Belange, dann betrifft sie nicht das, »was wir selbst sind« (τί ποτ᾿ ἐσμὲν αὐτοί, Alc. I 129b2), die Sorge richtet sich dann nicht auf unsere Seele (vgl. 128d–131c). In Diskussion des sokratischen Selbstsorgekonzepts wurde oben schon kenntlich, dass Sokrates in diesem Abschnitt das Verhältnis von Selbst 120 μὴ πρότερον μήτε τῶν ἑαυτoῦ μηδενὸς ἐπιμελεῖσθαι πρὶν ἑαυτοῦ ἐπιμεληθείη ὅπως ὡς βέλτιστος καὶ φρονιμώτατος ἔσοιτο (Ap. 36c5–8). Vgl. auch Ap. 29d–e.

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resp. Seele und Seinigem als das Verhältnis von Gebrauchendem und Gebrauchtem charakterisiert.121 Auch damit unterstreicht Sokrates, dass nur die sokratisch verstandene Sorge um die Seele zum richtigen Verständnis und Maß der Sorge um das Seinige führt.122 Der in der Apologie hervorgehobene göttliche Auftrag des Sokra­ tes besteht darin, seine Gesprächspartner zur Reflexion ihrer erstreb­ ten Güter, ihres vermeintlichen Wissens und ihrer nur scheinbaren Selbstsorge anzuregen. Sokrates soll den anderen für die Einsicht in ihr Nichtwissen den Impuls geben.123 Wie schwierig diese Aufgabe ist und mit welchem Widerstand Sokrates rechnen muss, macht das Höhlengleichnis deutlich: Danach müssen die Höhlenbewohner zur Periagoge gezwungen werden, die Fesseln des Gewohnten, der vertrauten Muster und Überzeugungen, lassen sich nur unter großen Schmerzen und sogar nur mit Gewalt lösen (vgl. R. VII 515c–e).124 Dennoch besteht Sokrates’ Aufgabe nach seinen eigenen Worten darin, seine Gesprächspartner zu diesem Moment anzustoßen, in ihnen eine Aufmerksamkeit und Wachheit (vgl. Ap. 30e–31a) für die Gegenwärtigkeit des Göttlichen und für die damit verbundene Einsicht in ihre hybrischen Neigungen und in ihr Anhaften an ambi­ valenten Gütern hervorzurufen. Im Rahmen dieser Betrachtungen ist auch auf den Sachverhalt einzugehen, dass Sokrates in der Apologie und im Frühwerk nicht allein sein Nichtwissen, sondern auch ein ethisches Wissen bekun­ det: »Unrecht zu tun und dem Besseren nicht zu gehorchen, Gott oder Mensch, das weiß ich, dass es schlecht und schändlich ist.«125 Auch die Überzeugung, dass niemand freiwillig schlecht handle, sondern dass ein solches Handeln auf Unwissen beruhe,126 ebenso seine Kernthese, dass Unrecht erleiden im Vergleich zum Unrechttun das geringere Übel darstelle,127 vertritt Sokrates mit Gewissheit. In der oben diskutierten Forschungsliteratur werden diese und auch weitere die Tugend betreffende Meinungen des Sokrates als ›set of Vgl. dazu auch David M. Johnson: God as the True Self: Plato’s Alcibiades I, in: Ancient Philosophy 19 (1999), S. 1–19, hier 3–7; oben Kap. 1.2.2. 122 Vgl. Ap. 30b, 36c, 41e; dazu Karl 2010, S. 138 mit Anm. 48. 123 Zum ›Impulsgeber‹ Sokrates vgl. Erler 2002, S. 397–408. 124 Vgl. dazu Erler 2002, S. 398 f. 125 τὸ δὲ ἀδικεῖν καὶ ἀπειθεῖν τῷ βελτίονι καὶ θεῷ καῖ ἀνθρώπῳ, ὄτι κακὸν καὶ αἰσχρόν ἐστιν οἶδα. (Ap. 29b6–7). 126 Vgl. Men. 77d–e; Prt. 357d–e, 358b–d; Grg. 466a–468e; R. I 350c, 351a. 127 Vgl. Grg. 468e–469c; dazu oben Kap. 1.3.3. 121

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beliefs‹ im Sinne eines Bestandes oder Netzes gerechtfertigter wahrer Meinungen verstanden, die Sokrates im Elenchos hinreichend, auch hinsichtlich ihrer Konsistenz, geprüft habe, und die deshalb mit gutem Recht als Sokrates’ elenktisches Wissen zu betrachten seien.128 Überzeugungen können für Sokrates nur dann als Wissen gelten, wenn derjenige, der sie vorbringt, diese im Elenchos verteidigen kann. Wissen muss – dies ist unbestritten –, wenn es als ein sol­ ches gelten soll, rechtfertig- und begründbar sein, und zwar vom Wissenden selbst, beruhend auf seiner reflexiven Einsicht und seinem Verstehen.129 Ohne Zweifel kommt gerade Sokrates diese Position im Hinblick auf sein Wissen zu; auch ist gerade er dazu fähig, seinen epistemischen Status zu reflektieren, ihm selbst kommt ein hohes Maß an Reflexivität zu. Allerdings sind Sokrates’ Sicherheit hinsichtlich des Inhalts seiner Aussagen und die teilweise apodiktisch anmutenden Erläuterungen seiner Überzeugungen nicht allein auf die Ebene der Rechenschaftsgabe als solche zurückzuführen. Diese Ebene umfasst, auch unter Einbeziehung der Reflexion auf die epistemischen Bedingungen der Meinungsbildung, die Hardy akzentuiert, selbst nicht denjenigen Maßstab, der für die menschliche und politische Tugend, für ihre Suche und Verwirklichung grundlegend ist. Zwar sind jeder argumentativen Ebene inhaltliche und formale Kriterien, ausgesprochen oder unausgesprochen, immanent. In inhaltlicher Hinsicht können diese im Falle der Tugend etwa auf ein bestmögliches Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft zielen. Ohne den Maßstab des höchsten Guten selbst bewegen sich die Begründungen aber auf einer allein diskursiven Ebene; eine in diesem Rahmen erfolgende Optimierung der Argumente zugunsten eines gerechten Lebens bleibt aber aus platonischer Sicht im Bereich der Abwägung und Ambivalenz.130 Die von Sokrates als sein Wissen proklamierten Überzeugungen müssen sich in ihrer Rechenschaftsgabe unter Voraussetzung und im Vgl. Vlastos 1994, S. 43–48; Hardy 2011, S. 75; auch ders.: Was wissen Sokrates und seine Gesprächspartner? Überlegungen zu perfektem und menschlichem Wissen bei Platon, in: Marcel van Ackeren (Hg.): Platon verstehen. Themen und Perspektiven, Darmstadt 2004, S. 236–262, hier 239–251 u. oben Kap. 2.1. 129 Vgl. auch Karl 2010, S. 131 f. 130 Vgl. auch oben Kap. 1.3.4. – Nicht nur in inhaltlicher, sondern auch in formaler Hinsicht ist die Ebene der Rechenschaftsgabe für den Maßstab der Suche letztlich nicht hinreichend. Welche Kriterien für den platonischen Erkenntnisweg im Hinblick auf das wahre Gute konstitutiv sind, wird unten in Kap. 3 diskutiert. 128

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Hinblick auf das Ziel des Guten begründen. Den hier vorliegenden Interpretationen gemäß bezieht sich Sokrates in der Apologie vor dem Hintergrund der delphischen Tradition auf die Gegenwärtigkeit des Göttlichen als eines Guten; sein Selbstwissen des Nichtwissens ist danach über die Bezugnahme auf die göttliche Ebene und über seine Orientierung an der delphischen Sophrosyne vermittelt. Ver­ steht man Sokrates’ Selbstwissen als reflexives Wissensmoment, welches die Aufmerksamkeit für die stete Gefahr der Wissenshybris wachhalten soll, dann widersprechen sich Sokrates’ Wissen um sein Nichtwissen und die Bekundung seiner von ihm selbst geprüften wissenden Überzeugungen nicht, vielmehr ist diesen das spezifisch reflexive Wissensmoment immanent. Dies wird auf der inhaltlichen Ebene der sokratischen Überzeugungen evident: Wer Unrecht tut, orientiert sich nicht an der Gegenwärtigkeit des Göttlichen und an der apollinischen Ordnung; folglich hat dieser auch kein selbstbezüg­ liches Wissen seines Nichtwissens, er erkennt seine Hybris nicht, er handelt im Unwissen. In Anbetracht des göttlich Guten sind sowohl Sokrates’ Wissen des Nichtwissens als auch seine wissenden Überzeugungen darauf ausgerichtet, »sich jeweils nach dem Guten neu zu fragen«.131 Sokrates’ ›menschliche Weisheit‹ als selbstreflexives Wissens­ moment wird in ausdrücklicher Form nur in der Apologie thematisiert. Die spezifische sokratische Weisheit signalisiert eine Achtsamkeit, die den Menschen vor falscher Selbsteinschätzung bewahren soll, und sie lenkt in diesem Sinne das Augenmerk auch darauf, dass jedes durch menschliches Bemühen erzeugte Wissen, auch dann, wenn dieses gleichsam vollendet erscheint, immer wieder hinterfragt werden muss, soll es nicht Gefahr laufen, in unreflektierter Weise als ein vermeintlich vollkommenes Wissen festgeschrieben zu werden. In diesem Zusammenhang findet Sokrates’ reflektierte Weisheit in Diotimas Darstellung des erotisch-poietischen Prozesses im Sympo­ sion insofern ihren Niederschlag, als in beiden Fällen die Lebendig­ keit von Wissen im Vordergrund steht: Jede Erkenntnis, so wurde schon mehrfach deutlich, muss durch philosophische Übung aktiv an den denkenden Vollzug gebunden bleiben. Ohne die sokratisch reflexive Einsicht sedimentieren sich Meinungen als scheinbares Wissen. Entsprechend wird die Frage lebendiger Beweglichkeit oder 131 Gadamer (1990) 1999, S. 106. Die menschliche Weisheit bedeute, »sich des Nichtwissens im Wissenmüssen des Guten bewußt zu sein« (ebd., S. 108).

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der Unbeweglichkeit von Wissen im Unterschied von Sokrates und seinen Gesprächspartnern offensichtlich. Viele von diesen haben Kenntnisse über die Tugend und können spezifische Meinungen über sie vorbringen. Im sokratischen Gespräch wird aber deutlich, dass es sich um solche Kenntnisse handelt, die keinen seelischen Prozess vo­ raussetzen, die den Weg der seelischen Suche und Selbsteinsicht nicht durchlaufen haben. Wer sich auf diese Weise hinreichend wissend glaubt, merkt nicht, dass sein seelisches Auge und Gehör wie beim Meeresgott Glaukos verdeckt sind (vgl. R. X 611b–612a). Sokrates’ ›menschliche Weisheit‹ stellt nicht nur in der Apologie, sondern auch sonst in platonischem Kontext ein notwendiges und konstitutives Moment der Erkenntnissuche dar. Ruft man sich die traditionellen Auslegungsmomente des del­ phischen Spruches in Erinnerung, dann erweist sich resümierend, dass Sokrates’ ›menschliche Weisheit‹ darauf in modifizierter Form aufbaut. Auch in diesem Zusammenhang lässt sich von einer Trans­ position sprechen. Die Warnung vor Hybris und Überhebung, die Einsicht in die Gespanntheit des menschlichen Daseins und das dialektische Moment der Grenze, d. h. das ›religiös-anthropologische Motiv‹ und das ›ethisch-lebenspraktische Motiv‹ der delphischen Maxime, klingen in Sokrates’ Selbstdarstellung in der Apologie nicht nur an, sondern werden auch unverkennbar in neuer Gestalt sichtbar: Sokrates gewinnt Potential und Ort seines Mensch- und Daseins als Philosophierender durch die Einsicht in seine Wissensgrenzen und kann gerade durch seine Nicht-Anmaßung die Grenzen in gewisser Weise transzendieren. Daraus resultiert seine Aufgabe, die anderen ihrer Wissenshybris und Selbsttäuschung wegen zu ermahnen und sie zu ermuntern, die Sorge auf ihre Seele zu richten. Insofern Sokrates’ ›menschliche Weisheit‹ Voraussetzung und Grundlage sei­ ner elenktischen Befähigung ist, wird das dritte, das ›therapeutische Motiv‹ evident: Das ordnende und heilende Prinzip der apollinischen Sophrosyne findet in Sokrates’ Elenchos seine gleichsam neue Akti­ vierung und Realisierung, zielen die sokratischen Befragungen doch auf eine Ordnung und Heilung der Seele. Das ›politische Motiv‹ knüpft daran an: Die richtige Einschätzung des eigenen Wissens und die auf das Gute sich ausrichtende Suche, ebenso die daraus resultierende Angemessenheit von Handlungen und des Umgangs mit Gütern sind aus Platons Perspektive für Heil oder Unheil der Polis entscheidend. Die ›menschliche Weisheit‹ lässt den richtigen Platz in

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der Polis erkennen. Deshalb sind für Sokrates seine Sorge um den Einzelnen und um die Polis letztlich eins (vgl. Ap. 29d–31c). Die traditionellen Momente der delphischen Maxime werden in der Apologie nicht eigens diskutiert; deren philosophische Transfor­ mation und Transposition manifestieren sich vielmehr in der Gestalt des Sokrates selbst, in der Darstellung seiner Lebensweise, seines Denkens und Handelns. In seinen Bezugnahmen auf Delphi führt Sokrates allerdings nicht nur unter philosophischen Vorzeichen fort, was in vorklassischem Kontext angelegt war, sondern er markiert auch klare Unterschiede. Standen insbesondere in den frühen, ermah­ nenden Auslegungen des delphischen Spruches die Differenz und Distanz zwischen Sterblichen und Unsterblichen im Vordergrund, so setzen Sokrates’ Ausführungen in der Apologie einen anderen Akzent, indem sie die Notwendigkeit einer Offenheit im Hinblick auf das Göttliche, hier im Sinne eines göttlich Guten, unterstreichen. Sokrates’ Aufforderung zur Selbstsorge bezieht sich zwar einerseits weiterhin auf das Erkennen und Anerkennen von Grenzen, anderer­ seits macht sie aber auch deutlich, dass mit einer entsprechenden Lebensweise eine Nähe zum göttlich Guten, letztlich über die Grenzen hinweg, gefunden werden kann und – mit Blick auf ein gutes Leben – gefunden werden muss. Für Sokrates gilt es nicht, eine Kluft zwischen Menschlichem und Göttlichem festzuschreiben; vielmehr zielt das philosophische Leben ganz gegenteilig auf deren Überbrückung, und zwar auf nicht-hybrische Weise. Sokrates’ ›menschliche Weisheit‹ mahnt die Schranken mit Blick auf die allerorten zu findenden Wis­ sensanmaßungen explizit an; zugleich weist der philosophische Weg im Sinne des dialektischen Moments über die Grenzen hinaus und auf das erforderliche Streben nach dem höchsten oder göttlich Guten hin. Das Philosophieren konzentriert sich nicht mehr primär auf die Grenze, sondern auf deren Überstieg. Ähnlich wie einst das γνῶθι σαυτόν am Tempeleingang in Delphi ruft auch Sokrates’ spezifische Weisheit, in philosophisch modifizier­ ter Gestalt, zur Selbsterkenntnis auf. Im Fokus steht für Sokrates das ›wahre Selbst‹, auf das sich die Selbstsorge richten soll. Im Alkibiades I wird deutlich, dass es sich um ein solches Blicken auf oder in uns selbst handelt, durch welches wir lernen, in unserer Seele das Gute oder Göttliche bzw. das, was diesem gleicht, zu erkennen. Diese Form der Selbsterkenntnis wird als ein über den Anderen vermittelter Vorgang

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beschrieben (vgl. Alc. I 132b–133c).132 Um uns selbst zu sehen, so erklärt Sokrates, benötigen wir einen Spiegel: Wie das Auge sich im besten Teil eines anderen Auges spiegele, nämlich in der Pupille,133 müsse auch die Seele, will sie sich erkennen, in eine andere Seele schauen, und zwar in deren besten Teil, dem die seelische Arete, d. h. Weisheit (σοφία), Wissen und vernünftige Einsicht (τὸ εἰδέναι τε καὶ φρονεῖν), innewohne (vgl. Alc. I 133b7–c2). Darin aber, so heißt es hier, würden wir das Göttliche (τὸ θεῖον) in uns selbst erkennen. Wer darauf schaue, erkenne sich selbst am besten.134 Das wahre Selbst, unser Vernunftvermögen oder Intellekt, als der beste und göttlichste Teil unserer Seele muss nicht erst gebildet und erst recht nicht erworben werden.135 Dieses Selbst muss vielmehr erkannt werden: »Der Blick in die andere Seele […] zeigt der betrach­ tenden Seele, was sie selbst ihrem Wesen nach sein kann, aber noch nicht ist, und aktualisiert sie gleichsam zu sich selbst hin.«136 Die Analogie von Auge und Seele, die beide sich in demjenigen Teil am besten spiegeln und sehen, dem selbst die Funktion des Sehens resp. Erkennens zukommt, lässt offenbar werden, dass im betrachtenden Auge bzw. in der betrachtenden Seele nicht lediglich ein Spiegelbild entsteht. Vermittelt über die Spiegelung im Anderen, im Blicken auf das Beste seiner Seele, wird es der eigenen Seele möglich, auf das Gute in sich selbst, auf ihr eigenes Potential zu schauen: Das Bemühen um Besonnenheit und Gerechtigkeit erfährt erst durch den Hinblick auf das göttlich Gute in uns seine Basis und Kraft; umgekehrt ermöglicht dieses Bemühen die Erkenntnis des Guten in uns selbst (vgl. Alc. I 134b–135d). Angedeutet wird im Alkibiades I ein Erkenntnisvollzug, der sich über die spiegelnde Selbsterkenntnis auf die seelische Tugend richtet. Erkennt ein Mensch seine wahrhafte Seele,137 führe dies, so Sokrates, zu Besonnenheit (vgl. 133c18–19): Darin aber liegt die wahre Sorge um sich selbst. Die Figur der seelischen Spiegelung Die Abschlusspassage Alc. I 132b–135e wurde in jüngerer Zeit wieder vermehrt diskutiert. Vgl. dazu bes. Pietsch 2008, S. 347 ff.; auch Johnson 1999, S. 8–17; Karl 2010, S. 143–164. 133 Vgl. dazu Johnson 1999, S. 9. 134 Zu der umstrittenen Textstelle Alc. I 133c8–17 vgl. Pietsch 2008, S. 355, Anm. 23. 135 Vgl. Pietsch 2008, S. 350; dazu auch unten Kap. 4.1.1. 136 Pietsch 2008, S. 350. 137 Diese ist als göttliche nicht nur überindividuell zu denken: »Jede individuelle Seele hat also ihren besten Teil. Und doch ist ihnen eines gemeinsein, nämlich der für alle identische Inhalt intellektiven Erkennens« (Pietsch 2008, S. 350, Hervorh. im Orig.). 132

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2. Sokrates’ ›menschliche Weisheit‹ als Orientierungsmoment ethischen Wissens

im Anderen, das damit verbundene Konzept der Selbsterkenntnis und die seelische Sophrosyne als Ziel der Selbstsorge finden sich in ihrem Zusammenhang im Seelenmythos des Phaidros wieder. Als Bildung der Seele werden sie in diesem Rahmen erörtert werden.138 Hinsichtlich des Frühwerks darf aber angenommen werden, dass die Seele des Sokrates, ihre Haltung und Tugend, den Gesprächspartnern gleichsam die Möglichkeit der Spiegelung gibt, im Falle, dass diese dazu in der Lage sind. Sokrates’ Wissen um sein Nichtwissen avanciert in der Apologie zur ›menschlichen Weisheit‹, die als reflektiertes selbstbezügliches Wissensmoment kenntlich wurde. Gemäß den hier angestellten Betrachtungen gibt die Aufmerksamkeit für die Gegenwärtigkeit des Göttlichen Sokrates eine Richtung vor, auch wenn die Ebene des Gött­ lichen selbst in der so bezeichneten ›unbestimmten Bestimmtheit‹ verbleibt. Im Rahmen der Apologie fundiert die ›menschliche Weis­ heit‹ die Prüfungskompetenz des Sokrates; sie ist als impulsgebendes Moment des Elenchos und der Erkenntnissuche aufzufassen. Als Schutz vor Verblendung und Wissenshybris muss sie aktiv im Denken gehalten werden: Resümierend ist die ›menschliche Weisheit‹ als ein im Erkenntnisprozess wach zu haltendes Reflexionsmoment zu verstehen, welches für den nach Erkenntnis Strebenden orientierend wirkt. Sokrates’ spezifische Weisheit bleibt, auch wenn sie eine Beson­ derheit der Apologie darstellt, in den anderen Werken Platons gegen­ wärtig.

Vgl. unten Kap. 5.3.4. Mit Blick auf diese späteren Untersuchungen wurde der Schlusspassus des Alkibiades I hier nur ergänzend aufgegriffen.

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3. Bedingungen des dialektischen Erkenntnisweges: Vier Aspekte eines ›prozessualen Wissens‹

Vor dem Hintergrund der Apologie, so erwiesen es die vorangehenden Auslegungen, begründet Sokrates’ ›menschliche Weisheit‹ sein Fra­ gen und Prüfen anderer. Zugleich muss Sokrates’ Wissen, das ihn zum Elenchos befähigt, darüber hinausgehen: In den Dialogen obliegt ihm die Rolle des Führenden im elenktischen Gespräch, er ist derjenige, der zu einer Blickwendung anzustoßen vermag, der die Relevanz der Sorge um die Seele in individueller und politischer Hinsicht kennt. Mit gutem Grund darf angenommen werden, dass er derjenige ist, der – im Bild des Höhlengleichnisses – in die Höhle zurückgekehrt ist und den Gefangenen dazu verhelfen kann, sich von ihren Fesseln zu befreien, wenn diese dazu bereit sind.1 Als philosophischer Pädagoge wird Sokrates in den Dialogen als jemand gezeichnet, der die Kondi­ tionen des Erkenntnisweges kennt, der darum weiß. Antriebsmoment der nachfolgenden Untersuchungen bildet deshalb unter anderem die Frage, auf welcher Form von Wissen die sokratische Prüfungs- und Urteilskompetenz beruht.2 Dreh- und Angelpunkt dieses Kapitels ist die Frage, welche Prämissen und Bedingungen den Erkenntnis- und Wissensweg not­ wendig prägen. Wie im letzten Kapitel steht auch in diesem Zusam­ menhang kein thematisches Wissen zur Diskussion; anders als zuvor tritt nun aber die prozedurale Dimension des Erkenntnisgewinns selbst in den Vordergrund: Gesucht werden diejenigen konstitutiven Vgl. dazu Michael Erler: Hilfe der Götter und Erkenntnis des Selbst. Sokrates als Göttergeschenk bei Platon und den Platonikern, in: ders., Theo Kobusch (Hg.): Meta­ physik und Religion. Zur Signatur des spätantiken Denkens, Akten des Internationa­ len Kongresses vom 13.-17. März 2001 in Würzburg, München/Leipzig 2002, S. 387–413, hier 400. 2 Die Annahme eines solchen Wissens bildet zu Sokrates’ Wissen um sein Nicht­ wissen keine Spannung, wenn man dieses, wie oben geschehen, als Reflexionsmo­ ment deutet. 1

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3. Bedingungen des dialektischen Erkenntnisweges

Elemente, die das Erkenntnisstreben konturieren, leiten und als Bewegung sichtbar werden lassen. Das Wissen, das sich auf diese Elemente bezieht, erschöpft sich nicht in dem Begriff eines formalen Wissens; vielmehr handelt es sich um eine Form von Wissen, welche die strukturellen und ordnenden Momente, die Konditionen und methodischen Ansätze anbelangt, die ihrerseits das Denken und das Erlangen von Wissen tatsächlich zu einem dynamischen Vollzug wer­ den lassen, aus platonischer Sicht zu einem anagogischen Erkenntnis­ vorgang. Das Wissen, von dem die Rede ist, betrifft folglich den Prozess bzw. die Prozesshaftigkeit des Lern- und Erkenntnisvollzugs. Auf der Textgrundlage des Phaidon und des sechsten und siebten Buches der Politeia konzentrieren sich die folgenden Untersuchungen auf vier Aspekte dieses ›prozessualen Wissens‹: Hierbei handelt es sich um Platons Konzept eines apriorischen Wissens und um den Begriff der Methexis, um die Rolle bildlicher Inhalte für das Denken und schließlich um Platons Darstellung des dialektischen Erkenntniswe­ ges selbst. Die Signifikanz des platonischen Ideenbegriffs ist in diesen Zusammenhängen evident: Auch wenn die Ideen letztlich in einer Art Unbestimmtheit verbleiben und insbesondere die Idee des Guten nirgendwo im platonischen Text zum Gegenstand einer thematischen Aussage wird, müssen die Diskussion des platonischen Wissensbe­ griffs und die damit verbundene Reflexion auf Handlungs- und Lebensziele der Zielvorstellung der Idee selbst Rechnung tragen.3 Die Idee des Guten stellt Voraussetzung und Ziel von Platons Erkenntnisund Wissenskonzept dar; sie ermöglicht erst den Erkenntnisprozess und begründet ihn. Die Unverzichtbarkeit des Ideenbegriffs ist in den vorliegenden Betrachtungen nicht allein in einem metaphysischen Kontext zu begreifen. Das Erfordernis der Ideen zeigt sich innerhalb des plato­ nischen Wissenskonzepts in einer erkenntnistheoretischen, ethischpolitischen und anthropologischen Hinsicht. Der erkenntnistheore­ tische Zusammenhang bezieht sich zunächst auf die Möglichkeit Dieser Sachverhalt wird hier gegenüber der oben dargestellten Forschungsliteratur betont (vgl. oben Kap. 2.1). Vgl. auch Tilman Borsche: Die Notwendigkeit der Ideen: Politeia, in: Theo Kobusch, Burkhard Mojsisch (Hg.): Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschungen, Darmstadt 1996, S. 96–114, bes. 103 ff.; Wolfgang Wieland: Pla­ ton und die Formen des Wissens, 2., durchges. und um einen Anh. und ein Nachw. erw. Aufl., Göttingen 1999, S. 160 ff.

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der Identifizierung und Bestimmbarkeit von Dingen innerhalb der phänomenalen Welt. Deren alleinige Faktizität ermöglicht aus pla­ tonischer Perspektive nicht ihre Erkenn- und Wissbarkeit; Gehalt und Bedeutung erhalten diese erst vom Intelligiblen, von der Idee her. Letzteres gilt aber nicht nur für die Gegenstände der sinnlichen Sphäre, sondern auch für den denkbaren Bereich, d. h. für Begriffe, Aussagen oder wissenschaftliche Gegenstände. Die zweite Hinsicht, die ethisch-politische Notwendigkeit der Ideen, wurde bereits mit dem Begriff der ›Konventionalität‹ im ersten Kapitel erkennbar: Was das Gerechte und Gute ist, stellt sich für Platon nicht als Aushand­ lungssache dar; das Maß ethisch-politischer Belange kann für ihn nicht im Erfahrungsbereich, im Feld der Konventionen liegen. Zu dif­ ferenzieren sind vielmehr diejenigen Meinungen oder Sachverhalte, die als gerecht gelten oder scheinen, von der Gerechtigkeit resp. Idee der Gerechtigkeit selbst.4 Schließlich begründet sich die anthro­ pologische Hinsicht durch die Verwandtschaft der menschlichen Ver­ nunftseele mit dem intelligiblen Bereich der Ideen. Der Mensch kann danach nur deshalb vernünftig denken, weil er Anteil an der göttlichen Sphäre selbst hat. In diesem Punkt tritt der metaphysische Aspekt am deutlichsten hervor. Die Erkenntnissuche stellt sich in den folgenden Diskussionen in einem anderen Licht als in den vorherigen Ausführungen zur Apologie dar: Die Verknüpfung von religiösen und philosophischen Aspekten ist, wie oben schon formuliert, als eine Besonderheit der Apologie zu betrachten; in den hier erörterten Textpassagen des Phaidon und der Politeia spielt diese Art der Verknüpfung kaum eine Rolle. Auf der anderen Seite handelt es sich jedoch nicht um alternative Modelle der Erkenntnissuche. Sokrates’ ›menschliche Weisheit‹ bringt in pointierter Form ein notwendiges Moment der Achtsamkeit zum Ausdruck, das vor Wissenshybris und Selbsttäuschung bewahren sollen. Als selbstreflexives Wissensmoment bleibt die ›menschliche Weisheit‹ auch auf höheren Erkenntnisstufen bzw. ebenso dann ein notwendiger Bestandteil der Wissenssuche, wenn im platonischen Text die im engeren Sinne philosophischen Aspekte und Methoden im Vordergrund stehen. Davon zeugen nicht zuletzt auch die vielen, bis ins Spätwerk beobachtbaren Hinweise auf Delphi. Darüber hinaus Vgl. dazu Hans-Georg Gadamer: Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles (1978), in: Gesammelte Werke, Bd. 7: Griechische Philosophie III: Plato im Dialog, unveränd. Taschenbuchausg., Tübingen 1999, S. 128–227, hier 138.

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3. Bedingungen des dialektischen Erkenntnisweges

impliziert auch der philosophisch-dialektische Weg – wenn auch auf andere Weise als in der Apologie – eine Bezugnahme auf eine gleichsam göttliche Ebene, nämlich die Idee des Guten.

3.1 Das Erfordernis der Ideen: Anamnesis und Ideenhypothese im Phaidon Als zweiter Beweis für die Unsterblichkeit der Seele dient im Phaidon die Lehre der Wiedererinnerung (ἀνάμνησις), die Sokrates mit seinen Gesprächspartnern Simmias und Kebes diskutiert. Während Kebes zunächst auf die sokratische Anamnesis-Lehre im Menon zurückver­ weist, wonach ein Lernender durch richtige Befragung das vorgeburt­ liche Wissen, welches gemäß dieser Lehre jeder Mensch in sich trägt, wiedererinnere und vergegenwärtige (vgl. Phd. 72e–73b), rekurriert Sokrates in seiner folgenden Argumentation nicht mehr auf das ›Wachrufen‹ des Wissens durch die richtige Methode der Befra­ gung.5 Vielmehr expliziert er den Vorgang der Anamnesis im Phaidon anhand der Wahrnehmungstätigkeit des Menschen (vgl. 73b ff.). Mit­ hilfe von Beispielen des Alltags veranschaulicht Sokrates zunächst, dass die Wahrnehmung eines Gegenstandes oder einer Person oft­ mals instantan die Vorstellung einer abwesenden Sache oder Person hervorruft: Erblicke etwa ein Liebender die Leier seines Geliebten, entstehe in seiner Seele zugleich das Bild (τὸ εἴδος, 73d9) des abwe­ senden Geliebten. Auch denke man, wenn man Simmias sehe, an den gerade nicht anwesenden Kebes und genauso würde durch ein gemal­ tes Bild einer Person uns diese selbst vor Augen treten. Bei dem gekennzeichneten synchronen Vorstellen oder Innewerden – Sokra­ tes verwendet für das mit der Wahrnehmungstätigkeit einhergehende Vorstellen durchgängig das Verb ἐννοεῖν – handle es sich um Fälle der Wiedererinnerung: Ausgelöst durch einen äußeren Impuls erinnern wir uns einer abwesenden Sache oder Person, die uns schon zuvor vertraut war, wobei man insbesondere dann von Anamnesis spreche, wenn das Erinnerte nicht nur abwesend, sondern auch in Vergessen­ heit geraten sei. Voraussetzung der Erinnerung sei aber grundsätzlich ein vorhergehendes Wissen (ἐπιστήμη) des Erinnerten. Die Erinne­ 5 Vgl. dazu auch Dorothea Frede: Platons ›Phaidon‹. Der Traum von der Unsterb­ lichkeit der Seele, Darmstadt 1999 (Werkinterpretationen), S. 47 f.

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3.1 Das Erfordernis der Ideen: Anamnesis und Ideenhypothese im Phaidon

rung selbst entstehe aus Ähnlichem (ὁμοίων) und Unähnlichem (ἀνομοίων) (vgl. 73c–74a). Sokrates’ Darstellungen der Erinnerung durch Unähnliches – nur im Beispiel des gemalten Portraits beruht das Erinnern auf Ähnlichem – sind auffällig, insofern im Dialogfortgang die Wiedererinnerung an dem Prinzip des Ähnlichen festgemacht wird, kann doch nur in diesem Falle, wie er selbst ausführt, auf den Grad der Ähnlichkeit zwischen dem aktuell Wahrgenommenen, welches die Erinnerung auslöst, und dem Original Bezug genommen bzw. überhaupt festgestellt werden, inwiefern das Wahrgenommene hinter dem Erinnerten selbst zurück­ bleibt (vgl. Phd. 74a, 74d–75b). Für die Frage der Ideen und den Begriff der Methexis wird allein das Prinzip des Ähnlichen von Relevanz sein. Entsprechend belässt Sokrates die Erinnerung durch Unähnliches, also ein assoziatives Hervorrufen der Erinnerung, im Rahmen der gewöhnlichen Beispiele.6 Offensichtlich sollen die Beispiele vor allem die Differenz zwischen den zwei Ebenen akzentuieren, zwischen der aktuellen Wahrnehmungsebene, auf der sich die Wiedererinnerung vollzieht, und der Ebene der Kenntnis der Sache – in den Exempeln der Person – selbst. In Einleitung der Beispiele hatte Sokrates explizit auf die Differenzierung der Erkenntnisebenen hingewiesen (vgl. 73c).7 Ins Zentrum seiner weiteren Argumentation rückt Sokrates den Begriff des Gleichen (τὸ ἴσον) (vgl. 74a–c): Verdeutlicht werden soll, dass jeder Prozess einer Wahrnehmung von Gleichem schon ein vorgängiges Wissen des Gleichen voraussetzt. Sehen wir gleichgroße Dinge wie etwa Hölzer oder Steine, so Sokrates, müssen wir im Vollzug der Wahrnehmung bereits eine Vorstellung des Gleichen haben, denn sonst seien wir nicht imstande, dieses bei jenen zu erkennen.8 Dass aber »das Gleiche selbst« (αὐτὸ τὸ ἴσον, 74a12) von der Gleichheit der Dinge verschieden sei, auch dass wir den Begriff Vgl. dazu David Ambuel: Platon: In Bildern denken, in: Johannes Grave, Arno Schubbach (Hg.): Denken mit dem Bild. Philosophische Einsätze des Bildbegriffs von Platon bis Hegel, Paderborn/München 2010, S. 13–41, hier 21. Ambuel betont, dass der assoziative Aspekt erst im Neoplatonismus in Form der Symbolisierung weiter­ geführt wird (vgl. auch ebd., S. 39, Anm. 38). 7 Zu Sokrates’ Beispielen und deren Schwierigkeiten vgl. auch Frede 1999, S. 48 f. u. 50, Anm. 15. 8 Gleich (ἴσος) mit einem anderen ist eine Sache immer in Hinsicht auf etwas, etwa auf die Größe, Beschaffenheit, Zahl etc. In Sokrates’ Beispielen wird ›gleich‹ offen­ sichtlich in der Bedeutung von ›gleichgroß‹ verwendet (vgl. Frede 1999, S. 50 ff.); allerdings kann für die gesamte Passage ›das Gleiche‹ auch allgemeiner gefasst wer­ den. 6

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oder das Wissen des Gleichen nicht innerhalb der phänomenalen Welt gewonnen haben können, zeige sich schon daran, dass uns sinnfällige Dinge, auch wenn sie dieselben bleiben, je nach Perspektive einmal als gleich, dann wieder als ungleich erscheinen. Darüber hinaus sei uns im Moment der Wahrnehmungstätigkeit bereits gegenwärtig, was ›gleich‹ oder ›ungleich‹ bedeute: Wir sind des Gleichen, während wir wahrnehmen, schon inne. Das Wissen des Gleichen entsteht also nicht aus der Erfahrung der Wahrnehmung selbst. Allerdings werde es durch die Wahrneh­ mung wachgerufen; in Analogie zu den obigen Beispielen des Alltags wird das Wissen in der Wahrnehmungstätigkeit aktiviert.9 Da wir aber im Vollzug der Wahrnehmung eine Vorstellung oder ein Wissen des Gleichen selbst haben, das von der Gleichheit der Dinge verschie­ den ist, handle es sich notwendig um Wiedererinnerung (vgl. 74c14– d2). Das Gleiche selbst müssen wir folglich vorher gekannt oder gewusst haben (προειδέναι, 74e9), vor aller Wahrnehmung »mussten wir schon irgendwoher das Wissen des Gleichen, was es ist, erhalten haben, um das Gleiche in den Wahrnehmungen auf jenes beziehen zu können«.10 Da wir aber von Geburt an wahrzunehmen vermögen, so folgert Sokrates, müsse uns das Wissen vorgeburtlich zugekommen sein (λαβόντες αὐτὴν πρὸ τοῦ γενέσθαι, 75c7). Bei der Geburt hätten wir es verloren, weil wir es vergaßen; durch den Gebrauch unserer Wahrnehmungssinne seien wir aber fähig, jenes Wissen wiederauf­ zunehmen (ἀναλαμβάνομεν, 75e4): Lernen müsse deshalb als das Wiedererlangen einer uns bereits angehörigen Erkenntnis aufgefasst werden, Lernen sei das Wiedererinnern (ἀναμιμνῄσκεσθαι, 75e6–7) (vgl. 74e–76a).11 Mit dem Argument eines vorgängigen Wissens, eines Wissens a priori, zielt die betrachtete Passage darauf, die Seele als unsterblich 9 »Aber aus diesen Dingen, sagte er, die sich gleichen, aber von jenem Gleichen verschieden sind, bist du dir doch gleichwohl des Wissens von diesem innegeworden und hast es erhalten?« (Ἀλλὰ μὴν ἐκ τούτων γ᾿, ἔφη, τῶν ἴσων, ἑτέρων ὄντων ἐκείνου τοῦ ἴσου, ὅμως αὐτοῦ τὴν ἐπιστήμην ἐννενόηκάς τε καὶ εἴληφας; Phd. 74c7–9) Vgl. auch 75a5–8. 10 τυχεῖν ἔδει που εἰληφότας ἐπιστήμην αὐτοῦ τοῦ ἴσου ὅτι ἔστιν, εἰ ἐμέλλομεν τὰ ἐκ τῶν αἰσθήσεων ἴσα ἐκεῖσε ἀνοίσειν (Phd. 75b5–7). 11 Auch im Menon (vgl. 81a–86c) wird Lernen als Wiedererinnerung dargestellt (dazu Phd. 72e), allerdings stehen im Menon andere Aspekte im Vordergrund. Vgl. Frede 1999, S. 52 f.; auch Barbra Zehnpfennig: Platon. Phaidon, griechisch-deutsch, übers. u. hg., Hamburg 1991, S. 185 f., Anm. 72.

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3.1 Das Erfordernis der Ideen: Anamnesis und Ideenhypothese im Phaidon

zu erweisen (vgl. Phd. 76d ff.). Sokrates’ darauf hinführende, ausführ­ liche Erörterungen der Anamnesis lassen aber auch seine Akzentuie­ rung der Wahrnehmung deutlich hervortreten. Gegenüber der früheren dialogischen Darlegung, wonach das Bestreben des Philosophierenden darauf ausgerichtet sein muss, sich möglichst von allem Sinnlichen zu befreien (vgl. 63d–69e), erfahren die Wahrnehmungssinne und der Bereich des Sinnfälligen eine Aufwertung.12 Auf keinem anderen Wege können wir danach unser früheres und uns zugehöriges Wissen in unserem Denken vergegenwärtigen als vermittels der Wahrnehmung (vgl. 75a). Für die Erinnerung und das Wiedererlangen dieses Wissens ist die Wahrnehmungstätigkeit unverzichtbar.13 Diesem Prononcieren der Wahrnehmung, darüber hinaus der sokratischen Wahl des Begriffs des Gleichen zur Darstellung der Wiedererinnerung soll im Folgenden nachgegangen werden. Die Hervorhebung der Wahrnehmung und ihres Bereiches ist sowohl im Dialogzusammenhang als auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht zu betrachten. Bewiesen werden soll, dass die menschli­ che Seele nicht wie der Körper – und somit wie alle Dinge der Sinnenwelt – entsteht und vergeht. Viele, so hatte Kebes vor den Beweissequenzen erklärt, würden glauben, dass die Seele, wenn ein Mensch stirbt, mit dem Körper untergehe bzw. aus diesem ausfahre und zerstiebe (vgl. 70a). Auch die Gesprächspartner selbst tragen in sich das Bedenken, ob dies nicht zutreffe (vgl. 77a–78b). Auf der materiell-sinnlichen Ebene zeigt sich demnach für viele Menschen eine gewisse Evidenz für die Sterblichkeit des ganzen Menschen, auch seiner Seele. Dahingegen zielt Sokrates’ Argumentation mithilfe der Anamnesislehre auf ein Wissen, das unseren Wahrnehmungen vorausliegen muss und als solches nicht auf der Wahrnehmungsebene selbst begründet oder von dieser hergeleitet werden kann, uns also schon zuvor zukam, sich jedoch durch das Vergessen in einem gleich­ sam nicht-aktualisierten Modus befindet. Die Wahrnehmungsebene weist danach über sich selbst hinaus bzw. auf ein bekanntes, nach Sokrates’ Worten vorgeburtliches Wissen zurück. Sokrates’ Beweisführung ist zwar daraufhin ausgelegt, dass ein solches Wissen auf die Präexistenz der Seele schließen lässt. Zugleich Vgl. Frede 1999, S. 58. Vgl. dazu Zehnpfennig 1991, S. 186, Anm. 73: »Zur Erkenntnis müssen demnach ein apriorisches und ein aposteriorisches Element zusammenkommen: nur durch die Wahrnehmung wird das Vermögen der Erkenntnis aktualisiert. Das Sinnliche ist das unverzichtbare Material, an dem das Nicht-Sinnliche erkannt werden kann.« 12

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deuten seine Ausführungen aber auch auf die im Dialog später artikulierte Annahme der Ideen hin (vgl. Phd. 99d–100b). Aus der Perspektive dieser Annahme ist es umgekehrt erforderlich, auf der basalen Ebene der Wahrnehmung mit der Argumentation anzuset­ zen: Nicht nur, dass jeder Erkenntnisweg – wie die Aufstiegsbewe­ gung im Symposion oder im Höhlengleichnis illustriert – auf dieser Ebene beginnt; zugleich gilt es auch, empirische Erkenntnismodelle zurückzuweisen. Denn während diese Modelle Erkenntnis und Wis­ sen auf sinnliche Erfahrung zurückführen, ist die Annahme von Ideen, jedenfalls dann, wenn die Ideen für unsere Erkenntnis von Relevanz sein sollen, mit einem apriorischen Wissen notwendig verbunden. Die betrachtete Textpassage zur Anamnesis lässt demnach sowohl die spätere Ideenhypothese als auch Sokrates’ Distanzierung von naturphilosophischen Ansätzen (vgl. 96a–99d) bereits anklingen. Daran anschließend ist überdies zu vermuten, dass Sokrates’ Wahl des Begriffs des Gleichen mit der Frage nach der Beziehung von Wahrnehmung und Wissen selbst zusammenhängt. Als Relativbe­ griff verweist das Gleiche unmittelbar auf die Wahrnehmungsebene: Leicht könnte man annehmen, dass gerade ein solcher Begriff auf empirischem Weg gewonnen wird, ist doch der Vergleich zwischen Gegenständen für die phänomenale Welt charakteristisch. Auf dem Vergleich und damit der räumlichen und zeitlichen, qualitativen und quantitativen Verhältnissetzung beruht letztlich die Differenzierung von Gegenständen, ohne die aber Wahrnehmung überhaupt nicht möglich wäre. Aus sokratischer Sicht ist aber gerade deshalb der Begriff des Gleichen eine Prämisse der Wahrnehmung und kein aposteriorisches Wissen: Durch unsere Wahrnehmungssinne erken­ nen wir von Geburt an Unterschiede, was gemäß dem sokratischen Argument bedeutet, dass wir bereits eine Vorstellung relativer Ver­ hältnisse und damit auch des Gleichen haben müssen. Darüber hinaus machte Sokrates darauf aufmerksam, dass auf der sinnlichen Ebene zwei Gegenstände in einer infrage stehenden Hinsicht nie exakt gleich erscheinen und wohl auch niemals exakt gleich sind, sondern als Besondere das Merkmal der Individualität tragen. Sie erreichen niemals den Begriff oder die Idee des Gleichen selbst. Andere Rela­ tivbegriffe vermögen dies nicht dergestalt zu demonstrieren: Ein Größer- oder Kleinersein etwa ist phänomenal zumeist eindeutig. So verweisen Relativbegriffe zwar insgesamt auf das sinnliche Wahr­ nehmungsfeld; um aber auf das die sinnliche Ebene übersteigende Allgemeine eines Begriffs hinzuzeigen, eignet sich der Begriff des

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3.1 Das Erfordernis der Ideen: Anamnesis und Ideenhypothese im Phaidon

Gleichen besser als andere Relativa. Solche erwähnt Sokrates entspre­ chend erst am Ende des Argumentationsganges (vgl. Phd. 75c).14 In diesem Zusammenhang benennt Sokrates nun auch die Begriffe, die für uns immer schon im Blick stünden, auf die wir uns danach in unseren Fragen und Antworten immer schon beziehen, nämlich »auf das Schöne selbst, das Gute selbst, das Gerechte und Fromme« (περὶ αὐτοῦ τοῦ καλοῦ καὶ αὐτοῦ τοῦ ἀγαθοῦ καὶ δικαίου καὶ ὁσίου, 75c11–d1). Es handelt sich um die mit den Tugenden verbundene ›Sache selbst‹, welche die Zielrichtung der sokratischen Prüfungen in den frühen Dialogen und jeder Rechenschaftsgabe vor­ gibt (vgl. 75c–d, 76b).15 Da wir nach Sokrates’ Worten notwendig von alldem ein vorgängiges Wissen haben und die Dinge unserer Wahr­ nehmungen auf das Genannte beziehen als auf etwas, »welches uns früher zuteilwurde und das wir als das Unsrige wiederauffinden«,16 müsse auch unsere Seele vor unserer Geburt gewesen sein: Das unvergängliche Sein der Ideen und die Präexistenz der Seele gehören zusammen, es bestehe für sie die gleiche Notwendigkeit. Zugleich konzediert Sokrates den Ideen aber eine gewisse Priorität: Würde man sie nicht annehmen, wären auch die Unsterblichkeitsbeweise hinfällig (vgl. 76d–77a).17 Der zweite Beweis im Phaidon ist demnach epistemologisch fundiert; »es sind die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis, die zu dem Schluß führen, daß die Seele vor der Geburt existiert haben muß«.18 Vor dem Hintergrund der Skepsis der thebanischen Gesprächs­ partner – bewiesen sei bisher nur die vorgeburtliche Existenz der Seele, nicht aber ihr Weiterleben nach dem Tod (vgl. Phd. 77a–c) – greift Sokrates im Gesprächsfortgang die Frage auf, wie die Natur der 14 Frede (1999, S. 54) weist darauf hin, dass Relativa im Eigentlichen nur dann als Ideen vorstellbar sind, wenn man nicht von den Relationen zwischen den Gegenstän­ den selbst ausgehe, sondern Relativbegriffe als Eigenschaft eines Gegenstandes (in Bezug auf einen anderen) betrachte. Vgl. auch ebd., S. 59 f. Dass Relativa aus plato­ nischer Sicht besonders das Denken anregen, wird unten im Kontext der Mathematik (Kap. 3.3) aufgegriffen. 15 Vgl. dazu Zehnpfennig 1991, S. 186, Anm. 74. – Dass hier das Wesen der Dinge infrage stehe, auf das unser Fragen und Antworten stets hinziele, unterstreicht Sokra­ tes wiederholt (vgl. auch unten Anm. 30). 16 ὑπάρχουσαν πρότερον ἀνευρίσκοντες ἡμετέραν οὖσαν (Phd. 76e1–2). 17 Vgl. dazu auch Frede 1999, S. 60 ff. 18 Frede 1999, S. 62. – Die Unsterblichkeit der Seele ist in den hier vorliegenden Betrachtungen nicht die primäre Fragestellung; die Thematik wird deshalb nur mit Blick auf den Textzusammenhang im Phaidon gestreift.

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3. Bedingungen des dialektischen Erkenntnisweges

Seele zu bestimmen sei, zu welcher der beiden Arten des Seienden (δύο εἴδη τῶν ὄντων, 79a6) sie gehöre (vgl. 78b–79a). In Rückverweis auf dasjenige, was bereits die Anamnesis zur Rede gebracht habe, charakterisiert Sokrates das wahre Sein, die unsichtbare Gattung des Seienden, als das Unzusammengesetzte, Eingestaltige, Unwan­ delbare: »Das Gleiche selbst, das Schöne selbst und so jegliches, was nur ist, selbst, nimmt das wohl jemals auch nur irgendeine Veränderung an? Oder verhält sich nicht jedes dergleichen als ein einartiges Sein an und für sich immer auf gleiche Weise und nimmt niemals auf irgendeine Weise irgendwie eine Veränderung an?«19 Im Gegensatz dazu verhalte sich alles Zusammengesetzte, Vielgestaltige, im Fluss des Werdens Begriffene, also die sichtbare Welt, niemals gleich, weder die einzelnen Dinge mit sich selbst noch die Dinge untereinander. Wie aber unser Körper dieser Gattung des Seienden, nämlich dem Sterblichen, ähnlicher und verwandter sei, so unsere Seele dem Unsterblichen und Intelligiblen, sie sei dem Göttlichen am ähnlichsten (vgl. 79b–80b). Mit der Kennzeichnung der zwei Seinsordnungen, die dem epis­ temologischen Argument des Anamnesis-Beweisganges ein ontolo­ gisches Argument für die Unsterblichkeit der Seele, nämlich ihre Unauflösbarkeit (vgl. 80b) und Unvergänglichkeit, hinzufügt,20 wird der Bogen zur Ideen-Hypothesis geschlagen. Nach etlichen Einwän­ den der Gesprächspartner, die Natur der Seele betreffend (vgl. 84b– 95e), soll die Frage nach der Ursache des Werdens und Vergehens betrachtet werden (vgl. 95e–96a). Sokrates schildert zunächst, wie er in seiner Jugend bei naturphilosophischen Lehren, auch bei der Lehre des Anaxagoras, »nach der wahren Ursache und Notwendigkeit« (τὴν αἰτίαν καὶ τὴν ἀνάγκην, 97e2) der seienden Dinge gesucht habe.21 19 αὐτὸ τὸ ἴσον, αὐτὸ τὸ καλὸν, αὐτὸ ἕκαστον ὅ ἔστι, τὸ ὄν, μὴ ποτε μεταβολὴν καὶ ἡντινοῦν ἐνδέχεται; ἢ ἀεὶ αὐτῶν ἕκαστον ὅ ἔστι, μονοειδὲς ὂν αὐτὸ καθ᾿ αὑτὸ, ὡσαύτως κατὰ ταὐτα ἔχει καὶ οὐδέποτε οὐδαμῇ οὐδαμῶς ἀλλοίωσιν οὐδεμίαν ἐνδέχεται; (Phd. 78d3–7) Übers. Schleiermacher (Eigler-Ausg., Bd. 3). – Mit Borsche (1996, S. 104) kann diese sokratische Charakterisierung »geradezu als die Platonische ›Ideenfor­ mel‹« bezeichnet werden. 20 Vgl. auch Thomas A. Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Inter­ pretationen zu den frühen und mittleren Dialogen, Berlin/New York 1985, darin Kap. 16: ›Apologie – Kriton – Phaidon. Verteidigung auf drei Ebenen‹, S. 221–252, hier 243. 21 »Ich hatte nämlich, Kebes, als ich jung war, eine außerordentliche Begierde nach jener Weisheit, die man die Naturforschung nennt. Denn großartig schien es mir zu sein, die Ursache von allem zu wissen, wodurch jedes entsteht, wodurch es vergeht und wodurch es besteht.« (ἐγὼ γάρ, ἔφη, ὧ Κέβης, νέος ὤν θαυμαστῶς ὡς ἐπεθύμησα ταύτης

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3.1 Das Erfordernis der Ideen: Anamnesis und Ideenhypothese im Phaidon

Allein er sei enttäuscht worden, führten die Vertreter dieser Lehren doch stets nur materielle und physikalische Gründe an, um die Ursa­ che alles Werdens und Vergehens zu erklären (vgl. 96a–99d).22 Es folgen im Text die Ausführungen darüber, dass er, sich abwendend von diesen Ansätzen, Zuflucht zu den Logoi genommen habe (vgl. 99e ff.),23 was aber impliziere, sich mit derjenigen Gestalt von Ursa­ che (τῆς αἰτίας τὸ εἶδος, 100b3–4) zu beschäftigen, über die er immer wieder spreche und von der auch in dem zuvor Dargelegten die Rede war: Er setze nämlich voraus (ὑποθέμενος, 100b5–6), so sagt Sokra­ tes, dass es ein Schönes selbst, ein Gutes, ein Großes und all das andere gebe.24 Die hier artikulierte Ideenhypothese baut auf der vor­ herigen Charakterisierung des wahren Seins auf: Die Ideen sind das eigentliche Wesen oder wahre Sein selbst. Betrachtet man die Ideen demnach als die ›Ursache‹ der wahrnehmbaren Dinge, dann lassen sich diese nur von jenen her verstehen. Wie Sokrates schon mit dem Konzept der Anamnesis zeigte, ist unsere Wahrnehmungstätigkeit auf die unveränderlichen Ideen angewiesen: Die sinnlichen Dinge lassen sich danach nur auf der Grundlage des vorgängigen Wissens der Ideen differenzieren und identifizieren. Das wahre Sein ist für Platon das eigentlich Intelligible, allein von diesem her erhält die phänomenale Welt ihre Bestimmbarkeit und Bedeutung. Die vielen im Wandel begriffenen Dinge sind danach an und für sich selbst nicht erkenn- und wissbar.25 Wieland macht in seiner Studie darauf aufmerksam, dass das Problem eines inhaltlichen oder thematischen Wissens der Idee, d. h. auch ihrer Vergegenständlichung, in gewisser Weise der Problematik gleiche, vor der jede Prädikationstheorie stehe: »Insofern man ein τῆς σοφίας ἣν δὴ καλοῦσι περὶ φύσεως ἱστορίαν· ὑπερήφανος γάρ μοι ἐδόκει εἷναι, εἰδέναι τὰς αἰτίας ἑκάστου, διὰ τί γίγνεται ἕκαστον καὶ διὰ τί ἀπόλλυται καὶ διὰ τί ἔστι. Phd. 96a5–9) Übers. Zehnpfennig 1991. 22 Vgl. dazu ausführlich Frede 1999, S. 101–120. Zu den älteren Diskussionen über Sokrates’ ›autobiographische‹ Schilderung vgl. Szlezák 1985, S. 229, Anm. 31. 23 Diese Thematik wird unten in Kap. 3.4 behandelt. 24 εἶναί τι καλὸν αὐτὸ καθ᾿ αὑτό καὶ ἀγαθὸν καὶ μέγα καὶ τἆλλα πάντα (Phd. 100b6–7). 25 Ähnlich ließe sich auch das Ergebnis des ersten großen Teils des Theaitetos zusam­ menfassen (vgl. dazu bes. Tht. 184b–186e). Vgl. auch Borsche 1996, S. 107: »Nur wenn es gelingt, im unaufhörlichen Fluß des Veränderlichen unveränderliche Gestal­ ten zu erblicken, kann man etwas als etwas isolieren, identifizieren, fixieren und schließlich über es Meinungen formulieren, die mit Hilfe der Wahrnehmung als wahr oder falsch beurteilt werden können.« Vgl. zu der Thematik insges. ebd., S. 103–109; auch Ambuel 2010, S. 17–20.

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3. Bedingungen des dialektischen Erkenntnisweges

Prädikat als solches zum Subjekt einer Aussage gemacht hat, fungiert es nicht mehr als Prädikat.«26 Ähnliches passiert Wieland zufolge, wenn man die Idee zum Subjekt einer Aussage mache: Jede thema­ tische Aussage über eine Idee mache diese selbst zum Gegenstand eines Wissens. Ein Wissen oder eine Theorie über die Idee vermögen aber nicht das zu leisten, was die Idee selbst leiste: »Auch die beste Lehre von der Idee könnte nicht die Funktionen übernehmen, die nur die Idee selbst auszuüben fähig ist […]. Es hat daher einen guten Sinn, wenn sich Platon in erster Linie darum bemüht, die Idee in ihrer Funktion zu zeigen. […] Eine recht verstandene Ideenlehre hat deswegen immer nur den Status einer Reflexionstheorie. Sie darf die Idee in ihren Funktionen und Leistungen zum Thema machen, wenn sie damit nicht beansprucht, diese Funktionen selbst ausüben zu kön­ nen.«27 Darüber hinaus bestehe der Bezugspunkt zwischen Prädikat und Idee bei Platon darin, dass im Bereich der Sprache jeder Idee ein Prädikat zuzuordnen sei. Hinsichtlich des richtigen oder falschen Gebrauchs des einer Idee korrespondierenden Prädikats übernehme die Idee die Funktion der Orientierung. Jede Prädikation und folglich auch jedes Gespräch, in dem man sich über Gegenstände verständige bzw. Aussagen über diese mache, setze deshalb notwendig Ideen vo­ raus.28 Indem wir die vielen Dinge der sinnlichen Ebene prädizieren, etwa das viele Schöne, benennen wir sie mit dem Namen der Idee, es herrsche, wie wiederum Sokrates unterstreicht, eine Homonymie (ὁμωνύμων, Phd. 78e2). Die Dinge würden gleich benannt wie die Idee, obwohl sie sich zu dieser ganz entgegengesetzt verhielten: Sie seien in sich vielgestaltig und blieben sich selbst niemals gleich (vgl. 78e). Die vielen Dinge werden deshalb der Bedeutung ihres Namens nie hinreichend gerecht, können ihn aufgrund ihrer Wandelbarkeit sogar verlieren.29 Was Sokrates über die Ideen weiß, betrifft zunächst die beiden Seinsordnungen, den Bereich der sinnlichen Dinge und den Bereich des wahren Seins, der unveränderlichen Ideen. Die beiden Bereiche trennen aus platonischer Perspektive die Ebene der Doxa und die Ebene des Wissens, deren jeweilige Referenz sie bilden. Im Rah­ Wieland 1999, S. 99 (Hervorh. im Orig.); vgl. auch ebd., S. 101 ff. Wieland 1999, S. 102 f. (Hervorh. im Orig.). Zur Problematik, über eine ›Lehre der Ideen‹ bei Platon zu sprechen, vgl. ebd., S. 95 ff. 28 Vgl. Wieland 1999, S. 101, 103 f. u. 127. 29 Vgl. Borsche 1996, S. 106 f. 26 27

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3.1 Das Erfordernis der Ideen: Anamnesis und Ideenhypothese im Phaidon

men der hier betrachteten Passagen stellt Sokrates eine Beziehung oder Verbindung zwischen beiden Sphären durch das Konzept der Anamnesis her. Sokrates weiß nicht nur beide Seinsordnungen zu differenzieren, sondern er ist sich auch darüber im Klaren, dass die Welt des Werdens nur auf der Grundlage der intelligiblen Welt zu verstehen ist. Deshalb weiß er auch, dass in einem Gespräch jede Meinung einerseits nur mit dem der Idee homonym Benannten korrespondiert, nicht aber mit der Idee selbst; andererseits aber alles Benannte seine Bedeutung und seinen Sinn erst von den Ideen her erhält. Gerade weil Sokrates eine Meinung als Meinung in ihrem Bereich versteht, weiß er, von woher sie zu beurteilen ist. Das Unver­ änderliche und immer Gleichbleibende charakterisiert Sokrates im Phaidon als »dieses Wesen selbst, von dem wir Rechenschaft geben, dass es ist, indem wir fragen und antworten«.30 Im philosophisch-dia­ lektischen Gespräch zeigen wir folglich mit unseren Logoi auf die Idee hin und schärfen durch die Logoi selbst unsere Aufmerksamkeit für sie. Wenn sich uns die Idee in ihrer Funktion der Orientierung bezüglich des richtigen oder falschen Gebrauchs eines Prädikats zeigt, wie Wieland es formuliert, dann geschieht dies vor allem dann, wenn wir um Rechenschaftsgabe bemüht sind (vgl. Phd. 76b–c). Das vorgängige Wissen der Ideen lässt im Phaidon in gewisser Weise noch eine weitere, spezifische Art der Orientierung erkennen. Analog zur Darlegung der zwei Arten des Seienden konturiert Sokra­ tes auch das Verhalten der Seele (vgl. 79c–d): Nehme die Seele für ihre Betrachtungen und Untersuchungen den Körper zu Hilfe, erfor­ sche sie also die Dinge mit den Wahrnehmungssinnen, dann werde sie vom Körper zum Sinnlich-Vergänglichen hingezogen, dort aber, angesichts des niemals sich gleich Verhaltenden, das sie hier berühre, wie trunken taumeln und irren. Ganz anders hingegen nehme sich die vernünftige Betätigung der Seele aus: Betrachte sie »allein durch sich selbst« (αὐτὴ καθ᾿ αὑτὴν, 79d1), dann sei sie fort »beim Reinen, immer Seienden und Unsterblichen« (εἰς τὸ καθαρόν τε καὶ ἀεὶ ὂν καὶ ἀθάνατον, 79d1–2), als diesem verwandt halte sie sich zu diesem und indem sie nun das sich immer gleich Bleibende berühre, höre auch ihr Umherirren auf, die Seele finde Ruhe (vgl. auch 84a), ihren Zustand nenne man dann Phronesis. 30 αὐτὴ ἡ οὐσία, ἧς λόγον δίδομεν τοῦ εἶναι καὶ ἐρωτῶντες καὶ ἀποκρινόμενοι (Phd. 78d1–2). Die Übersetzung folgt Borsche 1996, S. 104; auch zur Frage von Wissen und Doxa vgl. ebd., S. 104 ff. Zehnpfennig (1991) überträgt: »Das Wesen selbst, dem wir den Ausdruck ›Sein‹ beilegen, wenn wir fragen und antworten«.

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3. Bedingungen des dialektischen Erkenntnisweges

Akzentuierte die Explikation der Anamnesis die Bedeutung unserer Wahrnehmungssinne, schließt dieser Abschnitt wiederum an die Anfangspassagen des Gesprächs im Phaidon an, wonach das Philosophieren auf die Befreiung der Seele von allem Sinnlich-Soma­ tischen ziele (vgl. Phd. 63d–69e). Ihr eigentliches Leben, ihre Ver­ wirklichung finde die Seele nur, wenn sie sich dem annähere, welchem sie wirklich verwandt und am ähnlichsten sei. Der Mensch bedarf folglich der Katharsis, der Reinigung der Seele von ihrer Anhaftung an Körperlichem (vgl. 80e–84b). Besondere Gefahr für die Seele jedes Menschen, auch für die Seele des nach Wissen Strebenden, gehe aber von intensiven sinnlichen Eindrücken sowohl des Freudig-Ange­ nehmen als auch des Schmerzlich-Betrüblichen aus, halte die Seele diese Eindrücke doch leicht für das Klarste und Wahrste (vgl. 83c). Damit sie sich dennoch in sich selbst sammeln und sich befreien könne, kommt ihr nach den Worten Sokrates’ die Philosophie selbst zu Hilfe (vgl. 82d–83b): Vor allem der Seelen der Lernbegierigen, die ihre starke Gebundenheit an den Körper, an Begierden und Lüste, selbst erkennen, nehme sich die Philosophie an, sie spreche einer solchen Seele sanft und ruhig zu (ἠρέμα παραμυθεῖται, 83a2) und versuche sie zu lösen (λύσειν, 83a3); sie überrede die Seele (πείθουσα, 83a5), sich von körperlichen Sinnen zurückzuziehen, soweit nicht die Notwendigkeit bestehe, sich ihrer zu bedienen; sie ermuntere sie (παρακελευομένη, 83a7), nichts anderem zu vertrauen als sich selbst. Die Begrifflichkeiten erinnern an die Worte des Trostes und der Aufmunterung, die Sokrates zuvor seinen Gesprächspartners Kebes und Simmias angesichts ihrer Zweifel entgegenbringt.31 Sokrates’ Zuspruch und die seelische Stärkung, die durch die Philosophie selbst erfolgen soll, bilden eine Kontinuität: In beiden Fällen zielt das ›Zureden‹ darauf, sich den philosophischen Logoi zuzuwenden, um auf diesem Wege eine menschenmögliche Reinigung der Seele zu erlangen. In Verbindung damit kann die Ermutigung durch die Philosophie selbst aber noch in einer anderen Weise gedeutet werden. Danach benötigt die menschliche Seele resp. der Mensch in seinem ganzen leibhaften Dasein hinsichtlich seiner Motivation, das körper­ lich Affizierende und Anziehende, die wirkmächtigen Sinnesimpres­ 31 Vgl. Phd. 69e–70b, bes. 77a–78b; dazu Szlezák 1985, S. 242 f. Zu Sokrates’ thera­ peutischem Ansatz im Phaidon vgl. Michael Erler: »Sokrates in der Höhle«. Argu­ mente als Affekttherapie im Gorgias und im Phaidon, in: Marcel van Ackeren (Hg.): Platon verstehen. Themen und Perspektiven, Darmstadt 2004, S. 57–68, hier 61–68; das therapeutische Motiv im Phaidon wird unten in Kap. 4.3.1 diskutiert.

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3.1 Das Erfordernis der Ideen: Anamnesis und Ideenhypothese im Phaidon

sionen, zu überwinden, aber auch im Hinblick auf das Streben nach Erkenntnis und Wissen selbst eine Art Gewähr und Sicherheit. Im Phaidon wird die unsichtbare Gattung des Seienden, der Bereich der Ideen, auf den sich das vorgängige Wissen des Menschen bezieht, in besonderer Weise prononciert. Ermöglicht diese Form des Wissens auf der Ebene der Wahrnehmung die Identifikation der Dinge und damit die Wahrnehmungserkenntnis selbst, so erfährt der Mensch in der aufrichtigen Tugend- und Erkenntnissuche das vorgängige Wissen nicht nur als richtungsweisende, sondern auch als eine seine Seele stärkende Orientierung. Die wahrhaftige Suche nach Tugend und Wissen bewegt sich nicht im Ungewissen; in ihrer Ausrichtung auf die Ideen gibt demnach die Philosophie bzw. das Philosophieren der menschlichen Seele den Impuls und das Vertrauen, demjenigen in ihr selbst zu folgen, welches ihr am meisten verwandt ist. Der erste Aspekt eines ›prozessualen Wissens‹ betrifft die hier aufgezeigte Notwendigkeit des apriorischen Wissens und der Ideen, die sich in elementarer Form auf die menschliche Erkenntnisfähigkeit bezieht, zugleich aber auch auf die für ein philosophisches Streben und Leben unverzichtbare, wenn auch menschenmögliche Reinigung der Seele. Letztlich ist es für Platon primär das philosophische Streben, welches zu einer tugendgemäßen seelischen Verfasstheit zu führen vermag. Auch in dieser Hinsicht zeigt sich folglich das ethisch-politische Erfordernis der Ideen. Platons Konzept der Idee und das vorgängige Wissen erschöpfen sich nicht darin, »Bedingung von Dingwissen« im Sinne eines logischen Apriori zu sein.32 Dies wird auch daran kenntlich, dass die höchste Idee, die Idee des Guten, stets auch Vorbild und letztes Ziel der seelischen Verwirklichung des Gutseins ist. Im Phaidon gründet der Zusammenhang von mensch­ lichem Tugend- und Erkenntnisstreben und Ideen in der Verwandt­ schaft der Vernunftseele mit dem intelligiblen, göttlichen Bereich. In diesem Rahmen ist auch das erkenntnistheoretische Argument bzw. die Möglichkeitsbedingung von Erkenntnis bei Platon in einen metaphysischen Kontext eingebunden.33 Ob vor diesem Hintergrund in den frühen, der Arete gewidmeten Dialogen eine bereits angedeutete Ideenannahme erkennbar wird, Vgl. dazu Borsche 1996, S. 104, Anm. 11, Zitat ebd. Vgl. auch Ambuel (2010 S. 17–20), der die platonische Seinsordnung und die davon abhängige Frage der Erkenntnis zu Recht in den Zusammenhang von Platons Metaphysik stellt. 32

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3. Bedingungen des dialektischen Erkenntnisweges

bleibt umstritten. Vorausgesetzt wird aber auch in diesen Werken eine Bezugs- oder Orientierungsebene, auf die hin und von der her sich erst ein Erkenntnisfortschritt hinsichtlich der Tugend zeigt.34 Indem Sokrates der Sophistik und ihrem oftmals zutage tretenden Relativismus mit großer Entschiedenheit entgegenzutreten vermag und imstande ist, selbst eine klare Ausrichtung vorzugeben, zeigt er die Fähigkeit, sich auf diese Ebene, auf das Ziel der Suche beziehen zu können. Diese Bezugnahme lässt sich sowohl als eine ›thematische‹ wie auch ›unthematische‹ Einstellung beschreiben. In den themati­ schen Zusammenhang gehören die Tugendbestimmungen und das dazugehörige argumentative Fragen und Antworten. Hier gilt es, in Verwendung und Thematisierung eines spezifischen Prädikats, also etwa des Besonnen- oder Tapferseins, über alles Konventionelle hinaus auf deren übergeordnete Ebene der Ideen hinzublicken.35 Unthematisch ist die sokratische Bezugnahme auf die höchste Ebene aber andererseits, weil diese Ebene selbst inhaltlich nicht fassbar wird. Die im Fokus der sokratischen Fragerichtung stehende ›Sache selbst‹ ist im Hinblick auf diese Ebene nicht mehr im Sinne einer verbalen Artikulierbarkeit greifbar. Dies bedeutet zugleich, dass der Rechenschaftsgabe ein progressives, auf das Ziel gerichtetes Moment innewohnt, welches im Diskurs aufscheint, aber innerhalb desselben nicht einzuholen ist und notwendig darüber hinausweist. Überdies ist aber auch bezüglich des diskursiven Feldes zu über­ legen, ob nicht gerade die auf den ethisch-politischen Bereich reflek­ tierende Tugendfrage auf die Grenzen jeder Definition verweist. Unstrittige Begriffe wie beispielsweise Eisen und Silber (vgl. Phdr. 263a), Stein und Holz (vgl. Alc. I 111b–d), so unterstreicht Sokrates, seien für jeden zuordenbar; darüber, was sie sind, werde nicht disku­ tiert (vgl. auch Euthphr. 7b ff.), sie hinsichtlich ihres Wesens zu pro­ blematisieren, hat aus sokratischer Perspektive keine Notwendig­ 34 Vgl. Gadamer (1978) 1999, S. 140 ff.; Wieland 1999, S. 126 ff.; Hermann Gundert: Dialog und Dialektik. Zur Struktur des platonischen Dialogs, Amsterdam 1971, S. 19 f.; dazu auch unten Anm. 113. 35 Vgl. dazu Gadamer (1978) 1999, S. 141: Gadamer erkennt gerade in diesem ›Hin­ blicken auf‹ (ἀποβλέπειν πρὸς), letztlich im Hinblick auf das Gute, die Verbindung zwischen den aporetischen Dialogen, in denen das Hinblicken stets angedeutet werde, und dem Phaidon, der es ausspreche. Vgl. auch Wieland (1999, S. 130 ff.), der auf Textstellen im Frühwerk, die das ἀποβλέπειν unterstreichen, verweist (vgl. ebd., S. 136; dazu Men. 72c; La. 197e; Euthphr. 6e). Auch zum Begriff einer ›unthematischen Ein­ stellung‹ vgl. Wieland 1999, S. 96 f.

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3.2 Der Begriff der Methexis und die Urbild-Abbild-Relation im Liniengleichnis

keit.36 Auch eine Ideenannahme ist deshalb für solche Dinge nicht zwingend (vgl. Prm. 130b–d). Ganz anders verhalte es sich mit Aus­ drücken wie ›gut‹ und ›gerecht‹: Darin seien wir nicht nur untereinander, sondern sogar mit uns selbst uneinig; entsprechend sei die Täuschungsanfälligkeit hoch (vgl. Phdr. 263a). Auf der einen Seite sind deshalb Bestimmung und Definition gerade bei den ethischpolitischen bzw. normativen Prädikaten dringlich; entsprechend for­ ciert Sokrates mit der Was-ist-Frage – jedenfalls auch – einen solchen Weg definitorischer Tugendbestimmung, der Verstehen und Erkennt­ nis der Tugend herausfordert. Allerdings zeigt sich auf der anderen Seite nirgends die Lösung einer umfassenden, allgemeingültigen Definition; sie ist weder realisier- noch vorstellbar. Auch im Frühwerk ist die Orientierungsebene nicht mit dem ›logischen Allgemeinbe­ griff‹ gleichzusetzen,37 was bereits dadurch bedingt ist, dass der logi­ sche und der ethisch-praktische Gehalt der Tugendsuche nicht zu trennen sind. Die Sache selbst, das Besonnen- und Tapfersein, das Gerechte und Gute, erschöpft sich auch in den ›Definitionsdialogen‹ nicht in einer Definition.

3.2 Der Begriff der Methexis und die Urbild-AbbildRelation im Liniengleichnis In Artikulation der Ideenannahme greift Sokrates im Phaidon auch den Begriff der Teilhabe auf (vgl. Phd. 100b–e): Wenn man von dem Sachverhalt ausgehe, dass es – etwa im Falle des Schönen – viele schöne Dinge außer dem Schönen selbst gibt, dann müsse die Ursache des vielfältig Schönen darin gesucht werden, dass es an jenem, der Idee des Schönen, teilhat (μετέχει, 100c5). Diese Teilhabebeziehung (μέθεξις) zwischen dem nach der Idee Benannten und der Idee selbst könne auch als deren Anwesenheit (παρουσία) oder als Gemeinschaft (κοινωνία) mit ihr bezeichnet werden (100d5–6). Dass aber nur durch das Schöne selbst alles andere schön sein könne, so sagt Sokrates, sei ihm gewiss und sicher (ἀσφαλέστατον, 100d8); daran halte er fest und lasse deshalb auch alle sonstigen gelehrten Meinungen, welche die Ursachen etwa im Phänomenalen suchen, außen vor. Vgl. auch dazu Wieland 1999, S. 116 f. u. 130 f.; auch zum Folgenden ebd. Vgl. dazu Gundert 1971, S. 20: Auch in den frühen Arete-Dialogen werde »der ›ontologische‹ Sinn des ›logischen‹ Allgemeinbegriffs nahegelegt«. 36 37

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3. Bedingungen des dialektischen Erkenntnisweges

Die Ideenannahme impliziert das Teilhabeverhältnis derjenigen Dinge, die in ihrer Prädikation nach der Idee benannt werden und die zugleich die Idee selbst nicht sind. Der Begriff der Methexis spielt – trotz aller Schwierigkeiten, die mit diesem Begriff verbunden sind38 – für Platons Erkenntnis- und Wissenskonzept eine wesentliche Rolle. Ist man sich des Teilhabeverhältnisses bewusst, dann versteht man, wie dies oben für Sokrates konstatiert wurde, die beiden Seinssphären: Man ordnet die vielen Dinge richtig ein, nimmt sie als dasjenige wahr, was sie im Verhältnis zur Idee tatsächlich sind. Darüber hinaus wird durch die Begrifflichkeiten der Methexis, der Anwesenheit oder Gemeinschaft aber auch kenntlich, dass die teilhabenden Dinge, unter Voraussetzung ihrer richtigen Einordnung, eine epistemische Zugangsmöglichkeit zur Idee bieten. Das Wissen um die Bedeutung der Teilhabe ist eine zentrale Bedingung des Erkenntnisprozesses. Der Begriff der Methexis wird im Folgenden als zweiter Aspekt eines ›prozessualen Wissens‹, welches der sokratischen Fähigkeit des Elenchos zugrunde liegt, diskutiert.39 Im fünften Buch der Politeia greift Sokrates das Thema der Methexis explizit auf: »Besteht nun nicht das Träumen darin, wenn jemand, sei es im Schlaf oder wachend, das einem Ähnliche nicht für ein Ähnliches hält, sondern dass es jenes selbst sei, dem es gleicht? 38 Die Probleme, die dem Begriff der Methexis innewohnen, werden in dem späten Dialog Parmenides (vgl. 128e–133a) thematisiert. Vgl. dazu Wieland 1999, S. 115–121. 39 Vgl. auch Jörg Hardy: Jenseits der Täuschungen – Selbsterkenntnis und Selbstbe­ stimmung mit Sokrates, Göttingen 2011, S. 74 f. Hardy sieht die sokratische Prü­ fungskompetenz, neben dem von ihm kenntlich gemachten Wissen zweiter Ordnung und einem Wissen im Sinne eines inferentiellen Netzes von wahren Meinungen (vgl. oben Kap. 2.1), in einem formalen Wissen begründet, das mit dem Begriff der Methexis verbunden ist – auch wenn er diese selbst nicht benennt. Nach Hardys Auffassung betrifft diese Art des Wissens »die formalen Bedingungen, die eine angemessene Definition einer Idee zu erfüllen hat« (ebd., S. 74), wobei er die Bedingungen so bestimmt: »Für eine Idee F gilt, dass (i) F verschieden ist von den einzelnen Dingen, denen wir die Eigenschaft F zusprechen, (ii) F immer dieselbe Eigenschaft in allen Einzeldingen ist, die Instanzen von F sind, (iii) F immer die gleichen, endlich vielen Eigenschaften hat und insofern im strikten Sinne (in zeitlicher, räumlicher und qua­ litativer Hinsicht) unveränderlich ist.« (Ebd., S. 74) Für das Wissen einer Idee F gelte darüber hinaus, dass diese »durch eine Definition bestimmt werden kann, über die wir genau dann verfügen, wenn wir […] alle endlich vielen Eigenschaften von F ken­ nen« (ebd., S. 75). – Die hier folgenden Ausführungen über den Methexis-Begriff gehen hingegen, wie dies auch in den bisherigen Erörterungen offenbar wurde, von einem – gegenüber dem allein definitorischen – weiteren Wissensbegriff bei Platon aus.

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3.2 Der Begriff der Methexis und die Urbild-Abbild-Relation im Liniengleichnis

– Ich würde sagen, dass ein solcher träumt. – Was aber? Wer ganz im Gegenteil das Schöne selbst für etwas hält, und imstande ist, sowohl dieses selbst als auch dasjenige zu sehen, das an jenem teilhat, und weder das Teilhabende für das Schöne selbst noch dieses für das Teilhabende hält, scheint dir dieser wiederum wachend oder schlafend zu leben? – Auf alle Fälle wachend.«40 Die Hörbegierigen und Schau­ lustigen, so hieß es zuvor, lieben die vielen schönen Gestalten, die schönen Töne und Farben; die Natur des Schönen selbst seien sie aber weder fähig zu sehen noch anzuerkennen (vgl. R. V 476b–c). So muss ihnen auch das strukturelle Moment der Teilhabe fremd bleiben. Sie bewegen sich im allein Phänomenalen und in dessen Vielheit, für die aber gilt, dass es darunter nichts gibt, das nicht ambivalent ist: Nichts sei hier schön, gerecht oder heilig zu nennen, was in anderer Hinsicht nicht auch hässlich, ungerecht und unheilig genannt werden könne (vgl. 479a). Diejenigen, die sich nur in dieser Sphäre bewegen und sich allein auf diese beziehen, leben nach Sokrates’ Worten in einem träumenden Zustand. Er bezeichnet sie an späterer Stelle als Meinungsliebende (φιλοδόξοι), die anderen, die wachend Lebenden, als Weisheitsliebende (φιλοσόφοι) (vgl. 480a). Letztere sind danach diejenigen, die schließlich imstande sind, »jedes selbst, wie es sich immer gleich verhält, zu schauen«.41 Die zitierte Textpassage der Politeia zeigt, welchen Stellenwert Platon einer bewussten Unterscheidung der beiden Ebenen, der Ebene der Sache selbst und der Ebene der an ihr teilhabenden Dinge, ein­ räumt. Die von Sokrates akzentuierte Wachheit erinnert in gewisser Weise an seine in der Apologie kenntlich gewordene Aufmerksamkeit für den Bereich des Göttlichen. Auch in der hier betrachteten Passage bedeutet das geistige Wachsein eine Achtsamkeit oder Präsenz für eine höhere Ebene: Nur wenn man diese Ebene stets mitbedenkt, ist man sich auch bewusst, dass die Welt des Werdens in ihrer Erkennund Bestimmbarkeit auf das von der sinnlichen Ebene unabhängige Intelligible angewiesen ist. Die Welt, die wir erfahren, gewinnt aus platonischer Sicht nur im Hinblick darauf ihre wirkliche Bedeutung. 40 τὸ ὀνειρώττειν ἆρα οὐ τόδε ἐστίν, ἐάντε ἐν ὕπνῳ τις ἐάντ᾿ ἐγρηγορὼς τὸ ὅμοιόν τῳ μὴ ὅμοιον ἀλλ᾿ αὐτὸ ἡγῆται εἶναι ᾧ ἔοικεν; – Ἐγὼ γοῦν ἄν, ἦ δ᾿ ὅς, φαίην ὀνειρώττειν τὸν τοιοῦτον. – Τί δέ; ὁ τἀναντία τούτων ἡγούμενός τέ τι αὐτὸ καλὸν καὶ δυνάμενος καθορᾶν καὶ αὐτὸ καὶ τὰ ἐκείνου μετέχοντα, καὶ οὔτε τὰ μετέχοντα αὐτὸ οὔτε αὐτὸ τὰ μετέχοντα ἡγούμενος, ὕπαρ ἢ ὄναρ αὖ καὶ οὖτος δοκεῖ σοι ζῆν; – Καὶ μάλα, ἔφη, ὕπαρ (R. V 476c5–d4). 41 τοὺς αὐτὰ ἕκαστα θεωμένους καὶ ἀεὶ κατὰ ταὐτὰ ὡσαύτως ὄντα (R. V 479e7–8).

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3. Bedingungen des dialektischen Erkenntnisweges

Vor diesem Hintergrund ist auch zu betonen, dass sich der platonische Ideenbegriff von dem auf Abstraktion beruhenden Allgemeinbegriff deutlich abhebt. Die Unterscheidung von Besonderem und Allgemei­ nem ist auch dem gewöhnlichen Sprachgebrauch notwendig inhärent. Die sokratischen Dialogpartner orientieren daran: Auch wenn sie in ihren Bestimmungen zunächst mit Beispielen beginnen und zudem die Bedingungen tatsächlicher Begründung zumeist nicht kennen, haben sie dennoch, intuitiv oder zuweilen auch ausdrücklich, eine Art Allgemeinbegriff der Sache. Ein Sprechen wäre sonst faktisch nicht möglich. Aus sokratischer Perspektive heißt dies aber nicht, dass sie zu den ›wachend Lebenden‹ zu zählen sind. Diese wissen, dass ›das Allgemeine‹ im Sinne der Idee ganz in das Feld des Intelligiblen gehört, auch dass ihre Logoi gerade bezüglich ethisch-politischer Fra­ gestellungen stets nur Annäherungen sind. Ihnen ist folglich bewusst, dass ihre Bestimmungen vermittels der Logoi im Teilhabeverhältnis verbleiben. Durch dieses Wissen sind die von Sokrates so bezeichne­ ten Weisheitsliebenden ausdrücklich davor gefeit, die beiden Ebenen, die des Ähnlichen und die der Sache selbst, zu verwechseln. Gemäß Platons Konzept der Methexis ist eine Idee in ihren ›Instanziierungen‹ in unterschiedlichen Graden gegenwärtig und erkennbar; umgekehrt haben diese in verschiedenen Abstufungen an der Idee teil. Begreif- und erkennbar wird aus platonischer Perspektive deshalb jedes Teilhabende nur in seiner ontologischen und epistemo­ logischen Abhängigkeit von der Idee.42 Platon selbst spricht in diesem Zusammenhang bekanntlich von einer Urbild-Abbild-Relation. Die Bedingungen dieser Relation und damit des Begriffs der Methexis treten besonders deutlich im Liniengleichnis hervor, sie werden hier durch ihre illustrative Figuration zur Geltung gebracht. Im Hinblick darauf wird das Gleichnis im Folgenden diskutiert.43 42 Vgl. dazu Ambuel 2010 S. 20–26. – Zu denken ist hierbei auch an Sokrates’ ange­ deuteten Grad an Ähnlichkeit zwischen Wahrgenommenem und Erinnertem im Kon­ text der Anamnesis im Phaidon (vgl. 74a, 74d). 43 In der Forschungsliteratur wurde das Liniengleichnis oft und ausführlich beschrie­ ben und gedeutet. Die Erörterungen in diesem und im nächsten Kapitel fokussieren deshalb, nach einer kurzen Charakterisierung des Gleichnisses, diejenigen Elemente, die für die hier angestellten Fragestellungen von Relevanz sind. Teilweise – aber zumeist mit anderer Akzentuierung – schließe ich in meiner Interpretation an fol­ gende Auslegungen an: Anne Eusterschulte: Analogia entis seu mentis. Analogie als erkenntnistheoretisches Prinzip in der Philosophie Giordano Brunos, Würzburg 1997, S. 107–130; Wieland 1999, S. 201–218; Jürgen Mittelstraß: Die Dialektik und ihre wissenschaftlichen Vorübungen (Buch VI 510b–511e und Buch VII 521c–539d), in:

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3.2 Der Begriff der Methexis und die Urbild-Abbild-Relation im Liniengleichnis

Wie schon in dem zuvor dargelegten Sonnengleichnis (vgl. R. VI 506b–509b), ebenso in Entsprechung zu den zwei Seinsordnungen im Phaidon folgt die grundlegende Aufteilung im Liniengleichnis (vgl. R. VI 509c–511e) der Ausweisung von Sein und Werden, den beiden Sphären des Seienden überhaupt. Das Liniengleichnis veran­ schaulicht die zwei Bereiche vermittels der Teilung einer Linie in zwei primäre, allerdings in ihrer Ausdehnung ungleiche Linienabschnitte (ἄνισα τμήματα, 509d6–7): Der erste Abschnitt soll dem Werden, also der sensiblen oder sichtbaren Sphäre (τὸ ὁρατόν) entsprechen, welcher als Erkenntnisform insgesamt die Meinung (δόξα) zugeord­ net ist. Der zweite Abschnitt wird mit dem Sein bzw. der denkbaren und intelligiblen Sphäre (τὸ νοητόν) gleichgesetzt; dieser Sphäre kommt als Erkenntnisform Wissen bzw. Erkenntnis (γνῶσις) zu. Beide Bereiche, also beide Linienabschnitte, werden nun, so lautet die von Sokrates vorgegebene Konstruktion, nach dem selben Verhältnis (ἀνὰ τὸν αὐτὸν λόγον, 509d7–8) noch einmal geteilt, sodass sich vier Abschnitte ergeben (vgl. 509d–e):44 Im sichtbaren Bereich werden natürliche Abbilder, d. h. Spiegelungen und Schatten, und deren Vorbilder, nämlich physische Gegenstände, unterschieden; Ersteren werden Vermutung (εἰκασία), Letzteren Glaube bzw. Überzeugung (πίστις) als Erkenntnis- bzw. Meinungsform zugewiesen (vgl. 509e– 510b; 511d–e). Den beiden Linienabschnitten des denkbaren Bereichs werden zum einen Begriffe und Denkgegenstände, insbesondere diejenigen der Mathematik, zum anderen die Ideen zugeteilt. Den Begriffen entspricht als Erkenntnisform der Verstand (διάνοια), zu den Ideen gehört als Erkenntnisform die Vernunft (νόησις/νοῦς) in Verbindung mit dem dialektischen Vermögen (τοῦ διαλέγεσθαι

Ottfried Höffe (Hg.): Platon. Politeia, 2., bearb. Aufl., Berlin 2005, S. 229–250; Ambuel 2010, S. 20–28; Sybille Krämer: Gedanken sichtbar machen. Platon: eine diagrammatologische Rekonstruktion. Ein Essay, in: Jan-Henrik Möller, Jörg Sterna­ gel, Lenore Hipper (Hg.): Paradoxalität des Medialen, Paderborn/München 2013, S. 175–191. 44 Geht man von einer ungleichen Teilung der ursprünglichen Linie aus und teilt die zwei primären Linienabschnitte wiederum nach dem gleichen Verhältnis, dann resul­ tieren aus dieser Konstruktion von vier Linienstrecken zwei mittlere Abschnitte glei­ cher Ausdehnung. Zur Diskussion der ungleichen Linienteilung vgl. Wieland 1999, S. 202 f.; Eusterschulte 1997, S. 124 ff. Der platonische Text sagt allerdings nichts darüber aus, welcher der primären Abschnitte, der des Werdens oder der des Seins, der längere bzw. kürzere sein soll.

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3. Bedingungen des dialektischen Erkenntnisweges

δύναμις) bzw. dialektischen Wissen (τοῦ διαλέγεσθαι ἐπιστήμη) (vgl. 511b–e, insges. 510b–511e).45 Das Liniengleichnis umfasst den gesamten Bereich des Seienden oder der Wirklichkeit, innerhalb dessen der Mensch sich zu bewegen vermag. Durch die Linienteilung in je gleichem Verhältnis wird eine Proportionalität bzw. eine strukturelle Gleichheit von Verhältnissen erzeugt, die sich auf den gesamten Bereich der Linie bezieht und sowohl die epistemische als auch die ontologische Perspektive betrifft: In Entsprechung zu dem Verhältnis des Meinbaren zum Erkennbaren (ὡς τὸ δοξαστὸν πρὸς τὸ γνωστόν) verhalte sich mit Blick auf die gesamte Linie stets das Nachgebildete zu dem, dem es nachgebil­ det ist, bzw. das Ähnliche zu dem, dem es ähnlich ist (οὕτω τὸ ὁμοιωθὲν πρὸς τὸ ᾧ ὡμοιώθη); die Aufteilung richte sich dabei nach Wahrheit und Nichtwahrheit (ἀληθείᾳ τε καὶ μή) (510a9–10). Für die einzelnen Seins- und Erkenntnisbereiche der Linie heißt dies: »Wie das sichtbare Werden zum denkbaren Sein, so das Meinen zum Wissen, und auch die natürlichen Abbilder verhalten sich zu den kreatürlichen Erscheinungen und Artefakten wie die Vermutung zum Glauben bzw., im Bereich des Denkbaren, die Begriffe zu den Ideen wie die Verstandesgewißheit zur Vernunfteinsicht.«46 Jedes im Liniengleichnis gezeichnete Verhältnis von Nachgebildetem zu dem, dem es nachgebildet ist, entspricht einer Relation von Abbild und Urbild. Ihre anschaulichste Beschreibung findet diese Relation im Feld des Visuellen: Wie die Terminologie von ›Abbild‹ und ›Urbild‹ selbst zum Ausdruck bringt, benutzt Platon den Begriff des (visuellen) Bildes (εἰκών) als Metapher, um den Unterschied zwischen Werden und Sein, zwischen Ähnlichem und dem, dem es ähnlich ist, zwischen Nachgebildetem und Original zu verdeutlichen.47 Im Rahmen des 45 Eine eigentliche Systematisierung der die menschlichen Erkenntnisvermögen charakterisierenden Termini findet sich im platonischen Text allerdings nicht. So wird der Begriff der Vernunft (νόησις) an späteren, den Gleichnissen assoziierten Stellen auch für den dianoetischen Bereich verwendet (vgl. R. VII 523a–524d). Auch sind Doxa oder dialektisches Vermögen im engeren Sinne keine Erkenntnisvermögen des Menschen, sondern eher als Erkenntnistätigkeiten zu verstehen (vgl. auch 511c–e). 46 Eusterschulte 1997, S. 124. Vgl. dazu auch unten Anm. 57. 47 Vgl. auch Ambuel 2010, S. 20 ff. – Mit Blick auf das intelligible Urbild, die Idee (εἶδος, ἰδέα), ist der Bildbegriff jedoch nicht allein metaphorisch zu verstehen (vgl. dazu unten Kap. 3.4). In einem nicht-metaphorischen Sinn wird darüber hinaus auch die Rolle des Bildlichen für das dianoetische Denken zu begreifen sein (vgl. unten Kap. 3.3).

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3.2 Der Begriff der Methexis und die Urbild-Abbild-Relation im Liniengleichnis

Liniengleichnisses ist diese Metaphorik des visuellen Bildes mit der Proportionalität der Linienabschnitte verschränkt: Die proportionale Struktur erlaubt es, die Verhältnisrelationen untereinander zu ver­ gleichen, also von einer Analogie zu sprechen, sodass es möglich ist, eine bestimmte Relation im Lichte einer anderen zu beleuch­ ten.48 Voraussetzung der Analogie bzw. der Vergleichbarkeit der Verhältnisse untereinander ist, wie Eusterschulte geltend macht, die Bezogenheit alles Seienden, sowohl der sensiblen als auch intelligi­ blen Gegenstände, und der entsprechenden Erkenntnisformen auf das höchste Sein.49 Im Liniengleichnis wird, anders als im Sonnen­ gleichnis, die Idee des Guten nicht namentlich genannt. Allerdings macht Sokrates im Vorfeld der Gleichnisse (vgl. R. VI 504a–506b) hinreichend kenntlich, was als höchstes μάθημα aller Gleichnisse zu betrachten ist und worauf das philosophische Streben notwendig zielen muss: ἡ τοῦ ἀγαθοῦ ἰδέα (505a2). Die Idee des Guten ist die übergeordnete Einheit, das höchste Sein, welches auch der Struktur des Liniengleichnisses erst seinen notwendigen Sinn verleiht. Um das prinzipielle Verhältnis von Abbild und Urbild zu erhel­ len, rücken die nachstehenden Ausführungen den metaphorischen und zugleich modellhaften Charakter des visuellen Bildes, wie er innerhalb des Liniengleichnisses selbst zum Tragen kommt,50 ins Zentrum der Betrachtungen. Zu bedenken gilt es vorab jedoch, dass die hier infragestehende ›Übertragung‹ insofern an ihre Grenzen stößt, als die Idee, indem sie sich ihrer Bestimm- und Fassbarkeit entzieht und insbesondere die höchste Seinsordnung darstellt, nicht in derselben Weise als ›Relat‹ eines Urbild-Abbild-Verhältnisses zu bezeichnen ist wie etwa der physische Gegenstand in Bezug auf seine Abbilder im sichtbaren Bereich. Vielmehr ist die Benennung ›Relat‹ für die Idee selbst unzutreffend, ginge damit doch das von Aristoteles so genannte und im platonischen Parmenides thematisierte Problem Vgl. dazu Eusterschulte 1997, S. 125 ff.; auch Krämer 2013, S. 188. Vgl. Eusterschulte 1997, S. 111: »Damit die Analogata überhaupt in einem Ver­ hältnis zueinander aufgefaßt werden können, quasi als Voraussetzung von Bezüg­ lichkeit und partieller Gleichheit, muß ein Wesensbezug der Dinge im Einzelnen selbst zur übergeordneten Bezugsgröße bestehen.« Eusterschulte spricht von einer ›hori­ zontalen Analogie‹ und einer ›vertikalen Analogie‹, die in einem solchen Kontext, wie dem platonischen Sonnen- und Liniengleichnis, notwendig miteinander verschränkt sind (vgl. ebd., S. 110–113; dazu auch die Interpretation des Sonnengleichnisses, S. 113–123). 50 Vgl. auch Wieland 1999, S. 207. 48

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3. Bedingungen des dialektischen Erkenntnisweges

des ›Dritten Menschen‹ bzw. ein infiniter Regress einher.51 Dennoch konturiert Platon auf der anderen Seite im Liniengleichnis eine ana­ loge Struktur der Verhältnisse und zugleich eine Metaphorik des visuellen Bildes und lässt damit bestimmte Rückschlüsse zu. Die in einem wörtlichen Sinne sichtbaren Abbilder sind auf dem ersten Linienabschnitt zu finden, also auf dem Abschnitt der natürlichen Erscheinungen in Form von Spiegelungen und Schatten (φαντάσματα, σκιαί). Die natürlichen Abbildungen lassen besonders deutlich hervortreten, dass ein Abbild ohne sein Urbild weder zu exis­ tieren noch als Abbild erkannt zu werden vermag.52 Die Spiegelung eines Baumes im Wasser etwa ist ohne ihr Original, also den Baum, nicht möglich. In ontologischer wie epistemologischer Hinsicht ist das Spiegelbild auf seinen physischen Gegenstand angewiesen, das Umgekehrte trifft hingegen nicht zu: Der Baum ist in keiner Weise abhängig von seinen Spiegelbildern. Mit dem Beispiel der natürli­ chen Spiegelungen werden wesentliche strukturelle Bedingungen des Urbild-Abbild-Verhältnisses evident: Das Bild ist dem Urbild ähnlich, aber es wäre unstimmig zu sagen, dass das Urbild seinem Abbild gleiche; das Ähnlichkeitsverhältnis ist asymmetrisch, das Urbild besitzt eine »ontologische Priorität«53. Auch ist die Ähnlichkeit des Bildes mit seinem Original stets unvollkommen, was der Terminus ›ähnlich‹ selbst beinhaltet: Es besteht keine Identität von Abbild und Original,54 obwohl beide gleich bzw. homonym benannt werden, wie Sokrates konstatierte (vgl. Phd. 78e). Zugleich ist das Bild nur dann ein Abbild des Originals, wenn es überhaupt eine Ähnlichkeit mit diesem vorzuweisen hat und als dessen Abbild erkennbar ist. 51 Vgl. Prm. 132a–133a. Würde man die Idee lediglich als einen der zwei Pole der Beziehung verstehen, bedürfte es zur Beurteilung der Beziehung einer weiteren, über­ geordneten Idee, die beiden Polen gemeinsam ist. Für diese ergäbe sich dann aber das gleiche Problem. Vgl. dazu Wieland 1999, S. 119–121 u. 105. 52 Zu den Erscheinungen (φαντάσματα) zählt Platon vielfach auch die Erzeugnisse der musischen Künste, die nach seiner Auffassung lediglich Erscheinungsweisen von Din­ gen oder Sachverhalten darstellen (vgl. dazu R. X 595a–601b). Dass Platon hinsicht­ lich der Bilder (εἰκόνες) des ersten Linienabschnitts nur Schatten und Spiegelbilder erwähnt, nicht aber Gemälde und Skulpturen, liegt nach Ambuel (2010, S. 24) darin begründet, dass mit ersteren »die Kausalität des Originals, ohne welche das Bild nicht existieren könnte«, unterstrichen wird. 53 Ambuel 2010, S. 21. Hinsichtlich der hier genannten Merkmale des Abbildes bzw. der Beziehung von Original und Bild in platonischem Kontext folge ich weitgehend Ambuel (vgl. ebd., S. 20–26). 54 Vgl. Cra. 432b–d; dazu Ambuel 2010, S. 21 f.

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3.2 Der Begriff der Methexis und die Urbild-Abbild-Relation im Liniengleichnis

Durch die Gleichzeitigkeit von Ähnlichkeit und Differenz ist dem Teilhabenden oder Abbild aber auch ein ›Mehr‹ als nur seine Ähnlich­ keit mit dem Urbild eigen. Das ›Mehr‹ des Abbildes kennzeichnet zunächst seine individuelle Besonderheit, durch die es, bezogen auf das wahre Sein, aus platonischer Perspektive »ontologisch weniger wirklich« ist; die Beziehung von Bild zu Original ist deshalb »ein Analogon der ontologischen Relation des Besonderen zur Form«.55 Das Merkmal des Besonderen trifft vor allem auf die vielen Dinge (τὰ πολλά) des sichtbaren Bereichs zu. Diese sind einerseits stets weniger, andererseits stets mehr als das, was ihr Name bedeutet: Die Dinge haben an Verschiedenem, letztlich an verschiedenen, auch gegenteiligen Ideen teil. Die Idee selbst muss hingegen notwendig ihr Gegenteil ausschließen.56 Im Liniengleichnis entspricht das Verhältnis von Ähnlichem und dem, dem es ähnlich ist, einer Stufung, die sich an der ›Teilhabe an der Wahrheit‹ ausrichtet. Am Ende des Gleichnisses werden die vier Erkenntnisstufen bzw. Zustände der Seele und ihre Verhältnis­ struktur zusammenfassend vorgetragen: »Und nun nimm mir auch die diesen vier Teilen zugehörigen Zustände der Seele dazu, die Vernunfteinsicht dem obersten, die Verstandesgewißheit dem zwei­ ten, dem dritten aber weise den Glauben an und dem vierten die Vermutung; und ordne sie dir nach dem Verhältnis, daß soviel das, worauf sie sich beziehen, an der Wahrheit teilhat, soviel auch jedem von ihnen Gewißheit zukomme.«57 Den betrachteten Gegenständen jeder Stufe kommt demnach in epistemologischer Hinsicht so viel an Deutlichkeit, Klarheit oder Gewissheit zu, wie diese in ontologi­ scher Hinsicht an der Wahrheit teilhaben.58 Schon zu Beginn des Gleichnisses waren »das gegenseitige Verhältnis von Deutlichkeit und Undeutlichkeit« (σαφηνείᾳ καὶ ἀσαφείᾳ πρὸς ἄλληλα, 509d9) und das schon erwähnte Verhältnis von ›Wahrheit und Nichtwahrheit‹ als Kri­ terien der Teilungen der Linie und der Verhältnissetzungen genannt Vgl. Ambuel 2010, S. 24, beide Zitate ebd. Vgl. dazu Borsche 1996, S. 106–109; auch Phd. 102b–105b, dazu unten Anm. 121; zu dieser Thematik überdies Prm. 128e–130a. 57 καί μοι ἐπὶ τοῖς τέτταρσι τμήμασι τέτταρα ταῦτα παθήματα ἐν τῇ ψυχῇ γιγνόμενα λαβέ, νόησιν μὲν ἐπὶ τῷ ἀνωτάτω, διάνοιαν δὲ ἐπὶ τῷ δευτέρῳ, τῷ τρίτῳ δὲ πίστιν ἀπόδος καὶ τῷ τελευταίῳ εἰκασίαν, καὶ τάξον αὐτὰ ἀνὰ λόγον, ὥσπερ ἐφ᾿ οἷς ἐστιν ἀληθείας μετέχει, οὕτω ταῦτα σαφηνείας ἡγησάμενος μετέχειν. (R. VI 511d6–e4) Übers. Schleiermacher (Eigler-Ausg., Bd. 4) mit geringfügiger Änderung (Schleiermacher überträgt das Wort εἰκασία mit ›Wahrscheinlichkeit‹). 58 Vgl. dazu auch Eusterschulte 1997, S. 123 f. 55

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3. Bedingungen des dialektischen Erkenntnisweges

worden: Der Grad der Teilhabe an der Wahrheit auf ontologischer Seite korrespondiert mit dem Grad an epistemologischer Schärfe. Die Seins- und Erkenntnisstufen des Gleichnisses werden durch diese Grade von Wahrheit und Deutlichkeit charakterisiert. Dass das an der Wahrheit weniger partizipierende Abbild sich stets undeutlicher zeigt als das Urbild und deshalb die Erkenntnis selbst unschärfer bleiben muss, auch welche Spannbreite eine solche Undeutlichkeit innerhalb verschiedener Abbilder einnehmen kann, ist wiederum an den natürlichen Spiegelungen in plastischer Form ablesbar. Aber noch in einer weiteren Hinsicht zeigen die natürlichen visuellen Bilder ihre metaphorische und dadurch erkenntnisleitende Funktion: Wer den gespiegelten oder schattenwerfenden Gegenstand nicht kennt, wird die Bilder nicht als Spiegelung oder Schatten dieses Gegenstandes wahrnehmen, oder er wird das Bild überhaupt nicht als Bild, sondern nur als das ihm Dargebotene sehen. Im Höhlengleichnis richten sich die Menschen, die noch ganz in der Höhle ge- und befangen sind, allein auf die Schatten und halten diese für das Wahre, für die ganze Wirklichkeit (vgl. R. VII 515a–c).59 Sie wissen weder von den Gegenständen, die an der Mauer vorübergetragen werden, noch erkennen sie die Schatten als bloße Abbilder. Ihre ganze Kraft, ihren Streit und Wettstreit widmen sie diesen (vgl. 517d). Aus der Perspektive des Liniengleichnisses beschränkt sich ihr Dasein auf den Abschnitt der Spiegelungen, die, wiederum im gleichsam über­ tragenen Sinn, im Höhlengleichnis den fernen Abschattungen des Gerechten (τῶν τοῦ δικαίου σκιῶν, 517d8–9) und der Tugend entspre­ chen. In diesem Zusammenhang darf man zu Recht annehmen, dass die Differenzierung der zwei Meinungsformen im sichtbaren Bereich des Liniengleichnisses, der εἰκασία und πίστις, dazu dienen soll, eine ›unterste‹ Ebene auszuweisen, auf welcher eine Meinung lediglich darin besteht, den äußerlichen Erscheinungscharakter oder einen bestimmten äußeren Aspekt einer Sache zu ermessen; der Erkennt­ niswert dieser Meinung geht nicht über diese Art einer Einschätzung hinaus. Wer sich nur in diesem Feld bewegt, ist für Täuschungen besonders anfällig. Derjenige hingegen, dessen Meinung sich als πίστις bezeichnen lässt, vermag zwischen Urbild und Abbild innerhalb der Sphäre des Werdens zu unterscheiden; er erkennt innerhalb dieses 59 Vgl. auch Wieland 1999, S. 206, Anm. 14. – Nicht nur das visuelle, sondern auch das auditive Moment solcher Schatten bzw. Abbilder wird von Platon im Höhlen­ gleichnis betont (vgl. R. VII 515b).

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3.2 Der Begriff der Methexis und die Urbild-Abbild-Relation im Liniengleichnis

Bereichs die Bilder als Abbilder von Gegenständen oder Sachverhal­ ten.60 Damit scheint sich aber eine Spannung zu der bisher kennt­ lich gewordenen Korrespondenz zwischen Gegenstandsbereich und Erkenntnisform anzudeuten: Die meinende Betrachtung einer Spie­ gelung oder eines Schattens kann, muss aber nicht im untersten Feld der εἰκασία verbleiben. Wer die Sache selbst kennt oder mit ihr vertraut ist, sieht und erkennt sie auch in ihrem Abbild, und er weiß beide, Urbild und Abbild, zu unterscheiden. Dieser Zusammenhang betrifft aber den gesamten Erkenntnisbereich und gilt gerade auch hinsichtlich der Idee: Wer die Idee mit »dem inneren Auge der Seele« (τὸ τῆς ψυχῆς ὄμμα, R. VII 533d2) einmal erblickt hat, wer also, um mit dem Höhlengleichnis zu sprechen, aus dem Bereich des Lichts wieder in die Höhle zurückgekehrt ist, ist auch fähig, die Idee in ihren Abbil­ dern bzw. diese überhaupt als Abbilder zu sehen, überdies die Bilder hinsichtlich ihres Wahrheitsgehalts zu beurteilen.61 Für alle Bereiche der Linie trifft folglich zu, dass derjenige, der die Sache selbst in irgendeiner Form weiß, auf der Ebene ihrer Abbilder in ganz anderer Weise meint, erkennt oder urteilt als derjenige, der kein Wissen von der Sache selbst hat. Damit kommt im Hinblick auf die Gegenstände und ihre Teilhabe an der Wahrheit der Wissensstandpunkt bzw. die Erkenntnisperspektive des Betrachters hinzu:62 Ein- und derselbe Gegenstand, etwa ein physisch wahrnehmbarer Gegenstand, kann als die Sache oder Wahrheit an sich oder lediglich als Abbild gesehen werden. Sobald allerdings ein Betrachter das Abbild als ein solches versteht, bewegt er sich nicht nur in epistemischer Hinsicht auf der übergeordneten Ebene, sondern er weiß auch um den dazugehörigen Seinsbereich, auf den er das Abbild bezieht. Insofern bleibt aber die Entsprechung von Gegenstandsbereich und Erkenntnisform letztlich bestehen. Hinzu kommt, dass für Platon die sensible und intelligible Sphäre auch in ontologischer Hinsicht in eindeutiger Weise zu unter­ scheiden sind. Der phänomenale oder sichtbare Bereich des Werdens kennzeichnet die Dinge, die zugleich seiend und nichtseiend sind (vgl. R. V 478d). Die Dinge des Werdens sind nicht an und für Vgl. zu dieser Diskussion von εἰκασία und πίστις Wieland 1999, S. 204–206. Vgl. dazu auch Sokrates’ Beschreibung seiner Hebammenkunst (Tht. 150b–e). 62 Darauf liegt der Fokus bei Wieland (1999, S. 204–207). Gegenstandsbereich und die Formen des Wissens seien deshalb nicht eineindeutig zuordenbar (vgl. ebd, S. 203). 60

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3. Bedingungen des dialektischen Erkenntnisweges

sich selbst, was aber für die Gegenstände des intelligiblen Bereichs zutrifft.63 Der sensiblen Sphäre als Erkenntnisraum entspricht als alleinige Erkenntnisform die δόξα, der intelligiblen Sphäre die γνῶσις oder ἐπιστήμη (vgl. auch R. VII 533e–534a). Die Notwendigkeit einer Differenzierung der beiden Ebenen von Urbild und Abbild, von Original und teilhabender Sache, ist für jede Stufe des Erkenntnisweges relevant. Das Wissen um die Differenz impliziert eine Progression, es treibt die Erkenntnissuche an und gibt von Anfang an, von der untersten und noch undeutlichsten Stufe ausgehend, eine Orientierung vor: Die Gerichtetheit zeigt sich als Voraussetzung von erkenntnisorientiertem Meinen und Denken. Die gezeichnete Linie verkörpert nicht nur diskrete Abschnitte, sondern zunächst eine Durchgängigkeit: In ihrer Gesamtheit charakterisiert sie den vom ersten Linienabschnitt an möglichen und kontinuier­ lichen Erkenntnisweg im Sinne des Aufstiegs. Ermöglicht werden Kontinuität und Orientierung dieses Weges – wie dies bereits oben hinsichtlich der analogen Verhältnisse kenntlich wurde – letztlich durch die Teilhabe alles Seienden an dem ersten wahren Sein, an der Idee des Guten.64 Das Modell des Liniengleichnisses impliziert, dass Erkenntnis und Wissen in aufsteigendem Sinne an Klarheit, Deutlich­ keit und Gewissheit gewinnen, wobei das Erlangen von Erkenntnis einerseits eine kontinuierliche Bewegung beschreibt, andererseits die diskreten Stufen aber auch darauf hinweisen, dass das Überschreiten einer Stufe stets einen wesentlichen Unterschied hinsichtlich des Wissensstatus und des Zustands der Seele macht und in diesem Sinne die nächsthöhere Stufe tatsächlich einen epistemischen ›Sprung‹ für die Seele bedeutet. Darüber hinaus ist die Kontinuität der Linie noch in einer ande­ ren Hinsicht von Bedeutung: Das Liniengleichnis führt die platoni­ sche Trennung zwischen sensibler und intelligibler Sphäre, zwischen Werden und Sein, illustrativ vor. Zugleich aber verbindet die Linie die beiden Bereiche und lässt sie dadurch nicht im Lichte eines bloß konträren Verhältnisses erscheinen; vielmehr wird durch die Linie Vgl. auch Ambuel 2010, S. 24. Vgl. Eusterschulte 1997, S. 127: »Durch die allem Seienden gemeinsame Anteil­ habe an dem einen Sein, der einen Wahrheit des Guten (Linie als Ganze), erhält die ›Abstufung‹ den Charakter der Notwendigkeit und Ganzheitlichkeit, die nicht nur als Bedingung eines möglichen ›Aufstiegs‹ verstanden werden kann, sondern zudem die Gerichtetheit menschlichen Strebens versinnbildlichen mag.« 63

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3.3 Die Rolle des Bildlichen für das dianoetische Denken

auch deren Ordnung und Vermittelbarkeit erkennbar.65 Damit aber stellt sich am Ende dieses Kapitels die Frage, wie die Kluft zwischen sinnlicher und intelligibler Sphäre im Rahmen des Erkenntnisweges zu überbrücken ist und welche Hinweise das Liniengleichnis diesbe­ züglich gibt. Die proportionale Struktur des Gleichnisses ließ das ver­ mittelnde Moment in gewisser Weise bereits erkennen; konkret wurde die Frage aber bisher noch nicht aufgegriffen.

3.3 Die Rolle des Bildlichen für das dianoetische Denken und das vermittelnde Moment der Mathematik (Politeia VI und VII) Platon verwendet innerhalb des Liniengleichnisses das visuelle Bild als Metapher für die Urbild-Abbild-Relation; dies wurde zuletzt gezeigt. Das Bildliche spielt aber noch in einer anderen, nicht-meta­ phorischen Hinsicht eine bedeutende Rolle, nämlich auf der Stufe der διάνοια bzw. der wissenschaftlichen Gegenstände und Begriffe. Diesem dritten Abschnitt kommt in der Darstellung des Gleichnisses ein besonderer Stellenwert zu. Die Bedeutung des Bildlichen für die dianoetische Ebene wird nachfolgend als dritter Aspekt eines ›prozessualen Wissens‹ behandelt. Sokrates beginnt seine Darlegungen in Bezug auf diese Stufe (vgl. R. VI 510b–511a) mit der Feststellung, dass die Seele hier »das vormals Nachgeahmte als Bilder gebraucht« (τοῖς τότε μιμηθεῖσιν ὡς εἰκόσιν χρωμένη, 510b4). Gemeint sind damit die physischen Gegen­ stände, die im sichtbaren Bereich als Urbilder fungierten. Dieser bediene sich nun das dianoetische Denken als Abbilder: Der Geome­ ter etwa verwende gezeichnete oder andere sichtbare geometrische Figuren als Abbilder im Hinblick auf dasjenige, hinsichtlich dessen

65 Vgl. Krämer 2013, S. 184: »Denn die Entgegensetzung von Sinnlichem und Unsinnlichem wird durch die Konstruktionsweise und visuelle Aussagekraft des Lini­ engleichnisses nicht nur eingeführt, sondern zugleich auch relativiert.« Die graphische Form der Linie, so Krämer, »homogenisiert die Heterogenität beider Sphären« (ebd., S. 185). Eusterschulte (1997, S. 126) betont, dass Platon zwar einerseits Werden und Sein polarisiere, andererseits aber »beide Bereiche in eine hierarchische Seins- und Erkenntnisordnung« einbinde.

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3. Bedingungen des dialektischen Erkenntnisweges

er seine Sätze und Beweise formuliere.66 In seinen Reden beziehe er sich zwar auf die sichtbaren Gestalten; in Wirklichkeit handelten seine Logoi aber von dem, dem die Figuren gleichen, beispielsweise dem Viereck selbst und seiner Diagonalen; um derentwillen führe er mithilfe der Abbilder seine Beweise (vgl. 510d5–8): »Denn ich denke, du weißt, daß die, welche sich mit der Meßkunst und den Rechnungen und dergleichen abgeben, das Gerade und Ungerade und die Gestalten und die drei Arten von Winkel und was dem sonst verwandt ist, in jeder Verfahrensart voraussetzend, nachdem sie dies als wissend zugrunde gelegt haben, keine Rechenschaft weiter darüber weder sich noch anderen glauben geben zu müssen, als sei dies schon allen deutlich«.67 Geometrie und Rechenkunst68 bedienen sich einerseits sichtba­ rer Abbilder, zugleich setzen die Mathematiker andererseits denkbare geometrische und arithmetische Gestalten in Form von Hypothesen (ὑποθέσεις) als ein Wissen voraus, von dem sie glauben, es nicht rechtfertigen zu müssen; es wird als ein bekanntes Wissen angenom­ men. Die Seele verfahre in diesem Rahmen nicht in der Weise, so betont Sokrates an zwei Stellen, dass sie zum Anfang zurückgehe (οὐκ ἐπ᾿ ἀρχὴν ἰοῦσαν, 511a5; auch 510b5–6); dies geschehe allein im noetischen Bereich. Die Hypothesen der Mathematiker sind aller­ dings keine Sätze, sondern diejenigen Denkgegenstände, die Sokrates exemplarisch benennt, das Gerade und Ungerade, die drei Arten von Winkel oder das Viereck und seine Diagonale. Sie werden als solche Vgl. dazu Wieland 1999, S. 208–211, bes. 209; auch Krämer 2013, S. 184: »Wis­ senschaftler sind also einerseits angewiesen darauf, ihre unsinnlichen Objekte in Form von Bildern und Zeichnungen vor Augen zu führen, obwohl andererseits ihre Erkennt­ nisse […] für die unsinnlichen, theoretischen Gegenstände gelten.« 67 οἶμαι γάρ σε εἰδέναι ὅτι οἱ περὶ τὰς γεωμετρίας τε καὶ λογισμοὺς καὶ τὰ τοιαῦτα πραγματευόμενοι, ὑποθέμενοι τό τε περιττὸν καὶ τὸ ἄρτιον καὶ τὰ σχήματα καὶ γωνιῶν τριττὰ εἴδη καὶ ἄλλα τούτων ἀδελφὰ καθ᾽ ἑκάστην μέθοδον, ταῦτα μὲν ὡς εἰδότες, ποιησάμενοι ὑποθέσεις αὐτά, οὐδένα λόγον οὔτε αὑτοῖς οὔτε ἄλλοις ἔτι ἀξιοῦσι περὶ αὐτῶν διδόναι ὡς παντὶ φανερῶν (R. VI 510c2-d1). Übers. Schleiermacher (EiglerAusg., Bd. 4). 68 Der dritte Linienabschnitt führte immer wieder zu der Frage, ob Platon in der Mathematik einen eigenen Wissens- und Gegenstandsbereich sieht oder ob die Mathematik exemplarischen Charakter hat. Innerhalb des Liniengleichnisses spricht für die letzte Position die Tatsache, dass Sokrates das Feld der Dianoia zunächst in allgemeiner Form und erst zu dessen Erläuterung die Mess- und Rechenkunst einführt (vgl. R. VI 510b–c). Wieland (1999, S. 210–212) erkennt deshalb in Geometrie und Rechenkunst eher Beispiele für den Bereich bzw. die Einstellung der Dianoia. Vgl. dazu aber unten Anm. 91. 66

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3.3 Die Rolle des Bildlichen für das dianoetische Denken

Prämissen gesetzt, die allen offenkundig und deshalb keiner Recht­ fertigung zu bedürfen scheinen: Die Mathematiker behandeln ihre Hypothesen so, als seien es Prinzipien.69 Die im Text zum Ausdruck kommende Kritik an der Mathematik lässt offenbar werden, dass aus Platons Sicht innerhalb der mathematischen Praxis und Theoriebil­ dung, also im Rahmen der Beweisführungen und Satzbildungen, der Status ihrer Denkgegenstände ungeklärt ist.70 Die mathematischen Disziplinen legen die intelligiblen geometrischen und arithmetischen Gestalten ihren Berechnungen zugrunde, aber sie fragen nicht danach, was diese ihrem Wesen nach sind. Die Mathematiker reflektieren ihre Hypothesen nicht als Hypo­ thesen. Dieser Sachverhalt ist einerseits kritikwürdig; andererseits erweist er sich jedoch als Notwendigkeit der wissenschaftlichen Tätig­ keit: Der Mathematiker muss die Hypothesen als Prinzipien denken und zugrunde legen, um seine Disziplin überhaupt betreiben, seine Beweise führen und mathematische Begriffe bilden zu können.71 Die wissenschaftlichen Künste (vgl. VI 511c) gehen in gewisser Weise blind von ihren Hypothesen aus. An späterer Stelle, wenn Sokrates die dialektische Methode darstellt, bezeichnet er die Mathematiker im Vergleich zu den Dialektikern als solche, die über das Seiende nur träumten (vgl. VII 533b–c). Hierbei verweist die Traummetapher wiederum auf die Proportionalität bzw. die analogen Verhältnisse des Liniengleichnisses, die Sokrates in diesem späteren Passus erneut auf­ nimmt und mit etwas verändertem Akzent unterstreicht: Wie sich der intelligible zum sensiblen Bereich und die Erkenntnis zur Meinung verhalte, so das Wissen (ἐπιστήμη) – dieses ist hier der obersten Erkenntnisstufe zugeordnet – zum Glauben und der Verstand zur Ver­ mutung.72 Verglichen werden hier also nicht die Verhältnisrelationen, Vgl. Wieland 1999, S. 213 f.; Mittelstraß 2005, S. 238 ff. Vgl. Mittelstraß 2005, S. 240 f.; auch ebd., S. 239: »Der Logos, der hier angemahnt wird, ist die Erklärung des Wesens von (geometrischen) Gegenständen (VII 534b3– 4), nicht die Begründung von (geometrischen) Sätzen.« – Den Logos hinsichtlich Sein und Wesen einer jeden Sache, so erläutert Sokrates später, erfasse nur der Dialektiker: Ἦ καὶ διαλεκτικὸν καλεῖς τὸν λόγον ἑκάστου λαμβάνοντα τῆς οὐσίας; (R. VII 534b3–4). 71 Wieland (1999, S. 214) spricht in diesem Zusammenhang von einer »konstitu­ tive[n] Selbsttäuschung«. 72 ἐπιστήμην πρὸς πίστιν καὶ διάνοιαν πρὸς εἰκασίαν (R. VII 534a4–5; vgl. insges. 533e–534a). Dazu auch 533c–d: Man habe die mathematischen Künste zwar vormals Wissenschaften (ἐπιστήμας) genannt, dies sei aber in Anbetracht der dialektischen Wissenschaft unzutreffend. Vielmehr bediene diese sich ihrer als »Mitdienerinnen und Mitleiterinnen« (συνερίθοις καὶ συμπεριαγωγοῖς, 533d3). 69

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sondern einzelne Erkenntnisstufen: Das unhinterfragte Vorgehen der Mathematiker im Blick auf ihre Hypothesen, der Umgang mit ihren intelligiblen Vor- oder Urbildern, wird hier in einer Analogie von drittem und erstem Linienabschnitt, von dianoetischer und unterster Stufe der Vermutung gespiegelt. Auf der anderen Seite nimmt die Analogie zur untersten Stufe den mathematischen Wissenschaften nicht ihren Rang innerhalb des Gleichnisses. Ihre Vertreter formulieren in der Regel wahre Sätze, sonst würden ihre Logoi nicht dem intelligiblen Bereich angehören. Auch wenn die Mathematik ihre Hypothesen als solche nicht reflek­ tiert, sind die Hypothesen selbst, also etwa die Annahme des Geraden und Ungeraden, der drei Winkel oder des Kreises, dennoch nicht falsch, sondern verweisen ihrerseits auf die Gestalt an sich und damit letztlich auf die Ideen: Die Mathematiker beziehen sich auf ideale Gestalten.73 In einem späteren Rekurs auf das Höhlengleichnis wird deutlich, dass sich die Mathematiker außerhalb der Höhle befinden (vgl. VII 532b–d): Sie blicken »auf die göttlichen Abbilder im Wasser und die Schatten des Seienden selbst«.74 Mit dem dritten Linienab­ schnitt bzw. dem dianoetischen Denken wird im Liniengleichnis die Orientierung an und die Nähe zu den Ideen sichtbar. Darin hebt sich aber der dritte wesentlich vom zweiten Linienabschnitt ab und entlang dieser Grenze, nämlich ob in einer Betrachtung und deren Vorausset­ zung der Hinblick zur Idee kenntlich wird oder nicht, scheidet sich für Platon das Wissen vom bloßen Meinen. Auf der dem zweiten Abschnitt zugeordneten Erkenntnis- bzw. Meinungsstufe der πίστις differenziert ein Betrachtender zwar richtig zwischen Ur- und Abbild innerhalb des sensiblen Bereichs, aber er verbleibt wie die von Sokrates im Phaidon dargestellten naturkund­ lichen Ursachenforscher in der Empirie des Materiellen. Auf seiner Ebene ist der Weg hin zur Idee nur insofern vorgezeichnet, als er überhaupt begreift, dass es ein Urbild-Abbild-Verhältnis gibt und folglich auch erkennt, dass Gegenstände und Sachverhalte stets mehr sind als ihre Erscheinungsweisen und Aspekte. Für das eigentliche Urbild seiner Betrachtungen hat der Untersuchende dieser Stufe jedoch keinen Blick und auch keine Hypothesen. Er bewegt sich allein Mittelstraß (2005, S. 241) betont, dass Platon damit überhaupt auf »die Idealität theoretischer Gegenstände« aufmerksam macht (Hervorh. im Orig.). 74 πρὸς δὲ τὰ ἐν ὕδασι φαντάσματα θεία καὶ σκιὰς τῶν ὄντων (R. VII 532c1–2). Die Termini φαντάσματα und σκιάς lassen wieder die Analogie zum ersten Linienab­ schnitt erkennen. 73

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3.3 Die Rolle des Bildlichen für das dianoetische Denken

in der Erkenntnisform des Meinens; auf dieser Ebene überschreitet er die Grenze hin zum Intelligiblen nicht. Nach Darstellung des Liniengleichnisses hängt nun aber die Tatsache, dass die Mathematiker trotz mangelnder Reflexion von rich­ tigen Annahmen oder Hypothesen ausgehen, damit zusammen, dass sie sich in ihren Betrachtungen, wie dies oben schon kenntlich wurde, auf sichtbare Gestalten, auf figurativ fassbare Bilder beziehen (vgl. VI 510d–e). Auf der Stufe des dianoetisch Erkenn- und Denkbaren, so sagt Sokrates, »ist die Seele bei dessen Untersuchung gezwungen, Voraussetzungen zu verwenden […], indem sie sich Bilder von den­ jenigen Dingen zunutze macht, die von den unteren Dingen nachge­ bildet werden«.75 Obwohl sich keine ideelle Gestalt, also etwa der ideelle Kreis oder das ideelle Viereck, an ihren sinnlich dargestellten Figuren bestätigen oder beweisen muss – die Abhängigkeit zeigt in die andere Richtung –, sind für die Denkbarkeit der ideellen oder intelligiblen mathematischen Hypothesen die sichtbaren Bilder offen­ sichtlich unentbehrlich. Folgt man dem Liniengleichnis, dann bedarf die dianoetische Ebene des sichtbaren Bildes als Unterstützung, um etwa den Kreis oder das Viereck geistig vorzustellen oder zu denken. Der Mathematiker verwendet die sinnlichen Figuren also nicht nur zum Zweck einer visualisierenden Demonstration seiner Hypothe­ sen. Vielmehr benötigt er auch umgekehrt die sinnlichen Bilder für diese Hypothesen und die darauf fußenden Sätze und Beweise. Damit bildet der Bereich des dianoetischen Denkens eine Sphäre des Übergangs, eine direkte Beziehungsebene zwischen Sensiblem und Intelligiblem. In dieser Vermittlungsfunktion liegt die besondere Bedeutung des dritten Linienabschnitts: Die διάνοια greift sinnliche Gegenstände des zweiten Abschnitts als plastische Bilder auf, die sie zugleich notwendig für ihre denkbaren Voraussetzungen braucht.76 Für diese Art der Verknüpfung von Sensiblem und Intelligiblem im Bereich des dianoetischen Denkens spielt die Geometrie eine 75 ὑποθέσεσι δ᾿ ἀναγκαζομένη ψυχὴν χρῆσθαι περὶ τὴν ζήτησιν αὐτοῦ […] εἰκόσι δὲ χρωμένη αὐτοῖς τοῖς ὑπὸ τῶν κάτω ἀπεικαθεῖσιν (R. VI 511a3–7). Die ›unteren Dinge‹ sind die natürlichen Spiegelungen und Schatten. Auch zeigt sich hier, dass Platon den ὑπόθεσις-Begriff unterschiedlich verwendet. 76 Vgl. Krämer 2013, 183 f.; Wieland 1999, S. 208 ff. Beide Autoren erkennen in dem Vermittlungscharakter der dianoetischen Stufe den Grund für die gleiche Längenaus­ dehnung des zweiten und dritten Linienabschnitts. So betont Wieland, dass die beiden Abschnitte in Gestalt der soliden Dinge die gleichen Gegenstände intendierten, einmal als Gegenstände der Meinung, einmal als Abbilder des Denkens. Vgl. auch Euster­ schulte 1997, S. 125 f.

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3. Bedingungen des dialektischen Erkenntnisweges

paradigmatische Rolle: Die ideale Gestalt einer Sache ist in keinem Wissensbereich so gut vorstell- und denkbar wie in der Geometrie. In jedem sinnlichen Kreis oder Viereck sieht man in einer Art innerem Bild zugleich deren ideale Formen. Dies ist nicht zuletzt der Exaktheit der geometrischen Formen geschuldet: Sie sind präzise und eindeutig definierbar, was ihre geistige Vorstellbarkeit erleichtert. Zugleich aber sind diese Formen in ihrer Gestalthaftigkeit auch für das Denken stets mehr als ihre propositionalen Definitionen: Als Formen oder als ideale Gestalten gehen sie nicht im Logos auf. Dies gilt auf etwas andere Weise auch für die Arithmetik: Eine Zahl beispielsweise als gerade Zahl zu erkennen, setzt nicht nur die Kenntnis über die Existenz gerader Zahlen voraus, sondern zugleich stützen auch konkrete oder empirische Rechenexempel die wahrnehmungsunab­ hängige Vorstellung oder die Denkbarkeit des Geraden. Gleiches gilt für die jeder arithmetischen Rechnung vorausgesetzten Begriffe der Einheit und Vielheit. Die intelligiblen mathematischen Formen bilden die Hypothesen der Mathematiker: Diese gehen davon aus, dass es die intelligiblen mathematischen Gestalten gibt; darauf bauen sie ihre Definitionen, Sätze und Gesetzlichkeiten auf. Zugleich aber bilden die sinnlichen Abbilder der intelligiblen Formen eine Art konstitutives Moment ihrer dianoetischen Denkbarkeit. Die Verklammerung von Sensiblem und Intelligiblem tritt auf der dianoetischen Ebene des Liniengleichnisses unmissverständlich hervor. Auf welche Weise die Seele diese Vermittlung vollzieht, wird von Sokrates allerdings nicht expliziert. Besonders die Beispiele aus dem Feld der Geometrie lassen aber – gewissermaßen extrapolierend – die Folgerung zu, dass ein seelisch vermittelndes Moment, welches sich einerseits der sinnlichen Abbilder bedient, andererseits von der intelligiblen Form her bzw. im Hinblick auf diese seine Gestalt gewinnt, im Sinne einer ›mentalen Vorstellung‹ oder eines ›vorge­ stellten Bildes‹ in diesem Zusammenhang mitgedacht werden kann. Nicht nur in Verbindung mit der Mathematik, sondern besonders auch im Rahmen der vielen bildlich-mythologischen Darstellungen spielt der platonische Text in gewisser Weise auf ein imaginatives Ver­ mögen, eine Vorstellungskraft des Menschen an. Erst Aristoteles wird aber mit dem Begriff der φαντασία das menschliche Vorstellungsver­ mögen thematisch machen: Die φαντασία und die Vorstellungsbilder lassen bei Aristoteles das zwischen Sinnlichem und Intelligiblem vermittelnde Moment im Kontext der seelischen Vermögen hervor­

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3.3 Die Rolle des Bildlichen für das dianoetische Denken

treten.77 Allerdings zeigt sich ein wesentlicher Unterschied zwischen dem hier betrachteten platonischen und dem aristotelischen Ansatz: Während für Aristoteles das Vorstellungsbild maßgeblich auf der Wahrnehmung basiert,78 behalten für Platon die intelligiblen Formen in dem intermediären Bereich zwischen Sensiblem und Intelligiblem, wie er in Bezug auf die dianoetische Ebene im Liniengleichnis gezeich­ net wird, die Priorität. Auch wenn sich das Denken der sinnlichen Bilder bedient, bleiben die intelligiblen Formen die unhinterfrag­ ten Vorbilder. In diesem Zusammenhang ist auch darauf zu schauen, dass das Gleichnis selbst ein Bild, eine bestimmte Form eines sprachlichen und zugleich diagrammatischen Bildes darstellt. Auf inhaltlicher Ebene, so zeigte es das letzte Kapitel, sollen die Korrespondenz von Ontologie und Epistemologie, die Proportionalität der Linienabschnitte und die Metaphorik des visuellen Bildes die Beziehung zwischen sinnlicher und intelligibler Sphäre bzw. die für die Frage der Ideen wesentli­ che Urbild-Abbild-Relation und die damit verbundene epistemische Progression hinsichtlich Wahrheit und Klarheit begreifbar machen. Die sprachlich visualisierte Linie, die zugleich durch Kontinuität und diskrete Abschnitte charakterisiert ist, erzeugt durch ihre Topologie eine visuelle und epistemische Evidenz: Das Liniengleichnis demons­ triert kein statisches Gebilde, sondern führt durch seine räumliche Konstellation die Bewegung von Denken und Erkenntnis, ebenso die dazugehörige Orientierung vor Augen.79 Das theoretische Denk­ modell der ontologischen und epistemologischen proportionalen Ver­ hältnisse, welche durch ihre Analogie den Erkenntnisweg aufzeigen Vgl. Aristoteles: de An. III 3, 427b–429a. Aristoteles kennzeichnet seinen Begriff der φαντασία als eine Bewegung, die sich zwar deutlich von der Wahrnehmung selbst unterscheidet, die aber aus der ἐνέργεια der Wahrnehmung heraus entsteht (vgl. de An. III 3, 428b11–16). Die φαντασία lässt danach in uns Bilder (φαντάσματα) erscheinen (vgl. 428a1–16), die, unabhängig von einem aktuellen Wahrnehmungsvorgang selbst, dennoch an die Wahrnehmung gebunden bleiben (vgl. 428b25–429a4). Zugleich ist bei Aristoteles nicht nur die dia­ noetische, sondern auch die noetische Seele auf die Vorstellungsbilder angewiesen (vgl. de An. III 7 u. 8). – Dass in platonischem Kontext die Termini φαντασία und φαντάσματα (noch) andere Konnotationen haben, wurde bereits deutlich (vgl. auch oben Anm. 52). Nicht dem Wort, aber der Sache nach wird auf der anderen Seite die Textpassage Philebos 39b–e in der Literatur teilweise als Vorläufer der aristotelischen φαντασία betrachtet. Vgl. dazu Stefan Büttner: Die Literaturtheorie bei Platon und ihre anthropologische Begründung, Tübingen 2000, S. 88–92. 79 Vgl. dazu Krämer 2013, S. 185. 77

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3. Bedingungen des dialektischen Erkenntnisweges

und auf die Ideen und letztlich die Idee des Guten hinführen sollen, bedarf in seiner Vorstell- und Denkbarkeit der Konstruktion oder Konfiguration, die aber wiederum mit einer Visualisierung, einer sinnlich gegenständlichen oder einer vorgestellten, notwendig ein­ hergehen. Damit unterstreicht die Darstellungsform des Gleichnisses als gleichsam mathematische Konstruktion und als diagrammatisches Bild die besondere Stellung der Mathematik bzw. der dianoetischen Stufe innerhalb des Gleichnisses.80 Gerade in diesem Kontext wird aber deutlich, dass das Liniengleichnis ebenso wie die anderen Gleich­ nisse nicht darin aufgehen, bloßes Instrument der Anschauung zu sein. Die bildhafte Darstellung ist vielmehr als Erkenntnismittel aufzufassen, insofern sie für das Verstehen der Sache, um die es geht, erkenntnisstiftend ist. Ähnliches gilt, so die Annahme, vielfach auch für Platons mythologische Bilder und Narrative, insbesondere wenn sie auf vielschichtigen Denkansätzen beruhen. Die späteren Betrachtungen zum Seelenmythos im Phaidros werden an diesen Gesichtspunkt anknüpfen.81 Das Vermittlungsmoment der Mathematik tritt in der Politeia noch in einer weiteren Dimension hervor, nämlich im Rahmen des mathematischen Bildungsprogramms, das an das Höhlengleichnis und seine Deutung unmittelbar anschließt und mit dessen pädago­ gischer und ethischer Orientierung in enger Verbindung steht.82 Innerhalb des Curriculums übernehmen die vier mathematischen Disziplinen Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Harmonik im Hinblick auf die Dialektik eine propädeutische Rolle; sie bilden den ersten Teil des eigentlichen philosophischen Bildungsweges (vgl. R. VII 521c–531c).83 Der Mathematik in Form ihrer vier Ausprägungen wird nun die Kraft (δύναμις) zugeschrieben, die Seele vom Werden zum Sein zu ziehen (ὁλκὸν ἀπὸ τοῦ γιγνομένου ἐπὶ τὸ ὄν, 521d3–4): Nicht wie bei der Scherbe im Spiel, die zufällig auf die dunkle oder helle Seite fällt, verhalte es sich, sondern es sei »eine Umwendung Vgl. auch Wieland 1999, S. 201 f. Vgl. dazu unten Kap. 5.3.2. 82 Vgl. auch Mittelstraß 2005, S. 229 f. 83 Platons mathematisches Bildungsprogramm soll hier nur im Hinblick auf die Frage der Vermittlung beleuchtet, die vier Disziplinen – die später bekanntlich als Quadri­ vium gelehrt wurden – nicht im Einzelnen behandelt werden. Zur Diskussion der mathematischen Wissenschaften vgl. Mittelstraß 2005, S. 230–243; auch Dorothea Frede: Platons mathematisches Curriculum, in: Christof Rapp, Tim Wagner (Hg.): Wissen und Bildung in der antiken Philosophie, Stuttgart 2006, S. 127–146. 80 81

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3.3 Die Rolle des Bildlichen für das dianoetische Denken

der Seele von einem gleichsam nächtlichen zum wahren Tag, der Aufstieg zum wirklichen Sein«;84 dieser sei aber als wahre Philosophie zu bezeichnen (vgl. 521c). In seiner Einführung der Arithmetik (vgl. VII 522b ff.) führt Sokrates seinen Gesprächspartner Glaukon zunächst auf eine Beson­ derheit der Wahrnehmungstätigkeit hin (vgl. 523a–524d): Während dasjenige, was uns in der Wahrnehmung als eindeutig erscheine, kaum zweifelndes Nachdenken hervorrufe, führe alles, »was in die Wahrnehmung zur gleichen Zeit mit seinem Gegenteil fällt«,85 wie es etwa bei relativen Eigenschaften der Fall sei, notwendig dazu, die Ver­ nunft herbei und zu Hilfe zu rufen.86 Anhand des Fingerbeispiels, dass uns also der Ringfinger im Verhältnis zu seinen Nachbarfingern sowohl groß als auch klein erscheine, demonstriert Sokrates diesen Sachverhalt: Die sinnliche Wahrnehmung würde das Gegenteilige als Vermischtes aufnehmen, was die Seele verwirre; Denken und Ver­ nunft würden deshalb notwendig angeregt und herausgefordert, könnten sie doch die relativen Qualitäten trennen und in Bezug auf den Gegenstand als solche erkennen. Ähnlich verhalte es sich aber auch mit Zahl und Einheit (ἀριθμός τε καὶ τὸ ἕν, 524d7) (vgl. 524d– 525d): Die jedem Sinnesding zukommende Eigenschaft, sich zugleich als Eines und Vieles zu zeigen, müsse die Vernunft provozieren; das Nachdenken gerate in Bewegung darüber, »was die Einheit selbst ist« (τί ποτέ ἐστιν αὐτὸ τὸ ἕν, 524e6), sodass die Rechenkunst zur Wahrheit hinleite (ἀγωγὰ πρὸς ἀλήθειαν, 525b1), allerdings nur dann, wenn sie nicht im Sinne der gewöhnlichen Künste gebraucht werde. Der Philosophierende müsse über diese Ebene der Rechenkunst hin­ ausgehen, sein Bestreben müsse es sein, »zur Anschauung der Natur der Zahlen« (ἐπὶ θέαν τῆς τῶν ἀριθμῶν φύσεως, 525c2) zu gelangen. Die so verstandene Arithmetik soll der Seele die Umkehr vom Werden zum Sein erleichtern87 – so sieht es das Curriculum für den Philoso­ phen vor. Gleiches wie für die Arithmetik gelte auch für die Geometrie 84 ψυχῆς περιαγωγὴ ἐκ νυκτερινῆς τινος ἡμέρας εἰς ἀληθινήν, τοῦ ὄντος οὖσαν ἐπάνοδον (R. VII 521c6–7). 85 ἃ μὲν εἰς τὴν αἴσθησιν ἅμα τοῖς ἐναντίοις ἑαυτοῖς ἐμπίπτει (R. VII 524d3–4). Vgl. zu der Thematik auch Borsche 1996, S. 108. 86 Der Ausdruck ›die Vernunft herbeirufen‹ oder ›auffordern‹ (τὴν νόησιν παρακαλεῖν) wird in dieser Passage häufig wiederholt. Hier bezieht sich der Begriff νόησις nicht auf die höchste Ebene bzw. Einsicht. 87 αὐτῆς τῆς ψυχῆς ῥᾳστώνης μεταστροφῆς ἀπὸ γενέσεως ἐπ᾿ ἀλήθειάν τε καὶ οὐσίαν (R. VII 525c5–6). Die seelische Umwendung wird eindringlich wiederholt und bekräftigt: Der philosophisch Lernende müsse sich mit Hilfe der Arithmetik aus dem Werden

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(vgl. 526c–527c). Beide würden die Seele zur Umwendung gleichsam zwingen, dadurch aber bewirken, »die Idee des Guten leichter zu sehen« (κατιδεῖν ῥᾷον τὴν τοῦ ἀγαθοῦ ἰδέαν, 526e1). Auffällig ist in Sokrates’ Darstellung der mathematischen Dis­ ziplinen, dass er zeitgenössische Theorien und Probleme nicht anspricht.88 Der Fokus seiner Ausführungen liegt ganz auf der durch die Mathematik möglich werdenden und durch sie ›erleichterten‹ Periagoge der Seele. Auf andere Weise als im Liniengleichnis und nun besonders im Blick auf die Arithmetik wird auch hier deutlich, dass die Seele die Umwendung nicht übergangslos oder unvermittelt, sondern durch eine Verknüpfung von Sensiblem und Intelligiblem vollzieht, wobei der Akzent in diesem Zusammenhang auf der Anregung des Denkens durch die Wahrnehmung liegt. Zum Tragen kommt hierbei das im Rahmen der Methexis kenntlich gewordene ›Mehr‹ jedes Besonderen, jedes sinnfälligen Dinges: Gerade seine Teilhabe an Verschiedenem, vor allem an gegenteiligem Verschiedenem, welche Sokrates zufolge die Wahrnehmungserkenntnis gleichsam kapitulie­ ren lässt, ermuntere das Denken, fordere die Vernunft zur Betrachtung auf. Auch Eines und Vieles erscheinen in Bezug auf dieselbe Sache als Gegensatz: Die eingehende Beschäftigung mit der Rechenkunst nötige die Seele, auch wenn man ihr Zahlen in Gestalt von sichtbaren und greifbaren Körpern vorhalte, über die Zahlen selbst nachzuden­ ken und zu sprechen (vgl. VII 525d). Jedes Rechnen verlange nach der Kenntnis von Zahl und Einheit, die es voraussetze. Gemäß den sokratischen Ausführungen geben im Zuge des Wahrnehmungsprozesses die wahrgenommenen Dinge gleichsam selbst einen entscheidenden Impuls, diese Ebene zu transzendieren. Das in der Sinnes- und Wahrnehmungswelt Uneindeutige regt danach den Denkprozess an: Das dianoetische Denken ordnet und differenziert und macht spezifische Eigenschaften eines Gegenstandes vor dem Hintergrund der Ideen erst verstehbar. Wie schon im Lini­ engleichnis wird das eigentliche vermittelnde Moment im Text nicht thematisiert; offensichtlich müssen aber Wahrnehmungs- und Denk­ tätigkeit im Moment ihres Übergangs kooperieren. Die sinnliche Welt bietet in gewisser Weise das Anschauungsmaterial für den denkenden Bereich: Erwiesen sich im Liniengleichnis die sinnlichen Abbilder für erheben und das Sein berühren (τῆς οὐσίας ἁπτέον εἶναι γενέσεως ἐξαναδύντι, R. VII 525b5–6); vgl. auch 525d. 88 Vgl. Frede 2006, S. 131 f.

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3.3 Die Rolle des Bildlichen für das dianoetische Denken

die Vorstell- und Denkbarkeit der intelligiblen mathematischen For­ men als konstitutiv, so wird hier, im Zusammenhang des Curricu­ lums, die Rolle des Sinnlichen als Aktivierungs- und Anregungsmo­ ment für das Denken beleuchtet. Voraussetzung und Grundlage bleiben freilich auch hier die Ideen (vgl. VII 526e ff.). In gewisser Hinsicht erinnert die Rolle der Wahrnehmung in der hier betrachteten Passage an die Anamnesis im Phaidon: Für die Vergegenwärtigung des vorgängigen Ideenwissens zeigte sich dort die Wahrnehmungs­ tätigkeit als unentbehrlich; zugleich war diese aber auf die Wiederer­ innerung der Ideen angewiesen. Platon weist den mathematischen Übungen in Bezug auf die seelische Vermittlung und den Übergang zwischen Sensiblem und Intelligiblem, damit auch im Hinblick auf die seelische Periagoge eine zentrale Funktion zu. Zwar stellt die Mathematik nur ein propädeuti­ sches »Vorspiel« (προοίμιον) der Dialektik dar (vgl. VII 531d–e), auch ist sie mit dieser hinsichtlich ihres Wissensstatus nicht zu vergleichen (vgl. 533b–c); darüber hinaus erscheint sie, wie oben sichtbar wurde, als Wissenschaft kritikwürdig. Andererseits spielt die Mathematik aber in ihrer vermittelnden und auf die Ideen hinleitenden Funktion innerhalb des philosophischen Bildungsprogramms eine wesentliche Rolle.89 So wird noch in Erörterung der Dialektik ihre hinführende Kraft zur Anschauung des Höchsten, die sie im besten Teil der Seele bewirke, von Sokrates gewürdigt.90 Der Philosoph, der zu den wenigen gehört, die im idealen Staat die Herrschaft übernehmen und die Polis retten sollen (vgl. V 473c–e), muss nicht nur zu den besten und trefflichsten Naturen der Polis gehören, sondern er muss auch das gesamte Curriculum von Mathematik und Dialektik durchlaufen haben (vgl. VI 502d– 505b, VII 518b–521b). Aus dieser Perspektive bildet die Mathematik einen notwendigen und unvertretbaren Teil des Erkenntnis- und Bildungswegs des Philosophen. Auf der anderen Seite zeigt sich die Mathematik aber auch als Übungsfeld: Die Seele vermag mithilfe der mathematischen Studien in ausgezeichneter Weise den Aufstieg in den Bereich des Intelligiblen zu üben und zu erlernen. Für die Die Relevanz der mathematischen Studien innerhalb des Curriculums schlägt sich nicht zuletzt in der langen Ausbildungszeit von zehn Jahren nieder (vgl. R. VII 537b– d). Dazu Frede 2006, S. 129–139. 90 τὴν δύναμιν καὶ ἐπαναγωγὴν τοῦ βελτίστου ἐν ψυχῇ πρὸς τὴν τοῦ ἀρίστου ἐν τοῖς οὖσι θέαν (R. VII 532c4–6). 89

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3. Bedingungen des dialektischen Erkenntnisweges

philosophische Dialektik selbst hat die Mathematik als Wissenschaft im engeren Sinne aber keine Bedeutung mehr. In gewisser Hinsicht stellt sie deshalb auch ein exemplarisches Feld dar.91 Betrachtet man Platons Frühwerk, spielt die Mathematik weithin keine exponierte Rolle. Auch in anderen Darstellungen des Aufstiegs wie im Symposion oder Phaidros tritt die Mathematik nicht hervor. Vor diesem Hintergrund ist aber von Interesse, welche Möglichkeiten der seelischen Vermittlung zwischen Sensiblem und Intelligiblem, die nicht auf der Mathematik beruhen, sich an anderer Stelle andeuten bzw. inwiefern weitere Optionen der seelischen Umwendung sichtbar werden. Die Fragestellung wird sowohl im Kontext der sokratischen Seelentherapie als auch im Rahmen des Seelenmythos im Phaidros ihren Niederschlag finden.

3.4 Die Flucht zu den Logoi, der dialektische Weg und die Frage nach dem Guten (Phaidon, Politeia VII) Eine Beurteilung des mathematischen bzw. dianoetischen Wissens wie auch des Status seiner Hypothesen ist erst auf der höchsten Ebene möglich, auf der Stufe der Dialektik und Vernunft, die im Liniengleichnis dem vierten Abschnitt entspricht (vgl. R. VI 511b–e). Die Dialektik stellt weder eine Fortführung oder Erweiterung der Mathematik dar noch ist sie sonst mit einer disziplinären Wissen­ schaft verbunden. Vielmehr gehört zu dieser Stufe wesentlich, dass sie gerade nicht als bestimmte Wissensform unter andere disziplinäre Wissensformen einzureihen ist, sondern ihr eine Begründungsfunk­ tion hinsichtlich aller Bereiche zukommt.92 So ist die höchste Erkennt­ nisebene zwar einerseits als eine nächsthöhere Erkenntnisstufe zu verstehen, die es auf dem philosophischen Weg zu erklimmen gilt. Andererseits unterscheidet sie sich aber prinzipiell von allen anderen Stufen: Sie führt zum voraussetzungslosen Anfang oder Prinzip. Hier Der Mathematik allerdings einen allein exemplarischen Charakter zuzuschreiben, wie Wieland (1999, S. 212) es im Blick auf das Liniengleichnis tut, bleibt schwierig (vgl. oben Anm. 68). Die Betonung liegt in der Politeia darauf, dass die mathemati­ schen Wissenschaften und ihre Möglichkeiten des Überstiegs in den Bereich des Intel­ ligiblen einen notwendigen Bestandteil des philosophischen Bildungsweges darstel­ len. 92 Vgl. auch Mittelstraß 2005, S. 245; Wieland 1999, S. 216. 91

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3.4 Die Flucht zu den Logoi, der dialektische Weg und die Frage nach dem Guten

laufen gleichsam alle Fäden des Erkenntnisweges zusammen, es ist die Ebene, die jede Form von Erkenntnis und Wissen fundiert. Das Den­ ken, so artikuliert Sokrates, bediene sich hier im Ganzen nicht mehr eines sinnlich Wahrnehmbaren, sondern der Ideen selbst (εἴδεσιν αὐτοῖς δι᾿ αὐτῶν, 511c1–2), um am Ende zu den Ideen zu gelangen. Im Gegensatz zur dianoetischen Stufe bewege sich das Denken im Sinne der Vernunft (νοήσις) ganz im Reich des Intelligiblen: »So verstehe denn auch, daß ich unter dem anderen Teil des Denkbaren dasjenige meine, was die Vernunft (Logos) unmittelbar ergreift, indem sie mittels des dialektischen Vermögens Voraussetzungen macht, nicht als Anfänge, sondern wahrhafte Voraussetzungen als Zugänge und Anläufe, damit sie, bis zum Aufhören aller Voraussetzung an den Anfang von allem gelangend, diesen ergreife und so wiederum, sich an alles haltend, was mit jenem zusammenhängt, zum Ende hinab­ steige«.93 Beschrieben wird eine epistemische Bewegung des Auf- und Abstiegs:94 Auf der Grundlage des Logos und mithilfe des dialekti­ schen Vermögens95 bilde die Vernunft Voraussetzungen, und zwar wahre Voraussetzungen, die sie nicht unhinterfragt als Anfänge setze, sondern über die sie vermöge der Dialektik Rechenschaft gebe. Auf diese Weise bilden die Voraussetzungen den ›Zugang‹ hin zum Anfang von allem. Am Ziel, beim ›Aufhören aller Voraussetzung‹, ergreife bzw. berühre (ἅπτεται, 511b4) die Vernunft das letzte oder höchste Prinzip, steige dann aber wieder hinab, stets sich an das haltend, was sie berührt habe. Auch innerhalb des im Text späteren philosophischen Curriculums wird die Dialektik als Weg bzw. als eine Art Methode kenntlich (ἡ διαλεκτικὴ μέθοδος, VII 533c7), die »alle Voraussetzungen aufhebend zum Anfang selbst führt« und auf diese Weise »das in Wirklichkeit in barbarischem Schlamm vergrabene

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Τὸ τοίνυν ἕτερον μάνθανε τμῆμα τοῦ νοητοῦ λέγοντά με τοῦτο οὗ αὐτὸς ὁ λόγος ἅπτεται τῇ τοῦ διαλέγεσθαι δυνάμει, τὰς ὑποθέσεις ποιούμενος οὐκ ἀρχὰς ἀλλὰ τῷ ὄντι ὑποθέσεις, οἷον ἐπιβάσεις τε καὶ ὁρμάς, ἵνα μέχρι τοῦ ἀνυποθέτου ἐπὶ τὴν τοῦ παντὸς ἀρχὴν ἰών, ἁψάμενος αὐτῆς, πάλιν αὖ ἐχόμενος τῶν ἐκείνης ἐχομένων, οὕτως ἐπὶ τελευτὴν καταβαίνῃ (R. VI 511b3–8). Übers. Schleiermacher (Eigler-Ausg., Bd. 4) mit geringfügiger Änderung. 94 Freilich sind die Begrifflichkeiten, die ein Auf- oder Absteigen indizieren, auch metaphorisch zu verstehen. 95 Vgl. oben Anm. 45.

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Auge der Seele sanft hervorzieht und emporführt«.96 Die Dialektik wird als die eigentliche Wissenschaft konturiert: Indem sie alles Sinnlich-Ambivalente hinter sich lasse und das ›Auge der Seele‹ sich ganz auf das Intelligible richten könne, führe die Dialektik zum wahren Wissen (ἐπιστήμη) (vgl. 533b–d).97 Allerdings bleibt die Explikation des dialektischen Weges, wie auch in der Literatur oft angemerkt, insgesamt vage; sowohl im Liniengleichnis als auch innerhalb des Bildungsprogramms wird die dialektische Methode in einer eher allgemein gehaltenen Form darge­ legt. Auf der anderen Seite zeigen sich aber gewisse Anhaltspunkte ihrer Art und Weise, vor allem im Rahmen des Bildungsprogrammes. Kenntlich werden Wendungen, welche das λόγον διδόναι umschreiben und unterstreichen:98 die Befähigung, Rede zu stehen und Argumente aufzunehmen; mit dem Wort sich wie in einem Gefecht durchzu­ schlagen; schließlich das Fragen und Antworten.99 Auch ziele der Dialektiker, gleichsam in Analogie zu demjenigen, der im sichtbaren Bereich bestrebt war, die Dinge der sensiblen Welt als solche zu begreifen, vermittels des Logos »auf das, was jedes selbst ist« (ἐπ᾿ αὐτὸ ὅ ἔστιν ἕκαστον, 532a7), und er lasse nicht eher von seinem Vorhaben ab, bis er, was das Gute ist, mit der Vernunft selbst erfasst habe.100 Das Curriculum der Mathematik und Dialektik steht in der Politeia ganz im Zeichen der Ausbildung des Philosophenherrschers im Idealstaat. Auch wird im Rahmen des dialektischen Bildungsweges die Idee des Guten als letztes und höchstes Ziel explizit genannt (vgl. VII 534b–c). Bereits im Vorfeld der Gleichnisse macht Sokrates deutlich, dass die wenigen, die dafür geeignet seien, sich auf die höchs­ ten und schwierigsten Untersuchungen einzulassen, um schließlich die obersten Hüter der Polis und des Gesetzes zu werden, einen τὰς ὑποθέσεις ἀναιροῦσα, ἐπ᾿ αὐτὴν τὴν ἀρχὴν […] καὶ τῷ ὄντι ἐν βορβόρῳ βαρβαρικῷ τινι τὸ τῆς ψυχῆς ὄμμα κατορωρυγμένον ἠρέμα ἕλκει καὶ ἀνάγει ἄνω (R. VII 533c8–d3). Vgl. dazu auch Mittelstraß 2005, S. 246. 97 Nur aus Gewohnheit habe man die mathematischen Künste zuvor Wissenschaften genannt, dabei würden die Mathematiker ihre Hypothesen »unbeweglich lassen« (ἀκινήτους ἐῶσι, 533c2), sie seien nicht imstande, von deren Wesen Rechenschaft zu geben. Die Mathematik bedürfe deshalb eines Namens, der ausdrücke, dass sie klarer sei (ἐναργεστέρου) als die Doxa, aber dunkler (ἀμυδροτέρου) als die Dialektik (R. VII 533d5–6). 98 Vgl. dazu Mittelstraß 2005, S. 244 f.; auch Frede 2006, S. 139–143. 99 δυνατοὶ οἵτινες δοῦναι τε καὶ ἀποδέξασθαι λόγον (R. VII 531e4–5); καὶ ὥσπερ ἐν μάχῃ διὰ πάντων ἐλέγχων διεξιών (534c1–2); ἐρωτᾶν τε καὶ ἀποκρίνεσθαι (534d9). 100 καὶ μὴ ἀποστῇ πρὶν ἂν αὐτὸ ὅ ἔστιν ἀγαθὸν αὐτῇ νοήσει λάβῃ (R. VII 532a7–532b1). 96

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3.4 Die Flucht zu den Logoi, der dialektische Weg und die Frage nach dem Guten

›größeren Umweg‹ in Kauf nehmen müssen (vgl. VI 503e–505b): In Rekurs auf die früheren Untersuchungen der vier Haupttugenden, der Gerechtigkeit, Besonnenheit, Tapferkeit und Weisheit, die in Diskussion des trimeren Seelenkonzepts im vierten Buch als seelische Haltungen sichtbar wurden, pointiert Sokrates das Erfordernis eines weiten und mühsamen Weges, der sich auf die Tugenden ausrichte und auf die Einsicht in die Idee des Guten ziele. Die Frage philo­ sophischer Erkenntnis wird an dieser Stelle unverkennbar mit der sich auf die Tugenden beziehenden seelischen Verfasstheit in einen Zusammenhang gestellt. In Erörterung der Seele war der weitere Weg, nämlich der gesamte philosophische Bildungsweg, schon ange­ deutet worden.101 Strebt man vor diesem Hintergrund im Hinblick auf das dialek­ tische Verfahren einen Vergleich mit früheren Dialogen an, dann ist ein solcher nicht unproblematisch, wird im frühen Werk doch weder die Idee des Guten als oberstes Prinzip ausdrücklich genannt noch befindet man sich hier im streng gestuften Curriculum, das einen Philosophiebeflissenen in Bezug auf den idealen Staat in vollendeter Form ausbilden soll. Auf der anderen Seite lassen aber nicht nur die vielfältigen Verweise auf die Rechenschaftsgabe an die frühe sokrati­ sche Elenktik denken; mehr noch erinnert die Darlegung des dialekti­ schen Vorgehens an den Phaidon:102 Das ›Setzen und Aufheben von Voraussetzungen, bis die Vernunft zum Aufhören aller Voraussetzung an den Anfang selbst gelangt‹,103 lässt sich in gewisser Weise auf die Hypothesismethode des Phaidon rückbeziehen (vgl. Phd. 99d–101e).

101 Das einsichtige Verstehen der Tugenden, dies sei schon zuvor gesagt worden (vgl. R. IV 435d), verlange »einen größeren und weiteren Gang« (μακροτέρα εἴη περίοδος, VI 504b2, vgl. auch 504c9). Zur Diskussion der trimeren Seele vgl. R. IV 435a–444a. Die Frage der Verschränkung von seelischer Verfasstheit und Erkenntnisgewinn wird unten in Kap. 4.1 diskutiert. 102 Vgl. dazu Gadamer (1978) 1999, S. 141 ff. Zwar hebe sich die Politeia vom früheren Werk ab, andererseits sei aber auch eine Verbindung zwischen den aporetischen Dia­ logen, dem Phaidon und der Politeia erkennbar: Der Phaidon bilde ein »bemerkens­ wertes Zwischenglied« (ebd., S. 141). Vgl. auch oben Anm. 35. Zugeordnet wird der Phaidon heute dem Ende des Frühwerks, teilweise auch dem frühen mittleren Werk. Vgl. dazu Michael Erler: Platon, in: Grundriss der Geschichte der Philosophie, begr. von Friedrich Ueberweg, Die Philosophie der Antike, Bd. 2/2, hg. von Hellmut Flas­ har, völlig neu bearb. Ausg., Basel 2007, S. 174. 103 Vgl. R. VI 511b bzw. oben Anm. 93, das ›Aufheben‹ der Voraussetzungen wurde in VII 533c betont, dazu oben Anm. 96.

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Die nähere Betrachtung dieser Methode wird deshalb als hilfreich für die Frage der Dialektik erachtet.104 Im Phaidon schildert Sokrates seinen Gesprächspartnern, dass er nach seinem jugendlichen Exkurs zu den naturphilosophischen Leh­ ren Zuflucht zu den Logoi genommen habe (εἰς τοὺς λόγους καταφυγόντα, Phd. 99e5). Mit dieser Wendung schließt Sokrates zunächst seine vorherigen Darlegungen ab (vgl. 95a–99c): Grund und Ursache (αἰτία) eines jeden Seienden, auch jeder Bewegung und menschlichen Motivation (vgl. 98c–99a), sind nicht in empirischphysischen Erklärungsmustern zu suchen. Zugleich eröffnet die Wen­ dung die folgende Ausführung über den Weg (vgl. 99d ff.), der dazu führen soll, »das wahre Wesen des Seienden« (τῶν ὄντων τὴν ἀλήθειαν, 99e6) zu untersuchen. Sokrates erläutert diesen Weg als »zweite Fahrt« (δεύτερον πλοῦν, 99d1), also mit einem der Schifffahrt entliehenen Ausdruck: Wenn der Wind zum Segeln fehlt, muss im Sinne der ›zweiten Fahrt‹ gerudert werden.105 Die ›erste Fahrt‹, das unmittelbare Erfassen des Wahren, so betont Sokrates, sei ihm nicht möglich gewesen, bestehe hier doch die Gefahr der Blendung – ähn­ lich wie man das Risiko einer Erblindung eingehe, wenn man bei einer Sonnenfinsternis nicht die Spiegelung der Sonne im Wasser, sondern diese selbst beschaue (vgl. 99d–e).106 Für den Menschen ist demnach nur die zweite Fahrt, ›das Rudern‹, gangbar, will er die Ursachen erforschen: Das ist aber der Weg über die Logoi. Dieser Weg, so erklärt Sokrates zunächst in aller Kürze seine Methode, bestehe darin, dass er jedes Mal den Logos voraussetze, den er für den stärksten halte, und dasjenige, was ihm mit diesem übereinzustimmen scheine,

Es wird also davon ausgegangen, dass Sokrates’ methodische Ausführungen im Phaidon der obersten Stufe des Liniengleichnisses näher sind als der dritten Stufe der Dianoetik und ihrem Setzen von Hypothesen. Vgl. dazu Wieland 1999, S. 217, Anm. 44; Mittelstraß 2005, S. 239; auch Erler 2007, S. 181. 105 Vgl. Zehnpfennig 1991, S. 200, Anm. 157; auch Frede 1999, S. 120. 106 Vor dem Hintergrund der naturphilosophischen Lehren, denen sich Sokrates nach Darstellung des Phaidon zuerst gewidmet hatte, wird die Erkenntnis einer ›ersten Fahrt‹ als sinnliche Unmittelbarkeit gedeutet, durch die aber die Ursachen nicht erkannt werden (vgl. in diesem Sinne Zehnpfennig 1991, S. 200, Anm. 157; Frede 1999, S. 120 f.). So spricht Sokrates davon, dass er befürchtet hatte, in der Seele geblendet zu werden, wenn er mit den Augen und Sinnen die Dinge zu erfassen suche (vgl. Phd. 99e). Andererseits kann mit der ›ersten Fahrt‹ aber auch eine geistige Unmittelbarkeit angedeutet sein. 104

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als wahr setze.107 Als Grundlage seines Vorgehens erläutert Sokrates seinen Gesprächspartnern »die Gestalt der Ursache« (τῆς αἰτίας τὸ εἶδος 100b3–4), die er meine, nämlich die Voraussetzung der Ideen, dass es also das Schöne, das Gute und all das andere selbst gebe. Damit verbunden sei aber das Teilhabeverhältnis einer jeden Sache (vgl. Phd. 100b–d).108 Seine kursorische Darlegung der Ideenhypothese charakterisiert Sokrates im Phaidon als etwas Altbekanntes, sogar als »abgedro­ schene Sache« (τὰ πολυθρύλητα, 100b5).109 Seine Haltung, an der These der Methexis festzuhalten und sonst keine Gründe gelten zu lassen, bezeichnet er überdies als einfach und kunstlos, vielleicht sei es sogar einfältig, so zu sprechen (vgl. 100c–d). Sokrates konturiert die Ideenannahme und Methexis – also einen der zentralsten Topoi von Platons Philosophie – in groben Zügen und mit wenigen, ›ein­ fachen‹ Worten. Auf den ersten Blick erscheint die Ideenhypothese selbst ›einfach‹, leicht nachvollziehbar und fast trivial. Schon oben wurde thematisiert, dass auch auf der gewöhnlichen, alltäglichen Sprachebene ›die Sache an sich‹ im Sinne eines Allgemeinen stets vorausgesetzt ist. In diesem Zusammenhang sind ›Ideen‹ ein Selbst­ verständnis und die Rede über eine Ideenannahme nichts Ungewöhn­ liches. Aber auch aus philosophischer Perspektive ist das Sprechen über die Ideen gleichsam selbstverständlich, sind sie doch, hier in reflektierter Form, das notwendige Ziel der Erkenntnissuche.110 Wenn Kebes hier gewissermaßen einräumt, dass seine Verständnisschwie­ rigkeiten gelöst seien (vgl. 100a–e), dann bewegt er sich in diesen Selbstverständnissen, ohne sie freilich zu reflektieren. Die Probleme und Herausforderungen, die tatsächlich mit einer Annahme und Existenz von Ideen genauso wie mit der Frage einer ›Teilhabe an‹, ›Anwesenheit von‹ oder ›Gemeinschaft mit‹ den Ideen 107

καὶ ὑποθέμενος ἑκάστοτε λόγον ὅν ἂν κρίνω ἐρρωμενέστατον εἶναι, ἅ μὲν ἄν μοι δοκῇ τούτῳ συμφωνεῖν τίθημι ὡς ἀληθῆ ὄντα (Phd. 100a3–5). 108 Dass die Ideen als solche, etwa das Gerechte, Gleiche etc. anzuerkennen seien, wird von Sokrates auch zuvor wiederholt artikuliert (vgl. Phd. 65d, 76d, 78c–d). Vgl. dazu auch Frede 1999, S. 122, Anm. 31: »Der logos, zu dem Sokrates sich flüchtet, besteht folglich in zwei Schritten, (a) in der Ideenannahme selbst, (b) in der Erklärung, daß andere Dinge durch Teilhabe an der Idee die betreffende Eigenschaft haben«. 109 Eine verwandte Wendung hatte Sokrates schon zuvor gebraucht: In Bezug auf die Anamnesis hatte er die Ideen als einen Sachverhalt eingeführt, »den wir immer schon im Munde führen« bzw. »über den wir immer schon schwatzen« (ἃ θρυλοῦμεν ἀεί, Phd. 76d7–8). 110 Vgl. auch Zehnpfennig 1991, S. 186, Anm. 74 u. 77.

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einhergehen (vgl. Phd. 100d), stehen allerdings auf einem anderen Blatt geschrieben. Teilweise werden die Schwierigkeiten erst im Spät­ werk, vor allem im Sophistes und Parmenides, diskutiert.111 Im Blick auf die frühen Dialoge stellt die Ideenhypothese im Phaidon einerseits etwas Neues dar; andererseits kann Sokrates’ Darstellung seiner Flucht zu den Logoi aber auch als Reflexion der Voraussetzungen, die er seinem Elenchos im Frühwerk zugrunde legt, betrachtet werden.112 Vor allem durch die Frage von Orientierung und Ziel sind auch im Rahmen der elenktischen Suche die im Phaidon kenntlich werdenden Problemstellungen vorgezeichnet. Sokrates belässt es im Phaidon nicht bei seiner ›einfachen‹ Darstellung. An späterer Stelle zeichnet er seine ›Flucht zu den Logoi‹ und die Ideenannahme ausführlicher und komplexer, nicht in der Tragweite einer Theorie über die Ideen,113 aber in der Tragweite einer Methode. An seine zunächst knappe Erläuterung, den jeweils am stärksten erscheinenden Logos vorauszusetzen und zu prüfen, was mit diesem übereinstimme und was nicht (vgl. 100a), schließt Sokra­ tes mit einer umfassenderen Darstellung der Hypothesismethode an. Der Weg über die Voraussetzungen (ὑποθέσεiς) erweist sich nun als vielschichtiger; er wird als eine Art ›rückwärtsschreitendes Vorwärtsgehen‹ sichtbar (vgl. 101d–e):114 »Wenn sich aber jemand an die Voraussetzung selbst hielte, würdest du ihn wohl lassen und nicht antworten, bis du dasjenige, was von jener hergeleitet wird, betrachtet hättest, ob es miteinander übereinstimmt oder nicht. Wenn

111 Auch die Frage, wovon es Ideen bzw. welche Art von Ideen es gibt, steht im Phaidon nicht zur Debatte. Vgl. auch Frede 1999, S. 123–126. 112 Vgl. auch Wieland 1999, S. 156; Gadamer (1978) 1999, S. 141 f. 113 Ob und inwieweit Platon im Phaidon auf eine ›Ideentheorie‹ zurückgreift, gilt als umstritten. Frede (1999, S. 126) erkennt im Hintergrund des Phaidon »eine bereits entwickelte Methodik im Umgang mit den Ideen«, Platon rekurriere auf eine Lehre, die »ihre Kinderjahre bereits hinter sich hat« (ebd., S. 128). Auf ganz andere Weise sieht Wieland (1999, S. 134 f. u. 156 f.) in der Ideenannahme eine Kontinuität zu den früheren Werken. Der Phaidon bringe dasjenige zum Ausdruck, was auch in den frü­ hen Dialogen als Zielpunkt der Definitionsfragen intendiert war: Es handle sich nicht um eine Theorie der Ideen im engeren Sinne, sondern um »die Verklammerung der Ideenannahme mit der Definitionsproblematik« (ebd., S. 135). Diesem Ansatz von Wieland widerspricht ausdrücklich Szlezák (1985, S. 249, Anm. 93): »Was der Phai­ don von Anfang an voraussetzt, ist vielmehr eine explizite Verständigung über die Existenz der Ideen als von allen αἰσθητά unabhängigen Entitäten, und gerade das fehlt bekanntlich in den Definitionsdialogen.« Vgl. zu der Frage auch Erler 2007, S. 181. 114 Vgl. zu einem ähnlichen Ausdruck Borsche 1996, S. 111 f., Anm. 21.

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du aber von jener selbst Rechenschaft geben sollst, würdest du sie auf die gleiche Weise geben, nämlich immer wieder eine andere Voraussetzung voraussetzend, die dir von den höheren als die Beste erscheint, bis du zu etwas Hinreichendem kämst.«115 Das sokratische Zitat verweist auf zwei zusammengehörige Bewegungen. Auf der einen Seite gilt es zu betrachten und zu prü­ fen, was von der ›Voraussetzung selbst‹116 herkommt, was von ihr herrührt: Alles Her- oder Abgeleitete muss in dem auf die Vorausset­ zung Bezogenen übereinstimmen. Werden beispielsweise zwei Dinge schön im Sinne eines vorausgesetzten Schönen genannt, müssen beide in dieser Hinsicht, d. h. in ihrer Bezogenheit auf das vorausge­ setzte Schöne, und mit diesem selbst im Einklang sein. Der Vergleich der schönen Dinge untereinander ist ohne ihre Voraussetzung nicht möglich. Gleiches gilt für Aussagen über die Tugend, die auf der Grundlage einer Hypothese betrachtet werden: Kommt es zwischen den Aussagen zu Widersprüchen, sind entweder eine oder mehrere Aussagen nicht schlüssig oder die Hypothese selbst ist falsch. Auf der anderen Seite macht das Zitat auf eine weitere, gleichsam in die entgegengesetzte Richtung weisende Bewegung aufmerksam: So gibt ein Strebender nur dann tatsächlich Rechenschaft von einer Sache, wenn er fähig ist, die richtigen Voraussetzungen zu sehen und zu verstehen und sich über diese zur Sache selbst hinzubewegen. Um über eine Voraussetzung selbst Rechenschaft zu geben, muss aber wiederum eine Voraussetzung, die ›von den höheren als die Beste erscheint‹, vorausgesetzt werden117 – und zwar bis man, wie Sokrates sagt, bei ›etwas Hinreichendem‹ angelangt ist. Die zwei miteinander verflochtenen Bewegungen der sokrati­ schen Hypothesismethode werden im Phaidon ausdrücklich themati­ siert: Danach ist über die Voraussetzungen sowohl von der Idee her als auch zu ihr hin zu denken. Die Vereinigungspunkte der beiden Bewegungen sind die Logoi: Nur wer die richtigen Voraussetzungen 115

εἰ δὲ τις αὐτῆς τῆς ὑποθέσεως ἔχοιτο, χαίρειν ἐῴης ἄν, καὶ οὐκ ἀποκρίναιο ἕως ἄν τὰ ἀπ᾿ ἐκείνης ὁρμηθέντα σκέψαιο εἴ σοι ἀλλήλοις ξυμφωνεῖ ἤ διαφωνεῖ· ἐπειδὴ δὲ ἐκείνης αὐτῆς δέοι σε διδόναι λόγον, ὡσαύτως ἄν διδοίης, ἄλλην αὖ ὑπόθεσιν ὑποθέμενος ἥτις τῶν ἄνωθεν βελτίστη φαίνοιτο, ἕως ἐπί τι ἱκανὸν ἔλθοις (Phd. 101d3–8). Übers. in Anlehnung an Schleiermacher (Eigler-Ausg., Bd. 3). 116 Mit dem Ausdruck αὐτῆς τῆς ὑποθέσεως (Phd. 101d3) ist zunächst noch nicht die Idee als letzte Voraussetzung gemeint, sondern eine gesetzte Voraussetzung, der weitere ὑποθέσεις zugrunde liegen. 117 Vgl. auch Frede (1999, S. 127), die von einer »Prinzipienhierarchie« spricht. Die zwei Bewegungen analysiert Frede zum Teil in ähnlicher Weise (vgl. ebd. S. 126–128).

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zu setzen und zu verstehen vermag und darauf seine Rechenschafts­ gabe aufbaut, erkennt, was tatsächlich schön oder gerecht ist. Geleitet und motiviert wird er hierbei gerade davon, dass ihm im Bemühen um die Sache diese selbst zunehmend offenkundig wird: Er rückt ihr näher durch die als richtig erkannten Hypothesen. Von welcher Relevanz die Voraussetzungen als solche sind, zeigt sich im Früh­ werk anhand der Argumentationsweisen der sokratischen Gesprächs­ partner. Ihre Verstrickung in Widersprüchen und ihr Scheitern der Rechenschaftsgabe beruhen zumeist darauf, dass sie sich ihrer selbst gesetzten Annahmen nicht bewusst sind, diese nicht reflektieren oder deren eigentlichen Gehalt nicht begreifen. Ihre Ausführungen werden dadurch ›bodenlos‹. Mehr noch vermischen sie teilweise, ähnlich wie die Streitredner (vgl. Phd. 101e), die Ebene der Voraussetzung und diejenige ihrer Folgen. Die Ausführungen zur Dialektik in der Politeia und die sokra­ tische Hypothesismethode im Phaidon lassen Parallelen erkennen. In beiden Fällen zeigt Sokrates einen Weg der ὑποθέσεις und des λόγον διδόναι auf: Die Wahrheit einer jeden Hypothese muss sich sowohl anhand ihrer Folgen als auch in Bezug auf eine je höhere Hypothese beweisen, wobei das Sich-Beweisen-müssen für die letzte resp. erste Voraussetzung selbst freilich nicht mehr gilt. Das in der Politeia geltend gemachte ›Aufheben‹ der gesetzten Voraussetzun­ gen kann gerade auch vor dem Hintergrund des Phaidon in einem gleichsam hegelschen Sinne verstanden werden:118 Die je höhere Voraussetzung revidiert die zuvor gesetzten, geprüften Voraussetzun­ gen nicht, sondern hebt sie in der Weise auf, dass sie zwar als solche überwunden, aber ihre richtigen Elemente dennoch bewahrt werden. Darüber hinaus erweisen sich nicht nur in der Politeia, son­ dern auch im Phaidon die Hypothesen als ›Stufen und Ansätze‹, als ›Zugänge und Anläufe‹119 hin zur Idee: Die sokratische Methode im Phaidon wird als eine Rechenschaftsgabe erkennbar, mit deren Hilfe in sukzessiver Form höhere oder wahrere Hypothesen aufgefunden werden, welche wiederum durch ihre je größere Nähe zur Wahrheit im Vollzug ihrer Erkenntnis zugleich ein Antriebsmoment für den Vgl. oben Anm. 96. Auch Mittelstraß (2005, S. 246) scheint auf das hegelsche ›Aufheben‹ anzuspielen: Mit der Dialektik werde »ein Weg angedeutet, wie sich zunächst in Form eines voraussetzungsreichen ›Aufstiegs‹, dann in Form eines ide­ entheoretisch geklärten ›Abstiegs‹ Voraussetzungen in einem Voraussetzungslosen […] ›aufheben‹ (VII 533c8) lassen.« 119 Vgl. oben Anm. 93. 118

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Erkenntnisprozess selbst darstellen. Mit dem Zugewinn an episte­ mischer Klarheit verstärkt sich auf jeder höheren Erkenntnisstufe das Motivationsmoment. Die Gleichzeitigkeit der Denkbewegungen, sowohl von einer Voraussetzung her als auch zu ihr hin, trifft sowohl auf die Hypothesismethode als auch auf die Dialektik zu. Auf der anderen Seite manifestiert der Vergleich aber auch deut­ liche Unterschiede: Während in der Politeia das Telos akzentuiert und als Vollendung sichtbar wird (vgl. R. VII 532a–b, 534b–e), bezeichnet Sokrates im Phaidon das Ziel des Weges als ›etwas Hinreichendes‹. Soll die Hypothesismethode an ihr Ende gelangen und das Setzen weiterer höherer Hypothesen nicht mehr notwendig sein, dann hieße dies, dass das Hinreichende kein Bedingtes mehr und folglich selbst voraussetzungslos wäre. Ob Platon in diesem Zusammenhang an die Idee des Guten als »fundamentum inconcussum allen Wissens«120 denkt oder nicht, bleibt ungewiss. Auch die nachfolgenden Ausfüh­ rungen geben darüber keinen Aufschluss (vgl. Phd. 102b–105b): Hier werden – auf den letzten Unsterblichkeitsbeweis der Seele zusteuernd – spezifische Bedingungen der Methexis von Sokrates erläutert, die zugleich als Andeutungen der Frage nach der Beziehung der Ideen untereinander gelesen werden können.121 Die Frage, wie ›das Hinreichende‹ als Ziel zu denken ist, bleibt hingegen offen. Mehrere plausible, einander nicht ausschließende Erklärungen sind möglich: Zunächst kann in einem gegebenen Dialogkontext das Hinreichende als derjenige Begründungsstatus betrachtet werden, der den seeli­ schen Konditionen der Gesprächspartner entspricht; hinreichendes 120 Frede 1999, S. 128; vgl. dazu auch Szlezák 1985, S. 248; Zehnpfennig 1991, S. 201, Anm. 162. 121 Vgl. Borsche 1996, S. 108 f. – Wiederum sich auf Relativbegriffe beziehend, macht Sokrates in dieser Textpassage deutlich, dass zwar die seienden Dinge selbst an Ver­ schiedenem teilhaben, andererseits aber Prädikate als solche niemals ihr Gegenteil annehmen können, wenn sie das bleiben sollen, was sie sind. Die Größe, die Simmias in Bezug auf einen anderen einnimmt, verwandelt sich nicht selbst in eine Kleinheit. Prädikate als solche können sich demnach nie in ihr Gegenteil verkehren, ohne dabei selbst ›unterzugehen‹ (vgl. Phd. 102b–103c). Dass Sokrates auch in diesem Kontext Relativbegriffe als Beispiele wählt, hängt nach Frede (1999, S. 130) damit zusammen, dass entgegen der Intuition auch Relativa als Prädikate nicht in ihr Gegenteil überge­ hen (vgl. insges. Frede 1999, S. 129–134). Ist ein Seiendes durch sein spezifisches Prädikat bestimmt, kann es selbst nie das Gegenteil oder auch nur ein Verschiedenes annehmen, ohne seine Existenz zu verlieren: der Schnee das Warme, das Feuer das Kalte; gleiches gelte für ungerade und gerade Zahlen (vgl. Phd. 103c–105b). Vgl. dazu auch Wieland 1999, S. 158 f.

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Ziel ist dann, den in einer Gesprächssituation bestmöglichen Logos zu erreichen.122 Vor dem Hintergrund der von Sokrates artikulierten Ide­ enannahme vermag überdies die explizit formulierte Hypothese, d. h. die Aussage selbst, dass es ein Schönes, Gutes, Großes etc. gibt, als hinreichender Logos fungieren. Schließlich muss es im Rahmen einer dritten Möglichkeit darum gehen, die verbal zum Ausdruck gebrachte Annahme der Ideen selbst zu fundieren: Hier kommen die Ideen als solche ins Spiel, d. h. die Idee als die wahre Sache selbst, wie sie im Rahmen der zwei Seinsordnungen als das Unzusammengesetzte und sich nie Verändernde gekennzeichnet wurde (vgl. Phd. 78b–79a). Die Rede ist jetzt nicht mehr vom Logos über eine Idee, sondern von der Idee, wie sie sich als Idee in ihrer Orientierungsfunktion zeigt.123 Auch der Begriff der Methexis verwies darauf, dass sich die Teilhabe nicht auf einen Ideenlogos, sondern auf die Idee als solche bezieht.124 Mit der dritten Möglichkeit weist ›das Hinreichende‹ notwendig über eine Satzhypothese hinaus. Im Phaidon lenkt Sokrates’ Rede von der ›zweiten Fahrt‹ und der ›Zuflucht zu den Logoi‹ die Aufmerksamkeit jedoch vor allem darauf, dass mit der Hypothesismethode der Weg der Untersuchung selbst, das Prozessuale des epistemischen Vollzugs im Vordergrund steht; das Hauptaugenmerk gilt der Art und Weise der aufsteigen­ den Erkenntnisbewegung.125 Auch in diesem Zusammenhang lässt sich die betrachtete Passage im Phaidon als Reflexion auf die Bedin­ gungen der sokratischen Elenktik im Frühwerk deuten. Die beiden Wendungen charakterisieren überdies den mühevollen Gang: Der Erkenntnisweg ist ohne ›das Rudern‹, ohne die beständige, mittels der Logoi zu bewerkstelligende Auseinandersetzung mit einer Sache nicht möglich. Wer tatsächlich mit Vernunft (νοῦς) die Ursache seines Vgl. dazu Szlezák 1985, S. 248, Anm. 91; Borsche 1996, S. 111, Anm. 21; Erler 2007, S. 181. 123 Vgl. dazu oben Kap. 3.1; auch Wieland 1999, S. 156 ff.; überdies Szlezák (1985, S. 245–250), der auch im Kontext des Phaidon nur in der Idee des Guten selbst die letzte, weil tragfähige Begründung und Fundierung sieht: Erst hier kann ›das Hinrei­ chende‹ für Sokrates zu seinem Ende gelangen (vgl. dazu oben Anm. 113). 124 Erinnert sei an das von Platon als Metapher und Analogie verwendete visuelle Bild: Ähnlich wie der Schatten des Baumes auf diesen selbst verweist, so auch jedes Abbild bzw. Teilhabeverhältnis auf die Idee als solche. 125 Szlezák (1985, S. 246 f. u. 249) betont, dass innerhalb des Dialoggeschehens der Aufstieg zur Grundlegung der Ideenhypothese nicht vollzogen wird. Die Gesprächs­ partner würden Sokrates zustimmen, ohne die Ideenannahme zu hinterfragen (vgl. Phd. 100b–c). 122

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Handelns erforschen will (vgl. Phd. 98c, 99a), muss diesen mühsamen Weg gehen. Auch in der Politeia wird der Weg der Logoi unterstrichen. Indem aber das höchste Ziel, die Idee des Guten, in den Blick- und Mittel­ punkt rückt, erschöpft sich die Darstellung des Erkenntnisweges nicht in einer methodologischen Beschreibung. Schon die Illustration der Gleichnisse vollzieht sich im Hinblick auf das höchste Ziel (vgl. R. VI 503e–505b). Das Sonnengleichnis fundiert als erstes der drei Gleich­ nisse die Stellung der Idee des Guten als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis und Erkennbarkeit, in epistemologischer und ontolo­ gischer Hinsicht (vgl. VI 506b–509b).126 Im Liniengleichnis wird der vierte Abschnitt als diejenige Stufe ausgezeichnet, auf der mithilfe der dialektischen Methode eine Annäherung an das höchste Ziel möglich wird (vgl. VI 511b–d): Die Korrespondenz von epistemischer Klarheit und Teilhabe an der Wahrheit vollzieht sich in Entsprechung zum Hervortreten der Wirkkraft des Guten. In ihrer »neuen ›noetischen‹ Orientierung«, so Gadamer, zeige die Politeia, dass sich von der Idee des Guten her »die Ordnung von Polis und Psyche bestimmt«.127 Die Idee des Guten zeichne sich letztlich stets durch ihre »praktische Orientierungsfunktion für das rechte Leben« aus.128 Der Weg, der ›zum Aufhören aller Voraussetzung an den Anfang von allem‹ führt und von dort einen Wissenden wieder ›hinabgehen‹ lässt,129 weist in der Politeia über das ›Weghafte‹ selbst hinaus. Das höchste Ziel als voraussetzungsloses Prinzip kann sich nach langer Anstrengung zeigen: Gemäß der platonischen Terminologie wird es 126 In Analogie zur Sonne, die im Bereich des Sichtbaren die Ursache des Sehens und Gesehenwerdens, ebenso des Wachstums und Werdens sei, gelte im Bereich des Erkennbaren, dass die Idee des Guten klare (σαφῶς, 508d1) Erkenntnis ermögliche und auch Grund von Sein und Wesen des zu Erkennenden sei (vgl. R. VI 508b–509b): »Dieses also, was dem Erkennbaren Wahrheit mitteilt und dem Erkennenden das Vermögen hergibt, sage, sei die Idee des Guten.« (Τοῦτο τοίνυν τὸ τὴν ἀλήθειαν παρέχον τοῖς γιγνωσκομένοις καὶ τῷ γιγνώσκοντι τὴν δύναμιν ἀποδιδὸν τὴν τοῦ ἀγαθοῦ ἰδέαν φάθι εἶναι, 508e1–3). »Ebenso nun sage auch, daß dem Erkennbaren nicht nur das Erkannt­ werden von dem Guten komme, sondern auch das Sein und Wesen habe es von ihm« (Καὶ τοῖς γιγνωσκομένοις τοίνυν μὴ μόνον τὸ γιγνώσκεσθαι φάναι ὑπὸ τοῦ ἀγαθοῦ παρεῖναι, ἀλλὰ καὶ τὸ εἶναι τε καὶ τὴν οὐσίαν ὑπ᾿ ἐκείνου αὐτοῖς προσεῖναι, 509b6–8). Übers. Schleiermacher (Eigler-Ausg., Bd. 4). Vgl. dazu Eusterschulte 1997, S. 114 f. 127 Gadamer (1978) 1999, S. 143 (beide Zitate). 128 Gadamer (1978) 1999, S. 145 (diese Funktion werde aber vor allem im Philebos kenntlich). 129 Vgl. oben Anm. 93.

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3. Bedingungen des dialektischen Erkenntnisweges

ergriffen oder berührt (ἅπτεσθαι), geistig gesehen (θεωρεῖν) oder ver­ nommen (νοεῖν). Ein weiteres Moment von Bildlichkeit tritt in diesem Zusammenhang hervor: Die höchste Idee, das Urbild schlechthin, erscheint im platonischen Text als etwas, das erblickt oder geschaut wird. Mit den verwendeten Termini εἶδος und ἰδέα, deren Bedeutungs­ spektrum ›Gestalt‹, ›Form‹, ›Aussehen‹ oder ›äußere Erscheinung‹ umfasst, lässt Platon das Moment einer intelligiblen Sichtbarkeit und eines intelligiblen Sehens aufscheinen, welches über den metaphori­ schen Charakter des Visuellen hinauszeigt. Platon folgt damit der traditionellen Verbindung von Sehen und Erkennen130 und verstärkt diese in gewisser Hinsicht, indem er das ›geistige Sehen‹ in Bezug auf die höchste Erkenntnis vielerorts akzentuiert.131 Der Unterschied von Meinung und Wissen zeigte sich im Linien­ gleichnis darin, dass innerhalb der Sphäre von Erkenntnis und Wissen der Hinblick auf und die Orientierung an der Idee das wesentliche Charakteristikum des epistemischen Prozesses darstellte. Zugleich wurde in diesem Bereich das eigentliche oder wahre Wissen allein der Stufe der Dialektik zugeordnet (vgl. VII 533b–d). Nur der Dialektiker ist danach fähig, den Logos in Bezug auf das Wesen einer jeden Sache zu erfassen und sich und anderen darüber Rechenschaft zu geben.132 Auch in Bezug auf das Gute selbst treffe dies zu (vgl. 534b–c): Der Dialektiker müsse imstande sein, die Idee des Guten vermittels des vernünftigen Wortes deutlich zu bestimmen und von allem anderen abzugrenzen;133 er müsse die Idee wie in einem Kampf

Vgl. dazu die Verschränkung der Verben εἰδέναι (wissen) und ἰδεῖν bzw. ὁρᾶν (sehen): οἶδα (ich weiß) bezeichnet bekanntlich zugleich die Perfektform von ἰδεῖν bzw. ὁρᾶν (ich habe gesehen). Dazu und zur griechisch-traditionellen Verbindung von Licht/Sehen und Erkennen vgl. Eusterschulte 1997, S. 117–120. 131 Vgl. R. VII 516a–b, 519c–d, 526e; Smp. 211e–212a; Phdr. 247a–e, 249e–250a. Dass auch im Sonnengleichnis Sehen und Sichtbarkeit hinsichtlich der intelligiblen Sphäre wie auch das Licht selbst nicht allein metaphorisch zu verstehen sind, zeigt Eusterschulte (1997, S. 113–123). 132 »Du nennst also auch den einen Dialektiker, der von jeglichem den Begriff seines Wesens erfaßt? Und wer den nicht hat, von dem wirst du doch nicht behaupten, daß er, insofern er weder sich selbst noch einem andern begriffliche Rechenschaft zu geben vermag, eine Einsicht davon besitze?« (Ἦ καὶ διαλεκτικὸν καλεῖς τὸν λόγον ἑκάστου λαμβάνοντα τῆς οὐσίας; καὶ τὸν μὴ ἔχοντα, καθ᾿ ὅσον ἂν μὴ ἔχῃ λόγον αὑτῷ τε καὶ ἄλλῳ διδόναι, κατὰ τοσοῦτον νοῦν περὶ τούτου οὐ φήσεις ἔχειν; (R. VII 534b3–6) Übers. Rufener (Szlezák 2000). 133 διορίσασθαι τῷ λόγῳ ἀπὸ τῶν ἄλλων πάντων ἀφέλὼν τὴν τοῦ ἀγαθοῦ ἰδέαν (R. VII 534b9–c1). 130

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3.4 Die Flucht zu den Logoi, der dialektische Weg und die Frage nach dem Guten

durch alle Widerstände und Unwegbarkeiten mit gutem Mut und nicht fehlendem Logos zu verteidigen wissen, und zwar gemäß ihrem Sein (κατ᾿ οὐσίαν, 534c2). Die Logoi des Dialektikers unterscheiden sich nicht nur graduell, sondern wesentlich von den Artikulationen der Meinenden. Diese erfassen ein Abbild (εἴδωλον) des Guten allein mit der Doxa, da sie das Gute selbst nicht kennen; der Dialektiker hingegen ist der epistemischen Bewegung des Auf- und Abstiegs innerhalb des intelligiblen Bereichs bereits gefolgt, er hat die Idee des Guten ›berührt‹. Er ist deshalb, so legt es die Passage nahe, dazu imstande, Wesen und Sein der Ideen und der Idee des Guten vermittels des Logos zu treffen.134 Allerdings erschöpft sich das Wissen des Dialektikers nicht im Begrifflichen. Seine Logoi bildet er vor dem Hintergrund seines Ideenwissens, also eines wahren Wissens, das als solches nicht im Sprachlichen aufgeht, gleichwohl aber mithilfe der begrifflichen Sprache dargestellt wird. Das Erfassen oder Berühren der Idee des Guten ist wie diese selbst nicht vermittels eines Logos artikulierbar. Geistig berührt, vernommen oder gesehen wird die Idee mit der Vernunft: »Νόησις und αἴσθησις haben dies gemeinsam, daß sie ihre Gegenstände direkt erfassen, nicht indirekt im ›Spiegel‹ der Worte wie das diskursive oder dianoetische Denken […]. Was die vernehmende Seele unmittelbar erfaßt, ist als solches nicht in einem λόγος aussagbar. Denn es ist eines und nicht vieles, einfach und unteilbar; der λόγος aber ist stets eines und vieles zugleich, teilbar und zusammengesetzt.«135 Die Logoi sind zunächst das uns zur Verfügung stehende Instru­ mentarium, sowohl um sich dem Wesen der Idee vermittels der dialektischen Methode über Voraussetzungen zu nähern als auch um die Idee selbst, ihren Namen und ihr Wesen, in einer zugänglichen Form auszusagen und zu erklären. Allerdings sind die Logoi, auch wenn es sich dabei um ›Wesensaussagen‹ handelt, selbst nie voraus­ setzungslos, ihre letzte Voraussetzung bleibt die Idee: »Während man also die Idee selbst nicht aussagen, sondern nur nennen kann, kann 134 Vgl. Borsche (1996, S. 109), der von einer »Wesensaussage« (Hervorh. im Orig.) spricht: »Dieser ausgezeichnete λόγος spricht niemals von Dingen, auch nicht homonym, sondern, wie sein Name sagt, vom Sein selbst, d.h. von einer Idee. Die Idee wird an erster Stelle durch ihren Namen genannt, und von diesem wird sodann aus­ gesagt, was er bedeutet.« 135 Borsche 1996, S. 111. Vgl. zu der Thematik insges. ebd., S. 109–113.

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3. Bedingungen des dialektischen Erkenntnisweges

man doch vieles über sie sagen – wenn man sie erst einmal mit dem ›inneren Auge der Seele‹ (durch νόησις) erfaßt hat.«136 Dies bedeutet zugleich, dass die Frage nach der Wahrheit stets über die Logoi hinausweist, sie erschöpft sich nach platonischer Denkart nicht in diesen selbst.137 Das Denken erzeugt die Logoi und bedient sich ihrer zugleich; es operiert mit ihnen und durch sie; auf der diskursiven, argumentativen Ebene geht das Denken in den Logoi auf. Soll es zu wahrer Erkenntnis führen, muss das Denken aber über die Logoi hinaus deren Voraussetzung stets im Blick und gegenwärtig haben, es muss um die Voraussetzung resp. die Idee wissen. Der Dialektiker vermag sich in seinem Sprechen über die Idee nahe an der Wahrheit zu bewegen, auch über Sein und Wesen der Tugend adäquat zu artikulieren. Seine Bildung zielt darauf, als ein bestmöglich Wissender zu fragen und zu antworten (vgl. VII 534d). Die philosophischen Logoi eines Dialektikers formieren auf dieser Grundlage ein wahres Wissen. Auf der anderen Seite bleiben jedoch auch die Logoi des Dialektikers – wie die gewöhnlichen Logoi – vom Menschen hervorgebrachte, sterbliche Gebilde.138 In diesem Zusammenhang gewinnen aber wiederum die oben im Kontext von Delphi und der Apologie charakterisierte ›Dialektik der Grenze‹ und die sokratische ›menschliche Weisheit‹ an Bedeutung: Auch der Dia­ lektiker muss sich stets vor Augen führen, dass seine Hervorbringun­ gen endlich und begrenzt sind; er vermag die Idee des Guten zu bestimmen und zu treffen, zugleich weisen aber seine Logoi über sich selbst hinaus. Der Dialektiker muss von und für sich selbst um die Differenz zwischen seinen Logoi und der göttlichen Idee wissen: Nur in diesem Selbstwissen und auf der Basis dieses seelischen Zustandes wird er wahre Logoi erzeugen. Vor diesem Hintergrund sind die Logoi in der Sphäre des Intelligiblen weder als bloßes Instrumentarium noch ausschließlich als aussagbares wahres Wissen aufzufassen. Insbeson­ dere im Feld der Dialektik verkörpern die Logoi das vermittelnde und übersetzende Moment zwischen dianoetischem Denken und reiner Noetik, zwischen argumentativem, auf richtigen Voraussetzungen fußendem Wissen und wahrer, ›sehender‹ Erkenntnis der höchsten Idee des Guten. Borsche 1996, S. 111 (Hervorh. im Orig.). Vgl. auch dazu Borsche 1996, S. 110. 138 Die Vergänglichkeit des menschlich erzeugten Wissens wurde bereits im Kontext des Symposion diskutiert (vgl. Smp 207e–208b u. oben Kap. 1.3.2; dazu auch Borsche 1996, S. 109 f.). 136

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3.4 Die Flucht zu den Logoi, der dialektische Weg und die Frage nach dem Guten

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Hypothesismethode im Phaidon und das dialektische Verfahren in der Politeia vergleich­ bare Gesichtspunkte aufweisen, allerdings die den dialektischen Pro­ zess erst zur Vollendung bringende Gesamtbewegung des Aufstiegs und Abstiegs den Ausführungen der Politeia vorenthalten bleibt. In beiden Fällen zeichnet sich jedoch die Erkenntnissuche als der ›weitere Weg‹ über die Logoi ab. Denkt man an das Höhlengleichnis, dann ist das dort akzentuierte Moment der Gewöhnung (συνήθεια) einzu­ beziehen (vgl. VII 515e–516b): Wie das Auge sich an die Übergänge vom Dunkleren ins Hellere je gewöhnen muss, bis es die Sonne selbst anschauen kann, so muss sich auch die Seele an jeden neuen Zustand einer Erkenntnisstufe gewöhnen, bis sie schließlich darauf vorbereitet ist, die Idee des Guten zu ›erblicken‹.139 Der ›größere Umweg‹ deutet mit Blick auf das Höhlengleichnis auch daraufhin, dass jedem mithilfe des Logos getanen Erkenntnisschritt eine Veränderung des seelischen Zustandes zugrunde liegen bzw. mit diesem einhergehen muss. Die im Phaidon und in der Politeia kenntlich gewordene Methode der ὑποθέσεις wird als der vierte Aspekt eines ›prozessualen Wissens‹, das Sokrates als Fragendem und Prüfendem notwendig zukommen muss, betrachtet. Erkennt man in der Figur des Sokrates darüber hinaus den Dialektiker, dann erschöpft sich das sokratische Wissen nicht mehr in den Bedingungen, strukturellen Aspekten und metho­ dischen Ansätzen des Erkenntnisweges. Das Wissen, das Sokrates unter dieser Prämisse besitzt, befähigt ihn nicht nur dazu, richtige und wahre Logoi zu formulieren, sondern es äußert sich zugleich als philo­ sophisches Können: Als Dialektiker ist Sokrates imstande, Aussagen auf ihren Wahrheitsgehalt hin kritisch zu beurteilen. Das sokratische Wissen ist als Urteilswissen zu charakterisieren. Bereits mit dem Begriff der Methexis und dem mehrstufigen Urbild-Abbild-Verhält­ nis im Liniengleichnis trat das Kriterium für den Wahrheitsgehalt von Aussagen hervor: Um den Grad der Teilhabe an der Wahrheit einschätzen zu können, müssen die analogen Verhältnisse, die Stu­ fen und die Orientierung, wie sie das Gleichnis zur Anschauung bringt, verstanden worden sein. Für diesen ›Überblick‹ muss sich der Prüfende allerdings selbst bereits auf der höchsten Stufe bewegen; nur auf dieser Ebene vermag er alle Arten von Logoi – ob es sich um Doxai, um Begriffe und Hypothesen der dianoetischen Stufe 139 Die Notwendigkeit der Gewöhnung besteht dabei nicht nur für den Aufstieg, sondern auch für den Abstieg (vgl. R. VII 518a–b).

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3. Bedingungen des dialektischen Erkenntnisweges

oder um dialektisches Wissen handelt – und die entsprechenden Seelenzustände zu diagnostizieren. Jede Seele, so heißt es in Einführung der Gleichnisse, strebt nach dem eigentlichen Guten und tue alles, was sie tue, um dessent­ willen (vgl. VI 505d–e). Auch würde sie ahnen, dass es ein solches gibt (ἀπομαντευομένη τι εἶναι, 505e1). Die philosophische Bildung verlangt, dass die Seele ihrem Ahnen nachgeht, auch wenn »sie im Zweifeln begriffen ist und nicht hinreichend zu erfassen vermag, um was es sich handelt«.140 Wenn die Seele schließlich tatsächlich auf der höchsten Stufe die Idee des Guten ›berührt‹, dann geschieht dies nicht – um mit dem Bild des Segelns zu sprechen –, weil der Wind zufällig günstig steht. Die Betonung in der Politeia und andernorts im platonischen Werk liegt vielmehr darauf, dass der gesamte Weg und nicht zuletzt die dialektische Stufe sehr große Anstrengung und Mühe kosten. Nur wenige und vielleicht sogar nur einer schaffen es,141 an den voraussetzungslosen Anfang zu gelangen. Unter der Prämisse, dass Sokrates der Dialektiker ist, muss er also jeden einzelnen Schritt des Erkenntnisweges selbst durchschritten und in dieser Form seine Seele gebildet haben: Nur auf der Basis dieser seelischen praeparatio vermag sich aber das Gute zu zeigen. Das ›Sehen‹ oder ›Berühren‹ des Guten selbst wird im Text oftmals als ein unmittelbares, moment­ artiges Geschehen und Verstehen und in diesem Sinne als ein für die Seele (auch) rezeptives Moment beschrieben, das nicht mehr beabsichtigt oder geplant werden kann.142 Die Auszeichnung des Sokrates im platonischen Werk als ein elenktisch Urteilender beruht aber nicht allein auf dieser Art einer höchsten Einsicht, auf diesem ›Gesehen-haben‹; die menschenmögliche Grundlage von Sokrates’ Urteilsfähigkeit basiert zunächst auf dem von ihm selbst gegange­ nen Bildungsweg. Im Blick auf die Betrachtungen des gesamten Kapitels konn­ ten die vier Aspekte eines ›prozessualen Wissens‹ als erkenntnislei­ tende und konstitutive Momente und Bedingungen des platonischen Erkenntnis- und Wissenskonzepts aufgezeigt werden. Die Ideen und letztlich die Idee des Guten wurden hierbei der Frage der Erkenntnis­ suche in einer vor allem begründungstheoretischen Form vorausge­ setzt: Platons Erkenntnis- und Wissensbegriff beruht wesentlich auf 140 141 142

ἀποροῦσα δὲ καὶ οὐκ ἔχουσα λαβεῖν ἱκανῶς τί ποτ᾿ ἐστὶν (R. VI 505e1–2). Vgl. R. VI 503b–505b, VII 535a–536d; auch Mittelstraß 2005, S. 245. Vgl. oben die Textstellen in Anm. 131.

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3.4 Die Flucht zu den Logoi, der dialektische Weg und die Frage nach dem Guten

dem Konzept eines apriorischen Wissens und auf der Zielvorstellung der Idee des Guten als oberstes voraussetzungsloses Prinzip. Vor dem Hintergrund des Liniengleichnisses erwies sich die dianoetische Stufe als maßgeblicher Bereich des Übergangs zwischen sensibler und intelligibler Sphäre. Im Rahmen des Gleichnisses spielt die Mathematik hierbei eine paradigmatische Rolle, insofern in ihrem Zusammenhang die Verknüpfung von sinnlicher Anschauung und vernünftiger Erkenntnis im Prozess des Denkens konkret und präg­ nant sichtbar wird. Danach sind bildliche Vorstellungsinhalte für das dianoetische Denken unentbehrlich. Zugleich aber ist die Stufe der Dianoetik auf eindeutige Weise auf ihre intelligiblen Voraussetzun­ gen hin ausgerichtet; diese Orientierung zeichnet Erkenntnis und Wissen erst als solche aus. Wissen und Meinung sind im Gleichnis deutlich distinguiert: Die Grenze zwischen Wissen und Doxa ist für Platons Wissenskonzept wesentlich, sie ist nicht aufzuheben; zugleich muss sie dennoch überbrückbar sein.143 Den Übergang zeichnet Platon im Höhlengleichnis als Periagoge, als Umkehr des seelischen Blicks hin zum Bereich der Vernunft. Das Liniengleichnis und das mathematische Curriculum zeigen, dass diese Wendung mit der seelischen Vermittlung von sinnlicher und vernünftiger Erkenntnistä­ tigkeit verbunden ist, die aber auf der dianoetischen Stufe auch über sich selbst hinaus und auf die Ideen hin verweist. Die im Rahmen des Liniengleichnisses sichtbar gewordene onto­ logische und epistemologische Korrespondenz der Stufen ist auch als Ausdruck der entsprechenden seelischen Haltungen zu begreifen. Erkenntnis und Wissen sind für Platon notwendig an die seelische 143 Der Übergang zwischen Meinung und Wissen wird in den vorliegenden Betrach­ tungen deshalb, anders als in den oben dargelegten Forschungsstudien (vgl. oben Kap. 2.1), nicht insofern als ein kontinuierlicher aufgefasst, als er allein auf der epistemischlogischen Optimierung der gerechtfertigten wahren Meinung beruht. Die Linie, so wurde oben betont, illustriert eine kontinuierliche Bewegung, welche auch die beiden entgegengesetzten Seinsbereiche verbindet. Zugleich aber markiert das Gleichnis jeden diskreten Schritt des Erkenntnisaufstiegs als grundlegende Veränderung der seelischen Haltung. Dies gilt in besonderem Maße für den Übergang von der Sphäre des Werdens und Meinens zu der Sphäre des Seins und Wissens. – Vgl. dazu Gadamer (1978) 1999, S. 138: Der Chorismos sei auch als Moment aufzufassen, welcher »die Schwäche der Sinneserfahrung aufdecken« soll; aus dieser Perspektive sei er für Platon nicht zu überwinden, sondern auch in der Dialektik selbst gegenwärtig zu halten. Vgl. auch ebd., S. 145; Borsche 1996, S. 96 f. u. 105 f.; überdies die Textstelle Men. 98b: Dass »richtige Meinung und Wissen« (ὀρθὴ δόξα καὶ ἐπιστήμη, 98b2) etwas Verschie­ denes seien, rechne er, so sagt Sokrates hier, zu seinem sicheren Wissen.

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3. Bedingungen des dialektischen Erkenntnisweges

Verwirklichung des Guten gebunden. Durch die Einsicht, dass nur das Gerechte und Gute als Ziel zu akzeptieren sind, und durch die im Hinblick darauf zu verstehende Verschränkung von Wissen und seelischer Verfasstheit unterscheidet sich letztlich der Philosoph vom Sophisten.144 Auf das seelische Konzept von Erkenntnis und Wissen, wonach der Erkenntnisprozess und das Wissen selbst von dem danach Strebenden nicht zu trennen sind, zielt die sokratische Elenktik von Anfang an: Die Rechenschaftsgabe bedeutet stets auch ein Bezeugen der eigenen Lebensweise und damit auch der eigenen seelischen Haltung. Davon hängt die Glaubwürdigkeit jeder Rede und wiederum die Differenzierung von Meinung und Wissen ab: Auch bei einer sehr gut begründeten Aussage muss es sich aus Platons Sicht nicht notwendig um Wissen handeln.145 Die Orientierung am Intelligiblen und an der Idee des Guten muss sich notwendig in der seelischen Haltung niederschlagen und erst auf dieser Basis wird erkennbar, ob ein Lernender die Periagoge tatsächlich vollzogen hat. Vor diesem Hintergrund ist an das Spannungsverhältnis zu erinnern, das in der Einleitung zu dieser Arbeit skizziert wurde: Einerseits sollen Erkenntnis und Wissen an den seelischen Prozess, an den Wissenden gebunden sein, wodurch aber dem Wissen selbst eine individuelle Lernerfahrung inhärent zu sein scheint. Andererseits muss Wissen im Sinne eines wahren Wissens von allen individu­ ellen Konditionen und Perspektiven unabhängig sein; individuell geprägte Interessen macht Platon vor allem an vermeintlichen Wis­ sensansprüchen fest. Im Hinblick auf diese Fragestellung dienten die Erörterungen dieses Kapitels auch dem Aufweis, dass durch die klare Ausrichtung auf die intelligible Sphäre und die Idee des Guten, die mit jedem der dargelegten Aspekte hervortrat, der Denk- und Erkenntnis­ vorgang sich selbst der individuellen Modalitäten und Bedingungen zunehmend enthebt. Dennoch ist der Erkenntnisweg notwendig in jedem Schritt individuell zu gehen; jede Erkenntnisleistung ist in einen individuell zu verstehenden seelischen Prozess eingebettet und geht aus diesem hervor. Auch auf der Ebene der Dialektik wurde ein Vermittlungsmo­ ment sichtbar: Hier übernehmen die Logoi eine Vermittlungsfunktion Vgl. auch Gadamer (1978) 1999, S. 148 f.: Mehr als im Sinne einer Techne sei die Dialektik als eine Haltung (ἕξις) und ein Sein aufzufassen, durch welche sich der Phi­ losoph gegenüber dem Sophisten auszeichne. 145 Vgl. auch Wieland 1999, S. 284 f.

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3.4 Die Flucht zu den Logoi, der dialektische Weg und die Frage nach dem Guten

zwischen dianoetischer und noetischer Erkenntnis. Auch die wahren Logoi des Dialektikers bleiben an den selbsttätigen Denkvollzug der Seele gebunden, auch auf dieser Stufe bleibt die Hervorbringung von Wissen eine lebendige Bewegung der Seele. Die dialektischen Logoi weisen stets über sich selbst hinaus und auf ihre Voraussetzung der Idee des Guten hin. Im Hinblick auf die Frage des Gerechten und Guten gibt es kein im engeren Sinne verfügbares Wissen.146 Insbesondere aber formiert sich auf dieser Basis das Urteilswissen, das dynamisch zu denken ist und nur dem Dialektiker zukommt: Es ist das Wissen, welches Sokrates’ Urteilskompetenz begründet. Im Kontext des philosophischen Curriculums in der Politeia wird allerdings die Frage des Selbstwissens und der Selbsterkenntnis, die für die Urteils­ fähigkeit und für den Begriff seelischer Bildung elementar ist, nur angedeutet. Sie wird in den nachfolgenden Erörterungen in Anknüp­ fung an die ersten beiden Kapitel dieser Arbeit wieder aufgriffen und in vielfacher Hinsicht im Zentrum der Untersuchungen stehen. Abschließend sei angemerkt, dass Platons Betonung der richti­ gen Orientierung und die Zurückweisung aller aus seiner Sicht nur vermeintlichen Zielvorstellungen in den Texten oftmals in apodikti­ scher Bestimmtheit sichtbar werden. Allerdings lässt die Tatsache, dass die höchste Idee zwar eine eindeutige Richtung vorgibt, aber dennoch unaussagbar bleibt,147 zusammen mit der selbstreflexiven Dynamik des Denkens, in der sich auch der Dialektiker halten muss, den platonischen Wissensbegriff dennoch als ein undogmatisches Konzept hervortreten.

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Vgl. auch Gadamer (1978) 1999, S. 150 f. Vgl. dazu Gadamer (1978) 1999, S. 143; Wieland 1999, S. 95 ff.

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4. Seelischer Wandel: Das Motiv der Seelentherapie und der platonische Begriff der Scham

Im Hinblick auf die Kernfrage dieser Arbeit, die Frage seelischer Bildung, wendet sich dieses Kapitel demjenigen Aspekt zu, der den bisher erörterten Themen und Konzepten als Frage- und Problemstel­ lung inhärent oder als Prämisse vorausgesetzt war und der folglich in den vorherigen Untersuchungen immer wieder aufschien: Es handelt sich um die für den Begriff der Bildung konstitutive Frage einer Veränderung und Entwicklung des Lernenden, d. h. in platonischem Kontext um die Frage des Wandels der Seele. Der im letzten Kapitel auf der Grundlage des Phaidon und der Politeia diskutierte Erkennt­ nisweg, aber auch die zuvor betrachtete sokratische ›menschliche Weisheit‹, ebenso die Frage nach dem guten Leben und das Terrain der Erziehung selbst mit den Leitgedanken der Arete und Selbstsorge im Zentrum sind daraufhin ausgelegt, dass Erkenntnisvollzug und Wissen notwendig auch einen Wandel der Seele bedeuten. Auf diesem Zusammenhang beruht nicht zuletzt die Herausbildung einer Refle­ xionskraft und eines kritischen Urteilsvermögens. Im vierten Buch der Politeia wird das Konzept der dreiteiligen Seele in Analogie zur Polis und im Blick auf die vier Haupttugenden der Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit diskutiert; besonders die beiden letzten Tugenden werden als seelische Zustände, als eine bestimmte Verfasstheit der Seele gezeichnet (vgl. R. IV 434d– 444e). Wenn Sokrates – darauf wurde oben schon hingewiesen – in der späteren Einführung des philosophischen Bildungsprogrammes im sechsten Buch die zuvor als seelische Haltungen charakterisierten Tugenden aufgreift und erklärt, dass die schwierigsten Mathemata sich auf diese beziehen bzw. der Erkenntnis- und Wissensweg nur über die Einsicht in dieselben zu bewerkstelligen sei (vgl. R. VI 503e– 504d), dann wird hier offensichtlich, dass der am Ziel der Idee des Guten (vgl. 504e–505b) orientierte Bildungsweg des Philosophen auf die seelische Verfasstheit des Strebenden hin ausgerichtet ist.

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4. Das Motiv der Seelentherapie und der platonische Begriff der Scham

Das unauflösliche Zusammenspiel von epistemischem Fortschritt und seelischer Veränderung ist für jede Erkenntnis- und Bildungsstufe relevant.1 Entsprechend beruht das im Höhlengleichnis akzentuierte Mühe- und zuweilen Leidvolle des Aufstiegs, des ›weiteren und größeren Ganges‹2 philosophischer Erkenntnis, nicht zuletzt auf dem Erfordernis seelischer Veränderung. Auf der anderen Seite intensi­ viert der Wandel aber auch die Motivation der Seele, diesen Weg zu gehen. Die Begrifflichkeiten von seelischer Veränderung und seelischem Wandel lassen allerdings eine Schwierigkeit erkennen. Vielerorts identifiziert Platon die menschliche Seele mit dem intelligiblen Anteil in uns, mit der Vernunft (νοῦς, νόησις). Denkt man an den Phaidon, dann muss in Bezug auf die wahre, unsterbliche Seele gefragt wer­ den, ob hier von einer Veränderung und Entwicklung, von einer ›Bildung der Seele‹ im eigentlichen Sinne die Rede sein kann? Platon selbst spricht aber von einem notwendigen seelischen Wandel, sein Begriff der Bildung und sein Aufstiegskonzept setzen einen solchen voraus. Ähnlich wie der deutsche Begriff ›Bildung‹ impliziert auch die griechische παιδεία eine ›Formung des Menschen‹;3 diese ist mit der Verschränkung von Erkenntnisgewinn, ethisch-politischer Perspektive und der Ausrichtung auf das wahre Gute bei Platon zugleich als Selbstbildung zu verstehen.4 In einem ersten Schritt widmen sich die nachfolgenden Ausfüh­ rungen der Frage, wie das dem platonischen Bildungsbegriff zugrunde liegende Konzept eines seelischen Wandels zu deuten und die damit verbundene Problemstellung zu lösen ist. Auf dieser Basis werden im Fortgang spezifische Anhaltspunkte und Aspekte zur Bestimmung eines solchen Wandels bei Platon untersucht. Im Zentrum steht 1 In dieser Hinsicht kann der Begriff seelischen Wandels weiter gefasst werden als der Begriff der Periagoge. 2 Vgl. zu diesem Ausdruck R. IV 435d u. VI 504b–d; dazu oben Kap. 3.4. 3 Vgl. dazu das einschlägige Werk von Werner Jaeger: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, 3 Bde. (1934–1947), 3. und 4. Aufl., Berlin 1959; ders.: Die platonische Philosophie als Paideia (1928), in: Konrad Gaiser (Hg.): Das Platonbild. Zehn Beiträge zum Platonverständnis, Hildesheim 1969, S. 109–124. Vgl. auch Jan Szaif: Plato on the »cultivation of the soul« through philosophical knowledge, in: Wolfgang Detel, Alexander Becker, Peter Scholz (Hg.): Ideal and Culture of Knowl­ edge in Plato, Akten der 4. Tagung der Karl-und-Gertrud-Abel-Stiftung vom 1.-3. Sept. 2000 in Frankfurt, Stuttgart 2003, S. 25–35. 4 Der Philosoph forme und bilde sich selbst (ἑαυτὸν πλάττειν, R. VI 500d6), indem er das Göttliche und Geordnete nachahme (vgl. 500c–d).

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4.1 Bildung als Wandel des seelischen Zustandes

hierbei zum einen das Motiv der Seelentherapie, das Sokrates im Charmides einführt und das im Rahmen der sokratischen Elenktik Pla­ tons Begriff seelischer Heilung konkretisiert. Die Ebene dieses frühen Dialogs ist eine andere als diejenige des philosophischen Bildungs­ programms der Politeia. Der therapeutische Ansatz im Charmides erweist sich jedoch als aufschlussreich im Hinblick auf die Frage, worauf das seelenbildende Moment bei Platon zielt. Zum anderen konzentrieren sich die Betrachtungen auf den Begriff der Scham, der auf der Grundlage des Charmides, Protagoras und Phaidros in einer Art Synopse herausgearbeitet wird. Die These dieser Untersu­ chungen ist, dass Platon das traditionelle Konzept der Scham (αἰδώς) auf eine philosophische Ebene transponiert und den so gewendeten Scham-Begriff als eine für die Frage seelischer Bewegung und Umkehr maßgebliche und therapeutische Kraft, die für die Bildung der Seele unverzichtbar ist, lanciert. Platons Bezugnahmen auf den Begriff der Scham lassen seine kritische Reflexion traditionellen Gedankenguts in besonderer Weise hervortreten. Im Vorfeld der Untersuchungen der Seelentherapie und des platonischen Schambegriffs werden deshalb, wiederum in einer Art Exkurs, die vorklassischen Bedeutungen der Scham beleuchtet, um im Anschluss Platons differenzierten Zugriff darauf, seine Distan­ zierungen einerseits und seine produktive Nutzung des traditionellen Schamkonzepts andererseits, aufzuzeigen.

4.1 Bildung als Wandel des seelischen Zustandes Die heterogenen Seelenmodelle im platonischen Werk verleihen der Frage, wie das Konzept eines seelischen Wandels zu interpretieren und zu verstehen ist, besonderen Nachdruck. Insbesondere in Gegen­ überstellung der Seelendarstellungen im Phaidon und im vierten Buch der Politeia wird die Frage im Folgenden analysiert. Davon ausgehend steht das Verhältnis von Wissen und Seele bzw. von Wissensgewinn und seelischer Veränderung zur Diskussion. Die Darlegungen im Rahmen dieses Kapitels dienen einer einleitenden und erläuternden, zugleich aber auch klärenden Skizzierung dieser Fragestellungen und Themen.

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4. Das Motiv der Seelentherapie und der platonische Begriff der Scham

4.1.1 Zum Problem seelischer Veränderung Im Gegensatz zu allem Körperlichen und im Werden Begriffenen, so hieß es im Phaidon, sei die andere Gattung des Seienden, nämlich das Unzusammengesetzte und Unsichtbare, als das sich selbst immer Gleiche zu bezeichnen; dieses sei eingestaltig (μονοειδὲς), verändere sich niemals und nehme folglich auch keine andere Gestalt an (vgl. Phd. 78b–79b). Zu dieser Gattung gehöre aber unsere Seele ihrer Natur nach; sie sei in ihrem Wesen dem Göttlichen, Unsterblichen und der Vernunft am ähnlichsten.5 Die Rede ist von der unsterblichen Seele, die nach den Worten Sokrates’ dem wahren Sein verwandt ist. Zu diesem werde sie in Wahrheit hingezogen, finde bei ihm selbst erst ihr eigentliches Leben (vgl. 79d–e).6 Aber auch im zehnten Buch der Politeia geht Sokrates der Frage nach »der wahrhaftesten Natur« (τῇ ἀληθεστάτῃ φύσει, 611b1) der Seele nach, hier anhand eines Vergleichs mit dem Meeresgott Glaukos (vgl. R. X 611b–612a): Ähnlich wie die wahre Gestalt des Meeresgottes kaum zu erkennen sei, da Muscheln, Tang, Gestein und anderer Unrat diese verdeckten, würden wir hier auf Erden den Zustand der Seele nur in Gemeinschaft mit dem Leib wahrnehmen, nämlich entstellt durch vielerlei Übel. Ihr eigentliches Wesen aber würden wir erkennen, wenn die Seele ihrem Verlangen nach dem ihr Verwandten folgen7 »und durch diesen Aufschwung aus der Meerestiefe emporgehoben würde, in der sie sich jetzt befindet, und die Steine und Muscheln abstieße, die ihr jetzt, weil sie ein Gast der Erde ist, als eine dicke und rohe Kruste aus Erde und Gestein ringsum angewachsen ist«.8 Auf andere Weise zeigte wiederum der Dialog Alkibiades I, dass die Themen der Selbsterkenntnis und Selbst­ τῷ μὲν θείῳ καὶ ἀθανάτῳ καὶ νοητῷ […] καὶ ἀεὶ ὡσαύτως κατὰ ταὑτα ἔχοντι ἑαυτῷ ὁμοιότατον εἶναι ψυχή (Phd. 80b1–3). 6 Vgl. oben Kap. 3.1. 7 Wie im Phaidon wird hier die Verwandtschaft der Seele mit dem Göttlichen und immer Seienden betont (vgl. R. X 611e). Zur Ähnlichkeit der gekennzeichneten Pas­ sagen im Phaidon und im zehnten Buch der Politeia vgl. Thomas A. Szlezák: Unsterb­ lichkeit und Trichotomie der Seele im zehnten Buch der Politeia, in: Phronesis 21 (1976), S. 31–58, hier 43 f.; auch ebd., S. 44 f.: »Die Metapher des Folgens hat bei Platon eine doppelte Verwendung: ethisch bedeutet sie die Unterordnung des Ver­ nunftlosen unter die Vernunft, ontologisch und erkenntnistheoretisch die wesens­ mäßige Zuordnung und das erkennende Gerichtetsein auf das Unwandelbare.« 8 καὶ ὑπὸ ταύτης τῆς ὁρμῆς ἐκκομισθεῖσα ἐκ τοῦ πόντου ἐν ᾧ νῦν ἐστίν, καὶ περικρουσθεῖσα πέτρας τε καὶ ὄστρεα ἃ νῦν αὐτῇ, ἅτε γῆν ἑστιωμένῃ, γεηρὰ καὶ πετρώδη πολλὰ καὶ ἄγρια περιπέφυκεν (R. X 611e4–612a2). Übers. Rufener (Szlezák 2000). 5

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4.1 Bildung als Wandel des seelischen Zustandes

sorge zur Frage nach dem wahren Selbst (αὐτὸ τὸ αὐτό, 130d4) führen: Um sich selbst zu erkennen, so hieß es hier, muss die Seele auf jenen Ort in ihr selbst schauen, dem Arete und Weisheit, Wissen und Vernunft innewohnen; dieser Teil der Seele gleiche aber dem Göttlichen (vgl. Alc. I 133b–c).9 Unter der Voraussetzung der so gekennzeichneten eigentlichen oder wahren Seele bzw. des wahren Selbst erscheinen die Begriffe von Veränderung und Wandel, im engeren Sinne auch von Bildung, ver­ steht man sie als formendes Moment, unzutreffend: Die Seele in ihrem wahren Sein zeichnet es gerade aus, dass sie keinem Wandel unterworfen ist und auch nicht eines solchen bedarf.10 Die im Hinblick auf das eigentliche Wesen der Seele adäquaten und von Platon selbst gebrauchten Ausdrücke sind die der Reinigung, des Los- und Erlö­ sens, der Befreiung (κάθαρσις, λύσις, ἀπαλλάττειν, vgl. Phd. 67c–d, 80e–84b): Von dem, was der Seele wie dem Meeresgott Glaukos anund zugewachsen ist (προσπεφυκέναι, R. X 611d4), von dem irdischen Kleid, gilt es sich nach Möglichkeit zu befreien, wenn die wahre Gestalt der Seele zurückgewonnen oder wiedererlangt werden soll. Dieses im wörtlichen Sinne kathartische Element ist ein wesentlicher Bestandteil des platonisch verstandenen philosophischen Strebens, des Erkenntnis- und Bildungsweges; es liegt Platons Programm der Paideia zugrunde (vgl. R. VII 514a ff.): Je weiter sich die Höhlenbe­ wohner vom Höhleninneren, in dem sie gefesselt waren, entfernen und sich auf den Weg nach oben ans Licht begeben, desto mehr lassen sie von ihrem alten, ›erdig-steinigen Seelenkleid‹ hinter sich. Auf der anderen Seite entwirft Platon aber auch das dreiteilige oder dreigestaltige Konzept der Seele, wie es besonders im vierten Buch der Politeia (vgl. 435a–441c), aber auch im Phaidros und andern­ orts zum Ausdruck kommt.11 Mit den »drei Arten von Naturen« (τριττὰ γένη φύσεων, R. IV 435b5) oder »drei Gestalten« (τὰ τρία εἴδη, 435c5), die danach der Seele in Analogie zur Polis eigen sind – der Vernunft (λογιστικόν), dem muthaft-strebenden Teil (θυμοειδές) und der Begierde (ἐπιθυμητικόν) (vgl. 440e–441a) –, umfasst der Begriff Vgl. insges. Alc. I 129b–133c; dazu oben das Ende des Kap. 2.2.2. Vgl. dazu auch Christian Pietsch: »Im Blick auf den Gott erkennen wir uns selbst«. Zu Platons Verständnis von Personalität im Alcibiades maior, in: Alexander Arweiler, Melanie Möller (Hg.): Vom Selbst-Verständnis in Antike und Neuzeit. Notions of the Self in Antiquity and Beyond, Berlin/New York 2008, S. 343–357, hier 350 f. 11 Vgl. auch R. IX 588a–591a; Tim. 69c–71a, 89d–90b. 9

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der menschlichen Seele neben dem Denk- und Erkenntnisvermögen auch volitionale und emotionale Strebungen und das sinnliche Begeh­ ren.12 Wurden zuvor die nicht-vernünftigen Anteile im Menschen primär dem somatischen Bereich zugeordnet, werden sie hier in das Konzept der Seele integriert. Im Hinblick auf die unterschiedlichen Seelenkonzeptionen innerhalb Platons Werk wurde in der Vergangenheit eine weitrei­ chende Debatte darüber geführt, wie das dualistische Leib-SeeleModell des Phaidon, das seine Entsprechung gewissermaßen in der angeführten Glaukos-Passage im zehnten Buch der Politeia findet, mit dem trimeren Seelenkonzept der Politeia in Einklang zu bringen sei bzw. ob Platons unterschiedliche Darstellungen überhaupt das Verständnis eines kohärenten Seelenkonzeptes zuließen.13 In den älteren Diskussionen stand hierbei zumeist die Unsterblichkeit der Seele im Vordergrund, d. h. die Frage, ob Platon allein die eingestal­ tige Seele resp. das λογιστικόν als unsterblich annehme oder auch die dreiteilige Seele, dann in einer gereinigten, gerechten Form.14 Jüngere Studien über Emotionstheorien in der Antike lenken den Blick hingegen auf die Frage von Affekten und Emotionen bei Platon; die Problemstellung einer Kohärenz oder Nicht-Kohärenz des plato­ 12 Platon verwendet für die drei Bereiche der Seele auch die Termini πάθη, ἕξεις und ἤθη (vgl. R. IV 435b–e), an späterer Stelle auch μέρη (vgl. 442b–c, 444b). Szlezák (1976, S. 38, Anm. 17) merkt dazu an, dass Platon mit der unterschiedlichen Termi­ nologie vielleicht versuche, »vom Begriff der ›Teile‹ räumlich-konkrete Vorstellungen fernzuhalten«. Ausführlich diskutiert wird die Konzeption der dreiteiligen Seele in der Politeia von Norbert Blößner: Dialogform und Argument. Studien zu Platons ›Poli­ teia‹, Stuttgart 1997, darin Kap. V: ›Seele und Seeleninstanzen‹, S. 214–241. 13 Vgl. dazu Michael Erler: Platon, in: Grundriss der Geschichte der Philosophie, begr. von Friedrich Ueberweg, Die Philosophie der Antike, Bd. 2/2, hg. von Hellmut Flas­ har, völlig neu bearb. Ausg., Basel 2007, S. 378 f. u. 383 f. Im Blick auf das platonische Spätwerk wird wiederum eine eher dichotome, gegenüber dem Phaidon jedoch teil­ weise veränderte Struktur gesehen. Vgl. dazu ebd.; auch Szlezák 1976, S. 33; Simo Knuuttila: Emotions in Ancient and Medieval philosophy, Oxford 2004, S. 13–24. 14 Vgl. Szlezák (1976, S. 31 f.), dessen Studie einen guten Überblick zur älteren For­ schungsdiskussion bietet; zu dieser älteren Diskussion auch William K. C. Guthrie: Plato’s Views on the Nature of the Soul (1957), in: Gregory Vlastos (Hg.): Plato. A collection of critical essays, Vol. 2: Ethics, Politics, and Philosophy of Art and Religion, New York 1971, S. 230–243; Andreas Graeser: Probleme der platonischen Seelen­ teilungslehre. Überlegungen zur Frage der Kontinuität im Denken Platons, Mün­ chen 1969 (auch Graeser gibt eine Übersicht der Debatten, vgl. ebd., S. 1–11); Thomas M. Robinson: Plato's Psychology, 2. ed., Toronto u. a. 1995. Vgl. überdies Peter M. Steiner: Psyche bei Platon, Göttingen 1992, Einleitung, S. 1–8.

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nischen Seelenmodells erweist sich auch hier als virulent.15 Überdies hängt die in diesem Rahmen zentrale und oft gestellte Frage, ob mit der Einführung des trimeren Seelenmodells in der Politeia bei Platon ein Perspektivenwechsel in Bezug auf Emotionen und sinn­ liche Bedürfnisse, also auch hinsichtlich möglicher innerseelischer Konflikte zu beobachten sei, nicht zuletzt mit der im ersten Kapitel aufgezeigten Kontroverse um einen ›sokratischen Intellektualismus‹ und den Begriff der Akrasia zusammen.16 Wie in Verbindung mit der Frage eines ›sokratischen Intel­ lektualismus‹ oben bereits kenntlich wurde, wird in dieser Arbeit davon ausgegangen, dass Platon mit dem dreiteiligen Seelenkonzept keine Revision seiner Auffassungen früherer Dialoge vollzieht.17 Auf­ schluss darüber, wie sich hinsichtlich der menschlichen Neigungen, Strebungen und Vermögen zwischen Frühwerk und Politeia auch Aspekte der Kontinuität aufzeigen lassen, werden unten die Erörte­ rungen zur sokratischen Seelentherapie geben. In Anknüpfung an die hier zur Diskussion stehende Frage einer seelischen Veränderung soll der Blick im Folgenden auf zwei Momente gerichtet werden, deren Relevanz für den platonischen Begriff der Paideia gerade in Anbetracht der unterschiedlichen Seelendarstellungen in Phaidon 15 Hier nur eine Auswahl der Literatur zur Frage der Emotionen bei Platon: Knuuttila 2004, S. 1–24; Gabriela R. Carone: Plato’s Stoic View of Motivation, in: Ricardo Salles (ed.): Metaphysics, Soul, and Ethics in Ancient Thought. Themes from the work of Richard Sorabji, Oxford 2005, S. 365–381; Knut Eming: Tumult und Erfahrung. Pla­ ton über die Natur unserer Emotionen, Heidelberg 2006; Michael Erler: Affekte und Wege zur Eudaimonie, in: Hilge Landweer, Ursula Renz (Hg.): Klassische Emotions­ theorien. Von Platon bis Wittgenstein, Berlin/New York 2008, S. 19–44. Vgl. auch Martha C. Nussbaum: The Fragility of Goodness. Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy, Cambridge 1986, S. 85–234, deren Werk im Hinblick auf Platon oft kritisiert wurde, allerdings gab Nussbaum mit ihrer Schrift auch wichtige Impulse. 16 Vgl. dazu Gabriela R. Carone: Akrasia in the Republic. Does Plato change his mind?, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 20 (2001), S. 107–148; auch Erler 2007, S. 379 u. oben Kap. 1.3.1. – Zur Frage einer Neubewertung von Emotionen im plato­ nischen Spätwerk vgl. u. a. Knuuttila 2004, 13–25: Platon habe in spezifischer Weise schon im Phaidros, dann in den späteren Werken Philebos und Nomoi eine komplexere Theorie der Emotionen entwickelt. – In unserem Zusammenhang steht nicht primär die Frage der Emotionen selbst, sondern die Frage seelischen Wandels im Vordergrund. Für diese Fragestellung werden aber Dialogpassagen des frühen und mittleren Werkes, besonders auch das an späterer Stelle erörterte Seelenkonzept im Phaidros, als maß­ geblich erachtet. 17 Damit schließe ich an einen Teil der Forschungsliteratur an: Carone 2001 u. 2005; Eming 2006; Erler 2008 (vgl. in diesem Zusammenhang zu weiteren Arbeiten von Erler unten Anm. 110).

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und Politeia hervortritt: Unter der Voraussetzung, dass beide Seelen­ modelle gleichermaßen ernst zu nehmen sind und einen Geltungs­ anspruch erheben dürfen, impliziert der platonische Bildungsbegriff auf der einen Seite den Aspekt der Katharsis, auf der anderen Seite muss Bildung als ein Vorgang kenntlich werden, welcher neben der Vernunft in ausdrücklicher Weise auch die nicht-vernünftigen Stre­ bungen und Anteile des Menschen einbezieht. Mit dieser anvisierten Betrachtung und Herangehensweise wird sich auch zeigen, dass Pla­ ton mit den unterschiedlichen Darstellungen der Seele verschiedene sachliche Akzente setzt, die sehr different sein können, sich jedoch nicht widersprechen müssen. Im Kontext des ersten Moments, des Aspekts der Reinigung und Befreiung, liegt die Akzentuierung ganz auf der Seite der wahren, unsterblichen Seele, auf die, folgt man dem Phaidon, das Philoso­ phieren hinzielt (vgl. Phd. 80e f., 82c–84b). Bildung soll in diesem Sinne eine Wiederentdeckung und Sichtbarmachung des wahren Selbst, in letzter Instanz eine Rückkehr zu demselben bewirken. Schon zu Beginn des Phaidon hebt Sokrates hervor, dass die Seele dann am besten denken und die Wahrheit treffen würde, wenn nichts Sinnli­ ches sie trübe.18 Vor diesem Hintergrund werden alle sinnlich-soma­ tischen und auch emotionalen Regungen als hinderlich für das Den­ ken, für ein vernunftgeleitetes Leben selbst erachtet: Das Philosophieren ist demgemäß auf die Reinheit der unsterblichen Seele hin ausgerichtet, die aber, unter Voraussetzung einer entsprechenden Lebensweise, als solche erst durch den Tod erlangt wird. Als Befreiung von den körperlichen Dingen wird Philosophie dann aber selbst zu einer »Übung des Todes« (μελέτη θανάτου, Phd. 81a2, vgl. 80e–84b). Die sokratische Argumentation im Phaidon ist nicht unabhängig von der Dialogsituation zu sehen: In den unmittelbaren Stunden vor sei­ nem Tod möchte Sokrates nachweisen, dass für einen Philosophen das Sterben nichts Schlechtes, sondern ganz im Gegenteil etwas Gutes bedeute. Vollziehe sich mit dem Tod doch dasjenige, wonach der Phi­ losophierende immer schon gestrebt habe, die weitestmögliche Los­ 18 »Wann also ergreift die Seele die Wahrheit? […] Sie denkt aber doch dann am besten, wenn nichts von diesen Dingen sie trübt, weder Hören noch Sehen, weder Schmerz noch Lust, sondern wenn sie am meisten bei sich selbst ist und den Leib gehen lässt« (Πότε οὖν, ἦ δ᾿ὅς, ἡ ψυχὴ τῆς ἀληθείας ἅπτεται; […] Λογίζεσθαι δέ γέ που τότε κάλλιστα, ὅταν αὐτὴν τούτων μηδὲν παραλυπῇ, μήτε ἀκοὴ μήτε ὄψις μήτε ἀλγηδὼν μηδέ τις ἡδονή, ἀλλ᾿ ὅτι μάλιστα αὐτὴ καθ᾿ αὑτὴν γίγνηται ἐῶσα χαίρειν τὸ σῶμα, Phd. 65b9–c8).

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lösung der Seele vom Leib, von der Gemeinschaft mit ihm.19 Jedoch ist die Thematik selbst, die Befreiung oder Reinigung der Seele, nicht primär den Rahmenbedingungen des Phaidon geschuldet. Auch über den Phaidon hinausgehend spielt sie, wie schon das Beispiel des Mee­ resgottes Glaukos zeigte, eine zentrale Rolle.20 Das zweite die Seele betreffende Moment des Bildungsbegriffs, welches der innerseelischen Dynamik Rechnung tragen und folglich die verschiedenen menschlichen Strebungen einbegreifen soll, wird auf der Grundlage des trimeren Seelenkonzepts der Politeia kenntlich: Die in Verbindung mit den Tugenden des Gerecht-, Besonnen- und Tapferseins dargestellte Veränderung der innerseelischen Gewich­ tung oder des innerseelischen Gleichgewichts (vgl. R. IV 441c–442d) ist als notwendiges und konstitutives Element seelischer Bildung zu betrachten. Der Prozess der Paideia muss dann in der Weise gedacht werden, dass er solche Veränderungen bewirkt: Mit dem Einschluss der volitionalen, emotionalen und begehrenden Anteile im Menschen liegt die Betonung dieses zweiten Moments auf einer zunehmenden Ordnung und Harmonisierung der innerseelischen Kräfte; das Ziel ist ein geordneter Zustand der Seele. Allerdings ist eine solche Ausgewogenheit aus platonischer Perspektive allein durch die Vorrangstellung des Vernunftanteils zu erreichen: Allein das λογιστικόν verstehe sich darauf, für die gesamte Seele Sorge zu tragen und vorauszudenken (προμήθειαν, 441e5), stelle es doch jenen Teil in uns dar, der »seinerseits das Wissen davon in sich trägt, was jedem Einzelnen und was der gesamten Gemeinschaft, die aus den dreien besteht, zuträglich ist«.21 Dem λογιστικόν resp. der Vernunft gebühre es zu herrschen (ἄρχειν προσήκει, 441e4); ihr obliege es, die anderen Seelenteile zu leiten und zu lenken. Durch die Führung der Vernunft können aber die gekennzeich­ neten zwei Momente des Bildungsbegriffs – einerseits das katharti­ sche, andererseits das die innerseelische Dynamik betreffende, im Eigentlichen verändernde Moment – zusammengedacht und bis zu einem gewissen Grad als die zwei Seiten einer Medaille betrachtet werden. So bedürfen Harmonie und innerseelische Balance der Ein­ 19 ἀπολύων ὅτι μάλιστα τὴν ψυχὴν ἀπὸ τῆς τοῦ σώματος κοινωνίας (Phd. 65a1–2). Vgl. insges. Phd. 63d–69e. 20 Vgl. auch Tht. 176a–b. 21 ἔχον αὖ κἀκεῖνο ἐπιστήμην ἐν αὑτῷ τὴν τοῦ ξυμφέροντος ἑκάστῳ τε καὶ ὅλῳ τῷ κοινῷ σφῶν αὐτῶν τριῶν ὄντων (R. IV 442c6–8). Übers. Rufener (Szlezák 2000).

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sicht darin, welcher Seelenteil führen und vorstehen soll; notwendig dafür ist aber die Erkenntnis bzw. Selbsterkenntnis der wahren Seele im Sinne der Vernunftseele. Dieser Erkenntnisweg hin zum wahren Selbst22 umfasst die beiden zur Diskussion stehenden Momente: Ermöglicht wird der Weg nur, wenn es gelingt, die sinnlichen und emotionalen Strebungen in der Weise zu lenken, dass sie mit der Priorität der Vernunft korrespondieren. Vor allem die Begierde, die, wie Sokrates immer wieder unterstreicht, in uns den größten Raum einnimmt und ihrer Natur nach maßlos und unersättlich ist, muss in das richtige innerseelische Gleichgewicht gebracht werden, da sie sonst den Menschen zu dominieren droht (vgl. R. IV 442a). Gleich­ zeitig und davon nicht unabhängig vollzieht sich die Wiederentde­ ckung des göttlichen und unsterblichen Anteils in uns nur dann, wenn die Seele bereits hier auf Erden möglichst viel von den irdischen und oftmals irrtümlichen Beeinflussungen und Belangen hinter sich zu lassen vermag und sich in diesem Sinne reinigt (vgl. Phd. 80e ff.). Der unterschiedliche Akzent der beiden Momente bleibt eines­ teils bestehen: Vor dem Hintergrund der verschiedenen Seelendar­ stellungen im Phaidon und im vierten Buch der Politeia werden auch der seelische Bildungsprozess und damit einhergehend die Frage der Lebenshaltung und Lebensweise mit einer je anderen Gewichtung von Aspekten und Nuancierungen thematisiert. Anderenteils werden beide Momente von Platon aber auch enggeführt. Erkennbar wird dies nicht zuletzt daran, dass er den Begriff der seelischen Katharsis gleich­ zeitig im Sinne beider Momente verwendet: Das Reinigende bezieht sich dann nicht nur auf die Befreiung der Vernunftseele, sondern auch auf deren Vorrangstellung gegenüber den nicht-vernünftigen Strebungen, die in diesem Falle nicht zu negieren, sondern, wie es in der Politeia heißt, durch die Vernunft zu führen sind. Umgekehrt ist auch im Phaidon, in dem die Loslösung der Seele den zentralen Gesichtspunkt bildet, das zweite Moment präsent, wenn auch gleich­ sam in einer Nebenrolle: Im Blick auf die sokratischen Dialogpartner gewinnt hier die Frage des Umgangs mit Affekten und Emotionen an Bedeutung.23 Die Gegenüberstellung der Seelenkonzepte im Phaidon und in der Politeia macht deutlich, dass der Begriff der Bildung unter 22 Dieser Weg wird im Rahmen des Phaidros erörtert werden, vgl. dazu auch unten Anm. 35. 23 Vgl. dazu unten Kap. 4.3.1.

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Zugrundelegung seiner Prämisse von Veränderung, Formung und Entwicklung in einem engeren Sinne nur auf die dreiteilig gedachte Seele zutrifft. Die wahre Seele oder Vernunftseele bedarf keiner bildenden Formung. Zugleich ist es in einem weiteren Sinne dennoch berechtigt, auch im Hinblick auf die wahre Seele bzw. auf das befrei­ end-reinigende Moment von seelischer Bildung zu sprechen: Der Begriff seelischer Veränderung bezieht sich auf das Verhältnis zwi­ schen Vernunftseele und nicht-vernünftigen Anteilen – auch dann, wenn Letztere, wie dies im Frühwerk der Fall ist, nicht in der Seele verortet werden. Wenn wir aber überdies hinsichtlich Erziehung und Bildung eine Entwicklungsfähigkeit unseres intelligiblen Vermögens voraussetzen, also annehmen, dass im Vollzug von Bildung unser Denk- und Erkenntnisvermögen eine Steigerung und Reifung erfährt, dann steht Platons Begriff der Vernunftseele, die selbst keiner Ent­ wicklung bedarf, dazu in einem gewissen Widerspruch.24 Da jedoch die intelligible Seele ein größtmögliches Freisein von unvernünftigen Strebungen erlangen und zugleich ein innerseelisches Gleichgewicht angestrebt werden soll, ist davon auszugehen, dass die intelligible Seele durch diese Befreiung und durch die richtige Verhältnissetzung der seelischen Kräfte eine in Hinsicht auf die anderen Strebungen rela­ tive Stärkung erfährt. Die Annahme eines intellektuellen Fortschritts, wenn auch in relativer Form, darf deshalb auch in platonischem Zusammenhang als Grundlage der Bildung vorausgesetzt werden. Eine Vertiefung unserer Gedanken, die Verbesserung unserer Refle­ xionskraft und unserer logisch-argumentativen Fähigkeiten, d. h. unseres dianoetischen oder diskursiven Vermögens, schließlich der dialektische Erkenntnisweg selbst sind nur mit der Vorstellung eines solchen Fortschritts oder einer solchen Reifung denkbar. Gerade durch das befreiend-reinigende Moment, durch die Loslösung von allem Unnötigen, gewinnt die Vernunftseele an Kraft, wird ihrem Ursprung ähnlicher, bildet sich gleichsam heraus. In diesem Sinne illustrieren aber gerade die frühen Dialoge, dass menschliche Bildung einen Wandel des seelischen Zustandes meint: 24 Ganz in diesem Sinne formuliert Pietsch (2008, S. 351) im Hinblick auf die selbst­ erkennende Seelenspiegelung im Alkibiades I (132b–133c): »Aber der Intellekt, dieses eigentliche Selbst, das die charakterliche Vervollkommnung bewirkt, scheint im Moment seiner ›Entdeckung‹ bereits vollkommen zu sein.« Und in Bezug auf den gleichnamigen Gesprächspartner: »Die differenzierende Reflexionsbewegung führt also auf etwas, das Alkibiades, wenn auch noch nicht in aktualisierter Form, schon längst und eigentlich ist« (Hervorh. im Orig.).

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Die sokratischen Befragungen und Prüfungen zielen darauf hin, ein differenzierendes, kritisches und selbstreflexives Denken hinsichtlich der Arete zu fördern; die Arete selbst wird aber als eine anzustrebende seelische Haltung, als Bestheit der Seele verstanden. Die Stärkung der Denk- und Reflexionskraft, die intellektuelle Entwicklung, und eine zunehmend ausgeglichene seelische Haltung werden dadurch in ihrer engen Verschränkung evident.

4.1.2 Das Verhältnis von Wissen und Seele Im Kontext der Darstellung der Tugenden im vierten Buch der Politeia spielt die Gerechtigkeit sowohl in Bezug auf die Polis (vgl. R. IV 432b–434c) als auch im Blick auf den einzelnen Menschen (vgl. 441c–444a) eine besondere Rolle.25 Sie wird als prinzipielle Tugend kenntlich: Die Gerechtigkeit verleihe allen anderen Tugenden erst die Kraft, zu entstehen und da zu sein; solange sie selbst anwesend sei, schütze sie die anderen Tugenden, damit diese bestehen können (vgl. 433b–c). Bestimmt wird die Gerechtigkeit von Sokrates als »das Seine tun« (τὸ τὰ αὑτοῦ πράττειν, 433a8, 433b4), was für den einzelnen Menschen heiße, dass jeder Seelenteil (nur) das, was ihm gebühre, tue (vgl. 443b). Das Gerechtsein beziehe sich deshalb nicht zuerst auf die äußere Handlung eines Menschen bezüglich des ihm Eigenen, sondern auf die innere Tätigkeit, wie sie in Wahrheit sich selbst und dem Seinigen zukomme.26 Ausführlich charakterisiert Sokrates den gerechten Menschen: Dieser sorge dafür, dass jeder Teil seiner Seele nicht das ihm Fremde, sondern das ihm Angehörige verrichte (vgl. 443d), er »ist über sich selbst Herr geworden und hat Ordnung in sich geschaffen; er ist sich selber Freund geworden und hat jene drei Teile in ein harmonisches Verhältnis gebracht«.27 Bei seinen Tätigkeiten und Die Analogie von Polis und menschlicher Seele in der Politeia (vgl. R. IV 434d ff.) ist in der Literatur häufig und eingehend analysiert worden. Vgl. bes. Blößner 1997, S. 152–241; zu der Thematik auch Arbogast Schmitt: Der Einzelne und die Gemein­ schaft in der Dichtung Homers und in der Staatstheorie bei Platon. Zur Ableitung der Staatstheorie aus der Psychologie, Stuttgart 2000, S. 35–79; ders: Die Moderne und Platon, Stuttgart/Weimar 2003, S. 421–426. 26 ἀλλ’ οὐ περὶ τὴν ἔξω πρᾶξιν τῶν αὑτοῦ, ἀλλὰ περὶ τὴν ἐντός, ὡς ἀληθῶς περὶ ἑαυτὸν καὶ τὰ ἑαυτοῦ (R. IV 443c10–d1). 27 καὶ ἄρξαντα αὐτὸν αὑτοῦ καὶ κοσμήσαντα καὶ φίλον γενόμενον ἑαυτῷ καὶ συναρμόσαντα τρία ὄντα (R. IV 443d4–5). Übers. Rufener (Szlezák 2000). 25

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Geschäften, ob im häuslichen oder politischen Bereich, betrachte er »dasjenige Handeln als gerecht und schön, das diese Haltung wahrt und mit bewirken hilft, und als Weisheit bezeichnet er das Wissen, das dieses Handeln leitet, als ungerecht dagegen jenes Handeln, das diese Haltung aufhebt, und als Unwissenheit diejenige Meinung, die wiederum dieses Handeln leitet.«28 Die harmonische innerseelische Dynamik beruht auf dem oben schon dargelegten angemessenen Verhältnis zwischen Vernunft und nicht-vernünftigen Strebungen, vollziehe sich doch ›das Seine tun‹ nur gemäß dem richtigen Herrschen und Beherrschtwerden:29 Die Seele muss danach von oder über sich selbst wissen, wer führen und wer geführt werden soll. Diese Einsicht in das richtige seelische Verhältnis, wenn also alle Seelenteile anerkennen, dass die Vernunft vorstehe, war zuvor als Sophrosyne gekennzeichnet worden: Durch Freundschaft und Zusammenstimmung (φιλίᾳ καὶ συμφωνίᾳ, R. IV 442c10) seiner Seelenteile sei der einzelne Mensch besonnen.30 Als seelische Verfasstheit sind Gerechtigkeit und Besonnenheit eng verbunden: Indem ein Mensch durch seine innere Tätigkeit sich aktiv darin übt, dass jeder Teil ›das Seine tut‹ und nicht etwa der Begierde das Herrschen überlässt, wenn er sich also immer wieder um die Ordnung seiner Seele bemüht und dafür Sorge trägt, fördert und motiviert er zugleich die besonnene Einsicht und den besonnenen Seelenzustand. Insofern können sich durch die Gerechtigkeit auch die Besonnenheit und die anderen Tugenden herausbilden.31 Gezeichnet werden Gerechtigkeit und Besonnenheit als Bestheit, als idealer Zustand der Seele. Die Frage, auf welche Weise die nichtvernünftigen Seelenteile Einsicht gewinnen oder zu dieser geleitet werden und tatsächlich ›das Seine tun‹, auch wie die verschiedenen seelischen Kräfte und Strebungen interagieren, ist nicht Gegenstand 28 δικαίαν μὲν καὶ καλὴν πρᾶξιν ἣ ἂν ταύτην τὴν ἕξιν σῴζῃ τε καὶ συναπεργάζηται, σοφίαν δὲ τὴν ἐπιστατοῦσαν ταύτῃ τῇ πράξει ἐπιστήμην, ἄδικον δὲ πρᾶξιν ἥ ἂν ἀεὶ ταύτην λύῃ, ἀμαθίαν δὲ τὴν ταύτῃ αὖ ἐπιστατοῦσαν δόξαν. (R. IV 443e5–444a2) Übers. Rufener (Szlezák 2000). 29 ἕκαστον τὰ αὑτοῦ πράττει ἀρχῆς τε πέρι καὶ τοῦ ἄρχεσθαι (R. IV 443b2). 30 »Wenn das Herrschende und die beherrschten Teile darin übereinstimmen, dass die Vernunft herrschen soll und sie darin nicht miteinander im Streit liegen« (ὅταν τό τε ἄρχον καὶ τὼ ἀρχομένω τὸ λογιστικὸν ὁμοδοξῶσι δεῖν ἄρχειν καὶ μὴ στασιάζωσιν αὐτῷ, R. IV 442c11–d1). Vgl. auch 432a. 31 Gleiches gilt für die Polis: Eine gerechte Ordnung unterstützt maßgeblich die anderen Tugenden.

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dieses Passus. Entsprechend wird diese Fragestellung auch in den vorliegenden Betrachtungen erst an späterer Stelle erörtert.32 Zwei Aspekte der dargelegten Textpassage sind aber hinsichtlich der Frage seelischen Wandels von weiterführendem Interesse. Erstens akzentuiert die oben zitierte Textstelle nicht nur die unter Leitung der Vernunft sich verwirklichende Harmonie der Seelenteile, sondern auch das Zusammenspiel von Wissen, Praxis und seelischer Verfasstheit, wobei der Praxis eine besondere Rolle zukommt: Der Zusammenhang von Wissen und seelischer Verfasstheit wird in gewisser Weise über die Praxis hergestellt. Erkenntnis und Wissen führen danach zu einem Handeln, welches den gerechten Seelenzu­ stand unterstützt und mitbewirkt; Unwissen auf der anderen Seite zu einem solchen Tun, welches eine schlechte seelische Haltung verursacht. Die Frage des Handelns bildet gleichsam den Prüfstein für Erkenntnis und Wissen; diese müssen sich in und an der Praxis bewähren, die wiederum auf den Zustand der Seele deutlich rück­ wirkt. Seelische Veränderung und Bildung mit dem Ziel des Gerechtund Besonnenseins sind demnach nicht nur an Wissen gebunden; entscheidend ist auch das praktische Moment. Zugleich fördert eine ausgewogenere Seele, auch im Sinne der oben dargelegten Katharsis und Befreiung der intelligiblen Seele, wiederum den epistemischen Fortschritt.33 Darüber hinaus zeichnet der hier betrachtete Passus nicht nur das nach außen gerichtete Handeln, insofern es auf Wissen beruht, als bildendes Moment der Seele, sondern auch die, wie es heißt, innere Tätigkeit, also das stete Bemühen darum, dass die seelischen Vermögen und Strebungen ihrem eigenen Bereich und ihrer eigenen Aufgabe gerecht werden. Diese Arbeit an sich selbst kann in Verbindung mit der sokratischen Selbstsorge im Frühwerk gesehen werden; auch im Kontext der gerechten Seele bleibt diese Arbeit, die auf einer Durchdringung von Wissen und innerer und äußerer Praxis basiert, eine stete Übung. Auch wenn die Gerechtigkeit als idealer seelischer Zustand sichtbar wird, bedeutet dies nicht, dass ein Mensch, der einer solchen Verfassung nahekommt, gerechte Handlungen in gleichsam verbürg­ 32 Nämlich im Kontext der Seelentherapie (vgl. unten Kap. 4.3) und besonders im Rahmen des Phaidros (Kap. 5.3.3). 33 Vgl. mit etwas anderer Betonung auch Jörg Hardy: Jenseits der Täuschungen – Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung mit Sokrates, Göttingen 2011, S. 14 f. Hin­ sichtlich Platons Konzept der Arete unterstreicht Hardy den engen Zusammenhang von Wissen und seelischer Verfassung als Grundlage einer gelingenden Praxis.

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4.1 Bildung als Wandel des seelischen Zustandes

ter Weise hervorbrächte; auch ist damit nicht gesagt, dass er sein erlangtes Wissen lediglich anwenden müsste. Das richtige Handeln beruht auf einem lebendigen, aktiv zu haltenden Denk- und Erkennt­ nisprozess und einer ebenso wach zu haltenden Übung der inneren Tätigkeit, die mühevoll bleibt. Wissen, Praxis und seelischer Zustand bilden in der sokratischen Darstellung einen dynamischen Dreiklang; Erkenntnisgewinn, Handeln und seelischer Wandel spielen zusam­ men oder interferieren. Die Seele kann sich auf dem Erreichten nicht ausruhen; dennoch signalisieren vor allem die musikalischen Meta­ phern (vgl. bes. R. IV 443d5–e1), auch die Begriffe der Freundschaft und Ordnung, dass die Seele in ihrem besten, ausgewogenen Zustand eine Art dynamische Ruhe, eine seelische Eintracht findet. Der zweite für die Frage seelischen Wandels relevante Aspekt hängt mit dem ersten unmittelbar zusammen: Es handelt sich wiede­ rum um die Frage eines selbstreflexiven Wissens. Gemäß Sokrates’ Ausführungen weiß die gerechte Seele, welche Art von Handlungen ihr nützen und welche ihr schaden, was also ihre gute Haltung fördert oder wodurch diese umgekehrt beeinträchtigt oder nachhaltig geschwächt wird. Grundlegend weiß danach die gerechte Seele, was einen guten seelischen Zustand auszeichnet. Damit deutet die Text­ passage auf eine eigene Art von Wissen hin, welches sich konkret auf das Verhältnis der seelischen Vermögen und Strebungen zueinander, auf die Frage des richtigen innerseelischen Gleichgewichts und auf die Verbindung von seelischem Zustand, Wissen und Praxis bezieht. Es ist ein Wissen, das sich auf die Arete richtet und welches zugleich als ein Selbstwissen, ein die eigene Seele betreffendes Wissen hervortritt. Die von Sokrates akzentuierte innere Tätigkeit, ebenso die besonnene Einsicht darin, wer führen und wer geführt werden soll, sind notwen­ dig an ein solches selbstbezügliches Wissen, welches über die Frage der Arete vermittelt ist, gebunden: Im Vollzug dieser Tätigkeit und Einsicht weiß das Selbst resp. die Seele in vermittelter Form von sich selbst. Das hier kenntliche werdende Selbstwissen deutete sich ebenso bereits in Verbindung mit der sokratischen Selbstsorge an, zielte diese doch nicht zuletzt auf ein selbstreflexives Moment, nämlich auf ein Innewerden des eigenen seelischen Status im Hinblick auf eine tugendgemäße Haltung. Zugleich bewegten sich die Gesprächs­ partner der frühen Dialoge auf einer anderen Ebene: Durch ihre sich an konventionellen Zielvorstellungen orientierenden Anschau­ ungen über die Tugend spiegelten sie das unreflektierte, gewöhnliche

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4. Das Motiv der Seelentherapie und der platonische Begriff der Scham

Selbstverhältnis. Demgegenüber weist das im Kontext der gerechten Seele in der Politeia thematisierte Selbstwissen auf eine höhere und zugleich mittlere Position hin: Es hebt sich einerseits deutlich von dem gewöhnlichen Selbstverhältnis ab, ist aber andererseits auch von jener Selbsterkenntnis zu unterscheiden, die sich auf die ›wahrhafteste Natur‹ der Seele bezieht. Wer diese erkennen möchte, so hieß es in der oben dargelegten Glaukos-Passage, müsse allein auf das phi­ losophische Wesen der Seele und darauf blicken, wonach dieses als dem Unsterblichen verwandt seiend trachte (vgl. R. X 611b–612a).34 Auch im Alkibiades I war es diese auf den göttlichen Anteil in uns, auf die intelligible Seele zielende Form der Selbsterkenntnis, die zur Diskussion stand (vgl. Alc. I 132b–133c). Das im vierten Buch der Politeia indizierte Selbstwissen richtet sich hingegen auf die trimere Seele: Ihm zugrunde liegt die Frage, unter welchen Bedingungen die Seelenteile, insbesondere die ›unteren‹, das Ihre tun, sodass sich eine besonnene Einsicht und seelische Ordnung zu entwickeln vermögen. Auch die umgekehrte Fragestellung, wodurch die Seele in ein Ungleichgewicht gerät, gehört zu dieser Form des Selbstwissens. Es zielt auf die Richtigkeit der seelischen Verhältnisse bzw. auf eine Lösung der Frage, was ›das Seine tun‹ im Eigentlichen bedeutet. Sokrates’ Ausführungen zur Seele im vierten Buch der Politeia zeigen folglich auf eine für die Bildung der Seele maßgebliche Form eines selbstbezüglichen Wissens oder Selbstwissens hin, welcher im Gesamtkontext menschlicher Selbsterkenntnis eine Art mittlere Stellung zukommt. In Untersuchung von Platons Begriff der Scham und im Horizont der Frage, auf welche Weise der Wandel der Seele bei Platon konkret zur Darstellung kommt, wird die Relevanz dieser ›mittleren Form‹ eines Selbstwissens zur Debatte stehen. An dieser Stelle bleibt noch festzuhalten, dass die gleichsam vollkommene seeli­ sche Verfasstheit, wie sie im vierten Buch der Politeia als Gerechtigkeit der Seele gezeichnet wird, letztlich mit dem Wissen des Dialektikers korrespondieren bzw. in ihm seine Entsprechung finden muss. Zwar ist der Dialektiker zur Selbsterkenntnis der wahren Natur der Seele fähig, dennoch bleibt auch er mit den nicht-vernünftigen Strebungen konfrontiert. Sein philosophisches Erkenntnis- und Wissensniveau muss deshalb notwendig mit der Annäherung an das Ziel seelischer

34

Vgl. auch Szlezák 1976, S. 36 ff.

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4.1 Bildung als Wandel des seelischen Zustandes

Balance einhergehen.35 Vor diesem Hintergrund weist aber das hier angedeutete Selbstwissen über die gekennzeichnete mittlere Ebene in gewisser Weise zugleich hinaus. Im Hinblick auf den Begriff der Bildung betrifft die Verschrän­ kung des epistemischen, praktischen und seelenordnenden Aspekts besonders die Frage des Lernens, d. h. jede hinsichtlich der Tugend relevante Form des Lernens. Auf andere Weise als in der Politeia und ohne den Hintergrund des trimeren Seelenmodells wird der Zusammenhang von Lernen und seelischer Veränderung im Ein­ gangsgespräch des Protagoras – hier aus einer kritischen Perspektive – beleuchtet. Sokrates, der seinen jungen Begleiter davor warnen möchte, bei einem Sophisten zu lernen, vergleicht die umherzie­ henden sophistischen Lehrer mit Krämern (vgl. Prt. 313c–314b):36 Während diese Nahrungsmittel für den Leib verkauften, böten die Sophisten solche Waren an, von denen sich die Seele ernähre (ἀφ᾿ ὧν ψυχὴ τρέφεται, 313c5–6), nämlich Lerninhalte (μαθήματα). Ähnlich wie mit den Krämern, die zumeist kein hinreichendes Wissen darüber hätten, ob die angebotenen Produkte dem Körper tatsächlich nutzen oder nicht vielmehr schaden – was die Kaufleute aber nicht daran hindere, ihre Ware anzupreisen und zu loben –, verhalte es sich auch mit den Sophisten: Auch sie wüssten bezüglich ihrer feilgebotenen, von ihnen selbst gerühmten Mathemata nicht, ob diese nützlich oder schädlich für die Seele sind. In beiden Fällen seien aber auch die Käufer fast immer unwissend; nur ein Arzt (ἰατρικός, 313e2), in einem Falle des Leibes, im anderen der Seele, sei imstande, die Ware zu begutachten. Sei man als Käufer, wie in der Mehrzahl der Fälle, aber kein Heilkundiger, dann allerdings würde man, wenn man zu einem Sophisten gehe, ein weitaus gefährlicheres Spiel als beim Gang zum Krämer wagen: Denn Speisen und Getränke könne man in Gefäßen wegtragen, zu Hause hinstellen und überdies mit einem Sachverständigen beratschlagen, was und wieviel man davon essen und trinken solle. Mathemata aber könne man nicht gesondert mitnehmen, sondern sie würden notwendig, indem man sie in die 35 Der Zusammenhang von innerseelischem Ausgleich und Selbsterkenntnis der wahren Seele wird im Kontext des Seelenmythos im Phaidros zur Diskussion stehen (vgl. unten Kap. 5.3.4). 36 Auf diese Testpassage wurde bereits in Diskussion der Lehrbarkeit von Tugend kurz Bezug genommen (vgl. oben Kap. 1.1.2). Vgl. dazu auch Wolfgang Wieland: Pla­ ton und die Formen des Wissens, 2., durchges. und um einen Anh. und ein Nachw. erw. Aufl., Göttingen 1999, S. 237 f.; Steiner 1992, S. 21 f.

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4. Das Motiv der Seelentherapie und der platonische Begriff der Scham

Seele aufnehme, gelernt (ἐν αὐτῇ τῇ ψυχῇ λαβόντα καὶ μαθόντα, 314b2–3). Gekaufte Speisen und Getränke können aus einer Distanz betrachtet und daraufhin analysiert werden, ob sie zuträglich sind oder nicht. Diesen Raum zwischen Erwerb und Rezeption, der eine Abstandswahrung und prüfende Haltung ermöglicht, gibt es nach Sokrates’ Worten in Bezug auf Lerninhalte und ihre seelische Auf­ nahme nicht – es sei denn, man versteht sich auf die Seele, ist ein Heilkundiger derselben. Im Moment der Kenntnisnahme und des hörenden oder lesenden Lernens der Mathemata, so legt es das sokratische Beispiel nahe, passiert etwas in der Seele selbst; »während man noch im Weggehen ist«, so heißt es wörtlich, »ist der Schaden oder Nutzen bereits geschehen« (ἀπιέναι ἢ βεβλαμένον ἢ ὠφελημένον, 314b3–4). Der Prozess des seelischen Aufnehmens der Mathemata vollzieht sich bei einem gewöhnlich Lernenden unmittelbar: Einem solchen steht es demnach nicht mehr zur Disposition, die Lerninhalte zu objektivieren und eine Haltung ihnen gegenüber einzunehmen. Nur eine solche Wahrung der Distanz würde aber eine Beurteilung erlauben. Die Seele ist kein Gefäß wie ein Einkaufskorb, der eine Ware aufnehmen und genauso wieder freigeben kann. Folgt man den sokratischen Ausführungen, dann verwandelt sich die Seele mit ihren rezipierten Inhalten mit, ein Teil der Seele wird gleichsam selbst zu dem, was sie aufnimmt. Ähnliches gilt für die Strebensziele, auf die sich ein Lehrender und mit ihm der Lernende hin ausrichtet: Lässt sich ein Mensch von scheinbaren und trügerischen Gütern leiten, so können die nachteiligen Folgen zu irreversiblen Schäden seiner Seele führen. Während Sokrates’ Beschreibung des Bestzustandes der Seele in der Politeia auf einen Wissenden im philosophischen Sinne rekurriert, betrifft die sokratische Mahnung im Protagoras einen unerfahrenen und eher unwissenden Lernenden, der sich die Mathemata eines Sophisten aneignen möchte. Dennoch tritt in beiden Fällen – aus gleichsam entgegengesetzter Perspektive bzw. unter Voraussetzung eines konträren Wissensbegriffs – die enge Korrelation von Lernin­ halten bzw. Wissenserwerb und seelischer Veränderung hervor. Im Protagoras erscheint überdies der Heilkundige als ein Wissender der Seele: In Analogie zu einem gewöhnlichen Arzt vermag der seelische Arzt das Aufzunehmende zu prüfen, für sich selbst wie auch für andere. Er besitzt die Fähigkeit, die Mathemata der Sophisten aus einer Distanz zu betrachten: Offensichtlich versteht er Inhalte und

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4.1 Bildung als Wandel des seelischen Zustandes

Meinungen im Hinblick darauf zu beurteilen, ob sie – mit dem vierten Buch der Politeia gesprochen – die innerseelische Harmonie stärken oder schwächen. Sokrates erklärt im Protagoras nicht, auf welche Weise sich die seelische Veränderung durch Mathemata vollzieht; auch steht das Verhältnis von Vernunft und nicht-vernünftigen Antei­ len im Menschen nicht explizit zur Diskussion. Deutlich wird aber, dass aus sokratischer Sicht sophistische Meinungen und Lerninhalte, die von der Seele aufgenommen und verinnerlicht werden, eher die unvernünftigen Bestrebungen stärken und damit – wiederum relativ betrachtet – die Vernunft schwächen. Der Heilkundige kennt die Möglichkeiten der Veränderungen der innerseelischen Verhältnisse. Gerade deshalb weiß er auch um die Gefahr, die von sophistischen Mathemata ausgeht. Die enge Verbindung von intellektuellem Bemühen und seeli­ scher Verfasstheit, von Lernen und seelischer Haltung weist – sowohl im Zuge einer die Seele fördernden Bildung als auch im Rahmen einer aus Platons Sicht falschen Erziehung – auf ein Moment hin, das ebenso durch die Textpassage des Protagoras illustriert wird: Die Seele wird den Inhalten und Zielen, denen sie sich anzunähern bemüht ist, ähnlich; die Veränderung des seelischen Zustandes vollzieht sich im Sinne einer Angleichung, wobei diese selbst nicht mehr der willent­ lichen Bestimmung eines Lernenden unterliegt. In diesem Zusam­ menhang kommt noch einmal zum Tragen, was Sokrates im Menon akzentuierte: Dass nämlich sowohl das Gute als auch das Schlechte dem Strebenden ›zuteilwird‹ und ihm damit selbst ›wird‹ (γενέσθαι αὐτῷ, Men. 77c8). Auch ist vor diesem Hintergrund nachvollziehbar, weshalb Platon eine Nachahmung vernünftiger Verhaltensmuster und Handlungsorientierungen für diejenigen, die nicht den philoso­ phischen Weg einschlagen, als Bildungsprogramm für zweckmäßig hält, zugleich aber vor trügerischen Inhalten nachdrücklich warnt. Die zu vermittelnden Lern- und Übungsinhalte aus Dichtung und Musik müssen aus platonischer Perspektive, bevor sie nachahmend von den Lernenden aufgenommen werden, hinsichtlich ihrer Sinnhaftigkeit und vernunftgemäßen Richtigkeit in strenger Weise geprüft werden, sollen sie der Seele des Lernenden von Nutzen und nicht von Schaden sein (vgl. R. II u. III 376c–412b). Das Ähnlichwerden der Seele mit ihren angestrebten Inhalten und Zielen kann sich in beide Richtungen vollziehen. Der Theaitetos exponiert in diesem Zusammenhang zwei Vorbilder (παραδείγματα), die im Seienden aufgestellt seien, nämlich »das des höchsten göttli­

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4. Das Motiv der Seelentherapie und der platonische Begriff der Scham

chen Glücks und das andere des größten ungöttlichen Elends«.37 Die Unwissenden, die dem Gemeinen und Ungerechten nachgehen, so heißt es hier, »sehen nicht, daß es sich so verhält, und werden aus Torheit und höchstem Unverstande unvermerkt durch ungerechte Handlungen diesem ähnlich, immer unähnlicher aber jenem«.38 Die wahre Stärke eines Mannes liegt nach Sokrates’ Worten hingegen in der Erkenntnis, dass die Angleichung an Gott das höchste Glück bedeute; jede andere Meisterschaft sei dagegen dem Gewöhnlichen und Gemeinen zuzuordnen (vgl. Tht. 176b–d). Die Beschäftigung mit und das Trachten nach dem Richtigen und damit die Wirkung eines echten und nicht vermeintlichen Guten auf die Seele finden in dieser selbst unmittelbar ihren Niederschlag.39 Dass ein Mensch sich dem Richtigen und Guten zuwendet, hängt für Platon insbesondere mit der Bereitschaft zusammen, die Mühe und Anstrengung eines solchen Weges auf sich zu nehmen. Der Erkenntnisweg ist aktiv zu gehen und verlangt einen hohen Grad an Reflexivität. Dennoch geht auch im Falle des Philosophen der Einfluss eines Erstrebten auf die Seele und deren Angleichung an das Strebensziel selbst mit einem, wie es oben schon hieß, rezeptiven Moment einher.40

4.2 Der Begriff der Scham (αἰδώς) Die Frage seelischen Wandels ist für Platon eng mit der Frage nach dem Bild des Menschen verbunden. Die Reflexion auf die Natur τοῦ μὲν θείου εὐδαιμονεστάτου, τοῦ δὲ ἀθέου ἀθλιωτάτου (Tht. 176e3–4). οὐχ ὁρῶντες ὅτι οὕτως ἔχει, ὑπὸ ἠλιθιότητός τε καὶ τῆς ἐσχάτης ἀνοίας λανθάνουσι τῷ μὲν ὁμοιούμενοι διὰ τὰς ἀδίκους πράξεις, τῷ δὲ ἀνομοιούμενοι (Tht. 176e4–177a2). Übers. Schleiermacher (Eigler-Ausg., Bd. 6) mit geringfügiger Änderung. Vgl. zu der Thematik auch Jacqueline Karl: Selbstbestimmung und Individualität bei Platon. Eine Interpretation zu frühen und mittleren Dialogen, Freiburg/München 2010, S. 78–82. 39 »Der Philosoph also, der mit dem Göttlichen und Wohlgeordneten Umgang pflegt, wird selbst wohlgeordnet und göttlich, soweit es menschenmöglich ist.« (θείῳ δὴ καὶ κοσμίῳ ὅ γε φιλόσοφος ὁμιλῶν κόσμιός τε καὶ θεῖος εἱς τὸ δυνατὸν ἀνθρώπῳ γίγνεται. R. VI 500c9–d1). 40 Anders Karl (2010), die im Ähnlichwerden der Seele eine »Intention« erkennt, die besonders im Falle des Philosophen bewusst gewollt sei (ebd., S. 79). Auch dürfe der Einfluss eines Erstrebten auf die Seele nicht als »passives Erleiden« aufgefasst werden, sondern hänge vielmehr von der »Aktivität« des Strebenden selbst ab (ebd., S. 80). – Richtig ist, dass die Veränderung der Seele das aktive Tun des Strebenden erfordert und darauf basiert. Gleichwohl ›erleidet‹ auf der anderen Seite die Seele das Ähnlich­ werden selbst. 37

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4.2 Der Begriff der Scham (αἰδώς)

des Menschen avanciert zu einer konstitutiven Bedingung des philo­ sophisch motivierten Strebens nach einem guten Leben: Möglichkei­ ten und Potential des menschlichen Lebens sind auszuloten. Im Hin­ blick darauf spielt in vorklassischem Kontext nicht nur die Arete, sondern auch der Begriff der Scham eine zentrale Rolle. Diesen Zusammenhang greift Platon auf. Der Diskussion des platonischen Schambegriffs vorausgehend werden nachfolgend wichtige Aspekte des vorklassischen Schambegriffs dargelegt. Eine Analyse und Erör­ terung von Platons Bezugnahme auf die traditionellen Konzepte fol­ gen daran anschließend. Dabei wird sich mit der mythologischen Erzählung im Protagoras erweisen, wie eng für Platon der Begriff der Scham mit der Frage des Menschenbildes zusammenhängt.

4.2.1 Das vorklassische Konzept der Scham Die griechischen Termini αἰδώς und αἰσχύνη decken sich nicht mit unserem Verständnis der Scham. Wie Cairns unterstreicht, sollte des­ halb das griechische Konzept Aidos einerseits von unserem Begriffs­ rahmen der Scham unterschieden und nicht ›assimiliert‹ werden; andererseits zeigten sich innerhalb des griechischen Konzepts aber auch viele für uns vertraute Aspekte der Scham.41 Basierend auf Forschungsstudien, die das griechische Begriffsfeld von αἰδώς in vor­ klassischer Zeit untersuchen – die Studien beziehen sich vor allem auf die homerischen Epen und die späteren Tragödien –, werden im Fol­ genden vier spezifische Gesichtspunkte des vorklassischen Konzepts und die mit dem Begriff Aidos verbundene Forschungskontroverse in zusammenfassender Form dargestellt.42 Trotz der damit verbundenen 41 Vgl. Douglas L. Cairns: Aidōs. The Psychology and Ethics of Honour and Shame in Ancient Greek Literature, Oxford 1992, S. 14: »Aidōs is not shame (the two are very far from coextensive […]), but the two concepts share many features in their phe­ nomenology and associations.« Vgl. auch Bernard Williams: Scham, Schuld und Not­ wendigkeit. Eine Wiederbelebung antiker Begriffe der Moral, mit einem Vorw. des Autors zur deutschsprachigen Ausg., aus dem Engl. von Martin Hartmann, Berlin 2000 (Shame and necessity, Berkeley 1993), S. 103 f. – Zu beachten ist überdies, dass der deutsche Begriff ›Scham‹ auch biblisch konnotiert ist. Vgl. dazu Michaela Bauks: Nacktheit und Scham in Genesis 2–3, in: dies., Martin F. Meyer (Hg.): Zur Kultur­ geschichte der Scham, Hamburg 2011, S. 17–34. 42 Zugrunde gelegt werden folgende Studien: Cairns 1992, Introduction, S. 1–47 (Cairns bietet ein sehr reichhaltiges Angebot an Textstellen, die er diskutiert – bei Homer, Hesiod, Pindar und den drei Tragödiendichtern, vgl. ebd., S. 48–342; seine

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4. Das Motiv der Seelentherapie und der platonische Begriff der Scham

Schwierigkeiten soll in den nachstehenden Darlegungen die deutsche Übertragung ›Scham‹ beibehalten werden. Im Zusammenhang damit, dass im Griechischen neben dem Wort αἰδώς auch das Wort αἰσχύνη für das Schamempfinden gebräuchlich ist, verweist Williams auf eine diachrone Veränderung: Danach wird zum fünften Jahrhundert hin teilweise αἰδώς durch αἰσχύνη, αἰδέομαι durch αἰσχύνομαι ersetzt.43 Wie an späterer Stelle zu sehen sein wird, rekurriert Platon aber gerade an denjenigen Stellen, die auf einen philosophischen Schambe­ griff hinzielen, auf den Terminus αἰδώς. Von zentraler Bedeutung für das Verständnis des griechischen Schambegriffs ist zunächst der Blick des Anderen, das ›Angeblickt­ werden‹. Bei dem Anderen kann es sich hierbei um einen einzelnen Menschen, eine bestimmte Gruppe von Menschen oder um die Augen der Gemeinschaft handeln: »Die Schamempfindung ist, modern gesprochen, ein ›soziales Phänomen‹«.44 Der ›Zeuge der Scham‹45 gilt als konstitutives Moment der traditionellen Scham, wobei grundsätz­ lich angenommen wird, dass auch der imaginierte Blick bzw. ein nur vorgestelltes Publikum eine Schamsituation hervorrufen kann. Damit ist zugleich gesagt, dass die Verwendung des Schambegriffs in den Pri­ märquellen nicht vorrangig auf die bloße Furcht des Entdecktwerdens zielt.46 In einer Schamsituation sieht sich der Betroffene gleichsam mit den Augen von anderen.47 Williams spricht in diesem Zusam­ menhang von einem »verinnerlichten anderen«48, der allerdings zur daraus resultierenden Kernthesen stellt er in seiner Einleitung, die hier herangezogen wird, dar); Williams 2000, darin Kap. 4: ›Scham und Autonomie‹, S. 88–119 u. Anhang: S. 195–198; Martin F. Meyer: Scham im klassischen griechischen Denken, in: Michaela Bauks, ders. (Hg.): Zur Kulturgeschichte der Scham, Hamburg 2011, S. 35–54; ferner Christoph Demmerling, Hilge Landweer (Hg.): Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart/Weimar 2007, darin Kap.: ›Scham und Schuldgefühl‹, S. 219–244. 43 Vgl. Williams 2000, S. 91 f., Anm. 9; zu weiterführender Literatur ebd. – Im Rah­ men des hier dargelegten Exkurses wird, ähnlich wie in einem Großteil der verwen­ deten Forschungsstudien, einem unterschiedlichen Gebrauch der beiden Termini nicht eigens nachgegangen. 44 Meyer 2011, S. 35. Auch Meyer formuliert in seiner Studie zunächst drei zentrale Aspekte des griechischen Schambegriffs (vgl. ebd., S. 35–37); diese überschneiden sich mit den hier dargelegten Gesichtspunkten. Zur Rolle des Anderen vgl. auch Cairns 1992, S. 2–4 u. 14–18; Williams 2000, S. 91–100. 45 Demmerling/Landweer (2007, S. 223 u. 228–231) sprechen von »Schamzeugen«. 46 Vgl. Williams 2000, S, 95 f.; Cairns 1992, S. 16 f. 47 Vgl. Meyer 2011, S. 36. 48 Williams 2000, S. 100.

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4.2 Der Begriff der Scham (αἰδώς)

ganzen Welt des Schamempfindenden zu werden vermag: So weiß Aias in der gleichnamigen Tragödie des Sophokles keinen anderen Weg, als sich selbst zu töten, weil ein Hintreten vor seinen Vater für ihn nicht mehr möglich wäre: »[D]er andere in ihm repräsentiert eine reale Welt, in der er leben müßte, wenn er sich zum Weiterleben entschiede. […] Aias findet keinen Weg des Lebens mehr, den irgend jemand, den er respektiert, respektieren könnte«.49 Eine wichtige Rolle spielt zugleich der Status des Anderen: So betont Aristoteles im Hinblick auf αἰδώς, dass man sich vor allem vor denjenigen Menschen schäme, die man schätze und deren Urteil man achte.50 Dies trifft auch auf die frühgriechischen Helden zu: Der Andere steht zumeist für eine spezifische Gruppe von Menschen, die der Schämende respektiert, die seinem eigenen Stand entsprechen oder deren Sichtweise er mit Blick auf sein eigenes Leben als relevant erachtet.51 Der zweite Gesichtspunkt des vorklassischen Schambegriffs ist mit der ›Sozialität‹ des ersten unmittelbar verbunden: Ausgelöst wird ein Schamempfinden stets vor dem Hintergrund normativer Standards, Ideale und Erwartungen. Auch schämt man sich in der Regel nicht nur vor jemandem, sondern auch für etwas, für ein bestimmtes Tun, Sich-Verhalten oder Denken, für eine Nachlässigkeit oder auch Unterlassung.52 In frühgriechischem Kontext korreliert der Begriff der Scham eng mit der Frage von Ehre (τιμή) und Ruhm bzw. Nachruhm (κῦδος, κλέος), wobei gerade die Ehre »durch Ver­ meidung allen unehrenhaften Verhaltens wie z. B. Furcht, Flucht, Unwahrhaftigkeit, niedrige Gesinnung sowie durch unverzügliche und kompromißlose Abwehr jeder Ehrenkränkung (ἀτιμίη) stets aufs neue erworben werden muß«.53 Entscheidend ist hinsichtlich des 49 Williams 2000, S. 100. Vgl. dazu auch: Hellmut Flashar: Sophokles. Dichter im demokratischen Athen, München 2000, darin Kap. IV: ›Aias‹, S. 42–57. 50 Vgl. Aristoteles: Rh. II 6, 1383b–1384a; dazu Demmerling/Landweer 2007, S. 230. Vgl. auch Williams 2000, S. 97 u. 100. 51 Nicht selten tritt die Scham überdies als ein Phänomen hervor, das sich auf den gesamten Familienzusammenhang bezieht: Wenn etwa Hektor im sechsten Gesang der Ilias seiner Frau Andromache erklärt, dass er sich vor den Troern und Troerfrauen sehr schämen würde, wenn er sich vom Kampf fernhielte, dann möchte er nicht nur von sich, sondern von der ganzen Familie, d. h. auch von seinen Vorfahren, Schande und Ehrverlust abwehren (vgl. Il. 6, 441–443, 207–211, 459–463; 22, 105–107). Zu diesem Beispiel vgl. Meyer 2011, S. 38 f.; Williams 2000, S. 93. 52 Vgl. Demmerling/Landweer 2007, S. 219. 53 Joachim Latacz: Das Menschenbild Homers, in: Gymnasium. Zeitschrift für Kultur der Antike und humanistische Bildung 91 (1984), S. 15–39, hier 29. Als drittes Hand­

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4. Das Motiv der Seelentherapie und der platonische Begriff der Scham

normativen Kodex, dass dieser als eine geteilte Direktive wahrgenom­ men wird. Der Sich-Schämende geht davon aus, dass der Andere dieselben Standards anerkennt wie er selbst, dieser sich folglich bei Überschreitung oder Missachtung der normativen Vorgaben genauso schämen bzw. er selbst in ähnlicher Weise wie der Andere reagieren würde: Die Anerkennung der Erwartungen hängt mit ihrer Reziprozi­ tät zusammen; das eigene Ehrgefühl und der Respekt vor der Ehre des Anderen stehen danach in einem korrelativen Verhältnis.54 Darüber hinaus ist man sich in der Forschungsliteratur auch weitgehend darin einig, dass die in den Quellen illustrierten Situationen der Scham­ empfindung eines Helden in vielfacher Weise auf das normative oder autoritative Gefüge der Gemeinschaft rückschließen lassen: Auf mehr oder weniger indirektem Wege zeigen sich danach bestimmte Regeln und Konventionen, die sich überdies durch die Rezeption der Texte in einem zeitlich späteren Kontext in ethisch-politischen Auffassungen niederschlagen können. Mit Blick auf den platonischen Zusammenhang wird besonders die Verbindung von Scham und Recht,55 die im Mythos des Protagoras zum Ausdruck kommt, von Relevanz sein. Die Unterscheidung zwischen dem Auftreten eines akuten Schamphänomens und der Scham als einer Disposition kennzeich­ net den dritten Gesichtspunkt.56 In den Darstellungen einer akuten Scham dominiert in den Quellentexten das emotionale Moment; der Betroffene reagiert auf einen von außen kommenden Einfluss affektiv und oftmals mit einer für die Scham typischen Symptomatik: Das Erröten oder das Senken der Augen, ein zum Ausdruck kommendes Gefühl der Lähmung oder die Anzeichen des Bedürfnisses, sich zu verstecken, sind hier charakteristische Verhaltensindikatoren.57Auch Platon lässt diese bei seinen Figuren sichtbar werden: Charmides, der lungsziel bzw. als dritter Höchstwert nach Ehre und Nachruhm nennt Latacz den Besitz (χρήματα) (vgl. ebd., S. 29 f.). 54 Vgl. Cairns 1992, S. 13 f.; Williams 2000, S. 97–100. Auch verortet Williams in diesem Zusammenhang die Verwandtschaft der Begriffe αἰδώς und νέμεσις. Letztere steht zumeist für Empörung, Verachtung, gerechten Zorn oder für die öffentliche Missbilligung (vgl. ebd., S. 93 f.). 55 Vgl. Meyer 2011, S. 36; auch Cairns 1992, S. 12 f. 56 Vgl. zu dieser Differenzierung Cairns 1992, S. 10 f.; auch Demmerling/Landweer 2007, S. 219. 57 Vgl. Cairns 1992, S. 5–8, bes. 6. Cairns betont, dass die somatischen Verhaltens­ muster nicht unabhängig von ihrem soziokulturellen Kontext betrachtet werden dür­ fen. Vgl. auch Williams 2000, S. 104 f. mit Anm. 37; Aristoteles: EN IV 15, 1128b13 ff.

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4.2 Der Begriff der Scham (αἰδώς)

verschämt errötet (vgl. Chrm. 158c), oder Sokrates, der im Phaidros aus Scham seinen Kopf verhüllt (vgl. Phdr. 237a). Die Scham als Disposition betrifft auf der anderen Seite eine Haltung, die in der Literatur mit dem Begriff der »vorwegnehmenden Scham«58 gekenn­ zeichnet wird, d. h., eine dargestellte Figur vergegenwärtigt sich das Schamgefühl, das durch eine bestimmte Handlung oder Unterlassung fast zwangsläufig eintreten würde. Sie richtet ihr Handeln deshalb in entgegengesetzter Weise aus; das imaginierte Publikum spielt hier eine entscheidende Rolle. Typische Beispiele für eine Antizi­ pation der Scham sind in den epischen Texten solche Szenen, in denen kriegsmüde Männer dem Kampf entfliehen wollen, dann aber Schande und Ehrverlust fürchten müssen. Die Vorwegnahme des Schamempfindens dient deshalb gerade im Krieg als Motivation, den Mut nicht zu verlieren.59 Dass sich die Furcht vor Schande und Ehrverlust in das Begriffsfeld der griechischen Aidos eingeprägt hat, zeigen noch die Bestimmungen des Schambegriffs bei Aristoteles.60 Als dispositionale oder charakterliche Haltung äußert sich die vor­ wegnehmende Scham vor allem dann, wenn das Bedachtsein auf die Vermeidung von Schamsituationen zu einer Art Handlungsprinzip wird. Geht man überdies davon aus, dass die Vergegenwärtigung einer antizipierten Scham das ›richtige Gefühl‹ hinsichtlich des eigenen Verhaltens indiziert, dann vermag die Scham solche Handlungen, die konventionell als schlecht erachtet werden, zu verhindern.61 Der vierte Gesichtspunkt betrifft schließlich das Empfinden und Denken des Sich-Schämenden selbst. Es ist derjenige Aspekt, der Williams 2000, S. 93; vgl. auch Cairns 1992, S. 10 f. u. 16 f. »Freunde! seid Männer und faßt euch ein wehrhaftes Herz! | Und habt Scham voreinander in den starken Schlachten! | Da, wo Männer sich schämen, werden mehr gerettet als getötet; | Den Fliehenden aber entsteht weder Ruhm noch Rettung!« (Il. 5, 529–532) Übers. Schadewaldt. Vgl. dazu Meyer 2011, S. 39; Williams 2000, S. 92 f. Beide Autoren rekurrieren auf diese Textstelle der Ilias. Zu weiteren Textbele­ gen vgl. Cairns 1992, darin das Kap.: ›Aidos in Battle‹, S. 68–87. 60 Vgl. Aristoteles: EN IV 15, 1128b10–13. u. Rh. II 6, 1383b; dazu Demmerling/ Landweer 2007, S. 223; zur Verbindung des Vokabulars von Aidos und Furcht vgl. Williams 2000, S. 93 u. 98 f., Anm. 24. 61 Auch diesen Aspekt unterstreicht Aristoteles: EN IV 15, 1128b16–18. In der Spät­ antike wird das Wort αἰδώς vor allem für diese Art der Disposition in einem positiven Sinne verwendet; das Wort αἰσχύνη hingegen für eine aktuelle Scham, welche die Folge einer schlechten Handlung darstellt (vgl. Demmerling/Landweer 2007, S. 224). Für Platon und für die vorklassische Zeit ist diese terminologische Unterscheidung jedoch nicht gebräuchlich. 58

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4. Das Motiv der Seelentherapie und der platonische Begriff der Scham

in der Forschungsliteratur die meisten Kontroversen auslöst. Als unhinterfragt gilt zunächst, dass das Pendant zum Blick des Anderen, ob real oder nur vorgestellt, das Gefühl des Bloßgestelltseins des SichSchämenden ist. Die Entblößung kann dabei im wörtlichen Sinne der Nacktheit verstanden werden; im vorklassischen und insbesondere homerischen Kontext stellt diese Bedeutung von Scham jedoch eher eine Ausnahme dar.62 Allgemein gesprochen lässt sich die in einer Schamsituation empfundene Blöße als das Gefühl des Machtverlusts, des Scheiterns, des Nachteils und Mangels charakterisieren.63 Weit­ hin anerkannt ist überdies auch die Auffassung, dass die Scham eine Emotion darstellt und insofern mit einem kognitiven Aspekt einhergeht bzw. diesen voraussetzt, als im Zustand dieser Emotion eine Einschätzung der Lage, in gewisser Weise auch der Verhaltensund Handlungsweisen seiner selbst wie auch der anderen möglich sein muss: Das Auslösen von Scham, so Cairns, hänge mit einem evaluativen Sehen der Situation zusammen, wobei die Kriterien sich nicht nur von äußeren Bedingungen, sondern auch von der Haltung des Betroffenen ableiteten.64 Die Scham wird in diesem Sinne als ein gleichermaßen passives wie aktives Phänomen erachtet. Die Forschungskontroverse bezüglich des vorklassischen Kon­ zepts der Scham ist in die weitere Debatte über das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft, wie sie oben im Kontext des delphischen Spruches skizziert wurde, einzugliedern.65 Sie verweist folglich auf ähnliche oppositionelle Lager: Grundsätzlich steht zur Diskussion, ob etwa ein epischer Held in seinen Verhaltens- und Handlungsmustern mehr oder weniger blind normativen Bedingun­ gen folgt oder ob sich die Kriterien seines Verhaltens und Handelns nicht allein von äußeren Vorgaben ableiten, sondern er diese auch einer Art Reflexion oder Abwägung unterzieht. Entfacht wurde die Das diesbezüglich immer wieder angeführte Exempel ist Odysseus’ Ankunft bei den Phäaken: Odysseus schämt sich, den Mädchen nackt zu begegnen und erst recht, sich von ihnen baden zu lassen (vgl. Od. 6, 128 f., 142 ff., 221 f.). Vgl. dazu Meyer 2011, S. 42; zu anderen Beispielen im homerischen Werk ebd., S. 40–43. Aidos ist hier jedoch selten sexuell konnotiert. 63 Diese Termini verwendet Williams 2000, S. 195–197. 64 Vgl. Cairns 1992, S. 5 f., auch 12 f. Innerhalb der in den letzten Jahrzehnten vor allem im angloamerikanischen Raum entstandenen zahlreichen Studien zu Emotio­ nen und Emotionstheorien in der Antike spielt die Frage des kognitiven Aspekts zumeist eine wichtige Rolle (Angaben zu der schon etwas älteren Literatur finden sich ebd., S. 5, Anm. 7 u. 8). Vgl. auch Meyer 2011, S. 37; ferner Schmitt 2003, S. 395 f. 65 Vgl. oben Kap. 2.2.1. 62

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4.2 Der Begriff der Scham (αἰδώς)

Kontroverse vor allem mit Blick auf den Begriff der ›Schamkultur‹: Eine solche wird, in Abgrenzung zum Begriff der ›Schuldkultur‹, für die vorklassische Zeit immer wieder geltend gemacht.66 Schuld deutet innerhalb dieser Distinktion auf ein Konzept der Innerlichkeit hin, wie es vor allem das christliche Verständnis des Gewissens darstellt. Als ausschlaggebend für die Schamkultur wird hingegen erachtet, dass sich das menschliche Verhalten primär an äußeren Sanktionen bzw. an der Billigung oder Missbilligung der anderen vor dem Hintergrund eines von allen geteilten Codes ausrichtet.67 Für das antike Griechenland wurde der Begriff der Schamkultur von Dodds eingeführt: »Der höchste Wert für einen homerischen Menschen ist nicht ein ruhiges Gewissen, sondern das Genießen der timé, der öffentlichen Hochschätzung. […] Und die stärkste moralische Macht […] ist nicht die Furcht vor Gott, sondern die Rücksicht auf die öffentliche Meinung, aidós: αἰδέομαι Τρῶας, sagt Hektor in seiner Schicksalsstunde und geht mit offenen Augen in den Tod.«68 Die Annahme, dass in der vorklassischen Literatur eine Scham­ kultur zum Ausdruck kommt, impliziert für ihre Vertreter, dass die Frage angemessenen Verhaltens vornehmlich in dem Spannungsver­ hältnis von Ehre und Ruhm auf der einen, Scham und Schande

66 Die These, dass Scham- und Schuldkulturen geschieden werden müssen, geht ursprünglich auf anthropologische Studien zurück. Die Gegenüberstellung der beiden ›Kulturen‹ stammt von Ruth Benedict: The Chrysanthemum and the Sword. Patterns of Japanese Culture, London 1947. Vgl. dazu Cairns 1992, S. 27, zu einer weiterfüh­ renden Diskussion ebd., S. 27–47. 67 In kritischer Distanz beschreibt Cairns (1992, S. 15) diese Differenzierung: »One very basic distinction [between shame and guilt, U. Z.] […] rests on a distinction between internal and external sanctions: guilt relies on the internal sanctions provided by the individual conscience, one’s own disapproval of oneself, and shame is caused by fear of external sanctions, specifically the disapproval of others.« Vgl. dazu auch den Ausdruck »shame ethic« bei W. Thomas Schmid: Socratic Moderation and SelfKnowledge, in: Journal of the History of Philosophy 21 (1983), S. 339–348, hier 339. 68 Eric R. Dodds: Die Griechen und das Irrationale, aus dem Engl. von HermannJosef Dirksen, 2., unveränd. Aufl., Darmstadt 1991 (The Greeks and the Irrational, Berkeley 1951), S. 15 f.; vgl. auch das ganze Kap.: ›Von der Schamkultur zur Schuld­ kultur‹, S. 17–37. Dodds selbst erkennt allerdings im Übergang von der homerischen zur nachhomerischen Zeit in gewisser Weise einen Wechsel von einer Scham- zu einer Schuldkultur. Beide Termini möchte er als Beschreibungskategorien bestimmter maß­ geblicher Haltungen verstanden wissen, die sich nicht absolut, sondern nur relativ unterschieden.

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4. Das Motiv der Seelentherapie und der platonische Begriff der Scham

auf der anderen Seite zu suchen ist.69 Nicht zufällig, so Dodds, werden für die Kennzeichnung einer Handlung die Adjektive καλόν und αἰσχρόν verwendet: Eine Handlung werde dann nicht in erster Linie als richtig oder falsch angesehen, sondern, aus dem Blickwinkel der öffentlichen Meinung und in Analogie zur Bewertung äußerer Erscheinungen, als schön oder hässlich.70 Die Verkörperung der Aidos als ein Konzept, für das der ›Blick‹ von zentraler Bedeutung ist, wird hier offensichtlich. Scham hängt aus dieser Perspektive stets mit der Furcht zusammen, ›sein Gesicht zu verlieren‹.71 Vehement widersprochen wird der Auffassung einer griechi­ schen Schamkultur von Cairns. Zwar akzentuiert auch er, dass das Normativ der Ehre diejenige Sphäre generiere, innerhalb derer die Scham ihre Bedeutung gewinne; darüber hinaus spricht auch er hinsichtlich der Bewertung von Handlungen von »quasi-aesthetic standards«.72 Gegenüber den Vertretern einer Schamkultur betont Cairns jedoch, dass das griechische Konzept Aidos mit einer Auf­ merksamkeit für das eigene Verhalten einhergehe. Die oben schon genannte Einschätzung oder Bemessung einer aktuellen oder zu erwartenden Schamsituation sind demnach immer mehr als eine bloße Reaktion auf bekannte Sanktionen: Vermittelt durch die ande­ ren, so Cairns, richte ein Mensch, der sich schämt, auch in frühgrie­ chischer Zeit den Fokus auf sich selbst. In diesem Zusammenhang unterstreicht er ›internalisierte Standards‹, die zwar von den Normen der Gemeinschaft abhingen, zugleich aber nicht als bloßer Spiegel der ›externen Standards‹ zu deuten seien.73 Oftmals werde kenntlich, dass der Betroffene einen distanzierten Blick in Bezug auf sich selbst ein­ nehme. Ähnlich wie Cairns lehnt auch Williams die strikte Trennung von Scham und Schuld aufgrund einer zugeordneten ›Äußerlichkeit‹ Vgl. zu Vertretern einer griechischen Schamkultur die Literaturangaben bei Cairns 1992, S. 27, Anm. 59. Eine Ausnahme bilden in dieser Hinsicht die Ausführungen von Williams (2000, S. 91 u. 101–119), der sich zwar für die Verwendung des Begriffs der Schamkultur für die frühgriechische Zeit ausspricht, zugleich aber einen sehr diffe­ renzierten Schambegriff zugrunde legt. 70 Vgl. Dodds 1991, S. 176, Anm. 109. 71 Vgl. Dodds 1991, S. 16; auch Williams (2000, S. 91), der jedoch gegenteilig betont, dass der griechische Schambegriff darin gerade nicht oder nur teilweise aufgehe. 72 Vgl. Cairns 1992, S. 13 f.; Zitat ebd., S. 13, Anm. 27. 73 Vgl. Cairns 1992, S. 15–18 u. 26. Allerdings irritiert sein Ausdruck der ›internali­ sierten Standards‹ ein wenig, zeigen diese in einem ›soziologischen‹ Kontext, wie er letztlich auch hier angesprochen wird, doch gerade eine nicht reflektierte Verinnerli­ chung von Sitten, Normen und Rollen an. 69

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4.2 Der Begriff der Scham (αἰδώς)

und ›Innerlichkeit‹ ab. Vielmehr sehen beide Autoren, wenngleich vor einem sehr differenten Begründungshorizont, eine Überschnei­ dung unseres Verständnisses von Scham und Schuld im griechischen Aidos-Begriff grundgelegt. Cairns begründet diesen Zusammenhang mit dem gekennzeichneten Moment des über den Anderen vermittel­ ten Selbstbezugs.74 Folgt man der These von Williams, dann umfasst die griechische Aidos nicht nur eine reflexive Ausrichtung auf sich selbst,75 sondern in spezifischen Situationen auch eine besondere Aufmerksamkeit für einen – im Sinne unserer Schuld – geschädig­ ten Anderen.76 Die vorklassischen, auch die homerischen Quellen erschöpfen sich nicht im Aufzeigen eines statischen Gesellschaftsmodells. Ebenso wenig spiegeln sich im Begriff αἰδώς oder in traditionellen Tugendvor­ stellungen ausschließlich determinierte Verhaltensmuster. Dennoch stellt auch die von Dodds formulierte Rücksicht auf das Normativ der Ehre eine starke Macht und Antriebskraft dar. Dass die Ambivalenz der Aspekte nicht eingeebnet werden muss, zeigt wiederum Latacz vor dem Hintergrund der homerischen Texte. In Verbindung damit, dass das Menschenbild Homers immer wieder simplifiziert wurde, weil Interpreten in den Epen bestimmte philosophische Begrifflichkeiten vermissten, formuliert er: »Wer in den Epen nicht nur die Benen­ nungen sucht und zählt, sondern mit den homerischen Menschen in ihrem Reden und Schweigen, ihrem Handeln und Stillehalten, ihrem Einander-Verstehen und Einander-Zurückweisen mitlebt, der fühlt, wie differenziert, hellhörig, verletzlich, aber auch ironisch und zweifelnd diese Menschen sein können.«77 Allerdings, so fügt Latacz hinzu, haben auch die »zum Klischee erstarrten Übertreibungen« des homerischen Helden in den Epen ihren Kern: Das Wissen um die eigene Herrschaft, der »Standesstolz«, führe zu einem »Selbst­ abgrenzungswillen« mit entsprechenden Demarkationslinien, das Vgl. Cairns 1992, S. 18–26. Auch Williams (2000, S. 97) spricht von einer »Verinnerlichung der Scham«; vgl. auch ebd. S. 97–100. 76 Vgl. Williams 2000, S. 103–111, bes. 110. Auch Impulse und Reaktionen, die wir mit der Schuld assoziieren, wie die Wut des Geschädigten, die Empörung Außenste­ hender, aber auch die Idee der Wiedergutmachung und Vergebung finden sich nach Williams in griechischem Kontext nicht in einem eigenen Konzept der Schuld, sondern gehörten zum Begriff Aidos dazu. Vgl. auch Demmerling/Landweer 2007, S. 236– 242. 77 Latacz 1984, S. 30. 74 75

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Unehrenhafte und Ehrenhafte, das Unrühmliche und Ruhmvolle, das zu Verachtende und das zu Achtende sollen explizit und für alle sicht­ bar voneinander geschieden werden.78 Auch wenn man den epischen Helden also weit mehr zuspricht, als dass sie allein normativen Mus­ tern, göttlichen Mächten und anderen äußeren Wirkungskräften fol­ gen, werden doch andererseits in ihren Handlungen Notwendigkeiten und »unnachgiebige Haltungen«79 kenntlich, aus denen es für die Protagonisten kein Entfliehen gibt. In diesem Spannungsverhältnis dient das traditionelle Konzept Aidos dem Zusammenhalt und der Ordnung des Gemeinwesens. Die Verhaltens- und Handlungsmuster im Kontext der Scham deuten sowohl auf Handlungsspielräume wie auch auf bestimmte Zwänge hin; die Perspektiven können in getrennten Situationen, aber auch im Rahmen einer Szene zum Ausdruck kommen. Ähnlich wie oben in Diskussion des delphischen Spruches hervorgehoben wurde, werden die heterogenen Aspekte nicht nur in der heutigen Forschungslitera­ tur, sondern auch von Platon reflektiert und erkennbar gemacht: In kritischer Abgrenzung distanziert er sich von spezifischen, oftmals in sophistischem Umfeld verwendeten Motiven vorklassischer Kon­ zepte, um zugleich andere zu adaptieren und in seine Philosophie zu integrieren.

4.2.2 Platons differente Bezugnahmen auf das vorklassische Schamkonzept und der Begriff αἰδώς im Mythos des Protagoras Im platonischen Werk erscheint der Begriff der Scham (αἰδώς, αἰσχύνη) in unterschiedlichen Zusammenhängen und Hinsichten. Zwei Beispiele sollen im Folgenden verdeutlichen, auf welche Weise Platon verschiedene traditionelle Geltungsansprüche des Schambe­ griffs aufgreift und als divergierende Konzepte beleuchtet. Bei den ausgewählten Textstellen handelt es sich zum einen um die erste Rede im Symposion, zum anderen um den im Protagoras erzählten Mythos über die Entstehung der menschlichen Kultur. Im Symposion wird der Wettstreit der Lobreden auf den Gott Eros von Phaidros eröffnet, ist er doch der ›Urheber‹ dieser Reden 78 79

Vgl. Latacz 1984, S. 31, alle Zitate ebd. Williams 2000, S. 88.

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4.2 Der Begriff der Scham (αἰδώς)

(vgl. 177d). Nicht nur im Dialog Phaidros, sondern auch im Symposion wird er als eine Figur kenntlich, die Sophisten und Rhetoren zugetan ist.80 Seine Rede (vgl. Smp. 178a–180b) beginnt Phaidros mit einem Rekurs auf die Theogonie von Hesiod, vor deren Hintergrund er Eros als einen der ältesten Götter preist.81 Macht und Gewalt des Eros hingen nicht zuletzt mit der Herkunft und Ursprünglichkeit des Gottes zusammen. Ihm gebühre besondere Ehre, denn die von ihm geschenkten Güter realisierten sich in der Liebe, d. h. in der Liebe in Form des homoerotischen Verhältnisses von älterem Liebhaber und jungem Geliebtem. Innerhalb eines solchen Verhältnisses zeige sich gleichsam der Leitfaden dafür, »schön zu leben« (καλῶς βιώσεσθαι, 178c6): »Was aber meine ich hiermit? Die Scham vor den schändlichen und die Ehrliebe zu den schönen Dingen. Denn ohne diese vermag weder eine Stadt noch ein Einzelner große und schöne Werke zu voll­ bringen.«82 Auch Phaidros erkennt in der Scham (αἰσχύνη) demnach eine Grundlage des Zusammenlebens. Das männliche Liebesverhältnis dient ihm dabei als paradigmatischer Fall (vgl. 178d–179b): Da sich Liebhaber und Geliebter voreinander weit mehr schämten (αἰσχύνεσθαι) als vor Eltern, Verwandten oder Freunden, habe die Scham im Falle der Liebe eine größere Motivationskraft, vor allem im Kampf. Niemals nämlich wolle ein Liebhaber beim Wegwerfen der Waffen oder beim Erdulden von Schmach aus Unmännlichkeit von seinem Geliebten gesehen werden und auch umgekehrt wäre es für den Geliebten die größte Pein, vor seinem Liebhaber ohne Mut zu erscheinen. Lieber würden beide sterben. Vermittelt durch die Scham verleihe Eros die höchste Form der Tugend: Mut und Tapferkeit. Nicht nur im Hinblick auf Eros rekurriert Phaidros auf Über­ liefertes; auch hinsichtlich seines Verständnisses der Scham stützt er sich – nun mit Berufung auf Homer83 – auf das alte Normativ der Ehre. Entsprechend kommen in Phaidros’ Darlegungen viele der oben genannten Gesichtspunkte des vorklassischen Schambegriffs zum Ausdruck: Im Zentrum steht das ›Gesehen-Werden‹ unter den Rahmenbedingungen eines bestimmten geteilten Codes von Ehre und Vgl. Smp. 176d ff. u. Phdr. 227a–228e. Vgl. Hesiod: Th. 116–122. 82 λέγω δὲ δή τί τοῦτο; τὴν ἐπὶ μὲν τοῖς αἰσχροῖς αἰσχύνην, ἐπὶ δὲ τοῖς καλοῖς φιλοτιμίαν· οὐ γὰρ ἔστιν ἄνευ τούτων οὔτε πόλιν οὔτε ἰδιώτην μεγάλα καὶ καλὰ ἔργα ἐξεργάζεσθαι. (Smp. 178d1–4). 83 Vgl. Smp. 179b1–2 u. 179e–180a. 80 81

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Schande, wobei Phaidros, ähnlich wie es in der Ilias typischerweise der Fall ist, die Begriffe vor allem auf deren militärischen Zusammenhang bezieht bzw. – aus dem Kontext seiner eigenen Zeit betrachtet – reduziert. Gemäß der Furcht davor, als feige und unmännlich zu gelten, wird auch in Phaidros’ Ausführungen die ›vorwegnehmende Scham‹ akzentuiert. Ebenso zeigt sich, dass man sich nicht vor allen gleichermaßen, sondern vor bestimmten Menschen in besonderer Weise schämt. Die Frage der Ehre wird innerhalb des hierarchisch zu denkenden Verhältnisses von Liebhaber und Geliebtem auf beiden Seiten anders definiert. Dennoch spielt auch hier die Reziprozität eine Rolle: Beide Seiten haben nicht nur im Falle des eigenen, sondern auch im Falle des Ehrverlusts des anderen viel zu verlieren. Der Begriff der Scham in der Rede des Phaidros bewegt sich ganz in dem stereotypen Spannungsverhältnis von Ehre, Achtung, Ruhm auf der einen, Bloßstellung, Ehrverlust, Schande auf der ande­ ren Seite. Von einer Reflexion dieses Verhältnisses oder der Begriff­ lichkeiten fehlt jede Spur. Sichtbar werden Phaidros’ klischeehafte Vorstellungen auch am Ende der Rede: Hier lobt er die Beziehung von Liebhaber und Geliebtem in einer nicht nur konventionellen, sondern geradezu stupiden Art und Weise (vgl. Smp. 180a–b) – womit er aber implizit zeigt, dass die alte Institution der Päderastie zur Zeit der Dia­ loghandlung sittlich nicht mehr in jeder Hinsicht zu rechtfertigen ist. Durch die Umbrüche des fünften Jahrhunderts sind der gesellschaftli­ che Nutzen und pädagogische Zweck der päderastischen Beziehungen zumindest teilweise infrage gestellt.84 Ähnlich wie Phaidros die Kna­ benliebe mithilfe alter, erstarrter Konventionen zu retten versucht, zeigt sich auch sein Begriff der Scham als schablonenhaft und statisch. Das Verhalten, das er als das Resultat der Furcht vor Scham illustriert, folgt tatsächlich blind und unhinterfragt normativen Idealen. Zugute­ halten möchte man Phaidros, dass er die Scham mit dem Streben nach Wertvollem und Schönem in Verbindung bringt, dass sie gleichsam ein Kriterium für das tugendgemäße, tapfere Handeln darstellt und somit konstitutiv für die Gemeinschaft ist. Allerdings bewegt sich Phaidros ganz im Bereich des Äußerlichen: Für ihn sind die oben so genannten externen Standards bestimmend; tatsächlich zählt für ihn Vgl. dazu Marion Meyer: Der kleine Unterschied. Ideelle und materielle Aspekte der »Liebeswerbung« in der Antike, Stendal 1993, S. 26. Deutlich hervor treten diese Skepsis und Platons eigene Kritik an der herkömmlichen Knabenliebe im Rahmen der Lysias-Rede im Phaidros (vgl. unten Kap. 5.1). 84

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4.2 Der Begriff der Scham (αἰδώς)

nur die externe Korrespondenz zwischen einem von außen sichtbaren Tun und den Erwartungen, die an jemanden seinem Status gemäß gestellt werden.85 Das Beispiel von Phaidros’ Rede demonstriert in Bezug auf den Schambegriff, was bereits hinsichtlich der Arete in den frühen Dialogen kenntlich wurde: Das Verharren bestimmter Gesprächspart­ ner im Bereich konventionell anerkannter Güter und in habituel­ len, kodifizierten Verhaltensmustern. In ihren Tugendbestimmungen bewegen sich solche Gesprächspartner im Rahmen des gewöhnlichen Verständnisses des καλὸν κἀγαθόν: Die Verhaltensweisen der Tugend sollen äußerlich anerkennenswert und für den Betroffenen nützlich sein. Phaidros’ Verwendung des Schambegriffs orientiert sich an die­ ser Art von Standards. Allerdings greift er traditionelle Vorstellungen nicht nur im Sinne der ›gemeinen Tugend‹ auf, sondern kenntlich wird in seiner Rede darüber hinaus eine sophistische Vereinnahmung dieser Vorstellungen: Mit dem Rückgriff auf alte Ideale soll offensicht­ lich die Knabenliebe für den aktuellen Zeitkontext legitimiert werden. Daraus, dass dies ausschließlich aus Sicht des Liebhabers passiert, macht Phaidros überdies keinen Hehl (vgl. Smp. 180b). Was in Gestalt der Rede des Phaidros zum Ausdruck kommt, ist Platons Kritik an den Sophisten, oftmals gerade die klischeehaften Seiten der traditionellen Konzepte aufzunehmen, diese in ein ver­ meintlich ›modernes‹ Gewand zu kleiden und so für ihre Zwecke zu nutzen. Indem Voraussetzungen und Ziele der traditionellen Begriffe nicht reflektiert werden, verbleiben die sophistischen Ansätze aus Platons Perspektive selbst in starren Mustern: Phaidros zeichnet in seiner Rede einen schemenhaften Dualismus von Tapferkeit und Feig­ heit, Heldentum und Unmännlichkeit. Auf dieser Basis verweist sein Aufgreifen des traditionellen Schambegriffs lediglich auf ein Konzept, das auf äußerliche, ohne Nachdenken zu erfüllende Verhaltensmuster bezogen bleibt. Auf ganz andere Weise stellt sich der Begriff der Scham (αἰδώς) in dem hier gewählten zweiten Textbeispiel, nämlich in der mythologi­ schen Erzählung im Protagoras dar. Diese soll noch einmal kursorisch

Schmid (1983, S. 340, Anm. 4) kennzeichnet als eine solche »external correspon­ dence« eine bestimmte Auffassung der traditionellen Sophrosyne.

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in Erinnerung gerufen werden (vgl. Prt. 320c–322d):86 Nachdem die Menschen durch Prometheus das Wissen der Kunstfertigkeiten erhal­ ten hatten – zu diesen werden neben dem handwerklichen Können und anderen Künsten auch die Sprachen gerechnet –, sammelten sie sich zum Schutz vor den Tieren in Städten, scheiterten aber am Umgang miteinander. Kaum hatten sie sich in Gruppen zusammen­ gefunden, beleidigten sie einander, denn die πολιτικὴ τέχνη besaßen sie noch nicht (vgl. 322b). Zeus sendet schließlich Hermes hinab, um den Menschen die politische Kunst zu verleihen, damit sie einander nicht vernichteten: »Zeus nun darüber besorgt, dass unser Geschlecht ganz zugrunde gehen würde, schickt Hermes, um Scham und Recht den Menschen zu bringen, damit diese sowohl der Städte Ordnung als auch die vereinigenden Bande der Freundschaft und Zuneigung wären.«87 Ausgelegt wird die politische Kunst im Mythos also als Scham und Recht (αἰδὼς καὶ δίκη). Diese soll der beauftragte Hermes, so wird ausdrücklich betont, ohne Ausnahme an alle Menschen vertei­ len und nicht wie die sonstigen Künste unterschiedlich: »Alle«, so lässt Zeus vernehmen, »sollen an ihnen teilhaben« (πάντες μετεχόντων, 322d2), denn kämen Scham und Recht nur wenigen Menschen zu, könnten die Städte nicht bestehen. Mehr noch erlässt Zeus am Ende der Erzählung das Gesetz, dass diejenigen, die unfähig seien, daran teilzuhaben, »wie eine Krankheit der Stadt« (ὡς νόσον πόλεως, 322d5) zu töten seien. Auch hier steht – in Anschluss an das vorklassische Konzept, jedoch in ganz anderer Form als in der Rede des Phaidros – die zentrale Stellung der Aidos im Hinblick auf ein funktionierendes Zusammenleben im Vordergrund. Dabei demonstriert die mythologi­ sche Erzählung nicht nur, dass es von alters her ein Wissen bezüglich dieser Relevanz der Scham gibt, sondern sie unterstreicht auch, dass das Erfordernis der Scham unbedingte anthropologische Geltung besitzt, entspringt diese Bedingungslosigkeit doch göttlicher Einsicht: Zeus selbst verfügt, dass der Mensch als Mensch die Disposition der politischen Kunst in Form von Scham und Recht besitzen muss. In diesem Zusammenhang wird eine Art Vorrang der Gemeinschaft 86 Der Mythos wurde schon oben in Kap. 1.1.2 herangezogen. Vgl. dazu auch Bernd Manuwald: Platon. Protagoras, Übersetzung und Kommentar, Göttingen 1999 (Platon Werke, Bd. VI 2), S. 168–180. 87 Ζεὺς οὖν δείσας περὶ τῷ γένει ἡμῶν μὴ ἀπόλοιτο πᾶν, Ἑρμῆν πέμπει ἄγοντα εἰς ἀνθρώπους αἰδῶ τε καὶ δίκην, ἵν᾿ εἶεν πόλεων κόσμοι τε καὶ δεσμοὶ φιλίας συναγωγοί. (Prt. 322c1–3).

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kenntlich: Ohne die Kunst zur Bildung einer politischen Gemein­ schaft ist auch der Einzelne nicht überlebensfähig. Zugleich werden im Mythos – darauf wurde schon eingegangen – der Mensch und die vernunftlosen Lebewesen (τὰ ἄλογα, 321c1) klar distinguiert: Im Unterschied zu diesen sind Vermögen und Begabungen des Menschen göttlicher Herkunft (vgl. 322a). Mit der Explikation der politischen Kunst als Scham und Recht soll offensichtlich das alte Wissen für die politische Gegenwart der Dialoghandlung reaktiviert werden: Das Gefüge der Polis und das politische Leben sind demnach nicht unabhängig von der Frage der Scham zu betrachten. Die im Mythos verwendete Formel ›Scham und Recht‹ geht auf Hesiod zurück, der Aidos und Dike verknüpft und bei dem vermittels dieser Engführung anklingt, wie sehr das Verständnis des Menschen als rechtliches Wesen, das sich von den Tieren gerade durch die Dike maßgeblich unterscheidet, in frühgriechischer Zeit an den Begriff Aidos gebunden ist.88 Wenn Platon seine Figur Protagoras den Aidos-Begriff in Rekurs auf Überlieferungen hervorheben lässt, dann bringt er damit zwar einerseits, wie dies oben im Hinblick auf die Frage der Lehrbarkeit von Tugend betont wurde, seine Kritik an der sophistischen Methode zum Ausdruck, traditionelle und zeitgenös­ sische Inhalte beliebig nebeneinanderzustellen, um bestimmte Gel­ tungsansprüche zu legitimieren. Andererseits lässt Platon mithilfe des Mythos aber auch ein spezifisches traditionelles Gedankengut hervortreten, das ihm selbst dazu dient, Aspekte des Schambegriffs zu beleuchten und zu reflektieren. Hierbei lässt der implizierte Hinweis auf Hesiod erkennen, welchen Weg Platon in seiner philosophisch motivierten Rezeption einschlägt. Aidos und Dike werden bei Hesiod als in Vergessenheit geratene Instanzen eingeklagt und in ihrer Verbindung der Hybris gegenüber­ gestellt.89 Meyer zufolge spielt bei Homer die Hybris eine eher untergeordnete Rolle, während Hesiod ihrer Thematisierung danach eine zentrale Bedeutung zumisst.90 Der Vorwurf von Frevel und Überhebung richtet sich bei Hesiod, wie dies auch in Verbindung mit Vgl. dazu Meyer 2011, S. 44 u. 47 f.; Hesiod: Op. 189–194. »Weder wird der Eidestreue Achtung finden noch der Gerechte, | noch der Redliche, sondern eher werden sie Frevler (ὕβριν) und Gewaltmenschen | ehren. Das Recht (δίκη) liegt in den Fäusten, Rücksicht (αἰδώς) | wird es nicht geben« (Hesiod: Op. 189–192). Übers. Schönberger. 90 Vgl. Meyer 2011, S. 44 mit Anm. 21. 88

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der delphischen Maxime kenntlich wurde, vor allem an die Adresse der Adligen und ihre oftmals willkürlichen Machtausübungen.91 Die paränetische Aufforderung, sich der Hybris und Selbstüberhöhung nicht zu unterwerfen, ist traditionell mit der apollinisch-delphischen Religion und der Sophrosyne assoziiert. Wenn im Protagoras also der Begriff αἰδώς in Rekurs auf Hesiod und dessen Zurückweisung von Hybris, d. h. von Maßlosigkeit, Unbeherrschtheit und Herrsch­ sucht, eingeführt wird, dann darf man daraus schließen, dass Pla­ ton diesen Begriff der Scham in einen engen Zusammenhang mit dem delphischen Spruch und der Tugend der Besonnenheit stellt.92 Bestätigt wird diese Annahme im Dialogzusammenhang selbst: Im Anschluss an seine Darlegung des Mythos erläutert Protagoras die politische Tugend als Gerechtigkeit und Besonnenheit (δικαιοσύνη καὶ σωφροσύνη, vgl. 323a) und stellt diese Wendung damit in ein analoges Verhältnis zur vorherigen Formel von Recht und Scham. Protagoras selbst reflektiert im Dialog freilich weder die eine noch die andere Wendung. In ihrer Verbindung sollen Scham und Recht als politische Kunst das Zusammenleben und sogar Überleben der Menschen sichern. Ihre konstitutive Rolle für die Polis, ihre gemeinschaftsbildende Funktion, wird im Mythos des Protagoras prononciert. Auch wenn die Formel von Scham und Recht bzw. der Begriff αἰδώς selbst im Dialog nicht weiter expliziert werden, demonstriert deren Aufgreifen und Pointierung Platons philosophische Rezeption dieses traditionellen Konzepts. Ganz im Gegensatz zur ersten Rede im Symposion, in welcher Platon den Redner Phaidros an stereotype hergebrachte Muster und Standards anknüpfen lässt, verweist er mit der Erzählung im Protagoras auf eine Form der Rezeption, durch welche sich das ethische und politische Potential traditioneller Konzepte in philo­ sophischer Hinsicht erschließen lässt. Implizit angedeutet wird in diesem Rahmen auch, dass Platon das selbstbezügliche Moment 91 Vgl. Jean-Pierre Vernant: Die Entstehung des griechischen Denkens, Frankfurt/M. 1982, S. 66 ff. 92 Vgl. dazu Michael Frede: Wissen und Bildung in der Antike, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 66/2 (2012), S. 169–186 (Redigierter Vortragstext zur Eröffnung des ersten GANPH-Kongresses in Berlin am 04.10.2004), hier 176 (alle Zitate): Den Menschen mangelte dem Mythos zufolge, so Frede, »an einem Sinn für das, was recht ist (δίκη), und an einem Sinn für die eigenen Grenzen, für das, was ihnen zusteht, und das, was nicht (αἰδώς, σωφροσύνη)«; was Zeus an die Menschen deshalb verteilen ließ, war ein »Sinn für Gerechtigkeit und das rechte Maß«.

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des Schambegriffs – welches Cairns und Williams hinsichtlich des homerischen Textes betont hatten – primär im Umfeld der delphisch verstandenen Angemessenheit und Sophrosyne verankert sieht. Warum aber muss die Scham überhaupt zum Recht hinzukom­ men, um ein Zusammenleben zu gewährleisten? Warum sind Gesetze und orientierende Direktiven für die Rechtsordnung und das Funk­ tionieren einer Gemeinschaft nicht hinreichend? Dass die allein konventionelle Übereinstimmung aus platonischer Perspektive das Gemeinwesen der Polis nicht in hinreichendem Maße fundieren kann, weil sie letztlich auf instrumentellen Prinzipien beruht, wurde schon mehrfach deutlich. Konventionelle Übereinkünfte bedürfen demnach einer höheren Beurteilungsinstanz, dies machte das Gespräch zwi­ schen Sokrates und Glaukon im zweiten Buch der Politeia sichtbar:93 Fehlt der Blick auf das nicht-ambivalente Gut der Gerechtigkeit bzw. erscheint diese selbst lediglich als mühsames, ambivalent bleiben­ des Mittel zum Zweck des Zusammenlebens, werden Gesetze und Regelungen zwar als notwendige, aber äußerlich bleibende Pflichten wahrgenommen; deutlich wird ein Mangel an innerer Verbindlich­ keit und Zustimmung. Vor diesem Hintergrund lanciert Platon im Protagoras mit der alten Formel von Scham und Recht ein Motiv, welches die Geltung von Recht und Gerechtigkeit im Sinne eines Rechtsempfindens thematisiert. Insofern die Verknüpfung von Scham und Recht darauf hindeutet, »daß die Rechtsnatur des Menschen ohne die Vermittlung der Schamempfindung nicht denkbar ist«,94 lenkt sie den Blick auch darauf, so die Annahme hier, dass dem Menschen ohne die Scham ein Unrechtsbewusstsein ermangelt; die Scham wird folglich mit der Einsicht in Unrecht assoziiert. Ein binden­ des Rechtsempfinden findet dann aber seine Basis notwendig darin, dass der Mensch fähig sein muss, hinsichtlich eigener ungerechter Handlungen Scham zu empfinden. Der Begriff der Scham, auf den der Mythos im Protagoras hinzeigt, impliziert unter dieser Voraussetzung ein selbstbezügliches Moment, welches die Reflexion auf das etwaige eigene Unrechttun, damit aber auch die Orientierung am Begriff der Gerechtigkeit selbst ermöglicht. Auf dieser Grundlage wird der im Mythos hervorgetretene Schambegriff in den nachfolgenden Unter­ suchungen wieder aufgegriffen.

93 94

Vgl. oben Kap. 1.3.3. Meyer 2011, S. 48.

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4. Das Motiv der Seelentherapie und der platonische Begriff der Scham

Wenn Scham und Recht ›der Städte Ordnung und die vereini­ genden Bande der Freundschaft und Zuneigung‹ begründen sollen, wie es im Mythos hieß,95 dann ist dies ein klarer Hinweis darauf, dass Recht und Gesetz bis zu einem gewissen Grad eine strukturelle Ord­ nung in der Gemeinschaft gewährleisten können, dass aber erst das freundschaftlich gesinnte Verhältnis unter den Menschen, welches aber maßgeblich mit der auf Scham beruhenden Einsicht des Einzel­ nen zusammenhängt, zu einem tatsächlich friedlichen Zusammenle­ ben führt. Das damit angedeutete Idealbild der Gemeinschaft indiziert deren Möglichkeiten: Platons Konzept αἰδώς soll in diesem Rahmen erkennbar machen, wie ein gutes Zusammenleben ausgehend vom Einzelnen, aber auch, wie schon traditionell, in Reziprozität der Aner­ kennung dessen, was Scham hervorrufen soll, angestoßen und erwirkt werden kann. Folgt man dem Mythos, dann bildet der Begriff der Scham zusammen mit dem Recht das Fundament der Gemeinschaft. Im Dialogkontext des Protagoras bildet das Thema der Paideia bzw. die Frage der Lehrbarkeit der politischen Tugend und Kunst den übergeordneten Zusammenhang. Auch die Formel von Scham und Recht ist in diesem Kontext verortet. Während rechtliche Regeln und Gesetzlichkeiten als im engeren Sinne unterrichtbar erscheinen, ist dies für die Scham nicht vorstellbar. Platon lässt den Sophisten die Relevanz der Scham für die politische Arete artikulieren, unter­ streicht aber zugleich dessen Ignoranz hinsichtlich des traditionel­ len Konzepts. In den nachfolgenden Erörterungen wird im Hinblick auf Platons Konzept der Scham auch die pädagogische Frage thema­ tisch werden.

4.3 Seelentherapie und Scham Die Motive von Therapie und Heilung werden im Charmides, in des­ sen Zentrum die Tugend der Besonnenheit (σωφροσύνη) steht, aus­ drücklich ins Spiel gebracht: In der Rahmenhandlung des Dialogs wird Sokrates dem jungen Charmides als Arzt vorgestellt, der ein Mittel gegen dessen Kopfschmerzen wisse (vgl. Chrm. 155b ff.). Im Fortgang des Gesprächs wird Sokrates seine Art der ärztlichen Kunst als The­ rapie der Seele darlegen. Inhaltlich, strukturell und methodisch wird 95

Vgl, oben Anm. 87.

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4.3 Seelentherapie und Scham

in dem Dialog die pädagogische Dynamik kenntlich, die in ähnlicher Weise auch die anderen Tugenddialoge kennzeichnet: inhaltlich durch den diskutierten Gegenstand der Arete selbst; strukturell durch den stufenweisen Aufbau, der an die Aufstiegsbewegung des Höhlen­ gleichnisses erinnert;96 methodisch durch die Elenktik und die ebenso für diese Dialoge typischen Aporien, auch diese werden oftmals als didaktisches Moment verstanden.97 Wenn Sokrates im Charmides als Arzt und Therapeut (ἰατρός) eingeführt wird – zu denken ist dabei auch an den Heilkundigen im Protagoras, der weiß, welche Mathe­ mata der Seele bekömmlich sind (vgl. Prt. 313e) –, dann ist diese Zuschreibung auch im Kontext der spezifischen ›sokratischen Pädagogik‹ zu begreifen: Eingebettet in ein heuristisches Programm, das seinen Ausgang von der Was-ist-Frage nimmt, fördert und forciert der ›Pädagoge‹ Sokrates durch sein Fragen und Widerlegen, der ›Arzt‹ Sokrates, indem er sich zugleich um die Seele des ihm Anvertrauten kümmert, das Zusammenspiel von Wissens- und Seelenbildung. Sokrates vermag die Seele seines Gesprächspartners zu lenken, in Abhängigkeit von dessen seelischen Konditionen vielleicht auch umzulenken. Die pädagogische Frage und das therapeutische Motiv sind im Charmides eng verschränkt, sie gehören zusammen. In den folgenden Untersuchungen wird der Frage nachgegangen, wie das Motiv der Seelentherapie konkret zu verstehen ist. Nach einer Einführung in die im Charmides dargelegte Heilmethode wird zu diesem Zweck zunächst der therapeutische Ansatz im Phaidon

96 Zum pädagogischen Impetus der Tugenddialoge vgl. Henry Teloh: Socratic Edu­ cation in Plato's Early Dialogues, Notre Dame, Ind. 1986; Anton Hügli: Die Bedeut­ samkeit der Philosophie für das Geschäft der Bildung, in: Philosophie und Bildung, Bildung durch Philosophie. Philosophie et éducation, Éducation par la philosophie, Red. ders., Curzio Chiesa, Basel 2006 (Studia Philosophica, Vol. 65), S. 13–34. Als Tugenddialoge im Besonderen gelten die Werke Laches, Charmides, Euthyphron und Thrasymachos (Politeia I). Deren stufenhaften Aufbau erläutert Barbara Zehnpfennig: Platon zur Einführung, 2., überarb. und erw. Aufl., Hamburg 2001, S. 85–94; vgl. auch ebd., S. 63; dazu Hermann Gundert: Dialog und Dialektik. Zur Struktur des platoni­ schen Dialogs, Amsterdam 1971, S. 17–28. 97 So schon nachdrücklich Friedrich Schleiermacher: »Einleitung« zu »Platons Werke« (1804, 2. Aufl. 1817), in: Konrad Gaiser (Hg.): Das Platonbild. Zehn Beiträge zum Platonverständnis, Hildesheim 1969, S. 1–32; vgl. dazu Michael Erler: Hypothese und Aporie: Charmides, in: Theo Kobusch, Burkhard Mojsisch (Hg.): Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschungen, Darmstadt 1996, S. 25–46, hier 26 f.; auch ders.: Der Sinn der Aporien in den Dialogen Platons. Übungsstücke zur Anleitung im philosophischen Denken, Berlin/New York 1987, Einleitung, S. 1–18.

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4. Das Motiv der Seelentherapie und der platonische Begriff der Scham

diskutiert. Wie im Charmides benutzt Platon auch hier den – schon im Kontext des delphischen Spruches hervorgetretenen – Ausdruck des ›Besingens‹ oder ›Besprechens‹ (ἐπᾴδειν), um das therapeutische Konzept zu charakterisieren. Vor dem Hintergrund des Ansatzes im Phaidon, der mit Erler als ›Affekttherapie‹ bezeichnet werden kann (an seinen Studien orientieren sich die folgenden Ausführungen zum Phaidon), wird daran anschließend zur Debatte stehen, inwiefern sich die sokratische Therapie im Charmides davon unterscheidet. Im Hinblick darauf werden die ersten beiden Tugendbestimmungen im Charmides einer eingehenden Analyse unterzogen. Während viele Interpreten dieser Textpassage eine nur geringe Bedeutung beimes­ sen,98 liegt der Fokus der Betrachtungen zum Charmides hier, neben der Rahmenhandlung selbst, auf diesen anfänglichen Bestimmungen und ihrem dialogischen Kontext. Die Diskussionen führen auf dieser Grundlage zu Platons philosophischem Begriff der Scham: Unter Einbeziehung des Konzepts der Scham im Protagoras und Phaidros wird die Frage erörtert, welche philosophische Bedeutung der plato­ nisch verstandenen Aidos über das bereits Gesagte hinaus zukommt und welche Rolle sie hinsichtlich der Seelenbildung spielt; diskutiert wird auch, von welcher Relevanz hierbei die den Charmides prägende selbstreflexive Erkenntnisbewegung ist. Ziel der Untersuchungen ist es – in Anknüpfung an die eingangs formulierte These –, die Scham als konstitutives Moment der sokratischen Seelentherapie und des seelischen Wandels aufzuzeigen.

4.3.1 Besprechungen (ἐπῳδαί) der Seele Sokrates selbst stellt seine Heilmethode im Charmides als thrakische, auf den König und Gott Zalmoxis zurückzuführende Kunst vor, die er von einem im Dienste dieses Gottes stehenden Arzt gelernt habe (vgl. 155e–157c): Das Heilmittel (φάρμακον) gegen den Schmerz, so erklärt Sokrates, bestehe aus einem Blatt (φύλλον), das jedoch nicht ohne 98 Viele Studien zum Charmides konzentrieren sich auf den letzten, größeren Teil des Dialogs, in welchem die Frage der Selbsterkenntnis erörtert wird. Vgl. u. a. Karen Gloy: Platons Theorie der ἐπιστήμη ἑαυτῆς im Charmides als Vorläufer der modernen Selbstbewußtseinstheorien, in: Kant-Studien 77 (1986), S. 137–164; Gabriela R. Carone: Socrates’ Human Wisdom and Sophrosune in Charmides 164c ff., in: Ancient Philosophy 18 (1998), S. 267–286; Vasilis Politis: The Place of aporia in Plato’s Charmides, in: Phronesis 53 (2008), S. 1–34.

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4.3 Seelentherapie und Scham

Besprechung (ἐπῳδή) aufgelegt werden dürfe. Die Kraft (δύναμις) der Besprechung beruhe dabei auf dem Grundsatz, dass ein Teil nicht ohne sein Ganzes, also etwa die Augen nicht ohne den Kopf, der Kopf nicht ohne den ganzen Leib, zu behandeln sei. Nur mit der Therapie und Heilung (θεραπεύειν τε καὶ ἰᾶσθαι, 156c5) des ganzen Leibes, von diesem ausgehend, wäre auch die Heilung eines seiner Glieder möglich. Maßgeblich für die thrakische Kunst sei aber vor allem, dass der Leib nicht ohne die Seele zur Gesundheit gelange: Die Seele müsse zuerst und am sorgfältigsten behandelt werden (καὶ πρῶτον καὶ μάλιστα θεραπεύειν, 157a1–2). Dass Sokrates sich auf eine fremde und nicht auf die griechische Medizin beruft, begründet er selbst damit, dass die hellenischen Ärzte das spezifische Verhältnis von Leib und Seele, nämlich die Abhän­ gigkeit des Leibes von der Seele, nicht berücksichtigten. So gehe zwar gerade die hiesige Medizin von dem Prinzip eines organischen Körpers aus, dass also dessen Teile stets in der Relation zum Ganzen zu betrachten seien; mehr noch gelte dieser Grundsatz als genuin griechische bzw. hippokratische Einsicht (vgl. Chrm. 156c–e).99 Aller­ dings vernachlässige sie das Ganze (τοῦ ὅλου ἀμελοῖεν, 156e4): Denn alles werde durch die Seele bewegt, das Gute und das Schlechte, dem Leib wie dem ganzen Menschen, und ströme diesen von dorther zu.100 Platon würdigt den Ansatz der griechischen Medizin, markiert aber auch deutlich ihre Grenzen: Sie gehe über den somatischen Bereich nicht hinaus. Es sei ein häufiger Irrtum, so Sokrates, dass man das Aufgabenfeld der Ärzte in einen körperlichen und in einen seelischen Bereich trenne (vgl. 157b).

99 Vgl. dazu, dass Platon hier die hippokratische Medizin meint, Phdr. 270b–d; auch Pedro Laín-Entralgo: Die platonische Rationalisierung der Besprechung (ΕΠΩΙΔΗ) und die Erfindung der Psychotherapie durch das Wort, in: Hermes 86 (1958), S. 298– 323, hier 311. Zur Problematik des Autors Hippokrates und des sog. Corpus Hippo­ craticum vgl. Christian Brockmann: Hippokrates. Seine Orte, seine Wissenschaft, in: Gegenworte 16 (2005), S. 78–83; Carolin Oser-Grote: Viertes Kapitel: Medizinische Schriftsteller, in: Klaus Döring et al.: Sophistik, Sokrates, Sokratik, Mathematik, Medizin, in: Grundriss der Geschichte der Philosophie, begr. von Friedrich Ueberweg, Die Philosophie der Antike, Bd. 2/1, hg. von Hellmut Flashar, völlig neu bearb. Ausg., Basel 1998, S. S. 455–485, hier 457–461. 100 Πάντα γάρ ἔφη ἐκ τῆς ψυχῆς ὡρμῆσθαι καὶ τὰ κακὰ καὶ τὰ ἀγαθὰ τῷ σώματι καὶ παντὶ τῷ ἀνθρώπῳ, καὶ ἐκεῖθεν ἐπιρρεῖν (Chrm. 156e6–8). Vgl. auch Prot. 313a. – Zu den Begrifflichkeiten von ›Körper‹ und ›Leib‹ in Bezug auf Platon vgl. oben Kap. 1.2.2, Anm. 152.

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4. Das Motiv der Seelentherapie und der platonische Begriff der Scham

Der Dialog Charmides, der die Tugend der Sophrosyne in einer Folge von Bestimmungen und Thesen argumentativ verhandelt und diskutiert, beginnt also mit einem Exkurs über das Verhältnis von Leib und Seele, das wiederum im Horizont eines therapeutischen Motivs betrachtet wird. Danach kann der Leib nicht ohne die Seele geheilt werden, oder umgekehrt, die Therapie der Seele wirkt zugleich gesundheitsfördernd auf den Leib und seine Glieder. In Berufung auf den thrakischen Arzt rekapituliert Sokrates dessen Lehre eingehen­ der: »Die Seele aber, mein Guter, sagte er, werde behandelt durch gewisse Besprechungen, und diese Besprechungen wären die schönen Reden. Denn durch solche Reden entstehe in der Seele Besonnenheit, und wenn diese entstanden und da wäre, würde es leicht, Gesundheit auch dem Kopf und dem übrigen Körper zu verschaffen.«101 Die Grundlage der thrakischen Behandlung bilden also die schönen Worte oder Reden des Arztes; darüber hinaus sei es aber auch notwendig, dass der zu Behandelnde dem Arzt »zuerst seine Seele darbiete« (τὴν ψυχὴν πρῶτον παράσχῃ, 157b3–4). Das Darbieten der Seele des Kranken und deren ärztliche Besprechung sind Voraussetzung einer Heilung der seelischen und körperlichen Leiden. Erfolgreich ist die Therapie überdies nur dann, wenn durch die Behandlung in der Seele Besonnenheit entsteht und anwesend bleibt. Die seelische Gegenwart der Sophrosyne ist gemäß der thrakischen Kunst die Ursache der Heilung. Die Priorität der Seele vor dem Leib wird in dem dialogi­ schen Vorgespräch von Sokrates unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Dennoch ist der leibliche Aspekt überaus präsent: Das therapeutische Motiv wird nicht nur mit Blick auf die Seele, sondern ausdrücklich auch im Hinblick auf den Leib eingeführt. Welche Rolle aber spielt diese Bezugnahme, warum wird die Heilung des Leibes explizit thematisiert? Hinzu kommt, dass Sokrates’ Charakterisierung der Heilmethode auf die Sensibilität und Sensitivität des Menschen, auf den sinnlichen Bereich anspielt: Die Worte oder Reden, durch die sich die Heilung vollziehen soll, werden nicht nur als λόγοι, sondern als λόγοι καλοί vorgestellt. Auch wenn die ›schönen Worte‹ 101 Θεραπεύεσθαι δὲ τὴν ψυχὴν ἔφη, ὦ μακάριε, ἐπῳδαῖς τισιν, τὰς δ᾿ ἐπῳδὰς ταύτας τοὺς λόγους εἶναι τοὺς καλούς· ἐκ δὲ τῶν τοιούτων λόγων ἐν ταῖς ψυχαῖς σωφροσύνην ἐγγίγνεσθαι, ἧς ἐγγενομένης καὶ παρούσης ῥᾴδιον ἤδη εἶναι τὴν ὑγίειαν καὶ τῇ κεφαλῇ καὶ τῷ ἄλλῳ σώματι πορίζειν. (Chrm. 157a3–b1) Übers. Schleiermacher (Eigler-Ausg., Bd. 1).

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4.3 Seelentherapie und Scham

letztlich auf eine ›schöne Seele‹ im Sinne der Vernunftseele bzw. eines vernunftgeleiteten Zustandes hinwirken sollen, bleibt zu berücksich­ tigen, dass die menschliche Empfänglichkeit für das Schöne zunächst vom Leiblichen ausgeht.102 Insbesondere aber spricht Sokrates von ἐπῳδαί, von ›Besprechungen‹, ›Zaubersprüchen‹, ›Beschwörungen‹ oder ›magischen Liedern‹. Der sinnliche Anklang in der Beschreibung der Heilmethode weist offenkundig darauf hin, dass der Prozess, der zu einem besonnenen Seelenzustand führen soll, das Leibliche integrieren muss, die ἐπῳδαί in gewisser Weise auch auf den sensiblen Bereich zielen. In Diskussion der Sophrosyne im vierten Buch der Politeia knüpft Platon zunächst an deren traditionellen Gehalt des Maßes und der Selbstbeherrschung an:103 Die Mäßigung oder das Beruhigen von Affekten und Emotionen104 gehören zum Feld der Besonnenheit, wie auch Platon es versteht, notwendig dazu. Nur ein vollkommen beson­ nener Seelenzustand ist oder wäre dadurch geprägt, dass eine Beherr­ schung der sinnlichen Regungen nicht mehr notwendig scheint.105 Das mäßigende oder umsichtige Moment geht von der Vernunftseele aus, wird aus platonischer Sicht von dieser gesteuert. Jedoch muss die Vgl. etwa Smp. 210a ff. In der Politeia greift Sokrates das herkömmliche Verständnis der Selbstbeherr­ schung, die Kontrolle von Lüsten und Begierden, explizit auf (ἡδονῶν τινων καὶ ἐπιθυμιῶν ἐγκράτεια, R. IV 430e6–7), um darauf aufbauend seinen Begriff der Besonnenheit als Übereinstimmung der ganzen Polis bzw. der ganzen Seele dazulegen und zu begründen (vgl. R. IV 431e–432b u. 442c–d). 104 ›Affekte und Emotionen‹ gehören in griechischem Kontext in den weiten Bereich der πάθη. Platon definiert keinen Begriff, der nach unserem Verständnis Affekte oder Emotionen kenntlich machen würde, aber er beschreibt entsprechende physisch und psychisch zum Ausdruck kommende Gemütsbewegungen und Erregungen als kon­ krete, bekannte Phänomene; ebenso solche Handlungstendenzen, die vornehmlich dem Begehren folgen. Englischsprachige Interpreten verwenden mit Blick auf Platon zumeist den Ausdruck emotion; im Deutschen ist hingegen der Begriff des Affekts geläufig. Eine erhellende Diskussion zur Verwendung des Terminus ›Affekt‹ im Hin­ blick auf Platon, in Abgrenzung von dessen Gebrauch in der neuzeitlichen Philosophie, bietet Eming 2006, S. 23–27; zur platonischen Theorie der Affekte selbst vgl. ebd., S. 13–23 u. 27–30. Zu den griechisch verstandenen πάθη des Menschen vgl. auch Aristoteles: Rh. II 1–11, 1378a20–1388b30. – In dem hier im Folgenden benutzten Ausdruck ›Affekte und Emotionen‹ sind sowohl Gemütserregungen als auch das Spektrum von ›pathischen‹ Tendenzen und Gewohnheiten einbegriffen. 105 Im Phaidon zeichnet Platon seine Figur des Sokrates in dieser Weise (vgl. dazu unten Anm. 110). Die oben skizzierte Harmonie der gerechten Seele machte aber deutlich, dass auch ein ausgeglichener Seelenzustand als ein dynamischer aktiv aufrechterhalten werden muss (vgl. oben Kap. 4.1.2). 102

103

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4. Das Motiv der Seelentherapie und der platonische Begriff der Scham

somatische und emotionale Seite des Menschen gleichsam mitspielen – und darauf deutet die sinnliche Komponente der sokratischen Therapie im Charmides offensichtlich hin. Die Besprechungen zie­ len auf die Seele, lassen aber auch ein Moment erkennen, welches offenbar die leiblich-sinnliche und emotionale Seite im Menschen ansprechen soll. Mit dieser Betrachtung tut sich allerdings ein gewis­ ser Widerspruch auf: Wenn das Entstehen und Gegenwärtigsein der seelischen Besonnenheit mit leiblichen Bedingungen zusammen­ hängt, der angestrebte Zustand der Seele also durch ein somatisches Moment mitgeprägt wird, dann steht dies der thrakisch-sokratischen Voraussetzung der seelischen Priorität in gewisser Weise entgegen (vgl. Chrm. 156e–157a). Danach dürfen die schönen Worte allein über die Seele auf das Leibliche einwirken, nicht aber umgekehrt. Hier besteht also ein Klärungsbedarf; am Ende dieses Kapitels wird die Fragestellung noch einmal aufgegriffen. Platon verwendet den Terminus ἐπῳδή in seinem Werk in verschiedener Hinsicht und in unterschiedlicher Bewertung: zur Beschreibung überkommener magischer Besprechungen von Kran­ ken; zur Darstellung des traditionell Dämonischen, das Menschen und Götter verbinden soll; aber auch, um in kritischer Absicht schmei­ chelnde und betrügerische Reden zu entlarven.106 Im Charmides hingegen nutzt Platon den Ausdruck ἐπῳδή für die Zwecke seiner Philosophie, nämlich im Sinne der bereits charakterisierten BegriffsTransposition.107 In Erinnerung zu rufen ist in diesem Zusammen­ hang nun das therapeutische Motiv, das im Umfeld des delphischen Spruches hervortrat: Vermittelt durch die Einsicht in die menschli­ chen Grenzen und zugleich in die herakliteische bzw. sophokleische Gespanntheit menschlicher Gegensätze gründete dieses Motiv in dem apollinischen Prinzip von Ordnung und Geordnetheit und damit auch in der herkömmlichen Bedeutung der Sophrosyne als gesunde Gesinnung.108 Der Begriff ἐπῳδή verwies in diesem Rahmen auf seine medizinisch-therapeutische Provenienz: Die magischen Besingungen Vgl. R. IV 426b; Smp. 202e–203a; R. II 364b–c; Euthd. 290a; zu einer ausführ­ lichen Darlegung der platonischen Verwendungen wie auch zu weiteren Textstellen vgl. Laín-Entralgo 1958, S. 300–302. 107 Das platonische Verfahren wurde oben am Ende von Kap. 1.3.2 skizziert. Zu Pla­ tons Transposition des Begriffs ἐπῳδή vgl. auch Laín-Entralgo 1958, S. 303 ff. u. 308 ff. 108 Vgl. oben Kap. 2.2.1. Den mit der apollinischen Ordnung zusammenhängenden Terminus κόσμος zieht Platon zur Charakterisierung der Sophrosyne immer wieder heran (vgl. R. IV 430e). 106

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4.3 Seelentherapie und Scham

zielten traditionell auf Heilung und Katharsis. Platon greift den althergebrachten Begriff auf und transponiert ihn auf eine neue, phi­ losophische Ebene, wobei der alte ›Ton‹ von Heilung und Reinigung nicht nur in modifizierter Form erhalten bleibt, sondern zu neuer Entfaltung gelangt.109 Mit seiner philosophischen Verwendung der ἐπῳδή schließt Platon an die delphische Verschränkung von Beson­ nenheit und Heilung an: Die Besprechungen in Form der schönen Reden sollen durch die ihnen innewohnende Kraft Besonnenheit in der Seele erzeugen und auf diesem Wege die Seele stärken und ordnen. Das ›Magische‹ oder ›Bezaubernde‹ liegt nun offensichtlich in der den λόγοι καλοί immanenten Wirkkraft; den schönen Reden wird folglich ein heilendes Potential zugesprochen. Die Frage, wie diese Kraft der Logoi aussieht, welche Facetten sie beinhaltet, bildet einen der Leitaspekte der nachfolgenden Untersuchungen. In ausdrücklicher Form kenntlich wird eine solche mit dem Heilmotiv konnotierte Art der Besprechung im Phaidon. Obwohl in diesem Dialog »Sokrates zum exemplum [wird], wie man sich im Vertrauen auf die Vernunft auch unter widrigsten Umständen Zuversicht, Tapferkeit gegenüber Todesfurcht und damit Eudaimo­ nie bewahren kann«, nämlich »durch Vertrauen auf den Logos und Pflege des unsterblichen Selbst«,110 werden auf der anderen Seite bei den sokratischen Gesprächspartnern sinnlich-emotionale Regungen sichtbar, welche die Hinwendung zum Logos hemmen oder gar verei­ teln; dieser Regungen aber nimmt sich Sokrates erklärtermaßen an.111 Zum Verhältnis von ἐπῳδή und κάθαρσις in vorphilosophischem Kontext und in philosophischer Hinsicht bei Platon vgl. auch Laín-Entralgo 1958, S. S. 313–322. 110 Michael Erler: »Sokrates in der Höhle«. Argumente als Affekttherapie im Gorgias und im Phaidon, in: Marcel van Ackeren (Hg.): Platon verstehen. Themen und Per­ spektiven, Darmstadt 2004, S. 57–68, hier 61. Wie sehr sich der Philosoph Sokrates von seinen Gesprächspartnern abhebt, indem er vor allem im Phaidon als nahezu frei von Affekten erscheint und sich in entsprechender Weise verhält, wird von Erler sehr deutlich akzentuiert. Vor allem der Ausdruck des ›Unwillig-Seins‹ (ἀγανακτεῖν) mar­ kiere den Unterschied zwischen Sokrates und anderen: Trotz seiner Lage treffe diese Wendung auf Sokrates gerade nicht zu. Vgl. dazu Erler 2008, S. 25–27; ders.: »Denn mit Menschen sprechen wir und nicht mit Göttern«. Platonische und epikureische epimeleia tês psychês, in: Dorothea Frede, Burkhard Reis (Hg.): Body and Soul in Ancient Philosophy, Berlin/New York 2009, S. 163–178, hier 164–168. Vgl. auch Thomas A. Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Interpretationen zu den frühen und mittleren Dialogen, Berlin/New York 1985, darin Kap. 16: ›Apo­ logie – Kriton – Phaidon. Verteidigung auf drei Ebenen‹, S. 221–252, hier 237. 111 In den nachstehenden Ausführungen zum Phaidon folge ich weitgehend den Interpretationen von Erler. Vgl. dazu folgende Arbeiten: Michael Erler: Das Bild vom 109

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4. Das Motiv der Seelentherapie und der platonische Begriff der Scham

Während er selbst angesichts seiner bevorstehenden Hinrichtung Ruhe ausstrahlt und auch in dieser Situation die philosophische Unterredung in den Mittelpunkt rückt, zeigen sich seine Gesprächs­ partner zuweilen ängstlich und unruhig; sie fürchten sich (δεδιέναι, φοβεῖσθαι, vgl. Phd. 77d–e). Die schon erwähnten Zweifel von Kebes und Simmias sind nicht zuletzt in Verbindung mit diesen Ängsten zu betrachten: Ihre Furcht vor dem Tod und ihr Unglauben (ἀπιστία) bezüglich der Unsterblichkeit der Seele bewirken eine innere Unsi­ cherheit, die sie aber zugleich misstrauisch gegenüber den Logoi, d. h. konkret gegenüber den sokratischen Beweisen der Unsterblichkeit der Seele werden lässt.112 Im Gegensatz zu Kriton und den umstehenden Zuhörern werden die Thebaner Kebes und Simmias zwar als solche Gesprächspartner vorgestellt, die mit dem philosophischen Gespräch vertraut und entsprechend bestrebt sind, den sokratischen Logoi zu folgen: Sie zeigen sich als kritische Diskutanten, die skeptisch hin­ terfragen, zuweilen aber auch zugestehen, Sokrates’ Argumentation überzeugend zu finden. Dennoch wirft sie ihre Verunsicherung immer wieder in alte Muster zurück: Zustimmung und wieder aufkeimen­ der Zweifel der Gesprächspartner sind im Dialog oft enggeführt.113 Kenntlich werden Haltungen, die von bestimmten Emotionen, hier vor allem von Furcht, herrühren oder dominiert sind (vgl. 77d–e). Vor diesem Hintergrund tritt im Phaidon der Ausdruck »Besingen« (ἐπᾴδειν, 77e9) als therapeutisches Moment hervor. Die Rede ist von einem »Kind in uns« (ἐν ἡμῖν παῖς, 77e6), das sich fürchte und überzeugt werden müsse: »Dieses Kind in euch müsst ihr, sprach Sokrates, täglich besprechen, bis ihr es herausbannt.«114 Geheilt werden sollen mithilfe des Besingens oder Besprechens das Misstrauen und die Widerstände gegenüber dem Logos, kann aus solchen Vorbehalten doch im schlimmsten Fall eine »Logosfeind­ schaft« (μισολογία, Phd. 89d4) erwachsen. Vor dieser warnt Sokrates »Kind im Menschen« bei Platon und der Adressat von Lukrez De rerum natura, in: Cronache Ercolanesi 33 (2003), S. 107–116, hier 111–114; Erler 2004, S. 61–68; ders. 2008, S. 25–36; ders. 2009. Vgl. überdies Szlezák 1985, S. 226–230, 232 f., 241–243. 112 Zu den Zweifeln von Kebes und Simmias vgl. Phd. 69e–70b, 77a–78b, 88a–c, 91c–d, 107a–b; dazu Erler 2003, S. 111 f.; ders. 2004, S. 61 ff.; ders. 2008, S. 29 f. 113 Vgl. Phd. 76e–77b, 91c–92a, 106b–107b; dazu die Literaturangaben zu Erler oben Anm. 112; auch Szlezák 1985, S. 226 f. 114 Ἀλλὰ χρή, ἔφη ὁ Σωκράτης, ἐπᾴδειν αὐτῷ ἑκάστης ἡμέρας ἕως ἂν ἐξεπᾴσητε (Phd.77e9–10). Übers. Schleiermacher (Eigler-Ausg., Bd. 3) mit Ergänzung und Her­ vorhebung von Erler 2004, S. 64.

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4.3 Seelentherapie und Scham

im Phaidon ausdrücklich. Ähnlich wie die Misanthropie durch einen kunstlosen Umgang mit Menschen entstehe, beruhe die Misologie auf einem kunstlosen Umgang mit Logoi: Jemand schenke den Reden kein Vertrauen mehr, wenn sie ihm des falschen Umgangs wegen einmal als zuverlässig, dann wieder als unzuverlässig erschienen (vgl. 89c–90d).115 Der falsche Umgang, etwa im Sinne einer Leichtgläubig­ keit, hängt aber nicht zuletzt mit Affekten und Emotionen zusammen, wie sie im Phaidon und auch in anderen Dialogen thematisiert wer­ den. Kebes und Simmias sind im Vergleich zu den Zuhörern zwar weit weniger gefährdet, in den Zustand einer Misologie zu geraten, jedoch werden auch sie in ihrer vernünftigen Aufmerksamkeit teilweise von ihrer Furcht eingeholt. Andere Gesprächspartner sind durch Trauer und durch den Unwillen, Sokrates’ Tod zu akzeptieren, gebannt (vgl. 116a–117e). Affekte und Emotionen bewirken offensichtlich Beden­ ken, die zu einer inneren Auflehnung gegenüber dem Logos führen können. Sie bedürfen deshalb einer Therapie und Heilung: Die ›Besin­ gung des Kindes‹ zielt auf Aufmunterung und Trost (παραμυθία, vgl. 70b).116 Den vielfältigen Formen eines Ungläubigseins (ἀπιστεῖν)117 soll ein Vertrauen entgegengesetzt werden, d. h. ein Glauben (πίστις) daran, dass die Logoi auf der Grundlage eines richtigen Umgangs zu Wahrem und zu einem ausgeglichenen Zustand der Seele führen; vermittelt werden sollen Zuversicht und ein Vertrauen auf den Logos. Die ἐπῳδαί bestehen im Phaidon aber in nichts anderem als den sokratischen Logoi selbst. Die Zweifel gegenüber dem Logos soll der argumentative Diskurs selbst ausräumen, indem er die Sachverhalte, welche die innere Verunsicherung und Unruhe auslösen – im Phaidon die Frage des Todes und der Sterblichkeit oder Unsterblichkeit der Seele –, einer differenzierten Betrachtung unterzieht. Die Logoi sollen im Hinblick auf die Affekte und das daraus folgende Misstrauen klärend und reinigend wirken. Erler versteht die Therapie im Phai­

115 Vgl. dazu Dorothea Frede: Platons ›Phaidon‹. Der Traum von der Unsterblichkeit der Seele, Darmstadt 1999 (Werkinterpretationen), S. 86 f. – Kurz zuvor hatte Phaidon in einer der Zwischenszenen, die den erzählten Dialog unterbrechen, die starke Ver­ unsicherung der Umstehenden unterstrichen: Er schildert, wie das vorherige Über­ zeugtsein der Zuhörer durch die Kritik von Kebes und Simmias wieder in Unruhe umschlägt und sie in Zweifel gestürzt werden (ἀναταράξαι καὶ εἰς ἀπιστίαν καταβαλεῖν, Phd. 88c4). Vgl. Szlezák 1985, S. 227 f. 116 Vgl. dazu Erler 2003, S. 111; ders. 2004, S. 61–66, bes. 62 f.; ders. 2008, S. 30. 117 Vgl. Phd. 70a, 77a, 87a, 88c, 91c.

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don als eine »Aufklärung«118: Notwendig sei dazu eine vernünftige Situationsanalyse, auch mit Blick auf den übergeordneten Kontext menschlicher Existenz, die Reflexion der Ursachen von Affekten und Emotionen sowie eine Gewöhnung im Sinne der traditionellen Tugend, d. h. durch Übung zu lernen, dass die Affekte der Vernunft gehorchen – der eigenen oder auch der fremden Vernunft in Form von Sitte, Gesetz, Erziehung und Vorbildern.119 Ziel der Therapie ist danach die Schaffung einer bestimmten seelischen Disposition, einer seelischen Aufnahmebereitschaft für philosophische Argumente.120 Betrachtet man den im Phaidon verwendeten Ausdruck des ›Kin­ des in uns‹ als eine metaphorische Beschreibung menschlicher Affekte und Emotionen,121 dann lässt das Verb ›herausbannen‹ zunächst darauf schließen, dass die Therapie durch Logoi auf deren Beseitigung zielt (vgl. 77e). Innerhalb des dualen Konzepts von Seele und Leib, wie es in diesem Dialog zum Tragen kommt, sind Affekte und Emotionen eher der somatischen Seite zuzurechnen (vgl. 66c). Mit Blick auf die wahre Natur der Seele zielte das Philosophieren, soweit dies men­ schenmöglich ist, auf eine Loslösung von Sinnlichem, beeinträchtige dieses doch die Seele in ihrem Denken und Sein (vgl. 64d–67d). Im engeren Sinne ist die Therapie durch Logoi demnach als eine anzu­ strebende Befreiung von Affekten und Emotionen zu verstehen. In einem weiteren Sinne aber, so zeigte sich, bedeutet die Therapie, einen angemessenen und sinnvollen Umgang mit diesen zu finden. Ist ein Mensch fähig, Affekte und emotionale Zustände zu kontrollieren, und Erler 2004, S. 65. Vgl. Erler 2008, S. 31–34; ders. 2009, S. 169–176, bes. 171–174. Erler differen­ ziert die Figuren im Phaidon im Blick auf deren Umgang mit Emotionen, wobei er einen therapeutischen Erfolg allein bei der gleichnamigen Dialogfigur erkennt: Phai­ don – er ist nicht nur Erzähler, sondern auch Teilnehmer des Gesprächs – lasse sich von der Haltung Sokrates’ und dessen Argumenten in positiver Weise beeindrucken. Anders als Kebes und Simmias finde er zu einem angemessenen Verhalten und zu einem reflektierten Umgang mit seinen Affekten. Erler zieht eine Parallele zwischen Phaidon und den ›anständigen Männern‹ in der Politeia (vgl. R. X 603e ff.), bei denen es sich um die Wächter handle: Sie stünden zwischen den gewöhnlichen Menschen und den Philosophen. Wie Phaidon seien sie nicht frei von Affekten, aber ihnen obliege aus sokratischer Sicht, nachhaltig zu lernen und zu üben, diese richtig einzuschätzen und zu kontrollieren. Vgl. zu einer solchen reflexiven Haltung hinsichtlich der eigenen Affekte bei Platon auch Eming 2006, S. 21 f. 120 Vgl. Erler 2004, S. 58, 60, 63; ders. 2008, S. 34. 121 Zur Figur resp. Metapher des ›Kindes im Menschen‹ vgl. Erler 2004, S. 63–67; ders. 2008, S. 30; ders. 2003, S. 111–114; zu den weitreichenden Nachwirkungen des Bildes ebd., S. 107–110 u. 114–116. 118

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gewinnt er durch entsprechende Übungen eine Haltung, die ihm auch in schwierigen, Emotionen herausfordernden Situationen zu einem angemessenen Verhalten und Agieren verhilft, dann erweist sich ein solcher Mensch aus platonischer Sicht als besonnen und rechtschaffen im Sinne der herkömmlichen Tugend. Er vermag Situationen wie auch die Emotionen selbst richtig einzuschätzen. Der philosophische Weg weist allerdings darüber hinaus: Ein Philosoph nach dem Vorbild Sokrates’ vermag danach, die Ursachen von Affekten und Emotionen mithilfe des Logos anders zu bewerten und zu beurteilen, er versteht es, auch diesen Ursachen vernunftgeleitet zu begegnen und mit ihnen umzugehen. Das therapeutische Motiv, das auf den schönen Reden oder Besprechungen basiert, birgt aber die Frage, auf welche Weise die der Vernunft zuzuordnenden Logoi auf Affekte und Emotionen einzu­ wirken bzw. für diese zugänglich zu sein vermögen. In der Literatur wird der Grund für die Möglichkeit einer vernunftgeleiteten Einfluss­ nahme auf Affekte und Emotionen bei Platon darin gesehen, dass diese Gefühlsregungen selbst ein kognitives Moment einschließen – eine Deutung, wie sie in ähnlicher Weise in Bezug auf vorplatonische, vor allem die homerischen Texte formuliert wird und wie sie auch im Kontext des vorklassischen Begriffs der Scham kenntlich wurde.122 Der emotionale Zustand impliziert danach insofern einen kognitiven Aspekt, als die Emotion selbst erst durch eine Einschätzung und Bewertung bestimmter Gegebenheiten oder Impulse ausgelöst wird. Um Furcht, Trauer, Zorn oder Unwillen zu empfinden, muss der Betroffene die Lage in bestimmter Weise ermessen haben.123 So auch in platonischem Kontext: Affekte und Emotionen müssen auch hier notwendig mit einem kognitiven Moment assoziiert sein. Dieses Moment aber mache sie für vernünftige Einsichten, für Argumente und Überlegungen zugänglich und empfänglich; über dieses Moment sind demnach Affekte und Emotionen vermittels der Logoi ansprech­ bar.124 Vor allem im Hinblick auf das trimere Seelenmodell in der Politeia wird in der Forschungsliteratur die platonische ›Psychologie‹ Vgl. dazu oben Kap. 4.2.1 mit Anm. 64. Eming (2006, S. 25 f.) weist darauf hin, dass bestimmte Begriffsbedeutungen von ›Empfindung‹ in der Moderne, auf andere Weise auch von ›Gefühl‹ im Hinblick auf Platon bzw. die Antike nicht zutreffend sind, der Gebrauch dieser Begrifflichkeiten deshalb nicht unproblematisch sei. 124 Vgl. auch Erler 2008, S. 35 f. 122

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zumeist in der Weise gedeutet, dass der sinnlich-emotionale, volun­ tative und vernünftige Seelenbereich nicht strikt zu trennen sind, sondern dass diese Bereiche komplex agieren. Jeder Seelenteil hat demnach zwar seine je eigene primäre Funktion und Ausrichtung; dennoch integriert er, in je unterschiedlicher Weise, die spezifischen Momente der beiden anderen.125 Im Anschluss an die Forschungsliteratur wird auch hier davon ausgegangen, dass ein vernunftgeleiteter Zugang zu den nicht-ver­ nünftigen Anteilen – damit auch die heilende Wirkung der Logoi – über ein kognitiv-einschätzendes Moment, welches mit etwaigen emotionalen Zuständen einhergeht, erfolgt. Dennoch sind auch unter dieser Voraussetzung die Schwierigkeit, wie das Kognitiv-Vernünftige und das Sinnlich-Emotionale zusammenspielen, und die Frage, ob nicht doch eine gewisse Kluft zwischen beiden Bereichen bestehen bleibt, nicht vollständig geklärt. In gewisser Weise wird das Problem dadurch nur verlagert, nämlich – in Bezug auf das dreiteilige Seelen­ modell – auf die einzelnen Seelenteile selbst. Die Fragestellung wird unten im Rahmen des Seelenbildes im Phaidros erneut aufgegriffen und diskutiert.126 Im Phaidon begegnet Platon dieser Problemstellung offensichtlich damit, dass er diejenigen Logoi, die im Sinne einer Therapie wirken sollen, als von besonderer Art auffasst: Sie sollen Vertrauen erwecken, Mut zusprechen, Trost spenden und aufmuntern. Allerdings handelt es sich hierbei nicht um ›emotionale Worte‹ etwa in der Art eines Bedauerns oder expliziten Mitfühlens. Die Logoi bestehen vielmehr, wie dies oben kenntlich wurde, einerseits im argu­ mentativen Diskurs selbst;127 andererseits sind sie aber auch durch eine besondere Zugewandtheit charakterisiert, die über das sonstige sokratische Einlassen auf das Verständnisniveau der Gesprächspart­ 125 Vgl. zu dieser vielschichtigen Thematik Blößner 1997, S. 216–230, bes. 220 ff., auch 233 ff.; Schmitt 2000, S. 57–64. Beide Autoren erkennen in der platonischen Psychologie eine Anknüpfung an das frühgriechische Epos (vgl. Blößner 1997, S. 217– 219; Schmitt 2000, S. 33–35). Vgl. auch Erler 2008, S. 24; Carone 2005; Knuuttila 2004, S. 9: »Although Plato stressed the differences between the reasoning and the non-reasoning parts, he did not think, that the appetitive and emotional parts are irrational in the sense of being wholly non-cognitive. They have representations of their own, and their acts can be construed as involving evaluative propositional atti­ tudes.« Vgl. auch ebd., S. 7 f. 126 Vgl. unten Kap. 5.3.3; zu der Fragestellung auch Knuuttila 2004, S. 9. 127 Dieser zielt, wie Erler betont, im Phaidon auf Plausibilität oder Wahrscheinlich­ keit, aber nicht notwendig auf eine Vollständigkeit der Argumentation (vgl. Erler 2003, S. 111).

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ner hinausgeht: Sokrates greift die Zweifel und Verunsicherungen von Kebes und Simmias ausdrücklich auf, nimmt ihre Skepsis mit in das Gespräch hinein und zielt zugleich darauf hin, durch das Gespräch selbst Vertrauen zu schaffen – ein Vertrauen in die Logoi und letztlich die Philosophie selbst.128 Dieses Vertrauen soll dem Menschen in seinem Gesamtzustand Stabilität, Mut und Zuversicht verleihen. Die Logoi sollen therapeutisch wirken, indem sie den emotionalen Anteil im Menschen nicht außen vorlassen, sondern, vermittelt über das kognitiv-einschätzende Moment, auch Affekte und Emotionen miteinbegreifen. Vor diesem Hintergrund ist noch einmal der sinnliche Anklang im Begriff der ἐπῳδή zu betrachten. Der oben angesprochene wider­ sprüchlich erscheinende Aspekt, dass die Therapie, folgt man der sinnlichen Konnotation dieses Begriffs, auch direkt auf die sinnlichsomatische Seite des Menschen zielen soll, dann aber der besonnene Seelenzustand, der im Charmides das Ziel der Besprechungen dar­ stellt, durch ein somatisches Moment mitgeprägt bzw. davon abhän­ gig wäre, löst sich nach den dargelegten Erörterungen einerseits auf. Die Therapie nimmt, wie es die thrakisch-sokratische Methode schon kenntlich machte, ihren Ausgang von der Vernunftebene und sie agiert, wie der Phaidon erwies, auch auf dieser Ebene des vernünftigen Arguments. Insofern behält die Seele ihre Priorität: Die Einsicht in die Ursachen von Affekten und Emotionen wie auch in eine bessere innere Ordnung vollzieht sich im vernünftigen Teil des Menschen; zugleich vermag diese Einsicht vermittelt über das kognitive Moment auf Affekte und Emotionen zu wirken. Die sinnlich-somatische Seite als solche schafft danach keine Bedingungen oder Voraussetzungen für einen guten, besonnenen Gesamtzustand. Wieviel Raum diese Seite im Menschen einzunehmen vermag, hängt aus platonischer Perspektive nicht primär von dieser selbst, sondern von der Intensität des vernünftigen Bemühens ab. Andererseits aber bleibt ein kleiner paradoxaler Rest bestehen. Der Sachverhalt, dass mit der Therapie auf Affekte und Emotionen eingewirkt werden soll, gibt dieser Seite des Menschen auch eine gewisse Bedeutsamkeit. Die therapeutischen Logoi basieren zwar auf Argumentation und analysierendem Denken; gegenüber einem solchen argumentativen Diskurs, der primär um der epistemischen Suche willen geführt wird, sind sie aber anders gewichtet, wenn 128

Vgl. auch oben Kap. 3.1.

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auch vielleicht nur in Nuancen: Sie wollen die sinnlich-somatische Seite ansprechen, beeinflussen und bewegen. Insofern diese Seite aber gleichsam ›überredet‹ werden soll, spielt sie auch selbst eine aktive Rolle. Soll die Therapie erfolgreich sein, muss diese Seite im Men­ schen, wie dies oben schon erwähnt wurde, bis zu einem gewissen Grad mitspielen. Unter dieser Voraussetzung hat dann aber das Sinn­ lich-Somatische oder der Leib einen gewissen Wirkungsanteil an der Besonnenheit des Menschen. Auch in diesem Zusammenhang sei auf die späteren Untersuchungen des Seelenbildes im Phaidros verwie­ sen. Obwohl gerade im Phaidon Leib und Vernunftseele deutlich voneinander geschieden werden, lassen Sokrates’ therapeutisches Konzept und die Metapher des ›Kindes im Menschen‹ ein verbinden­ des Element zwischen Seele und Leib erkennen, welches als Hinoder Vorverweis auf spätere Seelenkonzeptionen betrachtet werden kann.129 Im Rahmen der hier angestellten Erörterungen wurde der therapeutische Ansatz im Phaidon als bestimmtes Modell der sokra­ tischen Heilmethode beleuchtet. Inwiefern sich die Therapiemethode im Charmides davon unterscheidet, wird im Folgenden untersucht.

4.3.2 Ruhe und Scham als Bestimmungen der Besonnenheit (Charmides) In der Rahmenhandlung des Charmides wird nicht nur das therapeu­ tische, sondern auch das pädagogische Motiv spielerisch zur Sprache gebracht: Die Betonung der Jugendlichkeit von Charmides und seinen Altersgenossen, das mit erotischen Anspielungen und nicht ohne Ironie dargestellte Verhältnis von Älteren und Jüngeren, das auch das Zusammentreffen von Sokrates und Charmides prägt, ebenso die verwandtschaftliche Beziehung von Charmides und seinem Vormund Kritias lassen das übergeordnete Thema der Erziehung junger Männer aufscheinen (vgl. Chrm. 153d–156a). Der Jüngling Charmides steht im Mittelpunkt des Eingangsgesprächs, besticht er doch nicht nur durch seine äußere Schönheit; von Sokrates danach gefragt, attestiert Kritias seinem jungen Vetter mehr noch, dass dieser auch der Seele nach wohlgebildet, weisheitsliebend und sogar poetisch sei (vgl. 129

Vgl. Erler 2004, S. 67; ders. 2008, S. 30 mit Anm. 34.

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154a–155a). Darüber hinaus zeichne sich der Jüngling in derjenigen Hinsicht aus, so versichert Kritias, auf welche die sokratische Heilme­ thode hinwirke: Alle nämlich hielten ihn für den Besonnensten unter seinesgleichen (σωφρονέστατος εἶναι τῶν νυνί, 157d6–7). Sokrates beschreibt seinerseits nun die edle und außergewöhnliche Herkunft des Charmides (vgl. 157d–158b): Aufgrund seiner Abstammung sei es nicht unwahrscheinlich, dass er sich in all den genannten Eigenschaften gegenüber den anderen hervortue. Indem Sokrates Charmides’ aristokratische Herkunft aufgreift, bringt er die damit verbundene Vorstellung einer gleichsam natürlichen Begabung zur Besonnenheit zum Ausdruck.130 Dennoch, so Sokrates, müsse zuerst geklärt werden, ob Charmides die Besonnenheit tatsächlich inne­ wohne oder nicht; hänge es doch davon ab, ob er der Besprechungen bedarf. Sokrates fordert Charmides auf, sich selbst dazu äußern, ob er Kritias darin zustimme, bereits in hinreichender Form Anteil an der Besonnenheit zu haben oder ob er meine, dass sie ihm noch ermangle (vgl. 158b–c). Der Jüngling reagiert verlegen, er errötet und möchte weder zustimmen noch widersprechen. Bestreite er, besonnen zu sein, so sagt er, würde er Kritias und auch andere bezichtigen, etwas Falsches behauptet zu haben; auch sei es eigenartig, gegen sich selbst zu sprechen. Andererseits wolle er sich auch nicht selbst loben, würde man dadurch doch den anderen lästig sein (vgl. 158c–d). In der Literatur wird teilweise gerade diese am Dialoganfang demonstrierte Haltung des Charmides, seine Zurückhaltung und seine wohl abge­ wogene Antwort, als Indiz dafür gesehen, dass Platon in ihm einen charakterlich geeigneten Schüler der philosophischen Dialektik sieht. Bestätigt werde diese Annahme am Ende des aporetischen Dialogs, wenn Charmides bereitwillig Sokrates folgen und von ihm seine Seele besprechen lassen will.131 Auch Sokrates kommentiert, dass die Schüchternheit und Verschämtheit des jungen Gesprächspartners (τὸ αἰσχυντηλόν, 158c6) seiner Jugend gut anstünden. Gemeinschaft­ lich wolle man nun aber untersuchen, ob Charmides Besonnenheit besitze, und zu diesem Zweck, im Ausgang von der sokratischen Frage, was die Besonnenheit ist, solle er seine Meinung über die Sophrosyne vortragen (vgl. 158c–159b). 130 Diese ›natürliche Anlage‹ war schon zuvor unterstrichen worden (εὖ πεφυκώς, Chrm. 154e1). Vgl. Szlezák 1985, darin Kap. 10: ›Charmides. Der Jüngling und der ›schlechte Forscher‹‘, S. 127–150, hier 131 mit Anm. 10. 131 Vgl. Chrm. 176a–c; dazu Szlezák 1985, S. 131 f.

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Nach einigem Zögern legt Charmides zuerst dar, »dass die Besonnenheit das geordnete und ruhige Verrichten aller Dinge sei«,132 ob es sich um das Gehen auf der Straße oder das Unterreden handle (vgl. 159b). Besonnenheit sei folglich »eine Art Ruhe und Bedacht­ samkeit« (ἡσυχιότης τις, 159b5). Von Sokrates widerlegt, formuliert Charmides in einem zweiten Anlauf, »dass die Besonnenheit doch das Sich-Schämen bewirke und den Menschen beschämt mache«,133 kurzum, die Besonnenheit sei »Scham« (αἰδώς, 160e4). Die beiden ersten Bestimmungen der Sophrosyne werden in der Forschungsli­ teratur häufig als die erste Untersuchungsstufe des Dialogs zusam­ mengefasst bzw. als die zwei Seiten einer Medaille betrachtet: In beiden Fällen handle es sich um die Charakterisierung von Erschei­ nungsweisen der Sophrosyne, im ersten Fall, also der Ruhe und Bedachtsamkeit, um ein Phänomen der äußeren, im zweiten Fall, der Scham, um ein Phänomen der inneren, seelischen Welt. Charmi­ des’ Bestimmungen sind demnach keine Wesensbestimmungen der Besonnenheit, sondern sie demonstrieren spezifische Modi, wie diese in Erscheinung treten kann.134 Tatsächlich zeigen die sokratische Prüfung und Widerlegung in beiden Fällen einen analogen Gang. Zunächst formuliert Sokrates je die Prämisse der Untersuchung: Im ersten Fall fragt er, ob die Sophrosyne nicht zum Schönen gehöre, im zweiten Fall, ob nicht darüber hinaus bzw. damit zusammenhängend zum Guten. Charmi­ des bestätigt dies beide Male unbesehen: Die Zugehörigkeit sowohl zum Schönen als auch zum Guten ist eine selbstverständliche Voraus­ setzung jeder Tugend (vgl. 159c, 160e–161a). Sokrates hat damit jeweils das Kriterium für die Prüfung der Bestimmungen verdeutlicht. In der Folge nennt er mit Blick auf Ruhe und Bedachtsamkeit eine Vielzahl an Beispielen, in denen ein ruhiges Tun sich als Langsamkeit oder Trägheit äußert, etwa beim sportlichen Wettkampf oder bei geistigen Lernprozessen. Das bedächtige Verrichten, wie es in den Exempeln hervortritt, ist nicht als schön zu bezeichnen und kann deshalb gemäß der gesetzten Prämisse auch nicht besonnen sein σωφροσύνη εἶναι τὸ κοσμίως πάντα πράττειν καὶ ἡσυχῇ (Chrm. 159b2–3). αἰσχύνεσθαι ποιεῖν ἡ σωφροσύνη καὶ ἀισχυντηλὸν τὸν ἂνθρωπον (Chrm. 160e3–4). 134 Vgl. zu dieser Auslegung Barbara Zehnpfennig: Reflexion und Metareflexion bei Platon und Fichte. Ein Strukturvergleich des Platonischen »Charmides« und Fichtes »Bestimmung des Menschen«, Freiburg/München 1987, 25–33. Zu den ersten beiden Bestimmungen und Sokrates’ Argumentationsgang vgl. auch Erler 1987, S. 170–177. 132

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(vgl. 159b–160d). Hinsichtlich Charmides’ zweiter Bestimmung führt Sokrates nur noch ein Beispiel an; es ist ein Zitat aus der Odyssee: »Nicht gut ist Scham dem darbenden Manne«.135 Das Sich-Schämen muss also nicht in jeder Lebenslage gut sein. Ein Fall, in welchem die Scham nicht gut ist, genügt, um auch Charmides’ zweite Bestimmung zu widerlegen (vgl. 160e–161b). Beide Bestimmungen der Sophrosyne erweisen sich bezüglich ihrer Zugehörigkeit zum Schönen bzw. Guten im dialogischen Gespräch als ambivalent. Sokrates demonstriert vermittels beider Argumentationen, dass in beispielhaften Situationen, unter deren Bedingungen und Hinsichten, die je genannte Bestimmung auf die Tugend nicht mehr zutrifft.136 Vor dem Hintergrund, dass die von Charmides angeführte Bedachtsamkeit sowohl schön als auch nicht schön sein kann (vgl. 160c–d), die Scham sowohl gut als auch nicht gut (vgl. 161a), macht Gundert darauf aufmerksam, dass auf der ersten Untersuchungsstufe deutlich die eleatische Lehre anklinge: Nach Parmenides – und darin folge Platon dem Vordenker – entsprechen die Meinungen der Vielen, die δόξαι, demjenigen Bereich, der zugleich Sein und Nichtsein einschließe und dem deshalb der Widerspruch zwangsläufig immanent sei.137 Indem Sokrates mit seinen Beispielen die Bestimmungen des Charmides widerlegt, zeigt er, dass diese Bestimmungen, jedenfalls in der Weise, wie sie vorgetragen werden, selbst nur einen exemplarischen Charakter besitzen und deshalb keine Definitionen darstellen. Die Vorstellungen der Sophrosyne, die Charmides formuliert, bewegen sich ganz in dem seinem Stand gemäßen Rahmen.138 Es klingen darin die für die Tugend der Sophrosyne typischen Merkmale des sittlichen Feingefühls und der Zurückhaltung, des maßvollen und angemessenen Verhaltens sowie der Beherrschung an. Das innerhalb der ersten Bestimmung verwendete Adverb κοσμίως (159b3) akzen­ tuiert diese Konnotationen des richtigen Augenmaßes. Charmides ruft demnach herkömmliche Deutungen der Besonnenheit auf und 135 Hier formuliert als Frage: αἰδὼς δ᾿οὐκ ἀγαθὴ κεχρημένῳ ἀνδρὶ παρεῖναι; (Chrm. 161a4) Übers. Schleiermacher (Eigler-Ausg., Bd. 1). Vgl. auch La. 201b; dazu Od. 17, 347 u. 578; zu dem Spruch bei Homer vgl. Meyer 2011, S. 43 f. 136 Vgl. auch Gundert 1971, S. 18 f; Zehnpfennig 1987, S. 26 f. 137 Vgl. Gundert 1971, S. 19. 138 Die Meinungen der ersten Untersuchungsstufe, so Gundert (1971, S. 18), ent­ sprechen in den Tugenddialogen »der guten Erziehung und Sitte, der Lebenserfahrung und dem, was man selber tut und ist«. Vgl. auch Erler 1987, S. 172 u. 176.

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knüpft im gleichen Zuge an die von Sokrates angedeutete konventio­ nelle Auffassung an, nach welcher eine Art natürliche Disposition zur Besonnenheit seiner Herkunft gemäß sei.139 Zugleich ist aber nicht davon auszugehen, dass die von Charmides formulierten Charakte­ risierungen der Sophrosyne für Platon der Benennung nach falsch sind. Der Anklang eines ordnenden Moments erinnert wiederum an den delphisch-apollinischen Kontext und ist auch in platonischem Zusammenhang für die philosophische Ausrichtung der Sophrosyne signifikant.140 Überdies spielen Ruhe und Scham, ebenso über die traditionelle Ebene hinaus, andernorts im platonischen Werk eine positive Rolle. Im Phaidon verschafft sich die Seele Ruhe von Lust und Unlust, indem sie sich von der Vernunft leiten lässt.141 Hinsichtlich der Scham erwies sich oben im Mythos des Protagoras, dass dieser eine philosophische Relevanz zukommen kann; eine solche erhält die Scham auch im Kontext der Seelenbeschreibung im Phaidros.142 Folglich ist zu vermuten, dass nach platonischem Verständnis beide Bestimmungen – wenngleich für eine Definition nicht hinreichend – nicht falsch sind und als partielle charakteristische Beschreibungen der Sophrosyne dienen können.143 Warum aber endet dann die sokra­ tische Prüfung aporetisch, d. h., warum scheitert Charmides damit, seine Bestimmungen zu verteidigen? Indem Sokrates mit der Zustimmung seines Gesprächspartners die Prämissen der Untersuchung benennt, nämlich die Zugehörigkeit der Tugend zum Schönen und zum Guten, lässt er im Hinblick auf Charmides’ Ausführungen zwei Momente offenkundig werden: Zum einen, dass Charmides von bestimmten Voraussetzungen ausgeht – ohne freilich selbst eine Aufmerksamkeit für seine Setzungen zu haben; zum anderen wird ersichtlich, wie Charmides’ Verständnis der Prämissen aussieht, was er also unter dem Schönen und Guten versteht. Kenntlich werden seine Ansichten durch den sokratischen Beweisgang, vor allem im Rahmen der ersten Bestimmung: In allen Vgl. auch Erler 1996, S. 32. Vgl. R. IV 430e–432b; Grg. 506d–507a; dazu Erler 1987, S. 175. 141 Vgl. Erler 1987, S. 175: »Die Ruhe ist derjenige Seelenzustand, den der Philosoph erfährt, wenn er der Vernunft folgt und seine Seele das Wahre schaut (Phaed. 84 A).« 142 Vgl. dazu unten Kap. 4.3.3; auch Matthias Vorwerk: Plato on Virtue. Definitions of σωφροσύνη in Plato’s Charmides and in Plotinus Enneads 1.2 (19), in: American Journal of Philology 122/1 (2001), S. 29–47, hier 37. 143 Vgl. auch Erler 1987, S. 177. Dieser Aspekt bleibt bei Zehnpfennig (1987, S. 25– 33) unberücksichtigt. 139

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Beispielen, die Sokrates zur Widerlegung anführt, wird die Frage danach, ob sich eine bestimmte Tätigkeit als schön oder nicht schön vollzogen zeigt, als die Frage nach einer äußeren Qualität des Schönen sichtbar (vgl. 159b–160d).144 Schon in der den Beispielen vorausge­ henden Formulierung der Prämisse hatte Sokrates diese Lesart des Schönen angedeutet: Sokrates hatte den Plural τὰ καλά verwendet, präzise formuliert, fragte er also nach der Zugehörigkeit der Beson­ nenheit zu den schönen Dingen (vgl. 159c, 160d). Mit der Akzeptanz dieses Ausdrucks, insbesondere aber mit der Anerkennung der Bei­ spiele stimmt Charmides dieser Auffassung von ›schön‹ ohne Beden­ ken zu und entlarvt somit sein eigenes Verständnis des Schönen. Charmides’ Bestimmung der Besonnenheit als Ruhe und Bedächtig­ keit basiert auf der Voraussetzung des den alltäglichen Vorstellungen entsprechenden Schönen. Sein Scheitern im sokratischen Elenchos hat seine Ursache in den von ihm selbst implizierten Prämissen bzw. in seinem Verständnis derselben: Denn aus diesem folgt die oben genannte Auffassung von Ruhe als phänomenales Charakteristikum, als äußerlich bleibende Verhaltensweise. Angenommen werden darf deshalb, dass unter Zugrundelegung eines anderen Verständnisses des Schönen die ἡσυχιότης als Teilbestimmung der Sophrosyne eine durchaus gute Chance hätte, der sokratischen resp. philosophischen Prüfung standzuhalten.145 Etwas schwieriger gelagert ist der Fall im Rahmen der zweiten Bestimmung, der Sophrosyne als Scham. Zunächst ist davon auszu­ gehen, dass in Analogie zum Vorherigen das sokratische Exempel des ›darbenden Mannes‹ bzw. Bettlers einen Rückverweis auf Charmides’ Vorverständnis der Prämisse, hier des Guten, gibt. Jedoch ist die Frage, welche Auffassung des Guten damit angesprochen werden soll, nicht mit der gleichen Eindeutigkeit wie im Falle des Schönen zu beantworten. Offensichtlich soll das genannte Homer-Zitat auf das für einen Menschen fundamentale Gut des Überlebens hinweisen, das sich hier in einem primären Sinne auf Materielles bezieht. Dieses auch für Platon keineswegs gering zu schätzende Gut bleibt aber hinter dem philosophischen Begriff des Guten zurück. Trotz seiner existenziellen Dimension gründet es aus platonischer Perspektive in

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Vgl. Erler 1996, S. 32. Vgl. auch Erler 1996, S. 30–33.

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einer instrumentalen Vorstellung des Guten, es bleibt ambivalent.146 Wie das Schöne in nur phänomenaler Hinsicht bedarf aber auch das so verstandene Gute eines übergeordneten Maßstabs, an dem es gemessen wird. Basierend auf dieser Voraussetzung eines Guten hat demnach auch der Begriff der Scham, wie Charmides ihn vorbringt, einen funktional-instrumentalen und zugleich exemplarischen Cha­ rakter. Umgekehrt ist aber auch in diesem Falle ein Begriff der Scham vorstellbar, der, gestützt auf einem anderen Verständnis des Guten, als Teilbestimmung der Sophrosyne Sinn macht und von dem angenommen werden darf, dass er sich im sokratischen Elenchos verteidigen ließe. Gemäß dieser Deutung der zweiten sokratischen Widerlegung sind Charmides’ erste und zweite Bestimmung der Sophrosyne gewis­ sermaßen als analog zu betrachten. Allerdings zeigt sich Sokrates im Kontext seiner zweiten Widerlegung als sehr zurückhaltend. Zwar genügt stets nur ein Fall, auf den eine Behauptung nicht zutrifft, um diese selbst aus den Angeln zu heben; dennoch ist Sokrates’ dezentes Verhalten auffallend. Obwohl die Bestimmung der Sophro­ syne als Scham aus Charmides’ Mund in der sokratischen Prüfung scheitern muss, weil diesem der philosophische Maßstab des Guten fremd ist, ist zugleich davon auszugehen, dass für Platon die Scham noch weniger als Ruhe und Bedachtsamkeit aus dem Begriffsfeld der Sophrosyne wegzudenken ist. Dass die zweite Bestimmung der Sophrosyne einen anderen Stellenwert hat als die erste, kann bereits in dem durch die Bestimmungen indizierten »Gang von außen nach innen«147, von der Ruhe im Verstande einer äußeren hin zur Scham im Sinne einer inneren Erscheinungsweise gesehen werden. Die Frage nach der philosophischen Relevanz dieser zweiten Bestimmung bildet den Zielpunkt des nächsten Kapitels. Hinsichtlich der hier erörterten ersten beiden Bestimmungsver­ suche der Sophrosyne sei noch an dasjenige erinnert, was in Bezug auf das Setzen von Prämissen im Zusammenhang der HypothesisMethode im Phaidon und im Rahmen der Dialektik in der Politeia zutage trat. Im Charmides machen die ersten beiden Bestimmungen in exemplarischer Form sichtbar, wie wenig der Gesprächspartner sich seiner impliziten Voraussetzungen, die seinen Meinungen not­ 146 Im Gorgias (vgl. 512b–513c) macht Sokrates deutlich, dass die Selbsterhaltung nicht das höchste Gut darstellt. Vgl. auch Ap. 28b; Euthd. 279a–b. 147 Gloy 1986, S. 140; vgl. auch Erler 1987, S. 176; Zehnpfennig 1987, S. 30 f.

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wendigerweise zugrunde liegen, gewahr ist. In Verbindung mit der Hypothesis-Methode im Phaidon war oben offensichtlich geworden, dass es in Bezug auf jeden Denkprozess einer Meinungsbildung aus sokratischer Perspektive darum gehen muss, sich zunächst sei­ ner Vorverständnisse oder Vorurteile bewusst zu werden und statt dieser in aktiver Weise den am stärksten erscheinenden Logos als Hypothese zu setzen, wobei dieses Setzen zugleich bedeutete, die Hypothese in zwei Richtungen zu prüfen und zu begründen: Zu beleuchten sind auf der einen Seite die Konsequenzen der gesetzten Annahme, d. h., alles von der Hypothese Abgeleitete ist auf seine Konsistenz im Hinblick auf sie selbst zu befragen. Auf der ande­ ren Seite sollte eine nächsthöhere und bestmögliche Voraussetzung gefunden werden, vor deren Hintergrund die Ausgangshypothese selbst der Rechenschaft zu unterziehen ist.148 Das in diesem Zusam­ menhang im Phaidon genannte ›Hinreichende‹, zu dem man durch die Hypothesis-Methode gelangen möchte, ist, wie oben dargelegt wurde, in letzter Instanz die Idee. Der Jüngling Charmides ist weit von der Fähigkeit, die sokra­ tische Hypothesis-Methode umzusetzen, entfernt. Er folgt seinen Vorverständnissen der Sophrosyne, sein Blick ist auf Situationen seines Lebensumfeldes gerichtet, er denkt exemplarisch. In Bezug auf die Frage, was die Besonnenheit ihrem Wesen nach ist, vermag er nicht, einen argumentativ als ›stark‹ anzunehmenden, übergeordne­ ten Logos als Hypothese zu setzen und ihn auf seine Allgemeinheit zu prüfen.149 Ohne den Boden einer reflektierten Hypothese bleiben die Meinungen des Charmides jedoch bloße ›Ansichten‹. Dennoch kommt in den Antworten des Charmides, unabhängig von dessen Verständnis derselben, dem Wortlaut nach Richtiges zum Ausdruck, nicht nur in Bezug auf die traditionelle, sondern auch hinsichtlich der philosophischen Bedeutung der Sophrosyne. Die Diskrepanz zwi­ schen der Kenntnis einer Vokabel, eines Ausdrucks oder Satzes, die dem Wortfeld einer Tugend angehören, und dem fehlenden Bemühen, diese zu begreifen, lässt Platon immer wieder aufscheinen. WortVgl. oben Kap. 3.4. Auch Erler (1996, S. 34 f.) rekurriert in seiner Diskussion des Charmides auf die Dialektik der Politeia und die Hypothesis-Methode des Phaidon mit ihren beiden Wegen der Prüfung einer Hypothese. 149 Vgl. Erler 1996, S. 34: Um seine Thesen zu verteidigen, müsste Charmides »eine Änderung der Blickrichtung« vollziehen, »fort von sinnfällig gegebenen Einzelfällen hin zu einem von den Einzelfällen separierten, die Einzelfälle jedoch qualifizierenden, allgemeinen Eidos«. 148

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und Sachkenntnis fallen auseinander: Etwas dem Wortlaut nach Treffendes formulieren zu können, heißt noch nicht, es der Sache nach zu verstehen.150 Schließlich ist noch zu erwähnen, dass Charmides’ Charakterisie­ rungen der Besonnenheit und seine Verhaltensweisen im Eingangs­ gespräch gewissermaßen einander entsprechen.151 Die zum Vorschein kommende Verschämtheit des Jünglings, sein Respekt gegenüber den Älteren und seine abwägende Antwort korrespondieren mit seinen Bestimmungen der Besonnenheit als Bedächtigkeit und Scham. Das Zusammenspiel seines Verhaltens und seiner Logoi verweist darauf, dass sein Auftreten innerhalb der Rahmenhandlung nicht gekünstelt war, seine Bescheidenheit nicht vorgespielt. Offensichtlich soll dies im Dialogzusammenhang dem jungen Mann durchaus zugutegehalten werden: Obwohl er aufgrund seiner äußeren Schönheit und seiner von Kritias attestierten ›philosophisch-poetischen Natur‹ umschwärmt wird, bewahrt er eine unprätentiöse Haltung. Die Worte des jungen Charmides sind auf dieser ersten Stufe der Bestimmungen gleich­ sam authentisch, entspringen seiner inneren Einstellung. Zugleich basieren sie aber nicht auf Nachdenken und Reflexion, sondern auf Verhaltensmustern, die er durch seine Herkunft und Erziehung internalisiert hat. Einerseits scheint es also noch nicht ausgemacht, ob der Jüngling Charmides, im Gegensatz etwa zu sophistisch geprägten Gesprächspartnern, nicht einer philosophischen Bildung zugeführt werden kann. Dafür spricht auch sein Bemühen um das traditionelle Verständnis der Sophrosyne und die schon erwähnte Beteuerung am Ende des Dialogs, seine Seele zukünftig Sokrates darbieten zu wollen. Andererseits erweist sich Charmides aber als angepasst, wenig reflexiv und in diesem Sinne auch naiv. Die Art und Weise des Gesprächs im Rahmen der ersten bei­ den Bestimmungen im Charmides demonstriert exemplarisch, dass der Weg zu einem inhaltlichen Verstehen der Tugend notwendig eine Reflexion der Prämissen und das Bemühen um deren stete Verbesserung involviert. Nur unter dieser Vorgabe kann sich das eigene Verteidigungs- und Verständnisniveau ändern. Die Relevanz der Voraussetzungen zeigt sich auch darin, dass diese die Ziele eines 150 Vgl. zu dieser Thematik Michael Erler: Vom Werden zum Sein. Über den Umgang mit Gehörtem in Platons Dialogen, in: Elenor Jain, Stephan Grätzel (Hg.): Sein und Werden im Lichte Platons. Festschrift für Karl Albert, Freiburg/München 2001a, S. 123–142, hier 126 ff.; Wieland 1999, S. 245 ff. 151 Vgl. auch Zehnpfennig 1987, S. 23; Erler 1996, S. 31.

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Menschen vorwegnehmen und steuern: Solange Charmides’ Begriff des Schönen auf Phänomenalem beruht, sein Begriff des Guten nur funktionaler Natur ist, solange wird er sich in seinem Bemühen um Tugendhaftigkeit an äußerlichen und instrumentalen Zielen orientie­ ren. Die Frage, ob Charmides sich dem sokratischen Weg zuzuwenden vermag, bleibt dennoch zunächst offen.

4.3.3 Scham als ordnendes Moment der Seele (Charmides, Protagoras, Phaidros) Vor dem Hintergrund der thrakischen Heilmethode hatte Sokrates den ersten Untersuchungsschritt im Charmides mit der Frage ein­ geleitet, ob dem gleichnamigen Jüngling die Besonnenheit bereits innewohne; dies sollte gemeinsam untersucht werden (vgl. Chrm. 158b–e). Die Art der Prüfung hatte Sokrates, adressiert an Charmides, ausdrücklich vorgegeben: »Offenbar nämlich, wenn die Besonnenheit in dir anwesend ist, kannst du dir auch eine Meinung über sie bilden. Denn notwendig gewährt dir ihr Einwohnen, wenn sie einwohnt, eine Wahrnehmung, aus welcher dir wiederum eine Art Meinung über sie wird, nämlich was die Besonnenheit ist und wie sie beschaffen ist.«152 Dasjenige aber, was er meine, müsse Charmides auch artikulieren können (vgl. 159a). Charmides’ Meinung über die Besonnenheit soll also Aufschluss über deren Präsenz oder Anwesenheit in ihm geben. Sokrates’ ein­ leitende Anweisung ist hierbei in zweifacher Hinsicht zu deuten. Zunächst klingt in Sokrates’ Worten eine offensichtlich gängige Auf­ fassung an, nach welcher aus der Wahrnehmung, die danach mit der aktuellen Verfasstheit eines Menschen zusammenhängt, eine Form von Meinung entsteht.153 Zugleich ist ›Meinung‹ in diesem Zusammenhang ganz im Wortsinn der δόξα als ›Ansicht‹ eines Gesehenen bzw. In-Erscheinung-Getretenen zu verstehen. Entspre­ chend soll Charmides dasjenige, was er meint, und d. h., wie es ihm 152

δῆλον γὰρ ὅτι εἴ σοι πάρεστιν σωφροσύνη, ἔχεις τι περὶ αυτῆς δοξάζειν. ἀνάγκη γάρ που ἐνοῦσαν αὐτήν, εἴπερ ἔνεστιν, αἴσθησίν τινα παρέχειν, ἐξ ἧς δόξα ἄν τίς σοι περὶ αὐτῆς εἴη ὅτί ἐστὶν καὶ ὀποῖόν τι ἡ σωφροσύνη (Chrm. 158e7–159a3). 153 Vgl. dazu Tht. 179c. Auch dass man eine gewonnene δόξα verbal zu äußern ver­ mag, wird im platonischen Werk wiederholt erwähnt, vgl. beispielsweise Tht. 206d; dazu Erler 1987, S. 171 mit Anm. 7 u. 8.

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erscheint (φαίνεται, 159a7), äußern. Mit dieser Wendung und dem gleichzeitigen Gebrauch von Ausdrücken wie αἴσθησις und δόξα bzw. mit der Verbindung dieser Termini antizipiert Sokrates gleichsam das Reflexionsniveau von Charmides: Noch vor dessen erster Bestim­ mung lässt Sokrates kenntlich werden, an welchen Vorstellungen und Kriterien sich sein Gesprächspartner orientiert. Allerdings drängt Sokrates seinen Gesprächspartner damit nicht in eine bestimmte Position, aus der heraus dieser nicht anders antworten kann. Vielmehr setzt Sokrates auf der Ebene an, auf der mit dem Dialogpartner ein Gespräch überhaupt erst möglich wird: Indem er bei dem Jüngling die oben skizzierten, sich an Äußerlichem ausrichtenden Muster und Verhaltensweisen erkennt, weiß er zugleich, auf welcher Gesprächs­ ebene er beginnen muss bzw. auch, welche Form der Elenktik für eine Widerlegung hinreichend ist.154 Die zweite Hinsicht, auf die hin die oben zitierten einleitenden Worte des Sokrates zu betrachten sind, geht über die Befragung ad hominem und über das aktuelle Untersuchungsniveau hinaus. In ihrem appellartigen Charakter zielen die sokratischen Worte darauf, die seelische Voraussetzung für eine Bestimmung der Besonnenheit sichtbar zu machen. Die an Charmides gewandte Aufforderung unterstreicht einen Aspekt, welcher sich in seiner Tragweite auf den gesamten Dialog erstreckt und letztlich von der späteren, höchsten Bestimmungsstufe im Dialog her zu verstehen ist: Gemeint ist das Moment eines Auf-sich-selbst-Schauens, das auf den späteren Dia­ logstufen in die Frage der Selbsterkenntnis (τὸ γιγνώσκειν ἑαυτόν, 164d4) und eines Wissens des Wissens (ἐπιστήμη ἐπιστήμης, vgl. 169b–e) mündet (vgl. 164c–175d). Wenn, wie Sokrates hier zu Dia­ logbeginn erläutert, der besonnene Seelenzustand zugleich dessen Wahrnehmung gewährt und man gerade in oder mit dieser Wahrneh­ mung eine Meinung über die Tugend bilden soll, dann weist Sokrates damit explizit auf eine Korrelation von seelischem Tugendzustand, Selbstwahrnehmung und Meinungsbildung hin. Nicht nur kann der Besonnene die seelische Tugend in sich selbst wahrnehmen, sondern auch die Erlangung von Tugend und Tugendwissen ist dann notwen­ dig an ein selbstbezügliches Moment gebunden. In diesem Zusammenhang ist erneut an das im ersten Kapitel dieser Arbeit thematisierte ›gewöhnliche Selbstverhältnis‹ zu erin­ nern, das dort auf der Grundlage des Menon und Gorgias diskutiert 154

Vgl. auch Erler 1996, S. 31 mit Anm. 16; Szlezák 1985, S. 129.

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wurde. Diese Art eines Selbstverhältnisses kommt in den Meinungen der Befragten vermittelt über die implizit vorausgesetzten und für sich selbst als nützlich und richtig erachteten Ziele zum Ausdruck. Die Meinungen verweisen entsprechend über das vorgestellte Gut auf den Befragten zurück.155 Im Kontext der ersten Bestimmung im Charmi­ des spielt Sokrates mit der Betonung einer Selbstwahrnehmung und seinem zugleich sich auf äußere Erscheinungen beziehenden Vokabu­ lar auf diese Verknüpfung bzw. auf diese Form eines gewöhnlichen Selbstverhältnisses an: Wenn Charmides auf sich selbst schaut, dann nimmt er solche Muster der Besonnenheit wahr, die mit seinen aner­ zogenen Leitbildern korrespondieren. Diese orientieren sich an einem äußerlich verstandenen Schönen, an äußerlichem Ansehen. Folglich sieht er in Bezug auf sich selbst dasjenige Bild der Besonnenheit, das phänomenalen Verhaltensweisen entspricht. Dieses Bild formuliert er, gemäß der sokratischen Aufforderung, als Doxa. Dass die erste Untersuchungsstufe dennoch zugleich über sich hinausweist, wurde bereits mit der inhaltlichen Bestimmung der Sophrosyne als Ruhe deutlich. Dieser Begriff, dies wurde oben schon ausgeführt, steht in anderen Zusammenhängen bei Platon für die seelische Ruhe von sinnlichen Eindrücken, von Lust und Unlust.156 Darüber hinaus wird die anzustrebende, höhere Ebene eines reflexiven Selbstbezugs in gewisser Weise schon hier sichtbar. Auch wenn Sokrates in Anbetracht der seelischen Konditionen seines Gesprächspartners von der Ebene solcher Doxai ausgeht, die sich an Phänomenen orientieren, lanciert er durch seine einleitenden Worte eine Grundannahme des philosophischen Verständnisses der Sophrosyne: Die Ermunterung, nach der inneren Anwesenheit der Besonnenheit zu suchen bzw. dasjenige wahrzunehmen, was sich bei dieser Suche zeigt, pointiert von Beginn an die notwendige Assozia­ tion der Sophrosyne mit einem selbstbezüglichen Moment. Der junge Charmides erlangt immerhin eine gewisse Aufmerksamkeit für ein selbstbezogenes Moment, wenngleich auf der erkenntnistheoretisch niedrigsten Stufe der Erscheinungen. Dennoch führt ihn diese Auf­ merksamkeit in Verbindung mit der sokratischen Widerlegung zu seiner nächsten Bestimmung der Sophrosyne als Scham. Auch diese wird von Sokrates wiederum mit anspornenden Worten eingeleitet: »Noch einmal, Charmides, sagte ich, schaue mit 155 156

Vgl. oben Kap. 1.3.1. Vgl. oben Anm. 141.

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noch größerer Aufmerksamkeit auf dich selbst, und werde dadurch inne, zu was die einwohnende Besonnenheit dich macht, und als wie beschaffene sie wohl solches bewirken kann, und dieses alles zusam­ menrechnend sage ganz mutig, als was sie dir erscheint.«157 Sokrates’ Einleitung in die zweite Tugendbestimmung intensiviert und vertieft die Frage eines selbstbezüglichen Moments. Die oben formulierte Bewegung der Bestimmungen von der äußerlich zu denkenden Ruhe und Bedachtsamkeit hin zur Scham als innerer Haltung spiegelt sich in Sokrates’ Wortwahl: Die Rede ist nicht mehr von αἴσθησις und δόξα, sondern von einem ›Hinlenken der Gedanken‹ (προσέχειν τὸν νοῦν), einem ›Hinblicken auf sich selbst‹ (εἰς ἑαυτὸν ἀποβλέπειν), von einem ›Innewerden‹ oder ›Bei-sich-Bedenken‹ (ἐννοεῖν). Die Wendungen betreffen nicht mehr den Bereich von sinnlicher Wahr­ nehmung und Erscheinung, gehören andererseits aber auch nicht in das Feld von Erkenntnis und Wissen. Deutlich aber heben die neuen Begrifflichkeiten Sokrates’ zweite einleitende Aufforderung von der ersten ab. Mit der getroffenen Wortwahl antizipiert Sokrates gleich­ sam wieder die Ausrichtung und das Verständnis von Charmides’ nun zweiter Charakterisierung der Sophrosyne. Darüber hinaus ist aber anzunehmen – und diese Annahme bildet die These der folgenden Untersuchungen –, dass Sokrates’ einleitende Worte in diesem Falle auch Gesichtspunkte hervorheben, die für Platons philosophischen Begriff der Scham wesentlich sind. Im Hinblick auf diese These und für die Untersuchung des platonischen Schambegriffs werden nachfolgend zwei weitere Textstellen konsultiert: Zum einen wird noch einmal das Konzept der Scham im Mythos des Protagoras aufge­ griffen, zum anderen wird die Scham anhand der Seelendarstellung im Phaidros beleuchtet. Die obigen, sich auf den Begriff αἰδώς beziehenden Interpretatio­ nen der mythologischen Erzählung im Protagoras führten zu dem Ergebnis, dass die Scham in diesem Kontext auf das menschliche Rechtsempfinden zielt. 158 Das konventionelle Recht, welches sich in Regeln und Gesetzen abbildet und im Sinne der Gemeinschaft für den Einzelnen verpflichtend ist, reicht danach für ein gelingendes und friedliches Zusammenleben nicht aus. Die ›freundschaftlichen 157

Πάλιν τοίνυν, ἦν δ᾿ ἐγώ, ὦ Χαρμίδη, μᾶλλον προσέχων τὸν νοῦν καὶ εἰς σεαυτὸν ἀποβλέψας, ἐννοήσας ὁποῖόν τινά σε ποιεῖ ἡ σωφροσύνη παροῦσα καὶ ποία τις οὖσα τοιοῦτον ἀπεργάζοιτο ἄν, πάντα ταῦτα συλλογισάμενος εἰπὲ εὖ καὶ ἀνδρείως τί σοι φαίνεται εἶναι; (Chrm.160d5–e1). 158 Vgl. oben Kap. 4.2.2.

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Bande‹ unter den Menschen, so hieß es in der Erzählung, werden erst durch die Verbindung von Recht und Scham möglich (vgl. Prt. 322c). Durch die implizite Bezugnahme auf Hesiod und die damit zusammenhängende Anknüpfung an die delphische Tradition verwies das Konzept Aidos auf eine selbstbezügliche Einsicht: Diese, so wurde angenommen, ermöglicht es dem Einzelnen, gemeinschaftsbildende Normvorstellungen nicht nur der Pflicht gemäß zu erfüllen, sondern sie auf der Basis des eigenen Unrechtsbewusstseins in einer seelisch bindenden oder verbindlichen Weise zu verstehen. Die Fähigkeit, Scham zu empfinden, bedeutet danach insbesondere auch, eigenes Unrechttun als solches zu sehen und zu reflektieren. Innerhalb des Mythos im Protagoras verkörpert Aidos folglich eine Ordnung schaffende Kraft: Sie verknüpft die äußere Rechtsordnung mit der innerseelischen Haltung des Einzelnen. Damit sorgt sie aber sowohl für freundschaftliche Bande unter den Menschen als auch für eine Bindung zwischen Einzelnem und Gemeinschaft: Aufgrund seines ordnenden Impetus ist das selbstbezügliche oder selbsteinsichtige Moment der Aidos politisch; durch die vereinigende Kraft, die von ihr ausgehen kann, wirkt die Scham heilend auf das Zusammenleben der Menschen. Der im Mythos dargestellte Schambegriff, dies wurde ebenso deutlich, ist im traditionellen Kontext der Sophrosyne veran­ kert. Auf andere, aber ebenso philosophisch bedeutsame Art wird die Scham im Zusammenhang des Seelenbildes im Phaidros thematisiert. Die später noch eingehendere Untersuchung dieses Bildes sei deshalb in diesem spezifischen Punkt vorweggenommen. Dargestellt wird die Seele im Phaidros in mythologisch-gleichnishafter Gestalt als Wagengespann mit Lenker und zwei Pferden (vgl. Phdr. 246a–b, 253c–254a). Das im Rahmen des Bildes so bezeichnete gute Pferd wird als »ehrliebend mit Besonnenheit und Scham, wahrhafter Mei­ nung Freund«159 charakterisiert. Es zeichne sich, im Gegensatz zum schlechten Pferd, dadurch aus, dass es dem Wagenlenker gehorche und ihn in seinem Kampf darum, die Führung zu wahren, unterstütze. Das gute Pferd verhalte sich auf diese Weise, so heißt es weiter, weil es »durch Scham dazu gezwungen wird« (αἰδοῖ βιαζόμενος, 254a2). Legt man dem Bild des Seelenwagens das trimere Seelenkonzept des vierten Buches der Politeia zugrunde, dann korrespondiert das gute 159 τιμῆς ἐραστὴς μετὰ σωφροσύνης τε καὶ αἰδοῦς καὶ ἀληθινῆς δόξης ἑταῖρος (Phdr. 253d6–7). Übers. Schleiermacher (Eigler-Ausg., Bd. 5).

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Pferd mit dem θυμοειδές, dem mutartigen und strebhaften Seelenteil, das schlechte Pferd mit dem ἐπιθυμητικόν, der Begierde bzw. dem sinnlich-begehrlichen Teil der Seele, der Wagenlenker aber ist mit der Vernunft, dem λογιστικόν, zu identifizieren.160 Im Phaidros zeigt sich die Scham also als Charakteristikum oder Eigenschaft des guten Pferdes: Sie bewirkt, dass dieses Pferd sich richtig verhält. Die auch hier sichtbar werdende Engführung von Aidos und Sophrosyne bestärkt die obigen Analysen: Der Begriff der Scham gehört für Platon in das Feld der Sophrosyne, bildet ein konstitutiver Bestandteil von ihr. Dennoch sind Aidos und Sophro­ syne nicht gleichzusetzen, eine Bestimmung der Besonnenheit als Scham ist nicht hinreichend, allerdings auch nicht falsch. Betrachtet man das Seelenbild im Phaidros vor dem Hintergrund des trimeren Seelenmodells, dann ist die Scham im Bereich des mittleren Seelen­ teils, des θυμοειδές, verortet. Sie gehört nicht in den Bereich der Vernunft, unterscheidet sich aber auch von Affekten bzw. πάθη des unteren Seelenteils, des ἐπιθυμητικόν. Im Vergleich zu den Affekten und Emotionen, wie sie im Phaidon als Zielpunkt der therapeutischen Besprechungen zum Ausdruck kamen, muss die hier gezeichnete Scham anderer Natur sein. Ein kurzer Rückblick auf das Verständnis von Affekten und Emotionen im Phaidon soll dazu beitragen, diesen Unterschied zu klären. Das ›Kind im Menschen‹, das metaphorische Bild für menschli­ che Affekte und Emotionen, wird im Phaidon nicht lokalisiert. Auch in Anbetracht der Dualität von wahrer Seele und Leib soll eine ein­ deutige Zuordnung zur somatischen Seite offensichtlich vermieden werden; die Metapher weist in gewisser Weise über das dualistische Konzept hinaus.161 Dennoch werden die sinnlichen Konnotationen der kenntlich werdenden Emotionen deutlich unterstrichen: Wie oben dargestellt, sollen die πάθη mithilfe einer Affekttherapie kontrol­ lierbar gemacht, ein angemessener Umgang mit ihnen soll gelernt werden, in letzter Instanz aber soll sich ein Mensch nach Möglichkeit von diesen befreien. Dies bedeutet zugleich nicht, dass ein Affekt wie Trauer oder Furcht den weitaus hemmungsloseren Affekten und 160 Da in diesem Kapitel das Seelenbild selbst nicht Gegenstand der Erörterung ist, wird die erst an späterer Stelle begründete These einer Korrespondenz zwischen dreiteiliger Seele in der Politeia und dem Bild des Wagengespanns im Phaidros zum Zweck der Untersuchungen hier vorausgesetzt (vgl. dazu unten Kap. 5.3.3). Zu den ›Teilen‹ der Seele vgl. R. IV 439d–e, 440e–441a. 161 Vgl. Erler 2004, S. 66; ders. 2008. S. 30.

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Begehrlichkeiten, wie etwa dem Hunger nach ungehinderter Macht­ ausübung, gleichzusetzen wäre. Hinsichtlich dieser Art von Begierden bedarf es aus platonischer Sicht einer weitaus stärkeren Form der Zügelung (vgl. Phdr. 253c–254e). Aber auch unter der Prämisse, dass Affekte wie Trauer oder Furcht im Verhältnis zu ausschweifenden oder skrupellosen Begierden eine gleichsam andere Kategorie von sinnlichen Regungen darstellen und von jenen zu differenzieren sind, gilt für sie aus platonischer Perspektive dennoch, dass sie beherrscht werden sollen: Den Ausführungen im Phaidon zufolge hemmen sie die Zuwendung zum Logos und sind für das vernunftorientierte Nachdenken eher hinderlich. Von solchen therapiebedürftigen Affekten und Emotionen ist die Scham, wie sie in den hier erörterten Textzusammenhängen zutage tritt, offenkundig zu differenzieren: Sie erhält einen eigenen Rang, bildet eine eigene Gestalt ›innerer Bewegung‹. Bereits in vorklassischem Kontext erwies sich die Scham als spezifische Form einer Emotion; als ›vorwegnehmende Scham‹ vermochte sie unter bestimmten Voraussetzungen zu richtigen, d. h. den Erwartungen der Gemeinschaft gemäßen Handlungsweisen zu führen. Im Hinblick auf den platonischen Zusammenhang steht außer Zweifel, dass die Scham im Phaidros und Protagoras, aber auch, wie im Weiteren zu sehen sein wird, im Charmides als eine wünschenswerte, in Bezug auf einen besonnenen Seelenzustand sogar unabdingliche Kraft gekennzeich­ net wird. Blickt man auf Sokrates’ Worte im Charmides (vgl. 160d–e) zurück, mit welchen er die Bestimmung der Besonnenheit als Scham einleitete, dann zeigt sich nun eine Verbindung zwischen dieser Text­ stelle und der Darstellung der Scham im Phaidros. Mit seiner Wort­ wahl eines ›Hinlenkens der Gedanken‹ und eines ›Innewerdens‹ oder ›Bei-sich-Bedenkens‹, durch welche Sokrates den jungen Charmides ermunterte, auf oder in sich selbst zu schauen, exponierte er das Feld zwischen sinnlicher Wahrnehmung und vernünftiger Erkenntnis und verknüpfte zugleich den Begriff der Scham mit diesem akzentuierten Zwischenbereich. Es waren diese auffordernden Worte des Sokrates, welche das Umfeld für Charmides’ Bestimmung der Sophrosyne als Scham bildeten. Damit wird aber eine Parallele und mehr noch Kontinuität zwischen den Textpassagen im Charmides und Phaidros kenntlich: Die Scham erscheint in beiden Fällen als dem mittleren seelischen Bereich zwischen Sinnlichem und Vernunft zugehörig. In der Betonung dieses Zwischenbereichs im Charmides kann, ähnlich

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wie im Zusammenhang der sokratischen Therapie im Phaidon, ein Verweis des früheren auf den späteren Dialog, eine antizipierende Andeutung des trimeren Seelenmodells gesehen werden.162 Die oben formulierte These, wonach Sokrates’ Einleitung in die zweite Tugendbestimmung im Charmides bzw. sein hier verwendetes Vokabular charakteristische Aspekte von Platons philosophischem Begriff der Scham zum Ausdruck bringt, gründet gemäß den hier angestellten Untersuchungen in zwei Punkten. Erstens untermauert die Darstellung der Scham im Phaidros die Annahme, dass Sokra­ tes’ Worte im Charmides auf eine Assoziation der Scham mit dem seelischen Zwischenbereich hinzielen. Beide Dialoge indizieren Pla­ tons Verortung seines Schamkonzeptes in der Zwischensphäre von Sensiblem und Intelligiblem. Damit zusammenhängend manifestiert Sokrates’ Einleitung im Charmides zweitens ein auf diese Zwischen­ sphäre bezogenes selbstbezügliches Moment, welches aber in gewis­ ser Weise auf das Selbstwissen hindeutet, das in Diskussion der gerechten Seele im vierten Buch der Politeia als ›mittlere Form‹ eines Selbstwissens kenntlich wurde. Es handelte sich um ein selbstreflexi­ ves Wissensmoment, das sich auf die dreiteilige Seele, nämlich auf das seelische Verhältnis von Vernunft und nicht-vernünftigen Anteilen, bzw. auf die Einsicht in die Richtigkeit dieses Verhältnisses bezog.163 Ähnlich wie dieses Selbstwissen auf ein innerseelisches Gleichge­ wicht zielte, sind auch Sokrates’ einleitende Worte im Charmides auf die Einsicht in die richtige, nämlich besonnene Verhältnissetzung von Vernunft und nicht-vernünftigen Strebungen hin ausgerichtet. Darüber hinaus findet das mit dem Schambegriff verbundene selbst­ bezügliche Moment eine Entsprechung in der mythologischen Erzäh­ lung im Protagoras. Tritt im Charmides dieses Moment als Sokrates’ konkrete Aufforderung an seinen Gesprächspartner hervor, wird es im Protagoras in Verbindung mit dem Begriff des Rechts und in implizitem Rekurs auf traditionelles Gedankengut konturiert. Das korrespondierende Element zwischen diesen beiden Dialogen ist im 162 Dass die Deutung einer solchen Kontinuität zwischen einem früheren und späte­ ren Dialog nicht eine »starr unitarische Interpretation« bedeuten muss, erläutert Erler (2004, S. 67, Zitat ebd.). Zur Frage eines ›proleptischen Lesens‹ vgl. Charles H. Kahn: Plato’s Charmides and the Proleptic Reading of Socratic Dialogues, in: The Journal of Philosophy 85/10 (1988), S. 541–549. Kahn erkennt eine der Hauptfunktionen bestimmter früher Dialoge wie etwa des Charmides oder Laches darin, den Lesenden auf Doktrinen späterer Werke vorzubereiten (vgl. ebd., S. 541). 163 Vgl. oben Kap. 4.1.2; dazu R. IV 443c–444a.

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Blick auf die Scham in dem Aspekt der Selbstbezüglichkeit und Selbst­ einsicht zu suchen. Vor dem Hintergrund des Charmides, Protagoras und Phaidros wird überdies offensichtlich, dass Aidos und Sophrosyne für Platon notwendig zusammenhängen. Im Protagoras und Phaidros tritt hier­ bei besonders das ordnende Potential der Scham hervor. Während dieses im Protagoras vor allem in seiner politischen Dimension gezeichnet wird, bezieht es sich im Phaidros vornehmlich auf die menschliche Seele: Indem das gute Pferd durch Scham dazu bewegt bzw. ›gezwungen‹ wird, den Lenker zu unterstützen, wird das ange­ messene Verhältnis in der Seele, der Zustand der Besonnenheit, nachhaltig gefördert; die Scham trägt folglich entscheidend dazu bei, dass sich eine solche seelische Verfasstheit zu realisieren vermag.164 Wenn also das gute Pferd als ›ehrliebend mit Besonnenheit und Scham‹ charakterisiert wird, dann ist mit Ehre selbstredend nicht die alte Standesehre des Epos, sondern das Ehrenhafte bzw. Wertzuschät­ zende der Tugend gemeint. Zugleich wird in beiden Dialogen aber auch die Korrespondenz zwischen der innerseelischen und politischen Ordnung kenntlich: Im Protagoras wird das politische Zusammenle­ ben in einem mit der Scham verbundenen selbstbezüglichen Moment des Rechtsempfindens fundiert. Umgekehrt wird im Phaidros die mit der Scham einhergehende Ordnung der Seele eng mit der Frage von Freundschaft und zwischenmenschlicher Begegnung verschränkt.

4.3.4 Der Zusammenhang von Seelentherapie und Scham Geklärt ist mit den bisherigen Interpretationen allerdings noch nicht die Frage des Zusammenhangs von Therapie und Scham. Platon lan­ ciert in den oben erörterten Texten seinen Begriff der Scham als eine innere, die seelische Ordnung unterstützende und stärkende Kraft, die im Gegensatz zu sinnlichen Regungen und Affekten keiner Therapie bedarf, sondern eine wünschenswerte innere Bewegung darstellt. Im Charmides legt der sokratische Frage- und Aufforderungsmodus nahe, dass auch in diesem Dialog der Begriff einer philosophisch verstande­ nen Scham im Blickpunkt steht. Worin aber besteht dann die Verbin­ dung von therapeutischem Motiv und Schambegriff im Charmides? 164

Vgl. dazu Phdr. 254e; auch R. IV 430e–431c.

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4. Das Motiv der Seelentherapie und der platonische Begriff der Scham

Um dieser Frage nachzugehen, ist noch einmal eine kurze Remi­ niszenz notwendig. Sokrates’ Erläuterung der thrakischen Therapie zu Beginn des Dialogs, darauf wurde oben hingewiesen, zeigt eine Auffälligkeit, nämlich eine im Rahmen dieses Vorgesprächs sehr deutliche Akzentuierung des Seele-Leib-Verhältnisses.165 Behält man die Problematisierung dieses Verhältnisses im Blick, dann impliziert Sokrates’ zweite Aufforderung an Charmides die schon zuletzt kennt­ lich gewordene Nuancierung: Das ›Hinlenken der Gedanken‹ oder ›Hinblicken auf sich selbst‹ soll, so ist anzunehmen, eine Besinnung auf das eigene Seele-Leib-Verhältnis bzw. ein ›Innewerden‹ davon bewirken, wie dieses Verhältnis aussehen soll. Eingeleitet wird eine solche Bewusstmachung bereits mit Sokrates’ erster Aufforderung, welche zu der Bestimmung der Besonnenheit als Ruhe führte. Aller­ dings bewegte sich diese Bestimmung noch ganz im sinnlich-phä­ nomenalen Bereich. Die Wendung des Blicks auf sich selbst muss folglich auf der nächsten Stufe, die bereits den oben gekennzeichneten mittleren Bereich indiziert, einsetzen: Im Kontext der sokratischen Direktiven soll Charmides’ Bestimmung der Sophrosyne als Scham offensichtlich darauf hindeuten, dass ein Mensch aus platonischer Sicht dann Scham empfinden soll, wenn das Seele-Leib-Verhältnis unstimmig oder verkehrt ist. Die Verbindung der sokratischen The­ rapie mit dem Begriff der Scham bzw. der therapeutische Effekt von Sokrates’ auffordernden Worten ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Eingebettet in die diskursive Suche der Sophrosyne bzw. in die epistemisch ausgerichtete Aufmerksamkeit für diese Tugend will Sokrates den Blick des Geprüften auf sich selbst zurücklenken: Dass dieser bei sich selbst schaue, ›zu was ihn die einwohnende Beson­ nenheit mache‹, was sie in ihm bewirke.166 Kriterium und Maßstab bilden für einen Befragten zunächst das traditionelle bzw. delphische Verständnis der Sophrosyne in Form von Maß, Beherrschung und Ordnung.167 Mithilfe dieses traditionellen Verständnisses kann er bereits, wenn er tatsächlich auf sich selbst blickt, seelische Verkehrt­ heiten ausloten. Erst in einem fortgeschrittenen Stadium aber ist ein Befragter auch fähig, das argumentativ-epistemische Streben vermittels des Setzens der richtigen Hypothesen tatsächlich umzuset­ 165 166 167

Vgl. oben Kap. 4.3.1; dazu Chrm. 155e–157c. Vgl. oben Anm. 157. Vgl. auch Schmid 1983, S. 340 ff.

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4.3 Seelentherapie und Scham

zen und sich darüber der Tugend anzunähern. Durch einen solchen epistemisch-lernenden Progress, so die sokratische Voraussetzung, ändert sich mit der Vorstellung dessen, was gut und nützlich ist bzw. was wirklich ein Gut darstellt, auch der Blick auf sich selbst; umgekehrt fördert die veränderte Blickrichtung als selbsterkennendes Moment das Verstehen der Sophrosyne als seelische Haltung, damit aber auch den Wandel der Seele und das Wissen über die Tugend. Dieser Zusammenhang, der ein zentrales Moment seelischer Bildung darstellt, wird im Charmides bereits auf den ersten Untersu­ chungsstufen exponiert: Von Anfang an werden die diskursiv-episte­ mische Suche und die selbstreflexive Blickrichtung in ihrer wechsel­ seitigen Beziehung gezeichnet. Diese Verschränkung und letztlich die Durchdringung von Wissen, Praxis und seelischer Haltung sind für die Regulierung des Seele-Leib-Verhältnisses entscheidend. Als Voraussetzung dieses Zusammenspiels tritt aber die Scham als grund­ legendes Element hervor. In der Zwischensphäre von Sinnlichem und Vernunft fungiert sie als korrektives Moment des ordnend-regulie­ renden Prozesses, indem sie auf dieser Ebene seelische Verkehrthei­ ten inne- oder bewusstwerden lässt: Scham, so das resümierende Ergebnis dieser Untersuchung, soll immer dann empfunden werden, wenn die sinnlich-begehrlichen oder sinnlich-affektiven Anteile im Menschen drohen, die Oberhand zu gewinnen, und den Lenker, um mit dem Bild des Phaidros zu sprechen, an einer guten Seelenfüh­ rung hindern und so die Seele resp. den ganzen Menschen in ein Ungleichgewicht bringen. Das therapeutische Motiv im Charmides zielt darauf hin, dass die Seele sich der unangemessenen Dominanz sinnlicher Strebungen innewird und hierbei Scham empfindet. Diese Koinzidenz fördert die Heilung der Seele und somit auch das Ziel von Sokrates’ therapeutischem Unterfangen, nämlich die Herstellung eines besonnenen Seelenzustandes. Der Begriff der Scham und deren heilsame Funktion sind im Charmides als initiierender und als konstitutiver Teil der sokratischen Seelentherapie zu verstehen. Sokrates’ ermunternde und zugleich herausfordernde Worte sollen die selbstreflexive Bewegung der Scham evozieren oder zumindest die Aufmerksamkeit, auch die der Lesenden, dafür wecken. Auf einer gemäß Platons Erkenntniskonzept unteren oder frühen Stufe soll der Geprüfte auf die Scham in dem hier verstandenen Sinne gelenkt werden: Ist er imstande, diese zuzulassen und den Blick auf sich selbst zu richten, dann vermag er die eigene seelische Unausgewogenheit zu sehen. Diese Einsicht ist aus platoni­

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4. Das Motiv der Seelentherapie und der platonische Begriff der Scham

scher Perspektive elementar; sie bildet die notwendige Voraussetzung und Basis des epistemischen Progresses. Die bei Platon immer wieder kenntlich werdenden Spielarten des gestörten seelischen Verhältnis­ ses sind vielfältig: Die Sucht nach Anerkennung, Ruhm, Macht oder übermäßigem Reichtum, jede Art der Pleonexie, aber auch das Begeh­ ren, sich den Meinungen der Masse anzupassen und die damit einher­ gehende Bequemlichkeit, Worte und Reden nicht zu differenzieren, charakterisieren neben der unkontrollierten Hingabe an körperliche Begierden diese Art von Verkehrung. Es sind die Krankheiten der Seele.168 In diesem Zusammenhang findet aber auch die oben ange­ sprochene Korrespondenz zwischen den Konzeptionen der Scham im Protagoras und im Charmides im Hinblick auf das selbstbezügliche Moment ihre Bestätigung: Die Reflexion auf das eigene Unrechttun, die der Schambegriff im Protagoras prononcierte, und die Reflexion auf die innerseelische Regulierung, die im Charmides deutlich wird, gehen ineinander über, sie interferieren; das ungerechte Handeln und die innerseelische Verkehrung sind für Platon nicht zu trennen. Folgt man dem Mythos im Protagoras, dann erhielt jeder Mensch Anteil an der Scham. Die thrakische Heilmethode im Charmides soll diese genuin menschliche Disposition und Fähigkeit, Scham zu emp­ finden, aktivieren und fördern. Der Unterschied zu dem vorklassi­ schen Schambegriff, wie er oben im Hinblick auf das homerische Epos und die Tragödien skizziert wurde, ist evident. Zwar wurde auch hier die Scham als ein Konzept kenntlich, das maßgeblich dazu beiträgt, Verhaltens- und Handlungsweisen, die hinsichtlich der Gemeinschaft – d. h. hier in Entsprechung zu den normativen Standards – als eher schädlich erachtet werden, abzuwenden und auf diese Weise die Ordnung des Gemeinwesens zu unterstützen. Zugleich aber stellte dieses Schamkonzept eine Vermeidungsstrategie dar: Als Furcht vor Schande und Ehrverlust beinhaltete dieses Konzept für den Einzelnen eine Bedachtsamkeit darauf, Schamsituationen möglichst aus dem Weg zu gehen.169 Die Scham hingegen, die Platon aus philosophischer Perspektive profiliert, ist nicht zu meiden, sondern ganz im Gegenteil Vgl. beispielsweise R. IV 444e; X 609c; Sph. 228b, e; Lg. IX 862c. Vgl. oben Kap. 4.2.1. In den Nomoi wird dieses traditionelle Verständnis der Scham als gleichsam gute und zu bejahende Form der Furcht dargestellt, die für die Gemein­ schaft und auch im Krieg förderlich sei, da sie sich der Begierde widersetze. Vgl. Lg. I 646e–647d, auch Lg. V 729b ff., XII 943d–e; dazu Eming 2006, S. 27 f. mit Anm. 38 u. 41; Knuuttila 2004, 12 f. 168

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als eine dem Menschen zugeeignete Fähigkeit, Kraft und Möglichkeit, als eine δύναμις, zu stärken. Mit dem Begriff der Scham, seiner Verortung zwischen Sinnli­ chem und Vernünftigem, dem auf diese mittlere Ebene bezogenen selbstreflexiven Moment und der grundsätzlichen Problematisierung des Seele-Leib-Verhältnisses wird im Charmides eine wesentliche Komponente der sokratischen Heilmethode etabliert. Darüber hinaus spielt auch in diesem Dialog, auf andere Weise als im Phaidon, das kathartische Moment eine gewisse Rolle: Indem Charmides zunächst ganz im phänomenalen Feld bestimmter Verhaltensmuster gefangen ist, zielt Sokrates’ Appell, auf sich selbst zu schauen, auch darauf, sich von äußerlichen Mustern und standesgebundenen Erscheinungs­ weisen der Tugend zu lösen. Insofern sind aber auch Charmides’ anfängliche Verschämtheit und Schüchternheit nicht wirklich als Zeichen einer für die Philosophie empfänglichen Seele zu sehen, zeigt sich doch bereits hier zu Beginn, was seine spätere Bestimmung zu Fall bringen wird: Die Auffassung der Scham als ein internalisiertes Verhaltensmuster. Unter dieser Voraussetzung sind stets Beispiele denkbar, die demonstrieren, dass ein verschämtes Verhalten, etwa eine zu große Zurückhaltung, der Seele schaden kann. Das akute und oftmals körperlich sich zeigende Schamphänomen, das ebenso in vorklassischem Rahmen sichtbar wurde, ist als solches nicht aussage­ kräftig. So kann sich zwar auch die philosophisch verstandene Scham in einem verschämten Verhalten äußern; zugleich kann dieses aber auch auf andere Gründe zurückzuführen sein. Schließlich sind auch im Kontext des Charmides die ἐπῳδαί oder therapeutischen λόγοι καλοί in ihrer zweifachen Hinsicht zu betrach­ ten. Zum einen bestehen die therapeutischen Logoi im sokratisch argumentativen und elenktischen Diskurs;170 zum anderen zeichnen sie sich auch hier durch eine besondere Form der Zugewandtheit aus: Anders als im Phaidon sind es im Charmides die freundlichen, aber nachdrücklichen Aufforderungen, den Blick auf sich selbst zu richten, durch welche sich Sokrates seinem Gesprächspartner in entschiedener Dass es sich bei den λόγοι καλοί im Charmides um die prüfenden Logoi des Sokra­ tes im Dialog handelt, formuliert Zehnpfennig 1987, S. 22. Anders Szlezák 1985: Der Dialog selbst sei nur ein Vorgespräch, innerhalb dessen festgestellt werden soll, ob sich der Jüngling für die philosophischen Logoi eigne (vgl. ebd., S. 128). Der Ausgang des Dialogs zeige, dass die eigentliche ›Besprechung‹ erst nach diesem dialogischen Vorgespräch erfolgen wird (vgl. ebd., S. 143 ff). 170

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4. Das Motiv der Seelentherapie und der platonische Begriff der Scham

Weise zuwendet. Das mit dem Terminus ἐπῳδή assoziierte Motiv der Medizin umfasst hierbei mehrere Gesichtspunkte. Zunächst ist das Motiv nicht nur metaphorisch zu verstehen, trägt doch das richtige Seele-Leib-Verhältnis zur Gesundheit des ganzen Menschen, seiner Seele und seines Leibes, bei; umgekehrt beziehen sich von alters her die Begriffe von Reinigung, Heilung und Therapie nicht allein auf die somatische Seite. Darüber hinaus lenkt der medizinische Aspekt das Augenmerk aber auf eine Ähnlichkeit zwischen leiblicher und seeli­ scher Therapie: Wie der Arzt des Leibes muss auch der Arzt der Seele individuell auf sein Gegenüber eingehen.171 In Analogie zur ἐπῳδή als magischer Besingung sollen auch die λόγοι καλοί als philosophische ›Besprechung‹ eine Wirkung auf den Zuhörer ausüben, sie sollen in ihrer überzeugenden Kraft gleichsam auf den »psychosomatischen Zustand« einen Effekt haben.172 Kenntlich wird damit aber auch, dass die sokratische Therapie nur in Form des mündlichen Logos erfolgen kann; dieser ist nicht durch etwaige schriftliche Übungsanweisungen oder Belehrungen zu ersetzen.173 Die Bedeutung der Mündlichkeit ist außer in der verstän­ digen und wahrhaftigen Auseinandersetzung mit philosophischen Fragestellungen, mit Theoremen und deren Verteidigung gerade auch in dem pädagogischen und therapeutischen Unterfangen des Sokrates zu suchen. Seine Heilmethode basiert auf der direkten zwischenmenschlichen Begegnung. Das Schöne der therapeutischen Logoi besteht in der Einlassung auf die seelische Verfasstheit des Gesprächspartners und in der zugleich emphatischen Lenkung seines Blickes auf sich selbst, überdies in einer Glaubwürdigkeit des sokra­ tischen Anliegens. Der Therapeut braucht eine solide Reputation, denn ihre überzeugende Kraft gewinnen die therapeutischen Logoi nicht allein durch argumentative Stringenz, sondern auch durch die Glaubwürdigkeit des Sprechers. Umgekehrt wirken die Logoi auf den 171 Vgl. Laín-Entralgo 1958, S. 311. Dazu auch Phdr. 270b–272b: Sokrates führt hier aus, dass es sich mit der Redekunst wie mit der Heilkunst verhalte, wie der Arzt die Natur des Leibes, müsse der Redner die Gattungen der Seelen genau kennen. Beide müssten ihre Kunst darauf abstimmen. 172 Vgl. Laín-Entralgo 1958, S. 308 ff., Zitat S. 308. Offensichtlich verbindet LaínEntralgo Platons Form der ›Besprechung‹ aber nicht primär mit der sokratisch-argu­ mentativen Befragung, sondern mit solchen ›schönen Reden‹, die danach eher eine suggestive Wirkung haben, wie nach seiner Auffassung der Mythos. 173 Ganz anders in der hellenistischen Philosophie: Vgl. dazu Christian Moser: Buch­ gestützte Subjektivität. Literarische Formen der Selbstsorge und der Selbstherme­ neutik von Platon bis Montaigne, Tübingen 2006, S. 255 ff.

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Gesprächspartner insbesondere dann, wenn ihre Richtigkeit für ihn einsichtig ist und er zugleich dem Therapeuten Vertrauen schenkt. In diesem Zusammenhang wird noch einmal das ›Angeblickt­ werden‹ interessant, das für das vorklassische Schamkonzept charak­ teristisch war. In platonischem Kontext ist es der Blick des Sokrates, welcher bei einem Gesprächspartner Scham hervorrufen kann: Der Blick auf sich selbst korreliert dann mit dem Blick des Therapeuten; er wird zumeist erst durch diesen ausgelöst. Auch Platons Begriff der Scham ist das Verhältnis zum Anderen immanent. Allerdings spiegeln sich im Blick des Anderen resp. des Sokrates nun nicht mehr kodifizierte Erwartungen und Standards, wenngleich auch hier der gemeinschaftsbildende Aspekt von großer Relevanz ist. Das ›Normative‹ von Sokrates’ Blick besteht primär in seinem Wissen um ein geordnetes Seele-Leib-Verhältnis. Paradigmatisch für diese Form des sokratischen Angeblicktwerdens ist die Alkibiades-Szene im Symposion (vgl. 215d–216c): Alkibiades schämt sich vor Sokrates als einem Menschen, den er am meisten von allen bewundert und respektiert. Vermittelt durch dessen Blick empfindet Alkibiades eine mit seelischer Unruhe gepaarte Scham bezüglich seines eigenen sklavenhaften Daseins und seiner Einsicht, dass er sich nicht um seine Seele sorgt.174 Das Zwingende in Sokrates’ Worten, so sagt Alkibiades selbst, habe er verstanden, die Verkehrung in seinem Inneren habe er erkannt. Die von Alkibiades dramatisch in Szene gesetzte Furcht vor dem Blick des Sokrates zeigt das Schmerzhafte seiner Erkenntnis. Allein er stellt sich seiner seelischen Heilung nicht: Sei er dem Blickfeld des Sokrates entflohen, so gibt Alkibiades zu, verfalle er wieder dem Beifall der Menge. Wie aber steht es um den jungen Gesprächspartner im Charmi­ des? Bietet er, wie es die thrakische Heilmethode verlangt, dem Therapeuten Sokrates seine Seele dar? Denn nicht nur der Arzt muss auf den zu Behandelnden eingehen; umgekehrt obliegt es auch diesem, sich auf den Therapeuten einzulassen. Die Relevanz dieser seelischen Einlassung als Voraussetzung der Therapie wird mehrfach betont.175 Von Sokrates befragt, zeigten Charmides’ Bestimmungen der Sophrosyne dem Wortlaut nach auf etwas aus philosophischer Perspektive Richtiges hin. Auch ist Charmides’ Antwort im Rahmen Vgl. dazu auch Schmid 1983, S. 347. Zu der Wendung τὴν ψυχὴν παρέχειν vgl. Chrm. 157b–c, 176b; auch Laín-Entralgo 1958, S. 311.

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der zweiten Tugendbestimmung insofern korrekt, als er versteht, dass im Zusammenhang von Sokrates’ Aufforderung, bei sich selbst zu beobachten, was die Besonnenheit in ihm bewirke, der Begriff der Scham eine ausschlaggebende Rolle spielen muss. Jedoch vermag Charmides seine Antwort in der elenktischen Prüfung nicht zu vertei­ digen: Er ist nicht imstande, die Scham in dem oben dargestellten Sinne als selbstreflexives, regulierendes Moment und damit tatsäch­ lich im ›Hinblicken auf sich selbst‹ zu begreifen. Zugutezuhalten war Charmides, dass er das erlernte Verständnis der Besonnenheit ernst nimmt und diesem nicht ausweicht. Seine Bestimmungen der Tugend und sein Verhalten im Vorgespräch zeig­ ten eine gewisse Kongruenz. Was er im Horizont seiner Erziehung und seines Standes bei sich selbst sieht, sind die internalisierten kon­ ventionellen Muster und Meinungen. Über diese Ebene aber gelangt Charmides nicht hinaus; die seelische Beweglichkeit seiner Bestim­ mungen von einer äußeren zu einer inneren Haltung findet allein in diesem Rahmen statt. Sein sachliches Verständnis der Sophrosyne lässt eine mögliche seelische Veränderung nicht kenntlich werden: Charmides gelangt weder zu einer ›Ruhe‹ von äußerlich bleibenden Vorstellungen, noch zeigt sich bei ihm eine ›Scham‹ darüber, dass er sich von dieser Ebene nicht zu lösen vermag. Sokrates’ therapeutischer Ansatz einer Lenkung von Charmides’ Blick sowohl auf die eigenen Prämissen als auch auf sich selbst führt nicht zum Erfolg. Bei dem jungen Gesprächspartner wird kein seeli­ scher Wandel und damit auch keine Verwirklichung der Tugend erkennbar. Dies bedeutet aber auch, dass Charmides seine Seele dem Therapeuten Sokrates offensichtlich nicht darbietet: Die Bereitschaft, aus seinen vertrauten Mustern herauszutreten, entwickelt er nicht. Deutlich sichtbar wird dies auf der nächsten Bestimmungsstufe, auf der Charmides die Prüfungssituation verlassen wird (vgl. Chrm. 161b ff.). Er charakterisiert die Sophrosyne nun als »das Seine tun« (τὸ τὰ ἑαυτοῦ πράττειν, 161b6). Diese Wendung signalisiert ein allge­ meineres Bestimmungs- und Begründungsmoment; sie hätte das Potential, sachlich und argumentativ die vorherigen Bestimmungen zu fundieren.176 Wieder ist zudem auch dieser Ausdruck inhaltlich nicht falsch, sondern ganz im Gegenteil im platonischen Sinne dis­ 176 Vgl. dazu Zehnpfennig 1987, S. 33–37 u. 41. Zu der Gesprächslenkung vom Besonderen zum Allgemeinen, überdies zum traditionellen Sinngehalt der Wendung ›Tun des Seinen‹ vgl. Gundert 1971, S. 20 f.

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kussionswürdig und richtig.177 Charmides tut aber mit dem Vorbrin­ gen seiner Definition bereits kund, dass er sie nur gehört habe, was in seinem Falle heißt, dass er sie als Formel nur dem – richtig klin­ genden – Wortlaut nach übernommen hat;178 er kann sie inhaltlich nicht füllen, bemüht sich nicht um ihren Sinn- und Bedeutungszu­ sammenhang. Folglich sieht und reflektiert er auch nicht, was die For­ mel mit ihm und seiner Seele zu tun haben könnte. Im Hinblick auf den gesamten Dialog hat das Scheitern beider Gesprächspartner maß­ geblich damit zu tun, dass sie der therapeutischen Aufforderung des Sokrates, auf sich selbst zu blicken, nicht folgen. Die Illustration der gleichsam paradoxen Haltung der Gesprächspartner, in den Bestim­ mungen der Sophrosyne die selbstbezüglichen Aspekte zu benennen, diese in Bezug auf sich selbst aber weder zu verstehen noch umzu­ setzen, wird schließlich mit der Diskussion der Sophrosyne als Selbst­ erkenntnis in eklatanter Form zugespitzt. Diskursive Meinungsbil­ dung und seelische Verwirklichung der Tugend klaffen hier, in der zweiten Dialoghälfte, am weitesten auseinander.179 Trotz des Scheiterns der Gesprächspartner geben die hier disku­ tierten Textpassagen des Charmides auf der anderen Seite deutliche Hinweise auf die pädagogisch-therapeutische Methode des Sokrates. Unter Einbeziehung der entsprechenden Textstellen im Protagoras und Phaidros konnte gezeigt werden, dass der Begriff der Scham für die in der Rahmenhandlung dargestellte Therapie der Seele ele­ mentar und für deren Ziel richtungsweisend ist. Wesentlich für die philosophisch verstandene Scham ist der selbstreflexive Blick, der, so erwies sich zuletzt, über das Wissen des Therapeuten vermittelt ist. Dieses Wissen, das sich auf die anzustrebende innerseelische Ordnung bezieht, beruht einerseits auf der (Selbst-)Erkenntnis der wahren Seele; andererseits hängt es in gewisser Weise aber auch Es handelt sich um die oben schon thematisierte Formel für die Gerechtigkeit in der Politeia (vgl. R. IV 433a–b, 441c ff. u. oben Kap. 4.1.2). 178 Zum Umgang mit ἀκούσματα, vor allem wie Sokrates diesen im Unterschied zu vielen seiner Gesprächspartner versteht, vgl. die Studie von Erler 2001a; zu der hier betrachteten Textstelle vgl. ebd., S. 130 f. 179 Auch wenn sich auf dieser höchsten Stufe im Dialog das Ziel der Therapie, ein besonnener Seelenzustand, im Begriff der Selbsterkenntnis spiegelt (vgl. Chrm. 164c ff.; dazu Szlezák 1985, S. 136), und zwar besonders in der sokratischen Ausle­ gung, wonach der Sich-selbst-Erkennende bei sich selbst zu sehen vermag, was er wirklich weiß und was er nicht weiß, und auch andere in dieser Hinsicht beurteilen kann (vgl. Chrm. 167a–b), sind die Gesprächspartner selbst nicht imstande, die see­ lische Arete zu erkennen und zu begreifen. 177

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mit den Erfahrungen der Seele resp. des Menschen zusammen.180 Auf der Ebene dieses Wissens vermag ein Therapeut, den Blick eines Gesprächspartners, der für die ›Besprechung‹ empfänglich ist, umzulenken und das Erkennen eigener seelischer Verkehrungen zu evozieren. In all diesen Charakterisierungen hebt sich die Scham deutlich von den therapiebedürftigen Affekten und Emotionen ab. In der Literatur wird die Scham deshalb auch als Affekt des vernünftigen Seelenteils beschrieben: Im Gegensatz zu den von Platon als schädlich erachteten, eher dem somatischen Bereich zuzurechnenden Affekten sei die Scham als Affekt der Vernunft oder als Affekt der Seele zu bezeichnen.181 Auch in den vorliegenden Untersuchungen erwies sich die Scham als gleichsam vernunftorientierte Kraft. Zugleich wurde aber auch kenntlich, dass Platons philosophisches Konzept der Scham innerhalb der hier betrachteten Textzusammenhänge auf die Zwi­ schensphäre von Sinnlichem und Vernunft bezogen bleibt. In diesem Zwischenbereich, so zeigte sich, wirkt die Scham als selbstbezügli­ ches und selbsteinsichtiges Moment, hier entfaltet sie ihr Potential einer seelenordnenden, regulierenden Kraft. Die Möglichkeit und Notwendigkeit, Scham zu empfinden, wenn die sinnlich-begehrlichen Anteile dominieren, gibt auf der anfänglichen Bestimmungsstufe des Charmides die therapeutische Richtung vor. Der Begriff der Scham leitet das selbsterkennende Moment ein. Platon verwendet in den drei betrachteten Dialogen den Termi­ nus αἰδώς. Er greift den alten Begriff auf und transponiert ihn auf die Ebene seines philosophisch-anthropologischen und philosophischethischen Verständnisses. Im Mythos des Protagoras hatte Zeus das Gesetz erlassen, dass die Menschen, die unfähig seien, an Scham und Recht teilzuhaben, wie eine Krankheit der Stadt zu töten seien (vgl. Prt. 322d). Auch die Seelen derjenigen, die sich ihrer Disposition der Scham verweigern, bleiben aus platonischer Sicht unheilbar krank; Vgl. zum letzten Punkt Eming 2006, S. 19 f. Vgl. Eming 2006, S. 17, Anm. 13: Zu dieser Kategorie von Affekten gehöre auch der »Gerechtigkeitssinn, Mitleid und Liebe, von denen man nicht frei, sondern zu denen man frei sein soll«. Knuuttila (2004, S. 12) sieht die Scham im Kontext der Politeia (vgl. IX 571c–d) im Bereich des vernünftigen Seelenteils verortet, während sie in den Nomoi eher dem mittleren Seelenbereich zuzuordnen sei (vgl. dazu die Text­ stellen oben Anm. 169). Der Schambegriff in den Nomoi schließt allerdings direkt an das herkömmliche Konzept an; es handelt sich nicht um den hier diskutierten philo­ sophischen Begriff der Scham. 180

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4.3 Seelentherapie und Scham

sie verursachen zugleich das Unheil der Polis. Allerdings fundiert ein allein episodisches Schamempfinden, wie die Figur des Alkibiades im Symposion demonstrierte, den Weg der Bildung der Seele noch nicht. Alkibiades ist seelisch nicht in der Weise gefestigt, dass seine starke Sucht nach Ruhm und Macht geheilt wäre. Hier zeigen sich gewissermaßen auch die Grenzen einer Erkenntnis durch Scham. Dennoch erweist sich die philosophisch verstandene Scham, wie sie in den Auslegungen hier sichtbar wurde, als wesentlich für die Bildung der Seele. Soll Wissensbildung zugleich eine Seelenbildung darstellen, müssen epistemische Suche und Rechenschaftsgabe den mit der Scham verbundenen selbstreflexiven Blick involvieren, wel­ cher die Einsicht in innerseelische Verkehrungen, in ein unausgegli­ chenes Seele-Leib-Verhältnis ermöglicht. Platons Konzept der Scham macht den Begriff seelischer Veränderung fassbarer. Darüber hinaus wird mit der Figur des Alkibiades illustriert, dass das Zulassen des Schamempfindens zumeist große Überwindung kostet; die sinnliche Seite des Menschen will der Scham entfliehen. Umgekehrt zeigt die Scham schon auf den untersten Erkenntnisstufen in die richtige, nämlich seelenordnende Richtung. In ihrer Assoziation mit dem Zwischenbereich ist die Scham als Moment des Übergangs zwischen sinnlicher und vernünftiger Sphäre und als Aspekt der Periagoge aufzufassen. Sokrates’ therapeutische Methode im Charmides stellt einen konstitutiven Bestandteil seines pädagogisch-elenktischen Pro­ grammes dar; sie lässt in besonderer Weise den als seelische Bildung zu verstehenden Wandel hervortreten.

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5. Phaidros: Falsche und wahre Gestalten seelischer Bildung

»To step into the Phaedrus is to enter a dialogue so rich and multifaceted that any one approach or concern seems inadequate in the face of the whole.«1 Die Vielfalt an Themen und der Facettenreichtum, die den Phaidros kennzeichnen, damit einhergehend das Problem der Einheit des Dialogs beschäftigten sowohl antike als auch moderne Interpreten. Als Hauptthemen des Werkes gelten die Rhetorik, der Eros und die Seele, ebenso der Begriff des Schönen; aber auch die Dia­ lektik und Schriftkritik, darüber hinaus die Frage der Selbsterkenntnis werden als charakteristische Fragestellungen des Dialogs betrachtet.2 Der Neuplatoniker Hermeias von Alexandrien akzentuiert zu Beginn seines Kommentars zum Phaidros, dass es nur einen Skopos des Dia­ logs geben könne, auf den hin der Dialog geordnet und konzipiert sei. Diesen Skopos formuliert Hermeias als: »Über das Schöne in jedem Sinne«.3 Inbegriffen sei darin jede Ebene des Schönen vom sinnlichen über den seelischen bis hin zum göttlichen und noetischen Bereich und schließlich zur Quelle des Schönen selbst; ebenso die damit 1 So der Beginn des Aufsatzes von Harvey Yunis: Dialectic and the purpose of rhetoric in Plato’s Phaedrus (Colloquium 7), in: Proceedings of the Boston Area Colloquium in Ancient Philosophy, Vol. 24, ed. by John J. Cleary and Gary Gurtler, Leiden/Boston 2009, S. 229–248, hier 229. 2 Vgl. Harvey Yunis: Plato. Phaedrus, Cambridge u. a. 2011 (Cambridge Greek and Latin classics), S. 1 f.; Michael Erler: Platon, in: Grundriss der Geschichte der Philo­ sophie, begr. von Friedrich Ueberweg, Die Philosophie der Antike, Bd. 2/2, hg. von Hellmut Flashar, völlig neu bearb. Ausg., Basel 2007, S. 215 f. Vgl. auch Thomas A. Szlezák: Mündliche Dialektik und schriftliches ›Spiel‹: Phaidros, in: Theo Kobusch, Burkhard Mojsisch (Hg.): Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschungen, Darmstadt 1996, S. 115–130, hier 119 ff.; Gerrit J. de Vries: A Commentary on the Phaedrus of Plato, Amsterdam 1969, S. 22 ff. 3 περὶ τοῦ παντοδαποῦ καλοῦ (in Phdr. 9,9; 11,20 Couvreur; zur Frage des Skopos insgesamt vgl. 8,15–12,25; Hermeias beruft sich in seiner Bestimmung des Skopos auf Jamblichos). Die deutsche Übersetzung folgt Hildegund Bernard: Hermeias von Alexandrien. Kommentar zu Platons »Phaidros«, übers. und eingel., Tübingen 1997, hier S. 23 f. u. 87–91.

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5. Phaidros: Falsche und wahre Gestalten seelischer Bildung

verbundene Auf- und Abstiegsbewegung, die Sokrates vollziehe: Von dem Schönen in den Reden gehe er aus und kehre dahin wieder zurück.4 Auf ganz andere Weise, aber ebenso auf das Schöne sich beziehend, erkennt Adorno im Phaidros »einen der ersten großen Texte […], in dem so etwas wie eine Theorie des Schönen gegeben ist«,5 in welchem sogar »alle Motive einer Ästhetik, die später jemals sich entfaltet haben, angelegt sind«.6 Wegen der Fülle an Themen und der Struktur des Dialogs, auch aufgrund seines zum Teil spielerisch erscheinenden Stils und der Reichhaltigkeit an Bildern wurde der Phaidros auf der anderen Seite immer wieder als inhomogenes und streckenweise unverständ­ liches Werk charakterisiert. Bei näherer Betrachtung, so werden es die nachfolgenden Auslegungen zeigen, wird aber sichtbar, dass die einzelnen inhaltlichen Aspekte und Motive eng verbunden sind und sich oftmals wechselseitig bedingen und erhellen, sodass beim Herausgreifen eines thematischen Schwerpunktes andere Momente stets mitzubedenken sind. Die Bedeutung eines sachlichen Gehalts tritt oftmals erst im Lichte eines anderen hervor.7 Die Möglichkeit der Verschränkung und Verflechtung von Inhalten hängt aber unmittelbar mit der Darstellungsform zusammen; diese macht Platon im Phaidros explizit zum Thema: In Gestalt der drei Reden im ersten Dialogteil (vgl. Phdr. 227a–257b), zu welchem hier auch die Rahmenhandlung gerechnet wird, und in Form der dialektischen Erörterung der Rede­ kunst im zweiten Teil (vgl. 257b–279c) überspannt das Thema der Rhetorik den gesamten Dialog. Die Redekunst ist im Phaidros also stets präsent, zunächst durch die Praxis der Rede, dann durch das theo­ retisch-diskursive Gespräch über sie. Jedoch zielt Platon in diesem Werk nicht nur auf eine Kritik an der Rhetorik, sondern er lanciert auch sein eigenes Konzept einer philosophischen Redekunst, das er deutlich von der sophistisch geprägten Redepraxis distinguiert.

In Phdr. 11,33–12,5 Couvreur; Bernard 1997, S. 24 u. 90. Theodor W. Adorno: Ästhetik (1958/59), Nachgelassene Schriften, Abt. IV: Vor­ lesungen, Bd. 3, hg. von Eberhard Ortland, Frankfurt/M. 2009, darin: 9. u. 10. Vor­ lesung, S. 139–169, hier 139. 6 Adorno (1958/59) 2009, S. 151. 7 Vgl. auch Heinrich Niehues-Pröbsting: Überredung zur Einsicht. Der Zusammen­ hang von Philosophie und Rhetorik bei Platon und in der Phänomenologie, Frank­ furt/M. 1987, S. 156 f. 4 5

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5. Phaidros: Falsche und wahre Gestalten seelischer Bildung

Vor dem Hintergrund der Entstehungszeit des Dialogs – heute rechnet man den Phaidros zum mittleren oder späten mittleren Werk8 – unterstreicht Yunis den Status der zeitgenössischen Rhetorik in his­ torischer Hinsicht: Anders als noch zur Leb- und Wirkzeit der ›großen Rhetoren‹ wie Gorgias oder Protagoras habe sich die Rhetorik nun, ein oder zwei Generationen später, im öffentlichen Leben etabliert und in den politischen Alltag integriert.9 Ebenso hat sich die Rhetorik durch ihre Schulen und Lehrangebote im Bereich von Erziehung und Bildung institutionalisiert. Auf dem Gebiet der Paideia lässt aber insbesondere die Frage nach einer gelingenden Lebensführung die Konkurrenz zwischen Rhetorik und Philosophie deutlich hervortre­ ten. Die ausschlaggebende Rolle spielt hierbei das Verständnis und der Begriff von Wissen.10 In dieser Arbeit – darauf wurde das Augenmerk schon im ersten Kapitel gerichtet – wird Platons Auseinandersetzung mit der Sophistik und Rhetorik als wesentlicher Bestandteil seiner Philosophie verstanden.11 Platons Kritik akzentuiert in Anbetracht der politisch-ethischen Brisanz der sophistischen und rhetorischen Positionen und im Hinblick auf die pädagogische Dimension der Wirkkraft von Reden die Notwendigkeit und Dringlichkeit philoso­ phischer Gegenentwürfe und Neukonzeptionen. Die ersten beiden Reden im Phaidros, die Lysias-Rede und die erste Rede des Sokrates, lassen eine ausdifferenzierte und nuancierte Kritik Platons an der zeitgenössischen sophistisch geprägten Rheto­ rik, an deren Inhalten, Motiven und Vorgehensweisen erkennen. Die­

Die Kontroversen bezüglich der Datierung wurden weitgehend beigelegt. Vor allem Schleiermachers Annahme, dass der Phaidros als erstes Werk Platons zu betrachten sei (eine teilweise auch in der Antike vertretene Auffassung), zog bekanntlich viele Diskussionen nach sich. Als wahrscheinliche Abfassungszeit gilt hingegen heute der Zeitraum um 369–367 v. Chr. Vgl. de Vries 1969, S. 7–11; Ernst Heitsch: Platon. Phaidros, Übersetzung und Kommentar, 2., erw. Aufl., Göttingen 1997 (Platon Werke, Bd. III 4), S. 232 f.; Erler 2007, S. 216. Zur Diskussion auch Niehues-Pröbsting 1987, S. 153 ff.; Yunis 2011, S. 22–25. 9 Vgl. Harvey Yunis: Eros in Plato’s Phaedrus and the Shape of Greek Rhetoric, in: Arion. A journal of humanities and the classics 13 (2005), S. 101–125, hier 106 ff. Der Argwohn vieler athenischer Bürger gegenüber der Rhetorik sei zu dieser Zeit zwar nicht gänzlich verschwunden, so Yunis, aber doch deutlich reduziert. 10 Vgl. auch Niehues-Pröbsting 1987, S. 12 f. Zu Platons Hauptkonkurrenten auf dem Gebiet der Rhetorik, Isokrates, vgl. ebd.; ebenso Yunis 2005, S. 107 u. unten Anm. 24. 11 In der Auffassung, dass die Untersuchung von Platons Sophistik- und Rhetorik­ kritik für das Verständnis seiner Dialoge erforderlich ist, folge ich Niehues-Pröbsting 1987, vgl. bes. S. 9 u. 14 ff. 8

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5. Phaidros: Falsche und wahre Gestalten seelischer Bildung

ser entschiedenen Auseinandersetzung Platons wird im Folgenden durch eine eingehende Betrachtung und Analyse der Reden Rechnung getragen. Die dritte Dialog-Rede, Sokrates’ Palinodie, schafft als phi­ losophische Rede nicht nur im Sinne eines rhetorischen Wettstreits einen Kontrast zur Lysias-Rede.12 Unter Berücksichtigung des Sach­ verhalts, dass Platon seine eigenen Konzeptionen in Abhebung von den sophistisch-rhetorischen Positionen entfaltet, gilt es hinsicht­ lich der Palinodie vielmehr, den Zusammenhang von epistemischer, pädagogischer und rhetorischer Ebene im Hinblick auf den Begriff der Psychagogie und Platons Konzept seelischer Bildung in seiner Komplexität zu beleuchten. Das gemeinsame Thema der drei Reden bildet der Begriff des Eros. Damit wird zum einen die Frage nach der Verbindung von Eros und Rhetorik aufgeworfen, zum anderen führt das Thema zu einem weiteren inhaltlichen Schwerpunkt des Dialogs: Das Motiv des Eros ist hier mit einer anthropologischen Konzeption verschränkt. Die These in dieser Hinsicht ist, dass Platon im Phaidros die anthro­ pologische Fragestellung, d. h. die Reflexion auf Wesen und Möglich­ keiten des Menschen, zu einer unerlässlichen Voraussetzung seines Bildungsbegriffes macht.13 In diesem Zusammenhang zielen die Dis­ kussionen zunächst darauf hin, in Anbetracht eines zum Ausdruck kommenden sophistischen anthropologischen Modells die ›falschen Gestalten‹ seelischer Bildung herauszuarbeiten. In einem zweiten Schritt gelten die Untersuchungen aber der Frage, inwiefern das in der Palinodie dargestellte Seelenbild zu einer philosophischen Anthropo­ logie avanciert, auf deren Grundlage Platon sein Konzept der Liebe, des Schönen und der philosophischen Begeisterung und damit auch seinen Begriff der ›wahren Gestalt‹ seelischer Bildung entwickelt. Die Palinodie oder große Rede des Sokrates zeichnet sich über­ dies nicht nur als rhetorische, sondern auch als poetische Rede aus. Ähnlich wie im Falle der Rhetorik sind Platons eigene poetische Darstellungen vor dem Hintergrund seiner Kritik zu betrachten: 12 Vgl. zu diesem anhand der drei Reden illustrierten Wettstreit Yunis 2005, S. 102 u. 108 f. 13 Im Theaitetos führt Sokrates aus, dass sich der Philosoph diese Frage zu eigen machen muss: »Was aber der Mensch wohl an sich ist und was seiner so gearteten Natur gebührt zu erleiden und zu tun im Unterschied zu anderen, dieses untersucht er und verwendet Mühe darauf, es zu erforschen.« (τί δέ ποτ᾿ ἐστὶν ἄνθρωπος καὶ τί τῇ τοιαύτῃ φύσει προσήκει διάφορον τῶν ἄλλων ποιεῖν ἢ πάσχειν, ζητεῖ τε καὶ πράγματ᾿ ἔχει διερευνώμενος. Tht. 174b4–6).

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5.1 Die Rahmenhandlung und die ersten beiden Reden im Phaidros

Platons Sicht auf die traditionelle Dichtkunst und auf die damit verbundene poetische Mania oder Begeisterung wird deshalb im Vor­ feld der Erörterungen der Palinodie diskutiert. Aus rhetorischer und poetischer Perspektive wird schließlich die Frage nach dem Verhältnis und der Korrespondenz von Inhalt und Form, die auch schon zuvor die Auslegungen der ersten beiden Reden prägt, im Hinblick auf die Palinodie auf einer neuen Ebene zu stellen sein. Die folgenden Untersuchungen widmen sich in detaillierter Form den drei Reden im ersten Dialogteil des Phaidros. Die Aufmerksam­ keit gilt hierbei auch den Rahmengesprächen, die sich durch eine besondere Dramaturgie auszeichnen: Auffällig ist nicht nur das für einen platonischen Dialog ungewöhnliche Umfeld von Natur und Landschaft, sondern auch die sokratische Ironie, die markanter und profilierter als in anderen Dialogen in den Vordergrund tritt. Der zweite, in der Literatur häufiger diskutierte Dialogteil des Phaidros14 wird nicht in gleicher Ausführlichkeit wie der erste besprochen. Ein­ zelne längere Textpassagen daraus werden aber in die Diskussionen einbezogen. Ziel des gesamten Kapitels ist es, einerseits Platons Konzept der Seelenbildung im Phaidros im Kontext der anthropolo­ gischen Fragestellung zu rekonstruieren; andererseits die angespro­ chene Korrespondenz von sachlichem Gehalt und Darstellungsform und damit die Frage nach einer kunstgerechten Rede im Hinblick auf die Seelenbildung als wesentliche Problemstellung des Dialogs sichtbar zu machen. Die grundlegende These ist, dass die Bildung der Seele eine dialogübergreifende und einheitsstiftende Thematik des Phaidros darstellt.15

5.1 Die Rahmenhandlung und die ersten beiden Reden im Phaidros Die ersten beiden Reden im Dialog rücken die Thesen des Reden­ schreibers Lysias und seine rhetorischen Methoden in den Blick. Vornehmlich für diese beiden Reden, so die Annahme, spielen die Zu Literaturangaben vgl. unten Kap. 5.1.4, Anm. 131. Eine ausführliche und diffe­ renzierte Erörterung der Positionen und Kontroversen zu Platons Schriftkritik bieten Michael Hoffmann, Mischa von Perger: Neues zu Platons »ungeschriebenen Lehren«, in: Philosophische Rundschau 43 (1996), S. 97–132. 15 Als Möglichkeit erwähnt wird diese These auch von Hoffmann/Perger 1996, S. 126. 14

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5. Phaidros: Falsche und wahre Gestalten seelischer Bildung

Rahmenhandlung und die Zwischengespräche eine signifikante Rolle. In Diskussion der Reden und zunächst der Rahmenhandlung selbst wird deshalb deren dialogischer Zusammenhang, insbesondere aber die Frage danach, welche inhaltlichen Momente die sokratische Ironie spiegeln soll, immer wieder im Blickpunkt stehen. Die Frage nach der Bedeutung von Sokrates’ Ironie wird die Interpretationen der Reden weithin begleiten.

5.1.1 Die Rahmenhandlung: Das einleitende Gespräch und die Naturszene am Flussufer des Ilissos Wie andernorts bei Platon dient auch im Phaidros die Rahmenhand­ lung nicht lediglich der Einkleidung, auch nicht nur der Einführung und Situierung des Dialogs, sondern es deuten sich bereits auf dieser Ebene Frage- und Problemstellungen an, die für den gesamten Dialog von Relevanz sind und die mehr noch auf die Hauptthemenfelder aufmerksam machen.16 Im Phaidros geschieht dies auf besonders spielerische Art: Der Wortwechsel zwischen Sokrates und seinem Gesprächspartner, aber auch die Naturumgebung selbst werden poin­ tiert in Szene gesetzt; Sprachstil und Vokabular erscheinen illustrativ und anspielungsreich. Im Folgenden wird das Eingangsgespräch vor allem im Hinblick auf die prononciert szenische Darstellung erörtert. Eröffnet wird der Dialog mit dem Zusammentreffen der beiden Dialogakteure (vgl. Phdr. 227a–229b): Phaidros kommt von dem stadtbekannten Rhetor Lysias,17 als Sokrates ihm begegnet. Viele Stunden hatte Phaidros bei Lysias zugebracht und schnell ist im Dialog klargestellt, dass er sich bei einem Spaziergang nicht nur erholen möchte, sondern dass er beabsichtigt, eine Rede des Lysias, eine Liebesrede (ἐρωτικός, 227c5), wie er betont, einzustudieren. Er verspricht Sokrates, die Rede vorzutragen, wenn dieser ihn begleite. Entgegen seiner Gewohnheit, die Stadt zu verlassen, folgt Sokrates seinem Gesprächspartner und gemeinsam machen sie sich auf den Vgl. Charles L. Griswold: Self-Knowledge in Plato’s Phaedrus, Pennsylvania 1996 (New Haven 1986), S. 17; Michael Erler: Natur und Wissensvermittlung. Anmerkung zum Bauernvergleich in Platons ›Phaidros‹, in: Rheinisches Museum für Philologie 132 (1989), S. 280–293, hier 281 u. 286. 17 Zur historischen Person Lysias vgl. Heitsch 1997, S. 71 f.; Yunis 2011, S. 8. Lysias gilt als namhafter Vertreter der epideiktischen Rhetorik und als erfolgreicher Logo­ graph von Gerichtsreden. 16

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5.1 Die Rahmenhandlung und die ersten beiden Reden im Phaidros

Weg zum Fluss Ilissos, wo sie sich schutzsuchend vor der Mittagshitze unter einer Platane niederlassen. Das einleitende Gespräch bringt typische Charakterzüge des sokratischen Gesprächspartners zum Ausdruck. Phaidros erscheint als glühender Verehrer des Lysias, dessen Redekunst ihn begeistert.18 Als größter Schreiber ihrer Zeit (vgl. 228a), so führt er aus, habe Lysias die Liebesrede mit einer beispiellosen Gewitztheit versehen, dass nämlich ein Jüngling nicht einem verliebten, sondern einem nichtver­ liebten Liebhaber günstig gesinnt sein solle (vgl. 227c); aber auch die rhetorischen Feinheiten und Schliffe der Rede seien unnachahmlich. Die angemessene Wiedergabe einer solchen Rede muss aus Phaidros’ Sicht in einem wortgetreuen Sinn erfolgen; entsprechend trägt er die Schriftrolle mit der Rede bei sich (vgl. 227d–228e). Obwohl Phaidros mit dem Einstudieren von Lysias’ Rede dem Brauch des rhetorischen Unterrichts folgt, Musterreden zu erlernen, um die eigenen redneri­ schen Fähigkeiten auszubilden,19 zeigt er zugleich keine Ambitionen, selbst als Rhetor tätig zu werden. Sein Interesse für Reden basiert nicht primär auf dem Wunsch nach Ansehen und Macht; vielmehr erscheint er als jemand, der auf eigentümliche Weise Reden um ihrer selbst, ihrer redekünstlerischen Ausgestaltung und Schönheit willen liebt.20 Auch wird mit der Figur des Phaidros eine Verbindung zum Symposion hergestellt, wo er die erste Lobrede auf Eros hält (vgl. Smp. 177a–180b).21 Außer seiner Liebe zu Reden wird in beiden Dialogen eine weitere charakteristische Haltung unterstrichen: Zeigt er sich im Symposion als treuer Gefolgsmann des Arztes Eryximachos (vgl. 176d), so folgt er im Phaidros dem ärztlichen Rat von Akume­ nos (vgl. 227a). Seine Affinität zu Ärzten signalisiert, wie sehr er sich von den ›materialistisch‹ ausgerichteten, ›wissenschaftlichen‹ Strömungen seiner Zeit angezogen fühlt. Ähnlich wie der Redner 18 Zur Figur des Phaidros vgl. Heitsch 1997, S. 74–76; Griswold 1996, S. 21–25; Alexander Nehamas, Paul Woodruff: Plato. Phaedrus, transl., with introd. and notes, with a selection of early Greek poems and fragments about love, transl. by Paul Woodruff, Indianapolis/Cambridge 1995, Introduction, S. ix–xlvii, hier xiv f.; de Vries 1969, S. 5 f. Die Kennzeichnung und Typisierung von Haltungen und Eigenschaften der Gesprächspartner sind charakteristisch für die frühen und mittleren Werke (vgl. Erler 2007, S. 32). 19 Vgl. Heitsch 1997, S. 75. 20 Vgl. dazu Griswold 1996, S. 21–23; auch Phdr. 242a–b. 21 Im Symposion erscheint Phaidros als Initiator der Enkomien auf Eros. Er fasst die Redekunst primär als Agon auf (vgl. Smp. 194d; Phdr. 243d–e, 257c).

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5. Phaidros: Falsche und wahre Gestalten seelischer Bildung

Lysias üben auch deren Vertreter eine starke Anziehung auf ihn aus.22 Platon zeichnet die Figur des Phaidros als in symptomatischer Weise seinen Vorbildern ergeben. Anzunehmen ist überdies, dass Phaidros in dem nach ihm benannten Dialog keinen jungen, sondern einen erwachsenen Mann darstellt,23 was aber die Arglosigkeit seiner unkritischen Faszination unterstreicht. Auch der Rhetor Lysias rückt in mittelbarer Form in den Blick; seine Lehrtätigkeit, Redekunst und logographische Tätigkeit spielen im Gespräch eine wesentliche Rolle. Yunis betont in seinem Kom­ mentar, dass Lysias zu den besten Rednern und produktivsten Reden­ schreibern vor Isokrates zählte, dass er seine schriftlich verfassten Reden zirkulieren ließ und diejenige rhetorische Kultur repräsen­ tierte, die für Platon das Ziel seiner Kritik bildete.24 Schließlich werden in der Rahmenhandlung auch zentrale Charakteristiken des Sokrates genannt:25 Dazu gehören seine Unbeschuhtheit (vgl. 229a), die Tatsache, dass im Eigentlichen nur die Stadt mit ihren Menschen der angemessene Ort seines dialogischen Philosophierens ist (vgl. 230c–d), schließlich seine Zuständigkeit in Fragen des Eros (vgl. 227c). Im Symposion behauptet Sokrates, sich ausschließlich auf die erotischen Dinge (τὰ ἐρωτικά, 177d8) zu verstehen. Vgl. dazu Griswold 1996, S. 23 ff. Im Protagoras (vgl. 315c) wird die Figur Phaidros, nur am Rande, als Anhänger des Sophisten Hippias von Elis kenntlich. Vgl. auch Paul Friedländer: Platon, Bd. III: Die platonischen Schriften. Zweite und Dritte Periode (1928–1930), 3., durchges. und erg. Aufl., Berlin/New York 1975, darin Kap. 25: ›Phaidros‹, S. 201–223, hier 201. Über die historische Person Phaidros aus Myrrhinus (vgl. Phdr. 244a; Smp. 176d) ist nur wenig bekannt. Vgl. Heitsch 1997, S. 74; Yunis 2011, S. 7 f. 23 Die Frage von Phaidros’ Alter wird in der Literatur mit der Frage des dramatischen Dialogdatums verknüpft. Dieses bleibt zwar vage, die Hinweise im Dialog deuten aber auf einen Zeitpunkt innerhalb der letzten beiden Dekaden des 5. Jh.s v. Chr. hin. Vgl. dazu Yunis 2011, S. 7 f.; Erler 2007, S. 216. 24 Vgl. Yunis 2011, S. 8. Isokrates wird erst am Ende des Dialogs genannt (vgl. Phdr. 278e–279b): Er ist zum Dialogzeitpunkt noch jung und Sokrates äußert sich positiv über seine Veranlagung. Dennoch ist davon auszugehen, dass Platon mit seiner Kritik an der zeitgenössischen Rhetorik im Phaidros gerade auch auf Isokrates zielt. Nicht nur durch die etwa zeitgleiche Gründung einer Schule, sondern besonders durch die entgegengesetzten Konzepte von Redekunst, Philosophie und Bildung standen Platon und Isokrates in einem konkurrierenden Verhältnis. Heitsch (1997, S. 257–262) macht auf viele indirekte Hinweise im Dialog, die Schriften von Isokrates betreffen, auf­ merksam. Vgl. auch Erler 2007, S. 217 u. 348 f.; Andrea W. Nightingale: Genres in dialogue. Plato and the construct of philosophy, Cambridge 1995, S. 26 ff. 25 Vgl. auch Heitsch, 1997 S. 72 f. 22

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5.1 Die Rahmenhandlung und die ersten beiden Reden im Phaidros

Vor allem aber werden Örtlichkeit und Situierung des Dialogs in der Rahmenhandlung deutlich akzentuiert. Sokrates und Phaidros führen ihr Gespräch nicht »in der Stadt« (ἐν ἄστει, Phdr. 227b3, auch 230d5), sondern »außerhalb der Stadtmauern« (ἔξω τείχους, 227a3, auch 228b5–6), zwischen Feldern und Bäumen (vgl. 230d). Das ›Außerhalb‹ wird im gesamten Dialog gegenwärtig gehalten und in der Eingangsszene dem ›Innerhalb der Stadt‹ gewisserma­ ßen entgegengesetzt.26 Felder und Bäume führt Sokrates an, um zu kennzeichnen, dass diese ihn nichts lehren können.27 Zugleich charakterisiert er mit dem Ausdruck χωρία καὶ δένδρα aber auch in zusammenfassender Form die Umgebung: Der Begriff der Landschaft existiert im Griechischen nicht.28 Ebenso ist das damit verbundene landschaftliche Sehen in griechischem Kontext kaum zu finden.29 Dennoch ist im Hinblick auf die Eingangspassage des Phaidros zu konstatieren, dass sich in gewisser Weise ein ›landschaftlicher Blick‹ andeutet: Die Beschreibung der Umgebung durch Phaidros und Sokrates entspricht nicht einer bloß nüchternen Darlegung des ländlichen Raumes. Vielmehr kommt in den Ausführungen auch die Stimmung, darüber hinaus so etwas wie eine Einrahmung zum

26 Dies unterstreicht besonders Herwig Görgemanns: Zur Deutung der Szene am Ilissos in Platons Phaidros, in: Glenn W. Most, Hubert Petersmann, Adolf M. Ritter (Hg.): Philanthropia kai eusebia. Festschrift für Albrecht Dihle zum 70. Geburtstag, Göttingen 1993, S. 122–147, hier 124 ff. Vgl. dazu auch Dietram Müller: Raum und Gespräch: Ortssymbolik in den Dialogen Platons, in: Hermes 116 (1988), S. 387–409, hier 397. 27 Sondern eben nur die Menschen in der Stadt: τὰ μὲν οὖν χωρία καὶ τὰ δένδρα οὐδέν μ᾿ ἐθέλει διδάσκειν, οἱ δ᾿ ἐν τῷ ἄστει ἄνθρωποι (Phdr. 230d4–5). Dass Sokrates sich als den darstellt, der von anderen lerne, mag einerseits eine Untertreibung sein; andererseits bleibt Sokrates, ganz im Sinne der Apologie, ein φιλομαθής (230d3). Darüber hinaus kann die Textstelle auch als Kritik an sophistischen Strömungen, die die Natur als Lehrmeisterin für ethische und politische Belange auffassten, verstanden werden (vgl. Erler 1989, dazu unten Anm. 114). 28 Vgl. Winfried Elliger: Die Darstellung der Landschaft in der griechischen Dich­ tung, Berlin/New York 1975, Einleitung, S. 1–25, hier 1 f. u. 7 f. 29 Der Begriff der Landschaft – verstanden als eine vornehmlich ästhetische Bezug­ nahme des Menschen auf den Naturraum – spielt in der griechischen bildenden Kunst und weitgehend auch in der Dichtung keine oder eine nur untergeordnete Rolle. Bestimmte Anklänge eines landschaftlichen Sehens finden sich in der bukolischen Poesie im 3. Jh. v. Chr. In seiner eigentlichen ästhetischen Dimension etabliert sich der Landschaftsbegriff jedoch erst in der Renaissance. Vgl. Elliger 1975, S. 1–10.

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5. Phaidros: Falsche und wahre Gestalten seelischer Bildung

Ausdruck: Evoziert wird eine Art Landschaftsbild.30 So kommen Sokrates und Phaidros auf ihrem gemeinsamen Weg auf die Gege­ benheiten des Flussgestades, auf dessen Qualitäten, Vorzüge und Reize, auf die sommerlichen Temperaturen der Jahres- und Tageszeit, darüber hinaus auf die mythologischen Besonderheiten des Ortes zu sprechen (vgl. 229a–c). Die ausdrückliche Bezugnahme auf die Umgebung und auf die Atmosphäre, die hier herrscht, mündet in eine scheinbar enthusiastische Beschreibung von Natur und Landschaft durch Sokrates: Bei der Here! dies ist ein schöner Aufenthalt. Denn die Platane selbst ist prächtig belaubt und hoch, und des Gesträuches Höhe und Umschat­ tung gar schön, und so steht es in voller Blüte, daß es den Ort mit Wohlgeruch ganz erfüllt. Und unter der Platane fließt die lieblichste Quelle des kühlsten Wassers, wenn man seinen Füßen trauen darf. Auch scheint hier nach den Statuen und Figuren ein Heiligtum einiger Nymphen und des Acheloos zu sein. Und wenn du das suchst, auch die Luft weht hier willkommen und süß und säuselt sommerlich und lieblich in den Chor der Zikaden. Unter allen am herrlichsten aber ist das Gras am sanften Abhang in solcher Fülle, daß man hingestreckt das Haupt gemächlich kann ruhen lassen. Kurz, du hast vortrefflich den Führer gemacht, lieber Phaidros.31

Den locus amoenus, den Sokrates beschreibt, mit seinen Annehmlich­ keiten des Schattens, des Duftes, des kühlen Quellwassers und einer 30 Der platonische Text lässt damit Merkmale kenntlich werden, die auch das spätere landschaftliche Sehen kennzeichnen. Im spezifischen Sinne wird im Phaidros eine Perspektivierung, damit aber auch ein Moment der Distanznahme von Natur sichtbar, welches erst die landschaftlichen Reize erkennen lässt. Vgl. dazu Elliger 1975, S. 4 ff. Freilich impliziert der in der Renaissance sich herausbildende Begriff eines Land­ schaftsbildes darüber hinaus gehende Charakteristika. 31 Νὴ τὴν Ἥραν, καλή γε ἡ καταγωγή. ἥ τε γὰρ πλάτανος αὕτη μάλ᾽ ἀμφιλαφής τε καὶ ὑψηλή, τοῦ τε ἄγνου τὸ ὕψος καὶ τὸ σύσκιον πάγκαλον, καὶ ὡς ἀκμὴν ἔχει τῆς ἄνθης, ὡς ἂν εὐωδέστατον παρέχοι τὸν τόπον · ἥ τε αὖ πηγὴ χαριεστάτη ὑπὸ τῆς πλατάνου ῥεῖ μάλα ψυχροῦ ὕδατος, ὥστε γε τῷ ποδὶ τεκμήρασθαι. Νυμφῶν τέ τινων καὶ Ἀχελῴου ἱερὸν ἀπὸ τῶν κορῶν τε καὶ ἀγαλμάτων ἔοικεν εἶναι. εἰ δ᾽ αὖ βούλει, τὸ εὔπνουν τοῦ τόπου ὡς ἀγαπητὸν καὶ σφόδρα ἡδύ · θερινόν τε καὶ λιγυρὸν ὑπηχεῖ τῷ τῶν τεττίγων χορῷ. πάντων δὲ κομψότατον τὸ τῆς πόας, ὅτι ἐν ἠρέμα προσάντει ἱκανὴ πέφυκε κατακλινέντι τὴν κεφαλὴν παγκάλως ἔχειν. ὥστε ἄριστά σοι ἐξενάγηται, ὦ φίλε Φαῖδρε. (Phdr. 230b2– c5) Übers. Schleiermacher (Eigler-Ausg., Bd. 5). Das ›Gesträuch‹ (τὸ ἄγνος) ist ein Keuschlamm-Gebüsch. Dass dieses nicht notwendig in einem erotisch-sexuellen Kon­ text zu deuten ist, sondern dass es sich um eine am Wasser wachsende Weidenart handelt, die wegen ihrer im Hochsommer duftenden Blüten hier in Erscheinung tritt, zeigt Görgemanns 1993, S. 134–136.

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den Ort durchwehenden Brise, auch das gleichzeitige Zittern der Luft durch das Zirpen der Zikaden und nicht zuletzt das weiche und volle Gras sieht und spürt man förmlich vor sich: Nahezu alle menschlichen Sinne werden angesprochen.32 Dass der Platz den Nymphen und dem Acheloos geweiht ist, unterstreicht seine Besonderheit.33 Hatte Phaidros schon zuvor auf die Lieblichkeit der Gegend angespielt (vgl. 229a), so erzeugt Sokrates nun das Bild einer harmonischen, mit mythologisch-religiösen Elementen verbundenen ›freien Natur‹. Auch scheinen seine Beschreibungen ein von sinnlicher Unmittelbar­ keit getragenes, fast rauschhaftes Erlebnis direkt widerzuspiegeln. Durch den Stil seiner Rede, den spezifischen adjektivischen Wort­ gebrauch und die Superlative34 lässt Sokrates die Natur als sinn­ lich-affektive Wirkmacht erscheinen. Das stimmungsvolle Bild der schönen Naturumgebung, so scheint es, hat eine starke Anziehungsund Wirkkraft, der sich ein Mensch kaum zu entziehen vermag. Wiederholt wurde in der Literatur darauf hingewiesen, dass die szenische Darstellung am Fluss Ilissos nicht als Beschreibung einer Idylle gedeutet werden darf. Der Begriff der Idylle findet sowohl terminologisch als auch der Sache nach in der bukolischen Dichtung bei Theokrit seinen Ursprung und geht hier, wie Elliger hervorhebt, mit einer Verklärung des ländlichen Lebens und einer Sehnsucht nach dem Einklang des Menschen mit der Natur einher.35 Ebenso tritt der literarische Topos des locus amoenus erst in dieser Zeit verstärkt hervor. Aber auch wenn das von Sokrates gezeichnete Naturbild im Phaidros nicht den späteren bukolischen Begriff der Idylle trifft und auch nicht als ihr literarischer Vorläufer aufzufassen ist, wird in dem Abschnitt dennoch, ähnlich wie dies oben für den landschaftlichen Blick formuliert wurde, in spezifischer Form ein ›idyllisches Moment‹ angedeutet: Platons Spiel mit dem Charakter Auch Hermeias spricht von κατὰ πάσας δὲ τὰς αἰσθήσεις (in Phdr. 32,7–8 Couvreur); vgl. dazu Görgemanns 1993, S. 128. 33 Wenngleich die Verbindung landschaftlicher und mythologischer Gegebenheiten andererseits nichts Ungewöhnliches ist. Vgl. Görgemanns 1993, S. 123. 34 »So wird das einleitende καλή im Folgenden durch πάγκαλος, χαριέστατος, ἀγαπητός, σφόδρα ἡδύς und κομψότατος variiert: eine erstaunliche Häufung von Bei­ wörtern für die ästhetische Wirkung der Landschaft« (Elliger 1975, darin: ›Exkurs I: Platons Phaidros‹, S. 288–294, hier 290). 35 Vgl. Elliger 1975, S. 289 ff. Obwohl im Phaidros »das gesamte lokale Idyllenin­ ventar« (ebd., S. 288) aufgeboten werde, unterscheide sich diese Szene wesentlich von den Gedichten (Eidyllia) Theokrits. Vgl. auch Görgemanns 1993, S. 123. 32

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einer idealen Naturlandschaft lässt darauf schließen, dass er auf eine entsprechende Vorstellung Bezug nimmt.36 Unterstrichen wird dieser Rekurs durch die erlebnishafte Ausdrucksform des Textes, durch die Darstellung einer scheinbar unmittelbaren Erfahrung eines sinnlich schönen Ortes, der zugleich ganz realistische Züge trägt.37 Der Dialogpassus Phdr. 230b–c, die Szene am Ilissos, sorgte in der Literatur immer wieder für Aufmerksamkeit. Antike wie moderne Leser begriffen den Abschnitt als Darstellung einer echten Naturbegeisterung. Innerhalb der antiken Literatur wurden vor allem in der hellenistischen und nachhellenistischen Epoche die Darlegun­ gen im Phaidros als Erlebnisbericht des Sokrates, der sich für das Naturschöne empfänglich zeige, ernst genommen.38 In moderner Zeit wurde die Passage mitunter als Kennzeichnung eines intensiven, mit einem religiösen Aspekt assoziierten Naturgefühls interpretiert. In dieser Weise deutet von Wilamowitz-Moellendorff den Abschnitt im Phaidros, wobei er die Inspiration durch die Natur auf den Autor des Werkes, also Platon selbst, bezieht, der sie Sokrates lediglich in den Mund lege: Platon bringe in selbstreflexiver Haltung zur Anschau­ ung, was ihn während des Schaffens des Phaidros überkommen habe; er schildere eine dichterische, als göttlich zu bezeichnende Kraft und einen damit einhergehenden inneren Zwang des Dichters.39 Auch 36 Vgl. auch Görgemanns (1993, S. 128), der von einer »Verfremdung des Idyllischen« (ebd., Anm. 19) spricht. 37 Durch die topographische Genauigkeit und die Erwähnung mythologischer Hei­ ligtümer und Narrative (vgl. bes. Phdr. 229b ff.) war der Ort vermutlich nicht nur für jeden Athener identifizierbar, sondern er kann sogar heute noch mit einem hohen Grad an Wahrscheinlichkeit lokalisiert werden. Vgl. dazu Görgemanns 1993, S. 124 f.; zu weiterer Literatur, auch die archäologischen Funde betreffend, ebd., Anm. 6 u. 7. Vgl. auch John Travlos: Bildlexikon zur Topographie des antiken Athen, Tübingen 1971, S. 289 ff. u. 382; Erler 2007, S. 217 f.; ebenso die Kartenabbildungen in Yunis 2011, S. xii. 38 Vgl. Cicero: Orat. I, 28; Quintilian: Inst. X, 3, 22 ff.; Plutarch: Amat. 749a. Zu den antiken Textstellen vgl. Erler 1989, S. 282 mit Anm. 6; Holger Thesleff: Stimmungs­ malerei oder Burleske? Der Stil von Plat. Phaidr. 230 bc und seine Funktion, in: Arctos. Acta philologica fennica 5 (1967), S. 141–155, hier 154. Auch Hermeias erkennt in dem Abschnitt ein »wahres Lob« des Sokrates auf die Elemente »Luft, Wasser, Erde« (in Phdr. 32,3–5 Couvreur). 39 Vgl. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Platon. Sein Leben und seine Werke (1919), Bd. I, 5. Aufl., bearb. und mit einem Nachw. vers. von Bruno Snell, Berlin 1959, darin Kap. 13: ›Ein glücklicher Sommertag‹, S. 354–384, hier 357 ff. u. 361 ff. Ähnlich Willy Moog: Das Naturgefühl bei Platon, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 24 (1911), S. 167–194, hier 181 ff. Beide Autoren stimmen darin überein, dass der als

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innerhalb der Platon-Rezeption jüngerer Zeit wird die betrachtete Stelle des Phaidros teilweise als Ausdruck eines echten Naturempfin­ dens und eines darauf basierenden Enkomions verstanden, allerdings wird diese Empfindung nun wiederum nicht mehr Platon, sondern, wie bereits in der Antike, dem Protagonisten Sokrates zugeschrieben. Griswold erkennt in dem Abschnitt eine charakteristische Gegenüber­ stellung der Dialog-Akteure: Während Sokrates eine starke Sensitivi­ tät für das Schöne und die Magie des Ortes besitze, erweise sich sein Gesprächspartner Phaidros als unsensibel für die Schönheit der Natur. Die Darstellung von Sokrates’ Empfänglichkeit für das Naturschöne zu Dialogbeginn antizipiere in gewisser Weise die Wiedererinnerung an das Schöne selbst in der Palinodie.40 Auf ganz andere Weise misst Görgemanns der Szene am Ilissos eine Ernsthaftigkeit zu: Der gekünstelte Natur-Enthusiasmus kennzeichne den inneren Zwiespalt des im Phaidros sinnlich beeindruckbaren Sokrates, der sich gegen diesen Zauber wehre, indem er ihn verbal überstilisiere.41 Grundsätzlich darf angenommen werden – dies wurde eingangs schon betont –, dass die Situierung des Gesprächs und die Andeutun­ gen in der Rahmenhandlung mit dem Gesamtkontext des Dialogs, mit dessen Themen und Inhalten assoziiert sind oder auf diese ver­ weisen: Die ausdrückliche Hervorhebung des Settings lässt auf einen sachlichen Bezug schließen.42 Auch die vorliegenden Betrachtungen gehen von dieser Prämisse aus. So lassen etwa die Akzentuierung des Sich-Herausbewegens aus der Stadt, auch das Außergewöhnliche des Ortes selbst an das philosophisch motivierte Heraustreten aus dem Alltäglichen, welches die Palinodie zur Darstellung bringen wird, denken. Auf diese Querverbindungen zwischen Rahmenhandlung und philosophischen Themenfeldern des Dialogs wird an späterer Stelle zurückzukommen sein.43 nüchtern anzusehende Sokrates für solche Natureindrücke nicht empfänglich gewesen sei. Zu einer kritischen Stellungnahme vgl. Thesleff 1967, S. 150 f. 40 Vgl. Griswold 1996, S. 35. Vgl. auch Friedländer (1928–1930) 1975, Bd. III, S. 202, der die Szene am Ilissos ebenso als echte sokratische Begeisterung deutet, ohne den Passus jedoch weiter auszulegen. 41 Vgl. Görgemanns 1993, S. 128 ff. 42 Dass die Situierung der platonischen Dialoge oftmals mit deren inhaltlicher Aus­ richtung zusammenhängt, wurde in der Literatur, auch bereits in der Antike, häufig gesehen. Vgl. dazu Müller 1988, S. 387–389 mit Anm. 3–19; zum Phaidros vgl. ebd., S. 397 ff. 43 Vgl. unten Kap. 5.2.2 u. 5.3.4.

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Zunächst allerdings lässt Sokrates’ enthusiastische Bezugnahme auf die Natur eine starke ironische Brechung erkennen. Anders als die oben genannten Autoren interpretiert in dieser Hinsicht Thesleff die Passage; er weist nach, dass sich der Abschnitt 230b–c durch einen künstlichen und affektierten Sprachstil auszeichnet, der sonst für die Sophistik und Rhetorik charakteristisch sei:44 Klangeffekte, die durch einen η-/α-Vokalismus bewirkt würden, die Wiederho­ lung des exklamativen ὡς, die paarweise Setzung beschreibender Worte45 und eine auffallende Verwendung substantivierter Adjektive im Neutrum, wie sie für die frühe attische Sophistik symptomatisch sei, ließen eine »manierierte Hyperbolik«46 erkennbar werden. Was sich ausnimmt wie eine durch Natureindrücke ausgelöste, das unmit­ telbare Erleben bezeugende, spontane Sequenz von Ausrufen der Begeisterung und Freude, erweist sich bei näherer Betrachtung als ein ausgesuchter Wechsel pathetisch-gefühlsbetonten Sprachgebrauchs, urban klingender Idiome und empirisch-wissenschaftlich anmuten­ der Wendungen.47 Die Inszenierung einer Naturbegeisterung auf der Basis einer intendierten Folge sophistischer und rhetorischer Sprachkomponenten lässt eine ironische Distanzierung des Sokrates deutlich hervortreten. Unterstrichen wird das ironische Moment überdies durch das für Sokrates untypische Lob der Behaglich- und Bequemlichkeit des Ortes. Sokrates’ scheinbar enthusiastische Illustration, sein ›Naturer­ lebnis‹, zeigt sich also als ironische Distanznahme. Der ironische Ton prägt zugleich die gesamte Rahmenhandlung und setzt sich zunächst in den Zwischenszenen, die die ersten beiden Reden begleiten, fort.48 Allerdings wird sich diese Tonlage mit der Wendung von Sokrates’ erster zu seiner zweiten Rede, also mit dem Übergang zur Palinodie, Vgl. Thesleff 1967, S. 143–150. Thesleff unterzieht Vokabular und Satzwendungen des gesamten Abschnitts Phdr. 230b–c einer detaillierten Analyse. Zu Stil und sprach­ lichen Wendungen vgl. auch Erler (1989, S. 283 ff.), der den Abschnitt ebenso als Ausdruck einer ironischen Distanz deutet. Vgl. überdies de Vries 1969, Kommentar zur Textstelle 230c5, S. 56. 45 Wie beispielsweise ἀμφιλαφής τε καὶ ὑψηλή oder τὸ ὕψος καὶ τὸ σύσκιον (Phdr. 230b3–4) etc. Vgl. Thesleff 1967, S. 148 f.; Erler 1989, S. 283 f. 46 Thesleff 1967, S. 150. 47 Vgl. Thesleff 1967, S. 145 ff.; Erler 1989, S. 284 f.; Elliger 1975, S. 290 f. Thesleff unterstreicht die beispiellose Stellung der Szene am Ilissos innerhalb des platonischen Œuvre: Trotz Platons unterschiedlicher »Stilexperimente«, sei dieser Passus »stilis­ tisch einzigartig« (Thesleff 1967, S. 149). 48 Eine ironische Bezugnahme auf die Lokalität findet sich auch in Phdr. 238c–d, 241e. 44

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ändern. Bis auf wenige Ausnahmen ist auch der Bezug auf Natur und Landschaft dann nicht mehr durch eine ironische Diktion geprägt: Das ernsthafte Thematisieren der Naturumgebung im späteren Dia­ logkontext, welches sich, zwar in seltener Form, auch in anderen Werken Platons zeigt,49 macht offensichtlich, dass Sokrates’ ironische Bezugnahme auf die Natur zu Dialogbeginn nicht in erster Linie etwas mit dieser selbst zu tun hat. Die Szene am Ilissos zeugt weder von einer tatsächlichen begeisterten Hingabe an die Natur, noch ist Sokrates’ ironische Distanz umgekehrt als Ausdruck einer die Natur geringschätzenden Haltung zu interpretieren.50 Darüber hinaus macht Thesleff noch auf einen weiteren Aspekt aufmerksam: Ähnlich wie auch sonst Naturbeschreibungen in der griechischen Poesie häufig mit einem erotischen Moment einhergingen, gebe auch Platon dem ›Naturerleben‹ des Sokrates eine erotische Note.51 Deutlich sichtbar wird das Motiv des Erotischen, wenn man den Gesamtkontext des Eingangsgesprächs im Phaidros betrachtet: Bis zur ersten Rede im Dialog ist die Rahmenhandlung von eroti­ schen Wortspielen geprägt. In spielerisch-spöttischer Manier schil­ dert Sokrates, wie Phaidros – noch gebannt von dem Zusammensein mit Lysias und ganz auf dessen Rede konzentriert – bei seinem Spaziergang einem begegnete, »der krank und süchtig danach war, Reden zu hören« (τῷ νοσοῦντι περὶ λόγων ἀκοήν, 228b6–7). Phaidros habe sich gefreut, einen »Mitverzückten« (τὸν συγκορυβαντιῶντα, 228b7) zu treffen, einen »Liebhaber von Reden« (τοῦ τῶν λόγων ἐραστοῦ, 228c1–2). Als diesen ›kranken Liebhaber‹ zeichnet Sokrates sich selbst: Die Ankündigung der Liebesrede durch Phaidros habe ihn »begierig« (ἐπιτεθύμηκα, 227d2–3) nach der Rede gemacht. Phaidros habe das richtige Mittel (τὸ φάρμακον, 230d6) gefunden, um ihn, 49 In Platons Werk finden sich nur wenige Stellen, in denen landschaftliche Kompo­ nenten eine Rolle spielen. Aber auch diese Abschnitte treten, wie dies im späteren Dialogverlauf des Phaidros der Fall ist, in Stil und Ton als ernstgemeinte Darstellungen hervor. Zu nennen sind die Beschreibung des Poseidon-Hains im Kritias (117a–b) und des Weges von Knossos zur Grotte des Zeus am Anfang der Nomoi (I 625b–c). Vgl. dazu Thesleff 1967, S. 150; Erler 1989, S. 285. 50 Ebenso wenig ist aus der Szene abzuleiten, dass der Protagonist Sokrates oder der Autor Platon unaufgeschlossen oder unsensibel gegenüber der Schönheit der Natur wären. Vgl. auch Erler 1989, S. 285. 51 Vgl. Thesleff 1967, S. 152 f. Zu Beispielen erotisch assoziierter Naturbeschreibun­ gen in der griechischen Dichtung vgl. ebd., S. 153 mit Anm. 1. Görgemanns (1993, S. 133–136) warnt auf der anderen Seite davor, dass man die Naturszene am Ilissos in erotischer Hinsicht nicht symbolisch überladen dürfe. Vgl. auch oben Anm. 31.

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Sokrates, zu locken: Denn wie man hungriges Vieh mit vorgehalte­ nem Laub ködere, so könne Phaidros mit solch einer Rede-Schriftrolle Sokrates in ganz Attika herumführen (vgl. 230d–e). Das ironisch zu verstehende Vokabular, mit dem Sokrates eine fast ungeschlachte Sinnlichkeit zum Ausdruck bringt, auch die Anspielungen auf eine devote Rezeption von Reden lassen im Eingangsgespräch das Thema einer auf sinnliche Affekte zielenden Verführung vor Augen treten. Sokrates, der doch ein philosophischer Erotiker ist, gebraucht in diesen Passagen ausschließlich Wendungen, die das Erotische in seiner sinnlich-begehrlichen und -berauschenden Konnotation unter­ streichen. Mithilfe seiner ironischen Artikulationen verknüpft Sokrates rhetorische und erotische Elemente. Damit lenkt er den Blick nicht nur auf zwei Hauptthemen des Dialogs, sondern seine Anspielungen füh­ ren auch direkt auf die Rede des Lysias hin. Sokrates’ Wortspiele, die in einer Gleichzeitigkeit auf sinnliche Begehrlichkeiten und das Thema der Rhetorik abheben, sind als eine Art Vorspiel, als Verweise auf sophistische Verführungs- und Blendungsversuche, als die »Andeu­ tung falscher πειθώ«52 zu verstehen. Die Kunst des Überredens ist nicht nur für die Rhetorik, sondern auch für die Liebeswerbung elementar: Die Knabenliebe impliziert die Ambition des Überredens, die Frage der πειθώ.53 Die Allianz von Eros und Rhetorik wird sich im Blick auf die Lysias-Rede noch in einer weiteren Hinsicht zeigen: So ist davon auszugehen, dass die Thematisierung des Eros und die inhaltliche Brisanz der Knabenliebe eine Anziehung ausüben, also affizierend wirken sollen. In diesem Falle wird aber nicht nur die Rhetorik in den Dienst der Knabenliebe, sondern auch umgekehrt, das Thema der Knabenliebe in den Dienst der Rhetorik gestellt. Die Verschränkung von Eros und Rhetorik, damit zusammen­ hängend auch die Frage, wie ein junger Mann, wie eine Seele zu überzeugen und zu gewinnen sei, wird alle drei Reden im Dialog kennzeichnen. Der rhetorische Wettstreit stellt sich im Phaidros zugleich als ein ›erotischer‹ dar, wobei die Palinodie sich inhaltlich Thesleff 1967, S. 154. Als diese Andeutung kennzeichnet Thesleff die Szene am Ilissos selbst. 53 Vgl. dazu Nehamas/Woodruff 1995, S. xl, Anm. 37: »The connection between erōs and persuasion (peithō) is an old one in Greek thought: desire is compelling, like a powerful speech. It is even reported that Sappho had written that Persuasion was the daughter of Aphrodite.« Vgl. auch Erler 2007, S. 219. 52

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und rhetorisch prinzipiell von den beiden ersten Reden unterscheiden und abheben wird.54 Von Anfang an rücken Eros und Rhetorik das pädagogische Motiv in den Fokus. Bereits die einleitenden Sätze des Dialogs, wenn Phaidros berichtet, dass er lange bei Lysias gesessen und dessen Rede gehört habe, weisen auf die rhetorische Unter­ richtssituation hin. Ähnlich wie im Kontext der oben diskutierten Passage des Protagoras, in welcher die Sophisten mit Krämern, ihre unterrichteten Mathemata mit Esswaren verglichen werden (vgl. Prt. 313c–314a), verwendet Sokrates auch bezüglich des Unterrichts bei Lysias eine Nahrungsmetapher:55 Die Frage von guter oder schlechter ›Ernährung‹ entscheidet über Bildung oder Verbildung der Seele. Die pädagogische Ausrichtung des Phaidros zeigt sich aber insbesondere darin, dass die drei Reden das Verhältnis von Älterem und Jüngerem zur Diskussion und in die Dimension des Eros stellen, die ersten beiden Reden in Form der Knabenliebe, die spätere Palinodie durch die nun philosophisch geprägte, freundschaftliche Beziehung. Rhetorik, Eros und Pädagogik werfen gerade in ihrer Verbindung die Frage auf, wie in angemessener Form mit Logoi umzugehen sei. Szlezák erkennt in dieser Fragestellung nach dem »richtigen Umgang mit Logoi«56 das zentrale Thema des Phaidros. Vor dem Hintergrund, dass die Einheit des Dialogs aufgrund seiner scheinbar disparaten Zweiteilung in der Literatur immer wieder infrage gestellt und die Dialogstruktur deshalb kritisiert wurde, kann die in der Rahmenhandlung sich andeutende und mit der Rhetorik unmittelbar zusammenhängende Frage nach den »Bedingungen, die die Rezeption und Produktion von Logoi bestimmen oder bestimmen sollten«, als einheitsstiftendes Moment des Dialogs betrachtet werden.57 Welche Aspekte für diese Bedingungen und für den richtigen Umgang mit Vgl. Szlezák 1996, S. 126: »Es gilt, eine Seele zu gewinnen durch eine Rede, und zwar zu gewinnen für die Liebe. Fragt sich nur: […] für welche Art von Liebe.« 55 So fragt Sokrates, ob Lysias seine Zuhörer mit seinen Reden »bewirtet« habe (εἱστία, Phdr. 227b7). Auch wenn der Ausdruck wahrscheinlich mit dem Haus, in dem Lysias seinen Unterricht abhält, zusammenhängt, klingt mit der Essensmetaphorik Ähnliches wie im Protagoras an. Vgl. dazu Yunis 2011, Kommentar zur Textstelle 227b5–7, S. 86 f.; Görgemanns 1993, S. 133, Anm. 28; oben Kap. 4.1.2. 56 Szlezák 1996, S. 124. 57 Vgl. Szlezák 1996, S. 124–126, Zitat S. 126. Für Szlezák liegt die Betonung hierbei auf Platons Unterscheidung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, die für die Bedin­ gungen der Rezeption von Logoi ausschlaggebend sei (vgl. ebd.). Anzuerkennen sei Platons Differenzierung des aus philosophischer Perspektive schriftlichen ›Spiels‹ und des ›Ernstes‹ mündlicher Dialektik (vgl. ebd., S. 116 f. u. 122 f.). Zur Frage des richtigen 54

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Logoi konstitutiv sind, inwieweit darüber hinaus auch weitere Frage­ stellungen als Leitthemen des gesamten Dialogs betrachtet werden können, wird sich im Fortschritt der Untersuchungen erweisen. Sokrates’ Ironie signalisiert bereits im Rahmengespräch eine Kri­ tik an der zeitgenössischen Rhetorik. Das Parodieren eines rauschhaf­ ten Naturerlebnisses und die spöttischen Selbstdarstellungen eines von Reden Begeisterten sollen offensichtlich in verschiedenen Hin­ sichten vor Verführung und Verführbarkeit warnen. Augenfällig ist allerdings nicht nur der stark allusive Charakter, sondern auffallend sind auch die teilweise scharfen, von Hohn und Polemik bestimmten Töne der sokratischen Inszenierungen. Im Hinblick auf die nachfol­ gende Interpretation der ersten beiden Reden ist deshalb zu fragen, welche sophistischen Thesen Sokrates mit seinen provokativen Wen­ dungen und mit der Szene am Ilissos im Besonderen treffen will; auch, welche Konsequenzen die kritischen Distanzierungen für Platons eigene Konzeptionen haben. Abschließend bleibt anzumerken, dass sich das Eingangsge­ spräch in den bisher genannten Aspekten nicht erschöpft. Auf ihrem Spaziergang am Ilissos kommen Sokrates und Phaidros auch auf einen mit der Lokalität verbundenen Mythos zu sprechen: auf die Geschichte vom Raub der Oreithyia durch Boreas. Sokrates demons­ triert deutlich sein Desinteresse daran, diese Art von Mythen nach Art der Sophisten zu rationalisieren.58 Für solche Unternehmungen habe er keine Zeit, wisse er doch nicht einmal von sich selbst, wer oder was er sei (vgl. 229b–230a). Die von Sokrates scheinbar beiläufig erwähnte Frage nach sich selbst, die das Thema der Selbsterkenntnis aufruft, wird als zentrale Fragestellung des Dialogs in Verbindung mit der Palinodie an späterer Stelle diskutiert.59

Gebrauchs von Logoi als Hauptthema des Phaidros vgl. auch Erler 2007, S. 218 f.; auch ders. 1989, S. 280. 58 Vgl. dazu unten Anm. 150 (Kap. 5.1.4). 59 Vgl. unten Kap. 5.3.1. u. 5.3.5.

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5.1.2 Die Rede des Lysias: Eros und Rhetorik im Zeichen sophistischer Verführung und Verführbarkeit Die Rede des Lysias, die Phaidros vorträgt (vgl. Phdr. 230e–234c), ist als einzige der drei Reden schriftlich verfasst.60 Lysias’ Weitergabe und Verbreitung seines Textes und Phaidros’ Umgang damit lassen die im Dialog spätere Schriftkritik in Gestalt der Sage von Theuth und Thamus anklingen (vgl. 274c–276a):61 »Diese [sc. die Erfindung der Schrift]«, so erklärt der ägyptische Gottkönig Thamus, »wird in den Seelen der Lernenden durch Vernachlässigung der Übung ihres Gedächtnisses Vergessenheit bewirken, weil sich ihre Erinnerung durch das Vertrauen auf die Schrift von außen durch fremde Zeichen vollziehen wird, nicht im Inneren der Seele durch sich selbst.«62 Platon verwendet hier den Terminus τύπος: Die Gefahr für diejenigen, die sich an schriftlich Verfasstem orientieren und darauf vertrauen, besteht demnach darin, dass sie sich durch die Zeichen gleichsam ›prägen‹ lassen; das Geschriebene wirkt auf ihre Seelen ein, ohne dass sie es tatsächlich verstehen;63 sie werden zu »Scheinweisen« Die Frage, ob es sich bei der Rede um eine authentische Rede des historischen Lysias oder um eine Nachahmung Platons handelt, bleibt umstritten. Vgl. dazu Reginald Hackforth: Plato's Phaedrus, transl. with an introd. and commentary, repr. of the 1. ed. 1952, Cambridge u. a. 1985, S. 16–18; de Vries 1969, S. 11–14; Friedländer (1928–1930) 1975, Bd. III, S. 466, Anm. 5; Heitsch 1997, S. 77–80; Yunis 2011, S. 98. Folgt man Yunis, dann spricht vieles dafür, dass die Rede von Platon stammt. Zunächst sei es kunst- und auch effektvoller, den Sprachstil des Lysias nahezu perfekt zu imi­ tieren. Als Meister solcher Imitationen, so Yunis, habe Platon es verstanden, Reden, die scheinbar historischen Personen zuzuordnen sind, in seinen Text und in die dia­ logische Gesamtpräsentation dieser Personen einzubinden (vgl. ebd.). Auch in den vorliegenden Betrachtungen wird davon ausgegangen, dass Platon die Lysias-Rede selbst verfasst hat (anders Heitsch a. a. O.). 61 Vgl. Nightingale 1995, darin Kap. 4: ›Alien and authentic discourse‹, S. 133–171, hier 135 ff. Nightingale unterstreicht Phaidros’ Vorliebe, andere zu zitieren, was über seine wörtliche Wiedergabe der Lysias-Rede hinaus auch an vielen anderen Textstellen im Phaidros sichtbar werde (zu den Stellen vgl. ebd., S. 136). 62 τοῦτο γὰρ τῶν μαθόντων λὴθην μὲν ἐν ψυχαῖς παρέξει μνήμης ἀμελετησιᾳ, ἅτε διὰ πίστιν γραφῆς ἔξωθεν ὑπ᾿ ἀλλοτρίων τύπων, οὐκ ἔνδοθεν αὐτοὺς ὑφ᾿ αὑτῶν ἀναμιμνῃσκομένους (Phdr. 275a2–5). Vgl. auch die Übertragung von Nightingale 1995, S. 135: »[…] they will recall things by way of alien marks external to them […] and not from within, themselves by themselves« (Hervorh. im Orig.). 63 In Verbindung mit dem handwerklichen Bereich umschließt das Substantiv τύπος das duale Moment von prägender Form und Geprägtem, von Bewirkendem und Bewirktem. Vgl. Britta Strenge: Art. ›Typos,Typologie‹, in: HWPh, Bd. 10, Basel 1998, Sp. 1587–1594, hier 1587. 60

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(δοξόσοφοι, 275b2). Die Akzentuierung der Schriftlichkeit von Lysias’ Rede signalisiert von Beginn an dasjenige, was Platon am Ende des Dialogs mit der Schriftkritik zum Ausdruck bringen wird: Für einen Rezipienten wie Phaidros ist eine geschriebene Rede das falsche Pharmakon hinsichtlich der richtigen Art und Weise von Erinnerung; letztlich, so unterstreicht Griswold, behindere der Glaube an das geschriebene Wort die wahre Form von Erinnerung, nämlich die Anamnesis der Ideen.64 Die Wahl des Eros als zentrales Thema aller drei im Dialog gehaltenen Reden hängt, wie oben schon betont, mit dem Moment des Persuasiven als gemeinsames Merkmal von Eros und Rhetorik zusammen. Auch wenn sich die Verwandtschaft von Eros und Rheto­ rik in philosophischer Hinsicht unter ganz anderen Vorzeichen als im Rahmen der Lysias-Rede präsentieren wird, gilt für die Reden insgesamt, dass das Thema des Eros durch seine Nähe zur Rheto­ rik dieser eine ganz eigene Wirkkraft verleiht. Gerade in diesem Zusammenhang wohnt das ›Gewaltige‹ nicht nur der sophistischen Rhetorik, sondern auch der sokratischen Rede inne, auch wenn sich beide Perspektiven der Redekunst als disparat und inkompatibel erweisen werden.65 Darüber hinaus eignet sich das Thema des Eros als inhaltliche Vorgabe eines Redewettbewerbs zwischen Sophistik und Philosophie auch deshalb, weil es die Opponenten sehr deutlich spaltet66 und überdies Platon die Gelegenheit gibt, philosophische Fragestellungen67 und sein Verständnis von Rhetorik auf kunstvolle Weise zu verbinden bzw. seine philosophischen Anliegen in komple­ xer und zugleich ästhetischer Form zu lancieren. Vgl. Griswold 1996, S. 24. Vgl. Niehues-Pröbsting (1987, S. 160–162), der den Zusammenhang von Eros und Rhetorik im Blick auf das Symposion reflektiert. Er erinnert daran, dass Eros von Diotima als Jäger und Zauberer charakterisiert wird (vgl. Smp. 203d), wobei diese Meta­ phern, die Platon sonst für Sophisten und Rhetoren gebrauche, sowohl die sophisti­ sche Redekunst als auch, hinsichtlich ihrer Wirksamkeit, die sokratische Rede und Unterredung meinten. Besonders in der Rede des Alkibiades trete das ›Gewaltige‹ und ›Bezaubernde‹ von Sokrates’ Unterredungskunst, die wiederum in die Nähe der Erotik gerückt werde, eindringlich hervor (vgl. Smp. 215a–216c). Hinsichtlich der Macht des Wortes ist auch an die obigen Auslegungen des Charmides zu denken (vgl. oben Kap. 4.3). 66 Diesen Punkt, der allerdings auch auf andere Themen zutrifft, unterstreicht Yunis (2005, S. 108 f.). 67 »Erōs provides an entry into the heart of Plato’s philosophy« (Nehamas/Woodruff 1995, S. xl). 64 65

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Die Lysias-Rede thematisiert die Frage des Eros ausschließlich im Blick auf die Knabenliebe: Im Zentrum des Interesses steht das homoerotische Verhältnis zwischen älterem Liebhaber (ὁ ἐραστής) und jungem Geliebten (ὁ ἐρώμενος). Anders als im Falle der Enkomien auf den Gott Eros im Symposion handelt die Lysias-Rede nicht nur über die Liebe, sondern sie dient zugleich als Werberede, durch die ein junger Mann gewonnen werden soll: Der Sprecher der Rede adressiert in direkter Form einen fiktiven Jüngling.68 Die Überredungskunst findet hier ihre rhetorisch-erotische Koinzidenz: Eine solche Rede hat den Eros nicht nur zum Inhalt, sondern er ist auch ihr Zweck.69 Konventionell sind die Rollen im Kontext der Knabenliebe klar ver­ teilt: Der Ältere übernimmt den aktiven Teil, ihm obliegt es, sich um den Geliebten zu bemühen; dieser hingegen muss sich nahezu passiv umwerben lassen.70 Inhaltlich wird die Lysias-Rede von der Aussage getragen, dass Verliebtheit bzw. Liebe (ὁ ἔρως) den Menschen zum Narren seiner Sinnlichkeit und Begierde mache (vgl. Phdr. 231a–e). Repetierend wird in der Rede geschildert, dass Verliebte bzw. Liebende (οἱ ἐρῶντες) ihrem Begehren unterlägen, dass sie nicht mehr Herr ihrer selbst seien, folglich ihre Angelegenheiten vernachlässigten und des­ halb selbst zugestehen müssten, mehr krank zu sein als bei Sinnen (νοσεῖν μᾶλλον ἤ σωφρονεῖν, 231d2–3). Durch die Unvernunft, die sich ihrer bemächtigt habe, seien sie nicht mehr imstande, frei zu handeln. Die Konsequenz dieses zwanghaften Zustandes zeige sich aber darin, dass verliebte Liebhaber dem Geliebten schon nach kurzer Zeit nicht mehr freundschaftlich gesinnt seien, sondern dass sie ganz im Gegenteil zu Missgunst, Argwohn, Streit und Eifersucht neigten (vgl. 232b–233d). Ein Jüngling, so die die ganze Rede durchziehende Botschaft, solle deshalb nicht einem verliebten bzw. liebenden Mann seine Gunst erweisen, schade dieser doch nicht nur sich selbst, son­ dern vor allem auch ihm, dem Jüngling; vielmehr solle dieser einen Vgl. Phdr. 230e–231a, 231d–e, 233a–c, 234b–c. Vgl. Niehues-Pröbsting 1987, S. 163. 70 Zur Rollenverteilung von Erastes und Eromenos vgl. Marion Meyer: Der kleine Unterschied. Ideelle und materielle Aspekte der »Liebeswerbung« in der Antike, Sten­ dal 1993, S. 8; dazu auch unten Anm. 76. Zum Ausdruck kam die Rollenverteilung bereits in Diskussion des Symposion, vgl. oben Kap. 1.3.2, auch Kap. 4.2.2. Zur grie­ chischen Knabenliebe generell vgl. das immer noch einschlägige Werk von Kenneth J. Dover: Homosexualität in der griechischen Antike, aus dem Engl. von Susan Worcester, München 1983 (Greek Homosexuality, London 1978). 68

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nichtverliebten Liebhaber (μὴ ἐρῶντες) vorziehen (vgl. 232a ff.). Schenke demgemäß der angesprochene junge Mann ihm, dem Spre­ cher, Gehör, würden dem Jüngling auch zukünftig Freundschaft und Nutzen erwachsen. Er, der nichtliebende Liebhaber, lasse sich vom Eros nicht schwächen, sondern könne sich selbst beherrschen (οὐχ ὑπ᾿ ἔρωτος ἡττώμενος ἀλλ᾿ ἐμαυτοῦ κρατῶν, 233c1–2). Der junge Mann aber würde durch die Verbindung besser werden (vgl. 232e–233c). Die Dualität von Verliebtem und Nichtverliebtem prägt die gesamte Rede des Lysias: Der Verliebte ist gekennzeichnet durch krankhafte Leidenschaft, inneren Zwang, Neid und Sucht. Er ist allein auf den eigenen Vorteil aus zum nachhaltigen Schaden des Jünglings. Ganz anders der Nichtverliebte: Ihn charakterisieren nach Lysias’ Darstellung Vernünftigkeit und Tugend; er steht für langanhaltende Freundschaft und Wohlwollen gegenüber dem Jüngling. Lysias zeich­ net eine Dichotomie von Liebe versus Nichtliebe, welche zugleich der Polarität von Begierde und Beherrschung, Affekt und Besonnenheit, Zwang und Freiwilligkeit, insgesamt von nicht beherrschbarer Sinn­ lichkeit und nüchterner Rationalität entspricht. Dass sich in der Haltung des Sprechers der Rede nicht etwa die sokratische Position widerspiegelt, wonach das Trachten nach bloßer Sinnlichkeit und das Verfallensein an eine sinnliche Erotik abzuleh­ nen sind, sondern dass es sich bei der Aussage, nur der ›nichtliebende Liebhaber‹ sei als der wahre Liebhaber bzw. die ›nichtliebende Liebe‹ oder der ›nichterotische Eros‹ als deren wahre Gestalt zu bezeichnen, um »eine schroff sophistische These«71 handelt, wurde in der Literatur zumeist gesehen und war wohl auch für zeitgenössische Rezipienten evident: Die Verwendung paradoxer Behauptungen als inhaltliches rhetorisches Mittel typisiert die Rede als eine sophistische.72 Auch die Arglist des Sprechers, der durch die nachfolgende erste Rede des Sokrates als ein nur scheinbar Nichtverliebter enttarnt werden wird (vgl. 237b), dem es mithilfe der Maske des Nichtverliebten also um nichts anderes als um die Eroberung des Jünglings geht, und zwar in Manier des in der Rede gezeichneten Verliebten, soll offensichtlich nur vordergründig verborgen werden.73 Auch wenn es sich bei Lysias’ Rede um eine epideiktische Musterrede handelt, welche für diejeni­ Adorno (1958/59) 2009, S. 141. Vgl. Heitsch 1997, S. 79 f. 73 Vgl. Friedländer (1928–1930) 1975, Bd. III, S. 203 f.; de Vries 1969, S. 25 f.; auch Hermeias: in Phdr. 1,10–17 Couvreur. 71

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gen, die sich von der Rhetorik begeistern lassen, Modell stehen und die durch ihre – von Phaidros betonte – Gewitztheit (κεκόμψευται, 227c7) die Finesse einer rhetorischen Kunstrede bzw. die Kunstfertig­ keit des Rhetors selbst hervorheben soll,74 werden Sokrates’ erste Rede, die eine Auseinandersetzung mit der Lysias-Rede darstellt, aber auch die hier folgenden Betrachtungen der Lysias-Rede selbst zeigen, dass auch der Inhalt einer solchen Rede bzw. dasjenige, was als sachlicher Gehalt vermittelt wird, für Platon von Gewicht ist und dieser Gehalt einer Prüfung und Kritik unterzogen werden muss. Das Thema der Knabenliebe stellt am Ende des fünften vorchrist­ lichen Jahrhunderts – zur Zeit der Dialoghandlung – eine brisant gewordene Problemstellung dar. Bis in die klassische Zeit hinein hatte die Päderastie als eine Art pädagogisch-politische Institution gegolten, durch die junge Männer unter Führung der Älteren in das normative Gefüge und in die Regeln der Polis eingewiesen und auf ihre späteren Aufgaben vorbereitet werden sollten.75 Am Ende des fünften Jahrhunderts sind die strengen Verhaltenskodizes der Kna­ benliebe, die ursprünglich deren pädagogische Absicht, aber auch die Ehre beider Partner gewährleisten sollten, aufgeweicht; der Umgang mit dem Phänomen Knabenliebe hat sich verändert, sie untersteht nicht mehr den gleichen öffentlichen Regularien und Sanktionen.76 Zwar sind pädagogischer Zweck und Nutzen und dadurch auch die sittliche Legitimation der Knabenliebe nicht aufgehoben, aber doch mehr als zuvor infrage gestellt.77 Gerade vor diesem Hintergrund gewinnt das pädagogische Motiv in der Lysias-Rede an Aktualität und Bedeutung: Platons Kritik an der sophistisch geprägten Rhetorik stellt sich im Phaidros weniger in ihrer politischen – wie dies im Gorgias

Vgl. dazu Yunis 2011, S. 97; Nehamas/Woodruff 1995, S. xvii. Vgl. Meyer 1993, S. 9; Nehamas/Woodruff 1995, S. xvi. Heitsch (1997, Appendix II, S. 234–236) unterscheidet eine ältere, in Sparta und Kreta praktizierte Form der Knabenliebe und eine jüngere, vornehmlich in aristokratischen Kreisen gepflegte Form in Athen. 76 Meyer (1993, S. 8 f.) zufolge sollten die ehemals rigiden Verhaltensregeln vor allem verhindern, dass die Knabenliebe in die Nähe der als schändlich geltenden Kna­ benprostitution gerückt würde. Insbesondere die herkömmlich geforderte Zurückhal­ tung und Passivität des jungen Mannes sollten dieser drohenden Verwechslung ent­ gegenwirken. Zum Ende des fünften Jahrhunderts, so Meyer, wurde die Knabenliebe aus dem öffentlichen Raum in den privaten Bereich verlagert (vgl. ebd., S. 26). 77 Dies zeigte auch die Diskussion der Phaidros-Rede im Symposion (vgl. oben Kap. 4.2.2). 74 75

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der Fall ist – als in ihrer pädagogischen Dimension dar. Platon zielt im Phaidros auf die Rhetorik »als Bildungsmacht«.78 In der Rede des Lysias spiegeln sich viele konventionelle Ele­ mente des homoerotischen Verhältnisses: Dazu gehören die eindeu­ tige Rollenverteilung zwischen Älterem und Jüngerem, die idealer­ weise fortdauernde freundschaftliche Beziehung, ebenso das Idealbild eines Erastes, der seinen Verpflichtungen als Bürger treu bleibt.79 Auch das pädagogische Moment tritt deutlich hervor: Der Sprecher der Lysias-Rede verspricht, dass der Eromenos durch ihn, den Erastes, ›besser werde‹ (vgl. 233a). Das Versprechen ähnelt der aus Apologie und Protagoras bekannten Zusicherung der sophistischen Lehrer, junge Männer in der politischen Tugend zu erziehen und zu bilden. Die Knabenliebe, so betont Heitsch, trete in ihrer urbanen Form in Athen »in den Dienst des Ideals von ›Schönheit und Tüchtigkeit‹ (καλοκαγαθία)«;80 den Jüngeren zu fördern, sei nach wie vor als Erwartung an die Knabenliebe geknüpft. Blickt man aus dieser Perspektive auf Lysias’ Rede, dann vermit­ telt diese die Botschaft, dass es für eine Verteidigung der Knabenliebe in zeitgenössischem Kontext genügt, in gleichsam durchsichtiger Form den bloßen Anschein ihres sittlich-pädagogischen Nutzens zu demonstrieren. Die Maskerade des nichtverliebten Liebhabers wird nicht wirklich versteckt; vielmehr wird transparent gemacht, dass es nur um die Wahrung des Scheins eines pädagogischen Nutzens geht.81 Der Rezipient der Rede – gemeint ist hier nicht der fiktiv angespro­ chene Jüngling, sondern jeder etwaige Hörer oder Leser der Rede82 – vermag das Spiel zu erkennen, kann sich aber dennoch, wider sein 78 Hermann Gundert: Enthusiasmus und Logos bei Platon, in: Lexis. Studien zur Sprachphilosophie, Sprachgeschichte und Begriffsforschung, Bd. II (1949), S. 25–46, hier 25. 79 Vgl. Meyer 1993, S. 14 f. 80 Heitsch 1997, S. 236. 81 Denkt man an das zweite Buch der Politeia, in dem Glaukon die Meinung der Vielen so wiedergibt, dass diese zwar das eigennützige Handeln als besser als das Gerechtsein erachten, für sie aber unter Wahrung des Scheins die rechtmäßigen Regeln des Zusammenlebens dennoch eine Verbindlichkeit haben (vgl. oben Kap. 1.3.3), dann zeigt sich Lysias’ Ansatz als weitaus unverfrorener: Lysias macht keinen Hehl daraus, dass es nur um den Schein selbst geht, womit aber das trügerische Moment eine Legitimität erfährt. 82 Die beiden Ebenen gilt es auch im Blick auf die folgenden Diskussionen zu unterscheiden: Der angesprochene junge Mann soll gemäß der Logik der Rede als ero­ tische Werberede tatsächlich getäuscht werden. Hingegen gilt für die übergeordnete

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besseres Wissen, im Sinne dieses Spiels dem Schein hingeben. In die­ sem suggestiven Feld einer nur scheinbar verborgenen Doppel- oder Mehrsinnigkeit liegt für Platon eines der Hauptgefahrenpotentiale einer Rede nach Art des Lysias, auch wenn diese eine epideiktische Rede darstellt. Im Horizont des Scheins zielt Lysias aber dennoch darauf hin, den (scheinbaren) sittlich-pädagogischen Nutzen des von ihm gezeichneten homoerotischen Verhältnisses zu untermauern. Indem der nichtverliebte Erastes als Gegenfigur zu Willkür und besinnungs­ loser Leidenschaft fungiert, begegnet Lysias dem zeitgenössischen Vorbehalt bzw. der Frage, ob die Päderastie tatsächlich für beide Seiten gewinnbringend sei oder ob nicht vielmehr der junge Mann oftmals das Nachsehen habe. Ebenso bedient Lysias damit die Konvention, dass der Erastes sich nicht selbst öffentlich diskreditieren sollte.83 Während der verliebte Liebhaber demgemäß in einem schlechten Licht erscheinen muss, repräsentiert der nichtverliebte Liebhaber Bildung und politische Förderung. Lysias suggeriert eine Form der Knabenliebe, die einerseits auf althergebrachte Konventionen rekur­ riert, die sich aber andererseits als ein dem zeitgenössischen Kontext angepasstes, nüchternes und geordnetes, fast logisch begründetes Modell eines päderastischen Verhältnisses darstellt. Allerdings gera­ ten zwei Widersprüche der Rede, auch wenn man sich auf Lysias’ suggestive Ebene begibt, augenscheinlich in den Blick. Zum einen steht der Liebhaber bzw. Werbende weit mehr im Fokus als der angesprochene Jüngling selbst: In weiten Teilen der Rede werden anhand des Negativbildes des Verliebten die Vorteile des Nichtver­ liebten gepriesen; dem Jüngling bzw. dem Nutzen und Gut, die ihm zuteilwerden sollen, sind nur wenige kurze Sequenzen gewidmet. Zum anderen gibt der Sprecher der Rede vor, eine sinnliche und täuschende Verführung zu missbilligen; zugleich aber ist die Rede als solche darauf ausgerichtet, die Hörenden mit den Mitteln der rhetorischen Verführungskunst in den Bann zu ziehen.

Ebene, d. h. hinsichtlich der Funktion der Rede als eine Rede über die Liebe, dass die täuschenden und scheinhaften Momente offen dargelegt werden. 83 Der Erastes soll nach herkömmlicher Denkart als freier Bürger erkennbar bleiben. Er darf Zuneigung bezeugen, sollte sich aber nicht etwa devot gegenüber dem Jüngling zeigen. Vgl. dazu das Ende der Phaidros-Rede im Symposion (180a–b) u. Meyer 1993, S. 9 u. 14 f.

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An dieser Stelle soll erneut die sokratische Ironie aufgegriffen werden, zunächst im Hinblick auf die Frage der Verführung. Mit der Rede verführt werden soll nicht nur der fiktiv angesprochene Jüngling im Sinne der Liebeswerbung, sondern auch ein rhetorisch interes­ sierter Rezipient. Als ein solcher erscheint im Dialog aber Phaidros: In der ersten Zwischenszene (vgl. Phdr. 234c–237a), nachdem er die Lysias-Rede vorgelesen hat, zeigt er sich noch faszinierter und begeis­ terter als zuvor. Wie Phaidros seiner Begeisterung für Lysias bleibt auch Sokrates seinem anfänglichen ironischen Ton in dem Zwischen­ gespräch treu. Er begegnet Phaidros’ euphorischer Zustimmung und der Lysias-Rede selbst mit unverhohlenem Spott: Das »Mitverzückt­ sein« (συνεβάκχευσα μετὰ σοῦ, 234d5–6) der Eingangsszene noch einmal aufgreifend, gibt Sokrates sich in ironischer Manier überwäl­ tigt; er sei dem Antlitz des Phaidros, das während dessen Vortrags so zu glänzen schien, aber auch der Rede selbst völlig erlegen (vgl. 234d ff.).84 Sokrates hält Phaidros einen Spiegel vor: Ironisch lässt er die trügerische Strahlkraft, den Glanz der Lysias-Rede, zweimal reflektieren, zunächst in Phaidros’ Gesicht, dann in seiner eigenen vermeintlichen Mitverzückung.85 In Form eines gespielten Überwäl­ tigtseins ahmt Sokrates seinen verführten Gesprächspartner nach.86 Auch die frühere Naturszene am Ilissos spielt auf eine emotio­ nal wirksame Ausstrahlung von Reden an: Dieser gibt man sich bequemerweise gerne – wie eben dem weichen Graspolster und dem süßen Duft der Blüten – hin. Das mimetische Spiel des Sokrates gilt dem Moment einer emotional bezaubernden Vereinnahmung, die einer erotischen Anziehung ähnelt: So erscheint in Sokrates’ Nachahmung von Phaidros’ Begeisterung dieser gleichsam verliebt in die Redekunst des Lysias.87 Allerdings mimt Sokrates in der Naturszene nicht nur einen Verführten, sondern seine Ironie zielt auch auf die Verführungsstrategien der Rhetoren: Indem Sokrates Spöttisch lobt Sokrates die mit Akribie gedrechselten, deutlich und rund geformten Worte (ὅτι σαφῆ καὶ στρογγύλα, καὶ ἀκριβῶς ἕκαστα τῶν ὀνομάτων ἀποτετόρνευται, Phdr. 234e7–8), mit denen ihm Lysias mehrmals dasselbe zu sagen schien, wobei ihm, Sokrates, das Wesentliche, was zur Sache des Eros zu sagen wäre (τὰ δέοντα εἰρηκότος, 234e6), entgangen sein müsse. 85 Das Motiv einer sich fortpflanzenden Begeisterung lässt an den Ion denken. So auch Görgemanns 1993, S. 130. Vgl. zu der Textstelle auch Griswold 1996, S. 28 ff. 86 Die Termini Glanz und Ergriffenheit deuten aber auch auf Motive der Palinodie hin: Dort wird es das Leuchten des Schönen selbst sein, welches den wirklich Liebenden erschüttert. 87 Vgl. auch Gundert 1949, S. 26. 84

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nicht nur sein eigenes (vermeintliches) Affiziertsein, sondern auch die sinnliche Wirkung des locus amoenus selbst ironisch in Szene setzt, lenkt er den Blick darauf, dass die Redekünstler ihren Reden gerne eine solche sinnliche und emotionale Wirkkraft verleihen wollen. Auch die Reden sollen affizieren, die Hörer in ihren Bann ziehen, diese fast bis zur Selbstvergessenheit – wie es in der Apologie (vgl. 17a) hieß – beeindrucken und faszinieren. Aus dieser Perspektive gilt die Szene am Ilissos Lysias’ Ambitionen als sophistischem Rhetor: Lysias möchte vor einem rhetorisch interessierten Publikum brillieren; mit seiner Werberede wirbt er also auch für sich und seine Rede selbst; er verfolgt den Zweck, rhetorisch zu reüssieren und bei seinen Anhän­ gern Bewunderung hervorzurufen. Die sokratische Ironie erschöpft sich allerdings nicht im Vorfüh­ ren von rhetorischer Verführbarkeit und Verführung. Die Szenen von Sokrates’ gespielter Euphorie in den Rahmengesprächen gelten zugleich dem verliebten Erastes der Lysias-Rede: So wie dieser seiner krankhaften Leidenschaft ausgeliefert ist und sich wie ein Besessener verhält, so hatte sich Sokrates im Eingangsgespräch nicht nur als einen Naturenthusiasten, sondern auch als einen nach Reden Süchtigen inszeniert, als einen verliebten Liebhaber von Reden (vgl. 228b–c), der seinem Objekt der Begierde erlegen sei. Mehr noch als den in die Lysias-Rede verliebten Phaidros mimt Sokrates mit diesen Wendungen Lysias’ verliebten, getriebenen Liebhaber.88 Anders als im Falle der rhetorischen Verführungsmechanismen, die Sokrates mit seiner Ironie treffen und kritisieren will, erschließt sich der Sinn seines Vorführens des verliebten Liebhabers jedoch nicht auf den ersten Blick. Zu welchem Zweck also mimt Sokrates auch diesen? In Lysias’ Darstellung bewirkt der Eros einen ausschließlich unfreien Zustand. Ein Mensch, der in diesen Zustand gerate, unter­ liege »einem solchen Missgeschick« (τοιαύτην […] συμφοράν, 231d1) der Sucht und Zwanghaftigkeit, dass er sich daraus nicht befreien könne; dieses Unglück ereile ihn notgedrungen (vgl. 231c–d). Der Verliebte oder Liebende gleicht in Lysias’ Rede einem willenlosen Opfer; Verstand, Denkkraft und auch Erfahrung sind in diesem Zustand gleichsam deaktiviert, dem vom Eros Ergriffenen ist danach Vgl. zu Sokrates’ ironischen Verstellungen auch Griswold 1996, S. 29 f. Ein Teil der Rahmenhandlung ist durch das ironische Wechselspiel zwischen Verführer und Ver­ führtem, auch zwischen Erastes und Eromenos gekennzeichnet. Sokrates und Phaidros tauschen in dieser Hinsicht immer wieder die Rollen. Es ist ein ironisches Spiel, kein tatsächliches »erotisches tête-à-tête«, wie Görgemanns (1993, S. 142) betont. 88

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jede Fähigkeit des Urteils abhandengekommen. Ein solcher Mensch vermag freilich keine Verantwortung zu übernehmen, weder in Bezug auf sich selbst und seine Angelegenheiten noch in Bezug auf den anderen. Wie auch sonst eine Krankheit oftmals von bestimmten Pflichten und Zuständigkeiten entbindet, so ist auch der vom Eros Beherrschte – gemäß den Ausführungen von Lysias – einer Rechen­ schaftspflicht enthoben, er ist für sein Tun nicht verantwortlich zu machen. Die von Lysias so gezeichnete Seite des Menschen folgt der oben dargelegten Dichotomie von Leidenschaft und nüchterner Rationalität, von Zwang und Freiwilligkeit: Sinnlichkeit und Verstand bilden in Lysias’ Rede vollkommen disjunkte Zustände. Unter diesen Voraussetzungen kann der Mensch also in einen Zustand geraten, der sein Denken und seine Verantwortung aufhebt. Folgte man Lysias, dann gliche diese Seite des Menschen der von Sokrates illustrierten Tier-Karikatur (vgl. 230d–e). Einem solchen Bild des Eros kann Sokrates aber nur mit Hohn begegnen. Die Rolle des Verliebten als Opfer seiner Begierden konstruiert Lysias, um sie sowohl im Kontext der erotischen Werbestrategie als auch im Blick auf die Verteidigung der Knabenliebe zugleich diskre­ ditieren zu können. Der verliebte Liebhaber verkörpert alles Unbere­ chenbare, alle Unwägbarkeiten des Eros. Diesen unkalkulierbaren Teil des Eros gibt Lysias vor, in seinem Modell der Knabenliebe durch den nichtverliebten Erastes, der sich durch eine besonnene und gleichsam berechenbare Gesinnung auszeichne (vgl. 231b, 232b, 233a ff.), zu eliminieren. Beiläufig findet aber in der Rede selbst Erwähnung, dass auch der nichtverliebte Erastes, obgleich auf der Vernunft-Seite ste­ hend, eine sinnlich-körperliche Liebe mit dem Jüngling anvisiert (vgl. 232b, 233a). Vor dem Hintergrund von Lysias’ Begriff des Eros als nicht beherrschbarer, krankhafter Zustand verkörpert die ›nüchterne‹ Liebe des Nichtverliebten einen offenkundigen Widerspruch. Das Herabspielen von dessen Absichten zielt auf die schon gekennzeich­ nete Täuschung des Jünglings. Am Beispiel der Lysias-Rede attestiert Platon sophistisch orien­ tierten Rednern und Logographen, das Mittel der Täuschung und Irre­ führung nicht nur auf verschiedenen Ebenen einzusetzen, sondern es auch als legitimes Instrument zu kennzeichnen. Unabhängig davon, ob die Musterrede des Lysias konkret zum Zweck der Liebeswerbung zum Einsatz kommen soll oder ob der Redenschreiber damit nur sein

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Talent demonstrieren will:89 Die Darstellung der Blendung eines jun­ gen Mannes, durch die der Ältere den Jüngeren zu gewinnen trachtet, ist aus platonischer Sicht ausdrücklich zurückzuweisen. Denn auch dann, wenn die Rede nicht unmittelbar als Werberede verwendet wird, vermittelt sie die Akzeptanz oder mehr noch die Befürwortung eines falschen Spiels. Eine solche Haltung affirmativ darzubieten, ist für Platon gerade in pädagogischer Hinsicht unannehmbar. Darüber hinaus zeigt sich mit der Figur des nichtverliebten Liebhabers noch ein weiteres pervertiertes Moment. Zwar sind einer­ seits verliebter und nichtverliebter Erastes in gewisser Weise zu identifizieren: Sie begehren den Jüngling und ihr Zustand des Eros zeichnet sich nach Maßgabe von Lysias’ dichotomem Menschenbild durch Vernunft- und Verantwortungslosigkeit aus. Andererseits aber unterscheidet sich der Nichtverliebte von seinem Gegenbild durch seine Nüchternheit und Begeisterungslosigkeit: Der Eros als ›pure Sinnlichkeit‹, nicht nur ohne Verantwortung, sondern auch frei von Emotion und Begeisterung, erfährt in Gestalt des nichtverliebten Liebhabers eine weitere Radikalisierung.90 Mit dem Wesen des Eros hat die ›nichtverliebte Liebe‹ aus platonischer Sicht nichts mehr gemein. In diesem Zusammenhang lässt Sokrates’ Ironie eine weitere Dimension erkennen. Sokrates mimt nicht nur Lysias’ verliebten Erastes und dessen Rolle als ›Opfer‹, sondern die sokratischen Insze­ nierungen richten sich auch – und zwar gerade in ihrer polemischen Gestalt – auf den nichtverliebten Erastes: Mithilfe der gespielten Euphorie und eines Vokabulars, das ein übersteigertes Hochgefühl ausdrückt, führt Sokrates die von Lysias exponierte Nüchternheit vor. Sokrates verhöhnt Lysias’ Kompromittieren einer verliebten Begeis­ terung und gibt damit zu verstehen, dass dem Eros notwendig ein Moment der Begeisterung innewohnen muss.91 Sokrates’ Ironie zielt auf das gesamte Konstrukt von verliebtem und nichtverliebtem Lieb­ haber, auf Lysias’ gesamtes Konzept des Eros: Er ahmt den willenlosen Zustand des Verliebten nach, um zugleich die Begeisterungslosigkeit des Nichtverliebten zu verspotten. Yunis (2011, S. 3) zufolge zielt die Lysias-Rede allein auf die Beeindruckung rhe­ torischer Enthusiasten. 90 Ähnlich auch die Deutung von Gundert 1949, S. 26; vgl. auch Griswold 1996, S. 23. 91 Gemeint ist freilich nicht die Art von Begeisterung, die Lysias zeichnete, sondern letztlich jene, welche in der Palinodie als erotische Mania hervortreten wird. 89

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Sokrates’ mimetische Inszenierungen in der Rahmenhandlung fungieren als antizipierendes Echo der Lysias-Rede. Kritisiert werden vermittels der sokratischen Ironie die rhetorischen und erotischen Verführungspraktiken: Rhetorisch setzt Lysias in seiner Rede durch sprachliche Stilmittel und clevere Spitzfindigkeiten auf emotional ver­ einnahmende Effekte; die Liebeswerbung selbst zeichnet Lysias als ein auf betrügerischen Versprechungen basierendes Taktieren. Zugleich ist die erotische und rhetorische Verführungspraxis ver­ schränkt. Ebenso soll das suggestive Feld eines gleichsam mehrdeu­ tigen Scheins, der sich vor allem auf den sittlich-pädagogischen Nut­ zen der Knabenliebe bezieht und welcher der Rede tatsächlich einen sophistisch schillernden Glanz verleiht, mit Sokrates’ Ironie getroffen werden. Schließlich findet insbesondere auch Lysias’ antagonistisches Liebhaberpaar seinen Widerhall in Sokrates’ Hohn und Spott. Mit der nachfolgenden Erörterung der ersten Sokrates-Rede wird der teil­ weise scharfe Ton der sokratischen Ironie, der ihr über das Spielerische und Allusive hinaus zynische und sarkastische Züge verleiht, eine weitere und vertiefende Begründung erfahren.

5.1.3 Die erste Rede des Sokrates: Natur und Eros im Kontext einer sophistischen Anthropologie In seiner ersten Rede, der zweiten im Dialog, exponiert Sokrates ein sophistisch geprägtes anthropologisches Konzept, welches er anhand des Eros-Begriffes von Lysias herausarbeitet. Die Rede ist daraufhin ausgelegt, die sophistischen Ansätze auf deren vorausgesetztes Bild des Menschen zurückzuführen. Darüber hinaus macht Sokrates die mit der Knabenliebe eng verbundene Frage der interpersonalen Bezie­ hung explizit zum Thema. Die Frage nach Natur und Wesen des Menschen, das Erfordernis ihrer Betrachtung, wird für Platon zunächst angesichts sophistischer Thesen über den Begriff des Menschen dringlich. Das im ersten Kapitel dieser Arbeit dargelegte Konzept eines ›sophistischen Natu­ ralismus‹, wie es von Kallikles im Gorgias und Thrasymachos im ersten Buch der Politeia vertreten wird, implizierte, dass die Frage des guten Lebens und dementsprechend das menschliche Dasein darin aufgehen, Glück und Vollendung in einer größtmöglichen sinnlichen

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und materiellen Interessens- und Bedürfnisbefriedigung zu finden.92 In politischem Zusammenhang bezog sich dieses Konzept auf das Verlangen nach ungehinderter Machtausübung. Zugleich zeigte sich mit der Figur des Kallikles, dass die verschiedenen Formen von Pleo­ nexie, ob im politischen oder individuellen Bereich, aus platonischer Sicht zumeist zusammenfallen. Beide Sophisten propagierten ein auf den eigenen Vorteil ausgerichtetes Leben; die Begründungsinstanz bildete hierbei ein materialistisch geprägter Begriff der Physis, von dem ein normatives ›Recht der Natur‹ und das ›Recht des Stärkeren‹ abgeleitet wurden. Die sophistische Konzeption eines guten Lebens, wie sie durch Kallikles und Thrasymachos zum Ausdruck kam, lässt in gewisser Weise eine Grundlegung des Menschseins erkennen: Indem die Sophisten die Frage, wie man leben soll, in einem spezifischen Naturbegriff fundieren, verankern sie auch die Frage menschlichen Daseins und letztlich das Bild des Menschen in diesem Begriff. Im Gorgias und im ersten Buch der Politeia thematisiert Platon diese Grundlegung nicht explizit; dennoch klingen Aspekte eines auf natu­ ralistischen Vorgaben beruhenden anthropologischen Modells an. Weitaus deutlicher tritt eine sophistisch ausgerichtete Anthropologie im Phaidros ans Licht, deren Komponenten und auch Konsequenzen im Zentrum der folgenden Diskussionen stehen. Sokrates imitiert in seiner ersten Rede (vgl. Phdr. 237a–241d), scheinbar mit Lysias übereinstimmend, Gedanken und Inhalte von dessen Rede. Im Sinne des Redeagons soll Sokrates nicht nur dasselbe Thema wie Lysias aufgreifen, sondern es wird auch vereinbart (vgl. 236a–b), dass er dem Motiv des Lysias folgt, nämlich »dass der verliebte Liebhaber mehr als der nichtverliebte krank sei«.93 Zunächst schickt Sokrates aber der eigentlichen Werberede ein kurzes Narra­ tiv voraus: Er berichtet von dem nur vermeintlich nichtverliebten Liebhaber, der ein Schmeichler (αἱμύλος, 237b4) und nicht weniger als andere Liebhaber eines schönen Jünglings in diesen verliebt war. Seine List habe der Erastes eingesetzt, um den jungen Mann zu überreden (vgl. 237b).94 Den Auftakt von Sokrates’ Rede bildet also die Entlarvung des Nichtverliebten.95 Damit hebt Sokrates aber schon am Eingang der Rede die sophistisch-paradoxe Pointe und den damit Vgl. Grg. 482c–484c, 491e–492c; R. I 343d–344c, 348b–349b; oben Kap. 1.3.3. τὸν ἐρῶντα τοῦ μὴ ἐρῶντος μᾶλλον νοσεῖν (Phdr. 236a8–b1). 94 Vgl. dazu auch Heitsch 1997, S. 84. 95 Die Enttarnung des nichtverliebten Liebhabers bildet insgesamt den Rahmen von Sokrates’ Rede; auch am Ende der Rede kommt er darauf zurück, dass der Sprecher in 92

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verbundenen rhetorischen Effekt der Lysias-Rede auf. Dennoch hält er seine Rede gewissermaßen im Geiste des Lysias; der werbende Sprecher ist auch hier der Nichtverliebte. Zu Beginn der nun folgenden Werberede wird aber noch ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen Lysias’ und Sokrates’ Rede markiert: Sokrates resp. der Sprecher der Rede akzentuiert die Bedeutung des Anfangs der Rede, die darin liege, den Gegenstand der Rede hinreichend zu kennzeichnen. Diese anfängliche Bestimmung des Gegenstandes wird als Prinzip von Reden deklariert. Es gebe nur eine richtige ἀρχή für diejenigen, die auf gute Weise ratschlagen wollen (vgl. 237b–c): »Sie müssen wissen, worüber sie ratschlagen, oder sie werden notwendig im Ganzen fehlschlagen.«96 Den meisten bleibe aber verborgen, dass sie »das Wesen einer Sache« (τὴν οὐσιάν ἑκάστου, 237c3) nicht kennen. An den jungen Mann und an sich selbst richtet der Sprecher entsprechend die Aufforderung, die zu verhandelnde Sache zunächst aufzuklären: »Über die Liebe, was sie ist und welche Kraft sie besitzt, lass’ uns in gegenseitigem Einverständnis eine Bestimmung festsetzen, und dann auf diese blickend und uns darauf beziehend, die Untersuchung anstellen, ob die Liebe Nutzen oder Schaden mit sich bringt.«97 Dass Eros eine Art Begierde ist (ἐπιθυμία τις, 237d3), so setzt der Sprecher an, sei doch für jeden offensichtlich. Die nähere Erläuterung dieser Begierde wird im Fortgang der Rede in einen umfassende­ ren Kontext, nämlich in eine Charakterisierung der menschlichen Antriebe, eingebettet: »Wiederum müssen wir bedenken, dass es in jedem von uns zwei herrschende und führende Formen gibt, denen wir folgen, wie sie also führen: eine angeborene Begierde der Lüste und eine hinzuerworbene Meinung, die nach dem Besten strebt«.98 Diese beiden seien in uns bald in Übereinstimmung, bald aber wieder im Wirklichkeit dasjenige bezwecke, wovor er den Jüngling eindringlich warne (vgl. Phdr. 241b–d; auch 237d4–5). Vgl. dazu Yunis 2011, S. 112: »The narrative frame indicates nicely the depth of cynicism in play; and it pinpoints the problem of the speaker’s motive, a vital issue that takes center stage in the immediate aftermath (242c7–d1).« 96 εἰδέναι δεῖ περὶ οὗ ἂν ᾖ ἡ βουλή, ἢ παντὸς ἁμαρτάνειν ἀνάγκη. (Phdr. 237c1–2). 97 περὶ ἔρωτος οἷόν τ᾿ ἔστι καὶ ἣν ἔχει δύναμιν, ὁμολογίᾳ θέμενοι ὅρον, εἰς τοῦτο ἀποβλέποντες καὶ ἀναφέροντες τὴν σκέψιν ποιώμεθα εἴτε ὠφελίαν εἴτε βλάβην παρέχει (Phdr. 237c8–d3). 98 δεῖ αὖ νοῆσαι ὅτι ἡμῶν ἐν ἑκάστῳ δύο τινέ ἐστον ἰδέα ἄρχοντε καὶ ἄγοντε, οἷν ἑπόμεθα ᾗ ἄν ἄγητον, ἡ μὲν ἔμφυτος οὖσα ἐπιθυμία ἡδονῶν, ἄλλη δὲ ἐπίκτητος δόξα, ἐφιεμένη τοῦ ἀρίστου. (Phdr. 237d6–9).

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Streit; mal führe uns die Doxa zum Vernünftigen, mal ziehe uns die Begierde zur Lust und Unvernunft. Die Herrschaft der ersten Form nenne man Besonnenheit, die Herrschaft der zweiten Hybris (vgl. 237d–238a). Unter den verschiedenen Begierden – denn die Hybris sei vielnamig und vielteilig99 – werde aber »diejenige Begierde, welche ohne Verstand die nach dem Richtigen strebende Meinung beherrscht«100 und die, wenn sie zu den schönen Körpern geführt werde, an Kraft gewinne, mit dem Namen ›Eros‹ bezeichnet (vgl. 238a–c).101 Mit diesem Anfang der Sokrates-Rede, der erläuternden Bestim­ mung des behandelten Gegenstandes, zeigt sich eine gewisse Parallele zu den frühen Dialogen: Am Beispiel des Charmides war oben zu sehen, dass Sokrates nicht nur die Prämissen, die seine Gesprächs­ partner unreflektiert voraussetzen, explizit macht, sondern mit seinen Fragen auch das unzureichende Verständnis dieser Prämissen, das seine Partner mitbringen, sichtbar werden lässt, um dann auf dieser Ebene mit seinen elenktischen Fragen anzusetzen. In Entsprechung dazu bringt Sokrates auch in seiner ersten Rede im Phaidros die Voraussetzungen seines Rede-Kontrahenten zum Vorschein: Er for­ muliert zum einen eine Definition des Eros, wonach dieser als eine ausschließlich sinnliche und körperliche Begierde zu begreifen ist, die, gestärkt durch die Lust an schönen Körpern, notwendig die Macht und Herrschaft über Meinung und vernünftiges Ansinnen gewinnt.102 Zum anderen fundiert Sokrates diesen Eros-Begriff in einer dem Begriff selbst noch vorausliegenden Prämisse, nämlich in den ›zwei herrschenden und führenden Formen‹, die in jedem von uns vorzufinden seien und die demnach das menschliche Leben aus­ zeichnen: Eine der beiden Formen, die angeborene, sei die Begierde der Lüste; die andere, die hinzuerworbene, sei die nach dem Besten ὕβρις δὲ δὴ πολυώνυμον – πολυμελὲς γὰρ καὶ πολυμερές (Phdr. 238a2–3). ἡ γὰρ ἄνευ λόγου δόξης ἐπὶ τὸ ὀρθὸν ὁρμώσης κρατήσασα ἐπιθυμία (Phdr. 238b7–8). 101 Wörtlich heißt es: Wenn diese Begierde »zur Lust am Schönen und durch die ihr verwandten Begierden zur Schönheit der Körper geführt, erstarkt, die Führung übernimmt und siegt, wird sie Eros genannt« (πρὸς ἡδονὴν ἀχθεῖσα κάλλους, καὶ ὑπὸ αὖ τῶν ἑαυτῆς συγγενῶν ἐπιθυμιῶν ἐπὶ σωμάτων κάλλος ἐρρωμένως ῥωσθεῖσα νικήσασα ἀγωγῇ […] ἔρως ἐκλήθη (Phdr. 238c1–4). 102 Allerdings scheint in Sokrates’ Bestimmung auf, dass der Eros stets auf das Schöne zielt, was – unter ganz anderen Vorzeichen – auch eine Voraussetzung des philosophischen Eros ist. 99

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oder Richtigen strebende Meinung. Durch die Kenntlichmachung der Voraussetzungen stellt Sokrates Lysias’ Eros-Konzept und die antagonistische Konstruktion von Verliebtem und Nichtverliebtem in einen Begründungszusammenhang. Die oben aufgezeigte, von Lysias lancierte Dichotomie von Begierde und Vernünftigkeit, Zwang und Freiwilligkeit etc. lässt Sokrates in den zwei Formen oder Kräften gründen, die dem Menschen aus dieser Perspektive eigen sind, die ihn danach charakterisieren und bestimmen.103 Darauf aufbauend, also auf dem explizit gemachten Eros-Begriff des Lysias und der vorausliegenden Prämisse der zwei menschli­ chen Antriebe,104 lässt der Sprecher der Rede in einer Reihung von Argumenten anschaulich und drastisch die Konsequenzen folgen. Geschildert wird Schritt für Schritt, welcher Schaden und welches Ver­ derben »der von der Begierde Beherrschte und der Lust Dienende«105 dem Geliebten hinsichtlich Seele, Verstand, Wissen und Philosophie (vgl. 238e–239c) sowie in Bezug auf Körper, Besitztum und Familie (vgl. 239c–240a) zufügt.106 In allen Bereichen möchte der verliebte Liebhaber den jungen Mann nicht auf gleicher Ebene mit sich selbst sehen, noch weniger, dass dieser besser wäre, sondern schwächer und unvollkommener wünsche er diesen sich, unverständiger, unwissen­ der und schlechter im Reden (vgl. 238e–239a); auch in körperlichen und kriegerischen Belangen fördere er eher dessen Untüchtigkeit (vgl. 239c–d). Stets voller Neid schirme der Liebhaber den Geliebten von gewinnbringenden Verbindungen zu anderen ab, auch um ihn von sich selbst abhängig zu machen; vor allem aber halte er ihn fern von der Philosophie, wohl aus Furcht, dass er selbst dem jungen Mann verächtlich werde. Der von der Liebe resp. vom Eros ergriffene Mann (ἀνὴρ ἔχων ἔρωτα, 239c1–2) sei für die Seele des Jünglings ganz und gar kein heilsamer Gefährte (vgl. 239a–c). 103 Bei den beiden ›Formen‹ handelt es sich also nicht lediglich um »eine Art volks­ tümlicher Anthropologie« (Heitsch 1997, S. 85), die Sokrates hier entwickle. Vielmehr sollen Lysias’ Prämissen deutlich gemacht werden. 104 »Worüber wir im Eigentlichen ratschlagen wollen, ist nun gesagt und bestimmt, auf dieses aber blickend, lass’ uns das Übrige erörtern« (ὃ μὲν δὴ τυγχάνει ὂν περὶ οὗ βουλευτέον, εἴρηταί τε καὶ ὥρισται, βλέποντες δὲ δὴ πρὸς αὐτὸ τὰ λοιπὰ λέγωμεν, Phdr. 238d8–e1). Damit akzentuiert Sokrates, dass die Argumente, die in der Rede nun entfaltet werden, nur in Rückbezug auf die anfänglichen Bestimmungen zu verstehen sind, dass die Rede selbst also notwendig aus den gesetzten Prämissen folgt. 105 τῷ δὴ ὑπὸ ἐπιθυμίας ἀρχομένῳ δουλεύοντί τε ἡδονῇ (Phdr. 238e3). 106 Yunis (2011, S. 111) bemerkt in diesem Zusammenhang, »the picture of erōs that emerges from S.’s speech is horrific«.

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Zu all dem Schaden, so heißt es im letzten Teil der Rede, breche der verliebte Erastes am Ende sein Wort und mache sich treulos davon (vgl. 240e–241d). Sei die Verliebtheit nämlich ausgestanden, sei der ehemalige Liebhaber ein anderer geworden: Das in ihm Herrschende und Vorstehende habe sich gewendet; nicht mehr Eros und Wahnsinn, sondern Verstand und Besonnenheit führten ihn nun.107 Was er in der vorherigen Zeit des Unverstandes sagte und beschwor, sei ihm jetzt fern; seine Versprechen, die er im Blick auf die Zukunft des Jünglings machte, könne und wolle er in seinem jetzigen vernünftigen Zustand nicht mehr einlösen. Notgedrungen fliehe der Erastes. Der junge Mann aber bleibe verzweifelt zurück. In vieler Hinsicht habe er Verderbliches erfahren, das Verderblichste aber »im Hinblick auf die Bildung seiner Seele« (πρὸς τὴν τῆς ψυχῆς παίδευσιν, 241c4–5). Die Freundschaft des Erastes, so spricht der Sprecher der Sokrates-Rede den fiktiven Jüngling am Ende der Rede wieder an, bestehe nur in der Art der Speise um der Sättigung willen, »gleich wie Wölfe das Lamm, so liebten die Liebhaber den Jüngling«.108 Die paradoxe These des Lysias, dass ein Jüngling einem lieben­ den Liebhaber nicht trauen solle, wird mit dem Durchlaufen der Argumentationsschritte in der ersten Rede des Sokrates scheinbar bestätigt. Dass der junge Mann stattdessen dem nichtverliebten Lieb­ haber seine Gunst erweisen solle, führt Sokrates freilich nicht mehr aus, was Phaidros sogleich enttäuscht bemängelt (vgl. 241d). Die Verschiebung der Pointe, dass nämlich der vor dem Jüngling Fliehende der vermeintlich nichtverliebte Erastes selbst ist, ist ihm offensichtlich entgangen.109 Der junge Mann, der doch dem Nichtverliebten als einem Verständigen und ihn Fördernden sein Vertrauen schenken sollte, sieht sich gezwungen, diesem nachzusetzen, »unwillig und den Zorn der Götter auf ihn herabwünschend« (ἀγανακτῶν καὶ ἐπιθεάζων, 241b6). Er merkt, wie sehr er hintergangen wurde; allein er versteht das unredliche Spiel, das mit ihm gespielt wurde, nicht (vgl. 241b–c). Sokrates hat die Rede mit verhülltem Kopf (ἐγκαλυψάμενος, 237a4) gesprochen: Die von ihm im Geiste des Lysias gehaltene Rede ist inhaltlich nicht seine Rede. Indem Sokrates am Ende der Rede die beiden disjunkten Verfassungen des Liebhabers aufgreift, lässt er sie zugleich in ihrer Unhaltbarkeit hervortreten: Der Wechsel 107

μεταβαλὼν ἄλλον ἄρχοντα ἐν αὑτῷ καὶ προστάτην, νοῦν καὶ σωφροσύνην ἀντ᾽ ἔρωτος καὶ μανίας, ἄλλος γεγονὼς (Phdr. 241a2–4). 108 ὡς λύκοι ἄρνας ἀγαπῶσιν, ὣς παῖδα φιλοῦσιν ἐρασταί (Phdr. 241d1). 109 Vgl. oben Anm. 95.

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vom verstandeslosen in den vernünftigen Zustand impliziert, dass beide Zustände nichts miteinander zu tun haben; was der ehemalige Erastes tat und sagte, ist von seiner späteren vernünftigen Verfassung losgelöst. Sokrates spitzt mit seiner Rede die Argumentation des Lysias sowohl in ihren Voraussetzungen als auch in ihren Konsequen­ zen zu. Danach beinhaltet das dichotome Konzept des Lysias, dass der Mensch zwischen zwei Seinszuständen unvermittelt hin- und herwechselt, und zwar je nachdem, welche der beiden ›Formen‹ gerade die Herrschaft übernommen hat. Die zwei Seiten des Menschen schließen sich folglich in ihrem Sein gegenseitig aus: Der Mensch überspringt gleichsam von Zeit zu Zeit die Kluft zwischen sinnlichem und vernünftigem Dasein, wobei er den Wechsel kaum steuern kann. Denn einem der beiden Pole, dem Zustand von Sinnlichkeit und Begierde, ist der Mensch danach willenlos und ohne die Möglichkeit eines vernünftigen Eingreifens ausgeliefert; er fällt diesem Zustand anheim, wird zu dem von Sokrates spöttisch vorgeführten Opfer. Lysias’ Begriff des Eros als ein Zustand, der von Verantwortung und Rechenschaftspflicht entbindet, resultiert aus dieser dichotomen Ord­ nung. Die erste Rede des Sokrates bringt mehr noch als die Lysias-Rede selbst ans Licht, dass diese dichotome Konstruktion für Platon eine widersinnige, darüber hinaus aber auch eine in ethischer und mora­ lischer Hinsicht gefährliche Konzeption darstellt. Indem Sokrates die beiden ›in uns herrschenden Formen‹ in eine »von Natur aus innewohnende« bzw. »angeborene« (ἔμφυτος, 237d7–8) und in eine »hinzuerworbene« (ἐπίκτητος, 237d8) unterteilt, betont er in Bezug auf Lysias’ Konzept zwei weitere Voraussetzungen: Das ›Hinzuerwor­ bene‹ betrifft die vernünftige Seite in uns, d. h., dass ›die nach dem Besten strebende Meinung‹, damit aber auch Tugend und das Gute selbst, allein auf Erfahrung und Konvention beruhen, sie sind also allein konventional zu verstehen. Andererseits bringt Sokrates damit das aus der Sophistik bekannte naturalistische Argument ins Spiel: Dieses bedeutet hier, dass die ›hinzuerworbene‹ Vernunft in uns keine Chance hat, wenn die ›angeborene‹ Begierde herrscht. Die Natur als Begründungsinstanz erscheint in Lysias’ Konzept zwar in einem anderen Kontext als bei Kallikles und Thrasymachos; dennoch wird eine gewisse Parallele erkennbar: Folgt man der ersten Sokrates-Rede, dann verwendet Lysias einen sophistischen Naturbegriff, um seine Konzeption zu beglaubigen und einen verantwortungsfreien Zustand plausibel zu machen. Denn geht man davon aus, dass die ›angeborene‹

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Seite des Menschen seiner ›Natur‹, also seinem Wesen entspricht, dann lässt sich das Tun und Handeln des Erastes nicht nur begründen, sondern auch legitimieren. Lysias’ Ansatz ist folglich nicht so weit von Kallikles’ und Thrasymachos’ naturalistisch begründetem Konzept einer größtmög­ lichen sinnlichen, materiellen und machtpolitischen Interessens- und Bedürfnisbefriedigung, in welcher das eigene ›glückliche Leben‹ auf­ gehen soll, entfernt. Den beiden Sophisten diente der materialistische Naturbegriff vor allem als eine normgebende Instanz; im Phaidros wird das Natur-Argument als Lysias’ implizite Voraussetzung seines sophistisch geprägten anthropologischen Konzepts kenntlich. Aber auch diesem Konzept ist ein normatives Moment notwendig imma­ nent: Gemäß Lysias’ Bild des Menschen gleicht der Zustand von Sinnlichkeit und Begierde einem unbeeinflussbaren, naturgegebenen Seinsmodus, der nur seinen eigenen Gesetzen folgt. Das ›Gesetzge­ bende‹ dieses Zustandes zeitigt aber ein unmoralisches Handeln mit verhängnisvollen Auswirkungen. Dies wird unmissverständlich am Ende der Sokrates-Rede durch die Lage des Jünglings vor Augen geführt: Durch den ›naturgemäßen‹ Zustand des Erastes wird der junge Mann geschädigt, getäuscht, beleidigt, in Verzweiflung gestürzt und, wie Sokrates sagt, um das Kostbarste gebracht, um die Bildung seiner Seele (vgl. 240a–241d). Das im Phaidros sichtbar werdende Modell einer sophistischen Anthropologie fundiert demnach eine unmoralische, die direkte zwischenmenschliche Beziehung betref­ fende Haltung. Die Frage nach der Beschaffenheit menschlicher Beziehungen greift Platon im Phaidros in weit ausdrücklicherer Form als in anderen Dialogen auf. Während sonst die Aufmerksamkeit vor allem auf das Verhältnis von Sokrates und seinen Gesprächspartnern gelenkt wird,110 zeigt sich im Phaidros die Betrachtung in einem übergeordne­ ten Kontext: Mit den drei Reden wird das homoerotische Verhältnis zwischen Erastes und Eromenos grundsätzlich auf den Prüfstand gestellt. Noch bevor Sokrates am Ende seiner ersten Rede dem doppel­ 110 Zum Gegenstand der Diskussion wird das Verhältnis zwischen Sokrates und sei­ nen Gesprächspartnern nur selten explizit; eine Ausnahme bildet der Alkibiades-Teil im Symposion. Allerdings wird auf die spezifische Beziehung zwischen Sokrates und seinen Gesprächspartnern oftmals durch Randbemerkungen hingedeutet. Die Art und Weise der sokratischen Einlassung auf seine Partner wurde in der Arbeit schon mehrfach zum Thema.

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ten Spiel von Lysias’ nichtverliebtem Liebhaber und der damit einher­ gehenden Verzweiflung des Geliebten Ausdruck verleiht, formuliert er zunächst in allgemeinerer Form eine Kritik an der Knabenliebe (vgl. 240a–e): Dem Jüngeren müsse der ständige Umgang mit dem Älteren notwendig unangenehm und unerfreulich sein. Mit klaren Worten schildert Sokrates den Widerwillen, welcher den jungen Mann angesichts der alternden Gestalt des Liebhabers und durch die Gezwungenheit des Verhältnisses erfasse. In Berufung darauf, dass doch die Ähnlichkeit des Alters viel eher eine Freundschaft hervor­ bringe als das ungleiche Verhältnis zwischen Älterem und Jüngerem, lässt Sokrates die konventionelle Knabenliebe in einem prekären, fast unerträglichen Licht erscheinen.111 Über die dialoginterne Kritik an Lysias’ Modell hinaus ist davon auszugehen, dass mit Sokrates’ Worten eine grundsätzliche Kritik Platons an dem päderastischen Unterfangen sichtbar wird. Das Thema der Homoerotik rückt im Phaidros die Frage des Zwischenmenschlichen in besonderer Weise in den Blick. Auch lässt sich insofern von einem ›moralischen Moment‹ sprechen, als die schon kenntlich gewordene Frage nach der Übernahme von Verant­ wortung bezogen auf den Anderen deutlich zum Vorschein kommt.112 Während Sokrates mit seiner ersten Rede das mit trügerischer Absicht einhergehende Konzept der Knabenliebe des Lysias, überdies aber auch generell das auf Hierarchie und Ungleichheit beruhende konven­ tionelle Modell kritisiert, greift er in seiner zweiten Rede, der späteren Palinodie, das homoerotische Verhältnis erneut auf, stellt es aber zugleich in einen anderen Kontext, nämlich den der philosophischen Freundschaft. Vor diesem Hintergrund ist aber bereits in der ersten Denn »was schon in der Erzählung zu hören dem Ohre nicht erfreulich ist, viel weniger in der Wirklichkeit« (ἃ καὶ λόγῳ ἀκούειν οὐκ ἐπιτερπές, μὴ ὅτι δὴ ἔργῳ, Phdr. 240d8–e1). Übers. Schleiermacher (Eigler-Ausg., Bd. 5). 112 Eine Verantwortungsübernahme kommt in sokratisch-platonischem Kontext vor allem mit dem Begriff der Rechenschaftsgabe zum Ausdruck. Auch wenn unser Begriff der Verantwortung im Griechischen keine Entsprechung findet, wird bei Platon der Sache nach ein Verantwortlichsein im Blick auf den Anderen vielerorts thematisch; zu denken ist hierbei nicht zuletzt an Sokrates’ Sorge um die Seele der anderen. In gewis­ ser Hinsicht ist dieser Verantwortungsübernahme auch eine Art Verpflichtungscha­ rakter immanent. Zur Unterscheidung von ›Ethik‹ als Ausrichtung (visée) auf ein erfülltes Leben und ›Moral‹ als durch Normen bestimmte Verpflichtungen, d. h. von teleologischer ethischer und deontischer moralischer Perspektive, vgl. Paul Ricœur: Das Selbst als ein Anderer, aus dem Franz. von Jean Greisch, München 1996 (Soimême comme un autre, Paris 1990), S. 208 ff. 111

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Sokrates-Rede ein weiterer Aspekt beachtenswert: Sokrates resp. der Sprecher nimmt im Schlussteil der Rede die Position des Eromenos, die Perspektive des Jünglings ein. Dieser Standpunkt und der damit verbundene übergeordnete Blick fehlten in der Lysias-Rede ganz. Indem der Sprecher der Sokrates-Rede sich in die Lage des jungen Mannes versetzt, lässt er zugleich eine Art Ebenbürtigkeit von Jün­ gerem und Älterem anklingen; auf eine solche Reziprozität wird die freundschaftliche Beziehung in der Palinodie hinzielen. Lysias’ Konstruktion von Verliebtem und Nichtverliebtem mag im Sinne einer paradoxen Stilfigur als rhetorisches Mittel dienen. Wie aber oben schon betont, wird mit Lysias’ Rede unter dem Deckmantel einer rhetorischen Gewitztheit die Affirmation eines fragwürdigen Modells der Knabenliebe, welches implizit das egoistische Verhalten des Erastes rechtfertigt, einem Auditorium vermittelt. Sokrates’ Ironie und seine erste Rede bringen jedenfalls unmissverständlich zum Ausdruck, dass solche ›Gewitztheiten‹ auch in Verbindung mit rheto­ rischen Musterreden zu prüfen, ihre Verharmlosungen trügerischen Kalküls, ihre Thesen und Folgen zu entlarven sind. Im Falle der LysiasRede fordert aber nicht nur die Demonstration des doppelgesichtigen Liebhabers und seiner Verführungsstrategien die platonische Kritik heraus, sondern auch das zugrundeliegende anthropologische Kon­ zept. Dessen Prämissen und Inhalte sind für Platon allesamt explizit zurückzuweisen: der materialistisch ausgerichtete Naturbegriff und die damit verbundene Engführung von Begierde und Wesen des Men­ schen, die daraus abgeleitete Unlenkbarkeit und Unbeherrschbarkeit von Sinnlich- und Begehrlichkeit, ebenso die Auffassung, dass der vernünftige Anteil in uns hinzuerworben sei und die Frage des Guten folglich auf bloßer Konvention beruhe. Die dichotome Bestimmung des Menschen, der disjunkte, unvermittelte Charakter der beiden ›führenden Formen‹, ist aus platonischer Sicht genauso unhaltbar wie der daraus resultierende Begriff des Eros. Allerdings ist an dieser Stelle an Platons eigenes duales Konzept von Leib und Seele im Phaidon zu erinnern. Mit Blick auf die zwei Arten des Seienden, so erläuterte Sokrates hier, nämlich das Sterbliche und Unsterbliche, im Werden Begriffene und wahre Sein, zeige sich die menschliche Seele als der zweiten Art verwandt. Ihrer Natur nach – und damit charakterisierte Sokrates die platonisch gedachte Natur des Menschen – strebe die Seele nach dem Unsterblichen und

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Göttlichen (vgl. Phd. 78b–80e).113 Als das Naturgemäße des Men­ schen, dasjenige, was sein Wesen begründet, wird von Sokrates hier also die andere Seite, die Vernunftseite geltend gemacht. Die sinnlichsomatische Seite wird hingegen als der Teil bestimmt, der gleichsam im irdischen Leben ›hinzukommt‹. Führung und Herrschaft gebührt danach allein der Vernunftseele. Nimmt man Platons und Lysias’ Konzeptionen gemeinsam in den Blick, dann handelt es sich hierbei jedoch nicht um eine einfache Umkehrung der Zuordnungen. In Wirklichkeit sind die beiden Konzeptionen kaum vergleichbar. Indem Platon das Wesen des Menschen bzw. die menschliche Seele in ihrer Anteilhabe am Göttlichen gründen lässt, wohnt der Vernunftseele eine Potentialität inne, die in Lysias’ Konzept keine Entsprechung findet. Letztlich gibt es kein übergeordnetes Gemeinsames, das einen Vergleich zuließe: Platons und Lysias’ Konzeptionen, ihr jeweiliges Bild des Menschen, sind nahezu inkommensurabel. Auch wenn Pla­ tons eigenem Konzept des Menschen eine Dualität inhärent ist, so hat diese doch nichts mit der von Lysias gezeichneten gemein. Vielmehr wird mit Lysias’ Ansatz die Disparität beider Konzepte aufgezeigt. Dennoch verwendet Platon im Phaidros das Modell des Lysias als eine Art Negativfolie, vor deren Hintergrund er sein eigenes Konzept einer Anthropologie in der Palinodie entfalten wird. Eine maßgebliche Funktion von Sokrates’ erster Rede besteht zunächst darin, die sophis­ tische Ebene zu exponieren: Die Thesen des Lysias und die ihnen zugrundeliegenden Muster werden herausgearbeitet, präzisiert und ans Licht gehoben; in scheinbarer Übereinstimmung mit Lysias bildet Sokrates dessen Argumentation ab, um die Voraussetzungen und Konsequenzen der Thesen offenzulegen und zu kritisieren. Sokrates demaskiert nicht nur den nichtverliebten Liebhaber, sondern mehr noch die Grundlagen von Lysias’ gesamtem Ansatz. Darüber hinaus lanciert Sokrates aber auch, indem er Lysias’ dichotomes Modell analysiert und verdeutlicht, eine Notwendigkeit, die Platon in Bezug auf sein eigenes Konzept der Seele in der Palinodie geltend machen wird: Die Vorstellung disjunkter Zustände, dass sich also Sinnlichkeit und Denken, sinnliches Begehren und Verstand vollständig einander ausschließen, ist nicht haltbar und bedarf einer Lösung. Gerade Sokrates’ Pointierung des polaren Menschenbildes lässt offensichtlich werden, dass die Auffassung isolierter menschlicher Neigungen und Vermögen für eine Anthropologie nicht tragfähig ist. Damit ist aber 113

Vgl. dazu oben Kap. 3.1 u. 4.1.1.

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5.1 Die Rahmenhandlung und die ersten beiden Reden im Phaidros

die Frage nach Verhältnis und Beziehung menschlicher Begehrlich­ keiten, Strebungen und Vermögen zueinander aufgeworfen. Diese Fragestellung, in welcher Weise also die den Menschen prägenden inneren Formen oder Kräfte zusammenspielen und welche Dynamik und welches Potential diesem Zusammenspiel immanent sind, wird zu Platons eigenem Modell einer Anthropologie, zum trimeren See­ lenkonzept der Palinodie führen. Die Vermittlung zwischen Sinnlichkeit und vernunftgeleitetem Denken erwies sich auch in den vorausgehenden Kapiteln als eine für Platon elementare Frage- und Problemstellung. Vor dem Hintergrund des Liniengleichnisses und des Bildungsprogramms des Philosophen wurde in der Politeia ein Vermittlungsmoment zwischen sensibler und intelligibler Sphäre auf der Basis eines bildlichen Denkens, wie es innerhalb der Mathematik zum Ausdruck kam, offenkundig. Zeigte sich in diesem Rahmen das verbindende Element vor allem in einer erkenntnistheoretischen Hinsicht, so wurde mit dem Motiv der sokratischen Seelentherapie ein vermittelndes Moment im Kontext der verschiedenen, dem Menschen innewohnenden Strebungen selbst kenntlich: Im Phaidon bezog sich die Seelentherapie durch Logoi auf Affekte und Emotionen; im Charmides trat das therapeutische Motiv im Hinblick auf den von Platon philosophisch etablierten Begriff der Scham hervor, die sich als eine zwischen Sensiblem und Vernünftigem zu verortende Kraft erwies. In beiden Fällen wurde ein Bezugs- oder Vermittlungsmoment zwischen Leib und Seele, darüber hinaus eine Art Vorverweis auf das trimere Seelenkonzept erkennbar. Im Phaidros wird im Rahmen der Palinodie die Frage nach dem Verhältnis von Sinnlichem und Intelligiblem ganz in der Dimension des dreiteiligen Seelenkonzepts stehen, welches über eine duale Körper-Geist-Kon­ zeption explizit hinausgeht. Auch am Ende dieses Kapitels ist noch einmal auf die sokra­ tische Ironie zurückzukommen. Sokrates’ Inszenierungen in den Rahmengesprächen gelten nicht allein, so war oben festgestellt wor­ den, den sophistischen Verführungspraktiken oder der rhetorischen Verführbarkeit eines Phaidros; sie zielen vielmehr auch auf Lysias’ gesamte Darstellung und Konzeption des Eros und auf dessen Fundie­ rung. Die scharfen, teilweise sarkastischen Töne von Sokrates’ Ironie sollen offensichtlich das dichotome, sich auf einen sophistischen Natur-Begriff stützende Bild des Menschen treffen. Diese Art eines anthropologischen Konzepts gilt es für Platon unmissverständlich zurückzuweisen, zeitigt es doch nicht nur unhaltbare, sondern in

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5. Phaidros: Falsche und wahre Gestalten seelischer Bildung

moralischer und ethischer, pädagogischer und politischer Hinsicht gravierende Folgen. Jedes philosophische Ansinnen wird durch eine solche Definition des Menschen von Grund auf infrage gestellt; aus platonischer Sicht wird die Philosophie selbst, wenn Tugend und das Gute als allein ›hinzuerworbene‹ Güter deklariert werden, ad absurdum geführt. Auch legitimiert das Ausgeliefertsein an die ›ange­ borene‹ Begierde grundsätzlich ein unmoralisches Handeln, welches aber, wie im Falle des in den Reden angesprochenen jungen Mannes, zumeist fatale Konsequenzen nach sich zieht. Wenn Sokrates in der anfänglichen Szene am Ilissos einen den Reizen der Natur Anheimge­ fallenen mimt, dann darf – über die bereits dargelegten Auslegungen dieser Szene hinaus – angenommen werden, dass er auch auf die in Lysias’ Konzept vorausgesetzte ›angeborene Seite‹ des Menschen, den ›Zwang seiner Natur‹, ironisch anspielt. Aus dieser Perspektive ist die Szene als kritische Distanzierung von Lysias’ naturalistisch begründeter Bestimmung des Menschen zu verstehen.114 Die Rede des Lysias wird im Dialog zweifach reflektiert: Zum einen durch die erste Sokrates-Rede, zum anderen dadurch, dass ihre inhaltlichen Elemente und Prämissen durch Sokrates’ Ironie mimetisch gespiegelt werden. Umgekehrt wird die sokratische Ironie erst in ihrer Funktion dieser Spiegelung verständlich. Die vorliegen­ den Interpretationen erwiesen die enge sachliche Verwobenheit der ersten beiden Reden mit den Rahmengesprächen. So konnte gezeigt werden, dass sich die Vielschichtigkeit der die Reden bestimmenden Themen teilweise erst durch diese Korrelation erhellt. Im Phaidros bringt Platon die sokratische Ironie in exzeptioneller Form als ein Instrument der Kritik zum Einsatz. Die Ironie erlaubt es, verschiedene Aspekte und Problemstellungen gleichzeitig einzubeziehen und sie in kulminierter Form zum Ausdruck zu bringen. Als rhetorisches Stilmittel weist sie zudem von Beginn an auf ein Hauptthemenfeld des Dialogs hin. Auf andere Weise erkennt auch Erler (1989, S. 287 ff.) in der Szene am Ilissos bzw. in Sokrates’ ironischer Distanzierung eine Kritik an einem sophistischen Begriff der Natur. Platon wende sich gegen einen zeitgenössischen, vor allem von dem Sophisten Prodikos vertretenen Topos, gemäß dem die Natur als »Lehrmeisterin des Zusam­ menlebens der Menschen, der Zivilisation und der Religion« (ebd., S. 290) aufzufas­ sen sei. Allerdings transponiere Platon den sophistischen Ansatz: Mit dem am Ende des Phaidros gewählten Bild des säenden Landmanns (vgl. Phdr. 276b ff.), dessen Techne für die Kunst des philosophischen Dialektikers stehe, zeige Platon, auf welche Weise tatsächlich Wissen über das Zusammenleben der Menschen vermittelt werde (vgl. ebd., S. 287 f. u. 291 ff.). 114

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Nicht nur die Verschränkung von Eros und Rhetorik, sondern auch diejenige von Eros und Anthropologie bildet im Phaidros eine leitende Fragestellung. Die Beziehung und gegenseitige Verstärkung von erotischer und rhetorischer Überredungskunst zielen auf die Frage nach der Wirk- und Anziehungskraft von Reden. Platons Ver­ knüpfung von Eros und Anthropologie lässt darauf schließen, dass für ihn das Thema der Liebe und die Frage, wodurch sich der Mensch bestimmt, eng zusammenhängen. Die Verliebtheit als außergewöhn­ licher Zustand des Menschen erscheint in den ersten beiden Reden unter sophistischen, für Platon ausdrücklich zurückzuweisenden Vor­ zeichen. Die Erfahrung aber, dass Verliebtheit eine besondere seeli­ sche Verfassung darstellt, welche das alltägliche Tun und Handeln durchbricht, wird die Palinodie auf eine philosophische Ebene heben. Insgesamt sind Sokrates’ kritisch-distanzierende Zuspitzungen daraufhin ausgelegt, nicht nur ein philosophisches Eros-Konzept, son­ dern damit zusammenhängend auch die Grundlegung einer philoso­ phischen Anthropologie, ebenso eine neue Form der Rhetorik als Notwendigkeit sichtbar zu machen.

5.1.4 Die Frage nach einer kunstgemäßen Rede: Sokrates’ rhetorische Prüfung der Lysias-Rede und Lysias’ falsche Gestalt der Vernunft Nach seiner ersten Rede wird Sokrates von seinem Daimonion, »dem gewohnten Zeichen« (τὸ εἰωθὸς σημεῖον, Phdr. 242b8), daran gehindert, den Fluss zu durchqueren und den Ort zu verlassen. Er muss sich, wie er sagt, von seiner Verfehlung, der Schmähung der Liebe, die doch etwas Göttliches sei, und der Beleidigung des Gottes durch einen Widerruf, die Palinodie, reinigen (vgl. 242b–243d).115 Der Passus macht nicht nur deutlich, dass die vorherigen Reden – die erste Sokrates-Rede insofern sie die Argumentation des Lysias nachahmte – aus platonischer Sicht sachlich falsch waren, sondern er weist auch darauf hin, dass keine Rede nur um ihrer rhetorischen Kunstfertigkeit willen gesprochen werden darf.116 Diese neue Rede wolle er mit entblößtem Kopf darbieten, nicht wie zuvor aus Scham verhüllt (vgl. Phdr. 243b). 116 Vgl. auch Szlezák 1996, S. 120. 115

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5. Phaidros: Falsche und wahre Gestalten seelischer Bildung

Zu Beginn des zweiten Dialogteils des Phaidros, in dem die Redekunst dialektisch erörtert wird, lässt Sokrates in Diskussion der Frage, auf welche Weise man gut und richtig schreibe und rede (vgl. Phdr. 259e–262c), seinen Gesprächspartner wissen, dass jede Rede, ganz gleich welcher Gegenstand zur Debatte stehe und um welche Art der Rede es sich handle, letztlich immer der gleichen Kunst zu unter­ werfen sei (vgl. 261a–e).117 Diese Kunst basiere darauf, die Wahrheit über das Geäußerte zu kennen: Der Redner müsse die wahre Beschaf­ fenheit der Dinge (ἀλήθεια ἑκάστου), über die er spricht, wissen (vgl. 259e, 262a), sonst sei das Reden kunstlos.118 Davon ausgehend wird Sokrates an späterer Stelle die philosophische Redekunst charakteri­ sieren (vgl. 264e ff; 269d ff.);119 zunächst aber prüft er auf dieser Grundlage die Lysias-Rede. Unter Voraussetzung der Frage, unter welchen Bedingungen eine Rede in rhetorischer Hinsicht als kunstlos oder als kunstge­ mäß (ἄτεχνος, ἔντεχνος) zu beurteilen sei, erfolgt die Untersuchung von Lysias’ Rede (vgl. 262c–264e). Nachdem Phaidros, beauftragt von Sokrates, den Anfang der Rede erneut zweimal vorgelesen hat (vgl. 262e, 263e–264a), formuliert Sokrates seine Kritik: Lysias durchschwimme seine Rede nicht vom Anfang, sondern gleichsam rückwärts vom Ende her.120 Auch seien die Teile der Rede wahl­ los durcheinandergeworfen, eine angemessene Ordnung sei nicht erkennbar.121 Gemäß Sokrates’ Urteil fehlt der Lysias-Rede eine sinnvolle Struktur, sie ermangle der »logographischen Notwendig­ περὶ πάντα τὰ λεγόμενα μία τις τέχνη (Phdr. 261e1–2). Vgl. dazu Szlezák 1996, S. 121; Yunis 2005, S. 103 f. 118 Vgl. auch unten Anm. 130. Phaidros hingegen gibt zunächst dasjenige wieder, was er vom Hörensagen kennt, dass sich nämlich ein Redner an dem ausrichten solle, was der Menge gerecht und richtig erscheine (vgl. Phdr. 259e–260a). Im Gorgias wird betont, dass die traditionelle Rhetorik auf Meinung und Glauben (πίστις), nicht auf Wissen (ἐπιστήμη) gehe (vgl. 454a–455d). Da sie nur trügerische Schattenbilder erzeuge, wird ihr von Sokrates hier abgesprochen, eine Kunst (τέχνη) zu sein (vgl. Grg. 462b–466a). Vgl. Yunis 2011, S. 10–14; auch Erler 2007, S. 499 f. 119 Eine hinreichende oder gründliche Rede, so heißt es schon zuvor, erfordere ein hinreichendes oder gründliches Philosophieren (ἐὰν μὴ ἱκανῶς φιλοσοφήσῃ, οὐδὲ ἱκανός ποτε λέγειν ἔσται περὶ οὐδενός, Phdr. 261a4–5). 120 ἀλλ᾿ ἀπὸ τελευτῆς ἐξ ὑπτίας ἀνάπαλιν διανεῖν ἐπιχειρεῖ τὸν λόγον (Phdr. 264a5–6). Vgl. zu der Metaphorik Heitsch 1997, S. 139, Anm. 267; Yunis 2011, Kommentar zur Textstelle 264a5–7, S. 192. 121 »Meinst du nicht, dass die Teile der Rede wie hingeschüttet durcheinandergewor­ fen sind? Oder scheint dir etwa das Zweite, das gesagt wird, durch eine bestimmte Notwendigkeit an zweiter Stelle zu stehen, oder irgendein anderes der Redeteile?« (οὐ 117

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keit« (ἀνάγκην λογογραφικήν, 264b7). Diese Notwendigkeit, welche die Komposition, die Ausrichtung und auch den Zweck der Rede betrifft,122 zielt darauf – dies wird im Folgenden zu sehen sein –, dass die Qualität der formalen Seite und die Qualität des Inhalts nicht unabhängig voneinander zu betrachten sind. Während Sokrates für die Bücher der zeitgenössischen Rhetorik, die nach seiner Auffassung mit ihren Anleitungen zu schablonenhaften Gliederungen und mit ihren künstlichen rhetorischen Termini einen förmlich-leeren Sche­ matismus lehren, nur Spott und Hohn übrighat (vgl. 266d–267d),123 formuliert er seinen eigenen Anspruch an die Gestalt einer Rede mit folgenden Worten: »Aber dieses, glaube ich, wirst du doch auch sagen, dass jede Rede wie ein Lebewesen zusammengefügt sein muss, mit einem Körper, der ihr eigentümlich ist, sodass ihr weder Kopf noch Füße fehlen, sondern dass sie eine Mitte hat und Enden, welche zueinander und zum Ganzen in einem passenden Verhältnis geschrieben sind.«124 Die Gesamtkomposition einer Rede, so wird mit dem Bild des Lebewesens verdeutlicht, soll einer ›organischen Einheit‹ gleichen. Von Bedeutung ist folglich nicht nur die Anordnung oder richtige Reihenfolge der Redeteile nacheinander, sondern insbesondere auch deren angemessenes Verhältnis zueinander und zum Ganzen. Die Metapher des Organischen impliziert, dass Struktur und Gliederung einer Rede nicht als starres Gebilde aufzufassen sind, sondern dass sich die Teile dynamisch zueinander verhalten, ein bewegliches Gefüge bilden sollen: Kopf, Füße, Mitte und Enden können je nach Bedarf erheblich variieren, aber sie müssen sich als ein organisches Ganzes zeigen. Wie bei einem Lebewesen sollen einerseits alle not­ χύδην δοκεῖ βεβλῆσθαι τὰ τοῦ λόγου; ἤ φαίνεται τὸ δεύτερον εἰρημένον ἔκ τινος ἀνάγκης δεύτερον δεῖν τεθῆναι, ἤ τι ἄλλο τῶν ῥηθέντων; Phdr. 264b3–5). 122 Vgl. Yunis 2011, Kommentar zur Textstelle 264b6–8, S. 192 f.: »The ›necessity arising from the composition of the speech‹ (ἀνάγκη λογογραφική) implies that speeches which are the product of art have purpose and design, an obvious point, perhaps, but one that was not understood by the sophists (268a1–269d1)«. 123 Vgl. Heitsch 1997, S. 140. 124 Ἀλλὰ τόδε γε οἶμαί σε φάναι ἄν, δεῖν πάντα λόγον ὥσπερ ζῷον συνεστάναι σῶμά τι ἔχοντα αὐτὸν αὑτού, ὥστε μήτε ἀκέφαλον εἶναι μήτε ἄπουν, ἀλλὰ μέσα τε ἔχειν καὶ ἄκρα, πρέποντα ἀλλήλοις καὶ τῷ ὅλῳ γεγραμμένα. (Phdr. 264c2–5) Vgl. zu der Textstelle auch Grg. 505c–d; Ti. 69b u. Heitsch 1997, S. 140, Anm. 268. Im Zusammenhang dieser Textstelle fühlten sich Interpreten immer wieder dazu herausgefordert, an den Dialog Phaidros selbst die hier formulierten Kriterien anzulegen. Vgl. dazu Szlezák 1996 118 f.; Yunis 2011, S. 1 f.

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wendigen Teile, die dem Zweck desselben dienen, vorhanden sein, andererseits aber auch nur diese.125 Das Bild unterstreicht, dass ein schemenhafter Maßstab nach Vorgabe der rhetorischen Lehrbücher für eine kunstgemäße Rede unbrauchbar ist. Zugleich bildet der richtige Anfang der Rede, dies hatte Sokrates in seiner ersten Rede hervorgehoben, ihr Fundament (vgl. Phdr. 237b–d).126 Die ἀρχή der Rede soll, indem sie den infrage stehenden Gegenstand zunächst klärt und bestimmt, eine Basis schaffen, von der ausgehend sich die Argumentation der Rede entfalten und in die sie zugleich gründen kann. Der Anfang ist danach für die gesamte Rede, bis hin zu ihren ›Enden‹, maßgeblich. Fehlt diese Grundlage, findet die Rede zu keiner dynamischen und sinnhaften Ordnung: Die von Sokrates geforderte organische Struktur, das lebendige Verhältnis der Redeteile zueinander und zum Ganzen, findet dann keine Verwirk­ lichung; zudem wird dem Rezipienten der ›Kompass‹ fehlen, der ihn durch die Rede leitet. Vor diesem Hintergrund kritisiert Sokrates an Lysias’ Rede aber nicht nur, dass diese den richtigen Anfang missen lasse, sondern auch, dass Lysias durch seine unausgesprochenen Prämissen den Begriff des Eros der falschen Wortgattung zuordne (vgl. 262e–264a): Er unterstelle, dass Eros zu den unstrittigen Begrif­ fen, über deren Bedeutung allgemein Übereinstimmung herrsche, gehöre. Tatsächlich müsse Eros aber der strittigen Wortgattung (τῶν ἀμφισβητησίμων 263c7–8) zugerechnet werden, also der Art von Wörtern, deren Bedeutung wie im Falle von ›gerecht‹ oder ›gut‹ weitaus schwieriger zu bestimmen sei. Die Redekunst verlange, so Sokrates, beide Wortgattungen klar zu unterscheiden. Bezüglich der streitbaren Wortgruppe seien wir aber leichter zu täuschen, weshalb die Rhetorik in diesem Feld eine größere Wirkkraft besitze (vgl. 263b–c). Die Frage rhetorischer Täuschung (ἀπάτη) war in dem voraus­ liegenden Textabschnitt zum Gegenstand der Diskussion geworden (vgl. 259e–262c). Sokrates’ Argumentation zielt in dieser Passage auf eine Art kunstgemäße Täuschung, die der Gegenrede (ἀντιλογική), wenn sie denn eine Kunst sein soll, in Wirklichkeit zugrunde liegen müsse: Ein Redner, der vor Gericht, in öffentlich-politischen Ver­

Dies betont Yunis 2011, Kommentar zur Textstelle 264c3–6, S. 193. Die Bedeutung des Anfangs wird durch das zweimalige Vorlesen des (falschen) Anfangs der Lysias-Rede erneut unterstrichen (vgl. Phdr. 262e–264a). 125

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sammlungen127 oder anderswo einen bestimmten Sachverhalt densel­ ben Menschen einmal als recht, ein andermal wieder als unrecht erscheinen lassen möchte, müsse imstande sein, jede Sache jeder anderen innerhalb eines entsprechenden Feldes ähnlich zu machen; auch müsse er fähig sein, einen anderen Redner, der mithilfe von Ähn­ lichkeiten etwas verberge, zu entlarven (vgl. 261c–e). Der Gebrauch von Ähnlichem sei, wenn man es richtig betrachte, die Voraussetzung für die Kunst der Gegenrede. Täuschung entstehe hierbei am ehesten unter den Dingen, die sich nur wenig voneinander unterscheiden; die­ ses ausnutzend könne ein Redekünstler durch kleine Veränderungen seiner Argumente, für die anderen unvermerkt, zum Gegenteil einer bestimmten Position gelangen (vgl. 261e–262a):128 Wer andere täu­ schen, selbst aber nicht getäuscht werden will, sollte also sehr genau die Ähnlichkeit der Dinge und ihre Unähnlichkeit durchschauen.129 Daraus aber folgt in der sokratischen Argumentation das oben schon Genannte, dass nämlich ein Redner – gerade auch dann, wenn er täuschen will – die wahre Beschaffenheit der Sache, über die er spricht, wissen muss (vgl. 262a).130 Die Fähigkeit, zwei sich scheinbar glei­ chende Sachverhalte unterscheiden zu können, setzt einen fundierten Sachverstand voraus. Die skizzierte Textpassage Phdr. 259e–262c wurde in der Lite­ ratur wiederholt diskutiert.131 Die hier angestellten Untersuchungen konzentrieren sich darauf, den Abschnitt primär im Blick auf Sokrates’ Es sind die konventionellen Bereiche der Rhetorik (vgl. Phdr. 261b). Vgl. dazu Ernst Heitsch: Dient die Rhetorik nur der Täuschung?, in: ders.: Wege zu Platon. Beiträge zum Verständnis seines Argumentierens, Göttingen 1992, S. 117– 126, hier 118. 129 Δεῖ ἄρα τὸν μέλλοντα ἀπατήσειν μὲν ἄλλον, αὐτὸν δὲ μὴ ἀπατήσεσθαι, τὴν ὁμοιότητα τῶν ὄντων καὶ ἀνομοιότητα ἀκριβῶς διειδέναι. (Phdr. 262a5–7). 130 Diese Prämisse rahmt den Abschnitt Phdr. 259e–262c ein. Zu Beginn heißt es: »Ist es nun aber nicht notwendig, dass dort, wo gut und schön geredet werden soll, der Verstand des Redners die Wahrheit kennen muss, über das, über welches er reden möchte?« (Ἆρ οὖν οὐχ ὑπάρχειν δεῖ τοῖς εὖ γε καὶ καλῶς ῥηθησομένοις τὴν τοῦ λέγοντος διάνοιαν εἰδυῖαν τὸ ἀληθὲς ὧν ἂν ἐρεῖν πέρι μέλλῃ; Phdr. 259e4–6) Am Ende der Passage betont Sokrates: »Es wird folglich derjenige, lieber Freund, der die Wahrheit nicht kennt, stattdessen aber Meinungen nachjagte, eine gar lächerliche und kunstlose Kunst der Rede darbieten.« (Λόγων ἄρα τέχνην, ὦ ἑταῖρε, ὁ τὴν ἀλήθειαν μὴ εἰδώς, δόξας δὲ τεθηρευκώς, γελοίαν τινά, ὡς ἔοικε, καὶ ἄτεχνον παρέξεται. Phdr. 262c1–3). 131 Vgl. Heitsch 1992; ders. 1997, S. 126–135; James S. Murray: Disputation, Decep­ tion and Dialectic. Plato on the True Rhetoric (Phaedrus 261–266), in: Philosophy and rhetoric 21 (1988), S. 279–289; zu weiteren Literaturhinweisen vgl. ebd., S. 288, Anm. 6, 8, 18; vgl. auch Erler 2007, S. 499 f. u 502 ff.; Yunis 2011, S. 10–14. 127

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Kritik an der Lysias-Rede zu betrachten. Zunächst aber wird ange­ nommen, dass Sokrates in diesem Textabschnitt darauf zielt, einen inneren Widerspruch der zeitgenössischen Rhetorik und damit auch deren Kunstlosigkeit offenzulegen: Die herkömmliche Redekunst fasst Täuschung unter Einsatz von Ähnlichem als probates Mittel der Überredung auf (vgl. 261c ff.); zugleich aber erachten ihre Vertreter eine genaue Sachkenntnis bzw. das tatsächliche Wissen über eine Sache als nicht notwendig (vgl. 259e–260a). Da aber Täuschung gemäß dem oben Dargelegten ein angemessenes Wissen voraussetzt, beinhalten die Ambitionen der Redekünstler aus Sokrates’ Sicht eine fundamentale Unstimmigkeit.132 Die zeitgenössische Rhetorik genügt danach ihren eigenen Ansprüchen nicht. Rhetorische und sachliche Kompetenz sind für Sokrates nicht zu trennen, sonst bleibe die Redekunst kunstlos (vgl. 260e).133 Damit aber weist der Textab­ schnitt voraus auf eine wesentliche Bedingung der philosophischen Rhetorik.134 Was aber bedeutet der Textabschnitt Phdr. 259e–262c im Hin­ blick auf Sokrates’ Kritik an Lysias? Für den Rhetor Lysias stellt die Redekunst eine Methode dar, die als Mittel zum Zweck der 132 Dies gilt für Sokrates auch unabhängig von dem Einwand, dass die konventionelle Rhetorik sich als übergeordnete Methode der Vermittlung und Überredung verstehe, die einem Sachexperten nur zu Hilfe komme. Vgl. dazu ausführlich Heitsch 1997, S. 128 ff.; auch ders. 1992, S. 121. Auch dass die herkömmliche Redekunst nur auf Wahrscheinliches ziele (vgl. Phdr. 266e–267a), entkräftet für Sokrates den Wider­ spruch nicht. Vgl. dazu auch Erler 2007, S. 503. 133 Vgl. Heitsch 1997, S. 129. Zu einer kritischen Stellungnahme in Bezug auf Heitschs Verständnis einer ›Sachkompetenz‹ bei Platon vgl. Szlezák 1996, S. 123 f. 134 In anderer Weise sieht Murray (1988, S. 279 ff.) in der Passage Phdr. 261a ff. bereits wesentliche Aspekte einer neuen platonischen Rhetorik realisiert. Diese greife die Mittel der konventionellen Rhetorik auf und etabliere sie unter der Voraussetzung des dialektischen Prozesses neu. Techniken der ἀντιλογική und der ἀπάτη seien in der Platonforschung zu rehabilitieren. – Zwar trifft es zu, dass der Begriff ἀπάτη in pla­ tonischem Kontext nicht ausschließlich negativ konnotiert ist (vgl. dazu Norbert Blößner: Dialogform und Argument. Studien zu Platons ›Politeia‹, Stuttgart 1997, S. 279–284; Erler 2007, S. 504); dennoch ist hinsichtlich der betrachteten Textpassage im Phaidros kaum davon auszugehen, dass das Motiv der Täuschung hier als eine gleichsam neutrale Anwendungstechnik »without ethical implication« (Murray 1988, S. 282) aufzufassen ist. Das charakteristische sophistisch-rhetorische Vorgehen, die­ selbe Sache einmal als recht, dann wieder als unrecht erscheinen zu lassen (vgl. Phdr. 261c–d, auch 267a–b), ist aus Platons Sicht als Irreführung und Hintergehung zu bewerten (vgl. auch Heitsch 1992, S. 124). Welche Bedeutung allerdings insgesamt dem Textabschnitt für die Neubestimmung einer philosophischen Rhetorik zukommt, bleibt umstritten.

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Einflussnahme auf ein Publikum sich rhetorischer Figuren und Raffi­ nessen bedient. Das Instrument der Täuschung ist für diese Stilmittel charakteristisch; für Lysias gehört es zum handwerklichen Repertoire der Redekunst dazu. Zugleich gilt auch für ihn, dass er einem Wissen um die wahre Beschaffenheit der verhandelten Sache keine Relevanz zumisst. Allerdings beruhen Lysias’ implizite Definition des Eros und deren Voraussetzungen auch nicht auf Naivität. Zwar bewegt sich Lysias aus platonischer Sicht allein im Feld der Doxai und eines nur geglaubten Wissens, aber auch ihm dürfte kaum entgangen sein, dass Eros nicht der Gattung eindeutiger Begriffe zuzurechnen ist (vgl. 263c). Ebenso muss nicht notwendig davon ausgegangen werden, dass das seiner Rede vorausgesetzte dichotome anthropologische Muster für ihn tatsächlich plausibel ist. Der Punkt ist vielmehr der, dass Lysias sich für die Wahrheit seiner Inhalte und Gegenstände nicht interessiert; sie ist für ihn nicht von Belang. Die Prämissen, die er unausgesprochen setzt, und die gesamte inhaltliche Konstruktion seiner Rede dienen vor allem rhetorischen Zwecken. Unterstellt man Lysias die Kenntnis darüber, dass sich die Sache des Eros nicht in einer banalen Bestimmung erschöpft, dann beruht seine Täuschung in gewisser Weise auf einem ›Wissen‹. Zugleich behält aber dasjenige Gültigkeit, was Sokrates in seiner ersten Rede unterstrichen hatte: Rednern wie Lysias bleibe es verborgen, dass sie das Wesen der Sache, über die sie sprechen, nicht kennen (vgl. 237c). Der oben skiz­ zierte innere Widerspruch der zeitgenössischen Rhetorik, nämlich täuschen zu wollen, ohne die infrage stehende Sache hinreichend zu erfassen, findet in der Lysias-Rede ihren Niederschlag. Gemäß den sokratischen Kriterien vermag Lysias sein Bestreben, durch seine Redekunst zu brillieren, nicht zu erfüllen. Lysias’ Interesselosigkeit hinsichtlich seines Gegenstandes lässt seine Rede aus Sokrates’ Sicht auch in rhetorischer Hinsicht misslin­ gen (vgl. 237c). Durch das Fehlen einer angemessenen ἀρχή kann sich die Rede nicht entfalten, die sich wiederholenden Argumente wirken ›wie hingeschüttet‹,135 die Rede bildet keine dynamische Einheit. Die formale Unzulänglichkeit der Rede hängt aber mit ihrer inhaltlichen Schwäche unmittelbar zusammen: Dass Lysias die von Sokrates geforderte ›organische‹ Ordnung nicht zu realisieren vermag, beruht auf seinem sachlichen Desinteresse. Lysias reflektiert Aufbau und 135 Vgl. oben Anm. 121; zur rhetorischen Kunstlosigkeit der Lysias-Rede vgl. auch Yunis 2011, S. 97 f.

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Systematik seiner Rede nur im Blick auf äußerlich bleibende rhetori­ sche Figuren. Die Werkzeuge der Rhetorik reichen aus Platons Sicht jedoch nicht aus, um eine Rede – auch hinsichtlich des Anspruchs der konventionellen Redekunst selbst – überzeugend zu gestalten. Die sachlich-inhaltliche Seite bleibt wesentlich (vgl. auch 260d), hängt doch von ihr die ἀρχή der Rede und damit auch die Ausformung ihrer lebendig gegliederten Struktur ab: Die rhetorisch-formalen Elemente müssen mit dem Inhalt notwendig korrespondieren.136 In der sokratischen Prüfung muss die Rede des Lysias bezüglich ihrer rhetorischen Kunstmäßigkeit und ›logographischen Notwendigkeit‹ unabdingbar scheitern (vgl. 262c–264e). Vor diesem Hintergrund wird aber deutlich, dass Sokrates’ erste Rede nicht nur dazu dient, die inhaltlichen Thesen des Lysias zurück­ zuweisen. Sokrates’ Rede stellt auch die rhetorische Kunstfertigkeit von Lysias und der zeitgenössischen Redekunst insgesamt kritisch in Frage. Indem Sokrates in seiner Rede den inhaltlichen Vorgaben des Lysias folgt und sich in dieser Hinsicht auf die Ebene seines Redekontrahenten begibt, demonstriert er, wie unter den von Lysias gesetzten Bedingungen eine kunstgemäße Rede im Eigentlichen aus­ sehen muss. Der Anfang der Sokrates-Rede dokumentiert bereits ihre rhetorische Überlegenheit: Sokrates’ Grundlegung des Gegenstandes (vgl. 237c–238c) führt zu einer Systematik und Stringenz, die kenn­ zeichnend für die gesamte Rede sind; die Argumentation der Rede folgt aus ihrem Anfang (vgl. 238d–240a), die Konsequenzen ergeben sich wiederum aus den argumentativen Thesen bzw. den Vorausset­ zungen der Rede selbst (vgl. 240a–241d). Sokrates bringt Prämissen und Argumente der Lysias-Rede in eine strukturell sinnvolle Ord­ nung: Die Redeteile haben das richtige Verhältnis zueinander, die Schlussfolgerungen sind zwingend.137 Sokrates führt mit seiner Rede vor, woran es der Lysias-Rede (auch) aus einer rhetorischen Perspek­ tive mangelt; er schlägt Lysias auf seinem eigenen Terrain.138 Die Auch der Abschnitt 259e–262c verweist aus seiner spezifischen Perspektive darauf, dass die rhetorische mit der inhaltlichen Seite eng verknüpft sein muss, steht danach doch das Instrument der Täuschung auf hölzernen Füßen, wenn der Redner die infrage stehende Sache nicht hinreichend kennt. 137 Vgl. auch Yunis 2011, S. 111. 138 In der Literatur ist es oftmals dieser rhetorische Aspekt (und weniger die inhalt­ lichen Thesen), der in Bezug auf die erste Sokrates-Rede unterstrichen wird. Vgl. Nehamas/Woodruff 1995, S. xviii: »In this way, Socrates produces a counter-epideictic speech and makes an implicit claim to have beaten the orator at his own game. This, 136

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erste Sokrates-Rede antizipiert die Kritik, die an der Lysias-Rede im zweiten Dialogteil im Kontext ihrer rhetorischen Prüfung geübt wird. Insgesamt schafft die spätere sokratische Prüfung der Lysias-Rede ein enges Verbindungsmoment zwischen erstem und zweitem Dialogteil. Die erste Rede des Sokrates zielt darauf, die Scheinargumenta­ tion seines rhetorischen Gegners sowohl inhaltlich als auch formal zu demaskieren. Auch ist die Rede, obwohl Sokrates von einem für ihn selbst falschen Eros-Begriff ausgeht, der Lysias-Rede rhetorisch überlegen. Zum Ausdruck kommen soll damit offensichtlich, dass derjenige, der die Wahrheit hinsichtlich seines Gegenstandes kennt oder sich darum bemüht, auch deren Gegenteil, hier also die falsche Gestalt des Eros, in einer rhetorisch überzeugenderen Form darzustel­ len vermag als der, dem an sachlicher Wahrheit nichts liegt. Auf der Basis der Kenntnis seines Gegenstandes weiß ein Redner, was er tut.139 Zugleich legte die sokratische Rede die inhaltlichen Prämissen offen: Eine solche Aufklärung gilt es für Lysias gerade zu vermeiden. Seine binär angelegten Argumente sollen in ihrer Isoliertheit, also ohne Reflexion auf ihre Voraussetzungen, wirken. Damit tritt ein weiterer zentraler Gesichtspunkt in den Vor­ dergrund, der mit Sokrates’ wiederholter Akzentuierung, dass der argumentativ-diskursive Teil einer Rede notwendig aus dem Anfang folge, zusammenhängt. Auf den einleitenden Begriff des Eros und seine Prämissen schauend, so hatte Sokrates im Rahmen seiner ersten Rede erläutert, sei zu untersuchen, ob die Liebe Nutzen oder Schaden mit sich bringe.140 Auch an späterer Stelle unterstreicht er, dass sich »der ganze Rest der Rede« (πάντα τὸν ὕστερον λόγον, 263e1–2) in seiner Ordnung nach dem Anfang ausrichten müsse (vgl. 263d–e).141 Diese Betonung der inneren Logik und Kausalität einer Rede zielt über das bereits Dargelegte – nämlich die Relevanz naturally, is a very peculiar situation, since Lysias is one of the great orators of the time«. Vgl. auch Yunis 2005, 103 ff.; Heitsch 1997, S. 84–87. 139 Wer die Wahrheit kennt, so heißt es an späterer Stelle, könne seine Zuhörer spie­ lend mit Reden lenken (ὡς ἂν ὁ εἰδὼς τὸ ἀληθὲς προσπαίζων ἐν λόγοις παράγοι τοὺς ἀκούοντας, Phdr. 262d1–2). Sokrates spricht hier von zwei zuvor gehaltenen Reden, die als Beispiel dafür dienten. Gemeint sind die beiden Reden des Sokrates (vgl. Heitsch 1997, S. 136 mit Anm. 261; anders de Vries 1969, Kommentar zur Textstelle 262d1, S. 206). Verwendet wird nun nicht mehr das Verb ἀπατᾶν, wie zuvor in dem Abschnitt Phdr. 259e–262c, sondern παράγειν, das Yunis (2011, Kommentar zur Text­ stelle 262d1–2, S. 189 f.) mit ›sway‹ (bewegen, beeinflussen, lenken) überträgt. 140 Vgl. Phdr. 237c8–d3 (dazu oben Anm. 97) u. 238d8–e1 (dazu oben Anm. 104). 141 Vgl. dazu auch Heitsch 1997, S. 137 f. mit Anm. 263.

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des Anfangs für die Gesamtstruktur einer Rede – hinaus auf einen weiteren wesentlichen Aspekt hin: Die ausdrückliche Abhängigkeit des argumentativen Hauptteils von den anfänglichen Bestimmungen macht nicht nur offensichtlich, dass sich die Argumentation von Sokrates’ eigener Rede allein aus Lysias’ Vorgaben ableitet, sondern auch, dass die Argumente einer Rede logisch stringent und folgerich­ tig, aber dennoch der Sache nach falsch sein können, nämlich dann, wenn die Voraussetzungen unwahr sind. Insofern Sokrates in seiner ersten Rede Lysias’ Prämissen folgt und die Verliebtheit diskreditiert, illustriert er eine in sich schlüssige Argumentation, die den Gesetzen der inneren Logik der Rede gerecht wird, die aber aufgrund ihrer vorausliegenden Annahmen sachlich falsch ist.142 In diesem Kontext ist noch einmal auf das erste Zwischenge­ spräch zu schauen (vgl. Phdr. 234c–237a). Zwar steht Sokrates’ Ironie hier im Vordergrund; allerdings macht er auch eine Art Zugeständnis an die Lysias-Rede: Gehe man von Lysias’ Vorgaben bezüglich des Verliebten und Nichtverliebten aus, dann würde auch der schlechteste Schreiber in der Folge unvernünftige von vernünftigen Handlungen trennen, also erstere tadeln, letztere gutheißen (vgl. 235e–236a). Dies ergebe sich von selbst, weshalb hier nicht »die Erfindung« (τὴν εὕρεσιν, 236a3–4), sondern »die Anordnung« (τὴν διάθεσιν, 236a4) zu loben sei.143 Das Lob des Sokrates bleibt freilich ambivalent; viel­ mehr führt es auf das oben Gesagte hin: Argumente können plausibel klingen, beruhen sie aber auf unwahren Voraussetzungen, sind sie dennoch sachlich falsch. Auch wenn Lysias seine Prämissen nicht offenlegt: Der kausale Zusammenhang zwischen diesen und seiner Argumentation gilt auch für seine Rede. Die schematische Aufteilung seiner Argumente unterstützt hierbei deren scheinbare Evidenz: Dem Dialogpartner Phaidros hatten nicht nur die paradoxe Gewitztheit und verbalen Ausformungen, sondern auch die nüchtern anmutende binäre Struktur von Lysias’ Ausführungen gefallen. Phaidros lässt sich von der einfachen Argumentationsstruktur einnehmen; die unausge­ Sachlich wahr bleibt in Sokrates’ Rede freilich, dass unter der Voraussetzung der bloßen Gleichsetzung von Eros und sinnlicher Begierde der Erastes dem Jüngling nachhaltig schadet. 143 Vgl. dazu die lateinischen Begriffe der späteren Rhetorik inventio und dispositio. Nach Heitsch (1997 S. 82 f., Anm. 112) entspricht Platons Ausdruck διάθεσις aber eher der späteren elocutio. Vgl. zu dieser Textpassage auch Nightingale 1995, S. 138 f.: Lysias bediene mit der binär angelegten Anordnung »the standard topoi of the encomi­ astic genre« (ebd., S. 139). 142

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sprochene Voraussetzung eines reduzierten, banalen Eros-Begriffes hinterfragt er nicht. Indem Sokrates mit seiner ersten Rede Lysias’ Argumentationsmuster in den Kontext seiner Voraussetzungen stellt, lässt er den »leeren Scharfsinn«144 dieses Musters zutage treten: Diese Form der Unterscheidung steht der philosophisch-dialektischen Dihairese (vgl. 265c–266c) diametral entgegen.145 Die Kunstmäßigkeit einer Rede, so das bisherige Ergebnis dieses Kapitels, beruht für Platon auf der Korrespondenz von formal-rheto­ rischer und inhaltlich-sachlicher Ebene, wobei die Grundlage für die richtige Art und Weise dieser Korrespondenz das Wissen um die verhandelte Sache bildet. Nur auf dieser Basis, so machte Sokrates mit seinem Begriff der ›logographischen Notwendigkeit‹ deutlich, erwächst eine lebendige und bewegliche Rede, die sich unter phi­ losophischen Vorzeichen durch richtige Unterscheidungen, die der Sache gemäß sind, auszeichnet. Im Blick auf die Lysias-Rede werden allerdings zwei fast gegenläufige Tendenzen erkennbar. Auf der einen Seite wird die Kunstlosigkeit der Rede explizit vorgeführt: Aus dieser Perspektive besitzt Lysias’ Rede nur wenig rhetorisches Potential; ihr fehlt eine kunstgemäße Dynamis. Auf der anderen Seite gilt es für Platon aber offensichtlich, die Suggestionskraft dieser Art von Reden deutlich hervortreten zu lassen. Die Brisanz solcher Reden, so das weitere Resultat, ist neben den rhetorischen Kunstgriffen und den nicht offengelegten, inhaltlich falschen Prämissen in der von Sokrates so bezeichneten διάθεσις zu suchen. Diese erweist sich in einer Rede nach Art des Lysias zwar als sinnentleerte Anordnung; dennoch aber wirken die auf einem schlichten oppositionellen Muster beruhenden Thesen und Behauptungen durch ihre leichte Nachvollziehbarkeit verführerisch. In ihrer Undifferenziertheit erscheinen sie einem Rezi­ pienten wie Phaidros einsichtig und plausibel. Sokrates bestimmt in den hier erörterten Passagen des zweiten Dialogteils die Rhetorik als »eine Kunst der Seelenführung durch Reden« (τέχνη ψυχαγωγία τις διὰ λόγων, 261a7–8). Die Wendung bringt zum Ausdruck, dass die bereits in der Rahmenhandlung ange­ schnittene, von Szlezák betonte Frage nach dem Umgang mit Logoi,

144 Hans-Georg Gadamer: Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles (1978), in: Gesammelte Werke, Bd. 7: Griechische Philosophie III: Plato im Dialog, unveränd. Taschenbuchausg., Tübingen 1999, S. 128–227, hier 151. 145 Vgl. auch Gadamer (1978) 1999, S. 150 ff. u. unten Kap. 5.3.3.

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nach den Bedingungen ihrer Produktion und Rezeption,146 in engem Zusammenhang mit der Frage der Psychagogie zu betrachten ist. Die Aufmerksamkeit, die Platon der zeitgenössischen Rhetorik in Gestalt der Lysias-Rede und der ersten Sokrates-Rede im Phaidros schenkt, zeigt, dass er deren Anspruch der Einflussnahme auf junge Menschen und deren pädagogisch ambitionierte Praktiken in diesem Dialog explizit auf den Prüfstand stellt. Stand traditionell der Vorbildcharak­ ter der Älteren im Zentrum von Erziehung und Bildung,147 so gilt es für junge Männer nun, rhetorische Meister aufzusuchen: Die Logoi der Rhetoren und Logographen übernehmen, jedenfalls teilweise, die Vorbildfunktion der Älteren; ihre Reden und Konzepte avancieren zu idealtypischen Modellen, welche die Lernenden entsprechend abbilden sollen.148 In diesem Sinne ist Lysias nicht nur Logograph und Rhetor, sondern auch Lehrer. Einem solchen obliegt aber die Sorge darüber, was er in den Seelen seiner Schüler anrührt. Wenn Sokrates angesichts der ersten beiden Reden eine Scham vor dem Gott und eine notwendige Reinigung geltend machte, dann ist dies ein klarer Hinweis darauf, dass der Redner für seine Worte Verantwortung übernehmen muss.149 Redekunst und Seelenführung sind im Phaidros aufs Engste verbunden (vgl. 270b–272b). Die Frage, wie die Seelen vor allem junger Menschen richtig bewegt und gelenkt werden, ist in ihrer Bedeutung für Platon kaum zu überschätzen. Schließlich rückte im Hinblick auf die Wirkkraft und Attraktivität von Reden Sokrates’ Ironie auch das Moment der Begeisterung in den Vordergrund. Die sokratische Kritik machte deutlich, dass die auf sinnliche Affekte abzielende, euphorisierende Wirkung, die ein Redner wie Lysias anstrebt, nicht zuletzt auch darauf geht, die sachli­ che Haltbarkeit der vermittelten Thesen wie auch deren moralische und pädagogische Folgen aus dem Blickfeld zu drängen. Darüber Vgl. oben Kap. 5.1.1 mit Anm. 56 u. 57. Vgl. dazu Prt. 323c–328b; Men. 92d–95a u. oben Kap. 1.1.2. 148 Zum Auswendiglernen von Musterreden als Unterrichtsmethode vgl. Heitsch 1997, S. 75. Vgl. auch Michael Erler: Vom Werden zum Sein. Über den Umgang mit Gehörtem in Platons Dialogen, in: Elenor Jain, Stephan Grätzel (Hg.): Sein und Wer­ den im Lichte Platons. Festschrift für Karl Albert, Freiburg/München 2001a, S. 123– 142, hier 138. 149 Auch Szlezák (1996, S. 125) sieht in dieser Textstelle (Phdr. 242b ff.) einen Indi­ kator für die sokratisch geforderte Verantwortungsübernahme. Für Platon stelle eine Rede deshalb immer auch ein Handeln dar: »Logoi einzusetzen ist ein Handeln, ein πράττειν, nicht nur ein λέγειν« (ebd., S. 126). 146 147

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5.1 Die Rahmenhandlung und die ersten beiden Reden im Phaidros

hinaus wurde mit dem Motiv der Begeisterung sowohl auf erotischer als auch rhetorischer Ebene ein scheinbar konträres Moment im Kontext von Lysias’ Rede exponiert: Dieser suggeriert auf der einen Seite einen kalkulierbaren, begeisterungslosen Eros, um auf der anderen Seite einen verliebten Liebhaber zu zeichnen, der durch eine krankhafte Eros-Manie getrieben ist. Ebenso zielt Lysias’ binäre Argumentationsstruktur darauf hin, nüchtern und rational zu wirken, zugleich aber soll die gesamte Rede sinnlich-emotional affizieren und begeistern. Die gleiche Ambiguität spiegelt sich in der Figur des Phaidros: Dieser liebt einerseits die Wissenschaftlichkeit und Klugheit der zeitgenössischen Strömungen. Demgemäß ist er der sophistischen Rationalisierung überkommener Mythen, wie des für die Lokalität bekannten Mythos von Oreithyia und Boreas, genauso zugetan,150 wie er Lysias’ Illustration des nüchternen, nichtverliebten Liebhabers bewundert. Andererseits aber lässt sich der sokratische Gesprächspartner in den Bann der affizierenden Ausstrahlung von Lysias’ Rede ziehen. In gleichem Maße, wie ihn die erotische Dis­ tanziertheit des nichtverliebten Liebhabers fasziniert, verfällt er auf der anderen Seite, ohne innere Distanz, der emotionalen Wirkkraft von Reden. In seiner Begeisterung hat Phaidros zu dem von Lysias Gesagten keinen Abstand. Platon zeichnet das unreflektierte, sinnlich-emotionale Verfal­ lensein und die gekennzeichnete Art einer nüchternen Vernünftigkeit als die zwei Seiten einer Medaille: Die Klugheit, die Phaidros bewun­ dert – die sich in sophistischem Kontext oftmals als berechnendes Kalkül darstellt –, kann demnach jederzeit in ihr Gegenteil, in Irratio­ nalität, nichtorientierte Sinnlichkeit und Begierde umschlagen. Die Art und Weise einer ›Rationalität‹, die hier als eine sophistische sichtbar wird, ist aus philosophischer Perspektive ohne Grund und ohne Ziel. Sie gründet nicht in einer Vernunft, die nach Tugend und Gerechtigkeit strebt, ihr Ziel ist nicht das Gute; mit dem dialogischsokratischen Diskurs und der philosophischen Dialektik hat sie nichts gemein; sie entbehrt nach platonischem Verständnis deshalb jeder Vgl. Phdr. 229b–230a. Es geht darum, überlieferte Mythen in wahrscheinliche, realitätsnahe Geschichten zu transformieren. Sokrates lehnt dies explizit ab. Vgl. auch Griswold 1996, S. 24. Zur Rolle des Oreithyia-Mythos im Kontext des Dialogs vgl. auch Irmgard Männlein-Robert: Die Musenkunst des Philosophen oder Sokrates und die Zikaden in Platons Phaidros, in: Dietmar Koch, dies., Niels Weidtmann (Hg.): Platon und die Mousiké, Tübingen 2012, S. 83–103, hier 86 mit Anm. 10. 150

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Kritik- und Urteilsfähigkeit. Sophistisch lancierte, scheinbar logischargumentative Ansätze dienen danach oftmals allein als Mittel zu rhetorischen Zwecken, nicht dem Streben nach Erkenntnis im Sinne der Wahrheitsfindung. Aus Platons Sicht beruhen solche Ansätze auf Willkür. Ihren scheinbaren Gegenpol, die durch Affekte oder Begierde gelenkte Begeisterung, zeichnet Platon im Phaidros lediglich als Kehrseite: Beide Seiten werden durch die – in mehrfacher Hinsicht – doppelgesichtige Figur des Liebhaberpaares abgebildet. Die Figur selbst und Sokrates’ ironische Bezugnahme auf sie zeigen die Kom­ plexität der platonischen Kritik.151 Pointiert und analysiert werden mit den ersten beiden Reden die für Platon falschen Gestalten von Eros und Rhetorik, damit einhergehend aber auch die sophistische Art einer Rationalität als eine falsche bzw. nur scheinbare Gestalt der Vernunft. Eine von der sophistischen Ebene sich abhebende und zugleich eminente Rolle wird das Moment der Begeisterung unter philosophi­ schen Vorzeichen spielen. In dieser Hinsicht gilt es zunächst, Platons Position bezüglich der poetischen Begeisterung, in Ausblick auf den literarischen Seelenmythos auch seine Stellung in Bezug auf die Dichtung selbst zu klären.

5.2 Die Ambivalenz von Dichtung und dichterischer Begeisterung In der Palinodie wird Platon das Motiv der Begeisterung in einen direkten Zusammenhang mit dem philosophischen Eros bzw. der Phi­ losophie selbst stellen. Der Begriff ἐνθουσιασμός ist über den religiöskultischen Kontext hinaus, teilweise auch damit zusammenhängend, vor allem in der traditionellen Dichtung, in der musischen Kunst, verortet und verankert. Auf die Begeisterung der Dichter nimmt Sokrates im Phaidros explizit Bezug. Hierbei wird sich erweisen, dass die den Poeten herkömmlich zugeschriebene göttliche Ergriffenheit zunächst im Anschluss an das auf Lysias zurückgehende Verständnis eines sinnlich-affektiven Begeistertseins thematisiert wird. Im Vor­ dergrund steht in dieser Hinsicht Platons Kritik an der Dichtkunst. Sie Die hier angestellten Auslegungen bestätigen in vieler Hinsicht die Annahme, dass Platon die Lysias-Rede selbst verfasst hat (vgl. oben Anm. 60, Kap. 5.1.2).

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wird im Folgenden, auch mit einem Exkurs zu Platons Dichterkritik in der Politeia, in einem ersten Schritt erörtert. Darüber hinaus lassen die Bezugnahmen auf die poetische Begeisterung im Phaidros aber auch eine weitere Perspektive erken­ nen. In Verbindung damit, dass die dichterische μανία bzw. der dichterische ›Wahnsinn‹ göttlichen Ursprungs ist, greift Sokrates spe­ zifische Aspekte der poetischen Begeisterung in anerkennender Form auf. Diese Aspekte werden vor dem Hintergrund des Spannungsver­ hältnisses von Sokrates’ zurückweisender Haltung einerseits und seiner Anerkennung der göttlichen Mania andererseits in einem zweiten Schritt herausgearbeitet. Ziel dieses Kapitels ist es zu zeigen, dass Platon im Kontext seiner Kritik an der herkömmlichen Dichtung zugleich Orientierungspunkte für eine philosophische Dichtkunst, in gewisser Weise auch für die Frage philosophischer Begeisterung exponiert. Überdies ist es eine Besonderheit des Phaidros, dass die Frage nach einer kunstgemäßen Rede und nach deren Wirkung auf Rezipienten sowohl im Rahmen der Rhetorik als auch der Dichtung zur Diskussion steht. Zu prü­ fen gilt es in diesem Zusammenhang, ob Platon im Phaidros der konventionellen Dichtkunst eine andere Stellung zuerkennt als der sophistischen Rhetorik.

5.2.1 Platons Kritik an der poetischen Kunst Die Ilissos-Szene im Eingangsgespräch findet in gewisser Weise ihre Fortsetzung in dem kurzen Intermezzo, mit dem Sokrates seine erste Rede selbst unterbricht (vgl. Phdr. 238c–d). Ähnlich wie er zu Beginn das Sinnlich-Berauschende der Naturumgebung und sich selbst als einen durch diese Kräfte Begeisterten inszenierte, lässt er nun – wiederum in ironischer Brechung – die Nymphen und göttliche Stimmung als besondere Wirkkräfte des Ortes hervortreten:152 Offen­ sichtlich widerfahre ihm, so Sokrates, während seines Redevortrags etwas Göttliches (θεῖον πάθος, 238c6), sodass es nicht wundern möge, wenn er noch ganz von den Nymphen ergriffen und bald völlig von Sinnen sein werde (νυμφόληπτος, 238d1), denn von einem Sprechen in Dithyramben sei er nicht mehr weit entfernt. Auch am Ende seiner 152

Vgl. dazu auch Männlein-Robert 2012, S. 85 f.

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ersten Rede (vgl. 241d–e) lässt Sokrates wissen, dass er, wenn er diese Rede fortsetzte, durch die Nymphen in einen Zustand des Wahnsinns geriete (ἐνθουσιάσω, 241e5); schon jetzt spreche er nicht mehr nur dithyrambisch, sondern bereits epische Verse (ἔπη φθέγγομαι, 241e1). – Diese Passagen, die Sokrates’ erste Rede begleiten, knüpfen zwar an die anfängliche Naturszene an,153 führen aber zugleich auf eine neue Ebene: Sokrates’ Inszenierung seines durch den »göttlichen Ort« (θεῖος […] ὁ τόπος, 238c9–d1) bewirkten Enthusiasmus zielt auf das Thema der Dichtung.154 Schon vor seiner ersten Rede hatte Sokrates die Dichtung ins Spiel gebracht. In Replik auf Lysias’ Rede hatte er sich auf weise Frauen und Männer aus alter Zeit berufen und in Erwähnung von Sappho und Anakreon ausgeführt, dass er selbst durch das Hörensagen anderes und sicher nicht Schlechteres als Lysias über Eros zu sagen wisse (vgl. 235b–d). Da er sich aber seiner eigenen Unwissenheit bewusst sei (συνειδὼς ἐμαυτῷ ἀμαθίαν, 235c7–8), müsse er doch wohl »aus fremden Strömen durch das Hören wie ein Gefäß angefüllt worden sein«.155 Auch indem Sokrates seine Rede mit einem Anruf der Musen eröffnet, auf deren feinen, hellstimmigen Gesang er verweist,156 stellt er sich selbst in den Zusammenhang dichterischer Begeisterung (vgl. 237a). Sokrates’ Rekurse auf das Empfangen alter Weisheiten und auf eine scheinbar unmittelbare Inspiration durch die Musen gehören genauso in das Feld der Dichtung wie seine Anspielungen auf die göttliche Atmosphäre des Ortes und seine gemimte ›Nympholepsie‹. Seine erste Rede, welche den Eros diskreditiert und verunglimpft, rahmt Sokrates also mit verschiedenen Verweisen auf die Dicht­ kunst ein.

In dieser Szene hatte Sokrates schon betont, dass der Ort einigen Nymphen und Acheloos geweiht sei (vgl. Phdr. 230b–c); ebenso ist der in der Mittagshitze wirkende Pan präsent (vgl. 263d, 279b–c). 154 Vgl. auch Männlein-Robert 2012, S. 93 f.; Hellmut Flashar: Der Dialog Ion als Zeugnis platonischer Philosophie, Berlin 1958, S. 125. 155 ἐξ ἀλλοτρίων ποθὲν ναμάτων διὰ τῆς ἀκοῆς πεπληρῶσθαί με δίκην ἀγγείου (Phdr. 235c8–d1). 156 Vgl. Männlein-Robert (2012, S. 93 f.), die eine Verbindung zur hohen Tonlage des Zikadengesangs bzw. zu dem im Dialog späteren Zikadenmythos herstellt: Indem Sokrates betone, dass die Musen λίγειαι singen, »d.h. mit klarer, feiner, hoher Stimme« (ebd., S. 94), verweise er auf eine Mousiké, die auf schönen Klang im Sinne einer äußerlichen Form ziele (vgl. auch ebd., S. 91 f.). 153

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Das Motiv eines ›Angefülltseins aus fremden Strömen‹ lässt die im Dialog allgegenwärtige Thematik des Hörens aufleuchten:157 Sokrates und Phaidros hatten sich im Rahmengespräch mehrfach auf das Hören von Reden bezogen (vgl. 227b–228b); überdies lässt Phaidros auch im zweiten Dialogteil vielfach wissen, was er von anderen gehört habe.158 Die Akzentuierung des Hörens und Hören­ sagens lenkt die Aufmerksamkeit auf die Frage, wie mit Gehörtem umzugehen ist.159 Dass Phaidros nur repetiert, was er gehört hat, entspricht dem gesamten Charakterbild, das Platon von ihm zeichnet. Wenn aber Sokrates sich so gibt, als würde auch er nur wiederho­ len, was er vom Hörensagen kenne, dass er also die vernommenen Inhalte wie in einem Gefäß in sich trage und durch das Sprechen nur veräußere, dann zeigt sich darin wiederum die Art von Ironie, mit der Sokrates seinen Gesprächspartner, aber auch die Redner und alle diejenigen vorführt, die unreflektiert und unverstanden Gehörtes übernehmen und vortragen. Was im Kontext dieser Arbeit bereits hinsichtlich anderer Dialogzusammenhänge zu beobachten war, tritt auch hier zutage: Die Vorstellung eines in gleichsam gegenständli­ cher Gestalt verfüg- und übertragbaren Wissens wird von Sokrates zurückgewiesen.160 Vor diesem Hintergrund erkennt Nightingale im Phaidros eine Verbindung von Platons kritischer Haltung gegenüber Geschriebenem und seinen Vorbehalten gegenüber Gehörtem; in beiden Fällen richte sich seine Kritik darauf, dass ein fremder, von außen kommender Diskurs (alien discourse) die Seele gleichsam zu besetzen vermag: »having established itself in a person’s psyche, it precludes internal and autonomous thought and speech.«161 Nicht nur geschriebene, sondern auch gehörte Logoi verführen aus Platons Sicht dazu, sie unreflektiert zu internalisieren. Auch 157 Dass das Hören im Phaidros eine besondere Rolle spielt, unterstreicht Nightingale 1995, S. 135 ff. 158 Vgl. oben Anm. 61 (Kap. 5.1.2) u. Anm. 118 (Kap. 5.1.4). 159 Vgl. Erler (2001a), der diese Fragestellung anhand von Textbeispielen aus dem platonischen Œuvre eingehend und differenziert diskutiert. Vgl. dazu auch schon oben Kap. 4.3.4. 160 Vgl. auch Erler 2001a, S. 138 f. mit Anm. 51. 161 Nightingale 1995, S. 135. Nightingale verweist darauf, dass auch innerhalb der Geschichte von Theut und Thamus die Verschränkung von Geschriebenem und Gehörtem greifbar werde (vgl. ebd., S. 137; dazu Phdr. 274c–275b): Diejenigen, die der Schrift vertrauten, so lässt Platon den König Thamus sagen, hätten vieles gehört (πολυήκοοι, 275a7) und glaubten deshalb auch vieles zu wissen (πολυγνώμονες, 275a7–b1).

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unterstützen klug und richtig klingende Worte, die man in entspre­ chenden Situationen zum Ausdruck bringen kann, den Dünkel, wis­ send zu sein, ohne den eigentlichen Inhalt in seinen Grundlagen tat­ sächlich zu verstehen. Das Problem liegt nicht in erster Linie bei den rezipierten Logoi oder deren Quellen, sondern bei den Rezipienten selbst.162 Im Zusammenhang der hier betrachteten Passage artikuliert Sokrates ironisch in Bezug auf sich selbst, dass er aus Schwerfälligkeit (νώθεια) schon wieder vergessen habe, wie und von wem er die Dinge über Eros gehört habe (vgl. 235d2–3). Die Verweise sind offen­ kundig: Nicht nur Dünkel, sondern auch Trägheit begünstigt einen unreflektierten Umgang mit Gehörtem und Geschriebenem. Wenn Sokrates überdies sein ›Wissen um sein Nichtwissen‹ anführt, dann ist dieser Hinweis auch hier nicht allein als das typische sokratische Understatement aufzufassen, sondern vorrangig als die an Delphi anknüpfende Warnung vor Wissenshybris.163 Wodurch eine richtige Haltung gegenüber Gehörtem charakte­ risiert ist, lässt Sokrates vielerorts erkennen: Seine Berufungen auf die Weisheit der Alten und auf traditionelle Lehren sind häufig ernst gemeint; nicht eine prinzipielle Skepsis prägt Sokrates’ Rekurs auf Überliefertes, sondern ein prüfender Gestus, der auf eine Begrün­ dung der alten Logoi im Hinblick auf ihren wahren Gehalt zielt.164 Auch im Phaidros wird sichtbar, dass Sokrates die alten Quellen selbst durchaus achtet und anerkennt (vgl. 235c). Durch seine Art und Weise der Bezugnahme kommt hier allerdings vorrangig die Kritik an einer bestimmten Art von Rezeption in den Blick: Die ironisch zu verstehende Metaphorik des ›Angefülltseins aus fremden Strömen‹ soll offensichtlich auf einen problematischen Umgang mit Gehörtem im Kontext der poetischen Kunst hindeuten. Das Bild des Einfließens oder Einströmens evoziert hierbei die Vorstellung, dass dem Dichter altes Wissen oder Wahrheit auf unmittelbare Weise zukommt, er diese in ebenso unvermittelter Form aufnimmt und durch seine Dichtkunst wieder nach außen transferiert: Was also in die Seele des Dichters eingedrungen ist, wird durch seine Dichtung in Vgl. dazu Erler 2001a, S. 129 ff.; auch ders.: Legitimation und Projektion. Die »Weisheit der Alten« im Platonismus der Spätantike, in: Dieter Kuhn, Helga Stahl (Hg.): Die Gegenwart des Altertums. Formen und Funktionen des Altertumsbezugs in den Hochkulturen der Alten Welt, Heidelberg 2001b, S. 313–326, hier 317–320. Vgl. auch unten Anm. 206. 163 Vgl. auch Griswold 1996, S. 53 f. 164 Dies zeigt Erler 2001a, S. 131 ff. 162

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eine veräußerliche Gestalt gebracht. Sokrates spielt offenbar auf ein Verständnis der Poetik an, demzufolge altes Wissen durch Eingebung und göttliche Ergriffenheit (ἐνθουσιασμός) unmittelbar verstanden bzw. die Kunst des Dichters durch einen tiefgründigen Zugang zur Wahrheit inspiriert wird. Dichterische Inspiration wird demgemäß mit Ekstase assoziiert; der Zustand göttlicher Begeisterung befähigt den Dichter dann erst, in Versen zu sprechen.165 Die oben skizzierte sokratische Inszenierung eines Ergriffenseins von den Nymphen und eines Außersichseins durch die göttliche Wirkkraft des Ortes zielt offenkundig auf ein bestimmtes Verständnis poetischer Euphorie, auf das Konzept eines ›dichterischen Wahn­ sinns‹.166 Vor diesem Hintergrund stellt Sokrates’ gespielte ›Nympho­ lepsie‹ gleichsam die Fortsetzung seines ironischen Rekurses auf das ›Angefülltsein‹ durch alte Weisheiten dar. Die spöttische Akzentuie­ rung seiner Nähe zu Dithyramben macht zugleich deutlich, dass seine Ironie resp. Kritik auf die dionysisch-rauschhafte Form dichterischer Ekstase zielt: Sokrates lässt hier den Zustand poetischer Begeisterung als selbstvergessenen Rausch, als ein Außersich- und zugleich Verfal­ lensein in Erscheinung treten. Ähnlich wie seine gespielte Naturbe­ geisterung im Eingangsgespräch charakterisiert Sokrates auch seinen ›nympholeptischen Enthusiasmus‹ als das Erfasstwerden von einer Wirkmacht, der man scheinbar willenlos als Opfer ausgeliefert ist.167 Das ironische Zwischenspiel der ›Nympholepsie‹ ist innerhalb der ersten Sokrates-Rede wohlplatziert (vgl. Phdr. 238c–d): Es folgt dem ersten Teil der Rede, dem oben dargestellten Anfang, mit wel­ chem Sokrates die Prämissen der Lysias-Rede, nämlich das sophis­ tisch geprägte dichotome anthropologische Konzept und den darauf

165 Vgl. Boris Kositzke: Art. ›Enthusiasmus‹, in: Historisches Wörterbuch der Rhe­ torik, Bd. 2, hg. von Gert Ueding, Tübingen 1994, Sp. 1185–1197, hier 1185; vgl. auch Erler 2007, S. 492; Gundert 1949, S. 27 ff. Die in der Forschungsliteratur kontrovers diskutierte Frage von poetischer Inspiration und Ekstase und Platons Blick auf die Gottbegeisterung der Dichter sollen hier nur in Bezug auf den Phaidros und in Vor­ bereitung der Frage nach einem philosophischen Enthusiasmus aufgegriffen bzw. erörtert werden. Einen Forschungsüberblick hinsichtlich Platons Haltung zum Enthu­ siasmus der Dichter und eine Listung platonischer Textstellen gibt Stefan Büttner: Die Literaturtheorie bei Platon und ihre anthropologische Begründung, Tübingen 2000, S. 256–273 u. 316–323; zu der Thematik insgesamt vgl. auch Flashar 1958. 166 Vgl. auch Görgemanns (1993, S. 130), der die Szene allerdings nicht ironisch, sondern als echte »unheimliche Empfindung« (ebd.) des Sokrates deutet. 167 Ähnlich die Auslegung von Männlein-Robert 2012, S. 94.

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basierenden Eros-Begriff, expliziert.168 Dieser formal richtige, aber sachlich falsche Anfang bildete die Grundlage für den argumentativen Hauptteil der Rede (vgl. 238d ff.). Sokrates kommentiert also das auf Lysias zurückgehende inhaltliche Fundament seiner Rede mit einer weiteren ironischen Sequenz: Er gibt vor, dass die Ursache seiner Logoi in der göttlichen Atmosphäre und seiner dadurch evozierten poetischen Ekstase zu suchen sei. Sokrates’ falsche Rede, die ihn Unwahres und Frevelhaftes über Eros sagen lässt, ist nach der Logik dieses ironischen Intermezzos den Wirkmächten des Ortes geschul­ det. Aber auch die ›fremden Ströme‹ alter Weisheiten und überdies Phaidros, der ihn zu der Rede gezwungen und seinen Mund bezaubert habe (vgl. 242d–e), lässt Sokrates ironisch als den Grund seiner Worte hervortreten.169 Damit wird in diesen Textpassagen auch die Frage der Urheber- und Autorschaft von Logoi aufgerufen.170 Hier und andern­ orts lenkt Platon die Aufmerksamkeit darauf, dass ›fremde Diskurse‹ oftmals den Ausgangspunkt und die Grundlage der eigenen Rede bil­ den. Worauf es allein ankommt, ist die Art und Weise der Rezeption und des Umgangs mit ihnen.171 Nicht nur hinsichtlich der Rhetorik, sondern auch in Bezug auf die Dichtung rückt Platon im Phaidros den Anspruch einer Ver­ antwortungsübernahme in den Blick. Die ironischen Anspielungen machen deutlich, dass auch der Dichter dem wahren Gehalt seiner inhaltlichen Darstellungen auf den Grund gehen, sich diesem Bemü­ hen stellen muss. Außerdem muss auch für ihn die Frage nach der Auswirkung von Logoi vor allem auf junge Menschen zentral sein. Vor diesem Hintergrund wird im Phaidros eine gewisse Kontinuität zu Platons kritischer Haltung hinsichtlich der musischen Künste Vgl. oben Kap. 5.1.3. Vgl. auch Männlein-Robert 2012, S. 93–95; Griswold 1996, S. 53. 170 Vgl. Nightingale 1995, S. 138: »By ascribing his speech to not one but a number of disparate authors, Socrates problematizes the very notion of individual authorship. […] Even a piece written by a single, identifiable author may itself derive from ›alien streams.‹ When, we must ask, can an author call his logoi his own?«. 171 In den rhetorischen Schulen und auch in der Dichtkunst sind das imitierende Nachahmen und das wetteifernde Überbieten gleichsam Prinzipien der Praxis: »aemu­ latio und imitatio sind entscheidende Triebkräfte der Literaturproduktion, das durch­ schnittliche Literaturwerk verdankt seine Existenz und das meiste seiner Form und seines Inhalts einem vorangegangenen Literaturwerk« (Szlezák 1996, S. 125). Mit der ersten Sokrates-Rede wird (durch ihren Bezug zur Lysias-Rede) auf diese Praxis ange­ spielt. Freilich zeigte Sokrates schon mit seiner Verhüllung (vgl. Phdr. 237a), dass er mit dieser Vorgehensweise in eine für ihn fremde Rolle schlüpft. 168

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in der Politeia erkennbar. Platons Dichterkritik soll im Folgenden vergegenwärtigt werden.172 Als reflexive Auseinandersetzung bildet sie in vieler Hinsicht die Basis für seine eigene literarische Produktion. Im Rahmen des Bildungsprogrammes in der Politeia (vgl. II u. III 376c–412b), der musischen Erziehung von Kindern und Wächtern, unterstreicht Sokrates, dass eine mangelhafte dichterische Mimesis173 – etwa die schmähliche Darstellung von Göttinnen und Göttern (vgl. 377b–383c) oder die unzulängliche Nachahmung menschlicher Charaktere (vgl. 394c–398b)174 – das Schlechte und Ungesunde in unseren Seelen nähren würde (vgl. 401b–d). Während in diesem explizit pädagogischen Zusammenhang die Kritik an der Dichtkunst auf eine sachlich-inhaltliche Inadäquatheit poetischer Darstellung zielt, steht im zehnten Buch der Politeia das täuschende oder trug­ bildnerische Moment dichterischer Mimese im Zentrum der platoni­ schen Auseinandersetzung (vgl. R. X 595a–608b). In Analogie zu den Erzeugnissen der Malerei bezeichnet Sokrates hier die Hervor­ 172 Platons Dichterkritik fand in der Rezeptionsgeschichte bekanntlich einen reichen Widerhall. Da sie gerade auch in der jüngeren Forschungsliteratur vielfach diskutiert wurde, soll sie hier nur in spezifischen Punkten, teilweise im Anschluss an die Studien, skizziert werden: Vgl. Anne Eusterschulte: Mimesis oder »ästhetische Wahrheit«, Kap. 3: Das antike Mimesisverständnis – Philosophische Grundlagen, darin: ›Platons Kritik und Rechtfertigung mimetischer Darstellung‹ (unveröff. Manuskript), Berlin (erscheint vsl. 2022), S. 24–47; Michael Erler: Plasma und Historie: Platon über die Poetizität seiner Dialoge, in: ders., Jan Erik Heßler (Hg.): Argument und literarische Form in antiker Philosophie, Akten des 3. Kongresses der Gesellschaft für antike Phi­ losophie 2010, Berlin/Boston 2013, S. 59–84; David Ambuel: Platon: In Bildern denken, in: Johannes Grave, Arno Schubbach (Hg.): Denken mit dem Bild. Philoso­ phische Einsätze des Bildbegriffs von Platon bis Hegel, Paderborn/München 2010, S. 13–41, hier 28 ff.; Arbogast Schmitt: Der Philosoph als Maler – der Maler als Phi­ losoph: Zur Relevanz der platonischen Kunsttheorie, in: Gottfried Boehm (Hg.): Homo Pictor, München/Leipzig 2001, S. 32–54; ders.: Mythos bei Platon, in: Rein­ hard Brandt, Steffen Schmidt (Hg.): Mythos und Mythologie, Berlin 2004, S. 55–87; Büttner 2000, S. 131–214 (hier auch ein Überblick zu den älteren Diskussionen, S. 170–180); Stephen Halliwell: The Republic’s Two Critiques of Poetry (Book II 376c– 398b, Book X 595a–608b), in: Ottfried Höffe (Hg.): Platon. Politeia, 2., bearb. Aufl., Berlin 2005, S. 313–332; vgl. überdies den Sammelband Pierre Destrée, Fritz-Gregor Herrmann (Hg.): Plato and the Poets, Leiden/Boston 2011. 173 Zum Begriff der μίμησις bei Platon, insbesondere zur künstlerischen poietischen Mimesis, vgl. Eusterschulte, Mimesis oder »ästhetische Wahrheit« (unveröff. Manu­ skript, vsl. 2022), S. 24–47; dies.: Art. ›Mimesis. Nachahmung der Natur‹, in: Histo­ risches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 5, hg. von Gert Ueding, Tübingen 2001, Sp. 1232–1294, hier 1234 f. u. 1238–1243. 174 Vgl. dazu Büttner 2000, S. 144–159.

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bringungen der Dichter als ein ›Drittes nach der Wahrheit‹.175 Das wahrhafte Sein oder εἶδος einer Sache, wie sie ihrer Natur nach ist (vgl. 596a–b), wird danach allein von Gott (θεός) als Wesensbildner (φυτουργός) hervorgebracht (vgl. 597b–d). Als gleichsam ›Zweites nach der Wahrheit‹ fungieren exemplarisch die Werke der Hand­ werkskunst (vgl. 595c–597e): Erfüllt das handwerklich Hergestellte seine Funktion und seinen Zweck, dann entspricht es dem ἔργον der Sache, der Handwerker (δημιουργός) hat sein Werk mit Blick auf die Idee (πρὸς τὴν ἰδέαν βλέπων, 596b7) gebildet, er zeigt eine Vertrautheit mit der Sache selbst; seine Arbeit beruht auf einer Art Wissen oder auf der richtigen Meinung (vgl. auch 601e–602a).176 Diejenigen aber, die Sokrates hier als Mimeten bezeichnet, die Maler und die Dichter, sind mit ihren Erzeugnissen am Weitesten von der Wahrheit entfernt:177 Sie sind in derselben Weise ›Alleskönner‹, so Sokrates, wie derjenige, der einen Spiegel umhertrage und darin die Spiegelbilder ›von allem‹ hervorrufe (vgl. 596c–e). Wie die Maler nur die Erscheinungsformen der Werke der Demi­ urgen nachbilden würden (vgl. R. X 598a–b), so verhalte es sich auch mit den Dichtern – und dies schon seit Homer (vgl. 600e ff.): Sie seien »Nachahmer von Schattenbildern der Tugend« (μιμητὰς εἰδώλων ἀρετῆς, 600e5), welche »die Wahrheit nicht berühren« (τῆς δὲ ἀληθείας οὐχ ἅπτεσθαι, 600e6). Deshalb müsse man auch vom Dich­ ter sagen, »daß er Farben gleichsam von jeglicher Kunst in Wörtern und Namen auftrage, ohne daß er etwas verstände als eben nachzu­ bilden«.178 Diejenigen, so formuliert Sokrates, die sich nach der Rede des Dichters richten, würden seine Darbietungen »in gemessener, wohlgebauter und wohlklingender Rede«179 als richtig und schön empfinden. Denn gleichsam von Natur aus übten diese Reden einen gewaltigen Reiz oder Zauber aus (μεγάλην τινὰ κήλησιν, 601b1). 175 Es seien die Werke, die »dreifach vom Sein entfernt sind« (τριττὰ ἀπέχοντα τοῦ ὄντος, R. X 599a1) bzw. »von der Natur« (ἀπὸ τῆς φύσεως, 597e3–4) und »von der Wahrheit« (ἀπὸ τῆς ἀληθείας, 602c2). 176 Vgl. dazu Schmitt 2004, S. 68 f. u. ders. 2001, S. 38 f.: Im Falle der Handwerks­ kunst könne das ›Hinblicken auf die Idee‹ als ein Verstehen des Werkes, seiner Funk­ tions- und Leistungsmöglichkeit aufgefasst werden. 177 Πόρρω ἄρα που τοῦ ἀληθοῦς ἡ μιμητική ἐστιν (R. X. 598b6). 178 χρώματα ἄττα ἑκάστων τῶν τεχνῶν τοῖς ὀνόμασι καὶ ῥήμασιν ἐπιχρωματίζειν αὐτὸν οὐκ ἐπαΐοντα ἀλλ᾿ ἢ μιμεῖσθαι (R. X. 601a4–6). Übers. Schleiermacher (Eigler-Ausg., Bd. 4). 179 ἐν μέτρῳ καὶ ῥυθμῷ καὶ ἁρμονίᾳ (R. X. 601a8). Übers. Schleiermacher (EiglerAusg., Bd. 4).

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Die platonische Kritik zielt im zehnten Buch der Politeia auf ein kopierendes, imitatives Vorgehen der mimetischen Künste.180 Mit dem Beispiel des Spiegels illustriert Sokrates den an äußeren Aspek­ ten bzw. an der Vielfalt von Erscheinungsweisen sich orientierenden Blickwinkel des Malers: Was die Malerei von einer Sache trifft und hervorbringt, ist danach ein Schatten- oder Trugbild (φαντάσματος, εἴδωλον, vgl. 598a–b); mehr noch, Platon wirft der Malerei vor, auf dieser Ebene des perspektivisch Phänomenalen mit täuschenden Techniken im Sinne der σκιαγραφία (602d2) zu arbeiten, dabei aber die dargestellte Sache als wahrhaftig vorzugaukeln (vgl. 602c–603b). Platon verleiht der Malerei unter den mimetischen Künsten einen modellhaften Charakter: Ähnlich wie die Maler haften danach auch die Dichter an der Vielfältigkeit der Phänomene an, auch sie produzie­ ren nach platonischer Auffassung lediglich Phantasmata. Denkt man an das Liniengleichnis, dann bewegen sich die mime­ tischen Künstler, die Platon auf diese Weise charakterisiert, auf der untersten Stufe, in der Welt der Spiegelungen und Erscheinungen (vgl. R. VI 509c–511e). Das Gleichnis macht zugleich die Grundlage der platonischen Kritik an Malern und Dichtern evident: Deren Her­ vorbringungen sind ihrem ontologischen Status nach nur noch ferne Abschattungen der Wahrheit; entsprechend implizieren sie in episte­ mologischer Hinsicht keine Klarheit oder erkenntnisgeleitete Gewiss­ heit. Sie sind, wie es im zehnten Buch dann heißt, weit ab von Einsicht und Vernunft (vgl. 603a ff.). Mithilfe der hier akzentuierten Trias von Wesen bzw. Eidos, handwerklichem Produkt und schließlich nachah­ mender Darstellung lässt Platon das Urbild-Abbild-Konzept exem­ plarisch für das künstlerische Feld hervortreten: Während der Hand­ werker sich am Wesen der Sache orientiert, erzeugt der Maler nur ein Abbild eines äußerlichen Aspekts des handwerklichen Produkts (vgl. 598a). Das Kriterium der Kritik an den mimetischen Darbietungen bildet das Ähnlichkeitsverhältnis von Abbild und Urbild bzw. die Teilhabe an der Wahrheit oder Idee; damit aber zugleich der Wis­ sensstatus des Künstlers. Zurückgewiesen wird von Platon nicht pri­ Vgl. Eusterschulte, Mimesis oder »ästhetische Wahrheit« (unveröff. Manuskript, vsl. 2022), S. 27; Ambuel 2010, S. 28 ff.; Büttner 2000, S. 185 ff. Schmitt (2004, S. 63 ff.) hebt in diesem Zusammenhang die zur Zeit Platons populäre Illusionsma­ lerei und ihren Drang nach Realitätstreue hervor. – Zur Frage des Spannungsverhält­ nisses zwischen einer ›Wirklichkeitstreue‹ oder fiktiven Historizität in Platons eige­ nen Dialogen, die selbst als mimetische Werke hervortreten, und seiner Kritik an der mimetischen Kunst vgl. die Studie von Erler 2013. 180

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mär das Farb-, Klang- und Wortspiel der mimetischen Künstler als solches, sondern vielmehr der Sachverhalt, dass deren Bilder nicht als dasjenige, was sie sind, nämlich eine Art kindliches Spiel (παιδία), ausgewiesen werden; stattdessen erhalten sie den Schein wissensba­ sierter Erzeugnisse (vgl. 602a–b).181 In Wirklichkeit aber, so legt Sokrates dar, verstehe der mimetische Künstler nichts von dem, was er nachahme, er habe weder Wissen noch richtige Meinung. Dennoch verleite gerade der Zauber der poetischen Sprache die Rezipienten dazu, ähnlich wie die Höhlenbewohner Schatten und Spiegelungen für die ganze Wirklichkeit zu halten. Platons vorrangiges Interesse an der Dichtkunst – genannt wird neben Homer die Tragödie – gilt der Darstellung menschlicher Charaktere und Handlungen in Bezug auf die Tugend (vgl. R. X 598d–600e).182 Entsprechend lautet sein Vorwurf an die Dichter, dass sie beliebige Erscheinungsweisen eines menschlichen Charak­ ters, oftmals Affekte, Gemütsregungen und emotionsbetonte Redeund Handlungsweisen (vgl. R. III 392c–398b), bzw. überhaupt die Schwankungen der menschlichen Seele und ihre unzähligen inneren Widersprüche nachahmen.183 Will ein Dichter über die Darbietung phänomenal beobachtbarer, singulärer Regungen und Verhaltens­ weisen hinausgelangen, muss er es sich zur Aufgabe machen, das Wesen eines menschlichen Charakters zu begreifen, sodass seine Darstellungen in Bezug auf eine bestimmte Figur kohärieren.184 In diesem Zusammenhang muss für Platon aber das Wesentliche der Seele,185 also die Vernunft, ebenso Gerechtigkeit und Besonnenheit, der Darstellung menschlicher Charaktere als Normativ immanent sein: Dasjenige, was den Menschen zum Guten hinzieht und wel­ ches bewirkt, dass er sich nicht von Schwankungen, affektgeleiteten Erregungen und Betrübnissen vereinnahmen lässt, sondern welches ihm dazu verhilft, diesen zu widerstehen, diese eigentliche wahre 181 Vgl. dazu Eusterschulte, Mimesis oder »ästhetische Wahrheit« (unveröff. Manu­ skript, vsl. 2022), S. 32 f. 182 Vgl. dazu ausführlich Schmitt 2001, S. 45 ff.; ders. 2004, S. 72 ff. u. Büttner 2000, S. 172 f. 183 Denn »voll von tausend solcher Widersprüche ist unsere Seele zur gleichen Zeit« (μυρίων τοιούτων ἐναντιωμάτων ἅμα γιγνομένων ἡ ψυχὴ γέμει ἡμῶν, R. X. 603d6– 7). Vgl. auch 603b ff. 184 Dazu und zum Begriff des Charakters bei Platon vgl. Schmitt 2001, S. 47 f. 185 Nämlich ihr »bester Teil, der dem Vernünftigen folgen will« (τὸ μὲν βέλτιστον τούτῳ τῷ λογισμῷ ἐθέλει ἕπεσθαι, R. X 604d5–6).

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Natur der menschlichen Seele muss für Platon in einer poetischen Darbietung als Potential und Ziel erkenn- und sichtbar sein (vgl. R. X 603e–604e).186 Sonst fehlt der Darstellung ihre Basis und ihr Zweck und es handelt sich lediglich um eine bunt schillernde Mimese (πολλὴν μίμησιν καὶ ποικίλην, 604e1), welche den Dichter selbst als Unwissenden mit schlechter seelischer Verfassung offenbart.187 Die Hervorbringungen eines Dichters, der für den vortrefflichen Staat geeignet ist, müssen folglich auf Wissen über die Tugend und die wahre Natur der Seele beruhen; zugleich muss die Fähigkeit hinzukommen, dieses Wissen als poetische Mimese künstlerisch umzusetzen. Die sowohl epistemischen als auch künstlerischeren Anforderungen an einen Dichter, der »das Bild eines guten Charak­ ters seinen dichterischen Erzeugnissen einzubilden«188 vermag, sind entsprechend hoch (vgl. auch 604e–605a). Die für den guten Staat zugelassene Dichtung ist, ähnlich wie im Falle der Rhetorik, keine Kunst um ihrer selbst willen: Weder Wohlklang noch äußerliche Wohlgestalt, weder Wohlberedtheit noch Gleichmaß legen allein Zeugnis einer kunstgemäßen schönen Dichtung ab. Wenn auch auf andere Art und Weise als im Kontext der Rhetorik, gilt für die Dichtung doch der gleiche Grundsatz: Inhalt und Form dürfen nicht getrennt betrachtet werden; sie müssen sich notwendig durchdringen. Im Kontext der Erörterung der Musik (μουσική), welcher inner­ halb des musischen Bildungsprogrammes ein eigener Abschnitt gewidmet ist (vgl. R. III 398c–403c), formuliert Sokrates, dass Har­ monie und Rhythmus bzw. Tonart und Takt (ἁρμονία καὶ ῥυθμός)189 dem Logos folgen müssen (vgl. 398d) und nicht umgekehrt, der Logos 186 Die richtige seelische Verfasstheit bildet den Maßstab, vor dessen Hintergrund besonnene und vernünftige oder im Gegenteil unbesonnene und affektgeleitete Hand­ lungen als das, was sie sind, hervortreten müssen (vgl. R. III 392a–c; auch 402b–c). Vgl. dazu auch Erler 2013, S. 73 ff. 187 Das Unwahre in den Worten des Dichters, so akzentuiert Sokrates im zweiten Buch, sei »eine Nachahmung seines seelischen Zustandes und ein später entstandenes Abbild« (μίμημά τι τοῦ ἐν τῇ ψυχῇ ἐστιν παθήματος καὶ ὕστερον γεγονὸς εἴδωλον, R. II 382b9–10). Vgl. dazu Eusterschulte, Mimesis oder »ästhetische Wahrheit« (unveröff. Manuskript, vsl. 2022), S. 29 f. 188 τὴν τοῦ ἀγαθοῦ εἰκόνα ἤθους ἐμποιεῖν τοῖς ποιήμασιν (R. III 401b2–3). Vgl. dazu Eusterschulte, Mimesis oder »ästhetische Wahrheit« (unveröff. Manuskript, vsl. 2022), S. 29 f. u. 32. 189 Zu den Termini vgl. Günter Figal: Rhythmus als Ordnung der Bewegtheit. Platon und Nietzsche über Musik, in: Dietmar Koch, Irmgard Männlein-Robert, Niels Weidt­ mann (Hg.): Platon und die Mousiké, Tübingen 2012, S. 55–67, hier 59 f.

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der musikalisch-dichterischen Gestalt; der Logos wiederum richte sich nach dem (darzustellenden) Charakter der Seele (τῷ τῆς ψυχῆς ἤθει, 400d7).190 Anmut und Schönheit der dichterischen Rede liegen im Wissen der verhandelten Sache selbst und in dessen adäquater Darstellungsform begründet (vgl. 399a–400c): Die musikalische und poetische Gestalt muss der Sache selbst gerecht werden.191 Korres­ pondiert die nach außen sicht- und hörbar werdende Form mit dem auf Einsicht beruhenden Gehalt, gleicht sie sich der Sache an und stimmt auf diese Weise mit ihr überein (ὁμοιούμενον, 400d2), dann zeigt sich darin das eigentliche Potential der Dichtkunst: Die künstle­ rische Gestalt bringt unter dieser Voraussetzung das Darzustellende kraftvoll zum Ausdruck, setzt es als dichterische Mimese gelungen ins Werk und vermag auf dieser Basis die Seele des Rezipienten eindrücklich zu berühren. Besonders im Blick auf die musikalischen Elemente macht Sokra­ tes also die wirksame Kraft der musischen Kunst kenntlich: »Aus diesem Grund, mein Glaukon, sagte ich, ist doch auch die musische Kunst bei der Erziehung am wichtigsten: weil Rhythmus und Tonart am tiefsten in das Innere der Seele dringen, sie am stärksten ergreifen, ihr Wohlgestalt bringen und sie wohlgestaltet machen, sofern einer richtig erzogen wird – sonst freilich das Gegenteil.«192 Ordnung und Wohlgestalt, die sich in die Seele des Rezipienten gleichsam einzubil­ den vermögen, wohnen der Dichtung aus platonischer Perspektive vor allem dann inne, wenn die Form dem (richtigen) Inhalt nicht nur angemessen ist, sondern wenn beide im Eigentlichen nicht mehr voneinander trennbar sind, im dichterischen Werk gleichsam mitein­ Die Textstelle lässt im Eigentlichen offen, ob es sich um den darzustellenden Charakter oder um die seelische Verfassung des Dichters selbst handelt. Es deutet sich an, dass beide gemeint sind, womit aber die für Platon bestehende Korrespondenz zwischen der seelischen Verfasstheit des Dichters und seiner inhaltlichen Darstellung zum Ausdruck käme (vgl. oben Anm. 187). 191 »Also Wohlberedtheit und Wohlklang und Wohlanständigkeit und Wohlgemes­ senheit, alles folgt der Wohlgesinntheit und Güte der Seele« (Εὐλογία ἄρα καὶ εὐαρμοστία καὶ εὐσχημοσύνη καὶ εὐρυθμία εὐηθειᾳ ἀκολουτεῖ, R. III 400d11–e1). Übers. Schleiermacher (Eigler-Ausg., Bd. 4). Vgl. dazu auch Figal 2012, S. 64 ff. 192 Ἆρ᾿ οὖν, ἦν δ᾿ ἐγῶ, ὦ Γλαύκων, τούτων ἕνεκα κυριωτάτη ἐν μουσικῇ τροφή, ὅτι μάλιστα καταδύεται εἰς τὸ ἐντὸς τῆς ψυχῆς ὅ τε ῥυθμὸς καὶ ἁρμονία, καὶ ἐρρωμενέστατα ἅπτεται αὐτῆς φέροντα τὴν εὐσχημοσύνην, καὶ ποιεῖ εὐσχήμονα, ἐαν τις ὀρθῶς τραφῇ, εἰ δὲ μή, τοὐναντίον; (R. III 401d5–e1) Übers. Rufener (Szlezák 2000). – Auf die Textstelle wurde bereits oben in Erörterung des delphischen Spruches rekurriert (vgl. oben Kap. 2.2.1). 190

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ander verschmelzen. Damit zeigt sich aber vor dem Hintergrund der Dichterkritik eine wesentliche Grundlage für Platons eigenes literarisches Schaffen. An diesem künstlerischen Maßstab muss sich auch der Mythos über die Seele im Phaidros messen. Der richtige Logos, so lässt Sokrates in dem hier betrachteten Kontext wissen, bleibe die Basis (vgl. R. III 398d); für ihn gelte letztlich immer dasselbe, ob es sich um Gesang, Dichtung oder eine andere Art der Rede handle. Der Logos muss auf einem Wissen basieren, welchem das Streben nach Wahrheit immanent ist. Nur dann impliziert der Logos ein solches ›Gepräge‹ (τύπος, vgl. ebd.), das die Seele in der ihr förderlichen Weise bildet. Die platonische Dichterkritik lässt bezüglich der Wirkkraft von Reden eine gewisse Parallele zur Rhetorik erkennen. In beiden Fäl­ len zeigt Platon einerseits, dass die kunstgemäße Dynamis einer Rede notwendig auf einem wahrheitsorientierten Wissen, im Falle der Dichtung insbesondere auf der Einsicht in die wahre Natur der menschlichen Seele basiert; ebenso müssen danach künstlerische Gestalt und dargestellter Inhalt ein enges Gefüge bilden. Andererseits aber erkennt Platon in der zeitgenössischen Rhetorik und herkömmli­ chen Dichtung – obwohl diese gemäß den platonischen Bedingungen gerade nicht kunstgerecht arbeiten – eine große Gefahr in pädago­ gischer und politischer Hinsicht. Dieser fast paradoxe Sachverhalt wurde bezüglich der Rhetorik bereits oben diskutiert. Im Kontext der Dichtung spielt nun ein gegenüber der Rhetorik anderes Moment eine wesentliche Rolle: das Prinzip der Nachahmung. Die Art von Wirkung und seelischer Veränderung, die Sokrates in besonderer Weise für die Musik verdeutlicht, unterstreicht er in ähnlicher Form auch hinsichtlich des gesamtes Bildungsprogrammes: Der poetische Nachahmungsprozess führt danach sowohl in seiner Produktion als auch Rezeption zu einer Angleichung oder Assimilation der Seele an das Nachgeahmte.193 Die Nachahmungen würden vor allem dann, wenn man sie von Jugend an praktiziere, in Gewohnheit und Natur übergehen (εἰς ἔθη τε καὶ φύσιν καθίστανται, R. III 395d2) und sowohl auf den Leib als auch auf den Verstand bzw. das Denken (διάνοια) einwirken (vgl. 395c–d). Platons musisches Erziehungsprogramm, das auch die Einübung bestimmter Verhaltensmuster und die Gewöh­ nung an ethisch-politische Regulative umfasst, gründet hierbei selbst 193 Vgl. auch Erler 2013, S. 64; Eusterschulte, Mimesis oder »ästhetische Wahrheit« (unveröff. Manuskript, vsl. 2022), S. 30.

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in einem pädagogischen Konzept der Mimesis.194 Zu groß sei deshalb die Gefahr, so erklärt Sokrates, dass sich die Seele durch die Darstel­ lung schlechter Charaktere daran gewöhne, diesen ähnlich zu werden (vgl. 395e–396a). Auch in diesem Zusammenhang gebrauchte Sokra­ tes zuvor den Terminus τύπος (vgl. R. II 377a–b): Offensichtlich soll der Ausdruck hier eine Einflussnahme kenntlich machen, welcher eine junge und im Denken ungeübte Seele kaum etwas entgegenzusetzen hat, werde in dieser Phase ein junger Mensch doch geformt (πλάττεται, 377b2) und die Prägung ihm gleichsam eingezeichnet (ἐνσημήνασθαι 377a2–3). Später sei folglich das Aufgenommene nur noch »schwer auszuwaschen« (δυσέκνιπτά, 378d8–e1). Schließlich verwendet Platon im zehnten Buch der Politeia eine längere Textpassage darauf, zu demonstrieren, welchen Teil der Seele die von ihm kritisierten mimetischen Künstler adressieren (vgl. R. X 602c–607a). Gemäß der Wahrheitsferne ihrer Hervorbringungen würden sie auf das der Vernunft Ferne in uns zielen (vgl. 603a–d): Derjenige Seelenteil, der sich zu Leidenschaftlichem und Schmerz­ haftem hinziehen lasse, werde durch die Erzeugnisse dieser Dichter erregt, genährt und gekräftigt; Verstand, Denken und innere Berat­ schlagung, also das Beste in uns, würden hingegen nachhaltig geschwächt und gelähmt (vgl. 604d–605b).195 Mit deutlichem Voka­ bular distanziert sich Sokrates noch einmal von den »schattenbildne­ risch hervorgebrachten Trugbildern« (εἴδωλα εἰδωλοποιοῦντα, 605c3), unterstreicht jedoch zugleich deren starke emotionale Wir­ kung selbst auf rechtschaffene Menschen, ihre Verführungs- und Anziehungskraft (vgl. 605c ff.). Die hier gezeichneten Dichter bewirkten eine schlechte seelische Verfassung; sie sind, so schließt Sokrates, aus der guten Staatsverfassung fernzuhalten (vgl. 605a–b, 607b ff.). Zurück zum Phaidros: Die Kritik an Dichtern und Dichtkunst, die Sokrates in diesem Dialog mit der ironischen Selbstinszenierung dichterischer Ekstase zum Ausdruck brachte, zeigt im Vergleich zur Politeia zunächst eine andere Akzentuierung. Mithilfe seiner ironi­ 194 Vgl. Eusterschulte, Mimesis oder »ästhetische Wahrheit« (unveröff. Manuskript, vsl. 2022), S. 26; Ambuel 2019, S. 30. 195 Hier zeigt sich eine gewisse Analogie zu den Ausführungen oben Kap. 4.1.1: Der beste Teil unserer Seele, die Vernunft, unterliegt nach platonischer Auffassung keinem Wandel, allerdings erfährt er im Verhältnis zu den anderen seelischen Neigungen und Strebungen eine relative Stärkung oder Schwächung.

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schen Distanzierungen verweist Sokrates im Phaidros darauf, dass das Konzept des poetischen Enthusiasmus mit der Vorstellung einer gleichsam autoritativen Geltung dichterischer Werke einhergeht, welche danach auf althergebrachten Weisheiten bzw. auf einem alten Wissen göttlichen Ursprungs basiert. Das gesamte Konzept ist aus sokratischer Sicht kritisch zu hinterfragen.196 Vor diesem Hintergrund machte die Frage nach dem Umgang mit Überliefertem und der Haltung gegenüber dem Hörensagen aber auch hier deutlich, dass der sachliche, auf wirklichem Wissen basierende Gehalt und damit die seelische Verfasstheit des Dichters selbst, ebenso die Auswirkung auf die Rezipienten als ausschlaggebende Momente im Blick auf die Dichtkunst akzentuiert werden. Darüber hinaus wird noch eine weitere Korrespondenz zwischen Phaidros und Politeia sichtbar. Schärfe und Pointierung der sokrati­ schen Ironie hinsichtlich einer dichterischen Begeisterung im Phaid­ ros sind mit der Deutlichkeit der Zurückweisung der herkömmlichen Dichtkunst im zehnten Buch der Politeia vergleichbar: Der Grad an Bestimmtheit und Strenge der Kritik entspricht sich in beiden Fällen. In Verbindung damit ist auf eine Nähe zur Sophistik hinzuweisen, die im Kontext der Dichterkritik in beiden Werken erkennbar ist. So schwingen in der Politeia im Zusammenhang einer Dichtung, die der trugbildnerischen Mimese der Malerei an die Seite zu stellen ist und so selbst in den Verdacht gerät, täuschende Techniken auf der Ebene des Sinnlich-Emotionalen einzusetzen, Methoden und Praktiken der Sophisten deutlich mit.197 Im Phaidros zeigte sich wiederum, dass Sokrates mit seiner spöttischen Kommentierung eines poetischen Wahnsinns und dem Motiv eines Ausgeliefertseins an seine vorherige Ironie, welche die sophistischen Gestalten von Begeisterung betraf, anknüpft. Auch sein Rekurs auf Dithyramben weist auf eine sinnlich berauschte Euphorie hin, die in gewisser Weise an das sophistische Eros- und Rhetorik-Konzept des Lysias anschließt. In ihrer Rigoro­ sität zielt Platons Kritik an der Dichtung demnach vor allem auf Komponenten, welche er in ähnlicher Form der Sophistik und der sophistischen Rhetorik zuschreibt.198 196 Die entsprechenden Textstellen wurden oben skizziert (vgl. Phdr. 235b–d, 237a, 238c–d, 241d–e). 197 Vgl. auch Eusterschulte, Mimesis oder »ästhetische Wahrheit« (unveröff. Manu­ skript, vsl. 2022), S. 33 f.; dazu Sph. 234b–236e. 198 Vgl. auch Flashar 1958, S. 1; dazu Prt. 316d–e.

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5.2.2 Die poetische Mania In der jüngeren Forschungsliteratur wurde das – nur scheinbar para­ doxe – Spannungsverhältnis zwischen Platons Dichterkritik und seinem eigenen literarischen Schaffen vielfach diskutiert.199 Die pla­ tonischen Schriften weisen sich bereits durch ihre dialogische Gestalt und Situierung, darüber hinaus durch die Vielzahl an mythologischen Narrativen, durch bildhafte Gleichnisse, metaphorische und diagram­ matische Figuren, schließlich durch modellartige Entwürfe, wie die Konzeption der idealen Staatsverfassung selbst, als literarisches Werk aus: Platon wird als poetischer Philosoph oder als philosophisch-lite­ rarischer Künstler kenntlich. Im Hinblick darauf, dass die platoni­ schen Dialoge selbst als bestimmte Form mimetischer Kunst und insbesondere die narrativen Passagen als dichterische Darstellungen hervortreten, wird in den Studien unterstrichen, dass zwei Arten künstlerischer μίμησις in platonischem Kontext zu differenzieren sind:200 einerseits die in der Politeia kritisierte kopierend-imitierende Nachahmung von Erscheinungsweisen; andererseits eine auf dem Erkenntnis- und Wissensprozess des Künstlers basierende Mimese, die sich, in Analogie zur Hervorbringung des gelungenen und fach­ gerechten handwerklichen Produkts,201 durch eine erkennbare Nähe ihrer bildnerischen Werke zum Wesen einer darzustellenden Sache hervortut, zugleich aber die Differenz zur wahren Gestalt oder zur Idee der Sache selbst nicht leugnet.202 Das mimetische Moment bezieht sich in diesem Falle weder auf perspektivische Betrachtungs­ weisen, noch ist es als ein bloß reproduktiver Vorgang zu verstehen. Vielmehr geht mit dem Begriff der Mimesis unter dieser Vorausset­ zung ein tatsächlich poietischer Prozess einher, der – ganz im Sinne des Symposion – zu einem ›lebendigen‹ Erzeugnis führt.203 Einer solchen poietischen Nachahmung ist ein ausweisbares Wissen und Verstehen des Künstlers immanent, welche durch die adäquat künstlerische Gestalt zur Darstellung kommen. Platons Kritik an den Nachahmun­ Vgl. dazu die Literaturangaben oben Anm. 172. Vgl. Eusterschulte, Mimesis oder »ästhetische Wahrheit« (unveröff. Manuskript, vsl. 2022), S. 27–29 u. 34 ff.; Erler 2013, bes. S. 67 ff.; Ambuel 2010, S. 28 ff.; auch Büttner 2000, S. 131–143. 201 Vgl. dazu Schmitt 2001, S. 43 ff.; ders. 2004, S. 69 ff. 202 Vgl. dazu Eusterschulte, Mimesis oder »ästhetische Wahrheit« (unveröff. Manu­ skript, vsl. 2022), S. 28 f. 203 Vgl. Smp. 206b–209e; auch oben Kap. 1.3.2. 199

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gen der herkömmlichen Dichtkunst bezieht sich, so wird in den Studien betont, auf ein restriktives Verständnis von Mimesis.204 An Platons Zurückweisung der herkömmlichen Dichtung bzw. anhand der Kriterien seiner Kritik lassen sich Hinweise und Bedin­ gungen für die gekennzeichnete zweite, im platonischen Sinne kunst­ gemäße Ebene von Mimesis und Dichtkunst, die sich an dem Wesen der Dinge und an Intelligiblem orientiert, ablesen. Dies wurde bereits im vorausgehenden Kapitel sichtbar; darauf zurückgreifend wird an späterer Stelle Platons eigenes Konzept einer philosophisch-künstle­ rischen Mimese im Kontext der Palinodie herausgearbeitet. Darüber hinaus macht Platon sein Verständnis philosophischer Mimesis aber auch mehrfach in der Politeia deutlich. So wird nicht nur der Entwurf des Staates, sondern auch Lebensweise, Tätigkeit und Aufgabe des Philosophen mit dem Begriff der Mimesis in Verbindung gebracht (vgl. R. VI 500c–d): Der Philosoph, so erläutert Sokrates, der doch mit dem Göttlichen und Wohlgeordneten umgehe und auf das wahr­ haft Seiende blicke, wird solches nachahmen (μιμεῖσθαι) und nach Vermögen sich diesem ähnlich bilden. Zugleich werde er selbst zum Bildner (δημιουργός), wenn er versucht, das, was er dort sieht, in die Charaktere und Sitten der Menschen einzubilden.205 Zunächst aber zeigt sich, dass auch die herkömmliche Dichtkunst für Platon, trotz seiner ausdrücklichen Kritik, nicht gänzlich zu ver­ werfen ist. Schon im Zusammenhang des zweiten und dritten Buches der Politeia wurde deutlich, dass die Dichtung für die Erziehung und Bildung von Kindern und Wächtern zwar problematisch, aber dennoch – wenn auch nur in gereinigter Gestalt (vgl. R. VI 501a) – unverzichtbar ist. Vor allem aber kommt im Phaidros zum Aus­ druck, dass Platon der traditionellen Poetik auch positive Momente abgewinnt. Bereits Sokrates’ Hinweis auf Sappho und Anakreon ließ 204 Vgl. Erler 2013, S. 68 f.; Schmitt 2001, S. 36 ff.; ders. 2004, S. 63 ff.; Euster­ schulte, Mimesis oder »ästhetische Wahrheit« (unveröff. Manuskript, vsl. 2022), S. 24–34. 205 Vgl. auch R. VI 501a–c. Auch kennzeichnet Sokrates die Konzeption der Politeia als »Musterbild eines guten Staates« (παράδειγμα […] ἀγαθῆς πόλεως, R. V 472d9– e1), welches in bestmöglicher Weise die Idee der Gerechtigkeit und in Folge alles, was ein gutes Staatsgebilde ausmache, nachbilde (vgl. R. VI 472b–473b). Vgl. dazu bes. Eusterschulte, Mimesis oder »ästhetische Wahrheit« (unveröff. Manuskript, vsl. 2022), S. 34 f. Zur Diskussion der Passagen R. VI 500c–d u. 501a–c vgl. ebd., S. 36– 38; auch Büttner 2000, S. 162–166; Erler 2013, S. 68 f.; Schmitt 2001, S. 32; ders. 2004, S. 75.

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erkennen, dass seine Berufung auf alte Dichtung nicht nur ironisch aufzufassen ist.206 Insbesondere aber führt Sokrates zu Beginn der Palinodie die μανία als willkommenes Geschenk der Götter ein: »Die größten Güter«, so betont Sokrates hier, »entstehen uns aus einer Begeisterung, die uns jedoch durch eine göttliche Gabe geschenkt wird.«207 Drei Bereiche zählt Sokrates zunächst auf, innerhalb deren die göttliche μανία vornehmlich Gutes und Nützliches für die Men­ schen gebracht habe (vgl. Phdr. 244a–245a). Nach der mantischen Kunst, also dem Tätigkeitsfeld der Priesterinnen und Wahrsagerin­ nen, und der kathartischen Heilkunst der Sühnepriesterinnen bzw. Telestik geht er auf die Dichtkunst und deren Form der Mania ein:208 »Die Dritte, die göttliche Inspiration und Begeisterung der Musen, ergreift eine zarte und reine Seele, erweckt und begeistert sie durch Lieder und durch andere Dichtung, tausend Werke von den Alten ausschmückend, erzieht sie die Nachgeborenen. Wer aber ohne den Wahnsinn der Musen in den Vorhallen der Dichtkunst ankommt, glaubend, er könne durch die Kunstfertigkeit allein zum Dichter wer­ den, dieser selbst ist ungeweiht und die Dichtkunst des Besonnenen wird unsichtbar gemacht von derjenigen der Begeisterten.«209 Auffällig ist in der hier betrachteten Passage über die göttliche μανία, dass diese von Sokrates gegenüber der als bloß menschlich

206 Zu kritisieren war nicht der Rekurs auf ehrenwerte Dichter als solcher, sondern eine unreflektierte Rezeption des Althergebrachten. Vgl. auch Männlein-Robert 2012, S. 93, Anm. 29. 207 νῦν δὲ τὰ μέγιστα τῶν ἀγαθῶν ἡμῖν γίγνεται διὰ μανίας, θείᾳ μέντοι δόσει διδομένης. (Phdr. 244a6–8). 208 Dass mit diesem Textabschnitt lediglich »landläufigen Anschauungen« das Wort geredet werde, wie Heitsch (1997, S. 92) betont, ist m. E. unzutreffend. 209 τρίτη δὲ ἀπὸ Μουσῶν κατοκωχή τε καὶ μανία, λαβοῦσα ἁπαλὴν καὶ ἂβατον ψυχήν, ἐγείρουσα καὶ ἐκβακχεύουσα κατά τε ᾠδὰς καὶ κατὰ τὴν ἂλλην ποίησιν, μυρία τῶν παλαιῶν ἔργα κοσμοῦσα τοὺς ἐπιγιγνομένους παιδεύει· ὅς δ᾿ ἂν ἄνευ μανίας Μουσῶν ἐπὶ ποιητικὰς θύρας ἀφίκηται, πεισθεὶς ὡς ἄρα ἐκ τέχνης ἱκανὸς ποιητὴς ἐσόμενος, ἀτελὴς αὐτός τε καὶ ἡ ποίησις ὑπο τῆς τῶν μαινομένων ἡ τοῦ σωφρονοῦντος ἠφανισθη. (Phdr. 245a1–8) – Zu dem Ausdruck κατοκωχή τε καὶ μανία vgl. Willem J. Verdenius: Der Begriff der Mania in Platons Phaidros, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 44 (1962), S. 132–150, hier 135. Verdenius spricht hinsichtlich Platons Verwendung des Begriffs der μανία von einem »Kunstgriff« (ebd.), werde doch sonst die Dichtung nicht als μανία bezeichnet. Das Wort müsse deshalb auch nicht buchstäblich aufgefasst werden. Im Wesentlichen gehe es um den Gedanken, »daß der Dichter in dem Banne einer höheren Macht steht« (ebd.).

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bezeichneten σωφροσύνη erhöht wird.210 Im Blick steht hier jedoch nicht der philosophische Begriff von Besonnenheit, sondern das oben gekennzeichnete ›hinzuerworbene‹ Vernünftigsein nach Art des Lysias (vgl. 237d–e). In ausdrücklichem Rekurs auf dessen Rede (vgl. 244a) dreht Sokrates die oppositionelle Wertung gleichsam um: Die allein menschliche Verständig- und Vernünftigkeit ist kei­ nesfalls höher als die Mania einzustufen, wenn diese als göttliche Gabe sichtbar und als solche verstanden wird; vielmehr sei Letztere der menschlichen Sophrosyne überlegen.211 Die Betonung liegt auf der (delphischen) Gegenüberstellung von Göttlichem und Menschli­ chem: Der Dichter, der sich allein der Techne verschreibt, ist, wie es in obigem Zitat heißt, unvollendet oder ungeweiht; die Poeten, die begeistert sind, lassen deshalb die Werke der nur verständigen Dichter in den Schatten treten, machen sie unsichtbar (ἀφανίζειν). Mit der Auffassung, dass das allein verständige Können für die Dichtkunst nicht hinreichend ist, sondern ihr vielmehr das begeisterte Moment und damit eine Verbindung zum Göttlichen inhärent sein muss, knüpft Platon an vorsokratisches Gedankengut an.212 Letztlich wird es für ihn allerdings darum gehen, die Gegenüberstellung von Beson­ nenheit und Begeisterung, von Sophrosyne und Mania, aufzuheben, nämlich unter der Voraussetzung eines Begriffs der menschlichen Vernunft, der eine Anteilhabe am Göttlichen und eine Ähnlichwer­ dung mit ihm impliziert. Dies wird aber erst mit »der vierten Form des Wahnsinns« (τῆς τετάρτης μανίας, 249d4–5), dem philosophischen Eros, zur Geltung kommen. Nach Erläuterung der ersten drei Arten der Mania erwähnt Sokrates die vierte, die Begeisterung des Eros, zunächst nur kurz (vgl. 245b–c); allerdings macht er bereits ihre exzeptionelle Stellung kenntlich: Im Gegensatz zu Lysias’ Behauptungen sei zu erweisen, »dass diese Mania zur größten Glückseligkeit von den Göttern

210 Denn »um so viel schöner, das bezeugen die Alten, ist eine von Gott geschenkte Begeisterung als die von Menschen erzeugte Besonnenheit« (τόσῳ κάλλιον μαρτυροῦσιν οἱ παλαιοὶ μανίαν σωφροσύνης τὴν ἐκ θεοῦ τῆς παρ᾿ ἀνθρώπων γιγνομένης, Phdr. 244d3–5). Vgl. zu der Gegenüberstellung auch Phdr. 244a–b u. 245b. 211 Vgl. dazu auch Gundert 1949, S. 26 f. Zum Begriff der ›gemeinen‹ Besonnenheit vgl. unten Kap. 5.3.4 mit Anm. 376. 212 Vgl. dazu Demokrit: DK 68 B 18; bezugnehmend darauf Cicero: Orat. II, 194.

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5. Phaidros: Falsche und wahre Gestalten seelischer Bildung

geschenkt wird«.213 Die Steigerung von den ›größten Gütern‹, welche die ersten drei Arten der Mania bewirkten, zum ›größten Glück‹ der vierten Mania und zugleich der Verweis auf ihre erst später, in einem explizit philosophischen Rahmen erfolgende Untersuchung distingu­ iert die erotische Mania von den anderen Formen: Ihre Rolle innerhalb des Seelenmythos der Palinodie wird eindrücklich zeigen, wie sehr sie sich von den anderen Arten, folglich auch von der poetischen Mania, qualitativ abhebt.214 Dennoch finden sich im Phaidros auch verbindende Momente zwischen poetischer und erotisch-philosophi­ scher Mania. Auch wenn diese in der Ambivalenz der gleichzeitigen Kritik an der poetischen Begeisterung verbleiben, wird Platon im Blick auf sein eigenes Konzept einer Begeisterung in gewisser Weise an sie anknüpfen. In Anbetracht von Sokrates’ Darstellung der göttlichen Mania ist überdies zu vermuten, dass eine weitere Analogie zwischen seiner Ironie bezüglich der dichterischen Begeisterung und seiner früheren Ironie hinsichtlich Lysias’ Eros-Begriff besteht. Angenommen werden darf, dass Sokrates mit seiner pointierten Übertreibung einer ›Nym­ pholepsie‹ (vgl. 238c–d) zwar einerseits das Motiv der poetischen Ekstase kritisch treffen will, dass er andererseits aber auch – ähnlich wie zuvor im Falle des nichtverliebten Erastes – die Vorstellung einer begeisterungslosen Dichtung spöttisch vorführt. Dem Spannungsver­ hältnis zwischen der sokratischen Kritik an der dichterischen Begeis­ terung einerseits und seinem Lob der Mania als göttliches Geschenk andererseits wird im Folgenden nachgegangen. Im zweiten Dialogteil unterzieht Sokrates den Begriff der Mania einer Dihairese (vgl. Phdr. 265a–c). Dass diese nicht schlechthin positiv konnotiert ist, wurde bereits durch die sokratische Ironie kenntlich. Sokrates unterteilt nun die Mania in zwei Gattungen, die eine, »die aus menschlichen Krankheiten« (τὴν μὲν ὑπὸ νοσημάτων ἀνθρωπίνων, 265a9–10), die andere, »die aus einer göttlichen Ver­ änderung des gewöhnlichen Zustandes entstehe« bzw. »aus einer göttlich bedingten Abkehr vom alltäglichen Brauch« (τὴν δὲ ὑπὸ θείας ἐξαλλαγῆς τῶν εἰωθότων νομίμων γιγνομένην, 265a10–11). Handelte

ὡς ἐπ᾿ εὐτυχίᾳ τῇ μεγίστῃ παρὰ θεῶν ἡ τοιαύτη μανία δίδοται (Phdr. 245b7–c1). – Bevor dieser »Beweis« (ἀπόδειξις, 245c1) erbracht werden könne, müsse zuerst die Natur der Seele untersucht werden. Vgl. dazu unten Kap. 5.3.1 u. 5.3.3. 214 Vgl. auch Männlein-Robert 2012, S. 96; Verdenius 1962, S. 132 u. 138 ff. 213

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5.2 Die Ambivalenz von Dichtung und dichterischer Begeisterung

seine erste Rede von der schlechten Mania,215 so erklärt Sokrates, so seien die vier genannten Arten der Mania der zweiten Gattung, der göttlichen Begeisterung, zuzuordnen. Von Interesse ist in die­ sem Zusammenhang aber besonders Sokrates’ Kennzeichnung der göttlichen Mania als ›Abkehr vom Alltäglichen und Gewohnten‹: Mit allen vier Arten der Mania geht demnach ein Heraustreten aus dem Gewöhnlichen, ein Herausbewegen aus den konventionel­ len Sitten, gleichsam ein Transzendieren der vertrauten Alltagswelt einher. Mit der Akzentuierung dieses Moments, welches die vier Arten der göttlichen Mania verbindet, schafft Platon im Phaidros auch einen Übergang zwischen Dichtung und Philosophie, zwischen dichterischer und philosophischer Begeisterung. Nicht seine Kritik an den Dichtern steht hier im Vordergrund, sondern ein Motiv, das er in sein eigenes Konzept einer philosophischen Begeisterung integriert. Hinsichtlich des Philosophen heißt es später: »Indem er aber aus den menschlichen Beschäftigungen heraustritt und Umgang mit dem Göttlichen hat, wird er von den Vielen beschimpft als ein Verwirrter; dass er aber begeistert ist, bleibt den Leuten verborgen.«216 Damit erhalten aber auch die Situierung des Dialogs in der freien Natur und die demonstrative Hervorhebung des Außergewöhnlichen dieses Ortes eine weitere Bedeutung. Die mehrfache Betonung des­ sen, dass Sokrates sein gewohntes Umfeld, nämlich die Polis, verlässt, sodass das Gespräch in einem für den sokratischen Dialog untypi­ schen Terrain stattfindet, aber auch die Hinweise auf den ›idyllischen‹ Charakter des Flussgestades spielen – über die bisherigen Deutungen hinaus – auf das Moment eines Heraustretens aus dem Gewohnten und Vertrauten an, das gemäß den sokratischen Ausführungen aber auch die göttliche Mania charakterisiert.217 Zugleich aber markierte Sokrates’ Ironie bereits die Ambivalenz eines solchen Transzendie­ 215 In diesem Sinne sind auch die erste und zweite Rede des Sokrates als Dihairese zu verstehen (vgl. Phdr. 265c–266c); dazu Flashar 1958, S. 124. 216 ἐξιστάμενος δὲ τῶν ἀνθρωπίνων σπουδασμάτων καὶ πρὸς θείῳ γιγνόμενος, νουθετεῖται μὲν ὑπὸ τῶν πολλῶν ὡς παρακινῶν, ἐνθουσιάζων δὲ λέληθεν τοὺς πολλούς. (Phdr. 249c8–d3). 217 Vgl. Männlein-Robert 2012, S. 84 f.: »Der explizite Verweis darauf, dass Sokrates […] die gewohnten städtischen Gefilde verlässt und sich, wie nicht zuletzt das Über­ schreiten des Flusses nahelegt, jenseits seiner gewohnten Grenzen bewegt, darf als wichtiges Signal des Autors Platon im Sinne einer raum-symbolischen Konzeption des ganzen Dialogs verstanden werden.« Mit etwas anderer Betonung auch Elliger 1975, S. 293 f.

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rens: Durch ihre Wirkmacht – welche Sokrates inszenierte – schienen die Naturumgebung, die Nymphen und auch andere Gottheiten ihn in einen Bann zu ziehen, welchem man nicht zu entkommen vermag. Rahmenhandlung und Zwischengespräche deuten – im übertragenen Sinne218 – mit der Illustration des Herausbewegens in eine für Sokra­ tes ›fremde‹ Umgebung und mit Sokrates’ gleichzeitiger ironischer Distanzierung bereits die Schwierigkeiten und die Gratwanderung an, die für Platon mit den Begriffen μανία und ἐνθουσιασμός auch in philosophischem Kontext einhergehen werden. Im Hinblick auf die Dichter wurde das Problematische dieser Begriffe bereits sichtbar. Diese benötigen über ihre Kunstfertigkeit hinaus die poetische Begeisterung; da ihnen aus platonischer Sicht aber zugleich ein reflexives Wissen fehlt, führt das Selbstverständnis eines dichterischen Enthusiasmus leicht zu einer Abgabe von Verant­ wortlichkeit. Im Sinne eines ekstatischen Ausgeliefertseins und eines ›Angefülltseins aus fremden Strömen‹ war die Rede nicht seine, des Dichters Rede. Er braucht unter dieser Voraussetzung keine Verant­ wortung für die Wirkung seiner Rede auf Rezipienten, auch nicht für seine eigene Seele zu übernehmen, er muss für sein Werk selbst nicht Rede stehen. Darauf verweist schon Sokrates’ Kritik in der Apologie (vgl. 22b–c): Nicht durch Einsicht und Kenntnis würden die Dichter dichten, »sondern durch eine Naturgabe und in der Begeisterung, eben wie die Wahrsager und Orakelsänger«.219 Die Kritik an den Dichtern betrifft ihr Wissensdefizit; allerdings kommt im Rahmen dieser Kritik zugleich zum Ausdruck, dass die Schönheit ihrer Her­ vorbringungen mit ihrer göttlichen Begeisterung zusammenhänge. Die Mania, die von den Göttern komme, so heißt es im Phaidros, führe zu den schönen Werken.220 Auch dieses Moment, welches die Schönheit eines künstlerischen Werkes eng mit der göttlichen Begeisterung assoziiert, wird Platon in sein philosophisches Konzept des Enthusiasmus aufnehmen. Vgl. Görgemanns (1993, S. 130), der die Gefahr des ›Draußen‹, des Verlockenden der freien Natur und der dort waltenden Gottheiten, dem ›Drinnen‹ der Polis gegen­ überstellt, wobei er allerdings das ›Gefährliche‹ nicht metaphorisch versteht (vgl. ebd., S. 123 f., 127 f., 130 ff.). Den von ihm unterstrichenen Kontrast eines ›DraußenUnheimlichen‹ und ›Drinnen-Geschützten‹ signalisiert der Dialog m. E. nicht. Vgl. auch oben Anm. 166. 219 ἀλλὰ φύσει τινὶ καὶ ἐνθουσιάζοντες ὥσπερ θεομάντεις καὶ οἱ χρησμῳδοί (Ap. 22c1– 2). Übers. Schleiermacher (Eigler-Ausg., Bd. 2). 220 μανίας γιγνομένης ἀπὸ θεῶν […] καλὰ ἔργα (Phdr. 245b1–2). 218

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5.2 Die Ambivalenz von Dichtung und dichterischer Begeisterung

In gewisser Hinsicht weist auch der Zikadenmythos im Phaidros (vgl. 258e–259d) auf Momente hin, die für Platons Konzeption einer philosophischen Begeisterung von Bedeutung sind. In dem wieder­ einsetzenden Gespräch nach Beendigung der Palinodie (vgl. Phdr. 257b ff.), aber noch vor der eigentlichen dialektischen Auseinander­ setzung über die Redekunst, also am Übergang vom ersten zum zwei­ ten Dialogteil, kommt Sokrates erneut auf ein Phänomen der Lokali­ tät, nämlich auf das Singen der Zikaden zu sprechen. Deren Geschichte wird nun von Sokrates erzählt: Danach waren die Zikaden vormals Menschen gewesen, die, als die Musen erzeugt wurden und der Gesang entstand, so begeistert wurden, dass sie durch das Singen vergaßen zu essen und zu trinken. Sie starben unversehens, und seit­ dem entstehe aus ihnen das Geschlecht der Zikaden. Nach ihrem eigenen Tod aber würden die Zikaden den Musen Bericht erstatten, wer von den Menschen welche der Musen verehre (vgl. 259b–d). Folgt man der Interpretation von Männlein-Robert, dann ver­ körpern die Zikaden – deren hohe und durch ihren besonderen Klang hervortretende Stimme schon bei Homer und anderen Dichtern eine Rolle spielte221 – diejenige Mousiké, die sich durch eine allein äußere Klanggestalt und das Tonale, nicht aber durch einen sachlichen Gehalt auszeichnet.222 Platon setze die Zikaden »nicht ohne Polemik als extremistische Musendienerinnen ›alten Schlags‹ in Szene«, sie repräsentieren danach eine »Art von Musenkunst, der es ausschließ­ lich um den Gesang […] in einem rein ästhetischen Sinne zu tun ist«, wobei dieser Kunst dennoch ein »erhebliches Suggestions- und Wirkpotential« innewohne.223 Gemäß dieser Auslegung stehen hier also wiederum Platons kritische Haltung gegenüber der traditionellen musischen Kunst und seine Abgrenzung von ihr, auch mit Blick auf sein eigenes Konzept einer philosophischen Poesie, im Vordergrund. Ganz in diesem Sinne macht Sokrates deutlich, dass es gelte, die Zikaden wie Sirenen zu umschiffen, um nicht aus Trägheit ihrem betörenden Gesang zu unterliegen und wie Schafe bei der Quelle einzuschlafen (vgl. 259a–b). Sokrates und Phaidros lassen sich nicht Vgl. Männlein-Robert 2012, S. 91. Vgl. Männlein-Robert 2012, S. 92 u. 100. Der Mythos bzw. die »aitiologische Episode über die Zikaden« (ebd., S. 88) wird von Männlein-Robert ausführlich und erhellend diskutiert. Vgl. auch Giovanni R. F. Ferrari: Listening to the cicadas. A study of Plato's Phaedrus, Cambridge 1987, S. 25–33, dessen Auslegungen m. E. weniger überzeugend sind. 223 Männlein-Robert 2012, S. 92 (alle Zitate). 221

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bezaubern und setzen unverdrossen, trotz der mittäglichen Hitze, ihr Gespräch fort. Auch die in der Erzählung unterstrichene bedingungslose Hin­ gabe der Zikaden an den Gesang gehört zunächst in den Kontext der platonischen Kritik: Von den Musen erhielten die Zikaden das Geschenk, keiner Nahrung zu bedürfen, sondern sich allein dem Sin­ gen hingeben zu können, um schließlich nach ihrem Tod den Musen zu dienen (vgl. 259c). Die von den Musen herkommende Begeiste­ rung deutet auf eine Hingabe ohne die Wahrung einer inneren Distanz hin, auf einen Eifer ohne eine Bewusstheit oder ein Wissen um das eigene Tun.224 Auf der anderen Seite aber lässt die Exklusivität der Hingabe auch ein bedeutsames Element im Blick auf die Philosophie aufleuchten: nämlich die Fähigkeit, sich tatsächlich einzulassen. Der spätere philosophische Enthusiasmus wird freilich nichts mit einer gleichsam besinnungslosen Begeisterung oder Selbstvergessenheit zu tun haben. Dennoch aber kennzeichnet das Moment einer Hin­ gabe, nämlich eines Sich-Begeisternlassens und der unbedingten Akzeptanz des Außergewöhnlichen, ein für die philosophische Mania notwendiges Element. Allerdings bildet in diesem Zusammenhang das philosophische Gespräch die Voraussetzung. Ebenso darf der Begeisterte nicht in diesem Zustand verbleiben, der Philosoph muss in den lebensweltlichen Kontext des Dialogs mit anderen zurückkehren. Das Geschenk, das ihnen von den Göttern für die Menschen verliehen wurde, so artikuliert Sokrates, würden die Zikaden ihnen beiden, Sokrates und Phaidros, dann weitergeben, wenn sie die Gesprächs­ partner im ernsthaften Gespräch sähen (vgl. 259a–b).225 Vgl. Männlein-Robert 2012, S. 88 f.; Flashar 1958, S. 125. Das Geschenk, von dem hier die Rede ist (Phdr. 259b1), und das göttliche Geschenk der Hingabe zum Singen, welches die Zikaden erhielten (259c3), stellt Sokrates in einen direkten Bezug; in beiden Fällen verwendet er den Terminus γέρας. Daran zeigt sich m. E. wiederum die Ambivalenz: Einerseits ist die Hingabe der Zika­ den und das damit verbundene gänzliche Abstreifen des Somatischen ironisch kon­ notiert. Andererseits deutet aber die Darstellung, dass Sokrates und Phaidros das göttliche Geschenk erhalten, wenn sie sich im philosophischen Gespräch befinden, auf eine positive oder ernstgemeinte Komponente dieses Geschenkes hin. Darüber hinaus lässt noch ein weiterer Gesichtspunkt die Gleichzeitigkeit von Distanz und gewisser Nähe zwischen Zikaden (resp. traditioneller Dichtung) und Philosophen anklingen. Das kurze Narrativ spielt auf Ähnlichkeiten an (vgl. auch dazu Männlein-Robert 2012, S. 87 f., 90 u. 92 f.): So unterreden sich die Zikaden nicht nur (ἀλλήλοις διαλεγόμενοι, 259a1); auch ihre Auszeichnung durch die Musen, welche die Begeisterung auslösen und ihnen die Triebkraft für ihre Kunst verleihen, überdies die postmortale Rückkehr 224 225

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5.2 Die Ambivalenz von Dichtung und dichterischer Begeisterung

Im Phaidros wird die Frage, was eine kunstgemäße Rede aus­ macht, sowohl im Hinblick auf die Rhetorik als auch die Dichtung dis­ kutiert. Platon distanziert sich von den sophistischen und zeitgenös­ sischen Ausprägungen der Rhetorik und den traditionellen Formen der Dichtung, um zugleich in der späteren Palinodie eine Rhetorik und Poesie in philosophisch gewendeter Gestalt hervortreten zu lassen. Die Hauptkritikpunkte sind in beiden Fällen ähnlich: Platon attestiert Rhetoren und Dichtern eine mangelnde Reflexivität hinsichtlich der sachlichen Grundlegung ihrer Reden und ein damit verbundenes ele­ mentares Wissensdefizit; Darstellungsform und Gestalt ihrer Reden bleiben entsprechend äußerlich, die affizierende Wirkung ihrer Worte suggerieren eine Lebendigkeit, die aus platonischer Perspektive eine scheinbare ist, da sie nicht einem wahrheitsorientierten Inhalt ent­ springt. Dennoch sind Platons kritische Bezugnahmen auf Rhetorik und Dichtung im Phaidros auch in ihrer Differenzierung zu betrach­ ten. Mit der Rahmenhandlung, den ersten beiden Reden und der späteren Prüfung der Lysias-Rede wird ein beachtlicher Teil des Dialogs darauf verwendet, die sophistisch geprägte Redekunst kritisch vorzuführen, d. h. ihre Methoden, Verführungstaktiken und instru­ mentalisierenden Strategien, ihre Argumentationsfiguren und ebenso ihre rhetorischen Schwächen. Zwar lässt Platon auch in seinem kriti­ schen Bezug auf die Rhetorik Interessensmomente im Blick auf seine eigene Konzeption sichtbar werden – wie etwa die Frage der Wirkkraft und Attraktivität von Reden, der ›logographischen Notwendigkeit‹ oder der Beziehung von Inhalt und Form. Jedoch werden innerhalb des sophistischen Rahmens der Lysias-Rede Hinweise auf solche Anknüpfungspunkte, auf die sich Sokrates anerkennend beziehen würde, nicht erkennbar. Auch im Falle der Dichtung ist die platonische Kritik im Phaid­ ros deutlich vernehmbar. Hinsichtlich der traditionellen poetischen Begeisterung – dies wurde in diesem Kapitel gezeigt – werden jedoch auch darüber hinausgehende Aspekte sichtbar. Als göttliche Mania zu der göttlichen Sphäre können als angedeutete Parallelen zum philosophischen Leben verstanden werden. Männlein-Robert zufolge (ebd., S. 92 ff.) lässt der Vergleich aber gerade die grundsätzliche Diskrepanz zwischen dichterischer und philosophi­ scher Begeisterung und Lebensweise hervortreten. Wenn diese auch dominieren mag, so können die Analogien aber auch als Zeichen dafür betrachtet werden, dass das Feld der traditionellen Dichtung für Platon in gewisser Weise nützliche Ansatzpunkte ent­ hält.

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5. Phaidros: Falsche und wahre Gestalten seelischer Bildung

wird die Begeisterung der Dichter von Sokrates gelobt; in dieser Hin­ sicht ist sie nicht schlechthin abzulehnen.226 Das ihr innewohnende Motiv eines Heraustretens aus dem Gewohnten, damit verbunden die Fähigkeit des Ein- und Zulassens bzw. das Moment einer Hingabe, ebenso der akzentuierte Sachverhalt, dass die Schönheit der Werke mit der göttlichen Begeisterung eng verknüpft ist, sind Momente, die Platon unter bestimmten Voraussetzungen nicht nur im Rahmen der traditionellen Dichtung honoriert, sondern die er auch im Hinblick auf seine eigene Konzeption einer erotisch-philosophischen Begeisterung aufgreift. In verwandelter Gestalt werden sich auf der philosophischen Ebene noch Anklänge der dichterischen Begeisterung finden. Aller­ dings grenzt Platon seine philosophische Konzeption eines Enthusi­ asmus und einer literarischen Kunst zugleich entschieden von der traditionellen Ebene ab; er stellt seine Form der Poetik auf völlig neue, philosophische Grundlagen.227 Platon zielt im Phaidros sowohl auf eine neue Gestalt der Poetik als auch der Rhetorik; eine philosophische Transposition herkömmli­ cher Elemente zeigt sich im engeren Sinne aber primär hinsichtlich der Dichtung, speziell der poetischen Mania.228 Trotz der ambiva­ lenten Haltung, mit der Platon auch dieser begegnet, erkennt er hier offensichtlich Aspekte, die sich dazu eignen, sie in einer philoso­ phischen Dimension neu zu verorten. Hinsichtlich der sophistisch geprägten Rhetorik dominiert im Phaidros hingegen eindeutig und allein die kritische Distanzierung. Zwar dienen die inhaltlichen und methodischen Muster der Rhetorik Platon als ein Bezugssystem, dessen Koordinaten er durch die sokratische Vorführung gleichsam aufbereiten und dadurch Notwendigkeiten hinsichtlich seiner eigenen Auffassung einer Redekunst aufscheinen lässt; allerdings bleibt die Basis stets die kritische und explizite Zurückweisung der Elemente, welche die sophistische Rhetorik als solche prägen.229 Vgl. auch Verdenius (1962, S. 132 f.), der unterstreicht, dass die Dichtung und dichterische Mania im Phaidros sowohl Anerkennung als auch Abwertung erfahren, wobei Letztere im Lichte der philosophischen bzw. metaphysischen Betrachtungen artikuliert werde (vgl. Phdr. 248d–e). 227 Vgl. dazu Männlein-Robert 2012, S. 97 ff. 228 Zur Transposition der traditionellen poetischen Begeisterung vgl. Erler (2007, S. 493), der eine solche aber auch hinsichtlich der konventionellen Rhetorik geltend macht (vgl. ebd., S. 501). Vgl. auch Flashar 1958, S. 134. 229 So führte etwa die Thematik der Täuschung über den Begriff der Ähnlichkeit zwar zur Frage des Wissens über den verhandelten Gegenstand und damit zu einem posi­ 226

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5.2 Die Ambivalenz von Dichtung und dichterischer Begeisterung

Am Ende dieses Kapitels soll ein Blick auf die Dialogkomposition geworfen werden. Nach der ersten Rede des Sokrates erfolgte eine Zäsur, angezeigt durch das sokratische Daimonion, das ihn daran hinderte, den Ort zu verlassen, und folglich Sokrates den Impuls dazu gab, sich von seiner ersten Rede zu reinigen: Sokrates möchte mit der Palinodie dem Gott Eros entrichten, was er ihm schuldig sei (vgl. Phdr. 242a–243d). Markiert wird die Wende im Dialoggesche­ hen gewissermaßen durch Sokrates’ physische Bewegung: Schon im Begriff, den Fluss zu durchqueren, kehrt Sokrates um; mit seiner zweiten Rede und auch im Gespräch wird er nun eine ganz neue Richtung einschlagen. Der Einschnitt im Dialog230 wird auch durch einen veränderten Sprachstil signalisiert: Der ironische Duktus der Rahmenhandlung und Zwischenszenen bricht an dieser Stelle ab (vgl. 242a–b), die Unterredung zeichnet sich im Folgenden durch eine ernsthafte Gesprächsführung aus.231 Mit der dialogisch illustrierten ›Umkehr‹232 lassen die Gesprächspartner den durch Lysias vorge­ gebenen sophistisch-rhetorischen Rahmen hinter sich und wenden ihren Blick zur philosophischen Ebene hin. Durch die Wende zwischen der ersten und zweiten Sokrates-Rede erfährt der erste Dialogteil, der insgesamt die drei Reden umfasst, eine systematische Unterglie­ derung. In den ersten, sophistisch geprägten Dialogabschnitt fallen aber auch Sokrates’ ironische Bezugnahmen auf eine dichterische Eupho­ rie; die hier inszenierte Art einer poetischen Begeisterung gehört in das Feld, das es zurückzuweisen gilt. Hingegen bilden Sokrates’ Aus­ führungen über die verschiedenen Formen göttlicher Mania den Auf­ takt zu seiner zweiten Rede (vgl. 243e–245a); im Anschluss beginnt tiven Aspekt (vgl. oben Kap. 5.1.4 u. Erler 2007, S. 502). Das konstruktive Moment liegt aber nicht in der sophistischen Rhetorik selbst begründet. Zu einer etwas anderen Sichtweise vgl. ebd., S. 504 f. 230 Yunis (2011, S. 98) spricht von einem »decisive turn«. Vgl. auch Elliger 1975, S. 292. 231 Auch der Bezug zur Naturumgebung ist im späteren Dialoggeschehen nicht mehr primär durch einen ironischen Ton geprägt. Anklänge der Ironie finden sich noch, wie oben zu sehen war, im Zikadenmythos (vgl. Phdr. 258e–259d). Die Textstellen 262d, 263d u. 278b verweisen spielerisch auf die vorherigen ironischen Szenerien. Der hier betrachtete Textabschnitt, in dem Sokrates zunächst den Fluss durchqueren will, oder das Gebet zu Pan am Ende des Dialogs (vgl. 279b–c) sind aber von der Ironie völlig losgelöst. 232 Angespielt wird auf die Periagoge. Freilich ist es im Eigentlichen nicht Sokrates, der diese vollziehen muss.

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5. Phaidros: Falsche und wahre Gestalten seelischer Bildung

die eigentliche philosophische Rede (vgl. 245b ff.). Auch innerhalb der Dialogkomposition weist Platon der traditionellen göttlichen Form der Begeisterung und insbesondere der poetischen offensichtlich einen eigenen Platz zu: nämlich vor dem eigentlichen philosophischen Teil der Palinodie, aber zugleich nach der gekennzeichneten Zäsur. Ohne die dialogische Positionierung überbewerten zu wollen, ist doch zu konstatieren, dass sie die These dieses Kapitels bestärkt: In ihrer Stellung ist die Dichtung im Phaidros höher einzustufen als die sophistisch geprägte Rhetorik.

5.3 Die Palinodie: Der Seelenmythos und die Bildung der Seele Noch mehr als die Reden zuvor ist auch die Palinodie durch The­ menvielfalt und Vielschichtigkeit charakterisiert. Den Hauptteil der Rede bildet der Mythos über die Seele: Das mythologische Narra­ tiv zeichnet nicht nur das berühmte Seelenbild von befiedertem Wagengespann und Lenker, sondern es zielt auch auf die Frage nach der Verbindung von Eros und Anamnesis des Schönen, ebenso von erotisch-philosophischer Begeisterung, Selbsterkenntnis und freund­ schaftlicher Liebe. Dem Naturalismus der Sophisten und Lysias’ dichotomem, ebenso naturalistisch begründetem Bild des Menschen setzt Platon hier seinen Begriff wahrer Physis und sein Konzept der wahren menschlichen Natur entgegen: Die Bedingung des Mensch­ seins knüpft Platon im Phaidros explizit an die Frage der Ideen und an die Selbsterkenntnis der Seele in ihrer eigentlichen, dem Göttlichen verwandten Natur. Die folgenden Ausführungen nehmen zunächst auf Sokrates’ Frage am Beginn des Dialogs, wer oder was er selbst sei, und darüber hinaus auf den Unsterblichkeitsbeweis der Seele Bezug; beide Fra­ gestellungen werden als wesentliche Prämissen des Seelenmythos erachtet. Schon in der Einleitung zu diesem fünften Kapitel wurde die These formuliert, dass Platon im Phaidros sein Konzept der Seelenbildung in einer philosophischen Anthropologie fundiert. Von dieser These ausgehend betrachten und prüfen die nachfolgenden Untersuchungen, inwiefern und auf welche Weise der im Mythos zum Ausdruck kommende, das Seelenbild selbst prägende erotisch-philo­ sophische Prozess als Platons Konzept der Bildung der Seele, d. h. als

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5.3 Die Palinodie: Der Seelenmythos und die Bildung der Seele

ein Vorgang innerseelischen Wandels, der Selbsterkenntnis, der Liebe und lebenspraktischen Verwirklichung, erkennbar wird. Als literarische Darstellung muss sich der Mythos überdies an Platons Anforderungen an eine wahre künstlerische Mimese, die Palinodie als Rede an seinen Ansprüchen bezüglich einer kunstge­ rechten Rhetorik messen lassen. Diese Fragen werden zwar erst am Ende explizit aufgegriffen; die Antworten darauf werden aber teilweise bereits im Zuge der Auslegungen in einzelnen Momen­ ten sichtbar.

5.3.1 Zwei Prämissen des Seelenmythos: Die sokratische Frage der Selbsterkenntnis und der Unsterblichkeitsbeweis der Seele In Berufung auf die delphische Maxime bringt Sokrates zu Beginn des Dialogs das Thema der Selbsterkenntnis ins Spiel; der Passus schließt unmittelbar an seine ironische Vorführung der sophistischen Ambitionen, mythologische Figuren zu rationalisieren (vgl. Phdr. 229c–e), an: Nach dem Delphischen Spruch kann ich noch immer nicht mich selbst erkennen. Lächerlich scheint es mir deshalb, solange ich dieses nicht weiß, andere Dinge zu untersuchen. Daher also lasse ich dies gut sein, darauf vertrauend, was auch sonst von diesen Dingen geglaubt wird, wie ich gerade sagte, untersuche ich nicht diese, sondern mich selbst, ob ich eine Art wildes Tier bin, noch verschlungener und mit viel größerer Begierde als Typhon, oder ob ich ein milderes und einfacheres Lebewesen bin, das von Natur aus an einem göttlichen und bescheidenen Geschick Anteil hat.233

Sokrates’ Kontrastierung von wildem Tier und mildem, einfacherem Lebewesen, von vielköpfigem Τυφῶν und der Teilhabe an einem bescheidenen (ἄτυφος) Geschick,234 lässt zunächst erneut an das

233 οὐ δύναμαί πω κατὰ τὸ Δελφικὸν γράμμα γνῶναι ἐμαυτόν · γελοῖον δή μοι φαίνεται τοῦτο ἔτι ἀγνοοῦντα τὰ ἀλλότρια σκοπεῖν. ὅθεν δὴ χαίρειν ἐάσας ταῦτα, πειθόμενος δὲ τῷ νομιζομένῳ περὶ αὐτῶν, ὃ νυνδὴ ἔλεγον, σκοπῶ οὐ ταῦτα ἀλλ᾽ ἐμαυτόν, εἴτε τι θηρίον ὂν τυγχάνω Τυφῶνος πολυπλοκώτερον καὶ μᾶλλον ἐπιτεθυμμένον, εἴτε ἡμερώτερόν τε καὶ ἁπλούστερον ζῷον, θείας τινὸς καὶ ἀτύφου μοίρας φύσει μετέχον. (Phdr. 229e5–230a6). 234 Vgl. dazu Peter M. Steiner: Psyche bei Platon, Göttingen 1992, S. 11, Anm. 8: »Τυφῶν – ἄτυφος ist ein wortspielerischer Gegensatz zwischen der komplexen, sich

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dichotome Modell der ersten beiden Reden, an den Antagonismus von besinnungsloser Leidenschaft und Vernünftigkeit, von ›angeborener Begierde‹ und ›hinzuerworbener Meinung‹, denken. Im Gegensatz zu dieser Konzeption, die oben als eine sophistische kenntlich wurde, weist Sokrates aber wiederum von vornherein das menschlich Natur­ gemäße nicht der Seite der Begierde, sondern derjenigen Seite zu, die den Menschen als ein an etwas Göttlichem teilhabendes Wesen, als ein Vernunftwesen, hervorhebt.235 Zugleich lässt Sokrates mit der Bezugnahme auf den delphischen Spruch das Maßvolle, Ord­ nende und Richtungsweisende der Sophrosyne aufscheinen, während Typhon, das Ungeheuer mit hundert Drachenköpfen, das Gegenteil, nämlich eine in Hybris und Begierde gefangene Richtungs- und Orientierungslosigkeit, verkörpert. Die zitierte Passage verschränkt augenscheinlich die anthropolo­ gische Fragerichtung – nämlich was den Menschen ausmache und als welche Art von Lebewesen er zu charakterisieren sei – mit dem Thema der Selbsterkenntnis.236 Die Frage, worin Natur und Wesen des Men­ schen gründen, erschöpft sich aus platonischer Perspektive nicht in einem deskriptiven, etwaige Kausalitäten aufzeigenden Unterfangen, sondern ist notwendig mit der Frage der Selbsterkenntnis assoziiert. gegen die Götter erhebenden Monstrosität des mythischen Typhoeus (vgl. Hesiod, Th. (Solmsen) V, 820 ff.) und dem ›nicht-typhonischen‹, was im üblichen Wortge­ brauch ›bescheiden‹ und ›nicht aufgeblasen‹ meint. Ein Gegensatz, der hier wie in R. 611b–612a die Problematik der Seele zwischen Einem und Vielem, Einfachheit und Komplexität andeutet.« Vgl. dazu auch R. IX 588b-e. Zur Figur des Typhon vgl. auch Nightingale 1995, S. 134; zu dem ganzen Textabschnitt Niehues-Pröbsting 1987, S. 170 f. 235 Dass Platon überdies seine eigene duale Leib-Seele-Konzeption durch verschie­ dene Vermittlungsmomente selbst aufbricht, wurde in dieser Arbeit bereits in ver­ schiedenen Hinsichten gezeigt. Vgl. zu einem kurzen Resümee oben Kap. 5.1.3. Auch das unten erörterte Bild der Seele wird in diese Richtung zielen. 236 Vgl. auch Christian Göbel: Griechische Selbsterkenntnis. Platon – Parmenides – Stoa – Aristipp, Stuttgart 2002, dessen Unterscheidung einer ›offenen‹ sokratischen und ›dogmatischen‹ platonischen Dialektik innerhalb Platons Werk ich nicht teile (vgl. ebd. S. 27 ff.), der in Rekurs auf die Tradition des delphischen Spruches und die pla­ tonischen Hinweise darauf aber ebenso eine Verbindung von Selbsterkenntnis und Anthropologie bei Platon, auch im Blick auf obige Textstelle im Phaidros, herstellt (vgl. ebd., S. 37–46, bes. 37–39). In knapper, aber grundlegender Form wird der Zusammenhang von Selbsterkenntnis und anthropologischer Frage bei Platon auch diskutiert von Wolfgang H. Pleger: Die geteilte Seele. Zum Verhältnis von Anthro­ pologie und Ethik bei Platon, in: Politisches Denken. Jahrbuch 2004, hg. von Karl Graf Ballestrem et al., Berlin 2004, S. 11–23, hier 21.

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5.3 Die Palinodie: Der Seelenmythos und die Bildung der Seele

Sokrates’ Aufrufen des delphischen Spruches erinnert erneut an die oben in diesem Zusammenhang herausgearbeiteten Motive:237 Besonders das religiös-anthropologische Motiv als Bestimmung des Menschen im Verhältnis zum Göttlichen und das ethisch-lebensprak­ tische, in vielschichtiger Weise auf die Sophrosyne zielende Motiv deutet Platon auch hier an und bindet sie in den philosophischen Kontext ein. Das delphische ›Erkenne dich selbst!‹, das Sokrates in der Apologie in die spezifische, neukonstituierte Form der sokratischen Selbsterkenntnis überführte, die vor Wissenshybris bewahren soll, dient auch im Phaidros als Impuls, die Stellung des Menschen, sein Sein und Dasein und die Möglichkeiten seines Denkens und Han­ delns zu reflektieren. Die betrachtete Textstelle verweist auf diesen Zusammenhang. Entsprechend muss eine philosophisch motivierte Anthropologie im Kontext ihrer Voraussetzung der Selbsterkennt­ nis auch an ein normativ-ethisches Moment gebunden sein. Von Dialogbeginn an schließt Platon damit aus, dass die Untersuchung der Seele auf eine allein beschreibende Darlegung eines etwaigen Ist-Zustandes zielen könnte, zudem auch eine solche Deskription nicht ohne normative Setzungen auskommt. Dies bedeutet aber nicht, dass in das trimere Seelenkonzept Platons nicht zugleich auch die Erfahrungen menschlichen Daseins einfließen würden. Im Hinblick auf die drei Reden im Phaidros stellt der betrachtete Textabschnitt ein Leitmotiv dar, was auch seine Positionierung in der Rahmenhandlung erklärt. Auf der einen Seite zeigt sich in seinem Lichte – im Blick auf die ersten beiden Reden – der sophistische Ent­ wurf des Menschenbildes, in welchem die Frage der Selbsterkenntnis keinen Platz hat, als ein nahezu statisches Modell, das auf der Grund­ lage eines materialistisch geprägten Naturbegriffes dazu tendiert, menschliche Verhaltensmuster zu determinieren. Auf der anderen Seite ist davon auszugehen, dass mit der akzentuierten Verschrän­ kung von anthropologischer Frage und sokratischem Streben nach Selbsterkenntnis eine wesentliche Prämisse für das Seelenkonzept in der Palinodie benannt ist. Darüber hinaus erweist sich Sokrates’ Frage nach sich selbst noch in einer weiteren Hinsicht als ein Gegen­ konzept zum sophistischen Ansatz: Sokrates’ Bestreben ist es, wie er hier formuliert, sich selbst zu betrachten und zu prüfen (σκοπεῖν ἑαυτόν). Er kreist nicht um eigensüchtige Begehrlichkeiten und das Bedürfnis nach Anerkennung und Glanz; auch redet Sokrates nicht – 237

Vgl. oben Kap. 2.2.1.

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5. Phaidros: Falsche und wahre Gestalten seelischer Bildung

wie seine Dialogpartner im Charmides – über die Frage der Selbster­ kenntnis, ohne diese zugleich auf sich selbst zu beziehen. In diesem auch auf die eigene Seele bezogenen Trachten nach Selbsterkennt­ nis liegt aber ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen Sokrates und seinen Gesprächspartnern; auch darin zeigt sich in gewisser Weise eine Anknüpfung an die Apologie. Hier, zu Beginn des Phaidros, bringt Sokrates Selbsterforschung und Selbsterkenntnis als vorrangige Frage- und Aufgabestellung des Philosophierenden in Anschlag.238 Mit Sokrates’ artikuliertem Bestreben, sich selbst zu erkennen, wird, so ist zu vermuten, ein Spannungsbogen von der Einleitung des Dialogs bis hin zur Palinodie aufgebaut. Vor diesem Hintergrund gilt es zu prüfen, auf welche Weise Sokrates’ anfängliche Frage nach sich selbst auf das in der Palinodie dargestellte Seelenkonzept zielt; auch, wie unter dieser Voraussetzung das duale Modell von Typhon und mildem Lebewesen und das trimere Seelenkonzept in Einklang zu bringen sind. Handelt es sich darüber hinaus bei Sokrates’ Frage, wer oder was er selbst sei, das eine oder das andere, um eine rhetorische Frage, die den Menschen als eine Art Zwischenwesen mit einer entsprechenden Spannbreite an Möglichkeiten des Menschseins cha­ rakterisieren soll?239 Die Fragestellungen werden unten, in Anschluss an die Erörterungen des Seelenmythos, wieder aufgegriffen.240 Die zweite Prämisse des Seelenmythos betrifft Sokrates’ argu­ mentativen Nachweis der Unsterblichkeit der Seele, den er selbst als Anfang oder Ursprung der gesamten Ziel- und Beweisführung (ἀρχὴ […] ἀποδείξεως, Phdr. 245c4) seiner zweiten Rede setzt. In ihrer Gesamtheit soll die Palinodie nämlich aufzeigen, dies wurde oben 238 Während in einem großen Teil der Forschungsliteratur zum Phaidros die Frage der Selbsterkenntnis wenig Beachtung, überdies in Studien zu anderen Werken Platons die oben zitierte Textstelle lediglich als Programmatik des Sokrates, losgelöst vom sonstigen Kontext des Phaidros, Erwähnung findet, stellt Griswold (1996) die Selbst­ erkenntnis ins Zentrum seiner Studie über den Phaidros: Für ihn stellt sie das ein­ heitsstiftende und maßgebende Thema des Dialogs dar (vgl. ebd., S. 2 ff., auch S. 9 u. 33 f.). In der vorliegenden Untersuchung wird die Selbsterkenntnis ebenso als zen­ trale, allerdings nicht als alleinige Kernthematik des Phaidros betrachtet; vielmehr wird zu fragen sein, wie diese und andere Themenfelder des Dialogs sich gegenseitig bedingen. Vgl. dazu Niehues-Pröbsting 1987, S. 171 f.; auch Marcel van Ackeren: Das Wissen vom Guten. Bedeutung und Kontinuität des Tugendwissens in den Dialogen Platons, Amsterdam/Philadelphia 2003, S. 213 f. 239 Vgl. dazu Smp. 201d–203a; auch Göbel 2002, S. 38, Anm. 109. 240 Vgl. unten Kap. 5.3.5.

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5.3 Die Palinodie: Der Seelenmythos und die Bildung der Seele

schon kenntlich, dass die vierte Mania, die göttliche Begeisterung des Eros, dem Menschen zum höchsten Glück gereiche (vgl. 245b–c). Notwendige Voraussetzung dafür sei aber die richtige Einsicht in die Natur der Seele,241 deren untersuchende Darstellung Sokrates also mit dem ›Unsterblichkeitsbeweis‹ beginnt (vgl. 245b–246a). Dieser ist – auf andere Weise als die Frage der Selbsterkenntnis – ebenso als Fundament, als unbedingte Grundlage des nachfolgenden Seelen­ konzepts aufzufassen, wird sich im Mythos die menschliche Seele doch durch ihre Disposition zur Anamnesis auszeichnen.242 Seine Beweisführung beginnt Sokrates mit dem Satz: »Alles, was Seele ist, ist unsterblich« (Ψυχὴ πᾶσα ἀθάνατος, 245c5).243 Während im Phaidon die Beweise der Unsterblichkeit ihren Ausgang hauptsächlich vom Wesen der Seele in ihrer Entgegensetzung zum Körper bzw. zu allem Sterblichen nehmen,244 stützt Sokrates im Phaidros die Begründung der Unsterblichkeit auf ein kinetisches Prinzip: »Nur also das sich selbst Bewegende, weil es nie sich selbst verläßt, wird auch nie aufhören, bewegt zu sein, sondern auch allem, was sonst bewegt wird, ist dieses Quelle und Anfang der Bewegung. Der Anfang aber ist unentstanden. […] Da er aber unentstanden ist, muß er notwendig auch unvergänglich sein.«245 Der Beweis hebt mit der Distinktion zwischen Selbst- und Fremdbewegung an (vgl. 245c5–7):246 Während bei allem Fremdbe­ 241 »Über die Natur der Seele, der göttlichen und menschlichen, muss in Betrachtung ihrer Leiden und Werke zuerst wahre Einsicht gewonnen werden.« (δεῖ οῦν πρῶτον ψυχῆς φύσεως πέρι, θείας τε καὶ ἀνθρωπίνης, ἰδόντα πάθη τε καὶ ἔργα, τἀληθὲς νοῆσαι, Phdr. 245c2–4). 242 Folglich auch durch ihr vorgeburtliches Sein und, wie der Mythos verdeutlichen wird, auch durch ihre Existenz nach dem Tod. Vgl. dazu Niehues-Pröbsting 1987, S. 176, zur Gesamtheit der Beweisführung S. 175 f. 243 Die Übertragung geht zurück auf von Wilamowitz-Moellendorff (1919) 1959, S. 364; vgl. auch Heitsch 1997, S. 94; Erler 2007, S. 383. Schleiermacher übersetzt: »Jede Seele ist unsterblich« (Eigler-Ausg., Bd. 5). 244 Vgl. vor allem die beiden letzten Beweise Phd. 78b–80e (dazu auch oben Kap. 3.1) u. 102a–107a; dazu auch R. X 608c–611a. Zu beachten ist überdies die ähnliche dialogische Folge von Unsterblichkeitsbeweis und Jenseitsmythos in Phaidon, Politeia und Phaidros. 245 μόνον δὴ τὸ αὑτὸ κινοῦν, ἅτε οὐκ ἀπολεῖπον ἑαυτό, οὔποτε λήγει κινούμενον, ἀλλὰ καὶ τοῖς ἄλλοις ὅσα κινεῖται τοῦτο πηγὴ καὶ ἀρχὴ κινήσεως. ἀρχὴ δὲ ἀγένητον. […] ἐπειδὴ δὲ ἀγένητόν ἐστιν, καὶ ἀδιάφθορον αὐτὸ ἀνάγκη εἷναι. (Phdr. 245c7–d4) Übers. Schleiermacher (Eigler-Ausg., Bd. 5). 246 Vgl. auch Peter Schulz: Freundschaft und Selbstliebe bei Platon und Aristoteles. Semantische Studien zur Subjektivität und Intersubjektivität, Freiburg/München

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wegten die Bewegung und so auch das Leben notwendig endige, lasse das Selbstbewegte, wie Sokrates ausführt, sich selbst nicht zurück; es benötige keinen Impuls von außen, sondern der Ursprung der Bewe­ gung liege in ihm selbst. Für diesen Ursprung bzw. die ἀρχή gilt, dass sie nicht auf ein anderes zurückführbar ist, sie kann nicht aus etwas entstanden sein, sonst wäre sie nicht der Anfang. Ginge sie unter, würde nichts mehr aus ihr und auch sie selbst nicht mehr entstehen. Das Sich-selbst-Bewegende als Anfang der Bewegung könne deshalb »weder untergehen noch entstehen, oder der ganze Himmel und die ganze Erde würden in eines zusammenfallend stillstehen«.247 Sokrates führt den Unsterblichkeitsbeweis, indem er die Seele mit dem Sich-selbst-Bewegenden gleichsetzt, von diesem aber auf­ zeigt, dass es als Anfang unentstanden und unvergänglich ist; folg­ lich muss die Seele unsterblich sein (vgl. Phdr. 245e–246a).248 Der Begriff der Seele verbleibt in diesem Rahmen, wie das Beweisverfah­ ren selbst, in einer Allgemein- und Abstraktheit. Kosmische und menschliche Seele erscheinen als ein Prinzip; die Seele als Anfang deutet – trotz der später im Mythos gemachten Zeitangaben – auf einen überzeitlichen Horizont hin.249 Am Ende dieses Beweises stellt Sokrates aber bereits einen Übergang zum Mythos und zur Inkarnation der menschlichen Seelen her: Man solle sich nicht schä­ men, das Sich-selbst-Bewegende »als Wesen und Begriff der Seele« (ψυχῆς οὐσίαν τε καὶ λόγον, 245e3) zu erklären; denn der Körper, 2000, darin Kap. 1.4: ›Exkurs: Die Reziprozität der Liebenden: Phaidros‹, S. 89–103, hier 92 f. 247 οὔτ᾿ ἀπόλλυσθαι οὔτε γίγνεσθαι δυνατόν, ἢ πάντα τε οὐρανὸν πᾶσαν τε γῆν εἰς ἕν συμπεσοῦσαν στῆναι (Phdr. 245d7–e1). – Das Sich-selbst-Bewegende ohne Beginn und Ende ist folglich auch das Immerbewegte. In Bezug auf die (in der älteren For­ schungsliteratur kontrovers diskutierte) Stelle Phdr. 245c5 wird zumeist ἀεικίνητον statt αὐτοκίνητον als der adäquatere Terminus angenommen. Vgl. u. a. Heitsch 1997, S. 108, Anm. 198; Schulz 2000, S. 93, Anm. 5; Erler 2007, S. 383. 248 Niehues-Pröbsting (1987, S. 175 f.) spricht von »einem einzigen Kettenschluß«. Hermeias erkennt in diesem Beweis zwei Syllogismen, der erste zeige, dass die Seele als Selbstbewegte und Immerbewegte nicht durch sich selbst, der zweite, dass sie als Prinzip der Bewegung auch nicht durch anderes vergehe (vgl. in Phdr. 103,19 ff. Cou­ vreur; Bernard 1997, S. 212 f.). 249 Die Seele ist als Prinzip nicht raumzeitlich zu denken. Eine Vereinbarkeit der Seele als kinetischer Ursprung bzw. als Inbegriff der Selbstbewegung mit dem Theorem des Phaidon, wonach die Seele den Ideen als dem immer sich gleich Bleibenden verwandt ist (vgl. Phd. 78c–d, 80a–b), bleibt aber schwierig. Vgl. dazu Andreas Graeser: Pro­ bleme der platonischen Seelenteilungslehre. Überlegungen zur Frage der Kontinuität im Denken Platons, München 1969, S. 64–67.

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5.3 Die Palinodie: Der Seelenmythos und die Bildung der Seele

der die Selbstbewegung in sich habe, heiße »beseelt« (ἔμψυχον, 245e6).250 Damit signalisiert Sokrates, dass der einheitliche Begriff von kosmischer und menschlicher Seele im Sinne eines kinetischen Prinzips zwar nicht selbstverständlich, aber dennoch denkwürdig und mehr noch anzunehmen ist. Die Seele erscheint im Rahmen des Unsterblichkeitsbeweises im Phaidros als Allseele und als Ursprung alles Lebendigen;251 gerade aber vor diesem Hintergrund bildet der Beweis die Voraussetzung des folgenden Mythos: »Alles, was Seele ist, waltet über alles Unbeseelte und durchzieht den ganzen Himmel, verschiedentlich in verschiedenen Gestalten sich zeigend.«252 Im Fortgang bestimmt nun die mythologische Erzählung die gesamte zweite Rede des Sokrates (vgl. Phdr. 246a–256e); sie beginnt mit dem berühmten Vergleich der Seele mit einem befiederten Wagengespann und seinem Lenker. Dieses Bild der Seele, welches den gesamten Mythos dominieren wird, greift offenkundig das kinetische Motiv des Unsterblichkeitsbeweises auf, insofern der Seelenwagen selbst, ausgehend vom Lenker, als bildliche Darstellung einer Selbst­ bewegung sichtbar wird.253 Das gleichnishafte Bild führt in konkreter Gestalt vor Augen, was der vorausgehende Beweis nur in allgemeiner Form andeutete: Dass der Ursprung der Bewegung, der die kosmische Seele auszeichnet, danach auch jeder individuellen menschlichen Seele immanent ist und es sich folglich um ein Prinzip handelt, näm­ lich den unentstandenen und unvergänglichen Anfang. Insofern aber der Unsterblichkeitsbeweis zwar die Seele als Selbstbewegung auf­ zeigt, dieser Darlegung aber »noch die Beziehung zum Begriff der 250 Platon greift auf älteres Gedankengut zurück. Nach Aristoteles hatte Alkmaion von Kroton eine Verbindung von Selbstbewegung und Unsterblichkeit in Analogie zu den Sternen auch für die Seele angenommen. Vgl. Aristoteles: de An. I 2, 405a29–b1; dazu Heitsch 1997, S. 107 f.; Martin Holtermann: Die Suche nach der Struktur der Seele in Platons Phaidros, in: Manuel Baumbach, Helga Köhler, Adolf M. Ritter (Hg.): Mousopolos Stephanos. Festschrift für Herwig Görgemanns, Heidelberg 1998, S. 426–442, hier 436 f. mit Anm. 35. Eine Deutung des Zusammenhangs von ψυχή, κίνησις und νοῦς bei Platon, in Anknüpfung an Alkmaion und Anaxagoras, bietet Graeser 1969, S. 45–50. 251 Auch im Kontext des letzten Beweises im Phaidon wird die Seele als Ursprung des Lebendigen, als Grund der Lebendigkeit des Leibes bezeichnet (vgl. Phd. 105c–d) und in die Nähe der »Idee des Lebens selbst« (αὐτὸ τὸ τῆς ζωῆς εἶδος, 106d5–6) gerückt. 252 ψυχὴ πᾶσα παντὸς ἐπιμελεῖται τοῦ ἀψύχου, πάντα δὲ οὐρανὸν περιπολεῖ, ἄλλοτ᾿ ἐν ἄλλοις εἴδεσι γιγνομένη. (Phdr. 246b6–7) Übers. Schleiermacher (Eigler-Ausg., Bd. 5). 253 Vgl. auch Griswold 1996, S. 93; Niehues-Pröbsting 1987, S. 178; Yunis 2011, S. 129.

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5. Phaidros: Falsche und wahre Gestalten seelischer Bildung

Seele als Prinzip individuellen Lebens mangelt«, wird der Mythos erforderlich:254 Nicht nur ist der Unsterblichkeitsbeweis eine Voraus­ setzung für den Mythos; auch der Mythos selbst bildet hinsichtlich der Natur der menschlichen Seele einen notwendigen Bestandteil des gesamten Beweises – nämlich des Beweises über die Bedeutung der göttlichen Mania des Eros für das menschliche Leben. Vor dem Hin­ tergrund der »gesamten Seele« (ψυχὴ πᾶσα, 245c5), die sich selbst menschlicher Vorstellung entzieht, wird mit dem mythologischen Narrativ ein konkretes und lebendiges Bild der menschlichen Seele gezeichnet. Der auf dem autokinetischen Prinzip beruhende Unsterblich­ keitsbeweis der Seele und die von Sokrates in Rekurs auf Delphi gestellte Frage nach sich selbst wurden in diesem Kapitel als Prämis­ sen der mythologischen Darstellung der Seele in unvermittelter Form nebeneinander skizziert. Anzunehmen ist aber, dass die Frage der Selbsterkenntnis im Phaidros in letzter Instanz auf die unsterbliche Natur der Seele zielen wird.

5.3.2 Präliminarien zur mythologisch-bildlichen Darstellung im Phaidros Den Mythos über die Seele (vgl. Phdr. 246a ff.) leitet Sokrates mit einer in erkenntnistheoretischer Hinsicht scheinbar einschränkenden Geste ein: »Über ihre [sc. der Seele] Gestalt müssen wir dies sagen, dass, wie beschaffen sie ist, eine im Ganzen und in jeder Hinsicht göttliche und weitreichende Erörterung ist, womit sie sich aber ver­ gleichen lässt, eine menschliche und kürzere«.255 Bevor das Bild des Seelenwagens und das mythologische Narrativ als solches in den nächsten Kapiteln zur Diskussion stehen, werden in diesem Kapitel zunächst bestimmte Annahmen im Hinblick auf die mythologischbildliche Darstellung entwickelt und zugrunde gelegt. Die einleitende Alternative der Untersuchungswege erinnert in gewisser Weise an die beiden Schwierigkeitsgrade von Weg und Methode in der Politeia, auf die Sokrates im vierten Buch in Untersuchung der Tugenden und der dreiteiligen Seele aufmerksam Vgl. Niehues-Pröbsting 1987, S. 176, Zitat ebd. περὶ δὲ τῆς ἰδέας αὐτῆς ὧδε λεκτέον. οἷον μέν ἐστι, πάντῃ πάντως θείας εἶναι καὶ μακρᾶς διηγήσεως, ᾧ δὲ ἔοικεν, ἀνθρωπίνης τε καὶ ἐλάττονος (Phdr. 246a3–6). 254

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5.3 Die Palinodie: Der Seelenmythos und die Bildung der Seele

macht: Für eine tiefere Erkenntnis, so formuliert Sokrates hier, sei ein ›weiterer und größerer Weg‹ als der ›jetzige‹ notwendig (vgl. R. IV 435d). Der ›größere Umweg‹, so zeigte sich oben, wird im sechsten Buch im Vorfeld der Gleichnisse als der dialektische, auf die höchste Einsicht in die Idee des Guten zielende und nur für wenige gangbare Erkenntnisweg kenntlich (vgl. R. VI 504a–505b).256 Vor diesem Hintergrund wurde auch der in Einführung des Seelenbildes im Phaidros von Sokrates so benannte ›menschliche und kürzere‹ Weg in der Forschungsliteratur immer wieder als ein mehr oder weni­ ger unzulängliches oder unzureichendes Verfahren betrachtet: Die mythologisch-bildhafte Darstellung der Seele bedeute zwar die plasti­ schere und leichter zugängliche Form einer erörternden Betrachtung; darüber hinausgehend sei aber der ›göttliche und weitere‹ Untersu­ chungsweg in der Dialektik zu suchen. Der gesamte Mythos von Seele und Eros steht nach dieser Auffassung hinter dem dialektischen Verfahren in erkenntnistheoretischer Hinsicht deutlich zurück.257 Im Gegensatz dazu wird in den folgenden Untersuchungen davon ausgegangen, dass der Mythos im Phaidros und das damit einhergehende Bild der Seele nicht lediglich dem Zweck der Ver­ anschaulichung oder der pädagogisch-didaktischen Einprägsamkeit philosophischer Inhalte dienen sollen, sondern dass die mytholo­ gisch-bildliche Darstellung als eine Erkenntnisform und Erkenntnis­ leistung eigener Art aufzufassen ist, welche die Annäherung an und die Zugänglichkeit zu intelligiblen und wahren Gehalten ermög­ licht. Der Erkenntniswert eines platonischen Mythos muss demje­ nigen des argumentativ-dialektischen Verfahrens nicht nachstehen; vielmehr, so die Annahme hier, handelt es sich um verschiedene Wege der Erkenntnisgewinnung, die sich gerade im Hinblick auf 256 Vgl. oben Kap. 3.4; dazu Thomas A. Szlezák: Unsterblichkeit und Trichotomie der Seele im zehnten Buch der Politeia, in: Phronesis 21 (1976), S. 31–58, hier 36–58. Szlezák akzentuiert die zwei in der Politeia aufgezeigten Wege mit Nachdruck, wobei seiner Argumentation zufolge beide Wege vor allem im zehnten Buch, wenn erneut die Seele in den Blick komme, wieder miteinander konfrontiert werden (vgl. R. X 611a ff.). Der weitreichendere Erkenntnisweg zeige sich hier als der auf die wahre Natur der eingestaltigen Seele im Sinne des λογιστικόν zielende Weg. 257 Obwohl Szlezák (1976) in seiner Argumentation gerade auch auf eine Kritik an Graser (1969) zielt (s. dazu unten Anm. 286), gibt es bei beiden in diesem Punkt eine Übereinstimmung: Sie sehen in Gleichnis und Mythos letztlich eine vor allem der Anschaulichkeit geschuldeten Form der Erörterung, die gegenüber dem auf die Ideen zielenden dialektischen Erkenntnisweg vorläufig bleibe (vgl. Szlezák 1976, S. 50 ff; Graeser 1969, S. 42). Vgl. auch van Ackeren 2003, S. 215.

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5. Phaidros: Falsche und wahre Gestalten seelischer Bildung

die thematische Gesamtkonzeption eines Dialogs in komplementä­ rer Weise ergänzen können. Mythos und Logos sind hierbei nicht als Gegensätze zu verstehen, sondern sie verweisen oftmals auf ein integratives Verhältnis.258 Zwar führt im Falle des Phaidros die zweite Rede des Sokrates das rhetorisch-pädagogische Unterfangen der vorherigen Reden auf einer philosophischen Ebene fort und impliziert in diesem Sinne persuasive Strategien, die sich das illustra­ tiv-bildliche Moment zunutze machen und auf diesem Wege auf ein seelenbewegendes Moment hinzielen. In dieser Hinsicht wird aber angenommen, dass der philosophisch orientierte rhetorische Impuls der erkenntnisleitenden Funktion des Mythos nicht entgegensteht, sondern ganz im Gegenteil philosophisches Erkenntnispotential und rhetorisch-pädagogische Form im Falle des Seelenmythos aufs Engste verknüpft sind. Das Thema der Seele und der nach platonischer Darstellung vielschichtige Zusammenhang von Seele, Eros, göttlicher Mania und Anamnesis fordern die literarische Form des Mythos gewissermaßen heraus. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Mythos den Logos erset­ zen würde, etwa in einem für den Logos unzugänglichen Gebiet.259 258 Eine differenzierte und erhellende Betrachtung wesentlicher Gesichtspunkte des platonischen Mythos und des Verhältnisses von Mythos und Logos bei Platon bietet Dirk Cürsgen: Die Rationalität des Mythischen. Der philosophische Mythos bei Pla­ ton und seine Exegese im Neuplatonismus, Berlin/New York 2002, S. 25–32. Betrachte man, so Cürsgen, die »gemeinsame Aufgabe […] der Förderung der mensch­ lichen Erkenntnis und der Güte menschlicher Lebensführung«, dann würden sich zwischen Logos und Mythos »Überschneidungen« ebenso wie ihre »spezifische[n] Eigenheiten« zeigen (ebd., 27 f.). Vgl. auch Cürsgens Erörterung der Forschungs­ standpunkte (ebd., S. 13–25). Zur Frage des integrierenden Bezugs zwischen Logos und Mythos vgl. überdies Werner Beierwaltes: Logos im Mythos. Marginalien zu Platon, in: Michael Langer, Anselm Bilgri (Hg.): Weite des Herzens, Weite des Lebens. Beiträge zum Christsein in moderner Gesellschaft, Festschrift zum 25-jährigen Abts­ jubiläum von Odilo Lechner OSB, Regensburg 1989, S. 273–285, hier 274. Hinsicht­ lich der zahlreichen Forschungsstudien zum Mythos bei Platon sei stellvertretend auch auf den Sammelband Catherine Collobert, Pierre Destrée, Francisco J. Gonzalez (Hg.): Plato and Myth. Studies on the Use and Status of Platonic Myths, Leiden/Boston 2012 verwiesen. 259 Zu den Problematiken der (vor allem in älteren Studien zu findenden) Annahme einer Stellvertreterfunktion des Mythos, dass dieser als ein unter- oder übergeordne­ ter Ersatz des Logos zu betrachten sei, vgl. Cürsgen 2002, S. 14–16. – Die Themen im Kontext des Phaidros-Mythos werden, mit Ausnahme der Jenseitsbeschreibung selbst, im platonischen Œuvre auch dialektisch erörtert. So wird in der neueren For­ schungsliteratur akzentuiert, dass im platonischen Mythos oftmals die gleichen Fra­ gestellungen wie im argumentativen Dialog verhandelt werden, sich jedoch die Art

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5.3 Die Palinodie: Der Seelenmythos und die Bildung der Seele

Andererseits verbleibt das mythologische Narrativ auch nicht auf einer bloß bildlich-sinnlichen Anschauungsebene.260 Der Mythos im Phaidros, der wie andere platonische Mythen im Kontext seines Dialogs zu interpretieren ist,261 lässt die Vermittlungsebene zwischen Sensiblem und Intelligiblem deutlich sichtbar werden und verkörpert zugleich – dies wird zu erweisen sein – eine davon ausgehende komplexe philosophische, auf intelligible Gehalte zielende Denk- und Erkenntnisbewegung. Das mythologische Narrativ im Phaidros ist, so die zusammenfassende These, hinsichtlich Erkenntnis- und Wahr­ heitsgewinn als gleichrangig mit dem argumentativ prüfenden und begründenden Diskurs zu betrachten.262 Dem Erkenntnispotential und epistemischen Status der mythologisch-bildlichen Darstellung gilt in den vorliegenden Untersuchungen das besondere Interesse. Die beiden von Sokrates in Einführung des Seelenbildes skizzier­ ten Wege einer Erörterung oder Narration (διήγησις), der ›göttliche‹ einerseits und der ›menschliche‹ andererseits, können mit Blick auf Platons Begriff einer kunstgemäßen Mimesis betrachtet werden. Im Kontext der Dichterkritik zeigte sich, dass Platon über seine Dis­ tanzierung von dem konventionellen Nachahmungskonzept hinaus und Weise der sachlichen Erschließung in anderer Form vollziehe und dem Mythos eine spezifische pädagogische und protreptische Wirkung eigen sei. Vgl. dazu Beier­ waltes 1989, S. 277–280; Erler 2007, S. 91; auch Cürsgen (2002, S. 17 f. u. 27 f.), der in diesem Zusammenhang besonders die Projektion von (logischen) Einsichten auf eine vorgängige Zeit bzw. »auf die höchsten und letzten Dinge« (ebd., S. 17) im Mythos betont, wodurch dem Logos gleichsam göttliche Geltung verliehen werde. 260 Vgl. dagegen Theo Kobusch: Die Wiederkehr des Mythos. Zur Funktion des Mythos in Platons Denken und in der Philosophie der Gegenwart, in: Markus Janka, Christian Schäfer (Hg.): Platon als Mythologe. Neue Interpretationen zu den Mythen in Platons Dialogen, Darmstadt 2002, S. 44–57, hier 48 ff. 261 In diesem Sinne unterstreicht Cürsgen (2002, S. 26, auch 16 f.), dass sich Ver­ ständnis und Funktion eines platonischen Mythos – auch wenn der Vergleich der Mythen untereinander durchaus geboten sei – in erster Linie aus ihrem Dialogumfeld erschließen. Die Dialogfunktion der Mythen bedinge gerade »ihren hochreflektierten Charakter« (ebd., S. 26). 262 Die Forschungsdiskussion zu Platons Mythen zeigt in weiten Teilen ebenso die Tendenz, mythologische und argumentative Passagen in Platons Werk als philoso­ phisch ebenbürtig zu erachten. Ohne die Unterschiede einebnen zu wollen, wird von einem integrierenden, konstruktiven oder komplementären Verhältnis zwischen Mythos und Logos bei Platon gesprochen. Danach sind die platonischen Mythen gegenüber dem argumentativen Verfahren weder als epistemisch minderwertig noch höherwertig (im Sinne einer das Rationale übersteigenden Wahrheit) einzustufen. Vgl. dazu Beierwaltes 1989, S. 273–280; Erler 2007, S. 91 f.; Cürsgen 2002, S. 27 ff.; Collobert/Destrée/Gonzalez 2012, Introduction, S. 1 f.

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auch einer anderen, nämlich philosophischen Ebene der Mimesis Ausdruck verleiht. Als charakteristisch für diese Form der Nachah­ mung erwies sich die Orientierung an Intelligiblem: Das Streben nach Erkenntnis der wahren Natur einer verhandelten Sache bzw. die seelische Einsicht des Künstlers werden unter dieser Voraussetzung im Kunstwerk selbst sichtbar. Zugleich zeichnete sich der wahrhafte Künstler dadurch aus, dass er der Differenz zwischen seiner Hervor­ bringung und der wahren Natur der Sache selbst gewahr ist. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass auch die wahren Logoi, die auf dem dialektischen Erkenntnisweg basieren – so hatten es die Ausführungen zum philosophischen Bildungsgang in der Politeia gezeigt –, nicht voraussetzungslos sind, sondern dass die Idee ihre letzte Voraussetzung bleibt; die Wahrheit erschöpfte sich nicht in den Logoi selbst.263 Wie aber der philosophische Dialektiker weiß, dass seine Logoi nicht der göttlichen Idee gleichkommen – auch im Falle, dass er diese auf der höchsten Stufe der Noesis gewonnen hat –, ist sich auch der wahrhafte Künstler bewusst, dass zwischen seinem mimetischen Werk und der Wahrheit, zwischen möglicher oder bestmöglicher Annäherung und dem wahren Wesen der Sache selbst, eine Differenz besteht, die es überdies offenzulegen gilt. Die beiden Wege, auf die Sokrates in Einführung des Seelenbildes im Phaidros aufmerksam macht, hängen, so die Annahme hier, damit zusammen: Auch dasjenige mimetische Erzeugnis, das eine größt­ mögliche Annäherung an die wahre Natur der Seele zur Darstellung bringt, bleibt ein nachahmendes Bild; zugleich setzt es aber ein an der Wahrheit orientiertes Erkennen und Verstehen voraus. Die sokratische Kennzeichnung der beiden Wege zielt hier, so also die wei­ tere Prämisse dieser Untersuchungen, nicht auf die Unterscheidung von dialektischem auf der einen und bildhaft-mythologischem Weg auf der anderen Seite, sondern darauf, dass jede Erörterung oder Erzählung, auch wenn sie auf wahrer Einsicht basiert – zu welcher der Mensch Platon zufolge in großer Annäherung fähig ist –, sich dennoch in ›menschlicher‹ Gestalt vollzieht.264 Vgl. oben Kap. 3.4; auch Cürsgen 2002, S. 28–30. An späterer Stelle scheint Sokrates auf die beiden Wege zurückzukommen (vgl. Phdr. 272b–274b): Er kontrastiert hier einen längeren, beschwerlichen und einen kürzeren, leichten Weg der Rhetorik, wobei allerdings der kürzere Weg als die Sache der sophistischen Redekunst kenntlich wird. Auch dann, wenn man davon ausgeht, dass der sokratische Mythos nur dem Zweck der Veranschaulichung dienen soll, ist es dennoch sehr unwahrscheinlich, dass der hier so bezeichnete kürzere Weg dem 263

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Die schon angedeutete Darstellung der Seele als befiedertes Wagengespann hat gleichnishafte und metaphorische Züge; beiden Stilmitteln, Gleichnis und Metapher, ist das Bildhafte, die bildliche Form gemein.265 In seiner Gesamtheit wird der von Sokrates darge­ legte Mythos verschiedene bildliche Motive aufgreifen, um zugleich als Erzähleinheit aus den verschiedenen Elementen ein konsonantes Bild entstehen zu lassen. In den folgenden Ausführungen wird sowohl für die Darstellung des Seelenwagens im Besonderen oder anderer einzelner Motive als auch für die mythologische Erzählung im Gan­ zen der Begriff des Bildes als Beschreibungs- und Analysekategorie verwendet.266 Drei Hinsichten sind hierbei von Belang; sie machen den Bildbegriff als eine Art Analysewerkzeug plausibel und sie stellen zugleich Voraussetzungen für die folgenden Untersuchungen dar. Erstens ist mit ›Bild‹ in diesem Zusammenhang die sprachliche Ausformung und Darbietung einer visuellen Gestalt gemeint, die beim Rezipienten entsprechend eine visuelle Vorstellung hervorruft. Visualität bezieht sich unter dieser Voraussetzung also nicht nur auf die unmittelbare sinnliche Wahrnehmung, sondern auch auf das Hervorbringen und Evozieren visuell-figurativer resp. bildlicher Vor­ stellungen mit Mitteln der Sprache. Hierbei verweist das sprachliche Bild oder Bild in Worten auf den Anspruch, bestimmte Sachverhalte – hier insbesondere die Natur der Seele, damit zusammenhängend das Eros-Konzept und die Frage des Schönen – im Darstellungsvoll­ zug und -nachvollzug zu ergründen und zu erschließen. Ohne auf die weitreichenden, in den letzten Jahrzehnten geführten Diskussio­ nen zum Begriff der Metapher eingehen zu wollen, werden in den folgenden Untersuchungen in impliziter Form Impulse aus diesen sokratischen Weg des Mythos entspricht – eine Annahme, die aber ebenso in der Literatur zu finden ist. 265 Als Gleichnis bzw. Vergleich hatte Sokrates die Beschreibung der Seele ausge­ wiesen (vgl. oben Anm. 255). – Bekanntlich sind Gleichnis und Metapher nicht trenn­ scharf voneinander abzugrenzen. Zu einer erörternden Darstellung von ›Metapher‹ und ›Vergleich‹ in Bezug auf Aristoteles vgl. Paul Ricœur: Die lebendige Metapher, mit einem Vorw. zur deutschen Ausg., aus dem Franz. von Rainer Rochlitz, 2. Aufl., München 1991 (La métaphore vive, Paris 1975), S. 31–36. 266 Der Begriff des Bildes ist gegenüber Metapher und Gleichnis die weitere ästheti­ sche Kategorie. Vgl. dazu Niehues-Pröbsting (1987, S. 17), der im Hinblick auf rhe­ torische Formen in Platons Werk betont: »Dabei erschließt sich die Bedeutung der Formen nicht, indem man vorgefaßte ästhetische oder rhetorische Kategorien an sie heranträgt, sondern nur, indem man die Gedanken verfolgt und analysiert, die sie ausdrücken.«

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Zusammenhängen aufgenommen. Zu denken ist hierbei vor allem an Ricœurs Betrachtungen der Metapher in ihrer poetischen Funktion, deren Potential er im Hinblick auf die dichterische Verschränkung von Mythos und Mimesis als das Verhältnis zwischen »heuristischer Fiktion und Neubeschreibung« analysiert und beleuchtet.267 Zweitens ist an den spezifisch platonischen Bildbegriff im Sinne des ›Abbildes‹ zu erinnern, wie er im Rahmen des Liniengleichnisses oben diskutiert und mit dem Begriff der Mimesis erneut sichtbar wurde. Das Abbild ist danach in ontologischer und epistemologi­ scher Hinsicht vom ›Urbild‹ oder Original abhängig; der visuelle Bildbegriff war in diesem Kontext metaphorisch zu verstehen. Das Urbild-Abbild-Verhältnis ist für Platons Erkenntnis- und Wissens­ theorie grundlegend, hängt damit doch die Möglichkeit der Wahr­ heitsorientierung und von wahrer Erkenntnis überhaupt unmittelbar zusammen.268 Das reflexive Wissen um die Differenzierung der Ebenen, d. h. der Ebene der Wissensgenerierung und der Idee selbst, bzw. um die prinzipielle Voraussetzung der intelligiblen Ebene ist danach für jeden philosophischen Wissensprozess konstitutiv. Erst vor diesem Hintergrund erklärte sich, dass Maßstab und Kriterium von Platons Dichterkritik im zehnten Buch der Politeia in der Frage des ontologischen und epistemologischen Status der poetischen Erzeug­ nisse gründen.269 Den Produkten der traditionellen Dichtkunst attes­ tierte Sokrates eine Wahrheitsferne, wobei er die Qualität eines künstlerischen Bildes eng mit dem Wissensstatus und der seelischen Verfasstheit des Poeten selbst assoziierte. 267 Vgl. Ricœur 1991, S. 227–239, Zitat S. 235. In poetischem Kontext sei die Meta­ pher als »Redestrategie« zu verstehen, »durch die sich die Sprache von ihrer unmit­ telbaren Beschreibungsfunktion befreit, um die mythische Stufe zu erreichen, auf der ihre Erschließungsfunktion freigesetzt wird« (ebd., S. 238 f.). Vgl. dazu auch JeanPierre Wils: Metaphern, Wissenschaft und die Macht ihrer Bilder, in: der blaue reiter. Journal für Philosophie (1995), S. 61–63, bes. 62; weiterführend Hans Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit, aus dem Nachlaß hg. von Anselm Haverkamp, Frank­ furt/M. 2007. 268 Vgl. oben Kap. 3.2 und den Aufsatz von Ambuel 2010, bes. S. 20–26 u. 28–37; auch ebd., S. 26: »Das Bild als Bild ist nicht in sich selbst, sondern in etwas und von etwas anderem […] und darum nur ›wissbar‹, insofern es allein durch das Original Bild ist. Dennoch ist es gleichzeitig eine, wenn auch unvollkommene Ähnlichkeit, und als solche bietet es eine Zugangsmöglichkeit zum Verständnis der wahren Natur des Originals«. 269 Vgl. dazu oben Kap. 5.2.1. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf die Interpretation von Platons Begriffen der Ähnlichkeit und Mimesis hinsichtlich des Schönen bei Adorno (1958/59) 2009, S. 160 f.

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Drittens ist für den Bildbegriff in platonischem Kontext noch ein weiterer Aspekt bedeutsam. Auf der Ebene der διάνοια, so machte das Liniengleichnis deutlich, bedient sich das Denken sinnlicher Bilder aus der physisch-gegenständlichen Welt. Die Mathematik, die für diese Stufe paradigmatisch ist, benötigt danach visuelle Bilder, um ihre vorausgesetzten intelligiblen Denkgegenstände, ihre Hypothe­ sen, die innerhalb der Mathematik keine Begründung erfahren, die aber die Prämissen ihrer Sätze und Beweise bilden, im Denken fassbar zu machen.270 Die idealen Gestalten, auf die sich die Mathematiker beziehen, wie etwa der Kreis oder das Gerade und Ungerade, werden danach erst vorstell- und denkbar, wenn der Seele das sichtbare figürliche Bild zu Hilfe kommt. Vor diesem Hintergrund wurde schon oben in Erörterung der Mathematik angenommen, dass auch die Vorstell- und Denkbarkeit anderer intelligibler Denkgegenstände – jedenfalls auf der dianoetischen Ebene – durch die sinnliche Visuali­ sierung eine wesentliche Unterstützung erfahren.271 Im Falle eines Denkgegenstandes wie der Seele besteht die Visualisierung in der künstlerischen Produktion eines mythologischen Bildes. Als künst­ lerisches Erzeugnis unterscheidet sich dieses aber in wesentlichen Punkten von der Zeichnung etwa eines geometrischen Gegenstandes. Die künstlerische Hervorbringung soll zwar ebenso Vorstellung und Denken einer infrage stehenden Sache stützen und fördern, allerdings zielt sie nicht auf eine ›realistische‹ Anschauung und Ausdeutung;272 vielmehr entzieht sich das Bild gerade einer solchen.273 Vor allem aber spielt Platons kunstvoll gestalteter Mythos in erkenntnistheo­ retischer Hinsicht eine andere Rolle als die sinnlichen Figuren im Kontext der Mathematik. Der Mythos ist, ähnlich wie die Gleichnisse in der Politeia, selbst als eine Art Instrumentarium des epistemischen Verständnisprozesses zu betrachten: Das mythologische Narrativ ist in seiner Produktion und Rezeption erkenntnisstiftend und -leitend. Vgl. oben Kap. 3.3. Den Erkenntnisgewinn durch diagrammatische Figuren in platonischem Kontext zeigt grundlegend Sybille Krämer: Gedanken sichtbar machen. Platon: eine diagram­ matologische Rekonstruktion. Ein Essay, in: Jan-Henrik Möller, Jörg Sternagel, Lenore Hipper (Hg.): Paradoxalität des Medialen, Paderborn/München 2013, S. 175– 191. 272 Insofern hat Heitsch (1997, S. 93) recht, wenn er in Bezug auf die Seelendarstel­ lung im Phaidros konstatiert: »So bildhaft die Darstellung zu sein scheint, in Wahrheit wird eine realistische Anschaulichkeit durch den Wechsel der Metaphorik gerade ver­ hindert«. 273 Vgl. auch Schulz 2000, S. 93. 270 271

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5. Phaidros: Falsche und wahre Gestalten seelischer Bildung

5.3.3 Das Bild der Seele Die Darstellung der menschlichen Seele eröffnet Sokrates mit der Frage nach ihrer ›Form‹ oder ›Gestalt‹ (ἰδέα) (vgl. Phdr. 246a).274 Damit weist er einerseits auf die Problematik hin, Gestalt und Struk­ tur der menschlichen Seele zu bestimmen und zu charakterisieren; andererseits und zugleich kann ἰδέα aber auch auf die intelligible Natur der Seele hindeuten, die doch anders zu verstehen ist als etwa die Idee der Gerechtigkeit. Das Bild der Seele zeichnet Sokrates aber so: Sie [sc. die Gestalt der Seele] gleiche also der zusammengewachsenen Kraft eines befiederten Wagengespanns und seines Führers. Der Göt­ ter Pferde und Wagenlenker nun sind alle selbst gut und von edler Herkunft, die von den anderen aber sind gemischt. Auch bei uns hält zuerst der Herrscher die Zügel des Wagengespanns; dann aber ist von den Pferden das eine schön, gut und von solcher Herkunft, das andere aber von entgegengesetzter Herkunft und das Gegenteil. Schwierig und misslich ist deshalb notwendig bei uns die Lenkung.275

In der griechischen Literatur ist das Wagengespann ein oft verwende­ tes Motiv. Im Proömium von Parmenides’ Lehrgedicht erfahren wir, dass der Wissende von einem Wagen mit Stuten an »das Tor der Bahnen von Nacht und Tag« getragen wird; der Wagen ermöglicht ihm, einen Weg »außerhalb von der Menschen Pfade« zu gehen.276 In den homerischen Epen erscheinen Göttinnen, Götter und Heroen mit Wagengespannen; ihre Beflügelungen finden vor allem in bildlichen Darstellungen ihren Niederschlag.277 Wagen und Flügel werden viel­ Vgl. das Zitat am Eingang des letzten Kapitels, oben Kap. 5.3.2 mit Anm. 255. ἐοικέτω δὴ συμφύτῳ δυνάμει ὑποπτέρου ζεύγους τε καὶ ἡνιόχου. Θεῶν μὲν οὖν ἵπποι τε καὶ ἡνίοχοι πάντες αὐτοί τε ἀγαθοὶ καὶ ἐξ ἀγαθῶν, τὸ δὲ τῶν ἄλλων μέμεικται. καὶ πρῶτον μὲν ἡμῶν ὁ ἄρχων συνωρίδος ἡνιοχεῖ, εἶτα τῶν ἵππων ὁ μὲν αὐτῷ καλός τε καὶ ἀγαθὸς καὶ ἐκ τοιούτων, ὁ δ᾿ ἐξ ἐναντίων τε καὶ ἐναντίος· χαλεπὴ δὴ καὶ δύσκολος ἐξ ἀνάγκης ἡ περὶ ἡμᾶς ἡνιόχησις. (Phdr. 246a6–b4) Übers. in enger Anlehnung an Schleiermacher (Eigler-Ausg., Bd. 5). Zu dem Ausdruck ›zusammengewachsene Kraft‹ vgl. die Auslegungen am Ende dieses Kapitels. 276 DK 28 B 1 (Zeilen 11 u. 27). 277 Vgl. dazu Heitsch 1997, S. 97–99, zu Quellenbelegen ebd., Anm. 147–169. Vgl. überdies Jürgen Smolian: Vehicula religiosa. Wagen in Mythos, Kultus, Ritus und Mysterium, in: Numen. International Review for the History of Religions 10 (1963), S. 202–227, hier 220 f. Smolian trägt in seiner Studie mannigfaltige Nachweise über die religiös-kultische Bedeutung von Wagen in verschiedenen (Früh-)Kulturen zusammen. Zu einem bemerkenswerten Vergleich des Wagengespanns – als Bild für 274

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5.3 Die Palinodie: Der Seelenmythos und die Bildung der Seele

fach als Symbolik der Vermittlung zwischen Sterblichen und Unsterb­ lichen, ebenso des Übergangs zwischen diesseitiger und jenseitiger Welt kenntlich. Platon selbst gebraucht in verschiedenen Schriften den Begriff des Wagens (ὄχημα) in diesem Zusammenhang.278 Seine assoziative Wirk- und Ausdruckskraft entfaltet das von Sokrates gezeichnete Bild aber noch durch eine weitere traditionelle Präsenz. Anzunehmen ist, dass der zeitgenössische Rezipient die Wagenren­ nen, sowohl die realen als auch die in den Epen illustrierten, vor Augen hat: Ihm sind die Schwierigkeiten der Zügelung gegenwärtig und er weiß, dass von der Kunst des Lenkers und dem geordneten Zusammenspiel von Lenker und Pferden alles abhängt.279 Im Mythos des Phaidros folgt eine Beschreibung des himm­ lischen Seins der göttlichen und menschlichen Seelen, auch des Schicksals und der Inkorporation von letzteren (vgl. Phdr. 246e– 249d). Geschildert wird zunächst die Ausfahrt der Götter, welche, in Zügen geordnet und jeder das Seine tuend,280 zum äußeren Rand des Himmels aufsteigen, wo sie, vom Umschwung mitgeführt, dasje­ nige sehen, »was außerhalb des Himmels ist« (τὰ ἔξω τοῦ οὐρανοῦ, 247c2), nämlich »das farblose, gestaltloseste und unberührbare, das wahrhafte Sein«281, das nur durch den Führer der Seele, die Vernunft (νοῦς), geschaut werde und von dem das wahre Wissen handle (vgl. das menschliche Leib-Seele-Verhältnis – zwischen Platon und den Upanischaden vgl. überdies Johann Figl: Bilder für die Seele. Eine religionswissenschaftlich-verglei­ chende Perspektive, in: ders., Hans-Dieter Klein (Hg.): Der Begriff der Seele in der Religionswissenschaft, Würzburg 2002, S. 9–25, hier 17–25. 278 Vgl. Phd. 113d; im Timaios (41e) steigen die Seelen in einem Sternenwagen von der intelligiblen Welt ins Werden ab; vgl. auch Tim. 44e, 69c. Dazu und zur Rezeption des platonischen Wagenmotivs im späteren Platonismus vgl. Jens Halfwassen: Bemer­ kungen zum Ursprung der Lehre vom Seelenwagen, in: Jahrbuch für Religionswis­ senschaft und Theologie der Religionen, Bd. 2 (1994), S. 114–128, hier 117; ders.: Art. ›Seelenwagen‹, in: HWPh, Bd. 9, Basel 1998, Sp. 111–117. 279 Vgl. dazu bei Homer: Il. 23, 316–325. 280 Der Götterzug bezieht sich auf die olympischen Götter; entsprechend ist es Zeus (und sein Gefolge), der den gesamten Zug anführt und für diesen Sorge trägt (vgl. Phdr. 246e). Zur Ordnung der Götter, zu den kosmologischen Anklängen und auch zu astronomischen Fragestellungen in Bezug auf die mythologische Darstellung des Himmels vgl. Heitsch 1997, S. 100–103 mit Anm. 171–177. 281 ἡ γὰρ ἀχρώματός τε καὶ ἀσχημάτιστος καὶ ἀναφὴς οὐσία ὂντος οὖσα (Phdr. 247c6– 7). Unterstrichen wird damit, dass die Ideen gerade keine sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten besitzen. Vgl. dazu Christian Pietsch: »Im Blick auf den Gott erkennen wir uns selbst«. Zu Platons Verständnis von Personalität im Alcibiades maior, in: Alexander Arweiler, Melanie Möller (Hg.): Vom Selbst-Verständnis in Antike und

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5. Phaidros: Falsche und wahre Gestalten seelischer Bildung

247c–e). Die menschlichen Seelen folgen den Göttern, kommen aber, so die Darstellung, nur mit größter Mühe voran. Denn während der Götterwagen ausgeglichen und leicht fahre, erfahre der menschliche Wagen am steilen Ende des Himmelsgewölbes äußersten Kampf (vgl. 247a–b). Einige der menschlichen Seelen sehen das wahre Sein, wenn auch nur mit Mühe und beunruhigt von den Pferden; manche erblicken es nur kurz; alle übrigen dränge und verlange es auch nach oben, aber einander stoßend und tretend zerbreche ihr Gefieder, unvermögend verbleiben sie unten (vgl. 248a–b).282 Die Seele, die es bei ihrem Auszug nicht schaffte, das Sein zu schauen, falle durch einen unglücklichen Umstand (συντυχία), angefüllt nun von Vergessenheit und das Gefieder verlierend, auf die Erde (vgl. 248c). Hierbei werde diejenige Seele, die zuvor am meisten geschaut habe, als Philosoph oder als Freund des Schönen, der Musen oder der Liebe inkorporiert.283 Grundsätzlich bedeute die Schau ›echte Nahrung‹ (im Gegensatz zur nur scheinhaften) für Seele und Gefieder; im Umlauf, der die Seelen mitführe, sehen diese auch die Gerechtigkeit selbst und die Besonnenheit, auch das unveränderliche Wissen (vgl. 246d–e, 247c–e). Die göttlichen Seelen im Mythos dienen als Vergleichsmoment, erscheinen sie doch als idealtypisches Bild des Seelenwagens. Die Götter sind deshalb glückselig, Neid ist aus ihrem Chor gebannt (vgl. 247a). Die Verschiedenheit von menschlichen und göttlichen Seelen ist aber nicht kategorialer Art; zwar schauen die göttlichen Seelen die Ideen in vollendeter Form, aber auch sie unterliegen der kosmischen Ordnung, gehören zum himmlischen Bereich, nicht zum

Neuzeit. Notions of the Self in Antiquity and Beyond, Berlin/New York 2008, S. 343– 357, hier 352. 282 Mit dem Streit der menschlichen Seelen untereinander, die konkurrieren und sich gegenseitig am Aufstieg behindern, klingt deutlich das (irdische) politische Moment an; der Kampf ist ein innerseelischer und zugleich ein politischer. Vgl. dazu van Acke­ ren 2003, S. 217, Anm. 26. 283 Vorausgesetzt werden also mehrere himmlische Auszüge. Diejenige Seele, die auf den überhimmlischen Ort genügend schauen konnte, bleibt der Erzählung zufolge bis zu ihrem nächsten Auszug unversehrt. Welche Seele im Gegenteil das Sein bei Ihrem Auszug nicht schaute, ›fällt‹ und wird als Mensch geboren. Neun Lebensweisen werden gemäß ihrem Anteil an der einstigen Schau des Wahren in einer Rangfolge aufgelistet, an deren Ende freilich die Sophisten und Tyrannen stehen (vgl. Phdr. 248c–e).

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überhimmlischen.284 Die Darstellung der Götterseelen, ebenso der irdischen Gestalt und des irdischen Verhaltens der menschlichen Seelen im Himmel gehört zum spielerischen Element des Mythos, zur Verschränkung von Spiel und Ernst.285 So ist kaum davon aus­ zugehen, dass Platon die dreiteilige Seele als unsterblich zeichnen möchte.286 Allerdings sind Ausmaß und Stärke der Ideenschau für das irdische Leben von großem Belang. Geboren werden die Menschen danach mit unterschiedlichen Voraussetzungen, da sie in ungleichem Maße die Ideen geschaut haben: eine Disposition, die für die Anamne­ sis und deshalb auch für Wissen und Lebensform eines Menschen entscheidend ist.287 Wichtig für die irdische Existenz, vor allem für den Charakter des Menschen, ist überdies der Sachverhalt, dass jede menschliche Seele als »Begleiterin« (συνοπαδός, 248c3) ihrem bestimmten Gott folgte (vgl. 248a, 252c–253c); dies wird später im Kontext der Liebe eine bedeutende Rolle spielen.288 Die Ideenschau Vgl. van Ackeren 2003, S. 218 mit Anm. 35. – Zwischen Tier und Mensch besteht hingegen keine Kontinuität, da die Seelen der Tiere nie die Ideen geschaut haben (vgl. Phdr. 249b). 285 Zur »Mischung aus Spiel und Ernst« in Bezug auf den gesamten Dialog vgl. Dirk Cürsgen: Eros, Dialektik und Rhetorik: der Mythos als funktionales Zentrum des pla­ tonischen Dialogs. Überlegungen am Beispiel des Phaidros, in: Bochumer philoso­ phisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter, Bd. 9 (2004), S. 23–51, hier 24 (Zitat ebd.); vgl. auch S. 26 mit Anm. 14. 286 In diesem Punkt folge ich Szlezák (1976), der seine Ausführungen allerdings vor allem auf das zehnte Buch der Politeia bezieht; der Phaidros-Mythos mit Darstellung des dreiteiligen Seelenwagens im Himmel bildet für Szlezák eine Ausnahme (vgl. ebd., S. 56 ff.). Graeser (1969, S. 27–50) hingegen nimmt die ganze dreiteilige Seele als unsterblich an. Vgl. auch William K. C. Guthrie: Plato’s Views on the Nature of the Soul (1957), in: Gregory Vlastos (ed.): Plato. A collection of critical essays, Vol. 2: Ethics, Politics, and Philosophy of Art and Religion, New York 1971, S. 230–243, hier 236 ff. Guthrie argumentiert, dass die Seele solange ihre trimere Struktur behalte, wie sie sich im Kreislauf der Reinkarnation befinde und ihre unsterbliche Vollendung noch nicht erlangt habe. Szlezák (1976, S. 56 f.) widerspricht dieser These. 287 Vgl. u. a. Schulz 2000, S. 94. 288 Vgl. auch Heitsch 1997, S. 97 mit Anm. 145. Darüber hinaus ist die aus dem Schlussmythos der Politeia (X 616b–619e) schon bekannte Verschränkung von Los und Wahl für die irdisch-individuelle Existenz prägend: Nach dem Tod kehre die Seele erst nach langen Zeiträumen – eine Ausnahme bildet die philosophische Seele – dort­ hin zurück, wo sie hergekommen sei und wo sie nun eine neue Befiederung erhalte; so gelange sie schließlich zur Verlosung und Wahl des zweiten Lebens (vgl. Phdr. 248e–249b). »Notwendigkeit und Freiheit« (Niehues-Pröbsting 1987, S. 179) prägen also das Schicksal der Seele bei erneuter Wiedergeburt. Auf diese Fragestellung soll hier nicht eingegangen werden. Vgl. dazu Heitsch 1997, S. 96, Anm. 141 u. S. 103– 284

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selbst kennzeichnet Platon aber als das wesentliche Charakteristikum des Menschen; sie ist die Bedingung der Möglichkeit des Menschseins überhaupt: Eine Seele, die niemals die Wahrheit gesehen habe, werde auch niemals eine menschliche Gestalt annehmen.289 Die einstige Einsicht in das Wahre erlaubt danach erst menschliches Denken: »Denn der Mensch muß nach Gattungen Ausgedrücktes begreifen, welches als eins hervorgeht aus vielen durch den Verstand zusammen­ gefaßten Wahrnehmungen. Und dieses ist Erinnerung an jenes, was einst unsere Seele gesehen, Gott nachwandelnd und das übersehend, was wir jetzt für das Wirkliche halten, und zu dem wahrhaft Seienden das Haupt emporgerichtet.«290 Im Phaidon hatte Sokrates den Nachweis geführt, dass die Wahrnehmungsebene über sich selbst hinausweist, dass der wahr­ nehmenden Erkenntnisfähigkeit des Menschen ein Wissen vorausoder zugrunde liegen muss.291 Die Dinge der sinnlichen Welt sind danach allein auf der Basis eines apriorischen Wissens identifizier-, bestimm- und differenzierbar; die Anamnesis der Ideen ist deshalb notwendig, erhält die Welt des Werdens doch nur durch das Intelligi­ ble ihre Bedeutung. Im Mythos des Phaidros wird in dem zitierten Passus nun in grundsätzlicher Form die Begriffsbildung angespro­ chen: Menschliches Denken und menschlicher Verstand sind auf diese angewiesen, das Denken vollzieht sich in Begriffen, ist ohne diese nicht möglich. Darauf baut auf, was Sokrates im zweiten Dialogteil als δύναμις oder Kraft von Reden bezeichnet (vgl. Phdr. 265c–e, 266b), nämlich die richtige Art von Synthese (συναγωγή) und Dihairese (διαίρεσις): »Das überall Zerstreute anschauend zusammenzufassen in eine Gestalt«,292 führe eine Rede erst zu einer Einheit und Überein­ stimmung mit sich selbst, sodass der Redegegenstand klar umrissen sei. Dass es sich hierbei nicht um ein beliebiges Zusammentragen, auch nicht um ein bloßes Subsumieren handelt, sondern die Syn­ these das Verstehen einer Sache in der Weise voraussetzt, dass ihre 105 (hier auch zum Kreislauf der Reinkarnation, zum himmlischen Gericht etc.); auch van Ackeren 2003, S. 220 mit Anm. 48–49. 289 oὐ γὰρ ἥ γε μήποτε ἰδοῦσα τὴν ἀλήθειαν εἰς τόδε ἥξει τὸ σχῆμα. (Phdr. 249b5–6). 290 δεῖ γὰρ ἄνθρωπον συνιέναι κατ᾿ εἶδος λεγόμενος, ἐκ πολλῶν ἰὸν αἰσθήσεων εἰς ἓν λογισμῷ συναιρούμενον· τοῦτο δ᾿ ἐστιν ἀνάμνησις ἐκείνων ἅ ποτ᾿ εἶδεν ἡμῶν ἡ ψυχὴ συμπορευθεῖσα θεῷ καὶ ὑπεριδοῦσα ἃ νῦν εἶναί φαμεν, καὶ ἀνακύψασα εἰς τὸ ὂν ὄντως. (Phdr. 249b6–c4) Übers. Schleiermacher (Eigler-Ausg., Bd. 5). 291 Vgl. Phd. 72e–78b u. oben Kap. 3.1. 292 Εἰς μίαν τε ἰδέαν συνορῶντα ἄγειν τὰ πολλαχῇ διεσπαρμένα (Phdr. 265d3–4). Übers. Schleiermacher (Eigler-Ausg., Bd. 5).

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inhaltlichen Elemente sinnhaft aufeinander bezogen werden, und deshalb das Denken einer sachgemäßen Orientierung bedarf, zeigt sich daran, dass derjenige, der diese Kunst beherrscht, den Begriff auch wieder so zu zerlegen vermag, wie seine Glieder gefügt und »gewachsen« (πέφυκεν, 265e2) sind. Denjenigen, der zu Synthese und Dihairese imstande ist, bezeichnet Sokrates hier als Dialektiker (vgl. 266b–c). Dieser ist nicht nur fähig, Begriffe zu bilden, sondern er vermag auch den Vorgang der Begriffsbildung zu reflektieren; er versteht, dass er ein vorgängiges Wissen und eine Erinnerung hat. Letztlich bewahrt erst diese (selbst)reflexive Ebene den Dialektiker vor falschen Analysen und Zusammenfassungen und lässt ihn als wahren Redekünstler hervortreten (vgl. 273d–e). Deutete sich schon im Phaidon an, dass das vorgängige Wissen sich nicht darin erschöpft, logisches Apriori für Dingwissen zu sein, sondern der Seele des Lernenden auch eine Art Gewissheit zu geben vermag, so zeigt sich im Phaidros noch mehr, dass die Anamnesis der Ideen nicht nur für das Denken unerlässlich ist, sondern damit einhergehend die Seele gestärkt, angeregt und ›emporgehoben‹ wird. Sinnbildlich dafür steht das durch die Anamnesis ausgelöste Wachsen des Gefieders (vgl. 246d–e, 248b, 249d), verkörpert dieses selbst doch die aufsteigende Bewegung über die Begrenztheit des Werdens hinaus.293 Umgekehrt wird im Mythos die Schädigung des Gefieders mit Vergessen und ›Fall‹ assoziiert: Vermochte die Seele bei ihrem himmlischen Auszug das Wahre nicht zu sehen, dann führte dies zum Verlust des Gefieders, zu Vergessenheit und zum Fall auf die Erde. Analoges geschieht im irdischen Dasein: Je schlechter sich die menschliche Seele an das einst Gesehene zu erinnern vermag, desto schwieriger ist für sie das auf Wahrheit ausgerichtete Streben und desto leichter fällt sie auch hier gleichsam noch weiter ins Irdische, sodass nicht ihr Gefieder, sondern ihr Erdenkleid aus ›Tang und Muscheln‹ (R. X 611c–d) wächst. Nur wenigen, so heißt es später, würde die Erinnerung hinreichend gegenwärtig sein. Zwar müsse jede Seele ihrer Natur nach das wahre Sein geschaut haben, aber sich hier an jenes wiederzuerinnern, sei nicht für jede Seele leicht, denn die einen sahen es dort nur schwach, die anderen habe hier ein Unglück getroffen, wenn sie durch schlechten Umgang zum Unrecht verleitet 293 Vgl. auch Schulz 2000, S. 94. Das kinetische Motiv findet hier, neben dem Bild des Wagens selbst, seine weitere Entsprechung. Zur Aufstiegsbewegung der Seele vgl. unten Kap. 5.3.4.

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wurden (vgl. Phdr. 249e–250a). Dass die Wiedererinnerung aber der Seele ihre eigentliche und ursprüngliche Kraft und Fähigkeit verleiht, zeigt sich im Phaidros auch darin, dass hier, anders als im Phaidon und Menon, im Kontext der Anamnesis allein diejenigen Ideen genannt werden, die, wie die Gerechtigkeit und Besonnenheit, »für die Seelen wertvoll sind« (τίμια ψυχαῖς, 250b2).294 Es sind für Platon diejenigen Ideen, die dem Menschen in jeder Hinsicht, auch im Hinblick auf jegliche Art von Erkenntnis und Wissen, erste Orientierung sind. Die Natur der Seele, die es vor Betrachtung der erotischen Mania zu untersuchen galt (vgl. 245c), ist mit dem Unsterblichkeitsbeweis (vgl. 245b–246a) und mit der mythologischen Darstellung der himm­ lischen Ausfahrt (vgl. 246a–249d) bereits fundiert: Fand mit dem Nachweis der Unsterblichkeit der Begriff der Seele als kinetisches Prinzip seinen Ausdruck, so werden im Mythos die Ideenschau und die daraus folgende Fähigkeit zur Anamnesis als ausschlaggebend für das menschliche Leben gezeichnet. Die Anamnesis ermöglicht das erkenntnisbringende Streben, welches die Seele dem näherbringt, wonach sie in Wahrheit verlangt. In der ihr eigenen Logik charak­ terisiert die mythologische Darstellung den starken Drang nach Wahrheit, welcher danach der Seele in Wirklichkeit eigen ist295 und dem Menschen erst sein eigentliches Potential verleiht: Durch die Wiedererinnerung gestützt, verkörpert dieser Drang diejenige Kraft und Ausrichtung, durch welche die Stärke des menschlichen Wagengespanns nicht in Gewalt und Zerstörung umschlägt, sondern sich zu einer tatsächlich lebendigen Dynamis entwickelt und – in Anlehnung an das Vorbild des Götterwagens – zu einem ausgegliche­ nen Lebensgang führt.296 Deutlich macht der Mythos aber auch, was das Verlangen nach Wahrheit hindert und vielleicht sogar nahezu vernichtet. Wurde mit den bisher betrachteten Passagen also die 294 Diesen Sachverhalt unterstreicht besonders Schulz 2000, S. 97 f. Vgl. dazu auch Phdr. 247d. Auf besondere Weise gehört auch das Schöne zu den für die Seele ›wert­ vollen Ideen‹ (vgl. 250b ff.). 295 Denn jede Seele, so hieß es, drängt es in ihrem vorgeburtlichen Sein nach oben, sie sehnt sich danach, auf das Überhimmlische zu schauen, erfährt sie hier doch Gutes (vgl. Phdr. 246d–248b). 296 Erinnert sei an das erste Chorlied der Antigone, das im Zuge der Ausführungen zur delphischen Maxime herangezogen wurde: Hier zeigte sich, dass das δείνον, von dem das Chorlied im Blick auf den Menschen spricht, die Spannung signalisiert, die dem Starken und Gewaltigen des Menschen innewohnt, nämlich die Spannung zwischen dem Großen und Erfolgreichen auf der einen und dem Furchtbaren und Destruktiven auf der anderen Seite (vgl. oben Kap. 2.2.1).

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wahre Natur der Seele auf eine Grundlage gestellt, so ist hinsichtlich ihrer eigentlichen menschlichen Gestalt das Bild von Wagengespann und Lenker wieder aufzugreifen. In seiner ganzen Tragweite und Lebendigkeit wird das Bild der Seele als Wagen mit Lenker und zwei Pferden im Mythos an späterer Stelle, mit der Beschreibung des seelischen Konfliktes im Zustand der Verliebtheit, sichtbar (vgl. Phdr. 253c ff.). In eindringlicher Form wer­ den die beiden ungleich gearteten Pferde charakterisiert: Das gute Pferd, das die bessere Stellung einnehme, sei »von aufrechter Gestalt, gut gefügt in seinen Gliedern, mit erhobenem Hals, gebogener Nase, weiß anzusehen […] die Ehre liebend mit Besonnenheit und Scham, ein Freund wahrer Meinung«.297 Das schlechte Pferd hingegen trete »krumm, plump, schlecht gebaut, starknackig, kurzhalsig, stumpfna­ sig, mit schwarzer Haut« hervor, es sei »ein Freund des Frevels und der Prahlerei«.298 In der Beschreibung werden physisch-phänomenale Attribute und ethische Eigenschaften vermischt. Die ästhetische Erscheinung der Pferde verweist auf ihre Wesensmerkmale; die kon­ trastive Darstellung illustriert hierbei plakativ die Gutheit des einen und die Schlechtheit des anderen.299 Mit gleicher Ausdruckskraft und sinnlicher Vergegenwärtigung folgt die Beschreibung des innerseelischen Kampfes, der hauptsäch­ lich zwischen Wagenlenker und schlechtem Pferd ausgetragen wird (vgl. 253e–254e): Wenn der Lenker den Geliebten erblicke und die ganze Seele davon erfasst werde, dränge das schlechte Pferd unerbitt­ lich und kompromisslos vorwärts, die anderen dabei mitzerrend und in große Not bringend, Peitsche und Stachel nicht scheuend, halte es springend mit Gewalt auf den Geliebten zu; es zwinge die anderen, sich dem Geliebten zu nähern, um die Erinnerung an den Liebesge­ nuss wachzurufen.300 Der Wagenlenker auf der anderen Seite halte mit aller Kraft die Zügel. Im Anblick des strahlenden Antlitzes des Geliebten aber werde er an das Wesen des Schönen selbst erinnert, τό τε εἶδος ὀρθὸς καὶ διηρθρωμένος, ὑψαύχην, ἐπίγρυπος, λευκὸς ἰδεῖν […] τιμῆς ἐραστὴς μετὰ σωφροσύνης τε καὶ αἰδοῦς, καὶ ἀληθινῆς δόξης ἑταῖρος (Phdr. 253d4–7). 298 σκολιός, πολύς, εἰκῇ συμπεφορημένος, κρατεραύχην, βραχυτράχηλος, σιμο­ πρόσωπος, μελάγχρως […] ὕβρεως καὶ ἀλαζονείας ἑταῖρος (Phdr. 253e1–3). 299 Vgl. dazu Yunis (2011, Kommentar zur Textstelle 253d1–e3, S. 159 f.), der auf die Merkmale der Pferde detaillierter eingeht und spezifische, mit der griechischen Lite­ ratur verbundene Konnotationen hervorhebt. 300 ἀναγκάζει ἰέναι τε πρὸς τὰ παιδικὰ καὶ μνείαν ποιεῖσθαι τῆς τῶν ἀφροδισίων χάριτος (Phdr. 254a5–7). 297

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sodass er sich erschreckt und voller Ehrfurcht nach hinten werfe, dabei notwendig am Zaum zwischen den Zähnen der Pferde reiße und sie mit Gewalt zum Sitzen bringe. Das schwarze Pferd aber breche zornig in Schmähungen aus; durch die Zügelung erleide es große Qualen, blute an Zunge und Backen. Dies wiederhole sich, bis schließlich das schlechte Pferd seine Hybris ablege und gedemütigt dem Lenker folge. In all dem Geschehen widersetze sich das gute Pferd dem Lenker nicht, sondern lasse sich mit gutem Willen führen. Zu Beginn dieser Darstellung hatte Sokrates noch einmal explizit auf die von ihm eingeführte Dreigestalt einer jeden Seele verwie­ sen.301 Diese Betonung und die Charakterisierung des Wagengespan­ nes selbst legen nahe, dass das Bild auf das trimere Seelenkonzept im vierten Buch der Politeia anspielt (vgl. R. IV 435a–441c), sodass mit Lenker, gutem und schlechtem Pferd die drei ›Gattungen‹ der Seele, λογιστικόν, θυμοειδές und ἐπιθυμητικόν, angedeutet sind. In der Forschungsliteratur wird oftmals von dieser Entsprechung aus­ gegangen; sie wurde ebenso oben in Diskussion des Schambegriffs vorausgesetzt.302 Die Prämisse einer Korrespondenz zwischen den Seelendarstellungen in Phaidros und Politeia bedeutet aber zugleich nicht, dass die Darstellungen austauschbar wären oder dass die bild­ liche Darbietung im Phaidros sich gleichsam in das Seelenkonzept der Politeia übersetzen ließe. Das Bild des Wagengespanns ist nicht durch die begrifflich-diskursive Beschreibung substituierbar.303 Beide Darstellungen deuten aufeinander hin, gehen aber hinsichtlich ihres Erkenntniswertes nicht ineinander auf; darauf wird später zurückzu­ kommen sein. Dennoch können die Verweise auf die trimere Kon­ zeption in der Politeia zunächst zur Auslegung des Seelenbildes im Phaidros herangezogen werden. 301 »Wie ich nun am Anfang der Erzählung jede Seele in drei Teile teilte, in zwei pferdeartige Gestalten und die dritte Gestalt als Lenker« (Καθάπερ ἐν ἀρχῇ τοῦδε τοῦ μύθου τριχῇ διείλομεν ψυχὴν ἑκάστην, ἱππομόρφω μὲν δύο τινὲ εἲδη, ἡνιοχικὸν δὲ εἶδος τρίτον, Phdr. 253c7–d1). 302 Vgl. oben Kap. 4.3.3. Die Annahme einer Korrespondenz der Seelenmodelle ver­ treten beispielsweise Graeser 1969, S. 42–45; Guthrie (1957) 1971; Giovanni R. F. Ferrari: The Struggle in the Soul: Plato, Phaedrus 253c7–255a1, in: Ancient Philoso­ phy 5 (1985), S. 1–10; Holtermann 1998; van Ackeren 2003, S. 216 ff.; Yunis 2011, Kommentar zur Textstelle 253d6–7, S. 159 f. Anders Heitsch (1997, S. 94 f.), der im Gesamtbild der Seele im Phaidros eher einen Dualismus sieht; ähnlich Thomas M. Robinson: Plato's psychology, 2. ed., Toronto u. a. 1995, S. 117. 303 Was auf der anderen Seite wiederum nicht heißt, dass die Seele allein durch ein mythologisches Bild darstellbar wäre.

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Auch im vierten Buch der Politeia wird die dreiteilige Konzep­ tion der Seele in Verbindung mit einer inneren Konfliktsituation von Sokrates eingeführt. Unter Zugrundelegung des Satzes vom Widerspruch, nämlich dass dasselbe nie zu gleicher Zeit Entgegenge­ setztes tue oder leide, jedenfalls nicht in der gleichen Hinsicht,304 legt Sokrates am Beispiel des Durstes dar, dass es in uns dennoch oftmals eine Gleichzeitigkeit zweier Strebungen gebe: in seinem Exempel einerseits das Begehren zu trinken, andererseits ein Bestre­ ben, uns davon abzuhalten, etwa wenn das Getränk ungenießbar sei. Sokrates bezeichnet nun dasjenige, womit unsere Seele denke und beratschlage, als λογιστικόν; das andere, womit unsere Seele sinnlich liebe, hungere, dürste oder von anderen Begierden getrieben sei, als ἀλόγιστικον bzw. als den begehrlichen Seelenteil, als ἐπιθυμητικόν (vgl. R. IV 437b–439d).305 Während der dritte oder mittlere Seelenteil innerhalb der Cha­ rakterisierung der seelischen Konfliktsituation sowohl in der Politeia als auch im Phaidros zurücktritt, werden Vernunft und Begierde in ihrer Entgegensetzung unmissverständlich kenntlich: Durch ihre und in ihrer Disparität sind λογιστικόν und ἐπιθυμητικόν danach gerade im Zustand des inneren Zwiespalts für den Menschen deutlich erfahrbar und präsent. Spürbar ist in diesem Sinne vor allem die Grenze für das Begehren: Das Verlangen zu trinken – um im Beispiel der Politeia bleiben –, findet im Wissen um das Unbekömmliche des Getränkes seine Beschränkung. Gibt die Seele dem Begehren trotz besserer Einsicht nach, bleibt die Schranke des Wissens, auch in Erfüllung des Begehrens, dennoch gegenwärtig.306 An dem einfachen Beispiel des Durstes zeigt Sokrates auf, was auch für die anderen Vgl. R. IV 436a–437a u. 439b. Das trimere Seelenmodell der Politeia spielte bereits in Diskussion der Frage see­ lischer Veränderung und der sokratischen Seelentherapie eine Rolle (vgl. oben Kap. 4.1.1 u. 4.3.1). Im letzteren Fall wurde schon thematisiert, dass die Seelenbereiche nicht als strikt getrennte vorzustellen sind (zu der Thematik vgl. auch unten im Text). Blöß­ ner (1997, S. 219–221) betont in diesem Zusammenhang, dass die seelischen ›Instan­ zen‹ in der Politeia jeweils sowohl Träger von Fähigkeiten (zumindest die beiden ›höheren‹) als auch Antriebskräfte seien; was sie unterscheide, sei die Art des Strebens, der Vorstellungen des Erstrebten, der Ziele etc. (ausführlich dazu ebd., S. 221–230). Zur Problematik der Benennung der drei Seelenbereiche als ›Teile‹, ›Instanzen‹ etc. vgl. ebd., S. 216, Anm. 604. 306 Vgl. dazu Günter Figal: Das Untier und die Liebe. Sieben platonische Essays, Stuttgart 1991, darin: ›Das Untier und die Liebe. Die Frage nach sich selbst im Hinblick auf das Symposion‹, S. 11–30, hier 19 ff. 304

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begehrlichen Anteile gilt. Überlässt der Mensch die Begierde ihrer – von Sokrates oft erwähnten – Unersättlichkeit, überschreitet er in diesem Sinne nicht nur das lebensnotwendige, sondern auch das maßvolle Begehren, versucht er, das als richtig Erkannte zu umgehen, dann kämpft er gegen die durch Wissen oder durch vernünftige Gewohnheit vorhandenen Grenzen an; er wird zum Typhon, zum Ungeheuer oder, wie Figal es bezeichnet, zum ›Untier‹, das mit hundertköpfigem Verlangen gegen sein besseres Einsehen kämpft und wütet: »Das Untier wird nicht los, was es doch loswerden möchte: sein besseres Wissen«.307 Mit dem Kampf zwischen schwarzem Pferd und Wagenlenker wird dies in aller Deutlichkeit vor Augen geführt. Die Beschränkung wird dann am härtesten erfahren – und hier klingt wiederum das delphische Moment an –, wenn die innerseelische Einsicht in die Grenze für das Begehren nicht statthat, wenn das ἐπιθυμητικόν den Vorrang der Vernunft nicht anerkennt, es keine Übereinstimmung gibt und folglich die seelische Verfasstheit das Gegenteil von Besonnenheit und Gerechtigkeit darstellt: Es ist der Zustand der Stasis, den Sokrates in der Politeia als Krankheit der Seele bezeichnet (vgl. R. IV 444a–e). Mit der Illustration des seelischen Pferdegespanns erscheint im Phaidros die Zwietracht der Seele weitaus drastischer als im vierten Buch der Politeia. Insbesondere die das Bild prägende Körperlichkeit des schwarzen Pferdes lässt die wirkenden Kräfte anschaulich zum Ausdruck kommen: auf der einen Seite das vor Augen tretende Ziehen und Vorwärtstreiben des Pferdes, das in seinem fast unaufhaltsamen Drang den ganzen Wagen mitreißt; auf der anderen Seite die harte Zügelung des Lenkers, der, so legt es das Bild nahe, ebenso mithilfe des eigenen Körpergewichts die Zügel aufs Heftigste anspannt (vgl. Phdr. 253e–254e). Das Verhalten des schwarzen Pferdes erinnert in seiner Ähnlichkeit mit Typhon an die im platonischen Werk immer wieder thematisierte extreme Begierde nach Macht und Ruhm. Hier, im Kontext der Palinodie, zielt die Darstellung aber vor allem auf die sinnlich-erotische Begierde, damit zusammenhängend auch auf die erotisch-rhetorische Verführung, auf die Sokrates bereits in der Rah­ menhandlung anspielte und die mit der Lysias-Rede in den Vorder­ grund trat. Denkt man an die Schlusspassagen der ersten SokratesRede (vgl. 240a ff.), welche die verheerenden Folgen für den Jüngling kenntlich machten, dann kennzeichnet das schwarze, augenscheinlich 307

Figal 1991, S. 22.

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hässliche und rabiate Pferd insbesondere auch das Gewaltsame eines unmoralischen, d. h. eines den Liebespartner nicht achtenden Eros. Im Kontext der ersten Sokrates-Rede wurde aber auch deutlich, dass die Vorstellung einer im engeren Sinne zu denkenden Dichoto­ mie von Sinnlichkeit und Begierde auf der einen, Wissen und Vernunft auf der anderen Seite für eine plausible Anthropologie nicht tragfähig ist. Lysias’ Konzeption zweier disjunkter Zustände erwies sich als unhaltbar. In Abhebung von dieser so gezeichneten sophistischen Ebene wird nun das Bild des Pferdegespanns als ein Seelenkonzept lanciert, innerhalb dessen die menschlichen Strebungen und Vermö­ gen notwendig interagieren. Ein fundiertes anthropologisches Kon­ zept geht für Platon demnach nicht in einem polar gedachten Bild des Menschen auf.308 Von Interesse ist zunächst der dritte Seelenteil, das gute Pferd im Phaidros, das θυμοειδές in der Politeia. Ähnlich wie im Falle von αἰδώς rekurriert Platon mit diesem Ausdruck auf ein altes Wort der griechischen Epik: Das in dem Terminus θυμοειδές enthaltene Wort θυμός ruft das epische Bedeutungsspektrum von ›Herz‹, ›Gemüt‹, ›Sinn‹, ›Temperament‹, ›Eifer‹, ›Mut‹, ›Stolz‹ etc. auf; Thymos kann in der frühgriechischen Literatur für verschiedene Stimmungen, Emotionen und Eigenschaften, für Willensregungen, zweifelnde Überlegung oder eine belebende Energie stehen.309 Wenn 308 Mit Blick auf die verschiedenen Seelenkonzeptionen im platonischen Werk wurde bereits ausgeführt, dass in der vorliegenden Arbeit nicht davon ausgegangen wird, dass Platon mithilfe des trimeren Seelenmodells in Politeia und Phaidros Auffassun­ gen früherer Dialoge revidiert. Aufgezeigt wurde einerseits, dass auch im früheren Werk menschliche Strebungen oder Sachverhalte thematisiert werden, die über die duale Konzeption hinausgehen (vgl. oben Kap. 4.3); andererseits wird angenommen, dass Platon mit den divergierenden Seelendarstellungen aber auch unterschiedliche Akzente setzt, die in je bestimmter Hinsicht im platonischen Werk ihren Geltungs­ anspruch behalten (vgl. Kap. 4.1.1). – Unterstellt man hingegen eine Revision Platons, dann müssten in der Folge mehrere Trenn- oder Bruchlinien innerhalb seines Werkes, so auch zwischen Phaidros und Spätwerk, berücksichtigt werden. Vgl. dazu Simo Knuuttila: Emotions in Ancient and Medieval philosophy, Oxford 2004, S. 7–18, der eine Vielzahl der vor allem englischsprachigen Forschungsliteratur zu dieser Frage einbezieht. 309 Vgl. zu diesen Bedeutungen Blößner 1997, S. 233 u. ders.: Art. ›Thymos‹, in: HWPh, Bd. 10, Basel 1998, Sp. 1187–1192, hier 1187 f. Blößner zufolge vereint der epische Thymos »emotionale, voluntative und rationale Aspekte«, wobei der »emo­ tional-voluntative Bereich« dominiere (ebd., Sp. 1188). Zum homerischen θυμός und platonischen θυμοειδές vgl. auch Hans Schwabl: Homer und die platonische Seelen­ lehre, in: Jens Holzhausen (Hg.): Psyché – Seele – anima. Festschrift für Karin Alt, Stuttgart u. a. 1998, S. 7–36.

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sich die semantische Breite von Thymos zur Zeit Platons auch stark verengt hat,310 so ist doch davon auszugehen, dass Platon mit dem Begriff θυμοειδές alte Konnotationen anklingen lassen will.311 Im Phaidros zeichnet sich nun das gute Pferd vor allem dadurch aus, dass es dem Lenker gehorcht (vgl. 253d ff.). Ähnlich wie in der Politeia der ›mutartige‹ Seelenteil als ein im seelischen Zwiespalt Ver­ bündeter und Mitstreiter (σύμμαχος) der Vernunft erscheint,312 steht im Phaidros das gute Pferd in der Konfliktsituation dem Lenker zur Seite, es folgt diesem und hält sich beim Anblick des Geliebten »durch Scham gezwungen« (αἰδοῖ βιαζόμενος, 254a2) zurück.313 Unter Ein­ beziehung des Seelenbildes im Phaidros führten die Erörterungen des Schambegriffs im vierten Kapitel dieser Arbeit zu dem Ergebnis, dass der mittlere Seelenteil und die platonisch verstandene Scham, θυμοειδές und αἰδώς, eng miteinander assoziiert sind. Die Scham trat als eine Art menschliche Disposition, als eine jedem Menschen zukommende δύναμις hervor, die, wenn sie gefördert und gestärkt wird, wesentlich dazu beiträgt, auf einen Ausgleich des Seele-LeibVerhältnisses hinzuwirken. Scham soll danach dann empfunden wer­ den, wenn die sinnlich-affektiven Anteile in unangemessener Weise die Seele zu dominieren drohen. In Verbindung mit dieser regulie­ renden Funktion bildete ein selbstbezügliches Moment die Grundlage des platonischen αἰδώς-Begriffes. Im Kontext der Sophrosyne deutete schon im Charmides der Begriff der Scham auf eine Selbstwahrneh­ mung, auf eine im Zwischenbereich von Sinnlichem und Vernunft wirkende selbsteinsichtige Kraft hin.314 Im vierten Buch der Politeia wird im Blick auf den mittleren Seelenteil ebenso ein selbstbezügliches Moment kenntlich. Als drit­ ter Seelenteil wird das θυμοειδές mit dem Verweis eingeführt, dass jemand, bei dem die Begierde die vernünftige Überlegung bezwinge, Verwendet wird das Wort jetzt zumeist für ›Wut‹, ›Zorn‹, ›Mut‹, ›Beherztheit‹; dennoch bleibt die Vielfalt des epischen Gebrauchs präsent (vgl. Blößner 1997, S. 233 u. ders. 1998, Sp. 1187). 311 In seiner Konnotation des Begehrens bleibt θυμός auch in ἐπιθυμητικόν (oder ἐπιθυμία) erhalten (vgl. Blößner 1997, S. 230 u. 233). Im Falle von θυμοειδές handelt es sich jedoch um ein Kunstwort, das so viel heißt wie das ›Thymosartige‹ oder ›Thy­ mosähnliche‹, vgl. ebd., S. 234 u. 238; ders. 1998, Sp. 1189; auch Figal 1991, S. 20. 312 Vgl. R. IV 440b, 440e–441a, 441e. 313 Das schlechte Pferd ist freilich durch seine Schamlosigkeit (ἀναίδεια) charakteri­ siert (vgl. Phdr. 254d). 314 Zu den Interpretationen von Platons αἰδώς-Konzept vgl. oben Kap. 4.2.2, 4.3.3 u. 4.3.4. 310

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sich oftmals selbst beschimpfe und über das Zwingende in ihm selbst zürne und sich ereifre (θυμοῦσθαι).315 Der hier so gezeichnete, auf sich selbst bezogene Unmut macht deutlich, dass etwas ›verkehrt‹ ist, dass die Seele der Begierde nachgibt, ohne Erfüllung zu finden; sie ist in Unruhe und Aufruhr, weil die bessere Einsicht als Stachel bleibt.316 Indem der Mensch auf dieser Ebene eine Art Einsicht in sein innersee­ lisches Verhältnis zu gewinnen vermag und sich der ›Verkehrtheit‹ gewahr wird, vermag der mittlere Seelenteil – gemäß seiner Stellung – auf einen Ausgleich hinzuwirken, indem er sich zusammen mit der Vernunft der Begierde entgegenstellt (vgl. R. IV 440a–c). Dass das angedeutete selbsteinsichtige Moment zur mittleren Ebene des θυμοειδές gehört und hier wirkt, verweist sowohl auf das Potential als auch auf die Grenzen dieser Art eines ›Selbstwissens‹.317 Im Phaidros ist das gute Pferd für den Seelenwagen unentbehrlich; zugleich wird klar markiert, dass es sich nicht um die Ebene der Vernunft handelt:318 Als ›Freund wahrer Meinung‹ (vgl. Phdr. 253d) hat das gute Pferd zwar richtige Einsicht, aber kein eigentliches Wissen. Entsprechend 315 λοιδοροῦντά τε αὑτὸν καὶ θυμούμενον τῷ βιαζομένῳ ἐν αὑτῷ (R. IV 440b1–2). – Vgl. zur Einführung des θυμοειδές und zu einer Diskussion der etwas bizarren Leon­ tios-Passage (vgl. R. IV 439e ff.) u. a. Jörg Hardy: Jenseits der Täuschungen – Selbst­ erkenntnis und Selbstbestimmung mit Sokrates, Göttingen 2011, S. 169–178. 316 Blößner hingegen erkennt in den ›motivationalen Konflikten‹ in R. IV 439a–441c primär ein Mittel zum Zweck der Plausibilisierung des dreiteiligen Seelenmodells (und damit der Analogie von Seele und Polis). Damit widerspricht er auch den Inter­ preten der vor allem älteren englischsprachigen Literatur, die gleichsam umgekehrt annehmen, dass Platon das dreiteilige Seelenkonzept einführt, um innere Konflikte zu erklären (vgl. Blößner 1997, S. 226 f. mit Anm. 646 zu Literaturangaben). Hin­ sichtlich des Wortes θυμοειδές macht Blößner (vgl. ebd., S. 234–239) darüber hinaus vielfache Begriffs- und Bedeutungsverschiebungen innerhalb der Politeia (bes. mit Blick auf Buch VIII–IX) kenntlich. Demgegenüber ist die Frageperspektive der vor­ liegenden Untersuchung eine andere: Im Hinblick auf den seelischen Zwischenbereich soll ergründet werden, in welcher Weise Platon Momente der Überbrückung zwischen Sinnlichem und Intelligiblem deutlich macht. Ein solches Moment wird m. E. in dem betrachteten Passus im vierten Buch im Kontext des θυμοειδές erkennbar, auch wenn dieses an späteren Stellen anders konnotiert wird. 317 In dem hier betrachteten Passus klingt das selbstbezügliche Moment lediglich an. Dennoch zeigt sich damit, dass Platon in verschiedenen Kontexten ein solches Moment hinsichtlich des seelischen Zwischenbereichs signalisiert. Zu erinnern ist auch an die ‚mittlere‘ Form von Selbstwissen in Diskussion der gerechten Seele im vierten Buch der Politeia, die allerdings expliziter und mit anderer Nuancierung hervortrat (vgl. oben Kap. 4.1.2). 318 Anders etwa Robinson 1995, S. 117. Nach seiner Auffassung sind gutes Pferd und Lenker kaum zu unterscheiden.

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unterscheidet sich das hier verortete Selbstwissen deutlich von der für Platon höchsten Form der Selbsterkenntnis der Vernunft. Weißes und schwarzes Pferd werden in ihren ästhetisch-ethi­ schen Eigenschaften prägnant kontrastiert. Andererseits gehören sie der gleichen Gattung an und unterstehen beide der Führung des Wagenlenkers: Beide bedürfen der Zügelung und auch das gute Pferd kann durch schlechte Erziehung verdorben sein.319 Die musi­ sche Erziehung des zweiten und dritten Buches der Politeia und insbesondere die spezifisch musikalische Bildung zielten auf eine Wohlgesinntheit und Wohlgestalt der ganzen Seele.320 Zugleich darf angenommen werden, dass die musische Bildung gerade den mutartigen Seelenteil darin stärken soll, Stimmungen, Emotionen und Willensregungen mithilfe eines reflexiven Moments richtig ein­ zuschätzen, sodass diese langfristig nicht zu einer innerseelischen Verkehrung führen.321 Der alte Begriff θυμός klingt im Sinne einer sich an vernünftiger Einsicht orientierenden Lebenskraft, eines ent­ sprechenden Mutes und Eifers, die es zu unterstützen gilt, im Rahmen dieses Bildungsprogrammes deutlich an. Aber auch die sokratische Seelentherapie durch Logoi richtete sich auf die seelische Zwischenebene von Sinnlichem und Vernunft. In diesem Zusammenhang wurde im Hinblick auf die nun erneut aufzu­ werfende Frage nach dem Zusammenspiel der seelischen Strebungen und Vermögen untereinander bereits auf die Forschungsliteratur hingewiesen, in der weithin davon ausgegangen wird, dass Emotionen bzw. die ›unteren‹ Seelenteile bei Platon mit einem kognitiv-einschät­ zenden Moment assoziiert sind, was erst ihre Zugänglichkeit für Logoi erkläre.322 Die in dieser Arbeit vorgelegten Interpretationen der dem mittleren Seelenbereich zugeordneten Scham können als Konkretisierung eines solchen Moments aufgefasst werden. In Bezug auf das trimere Seelenkonzept wird in der Literatur überdies betont, dass jeder Seelenteil auch Momente der anderen Strebungen und Ver­ mögen involviere: Die drei Aspekte des Begehrlich-Affektiven, des Voluntativen und des Vernünftigen, welche oftmals als Beschreibung der trimeren Struktur dienen, sind danach bis zu einem gewissen Grad Vgl. dazu R. IV 441a. Vgl. R. III 401d–e u. oben Kap. 5.2.1 mit Anm. 192. 321 Unter dieser Voraussetzung zeigt sich auch hier die Analogie von Seele und Polis, insofern die Adressaten des musischen Bildungsprogramms die Wächter sind. 322 Zu den Literaturangaben vgl. oben Kap. 4.3.1, Anm. 125. 319

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in jedem Seelenteil zu finden, der unter dieser Voraussetzung in seiner je eigenen Funktion zugleich komplex agiert.323 Auf der einen Seite erfährt dadurch die gegenseitige ›Verständigung‹ der drei seelischen Bereiche eine Plausibilität; auf der anderen Seite wird allerdings das Problem des Zusammenwirkens der seelischen Kräfte letztlich auf die Seelenteile selbst verlagert, die nun ihrerseits drei ›Teile‹ inkludieren. Auch erscheinen unter dieser Annahme die drei Seelenteile gleichsam als eigenständige Akteure; vor allem im Kontext der Politeia werden sie häufig als solche wahrgenommen.324 Vor diesem Hintergrund entfaltet das Bild des Wagengespanns als Bild sein Potential. Zunächst ist festzuhalten, dass sich innerhalb der Logik des Bildes die skizzierte Problematik nahezu auflöst: In wel­ cher Beziehung Pferde und Wagenlenker stehen, wie sie interagieren und welche Rolle hierbei jedem zukommt, muss nicht gefragt werden, es ist evident. Wie die Kräfte untereinander wirken, auch durch welche Art von Energie der Wagen in ein großes Ungleichgewicht gerät und aus der Bahn zu kommen droht, ist augenscheinlich; ebenso die Rolle des Lenkers, der notwendig für das gesamte Gespann sorgen und die Richtung vorgeben muss. Das schwarze Pferd reagiert unmittelbar und lernt erst im Prozess des Kampfes; das weiße Pferd, das sich zurückhält, erscheint demgegenüber abwägend und in gewisser Weise geschult. Pferde und Lenker stellen zwar eigenständige Kräfte dar, treten aber dennoch nicht als Einzelakteure auf: Sinn und Zweck des Wagengespanns liegt allein im Zusammenspiel unter der Führung des Lenkers. Der wechselseitige Bezug zwischen Pferden und Lenker wird im Bild durch die sinnliche Präsenz der physischen Kräfte evoziert, vor allem zwischen Lenker und schlechtem Pferd. Aber auch zwischen den Pferden selbst wird der gegenseitige Bezug dadurch kenntlich: So wird nicht nur das gute Pferd vom schlechten mitgerissen, sondern

323 Vgl. auch oben Anm. 305; umfänglich zu dieser Fragestellung auch Büttner 2000, S. 18–130. 324 Die Problemstellung ist als Homunculi-Theorie bekannt, vgl. Knuuttila 2004, S. 9: »They are like little persons (homunculae) in a person. If mental conflicts are meant to be explained by referring to parts of the soul […] the reduplication of the contending factors of the soul at the level of its parts brings us back to the very same problems.« Zur Diskussion dieser Problematik und zu weiteren Literaturangaben vgl. ebd., S. 9 f., Anm. 4 u. 5; auch Hardy 2011, S. 176 f., Anm. 127.

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auch das schlechte Pferd erfährt buchstäblich das Gegengewicht seines Mitgespanns (σύζυγος) (vgl. Phdr. 253e–254e).325 Auch in der Illustration des Wagengespanns zeigt sich – mit dem Motiv der Scham, aber auch darüber hinaus –, dass den unte­ ren Seelenteilen resp. den Pferden bis zu einem gewissen Grad die Fähigkeit einer Einschätzung der Lage zukommt.326 Umgekehrt empfindet der Wagenlenker ein Begehren, er wird, so heißt es, von einem »anstachelnden Verlangen erfüllt« (πόθου κέντρων ὑποπλησθῇ, 253e6–254a1). Dieses Verlangen aber wird für den Augenblick kennt­ lich gemacht, in welchem der Lenker zum ersten Mal »das geliebte Antlitz sieht« (ἰδὼν τὸ ἐρωτικὸν ὄμμα) und dadurch die ganze Seele »durchwärmt wird« (διαθερμήνας) (253e5–6). In diesem Zusammen­ hang wird offensichtlich – und darin unterscheidet sich das Bild wesentlich von der begrifflichen Beschreibung der Seele –, dass im Moment des Geschehens selbst, hier ausgelöst durch den Anblick des Geliebten und die Verliebtheit, die Seele als Ganze erfasst und gleichsam ›durchflutet‹ wird, dadurch aber in diesem augenblickli­ chen Zustand jeder Seelenteil des anderen deutlich gewahr wird und auf diesen reagiert. Vergleichbar mit der Situation einer lebendigen intersubjektiven Kommunikation, in welcher die Teilnehmenden im Moment der Interaktion sich notwendig zueinander verhalten und so eine gegenseitige Wirkung eintritt, durch welche die Partizipierenden in gewisser Weise voneinander lernen, so erscheint im Bild des Seelenwagens das Interagieren von Lenker und Pferden als eine starke gegenseitige Bezogenheit und eine daraus folgende Form der Teilhabe am je anderen Seelenteil – hier freilich unter der Vorherrschaft des Lenkers. Der Vergleich mit einer intersubjektiven Kommunikation soll vor allem das dynamische und gegenwärtige Moment des Aus­ tauschs und der Gegenseitigkeit, also das aktuelle Geschehen zwischen den Teilnehmenden, akzentuieren. Im Rahmen des Bildes werden Pferde und Lenker nicht selbst zu ›kleinen Seelen‹ oder ›kleinen Akteuren‹, welche die ganze dreiteilige Seele abbilden – jedenfalls nicht in einem statischen Sinne. Vielmehr Vgl. auch Heitsch 1997, S. 93: »Nicht eine Gestalt mit ihren Teilen, sondern Kräfte, die in einer verkümmernden oder über sich hinauswachsenden Seele zur Wirkung kommen, werden dargestellt.« 326 Das gute Pferd etwa wird durch Wort und Befehl gelenkt (vgl. Phdr. 253d); das schlechte Pferd wiederum ›argumentiert‹ zornig-anklagend und auf sein Recht pochend (vgl. 254c–d). Vgl. dazu Ferrari 1985, S. 2 f. 325

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kommt zum Ausdruck, dass ihr Bezogensein aufeinander im aktuellen und zugleich prozessualen Geschehen so stark ist, dass sie in leben­ diger Form aneinander partizipieren. Schon Sokrates’ einleitende Wendung, dass die Seele ›der zusammengewachsenen Kraft eines befiederten Wagengespanns und seines Lenkers‹ vergleichbar sei,327 hatte das Organische und Synergetische des Seelenbildes vor Augen geführt: Jeder Teil steht in engster Verbindung mit den anderen Teilen, hat gleichsam eine Wahrnehmung von und eine gewisse Teil­ habe an diesen. Zugleich verweist der hier verwendete Ausdruck für Gespann, ζεύγος,328 auf das Gefüge dieser Ordnung, die Verbindun­ gen untereinander sind nicht gleichrangig, die Einheit impliziert eine Ausrichtung und Spannung. Aus organischer Einheit und gespannter Richtung resultiert die δύναμις des Gespanns, seine vereinte Kraft und sein Potential.329 Im Hinblick auf die Frage von Zusammenspiel und Kooperation der seelischen Strebungen und Vermögen unter Führung des Lenkers, sowohl im Kontext des innerseelischen Konflikts als auch in Bezug auf die Einheit der trimeren Seele, zeichnet sich das Bild durch eine Evidenz und Performanz aus, die in begrifflich-argu­ mentativer oder begrifflich-deskriptiver Form nicht zu erreichen sind. Ähnlich wie im Falle der Mathematik ruft das visualisierte Bild eine Vorstell- und Denkbarkeit der infrage stehenden Sache, hier der dreigestaltigen Seele und ihrer inneren Dynamik, hervor. Als künst­ lerisches Bild zielt die Visualisierung jedoch nicht, wie oben schon dargelegt, auf eine realistische Darstellung. Gerade dadurch aber schafft das Bild das ihm eigene Feld eines explorativen Verstehens.330 Zwei wesentliche Aspekte sind am Ende dieser Ausführungen überdies festzuhalten. Zum einen wird mit dem Bild des Seelenwa­ gens offenkundig, dass dem schwarzen Pferd nicht eine ausschließlich abzulehnende, sondern eine ambivalente Rolle zukommt. Der Drang dieses Pferdes, sich der sinnlichen Welt ganz hinzugeben, sein For­ cieren der Erinnerung an den sinnlichen Liebesgenuss, welche die Erinnerung an das wahre Schöne erschwert, die Mühen, die es dem Lenker bereitet, tun in der bildlichen Darstellung der Tatsache, dass Vgl. Phdr. 246a u. oben Anm. 275. Zur etymologischen Verwandtschaft von ζεύγος mit dem altindischen yugum, dem lateinischen iugum und dem deutschen ›Joch‹ vgl. Figl 2002, S. 20 u. 24. 329 Vgl. auch Heitsch 1997, S. 93; de Vries, 1969, S. 126. 330 Dass sich in dem hier Dargelegten das epistemische Potential der bildhaft-mytho­ logischen Darstellung noch nicht erschöpft, werden die nächsten beiden Kapitel erwei­ sen. 327

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dieses Pferd dennoch gebraucht wird, keinen Abbruch. Das schwarze Pferd ist unumgänglicher Bestandteil der menschlichen Seele, durch seinen Drang und sein Verlangen bringt es den Seelenwagen erst zum Geliebten hin, was für die Liebe und für die Erkenntnis des Schönen unentbehrlich sein wird.331 Auch ist das schwarze Pferd, mehr noch als das weiße, die treibende Kraft für die durch das Bild charakterisierte horizontale Bewegung, d. h. für die menschlich notwendige Bewe­ gung im Bereich des Werdens. Das Bild evoziert ein Selbstverständnis der fast paradoxen Gleichzeitigkeit, dass auf der einen Seite sinnliches Begehren und Affekte negativ konnotiert sind, dass aber auf der ande­ ren Seite das Affizieren der Seele durch Sinnfälliges dennoch ein Erfordernis für die menschliche Erkenntnis und das menschliche Dasein insgesamt darstellt. Zum anderen wird im Kontext der dargestellten Szenerie kennt­ lich, dass die Rettung der Seele vor einem typhonartigen Leben in der Wiedererinnerung an das Schöne selbst liegt, denn erst diese verleiht dem Lenker die Fähigkeit und Orientierung, den Wagen richtig zu führen. Dem Bild des befiederten Wagengespanns ist der »Aufschwung der Seele«332 über die Endlichkeit und Beschränktheit des irdischen Daseins und letztlich über das Raum-Zeitliche inhä­ rent. Angezeigt wird die vertikale Bewegrichtung durch »die Kraft des Gefieders« (ἡ πτεροῦ δύναμις, Phdr. 246d6), liege es doch in dessen Natur, alles Schwere emporzuheben. Dem Gefieder kommt offensichtlich eine vermittelnde Rolle zwischen Menschlichem und Göttlichem zu: Unter allem Körperlichen habe es am meisten mit dem Göttlichen gemein (vgl. 246d). Erfahren wird der ›Aufschwung der Seele‹ aber im Zustand der Liebe.

5.3.4 Das Schöne, die erotisch-philosophische Begeisterung und die Bildung der Seele Die sokratische Aussage, dass die göttliche Begeisterung des Eros dem Menschen zum größten Glück gereiche, steht im Zentrum der Betrachtungen dieses Kapitels. Sokrates beschreibt die vierte Art der Mania als einen Zustand, »an welchem derjenige, der bei dem Anblick der hiesigen Schönheit jener wahren sich erinnernd, neubefiedert 331 332

Vgl. auch van Ackeren 2003, S. 222; Graeser 1969, S. 44. Schulz 2000, S. 94.

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wird, und mit dem wachsenden Gefieder zwar aufzufliegen versucht, unvermögend aber und nur wie ein Vogel hinaufwärts schauend und, was drunten ist, gering achtend, beschuldigt wird, seelenkrank zu sein«.333 Es seien aber nur wenige, so heißt es, welchen die Erinnerung an das wahre Schöne im hiesigen Leben hinreichend gegenwärtig sei: »Wenn diese etwas dem Dortigen Ähnliches sehen, sind sie bestürzt und erschüttert«.334 Sie verstünden nicht, was ihnen geschehe (vgl. Phdr. 250a–b). Die anderen aber nähmen Anstoß an ihnen, würden die Begeisterten diesen doch krank und verwirrt erscheinen (vgl. 249c–d). Der hier dargestellte Zustand des Verliebtseins oder der Liebe335 zeichnet sich durch die Wiedererinnerung an das Schöne und das damit einhergehende Erstarken des seelischen Gefieders, durch Erschütterung und Erstaunen aus, zugleich aber auch durch Irrita­ tion und Leid, ebenso durch das Unverständnis der anderen. Das Außergewöhnliche dieses Zustandes und das Heraustreten aus dem Alltäglichen und Vertrauten, die oben als gemeinsames Charakteris­ tikum der vier Arten der göttlichen Mania kenntlich wurden (vgl. 265a), auch die enge Verbindung von Schönheit und Begeisterung, die Sokrates in Bezug auf die Dichtkunst akzentuierte, und die Hingabe an diese Art der Begeisterung kommen in dem Abschnitt in greifbarer Form zum Ausdruck.336 Allerdings zeigen sich die gekennzeichneten Momente nun in einer anderen, neuen Gestalt: Die Anamnesis der Idee des Schönen ist nun Voraussetzung und Bedingung des außer­ gewöhnlichen Zustandes der Mania. Je intensiver die Erinnerung ist – je mehr das Gefieder also Nahrung findet und wächst –, desto mehr, so legt es die Darstellung nahe, sehnt sich die Seele nach dem Ort, an dem sie in Gefolge ihres Gottes das Schöne selbst schaute. Wurde in den vorangehenden Ausführungen eine Art Analogie von himmlischem und irdischem Verlust des Gefieders, von Vergessenheit und Fall der Seele sichtbar, so wird nun auch in umgekehrter Richtung 333

ἣν ὅταν τὸ τῇδέ τις ὁρῶν κάλλος, τοῦ ἀληθοῦς ἀναμιμνῃσκόμενος, πτερῶταί τε καὶ ἀναπτερούμενος προθυμούμενος ἀναπτέσθαι, ἀδυνατῶν δέ, ὄρνιθος δίκην βλέπων ἄνω, τῶν κάτω δὲ ἀμελῶν, αἱτίαν ἔχει ὡς μανικῶς διακειμενος (Phdr. 249d5–e1). Übers. Schleiermacher (Eigler-Ausg., Bd. 5). 334 αὗται δέ, ὅταν τι τῶν ἐκεῖ ὁμοίωμα ἴδωσιν, ἐκπλήττονται (Phdr. 250a6). 335 Wer an diesem Wahnsinn teilhabe (ταύτης μετέχων τῆς μανίας), werde, indem er die Schönen liebe, ein Liebhaber genannt (vgl. Phdr. 249e3–4). 336 Vgl. zu diesen Aspekten der göttlichen Mania oben Kap. 5.2.2. Die Werke der Poeten verdankten ihre eigentliche Schönheit der göttlichen Mania (vgl. Phdr. 245a–b).

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eine gewisse Entsprechung kenntlich: Der Blick »nach draußen« (εἰς τὸν ἔξω τόπον, 248a2–3), auf den »überhimmlischen Ort« (τὸν δὲ ὑπερουράνιον τόπον, 247c3), welcher der Seele, wenn sie ihren Wagen gut lenkte, bei der himmlischen Ausfahrt zuteilwurde, lässt sich mit dem Begeistertsein auf Erden, dem Heraustreten aus der gewöhnli­ chen Sphäre, vergleichen. Das – freilich abgeschwächte – Sehen und Erkennen der Ideen im irdischen Vollzug der Anamnesis korrespon­ diert in gewisser Weise mit der himmlischen Schau der Ideen. An dieser Stelle ist – ein letztes Mal – an die Situierung des Dialogs außerhalb der Stadtmauern, in der freien Natur, und an Sokrates’ Verlassen seines gewohnten Umfeldes zu denken. Der Anspielungsreichtum dieser Motive durchzog die gesamte bisherige Erörterung des Phaidros: Im Kontext der Rahmenhandlung und der Zwischenszenen diente das Besondere der Lokalität der ironi­ schen Brechung sowohl eines sinnlichen Berauschtseins nach Art des Lysias als auch derjenigen dichterischen Begeisterung, die Sokrates als gleichsam bewusstloses Ausgeliefertsein präsentierte; umgekehrt aber auch der spöttischen Vorführung einer begeisterungslosen Liebe und Dichtung. In Diskussion der poetischen Mania wurde überdies erkennbar, dass das Motiv des Außergewöhnlichen zugleich in nichtironischer Weise auf die göttliche Form von Begeisterung, auf die durch diese bewirkte ›Veränderung des gewöhnlichen Zustandes‹ anspielt. Schließlich kann im Hinblick auf die mythologisch darge­ stellte himmlische Ausfahrt der Seelen und ihren Ausblick ›nach draußen‹ die Naturumgebung des Dialogs auch als Allusion und Hin­ weis auf den ›überhimmlischen Ort‹ verstanden werden:337 Zeigt sich gemäß dem Mythos doch hier, in diesem Außerhalb des Himmels, die wahre Natur, die eigentliche φύσις aller Dinge, das wahre Wesen und Sein.338 Auch in dieser Hinsicht spannt Platon also einen Bogen inner­ halb seiner Dialogkomposition, nämlich von der sinnlich erfahrbaren 337 Vgl. mit etwas anderer Betonung auch Griswold (1996, S. 33), der das Korrespondierende zwischen der dialogischen Naturumgebung und der mythologischen Darstellung besonders unterstreicht: »The topology of the Phaedrus is carefully mar­ ked for us, and it recurs in the spacing of the universe described in Socrates’ palinode. The palinode’s transposition of the dramatic setting to a mythic context suggests that ›this‹ world is an ›image‹ of another, ›higher‹ world.« Teilweise wurde in der Literatur auch das peripatetische Motiv der Anfangsszenen als Verweis auf die kos­ mische Fahrt der Seelen betrachtet. Zu Literaturangaben und einer kritischen Stel­ lungnahme dazu vgl. Görgemanns 1993, S. 125 f., Anm. 12 u. S. 144, Anm. 83. 338 Vgl. dazu R. VI 501b.

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Natur, wie sie in der Rahmenhandlung vor allem mit der Ilissos-Szene hervortritt, zur wahren Natur des überhimmlischen Ortes in der Palinodie. Die mit dem Eros verbundene göttliche Begeisterung, die dem Menschen durch die Anamnesis des Schönen zuteilwird, über­ spannt aber gleichsam diesen Zwischenraum. Hervorgerufen wird die Wiedererinnerung durch das sinnlich Phänomenale, die Wahr­ nehmungsebene stellt dafür eine Notwendigkeit dar. Anders aber als im Phaidon ist die Anamnesis im Phaidros mit der göttlichen Mania assoziiert, damit zusammenhängend mit einem starken »Verlangen nach dem Damaligen« (πόθῳ τῶν τότε, 250c7): Die Wiedererinnerung an das Schöne ist hier mit der Sehnsucht und dem Mangel des Eros verschränkt. Obwohl der Begeisterte als ›wahnsinnig‹ und ›seelenkrank‹ erscheint, fällt doch gerade von ihm das Vergessen ab. Wer noch frischen Andenkens sei, werde beim Anblick des irdisch Schönen »von hier nach dort getragen, zur Schönheit selbst«.339 Erblicke ein solcher ein »gottähnliches Angesicht« (θεοειδὲς πρόσωπον, 251a2), schaudere er zuerst und ihn überkomme etwas von der damaligen Furcht,340 dann aber verehre er das Antlitz wie einen Gott. Die Ver­ gegenwärtigung des Schönen selbst, die dargestellte Erschütterung der Seele, ebenso ihr Verlangen, wie ein Vogel ›nach oben‹ zu fliegen und sich menschlicher Beschäftigungen zu enthalten (vgl. 249c–d), charakterisieren eine göttliche Ergriffenheit (ἐνθουσιασμός), die Pla­ ton als ein ›Eingeweihtsein‹ bezeichnet (vgl. 250b–251a).341 Die Seele tritt gleichsam in einen Bereich ein, welcher der Welt der gewohnten Realitäten und Zwecke enthoben ist, sie findet sich in gewisser Weise in einem gesonderten Feld wieder,342 was hier mit dem Ausdruck einer neuen oder frischen Weihung (νεοτελής, ἀρτιτελής, 250e1, 251a2) und zugleich wiederum in Analogie zur ›damaligen‹ vollkommenen

339 ἐνθένδε ἐκεῖσε φέρεται πρὸς αὐτὸ τὸ κάλλος (Phdr. 250e2). Auch später heißt es, dass die Erinnerung hingetragen werde »zur wahren Natur des Schönen« (πρὸς τὴν τοῦ κάλλους φύσιν, 254b5–6). 340 πρῶτον μὲν ἔφριξε καί τι τῶν τότε ὑπῆλθεν αὐτὸν δειμάτων (Phdr. 251a3–4). 341 Der philosophischen Seele komme es auf Erden zu, auf eine menschenmöglich vollkommene Art geweiht zu sein (τελέους ἀεὶ τελετὰς τελούμενος, 249c7–8): »Denn sie ist mit der Erinnerung nach Möglichkeit immer bei jenen Dingen, bei denen Gott ist, und sie ist deshalb selbst göttlich.« (πρὸς γὰρ ἐκείνοις ἀεί ἐστιν μνήμῃ κατὰ δύναμιν, πρὸς οἷσπερ θεὸς ὢν θεῖός ἐστιν. Phdr. 249c5–6). 342 Vgl. dazu auch Adorno (1958/59) 2009, S. 149.

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Weihung gekennzeichnet wird, als die Seele der herrlichen Schau (μακαρίαν ὄψιν τε καὶ θέαν, 250b6–7) teilhaftig wurde.343 Die Beschreibungen des Ergriffen- und Überwältigtseins im Anblick des Schönen deuten darauf hin, dass die Seele in diesem Pro­ zess auch eine Verunsicherung erfährt. Die Erinnerung an das Schöne veranlasst den Menschen, sich über die Welt des ›Realistischen‹, über deren Kausalitäten und Ziele, hinauszubewegen. Gezeigt wird, wie Adorno es in Bezug auf den Mythos formuliert, »ein Spannungs­ verhältnis zwischen Bedingtheit und Unbedingtheit«, dargestellt als »jene Bewegung, die die bedingten Wesen im Angesicht des Unbe­ dingten ergreift und sie nun über den Umkreis der Bedingtheit selber, jedenfalls temporär […] eben hinaushebt«.344 Der Mensch werde sich aber in dieser Erfahrung des Unbedingten, dessen er selbst nicht mächtig ist, seiner eigenen Bedingtheit resp. Endlichkeit inne, worin aber zugleich der Grund des Schmerzes in der Erfahrung des Schönen liege.345 Die oben formulierte Gespanntheit des Begeistertseins vom sinnlichen zum wahren Schönen, welcher Platon durch die Dialog­ komposition selbst Ausdruck verleiht, hängt damit in gewisser Weise zusammen: Das im irdischen Dasein geschaute Schöne umfasst das paradoxale Moment, dass sich in dem sinnlich Erfahrbaren die Idee des Schönen, die aber das eigentlich Berührende ist, zu zeigen ver­ mag.346 Gegenüber den anderen Ideen wird das Schöne im Mythos hinsichtlich seiner Zugänglichkeit ausgezeichnet (vgl. Phdr. 250b–d). Während den irdischen Abbildern der Gerechtigkeit, der Besonnen­ heit und des anderen für die Seele Wertvollen kein Glanz oder Licht innewohne, sodass nur wenige mit Mühe die Gattung dieser Bilder erkennten, leuchtete die Schönheit, so heißt es, schon damals hell 343 Das dem Feld der Mysterien entstammende Vokabular und die Akzentuierung des Sehens und der Schau (θεωρία) hängen eng zusammen. Vgl. dazu Christoph Ried­ weg: Mysterienterminologie bei Platon, Philon und Klemens von Alexandrien, Ber­ lin/New York 1987, S. 2 f. u. 68. Die Frage der Mysterienmotive im Phaidros geht über den Rahmen der vorliegenden Betrachtungen hinaus, sie soll hier nicht diskutiert werden; vgl. dazu ebd., S. 30–69. 344 Adorno (1958/59) 2009, S. 147. 345 Vgl. Adorno (1958/59) 2009, S. 147 f. 346 Vgl. auch dazu Adorno (1958/59) 2009, S. 158: »Dem Schönen wohnt die Para­ doxie inne, daß es gleichzeitig Träger eines Absoluten, Träger eines Geistigen, der Idee und ein sinnlich Gegenwärtiges sei, daß es also die Idee selbst, wie die Philosophie das später ausgedrückt hat, in ihrer Unmittelbarkeit für uns, nämlich als eine anschau­ liche Idee sei.«

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und klar (λαμπρόν, 250b6) und war so zu schauen.347 Aber auch hier auf Erden würden wir die Schönheit »mit dem klarsten unse­ rer Sinne«348 auffassen, sei doch die Sehkraft die schärfste unserer Wahrnehmungen. Schon dort, unter den anderen Ideen, aber auch hier sei der Schönheit beschieden, »das deutlich Sichtbarste und Liebenswürdigste zu sein«.349 Die besondere Stellung des Schönen und sein in den irdischen Abbildern gleichsam privilegierter Zugang werden nachfolgend anhand von zwei den Mythos prägenden Frage­ stellungen diskutiert: der menschlichen Erschließung des Schönen und der zwischenmenschlichen Liebe. Der epistemische Zugang zu den Tugenden der Gerechtigkeit und Besonnenheit und ihren Ideen vollzieht sich auf dem Weg dialektischer Erkenntnis, wie er oben vor dem Hintergrund der sokratischen ›Flucht zu den Logoi‹ im Phaidon und des dialektischen Bildungsganges der Politeia rekonstruiert wurde. Es ist der Weg der Hypothesismethode und der Rechenschaftsgabe, durch den über die Ergründung der je besten Voraussetzungen und in Form der argumen­ tativen Auseinandersetzung sowohl zur Idee hin als auch von ihr her gedacht werden soll, wobei die Idee im Bemühen um die Sache danach selbst zunehmend an Klarheit gewinnt. Anstrengung, Mühe und Länge dieses Weges werden von Sokrates wiederholt unterstrichen; die Motivation der Suche ergab sich aus dem Erkenntnisgewinn selbst, wobei die Idee des Guten sich auf diesem Weg zeigen und ›gesehen werden‹ kann; ihre Wirkkraft ist für den Erkenntnissuchenden erfahr­ bar.350 Die Schönheit erschließt sich auf andere Weise. Folgt man dem Mythos im Phaidros, dann erscheint der Weg ihrer Erkenntnis durch die Anamnesis zunächst unmittelbarer: Im Augenblick des Anblicks des schönen Geliebten wurde die Seele des Liebenden zur einst gese­ henen Idee des Schönen ›hingetragen‹. Allerdings ist zu berücksichti­ gen, dass dies nur den wenigen geschieht, welche ›damals‹ das wahre Sein vielfältig schauten (ὁ τῶν τότε πολυθεάμων, 251a2) und deren Damit baut Platon hinsichtlich der Idee des Schönen eine gewisse Spannung zu der vorherigen Bestimmung der Ideen auf, wonach diesen jede sinnlich wahrnehmbare Qualität fehlt (vgl. oben Anm. 281). 348 διὰ τῆς ἐναργεστάτης αἰσθήσεως τῶν ἡμετέρων (Phdr. 250d2). Für die Abbilder der Gerechtigkeit und Besonnenheit hätten wir hingegen nur Werkzeuge, durch welche diese für uns weit schwieriger erkennbar seien (δι᾿ ἀμυδρῶν ὀργάνων, 250b3–4). 349 ἐκφανέστατον εἶναι καὶ ἐρασμιώτατον (Phdr. 250d7–e1). 350 Vgl. oben Kap. 3.4. 347

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Erinnerung an das Schöne deshalb stark genug ist. Dies sind aber primär die Philosophierenden, die demzufolge auch den dialektischen Weg der Erkenntnissuche auf sich nehmen. Dennoch vollzieht sich das erkennende Erfassen des Schönen selbst nicht durch Logoi, es ist nicht durch diese vermittelt. Was die mythologische Erzählung darstellt, ist eine Erfahrung des Schönen, die zugleich eine Form der Selbsterfahrung ist. Auf den Begriff der Erfahrung trifft zunächst zu, was Wieland im Hinblick darauf expliziert: Über eine Erfahrung kann man im engeren Sinne nicht verfügen, sie ist nicht objektivierbar und unterliegt nicht der Bivalenz von wahr und falsch; man kann über sie sprechen, aber sie selbst wird nicht in Aussagen präsent; Erfahrung ist überdies unhintergehbar an ihren Träger gebunden, sie erschließt »auf unvertretbare Weise Wirklichkeit«.351 Allerdings handelt es sich in unserem Zusammenhang nicht um die Erfahrung im Sinne einer Sachvertrautheit, wie sie etwa einem Handwerker bezüglich seiner Kunst zukommt. Das Erkennen des Schönen erscheint im Phaidros als eine Erfahrung im gegenwärtigen Vollzug. Hinzuzufügen ist an dieser Stelle, dass auch das dialektische Wissen nicht in der Weise ›objektivierbar‹ ist, dass es vom Wissensträger zu trennen wäre: Erkenntnis und Verstehen implizieren im platonischen Sinne stets ein selbstreflexives und selbsterkennendes Moment; dies wurde im Zuge dieser Arbeit in verschiedenen Zusammenhängen kenntlich. Die Erkenntnis des Schönen wird im Phaidros deutlich von dem diskursiv-argumentativen Erkenntnisweg der Tugenden unter­ schieden. Den Gestalten der Gerechtigkeit und Besonnenheit wohnt danach weder auf der phänomenalen Ebene, wie sie etwa zu Beginn des Charmides verhandelt wurde, noch auf einer höheren Ebene ein unmittelbarer Glanz, wie Sokrates es formuliert, inne. Im Vergleich zum Schönen haben sie weniger Anziehungskraft, sie affizieren die Seele nicht in dieser Weise.352 Obwohl auch für das Schöne gilt, dass die sinnliche Ebene erst durch die Idee identifizierbar und die Wahrnehmung insofern vermittelt ist, zeigt sich in Bezug auf das Schöne dennoch zugleich eine Form der Unvermitteltheit. Die 351 Vgl. Wolfgang Wieland: Platon und die Formen des Wissens, 2., durchges. und um einen Anh. und ein Nachw. erw. Aufl., Göttingen 1999, S. 230–233, Zitat S. 233. 352 Auf der anderen Seite verleiht Platon den Tugenden und der Vernunfteinsicht einen anderen, gewissermaßen höheren Status: Von der φρόνησις ertrügen wir ein so helles Bild, wie es uns durch die Sehkraft vom Schönen entstehe, nicht, denn eine zu gewaltige Liebe würde uns entstehen (vgl. Phdr. 250d).

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Akzentuierung, dass wir das Schöne mit dem klarsten unserer Sinne, dem Sehvermögen (ὄψις), erfassen, soll offensichtlich auch darauf hinweisen, dass uns dieser Sinn den Zugang zur Idee des Schönen im irdischen Leben ermöglicht. In Verbindung damit ist noch einmal der gemeinsame Aspekt von sinnlicher Wahrnehmung und noetischer Erkenntnis von Belang: Beide erfassen ihre Gegenstände direkt, nicht vermittelt durch Logoi.353 In gewisser Weise spielt Platon hier mit den beiden Erkenntnisformen, der ästhetischen Perzeption im sinnlichen Bereich und der rezeptiven Erkenntnis des Schönen im intellektuellen Bereich, wobei auch bei letzterer ein zwar nicht mehr sinnliches, sondern intellektuelles, aber dennoch in gewisser Weise ›ästhetischperzeptionelles‹ Moment mitschwingt: Leuchtete das Schöne doch schon damals hell. Ähnlich wie dies im Hinblick auf das Interagieren der seelischen Kräfte zu beobachten war, spielt auch bei der Anamnesis des Schönen die Aktualität des Geschehens eine besondere Rolle: Im aktuellen Vollzug der Wiedererinnerung sind gewissermaßen beide Erkennt­ nismomente, die sinnliche und die intellektuelle Anschauung, prä­ sent. Die von Platon angedeutete ästhetische Note der intellektuellen Einsicht könnte damit zusammenhängen; vor allem aber ist darauf offensichtlich die besondere epistemische Zugänglichkeit der Idee des Schönen zurückzuführen. Erfahrung und Erkenntnis des Schönen weisen in ihrem gegenwärtigen Vollzug in direkter Form auf den Erkennenden zurück, bilden mit diesem gleichsam eine Einheit.354 Zugleich aber wird gemäß der platonischen Konzeption die Seele durch das Hineinspielen des Intellektuellen in das Sinnliche vor einem »ästhetischen Subjektivismus«355 bewahrt. Platon knüpft die Erfah­ rung des Schönen an dessen Wirkung auf uns, macht aber im selben Zuge deutlich, dass Wirkung und Erfahrung aus dem »objektiven

353 Vgl. dazu Tilman Borsche: Die Notwendigkeit der Ideen: Politeia, in: Theo Kobusch, Burkhard Mojsisch (Hg.): Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer For­ schungen, Darmstadt 1996, S. 111 u. oben Kap. 3.4. 354 Vgl. dazu Schulz (2000, S. 98), der den »erkenntnismäßige[n] Vorrang« des Schönen im Zustand des Eros in der »Rückbeziehung des Wissens auf den Wissenden selbst« bzw. in dem gegenüber der Erkenntnis der Gerechtigkeit und Besonnenheit »höheren Grad der Einheit dieses Wissens mit seinem Inhaber« begründet sieht. 355 Adorno (1958/59) 2009, S. 150.

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Wesen« der Schönheit, »nämlich aus ihrer Urbildlichkeit« abzulei­ ten sind.356 Derjenige, der von der Wirkung des wahren Schönen erfasst wird, findet sich in dem oben dargelegten Zustand wieder. Es ist der Zustand eines Ergriffenseins und Staunens, welcher den Menschen jedes alltäglichen Klugseins enthebt, der ihm aber auch Unsicher­ heit und Schmerz verursacht. Die Erfahrung und Erkenntnis des Schönen werden von Platon im Phaidros an die Liebe zu einem anderen Menschen gebunden: Das irdisch Schöne, das im Mythos zur Diskussion steht, ist kein beliebiger Gegenstand, sondern der Geliebte; nur die Schönheit eines Menschen löst die göttliche Begeis­ terung des Eros und zunächst Verliebtheit aus. Deshalb kommt es zu dem äußerst zähen Ringen zwischen Wagenlenker und schwarzem Pferd: Die sinnlich affizierende Schönheit des Geliebten, die für die Anamnesis des Schönen notwendig ist, birgt zugleich die Gefahr, sich von der Begierde ganz einnehmen zu lassen. Im Rahmen des innerseelischen Kampfes werden die starke Kraft des Begehrens in Form des schwarzen Pferdes und die von Furcht und Ehrfurcht begleitete Wiedererinnerung des Lenkers an das Schöne selbst in wechselnder Gestalt gezeigt.357 Vor dem Hintergrund von Ausmaß und Grad der Ideenschau manifestiert der Mythos die Unterschiede zwischen den Menschen und ihren Lebensweisen: Die leichtere oder schwerere Zügelung des Wagens hing davon ab. Dennoch kommt in der Darstellung auch zum Ausdruck, dass das Leben auf Erden dadurch nicht vorbestimmt ist. Ob sich ein Mensch dem innerseeli­ schen Kampf tatsächlich stellt und ob er überdies dazu bereit ist, die göttliche Begeisterung, trotz des zunächst Fremden, Unsicheren und auch Schmerzvollen, zuzulassen, steht ihm bis zu einem gewissen Grad frei. Beides erfordert Mut. Auch der Prozess, der zur Erkenntnis der Idee des Schönen führt, ist deshalb durchaus kein kurzer und Adorno (1958/59) 2009, S. 151 (beide Zitate). Platons Theorie des Schönen, wie sie gerade im Phaidros hervortrete, habe »für die Begründung einer Ästhetik über­ haupt die denkbar zentralste Bedeutung«, werde hier doch deutlich, »daß wir weder unmittelbar objektivistisch, also ohne die Reflexion auf den Geist, ohne die Reflexion auf den Menschen und seine Stellung zur Objektivität, eine Begründung der Idee des Schönen oder eine Begründung der Idee der Kunst überhaupt geben können, [noch] auf der anderen Seite diese Idee der Kunst oder diese Idee des Schönen sich erschöpft in dem Wirkungszusammenhang, den sie auf uns ausübt, sondern daß sie wesentlich ein Objektives ist« (ebd.; Zusatz im Orig.). Das Schöne stelle sich stets als »Span­ nungsverhältnis zwischen subjektiven und objektiven Momenten« dar (ebd.). 357 Vgl. Phdr. 253c–254e u. oben Kap. 5.3.3. 356

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5.3 Die Palinodie: Der Seelenmythos und die Bildung der Seele

leichter Weg; auch dieser Weg bedeutet für die Seele Anstrengung und Mühe. Die Konzeption des Eros entfaltet im Mythos eine Vielzahl an Facetten. So wird der Prozess des Verliebens schon vor der Illustration des inneren Seelenkampfes durch die Zeichnung einer ausgepräg­ ten physischen Symptomatik, die sich vorrangig auf das Gefieder bezieht, dargestellt (vgl. Phdr. 251a–252b).358 Danach befällt den Verliebten wie bei einem Fieber Schauder, Schweiß und Hitze; indem er nämlich die Ausströmung (τὴν ἀπορροήν, 251b2) der Schönheit des Geliebten durch seine Augen aufnehme, werde er erwärmt und sein Gefieder benetzt.359 Das Verhärtete schmelze, sodass das Gefieder nun sprießen und wachsen könne. Zugleich wird der Zustand als große körperliche Unruhe, als Stechen, Pochen und Schmerzen, als Wechsel von Lust und Unlust, von Leiden und Freude charakterisiert. Nur wenn der Verliebte den Geliebten erneut erblicke, erfahre das Unbehagen seiner Seele Linderung. Betont wird überdies, dass der Liebende alles, was ihm bisher von Wert war, Eltern, Wohlstand und Sitte, nunmehr gering gegenüber der Nähe zum Geliebten achte. Das starke somatische Moment, gekennzeichnet durch eine Viel­ falt von Empfindungen, durch den Wechsel von körperlicher Not und Wohlergehen und nicht zuletzt durch den ebenso körperlich konnotierten Fluss der Schönheit vom Geliebten zum Liebenden, der das spätere ›Überströmen‹ antizipiert (vgl. 255c), tritt einprägsam hervor. Zugleich zeigen sich auch hier nicht nur die Motive von Schmerz, Sehnsucht und eines Heraustretens aus dem Gewohnten, sondern damit einhergehend werden wiederum die Gespanntheit vom sinnlichen zum wahren Schönen und die damit verbundene seelische Bewegung deutlich sichtbar. Der Sachverhalt, dass die physischen Symptome anhand des Gefieders charakterisiert werden, Yunis (2011, Kommentar zur Textstelle 251a4–b2, S. 152) verweist hinsichtlich dieses Abschnitts auf Bezüge zur Poesie von Sappho; auf die Dichterin bezog sich Sokrates an früherer Stelle (vgl. Phdr. 235b–d). 359 Platon rekurriert mit dieser Darlegung bzw. den Begrifflichkeiten der »Ausströ­ mung« und »Erwärmung« (vgl. Phdr. 251a–c) auf die Wahrnehmungstheorie von Empedokles. Vgl. dazu Orrin F. Summerell: Der »Trieb des Gefieders«. Zu einem Motiv Platons und seiner Deutung bei Plotin, Ficino und Schelling, in: Theo Kobusch, Burkhard Mojsisch, ders. (Hg.): Selbst – Singularität – Subjektivität: Vom Neupla­ tonismus zum deutschen Idealismus, Amsterdam/Philadelphia 2002, S. 1–22, hier 12; Heitsch 1997, S. 119, Anm. 231; Yunis 2011, Kommentar zur Textstelle 251b2–7, S. 152 f. 358

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macht offenkundig, dass durch die Wirkkraft des Schönen – welches in seinem sinnfälligen Erscheinen die Möglichkeit eines Sich-Zeigens des wahren Schönen einschließt – auch die Verliebtheit auf ihrer somatischen Ebene schon über diese Ebene hinaus- und auf den Auf­ stieg zur Idee des Schönen hinweist.360 Mithilfe des Gefieders wird gleichsam ein ›Sublimieren‹ demonstriert:361 Der Darstellung zufolge löst der Anblick des Geliebten einen starken sinnlich-somatischen Impuls und zugleich ein intellektuelles Aufstreben und Übersichhin­ ausgehen aus. Beachtenswert ist, dass diese beiden sonst gegenläufig zu denkenden Momente hier gemeinsam durch das Wachsen des Gefieders symbolisiert werden. In der Logik des Seelenbildes bedeutet das Erstarken des Gefieders ein zunehmendes Transzendieren des Somatischen. Die hier angedeutete Gleichzeitigkeit von sinnlichem Impuls und intellektueller Erhebung soll jedoch offensichtlich unter­ streichen, dass das Sinnlich-Somatische für die Anamnesis des Schö­ nen stets notwendiger Ausgangsimpuls bleibt, das Transzendieren dieser Ebene zwar einerseits ein immer wieder zu bewerkstelligender Prozess darstellt, andererseits aber die Idee des Schönen sich für den Menschen im sinnlich Schönen zeigt. Die Seele des Liebenden muss, dies ist die Voraussetzung, zur Anamnesis des Schönen selbst hinreichend fähig sein. Dann erfährt sie durch die Liebe die Kraft, über die eigene Bedingtheit aufzustreben. Von wesentlicher Bedeutung ist schließlich, dass der Liebende im Anblick des Geliebten sich auch des Gottes erinnert, mit dem er bei der himmlischen Ausfahrt einst zog (vgl. 252e–253a).362 Dass der Liebende den Geliebten als ein ›gottähnliches Angesicht‹ wahrnimmt, dass er ihn, wenn er seine Furcht besänftigt hat, verehrt wie einen Gott und ihm sogar wie einem solchen opfert (vgl. 251a), deutete bereits darauf hin, dass der Liebende sich durch die Schönheit des Geliebten nicht nur an das damalige Schöne erinnert, sondern in Vgl. dazu auch Schulz 2000, S. 99. Vgl. auch Adorno (1958/59) 2009, S. 152 f. u. 157. Adorno stellt – insofern Pla­ tons Verschränkung von Schönem und Eros das Begehren notwendig involviert – eine gewisse Verbindung zwischen dem Begriff der Sublimierung, wie ihn die Psychoana­ lyse hervorbrachte, und dem im Phaidros Dargelegten her. In unserem Zusammen­ hang soll der Ausdruck ›Sublimieren‹ als ein ›Erheben auf eine andere oder höhere Ebene‹ nur leise auf den psychoanalytischen Begriff anspielen. 362 Das Schöne war zu schauen, so heißt es, »als wir mit dem glücklichen Chor Zeus folgten, andere einem der anderen Götter« (ὅτε σὺν εὐδαίμονι χορῷ […] ἑπόμενοι μετὰ μὲν Διὸς ἡμεῖς, ἄλλοι δὲ μετ᾿ ἄλλου θεῶν, Phdr. 250b6–8). Vgl. auch oben Anm. 280. 360 361

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ihm auch das Bild seines Gottes, als dessen Begleiter er die Ideen sah, wachgerufen wird. Die starke Anziehungskraft des Geliebten und die ersehnte Nähe zu ihm haben also wesentlich auch damit zu tun, dass der Liebende im Geliebten ein Ebenbild seines Gottes erkennt.363 Grundlage dafür ist aber die Seelenverwandtschaft, der Liebende suche den Geliebten nach der Ähnlichkeit zu seinem Gott (vgl. 252d–253c): »So erwählt auch jeder sich nach seiner Gemütsart eine Liebe zu einem Schönen, und als wäre nun jener sein Gott selbst, bildet er ihn aus und schmückt ihn wie ein heiliges Bild, um ihn zu verehren«.364 Die charakterlichen Eigenschaften und die Lebensweise eines Menschen hängen, so macht die mythologische Erzählung deutlich, eng mit dem Gott zusammen, zu dessen Gefolge eine Seele gehörte (vgl. 252c–d). Zeus verkörpert danach das philosophische Leben; die Seelen, die ihm folgten, würden die Schmerzen im Zustand der Liebe am besten ertragen. Jeder aber verehre, solange er noch unverdorben sei, seinen Gott und ahme ihn nach, sodass auch sein Umgang mit den Unruhen des Verliebtseins und sein Verhalten gegenüber dem Geliebten dadurch charakterisiert seien. Die Terminologie, die für die Handlungen des Liebenden in Bezug auf den Geliebten in dem zuletzt zitierten Passus verwendet wird, ist einerseits eine Reminis­ zenz an das himmlische Leben;365 andererseits ist das zum Ausdruck kommende formende Element, wie später zu sehen sein wird, ganz im Sinne einer wahrhaften Bildung des Geliebten aufzufassen. Zunächst richtet sich der Blick aber auf die seelische Bildung des Liebenden selbst. Auch wenn weitere Götter kursorisch erwähnt werden, stehen die Seelen, die Zeus begleiteten, und folglich die phi­ losophische Bildung im Zentrum der Darstellung (vgl. 252c–253c). Deutlich wird, dass die Kraft dieser Bildung daraus resultiert, dass die Liebenden ihren Gott in sich selbst zu vergegenwärtigen vermögen. Gerade weil sie durch den Geliebten ihren Gott wiedererinnern, Vgl. dazu Niehues-Pröbsting 1987, S. 180; Schulz 2000, S. 100 f. τὸν τε οὖν Ἔρωτα τῶν καλῶν πρὸς τρόπου ἐκλέγεται ἕκαστος, καὶ ὡς θεὸν αὐτὸν ἐκεῖνον ὄντα ἑαυτῷ οἷον ἄγαλμα τεκταίνεται τε καὶ κατακοσμεῖ, ὡς τιμήσων (Phdr. 252d5–e1). Übers. Schleiermacher (Eigler-Ausg., Bd. 5). – Ob die Seelen von Lie­ bendem und Geliebtem einst dem gleichen Zug angehörten, wird nicht gesagt. Vorausgesetzt wird aber, dass der Prozess der Wiedererkenntnis des Gottes aufseiten des Liebenden und der daran anknüpfende Bildungsprozess darauf basieren, dass der Geliebte in Lebensart und -haltung diesem Gott ähnlich ist (vgl. Phdr. 253b). 365 Vgl. Yunis 2011, Kommentar zur Textstelle 252d6–8, S. 156. 363

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drängt es sie, von ihrem Gott zu lernen: Es erfasse sie ein Eifer, die Natur ihres Gottes zu erforschen,366 und sie suchen in sich selbst, diese zu verstehen.367 Durch die charakterliche Ähnlichkeit des Liebenden mit seinem Gott schwingt in gewisser Weise ein individuelles Moment mit; allerdings bedeuten die Erinnerung an den Gott und die dadurch ausgelöste Selbstergründung mehr als der selbstreflexive Blick auf den eigenen Charakter und die eigene irdisch-individuelle Lebensweise.368 Vergegenwärtigt wird mit dem Bild des Gottes offenkundig der himmlische Auszug, dessen ganzer Zweck aber darin lag, die Ideen zu schauen. Die Seele des Liebenden erkennt und anerkennt im Erinnern und Erforschen ihres Gottes ihr eigentliches Streben; sie sieht, wonach sie in Wahrheit verlangt.369 Der Zustand der göttlich-erotischen Mania führt folglich dazu, dass die Seele des Liebenden, vermittelt durch den Geliebten, in gleichsam intensivierter Form ihr wahres Wesen erkennt. Erst durch diese Art der Selbsterkenntnis ändert der Liebende seinen Blick auf sich selbst, auf seine jetzige Lebensweise, die er in Erinnerung an seinen Gott neu ausrichtet und formt. Insofern die Selbsterkenntnis sich also auf die wahre (nicht auf die individuelle) Natur der Seele bezieht, zeitigt sie gerade ihre Wirkung auf das individuelle Dasein. Indem der Liebende im Spiegel des Geliebten seinen Gott wie­ dererinnert, ist es nun also sein primäres Ansinnen, Lebensweise und Bestrebungen des Gottes nachzuahmen. Mit dieser gelebten Mimesis nähert sich aber nicht nur der Liebende seiner eigentlichen

τότε ἐπιχειρήσαντες μανθάνουσί τε ὅθεν ἄν τι δύνωνται καὶ αὐτοὶ μετέρχονται (Phdr. 252e6–7). 367 »Und indem sie bei sich selbst nachspüren, gelingt es ihnen, die Natur ihres Gottes aufzufinden, weil sie genötigt sind, angestrengt auf den Gott zu schauen, und indem sie ihn in der Erinnerung auffassen, nehmen sie begeistert von ihm Sitten und Bestrebungen an« (ἰχνεύοντες δὲ παρ᾿ ἑαυτῶν ἀνευρίσκειν τὴν τοῦ σφετέρου θεοῦ φύσιν εὐποροῦσι, διὰ τὸ συντόνως ἠναγκάσθαι πρὸς τὸν θεὸν βλέπειν, καὶ ἐφαπτόμενοι αὐτοῦ τῇ μνήμῃ ἐνθουσιῶντες ἐξ ἐκείνου λαμβάνουσι τὰ ἔθη καὶ τὰ ἐπιτηδεύματα, Phdr. 252e7–253a4). Übers. Schleiermacher (Eigler-Ausg., Bd. 5). 368 Vgl. dazu auch David M. Johnson: God as the True Self: Plato’s Alcibiades I, in: Ancient Philosophy 19 (1999), S. 1–19, hier 14 f. Johnson betont, dass das Individuelle, in Entsprechung zu den Göttern, hier in einer typisierten Form zum Ausdruck komme, überdies aber nicht die Betrachtung unserer selbst als Individuen im Vordergrund stehe, sondern die Suche danach, was wir unserem Wesen nach sind. Zur Diskussion dieser Frage vgl. auch die Literaturangaben ebd., Anm. 33–35; aber auch unten Anm. 383. 369 Vgl. auch Schulz 2000, S. 100 f. 366

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5.3 Die Palinodie: Der Seelenmythos und die Bildung der Seele

Lebensform an, sondern er bildet und formt zugleich den Jüngling (vgl. 253a–c): Dadurch, dass die Liebenden ihren Gott nachahmen (μιμούμενοι, 253b5), werden sie selbst zum Vorbild; durch ihr eigenes Streben, ihre Haltung und Gesinnung suchen sie den jungen Mann zu überzeugen und ordnend zu leiten (πείθοντες καὶ ῥυθμίζοντες, 253b6). In seiner Liebe – die eben keine verstellende ist (vgl. 255a) – setzt der wahrhaft Liebende alles daran, dass der Geliebte wirklich zu dem werde, was ihm seiner Natur nach zukomme,370 dass er in Lebensweise und Ausrichtung eine best- bzw. menschenmögliche Ähnlichkeit (ὁμοιότητα, 253b8) mit dem Gott erlange.371 Erziehung und Bildung im Sinne einer Orientierung gebenden seelischen Führung zeigen sich hier nicht als Belehrung aufseiten des Liebenden und als Aneignung eines Gelernten aufseiten des Gelieb­ ten. Vielmehr lebt der Liebende die eigene Bildung der Seele, näm­ lich den Prozess der Selbsterkenntnis und das damit einhergehende suchende Bemühen, sich dem Gott und dem göttlichen Streben anzu­ gleichen, vor.372 Der Geliebte erfährt hierbei Bildung als Nachbildung und zugleich als Entfaltung: Er bildet den Liebenden in dessen neu gewonnener Lebensweise nach und vermag dadurch für sich selbst das zu entfalten, was in ihm angelegt ist. Es seien aber dieser Eifer (προθυμία) und diese Weihung (τελετή) des wirklichen Liebhabers, nämlich »des durch die Liebe begeisterten Freundes« (τοῦ δι᾿ ἔρωτα μανέντος φίλου), so heißt es am Ende dieses Abschnitts, die in beglü­ ckender Weise »dem geliebten Freund« (τῷ φιληθέντι) zuteilwerden (253c2–5). Nicht nur die Wortwahl des Freundes, sondern vor allem auch die Tatsache, dass der Vorgang der Bildung als ein gemeinsamer Prozess dargestellt wird, der auf beiden Seiten verschieden ist, sich Die Liebenden, die dem Zuge des Zeus angehörten, suchen entsprechend einen Geliebten, der seiner Natur nach philosophisch ist, »und wenn sie einen gefunden und liebgewonnen, so tun sie alles, damit er ein solcher auch wirklich werde« (καί ὅταν αὐτὸν εὑρόντες ἐρασθῶσι, πᾶν ποιοῦσιν ὅπως τοιοῦτος ἔσται, Phdr. 252e3–5). Übers. Schleiermacher (Eigler-Ausg. Bd. 5). Neid und Missgunst gegenüber dem Jüngling, so wird in Anspielung auf Lysias explizit betont, sind dem hier gezeigten Verhältnis fern (vgl. 253b). 371 Dass eine größtmögliche Ähnlichkeit mit dem Gott angestrebt werden soll, wird im Text mehrfach unterstrichen (vgl. Phdr. 253a–c, bes. 253a6–b1). – Zu dem mytho­ logisch dargestellten Zusammenhang der Erinnerung an den Gott, der Selbsterkennt­ nis des Liebenden und der Bildung des Geliebten vgl. auch Niehues-Pröbsting 1987, S. 180–182. 372 Zur Angleichung an Gott vgl. die in dieser Arbeit schon mehrfach genannte Stelle Tht. 176b1 (ὁμοίωσις θεῷ); auch R. X 613a–b. 370

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aber in einer Gegenseitigkeit vollzieht, durchbricht die Vorstellung eines im engeren Sinne zu denkenden hierarchischen Verhältnisses. Der Mythos im Phaidros charakterisiert die Liebe als ein viel­ schichtiges Geschehen und einen exzeptionellen Zustand. Gezeichnet wird – im Ausgang von der sinnlichen Attraktivität des jungen Mannes, welche den Wagen erst in Gang setzt,373 und einem star­ ken somatischen Moment aufseiten des Liebenden – ein Vorgang seelischen Wandels. Die Wiedererinnerung an die wahre Natur des Schönen befähigte den Lenker, das schlechte Pferd zu bändigen. Die Erfahrung des Schönen wirkt demnach auf die Seele regulierend und ausgleichend, sie besänftigt die begehrlichen Kräfte; die Seele vermag nun ihre verschiedenen Neigungen und Strebungen besser einzuordnen, sie kann sich erheben. Grundlegend hierfür ist aber das Vermögen des Liebenden, sich seinem eigenen innerseelischen Widerstreit, auch der Unruhe, der Furcht und dem Schmerz zu stellen. Unter dieser Voraussetzung vermag die Liebe durch die Erfahrung des wahren Schönen zur göttlichen Begeisterung, durch die Erinnerung an den Gott zur Selbsterkenntnis der Seele hinsichtlich ihres wahrhaften Strebens zu führen. Der Kampf zwischen Lenker und schwarzem Pferd kommt zur Ruhe, die Seele des Liebenden ordnet sich: Was sie im Geschehen der Liebe folglich ›lernt‹, ist Besonnenheit.374 Die Anamnesis des Schönen und die seelische Selbsterkenntnis sind konstitutiv für Platons Begriff der Liebe und sie umfassen beide, dies wurde in den Ausführungen deutlich, rezeptive und produktive Elemente.375 Erst dadurch, dass die Seele des Liebenden zu einer besonnenen Verfasstheit findet, vermag sie, geleitet durch die Voraus­ sicht und Fürsorge des Lenkers, dem Geliebten angemessen und mit Respekt zu begegnen (vgl. 254e), womit aber erst die Basis für das im Mythos abschließend dargestellte Zusammensein der Liebenden geschaffen ist. Im gleichen Zuge hebt die Palinodie damit aber auch das konträre Verhältnis zwischen Sophrosyne und Eros, welches die ersten beiden Reden im Dialog prägte, auf. Zur Debatte stand in diesen allerdings nicht nur ein anderer Begriff des Eros, sondern auch der Vgl. auch Schulz 2000, S. 101. Demgemäß sieht der Lenker – so zeichnet es der Mythos – im Vorgang der Anamnesis das Schöne zusammen »mit der Besonnenheit auf heiligem Boden stehen« (μετὰ σωφροσύνης ἐν ἁγνῷ βάθρῳ βεβῶσαν, Phdr. 254b6–7). 375 Vgl. dazu Niehues-Pröbsting 1987, S. 181 f. Der produktive Aspekt wird etwa durch das aktive innerseelische Ringen und die neugewonnene Lebensgestaltung des Liebenden, ebenso durch die Bildung des Geliebten kenntlich. 373

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5.3 Die Palinodie: Der Seelenmythos und die Bildung der Seele

Sophrosyne. Diese erschien als ein bloß ›hinzuerworbenes‹ Verstän­ dig- und Vernünftigsein, welches Sokrates später im Blick auf die Poe­ tik als ein der göttlichen Mania weit unterlegenes Gut bezeichnete. Es handelte sich um jene Form der ›gemeinen‹ Besonnenheit, welche das konventionelle Verständnis der Selbstbeherrschung in den Dienst der Bedürfnisbefriedigung und Optimierung irdischer Zwecke, auch der Selbsterhaltung stellt.376 In Zurückweisung dieser Art von ›Tugend‹, die in der Seele des Jünglings eine unfreie Gesinnung erzeuge (vgl. 256e), wird mit der Palinodie der Erweis erbracht, dass die göttliche Mania des Eros und die auf Selbsteinsicht zielende Sophrosyne nicht im Widerspruch zueinander stehen, sondern ganz im Gegenteil aufs Engste verknüpft sind. Diesem Verbund von Eros und Sophrosyne ist das Streben danach, sich dem Göttlichen anzugleichen und dieses in sich zu verwirklichen, immanent. Die Begegnung zwischen Liebendem und Geliebtem wird nun mit einem weiteren ausdrucksstarken Bild, das sich schon andeutete, nämlich mit dem Bild des Flusses der Schönheit, beschrieben (vgl. 255a–d). Spüre der Geliebte die aufrichtige Zuneigung des Liebenden, dann fließe im Gespräch und im Umgang miteinander, auch durch die physische Nähe, »der Strom der Schönheit« (τὸ τοῦ κάλλους ῥεῦμα, 255c5–6) vom Geliebten zum Liebenden, von diesem aber gleichsam durch ein Überfluten wie ein Echo wieder zurück zum Geliebten, durch die Augen in seine Seele, sodass auch das Gefieder des Geliebten, der nun seinerseits von der Schönheit erfüllt werde, wachse. Ähnlich wie zuvor der Liebende erleidet auch er nun den Wechsel von Freude, Unruhe, Schmerz und Leid, von Sehnsucht und Scheu (vgl. 255d–e): Der Geliebte wird zum Liebenden; durch seine »Gegenliebe« (ἀντέρωτα, 255e1) erscheint das Liebesverhältnis nun in einer Reziprozität.377 Auch mit dieser metaphorischen Darstellung einer Wechselund Gegenseitigkeit grenzt sich Platon von dem herkömmlichen und besonders von Lysias’ Modell der Knabenliebe deutlich ab. Allerdings wird die Liebe des Geliebten als ein Vollzug dargestellt, dessen dieser

376 Vgl. Niehues-Pröbsting 1987, S. 170, 172 f. u. 183; dazu Phdr. 237d–e u. 244d. Auch am Ende der Palinodie verweist Sokrates noch einmal auf diese Form der sterb­ lichen Besonnenheit (vgl. 256e). 377 Vgl. dazu Schulz 2000, S. 101 f.; auch Heitsch 1997, S. 119, Anm. 231.

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5. Phaidros: Falsche und wahre Gestalten seelischer Bildung

sich nicht wirklich bewusst ist (vgl. 255d–256a):378 Der Geliebte spüre das Verlangen, sei sich aber seiner Liebe nicht wirklich gewahr; auch bleibe ihm verborgen, »dass er sich im Liebenden wie in einem Spiegel selbst sieht«.379 Der Unterschied zwischen Liebendem und Geliebtem bleibt bestehen. Der Jüngere ist der zu Führende, der Ältere hingegen derjenige, der Sorge tragen und den Geliebten leiten muss. Dennoch zielt das von Platon gezeichnete Liebesverhältnis auf eine Ebenbürtigkeit. Als Grundlage des pädagogischen Impulses des Eros erwies sich oben die seelische Bildung des Liebenden: Durch diese wurde die Bildung des Geliebten angestoßen und intensiviert. Bildung wird hier als ein Prozess offenbar, der beide betrifft, und durch den beide – wenn auch auf sehr unterschiedlichen Stufen – lernen und zu einer »Selbststeigerung«380 befähigt werden. Die Metapher des Spiegels lässt noch einmal an die entspre­ chende Passage des Alkibiades I denken, wonach sich die Seele im besten Teil (ἀρετή) einer anderen Seele spiegeln muss, wenn sie sich selbst erkennen will (vgl. Alc. I 132c–133c).381 Trotz der unterschied­ lichen Dialogzusammenhänge zeigt sich deutlich eine Parallele:382 Beide Werke zielen im Blick auf die Frage der Selbsterkenntnis darauf hin, dass wir im Spiegel der anderen Seele das Göttliche in uns selbst erkennen können, welches einerseits über uns hinausweist, von dem her wir aber andererseits Gestaltung und Formung unseres individu­ ellen Lebens, eben jene ›Selbststeigerung‹ gewinnen (sollen). Im Alkibiades I bezieht sich die Selbsterkenntnis auf unseren Intellekt, den wir danach als unser wahres Selbst erkennen.383 Gemäß dem Vgl. auch Niehues-Pröbsting 1987, S. 183. Im Text wird die Gegenliebe des Geliebten als eine abgeschwächte Form, als »Abbild der Liebe« (εἴδωλον ἔρωτος, Phdr. 255d8–e1), gekennzeichnet. 379 ὥσπερ δ᾿ ἐν κατόπτρῳ ἐν τῷ ἐρῶντι ἑαυτὸν ὁρῶν (Phdr. 255d5–6). 380 Niehues-Pröbsting 1987, S. 182. 381 Der Passus wurde bereits verschiedentlich herangezogen, vgl. bes. das Ende von Kap. 2.2.2. 382 Vgl. auch Pietsch 2008, S. 350 mit Anm. 16 u. 17 u. S. 355, Anm. 23; Johnson 1999, S. 14 f. 383 Pietsch (2008) unterstreicht, dass der Intellekt auf der einen Seite zwar über die Seele des einzelnen Menschen hinausführt, gründe er doch »in der Erkenntnis intel­ ligiblen Seins« (ebd., S. 348), auf der anderen Seite aber dennoch »mit ihm keine Instanz gemeint ist, die die einzelmenschliche Individualität bereits völlig hinter sich läßt« (ebd., S. 350). Das Individuelle sei darin zu sehen, »daß sich die Wirksamkeit des noetischen Wissens, d. h. die Weise, in der es sich gleichsam nach unten in die Seele entfalten und aktual werden kann, von Mensch zu Mensch unterscheidet« (ebd.). 378

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5.3 Die Palinodie: Der Seelenmythos und die Bildung der Seele

Liebeskonzept im Phaidros erkennen wir das unserer Seele in Wahr­ heit zukommende Streben nach den Ideen; auch dieses Streben bezieht sich auf die wahre Natur unserer Seele.384 In beiden Fällen ist die auf das Göttliche sich richtende Selbsterkenntnis die Basis für eine angemessene Lebensweise; sie wirkt auf unsere seelische Verfasstheit und damit auf unsere leiblich-seelische Existenz. Im Phaidros steht in diesem Zusammenhang besonders der zwischenmenschliche Umgang und das Thema der Bildung im Vordergrund; im Alkibiades I, wiederum in enger Verbindung mit der Sophrosyne (vgl. 133c18 ff.), das politische Handeln und die Einordnung und Bewertung der Dinge, die uns selbst und andere betreffen (vgl. Alc. I 133c–135d). Der emphatisch beschriebene ›Fluss‹ und ›Überfluss‹ verkörpert im Phaidros die lebendige und starke Dynamik des Miteinanders und der beidseitigen Zugewandtheit der Partner. Die Erhebung der Seele im Zustand des Eros und die Bezogenheit auf den anderen bleiben eng verschränkt. Bereits mit der ersten Sokrates-Rede wurde deutlich, dass Platon in diesem Dialog dem interpersonalen Moment, der Frage nach der Beschaffenheit zwischenmenschlicher Beziehungen, eine zentrale Rolle zuerkennt. Wurde in dieser Rede Lysias’ Modell einer unmoralischen erotischen Beziehung vorgeführt, die aufseiten des Liebhabers jede Verantwortung missen ließ, so akzentuiert der Mythos ein Liebesverhältnis, das im Sinne wirklicher Freundschaft den jungen Mann im Hinblick auf das für seine Seele Bestmögliche fördern soll. Als Voraussetzung schafft Platon hier eine Basis, welche das konventionell hierarchische Gefälle zwischen den Partnern auf­ bricht. Vergleicht man schließlich die Konzeptionen des philosophi­ schen Eros im Symposion und Phaidros, dann werden Parallelen, zugleich aber auch wesentliche Unterschiede sichtbar. In beiden Dia­ Darüber hinaus sei das wahre Selbst nicht, wie teilweise in der Literatur dargestellt, im Sinne eines »abstrakt-apersonalen Allgemeinen« (ebd., S. 354) aufzufassen. Viel­ mehr sei das kausal je Höhere für Platon ein wirklicheres Sein und impliziere insofern auch eine höhere, das Raumzeitliche übersteigende Individualität (vgl. ebd., S. 354 u. S. 348 f., Anm. 14). 384 Platon setzt in beiden Dialogen aber auch unterschiedliche Akzente. Im Phaidros lösen die Erinnerung der Seele an ihren spezifischen Gott und die charakterliche Ähn­ lichkeit mit diesem den Prozess der Nachahmung und seelischen Bildung aus. Im Alkibiades I wiederum wird die Erkenntnis Gottes als letzter Grund allen Seins (vgl. Pietsch 2008, S. 354 f.) und damit eine gleichsam noch höhere und höchste Form der Selbsterkenntnis angedeutet.

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logen zeigt sich Eros als Verlangen und Bedürftigkeit und zugleich als starke, ein aufsteigendes Streben auslösende Kraft, die ihren Ausgang vom sinnlich Schönen nimmt, wobei die Seele über diese Ebene hinaus ihrer Sehnsucht nach dem wahren Schönen zu folgen vermag. Während in der Diotima-Rede, wie dies im ersten Kapitel dieser Arbeit diskutiert wurde, das ›gebärende‹, poietische Moment des Eros, nämlich das Hervorbringen von Logoi über die Tugend, im Fokus steht, der Ausdruck des ›Überströmens‹ aber gerade diesem Erzeugen im Umgang mit einer gleichgesinnten Seele gilt und sich überdies auf diesem Wege die Aufstiegsbewegung vollzieht,385 rücken im Rahmen der mythologischen Erzählung im Phaidros, weit mehr als im Sympo­ sion, sowohl der zuletzt genannte zwischenmenschliche Aspekt des Eros386 als auch die Auswirkungen der Liebe auf die menschliche Seele in den Blick. In Verbindung mit dem Seelenkonzept wird die Liebe im Phaidros in konkreterer Form als eine die Seele formierende und bildende Kraft sichtbar. Wenn beide Seelen, so heißt es am Ende des Mythos, sich durch die Liebe auf längere Sicht zu ordnen vermögen, entwickle sich eine von Liebe geprägte Freundschaft, die aber für beide bereits auf Erden ein glückliches und einträchtiges Leben bedeute (vgl. 256a–b).387 Dann ist freilich auch hier davon auszugehen, dass sich innerhalb einer solchen erotisch-freundschaftlichen Beziehung das poietische Erzeugen philosophischer Logoi und das Aufsteigen zu wahren Erkenntnissen erfolgreich realisiert. Der Seelenmythos im Phaidros charakterisiert ein Bildungskon­ zept, wonach das aktive Erkenntnisstreben des Liebenden die Voraus­ setzung für den Bildungsprozess des Geliebten darstellt. Ist der Lie­ bende resp. Erziehende auf authentische Weise vom philosophischen Vgl. Smp. 209b–c bzw. den gesamten Abschnitt Smp. 206b–212c u. oben Kap. 1.3.2. 386 Dass die zwischenmenschliche Liebe im Phaidros tatsächlich eine wesentliche Rolle spielt, wurde vor allem in der älteren englischsprachigen Literatur immer wieder bezweifelt; vielmehr, so wurde hier proklamiert, gehe es Platon allein um die Liebe zu den Ideen. Vgl. etwa Gregory Vlastos: The Individual as an Object of Love in Plato (1969), in: ders.: Platonic Studies, Princeton 1973, S. 3–42; auch Paul W. Gooch: Has Plato changed Socrates’ Heart in the Phaedrus?, in: Livio Rossetti (Hg.): Understand­ ing the Phaedrus. Proceedings of the II. Symposium Platonicum, Sankt Augustin 1992, S. 309–312. 387 Aber nicht nur das Ideal der philosophisch-freundschaftlichen Liebe wird am Ende hervorgehoben, sondern auch die Art von Liebe, die auf einer ehrliebenden, wenn auch nicht philosophischen Lebensweise beruhe. Auch diese zeitige für die Liebenden ein gutes Leben (vgl. Phdr. 256a–d). 385

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Eros bewegt, vermag er den Geliebten resp. Lernenden gleichsam ›anzustecken‹, der dann selbst zum Suchenden wird. Zugleich wurde dem Liebenden erst durch die Liebe selbst gegenwärtig, wonach seine Seele in Wahrheit strebt, seine Selbsterkenntnis aber löst den Drang der Erkenntnissuche aus. Gerade in diesem Eros, in dem Verlangen nach Erkenntnis und Wahrheit, wird der Erziehende zum Vorbild des Lernenden: Dieser ahmt den Liebenden in dessen Streben nach. Der Bildungsvorgang ist auf Seiten des Liebenden und Geliebten ein je anderer, der Ältere bleibt der pädagogisch Leitende, dennoch ist es ein reziproker Vorgang. In der freundschaftlichen Liebe zweier verwand­ ter Seelen vollzieht sich Bildung danach als gemeinsamer Prozess, der zu einem lebendigen Denken und Wissen führt, das seinerseits nicht ›unfruchtbar‹ bleibt, sondern wiederum andere Seelen zu berühren und zu bewegen vermag.388

5.3.5 Die sokratische Selbsterkenntnis und die Palinodie als philosophische Rhetorik und Poetik Blickt man zurück auf Sokrates’ anfängliche Bezugnahme auf den delphischen Spruch und auf seine Frage, wer oder was er selbst sei (vgl. Phdr. 229e–230a), dann zeigt sich nun im Anschluss an die Erörterungen des Seelenmythos, dass diese Anfangspassage des Dialogs, deren Zusammenhang mit dem Seelenbild als Frage­ stellung den Untersuchungen oben vorausgeschickt wurde,389 auf drei Ebenen der Selbsterkenntnis verweist. Zunächst deutet Sokra­ tes’ Kontrastierung von Typhon und mildem, an etwas Göttlichem teilhabendem Lebewesen auf den im Mythos dargestellten, für die menschliche Seele charakteristischen Kampf zwischen schwarzem Pferd und Lenker, zwischen Begierde und Vernunft, hin. Auf dieser ersten Ebene zielt Sokrates’ Frage nach sich selbst auf die Kenntnis und Darstellbarkeit der Konstitution der menschlichen Gestalt der Seele, ihrer Neigungen, Strebungen und Vermögen und von deren Verhältnis zueinander: Es geht um das Wissen der allgemeinen Beschaffenheit der Natur des Menschen. Die zweite Ebene, auf die Sokrates’ anfängliche Frage anspielt, betrifft sein artikuliertes Streben danach, sich selbst zu betrachten und zu erforschen. Indem das im 388 389

Vgl. dazu auch Sokrates’ Bild des säenden Landmanns (Phdr. 276a–277a). Vgl. oben Kap. 5.3.1.

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Mythos illustrierte Ringen zwischen Lenker und schwarzem Pferd die seelische Polarität zuspitzt, lässt es zugleich das Erfordernis des mittleren Seelenteils erkennen. Das gute Pferd, so war oben zu sehen, das ›mit Besonnenheit und Scham‹ dem Lenker gehorcht, impliziert – vor dem Hintergrund des Begriffs αἰδώς und des dreitei­ ligen Seelenkonzepts der Politeia, überdies, wenn es richtig erzogen ist – ein Moment der Selbsteinschätzung. Diese spezifische Form einer Selbstwahrnehmung im Zwischenbereich von Sinnlichem und Vernunft, welche im Hinblick auf etwaige ›Verkehrungen‹ in der Seele eine regulierend-ordnende Funktion übernehmen kann,390 bildet die Basis für die von Sokrates als seine vorrangige Aufgabe ausgewiesene Selbsterforschung: Hier setzt die auf die je eigene Seele und das je eigene Dasein bezogene und in diesem Sinne individuelle Selbstprü­ fung notwendig an. Darüber hinaus muss die von Sokrates anvisierte Selbsterforschung aber vom wahren Sein der Seele her und zu diesem hin gedacht werden. Die dritte Ebene zielt auf die im Mythos zum Ausdruck kommende höchste Form der Selbsterkenntnis, wonach im Zustand der Liebe, vermittelt durch den Geliebten und beflügelt durch die Anamnesis des Schönen, die Seele des Liebenden sich in ihrem wahrhaften Streben erkennt. Gezeichnet wird die Liebe, d. h. die Liebe einer philosophischen Seele zu einer in Charakter und Gesinnung ähnlichen Seele, als ein für den Aufstieg zur Ideen- und Selbsterkenntnis privilegierter Zustand. Die drei gekennzeichneten Ebenen sind nicht nur in Sokrates’ Ausgangsfrage angelegt, sondern in Verbindung mit dem Seelen­ mythos demonstriert die sokratische Frage auch, dass die Ebenen nicht unabhängig voneinander zu betrachten und Platons Konzep­ tionen von Seele und Selbsterkenntnis als notwendig verschränkt zu denken sind: Gemeinsam bilden sie die Grundlage für Platons anthropologischen Ansatz. Das Konzept der Seele avanciert durch die Selbsterkenntnis zu einer philosophischen Anthropologie. In einer solchen benötigt der deskriptive Aspekt das normative Moment, wenn sich der Mensch in ein Verhältnis zu den von ihm selbst getroffenen anthropologischen Bestimmungen setzen will.391 Das Normative hebt Platon nicht nur als Ideenerkenntnis bzw. als Weg Vgl. dazu bes. oben Kap. 4.3.4, auch 5.3.3. Vgl. dazu Pleger (2004, S. 21), der diese Verhältnissetzung und die damit ver­ bundene Möglichkeit des Menschen, sich zu seinen anthropologischen Bestimmun­ gen zu verhalten, als »Ausweis der menschlichen Freiheit« in platonischem Kontext 390

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zu ihr hervor, sondern er fundiert es zugleich in der Selbsterkenntnis der Seele in ihrem eigentlichen Streben und Sein: Ideen- und Selbst­ erkenntnis erwiesen sich als zwei einander bedingende Momente des Prozesses der Selbstbildung. Sokrates’ anfängliche Frage nach sich selbst kulminiert gewissermaßen in der auf das Göttliche zielenden Form von Selbsterkenntnis, die einerseits über Sokrates’ Anfangsfrage hinausgeht, andererseits auf diese wiederum zurückverweist: In der Lebenspraxis kommt es für die sich selbst erkennende Seele darauf an, sich ihrem wahren Streben anzunähern. Erkenntnis und Selbst­ erkenntnis sollen sich in die Lebensführung, in die Reflexion der Möglichkeiten des menschlichen Daseins, in das je eigene Denken und Handeln ›entfalten‹.392 Für jede menschliche Seele, auch für die philosophische, bedeutet es aber ein Ringen, im Sinne der von Sokrates betonten Selbsterforschung die eigene Position zwischen Typhon und einer dem wahren Streben zugewandten Lebensweise zu erlangen. Der Mensch bleibt, auch in seiner gleichsam besten Form, das Zwischenwesen mit all seinen Optionen, auf das Sokrates’ anfängliche Frage offensichtlich ebenso anspielte. Ausgehend von der Rahmenhandlung, von ihrer spezifischen Dramaturgie und dem Anspielungsreichtum ihrer Motive, erzeugt Platon in verschiedenen Hinsichten, so erwiesen es die vorstehenden Erörterungen, einen dialogischen Spannungsbogen: Die Begriffe der Physis und des Eros, die Motive des Heraustretens aus dem Gewohn­ ten und der Begeisterung avancieren, nachdem sie in ihren sophisti­ schen Gestalten detailliert vorgeführt wurden, in der Palinodie zu philosophischen Konzepten. Auch mit der von Sokrates anfänglich evozierten Verschränkung von Selbsterkenntnis und anthropologi­ scher Frage wird ein Bogen hin zur Palinodie gespannt, wobei auch hier die ersten beiden Dialogreden in ihrer Funktion einer negativen Referenz involviert sind. Sie demonstrierten, dass das Fehlen der Frage der Selbsterkenntnis und damit der philosophischen Ebene in einer willkürlichen Zwecken dienenden Anthropologie resultiert. Darüber hinaus, so zeigte sich zuletzt, führt die im Mythos darge­ stellte höchste Form der Selbsterkenntnis auf die je eigene Selbstprü­ fung und damit wiederum auf Sokrates’ Ausgangsfrage zurück.

versteht. Grundlage hierfür sei »das Moment der Reflexivität als Konstitutivum einer philosophischen Anthropologie« (ebd.). 392 Vgl. auch oben Anm. 383.

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Der Dialog endet nicht mit dem Seelenmythos, vielmehr schafft der Mythos in gewisser Weise eine Grundlage für den zweiten Hauptteil des Dialogs, zunächst, insofern hier für eine kunstgemäße Rhetorik eine Kenntnis der Seelen der Rezipienten und damit auch des Wesens der Natur der Seelen gefordert wird (vgl. Phdr. 270e).393 Überdies finden die verschiedenen Ebenen des Schönen und die damit verbundene Auf- und Abstiegsbewegung, die Hermeias hinsichtlich des Phaidros unterstreicht,394 im gesamten Dialogverlauf und auch innerhalb der Palinodie selbst ihre Entsprechung. Das Schöne ist hierbei sowohl in inhaltlicher als auch formaler bzw. gestalterischer Hinsicht von Belang. So bringt die Palinodie als eine Art Klimax die wahrhafte Schönheit des freundschaftlichen und philosophischen Eros und die damit einhergehende Erkenntnis des wahren Schönen als philosophisch schöne Rede zum Ausdruck. Das Zusammenspiel von Inhalt und Form wird im Phaidros deutlich als eine Frage des Schönen akzentuiert. Zugleich wird dieses Zusammenspiel, das im Hinblick auf die Frage der Orientierung an Wahrem Rückschlüsse auf die seelische Verfasstheit des Redners erlaubte, wiederum im zweiten Dialogteil diskutiert. Anzunehmen ist, dass der aus platonischer Perspektive wahre Rhetor und Psychagoge die Ebenen der Selbster­ kenntnis nicht nur kennt, sondern dass er selbst zu der in der Palinodie beschriebenen göttlichen Begeisterung des Eros, zur Anamnesis des wahren Schönen und zur höchsten Form der Selbsterkenntnis fähig ist. Vor diesem Hintergrund lässt sich in Bezug auf die an die Palinodie anschließende Erörterung der Redekunst mit Adorno formulieren, dass sich die Seele nach ihren Erfahrungen mit den Ideen gleichsam »wieder auf die Erde zurückbegibt« und so »das Sublime« wieder »in das Pedestre« hineintrage:395 »Diese Rückkunft […] hat nun die Bedeutung, daß die Elemente der Ideenlehre, die in dem großen Gleichnis der Palinodie gegeben ist, die eigentlich den Mittelteil bildet, dann angewandt werden auf die Fragestellungen, die sich auf die Rhetorik am Anfang beziehen.«396 Die Komposition des Phaidros, d. h. die oben skizzierten Spannungsbögen, die in der Palinodie ihren Höhepunkt finden, wobei diese wiederum die verschiedenen Themen in philosophisch transponierter Form inhaltlich und kompositorisch bündelt, verknüpft und teilweise an den Dialoganfang rückbindet, 393 394 395 396

Vgl. dazu unten im Text mit Anm. 414; auch Niehues-Pröbsting 1987, S. 171 f. Hermeias’ Ansatz wurde oben in der Einleitung zum fünften Kapitel kurz skizziert. Vgl. Adorno (1958/59) 2009, S. 141 f., alle Zitate S. 142. Adorno (1958/59) 2009, S. 142.

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ebenso die von Adorno akzentuierte, über den zweiten Dialogteil sich vollziehende ›Rückkunft‹, lässt den gesamten Dialog als künstlerischrhetorisches Werk erscheinen. Insbesondere gilt es abschließend aber auch, die Frage der Rede­ kunst im Blick auf die Palinodie erneut zu betrachten. Ruft man sich zunächst Sokrates’ Kritik an der Lysias-Rede in Erinnerung, dann zeigte sich deren rhetorischer Mangel in einer defizienten ›logo­ graphischen Notwendigkeit‹ (vgl. Phdr. 264b–c). Dem sokratischen Urteil zufolge fehlte der Rede die ›organische Struktur‹, was aber mit einer Art rhetorischem Desinteresse des Lysias an inhaltlicher Wahr­ heit und infolge mit der Abwesenheit der ἀρχή der Rede, ihres Fun­ daments, zusammenhing. Demgegenüber musste hinsichtlich einer kunstgemäßen Rhetorik der Redner die wahre Beschaffenheit seines Gegenstandes kennen,397 worauf auch die Fähigkeit zu dialektischer Synthese und Dihairese basierte. Im richtigen Zusammenführen und Zerlegen zeigte sich das Verstehen einer Sache, wie diese gefügt und ›gewachsen‹ sei. Auch in dieser Hinsicht machte Sokrates mithilfe der Metapher des Organischen deutlich, dass das Wissen von Gegenstän­ den, wie sie hier infrage stehen, keinem Schematismus, sondern der Suche nach deren innerer, vielschichtiger Struktur folgt.398 Sachver­ ständnis beruht demnach auf dem Prozess, das dynamische Gefüge einer Sache zu erfassen. Die Dihairese, die Sokrates durchführt, benennt er selbst: die Einteilung der Liebe in den auf menschlicher Krankheit beruhenden Eros einerseits und den durch die göttliche Mania geschenkten Eros andererseits; seine beiden Reden entsprechen dieser Analyse (vgl. 265a). Zugleich bildet innerhalb der Palinodie die Darlegung der Natur der Seele, sowohl ihres unsterblichen Wesens als auch ihrer menschlichen Gestalt, die Grundlage der Rede: Das Prinzip der Selbstbewegung in Form des Unsterblichkeitsbeweises, die vorge­ burtliche Ideenschau und das der Seele immanente Streben nach den Ideen, ebenso die selbstbewegte Gestalt der menschlichen Seele als Bild von Lenker und Wagengespann formieren die ἀρχή der Rede, aus der diese hervorgeht und in die sie gründet. Die Beschreibungen der seelischen Zustände der Liebe, den Aufstieg zur Erkenntnis Vgl. Phdr. 259e–262c, 272b–274b, zur ἀρχή der Rede vgl. 237b–d, 263d–e; dazu insges. oben Kap. 5.1.4. 398 Vgl. Phdr. 265c–266c, auch oben Kap. 5.3.3; dazu Niehues-Pröbsting 1987, S. 190; Szlezák 1996, S. 122. 397

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des Schönen und die Selbsterkenntnis der Seele, ebenso die damit verbundenen Konzepte seelischer Bildung und freundschaftlicher Liebe entwickelt die Rede auf dieser Basis. Das Verständnis einer philosophischen Rhetorik wird folglich nicht nur im zweiten Dialog­ teil argumentativ untersucht, sondern diese wird in ihrem ganzen Potential in Gestalt der Palinodie demonstriert. Ähnlich wie die Medizin, so macht Sokrates deutlich, wird die Kunst der Rede nicht primär in diskursiven Abhandlungen erkennbar, sondern sie bedarf notwendig ihrer Verwirklichung: Allein der darstellende Vollzug dieser neuen, platonischen Form der Rhetorik lässt sie als eine Kunst hervortreten.399 Die späteren Erörterungen vorgreifend belegt die Palinodie, dass Sokrates’ dialektische Kunst die Voraussetzung für deren rhetorische Kunstmäßigkeit bildet. Beruhend auf der Fähigkeit, eines und vieles in einer Art Gleichzeitigkeit zu erkennen, realisiert die Palinodie eine lebendige Dynamik.400 Ihre Attraktivität gewinnt die große Rede des Sokrates besonders aber auch als poetisches Werk. An der traditionellen Dichtkunst kri­ tisierte Sokrates unter anderem, dass den dargestellten menschlichen Charakteren und Verhaltensweisen die sachliche Grundlage bzw. der Bezugspunkt fehle, an dem sie zu messen seien. Den mimetischen Erzeugnissen der Dichter wohne die Einsicht in das wahre Wesen der Seele und der Tugenden nicht inne, sodass ihre Hervorbringungen häufig nur bunte Erscheinungsweisen des menschlichen Charakters spiegelten.401 Der Mythos im Phaidros hat einen anderen sachlichen Kontext und ebenso einen anderen Zweck als die traditionelle Dich­ tung etwa der Epen; er bewegt sich in einem ganz anderen Feld. Ein 399 Vgl. dazu Phdr. 268a ff. u. Yunis (2005, S. 108 ff.), der ausführt, dass die zweite Rede des Sokrates die absolute Priorität der Philosophie und den Vorrang der philo­ sophischen Lebensweise zwar beinhalte, dass aber das Argument, mit dem Platon die konventionelle Rhetorik schlagen wolle, allein die Rede selbst sei. Überzeugung suche Platon im Phaidros nicht durch philosophische Dialektik, sondern durch seine Rhe­ torik selbst zu erlangen; diese wiederum beinhalte die Notwendigkeit der Philosophie. Auch wenn ich Yunis’ These, dass Platon demnach im Phaidros die Philosophie gleich­ sam in den Dienst seiner Rhetorik stellt, letztlich nicht teile, so ist sein Aufsatz im Hinblick auf das Verhältnis von Palinodie und zweitem Dialogteil sehr aufschlussreich. 400 Die dialektische Dihairese und Synthese sei für ihn die Grundlage, so Sokrates, um reden und denken zu können (vgl. Phdr. 266b), was aber bedeute: δυνατὸν εἰς ἓν καὶ ἐπὶ πολλὰ πεφυκόθ᾿ ὁρᾶν (266b5–6). Yunis (2011, Kommentar zur Textstelle 266b6, S. 199) übersetzt die Stelle: »able to look to one and towards many as natural entities«. 401 Vgl. oben Kap. 5.2.1.

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Vergleich ist deshalb schwierig. Allerdings wird in Platons mytholo­ gischem Narrativ offenkundig, dass sowohl die Gemütsregungen und emotionalen Unruhen, die den Zustand der Verliebtheit kennzeich­ nen, als auch die Aufstiegsbewegung und seelische Bildung selbst in der Darstellung der Seele ihre Begründung und ihren Maßstab finden. Die aus poetischer Perspektive erforderliche inhaltliche Fundie­ rung kann in Analogie zu dem rhetorischen Anspruch an die ἀρχή und in Folge an die logographische Notwendigkeit einer Rede gesehen werden. Die sachlichen Zusammenhänge, d. h. die Voraussetzungen, Verhältnisse und Verschränkungen der einzelnen Themen, wie auch die gesamte inhaltliche Ausrichtung einer Rede bestimmen demnach ihre sichtbar werdende rhetorische Struktur. Die Palinodie führt exemplarisch vor, dass das lebendige Gefüge, das Sokrates im Blick auf eine kunstgerechte Rede mit der Metapher des Lebewesens beschrie­ ben hatte (vgl. 264c), sich notwendig von den thematisch-inhaltlichen Zusammenhängen herleitet, auch dass unter dieser Prämisse die rhetorische Struktur in gewisser Weise wieder auf die inhaltliche Ordnung zurückwirkt. Anmut und Schönheit des Kunstwerks, so hieß es im Kontext von Musik und Gesang im dritten Buch der Politeia, beruhen auf einer Übereinstimmung von richtigem, wahrem Logos und adäquater künstlerischer Form, wobei Letztere, wie Sokrates hier betonte, dem Logos folgen muss und nicht umgekehrt der Logos der nach außen sicht- oder hörbar werdenden Gestalt. Beruht der Inhalt der Rede auf einem wahrheitsorientierten Wissensprozess und vermag ein Künstler das Darzustellende kunstgerecht umzusetzen, sodass Inhalt und Form aufs Engste korrespondieren, dann beinhaltet ein solches Werk für Platon das eigentliche Potential einer kunstge­ mäßen Dichtkunst oder einer kunstgemäßen Rhetorik. Das künstle­ rische Werk vermag dann die Seele eines Rezipienten in besonderer Weise zu berühren und zu ergreifen und ist für diesen im selben Zuge erkenntnisleitend und -stiftend. Es ist davon auszugehen, dass die Palinodie diesem Anspruch einer »Seelenführung« (ψυχαγωγία, 261a8) gerecht werden soll. Sie ist in rhetorischer und in poetischer Hinsicht als philosophisch-künstlerische Mimese angelegt. Rhetorik und Poetik überschneiden sich in der Palinodie, aber sie koinzidieren nicht. Grundlage des Poetischen ist das mythologi­ sche Narrativ, das sich gleichsam als eine Architektur verschiedener räumlicher und zeitlicher, überräumlicher und überzeitlicher Ebenen präsentiert. Zugleich bildet der Mythos durch die Integration ver­ schiedener visueller Bilder und literarisch-fiktionaler Beschreibun­

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gen eine Erzähleinheit. Darauf beruht aber die Darstellbarkeit der Komplexität und Durchdringung der einzelnen Themen und Motive. Zeigten schon die ersten beiden Dialogreden in ihrem sophistischen Kontext eine enge wechselseitige Verbindung von Eros, Rhetorik, Paideia und anthropologischer Frage, so erweist sich in der Palinodie die Verflechtung der Themen als noch dichter und kunstvoller. In den Worten Adornos sind es die Verwobenheit und vor allem »die Konstellation« der inhaltlichen Momente, die zu einer Einsicht und einem Verständnis des gesamten Gedankens führen;402 in diesem Sinne werden in der Palinodie die Seele und ihr jenseitiges und diesseitiges Leben, ebenso alles, was damit zusammenhängt, »wie in einem Teppich beredt«403. Die literarische Gestaltung einer Gleichzeitigkeit der einzelnen Bilder, ihrer Verhältnissetzung und gegenseitigen Bezogenheit auf verschiedenen Ebenen, bildet im Mythos die Grundlage für das epistemische Verstehen der Prozessualität der thematischen Inhalte: Die Dynamik einzelner Momente erschließt sich zumeist aus deren Zusammenspiel mit anderen. Darin aber liegt eine Erkenntnisleis­ tung eigener Art. Auf dieser Basis lässt das Evozieren innerer Vorstel­ lungsbilder verbunden mit den literarisch-narrativen Erläuterungen letztlich ein Gesamtbild von Seele und Eros, besonders der seelischen Strebungen und Transformationen, entstehen. Hierbei verschmilzt das inhaltlich ›Konstellative‹ gleichsam mit der Struktur und dem sprachlichen ›Material‹ der mythologischen Erzählung selbst.404 Das Gemälde in Worten ist durch eine begriffliche Beschreibung oder einen argumentativen Diskurs nicht einzuholen. Schließlich lässt ein weiteres Charakteristikum den Mythos im Phaidros als philosophisches Kunstwerk hervortreten. Gemeint ist eine bestimmte Relation des ›Inneren‹ der Erzählung zum ›Äußeren‹ ihrer Wirkung. Betrachtet man die äußere Form der Dialogreden, Vgl. Adorno (1958/59) 2009, S. 142 (Zitat ebd.), der sich mit diesen Begrifflich­ keiten aber auf den gesamten Dialog bezieht. Platons Phaidros sei als ein grundle­ gender philosophischer Text zu betrachten, an dem man, so Adorno, »über das Prob­ lem der philosophischen Darstellung als ein integrales Moment der philosophischen Wahrheit selber« lernen könne (ebd., S. 143). Der Begriff der Konstellation ist für Adornos Philosophie bekanntlich zentral. Vgl. dazu ebd., S. 453, Anm. 325 und u. a. Theodor W. Adorno: Philosophische Terminologie. Zur Einleitung, Bd. 1, Frank­ furt/M. 1973, darin die vierte Vorlesung, S. 46–58, bes. 55 f. 403 Adorno (1958/59) 2009, S. 143, vgl. auch S. 168 f. 404 In diesem Zusammenhang sei verwiesen auf Martin Seel: Ästhetik des Erschei­ nens, Frankfurt/M. 2003, darin Kap. II. 6: ›Konstellationen der Kunst‹, S. 172–214. 402

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dann fällt auf, dass nicht nur die Lysias-Rede auf einen affizierenden Sprachstil abhebt – dieser wurde von Sokrates ironisch vorgeführt und kritisiert –, sondern, so zeigten es die vorangehenden Ausführungen, dass auch die Palinodie, wenn auch auf andere Art und Weise, sich vielfach durch eine plastische und eindringliche Sprache, teilweise durch einen prononciert sinnlichen Ausdruck auszeichnet. Manche Passagen, wie etwa die Darstellung des innerseelischen Kampfes oder des Sprießens des Gefieders, stechen durch ihre Sinnlichkeit oder durch ein erotisches Vokabular geradezu hervor. Zwar schließt die literarische Erzählform einen anschaulichen Stil ein; allerdings impli­ ziert sie nicht zwangsläufig eine solche sinnliche Intensität. Warum also verwendet Platon für die philosophische Rede des Sokrates eine solche Diktion? Die Akzentuierung des Sinnlichen kann zunächst als ein der inneren Logik der Erzählung korrespondierendes Moment betrachtet werden. Die sinnliche Schönheit des Geliebten bildete eine maßgeb­ liche Voraussetzung des erotischen Geschehens und der Aufstiegsbe­ wegung selbst; durch die Strahl- und Anziehungskraft näherte sich die Seele des Liebenden, zunächst gezogen vom schwarzen Pferd und begleitet von einem starken inneren Ringen, dem Geliebten. Wenn die Seele dazu fähig oder bereit ist, fördert die Intensität des Schönen jedoch die Anamnesis der Idee des Schönen, welche wiederum für eine ausgeglichene seelische Lenkung bestimmend ist. In ihrem Ausmaß wird die Wirkkraft des sinnlich Schönen im Phaidros weitaus stärker und für den folgenden Aufstieg zwingender als im Symposion dargestellt. Das Wachsen des Gefieders charakteri­ sierte hierbei sowohl die sinnlich-somatische Wirkung auf die Seele des Liebenden als auch zugleich das Transzendieren dieser Ebene: In verschiedenen Hinsichten, so wurde oben deutlich, manifestiert Platon eine Gespanntheit von der sinnlichen hin zur Ebene des intel­ ligiblen Schönen, gekennzeichnet durch die seelischen Bewegungen des Ergriffen- und Begeistertseins, schließlich eines Übersichhinaus­ gehens und der intellektuellen Erhebung. Die sinnliche Anschauung bleibt aber notwendiges Ausgangsmoment der Erkenntnis des wah­ ren Schönen; diese vollzieht sich in einer gewissen Gleichzeitigkeit mit jener.405 405 Vgl. Adorno (1958/59) 2009, S. 164–166. Wie schon kenntlich wurde, ist für Adorno sowohl das Spannungs- als auch das Vermittlungsverhältnis von Sinnlichem und Geistigem im Schönen ausschlaggebendes Moment der platonischen Ästhetik.

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Darüber hinaus wird das im ›Inneren‹ des Mythos erscheinende Verhältnis von Ausstrahlung und Empfangen des (sinnlich) Schönen, von Wirkung und ›Ansteckung‹, im Moment seiner illustrativen Dar­ bietung zugleich in eine Art ›Innen-Außen-Verhältnis‹ der Erzählung transformiert.406 Auch der Rezipient der Rede407 soll angezogen und bewegt werden, nicht, wie im Falle der Lysias-Rede, von äußerlich bleibenden Effekten, sondern von der Ausdruckskraft, Lebendigkeit und Präsenz des inhaltlich Dargestellten selbst. Indem sich dem Hörenden oder Lesenden der Rede die Erfahrungen des Schönen, der Liebe und der göttlich-philosophischen Begeisterung in vermittelter Form offenbaren und erschließen, vermag in ihm die Sehnsucht nach dieser Erfahrung wachgerufen zu werden: In diesem Sinne evoziert die Palinodie als lebendige und anschauliche Darstellung ein ›erotisches‹ Verlangen.408 Die Assoziation von Eros und Rhetorik, die im Phaidros von Beginn an exponiert wird, tritt hier in ihrer philosophischen Dimension hervor. Auch in dieser Rede spielt die Frage der πειθώ eine bedeutende Rolle: Die Überzeugungskraft einer wahrhaft kunst­ vollen Rede gründet danach – über die bereits dargelegten Aspekte hinaus – auch in dem Vermögen des Redners, ein Verlangen in der Seele des Rezipienten hervorzurufen.409 Diese Form eines Evozierens Sinnliches und Geistiges seien einerseits geschieden und gegeneinander gespannt, andererseits im Schönen zugleich vermittelt, ohne ineinander aufzugehen. Der Begriff des Schönen sei als ein dialektischer aufzufassen. 406 Vor einem anderen Hintergrund und in Bezug auf den Begriff der Stimmung oder Gestimmtheit thematisiert auch Ricœur (1991, S. 236 ff.) das ›Innen‹ und ›Außen‹ dichterischer Werke. 407 Angesprochen sind beide Ebenen ›außerhalb‹ der Erzählung: Rezipient ist der Gesprächspartner im Dialogkontext wie auch die oder der Lesende des Dialogs. 408 Darin folge ich in gewisser Weise Yunis (2005, S. 111 ff.), der in seiner Studie auf den Nachweis dieses Sachverhaltes zielt: »The Great Speech, a mimesis in prose, por­ trays the pursuit of knowledge as an intense erotic experience, triggered and driven by the sight of beauty–the sight of being itself and the parallel sight of the beauty of the beloved […]. The portrayal is so vivid […] that the auditor himself acquires a desire for the very experience that is portrayed.« (Ebd., S. 112) Yunis unterstreicht auch die Besonderheit der platonischen Verknüpfung von Eros und Redekunst innerhalb der griechischen Rhetorik (vgl. ebd., S. 119). – Überdies wird in dem hier aufgezeigten Zusammenhang noch einmal kenntlich, dass das Begehren, ausgehend von der sinn­ lichen, dann aber auf einer gleichsam ›sublimierten‹ Ebene, dem Erkenntnisstreben als starkes Motivationsmoment immanent bleiben muss. Zum Begriff der ›Sublimie­ rung‹ vgl. oben Anm. 361. 409 Vgl. auch Niehues-Pröbsting (1987, S. 161 f.), der Platons metaphorische Eng­ führung von Erotik und sokratischer Unterredungskunst im Hinblick auf ihre Wirkung

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zeichnet Platon freilich in klarer Distinktion zu Lysias’ Strategien erotischer und rhetorischer und zugleich täuschender Verführung, die mit dem philosophischen Eros nichts gemein haben. Aber auch für die Palinodie gilt, dass das inhaltliche Thema des Eros, das durch die seelischen Bewegungen und Transformationen in seiner ganzen Spannkraft der freundschaftlichen und philosophischen Liebe gezeichnet wird, das rhetorische Moment verstärkt und der Rede selbst eine besondere Wirkkraft verleiht.410 Das Zusammenspiel von ›Innerem‹ und ›Äußerem‹ der Erzäh­ lung ist noch in einer weiteren Hinsicht von Relevanz, nämlich in Verbindung mit der seelischen Bildung selbst. Innerhalb der Erzäh­ lung wurde der Bildungsprozess als ein wechselseitiges Geschehen zwischen Liebendem und Geliebtem offenbar: Vermittelt durch den Geliebten formt und bildet sich die Seele des Liebenden durch die Wiedererkenntnis des Schönen und indem sie ihren Gott zu verge­ genwärtigen vermag; der Geliebte wiederum bildet den Liebenden in dessen Nachahmung des Gottes nach. In seinem Streben und in seiner Lebensweise hat der Ältere eine Vorbildfunktion; darauf basiert die bildende Führung des Jüngeren. Auch wenn in diesem Kontext davon ausgegangen werden darf, dass der hier gezeichnete Liebende den philosophischen Erkenntnisweg bereits kennt und insofern ein Wissender ist, werden Selbsterkenntnis und seelische Bildung des Liebenden dennoch als ein aktueller Vollzug im Zustand der Liebe dargestellt.411 Die Bildung der Seele erscheint im Mythos zunächst als Selbstbildung des Liebenden, durch welche aber in der Seele des Geliebten ebenso ein Prozess des Wandels und der Selbsterkenntnis ausgelöst wird. Vor dem Hintergrund, dass die Palinodie sowohl als Werberede als auch als philosophische Rede konzipiert ist, kann das Verhältnis unterstreicht: In beiden Fällen würden die Betroffenen sich eines Mangels an sich selbst gewahr werden, andererseits würde durch beide aber auch Erfüllung verheißen. 410 Vgl. auch oben Kap. 5.1.2. 411 Dadurch schwingt aber auch hier das sokratische Wissen des Nichtwissens mit, das auf jeder Stufe menschlicher Erkenntnis und menschlichen Daseins als Reflexion des eigenen Denkens und Handelns zu vergegenwärtigen ist; auch für die Seele des philosophisch Wissenden bleibt das selbstreflexive Moment der Apologie konstitutiv. Vgl. auch Heinrich Niehues-Pröbsting: Platonverlesungen. Eigenschatten – Lächer­ lichkeiten, in: Franz Josef Wetz, Hermann Timm (Hg.): Die Kunst des Überlebens. Nachdenken über Hans Blumenberg, Frankfurt/M. 1999, S. 341–368, hier 349; auch Cürsgen 2002, S. 28–30.

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5. Phaidros: Falsche und wahre Gestalten seelischer Bildung

von Redner und Rezipient der Rede nun in einer gewissen Analogie zu dem Verhältnis von Liebendem und Geliebtem betrachtet wer­ den. Ähnlich wie die Seele des Geliebten durch das Streben des Liebenden einen Wandel erfährt, soll die Seele des Rezipienten durch den aktuellen Vollzug der Rede resp. den Redner selbst im Sinne des philosophischen Eros motiviert und bewegt werden.412 Aus der Perspektive der Werberede sind Redner und Liebender, dies kommt hinzu, eine Person, sodass die Vorbildfunktion des Liebenden in gewisser Weise auch den Rezipienten der Rede betrifft. Auf der anderen Seite allerdings bleibt der Rezipient, im Gegensatz zum Geliebten, ein Außenstehender; er betrachtet und erfährt das in der Rede Geschilderte von außen, hat dazu notwendig eine innere Distanz. Damit werden aber zwei paradigmatische Momente des im Phaidros dargestellten Bildungskonzeptes sichtbar: Dieses zeichnet sich gemäß dem ›Inneren‹ der Erzählung erstens dadurch aus, dass die seelische Bildung des Jüngeren in Form eines mimetischen Lernens mit der Selbstbildung des Älteren eng korrespondiert. Zweitens aber wird im Blick auf das ›Äußere‹ der Rede das enge und in gewisser Weise unmittelbare Verhältnis von Geliebtem und Liebendem – im Mythos illustriert als ›Fluss der Schönheit‹ – aufgebrochen: Als Lernender kann der Rezipient der Rede von der Rede selbst Abstand nehmen, was aber erst eine Reflexion des Gehörten zulässt. Gerade in ihrem ›dialektischen‹ Verhältnis zeigen diese beiden Momente noch einmal, dass Platons Begriff der Bildung der Seele weit von einem hierarchischen Belehrungsmodell entfernt ist. Mit seiner zweiten Rede hatte Sokrates nicht mehr einen fiktiven Jüngling, sondern seinen Gesprächspartner Phaidros angesprochen, der seine Präsenz als Adressat ausdrücklich bestätigt (vgl. 243e): Phaidros soll für die richtige Art von Liebe gewonnen werden.413 Tat­ sächlich wendet sich Phaidros vom täuschenden Glanz des Lysias ab, zeigt sich allerdings in dem Gespräch, das an die Palinodie anschließt, von der Sokrates-Rede nur in einem rhetorischen, d. h. konventionell rhetorischen Sinne beeindruckt (vgl. 257b–c). Wie in den frühen Dia­ 412 Dass auch die Beziehung von Redner und Rezipient eine gewisse Wechselseitig­ keit impliziert, deutete Sokrates spielerisch in Bezug auf Phaidros an, der doch die Rede herausfordere (vgl. Phdr. 242a–b). In je bestimmter Hinsicht spielt eine Analogie des Verhältnisses von Liebendem und Geliebtem und Redner und Rezipient in allen drei Dialogreden eine Rolle. 413 Vgl. dazu oben die Ausführungen in Kap. 5.1.1 mit Anm. 54.

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5.3 Die Palinodie: Der Seelenmythos und die Bildung der Seele

logen ist also die Wirkung des sokratischen ›Arguments‹, das hier die philosophische Rede selbst ist, verhalten. Dabei ist anzunehmen, dass Sokrates’ Rede als den seelischen Konditionen des Gesprächspartners adäquat betrachtet werden soll. Als weiteres Hauptkriterium einer kunstgerechten Rhetorik wird im zweiten Dialogteil – dies wurde oben schon thematisch – eine genaue Seelenkenntnis, ein Wissen über die Arten von Seelen und ihre Zustände, letztlich eine Art ›psychologisches Verständnis‹ des Redners eingefordert. Wie der Arzt den Leib seines Patienten, so führt Sokrates hier aus, müsse auch der Rhetor die Seele seines Hörers richtig einordnen und einschätzen können, seine Rede darauf abstimmen und auch verstehen, warum und wann eine Rede für die jeweilige Seele passt.414 Die richtige Seelenleitung oder Psychagogie (vgl. 271c–d) bildet im Phaidros ein Wesensmerkmal der platonischen Rhetorik; diese wendet sich nicht an ein großes Auditorium, sondern an ein konkretes Gegenüber.415 Geht man also davon aus, dass Sokrates den Anspruch einer philosophischen Rhetorik und Psychagogie weitgehend erfüllt, dann ist die Reaktion des Phaidros auf die große Rede des Sokrates ernüch­ ternd; tatsächlich kann jetzt nur noch das Gespräch helfen. In gewisser Weise ruft die dargestellte Reaktion des Phaidros aber auch bei den Lesenden des Dialogs eine Art Abstand von der Rede hervor und verweist damit noch einmal auf das duale Moment von enger Anteilund mittelbarer oder reflektierender Distanznahme. Die große Rede des Sokrates soll, wie oben dargelegt, einerseits in ihrer Wirkung ›ansteckend‹ sein, sie soll den Rezipienten für die Liebe zum Schönen und letztlich für den philosophischen Weg begeistern. Andererseits darf sich der Empfänger der Rede zugleich nicht von dieser überwäl­ tigen lassen, er darf sich ihr nicht bedingungslos hingeben wie einst die Zikaden dem Gesang. Die Warnung vor einer selbstvergessenen Begeisterung, die der Zikadenmythos zum Ausdruck brachte, betrifft – wenn auch auf ganz andere Art als die traditionelle Dichtung – in

Vgl. Phdr. 270b–272b. Dieser Abschnitt wurde in der Literatur oft und kontrovers diskutiert; er soll hier nicht eigens analysiert werden. Zu einer ausführlichen Erörte­ rung vgl. die Kommentare von Heitsch 1997, S. 168–184 u. Yunis 2011, 210–217. Vgl. auch Niehues-Pröbsting 1987, S. 193 ff. 415 Damit schließt sich in gewisser Weise der Kreis zur Apologie bzw. zu den Ausfüh­ rungen am Beginn dieser Arbeit. Bereits hier wurde deutlich, dass Sokrates mit seiner Form der Rhetorik im Eigentlichen nicht ein größeres Publikum adressiert, sondern, wie im dialogischen Gespräch, auf die Sorge um die Seele seiner Mitbürger zielt. 414

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5. Phaidros: Falsche und wahre Gestalten seelischer Bildung

gewisser Hinsicht auch die Sokrates-Rede selbst.416 In jedem Falle gilt es aber nach einer begeisternden Rede zum philosophischen Gespräch zurückzukehren. Die dialogische Positionierung des Zikadenmythos nach der Palinodie und vor dem dialektischen Gespräch über die Redekunst liegt, so ist zu vermuten, nicht zuletzt darin begründet. Auch Platons Rhetorik zielt auf πειθώ im Sinne einer Über­ zeugung (vgl. auch Phdr. 271a) und auf eine bestimmte Form des ›Ergreifens‹ des Hörenden; mit den Stilmitteln der sophistischen Rhe­ torik und deren Ziel blendender Vereinnahmung hat das platonische Konzept aber nichts gemein. In ihren Voraussetzungen, Methoden, Inhalten und Zielen unterscheidet sich die platonische grundsätzlich von der sophistischen Rhetorik. Mit der Palinodie führt Platon vor, was er in der Politeia hinsichtlich der Poetik, im Phaidros in Bezug auf die Rhetorik als wahre Dynamis einer kunstgerechten Rede von Sokrates zum Ausdruck bringen lässt: die unauflösliche Verschrän­ kung von wahrem sachlichen Gehalt und künstlerischer Gestalt, wobei der Künstler sich der Abbildhaftigkeit seines Werkes gewahr sein muss. Die von Sokrates vorgetragene Palinodie zeigt sich gerade auch deshalb als philosophische Mimesis, weil in der Rede selbst sowohl das Bestreben, sich dem Vorbild, nämlich der wahren Natur der Seele und den Ideen, anzunähern, als auch die unhinterfragte Voraussetzung derselben offenkundig wird. Gemäß den in den Präliminarien genannten Aspekten des hier verwendeten Bildbegriffes konnte das mythologische Narrativ als ›Bild in Worten‹ in seiner heuristischen und erschließenden Funktion, auch in seiner Abbildhaftigkeit des aus platonischer Sicht Wahren in den vorliegenden Untersuchungen ergründet und aufgezeigt werden. Deutlich wurde auch, dass die sprachlich evozierten Visualisierungen nicht nur die Vorstell- und Denkbarkeit der verhandelten Inhalte und Sachverhalte und von deren Dynamik und Prozessualität stützen,417 sondern dass die figurativen Darstellungen im Gesamtkontext des künstlerischen Bildes eine explorative und erkenntnisleitende Funk­ tion übernehmen. In seinen verschiedenen Motiven und als Einheit 416 Vgl. dazu, dass auch das sokratische Wort in seiner Wirkung ›gewaltig‹ sein kann, auch zur Herkunft des Begriffs ›Psychagogie‹, noch einmal Niehues-Pröbsting 1987, S. 159–163. – Zum Zikadenmythos vgl. oben Kap. 5.2.2. 417 Vgl. dazu auch Catherine Collobert: The Platonic Art of Myth-Making: Myth as Informative Phantasma, in: dies., Pierre Destrée, Francisco J. Gonzalez (Hg.): Plato and Myth. Studies on the Use and Status of Platonic Myths, Leiden/Boston 2012, S. 87–108.

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5.3 Die Palinodie: Der Seelenmythos und die Bildung der Seele

erzeugt der Mythos eine eigene Form der Erkenntnisstiftung. Im Blick auf die illustrativen Darbietungen geht es für den Produzenten wie auch Rezipienten weder um ein Eintauchen in märchenhafte Bilder noch auf der anderen Seite um eine solche Vorstell- und Denkbarkeit, wie sie etwa der gezeichnete Kreis im Hinblick auf die Idee des Kreises schafft. Vielmehr eröffnet der Mythos als künstlerisch-mimetisches Werk, auch vor dem Hintergrund der kompositorischen Gestaltung des gesamten Dialogs, Spielräume des Denkens, die zu Reflexion und Nachdenken herausfordern und zu einer erkenntnisorientierten Bildung, die auf Wahres ausgerichtet ist, führen sollen. Die epistemische Bedeutung der mythologischen Erzählung im Phaidros ist darüber hinaus nicht darin zu suchen, dass Platon Inhal­ ten und Bereichen, die empirisch oder logisch nicht verifizier- und nachprüfbar sind, gleichsam einen spezifischen literarischen Raum gibt, der es danach erlaubte, diese zu betrachten. Zwar trifft es zu, dass im Phaidros, ähnlich wie in anderen platonischen Mythen, die ›ersten und letzten Dinge‹ in Erscheinung treten;418 andererseits beziehen sich die inhaltlichen Motive aber zugleich auf Themen, die andernorts im platonischen Werk argumentativ diskutiert werden.419 Die epistemische Relevanz des Mythos wird gemäß den hier geführ­ ten Erörterungen vielmehr in dem vielschichtigen, ›konstellativen‹ Bild sichtbar, welches eine eigene Sphäre der Bedeutung, des Verste­ hens und des Wissens schafft. In seiner literarisch-bildhaften Gestalt kommt dem Mythos eine vermittelnde Rolle zwischen Sinnlichkeit und Vernunft zu. Wie aber der dargestellte Eros selbst sich einerseits in dieser Zwischensphäre bewegt und andererseits den Aufstieg zum wahren Schönen bewirkt, führt auch das Erkenntnispotential des Mythos über diesen Zwischenbereich hinaus. Er ermöglicht insofern eine epistemische Zugänglichkeit zu intelligiblen Gehalten, als die hier verhandelten elementaren philosophischen Fragestellungen der Erkenntnis des Schönen, der Selbsterkenntnis und der Liebe in ihrer Gespanntheit vom Sinnlichen zum Intelligiblen und dazu korrespon­ dierend als seelische Bewegungen, Strebungen und Veränderungen gezeichnet und erörtert werden. Gegenüber dem begrifflich-argu­ Vgl. dazu Glenn Most: Platons exoterische Mythen, in: Markus Janka, Christian Schäfer (Hg.): Platon als Mythologe. Neue Interpretationen zu den Mythen in Platons Dialogen, Darmstadt 2002, S. 7–19, hier 12. Most kennzeichnet dieses inhaltliche Feld als eines von mehreren Hauptmerkmalen der platonischen Mythen. 419 Vgl. dazu auch oben Anm. 259 (Kap. 5.3.2). 418

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mentativen Verfahren sind Erkenntniswert und Erkenntnisleistung des Mythos weder als minder- noch als höherrangig einzustufen.420 Sie provozieren in je eigener Form zum Denken, im platonischen Sinne zu einer aufsteigenden Erkenntnisbewegung. Die große Rede des Sokrates vereint Poetik und Rhetorik. In gewisser Weise tritt die poetisch-bildhafte Erzählform in den Dienst der Rhetorik; auf der anderen Seite, so erwiesen es die Ausführungen, steht das Literarische für sich. Gerade in ihrer poetisch-mythologi­ schen Form entfaltet die Rede ihre poietisch-›zeugende‹ Kraft, indem sie die Bildung der Seele im Kontext der Liebe als Selbstbildung und zugleich als Bildung und Leitung des Anderen, als Psychagogie, im Sinne eines gemeinsamen Prozesses darstellt. In ihrer Komposition erfüllt die Palinodie Sokrates’ Anspruch an eine Rede als ›organische Einheit‹. Sie ist nicht starr und schemenhaft gegliedert, sondern zeigt auf der Basis ihres wahrheitsorientierten Fundaments und ihrer engen Korrespondenz von inhaltlicher und darstellender Ebene eine innere Dynamik und Kraft: Die Palinodie avanciert zu einem Kunstwerk. Dieses ist in die Gesamtkomposition des Dialogs, nämlich in die dia­ logischen Spannungsbögen von Physis und Schönem, Rhetorik und Eros, anthropologischer Frage und Selbsterkenntnis, eingebettet und tritt zugleich daraus hervor. Auch ist die Palinodie als dasjenige leben­ dige und beseelte Wissen zu verstehen, welches in die Seele eines Lernenden gesät werden und dort Früchte tragen kann (vgl. 276a ff.). Epistemisches und erotisches, poetisches und rhetorisches, pädago­ gisches und psychagogisches Moment sind aufs Engste verschränkt: Es ist diese Grundlage, welche die Palinodie als eine seelenbewegende Rede auszeichnet. Die These, dass Platon im Phaidros die anthropologische Frage und die Frage nach den Bedingungen menschlichen Seins und Daseins dem Begriff der Bildung als Reflexionsgrundlage voraussetzt, konnte mit den hier angestellten Untersuchungen erwiesen werden. In enger Verschränkung mit seinem Eros-Konzept konturiert Platon das See­ lenbild in der Palinodie als philosophische Anthropologie, wobei die Reflexion auf Wesen und Möglichkeiten des Menschen in der Selbsterkenntnis und Ideenerkenntnis ihre Fundierung findet. Auf dieser Basis entwickelt und manifestiert Platon sein Konzept seeli­ scher Bildung. Auch muss vor diesem Hintergrund das disparate Menschenbild von Sophistik und Philosophie notwendig zu divergie­ 420

Vgl. oben Anm. 262 (Kap. 5.3.2).

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renden und inkompatiblen resp. inkommensurablen Konzeptionen von Bildung führen. Die Dialogführung macht hinreichend kenntlich, dass die sophistischen Konzeptionen und Praktiken seelischer Verbil­ dung eine philosophische Neukonstitution von Bildung zwingend erforderlich machen. Im Rahmen der Palinodie konnte Platons Konzept der Bildung der Seele als ein durch die Liebe zu einem anderen Menschen privi­ legierter Prozess des innerseelischen Wandels und der Selbsterkennt­ nis gezeigt werden. Kenntlich wurde eine Programmatik: Gebildet wird die Seele nicht durch Belehrung, denn nur dann, wenn die Erkenntnistätigkeit des Lernenden mit dem aktiven, authentischen Erkenntnisstreben des ›Lehrenden‹ zu korrespondieren vermag, wirkt Bildung seelisch ›beflügelnd‹. Als seelenbildende Kraft vereint Eros hierbei die innerseelische Dynamik menschlicher Strebungen und die aufsteigende, dem Bedingten sich enthebende Erkenntnisbewe­ gung und manifestiert so die Kontur eines lebendigen Wissens. Dieses vermag aber wiederum andere Seelen zu bewegen. Insgesamt erwiesen die Interpretationen dieses Kapitels, dass die Bildung der Seele und die sokratische Psychagogie, damit zusammenhängend die Frage nach einer philosophisch kunstgerechten Rede, in welcher die künstlerische Form dem wahren Gehalt entspricht, als Leitmotiv und einheitsstiftendes Moment des Phaidros zu betrachten sind.

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