Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele 9783787322930, 9783787318704

Mendelssohns bewegende Übertragung des Platonischen Dialogs Phaidon in die Sprache und Denkweise der Spätaufklärung mach

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Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele
 9783787322930, 9783787318704

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„Moses Mendelssohn, wegen seines Phädon, gemalt von [Christian] B[ernhard] Rode 1768“

mose s m en del ssoh n

Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele

Mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von

anne pollok

Felix Meiner Ver lag Hamburg

PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 595

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie ; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http ://portal.dnb.de› abrufbar. isbn 978-3-7873-1870-4 isbn eBook : 978-3-7873-2293-0 Frontispiz : Moses Mendelssohn, Porträt von Christian Bernhard Rode, 1768 (© Gleimhaus Halberstadt) © Felix Meiner Verlag, Hamburg 2013. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Viervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53, 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz : Jens-Sören Mann. Druck: Strauss, Mörlenbach. Bindung: Litges & Dopf, Heppenheim. Werkdruck­papier  : alte­r ungs­beständig nach DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlor­­frei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

Inhalt

Einleitung. Von Anne Pollok . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . vii Die Entstehung : Abbts Skepsis  ix | Abbts Zweifel, Mendelssohns Orakel : eine literarisch-philosophische Diskussion über die Bestimmung des Menschen  xiii | Der Phädon als letzte Bastion gegen den Zweifel  xxi  |  Kritische Reaktionen : Kant und Herder  xxxi  |  Zu dieser Ausgabe  xlvi

Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . li

moses mendelssohn Phädon [Entwurf] (ca. 1763) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Briefwechsel mit Thomas Abbt (1756 – 1764) . . . . . . . . . . . . . 5 Zweifel und Orakel, die Bestimmung des Menschen betreffend (1764) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Briefwechsel mit Thomas Abbt (1764 – 1766) . . . . . . . . . . . . . 41 Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele, in drei Gesprächen (1769) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Leben und Charakter des Sokrates . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Erstes Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Zweites Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Drittes Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Briefwechsel mit Johann Gottfried Herder (1769) . . . . . . . . 191 Anhang, einige Einwürfe betreffend, die dem Verfasser gemacht worden sind [= Anhang zur dritten Auflage] (1769) 211

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Inhalt

Anmerkungen zu Abbts freundschaftlicher Korrespondenz (1782) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Anmerkungen der Herausgeberin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295

Einleitung

Moses Mendelssohn (1729 – 1786) war Sokrates (469–399 v. Chr.), dem Protagonisten seines Phädon, in seinem ganzen intellektuellen Leben eng verbunden. Beide teilten eine gewisse Fremdheit gegenüber ihrer Umgebung – Sokrates aufgrund seines Denkstils, Mendelssohn aufgrund seines Judentums. Beider philosophischer Standpunkt ist schwerer fassbar, als es auf den ersten Blick erscheint – Sokrates Stimme ist uns nahezu allein durch die Linse des großen Ironikers Platon und anderer zeitgenössischer Quellen vertraut, und Mendelssohns liebste Darstellungstechnik war der verfremdende Dialog bzw. die Brieffiktion. Und beide starben letztlich für ihre tiefste Überzeugung – Sokrates in der im vorliegenden Dialog Phädon geschilderten Weise, Mendelssohn in den sich überhitzenden Verflechtungen des berühmten Spinoza-Streits mit Friedrich Heinrich Jacobi, die Macht der Vernunft verteidigend und darüber seinen wärmenden Mantel und die bereits angeschlagene Gesundheit vergessend. Mendelssohn wie Sokrates suchten den Menschen, und beide bevorzugten das Gespräch, nicht die monologische Abhandlung. Nicht umsonst wurde Mendelssohn von seinen Zeitgenossen als ein „zweiter Sokrates“ gefeiert. Und nicht umsonst wurde er mit seiner „Übersetzung“ des platonischen Dialogs über die Unsterblichkeit der Seele einer der berühmtesten und meistgelesenen Philosophen seiner Zeit. Man muss Mendelssohns Phädon, diesen „Klassiker der ratio­ nalen Psychologie“1, im Kontext seiner Zeit lesen, um seine Relevanz und seine Strahlkraft zu verstehen. Wie Mendelssohn selbst festhält, handelt es sich nicht um eine Übersetzung der platonischen Vorlage, sondern vielmehr läuft sein, MendelsWilhelm Dilthey : Gesammelte Schriften, 9. Aufl. Bd. 1 : Einleitung in die Geisteswissenschaften. Göttingen 1990, 13. 1 

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sohns, Sokrates sogar Gefahr, „zum Leibnizianer“ zu werden (hier S. 55). Einige inhaltliche Abweichungen werden schon durch den Vergleich des hier zuerst abgedruckten Entwurfs zum Phädon und dem endgültigen Text sichtbar. Mendelssohns Werk kann entweder als „Verfeinerung“ (JubA III.1, XX), besser aber als Übertragung der bestimmenden Konzepte des Unsterblichkeitsgedankens in die Philosophie seiner Zeit bezeichnet werden. Eine Übertragung, die noch dazu, wie einige Stellenvergleiche einer auf Akkuratheit bedachten Übersetzung mit Mendelssohns Phädon zeigen, weitaus bewegter und hinreißender geschrieben ist (siehe zu diesem ausführlichen Vergleich die Einleitung zu JubA III.1, XX – X XVI). Wozu nun aber dieser modernisierte Rückgriff ? Wozu einen Beweis zur Unsterblichkeit der Seele, aus dem Mund des antiken Philosophen, versetzt in Sprache und Erklärungsmodus der späten Aufklärung ? Eigentlich interessiert Mendelssohn eine andere, ebenso alte wie immer drängende Frage : Was ist die Bestimmung des Menschen ? Dies ist gemeint in seiner ganzen Doppeldeutigkeit : Was ist der Mensch, wie ist er bestimmt (im Sinne von : definiert) ? – Und : Was soll der Mensch tun, wozu ist er bestimmt (im Sinne von : determiniert), d. h., worin besteht der Sinn seines Daseins (vgl. hier S. 229) ? Es ist kein Wunder, dass diese beiden Fragen in den 1760er Jahren hoch im Kurs stehen. Neue Entwicklungen in Wissenschaft und Politik machen eine erneute Selbstvergewisserung des Menschen notwendig ; die Metaphysik steckt tief in der schon lang empfundenen Krise, aus der sie bislang auch die umständlich geführten Beweise der Wolffschen Schulphilosophie nicht befreien konnten. Im Gegenteil, mit der Unzulänglichkeit der systematisch-rationalistischen Philosophie glimmt umso stärker der Verdacht auf, ob es nicht vielmehr die Naturwissenschaften oder zur Not die Politik oder die psychologische Gesellschaftslehre sind, die eine endgültige, nun eben desillusio­ nierte Antwort geben können. So erklärt sich auch das neu auf­flammende Interesse an Sokrates als einem, der den Menschen zu erkennen sucht. Zu Recht weist Alexander Nehamas darauf hin, dass die Faszination an Sokrates und dessen beharrlichem

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Festhalten an der Macht der Vernunft ein spezifisches Phänomen des 18. Jahrhunderts ist.2 Sokrates erschien als ein „Apostel der natürlichen Religion“3, nicht der althergebrachten Dogmen, und damit bot er eine attraktive Antwort auf die gängigen und drängenden Fragen : War der Mensch nicht doch eine Maschine (d’Holbach), war nicht Zynismus die beste Antwort auf die ewige Erlösungssuche (Voltaire), waren es nicht doch allein die erfahrbaren Einwirkungen der Außenwelt, die überhaupt eine – sehr diesseitige – Antwort auf die Frage nach dem menschlichen Wesen bieten können (Locke) ? Mendelssohns Sicht darauf, wie sich bereits im Briefwechsel mit Abbt, aber noch mehr im Phädon ergibt, ist doppelwertig, indem er versucht, eine theoretisch wie auch praktisch relevante Antwort zu geben. Für ihn ist die Doktrin von der Unsterblichkeit der Seele das Fundament unseres Wissens wie unseres Handelns. Und in diesem Sinne bestimmen die Grundgedanken des ­Phädon Mendelssohns umfassendes philosophisches Interesse. Die Entstehung : Abbts Skepsis Es überrascht daher kaum, dass der Plan einer überarbeiteten, in die Philosophie des Rationalismus übertragenen Fassung des platonischen Dialogs schon seit den 1750er Jahren und damit seit dem Beginn von Mendelssohns philosophischer Karriere besteht.4 In einem Brief an Isaak Iselin vom 5. Juli 1763 spricht Alexander Nehamas: The Art of Living : Socratic Reflections from Plato to Foucault. Berkeley 1998, 93. 3  Raymond Trousson : Socrate devant Voltaire, Diderot et Rousseau. La conscience en face du mythe. Paris 1967, 18. Siehe zu Sokrates’ Wiederentdeckung im 18. Jahrhundert, mit Fokus auf Mendelssohn, Miriam Leonard: Socrates and the Jews. Hellenism and Hebraism from Moses Mendelssohn to Sigmund Freud. Chicago 2012, 23 – 33. 4  Zur Entstehungsgeschichte des Phädon siehe auch Anne Pollok: Facetten des Menschen. Zur Anthropologie Moses Mendelssohns. Hamburg 2010, 503 – 506. 2 

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Mendelssohn von „einer Idee, die ich schon seit vielen Jahren liebkose […]. Es ist, einen Phädon, oder Gespräch von der Unsterblichkeit der menschlichen Seele nach Anlage des Platon zu schreiben, aber ausdrücklich von Plato eigentlich nichts als die Anlage zu borgen, welche in der Tat vortrefflich ist. Seine Raisonnements hingegen überzeugen mich nicht […]“ (JubA XII.1, 15, siehe auch JubA V.3a, 452). Platon überhaupt, so wird in Briefen an Lessing deutlich, interessiert ihn zu Beginn seiner philosophischen Studien. Dass die Arbeit an der „Übersetzung“ dennoch mindestens fünfzehn Jahre währt, ist einer Vielzahl an Faktoren geschuldet. Zum einen war Mendelssohn ehrgeizig genug, zuerst das Griechische zumindest in den Grundzügen zu beherrschen, um sein Idol im Original lesen zu können. Zusätzlich jedoch hat er selbst in seinen Rezensionen zu verschiedenen Platon-Übersetzungen und -Adaptionen die eigenen Standards sehr hoch angesetzt. Die größte Schwierigkeit der platonischen Schreibweise, so führt er in seiner Rezension zu Diderots Plan zu einem Trauerspiel über den Tod des Sokrates5 aus, ist die Gleichzeitigkeit von ästhetischem Reiz und philosophischem Niveau. „In der That sind hier zwo Klippen, denen fast nicht auszuweichen ist. Ueberzeugt Socrates seine Schüler durch philosophische Gründe ; so gähnet der größte Theil der Zuschauer. Rührt er die Zuschauer durch seine Beredsamkeit ; so bleiben die Philosophen unbefriedigt.“ (JubA V.1, 229) Er gibt dort eine Kostprobe des eigenen Könnens – und doch schreckt er noch vor einer endgültigen Ausführung zurück. Alexander Altmann konzediert in seiner Studie zur „Entstehung von Moses Mendelssohns Phädon“6 neben dem allseits notorischen Zeitmangel, 119. Literaturbrief, 17. und 24. Juli 1760, JubA V.1, 225 – 234; siehe auch seine Beurteilungen der „Socratischen Schriften“ von Hamann und Wegelin in den vorangegangenen Briefen, Literaturbriefe 113 – 119, 19. Juni bis 17. Juli 1760, JubA V.1, 200 – 225. 6  Siehe Alexander Altmann: „Die Entstehung von Moses Mendelssohns Phädon“, in : ders. : Die trostvolle Aufklärung. Studien zur Metaphysik und politischen Philosophie Moses Mendelssohns. Stuttgart-Bad Cannstatt 1969, 84 – 108. 5 

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dem Mendelssohn sich spätestens seit 1761 als Geschäftsführer einer Seidenfabrik immer ausgesetzt sieht, auch eine tiefgreifende konzeptuelle Schwierigkeit als Grund der Verzögerung. Als gläubiger Jude, so die Vermutung, fühlt sich Mendelssohn zutiefst in der Schuld seiner Glaubensbrüder, zuerst ihnen eine so wichtige Schrift über die Unsterblichkeit der Seele zu vermachen. Ein „hebräischer Phädon“ allerdings steht vor einigen schwerwiegenden Problemen. Zum einen scheint Mendelssohn sich im Hebräischen nicht für bewandert genug gehalten zu haben, um eine Abhandlung über die Unsterblichkeit der Seele in der Sprache seiner Religion zu wagen.7 Doch darüber hinaus war ihm wohl klar, dass die Wahl der Sprache auch den Charakter der Schrift, und damit womöglich ihren Grundgedanken, grundlegend beeinflussen würde. Die 1787 in Berlin veröffentlichte Übersetzung des Phädon von Jesaia Beer Bing (mit einem Vorwort von Hartwig Wessely, das u. a. bestätigt, dass Mendelssohn selbst noch die Übersetzung billigte) kann als äußerst gelungen gelten. Und doch ist der Charakter des Werks völlig verändert : „[…] gerade die Güte der Übersetzung, d. h. die gelungene Übertragung des Textes in die hebräische Bildund Gedankenwelt, zeigt, warum Mendelssohn vor der Arbeit zurückschrecken musste. Der hebräische Sokrates spricht wie ein jüdischer Weiser und das ursprüngliche Kolorit ist fast völlig übertüncht. […] Ein hebräischer Phädon war ihm nicht nur aus sprachlicher Unzulänglichkeit, sondern aus dem Gefühl heraus unmöglich, dass darin eine Art von Paradoxie stecke.“8 Wie sich auch einigen Briefen an seine Glaubensbrüder entnehmen lässt, befasst sich gerade der Phädon mit einem Beweis, den ein gläubiger Jude eigentlich nicht benötigt, ja, den zu verfolgen ihn eigentlich als einen Zweifler auswiese.9 Eine Feststellung Wie Mendelssohn in einem Brief an Raphael Levi ca. Ende 1767 ausführt (siehe JubA XII.1, 148 – 51, JubA XX .2, 153 – 156). 8  Altmann 1969, 90. 9  Dies erklärt insbesondere die apologetischen Ausführungen an Hartwig Wessely, August-September 1768, JubA XX .2, 159 – 162. Wesselys Antwort ist begütigend : Schließlich würden die Weisen auch heute 7 

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der Wahrheit dieses Glaubenssatzes also brächte diese Wahrheit selbst in ein zweifelhaftes Licht. Allerdings hege ich Zweifel an der Gewichtung dieser Schwierigkeit. Denken wir an die Geschwindigkeit, mit der Mendelssohn nur gerade vier Jahre zuvor seine Preisschrift Über die Evidenz (1763) ausarbeitete, die immerhin mit einer Neuformulierung des ontologischen Gottesbeweises aufwartet, so erscheint die Lage weniger eindeutig. Wenn ein Beweis der Unsterblichkeit der Seele den Zweifler enthüllen soll, was bewirkt dann erst ein Gottesbeweis aus desselben Feder ? Und doch schien Mendelssohn bezüglich des letzteren keine derartigen Skrupel gekannt zu haben – aus dem einfachen Grund, weil er dies wohl nicht als das wirkliche Problem sah. Ganz im Gegenteil, wie seine aufklärungsprogrammatischen Schriften der 1780er Jahre zeigen. Dort führt er aus, dass nicht der Besitz von althergebrachten Glaubenssätzen, sondern nur die kritische Untersuchung und Begründung dieser Sätze als Wissen gelten können. Wozu wir selbständig eine Begründung zu liefern imstande sind, ist weniger anfällig für ideologische Überblendung. Eine Selbstvergewisserung der Einzigartigkeit und Dauer meiner Person kann also nicht mit Glaubenssätzen angenommen, sondern muss auch im rationalen Diskurs erkannt werden. Sein – nicht ganz orthodoxer10 – Glaube der Übereinstimmung von Glaubens- und Vernunftwahrheiten erlaubt ihm diesen Optimismus. Vielleicht aber war es gerade die Ausarbeitung des Phädon in einer von entdeckten Wahrheiten zustimmen, wenn sie diese ihren Ideen über­ legen fänden. „Nie wurde es verboten, Dinge des Glaubens und der Meinungen mit vernünftigen Beweisen klarzulegen ; alle Worte der Wahrheit sind die Kinder des einen Gottes ; der Glaube und die Tora und die treue Überlieferung, die Natur und die Forschung mit gerader Vernunft, sie alle sind von einem Hirten gegeben, von dem wahren Gott.“ (JubA XX .2, 162 – 168, hier 165) 10 Tatsächlich stößt Mendelssohn in der jüdischen Gemeinde durchaus nicht immer auf Verständnis oder Unterstützung. Näheres dazu enthalten die Studien von Allan Arkush, David Sorkin und Alexander Altmann (s. Bibliographie).

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ihm exzellent beherrschten Sprache, die ihm zu dieser Zuversicht verhalf. Ein rationaler Diskurs mit dem Ziel der Vereinigung von Glaubens- und Vernunftwahrheiten allerdings verlangt nach einer künstlerischen Form – und nach guten Argumenten. Hier liegt für Mendelssohn die größte Schwierigkeit bei der endgültigen Ausarbeitung, v. a. des dritten Gesprächs11. Die dort untersuchte Frage, ob nicht nur die Seele als bloße Substanz unvergänglich, sondern ob darüber hinaus meine individuelle Seele, und damit etwas verkürzt gesprochen meine Person, sich einer fortdauernden Existenz erfreuen darf, wollte Mendelssohn mit den in seinen Augen exakteren Möglichkeiten der im weitesten Sinne Leibnizianischen Metaphysik gelöst wissen, nicht mit Platonischen Mitteln. Doch trotz seiner in den 1760er Jahren schon beachtlichen philosophischen Karriere gab ihm erst die Herausforderung durch seinen Freund, den Mathematiker und Philosophen Thomas Abbt, das argumentative Rüstzeug und die Motivation, um seinen Phädon zu vollenden. Abbts Zweifel, Mendelssohns Orakel : eine literarisch-philosophische Diskussion über die Bestimmung des Menschen Aus diesem Grund setzt diese Edition nicht mit der Hauptschrift, sondern mit der erwähnten, ihm vorhergehenden Diskussion ein. In einem Brief vom 10. November 1762 (hier S. 8 f.) beklagt Abbt zuerst sein Ungenügen mit den gängigen philosophischen Lehren zur Bestimmung des Menschen. Insonderheit 11 An

Iselin, 16. November 1763, JubA XII.1, 22, schickt er einen „ersten Theil“ ; später, als er ihm am 7. Mai 1767 den fertigen Phädon übersendet, erwähnt Mendelssohn diesen als „erstes Gespräch“ noch einmal (JubA XII.1, 131) ; das zweite und dritte Gespräch sind also später verfasst. Es liegt dennoch die Vermutung nahe, dass v. a. das dritte Gespräch im Zuge der Diskussion mit Abbt entstand – dort erst findet sich der Versuch einer Antwort auf dessen Fragen.

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wendet er sich gegen die wohl berühmteste Abhandlung dieser Zeit zum Thema, Johann Joachim Spaldings Bestimmung des Menschen (zuerst 1748 ; die hier erwähnte Diskussion bezieht sich auf die siebte Auflage von 1763). Der kleine „Aufsatz“, wie Spalding selbst seine Schrift nannte, ist eine Reflexion über Art und Zweck unseres Daseins. In einem inneren Monolog vergewissert sich das „Ich“ seines wahren Wesens und Tuns, was freilich nicht bloß eine Nacherzählung des Gedankenwegs des Autors, sondern eine Anleitung zum Selberdenken und ­-erleben darstellt. Die Schrift ist damit auch nicht in erster Linie als eine polemische Streitschrift gegen den damals gängigen Materialismus zu verstehen, sondern zielt vor allem auf „existentielle Selbstverständigung“12 . Obwohl Spalding sich in späteren Auflagen genötigt sah, diese Selbstverständigung expliziter an den christlichen Glauben zurückzubinden13, ist doch der Großteil der Schrift auf empirische, oder besser : innerseelische und praktische Evidenz gegründet, nicht auf szientifische oder offenbarungstheologische Absicherung. Jeder, so die Botschaft, kann sich in einem solchen, aus Beobachtung und Meditation gespeisten Selbstgespräch seiner Bestimmung – und der aller Wesen – besinnen und fortan danach leben. Die Grundfrage des „Ich“ : Warum bin ich da, was soll ich (vernünftigerweise) sein ? Oder, anders ausgedrückt, was kann ich sein, ohne mich ewig leer oder getrieben zu fühlen ? Vom sinnlichen Vergnügen über das „Vergnügen des Geistes“ und der Ausübung der Tugend geht die innere Reise des „Ich“ bis hinauf zur Religion. Bevor wir auf 12 So

Albrecht Beutel in der Einleitung zur Kritischen Ausgabe von Spaldings Schriften : Johann Joachim Spalding : Die Bestimmung des Menschen. Hg. v. Albrecht Beutel, Daniela Kirschkowski und Dennis Prause. Kritische Ausgabe, 1. Abt., 1. Bd. Tübingen 2006, XXXI. 13 Goezes Einreden machten es für Spalding notwendig, in einem Anhang (ab der 3. Aufl. 1749) zu erklären, dass seine Philosophie nicht gegen die christliche Offenbarung stehe, sondern diese allenfalls komplettiere (s. dazu insgesamt ebd., XXXIV–XLIX). Sein wichtigstes Argument : Wäre nie eine geoffenbarte Religion in der Welt, so wüssten wir auch nichts von der natürlichen (s. Spalding, 203).

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Abbts Zweifel an dieser Stufenleiter eingehen, wollen wir einen kurzen Blick auf die wichtigsten Elemente in Spaldings Argumentation werfen. „Ich“ bin mir bewusst, dass ich nach einem angenehmen Gefühl suche. Sinnliches Vergnügen gefällt, doch wirkt es auf die Dauer selbstschädigend. Auch ein „vernünftiger“, d. h. bewusster und einschränkender Genuss des Sinnlichen ist auf Dauer zu „vorsichtig“ und lässt mich die Grenzen dieses Konzepts erst recht spüren (vgl. Spalding, 55) bzw. ruft ein „dunkles Gefühl der Leere“ hervor (57). Wähle ich stattdessen die „Vergnügen des Geistes“ (65 passim) und konzentriere mich auf das angenehme intellektuelle Empfinden der „Ordnung, der Harmonie, der Proportion, des Neuen und Großen, und alles dessen, was Schönheit und Vollkommenheit heißt“, so ist dieser Genuss zwar dauerhafter. Doch auch dieses (sokratische) Streben nach Wahrheit (71) ist nicht der Endpunkt meines Strebens, da eben diese ewigen Ideen mich notwendig in der Reflexion weiterführen. Denn nun werde ich mir bewusst, dass „nicht nur meine eigene Vollkommenheit, sondern auch die aller anderen Mitwesen in mir verankert“ ist („Tugend“, 79 passim). Letztlich ist eine Erkenntnis nur gut, wenn sie die Tat ermöglicht – und diese ist wiederum erst wahrhaft gut, wenn sie auf das „allgemeine Beste“ (97) zielt. Mit anderen Worten, der wissende Sokrates ist nur dann zugleich auch vollkommen, wenn er seiner Polis zu Diensten ist. Mit diesem Ausgriff in die Intersubjektivität geht allerdings das meditierende „Ich“ noch einen Schritt weiter. Die Erkenntnis, dass jedwede Einsicht notwendig über die Grenzen des Ich hinausgeht und uns letztlich vor Augen führt, dass wir nicht die Quelle dessen sein können, was uns unsere Perfektion ermöglicht, führt hin zur „Religion“ (135 passim). Das Ich ist nicht ein bloßer Mechanismus in der Zeit, sondern eine unvergängliche, letztlich nur Gott verantwortliche Person. Dieser Person wiederum ist auch Gott in besonderer Weise zugetan, indem er diese fortstrebende Entwicklung des Geistes nicht mit dem leiblichen Tod abschneidet. So findet sich als Kulminationspunkt der Abhandlung der Beweis von der Unsterblichkeit der

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Seele (167 passim). Ich bin ein Wesen in fortwährender Vervollkommnung, dessen Sein letztlich das bloß irdische übersteigt. Was im Leben nicht gelöst erscheint, so tröstet Spalding, werde sich jenseits dieses Lebens richten. Spaldings „Ich“ würdigt jeweils die erreichte Stufe in ihrer positiven Bedeutung und ist also auch nicht als eine pietistische Abkehr von jeglicher Sinnlichkeit zu verstehen. Doch der vollkommene Mensch ist letztlich derjenige, der sich zur Erkenntnis seiner Einpassung in eine allgemeine göttliche Weltordnung gebracht hat. Vollkommenheit ist eine tiefgreifend „kommunale“ und spirituelle Verfasstheit, indem ich diese meine Bestimmung und meinen Wert erst mit Blick auf das Ganze und die Unendlichkeit erkennen kann. Abbt nun ist mit diesem Wunsch nach einer jenseitigen Zurechtrückung dessen, was hier auf Erden im wahrsten Sinne des Wortes „ver-rückt“ erscheint, nicht besonders zufrieden. Er antwortet mit einer Parabel. Wie wäre es, so lädt er die Leser seiner Zweifel über die Bestimmung des Menschen ein zu überlegen, wenn sich die spaldingsche Reflexion letztlich als ein frommer Selbsttäuschung geschuldeter Wunsch entpuppte ? In einer Parabel vergleicht er unsere Lage mit der von Soldaten im Krieg – sie befinden sich auf einer ihnen allen unbekannten Operation in einem sie persönlich nichts angehenden Krieg, wartend auf einen Marschbefehl oder ein wie auch immer geartetes Zeichen vom obersten Heerführer. Was, wenn dieser Marschbefehl nie kommt ? Warum wurden nur einige wenige zu unbekannten Sonderaktionen abberufen, von denen sie nie zurückkehrten ? Wurden sie belohnt oder bestraft ? Es lassen sich weder Muster im Verhalten dieser Abwesenden noch Mittel der Voraussage künftiger „Befehle“ finden, um die je eigene Position zu bestimmen. Abbt zeichnet letztlich das Bild einer zum Scheitern verurteilten Sinnsuche. Uns fehle, was wir dafür am nötigsten brauchten : eine rationale Lesbarkeit der Welt. Seine Kritik : Obgleich es wohl einen allgemeinen göttlichen Heilsplan geben könnte, so scheitert doch der Einzelne darin, – schon gar mit den Mitteln der Vernunft – die ihm jeweils zugedachte Rolle in diesem Plan zu

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durchschauen. Nicht umsonst evoziert Abbt den „großen Feind der Systeme“, Pierre Bayle14 , als Kronzeugen seiner Ausführungen – was Mendelssohn in seinem „Orakel, die Bestimmung des Menschen betreffend“, mit einer entsprechenden Anrufung von Leibniz aufnimmt : Leibniz, der Bayles Zweifel mit der Théodicée beantwortete. Abbt nun fragt nicht nach dem Grund des Bösen, sondern vielmehr treibt ihn die existentiell zu nennende Frage nach der Abwesenheit eines lebenserfüllenden Sinns um. Nicht warum Einzelnen Böses oder Schlechtes zustößt, sondern ob unser Leben in einen allgemeinen und auch individuellen Sinnzusammenhang eingebunden werden kann, insonderheit da die ungleiche Verteilung menschlichen Glücks und menschlicher Lebenszeit so derart ins Auge fällt. Nicht nur warten wir, wie die Soldaten, vergebens auf einen „Marsch­befehl“, sondern darüber hinaus lässt sich, so Abbt, angesichts der Übel in der Welt weitaus eher annehmen, dass wir uns in falsche Sicherheit wiegen, wenn wir eine ausgleichende Gerechtigkeit in ewiger jenseitiger Glückseligkeit erhoffen. Erst die Berücksichtigung jener Briefe, die die Entstehung – und intellektuelle Verarbeitung – des Zweifels und Orakels be­gleiten, kann zeigen, wie stark Abbt letztlich die Perspektive des je Einzelnen macht. In klarer und kritischer Anlehnung an Spalding wird er nicht müde zu fragen, nicht wozu „der Mensch an sich“, sondern wozu der je einzelne da ist. Dies sei zwar die schwierigere Frage, so gibt er im Zweifel sogleich zu. Doch von ihr hänge letztlich die Akzeptanz der Antwort ab : ob sie mich zu einem bloßen Instrument der „Vorsehung“ degradiert oder nicht. Wichtig hier ist auch, dass Abbt diese existentielle, individuelle Perspektive schon in der Fragestellung aufnimmt : Wie kann ich anhand der mich umgebenden Offenheit je erkennen, was meine Bestimmung sein soll ? Wie kann ich angesichts der Welt, wie sie sich mir darstellt, irgendeine Hoffnung hegen ?

dessen Artikel „Pomponace“ im Dictionnaire historique et critique, 5. Aufl., 3. Bd. Amsterdam 1740, 777 – 783. 14 Siehe

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Einleitung

Mendelssohns erste Antwort fällt im Spaldingschen Geist aus – und man kann durchaus di Giovannis Diagnose zustimmen, dass Mendelssohn Abbts tatsächliches Problem übersieht.15 Ihm zufolge kommen wir bei genauer Betrachtung menschlicher Schicksale eben zum gegenteiligen Ergebnis : Wir sehen überall die göttliche Handschrift, die uns eine unvermeidbare Verbesserung des Einzelnen schon in diesem Leben verspricht. Auch jeder einzelne der von Abbt bemühten Soldaten könne sehr wohl anhand jeglicher noch so unwichtiger Tätigkeiten erkennen, worauf er sich im gegebenen Falle einzurichten habe. So seine grundlegende Festlegung im Orakel : „Die eigentliche Bestimmung des Menschen hienieden, die der Tor und der Weise, aber in ungleichem Maße, erfüllen ist als die Ausbildung der Seelenfähigkeiten nach göttlichen Absichten ; denn hierauf zielen alle seine Verrichtungen auf Erden.“ (hier S. 33) Dass die Soldaten in der Parabel zum Nichtstun verdammt scheinen, da sie eben gerade keine Befehle erhalten, übersieht er hier großzügig. Man kann dies jedoch auch in Hinblick auf die von Abbt selbst ausgerufenen, selbstgesetzten „Lebensregeln“ (Zweifel, hier S. 26) verstehen : Wenn die autoritäre Stimme ausbleibt, so bestimme dich selber zu dem, was dir angesichts der Lage sinnvoll erscheint. Du wirst letztlich nicht fehl darin gehen, dich selbst zu vervollkommnen. Di Giovanni : „The Year 1786 and Die Bestimmung des Menschen, or Popularphilosophie in Crisis“, in : Moses Mendelssohn’s Metaphysics and Aesthetics. Hg. v. Reinier Munk. Heidelberg, New York : Springer, 2011, 217 – 234, insb. 228 f. Di Giovanni betont noch stärker, dass Abbt womöglich eine hinter den Dingen liegende göttliche Choreographie gar nicht bezweifelt – eindeutig jedoch verneint Abbt die Möglichkeit, aus der je eigenen Perspektive den eigenen Platz und damit eine eigene Verhaltensnorm angesichts des faktischen Weltgefüges zu erkennen. Dass Mendelssohn darauf mit einer eher universalistischen Theodizee antwortet, in der der Sinn des Einzelnen fundamental vom Sinn des Ganzen abhängt, zeigt lediglich, dass er die Fragerichtung missverstanden haben muss. Der Aufruf „Schaut nur genauer hin !“ (vgl. Pollok 2010, 112) erscheint jedenfalls im Lichte von Abbts existentieller Problematik wenig hilfreich. 15 George

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Mendelssohns diesseitiger Optimismus geht allerdings weiter : Auch angesichts schier aussichtsloser oder grausamer Situationen in unserem Leben können wir nie die Hoffnung verlieren. So bescheinigt er selbst zu früh gestorbenen Kindern eine Verbesserung der geistigen Fähigkeiten, die ihr Leben sinnvoll machte. Alle menschliche Tätigkeit und Entwicklung – sei sie auch rein biologisch – ist immer, zumeist sogar unbewusst, wirksam und notwendig Verbesserung. Und doch weist diese Dynamik keineswegs eine diesseitige endgültige Erfüllung auf, denn niemand stirbt als Engel. Mehr noch, so ist individuelle Vervollkommnung nur im Rahmen und unter Rücksicht auf die Vollkommenheit des Ganzen möglich, die wir vernünftig stipulieren können und müssen : Wir alle sind in verschiedenen Lagen geboren und zu verschiedenen Fähigkeiten veranlagt – wenn wir alle uns gleichförmig entwickelten und verbesserten, verlöre die Welt an Mannigfaltigkeit und letztlich Schönheit. Dem individuellen Durst nach Vollkommenheit kann letztlich nur die Ewigkeit genügen. So gibt laut Mendelssohn unsere irdische Entwicklung immer dieselbe Antwort auf Abbts Frage : Es wird besser, und es wird fürderhin noch besser werden. Die offene Grundkonstante menschlicher Entwicklung ist nicht, wie für Abbt, Anlass zur Sorge, sondern bereits die Antwort. Was aber, so insistiert Abbt in den auf Zweifel und Orakel folgenden Briefen (so am 6. März 1765, hier S. 48 ff.), sei daran spezifisch für uns Menschen und für uns Individuen ? Wieder fragt er nach individueller Durchdringung unserer Bestimmung ; sei es zur allgemeinen oder zur speziell moralischen Verbesserung (womit letztlich die Frage nach der Gerechtigkeit und dem Sinn von Strafen prominent Einzug erhält). Wenn nur das vollkommen eingerichtete Universum und damit jedes Individuum nur im Bezug auf das Ganze eine Vollkommenheit haben kann, so wird uns dies als Person kaum gerecht. Und wiederum, wer kann beweisen, dass es diese universelle Ordnung gibt, wo doch zumeist die Erfahrung strikt dagegen steht ? Mendelssohn seinerseits stimmt Abbt hinsichtlich der Unhintergehbarkeit und Einzigartigkeit jedes Menschen zu. Dies sei

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es gerade, was eine Frage nach dem jeweiligen „wozu“ (im Sinne von : Welche Funktion übernimmt dieser im allgemeinen Aufbau ?) verbiete (26. März 1765, hier S. 50 ff.). Jeder Einzelne habe seinen Eigenwert und verbessere sich stetig ; dies erscheint ihm angesichts der vernünftigen Welteinrichtung evident. Gegen Abbts grundlegende Frage nach der spezifischen individuellen Bestimmung : „Aber wohin gehen sie denn ? “ fährt er ein letztes, grundsätzliches Argument auf : Dies sei keine philosophische Frage. Wir könnten davon letztlich im Einzelnen nichts wissen – aber dass „Wir nicht wissen wie“ ist letztlich kein Beweis für ein negatives „Wir wissen nicht ob“ (ebd., 54). Als Begründung im Abbtschen Sinne kann nur ein „handfester“ Beweis, ein göttliches Donnerwort gelten, nicht aber die – von Mendelssohn propagierte – Lesbarkeit der Welt. Die Frage selbst führt uns also direkt an die Grenzen der Philosophie. Unversehens befinden wir uns, fast zwei Jahrzehnte vor der berühmten Spinozismusdebatte, inmitten des Kampfes um die Grenzen des Rationalismus und damit in der entscheidenden Debatte darüber, wohin das Vertrauen in die Macht der Vernunft führen kann. Kann nur die Offenbarung oder die Vernunft die Frage nach Sinn und Zweck unseres Daseins beantworten ? Mendelssohns letztes Wort im Briefwechsel, woran er auch in den späten Anmerkungen zu Abbts freundschaftlicher Korrespondenz (1782, dem letzten Text dieser Edition) festhält, ist eine optimistische Selbstbegrenzung vernünftigen Fragens. Wir können wissen, dass wir eine individuelle Bestimmung haben und dass diese die Form der Selbstvervollkommnung hat. Alles darüber Hinausgehende aber ist müßig : „Will man aber umständlich wissen, unter welcher Gestalt wir fortdauern werden, in welcher Region, mit welchem ätherischen Leibe, mit welcherlei Sinnen und Glied­maßen wir dort leben und weben werden ? So tritt die bescheidene Vernunft, mit dem Finger auf dem Munde, zurück. […] Und die Offen­barung selbst kann uns hierüber keinen nähern Unterricht geben : denn sie würde eine Sprache reden, die wir nicht verstehen, Grundideen voraussetzen, die wir nicht haben.“ (Anm. q, s. a. Anm. t und z, hier S. 237, 246 f. u. 259) Somit setzt Men-

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delssohn Abbts Fragen eine absolute Grenze, die Vernunft wie Offenbarung gleichermaßen zu berücksichtigen haben. Dies sei dennoch kein Grund, die Metaphysik aufzugeben – im Gegenteil. Mendelssohns Schriften sind Ausdruck der Bemühung, den innerhalb dieser Grenzen liegenden Teil menschenmöglichen Wissens auszubuchstabieren. Wir können unsere generelle Verfasstheit erkennen, und wir können in der Tat, ausgehend vom Prinzip des zureichenden Grundes und der göttlichen Güte, von einer vernünftigen Verfasstheit der Dinge ausgehen. Ist dies der Fall, kann unser Dasein – für uns wie im Ganzen betrachtet – nicht sinnlos sein, und wir können von der Unsterblichkeit der Seele mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit16 wissen. Das Insistieren Abbts, das letztlich auch zum Zweifel einer vernünftigen allgemeinen Welteinrichtung führt, scheint wie erwähnt der Grund gewesen zu sein, der Mendelssohn den nötigen Zündstoff zur letztlichen Ausarbeitung des Phädon gab.17 Und man kann die Anlage desselben, insbesondere das dritte Gespräch, als eine letzte Antwort für seinen viel zu früh verstorbenen Freund verstehen. Der Phädon als letzte Bastion gegen den Zweifel Ohne hier auf alle Aspekte des Phädon eingehen zu können, wollen wir uns auf die Frage nach der Bestimmung des Menschen konzentrieren. Zuerst wird der besondere Mensch dieser Schrift vorgestellt : Mendelssohns entscheidend von Cooper ins16 Zu

Mendelssohns Theorie der Wahrscheinlichkeit siehe ­Pollok 2010, 245 – 289 mit weiteren Verweisen, sowie Edith Dudley Sylla : „Men­ delssohn, Wolff, and Bernoulli on Probability“ und Paul Franks : „Divided By Common Sense : Mendelssohn and Jacobi on Reason and Inferential Justification“, beide in : Moses Mendelssohn’s Metaphysics and Aesthetics, hg. von Reinier Munk. New York etc. 2011, 41 – 64, 203 – 216. 17 Mit seinem Hinweis auf die Ewigen Strafen im letzten Schreiben vom 28. August 1766 (hier S. 57) gibt Abbt Mendelssohn noch Stoff für das letzte Gespräch bzw. dessen später eingefügte Zusätze (s. z. B. S. 178 f.)

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pirierte Version vom „Leben des Sokrates“ bringt dem Leser die bewundernswerte Persönlichkeit des Protagonisten, seine unbedingte Wahrheits- und Menschenliebe näher. In dieser Einleitung finden wir auch die bereits in der Diderot-Rezension enthaltene Teilübersetzung des Kriton, in der Mendelssohns Sokrates die Unrechtmäßigkeit einer Flucht vor der eigenen Exekution beweist (S. 88 – 91). Überhaupt betont die Einleitung zweierlei : zum einen Sokrates’ unbedingtes Festhalten an den von der Vernunft, aber auch durch die Gesellschaft seiner Zeit (manchmal nennt er dies auch „von den Göttern“) gesetzten Normen. Zum anderen, und dies ist insbesondere für die Form des Dialogs wichtig, betont Mendelssohn die Aufrichtigkeit des Sokrates, der weder flieht noch seine Richter zu manipulieren sucht (etwa indem er mit trauernden Verwandten aufwartet). Sein Ziel ist nicht nur die Erkenntnis der Natur und des Menschen, sondern auch eine Übereinstimmung mit sich selbst und seinen Grundsätzen. Dies ist auch der Tenor des ersten Gesprächs, in dem Mendelssohns Sokrates nicht nur die Unvergänglichkeit der Substanz „Seele“ beweist, sondern einen weiteren Beweis gegen die Rechtmäßigkeit des Selbstmords vorbringt. Den ersten Beweis hatte Mendelssohn schon in den Briefen über die Empfindungen (1755) veröffentlicht, wo er den Selbstmord als eine prinzipiell arationale Flucht darstellt, der keinesfalls eine Lösung sei. Nun fügt er diesem eine weitere Dimension hinzu : Der Mensch ist als Eigentum Gottes nicht in der Position, sein Leben zurückzuweisen. Die von Krito vorgeschlagene Flucht, so schließt der Leser, ist nicht allein unrechtmäßig, sondern widerspricht auch dem Glauben an eine vernünftig eingerichtete Welt. Verdeckt findet sich hier ein erster Fingerzeig in Richtung der existentiell verunsicherten Soldaten in Abbts Parabel : Ein Vermeiden des Problems ist nicht erlaubt. Dennoch bleiben genug Unsicherheiten. Warum ist So­k rates nahezu glücklich, nun seinem Tod ins Auge zu sehen ? In diesem Lichte entspinnt sich die Diskussion über die Unsterblichkeit der Seele im Haupttext. Der direkte Beweis, der auf dem unausgesprochenen Grundthema der Bestimmung des Menschen aufruht, erfolgt in zwei

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Teilen : zuerst streng metaphysisch, indem die Immaterialität und Unvergänglichkeit der Seele im Unterschied zu zusammengesetzten Dingen der materiellen Natur hervorgehoben wird ; sodann moralphilosophisch, bezogen auf die Bedeutung der Unsterblichkeit für (menschliche) Tugend. Der Grundtenor im ersten Gespräch lautet : Unsere Seele, unser Erkenntnisvermögen, ist die höchste, gottgleiche Fähigkeit, die uns ermöglicht, eine Einsicht in das wahre Wesen der Dinge zu erlangen. Wir entdecken in uns den Abglanz des Allerhöchsten, das „lauter Wesen, lauter Wahrheit, lauter Güte, lauter Vollkommenheit ist“ (S. 108, wie der allzeit schwärmerische und nicht allzu kluge Apollodorus bewundernd wiederholt), und wir entdecken, dass wahre Weisheit bedeutet, diesem Wesen nachzueifern. Laut dem Gesetz der Stetigkeit, das Mendelssohn hier von Leibniz und Boscovich übernimmt, ist Sterben als ein Übergang vom Leben zum Tod ein unmögliches Konstrukt, da ein totaler Wechsel zwischen zwei einander entgegenstehenden Zuständen unmöglich erscheint. „Zwischen Sein und Nichtsein ist eine entsetzliche Kluft, die von der allmählich wirkenden Natur der Dinge nicht übersprungen werden kann.“ (S. 124)18 Mendelssohn selbst nun hat sich im Vorwort die Mittel an die Hand gegeben, diesem nahezu predigthaften Ergebnis des ersten Gesprächs eine tiefergehende Reflexion anzuhängen. Denn ein Großteil des Beweises hängt an der Zurückweisung einer kör18 Dieser

Bezug wiederum zur göttlichen Güte, aufgrund deren die Zerstörung und der Bruch mit dem Kontinuitätsgrundsatz unmöglich ist, erinnert an den Argumentationsgang in Meiers Beweis dass die menschliche Seele ewig lebt – siehe dazu Francesco Tomasoni : „Mendelssohn’s Concept of the Human Soul in Comparison with Those of Georg Friedrich Meier and Kant“, in : Moses Mendelssohn’s Metaphysics and Aesthetics, hg. v. Reinier Munk. Heidelberg u. a. 2011, 131 – 157. 1771 wurde dieser Aspekt in einem anonym veröffentlichen „Anti-Phädon“ kritisiert ; s. Günter Gawlick : „Ein vergessener Anti-Phädon aus dem Jahr 1771“, in : Moses Mendelssohn im Spannungsfeld der Aufklärung. hg. v. Eva Engel und Michael Albrecht. Stuttgart-Bad Cannstatt 2000, 73 – 88.

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perlichen Vollkommenheit, die doch – so Mendelssohn selbst – in der gegenwärtigen Zeit nicht mehr haltbar sei. Was also das erste Gespräch erbrachte, muss notwendig im Lichte der optimistischeren Körperphilosophie der späten Aufklärung neu ent­ wickelt werden. Mendelssohn leitet diese „modernere“ Betrachtungsweise durch die Einreden von Simmias und Cebes ein, die die oben erwähnte Zweigliedrigkeit des Beweises bestimmen. Und wiederum beziehen sich diese Einreden auf die Abbtsche Frage nach der Bestimmung des Menschen, die Mendelssohn seinen Simmias ausdrücklich zu Beginn des zweiten Gesprächs erwähnen lässt (hier S. 134). Simmias drängt Sokrates also, den Beweis von der Immaterialität der Seele im zweiten Gespräch weiter auszuführen. Was ist, wenn unser Wissen erst durch den Einfluss der vergänglichen Dinge entsteht und etwas „Zusammengesetztes“ (aus Begriff und Erfahrung) bildet ? Muss dann nicht unsere Seele notwendig bei der Zerstörung dieses Zusammengesetzten verschwinden ? In seiner Antwort verweist Sokrates auf die einigende Kraft der Seele als Grundlage unserer Wahrnehmung von Vollkommenheit (und wir erinnern uns an Mendelssohns Ausführungen zu diesem Thema in seinem Brief an Abbt vom 13. August 1756, hier S. 6 f.). Und so findet erst im zweiten Gespräch der wirklich „moderne“ Beweis der Immaterialität statt, da nicht Platon, sondern Mendelssohn die Vorstellungskraft der Seele für den Beweis fruchtbar macht. Dies gibt der „Seelensubstanz“ erst ihre wahre Form als eine „vis repraesentativa“ : „Wenn kein denkendes Wesen hinzukommt, das die mannigfaltigen Teile zusammennimmt, gegeneinander hält, und in dieser Vergleichung eine Übereinstimmung wahrnimmt, so weiß ich sie nirgend zu finden ; oder weißt du, mein lieber Simmias ! in der seelenlosen Natur ihre Spur aufzusuchen ? […] Das denkende Vermögen, und dieses allein in der ganzen Natur, ist fähig, durch eine innerliche Tätigkeit Vergleichungen, Verbindungen und Gegeneinanderhaltungen wirklich zu machen.“ (S. 147 f., siehe auch den Anhang zum Phädon, hier S. 215) Denken ist kein Epiphänomen des Körpers und damit nicht an dessen Vergänglichkeit

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gebunden. Denken, oder allgemeiner, Vorstellungen zu haben und zu verknüpfen (in Engführung der Leibnizschen Begriffs­ triade von perception, apperception und appetitus, welches letztere Mendelssohn mit „Willen“ gleichsetzt), ist wiederum keine Wirkung von einem einzelnen Teil der Seele, sondern ist ihre Grund­tätigkeit. „Aber Wahrnehmen, Vergleichen, Schließen, Begehren, Wollen, Lust und Unlust empfinden, erfordern eine von Ausdehnung und Bewegung ganz verschiedene Bestandheit“ (S. 155) Damit ist der Abweis des Materialismus für Mendelssohn vollzogen und der Beweis für die Inkorruptibilität der Seele vollbracht. Was nun noch fehlt, ist der tatsächliche Beweis von der Immortalität der Seele als Person.19 Wie, so fragte Cebes zu Beginn des zweiten Gesprächs (S. 137f.) – und unschwer kann man Abbts Stimme hier vernehmen –, kann das Fortleben nach dem Tode denn nun genau aussehen ? Wer beweist uns, dass wir tatsächlich ein „Selbstgefühl“ behalten und unsere individuelle Vervollkommnung werden fortsetzen können ? Im diesen Strang aufnehmenden dritten Gespräch beginnt Sokrates mit einer Reflexion über das Wesen menschlicher Seelen (dass er auch über tierische Seelen spricht, sei hier nur erwähnt). Deren grundlegende Tätigkeit, die Selbstvervollkomm­ dazu Tomasoni 2011, 136, der auf Meiers Auszug der Vernunftlehre (1752, 2. Aufl. 1760, §§ 432 – 438) hinweist. Mendelssohn war dieser Text vertraut, so dass er durchaus wusste, dass man allein mit einem Aufweis der Inkorruptibilität der Seele noch keinen vollständigen Beweis erbracht hat. Zu Meiers eher skeptischer Haltung siehe dessen Gedancken vom Zustande der Seele nach dem Tode (1746) sowie die Vertheidigung seiner Gedancken vom Zustande der Seele nach dem Tode (1748). Aus karrieretechnischen Gründen sah sich Meier später gezwungen, seine Gedanken zu widerrufen und einen eigenen Beweis der Unsterblichkeit vorzulegen : Beweis daß die menschliche Seele ewig lebt, 2. Aufl. Halle 1754, demzufolge die Unsterblichkeit der Seele in der „besten aller möglichen Welten“ schlicht die maximale hypothetische Nothwendigkeit“ mit sich bringt (ebd., 57 f., 81, 88, 97 ; siehe desweiteren Tomasoni 2011, 144). Mendelssohn wie auch Abbt erwähnen Meier nicht explizit, könnten seine diesbezüglichen Schriften aber durchaus gekannt haben. 19 Siehe

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nung durch „Übung“ der Vermögen, versichert uns nicht allein unseres Status als individuelle Persönlichkeiten, sondern zeigt unsere Gleichartigkeit als dynamische Entitäten, die letztlich nur eine Bewegung kennen : aufwärts, zu höherer Vollkommenheit. „Alle endlichen Geister haben anerschaffene Fähigkeiten, die sie durch Übung entwickeln und vollkommener machen. Der Mensch bearbeitet sein angebornes Vermögen zu empfinden und zu denken mit einer erstaunenswerten Geschwindigkeit. Mit jeder Empfindung strömet ihm eine Menge von Erkenntnissen zu, die der menschlichen Zunge unaussprechlich sind ; und wenn er die Empfindungen gegen einander hält, wenn er vergleichet, urteilet, schließt, wählt, verwirft, so vervielfältiget er diese Menge ins Unendliche.“ (S. 163) Dieser Ausgriff ins Unendliche, die auf immer fortgehende Perfektion angelegte Seelen­tätigkeit ist unsere Bestimmung im Sinne unserer Definition – sie bezeichnet, was wir sind. „Das Ziel dieses Bestrebens bestehet, wie das Wesen der Zeit, in der Fortschreitung.“ (S. 171) Es ist auffällig20, dass der Kulminationspunkt seines Beweises für die Ewigkeit dieses Bestrebens, und damit für die Unsterblichkeit der personellen Seele, stark rhetorisch gefärbt ist. Mendelssohns Sokrates betont noch einmal die grundlegenden Tätigkeiten der Seelen, um dann das selbst aufgebaute Bild durch eine drohende rhetorische Frage scheinbar zu zertrümmern : „[S]o lange sie mit Selbstgefühl empfinden, denken, wollen, begehren, verabscheuen, so bilden sie die ihnen anerschaffenen Fähigkeiten immer mehr aus ; je länger sie geschäftig sind, desto wirksamer werden ihre Kräfte, desto fertiger, schneller, unaufhaltsamer werden ihre Wirkungen, desto fähiger werden sie, in der Beschauung des wahren Schönen und Vollkommenen ihre Seligkeit zu finden. Und wie ? meine Freunde ! alle diese erworbenen, göttlichen Vollkommenheiten fahren dahin, wie leichter Schaum auf dem Wasser, wie ein Pfeil durch die Luft fliegt, und lassen keine Spuren hinter sich, dass sie jemals da gewesen sind ? Das kleinste Sonnenstäublein kann in der Natur 20 Siehe

Pollok 2010, 516 f.

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der Dinge, ohne wundertätige Zernichtung, nicht verloren gehen : und diese Herrlichkeiten sollen auf ewig verschwinden ? “ (S. 164) Nein, es ist der Weisheit nicht „anständig“ (S. 173), diesen Fortgang der Geister schlicht abbrechen zu lassen. Wir werden also auch aus diesem Grunde nicht vernichtet, und, nun an Cebes (Abbt) gewandt, wir werden sicherlich mit einem „Selbstgefühl“ nach dem Tode weiterleben – wie dies im Einzelnen auch aussehen mag. Mendelssohns Sokrates geht noch weiter. Denn abgesehen vom Prinzip göttlicher Güte und Vernunft scheint die Unsterblichkeit der Seele auch in praktischer Hinsicht geboten : Eine absolute Beschränkung auf dieses Leben führe zu unlösbaren moralischen Paradoxa. Hätten wir allein dieses Leben, so entwickelte es sich zum höchsten Gut – und letztlich müsse alles erlaubt sein, es zu verlängern. Unentscheidbare Situationen wären die Folge : Ein Staat müsse durch einen Krieg, also durch das Selbstopfer seiner Landeskinder als Soldaten, gerettet werden – doch zugleich habe jeder dieser besagten Soldaten, als je einzelner Mensch, das unhintergehbare Recht, auf sein Über­ leben zu pochen. Kein Richter der Welt – und auch kein jenseitiger, also nicht einmal Gott – könne zwischen diesen gleich­ berechtigten Ansprüchen entscheiden (vgl. S. 176). Dass dies ein valentes Problem auch für Mendelssohn darstellt – denn soweit der Beweisgang hier skizziert wurde, könnte man ebenfalls eine eher solipsistische Gesellschaftstheorie als Ausweg vermuten, die ein solches „Opfer“ nicht vom Einzelnen verlangte –, zeigt sich auch in seinen späteren politischen Schriften. Schon im Phädon argumentiert er, dass menschliche Vervollkommnungs­ fähigkeit nach einem Miteinander der Individuen verlangt. „Das menschliche Geschlecht ist zur Geselligkeit, so wie jedes Glied zur Glückseligkeit berufen.“ (S. 143) Mendelssohn betont später, in einem indirekt auf Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784)21 eingehenden Votum „Über 21 Eine hervorragende Diskussion von Kants Idee und ihren Quellen

bietet Manfred Kühns Aufsatz „Reason as a species characteristic“, in :

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die beste Staatsverfassung“ (ebenfalls um 1784), die Bedeutung der Rangfolge, die dieser Beweisgang etabliert. Gesellschaft ist kein Selbstzweck, noch kann sie über der Forderung der Vervollkommnung des Menschen stehen, denn die Erfüllung der Vollkommenheit darf niemals den Einzelnen zum bloßen Mittel herabwürdigen, sondern muss ihn zu ihrem Endzweck haben. Dies macht uns jedoch nicht zu bloßen Egoisten, die nun wiederum die Gesellschaft als reines Mittel missbrauchen. Wir sind immer eingebunden in eine Gemeinschaft – unser recht verstandenes individuelles Wohl ist somit immer auch ein gemeinschaftliches. So gibt es auch im Politisch-Gesellschaftlichen einen Punkt, auf den alles hinausläuft : „Alles beruht auf der großen Frage : was ist die Bestimmung des Menschen, und was soll er hier auf Erden ? “ (JubA VI.1, 146) Nun allerdings angewandt auf den Menschen in der Gesellschaft und damit auf das Mischungsverhältnis des Menschen „an sich“ und des Individuums. So ist eine exakte Erfassung dieser „Bestimmung“ durchaus kompliziert ; zum einen ist sie den jeweiligen spezifischen Situationen unterlegen und damit etwas Wechselhaftes, Relatives. Formal betrachtet aber ist sie immer gleich : Vervollkommnung hin zum Guten. Diese binäre Stellung erhält sich auch in Hinblick auf die Adressaten, da unsere Bestimmung uns als Individuen und als Gattung umfasst. Die Gattung unterstützt die Bildung des IndiKant’s Idea for a Universal History with a Cosmopolitan Aim. A Critical Guide. Hg. v. Amélie Oksenberg Rorty and James Schmidt. Cambridge 2009, insbesondere S. 74 ff., 82 – 87. Leider verwendet Kühn nicht die Briefe, die die veröffentlichten Schriften flankieren, und kommt so zu einem Ergebnis, das in Bezug auf Mendelssohn etwas ungenau erscheint. Jedoch ist der sehr austarierte Blick auf Kants genaue Stellung hinsichtlich von Abbts, Spaldings und Mendelssohns Sichtweisen richtungsweisend. Insbesondere Kühns Schluss, dass Mendelssohn wohl Kants Begriff einer „moral history as the condition of the possi­ bility of a conception of infinite perfectibility“ (92 f.) zugestimmt hätte, ist interessant. Mendelssohn hätte wohl diese nicht als ein Ideal, sondern eine Doktrin aufgenommen, deren rationale Notwendigkeit auch ihre faktische Realität verbürge. Doch dies ist ihm als Nicht-Kantianer wohl nicht vorzuwerfen.

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viduums, wie zugleich der Einzelne sich ohne seine Umgebung nicht denken lässt. Bleiben wir bei der individuellen Perspektive (der gesellschaftspolitische Aspekt kommt weitaus prominenter in Mendelssohns Jerusalem [1783] und anderen Schriften der 1780er Jahre zum Ausdruck), so bewirkt die bestmögliche Realisierung unserer Potentiale Glückseligkeit. Sie ist nicht das Ergebnis der vollen Ausfüllung und Entfaltung meiner Anlagen, sondern sie entsteht durch und in der bewussten Realisierung von Entwicklung : „Glückseligkeit besteht im Ebenmaße zwischen Erstreben und Erhalten, Erwerben und Genießen.“ (JubA VI.1, 145) Indem wir also unsere Bestimmung erfüllen und uns der göttlichen Vollkommenheit annähern, können wir glücklich werden ; so glücklich wie der sterbende Sokrates. Obzwar also Glückseligkeit einen dynamischen Wert darstellt, ist Mendelssohns Position auch hier niemals relativistisch : Letztendliche Glückseligkeit ist möglich – doch sie beruht auf dem Postulat der Unsterblichkeit der Seele. Noch einmal kommt Sokrates, und hier wird die Anleihe an Abbts Parabel besonders deutlich, auf die zugrundeliegende Frage nach der Erfüllung unseres Dranges nach Vervollkommnung zurück. Wenn unser Leben einzig auf dieses irdische Leben eingeschränkt erscheint, so könnten wir letztlich nicht wirklich einsehen, dass es Gerechtigkeit überhaupt gibt, noch, dass gute Taten tatsächlich zur Vollkommenheit beitragen. Damit stimmt er Abbts skeptischen Fragen zu : Wir finden allzu viel gegenteilige Beweise, um diesen Glauben noch hegen zu können. Dies heißt jedoch nicht, dass Unsterblichkeit notwendig sei, um hier vorhandene Übel auszugleichen oder gar mögliche Misshandlungen im Jenseits zu rächen. Eine Vergeltungs- und Ausgleichstheorie weist Mendelssohn ab (womit auch das Postulat von den ewigen Strafen für ihn als sinnlos ausscheidet), und zwar mit dem durchaus überzeugenden Argument, dass mit einer sicher eingerichteten allgegenwärtigen Ausgleichung jedweden Sündenregisters auch jede gute Handlung, gar jede menschliche Handlung an sich, zu einem bloßen Faktor einer großangelegten Rechenaktion verkommt (siehe dazu auch Anmerkung r, hier S. 238 f.). In gewissem

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Sinne würde eine solcherart naturgesetzlich wirkende (Re-)Distribution die Kausalität in die moralische Welt einführen und die gute Tat in ein Druck-Stoß-Verhältnis oder eben reine Ökonomie verwandeln.22 Dennoch ist die Idee der „Belohnung“ für eine gute Handlung nicht aus der Welt : Sie liegt in sich selbst. Das moralische System von Rechten und Pflichten jedoch leiht seine letztgültige Stütze aus dem Unsterblichkeitspostulat : Denn nur so sei es letztendlich widerspruchsfrei.23 Der Effekt von Sokrates’ Ausführungen ist nicht eindeutig. Zum einen scheinen seine Schüler überzeugt – „Mithin konnten wir nicht anders, als von der Affirmative überzeugt zu sein wünschen.“ So formuliert es nicht nur Mendelssohn in seinem Brief an Abbt vom 22. Juli 1766, sondern so lässt er es auch Simmias einleitend ins zweite Gespräch ausführen, und so wirken die Zuhörer zum Ende des dritten Gesprächs theoretisch versichert, als sie sich, während Sokrates sich vor der Exekution wäscht, untereinander beraten und die Argumente diskutieren. Zugleich jedoch hat diese Art des Überzeugtseins wenig Einfluss auf ihr Gefühl – denn sie können sich nicht ihrer beharrenden tiefen Trauer über Sokrates’ Tod erwehren. In ähnlichem Zustand scheinen sich – trotz der nahezu überschäumend enthusiastischen Reaktionen und zahllosen Übersetzungen und Neu22 Siehe

dazu auch das slippery-slope-Argument in Anmerkung r) : „Am Ende will kein Freund dem Freunde, kein Mensch dem Menschen einen Liebesdienst, eine Gefälligkeit erweisen, ohne auf die Hand zu sehen, die ihm ein Trinkgeld dafür reichen soll.“ (S. 239) 23 Einem Einwand von Christian Garve in der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste IV, 331 f., zufolge setze Mendelssohn hier aber wiederum die Gültigkeit moralischer Begriffe voraus, die ihrerseits nicht im Text begründet werden. Mendelssohn antwortet darauf in den Fußnoten zum dritten Gespräch sowie, ausführlicher, im Anhang zur dritten Auflage : s. hier S. 226 f. sowie Alex­ ander Altmann, Moses Mendelssohn. A Biographical Study. London 1973, 156 ; Pollok 2010, 520 f. Nicht ein höher gelagerter Glaube müsse diese Prinzipien verifizieren, sondern dies könne allein auf naturrechtlicher Basis, anhand einer Analyse des Begriffs von Rechten und Pflichten geschehen.

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auflagen dieses Werks – nach der Lektüre auch einige von Mendelssohns Lesern zurückgelassen gefühlt zu haben. Kritische Reaktionen : Kant und Herder Wir können bezweifeln, dass Abbt mit diesem Ergebnis zufrieden gewesen wäre. Doch abgesehen von diesbezüglich frucht­ losen Spekulationen – Abbt starb am 3. November 1766 noch vor Drucklegung des Phädon – lassen sich vor allem zwei berühmte Reaktionen ausmachen, die zugleich zwei der wichtigsten Argumentationsstränge betreffen. Zum einen der Einwand Kants, der ein Herunterstimmen der Kräfte und damit ein schrittweises Vergehen der Seele durchaus für möglich hält und an prominenter Stelle in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft von 1787 (B 413 – 415) Mendelssohns Beweis als Paralogismus be­zeichnet, also als scheinlogischen Schluss vom transzendentalen Begriff des Subjekts auf das Subjekt selbst (ebd., B 397 f.). Eine andere, doch nicht minder kritische Reaktion, die ihren Eingang in diese Edition fand, sind die Einwände Johann Gottfried Herders, der zum Zeitpunkt der Diskussion mit Mendelssohn die Auffassung vertritt, dass die Ewigkeit keine Aufwärts­ entwicklung darstellen müsse, sondern sich das menschliche Leben vielmehr in einem ewigen Zirkel bewege. Letztlich bleibe alles gleich, und was sich uns als Fortschritt darstelle, sei nur wiederum Vorbereitung auf eine andere Stufe – insgesamt allerdings formten diese Stufen einen in sich geschlossenen Kreis, keine aufwärtsstrebende Leiter. Kant Kants Kritik 24 setzt bereits an der ersten Dimension des Beweises – von der Immaterialität der Seele – an. Der Paralogismus bestehe insbesondere darin, dass Mendelssohn die transzendentale Apperzeption, das „Ich denke“ als die Einheitsfunktion 24 Tomasoni

2011, 135 betont, dass die praktische Dimension des

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und Bedingung der Möglichkeit unseres Denkens und unserer Person mit der substantiellen Seele, dem „Ich“ als ein „Ding an sich“, verwechsele. Mendelssohn postuliert die Unmöglichkeit des Todes in der Ordnung der natürlichen Dinge, indem er seinen Sokrates zeigen lässt, dass ein plötzlicher und totaler Wechsel des Zustands von einem Moment auf den nächsten unmöglich sei, da er das Gesetz der Stetigkeit verletze. Ein totaler Sprung von dem einen qualitativen Zustand „Sein“ in den entgegengesetzten Zustand „Nichtsein“ ist demnach nicht ohne eine wundersame Einwirkung Gottes denkbar (welche nun wiederum vom Prinzip göttlicher Güte und damit den Ergebnissen des dritten Gesprächs abhängt und dort verneint wird). Kant hingegen argumentiert, dass der Tod durchaus nicht als ein qualitativ totaler Wechsel angesehen werden müsse, wenn man nicht die „extensive Größe“ der Seele, also ihre Zusammensetzung aus an sich einzelnen Teilen, beachte, sondern einen Verlust der „intensiven Größe“ der Seele, also dem Gehalt ihrer Vorstellungstätigkeit, in den Blick nehme. Irgendwann erreiche die Seele einen Zustand, in dem keine Aktivität mehr möglich erscheint und die natürlichen Erfordernisse von „Wirklich Sein“, Aktivität und Leiden, nicht mehr ausgeübt bzw. festgestellt werden können. Solch ein Zustand sei „nahe Zero“ und damit der Tod. So müsse es nicht zwingend den Tod als Vernichtung der Seele geben, jedoch durchaus den Tod des Bewusstseins und damit der Bedingung der Möglichkeit eines einheitlichen Erlebens. Das Cogito, das Mendelssohn vor Augen hat, sei letztlich ein empirisches Kon­strukt, keine absolute Substanz (wie im zweiten Gespräch betont), weshalb er die angegebenen Gegengründe zulassen und also von jeglichen Urteilen über die absolute Dauer dieser Substanz nicht a priori entscheiden könne. Ein solcher Gegenbeweis stößt in der Mendelssohnschen Gedankenwelt sogleich auf einige Widersprüche. Hier seien nur zwei benannt. mendelssohnschen Beweises Kant nicht verborgen bleiben konnte und er dies womöglich für die Kritik der praktischen Vernunft nutzte.

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Zum einen erscheint diese Widerlegung zu unvollständig, da sie auf die praktische Dimension keine Rücksicht nimmt. Kant erwähnt das Mendelssohnsche Rückgrat des Beweises im dritten Gespräch, das diese letztere Forderung auf das Prinzip des zureichenden Grundes zurückführt, jedoch gar nicht erst. Letztendlich jedoch ist seine Kritik ein Gegenentwurf zur universellen Anwendung eben dieses leibnizianischen Grundsatzes, den Mendelssohn ein letztes Mal vehement zu verteidigen suchte. Zum anderen widerspricht die Ansicht einer existierenden Seele, deren intensive Qualität gegen Null zurückgenommen wird, Mendelssohns Auffassung von Existenz. Es ist auch hinsichtlich seiner Gottesbeweise – und damit hinsichtlich des zweiten Aspekts der Auseinandersetzung mit Kant, der in den Morgenstunden so beredten Ausdruck findet – wichtig zu verstehen, dass „Sein“ für Mendelssohn nicht, wie für Kant, eine letztlich unbestimmbare „Position“ eines Objekts25, sondern dass „wirklich vorhanden sein“ mit „wirkend vorhanden sein“ gleichzusetzen ist (und damit wäre der Seele a priori eine Aktivität eingeschrieben, die eben nicht gegen null gehen kann). Eine untätige Seele ist ihm folgerichtig ein Unding, und er hätte Kants Widerlegung vermutlich als einen Schuss auf ein ihm fremdes Ziel verstanden. Dies ist freilich lediglich eine Mendelssohnimmanente Entgegnung. Doch kann und soll an dieser Stelle keine erschöpfende Diskussion des Kantischen Einwurfs erfolgen ; es sei verwiesen auf die einschlägige Forschungsliteratur.26 Hier soll nur abschließend auf eine Folgerung Kants eingegangen werden, die zwar Mendelssohns Vorhaben in seine SchranDer einzig mögliche Beweisgrund für eine Demonstration Gottes (1763), AA II 73 ff. 26 Deren aktuellste Darstellungen in dem oben erwähnten Band Moses Mendelssohn’s Metaphysics and Aesthetics sowie bei Anne Pollok, „Kant’s Defeated Counterpart. Moses Mendelssohn on the Beauty, Mechanics, and Death of the Human Soul“, in : Kant’s Philosophy of the Unconscious, hg. v. Piero Giordanetti, Riccardo Pozzo und Marco Sgarbi. Berlin/Boston 2012, 103 – 130. Siehe auch Kühn 2009. 25 Siehe

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ken weist, aber zugleich auch auf das dritte Gespräch des Phädon angewendet werden kann : Kant gesteht dem Unsterblichkeitsgedanken, wie Mendelssohn, einen großen Einfluss auf unsere Moral zu. „Es giebt also keine rationale Psychologie als Doctrin, die uns einen Zusatz zu unserer Selbsterkenntniß verschaffte, sondern nur als Disciplin, welche der speculativen Vernunft in diesem Felde unüberschreitbare Grenzen setzt, einerseits um sich nicht dem seelenlosen Materialism in den Schooß zu werfen, andererseits sich nicht in dem für uns im Leben grund­losen Spiritualism herumschwärmend zu verlieren, sondern uns vielmehr erinnert, diese Weigerung unserer Vernunft, den neugierigen, über dieses Leben hinaus reichenden Fragen befriedigende Antwort zu geben, als einen Wink derselben anzusehen, unser Selbsterkenntniß von der fruchtlosen überschwenglichen Speculation zum fruchtbaren praktischen Gebrauche anzuwenden, welcher, wenn er gleich auch nur immer auf Gegenstände der Erfahrung gerichtet ist, seine Principien doch höher hernimmt und das Verhalten so bestimmt, als ob unsere Bestimmung unendlich weit über die Erfahrung, mithin über dieses Leben hinaus reiche.“ (KrV B 421) Zwar kommt Mendelssohn im dritten Gespräch zu einem Ergebnis, das doch frappierend an die oben formulierte Position erinnert – wir sind vornehmlich aus moralischen Erwägungen heraus berufen, Unsterblichkeit zu postulieren. Was für Kant jedoch nur in der „Disziplin“ einer rationalen Psychologie verortet sein kann, ist für Mendelssohn tatsächlich Teil ihrer Doktrin.27 Kant zufolge verbleibt Mendelssohn im Raum eines „grundlosen Spiritualism“, wo Kant selbst eine Einsicht in die Idee einer unsterblichen Seele allein als ausreichenden Anreiz zum „praktischen Gebrauche“ sieht.28 Hellsichtig erkennt Men27 So

auch Kühn 2009, 86, mit Blick auf Kants Position hinsichtlich einer Geschichtsschreibung. 28 Siehe zu diesen Ähnlichkeiten und letztlich tiefgreifenden Unterschieden insbesondere Reinier Munk, “What is the Bond ? The Discus­sion of Mendelssohn and Kant 1785 – 1787“, in : Moses Mendelssohn’s Metaphysics and Aesthetics, 183 – 202, insb. 189 f., sowie im selben

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delssohn bereits in der Lektüre der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, die die explizite Widerlegung seines Beweises noch gar nicht enthält (aber durchaus an die Grundfesten von Mendelssohns Überzeugungen rührt), dass der kritische Kant eine für den Rationalismus zerstörerische Kraft entfaltet – und nennt Kant den Alleszermalmer (so sein berühmtes, wie so oft missverstandenes Diktum in den Morgenstunden), der dem Menschen genau das nehme, worauf unser Wesen doch beruhen müsse. Es ist zu bedauerlich, dass Mendelssohn Kants praktische Philosophie nicht mehr zur Kenntnis nehmen konnte. Herder Der sich an den Phädon anschließende Briefwechsel mit Herder verlief vielleicht letztendlich für Mendelssohn ebenso fruchtlos wie die Auseinandersetzung mit Kant, indem er ihn höchstens zu einer Verstärkung seiner Thesen bewog, nicht aber zu ihrer Modifikation. Immerhin sind die Folgen dieser Diskussion, wenn man Mendelssohns intellektuelles Nachleben in Betracht zieht, nicht ganz so desaströs. Die in diesen Band aufgenommenen Briefe zeigen jedoch, dass der Phädon, so bestimmt seine Botschaft auch zu sein scheint, nicht Mendelssohns letztes Wort sein konnte. Zu viel blieb offen – und Herder, stellvertretend für viele, legte seine Finger sogleich in einige Wunden. Der Effekt dieser Auseinandersetzung ist vornehmlich in den hier abgedruckten Anmerkungen zu Abbts freundschaftlicher Korrespondenz zu besichtigen. Doch zuerst zu Herder selbst. Am 19. Februar 1767 schreibt er Friedrich Nicolai (Herder, Briefe I, 70 – 72, hier 71), um diesen zu einem „Ehrengedächtniß“ nach Abbts Tod zu drängen. In diesem Zusammenhang fragt er zugleich nach, ob tatsächBand Corey W. Dycks Aufsatz “Turning the Game against the Idealist : Mendelssohn’s Refutation of Idealism in the Morgenstunden and Kant’s Replies“, 159 – 182. Beide Aufsätze konzentrieren sich zwar auf eine weitaus später stattfindende Debatte ; jedoch ist das Problem in gewissem Sinne dasselbe : Inwiefern ist das, was ich fühle oder wahrnehme, ein Hinweis auf dessen Existenz ?

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lich Abbt den Zweifel verfasst habe – zur Erinnerung, beide Texte erschienen zuerst anonym in den Literaturbriefen. Herder scheint als eine Antwort von Nicolai den Phädon erhalten zu haben, zumindest erwähnt er am 10. Oktober desselben Jahres eine solche Gabe (Briefe I, 87) – und macht sich daran, selber besagten Nachruf auf Abbt sowie einen Brief an Mendelssohn zu verfassen. Letzterer jedoch schien ihm einige Schwierigkeiten zu bereiten, wie er an Nicolai am 10. Januar 1769 (Briefe I, 125 – 129, hier 127) zugibt : „Kein Mensch in der Welt kann Moses Phädon mit näherm Anhalten an Herz u. Seele gelesen haben, als ich […]. Mal nach Mal habe ich mir vorgenommen, an Hrn Moses deßhalb zu schreiben : aber immer, da einer meiner Briefe verunglückte, die Feder weggenommen. Ich habe einen Hauptzweifel, der mir außerordentlich wichtig scheint […] Ich habe gedacht, die Zweifel in ein viertes Sokratisches Gespräch einzukleiden (des wenigern Anstoßes wegen !) u. im Manuscript an Sie zu senden. Würde H. Moses wohl nochmahls ein Orakel werden wollen, oder Sokrates von den Todten erwecken können, um mich zu belehren, oder vielmehr um seine Wahrheit selbst zu sichern ? – Ihre Bibliothek hat Phädon noch nicht beurtheilt, vielleicht könnte das Gespräch als Recension darinn stehen. – So viel beiläufig, daß ich Hrn Moses keine dummen Riedelisch 29 -Lockianisch-materialistische Sophismen aufwärmen werde, die mich von Herzen ärgern. Wer noch nicht so weit in der Philosophie gekommen, um die Seele als eine einfache unzerstörbare Substanz sehen zu können, der sollte ja seinen Zweifeln jede andre Larve, nur nicht den Philosophischen Bart geben.“ Ein diese Gedanken formulierender Brief erreicht Mendels­ sohn schließlich im April 1769, nicht in Gestalt eines ausgewachsenen neuen „Zweifels“, aber doch mit einigen wichtigen Ein29 Von

Friedrich Justus Riedel stammt eine Rezension in Klotzens Deutscher Bibliothek der schönen Wissenschaften 1767, 124 – 161, der Mendelssohn mehrfach in den Neuauflagen des Phädon, allerdings eher im ironischen Ton, gedenkt. Nicht nur Herder scheinen solche Machwerke gestört zu haben.

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wänden (hier S. 191 – 198). Mit der Antwort scheint Herder allerdings nicht allzu zufrieden. Hier in seinen Worten an Nicolai (die ebenfalls eine Kostprobe von der sonstigen zeitgenössischen Reaktion auf Abbts Zweifel bieten) : „Abbts Fragment bitte einem andern zu überlassen, so viel ich darüber zu sagen hätte ; im Nothfall könnte man indeßen eine Zeit vorübergehen laßen, da Alles noch gegen Abbt bellet, um alsdenn zu reden. […] Der Brief des Hrn Moses ist mir sehr lieb gewesen ; aber nicht recht befriedigend. In der Hälfte war u. bin ich mit [ihm] einig, im Hauptpunkt aber hat er sich in der Beantwortung zu sehr an Nebenideen von mir gehalten, u. ich bin noch im Dunkeln. Ich bitte also meinen Brief noch nicht abdrucken zu laßen, denn ohne weitere Antwort u. Erklärung kommt er durch den Mosesschen in unrechtes Licht. Ich werde mich erst Systematischer der Sprache nach erklären, um Hrn Moses’ Antwort zu hören ; vor jetzt aber bin ich nicht in der Lage dazu.“ (Brief an Nicolai vom 5./16. August 1769, Herder Briefe I, 160 – 162, hier 162) Letztlich wollte Herder keinen seiner Briefe als spätere Zugabe zu einer Neuauflage des Phädon gedruckt sehen : „[W]ir haben uns zu wenig verstanden !“ (an Nicolai, 30. November 1769, Briefe  I, 175 – 177, hier 176). Sein nachgestellter Wunsch, „daß dies Buch, das für Menschheit, Gesellschaft, Staat u. Philosophie so wichtig ist, vollkommen überzeugend für alle Welt würde“, kann also durchaus auch mit einem Seufzer gelesen werden. Was nun ist der Streitpunkt ? Auf den ersten Blick handelt es sich tatsächlich um die Fortsetzung der Diskussion mit Abbt – die bestimmende Frage also : Was ist die Vollkommenheit der menschlichen Seele ? Doch müssen wir auf eine dieser Angelegenheit vorgelagerte Theoriestelle zurückkommen : nämlich die Frage nach dem Wesen dieses unsterblichen Dinges, der Seele. Mendelssohn hatte im Phädon, und zwar insbesondere im zweiten Gespräch, zwischen der Seele und ihrem Körper, der Materie, unterschieden. In seinem Antwortschreiben an Herder allerdings, so konzediert Beiser30, stellt Mendelssohn nicht nur eine 30

Frederick Beiser: “Mendelssohn versus Herder on the Vocation of

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faktische, sondern auch eine logische Interdependenz von Körper und Seele fest, ja, mehr noch, eine Abhängigkeit der Seele von ihren sinnlichen Eindrücken. „Aber im Herzen war ich, bin ich noch jetzo, völlig überzeugt, dass kein eingeschränkter Geist ganz ohne Körper sein könne“ (hier S. 199). Dies muss den Leser des Phädon einigermaßen ratlos zurücklassen. Wenn der Körper als sinnliches, unmittelbares Sensorium der Seele so wichtig ist, ja sie seiner Eindrücke bedarf, wie ist dann die Unabhängigkeit, gar Priorität unseres intelligiblen Kerns und damit die Immaterialität der Seele zu verteidigen, wie es doch im zweiten Gespräch und noch einmal im Anhang zur zweiten Auflage von 1768 geschieht ? Mendelssohn betont mehrfach : Die Seele ist einfach, der Körper hingegen etwas Zusammengesetztes. Letzterer kann durchaus vergehen, doch die Seele – und Mendelssohn impliziert hier : die Essenz unseres Wesens – ist unvergänglich. Ein erster Versuch einer Antwort mag hier unternommen werden. Bei aller Spiritualität und allem Rationalismus ist Mendelssohn tatsächlich, wie seine ästhetischen Schriften beredt Zeugnis ablegen, kein Verächter des Körperlichen. Doch bedarf es einer genaueren Analyse, was bei ihm eigentlich als „körperlich“ gilt. So enthalten die Briefe über die Empfindungen von 1755 durchaus einige rudimentäre Überlegungen über das Nervensystem und dessen ästhetisch relevante Reizungen über materielle Stimuli, und auch im Anschluss an Edmund Burke bietet Mendelssohns Abhandlung Ueber das Erhabene und Naive in den schönen Wissenschaften (zuerst 1758) Überlegungen zur rein sinnlichen Dimension des Erhabenen. Doch zugleich wehrt sich Mendelssohn gegen Reduktionsversuche von materialistischer Seite : Was zählt, ist nicht die reine Sensation, die rein nerv­liche „Stimmung“, sondern die Art des Eindrucks, der sich der Seele bietet. Wie also Mendelssohns weitere Ausführungen im Brief an Herder sowie die Anmerkung s) (hier S. 243 ff.) zeigen, ging es ihm um eine Stufenfolge der „Sensa­ Man”, in : Moses Mendelssohn’s Metaphysics and Aesthetics. hg. v. Reinier Munk. Heidelberg u. a. 2011, 242.

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tionen“, wobei dem im gewöhnlichen Sinne „sinnlichen“ Gehalt die Unterscheidungsmerkmale : lebhaft/unmittelbar beigefügt sind : „Kein eingeschränkter Geist wird also nicht alles unmittelbar wahrnehmen, sondern einiges unmittelbar fühlen (dieses wird sein Sensorium), und das Übrige nur nach Maßgebung der Veränderungen, die in diesem Sensorio vorgehen. Mit diesem Sensorio hänget manches näher, und in einer vollkommenen Schöpfung, auch organisch zusammen. Die Seele wird die Ordnung und Unordnung, Vollk[ommenheit] und Unvollkommenheit dieses organischen Teils der Natur (ihres Körpers) gegenwärtiger, unmittelbarer, lebhafter (sinnlicher) fühlen, als alles Übrige.“ (hier S. 199) Körperlichkeit wird also übersetzt in eine perzeptuelle Größe, und alles, was auch eine Seele nach dem Tod des Körpers in verworrenem Maße wahrnähme, wäre unter dieser Rubrik des „sinnlichen“ zu verzeichnen : „dieses wird sein Sensorium“ (meine Hervorhebung). Was die immaterielle Seele verworren oder gar bloß dunkel „fühlt“, nicht klar und deutlich erkennt, wird ihrem „Körper“ zugesprochen. Damit ist Mendelssohn kein strenger Dualist, sondern lässt nach leibnizianischer Manier die Unterscheidung zwischen den Perzeptionsarten in eine Unterscheidung zwischen materiell und spirituell eingehen. Herder scheint dem nicht abgeneigt, wie sein Antwortschreiben zeigt : „Von der andern Seite bin ich, wie Sie, der Meinung, dass, nach Ihren Bestimmungen, die Ausbildung unsrer Seelenkräfte der Zweck unsres Hierseins sei : wenn präsupponiert wird, dass die Seele unser Ich, und unser Körper gleichsam nur das Phänomenon ihres Daseins, und das mittelbare Organum ihrer Vorstellungen sei“ (hier S. 205, meine Hervorh.). Doch damit ist der erstgenannte Streitpunkt über die Art der Vervollkommnung nicht ausgeräumt, im Gegenteil. Ist Vollkommenheit ein absolutes Ziel (Mendelssohn) oder nicht doch relativ zu den jeweils gegebenen Erfordernissen (Herder) ? Vielleicht können wir Herders Standpunkt mit einem Hinweis auf ein zeitnah entstandenes Fragment „Vom Sinn des Gefühls“ skizzieren. Dort fragt er : Was tut die Seele, wenn der Körper stirbt – baut sie sich einen neuen Körper ? „Mein Tod

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ist nur ein Vertreiben, aus Zeit, und Raum : Keine Schwäche meiner Kraft : denn ich denke immer, und suche Vorstellungen des Universums. Nur ich werde durch äußere Sachen, von dem Ort, Zeit vertrieben, meine Maschine wird vernichtigt. Was tut meine Seele ? sie bleibt im Universum : sie sucht einen Ort, eine Zeit, eine Situation um sich Vorstellungen an zu sammlen : sie fängt gleich an, sich wieder einen Körper zu bauen. Wo ? wie ? in welcher Zeit ? von welcher Gestalt ? Das ist die Frage !“ (Werke IV, 233 – 242) Herder stimmt hier also Mendelssohn zu, dass die Grundkraft der Seele es sei, Vorstellungen zu haben. Diese Kraft muss immer wirksam sein. Aber dies muss nicht heißen, dass sie immer wächst, sondern lediglich, dass sie immer vorhanden bleibt (vgl. ebd., 240). Es gibt keine unendliche Vervollkommnung, was letztlich die Umwandlung des Menschen in einen Engel bedeutete, sondern „Mensch bleibt Mensch“ (ebd.). Dies lässt sich, zurück zum ersten Brief, auch für jeden Entwicklungsschritt ausführen : Es gibt immer eine Vollkommenheit eines gewissen Zustands – verließen wir diesen, so setzte sich eine neue „Vollkommenheit“, als Vollendung eines neuen Zustands, an dessen Stelle. Am Beispiel : Die Vollkommenheit des Kindes ist eine andere als die Vollkommenheit des gereiften Mannes. Hätten wir nun das Pech, als alte tattrige Greise zu sterben, was für eine Vollkommenheit sei dann erhalten, die wir nach dem Tode fortzusetzen wünschten ? In diesem Sinne ist Vollkommenheit immer kontextrelativ, und es kann keine unendliche Aufwärtsentwicklung bis zum Engel geben. Die erwähnte Skizze „Vom Sinn des Gefühls“ bricht ab (tatsächlich ohne Punkt) wie folgt : „Das fragt sich habe ich Kräfte gesammelt in einem großen Raum und in einer kurzen Zeit mehr zu denken : mehr Vorstellungen zu sammeln“ (ebd., 242). Dieses „mehr“ ist es letztlich, was den tiefersitzenden Grund des Zerwürfnisses zwischen Mendelssohn und Herder bezeichnet. Beide sind sich einig darüber, dass die Seele unsterblich ist, und beide bezeichnen Selbstvervollkommnung als Zweck unseres Daseins. Beide, zumindest nach dem ersten Briefaustausch, befürworten ebenfalls die Notwendigkeit einer Verkörperung der Seele und

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damit das Prinzip der Palingenesis, d. h. die Neubildung eines Körpers nach dem (physischen) Tod. Damit ist Vervollkommnung nicht einer „blutleeren“ idealischen Heraufbildung gleichzusetzen, sondern umfasst auch die Verbesserung unseres sinnlichen Instrumentariums. Soweit die Übereinstimmungen. Und doch weist Mendelssohn einen Stützpfeiler der Herderschen Position entschieden zurück : „Wider die Palingenesie hätte ich nichts ; nur nicht wieder das, was wir gewesen sind ! Das Emporstreben ist in der menschlichen Seele, wie wir gesehen, nicht zu leugnen ; und das Vergangene ist in der Natur nicht verloren“ (hier S. 204). Mit anderen Worten : Es vertrage sich nicht mit der Natur der Perfektion, wenn wir tatsächlich Herders Zirkeltheorie menschlichen Lebens annehmen ; noch, dass unsere Vervollkommnung nur für diese Welt, also lediglich für ein begrenztes Ziel gültig sei. Herders Sicht relativiere Vollkommenheit und zerstöre sie damit als ein absolutes Ziel. 31 Dies ginge gerade gegen die beiden Prinzipien, auf die der Phädon baut : das Prinzip des zureichenden Grundes und der göttlichen Güte. Für Mendelssohn weisen beide auf die Notwendigkeit einer Transzendierung bloß immanenter Lebensziele hin. So betont er vor allem im dritten Gespräch : Dieses Leben kann vor allem in praktischer Hinsicht nicht alles sein. Das wichtigste Argument dafür ist aber, wie oben erwähnt, nicht eine Art gerechter Ausgleich (Bestrafen der Bösen, Belohnen der Guten), sondern es ist ideeller Natur : Die gute Tat ruht in sich, sie ist absolut, niemals relativ zu den Umständen. Dementsprechend gibt es eine absolute Form der Glückseligkeit, die unabhängig ist von jeglichen veränderlichen äußeren Einflüssen. Herder dagegen, so betont Beiser32 , präsentiere sich hier aufs Schönste als Urvater des His31 Dies

ist auch ein Ergebnis Beisers, siehe ebd., 240. ebd., 241. Desweiteren siehe zu dieser Debatte Altmann 1973, 130 – 1 40, 167 – 179 ; Marion Heinz : Sensualistischer Idealismus. Untersuchungen zur Erkenntnistheorie [und Metaphysik] des jungen Herder (1763–1778). Hamburg 1994 (= Studien zum achtzehnten Jahrhundert 17) ; John H. Zammito : Kant, Herder, and the Birth of Anthropology. Chicago 2002, 165 – 171 ; Pollok 2010, 531 – 574. 32 Siehe

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torismus : Die menschliche Natur ist nicht eine in sich gleichbleibende ideelle Essenz, sondern hängt von den sie bestimmenden Epochen, Situationen und Kulturen ab. Mendelssohn hingegen vertrete die rationalistische Aufklärungsphilosophie, die von einem unabänderlichen Wesen des Menschen ausgeht.33 Letztendlich konnte diese Kluft von beiden nicht überwunden werden, sondern zeigt sich hier als tiefgehender Gegensatz in den Grundannahmen. Mehr noch, die Uneinigkeit mit Herder zeigt auch eine tiefergehende Spannung in Mendelssohns Werk selbst. Laut Beiser34 eröffnet nämlich die scheinbare Unentschiedenheit zwischen einem Substanzendualismus und -monismus eine weitere, ethische Unterscheidungsebene, die in Mendelssohns Werk keine Auflösung findet. Zum einen repräsentiert der dualistische Zug die humanistische Tradition des Ideals vom „ganzen Menschen“ : Vervollkommnung meint demgemäß eine allseitige Entfaltung aller Kräfte, der körperlichen wie geistigen. Ihre Harmonisierung macht menschenmögliche Vervollkommnung aus. Und zugleich folgt Mendelssohn der mittelalterlichen Tradition der imitatio dei : So nimmt, prominent im Orakel, das Streben nach Gottgleichheit die zentrale Stellung unserer Bestimmung ein – nicht allseitige Vervollkommnung, sondern die Verneinung des Körperlichen und die Kontemplation des Göttlichen durch eigene Vergeistigung scheinen die Ziele dieser Denkrichtung zu sein. Dies ist ein interner Widerspruch, der stark an die Probleme der kommenden Generationen erinnert, insbesondere die Vision des ästhetisch-spirituellen Menschen bei Friedrich Schiller. Und doch liegt die Antwort auf diese Frage wiederum in Mendelssohns tatsächlicher Sicht auf die Natur eines Körpers. In guter philosophischer Tradition, beginnend mit Platons Diotima im Symposion bis hin zum Verursacher der hier vorlie33 Nebenbei, dies nimmt keine Rücksicht auf Mendelssohns extreme

Sensibilität für die Wichtigkeit kultureller Wurzeln – was dieser insbesondere in den Schriften der 1780er Jahre ausarbeitet. 34 Beiser 2011, 243.

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genden Debatte, Spalding, bietet Mendelssohn eine Stufentheorie des Seienden, die nicht das Sinnliche verneint, sondern ihm einen bestimmten Modus des Erkennens zuweist. Im Gegensatz zu Herder lehnt er die platonische „Veredlungsidee“ des bloß Sinnlichen keineswegs ab ; und doch zeigt alles Sinnliche generell auf seine eigentliche Wurzel : „Aber was diese vermischte Natur wirket, das hat offenbar die Seele zum Endzwecke“ (hier S. 200). Körperlicher Schmerz ist Verengung, Wohlgefühl die Erweiterung unseres Fühlens – und damit letztlich ein Ermög­ lichungsgrund für seelische Vervollkommnung. Etwas Physisches wie Schmerz erfährt bei Mendelssohn immer eine Übersetzung ins Konzeptionelle : Schmerz zielt indirekt auf eine Harmonisierung ab. Ist diese erreicht, so können wir uns unseren wirk­lichen Aufgaben widmen. Für Mendelssohn ist Entwicklung nicht relativ zur jeweiligen Lebensstufe, sondern in der Tat akkumulativ : Es ist ja auch nicht die einzelne Fertigkeit, die er als Entwicklungsziel ansieht, sondern das, worauf sie abzielt – eine Harmonisierung der Fähigkeiten, eine Heraufstimmung des intellektuellen Lebensgefühls. Dies, so betont Mendelssohn, ist die Aufgabe (und liegt in der Möglichkeit) jedes „alltäglichen Menschen, der in der Gesellschaft lebt“ (hier S. 202). Alles in allem scheint eine Zusammenführung von Mendelssohns und Herders Gedanken durchaus möglich : Zusammen mit Herder ist er der Überzeugung, dass sich die Seele nicht wesentlich verändern kann – und in diesem Sinne bleibt sie immer, was sie ist. Und doch, gegen Herder, ist dies eine Vervollkommnung. Um noch einmal Kants Vokabular zu bemühen : Die intensive Größe der Seele ändert sich. Entgegen Herders Vorwurf nobilitiert Mendelssohn keineswegs die Fähigkeiten der Seele von bloßen Akzidentien zur Substanz. Oder, um in Herders Bild zu bleiben, die Seele gewinnt keine Vollkommenheiten hinzu, die sie wie Münzen sammeln kann. Die Seele wird nicht „schwerer“ (was für eine Veränderung ihrer extensiven Größe spräche), sondern sie wird sich selbst klarer. Es ist damit die innere „Realität“ der Seele, die sich modifiziert. Eine vollkommenere Seele wird nicht wahrer und substantieller, sondern sie wird tatsäch-

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lich mehr das, was sie war : Sie bringt Klarheit und Deutlichkeit in ihr eigenes Erkennen und somit in ihr eigenes Wesen. Zurück von der Ebene der Interpretation auf die Ebene des tatsächlichen Geschehens : Herder beging den Fehler, Mendelssohn im Schlussteil seines zweiten Briefes auf den aufkommenden Lavaterstreit anzusprechen. Er fordert ihn sogar noch weiter heraus. Denn Mendelssohn solle nicht, wie von Lavater gefordert, begründen, warum er kein Christ werde, sondern warum er Jude bleibe. Es ist wenig erstaunlich, dass Mendelssohn den Briefwechsel abbrach – wiewohl es bedauerlich bleibt, dass wir so die hier rekonstruierte Antwort auf Herders fortgesetzte Einwände nicht verifizieren können, außer unter Rückgriff auf den letzten hier abgedruckten Text, die Anmerkungen zu Abbts freundschaftlicher Korrespondenz (1782)35. Als Mendelssohns diesbezügliches Vermächtnis lassen sich die Anmerkungen q) und r) lesen, die noch einmal sämtliche Punkte zusammenfassen : „Alles am Menschen verrät Unendlichkeit“ (hier S. 237), und so wird sich jede einzelne Entwicklung im Lichte eines unend­ lichen telos vollziehen und auf alle Fähigkeiten zurückwirken. Wie dies genau aussähe, können wir, wie bereits erwähnt, nicht wissen ; selbst dann nicht, wenn es uns geoffenbart würde  – denn dies müsste in einer Sprache geschehen, die wir (noch) nicht sprechen. Es genügt zu erkennen, „dass ich nach Glückseligkeit streben muss“ (S. 242). Ob ich diese letztlich erreiche, wann und wie, dies überschreitet auch in Mendelssohns Sicht die Grenzen möglicher Erkenntnis. Wir müssen die Grundbegriffe unseres Denkens klar und deutlich darlegen. Doch was jenseits dieser Erkenntniswerkzeuge liegt, das ist für Mendelssohn philosophisch nicht erreichbar. In diesem Sinne schließt diese Edition36 mit Mendelssohns Psalmübersetzung, die seine 35 Zwar

schien Mendelssohn zwischenzeitlich die Absicht gehabt zu haben, in Reaktion auf die Kritik das dritte Gespräch im Phädon umzuarbeiten, wie sich aus einem Brief von Marcus Herz an Kant vom 11. September 1770 entnehmen lässt (AA X 101). Doch ist es dazu nicht gekommen. 36 Die Anmerkungen enthalten eine weitere Anmerkung, die sich

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tiefste, jenseits des Erkennens liegende Überzeugung, seinen Glauben, aufscheinen lässt. Mendelssohn legte das Thema der Unsterblichkeit und Un­körperlichkeit der Seele durchaus nicht ad acta – seine Abhandlung von der Unkörperlichkeit der menschlichen Seele (zuerst auf Latein von Joseph Grossinger 1784 veröffentlicht), das 1785 auf Deutsch erschienene Teilkapitel daraus, Hylas und Philonous : Ein Gespräch über die Immaterialität der Seele sowie die hebrä­ ische Abhandlung Die Seele (1787) legen beredt Zeugnis hierfür ab.37 Hier setzt sich Mendelssohn vor allem mit den Herausforderungen des Materialismus auseinander bzw. reformuliert die Prinzipien der Leibniz-Wolffschen Philosophie für eine jüdische Leserschaft. Erwähnenswert bezüglich der letzteren Abhandlung, auch wenn sie zum Großteil nicht Mendelssohns spezifischer Haltung entspricht, sondern eher ein Kompendium der von ihm favorisierten rationalistischen Philosophie darstellt, ist die den ersten Teil beschließende Überlegung zu den möglichen Arten der Unsterblichkeit der Seele. Dort nennt er die Möglichkeit des immer gleich bleibenden Bestehens, einer gradlinigen, nach oben aufsteigenden Bewegung, einer entsprechend linear abfallenden Bewegung, eines Zirkellaufs und zuletzt die Möglichkeit eines Aufstiegs von einigen Individuen bei gleichzeitigem Absteigen anderer. Mendelssohn beschließt diese Revue mit einem expliziten Hinweis auf den Phädon, in dem er gezeigt habe, „dass die geradlinige Bewegung sich mit dem Wesen der Geschöpfe nicht verträgt. Ich habe bündige Beweise dafür beigebracht, dass der Ewige, so wie er keine Substanz vernichtet, auch keine Fertigkeit und Vollkommenheit gänzlich vernichtet, so dass sie keine Spur hinterließe, und es wäre, als ob sie nicht existiert hätte. Denn dies entspräche nicht den Regeln der Weisheit und der unendlichen überströmenden Liebe. Ich habe gezeigt, dass die Möglichkeit, die dem Gott der Treue am angejedoch nicht auf Abbt, sondern Wilhelm Graf zu Schaumburg-Lippe bezieht, Abbts verehrten und philosophisch versierten Arbeitgeber. 37 Alle abgedruckt in JubA III .1, 161 – 233.

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messensten ist und mit den Regeln der Weisheit und Gerechtigkeit am meisten übereinstimmt, folgende ist : so wie die vernünftigen Lebewesen angefangen haben, die Stufen der Vollkommenheit und der Glückseligkeit emporzusteigen, so werden sie ewig fortfahren, jedoch bisweilen eine Zeitlang hinabsinken, danach aber wieder zum Genuss emporsteigen. Alles geschieht nach Recht und Gerechtigkeit, Liebe und Barmherzigkeit, so wie es die höchste, unendliche Weisheit bestimmt ; je nachdem, wie es angebracht ist, nach der Norm der strengen Gerechtigkeit oder nach der Norm des Erbarmens ; denn in Güte wird die Welt gerichtet. Nur auf diese Weise sind die Wege Gottes in Ordnung ; andernfalls träfe ein  Zufall den Guten und den Bösen, den, der Gott dient, und den, der ihm nicht dient ; und es wäre der Gerechte gleich dem Bösewicht ; aber es wäre des Richters der ganzen Erde unwürdig, nicht Gerechtigkeit zu üben. Es ist hier der Ort nicht, noch länger dabei zu verweilen.“ (JubA III.1, 212 f.) Zu dieser Ausgabe Die vorliegende Ausgabe bietet die abgedruckten Texte – im Abgleich mit den entsprechenden Originaldrucken bzw. Erstdrucken – nach der Jubiläumsausgabe. Beim Phädon geht die Jubiläumsausgabe (wie auch die alte Ausgabe in der Philosophischen Bibliothek von Bourel) auf die Erstausgabe von 1767 zurück ; für unsere Ausgabe wurde der Text mit der dritten Auflage von 1769 abgeglichen. Die Änderungen in der dritten Auflage sind zwar zum größten Teil marginal; teilweise handelt es sich aber auch um Erweiterungen, die ihren Platz in der Entwicklung von Mendelssohns Gedanken haben und in dieser Studienausgabe ihren Platz finden sollten. Die Diskussion mit Herder setzt nach der dritten Auflage an, und sie ist auch die Grundlage für viele Übersetzungen und spätere Ausgaben. Hinsichtlich der Abweichungen verweise ich auf den Lesartenapparat der Jubi­läumsausgabe III.1, 357 – 370.

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In den Drucken sowie dem originalgetreuen Abdruck in der Jubiläumsausgabe ist die Dialoganordnung in verschiedenen Weisen wiedergegeben. Dies wurde vereinheitlicht, nicht zuletzt, um etwaige Zuordnungsunsicherheiten der Redeanteile zu vermeiden. Nun sprechen alle Beteiligten in Anführungszeichen. Der Anhang zum Phädon ist ebenfalls nach der dritten Auflage abgedruckt. Vom Anhang zur zweiten Auflage 1768 unterscheidet er sich insbesondere durch vier Zusätze, deren Anfang und Ende jeweils mit dem Symbol • gekennzeichnet sind. Der Zweifel und das Orakel werden nach der Erstauflage von 1764 in den Briefen, die neueste Litteratur betreffend, wiedergegeben. Dies ist die letzte Version, die Abbt noch zur Kenntnis nehmen konnte, und sie bietet meines Erachtens einen Überblick über die Entstehung des Phädon in allen seinen Facetten. Semantisch relevante Abweichungen der Vorlagen finden sich im Lesartenapparat, für den Text wurde die von Fall zu Fall je­weils plausibler erscheinende Fassung gewählt. Offensichtliche Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert. Ziel dieser Edition ist es, einen leserfreundlichen Text zu bieten, der jedoch zugleich die sprachliche Originalität Mendelssohns sichtbar macht. Die Uneinheitlichkeit, die sich aus dem weiten zeitlichen Rahmen der hier abgedruckten Werke ergibt, wurde im Zuge einer behutsamen Modernisierung der Orthographie behoben (z. B. bei Grentzen, tödtlich, sey). Angeglichen wurden auch der veraltete Gebrauch von Umlauten und Diphthongen (verschleußt statt verschließt, betriegen, kömmt) und vom heutigen Sprachgebrauch abweichende Längenkennzeichnungen (Glückseeligkeit, Misfallen, Maaß, drammatisch). Dabei sollten die Texte jedoch nicht von jeglicher vorgeblicher „Altersfirnis“ gereinigt werden, sondern ihren Charakter als Schriften des 18. Jahrhunderts behalten. Nicht geändert wurden daher Formen der Synkopierung (dunkeln, andern), das Fle­ xions-e in der 3. Person Singular und 2. Person Präsens (gestehest, geraubet) sowie altertümliche Wortformen wie zernichten, nervigte und flammigt, die für eine Modernisierung hätten unnötig modifiziert werden müssen. Eigennamen werden

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in ihrer heute gebräuchlichen Form geschrieben und ggfs. vereinheitlicht. Umlaute am Wortanfang werden als Ä, Ö, Ü wiedergegeben. Originale Worttrennung, Groß- und Kleinschreibung sowie die eher rhetorisch inspirierte Interpunktion (außer an missverständlichen Stellen gerade in den handschriftlichen Notizen) wurden beibehalten. Ebenso wurden Abweichungen in der Grammatik, z. B. in der Wahl des Genus oder in der Deklination, nicht korrigiert (z. B. starke/schwache Deklinationen : an die Sinne kleben, statt : an den Sinnen) Die Hervorhebungen im Originaltext wurden beibehalten. Der in den Drucken übliche Wechsel von der Fraktur- zur Antiqua-Schrifttype bei lateinischen Begriffen bzw. Zitaten wurde nicht übernommen. Ebenso wurden die in den Texten lediglich sporadisch gesperrt gesetzten Namen nicht hervorgehoben. Die Fußnoten am Ende der Seite stammen von Mendelssohn selbst ; auf die Anmerkungen der Herausgeberin wird im Text mit fortlaufenden Ziffern hingewiesen. Diese Anmerkungen beschränken sich weitgehend auf Personen- und Sacherklärungen sowie die Übersetzung fremdsprachiger Zitate. Darüber hinaus wurde nur dort ein impliziter Verweis (auf andere Texte, Korrespondenz, Traditionen etc.) aufgelöst, wo er für das Verständnis des Primärtextes unverzichtbar erschien. Angelegenheit einer Studienausgabe wie der vorliegenden kann nicht ein umfassender Kommentar sein. Hingewiesen sei in dieser Hinsicht, neben den in der Bibliographie aufgeführten Werken, auf den umfangreichen und fundierten Anmerkungsapparat der Jubiläumsausgabe, der für ein eingehendes Studium der Mendelssohnschen Schriften nach wie vor unverzichtbar ist. Mendelssohns Anmerkungen zu Abbts freundschaftlicher Korrespondenz, die als letzter Text hier abgedruckt sind, nehmen Bezug auf seinen Briefwechsel mit Abbt sowie dessen Zweifel. Dort sind die entsprechenden Ziffern an der von Mendelssohn bestimmten Stelle hervorgehoben. Die Paginierung der Jubiläumsausgabe sowie die der einschlägigen Drucke (vgl. dazu die Bibliographie sowie die entsprechenden Anmerkungen) wird im Fußsteg mitgeführt – für

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die Jubiläumsausgabe wird in römischen Ziffern die Bandzahl, in arabischen Schriften die Seitenzahl angegeben. Der jeweilige Seitenumbruch ist im Text gekennzeichnet : Für die Jubiläumsausgabe steht der ganze ( | ), für den jeweiligen Druck der unterbrochene Trennstrich ( ¦ ). Das Personenregister enthält die von Mendelssohn explizit oder indirekt genannten Personen. Das Sachregister weist Stellen nach, an denen die betreffenden Begriffe definiert, modifiziert oder kritisiert werden. Einfache Nennungen im Text (z. B. „Vollkommenheit“) allein werden nicht angeführt. * * * Folgenden Personen und den von ihnen vertretenen Institutionen bin ich zu großem Dank verpflichtet. Für ihre finanzielle und ideelle Unterstützung bei der Ausarbeitung danke ich dem Leo Baeck Fellowship Programme – insbesondere dem damals zuständigen Referenten Dr. Roland Hain –, dem Literaturarchiv Marbach – insbesondere dem so freundlichen wie inspirierenden Dr. Marcel Lepper –, den zuständigen Mitarbeitern des Journal of the History of Philosophy, die mir ein Kristeller-Popkin Travel Fellowship zuerkannten, der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel mit all ihren wundervollen und hilfreichen Mitarbeitern und dem Center for the Advanced Study in the Behavioral Sciences at Stanford University für die Bereitstellung eines der schönsten Büros auf Erden. Ebenfalls danke ich der Moses Mendelssohn Stiftung zur Förderung der Geisteswissenschaften (insonderheit Klemens Koschig, Angelika Storz und Jutta Ziemba), die mir den ersten Dessauer Moses-Mendelssohn-Preis für meine Arbeit verlieh. Ich danke den Mitarbeitern des Gleimhauses in Halberstadt, besonders Klaus-Jörg Eckert, der mich auf das dieser Ausgabe voranstehende Gemälde aufmerksam machte, und Dr. ­Reimar Lacher für die freundliche Erlaubnis zur Verwendung der Reproduktion des leider verschollenen Bildnisses. Den Mit­ arbeitern des Staatsarchivs Bückeburg (niedersächsisches Landesarchiv) sei Dank für die Erlaubnis, Mendelssohns Brief an

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Abbt vom 13. August 1765 abdrucken zu dürfen. Ebenso danke ich Prof. Dr. Michael Brocke stellvertretend für die Herausgeber und Bearbeiter der Jubiläumsausgabe (insbesondere für Band 21) für seine Unterstützung. Meinem Lektor Marcel Simon-Gadhof vom Meiner Verlag kann gar nicht genug Dank gesagt werden – alle Fehler, die sich dennoch in dieser Ausgabe finden sollten, sind mir allein anzulasten. Dank gebührt auch der sachkundigen Hilfe von JensSören Mann bei der Gestaltung dieses Bandes. Für ihre intellektuellen und konzeptuellen Anregungen bin ich Prof. Dr. Lanier Anderson, Dr. Zenon Culverhouse, Prof. Dr. Paul Guyer, Prof. Dr. Manfred Kühn, Prof. Dr. Jürgen Stolzenberg, PD Dr. Cord-Friedrich Berghahn und Dr. Paula Schwebel dankbar. Ohne sie wüsste ich noch viel weniger. Last, but never least geht mein Dank an meine Familie, Konstantin, Sebastian und Firmian. Isaak Iselin schlägt vor, man solle im ersten Monat eines jeden Jahres Spalding, und im letzten Mendelssohns Phädon lesen.38 Mit dieser Ausgabe hoffe ich, wenigstens für das letztere einen angemessenen Rahmen zu bieten.

38 Dieser Vorschlag findet sich in seiner Rezension zur neunten Auf-

lage 1768 von Spaldings Bestimmung des Menschen in der AdB 11 (Berlin 1770), 261 f. (vgl. Beutel, Einleitung zur Kritischen Ausg., Tübingen 2006, XXII).

Bibliographie

a) Siglen

JubA | Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Begonnen von Ismar Elbogen, Julius Guttmann, Eugen Mittwoch, fortgesetzt von Alexander Altmann, Eva J. Engel. Berlin 1929–1932, Nachdruck Stuttgart-Bad Cannstatt 1971 ff. AVW | Abbt, Thomas: Vermischte Werke. Hg. v. Friedrich Nicolai.

6 Bde. Berlin und Stettin 1780, 1781.

GS   |  Moses Mendelssohn’s gesammelte Schriften. Hg. v. Georg Ben-

jamin Mendelssohn. In 7, vielmehr 8 Bänden. Leipzig 1843–1845. Nachdruck Hildesheim 1976. Herder  |  Johann Gottfried Herder: Werke in zehn Bänden. Bibliothek deutscher Klassiker. Hg. v. Ulrich Gaier u. a. Frankfurt 1985 ff. Herder/Proß  |  Johann Gottfried Herder: Werke. 3 Bde. München 1984–2002.

SWS  |  Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke. Hg. v. Bernhard

Suphan. 33 Bde. Berlin 1877 ff . Reprographischer Nachdruck: Hildesheim, New York, 2. Aufl. 1978 f. Herder, Briefe  |  Johann Gottfried Herder: Briefe. Gesamtausgabe 1763–1803. Hg. v. der Stiftung Weimarer Klassik. Bd. 11: Kommentar zu den Bänden 1–3. Bearb. v. Günter Arnold. Weimar 2001. AA | Immanuel Kant: Gesammelte Schriften. Hg. v. der Königlich

Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900 ff. (= Akademieausgabe). Bücherverzeichnis, Nr., S.  |  Verzeichniß der auserlesenen Büchersammlung des seeligen Herrn Moses Mendelssohn. Berlin 1786. Wiederabgedruckt (und mit einem Nachwort v. Hermann M. Z. Meyer) v. der Soncino-Gesellschaft der Freunde des jüdischen Buches E. V., Berlin. Leipzig 1926.

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Bibliographie

MM BiBl  | Meyer, Herrmann M. Z.: Moses Mendelssohn Biblio-

graphie. Mit einigen Ergänzungen zur Geistesgeschichte des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Mit einer Einführung v. Hans Herzfeld. Berlin 1965 (= Veröffentlichungen der historischen Kommission zu Berlin 26). Spalding, S.  |  Johann Joachim Spalding: Die Bestimmung des Menschen. Hg. v. Albrecht Beutel, Daniela Kirschkowski, Dennis Prause. Kritische Ausgabe, 1. Abt., 1. Bd. Tübingen 2006. b) Der Edition zugrundeliegende Ausgaben

1  Entwurf zum Phädon Erstdruck und Textgrundlage: JubA III.1, 3 f.; Hs Hamburger Staatsund Universitätsbibliothek, Campe-Sammlung, 1 Folio, in Gänze durchgestrichen. Die Textergänzungen wurden aus JubA III.1 übernommen. 2  Briefwechsel Mendelssohn–Abbt I Textgrundlage sind JubA XI und XII.1. Für die Briefe zwischen Abbt und Mendelssohn wurde auch die erste von Nicolai und Mendelssohn besorgte Veröffentlichung von 1771 herangezogen (AVW III); laut JubA XI, 365 (Anmerkungsapparat) lagen dieser Ausgabe noch die Originale vor, „während die Neuauflage von 1782 offensichtlich, neben Verbesserungen von wirklichen oder angenommenen Druckfehlern, im wesentlichen nur eine Modernisierung des Textes in Rücksicht der Rechtschreibung und Zeichensetzung gibt“. Heute gelten die Briefe als verschollen. Die vereinheitlichte Großschreibung der Anrede, Einfügen der Umlaute, Auflösen der angedeuteten Buchstabendopplung (m bzw. n mit Querbalken für mm bzw. nn) sowie der Schlussverschleifungen wurden von JubA übernommen; zur besseren Lesbarkeit wurden daneben die Groß- bzw. Kleinschreibung der Anrede bzw. 3. Pers. Plural dem heutigen Gebrauch angepasst. 3 Zweifel/Orakel [Thomas Abbt:] Zweifel über die Bestimmung des Menschen [Moses Mendelssohn:] Orakel / die Bestimmung des Menschen betreffend. Gedruckt zu Schinznach, 1763. In: Briefe, die neueste Litteratur

Bibliographie

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betreffend. XIXter Theil (287. Brief). Berlin 1764: Friedrich Nicolai, 5 – 7 (Nicolais Einleitung), 8 – 40 (Abbt), 41 – 60 (Mendelssohn). Wiederabdruck in JubA V.1, 617 – 637 und (nach der Druckvorlage der zweiten Auflage der AVW) JubA VI, 1, 7 – 25. Erscheint außerdem 1767 in der zweiten Auflage des Phädon „Vermehret mit den Zweifeln und dem Orakel, über die Bestimmung des Menschen“; 1771 wird der Briefwechsel plus Zweifel/Orakel im dritten Band von Abbts Vermischten Werken von Nicolai publiziert („Zweifel“, 180 – 206, „Orakel“, 215 – 230); 1782 erscheinen Mendelssohns Anmerkungen in einer Neuauflage von Abbts freundschaftlicher Correspondenz. Die einschlägigen Materialien gesammelt und angeordnet hat Oscar Fambach: Der Aufstieg der Klassik in der Kritik der Zeit. […] Berlin 1959, 120 – 161 (= Ein Jahrhundert deutscher Literaturkritik 1750 – 1850. Ein Lesebuch und Studienwerk Bd. 3). Allerdings geraten bei seiner Anordnung die Zeitebenen durcheinander, so dass die erst 1782 erschienenen Anmerkungen wie zeitnahe Zusätze wirken. 4  Briefwechsel Mendelssohn–Abbt II s. oben zu Text 2. 5 Phädon Textgrundlage JubA, abgeglichen mit der dritten Auflage von 1769, der ausgereiftesten Fassung des Phädon; (aus dem Literaturarchiv Marbach). Indirekte Anleihen bei z. B. Cooper, Xenophon, Laertius u. a. werden nicht immer aufgelöst; ich verweise hier auf den hervorragenden Anmerkungsapparat der Jubiläumsausgabe. Zu den Auflagen: Phädon wird in JubA nach der ersten Auflage 1767 gedruckt. – 2. Aufl. 1768 (1. Anhang) – 3. Aufl. 1769 (zzgl. „Leben und Charakter des Sokrates“, sowie ein 2. Anhang, der sich vornehmlich mit den Rezensionen von Riedel, Garve, Resewitz und Herder auseinandersetzt). – 4. Aufl. 1776 (weitgehend unverändert); spätere von Mendelssohn autorisierte Änderung ist einzig die Veröffentlichung der Anmerkungen 1782 (siehe die 1781 geschriebene „Vorerinnerung“ dazu).

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Bibliographie

6  Briefwechsel Mendelssohn–Herder JubA XII.1, 174 – 181, 182 – 187, 197 – 201; Herders Briefe in: Johann Gottfried Herder: Briefe. Gesamtausgabe. Unter Leitung von KarlHeinz Hahn hg. v. den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Goethe- und Schiller-Archiv). Erster Band, April 1763 – April 1771. Bearbeitet v. Wilhelm Dobbek und Günter Arnold. Weimar 1977, 137 – 143, 177 – 181. Die Anmerkungen stützen sich auf Arnold 1988 und 2010 sowie die Kommentare bei Herder/Proß. 7  Anhang zur dritten Auflage JubA III.1, 129 – 159. Desweiteren s. oben zu Text 5. 8  Mendelssohns Anmerkungen zu Abbts freundschaftlicher Correspondenz Erstdruck: AVW III, „Dritter Theil, welcher einen Theil seiner freundschaftlichen Correspondenz enthält. Neue und mit Anmerkungen von Moses Mendelssohn vermehrte Auflage. Berlin und Stettin bey Friedrich Nicolai, 1782“, angehängt mit besonderer Seitenzählung, 1 – 88. Außerdem als einzelner Sonderdruck, ebenfalls 1782 bei Nicolai. JubA VI.1, 209 zählt außerdem einen anscheinend nicht autorisierten Neudruck, Frankfurt und Leipzig 1783, 1 – 72. In dieser Ausgabe sind die in den vorherigen Ausgaben bloß angehängt verzeichneten Druckfehler eingearbeitet; diesem Vorgehen folgen JubA VI.1 und diese Ausgabe. c) Aktuelle Ausgaben Moses Mendelssohn: Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele. Hg., mit Einl. und Anm. v. Dominique Bourel. Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1979. Moses Mendelssohn: Schriften über Religion und Aufklärung. Hg. und eingel. v. Martina Thom. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1989, 171 – 307.

Bibliographie

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Moses Mendelssohn Ausgewählte Werke. Studienausgabe, Band I: Schriften zur Metaphysik und Ästhetik 1755 – 1771. Hg. und eingel. v. Christoph Schulte, Andreas Kennecke, Grazyna Jurewicz. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2009. S. 321 – 340, 341 – 427. Ein Wiederabdruck des Phädon ohne jegliche editorische Bearbeitung erfolgte außerdem 2011 im tredition Verlag. d) Aktuelle und zeitgenössische Übersetzungen in Auswahl Dänisch: Phædon, eller, Om siælens udødelighed: i tre samtaler. Übers. v. Peter Andreas Heiberg. Kopenhagen 1779 (s. MM Bibl. 167). Englisch: Phaedon; or, The Death of Socrates. By Moses Mendelssohn, a Jew, late of Berlin. Translated from the German. London 1789: J. Cooper. [Übersetzer: Charles Cullen] (s. MM Bibl. 168; Nachdruck bei Thoemmes Press). Phädon, or On the Immortality of the Soul. Transl. by Patricia Noble with an Introduction by David Shavin. New York et al.: Peter Lang, 2007. Französisch: Phédon, ou Entretiens sur la spiritualité et immortalité de l’âme par M. Moses Mendelssohn, Juif à Berlin. Traduit de l’Allemand, Par M. [Georges Adam] Junker. Paris: Saillant und Bayeux: Lepelley, 1772, 1773 (MM Bibl. 171 ff.) Wiederabgedr. Paris: Editions Alcuin, 2000. Phédon, ou Dialogues Socratiques sur L’immortalité de L’âme. Ecrit en Allemand par M. Moise, fils de Mendel & traduit par M. Burja. A Berlin, 1772, (2) 1785 (s. MM Bibl., 169 f., 174). Hebräisch: Isaias Beer Bing, mit einem Vorwort v. Hartwig Wessely. Berlin 1787 (s. MM Bibl. 176 plus Folgeauflagen ebd., 177 ff.). Italienisch: Fedone: O dell’immortalità dell’anima: in tre dialoghi di Moise Mendelssohn. Übers. v. Carlo Ferdinandi, Coira (Chur), 1773 (MM Bibl. 182). Moses Mendelssohn: Fedone: Sull’immortalità dell’anima. Ed. Francesco Tomasoni. Brescia: Morcelliana, 2009.

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moses mendelssohn



Phädon [Entwurf]

Erster Beweis für die Unsterblichkeit der Seele. 1) Alle natürliche Dinge sind einer immerwährenden Veränderung unterworfen. 2) In dieser Reihe von Veränderungen ist nirgend ein Stillstand anzutreffen, sonst müssten die Kräfte der Natur alle plötzlich unwirksam geworden sein. 3) Vielmehr wechseln die entgegengesetzte Zustände, die in einem Dinge möglich sind, beständig mit einander ab. 4) Und zwar nicht plötzlich, nicht durch einen Sprung, sondern allmählich, durch einen zwischen den beiden entgegengesetzten Zuständen befindlichen Übergang, der die Rückkehr von einem Zustand in den andern möglich macht. Dieser Übergang hat öfters einen besondern Namen, öfters auch nicht. Indessen ist [er] aber nichts desto weniger jederzeit vorhanden. 5) Der Tod und das Leben sind zwei entgegengesetzte Zustände eines Dinges. 6) Der Übergang vom Leben zum Tode, ist die Abnahme der Kräfte, das Sterben. 7) Der Tod ist keine wirkliche Zernichtung, denn alle Kräfte in der Natur reichen nicht zu ein Ding zu zernichten, indem kein Übergang vom Sein zum Nichtsein möglich ist, und also ein wahrer Sprung geschehen müsste. 8) Die Seelen der Verstorbenen sind also noch vorhanden. 9) Also sind sie immer noch Veränderungen unterworfen. (§ 2, 3) Wenn der Tod ein einförmiger, unveränderlicher Zustand wäre, so müsste zuletzt die ganze Natur einförmig, und unveränderlich werden. Denn alles Lebendige stirbt, und das Tote wird in dieser Voraussetzung niemals lebendig. 10) Der Tod ist also ein Übergang in einen andern Zustand. | 11) Und wenn die Natur ihre Wege nicht verleugnet, ein Übergang zum Leben.   |  iii.1: 3–4

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Phädon [Entwurf] (ca. 1763)

12) Die Veränderungen in der Natur geschehen mehr nach einer krummen als nach einer graden Linie. vid. C. 17.1 2ter Beweis. Die Seele verhält sich niemals bloß leidend, sondern ist eine immer rege Kraft. 1) Sie hat eine Menge dunkeler Begriffe, deren sie sich nicht bewusst ist. Denn 1) man kann durch Fragen von einem jeden Menschen, der nur einen Begriff von der Ausdehnung hat, die ganze Mathematik herauslocken,2 es muss also der Begriff der Ausdehnung alle Lehrsätze der Mathesis in sich begreifen. Die Seele aber wird bei Gelegenheit der Fragen, die ihr getan werden, bald auf diese, bald auf jene Vorstellung aufmerksamer gemacht. 2) Die Phantasmata zeigen, dass öfters gewisse Begriffe in der Seele gleichsam schlafen, die bei Gelegenheit anderer Vorstellungen mit welchen sie einige Ähnlichkeit haben, wieder rege gemacht werden. Es ist also höchst wahrscheinlich, dass die äußere Vorstellungen niemals einen Begriff einwirken, sondern nichts als die Gelegenheiten sind, bei welchen der Seele gewisse Vorstellungen lebhafter werden, dergestalt dass das Lernen von dem Erinnern nur durch das Bewusstsein, diese Vorstellung zu einer andern Zeit wirklich gehabt zu haben, unterschieden ist, welches nämlich bei dem Erlernen fehlet. Die Seele verhält sich bei dem Erlernen nicht bloß leidend, eben so wenig beim Abstrahieren, und folglich auch beim Erinnern nicht. Denn zu den Begriffen der Ähnlichkeit gehören abstrakte Begriffe, und allgemeine ont[o]logische Grundsätze, wenn sie deutlich sein sollen. Sie hat also eine immer wirksame Kraft, die also schon wirksam gewesen, ehe sie noch mit diesem Leibe verknüpft worden. Dass die Seele kein zusammen gesetztes Ding sei, erhellet unter andern aus dem Vermögen, sich die Realitäten ohne ihre Schranken vorzustellen. Denn dieses vermag kein zusammengesetztes Ding, deren Veränderungen bloß in der Bewegung bestehen.   |  iii.1: 4

Briefwechsel zwischen Moses Mendelssohn und Thomas Abbt (1756 – 1764)

mendelssohn an Abbt 1 13. August 1756 Wertester, bester Freund ! Sie haben mir schon so ofte, bald ins Ohr, bald öffentlich gesagt, dass Sie die Verbindung des Willens mit dem Verstande für ein undurchdringliches Geheimnis halten, dass ich endlich Lust bekomme, das Cartel anzunehmen, und mit Ihnen eine Lanze zu brechen. Da hilft keine Entschuldigung, ich bin in einem andern Felde beschäftiget, ich schreibe die Weltgeschichte, ich fahre in Sechsen, ich besuche Grafen, u. s. w. Nichts ! Sie haben den Handschuh einmal hingeworfen, ich hebe ihn auf, und sage, hier bin ich ! Sie sollen nicht umsonst einen Grübelkopf gereizt haben, der so gerne in Ruhe auf sein System setzet, und Hirngespinste aus brütet. Im Ernste, liebster Freund ! möchte ich wissen, was Sie in dem Übergange vom Vorstellen zum Wollen Unbegreifliches finden. Ich weiß Ihnen zwar nichts Neues über diese Materie zu sagen; allein warum sollte ich mich schämen das zu wiederholen, was man in jedem Compendio findet ? Die erste Quelle unserer Erkentnis schreibt sich von der Amme her. Der Schulknabe dünkt sich weiser, denn er hat buchstabieren gelernt; allein sein Buchstabieren hat er vom Schulmeister, und der größte Schulmeister auf Erden war auch zu seiner Zeit ein Schüler der Amme. Sie werden mir also erlauben, dass ich hier mein Compendium wiederhole. Unsere Seele ist eine Substanz, die empfindet und denkt. In dem Inbegriffe aller unserer Empfindungen und Gedanken ist zuweilen manches deutlich und aufgeklärt, aber allezeit vieles verworren und dunkel. – Unsere Seele ist eine eingeschränkte Substanz – ihre Schranken bleiben nicht immer eben dieselbe.

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Briefwechsel mit Thomas Abbt (1756 – 1764)

Manches Verworrene wird deutlich, manches Dunkele klärt sich auf, da unterdessen andre Begriffe ihre Deutlichkeit verlieren, oder aus dem Lichte in den Schatten zurück weichen. Dieses lehrt uns eine innere unleugbare Anschauung, die wir nicht in Zweifel ziehen können. Also sind die Schranken unserer Seele veränderlich – der Grund dieser Veränderungen liegt in der Seele selbst, und macht ihre Kraft aus. Wollen Sie diesen Grund erkennen; so erforschen Sie sich selbst. Geben Sie auf den Grundtrieb acht, der in dem Innern Ihrer Seele unaufhörlich nach neuen Begriffen dürstet, und Ihre Aufmerksamkeit bald auf diese, bald auf jene Begriffe lenkt. Dadurch werden Sie diese ursprüngliche Kraft ihrer Seele anschauend erkennen. Was wollen Sie mehr ? Wollen Sie einen symbolischen Begriff derselben ? Daran fehlt es gewiss nicht. – Ihre innere Merkmale deutlich auseinandersetzen ? Das gehet nicht an. Sie ist das erste, was wir von einer Substanz erkennen, und woraus sich alles übrige, das der Substanz zukommt, erklären lässt. Dieses erstere unserer Erkenntnis aus noch frühren Begriffen erklären wollen, heißt die Art und Weise einsehen wollen, wie Gott eine solche Substanz wirklich machen kann. Denn da sie keine innere Struktur hat, aus welcher ihre Beschaffenheit erkläret werden kann; so kann ich kaum anders einen genetischen Begriff von derselben erlangen, als wenn ich einsehe, wie sie Gott aus dem Nichts hervorgebracht hat. Hier sind die Grenzen, wo ich den Finger mit Vergnügen auf den Mund lege. Weiter forschen heißt entweder die Struktur eines Dinges zu wissen verlangen, das keine Struktur hat, oder die Schöpfung aus dem Nichts mit unserm blöden Verstande erreichen wollen. Ich begnüge mich also mit der innern anschauenden Überzeugung, dass ich mich unaufhörlich bestrebe neue Begriffe zu erlangen, und daher mit meiner Aufmerksamkeit bald dieses, bald jenes beachte. Wodurch wird meine Aufmerksamkeit jetzt auf dieses, dann auf jenes gerichtet ? Was bestimmt die Kraft unserer Seele bald so, bald anders ? Dieses tut allezeit der vorhergehende Zustand unserer Seele. Wenn ich den ganzen Inbegriff aller meiner gegenwärtigen Empfindungen und Gedanken auf das deutlichste  

Briefwechsel mit Thomas Abbt (1756 – 1764)

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erkennete; so würde ich einsehen, warum die Kraft meiner Seele in dem nächsten Augenblicke so und nicht anders bestimmt, warum ich dieses aufmerksam beachten, von jenem abstrahieren, dieses deutlich, jenes verworren u. s. w. erkennen werde. Eine jede Vorstellung ziehet unsere Aufmerksamkeit auf sich, nach Maßgebung der Realität, die sie uns verspricht; denn die Realität befriediget einzig u[nd] allein den Grundtrieb unserer Seele, den Geiz nach Erkenntnis. Hier haben Sie nun den ersten Keim des Begehrens ! In seinem Ursprunge nichts anders als die Bestimmung und Richtung unserer Aufmerksamkeit, oder die Determination der Vorstellungskraft unserer Seele. Eine jede Vorstellung in so weit sie ein solches Begehren, eine solche Lenkung der Aufmerksamkeit verursachen kann, wird eine Triebfeder der Seele genannt. Die wir deutlich denken, Bewe­ gungsgründe. In jedem Augenblick entstehet ein Kampf in unserer Seele. Ein unermessliches Heer von dunkeln, klaren, verworrnen, deutlichen u. s. w. Begriffen streiten um die Aufmerksamkeit unserer Seele. Eines jeden Macht verhält sich wie die Größe, Neuheit, Deutlichkeit und Geschwindigkeit ihrer Realität. Öfters verbinden sich viele Triebfedern zu einem Endzwecke und es entstehen Begierden. Dieser Konflikt wird nach dem Gesetze des Stärkern entschieden, und wir beachten dasjenige, oder bestreben uns diejenige Vorstellung hervor zu bringen, die den größten Grad der Wirksamkeit besitzet. Nun bin ich auf trocknem Lande. Haben wir erst Triebfedern, Bewegungsgrund, Begierden und Entschließungen; so liegt das ganze Geheimnis der Seele vor unsern Augen, und wir können ihr allenthalben nachspähen. Sagen Sie mir doch nunmehr, wo hier der Raum liegt, der Verstand und Willen oder Herz und Geist trennet ! Sagen Sie mir, wie Sie sich ein Erkennungsvermögen ohne Achtsamkeit, Achtsamkeit ohne Richtung, und Richtung ohne Begehren nur denken können ! Dieses Begehren aber ist von der heftigsten Leidenschaft, die in der Seele wütet, nicht anders als ein säuselnder  Zephyr2 von einem rauschenden Sturmwind unterschieden.

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Briefwechsel mit Thomas Abbt (1756 – 1764)

Je größer die Masse und die Geschwindigkeit der bewegten Luft, desto heftiger der Sturm. So bald ihnen der Naturforscher erkläret, wie Sie mit dem Munde das kleinste Sonnenstäublein wegblasen können, so wissen Sie das ganze Geheimnis, wie Aeo­lus den Winden gebieten kann. – Jedoch genug Metaphysik ! […] Ich bin Ihr wahrer Freund Moses Mendelssohn [357] | mendelssohn an Abbt 3

Berlin, den 2. Wintermonats [November] 1762. | […] Ich habe Humes Geschichte von England 4 gelesen. Unvergleichlich ! Was mir an ihm am meisten gefällt, ist die Art und Weise, wie er Charaktere und Begebenheiten entwickelt. Sein Zweifelgeist hat ihm hier treffliche Dienste geleistet. Er zeigt beides, die gute und schlechte Seite seiner Charaktere, die vorher bestimmlichen und zufälligen Ursachen einer jeden Begebenheit, und stellet jene so vermischt, und diese so in einander verflochten vor, wie sie in der Natur zu sein pflegen. […] | Abbt an mendelssohn 5

Rinteln, den 10. Wintermonats [November] 1762. […] | […] Wenn Sie mir in einer scherzenden Antithese schreiben, dass Sie manches notwendige entbehren6; so bedenken Sie nicht, dass es Christenherzen gibt, die über den Druck einer jüdischen Tugend bluten können. Ich wollte nicht, dass Brutus Ihren Brief kurz vor seinem Ende gelesen hätte. – Sie werden den Übergang leicht merken, – ich fange an die Historie zu hassen. Was für eine Erde ? Was sollen wir zur Bestimmung der Menschen sagen ? Ich glaube immer, dass wir, nach meinem   Begriffe, nichts davon wissen, und habe es deswegen in der |  XI: 357–360

Briefwechsel mit Thomas Abbt (1756 – 1764)

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Rezension über Süßmilchs Ordnung hingeschrieben.7 Sie muss in einen viel größern Plan gehören, davon wir nichts verstehen ? Gut ! das ist bekannt. Aber was können wir nun auf der Erde davon nützen ? Weiter nichts als dieses, deucht mir, dass jeder Mensch sein eigenes Glück durch seine Tugend machen müsse, und dass sich die Vorsicht weiter in keine Beloh­nungen oder Strafen mische, als in so ferne sie ihren Plan durch­setzen muss. Diese allgemeine Betrachtungen versichern den Den­kenden von der Wahrheit seines Systemes der Glückseligkeit, davon andere nichts begreifen. Dies sind wenigstens die Gedanken, welche bei Lesung der Historie aufsteigen. […] [31] | mendelssohn an Abbt 8

Berlin, den 9. Hornung [Februar] 1764. […] | […] Ich sehe Ihren Anmerkungen über die Bestimmung des Menschen mit der äußersten Ungeduld entgegen, und damit unsere Freiheit zu denken desto uneingeschränkter sei; so wünsche ich, dass wir in unserem Dispute die Namen zweier griechischer Weltweisen | annehmen möchten. Wir dürfen uns aber deswegen an keines System binden, und können allenfalls von dem Lehrgebäude der Neuern, so viel als nötig sein dürfte, als bekannt voraussetzen. Auf solche Weise werden wir unsere kühnsten Zweifel, die wir öfters uns selbst nicht gerne offenbaren, auf Rechnung eines Verstorbenen, ungescheut vorbringen können. Ich hoffe, dass dieser Briefwechsel für uns beide nicht ohne Nutzen sein soll. […] | […] Nunmehr stehet Herkules auf dem Scheidewege, und soll wählen. Nicht zwischen Tugend und Wollust. Diese wagt sich nicht mehr, dem Günstlinge der Weisheit ihre buhlerischen Reizungen anzu­bieten. Die Tugend ist ihres Sieges versichert; aber welchen Weg wird sie ihn zur Unsterblichkeit führen ? Durch die Klüfte der Metaphysik, auf den blumigten Wegen der Geschichte, Moral und Politik, oder über die Anhöhen der Mathesis  ? Wollen Sie die Stimme eines Freundes hören, der vom   |  XI: 360; XIi.1: 31–35

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Briefwechsel mit Thomas Abbt (1756 – 1764)

Schicksal zurückgehalten, Ihnen nicht folgen, nur von ferne nach rufen kann; so wählen Sie die Philosophie des Menschen. The proper Study of mankind is man.9 Der Mensch, seine Kräfte und seine Fähigkeiten, Sitten, Rechte und Obliegenheiten bilden ein unermessliches Meer von Erkennt­nissen. Wer sich ohne das Steuer einer gesunden Metaphysik auf dieses Meer wagt, der scheitert. Sie haben metaphysische Einsich­ten genug, diese Fahrt anzutreten, und was noch mehr ist, Ihr Genie hat sich von dieser Seite schon mit Vorteil gezeigt. Aber wie ? gehet meine Unbesonnenheit nicht zu weit ? Ich wage in Ihren geheimsten Busenangelegenheiten mich zum Ratgeber aufzuwerfen ? Sie müssen heute über meine Dreistigkeit lachen, oder sich verwundern. Zum Glück habe ich nur noch einen halben Bogen angelegt, und dieser ist beschrieben. Wer weiß, was die Laune, in welcher ich mich heute befinde, noch gewaget hätte ? Leben Sie wohl, mein bester Freund ! und lieben Sie mich. | Abbt an mendelssohn 10

Rinteln, den 20. Hornungs [Februar] 1764. Ich kann Ihnen nicht so stark sagen, als ich es wünsche, wie sehr ich Ihnen für Ihren letzten Brief im Herzen danke. Ich habe noch andere Freunde, nicht viele, die ich eben so sehr liebe als Sie. Aber keine Briefe sind mir, des Unterrichts wegen, so erwartet, als die Ihrigen. Mein Leben wird nicht leicht so merkwürdig werden, dass es je im Druck erschiene, aber bei den Zeitpunkten meines Glücks, meines Fortgangs, und meiner Fehler, die ich für mich selbst niedergeschrieben, steht es angemerkt, dass meine erste Schrift11 mir die gewogene Bekanntschaft des Herrn Nicolai und Hrn. Moses, und mein nachmaliger Aufenthalt in Berlin beider Freundschaft er­worben habe. Ich habe an dieser schon lange nicht mehr gezweifelt, so unbegreiflich mir auch dieser schnelle Erwerb bleibt, bei einer so wenig vorlaufenden Gemüts  |  XIi.1: 35–36

Briefwechsel mit Thomas Abbt (1756 – 1764)

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art, so wenig, als die Ihrige ist: aber ich gestehe es, dass Ihre Einwilligung zu der vorgeschla­genen Materie unsers Briefwechsels, der neueste und stärkste Be­weis davon für mich ist: Denn ich getraue es mir, zu sagen, dass vielleicht, außer mir, Lessingen und Nicolai, kein Mensch in der Welt ist, mit dem Sie einen solchen Briefwechsel anfangen würden. Sie erwarten, sagen Sie, mit Ungeduld, meine Gedanken über die Bestimmung des Menschen. Wie werden Sie sich wundern, wenn Sie dieselben unter Baylens aufgerufenen Schattenbilde in meiner Rezension, die ich schon an unsern N[icolai] von Spaldings Schrift ge­schickt, vorfinden.12 Ich überlasse es Ihnen, ob Sie die ganze Rezension wollen drucken lassen, oder nicht, ob ich sie gleich mit vielem Fleiße gemacht habe. Doch Sie mögen davon halten, was Sie wollen, Sie mögen nun befürchten, einerlei Sache zweimal lesen zu müssen: unsere Unterhandlung soll ihren Anfang ha­ben, und ich will ihn aus Gedanken bilden, die nicht in die Rezen­sion gehörten. Ich bins zufrieden, dass wir andere Namen neh­men. Wenn ja orthodoxe Theologen hinter unsere Briefe kämen, so liefen wir denn doch nur Gefahr, in effigie verdammt zu wer­den. | Aristipp13 sagt also: So oft ich über die Begriffe Religion, Unsterblichkeit, ewige Se­ligkeit oder ewige Verdammnis nachgedacht; habe ich immer gefun­den, dass wir nach ihnen von zwo Seiten unseres Herzens aus­gehen. Entweder sind wir in dem bestrebenden Gefühle nach dem Troste, den ein mächtiges Wesen voller Güte seinen armen Ge­schöpfen auf eine empfindliche Weise geben soll; oder wir sind in der Fassung, in der wir jedes Geschöpf gleichweit von seinem Schöpfer abstehen und seiner eigenen Klugheit überlassen sehen. Jeder Forscher hat sich gewiss wechselsweise in diesen Stellungen befunden. Die erste hat etwas erquickendes. Es ist gleichsam die ausgestreckte Lage eines Ermüdeten, darin die Ruhe in seine Glie­der schleicht. Wenn wir im Unglücke sind, so richtet uns nichts mehr auf, als der Gedanke unseres Gottes, der nicht nur seine Geschöpfe überhaupt glücklich zu machen beschlossen hat; son­dern ihnen auch für das gegenwärtige Leiden  eine Vergeltung aufbehält. Ich rede nicht von den Märtyrern |  XIi.1: 36–37

12

Briefwechsel mit Thomas Abbt (1756 – 1764)

der verschiedenen Religionen. Für diese bin ich unbekümmert. Aber wie hätte sich sonst ein Graf von Strafford, den Karl I. verließ,14 wie hätte sich dieser verzogene und schwache Mann selbst bei seinem Leiden, seinem langen Leiden, erhalten können ? Wie hätte die Frau, die nach Monmouths Empörung einen Rebellen beherbergete, und von diesem selbst angegeben, und in Gegenwart des dafür begnadig­ten Verräters hingerichtet ward,15 wie hätten sich diese und so viele tausend andere bis an ihr Ende aufrichten können ? Noch etwas anderes. Wenn jemand auf Lasterwegen geht; so stoßen ihm oft Warnungen auf, die ihn zurückhalten, Empfindungen, die ihn zu Gott führen, ihn beruhigen, auf bessere Wege führen. Alles dieses führet zur Religion, macht das Herz willig, sich weiter ein­nehmen zu lassen, und geneigt, allen nachherigen Abfall bloß der Rebellion der Sinne zuzuschreiben. Dahingegen hat die andere Stellung, in die ich mich zu versetzen so abgeneigt bin, doch auch etwas, das dem guten Herzen schmeichelt, das der Liebe zu meinen Brüdern, den Menschen, zuträglich ist. Jene hohen Empfindungen entzückten mich, führten mich zu Mitteln einer nähern Vereinigung mit dem höchsten Wesen; allein sie erschufen mir eine neue Art von Moralität, darin mir die Abneigung gegen Andersgesinnte keiner der geringsten | Punkte zu sein scheinet. Ja, ja ! die Religion führet mich zu die­ser Vereinigung ? Allein, wie soll ich es begreifen. Der Mann selbst, der sonst lauter Liebe gegen die Glaubensbrüder predigt, und so sanftmütig scheint, Johannes selbst, macht erst diesen befremdenden Schluss: Wer übertritt und bleibet nicht in der Lehre Christi, der hat keinen Gott, und darauf setzt er das Gebot hinzu: So jemand zu euch kommt, und bringet diese Lehre nicht, den nehmet nicht zu Hause, und grüßet ihn auch nicht. Denn wer ihn grüßet, der macht sich teilhaftig seiner bösen Werke.: 2 Brief Joh. 9.10.11. Hiedurch ist sogleich alle so heilig gewesene Hospitalität nur auf ein kleines Häuflein einge­ schränkt, und ich begreife nicht, wie ich die Lehre der Duldung im Ernste behaupten kann, so bald ich mich in eine besondere Religion einlasse.   |  XIi.1: 37–38

Briefwechsel mit Thomas Abbt (1756 – 1764)

13

Sehe ich auf der andern Seite auf die Menschen insbesondere, wie es ihnen ergangen ist, und noch ergehet; so finde ich eben so viel Unbe­greifliches. Ihr ganzer Lebenslauf setzt mich in Erstaunen. So viele Millionen geschlachtet, so viele Millionen äußerst dumm und unwis­send, so viele Millionen, die ihr Leben im Schweiße und in tierischen Beschäftigungen, wozu einzig und allein das Beten zu gewissen Zei­ten kommt, dahin leben; eine gewisse Menge, die boshaft sind, und die andere plagen; eine gewisse Anzahl, die sich bis zum Denken er­hoben hat, davon einige Parteien machen und behaupten, andere zweifeln und schweigen. Die ganze Anzahl aber derer, die denken, lesen, schreiben, dissentieren, sind gegen den großen Haufen vielleicht wie 1 : 10000, und dies ist noch sehr viel, und für diese wenige ist doch nur die Theorie einer Religion gemacht. Wenn sie also nicht prak­tisch auf die übrigen wirkt; so ist sie so gut, als nicht vorhanden. Dergleichen Beobachtungen, die ganz unstreitig richtig sind, erkäl­ten mich, stürzen mich in einen Tiefsinn, und zwingen mir die Frage oder die Ausrufung ab: Wozu mag der Mensch wohl be­stimmet sein ? Von der Auflösung dieser Frage scheinet das meiste abzuhängen, was ich suche. Ich will sie also zergliedern: 1) Was ist die Bestimmung des Menschen, so fern er überhaupt als ein Geschöpf, als ein Teil des Ganzen betrachtet wird ? 2) Was ist diese Bestimmung, so fern er als Mensch, das heißt, als dieser besondere Teil, betrachtet wird ? | 3) Lassen sich aus der ersten oder allein aus der zweiten seine künftige Schicksale nach dem Tode herleiten ? 4) Lassen sich aus der ersten, wenn uns die zweite unbekannt wäre, Regeln für sein gegenwärtiges Verhalten herleiten ? Dies mag für heute genug sein, die Zeit treibt mich. […] Wenn Sie unsern N[icolai] bei Ihrem Fenster oder am Wege vorübergehen sehen, so rufen Sie ihm nach wie Simei16. Sie können auch einen ganz kleinen Stein nach ihm werfen, darum, dass er mir so lange nicht schreibt. Nun er Mscrpt. hat; so verlieret er wieder seine gute Tugend. Ich grüße ihn nicht. 2 Joh. 10. Leben Sie wohl, liebster Freund. Lieben Sie Ihren Freund.   |  XIi.1: 38–39

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Briefwechsel mit Thomas Abbt (1756 – 1764)

| mendelssohn an Abbt 17

Berlin, den 1. Mai 1764. Einige häusliche Zufälle haben mich zeither so erschüttert, dass ich zu meiner angenehmsten Beschäftigung, an meine Freunde zu schreiben, nicht einmal Lust hatte. Der Tod hat an meine Hütte gepocht, und mir ein Kind geraubt, das nur elf unschuldige Mo­nate, aber diese Gottlob ! munter und unter hoffnungsvollen Ver­sprechungen, auf Erden gelebt hat.18 – Mein Freund ! Die Un­schuldige hat die elf Monate nicht vergebens gelebt. Ihr Geist hat in dieser kurzen Zeit ganz erstaunliche Progressen gemacht. Von einem Tierchen, das weint und schläft, ist sie der Keim eines vernünftigen Geschöpfs geworden. Wie die Spitzen des jungen Grases im Frühlinge durch den harten Erdboden dringen; so sahe man bei ihr die ersten Leidenschaften anbrechen. Sie zeigte Mit­leiden, Hass, Liebe, Bewunderung, verstand die Sprache des redenden Menschen, und war bemühet ihre Gedanken anderen zu erkennen zu geben. Ist von allem diesem keine Spur mehr in der ganzen Natur anzutreffen ? Sie werden über meine Einfalt lachen, und in diesem Rai­son­ ne­ment die Schwachheit eines Menschen erkennen, der Trost sucht, und ihn nirgend findet, als in seiner Einbildung. Es kann sein ! Ich besitze Eigenliebe genug, eine jede Lehre zu adoptieren, die meine Gemütsruhe befördert, ohne meinen Fehlern zu schmei­cheln. Ich kann nicht glauben, dass uns Gott auf seine Erde, etwa wie den Schaum auf die Welle gesetzt hat: und da ich in der entgegengesetzten Meinung weniger Ungereimtheit und mehr Trost finde; so umarme ich sie, und erwarte festes Fußes den grausamen Freund, der sie mir entreißen will. Lassen Sie sich indessen nicht abhalten, bester Freund ! mir alle Ihre Zweifel zu erkennen zu geben. Ich habe die größte Hoffnung, Sie noch zur Übergabe zu nötigen, und nehme Ihr längeres Stillschweigen für ein Geständ­nis auf. Schicken Sie mir aber mein voriges Schreiben mit, damit ich weiß, was ich Ihnen geschrieben habe. […]  

|  XIi.1: 43

Zweifel und Orakel, die Bestimmung des Menschen betreffend

[v.1]

[Briefe, die neueste Literatur betreffend, Teil XIX] I. Den. 21. Juni 1764. Zwei hundert und sieben und achtzigster Brief. Mit der letzten Reichspost empfing ich ein kleines Paket, wofür ich einige Taler Briefporto zahlen musste, vermutlich weil der Absender nicht daran gedacht hatte, ob es außerdem der reitenden noch eine fahrende Post gebe. Ich öffnete dieses Paket mit Begierde, und wollte mich schon ärgern, dass ich weiter nichts als ein kleines Traktätchen von 98 Seiten in klein Octav darin antraf ; nachdem ich diese kleine Broschüre aber durchlaufen und nach dem flüchtigen Durchlaufen nochmals durchge­lesen hatte, so hielt ich mich dem Ungenannten, der sie mir zugesendet hatte, vielmehr recht sehr verbunden. Aus verschiedenen Umständen mutmaßte ich, dass diese kleine Schrift, ob sie gleich gedruckt ist, dennoch ¦ nur bestimmt ist, in den Händen einiger guten Freunde zu bleiben, und eben dieses verbindet mich, sie Ihnen zuzusenden da es scheinet, dass sie Ihnen sonst schwerlich möchte zu Gesicht kommen. Sie ist Ihrer Aufmerksamkeit recht sehr würdig ; die Materie ist ungemein wichtig und die Unter­ suchenden scheinen nicht Gelehrten von untersten Range zu sein. Hat man Briefe von Gelehrten, die von sehr gleichgültigen Dingen handeln, der Bekanntmachung würdig geachtet, bloß weil es Briefe von Gelehrten und bisher ungedruckt waren ; wie vielmehr muss man auf dasjenige neugierig sein, was Gelehrte Leute von einer so wichtigen Materie als die Bestimmung des Menschen ist, zu ihrem eigenen Unterricht zu Papier gebracht haben. Gesetzt diese Untersuchungen könnten dem Leser nicht hinlängliche Genugtuung tun, so müssen sie denkende Köpfe doch gewiss zu fernerem Nachdenken aufmuntern, und dies ist schon ein großer Vorteil.   Re.1 | ¦   |  v.1 : 617 

¦ 3–4

16

Zweifel und Orakel (1764)

[Thomas Abbt] Zweifel über die Bestimmung des Menschen [Moses Mendelssohn] Orakel, die Bestimmung des Menschen betreffend Gedruckt zu Schinznach, 17632 Nachricht In den Zusammenkünften schätzbarer Freunde, deren Unterredungen die Beför­derung der Wahrheit und Tugend zum † ewigen † Endzwecke haben, hatten fast alle Anwesende, bei Gelegenheit der Schrift ¦ eines vortrefflichen Verfassers, von der Bestimmung des Menschen ihre Gedanken eröffnet.3 Euphranor und Theodul4 waren in ihren Meinungen am weitesten verschieden ; auch am Ende eines weitläuftigen Gesprächs hatten sie noch nichts gewisses ausgemacht, so wie es oft bei freundschaftlichen Zusammenkünften zu geschehen pflegt, da niemand darauf denkt, durch Fechterstreiche seinen Gegner zum Stillschweigen zu zwingen, sondern jeder beflissen ist, mit eidgenössischer Freimütigkeit seine Meinung zu sagen. Euphranor satzte nachher etwelche Zweifel über diese Materie auf, und ließ sie ausdrücklich auf seinem Schreibtische liegen, weil er ver­sichert war, dass sie sein Freund Theodul daselbst erblicken würde. Dieser be­kam sie auch bald zu Gesicht, und las sie während der geflissent ¦ l ichen Abwesen­heit seines Euphranors durch : Er überdachte diese Materie weiter, und legte bei nächster Zusammenkunft, das nachstehende Orakel auf Euphranors Schreibtisch. Ich habe geglaubt, diese beide kleine Schriften würden denjenigen, die den mündlichen Streit dieser beiden Freunde angehöret haben, nicht unange­nehm sein, und auch manchen andern Philareten5 zum Nachsinnen über ei­ne der wichtigsten Streitfragen Gelegenheit geben können. Dies ist die Ursach ih­rer itzigen Bekanntmachung. | ¦ †  ewigen ]  JubA V.1 : eigen |  v.1 : 618 

¦ 5–7

Zweifel und Orakel (1764)

17

[Thomas Abbt] Zweifel über die Bestimmung des Menschen. Quid sumus ? et quidnam victuri gignimur ?6 Welcher wohl­ tätige Geist will uns die richtige Anwort auf diese Fragen geben ? Ich habe sie gelesen, die Spaldingische Schrift : über die Bestimmung des Menschen, ich habe sie mit Vergnügen gelesen, durchgedacht, jeden Ge­danken genau erwogen. – Meine Bestimmung ! Diese erforschen ; den Rang des Menschen in der Welt ausfinden ; seine Berührung der Räder an der großen Maschine ausspähen ; die Verbindung seiner Auftritte mit dem Inhalte des großen Schauspieles und besonders mit dem fünften Akte7 ergründen : dies sollte, deucht mir, der wahre und eigentliche Inhalt dieser Schrift sein. Redlichkeit im Denken ! du vergessene und doch unentbehrliche Muse, weiche du nicht von uns, wenn wir dem nachgrübeln, worauf sich alles übrige Wissen als eine vorläufige  ¦ Arbeit beziehet ! Unterstütze mich, indem ich den großen Vorwurf dieser Schrift untersuche. Nachdem ich mich lange genug an den Schönheiten derselben vergnügt, möchte ich auch wissen, ob Herr Spalding der Frage volle Genüge durch seine Antwort tue ? Wenn sich Baylens Schattengestalt 8 durch Beschwörungen herzaubern ließe : wie gerne wollte ich mich für diesmal dem Grause der Mitternachtsstunde, die Formel und den Stab zum Kreiseziehen in der Hand, aussetzen ! Ich will einen Versuch, sollte er auch vergeblich sein, wagen. So spreche ich : wo du auch, du Feind der Systeme, Bayle, wo du auch herum schwärmest, und deine Zweifel verbreitest : so rufe ich dich herbei, um bei einer der wichtigsten Materien, zu ihrer Aufklärung, Einwürfe zu machen. Ein solcher Zuruf hat sonst immer sehr viel lockendes für dich gehabt ; und siehe ! er hat es noch ; es rauschet wie ein Folio Bogen vor mir vorüber : mir deucht, ich sehe auch eine Gestalt, die ihn in der Hand hält, faveo lingua9 : sprich ! ¦ Die Bestimmung des Menschen ! soll dies so viel heißen : wie sich der Mensch zu diesem oder jenem Verhalten, um glücklich zu   werden, bestimmen soll ? oder soll es heißen : der bestimmte |  v.1 : 619 

¦ 8–10

18

S. 229

Zweifel und Orakel (1764)

Platz für den Menschen in der Beziehung auf das ganze angeordnete Weltgebäude ? [Anm. k)] Nach der letztern Bedeutung wird die Beantwortung der Frage schwerer. Doch dies schadet nichts : meine Frage ist auch erheblicher : und wenn ich stecken bleibe : so wird mir der Fragende doch immer mit der veränderten Stelle des Petronius sagen können, „nunc etiam languori tuo gratias ago : in umbra cognitionis diutius lusi.“10 Und freilich in umbra cogitionis ! denn was werde ich wohl herausbringen, das mit vollem Lichte strahlte ? Es ist mir nicht erlaubt, meine Schulkenntnisse unter mir ausgebreitet, mich ruhig und unbekümmert um alles, was vorher in der Welt geschehen ist, ins Gras nieder zu setzen, und da etwa zu überlegen, welches von den philosophischen Systemen der Glück­ seligkeit ich mir allenfalls wählen wollte : ¦ ach nein, so bequem lässt sich meine Frage nicht beantworten. Ich muss vorher auf dem ganzen Erdraume durch die vielen Jahrhunderte hindurch herum irren ; ich muss mit der schwarzen Truppe11 faulenzen, um ihre Handlungsweise zu sehen ; in den Lapplän | dischen Hütten vom Dampfe fast ohnmächtig den Winter aushalten, um dieses Menschengeschlecht näher zu kennen ; ich darf den Ekel der Schlachten, des Unsinnes, der Schandtaten in der Europäischen Geschichte nicht achten, nicht müde werden, der Unwissenheit, der Dummheit, dem Aberglauben, den Irrtümern nachzuschleichen ; mich es nicht verdrießen lassen, dem frühen Abschiede der zarten neugebornen Menschen aufmerksam zuzusehen ; die Unbedachtsamkeit der anderen zu begleiten, und die geringe Anzahl derer, die über meine Frage nachdenken können, auszulesen. Nun, mores multorum vidi et urbes12 ; und alles dieses darum, damit ich daraus etwa das Licht erhaschen möchte, das mir die Bestimmung des Menschen beleuchtete. ¦ Ich habe einst eine seltene Schrift gelesen, die mir aber seitdem nicht wieder unter die Augen gekommen ist ; damals machte ich mir nur geschwinde einen Auszug davon : sie führte ohngefähr den Titel : Beschreibung von dem Marsche einiger Kriegsvölker, und was für lustige Begebenheiten sich dabei zugetragen. Stras[s]­burg 1586.13   |  v.1: 619–620  ¦ 10–12

Zweifel und Orakel (1764)

19

Ein Fürst hatte diese Völker aus entfernten Landen kommen lassen ; zu welcher Verrichtung wusste selbst der Oberste nicht, der sie anführte. Der Marsch ging langsam, geheime Ursachen wirkten so gar den Befehl aus, dass sie eine Zeitlang auf verschiedenen Landgütern liegen bleiben mussten, darunter einige dem Fürsten, ihrem Soldherrn angehörten. Hier fängt sich nun die Erzählung der lustigen Begebenheiten an ; dabei ich mich in meinem Auszuge nicht aufgehalten, so spaßhaft und original mir auch einige darunter vorgekommen sind. Das merkwürdigste für mich waren die mancherlei Reden und Mutmaßungen, welche die Soldaten, über ihren langen Aufenthalt ungeduldig, ¦ zu führen angefangen, und die mein Geschichtsschreiber sehr sorgfältig und nach Gewohnheit der damaligen Zeit sehr weitschweifig und rednerisch aufgeschrieben hat. Die meisten lebten in den Tag hinein, unordentlich, wie es bei Soldaten zu gehen pflegt : Einige wurden plötzlich unsichtbar : man sagte, dass sie auf geheime Befehle zur Nachtzeit wären weggeschaffet worden : aber wohin ? Das war die Frage. Der Oberste selbst und einige der gesetztesten Offiziere, zwar eben so wenig als die übrige von der geheimen Absicht des Soldherrn unterrichtet, lebten hingegen so wachsam und regelmäßig, als ob sie jeden Augenblick den Befehl zum Aufbruche vermuteten. Viele andere zweifelten, dass dieser Befehl noch kommen würde ; wenigstens nicht zum weiterfortrücken, sondern man würde die Truppen, behaupteten sie, vermutlich auseinander gehen lassen : ob ihnen gleich ihre Kameraden dagegen die weitläufigen Anstalten und große Kosten zu ihrem Hiehermarsche vorhielten. Was sollten sie von den heimlich weggeschaffeten mutmaßen ? ¦ Es kamen keine Briefe von ihnen an ; und diejenigen, die Briefe erhalten zu haben vorgaben, waren gerade Leute, an die am letzten unter allen jene würden geschrieben haben. Waren die Weggeschaffete wirklich von dem Fürsten zur Vollendung seiner Absichten abgerufen worden : oder hatte man ihnen nach einer gewissen Strecke Weges aus besondern Ursachen heimlich den Befehl eröffnet, dass sie nun wieder nach Hause gehen könnten ? Waren sie wegen ihres guten Verhaltens in den Standquartieren | von den übrigen abge  |  v.1: 620–621  ¦ 12–14

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Zweifel und Orakel (1764)

rufen ? Die unordentliche hätten müssen zum Vorteil des Herrn vor allen andern abgerufen werden, und außerdem waren unter den erstern die meisten so kurze Zeit da gewesen, dass man von ihrem Betragen weder Gutes noch Schlimmes sagen konnte. Die Aufführung des Obersten und einiger Offiziere war untadel­ haft : aber konnten sie daraus lernen, wohin sie noch würden geschickt werden ? Er wusste es selbst nicht. Es war also bei dieser Dunkelheit und Ungewissheit zwar ratsam und billig, so wie der Oberste sich zu verhalten, ¦ weil der Fürst sie freilich nicht zu einer Räuberbande würde haben brauchen gewollt : aber ob, wenn sie auch endlich, das niemand wüsste, weiter rückten, ob ihr Betragen auf diesen Gütern, bei den weitern Absichten, wozu sie gerufen wären, in Anschlag kommen dürfte, und ob nicht die Strafen, die hier schon auf die üble Aufführung folgten, dem Soldherrn hinreichend scheinen würden, dies konnten sie nicht ausmachen. Es hatten sich besonders einige Offiziere ungemein vergangen : Aber aus der Strafe, die sie verdienten, und die sie auch, wenn man es recht ansahe, nach ihrer Art schon wenigstens zum Teile litten, aus dieser konnten sie höchstens mutmaßen, dass der Fürst es noch einmal ahnden werde ; wohin aber eigentlich und zu welcher Kriegsverrichtung er sie bestimmet habe, ließ sich wieder nicht daraus ergrübeln. Ich könnte noch lange abschreiben, von einigen Erfindungen des Obersten, um die Leute im Zaum zu halten, besonders um das Ausreißen zu ver­hüten, von den dreisten Mutmaßungen ¦ und dem unverschämten Vorgeben eini­ger Briefsteller, von den Strafen gegen die sogenannten Schwermäuler und Rai­sonneurs : aber da es mir jetzt nicht darauf ankommt, einen Bogen mehr zu mei­nem Wörterbuch abdrucken zu lassen : so will ich sparsamer mit den Anführun­ gen sein. Dagegen will ich die Überlegungen, worauf mich diese Schrift geführt hat, erzählen. Die Fortsetzung folgt künftig. ¦



|  v.1: 621  ¦ 14–16

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[Teil XIX] II. Den 28. Juni 1764. Fortsetzung des zwei hundert und sieben und achtzigsten Briefes. Einmal bin ich davon ganz überzeuget worden, dass jeder zu seinem Betragen in diesen Quartieren sich feste Regeln habe machen gekonnt, ob er gleich in Ab­sicht seiner fernern Bestimmung in der Ungewissheit gelebt : hernach, dass es sich der Mühe verlohne, den Schlüssen, die jeder aus seinem Betragen oder dem Betra­gen anderer auf die unbekannten Absichten des Fürsten gezogen, sorgfältig zu fol­gen, damit man sehe, was durch Zurückprallung entweder die Hoffnung oder die Furcht auf ihre Aufführung | gewirket habe. Dieses letzere macht die Geschichte der Gesinnungen eines oder des andern unter diesem Kriegshau ¦ fen aus. Ich sehe, dass der Verfasser, (um dessen Schrift willen du mich hieher gerufen hast) ihr auch den Titel gibt : Geschichte der Empfindungen eines ehrlichen Mannes14 : ich darf also nur diese Schrift durchgehen, um mein zweites Stück genau zu zergliedern. Im Vorbeigehen sei es angemerkt, dass dieser V. uns über die Bestimmung des Menschen eigentlich gar nicht belehre. Denn etwas anders ist die Bestimmung aller Geschöpfe, etwas anders die Bestimmung des Menschen. An jener hat der Mensch freilich auch seinen Anteil : Diese ist ihm eigen, und würde, uns einmal bekannt, alle Rätsel auflösen. [Anm. l)] Die ganz Schrift ist die Monologue eines unterrichteten und nachdenkenden Mannes. Daher passet sie keineswegs auf die ungeheure Menge von Menschen, die fast allein durch die äußern Gegenstände zu ihrer Glückseligkeit, oder zu dem Gegenteile bestimmet werden. Was weiß der Wilde, ob es eine Empfindlichkeit gebe, die der Sinnlichkeit – nach dem Genusse – zu niedrig scheint. Doch es sei ¦ nun einmal der nachdenkende, ausgebildete Mann, der sich hören lässt. [Anm. m)] Der Anfang ist unverbesserlich. Gekünstelte und natürliche Vergnügungen werden gegen einander gehalten, und denen letztern   in Betracht ihrer Gründlich­keit der Vorzug eingeräumet. |  v.1: 621–622  ¦ 17–19

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Doch fangen die Zweifel gegen ihre Füglichkeit zu unserm Wesen und Wohl auf der 6ten Seite an. „Diese Überredungen sind zwar stark ; aber mir deucht, ih­re Stärke hat etwas wildes und übertäubendes an sich, welches meiner Seele noch nicht Stille genug verstattet.“15 Schade, dass dies weiter nichts als eine rednerische Wendung ist ! Ich habe es schon gesagt, der ungeschliffene Mensch kann dieses übertäubende nicht vom sanftern unterscheiden, und wenn die Natur bei ihm spricht : so spricht sie zwar laut, aber er denkt auch nicht, dass irgend sonst was zu eben der Zeit das Recht habe zu sprechen. Unserm Grübler aber kann bei dem bloßen Überlegen des gründlichen, das sich in diesen ¦ natürlichen Vergnügungen findet, unmöglich so viel übertäubendes vorkommen, er müsste denn von einer ungemeinen Schwäche sein. Wäre es aber nicht bloßes Überlegen : tum amor omnibus idem, wie Herr Jacob Harlowe zu Clarissa sagt.16 Freilich kann der Wilde [oder :], das ungestüme Vergnügen der Sinne den beständigen Zustand der Seele nicht ausmachen : aber kein Mensch hat es auch ge­fordert. Die Folgen der gröbern Wollüste sind wohl eigentlich in unsern verderbten Städten zusammen gelesen : doch dies mag hingehen. Es passet zur Widerlegung unserer wilden Wollüstlinge. Was für Vorteile gegen sie hat der feinere Epikure­ismus !17 Er wird mit aller Feinheit und Lebhaftigkeit beschrieben. Der Verf. ist red­lich dabei zu Werke gegangen, bis auf einen Punkt, den ich nachher anmerken will. „Und nichts desto weniger finden sich gewisse Augenblicke, da mir ist, als wenn mir etwas fehlte. Ich kann den Ekel und Überdruss mit aller meiner Mühe nicht vermeiden.“18 Sollte wohl ein Mensch sein, der, bei den ¦ recht | mäßigsten Gesinnun­ gen, diesen Überdruss, dieses dunkle Gefühl von etwas das ihm fehlte, in allen Stunden seines Lebens vermeiden könnte. Vielleicht möchte es also schwer sein zu erraten, was diesem feinern Epikure­er fehle : da es die Seele selbst nicht allemal recht klar weiß ? Nichts weniger als schwer. Das Vergnügen des Geistes fehlt ihm, und zwar nicht bloß dasjenige, wel­ches der Geist aus den Büchern, aus den mühsam zugetragenen Wissen  |  v.1: 622–623  ¦ 19–21

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schaften schöpfet, sondern auch das Vergnügen, † welches für einen Menschen der nur Augen hat, z. E. aus † der Betrachtung der Schönheit, einer Blume, einer schönen Bildsäule, erwächset. Vorher hatte der V. von dem feinern Wollüstlinge gesagt : „in dieser Folge von Ergötzungen ist zwar Raum für Behutsamkeit und Gedanken ; aber nicht für Kummer und Vorwürfe und schröckende Einbildungen“19 Wie kann ich mir denn nun einen feinern Wollüst­ling bilden, der des Vergnügens an Gedanken, an der Schönheit, kurz, der des gei­stigen Vergnü ¦ gens entbehret ! Wahrhaftig die St. Evremonte20 kennen es. Ich dachte erst, der Verf. habe seine wollüstigen Tiere mit der Circe menschenschaffender Rute21 berührt : aber ich sehe wohl, dass er sie nur auf die Hinterpfoten gestellet hat, um ihnen bloß in der Ferne menschliches Ansehen zu geben. Dies ist nicht aufrichtig gehandelt. Atticus sah einem Menschen genau ähnlich, und war es.22 Die nächstfolgende Betrachtung hätte weit gerader zu ihrem Zwecke, auch oh­ne die letzte falsche Wendung eingetroffen. „Habe ich denn keinen andern natür­lichen Zweck, keine andere natürliche Begierde in meiner Seele, als meinen Nut­zen, meine eigene Vollkommenheit ? […] Ja ich entdecke unwidersprechlich, dass noch etwas mehrers ist, wohin sich meine Seele neiget. – Ich habe vielfältige Triebe und Neigungen in mir wahrgenommen, die sich lediglich auf andre Wesen und deren Bestes beziehen, und die ich aus keiner von den vorhin erwähnten Empfindungen erklären kann […] – die nicht nur [der] Begierde nach sinnlicher Lust, ¦ oder nach meiner eigenen Verbesserung entspringen. Es muss also noch eine andere Quelle von Neigungen in mir sein, als diese. […] – Mein Geist hat natürlich Begriffe vom Anständigen, vom Schönen, vom Recht. […] – Ich werde also meiner ur­sprünglichen Einrichtung widersprechen, wenn ich meine Absichten auf nichts weiter, als auf mich, auf meine Lust und auf meinen Vorteil richten wollte.“23 Der V. fährt auf diesem Wege fort. Man weiß, wohin er fähret. Ich habe nur fol­gende Anmerkung zu machen. Man wird sich †  welches … aus ]  fehlt in Druck 1782 / JubA VI.1, 13. |  v.1: 623  ¦ 21–23

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niemals aus dem Streite zwischen der sogenannten eigennützigen, und zwischen der mitleidigen Philosophie herauswickeln : wenn man nicht drei Stücke auseinander setzt : 1) Die Neigung, einem Geschöpfe, besonders einem solchen, dessen mit der ­unsrigen ähnliche Organisation einen harmonischen Eindruck auf uns macht, nicht schaden zu wollen. 2) Die Neigung, dies Ge­schöpf, wenn es sich auf unserm Wege findet, zu erhalten. 3) Die Neigung und den Eifer, sich allenthalben zur Beförderung des all ¦ gemeinen Besten, zum Dienste aller Nebengeschöpfe anzugeben. Die beiden ersten Stücke finden sich bei allen Menschen ; aber das letztere ? ich zweifle, dass es sich bei einem finde, der es sich nicht durch Nachdenken und Überlegung erworben. Die Wilden sind hierin die besten und unverwerflichsten Zeugen der Natur. | Sollte aber wohl jemals in der Brust des Wilden das Bewusstsein einer allgemeinen Liebe für das menschliche Geschlecht gewohnt haben ? [Anm. n)] Wenn man fragt, ob alle Neigungen der Menschen sich aus einem einzigen Grundsatze herleiten lassen : so fragt man gewiss nicht, ob das Bewusstsein von dem ursprünglichen Gegenstande dieser Neigungen immer in gleichem Grade vorhanden sei : oder ob ich mir bei jeder Neigung gleich stark bewusst bleibe, dass sie auf meine Vollkommenheit abziele : dies muss freilich verneinet werden, und Gottlob dass es verneinet werden muss. Sondern man fragt : ob ich alsdann, wenn alle meine Neigungen bis auf den ersten Keim dererselben, bis auf die erste fruchtbare Handlung meiner hier im Körper sich bewusst werdenden ¦ Seele aufgelöset werden : ob ich alsdann nicht finde, dass aus einer mir behaglichen, mir zuträglichen, mir angenehmen Bewegung oder Empfindung alle fernere und weiterfortgeführte Neigungen sich zusammensetzen ? Dies sehen unstreitig nicht alle : aber so hat es auch nur Locke zuerst gesehen, dass der Begriff der Unschuld aus einem sinnlichen Begriffe entstanden sei.24 [Anm. o)] Unser Denker fängt an ein System für sich zu bauen. „Dieser Leib, den ich an mir trage, soll erhalten werden, und dies ist der vernunftmäßige Zweck, worauf auch die mir eingepflanzte Begierde nach sinnlicher Lust abzielet.“25 Ich weiß nicht, warum   |  v.1: 623–624  ¦ 23–25

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sie bloß auf die Erhaltung des Körpers abzielen solle. Dies ist vielleicht eine von den Wendungen, womit sich ein Frauenzimmer den ersten Abend nach dem Abschiede einer platonischen Liebe tröstet. Mir deucht, diese Begierde könnte eben so gut darauf abzielen, der Seele eine Veränderung ihres Zustandes zu verschaffen. Sobald sie an einen Körper gebunden ist, dessen Nervensystem, in ¦ einem gewissen Grade erschüttert, ihr entweder angenehme oder schmerzhafte Empfindungen geben muss : so ist jede Begierde nach einer solchen unschmerzhaften Erschütterung, so lange diese für den Körper nicht zerstörbar ist, in der Existenz der Seele gegründet, und kann auch auf sie selbst zunächst und unmittelbar abzielen. [Anm. p)] „Dies soll doch beständig meine Hauptsache sein, dass ich die höhere und edlere Triebe meiner Seele nicht übergehen möge ; diese Triebe, von welchen ich deutlich genug erkenne, dass sie billig regieren müssen. […] – Die Glückseligkeit des menschlichen Geschlechts, die mich so angenehm rühret, soll unveränderlich ein Gegenstand meiner ernstlichen Bemühungen und meine eigene Glückseligkeit sein.“26 Alles dieses setzt einen Menschen voraus, der unterrichtet ist. Wenn dieser seine Bestimmung in dem findet, was er durch Denken herausbringt ; worin sollen denn die tausende die ihrige suchen, die dergleichen etwa durchs Denken nicht erforschen können ? ¦ [Anm. q)] „Aus einer solchen Denkungsart erwächset die Rechtschaffenheit, und aus dieser die Religion. – Es ist nichts bei mir möglich, das mir einen Wert geben kann, nichts, das mich mit der anfänglichen Einrichtung meiner Natur und mit den Absichten der höchsten Regierung übereinstimmig machen kann, als meine innerliche Richtigkeit.“27 Wird eine Wiederholung hier überflüssig scheinen ? Sie kann es nicht, da sie etwas wichtiges vorträgt : Man unterscheide doch einmal die Bestimmung des Menschen, die er mit allen | andern Dingen dieses Weltgebäudes gemeinschaftlich hat, von derjenigen, die ihm als einer besondern Gattung von Wesen an einer besondern Stelle, eigen ist. Aus der erstern lässt sich die letztere nicht schließen, und diese allein entdeckt uns die Geheimnisse der Gottheit über ihn. Eine Offen  |  v.1: 624–625  ¦ 25–27

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barung, scheint es, kann einzig und allein uns darüber belehren : und wenn alle vorhandene Offenbarungen darüber stille schwiegen : so müsste man daraus folgern, dass Gott nicht für dienlich erachtet, uns von diesem be ¦ sondern Zwecke zu belehren, folglich vieles vor unsern Augen in Wolken eingehüllet zu lassen. Dieses würde aber nicht hindern, sich aus dem allgemeinen Endzwecke aller erschaffenen Dinge Lebensregeln zu bilden, die auch richtig und zur Erreichung meiner möglichsten Glückseligkeit hinlänglich wären. Und so ist es klar, dass der Mensch, vor dem die Türe seines Einganges in dieses Leben, und die Türe seines Ausganges aus demselben mit Wolken verdecket ist, dass dieser Mensch, sage ich, doch Licht genug hat für den Weg, den er wandeln soll. Eben dieser Mensch kann auch getrost sagen : „Der Geist, der über alles wachet, wird über mich wachen. Er, dessen Weisheit und Güte sich überall in so sichtbaren Spuren offenbaret, wird nichts geschehen lassen, davon das Ende ihm nicht anständig, und seinen Geschöpfen nicht heilsam sei. In seiner Hand stehen auch meine Schicksale […] – zwar in der Welt ist mir alles ein Rätsel. Ich sehe die Oberflächen der Dinge, und ihre innere Be ¦ schaffenheiten entwischen meinem Auge. […] – Hier geht alles ins Unendliche hinein : und so auch die Verwaltung der Welt. Alles verwirret mich ; alles macht mich ungewiss. Doch, was brauche ich mehr zu wissen, da ich meine Schuldigkeit und die Oberherrschaft einer unendlichen Liebe mit einer ungezweifelten Überzeugung erkenne ? Diese sind es endlich doch nur allein wert, dass sich alle übrige Einsichten darin endigen.“28 Sehr vernünftig geurteilet ! Warum beunruhiget er sich denn aufs neue, um Sachen zu erforschen, die vor ihm eines der genannten Rätsel sind ? „Ich folge hin und wieder den Schick­ salen in diesem Leben mit meinen Betrachtungen, und finde den Knoten nicht aufgelöset !“29 Wer sagt dem Denker, dass dieser Knoten nicht aufgelöset sei ? Dies ist eben die Frage, der die Philosophen aller Jahrhunderte nachgedacht haben. Gehört wohl zu meiner Existenz auf der Erde noch eine Fortdauer mit angeknüpftem  Faden der Begebenheiten unter zurückerinnerndem Bewusst|  v.1: 625  ¦ 27–29

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sein ? und müssen sich also die Knoten, ¦ die sich in meinem Leben auf der Erde geschürzt haben, indem sie fortlaufen wieder aufschlingen ? oder werden diese Knoten wieder aufgeschlungen ohne dass ich es weiß ? bleiben sie etwa auch wohl geknüpft, und weil sie sich an ganz etwas anders anhängen, und erst mit demselben zuletzt ihre wahre Richtung wieder erhalten ? Noch einmal : dies ist die große und schwere Frage über die Unsterblichkeit des Menschen. Nichts ist offenbarer, als dass sie sich nur und allein entscheiden lässet, entweder aus dem Zwecke, zu dem der Mensch mit allen übrigen Dingen geschaffen ist ; aus dem Satze also : keine Substanz wird vernichtet : anders, die Verknüpfungen in der Welt werden auf alle mögliche Weise erhalten. Oder aus dem besondern Zwecke, zu des­sen Erreichung der Mensch an die ihm angewiesene Stelle gekommen ist. Sollte es nicht wahr | sein, dass aus dem letztern Zwecke allein diese Unsterblich­ keit sich strenge erweisen lasse ? denn wer will uns aus der Vernunft sagen : ob der Knoten des menschlichen Lebens hiernieden schon vollkom ¦ men aufgelöset sei oder nicht ? Wer es sagen wolle ? Jeder, der nur die Augen offen hat. Und was sehen diese offene Augen ? Eine hiernieden unschickliche Austeilung des Glückes und Unglückes, des Lohnes und der Strafen. [Anm. r)] So ist es mir also leicht von einem andern zu sagen, er sei glücklich, er sei un­glücklich ! Es ist mir leicht zu sagen : die Summen dieses Glückes seien ungleich ausgeteilt. Ein Domitian, dem das Glück mangelt, einem rechtschaffenen Manne dreiste unter die Augen sehen zu dürfen, und in dessen Umgang ruhig, un­besorgt und frei von Argwohne zu leben, dieser Domitian wird mir wegen an­drer Dinge, die er besitzt, glücklich heißen, ohne dass ich den jetzgemeldeten Abgang in Anschlag bringe ! Ein Attila ganz glücklich ! ein Borgia !30 die reinste Freuden, die ihnen abgehen, ungerechnet ! Ein Bösewicht, der Überlegung hat, leidet von seinem Gewissen. Welcher bleierne Zusatz zu der Triumphsmünze, die für ihn geschlagen wird ! Ein Bösewicht, dem diese Überlegung mangelt, ent­behrt aller Vergnügungen des ¦ Geistes. Werde ich des Caligula neuerwählten Ratsherrn in  seinem marmornen Stalle glücklich nen­nen ? Und wer sagt |  v.1: 625–626  ¦ 29–32

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mir, dass vieles, welches ich als ein Unglück betrachte, nicht eine Bestrafung sei ? Ein angeborner siecher oder zerstümmelter Körper ist vielleicht nebst dem schädlichen Blitze, dem Erdbeben, der faulen Luft und der Überschwemmung, alles Unglück das von der Natur kommt. Kriege, Unter­drückungen, kommen aus der Gesellschaft der Menschen. Die Fortsetzung folgt künftig. ¦ [Teil XIX] III. Den 5. Juli 1764. Fortsetzung des zwei hundert und sieben und achtzigsten Briefes. Doch alles dies zusammen genommen, wer will mit Gewiss­ heit sagen, dass das Unrecht, welches ich durch die letztere leide, notwendig mir so dass ich darum wisse, und so zu sagen zur Sättigung meiner Rachbegierde müsse ersetzt werden ? Kann nicht unsre Erde einem andern Balle und allen Begebenheiten auf demsel­ben untergeordnet sein ? Wie will ich Wurm einsehen, dass irgendwo in dem Gan­zen unersetztes Unrecht vorhanden sei ? Mein Wunsch alles Unrecht, welches ich leide oder als Unrecht zu leiden glaube, vergolten zu sehen, beweiset nichts. Es ist eine Hoffnung mit der ich mich einwiege, und so, wie das gemeine ¦ Volk durch die Überzeugung, dass Gott seine Feinde sichtbarlich auf der Erde strafen werde, oft von Gewalt | tätigkeiten abgehalten wird : so scheint mich diese Hoffnung einer künftigen Bestrafung ebenfalls in meiner Rachbegierde zu besänf­ tigen. „Es muss eine Zeit sein, da sich alles, was hier verrücket scheint, an sei­ne Stelle hinsenket.“31 Aber, wenn es nur mir verrücket scheint ? „In der ganzen Natur führt mich alles darauf, dass Rechtschaffenheit und Glückselig­keit zusammen gehören,“32 welche Glückseligkeit ? „Ein allgemeiner Hang zur Ordnung wird einmal müssen durchgesetzet wer­den.“33 Unstreitig, aber mit welchem Grunde   |  v.1: 626–627  ¦ 32–34

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mache ich mich zum Subjekt, an dem diese Durchsetzung geschehen muss ? „Sobald ich dies Leben als einen Zustand der Erziehung, der Prüfung und der Vorbereitung auf etwas weiters ansehe ; so wird mir alles helle und voll begreifli­chen Zusammenhanges.“34 Vorzüglich in Absicht auf die große Anzahl derer bald nach der Geburt wieder sterbenden Kinder. ¦ Es ist erstaunend, wie man sich hat bereden können, dieser frühzeitige Tod werde daraus begreiflich, weil dieses Le­ben nur ein Stand der Prüfung sei : da doch aus demselben gerade unbegreiflich wird, wie dieses Leben ein Stand der Prüfung sein könne. Allein es gibt Artikel, die einer dem andern ohne Gedanken nachbetet, bloß weil man froh ist etwas, das man vortragen kann, zu haben. „Ich spüre Fähigkeiten in mir, die eines Wachstumes ins unendliche fähig sind,“35 woraus schließe ich dieses ? Ich glaube nicht, dass z. E. das Gedächtnis eines Menschen ins unendliche wachsen könne. Versuche, die man gemacht hat, bewei­sen, dass es wenigstens im gegenwärtigen Körper einen Stillestand habe. Und wenn alles, was entwickelt werden kann, bis auf einen gewissen Grad entwickelt wer­den muss : woher rührt es, dass so viele tausend Fähigkeiten hier auf der Erde nicht einmal zu dem mäßigen hier möglichen Grade der Entwickelung kommen ? Jede Gattung der Geschöpfe musste einerlei Knäuel, wenn ich so sagen kann, aner­ schaffen haben, den ¦ die einzelnen Stücke dieser Gattung nach Beschaffenheit der Umstände abwinden könnten. Aber wer sagt mir, dass alle ihn abwinden müssen : und dass nicht etwa andere Dinge vorhanden sein, die dabei ein Hindernis einlegen ? Immer liegt bei diesen Schlüssen der Gedanke zum Grunde, dass das menschliche Geschlecht an das übrige Weltgebäude weiter gar nicht gebunden sei. „Außer der Vernichtung, die von meinem Schöpfer herrühren müsste, gegen die ich aber gesichert bin, darf ich keine andre Zerstörung befürchten.“36 Nein, die darauf folgende Betrachtungen aber stehen hier am unrechten Orte.37 „Nicht aber bloß das Dasein, auch das wirkliche Leben in der Zukunft wird mir durch die Natur meines Geistes geweissaget,   |  v.1: 627  ¦ 34–36

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deren Tätigkeit nicht ganz von den Sinnewerkzeugen abhängig ist : sie können abgehen, ohne dass mir selbst etwas gebre­che. Ich werde dann, von allen Seiten den Eindrücken von außen geöffnet, lauter Empfindlichkeit, nur ein allgemeiner Sinn sein.“38 Sollte man wohl ohne Fehler ¦ einen solchen Fortgang der Leichtigkeit im Denken annehmen können ? Ich weiß dass man sagen kann : wenn wir noch einen sechsten Sinn hätten : so würde der Umfang unserer Kenntnisse ungemein vermehret ; durch einen siebenten noch weiter : durch einen achten ; | gut. Kann ich mir aber diese Öffnungen, als Durchlöcherungen meines Körpers, ihre Anzahl folglich in einer solchen Menge vorstel­len, dass der Körper gleichsam ganz verschwände ? Sobald ich diesen ganz wegfal­len lasse ; so verliere ich den dünnen Faden, der mich auf die Spur des Denkens lei­tet. [Anm. s)] „Aus dieser großen Erwartung, die meinen Wert und meine Bestimmung er­höhet, erkenne ich nunmehro, dass ich zu einer ganz andern Klasse von Dingen gehöre, als diejenige sind, die vor meinen Augen entstehen, sich verwandeln und vergehen.“39 Mir deucht, eine so schnell gezogene Folge dürfte in Schwierigkeiten verwickeln. Gehören wohl die Tiere zu denen Dingen, welche vor meinen Au­gen entstehen, sich verwandeln und vergehen [?] Ich ¦ hätte nicht die Dreistigkeit es zu sagen, es wäre auch nicht wahr ; wenigstens durch meine Beobachtung nicht. Ge­hören sie aber nicht zu den vergehenden Dingen ; so steigen sie ja auch zu der hö­hern Klasse herauf. Wie ? Ich Mensch ! bin ich schon wieder beschämt, andre Ge­schöpfe im Weltgebäude mit mir in Vereinigung und Gemeinschaft zu sehen ? „Aus dieser großen Erwartung ist es mir ebenfalls klar, das diese sichtbare Leben bei weitem nicht den ganzen Zweck meines Daseins erschöpfe. Ich bin also für ein ander Leben gemacht.“40 Ich habe schon untersucht, wie weit dieser Schluss gelte ! Was soll ich denn aber nun von meiner Bestimmung denken ? Zuerst anbeten ! und dann wohltun ! Dies kann ich erkennen, dass ich mit allen Geschöpfen zur Ordnung und Eintracht geschaffen bin, und dass bei Zerstörung derselben mein Glück   |  v.1: 627–628  ¦ 36–38

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nicht bestehen könne. Welchen Teil der Schöpfung ich aber ausmache, wie weit ich und meine Gattung in die Berechnung des Ganzen gekommen seien ? ob wir nirgends ¦ eine gegenseitige Größe antreffen, die uns aufhebt : – soll ich entscheiden ? Nein. Soll ich den Gedanken meiner Fortdauer fahren lassen ; die Hoffnung auf die Gestorbene verlieren ? – verlieren ! tröst­ licher Gedanke der Unsterblichkeit ! wir können dich nicht missen : Zwar so wie dich etwa der trockene Verstand in dem Worte : unvernichtet, hervorbringt : so können wir dich missen : aber nicht so, wie ihn jede tugendhafte Empfindung mit ihr assoziieret hervorgehen lässet. Lass uns aber dich nicht auf den Eigendünkel gründen, dass Ordnung hier fehle, so bald wir sie nicht † erblicken, und Gerechtigkeit des Himmels nicht gehandhabet sei, so bald wir sie nicht † fühlen. Still müssen wir warten, bis der Geber alles Guten und der Herr seiner Geschöpfe jedem unter uns auf der vorgeschriebenen Höhe seine Befehle zu eröffnen erlaubet. Unwissend in diesem Stücke müssen wir alle vorher absegeln ; es sei denn dass eine göttliche Offenbarung im voraus, durch tröstliche Versicherungen das Ziel unserer Abfahrt uns bekannt und erwünschet mache. Immerhin „will ich ¦ also doch mein ganzes Gemüt mehr und mehr mit der trostvollen alles versüßenden Vorstellung erfüllen, dass ich noch in einem andern Zustande zu leben habe, worin ich nach der Natur der Dinge, und nach der † gütigen † Regierung der höchsten Weisheit nichts als Gutes erwarten darf ; dass ich also noch einmal, nach einer völligen Befreiung von den Torheiten sowohl als den Plagen dieses Lebens, mich auf ewig mit der Quelle der Vollkommenheit vereinigen, die ganze Wollust richtiger Gesinnungen unvermischt | und ungestört genießen, und also das große Ziel desto mehr erreichen werde, dazu ich durch meine Natur und von meinem Urheber bestimmet bin, nämlich rechtschaffen und in der Rechtschaffenheit glückselig zu sein.“41 – – | ¦

† erblicken … nicht ]  fehlt in Druck 1782 / JubA VI.1, 18  † gütigen ]  JubA VI.1, 18: gültigen |  v.1: 628–629  ¦ 38–40

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[Moses Mendelssohn] Orakel, die Bestimmung des Menschen betreffend. Deinen Standort hienieden suchst du, o Mensch ! und deine Bestimmung ? Befrage beides, Vernunft und Erfahrung. Erforsche dein Geschlecht, die Menschen, und was sie sein sollten, was sie sind. Betrachte den Wilden und den Gesitteten, den König, den Bettler, den Weltweisen, den Hofschranzen, Abauzit, Voltairen42 , dich und den Grönländer in seiner schmutzigen Hütte. Alle machen Anspruch auf dieselbe Bestimmung. Wenn du die Stimmen gesammlet hast, so setze dich in den Schatten des sokratischen Ahorns 43 und vergleiche ! Jene Krieger, die in ihrem friedsamen Lager Muße hatten, der Absicht ihres Soldherrn nachzudenken ; sollten sie diese nicht aus den täglichen Verrichtungen, zu welchen sie ange ¦ halten worden, erraten können ? Sind es Kriegesübungen ; so fürchtet der Herr seine Nachbarn, oder gehet selbst auf Eroberungen aus. Müssen aber auf Befehl am Ufer des Meeres Muscheln gesammlet werden : so wird ein Naturalienkabinett angelegt. – Leichter und sicherer wird ihre Vermutung, wenn ihnen die Gemütsart ihres Soldherrn nicht ganz unbekannt ist. Deine Verrichtungen hienieden, o Mensch ! sind dir diese unbekannt ? Das unermessliche Weltall erfüllt die Absichten Gottes. Die gesamte Natur bezeichnet die Gedanken des Allmächtigen, aber durch Zeichen, die die Sachen selbst sind. Jede neue Gestalt, die sie annimmt, ist ein Gedanke des Unendlichen, der in Erfüllung kommt. Das Tier bewegt sich und fühlet, wie es die Absichten Gottes erfordern, und der Mensch kann durch keinen Eigensinn verhindern, dass seine Ausschweifungen selbst nicht zu den nämlichen Absichten übereinstimmen. Sein Trotz, seine Blindheit selbst löset sich durch ¦ die wunderbarsten Gänge in die große Harmonie auf, erfüllet die Absichten des Allerhöchsten. Dieses ist die allgemeine Bestimmung aller Geschöpfe und auch deine. Aber du besitzest auch etwas Eigentümliches, wodurch du Mensch bist. Du kannst durch Übung vollkommner werden,   |  v.1: 630  ¦ 41–43

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und du wirst es. Dein Leben ist eine beständige Bemühung, die in dir eingewickel | ten Fähigkeiten abzuwinden. Deine Kräfte arbeiten unaufhörlich an ihrer eigenen Verbesserung. Du magst als Säugling, oder als Greis sterben ; so gehest du allezeit ausgebildeter von hinnen, als du hergekommen bist. Und der Weg vom Embryo zum lallenden Kinde ist vielleicht größer, als der vom Schulknaben zum Newton. Ohne Bücher, ohne Schulen und ohne Gesetze bringen die Grönländer ihren ewigen Winter in Eintracht und häuslichen Vergnügungen zu, und sprechen von den gesitteten Kolonisten, die sich zanken und raufen : Diese ¦ Leute vergessen gar ofte dass sie Menschen sind. Die Menschen mögen vom Brote, von Seefische[n] oder von Wurzeln le­ben, sie erwerben alle auf Erden einen unermesslichen Schatz von Begrif­fen, Urteilen, Empfindungen und vernünftiger Erkenntnis. Der Wilde, der einen Baum betrachtet, und sich einen deutlichen Begriff davon bildet, empfindet, trennet, vergleicht, überlegt, urteilet, übet alle seine See­lenkräfte, und verbessert sie. Aufruhr, Menschenschlachten, Verfolgung, Unsinn und Schandtaten verhindern nicht, dass alle die darin umkommen oder umbringen, † vernünftige Erkenntnis † auf Erden erworben hätten. Sehr we­nig, sprichst du ! Weißt du denn, o Mensch ! wie viel zu einem vernünfti­gen Begriffe gehöret ? Vom dunklen Fühlen im Mutterleibe bis zum geisti­gen Begreifen, was für ein Schwung ! der scheint dir seichte ? Die eigentliche Bestimmung des Menschen hienieden, die der Tor und der Weise, aber ¦ in ungleichem Maße, erfüllen, ist also die Ausbildung der Seelenfähigkeiten nach göttli­chen Absichten ; denn hierauf zielen alle seine Verrichtungen auf Erden. Sind seine Seelenkräfte eines unaufhörlichen Wachstums fähig ? – Ja, aber sie müssen in gehörigem Ebenmaße unter sich, und mit den sinnli­chen Gliedmaßen, bleiben. Wer diese Proportion aus den Augen lässt, und sein Gedächtnis † verbessern † vernünftige Erkenntnis ] Druck 1782 / JubA VI.1, 20: Sitt­lichkeit und  vernünftige Erkenntnis |  v.1: 630–631  ¦ 43–45

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will †, muss der nicht gar bald sich allzu lebhaft erinnern, und wahnwitzig werden ? Der Charakter deines Soldherrn ? – O der liebenswerte, der an­betenswerte erscheinet dir in einem Lichte, das heller ist, als die Sonne im heißen Mittag. Seine Weisheit und seine Gütigkeit ! – – Dieser allerweiseste Wohltäter hat uns hieher geschickt, unsere Kräfte durch beständige Übungen zu verbessern; dass dieses sein Wille ¦ sei, leh­ret uns die Natur unserer Begierden, Wünsche, Leiden | schaften ; lehrt uns unser Wohlgefallen, Missfallen, Geschmack, Eigensinn, und unsere Eitel­keit selbst. Der ungebildete Mensch empfindet die Kraft aller dieser Triebfedern, ohne sie in Worten ausdrücken zu können. Der Ausgebilde­te vernünftelt darüber, und ist desto glückseliger, je genauer sein freier Wille mit der wahren Bestimmung seiner Naturtriebe, mit den Absichten Gottes übereinstimmet. Hat dieser Wohltäter noch andere Absichten mit uns, als die wir auf Erden erfüllen ? Freilich ! Keine Substanz wird vernichtet, und so lange sie da ist, erfüllet sie die Absichten ihres Erhalters. Hängt unser zukünftiger Zustand mit dem Gegenwärtigen zusammen ? So vollkommen als die Reihe der Absichten Gottes, als die Gründe einer langen Demonstration. Keine der folgenden kann ohne alle vorhergehen­den ¦ bestehen. Die Blüte, die ein Nordwind herabwirft, das Samenkörn­lein, so nicht zum Gedeihen kommt, zerstieben, werden aufgelöset, ihre Teile nehmen eine andere Bildung an, und erfüllen in ihrer neuen Or­ganisation Absichten Gottes. Würden sie es tun, wenn jene nicht vorher Blüte, dieses Samenkörnlein gewesen wäre ? – Die Absichten Gottes gehen, wie die Schlussfolgen einer richtigen Demonstration, allezeit den nächsten Weg zum Ziele. Auch dort, o Mensch ! auch dort wirst du der Gottheit dienen, und du würdest ihr nicht dienen können, wenn sie dich hienieden nicht deine Kräfte hätte ausbilden lassen ; so wenig als du † verbessern will ] Druck 1782 / JubA VI.1, 20: bis zum Übermaß verbessert   |  v.1: 631–632  ¦ 45–47

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hienieden hättest Mensch sein können, wenn deine Grundbildung nicht in dem Blute deines Vaters wäre zubereitet worden. In der göttlichen Ordnung herrscht Einheit des Endzwecks. Alle untergeordnete Endzwecke sind zugleich Mittel ; alle Mittel sind zu­ ¦ gleich Endzwecke. Denke nicht, dieses Leben sei bloß Vorbereitung, das künftige bloß Endzweck. Beide sind Mittel, beide sind Endzwecke. Mit gleichen Schritten gehen die Absichten Gottes und die Veränderungen ei­ner jeden Substanz ins Unermessliche fort. Der Beschluss folgt künftig. | ¦ [Teil XIX] IV. Den 12. Juli 1764. Beschluss des zwei hundert und sieben und achtzigsten Briefes. O Geist des großen Leibniz ! der du die Zweifel des Vielschreibers und die Gespenster seiner Foliobogen durch unansehnliche Octavseiten, wie die Morgensonne die Schatten, zersteubest ; ich fühle das Säuseln deiner Gegenwart ! Komm, führe mich in den Saal des ewigen Schicksals. Zeige mir die unvollendeten Pyramiden möglicher Welten und die vollendete Eine, auf dass ich sehe, wozu die Geister in jenen hätten bestimmt sein können, in dieser sind ! – Und du, mitternächtlicher Beschwörer Baylens, mit dem Zauberstabe in der Hand, folge unsern Tritten ! Dort winkt uns die blauäuige Toch ¦ ter Jupiters.44 Siehe ! die Tore öffnen sich freiwillig. Wir staunen und weichen zurück. Leibniz tritt näher, und die Göttin spricht : „Wisset, unsterbliche Menschenkinder ! In allen möglichen Verbindungen der Dinge habet ihr mit dem gesamten Geisterreiche einerlei Schicksal. Die unterste Stufe einer jeden Gattung hat mit der obersten eine ähnliche Bestimmung. Seid nicht verächtlich in euren Augen, ob ihr gleich nur Würmer auf einem Stäublein seiet, das im unermesslichen Weltall herumschwimmet.   Als Glieder des Geisterreiches, als Bürger im Staate Got|  v.1: 632–633  ¦ 47–50

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tes, gehört ihr zum herrlichsten Teile der Schöpfung. Was euch widerfährt, widerfähret auf eine ähnliche Weise dem gesamten Geisterreiche. Als mein Vater beschloss eine Welt werden zu lassen ; suchten wir in diesem Saale, ich und Apollo, auf seinen allmächtigen Winke, den seiner Majestät würdigsten Plan auf. Hier diese unförmliche Gestalt ward verworfen. In ihr sollte das Interesse der Geister ¦ welt andern Absichten aufgeopfert werden. Keine höhere Ordnung kann der niedrigern weichen. In jener dort sollten die Geisterkräfte allmählich abnehmen. Wir gingen vorbei. Es fand sich eine, in welcher sie zwar eine Zeitlang zunehmen, aber auf einmal alles Erworbene wieder verlieren sollten. – Die Arbeit des Sisyphus !45 Nichts ist ohne Früchte verloren. Das Böse nicht, und das Gute sollte es sein ? Ob die Geister in jedem neuen Zustande die Erinnerung des | vorigen behalten sollten, waren wir etwas unschlüssig. Jedoch nicht lange ; wir fanden, dass der Übergang von niedriger Erkenntnis zur Höhern natürlicher Weise die Erinnerung mit sich führe. Nur in wenigen Fällen kann sie verhindert werden. Wir sahen ferner, dass diese Erinnerung auf die moralische Vollkommenheit der Geister von unendlichem Nutzen sein würde. Durch sie allein konnte der strengsten Gerechtigkeit Genüge geschehen. Durch sie allein den Men ¦ schen in einem zweiten Leben sich auflösen, was im ersten verschlungen schien. Tritt näher, mein Sohn ! fuhr sie fort, der du schon wieder einen Zauberkreis zu ziehen drohest. Du meinest, es sei in keiner Ordnung etwas verrückt. Alles sei wohl eingerichtet und bedürfe keiner fernern Entwickelung, gut ! So ist denn dieses selbst eine Entwickelung, dass du in jenem Leben erfahren wirst, wie alles wohl eingerichtet sei, wie verschiedenes nur verrückt schien, nicht war. Mein Vater soll von jedem Geiste erkannt, von jedem Geiste gerechtfertiget werden. Bedenke auch dieses, mein Sohn ! Du kennest den Sokrates, meinen Liebling. Gesetzt dieser glückselige Geist habe nie eine andere Belohnung verlangt, als die aus der Tugend selbst ent  |  v.1: 633–634  ¦ 50–52

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springt. Für ihn also war hienieden nichts verschlungen, denn seine Seele dürstete nicht nach Rache. Wie stund es aber um seine Verfolger ? War auch hier nichts, das einer Auflösung bedurfte ? Sollten die Unglückseligen niemals erfahren, dass es böse sei, die ¦ Unschuld zu verfolgen, die Tugend in Fesseln zu schlagen, den Aberglauben zu befördern, und alle Rechtschaffenheit aus der Republik zu verbannen ? Sollten ihre Seelen ewig so verstümmelt bleiben ? Du siehest also, mein Sohn ! dass in der moralischen Welt nicht alles an seiner Stelle sein würde, wenn jenes Leben nicht das Rätsel auflösen sollte. Allein auch in der physischen Welt scheinet dein stoischer Felsensinn dich zu hintergehen. Empöret sich nicht deine ganze Natur, wenn alle diese Gräuel der Lasterhaften, so wie dir das Leiden der Tugend, wie ein Traum dahin fahren sollte ? Ist alles wohl und gerecht, wenn ein unschuldiger Verfolgter auf die Leichname seiner Söhne verhungert, um nicht mehr zu sein ? – Wie aber, wenn er noch sein, und sich der Prüfung mit Vergnügen erinnern wird ? – O göttliche Beruhigung ! Du tadelst diesen unwiderstehlichen Wunsch, diese Sehnsucht | nach der Erfüllung der Gerechtigkeit ? Du vergleichest sie mit der ¦ Rachbegierde des Pöbels ? Mein Sohn ! die allerverderbtesten Neigungen müssen eine natürliche Grundlage haben, die gut und der Seele von dem Schöpfer eingepflanzt ist. So wenig eine willkürliche Bewegung, wo kein Muskel ist, durch Übung und Gewohnheit hervorgebracht werden kann ; eben so wenig kann eine künstliche Neigung erzeugt werden, wo keine natürliche zum Grunde liegt, – die Rachbegierde des niedrigsten Pöbels hat in diesem Fall die Neigung zum Grunde, die moralische Bosheit durch physisches Übel zur Erkenntnis gebracht zu sehen. Durch Gewohnheit, Umgang und Erziehung kann sie in unedle Rachsucht ausarten ; aber du musst sie darum nicht ganz verkennen.“ Sie hatte geredet, schenkte uns noch einen göttlichen Blick, und verschwand. – Nunmehr finde ich mich stark genug alle Ihre Zweifel, wie Elias die falschen Propheten, abzuschlachten.  46 ¦ |  v.1: 634–635  ¦ 52–54

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1) Welches ist die Bestimmung des Menschen ? – Antw. In dem Zustande vernünftiger Erkenntnis die Absichten Gottes zu erfüllen, fortzudauren, vollkommner zu werden, und in dieser Vollkommenheit glückselig zu sein. 2) Worin sollen die Tausende ihre Bestimmung setzen, die sie durchs Denken nicht erforschen können ? – Antw. Sie bleiben ihr treu, ohne darüber zu grübeln. Erfüllen die Weltkörper nicht ihre Bestim­mung, ohne sie zu wissen ? Der Unendliche hat nicht einmal die Stil­lung des Hungers auf unsere Vernunft ankommen lassen, geschweige die Erfüllung seiner Hauptendzwecke. 3) Es sterben Säuglinge ? – Antw. Nicht ohne irgend eine Fertigkeit ih­rer Seele ausgebildet zu haben, wäre es auch nur das Vermögen zu füh­len, das die Geburt im Mutterleibe schon übet. Was für Veränderun­gen, ich erstaune, wenn ich sie überdenke, bevor ein Samentierlein in seiner neuen ¦ Bildung Hunger, Wärme und Nässe fühlen lernet ? Und sie wollen, dass es dadurch nicht tüchtiger werden könnte, die Absichten seines Schöpfers zu erfüllen ? Jedes Samenkörnlein, das nicht zur Befruchtung kommt, muss gleichwohl durch diese Bildung tüchtiger worden sein, in der darauf folgenden Organisation die Ab­sichten Gottes zu erfüllen. 4) Woher kommt es, dass so viele tausende Fähigkeiten hier auf | Erden nicht einmal zu dem mäßigen, hier möglichen Grade der Entwicke­lung kommen ? – Antw. Hier möglichen ? ohne oder mit Vernachlässigung weit wichtigern Absichten ? Getraun Sie sich hie­rauf zu antworten ? – – Und woher es kommt ? Daher, dass viel tau­send Fähigkeiten in der allgemeinen Anordnung die göttlichen Ab­sichten in einem anderen Zustande erfüllen konnten, ohne die ganze, hier mögliche, Reihe der Ausbildung durchzuwandern. 5) Warum aber nur einige ? Warum nicht alle ? – Antw. So kann je­mand ¦ leugnen, dass alle Stücke einer Uhr zu einer einzigen Absicht übereinstimmen. Dieses Rad läuft schnell, jenes langsam, ein drittes gibt fast gar kein Zeichen einiger Bewegung von sich. Warum liefen sie nicht gleich schnell, oder gleich langsam,   wenn sie eine gemein­schaftliche Absicht verbände ? – So ist |  v.1: 635–636  ¦ 55–57

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es ! – die Einheit der Absicht erfordert Mannigfaltigkeit in den Bestimmungen der Teile. 6) Die Tiere – O lassen Sie diese arme Geschöpfe immer heran klette­ren, ich Mensch schäme mich keinesweges. Wo ist nunmehr das ganze Heer von Zweifeln, das Sie wider Hr. Spaldingen zu Felde geschickt haben ? Keiner soll meinen Händen ent­w ischen. Wo sind sie ? – Verschwunden, so bald sie ihre Helden haben fallen sehn, und ihre Fahne, der flatternde Folio Bogen, schmücket meinen Triumph. – Über die Grenzscheidung der eigennützigen und mitleidigen Welt­weisheit, deren Sie er ¦ wähnen, habe ich noch eine Anmerkung zu ma­chen, die mir so richtig scheinet, dass ich nicht Ur­sache habe, sie im Tone des entscheidenden Orakels vorzubringen. – Die drei Neigungen, die Sie unterscheiden, haben alle dieselbe Grundlage, die Lust an unsers Neben­menschen Glückseligkeit, und die Unlust über das Gegenteil. Sie ent­springen aus der nämlichen Kraft und haben das nämliche Ziel. Nur das medium resistens, der Inbegriff aller übrigen Neigungen der Seele, die dieser geselligen Neigung widerstehen, verändern ihre Richtung, Ge­schwindigkeit und den Grad ihrer Wirksamkeit. Der Weltweise hinge­gen, der die Grundtriebe seiner Seele kennen lernen will, muss den Wider­stand bei Seite gesetzt, wie in der Mechanik, die Wirkungen in medio non | resistenti betrachten.47 Gewohnheit, Erziehung, Übung, Beispiel, Vorurteil u. s. w. können die Wirksamkeit der Triebfedern vermehren, aber keine Lust, keine Begierde, Neigung u. s. w. erzeugen, die nicht da gewesen. So bald wir also wahrnehmen, dass der ausgebilde­te, der richtig denkende Mensch ¦ nur einigen Eifer bei sich verspüret, das allgemeine Beste zu befördern ; so muss die Grundlage, das Angeborne dieser ausgebildeten Neigung bei dem rohesten Menschen anzutreffen sein, und nur durch den Widerstand, den sie bei ihm findet, eingeschränkt und gehemmt werden. In der Tat ist die Neigung, seines Glei­chen nicht zu schaden, die Sie dem Wilden selbst nicht absprechen, mit dem Eifer das allgemeine Beste zu befördern, im Grunde einerlei, und nur dem   |  v.1: 636–637  ¦ 57–59

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Grade nach von demselben unterschieden. Sie findet bei den Wilden großen Widerstand in seiner natürlichen Trägheit, in seinem Unvermögen, in seiner Achtlosigkeit u. s. w. Der vernünftige Mensch be­siegt diese widerstrebende Neigungen durch Überlegung und anhaltende Übung, und vermehret durch die nämlichen Mittel die Kraft der gesel­ligen Neigung. Setzet den Widerstand bei Seite ; so findet ihr bei beiden den nämlichen Grundtrieb. Mich dünkt also Hr. Spalding habe großes Recht auf die Seite der Weltweisen zu treten, die dem Menschen einen geselligen, uneigennützigen ¦ Trieb, einen Grundtrieb zum allgemeinen Besten zuschreiben. Über die Grille, das unschuldige Vergnügen, das aus der Befriedigung dieser Neigung entspringt, Eigennutz zu schelten, sind Sie, wie ich vermute, nicht weniger Hr. Spalding, hinweg. Es ist † lächerlich †, durch einen dialektischen Kunst­g riff das ganze System der Glückseligkeit und Tugend zerstören zu wol­len !

†  lächerlich ] Druck 1782 / JubA VI.1, 24 : unanständig |  v.1: 637  ¦ 59–60

Briefwechsel zwischen Moses Mendelssohn und Thomas Abbt (1764 – 1766)

Abbt an mendelssohn 1 Rinteln, den 21. Mai 1764. Wenn der Prophet Elias ein Taschenspieler gewesen, und das Messer, womit er die Baaliten abzuschlachten geschienen, anstatt in ihre Kehle zu fahren, in sein Heft zurückgefahren wäre ; so würden vielleicht die vermeinte Schlachtopfer wie tot zur Erde gesunken, aber, nachdem sich das Volk verlaufen, wieder aufgestanden sein, und eine Stunde nachher wohl gar mit dem Propheten geschmauset haben.2 – Ich und mein Zweifel. [Anm. t)] Doch Sie sollen bald sehen. Noch eins vorher. Ihren Brief schicke ich Ihnen nicht zurück : ich will lieber das zum Verständnisse nötige daraus abschreiben. Welches ist die Bestimmung des Menschen ? Antwort : „In dem Zustande vernünftiger Erkenntnis die Absichten Gottes zu erfüllen, fortzudauren, vollkommener zu werden, und in dieser Vollkommenheit glückselig zu sein.“ [hier S. 38] Diese Antwort beweisen Sie mir daher, weil Ihr angegebenes allen Menschen gemein ist, weil es dem Säuglinge wie dem Erwachsenen zukommt. Aber wenn es mir, der ich ohne Messer hier stehe, noch erlaubt ist zu reden. Aus diesem allgemeinen Zukommen wollte ich eher schließen, dass das Erwerben dieser vernünftigen Erkenntnis ein Werkzeug der Bestimmung, und nicht selbst die Bestimmung sei. Ich lasse nochmals meine Soldaten3 auftreten : die eine[n] wissen schon alle Handgriffe, die andere[n] sogar die großen Evolutionen, die dritte[n] können kaum marschieren, geschweige, dass sie das Gewehr verstehen. Der Befehl kommt, dass sie ohne Unterschied fort sollen. Wir stehen wie politische Kannengießer am Tore : ich runzle meine Stirne, und sage : was mag mit den Leuten vor sein ? Nun kommen Sie und Ihre Blauäugige, die |  xii.1 : 46 

S. 246

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Briefwechsel mit Thomas Abbt (1764 – 1766)

Eule anstatt eines Bologneserhündchens im Arm,4 und beantworten meine Frage : das, was du am vierzehntägigen Soldaten bemerkst, wie am vierzehnjährigen, das ist ihre Bestimmung. Auch der Bauerjunge, der nur etliche Mal an andre angeschlossen, mit gleichem Schritt den Hals | steif links gedreht, auf- und abgegangen, hat seine Soldatenkräfte schon gewaltig geübt. Voller Erstaunen sage ich nur noch die drei Worte, die ich schon erst gesagt hatte : wohin gehen sie denn ? In der Tat, darauf kommt alles an : Ich leugne nicht, dass ein jedes Ding seine Bestimmung habe, noch weniger, dass sie eine jede Gattung, folglich auch jede Untergattung habe. Ich behaupte ferner, es muss jede Gattung ihre eigentüm­liche Bestimmung haben, die sich endlich alle in der allgemeinen, nämlich der Glückseligkeit der Geschöpfe, und wenn Sie wollen, der Verherrlichung Gottes, vereinigen. Und eben zu jeder dieser eigentümlichen Bestimmungen gehören eigentümliche Werkzeuge. Der Mensch hat die Werkzeuge des vernünftigen Denkens. Nun werden aber diese Werkzeuge nicht bei allen zu gleicher Vollkommenheit gebracht : wäre dies noch ; so würde ich vielleicht weiter in meinem Erraten kommen. Da es aber nicht ist ; so werde ich eben durch dieses Ungleiche noch mehr irre gemacht ; indem ich so schließe : Vermittelst des Denkens und Wollens sollen diese Geschöpfe zu ihren Bestimmungen kommen. Auch jenes bringen sie zu so ungleicher Vollkommenheit, wie mag doch ihre Bestimmung erhalten werden, und worin mag sie bestehen. Ich gehe weiter, und sage : der einzige Weg, die Bestimmung des Menschen zu erfahren, ist dieser : das Verhältnis jeder Weltkörper eines gegen den andern zu wissen. Wenn den Deputierten, die Klopstock wie Kreisgesandte von jedem Weltkörper zusammen kommen lässt, 5 zu trauen wäre ; so konnte man es von ihnen am sichersten erfahren. „Tausende, die auch ihre Bestimmungen nicht kennen, bleiben  ihr doch treu, und dies ist genug.“ [hier S. 38] |  xii.1: 46–47

Briefwechsel mit Thomas Abbt (1764 – 1766)

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Vielleicht nicht. Wenn die Bestimmung des Menschen das Denken bis zu einem gewissen Grade und auf eine gewisse Art ist ; so ist das Denken der Wilden nicht genug. Ich sehe nicht ab, wie Sie noch weiter den Rousseau widerlegen wollen.6 Man wendet gegen ihn ein : die Fähigkeiten des Menschen müssen so weit entwickelt werden, als sie es können. Also ist der Mensch zu den Wissenschaften bestimmt, und sie sind ihm nützlich, ja er ist verbunden | dazu, lass auch aus dem Missbrauche für Schaden entstehen, was da will. Nun ergreift Rousseau Ihre Antwort : Der Wilde übt bei der einzelnen Vorstellung eines Baumes schon alle seine Seelenkräfte : also erfüllt er seine Bestimmung, da alles übrige und weitere dem Missbrauch unterworfen ist, und unstreitig ist, wäre es auch nur zufällig, mehr Schaden als Nutzen † gestiftet † ; so setze dich auf den ersten besten Eckstein, Mensch, lege deine Kleider ab, und lauf in den Wald. „Es sterben Säuglinge : gut, aber nicht ohne irgend eine Fertigkeit ihrer Seele ausgebildet zu haben.“ [hier S. 38] Ich bedaure Sie, dass Ihnen das Denken hierüber zu einer schmerzhaften Empfindung geworden ist. Wenn Sie sich von dem einzelnen Falle wieder hinaufschwingen können zum Allgemeinen ; so werden Sie wohl sehen, was ich sagen kann. Eben dieses Ausbilden an ihnen, das doch noch so weit vom Ausbilden des Menschen verschieden ist, vermehrt meinen Zweifel, nicht, ob sie eine Bestimmung haben, sondern, was sie sei. Andere Stücke, die aber meist mit diesem auf eines hinauslaufen, verspare ich nebst tausend andern Sachen, die ich Ihnen gern schreiben will, zu einem Briefe der nächsten Woche. Jetzt treibt mich die Post, ich bin auch nicht recht aufgeräumt zu schreiben, weil mein Körper ein wenig verspannt ist. Also leben Sie für diesmal wohl, mein teurester Freund. […]

†  gestiftet ]  JubA : stiftet |  xii.1: 47–48

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Briefwechsel mit Thomas Abbt (1764 – 1766)

Abbt an mendelssohn 7 Rinteln, den 8. Heumonats [Juli] 1764. Diesen Brief bin ich Ihnen noch zu meinem vorigen schuldig, damit wir im Schreiben nicht nur wieder in Ordnung kommen, sondern auch eine Ecke weiter fortrücken mögen. Der andere Punkt ist die Rachsucht in Absicht auf künftige Strafen.8 Ich gebe Ihnen Recht, dass der Grund dazu eine Neigung ist, | das Unrecht und die Gewalttat allenthalben ans Licht gezogen und gehemmet zu sehen. Wenn ich aus meinem Fenster einen Jungen einem andern Unrecht tun sehe, so ergrimme ich oft darüber, und möchte drein schlagen. Aber beweist dies, dass die Strafen in meiner Gegenwart müssen ausgeteilt werden. – Um Gottes Gerechtigkeit zu retten. – Ich soll also alles einsehen. Mein Bedürfnis ist nicht das Bedürfnis des Ganzen. Auf der andern Seite ist wieder ganz neuerlich Brühl und Pompadour 9. Was kann ich sagen. Sprechen Sie mir dagegen wieder von ewigen Strafen ; und noch dazu für jede Gedankensünde eben so wie für die Eroberung eines Königreichs ; so falle ich in meinen alten Unglauben. Lassen Sie mich hier aufhören. Ich will schlafen gehen. – Vielleicht auf beständig. Denn, wer sagt mir gut, dass ich morgen wieder aufstehe. Wenn wir von der Bestimmung des Menschen überhaupt weg sind ; so betrifft meine nächste Frage die Bestimmung Ihrer Landsleute. […]

mendelssohn an Abbt 10 Berlin, den 12. Heumonats [Juli] 1764. […] | […] Ich komme zu Ihren Betrachtungen über die Bestimmung des Menschen. Es scheinet, als wenn Sie verlangten, die gemeinsame Bestimmung sollte und müsste bei allen Individuis in gleichem Grade erhalten werden. Sie wollen daher die Entwickelung der Seelenfähigkeiten, weil sie nicht bei allen Menschen in eben dem Grade erhalten wird, lieber für eine Vor  |  xii.1: 48–50

Briefwechsel mit Thomas Abbt (1764 – 1766)

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bereitung zur Bestimmung als | für die Bestimmung selbst halten. Allein die göttlichen Absichten erstrecken sich sowohl auf jedes einzelne als aufs Ganze, und sie werden im Ganzen auf das vollkommenste, im Einzelnen aber nur in Rücksicht auf das Ganze erfüllet. Es kann also die Einrichtung des Ganzen, und muss verhindert haben, dass die Absichten bei jedem Einzelnen nicht gleich vollkommen erfüllet werden. Ein Feldherr muss freilich lieber sehen, wenn alle seine Streiter eine gleiche Fertigkeit in den Handgriffen besitzen, weil sein endlicher Geist nur einen allgemeinen Vorsatz hat, und nicht vorher bestimmen kann, was jeder Soldat zu Erhaltung desselben beitragen soll. Der Vorsatz des Gesetzgebers ist schon bestimmter. Er will einer menschlichen Gesellschaft Sicherheit, Ruhe und Bequemlichkeit verschaffen. Daher wird er Stände, Ämter und Nahrungsgeschäfte verschiedentlich bestimmen, und nicht verlangen, dass alle seine Bürger gleiches Vermögen und gleiche Fähigkeiten besitzen sollen. Allein bis aufs Einzelne kann seine Einteilung und nähere Bestimmung gleichwohl nicht gehen, weil seine Einsichten nicht bis dahin reichen. Aber der Schöpfer und Stifter des Geisterreichs verteilet die Rollen auf das allerbestimmteste, und lässt jedes einzelne so viel von seiner besonderen Bestimmung erhalten, als ohne Nachteil des Ganzen geschehen kann. – Jedoch ich gebe mir unnütze Mühe. Ich muss Ihren Einwurf nicht recht verstehen. Unmöglich können Sie verlangen, dass sich die Kräfte aller Glieder des Geisterreichs in gleichem Grade entwickeln sollen. Diese Chimäre widerlegt sich selbst, denn Einförmigkeit in den Bestimmungen würde Einförmigkeit der Kräfte voraussetzen, würde Übereinstimmung, Ordnung, Schönheit und Vollkommenheit aufheben, und das Werk Gottes in einen Chaos verwandeln. Muss aber Verschiedenheit in der Bestimmung sein ; so müssen auch die Seelenfähigkeiten verschiedentlich entwickelt werden, und die Reihe wird von dem bloßen Vermögen bis auf Engelsfähigkeiten fortgehen. Dass aber die Entwickelung der Geisterkräfte auch Vorbe­ reitungen zu fernern Bestimmungen sind, wird Ihnen mit Ver  |  xii.1: 50–51

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Briefwechsel mit Thomas Abbt (1764 – 1766)

gnügen eingestanden, denn jeder besondere göttliche Endzweck ist zugleich ein Mittel zu fernern und höhern Endzwecken. Allein diese fernere Absichten und Endzwecke, zu welchen wir uns hienieden vorbereiten, müssen doch notwendig auf das Wohlsein der Geisterwelt | abzielen, und endliche Geister können nicht anders wohl und glücklich sein, als durch die Entwickelung ihrer Kräfte und Fähigkeiten. Wir sind also gezwungen dieses für die Bestimmung der Geister zu halten, und Gottlob ! wir Menschen sind kein Rindvieh, wir laufen mit unter den Geistern.

mendelssohn an Abbt 11 Berlin, den 20. Heumonats [Juli] 1764. […] Was die Bestimmung meiner Landsleute sein wird, fragen Sie ? – Welcher Landsleute ? Der Dessauer ? oder der Bürger zu Jerusalem ? – Erklären Sie sich deutlicher, und sodenn werde ich Ihnen mit dem Pancratius beim Molière antworten : Je m’en lave les mains. Je n’en sais rien. Il en sera ce qu’il en pourra. Selon les Avantures.12 Was mein System nicht beunruhiget, das macht auch mir keinen Kummer. Pompadour, Brühl, die Jesuiten, Glaubensrichter, Seeräuber, Tyrannen, Giftmischer, und Landesverräter, was tut das ? Mit dem Kaltsinne eines deutschen Metaphysikers hülle ich mich in meinen kahlen Mantel, und sage wie Panglos : Diese Welt ist die Beste.13 | Ich wiederhole meine schon so oft vorgebrachte Ausflucht : Wenn es gleich nicht allemal nötig ist, dass ich die Ausübung der Gerechtigkeit mit Augen sehe ; so will doch sehr nötig sein, dass solche in Erfüllung komme, und (welches in meinen Augen ein wichtiger Grund ist,) dass die Seelen der Gottlosen nicht so verstümmelt bleiben mögen, als sie sehr oft von hinnen gehen. Von der bloßen genugtuenden Gerechtigkeit halte ich, die Wahrheit zu gestehen, gar wenig. Alle Züchtigung hat Besserung zum Endzwecke, und in den göttlichen Gerichten allezeit Besserung des  zu züchtigenden Subjekts. Diese Besserung kann niemals |  xii.1: 51–53

Briefwechsel mit Thomas Abbt (1764 – 1766)

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ganz ausbleiben, muss dereinst erfolgen. – Hieraus lässt sich unsere Bestimmung schließen ! Jedoch der Sabbath gehet an ! Leben Sie wohl, mein bester Freund ! [68] | Abbt an mendelssohn 14

Rinteln, den 8. Wintermonats [November] 1764. Mein verzweifeltes Mscrpt.15 hat uns ganz aus unserm andern Briefwechsel herausgebracht, und auch heute kann ich noch nicht hineinkommen. Das einzige will ich Ihnen sagen, damit ich es nicht ganz vergesse. – Ich hatte gesagt, dass die Menschen im Denken wenigstens so weit kommen müssten, dass sie sich ihrer Bestimmung bewusst werden können. – Sie fragen darauf, wo bliebe die Mannigfaltigkeit, und ohne diese, wo ist Vollkommenheit ? Wenn ich Ihnen aufrichtig meine Meinung sagen soll : Diese Mannigfaltigkeit scheint mir in unserer Idee ein großes Wort zu werden, das nichts mehr sagt. Was wissen wir von den Graden, wie weit sie herab und hinauf steigen müssen ? [Anm. u)] und im gegenwärtigen Falle – käme denn nicht ein Einerlei heraus, wenn es alle Menschen im Denken wenigstens so weit, als ich angebe, brächten ? Mir deucht, es wäre noch Mannigfaltigkeit genug übrig. Wenn ein Uhrmacher viele Uhren im Zimmer hat ; so müssen sie alle so weit fertig sein, dass sie gehen und richtig zeigen können. Nun setzen Sie, es käme einer und nehme der einen Uhr das weg, der andern das, damit Mannigfaltigkeit darunter wäre. Ich will in einem folgenden Brief wiederholen, wie weit wir nun sind, damit wir dann auch weiter rücken. […] [73] | mendelssohn an Abbt 16

Berlin, den 16. Hornungs [Februar] 1765. […] | Ich war willens unsern Briefwechsel über die Bestimmung des Menschen weiter fortzusetzen. Da ich aber, wie Sie   |  xii.1: 68–76

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Briefwechsel mit Thomas Abbt (1764 – 1766)

längst wissen, ein Werkchen über die Unsterblichkeit der Seele unter der Feder habe17 ; so bin ich willens den zweiten Teil desselben mit Betrachtungen über unsere Bestimmung anzufüllen, und will mir also Zeit lassen, gehörig darüber nachzudenken. Fahren Sie fort, liebster Freund ! mir Einwürfe zu machen, und Zweifel zu erregen. Ich kann nicht umhin, Ihnen offenherzig zu gestehen, dass mir Ihre letzteren Einwürfe ziemlich schwach geschienen, und dass ich weit stärkere Angriffe von Ihnen erwarte. Statt meinem Orakel neue Fragen vorzulegen, warum ist dieses so, und nicht vielmehr so ? suchen Sie lieber dasselbe einer Unwahrheit zu zeihen. Widerlegen Sie meine Gründe ; oder meine Eigenliebe schreibt sich den Sieg zu. – Ich muss schließen. Leben Sie wohl, mein Freund ! der Sabbath ist da, und da das Kalb18 längst in eine Goldtinktur zerrieben worden, so sind die Gesetze mir heilig.

Abbt an mendelssohn 19 Rinteln, den 6. März 1765. Kein Wunder, dass Sie meinen letzten Brief verlegt haben. Niemals trägt eine gewesene Jungfer den Taufschein ihres Kindes in | ihrer Brieftasche. Unterdessen freue ich mich, dass mir meine Lammsart eine Antwort von Ihnen zuwege gebracht hat. Sie mag Sie immer befremdet haben. So viel ist doch sicher, dass ich durch Schimpfen nichts würde ausgerichtet haben. Ich schalt Sie vorher Moses den Stummen, und wer weiß sonst noch was. Umsonst. Ein Litteraturbriefschreiber ist der Schimpfwörter so gewohnt, dass dergleichen Kleinigkeiten ihn nicht einmal rühren. Man muss ihn fast wie einen Kosacken schinden, um einen Laut herauszukriegen. Hingegen ist ihm eine gelinde Begegnung etwas unerwartetes. Übrigens muss ich Ihnen sagen, dass jetzt meine Künste an Ihnen erschöpft sind ; und wenn Sie mir wieder ins Stillschweigen zurückfallen ; so weiß ich nicht, was ich mit Ihnen anfange. Sie haben mir schon etlichemal mit Ihrem Vielschreiben gedrohet, und mir geweissagt, dass Sie mich über  |  xii.1: 76–77

Briefwechsel mit Thomas Abbt (1764 – 1766)

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laden würden : aber leider ! Sie haben mich noch nie auf diese Probe gestellet. […] | Wenn meine Einwürfe gegen Ihr System von der Be­stimmung nichts mehr taugen : desto besser für Sie ! warum keifen Sie mit mir. Unterdessen will ich Ihnen sagen, was meine wahre Meinung ist. Sie haben mir ganz wohl dargetan, dass eine Bestimmung der Menschen sei, die Entwickelung ihrer Seelenkräfte. Allein ich glaube, dass sie diese mit allen andern Geistern gemein haben. Nun möchte ich gerne wissen, was diese Geister, die auf der Erde herum wandeln, und die wir Menschen nennen, mit ihrer Entwicklung insbesondere anfangen sollen ? Da sitzt, deucht mir, noch immer der Knoten. [Anm. x)] Mir kommts wunderbar vor, dass einige darunter [sich] so wenig entwicklen. Denn, wenn Sie gleich sagen, dass der Fortgang von der ersten Empfindung des foetus bis zum ersten klaren Begriff weiter sei, als vom a, b, c, des Schulknaben bis zum problemate binomiali des Newton ; so deucht mir doch, dass der Zweck der Entwicklung nur alsdann erreicht sei, wenn der die Entwicklung Leidende weiß, warum er da ist. Sie meinen nun zwar, die Mannigfaltigkeit der Grade der Entwicklung gehöre zur Schönheit, aber meines Orts nehme mir noch die Freiheit, daran etwas zu zweiflen ; und halte es immer für schöner, wenn mir der Tischler ein halb Dutzend ganz einförmiger und ausgemachter Lehnstühle bringt, als wenn er um mehrerer Schönheit willen dem einen den Rücken, dem andern einen Arm, dem dritten einen Fuß hätte fehlen lassen. [Anm. y)] Ich habe dieses halbe Jahr wieder über die Ontologie und Kosmologie gelesen. Der Himmel aber weiß, dass ich von den drei Be | griffen Substantia, Substantiale, und Vis, worauf doch endlich alles herauskommt, wenig erbauet bin. Denn was weiß ich endlich, wenn ich mir die Kraft als den Grund von der inhaerentia eines accidentis vorstelle, und diese rationem wieder als das ex quo aliquid cognosci potest. Kein Mensch begreift, wo diese Kraft sitze, und ob sie zum composito, oder simplici gehöre, 20 und am Ende wissen wir also doch nicht, was Materie, oder Geist sei.  So kommts mir vor, vielleicht sind andere glücklicher. – |  xii.1: 77–79

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Briefwechsel mit Thomas Abbt (1764 – 1766)

Darin aber gebe ich Ihnen vollkommen Recht, dass Voltaire und Helvetius auf eine ärgerliche Art die Grundsätze aller bürgerlichen Gesellschaften und die Folgen aller feinern Empfindung in derselben misshandelt haben.21 Ich für meinen Teil denke steif und fest dabei zu bleiben, meine Freunde zu lieben, und so viel Gutes zu tun, als ich kann. – – – Wenn ich mich nur erst aus Rinteln weggeschrieben hätte, dann sollten die Buchhändler gute Ruhe vor mir haben. Die Geschichte belustigt mich, und ich würde noch Fleiß daran wenden, die Rechte der Völker zu lernen. Wenn es mir nicht gegeben ist, den Menschen von innen zu kennen ; so will ich sehen, was diese seltsame Dinger von außen getan, und wie sie sich durch die Welt fortgeholfen haben. Ich habe im Sinne, manches was ich teils schon über die Geschichte geschrieben, teils dazu gedacht, unter dem Titel : Vorbereitungen zur Geschichte, zusammen drucken zu lassen.22 Aber sobald ich mich wieder zu Rinteln denke, lasse ich die Hände sinken. Ich kann hier nicht einmal hinzulernen, was ich gerne wollte ; so elend bin ich hier : doch st. ! Sie scheinen mir unsrer theologischen Streitigkeiten schon müde zu sein ; aber so leicht sollen Sie nicht abkommen, da Sie sich einmal dazu verstanden haben. Glauben Sie dann, dass wir ewig an einer Materie nur wollen hängen bleiben. Nein, mein Herr ! wir wollen weiter. Im nächsten Briefe sollen Sie was neues hören. Jenes war nur eine präliminierende Frage. […] [85] | mendelssohn an Abbt 23

Berlin, den 26. März 1765. […] | […] Ihre fernere Zweifel über die Bestimmung des Menschen beantworte ich heute nicht, denn wie gesagt, ich habe ihren Brief nicht vor mir. Unser Freund, der Buchhändler [Nicolai], scheinet nicht glauben zu können, dass ein Streit über die Bestimmung so dringend sei, und so wenig Aufschub leiden könne. Wenn es noch um Mscpt. zur Messe zu tun wäre,   |  xii.1: 79–86

Briefwechsel mit Thomas Abbt (1764 – 1766)

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mag er wohl denken. – Einige kurze Betrachtungen kann ich mich nicht enthalten hieher zu setzen, die ich Ihnen vielleicht schon geschrieben habe, in welchem Falle Sie denn schon doppelt lesen müssen. Der bekannte Satz, dass in den Werken Gottes alle Mittel Absichten und alle Unterabsichten Mittel sind, ist einer größern Fruchtbarkeit fähig, als man ihm bisher gegeben hat. Wenn z. B. Maupertuis fragt, ist die Fliege deswegen so wundervoll gebauet, damit alle ihre Herrlichkeiten von der raubbegierigen Spinne in einem Augenblicke verzehret werden ?24 so antworte ich, in den Werken Gottes gibt es kein so bestimmtes Deswegen. Der künstliche Bau dieser fliegenden Maschine hat zur ersten Absicht das Leben des Tierchens. Wozu ? damit auch solche Dinge Leben und Empfindung haben sollen, die wie Fliegen aussehen. Fahret fort mit euerm kurzsichtigen wozu ? so könnet ihr die Schöpfung in eine Wüste verwandeln. Das stolze armselige Ding, der Mensch, fragt auf alles, was Er nicht brauchen kann, wozu dieses ? – Das Dasein der Fliege mag auch einige Nebenabsichten befördern ; Ja es muss vielmehr, wenn der Begriff nicht irrig ist, den ich mir von der Verbindung der Mittel und Absichten in der Natur mache. Sie mögen die Luft vielleicht reinigen, verkündigen dem Menschen durch ihre Stiche, dass sich das Wetter verändern wird, und dienen den Spinnen zur Nahrung, und sodann führet Gott wahrscheinlicherweise mit jeder einzelnen Fliege auch gewisse besondere Absichten aus, aber wer wird sie ergründen ? | Eine ähnliche Frage in der Naturlehre ist folgende : wozu so unendlich viele Tierlein und Körnlein in dem Samen der Tiere und Pflanzen, wenn nur ein einziges fortkommt, und die übrigen verwesen. Ich antworte hierauf : die kleine Tiere und Pflanzen sind in der Natur verhältnismäßig so wichtig, als die großen, und man kann nicht sagen, dass jene nur deswegen da sind, damit diese aus ihnen entstehen mögen. Wahr ists, die Samentierchen und Samenpflänzchen haben alle eine innere Disposition, große Tiere und Pflanzen zu werden. Wo ist aber die Notwendigkeit, dass sie es jetzt werden müssen ? und warum spricht man   ihrem Dasein allen Nutzen ab, so bald sie nicht durch die |  xii.1: 86–87

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Briefwechsel mit Thomas Abbt (1764 – 1766)

Entwickelung groß geworden sind ? Sie sind auch in ihrer unendlichen Kleinheit eine Zierde der Schöpfung. Aber so gehet die Disposition sich zu entwickeln bei dem größten Teile derselben verloren ? Nicht verloren. Sie hören nicht auf zu sein, sie hören nicht auf, die Absichten Gottes zu erfüllen, die bis ins unendlichkleine herabsteigen, und würden wahrscheinlicherweise, wenn ihre innere Organisation nicht so wäre, wie sie ist, diese Absichten nicht haben erfüllen können. – Welches sind denn aber diese Absichten ? Ich glaube, dass es hier Zeit sei, den Finger auf den Mund zu legen. Dieses kluge, ich weiß nicht, ist unsere letzte Zuflucht in allen unsern Untersuchungen. Nur müssen wir deswegen nicht das verwerfen, was wir wissen. Ich glaube, dass ich Ihrer Frage immer näher komme. Mit den Menschen, mit unserm Leben hienieden, mag es eine ähnliche Beschaffenheit haben, wenn Sie das näher bestimmen, was wir als vernünftige Geschöpfe eigenes haben. Wir sind da, also können wir sicher schließen, dass die Welt nicht so vollkommen gewesen sein würde, wenn es keine Menschen gegeben hätte. Was sollen wir hier ? – Das, was wir alle tun, und niemals unterlassen können, nämlich die Kräfte unsers Geistes auszubilden ; dieser mehr, jener weniger. Worin ist die Bestimmung der Menschen von der Bestimmung anderer Geister unterschieden ? Darin, dass wir durch diese Sinne, die wir haben, auf dieser Erde, die wir bewohnen, den bestimmten Grad der Vollkommenheit entwickeln, der uns beschieden worden. – Warum wissen die wenigsten den Zweck ihres Daseins ? Darum, weil sie ihn eben so gut erfüllen, wenn sie ihn nicht wissen. Wissen doch die wenig | sten Menschen den Zweck des Hungers, und diese wenigen haben so gar den schlechtesten Appetit. Die Menschen wissen nicht, warum sie hier sind ! O ja, sie wissen es recht sehr gut. Sie hören, sehen, fühlen, vergleichen, üben sich und denken unaufhörlich, und mit großer Begierde ; nur dass sie die allgemeine Notionen nicht haben, von Zweck, Dasein, Mittel u.s.w., um dasjenige, was sie unaufhörlich empfinden und tun, in einen logischen Satz zu verwandlen. Ich weiß nicht, warum Sie dieses  so nötig finden. – Aus der Einschränkung, dass wir unsere |  xii.1: 87–88

Briefwechsel mit Thomas Abbt (1764 – 1766)

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Geisteskraft durch Hilfe unserer Sinne ausbilden sollen, fließen die Pflichten gegen unsern Körper, und weil es auf dieser Erde geschehen soll, eine Menge anderer Pflichten, die den Menschen in dieser bestimmten Relation angehen. Einige Menschen sterben, bevor sie den Grad der Ausbildung erreichen, der hier auf Erden möglich ist. – Ja, wenn Sie diese Möglichkeit so im Ganzen nehmen. Nehmen wir aber die Möglichkeit in Absicht auf dieses oder jenes einzelne Ding, mit seinen individuellen Bestimmungen und Verhältnissen, so werden wir anders urteilen. Wir werden finden, dass jedes den Grad der Ausbildung bekommen, den es in diesen Umständen, in dieser Verbindung hat haben können und sollen ; so wie das Samentierlein, das nicht empfangen wird, sich diesesmal nicht weiter hat entwickeln können, noch sollen. Es gehet deswegen nicht die geringste Disposition, nicht der geringste Grad der Entwickelung völlig verloren ; denn wie gesagt, in den Werken Gottes gibt es keine so bestimmte, hervorstechende Absicht, außer der allgemeinen Hauptabsicht, davon man sagen könnte, wenn wir sehen, dass sie nicht erreicht wird, so sein alle Mittel verloren. Von Ihren Einwürfen wider das metaphysische Gewäsche von Kraft und Substanz, damit Sie leider ! wider Ihr Gewissen, Ihr Brot verdienen müssen, ein andermal. Ich bin kühn genug, Sie zu versichern, dass sich Ihr Gewissen beruhigen kann, und dass Ihre Schüler für ihr geringes Geld Wahrheit genug von Ihnen bekommen. Leben Sie wohl ! Ich habe ihnen noch tausenderlei zu sagen, allein ich muss zur Arbeit. Ich umarme Sie. [90] | mendelssohn an Abbt 25

Berlin, den 14. Brachmonats [Juni] 1765. […] | […] Das εστι αγνοητου τι 26 demütiget mich auf keinerlei Weise. Ja, ja, von dieser Seite ist unsere natürliche Erkenntnis mangelhaft. Wir wissen die Bestimmung des Menschen überhaupt (und Sie können nicht glauben, wie sehr ich mich vergnüge, dass Sie mit mir hierin einig sind), aber wie sie in einzel  |  xii.1: 88–92

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S. 255

Briefwechsel mit Thomas Abbt (1764 – 1766)

nen Fällen modificieret sei, dieses übersteigt unsere Vernunft, so wie wir überhaupt wissen, alles ziele zum Guten ab, ohne in jedem besondern Falle anzeigen zu können, wie solches geschiehet. Wir wissen, dass wir sterben werden, aber nicht wenn, oder an welcher Krankheit. Nur müssen wir nicht übereilt schließen, wie wir wissen nicht wie, also wissen wir auch nicht ob, wir wissen nicht alles, also wissen wir gar nichts. Sodenn ist zu untersuchen, ob das, was wir wissen, zu unserer Beruhigung hinreicht, oder ob wir berechtiget sind, unsern Vater um nähern Unterricht anzuflehen. Bevor ich mich in diese Untersuchung einlasse, bitte ich mir folgende Erläuterung aus : Welche Offenbarung erteilt und den nähern Unterricht, den Sie verlangen, dergestalt, dass sie uns der Demütigung überhebe, auf die Fragen : Wie weit ich es in der Entwicklung bringen werde ? Welcher ätherische Leib meiner Seele zur Hülle dienen wird ? Wo ich mich aufhalten werde ? Warum dieser oder jener seine Entwicklung hienieden nicht so weit fortgesetzt, als an sich möglich war ? u. s. w. nichts antworten zu können ? Dieser nähere Unterricht müsste, wie leicht zu erachten, nicht bloß in allegorischen Bildern, in rednerischen und poetischen Figuren bestehen, denn diese rühren und erwecken, wir aber wollen unterrichtet sein. [Anm. z)] Leben Sie wohl, bester Freund ! ich habe noch die vierte Seite vollschreiben wollen, und siehe ! ich werde verhindert.

[117] | mendelssohn an Abbt 27

Berlin, den 22. Heumonat [Juli] 1766. […] | […] Sie sagen, ich sei Ihnen eine Antwort auf Ihre theologischen Fragen schuldig geblieben. Es kann sein. Wissen Sie aber, dass ich damit umgehe, Ihnen eine gedruckte zuzuschicken, die etwa zehn Bogen enthalten, und Ihnen also schon etwas zu tun machen soll.28 Denn so schlechterdings werden Sie mir doch nicht gewonnen Spiel geben, und zehn Bogen lassen sich so leichte nicht widerlegen. Ihre Fragen haben mich aufgemuntert,   |  xii.1:  92, 117–118

Briefwechsel mit Thomas Abbt (1764 – 1766)

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eine Abhandlung über die Unsterblichkeit der Seele, die ich vor vielen Jahren einmal angefangen, völlig auszuarbeiten. Meine Gründe lege ich dem Sokrates in den Mund. Ich laufe Gefahr, meinen Sokrates vielleicht zum Leibnizianer zu machen. Allein das tut nichts. Ich muss einen Heiden haben, um mich auf die Offenbarung nicht einlassen zu dürfen. Zudem hat ihn ja schon Plato zum Pythagoräer gemacht, und wer weiß, ob er bei mir nicht gewinnet, da er beim Plato doch wirklich verloren hat. Sie sollten nicht glauben, was für elende Metaphysik ihm der Sohn des Aristons29 andichtet. Dieses sind die Eier, die ich diesen Sommer auszubrüten angefangen, und daher nicht verlassen darf. Ich schiebe die Lustreise, die Sie mir vorschlagen, und die mich nicht wenig reizt, bis zu einer andern Zeit auf. Wir müssen zur Entscheidung unserer Streitfrage um ein merkliches näher gerückt sein, bevor wir uns mündlich unterhalten, und ich bin eitel genug, mir dieses von meiner Abhandlung zu versprechen. Zwar nichts Neues enthält sie, das sage ich Ihnen zum Voraus. Da aber jede Beweisart eine eigene Disposition von Seiten dessen, der überzeugt werden soll, voraussetzet ; so hoffe ich eine Wendung gewählt zu haben, die der unsrigen am angemessensten ist. Wenn uns die Lehre von der Unsterb | lichkeit gleich zuweilen zweifelhaft geschienen ; so haben wir doch allezeit so zu leben gesucht, dass wir vernünftigerweise nichts zu verlieren fürchten konnten, wenn sie auch allenfalls wahr sein sollte. Mithin konnten wir nicht anders, als von der Affirmative überzeugt zu sein wünschen. Das Schlimmste hierbei ist, dass je eifriger dieser Wunsch ist, man destomehr das Gegenteil fürchtet. Dieses war die Lage, in welcher ich mich viele Jahre befand ; und da ich weiß, dass auch Sie, mein Freund ! die Tugend erst in Sicherheit gebracht haben, bevor Sie die Bestimmung des Menschen zu bezweifeln angefangen : so glaube ich, dass ähnliche Überzeugungsgründe auf uns ähnliche Wirkung tun werden. Ich schicke Ihnen hiermit das Schreiben Ihres Grafen, des wahrhaftig großen Menschenfreundes, wieder zurück.30 O wie entfernt ist seine Denkungsart von der gemeinen Denkungsart   |  xii.1: 118–119

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Briefwechsel mit Thomas Abbt (1764 – 1766)

regierender Herren ! (Unter uns ! die Enveloppe eines unumschränkten Herrn ist der großen Seele vielleicht eben so fremd, als eines Juden dem Verdienste.) Bezeugen Sie demselben, liebster Freund ! meinen untertänigen Dank für den bewilligten Schutz. Es kann nicht anders als angenehm sein, unter einem solchen Herrn zu wohnen ; und neben einem Freunde, wie Sie, muss es eine wahre Glückseligkeit sein. – […]   [120] | Abbt an mendelssohn 31

Hagenberg, den 28. Augustmonat 1766. Ich schlendere seit sechs Wochen meine Zeit auf dem Lande hin, wo sich unser Hof aufhält, und wo ich ein geschäftiger Mü­ßig­gän  | ger bin. Bei dem allem habe ich hundert Stunden gehabt, Ihnen zu antworten ; und habe sie alle mit unwiderbringlichem Verluste mir auf den Rücken kommen lassen. Endlich aber schreite ich doch zu einem Briefe. Mein Herr hat mich noch gestern gefragt, ob ich Ihnen schon wieder geantwortet hätte, und hat mir eingeschärft, ja den *** nicht zu vergessen.32 Der Graf siehet Ihrer Schrift von der Unsterblichkeit der Seele mit brennendem Verlangen entgegen.33 Ich auch, wie Sie leicht denken können. Wir sind alle zu sehr bei dieser Materie interessiert. Übrigens erweisen Sie mir zu viel Ehre, wenn Sie glauben, dass meine Tugend schon aufs Trockene gebracht sei, und dass ich nun übrigens dem Streite ganz gelassen ohne Wunsch zum Siege für den einen Teil eher als für den andern zusehen könne. Ich bin noch lange nicht so weit, mein Freund. Die Eitelkeit setzt mich oft in Verbindungen, darin andre die Wollust setzt ; und es ist im Fortgange oft einerlei Verwirrung bei beiden. Ich habe mit den Artikel der Strafen noch nie recht ins Klare bringen können. Dies ist eine meiner Lieblingsmaterien. In der Rezension eines Buches von Justi34 habe ich mir, wenn Sie sichs erinnern, einen Entwurf dazu gemacht ; aber es ist noch zu roh. Seitdem hat  mir der Marquis Beccaria durch sein Buch dei delitti e delle |  xii.1: 119–121

Briefwechsel mit Thomas Abbt (1764 – 1766)

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pene35 die Materie entrissen : aber er hat sie dünkt mich nicht Baumgartisch genug behandelt. Ich werde dereinst noch an die Materie gehen ; für meinen eigenen Gebrauch bin ich selbst nicht einmal schlüssig. Die ewigen Strafen unserer Theologen sind mir unleidlich, und die gänzliche Straflosigkeit der Bösewichter ist es mir ebenfalls. Hierüber erwarte ich Sie, und je eher je lieber. Übrigens so bald Ihre Schrift gedruckt ist, bitte ich Sie, mir zwei Exemplare davon zu schicken. In Absicht der Historie werden Sie, glaube ich, am besten tun, Hardions geistliche und weltliche Geschichte zu lesen.36 Es stehn alle die langweiligen Possen drein, womit alle unsere Universalhistorien überschwemmt sind ; aber sie ist denn doch noch, ohne ganz Kompendium zu sein, die kürzeste. Bossuets Discours dient als eine General-Charte. Leben Sie wohl, liebster Freund, und grüßen Sie unsern Nicolai vielmals. [Der Briefwechsel endet mit Abbts Tod am 3. November 1766 ; der hier abgedruckte Brief ist Abbts letztes Schreiben an Mendelssohn.]



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Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele, in drei Gesprächen

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Vorrede

 F

olgende Gespräche des Sokrates mit seinen Freunden, über die Unsterblichkeit der Seele, sollten meinem Freunde Abbt gewidmet werden. Er war es, der mich aufgemuntert hatte, diese vor einigen Jahren angefangene und weggelegte Arbeit wieder vorzunehmen. Als er noch zu Rinteln Professor war, gab er mir, in einem von seinen freundschaftlichen Briefen, seine Gedanken über Spaldings Bestimmung des Menschen zu erkennen.1 Aus unserm Briefwechsel über diese Materie sind die kleinen Aufsätze genommen, die in dem neunzehnten Teil der Literaturbriefe, unter dem Titel : Zweifel und Orakel, die Bestimmung des Menschen betreffend, vorkommen. Ich hatte das Vergnügen, über einige der wichtigsten Punkte meines Freundes Einstimmung zu erhalten, ob ich ihm gleich nicht in allem Genüge leisten konnte. Mit der Offenherzigkeit eines wahren Freun ¦ des goss er die geheimsten Empfindungen seiner Seele, sein ganzes Herz in meinen Busen aus. Seine philosophischen Betrachtungen erhielten durch die sanften Empfindungen des guten Herzens einen eignen Schwung, ein reges Feuer, wodurch sie die Liebe zur Wahrheit in der kältesten Brust würden entzündet haben, und seine Zweifel selbst unterließen niemals neue Aussichten zu entdecken, und die Wahrheit von einer noch unbemerkten Seite zu zeigen. Unserer Abrede gemäß, sollte ich folgende Gespräche ausarbeiten, und darin die vornehmsten Lehrsätze, worin wir übereinkamen, auseinandersetzen ; und diese sollten in der Folge zur Grundlage unseres Briefwechsels dienen. Allein es hat der Vorsehung gefallen, dieses aufblühende Genie vor der Zeit der Erde zu entziehen. Kurz und rühmlich war die Laufbahn, die er hienieden vollendet hat. Sein Werk vom Verdienste 2 wird den Deutschen ein unvergessliches Denkmal sei ¦ ner eigenen Verdienste bleiben : mit seinen Jahren verglichen, |  iii.1 : 7 

¦ *2–*3

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Phädon (1769)

verdienet dieses Werk die Bewunderung der Nachkommenschaft. Was für Früchte | konnte man nicht von einem Baume hoffen, dessen Blüte so vortrefflich war. Er hatte noch andre Werke unter der Feder, die an Vollkommenheit, wie er an Erfahrenheit und Kräften des Geistes, zugenommen haben würden. Alle diese schönen Hoffnungen sind dahin ! Deutschland verliert an ihm einen trefflichen Schriftsteller, die Menschlichkeit einen liebreichen Weisen, dessen Gefühl so edel, als sein Verstand aufgeheitert war ; seine Freunde den zärtlichsten Freund, und ich einen Gefährten auf dem Wege zur Wahrheit, der mich vor Fehltritten warnete. – Nach dem Beispiel des Plato, habe ich den Sokrates in seinen letzten Stunden die Gründe für die Unsterblichkeit der menschlichen Seele seinen Schülern vortragen lassen. Das Gespräch des griechischen Schrift ¦ stellers, das den Namen Phädon führet, hat eine Menge ungemeiner Schönheiten, die, zum Besten der Lehre von der Unsterblichkeit, genutzt zu werden verdienten. Ich habe mir die Einkleidung, Anordnung, und Beredsamkeit desselben zu Nutze gemacht, und nur die metaphysischen Beweistümer nach dem Geschmacke unserer Zeiten einzurichten gesucht. In dem ersten Gespräche konnte ich mich etwas näher an mein Muster halten. Verschiedene Beweisgründe desselben schienen nur einer geringen Veränderung des Zuschnitts, und andere einer Entwickelung aus ihren ersten Gründen zu bedürfen, um die Überzeugungskraft zu erlangen, die ein neuerer Leser in dem Gespräche des Plato vermisset. Die lange und heftige Deklamation wider den menschlichen Körper und seine Bedürfnisse,* die Plato mehr in dem Geiste des Pythagoras3, als seines Lehrers geschrieben zu haben scheinet, musste, nach unsern ¦ bessern Begriffen von dem Werte dieses göttlichen Geschöpfes, sehr gemildert werden ; und dennoch wird sie den Ohren manches jetzigen Lesers fremde klingen. Ich gestehe es, dass ich bloß der siegenden Beredsamkeit des Plato zu Gefallen diese Stelle beibehalten habe. *  S. 91 u. f. [Platon, Phaidon 61 D–E]

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¦ *3–*4

Vorrede

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In der Folge sahe ich mich genötiget, meinen Führer zu verlassen. Seine Beweise für die Immaterialität der Seele scheinen, uns wenigstens, so seichte und grillenhaft, dass sie kaum eine ernsthafte Widerlegung verdienen. Ob dieses von unserer bessern Einsicht in die Weltweisheit, oder von unserer schlechten Einsicht in die philosophische Sprache der Alten herrühret, vermag ich nicht zu entscheiden. Ich habe in dem zweiten Gespräche einen Beweis für die | Immaterialität der Seele gewählet, den die Schüler des Plato gegeben, und einige neuere Weltweisen von ihnen angenommen.4 Er schien mir nicht nur überzeugend, sondern ¦ auch am bequemsten nach der Sokratischen Methode vorgetragen zu werden. In dem dritten Gespräche musste ich völlig zu den Neuern meine Zuflucht nehmen, und meinen Sokrates fast wie einen Weltweisen aus dem siebzehnten oder dem achtzehnten Jahrhunderte sprechen lassen. Meine Absicht war nicht, die Gründe anzuzeigen, die der griechische Weltweise zu seiner Zeit gehabt, die Unsterblichkeit der Seele zu glauben ; sondern was ein Mann, wie Sokrates, der seinen Glauben gern auf Vernunft gründet, in unsern Tagen, nach den Bemühungen so vieler großer Köpfe, für Gründe finden würde, seine Seele für unsterblich zu halten.5 Auf solche Weise ist folgendes Mittelding zwischen einer Übersetzung und eigenen Ausarbeitung entstanden. Ob ich auch etwas Neues habe, oder nur das so oft gesagte anders vorbringe, mögen andere entscheiden. Es ist schwer, in einer Materie, über welche ¦ so viel große Köpfe nachgedacht haben, durchgehends neu zu sein, und es ist lächerlich, Neuheit affektieren zu wollen. Wenn ich hätte Schriftsteller anführen mögen, so wären die Namen Plotinus, Descartes, Leibniz, Wolff, Baumgarten, Reimarus u. a. oft vorgekommen. Vielleicht wäre dem Leser auch alsdann deutlicher in die Augen gefallen, was ich von dem Meinigen hinzugetan habe. Allein dem bloßen Liebhaber ist es einerlei, ob er einen Beweisgrund diesem oder jenem zu verdanken hat ; und der Gelehrte weiß das Mein und Dein in so wichtigen Materien doch wohl zu unterscheiden. Ich bitte gleichwohl meine Leser, auf die Gründe, die ich von der Harmonie der |  iii.1 : 8–9 

¦  * 4–*5

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Phädon (1769)

moralischen Wahrheiten, und insbesondere* von dem System unserer Rechte und Obliegenheiten herhole, aufmerksam zu sein. Ich erinnere mich nicht, sie bei irgend einem Schriftsteller gelesen zu haben, und sie ¦ scheinen mir für denjenigen, der in die Grundsätze einstimmet, vollkommen überzeugend zu sein. Die Art des Vortrags hat mich genötiget, sie als bloße Überredungsgründe anzubringen : ich halte sie aber für fähig, nach der Schärfe der strengsten Logik ausgeführet zu werden. Den Charakter des Sokrates, habe ich für dienlich erachtet, voraus zu schicken, um bei meinen Lesern das Andenken des Weltweisen aufzufrischen, der in den Gesprächen die Hauptperson ausmachet. Coopers Life of Socrates**6 hat mir dabei zum Leitfaden gedienet ; jedoch sind auch die Quellen zu Rate gezogen worden. | ¦

 * S. 70 u. f. [hier S. 124 f.] ** London 1750. |  iii.1 : 9–10 

¦ *5–*6

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Leben und Charakter des Sokrates | ¦

Charakter des Sokrates

 S

okrates, Sohn des Bildhauers Sophroniskus und der Hebamme Phänareta, der weiseste und tugendhafteste unter den Griechen, ward in dem vierten Jahre der sieben und siebzigsten Olympiade, zu Athen, in der alopecischen Zunft 7 daselbst geboren. Der Vater hielt ihn in seiner Jugend zur Bildhauerkunst an, in welcher er es ziemlich weit gebracht haben muss, wenn die bekleideten Grazien, die auf der Mauer zu Athen hinter der Bildsäule der Minerva standen, wie Verschiedene versichern, von seiner Arbeit gewesen. Zeiten, in welchen ein Phidias, Zeuxis und Myron lebten8 , können keiner mittelmäßigen Arbeit eine so wichtige Stelle eingeräumt haben. Etwa in seinem dreißigsten Jahre, als sein Vater längst tot war, und er, ohne sonderliche Neigung, aber aus Not, die Bildhauerkunst noch immer trieb, lernte ihn Krito, ein vornehmer Athenienser, kennen,9 bemerkte seine erhabenen Talente, und urteilte, dass er dem menschlichen Geschlechte durch sein Nach ¦ denken weit nützlicher werden könnte, als durch seine Handarbeit. Er nahm ihn aus der Schule der Kunst, und brachte ihn zu den Weisen der damaligen Zeit, um ihm Schönheiten einer höhern Ordnung zur Betrachtung und Nachahmung vorhalten zu lassen. Lehret die Kunst, das Leben im Leblosen nachzuahmen, den Stein dem Menschen ähnlich zu machen ; so suchet die Weisheit hingegen, das Unendliche im Endlichen nachzuahmen, die Seele des Menschen jener ursprünglichen Schönheit u. Vollkommenheit so nahe zu bringen, als es in diesem Leben möglich ist. Sokrates genoss den Unterricht und den Umgang der berühmtesten Leute in allen Wissenschaften u. Künsten, von welchen seine Schüler den Archelaus, Anaxagoras, Prodikus, Evenus, Isimachus, Theodorus und andere nennen. |  iii.1 : 11–13 

¦ 1–4

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Phädon (1769)

Krito versahe ihn mit den Notwendigkeiten des Lebens, und So | k rates legte sich anfangs mit vielem Fleiße auf die Naturlehre, die zur damaligen Zeit sehr im Schwange war. Er merkte aber gar bald, dass es Zeit sei, die Weisheit von Betrachtung der Natur auf die Betrachtung des Menschen zurückzuführen. Dieses ist der Weg, den die Weltweisheit allezeit nehmen sollte. Sie muss mit Untersuchung der äußerlichen ¦ Gegenstände anfangen, aber bei jedem Schritte, den sie tut, einen Blick auf den Menschen zurückwerfen, auf dessen wahre Glückseligkeit alle ihre Bemühungen abzielen sollten. Wenn die Bewegung der Planeten, die Beschaffenheit der himmlischen Körper, die Natur der Elemente u. s. w. nicht wenigstens mittelbar einen Einfluss in unsre Glückseligkeit haben : so ist der Mensch gar nicht bestimmt, sie zu untersuchen. Sokrates war der erste, wie Cicero sagt, der die Philosophie vom Himmel herunter gerufen, in die Städte eingesetzt, in die Wohnungen der Menschen geführet, und über ihr Tun und Lassen Betrachtungen anzustellen genötiget hat.10 Indessen ging er, wie überhaupt die Neuerungsstifter zu tun pflegen, auf der andern Seite etwas zu weit, und sprach zuweilen von den erhabensten Wissenschaften mit einer Art von Geringschätzung, die dem weisen Beurteiler der Dinge nicht geziemet. Damals stand in Griechenland, wie zu allen Zeiten bei dem Pöbel, die Art von Gelehrten in großem Ansehen, die sich angelegen sein lassen, eingewurzelte Vorurteile und verjährten Aberglauben durch allerhand Scheingründe und Spitzfindigkeiten zu be ¦ g ünstigen. Sie gaben sich den Ehrennamen Sophisten,* den ihre Aufführung in einen Ekelnamen verwandelte. Sie besorgten die Erziehung der Jugend, und unterrichteten auf öffent­lichen Schulen sowohl, als in Privathäusern, in Künsten, Wissenschaften, Sittenlehre und Religion, mit allgemeinem Beifalle. Sie wuss­ ten, dass in demokratischen ­Regierungsverfassungen die Beredsamkeit über alles geschätzt wird, dass ein freier Mann gerne von Politik schwatzen höret, und dass die Wissensbegierde schaler Köpfe am liebsten durch Märchen befriediget sein will : daher * Der ursprünglichen Bedeutung nach, Weisheitslehrer.

|  iii.1 : 13–14 

¦ 4–6 

Leben und Charakter des Sokrates

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unterließen sie niemals, in ihrem Vortrage gleißende Beredsamkeit, falsche Politik und ungereimte Fabeln so künstlich durcheinander zu flechten, dass das Volk sie mit Verwunderung anhörte und mit Verschwendung belohnte. Mit der Priesterschaft standen sie in gutem Vernehmen ; denn sie hatten beiderseits die weise Maxime : | leben und leben lassen. Wenn die Tyrannei der Heuchler den freien Geist der Menschen nicht länger unter dem Joche halten konnte : so waren jene Scheinfreunde der Wahrheit bestellt, ihn auf falsche Wege zu verleiten, die natürlichen Begriffe durcheinander zu werfen, und al ¦ len Unterschied zwischen Wahrheit und Irrtum, Recht und Unrecht, Gutem und Bösem, durch blendende Trugschlüsse aufzuheben. In der Theorie war ihr Hauptgrundsatz : Man kann alles beweisen und alles widerlegen, und in der Ausübung : Man muss von der Torheit anderer, und seiner eigenen Überlegenheit, so viel Vorteil ziehen, als man nur kann. Diese letztere Maxime hielten sie zwar, wie leicht zu erachten, vor dem Volke geheim, und vertrauten dieselbe nur ihren Lieblingen, die an ihrem Gewerbe Teil nehmen sollten ; allein die Moral, die sie öffentlich lehrten, war nichts destoweniger für das Herz der Menschen eben so verderblich, als ihre Politik für die Rechte, Freiheit und Glückseligkeit des menschlichen Geschlechts. Da sie listig genug waren, das herrschende Religionssystem mit ihrem Interesse zu verwickeln ; so gehörte nicht nur Entschlossenheit und Heldenmut dazu, ihren Betrügereien Einhalt zu tun, sondern ein wahrer Tugendfreund durfte es ohne die behutsamste Vorsichtigkeit nicht wagen. Es ist kein Religionssystem so verderbt, das nicht wenigstens einigen Pflichten der Menschheit eine gewisse Heiligung gibt, die der Men ¦ schenfreund verehren, und der Sittenverbesserer, wenn er nicht seiner eigenen Absicht zuwider handeln will, unangetastet lassen muss. Von Zweifel in Religionssachen zur Leichtsinnigkeit, von Vernachlässigung des äußerlichen Gottesdienstes zur Geringschätzung alles Gottesdienstes überhaupt, pflegt der Übergang sehr leicht zu sein, besonders für Gemüter, die nicht unter der Herrschaft der Vernunft stehn, sondern von Geiz, Ehrsucht oder |  iii.1 : 14–15 

¦ 6–8 

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Phädon (1769)

Wollust regieret werden. Die Priester des Aberglaubens verlassen sich nur allzusehr auf diesen Hinterhalt, und nehmen zu demselben, wie zu einem unverletzlichen Heiligtum, ihre Zuflucht, so oft ein Angriff auf sie geschiehet. Solche Schwierigkeiten und Hindernisse standen dem Sokrates im Wege, als er den großen Entschluss fasste, Tugend und Weisheit unter seinen Nebenmenschen zu verbreiten. Er hatte, von der einen Seite, seine eignen Vorurteile der Erziehung zu besiegen, die Un | w issenheit anderer zu beleuchten, Sophisterei zu bestreiten, Bosheit, Neid, Verleumdung und Beschimpfung von Seiten seiner Gegner auszuhalten, Armut zu ertragen, festgesetzte Macht zu bekämpfen, und, was das schwerste war, die finstern Schrecknisse ¦ des Aberglaubens zu vereiteln. Von der andern Seite waren die schwachen Gemüter seiner Mitbürger zu schonen, Ärgernisse zu vermeiden, und der gute Einfluss, den selbst die albernste Religion auf die Sitten der Einfältigen hat, nicht zu verscherzen.11 Alle diese Schwierigkeiten überstand er mit der Weisheit eines wahren Philosophen, mit der Geduld eines Heiligen, mit der uneigennützigen Tugend eines Menschenfreundes, mit der Entschlossenheit eines Helden, auf Unkosten und mit Verlust aller weltlichen Güter und Vergnügungen. Gesundheit, Macht, Bequemlichkeit, Leumund, Ruhe und zuletzt das Leben selbst, gab er auf die liebreichste Weise für das Wohl seiner Nebenmenschen hin. So mächtig wirkte in ihm die Liebe zur Tugend und Rechtschaffenheit, und die Unverletzlichkeit der Pflichten gegen den Schöpfer und Erhalter der Dinge, den er durch das unverfälschte Licht der Vernunft auf eine lebendige Art erkannte.12 Diese höheren Aussichten des Weltbürgers hielten ihn indessen nicht ab, die gemeineren Pflichten gegen sein Vaterland zu erfüllen. In seinem sechs und dreißigsten Jahre tat er Kriegesdienste wider die Potidäer, die Einwohner einer Stadt in Thrazien, ¦ die sich wider ihre Tributherren, die Athenienser, empört hatten. Allhier versäumete er die Gelegenheit nicht, seinen Körper wider alle Beschwerlichkeiten des Kriegs und Rauhigkeit der Jahreszeit abzuhärten, und seine Seele in Unerschroc|  iii.1 : 15–16 

¦ 8–10

Leben und Charakter des Sokrates

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kenheit und Verachtung der Gefahr zu üben. Er trug, durch die allgemeine Einstimmung seiner Mitwerber selbst, den Preis der Tapferkeit davon, überließ aber denselben dem Alcibiades13, den er liebte, und hierdurch aufmuntern wollte, solche Ehrenbezeigungen von seinem Vaterlande künftighin durch eigene Taten zu verdienen. Kurz vorher hatte er ihm in einem Gefechte das Leben gerettet. – Man belagerte die Stadt Potidäa in der strengsten Kälte. Andere verwahrten sich wider den Frost, er blieb bei seiner gewöhnlichen Kleidung, und ging mit bloßen Füßen über das Eis. Die Pest wütete in dem Lager und in Athen selbst. Es ist fast nicht zu glauben, was Diogenes Laertius und Aelian14 versichern : Sokrates soll der einzige gewesen sein, den sie gar nicht angegriffen. Ohne aus diesem Umstande, der allenfalls ein bloßer Zufall hat sein | können,* ¦ etwas zu schließen, kann man überhaupt mit Zuverlässigkeit sagen, dass er von einer starken und dauerhaften Leibesbeschaffenheit gewesen, und solche durch Mäßigkeit, Übung und Entfernung von aller Weichlichkeit so zu erhalten gewusst hat, dass er wider alle Zufälle und Beschwerlichkeit des Lebens abgehärtet war. Gleichwohl hat er auch im Felde nicht unterlassen, seine Seelenkräfte nicht nur zu üben, sondern äußerst anzustrengen. Man sahe ihn zuweilen vier und zwanzig Stunden auf eben der Stelle, mit unverwandten Blicken, in Gedanken vertieft stehn, als wenn der Geist von seinem Körper abwesend wäre, sagt Aulus Gellius.15 Man kann nicht leugnen, dass diese Entzückungen eine, wenigstens entfernte, Anlage zur Schwärmerei gewesen, und man findet in seinem Leben mehrere Spuren, dass er nicht völlig davon befreiet geblieben. Indessen war es eine unschädliche Schwärmerei, die weder Hochmut noch Menschenhass zum Grunde hatte, und die in der Verfassung, in welcher er sich befand, ihm sehr nützlich gewesen sein mag. Die gemeinen Kräfte der Natur reichen vielleicht nicht hin, den Menschen zu so großen Gedanken und standhaften Entschließungen zu erheben. ¦ * Die Arzneiverständigen wollen aus der Erfahrung wissen, dass die

Pest die stärkste Leibesbeschaffenheit gerade am wenigsten verschone. |  iii.1 : 16–17 

¦ 10–11

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Phädon (1769)

Nach geendigtem Feldzug kehrte er in seine Vaterstadt zu­rück, und fing an mit Nachdruck Sophisterei und Aberglauben zu bekämpfen, und seine Mitbürger in Tugend und Weisheit zu unterrichten. Auf öffentlichen Straßen, Spaziergängen, in Bädern, Privathäusern, Werkstätten der Künstler, wo er nur Menschen fand, die er bessern zu können glaubte, da hielt er sie an, ließ sich mit ihnen in Gespräche ein,* erklärte ihnen, was recht und unrecht, gut und böse, heilig und unheilig sei ; unterhielt sie von der Vorsehung und Regierung Gottes, von den Mitteln ihm zu gefallen, von der Glückseligkeit des Menschen, von den Pflichten eines Bürgers, eines Hausvaters, eines Ehemannes u. s. w. Alles dieses niemals in ¦ dem aufdringenden Ton | eines Lehrers, sondern als ein Freund, der die Wahrheit selbst erst mit uns suchen will. Er wusste es aber durch die einfältigsten Kinderfragen so einzuleiten, dass man von Frage zu Frage, ohne sonderliche Anstrengung, ihm folgen konnte, ganz unvermerkt aber sich am Ziele sah, und die Wahrheit nicht gelernet, sondern selbst erfunden zu haben glaubte. Ich ahme hierin meiner Mutter nach, pflegte er im Scherze zu sagen : Sie gebieret selbst nicht mehr, aber sie besitzet Kunstgriffe, wodurch sie andern ihre Geburten zur Welt bringen hilft. Auf eine ähnliche Weise versehe ich bei meinen Freunden das Amt eines Geburtshelfers.16 Ich frage und forsche so lange, bis die verborgene Frucht ihres Verstandes ans Licht kommt. Diese Methode, die Wahrheit zu erfragen, war auch die glücklichste, die Sophisten zu widerlegen. Wenn es zu einem ausführ* Mit dem Xenophon ward er auf folgende Weise bekannt. Er begeg-

nete ihm in einem engen Durchgange. Der schöne und be­scheidene Anstand des jungen Menschen gefiel ihm so wohl, dass er ihm den Stock vorhielt, und ihn nicht weiter gehn lassen wollte. „Jüngling ! “ sprach er, „weißt du, wo die Bedürfnisse des Lebens zu bekommen sind ? “ – „O ja !“ antwortete Xenophon. – „Weißt du aber auch, wo Tugend und Rechtschaffenheit zu erhalten ist ? “ – Der junge Mensch stutzte und sah ihn an. – „So folge mir“, fuhr Sokrates fort, „ich will es dir zeigen.“ Er folgte ihm, ward sein treuester Schüler, und man weiß, wie viel er ihm zu verdanken gehabt. |  iii.1 : 17–18 

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lichen Vortrage kam, so war ihnen nicht beizukommen. Denn da standen ihnen so viel Ausschweifungen, so viel Märchen, so viel Scheingründe, und so viel rednerische Figuren zu Gebote, dass die Zuhörer verblendet wurden, und überzeugt zu sein glaubten. Ein allgemeines Händeklat ¦ schen pflegte ihnen selten zu entstehen. Und man stelle sich den triumphierenden Blick vor, mit welchem solche Lehrer alsdann auf ihre Schüler, oder wohl gar Widersacher, herabsahen. Was tat Sokrates bei einer solchen Gelegenheit ? Er klatschte mit ; wagte aber einige gar leichte, von der Sache etwas entfernte, Fragen, die der hochgelehrte Mann für albern hielt, und aus Mitleiden beantwortete. Nach und nach schlich er sich der Sache näher, immer mit Fragen, und immer indem er seinem Gegner die Gelegenheit abschnitt, in anhaltende Reden auszuschweifen. Dadurch wurden sie genötigt, die Begriffe deutlich auseinander zu setzen, richtige Erklärungen gelten, und aus ihren falschen Voraussetzungen ungereimte Folgen ziehen zu lassen. Zuletzt sahen sie sich so in die Enge getrieben, dass sie ungeduldig wurden. Er aber ward es niemals, sondern ertrug ihre Unart selbst mit der größten Gelassenheit, fuhr fort die Begriffe zu entwickeln, bis endlich die Ungereimtheiten, die aus den Grundsätzen der Sophisten folgten, dem einfältigsten Zuhörer handgreiflich wurden. Auf solche Weise wurden sie ihren eignen Schülern zum Gelächter. ¦ In Ansehung der Religion scheint er folgende Maxime vor Augen gehabt zu haben. Jede falsche Lehre oder Meinung, die offenbar zur Unsittlichkeit führet, und also der Glückseligkeit des menschlichen | Geschlechts entgegen ist, wurde von ihm auf keinerlei Weise verschont, sondern öffentlich, im Beisein der Heuchler, Sophisten und des gemeinen Volks, bestritten, lächerlich gemacht, und in ihren ungereimten und abscheulichen Folgen gezeigt. Von dieser Art waren die Lehren der Fabeldichter von den Schwachheiten, Ungerechtigkeiten, schändlichen Begierden und Leidenschaften, die sie ihren Göttern zuschrieben. Über dergleichen Sätze, so wie über unrichtige Begriffe von der Vorsehung und Regierung Gottes, auch über die Belohnung des Guten und die Bestrafung des Bösen, war er |  iii.1 : 18–19 

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niemals zurückhaltend, niemals, selbst zum Scheine nicht, zweifelhaft ; sondern allezeit entschlossen, die Sache der Wahrheit mit der größten Unerschrockenheit zu verfechten, und, wie der Erfolg gezeigt, sein Bekenntnis mit dem Tode zu versiegeln. Eine Lehre aber, die bloß theoretisch falsch, und den Sitten so großen Schaden nicht bringen konnte, als von einer Neuerung zu befürchten war, ließ er unangefochten, bekannte sich vielmehr öffentlich zu der ¦ herrschenden Meinung, beobachtete die darauf gegründeten Zeremonien und Religionsgebräuche, vermied hingegen alle Gelegenheit zu einer entscheidenden Erklärung ; und wann ihr nicht auszuweichen war, so hatte er eine Zuflucht in Bereitschaft, die ihm niemals entstehen konnte : er schützte seine Unwissenheit vor. Hierunter begünstigte ihn vorzüglich die Methode zu lehren, die er, wie wir gesehen, aus andern Absichten gewählt hatte. Denn da er seine Lehren niemals mit dem Hochmute eines alleswissenden Mannes ankündigte, da er vielmehr nichts selbst behauptete, sondern allezeit die Wahrheit durch Fragen von seinen Zuhörern herauszulocken suchte : so war ihm erlaubt, das nicht zu wissen, was er nicht wissen konnte, oder durfte. Die Eitelkeit, auf alle Fragen eine Antwort zu wissen, hat so manchen großen Geist verführt, Dinge zu behaupten, die er in dem Munde eines andern getadelt haben würde. Sokrates war von dieser Eitelkeit weit entfernt. Von Dingen, die über seinen Horizont waren, gestand er mit der naivesten Freimütigkeit : Dieses weiß ich nicht ; und wann er merkte, dass ihm Fallen gelegt wurden, und gewisse Geständnisse abgelockt werden wollten, so zog er sich aus dem Spiele, und sagte : Nichts weiß ¦ ich ! Das Orakel zu Delos17 erklärte ihn für den weisesten unter allen Sterblichen. Wie es scheinet, so hatte die Priesterin die listige Absicht, einen ihr so gefährlichen Mann durch diese Schmeichelei zu gewinnen, und in die Notwendigkeit zu setzen, ihre Orakelsprüche für untrüglich zu erklären, wenn er für den weisesten Sterb­lichen gehalten werden wollte. Allein Sokrates gab der Sache eine gar besondere Wendung : „Wisst ihr“, sprach er, „warum Apollo mich für den größten Weisen auf Erden hält ? Weil andere meh|  iii.1: 19  ¦ 15–17

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renteils | etwas zu wissen glauben, das sie nicht wissen ; ich aber sehe wohl ein und gestehe, dass alles, was ich weiß, darauf hinausläuft, dass ich nichts weiß.“ Der Ruhm des Sokrates verbreitete sich in ganz Griechenland, und es kamen die angesehensten und gelehrtesten Männer von allen Gegenden zu ihm, um seines freundschaftlichen Umgangs und Unterrichts zu genießen. Die Begierde ihn zu hören war unter seinen Freunden so groß, dass mancher sein Leben wagte, um nur täglich bei ihm zu sein. Die Athenienser hatten bei Lebensstrafe verboten, dass sich kein Megarenser auf ihrem Gebiete betreten lassen sollte. Eu ¦ k lides von Megara, ein Freund und Schüler des Sokrates, ließ sich dadurch nicht abhalten, seinen Lehrer zu besuchen. Des Nachts ging er, in bunte Weiberkleider gehüllt, von Megara nach Athen, und des Morgens, ehe es Tag war, ging er wieder seine zwanzig tausend Schritte zurück nach Hause. Bei dem allen lebte Sokrates in der äußersten Armut und Dürftigkeit, und wollte sich nichts für seinen Unterricht bezahlen lassen, obgleich die Athenienser so lehrbegierig waren, dass sie sichs große Summen würden haben kosten lassen, wann er auf Belohnung gedrungen hätte. Die Sophisten wussten von dieser Bereitwilligkeit schon bessern Gebrauch zu machen. Es muss ihm desto mehr Überwindung gekostet haben, diese Dürftigkeit zu ertragen, da seine Frau, die berüchtigte Xantippe, eben nicht die genügsamste Hausfrau gewesen, und er auch für Kinder zu sorgen gehabt, die ihre Verpflegung von seiner Hand erwarteten. Es ist zwar noch nicht ausgemacht, dass die Xantippe von so böser Gemütsart gewesen, als man gemeiniglich glaubet. Die Märchen, die zu ihrer Beschimpfung bekannt sind, rühren von spätern Schriftstellern her, die sie nur vom Hörensagen haben konn ¦ ten. Plato und Xenophon,18 die am besten davon unterrichtet sein mussten, scheinen sie als eine mittelmäßige Frau gekannt zu haben, von der sich weder viel gutes noch viel böses sagen lässt. Ja man wird in folgendem Gespräche nach dem Plato finden, dass sie, an dem letzten Tage des Sokrates, mit ihrem Kinde bei ihm im Kerker gewesen, und sich außer|  iii.1: 19–20  ¦ 17–19

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ordentlich über seinen Tod betrübt hat. Alles, was man sonst bei diesen glaubwürdigsten Schriftstellern zu ihrem Nachteile findet, ist etwa eine Stelle in dem Tischgespräche Xenophons, wo jemand den Sokrates fragt, warum er sich eine Frau genommen, | die so wenig umgänglich wäre ? worauf dieser in seinem gewöhn­lichen Tone antwortet : „Wer mit Pferden umgehen lernen will, der wählet sich zu seiner Übung kein geduldiges Lasttier, sondern ein mutiges Ross, das schwer zu bändigen ist. Ich, der ich mit Menschen umgehen lernen will, habe mir aus eben der Ursache eine Hausfrau gewählt, die unverträglich ist, um die verschiedene Laune der Menschen desto besser ertragen zu lernen.“ An einer andern Stelle lässt eben dieser Schriftsteller den Sohn des Sokrates, den Lamproklus, sich gegen seinen Vater über die harte Begeg ¦ nung, mürrische Gemütsart und unerträgliche Laune seiner Mutter beschweren. Allein aus der Antwort des Sokrates erhellet, zu ihrem Lobe, dass sie, bei ihrem zänkischen Gemüte, die Pflichten einer Hausmutter gleichwohl sorgfältig beobachtet, und ihre Kinder geliebt, und gehörig verpflegt hat. Dieses Zeugnis ihres Ehemannes widerlegt offenbar alle schimpfliche Histörchen, die man auf ihre Unkosten ersonnen, und wodurch man sie der Nachwelt als ein Beispiel eines bösen Weibes aufgestellt hat. Man kann mit gutem Grunde glauben, dass Sokrates seine Kunst mit Menschen umzugehen an seiner Ehegenossin nicht vergebens geübt hat ; dass er vielmehr durch unermüdete Geduld, Gefälligkeit, Sanftmut, und durch seine unwiderstehlichen Ermahnungen die Härte ihres Temperaments überwunden, ihre Liebe gewonnen, und sie dergestalt gebessert haben wird, dass sie aus einem unverträglichen Weibe eine gute Hausmutter, und, wie ihre Aufführung vor seinem Ende ausweiset, eine zärtliche Ehefrau geworden. Dem sei indessen wie ihm wolle, so müssen ihm seine häuslichen Umstände die Armut weit beschwerlicher gemacht haben ; da er nicht sich allein, sondern einer ganzen Familie, und ¦ vielleicht einer unzufriedenen und über seine strenge Genügsamkeit sich beklagenden Familie, von seinem Tun und Lassen Rechenschaft zu geben hatte. Niemand war besser von den Pflichten eines Hausvaters unter|  iii.1: 20–21  ¦ 19–21

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richtet, als Sokrates. Er wusste wohl, dass ihm obliege, so viel zu erwerben und anzuschaffen, als zum ehrlichen Auskommen für seine Familie nötig sei, und er hat diese natürliche Pflicht seinen Freunden sehr oft eingeschärft. Allein was ihn selbst betraf, so stand ihm eine höhere Pflicht im Wege, die ihn verhinderte, jener Genüge zu leisten. Das Verderbnis der Zeiten, da alles des feilen Gewinnstes halber geschahe, und insbesondere die niederträchtige Habsucht der Sophisten, die ihre verderb­ lichen Leh | ren um bares Geld verkauften, und die schändlichsten Mittel anwendeten, sich auf Unkosten des betrogenen Volks zu bereichern : diese legten ihm die Verbindlichkeit auf, der niederen Gewinnsucht die äußerste Uneigennützigkeit entgegen zu setzen, damit seine reinen und unbefleckten Absichten keiner übeln Aus­legung fähig sein möchten. Er wollte lieber darben, und, wenn ihn der Mangel zu sehr drückte, von Almosen leben, als durch sein Beispiel den schmutzigen Geldgeiz dieser falschen Weisheitslehrer nur einigermaßen rechtfertigen. ¦ Er unterbrach diese wohltätigen Beschäftigungen, und zog abermals freiwillig mit zu Felde wider die Boeotier. Die Athenienser verloren eine Schlacht bei Delium, und wurden aufs Haupt geschlagen. Sokrates zeigte seine Tapferkeit so wohl im Treffen, als auf dem Rückzuge. „Hätte jedermann seine Pflicht so getan, wie Sokrates“, spricht der Feldherr Laches beim Plato, „so wäre der Tag gewiss nicht unglücklich für uns gewesen.“19 Als alles floh, ging er auch zurück, aber Schritt vor Schritt, und indem er sich öfters umkehrte, um einem Feinde, der ihm etwa auf den Hals käme, Widerstand zu tun. Er fand den Xenophon, der vom Pferde gefallen und verwundet war, unterwegens liegend, nahm ihn auf seine Schulter, und brachte ihn in Sicherheit. Die Priester, Sophisten, Redner und andre, die dergleichen feile Künste trieben, Leute, denen Sokrates ein Dorn im Auge sein musste, machten sich desselben Abwesenheit zu Nutz, und suchten die Gemüter wider ihn aufzubringen. Bei seiner Zurückkunft fand er eine geschlossene Partei, der kein Mittel ihm zu schaden zu niederträchtig war. Sie mieteten, wie man zu glauben Ursach hat, den Komö ¦ d ienschreiber Aristopha|  iii.1: 21–22  ¦ 21–23

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nes, dass er durch ein Possenspiel, das man damals Komödie nannte, den Sokrates verhasst und lächerlich zu machen suchte, um das gemeine Volk teils auszuholen, teils vorzubereiten, und wann der Streich gelänge, ein mehreres zu wagen. Diese Fratze führte den Namen die Wolken. Sokrates war die Hauptperson ; und die Figur, die diese Rolle machte, gab sich Mühe, ihn nach dem Leben zu konterfeien. Kleidung, Gang, Gebärde, Stimme, alles äffte er natürlich nach. Das Stück selbst hat sich, zur Ehre des verfolgten Weltweisen, bis auf unsre Zeiten erhalten. Man kann sich kaum etwas ungezogeners gedenken. Sokrates pflegte sonst niemals das Theater zu besuchen, außer wann die Stücke des Euripides, (daran er selbst, wie einige | wol­ len, Anteil gehabt, 20) aufgeführt wurden. Den Tag, da dieses Pasquill aufgeführt werden sollte, ging er gleichwohl hinein. Er hörte, dass viele Fremde, die zugegen waren, sich erkundigten, wer dieser Sokrates im Originale sei, der auf der Bühne so gehöhnt werde ? Er trat mitten im Schauspiel hervor, und blieb, bis ans Ende des Stücks, auf einer Stelle stehn, wo ihn jeder ¦ mann sehen und mit der Kopie vergleichen konnte. Dieser Streich war für den Dichter und seine Komödie tötlich. Die possenhaftesten Einfälle taten keine Wirkung mehr : denn das Ansehen des Sokrates erregte Hochachtung und eine Art von Erstaunen über seine Unerschrockenheit. Auch fand das Stück keinen Beifall. Der Dichter veränderte es, und brachte es das folgende Jahr wieder auf die Bühne, aber mit eben so schlechtem Erfolge. Die Feinde des Weltweisen sahen sich genötiget, die vorgehabte Verfolgung bis auf eine günstigere Zeit zu verschieben. Kaum war der Krieg mit den Boeotiern geendiget, so mussten die Athenienser schon ein neues Heer anwerben, um dem Lacedämonischen Feldherrn Brasidas Einhalt zu tun, der in Thrazien verschiedene Städte, und unter andern die wichtige Stadt Amphipolis ihrer Herrschaft entzogen hatte.21 Sokrates ließ sich die Gefahr, in die ihn seine letzte Abwesenheit gesetzt, nicht abhalten, dem Vaterlande abermals zu dienen. Dieses war das letztemal, dass er seine Vaterstadt verlassen hatte. Nach der Zeit kam er, bis an sein Ende, nicht aus dem Gebiete der Athenien|  iii.1: 22–23  ¦ 23–24

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ser, und unterließ niemals, der Jugend, die ¦ ihn suchte, seinen freundschaftlichen Umgang zu gönnen, und ihr durch Lehren und gutes Exempel die Liebe zur Tugend einzuflößen. Wie er aber überall ein großer Freund und Liebhaber der Schönheit war, so schien er in der Wahl seiner Freunde auch auf körperliche Schönheit zu sehen. Ein schöner Körper, pflegte er zu sagen, verspricht eine schöne Seele, und wenn sie der Erwartung nicht zusagt, so muss sie verwahrlost worden sein. Daher er sich denn viele Mühe gab, das Inwendige dieser Personen mit ihrem wohlgebildeten Äußerlichen übereinstimmend zu machen. Niemand aber war ihm so angelegen, als Alcibiades, ein junger Mensch von ungemeiner Schönheit und von großen Talenten, der hochfahrend, mutig, leichtsinnig und überaus feurigen Temperaments war. Diesen verfolgte er unermüdet, ließ sich bei allen Gelegenheiten mit ihm in Unterredung ein, um ihn durch freundschaft | liche Ermahnungen und liebreiche Verweise von den Ausschweifungen des Ehrgeizes und der Wollust, wozu er von Natur sehr geneigt war, abzuhalten. Plato lässt ihn bei dieser Gelegenheit öfters Ausdrücke brauchen, die beinahe verliebt scheinen : daher man in spätern Zeiten Gele ¦ genheit genommen, den Sokrates eines sträflichen Umgangs mit jungen Leuten zu beschuldigen. Allein die Feinde des Sokrates selbst, Aristophanes in der Komödie, und Melitus in seiner Anklage, tun hiervon nicht die geringste Erwähnung. Melitus beschuldigt ihn zwar, dass er die Jugend verderbe ; allein, wie aus der Antwort des Sokrates gar deutlich erhellet, ging dieses auf die Gesetze der Religion und der Politik, gegen welche er die Jugend gleichgültig gemacht haben sollte. Gesetzt auch, die damalige Verderbnis der Sitten wäre so weit gegangen, dass man dieses widernatürliche Laster beinahe für natürlich gehalten, so hätten seine Feinde dennoch diesen Umstand nicht ganz verschwiegen. Wenn es nicht offenbar unmöglich gewesen wäre, das Muster der Keuschheit und Enthaltsamkeit einer so viehischen Geilheit zu beschuldigen. Man lese die strengen Vorwürfe, die er dem Kritias und Kritobulus machet ; man lese das Zeugnis, das ihm der mutwillige, halbberauschte Alcibiades, in Platons Tisch­ |  iii.1: 23–24  ¦ 24–26

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gespräche, gibt.22 Das Stillschweigen der Feinde und Verleumder, und seiner Freunde positives Zeugnis vom Gegenteile lassen keinen Zweifel zurück, dass ¦ die Beschuldigung ungegründet und eine strafbare Verleumdung sei. Die Ausdrücke des Plato, so fremde sie auch in unsern Ohren klingen, beweisen weiter nichts, als dass diese unnatürliche Galanterie damals die Modesprache gewesen, wie etwa der ernsthafteste Mann in unsern Zeiten sich nicht entbrechen würde, wenn er an ein Frauenzimmer schreibt, wie verliebt zu tun. Über den Genius, den er zu besitzen vorgab, und der ihn, wie er sagte, allzeit abhielt, wenn er etwas Schädliches unternehmen wollte, sind die Meinungen der Gelehrten geteilt. Einige glauben, Sokrates habe sich hierin eine kleine Erdichtung erlaubt, um bei dem abergläubischen Volke Gehör zu finden ; allein dieses scheint mit seiner gewöhnlichen Aufrichtigkeit zu streiten. Andre verstehen unter diesem Genius ein geschärftes Gefühl vom Guten und Bösen, eine durch Nachdenken, durch lange Erfahrung und anhaltende Übung zum Instinkt gewordene moralische Beurteilungskraft, vermöge welcher er jede freie Handlung nach ihren mutmaßlichen Folgen und | Wirkungen prüfen und beurteilen konnte, ohne sich selbst von seinem Urteil Rechenschaft geben zu können.23 Man findet aber beim Xenophon 24 so ¦ wohl als Plato verschiedene Vorfälle, wo dieser Geist dem Sokrates Dinge vorher gesagt haben soll, die sich aus keiner natürlichen Kraft der Seele erklären lassen. Vielleicht sind diese von seinen Schülern aus guter Meinung hinzu gesetzt worden ; vielleicht auch hatte Sokrates, der, wie wir gesehen, zu Entzückungen aufgelegt war, selbst Schwachheit oder schwärmende Einbildungskraft genug, dieses lebhafte moralische Gefühl, das er nicht zu erklären wusste, in einen vertraulichen Geist umzuschaffen, und ihm hernach auch diejenigen Ahndungen zuzuschreiben, die aus ganz andern Quellen entspringen. Muss denn ein vortrefflicher Mann notwendig von allen Schwachheiten und Vorurteilen frei sein ? In unsern Tagen ist es kein Verdienst mehr, Geistereingebungen zu verspotten.25 Vielleicht hat zu den Zeiten des Sokrates eine Anstrengung des Genies dazu gehört, die |  iii.1: 24–25  ¦ 26–28

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er nützlicher angewendet hat. Er war ohnedem gewohnt, jeden Aberglauben zu dulden, der nicht unmittelbar zur Unsittlichkeit führen konnte, wie bereits oben erinnert worden. Die Glückseligkeit des menschlichen Geschlechts war sein einziges Studium. So bald ein Vorurteil, oder Aberglaube zur offenbaren Gewalttätigkeit, Kränkung ¦ der menschlichen Rechte, Verderbnis der Sitten u. s. w. Anlass gab : so konnte ihn nichts in der Welt abhalten, aller Drohung und Verfolgung zum Trotze, sich dawider zu erklären. Es war unter den Griechen ein hergebrachter Aberglaube, dass die Schatten der unbegrabenen Toten am Ufer des Styx hundert Jahre rastlos herum irren müss­ ten, bevor sie herüber gelassen würden. Dieser Wahn mag dem rohen Volk von dem ersten Stifter der Gesellschaft aus löblichen Absichten beigebracht worden sein. Indessen hat er zu den Zeiten des Sokrates, durch einen schändlichen Missbrauch, manchen wackern Patrioten das Leben gekostet. Die Athenienser hatten bei den Arginusinischen Inseln über die Lacedämonier einen vollkommenen Sieg erhalten. Die Befehlshaber der siegenden Flotte wurden aber durch einen Sturm abgehalten, ihre Toten zu begraben. Bei ihrer Rückkunft nach Athen wurden sie, auf die undankbarste Weise, dieser Unterlassung halben öffentlich angeklagt. Sokrates hatte denselben Tag den Vorsitz in dem Senat der Prytanen26 , welche die öffentlichen Angelegenheiten zu besorgen hatten. Die Bosheit einiger Mächtigen im Reiche, die Heu | chelei der Priester und die ¦ Niederträchtigkeit feiler Redner und Demagogen hatten sich vereinigt, den blinden Eifer des Volks wider diese Beschützer des Staats aufzubringen. Das Volk drang mit Ungestüm auf ihre Verdammung. Ein Teil des Senats war selbst von diesem pöbelhaften Wahne betört ; und der Überrest hatte nicht Mut genug, sich der allgemeinen Raserei zu widersetzen. Alles willigte darein, diese unglücklichen Patrioten zum Tode zu verurteilen. Nur Sokrates allein hatte die Herzhaftigkeit, ihre Unschuld zu verteidigen. Er verachtete die Drohungen der Mächtigen, und die Wut des aufgebrachten Pöbels, stand ganz allein auf der Seite der verfolgten Unschuld, und wollte lieber das Ärgste über sich ergehen lassen, als in eine so heil|  iii.1: 25–26  ¦ 28–30

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lose Ungerechtigkeit willigen. Wiewohl alle seine Bemühungen zu ihrem Besten dennoch fruchtlos abliefen. Er hatte den Verdruss, zu sehen, dass der blinde Eifer die Oberhand erhielt, und dass die Republik sich selbst die Schmach antat, ihre tapfersten Beschützer einem übelverstandenen Vorurteil aufzuopfern. Das Jahr darauf wurden die Athenienser von den Lacedämoniern auf das Haupt geschlagen, ihre Flotte zu Grunde gerichtet, ihre Hauptstadt bela ¦ gert und dergestalt aufs Äußerste gebracht, dass sie sich den Siegern auf Gnade und Ungnade ergeben musste. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Mangel an erfahrenen Anführern auf Seiten der Athenienser an dieser Niederlage nicht wenig Schuld gewesen. Lysander, der Feldherr der Lacedämonier, der die Stadt eingenommen hatte, begünstigte eine in derselben entstandene Empörung, verwandelte die demokratische Regierungsform in eine Oligarchie, und setzte einen Rat von dreißig Männern, die unter dem Namen der dreißig Tyrannen bekannt sind. Die grausamsten Feinde hätten in der Stadt so nicht wüten können, als diese Ungeheuer gewütet haben. Unter dem Vorwande, Staatsverbrechen und Meuterei zu bestrafen, wurden die rechtschaffensten Leute im Staat ihres Lebens oder ihres Vermögens beraubt. Plündern, rauben, verbannen, diesen öffentlich, jenen meuchelmörderisch hinrichten lassen, waren Taten, mit welchen sie ihre Regierung bezeichneten. Wie musste das Herz des Sokrates bluten, den Kritias, der vormals sein Schüler war, an der Spitze dieser Scheusale zu sehen ! Ja, dieser Kritias, sein vormaliger Freund und Zuhörer, zeigte sich nunmehr als ¦ seinen offenbaren Feind, und suchte Gelegenheit, ihn zu verfolgen. Der  | weise Mann hatte ihm einst seine viehische und wider­ natürliche Geilheit mit harten Worten verwiesen, und seit der Zeit trug ihm der Unmensch einen heimlichen Groll nach, der jetzo auszubrechen Gelegenheit suchte. Als er und Charikles zu Gesetzgebern ernennt wurden, führten sie, um eine Ursache an dem Sokrates zu finden, das Gesetz ein, dass niemand in der Redekunst unterrichten sollte. Sie erfuhren darauf, dass sich Sokrates mit Worten wider sie vergan|  iii.1: 26–27  ¦ 30–32

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gen, und verschiedentlich habe verlauten lassen, es wäre zwar wunderbar, wenn Hirten die ihnen anvertraute Herde kleiner und magerer machten, und dennoch nicht für schlechte Hirten wollten gehalten sein ; aber weit wunderbarer wäre es, wenn die Vorsteher eines Staats die Bürger weniger und schlechter machten, und dennoch nicht schlechte Vorsteher sein wollten. Sie ließen ihn kommen, zeigten ihm das Gesetz, und verboten ihm, mit jungen Leuten sich in Unterredung einzulassen. „Ist es erlaubt“, versetzte Sokrates, „eines und das andere zu fragen, das mir in diesem Verbote nicht deutlich genung ist ? “ – „O ja !“ antwortete ¦ man. – „Ich bin bereit“, erwiderte er, „dem Gesetze zu folgen, und befürchte nur aus Unwissenheit dawider zu verstoßen : ich bitte daher um eine deutlichere Erklärung, ob ihr unter der Redekunst eine Kunst recht zu reden, oder unrecht zu reden versteht ? Ist jenes : so muss ich mich enthalten, jemanden zu sagen, wie er recht reden soll ; ist aber dieses : so werde ich niemand unterweisen, wie er unrecht reden soll.“ Charikles entrüstete sich, und sprach : „Wenn du dieses nicht verstehest, so haben wir dir es fasslicher gemacht, und schlechterdings verboten, mit jungen Leuten zu reden.“ – „Damit ich aber auch hierin wisse, wie ich mich zu verhalten habe“, sprach Sokrates : „so bestimmt mir die Zeit, wie lange ihr die Menschen für junge Leute haltet ? “ „So lange sie nicht im Rate sitzen können“, antwortete Charikles, „das ist, so lange sie nicht zu reifem Verstande gekommen sind, nämlich bis zu dreißig Jahren.“ „Wenn ich aber etwas kaufen will“, erwiderte Sokrates, „das ein junger Mensch unter dreißig Jahren zu verkaufen hat, soll ich nicht fragen, wie teuer ? “ „Dieses ist dir nicht verboten“, sprach Charikles ; „aber du fragst manchmal Dinge, die du gar wohl  ¦ weißt : solcher Fragen enthalte dich ferner !“ – „Und antworten ? “ sprach Sokrates weiter. „Wenn ein junger Mensch mich fragt, wo Charikles oder Kritias wohne ? | darf ich ihm hierauf antworten ? “ – „Ja, ja“, sprach Kritias ; „aber enthalte dich der abgenutzten Beispiele und Gleichnisse von Riemenschneidern, Zimmerleuten und Schmieden.“ „Vermutlich“, erwiderte Sokrates, „auch der Begriffe, die ich durch diese Beispiele zu erläutern pflege, |  iii.1: 27–28  ¦ 32–34

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von der Gerechtigkeit, Heiligkeit, Frömmigkeit, u. s. w. ? “ „Ganz recht !“ antwortete Charikles, „und vor allen Dingen auch der Viehhirten. Merke dir das, oder ich befürchte, du wirst auch die Herde kleiner machen.“ Sokrates achtete ihre Drohungen so wenig, als ihr ungereimtes Gesetz, das sie, der gesunden Vernunft und dem Gesetz der Natur schnurstracks zuwider, keine Befugnis gehabt einzuführen. Er setzte seine Bemühungen zum Besten der Tugend und Gerechtigkeit mit dem unermüdetesten Eifer fort, und die Tyrannen unterstunden sich gleichwohl nicht, ihm so gerade auf den Leib zu kommen. Sie suchten Umwege, und wollten ihn mit in ihre Ungerechtigkeiten verwickeln : trugen ihm daher nebst vier andern Bür ¦ gern auf, den Leon von Salamin nach Athen zu bringen, um ihn hinrichten zu lassen.27 Die andern übernahmen den Auftrag ; Sokrates aber erklärte sich, dass er niemals zu einer ungerechten Sache die Hände bieten werde. „So willst du denn“, sprach Charikles, „Freiheit haben, zu reden, was du willst, und gar nichts dafür leiden ?“ „Alles mögliche Übel“, antwortete er, „will ich dafür leiden, nur das nicht, jemanden Unrecht zu tun.“ Charikles schwieg, und die übrigen sahen sich einander an. Diese Freiheiten würden den Sokrates am Ende dennoch das Leben gekostet haben, wenn nicht das Volk, der Grausamkeit dieser Tyrannen müde, einen Aufstand erregt, ihre vornehmsten Anführer umgebracht, und die übrigen zur Stadt hinaus gejagt hätte. Unter der wiederhergestellten demokratischen Regierung ging es dem Sokrates gleichwohl nicht besser. Die alten Feinde desselben, die Sophisten, Priester und Redner, fanden nunmehr die längst erwünschte Gelegenheit, ihn mit besserm Glück zu verfolgen, und endlich gar aus dem Wege zu räumen. Anytus, Melitus und Lykon, sind die drei zu ihrer Schmach unvergess­ liche Namen derer, die sich zur Ausführung ¦ dieses schänd­ lichen Vorhabens haben brauchen lassen. Sie brachten die Verleumdung unter das Volk : Sokrates habe dem Kritias die Grundsätze der Tyrannei beigebracht, die er neulich mit so unerhörter Grausamkeit ausgeübt hätte. Wer die Leichtgläubigkeit und |  iii.1: 28  ¦ 34–36

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Unbeständigkeit des Pöbels kennt, wird | sich nicht verwundern, dass die Athenienser einer so offenbaren Falschheit Gehör gegeben, ob gleich jedermann wusste, was zwischen dem Sokrates und den Tyrannen vorgefallen. Einige Jahre vorher hatte Alcibiades, der große Talente, aber einen sehr wilden Charakter hatte, in Gesellschaft andrer mutwilligen Jünglinge, die Bildsäule des Merkurs zerschlagen, die Eleusinischen Geheimnisse28 öffentlich verspottet, und wegen dieses Übermuts aus seiner Vaterstadt entweichen müssen. Anjetzo wurde diese Geschichte wieder rege gemacht, und von den Feinden des Sokrates ausgestreut, er habe dem jungen Menschen die Verachtung der Religion beigebracht. Nichts war den Lehren und der Aufführung des Sokrates mehr zuwider, als ein solcher Frevel. Den öffentlichen Gottesdienst, so abergläubisch er auch sein mochte, hat er allezeit in Ehren gehalten ; und was die Eleusinischen Geheimnisse betrifft, so riet er allen seinen Freunden, sich in denselben ein ¦ weihen zu lassen ; ob er gleich selbst seine Ursachen haben mochte, es nicht zu tun. Man hat sehr guten Grund, zu glauben, dass die größern Geheimnisse zu Eleusis nichts anders waren, als die Lehren der wahren natürlichen Religion, und eine vernünftige Auslegung der Fabeln. Wenn Sokrates sich weigerte, die Einweihung anzunehmen, so geschah es, wahrscheinlicher Weise, um die Freiheit zu behalten, diese Geheimnisse ungestraft ausbreiten zu dürfen, die ihm die Priester durch die Einweihung zu entziehen suchten. Als die Verleumder, durch dergleichen boshafte Ausstreuungen, das Volk genugsam vorbereitet zu haben glaubten, brachte Melitus eine förmliche Anklage wider den Sokrates an die Obrigkeit der Stadt, welche alsofort dem Volk davon Nachricht gab. Das Gericht der Heliäa 29 wurde zusammen berufen und die gewöhnliche Anzahl der Bürger durch das Los bestimmt, die den Angeklagten richten sollten. Die Anklage war : Sokrates handelt wider die Gesetze, indem er 1) die Götter der Stadt nicht verehrt, und eine neue Gottheit einführen will, und 2) die Jugend verderbet, der er eine Verachtung alles dessen, was heilig ist, beibringet. Seine Strafe sei der Tod. ¦ |  iii.1: 28–29  ¦ 36–37

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Seine Freunde brachten ihm wohlausgearbeitete Reden zu seiner Verteidigung. „Sie sind sehr schön“, sprach er, „aber für mich alten Mann schicken sich dergleichen Künste nicht.“ „Willst du nicht selbst | etwas zu deiner Verteidigung aufsetzen ? “ fragten sie ihn. „Die beste Verteidigung die ich machen kann“, antwortete er, „ist, dass ich in meinem Leben niemanden Unrecht getan. Ich habe zu verschiedenen malen angefangen, auf eine Schutzrede zu denken, bin aber allemal von Gott daran verhindert worden. Vielleicht ist es sein Wille, dass ich in diesen Jahren, bevor das hinfällige und einer Krankheit ähnliche Alter kommt, eines leichtern Todes sterben, und weder meinen Freunden noch mir selbst zur Last werden soll.“30 In diesen Worten hat jemand vor einiger Zeit den Beweis finden wollen, dass Sokrates feigherzig gewesen, und die Unbequemlichkeiten des Alters, mehr als den Tod, gefürchtet habe. Es gehöret nicht wenig Herzhaftigkeit dazu, dem Leser so was einbilden zu wollen ! An dem zu dieser Untersuchung öffentlich anberaumten Tage erschienen Melitus, Anytus und Lyko, der erste für die Dichter, der zweite für das Volk, und ¦ der letzte für die Redner, bestiegen einer nach dem andern den Rednerstuhl, und hielten die giftigsten und verleumderischsten Reden wider den Sokrates. Er betrat nach ihnen den Platz, ohne zu zittern oder zu zagen, ohne, nach der damaligen Gewohnheit auf Gerichtsstuben, seine Richter durch einen jämmerlichen Anblick zum Mitleiden bewegen zu wollen ; sondern mit dem gesetzten und zuversichtlichen Wesen, das seiner Weisheit anständig war. Er hielt eine zwar ungekünstelte und unvorbereitete, aber männliche und sehr nachdrückliche Rede, in welcher er alle Verleumdungen und boshaften Gerüchte, die man zu seinem Nachteil ausgestreut, ohne Bitterkeit widerlegte, seine Ankläger beschämte und in ihren eigenen Beschuldigungen Widersprüche und Ungereimtheiten zeigte. Seinen Richtern begegnete er zwar mit der erforderlichen Ehrerbietigkeit, sprach aber in einem so festen und seines Vorzugs sich bewussten Tone, dass seine Rede öfters durch unzufriedenes Murmeln unterbrochen ward. Er beschloss mit folgenden Worten : |  iii.1: 29–30  ¦ 38–39

Leben und Charakter des Sokrates

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„Werdet nicht ungehalten, Athenienser ! dass ich, wider die Gewohnheit der Verklagten, nicht in Tränen zu euch rede, oder meine Kinder, Verwandten ¦ und Freunde in einem kläglichen Aufzuge erscheinen lasse, um euch zum Mitleiden zu bewegen. Nicht aus Hochmut oder Trotz habe ich dieses unterlassen ; sondern weil ich es für unanständig halte, einen Richter anzuflehen, und ihn anders, als durch die Rechtmäßigkeit der Sache, einnehmen zu wollen. Der | Richter hat sich durch einen Eid verpflichtet, nach Gesetz und Billigkeit zu urteilen, und sein Mitleiden so wenig als seinen Zorn den Ausspruch tun zu lassen. Wir Angeklagten handeln also wider Recht und Billigkeit, wenn wir euch durch unsre Klagen eidbrüchig zu machen suchen, und wider die Achtung, die wir euch schuldig sind, wenn wir euch fähig halten, es zu werden. Ich will auf keinerlei Weise meine Rettung solchen Mitteln zu verdanken haben, die weder recht, noch billig, noch gottesfürchtig sind ; vornehmlich da ich vom Melitus so eben der Gottlosigkeit beschuldiget worden bin. Wenn ich durch mein Flehen euch meineidig zu machen suchete, so wäre dieses der überzeugendste Beweis, dass ich keine Götter glaube ; mithin würde mich diese Verteidigung selbst der Atheisterei überführen. Aber nein ! ich bin mehr, als alle meine Ankläger, von ¦ dem Dasein Gottes überzeugt, und ergebe mich daher Gotte und euch, mich nach Wahrheit zu richten, und über mich zu verhängen, was ihr so wohl für euch, als für mich für das Beste haltet.“ Die Richter waren höchst unzufrieden über dieses gesetzte und unerschütterte Wesen, und unterbrachen den Plato, der nach ihm hervortrat, und zu reden begonn. „Ob ich schon der jüngste bin, Athenienser !“ fing Plato an, „von denen, welche diesen Ort hinaufgestiegen –“ „Heruntergestiegen“ riefen sie ihm zu, und ließen ihn seine Rede nicht fortsetzen. Sokrates wurde durch die Mehrheit von drei und dreißig Stimmen für schuldig erkannt. Es war die Gewohnheit zu Athen, dass die Verurteilten sich selbst eine gewisse Strafe, Geldbuße, Gefängnis oder Verbannung auflegen mussten, um dadurch die Billigkeit des Urteils zu bekräftigen, oder vielmehr ihre Verbrechen einzugestehen. |  iii.1: 30–31  ¦ 39–41

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Sokrates sollte wählen ; aber er wollte auf keinerlei Weise gegen sich selbst so ungerecht sein, sich für schuldig zu erkennen, und sprach : „Wenn ich frei sagen soll, was ich verdient zu haben glaube, so wisset, Athenienser ! ich glaube, ¦ durch die Dienste, die ich der Republik geleistet, wohl wert zu sein, dass man mich auf öffentliche Kosten im Prytaneum unterhalte.“31 Auf Zureden seiner Freunde verstand er sich gleichwohl zu einer kleinen Geldbuße, wollte aber nicht zugeben, dass sie unter sich eine größere Summe zusammen schießen sollten. Die Richter beratschlageten sich, welche Strafe sie ihm zuerkennen sollten, und die Bosheit seiner Feinde brachte es dahin, dass er zum | Tode verurteilt wurde : „Ihr seid mit eurem Urteil sehr voreilig gewesen, Athenienser ! sprach Sokrates, „und habt dadurch den Verleumdern dieser Stadt Stoff gegeben, euch vorzuwerfen, dass ihr den weisen Sokrates ums Leben gebracht ; denn sie werden mich weise nennen, wenn ich es schon nicht bin, um euch destomehr tadeln zu können. Ihr hättet nicht lange warten dürfen, so wäre ich, ohne euer Zutun, gestorben. Ihr sehet, wie nahe ich schon dem Tode bin.* Euch meine ich hiermit, die ihr mir den Tod zuerkannt habet ! Glaubet ihr etwa, Männer von Athen ! dass es mir an Worten gefehlt, euch einzunehmen und zu überreden, wenn ich der Meinung gewesen ¦ wäre, man müsste alles tun und alles sprechen, um ein günstiges Urteil zu erhalten ? Gewisslich nicht ! Wenn ich unterliege, so ist es nicht aus Mangel an Worten und Vorstellungen, sondern aus Mangel an Unverschämtheit und Niederträchtigkeit, euch solche Dinge hören zu lassen, die euch angenehm zu vernehmen, aber einem rechtschaffenen Manne unanständig sind zu sagen. Heuchlen, schreien und andere solche kriechende Überredungsmittel, die ihr an andern gewohnt seid, sind meiner höchst unwürdig. Ich hatte mir gleich Anfangs vorgenommen, lieber das Leben zu verlieren, als es auf eine unedle Weise zu retten. Denn ich halte dafür, dass man eben so wenig berechtiget sei, vor Gericht alles * Er war damals 70 Jahr alt.

|  iii.1: 31–32  ¦ 41–43

Leben und Charakter des Sokrates

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zu tun, um dem Tode zu entfliehen, als im Kriege. Wie oft hat ein Mann nicht in einem Gefechte Gelegenheit sein Leben zu erretten, wenn er die Waffen von sich werfen und denjenigen, der ihm nachsetzt, um Gnade bitten will. Und so gibt es im menschlichen Leben viele Vorfälle, wo der Tod gar wohl vermieden werden kann, wenn man nur unverschämt genug ist, alles zu tun und zu sagen, was dazu erfodert wird. Dem Tode zu entfliehen, Männer von ¦ Athen ! ist zuweilen so schwer nicht, aber der Schande zu entkommen, ist weit schwerer : denn sie ist schneller, als der Tod. Daher kommt es auch, dass ich langsamer, alter Mann von dem langsamsten ergriffen worden ; da hingegen meine Ankläger, die ganz munter und lebhaft sind, von der sehr schnellen Schande eingeholt worden sind. Ich gehe zum Tode, zu welchem ihr mich verurteilt habet, und sie zur Schmach und Unehre, zu welcher sie von der Wahrheit und Gerechtigkeit verdammt werden. Ich bin mit dem Urteilsspruche zufrieden, | vermutlich sie auch : mithin gehen die Sachen, recht wie sie sollten, und ich für mein Teil finde die Wege des Schicksals auch hierin gerecht und verehrungswert.“ Nachdem er hierauf den Richtern, die ihn verurteilt, freimütig, aber ohne Galle, einige Wahrheiten gesagt, wendete er sich zu denjenigen, die für seine Lossprechung gestimmet hatten, und unterhielt sie mit einer Art von Betrachtung über Leben, Tod und Unsterblichkeit, die damals ziemlich der Fassungskraft des gemeinen Volks angemessen gewesen sein mag. Als er aber mit seinen Schülern und vertrauten Freunden allein war, ließ er sich über eben diese Materie ¦ mit mehrerer Gründlichkeit heraus : daher wir unsre Leser, die in folgenden Gesprächen mit den reifern Gedanken dieses Weltweisen unterhalten werden sollen, mit jener exoterischen Philosophie billig verschonen. Man führte ihn ins Gefängnis, das, wie Seneca sagt, durch die Gegenwart dieses Mannes seine Schmach verlor, indem das kein Kerker sein kann, wo ein Sokrates ist.32 Unterwegs begegneten ihm einige von seinen Schülern, die über dasjenige, was ihm widerfahren, ganz untröstlich waren. „Warum weinet ihr ? “ fragte sie der Weise. „Hat mich die Natur nicht gleich bei meiner |  iii.1: 32–33  ¦ 43–45

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Geburt zum Tode verurteilt ? Wenn mich der Tod einem wahren und ersprießlichen Gute entrissen, so hätte ich und diejenigen, die mich lieben, Ursache, mein Schicksal zu bedauren. Da ich aber hienieden nichts, als Jammer und Elend zurücklasse : so sollten mir meine Freunde zu meiner Reise vielmehr Glück wünschen.“ Apollodorus, der als ein sehr gutherziger Mensch, aber etwas schwacher Kopf beschrieben wird, konnte sich gar nicht zufrieden geben, dass sein Lehrer und Freund so unschuldig sterben müsste. „Guter Apollodorus !“ sprach Sokrates lächelnd, indem er ihm ¦ die Hand auf den Kopf legte, „würdest du es lieber sehen, wenn ich schuldig sterben müsste ? “ – Was übrigens im Gefängnisse und in den letzten Stunden des sterbenden Sokrates vorgegangen, wird der Leser in folgenden Gesprächen erfahren. Nur ist noch eine Unterredung mit dem Krito nicht aus der Acht zu lassen, aus welcher Plato ein besonderes Gespräch gemacht hat.33 Einige Tage vor der Hinrichtung des Sokrates, kam Krito vor Anbruch des Tages zu ihm ins Gefängnis, fand ihn in süßem Schlafe, und setzte sich leise neben sein Bett, um ihn | nicht zu stören. Als Sokrates erwachte, fragte er ihn, „warum heute so früh ? Freund Krito !“ Dieser meldete ihm, er hätte Nachricht, dass den nächsten Tag das Todesurteil vollzogen werden sollte. „Wenn es der Wille Gottes ist“, antwortete Sokrates, mit seiner gewöhnlichen Gelassenheit, „so sei es ! Indessen glaube ich nicht, dass es morgen vor sich gehen werde. Ich hatte, so eben als du zu mir kamst, einen angenehmen Traum. Mir erschien ein Frauenzimmer von ungemeiner Schönheit, in einem langen weißen Gewande, rief mich beim Namen und sprach : In drei Tagen wirst du in dein frucht ¦ bares Phthia anlangen.“ – Eine feine Anspielung ! wodurch er zu verstehen gab, dass er sich nach jenem Leben, wie beim Homer der erzürnte Achilles sich aus dem Lager weg, und nach Phthia, seinem Vaterlande, sehnete. Krito aber, der ganz andre Absichten hatte, entdeckte seinem Freunde, dass er die Wache bestochen, und alles Nötige vorgekehrt hätte, ihn bei nächtlicher Weile aus dem Gefängnisse zu entführen ; und dass es nunmehr nur |  iii.1: 33–34  ¦ 45–47

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auf ihn ankäme, ob er einem schimpflichen Tode entkommen wollte. Er suchte ihn auch durch die wichtigsten Vorstellungen zu überführen, dass dieses seine Pflicht und Schuldigkeit sei. Da er seine Liebe für sein Vaterland kannte : so stellte er ihm vor, wie er verbunden wäre zu verhüten, dass die Athenienser nicht unschuldiges Blut vergössen ; er führte überdem an, dass ers um seiner Freunde willen tun müsste, die, außer dem Schmerz über seinen Verlust, auch der schmählichen Nachrede würden ausgesetzt bleiben, dass sie seine Befreiung vernachlässiget. Endlich unterließ er auch nicht, ihm ein bewegliches Bild von dem Unglück seiner hilflosen Kinder vorzuhalten, die alsdann seines väterlichen Unterrichts, Beispiels und Schutzes ¦ beraubt sein würden. Hierauf antwortete Sokrates. „Mein lieber Krito ! deine freundschaftliche Vorsorge ist löblich, und daher mit Dank anzunehmen, wenn sie sich mit der gesunden Vernunft verträgt. Ist sie aber derselben zuwider, so haben wir uns um so viel mehr dafür zu hüten. Wir sollten daher erst in Überlegung nehmen, ob dein Vorschlag gerecht und mit der Vernunft übereinstimmig sei, oder nicht. Ich habe mich allzeit gewöhnt, mich zu nichts bereden zu lassen, als was ich, nach reiflicher Überlegung, für das Beste gehalten, und ich sehe keinen Grund, warum ich von meinen bisherigen Lebensregeln anjetzo abwiche, ob ich gleich in der Verfassung bin, in welcher du mich siehest : sie erscheinen mir | noch immer in eben dem Lichte, und daher kann ich nicht anders, als sie immer noch wert schätzen und verehren.“ Nachdem er seine falschen Bewegungsgründe widerlegt, und ihm gezeigt, was ein vernünftiger Mann den Gesetzen und dem Vaterlande schuldig sei, fährt er fort : „Wenn ich jetzt im Begriffe wäre, davon zu laufen, und die Republik samt ihren Gesetzen erschienen, um mich zu fragen : Sprich, Sokrates ! was bist du Willens zu ¦ tun ? Bedenkst du nicht, dass dieses uns, den Gesetzen und dem gesamten Staate, so viel an dir liegt, den Untergang bereiten heißt ! Oder glaubest du, dass ein Staat Bestand habe, und nicht notwendig zerrüttet werden müsse, in welchem die Gerichtsurteile keine Kraft haben, und von jeder Privatperson vereitelt werden können ? Was kann ich hierauf antworten, |  iii.1: 34–35  ¦ 47–49

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mein Werter ? – Etwa, dass mir Unrecht geschehen, und ich das Urteil nicht verdiene, das wider mich gesprochen worden ? Soll ich dieses antworten ? “ – Krit. „Beim Jupiter ! ja, o Sokrates !“ – Sokr.„Wenn aber die Gesetze erwiderten : Wie ? Sokrates, hast du dich gegen uns nicht anheischig gemacht, alle Rechtssprüche der Republik zu genehmigen ? – Ich würde über diesen Antrag stutzen ; allein sie würden fortfahren : Lass dich dieses nicht befremden, Sokrates ! sondern antworte nur ; du bist ja sonst ein Freund von Fragen und Antworten ; sag an, was missfällt dir an uns und an der Republik, dass du uns zu Grunde richten willst ? Missfallen dir etwa die Gesetze der Ehe, durch welche dein Vater deine Mutter geheiratet, und dich zur Welt gebracht ; ¦ missfallen dir diese ? – Keinesweges ! würde ich antworten. So missbilligest du etwa unsre Weise die Kinder zu erziehen und zu unterrichten ? Ist die Einrichtung nicht löblich, die wir zu diesem Behufe gemacht, und die deinen Vater veranlasst hat, dich in der Musik und Gymnastik* unterrichten zu lassen ? – Sehr löblich ! müsste ich antworten. – Du gestehest also, dass du uns deine Geburt, deine Auferziehung und deine Unterweisung zu verdanken hast, und folglich können wir dich so wohl, als jeden von deinen Vorfahren, als unsern Sohn und Untergebenen betrachten. Ist dem aber also, so fragen wir : kommt dir mit uns ein gleiches Recht zu ? und bist du befugt, uns alles, was wir dir tun, mit gleicher Münze zu bezahlen ? Du wirst dir kein gleiches Recht mit deinem Vater anmaßen, kein gleiches Recht mit deinem Gebieter, wenn du einen hast : sie alles, was du von ihnen leidest, wieder empfinden zu lassen, dich mit Worten oder | Taten wider sie zu vergehen, wenn sie dir etwas zu nahe treten ; und mit dem Vaterlande, und mit den ¦ Gesetzen willst du gleiches Recht haben ? Gegen uns willst du dich für befugt halten, so bald wir etwas wider dich beschlossen, dich wider uns aufzulehnen ? den Gesetzen, dem Vaterlande, so viel bei dir steht, den Untergang anzurichten ? und du glaubst rechtschaffen zu handeln ? du, der du * Die Übungen der Seelenkräfte wurden Musik, und der Leibes­

geschicklichkeit Gymnastik genannt.

|  iii.1: 35–36  ¦ 49–51

Leben und Charakter des Sokrates

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dich im Ernste der Tugend befleißigen willst ? Steht es so um deine Weisheit, dass du nicht einmal einsiehest, dass Vater und Mutter und Vorfahren lange nicht so ehrwürdig, nicht so hoch zu schätzen, nicht so heilig sind, bei den Göttern sowohl, als bei allen Menschen, die bei Verstande sind, in keinem solchen Ansehen stehen, als das Vaterland ? Sie fahren in diesem Tone fort, und setzen endlich hinzu : Bedenke, Sokrates ! ob du nicht unbillig gegen uns verfährst ? Wir haben dich gezeugt, erzogen und unterrichtet ; wir haben dich, und jeden atheniensischen Bürger, so viel bei uns gestanden, aller Wohltaten teilhaftig gemacht, die das gesellschaftliche Leben gewähren kann ; und gleichwohl haben wir dir, und jedwedem, der sich zu Athen niedergelassen, die Erlaubnis gegeben, wenn ihm unsre Staatsverfassung, nach einer hinlänglichen Prüfung, nicht an ¦ steht, mit den Seinigen davon zu gehen, und sich wohin er will zu begeben. Die Tore von Athen stehen einem jeden offen, dem es in der Stadt nicht gefällt, und er kann das Seinige ungehindert mitnehmen. Wer aber gesehen, wie es bei uns zugehet, und wie wir Recht und Gerechtigkeit handhaben, und dennoch bei uns geblieben, der ist stillschweigend einen Vertrag eingegangen, sich alles gefallen zu lassen, was wir ihm befehlen ; und wenn er ungehorsam ist, so begehet er eine dreifache Ungerechtigkeit. Er ist ungehorsam gegen seine Eltern, ungehorsam gegen seine Zucht und Lehrmeister, und er übertritt den † Vertrag †, den er mit uns eingegangen ist. Liebster Freund Krito ! diese Reden glaube ich zu hören, wie die Korybanten sich einbilden, den Ton der Flöten zu hören, 34 und die Stimme klinget so stark in meinen Ohren, dass ich nichts anders darüber vernehmen kann.“ Krito ging weg, überzeugt, aber unwillig, dass die Vernunft seinen Vorschlag gemissbilliget hatte. | ¦

† Vertrag ] Druck 1769 : Vortrag |  iii.1: 36  ¦ 51–52

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Phädon, oder über die Unsterblichkeit der Seele | ¦

ECHEKRATES, PHÄDON, APOLLODORUS, SOKRATES, CEBES, KRITO, SIMMIAS Erstes Gespräch

ECHEKRATES  Warst du selbst, mein Phädon ! denselben Tag beim Sokrates, als er im Kerker den Gift zu sich nahm, oder hat es dir jemand erzählet ? PHÄDON  Ich selbst, Echekrates ! war da. ECHEKRATES   Was waren denn des Mannes letzte Reden ? Wie verschied er ? Ich möchte dieses so gern erzählen hören. Keiner von unseren Phliasischen Bürgern35 reiset itzt sehr ofte nach Athen, und auch von daher hat uns schon lange niemand besucht, der uns dergleichen ¦ Nachrichten hätte überbringen können. So viel haben wir vernommen : Sokrates hat Gift getrunken und ist gestorben ; nicht den geringsten Umstand mehr. PHÄDON  Nichts von seiner Verurteilung ? ECHEKRATES  O ja ! das hat uns jemand erzählet. Wir verwunderten uns noch, dass man ihn, nachdem er bereits verurteilet gewesen, noch so lange hat leben lassen. Wie kam dieses ? Phädon ! PHÄDON  Ganz von ungefähr, Echekrates ! Es traf sich eben, dass das Schiff, welches die Athenienser jährlich nach Delos zu schicken pflegen, den Tag vor seiner Verurteilung bekränzt wurde. | ECHEKRATES   Und was ist das für ein Schiff ? PHÄDON  Dasselbe, wie die Athenienser sagen, in welchem einst Theseus die sieben Paar Kinder nach Kreta geführet, die er allda, sowohl als sich selbst, beim Leben erhalten hat. Die Stadt soll, wie es heißt, dem ¦ Apollo damals das Gelübde getan haben, wenn die jungen Leute leben bleiben würden, ihm jährlich in diesem Schiffe stattliche Geschenke nach Delos zu schic|  iii.1: 37–40  ¦ 1–5

Erstes Gespräch

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ken, und seit der Zeit hat man dem Gotte noch immer Wort­­ gehalten. Wenn das heilige Schiff abgehen soll, so behänget der Priester des Apollo das Hinterteil desselben mit Kränzen, und sofort nimmt die Feier der Theorie36 ihren Anfang. Dieses Fest dauert so lange, bis das Schiff zu Delos angelangt, und von da wieder zurück gekommen ist, binnen welcher Zeit die Stadt von allem Blutvergießen rein gehalten wird, und nach dem Gesetze niemand öffentlich hingerichtet werden darf. Wenn das Schiff von widrigen Winden aufgehalten wird, so können die Verurteilten hiedurch lange Frist gewinnen. Der Zufall fügte es, wie ich schon vorhin gesagt, dass die Bekränzung des Schiffes einen Tag vorher geschahe, ehe Sokrates verurteilet worden ; und darum verstrich eine so geraume Zeit zwischen seiner Verurteilung und seinem Tode. ¦ ECHEKRATES   Aber den letzten Tag, Phädon ! wie ging es da ? Was hat er gesprochen ? Was hat er getan ? Welche Freunde waren in der Todesstunde bei ihm ? Oder wollten die Archonten37 niemanden zu ihm lassen ? Und verschied er, ohne einen Freund um sich zu haben ? PHÄDON   Keinesweges ! es waren ihrer viele zugegen. ECHEKRATES  Entschließe dich immer, lieber Phädon ! uns alles dieses umständlich zu erzählen, wenn dich keine Geschäfte abhalten. | PHÄDON  Ich habe itzt Muße, und werde euch suchen Genüge zu leisten. Mir ist nichts angenehmer, als meines Sokrates mich zu erinnern, von ihm zu reden oder reden zu hören. ECHEKRATES   Und deine Zuhörer, Phädon ! sind der näm­ lichen Gesinnung. Erzähle also alles, so genau und so umständlich, als es dir möglich ist. PHÄDON Ich war zugegen, Freund ! aber mir war wun ¦ derbar zu Mute. Ich fühlte kein Mitleiden, kein solches Beklemmen, als wir zu empfinden pflegen, wenn ein Freund in unsern Armen erblasset. Der Mann schien mir glückselig, beneidenswert, Echekrates ! so sanft, so ruhig war sein Betragen in der Todesstunde, so gelassen waren seine letzten Worte. Sein Tun dünkte mich, |  iii.1: 40–41  ¦ 5–7

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nicht wie eines Menschen, der vor seiner Zeit zu den Schatten des Orkus hinunter wandelt ; sondern wie eines Unsterblichen, der versichert ist, da wo er hinkommt, so glückselig zu sein, als je einer gewesen. Wie konnte ich also die bangen Empfindungen haben, mit welchen der Anblick eines gemeinen Sterbenden unser Gemüt zu verwunden pflegt ? Gleichwohl hatten die philosophischen Unterredungen unsers Lehrers damals die reine Wollust nicht, die wir an ihnen gewohnt waren. Wir empfanden eine seltsame, nie gefühlte Mischung von Lust und Bitterkeit ; denn das Vergnügen ward beständig von der nagenden Empfindung unterbrochen : „Bald werden wir ihn auf ewig verlieren.“ Wir Anwesenden befanden uns alle in diesem son ¦ derbaren Gemütszustande, und die entgegengesetzten Wirkungen desselben zeigten sich gar bald eben so sonderbar auf unsern Gesichtern. Man sah uns itzt lachen, itzt Tränen vergießen, und öfters zeigte sich ein Lächeln um die Lippen, und heiße Zähren in den Augen. Jedoch übertraf Apollodorus hierinnen uns alle. Du kennest ihn, und sein weichmütiges Wesen. ECHEKRATES   Wie sollte ich ihn nicht kennen ? | PHÄDON  Dieser machte die seltsamsten Bewegungen. Er empfand alles weit feuriger, war entzückt, wenn wir lächelten, und wo uns die Augen wie betauet waren, da schwamm er in Zähren. Wir wurden durch ihn fast mehr gerührt, als durch den Anblick unsers sterbenden Freundes. ECHEKRATES   Wer waren denn die Anwesenden alle ? PHÄDON   Von den hiesigen Stadtleuten : Apollodorus, Kritobulus und sein Vater Krito, Hermogenes, ¦ Epigenes, Aeschines, Antisthenes, Ktesippus, Menexenus und noch einige andere. Plato, glaube ich, war krank. ECHEKRATES   Waren auch Fremde da ? PHÄDON   Ja ! Aus Theben : Simmias, Cebes und Phädondes, und aus Megara : Euklides und Terpsion. ECHEKRATES   Wie ? waren denn Aristippus und Kleombrotus nicht da ? PHÄDON  O nein ! Diese sollen sich damals zu Aegine aufgehalten haben. |  iii.1: 41–42  ¦ 7–9

Erstes Gespräch

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ECHEKRATES  Sonst war also niemand dabei ? PHÄDON  Ich weiß mich auf keinen mehr zu besinnen. ECHEKRATES  Nun, mein Lieber ! was für Unterredungen sind dabei vorgefallen ? | ¦ PHÄDON  Ich werde dir alles vom Anfange bis zum Ende erzählen. Wir waren gewohnt, so lange Sokrates im Gefängnisse saß, ihn täglich zu besuchen. Wir pflegten zu diesem Ende in der Gerichtsstube zusammen zu kommen, in welcher das Urteil über ihn gesprochen worden (denn diese ist sehr nahe am Gefängnisse), und allda uns so lange mit Gesprächen zu unterhalten, bis die Kerkertür aufgetan ward, welches denn nicht sehr früh zu geschehen pflegt. So bald diese aufging, begaben wir uns zum Sokrates, und brachten mehrenteils den ganzen Tag bei ihm zu. Den letzten Morgen fanden wir uns früher als gewöhnlich ein, denn wir erfuhren Abends vorher, als wir nach Hause gingen, dass das Schiff von Delos angekommen sei, und beschlossen, das letzte mal uns so früh als möglich einzustellen. Als wir zusammen waren, kam uns der Schließer, der die Kerkertür zu öffnen pflegte, entgegen, bat uns, zu verziehen, und nicht hinein zu gehen, bis er rufen würde. Denn die elf Männer, sprach er, nehmen itzt dem Sokrates die Fessel ab, und melden ihm, dass er ¦ heute sterben müsse. Nicht lange hernach kam er, uns zu rufen. Als wir hinein gingen, fanden wir den so eben losgebundenen Sokrates auf dem Bette liegend. Xantippe, du kennest sie, saß neben ihm in stiller Betrübnis, und hielt ihr Kind auf dem Schoße. Als sie uns erblickte, fing sie an, nach Weiberart überlaut zu jammern. „Ach ! Sokrates ! dich sehen heute deine Freunde, und du siehst sie zum letzten male ! “ und ein Strom von Tränen folgte auf diese Worte. Sokrates wandte sich zum Krito, und sprach : „Freund, lass sie nach Hause bringen.“ – Kritons Bedienten führten sie hinweg : sie ging und heulete, und zerschlug sich jämmerlich die Brust. Wir standen wie betäubt. Endlich richtete sich Sokrates im Bette auf, krümmte das Bein, das vorhin gefesselt war, und indem er dasselbe mit |  iii.1: 42–43  ¦ 9–11

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der Hand rieb, sprach er : „O meine Freunde ! welch ein selt­sames Ding scheinet das zu sein, was die Menschen angenehm nennen ! wie wunderbar ! Dem ersten Anblicke nach ist es dem Unangenehmen entgegen gesetzt, indem keine Sache dem Menschen zu gleicher Zeit angenehm und unangenehm sein kann ; und dennoch kann niemand ¦ eine von diesen Empfindungen durch die Sinne erlangen, ohne unmittelbar darauf die entgegengesetzte zu fühlen, als wenn sie an beiden Enden an ein­a nder befestiget wären.38 | Hätte Aesopus dieses bemerkt“, fuhr er fort, „so hätte er vielleicht folgende Fabel erdichtet. ‚Die Götter wollten die streitenden Empfindungen mit einander vereinigen ; als aber dieses sich nicht tun ließ, knüpften sie dieselben an beiden Enden zusammen, und seit der Zeit folgen sie sich einander beständig auf dem Fuße nach.‘ So ergehet es mir auch itzt. Die Fessel hatten mir Schmerzen verursacht, und itzt, da sie hinweg sind, folgt die angenehme Empfindung nach.“ „Beim Jupiter !“ ergriff Cebes das Wort, „gut, dass du mich erinnerst, Sokrates ! Du sollst, wie man sagt, hier im Gefängnisse einige Gedichte verfertiget, nämlich Aesopische Fabeln poetisch ausgeführet, und eine Hymne an den Apollo aufgesetzet haben. Nun fragen mich viele, und vornehmlich der Dichter Evenus39, was dich hier auf die Gedanken gebracht, Gedichte zu verfertigen, da du doch solches vorher niemals getan ? Soll ich dem Evenus Bescheid geben, wenn er mich ¦ wieder fragt : (und fragen wird er gewiss,) so sage mir, was ich ihm antworten soll ? “ „Sage ihm, o Cebes !“ erwiderte Sokrates, „nichts als die Wahr­ heit : dass ich diese Gedichte keinesweges in der Absicht verfertiget, ihm in der Dichtkunst den Rang abzulaufen ; denn ich weiß, wie schwer dieses ist ; sondern bloß um eines Traumes willen, dem ich mir vorgenommen in allen möglichen Bedeutungen nachzuleben, und daher auch in dieser Art von Musik, in der Dichtkunst, meine Kräfte zu versuchen. Die Sache verhält sich aber folgender Gestalt. Ich hatte in vergangenen Zeiten sehr oft einen Traum, der mir unter vielerlei Gestalten erschien, aber immer eben denselben Befehl gab : Sokrates ! befleißige dich der Musik und übe sie aus ! Bisher hielt ich diese Ermahnung |  iii.1: 43–44  ¦ 11–13

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bloß für eine Aufmunterung und Anfrischung, wie man sie den Wettläufern nachzurufen pflegt. Der Traum, dachte ich, will mir nichts neues zu tun befehlen ; denn die Weltweisheit ist ja die vortrefflichste Musik, und dieser habe ich mich stets beflissen ; er will also bloß meinen Eifer, meine Liebe zur Weisheit anfeuern, damit sie nicht erkalte. Nunmehr aber, nachdem das Urteil über ¦ mich gesprochen worden, und das Fest des Apollo meinen Tod eine zeitlang aufgeschoben, kam mir der Gedanke ein, ob man mir nicht vielleicht der gemeinen Musik obzuliegen befohlen, und ich hatte Muße genug, diesen Gedanken nicht fruchtlos verschwinden zu lassen. Ich machte den Anfang mit einem Lobgesange auf den Gott, dessen Fest damals gefeiert ward. Allein | mir fiel nachher bei, dass, wer Poet sein will, Erdichtungen, aber nicht Vernunftsätze behandeln müsse ; dass aber ein Lobgesang keine Erdichtungen enthielte. Da ich nun selbst keine Gabe zu dichten besitze ; so bediente ich mich anderer Leute Erfindungen, und brachte einige Fabeln des Aesops, die mir zuerst vor die Hand kamen, in Verse. – Dieses kannst du, mein Cebes ! dem Evenus antworten. Entbiete ihm auch meinen Gruß, und wenn er weise ist, so mag er mir bald folgen. Ich werde, allem Ansehen nach, auf Befehl der Athenienser noch heute abreisen.“ „Und dieses wünschest du dem Evenus ?“ fragte Simmias. „Ich kenne diesen Mann sehr gut, und so viel ich von ihm urteilen kann, dürfte er dir für diesen Wunsch schlechten Dank wissen.“ – „Wie ? “ versetzte je ¦ ner, „ist denn Evenus kein Weltweiser ? “ „Mich dünkt, ja“, sprach Simmias. – „Nun so wird er mir gewiss gerne folgen“, erwiderte Sokrates, „er, und jedermann, der diesen Namen verdienet. Er wird zwar nicht selbst Hand an sich legen ; denn dieses ist unerlaubt, wie einem jeden bekannt ist.“ – Indem er dieses sagte, ließ er beide Füße vom Bette auf die Erde herab, um in dieser Stellung die Unterredung fortzusetzen. Cebes fragte : „Wie ist dieses zu verstehen ? Sokrates ! Es ist nicht erlaubt, sagst du, sich selbst zu entleiben, und dennoch soll jeder Weltweise einem Sterbenden gerne nach­folgen ? “ „Wie ? Cebes !“ sprach Sokrates : „Du und Simmias, ihr habet beide den Weltweisen Philolaus 40 gehört, hat er euch denn nie|  iii.1: 44–45  ¦ 13–15

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mals hiervon etwas gesagt ? “ – „Nichts Ausführliches, mein Sokrates !“ – „Nun gut ! Ich habe verschiedenes von der Sache gehöret, und will euch solches gerne mitteilen. Mich dünkt, wer reisen will, habe Ursach, sich nach der Beschaffenheit des Landes, dahin er zu kommen gedenkt, wohl zu erkundigen, um sich einen richtigen Begriff davon zu machen. Diese Unterredung ist also meinen jetzigen Umständen angemessen, und was ¦ könnte man auch den heutigen Tag bis Sonnen Untergang Wichtigeres vornehmen ? “ „Wodurch beweiset man“, fragte Cebes, „dass der Selbstmord unerlaubt sei ? Philolaus und andre Lehrer haben mir zwar vielfältig eingeschärft, dass er verboten sei, aber mehr hat mir niemand davon beigebracht. –“ – „Wohlan ! Lass uns versuchen, ob wir nicht ein mehreres davon heraus bringen können. Was meinest du ? Cebes ! Ich behaupte, dass der Selbstmord schlechterdings in allen möglichen Umständen uner | laubt sei. Wir wissen, es gibt Leute, für welche es besser wäre, gestorben zu sein, als zu leben. Nun dürfte es dich befremden, dass die Heiligkeit der Sitten auch von diesen Unglücklichen fordern sollte, sich nicht selbst wohl zu tun, sondern eine andere wohltätige Hand abzuwarten.“ – „Das mag eine Stimme vom Jupiter erklären !“ antwortete Cebes lächelnd. – „Und gleichwohl ist es so schwer nicht, diese anscheinende Ungereimtheit durch Gründe zu tilgen. Was man in den Geheimnissen zu sagen pflegt, dass wir Menschen hienieden wie die Schildwachen ¦ ausgestellt wären, und also unsere Posten nicht verlassen dürften, bis wir abgelöset würden, ist zwar nicht ohne Grund, dürfte aber so leicht nicht begriffen werden. Allein ich habe einige Vernunftgründe, die nicht schwer zu fassen sind. Ich glaube als ausgemacht voraussetzen zu können, die Götter (lasst mich jetzt sagen Gott, denn wen habe ich zu scheuen ?) Gott ist unser Eigentumsherr, wir sind sein Eigentum, und seine Vorsehung besorgt unser Bestes. Sind diese Sätze nicht deutlich ? “ – „Sehr deutlich“, sprach Cebes. – „Ein Leibeigner, der unter der Vorsorge eines gütigen Herrn stehet, handelt sträflich, wenn er sich den Absichten desselben widersetzt. Nicht ? “ – „Allerdings !“ – „Vielleicht wenn ein |  iii.1: 45–46  ¦ 15–17

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Funken von Rechtschaffenheit in seinem Busen glimmet, muss es ihm eine wahre Freude sein, die Wünsche seines Gebieters durch sich erfüllet zu sehen, und um so vielmehr, wenn er von der Gesinnung seines Herrn überzeugt ist, dass sein eigenes Bestes an diesen Wünschen Teil nimmt.“ ¦ – „Unvergleichlich ! mein Sokrates !“ – „Aber wie ? Cebes ! als der unerschaffne Werkmeister den künstlichen Bau des menschlichen Leibes gewirkt, und ein vernünftiges Wesen hinein gesetzt, hatte er da böse oder gute Absichten ? “ – „Ohne Zweifel gute.“ – „Denn er müsste sein Wesen, die selbständige Güte, verleugnen, wenn er mit seinem Tun und Lassen böse Absichten verknüpfen könnte ; und was ist ein Gott, der sein Wesen verleugnen kann ? “ – „Ein Unding, Sokrates ! ein fabelhafter Gott, dem das leichtgläubige Volk wandelbare Gestalten andichtet. Ich erinnere mich der Gründe gar wohl, mit welchen du bei einer andern Gelegenheit diesen lästerlichen Irrtum bestritten.“41 | – „Derselbe Gott, Cebes ! der den Leib gebauet, hat ihn auch mit Kräften ausgerüstet, die ihn stärken, erhalten, und vor allzufrühem Untergange bewahren. Wollen wir auch diesen Erhaltungskräften höchst gütige Absichten zum Ziele setzen ? “ – „Wie könnten wir anders ? “ ¦ – „Als treugesinnten Leibeigenen also muss es uns eine heilige Pflicht sein, die Absichten unsers Eigentumsherrn zu ihrer Reife gedeihen zu lassen, sie nicht gewaltsamer Weise in ihrem Laufe zu hemmen ; sondern vielmehr alle unsere freiwilligen Handlungen mit denselben auf das vollkommenste übereinstimmen zu lassen. Darum habe ich gesagt, mein lieber Cebes ! dass die Weltweis­ heit die vortrefflichste Musik sei, denn sie lehret uns, unsere Gedanken und Handlungen so einzurichten, dass sie, so viel uns möglich ist, mit den Absichten des allerhöchsten Eigentumsherrn vollkommen übereinstimmen. Ist nun die Musik eine Wissenschaft, das Schwache mit dem Starken, das Rauhe mit dem Sanften, und das Unangenehme mit dem Angenehmen in eine Harmonie zu bringen : so kann gewiss keine Musik herrlicher und vortrefflicher sein, als die Weltweisheit, die uns lehret, nicht nur unsere Gedanken und Handlungen unter sich, sondern auch die Handlungen des Endlichen mit den Absich|  iii.1: 46–47  ¦ 17–19

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ten des Unendlichen, und die Gedanken des Erdbewohners mit den Gedanken des Allwissenden in eine große und wundervolle Harmonie zu stimmen. – ¦ O Cebes ! und der verwegene Sterbliche sollte sich erdreisten, diese entzückende Harmonie zu zerstören ? “ „Er würde den Abscheu der Götter und Menschen verdienen, mein lieber Sokrates !“ – „Sage mir aber auch dieses, mein Trauter ! Sind die Kräfte der Natur nicht Diener der Gottheit, die ihre Befehle vollstrecken ? “ – „Allerdings !“ – „Sie sind also auch Wahrsager, die uns den Willen und die Absichten der Gottheit weit richtiger verkündigen, als die Eingeweide der Schlachtopfer ; denn das ist unstreitig ein Ratschluss des Allerhöchsten, wohin die von ihm erschaffene Kräfte abzielen. Nicht ? “ – „Wer kann dieses leugnen ? “ – „So lange uns also diese Wahrsager andeuten, dass die Erhaltung unsers Lebens zu den Absichten Gottes gehöre, sind wir verpflichtet, unsere freien Handlungen denselben gemäß einzurichten, und haben weder Fug noch Recht, den Erhaltungskräften unserer Natur Gewalt | entgegen zu setzen, und die Diener der obersten Weisheit in ihrer Verrichtung zu stören. Diese ¦ Schuldigkeit liegt uns so lange ob, bis Gott uns durch eben dieselben Wahrsager den ausdrücklichen Befehl zuschickt, dieses Leben zu verlassen, so wie er ihn heute mir zugeschickt hat.“ „Ich bin völlig überzeugt“, sprach Cebes. „Allein nunmehr begreife ich um soviel weniger, mein lieber Sokrates ! wie du vorhin hast sagen können, ein jeder Weltweiser müsse einem Sterbenden gerne folgen wollen. Ist dieses wahr, was du itzt behauptest, dass wir ein Eigentum Gottes sind, und dass derselbe unser Bestes besorge : so scheinet jener Satz ungereimt. Wie ? soll ein vernünftiger Mann sich nicht betrüben, wenn er die Dienste eines Oberherrn verlassen muss, der sein bester und gütigster Versorger ist ? Und wenn er auch hoffen könnte, durch den Tod frei, und sein eigener Herr zu werden : wie kann der unverständige Mündel sich schmeicheln, unter seiner eigenen Anführung besser zu stehen, als unter der Anführung des allerweisesten Vormundes ? Ich sollte meinen, es sei vielmehr ein großer |  iii.1: 47–48  ¦ 19–21

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Unverstand, wenn man sich durchaus in Freiheit setzen, und auch den besten Oberherrn nicht über sich leiden will. Wer ¦ Vernunft besitzet, wird sich allezeit mit Vergnügen der Aufsicht eines andern unterwerfen, dem er bessere Einsichten zutrauet, als sich selbst. Ich würde also gerade das Gegenteil von deiner Meinung herausbringen. Der Weise, würde ich sagen, müsse sich betrüben, der Tor aber freuen, wenn er sterben soll.“ Sokrates hörete ihm aufmerksam zu und schien sich an seiner Scharfsinnigkeit zu ergetzen. Sodann kehrte er sich zu uns, und sprach : „Cebes kann schon einem zu schaffen machen, der wider ihn etwas behaupten will. Er hat beständig Ausflüchte.“ „Allein diesesmal“, sprach Simmias, „scheinet Cebes nicht Unrecht zu haben, mein lieber Sokrates ! In der Tat, wodurch kann ein Weiser bewogen werden, sich ohne Missvergnügen der gütigen Vorsorge des allerweisesten Aufsehers zu entziehen ? – Und wo mir recht ist, Sokrates ! so zielet Cebes mit seinen Einwürfen eigentlich wider deine itzige Aufführung, der du so gelassen, so willig, nicht nur uns alle verlässest, denen dein Tod so schmerzlich fällt ; sondern dich auch der Aufsicht und Vorsorge eines solchen Be ¦ herrschers entäußerst, den du uns als das weiseste und gütigste Wesen zu verehren gelehret hast.“ | „So ? “ sprach Sokrates, „man hat mich angeklaget, wie ich höre ? Ich werde mich also wohl förmlich verteidigen müssen ?“ – „Allerdings !“ sprach Simmias. – „Gut !“ versetzte Sokrates : „Ich will mich bemühen, meine jetzige Schutzrede besser einzurichten, als die, welche ich vor meinen Richtern gehalten habe. Höre, Simmias ! und du, Cebes ! Hätte ich nicht Hoffnung, da, wo ich hinkomme, erstlich immer noch unter demselben gütigsten Versorger zu stehen, und zweitens die Seelen der Verstorbenen anzutreffen, deren Umgang aller Freundschaft hienieden vorzuziehen ist : so wäre es freilich eine Torheit, den Tod so wenig zu achten, und ihm willig in die Arme zu rennen. So aber habe ich die allertröstlichsten Hoffnungen, dass mir beides nicht entstehen wird. Das letztere zwar getraue ich mir nicht mit aller Gewissheit zu behaupten ; aber dass die Vorsehung Gottes auch da noch über mich walten werde, dieses, Freunde ! behaupte |  iii.1: 48–49  ¦ 21–23

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ich so zuversichtlich, so gewiss, als ich in mei ¦ nem Leben etwas behauptet habe. Darum betrübt es mich auch nicht, dass ich verscheiden soll ; denn ich weiß, dass mit denn Tode noch nicht alles für uns aus ist. Es folgt ein anderes Leben, und zwar ein solches, das, wie die alte Sage versichert, für Tugendhafte weit glückseliger sein wird, als für Lasterhafte.“ „Wie da ? “ sprach Simmias, „mein lieber Sokrates ! Willst du diese heilsame Versicherung im Innersten deiner Seele verschlossen mitnehmen ? oder auch uns eine Lehre gönnen, die so viel tröstliches hat ? Es ist billig, seinen Freunden ein so herrliches Gut mitzuteilen, und wenn du uns von deiner Meinung überzeugest, so ist auch deine Schutzrede fertig.“ „Ich will es versuchen“, versetzte er. „Doch lass uns erst den Kriton hören, der schon lange etwas sagen zu wollen scheinet.“ „Ich ? nichts, mein Lieber !“ erwiderte Kriton. „Der Mann hier, der dir den Gift bringen soll, lässt mir keine Ruhe : ich soll dich bitten, nicht so viel zu reden. Man erhitzt sich so sehr, spricht er, und dann wirkt der Trank so gut nicht. Er hätte schon öfters einen zweiten oder dritten Gifttrunk bereiten müssen, ¦ für Leute, die sich das Reden nicht hätten verwehren lassen.“ – „Lass ihn, im Namen der Götter !“ sprach Sokrates, „hingehen und sein Amt versehen. Er halte den zweiten Gifttrunk bereit, oder den dritten, wenn er meinet.“ – | – „Diese Antwort hatte ich mir vermutet“, sprach Kriton ; „allein der Mensch will nicht ablassen.“ – „O lass ihn !“ versetzte Sokrates. „Ich habe hier meinen Richtern Rechenschaft zu geben, warum ein Mensch, der in der Liebe zur Weisheit grau geworden, in den letzten Stunden fröhlichen Muts sein müsse, indem er sich nach dem Tode die größte Seligkeit zu versprechen hat. Mit welchem Grunde, Simmias und Cebes ! ich dieses behaupte, will ich zu erklären suchen. – Das wissen vielleicht die wenigsten, meine Freunde ! dass, wer sich der Liebe zur Weisheit wahrhaftig ergeben, seine ganze Lebenszeit dazu anwendet, mit dem Tode vertrauter zu werden, sterben zu lernen. Ist aber dieses : welch eine Ungereimtheit wäre es nicht, in seinem ganzen Leben, alle Wünsche, alle Bemühungen ¦ nach einem einzigen Ziele zu lenken, und sich doch zu |  iii.1: 49–50  ¦ 23–26

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betrüben, wenn das längst erwünschte Ziel endlich erreicht wird ?“ Simmias lachte. „Beim Jupiter !“ sprach er, „Sokrates ! ich muss lachen, so wenig ich auch dazu aufgelegt bin. Was du hier sagst, dürfte das Volk nicht so sehr befremden, als du meinest. Das hiesige insbesondre könnten dir sagen : wie sie gar wohl wüss­ ten, dass die Weltweisen sterben lernen wollten, daher sie ihnen auch das widerfahren ließen, was sie verdienten, und wornach sie sich sehnten.“ – „Ich würde ihnen alles einräumen Simmias ! nur das nicht, dass sie es einsehen. Sie wissen nicht, was der Tod ist, nach dem die Weltweisen sich sehnen, und in wie weit sie ihn verdienen. Doch was gehen uns jene an ? Ich rede itzt mit meinen Freunden. Ist der Tod nicht etwas, das sich beschreiben und erklären lässt ? “ – „Freilich !“ versetzte Simmias. – „Ist er aber etwas an­ders, als eine Trennung des Leibes und der Seele ? – Sterben nämlich heißt dies nicht, wenn die Seele den Leib, und der Leib die Seele ¦ dergestalt verlässt, dass sie keine Gemeinschaft untereinander mehr haben, und jeder für sich bleibet ? Oder weißt du deutlicher anzuzeigen, was der Tod sei ? “ – „Nein ! mein Lieber !“  – „Überlege einmal, Freund ! ob es dir auch so vorkommt, wie mir. Was meinest du ? Wird der wahre Liebhaber der Weisheit den sogenannten Wollüsten nachhängen, und nach köst­lichen Speisen und Getränken so sonderlich streben ? “  | – „Nichts weniger“, antwortete Simmias. – „Wird er der Liebe ergeben sein ?“ – „Eben so wenig !“ – „Und in Ansehung der übrigen Leibesbequemlichkeiten ? Wird er in seinen Kleidern z. B. auf Pracht und Üppigkeit sehen, oder wird er sich mit dem Notwendigen begnügen und das Überflüssige nicht achten ? “ – „Was man entbehren kann“, sprach jener, „macht dem Weisen keine Sorgen.“ – „Wollen wir nicht überhaupt sagen“, fuhr Sokrates fort, „der Weltweise suchet sich aller unnötigen Leibessorgen zu entschlagen, um mit mehrerer Achtsamkeit der Seele warten zu können ? “ ¦ – „Warum nicht ? “ – „Er unterscheidet sich also schon hierin von den übrigen Menschen, dass er sein Gemüt nicht ganz von den Leibesangelegenheiten fesseln lässt, sondern |  iii.1: 50–51  ¦ 26–28

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seine Seele zum Teil der Gemeinschaft des Leibes zu entwöhnen sucht ? “ – „Es scheint so.“ – „Der größte Haufe der Menschen, o Simmias ! wird dir sagen, dass der nicht zu leben verdiene, wer die Annehmlichkeiten des Lebens nicht genießen will. Das nennen sie, sich nach dem Tode sehnen, wenn man dem sinnlichen Wohlleben absagt und sich aller fleischlichen Wollust enthält.“ – „Dies ist die Wahrheit, Sokrates !“ – „Ich gehe weiter. Hindert der Körper nicht öfters den Weisheitliebenden im Nachdenken, und wird er sich sonderlichen Fortgang in der Weisheit versprechen können, wenn er sich nicht von den sinnlichen Gegenständen zu erheben gelernet hat ? – Ich erkläre mich. – Die Eindrücke des Gesichts und des Gehörs sind, so, wie sie uns von den Gegenständen zugeschickt werden, bloß einzelne Empfindungen, noch  ¦ keine Wahrheiten ; denn diese müssen erst mit dem Verstande aus ihnen gezogen werden. Nicht ? “ – „Allerdings !“ – „Auch als einzelnen Empfindungen ist ihnen nicht völlig zu trauen, und die Dichter singen mit Recht : die Sinne täuschen und begreifen nichts deutlich. Was wir hören und sehen, ist voller Verwirrung und Dunkelheit. Können uns aber diese beiden Sinne keine deutlichen Einsichten gewähren : so wird der übrigen weit undeutlichern Sinnen gar nicht zu gedenken sein.“ | – „Freilich nicht.“ – „Wie muss es nun die Seele anfangen, wenn sie zur Wahrheit gelangen will ? Wo sie sich auf die Sinne verlässt, so ist sie betrogen.“ – „Richtig !“ – „Sie muss also nachdenken, urteilen, schließen, erfinden ; um durch diese Mittel, so viel möglich, in das wahre Wesen der Dinge einzudringen.“ – „Ja !“ – „Aber wann geht das Nachdenken am besten von statten ? Mich dünkt, wenn wir uns gleichsam nicht fühlen, wenn weder Gesicht noch Gehör, weder an ¦ genehme noch unangenehme Empfindungen uns an uns selbst erinnern. Alsdann ziehet die Seele ihre Aufmerksamkeit von dem Körper ab, verlässt, so viel sie kann, seine Gesellschaft, um in sich versammelt, nicht den Sinnenschein, sondern das Wesen, nicht die Eindrücke, wie sie uns zugeführet werden, sondern das, was sie wahres enthalten, zu betrachten.“ – „Richtig !“ – „Abermals eine Gelegenheit, bei welcher die Seele des Weisen den Leib zu meiden, und sich, |  iii.1: 51–52  ¦ 28–30

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so viel sie kann, von ihm zu entfernen suchen muss.“ – „Allem Ansehen nach !“ – „Um die Sache noch deutlicher zu machen : Ist die allerhöchste Vollkommenheit ein bloßer Gedanke, ohne äußerlichen Gegenstand, oder bedeutet es ein wirkliches Wesen, das außer uns vorhanden ist ? “ – „Freilich ein wirkliches, außer uns vorhandenes, schrankenloses Wesen, dem das Dasein vorzugsweise zukommen muss, mein Sokrates !“ – „Und die allerhöchste Güte, und die allerhöchste Weisheit ? Sind diese auch etwas Wirkliches ?“ ¦ – „Beim Jupiter ! ja ! Es sind unzertrennliche Eigenschaften des allervollkommensten Wesens, ohne welche jenes nicht da sein kann.“ – „Wer hat uns aber dieses Wesen kennen gelehret ? Mit den Augen des Leibes haben wir es doch nie gesehen ? “ – „Gewiss nicht !“ – „Wir haben es auch nicht gehört, nicht gefühlt ; kein äußerlicher Sinn hat uns je einen Begriff von Weisheit, Güte, Vollkommenheit, Schönheit, Denkungsvermögen, u. s. w. zugeführet, und dennoch wissen wir, dass diese Dinge außer uns wirklich sind, in dem aller | höchsten Grade wirklich sind. Kann uns niemand erklären, wie wir auf diese Begriffe gekommen sind ? “ – Simmias sprach, „die Stimme Jupiters, mein lieber Sokrates ! Ich werde mich abermals auf dieselbe berufen.“ – „Wie ? meine Freunde ! wenn wir in jenem Zimmer eine vortreffliche Flötenstimme höreten, würden wir nicht hinlaufen, den Flötenspieler zu kennen, der unser Ohr so sehr zu entzücken weiß ? “ ¦ – „Vielleicht jetzo nicht“, lächelte Simmias, „da wir hier die vortrefflichste Musik hören.“ „Wenn wir ein Gemälde betrachten“, fuhr Sokrates fort, „so wünschen wir, die Meisterhand zu kennen, die es verfertiget hat. Nun liegt in uns selbst das allervortrefflichste Bild, das Götteraugen und Menschenaugen jemals gesehen, das Bild der allerhöchsten Vollkommenheit, Güte, Weisheit, Schönheit, u. s. f. und wir haben uns noch nie nach dem Maler erkundigt. der diese Bilder hineingezeichnet ? “ Cebes erwiderte : „Ich erinnere mich einst vom Philolaus eine Erklärung gehöret zu haben, die der Sache vielleicht Genüge tut.“ „Will Cebes seine Freunde“, versetzte Sokrates, „nicht an dieser Hinterlassenschaft des glückseligen Philolaus Teil neh|  iii.1: 52–53  ¦ 30–32

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men lassen ? “ – „Wenn diese“, sprach Cebes, „die Erklärung nicht lieber von einem Sokrates hören möchten. Doch es sei ! – ‚Alle Begriffe von unkörperlichen Dingen‘, sprach Philolaus, ‚hat die Seele nicht von den äußern Sinnen, sondern durch sich selbst erlangt, indem sie ihre eigenen Wirkungen beobachtet, und da ¦ durch ihr eigenes Wesen und ihre Eigenschaften kennen lernt.‘ – Dieses deutlicher zu machen, habe ich ihn oft eine Erdichtung hinzusetzen hören : ‚Lasst uns vom Homer‘, pflegte er zu sagen, ‚die beiden Tonnen entlehnen, die in dem Vorsaale Jupiters liegen,42 aber zugleich uns die Freiheit ausbitten, sie nicht mit Glück und Unglück, sondern die zur Rechten mit wahrem Wesen, und die zur Linken mit Mangel und Unwesen anzufüllen. – So oft die Allmacht Jupiters einen Geist hervorbringen will, so schöpft er aus diesen beiden Tonnen, wirft einen Blick auf das ewige Schicksal, und bereitet, nach dessen Maßgebung, eine Mischung von Wesen und Mangel, welche die völlige Grundanlage des künftigen Geistes enthält. Daher findet sich zwischen allen Arten von geistigen Wesen eine verwundernswürdige Ähnlichkeit ; denn sie sind alle aus eben den Tonnen geschöpft, und nur an der Mischung | unterschieden. Wenn also unsere Seele, welche gleichfalls nichts anders ist, als eine solche Mischung von Wesen und Mangel, sich selbst beobachtet, so erlanget sie einen Begriff von dem Wesen der Geister und ihren Schranken, von Vermögen und Unvermögen, Vollkommenheit und Un ¦ vollkommenheit, von Verstand, Weisheit, Kraft, Absicht, Schönheit, Gerechtigkeit und tausend andern unkörperlichen Dingen, über welche sie die äußeren Sinne in der tiefsten Unwissenheit lassen würden.‘ “ „Wie unvergleichlich !“ versetzte Sokrates. „Siehe, Cebes ! Du besitzest einen solchen Schatz, und wolltest mich sterben lassen ; ohne mir denselben einmal zu zeigen ! – Doch lass sehen, wie wir ihn noch vor dem Tode genießen wollen. Philolaus sagte also : Die Seele erkennet ihre Nebengeister, indem sie sich selbst beobachtet. Nicht ? “ – „Ja !“ – „Und sie erlanget Begriffe von unkörperlichen Dingen, indem sie ihre eigenen Fähigkeiten auseinander setzt, und jeder, um sie deutlicher unterscheiden zu können, |  iii.1: 53–54  ¦ 32–34

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einen besondern Namen gibt ? “ – „Allerdings.“ – „Wenn sie aber ein höheres Wesen, als sie selbst ist, einen Dämon z. B. sich denken will, wer wird ihr die Begriffe dazu hergeben ? “ Cebes schwieg, und Sokrates fuhr fort : „Habe ich die Meinung des Philolaus anders recht begrif  ¦ fen, so kann sich die Seele zwar niemals von einem höhern Wesen, als sie selbst ist, oder nur von einer höhern Fähigkeit, als sie selbst besitzet, einen der Sache gemäßen Begriff machen ; allein sie kann gar wohl überhaupt die Möglichkeit eines Dinges begreifen, dem mehr Wesen und weniger Mängel zu Teile worden, als ihr selbst, das heißt, welches vollkommener ist, als sie ; oder hast du es vielleicht vom Philolaus anders gehört ?“ – „Nein !“ – „Und von dem allerhöchsten Wesen, von der allerhöchsten Vollkommenheit hat sie auch nicht mehr, als diesen Schimmer einer Vorstellung. Sie kann das Wesen desselben nicht in seinem ganzen Umfange begreifen*  ; * Einige Weltweise43 wollen uns durch die Betrachtung demütigen,

dass wir von Gott nicht wissen, was er ist, sondern was er nicht ist, und stellen durch eine unmerkliche Verdrehung die Sache so vor, als wenn wir von Gott und seinen Eigenschaften gar nichts wüssten. Nun ist es nicht zu leugnen, dass wir von dem wahren Begriffe einer Sache noch weit entfernt sein können, wenn wir auch wissen, dass sie dieses, oder jenes nicht sei. Allein wie oft ist nicht schon ¦ mit dem Grunde angemerkt worden, dass wir dem vollkommensten Wesen nur Mängel und Einschränkungen absprechen, und diese Art von Verneinungen den Wert wahrer Bejahungen habe. Dass wir zuweilen für gut finden, die Eigenschaften Gottes verneinungsweise auszudrücken, ist eigentlich dem Ursprung unserer Begriffe von Gott zuzuschreiben, als welche die Verneinung unserer eigenen Mängel und Schwachheiten zum Grunde haben. Das Wort unveränderlich z. B. ist die Verneinung einer Unvollkommenheit, und im Grunde ein positiver Begriff, nämlich immer dasselbe ; aber wir drücken diesen Begriff verneinungsweise aus, weil wir durch die Verneinung der uns beiwohnenden Veränderlichkeit darauf gekommen sind. In diesem Verstande ist also der angeführte Satz ungegründet, denn unsere Begriffe von Gott zeigen nicht an, was Gott nicht ist ; sondern was ihm nicht fehlet. Will man aber nur so viel sagen, dass wir von den positiven Eigenschaften Gottes keine Anschauung, keine selbstgefühlte Vorstellung haben ; so wird dieses willig zugegeben, jedoch mit Verzicht auf die Folgen, die mancher aus diesem an |  iii.1: 54  ¦ 34–36

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aber sie denkt ihr eigenes Wesen, das, was ¦ sie Wahres, Gutes, und Vollkommenes hat, trennet es in Gedanken von dem Mangel und Unwesen, mit ¦ welchem es in ihr vermischt ist, und gerät dadurch auf den Begriff eines Dinges, das lauter Wesen, lauter Wahrheit, lauter Güte und Vollkommenheit ist.“ – | Appollodorus, der bisher alle Worte des Sokrates leise nachgesprochen hatte, geriet hier in Entzückung und wiederholte laut : „das lauter Wesen, lauter Wahrheit, lauter Güte, lauter Vollkommenheit ist.“ Und Sokrates fuhr fort : „Sehet ihr, meine Freunde ! wie weit sich der Weisheitliebende von den Sinnen und ihren Gegenständen entfernen muss, wenn er das begreifen will, was zu begreifen wahre Glückseligkeit ist, das allerhöchste und vollkommenste ¦ Wesen ? In dieser Gedankenjagd muss er Augen und Ohren verschließen, Schmerz und Sinnenlust ferne von seiner Achtsamkeit sein lassen, und wenn es möglich wäre, seines Leibes ganz vergessen, um desto einsamer sich ganz auf seine Seelenvermögen und ihre innere Wirksamkeit einzuschränken. Der Leib ist seinem Verstande bei dieser Untersuchung nicht nur ein unnützlicher, sondern auch ein beschwerlicher Gesellschafter : denn jetzt sucht er weder Farbe noch Größe, weder Töne noch Bewegung, sondern ein Ding, das alle möglichen Farben, Größen, Töne und Bewegungen, und, was noch weit mehr sich unschuldigen Satze hat ziehen wollen. Das wenige, was uns von den göttlichen Eigenschaften bekannt ist, verliert dadurch weder seine Wahrheit noch Gewissheit, weder Leben noch Überzeugung. Können wir gleich die Unendlichkeit der göttlichen Vollkommenheit nie selbst fühlen ; so haben wir doch durch die innere Anschauung unserer selbst die Grundlage zu diesen Vollkommenheiten kennen lernen [können], ¦ und diese anschauend erkannte Grundlage mit der hinzugefügten symbolischen Absonderung der Mängel und Einschränkungen geben einer Menge von Lehrsätzen und Folgen ihre ausgemachte Gewissheit. Saunderson hatte keine selbstgefühlte Vorstellung vom Lichte ; aber die allgemeine Ähnlichkeit des Gesichts mit den übrigen Sinnen machte es möglich, ihm einige Merkmale der Lichtstrahlen durch Worte beizubringen, und die ganze Theorie der Optik, die er seinen Zuhörern aus diesen Grundbegriffen erklärte, war nichts desto weniger unumstößlich. |  iii.1: 54–55  ¦ 36–38

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ist, alle möglichen Geister sich aufs deutlichste vorstellet, und in allen ersinnlichen Ordnungen hervorbringen kann. Welch ein unbehilflicher Gefährte ist der Körper auf dieser Reise ? “ „Wie erhaben !“ rief Simmias, „aber auch wie wahr !“ „Die wahren Weltweisen“, sprach Sokrates, „die diese Gründe in Erwägung ziehen, können nicht anders, als diese Meinung hegen, und einer zum andern sprechen : Siehe ! hier ist ein Irrweg, der ¦ uns immer vom Ziele weiter weg führet, und alle unsere Hoffnungen vereitelt. Wir sind versichert, dass die Erkenntnis der Wahrheit unser einziger Wunsch sei. Aber so lange wir uns hier auf Erden mit dem Leibe schleppen ; so lange unsere Seele noch mit dieser irdischen Seuche behaftet ist ; können wir uns unmöglich schmeicheln, diesen Wunsch ganz erfüllt zu sehen. Wir sollen die Wahrheit suchen. Leider ! lässt uns der Körper wenig Muße zu dieser wichtigen Unternehmung. Heute fordert sein Unterhalt unsere ganze Sorge ; morgen fechten ihn Krankheiten an, die uns abermals stören ; sodann folgen andere Leibes­ angelegenheiten, Liebe, Furcht, Begierden, Wünsche, Grillen und Torheiten, die uns unaufhörlich zerstreuen, die unsere Sinnen von einer Eitelkeit zur andern locken, und uns nach dem wahren Gegenstande unserer Wünsche, nach der Weis | heit, vergebens schmachten lassen. Wer erregt Krieg, Aufruhr, Streit und Uneinigkeit unter den Menschen ? wer anders, als der Körper, und seine unersättlichen Begierden ? Denn die Habsucht ist die Mutter aller Unruhen, und unsere Seele würde niemals nach eigentümlichen Gütern geizen, wenn sie nicht für ¦ die hungrigen Begierden ihres Leibes zu sorgen hätte. Solchergestalt sind wir die meiste Zeit beschäftiget, und haben selten Muße zur Weltweisheit. Endlich, erzielet man auch irgend eine müßige Stunde, und macht sich bereit, die Wahrheit zu umarmen : so stehet uns abermals dieser Störer unsrer Glückseligkeit, der Leib, im Wege, und bietet uns seine Schatten, statt der Wahrheit, an. Die Sinne halten uns, wider unsern Dank, ihre Scheinbilder vor, und erfüllen die Seele mit Verwirrung, Dunkelheit, Trägheit und Aberwitz : und sie soll in diesem allgemeinen Aufruhr gründlich nachdenken und die Wahrheit erreichen ? unmöglich ! |  iii.1: 55–56  ¦ 38–40

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Wir müssen also die seligen Augenblicke abwarten, in welchen Stille von Außen und Ruhe von Innen uns das Glück verschafft, den Leib völlig aus der Acht zu schlagen, und mit den Augen des Geistes nach der Wahrheit hinzusehen. Aber wie selten, und wie kurz sind auch diese seligen Augenblicke ! – Wir sehen ja deutlich, dass wir das Ziel unserer Wünsche, die Weisheit, nicht eher erreichen werden, als nach unserm Tode ; beim Leben ist keine Hoffnung dazu. Denn kann anders die Seele, so lange sie im Leibe wohnet, die Wahrheit nicht deutlich erkennen, so müssen ¦ wir eines von beiden setzen : ent­ weder, wir werden sie niemals erkennen, oder, wir werden sie nach unserm Tode erkennen, weil die Seele alsdann den Leib verlässt, und vermutlich in dem Fortgange zur Weisheit weit weniger aufgehalten wird. Wollen wir uns aber in diesem Leben zu jener seligen Erkenntnis vorbereiten, so müssen wir unterdessen dem Leibe nicht mehr gewähren, als was die Notwendigkeit erfordert ; wir müssen uns seiner Begierden und Lüste enthalten, und uns, so oft als möglich, im Nachdenken üben, bis es dem Allerhöchsten gefallen wird, uns in Freiheit zu setzen. Alsdann können wir hoffen, von den Torheiten des Leibes befreiet, die Quelle der Wahrheit, das allerhöchste und vollkommenste Wesen, mit lautern und heiligen Sinnen zu beschauen, indem wir vielleicht andere neben uns eben derselben Glück­ seligkeit genießen sehen. – Diese Sprache, mein lieber Simmias ! dürfen die | wahren Wissensbegierigen unter einander führen, wenn sie sich von ihren Angelegenheiten besprechen, und diese Meinung müssen sie auch hegen, wie ich glaube ; oder dünkt es dich anders ? “ – „Nicht anders, mein Sokrates !“ ¦ – „Wenn aber dem also ist, mein Lieber ! hat ein solcher, der mir heute nachfolget, nicht große Hoffnung, da wo wir hinkommen, besser als irgend wo, das zu erlangen, wornach er im gegenwärtigen Leben so sehr gerungen ?“ – „Allerdings !“ – „Ich kann also meine Reise heute mit guter Hoffnung antreten, und jeder Wahrheitliebender mit mir, wenn er bedenkt, dass ihm ohne Reinigung und Vorbereitung kein freier Zutritt zu den Geheimnissen der Weisheit verstattet wird.“ – „Dieses kann nicht geleugnet werden“, |  iii.1: 56–57  ¦ 40–42

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sprach Simmias. – „Diese Reinigung aber ist nichts anders, als die Entfernung der Seele von dem Sinnlichen, und anhaltende Übung über das Wesen und die Eigenschaften der Seele selbst Betrachtungen anzustellen, ohne sich darin etwas, das nicht die Seele ist, irren zu lassen ; mit einem Worte, die Bemühung, sowohl in diesem als in dem zukünftigen Leben die Seele von den Fesseln des Leibes zu befreien, damit sie ungehindert sich selbst betrachten, und dadurch zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen möge.“ ¦ – „Allerdings !“ – „Die Trennung des Leibes von der Seele nennet man den Tod.“ – „Freilich.“ – „Die wahren Lieb­haber der Weisheit wenden also alle ersinnliche Mühe an, sich dem Tode, so viel sie können, zu nähern, sterben zu lernen. Nicht ? “ – „Es scheinet so.“ – „Wäre es nun aber nicht höchst ungereimt, wenn ein Mensch, der in seinem ganzen Leben nichts gelernet, als die Kunst zu sterben, wenn ein solcher, sage ich, zuletzt sich betrüben wollte, da er den Tod sich nahen sieht ; wäre es nicht lächerlich ? “ – „Unstreitig.“ – „Also, Simmias ! muss den wahren Weltweisen der Tod niemals schrecklich, sondern allezeit willkommen sein. Die Gesellschaft des Leibes ist ihnen bei allen Gelegenheiten beschwerlich ; denn wofern sie den wahren Endzweck ihres Daseins erfüllen wollen, so | müssen sie suchen die Seele vom Leibe zu trennen, und gleichsam in sich selbst zu versammeln. Der Tod ist diese Trennung, die längstgewünschte Befreiung von ¦ der Gesellschaft des Leibes. Welche Ungereimtheit also, bei Herannahung desselben zu zittern, sich zu betrüben ! Getrost und fröhlich vielmehr müssen wir dahin reisen, wo wir Hoffnung haben, unsere Liebe zu umarmen, ich meine die Weisheit, und des überlästigen Gefährten los zu werden, der uns so vielen Kummer verursacht hat. Wie ? gemeine und unwissende Leute, denen der Tod ihre Gebieterinnen, ihre Weiber oder ihre Kinder geraubt, wünschen in ihrer Betrübnis nichts sehnlicher, als die Oberwelt verlassen und zu dem Gegenstande ihrer Liebe, oder ihrer Begierden, hinabsteigen zu können : und diese, die gewisse Hoffnung haben, ihre Liebe nirgend in solchem Glanze zu erblicken, als in jenem Leben, diese sind voller Angst ? diese beben ? und treten nicht vielmehr mit Freuden die |  iii.1: 57–58  ¦ 42–44

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Reise an ? O nein ! mein Lieber ! nichts ist ungereimter, als ein Weltweiser, der den Tod fürchtet.“ „Beim Jupiter ! ganz vortrefflich“, rief Simmias. „Zittern und voller Angst sein, wenn der Tod winkt, kann dieses nicht für ein untrügliches Kennzeichen genommen werden, dass man nicht die Weisheit, ¦ sondern den Leib, das Vermögen, die Ehre oder alle drei zusammen liebet ?“ – „Ganz untrüglich.“ – „Wem geziemet die Tugend, die wir Mannhaftigkeit nennen, mehr als den Weltweisen ?“ – „Niemanden !“ – „Und die Mäßigkeit, diese Tugend, die in der Fertigkeit bestehet, seine Begierden zu bezähmen, und in seinem Tun und Lassen eingezogen und sittsam zu sein, wird sie nicht vornehmlich bei dem zu suchen sein, der seinen Leib nicht achtet, und bloß in der Weltweisheit lebt und webt ?“ – „Notwendig“, sprach er. – „Aller übrigen Menschen Mannhaftigkeit und Mäßigkeit wird dir ungereimt scheinen, wenn du sie näher betrachtest.“ – „Wieso ? mein Sokrates !“ – „Du weißt, versetzte er, dass die mehresten Menschen den Tod für ein sehr großes Übel halten.“ – „Richtig“, sprach er. – „Wenn also diese, so genannten tapfern und mann ¦ haften Leute, uner | schrocken sterben, so geschiehet es bloß aus Furcht eines noch größern Übels.“ – „Nicht anders.“ – „Also sind alle Mannhaften, außer den Weltweisen, bloß aus Furcht unerschrocken. Ist aber eine Unerschrockenheit aus Furcht nicht höchst ungereimt ? “ – „Dieses ist nicht zu leugnen.“ – „Mit der Mäßigkeit hat es dieselbe Beschaffenheit. Aus Unmäßigkeit leben sie mäßig und enthaltsam. Man sollte dieses für unmöglich halten, und dennoch trifft es bei dieser unvernünftigen Mäßigkeit völlig ein. Sie enthalten sich gewisser Wollüste, um andere, nach welchen sie gieriger sind, desto ungestörter genießen zu können. Sie werden Herren über jene, weil sie von diesen Knechte sind. Frage sie, sie werden dir freilich sagen, sich von seinen Begierden beherrschen zu lassen, sei Unmäßigkeit ; allein sie selbst haben die Herrschaft über gewisse Begierden nicht anders erlangt, als durch die Sklaverei gegen andere, die noch ausgelassener sind. Heißet nun dieses nicht gewissermaßen aus Unmäßigkeit enthaltsam sein ? “ – „Allem Ansehen nach.“ ¦ – „O mein ­teurer |  iii.1: 58–59  ¦ 44–47

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Simmias ! Wollust gegen Wollust, Schmerz gegen Schmerz, und Furcht gegen Furcht vertauschen, gleichsam, wie Münze, für ein großes Stück viele kleine einwechseln : dies ist nicht der Weg zur wahren Tugend. Die einzige Münze, die gültig ist, und für welche man alles andere hingeben muss, ist die Weisheit. Mit dieser schafft man sich alle übrigen Tugenden an : Tapferkeit, Mäßigkeit, und Gerechtigkeit. Überhaupt bei der Weisheit ist wahre Tugend, wahre Herrschaft über die Begierden über die Verabscheuungen, und über alle Leidenschaften ; ohne Weisheit aber erlanget man nichts, als einen Tausch der Leidenschaften gegen eine leidige Schattentugend, die dem Laster Sklavendienste tun muss, und an sich selbst nichts Gesundes und Wahres mit sich führet. Die wahre Tugend ist eine Heiligung der Sitten, eine Reinigung des Herzens, kein Tausch der Begierden. Gerechtigkeit, Mäßigkeit, Mannhaftigkeit, Weisheit, sind kein Tausch der Laster gegen einander. Unsere Vorfahren, welche die Teleten, oder die vollkommenen Versöhnungsfeste gestiftet, müssen, allem Ansehen nach, sehr weise Männer gewesen sein : denn sie haben durch ¦ diese Rätsel zu verstehen geben wollen, dass, wer unversöhnt und ungeheiliget die | Oberwelt verlässt, die härteste Strafe auszustehen habe ; der Geläuterte und Versöhnte aber nach seinem Tode unter den Göttern wohnen werde. Die mit diesen Versöhnungsgeheimnissen umgehen, pflegen zu sagen : Es gibt viele Thyrsusträger, aber wenig Begeisterte 44 ; und meines Erachtens verstehet man unter den Begeisterten diejenigen, die sich der wahren Weisheit gewidmet. Ich habe in meinem Leben nichts gespart, sondern unablässig gestrebt, einer von diesen Begeisterten zu sein ; ob mein Bemühen fruchtlos gewesen, oder in wie weit mir mein Vorhaben gelungen, werde ich da, wo ich hinkomme, am besten erfahren, und so Gott will, in kurzer Zeit. – Dieses ist meine Verteidigung, Simmias und Cebes ! warum ich meine besten Freunde hienieden ohne Betrübnis verlasse, und bei Herannahung der Todesstunde so wenig zittere. Ich glaube, allda bessere Freunde und ein besseres Leben zu finden, als ich hier zurück lasse, so wenig auch dieses beim gemeinen Haufen Glauben finden wird. ¦ |  iii.1: 59–60  ¦ 47–48

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Hat nun meine jetzige Schutzrede bessern Eingang gefunden, als jene, die ich vor den Richtern der Stadt gehalten, so bin ich vollkommen vergnügt.“ Sokrates hatte ausgeredet, und Cebes ergriff das Wort : „Es ist wahr Sokrates ! du hast dich vollkommen gerechtfertiget ; allein was du von der Seele behauptest, muss vielen unglaublich scheinen ; denn sie halten insgemein dafür, die Seele sei nirgend mehr anzutreffen, so bald sie den Körper verlassen, sondern werde, gleich nach dem Tode des Menschen, aufgelöset und zernichtet. Sie steige, wie ein Hauch, oder wie ein feiner Dampf, aus dem Körper in die obere Luft, allwo sie vergehe, und völlig aufhöre zu sein. Könnte es ausgemacht werden, dass die Seele für sich bestehen kann, und nicht notwendig mit diesem Leibe verbunden sein muss : so hätten die Hoffnungen, die du dir machest, eine nicht geringe Wahrscheinlichkeit ; denn so bald es mit uns nach dem Tode besser werden kann : so hat der Tugendhafte auch gegründete Hoffnungen, dass es mit ihm wirklich besser werden wird. Allein die Möglichkeit selbst ist schwer zu begreifen, dass die Seele nach dem Tode noch denken, dass sie noch Wil ¦ len und Verstandeskräfte haben soll ; dieses also, mein Sokrates ! erfordert noch einigen Beweis.“ „Du hast Recht, Cebes !“ versetzte Sokrates. „Allein was ist zu | tun ? Wollen wir etwa überlegen, ob wir einen Beweis finden können, oder nicht ? “ – „Ich bin sehr begierig“, sprach Cebes, „deine Gedanken hierüber zu vernehmen.“ „Wenigstens kann derjenige“, erwiderte Sokrates, „der unsere Unterredung höret, und wenn er auch ein Komödienschreiber wäre, mir nicht vorwerfen, ich beschäftige mich mit Grillen, die weder nützlich noch erheblich sind. Die Untersuchung, die wir itzt vorhaben, ist vielmehr so wichtig, dass uns jeder Dichter gern erlauben wird, um den Beistand einer Gottheit zu flehen, bevor wir zum Werke schreiten.“ – Er schwieg, und saß eine Weile in Andacht vertieft ; sodann sprach er : „Doch, meine Freunde ! mit lauterm Herzen die Wahrheit suchen, ist die würdigste Anbetung der einzigen Gottheit, die uns Beistand leisten kann. |  iii.1: 60–61  ¦ 49–50

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Zur Sache also ! Der Tod, o Cebes ! ist eine natürliche Veränderung des menschlichen Zustandes, und wir wollen itzt untersuchen, was bei dieser Veränderung so wohl ¦ mit dem Leibe des Menschen als mit seiner Seele vorgehet. Nicht ? “ – „Richtig !“ – „Sollte es nicht ratsam sein, erst überhaupt zu erforschen, was eine natürliche Veränderung ist, und wie die Natur ihre Veränderungen nicht nur in Ansehung des Menschen, sondern auch in Ansehung der Tiere, Pflanzen, und leblosen Dinge hervor zu bringen pflegt ? Mich dünkt, wir werden auf diese Weise näher zu unserm Endzwecke kommen.“ – „Der Einfall scheinet nicht unglücklich“, versetzte Cebes ; „wir müssen also fürs erste eine Erklärung suchen, was Veränderung sei.“ – „Mich dünkt“, sprach Sokrates, „wir sagen, ein Ding habe sich verändert, wenn unter zweien entgegen gesetzten Bestimmungen, die ihm zukommen können, die eine aufhöret, und die andere anfängt wirklich zu sein. Z. B. schön und hässlich, gerecht und ungerecht, gut und böse, Tag und Nacht, schlafen und wachen, sind dieses nicht entgegengesetzte Bestimmungen, die bei einer und eben derselben Sache möglich sind ? “ – „Ja !“ ¦ – „Wenn eine Rose welkt und ihre schöne Gestalt verlieret : sagen wir alsdann nicht, sie habe sich verändert ? “ – „Allerdings !“ | – „Und wenn ein ungerechter Mann seine Lebensart verändern will, muss er nicht eine entgegengesetzte annehmen, und gerecht werden ?“ – „Wie anders ? “ – „Auch umgekehrt, wenn durch eine Veränderung etwas entstehen soll, so muss vorhin das Widerspiel davon da gewesen sein. So wird es Tag, nachdem es vorhin Nacht gewesen, und hinwiederum Nacht, nachdem es vorhin Tag gewesen ; ein Ding wird schön, groß, schwer, ansehnlich u. s. w. nachdem es vorhin häss­ lich, klein, leicht, unansehnlich gewesen ist : Nicht ? “ – „Ja !“ – „Eine Veränderung heißt also überhaupt nichts anders, als die Abwechselung der entgegengesetzten Bestimmungen, die an einem Dinge möglich sind. Wollen wir es bei dieser Erklärung bewenden lassen ? Cebes scheinet noch unentschlossen –“ „Eine Kleinigkeit, mein lieber Sokrates ! Das ¦ Wort entgegengesetzte macht mir einiges Bedenken. Ich sollte nicht glauben, dass schnurstracks entgegengesetzte Zustände unmittelbar auf  

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einander folgen könnten.“ – „Richtig !“ versetzte Sokrates. „Wir sehen auch, dass die Natur in allen ihren Veränderungen einen Mittelzustand zu finden weiß, der ihr gleichsam zum Übergange dienet, von einem Zustande auf den entgegengesetzten zu kommen. Die Nacht folgt z. B. auf den Tag, vermittelst der Abenddämmerung, so wie der Tag auf die Nacht, vermittelst der Morgendämmerung. Nicht ? “ – „Freilich.“ – „Das Große wird in der Natur klein, vermittelst der allmählichen Abnahme, und das Kleine hinwiederum groß, vermittelst des Anwachses.“ – „Richtig.“ – „Wenn wir auch in gewissen Fällen diesem Übergange keinen besondern Namen gegeben : so ist doch nicht zu zweifeln, dass er wirklich vorhanden sein müsse, wenn ein Zustand natürlicher Weise mit seinem Widerspiel abwechseln soll : denn muss nicht eine Veränderung, die natürlich sein soll, durch die Kräfte, die in die Natur gelegt sind, hervorgebracht werden ? “ ¦ – „Wie könnte sie sonst natürlich heißen ? “ – „Diese ursprüng­ liche Kräfte aber sind stets wirksam, stets lebendig : denn wenn sie nur einen Augenblick entschliefen, so würde sie nichts als die Allmacht zur Tätigkeit aufwecken können. Was aber nur die Allmacht tun kann, wollen wir dieses natürlich nennen ? “  | – „Wie könnten wir ? “ sprach Cebes. – „Was die natür­ lichen Kräfte also itzt hervorbringen, mein Lieber ! daran haben sie schon von je her gearbeitet ; denn sie waren niemals müßig, nur dass ihre Wirkung erst nach und nach sichtbar geworden. Die Kraft der Natur z. B. die die Tageszeiten verändert, arbeitet schon itzt daran, nach einiger Zeit die Nacht auf den Horizont zu führen, aber sie nimmt ihren Weg durch Mittag und Abend, welches die Übergänge sind von der Geburt des Tages bis auf seinen Tod.“45 – „Richtig.“ – „Im Schlafe selbst arbeiten die Lebenskräfte schon an der künftigen Erwachung, so wie sie im wachenden Zustande den künftigen Schlaf vorbereiten.“ – „Dieses ist nicht zu leugnen.“ – „Und überhaupt, wenn ein Zustand natürlicher ¦ Weise auf sein Widerspiel erfolgen soll, wie solches bei allen natürlichen Veränderungen geschiehet : so müssen die stets wirksamen Kräfte der Natur schon vorher an dieser Veränderung gearbeitet, und den vorhergehenden Zustand gleichsam |  iii.1: 62–63  ¦ 53–55

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mit dem zukünftigen beschwängert haben. Folgt nicht hieraus, dass die Natur alle mittlern Zustände mitnehmen muss, wenn sie einen Zustand mit seinem Widerspiel ablösen will ? “ – „Ganz unleugbar.“ – „Überlege es wohl, mein Freund ! damit hernach kein Zweifel entstehe, ob nicht Anfangs zu viel nachgegeben worden. Wir erfordern zu jeder natürlichen Veränderung dreier­ lei : einen vorhergehenden Zustand des Dinges, das verändert werden soll ; einen darauf folgenden, der jenem entgegen gesetzt ist ; und einen Übergang, oder die zwischen beiden liegenden Zustände, die der Natur von einem auf den andern gleichsam den Weg bahnen. Wird dieses zugegeben ? “ – „Ja, ja !“ rief Cebes. „Ich sehe nicht ab, wie ich an dieser Wahrheit sollte zweifeln können ? “ – „Lass sehen“, erwiderte Sokrates, „ob dir folgendes eben so unleugbar scheinen wird ? Mich dünkt, alles  ¦ Veränderliche könne keinen Augenblick unverändert bleiben ; sondern, indem die Zeit ohne zu ruhen forteilet, und das Künftige beständig zu dem Vergangenen zurück sendet, so verwandelt sie auch zugleich alles Veränderliche, und zeigt es jeden Augenblick unter einer neuen Gestalt. Bist du nicht auch dieser Meinung ? Cebes !“ | – Sie ist wenigstens wahrscheinlich.“ – „Mir scheinet sie unwidersprechlich. Denn alles Veränderliche, wenn es eine Wirklichkeit, und kein bloßer Begriff ist, muss eine Kraft haben, etwas zu tun, und ein Geschicke, etwas zu leiden. Nun mag es tun oder leiden, so wird etwas an ihm anders, als es vorhin gewesen ; und da die Kräfte der Natur niemals in Ruhe sind : was könnte den Strom der Vergänglichkeit nur einen Augenblick in seinem Laufe hemmen ?“ – „Itzt bin ich überzeugt.“ – „Das tut der Wahrheit keinen Eintrag, dass uns gewisse Dinge oft eine Zeit lang unverändert scheinen ; denn scheinet uns doch auch eine Flamme eben dieselbe, und dennoch ist sie nichts anders, als ein Feuerstrom, der aus dem brennenden Körper ohne Unterlass empor ¦ steigt, und unsichtbar wird. Die Farben kommen unsern Augen öfters wie unverändert vor, und gleichwohl wechselt beständig neues Sonnenlicht mit dem vorigen ab. Wenn wir aber die Wahrheit suchen, so müssen wir die Dinge nach der Wirklichkeit, nicht aber nach dem Sinnenschein beurtei|  iii.1: 63–64  ¦ 55–57

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len.“ – „Beim Jupiter !“ versetzte Cebes, „diese Wahrheit öffnet uns eine so neue als reizende Aussicht in die Natur der Dinge. Meine Freunde !“ fuhr er fort, indem er sich zu uns wandte, „die Anwendung von dieser Lehre auf die Natur unserer Seele scheinet die wichtigsten Folgen zu versprechen.“ „Ich habe noch einen einzigen Satz voraus zu schicken“, versetzte Sokrates, „ehe ich auf diese Anwendung komme. Das Veränderliche, haben wir eingestanden, kann keinen Augenblick unverändert bleiben ; sondern, so wie die vergangene Zeit älter wird, so wächst auch die aneinander hängende Reihe der Abänderungen, die da gewesen sind. Nun überlege, Cebes ! Folgen die Augenblicke der Zeit in einer getrennten, oder stetigen Reihe auf einander ? “ – „Noch begreife ich nicht“, sprach Cebes, „was du sagen willst.“ – ¦ „Beispiele werden dir meine Gedanken deutlicher machen. Die Fläche des stillen Wassers scheinet uns in einem fortzugehen, und jedes Wasserteilchen mit denen, die um ihn sind, gemeinschaftliche Grenzen zu haben ; da hingegen ein Sandhügel aus vielen Körnlein bestehet, deren jedes seine eigene Grenzen hat. Nicht ? “ – „Dieses ist begreiflich.“ – „Indem ich das Wort Cebes ausspreche, folgen hier nicht zwei Silben auf einander, zwischen weichen keine dritte anzutreffen ist ? “ – „Richtig !“ – „Das Wort Cebes also gehet nicht in einem fort ; sondern die Silben, aus welchen es bestehet, folgen in einer unstetigen Verbindung auf einander, und jede hat ihre eigenen Grenzen.“ – „Richtig !“ | – „Aber in dem Begriffe, den mein Geist mit diesem Worte verbindet, gibt es auch hier zwei Teile, die ihre eigenen Grenzen haben ? “ – „Mich dünkt, nein !“ – „Und mit Recht, denn alle Teile und Merkmale eines zusammengesetzten Begriffs fließen so in einan ¦ der, dass sich keine Grenzen angeben lassen, wo dieses aufhört, jenes anfängt, sie machen also zusammen ein stetiges Ganze aus ; da hingegen jede Silbe ihre bestimmten Grenzen hat, und ihrer viele, die zusammenkommen, ein Wort ausmachen, in einer unstetigen Reihe auf einander folgen.“ – „Dieses ist vollkommen deutlich.“ – „Ich frage also von der Zeit : Ist sie mit dem ausgesprochenen Worte, oder mit dem Begriffe zu vergleichen ? Folgen ihre Augenblicke in |  iii.1: 64–65  ¦ 57–59

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einer stetigen, oder unstetigen Ordnung auf einander ? “ – „In einer stetigen“, erwiderte Cebes. – „Freilich“, versetzte Simmias ; „denn durch die Folge unserer Begriffe erkennen wir ja die Zeit ; wie ist es also möglich, dass die Natur der Folge in der Zeit und in den Begriffen nicht einerlei sein sollte ? “ „Die Teile der Zeit“, fuhr Sokrates fort, „gehen also in einem fort, und haben gemeinschaftliche Grenzen ? “ – „Richtig !“ – „Das kleinste Zeitteilchen ist eine solche Folge von Augenblicken, lässt sich in noch kleinere Teile zer ¦ legen, die immer noch alle Eigenschaften in der Zeit behalten. Nicht ? “ – „Es scheinet.“ – „Es gibt also auch keine zwei Augenblicke, die sich einander die nächsten sind, das heißt, zwischen welchen sich nicht noch ein dritter gedenken ließe ? “ – „Dieses folgt aus dem Zugestandenen.“ – „Gehen die Bewegungen, und überhaupt alle Veränderungen in der Natur, nicht mit der Zeit in gleichen Schritten fort ? “ – „Ja !“ – „Sie folgen also, wie die Zeit, in einer stetigen Verbindung auf einander ? “ – „Richtig !“ – „Es wird daher auch keine zween Zustände geben, die sich einander die nächsten sind, das heißt, zwischen welchen nicht noch ein dritter anzutreffen sei ? “ – „Es scheinet also.“ – „Unsern Sinnen kommt es freilich so vor, als wenn die Veränderungen der Dinge ruckweise geschähen, indem sie solche nicht eher, als nach merklichen Zwischenzeiten wahrnehmen ; allein die Natur gehet nichts desto weniger ihren Weg, und verändert die Dinge allmählich, ¦ und in einer stetigen Folge aufeinander. Der kleinste Teil dieser Folge ist selbst eine Folge von Veränderungen ; und man mag zween Zustände so dicht aneinander setzen, als man will, so gibt es immer noch einen Übergang dazwischen, der sie mit einander verbindet, der der Natur von einem auf den andern gleichsam den Weg zeigt.“ „Ich begreife dieses alles sehr wohl“, sprach Cebes. „Meine Freunde !“ rief Sokrates, „itzt ist es Zeit uns unserm Vorhaben zu nähern. Wir haben Gründe gesammelt, die für unsere Ewigkeit streiten sollen, und ich verspreche mir einen gewissen Sieg. Wollen wir aber nicht, nach Gewohnheit der Feldherren, ehe wir zum Treffen kommen, unsere Macht noch |  iii.1: 65  ¦ 59–61

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einmal übersehen, um ihre Stärke und Schwäche desto genauer kennen zu lernen ? “ Apollodorus bat sehr um eine kurze Wiederholung. „Die Sätze“, sprach Sokrates, „deren Richtigkeit wir nicht mehr in Zweifel ziehen, sind diese : | 1) Zu einer jeden natürlichen Veränderung wird dreierlei erfodert : i) Ein Zustand eines ver ¦ ä nderlichen Dinges, der aufhören, ii) ein anderer, der seine Stelle vertreten soll, und iii) die mittlern Zustände, oder der Übergang, damit die Veränderung nicht plötzlich, sondern allmählich geschehe. 2) Was veränderlich ist, bleibet keinen Augenblick, ohne wirklich verändert zu werden. 3) Die Folge der Zeit gehet in einem fort, und es gibt keine zween Augenblicke, die sich einander die nächsten sind. 4) Die Folge der Veränderungen kommt mit der Folge der Zeit überein, und ist ebenfalls so stetig, so aneinanderhängend, dass man keine Zustände angeben kann, die sich einander die nächsten wären, oder zwischen welchen nicht ein Übergang Statt finden sollte. Sind wir nicht über diese Punkte einig worden ? “ „Ja !“ sprach Cebes. „Leben und Tod, mein lieber Cebes !“ versetzte Sokrates, „sind entgegengesetzte Zustände : Nicht ? “ – „Freilich !“ – „Und das Sterben der Übergang vom Leben zum Tode ? “ ¦ – „Freilich !“ – „Diese große Veränderung trifft vermutlich die Seele sowohl als den Leib : denn beide Wesen standen in diesem Leben in der genauesten Verbindung.“ – „Allem Ansehen nach.“ – „Was mit dem Leibe nach dieser wichtigen Begebenheit vorgehet, kann uns die Beobachtung lehren ; denn das Ausgedehnte bleibt unsern Sinnen gegenwärtig ; aber wie, wo, und was die Seele nach diesem Leben sein wird, muss bloß durch die Vernunft ausgemacht werden ; denn die Seele hat durch den Tod das Mittel verloren, den menschlichen Sinnen gegenwärtig zu sein.“ – „Richtig !“ – „Wollen wir nicht, mein Teuerster ! erst das Sichtbare durch alle seine Veränderungen verfolgen, und hernach, wo möglich, das Unsichtbare mit dem Sichtbaren vergleichen ? “ – „Das scheint der beste Weg, den wir einschlagen können“, erwiderte Cebes. – |  iii.1: 65–66  ¦ 61–63

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„In jedem tierischen Leibe, Cebes ! gehen beständig Trennungen und Zusammensetzungen vor, die zum Teil auf die Erhaltung, zum | Teil aber auf ¦ den Untergang der tierischen Maschine abzielen. Tod und Leben fangen bei der Geburt des Tieres schon an gleichsam mit einander zu ringen.“ – „Dies zeigt die tägliche Erfahrung.“ – „Wie nennen wir den Zustand“, fragte Sokrates, „in welchem alle Veränderungen, die in der lebendigen Maschine vorgehen, mehr auf das Wohlsein, als auf den Untergang des Leibes abzielen ? Nennen wir ihn nicht die Gesundheit ?“ – „Wie anders ? “ – „Hingegen werden die tierischen Veränderungen, welche die Auflösung der großen Maschine verursachen, durch Krankheiten vermehret, oder auch durch das Alter, welches die natürlichste Krankheit genennt werden kann.“ – „Richtig !“ – „Das Verderben nimmt durch unmerkliche Grade allmählich zu. Endlich zerfällt das Gebäude, und löset sich in seine kleinsten Teile auf. Aber was geschieht ? Hören diese Teile auf, verändert zu werden ? Hören sie auf, zu wirken und zu leiden ? Gehen sie ganz verloren ? “ ¦ – „Es scheinet nicht“, versetzte Cebes. – „Unmöglich, mein Wertester !“ erwiderte Sokrates, „wenn das wahr ist, worüber wir einig geworden : denn gibt es wohl ein Mittel zwischen Sein und Nichtsein ?“ – „Keinesweges.“ – „Sein und Nichtsein wären also zween Zustände, die unmittelbar auf einander folgen, die sich einander die nächsten sein müssten : wir haben aber gesehen, dass die Natur keine solche Veränderungen, die plötzlich und ohne Übergang geschehen müssen, hervorbringen kann. Erinnerst du dich wohl noch dieses Satzes ? “ – „Sehr wohl“, sprach Cebes. – „Also kann die Natur weder ein Dasein, noch eine Zernichtung zuwege bringen ?“ – „Richtig !“ – „Daher gehet bei der Auflösung des tierischen Leibes nichts verloren. Die zerfallenen Teile fahren fort, zu sein, zu wirken, zu leiden, zusammen gesetzt und getrennt zu werden, bis sie sich durch unendliche Übergänge in Teile eines andern Zusammengesetzten ¦ verwandeln. Manches wird Staub, manches wird zur Feuchtigkeit, dieses steigt in die Luft, jenes geht in eine Pflanze über, wandelt von der Pflanze in ein lebendiges Tier, und verlässt das Tier, um | einem Wurme zur Nahrung zu dienen. Ist dieses |  iii.1: 66–68  ¦ 63–66

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nicht der Erfahrung gemäß ?“ – „Vollkommen, mein Sokrates !“ antworteten Cebes und Simmias zugleich. „Wir sehen also, meine Freunde ! dass Tod und Leben, in so weit sie den Leib angehen, in der Natur nicht so getrennt sind, als sie unsern Sinnen scheinen. Sie sind Glieder einer stetigen Reihe von Veränderungen, die durch stufenweise Übergänge mit einander auf das genaueste verbunden sind. Es gibt keinen Augenblick, da man, nach aller Strenge, sagen könnte : Itzt stirbt das Tier ; so wenig man, nach aller Strenge, sagen kann : Itzt ward es krank, oder itzt ward es wieder gesund. Freilich müssen die Veränderungen unsern Sinnen wie getrennt scheinen, da sie uns nicht eher, als nach einer geraumen Zwischenzeit merkbar werden ; aber ¦ genug, wir wissen, dass sie es in der Tat nicht sein können. Ich besinne mich itzt auf ein Beispiel, das diesen Satz erläutern wird. Unsere Augen, die auf einen gewissen Erdstrich eingeschränkt sind, unterscheiden gar deutlich Morgen, Mittag, Abend und Mitternacht, und es ist uns, als wenn diese Zeitpunkte von den übrigen getrennt und abgesondert wären. Wer aber den ganzen Erdboden betrachtet, erkennet gar deutlich, dass die Umwälzungen von Tag und Nacht stetig aneinander hangen, und also jeder Augenblick der Zeit Morgen und Abend, Mittag und Mitternacht zugleich sei. Homer hat nur, als Dichter, die Freiheit, seiner Götter Verrichtungen nach den Tageszeiten einzuteilen : als ob jemanden, der nicht in einen engen Bezirk auf dem Erdboden eingeschränkt ist, die Tageszeiten noch wirklich getrennte Epochen wären, und es nicht vielmehr zu jeder Zeit so wohl Morgen als Abend wäre. Es ist den Dichtern erlaubt, den Schein für die Wahrheit zu nehmen ; allein der Wahrheit zu Folge müsste Aurora mit ihren Rosenfingern bestän ¦ dig die Tore des Himmels offen halten, und ihren gelben Mantel unaufhörlich von einem Orte zum andern schleppen, so wie die Götter, wenn sie nur des Nachts schlafen wollen, gar nicht oder beständig schlafen müssen. – So lassen sich auch, im Ganzen betrachtet, die Tage der Woche nicht unterscheiden ; denn das Stetige und Aneinanderhängende |  iii.1: 68  ¦ 66–68

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lässt sich nur in der Einbildung, und nach den Vorspiegelungen der Sinne, in bestimmte und abgesonderte Teile zertrennen ; der Ver | stand aber siehet gar wohl, dass man da nicht stehen bleiben muss, wo keine wirkliche Abteilung ist. Ist dieses deutlich, meine Freunde ? “ – „Gar sehr“, erwiderte Simmias. – „Mit dem Leben und Tode der Tiere und Pflanzen verhält es sich gleichfalls nicht anders. In der Folge von Veränderungen, die dasselbe Ding erlitten, fängt sich, nach dem Urteile unserer Sinne, da eine Epoche an, wo uns das Ding merklich als Pflanze oder als Tier in die Sinne fällt, und dieses nennen wir das Aufkeimen der Pflanze, und die Geburt des Tieres. Den zweiten Zeitpunkt, da, wo sich die ¦ tierischen oder pflanzigten Bewegungen unsern Sinnen entziehen, nennen wir den Tod ; und den dritten, wann endlich die tierischen oder pflanzigten Formen verschwinden und unscheinbar werden, nennen wir den Untergang, die Verwesung des Tieres oder der Pflanze. In der Natur aber sind alle diese Veränderungen Glieder einer ununterbrochenen Kette, allmähliche Auswickelungen und Einwickelungen desselben Dinges, das sich in unzählige Gestalten einhüllet und entkleidet. Ist hieran noch irgend ein Zweifel ?“ – „Im geringsten nicht“ versetzte Cebes. – „Wenn wir sagen“, fuhr Sokrates fort, „die Seele stirbt, so müssen wir eines von beiden setzen : Entweder alle ihre Kräfte und Vermögen, ihre Wirkungen und Leiden hören plötzlich auf, sie verschwindet gleichsam in einem Nu ; oder sie leidet, wie der Leib, allmähliche Verwandelungen, unzählige Umkleidungen, die in einer stetigen Reihe fortgehen, und in dieser Reihe gibt es eine Epoche, wo sie keine menschliche Seele mehr, sondern etwas anders geworden ist ; so wie der Leib, nach unzähligen Veränderungen, aufhöret, ein menschlicher Leib zu sein, und Staub, ¦ Luft, Pflanze, oder auch in Teile eines andern Tieres verwandelt wird. Gibt es einen dritten Fall, wie die Seele sterben kann, einen Fall mehr, als plötzlich oder allmählich ?“ – „Nein“, erwiderte Cebes. „Diese Einteilung erschöpft die Möglichkeit ganz.“ – „Gut“, sprach Sokrates. „Die also noch zweifeln, ob die Seele nicht sterblich sein könnte, mögen wählen, ob sie besorgen, sie möchte plötzlich verschwinden, oder nach und nach das­ |  iii.1: 68–69  ¦ 68–70

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jenige aufhören zu sein, was sie war. Will Cebes nicht ihre Stelle vertreten, und diese Wahl über sich nehmen ?“ | – „Die Frage ist, ob jene die Wahl ihres Sachwalters würden gelten lassen. Mein Rat wäre, wir überlegten beide Fälle ; denn wenn sie auf meine Wahl Verzicht täten, und sich anders erklären sollten : so dürfte morgen niemand mehr da sein, der sie widerlegen kann.“ „Mein lieber Cebes !“ versetzte Sokrates, „Griechenland ist ein weitläuftiges Reich, und auch unter den Barbaren muss es viele geben, denen diese Untersuchung am Herzen liegt. – Doch es sei ! lasst uns ¦ beide Fälle untersuchen. Der erste war : Vielleicht vergehet die Seele plötzlich, verschwindet in einem Nu. An und für sich ist diese Todesart möglich. Kann sie aber von der Natur hervorgebracht werden ?“ – „Keinesweges : wenn das wahr ist, was wir vorhin zugegeben, dass die Natur keine Zernichtung hervorbringen könne.“ – „Und haben wir dieses nicht mit Recht zugegeben ? “ fragte Sokrates. „Zwischen Sein und Nichtsein ist eine entsetzliche Kluft, die von der allmählich wirkenden Natur der Dinge nicht übersprungen werden kann.“ – „Ganz recht“, versetzte Cebes. „Wie aber, wenn sie von einer übernatürlichen Macht, von einer Gottheit, zernichtet würde ?“ – „O mein Teurester !“ rief Sokrates aus, „wie glücklich, wie wohl versorgt sind wir, wenn wir nichts als die unmittelbare Hand des einzigen Wundertäters zu fürchten haben ! Was wir besorgten, war, ob die Natur unserer Seele nicht an und für sich selbst sterblich sei ; und diese Besorgnis suchen wir durch ¦ Gründe zu vereiteln ; ob aber Gott, der allgütige Schöpfer und Erhalter der Dinge, sie durch ein Wunderwerk zernichten werde ? – Nein, Cebes ! lass uns lieber befürchten, die Sonne würde uns in Eis verwandeln, ehe wir von der selbstständigen Güte eine grundböse Handlung, die Zernichtung durch ein Wunderwerk, befürchten wollen.“ – „Ich bedachte es nicht“, sprach Cebes, „dass mein Einwurf bei nahe eine Lästerung sei.“ – „Die eine Todesart, die plötzliche Zernichtung, schreckt uns also nicht mehr“, fuhr Sokrates fort ; „denn sie ist in der Natur unmöglich. Doch überlegt auch folgendes, meine Freunde ! Gesetzt, sie wäre nicht unmöglich, so ist die Frage : wann ? zu welcher Zeit soll unsere Seele verschwinden ? Vermut|  iii.1: 69–70  ¦ 70–72

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lich zu der Zeit, da der Körper ihrer nicht mehr bedarf, in dem Augenblicke des Todes ? “ – „Allem Ansehen nach.“ | – „Nun haben wir aber gesehen, dass es keinen bestimmten Augenblick gibt, da man sagen kann, itzt stirbt das Tier. Die Auflösung der tierischen Maschine hat schon lange vorher ihren Anfang genommen, ¦ ehe noch ihre Wirkungen sichtbar geworden sind ; denn es fehlet niemals an solchen tierischen Bewegungen, die der Erhaltung des Ganzen zuwider sind ; nur dass sie nach und nach zunehmen, bis endlich alle Bewegungen der Teile nicht mehr zu einem einzigen Endzwecke harmonieren, sondern eine jede ihren besondern Endzweck angenommen hat : und alsdann ist die Maschine aufgelöset. Dieses geschiehet so allmählich, in einer so stetigen Ordnung, dass jeder Zustand eine gemeinschaftliche Grenze des vorhergehenden und nachfolgenden Zustandes, eine Wirkung des vorhergehenden und eine Ursache des nachfolgenden Zustandes zu nennen ist. Haben wir dieses nicht eingestanden ?“ – „Richtig !“ – „Wenn also der Tod des Körpers auch der Tod der Seele sein soll : so muss es auch keinen Augenblick geben, da man sagen kann, itzt verschwindet die Seele ; sondern nach und nach, wie die Bewegungen in den Teilen der Maschine aufhören zu einem einzigen Endzwecke zu harmonieren, muss die Seele auch an Kraft und innerer Wirksamkeit abnehmen. Scheinet es dir nicht also ? mein Cebes !“ ¦ – „Vollkommen !“ – „Aber siehe ! welche wunderbare Wendung unsere Untersuchung genommen hat ! Sie scheinet sich, wie ein Kunstwerk meines Eltervaters Dädalus, 46 durch ein inneres Triebwerk von ihrer vorigen Stelle weggerollt zu haben.“ – „Wieso ?“ – „Wir haben angenommen, unsere Gegner besorgten, die Seele würde plötzlich zernichtet werden, und wollten zusehen, ob diese Furcht gegründet sei, oder nicht. Wir haben darauf untersucht, in welchem Augenblicke sie zernichtet werden möchte ; und diese Untersuchung selbst brachte uns auf das Widerspiel der Voraussetzung, dass sie nämlich nicht plötzlich vernichtet werde, sondern allmählich an innerer Kraft und Wirksamkeit abnehme.“ – „Desto besser“, antwortete Cebes. „So hat sich jene angenommene Meinung gleichsam selbst widerlegt.“ – „Wir |  iii.1: 70–71  ¦ 72–74

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haben also nur noch dieses zu untersuchen, ob die inneren Kräfte der Seele nicht so allmählich vergehen können, wie sich die Teile der Maschine trennen.“ | ¦ – „Richtig !“ – „Lasset uns diese getreuen Gefährten, Leib und Seele, die auch den Tod mit einander gemein haben sollen, auf ihrer Reise verfolgen, um zu sehen, wo sie zuletzt bleiben. So lange der Körper gesund ist, so lange die mehresten Bewegungen der Maschine auf die Erhaltung und das Wohlsein des Ganzen abzielen, die Werkzeuge der Empfindung auch ihre gehörige Beschaffenheit haben, so besitzt auch die Seele ihre völlige Kraft, empfindet, denkt, liebet, verabscheuet, begreifet und will. Nicht ?“ – „Unstreitig !“ – „Der Leib wird krank. Es äußert sich eine sichtbare Misshelligkeit zwischen den Bewegungen, die in der Maschine vorgehen, indem ihrer viele nicht mehr zur Erhaltung des Ganzen harmonieren, sondern ganz besondere und streitende Endzwecke haben. Und die Seele ?“ – „Wie die Erfahrung lehret, wird sie indessen schwächer, empfindet unordentlich, denkt falsch und handelt öfters wider ihren Dank.“ – „Gut ! Ich fahre fort. Der Leib stirbt : das heißt, ¦ alle Bewegungen scheinen nunmehr nicht mehr auf das Leben und die Erhaltung des Ganzen abzuzielen ; aber innerlich mögen wohl noch einige schwache Lebensbewegungen vorgehen, die der Seele noch einige dunkele Vorstellungen verschaffen : auf diese muss sich also die Kraft der Seele so lange einschränken. Nicht ?“ – „Allerdings !“ – „Die Verwesung folgt. Die Teile, die bisher einen gemeinschaftlichen Endzweck gehabt, eine einzige Maschine ausgemacht haben, bekommen itzt ganz verschiedene Endzwecke, werden zu mannigfaltigen Teilen ganz verschiedener Maschinen. Und die Seele ? mein Cebes ! wo wollen wir die lassen ? Ihre Maschine ist verweset. Die Teile, die noch von derselben übrig sind, sind nicht mehr ihre, und machen auch kein Ganzes aus, das beseelt werden könnte. Hier sind keine Gliedmaßen der Sinne, keine Werkzeuge des Gefühls mehr, durch deren Vermittelung sie irgend zu einer Empfindung gelangen könnte. Soll also alles in ihr öde sein ? Sollen alle ihre Empfindungen und Gedanken, ihre Einbildungen, ihre Begierden und Verabscheuungen, Neigungen und Lei ¦ denschaften ver|  iii.1: 71–72  ¦ 74–77

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schwunden sein, und nicht die geringste Spur hinterlassen haben ? “ – „Unmöglich“, sprach Cebes. „Was wäre dieses anders als eine völlige | Zernichtung, und keine Zernichtung, haben wir gesehen, stehet in dem Vermögen der Natur.“ – „Was ist also für Rat ? meine Freunde ! Untergehen kann die Seele in Ewigkeit nicht ; denn der letzte Schritt, man mag ihn noch so weit hinaus schieben, wäre immer noch vom Dasein zum Nichts, ein Sprung, der weder in dem Wesen eines einzelnen Dinges, noch in dem ganzen Zusammenhange gegründet sein kann. Sie wird also fort dauren, ewig vorhanden sein. Soll sie vorhanden sein, so muss sie wirken und leiden ; soll sie wirken und leiden, so muss sie Begriffe haben : denn empfinden, denken und wollen sind die einzigen Wirkungen und Leiden, die einem denkenden Wesen zukommen können. Die Begriffe nehmen allezeit ihren Anfang von einer sinnlichen Empfindung, und wo sollen sinnliche Empfindungen herkommen, wenn keine Werkzeuge, keine Glied­ maßen der Sinne vorhanden sind ?“ ¦ – „Nichts scheinet richtiger“, sprach Cebes, „als diese Folge von Schlüssen, und gleichwohl leitet sie zu einem offenbaren Widerspruch.“ – „Eines von beiden“, fuhr Sokrates fort ; „entweder die Seele muss vernichtet werden, oder sie muss nach der Verwesung des Leibes noch Begriffe haben. Man ist sehr geneigt, diese beiden Fälle für unmöglich zu halten, und gleichwohl muss einer davon wirklich sein ? Lass sehen, ob wir aus diesem Labyrinthe keinen Ausgang finden können ! Von der einen Seite kann unser Geist natürlicher Weise nicht vernichtet werden. Worauf gründet sich diese Unmöglichkeit ? – Seid unverdrossen, Freunde ! mir durch dornichte Gänge zu folgen : sie führen uns auf eine der herrlichsten Gegenden, die das Gemüt der Menschen jemals ergetzt haben. Antwortet mir ! Hat uns nicht ein richtiger Begriff von Kraft und natürlicher Veränderung auf die Folge geleitet, dass die Natur keine Vernichtung wirken könne ? “ – „Richtig !“ – „Von dieser Seite ist also schlechterdings kein Ausgang zu hoffen, und wir müssen umkehren. Die ¦ Seele kann nicht vergehen, sie muss nach dem Tode fort dauren, wirken, leiden, Begriffe haben. Hier stehet uns die Unmöglichkeit im Wege, dass unser Geist, ohne |  iii.1: 72–73  ¦ 77–79

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sinnliche Eindrücke, Begriffe haben soll : aber wer leistet für diese Unmöglichkeit die Gewähr ? Ist es nicht bloß die Erfahrung, dass wir hier in diesem Leben niemals ohne sinnliche Eindrücke haben denken können ?“ | – „Nichts anders.“ – „Was für Grund haben wir aber, diese Erfahrung über die Grenzen dieses Lebens auszudehnen, und der Natur schlechterdings die Möglichkeit abzusprechen, die Seele, ohne diesen gegliederten Leib, denken zu lassen ? Was meinest du ? Simmias ! würden wir einen Menschen nicht höchst lächerlich finden, der die Mauern von Athen niemals verlassen hätte, und aus seiner eigenen Erfahrung schließen wollte, dass in allen Teilen des Erdbodens Tag und Nacht, Sommer und Winter, nicht anders als bei uns, abwechselten ? “ – „Nichts wäre ungereimter.“ – „Wenn ein Kind im Mutterleibe denken könnte, ¦ würde es wohl zu bereden sein, dass es dereinst, von seiner Wurzel abgelöset, in freier Luft das erquickende Licht der Sonne genießen werde ? würde es nicht vielmehr aus seinen itzigen Umständen die Unmöglichkeit eines solchen Zustandes beweisen zu können glauben ? “ – „Allem Ansehen nach.“ – „Und wir Blödsinnigen, denken wir etwa vernünftiger, wenn wir, in dieses Leben eingekerkert, durch unsere Erfahrungen ausmachen wollen, was der Natur auch nach diesem Leben möglich sei ? – Ein einziger Blick in die unerschöpfliche Mannigfaltigkeit der Natur kann uns von dem Ungrunde solcher Schlüsse überführen. Wie dürftig, wie schwach würde sie sein, wenn ihr Vermögen nicht weiter reichete, als unsere Erfahrung !“ – „Freilich !“ – „Wir können also mit gutem Grunde diese Erfahrung verwerfen, indem wir ihr die ausgemachte Unmöglichkeit entgegengesetzt, dass unser Geist untergehen sollte. Homer lässt seinen Held mit Recht ausrufen : Fürwahr ! auch in den Häusern des Orkus ¦ webt noch die Seele, wiewohl kein Leichnam dahin kommt.* 47 Die Begriffe, die uns Homer von dem Orkus, und von den Schatten, die hinunter wandeln, machet, *  Plato hat diesen Vers des Homers anders verstanden, als einige

neuere Ausleger, und führet ihn im 3. V. seiner Republik als tadelhaft an. Man wird mir aber hoffentlich erlauben, an dieser Stelle die günstigere Auslegung gelten zu lassen. |  iii.1: 73–74  ¦ 79–81

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scheinen zwar nicht überall mit der Wahrheit übereinzukommen ; aber dieses ist gewiss, meine Geliebten ! unser Geist siegt über Tod und Verwesung, lässt den Leichnam zurück, um hienieden in tausend veränderten Gestalten die Absichten des Allerhöchsten zu erfüllen, er aber erhebt sich über den Staub, und fähret fort, nach andern natürlichen, aber überirdischen Gesetzen, die Werke des Schöpfers zu beschauen, und Gedanken von der Kraft des Unendlichen zu hegen. | Erwäget aber dieses, meine Freunde ! wenn unsere Seele, nach dem Tode ihres Leichnams, noch lebet und denkt, wird sie nicht auch alsdann, so wie in diesem gegenwärtigen Zustande, nach der Glückseligkeit ­streben  ? “ ¦ „Wahrscheinlich dünkt michs“, sprach Simmias ; „allein ich traue meiner Vermutung nicht mehr, und wünschte deine Gründe zu hören.“ „Meine Gründe sind diese“, versetzte Sokrates : „Wenn die Seele denkt, so müssen in ihr Begriffe mit Begriffen abwechseln, so muss sie diese Begriffe gerne, jene ungerne haben wollen, das heißt, einen Willen haben ; hat sie aber einen Willen, wohin kann dieser anders zielen, als nach dem höchsten Grade des Wohlseins, nach der Glückseligkeit ? “ – Dieses war allen deutlich. „Aber wie ? “ fuhr Sokrates fort : „das Wohlsein eines Geistes, der nicht mehr für die Bedürfnisse seines Leibes zu sorgen hat, worin bestehet dieses ? Speise und Trank, Liebe und Wollust kann ihm nicht mehr behagen ; was in diesem Leben Gefühl, Gaumen, Augen und Ohren ergetzt, ist allda seiner Achtung unwürdig ; kaum dass ihm noch eine schwache, vielleicht reuvolle Erinnerung von den Wollüsten bleibet, die er in Gesellschaft seines Leibes genossen. Wird er wohl nach diesen sonderlich streben ? “ – „So wenig als ein vernünftiger Mann nach den Tändeleien der Kindheit“, sprach Simmias. ¦ „Wird etwa ein großes Vermögen das Ziel seiner Wünsche sein ? Wie könnte dieses in einem Zustande möglich sein, wo, allem Ansehen nach, kein Eigentum besessen, kein Vermögen genossen werden kann ? |  iii.1: 74–75  ¦ 81–83

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Die Ehrbegierde ist zwar eine Leidenschaft, die, dem Ansehen nach, dem abgeschiedenen Geiste noch bleiben kann ; denn sie scheinet wenig von den Leibesbedürfnissen abzuhängen : allein, worin kann der körperlose Geist den Vorzug setzen, der ihm Ehre bringen soll ? Gewiss nicht in Macht, nicht in Reichtum, auch nicht in den Adel der Geburt : denn alle diese Torheiten lässt er mit seinem Körper auf der Erde zurück.“ – „Freilich !“ – „Es bleibet ihm also nichts, als Weisheit, Tugendliebe und Erkenntnis der Wahrheit, was ihm einen Vorzug geben und über seine Nebengeschöpfe erheben könnte. Außer dieser edlen Ehrbegierde | ergetzen ihn noch die geistigen angenehmen Empfindungen, die die Seele auch auf Erden ohne ihren Körper genießt, Schönheit, Ordnung, Ebenmaß, Vollkommenheit. Diese Empfindungen sind der Natur eines Geistes so anerschaffen, dass ¦ sie ihn niemals verlassen können. Wer also auf Erden für seine Seele Sorge getragen, wer in diesem Leben sich in Weisheit, Tugend und Empfindung der wahren Schönheit hat üben lassen, der hat die größten Hoffnungen, auch nach dem Tode in diesen Übungen fortzufahren, und von Stufe zu Stufe sich dem erhabensten Urwesen zu nähern, welches die Quelle aller Weisheit, der Inbegriff aller Vollkommenheiten, und vorzugsweise die Schönheit selbst ist. Erinnert euch, meine Freunde ! jener entzückten Augenblicke, die ihr genossen, so oft eure Seele, von einer geistigen Schönheit hingerissen, den Leib samt seinen Bedürfnissen vergaß, und sich ganz der himm­lischen Empfindung überließ. Welcher Schauer ! welche Begeisterung ! Nichts als die nähere Gegenwart einer Gottheit kann diese erhabenen Entzückungen in uns erregen. Auch ist in der Tat jeder Begriff einer geistigen Schönheit ein Blick in das Wesen der Gottheit ; denn das Schöne, Ordentliche und Vollkommene, das wir wahrnehmen, ist ein schwacher Abdruck dessen, der die selbstständige Schönheit, Ordnung und Vollkommenheit ist. Ich erinnere mich, diese Gedanken bei einer andern Gelegenheit deutlich genug auseinander ¦ gesetzt zu haben48 , und will gegenwärtig nur diese Folge daraus herleiten : Wenn es wahr ist, dass nach diesem Leben Weisheit und Tugend unsern Ehrgeiz, und das |  iii.1: 75–76  ¦ 83–85

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Bestreben nach geistiger Schönheit, Ordnung und Vollkommenheit unsere Begierden ausmachen : so wird unser fortdaurendes Dasein nichts als ein ununterbrochenes Anschauen der Gottheit sein, ein himmlisches Ergetzen, das, so wenig wir jetzo davon begreifen, den edlen Schweiß des Tugendhaften mit unendlichem Wucher belohnt. Was sind alle Mühseligkeiten dieses Lebens gegen eine solche Ewigkeit ! Was ist Armut, Verachtung und der schmählichste Tod, wenn wir uns dadurch zu einer solchen Glückseligkeit vorbereiten können ! Nein, meine Freunde ! wer sich eines rechtschaffenen Wandels bewusst ist, kann sich unmöglich betrüben, indem er die Reise zu dieser Seligkeit antritt. Nur wer in seinem Leben Götter und Menschen beleidiget, wer sich in viehischer Wollust herumgewälzt, oder der vergötterten Ehre Menschenopfer geschlachtet, und an andrer Elend sein Ergetzen gefunden, der mag an der Schwelle des Todes zittern, | indem er keinen Blick in das Vergangene ohne Reue, keinen in die Zukunft ohne Furcht tun kann. ¦ Da ich aber, Dank sei der Gottheit ! mir keine von diesen Vorwürfen zu machen habe, da ich in meinem ganzen Leben die Wahrheit mit Eifer gesucht, und die Tugend über alles geliebt habe : so freue ich mich, die Stimme der Gottheit zu hören, die mich von hinnen ruft, um in jenem Lichte zu genießen, wornach ich in dieser Finsternis gestrebt habe. Ihr aber, meine Freunde ! überlegt wohl die Gründe meiner Hoffnungen, und wenn sie euch überzeugen, so segnet meine Reise, und lebet so, dass euch der Tod dereinst abrufe, nicht mit Gewalt von hinnen schleppe. Vielleicht führet uns die Gottheit dereinst in verklärter Freundschaft einander in die Arme. O ! mit welchem Entzücken würden wir uns alsdann des heutigen Tages erinnern !“

ENDE DES ERSTEN GESPRÄCHS | ¦

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Zweites Gespräch Unser Lehrer hatte ausgeredet, und ging, wie in Gedanken vertieft, im Zimmer auf und nieder ; wir saßen alle und schwiegen, und dachten der Sache nach. Nur Cebes und Simmias sprachen leise mit einander. Sokrates sahe sich um, und fragte : „Warum so leise ? meine Freunde ! Sollen wir nicht erfahren, was an den vorgebrachten Vernunftgründen zu verbessern sei ? Ich weiß wohl, dass ihnen zur völligen Deutlichkeit noch verschiedenes fehlet. Wenn ihr euch also jetzo von andern Dingen unterhaltet, so mag es gut sein ; redet ihr aber von der Materie, die wir vorhaben, so entdecket uns immer eure Einwürfe und Zweifel, damit wir sie gemeinschaftlich untersuchen, und entweder heben, oder selbst mit zweifeln mögen.“ Simmias sprach : „Ich muss dir gestehen, Sokrates ! dass wir beide Einwürfe zu machen haben, und uns schon lange einer den andern antreiben, sie vorzubringen, weil beide gerne deine Widerlegung hören ¦ möchten, ein jeder aber sich scheuet, dir bei jetziger Widerwärtigkeit beschwerlich zu fallen.“ Als Sokrates dieses hörete, lächelte er, und sprach : „Ei ! wie schwer, o Simmias ! werde ich andere Menschen bereden können, dass ich meine Umstände für so misslich nicht halte, da ihr mir es noch immer nicht glauben könnet, und besorget, ich möchte itzt unmutiger und verdrießlicher sein, als ich vormals gewesen bin. Man saget von den Schwänen, dass sie, nahe an ihrem Ende, lieblicher singen, als in ihrem ganzen Leben. Wenn diese Vögel, wie es heißt, dem Apoll geheiliget sind, so würde ich sagen, dass ihr Gott sie in der Todesstunde einen Vorschmack von der Seligkeit jenes Lebens empfinden lässt, und dass sie sich an diesem Gefühl ergetzen, und singen. Mit mir verhält es sich eben so. Ich bin ein Priester dieses Gottes : und in Wahrheit ! er hat meiner Seele ein ahnendes Gefühl von der Seligkeit nach dem Tode eingeprägt, das allen Unmut vertreibt, und mich, nahe an meinem Tode, weit heiterer sein lässt, als in | meinem ganzen Leben. Eröffnet mir also ohne Bedenken eure Zweifel und Einwürfe. Fraget, was ihr zu fragen habt, so lange es die elf Männer noch ¦ erlauben.“ – „Gut !“ erwiderte |  iii.1: 78–79  ¦ 87–89

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Simmias, „ich werde also den Anfang machen, und Cebes mag folgen. Ich habe nur noch eine einzige Erinnerung voraus zu schicken : Wenn ich Zweifel wider die Unsterblichkeit der Seele errege, so geschieht es nicht wider die Wahrheit dieser Lehre, sondern wider ihre vernunftmäßige Erweislichkeit, oder vielmehr wider den Weg, welchen du, o Sokrates ! gewählt hast, uns durch die Vernunft davon zu überzeugen. Im übrigen nehme ich diese trostvolle Lehre von ganzem Herzen nicht nur so an, wie du sie uns vorgetragen, sondern so, wie sie uns von den ältesten Weisen ist überliefert worden, einige Verfälschungen ausgenommen, die von den Dichtern und Fabelerfindern hinzugetan worden sind. Wo unsere Seele keinen Grund der Gewissheit findet, da trauet sie sich den beruhigenden Meinungen, wie Fahrzeugen auf dem bodenlosen Meere, an, die sie bei heiterm Himmel sicher durch die Wellen dieses Lebens hindurch führen. Ich fühle es, dass ich der Lehre von der Unsterblichkeit und von der Vergeltung nach unserm Tode nicht widersprechen kann, ohne unendliche Schwierigkeiten sich erheben zu sehen; ohne alles, ¦ was ich je für wahr und gut gehalten, seiner Zuverlässigkeit beraubt zu sehen. Ist unsere Seele sterblich, so ist die Vernunft ein Traum, den uns Jupiter geschickt hat, uns Elende zu hintergehen ; so fehlet der Tugend aller Glanz, der sie unsern Augen göttlich macht ; so ist das Schöne und Erhabene, das Sittliche so wohl als das Physische, kein Abdruck göttlicher Vollkommenheiten (denn nichts vergängliches kann den schwächsten Strahl göttlicher Vollkommenheit fassen) ; so sind wir, wie das Vieh, hieher gesetzt worden, Futter zu suchen und zu sterben ; so wird es in wenigen Tagen gleich viel sein, ob ich eine Zierde, oder Schande der Schöpfung gewesen, ob ich mich bemühet, die Anzahl der Glückseligen, oder der Elenden zu vermehren ; so hat der verworfenste Sterbliche so gar die Macht, sich der Herrschaft Gottes zu entziehen, und ein Dolch kann das Band auflösen, welches den Menschen mit Gott verbindet. Ist unser Geist vergänglich, so haben die weisesten Gesetzgeber und Stifter der menschlichen Gesellschaften uns oder sich selbst betrogen ; so hat das gesamte menschliche Geschlecht sich gleichsam verab|  iii.1: 79  ¦ 89–90

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redet, eine Unwahrheit zu ¦ hegen, und die Betrüger | zu verehren, die solche erdacht haben ; so ist ein Staat freier, denkender Wesen nicht mehr, als eine Herde vernunftloses Viehes, und der Mensch – ich entsetze mich, ihn in dieser Niedrigkeit zu betrachten ! Der Hoffnung zur Unsterblichkeit beraubt, ist dieses Wundergeschöpfe das elendeste Tier auf Erden, das zu seinem Unglücke über seinen Zustand nachdenken, den Tod fürchten, und verzweifeln muss. Nicht der allgütige Gott, der sich an der Glückseligkeit seiner Geschöpfe ergetzt, ein schadenfrohes Wesen müsste ihn mit Vorzügen begabt haben, die ihn nur bejammernswerter machen. Ich weiß nicht, welche beklemmende Angst sich meiner Seele bemeistert, wenn ich mich an die Stelle der Elenden setze, die eine Vernichtung fürchten. Die bittere Erinnerung des Todes muss alle ihre Freuden vergällen. Wenn sie der Freundschaft genießen, wenn sie die Wahrheit erkennen, wenn sie die Tugend ausüben, wenn sie den Schöpfer verehren, wenn sie über Schönheit und Vollkommenheit in Entzückung geraten wollen : so steiget der schreckliche Gedanke der Zernichtung, wie ein Gespenst, in ihrer Seele empor, und ver ¦ wandelt die gehoffte Freude in Verzweiflung. Ein Hauch, der ausbleibt, ein Pulsschlag, der still stehet, beraubt sie aller dieser Herrlichkeiten : das Gott verehrende Wesen wird Staub, Moder und Verwesung. Ich danke den Göttern, dass sie mich von dieser Furcht befreiet, die alle Wollüste meines Lebens mit Skorpionenstichen unterbrechen würde. Meine Begriffe von der Gottheit, von der Tugend, von der Würde des Menschen, und von dem Verhältnisse, in welchem er mit Gott stehet, lassen mir keinen Zweifel mehr über seine Bestimmung. Die Hoffnung eines zukünftigen Lebens löset alle diese Schwierigkeiten auf, und bringet die Wahrheiten, von welchen wir auf so mancherlei Weise überzeuget sind, wieder in Harmonie. Sie rechtfertiget die Gottheit, setzet die Tugend in ihren Adel ein, gibt der Schönheit ihren Glanz, der Wollust ihre Reizung, versüßet das Elend, und macht selbst die Plagen dieses Lebens in unsern Augen ver­ ehrenswert : indem wir alle Begebenheiten hienieden mit den unendlichen Reihen von Folgen vergleichen, die durch dieselben |  iii.1: 79–80  ¦ 90–92

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veranlasset werden. Eine Lehre, die mit so vielen bekannten und ausgemachten Wahrheiten in Harmonie stehet, und durch welche ¦ wir so ungezwungen eine Menge von Schwierigkeiten gehoben sehen, findet uns sehr geneigt, sie anzunehmen ; bedarf beinahe keines fernern Beweises. Denn wenn gleich von diesen Gründen, einzeln genommen, vielleicht keiner den höchsten Grad der | Gewissheit mit sich führet : so überzeugen sie uns doch, zusammengenommen, mit einer so siegenden Gewalt, dass sie uns völlig beruhigen, und alle unsere Zweifel aus dem Felde schlagen. Allein, mein lieber Sokrates ! die Schwierigkeit ist, alle diese Gründe, so oft wir es wünschen, mit der gehörigen Lebhaftigkeit gegenwärtig zu haben, um ihre Harmonie mit Einleuchtung zu überschauen. Wir sind zu allen Zeiten, und in allen Umständen dieses Lebens ihres Beistandes benötiget ; aber nicht alle Zeiten, nicht alle Umstände dieses Lebens vergönnen uns die Ruhe und Besonnenheit der Seele, uns aller dieser Gründe lebhaft zu erinnern, und die Kraft der Wahrheit zu fühlen, die ihrem Zusammenhange eingeflochten ist. So oft wir uns einen Teil derselben entweder gar nicht, oder nicht mit der erforder­ lichen Lebhaftigkeit vorstellen, so verlieret die Wahrheit von ihrer Stärke, und unsere Seelenruhe ist in Gefahr. Wenn aber jener Weg, den du, o Sokrates ! ¦ einschlägst, uns durch eine einfache Reihe von unumstößlichen Gründen zur Wahrheit führet : so können wir hoffen, uns des Beweistums zu versichern, und ihn zu allen Zeiten in unserer Gewalt zu haben. Eine Kette deut­ licher Schlüsse lässt sich leichter in die Gedanken zurück bringen, als jene Übereinstimmung der Wahrheiten, die gewisser­ maßen ihre eigene Gemütsbeschaffenheit erfodert. Aus dieser Ursache trage ich kein Bedenken, dir alle die Zweifel entgegen zu setzen, die der entschlossenste Leugner der Unsterblichkeit vorbringen könnte. Wo ich dich recht verstanden habe, so war dein Beweis etwa folgender : Seele und Körper stehen in der genauesten Verbindung ; dieser wird allmählich in seine Teile aufge­ löset, jene muss entweder vernichtet werden, oder Vorstellungen haben. Durch natürliche Kräfte kann nichts zernichtet werden : daher kann unsere Seele, natürlicher Weise, niemals aufhören |  iii.1: 80–81  ¦ 92–94

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Begriffe zu haben. Wie aber, mein lieber Sokrates ! wenn ich durch ähnliche Gründe bewiese, dass die Harmonie fortdauren müsse, wenn man auch die Leier zerbräche, oder dass die Symmetrie eines Gebäudes noch vorhanden sein müsse, wenn auch alle Steine von einander gerissen, und zu Staub zermalmet werden sollten ? Die ¦ Harmonie so wohl, als die Symmetrie, würde ich sagen, ist etwas : nicht ? Man würde mir dieses nicht leugnen ; jene stehet mit der Leier und diese mit dem Gebäude in genauer Verbindung : auch dieses müsste man zugeben. Vergleichet die Leier oder das Gebäude mit dem Körper, und die Harmonie oder Symmetrie mit der Seele : so haben wir er | w iesen, dass das Saitenspiel länger dauren müsse, als die Saiten, das Ebenmaß länger, als das Gebäude. Nun ist dieses in Absicht auf die Harmonie und Symmetrie höchst ungereimt ; denn da sie die Art und Weise der Zusammensetzung andeuten : so können sie nicht länger dauren, als die Zusammensetzung selbst. Ein Gleiches lässt sich von der Gesundheit behaupten : Sie ist eine Eigenschaft des gegliederten Körpers, und nirgends anders anzutreffen, als wo die Verrichtungen dieser Glieder zur Erhaltung des Ganzen abzielen ; sie ist ein Eigentum des Zusammengesetzten, und verschwindet, wenn das Zusammengesetzte in seine Teile aufgelöset wird. Mit dem Leben hat es wahrscheinlicher Weise eine ähnliche Bewandnis. Das Leben einer Pflanze höret auf, so bald die Bewegungen in den Teilen derselben zur Auflösung des ¦ Ganzen abzielen. Das Tier hat vor der Pflanze die Gliedmaßen der Sinne und die Empfindung, und endlich der Mensch die Vernunft voraus. Vielleicht ist diese Empfindung in den Tieren, und selbst die Vernunft des Menschen, nichts als Eigenschaften des Zusammengesetzten, so wie Leben, Gesundheit, Harmonie, u. s. w. die ihrer Natur und Beschaffenheit nach nicht länger dauren können, als die Zusammensetzungen, von denen sie unzertrennlich sind. Reichet die Kunst des Baues hin, Pflanzen und Tieren Leben und Gesundheit zu geben, so kann eine höhere Kunst vielleicht dem Tiere Empfindung, und dem Menschen Vernunft verleihen. Wir Blödsinnigen begreifen jenes so wenig, als dieses. Des geringsten Blättchens kunstreiche Bil|  iii.1: 81–82  ¦ 94–96

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dung übersteigt alle menschliche Vernunft, enthält Geheimnisse, die des Fleißes und der Scharfsinnigkeit unserer spätesten Nachkommen noch spotten werden : und wir wollen vorschreiben, was durch die Organisation erhalten werden kann, und was nicht ? Wollen wir der Allmacht oder der Weisheit des Schöpfers Grenzen setzen ? Eines von beiden, dächte ich, müssen wir notwendig, wenn unsere Nichtigkeit entscheiden soll, ¦ dass die Kunst des Allmächtigen selbst kein Vermögen zu empfinden und zu denken durch die Bildung der feinsten Materie hervor bringen könne. Du siehst, mein lieber Sokrates ! was deinen Schülern zur völligen unwankenden Überzeugung noch fehlet. Ist die Seele beim Leben etwas, das der Allmächtige außer dem Körper und seiner Bildung geschaffen und mit ihm verbunden hat : so hat es seine Richtigkeit, dass die Seele auch nach dem Tode fortdauren und Vorstellungen | haben müsse ; allein wer leistet für jenes die Gewähr ? die Erfahrung scheinet vielmehr das Gegenteil auszusagen. Das Vermögen zu denken wird gebildet mit dem Körper, wächst mit demselben, und leidet mit demselben ähnliche Veränderungen. Jede Krankheit in dem Körper wird von Schwäche, Zerrüttung oder Unvermögen in der Seele begleitet. Vornehmlich stehen die Verrichtungen des Gehirns und der Eingeweide in so genauer Verbindung mit der Wirksamkeit des Denkungsvermögens, dass man sehr geneigt ist, beide aus einer Quelle herzuleiten, und also das Unsichtbare durch das Sichtbare zu erklären ; so wie man Licht ¦ und Wärme einer einzigen Ur­sache zuschreibt, weil sie in ihren Veränderungen so sehr überein­ stimmen.“ Simmias schwieg, und Cebes ergriff das Wort. „Unser Freund Simmias“, sprach er, „scheinet nur das sicher besitzen zu wollen, was ihm versprochen worden, ich aber, mein lieber Sokrates ! möchte gern mehr haben, als du uns zugesagt. Wenn deine Beweise auch wider alle Einwürfe geschützet werden, so folget doch nichts mehr aus denselben, als dass unsere Seele nach dem Hintritt unsers Körpers fortdauret und Vorstellungen hat ; aber wie fortdauret ? vielleicht so, wie sie im Schwindel, in einer Ohn|  iii.1: 82–83  ¦ 96–98

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macht, oder im Schlafe fortdauret. Die Seele des Schlafenden muss nicht ganz ohne Begriffe sein ; die Gegenstände umher müssen durch schwächere Eindrücke auf seine Sinne wirken, und in seiner Seele wenigstens schwache Empfindungen erregen, sonst würden stärkere und stärkere Eindrücke ihn nicht aufwecken können.* Aber was sind dieses für Be ¦ g riffe ? Ein dunkles Gefühl ohne Bewusstsein, ohne Erinnerung, ein vernunftloser Zustand, in welchem wir uns des Vergangenen nicht erinnern, und dessen wir uns auch in Zukunft nie wieder besinnen. Sollte nun unsere Seele mit der Trennung von dem Leibe in eine Art von Schlaf oder Hinbrüten versinken, und nie wieder auf­wachen, was hätten wir durch ihre Fortdauer gewonnen ? Ein vernunftloses Dasein ist von der Unsterblichkeit, die du hoffest, noch weiter entfernt, als die Glückseligkeit der Tiere von der Glückseligkeit eines Gott erkennenden Geistes. Wenn das, was ihm nach dem † Tode † widerfähret, uns angehen, und schon hienieden Furcht oder Hoffnung in uns erregen soll : so müssen wir selbst, die wir uns allhier unser bewusst sind, noch in jenem Leben dieses Selbstgefühl behalten, und uns des Gegenwärtigen erinnern | können. Wir müssen das, was wir sein werden, mit dem, was wir jetzt sind, vergleichen, und darüber urteilen können. Ja, wo ich dich recht verstanden, mein lieber Sokrates ! so erwartest du nach dem Tode ein besseres Leben, eine größere Erleuchtung des Verstandes, edlere und erhabnere Bewegungen des Herzens, als dem beglücktesten ¦ Sterblichen auf Erden zu Teile worden : worauf gründet sich diese schmeichelnde Hoffnung ? Der Mangel alles Bewusstseins ist für unsere Seele, wenigstens für eine kurze Zeit, ein nicht unmöglicher Zustand : hievon überzeugt uns die tägliche Erfahrung. Wie, wenn ein solcher nach dem Tode in Ewigkeit fortdauren sollte ? *  Wenn mächtige Eindrücke lebhafte Empfindungen erregen ; so

müssen die schwächsten selbst nicht ohne Wirkung sein ; sondern Empfindungen veranlassen, die nur dem Grade der Lebhaftigkeit von jenen unterschieden sind. † Tode ]  fehlt in Druck 1769  |  iii.1: 83–84  ¦ 98–100

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Zwar hast du uns vorhin gezeigt, dass alles Veränderliche unaufhörlich verändert werden müsse, und aus dieser Lehre leuchtet ein Strahl der Hoffnung, dass meine Besorgnis ungegründet sei. Denn, wenn die Reihe der Veränderungen, die unserer Seele bevorstehen, ins Unendliche fortgehen, so ist höchst wahrscheinlich, dass sie nicht bestimmt sei, in Ewigkeit fort zu sinken, und von ihrer göttlichen Schönheit immer mehr und mehr zu verlieren ; sondern dass sie sich, wenigstens mit der Zeit, auch erheben und die Stufe wieder einnehmen werde, auf welcher sie schon in der Schöpfung gestanden, nämlich eine Betrachterin der Werke Gottes zu sein. Und mehr als einen hohen Grad der Wahrscheinlichkeit braucht es nicht, uns in der Vermutung zu bestärken, dass dem Tugendhaften ein besseres Leben bevorstehet. ¦ Indessen, mein lieber Sokrates ! wünsche ich auch diesen Punkt von dir berühret zu sehen, weil ich weiß, dass alle Worte, die du heute sprichst, sich tief in meine Seele eingraben, und von unauslöschlichem Andenken sein werden.“ Wir hörten alle aufmerksam zu, und, wie wir uns nachher ge­standen, nicht ohne Unwillen, dass man uns eine Lehre zweifelhaft und ungewiss machte, von welcher wir so sehr überzeugt zu sein glaubten. Nicht nur diese Lehre, sondern alles, was wir wuss­ten und glaubten, schien uns damals ungewiss und schwankend zu werden, da wir sahen, dass entweder wir die Gabe nicht besitzen, Wahrheit vom Irrtum zu unterscheiden, oder dass sie an und für sich selbst nicht zu unterscheiden sein müssten.

ECHEKRATES  Mich wundert dieses auf keinerlei Weise, mein lieber Phädon ! dass ihr so dachtet : mir selbst ward, indem ich dir zuhörte, nicht | anders zu Mute. Die Gründe des Sokrates hatten mich völlig überführt, und ich schien versichert, dass ich sie niemals würde in Zweifel ziehen können ; allein des Simmias Einwurf ¦ macht mich wieder zweifelhaft, und ich er­innere mich, dass ich vormals eben der Meinung gewesen, dass die Kraft zu denken eine Eigenschaft des Zusammengesetzten sein, und ihren Grund in einer feinen Organisation oder Harmonie der |  iii.1: 84–85  ¦ 100–102

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Teile haben könne. Aber sage mir, lieber Phädon ! wie hat Sokrates diese Einwürfe aufgenommen ? ward er so verdrießlich darüber, als ihr, oder begegnete er ihnen mit seiner gewöhn­lichen Sanftmut ? und hat seine Antwort euch Gnüge getan, oder nicht ? Ich möchte dieses alles gern so umständlich als möglich von dir vernehmen. PHÄDON  Habe ich den Sokrates jemals bewundert, mein lieber Echekrates ! so war es gewiss bei dieser Gelegenheit. Dass er eine Widerlegung in Bereitschaft hatte, ist eben nichts unerwartetes von ihm. Was mir bewundernswürdig schien, war erstlich, die Gütigkeit, Freundlichkeit und Sanftmut, womit er das Vernünfteln dieser jungen Leute aufgenommen ; so dann wie schnell er gemerkt, was für Eindrücke die Einwürfe auf uns gemacht, wie er uns zu Hilfe eilete, wie er uns gleichsam von der Flucht zurück rief, ¦ zur Gegenwehr aufmunterte, und selbst zum Streite anführte. ECHEKRATES   Wie war dieses ? PHÄDON  Das will ich dir erzählen. Ich saß ihm zur Rechten, neben dem Bette, auf einem niedrigen Sessel, er aber etwas höher, als ich. Er ergriff mein Haupt, und streichelte mir die Haare, die in den Nacken herunter hangen ; wie er denn gewohnt war, zuweilen mit meinen Locken zu spielen : „Morgen“, sprach er, „Phädon ! dürftest du wohl diese Locken auf das Grab eines Freundes streuen.“ – „Allem Ansehen nach“, erwiderte ich. – „O ! tue es nicht“, versetzte er. – „Warum denn das ?“ fragte ich. – „Noch heute“, fuhr er fort, „müssen wir beide unser Haar abschneiden, wenn unser schönes Lehrgebäude so dahin stirbt, und wir nicht im Stande sind, es wieder aufzuwecken. Und wenn | ich an deiner Stelle wäre, und man hätte mir eine solche Lehre zu Grunde gerichtet : so würde ich, wie jener Argiver, ein Gelübde tun, nicht eher mein Haupthaar wieder wachsen zu lassen, bis ich des Sim ¦ m ias und Cebes Gegengründe besiegt hätte.“ – „Man pflegt zu sagen“, sprach ich : „Herkules selbst richtet wider zween nichts aus.“ – „So rufe denn, weil es noch helle ist, mich deinen Jolaus, zu Hilfe“, versetzte er.49 – „Gut !“ sprach ich, „ich will dich zu Hilfe rufen ; aber nicht wie Herkules seinen |  iii.1: 85–86  ¦ 102–104

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Jolaus, sondern wie Jolaus den Herkules.“ – „Das tut nichts zur Sache“, erwiderte er. „Vor allen Dingen müssen wir uns vor einem gewissen Fehltritt in acht nehmen.“ – „Vor welchem ? “ fragte ich. – „Dass wir nicht Vernunfthasser werden“, sprach er, „so wie gewisse Leute Menschenhasser werden. Kein größeres Unglück könnte uns widerfahren ! – Der Vernunfthass und der Menschenhass pflegen auf eine ähnliche Weise zu entstehen. Der Menschenhass nämlich entstehet insgemein, wenn man Anfangs ein blindes Vertrauen in Jemanden setzet, und ihn in allen Stücken für einen getreuen, aufrichtigen, und rechtschaffenen Menschen hält, sodann aber erfähret, dass er weder aufrichtig noch rechtschaffen sei ; besonders wenn uns dieses zu wiederholten malen, und so gar in Ansehung derer begegnet, die wir für unsere besten und vertrautesten Freunde gehalten. Alsdann wird man missver ¦ gnügt, wirft seinen Hass auf alle Menschen ohne Unterschied, und trauet Niemanden mehr die mindeste Rechtschaffenheit zu. Hast du nicht bemerkt, dass es also zu gehen pflegt ? “ – „Sehr oft“, antwortete ich. – „Ist dieses aber nicht schändlich ? und heißt es nicht, ohne die geringste Einsicht in die menschliche Natur, von der menschlichen Gesellschaft Nutzen haben wollen ? Wer nicht ganz ohne Nachdenken ist, findet hierin gar leicht die Mittelstraße, die in der Tat auch die Wahrheit für sich hat. Der vollkommen guten oder bösen Menschen sind nur sehr wenige. Die mehresten halten ungefähr das Mittel zwischen beiden Grenzen : –“ – „Wie sagst du ? “ fragte ich. – „So wie etwa“, sprach er, „in Ansehung des Größten und Kleinsten, oder der übrigen Eigenschaften. Was ist seltner, als ein Mensch, Hund oder anderes Geschöpf, das sehr groß oder sehr klein, sehr schnell oder sehr langsam, außerordentlich schön, hässlich, schwarz, weiß, u. s. w. sei ? Und hast du nicht auch bemerkt, dass in allen diesen Dingen das Äußerste an beiden Seiten wenig und selten, das Mittelmäßige hingegen am allerhäufigsten angetrof |fen wird ? “ – „Mich dünkt es“, sprach ich. – „Meinest du nicht“, versetzte er, „wenn auf ¦ die äußerste Nichtswürdigkeit ein Preis gesetzt würde, dass sehr wenige Menschen denselben verdienen würden ? “ – „Wahrscheinlicher |  iii.1: 86–87  ¦ 104–106

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Weise“, antwortete ich. – „Höchst wahrscheinlicher Weise“, fuhr er fort. „Jedoch in diesem Punkte findet sich zwischen der Vernunft und zwischen dem menschlichen Geschlechte vielmehr eine Unähnlichkeit, als eine Ähnlichkeit : und ich bin durch deine Fragen auf diesen Abweg verleitet worden. Die Ähnlichkeit ist aber alsdann zu sehen, wann Jemand, ohne gehörige Untersuchung, und ohne Einsicht in die Natur der menschlichen Vernunft, irgend einen Schluss für wahr und bündig hält, und kurz darauf ihn wiederum unwahr zu finden glaubt, er möchte es nun an und für sich selbst sein, oder nicht : – vornehmlich wenn dieses, so wie vorhin in Ansehung der Freundschaft, sich öfters zugetragen. Alsdann ergehet es ihm, wie jenen berüchtigten Tausendkünstlern, die so lange was man nur will, verfechten und widerlegen, bis sie sich einbilden, die Weisesten unter den Sterblichen, ja die einzigen zu sein, die da wahrgenommen, dass die Vernunft, so wie alle übrigen Dinge auf Erden, nichts Sicheres und Zuverlässiges habe ; sondern dass alles, wie auf dem Euripus50, im ¦ Meerstrudel auf und nieder schwanke, und keinen Augenblick an seiner vorigen Stelle bleibe.“ – „Es ist wahr“, sagte ich. – „Wie aber, mein lieber Phädon !“ fuhr er fort : „gesetzt, die Wahrheit sei an und für sich nicht nur zuverlässig und unveränderlich, sondern auch dem Menschen nicht ganz unerforschlich : und es ließe sich jemand von dergleichen Vorspiegelungen von Gründen und Gegengründen, die sich einander aufheben, dahin verleiten, dass er nicht sich und seiner Unfähigkeit die Schuld gäbe, sondern aus Unwillen sie lieber der Vernunft selbst zur Last legte, und die übrige Zeit seines Lebens alle Vernunftgründe hassete und verabscheuete, alle Wahrheit und alle Erkenntnis ferne von sich sein ließe : wäre das Unglück dieses Menschen nicht bejammernswert ? “ – „Beim Jupiter !“ antwortete ich, „sehr bejammernswert.“ – „Wir müssen also fürs erste diesen Irrtum zu vermeiden, und uns zu überzeugen suchen, dass nicht die Wahrheit selbst ungewiss und schwankend, sondern unser Verstand öfters zu schwach sei, dieselbe feste zu halten, und sich ihrer zu bemeistern ; daher wir unsere Kräfte und unsern Mut verdoppeln und immer neue Angriffe wagen m ­ üssen. |  iii.1: 87  ¦ 106–107

Zweites Gespräch

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Wir alle sind dazu verpflichtet, meine Freunde ! Ihr ¦ des bevorstehenden Lebens, | und ich des Todes halber ; ja, ich habe so gar einen Bewegungsgrund dazu, der ziemlich, nach gemeiner, unwissenden Leute Denkungsart, mehr rechtsüchtig, als wahrliebend scheinen dürfte. Wenn diese etwas Zweifelhaftes zu untersuchen haben, so bekümmern sie sich wenig, wie die Sache an sich selber beschaffen sei, wenn sie nur Recht und ihre Meinungen von den Anwesenden Beifall erhalten. Ich werde von diesen Leuten nur in einem Punkte unterschieden sein. Denn dass ich die Anwesenden von meiner Meinung überführe, ist bei mir nur eine Nebenabsicht ; meine vornehmste Sorge gehet dahin, mich selbst zu bereden, dass sie der Wahrheit gemäß sei, weil ich gar zu großen Vorteil dabei finde. Denn siehe, liebster Freund ! ich mache folgenden Schluss : Ist die Lehre, die ich vortrage, gegründet, so tue ich wohl, dass ich mich davon überzeuge ; ist aber den Verstorbenen keine Hoffnung mehr übrig, so gewinne ich wenigstens dieses, dass ich meinen Freunden noch vor meinem Tode nicht durch Klagen beschwerlich falle. Ich ergetze mich zuweilen an dem Gedanken, dass alles, was dem gesamten menschlichen Geschlechte wirklichen Trost und Vorteil bringen ¦ würde, wenn es wahr wäre, schon deswegen sehr viel Wahrscheinlichkeit für sich habe, dass es wahr sei. Wenn die Zweifelsüchtigen wider die Lehre von Gott und der Tugend vorwenden, sie sei eine bloße politische Erfindung, die zum Besten der menschlichen Gesellschaft erdacht worden : so möchte ich ihnen allezeit zurufen : O ! meine Freunde ! erdenket einen Lehrbegriff, welcher der menschlichen Gesellschaft so unentbehrlich ist, und ich wette dass er wahr sei. Das mensch­ liche Geschlecht ist zur Geselligkeit, so wie jedes Glied zur Glückseligkeit berufen. Alles, was auf eine allgemeine, sichere und beständige Weise zu diesem Endzwecke führen kann, ist unstreitig von dem weisesten Urheber aller Dinge als ein Mittel gewählt, und hervorgebracht worden. Diese schmeichelhafte Vorstellungen haben ungemein viel Tröstliches, und zeigen uns das Verhältnis zwischen dem Schöpfer und dem Menschen in dem erquickendsten Lichte : daher ich nichts so sehr wünsche, |  iii.1: 87–88  ¦ 107–109

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als mich von der Wahrheit derselben zu überzeugen. Jedoch, es wäre nicht gut, wenn meine Unwissenheit hierüber noch lange dauren sollte. Nein ! ich werde bald davon befreiet werden. – In dieser Verfassung, Simmias und Cebes ! wen ¦ de ich mich zu euren Einwürfen. Ihr, meine Freunde ! wenn ihr meinem Rate folgen wollet, so sehet mehr auf die Wahr | heit, als auf den Sokrates. Findet ihr, dass ich der Wahrheit getreu bleibe, so gebt mir Beifall ; wo nicht, so widersetzet euch ohne die geringste Nachsicht : damit ich nicht, aus gar zu guter Meinung, euch und mich selbst hintergehe, und wie eine Biene, die ihren Stachel zurück lässt, von euch scheide. – Wohlan, meine Freunde ! merket auf, und erinnert mich, wo ich etwas von euren Gründen auslassen, oder unrichtig vortragen würde. Simmias räumet ein, dass unser Denkungsvermögen entweder für sich geschaffen sein, oder durch die Zusammensetzung und Bildung des Körpers hervorgebracht werden muss : Nicht ?“ – „Richtig !“ – „In dem ersten Falle, wenn die Seele nämlich als ein für sich geschaffenes unkörperliches Ding zu betrachten ist, billiget er ferner die Reihe von Vernunftschlüssen, durch welche wir bewiesen, dass sie nicht mit dem Körper aufhören, durchaus nicht anders vergehen könne, als durch den allmächtigen Wink ihres Urhebers. Wird dieses noch zugegeben, oder stehet un ¦ ter euch jemand noch an ? “ – Wir stimmten alle willig ein. – „Und dass dieser allgütige Urheber kein Werk seiner Hände jemals zernichte : so viel ich mich erinnere, hat auch hieran Niemand gezweifelt.“ – „Niemand.“ – „Aber dieses befürchtet Simmias : Vielleicht ist unser Vermögen zu empfinden und zu denken kein für sich erschaffenes Wesen ; sondern, wie die Harmonie, wie die Gesundheit, oder wie das Leben der Pflanzen und der Tiere, die Eigenschaft eines künstlich gebildeten Körpers : war es nicht dieses, was du besorgtest ? “ – „Eben dieses, mein Sokrates !“ – „Wir wollen sehen“, sprach er, „ob dasjenige, was wir von unserer Seele wissen, und, so oft wir wollen, erfahren können, nicht deine Besorgnis unmöglich machet. Was geschiehet bei der künstlichsten Bildung oder Zusammensetzung der Dinge ? werden da nicht gewisse Dinge näher zusam|  iii.1: 88–89  ¦ 109–111

Zweites Gespräch

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mengebracht, die vorhin von einander entfernet waren ? “ – „Allerdings !“ – „Sie sind vorhin mit andern in Verbindung gewesen, und nunmehr werden sie unter sich verbunden, und machen die Bestandteile des Ganzen aus, das wir ein Zusammengesetztes nennen ?“ – „Gut !“ – „Durch diese Verbindung der Teile entstehet erstlich in der Art und Weise, wie diese ¦ Bestandteile neben einander sind, eine gewisse Ordnung, die mehr oder weniger vollkommen ist.“ – „Richtig !“ – „Sodann werden auch die Kräfte und Wirksamkeiten der Bestandteile durch die Zusammensetzung mehr oder weniger verwandelt, nachdem sie durch | Wirkung und Gegenwirkung bald gehemmet, bald befördert, und bald in ihrer Richtung verändert werden : Nicht ? “ – „Es scheinet.“ – „Der Urheber einer solchen Zusammensetzung siehet bald einzig und allein auf das Nebenein­ andersein der Teile : Z. B. bei der Wohlgereimtheit und dem Ebenmaß in der Baukunst, wo nichts als diese Ordnung des Nebeneinanderseienden in Betrachtung kommt ; bald hingegen gehet seine Absicht auf die veränderte Wirksamkeit der Bestandteile, und die daraus erfolgte Kraft des Zusammengesetzten, wie bei einigen Triebwerken und Maschinen ; ja es gibt dergleichen, wo man deutlich siehet, dass der Künstler sein Absehen auf beides, auf die Ordnung der Teile und auf die Abänderung ihrer Wirksamkeit zugleich gerichtet hat.“ – „Der menschliche Künstler“, sprach Simmias, „vielleicht etwas selten, aber der Urheber der Natur scheinet diese Absichten allezeit auf das allervollkommenste ¦ verbunden zu haben.“ – „Vortrefflich“, versetzte Sokrates ; „jedoch ich verfolge diese Nebenbetrachtung nicht weiter. Sage mir nur dieses, mein Simmias ! kann durch die Zusammensetzung eine Kraft im Ganzen entstehen, die nicht in der Wirksamkeit der Bestandteile ihren Grund hat ? “ – „Wie meinst du ? mein Sokrates !“ – „Wenn alle Teile der Materie, ohne Wirkung und Widerstand, in einer toten Ruhe nebeneinander lägen, würde die künstlichste Ordnung und Versetzung derselben, im Ganzen irgend eine Bewegung, einen Widerstand, überhaupt eine Kraft hervor bringen können ? “ – „Es scheinet nicht“, antwortete Simmias ; „aus unwirksamen Teilen kann wohl kein |  iii.1: 89–90  ¦ 111–113

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wirksames Ganzes zusammengesetzt werden.“ – „Gut !“ sprach er, „wir können diesen Grundsatz also annehmen. Allein wir bemerken gleichwohl, dass in dem Ganzen Übereinstimmung und Ebenmaß angetroffen werden kann, ob gleich jeder Bestandteil für sich weder Harmonie, noch Ebenmaß hat : wie gehet dieses zu ? Kein einzelner Laut ist harmonisch : und gleichwohl machen viele zusammen eine Harmonie aus. Ein wohlgeordnetes Gebäude kann aus Steinen bestehen, die weder Ebenmaß noch Regelmäßigkeit haben. Warum ¦ kann ich hier aus unharmonischen Teilen ein harmonisches Ganzes, aus regellosen Teilen ein höchst regelmäßiges Ganzes zusammensetzen ? “ – „O ! dieser Unterschied ist handgreiflich“, versetzte Simmias, „Ebenmaß, Harmonie, Regelmäßigkeit, Ordnung, u. s. w. können, ohne Mannigfaltigkeit, nicht gedacht werden : denn sie bedeuten das Verhältnis verschiedener Ein | d rücke, wie sie sich uns, zusammengenommen, und in Vergleichung gegen einander, darstellen. Es gehört also zu diesen Begriffen ein Zusammennehmen, eine Vergleichung mannigfaltiger Eindrücke, die zusammen ein Ganzes ausmachen, und sie können daher den einzelnen Teilen unmöglich zukommen.“ – „Fahre fort, mein lieber Simmias !“ rief Sokrates mit einem innern Wohlgefallen über die Scharfsinnigkeit seines Freundes ; „sage uns auch dieses : Wenn jeder einzelne Laut nicht einen Eindruck in das Gehör machen sollte, würde aus vielen wohl eine Harmonie entstehen können ? “ – „Unmöglich !“ – „So auch mit dem Ebenmaße : Jeder Teil muss in das Auge wirken, wenn aus vielen das, was wir Ebenmaß nennen, entstehen soll.“ – „Notwendiger Weise.“ – „Wir sehen also auch hier, dass im Ganzen keine Wirksamkeit entstehen kann, wo ¦ von der Grund nicht in den Bestandteilen anzutreffen, und dass alles übrige, was aus den Eigenschaften der Elemente und Bestandteile nicht fließt, wie die Ordnung, Symmetrie, u. s. w. einzig und allein in der Art der Zusammensetzung zu suchen sei. Sind wir von diesem Satze überzeugt, meine Freunde ? “ – „Vollkommen.“ – „Es kommt also bei jeder, auch der allerkünstlichsten Zusammensetzung der Dinge, zweierlei zu betrachten vor : erstlich, die Folge und Ordnung der |  iii.1: 90–91  ¦ 113–115

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Bestandteile in der Zeit oder im Raume ; sodann, die Verbindung der ursprünglichen Kräfte, und die Art und Weise, wie sie sich im Zusammengesetzten äußern. Durch die Anordnung und Lage der Teile werden zwar die Wirkungen der einfachen Kräfte eingeschränkt, bestimmt und abgeändert, aber niemals kann durch die Zusammensetzung eine Kraft oder Wirksamkeit erhalten werden, deren Ursprung nicht in den Grundteilen zu suchen ist. Ich verweile mich hier ein wenig bei diesen subtilen Grundbetrachtungen, meine Freunde ! wie ein Wettläufer, der zu verschiedenen malen ansetzt, um alsdann mit vermehrtem Triebe fortzueilen, sich um das Ziel herum zu schwenken, und, wenn ihm die Götter Glück und Ruhm beschieden, den Sieg davon zu tragen. ¦ Erwäge es mit mir, mein lieber Simmias ! wenn unser Vermögen zu empfinden und zu denken kein für sich erschaffenes Wesen, sondern eine Eigenschaft des Zusammengesetzten sein soll : muss es nicht entweder, wie Harmonie und Ebenmaß, aus einer gewissen Lage und Ordnung der Teile erfolgen, oder, wie die Kraft des Zusammengesetzten, seinen Ursprung in der Wirksamkeit der Bestandteile haben ? “ – | „Allerdings, da, wie wir gesehen, kein Drittes sich gedenken lässt.“ – „In Ansehung der Harmonie haben wir gesehen, dass z. B. jeder einzelne Laut nichts Harmonisches hat, und die Übereinstimmung bloß in Gegeneinanderhaltung und Vergleichung verschiedener Laute bestehe : Nicht ? “ – „Richtig !“ – „Eine gleiche Bewandnis hat es mit der Symmetrie und Regelmäßigkeit eines Gebäudes : sie bestehet in der Zusammenfassung und Vergleichung vieler einzelnen unregelmäßigen Teile.“ – „Dieses ist nicht zu leugnen.“ – „Aber diese Vergleichung und Gegenein­ anderhaltung, ist sie wohl etwas anders, als die Wirkung des Denkungsvermögens ? und wird sie, außer dem denkenden Wesen, irgendwo in der Natur anzutreffen sein ? “ – Simmias wusste nicht, was er hierauf antworten sollte. – „In der undenkenden Natur“, fuhr ¦ Sokrates fort, „folgen einzelne Laute, einzelne Steine auf und neben einander. Wo ist hier Harmonie, Symmetrie, oder Regelmäßigkeit ? Wenn kein denkendes Wesen hinzukommt, das die mannigfaltigen Teile zusammennimmt, |  iii.1: 91–92  ¦ 115–117

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gegeneinander hält, und in dieser Vergleichung eine Übereinstimmung wahrnimmt, so weiß ich sie nirgend zu finden ; oder weißt du, mein lieber Simmias ! in der seelenlosen Natur ihre Spur aufzusuchen ? “ – „Ich muss mein Unvermögen bekennen“, war seine Antwort, „ob ich gleich merke, wohin dieses abzielet.“ – „Eine glückliche Vorbedeutung !“ rief Sokrates, „wenn den Gegner selbst seine Niederlage ahndet. Antworte mir indessen unverdrossen, mein Freund ! denn du hast keinen geringen Teil an dem Siege, den wir über dich selbst zu erhalten hoffen : Kann der Ursprung einer Sache aus ihren eignen Wirkungen erkläret werden ? “ – „Auf keinerlei Weise.“ – „Ordnung, Ebenmaß, Harmonie, Regelmäßigkeit, überhaupt alle Verhältnisse, die ein Zusammennehmen und Gegeneinanderhalten des Mannigfaltigen erfordern, sind Wir ¦ kungen des Denkungsvermögens. Ohne Hinzutun des denkenden Wesens, ohne Vergleichung und Gegeneinanderhaltung der mannigfaltigen Teile ist das regel­ mäßigste Gebäude ein bloßer Sandhaufen, und die Stimme der Nachtigall nicht harmonischer, als das Ächzen der Nachteule. Ja ohne diese Wirkung gibt es in der Natur kein Ganzes, das aus vielen außer einander seienden Teilen bestehet ; denn diese Teile haben ein jedes sein eignes Dasein, und sie müssen gegen ein­ ander gehalten, verglichen, und in Verbindung betrachtet werden, wenn sie ein Ganzes ausmachen sollen. Das denkende Vermögen, und dieses allein in | der ganzen Natur, ist fähig, durch eine innerliche Tätigkeit Vergleichungen, Verbindungen und Gegeneinanderhaltungen wirklich zu machen : daher der  Ur­sprung alles Zusammengesetzten, der Zahlen, Größen, Symmetrie, Har­monie u. s. w. in so weit sie ein Vergleichen und Gegeneinanderhalten erfordern, einzig und allein in dem denkenden Vermögen zu suchen sein muss. Und da dieses zugegeben wird, so kann ja dieses Denkungsvermögen selbst, diese Ursache aller Vergleichung und Gegeneinanderhaltung, unmöglich aus diesen ihren eigenen Verrichtungen entspringen, unmöglich in einer Ver ¦ hältnis, Harmonie, Symmetrie, unmöglich in einem Ganzen bestehen, das aus außereinander seienden Teilen zusammengesetzt ist : denn alle diese Dinge setzen die Wirkungen und |  iii.1: 92–93  ¦ 117–119

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Verrichtungen des denkenden Wesens voraus, und können nicht anders, als durch dieselben, wirklich werden.“ – „Dieses ist sehr deutlich“, versetzte Simmias. – „Da ein jedes Ganzes, das aus Teilen, die außer einander sind, bestehet, ein Zusammennehmen und Vergleichen dieser Teile zum voraus setzet, dieses Zusammennehmen und Vergleichen aber die Verrichtung eines Vorstellungsvermögens sein muss : so kann ich den Ursprung dieses Vorstellungsvermögens selbst nicht in ein Ganzes setzen, das aus solchen auseinanderseienden Teilen bestehet, ohne eine Sache durch ihre eigenen Verrichtungen entstehen zu lassen. Und eine solche Ungereimtheit haben die Fabeldichter selbst, so viel ich weiß, noch niemals gewagt. Niemand hat noch den Ursprung einer Flöte in das Zusammenstimmen ihrer Töne, oder den Ursprung des Sonnenlichts in den Regenbogen gesetzt.“  – „Wie ich vermerke, mein lieber Sokrates ! ist nunmehro auch der Überrest unsers Zweifels dahin.“ – „Er verdie ¦ net indessen besonders erwogen zu werden“, erwiderte jener, „wenn ich anders durch diese dornigten Untersuchungen eure Geduld nicht ermüde.“ – „Wage es immer, Freund !“ rief ihm Kriton zu, „auch die Geduld dieser auf die Probe zu setzen. Du hast der meinigen wenigstens nicht geschonet, als ich auf die Ausführung eines Vorschlages drang –“ – „Nichts von einer Sache“, fiel ihm Sokrates in das Wort, „die nunmehr ihre zuverlässige Richtigkeit hat. Wir haben hier Dinge zu untersuchen, die noch dem Zweifel unterworfen zu sein scheinen. Zwar dieses nicht mehr, dass unser Vermögen zu empfinden und zu denken in der Lage, Bildung, Ordnung und Harmonie der körperlichen Bestandteile zu suchen sein sollte : dieses haben | wir, ohne weder der Allmacht noch der Weisheit Gottes zu nahe zu treten, als unmöglich verworfen. Aber vielleicht ist dieses denkende Vermögen eine von den Tätigkeiten des Zusammengesetzten, wie die Kraft der Bewegung, der Ausdehnung, des Zusammenhängens u. s. w. die von der Lage und Bildung der Teile wesentlich unterschieden, und dennoch nirgend anders, als im Zusammengesetzten, anzutreffen sind ? Ist dieses nicht der einzige ¦ Überrest des Zweifels, den wir bestreiten ? mein werter Simmias !“ – |  iii.1: 93–94  ¦ 119–121

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„Richtig !“ – „Wir wollen also diesen Fall setzen“, fuhr Sokrates fort, „und annehmen, unsere Seele sei eine Wirksamkeit des Zusammengesetzten. Wir haben gefunden, dass alle Wirksamkeiten des Zusammengesetzten aus den Kräften der Bestandteile fließen müssen : werden also, nach unserer Voraussetzung, die Bestandteile des denkenden Körpers nicht Kräfte haben müssen, aus denen im Zusammengesetzten das Vermögen zu denken resultieret ? “ – „Allerdings !“ – „Aber die Kräfte dieser Bestandteile, von welcher Natur und Beschaffenheit wollen wir sie annehmen ? sollen sie der denkenden Tätigkeit ähnlich oder unähnlich sein ? “ – „Diese Frage begreife ich nicht recht“, war Simmias Antwort. – „Eine einzelne Silbe“, sprach Sokrates, „hat mit der ganzen Rede dieses gemein, dass sie vernehmlich ist ; aber die ganze Rede hat einen Verstand, die Silbe keinen : Nicht ? “ – „Richtig !“ – „Indem also nur jede Silbe ein zwar vernehmliches, aber verstandleeres Gefühl erregt, so entspringet aus ihrem Inbegriffe dennoch ein verständiger Sinn, der auf unsere Seele wirkt. Allhier entspringt die Wirksamkeit des Ganzen aus den ¦ Kräften der Teile, die ihnen unähnlich sind.“ – „Dieses lässt sich begreifen.“ – „In Ansehung der Harmonie, Ordnung und Schönheit haben wir ein gleiches wahrgenommen. Das Wohlgefallen, das sie in der Seele wirken, entspringet aus den Eindrücken der Bestandteile, deren jeder weder Wohlgefallen noch Missfallen erregen kann.“ – „Gut !“ – „Abermals ein Beispiel, dass die Tätigkeit des Ganzen aus Kräften der Bestandteile, die ihnen unähnlich sind, entspringen könne.“ – „Ich gebe es zu.“ – „Ich weiß nicht, ob ich nicht vielleicht zu weit gehe, mein Freund ! aber ich stelle mir vor, alle Tätigkeiten körper­ licher Dinge können aus solchen Kräften des Urstoffs entspringen, die ihnen ganz unähnlich sind. Die Farbe z. B. kann vielleicht in solche Eindrücke aufgelöset werden, die nichts gefärbtes haben, und die Bewegung selbst entspringet vielleicht aus ursprünglichen Kräften, die nichts weniger als Bewegung sind.“  – „Dieses würde einen Beweis erfordern“, sprach Simmias. – „Es ist | aber vorjetzt nicht nötig, dass wir uns hierbei aufhalten“, sprach jener, „es ist genug, dass ich durch Beispiele |  iii.1: 94–95  ¦ 121–122

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erläutere, was ich unter den Worten verstehe : die Wirksamkeit des Ganzen könne ¦ aus Kräften der Bestandteile, die ihnen unähnlich sind, entspringen. Ist dieses nunmehro deutlich ? “ – „Vollkommen !“ – „Nach unsrer Voraussetzung also würden die Kräfte der Bestandteile entweder selbst Vorstellungskräfte, und also der Kraft des Ganzen, die aus ihnen entspringen soll, ähnlich, oder von einer ganz andern Beschaffenheit, und daher unähnlich sein. Gibt es ein Drittes ? “ – „Unmöglich !“ – „Antworte mir aber auch auf dieses, mein Lieber ! Wenn aus einfachen Kräften eine von ihnen verschiedene Kraft im Zusammengesetzten entspringen soll, wo kann diese neuentstandene Kraft anzutreffen sein ? Außer dem denkenden Wesen sind die Kräfte des Ganzen nichts anders, als die einzelnen Kräfte der einfachen Bestandteile, wie sie sich durch Wirkungen und Gegenwirkungen einander abändern, und einschränken. Nun kann durch Wirkung und Gegenwirkung keine Kraft entspringen, die diesen Wirkungs- und Gegenwirkungskräften unähnlich sei. Wenn wir also etwas Unähnliches im Ganzen erhalten wollen, so müssen wir abermals unsere Zuflucht zu dem denkenden Wesen nehmen, das die Kräfte in Verbindung und zusammengenommen sich anders vorstellet, als sie dieselben ¦ einzeln und ohne Verbindung denken würde. Ein Beispiel hievon siehet man, außer der Harmonie, auch an den Farben. Bringet zwei verschiedene Farben in einen so kleinen Raum zusammen, dass sie das Auge nicht unterscheiden kann : so werden sie außer uns noch immer getrennet, und eine jede für sich bleiben ; aber unsere Empfindung wird sich gleichwohl aus derselben eine Dritte zusammensetzen, die mit jenen nichts gemein hat. Eine ähnliche Beschaffenheit hat es mit dem Geschmack, und, wo ich nicht irre, mit allen unsern Fühlungen und Empfindungen überhaupt. Sie können durch die Zusammensetzung und Verbindung zwar an und für sich nicht anders werden, als sie einzeln sind ; wohl aber dem denkenden Wesen, das sie nicht deutlich auseinander setzen kann, anders scheinen, als sie ohne Verbindung scheinen würden.“ – „Dieses kann zugegeben werden“, sprach Simmias. – „Kann also das denkende Wesen seinen Ursprung in einfachen |  iii.1: 95  ¦ 122–124

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Kräften haben, die nicht denkend sind ? “ – „Unmöglich ! da wir vorhin gesehen, dass das Vermögen zu denken in keinem Ganzen, das aus vielen bestehet, seinen Ursprung haben könne.“ – „Ganz recht !“ erwiderte Sokra ¦ tes : „das Zusammennehmen der einfachen Kräfte, aus welchen eine unähnliche Kraft des Zusammen | gesetzten entspringen soll, setzet ein denkendes Wesen zum voraus, dem sie in Verbindung anders scheinen, als sie sind ; daher kann aus diesem Zusammennehmen, aus dieser Verbindung unmöglich das denkende Wesen entspringen. Wenn also das Empfinden und Denken, mit einem Worte, das Vorstellen eine Kraft des Zusammengesetzten sein soll : müssen die Kräfte der Bestandteile nicht der Kraft des Ganzen ähnlich und folglich gleichfalls Vorstellungskräfte sein ?“ – „Wie wäre es anders möglich, nachdem es kein Drittes geben kann ?“ – „Und die Teile dieser Bestandteile, so weit nur immer die Teilbarkeit reichen kann, müssen diese nicht auch dergleichen Vorstellungstätig­keiten haben ? “ – „Unstreitig ! da jeder Bestandteil wieder ein Ganzes ist, das aus kleinern Teilen bestehet, und unsre Vernunftschlüsse so lange fortgesetzet werden können, bis wir auf Grundteile kommen, die einfach sind und nicht aus vielen bestehen.“  – „Sage mir, mein lieber Simmias ! finden wir nicht in unsrer Seele eine fast unendliche Menge von Begriffen, Erkenntnissen, Neigungen, ¦ Leidenschaften, die uns unaufhörlich beschäftigen ?“ – „Allerdings !“ – „Wo wären diese in den Teilen anzutreffen ? Entweder zerstreuet, einige in diesem, andere in jenem, ohne jemals wiederholt zu werden ; oder es gibt wenigstens ein einziges unter ihnen, das alle diese Erkenntnisse, Begierden und Abneigungen, so viel ihrer in unsrer Seele anzutreffen, vereiniget und in sich fasset.“ – „Notwendig eines von beiden“, gab Simmias zur Antwort, „und wie mich dünkt dürfte der erste Fall unmöglich sein : denn alle Vorstellungen und Neigungen unsers Geistes sind so innerlich verknüpft und vereiniget, dass sie notwendig auch irgend wo unzertrennt zugegen sein müssen.“ – „Du eilst mir mit starken Schritten entgegen, mein lieber Simmias ! Wir würden weder uns erinnern, noch überlegen, noch vergleichen, noch denken können, ja wir würden nicht einmal die Person sein, die |  iii.1: 95–96  ¦ 124–126

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wir vor einem Augenblick gewesen, wenn unsere Begriffe unter vielen verteilet und nicht irgend wo zusammen in ihrer genauesten Verbindung anzutreffen wären. Wir müssen also wenigstens eine Substanz annehmen, die alle Begriffe der Bestandteile vereiniget, und diese Substanz, wird sie ¦ aus Teilen zusammengesetzt sein können ? “ – „Unmöglich, sonst brauchen wir wieder ein Zusammennehmen und Gegeneinanderhalten, damit aus den Teilen ein Ganzes werde, und wir kommen wiederum dahin, wo wir ausgegangen sind.“ – „Sie wird also einfach | sein ? “ – „Notwendig.“ – „Auch unausgedehnt ? denn das Ausgedehnte ist teilbar, und das Teilbare nicht einfach.“ – „Richtig !“ – „Es gibt also in unserm Körper wenigstens eine einzige Substanz, die nicht ausgedehnt, nicht zusammengesetzt, sondern einfach ist, eine Vorstellungskraft hat, und alle unsere Begriffe, Begierden und Neigungen in sich vereiniget. Was hindert uns, diese Substanz Seele zu nennen ? “ – „Es ist gleichviel, vortrefflicher Freund !“ erwiderte Simmias, „welchen Namen wir ihr geben, genug dass mein Einwurf bei ihr nicht statt findet, und alle deine Vernunftschlüsse, die du für die Unvergänglichkeit des denkenden Wesens vorgebracht, nunmehr unumstößlich sind.“ – „Lasset uns noch dieses in Erwägung ziehen“, versetzte jener : „Wenn viele dergleichen Substanzen in einem menschlichen Körper zusammen wären, ja wenn wir alle Grundelemente unsers Körpers für Substanzen ¦ von dieser Natur halten wollten, würden meine Vernunftgründe für die Unvergänglichkeit dadurch etwas von ihrer Bündigkeit verlieren ? oder würde uns eine solche Voraussetzung nicht vielmehr nötigen, statt Eines unvergänglichen Geistes viele zu gestatten, und also mehr einzuräumen, als wir zu unserm Vorhaben verlangten ? Denn eine jede von diesen Substanzen würde, wie wir vorhin gesehen, den ganzen Inbegriff aller Vorstellungen, Wünsche und Begierden des ganzen Menschen in sich fassen, und also, was den Umfang der Erkenntnis betrifft, würde ihre Kraft nicht eingeschränkter sein können, als die Kraft des Ganzen.“ – „Unmöglich eingeschränkter.“ – „Und wie an Deutlichkeit, Wahrheit, Gewissheit und Leben der Erkenntnis ? Setze viele verworrene, mangelhafte und schwan|  iii.1: 96–97  ¦ 126–128

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kende Begriffe neben einander, wird dadurch ein aufgeklärter, vollständiger und bestimmter Begriff hervorgebracht ? “ – „Es scheinet nicht.“ – „Wo nicht ein Geist hinzu kommt, der sie vergleichet, und durch Nachdenken und Überlegen sich eine vollkommnere Erkenntnis aus derselben selbst bildet : so hören sie in Ewigkeit nicht auf, viele verworrene, mangelhafte und schwankende Begriffe zu ¦ sein.“ – „Richtig !“ – „Die Bestandteile der denkenden Materie würden also Vorstellungen haben müssen, die eben so deutlich, eben so wahr, eben so vollkommen sind, als die Vorstellungen des Ganzen ; denn aus weniger deutlichen, weniger wahren u. s. w. lässt sich keine Erkenntnis durch Zusammensetzen herausbringen, der einen größern Grad von diesen Vollkommenheiten haben sollte.“ – „Dieses ist nicht zu leugnen.“ – „Heißt aber dieses nicht, statt Eines | vernünftigen Geistes, den wir in jeden menschlichen Körper setzen wollten, ganz ohne Not eine unzählige Menge derselben annehmen ? “ – „Freilich !“ – „Und diese Menge der denkenden Substanzen selbst wird sich wahrscheinlicher Weise an Vollkommenheit einander nicht gleich sein ; denn dergleichen unnütze Vervielfältigungen finden in diesem wohl geordneten Weltall nicht statt.“  – „Die allerhöchste Vollkommenheit ihres Schöpfers“, antwortete Simmias, „lässt uns dieses mit Zuverlässigkeit schließen.“ – „Also wird eine unter den denkenden Substanzen, die wir in den menschlichen Körper gesetzt, die vollkommenste unter ihnen sein, und folglich die deutlichsten und aufgeklärtesten Begriffe haben : Nicht ? “ – „Notwendiger ¦ Weise !“ – „Diese einfache Substanz, die unausgedehnt ist, Vorstellungsvermögen besitzt, die vollkommenste unter den denkenden Substanzen ist, die in mir wohnen, und alle Begriffe, deren ich mir bewusst bin, in eben der Deutlichkeit, Wahrheit, Gewissheit, u. s. w. in sich fasset, ist dieses nicht meine Seele ? “ – „Nichts anders, mein teurer Sokrates !“ – „Mein lieber Simmias ! nunmehr ist es Zeit, einen Blick hinter uns auf den Weg zu werfen, den wir zurück gelegt. Wir haben voraus gesetzt, das Denkungsvermögen sei eine Eigenschaft des Zusammengesetzten, und, wie wunderbar ! aus dieser Voraussetzung selbst bringen wir, durch eine Reihe |  iii.1: 97–98  ¦ 128–130

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von Vernunftschlüssen, den schnurstracks entgegengesetzten Satz heraus, dass nämlich das Empfinden und Denken notwendig Eigenschaften des Einfachen und nicht Zusammengesetzten sein müssten : ist dieses nicht ein hinlänglicher Beweis, dass jene Voraussetzung unmöglich, sich selbst widersprechend, und also zu verwerfen sei ? “ – „Niemand kann dieses in Zweifel ziehen.“ – „Ausdehnung und Bewegung“, fuhr Sokrates fort, „in diese Grundbegriffe lässt sich, wie wir gesehen, alles auflösen, was dem Zusammenge ¦ setzten zukommen kann ; die Ausdehnung ist der Stoff, und die Bewegung die Quelle, aus welchen die Veränderungen entspringen. Beide zeigen sich in der Zusammensetzung unter tausend mannigfaltigen Gestalten, und stellen in der körperlichen Natur die unendliche Reihe wundervoller Bildungen dar, vom kleinsten Sonnenstäublein bis zu jener Herrlichkeit der himmlischen Sphären, die von den Dichtern für den Sitz der Götter gehalten werden. Alle kommen darin überein, dass ihr Stoff Ausdehnung, und ihre Wirksamkeit Bewegung ist. Aber Wahrnehmen, Vergleichen, Schließen, Begehren, Wollen, Lust und Unlust | empfinden, erfordern eine von Ausdehnung und Bewegung ganz verschiedene Bestandheit, einen andern Grundstoff, andere Quellen der Veränderung. In einem ein­ fachen Grundwesen muss hier vieles vorgestellet, das Ausereinanderseiende zusammen begriffen, das Mannigfaltige gegeneinander gehalten, und das Verschiedene in Vergleichung gebracht werden. Was in dem weiten Raum der Körperwelt zerstreuet ist, dränget sich hier, ein Ganzes auszumachen, wie in einem Punkt zusammen, und was nicht mehr ist, wird in dem gegenwärtigen Augenblick mit dem, was ¦ noch werden soll, in Vergleichung gebracht. Allhier erkenne ich weder Ausdehnung noch Farbe, weder Ruhe noch Bewegung, weder Raum noch Zeit, sondern ein innerlich wirksames Wesen, das Ausdehnung und Farbe, Ruhe und Bewegung, Raum und Zeit sich vorstellet, verbindet, trennet, vergleichet, wählet, und noch tausend anderer Beschaffenheiten fähig ist, die mit Ausdehnung und Bewegung nicht die mindeste Gemeinschaft haben. Lust und Unlust, Begierden und Verabscheuungen, Hoffnung und Furcht, Glückseligkeit und |  iii.1: 98–99  ¦ 130–132

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Elend, sind keine Ortveränderungen kleiner Erdstäublein. Bescheidenheit, Menschenliebe, Wohlwollen, das Entzücken der Freundschaft und das hohe Gefühl der Gottesfurcht sind etwas mehr, als die Wallungen des Geblüts, und das Schlagen der Pulsadern, von welchen sie begleitet zu werden pflegen. Dinge von so verschiedener Art, mein lieber Simmias ! von so verschiedenen Eigenschaften können, ohne die äußerste Unachtsamkeit, nicht mit einander verwechselt werden.“ – „Ich bin völlig befriediget“, war Simmias Antwort. – „Noch eine kleine Anmerkung“, versetzte jener, „bevor ich mich zu dir wende, mein ¦ Cebes ! Das erste, was wir von dem Körper und seinen Eigenschaften wissen, ist es etwas mehr, als die Art und Weise, wie er sich unsern Sinnen darstellet ? “ – „Etwas deutlicher, mein lieber Sokrates !“ – „Ausdehnung und Bewegung sind Vorstellungen des denkenden Wesens von dem, was außer ihm wirklich ist : Nicht ? “ – „Zugegeben !“ – „Wir mögen die zuverlässigsten Gründe haben, versichert zu sein, dass die Dinge außer uns nicht anders sind, als sie uns ohne Hindernis erscheinen : gehet nicht aber diesem ohn­ geachtet allezeit die Vorstellung selbst voran, und die Versicherung, dass ihr Gegenstand wirklich ist, folget nachher ? “ – „Wie ist es anders möglich“, versetzte Simmias, „da wir vom Dasein der Dinge außer uns nicht anders, als durch ihre | Eindrücke benachrichtiget werden können ? “ – „In der Reihe unserer Erkenntnis gehet also allezeit das denkende Wesen voran, und das ausgedehnte Wesen folget ; wir erfahren zuerst, dass Begriffe, und folglich ein begreifendes Wesen, wirklich sein, und von ihnen schließen wir auf das wirkliche Dasein des Körpers und seine Eigenschaften. Wir können uns von dieser ¦ Wahrheit auch dadurch überzeugen, weil der Körper, wie wir vorhin gesehen, ohne Verrichtung des denkenden Wesens kein Ganzes aus­ machen, und die Bewegung selbst, ohne Zusammenhalten des Vergangenen mit dem Gegenwärtigen, keine Bewegung sein würde. Wir mögen die Sache also betrachten von welcher Seite wir wollen, so stößt uns allezeit die Seele mit ihren Verrichtungen zuerst auf, und sodann folget der Körper mit seinen Veränderungen. Das Begreifende gehet allezeit vor dem bloß Begreif|  iii.1: 99–100  ¦ 132–134

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lichen her.“ – „Dieser Begriff scheinet fruchtbar, meine Freunde !“ sprach Cebes. – „Wir können die ganze Kette von Wesen“, fuhr Sokrates fort, „vom Unendlichen an bis auf das kleinste Stäublein, in drei Glieder einteilen. Das erste Glied begreift, kann aber von andern nicht begriffen werden : dieses ist der Einzige, dessen Vollkommenheit alle endlichen Begriffe übersteigt. Die erschaffenen Geister und Seelen machen das zweite Glied : Diese begreifen und können von andern begriffen werden. Die Körperwelt ist das letzte Glied, die nur von andern begriffen werden, aber nicht begreifen kann. Die Gegenstände dieses letzten Gliedes sind, so wohl in der ¦ Reihe unserer Erkenntnis, als im Dasein selbst, außer uns, allezeit die hintersten in der Ordnung, indem sie allezeit die Wirklichkeit eines begreifenden Wesens voraussetzen : wollen wir dieses einräumen ? “ – „Wir können nicht anders“, sprach Simmias, „nachdem das vorige alles hat zuge­ geben werden müssen.“ – „Und gleichwohl“, fuhr Sokrates fort, „nimmt die Meinung der Menschen mehrenteils den Rückweg von dieser Ordnung. Das erste, davon wir versichert zu sein glauben, ist der Körper und seine Veränderungen ; diese bemeistern sich so sehr aller unserer Sinne, dass wir eine Zeit lang das materielle Dasein für das einzige, und alles übrige für Eigenschaften desselben halten.“ – „Mich freuet es“, sprach Simmias, „dass du selbst, wie du nicht undeutlich zu verstehen, gibst, diesen verkehrten Weg gegangen bist.“ – „Allerdings, mein Lieber !“ versetzte Sokrates. „Die ersten Meinungen aller Sterblichen sind sich einander ähnlich. Dieses ist die Reede, von welcher | sie insgesamt ihre Fahrt antreten. Sie irren, die Wahrheit suchend, auf dem Meere der Meinungen auf und nieder, bis ihnen Vernunft und Nachdenken, die Kinder Jupiters, in die Segel leuchten, ¦ und eine glückliche Anlandung verkündigen. Vernunft und Nachdenken führen unsern Geist von den sinnlichen Eindrücken der Körperwelt zurück in seine Heimat, in das Reich der denkenden Wesen, vorerst zu seines Gleichen, zu erschaffenen Wesen, die, ihrer Endlichkeit halber, auch von andern gedacht und deutlich begriffen werden können. Von diesen erheben sie ihn zu jener Urquelle des Denkenden und Gedenkbaren, zu |  iii.1: 100–101  ¦ 134–136

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jenem alles begreifenden, aber allen unbegreiflichen Wesen, von dem wir, zu unserm Troste, so viel wissen, dass alles, was in der Körperwelt und in der Geisterwelt gut, schön und vollkommen ist, von ihm seine Wirklichkeit hat, und durch seine Allmacht erhalten wird. Mehr braucht es nicht zu unserer Beruhigung, zu unserer Glückseligkeit in diesem und in jenem Leben, als von dieser Wahrheit überzeugt, gerührt, und in dem Innersten unsers Herzens ganz durchdrungen zu sein.“

ENDE DES ZWEITEN GESPRÄCHS | ¦

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Drittes Gespräch Nach einigem Stillschweigen wendete sich Sokrates zum Cebes und sprach : „Mein lieber Cebes ! seitdem du von dem Wesen der Unsterblichen richtigere Begriffe erlangt hast, was dünkt dich von den Fabellehrern, die öfters einen Gott auf die Verdienste eines Sterblichen neidisch, und wider denselben bloß aus Missgunst feindlich gesinnt sein lassen ? “ – „Du weißt es, Sokrates ! was wir von dergleichen Lehrern und ihren Erdichtungen zu halten gelernt haben.“ – „Hass und Neid, diese niederträchtigen Leidenschaften, die die menschliche Natur so sehr entehren, müssen der göttlichen Heiligkeit schnurstracks widersprechen.“ – „Ich bin hievon überzeugt.“ – „Du glaubst also nunmehr zuverlässig, und ohne die geringste Bedenklichkeit, dass du, wir, und alle un ¦ sere Nebenmenschen von jenem allerheiligsten Wesen, das uns hervorgebracht, nicht beneidet, nicht gehasst, nicht verfolgt, sondern auf das zärtlichste geliebt werden ? “ – „Richtig !“ – „In dieser festen Überzeugung kann dir niemals die mindeste Furcht anwandeln, dass der Allerhöchste dich zur ewigen Qual berufen, und, du seiest schuldig oder unschuldig, unaufhörlich würde elend sein lassen ? “ – „Niemals, niemals !“ rief Apollodorus, an den die Frage doch gar nicht gerichtet gewesen, und Cebes begnügte sich einzustimmen. – „Wir wollen diesen Satz“, fuhr Sokrates fort, „dass uns Gott nicht zum ewigen Elende bestimmt, zum Maßstabe für die Gewissheit unserer Erkenntnis annehmen, so oft von zukünftigen Dingen die Rede ist, die einzig und allein von dem Willen des Allerhöchsten abhängen. Aus der Natur und den Eigenschaften erschaffener Dinge lässt sich in diesem Falle nichts mit Gewissheit schließen : denn aus diesen folgen nur diejenigen Sätze, die an und für sich unveränderlich sind, und also von der Erkenntnis des Allerhöchsten, nicht von seinem Gutfinden, abhängen. Zu den göttlichen Vollkommenheiten müssen wir uns in dergleichen Untersuchungen ¦ wenden, und zu | erforschen suchen, was mit denselben übereinstimmt, und was ihnen widerspricht. Wovon wir überzeugt sind, dass es denselben nicht gemäß sei, das können |  iii.1: 102–103  ¦ 137–139

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wir verwerfen, und für so unmöglich halten, als wenn es mit der Natur und dem Wesen des untersuchten Dinges selbst stritte. Eine ähnliche Frage ist die, mein Cebes ! die wir auf Veranlassung deines Einwurfs nunmehr zu untersuchen haben. Du räumest es ein, mein Freund ! dass die Seele ein einfaches Wesen sei, das ohne den Körper seine eigne Bestandheit hat : Nicht ? “ – „Richtig !“ – „Du gibst ferner zu, dass sie unvergänglich sei ? “ – „Hievon bin ich überzeugt.“ – „So weit“, fuhr Sokrates fort, „haben uns unsere Begriffe von der Natur der Ausdehnung und der Vorstellung geführet. Aber nunmehro entstehen Zweifel über das zukünftige Schicksal des menschlichen Geistes, das in so weit einzig und allein von dem Willen und von dem Gutfinden des Allerhöchsten abhängt. Wird er den Geist des Menschen in einem wachenden Zustande, des Gegenwärtigen und des Vergangenen wohl bewusst, in Ewigkeit fortdauren lassen ? oder hat er denselben bestimmt, mit dem Hintritt seines Körpers ¦ in einen dem Schlaf ähnlichen Zustand zu versinken, und niemals zu erwachen ? War es dieses nicht, was dir noch ungewiss schien ? “ – „Eben dieses, mein Sokrates ! – Dass eine gänzliche Beraubung alles klaren Bewusstseins, aller Besinnung, wenigstens auf eine kurze Zeit, nicht unmöglich sei, lehret Schlaf, Ohnmacht, Schwindel, Entzücken, und tausend andere Erfahrungen. Zwar ist die Seele, in allen diesen Fällen, noch an ihren Körper gefesselt, und muss sich nach der Beschaffenheit des Gehirns richten, das ihr in allen diesen Schwachheiten nichts als unmerkliche, leicht verlöschliche Züge darbeut. Hiervon ist kein Schluss auf den Zustand unserer Seele, nach ihrer Scheidung von dem Körper, zu ziehen ; weil alsdann die Gemeinschaft zwischen diesen verschiedenen Wesen aufgehoben wird, der Körper aufhört, das Werkzeug der Seele zu sein, und die Seele ganz andern Gesetzen folgen muss, als die ihr hienieden vorgeschrieben sind. Indessen ist es genug für unsere Ungewissheit, dass ein völliger Mangel des Bewusstseins, wie etwa im Schlafe, der Natur eines Geistes nicht widerspricht ; denn wenn dieses ist, so scheinet unsere Furcht nicht ganz ungegründet.“ – „Aber wenn wir ¦ von diesem fürchterlichen Zweifel befreiet zu sein wünschen, kön|  iii.1: 103  ¦ 139–141

Drittes Gespräch

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nen wir etwas mehr verlangen, als die Vergewisserung, dass unsere Besorgnis den Absichten Gottes zuwider laufe, und von demselben | ebenso wenig, als das ewige Elend seiner Geschöpfe, hat beliebt werden können ? “ – „Freilich“, war Cebes Antwort, „wenn wir nicht eine Überzeugung verlangen, die der Natur der untersuchten Sache zuwiderläuft. Als ich dir meine Zweifel vorbrachte, mein teurer Freund ! habe ich selbst einige aus den Absichten des Schöpfers entlehnte Gründe angezeigt, die dein Lehrgebäude höchst wahrscheinlich machen : ich wünsche sie aber aus deinem Munde zu empfangen, und meine Freunde wünschen es mit mir.“ – „Ich versuche es“, sprach Sokrates, „ob ich euch Gnüge leisten kann. Antworte mir mein Cebes ! wenn du befürchtest, mit dem Tode auf ewig alles wachende Bewusstsein deiner selbst zu verlieren, besorgest du etwa, dass dieses Schicksal dem gesamten menschlichen Geschlechte, oder nur einem Teil desselben bevorstehe ? Werden wir alle von dem Tode hingerafft, und, in der Sprache der Dichter zu reden, von ihm in die Arme seines ältern Bruders, des ewigen Schlafes getragen ? oder sind einige von den ¦ Erdbewohnern bestimmt, von jener himmlischen Aurora zur Unsterblichkeit aufgeweckt zu werden ? So bald wir einräumen, dass einem Teil des menschlichen Geschlechts die wahre Unsterblichkeit beschieden ist : so zweifelt Cebes wohl nicht einen Augenblick, dass diese Seligkeit den Gerechten, den Freunden der Götter und Menschen vorbehalten sei ? “ – „Nein, mein Sokrates ! Die Götter teilen den ewigen Tod gewiss so ungerecht nicht aus, als die Athenienser den zeitlichen. Ich bin überdem der Meinung, dass in dem weisesten Plane der Schöpfung ähnliche Wesen auch ähnliche Bestimmungen haben, und mithin dem gesamten menschlichen Geschlechte nach diesem Leben ein ähnliches Schicksal bevorstehen müsse. Entweder sie erwachen alle zu einem neuen Bewusstsein ; und alsdann können Anitus und Melitus selbst wohl nicht zweifeln, dass der unterdrückten Unschuld ein besseres Schicksal erwarte, als ihrer Verfolger ; oder sie endigen alle mit diesem Leben ihre Bestimmung, und kehren in den Zustand zurück, aus welchem sie bei der Geburt gezogen worden ; ihre Rollen reichen nicht |  iii.1: 103–104  ¦ 141–142

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weiter, als auf die Bühne dieses Lebens : am Ende treten die Schauspieler ab, und werden wieder das, ¦ was sie in dem gemeinen Leben sonst gewesen. Ich entsehe mich, mein teurer Freund ! diese Gedanken weiter zu verfolgen ; denn ich merke, dass sie mich auf offenbare Ungereimtheiten führen.“ – „Das tut nichts, Cebes !“ antwortete jener : „wir müssen auch für die | sorgen, welche nicht so leicht bei einer ungereimten Folge schamrot werden. Ähnliche Wesen, hast du behauptet, mein Werter ! müssten in dem weisesten Plane der Schöpfung ähnliche Bestimmungen haben ? “ – „Ja !“ – „Alle erschaffene Wesen, die denken und wollen, sind einander ähnlich ? “ – „Allerdings !“ – „Wenn auch dieses richtiger, wahrer, vollkommener denkt, mehr Gegenstände umfassen kann, als jenes : so gibt es doch keine Grenzlinie, die sie in verschiedene Klassen trennet, sondern sie erheben sich in unmerklichen Stufen übereinander, und machen ein einziges Geschlecht aus : Nicht ? “ – „Dieses muss zugegeben werden.“ – „Und wenn es über uns noch höhere Geister gibt, die sich einander an unmerklichen Graden der Vollkommenheit übertreffen, und dem unendlichen Geiste allmählich nähern, gehören sie nicht alle, so viel ihrer erschaffen sind, zu einem einzigen Geschlechte ? “ – „Richtig !“ – „Wie ihre Eigenschaften nicht wesentlich unterschieden sind, ¦ sondern nur dem Grade nach, wie in einer stetigen Reihe, sich allmählich erheben : so müssen auch ihre Bestimmungen sich im Wesentlichen ähnlich, nur in unmerklichen Graden von einander unterschieden sein. Denn in dem großen Plane der Schöpfung ist alles nach den Regeln der allervollkommensten Harmonie angeordnet ; daher auch die Bestimmungen der Wesen mit ihren Vollkommenheiten und Eigenschaften auf das genaueste übereinstimmen müssen. Können wir dieses wohl in Zweifel ziehen ? “ – „Im geringsten nicht !“ – „O ! meine Freunde ! die Frage, die wir hier untersuchen, fängt an, in dem göttlichen Entwurfe des großen Weltalls von unendlicher Wichtigkeit zu werden. Nicht das menschliche Geschlecht allein, die Entscheidung geht das gesamte Reich der denkenden Wesen an. Sind sie zur wahren Unsterblichkeit, zur ewigen Fortdauer ihres Bewusstseins und deutlichen Selbstge|  iii.1: 104–105  ¦ 142–144

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fühls bestimmt, oder hören diese Wohltaten des Schöpfers nach einem kurzen Genusse wieder auf, und machen einer ewigen Vergessenheit Platz ? In dem Ratschlusse des Allerhöchsten muss, wie wir gesehen, die Frage in dieser Allgemeinheit entschieden worden sein : werden wir nicht, bei ¦ unserer Untersuchung, sie auch in diesem allgemeinen Lichte zu betrachten haben ? “ – „Wie es scheinet.“ – „Aber je allgemeiner der Gegenstand wird“, fuhr Sokrates fort, „desto ungereimter wird unsere Besorgnis. Alle endlichen Geister haben anerschaffene Fähigkeiten, die sie durch Übung entwickeln und vollkommener machen. Der Mensch bearbeitet sein angebornes Vermögen zu empfinden und zu denken mit einer erstaunenswerten Geschwindigkeit. Mit jeder | Empfindung strömet ihm eine Menge von Erkenntnissen zu, die der menschlichen Zunge unaussprechlich sind ; und wenn er die Empfindungen gegen einander hält, wenn er vergleichet, urteilet, schließt, wählt, verwirft, so vervielfältiget er diese Menge ins Unendliche. Zu gleicher Zeit entfaltet eine unaufhörliche Geschäftigkeit die ihm angebornen Fähigkeiten des Geistes, und bildet in ihm Witz, Verstand, Vernunft, Erfindungskraft, Empfindung des Schönen und Guten, Großmut, Menschenliebe, Geselligkeit, und wie die Vollkommenheiten alle heißen, die noch kein Sterblicher auf Erden hat unterlassen können zu erwerben. Lass es sein, dass wir manche Menschen dumm, töricht, gefühllos, niederträchtig und grausam schelten : vergleichungs ¦ weise können diese Benennungen zuweilen Grund haben ; aber noch hat kein Dummkopf gelebt, der nicht einige Merkmale des Verstandes von sich gegeben, und noch kein Tyrann, in dessen Busen nicht noch ein Funken von Menschenliebe geglimmt hätte. Wir erwerben alle dieselben Vollkommenheiten, und der Unterschied bestehet nur in dem mehr und weniger ; wir erwerben sie alle, sage ich, meine Freunde ! denn auch dem Gottlosesten ist es nie gelungen, seiner Bestimmung schnurstracks zuwider zu handeln. Er sträube, er widersetze sich mit der größten Hartnäckigkeit : so wird sein Widerstreben selbst einen angebornen Trieb zum Grunde haben, der ursprünglich gut, und bloß durch unrechte Anwendung verdor|  iii.1: 105–106  ¦ 144–146

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ben sein wird. Diese fehlerhafte Anwendung macht den Menschen unvollkommen und elend ; allein die Ausübung des ursprünglich guten Triebes befördert gleichwohl, wider seinen Dank und Willen, den Endzweck seines Daseins. Auf solche Weise, meine Freunde ! hat noch kein Mensch in dem wohltätigen Umgange mit seinen Nebenmenschen gelebt, der nicht den Erdboden vollkommener verlassen, als er ihn betreten hat. Mit der gesamten ¦ Reihe der denkenden Wesen hat es die nämliche Beschaffenheit : so lange sie mit Selbstgefühl empfinden, denken, wollen, begehren, verabscheuen, so bilden sie die ihnen anerschaffenen Fähigkeiten immer mehr aus ; je länger sie geschäftig sind, desto wirksamer werden ihre Kräfte, desto fertiger, schneller, unaufhaltsamer werden ihre Wirkungen, desto fähiger werden sie, in der Beschauung des wahren Schönen und Vollkommenen ihre Seligkeit zu finden. Und wie ? meine Freunde ! alle diese erworbenen, göttlichen Vollkommenheiten fahren dahin, wie leichter Schaum auf dem | Wasser, wie ein Pfeil durch die Luft fliegt, und lassen keine Spuren hinter sich, dass sie jemals da gewesen sind ? Das kleinste Sonnenstäublein kann in der Natur der Dinge, ohne wundertätige Zernichtung, nicht ver­ loren gehen : und diese Herrlichkeiten sollen auf ewig verschwinden ? sollen in Absicht auf die Wesen, von welchen sie besessen worden, ohne Folgen, ohne Nutzen, so anzusehen sein, als wenn sie ihm niemals zugehöret hätten ? Was für Begriffe von dem Plane der Schöpfung setzet diese Meinung voraus ! In diesem allerweisesten Plane, ist das Gute von unendlichem Nutzen, jede Vollkommenheit von unauf ¦ hörlichen Folgen ; doch nur die Vollkommenheit der einfachen, sich selbst fühlenden Wesen, denen im eigentlichen Verstande eine wirkliche Vollkommenheit zugeschrieben werden kann ; diejenige hingegen, welche wir in zusammengesetzten Dingen wahrnehmen, ist vergänglich und wandelbar, wie die Dinge selbst, denen sie zukommt. Um dieses deutlicher zu machen, meine Freunde ! müssen wir den Unterschied zwischen dem Einfachen und dem Zusammengesetzten abermals in Erwägung ziehen. Ohne Beziehung auf das Einfache, auf denkende Wesen, haben wir gesehen, kann dem |  iii.1: 106–107  ¦ 146–148

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Zusammengesetzten weder Schönheit, Ordnung, Übereinstimmung, noch Vollkommenheit zugeschrieben, ja sie können, ohne diese Beziehung, nicht einmal zusammengenommen werden, um Ganze auszumachen. Auch sind sie in dem großen Entwurfe dieses Weltalls nicht um ihrer selbst willen hervorgebracht worden : denn sie sind leblos und ihres Daseins unbewusst, auch an und für sich keiner Vollkommenheit fähig. Der Endzweck ihres Daseins ist vielmehr in dem lebenden und empfindenden Teile der Schöpfung zu suchen : das Leblose dient dem Lebendigen zu Werkzeugen der Empfindungen, und ge ¦ währet ihm nicht nur sinnliches Gefühl von mannigfaltigen Dingen, sondern auch Begriffe von Schönheit, Ordnung, Ebenmaß, Mittel, Endzweck, Vollkommenheit, oder wenigstens den Stoff zu allen diesen Begriffen, die sich das denkende Wesen hernach, vermöge seiner innern Tätigkeit, selbst bildet. Im Zusammengesetzten finden wir nichts für sich bestehendes, nichts das fortdauere, und von einiger Beständigkeit sei, so dass man in dem zweiten Augenblick sagen könne, es sei noch das vorige. Indem ich euch hier ansehe, meine Freunde ! so ist nicht nur das Licht der Sonne, das von eurem Antlitze widerstrahlt, in einem beständigen Strome ; sondern eure Leiber haben unterdessen in ihrer innern | Bildung und Zusammenfügung unendliche Veränderungen gelitten : alle Teile derselben haben aufgehört die vorigen zu sein, sie sind in stetem Wechsel und Flusse von Veränderungen, der sie unablässig mit sich fortreißt. Wie die glückseligen Weisen der vorigen Zeiten schon bemerket, dass die körperlichen Dinge nicht sind, sondern entstehen und vergehen : nichts ist in denselben von Dauer und Bestandheit ; sondern alles folget einem unaufhaltsamen Strome von Bewegungen, dadurch die zusammengesetzten Dinge ¦ ohne Unterlass erzeugt und aufgelöset werden. Dieses hat auch Homer darunter verstanden, wenn er den Ocean den Vater, und die Thetis die Mutter aller Dinge nennet 51 : er hat damit anzeigen wollen, dass alle Dinge in der sichtbaren Welt durch den steten Wechsel entstehen, und, wie in einem fortströmenden Weltmeer, nicht einen Augenblick an der vorigen Stelle bleiben. |  iii.1: 107–108  ¦ 148–150

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Ist nun das Zusammengesetzte an sich selbst keines Fortdauerns fähig : wie viel weniger wird es ihre Vollkommenheit sein, die ihnen, wie wir gesehen, niemals an und für sich selbst, sondern nur in Beziehung auf das Empfindende und Denkende in der Schöpfung zugeschrieben werden kann ? Dahero sehen wir in der leblosen Schöpfung das Schöne verwelken und aufblühen, das Vollkommene verderben und in einer andern Gestalt wieder zum Vorscheine kommen, scheinbare Unordnung und Regelmäßigkeit, Harmonie und Missstimmung, Angenehmes und Widriges, Gutes und Böses in unendlicher Mannigfaltigkeit mit einander abwechseln, so wie es Gebrauch, Nutzen, Bequemlichkeit, Lust und Glückseligkeit der lebendigen Dinge erfordert, um deren Willen jene hervorgebracht worden. ¦ Der lebendige Teil der Schöpfung enthält zwei Klassen, sinnlichempfindende und denkende Naturen. Beide haben dieses gemein, dass sie von fortdaurendem Wesen sind, eine innere für sich bestehende Vollkommenheit besitzen und genießen können. Wir finden bei allen Tieren, die diesen Erdboden bedecken, dass ihre Empfindungen, ihre Kenntnisse, ihre Begierden, ihre eingepflanzten Naturtriebe auf das wunderbarste mit ihren Bedürfnissen übereinstimmen, und insgesamt auf ihre Erhaltung, Bequemlichkeit und Fortpflanzung, auch zum Teil auf das Wohlsein ihrer Nachkommen abzielen. Diese Harmonie wohnet ihnen innerlich bei ; denn alle diese Fühlungen und Naturtriebe sind Beschaffenheiten des ein | fachen, unkörper­lichen Wesens, das sich in ihnen seiner selbst und anderer Dinge bewusst ist : daher besitzen sie eine wahre Vollkommenheit, die nicht erst in Beziehung auf andere außer ihnen so genennet werden darf, sondern ihre Bestandheit, und ihr Fortdaurendes für sich hat. Sind die leblosen Dinge zum Teil ihrentwegen da, damit sie Unterhaltung, Lust und Bequemlichkeit finden sollen : so sind sie ihrer Seits auch fähig, diese Wohltaten zu genießen, Lust und Unlust, ¦ Angenehmes und Widriges, Verlangen und Abscheu, Wohlsein und Unglückseligkeit zu fühlen, und dadurch innerlich vollkommen oder unvollkommen zu werden. Sind die leblosen Dinge die Mittel gewesen, derer sich der allerweiseste |  iii.1: 108–109  ¦ 150–152

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Schöpfer bedienet : so gehören die Tiere schon mit zu seinen Absichten : denn um ihrentwillen ist ein Teil des Leblosen hervorgebracht worden, und sie besitzen das Vermögen zu genießen, und dadurch in ihrer innern Natur übereinstimmend und vollkommen zu werden. Hingegen bemerken wir bei ihnen, so wie wir sie auf dem Erdboden vor uns sehen, keinen beständigen Fortgang zu einer höhern Stufe der Vollkommenheit. Sie erhalten ohne Unterweisung, ohne Überlegung, ohne Übung, ohne Vorsatz und Wissensbegierde, gleichsam unmittelbar aus der Hand des Allmächtigen, diejenigen Gaben, Fertigkeiten und Triebe, die zu ihrer Erhaltung und Fortpflanzung nötig sind. Ein mehreres erwerben sie nicht, und wenn sie Jahrhunderte leben, oder sich unendlich vermehren und fortpflanzen. Sie können auch das Erhaltene weder verbessern noch verschlimmern, auch keinen andern mitteilen ; sondern üben es auf die ihnen eingepflanzte Weise aus, so ¦ lange es ihren Umständen zuträglich ist, und hernach scheinen sie es wohl selber wieder zu vergessen. Durch menschlichen Unterricht können zwar einige Haustiere etwas weniges erlernen, und zum Kriege, oder zu geringen häuslichen Verrichtungen gewöhnet und gezogen werden : sie zeigen aber durch die Art und Weise, wie sie diesen Unterricht annehmen, zur Gnüge, dass ihr Leben hienieden nicht bestimmt sei, ein beständiger Fortgang zur Vollkommenheit zu sein ; sondern dass ein gewisser Grad der Fähigkeit, den sie erreichen, auch ihr letztes Ziel sei, und dass sie von selbst nie weiter streben, nie höhere Dinge zu beginnen von innen angetrieben werden. Nun ist zwar dieses Stillstehen, diese dumme Zufriedenheit mit dem Erreichten, ohne sich erheben und empor schwingen zu wollen, ein Zeichen, dass sie in dem großen | Entwurfe der Schöpfung nicht das letzte Ziel gewesen, sondern als niedrigere Absichten zugleich Mittel abgeben, und Dingen von würdigern und erhabenem Bestimmungen in Erfüllung der Endabsichten Gottes behilflich sein sollten. Allein die Quelle des Lebens und der Empfindungen in ihnen ist ein einfaches für sich bestehendes Wesen, das unter allen Abände ¦ rungen, die es in dem Laufe der Dinge leidet, etwas Beständiges und Fortdaurendes hat ; daher |  iii.1: 109–110  ¦ 152–154

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die Eigenschaften, die es einmal durch Erlernen, oder als ein unmittelbares Geschenk von der Hand des Allgütigen erhalten, ihm eigentümlich zukommen, durch natürliche Wege nie wieder gänzlich verschwinden, sondern von unaufhörlichen Folgen sein müssen. Da diese empfindende Seele natürlicher Weise nie aufhört zu sein, so hört sie auch nie auf, die Absichten Gottes in der Natur zu befördern, und sie wird mit jeder Dauer ihres Daseins immer tüchtiger und tüchtiger, ihres Urhebers großen Endzweck in Erfüllung bringen zu helfen. Dieses ist der unendlichen Weisheit gemäß, mit welcher der Plan dieses Weltalls in dem Rate der Götter ist entworfen worden. Alles ist in unaufhörlicher Arbeit und Bemühung, gewisse Absichten in diesem Plane zu erfüllen ; einer jeden wahren Substanz ist eine unabsehbare Folge und Reihe von Verrichtungen vorgeschrieben, die sie nach und nach bewirken muss, und die wirkende Substanz wird allezeit durch die letzte Verrichtung tüchtiger, die nächstfolgende auszuführen. Nach diesen Grundsätzen ist das geistige Wesen, das die Tiere belebt, ¦ von unendlicher Dauer, und fähret auch in Ewigkeit fort, die Absichten Gottes in der Reihe und Stufenfolge zu erfüllen, die ihm in dem allgemeinen Plane angewiesen worden. Ob diese tierischen bloß sinnlich empfindenden Naturen mit der Zeit ihre niedrige Stufe verlassen, und von einem Winke des Allmächtigen gelockt, sich in die Sphäre der Geister emporschwingen werden, lässt sich mit keiner Gewissheit ausmachen, wiewohl ich sehr geneigt bin, es zu glauben. Die vernünftigen Naturen und Geister nehmen in dem großen Weltall, so wie insbesondere der Mensch auf diesem Erd­ boden, die vornehmste Stelle ein. Diesem Unterherrn der Schöpfung schmückt sich die Natur in ihrer jungfräulichen Schönheit. Ihm dienet das Leblose, nicht nur zum Nutzen und zur Bequemlichkeit, nicht nur zur Nahrung, Kleidung, Wohnung, und zum sichern Aufenthalt, | sondern vornehmlich zur Ergetzung und zum Unterrichte ; und die erhabensten Sphären, die entferntesten Gestirne, die kaum mit dem Auge entdeckt werden können, müssen ihm in dieser Absicht nützlich sein. Wollt ihr ¦ |  iii.1: 110–111  ¦ 154–155

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seine Bestimmung hienieden wissen : so sehet nur, was er hienieden verrichtet. Er bringet auf diesen Schauplatz weder Fertigkeit, noch Naturtrieb, noch angebornes Geschick, weder Wehr noch Schutz mit, und erscheinet bei seinem ersten Auftritte dürftiger und hilfloser, als das unvernünftige Tier. Aber die Bestrebung und die Fähigkeit sich vollkommener zu machen, diese erhabensten Geschenke, deren eine erschaffene Natur fähig ist, ersetzen vielfältig den Abgang jener viehischen Triebe und Fertigkeiten, die keine Verbesserung, keinen höhern Grad der Vollkommenheit je annehmen können. Kaum genießt er das Licht der Sonnen, so arbeitet schon die gesamte Natur, ihn vollkommener zu machen : dieses schärfet seine Sinne, Einbildungskraft, und Erinnerungsvermögen ; jenes übet seine edlern Erkenntnisgründe, bearbeitet seinen Verstand, seine Vernunft, seinen Witz, seine Scharfsinnigkeit ; das Schöne in der Natur bildet seinen Geschmack und verfeinert seine Empfindung ; das Erhabene erregt seine Bewunderung, und erhebt seine Begriffe gleichsam über die Sphäre dieser Vergänglichkeit hinweg. Ordnung, Übereinstimmung, und Ebenmaß dienen ihm nicht nur zum vernünftigen ¦ Ergetzen, sondern beschäftigen seine Gemütskräfte alle in gehöriger und ihrer Vollkommenheit zuträglicher Harmonie. Bald tritt er mit seines gleichen in Gesellschaft, um sich wechselsweise die Mittel zur Glückseligkeit zu erleichtern : und siehe ! es zeigen und bilden sich an ihm in dieser Gesellschaft höhere Vollkommenheiten, die bisher wie in einer Knospe eingewickelt gewesen. Er erlanget Pflichten, Rechte, Befugnisse, und Obliegenheiten, die ihn in die Klasse moralischer Naturen erheben ; es entstehen Begriffe von Gerechtigkeit, Billigkeit, Anständigkeit, Ehre, Ansehen, Nachruhm. Der eingeschränkte Trieb der Familienliebe wird in Liebe zum Vaterlande, zum ganzen menschlichen Geschlecht erweitert, und aus dem angebornen Keime des Mitleidens entsprossen Wohlwollen, Mildtätigkeit, und Großmut. Nach und nach bringet der Umgang, die Geselligkeit, das Gespräch, die Aufmunterung alle sittlichen Tugenden zur Reife, sie entzünden das Herz zur Freundschaft, die Brust zur Tapfer|  iii.1: 111  ¦ 156–157

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keit, und den Geist | zur Wahrheitsliebe ; breiten einen Wetteifer von Dienst und Gegendienst, Liebe und Gegenliebe, eine Abwechselung von Ernst und Scherz, Tiefsinn ¦ und Munterkeit, über das menschliche Leben aus, die alle einsamen und ungeselligen Wollüste an Süßigkeit übertreffen. Daher auch der Besitz aller Güter dieser Erde, der Genuss der feurigsten Wollüste uns nicht behagt, wenn wir sie in der Einsamkeit besitzen und genießen sollen ; und die erhabensten und prächtigsten Gegenstände der Natur ergetzen das gesellige Tier, den Menschen, nicht so sehr, als ein Anblick von seinem Mitmenschen. Erlanget nun dieses vernünftige Geschöpf erst wahre Begriffe von Gott und seinen Eigenschaften, o ! welch ein kühner Schritt zu einer höhern Vollkommenheit ! Aus der Gemeinschaft mit dem Nebengeschöpfe tritt er in eine Gemeinschaft mit dem Schöpfer, erkennet das Verhältnis, in welchem er, das ganze menschliche Geschlecht, alles Lebendige und alles Leblose, mit diesem Urheber und Erhalter des Ganzen stehen ; die große Ordnung von Ursachen und Wirkungen in der Natur wird ihm nunmehr auch zu einer Ordnung von Mitteln und Absichten ; was er bisher auf Erden genossen, ward ihm wie aus den Wolken zugeworfen : nunmehr zerteilen sich diese Wolken, und er siehet den freundlichen Geber, der ihm alle ¦ diese Wohltaten hat zufließen lassen. Was er an Leib und an Gemüte für Eigenschaften, Gaben und Geschicklichkeiten besitzet, erkennet er als Geschenke dieses gütigen Vaters ; alle Schönheit, alle Harmonie, alles Gute, alle Weisheit, Vorsicht, Mittel und Endzwecke, die er bisher in der sichtbaren und unsichtbaren Welt erkannt, betrachtet er als Gedanken des Allerweisesten, die er ihm in dem Buche der Schöpfung zu lesen gegeben, um ihn zur höhern Vollkommenheit zu erziehen. Diesem liebreichen Vater und Erzieher, diesem gnädigen Regenten der Welt heiliget er zugleich alle Tugenden seines Herzens, und sie gewinnen in seinen Augen einen göttlichen Glanz, da er weiß, dass er durch sie, und durch sie allein dem Allgütigen wohlgefallen kann. Die Tugend allein führet zur Glückseligkeit, und wir können dem Schöpfer nicht anders wohlgefallen, als wenn wir nach unserer wahren Glückseligkeit |  iii.1: 111–112  ¦ 157–159

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streben. Welch eine Höhe hat der Mensch in dieser Verfassung auf Erden erreichet ! Betrachtet ihn, meine Freunde ! den wohlgesinnten Bürger im Staate Gottes, wie alle seine Gedanken, Wünsche, Neigungen und | Leidenschaften unter sich harmonieren, wie sie alle zum ¦ wahren Wohlsein des Geschöpfes, und zur Verherrlichung des Schöpfers abzielen ! O ! wenn die Welt nur ein einziges Geschöpf von dieser Vollkommenheit aufzuweisen hätte, wollten wir anstehen, in diesem Nachahmer der Gottheit, in diesem Gegenstande des göttlichen Wohlgefallens, den letzten Endzweck der Schöpfung zu suchen ? Zwar treffen alle Züge dieses Gemäldes nicht den ­Menschen überhaupt, sondern nur wenige Edle, die eine Zierde des menschlichen Geschlechts sind ; allein dieses mag allenfalls die Grenz­ linie sein zwischen Menschen und höhern Geistern. Genug, dass sie alle zu derselben Klasse gehören, und ihr Unterschied nur in dem Mehr und Weniger bestehet. Vom unwissendsten Menschen bis zum vollkommensten unter den erschaffenen Geistern haben alle die der Weisheit Gottes so anständige, und ihren eignen Kräften und Fähigkeiten so angemessene Bestimmung, sich und andere vollkommener zu machen. Dieser Pfad ist ihnen vorgezeichnet, und der verkehrteste Wille kann Niemanden ganz davon abführen. Alles, was lebt, und denkt, kann nicht unterlassen, seine Erkenntnis und seine Begehrungskräfte zu üben, auszubilden, in Fer ¦ tigkeiten zu verwandeln, mithin mehr oder weniger, mit stärkern oder schwächern Schritten sich der Vollkommenheit zu nähern. Und dieses Ziel, wann wird es erreicht ? Wie es scheinet niemals so völlig, dass der Weg zu einem fernern Fortgange versperrt sein sollte : denn erschaffene Naturen können niemals eine Vollkommenheit erreichen, über welche sich nichts gedenken ließe. Je höher sie klimmen, desto mehr ungesehene Fernen entwölken sich ihren Augen, die ihre Schritte anspornen. Das Ziel dieses Bestrebens bestehet, wie das Wesen der Zeit, in der Fortschreitung. Durch die Nachahmung Gottes kann man sich allmählich seinen Vollkommenheiten nähern, und in dieser Näherung bestehet die Glückseligkeit der Geister ; aber der Weg zu denselben ist unendlich, kann in Ewigkeit nicht |  iii.1: 112–113  ¦ 159–161

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ganz zurück geleget werden. Daher kennet das Fortstreben in dem menschlichen Leben keine Grenzen. Eine jede menschliche Begierde zielet an und für sich selbst in die Unendlichkeit hinaus. Unsere Wissensbegierde ist unersättlich, unser Ehrgeiz unersättlich, ja der niedrige Geldgeiz selbst quälet und beunruhiget, ohne jemals eine völlige Befriedigung zu gestatten. Die Empfindung der Schönheit suchet ¦ das Unendliche ; das Erhabene reizet uns bloß durch das Unergründliche, das ihm an | hängig : die Wollust ekelt uns, so bald sie die Grenzen der Sättigung berühret. Wo wir Schranken sehen, die nicht zu übersteigen sind, da fühlet sich unsere Einbildungskraft wie in Fessel geschmiedet, und die Himmel selbst scheinen unser Dasein in gar zu enge Räume einzuschließen : daher wir unsrer Einbildungskraft so gern den freien Lauf lassen, und die Grenzen des Raumes ins Unendliche hinaus setzen. Dieses endlose Bestreben, das sein Ziel immer weiter hinausstreckt, ist dem Wesen, den Eigenschaften, und der Bestimmung der Geister angemessen, und die wundervollen Werke des Unendlichen enthalten Stoff und Nahrung genug, dieses Bestreben in Ewigkeit zu unterhalten : je mehr wir in ihre Geheimnisse eindringen, desto weitere Aussichten tun sich unsern gierigen Blicken auf ; je mehr wir ergründen, desto mehr finden wir zu erforschen ; je mehr wir genießen, desto unerschöpflicher ist die Quelle. Wir können also“, fuhr Sokrates fort, „mit gutem Grunde annehmen, dieses Fortstreben zur Vollkommenheit, dieses Zunehmen, dieser Wachstum an ¦ innerer Vortrefflichkeit sei die Bestimmung vernünftiger Wesen, mithin auch der höchste Endzweck der Schöpfung. Wir können sagen, dieses unermess­ liche Weltgebäude sei hervorgebracht worden, damit es vernünftige Wesen gebe, die von Stufe zu Stufe fortschreiten, an Vollkommenheit allmählich zunehmen, und in dieser Zunahme ihre Glückseligkeit finden mögen. Dass diese nun sämtlich mitten auf dem Wege stille stehen, nicht nur stille stehen, sondern auf einmal in den Abgrund zurück gestoßen werden, und alle Früchte ihres Bemühens verlieren sollten, dieses kann das allerhöchste Wesen unmöglich beliebet, und in den Plan des Weltalls |  iii.1: 113–114  ¦ 161–163

Drittes Gespräch

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gebracht haben, der ihm vor allen wohlgefallen hat. Als einfache Wesen sind sie unvergänglich ; als für sich bestehende Naturen sind auch ihre Vollkommenheiten fortdaurend und von unendlichen Folgen ; als vernünftige Wesen streben sie nach einem unaufhörlichen Wachstum und Fortgang in der Vollkommenheit : die Natur bietet ihnen zu diesem endlosen Fortgange hinlänglichen Stoff dar ; und als letzter Endzweck der Schöpfung können sie keiner andern Absicht nachgesetzt, und deswegen im Fortgange oder Besitze ihrer Vollkommenheiten vorsetz ¦ lich gestört werden. Ists der Weisheit anständig, eine Welt deswegen hervorzubringen, damit die Geister, die sie hineinsetzt, ihre Wunder betrachten, und glückselig sein mögen, und einen Augenblick darauf diesen Geistern selbst die Fähigkeit zur | Betrachtung und Glückseligkeit auf ewig zu entziehen ? Ists der Weisheit anständig, ein Schattenwerk der Glückseligkeit, das immer kommt und immer vergehet, zum letzten Ziel ihrer Wundertaten zu machen ? O nein, meine Freunde ! nicht umsonst hat uns die Vorsehung ein Verlangen nach ewiger Glückseligkeit eingegeben : es kann und wird befriediget werden. Das Ziel der Schöpfung dauert so lange, als die Schöpfung ; die Bewunderer göttlicher Vollkommenheiten so lange, als das Werk, in welchem diese Vollkommenheiten sichtbar sind. So wie wir hienieden dem Regenten der Welt dienen, indem wir unsere Fähigkeiten entwickeln : so werden wir auch in jenem Leben unter seiner göttlichen Obhut fortfahren, uns in Tugend und Weisheit zu üben, uns unaufhörlich vollkommener und tüchtiger zu machen, die Reihe der göttlichen Absichten zu erfüllen, die sich von uns hin in das Unendliche erstreckt. Irgendwo auf diesem Wege ¦ stille stehen, streitet offenbar mit der göttlichen Weisheit, Gütigkeit oder Allmacht, hat, so wenig als das allerhöchste Elend unschuldiger Geschöpfe, von dem vollkommensten Wesen bei dem Entwurfe des Weltplans beliebet werden können. Wie beklagenswert ist das Schicksal eines Sterblichen, der sich durch unglückliche Sophistereien um die tröstliche Erwartung einer Zukunft gebracht hat ! Er muss über seinen Zustand nicht nachdenken, und wie in einer Betäubung dahin leben, oder |  iii.1: 114–115  ¦ 163–165

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verzweifeln. Was ist der menschlichen Seele schrecklicher, als die Zernichtung ? und was elender, als ein Mensch, der sie mit starken Schritten auf sich zukommen siehet, und in der trost­ losen Furcht, mit der er sie erwartet, sie schon vorher zu empfinden glaubet ? Im Glücke schleicht sich der entsetzliche Gedanke vom Nichtsein zwischen die wollüstigsten Vorstellungen, wie eine Schlange zwischen Blumen, und vergiftet den Genuss des Lebens ; und im Unglücke schlägt er den Menschen ganz hoffnungslos zu Boden, indem er ihm den einzigen Trost verkümmert, der das Elend versüßen kann, die Hoffnung einer bessern Zukunft. Ja der Begriff einer bevorstehenden Zernichtung streitet so sehr wider die ¦ Natur der menschlichen Seele, dass wir ihn mit seinen nächsten Folgen nicht zusammen reimen können, und wohin wir uns wenden, auf tausend Ungereimtheiten und Widersprüche stoßen. Was ist dieses Leben mit allen seinen Mühseligkeiten, besonders wenn die angenehmen Augenblicke desselben von der Angst für eine unvermeidliche Zernichtung vergällt werden ? Was | ist eine Dauer von gestern und heute, die morgen nicht mehr sein wird ? Eine höchst verächtliche Kleinigkeit, die uns die Mühe, Arbeit, Sorgen und Beschwerlichkeiten, mit welchen sie erhalten wird, sehr schlecht belohnet. Und gleichwohl ist dem, der nichts Besseres zu hoffen hat, diese Kleinigkeit alles. Seiner Lehre zu Folge, müsste ihm das gegenwärtige Dasein das höchste Gut sein, dem nichts in der Welt die Waage halten kann ; müsste das schmerzlichste, das gequälteste Leben dem Tode, als der völligen Zernichtung seines Wesens, unendlich vorzuziehen sein ; seine Liebe zum Leben müsste schlechterdings von nichts überwunden werden können. Welcher Bewegungsgrund, welche Betrachtung würde mächtig genug sein, ihn in die geringste Lebensgefahr zu führen ? Ehre und Nachruhm ? diese Schatten verschwin ¦ den, wenn von wirklichen Gütern die Rede ist, die mit ihnen in Vergleichung kommen sollen. Es betrifft das Wohl seiner Kinder, seiner Freunde, seines Vaterlandes ? – und wenn es das Wohl des ganzen menschlichen Geschlechts wäre ; ihm ist der armseligste Genuss weniger Augenblicke alles, was er sich zu getrösten hat, und daher |  iii.1: 115–116  ¦ 165–167

Drittes Gespräch

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von unendlicher Wichtigkeit 52 : wie kann er sie in die Schanze schlagen ? Was er wagt, ist mit dem, was er zu erhalten hoffet, gar nicht in Vergleichung zu bringen ; denn das Leben ist, nach den Gedanken dieser Sophisten, in Vergleichung mit allen andern Gütern, unendlich groß. Hat es aber keine Heldengeister gegeben, die, ohne von ihrer Unsterblichkeit überführt zu sein, für die Rechte der Menschlichkeit, Freiheit, Tugend, und Wahrheit ihr Leben hingegeben ? O ja ! und auch solche, die es um weit minder löblicher Ur­sachen willen auf das Spiel gesetzt. Aber gewiss hat sie das Herz, und nicht der Verstand dahin gebracht. Sie haben, ohne es zu wissen, durch diese Tat ihre eigenen Grundsätze verleugnet. Wer ein künftiges Leben hoffet und das Ziel seines Daseins in der Fortschreitung zur Vollkommenheit setzet, der kann zu ¦ sich selber sagen : Siehe ! du bist hieher gesendet worden, durch Beförderung des Guten dich selbst vollkommener zu machen : du darfst also das Gute, wenn es nicht anders erhalten werden kann, selbst auf Unkosten deines Lebens befördern. Drohet die Tyrannei deinem Vaterlande den Untergang, ist die Gerechtigkeit in Gefahr unterdrückt, die Tugend gekränkt, und Religion und Wahrheit verfolgt zu werden : – so mache von deinem Leben den Gebrauch, zu  | welchem es dir verliehen worden, stirb, um dem menschlichen Geschlechte diese teuren Mittel zur Glückseligkeit zu erhalten ! Das Verdienst, mit so vieler Selbstverleugnung das Gute befördert zu haben, gibt deinem Wesen einen unaussprechlichen Wert, der zugleich von unendlicher Dauer sein wird. So bald mir der Tod das gewähret, was das Leben nicht gewähren kann, so ist es meine Pflicht, mein Beruf, meiner Bestimmung gemäß zu sterben. Nur alsdann lässt sich der Wert dieses Lebens angeben, und mit andern Gütern in Vergleichung bringen, wann wir es als ein Mittel zur Glückseligkeit betrachten. So bald wir aber mit dem Leben auch unser Dasein verlieren, so hört es auf ein bloßes Mittel zu sein, es ¦ wird der Endzweck, das letzte Ziel unserer Wünsche, das höchste Gut, wornach wir streben können, das um sein selbst willen gesucht, geliebt und verlangt wird, und kein Gut in der Welt kann mit ihm in Verglei|  iii.1: 116–117  ¦ 167–169

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chung kommen, viel weniger ihm vorgezogen werden, denn es übertrifft alle anderen Betrachtungen an Wichtigkeit. Ich kann daher unmöglich glauben, dass ein Mensch, dem mit diesem Leben alles aus ist, sich, nach seinen Grundsätzen, dem Wohl des Vaterlandes, oder des ganzen menschlichen Geschlechts aufopfern könne. Ich bin vielmehr der Meinung, dass, so oft die Erhaltung des Vaterlandes z. B. unumgänglich erfordert, dass ein Bürger das Leben verliere, oder auch nur in Gefahr komme es zu verlieren, nach dieser Voraussetzung, ein Krieg zwischen dem Vaterlande und diesem Bürger entstehen muss, und was das seltsamste ist, ein Krieg, der auf beiden Seiten gerecht ist. Denn hat das Vaterland nicht ein Recht, von jedem Bürger zu verlangen, dass er sich dem Wohl des Ganzen aufopfere ? Wer wird dieses leugnen ? Allein dieser Bürger hat das gerade entgegengesetzte Recht, so bald das Leben sein höchstes Gut ist. Er kann, er darf, ja er ist diesen seinen Grundsätzen nach verbunden es ¦ zu tun, den Untergang seines Vaterlandes zu suchen, um sein allerteuerstes Leben einige Tage zu verlängern. Jedem moralischen Wesen kommt, nach dieser Voraussetzung, ein entschiedenes Recht zu, den Untergang der ganzen Welt zu verursachen, wenn es sein Leben, das heißt sein Dasein, nur fristen kann. Ebendasselbe Recht haben alle seine Nebenwesen. Welch ein allgemeiner Aufstand ! welche Zerrüttung, welche Verwirrung in der sittlichen Welt ! Ein Krieg, der auf beiden Seiten gerecht ist, ein allgemeiner Krieg aller moralischen Wesen, wo jedes in Wahrheit das Recht auf seiner Seite hat ; ein Streit, der | an und für sich selbst, auch von dem allergerechtesten Richter der Welt, nicht nach Recht und Billigkeit entschieden werden kann : was kann ungereimter sein ? Wenn alle Meinungen, worüber die Menschen jemals ge­stritten und in Zweifel gewesen, vor den Thron der Wahrheit gebracht werden sollten : was dünkt euch, meine Freunde ! würde diese Gottheit nicht alsofort entscheiden, und unwiderruflich festsetzen können, welcher Satz wahr, und welcher irrig sei ? Ganz unstreitig ! denn in dem Reiche der Wahrheit gibt es keinen Zweifel, keinen ¦ Schein, kein Dünken und Meinen ; sondern |  iii.1: 117–118  ¦ 169–171

Drittes Gespräch

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alles ist entschieden wahr, oder entschieden irrig und falsch. Jedermann wird mir auch dieses einräumen, dass eine Lehre, die nicht bestehen kann, wenn wir nicht in dem Reiche der Wahrheiten selbst Widersprüche, unauflösliche Zweifel oder nicht zu entscheidende Ungewissheiten annehmen, notwendig falsch sein müsse : denn in diesem Reiche herrschet die allervollkommenste Harmonie, die durch nichts unterbrochen oder gestört werden kann. Nun aber hat es mit der Gerechtigkeit die näm­ liche Beschaffenheit : vor ihrem Throne werden alle Zwiste und Streitigkeiten über Recht und Unrecht durch ewige und unveränderliche Regeln entschieden. Da ist kein Rechtsfall streitig und ungewiss, da sind keine Gerechtsame zweifelhaft, da finden sich niemals zwei moralische Wesen, die auf eine und eben dieselbe Sache ein gleiches Recht hätten. Alle diese Schwachheiten sind ein Erbteil des kurzsichtigen Menschen, der die Gründe und Gegengründe nicht gehörig einsiehet, oder nicht gegeneinander abwiegen kann ; in dem Verstande des allerhöchsten Geistes stehen alle Pflichten und Rechte moralischer Wesen, so wie alle Wahrheiten, in der vollkommensten Harmonie. Aller Streit der ¦ Obliegenheiten, alle Kollision der Pflichten, die ein eingeschränktes Wesen in Zweifel und Ungewissheit setzen können, finden hier ihre unwiderrufliche Entscheidung, und ein gleiches Recht und Gegenrecht ist in den Augen Gottes nicht weniger ungereimt, als ein Satz und Gegensatz, Sein und Nichtsein, welche beide in eben der Zeit dem Gegenstande zukommen sollen. Was sollen wir also zu einer Meinung sagen, die uns durch die bündigsten Folgerungen auf so übel zusammenhängende und unstatthafte Begriffe führet ? Kann sie vor dem Throne der Wahrheit genehmiget werden ? Mein Freund Kriton war vor einigen Tagen nicht geneigt mir einzuräumen, dass ich es der Republik und den Gesetzen schuldig sei, mich der Strafe zu | unterwerfen, die mir auferlegt worden, Wenn mir seine Denkungsart nicht ganz unbekannt ist, so schien er nur deswegen Bedenken zu tragen, weil er das Urteil, welches über mich ausgesprochen worden, für ungerecht hielt. Wenn er wüsste, dass ich mich wirklich der Verbrechen schuldig |  iii.1: 118–119  ¦ 171–172

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gemacht, die wider mich eingeklaget worden sind ; so würde er nicht zweifeln, dass die Republik berechtiget sei, mich am Leben zu strafen, und dass mir obliege diese Strafe zu ¦ leiden. Dem Rechte zu tun entspricht allezeit eine Verbindlichkeit zu leiden. Hat die Republik, wie jede andere sittliche Person, ein Recht, denjenigen zu strafen, der sie beleidiget*, und wenn es leichtere ¦ Strafen nicht tun, ihn so gar am Leben zu strafen : so muss der Beleidiger auch nach der Strenge der Gerechtigkeit verbunden sein, diese Strafe zu dulden. Ohne diese leidende Verbindlichkeit wäre jenes Recht ein leerer Ton, Worte ohne Sinn und Bedeutung. So wenig es in der physischen Welt ein Wirken ohne ein Leiden gibt : eben so wenig kann in der sittlichen Welt ein Recht auf eine Person ohne eine Verbindlichkeit von Seiten dieser Per* Das Recht der Ahndung, oder eine Beleidigung durch Zufügung

physikalischer Übel zu vergelten, findet auch im Stande der Natur statt, und gründet sich nicht, wie einige Weltweise 53 behaupten, auf dem gesellschaftlichen Vertrag, ist auch von dem eingeführten Eigentumsrechte unabhängig. Der Mensch ist auch im Stande der Natur verbunden, für seine Erhaltung, Gesundheit und Vollkommenheit zu sorgen, und hat ein Recht, sich der erlaubten Mittel hierzu zu bedienen. Mithin darf er auch andere abhalten, dass sie ihm in unschuldiger Ausübung dieses Rechts nicht hinderlich seien. Er hat also ein vollkommenes Recht, von jedem andern zu fordern, dass er ihn nicht beleidige, und endlich zu Abhaltung fernerer Beleidigung, sich der Ahndung oder Strafe zu bedienen. Die Grade der Strafen richten sich nach Maßgebung der Beleidigung, und vornehmlich nach der Wahrscheinlichkeit, dass sie hinreichen werden, für künftiges Unrecht zu beschützen. Daher auch Todesstrafen rechtens sind, wenn geringere Strafen nicht hinreichen wollen. Wer mir, im Stande der ungeselligen Natur, meine Hütte niederreißt, mein Wasser trübe macht, oder mir gar einen Stein nachwirft, um mich zu beschädigen, den kann ich mit Recht strafen, obgleich kein Eigentumsrecht noch eingeführet, kein gesellschaftlicher Vertrag zwischen uns geschlossen ist. Es wird auch niemand in Abrede sein, dass jeder Staat das Recht ha ¦ be, einen Auswärtigen, der ihn beleidiget, zu bestrafen, ob derselbe gleich in keinem gesellschaftlichen Vertrage mit diesem Staate stehet. Ja die Staaten unter sich räumen sich einander das Recht zu strafen ein, ob sie gleich sehr ofte noch im Stande der Natur unter sich leben. |  iii.1: 119  ¦ 172–174

Drittes Gespräch

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son gedacht werden.* ¦ Ich zweifle nicht, meine Freunde ! dass Kriton, und ihr alle hierin mit mir einstimmet. Aber so könnten wir nicht denken, wenn das Leben uns alles wäre. Dieser irrigen Meinung zu Folge, käme dem abscheulichsten Verbrecher nicht die Obliegenheit zu, die wohlverdiente Strafe zu leiden ; sondern wenn er bei der Republik sein Leben verwirkt hat, so ist er befugt, das Vaterland, das seinen Untergang will, zu Grunde zu richten. Das Geschehene ist nicht mehr zu ändern, das Leben ist sein höchstes Gut : wie kann er ihm das Wohl der Republik vorziehen ? Wie kann ihm die Natur eine Pflicht vorschreiben, die nicht auf sein höchsten Gute abzielet ? Wie kann er verbunden sein, etwas zu tun, oder zu leiden, das mit seiner ganzen Glückseligkeit streitet ?** Es wird also ¦ ihm nicht unerlaubt sein, ja sogar obliegen, den Staat durch Feuer und Schwert zu verwirren, wenn er sein Leben dadurch retten kann. Wodurch aber hätte der Bösewicht diese Befugnis erlangt ? Bevor er das zu bestrafende Verbrechen begangen, war er, als Mensch, verbunden das Wohl der Menschen, als Bürger, das Wohl seiner Mitbürger zu befördern. Was kann ihn nunmehr von dieser Verbindlichkeit * Das Gesetz des Stärkern kann in dem Reiche der Wahrheit kei-

nen Rechtsfall entscheiden. Gewalt und Recht sind Begriffe von so verschiedener Natur, dass die Gewalt so wenig ein Recht, als das Recht eine Gewalt erzeugen kann. Ein Recht an der einen, ohne Obliegenheit and der andern Seite, müsste durch die Gewalt entschieden werden, und dieses ist ungereimt.Wenn Eltern das vollkommene Recht 54 haben, von ihren Kindern Gehorsam zu fordern ; so müssen diese an ihrer Seite verbunden sein, Gehorsam zu leisten. Sind die Kinder berechtigt, so lange sie sich nicht selbst pflegen können, ihre Verpflegung von den Eltern zu fordern ; so muss den Eltern obliegen, dafür zu sorgen. Dem unvollkomme ¦ nen Rechte entspricht von der andern Seite eine unvollkommene Verbindlichkeit. Wer in den Anfangsgründen des Naturrechts kein Fremdling ist, kann an diesen Sätzen unmöglich zweifeln. **  Alle Pflichten, die die Natur den Menschen vorschreibt, müssen das höchste Gut zum Ziele haben. Ist unser höchstes Gut die Glück­ seligkeit ; so kann die Pflicht befehlen, das Leben der Glückseligkeit nachzusetzen. Ist aber das Leben selbst das höchste Gut ; so kann es keine Pflicht geben, das Leben selbst zu verlieren. |  iii.1: 119  ¦ 174–176

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befreiet, und ihm dagegen das entgegengesetzte Recht gegeben haben, alles neben sich zu vernichten ? Was hat diese Veränderung in seinen Pflichten verursacht ? Wer unter­stehet sich zu antworten : Das begangene Verbrechen selbst ! | Eine andre unglückselige Folge von dieser Meinung ist, dass ihre Anhänger auch endlich genötiget sind, die Vorsehung Gottes zu leugnen. Da, nach ihren Gedanken, das Leben der Menschen zwischen die engen Grenzen von Geburt und Tod eingeschränkt ist : so können sie den Lauf desselben mit ihren Augen verfolgen und ganz übersehen. Sie haben also Kenntnis der Sache genug, die Wege der Vorsehung, wenn es eine gibt, zu beurteilen. Nun bemerken sie in den Begebenheiten dieser Welt vieles, das offenbar ¦ mit dem Begriffe, den wir uns von den Eigenschaften Gottes machen müssen, nicht übereinkommt. Manches widerspricht seiner Güte, manches seiner Gerechtigkeit, und bisweilen sollte man glauben, das Schicksal der Menschen sei von einer Ursache angeordnet worden, die am Bösen Vergnügen gefunden. In dem physischen Teile des Menschen entdecken sie lauter Ordnung, Schönheit und Harmonie, die allerweisesten Absichten, und die vollkommenste Übereinstimmung zwischen Mittel und Endzweck : lauter sichtbare Beweise der göttlichen Weisheit und Güte. Aber in dem gesellschaftlichen und sittlichen Leben der Menschen, so viel wir allhier davon übersehen können, sind die Spuren dieser göttlichen Eigenschaften ganz unkenntlich. Triumphierende Laster, gekrönte Übeltaten, verfolgte Unschuld, unterdrückte Tugend sind wenigstens nicht selten ; die Unschuldigen und Gerechten leiden nicht seltner, als die Übeltäter ; Meuterei gelingt so oft, als die weiseste Gesetzgebung, und ein ungerechter Krieg so gut, als die Vertilgung der Ungeheuer, oder jede andere wohltätige Unternehmung, die zum Besten des menschlichen Geschlechts gereicht ; Glück und Unglück trifft Gute und Böse, ¦ ohne merklichen Unterschied, und müssen in den Augen dieser Sophisten wenigstens, ganz ohne Absicht auf Tugend und Verdienst, unter die Menschen verteilt zu sein scheinen. Wenn sich ein weises, gütiges und gerechtes Wesen um die Schicksale der Menschen bekümmerte, und sie nach seinem Wohlgefallen |  iii.1: 119–120  ¦ 176–178

Drittes Gespräch

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ordnete : Würde nicht in der sittlichen Welt eben die weise Ordnung herrschen, die wir in der physischen bewundern ? Zwar dürfte mancher sagen : ‚Diese Klagen rühren bloß von unzufriedenen Gemütern her, denen es weder Götter noch Menschen jemals recht machen können. Erfüllet ihnen alle ihre Wünsche, setzet sie auf den Gipfel der Glückseligkeit : sie finden in den düstern Winkeln ihres Herzens noch allemal Eigensinn und üble | Laune genug, sich über ihre Wohltäter selbst zu beklagen. In den Augen eines mäßigen und genügsamen Menschen sind die Güter dieser Welt so ungleich nicht ausgeteilt, als man glaubt. Die Tugend hat mehrenteils eine innere Selbstberuhigung zur Gefährtin, welche eine süßere Belohnung für sie ist, als Glück, Ehre und Reichtum. Die unterliegende Unschuld ¦ würde sich vielleicht selten an die Stelle des Wütrichs wünschen, der ihr den Fuß in den Nacken setzet ; sie würde das in die Augen fallende Glück nur allzuteuer durch innre Unruhen erkaufen müssen. Überhaupt, wer mehr auf die Empfindungen der Menschen Achtung gibt, als auf ihre Urteile, der wird ihren Zustand lange so beklagenswert nicht finden, als sie ihn in ihren gemeinen Reden und Unterhaltungen machen.‘ So dürfte mancher vorgeben, um die Wege einer weisen Vorsehung in der Natur zu retten. Allein alle diese Gründe haben nur alsdann ein Gewicht, wann mit diesem Leben nicht alles für uns aus ist, wann sich die Hoffnungen vor uns hin ins Unendliche erstrecken. In diesem Falle kann es, ja es muss für unsere Glückseligkeit weit wichtiger sein, wenn wir hienieden mit dem Unglück ringen, wenn wir Geduld, Standhaftigkeit, und Ergebung in den göttlichen Willen lernen und üben, als wenn wir uns im Glück und Überfluss vergessen. Wenn ich auch das Leben unter tausend Martern endige, was tut dieses ? Hat nur meine Seele dadurch die Schönheit der leidenden Unschuld erworben, so ist sie für alle ihre Pein mit Wu ¦ cher bezahlt. Die Qual ist vergänglich, und der Lohn von ewiger Dauer. Aber was hält den schadlos, der unter diesen Qualen sein ganzes Dasein aufgibt ? und mit dem letzten Odem auch alle Schönheiten seines Geistes fahren lässt, die er durch diesen Kampf erworben ? Ist das Schicksal eines solchen Men|  iii.1: 120–121  ¦ 178–180

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schen nicht grausam ? kann der gerecht und gütig sein, der es so geordnet ? – Und gesetzt, das Bewusstsein der Unschuld hielte allen schmerzhaften Empfindungen der Todesqual selbst, die der Unschuldige von den Händen seines Verfolgers leidet, das Gleichgewicht : soll jener Gewalttäter, jener Beleidiger der göttlichen und menschlichen Rechte so dahin fahren, ohne jemals aus der blinden Verstocktheit, in welcher er gelebt, gerissen zu werden, und vom Guten und Bösen richtigere Begriffe zu erlangen ? ohne jemals gewahr zu werden, dass diese Welt von einem Wesen regieret wird, welches an der Tugend Wohlgefallen findet ? Wenn kein zukünftiges Leben zu hoffen ist, so ist die Vorsehung | gegen den Verfolger so wenig zu rechtfertigen, als gegen den Verfolgten. Unglücklicher Weise werden viele durch diese anscheinende Schwierigkeiten verführt, die Vorsehung ¦ zu leugnen. Das allerhöchste Wesen, wähnen sie, bekümmere sich um das Schicksal der Menschen gar nicht, so sehr es sich auch die Vollkommenheit seiner physischen Natur hat angelegen sein lassen. Tugend und Laster, Unschuld und Verbrechen, wer ihm dienet, und wer ihn lästert, sprechen sie, sein dem allgemeinen Weltgeist vollkommen gleich, und was dergleichen so lächerlicher als strafbarer Meinungen mehr sind, auf die man notwendig geraten muss, so bald man den Weg zur Wahrheit verfehlt. Ich halte es für überflüssig, meine Freunde ! von dem Ungrunde dieser Meinungen viele Worte zu machen, da wir alle versichert sind, dass wir unter der göttlichen Obhut stehen, und das Gute von seinen Händen, so wie das Böse nicht anders, als mit seiner Zulassung, empfangen. Hingegen wissen wir einen sicherern und leichtern Weg, uns aus diesem Labyrinthe zu finden. In unsern Augen verleugnet das Sittliche so wenig, als das Physische dieser Welt die Vollkommenheit ihres Urhebers. So wie sich in der physischen Welt Unordnungen in den Teilen, Stürme, Ungewitter, Erd­beben, Überschwemmung, Pest, u. s. w. in Voll ¦ kommenheiten des unermesslichen Ganzen auflösen : eben also dienen in der sitt­lichen Welt, in dem Schicksale und den Begegnissen des geselligen |  iii.1: 121–122  ¦ 180–182

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Menschen, alle zeitliche Mängel zu ewigen Vollkommenheiten, vergängliches Ungemach zu dauerhafter Verbesserung, und die Leiden selbst verwandeln sich in bloße Übungen, die zur Seligkeit unentbehrlich sind. Das Schicksal eines einzigen Menschen in seinem gehörigen Lichte zu betrachten, müssten wir es in seiner ganzen Ewigkeit übersehen können. Alsdann erst könnten wir die Wege der Vorsehung untersuchen und beurteilen, wann wir die ewige Fortdauer eines vernünftigen Wesens unter einen einzigen, unserer Schwachheit angemesse­nen Gesichtspunkt bringen könnten : aber alsdann seid ver­sichert, meine Lieben ! würden wir weder tadeln, noch murren, noch unzufrieden sein ; sondern voller Verwunderung die Weisheit und Güte des Weltbeherrschers verehren und anbeten. Aus allen diesen Beweisgründen zusammengenommen, meine Freunde ! erwächst die zuverlässigste Versicherung von einem zukünftigen Leben, die unser Gemüt vollkommen ­befriedigen kann. | Das Vermögen zu empfinden ist keine Beschaffenheit des Körpers, und ¦ seines feinen Baues ; sondern hat seine Bestandheit für sich. Das Wesen dieser Bestandheit ist einfach, und folglich unvergänglich. Auch die Vollkommenheit, die diese einfache Substanz erworben, muss in Absicht auf sie selbst von unaufhörlichen Folgen sein, und sie immer tüchtiger machen, die Absichten Gottes in der Natur zu erfüllen. Insbesondere gehört unsere Seele, als ein vernünftiges und nach der Vollkommenheit strebendes Wesen, zu dem Geschlechte der Geister, die den Endzweck der Schöpfung enthalten, und niemals aufhören, Beobachter und Bewunderer der göttlichen Werke zu sein. Der Anfang ihres Daseins ist, wie wir sehen, ein Bestreben und Fortgehen von einem Grade der Vollkommenheit zum andern ; ihr Wesen ist des unaufhörlichen Wachstums fähig ; ihr Trieb hat die augenscheinlichste Anlage zur Unendlichkeit, und die Natur beut ihrem nie zu löschenden Durst eine unerschöpfliche Quelle an. Ferner haben sie, als moralische Wesen, ein System von Pflichten und Rechten, das voller Ungereimtheiten und Widersprüche sein würde, wenn sie auf dem Wege zur Vollkommenheit gehemmt und zurück gestoßen werden |  iii.1: 122–123  ¦ 182–183

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sollten. Und endlich ver ¦ weiset uns die anscheinende Unordnung und Ungerechtigkeit in dem Schicksale der Menschen auf eine lange Reihe von Folgen, in welcher sich alles auflöset, was hier verschlungen scheinet. Wer hier mit Standhaftigkeit, und gleichsam dem Unglücke zu Trotz, seine Pflicht erfüllet, und die Widerwärtigkeiten mit Ergebung in den göttlichen Willen erduldet, muss den Lohn seiner Tugenden endlich genießen ; und der Lasterhafte kann nicht dahin fahren, ohne auf eine oder die andere Weise zur Erkenntnis gebracht zu sein, dass die Übeltaten nicht der Weg zur Glückseligkeit sind. Mit einem Worte, allen Eigenschaften Gottes, seiner Weisheit, seiner Güte, seiner Gerechtigkeit würde es widersprechen, wenn er die vernünftigen und nach der Vollkommenheit strebenden Wesen nur zu einer zeitlichen Dauer geschaffen hätte. Es dürfte Jemand von euch sprechen : ‚Gut, Sokrates ! Du hast uns gezeigt, dass wir uns eines künftigen Lebens zu getrösten haben : sage uns aber auch, wo werden sich unsere abgeschiedenen Geister aufhalten ? Welche Gegend des Äthers werden sie bewohnen ? womit werden sie sich beschäftigen ? ¦ auf welche Art werden die Tugendhaften belohnt, und die Lasterhaften zu besserer Erkenntnis gebracht werden ? ‘ | Wenn jemand 55 mich dieses fragt, so antworte ich : Freund ! du forderst mehr, als meines Berufs ist. Ich habe dich durch alle Krümmungen des Labyrinths hindurch geführt, und zeige dir den Ausgang : hier endiget sich mein Beruf. Andere Wegweiser mögen dich weiter führen. Ob die Seelen der Gottlosen werden Frost oder Hitze, Hunger oder Durst zu leiden haben, ob sie in dem Acherusischen Moraste sich herumwälzen, in dem düstern Tartarus, oder in den Flammen des Pyriphlegetons56 ihre Zeit hinbringen müssen, bis sie geläutert werden ; ob die Seligen auf einer von lauter Gold und Edelgestein blitzenden Erde die reinste Himmelsluft einsaugen, und sich in dem Glanze der Morgenröte sonnen, oder ob sie in den Armen einer ewigen Jugend ruhen und sich mit Nektar und Ambrosia füttern lassen : alles dieses, mein Freund ! weiß ich nicht. Wissen es unsere Dichter und Fabellehrer besser : so mögen sie andere davon versichern. |  iii.1: 123–124  ¦ 183–185

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Es schadet vielleicht nicht, wenn gewisser Leute Einbildungskraft auf eine solche Weise beschäf ¦ tiget und angestrengt wird. Was mich betrifft, so begnüge ich mich mit der Überzeugung, dass ich ewig unter göttlicher Obhut stehen werde, dass seine heilige und gerechte Vorsehung in jenem Leben, so wie in diesem, über mich walte, und dass meine wahre Glückseligkeit in den Schönheiten und Vollkommenheiten meines Geistes bestehe : diese sind Mäßigkeit, Gerechtigkeit, Freiheit, Liebe, Wohlwollen, Erkenntnis Gottes, Beförderung seiner Absichten, und Ergebung in seinen heiligen Willen. Diese Seligkeiten erwarten meiner in jener Zukunft, dahin ich eile, und ein mehreres brauche ich nicht zu wissen, um mit getrostem Mute den Weg anzutreten, der mich dahin führet. Ihr, Simmias, Cebes, und übrigen Freunde ! ihr werdet mir folgen, ein jeder zu seiner Zeit. Mir winkt jetzt schon das unbewegliche Schicksal, wie etwa ein Trauerspieldichter sagen würde. Es ist Zeit, dass ich ins Bad gehe ; denn ich halte es für anständiger, nach dem Bade erst den Gift zu mir zu nehmen, damit ich den Weibern die Mühe erspare, meinen Leichnam zu waschen.“ Als Sokrates ausgeredet hatte, ergriff Kriton das Wort und sprach : „Es sei ! Was hast du aber die ¦ sen Freunden oder mir zu hinterlassen, das deine Kinder oder häuslichen Angelegenheiten angehet ? womit können wir dir zu Gefallen leben ?“ – „Wenn ihr so lebt, Kriton !“ sprach er, „wie ich euch längst empfohlen habe. Ich habe nichts Neues hinzuzutun. Wenn ihr für euch selbst Achtung | habet, so werdet ihr mir, den Meinigen und euch selbst zu Gefallen leben, und wenn ihr es auch nicht versprechet, vernachlässiget ihr aber euch selbst, und wollet der Spur nicht folgen, die euch heute und in vorigen Zeiten vorgezeichnet worden : so wird es nichts helfen, wenn ihr auch itzt noch so viel zusaget.“ – Kriton versetzte : „Wir werden mit allen Kräften streben, dir zu gehorchen, mein Sokrates ! Wie sollen wir aber nach deinem Tode mit dir verfahren ?“ – „Wie ihr wollet“, antwortete Sokrates, „wenn ihr mich anders habet, und ich euch nicht entwische ? “ – Zu gleicher Zeit sahe er uns lächelnd an, und sprach : „Ich kann den Kriton nicht bereden, meine Freunde ! dass derjenige eigent|  iii.1: 124–125  ¦ 185–187

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Phädon (1769)

lich Sokrates sei, der jetzt redet, und euch eine Zeitlang unterhalten hat ; er glaubt immer noch, der Leichnam, den er bald wird zu sehen bekommen, und der vorjetzo nur meine Hülle ist, das sei Sokra ¦ tes, und fragt, wie er mich begraben soll. Alle die Gründe, die ich bisher angeführet, zu beweisen, dass ich, so bald der Gift gewirkt haben wird, nicht mehr bei euch bleiben, sondern in die Wohnungen der Glückseligen versetzt werde, scheinen ihm eine bloße Erfindung, um euch und mich zu trösten. Seid so gut, meine Freunde ! und verbürget nun beim Kriton das Gegenteil dessen, was er bei den Richtern verbürgt hat. Er ist für mich gut gewesen, dass ich nicht entlaufen werde ; ihr aber müsset ihm dafür stehen, dass ich mich, gleich nach meinem Tode, davon mache, damit er meinen Leichnam verbrennen, oder in die Erde senken sehe, und sich nicht so sehr betrübe, als wenn mir das größte Unglück widerführe. Er spreche auch bei meinem Leichenbegängnisse nicht : man legt den Sokrates auf die Bahre, man trägt den Sokrates hinweg, man beerdiget den Sokrates. Denn wisse“, fuhr er fort, „mein werter Kriton ! dergleichen Reden sind nicht nur der Wahrheit zuwider, sondern auch eine Beleidigung für den abgeschiedenen Geist. Sei vielmehr getrosten Muts, und sprich, mein Leichnam werde beerdiget. Im übrigen magst du ihn beerdigen, wie es dir gefällt, und wie du glau ¦ best, dass es die Gesetze mit sich bringen.“ Hierauf ging er in ein benachbartes Gemach, um sich zu waschen. Kriton folgte ihm, und uns hieß er warten. Wir blieben, und unterhielten uns eines Teils mit dem was wir gehöret hatten, wiederholten, überdachten, und erwogen einige Gründe, um uns davon gehörig zu überzeugen ; andern Teils aber beschäftigte uns die trostlose Erwartung des großen Unglücks, das | uns bevorstund. Denn es kam uns nicht anders vor, als wenn wir unsern Vater verlören, und von nun an als Waisen in der Welt leben müssten. Als er sich gewaschen hatte, brachte man ihm seine Kinder (er hat ihrer drei, zwei kleine, und ein erwachsenes) : und seine Hausweiber traten zu ihm hinein. Er unterhielt sich mit ihnen in Gegenwart des Kriton, sagte ihnen, was er zu sagen hatte, ließ die Weiber und Kinder hierauf weggehen, und kam wieder zu uns heraus. |  iii.1: 125–126  ¦ 187–189

Drittes Gespräch

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Es war gegen Sonnenuntergang ; denn er hatte sich etwas lange in dem Nebengemache verweilet. Er setzte sich nieder, sprach aber sehr wenig ; denn bald darauf kam der Trabante der Elfmänner57, stellte sich neben ihn, und sprach : „O Sokrates ! ich werde an dir etwas ganz anders gewahr, als an an ¦ dern Verurteilten. Sie pflegen sich zu entrüsten, und mir zu fluchen, wenn ich ihnen auf Befehl der Obrigkeit ankündige, dass es Zeit sei, den Gift zu trinken ; du aber schienst mir schon sonst der gelassenste und sanftmütigste Mann zu sein, der jemals diesen Ort betreten, und jetzt scheinst du mir vornehmlich also. Ich weiß gewiss, du bist auch jetzo über mich nicht ungehalten, sondern über die, (du kennest sie !) die daran Schuld sind. Du merkest nun wohl, Sokrates ! was für eine Botschaft ich dir zu bringen habe. Gehab dich wohl, und leide mit Geduld, was nicht zu ändern ist.“ Er sprach es, kehrte sich herum und weinte. Sokrates sahe sich nach ihm um, und sprach : „Lebe du wohl, Freund ! wir werden tun, was du verlangst.“ Zu uns aber sprach er : „Was für ein rechtschaffner Mann ! er hat mich oft besucht, auch sich zuweilen mit mir unterhalten. Es ist ein gar guter und ehrlicher Mensch : sehet wie aufrichtig er jetzt um mich weinet ! Allein, Kriton ! wir müssen ihm in der Tat gehorchen : lass den Gift herbringen, wenn er fertig ist ; wo nicht, so mag ihn dieser zu rechte machen.“ ¦ – „Warum so eilig, mein Sokrates ?“ versetzte Kriton : „ich glaube, dass die Sonne noch auf den Bergen scheinet, und noch nicht untergegangen ist. Andere pflegen, nach der Ankündigung, noch lange zu warten, bevor sie den Gifttrank zu sich nehmen, und vorher sich gütlich zu tun, zu essen, zu trinken, auch wohl gar der Liebe zu pflegen. Wir können noch eine gute Weile verziehen.“ – „Das mögen die tun, Kriton !“ antwortete Sokrates, „welche jede Frist für Gewinn halten ; ich aber habe meine Gründe, das Gegenteil zu tun. Ich glaube nichts zu gewinnen, wenn ich verzögere, und würde mir nur selbst lächerlich vorkommen, wenn ich mit dem Leben jetzt | geizte und kargte, da es nicht mehr mein ist. Tue mir immer meinen Willen, und halte mich nicht auf.“ Hierauf winkte Kriton dem Knaben, der neben ihm stand. Der Knabe ging heraus, verweilte einige Zeit mit Zubereitung |  iii.1: 126–127  ¦ 189–191

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Phädon (1769)

des Gifts, und brachte hierauf den Mann herein, der den Gift­ becher in der Hand hatte, um ihn dem Sokrates zu reichen. Sokrates sahe ihn kommen, und sprach : „Guter Mann, gib her ! Aber was muss ich dabei tun ? du wirst es wissen.“ – „Nichts anders“, antwortete dieser, „als nach ¦ dem Trinken auf und nieder gehen, bis dir die Füße schwer werden ; sodann legst du dich nieder : dieses ist alles.“ Und hiermit reichte er ihm den Becher. Sokrates nahm ihn, lieber Echekrates ! mit solcher Gelassenheit, ohne Zittern, ohne Farbe oder Gesichtszüge im geringsten zu verändern, sahe den Menschen mit seinen weit offenen Augen an, und sprach : „Was meinest du ? darf man den Göttern davon einige Tropfen zum Dankopfer vergießen ? “ – „Es ist gerade so viel als nötig ist“, versetzte dieser. – „So mag es bleiben“, erwiderte Sokrates ; „aber ein Gebet kann ich doch an sie richten : Die ihr mich rufet, ihr Götter ! verleihet mir eine glückliche Reise ! “ Mit diesen Worten setzte er den Becher an, und leerte ihn ruhig und gelassen aus. Bisher konnten sich viele von uns noch der Tränen enthalten ; als wir ihn aber ansetzen, trinken und ausleeren sahen, da war es nicht möglich. Mir selbst tröpfelten die Tränen nicht, sondern ergossen sich wie in Strömen herunter, und ich musste mir das Gesicht in den Mantel hüllen, um ungestört weinen zu können, nicht über ihn, sondern über mich selbst, dass ich das Unglück hatte, einen solchen Freund zu ¦ verlieren. Kriton, der sich noch vor mir der Tränen nicht enthalten konnte, stand auf und irrete im Gefängnisse umher ; und Apollodorus, der die ganze Zeit mehrenteils geweinet, fing damals an, überlaut zu heulen und zu jammern, dass einem jeden das Herz davon brach. Nur Sokrates blieb unbewegt, und rief uns zu : „Was machet ihr ? Kleinmütigen ! deswegen habe ich so eben die Weiber weggeschickt, damit sie hier nicht so klagen und winseln möchten ; denn ich habe mir sagen lassen, man müsse suchen, unter Segnungen und guten Wünschen den Geist aufzugeben. Seid ruhig, und zeiget euch als Männer !“ – Als wir dieses vernommen, schämeten wir uns, und hörten auf zu weinen. Er ging auf und nieder, bis ihm die Füße schwer wurden, und legte sich | sodann auf den Rücken, wie der |  iii.1: 127–128  ¦ 191–193

Drittes Gespräch

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Sklave ihm geraten hatte. Bald darauf betastete ihn der Mann, welcher ihm den Gift gereicht, mit den Händen, und beobachtete seine Füße und seine Hüften. Er drückte ihm den Fuß, und fragte, „ob er es fühlte ? “ – „Nein“, sprach er. Er drückte ihm den Schenkel, ließ aber wieder los, und gab uns zu verstehen, dass er kalt und steif sei. Er betastete ihn wieder, und sprach : „So bald es ihm ans ¦ Herz kommt, wird er verscheiden.“ Nun fing ihm der Unterleib schon an kalt zu werden. Er deckte sich auf, denn man hatte ihn zugedeckt, und sagte zum Kriton (dieses waren seine letzten Worte) : „Freund ! vergiss nicht, dem Gott der Genesung einen Hahn zu bringen, denn wir sind ihm einen schuldig.“58 – Kriton antwortete : „Es soll geschehen. Hast du sonst nichts mehr zu hinterlassen ? “ Hierauf erfolgte keine Antwort. Einige Zeit hernach bekam er Zuckungen. Der Mann deckte ihn vollends auf, und seine Blicke blieben starr. Als Kriton es sahe, drückte er ihm Mund und Augen zu. Dieses war das Ende unseres Freundes, o Echekrates ! eines Mannes, der unter allen Menschen, die wir kannten, unstreitig der rechtschaffenste, weiseste, und gerechteste gewesen.

|  iii.1: 128  ¦ 193–194

Briefwechsel zwischen Moses Mendelssohn und Johann Gottfried Herder (1769)

Herder an mendelssohn 1 Riga, 2. Hälfte des April 2 1769 Verzeihen Sie, Hochgeschätzter Freund ! dass Ihnen unter Ihren Geschäften dieser Brief eine halbe Stunde abstiehlet : sie ist wenig­stens nicht unwürdiger verschwendet, als auf die Materie von [der] Un­sterblichkeit der Seele. In Ihrem ganzen Phädon redet nicht ein De­monstrante, sondern ein Weiser der andere überzeugen will : ¦ und muss, wo diese noch nicht überzeugt sind, jener auch die Stimme des Zweifels nicht hören ? Von meiner Seite, m[ein] H[err], kann ich Ihnen wenigstens versichern, dass ich nicht aus Zweifelsucht, so wie sie [I]hr Sokrates im zweiten Gespräche schildert, Einwürfe mache, son­dern aus dem Herzen gleichsam, u. als eine Sache der Menschheit. So weit dünken mich Ihre Beweise sehr fest, als von der Unzerstörbarkeit der menschlichen Seele durch den Tod geredet wird. Nur ein Phänomenon hört alsdann auf u. die denkende Substanz bleibt – bleibt aber wie sie bleibe ? Sie nehmen gleich im ersten Gespräche das Postulat an, dass, wenn sie von diesem Körper sich scheide, sie ohne Körper sei. Hängt aber beides so un­trennbar zusammen ? Ich will nicht bis auf die Denkbarkeit oder Undenkbarkeit einer Seele ohne Körper zurückweichen ; allein woher, dass wir von einer ohne Körper bestehenden Mensch­lichen Seele wissen ? Wir kennen keine in solchem Zustande : sie ist uns hier ohne Leib nicht denkbar in ihrer Wirksamkeit : kann sie es, wird sie’s künftig sein ? | Sie sehen also, was hiemit für Sätze und Folgen zu wanken an­fangen. Das Befreien von sinnlichen Begriffen, die ganz geistige Vollkommenheit sind bei Ihnen und bei den meisten Philosophen u. Theologen die ersten Quellen der Belohnungen des künftigen Zustandes. Spalding hat in einer Predigt von dem |  xii.1  : 174–175  ¦  Herder Briefe I  : 137–138

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Briefwechsel mit Johann Gottfried Herder (1769)

zukünftigen Leben als eine Folge des gegenwärtigen3 diese beide Vorstellungs­arten zum Grunde : allein sind sie mehr als Vorstellungsarten ? Was ist eine von sinnlichen Begriffen befreite Seele ? was ist reine geistliche Vollkommenheit in einer menschlichen Seele ? ich muss geste­hen, ich weiß nicht. Die Begriffe so verfeinert und veredelt als man will : und das Caput mortuum4 ist immer noch sichtbar : immer noch ein feines sinnliches Vehiculum um all diese geistige Phantome ! ein Mensch ! Eine kleine Probe von dem was ich sage, ists, wenn wir diesen künftigen vermeinten himmlischen Zustand hier auf der Welt anti­zipierend vorausnehmen : er ist nicht mehr Vollkommenheit, son­dern gerade das Gegenteil. Eine von Sinnlichkeit befreiete Seele ist, was auch die Pythagoräer u. Platoniker u. Spaldingianer5 sagen mögen, eine Missbildung ; diese Befreiung u. Entkörperung kann hier nicht Zweck sein, da sie nicht Glückseligkeit ist. Es ist eine aufs disproportionierteste ausgebildete Mensch­ liche Natur, es ist seiner Bestimmung nach, ein Monstrum. Schon in Ihrem „Orakel“ schien mir die Bestimmung des Menschen in seinem ganzen Umfange etwas zu philosophisch, dass es die Ausbildung von Seelenfähigkeiten wäre. Ver­folgen Sie diesen Satz nach seiner Strenge, mit der besten Pro­portion der Seelenkräfte, aber ausschließungsweise ; und es ist der größeste Unmensch geschaffen, ohne Zweck und ohne Glückseligkeit. In unserer Natur ist gleichsam mehr spezifische Maße von einer Tiernatur als von einem reinen Geist, u. solchergestalt also zu einem vermischten Wesen geschaffen (nicht bloß durch eine willkürliche association ein solches, wie wir ¦ immer an­nehmen) muss ich mich auch als eine vermischte Natur denken, oder ich gerate von beiden Seiten auf ein äußerstes. Ein zum Kinde gewordener Denker ist eben so aus seiner Laufbahn geschritten, als ein bloßer Denker, der dies für seine Bestimmung hält, u. da ist Newton im eigentlichen Ver­stande ein Affe, nichts als ein Affe höherer geistiger Wesen. 6 | – Mich freuet dass Sie sich in der Vorrede selbst, gegen die Dekla­mation des Sokrates wieder den Leib erklären : u. wahrlich ! unsere besten abgezogenen Begriffe u.  Vergnügungen sind, alles zusam­men genommen, höchstens |  xii.1: 175–176  ¦ 138–139

Briefwechsel mit Johann Gottfried Herder (1769)

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Fransen zu einer Decke : aus ihren Fä­den gesponnen, u. zu ihrer Verzierung da : außer dem Falle aber zerfallend u. nichts ! Nochmals also, dass ich nicht für die Vernichtung unseres Wesens rede : sondern von unserm künftigen Zustande, u. was kann ich also so ferne von ihm wissen ? Dass ich in der Schöpfung bleibe, und – wenn es nicht zu kühn ist zu mutmaßen, wenn meine gegen­wärtigen Anlagen mir Data sein sollen, meine Zukunft zu erraten : so – – werde ich wieder so ein vermischtes Wesen als ich bin. Der Keim zur Pflanze trägt Pflanzen und nicht Tiere : al­les bleibt in der Natur was es ist : meine Menschliche Substanz wird wieder ein menschliches Phänomenon, oder wenn wir plato­nisch reden wollen, meine Seele bauet sich wieder einen Körper – – Ich will mich gerne bescheiden, dass ich hievon nichts wissen könne, aber soll ich denn etwas wissen : soll ichs aus meinen gegenwärtigen Anlagen wissen ; ach ! so muss ich entweder mit der parteilichsten Indul­genz7 Fähigkeiten meiner Substanz auslassen und anrechnen, die ich will, u. sie auf die sonderbarste Art halbieren, oder es gilt auch hier der Satz : quidquid est, illud est – – ich werde, was ich bin !8 Ihr 2tes Gespräch9 führt mich in meinen Zweifeln weiter. Die Frage, sagen Sie, betrifft alle denkende Wesen, u. ach ! wenn dies ist, wo in der ganzen Natur, wo ist Wink, Spur, Ähnlichkeit von einer solchen Verwandlung eines Wesens ? Ich weiß, Sie können es nicht sein, die mir die Insekten anführen : denn deren ihre Ver­wandlung ist nur Auswicklung eines Keims in ei­nem Leben und unter mancherlei Gestalten, u. passt gar nicht auf den gegenwärtigen Fall. Wer in der Welt sagt mir, dass es Absichten Gottes sind, bei meinem Tode, der doch in der Natur der Veränderungen nichts ist, eine menschliche Substanz zu zerstören, u. eine reine gei­stige aus ihr zu schaffen ? ihr alle sinnliche Fähigkeiten zu | lähmen, u. die Kräfte ihr allein zur weitern Ausbildung zu lassen, dadurch sie Wahrheit, Güte, u. was weiß ich mehr ? vollkommen erkenne. Wer in der Welt sagt mir, dass es Absichten Got­tes sind, mir das Bewusstsein meines vorigen Zustandes (ich wollte schreiben, zu lassen, da das aber wirklicher Widerspruch wäre) – mir durch ein Wunder der Erschaffung wiederzugeben ?   |  xii.1: 176–177  ¦ 139

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Briefwechsel mit Johann Gottfried Herder (1769)

Wer in der Welt zeigt mir die Absicht Gottes ¦ darin, dass dies Leben (Menschlich, als vom Phänomenon geredt) zusammenhange ? Ihr Beweis von fortgehender Entwicklung – ach ! lehren Sie mich, dass er beweise. Wir sind hier, um uns auszu­bilden, zu entwickeln ; allein jede Kraft entwickelt sich nur bis zu einer Stufe u. macht einer andern Platz. Die Menschliche Seele nimmt von der Gegenseite so ab, als sie von der Gegenseite zunimmt : wir haben in unserm gegenwärtigen Da­sein genau die Lebensalter der Bestimmung, die Pflan­zen und Tiere, u. wir als Tiere so evident haben. Diese Ausbildung u. Entwicklung auf dieses Leben, sie ist Zweck, sie ist Bestimmung ; aber das ein unrechter Gesichts­punkt, zu leben, damit man die Welt vollkommner verlasse, als man sie betrat. Wir betraten sie, um hier voll­kommner zu werden, zuzunehmen und abzunehmen, zu lernen u. anzuwenden, u. immer uns u. die Welt zu genießen : das war Ab­sicht der Natur. Alles wird verrückt, wenn ich mir eine einzige Vollkommenheit erwerbe, die bloß fürs Verlassen der Welt Vollkommenheit sei. Ist dies, so ists auch kein Verlust, wenn uns, wie Sie sagen, unsre hiesige Ausbildung entgehen sollte. Nichts als Fertigkeiten entgehen uns, die außer diesem Zustande (ja nur in einem unrech­ ten Lebensalter) Unvollkommenheiten würden, die nur für diese Welt waren, u. auch hier angewandt sein müssen. Kräfte, Realitäten entgehen uns nicht. Da stirbt keine Herrlichkeit der Schöpfung. Was wäre es für eine mühselige Herrlichkeit, unsere hier so einseitig vollkommnen Fertigkeiten in einen andern Zustand mitzunehmen ? Greise Kinder, kindische Greise ! ich weiß keinen Namen, der dieses herrliche Elend gnug andeute. Mehr als jenem Thitonus10 wäre uns die fortbildende Un­sterblichkeit schädlich. | In der ganzen lebendigen Schöpfung sehen wir keine Spur von Aufstreben, Stufenfolge usw. aber wohl von Fortstre­ben, und dies Fortstreben ist eine Art von Kreislauf des Genusses. Alles dauret in demselben Wesen fort : entwickelt sich zu verschiednen Zwecken  der Bestimmung, die seine Lebensalter ausmachen : in jedem |  xii.1: 177–178  ¦ 139–140

Briefwechsel mit Johann Gottfried Herder (1769)

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Zustand ist jedes tätig u. vollkommen : aber vollkomner auf einen zukünftigen Zustand ? dass bei der Computation der gegenwärtige er­liege ? nichts in der Welt. Das Tier ist Zweck u. Mittel, aber auf der Waage der Bestimmung nicht einen Gran mehr Mittel als Zweck. So auch der Mensch : alles machet sich vollkommen, alles ist vollkommen – aber vollkommen für jene Welt ! und dazu immer vollkomner für jene Welt ? Ich sehe bei keinem Geschöpf u. Menschen ein Aufsteigen, ich sehe ein Wechseln, einen Kreislauf, der sich verzehret, der in sich selbst zurückfließt. Bei Ihnen fließt der Strom bergan. Alles in der Welt ist gut, u. in seiner Essenz das beste u. ist was es ist. Alle Kreise und Sphären in der Welt wer­den verrückt, wenn eine in die andre rückt, wenn der Mensch ein Engel, u. der Engel ein Gott, u. das Tier ein Mensch, ¦ u. der Stein ein Tier werden soll : alles kommt aus seinem Gleise u. aus seinem Wesen. Wunder u. Schöpfungen werden im Universum augenblicklich, die ganze Natur der Dinge wird ein Chaos : der Schöpfer meistert sich alle Augenblick, u. muss alle Augen­blicke die Schöpfung ergänzen, oder sie rückt ihm fort. Zudem für diese Welt ist alles vollkommen ; aber für die Zukunft ist Nichts, Nichts in der Welt vollkommen. Voraus die so viel­a rtigen Menschen ! o ! zum Genuss dieser Welt mögen sie alle nach ihrer Art gut sein, der Lappe u. der Hottentotte, Newton u. der Ourang-outang11, aber zur Ausbildung auf eine zukünftige ? zur Ausbildung der Seelenkräfte dahinaus ? Keiner ! Dahin hat Newton so wenig gewonnen, als Francke, u. Francke als Voltaire, u. Voltaire als der Patagone.12 Die Aussicht dahinaus nach den hiesigen Anlagen gibt einen Roman der Ewigkeit, den jeder anders dichten muss, Antoinette de Bourignon u. Lavater, Crusius u. Bonnet, Trescho13 und – – bald hätte ich geschrieben Moses ; allein in meinen Gedan | ken wäre Ihnen das Contrarium einer solchen Nachbarschaft Ehre gewesen. „Unsre unendliche, unersättliche Begierden“ o ! auch hier schon in der Welt sind sie nicht gut ! sie sind unnatürlich und unmäßig ; wie könnten sie denn Experimente für die Ewigkeit sein    ? Umzirkter, eingeschränkter Genuss innerhalb den Gren|  xii.1: 178–179  ¦ 140–141

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Briefwechsel mit Johann Gottfried Herder (1769)

zen seines Wesens : Ge­brauch aller seiner Kräfte und Anlage[n] : das ist unsre Bestimmung und Glück ! da sind wir alle gleich ! da haben wir uns alle wenig vorzuwerfen (ich rede Metaphysisch) was drüber ist, das ist – – vom Übel ; vielleicht Gott und der Welt, unserm Wesen u. der Analogie aller Dinge zuwider. Sie sehen also, wie wenig Data ich auf ein Fortwachsen der Kräfte u. Fähigkeiten u. Vollkommenheiten wahrnehme ; ent­ weder gar kein Gleichartiges, Commensurables ; oder ganz das­ selbe ; oder beweise man ein drittes ! Was ist wahrscheinlicher, als das[s] jedes Geschöpf des Universum, Stein und Pflanze u. Löwe, u. Insekt u. Mensch das bleibe, was es nach der ewigen Anlage der Schöpfung ist, u. was hat da der Mensch in dem ganzen Weltall für Vorsprung ? Keine ! die Palingenesie14 ist sein Teil. Ob sie tröstlich sei, oder untröstlich ? ich glaube das letzte nicht, u. hätte ich Ihre Energie im 3ten Gespräche, so wäre sie mit eben dem Gewicht ans Herz zu legen. Zernichtung ist sie nicht : unter Gott bleibe ich : von mir hängt vom Augenblick der Veränderung nichts mehr ab : zum Guten, zum Genuss, zur Glückseligkeit werde ich wiedergeboren – warum soll ich zittern ? Wenn ich mein Leben verlebt, den ganzen Genuss meiner selbst gehabt, ihn durch meine Lebensordnungen der Natur hinweggelebt habe : was ist für ein Glück, das ich noch zu genießen hätte ? was ist für ein Glück, von dem ich Empfindung habe, was ich nicht wieder genießen könnte ? Für die Gesellschaft wird diese Lehre fast schätzbarer als jene war.15 Der Tod wird noch immer meine Pflicht, wenn das Leben vieler damit erkauft wird, aber ¦ nur immer eine politische, nicht mensch­liche Pflicht. Er bleibt noch immer so zulässig, als er war, denn er wird ein Übergang zum neuen Dasein. – – Aber der Trieb dazu, der durch jene Lehre, wie viele Beispiele von Selbstmördern, u. Märt[y]rern u. Schwärmern zeugen, viel zu sehr angefeuert werden kann der, u. das ist eine gute Seite der Menschheit, wird durch diese | nicht im geringsten befördert. Genieße hier dein Leben aus ! Das ist der erste Zuruf alles dessen, was genießen kann, u. da ist der Mensch der erste. Die gegenseitige  Lehre hat auf der einen Seite Zweifel der Ausschweifung, auf |  xii.1: 179–180  ¦ 141–142

Briefwechsel mit Johann Gottfried Herder (1769)

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der andern Eifer u. Pflichten der Ausschweifung geboren : diese hat beides nicht zu fürchten. Das Recht, andre zu töten, bleibt immer ein politisches Recht der Obrigkeit : zum Menschlichen kanns nie gemacht werden. In der Gesellschaft gibts einen Krieg zwischen allen Geschöpfen : Pflan­zen u. Tiere werden von Menschen ausgerottet : Menschen von Menschen : Das sind Opfer des Ganzen ! wer kann hier das Uni­versum überzählen ? Was ist ein sterbendes Phänomenon, u. eine zerplatzende Wasserblase ! Über die Vorsehung in diesem Leben – da wäre viel zu sagen ! Aber gnug, dass ein Mensch so gut am Ende dieses Lebens sagen muss : was ist, ist gut ! als wenn er unparteiisch seinen bisheri­ gen Lebensplan jedesmal überdenket. Die fünf Akte sind in diesem Leben : was brauchts, hinter der Decke, die noch kein Auge durch­schauet, Aufschlüsse über das nehmen zu wollen, was schon an sich ein Ganzes ausmachen muss. Nur dass man dies Ganze u. die höch­ste Regierung desselben nicht mit einem Maßstabe von Moral messe, der bloß ein abgezogner Begriff der menschlichen Schwach­heit ist. Der Umfang der göttlichen Absichten ist mehr, als mora­lisch, bei der Ordnung der Welten u. Zeitalter u. Lebensläufe – mehr als moralisch, wie wir dies Wort nennen ; u. so gibt diese Lehre auch hier keinen Einwurf, nicht über das Menschenge­schlecht, noch über die Tugend eines Individuum. Aber wohl würde die menschliche Erziehung aus dieser Vorstel­lungsart manche Verbesserung nehmen. Erziehe dich u. andre für dieses Leben ! Sei mit deiner Natur, mit deinen Kräften, in jedem deiner Lebensalter, was du sein kannst u. sollst ! So u. nicht auf andre Art hast du gelebt u. kannst dann sterben. Du bist in den Händen Gottes. Das ist für jeden Menschen alsdenn die Stimme der Menschheit u. der Religion ! Wie weit sind wir in unserm Zeitalter von ihr weggekommen ! So wenig es hier Orts ist, diese Lehre der Palingenesie mit den Vorstellungsarten der Jüdischen u. Christlichen Sprache der Of­fenbarung zusammen zu halten, so wenig mag ich sie mit der Me­   tempsychose des Pythagoras16 u. s. w. vergleichen. Das Feh|  xii.1: 180  ¦ 142

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Briefwechsel mit Johann Gottfried Herder (1769)

lerhafte | u. Närrische desselben ist orientalisch-ägyptischer Aberglauben – hinter allem steckt, so wie hinter den ältesten Einkleidungen des Altertums jedesmal ein Funke von Wahrheit. – – Ich sehe eine große Zahl Schwierigkeiten u. Zweifel, die so gut für diese Lehre, als für eine andre treten ; auch so gar ¦ Be­kümmernisse des Herzens, die nicht ausbleiben können. Jene, weil wir hinter einer Menge so verschiedner Vorstellungsarten leben, die sich jagen u. gejagt haben, dass wir schwerlich die Sache auf eine ursprüngliche Einfalt zurückführen können ; diese, weil wir wirklich dem Geiste der Zeit nach in einem Jahrhunderte leben, das von der echten Humanität ferne ist – aber sollte man nicht lieber dies, als die anscheinende Wahrheit ändern ? Kurz ! nehmen Sie, was Sie wollen, von Ihren Gründen : die Natur der Seele : die Absichten Gottes : den Zustand der Welt u. der Menschheit : – er gibt kaum so weiten Schlüssen Raum, als Sie u. Ihr Sokrates folgern. Eine unzerstörbare Dauer u. höchstens eine menschliche Palingenesie – das ist das Ziel der mutmaßenden Vernunft, u. vielleicht auch der menschlichen Wünsche ! Ich bin Ihren Gesprächen gefolget u. habe meine ­Zweifel ebenfalls in Sokratische Gespräche einkleiden wollen, in denen die Schüler Sokrates nach seinem Tode, am Tage seines Andenkens, insonder­heit Cebes u. Simmias sich mit Gründen u. Gegengründen versu­chen.17 Allein die Sache schien mir in meinen dunkeln Stunden des Nachdenkens zu wichtig, als dass ich sie nicht, ohne Verkleidung u. Schmuck, Ihnen, teurester H., hätte über­ geben müssen. So lange Ihr Phädon heraus ist, habe ich mich mit der Materie getragen, die auch für Sie vielleicht wichtig genug sein wird, mich, wie ich hoffe, einer geneigten u. belehrenden Antwort zu würdigen. Philo­soph der Menschheit ! Schüler des Sokrates ! Sie müssen antworten, wo von Unsterblichkeit der Seele die Frage ist. |



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Briefwechsel mit Johann Gottfried Herder (1769)

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mendelssohn an Herder 18 [Berlin, den 2. Mai 1769.] Mein Herr ! Wo ich nicht irre, so sind unsre Gedanken von der Natur der menschlichen Seele so weit nicht von einander entfernt, als Sie zu glauben scheinen. Wir kommen in den Grundsätzen so sehr über­ein, dass wir uns nur einander verstehen dürfen, um auch in den Folgen einig zu sein. Ich habe Ihr mir angenehmes Schreiben nur noch bis zur Hälfte gelesen, aber ich kann unmöglich fortfahren, ohne die Feder anzusetzen, so empfindlich bin ich über mich selbst, dass ich meinen Zweck so sehr verfehlt, und einem Herder grade das Gegenteil zu sagen scheine, da, wo ich vollkommen seiner Meinung bin. Streichen Sie zuförderst in meinem Phädon alle die Stellen durch, wo ausdrücklich gesagt wird, dass unsre Seele künftighin ganz ohne Körper sein wird. So viel erinnere ich mich noch, dass meine Absicht war, die Sache unentschieden zu lassen, um die sehr verwickelte Frage von der Unsterblichkeit nicht durch zu viele Neben­k noten zu verwirren. Aber im Herzen war ich, bin ich noch jetzo, völlig überzeugt, dass kein eingeschränkter Geist ganz ohne Körper sein könne. Meine Gründe ? Viel­leicht ist es unnötig, sie anzuführen, da wir hierin so sehr über­einstimmen. Jedoch ich will sie kurz berühren. Kein eingeschränk­ter Geist wird also nicht alles unmittelbar wahrnehmen, sondern einiges unmittelbar fühlen (dieses wird sein Sensorium), und das Übrige nur nach Maßgebung der Verände­rungen, die in diesem Sensorio vorgehen. Mit diesem Sensorio hänget manches näher, und in einer vollkommenen Schöpfung, auch organisch zusammen. Die Seele wird die Ordnung und Unordnung, Vollk[ommenheit] und Unvollkommenheit dieses organischen Teils der Natur (ihres Körpers) gegenwärtiger, unmittelbarer, lebhafter (sinn­ licher) fühlen, als alles Übrige. Hier ist sinnliches Vergnügen und sinnlicher Schmerz ! – Mit der weitern Ausfüh­rung dieser transzendentalischen Grillen will ich Sie verschonen, da ich vermute, dass sie Ihnen nichts Neues sagen werden.   |  xii.1: 182

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Briefwechsel mit Johann Gottfried Herder (1769)

Und die Trennung des Sinnlichen vom Geistigen ? Ich er­staune, dass | Sie mir eine so monströse Meinung haben zuschreiben können. Das mitgerechnet, was Verstand und Vernunft an dem Sinnlichen ver­bessern und berichtigen, halte ich das Sinnliche in der menschlichen Natur vielmehr für die Blume ihrer Vollkommenheit, und würde untröstlich sein, wenn mir ein Philosoph demonstrieren könnte, dass ich es jemals verlieren werde. Eine von aller Sinnlichkeit be­freiete Seele ? Was Spalding davon denkt,19 weiß ich nicht ; aber ich halte, so wie Sie, dafür, dass ein solches Ding in jenem Leben, so wie in diesem, eine bloße Chimäre sei. Wie die Platoniker über­haupt den allgemeinen Begriffen ein wirkliches Dasein zuschrie­ben ; so war es ihnen leicht, Geist und Sinnlichkeit, die man in Gedanken unterscheidet, auch in der Natur für getrennt zu halten. Allein man ist es seit der Zeit ziemlich gewahr geworden, dass sich die Natur an kein Compendium bindet. Bisher denken wir also, wie ich hoffe, vollkommen über­ein­ stim­mend. Aber nunmehr begreife ich auch nicht, wie Sie der Satz hat befremden können, dass die Ausbildung der Seelenfähigkeiten un­sere Bestimmung auf Erden sei ? Wir sind von vermischter Na­tur, sagen Sie ? Allerdings ! Aber was diese vermischte Natur wir­ket, das hat offenbar die Seele zum Endzwecke. Ich würde dieses nicht einmal von den Tieren leugnen können. Alle tierische Bedürfnisse laufen zuletzt auf Vergnügen und Befreiung von Schmer­zen hinaus. Das Vergnügen ist ein unmittelbares Gefühl von der Erweiterung, und der Schmerz von der Verengerung und Ein­schränkung unserer Fähigkeiten. Mithin zielen alle tierischen Verrichtungen selbst, in so weit sie willkürlich sind, auf die Ausbil­dung der Seelenfähigkeiten. Ich bin nicht ungeneigt von den natür­lichen Verrichtungen, die man für bloß mechanisch hält, etwas ähnliches zu glauben ; jedoch von den willkürlichen scheint es mir ausgemacht. Beim Menschen ist dieses noch allgemeiner. Nehmen Sie den weiten Umfang aller Fähigkeiten seiner vermischten Natur zusammen ; so wird das Vergnügen in dem Bewusstsein von der harmonischen Beschäftigung, die Unlust aber in dem Bewusstsein der gehemmten   |  xii.1: 182–183

Briefwechsel mit Johann Gottfried Herder (1769)

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oder unharmonischen Beschäftigung irgend einiger von diesen Fähigkeiten bestehen. Die Beschäftigung selbst erhält die Fähigkeit in Übung ; und wenn es auch eine Fähigkeit des Körpers wäre ; so entspricht ihr doch eine Fähigkeit in der Seele, die durch das Bewusstsein von der harmonischen Beschäftigung, so | w ie durch den Antrieb dazu, in Übung erhalten und erweitert wird. Hier zeigt sich die vollkommenste Harmonie zwischen unse­ rer Glückseligkeit und unserer Bestimmung. Eine jede der uns erteilten Fähigkeiten dringet auf Beschäftigung und erzeuget ein Bedürfnis. Die harmonische Befriedigung aller dieser Bedürf­ nisse macht unsere Glückseligkeit aus, und ist zugleich unsere Bestimmung. Wer sagt uns aber, fragen Sie, dass die Befriedigung unserer Be­dürfnisse, die harmonische Beschäftigung unserer Fähigkeiten zu­gleich Ausbildung, Verbesserung, Vollkommenwerden sei ?20 Ich weiß nicht, ob dieses noch in Zweifel zu ziehen, wenn wir auf die Bedeutung der Worte Ausbildung, Vollkommenheit, Realität zurück gehen. Wir können weder empfinden, noch denken, weder begehren noch genießen, ohne irgend ein Ver­mögen unserer Seele zu beschäftigen, zu üben, mehr oder weniger in eine Fertigkeit zu verwandeln. Und die Fertigkeiten, die unsere Seele erworben, sind bejahende Bestimmungen und also Realitäten. Wenn diese mit allen übrigen der Seele zukommenden Realitäten in gehöriger Proportion ausgebildet werden, so sind es wahre Vollkommenheiten der menschlichen Seele. Sie sagen zwar : „die menschliche Seele nimmt von der Gegenseite so ab, als sie von der Gegenseite zunimmt.“ [hier S. 194] Ich muss Ihnen aber geste­hen, dass ich zu dieser Behauptung weder in der Erfahrung, noch in der Vernunft den mindesten Grund finden kann. Was hat die Seele des Kindes verlieren müssen, um die Augen nach dem Licht hinwenden zu lernen ? oder die Stimme seiner Wohltäterin, der Amme, von allen übrigen zu unterscheiden ? Man findet hier keine Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung, daraus etwa auf die Erhaltung einer gleichen Quantität geschlossen werden könnte. Es scheinet mir immer, als wenn Sie bloß die erworbenen Fertigkei­ten des Gelehrten, oder   |  xii.1: 183–184

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Briefwechsel mit Johann Gottfried Herder (1769)

des Virtuosen vor Augen gehabt hätten, von welchen es leider ! nur gar zu oft wahr ist, dass sie von der einen Seite eben so viel, wo nicht mehr, ab, als sie von der andern Seite zunehmen. Denn diese verfehlen das Maß und sündigen wider die so sehr nötige Harmonie aller Fähigkeiten, und Funktionen des Menschen. Ich rede aber von den Fähigkeiten eines alltäglichen Menschen, der in der Gesellschaft lebt, und durch den geselligen Umgang seine Sinne mit Verstand brauchen gelernt | hat. Ich rede von einem Kinde, das täglich neue Dinge erfährt, neue Fertigkeiten erwirbt, oder wenigstens die Erworbenen täglich ausbildet. Wenn das Kind auch im Mutterleibe stirbt ; so hat es schon Hunger und Durst, Wärme und Nässe, das Angenehme einer freien, und das Unangenehme einer gezwungenen Lage fühlen ge­lernt. Es stirbt also vollkommener als es empfangen worden ist. Ich sehe also nicht, warum wir nicht sagen könnten : wir leben, um die Welt vollkommener zu verlassen, als wir sie betraten. Dieses scheint mir vielmehr eine Bestimmung, die sich für gesittete und ungesittete Menschen, für Säuglinge sowohl als für Männer und Greise schickt ; ein Endzweck der Natur, den sie niemals verfehlt. Sie sagen : wir betreten die Welt nur, um hier vollkommener zu werden, zuzunehmen und abzunehmen, zu lernen und anzu­wenden, um immer uns und die Welt zu genießen. Ich habe hier beinahe wider jedes Wort etwas zu erinnern. Die Einschränkung der erworbenen Vollkommenheiten auf die gegenwärtige Welt scheint mir [1)] mit dem Begriffe der Vollkommen­heit, angewendet auf die harmonisch erweiterten Fähigkeiten zu streiten ; 2) den Wegen der Natur nicht gemäß zu sein. Das Zu- und Abnehmen hebt sich einander nicht auf. Jenes übersteigt, so kurz oder so lang auch das menschliche Leben genommen wird. – „Zu lernen und anzuwenden“ [hier S. 194] ? Diesen Unterschied finde ich in der Natur nicht. Unser Lernen ist zugleich Anwenden, und unser Anwenden niemals ohne Lernen. – So verhält es sich auch mit dem „Erwerben und Genießen“. Wir ge­nießen im Erwerben, so wie wir durch den Genuss allezeit erwer­ben : indem das Vergnügen ein sinnliches oder anschauendes  Be­w usstsein von der harmonischen Beschäftigung irgend |  xii.1: 184–185

Briefwechsel mit Johann Gottfried Herder (1769)

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einiger Funktionen unserer Natur, d. i. von dem Übergange zu einer größern Vollkommenheit, voraussetzt. Der Genuss ist nicht unsere höchste Glückseligkeit, nicht bloß Endzweck ; und kein Mittel : wie wir, unserer bloßen Empfindung zufolge, etwa davon urteilen möchten. Unser Verstand sagt uns vielmehr, dass das harmo­nische Erwerben der Fähigkeiten höchster Endzweck sei ; und dass dieses mitten im Genusse erhalten werde, wenn die Weisheit dabei die Aufsicht führt. Nach dieser Betrachtung erweitert sich der Gesichtskreis offenbar über die Grenze dieses Lebens weit hinaus. Wir haben hier gelebt, um zu erwerben, an Vollkommenheit zuzu | nehmen. Dahin zielten unsre Wünsche, unsre Neigungen, unsere Handlungen, unser Erlernen, unser Anwenden, unser Genießen. Wären wir auch als Säuglinge gestorben, so hätten wir doch schon erworben gehabt ; viel oder wenig, das tut nichts. Was der Rei­che nicht achtet, das kann den Bettler glücklich machen. „Vollkommenheiten, die in jenem Leben nicht zu brauchen sind“ [hier S. 194] ? Von dieser Art sind vielleicht mehr Fertigkeiten, die wir als Gelehrte, aber keine, die wir als Men­schen erwerben. Wenn der junge Mensch auf der hohen Schule dis­putieren lernt und ein Finanzbedienter werden soll, so hat er eine Fertigkeit erlangt, welche er nicht anwenden kann. Was wir aber im Gängelbande und Flügelkleide lernen, das brauchen wir in un­serm ganzen Leben : der Landesherr mag aus uns machen, was er will. In unserer bürgerlichen Verfassung, da die Gewerbe so sehr verteilt werden müssen, ist manches Individuum genötigt, der angeführten Harmonie zuwider sich gewisse Fähigkeiten vor­züglich anzuschaffen, und darüber andere zum Teil zu ver­ nach­lässigen. Wenn von diesen die Rede ist, so stimme ich völlig mit Ihren Ausrufungen bei : „greise Kinder, kindische Greise !“ [hier S. 194] Allein man hat dieser Verfeinerung des geselligen Lebens schon längstens mit einigem Rechte vorgeworfen, dass sie manchem Bürger eine Lebensart aufdringt, welche mit der Be­stimmung des Menschen schwerlich zu vereinigen ist. Aber eine wohlproportionierte Erwei­terung unserer Fähigkeiten muss in jedem zukünftigen Zustande Vollkommenheit sein. Wider die   |  xii.1: 185–186

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Briefwechsel mit Johann Gottfried Herder (1769)

Palingenesie hätte ich nichts ; nur nicht wieder das, was wir gewesen sind ! Das Emporstreben ist in der menschlichen Seele, wie wir gesehen, nicht zu leugnen ; und das Vergangene ist in der Natur nicht verloren. Das Gleichnis von der Raupe scheint mir so ungereimt nicht. Auch wir werden Wesen von vermischter Na­tur bleiben ; aber von einer bessern Art als jetzo. Was wir sind und was wir sein werden, hängt im übrigen so genau zusammen, dass Ein Zustand aus dem andern vollkommen zu begreifen sein wird. Für Unordnung kann dem Meister nicht bange werden, denn er hat in der Anlage auf die Beförderung mit gerechnet. Die Dinge rücken ihm nicht fort, sondern nur auf seinen Wink weiter. „Es gibt Streit in der Natur zwischen Tieren und Tieren, Tie­ ren und Menschen“ [hier S. 197]. Wer wird dieses leugnen ? Aber der Mensch | ist ein moralisches Wesen, das seine Pflichten und Rechte hat. Hieraus schließe ich, dass ein Krieg zwischen Menschen und Men­schen sein entschiedenes Recht und Unrecht haben muss ; dass ein Krieg, der auf beiden Seiten gerecht ist, eben so ungereimt sei, als ein gradliniger Triangel, welcher zwei rechte Winkel hat. Nicht den Krieg, bloß einen auf beiden Seiten gerechten Krieg halte ich für unmöglich ; und ein solcher würde zwischen Menschen entste­hen, wenn keine Unsterblichkeit wäre. Wenn das Recht, Andere zu töten, politisch ist, so muss es auch menschlich sein ; denn der Mensch ist ein politisch Wesen. Es muss auch moralisch sein ; denn in dem Lehrbuch der Natur stehen Mo­ral und Politik in einer und eben derselben Abteilung. Sie, mein Herr ! der Sie sich in allen Ihren Schriften vom Zwange der Schul­methode frei zu machen wissen, können mich unmöglich mit einer leeren Distinktion abweisen wollen. † Ein sterbendes Phänomenon, ein umkommender Held und eine zerplatzende Wasserblase † sind in Absicht auf das ganze Weltall auch nicht von gleicher Wichtigkeit ; ob sie es gleich haben werden müssen, da Pope21 eine Antithese suchte. † Ein … Wasserblase ]  Nicolais Druck, 1810 : Ein sterbender Sperling und ein umkommender Held, ein vernichteter Erdball und eine zerplatzende Wasser-Blase   |  xii.1: 186–187

Briefwechsel mit Johann Gottfried Herder (1769)

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Ich schließe für dieses Mal, um nicht zu weitläuftig zu werden. Den entscheidenden Ton, welchen ich zuweilen angenommen, bitte ich zu verzeihen. Er ist das Salz des metaphysischen Disputs ; hat aber in der Tat nichts weniger zur Absicht, als Ihnen meine Meinung aufzudringen. Wundern sollte es mich indessen, wenn wir lange dissentieren könnten, da wir in den Grundsätzen uns so nahe sind. Vielleicht klebe ich noch zu sehr an dem System, vielleicht haben Sie sich zu weit davon entfernt. Eines von beiden muss wohl die Ursach sein, dass wir noch nicht harmonieren. Nach einer und der andern näheren Erklärung wird dieses leicht zu entscheiden sein. Fahren Sie indessen fort, mich Ihrer Achtung wert zu schät­zen. Ich verharre mit vieler Hochachtung und Ergebenheit Ihr Moses Mendelssohn. [197] | ¦ Herder an mendelssohn 22

Paris d. 1. Dez. 1769. Nach Ihren Erklärungen, mein Herr ! finden sich unsere Meinungen von der Natur der menschlichen Seele in Alle dem sehr nahe zusammen, was die Prolego ¦ menen23 unsrer Materie sind. Sie sind, wie ich, von dem Hirngespinst einer unkörperlichen menschlichen Seele überzeugt, und mithin auch von alle dem Nichts entfernt, was unsere Platoniker in der künftigen Seligkeit sich aus einer unsinnlichen menschlichen Natur folgern. Von der andern Seite bin ich, wie Sie, der Meinung, dass, nach Ihren Bestimmungen, die Ausbildung unsrer Seelenkräfte der Zweck unsres Hierseins sei : wenn präsupponiert wird, dass die Seele unser Ich, und unser Körper gleichsam nur das Phänomenon ihres Daseins, und das mittelbare Organum ihrer Vorstellungen sei. Ich bin in diesem letzten Punkte nur in Worten von Ihnen unterschieden gewesen, und freue mich also, dass ich auf den drei ersten Seiten Ihres Briefes nichts finde, was ich anders gedacht hätte. Seitdem ich Philosophie zu meiner Über  |  xii.1: 197  ¦ 177–178

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Briefwechsel mit Johann Gottfried Herder (1769)

zeugung studiert, habe ich’s Philosophisch gewiss gefunden, dass die menschliche Seele unzerstörbar durch die Zerstörung des Körpers, also unsterblich und ewig denkend im Universum existiere, existiert habe, und existieren werde. Das aber Alles ist noch nicht der Knote, der mir vorliegt und den ich Sie ersuchte, mir auflösen zu helfen. Verzeihen Sie mir, wenn ich nicht immer transzendentalisch und nach der Sprache des Sy­stems24 rede : suchen Sie, wenn ich mich nicht genau ausdrücke, meine Gedanken in Ihre Worte umzusetzen : am Ende müssen wir uns doch zusammen finden. „Ausbildung der Seelenkräfte gibt Fertig­keiten : Fertigkeiten sind Realitäten, und in Proportion ausgebil­det, Vollkommenheiten“ [hier S. 201] es kommt auf die Bestimmung dieser Be­griffe an, so sind wir ganz auf Einem Punkte. Das dünkt mich zuerst gewiss, dass alle unser Ausbilden, Lernen, Fertigerwerden, nichts als eine Entwickelung der Kräfte sei, die in uns liegen, die wir ganz auf diese Welt gebracht, die das Wesen unsrer Seele ausmachen. So wenig wir uns einen | neuen Sinn geben können : so wenig können wir uns neue Kräf ­te, Realitäten, Vollkommenheiten zusetzen, die materiell neu wären. Es ist nichts, als eine Veränderung des Formellen unserer Vorstellungen, was wir uns geben : der dunkle Begriff wird klar, der klare deutlich, der sinnlich unvollkommene sinnlich vollkom­ men, der Versuch wird Fertigkeit – was ist Versuch ? Was ist Fer­tigkeit ? Es sind Modifikationen dessen, was schon völlig da war, und keine neuen Attribute : es sind Veränderungen in der Beschaf­fenheit, nicht aber in dem Sein der Seele. Diese ist, wenn ich sinn­lich reden darf, an der Masse innerer Kräfte immer dieselbe geblieben : nur die Beschäftigung, gleichsam die Lage dieser Kräfte, dieser Bestandteile hat sich verändert. Figur, Form ist anders : spezifische Masse ist dieselbe. Ich glaube, diese Sätze sind kaum eines Zweifels fähig ; und nun ist die Folge leicht da. Wenn unser Lernen Nichts als Erinnern, wenn unser Vollkommenwerden Nichts als Entwickeln ist, so ist’s nichts, als Lernen, Aus­bilden, Entwickeln in und für diesen Zustand. Nach die­ sem   richtet sich die Beschaffenheit, das Maß und die Proportion |  xii.1: 197–198  ¦ 178

Briefwechsel mit Johann Gottfried Herder (1769)

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im Entwickeln : für diesen ist auch der Nutzen und ¦ Zweck. Nehmen Sie eine jede kleine einzelne Fertigkeit : sie will ihre Situation haben, in der sie gebildet worden, für die sie gilt – Situation, Anwen­dung weggenommen, und Fertigkeit verschwindet ; sie ist nicht mehr Vollkommenheit. Nun nehmen Sie die Summe aller unserer erlangten Fertigkeiten, die Summe aller unserer Erinne­ rungen von Begriffen, die Summe aller im besten Maß erworbenen Vollkommenheiten ; und endigen Sie dies Leben, das Phänomenon dieses Zustandes – was bleibt ? die nackte menschliche Seele, im Grund­stoff ihrer Kräfte und Fähigkeiten ; alle Akzidentien und zufällige Modifikationen des Zustandes sind verschwunden. Sie hat aus dem Fluss der Vergessenheit getrunken : das Habituelle ihrer Vorstel­lungen ist vertilgt, warum ? die Lage, die Position ist verändert, in der sie sich ihre Vorstellungen des Universums entwickelte. Sie hat nichts verloren, sie hat nichts gewonnen, sie ist was sie war. Alles, mein Herr, was Sie weitläuftig vom Maße sagen, in dem man seine Seelenkräfte entwickeln müsse, gehört nur für diesen Zustand des Lebens und also nicht eigentlich in unsre Frage. Vom Virtuosen und vom Gelehrten, wusste ich, ist nicht die Rede, son­dern vom Menschen, und frug also, ob eine Fertigkeit in der | menschlichen Seele, vermöge dessen, dass sie nichts als Fertigkeit ist, bleibend sein könne. Das Kind hat gelernt, die Augen nach dem Lichte hin zu kehren, und die Stimme seiner Amme zu unter­scheiden : Auge und Ohr sind nicht mehr : das Organ der Vorstellun­gen ist weg : mithin das Habituelle dieser Vorstellungen auch weg, und nichts als das Habituelle hatte es sich ja erwor­ben. Die Vorstellung selbst hatte es dunkel immer gehabt : das Or­ganum entwickelte sich : das Organum ist nicht mehr und die erwor­bene Fertigkeit, was wäre sie ohne dies ? was kann sie ohne dies sein ? Das Kind im Mutterleibe hat sein Gefühl entwickelt : der alltägliche Mensch seinen gesunden Menschenverstand entwickelt, sie haben, wie Sie selbst sagen, gelernt, indem sie angewandt, erworben, indem sie genossen, genossen, indem sie erworben – das Alles habe ich nie geleugnet. Aber nun hört Zustand auf, Position im Uni­versum auf ; dass das   |  xii.1: 198–199  ¦ 178–179

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Briefwechsel mit Johann Gottfried Herder (1769)

Wesen unsrer Seele nicht deswegen aufhöre, ist unleugbar : dass aber auch jedes aquirierte Akzidens, was nichts als Beziehung auf Lage war, deswegen nicht aufhören könne, sehe ich durchaus nicht ein. Vielmehr wird es begreiflich, dass es aufhören müsse, sobald gezeigt wird, dass es nichts als Modifikation nach dem vorigen positu25 ge­wesen : und sind dies nicht alle Fertigkeiten, Realitäten, Voll­kommenheiten, die wir uns hier erwerben ? sind alle diese im ge­ringsten was mehr ? Nichts in der Welt, glaube ich, hat mehr Meinungen und viel­ leicht auch mehr Irrtümer erzeugt, als dass man abstrakte Be­griffe als individuelle Existenzen betrachtet und ­realisiert hat. So realisieren wir das Wort Natur, Tugend, Realität, Voll­kom­men­­ heit. Ursprünglich waren diese Begriffe nichts als Abstraktionen, Verhältnisse von dem auf dies, gleichsam Schatten und Farben von Dingen ; wir machen sie zu Dingen selbst, und denken uns also Fertigkeiten, die die Seele ¦ wie Geldstücke sammle, Realitäten, die ur­sprünglich nur Relationen waren und die wir uns als Positionen gedenken, Vollkommenheiten die wir individualisieren und der Seele also mitgeben. Lassen Sie uns, mein Herr, durch Zergliederung der Begriffe auf den Ursprung dieser Worte zurückgehen ; und wir werden in ihnen phaenomena substantiata 26 sehen. Was ist, das ist ; nicht aber, was Etwas mit allen Akzidentien geworden ist, muss es auch bleiben. | Sie sehen, wo der Grund meines Zweifels liege, und ich glaube einen großen Teil Ihres Briefes übergehen zu können, der mit mir nicht in einerlei Gesichtspunkt tritt. „Das Vergangene ist freilich in der Natur der Dinge nicht verloren : was wir sind und sein werden, hängt freilich genau zusammen“ [hier S. 204] : aber wie anders als durch Raum und Zeit und durch den Grundstoff der Kräfte ? Das sind die Bande des Universums und die Kette unserer Zustände. Meine Seele hat sich durch ihre Kräfte eine organische Welt gebauet : diese Welt nutzt sich nach ihren Gesetzen ab und eilet zu Ende : meine Seele fängt sich durch die Triebfeder ihrer Kräfte eine andere an zu bereiten, durch Raum und Zeit und Kraft mit der ersten verbunden ; aber eben wie die erste eine   Schöpfung desselben Wesens, mit denselben Kräften, und |  xii.1: 199–200  ¦ 179–180

Briefwechsel mit Johann Gottfried Herder (1769)

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also auf eben der Stufe in der Reihe der Wesen. Wenn unter diesen einmal eine Rangordnung ist, so scheints die Natur ihres Wesens und der Begriff der Welt, die ein Inbegriff aller ist, zu fordern, dass jedes in seinem Grundstoff bleibe was es ist : dass also die Dinge, als Reali­täten des Universum, weder fort noch weiter rücken, dass also um kühn zu reden, so wie Gott Gott bleibt, der Mensch ein Mensch, der Löwe ein Löwe und der Baum ein Baum bleibe. Im Grundstoff jedes dieser Dinge liegt die Ursache, dass es ist, was es ist, und so lange dieser nicht aufgehoben wird, wird auch die Ursache nicht aufgehoben, dass es bleibt, was es ist. Wird jener aber aufgehoben, so wird die ganze Welt zerstört. – – Ich sehe, dass ich mit der letzten Folge mich in mehrere Meinungen verwickele, die ich hier nicht berühren wollte, und die das Wesen Gottes, der Welt und der einzelnen Existenzen betreffen. Sie aber, mein hochgeschätzter Herr, werden, wie ich hoffe, sehen, dass Sie meinen Einwürfen nicht eigentlich ein Genüge getan, und diese vielleicht zu speziell betrachtet haben : oder ich habe noch eine zweite nähere Erklärung nötig. Darf ich bitten, sich zu dieser eine zweite Mühe zu nehmen ? Wenigstens, glaube ich, wird aus meinen Briefen die redliche Absicht offenbar, bloß Wahrheit und Überzeugung zu suchen, und mich darüber mit denen im Stillen zu besprechen, die mit mir die Wahrheit zu suchen scheinen. Bequemen Sie sich, mein Herr, etwas nach meiner Schwäche, wenn Ihnen gleich Ihre Überzeugung sagen sollte, dass Sie gefunden haben. – – | Und Lavater hat Ihnen ein Defi über seine und Ihre Religion zugeschrieben ?27 Aber, mein Herr, wenn ein Dritter, der kein Sekundant sein will, Sie bei Ihrer Antwort um Etwas bitten dürfte : so wäre es, nicht bloß auf Bonneten zu antworten, dem ich nach gewissen christlichen Äußerungen in seinen physischen ¦ Schriften nicht eben die reinsten Begriffe zutraue, sondern die Sache überhaupt zu nehmen und ja nicht bloß zu sagen, wozu Sie kein Christ werden, sondern warum Sie ein Jude bleiben. Eine philosophische Widerlegung eines Beweises für die christliche Religion, den ich übrigens nicht kenne, ist nur ein halbes Werk : ein philosophischer Beweis von der Wahrheit der   |  xii.1: 200–201  ¦ 180–181

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Briefwechsel mit Johann Gottfried Herder (1769)

jüdischen Religion wäre was mehr, und ich wünschte, diesen nicht als Axiom vorausgesetzt zu sehen, sondern zuerst oder zuletzt bewiesen zu lesen. Mein Papier ist aus : ich bin mit aller Achtung etc. Herder.



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Anhang, einige Einwürfe betreffend, die dem Verfasser gemacht worden sind. (1769)1 Verschiedene Freunde der Wahrheit haben die Gewogenheit gehabt, mir ihre Erinnerungen und Anmerkungen über obige Gespräche, teils in Privatbriefen und teils in öffentlichen Blättern, zu Gesichte kommen zu lassen.2 Nicht wenige derselben habe ich bei dieser zwoten Auflage mit Nutzen gebraucht. Ich habe hier und da verändert, an einigen Stellen mich deutlicher erklärt, und andere durch Noten erläutert. Dieses ist der einzige Dank, den diese würdige Männer von mir erwarten. Aber alles habe ich nicht aus dem Wege räumen können, was meinen Richtern anstößig geschienen. Zum Teil haben mich ihre Gründe nicht überzeugt, und zum Teil gingen ihre Anforderungen über meine Kräfte. Man erlaube, dass ich mich hier über einige Er­inne­rungen von dieser Art erkläre. Überhaupt muss ich bekennen, dass die Kunstrichter in An­sehung meiner eher nachsichtsvoll, als strenge gewesen sind. Ich habe mich über keinen unbilligen Ta ¦ del zu beschweren, vielleicht eher über unbilliges Lob, davon mich die Selbsterkenntnis versichert, dass es übertrieben ist. Unmäßiges Lob pflegt mehr die Absicht zu haben andere zu demütigen, als den Gegenstand desselben anzuspornen. Ich habe mir niemals in den Sinn kommen lassen, Epoche in der Weltweisheit zu machen, oder durch ein eigenes System berühmt zu werden. Wo ich eine betretene Bahn vor mir sehe, da suche ich keine neue zu brechen. Haben meine Vorgänger die Bedeutung eines Worts festgesetzt, warum sollte ich davon abweichen ? Haben sie eine Wahrheit ans Licht gebracht, warum sollte ich mich stellen, als wüsste ich es nicht ? Der Vorwurf der Sektiererei3 schreckt mich nicht ab, von andern mit dankbarem Herzen anzunehmen, was ich bei ihnen brauchbares und nützliches finde. Ich gestehe es, der Sektiergeist hat dem   Fortgange der Weltweisheit sehr geschadet, | aber er kann, |  iii.1  : 143–144 

¦ 195–196

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Anhang zur dritten Auflage (1769)

meines Erachtens, von Liebe zur Wahrheit eher im Zaume gehalten werden, als die Neuerungssucht. Jedoch ich soll, selbst in dem ersten Gespräche, allwo ich genauer beim Plato geblieben zu sein vorgebe, Sätze aus Wolff und Baumgarten ohne Beweis vorausgesetzt haben, die nicht jeder Leser so schlechter ¦ dings annimmt.4 – Welches sind denn diese Sätze ? Etwa, dass die Kräfte der Natur stets wirksam sind ? Ich glaube, dieser Satz sei so alt, als die Weltweisheit selbst. Man hat von je her gewusst, dass ein wirksames Ding, wenn es nicht gehemmet wird, die ihm angemessene Wirkung hervorbringt, und wenn es Widerstand findet ; so wirkt es in diesen Widerstand zurück. Es ist also niemals in Ruhe. • Das Wort wirklich sein, wodurch man das Dasein andeutet, gibt nicht ohne Grund zu verstehen, dass alles, was da ist, auch wirklich sein, d. i. etwas tun müsse.5 Eine Kraft, die nicht wirkt, ist eine Kraft, die nicht vorhanden ist, denn das Können, Vermögen, u. s. w. sind bloße Möglichkeiten, Begriffe, die nicht eher einen Gegenstand haben, als wenn von wirklichen Kräften die Rede ist, die auf eine gewisse Art angewendet sind, in so weit sie ihrer Natur nach auch andern Anwendungen nicht widersprechen. Man sagt z. B. von einem Manne in Geschäften, er könne auch dichten, er besitze das Vermögen dazu in einem vorzüglichen Grade. Wenn in dieser Redensart Wahrheit sein soll, so muss sie folgende Bedeutung haben ; die Seelenkräfte dieses Mannes, die itzt mit der Verwaltung eines bürgerlichen ¦ Amts, u. s. w. beschäftiget sind, widersprechen auch einer Anwendung nicht, wodurch gute Gedichte hervorkommen würden. Wenn von einer Kraft gesagt wird, sie wirke nur bei einer gewissen Gelegenheit ; so ist die Frage : und wenn diese Gelegenheit fehlet, was geschiehet ? – Wirkt die Kraft alsdann gar nichts ? – So ist sie ja in Abwesenheit der Gelegenheit eine bloße Möglichkeit zu wirken, und diese bloße Möglichkeit soll doch auch vorhanden sein ? – Die Gelegenheit kann nur die Anwendung der Kräfte abändern, indem diese Anwendung nicht von der Kraft selbst ; sondern von der Verbindung, in welcher sie mit andern Dingen stehet, abhänget, aber die Gelegenheit kann keine Kraft erwecken, die aufgehört hat zu wirken, auch keine   |  iii.1: 144  ¦ 196–198

Anhang zur dritten Auflage (1769)

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Kraft vernichten, die einmal vorhanden ist. Wenn also gesagt wird  : eine jede Kraft müsse beständig wirksam sein ; so verstehet es sich von selbst, dass bloß von | ursprünglichen Kräften die Rede ist, nicht von ihrer Anwendung auf besondere Arten von Gegenständen, wodurch Fähigkeiten entstehen. Diese werden zuweilen, wiewohl etwas uneigentlich, auch Kräfte genennt ; allein von ihnen ist es offenbar, dass sie nicht immer wirksam sein dürfen, ¦ und dieses geschiehet, wie vorhin schon berühret worden, so oft sich von der ursprünglichen Kraft begreifen lässt, dass sie ihrer Natur nach auf eine gewisse Art von Gegenständen zwar anwendbar, aber nicht immer angewendet sein müsse. So kann das Nachdenken bei einem Schlafenden, die Erfindungskraft bei einem sinnlich Beschäftigten, und die Urteilskraft bei einem Betörten eine Zeitlang ganz untätig sein. Aber alsdann ist die ursprüngliche Kraft, von welcher diese Fähigkeiten, die zuweilen auch Kräfte heißen, bloße Ableitungen sind, nichts weniger als untätig. • Diese Begriffe leuchten der gesunden Vernunft so sehr ein, dass sie keines Beweises bedürfen, und die Weltweisen aller Zeiten müssen sie gedacht, nur zuweilen in Worten anders ausgedrückt haben. Ist etwa dieser Satz Wolffisch : dass alles Veränderliche keinen Augenblick unverändert bleibe ? – Nicht doch, die Schriften des Plato sind voll davon. Alle vergängliche Dinge, sagt dieser Weltweise im Theaetetus 6 und an vielen andern Stellen, sind in beständigem Wechsel von Gestalten, und bleiben keinen Augenblick sich selbst ähnlich. Er schreibt ihnen daher kein wirkliches Dasein ; sondern ein Entstehen ¦ zu.* Sie sind nicht vorhanden, spricht er, sondern entstehen durch die Bewegung und Veränderung, und vergehen. Dieses ist ein Hauptgrundsatz der platonischen Lehre, und hierauf gründet sich seine Theorie von dem wahren Dasein der allgemeinen unveränderlichen Begriffe, sein * Plotinus 7 sagt : Iam vero neque corpus omnino erit ullum, nisi

a­ nimae vis extiterit. Nam fluit sem per et in motu ipsa corporis natura versatur, citoque periturum est universum, si quaecunque sunt sint corpora. [Ennead. IV, lib. VII, c. 3]   |  iii.1: 144–145  ¦ 198–200

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Anhang zur dritten Auflage (1769)

Unterschied zwischen Wissenschaft und Meinung, seine Lehre von Gott, und von der Glückseligkeit, seine ganze Philosophie. Alle Schulen der Alten sind beschäftiget gewesen, diesen Satz zu bestätigen, oder zu widerlegen. Man weiß das Gleichnis von einem Baume, der seinen Schatten auf ein vorbeifließendes Wasser wirft. Der Schatten scheinet immer derselbe zu sein, obgleich der Grund, | auf welchem er gezeichnet ist, sich beständig fortbewegt. So, sagten die Anhänger des Plato, scheinen uns die Dinge Beständigkeit zu haben, ob sie gleich in stetem Wechsel sind. Dass diese Lehren auch im Wolff und Baumgarten vorkommen8 , ist kein Wunder, da sie ¦ seit den Zeiten des Heraclitus und Pythagoras von jedem Weltweisen haben untersucht werden müssen. Ich würde durchaus antik geblieben sein, wenn ich keine neueren Sätze hätte brauchen dürfen, als diese. Ich soll aber meine ganze Demonstration auf den Satz gegründet haben, dass empfinden, denken und wollen die einzigen Wirkungen der Seele sind, und dieser Satz soll außer der Schule, der ich anhänge, nicht angenommen werden. Ja, setzt ein Kunstrichter hinzu,9 wenn er auch von der Seele, als Seele, zugegeben wird ; so kann er doch nicht von der Seele als Substanz gelten. Als Substanz muss sie auch noch eine bewegende und widerstehende Kraft haben, die mit der denkenden gar nichts gemein hat. Durch diese Unterscheidung soll einer von meinen Hauptbeweisen über den Haufen fallen, denn die Seele kann nach dem Tode als Substanz wirksam bleiben, ohne als Seele zu empfinden, zu denken und zu wollen. Wir wollen sehen ! Mein Beweis, sagt man, gründe sich auf einen Satz, der nicht wahr ist, und ich ? ich glaube, der Satz sei wahr, aber mein Beweis gründe sich nicht darauf. Ob eine Substanz nur eine Grundkraft, oder mehrere haben könne, ob denken und wol ¦ len aus einer, oder mehrern Grundtätigkeiten fließen, ob die Seele den Leib bewege, oder nicht bewege, • ob die Seele nach dem Tode ganz körperlos sein werde10 • ; diese und mehrere dahin einschlagende Untersuchungen kann ich als unausgemacht dahin gestellt sein lassen. Für mich habe ich zwar Partei genommen  ; allein die Beweise für die Unsterblichkeit der Seele   |  iii.1: 145–146  ¦ 200–202

Anhang zur dritten Auflage (1769)

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sollen mit so wenig andern Streitfragen, als möglich, verwickelt bleiben. Das Vermögen oder die Kraft zu denken und zu wollen nenne ich Seele, und mein ganzer Beweis gründet sich auf folgendes Dilemma : Denken und wollen sind entweder Eigenschaften des Zusammengesetzten, oder des Einfachen. Jenes wird im zweiten Gespräche untersucht. In dem ersten betrachte ich sie als Eigenschaften des einfachen Wesens. Die Eigenschaften des einfachen Wesens sind entweder Grundtätigkeiten, oder Modifikationen anderer Tätigkeiten. Man gestehet ein, dass denken | und wollen nicht bloße Modifikationen anderer Kräfte ; sondern ursprüngliche Tätigkeiten sein müssen. Eine, oder mehrere, das tut nichts ; die einfachen Wesen mögen auch außer dem Denken und Wollen noch andere Kräfte haben, bewegende, widerstehende, stoßende oder anziehende, so ¦ viel man nur will, und Namen erdenken kann. Genug, dass denken und wollen nicht bloße Abänderungen dieser ungenannten Kräfte ; sondern von ihnen unterschiedene Grundtätigkeiten sind. Nun können alle natürliche Kräfte nur Bestimmungen abändern, nur Modifikationen mit einander abwechselnd machen, niemals aber Grundeigenschaften und für sich bestehende Tätigkeiten der Dinge in Nichts verwandeln ; daher kann die Kraft zu denken und zu wollen, oder können die Kräfte zu denken und zu wollen, niemals durch natürliche Veränderungen vernichtet werden, wenn sie auch noch so viel von ihnen verschiedene Kräfte zurücklassen. Eine wundertätige Allmacht gehört dazu, ein solches Vermögen hervorzubringen, oder zu zernichten. Dass durch alle Kräfte der Natur nichts wahrhaftig zernichtet werden könne, ist, so viel ich weiß, von keinem Weltweisen noch in Zweifel gezogen worden. Eine natürliche Handlung, hat man von je her gesagt, muss Anfang, Mittel und Ende haben, das heißt, es muss ein Teil der Zeit verstreichen, bevor sie vollendet wird. Dieser Teil der Zeit mag so klein sein, als man will, er verleugnet doch niemals die Natur der Zeit, und hat aufeinanderfolgende Augenblicke. Sollen die Kräfte ¦ der Natur eine Wirkung hervorbringen ; so müssen sie sich dieser Wirkung allmählich nähern, und sie vorbereiten, bevor sie erfolget. Eine   |  iii.1: 146–147  ¦ 202–204

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Anhang zur dritten Auflage (1769)

Wirkung aber, die nicht vorbereitet werden kann, die in einem Nu erfolgen muss, hört auf natürlich zu sein, kann nicht von Kräften hervorgebracht werden, die alles in der Zeit tun müssen. Alle diese Sätze sind den Alten nicht unbekannt gewesen, und sie schienen mir in dem Raisonnement des Plato* von den entgegengesetzten Zuständen und den Übergängen von einem auf den andern, nicht undeutlich zu liegen. Darum suchte ich sie meinen Lesern nach Platons Weise, aber mit der unsern Zeiten angemessenen Deutlichkeit, vorzutragen. Sie leuchten zwar der gesunden Vernunft ziemlich ein ; allein durch die Lehre von der Stetigkeit erlangen sie meines Erachtens einen | hohen Grad der Gewissheit. Ich ergriff auch nicht ungern die Gelegenheit, meine Leser mit dieser wichtigen Lehre bekannt zu machen, weil sie uns auf richtige Begriffe von den Veränderungen des Leibes und der Seele führet, ohne welche man Tod und Leben, Sterblichkeit und Unsterblichkeit nicht aus dem rechten Gesichtspunkte betrachten kann. ¦ Wie aber ? fragte man, kann wohl irgend eine Veränderung ohne alle Zernichtung vorgehen ? Muss nicht die Bestimmung einer Sache zernichtet werden, wenn die entgegengesetzte Bestimmung an ihr wirklich werden soll ? Und wie ist dieses möglich, wenn die Kräfte der Natur nichts zernichten können ?11 – Ich glaube, man missbraucht hier das Wort zernichten. Wenn ein harter Körper weich, oder ein trockener feuchte wird ; so darf nicht etwa die Härte oder Trockenheit zernichtet, und die Weichheit oder Feuchtigkeit dafür hervorgebracht werden. So kann auch ohne die geringste Zernichtung das Lange kurz, das Kurze lang, das Kalte warm, und das Warme kalt, das Schöne hässlich und das Hässliche schön werden. Alle diese Modifikationen sind durch allmähliche Übergänge mit einander verbunden, und wir sehen gar deutlich, dass sie ohne die geringste Zernichtung oder Hervorbringung mit einander abwechseln können. Überhaupt sind die entgegengesetzten Bestimmungen, die durch natürliche Veränderungen an einer Sache möglich sind, *   Im Phädon [70D -71 B].

|  iii.1: 147–148  ¦ 204–205

Anhang zur dritten Auflage (1769)

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alle von der Art, dass zwischen beiden äußersten auch ein Mittel statt findet. Im Grunde sind sie nur durch das Mehr und Weniger von einander unterschieden. Verändert gewisse Teile ¦ in ihrer Lage, bringet diese näher zusammen, jene weiter von einander ; so wird das Schöne hässlich, das Lange kurz, u. s. w. Verdunkelt diese Begriffe, und heitert jene auf, schwächet diese Begierden, stärket jene Neigungen, so habet ihr die Einsichten und den Charakter eines Menschen verändert. Alles dieses kann durch einen allmählichen Übergang, ohne die geringste Zernichtung, geschehen, und solche Veränderungen sind der Natur allerdings möglich. Aber zwo entgegengesetzte Bestimmungen, zwischen welchen es kein Mittel gibt, können niemals natürlicher Weise auf einander folgen, und ich kenne kein Gesetz der Bewegung, das diesem Satz zuwider sein sollte. Hierüber verdienet der Pater Boscovich* nachgelesen zu werden, | welcher das Gesetz der Stetigkeit in ein vortreffliches Licht gesetzt hat.12 Allein wozu alle diese stachelichten Untersuchungen in einem sokratischen Gespräche ? Sind sie nicht für die einfältige Manier des atheniensischen Weltweisen viel zu spitzfindig ?13 Ich antworte : man scheinet zu vergessen, dass ich dem Plato, und nicht dem Xenophon14 nachahme. Die ¦ ser letztere vermied alle Spitzfindigkeiten der Dialektik, und ließ seinen Lehrer und Freund dem gesunden ungekünstelten Menschenverstande folgen. In sittlichen Materien ist diese Methode unverbesserlich ; allein in metaphysischen Untersuchungen führet sie nicht weit genug. Plato, der der Metaphysik hold war, machte seinen Lehrer zum pythagor[ä]ischen Weltweisen, und ließ ihn in den dunkelsten Geheimnissen dieser Schule eingeweihet sein. Wenn Xenophon auf ein Labyrinth stößt ; so lässt er den Weisen lieber schüchtern ausweichen, als sich in Gefahr begeben. Plato hingegen führet ihn durch alle Krümmungen und Irrgänge der Dialektik, und lässt ihn in Untersuchungen sich vertiefen, die weit über die Sphäre des gemeinen Menschenverstandes sind. Es kann sein, dass Xenophon dem Sinne des Weltweisen, der die *   In seiner Abhand. de lege continui, und in seinen Princ. phil. nat.

|  iii.1: 148–149  ¦ 205–207

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Philosophie von dem Himmel herunter geholt, treuer geblieben ist. Ich musste nichts destoweniger der Methode des Plato folgen, weil diese Materie, meines Erachtens, keine andere Behandlung leidet, und ich lieber subtil sein, als von der Strenge des Beweises etwas vergeben wollte. Die Sophisterei hat sich in unsern Tagen unter gar verschiedenen Gestalten gezeigt. Bald mit Spitzfindigkeiten gewaffnet, bald unter der ¦ Larve der gesunden Vernunft, bald als Freundin der Religion, jetzt mit der Dreistigkeit eines vielwissenden Thrasymachus15, dann wieder mit der unschuldigen Laune eines nichtswissenden Sokrates. Mit allen diesen Proteuskünsten hat sie gesucht, die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele ungewiss zu machen, und die Gründe jetzt zu verspotten, jetzt im Ernste zu widerlegen. Wie sollen die Freunde dieser Wahrheit sie verteidigen ? Durch sokratische Unwissenheit kann man den Dogmatiker rasend machen, aber nichts festsetzen. Durch Gegenspott wird niemand überzeugt. Ihnen bleibt also kein anderer Weg, als die Gaukeleien der Zweifelsüchtigen für das zu halten, was sie sind, und nach Vermögen zu beweisen. • Dass ich dem Sokrates Gründe in den Mund gelegt, die ihm zu seiner Zeit, nach dem damaligen Zustande der Weltweisheit, nicht | haben bekannt sein können, gestehe ich in der Vorrede mit ausdrücklichen Worten. Ich nenne so gar die neueren Weltweisen namentlich, von denen ich das mehreste entlehnt habe [s. hier S. 63]. Es konnte also meine Absicht nicht gewesen sein, den Neuern etwas von ihren Verdiensten um die Lehre von der Unsterblichkeit zu entziehen, und es den Alten zuzulegen.16 Überhaupt ¦ ist mein Sokrates nicht der Sokrates der Geschichte. Jener lebte in Athen, unter einem Volke, welches als [das] erste sich um wahre Weltweisheit bekümmerte, und zwar damals noch seit nicht langer Zeit. Weder die Sprache, noch die denkende Köpfe waren noch zur Philosophie gebildet. Er war ein Schüler von Weltweisen, die selten einen Blick auf ihre Seele zurückgeworfen, die alles eher als sich selbst zum Vorwurfe ihrer Betrachtungen gemacht haben. Daher musste in der  Lehre von der menschlichen Seele und ihrer Bestimmungen |  iii.1: 149–150  ¦ 207–209

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noch die größte Dunkelheit herrschen. Die hellesten Wahrheiten sahe man nur in der Ferne schimmern, ohne die Wege zu kennen, die zu ihnen hinführen. Ein Sokrates selbst konnte in solchen Zeiten nicht mehr tun, als die Augen unverrückt auf diese einzelne Wahrheiten richten, und sich in seinem Lebenswandel von ihnen leiten lassen. Die Evidenz philosophischer Begriffe und ihr vernünftiger Zusammenhang ist eine Wirkung der Zeit und der anhaltenden Bemühung vieler nachdenkenden Köpfe, die die Wahrheit aus verschiedenen Gesichtspunkten betrachten, und dadurch von allen Seiten ins Licht setzen. Nach so manchen barbarischen Jahrhunderten, die auf jenem schönen Morgen der Philosophie gefolgt sind, Jahrhunderte, in welchen die menschliche Vernunft dem Aberglauben und der Tyrannei hat fröhnen müssen, hat ¦ die Weltweisheit endlich bessere Tage erlebt. Alle Teile der menschlichen Erkenntnis haben durch eine glückliche Beobachtung der Natur ansehnliche Progressen gemacht. Unsere Seele selbst haben wir auf diesem Wege besser kennen lernen. Durch eine genauere Beobachtung ihrer Wirkungen und Leiden hat man mehrere Data festgesetzt, und daraus ließen sich, vermittelst einer bewährten Methode, auch richtigere Folgen ziehen. Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion haben durch diese Verbesserung der Philosophie eine Evidenz erlangt, die alle Einsichten der Alten verdunkelt, und wie in den Schatten zurückwirft.17 Noch hat zwar die Philosophie ihren hellen Mittag nicht erreicht, in welchem sie vielleicht unsere Enkel dereinst erblicken werden ; allein man müsste | auf die Verdienste seiner Zeitgenossen sehr neidisch sein, wenn man den Neuern nicht in Absicht auf die Philosophie große Vorzüge einräumen wollte. Ich habe niemals den Plato mit den Neuern, und beide mit den düstern Köpfen der mittlern Zeiten vergleichen können, ohne der Vorsehung zu danken, dass sie mich in diesen glücklichern Tagen hat geboren werden lassen. Als ich über die Unsterblichkeit der Seele nachzudenken hatte, und es mir einige Mühe kostete, Glauben von Überzeugung zu unterscheiden, fiel mir der Gedanke ein : durch welche Gründe würde ein Sokrates in unsern Tagen sich und seinen Freunden   |  iii.1: 150–151  ¦ 209–210

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die Unsterblichkeit ¦ beweisen können ? Ein Freund der Vernunft, wie er war, würde ganz gewiss von andern Weltweisen mit Dank angenommen haben, was in ihrer Lehre auf Vernunft gegründet ist, sie möchten übrigens einem Lande, oder einer Religionspartei zugehören, welcher sie wollten. Man kann in Absicht auf Vernunftwahrheiten mit jemanden übereinstimmen, und dennoch verschiedenes unglaubwürdig finden, das er auf Glauben annimmt. Da die brüderliche Duldung der politischen Welt so sehr empfohlen wird ; so müssen sie Freunde der Wahrheit billig zuerst unter sich hegen. Was des Glaubens ist, wollen wir dem Gewissen und der Beruhigung eines jeden überlassen, ohne uns zu Richtern darüber aufzuwerfen. Aus wahrer Menschenliebe wollen wir da nicht streiten, wo das Herz lauter spricht, als die Vernunft, und zu dem allgnädigen Gott das Zutrauen haben, dass er uns alle rechtfertigen wird, wenn uns unser Gewissen rechtfertiget. Aber die Vernunftwahrheiten wollen wir mehr als brüderlich teilen, wir wollen sie, wie das Licht der Sonne, gemeinschaftlich genießen. Hat es dich, Bruder ! eher beleuchtet, als mich ; sei vergnügt, aber nicht stolz darauf, und, was noch unmenschlicher wäre, suche mir es nicht gar zu verstellen. – – Der diese, oder jene Wahrheit ins Licht gesetzt hat, war deines Vaterlandes, deines Glaubens ? Gut ! Es ist angenehm, mit den Wohltätern des menschlichen ¦ Geschlechts in einem engern Verhältnisse zu stehen. Aber deswegen ist das, was deine Landsleute, deine Glaubensgenossen herausgebracht, nicht minder eine Wohltat, die uns allen beschieden ist. Die griechische Weisheit hat auch Barbaren genützt, und euch, die ihr erst seit kurzer Zeit diesen Namen nicht mehr verdienet, euch selbst hat sie aus der Barbarei befreien helfen. Die Weisheit kennet ein allgemeines Vaterland, eine allgemeine Reli | g ion, und wenn sie gleich Abteilungen duldet ; so billiget sie doch das Unholde, Menschenfeindliche derselben nicht, das ihr zum Grunde eurer politischen Einrichtungen gelegt habet. – So würde, dünkt mich, ein Mann wie Sokrates in unsern Tagen denken, und aus diesem Gesichtspunkte angesehen, dürfte ihm der Mantel der neuern Weltweisheit,   den ich ihm umgehangen, so unschicklich nicht lassen. • |  iii.1: 151–152  ¦ 210–212

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Den Beweis, dass die Materie nicht denken könne, im zweiten Gespräche, haben folgende Betrachtungen veranlasset. Cartesius18 hat gezeigt, dass Ausdehnung und Vorstellungen von ganz verschiedener Natur sind, und dass die Eigenschaften des denkenden Wesens sich nicht durch Ausdehnung und Bewegung erklären lassen. Ihm war dieses Beweises genug, dass sie nicht eben derselben Substanz zugeschrieben werden können, denn nach einem bekannten Grundsatze dieses Weltweisen kann eine Eigenschaft, die sich nicht durch die Idee einer Sache deut ¦ lich begreifen lässt, dieser Sache nicht zukommen. Allein dieser Grundsatz selbst hat vielfältigen Widerspruch gefunden, und was die Eigenschaften des ausgedehnten und denkenden Wesens betrifft ; so hat man den Beweis gefordert, dass sie nicht nur von disparater Natur sind, sondern sich einander widersprechen. Von Eigenschaften, die sich einander schnurstracks widersprechen, sind wir versichert, dass sie nicht eben dem Subjekte zukommen können ; allein von Eigenschaften, die nichts mit einander gemein haben, schien dieses so ausgemacht noch nicht. Als ich die Immaterialität zu erweisen hatte, stieß ich auf diese Schwierigkeit ; und ob ich gleich der Meinung bin, dass der Grundsatz des Cartesius, dessen ich vorhin erwähnt, gar wohl außer Zweifel gesetzt werden könnte ; so sahe ich mich dennoch nach einer Beweisart um, die mit weniger Schwierigkeit nach der sokratischen Methode abgehandelt werden könnte. Ein Beweis des Plotinus, den einige Neuere weiter ausgeführt haben,19 schien mir diese Bequemlichkeit zu versprechen. „Einer jeden Seele“, schließt Plotinus*, „wohnet ein Leben (ein inneres Bewusstsein) bei. Wenn nun die Seele ein körperliches Wesen sein sollte ; so müssten die Teile, aus welchen dieses körperliche Wesen bestehet, entweder ein jeder, oder nur einige, oder ¦ gar | keine derselben ein Leben (inneres Bewusstsein) haben. Hat nur ein einziger Teil Leben ; so ist dieser Teil die Seele. Mehrere sind überflüssig. Soll aber jeder Teil insbesondere des Lebens beraubt sein ; so kann solches auch durch *   4. Ennead. lib. VII., c. 2 und 5.

|  iii.1: 152–153  ¦ 212–214

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die Zusammensetzung nicht erhalten werden ; denn viele leblose Dinge machen zusammen kein Leben aus, viele verstandlose Dinge keinen Verstand.“20 In der Folge wiederholet Plotinus denselben Schluss, mit einiger Veränderung : „Ist die Seele körperlich, wie stehet es um die Teile dieses denkenden Körpers ? Sind sie auch Seelen ? Und die Teile diese Teile ? Gehet dieses anders immer so fort ; so siehet man ja, dass die Größe zum Wesen der Seele nichts beiträgt, welches doch geschehen müsste, wenn die Seele eine körper­liche Größe hätte. In unserm Fall würde jedem Teile die Seele ganz beiwohnen, da bei einer körperlichen Größe kein Teil dem Ganzen an Vermögen gleich sein kann. Sind aber die Teile keine Seelen ; so wird auch aus Teilen, die keine Seelen sind, keine Seele zusammengesetzt werden können.“ – Diese Gründe haben allen Schein der Wahrheit ; allein zur völligen Überzeugung fehlt ihnen noch vieles. Plotinus setzet als unzweifelhaft voraus, dass aus unlebenden Teilen kein lebendes Ganze, aus undenkenden Teilen kein denkendes Ganze zusammengesetzt werden könne. ¦ Warum aber kann aus unregelmäßigen Teilen ein regelmäßiges Ganze, aus harmonielosen Tönen ein harmonisches Konzert, aus unmächtigen Gliedern ein mächtiger Staat zusammengesetzt werden ? Ich wusste auch, dass nach dem System jener Schule, der ich zu sehr anhängen soll, die Bewegung aus solchen Kräften, die nicht Bewegung sind, und die Ausdehnung aus Eigenschaften der Substanzen, die etwas ganz anders, als Ausdehnung sind, entspringen sollen.21 Diese Schule also kann den Satz des Plotinus gewiss nicht in allen Fällen gelten lassen, und gleichwohl scheinet derselbe in Absicht auf das denkende Wesen seine völlige Richtigkeit zu haben. Ein denkendes Ganze aus undenkenden Teilen dünkt einem jeden der gesunden Vernunft zu widersprechen. Um von diesem Satze also überzeugt zu sein, war noch zu untersuchen, welche Eigenschaften dem Ganzen zukommen können, ohne dass sie den Bestandteilen zukommen, und welche nicht. Zuerst fiel in die Augen, dass solche Eigenschaften, welche  von der Zusammensetzung und Anordnung der Teile her|  iii.1: 153  ¦ 214–215

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rühren, den Bestand | teilen nicht notwendig zukommen. Von dieser Art ist Figur, Größe, Ordnung, Harmonie, die elastische Kraft, die Kraft des Schießpulvers u. d. g. – Sodann fand sich auch, dass öfters Eigenschaften der Bestandteile Erscheinungen im Ganzen hervorbringen, die, ¦ unserer Vorstellung nach, von ihnen völlig unterschieden sind. Die zusammengesetzten Farben scheinen uns den einfachen unähnlich zu sein. Wir fühlen die zusammengesetzten Gemütsbewegungen ganz anders, als die ein­fachen, aus welchen sie bestehen. Wohlriechende Teile, die gehäuft werden, erzeugen einen ganz verschieden scheinenden, zuweilen sehr unangenehmen Geruch, so wie im Gegenteil durch Vermischung übelriechender Gummen ein angenehmer Geruch erhalten werden kann (s. Haller [Elementa] Physiol[ogiae corporis humani ]. T. V. p. 169–70). Der Dreiklang in der Tonkunst, wenn er zugleich angestimmt wird, tut eine ganz andere Wirkung, als die einzelnen Töne, aus welchen er bestehet. Die Eigenschaften des Zusammengesetzten also, die den Bestandteilen nicht notwendig zukommen, fließen entweder aus der Anordnung und Zusammensetzung dieser Teile selbst, oder sind bloße Erscheinungen, nämlich die Eigenschaften und Wirkungen der Bestandteile, die unsere Sinne nicht aus ein­a nder setzen und unterscheiden können; stellen sich uns im Ganzen anders vor, als sie wirklich sind. Nunmehr machte ich die Anwendung von dieser Betrachtung auf den Satz des Plotinus. Das Vermögen zu denken kann keine Eigenschaft von dieser Art sein ; denn alle diese Eigenschaften sind offenbar Wirkungen des Denkungsvermögens, oder setzen dasselbe zum voraus. Die Zusammensetzung und An ¦ ordnung der Teile erfordert ein Vergleichen und Gegeneinanderhalten dieser Teile, und die Erscheinungen sind nicht so wohl in den Sachen außer uns, als in unserer Vorstellung anzutreffen. Beide Arten sind also Wirkungen der Seele, und können das Wesen derselben nicht ausmachen. Daher kann aus undenkenden Teilen kein denkendes Ganze zusammengesetzt werden. Auch der andere Teil des Beweises erforderte eine weitere Ausführung. Es hat Weltweise gegeben, die den Atomen der Körper   |  iii.1: 153–154  ¦ 215–217

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dunkele Begriffe zugeschrieben, woraus denn, ihrer Meinung nach, im Ganzen klare und deutliche Begriffe entspringen. Hier war zu beweisen, dass dieses unmöglich sei, und dass wenigstens einer von diesen Atomen so deutliche, so wahre, so lebendige u.s.w. Begriffe | haben müsste, als der ganze Mensch. Ich bediente mir zu diesem Behufe den Satz, den Hr. Plouquet 22 so schön ausgeführt, dass viele geringere Grade zusammen keinen stärkern Grad ausmachen. • Es gibt nämlich eine Größe der Menge (quantitas extensiva), die in der Menge der Teile bestehet, aus welcher sie zusammengesetzt ist, und eine Größe der Kraft (quantitas intensiva), die auch Grad genennt wird. Wenn mehrere Teile hinzukommen, so nimmt die Größe von der ersten Art zu, aber der Grad erfordert eine innerliche Verstärkung, keine größere Ausbreitung. Man gieße lauliches Wasser zu laulichem Wasser ; so wird die ¦ Menge des Wassers, aber nicht der Grad der Wärme vermehret. Viele Körper, die sich mit einer gleichen Geschwindigkeit bewegen, machen, wenn sie zusammenhängen, eine größere Masse, aber keine größere Geschwindigkeit aus. Der Grad ist in jedem Teile so groß, als im Ganzen, daher kann die Menge der Teile den Grad nicht verändern. Wenn dieses geschehen soll ; so müssen die Wirkungen der Menge in Eine konzentriert werden, da denn an innerer Stärke so viel gewonnen werden kann, als die Ausdehnung abgenommen. So können viele schwache Lichter Eine Stelle stärker beleuchten, viele Brennspiegel Einen Körper stärker in Brand setzen. Je mehr Merkmale ein und eben dasselbe Subjekt an einem Gegenstande wahrnimmt, desto klärer wird die Vorstellung dieses Subjekts von diesem Gegenstande. Es folget hieraus sehr natürlich, dass alle dunkele Begriffe der neben einander seienden Atomen zusammen keinen deutlichen, ja nicht einmal einen minder dunkeln Begriff ausmachen können, wenn sie nicht in einem Subjekte konzentriert, von eben demselben einfachen Wesen gesammelt und gleichsam übersehen werden.23  • Die mehresten Gründe meines dritten Gesprächs sind aus Baumgartens Metaphysik und Reimarus Vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion entlehnt.24 Von dem Beweise aus   |  iii.1: 154–155  ¦ 217–218

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der Harmonie unserer Pflichten und Rechte habe ich bereits in dem Vorbe ¦ richte erinnert, dass ich ihn noch nirgend gefunden habe. Ich setze dabei zum voraus, dass die Todesstrafen in gewissen Fällen Rechtens sind. Nun scheinet aber der Marquis Beccaria in seiner Abhandlung von den Verbrechen und Strafen diesen Satz in Zweifel zu ziehen.25 Da dieser Weltweise der Meinung ist, dass sich das Recht zu strafen einzig und allein auf den gesellschaftlichen Vertrag gründe, woraus denn die Unrecht | mäßigkeit der Todesstrafen freilich folget ; so habe ich die Meinung selbst, in dieser zwoten Auflage26 , in einer Anmerkung zu widerlegen gesucht [s. hier S. 178]. Der Marquis selbst kann sich nicht entbrechen, die Todesstrafe in einigen Fällen für unvermeidlich zu halten. Er will zwar eine Art von Notrecht daraus machen ; allein das Notrecht muss sich auf eine natürliche Befugnis gründen, sonst ist es bloße Gewalttätigkeit. Überhaupt ist wohl der Satz nicht in Zweifel zu ziehen, dass alle Verträge in der Welt kein neues Recht erzeugen ; sondern unvollkommene Rechte in vollkommene verwandeln. Wenn also die Befugnis zu strafen nicht in dem Rechte der Natur gegründet wäre ; so könnte solches durch keinen Vertrag hervorgebracht werden. Gesetzt aber, das Recht zu strafen sei, ohne Vertrag, ein unvollkommenes Recht, wiewohl ich dieses für ungereimt halte ; so verlieret mein Beweis dennoch nichts von seiner Bündigkeit, denn vor dem Richterstuhle des Gewissens sind die unvollkommenen Rechte eben so kräftig, die unvoll ¦ kommenen Pflichten eben so verbindlich, als die vollkommenen. Ein unvollkommenes Recht, jemanden am Leben zu strafen, setzet wenigstens eine unvollkommene Obliegenheit voraus, diese Strafe zu leiden. Diese Obliegenheit wäre aber ungereimt, wenn unsere Seele nicht unsterblich wäre.27 • In der Neuen Biblioth[ek] der schönen Wissenschaften (B. VI.)28 findet sich eine ausführliche Anzeige und Beurteilung des Phädons, die vortrefliche Anmerkungen enthält. Die Gedanken über das philosophische Dialog, die der Rezensent vorausschickt, können zum Muster dienen, wie ein Kunstrichter sich als  Sachverständigen rechtfertigen sollte, bevor er ­meistert.  – |  iii.1: 155–156  ¦ 218–220

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Daselbst wird wider den Beweis von der Kollision der Pflichten erinnert, dass er einen Zirkel enthalte. „Dass es eine Pflicht sei, wird gesagt (S. 331), für irgend jemanden der Erhaltung unsers Lebens zu entsagen, wissen wir ja nirgends anders her, als weil wir höhere Endzwecke als das Leben zu kennen glauben ; würde dieses als ein Irrtum bewiesen ; so fielen jene Pflichten weg, und mit ihnen zugleich der Widerspruch.“ Ich glaube hierdurch auf keinerlei Weise widerlegt zu sein. Der Beweis kann verschiedene Wege nehmen, die ohne Zirkel zum Ziele führen. Einmal gehe man von der Verbindlichkeit zum geselligen Leben aus. Diese kann unabhängig von der Unsterblichkeit der Seele erwiesen werden, gründet sich also, wie alle moralische Wahrheiten, auf metaphysische ¦ Sätze. Der Ausführung hiervon wird man mich hoffent | lich überheben, da sie mich offenbar zu weit führen würde, und diese Sätze von andern schon hinlänglich bearbeitet worden sind. Nun kann keine menschliche Gesellschaft bestehen, wenn das Ganze nicht in gewissen Vorfällen das Recht hat, das Leben eines ihrer Glieder dem gemeinen Besten aufzu­opfern. Diesen Satz hat Epikur, Spinoza und Hobbes nicht leugnen können, ob sie gleich keine höhere Endzwecke, als das Leben, erkennen wollten. Sie sahen wohl ein, dass kein geselliges Leben unter den Menschen statt finden könne, wenn dem Ganzen dieses Recht nicht eingeräumt würde. Allein da die Begriffe von Recht und Pflicht nicht entwickelt genug waren, so merkte man nicht, dass dieses Recht auch auf Seiten des Bürgers die Pflicht voraus setzet, sich dem Wohl des Ganzen aufzuopfern, und dass diese Pflicht der Natur nicht gemäß sei, wenn die Seele nicht unsterblich ist. Ich kann auch, wie in dem letzten Gespräche geschehen, von der Gerechtigkeit eine Beleidigung zu ahnden, ausgehen, die in der Tat auch im Stande der Natur dem Menschen zukommen muss, wie in der Note zu S. 195 [hier S. 178] ausgeführt worden. Der Rezensent macht zwar wider meine Gründe folgende Erinnerung. „Das Recht der Wiedervergeltung in dem natürlichen Zustande, und das Recht zu strafen in der bürgerlichen ¦ Gesellschaft sind in   der Tat zwei verschiedene Rechte. Das erste beziehet sich |  iii.1: 156–157  ¦ 220–222

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bloß auf die Person, die beleidiget hat, ihr das Vermögen und den Willen zu benehmen, uns künftig wieder zu beleidigen : das andere gehet auch auf alle übrige Personen der Gesellschaft, die uns nicht beleidiget haben, sie von dem Verbrechen, durch die Erfahrung der physischen Übel, die sie daraus zu erwarten haben, abzuschrecken ; das erste gründet sich lediglich auf das Recht sich zu verteidigen, oder ist vielmehr mit demselben einerlei ; bei diesem aber bleibt dem Beleidiger selbst das Recht, sich auch unsrer Rache entgegen zu setzen ; das andere gründet sich auf die freiwillige Übertragung aller seiner vollkommenen Rechte an die Gesellschaft ; wodurch also auf Seiten des Beleidigers das Recht aufgehoben wird, sich gegen die Rache zu vertheidigen, die von der ganzen Gesellschaft herkommt u. s. w.“ Allein ich sehe nicht ein, wie ihm diese Unterscheidungen eingeräumt werden können. Das Recht der Wiedervergeltung in dem natürlichen Zustande ? Ich kenne kein Recht der bloßen Vergeltung, oder der Rache, in der menschlichen Natur, das Böses tut, weil Böses geschehen ist, wodurch das | physische Übel vermehret wird, ohne moralisch Gutes zu befördern. Und warum soll der Mensch im Stande der Natur nicht die Absicht haben dürfen, andere von Beleidigungen abzuschrecken ? Gehört ¦ etwa hiezu ein gesellschaftlicher Vertrag ? Muss der Mensch erst einen Teil seiner Rechte an die Gesellschaft übertragen haben, bevor er andern zeiget, dass er eine Beleidigung zurück geben kann ? – Endlich hebet das Gegenrecht, das den Beleidigern zukommen soll, sich der Rache zu widersetzen, offenbar die Harmonie der moralischen Wahrheiten auf, und setzet einen Fall fest, wo das Recht auf beiden Seiten gleich sein kann, wo die Stärke also notwendig entscheiden muss, einen natürlichen Zweikampf. Einen Satz, der in dem System der moralischen Wahrheiten Unordnung anrichtet, halte ich für nicht minder ungereimt, als wenn die Harmonie metaphysischer Wahrheiten dadurch gestört werden sollte. Diese Dissonanz zu vermeiden, müssen wir auch im Stande der Natur von Seiten des Beleidigers eine Pflicht annehmen, die Ahndung zu dulden. – Käme dem Beleidiger  im Stande der Natur ein Recht der Verteidigung zu ; so würde |  iii.1: 157–158  ¦ 222–223

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es auch in der Gesellschaft nicht ohne Wirkung bleiben können. Denn wenn der Beleidigte sein Recht der Vergeltung und der Beleidiger sein Recht der Verteidigung an die Gesellschaft übertrüge ; so würden sie sich einander aufheben, und es könnte keine Strafe erfolgen. Es ist also nicht möglich, die moralische Welt von Widersprüchen zu befreien, wenn man kein zukünf­ tiges Leben gestatten will. ¦ Dass es aber Fälle gebe, wo die Todesstrafe das einzige Mittel ist, künftige Beleidigungen zu verhüten, hat Beccaria selbst nicht in Zweifel gezogen, wiewohl er mit Recht sie für so häufig nicht hält, als in den eingeführten peinlichen Rechten angenommen wird. Überhaupt hält die Strafe mit dem Verbrechen gleiche Schritte. Wie dieses keine Grenzen kennet, so auch jene, und es ist kein Grad so hoch, den sie nicht erreichen könne. Es gibt auch zwischen Marter und Tod keine bestimmte Schranken, die man der Strafgerechtigkeit anweisen konnte ; daher wenn in einigen Fällen erlaubt ist, jemanden zur Strafe zu peinigen ; so muss es auch Fälle geben, in welchen es erlaubt ist, zur Strafe zu töten, weil von Marter zum Tode ein allmählicher Übergang ist, der nirgend durch bestimmte Grenzen unterbrochen wird. – Was der Rezensent in der Folge noch erinnert, dass zwar aus der Natur der Dinge auf das Recht, nicht aber | aus dem Rechte auf die Natur der Dinge geschlossen werden könne, scheinet mir so notwendig nicht. Wenn der Rückgang in einem Zirkel geschiehet ; so ist er verboten. Wenn aber in der Einrichtung der Natur von meinem Gegner manches zugegeben, und manches geleugnet wird, soll ich nicht von dem Zugegebenen auf das Recht, und von dem Rechte auf den Teil der Natureinrichtung schließen können, der nicht hat zugegeben werden wollen ? • 



|  iii.1: 158–159  ¦ 223–224

Anmerkungen zu Abbts freundschaftlicher Korrespondenz (1782) [S. 18] Anmerkung k) Die Zweideutigkeit liegt hier in der Sprache. Das Wort Bestimmung bedeutet sowohl die Festsetzung eines Prädikats, unter mancherlei derselben, die dem Subjekte zukommen können, Determination ; als die Festsetzung des Endzwecks, zu welchem Etwas als Mittel gebraucht werden soll, Destination. Die Bemerkung Hrn. Abbts hat also ihre völlige Richtigkeit. Die Bestimmung des Menschen kann sowohl Determination ; als Destination des Menschen bedeuten. Die Zweideutigkeit im Deutschen zu vermeiden, mag Bestimmung für determination bleiben, destination aber gebe man durch Beruf, Widmung. Weiß ich einmal, wozu der Mensch auf Erden berufen, gewidmet ist ; so lässt sich davon her | leiten, wie er sich, in Absicht auf sein Verhalten, um diesem Berufe zu entsprechen, zu bestimmen habe. Beide Fragen sind aber deswegen nicht einerlei. Man kann auch die Bestimmung des Menschen aus andern Gründen erkennen, und in Absicht auf seinen Beruf oder seine Wid­mung noch ungewiss sein, wie Hr. Abbt weiter unten bemerkt.

Anmerkung l) [S. 21] Jedes Geschöpf ist von seinem Schöpfer irgend wozu gewidmet, oder be­r ufen. So vielerlei Geschöpfe ; so vielerlei Berufe oder Widmungen, die alle gewisse Merkmale gemein haben, und in gewissen Merkmalen unter­schieden sind. In der Werkstätte Gottes hat jedes Werkzeug nur den ihm angewiesenen Gebrauch ; keinen, der durch ein anderes Werkzeug eben so gut erhalten werden könne, keinen, der dem Gebrauch irgend eines an­dern Werkzeuges vollkommen gleich ist. Die Widmung aller Geschöpfe ist eine allgemeine Formel, in welcher nichts weiter bestimmt ist, als was aus der allgemeinen Notion Geschöpf fließet. So wie das Subjekt ‚Ge­schöpf ‘ näher bestimmt wird,   |  vi.1   : 35–36

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Anmerkungen zu Abbts Korrespondenz (1782)

erhält auch das Prädikat, die Widmung desselben, seine nähere Bestimmung (determination) ; bis endlich das Subjekt ein einzelnes Ding wird ; da denn auch der Beruf desselben seine indi­ viduelle Bestimmung erhält, und zum Berufe dieses oder jenes einzelnen Dinges werden muss.1 Man siehet hieraus, wie sich die Widmung des Menschen überhaupt zur Widmung aller Geschöpfe, und dieses Men­schen im Einzelnen zur Widmung des Menschen überhaupt verhalte. Anmerkung m) [S. 21] Der nachdenkende, ausgebildete Mann ist allhier das Subjekt der Betrach­tung, der Mensch überhaupt aber das Objekt, oder der Vorwurf dersel­ben, über dessen Vorwurf oder Widmung die Betrachtung angestellt wird. Das Subjekt muss ausgebildet sein ; sonst ist es keiner vernünftigen Überlegung fähig. Das Objekt aber ist von einer solchen Allgemeinheit, in welcher alle Nuancen der Menschheit, das Kind sowohl als der Greis, der wilde sowohl als der gesittete, der ausgeartete sowohl als der ausgebil | dete Mensch begriffen sein muss. Das Resultat der Betrachtung muss auf jede Klasse, jeden möglichen Zustand der Menschen, durch nähere Bestimmung, anwendbar sein, und zuletzt durch individuelle Bestimmun­gen auch auf jeden einzelnen Menschen passen. Diese verschiedene Ver­hältnisse des Menschen, da er bald Subjekt, bald Objekt der Betrachtung ist, müssen nie verwechselt werden ; sonst fällt das Resultat allerdings ein­seitig aus, und man bestimmt das Prädikat bald mehr, bald weniger, als dem Satze gemäß ist. Anmerkung n) [S. 24] In der Antwort hierauf wird, wie es scheinet, richtig bemerkt, dass diese drei Neigungen im Grunde einerlei, und nur dem Grade nach un­terschieden sind. In der Tat, die Neigung, einem uns ähnlichen Ge­schöpfe nicht schaden zu wollen, involviert den Antrieb, ihm nützlich zu sein, wenn nicht überwiegende Schwierigkeiten im Wege sind. Und die­ser Antrieb, unsern Nebengeschöpfen nützlich zu sein, muss notwendig in Eifer für   |  vi.1 : 36–37

Anmerkungen zu Abbts Korrespondenz (1782)

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das allgemeine Beste emporschießen, so bald sich nur die Seele bis auf dieses harmonische Bild des Gesamten erhoben hat. Von der Seele eines gebildeten Menschen kann auf die Seele eines ungebildeten, zwar nicht so gerade zu, aber doch in gewisser Rücksicht geschlossen werden. Alle Kultur, aller Zwang, Druck und Stoß des gesitteten und verfeinerten Lebens können keine Neigung in der Seele hervorbringen, die nicht, we­nigstens der Anlage nach, in der rohesten und ungebildesten Seele anzu­ treffen ist. Durch Gewohnheit und Übung können wir in dem Körper diesen Muskel stärken, jenen schwächen, dieses Gelenke geschmeidiger, jenes unbiegsamer machen. Aber alle Regeln der Gymnastik, so wie die künstlichsten Übungen der Gaukelspieler, können in keinem Teile des Körpers Bewegung hervorbringen, der nicht von Natur die Werkzeu­ge dazu hat. Die Neigungen und Triebfedern sind die Muskeln und Ge­lenke der Seele. Durch Üben, Lernen und Gewöhnen wird keine Nei­g ung in der Seele erzeugt. Gibt es also in der Seele des verfeinertsten Menschen einen Eifer für das allgemeine Beste ; so muss der Keim davon auch in der Seele des Wilden anzutreffen sein. Auf das Bewusstsein kommt es hier nicht an, wie Herr Abbt selbst in der folgenden Periode bemerkt. |  Anmerkung o) [S. 24] Wenn das sogenannte System des Eigennutzes bis auf diesen Grad verfeinert wird ; so kommt es, was die Ausübung betrifft, mit dem System des Wohlwollens völlig überein. Der fernere Unterschied beruhet alsdenn auf einer feinen Grübelei, die bei dieser Untersuchung gar wohl dahin gestellt bleiben kann. Wohl uns, wenn wir überführt sind, dass wir ohne Wohlwollen gegen andere unser eigenes Wohl nicht in der gehörigen Vollkommenheit befördern, ohne Bestreben, andre glückselig zu machen, selbst nicht glückselig sein können ! Ob dieses Wohlwollen gegen andere ein Grundtrieb in der menschlichen Seele sei, und die eigene Verbesserung bloß zur Folge habe, wie die Anhänger des wohlwollenden Systems dafür halten, oder das Wohlwollen  selbst sich am Ende in den Trieb zur eigenen Vollkommen|  vi.1 : 37–38

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Anmerkungen zu Abbts Korrespondenz (1782)

heit auflösen lasse, wie Hr. Abbt hier im Namen der sogenannten eigennützigen Weltweisen behauptet 2 , dieses ändert nichts in dem Verhalten der Menschen, in Absicht auf Tugend und Glückseligkeit. Will er glückselig sein ; so muss er Glückseligkeit befördern : dieses wird von der einen Seite zugegeben : so wie von der anderen Seite nicht geleugnet wird, dass, wer die Glückseligkeit seiner Nebengeschöpfe befördert, eben dadurch seinen eigenen innern Zustand verbessert, ein besserer, vollkommenerer Mensch wird, mit einem Worte, seine eigene Glückseligkeit vermehrt. Mit diesem gegenseitigen Geständnisse kann sich der Moralphilosoph begnügen. Die fernere Untersuchung gehört vielleicht mehr für den Grammatiker oder Lexicographen, als für den Weltweisen überhaupt. Mit der Benennung Eigennutz scheinet es vollends eine bloße Wortneckerei zu sein, die in der Philosophie, wie die Beschimpfungshändel vor Gericht, selten mehr als eine Ehrenerklärung zur Folge haben. Man gibt zu, dass die Menschen zuweilen ihren Nebengeschöpfen Wohlwollen erzeigen, ohne ihr eigenes Interesse dabei unmittelbar vor Augen zu haben, ohne sich deutlich bewusst zu sein, dass sie eben dadurch ihre eigene Vollkommen­ heit vermehren. Es gibt also Handlungen von verschiedener Art : Einige haben das handelnde Wesen selbst, andere seine Nebengeschöpfe zum Gegenstande und unmittelbaren Ziele. Der Unterschied liegt nicht nur in der Sache ; sondern zeigt sich auch in den Empfindungen der Selbstzufriedenheit, des Adels und der Erhabenheit der Seele, welche die Handlungen der letzten Art einflößen, und die ihnen eigen sind. |  Um diese Verschiedenheit auch durch Worte auszudrücken, nennen wir jene eigennützige, diese wohltätige Handlungen. Ihr wollt der Sprache diesen Unterschied rauben, und erweitert den Begriff des Eigennutzes auch auf solche Handlungen, die unsere Nebengeschöpfe zum unmittelbaren Ziele und Gegenstande haben, wenn sie nur, auch ohne unser Bewusstsein, zu unserem Besten ausschlagen. Ihr habet also die Bedeutung des Worts eigenmächtig verändert, und werdet den Streit mit Adelung und 3 auszumachen suchen. Für den Philosophen werdet ihr Stosch   |  vi.1 : 38–39

Anmerkungen zu Abbts Korrespondenz (1782)

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so billig sein, den Unterschied, der in der Sache unstreitig liegt, durch andere Zeichen auszudrücken. Man glaube nur nicht, ein ander System zu haben, wenn man sich anderer Worte bedient. Anmerkung p) [S. 25] Richtig ! die Natur scheinet beide Absichten zum Augenmerke gehabt zu haben, und wir finden sie in jedem gesunden organischen Körper mehrenteils in Harmonie. Was Sinneslust erregt, zielt auf die Erhaltung des Körpers ab. Das Schmackhafte ist auch gesund, und die Verdauungskräfte entsprechen der Esslust. Durch Krankheit gerät diese wohltätige Harmonie bei den Menschen in Unordnung. Das Tier besitzt sie auch in einem weit stärkeren Grade als der Mensch, und der Wilde mehr als der verfeinerte Mensch. Der Denker hat also darin Unrecht, dass er die eingepflanzte Begierde nach Sinnenlust einzig und allein auf die Erhaltung des Leibes abzielen lässt. Wäre dieses ; so könnte die sinnliche Begierde nie diese Grenze überschreiten, nie ihrem einzigen Ziel und Endzwecke zuwider handeln. Indessen ist doch auch dieses wahr, dass die Erhaltung und das Wohlbefinden des Leibes die vernunftmäßige Grenze sei, die wir, als vernünftige Wesen, uns bei dem Genusse der Sinnenlust vorschreiben sollen. Bloß dadurch, dass der verfeinerte Mensch diesen Zweck nicht immer vor Augen hat, und sich öfters Genuss erlaubt, der nicht auf die Erhaltung oder Gesundheit abzielt, bloß dadurch, sage ich, wird leider ! in dem gesitteten Leben der Menschen die Harmonie zwischen Begierde und Gesundheit so oft zerstöret, und das ganze Heer von Krankheiten erzeugt, von welchen das unvernünftige Tier befreit ist, und die auch der rohe Mensch der Natur nicht kennet. | Anmerkung q) [S. 25] Jeder einzelne Mensch gehet seinen ihm eigenen Gang, folget einer ihm allein von der Vorsehung angewiesenen Reihe von Berufen und Widmungen, die ins Unendliche fortgehet. Alle diese Pfade durchschlängeln sich, ohne sich zu verwirren ; laufen  durch, zwischen und neben einander, ohne in einander zu |  vi.1 : 39–40

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Anmerkungen zu Abbts Korrespondenz (1782)

fallen. So wie sie Geschöpfe Einer Art, Eines Ge­schlechts, oder Einer Gattung sind ; so kommen auch ihre Widmungen in gewissen Merkmalen mehr oder weniger überein. Jedes Gestirn folget seiner ihm vorgezeichneten Laufbahn ; jeder Weltkörper hat seinen Ge­brauch und Endzweck, der ihm eigen ist ; aber in so weit sie in dem gemeinschaftlichen Begriff, Gestirn, Weltkörper übereinkommen, werden sie auch, in Absicht auf ihre Bahn und Widmung, eine gewisse Ähnlich­keit haben. So auch mit dem Menschen. Jeder einzelne Mensch hat seine eigene Widmung. So wie ein Mensch mit dem andern, in Absicht auf Kräfte, Fähigkeit, Lage und Verfassung mehr oder weniger Ähnlichkeit hat ; kommen auch ihre Widmungen mehr oder weniger überein. Der nachdenkende Mensch † hat eine †, und der nicht nachdenkende eine andere Widmung. Die ganze Klasse der Nachdenkenden hat in ihrer Widmung ein charakteristisches Merkmal, welches aus der Idee des Nachdenkens folgt, und der Klasse der Nichtdenkenden also auch nicht zukommt. Aber in dem charakteristischen Merkmale der Menschheit kommen diese Klassen, und also auch die ihnen angewiesene Widmun­gen überein ; so, wie alle Tiere überhaupt in dem Merkmale ihrer Gat­tung, und alle Geschöpfe, in dem Charakter als Geschöpf, auch eine ge­w isse Ähnlichkeit in ihrer Widmung haben. Der empfindungslose Teil der Schöpfung gehet den ihm von der Vor­sehung vorgezeichneten Weg, ohne Gefühl und Willkür, tut also das, was in dem Plan des Weltalls das Beste ist, ohne Rücksicht auf sich und sein eignes Beste. Bei dem Tiere tritt die Willkür, oder die Selbstbestimmung nach dem Gefühle des Angenehmen und Unangenehmen mit ein. Es tut zwar auch, seiner Widmung zufolge, nichts anderes, als was in dem Plane der Schöpfung, seinem Standorte gemäß, das Beste war ; aber mit der näheren Bestimmung, dass es auch ihm, seinem Gefühle nach, angenehm sein, das heißt, auch von ihm als das Beste empfunden und verlangt werden muss. Bei dem Menschen kommt Vernunft und Freiheit hinzu ; überlegende Wahl und Selbstbestim†  hat eine ]  JubA : hat eine andere |  vi.1 : 40–41

Anmerkungen zu Abbts Korrespondenz (1782)

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mung nach Erkennt | nis des Guten und Bösen, nach welcher das Beste im Plane der Schöpfung modifiziert und bestimmt worden ist. Was der Mensch als Mensch wirkt, muss, seiner praktischen Erkenntnis des Guten und Bösen nach, auch in Rücksicht auf ihn den Vorzug verdienen, und seine freie Wahl bestim­men. Dieses Erkenntnis ist hier mehr, dort weniger deutlich, lebendig, wirksam.4 Hier ergiebiger an Wortgründen und Grundsätzen ; dort viel­leicht tätiger an Mut und Entschließung ; aber allenthalben mit dem Stempel der Menschheit und ihrer herrlichen Vorzüge gezeichnet. Wer von seiner Lage und Verfassung nicht aufgefordert wird, über diese seine Vorzüge Betrachtung anzustellen, der handelt nichts desto weniger den­selben gemäß. Hat er nicht nachgedacht, was Wohlwollen und Men­schenliebe, was Menschheit überhaupt und Menschlichkeit sei ; so ist er vielleicht in Bezeugung seines Wohlwollens gegen Eltern, Gatten, Kin­der, Nachbar und Gastfreund um so viel tätiger. Wer aber von der Vor­sehung in die Verfassung gesetzt worden, über seinen Zustand nachzu­denken, der forsche dieser Widmung der Menschheit nach, erkenne den Keim der menschlichen Trieb­ feder im Kinde, die Ausbildung im Manne ; bei jenem die Blüte, bei diesem die Frucht des ausgestreuten Samens, und setze zu seinem und seiner Nebenmenschen Nutzen, Trost und Frommen allgemeine Regeln und Grundsätze des Verhaltens fest ; denn dieses ist sein Beruf, dieses ist der von der Vorsehung ihm, dem Einzel­nen, vorgezeichnete Gang und angewiesene Weg der Mitwirkung. Dieses ist seine Widmung ! Man scheinet hier abermals von der einen Seite den Nachdenker als Subjekt mit dem Objekt der Betrachtung verwechselt zu haben, von der andern hingegen ohne allen Grund zu fordern, dass die Widmung aller Menschen vollkommen eben dieselbe sein müsse. Hieraus ergibt sich, meines Erachtens, auch auf das, was Hr. Abbt auf der nächsten Seite [hier S. 26] fordert, eine ziemlich beruhigende Antwort. Beschei­denheit geziemet allerdings jedem Forscher der Zukunft, und ohne kindli­che Ergebenheit in die väterlichen Fügungen ist alles Erkundigen und Spä­hen nur Marter und Abhärmung des Geistes und des Herzens. Auf dem   |  vi.1 : 41

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Anmerkungen zu Abbts Korrespondenz (1782)

dun­keln Pfade, den der Mensch hier zu wandeln hat, ist ihm gerade so viel Licht beschieden, als zu den nächsten Schritten, die er tun soll, nötig ist. Ein mehreres würde ihn blenden, und jedes Seitenlicht nur verwirren. Eben die­ses ist der Endzweck seines Hierseins, sich zu diesem höheren Grade von Erleuchtung vorzubereiten. Alles ist hier der Stufe der Vollkommenheit ange­messen, auf welcher er hienieden stehet. Sobald er reif wird, auf eine höhere fortzurücken ; so hat er hier seine Laufbahn voll­ endet, und stirbt. | „Was ist also der Beruf des Menschen, als Mensch, auf dieser Erde ? “ Um dieses zu erfahren, sehet, was die Menschen auf dieser Erde, als Menschen, je getan haben, und noch tun, worauf am Ende all ihr Wünschen, Hoffen, Bestreben, Ringen und Arbeiten hinausläuft. Die Vorsehung verfehlt nie ihres Endzwecks. Sie müssen das erfüllen, wozu sie berufen sind ; und auch umgekehrt, was sie erfüllen, und beim Ausgang aus der Welt getan haben, muss der Widmung gemäß sein, die ihnen von der Vorsehung angewiesen worden. Nichts anders also, als die Übung, Entwickelung und Ausbildung aller menschlichen Kräfte und Fähigkeiten, in einem ihrem Standorte angemessenen Verhältnisse. Desto tugendhafter, vollkommner und also auch glück­ seliger, je genauer dieses Verhältnis auch mit der subjektiven Vollkommenheit jedes Einzelnen übereinstimmet. „Wozu aber diese Ausbildung und Entwickelung ? “ Wenn wir von vielen Dingen sagen können, dass sie wozu gut sind ; so muss es notwendig auch Dinge geben, die an und für sich gut sind, bei welchen also die Frage wozu ? nicht immer Statt hat ; sonst würde sich die Frage nur weiter hinausschieben, nie beantworten lassen. Von dieser Art ist das, wovon hier die Rede ist, die Ausbildung der Kräfte und Fähigkeiten. Sie ist nicht bloß Endzweck ; sondern auch letzter Endzweck des mensch­lichen Daseins, an und für sich gut, an und für sich Vollkommenheit, und des göttlichen Ratschlusses würdig. „Was wird endlich aus diesen entwickelten menschlichen Kräften in jenem Leben ? “   |  vi.1 : 41–42

Anmerkungen zu Abbts Korrespondenz (1782)

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Mich dünkt, wir können und sollen uns hier mit einer allgemeinen Antwort begnügen ; der Faden bricht nie ab. Wir werden dort fortsetzen, was wir hier angefangen ; dort vollenden, was hier abgebrochen worden. Alles am Menschen verrät Unendlichkeit. Jede seiner sinnlichen Empfindungen, enthält Stoff zu einer unendlichen Entwickelung ; jede seiner Begierden gehet ins Unermessliche. – Dieser Punkt wird in der Folge mit mehrerm berührt werden. – Will man aber umständlich wissen, unter welcher Gestalt wir fortdauern werden, in welcher Region, mit welchem ätherischen Leibe, mit welcherlei Sinnen und Glied­maßen wir dort leben und weben werden ? So tritt die bescheidene Vernunft, mit dem Finger auf dem Munde, zurück. Sie kann uns über das Umständliche unsers Schicksals für den nächstkommenden Tag keine befriedigende Gewissheit geben ; wie sollte sie es in dieser Entfernung, und nach einer solchen Umbildung unsers ganzen Wesens vorherzusagen wissen, oder nur zu vermuten wagen ? | Und die Offenbarung selbst kann uns hierüber keinen nähern Unterricht geben : denn sie würde eine Sprache reden, die wir nicht verstehen, Grundideen voraussetzen, die wir nicht haben. Es mögen sich in jenem Leben neue Sinne an uns eröffnen, oder mit den jetzigen gleichartige sich besser entwickeln, und zu einem höhern Grade von Deutlichkeit und Vernunftmäßigkeit erheben ; es mögen andere Quellen des Genusses an uns entstehen, andere Arten der Tätigkeit und Kraftübung sich hervortun, oder die gegenwärtigen zu einer höhern Stufe der Vollkommenheit gelangen, in andere Wirkungskreise versetzt, erweiterten Spielraum vor sich finden, größerer Anstrengung und Äußerung fähig werden ; so können wir doch hier kein anschauliches Bild davon erlangen, und alles, was uns davon mitgeteilt worden, ist eine bloße Wort- und Schattenerkenntnis, so wie der Taube von den Annehmlichkeiten der Musik, und der Blindgeborene von den Schönheiten der Malerei unterhalten werden kann. Nähern, befriedigenden † Aufschluss † hat uns der Verfas†  Aufschluss ]  JubA : Aufschuß |  vi.1 : 42–43

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Anmerkungen zu Abbts Korrespondenz (1782)

ser der Aussichten in die Ewigkeit mit seinen kühnsten Vermutungen nicht geben können. Er drehet und wendet sich immer in dem Bezirk unsrer gegenwärtigen Erkenntnisse und Tätigkeiten, klebt immer, so zu sagen, am Staube unsrer hiesigen Grundbegriffe, vervielfältiget bloß Raum, Zeit und Geschwindigkeit, oder teilet sie ins Unendliche ; verjüngt oder vergrößert also bloß die Schattenrisse, die wir schon kennen, anstatt uns neue Zeichnungen vorzulegen. Anmerkung r) [S. 27] Was hier von der unschicklichen Austeilung des Glücks und Unglücks, des Lohnes und der Strafen, gesagt wird, ist zum Teil sehr wahr ; aber auch eigentlich nur nach der Voraussetzung wahr, die Herr Abbt durch seine Einwürfe bestreiten will, und schwächt also keinesweges die Gründe, durch welche der Denker sein System beweiset. – Allerdings ! Wer sich so ängstlich nach Belohnung der Tugend erkundiget, hat sie nie aus den echtesten Bewegungsgründen geliebt. Wer für jede Wohltat, die er ausübet, eine Wohltat zum Genusse erwartet, kennet noch nicht die wahre Glückseligkeit, hat noch jene sittliche Höhe nicht erreicht, auf welcher wir einsehen, dass die Tugend im Grunde sich selbst belohne, dass die Ausübung moralischer Kräfte echte Glück­ seligkeit des Geistes sei, | und dass der Kampf, die Selbstüberwindung und Aufopferung, die uns die Ausübung des Wohlwollens öfters kostet, nicht besser, als durch Gelegenheit in ähn­ lichen Kämpfen zu siegen, belohnt werden könne. Die alles in diesem Leben so sehr zerrüttet, so sehr in Unordnung finden, bedenken nicht, dass mit der Ordnung, die sie einführen wollen, auch aller Wert des Sittlichguten verschwinden, überhaupt alle Tugend und Rechtschaffenheit aufgehoben werden müsste. In einer Welt, wo alles fein ordentlich, nach ihren Begriffen von Gerechtigkeit zuginge, würde jede Tugend ihren Lohn, jedes Sittlichgute ein verhältnismäßiges Physischgutes mit sich führen. Da würde keine Tugend leiden, kein Laster glücklich sein. Da würde keine Gelegenheit für Mitleid sich finden,   keine für Geduld, für Großmut, für Standhaftigkeit, keine |  vi.1: 43–44

Anmerkungen zu Abbts Korrespondenz (1782)

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für Beschützung und Errettung der Tugend, für Kampf und Tod für Freunde und Vaterland, und die Tugend, die etwa noch ausgeübt werden könnte, würde nicht edel und liebenswert, so wie das Laster nicht unedel und hässlich ; jene würde einträglich, dieses schädlich sein, und die Lehre von der Tugend einen Teil der Ökonomie ausmachen. Herr Abbt war Willens, in der Fortsetzung seines Werks vom Verdienst auch von der Belohnung des Verdienstes zu schreiben.5 Die Sache hat in jeder Staatsverfassung, nicht nur der Ausführung ; sondern auch der Theorie nach, nicht geringe Schwierigkeit. Am Ende würde, wie mich dünkt, die würdigste Belohnung, die der Staat einem verdienstvollen Bürger gewähren kann, doch nichts anders sein, als Gelegenheit zu größerm Verdienst. Die elendeste Verfassung ist unstreitig diejenige, in welcher alles nach Lohne ausgehet, wo der Bürger bei jedem öffentlichen Geschäfte mehr auf den Verdienst, als auf das Verdienst siehet, das dadurch zu erhalten stehet; wo immer darauf gerechnet wird, was eine verdienstvolle Handlung einbringet ; d. i. mit welchem Gerichte, mit welchem edlem Getränke man wird die Tafel reichlicher besetzen können. Am Ende will kein Freund dem Freunde, kein Mensch dem Menschen einen Liebesdienst, eine Gefälligkeit erweisen, ohne auf die Hand zu sehen, die ihm ein Trinkgeld dafür reichen soll. Die Ehre selbst, die zur Belohnung des Verdienstes angewendet wird, muss Gelegenheit zu größerm Verdienst geben, wenn sie nicht durch den gar zu leichten Missbrauch vielmehr schädlich werden soll. Ich kann die übertriebene Emsigkeit nicht billigen, mit welcher man sich seit einiger Zeit bestrebet, jede verborgene Tugend an das Licht zu ziehen, jede gute Tat, die in der Stille ausgeübt wird, öffentlich zur Schau zu stellen, und, | ihrer Bescheidenheit zum Trotze, gleichsam zu zwingen, der Ausposaunung ihres Lobes beizuwohnen. Nicht jede Tugend will belohnt, am wenigsten allezeit durch Ehre und Bekanntmachung belohnt sein. Ihr sehnlichster Wunsch ist, zuweilen von Menschen unbelauscht und unbemerkt, unter den Augen Gottes allein, ihrer Werke zu üben. Die Blume verliert ihren feinsten   |  vi.1: 44–45

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Anmerkungen zu Abbts Korrespondenz (1782)

Liebreiz, Morgentau und Wohlgeruch, wenn sie der freien Luft zu sehr bloßgestellt wird. Aus diesen und ähnlichen Betrachtungen scheinet allerdings zu erhellen, dass nicht alles in dieser Welt so übel eingerichtet, Glück und Unglück nicht so unschicklich verteilt, Lohn und Strafe nicht so übel angebracht worden sei, als man in der Laune zu klagen und sich über alles zu beschweren vorgibt, und in der frommen Absicht, uns jenes Leben desto mehr zu empfehlen, gutwillig anzunehmen pflegt. Indessen stehen auch diese Betrachtungen erst alsdann in ihrem wahren Lichte, wenn mit diesem Leben nicht alles für uns aus ist, wenn unsrer Seele noch eine künftige Fortdauer bevorstehet. Nur alsdenn ist jede innere Würde, jede Vollkommenheit, die der Seele durch die Ausübung des Guten zuwächst, ein bleibendes Gut für den Ausübenden ; das Leiden der Tugend ist wahrer Gewinn ; jeder Kampf, den der Tugendhafte mit dem Schicksale zu kämpfen hat, wird dadurch zum wahren Siege. Und wenn er auch im Kampfe unterliegt ; so ist ihm sein Sieg nichts destoweniger gewiss ; denn das Bestreben selbst gibt seinem fortdaurenden Wesen eine innere Würde, eine höhere Schöne, die des edlen Schweißes wohl wert ist. Das wahre Wohlwollen verfehlt nach dieser Voraussetzung nie ganz ihres Endzweckes ; denn es ist sich auch selbst Endzweck. Wenn aber dieses Leben allhier alles ist, was uns die Hand der Vorsehung zuteilt ; wenn unser ganzes Dasein sich nicht über die Spanne von Raum und Zeit erstrecket, die wir hienieden ausmessen ; so schränkt sich auch unser ganzes System von Hoffnung und Erwartung, unser ganzer Wert und Unwert in diesen engen Bezirk zusammen ; so übersehen wir die ganze Folge von Ursache und Wirkung des Sittlichguten, die Tugend samt ihrer innern und äußern Belohnung, das Laster mit allen seinen Folgen von ihrem Ursprunge an, bis zu ihrem völligen Auf­ hören. Der Tugendhafte, der im Kampfe unterliegt, hat sein ganzes Dasein, seine ganze Realität öfters auf das Spiel gesetzt, und wirklich verloren, auf ewig verloren. Der Lasterhafe, der in der Ausübung seines verkehrten Sinnes, in der Erreichung seines unedlen Endzweckes, seine wahre Glückseligkeit zu befördern   |  vi.1: 45

Anmerkungen zu Abbts Korrespondenz (1782)

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glaubt, weicht von hinnen, ohne seines Irrtums überführt, | und in der Folge eines Besseren belehrt zu werden. So ist die Vor­ sehung wahrhaftig ! gegen beide ungerecht. Ungerecht gegen den betrogenen Un­terdrücker, noch mehr als gegen den Unterdrückten ; ungerecht gegen den Verfolger, der in seinem Wahne die Ferse auf den Nacken der Un­schuld setzt, und sich auf dem Gipfel der Glückseligkeit glaubt, noch mehr als gegen den Verfolgten, der im Leiden der Wahrheit und Gerech­tigkeit treu bleibt, und seinen letzten Odem aushaucht ; so ist wirklich Gutes und Böses, Lohn und Strafe sehr unschicklich ausgeteilt. Wir erwarten also in jenem Leben nicht Ersetzung des Un­rechts ; zur Sättigung einer Art von Rachbegierde, wie Hr. Abbt es nennet, und man­cher vielleicht durch einen übel gewählten Ausdruck zu erkennen zu ge­ben schien ; sondern für den Zuwachs an Vollkommenheit, den die Seele durch Tugend und Rechtschaffenheit, Kampf und Leiden, wirklich er­hält ; für die wahre innere Belohnung des Sittlichguten erwarten wir Ge­genstand, Fortdauer und Beharrung, ohne welche das Leiden der Tugend wahres Leiden, der Triumph des Bösen wahrer Triumph, und vieles auf Erden nicht nur scheinbare ; sondern wirkliche Zerrüttung ist und blei­bet. Hr. Abbt meint zwar : unsere Erde könne vielleicht einem anderen Ball und allen Begebenheiten auf demselben untergeordnet ; mithin was hier nicht an seiner Stelle zu sein scheinet, in Beziehung auf seinen Zweck in jenem Weltkörper, gar wohl geordnet und der Absicht gemäß sein. Der Mensch wäre also, nach dieser Voraussetzung, bloß ein Mittel, dessen sich die Vorsehung bedienet, auf einem anderen Ball höhere Absichten zu er­reichen, und der Tor täuscht und schmeichelt, murret und beruhigt sich bloß durch den Wahn, dass er sich für Absicht hält. – Allein ich vermisse in diesem Besorgnisse alle Gründlichkeit. Die Vorsehung hat entweder gar keinen letzten Endzweck, oder der Gegenstand derselben ist die Gei­sterwelt, der erkennende, Vernunft und Glückseligkeit fähige Teil der Schöpfung. Diese gehören alle zu einer Klasse, haben also in so weit auch   ähnliche Bestimmung, Widmung und Beruf ihres Daseins. |  vi.1: 45–46

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Anmerkungen zu Abbts Korrespondenz (1782)

Sie sind ent­weder alle bloß Mittel zu höheren Absichten, oder jedes Einzelne dersel­ben hat Anteil an der letzten und höchsten Absicht der Weisheit und der Güte. Die Vorsehung wird also gegen keines derselben, auf diesem, oder irgend einem andern Balle ungerecht sein. Wir leiden „vielleicht zur Vollkommenheit des Ganzen ? “ [hier S. 28] Wohl ! so muss es auch für mich insbesondere gut sein, dass ich zum Besten des Ganzen leide ; wie denn auch in der Tat der Seele dadurch ein Verdienst, ein höherer Wert zuwächst, dass | sie ein Mittel wird, wodurch die Vollkommenheit des Ganzen erhalten wird ; indem sie Mittel ist, wird sie zugleich Absicht. Sie befördert höhere Vollkommenheit, und wird eben dadurch selbst vollkommener. Ist aber dieses nicht ; soll ich der Glückseligkeit fähiges und nach Glückseligkeit einzig und allein strebendes Wesen bloß Mittel und Werkzeug sein zu an­derer Wohl und Glückseligkeit, so ist die Vorsehung in der Tat doch gegen mich ungerecht ! Ich würde also die Betrachtungen über die Bestimmung des Menschen, anstatt des Schlusses S. 30 f. mit folgenden Gedanken beschließen. [„]Was soll ich nun von meiner Bestimmung denken[?“] — Zuförderst anbe­ten und wohltun ! Dies kann ich erkennen, dass ich nach Glückseligkeit streben muss, und dass ohne Wohlwollen und Wohltun Gott selbst nicht glückselig, mit Wohlwollen aber das geringste Geschöpf nicht ganz elend sein kann. Welchen Teil der Schöpfung ich ausmache, wie weit ich und meine Gattung in der Berechnung des Ganzen gekommen, kann ich zwar so eigentlich nicht bestimmen. Aber so viel leuchtet mir ein, ich gehöre zur Klasse derjenigen Wesen, die anbeten und wohltun sollen, und anbeten und wohlwollen können, die also in dem Plane des großen Weltalls nicht bloß Mittel zu höheren Absichten ; sondern selbst Absicht, und zwar letzte und höchste Absicht sein müssen. Ich kann also mein ganzes Gemüt immer mehr und mehr mit der trost­vollen, alles versüßenden Vorstellung erfüllen, dass ich noch in einem an­dern Zustande zu leben habe, in welchem ich mit  vermehrter Kraft an­beten und wohltun werde, in welchem |  vi.1: 46–47

Anmerkungen zu Abbts Korrespondenz (1782)

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ich die große Wahrheit in ei­nem hellern Lichte erblicken werde, dass Wohlwollen Glückseligkeit sei, und dass ich selbst desto glückseliger werde, je mehr Glückseligkeit ich hervorbringe, je mehr ich Ordnung und Eintracht, Frohsein und Genuss, Weisheit und Tugend in der Schöpfung zu befördern suche. Diese Erwartung stimmet mit der Natur der Dinge und der Meinigen sowohl als mit der gütigen Regierung der höchsten Weisheit auf das genaueste zu­sammen, und kann weder trügen noch täuschen. Zwar kann ich mich nicht schmeicheln, meine Torheiten und meine Plagen, die mich hienie­den zuweilen unglücklich machen, in jenem Leben ganz abzulegen, völlig von ihnen befreiet zu werden. Ich werde auch dort, meiner Empfindung nach, zuweilen die Ordnung vermissen, die mein allgütiger Vater in dem mir unübersehbaren Weltall zum Augenmerk gehabt ; auch dort noch zu­weilen leiden, damit andere desto glückseliger werden ; auch dort noch öfters Torheit beginnen, weil sie mir Weisheit zu sein dünkt. Ich werde | mich nie mit der Quelle der Vollkommenheit ganz vereinigen, nie die ganze Wollust richtiger Gesinnungen unvermischt und ungestört genießen können. Aber ich werde meinem großen Ziele doch immer näher kommen. Ich werde immer mehr und mehr einsehen und empfinden, dass ich zum besten anderer nie leiden kann, ohne selbst besser zu werden, und meinen inneren Zustand zu vervollkommnen ; immer mehr und mehr einsehen und empfinden lernen, dass meine Weisheit Torheit sei, so oft sie etwas anders will, als die allerweiseste Vorsehung hat geschehen lassen ; einsehen und empfinden lernen, dass ich und alle Geschöpfe meiner Gattung von unserm Urheber einzig und allein berufen und gewidmet sind, rechtschaffen und in der Rechtschaffenheit glückselig zu sein; berufen und gewidmet sind, nach Wahrheit zu forschen, Schönheit zu lieben, Gutes zu wollen, und das Beste zu tun6; berufen und gewidmet sind, Anzubeten und Wohlzutun ! Anmerkung s) [S. 30] Ich habe mich bereits erklärt, dass ich über den künftigen Zustand unserer Seele mich ungern ins Umständliche einlasse,   |  vi.1: 47–48

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Anmerkungen zu Abbts Korrespondenz (1782)

weil meine Vermutung immer von der einen Seite zu kühn, und von der andern zu eingeschränkt sein würde. Unsere Einbildungskraft breitet ihre Fittiche aus, als wenn sie himmelan fliegen wollte, und kann doch nicht über die Grenze des Käfigs hinaus, in welchem sie eingesperrt ist. Allerdings scheinet der Verfasser der Bestimmung hier zu weit zu gehen, wenn er, die Aussicht reizender zu machen, uns versichern will, die Tätigkeit unseres Geistes hänge so wenig von den Sinnenwerkzeugen ab, dass diese abgehen können, ohne dass uns selbst etwas gebreche ; ja, dass wir sodenn von allen Seiten den Eindrücken von außen geöffnet, lauter Empfindlichkeit, nur ein allgemeiner Sinn sein würden. Kein erschaffenes Wesen kann allenthalben unmittelbar gegenwärtig sein, kein endlicher Geist sich die ganze Schöpfung unmittelbar vorstellen. Wir werden also, in jeder Epoche unseres Daseins, einiges aus dem Zusammenhange der Welt unmittelbar empfinden, und dieses wird unser Sensorium ; das übrige aber nur mittelbar, gleichsam miterkennen, vermöge und nach Maßgabe der Veränderungen, die in diesem unsern Sensorio vorgehen. Mit diesem Sensorio hänget manches näher, und in einer | vollkommenen Schöpfung auch organisch zusammen ; woraus sich denn die Sinnenwerkzeuge organisch bilden, die unserm Selbst auch näher angehen, fester und genauer mit unserm Ich verbunden sind, mit einem Worte, unsern Körper ausmachen. In diesem Leben, wie er dem Nutzen und dem Gebrauch, den er hienieden haben soll, der Reihe der Widmungen, die er hier zu durchlaufen hat, am angemessensten ist ; in jener zukünftigen Fortdauer vielleicht mit mehrern, verfeinerten und edlern Sinnen und Werkzeugen ausgerüstet, nachdem der Geist sich durch sein Hiersein ausgebildet und eines höhern Berufs fähig gemacht hat. Wie viel aber und welcherlei Sinne unser ätherischer Leib dort haben wird ; wie viel Licht und Genuss, Erkenntnis und Empfindung, Deutlichkeit und Kraft jedem dieser Sinne, und welcher Wirkungskreis jedem Werkzeuge zugeteilt werden soll, kann von keinem Sterblichen angegeben werden, ohne der Einbildungskraft ein gar zu ungebundenes Spiel zu verstatten.   |  vi.1: 48–49

Anmerkungen zu Abbts Korrespondenz (1782)

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„Wie aber ? “, fragt man.7 „Wenn unsere Sinne und Sinneswerkzeuge dort von anderer Beschaffenheit sein werden, was für einen Gebrauch werden alsdenn die Fertigkeiten haben, die wir allhier erworben, und die sich bloß auf unsere gegenwärtige Beschaffenheit und Modifikation der Organen beziehen ? Das Kind hat gelernt, die Augen nach dem Lichte hinzukehren, und die Stimme seiner Amme zu unterscheiden. Wenn Auge und Ohr nicht mehr da, das Organ der Vorstellungen weg sein wird, was bleibt noch in der Seele von dem Erlernten zurück, das auf andere, heterogene Sinne noch Beziehung und Einfluss haben kann  ? “ Ich antworte : die Seele des Kindes hat nicht nur das Licht sehen ; sondern die Augen nach dem Lichte willkürlich hinkehren, das heißt, ihr Begehrungs-Vermögen von der stärksten und lebhaftesten Empfindung lenken, und nach dem Genusse derselben streben gelernt. Dieses ist Neigung und Fertigkeit des Geistes, die der Seele bleiben können, wenn auch alles Gefühl und alle Erinnerung von Licht und Farbe verschwinden sollte, – wie der Einwurf, der hier gemacht wird, vorauszusetzen scheint, wiewohl ohne hinlänglichen Grund. – Die Stimme der Amme wieder erkennen, ist nicht bloß Gehör ; sondern auch 1) Assoziation der Gehörbegriffe mit dem Bilde der Amme, 2) des Bildes mit dem Genusse der Milch, 3) die Erwartung ähnlicher Wirkung von ähnlichen Ursachen ; vielleicht auch noch 4) ein zarter Keim von Erkenntlichkeit und Liebe für genossene Wohltat ; wenigstens pflegt sich bei dem Säuglinge, unmittelbar nach dem Unterscheiden der Stimme seiner Erhalterin, die Disposition einzufinden, sich mit ihr zu freuen und mit ihr zu betrüben, welches der Sa | men ist, woraus sich nachher Liebe und Wohlwollen entwickelt. Alles dieses ist in der Seele des Kindes mit der Empfindung des Schalles verbun­den, bleibt aber in derselben zurück, und ist nicht ohne Wirkung und Äußerung, wenn auch das Kind nachher taub wird, und das Organ des Gehörs sein Amt nicht mehr verrichten kann. Überhaupt laufen alle Neigungen, Fähigkeiten und Anlagen der  See­le, so disparat sie auch scheinen, am Ende dennoch in |  vi.1: 49–50

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Anmerkungen zu Abbts Korrespondenz (1782)

Eins zusammen, verbinden sich in einem Stamme. Wer eine derselben übet, und vervoll­kommnet, übet, wo nicht unmittelbar, doch wenigstens mittelbar, und in gewisser Betrachtung mehr oder weniger, sie alle ; denn sie haben alle ei­nen gemeinschaft­ lichen Ursprung, und teilen sich einander wechselwei­se Saft und Nahrung mit. Alle Zweige, Äste und Wurzelfasern eines Bau­mes vereinigen sich in einem gemeinschaftlichen Stamme. Jene ziehen aus Luft und Licht, diese aus Erde und Wasser Saft und Nahrung, die sich durch den Umlauf vermischen und den Fruchtkeim zur Entwickelung befördern. Dieser Zweig verdorret, jene Wurzelfaser stirbt ab ; aber nicht, ohne in dem Stamme und den übrigen Teilen des Baumes die Nahrung zurück zu lassen, die ihnen durch den Umlauf zugeführt und mitgeteilt worden sind. Sodenn kann der Stamm neue Äste ansetzen, neue Wurzel­zweige austreiben, und mit verjüngter Kraft seine Blüte und seine Frucht an der Sonne austreiben. Anmerkung t) [S. 41] Dieses Schreiben des Hrn. Abbt enthält wider das, was sein Freund für die Bestimmung des Menschen angenommen, einige ziem­lich schwache Einwürfe, die eines Teils im vorhergehenden beantwortet sind, und andern Teils gar leicht aus denselben beantwortet werden können. Hr. Abbt meinet erstlich, die Entwickelung der menschlichen Fähigkeien sei Werkzeug zur Bestimmung, nicht die Bestimmung selbst, und fragt also abermals : worin mag wohl diese bestehen ? Wenn ich dieses recht verstehe ; so will er wissen, wozu diese Entwicke­lung und Ausbildung ? was soll dadurch ausgerichtet, bewirket, erhalten werden ? Allein die Frage wozu ? hat ihre Grenzen, wie schon oben erin­nert worden, die sie nicht überschreiten darf, ohne in eine bloße Wortfra­ge auszuarten, die mit keinem vernünftigen Sinne verbunden ist. Sobald | wir auf etwas gekommen sind, das an und für sich gut, schön, vollkom­ men und also erwünschenswert ist ; so hat die Frage wozu ? weiter keine Bedeutung. Die Frage setzet nämlich voraus, dass von einem Mittel die Rede sei, wodurch etwas erhalten werden soll,   |  vi.1: 50–51

Anmerkungen zu Abbts Korrespondenz (1782)

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und man will wissen, was dieses Etwas sei, das dadurch soll erhalten werden. Man befindet sich auf einem Wege und fragt : wohin führet dieser Weg ? Wer aber am Ziele ist, muss nicht weiter fragen : wohin ? So kann von einem Ding, das selbst Endzweck ist, nicht weiter gefragt werden, wozu ? Hr. Abbt lässt seine Soldaten nochmals auftreten, die ihre Soldatenkräf­te, wie er sagt, so fleißig geübt haben, und fragt voller Erstaunen : wohin gehen sie denn ? Hätte er sie in Feindes Land, auf dem Schlachtfelde, bei einer Belagerung, einem Siegesmale, beim Beuteteilen, oder beim Soldnehmen gesehen ; so würde er dem letzten Endzwecke schon näher gewe­sen, und die Frage, wozu dieses ? weniger schicklich sein. Am Ende ist vielleicht der Soldherr ein neuer Pyrrhus8 , der an der Tafel mit seinen Freunden nicht vergnügt schmausen kann, wenn er nicht vorher seine Feinde, d.i. seine Nachbarn alle überwunden und gedemütiget hat. Nun komme der Frager Cyneas9 noch mit seiner Frage : wozu aber dieses ? „Wenn die Bestimmung des Menschen“, sagt Hr. Abbt [hier S. 42] ferner, „das Den­ken bis zu einem gewissen Grade und auf eine gewisse Art ist u. s. w. –“ Wer hat dieses gesagt ? Nicht das Denken, am wenigsten unser künstliches Denken, in so weit es die Fähigkeiten eines Wilden oder eines einfältigen Landmannes übersteigt, gehört zur Bestimmung aller Menschen. Entwickelung und Ausbildung menschlicher Anlagen und Fähigkeiten ist die Bestimmung aller Menschen überhaupt, und diese kann allenfalls oh­ne unser künstliches Denken erhalten werden. „Wie wir den Rousseau weiter widerlegen wollen ? “[hier S. 43] Wahrlich, nicht dadurch, dass wir behaupten, aller Menschen Ziel und Bestimmung sei, in dem verfeinerten gesellschaftlichen Zustande der Menschheit den­ken und vernünfteln zu lernen. Dieses wäre der Natur und der Wahrheit zum Trotze, Übertreibung der Übertreibung entgegenge­setzt. So viele Tausende, die diesen Grad nicht erreicht, die in einem andern Zustande gelebt, etwa andere menschliche Anlagen als wir ausgebildet, andere Fähigkeiten zur Reife gebracht haben, würden ih­rer Bestimmung zuwider da gewesen, und da sein, würden die Vorse­hung   |  vi.1: 51

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Anmerkungen zu Abbts Korrespondenz (1782)

gleichsam um ihre Absicht betrogen haben. Nein ! auch der wil­ de, rohe Mensch der Natur muss den von der Vorsehung ihm insbe­sondere vorgezeichneten Pfad gegangen, muss der ihm insbesondere | angewiesenen Widmung zufolge hienieden gelebt, und von dannen gegangen sein. „So lasset uns denn unsere Kleider ablegen und in die Wälder laufen !“ [hier S. 43] Dieses heißt, von der andern Seite wiederum der Natur und der Wahrheit zum Trotze, annehmen, aller Menschen Ziel und Beruf sei, in einem ungeselligen Zustande einzeln in Wäldern herumzulaufen, und sich mit Eicheln zu mästen. Entwickelung und Ausbildung menschlicher Anlagen und Kräfte ist die allgemeine Widmung aller Menschen, das gemeinsame Merkmal alles dessen, so der Mensch als Mensch tun soll, und wirklich tut. Die allgemeine Formel, die mit der allgemeinen Notion Menschheit von gleich weitem Umfange ist. So wie das Subjekt, der Mensch, durch Gattung, Art, Klasse und Geschlecht bis auf das Individuum herunter näher bestimmt wird ; so modifiziert sich auch Beruf und Widmung. Die allgemeine Formel umfasset alle Zustände, Lagen und Verfassungen der Menschen, von dem rohesten und ungeselligsten Leben des Wilden, bis auf die Üppigkeit eines verfeinerten Hofmannes, von der Dummheit des eingeschränktesten Kopfes auf der Feuerinsel, bis auf Aristoteles oder Newton, von der zaghaften Lammesart eines Mexikaners, bis auf die Tapferkeit eines Alexanders.10 Sie passet auch auf alle Anstalten des menschlichen Lebens, auf Ehestand, Erziehung, Staatsverfassung, Religion, mit einem Worte, auf alle mögliche Verbindung und Gesellschaft, die sich unter Menschen denken lässt, in so weit sie auf die Glückseligkeit des Menschen Beziehung haben müssen. Aber immer wird durch die nähere Bestimmtheit des Subjekts auch das Prädikat eingeschränkt und in seiner Gattung, Art, Geschlecht und Einzelnheit näher und näher bestimmt. Lage, Umstände und zufällige Bedürfnisse können hier und da einen Menschenhaufen aufbieten, ihre herumirrende Lebensart zu verlassen, und in gesellschaftlicher Verbindung ihrer Widmung zu folgen, ihre Glückseligkeit mit gemeinschaftlichen   |  vi.1: 51–52

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Kräften zu befördern. Diese handeln ihrer Widmung gemäß, wenn sie dem innern Rufe folgen, und die Wälder verlassen. Sie werden der Gesellschaft zum Besten auf einige Kräfte des einsamen Menschen Verzicht tun, um andere auszubilden, dazu ihnen die Einöde keinen Anlass gibt. Sie werden wenigen Rechten des Eigennutzes entsagen, um Rechte des Wohlwollens, oder vielleicht andere Rechte des Eigennutzes zu erwerben, die ihnen jenen Verlust mit Wucher ersetzen. Alles dieses gehört in die Reihe ihrer Widmungen, machet einen Teil der Berufe und Anweisungen aus, welche die Vorsehung ihnen insbesondere beschieden hat. | So wie die geselligen Menschen von Natur und Klima ver­ anlasset werden, von Fischerei, Jagd, Feldbau oder Viehzucht zu leben ; so finden sie auch in jedem dieser Zustände andere Gelegenheit, andere Veranlassung, Trieb und Sporn, diese menschliche Anlagen mehr, jene weniger zu entwickeln. Und zuweilen wird sie ihr innerer Vervollkommnungstrieb anspornen, alle diese besondere Lebensarten zu verbinden, in einen Staatskörper zu vereinigen, um dem besondern Genie, Erfindungstriebe, Fleiß und Kunsteifer einzelner Menschen weitern Spielraum zu verschaffen, und dabei für die Sicherheit, Ruhe und Wohlstand der Schwächern zu sorgen. Hier wird abermals mancher Eigennutz dem Wohlwollen, manches Recht des Einzelnen der Wohlfahrt des Ganzen aufgeopfert werden müssen ; aber auch diese Aufopferung geschiehet selten ohne Wucher. Wer die Grenzen des Wohltuns erweitert, verlieret in der Tat nichts, wenn er auf einigen Eigennutz Verzicht tut. Auch die Sorge für die Erhaltung, Sicherheit und Wohlfahrt des Ganzen wird in dem gesellschaftlichen Leben der Menschen zu einer besondern Beschäftigung. Die Glieder der Gesellschaft mögen sich diese als ein unveräußerliches Recht der Menschen vorbehalten, oder einem Oberhaupte auftragen ; dieses Oberhaupt mag aus einem oder mehrern Subjekten bestehen ; der Auftrag mit, oder ohne Einschränkung und unbedingt geschehen ; so wird in allen diesen Verfassungen der regierende sowohl, als  der regierte Teil, auf einige Rechte Verzicht tun müssen, um |  vi.1: 52–53

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Anmerkungen zu Abbts Korrespondenz (1782)

andere zu erwerben, und in wohlgeordneten Staaten wird dieser Verzicht allezeit von Seiten des Eigennutzes zum Besten des Wohlwollens, d.i. allezeit mit Wucher geschehen. Eine ähnliche Beschaffenheit hat es mit der Einführung der Künste und Wissenschaften. Die sich ihnen insbesondere widmen, werden allezeit einigen Rechten der Menschheit entsagen müssen, um andere zu erlangen, werden einige Kräfte und Fähigkeiten weniger ausbilden können, um andere, zum Besten der Menschheit, mehr und besser anwenden und brauchen zu können. Alles dieses geschiehet ihrer besondern Widmung und Bestimmung gemäß, wenn sie ihrer individuellen Lage und Verfassung nach dadurch an Wohlwollen mehr gewinnen, als sie an Eigennutz verlieren, d. i. wenn die Aufopferung mit dem System ihrer übrigen Pflichten bestehen kann. – – Dieses ist, so viel mir bekannt ist, die einzige Aussicht, die man dem Genfer Bürger auch zum ersten discours11 entgegengesetzt hat, die einzige Art und Weise, auf welche seine paradoxe Sätze von den besten Schriftstellern widerlegt, und berichtiget worden sind. Man hat dabei nicht nötig, wie Hr. Abbt geglaubt zu haben scheinet, die ver | feinerte gesittete Lebensart der Menschen für die Widmung aller Men­ schen überhaupt anzunehmen, und jeden Zustand der geringem Kultur davon auszuschließen. Sie ist bloß die Widmung die­ser und jener Klasse der Menschen, die durch innere und äußere Veran­lassungen dazu aufgefordert und angetrieben werden. Anmerkung u) [S. 47] Herr Abbt scheinet hier seinen Standort als Tadler oder Ankläger völlig verlassen zu haben, um sich eines Behelfs zu bedienen, der eigentlich nur dem Entschuldiger, oder Verteidiger zu Statten kommen kann. „Was wissen wir ? vielleicht“, und dergleichen Ausflüchte stehen im Grunde nur dem zu Dienste, der den Plan der Vorsehung rechtfertigen will. Die­ser ist berechtiget, sich damit zu schützen, dass der Tadel nur für uns ei­nigen Schein habe, weil wir Menschen nur den kleinsten Teil dieses un­ermesslichen Planes übersehen, und dem allsehenden Auge, welches das Ganze umfasset, vielleicht ungereimt schei  |  vi.1: 53–54

Anmerkungen zu Abbts Korrespondenz (1782)

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nen dürfte. Ja dieses „vielleicht“ und „wer weiß“ wird in seinem Munde von sehr wichtiger und entschei­dender Bedeutung ; denn der Urheber des Plans hat ohne allen Zweifel das Ganze übersehen, hat ohne allen Zweifel die Teile, bis auf das Kleinste, mit unendlicher Weisheit und Güte, so und nicht anders ange­ordnet, und der tadelnde Maulwurf, der seinen Winkel kaum recht ken­ net, will meistern, und spricht, wer weiß ? – Eben deswegen, weil wir von den Graden nicht sagen können, wie weit sie herab und hinauf stei­gen müssen, um in dem unermesslichen Weltall die Mannigfaltigkeit hervorzubringen, die zur Einheit übereinstimmen soll, eben deswegen kön­nen und müssen wir voraussetzen, sie würden auf keine andere Weise er­halten worden sein. Das Gleichnis mit den Uhren, dessen sich Hr. Abbt bedienet, würde nur alsdenn passen, wenn die Bestimmung der Men­schen nicht anders erreicht werden könnte, als durch ihr Bewusstsein derselben. Können aber die Menschenkinder, wie nicht geleugnet wird, ihrer Widmung treu sein, ohne solches deutlich einzu­sehen ; können die Menschen ihre Anlagen entwickeln, sich ausbilden, erwerben und genießen, ohne deutlich zu erkennen, was Anlage, Entwickelung, Bestim­mung, oder Glückseligkeit sei ; so ist den Uhren kein Teil entzogen worden, das sie eigentlich zu Menschen dieser Art machet ; so hat ihrem | Gebrauche unbeschadet, gar wohl die Mannigfaltigkeit hinein gebracht werden können. Zudem sind die Uhren einzelne Maschinen, die alle einerlei Gebrauch und Endzweck haben, unter sich aber weiter zu keiner gemeinschaftli­chen Absicht übereinstimmen. Die Mannigfaltigkeit kann bei ihnen bloß zur Abwechselung, zur Augenlust dienen. Wie aber, wenn die Eine etwa die Stunden des Tages, die Andere die Tage des Mondenjahres, eine Drit­te die Tage des Sonnenjahrs anzuzeigen hätte, würde nicht alsdenn die Mannigfaltigkeit zur Erhaltung des gemeinschaftlichen Endzwecks, zur Bestimmung der Zeit in mancherlei Rücksicht, schon notwendiger sein ? Bei den verschiedenen Gebäuden einer Stadt, die aus mancherlei Einwohnern bestehen muss, fällt dieses deutlich in die Augen. Da die Ge­bäude verschiedentlichen Gebrauch haben, und gleichwohl sämtlich zu einem gemeinschaftlichen   |  vi.1: 54–55

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Anmerkungen zu Abbts Korrespondenz (1782)

Endzwecke übereinstimmen sollen ; so können sie nicht alle von gleicher Einrichtung, nicht alle von derselben Größe und Schönheit sein, und die Mannigfaltigkeit unter ihnen dienet nicht bloß zur Anmut, sondern ist unentbehrlich ; indem das Einerlei in der­selben offenbar dem Endzwecke hinderlich gewesen sein würde. – So wie die Teile eines organischen Körpers, durch ihre Verrichtungen, ge­nauer und inniger zu einem gemeinschaft­ lichen Endzwecke verbunden und vereiniget sind ; so wird auch die Abwechselung in ihrer Einrichtung, Struktur und Beschaffenheit immer notwendiger. Auch die Bürger eines wohlgeordneten Staats müssen von mancherlei Kräften, Geschicklich­keit und Dienstfähigkeit sein ; weil sie zur Wohlfart des Ganzen man­cherlei Ämter und Verrichtungen zu übernehmen haben. Nun sind alle vernünftige und vernunftfähige Geister Bürger in dem Staate Gottes. Dieser Staat ist unermesslich an Dauer und Ausdehnung, und enthält eine unendliche Anzahl von Gliedern, deren jedes diese unermessliche Dauer hindurch sein angewiesenes Amt, seine bestimmte Bedienung hat. Wer will sagen, dass in dem unendlichen Bezirke dieses großen Reiches nir­gend und zu keiner Zeit Bürger von dieser oder jener Eingeschränktheit, von diesem oder jenem Maße der Einsicht und Fähigkeit nützlich sein konnten ? Wer will sagen : alle Männer, die diesen von mir angegebenen Grad von Einsicht nicht erreichen, sollen auswandern, und der Staat gleichwohl an seiner Wohlfahrt im Ganzen nichts verlieren ? Nicht also zur bloßen Anmut, zur schönen Abwechselung etwa, ward in dem großen Weltall diese Mannigfaltigkeit an Fähigkeiten und Anla­gen erfordert, sie kann zur Vollkommenheit des Ganzen notwendig, | unentbehrlich sein. Verlangen, dass dem Ganzen unbeschadet, alle Menschen, auch hier auf dieser Erde, auch itzt in dieser uns bekannten Epoche von Zeit, es im Denken so weit bringen sollen, als Abbt angibt, heißt ohne allen Grund fordern, die vernünftige Wesen von geringerer Fähigkeit hätten ganz aus der Schöpfung wegbleiben, oder wenigstens hier auf unserer Erde nicht vorhanden sein sollen, um sich nachher auszubilden und zu einer höhern Stufe von Einsicht zu gelangen ;   |  vi.1: 55–56

Anmerkungen zu Abbts Korrespondenz (1782)

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sie hätten entweder allesamt mit höheren Fähigkeiten versehen den Erdball betreten, oder die Lage ihrer Körper hätte, ohne alle Ausnahme, so eingerichtet werden können, dass die Entwickelung bis auf diesen angegebenen Grad auch hier möglich gewesen wäre. Keine von diesen Ungereimtheiten hat vermutlich Hr. Abbt hier sagen wollen. Er scheinet das Wort Mannigfaltigkeit, wie er auch in einem der folgenden Briefe [hier S.47] gar deutlich zu erkennen gibt, in der so oft gemissbrauchten ästhetischen Bedeutung verstanden zu haben, von welchem er mit Grunde sagen konnte, es sei endlich ein großes Wort geworden, das weiter nichts erkläret. Anmerkung x)12 [S. 49] Wenn er denn hier liegt, der so gerühmte Knoten ; so war er schwerer zu finden, als zu lösen. Ich habe schon mehrmal er­innert, unser Freund steht hart am Ziele, und ruft noch immer : wohin führt dieser Steig ? – Die Entwickelung unserer Anlagen, Geschicklichkeiten und Kräfte ist Erwerbung der Vollkommenheit, ist an und für sich Glückseligkeit, von welcher sich weiter kein Endzweck denken lässt. Alle Handlungen, Begierden und Wünsche der Menschen ; alles, wonach sie sich sehnen, woran sie Lust und Vergnügen finden, kommen am Ende darin überein, dass sie die menschlichen Kräfte in Übung erhalten, und vermittelst derselben ausbilden und vollkommener machen. Alles, was dem Menschen unangenehme Empfindung machet, was er fürchtet, fliehet, hasset und meidet, läuft am Ende auf eine Hemmung und Zurückhaltung seiner Tätigkeit hinaus, wodurch jene Übung und Entwickelung verhindert wird. Wenn es also ein höchstes Gut für den Menschen gibt ; so kann es in nichts anders, als in dieser Entwickelung seiner angebornen Fähigkeiten bestehen. Dass es aber ein höchstes Gut für den Menschen gebe, kann nicht geleugnet werden, so bald man zugibt, dass gewisse Dinge für den Men | schen nur gut überhaupt sind. Gibt es etwas, das secundum quid13, [das] irgend wozu, und in gewisser Rücksicht begehrlich ist, und verlangt zu werden verdienet ; so   muss es auch notwendig etwas geben, das schlechterdings, |  vi.1: 56–57

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Anmerkungen zu Abbts Korrespondenz (1782)

an und für sich, und ohne weitere Rücksicht betrachtet, erwünschenswert und begehrlich ist. Wir haben gesehen, dass dieses bonum absolutum, dieser finis bonorum eigentlich, dasjenige, worauf am Ende alle Bona secundum quid hinauslaufen, und worin sie übereinkommen, nichts anders sei, als Tätigkeit und Übung der Kräfte ; also lässt sich weiter kein Ziel angeben, dahin diese Beschäftigung führen soll. Sie ist ihr eigenes Ziel ; sie ist Erwerbung mehrer Realität, sie ist Genuss und Glückseligkeit ! Anmerkung y) [S. 49] Auch hierauf ist bereits oben geantwortet worden. Hr. Abbt hat geglaubt, die Mannigfaltigkeit habe in der großen Schöpfung bloß um der Schönheit willen, um das langweilige Einerlei zu vermeiden, Platz gefunden, und gleichwohl so manchen guten Nutzen und wirklichen Gebrauch der Dinge verdrängt. Er führt also seine menschlichen Künstler, vorhin den Uhrmacher, jetzt den Tischler, zum Beispiele an, denen es freilich nicht zu Raten ist, dass sie aus Liebe zur Abwechselung ihre Arbeiten verstümmeln, bald hier, bald da woran fehlen lassen, und nicht lieber alle zu ihrem besten Nutzen und Gebrauch auf das Bequemste, allenfalls ohne die mindeste Abänderung und Mannigfaltigkeit, einrichten sollen. Aber so verhält es sich nicht mit dem unermesslichen Werke Gottes, mit der Schöpfung. Die Mannigfaltigkeit ist hier Plan und Endzweck, nicht bloß Verzierung. Die Rede ist hier nicht von Wiederholungen eben derselben Maschinen, zu eben demselben Gebrauche, die der ernsthafte Künstler allerdings lieber auf eben dieselbe, auf die bequemste und nutzbarste Weise verfertigen, als, dem Neusüchtigen zu gefallen, verschnörkeln und verhunzen wird. Die Rede ist hier von Maschinen, die selbst wiederum Bestandteile einer größern Maschine aus­machen ; wie die Glieder eines organischen Körpers zwar für sich jedes ein Ganzes ist, aber doch zusammenstimmen müssen, das große organische Ganze zu bilden. Hier ist die Mannigfaltigkeit offenbar nicht bloß zur Augenweide ; sie ist notwendig und zur  | Bildung des Ganzen unentbehrlich, und die Frage ist einzig und allein diese :   |  vi.1: 57–58

Anmerkungen zu Abbts Korrespondenz (1782)

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War es in dem unermesslichen Plane des Weltalls überall notwendig, dass irgendwo in demselben auf einem Balle, wie unsere Erde, einige vernunftfähige Wesen, wie Menschen, einen kleinen Teil ihrer un­endlichen Reihe von Bestimmungen so und nicht anders erfüllen, und von ihrer immer fortgehenden Entwickelung und Ausbildung keinen höhern, als diesen bestimmten Grad erreichen, um nach diesem Le­ben, in einem veränderten Zustande, die Reihe ihrer Bestimmungen weiter ins Unendliche fortzusetzen ; oder war es möglich, dass sie alle, ohne Ausnahme schon hier den höhern Grad von Einsicht und Aus­ bildung erreichten, den ihnen Hr. Abbt vorschreibt ? Wer wagt es hier den Ausspruch zu tun, und für die Forderung unseres Freundes zu entscheiden ? Anmerkung z) [S. 54] Man verspricht sich vielleicht Anfangs von der menschlichen Vernunft, so wie im gemeinen Leben der Kranke von seinem Arzte, zu viel, um das­jenige was beide leisten, gehörig zu schätzen und mit Dank zu erkennen. Man erwartet von der Weltweisheit Aufschlüsse, die über ihre Grenzen hinausreichen, und muss alsdenn freilich verdrießlich werden, wenn man unvermutet an die Schranken stößt, die ihr Gebiet einschließen. Diese Ungenügsamkeit mit dem Erworbenen, dieses Weiterhinausstreben ist dem Forschungstrieb des menschlichen Geistes und seiner Bestimmung angemessen. Sie muss aber nicht in Missmut und üble Laune ausarten, und dasjenige verkennen, oder gar verachten lassen, was wir dem Lichte der Vernunft wirklich zu verdanken haben, weil sie uns nicht alles leisten will, was wir uns von ihr versprochen. Wahre lebendige Erkenntnis von dem Endzwecke unseres Daseins und von dem Verhältnisse zwischen Gott und dem Menschen gibt hier diese weise Mäßigung, diese anständi­ge Bescheidenheit, die das Gute mit Dank erkennen, und mit kindlichem Zuvertrauen das Bessere erwarten lässt. So kann auch von einer andern Seite der Zustand der Weltweisheit und die Art und Weise, wie sie jungen Leuten beigebracht wird, zum Teil Schuld sein, dass der armen ­Metaphysik   |  vi.1: 58

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Anmerkungen zu Abbts Korrespondenz (1782)

in unsern Tagen so schnöde be | gegnet wird. Wer den Sporn, über seine Grundsätze nachzudenken, in der Seele hat, und eine Zeitlang, ohne Rat und Führung, sich selbst überlas­sen gewesen ; wer lange genug mit Meinungen, Zweifel, Aberglauben und Vor­ urteil zu kämpfen gehabt, bevor er in Absicht auf sein Verhalten und die Grundsätze seines Lebenswandels zu einiger Beruhigung gelan­gen, und so zu sagen, mit sich selbst in Friede und Eintracht leben konn­te, der wird der Vernunft jede Wohltat, die sie ihm erzeigt, mit Dank anerkennen. Er hat unter fürchter­ lichen Erscheinungen einen steilen, schlüpferigen Weg hinanzuklimmen gehabt, Abgrund von beiden Seiten, herüberhangende Felsenbrüche über seinem Haupte. In der Verwirrung von so mancherlei Stimmen des Mutwillens, der Verzweifelung, der Heuchelei, der Schadenfreude und des Hohngelächters, die ihn unauf­h örlich betäubten, ließ sich hier und da auch diese freundliche Stimme hö­ren, die ihm bald Aufmunterung, bald Warnung zurief. Jetzt, da er die erste Anhöhe bestiegen, auf welcher die Luft gereiniget und die Aussicht heiter zu werden beginnet, siehet er zuerst mit herzlichem Frohsein und Dank gegen seine Wohltäterin auf den beschwerlichen Weg zurück, den er hinter sich hat, und alsdenn erst hebt er die Augen zu jenem Gipfel empor, der sich in die Wolken versteckt. Wer aber, wie auf Adlerflügeln getragen, diese Anhöhe erreicht hat, oh­ne Beschwerlichkeit empfunden, ohne Gefahr † geahnet † zu haben, der wird das Gute nicht zu schätzen wissen, das ihm widerfahren ist, wird vielmehr über die fernere Hilfe unzufrieden sein, die ihm noch einige Zeit verweigert wird, und vielleicht aus Unwillen sich beklagen, dass ihm auf dem Wege so manche Aussicht nicht gezeigt worden, die sich hier und da, zwischen dicht verwachsenen Hecken und Dornsträuchen öffnet. – Allegorie beiseite, der junge Mensch, der auf Schulen der Weltweis­ heit eingeführt wird, hat das Bedürfnis zu philosophieren noch nie empfunden, hat sich noch nie über seine Grundsätze die mindeste Unruhe an­wandeln lassen, kennet also die Gefahr nicht, †  geahnet ]  JubA : geahndet |  vi.1: 58–59

Anmerkungen zu Abbts Korrespondenz (1782)

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von welcher er befreiet werden soll. Er empfängt die geläutertsten Begriffe, die abstraktesten Leh­ren und subtilsten Grundsätze so unmittelbar aus der Hand seines Leh­rers, ohne den weiten Weg zu kennen, den die Vernunft hat nehmen müssen, von den gemeinen alltäglichen Erfahrungen bis zu jenem Grade der Verfeinerung zu gelangen. Alle übrige Meinungen werden ihm gleich von ihrer ungereimten, lächerlichen, oder gar schädlichen Seite vorge­stellt. Er selbst hat sie nie geprüft, hat nie seine Kräfte geübt, das Nützli­che und Schädliche, Wahre und Falsche jeder Lehrmeinung mit einander | in Vergleichung zu bringen, und gegeneinander abzuwiegen. Er begreifet also nicht, wozu diese bedenkliche Vorsichtigkeit, diese Subtilität dienen soll, die ihm so sehr empfohlen wird, und ist in Gefahr, sobald er sich selbst überlassen wird, sie als unnütz zu verspotten. Mit einem Worte, es gehet ihm wie einem hungerigen Gaste, dem der Nachtisch gleich in dem ersten Gange aufgetragen wird. Statt nahrhafter Kost zur Stillung des Hungers findet er lauter Augengerichte, Nahrung für das übersatte Gelüste, oder Mittel die Verdauung zu befördern. „Der Himmel weiß“, rief unser Freund in einer ähnlichen Lage, als er Ontologie und Cosmologie las, und über den innern Wert der Ware, die er auszukramen hatte, mit seinem Gewissen zu Rate ging [hier S. 49], „der Himmel weiß, dass ich von den drei Begriffen Substantia, Substantiale und vis, worauf doch endlich alles herauskommt, wenig erbauet bin u.s.w. Am Ende wissen wir doch nicht, was Materie oder Geist sei. –“ Allerdings kommt auf diese Grundbegriffe unseres Denkens alles an. Ohne diese können wir in keiner Wissenschaft, in keiner Theorie der Kunst den mindesten Schritt tun. Je weiter wir in unseren Betrachtungen gehen, je länger wir gleichsam den Faden ausspinnen, der von diesen ersten Begriffen ausgehet ; desto weniger können wir die Folgen mit ihren ersten Gründen zugleich übersehen, desto misslicher wird also jede kleine Unrichtigkeit, oder auch nur Unbestimmtheit in den ersten Grundbegriffen. So lange wir in unsern Schlüssen noch Begriffe und   Worte, Zeichen und Bezeichnetes zugleich denken können, |  vi.1: 59–60

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Anmerkungen zu Abbts Korrespondenz (1782)

kommt auf die gar zu genaue Bestimmung der Grundideen noch so viel nicht an. Hier und da mögen die Umrisse derselben noch schwimmend, die Grenzen nicht auf das genaueste bezeichnet sein, bald dieses, bald jenes Merkmal mehr oder weniger mit einschließen. Im Grunde sind diese Wegzeichen nicht unsere einzigen Führer, auf die wir uns völlig verlassen. Wir haben vielmehr noch immer unsern Ausgangsort in den Augen, und können uns kleine Ausweichungen erlauben, denn wir wissen wieder einzulenken. Sobald aber die Reihe unserer Schlüsse so lang wird, dass wir uns den bloßen Worten, wie algebraischen Formeln anvertrauen müssen ; so führet jede kleine Ausweichung am Ende weit vom Ziele weg ; denn wir wissen nicht mehr, wohin wir einlenken sollen. Die ungereimtesten Systeme mancher Philosophen, die der gesunde Menschenverstand verspottet, sind auf diese Weise entstanden. Eine gering scheinende Unrichtigkeit in der ersten Grunderklärung führte durch bloße Wort- und Zeichenschlüsse auf Nebenwege, die sich immer weiter und weiter vom Ziele entfernen. | So konnte eine fast unmerkliche Kleinigkeit in der Erklärung des Worts Substanz zur ganzen Lehre des Spinoza, und in der Erklärung des Worts Potenz, zur Lehre des Hobbes führen14 , so wie eine Unbestimmtheit in dem Worte Eigennutz, wie ich oben [Anm. o), S.231 ff.] gezeigt zu haben glaube, das ganze so bescholtene System des Eigennutzes zur Welt bringen. Ein Lehrbuch also, in welchem diese Urbegriffe, die dem Denker zum Leitfaden dienen müssen, nach aller Strenge erklärt, die Merkmale, die jedes Hauptwort einschließet, richtig angegeben, und durch scharfe Umrisse angedeutet werden ; ein Lehrbuch der Ontologie, das auch weiter kein Verdienst hätte, als dass es uns, vermittelst dieser richtigen Bestimmungen der Grundbegriffe, in den Stand setzte, in dem Fortgange unserer Betrachtungen, so oft wir es nötig finden, die Worte mit den Begriffen zu verwechseln, wäre schon für den versuchten Forscher keine gemeine Wohltat. – Unserm jugendlichen Metaphysiker hingegen schien dieser Dienst viel zu geringe, und kaum dankenswert. Die  Ontologie sollte ihm Aufschluss geben, was Kraft in den |  vi.1: 60–61

Anmerkungen zu Abbts Korrespondenz (1782)

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Objekten außer uns sei ? wie sich das Akzidenz an seine Substanz anhakt ? – Es war ihm nicht genug, dass die Philosophie lehrte, Materie und Geist seien Wesen von ganz verschiedener Natur, und die Eigenschaften des Einen könnten der Andern nicht ohne Ungereimtheit zugeschrieben werden ; sie sollte ihn auch unterrichten, was Materie sei ? was Geist sei ? – das heißt, wenn ich anders die Frage recht verstehe, man will den Entstehungsbegriff haben, wie Materie und Geist geworden sind ; und da ihm sein Compendium diesen Unterricht nicht geben konnte, hielt er sich für hintergangen, und nunmehr in Gefahr wieder andere zu hintergehen. Auf gleiche Weise ist man auch mit der Antwort, die uns die Philosophie auf die Frage : was ist des Menschen Bestimmung ? zu geben vermag, nicht zufrieden, sie ist unserm Vorwitze zu allgemein, zu unbestimmt. Wir wollen näher und umständ­ licher wissen ; wir, die wir nicht wissen, was uns den nächsten Augenblick erwartet, wollen uns gern ausführlich und mit allen Umständen erzählen lassen, wenn, wie und wo die fernere Entwickelung unseres Daseins in entfernten Jahrhunderten vor sich gehen soll ? Was einem jeden von uns insbesondere im Wege gestanden, dass er hier nicht hat weiter kommen können, und wie ihm dieser Schaden wieder in einem künftigen Zustande ersetzt werden soll ? – Alles dieses soll uns die Vernunft klar und deutlich vor Augen legen, oder wir verlassen diese stiefmütterliche Matrone, und suchen uns bei ihrer gefälligern Schwester, bei der Offenbarung, zu erholen, die mit mehr Herablassung | für unsere Schwachheit uns diesen nähern Unterricht wenigstens zu ge­währen scheinet. Aber auch in Wahrheit nur zu gewähren scheinet. Für die wahre, umständliche Beschaffenheit unseres künftigen Zustandes ha­ben die Menschen hier weder Sinn noch Begriff. Auch ist es keines Weges die Absicht und die Bestimmung der Offenbarung, unserm Vorwitz hierin Genüge zu leisten. Sie soll ihn bloß stillen, beruhigen, und das Ge­müt in die kindliche, harmlose Lage einwiegen, in welcher allein der Mensch seiner Bestimmung treu, und seines Daseins froh sein kann. Durch ihre Tröstungen endlich gestärkt, konnte der Psal  |  vi.1: 61–62

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Anmerkungen zu Abbts Korrespondenz (1782)

mist, ganz Zuversicht, ganz Ergebenheit in die Fügung des allgütigen Vaters, nunmehr singen :*15 Wenn itzt des Bösen Glück mein Herz betrübet, und mir in meine Nieren sticht ; so bin ich gern ein Tor, und will nicht forschen ; bin gern vor dir dem Viehe gleich. Ich bleibe ja bei dir auf immer ; Du hältst an meiner Rechten mich. Dein Ratschluss leitet mich auf dunkelm Pfade, nimmt endlich mich zu Ehren auf. Was könnt’ ich neben dir im Himmel, was hier auf Erden wünschen neben dir ? Verschmachtet Fleisch und Geist, ist Gott doch meines Herzens Trost, auf ewig Gott mein Teil. Verloren sind, die sich von dir entfernen ; verloren, wer nach anderm Glücke buhlt. An Gott mich halten ist mir höchstes Gut !

[…]

*    Ps. 73. v. 21. u. f.

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Anmerkungen der Herausgeberin

entwurf ist das 17. Kapitel in Platons Phaidon. 2 In Platons Menon demonstriert Sokrates die Lehre von der „Wieder­ erinnerung“, indem er einen jungen, der Mathematik unkundigen Sklaven über die Verdopplung eines Quadrats nachdenken lässt. 1 Gemeint

briefwechsel mit abbt [i]







1 Brief

Mendelssohns an Abbt vom 13. August 1756. Autograph aus dem Hausarchiv des Fürsten zu Schaumburg-Lippe, Bückeburg : F I A XXXV 18.95a, Bd. IX , Nr. 27 ; wird abgedruckt in JubA 21.1. Der vorliegende Abdruck erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Staatsarchivs Bückeburg. Siehe auch einen Auszug in Michael Albrecht : Moses Mendelssohn 1729 – 1786. Das Lebenswerk eines jüdischen Denkers der deutschen Aufklärung. Weinheim 1986 (= Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek 51), 88. 2 Zephyr ist der Westwind: die freundlichste und sanfteste aller Brisen, die den Frühling und die Wärme bringt. 3 Hs. verschollen ; Druck : AVW III, 1771, 120 – 2 4, 2. Aufl. 1782, III, 121 – 25, GS V, 266 – 69, JubA XI, 357 – 58 [Seitenangaben verzeichnen jeweils den gesamten Brief]. 4 Mendelssohn bezieht sich hier auf die deutsche Übersetzung von David Humes History of England (6 Bde., 1754 – 63) ; die Teilübersetzung Geschichte von Großbritannien Erster Band, der die Regierungen Jakobs I. Und Carls I. enthält erschien 1762 in Breslau und Leipzig. Tatsächlich handelt es sich dabei aber um den zuerst erschienenen 5. (nicht 1.) Band. (Mendelssohns Bücherverzeichnis listet außerdem S. 17, Nr. 276 den dritten Band, „von Jul. Caesars Einfällen bis auf Elisabeth“, Breslau 1770). 5 Hs. verschollen ; Druck : AVW III, 1771, 127 – 31, 2. Aufl. 1782, III, 128 – 32, fehlt in GS, JubA XI, 359 – 61. 6 Scherzhafte Antithese : siehe den Schlussabsatz in Mendelssohns Brief

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Anmerkungen zu Seite 9 – 11

vom 2. November 1762 ; „Leben Sie wohl, teuerster Freund ! und vergessen Sie niemals, dass zu Berlin unter Last von tausend unangenehmen Geschäften, beim Überflusse an blasenden Postillionen, und beim Mangel von vielen notwendigen Dingen, ein verheirateter Philosoph lebt, der sich nennet etc.“ (JubA XI, 358) 7 In den Literaturbriefen 245 – 50 zwischen dem 29. Juli und 19. August erschien Abbts Rezension von Johann Süßmilchs Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts aus der Geburt, dem Tode, und der Fortpflanzung desselbigen erwiesen. 2. Aufl. Berlin 1762. Siehe insb. im 250. Literaturbrief, Teil XV, 126 ff. : „Mit einem Worte : es bleibt uns nichts übrig, als in tiefer Demut anzubeten, sobald von den Absichten des Schöpfers die Rede ist. Selbst die Offenbarung lehrt uns nicht unsere eigentliche Bestimmung […]“ (vgl. desweiteren Pollok 2010, 82 f.). 8 Hs. verschollen. Druck : AVW III, 1771, 164 – 73, 2. Aufl. 1782, III, 165 – 74, GS V, 280 – 85, JubA XII.1, 31 – 35. 9 Zitat aus Alexander Popes An Essay on Man II, 2. 10 Hs. verschollen. Druck : AVW III, 1771, 206 – 14, 2. Aufl. 1782, III, 207 – 15, GS V, 301 – 05, JubA XII.1, 36 – 39. 11 Die „erste Schrift“ meint Abbts Vom Tode für das Vaterland, 1761, s. AVW II. 12 Mit Pierre Bayle, dem frz. Schriftsteller und Philosophen, wählt Abbt einen wahren Aufklärer, zu dessen wichtigsten Tätigkeiten seine Arbeit am Dictionnaire historique et critique (2 Bde. 1695/96, 4 Bde. 1702) zählt (eine Anspielung darauf auf S. 20). Eine deutsche Übersetzung dieses das damalige Wissen umfassenden Werks wurde unter Leitung von Johann Christoph Gottsched 1741 – 4 4 als Peter Baylens historisches und kritisches Wörterbuch in Leipzig herausgegeben. Im „Zweifel“ wird Bayle als „Feind der Systeme“ angerufen ; Mendelssohn wird ihm Leibniz als den Systematiker schlechthin gegenüberstellen. Mit der „Rezension“ meint Abbt seine Überlegungen, die er im „Zweifel“ zur „siebente[n], vermehrte[n] Auflage mit einigen Zugaben“ von Johann Joachim Spaldings Bestimmung des Menschen, Leipzig 1763 (zuerst Greifswald und Stralsund 1748, hier zitiert nach Johann Joachim Spalding : Die Bestimmung des Menschen. Hg. von Albrecht Beutel, Daniela Kirschkowski, Dennis Prause. Kritische Ausgabe, 1. Abt., 1. Bd. Tübingen 2006) formuliert. Da Nicolai zu diesem Zeitpunkt bereits eine Rezension von Friedrich Gabriel Resewitz vorlag, wurde beschlossen,

Anmerkungen zu Seite 11 – 14



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diese zuerst im 277. Literaturbrief vom 29. März und 5. April 1764 (Teil XVIII, 3 – 24) zu veröffentlichen, Abbts „Zweifel“ jedoch zusammen mit Mendelssohns Antwort, dem „Orakel“, im 287. Literaturbrief (Juni u. Juli 1764) erscheinen zu lassen. Aristippus von Kyrene, zeitweise Sokrates- bzw. Platonschüler, gilt als Vater des Eudaimonismus (eine philosophisch gehaltvollere Version des Hedonismus) und wird charakterisiert als eine heitere Natur, die in jeder Lage das Positive zu sehen bereit ist. Diogenes Laertius benennt Aristipps Wahlspruch : „Ich besitze, ich werde nicht besessen.“ Auch soll er den Begriff der „Menschlichkeit“ in die Philosophie eingeführt haben; siehe Christian Göbel : Griechische Selbsterkenntnis. Platon – Parmenides – Stoa – Aristipp. Stuttgart 2002, 246. Thomas Wentworth, Earl of Strafford, war enger Vertrauter des nach absolutistischer Manier regierenden Königs Charles I. und wurde vom Unterhaus wegen Hochverrats verurteilt. Charles I., der zu dieser Zeit dringend die Unterstützung des Parlaments benötigte, musste das Todesurteil unterschreiben. Ihm selbst brachte dies allerdings lediglich einen Zeitaufschub. 1649 wurde er hingerichtet, was zu einem vorübergehenden Ende der Monarchie in England (und Schottland) führte. James Scott, Duke of Monmouth, unehelicher Sohn Charles II. und Thron­a nwärter, der schließlich unter James II. hingerichtet wurde. Das von Abbt angedeutete Schicksal der Mrs. Gaunt wird von David Hume in seiner Geschichte Englands beschrieben – offenkundig hatte sich Abbt also Mendelssohns Lektüreempfehlung zu Herzen genommen (s. Anm.  4, S. 261). 2. Samuel 16, 5 – 13. Hs. verschollen. Druck : AVW III, 1771, 240 – 43, 2. Aufl. 1782, III, 241 – 4 4, GS V, 315 – 17, JubA XII.1, 43 – 4 4. Gemeint ist Sara, das erstgeborene Kind von Moses und Fromet Mendelssohn ; s. Anm. in JubA XII.1, 270.

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zweifel und orakel

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„Re“ : Redaktion. Diese einleitenden Zeilen schrieb Friedrich Nicolai, s. JubA VI.1, 206. Druckortangabe fiktiv. Gemeint ist Spalding ; s. hier Anm. 12, S. 262 und Einleitung, S. xiv ff. Abbt gibt Spalding nicht immer absolut wort-, aber sinngetreu wieder. Die nachfolgend angegebenen Verweise beziehen sich auf die kritische Ausgabe : Johann Joachim Spalding : Die Bestimmung des Menschen. Hg. v. Albrecht Beutel, Daniela Kirschkowski, Dennis Prause. Kritische Ausgabe, 1. Abt., 1. Bd. Tübingen 2006, Synopse S. 41 – 215. Euphranor ist dem Mendelssohn-Leser aus dessen Briefen über die Empfindungen (zuerst 1755) bekannt ; dort vertritt er einen dem euphorischen Anklang seines Namens entsprechenden schwärmerischen Enthusiasmus. Theodul ist, wie sein „Verwandter“ Palemon bzw. Theokles aus den Briefen (beide sind ironisch gebrochene Figuren aus Shaftesburys Moralists, or, a Philosophical Rhapsody, 1709), dahingegen namensgetreu firm auf der Seite der Gottesfürchtigen. Philareten sind Freunde der Tugend. Aulus Persius Flaccus in Satura III, 67 : „o miseri causas cogniscite rerum/ quid sumus et quidnam victuri gignimur […]“ : Unselige ! Forschet nach Grund und Wesen der Dinge : was wir sind, und wozu wir ins Leben geboren …“ (zit. nach der Übersetzung von Otto Seel, München 1950, 36 f.). Auch Spaldings Abhandlung zur Bestimmung des Menschen (1748) beginnt mit eben diesem Zitat, womit dieser wiederum auf Shaftesburys Miscellaneous Reflections (1711) anspielt. Siehe Reinhard Brandt : „Rousseaus und Kants Ich denke“, in : ders., Werner Stark (Hg.) : Autographen, Dokumente und Berichte. Zu Edition, Amtsgeschäften und Werk Immanuel Kants. Hamburg 1994, 8 f. Gewöhnlich beschließt der 5. Akt ein Schauspiel. Zu Abbts „Bayle-Anrufung“ s. hier Anm. 12, S. 262. Faveo lingua : „Schweigend höre ich dir zu“ ; laut JubA V.3b, 808 eine Verballhornung von „favete linguis“ (Horaz, Oden III 1, V.2), mit dem in Rom zur religiösen Andacht gerufen wurde. Das Zitat stammt aus Petronius’ Satyrica 129.4 f. : „nunmehr weiß ich Dank auch Deiner Schwäche. Ich konnte mich umso länger im Schatten der Erkenntnis ergötzen.“ (JubA VI.1, 220 f.) Statt „der Erkenntnis“ (cognitionis) steht im Original allerdings „der Lust“ (voluptatis).

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Eine „schwarze Truppe“ meint wohl die den weißen Europäern so fremden und deshalb von ihnen verachteten Farbigen des afrikanischen Kontinents. Abbt reformuliert nach der lat. Version von Homers Odyssee I.3 (JubA V.3b, 808 verweist daneben auf Horaz, De Arte Poetica V.142) : „Ich sah die Sitten vieler [Menschen] und Städte.“ Diese interessante Schrift mit dem netten Titel ist freilich ebenso eine Fiktion wie der Druckort der beiden Abhandlungen ; der Kommentar der JubA V.3b, 808 vermutet eine Anleihe an A. G. Kästners Abhandlung von den Pflichten von 1751 (siehe dessen Gesammelte poetische und prosaische schönwissenschaftliche Werke. Teil 3. Berlin 1841, 65 : „[…] wer wird die allgemeine Vorsicht, welche die ganze Welt regiert, von der besonderen trennen, die einzelnen Teilen vorsteht ? Wir müssen uns Gott nicht wie einen Feldherrn vorstellen, der den Plan der ganzen Schlacht entwirft, den Regimentern Posten anweist, die nächsten Heerführer unter ihm kommandiert, aber den gemeinen Soldaten zu befehlen den Offizieren überlässt.“). Abbt bezieht sich hier auf Spaldings Werk. Der genannte Zusatz findet sich im Anhang (ab der 3. Aufl. [1749]), s. Spalding 215). Spalding : Bestimmung des Menschen, 49. „Gleich stark packt alle die Liebe.“ Das Vergil-Zitat (Georgica III, 244) wird allerdings in Samuel Richardsons Roman Clarissa Harlowe (London 1748) nicht von Jakob Harlowe, dem Vater Clarissas, sondern von ihrem Onkel John geäußert (s. JubA V.3b, 809). In der Rhapsodie, oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen von 1761/71 wehrt sich Mendelssohn bereits gegen die falschen Begriffe von der menschenmöglichen Glückseligkeit im „geläuterten Epikureism“ (s. JubA I, 404). Spalding : Bestimmung des Menschen, 55. Ebd. Charles de Marguetel de Saint-Denis de St. Evremonte war als religiöser Skeptiker und an Montaigne anknüpfender Essayist bekannt. In der Odyssee verwandelt zwar Circe, die zaubermächtige Tochter des Helios, die Begleiter Odysseus’ in Schweine, doch wird ihre „Rute“ wohl auch des Gegenteils mächtig sein. Titus Pomponius Atticus, Geschichtsschreiber und enger Freund Ciceros ; ein Bild seiner Persönlichkeit vermitteln insbesondere seine in Auswahl überlieferten Briefe an diesen.

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Spalding : Bestimmung des Menschen, 73 – 99. Eventuell bezieht sich Abbt hier auf John Lockes Essay Concerning Human Understanding (1690), II.2. Spalding : Bestimmung des Menschen, 101. Ebd., 107. Ebd. 155. Ebd., 165 Ebd., 167. Titus Flavius Domitianus, Attila (der Hunne) und Cesare Borgia waren berüchtigt für ihre Grausamkeit und politischen Morde. Gaius Iulius Caesar Germanicus, nach seinem Schuhwerk Caligula genannt, erhob in ebenso sinnlosem „politischen“ Geist sein Lieblingspferd zu einem Gott – nicht, wie Abbt hier insinuiert, lediglich zu einem „Ratsherrn“. Spalding : Bestimmung des Menschen, 169. Ebd., 173. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 175. Abbt bezieht sich hier wohl auf die in der 7. Auflage erweiterten Überlegungen zur Natur des „Ich“, das eben keine andere „Zernichtung“ als eine göttliche fürchten muss, da seine „innerliche Beschaffenheit“ ein „Eines“ ist, das die Vorstellungen in sich zusammenbringt, aber nicht von ihnen abhängt oder mit ihnen vergeht. „Aber ich selbst, der ich dies denke, ich bin mir, vermittelst der innigsten Empfindung, bewusst, dass ich mitten unter allen diesen gewaltigen und stets fortgehenden Veränderungen immer derselbe bin und bleibe, der ich jemals gewesen bin, seitdem ich mich meiner Empfindungen erinnere“ (ebd., 177). Das Ich ist auf jeden Fall weder fundamental verbunden noch identisch mit seinem Leib. Abbt, aber auch Mendelssohn selbst und später Herder werden mit dieser Annahme skeptisch umgehen. Doch Spalding geht noch um einiges weiter, indem er tatsächlich eine Art „allgemeinen lebhaften Sinn“ (ebd., 179) nach dem Verlust unseres jetzigen, so eingeschränkten Körpers annimmt. „Ich werde also, von diesem niederdrückenden Gewichte des trägen Leibes entlastet, mich mit einem weit schnellern und mächtigern Fluge durch den weiten Umfang der möglichen Erkenntnisse schwingen können“ (ebd.). Ebd., 179.

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Ebd., 181. Ebd. Ebd., 193. Firmin Abauzit und Voltaire dienen hier als Beispiele des hohen Geistes. Abauzit wird gar von Rousseau als ein „Sokrates“ gepriesen (s. JubA V.3b, 810) ; der Philosoph und Theologe, der aber auch in der Musik wie Mathematik bewandert war, hatte ebenfalls Newton beeindruckt, als er einen Fehler in dessen Principia entdeckte. Der Baum, unter dem Phaidros Sokrates zu einem Gespräch einlädt, wird später von Schleiermacher korrekt mit „Platane“ übersetzt. Die Blauäuigige ist Minerva (Athene), die Göttin der Weisheit. Sisyphus wurde nach griech. Mythos dazu verurteilt, für alle Ewigkeit einen Stein den Berg hinaufzurollen, der kurz vor dem Gipfel unweigerlich wieder zu Tal poltert. Mendelssohn spielt hier auf 1. Könige 18,40 an. Der „Mechaniker“ gewinnt diese letztgenannten Erkenntnisse im Vakuum (in dem keine Widerstandsverluste zu verzeichnen sind) ; ein Medium ohne Widerstand in der Seelenlehre scheint hier die abstrahierende Betrachtung einer „reinen“ Seelenregung ohne alle „übrigen Neigungen der Seele“ sowie diese verändernden Kräfte wie die im Anschluss genannten (Erziehung, Gewohnheit etc.) zu meinen.

briefwechsel mit abbt [ii]

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Hs. verschollen. Druck : AVW III, 1771, 244 – 49, 2. Aufl. 1782, III, 245 – 50, GS V, 318 – 20, JubA XII.1, 46 – 48. Abbts Anspielung bezieht sich auf Mendelssohns Aussage im „Orakel“ (s. hier S. 37) : „Nunmehr, mein Freund ! finde ich mich stark genug, alle ihre Zweifel, wie Elias, die falschen Propheten, abzuschlachten.“ ; s. dazu Anm. 3. Gemeint sind die im „Zweifel“ bereits aufgeführten Soldaten, als Verkörperung des menschlichen, sinn- und ziellosen Lebens. Im „Orakel“ hatte Mendelssohn die „blauäugige Tochter Jupiters“, Minerva, neben Leibniz als Verkünderin der dort aufgeführten Gedanken gegen den von Abbt beschworenen Zweifler Bayle beschworen. Siehe dazu Anm. 46 oben auf dieser Seite. Es handelt sich hier eventuell um eine Anspielung auf Friedrich Gott-

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lieb Klopstocks Messias. Nach dem Erscheinen der ersten drei Gesänge 1748 in den „Bremer Beiträgen“ wurde das Werk erst 1773 vollendet – doch soeben waren Fragmente aus dem letzten, dem 20. Gesang, in einem nur für Freunde bestimmten Abdruck von zwanzig Exemplaren veröffentlicht worden. Beiden, Mendelssohn wie Abbt, mag dieser Abdruck bekannt gewesen sein. Abbt bezieht sich hier natürlich vornehmlich auf Rousseaus zweiten Discours, den Mendelssohn 1755 übersetzte. Siehe die von Ursula Goldenbaum neu herausgegebene Übersetzung (Weimar 2000) sowie Pollok 2010, Kap. II.1. Hs. verschollen. Druck : AVW III, 1771, 250 – 52, 2. Aufl. 1782, III, 251 – 53, GS V, 321, JubA XII.1, 48 – 49. Siehe auch Abbts Brief an Justus Möser vom 3. Oktober 1764 (AVW VI, 1781, 19 f.) : „Glück und Unglück, Belohnungen und Strafen sind vielleicht in gleicherm Maße in der Welt ausgeteilet, als man vermutet ; und die Lehre von einer künftigen öffentlichen Wiedervergeltung ist oft mehr der Wunsch der Rachsucht, als der Eifer für die Gerechtigkeit Gottes. Unterdessen ist es auch wahr, dass, wenn Gott so große Anstalten zu einer Religion macht, dass man alsdann vermuten dürfe, sie sei zum Besten aller Menschen.“ Graf Heinrich von Brühl (1700 – 1763), gerade im Vorjahr verstorbener Ministerpräsident von Sachsen, galt zu seinen Lebzeiten als Prototyp des machtbewussten und strategisch versierten Politikers bei Hof und war dem preußischen Bürgertum entsprechend verhasst. Jeanne-Antoi­ nette Poisson, Marquise de Pompadour (1721 – 1764), war der Urtypus der intrigierenden, berechnenden Mätresse. Zur Zeit der hier angeführten Diskussion wurde über ihren Tod allgemein spekuliert. Hs. verschollen. Druck : AVW III, 1771, 252 – 57, 2. Aufl. 1782, III, 253 – 58, GS V, 322 – 24, JubA XII.1, 49 – 52. Hs. verschollen. Druck : AVW III, 1771, 257 ff., 2. Aufl. 1782, III, 258 ff., GS V, 325 f., JubA XII.1, 52 f. Mendelssohn zitiert hier, etwas ungenau, einige Antworten, die allerdings nicht der aristotelische Philosoph Pancrace, sondern der pyrrhonische (skeptische) Philosoph Marphurius gibt (s. Molière, Die erzwungene Heirat / Le mariage forcé, 1664, s. JubA XII.1, 274). Alle Antworten sind derart allgemein, dass sie nur noch die Parodie einer „Erklärung“ sein können : „Ich wasche meine Hände in Unschuld. – Davon weiß ich nichts. – Es wird geschehen, was geschehen muss.“ „Selon les Aven-

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tures“, „Nach Die Abenteuer“ könnte ein Hinweis sein auf Fénelons berühmten Bildungsroman Les Aventures de Télémaque (1699). Frei nach Voltaires Novelle Candide ou l’optimisme (1759, auf Deutsch zuerst 1776 unter dem Titel Candide, oder die beste aller Welten veröffentlicht), eine ätzende Satire auf Leibniz’ Théodicée (1710). Pangloss, der „Allessprecher“ und Lehrer des Helden, vertritt dort die Leibnizsche Lehre, die allerdings durch die Abenteuer und Missgeschicke des naiven Candide ad absurdum geführt wird. Hs. verschollen. Druck : AVW III, 1771, 293 – 96, 2. Aufl. 1782, III, 294 – 97, unvollst. in GS V, 338 f., JubA XII.1, 68 f. Es handelt sich um Abbts Arbeit an seinem zweiten größeren Werk Vom Verdienste, dessen erste Hälfte er schon am 8. August 1764 an Nicolai mit der Bitte um dessen und Mendelssohns kritische Durchsicht schickte : „Ich gebe ihm [Mendelssohn] freie Gewalt, das was ihm Unrecht deucht, zu ändern“ (AVW III, 1771, 260). Mendelssohn wie auch Nicolai reagieren in diversen kritischen Briefen auf dieses Angebot, siehe die Briefe in JubA XII.1, 57 – 66, 68 – 76. Hs. verschollen. Druck : AVW III, 1771, 320 – 26, 2. Aufl. 1782, III, 321 – 27, GS V, 339 – 4 4, JubA XII.1, 73 – 76. Dies ist Mendelssohns Ankündigung des Phädon gegenüber seinem Freund. Den „zweiten Teil“ werden 1782 die „Anmerkungen zu Abbts freundschaftlicher Korrespondenz“ bilden. Das goldene Kalb meint nicht nur den Götzen, den die wartenden Israeliten aufstellten, während Moses die zehn Gebote empfing (Exodus 32, 1 – 7), sondern antwortet auch auf Abbts Anspielung im Brief vom 3. Februar 1765 (70 – 72, hier 72) : „Mein lieber Moses, steigen Sie ja bald von Ihrem Berge herunter, und reden Sie mit mir, sonst mache ich mir ein Kalb, und kehre mich nachher nichts mehr an Ihre Gesetze. Leben Sie recht wohl.“ Hs. verschollen. Druck : AVW III, 1771, 329 – 36, 2. Aufl. 1782, III, 330 – 37, unvollst. in GS V, 344 f., JubA XII.1, 76 – 80. Abbt benennt hier, zurückgreifend auf Leibniz, Wolff und Baumgarten, verzweifelt-scherzhaft einige Grundbegriffe der zeitgenössischen Metaphysik : Substantia : Substanz ; Substantiale : Leibniz belebt den aristotelischen Begriff der „substantialen Form“ mit seinem Monadenbegriff neu. Laut den mittelalterlichen Vorgängertheorien, z. B. bei Johannes Scotus Eriu­gena, sind dies die Grund- oder Urformen. Vis : Kraft ; inhaerentia : was inhärent ist, was die individuelle oder spezifische Substanz

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ausmacht – steht im Gegensatz zum accidens, dem bloß Anhängenden ; ex quo aliquid cognosci potest : woraus etwas erkannt werden kann (zum damit verbundenen Prinzip vom zureichenden Grund vgl. Alexander Gottlieb Baumgartens Vorrede zur Metaphysica, 1739. Hg. und übers. von Lothar Kreimendahl. Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, 30 f.) ; compositum oder simplex : zusammengesetzt oder einfach. Voltaire : s. o. Anm. 13, S. 269. Claude Adrien Helvétius (1715 – 1771), frz. Philosoph des Sensualismus und Materialismus, der in seinem skandalträchtigen Werk De l’esprit (Paris 1758) u. a. für Selbstliebe als Triebfeder aller menschlichen Handlungen und für Atheismus argumentiert. Zwar verteidigt er auch die fundamentale Gleichheit aller Menschen (auch der Frauen), doch scheint dies Abbt nicht übermäßig zu beeindrucken. Zu Abbts Plänen der „Vorbereitungen zur Geschichte“ siehe das „chronologische räsonnierende Verzeichnis aller Schriften Abbts“ in AVW VI. Auf Seite xxxvi wird unter Bezugnahme auf eben diese Briefstelle der Plan erwähnt ; auf Seite xiv finden sich die ersten Arbeiten in diese Richtung, aus seinen Vorlesungen in Rinteln zwischen ca. 1761 – 65 : „Anmerkungen zur Geschichte Europens nach Joachims Grundlage“, teilweise abgedr. in AVW VI, 120 – 28 ; doch lassen sich die „Vorbereitungen“ wohl stärker aus einer später, um 1765 angefangenen Arbeit ableiten (ebd., xxv-xxxiii) : „Geschichte des menschlichen Geschlechts, soweit selbige in Europa bekannt worden, vom Anfange der Welt bis auf unsere Zeiten. Aus dem großen Werke der allgemeinen Welthistorie gezogen und ausgearbeitet“, als 1. Band in Halle 1766 gedruckt. Die Werkausgabe enthält den „Plan“, also die Anlage zum gesamten Werk (AVW VI, 137 – 40), sowie weitere Auszüge, 141 – 64. Siehe auch Nicolai über Abbts Geschichtsauffassung in dessen Ehrengedächtnis Herrn Thomas Abbts. Berlin, Stettin 1767, 27. Hs. verschollen. Druck : AVW III, 1771, 337 – 43, 2. Aufl. 1782, III, 337 – 4 4, GS V, 345 – 50, JubA XII.1, 85 – 88. Der frz. Physiker und Mathematiker Pierre Louis Moreau de Maupertuis (1698 – 1759) war 1746 – 53 (umstrittener) Präsident der Preußischen Akademie in Berlin und dadurch unseren Briefpartnern bestens bekannt. Die hier erwähnte Frage erinnert an seine Theorie des Prinzips der kleinsten Wirkung, auf die Biologie angewandt ; siehe sein ­Systeme de la Nature (zuerst 1751). Hs. verschollen. Druck : AVW III, 1771, 353 – 58, 2. Aufl. 1782, III, 354 – 59, GS V, 350 ff., JubA XII.1, 90 ff.

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εστι αγνοητου τι – Es gibt etwas Unerkennbares, Anspielung auf Abbts Aussage, hier S. 52. Hs. verschollen. Druck AVW V, 1780, 202 –0 6, nur teilweise in AVW III, 1771, 396 ff., 2. Aufl. III, 1782, 397 ff., GS V, 365 – 68, JubA XII.1, 117 – 20. Wiederum ist der Phädon gemeint ; er wird Abbt leider zu Lebzeiten nicht mehr erreichen. Sohn des Ariston : Platon. Der erwähnte Brief des Grafen Wilhelm zu Schaumburg-Lippe ist leider verschollen ; offenbar enthielt er die Bekundung, Mendelssohn einen Schutzbrief ausstellen zu wollen (s. JubA XII.1, 295). Nach Abbts Tod tauschten Mendelssohn und der Graf ihrerseits direkt ein paar Zeilen, s. Briefe Nr. 288, 292, 293 in JubA XII.1. Hs. verschollen. Druck : AVW V, 206 –0 8, fehlt in GS V, JubA XII.1, 120 f. Altmann spekuliert in JubA XII.1, 296, dass hier der erbetene Schutzbrief gemeint sein könnte. Mendelssohn übersendet den Phädon an den Grafen am 26. April 1767, s. JubA XII.1, 129 f. : „Ich erkühne mich zugleich, Ew. Durchl. Sokratische Gespräche über die Unsterblichkeit der Seele, die nur vor einigen Tagen die Presse verlassen, untertänigst zu überreichen. Da sie dem H[errn] Abbt hätten gewidmet werden sollen ; so waren sie zu der Ehre bestimmt, Ew. Durchl. vorgelegt zu werden. Möchte ich doch so glücklich sein, Dero gnädigsten Beifall zu erhalten. Dieses wäre der höchste Preis, wonach mein Ehrgeiz streben kann !“ (ebd., 130) Huldvoll antwortet der Graf am 17. Mai 1767 : „Das Geschenk womit Sie mich durch Überschickung des Phaedon’s [sic] beehren ist von den Köstlichsten eines, welches Sterbliche einander geben können, dieses Werk ist von bewunderns würdigen Schönheiten zusammen gesetzt, die Philosophie Ihres Sokrates erhebet sich weit über die, gemeiner oder nur so genannter Welt-Weisen, u Ihnen die dem Sokrates soviel vortreffliches in den Mund legen ist man unaussprechlichen Preis u Dank schuldig ; allein Ihre Schriften haben selbständige Würde, bedürfen kein menschliches Lob, u führen ihre Belohnung mit sich, da (wie in denenselben deutlich hervorleuchtet) der große Endzweck ihres Verfassers ist, (wie Sie von Sokrates sagen) Tugend u Weisheit unter seinen Neben-Menschen zu verbreiten.“ (ebd., 132) Vergleichungen der Europäischen mit den Asiatischen und andern vermeintlich barbarischen Regierungen in drey Büchern verfasset von Joh. Heinrich Gottlieb v. Justi. Berlin bei Rüdigern, 1762. Abbt bespricht

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dieses Werk im 261. Literaturbrief, Teil XVI (1763), 117 – 26, um dann im 262. Brief (127 – 36) seine eigenen Gedanken zu den Strafen darzulegen. 35 Marchese Cesare Beccaria (1738 – 1794), Dei delitti e delle pene, zuerst 1764. Siehe Mendelssohns Brief an Iselin vom 1. Juni 1766 (JubA XII.1, 122 f.) ; Mendelssohn selbst besaß eine deutsche (Hamburg 1766) und eine französische Übersetzung (Amsterdam 1767) (vgl. sein Bücherverzeichnis 312 u. 657). 36 Jacques Hardion : Histoire universelle sacrée, et profane, 20 Bde., Paris 1756 – 69. Jacques Bénigne Bossuet : Discours sur l’histoire universelle à Monseigneur le Dauphin, Paris 1681 ; 13. Aufl. 4. Bd., Amsterdam 1738. Abbts Hinweis bezieht sich auf Mendelssohns Nachfrage, was er zum Studium der Geschichte lesen solle. Am 16. Februar 1765 schreibt Mendelssohn zuerst diesbezüglich an Abbt (JubA XII.1, 75) : „Sie haben mich einst, wenn ich mich anders recht besinne, über eine gewisse Geschichte, die Sie schreiben wollten, zu Rate gezogen, und ich habe Ihnen nichts darauf geantwortet. Ich konnte nicht, denn was weiß ich von der Geschichte ? Was nur den Namen von Geschichte hat, Naturgeschichte, Erdgeschichte, Staatsgeschichte, gelehrte Geschichte, hat mir niemals in den Kopf kommen wollen, und ich gähne allezeit, wenn ich etwas historisches lesen muss, es müsste mich denn die Schreibart aufmuntern. Ich glaube, die Geschichte ist eines der Studien, die nicht ohne Unterricht erlernet werden können.“ Doch am 28. August 1766 (JubA XII.1, 120) ist er etwas eifriger : „Sagen Sie mir doch, liebster Freund ! wie fange ich es an, wenn ich mir von der Geschichte der alten und neuern Zeiten nur einigen Begriff machen will. Ich habe bisher die Geschichte mehr für die Wissenschaft des Bürgers (Citoyen) als des Menschen gehalten, und geglaubt, ein Mensch, der kein Vaterland hat, könnte sich von der Geschichte keinen Nutzen versprechen. Ich merke aber, dass die Geschichte der bürgerlichen Verfassung mit der Geschichte der Menschheit in einander fließen, und dass es unanständig ist, in jener ganz unwissend zu sein. Aber wo fange ich an ? Gehe ich zur Quelle, oder begnüge ich mich an den allgemeinen Welthistorien, die seit einiger Zeit so sehr im Schwange sind ? Und zu welcher raten Sie mir ? Vergessen Sie nicht, mir auf diesen Punkt zu antworten.“

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phädon

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Zur Grundlage der Debatte in Spaldings Werk s. Anm. 12, S. 262. Thomas Abbt : Vom Verdienste, 1765 (AVW I). Über die von Mendelssohn ebenfalls erwähnten geplanten Werke siehe auch das „chrono­ logische räsonnierende Verzeichnis aller Schriften Abbts“ in : AVW VI, iv-xxxvii. Mit der Lehre im „Geiste des Pythagoras“ ist die an Philolaus angelehnte Ablehnung des Körpers gemeint ; siehe das erste Gespräch, hier 106, 109 f. Siehe dazu ausführlicher den „Anhang zur dritten Auflage“, hier 221 ff. Statt „Meine Absicht … halten“ steht in der ersten Ausgabe von 1767 : „Ich wollte lieber einen Anachronismus begehen, als Gründe auslassen, die zur Überzeugung etwas beitragen können.“ John Gilbert Cooper, The Life of Socrates, collected from the Memorabilia of Xenophon and the dialogues of Plato, and illustrated farther by Aristotle, Diodorus Siculus, Cicero, Proclus, Apuleius, Maximus Tyrius, Boethius, Diogenes Laertius, Aulus Gellius, and others. In which the Doctrines of that Philosopher and the Academic Sect are vindicated from the misinterpretations of Aristophanes, Aristoxenes, Lucian, Plutarch, Athenaeus, Suidas and Lactantius ; the Origin, Progreß and Design of Pagan Theology, Mythology, and Mysteries, explain’d ; Natural Religion defended from Atheism on the one hand, and Superstition on the other, and the destructive Tendency of both to Society demonstrated ; Moral and Natural Beauty analogously compar’d ; and the present Happiness of Mankind shewn to consist in, and the future to be acquir’d by, Virtue only derived from the true Knowledge of God. Herein the different Sentiments of La Mothe Le Vayer, Cudworth, Stanley, Dacier, Charpentier, Voltaire, Rollin, Warburton, and others on these Subjects, are occasionally considered. London 1750. Die „anderen Quellen“ sind u. a. Xenophon und Diogenes Laertius. Schon verschiedentlich (s. Altmann, JubA  III.1, 393 passim) ist festgestellt worden, dass Mendelssohns Version des „Lebens des Sokrates“ teilweise extensiv aus diesem Buch „zitiert“. Die „Rettung“ von Sokrates Lehre, auf die dieses Buch abzielt, „bezweckt zuletzt, die Selbstgenugsamkeit des ‚Natürlichen Lichts‘, die Entbehrlichkeit der Offenbarung darzutun.“ (III.1, 392 f.) Wie bei Mendelssohn, so wird Sokrates auch von Cooper als ein Verteidiger der Natürlichen Religion und einer „vernünftigen“ Gotteserkenntnis, unabhängig von jeglichem

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Credo, dargestellt. Siehe für einen näheren, instruktiven Vergleich zwischen Coopers und Mendelssohns Sokrates-Interpretation Benno Böhm, Sokrates im 18. Jahrhundert. Studien zum Werdegange des modernen Persönlichkeits-Bewußtseins. Leipzig, 1929, 2. Aufl. 1966. 7 Gemeint ist Alopeke, ein attischer Bezirk (demos, was allerdings nicht ein reiner Ortsbegriff ist, sondern die Volkszugehörigkeit der in ihm lebenden Personen umfasst). 8 Phidias (ca. 490 – 430 v. Chr.), leitender Bildhauer und Planer des Parthenon in Athen während der Pericleischen Ära. Zeuxis (geb. 464 v. Chr.) war bekannt für seine Gemälde, die ebenso wie Myrons (5. Jh. v. Chr.) Bronzestatuen (von Tieren wie Athleten) dafür gerühmt wurden, dass man sie mit der Realität verwechseln könne. Diejenigen, die dies „versichern“, sind laut Cooper (S. 14) Suidas, Diogenes Laertius und Pausanias. 9 Kriton war, der Überlieferung zufolge (s. Cooper, 16), der Lehrer des Sokrates. 10 Marcus Tullius Cicero (106 – 43 v. Chr.), Tusculanae disputationes V, 4, 10 (s. Cooper, 19). 11 Dies ist auch Mendelssohns Aufklärungsprogramm. Siehe seine im Umfeld der Berliner Mittwochsgesellschaft entstandenen Aufsätze und Voten (JubA VI.1, insbesondere „Soll man der einreißenden Schwärmerei durch Satyre oder durch äußerliche Verbindung entgegentreten ? “, ebd., 137 – 41), die sich u. a. mit einer pragmatischen wie vernünftigen Umsetzung von Shaftesburys test of ridicule auseinandersetzen. „Die Menschen können aus ihren falschen Begriffen und Vorurteilen von Gott und der Vorsehung weder durch Satire hinausgelacht, noch durch äußere Macht und Ansehen hinausgeschreckt werden“ (ebd., 139). 12 In der Version von 1767 : „die er durch das reine Licht der Vernunft auf die lebendigste Art erkannte“. 13 Zu Alcibiades’ Beschreibung der Ereignisse im Krieg siehe Platons Symposion 219e–220e. 14 Siehe Diogenes Laertius (3. Jh.), Vitae philosophorum II, 25 und Claudius Aelianus (175 – 235), Varia Historia, XIII 26 (vgl. Cooper 25 f.). Beide gelten als verlässliche Quellen zum Leben des Sokrates, insbes. seiner Tapferkeit. 15 Aulus Gellius (130 – 180) lebte und schrieb in Rom wie Athen und wird von Cooper als eine weitere Quelle zum Leben des Sokrates erwähnt, siehe seine Noctes atticae II, 1 (vgl. Cooper 26 f.).

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Zur Mäeutik siehe Platons Theaitetos 149a-151b. Mendelssohn skizziert seine eigene Sicht in den Literaturbriefen, zuerst indirekt durch eine Kritik an Johann Georg Hamanns (1730 – 1788) Sokratischen Denkwürdigkeiten (1759) im 113. Literaturbrief vom 19. Juni 1760, JubA V.1, 203, dann kurz im 117. Literaturbrief vom 10. Juli 1760, JubA V.1, 216 f. Das Orakel auf der Kykladen-Insel Delos befindet sich im Apollo-Heiligtum . Zum Orakel­spruch siehe Mendelssohn im 113. Literaturbrief vom 19. Juni 1760, JubA V.1, 204 f. Desweiteren siehe Platons Apologie 21a, sowie Cooper 83 ff. Xenophon gilt als eine der glaubwürdigsten, weil mit Platon zeitlich nächsten Quellen über Sokrates. Mendelssohn spielt hier an auf dessen Symposion II, 17 – 19 (s. a. Memorabilia II, 2, 5 f., III 4, 8 f. und Laertius, XVII). Siehe Platons Laches 181b (vgl. Cooper 52). Zu Sokrates’ angeblichen Anteil an den Stücken des Euripides siehe Laertius XXIV (vgl. Cooper 55). Laut Jubiläumsausgabe bezieht Mendelssohn diese Informationen aus Jacob Bruckers Historia critica philosophiae a mundi incunabulis ad nostram usque aetatem deducta (1743 – 47), I, 539 f. In Platons Symposion wird die Rolle der Homosexualität, und insbesondere die spezielle diesbezügliche Bedeutung des Alcibiades für Sokrates auf eine eigenwillige Weise ausgeführt. Der deutlich angetrunkene Alcibiades, der das Gastmahl verspätet mit seiner Erscheinung beehrt, beschwert sich wortreich über seine diversen, immer erfolglosen Verführungsversuche : Sokrates erscheint als ein Muster des philosophischen Erotikers, der nicht die körperliche Liebe sucht, sondern allein von der höchsten Idee angezogen wird. Einer dieser „anderen“ mag Mendelssohn selber sein, der u. a. in seiner Preisschrift Über die Evidenz in den metaphysischen Wissenschaften (1763, s. JubA II, v.a. 325 – 29) von einem solchen „moralischen Gefühl“ bzw. dem „Gewissen“ spricht. Siehe Xenophons Apologie. Immerhin scheint sich Mendelssohn nicht auf die hier einschlägig scheinenden Träume eines Geistersehers (1766) von Immanuel Kant zu beziehen. Zwar befand er in einer Rezension diese Schrift für zu „scherzhaft“, doch er sprach ihr eine gewisse Innovation nicht ab : Seines Erachtens enthielte sie „einige neue Gedanken über die Natur der Seele, so wie einige Einwürfe wider die bekannten Systeme“, die aller-

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dings „eine ernsthaftere Ausführung verdienen“ (JubA V.2, 73). Laut Kommentar zu dieser Rezensionsnotiz (JubA V.4, 63 f.) bezieht sich Mendelssohn auf die ersten Anfänge der Kantischen Raumtheorie ; hier v. a. in Bezug auf den raumübergreifenden, gegenseitigen Einfluss von Seele und Leib (was Swedenborg und andere unter „Hellseherei“ abgehandelt wissen wollten). Der Senat der Prytanen, der „Ersten“, bezeichnet die führenden Mitglieder der Regierung. Siehe Platons Apologie 32c–d. Nach der Überlieferung war Leon schlicht ein respektabler Bürger ; seine Ermordung hätte Sokrates zu dem Verbrecher gemacht, den die Tyrannen an ihm haben wollten. Im Demeter und Kore geweihten Heiligtum auf Eleusis wurden die Teilnehmer der Mysterienfeiern in Geheimnisse eingeweiht, die sie bei Todesstrafe zu wahren hatten. Dem Mythos zufolge sollten diese Geheimnisse u.a. das Leben nach dem Tode positiv beeinflussen. Das Gericht der Heliaea (oder Heliaia) ist das oberste Gericht des antiken Griechenlands. In den Literaturbriefen 113.–119. (19. Juni, 3., 10, 17. Und 19. Juli 1760, JubA V.1, 200 – 34) setzt sich Mendelssohn kritisch mit Hamann, Wegelin (den er für Wieland hält) und Diderot auseinander, bespricht allerdings den hier genannten Punkt nicht. Die Speisung im Prytaneion wurde nur für besondere Verdienste gewährt. Seneca, De consolatione ad Helviam matrem, 13. Platons Kriton, hier in Mendelssohns eigener Übersetzung, siehe den 18. Literaturbrief vom 17. Juli 1760, JubA V.1, 223 f. Korybanten sind die ekstatischen Tänzer zu Ehren der phrygischen Göttin Cybele. Man kann also von Flötentönen wie von Vernunft besessen sein. Phliasia : Stadt westlich von Korinth. Feier der Mission nach Delos. „Theoria“ meint hier das Spektakel, aber auch die Abgesandten, die zu diesem Spektakel geladen sind. Die neun Archonten Athens sind jährlich gewählte Oberste Magistrate, die insbesondere mit juridischen Angelegenheiten befasst sind. Das oben erwähnte Gericht der Heliaea war eine Art Berufungsgericht gegen Entscheidungen der Archonten. In der Version von 1767 : „O meine Freunde ! welch ein seltsames Ding scheinet das zu sein, was man Vergnügen nennet ! wie wunderbar ! Dem

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ersten Anblicke nach ist es den Schmerzen entgegen gesetzt, indem kein Mensch zu gleicher Zeit aus einer Sache Schmerz und Vergnügen schöpfen kann ; und dennoch kann niemand eine von diesen Empfindungen durch die Sinne haben, ohne unmittelbar darauf die entgegengesetzte zu fühlen, als wenn sie an beiden Enden an einander befestiget wären.“ Laut Debra Nails (The People of Plato. Indianapolis 2002, 153) handelt es sich um Evenus von Paros, einen Poeten und Rhetor. Philolaus, Pythagoräer und früher Verfechter des heliozentrischen Weltbilds. Beide, Cebes wie Simmias, galten als seine Schüler und wurden dementsprechend von Platon als Brückenköpfe zur pythagoräischen Denkschule angesehen. Vgl. Politeia 377d ff. Siehe Homers Ilias XXIV, 527 – 30. (Fußnote) Mit diesen „Weltweisen“ meint Mendelssohn die Vertreter der negativen Theologie. Der im Laufe der Fußnote erwähnte Nicholas Saunderson (1682 – 1739), blinder Mathematiker in Cambridge, der u. a. Newtonische Philosophie, Optik und Astronomie lehrte, ist ein von Mendelssohn oft angeführtes Beispiel für die Möglichkeit, das Fehlen eines Sinnes entweder durch einen anderen oder die Vernunft auszugleichen. Siehe die Vorarbeiten zu seiner Rezension von Edmund Burkes A Philosophical Enquiry Into The Origin Of Our Ideas Of The Sublime And The Beautiful (1757), JubA III.1, 237 – 53, 251. Die von Sokrates hier ins Spiel gebrachten Feiern (telete) wie auch der Thyrsos (ein Stab) sind mit der Gottheit Dionysos sowie seinen Begleitern (wie Eros) und Gefolge (den Pan) verbunden. Platons Spruch meint : Viele fühlen sich berufen, doch nur wenige sind tatsächlich auserwählt. Auffällig ist, dass Mendelssohns Sokrates wiederum die Nähe des Eros zur Idee, nicht aber zur Sexualität betont. In seiner Verteidigung versucht er also den Vorwurf des Verführers der Jugend sogar durch eine intellektualistische Umdeutung des Dionysos-Kults zu entkräften. Das Gesetz der Stetigkeit taucht in dieser Form zum einen bei Baumgarten in Hinblick auf die Ästhetik, zum anderen in naturwissenschaftlichen Belangen beim Pater Roger Joseph Boscovich (1711 – 1787) auf, den Mendelssohn in den Literaturbriefen 42 – 56, zwischen 7. Juni bis 20. September (II, 351 – 7 1, III 3 – 26, 161 – 92, JubA V.1, 58 – 88) sehr kundig und wohlwollend rezensiert. „Das ganze System des Herrn Boscovich beruhet auf dem Gesetze des Stetigen. Der Pater erklärt dieses allge-

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Anmerkungen zu Seite 125 – 179

meine Gesetz der Natur folgender Gestalt. ‚Wenn eine Quantität aus einer Größe in die andere übergehet ; so muss sie alle mittlere Größen durchreisen, die zwischen den beiden Grenzen anzutreffen sind.‘ [Theoria XXXII] In währender Veränderung also, kommt jedem Augenblicke der Zeit ein bestimmter Zustand zu, der so wohl von dem vorhergehenden, als von dem folgenden unterschieden ist. So wie aber die Dauer in einem fortgeht, und jeder Augenblick nur gleichsam als ein Übergang von der vorhergehenden in die folgende Zeit anzusehen ist, eben also betrachtet Herr B. den Zustand, welcher jedem Augenblicke zukommt, nur als die gemeinschaftliche Grenze zwischen der vorigen und der folgenden Größe.“ (JubA V.1, 57 f.) 46 Als (ehemaliger) Bildhauer beruft sich Sokrates hier auf Daedalus als seinen Hauspatron. 47 Homer, Ilias XXIII, 103 f. 48 Mendelssohn bezieht sich hier auf Platons Symposion 210e-211a. 49 Jolaus (oder Iolaos) war Herkules’ Neffe, der ihn beim Kampf gegen die neunköpfige Hydra unterstützte, indem er jeden ihrer Kopfstümpfe verbrannte und damit deren sofortiges Nachwachsen verhinderte. 50 Euripus ist die schmale Wasserstraße, die Attica (Athen) von der Insel Euboea trennt. 51 Hera in Homers Ilias XIV, 201 u. 302. Die archaische Meeresgöttin Thetys, Gattin des Oceanos (die Mendelssohn hier sicher meint), sollte nicht verwechselt werden mit der Flussnymphe Thetis, ihrer Enkelin und Mutter des Achilles. 52 Siehe Mendelssohns Argumentation wider den Selbstmord in den Brie fen über die Empfindungen, v. a. 9. und 14. Brief (und zwar bereits in der Ausgabe von 1755) sowie die weiterreichende Argumentation über den Status des „Ich“ als Ausdruck der „Personalität, zu derjenigen Erscheinung, die sich ihrer selbst bewusst ist“, das „Sendschreiben an einen jungen Gelehrten zu B.“ von 1756, JubA I, 140, und v. a. zum möglichen „Überwert“ des Lebens, sollte es kein Nachleben geben, ebd. 143 – 46 (vgl. Altmann 1972, 155 f.). 53 (Fußnote) Mit den „Weltweisen“ spielt Mendelssohn vermutlich auf Thomas Hobbes an, der u. a. behauptete, dass eine „Gewaltanwendung“ wie die Ahndung eines „Vergehens“ im Naturzustand auf Leidenschaften basiere und, da noch kein Recht gegeben sei, auch keinen Rechtsbruch darstellen könne. 54 (Fußnote) Zu Mendelssohns Theorie der vollkommenen und unvoll-

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kommenen Rechte und Pflichten siehe v. a. das Fragment in JubA III.1, 280 – 82 (verfasst 1781) als Vorarbeit zur Vorrede von Manasseh ben Israel und zum ersten Teil des Jerusalem. Näheres dazu bei Alexander Altmann, „Moses Mendelssohn über Naturrecht und Naturzustand“, in : ders. : Die trostvolle Aufklärung. Stuttgart-Bad Cannstatt 1982, 164 – 91. Wie beispielsweise Abbt im Brief vom 21. Mai 1764, hier S. 41 ff. Bei den genannten Gegenden handelt es sich um mythologische Orte der Unterwelt. Archerusische Moraste : die Ufer des Acheron (Styx), in den die anderen Flüsse der Hölle einmünden und den Acherusischen See bilden. Ohne die entsprechenden Totenrituale und den Obulus, eine Münze unter der Zunge, können die Seelen nicht den Fährmann Charon bezahlen und so über den Fluss gelangen. Sie müssen an den Ufern ausharren, bis sich ein Sterblicher ihrer erbarmt ; Tartaros : die in diesen untersten Teil der Unterwelt, das Strafgebiet, hinabgeworfen werden, kommen daraus nie wieder hervor ; [Pyri]phlegeton : Höllenfluss aus Flammen, der glühende Felsen in seinem Bett mitführt. Ein Wächter der „Elfmänner“ (Hendeka, auch Nomophylakes), die für den Strafvollzug zuständige Gerichtsbehörde des antiken Athen. Ein Opfer an den Gott der Genesung, Aesculapius, als Bitte um Heilung scheint ein seltsames Verlangen so unmittelbar vor dem eigenen Tod. Oder dies ist eine „Heilung“, die die Seele auch nach Verlassen des Körpers auf ihrem weiteren Leben begleitet.

briefwechsel mit herder

1 Hs.

verschollen. Ein diktierter Entwurf, „an H. Moses Mendelssohn“, undatiert, in der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätte der klassischen deutschen Literatur in Weimar, Nachtrag Herder. Druck: Rudolf Unger : Herder, Novalis und Kleist. Frankfurt/Main 1922, 150 – 56, Datierung und Erläuterungen 157 – 61. Nachdr. SWS XXXXII, 200 f. – Druckvorlage : Herder, Briefe I, 137 – 43 und JubA XII.1, 174 – 81. Zu Herders zeitlebendem Interesse am Palingenesiegedanken siehe v. a. Unger 1922, 1 – 23, und die Kommentare in Proß I, 851 ff., und II, 884 – 93. Die folgenden Anmerkungen greifen auf JubA XII.1, 311 f. und den Kommentarband I von Herder, Briefe 11, bearbeitet von Günter Arnold, Weimar 2001, 93 – 102 zurück.

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Anmerkungen zu Seite 191 – 195

Briefe I, 137 gibt als Datierung „etwa Anfang April“ an. 3 Spaldings Predigt „Über den Zustand des künftigen Lebens als eine eigentliche Folge des gegenwärtigen“, in : Predigten von Johann Joachim Spalding, Oberkonsistorialrat und Probst in Berlin. 2. Ausgabe. Berlin und Stralsund 1768, 331 – 65. Mendelssohns Antwort zufolge (hier S. 200) kannte dieser die Predigt jedoch nicht. 4 Als caput mortuum bezeichnete man den Rückstand in der Retorte bei trockenen Destillationen (Arnold 2001, 95). 5 Pythagoräer und Platoniker nahmen das rein geistige Wesen der Seele an und glaubten an die Seelenwanderung (Arnold 2001, 95). 6 Eine deutliche Verballhornung von Mendelssohns Position im „Orakel“, hier S. 33. Vgl. desweiteren Arnold 2001, 96 der auf den Einfluss von Herders Lektüre von Kants Allgemeiner Naturgeschichte und Theorie des Himmels, 1755, hinweist. Darin stellt Kant Überlegungen zum einander proportionalen Verhältnis der geringeren Entfernung zur Sonne und höheren Vollkommenheit der Geisterwelt an. Demnach stünde der Mensch zwischen den primitiven Bewohnern von Venus und Merkur, „bei denen ein Grönländer oder Hottentotte ein Newton sein würde“, und den erhabeneren Geschöpfen auf Jupiter und Saturn, „die diesen [Newton] als einen Affen bewunderten“ (AA I 360). Siehe auch (was Kant ebenfalls zitiert) Barthold Hinrich Brockes Übersetzung (1740) von Alexander Popes Essay on Man (1733/34) II, 29 – 34 : „und sahen unsern Newton an, so wie wir einen Affen sehn“. 7 Indulgenz : Nachsicht. 8 Quidquid est, illud est – Was es auch immer ist, dies ist es – vgl. „Versuch über das Sein“ (Arnold 2001, 96 f.), Herder, Werke hg. von Proß. München, Wien 1984, Bd. I, 586, und den Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 6. Februar 1784 (Herder-Briefe, Bd. V, 76 f.). Siehe allgemein Proß, Kommentar, in : Werke I, 718 f., 810. 9 Herder scheint sich vielmehr auf das 3. Gespräch zu beziehen: z.B. hier S. 171 f. (vgl. Kommentar in JubA XII.1, 311). 10 Thitonus : Anspielung auf den antiken Mythos von Tithonus, dem seine Gattin Aurora zwar Unsterblichkeit verlieh, doch das Attribut der ewigen Jugend vergaß. 11 Ourang-outang – s. Arnolds (2001, 99) Hinweis auf Rousseaus Preisschrift Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen 1753, in der dieser unter Rückgriff auf A collection of voyages and travels London 1732 – 47, frz. Übers. 1745 – 70 und LaMettries Histoire naturelle de l’âme

2 Herder

Anmerkungen zu Seite 195 – 196

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1745 und L’homme machine 1748 die Frage für unentschieden erklärt hatte, ob es sich bei dieser Art um Affen oder Menschen handle. Später lehnte Herder die Gleichsetzung mit Orang-Utan und dem „Urmenschen“, gestützt auf zeitgenössische anatomische und paläontologische Befunde, ab (siehe den 1. Teil der Ideen 1784, SWS XIII, 115 – 20, 127 f.). 12 August Hermann Francke, 1663 – 1727, pietistischer Theologe und Pädagoge, Gründer der Franckeschen Stiftungen in Halle/Saale. Herder führt ihn im Reisejournal als ein Vorbild seiner Schulreform auf (vgl. SWS IV, 371 ; Arnold 2001, 99). Der Spötter und Zweifler Voltaire dient hier als Kontrastfolie. – Patagone : nomadisierende Ureinwohner Südamerikas (s. SWS XIII, 248). 13 Antoinette de Bourignon, 1616 – 1680, mystische Schwärmerin, die ihre Visionen veröffentlichte : Oeuvres, Amsterdam 1679 – 1684. Lavater : Anspielung auf dessen Roman Aussichten in die Ewigkeit, Bd. 1 und 2, Zürich 1768/69. Christian August Crusius, 1715 – 1775, Professor für Philosophie und Theologie in Leipzig. Herder spielt auf dessen Gefolgschaft des Prophetismus des württembergischen Theologen Johann Albrecht Bengels an. Siehe dessen Faßliche Vorstellung von dem ganzen Buche der Offenbarung Jesu Christi oder der sogenannten Offenbarung Johannis 1766 ; Kurze Vorstellung von dem eigentlichen schriftmäßigen Plane des Reiches Gottes 1768 ; D. Christian August Crusii Gedanken von dem Himmel und der Bewegung desselben seit der Ankunft Christi 1769. Charles Bonnet, 1720 – 1793, Genfer Naturphilosoph ; Verfasser des von Mendelssohn kritisch behandelten Werks La Palingénésie philoso­ phique, ou Idées sur l’état passé et l’état futur des êtres vivans, Genf 1769 ; in der Übersetzung Lavaters, Herrn Karl Bonnets philosophische Untersuchung der Beweise über das Christenthum. Samt desselben Ideen von der künftigen Glückseligkeit des Menschen, Zürich 1769. Diese Schrift enthält die folgenreiche Auffordung an Mendelssohn, entweder die Überlegenheit des Judentums zu beweisen oder zu konvertieren (s. JubA VII, 1 – 3). Sebastian Friedrich Trescho, 1733 – 1804, Diakon in Mohrungen, pietistisch-aufklärerischer Erbauungsschriftsteller. Herder hatte ihm zeitweise als Kopist gedient. Siehe zu alldem Arnold 1988, 32 (ausführlicher als Arnold 2001, 99). Herder stand mit Trescho in einem regen Briefaustausch.

282 14 Palingenesie

Seele allein.

Anmerkungen zu Seite 196 – 208

meint eine leiblich-seelische Wiedergeburt, nicht die der

15 Herder bezieht sich nun auf Mendelssohns Theorie der Strafen und des

gerechten Todes, s. hier S. 178. 16 Herder ging davon aus, dass Pythagoras die Lehre von der Seelenwanderung von den Ägyptern übernommen hat (dazu Arnold 2001, 101). 17 Nicolai wünschte, Herder möge seine Einwände in einem eigenen Traktat zusammenfassen. Dieses Vorhaben wurde nicht ausgeführt ; allerdings gibt es eine Disposition im handschriftlichen Nachlass (HN XXV, 77 f.) und ein Fragment (SWS XXXII, 200 f., s. Arnold 2001, 94), in dem Herder Cebes seine Stimme leiht. 18 Hs. verschollen. Eine unvollständige, undatierte Hs. des Entwurfs (bis „Es stirbt also …“, hier S. 202) im Besitz der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur, Nachtrag Herder. Erstdruck in : Neue Berlinische Monatsschrift 24 (1810), 92 – 104 durch Nicolai aufgrund einer Abschrift von Mendelssohn ; GS V, 484 – 91, vermutl. nach einer anderen Abschrift. Siehe JubA XII.1, 312 zu näheren Angaben zur Veränderung der jeweiligen Abdrucke. Druckvorlage : JubA XII.1, 182 – 87. Anmerkungen JubA XII.1, 312 f. Datumsangabe am Ende des Briefes. 19 Siehe hier Anm. 3, S. 280. 20 Hier sind 12 Zeilen unleserlich überschrieben. 21 Laut JubA XII.1, 313 eine Anspielung auf Popes Essay on Man, 87 – 90 : „Who sees with equal eye, as God of all, / a hero perish, or a sparrow fall, / Atoms or systems into ruin hurl’d / And now a bubble burst, and now a world.“ 22 Hs. verschollen. Erstdruck : Johann Gottfried von Herder’s Lebensbild, hg. von Emil Gottfried von Herder, II. Erlangen 1846, 108 – 15. Druckvorlage : JubA XII.1, 197 – 201 und Herder, Briefe I, 177 – 81 (Beilage zum Brief an Nicolai, ebd., 175 ff.), Anmerkungen JubA XII.1, 314 f. und Arnold in Herder, Briefe 11, 127 – 30. 23 Prolegomenen : Vorerinnerungen, Vorarbeiten. 24 Mit dem „System“ ist hier vermutlich das Leibnizsche gemeint oder die Wolffsche Schulphilosophie, auf die Mendelssohn z. B. im „Anhang zur dritten Auflage des Phädon“ eingeht, z. B. hier S. 212. 25 Ablativ – Lage, Stellung. 26 Phänomene, die zu Substanzen erhoben sind (Arnold 2001, 129), also „um eine Stufe erhöhte“ Erscheinungen.

Anmerkungen zu Seite 209 – 211

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27 Lavaters

Bekehrungsschreiben (Herder bezeichnet es nicht zu Unrecht als „Defi“ = Herausforderung), angehängt an seine Bonnet-Übersetzung (s. o. Anm. 13, S. 281), „An Herrn Moses Mendelssohn“ wurde vom Addressaten zuerst mit einem „Schreiben an den Herrn Diaconus Lavater“ (s. JubA VII, 5 – 17), einem Bekenntnis zum jüdischen Zeremonialgesetz, beantwortet ; die gesamte „Lavater-Affäre“ kostete den nun berühmt gewordenen Mendelssohn jedoch weitaus mehr Kraft und Gesundheit, als dass er Herder noch hätte antworten können. Dass Herder selbst eher skeptisch Lavater gegenüber war, sieht man an seinem Brief an Nicolai vom 30. November 1769 (Briefe I, 175 – 7 7), den Mendelssohn gekannt haben mag. Darin, 176 f. : „Lavater ist bei aller seiner Redlichkeit u. Eifer, ein Enthusiast u. oft ein Verblendeter. Ich fürchte mich recht von ihm nicht auch compromittirt zu werden u. bin ihm also auf 3. Briefe schon Antwort schuldig. Er hat nach Frankreich unter einer abentheuerlichen Aufschrift einen halben Bogen an mich geschickt, über / 3. Fragen vom Heiligen Geist, u. recht dringend auf Gewissen u. was weiß ich mehr, Antwort gefodert : sie sind aber, auf gelindeste geurteilt, ohne Känntniß der Bibelsprache, u. der ersten Zeit des Christenthums, u. der Weg zu tausend neuen Schwärmereien ! Armseliger Zustand unsrer Religion ! Orthodoxie ohne Menschenverstand, Reformationen voll Uebereilung, u. jetzt gar ein neuer Fanatismus – das fehlt noch ! Ich lege einen Brief an Hrn Moses bei : haben Sie die Güte, ihm denselben einzuhändigen.“ Dass seine Aufforderung an Mendelssohn dennoch wenig zartfühlend und klug ist, steht auf einem anderen Blatt. Das persönliche Verhältnis zwischen Mendelssohn und Herder hat sich anscheinend nie davon erholt.

anhang

1



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Weite Teile des Anhangs zur ersten Auflage (1767), den Mendelssohn 1768 anfügte, sind mit dem hier abgedruckten Anhang zur zweiten Auflage (1768) deckungsgleich. Einige wichtige Erweiterungen sind im Text durch das Symbol • gekennzeichnet. Folgende Personen haben Mendelssohn bzw. Nicolai in den Jahren 1767 – 69 ihre briefliche Beurteilung des Phädon zukommen lassen (vgl. dazu JubA III.1, 408 ff.):

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Anmerkungen zu Seite 211

– Heinrich Wilhelm von Gerstenberg (Nicolai an G., 6. September 1767 [Euphorion XXVIII, 345 f.], G. an Nicolai, 5. Dezember 1767 [Zs für dt. Phil. XXIII, 56]) – Christian Ludwig von Hagedorn (H. an Nicolai, 10. Juni 1767) – Johann Gottfried Herder (H. an Nicolai, 10. Oktober [nicht, wie JubA : Juni] 1767 [Briefe I, 87 f.], 10. Januar 1769 [Briefe I, 125 – 29], 30. November 1769 [Briefe I, 175 – 7 7], Nicolai an H. 11. April und 19. Mai 1769 sowie die hier abgedruckten Briefe zwischen Mendelssohn und H.) – Isaak Iselin (an Mendelssohn, 30. Juli 1767 [inhaltl. zu rekonstruieren aus Iselins Briefen an Zimmermann ; siehe Zimmermanns Nachlass in der Provinzial-Bibliothek Hannover A II 47a, Brief 44, 45, 50, 51, 53], Mendelssohn an I., 10. September 1767 [JubA XII.1, 142 – 45]) – H. D. von Platen (P. an Mendelssohn, 25. Januar 1769 ; M. an P., 7. April 1769 ; P. an M., 10. August 1769 ; M. an P., 29. Dezember 1769 [JubA XII.1, 164 – 68, 70 – 74, 188 – 96, 201 – 208]) – Quintus Icilius (Karl Theophil Guichard, siehe dazu Schaefer 1996, 46) (an M., 27. Juni 1767) – Raphael Levi (an M., Ende 1767 [JubA XII.1, 148 – 51, JubA XX .2, 153 – 56]) – Friedrich Gabriel Resewitz (R. an Nicolai, 16. September 1767 ; 12. Dezember 1767 ; 14. Januar 1769 [Nicolai-Nachlass der Preußischen Staats-Bibliothek Nr. 60]) – Graf Wilhelm zu Schaumburg-Lippe (M. an Gr., 12. Juni 1767 [JubA XII.1, 134 ff.]) – Waldemar Graf von Schmettow (Brief Nicolais an Mendelssohn vom Januar 1768, Beilage ; JubA XII.1, 153 – 56) – Helferich Peter Sturtz (erwähnt in seinem Brief an Lessing, 23. September 1767 [Lessing, Frankfurter Ausgabe, Bd. 11.1, 1987, 477 f.], seine eigene Rezension als ein „kühnes Urteil“ und erinnert Lessing daran, dass er bei aller Kritik nicht verkenne, dass Mendelssohn „einer unter den wenigen [ist,] welchen es gelingt Tiefe Weisheit mit der Sprache der Empfindung zu lehren, und die Hohlwege der Metaphisick mit Blumen zu bestreuen, indem ich die Manier des Socrates vermisse so lasse ich der seinigen Gerechtigkeit widerfahren“ (477).) – Hartwig Wessely (Aug/Sept 1768 hebräisch [JubA 19, 120 – 27, JubA XX .2, 163 – 68]) – Johann Joachim Winckelmann (Ende 1767, JubA XII.1, 152, nicht überliefert)

Anmerkungen zu Seite 211

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– Herzog Ludwig Eugen von Württemberg (an M., 27. Juni 1767 ; von M., 17. Juli 1767 ; an M., 4. August 1767 [JubA XII.1, 134 – 29]) Rezensionen der ersten Auflage des Phädon : – G  öttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 1767, 985 – 92 [insg. zusammenfassend und zustimmend, etwas kritisch bezüglich des Unternehmens als „Übersetzung“] – (Klotzens) Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften 1767, 124 – 61. Der Verfasser ist Friedrich Justus Riedel, wie aus dessen Briefwechsel mit Klotz – vgl. Riedels sämmtliche Schriften, Wien 1787, IV, 333 – 38 – hervorgeht. Diese Rezension ist das Hauptziel von Mendelssohns hier abgedruckter Erwiderung. – Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste IV, 80 – 107 und 313 – 32. Der Verfasser ist, nach der Mitteilung Friedländers in seiner Vorrede zur 5. Auflage des Phädon, Christian Garve. – A  ltonaischer Gelehrter Mercurius auf das Jahr 1767, 296. – N  eue critische Nachrichten, Greifswald 1767, 403 – 5. – U  nterhaltungen, Hamburg 1767, 531 – 36. Der Verfasser ist Helferich Peter Sturz ; siehe dessen Brief an Lessing [s. o.]. – U  nterhaltungen, Hamburg 1767, 905 – 32. (Anonym., „Schreiben an einen Freund, über die Methode, philosophische Beweise zu führen, durch einige Beyspiele, besonders aus der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, erläutert“) – J enaische Zeitungen von gelehrten Sachen 1767, 473 – 76. Rezensionen der zweiten Auflage : – A  llgemeine deutsche Bibliothek 1769, 128 – 38. Der Verfasser ist Resewitz, wie aus dessen Briefwechsel mit Nicolai [s. o.] hervorgeht. – (Klotzens) Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften 1769, 258 – 88. Die Rezension ist verbunden mit der Ankündigung von Platons Phaidon-Übersetzung von J. Bernh. Köhler. – N  eue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste IV, 333 – 39. Der Verfasser ist Garve. – Philosophische Bibliothek, Hg. von J. Riedel, Halle 1769, 57 – 84. Der Verfasser ist Riedel ; wiederabgedr. in dessen sämmtlichen Schriften III, 77 – 110. – Gazette Litteraire de Berlin 1768, 281 f. – Jenaische Zeitungen von gelehrten Sachen 1768, 242 f.

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Exemplarisch hier drei Stimmen : Gerstenberg an Nicolai, 5. Dezember 1767 : „So viel kann ich mit Wahrheit hinzusetzen, daß Phädon für mich eins der schönsten philosophischen Bücher ist, die ich je gelesen habe : aber überzeugt hat mich das an sich der sinnreiche System nicht“. Sturz an Lessing, 23. September 1767 : „Moses ist einer von den wenigen welchen es gelingt Tiefe Weißheit mit der Sprache der Empfindung zu lehren, und die Hohlwege der Metaphisick mit Blumen zu bestreuen …“ Zuletzt von Riedel (Deutsche Bibliothek 1767) nach einigen kritischen Bemerkungen : „Und dies ist das Ende eines Buches, welches unter allen deutschen philosophischen Büchern unsers Jahrhunderts, die ich gelesen habe, das feinste, das deutlichste, und, fast möchte ich zugleich sagen, das tiefsinnigste ist. Allen unsern Schulphilosophen, so wichtig sie sich immer dünken mögen, vom Professor an bis zum Adjunkt, und von diesem bis auf den Magister, empfehle ich, mit geziemender Ehrfurcht, die Lectüre dieser Schrift. Sie sollen daraus lernen, wie man gründlich und doch schön, tief und doch menschlich denken und die scharfsinnigsten Gedanken so rein, so deutlich, so einleuchtend ausdrücken kan, daß sie auch dem exoterischen Freunde der Weisheit, dem Layen, verständlich sind.“ (144 f.) 3 Siehe die Rezension zur 1. Auflage in den Jenaischen Zeitungen : „Ist er ein blinder Sektierer, oder denkt er selbst ? Wenn ich nach der letzten Frage meinen Verfasser beurteile, so muss ich ihn ein Original und ein Muster nennen, nach welchem sich billig alle unsere Philosophen bilden sollten.“ Riedel in der Deutschen Bibliothek 1767, 159. „Lieber aber wünschte ich von einem Manne wie dieser Verfasser ist, dass er ohne System wäre, völlig allein, ohne Geleitsmann dächte. […] Dann würde er eine neue Epoche in unserer Philosophie machen […].“ 4 Siehe wiederum Riedel (Deutsche Bibliothek 1767, 149 f.), der die im Phädon vorherrschende Meinung gar als die „Lehrsätze gewisser Sekten“ bezeichnet, und Mendelssohn des Fehlers zeiht, „dass er Sätze aus dem Wolff und Baumgarten würde entlehnt haben, um Lücken in seinem Beweise zu füllen, Sätze, ohne die der Beweis nicht bestehen kann, und die er so flüchtig übergehet, so dreist annimmt, ohne sie durch Gründe zu bestätigen, als wenn alle seine Leser Wolffianer wären.“ Ähnlich auch der Rezensent der Göttingischen Anzeigen (s. JubA III.1, 412). Resewitz nennt in seinem Brief an Nicolai vom 16. September 1767 auch Newton als weitere Quelle (s. ebd.).

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„Das Wort wirklich sein … nichts weniger als untätig“ – eine Reaktion in der 3. Aufl., die sich auf die Kritik Riedels (s. Philosophische Bibliothek 1769) zur 2. Aufl. bezieht. Zu einem Beweis müsste man „entweder zeigen, (aber nicht aus einem willkürlichen Begriffe von Kraft) dass sich die Tätigkeit von der Kraft nicht trennen lasse oder dass jede Kraft ein Conatus sei ; oder man müsste durch eine mühsame physische Induktion erhärten, dass in der Natur keine bloß leidende Bewegungsfähigkeit anzutreffen sei.“ Vermutlich mit Bezug auf Newton nimmt Riedel hier an, dass es auch „bloß leidende Kräfte gebe, deren ganze Kraft die Impenetrabilität und vis inertiae“ sei. Außerdem kritisiert er Mendelssohns Gebrauch von „veränderlich“ : „Veränderlich : das heißt, es kann verändert werden ; daraus folgt so wenig, dass es beständig verändert wird, als man vom Können auf das Sein schließen kann.“ (alles S. 61 – 64) Vgl. Theaitetos 152d–e und 180d sowie Phaidon 78e–79a und Kratylos 401c–402c. (Fußnote) Plotinus Ennead. IV. 7, § 3 : „Indessen es dürfte auch keinen Körper geben, wenn es keine seelische Kraft gibt. Denn er ist im Fluss und seine Natur in Bewegung und würde so schnell als möglich vernichtet werden, wenn alles Körper wäre […].“ Siehe auch Mendelssohns eigene Zitate im Folgenden. Wolff, Vernünfftige Gedancken von Gott etc. [Deutsche Metaphysik] §§ 126, 625, Baumgarten, Metaphysica §§ 133, 365. Immer noch Riedel in Deutsche Bibliothek, 150 : „(der Seele, als Seele, so gebe ich es zu ; als Substanz muss sie auch noch eine bewegende und widerstehende Kraft haben)“. Dies ist nach Bamberger und Strauss (JubA III.1, 413) eine Reaktion auf Herders Briefe, s. hier S. 192. Im Anhang zur zweiten Auflage des Phädon von 1768 fehlt dieser Punkt. Riedel in der Deutschen Bibliothek 1767 : „Herr M. […] verbannt durch seine Schlüsse alle Veränderungen aus der Natur. Ein Ding hat sich verändert, wenn unter zwoen entgegengesetzten Bestimmungen, die ihm zukommen können, die eine aufhöret, und die andere anfängt wirklich zu sein. Dies geschiehet entweder auf einmal, oder nah und nach. […] Die Natur bleibt also immer, was sie ist, im Ganzen und den einzelnen Teilen […]“. Den Fehler sieht Riedel „in eben der unendlichen Teilbarkeit der natürlichen Veränderungen, die Herr Moses behauptet. Daher schließt er, dass nie zween entgegengesetzte Zustände auf einander folgen können ; ein Satz der fast allen Gesetzen der Bewegung zuwider ist

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und mit welchem man alle wirkliche Veränderung aus der Natur hinaus demonstrieren kann.“ (153) Boscovich ; s. Anm. 45, S. 277. Mendelssohn bezieht sich hier auf De continuitatis lege, et ejus consectariis, Diss. Rom 1754, sowie seine Philosophiae naturalis Theoria, Wien 1759. So beschweren sich u. a. Riedel in der Deutschen Bibliothek 1767 und auch Iselin in einem Brief an Zimmermann vom 31. Heumonat [Juli] 1767 (s. JubA III.1, 414). Vgl. Anm. 18 u. 24, S. 275. Vgl. Politeia, 1. Buch. Eine Reaktion auf Resewitz’ Kritik an der 2. Aufl. in der Allgemeinen deutschen Bibliothek 1769, der die Beobachtung macht, dass Sokrates „Erkenntnisse und Ideen“ äußere, „die aber aus der Fassung seines Geistes nicht hergenommen, sondern ursprünglich aus dem Christentum [und das zu Mendelssohn !] geschöpft sind, und nun entweder für wahr erkannt werden, weil man ein Christ ist, oder doch Sätze für vernunftmäßig erkennt und bewährt gefunden hat, ohne die Quelle zu bemerken, woraus sie geflossen sind.“ JubA III.1, 415 verweist ebenfalls auf Resewitz’ Briefe an Nicolai (s. o., Anm. 2, S. 284). Mendelssohn hat vornehmlich auf die Insinuation der Überlegenheit des Christentums in dem folgenden Passus seines „Anhangs“ sehr explizit – und kritisch – reagiert. Dies diskutiert Mendelssohn in der Einleitung zu einer Evidenzschrift (gedr. 1764) noch in Hinblick auf Naturlehre und Metaphysik (JubA II, 270 f.) und schließlich im dritten Abschnitt hinsichtlich der „Natürlichen Gottesgelahrtheit“ (ebd., 297 – 315, insb. 314 f.). Bamberger und Strauss weisen in JubA III.1, 415 f. zu Recht darauf hin, dass Descartes’ Beweis anders verlaufen muss als derjenige Mendelssohns, v. a. da ersterer sich durch den radikalen methodischen Zweifel einer einfachen Annahme von der Existenz der Materie entzog (die man aber benötigt, wenn man beweisen will, dass Materie nicht denken könne). Die Verschiedenheit von Körper und Seele beruht nach Des­cartes darauf, a) dass im Begriff der Seele nichts vom Begriff des Körpers, wie auch umgekehrt, enthalten sei und b) wir dieses klar und deutlich erkennten, was wiederum Beleg für die Wirklichkeit dieser Unterschiedenheit sei. Neben anderen bekannten Einwänden (s. JubA III.1, 416) scheint sich Mendelssohn hier v.a. auf denjenigen John Lockes zu beziehen (Essay Concerning Human Understanding (1690), IV, 3 § 6),

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dass von der Unterschiedenheit im Denken nicht auf die Unterschiedenheit der Substanzen geschlossen werden kann, da wir keine klare und deutliche Erkenntnis von Substanzen an sich hätten. Mendelssohn meint v. a. den englichen Platoniker Ralph Cudworth (1617 – 1688), The True Intellectual System of the Universe, 1678 ; vgl. Mendelssohns Brief an Nicolai vom Februar 1768 (JubA XII.1, 156 f.). Dies und die folgenden Zitate bringt Mendelssohn in Übereinstimmung mit dem Original, allerdings mit Auslassungen. Vgl. Wolff, Cosmologia §§ 180, 223 und Deutsche Metaphysik § 583. Gottfried Ploucquet (1716 – 1790) in seiner Antwort auf Helvétius (s. Anm. 21, S. 270), den Animadversiones in principia, de natura mentis humanae, ab Helvetio in libro, De L’Esprit inscripto, exposita (1759). In der Fassung von 1768 sind lediglich die letzten Sätze dieses Absatzes enthalten, allerdings in etwas anderer Form. Im direkten Anschluss an das Ploquet-Zitat heißt es : „Woraus ganz natürlich folget, dass alle dunkele Begriffe der Atomen zusammen keinen deutlichen, ja nicht einmal einen weniger dunklen Begriff hervorbringen können“ (s. JubA III.1, 139). Mendelssohn bezieht sich auf Hermann Samuel Reimarus’ (1694 – 1768) Werk Die vornehmsten Wahrheiten der Religion auf eine begreifliche Art erkläret und gerettet (1754), und Alexander Gottlieb Baumgartens Metaphysica (1739). Warum Bamberger und Strauss (JubA III.1, 418) den Verweis auf Baumgarten als Irrtum ansehen, ist nicht recht klar. Zwar bestehen tatsächlich in der Beweisstruktur weitaus mehr Anlehungspunkte mit Spaldings Bestimmung des Menschen, doch warum sie trotz Mendelssohns eindeutigem Missfallen Christian August Crusius‘ Entwurf der nothwendigen Vernunft-Wahrheiten (3. Aufl. 1766, siehe Mendelssohns Bücherverzeichnis, 31/244) als Vorbild anführen, hat sich mir nicht erschließen können. Im 20. Litteraturbrief vom 1. März 1759 bezeichnet Mendelssohn Crusius als eine eindeutige „Verfallsstufe“ der Metaphysik (s. JubA V.1, 11 ff.). Siehe Anm. 35, S. 272. Hier irrt Mendelssohn freilich, denn es handelt sich bereits um die dritte Auflage. Hier hat er schlicht den Text des Anhangs zur zweiten Auflage unverändert übernommen. Der Anhang zur zweiten Auflage endet nach „… wenn unsere Seele nicht unsterblich wäre …“ mit einem eher unspezifischen „…wie an seinem Orte weitläufiger ausgeführt worden“ (s. JubA III.1, 140).

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Anmerkungen zu Seite 225 – 247

Siehe oben Anm. 2, S. 285. Die „Gedanken über das philosophische Dialog“ befinden sich ebd., 88 – 107.

anmerkungen zu abbts freundschaftlicher korrespondenz

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Vgl. Altmann 1969, 311 f. : Hier lehnt sich Mendelssohn eng an die Ontologie Baumgartens an, nach der die durchgängige Bestimmung eines Dinges seine Existenz bedeutet. Die sogenannten eigennützigen Weltweisen sind hier Hobbes, Mandeville und Helvétius, denen zufolge altruistische Handlungen aus einem Trieb zur Selbsterhaltung abgeleitet werden können. Mit Adelung und Stosch meint Mendelssohn eben jene „Grammatiker und Lexicographen“. Johann Christoph Adelungs (1732 – 1806) wichtigstes Werk ist das Grammatisch-kritische Wörterbuch der hochdeutschen Mundart (1774 – 86, 2. Aufl. 1793 – 1801). Samuel Johann Ernst Stosch (1714 – 1796) war bekannt für die Kritischen Anmerkungen über die gleichbedeutenden Wörter der deutschen Sprache (1775) oder die Kleinen Beiträge zur näheren Kenntnis der deutschen Sprache (3 Bde. 1778 – 82, postum erschienen noch die Neuesten Beiträge, 1798). Siehe dazu den 4. Teil in Mendelssohns Abhandlung über die Evidenz in den metaphysischen Wissenschaften, 1764, JubA II, 315 – 30. Abbts Vom Verdienst erschien zuerst 1765 bei Nicolai in Berlin und erlebte einige Neuauflagen nach Abbts Tod. Mendelssohn scheint hier auf einen Plan anzuspielen, dem Werk einen zweiten Teil hinzuzufügen, siehe das „räsonnierende chronologische Verzeichnis“ in AVW VI, xxxvi f. und die dazu abgedruckten Fragmente, ebd., 173 – 84. Mendelssohns üblicher Stammbucheintrag ; s. JubA VI.1, 192 u. 195 . Mendelssohn bezieht sich auf Herders Einreden, s. hier S. 207 f. Pyrrhus (318/19 – 272 v. Chr.), der zwar einige Schlachten in den Pyrrhischen Kriegen gegen Rom zwischen 280 und 275 v. Chr. gewann, aber so große Verluste hinnehmen musste, dass er nach der Schlacht bei Asculum (279 v. Chr.) die besiegten Römer um Frieden bitten musste. Der Senat verweigerte dies und schlug Pyrrhus letztlich 275 vernichtend. So hat sich der Begriff „Pyrrhussieg“ als ein zu teuer erkaufter und damit bloß scheinbarer Gewinn eingebürgert. Cyneas ist der für seine Beredsamkeit bekannte Ratgeber des Pyrrhus,

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der übrigens von einer Invasion Italiens abgeraten hatte. Siehe auch Mendelssohns Rezension von Isaak Iselins Philosophischen Muthmassungen über die Geschichte der Menschheit, Frankfurt u. Leipzig 1764 in der AdB 4.2 (1767) ; JubA V.2, 65 – 7 1, 66. Gemeint ist Alexander der Große (356 – 323 v. Chr.), dessen Antrittsjahr auch den Beginn des Hellenismus bezeichnet. Rousseaus erster Discours sur les sciences et les arts, 1750, wurde verschiedentlich für die Maßlosigkeit der dort angeführten Punkte kritisiert. Anmerkungen v und w fehlen in Mendelssohns Auflistung. Verkürzt für das bonum secundum quid als ein mittelbares Gutes, wohingegen das bonum absolutum (absolutes Gut) bzw. das finis bonorum (Ziel aller Güter) die Summe aller Sekundärgüter darstellt. Siehe für Mendelssohns Sicht auf Spinozas Missverständnis der Substanz auch dessen Morgenstunden (1785), XIII, JubA III.2, 106 f. : Spinoza wirft nämlich das „Selbständige“ und das „Fürsichbestehende“ zusammen und setzt damit den Anspruch an den Status einer Substanz zu hoch. Doch eine Substantialität der zweiten Gattung, die also nur „Fürsichseiend“ ist, genüge zu einer vernünftigen Definition von Substanz, ohne in Pantheismus (und auch für Mendelssohn damit Atheismus) abzugleiten. Zu Hobbes’ Fehlinterpretation von Potenz äußert er sich im Jerusalem (1783), I, 9 f., JubA VIII, 105 ff. : Er habe Macht (Potenz) und Verbindlichkeit bzw. Gewalt und Befugnis nicht angemessen unterschieden. Mendelssohn zitiert Psalm 73, 21 – 28, erste Vershälfte, in seiner eigenen Übersetzung.

Namenregister (Auswahl)

Kursive Seitenzahlen kennzeichnen Stellen, an denen Mendelssohn eine Person ohne Namensnennung zitiert bzw. eines ihrer Werke erwähnt. Abauzit, Firmin 32 Abbt, Thomas 5 ff., 41 ff., 61 Achilles 88 Adelung, Johann Christoph 232 Alcibiades 69, 77, 83 Alexander der Große 248 Anaxagoras 65 Apollo 36, 72, 92 f., 96 f. Apollodorus 88, 92, 94, 120, 159, 188 Aristippus von Kyrene 11, 94 Aristophanes 75, 77 Aristoteles 248 Atticus, Titus Pomponius 23 Attila 27 Aulus Gellius 69 Aurora 122, 161 Baumgarten, Alexander Gottlieb 63, 212, 214, 224 Bayle, Pierre 11, 17, 35 Beccaria, Marquis de 56, 225, 228 Bonnet, Charles 195, 209 Borgia, Cesare 27 Boscovich, Ruggero Giuseppe 217 Bossuet, Jacques Bénigne 57 Bourignon, Antoinette 195 Brühl, Graf Heinrich von 44, 46 Caligula, Gaius Iulius Caesar Germanicus 27

Charikles 80 ff. Cicero, Marcus Tullius 66 Cooper, John Gilbert 64 Crusius, Christian August 195 Descartes, René, auch Cartesius 63, 221 Diogenes Laertius 69 Domitian(us), Titus Flavius 27 Echekrates 92 ff., 139 f., 188, 189 Elias (Prophet) 37, 41 Epigenes 94 Euklides von Megara 94 Euripides 76 Evenus 65, 96 f. Francke, August Hermann 195 Garve, Christian 225 Graf Wilhelm zu SchaumburgLippe 55 Haller, Albrecht von 223 Hamann, Georg 70 Hardion, Jacques 57 Helvétius, Claude Adrien 50 Herder, Johann Gottfried 191 ff. Hermogenes 94 Hobbes, Thomas 226, 258 Homer 88, 106, 122, 128, 165

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Namenregister

Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 17 Hume, David 8 Iselin, Isaak 217 Justi, Karl von 56 Klopstock, Friedrich Gottlieb 42 Kritias 77, 80 ff. Krito 65 f., 88 f., 91, 92, 94 f., 102, 149, 177, 179, 185 ff. Laches 75 Lavater, Johann Kaspar 195, 209 Leibniz, Gottfried Wilhelm 35, 55, 63 Lessing, Gotthold Ephraim 11 Locke, John 24, 221 Maupertuis, Pierre Moreau de 51 Minerva 65 Molière (Jean Baptiste Poquelin) 46 Myron 65 Newton, Isaak 33, 49, 192, 195, 248 Nicolai, Friedrich 10 f., 50, 57 Plato 4, 25, 55, 62 f., 73, 75, 77 f., 85, 88, 94, 128, 193, 212 ff. Plotin(us) 63, 213, 221 ff. Ploucquet, Gottfried 224 Poisson, Jeanne-Antoinette; Marquise de Pompadour 44, 46 Pope, Alexander 204 Pyrrhus 247

Pythagoras 62, 197, 214, 217 Reimarus, Hermann Samuel 63, 224 Resewitz, Friedrich Gabriel 218 Richardson, Samuel 22 Riedel, Friedrich Justus 211 f., 214, 216 f. Rousseau, Jean Jacques 43, 247 Saunderson, Nicholas 108 Scott, James; Duke of Monmouth 12 Seneca 87 Sokrates 36, 55, 61 ff., 65 ff., 92 ff., 132 ff., 191 f., 198, 218 ff. Spalding, Johann Joachim 11, 17, 39 f., 61, 191 f., 200 Spinoza, Baruch de 226, 258 St. Evremonte, Charles de Marguetel de Saint-Denis de 23 Stosch, Samuel Johann Ernst 232 Süßmilch, Johann 9 Sisyphus 36 Trescho, Sebastian Friedrich 195 Voltaire (François Marie Arouet) 32, 50, 195 Wentworth, Thomas; Earl of Strafford 12 Wolff, Christian 63, 212 ff. Xanthippe 73, 95 Xenophon 70, 73 ff., 78, 217 Zeuxis 65

Sachregister

Belohnung 36, 71, 181, 191, 238 – 241 Besserung (s. Verbesserung) Bestimmung des Menschen 8, 13, 17 f., 21, 25, 30, 32 – 35, 38, 41 – 50, 52 f., 55, 134, 161 ff., 169, 171 f., 175, 192, 194 ff., 200 ff., 205, 216 ff., 229 f., 234 f., 241 f., 246 f., 250 f., 255, 259 Destination 229 Determination 7, 229 f. Einfachheit, einfach 147, 151 – 155, 160, 164, 167, 173, 183, 215, 223 f. Endzweck (s. a. Zweck) 7, 16, 26, 35, 38, 46, 115, 125 f., 143, 164 f., 168, 170 – 173, 175, 180, 183, 200, 202 f., 226, 229, 230, 234, 236, 240 f., 247, 251 – 255 Entwicklung 29, 36, 38, 43 ff., 49, 52 ff., 163, 173, 194, 206 f., 236 f., 245 f., 248 f., 251, 253, 255, 259 erhaben, Erhabenheit 130, 133, 167 – 170, 172, 232 Gerechtigkeit (auch: ungerecht) 31, 36 f., 44, 46, 86 f., 91, 106, 113, 161, 169, 175 – 178, 180, 182, 184 f., 189, 204, 226, 228, 238, 241 f. Gewohnheit 37, 39, 167, 231 Glück, glücklich, Glückseligkeit 9, 11, 17 f., 21, 25 – 28, 30 f., 34,

36, 38 – 42, 46, 56, 66 f., 70 f., 79, 93 f., 102, 106, 108 ff., 124, 129, 131, 133 f., 138, 143, 147, 155, 157 f., 165 f., 169 – 175, 179 ff., 184 ff., 192, 196, 201, 203, 214, 231 f., 236, 238, 240 – 243, 248, 251, 253 f., 260 Gott, Götter, göttlich 6, 11 f., 14, 25 f., 28, 31 – 35, 37 f., 41 f., 44 ff., 51 ff., 62, 67, 70 f., 83 ff., 88, 91, 93, 96 – 102, 105, 107 f., 113 f., 122, 124, 130 – 134, 138 f., 143, 147, 149, 155 f., 159, 161 – 164, 167 f., 170 f., 173, 176 f., 180 – 185, 188 f., 193 – 198, 209, 214, 220, 229, 236, 239, 242, 252, 254 f., 260 gottlos 46, 85, 163, 184 Kind(er) (s. a. Säugling) 14, 29, 33, 90, 111, 128 f., 174, 179, 192, 194, 201 ff., 207, 230, 235, 245, 255, 259 Körper (s. a. Leib) 24 f., 28 ff., 53, 62, 68 f., 77, 104, 106, 109, 114, 125 f., 130, 135 ff., 144, 149 f., 153 – 158, 160, 165 f., 183, 191 ff., 199, 201, 205 f., 214, 221 ff., 231, 233, 244, 252 ff. Kraft/Kräfte 3 f., 6 f., 10, 33 f., 39 f., 42, 45 f., 49, 52 f., 62, 69, 87, 89, 96, 99 f., 106, 114, 116 f., 123, 125 ff., 129, 135, 139, 142, 145, 147, 149 – 153, 163 f., 169, 171, 185, 192 – 197, 205 – 208, 211 – 216,

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Sachregister

222 ff., 233 f., 236 ff., 242, 244, 246 – 250, 252 ff., 257 f. – Begehrungskraft 171 – Beurteilungskraft 78 – Einbildungskraft 78, 169, 172 f., 185, 244 – Erfindungskraft 163, 213 – Seelenkraft (auch: „Geisterkraft“) 7, 33, 36, 43, 45, 49, 52 f., 62, 69, 78, 90, 126, 192, 195, 205 – 208, 212 – Überzeugungskraft 62 – Urteilskraft 213 – Vorstellungskraft 7, 151 ff.

192 – 200, 202 – 205, 208 f., 212 f., 215 ff., 219, 221, 224 – 228, 231, 233, 243, 247 ff., 259 Religion 11 ff., 25, 66 ff., 71 f., 77, 83, 175, 197, 209 f., 218 ff., 224, 248

Metaphysik 8 ff., 46, 53, 55, 62, 196, 205, 217, 226 f., 255, 258

Säugling 33, 38, 41, 43, 202 f., 245 schön, Schönheit 17, 23, 45, 49, 65, 77, 84, 88, 105 f., 115, 130 f., 133 f., 139 ff., 150, 158, 163 – 166, 168 ff., 172, 180 f., 185, 216 f., 237, 240, 243, 246, 252, 254 Seele (s. a. Seelenkräfte) 3 – 7, 22 – 25, 33, 37 ff., 43 – 46, 48 f., 54 ff., 61 ff., 65, 68 f., 77 f., 79, 101 – 104, 106 – 111, 114 f., 118, 120, 123 – 130, 132 – 139, 144, 148, 150, 152 ff., 156 f., 160, 168, 174, 181, 183 f., 191 – 195, 198 – 201, 204 – 208, 212, 214 ff., 218 f., 221 ff., 225 f, 231 f., 240 – 243, 245, 256 Seligkeit (s. a. Glückseligkeit) 102, 131 f., 161, 164, 183, 205 Strafe 9, 20, 27 f., 44, 56 f., 73, 80, 113, 177 ff., 225 f., 228, 238, 240 f. Substanz 5 f., 27, 34 f., 49, 53, 153 f., 168, 183, 191, 193, 208, 214, 221, 222, 257 ff.

Natur, natürlich 3 f., 8, 14, 21 – 25, 28 f., 31 f., 34, 36 f., 40, 51, 53, 66 f., 69, 75 – 78, 80, 82 f., 87, 100, 115 – 124, 127 – 130, 135 f., 141 f., 145, 147 f., 150, 153, 155, 159 ff., 164, 166 – 171, 173 f., 178 f., 181 ff.,

Tod (auch: Todesstrafe) 3, 13 f., 29, 72, 83 – 89, 93, 97, 100 – 104, 106, 110 – 116, 120 – 127, 129 – 134, 137 f., 143, 161, 174 f., 178, 180, 182, 186, 191, 193, 196, 198, 214, 216, 225, 228, 239

Leben, lebendig 3, 13, 26 f., 29 – 33, 35 ff., 51 f., 65, 67 f., 70, 86 f., 89, 91, 100, 102, 104, 108, 110 f., 113, 115 f., 120 – 123, 126, 128 – 139, 142 f., 144, 153, 158, 161 f., 165 ff., 170, 172 – 176, 178 – 187, 192 ff., 196 – 200, 202 f., 207, 216, 219, 221 f., 224 ff., 228, 231, 233, 235 – 238, 240 – 244, 248 ff., 255 f. Leib 4, 24, 54, 69, 90, 97, 99, 103 ff., 108 – 112, 114 f., 120 – 123, 126 – 130, 138, 165, 170, 191 f., 214, 216, 233, 237, 244

Sachregister

Triebfeder 7, 34, 39, 208, 231, 235 Tugend 8 f., 13, 16, 31, 36 f., 40, 55 f., 65, 67 f., 70, 77, 82, 91, 102, 112 ff., 130 f., 133 f., 139, 143, 169 f., 173, 175, 180 ff., 184, 197, 208, 232, 236, 238 – 241, 243 Unglück 11, 27 f., 37, 79, 89, 106, 134, 141 f., 166, 173 f., 180 ff., 184, 186, 188, 238, 240, 243 Unsterblichkeit 3, 9, 11, 27, 31, 35, 48, 55, 61 ff., 87, 94, 133 ff., 138, 159, 161 f., 175, 198 f., 204, 206, 214, 216, 218 ff., 225 f. unvergänglich 153, 160, 173, 183 Verbesserung (auch: Besserung) 23, 33, 46, 169, 183, 197, 201, 231 Verdammnis, Verdammung 11, 79, 87 vergänglich, Vergänglichkeit 117, 133, 164, 169, 181, 183, 213 Vernichtung (auch: Zernichtung) 3, 27, 29, 31, 34, 114, 121, 124 f., 127, 134 f., 144, 164, 174, 180, 193, 196, 204, 213, 215 ff. Vollkommenheit 23 f., 31, 34, 36, 38, 41 f., 45, 47, 52, 62, 65, 99, 105 – 108, 110, 130 f., 133 f., 141,

297

145, 154, 157 ff., 162 – 167, 169 – 173, 175, 177 – 180, 182 – 185, 191 – 196, 199 – 203, 206 ff., 225, 227, 231 f., 236 f., 240 – 244, 246, 252 f. Vorstellung 4, 7, 31, 43, 86, 89, 107 f., 126, 135, 137, 143, 149, 151 – 154, 156, 160, 174, 192, 197 f., 205 ff., 221, 223 f., 242, 245 Wahrscheinlichkeit 4, 51 f., 80, 83, 114, 136, 139, 143, 154, 161, 178, 196 Wille 5, 7, 34, 84, 88, 100, 129, 159 f., 164 – 167, 171, 181, 184 f., 227 Zernichtung (s. Vernichtung) Ziel (auch: abzielen) 24 f, 31, 33 f., 39, 46, 54, 66, 70, 99 – 103, 109 f., 121, 126, 129, 136, 147, 166 f., 171 ff., 175, 179, 198, 200, 203, 232 f., 243, 247 f., 253 f., 258 zusammengesetzt 4, 118, 121, 136, 139, 145 – 155, 164 ff., 215, 222 ff. Zweck (auch: Endzweck) 7, 16, 23 f., 26 f., 30, 35, 38, 46, 49, 52, 111, 115, 125 f., 143, 164 f., 168, 170 – 173, 175, 180, 183, 192, 194 f., 199 f., 202 f., 205, 207, 226, 229, 233 f., 236, 240 f., 247, 251 – 255

Chronik der philosophischen Werke Die »Chronik der philosophischen Werke« ist weit mehr als ein Nachschlagewerk zu einzelnen Titeln: Sie ermöglicht Entdeckungen, den Nachvollzug neuer und bisher unbeachtet gebliebener Querverbindungen und wechselseitiger Einflüsse, die seit Einführung des Buchdrucks und der damit verbundenen öffentlichen Verbreitung philosophischer Erkenntnisse den Diskurs sehr viel offener und umtriebiger bestimmten und belebten als in den alten Zeiten, in denen das klösterliche Kopieren von Handschriften das einzige und eher hermetisch abgeschlossene Medium war für die Bewahrung und Weitergabe philosophischen Wissens. Die »Chronik der philosophischen Werke« ist damit ein getreuer Spiegel der Entwicklung und Ausdifferenzierung des Denkens in den Zeiten seit Gutenberg, also sowohl Lexikon wie auch Lesebuch für philosophiegeschichtliche Entdeckungsreisen.

»Umso größer das Vergnügen über die ›Chronik der philosophischen Werke‹, die sich als Wegweiser durch die Geschichte der westlichen Philosophie anbietet. Mit ihrer Hilfe kann man sich manche Trittleiter basteln. Zum Glück wird es einem nicht leichter als möglich gemacht.« Süddeutsche Zeitung »Es ist ungemein spannend, den Verlauf der Veröffentlichungen zu verfolgen.« Philosophie Magazin

Chronik der philosophischen Werke Von der Erfindung des Buchdrucks bis ins 20. Jahrhundert Erarbeitet von Arnim Regenbogen. 2011. XX, 639 Seiten.

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