Die Beschneidung von Jungen: Ein trauriges Vermächtnis 9783666404559, 9783525404553, 9783647404554

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Die Beschneidung von Jungen: Ein trauriges Vermächtnis
 9783666404559, 9783525404553, 9783647404554

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Matthias Franz (Hg.)

Die Beschneidung von Jungen Ein trauriges Vermächtnis

Mit 11 Abbildungen

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-40455-3 ISBN 978-3-647-40455-4 (E-Book) © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Umschlag: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Matthias Franz Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Josef Tutsch Heilige Körperverletzungen. Die Beschneidung im Kreis der Geburtsund Pubertätsriten der Völker, Kulturen und Religionen . . . . . . . . . . . . . . 20 Friedrich H. Moll Medizingeschichtliche und urologische Aspekte der Knabenbeschneidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Volker von Loewenich Medizinethische Aspekte der rituellen Genitalbeschneidung nicht einwilligungsfähiger Jungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Christoph Kupferschmid Die Beschneidung von Knaben aus kinder- und jugendärztlicher Sicht . . 82 Mattias Schäfer und Maximilian Stehr Zur medizinischen Tragweite einer Beschneidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Matthias Franz Beschneidung ohne Ende? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Adriaan de Klerk Die Bedeutung der Kastrationsangst und der Beschneidung in Freuds Werk und Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Jérôme Segal Die Beschneidung aus jüdisch-humanistischer Perspektive . . . . . . . . . . . . 211

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Inhalt

Andreas Gotzmann Jenseits der Aufregungen – Zur Konstruktion des Jüdischen in der Beschneidungsdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Rolf Dietrich Herzberg Ethische und rechtliche Aspekte der Genitalbeschneidung . . . . . . . . . . . . . 267 Holm Putzke Die Beschneidungsdebatte aus Sicht eines Protagonisten. Anmerkungen zur Entstehung und Einordnung des Beschneidungsurteils sowie zum Beschneidungsparagrafen (§ 1631d BGB) und zu seinen Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Jörg Scheinfeld Die Knabenbeschneidung im Lichte des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . 358 Irmingard Schewe-Gerigk Kinderrechte sind unverhandelbare Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Marlene Rupprecht Das Recht, alles zu glauben – nicht aber, alles zu tun. Zum schwierigen Verhältnis zwischen Kinderrechten und Religionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . 421 Die Autorinnnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446

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Es erben sich Gesetz’ und Rechte Wie eine ew’ge Krankheit fort; Sie schleppen von Geschlecht sich zum Geschlechte, Und rücken sacht von Ort zu Ort. Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage; Weh dir, daß du ein Enkel bist! Vom Rechte, das mit uns geboren ist, Von dem ist, leider! nie die Frage. Mephistopheles in Goethes »Faust«

Matthias Franz

Einführung Die Auseinandersetzung um die rituelle, medizinisch nicht begründete Genitalbeschneidung kleiner, nicht einwilligungsfähiger Jungen findet nun seit dem Urteil des Kölner Landgerichts vom Mai 2012 auch in Deutschland statt. Weiten Kreisen der Bevölkerung in Deutschland wurde durch den in Köln verhandelten Fall bewusst, dass die Ritualbeschneidung nicht nur von Mädchen, sondern auch von Jungen eine Körperverletzung mit erheblichen Risiken darstellt. Es geht in der Beschneidungsdiskussion um den Konflikt zwischen dem Recht Erwachsener auf Religionsfreiheit und dem Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit und sexuelle Selbstbestimmung. Die Heftigkeit der Debatte lässt auf tiefgreifende Ängste und Konflikte schließen. Das liegt zum einem am Thema. Die an die Beschneidung geknüpfte Kastrationsangst ist die vielleicht stärkste Angst, die Männer überhaupt empfinden. Mit ihr verbundene Denkverbote und Verdrängungsreflexe erschweren sogar Erwachsenen die Wahrnehmung von Fakten und tragen zu einer angstverzerrten Verhaltenssteuerung und Entscheidungsfindung bei. Dies gilt aber besonders für die häufig als Kastrationsandrohung erlebte Beschneidung schutzbedürftiger Jungen im Alter von etwa fünf bis sieben Jahren. Erfolgt in diesem Alter ein genitales Trauma, können Vertrauensbrüche in der Beziehung zu den Eltern, tief sitzender Groll und starke, auf Sexualität und Triebkontrolle gerichtete Ängste auch das Verhalten des Erwachsenen noch beeinträchtigen.

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Matthias Franz

Angst wird auch ausgelöst durch die Bedrohung der eigenen Identität oder die der sozialen Bezugsgruppe. Genau dies geschieht bei der säkularen Infragestellung unreflektierter religiöser Ritualtraditionen, wenn formuliert wird, dass die Religionsfreiheit Erwachsener an der Körpergrenze von Kindern endet. Es ist verständlich, dass in Teilen der jüdischen und islamischen Kultur starke Ängste bestehen, auf die Beschneidung zu verzichten. Beschneidung ist aus orthodoxer Sicht der Praktizierenden eine im transzendentalen wie im gruppalen Sinn identitätsstiftende Referenz, kein Trauma, sondern Vervollkommnung. Die religiösen Verteidiger des Beschneidungsrituals müssen jedoch heute auch akzeptieren, dass sie keine exklusive Deutungshoheit über das von ihnen praktizierte Beschneidungsritual und dessen traumatische Aspekte mehr haben – auch nicht in Deutschland. Denn die säkularen Kritiker der rituellen Beschneidung haben ebenfalls Angst. Sie fürchten die Beschädigung menschenrechtlicher Grundlagen und des staatlichen Gewaltmonopols durch rational nicht zu begründende klerikale und religiöse Machtansprüche. Sie sehen in einer aufgeklärten Welt keinen Platz mehr für steinzeitliche Verletzungsrituale, wenn dadurch Kinder verletzt werden, die sich nicht frei entscheiden oder wehren können. Auch wenn sich demokratische Verfassungsstaaten historisch aus religiösen Gottesstaaten entwickelt haben, existiert aus ihrer Sicht, um in Anlehnung an Habermas zu formulieren, in der Demokratie keine »Lücke«, durch die Religionen wie eine »vorpolitische Substanz« normativ verbindlich eindringen können. Tragischerweise kommen all diese Großängste in der Beschneidungsdebatte zusammen, da gerade der verletzende Akt der Beschneidung als symbolische Kastrationsandrohung identitätsbildend für große Bevölkerungsgruppen ist. Wir brauchen deshalb einen Dialog, in dem die Ängste und Verletzungen aller Beteiligten einfließen – allerdings auch die der kleinen Jungen. Am Thema der Jungenbeschneidung verdichtet sich zum einen ein elementarer Wertekonflikt zwischen anscheinend nicht verhandelbarer ritueller Beschneidungspraxis verschiedener religiöser Gruppen und dem laut Grundgesetz sowie der UNKinderschutzkonvention unteilbar gültigen Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit. Die Auseinandersetzung folgt dabei entlang der tektonischen Spannungslinien epochaler Trends zugunsten einer in Europa zunehmenden Gewaltfreiheit und Sensibilität für Kinderrechte. Unterbrochen zwar von grauenhaften Katastrophen und nach dreihundertjähriger zivilisatorischer Entwicklung der hart erkämpften Rechte für Kinder, Frauen, Minderheiten, ja sogar von Tieren, ist heute in Europa und auch in Deutschland Gewalt zunehmend verpönt. Die identifikations- und schutzbereite empathisch-teilnehmende Haltung des Erwachsenen dem Kind gegenüber stellt zwar eine noch junge zivilisatorische

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Einführung

Errungenschaft dar, ihre Sinnhaftigkeit für eine gewaltärmere gesellschaftliche Entwicklung wird jedoch in immer überzeugenderer Weise durch Forschungsergebnisse gestützt. An der Frage, wie eine Gesellschaft mit ihren schwächsten Mitgliedern – den Kindern – verfährt, entscheidet sich auch die transgenerationale Kontinuität des zivilisatorischen Prozesses der Gewaltbindung. Das uralte patriarchalische Recht des Stärkeren, der, weil er stärker ist, dem Schwächeren, weil er schwächer ist, seinen Willen aufzwingen und ihm Leid und Schmerzen zufügen darf, kann heute nicht mehr den Umgang mit schutzbedürftigen Kindern bestimmen. Es geht also auch um eine zivilisatorische Haltungsfrage. Es geht darum, jedes Kind – auch Kinder aus jüdischen oder islamischen Gemeinden – im Rahmen der geltenden Rechtsordnung und der UN-Kinderschutzkonvention vor Verletzungen zu schützen, die sie als schwächere Opfer über sich ergehen lassen müssen, weil sie sich nicht wehren können. Wie wir in Deutschland mit Kindern umgehen, was wir ihnen zumuten und wie konsequent wir sie vor Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung schützen, hat viel mit dem Gewaltpotenzial in unserer Gesellschaft und der Zivilisierung unseres Umganges miteinander zu tun. Hier ist sicher nicht nur die Beschneidung zu kritisieren, sondern auch Wohlstandsverwahrlosung, Misshandlung, Missbrauch, Desinteresse oder die Geringschätzung der Entwicklungsbedürfnisse von Kindern. Aber der Schutz kindlicher Genitalien vor dem verletzenden Zugriff durch archaische Verletzungsrituale gehört auch zu den Entwicklungsaufgaben einer sich zivilisierenden Gesellschaft. Dies wird von einem wachsenden Teil der jüdischen Bevölkerung in Deutschland und in Israel übrigens auch so gesehen. Ein demokratisch geregelter und wissenschaftlich fundierter Diskurs auch über kinder- und körperverletzende Rituale ist daher nötig. Er wird aber, wie erwähnt, beeinträchtigt durch Ängste um die eigene Identität und den Verlust gruppaler Zusammengehörigkeit, durch Ängste vor Kastration und existenziellen Bedrohungen. Vor allem aber findet er im Horizont antisemitischer Verstrickungen und der nationalsozialistischen Verfolgung und Ermordung der Juden in Europa und dem hierdurch bis heute verursachten großen Leid statt. Aus diesen Gründen wird die aktuelle Beschneidungsdiskussion und ihre politische Instrumentalisierung zeitweise weniger von Fakten als von religiös-dogmatischen Setzungen, heftigen Polarisierungen und Unterstellungen bestimmt. Religionsgemeinschaften sind heute aufgerufen, ihre Rituale einer religiös neutralen Öffentlichkeit zu erklären und nicht einfach hierfür Sonderrechte einzufordern. Religionsfreiheit kann heute kein Freibrief mehr zur Anwendung von Gewalt gegenüber nicht einwilligungsfähigen Jungen sein. Dies ist für die Zufügung jeglicher Gewalt im Genitalbereich von Mädchen national

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Matthias Franz

und international schon lange Konsens. Hinsichtlich der Genitalbeschneidung von Jungen, verbunden mit hohen Risiken für bleibende körperliche, seelische und sexuelle Beeinträchtigungen, müssen die öffentliche Debatte und Wahrnehmung offensichtlich noch weiterentwickelt werden. Wir wissen heute, dass kleine Kinder, auch Neugeborene, Schmerzen sehr intensiv fühlen, und wir wissen, dass die Erfahrung von Schmerzen und Gewalt die Entwicklung von Kindern schädigt. Man tut Kindern nicht weh. Und: Erwachsene haben an den Genitalien von Kindern nichts zu suchen. Man soll deshalb Kindern – weder Mädchen noch Jungen – im Namen eines Gottes oder aufgrund fragwürdiger Hygienevorstellungen keine Körperteile abschneiden. Auch nicht Teile ihrer Genitalien. Das macht Angst, setzt fragwürdige Normen und bewirkt eine transgenerationale Einfühlungsstörung. Viele Menschen fühlen sich deshalb verpflichtet, gerade auch im endlich demokratisch gewandelten Deutschland, die Kinderrechte unnachgiebig einzufordern. Trotzdem herrscht – verglichen mit der eindeutigen Empörung und Verurteilung in Bezug auf die rituelle Verletzung weiblicher Genitalien – eine bemerkenswerte Verleugnungshaltung und Empathieverweigerung gegenüber den kleinen Jungen, die durch die genitale Beschneidung ebenfalls großem Leid und bedeutenden Risiken ausgesetzt werden. Dieses Leid und die möglichen körperlichen, sexuellen und seelischen Langzeitfolgen sind mittlerweile in empirischen Studien und Fallberichten ausreichend belegt. Mit religiösen Traditionen oder dem Recht auf Religionsausübung lässt sich dies nicht widerspruchsfrei begründen, zumal die Entwicklung der Kinderrechte nicht nur exklusiv den Mädchen zugutekommen kann. Natürlich müssen in der laufenden Diskussion auch die Bedürfnisse, Befürchtungen und Traditionen der beteiligten religiösen Gruppen Berücksichtigung finden. Hier muss auch wechselseitiges Verständnis gefördert werden. Der schwerwiegende Vorwurf jedoch – unter assoziativem Verweis auf die Ermordung der Juden im Nationalsozialismus –, durch ein Verbot der rituellen Jungenbeschneidung würde jüdisches oder islamisches Leben in Deutschland unmöglich werden, ist für Vertreter des Kinderschutzgedankens nicht hinnehmbar. Wolffsohn (2012) bemerkte in der »Welt« dankenswerterweise hierzu: »Nicht von der Vorhaut hängt das Judentum ab. […] das jüdische Religionsgesetz ist eindeutig: Ein unbeschnittener Jude ist Jude, sofern er Sohn einer jüdischen Mutter ist. Zwar erweckten die meisten deutschjüdischen und israelischen Debattenbeiträge den gegenteiligen Eindruck, doch Wortmeldungen ersetzen keine Wissenschaft. Dass einige politisch jüdische und rabbinische Repräsentanten den Bogen zum Holocaust schlugen oder mit Auswanderung drohten, war, bezogen

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Einführung

auf die bewährte bundesdeutsche Demokratie, substanz- und taktlos. Dass, wie es heißt, ›ausgerechnet Deutsche‹ sich nicht an dieser Debatte beteiligen sollten, vermag ich als jüdischer Deutscher nicht einzusehen.« Menschen mit einem starken Glaubensbedürfnis fällt eine psychologische oder historische Sicht auf die Beschneidung bekanntlich oft schwer. Die Beschneidung ist aber keine Erfindung des Judentums oder des Islam. Die Beschneidung war seit Jahrtausenden bereits vorisraelitisch und vorislamisch ein gefährliches Verletzungsritual zur Sicherstellung patriarchalischer Machtansprüche und gruppaler Identität. Möglicherweise wurde die Beschneidung weltweit in prähistorischen Jäger- und Stammeskulturen genutzt, um eine Aggressions- und Triebkontrolle innerhalb der Bezugsgruppe zu gewährleisten. Sie regelte unter archaischen Lebensbedingungen den Umgang mit Sexualität und kanalisierte das männliche Aggressionspotenzial. Dies könnte unter den frühgeschichtlichen Bedingungen der Alltagspräsenz aggressiver Handlungszwänge eine adaptive und sinnvolle Sanktionsandrohung zur Eindämmung sozial unerwünschter Handlungsimpulse innerhalb der Bezugsgruppe gewesen sein. Bis heute bezieht das Beschneidungsritual seine transgenerationale Kontinuität aus der Identifikation des Opfers mit dem Aggressor. Es darf aber bezweifelt werden, ob es auch heute noch angemessen ist, kleinen Jungen zur Absicherung der gruppalen Identität von Erwachsenen Schmerzen und Ängste zuzufügen und sie erheblichen Gesundheitsrisiken auszusetzen. Aus ärztlicher Sicht kann man heute zudem eindeutig sagen, dass es keine medizinischen Gründe für die Entfernung einer gesunden Vorhaut eines gesunden, nicht einwilligungsfähigen kleinen Jungen gibt. Sämtliche angeführten Gründe lassen sich – wenn vom Betroffenen gewünscht – durch eine Beschneidung in einwilligungsfähigem Alter realisieren. Die Genitalbeschneidung auch von Jungen ist deshalb aus der Sicht vieler Kritikerinnen und Kritiker ein schmerzhafter und gefährlicher Gewaltakt mit möglichen negativen gesundheitlichen Folgen für viele der Betroffenen. Eine Lösung dieses Konflikts benötigt auch Zeit und Geduld. Sie kann nicht auf der Grundlage von Angst und Zwang oder durch widersprüchliche Gesetze erfolgen. Die Hinterfragung der rituellen Verletzung elementarer Kinderrechte von Jungen sowie deren symbolisierende Transformation wie zum Beispiel im Brit Shalom kann in einer offenen säkularen Demokratie mit staatlichem Gewaltmonopol und angesichts der wissenschaftlichen Befunde eigentlich nur eine Frage der Zeit, der Faktenwahrnehmung und des ruhigen Nachdenkens sein. Die subversive Frage »Was tue ich da meinem Sohn eigentlich an?« wird auch in religiösen Gemeinden lauter werden. Das vom Deutschen Bundestag in seinen Konsequenzen unzureichend überdachte und überstürzt verabschiedete

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Gesetz zur Erlaubnis der nicht medizinisch begründeten Jungenbeschneidung wird die Diskussion jedenfalls nicht beenden. Immerhin doch hundert der Abgeordneten des Bundestages – man zögert den Begriff Parlamentarier zu verwenden – konnten sich dem enormen Außendruck entziehen, unter dem die Debatte und die Verabschiedung der nun herbeigeführten gesetzlichen Regelung der Jungenbeschneidung standen. Die konzertierte druckvolle Drohkulisse, die andauernde historische Verstrickung in die entsetzlichen Folgen des Nationalsozialismus und das mit großen (Kastrations-)Ängsten besetzte Thema hatte bei vielen Beteiligten fast aller politischen Parteien zu einer deutlich wahrnehmbaren Beeinträchtigung der Faktenwahrnehmung, Argumentationsfähigkeit und Autonomie geführt. Dies bewirkte, dass die Mehrzahl der bemerkenswert schlecht informierten Abgeordneten am 12. 12. 2012 bei der überstürzten Verabschiedung des momentan gültigen Gesetzes über den Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes mit Tunnelblick an der eigentlich unübersehbaren Tatsache vorbeigesehen hat: Hier und heute verletzt der Deutsche Bundestag elementare Kinderrechte von kleinen Jungen! Die entstandene Debatte fand ein sicher nur vorläufiges Ende mit Inkrafttreten des neuen Beschneidungsgesetzes am 28. 12. 2012. Dieses Gesetz erlaubt die Beschneidung von Jungen in Deutschland auch ohne medizinische Indikation unter bestimmten – oder eigentlich eher zutreffend: unter relativ unbestimmten – Bedingungen. Beispielsweise wurde die medizinische Fachkunde des Durchführenden relativiert, die Frage der Analgesie/Anästhesie bleibt weiterhin unklar1 und Jungen können auf Wunsch der Eltern auch aus anderen Gründen als religiösen sowie gegen ihren offensichtlichen Willen beschnitten werden. Die unpräzisen Formulierungen des Gesetzes hinsichtlich der Beschneidungsmotive könnten sogar zu abstrusen Konstellationen führen. Der Strafrechtler und Rechtsphilosoph Reinhard Merkel (2012) hat darauf aufmerksam gemacht, dass es Eltern, die beispielsweise die Selbstbefriedigung ihres Jungen unterbinden möchten, zwar verboten wäre, ihren Jungen deswegen zu schlagen. Das Gesetz

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Die für die zur Minderung des Beschneidungsschmerzes häufig benutzte EMLA®-Salbe ist in ihrem Effekt unzureichend und besaß in Deutschland für diesen Zweck nie eine Zulassung (Manfred Will, 2013; persönliche Mitteilung nach Recherche beim BfArM). Zum nach wie vor verleugnenden Umgang mit dem Beschneidungsschmerz auch unter Einsatz der EMLA-Salbe beispielsweise im Jüdischen Krankenhaus Berlin vgl. einen Bericht in der »Süddeutschen Zeitung« vom 19. 12. 2013 unter http://www.sueddeutsche.de/wissen/rituelle-beschneidung-bei-neugeborenen-unzureichende-betaeubung-mangelhafteinformationen-1.1846315 (Zugriff am 22. 12. 2013).

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Einführung

würde es ihnen jedoch gestatten den Jungen beschneiden zu lassen, um seine Selbstbefriedigung zu erschweren. 70 % der deutschen Bevölkerung lehnten das vom Bundestag beschlossene Gesetz ab. Möglicherweise werden erst hohe Schadensersatzforderungen Betroffener zu einem Umdenken auch bei den verantwortlichen Entscheidungsträgern führen. Auch die Autorinnen und Autoren dieses Buchs sind mit der jetzigen Situation unzufrieden und äußern ihre Bedenken und ihre Kritik an der Praxis der rituellen Jungenbeschneidung. Einleitend gibt Joseph Tutsch einen Überblick über die Beschneidung im Kreis der Geburts- und Pubertätsriten verschiedener Völker, Kulturen und Religionen. Er beschäftigt sich mit den körperverletzenden Ritualen, denen Neugeborene, Jungen und Jünglinge in lebenszyklischen Übergangsstadien ausgesetzt wurden. Hierbei sind in ursprünglichen Ethnien und zahlreichen Naturreligionen Verletzungen des männlichen Genitales in unterschiedlichen Varianten immer wieder auftretende Rituale, die aus heutiger Sicht und unter Absehung ihrer ursprünglich regulativen kulturellen Funktion als sadistisch bezeichnet werden müssten. Das Beschneidungsritual ist in den unterschiedlichsten Kulturkreisen, keineswegs nur auf den Islam oder das Judentum beschränkt, weit verbreitet nachweisbar. Der Autor beschreibt die symbolische Wandlung der Beschneidung in der jüdischen Sekte der Urchristen, propagiert durch Paulus, der sich von der Gesetzesreligion und den bedrohlichen Aspekten eines bei Abwendung rachebereiten Gottes mittels eines Glaubens an einen gnädigen Gott absetzte. Schließlich ordnet Tutsch die Beschneidung neben anderen körperverletzenden Maßnahmen in den größeren Zusammenhang der Übergangsriten ein und nimmt Stellung zur aktuellen Diskussion um die Beschneidung. Die ärztliche Kritik an der rituellen Jungenbeschneidung wird aus medizingeschichtlicher Sicht von Friedrich Moll und aus medizinethischer Perspektive von Volker von Loewenich referiert. Der Kinderarzt Christoph Kupferschmid und die Kinderchirurgen Matthias Schäfer und Maximilian Stehr stellen die erheblichen medizinischen Risiken der Beschneidung, an den objektiven Befunden orientiert, unideologisch und religiös neutral dar. Sie beleuchten den auch von Macht- und Wirtschaftsinteressen beeinflussten Hintergrund der Beschneidungsdiskussion. Friedrich Moll stellt in seinem Beitrag neben kulturgeschichtlichen auch die medizinhistorischen Aspekte der Beschneidung dar. Er schildert die Medikalisierung und damit auch Aspekte der Kommerzialisierung des Beschneidungsrituals insbesondere in den USA, aber auch in Deutschland. Volker von Loewenich kritisiert die medizinisch nicht indizierte Beschneidung nicht einsichts- und nicht einwilligungsfähiger Kinder aus medizinethischer

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Matthias Franz

Sicht. Er argumentiert angesichts der körperlichen, seelischen und sexuellen Gefahren für das Kind eindeutig gegen die Beschneidung. Der verstümmelnde und irreversible Eingriff ist hoch schmerzhaft und nicht frei von Komplikationen, immer wieder behauptete Vorteile sind nicht bewiesen. Es fehlen wichtige Funktionen und der Junge ist auch als Mann dauerhaft körperlich und seelisch gekennzeichnet. Nähme man angesichts all dessen ethische Grundsätze ernst, führt der Autor aus, dann könne man eine medizinisch nicht indizierte Beschneidung nur ablehnen. Christoph Kupferschmid kritisiert als Kinderarzt zunächst den reflexhaften taktischen Gebrauch des Antisemitismusvorwurfs, mit dem Kritiker/-innen der medizinisch nicht indizierten Jungenbeschneidung stereotyp, undifferenziert und diffamierend immer wieder überzogen werden. Er stellt für den Leser aus ärztlicher Sicht die Funktion und Erkrankungen der männlichen Vorhaut ausführlich dar und gibt hilfreiche Erklärungen im Hinblick auf die natürliche Entwicklung der Vorhaut. Dabei kritisiert er die häufige Pathologisierung der natürlichen Verklebung der Vorhaut mit der Eichel des kleinen Jungen als vorgeblich behandlungsbedürftige Phimose. Weiter kritisiert er die aktuelle Stellungnahme der »American Academy of Pediatrics« (AAP) zur Neugeborenenbeschneidung als widersprüchlich, unwissenschaftlich und interessengeleitet. Er tut dies unter Verweis auf die hippokratische Pflicht des Arztes, zuallererst keinen Schaden zu verursachen. Der Schaden der medizinisch nicht indizierten Beschneidung für den betroffenen Jungen besteht auch in den bis heute oft ignorierten oder unzureichend betäubten extremen Schmerzen und einer Fülle medizinischer Komplikationen. In diesem Zusammenhang kritisiert der Autor besonders die unzureichende Schmerzbekämpfung durch die weit verbreitete, aber hierfür nicht zugelassene EMLA®-Salbe. Vor dem Hintergrund der komplexen funktionellen Anatomie und der Schutzfunktion der Vorhaut erläutern die Kinderchirurgen Matthias Schäfer und Maximilian Stehr zunächst, in welchen Fällen aus medizinischer Sicht überhaupt eine Zirkumzision angezeigt ist. Sie beschreiben die Durchführung der Operation und gehen ausführlich auf die nicht seltenen und potenziell sehr schwerwiegenden Komplikationen und Langzeitrisiken der Beschneidung ein. Die Autoren setzen sich kritisch mit der empirischen Befundlage zu beschneidungsbedingten Todesfällen auseinander und betonen, dass es auch unter optimalen Operationsbedingungen zu Todesfällen kommen kann. Die reale Möglichkeit dieser schlimmsten denkbaren Komplikation erzwingt aus medizinethischer Sicht eine Ablehnung (medizinisch) nicht erforderlicher Beschneidungen. Auch das Scheinargument vom angeblichen präventiven Nutzen der Beschneidung hinsichtlich verschiedener Erkrankungen widerlegen die Autoren überzeu-

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Einführung

gend. Des Weiteren setzt sich auch dieser Beitrag mit der nicht gelösten Frage der Schmerzbekämpfung bei der Beschneidung Neugeborener auseinander. Abschließend bekunden die Autoren ihren Respekt auch vor religiösen Traditionen und Überzeugungen, ohne jedoch zu verschweigen, dass bestehende religiöse Überzeugungen – und seien sie noch so alt – aus wissenschaftlicher Sicht heute kritisch betrachtet werden dürfen und müssen. Auch zwei Psychoanalytiker sind als exponierte Kritiker der rituellen Jungenbeschneidung in diesem Band vertreten. Dies ist angesichts der jüdischen Wurzeln der Psychoanalyse nicht selbstverständlich, obwohl die Psychoanalyse ganz besonders der empathischen Einnahme der Perspektive des verletzten Kindes verpflichtet ist. Im Gegensatz zu einigen psychoanalytischen Protagonisten, zu denen beispielsweise auch Wolfgang Schmidbauer gehört, verharren die psychoanalytischen und auch psychotherapeutischen Fachverbände in Deutschland in einem beklommenen wie bedauerlichen Schweigen und finden in dieser Angelegenheit noch nicht den Weg zum kindlichen Erleben. Betroffene Beschneidungsopfer schildern deshalb ihre Ängste und die negativen Folgen der Beschneidung im Beitrag von Matthias Franz, der zudem kulturhistorische und psychoanalytische Aspekte der Beschneidung auch in ihren möglichen Folgen für kollektive Verhaltenstendenzen beleuchtet. Der in diesem Buch erneut abgedruckte hellsichtig frühe Beitrag des Psychoanalytikers Adriaan de Klerk beschreibt ebenfalls, ausgehend von tragischen Fallgeschichten, den verleugnenden Umgang mit dem Beschneidungstrauma auch innerhalb der Psychoanalyse. Jüdische Intellektuelle wie der Wissenschaftshistoriker Jérôme Segal und der Judaist Andreas Gotzmann äußern sich kritisch und mit zahlreichen geschichtlichen Verweisen auf innerjüdische Diskussionen zum klerikal behaupteten, angeblich unauflöslichen Zusammenhang von Beschneidung und Judentum. So erinnert Jérôme Segal mit eingehenden Quellenbelegen daran, dass auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft die Beschneidung in der Vergangenheit sehr umstritten war und heute noch immer ist. Segal gibt einen historischen Abriss darüber, wie sich die verschiedenen Positionen entwickelt haben, und stellt sie in ihren historischen Kontext. Der Autor widmet sich dem intellektuell anspruchsvollen Unternehmen, wie man heute eine humanistische und laizistische Position vertreten kann, welche die rituelle »Zwangsbeschneidung« ablehnt, ohne die jüdische Identität infrage zu stellen. Hierbei sind von besonderem Interesse die aufklärerischen Positionen der Haskala und des Reformjudentums, welche bereits im 19. Jahrhundert Vernunft und rationales Denken bei der Behandlung auch des Beschneidungsthemas einforderten. Die vom Autor hier angeführte Beleglage ist erstaunlich eindeutig und aktuell.

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Matthias Franz

Andreas Gotzmann greift als Judaist aus dezidiert jüdischer Sicht den auch durch das mangelhafte Beschneidungsgesetz (»Sündenfall«) nicht gelösten logischen Bruch zwischen der Rechtfertigung religiös motivierter Verletzung kindlicher Genitalien und den Kinderrechten auf. Gotzmann kritisiert dementsprechend den direkten Nachvollzug religiöser Normsetzungen durch den Gesetzgeber. Darüber hinaus aber zeigt Gotzmann auch fachliche Fehler, undifferenzierte Betrachtungen und Versäumnisse bei der Rezeption jüdischer Traditionen und Normvorstellungen auf, die von staatlicher Seite zentral für die Abfassung des Beschneidungsgesetzes waren – aber nicht korrigiert wurden. Nach Ansicht des Autors wäre eine auch kulturell umfassender informierte Position des Gesetzgebers für eine handwerklich und inhaltlich weniger widersprüchliche Gesetzgebung wichtig gewesen. Die vom Gesetzgeber vorgenommene medikalisierende Rahmung der Beschneidung ist aus jüdisch-orthodoxer Sicht beispielsweise völlig irrelevant. Der Autor zeigt schließlich ausgesprochen konstruktive Lösungswege auf, die sich auch dem Gesetzgeber bei besserer Kenntnis der religiösen Anschauungen hätten eröffnen können. Die Juristen Rolf Dietrich Herzberg, Holm Putzke und Jörg Scheinfeld sehen in ihren profunden Analysen durch die jetzige Regelung übereinstimmend elementare Grundrechte auf körperliche Unversehrtheit, Selbstbestimmung, Religionsfreiheit des Kindes und den Gleichheitsgrundsatz verletzt. Rolf Dietrich Herzberg greift in seinem umfassenden Beitrag aus kulturgeschichtlich fundierter juristischer Sicht den derzeit aufgrund des neuen Beschneidungserlaubnisgesetzes bestehenden rechtssystematischen Bruch auf und beleuchtet ihn kritisch. Er fokussiert zunächst auf den strategischen Charakter dieses Gesetzes. Der Gesetzgeber hebt nach seiner Ansicht nur auf das Ziel, aber nicht auf das Trauma der Beschneidung ab. Die zugrunde liegenden Motive der Eltern belasse das Gesetz im Ungefähren. Er kritisiert die Verleugnung der Analogien zwischen der nicht medizinisch begründeten Genitalverletzung von Jungen und Mädchen und stellt die unkritische Bevorrechtigung religiös begründeter elterlicher Maßnahmen generell infrage. Er erinnert daran, dass die Freiheit der Religionsausübung durch zahlreiche staatsbürgerliche Rechtspflichten eingeschränkt wird, und kritisiert in seinem engagierten Beitrag, dass das jahrzehntelange Wegsehen der Justiz angesichts der medizinisch nicht indizierten Jungenbeschneidung vor dem Kölner Urteil jetzt auch noch durch das Wegsehen des Gesetzgebers verschlimmert wurde. Holm Putzke ist der Strafrechtler, dessen Vorarbeiten zur strafrechtlichen Bewertung der rituellen Vorhautbeschneidung das Kölner Urteil schon seit 2008 entscheidend vorbereitet hatten. Er schildert die Entwicklung des zunehmenden Unrechtsbewussteins innerhalb der Justiz bezogen auf diese in Deutschland

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Einführung

jahrzehntelang praktizierte und geräuschlos hingenommene Körperverletzung von Jungen. Aus dieser Sicht reflektiert das Kölner Urteil eine gesamtgesellschaftliche Tendenz, die Gewalt gegen Kinder in jeglicher Form nicht mehr stillschweigend hinnehmen möchte. Der Autor schildert diese Entwicklungslinien und analysiert das Kölner Urteil sowie seine unmittelbaren politischen, gesellschaftlichen und rechtlichen Auswirkungen. Dabei gibt er als Insider auch Einblicke in die medialen und persönlichen Diffamierungen, denen er selbst – wie viele andere Kritikerinnen und Kritiker der rituellen Beschneidung – ausgesetzt war und ist. Aus juristischer Sicht wirft er mit exzellenter argumentativer Klarheit, auch für Nichtjuristen nachvollziehbar, einen äußerst kritischen Blick auf das politische Rechtsprodukt, den neu geschaffenen § 1631d BGB. Er beurteilt diesen unter dem Einfluss einer konzertierten religiösen Drohkulisse entstandenen Gesetzestext als perfekt misslungen und sieht in ihm einen verfassungswidrigen Fremdkörper in unserer Rechtsordnung. Jörg Scheinfeld setzt sich aus verfassungsrechtlicher Sicht damit auseinander, ob der nun zur normativen Regulierung der nicht medizinisch indizierten Knabenbeschneidung gültige § 1631d BGB Bestand haben kann. Der Beitrag bewertet daher die gesetzliche Erlaubnis der Knabenbeschneidung am Maßstab des Grundgesetzes. Für die rechtsethische Sicht des Autors spielen die im öffentlichen Diskurs immer wieder aus taktischen Gründen erfolgenden Spekulationen über die Motive der jeweiligen Protagonisten keine Rolle. Zentral für seinen Beitrag ist die verfassungsrechtliche Gleichstellung des Schutzes kindlicher Genitalien unabhängig vom Geschlecht des Kindes. Die Behauptung, die rituelle Verletzung kindlicher weiblicher Genitalien sei in jedem Fall unvergleichbar mit der von männlichen Genitalien und werde daher zu Recht strafrechtlich verfolgt, wohingegen die Verletzung der Genitalien von Jungen straffrei zu bleiben habe, hält einer objektiven und differenzierenden Betrachtung nicht stand, wie der Autor ausführt. In seinem präzisen Beitrag zeigt der Autor eine Vielzahl rechtsethischer und rechtslogischer Brüche und Widersprüche in der Argumentation von Beschneidungsbefürwortern wie auch im derzeit gültigen § 1631d BGB auf. Abschließend deckt er mögliche Rechtswege in Richtung einer Beurteilung dieses Paragrafen durch das Deutsche Bundesverfassungsgericht auf. Irmingard Schewe-Gerigk setzt sich als Vorsitzende von Terre des Femmes e. V. für die Rechte von Mädchen und Frauen und in ihrem Beitrag gegen die rituelle Verletzung und Beschneidung der Genitalien weiblicher wie auch männlicher Kinder ein. Sie befürchtet im Zusammenhang mit der nun ausdrücklich erlaubten rituellen Jungenbeschneidung einen zivilisatorischen Rückfall auch im Bereich der Kinderrechte von Mädchen und beklagt die (Gefühls-)Blindheit der politischen Entscheidungsträger, die einen strukturell kinderfeindli-

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Matthias Franz

chen Gesetzesentwurf ohne vertiefte Diskussion und unverändert im Schnellverfahren passieren ließen. Wie sie erhob auch Marlene Rupprecht (MdB) als eine der ganz wenigen Politikerinnen ihre Stimme im Bundestag als entschiedene Kinderschützerin und mutige Gegnerin der Jungenbeschneidung. Sie kritisiert in diesem Buch die Wahrnehmungsparalyse und den unter hohem Druck herbeigeführten forcierten Konsens der Politik. Ihr Beitrag zeichnet den parlamentarischen Prozess der Entstehung des Beschneidungsgesetzes in seiner Widersprüchlichkeit und in seinen negativen Konsequenzen für den Kinderschutz aus Sicht einer Insiderin nach. Gerade auch ihr als Frau gebührt für ihren Einsatz für die körperliche Unversehrtheit kleiner Jungen besondere Hochachtung und Dank. Dieser Mut hätte sicher auch männlichen Politikern gut zu Gesicht gestanden. Alle Autorinnen und Autoren engagieren sich in den Beiträgen dieses Buchs dafür, den Kinderschutzgedanken und auch die Bedürfnisse der betroffenen Jungen weitergehend zu berücksichtigen, als das bisher geschieht. Sie werben dafür, sich in dieser Angelegenheit eindeutig und ohne Wenn und Aber an die Seite des Kindes zu stellen, die Debatte auf wissenschaftlicher und menschenrechtlicher Grundlage zu führen und Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie, der Hirn- und Präventionsforschung stärker im Sinne des Kinderschutzes zu berücksichtigen. Die religiös verbrämte genitale Diskriminierung von Jungen muss benannt und samt der momentanen Rechtspraxis infrage gestellt werden. Dazu hat mittlerweile mit seinem Urteil vom 30. 08. 2013 das Oberlandesgericht Hamm beigetragen. Es untersagte einer aus Kenia stammenden Mutter die von ihr aus kulturellen Gründen beabsichtigte Beschneidung ihres sechsjährigen Sohnes. Das kritische Bewusstsein für die Notwendigkeit dieser Entwicklung scheint in Europa zu wachsen. Am 01. 10. 2013 hat sich der Europarat auf Initiative von Marlene Rupprecht mit großer Mehrheit für den strikten Schutz der körperlichen Integrität aller Kinder einschließlich der medizinisch nicht indizierten Verletzung ihrer Genitalien ausgesprochen und die Mitgliedstaaten dazu aufgefordert entsprechende Maßnahmen zur Bewusstseinsbildung in Richtung der Kinderrechte zu ergreifen. Dem ist am 10. 10. 2013 umgehend die »Nordic Association of Clinical Sexology« mit sämtlichen sechs Mitgliedsorganisationen2 gefolgt. In ihrer Stellungnahme wird die nichtmedizinische Genitalbeschneidung kleiner Jungen in wünschenswerter Eindeutigkeit verurteilt und abgelehnt. 2

Finnish Association for Sexology, Norwegian Society for Clinical Sexology, Danish Association for Clinical Sexology, Swedish Association for Sexology, Icelandic Sexology Association, Estonian Academic Society of Sexology.

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Einführung

Wir benötigen nun auch in Deutschland für weitere gesellschaftliche Fortschritte in diesem schmerzlichen Problemfeld eine mitfühlende Haltung dem Kind gegenüber, eine Kultur der Empathie auch im politischen Diskurs – und auch kleinen Jungen gegenüber. Hierzu beizutragen ist der Zweck und das Ziel dieses Buchs. Abschließend danke ich als Herausgeber allen Autorinnen und Autoren für die Bereitschaft, sich mit ihrer persönlichen Expertise an diesem Buch zu beteiligen. Diese Zusammenarbeit hat Früchte getragen, die die Anstrengungen und das gemeinsame Ertragen von missbilligenden und diffamierenden Vorwürfen wert waren. Auch der Witwe von Adriaan de Klerk, Frau de Klerk-Roscam Abbing, danke ich für die Erlaubnis, den Beitrag ihres verstorbenen Mannes hier wiederabdrucken zu dürfen. Dieter Becker als Übersetzer dieses Textes aus dem Niederländischen gebührt hier ebenfalls Dank für seine Vermittlung. Für die Möglichkeit, dieses hochumstrittene Thema und den ungelösten Konflikt um die Jungenbeschneidung in so breit angelegter Weise zur Darstellung bringen zu können, danke ich als Herausgeber dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. Besonders danke ich Herrn Presting für seine von Anfang an entschlossene, sensible und ermutigende Förderung dieses Unternehmens. Für die große Unterstützung bei der Organisation und Begleitung während der Entstehung dieses Buchs danke ich Dirk Rampoldt. Mein größter Dank und mein tiefes Mitgefühl gilt den betroffenen Beschneidungsopfern, die mir als Arzt und Psychoanalytiker das Vertrauen schenkten, an ihrem Leid teilnehmen und auch darüber reden zu dürfen. Literatur Merkel, R. (2012). Beschneidung – Minima Moralia. Zugriff am 03. 07. 2013 unter http://www.faz. net/aktuell/politik/die-gegenwart/beschneidung-minima-moralia-11971687.html Wolffsohn, M. (2012). Nicht die Beschneidung macht den Juden. Die Welt vom 28. 08. 2012. Zugriff am 01. 09. 2013 unter http://www.welt.de/debatte/article108845278/Nicht-die-Beschneidungmacht-den-Juden.html

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Josef Tutsch

Heilige Körperverletzungen Die Beschneidung im Kreis der Geburts- und Pubertätsriten der Völker, Kulturen und Religionen

Von Sparta nach Melanesien Die Spartaner, so berichten uns die antiken Schriftsteller, ließen ihre heranwachsenden Söhne vor dem Altar der Göttin Artemis Orthia bis aufs Blut geißeln. Um 100 n. Chr. beteuerte Plutarch (1964, Lykurg 18), er habe mit eigenen Augen gesehen, wie manche der Jünglinge unter den Hieben ihren Geist aufgaben. Da liegt für moderne Leser die Frage nahe, ob die alten Spartaner ihre Kinder etwa nicht geliebt haben. Der französische Althistoriker Henri Irénée Marrou (1957, S. 65) nannte die spartanische Staatsmoral mit dem Mut zu einem ganz und gar unhistorischen Urteil »totalitär«; umgangssprachlich kommen uns Ausdrücke wie »Sadismus« in den Sinn. Anscheinend wussten bereits manche Intellektuelle der Antike nicht so recht, was sie von dem Schauspiel halten sollten, und retteten sich in die Erklärung, es sei eben ein Relikt aus uralter Zeit. So meinte Plutarch (1964, Aristides 17), mit der Zeremonie werde an eine Episode aus den Perserkriegen erinnert; im späten 2. Jahrhundert führte sie der Reiseschriftsteller Pausanias (1972, III, 16, 10–11) auf einen Orakelspruch zurück: Der Altar solle mit menschlichem Blut besprengt werden. Schaut man auf die Rituale, mit denen Völker, Kulturen und Religionen seit Urzeiten den Eintritt der männlichen Pubertät begangen haben (Leeuw, 1956, S. 213 f.; Schröder, 1988, S. 52), steht die Geißelung am Altar der spartanischen Göttin keineswegs isoliert da. Oft ließen die Eltern den Knaben Verletzungen beibringen, die ein Leben lang bleiben mussten: Ohren, Nase und Lippen wurden durchbohrt, die Schneidezähne ausgeschlagen, von Tätowierungen und Brandmarkungen aller Art nicht zu reden. Ein besonders drastischer Fall: Beim Indianerstamm der Mandan am Missouri wurde den Jünglingen mit einem Beil der kleine Finger der linken Hand abgehauen. Am häufigsten kommen Operationen am männlichen Geschlechtsteil vor. Das Abtrennen der Vorhaut ist da noch eine relativ »milde« Form. Auf man-

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chen Inseln im Pazifik und bei Ureinwohnern Australiens wurde den jungen Männern die Harnröhre gespalten; bei einigen Stämmen Indonesiens wurden Metall- oder Bambusstücke in den Penis eingesetzt. In vielen Gegenden Ost- und Südafrikas, auch in Teilen Australiens und Ozeaniens war sogar die Entfernung eines Hodens gebräuchlich. Andererseits – in Indonesien und auf Pazifikinseln – gab es auch den Brauch, »nur« das Vorhautbändchen durchzutrennen. Varianten eines Pubertätsrituals, wie es bei vielen Völkern der Alten Welt praktiziert wurde. Wahrscheinlich steht ein solches Ritual auch im Hintergrund mancher Nachrichten, die sonst rätselhaft erscheinen. So könnten mit den »Feiglingen« oder »Weichlingen«, die dem römischen Historiker Tacitus (1964, Germania 12) zufolge von den Germanen im Moor versenkt wurden, unter anderem Jünglinge gemeint sein, die bei einer solchen Probe versagten oder sich ihr zu entziehen versuchten. Im Einzelfall ist schwer zu sagen, inwieweit es sich um religiöse oder »bloß« um kulturelle Gebräuche handelt. »Religion ist erlebnishafte Begegnung mit dem Heiligen und antwortendes Handeln des vom Heiligen bestimmten Menschen«, hat der Religionswissenschaftler Gustav Mensching (1962, S. 15) definiert. Aber es gibt keinen Lackmustest, um dieses »Heilige« wissenschaftlich exakt festzustellen. So ist es mehr ein glücklicher Umstand, dass unsere Gesellschaft sich bei den meisten dieser Rituale nicht mit der Frage konfrontiert sieht, ob sie womöglich durch die Religionsfreiheit gedeckt sein könnten. Denn die allermeisten dieser Rituale sind inzwischen ausgestorben. Nicht so die Beschneidung der männlichen Vorhaut. Vor allem bei vielen Völkern im Alten Orient sowie in Afrika und in Ozeanien war – und ist – sie üblich. Dieser Brauch hat sich, anders als etwa die Geißelung der Jünglinge am Altar der Artemis Orthia, auch in die Weltreligionen hinübergerettet. Man schätzt, dass heute ein Viertel bis ein Drittel der männlichen Bevölkerung auf der Welt beschnitten ist, die große Mehrzahl davon Muslime. Die Beschneidung gehört, obwohl sie im Koran nicht ausdrücklich vorgeschrieben wird, zur Frömmigkeit im Islam und folgt unmittelbar aus der Weisung des Propheten Mohammed, dem Weg des Patriarchen Abraham zu folgen. Und noch in einer zweiten Weltreligion, im Judentum, ist die Beschneidung Pflicht; hier steht in der Heiligen Schrift sogar ein ausdrücklicher Befehl Gottes an den Patriarchen Abraham: »Alles, was männlich ist unter euch, muss beschnitten werden« (Gen 17,10). Im Judentum ist die Beschneidung jedoch kein Pubertätsritus, sie hat also auch nicht den Charakter einer Schmerz- oder Mutprobe für die Heranwachsenden, sondern wird bereits am achten Tag nach der Geburt vorgenommen – ein Geburtsritus also.

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Josef Tutsch

»Der Herr sprach zu Abraham« Warum wurde gerade die männliche Vorhaut zum Objekt solcher blutigen Riten? Die Ursprünge des Brauchs verlieren sich im Dunkel der Frühgeschichte. Die Bibel beschreibt die Beschneidung als Stiftungssiegel des auserwählten Volkes Israel. »Als Abraham neunundneunzig Jahre alt war, erschien ihm der Herr und sprach zu ihm: Ich bin Gott, der Allmächtige. Geh deinen Weg vor mir und sei rechtschaffen! Ich will einen Bund stiften zwischen mir und dir und dich sehr zahlreich machen […]. Alles, was männlich ist unter euch, muss beschnitten werden. Am Fleisch eurer Vorhaut müsst ihr euch beschneiden lassen. Das soll geschehen zum Zeichen des Bundes zwischen mir und euch. Alle männlichen Kinder bei euch müssen, sobald sie acht Tage alt sind, beschnitten werden in jeder eurer Generationen, seien sie im Haus geboren oder um Geld von irgendeinem Fremden erworben, der nicht von dir abstammt […]. Ein Unbeschnittener, eine männliche Person, die am Fleisch ihrer Vorhaut nicht beschnitten ist, soll aus ihrem Stammesverband ausgemerzt werden. Er hat meinen Bund gebrochen« (Gen 17,2–14). Sollte Abraham eine historische Gestalt sein, dürfte er um 1600 oder 1800 v. Chr. gelebt haben. Ob die Beschneidung bei den Israeliten – und zwar als Beschneidung bereits der Neugeborenen – tatsächlich so weit zurückreicht, ist zweifelhaft. Vielleicht wurde sie erst in der Zeit des Babylonischen Exils, also im 6. Jahrhundert v. Chr., zum verbindlichen Zeichen dieses »Bundes« und der Abgrenzung von anderen Völkern – bei den Babyloniern war die Beschneidung unüblich. So meint zum Beispiel der Alttestamentler Gerhard von Rad (1966, S. 97), erst in dieser Zeit seien die Beschneidung und die Einhaltung des Sabbats als »Zeichen des Bundes« verstanden worden, »deren Aufrichtung über die Zugehörigkeit zu Jahwe und seinem Volke entschied«. Ähnlich der Alttestamentler Otto Kaiser: »Ihre eigentliche theologische Bedeutung erhielt die Beschneidung erst während der Exilszeit, als ein großer Teil der geistig führenden Schicht Judas in Babylonien wohnte, wo man die Beschneidung nicht kannte« (1959, S. 146). In Ägypten dagegen wurde die Beschneidung, wie ein Bild1 in einer Grabkammer in Sakkara belegt (um 2300 oder 2400 v. Chr.), bereits lange vor Abraham praktiziert. Dort sind es jedoch nicht Neugeborene, die beschnitten werden, sondern Heranwachsende – ähnlich wie heute noch im Islam und bei vielen Völkern Afrikas. Ob es sich um Sklaven handelt, denen ihr untergeordneter Status aufgeprägt werden sollte, ist zweifelhaft; wahrscheinlicher dürfte sein, dass die Beschneidung eine weit verbreitete Sitte war. 1

Vgl. Abbildung 1 im Beitrag von F. H. Moll in diesem Buch.

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Wie auch manche Bibelstellen ausweisen, lebten im syrisch-palästinensischen Raum Völker, von denen die Beschneidung durchgeführt wurde, eng neben anderen, denen diese Sitte fremd war. Im 1. Buch Samuel verlangt König Saul von David als Brautpreis für seine Tochter hundert Vorhäute von getöteten Philistern (1 Sam 18,25–272). Der König hofft, dass sein Rivale bei dem Unternehmen umkommt; aber der bringt ihm – das typische Motiv einer Heldensage – dann gleich die doppelte Menge. Im 1. Buch Mose vereinbaren Jakobs Söhne mit einem Hewiter-Stamm als Ausgleich für die Vergewaltigung ihrer Schwester eine Heirat und zuvor, zum Zeichen der Vereinigung beider Stämme, die Beschneidung der Hewiter (Gen 34,1–31). Als die »Bekehrten« mit Wundfieber darniederliegen, nehmen zwei der Brüder die Gelegenheit wahr, alle männlichen Bewohner der Stadt zu erschlagen. Offenkundig wurde die Beschneidung zu der Zeit, als diese Geschichten entstanden, von den Israeliten selbst als das konstitutive Zeichen ihres Volkes empfunden. Die griechischen und römischen Historiker sahen es ebenso; aber zugleich wussten sie, dass auch andere Völker der Region die Beschneidung praktizierten. Um 430 v. Chr. behauptete der griechische Geschichtsschreiber Herodot (1961, II, 104), von allen Menschen hätten einzig »Kolcher, Äthiopier und Ägypter« sich »von jeher« beschneiden lassen, »die Phöniker und die Syrer in Palästina« gäben selbst zu, es von ihnen gelernt zu haben. Mit den »Syrern in Palästina« meinte Herodot vermutlich die Juden. Die Aussage über das »Lernen« muss nichts besagen; aber insoweit traf Herodot zweifellos das Richtige: »Erfunden« wurde die Beschneidung von den Israeliten jedenfalls nicht. Dieser Umstand, dass die Beschneidung keineswegs eine exklusive Sitte der Juden war, wie man bei der Lektüre der Abraham-Geschichte vielleicht glauben könnte (und wie es offensichtlich von manchen Lesern auch heute noch geglaubt wird), diente dem neuplatonischen Philosophen Kelsos im 2. Jahrhundert n. Chr. dazu, den Anspruch des auserwählten Volkes auf ein besonderes Verhältnis zu Gott grundsätzlich infrage zu stellen (zit. nach Schäfer, 2010, S. 70 f.). Aber von irgendeinem Zeitpunkt an muss sich das Volk Israel in einem Punkt tatsächlich von seinen Nachbarn abgesetzt haben: Der göttliche Befehl in jenem Kapitel des Genesis-Buchs gilt den Neugeborenen des Volkes Israel (und auch jenen aus dem »Gesinde«); bei anderen Völkern wurden erst die Heranwachsenden beschnitten. Oder, vorsichtiger gesagt: Es gibt keine Belege, dass andere Völker der Region bereits ihre Neugeborenen beschnitten hätten. Da hilft auch 2

Die Bibelzitate folgen, soweit nicht anders angegeben, der Einheitsübersetzung, wie sie im Internet unter http://www.bibleserver.com/start/EU zu finden ist.

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eine Stelle bei dem Geographen Strabon, um Christi Geburt, nicht weiter: Die Ägypter würden »alle geborenen Kinder beschneiden« (zit. nach Schäfer, 2010, S. 141). Das Wort »Kinder« dürfte den Nachwuchs ganz allgemein bezeichnen; Strabon nennt keinen Zeitpunkt für die Operation. Offenbar wurde im Volk Israel der bei vielen Völkern übliche Pubertätsritus irgendwann in einen Geburtsritus verwandelt: »Alle männlichen Kinder bei euch müssen, sobald sie acht Tage alt sind, beschnitten werden« (Gen 17,12). Eine Stelle im Buch Josua legt die Vermutung nahe, dass diese Praxis nicht immer so geübt wurde: Dort wird gefordert, alle Israeliten zu beschneiden »wie früher« (Jos 5,2). Ob es diese Vergangenheit, die da beschworen wird, wirklich gegeben hat, ist offen. Noch eine Stelle, die in diese Richtung deuten könnte: »Ein Unbeschnittener, eine männliche Person, die am Fleisch ihrer Vorhaut nicht beschnitten ist, soll aus ihrem Stammesverband ausgemerzt werden. Er hat meinen Bund gebrochen« (Gen 17,14). Der Satz steht in jenem Befehl Gottes an Abraham, alle Neugeborenen zu beschneiden. Auf Neugeborene bezogen ist er sinnlos. Nicht so, wenn man ihn auf Heranwachsende bezieht. Ein Reflex dieser Entwicklung hin zum allgemein verpflichtenden Zeichen des Bundes mit Gott könnte in einer Passage der Moses-Geschichte erhalten geblieben sein. »Unterwegs am Rastplatz trat der Herr dem Mose entgegen und wollte ihn töten. Zippora ergriff einen Feuerstein und schnitt ihrem Sohn die Vorhaut ab. Damit berührte sie die Beine des Mose und sagte: Ein Blutbräutigam bist du mir. Da ließ der Herr von ihm ab. ›Blutbräutigam‹, sagte sie damals wegen der Beschneidung« (Ex 4,24–26). Ein Besänftigungs-, wenn nicht ein Täuschungsmanöver: Moses, der Ägypten frühzeitig verlassen hatte und dann unter Stämmen aufwuchs, denen die Beschneidungssitte fremd war, hatte seine Vorhaut noch; der Stammesgott drohte mit Rache. Zipporah nahm rasch die Beschneidung an ihrem kleinen Sohn vor und konnte die Bedrohung mit dessen Blut abwehren.3 Ganz ähnlich könnten die außenpolitischen Niederlagen, unter denen das Volk Israel immer wieder zu leiden hatte, als göttliche Strafe für den Ungehorsam des Volkes Israel gedeutet worden sein (vgl. Jes 10,5; Jer 2,18). Die Radikalisierung des uralten Pubertätsritus zur Beschneidung der Neugeborenen war dann vielleicht eine Reaktion auf den Verlust des eigenen Staates im Babylonischen Exil: In der Katastrophe konnte dieses Zeichen, das nunmehr die gesamte männliche Bevölkerung, auch die Kinder, umfasste, Identität stiften. 3

Eine andere, weiter gehende Interpretation dieser Geschichte referiert unter Bezug auf Franz Maciejewski in diesem Buch Matthias Franz. Hier wird die jüdische Transformation der Beschneidung in ein Geburtsritual mit der Überwindung des archaischen Opfers des Erstgeborenen »am achten Tage« in Verbindung gebracht.

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Zwiespältige Erinnerungen an die eigene Vorgeschichte Genug der Mutmaßungen über die Frühgeschichte des Judentums. Als sich um 35 n. Chr. die ersten Christen daran machten, die Botschaft von der Auferstehung des Gekreuzigten unter den »Heiden« zu predigen, musste das jüdische Ritualgesetz mit der Beschneidung und den vielen Speiseverboten ein Hindernis auf dem Weg zur Weltreligion darstellen. Oder eigentlich: hätte darstellen müssen. Denn offenbar wurde dieses Hindernis sehr schnell und entschieden, wenngleich nicht ohne Widerstand, beiseitegeschoben. Das geschah vielleicht sogar gegen den Willen Jesu. »Geht nicht zu den Heiden und betretet keine Stadt der Samariter«, ist im Matthäusevangelium als JesusWort überliefert, »sondern geht zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel« (Mt 10,5–6). Paulus nahm zum sogenannten Apostelkonzil in Jerusalem Ende der 40er Jahre des 1. Jahrhunderts einen neu bekehrten, unbeschnittenen Griechen mit. Viele in der Jerusalemer Urgemeinde empfanden das als Provokation und verlangten ultimativ, ihn zu beschneiden. Aber Paulus gab nicht nach (Gal 2,1–5). Es war eben unmöglich, den neu bekehrten Heidenchristen die Beschneidung aufzuerlegen. An deren Stelle trat, nach dem Vorbild jüdischer Reinigungsbräuche, die Taufe. Anscheinend wurde damals auch nicht allen »Heiden«, die sich dem Judentum zuwenden wollten, die Beschneidung abverlangt. Es muss verschiedene Stufen oder Formen des Proselytentums gegeben haben; man konnte sich auch mit einer rituellen Reinigung begnügen (Bornkamm, 1969, 33–34). Heute sind die meisten jüdischen Gemeinden, wenn sie Bekehrte aufnehmen, rigoroser. Orthodoxe Gemeinden verlangen sogar von Männern oder Jungen, die bereits aus weltlichen, etwa medizinischen Gründen, beschnitten sind und dann zum Judentum übertreten wollen, eine neue, nunmehr symbolische Beschneidung, bei der jedoch zumindest ein Tropfen Blut fließen muss. Die urchristliche Mission ging einen Schritt weiter. Bereits in den 50er Jahren des 1. Jahrhunderts wies der Apostel Paulus, selbst ein beschnittener Jude, den Gedanken ab, jene bekehrten Heiden, die sich hatten taufen, aber nicht beschneiden lassen, könnten irgendwie Christen zweiten Ranges sein: »In Christus Jesus kommt es nicht darauf an, beschnitten oder unbeschnitten zu sein, sondern darauf, den Glauben zu haben, der in der Liebe wirksam ist« (Gal 5,6). Die Beschneidung in Christus sei »nicht mit Händen vorgenommen«, heißt es im Kolosserbrief, der vielleicht nicht von Paulus geschrieben wurde, aber jedenfalls in der Tradition seiner Theologie steht: »Wer sie empfängt, sagt sich los von seinem vergänglichen Körper« (Kol 2,12). Dabei konnte sich Paulus auf Stellen im Alten Testament berufen, in denen der Beschneidungsritus geistig gedeutet wurde: »Ihr sollt die Vorhaut eures Her-

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zens beschneiden und nicht länger halsstarrig sein« (Dtn 10,16). Aber in beinahe schon aggressivem Tonfall riet Paulus den neuen Christen davon ab, sich durch die Beschneidung zugleich auch ins Judentum eingliedern zu lassen: »Wenn ihr euch beschneiden lasst, wird Christus euch nichts nützen […]. Wenn ihr also durch das Gesetz gerecht werden wollt, dann habt ihr mit Christus nichts mehr zu tun; ihr seid aus der Gnade herausgefallen« (Gal 5,2–4). In ihrer großen Mehrheit sind die christlichen Kirchen, die später entstanden, der Weisung des Paulus gefolgt. »Es ist nicht am Platze, Jesus Christus im Munde zu führen und nach dem Judentum zu leben«, schrieb Anfang des 2. Jahrhunderts der Bischof Ignatius von Antiochia an die Magnesier (zit. nach Landesmann, 2012, S. 102). Nur in der Koptischen Kirche Ägyptens und der Äthiopischen Kirche blieb der Ritus lebendig. Die Gepflogenheiten der altägyptischen Zivilisation waren wohl stärker als alle dogmatischen Überlegungen. Im übrigen Christentum geriet die Beschneidung ins Zwielicht: Sie wurde zum Inbegriff der jüdischen Vorgeschichte des Christentums und einer anderen, mehr und mehr als fremd, ja feindlich empfundenen Religion, eben des Judentums. Als Teil der eigenen Vorgeschichte war sie in gewisser Weise ehrwürdig. Jesus selbst war Jude gewesen, selbstverständlich war er beschnitten worden; daran erinnerte das Lukasevangelium: »Als acht Tage vorüber waren und das Kind beschnitten werden sollte, gab man ihm den Namen Jesus, den der Engel genannt hatte, noch ehe das Kind im Schoß seiner Mutter empfangen wurde« (Lk 2,21). Ein Fest und eine Reliquie Als um das Jahr 300 der Brauch aufkam, die Geburt Jesu am Festtag des heidnischen Sonnengottes, am 25. Dezember, zu feiern, fiel zwangsläufig auch das Gedenken an seine Beschneidung auf einen prominenten Termin: den 1. Januar, den Beginn des »bürgerlichen« Jahres im alten Rom. Durch die Kalenderreform des Dionysius Exiguus im 6. Jahrhundert wurde dieser Tag noch mehr hervorgehoben: Die neue Zeitrechnung nahm ihren Ausgang von jenem Tag, an dem Dionysius die Beschneidung Jesu angesetzt hatte. In der Ostkirche ist ein eigenes Fest der Beschneidung am 1. Januar seit dem 4., im westlichen Europa seit dem 6. Jahrhundert belegt (Bieritz, 1987, S. 194). Die christlichen Kirchen haben sich jedoch mit diesem Fest schwer getan. Das zeigen schon die vielen verschiedenen Bezeichnungen: »Beschneidung des Herrn«, »Namensfest Jesu«, »Hochfest der Gottesmutter Maria« usw. Der Grund des Unbehagens ist leicht zu sehen: Neben dem Christentum existierte weiterhin das Judentum, in dem die Beschneidungssitte nicht bloß Erinnerung war, sondern aktuell praktiziert wurde. Der Dogmatik zufolge hätte das Judentum

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aber doch durch Kreuzestod und Auferstehung Jesu Christi im Christentum aufgehoben sein müssen. Seit dem frühen Mittelalter erfuhr das Beschneidungsthema auch in der christlichen Kunst eine große Karriere. Auf den Altarbildern – berühmtes Beispiel: der Altar von Klosterneuburg bei Wien aus dem 12. Jahrhundert – wurde die Beschneidung Jesu, also sein Eintritt in die jüdische Religionsgemeinschaft, als ein wichtiger Akt der Heilsgeschichte dargestellt. In den folgenden Jahrhunderten widmeten sich große Maler wie Andrea Mantegna, Giovanni Bellini, Guido Reni und Orazio Gentileschi, Michael Pacher, Albrecht Dürer, Hans Holbein der Ältere und Rembrandt dem Thema. Eine Rehabilitation des jüdischen Brauches? Da sind Zweifel angebracht. Eher ist anzunehmen, dass die Beschneidung, bei der zum ersten Mal das Blut des Erlösers floss, als Vorspiel seiner Kreuzigung angesehen wurde. Auf manchen Bildern fällt vielleicht auf, dass die Zeugen der Beschneidung so angestrengt auf das nackte Jesuskind schauen: Sie begutachten die Beschneidung als ersten Akt der Passionsgeschichte.4 Vielleicht haben die Künstler und ihre Auftraggeber da sogar eine Parallele zu jener Szene im Johannesevangelium mitgedacht, in der einer der Soldaten Jesus in die Seite sticht, um seinen Tod festzustellen. Das Johannesevangelium kommentiert das Geschehen mit einem Vers aus dem Propheten Sacharja: »Sie werden auf den blicken, den sie durchbohrt haben« (Joh 19,37). Das Beschneidungsmesser wurde in den Kreis der Leidenswerkzeuge Jesu aufgenommen, neben der Dornenkrone und den Kreuzesnägeln, der Vorgang selbst – vermischt mit der Darbringung Jesu im Tempel – als erste Station in der Reihe der Sieben Schmerzen Mariens gezählt (Sachs, Badstübner u. Neumann, 1975, S. 59). Im Hintergrund dieser Bilder zum Thema »Beschneidung Jesu« stand der Reliquienkult, der mit den Kreuzzügen ins Heilige Land einen enormen Aufschwung nahm. Bereits 1112 wurde in Antwerpen eine »Heilige Vorhaut« gezeigt; am Ende des Mittelalters behauptete ein volles Dutzend Kirchen von Rom über Santiago de Compostela bis Hildesheim, im Besitz dieser Reliquie vom Leib Jesu zu sein. Reliquien von Jesus selbst hatten selbstverständlich einen höheren Rang als solche der Heiligen; aber da Jesus leibhaftig zum Himmel aufgefahren war, kam nur infrage, was zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu seinem Leib gehörte – also vor allem die Vorhaut. Das letzte dieser miteinander konkurrierenden Stücke wurde noch im späten 20. Jahrhundert in dem Ort Calcata in Latium regelmäßig bei Prozessionen öffentlich gezeigt (Ziehr, 2009). Angeblich war es ein Geschenk Karls des Gro4

Vgl. auch Abbildung 2 im Beitrag von F. H. Moll in diesem Buch.

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ßen an Papst Leo III. anlässlich der Kaiserkrönung im Jahr 800; Karl soll es von Kaiserin Irene von Byzanz oder direkt von einem Engel erhalten haben. 1527 wurde es beim Sacco di Roma von einem deutschen Söldner gestohlen, später dann jedoch in Calcata wiedergefunden. 1983 verschwand die Reliquie spurlos. Offiziell vom Heiligen Stuhl anerkannt wurde sie übrigens niemals. Dieser kleine Streifzug durch die christliche Erinnerungsgeschichte an einen vor- und außerchristlichen Brauch wäre jedoch unvollständig ohne einen Blick auf die Poesie. Im 17. Jahrhundert erfand Leo Allatius, Kurator der vatikanischen Bibliothek, eine Sternsage nach Art der griechischen Mythologie: Die heilige Vorhaut sei ebenso wie Christus selbst zum Himmel aufgestiegen, aber nicht zu Gott dem Vater, sondern zum Sternenhimmel – sie habe sich dort in die Saturnringe verwandelt (Foote u. Wheeler, 1887). Allatius war astronomisch auf der Höhe seiner Zeit. Kurz zuvor hatte der Astronom Christiaan Huygens das von Galileo Galilei entdeckte Himmelsphänomen erstmals als Ring beschrieben. »Folget dem Weg Ibrahims« Zurück zu jenem Teil der Religionswelt, in dem die Beschneidung noch heute lebendige Wirklichkeit ist. Bei den etwa 1 Milliarde Männern und Jungen auf der Welt, die beschnitten sind, handelt es sich in der Mehrzahl um Muslime. Dass die Beschneidung im Koran nicht ausdrücklich als göttliches Gebot aufgeführt wird, hat zu dem Missverständnis Anlass gegeben, sie sei im Islam weniger wichtig als im Judentum, wäre womöglich den fünf »Säulen« islamischer Frömmigkeit – Bekenntnis zu Allah, rituellem Gebet, Almosensteuer, Fasten und Pilgerfahrt nach Mekka – nachgeordnet. Aber die Beschneidung geht unmittelbar aus dem obersten Grundsatz von Mohammeds Offenbarung hervor: dem Weg Ibrahims (oder Abrahams) zu folgen (Koran, Sure 3, Vers 95). Bezieht man neben dem Koran die Sunna, die Überlieferung von den Worten des Propheten, mit ein, ist das Gebot erst recht eindeutig: Die Beschneidung gehört zwingend zur rituellen Reinheit der Männer und Jungen. Mohammed selbst wurde alter Überlieferung zufolge auf wunderbare Weise ohne Vorhaut geboren; sich beschneiden zu lassen, bedeutet daher: dem Vorbild des Propheten zu folgen. An dem biblischen Gebot nahm Mohammed jedoch eine entscheidende Veränderung vor: Er verwandelte den Geburtsritus in eine Beschneidung der Heranwachsenden. Oder vielmehr: Er verwandelte ihn wieder zurück, indem er den göttlichen Befehl an Abraham mit einer altarabischen Sitte verband. Damit hat die Beschneidung im Islam, die den Heranwachsenden »reinigen« soll, natürlich auch den Charakter einer initiierenden Schmerz- und Mutprobe.

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Der Zeitpunkt ist nicht genau festgelegt, jedenfalls vor Eintritt der Pubertät, also vielleicht mit zehn oder zwölf. Heute wird die Beschneidung gerade in Familien, die im Westen leben, zumeist noch weiter vorgezogen, oft auf ein Alter von acht oder schon sechs Jahren. Der Grund lässt sich vermuten: Je älter der Junge wird, desto öfter wird er sich mit Altersgenossen, auch mit Nichtmuslimen, zu dieser Frage austauschen – und desto größer wird die »Gefahr«, dass er Nein sagen will und die Familie vor den Verwandten blamiert. Es scheint keine Studie zu der Frage zu geben, wie muslimische Familien mit einer solchen Situation umgehen – wenn es wirklich einmal dazu kommen sollte, dass ein Knabe in diesen Jahren es wagt, aus der Tradition ausbrechen zu wollen. Von Berichten der Art »mein Sohn freut sich auf seine Beschneidung« waren die Zeitungen letztes Jahr dagegen voll (Esser, 2012). In muslimisch geprägten Ländern würde andernfalls vermutlich die gesamte Familie unter Apostasieverdacht geraten und bedrohliche Konsequenzen riskieren. Von der Namensgebung zum Tattoo Die Beschneidung als Pubertätsritus im Islam, als Geburtsritus im Judentum – blickt man auf das Ganze der Religionsgeschichte bei den Völkern der Alten Welt, ist die islamische Sitte nahezu der Normalfall, die jüdische dagegen eine rare Ausnahme. Repräsentativ für Bräuche zur Geburt scheint eher eine Übung zu sein, wie sie von den Herero-Rinderhirten im südlichen Afrika berichtet wird: Im Alter von etwa einem Monat wurden die Neugeborenen zu einer Höhle gebracht. Am Eingang wurde die Stirn des Kindes mit der eines männlichen Kalbes in Berührung gebracht; man gab ihm zwei Namen, einen für den Alltagsgebrauch und einen sakralen. Dann wurde das Kind in die Höhle hineingehalten und den Ahnen formell als einer ihrer Nachkommen vorgestellt (Vivelo, 1981, S. 167). Die Parallele des Herero-Brauchs zur jüdischen Beschneidung ist unübersehbar: Auch im Judentum erhält das Neugeborene bei dieser Zeremonie seinen Namen. Voraussetzung für die Zugehörigkeit zum Judentum ist die Brit Mila, die Beschneidung, jedoch nicht; die gilt mit der Abstammung von einer jüdischen Mutter automatisch als gegeben. Aber sie bestätigt den Bund mit Gott – lange, bevor das Kind selbst dazu Ja oder Nein sagen kann. Das ist bei der Beschneidung nicht anders als bei der christlichen Taufe, nur dass bei der Taufe kein Blut, sondern nur Wasser fließt und nichts geschieht, was sich als »Körperverletzung« qualifizieren ließe. Die Operation wird in der orthodoxen Variante als Meziza seit jeher von einem eigens ausgebildeten Beschneider, dem Mohel, durchgeführt. Zunächst wird die Vorhaut mit einem Messer abgetrennt, in der Regel dann auch noch

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das innere Vorhautblatt abgetragen; der Mohel saugt mit einem Glasröhrchen oder direkt mit dem Mund das Blut aus der Wunde und beträufelt sie schließlich zur Reinigung mit Wein (Trepp, 1970). Das Absaugen direkt mit dem Mund wird allerdings nur noch in streng orthodoxen Gemeinden praktiziert. Der New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg erregte in den letzten Jahren Aufsehen, indem er versuchte, diese Vorgehensweise wegen der Gefahr einer Infektion des Neugeborenen mit Herpesviren – und daraus folgender Gehirnschäden und Todesfälle – zurückzudrängen (Moll, 2012), wohl mit begrenztem Erfolg. Verpflichtend geblieben ist das Abtrennen der Vorhaut, das wegen der bei Neugeborenen in aller Regel gegebenen Verklebung mit der Eichel oft wohl auf ein Abreißen hinausläuft. Umstritten ist, inwieweit das Kind dabei betäubt werden darf: Ein Tropfen Wein lautet die gängige Regelung. Eine örtliche Betäubung komme nicht infrage, hat der frühere Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, betont: »Den Bund mit Gott muss man sozusagen bei vollem Bewusstsein vollziehen« (Spiegel, 2003, S. 40). Also auch bei voller Schmerzempfindlichkeit. Wenn das Kind krank oder schwächlich ist, kann die Beschneidung verschoben, muss jedoch – und in dieser Bestimmung wirkt wohl der alte Pubertätsritus nach – spätestens im 13. Lebensjahr nachgeholt werden. Statt in der Synagoge darf die Beschneidung auch zu Hause oder in einer Klinik durchgeführt werden – vorausgesetzt, dass der Arzt die Qualifikationen eines jüdischen Beschneiders vorweisen kann und sich, so der Zentralrat der Juden in Deutschland, der Tatsache bewusst ist, »eine kultische Handlung auszuführen« (Zentralrat der Juden in Deutschland, 2005). Es ist allemal eine große Feier im Kreis der Verwandten und der Freunde. Auch das ist bei der jüdischen Beschneidung nicht anders als bei der christlichen Taufe der Neugeborenen und bei der muslimischen Beschneidung der Heranwachsenden. Aber im Islam begründet das Alter des Kindes einen ganz wesentlichen Unterschied zum Judentum: Der Knabe gestaltet den Ablauf aktiv mit, gleich ob er den Eingriff stolz und mannhaft erträgt oder – zum Spott der Gäste und zum Entsetzen der Familie – in Jammern ausbricht. In der Regel versucht die Familie dem heute durch eine örtliche Betäubung vorzubeugen. Manche muslimischen Eltern wollen ihren Kindern die schmerzhafte und oft wohl auch als beschämend empfundene Prozedur ersparen und lassen die Beschneidung in der Klinik vornehmen, dann auch unter Vollnarkose; aber natürlich beraubt das die Verwandtschaft eines spektakulären Festes. Dass das Gespräch bei der Feier von allerlei Reden über männliche Sexualität und über die Rolle des Mannes in der Gesellschaft ganz allgemein bestimmt wird, versteht sich von selbst.

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Im Judentum steht an der Stelle dieses muslimischen Pubertätsritus eine unblutige Initiation, die Bar Mitzwa, die bei den 13-Jährigen den Übergang zur religiösen Mündigkeit signalisiert. Ähnlich werden in den christlichen Kirchen unblutige Pubertätsriten praktiziert: die protestantische Konfirmation und im Katholizismus die Firmung, der bereits einige Jahre zuvor die Kommunion vorangeht. Allerdings ist die Beteiligung an den christlichen Sakramenten, die früher den Lebenslauf von der Taufe über Kommunion und Konfirmation bis zur Hochzeit markierten (und dann weiter bis zu Tod und Grab), in vielen europäischen Ländern in den letzten Jahrzehnten drastisch zurückgegangen. Eine allgemeine Ritualmüdigkeit? Das Judentum und vor allem der Islam zeigen sich da recht stabil. Und in säkularisierten, quasi nachchristlichen Bevölkerungsteilen haben sich immer wieder Ersatzformen herausgebildet. So wurde für freireligiöse Kreise und Teile der Arbeiterbewegung bereits im 19. Jahrhundert statt der Firmung und der Konfirmation die Jugendweihe eingeführt. Und immer wieder haben sich, vor allem in jugendlichen und studentischen Subkulturen, schmerzhafte, gar blutige Rituale durchgesetzt, die oft ein Zeichen fürs Leben setzen: Tattoos, Branding, Piercing usw. Offenbar ist das Bedürfnis nach solchen Körpermarken sehr hartnäckig, und sofern man ein Einverständnis – also auch die volle Einwilligungsfähigkeit aller Beteiligten – voraussetzen kann, muss da kein Problem liegen. Aber bei Minderjährigen? Die Frage stellt sich selbst bei dem scheinbar harmlosen und selbstverständlichen Brauch, kleinen Mädchen ein Loch für den Ohrring zu stechen. Und auch bei Erwachsenen kann der soziale Druck die Freiwilligkeit zur puren Fiktion machen. In Frankreich sahen Regierung und Parlament 1988 Anlass, die sogenannte »Bizutage« (= erniedrigende und traumatisierende Riten in Ausbildungs- oder Hochschulmilieus) ins Strafgesetzbuch aufzunehmen. Per aspera ad astra Den Terminus »rites de passage«, »Übergangsriten«, hat der französische Ethnologe Arnold van Gennep (1999) vor über hundert Jahren für solche Sitten und Gebräuche eingeführt, denen sich der Einzelne schwer entziehen kann. »Passage«: Der Übergang in die Erwachsenenwelt wird als eine Aufgabe begriffen, der sich der Heranwachsende zu stellen hat, er kann ihr nicht ausweichen. Und dabei ist eine große Gefahr zu bewältigen, die Situation kann tödlich ausgehen. Das Ritual stellt diese Gefahr nach – und manchmal, wie bei jener Geißelung der spartanischen Jünglinge, tatsächlich mit tödlichem Ausgang. Bei der Beschneidung mag die Gefahr eher gering sein; ob sie wirklich derart gering ist, wie gern behauptet wird, muss angesichts immer wieder berich-

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teter Todesfälle bezweifelt werden. Handelt es sich vielleicht um eine Ablösung früherer Menschenopfer, eine Verschiebung ins Halbsymbolische, wenngleich immer noch Blutige und Schmerzhafte? Einige Kapitel nach Gottes Befehl an Abraham erzählt die Bibel, wie Abraham jenen anderen Befehl erhält, seinen geliebten Sohn Isaak zu opfern, und gehorchen will – bis ein Engel den Befehl widerruft und an die Stelle des Sohnes ein Ziegenböcklein setzt (Gen 22,1–14). Die Bibel schreibt nichts Genaues über Isaaks Alter in dieser Episode; es könnte sich jedoch um den Reflex des alten Pubertätsritus handeln. In manchen Kulturen wurde dem heranwachsenden Knaben zur Pubertät ein neuer Namen gegeben – offenkundig eine Andeutung von Tod und Wiedergeburt, nicht anders als die blutigen Riten. Nicht nur durch einen neuen Namen, auch durch neue Kleidung und eine andere Haartracht wurde oft ein Statuswechsel signalisiert. Bei den Kikuyu in Ostafrika ging der Beschneidung eine Zeremonie voraus, die sich ausdrücklich »aufs Neue geboren werden« nannte: Das Kind musste sich neben seine Mutter legen und schreien wie ein Säugling (Leeuw, 1956, S. 216). Noch deutlicher ist die Symbolik bei den Hütten, die in Indonesien und auf Neuguinea für die Initiation der Heranwachsenden eingerichtet werden. Der Religionswissenschaftler Mircea Eliade schreibt dazu: »Oft stellt die Initiationshütte den offenen Rachen eines Meeresungeheuers dar« (1961, S. 57). Auf Neuguinea baut man »für die Beschneidung der Knaben […] eine Hütte, welche die Form des Ungeheuers Barlun hat, von dem man glaubt, es verschlinge die Novizen«. Ganz ähnlich hat der Ethnologe Adolf Ellegard Jensen die blutigen Eingriffe gedeutet: Die Initianden würden aus der Kindheit gerissen, sozusagen aufgefressen und als Erwachsene wieder ausgespien (zit. nach Streck, 1987, S. 94). Die Bewältigung einer potenziell tödlichen Gefahr. Eine Ahnung davon vermittelt noch der »Schmiss«, den die Mitglieder vieler studentischer Burschenschaften einander verpassen. Aber es geht auch rein symbolisch, etwa durch den Ritterschlag, mit dem die Knappen im Mittelalter in die Elite der Gesellschaft aufgenommen wurden. Wie bereits das eine oder andere dieser Beispiele zeigt, sind solche Zeremonien nicht in jedem Fall an ein bestimmtes Lebensalter gebunden. Alle Geheimgesellschaften, angefangen bei den antiken Mysterienkulten bis zu den Freimaurerlogen, hatten und haben ihre Aufnahmerituale. Und wenn es dabei ohne Blut und sogar ohne Schläge abging, wurde oft doch der Gedanke an den Tod heraufbeschworen. Zum Beispiel im Roman »Der goldene Esel« aus dem 2. Jahrhundert. Der Verfasser Apuleius von Madaura (1961, XI) schildert darin – literarisch geformt – die Einweihung seines Helden Lucius in den Kultus von Isis und Osiris: »Ich ging bis zur Grenzscheide zwischen Leben und Tod. […] Zur Zeit der tiefsten Mitternacht sah ich die Sonne in ihrem hellsten Lichte leuchten.«

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»Per aspera ad astra«, zitierten Lateinlehrer früher gern den römischen Dichter Seneca, »über raue Pfade zu den Sternen«. Genau diesen Sinn legten viele Völker, Kulturen und Religionen auch den blutigen Übergangsriten wie der Beschneidung bei: Ohne diese Verletzung wird der Heranwachsende nicht zum »Mann«. Der Heranwachsende muss Schmerzen ertragen, um ein vollgültiges Mitglied der Gesellschaft zu werden. Bei Mädchen sind solche Pubertätsriten viel seltener belegt als bei Jungen – und zwar deshalb, meinte die amerikanische Ethnologin Margaret Mead (1958, S. 138), weil die Pubertät für Mädchen plötzlich und unmissverständlich kommt, während bei Knaben ein derart genauer Zeitpunkt fehlt. »Die Riten dienen dazu, einen Wachstumsverlauf zu akzentuieren, der von sich aus keine scharfen Akzente besitzt.« Eingriffe wie »Beschneidung, Einschneiden, Einkerben, Zähneziehen, Einritzen oder Tätowieren« seien sozial vorgegebene Prozeduren, um etwas Vergleichbares an diese Stelle zu setzen (Mead, 1958, S. 142). Bei der Geburt ist dieser scharfe Akzent bereits von Natur aus gegeben; aber auch hier gilt, was der holländische Religionswissenschaftler Gerard van der Leeuw festgestellt hat: »Geboren ist man erst, wenn die Riten alle vollzogen sind« (1956, S. 211). Nicht nur bei den Römern, sondern bei vielen Völkern der alten Welt hatte der »pater familias« das Recht, über Leben oder Tod des Neugeborenen nach Gutdünken zu entscheiden. Dass die »Akzentuierungen« oft schmerzhaft waren, das wurde bei den Pubertätsriten – viel weniger bei den Geburtsriten – nicht nur in Kauf genommen, es gehörte zwingend dazu. Jedenfalls in manchen Kulturen oder Religionen. So beobachtete die deutsche Ethnologin Gisela Bleibtreu-Ehrenberg (1980, S. 41) bei Stämmen in Melanesien und auf Papua-Neuguinea, dass die Initiation der Heranwachsenden in die Kultgemeinschaft der Männer – anders als in Australien – durch körperlichen Schmerz und »Psychoterror« nicht selten zum »Schauerdrama« geriet. Durch die sogenannte »Skarifizierung« wurde der Körper über und über mit »Ziernarben« bedeckt. In diese Wörter ist natürlich eine Bewertung aus westlicher, moderner Perspektive eingeflossen. Die Diskrepanz zwischen den Kulturen wird vielleicht noch deutlicher, wenn man einbezieht, dass es nicht unbedingt Blut sein muss, das dabei fließt, dass es nicht körperliche Narben sein müssen, die dem Heranwachsenden einen Stempel aufprägen. In den Termini des modernen Strafrechts ausgedrückt: Statt eines Konflikts mit dem Paragrafen zur Körperverletzung kommt auch sexueller Missbrauch von Minderjährigen infrage. In Melanesien hat Bleibtreu-Ehrenberg Sitten gefunden, wie sie die antiken Schriftsteller auch aus der aristokratischen Gesellschaft Griechenlands berichten: Zur Initiation der jungen Männer gehörte die Päderastie zwingend dazu.

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»Päderastie macht Jungen groß und stark«, resümiert Bleibtreu-Ehrenberg (1980, S. 72). Das bedeutete zumindest in Melanesien sehr konkret: die Zufuhr des Spermas erwachsener Männer in den Körper des pubertierenden Jungen durch Anal- oder auch Oralverkehr. Für moderne Betrachter liegt hier zweifellos eine Ungeheuerlichkeit vor, ebenso wie bei der Geißelung der spartanischen Jünglinge; aber wahrscheinlich ist die weltanschauliche Voraussetzung dieser Institution damit korrekt zusammengefasst. Natürlich liegt die Frage nahe, ob nicht Erwachsene unter dem Schein solcher Voraussetzungen ihre sexuellen Gelüste befriedigen; die analoge Frage stellt sich bei dem spartanischen Beispiel: War das, anachronistisch ausgedrückt, nicht »Sadismus«? Aber es ist doch sehr zweifelhaft, ob sich soziale Institutionen aus den psychologischen Anlagen einzelner Individuen erklären lassen. Und hat es einen Sinn, ganzen Kulturen oder Gesellschaften Pädophilie oder Sadismus oder dergleichen zu unterstellen? Im Horizont der Melanesier stand der »Sinn« dieser Vorgänge außer Frage. »Nach Abschluss dieser ›Initiation‹ ist der Junge in die Kriegergemeinschaft der Männer als vollwertiges Mitglied aufgenommen« (Bleibtreu-Ehrenberg, 1980, S. 78). »Sei ganz!«, »Werde vollkommen!« Zurück zum Spezialfall der Beschneidung. Für unser »modernes« Denken ist die Paradoxie schwer aufzulösen: Ausgerechnet durch eine Verletzung soll der Neugeborene oder der Heranwachsende auf eine neue, höhere Stufe des Lebens oder der Macht, der Nähe zu Gott oder zum Göttlichen gehoben werden. Blicken wir nochmals auf Genesis 17. »Sei fromm!«, beginnt der »Herr« in Martin Luthers Übersetzung seine Ansprache an Abraham; in der sogenannten »Einheitsübersetzung« heißt es ähnlich: »Sei rechtschaffen!« Aber vielleicht trifft dieser moralische Ton die Gedankenwelt des alten Israels nicht so ganz. »Sei makellos!«, schreibt Gerhard Zunz, dessen Bibel in jüdischen Gemeinden gern benutzt wird, bei Samson Raphael Hirsch heißt es: »Werde vollendet!«, bei Martin Buber und Franz Rosenzweig: »Sei ganz!« (zit. nach Blumenberg, 2007, S. 227 f.). Der Midrasch Tanchuma, ein mittelalterlicher Kommentar zur Bibelstelle, scheint diese Interpretation zu bestätigen. Dort heißt es über die Beschneidung, die Abraham an sich selbst vornimmt: »So sprach der Heilige zu Abraham: Du bist vollkommen und keine Verminderung wegen eines Mangels ist an dir außer der Vorhaut. Er entfernte sie und war vollkommen« (zit. nach Blumenberg, 2007, S. 228). Das sieht vordergründig nach einem Widerspruch aus; schließlich wird doch gerade ein Teil abgeschnitten. Die Spannung zur biblischen Schöpfungs-

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geschichte ist unübersehbar: »Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn« (Gen 1,27). Diese Unstimmigkeit ist bereits dem Verfasser des apokryphen Thomasevangelium im 2. Jahrhundert n. Chr. aufgefallen. Jesus wird dort von seinen Jüngern gefragt: »Ist die Beschneidung nützlich oder nicht? Er sprach zu ihnen: Wenn sie nützlich wäre, würde ihr Vater sie schon beschnitten in ihrer Mutter zeugen. Aber die wahre Beschneidung im Geist hat vollen Nutzen gehabt« (Logion 53). Rein historisch lässt sich der Widerspruch leicht auflösen: Da sind nun einmal verschiedene Traditionen am Werk; die Sitte der Beschneidung geht sicherlich auf viel ältere Zeiten zurück als der Glaube an den allmächtigen Schöpfer des Himmels und der Erde, der im Judentum nicht über das 6. Jahrhundert v. Chr. zurückreichen wird. Und in dieser Tradition der Beschneidung wurde offenbar vorausgesetzt, der unbeschnittene Mensch – genauer: der unbeschnittene Mann, auch das männliche Kind – sei eben nicht »makellos«, nicht »vollendet«, nicht »ganz«. Und die Mädchen? Dem Leser wird es nicht entgangen sein: Bislang war fast ausschließlich von der einen Hälfte der Menschheit, der männlichen, die Rede. Erst durch Migrantenfamilien, vor allem aus Afrika, ist in jüngster Zeit in den westlichen Ländern bewusst geworden, dass es parallel zur männlichen eine Tradition der weiblichen Beschneidung gibt. Viele Völker in Asien und Afrika wie in Amerika und Australien praktizieren zur Pubertät auch eine Beschneidung der jungen Mädchen. Sie ist jedoch seltener als die der jungen Männer. Diese Relation lässt natürlich sehr verschiedene Deutungen zu. Haben Männer es nötiger als Frauen, zu ihrer Stellung in der Welt der Erwachsenen erst zugerichtet zu werden – weil Frauen durch die Aufgabe des Gebärens von vornherein mit den Lebensmächten in engerem Kontakt stehen? Oder sind gerade umgekehrt nur Männer in der Lage, etwa an den Kulten des Stammes vollgültig teilzunehmen? Das muss spekulativ bleiben. Die Praxis der Ämterbesetzung in Islam und Judentum wie auch in vielen christlichen Kirchen lässt tatsächlich vermuten, dass auch in den Weltreligionen Frauen nicht durchweg im vollen Sinn als kultfähig gelten. Wie auch immer – die Praxis der weiblichen Beschneidung reicht ebenso in die Frühgeschichte zurück wie jene der männlichen; ein Beleg findet sich in einem griechischen Papyrus aus Ägypten, 2. Jahrhundert v. Chr. (nach Wikipedia »Weibliche Genitalverstümmelung«). In der islamischen Überlieferung wird in einigen Rechtsschulen die weibliche Beschneidung sogar ausdrücklich gerechtfertigt, anders als die männliche jedoch nicht gefordert. Der Prophet Mohammed

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soll zu einer Beschneiderin gesagt haben, sie dürfe ihren Beruf fortsetzen, aber: »Wenn du schneidest, übertreibe nicht« (Hadith der Beschneiderin, zit. nach Wikipedia »Weibliche Genitalverstümmelung«) – was immer das bedeuten soll. Vor allem im afrikanischen Islam wird dieser Dialog gern herangezogen, um für die überlieferten Sitten eine theologische Begründung zu formulieren; auch in manchen asiatischen Regionen haben sich die vorislamischen Bräuche fortgesetzt. In einigen Staaten der islamischen Welt sei die Beschneidung verboten worden, berichtete bereits 1991 der Islamwissenschaftler Peter Heine; offenbar wird sie jedoch in vielen Regionen weiterhin praktiziert (Heine, 1991, S. 123). Was hierzulande so gut wie unbekannt zu sein scheint: Auch bei äthiopischen Juden und koptischen Christen in Ägypten ist die weibliche Beschneidung weiterhin üblich. Eine Stelle bei dem antiken Geografen Strabon über die »Ausschabung« von Frauen im Judentum (zit. nach Schäfer, 2010, S. 141) ist vielleicht so zu verstehen, dass die ägyptische Sitte sich auch bei jüdischen Gemeinden im Nilland durchgesetzt hatte. Bei den christlichen Kopten wird die weibliche Beschneidung allerdings seit 2001 durch einen Aufruf der Kirchenleitung stark zurückgedrängt. Aber ist es überhaupt gerechtfertigt, für die männliche und die weibliche Beschneidung denselben Begriff zu verwenden? Das eine sei doch eine schwere, das andere »bloß« eine einfache Körperverletzung, heißt es gängig. Aber es gibt die Beschneidung der Mädchen in vielen, sehr verschiedenen Varianten. Manchmal wird die gesamte Klitoris entfernt; manchmal begnügt man sich mit einem leichten Ritzen, sodass immerhin einige Tropfen Blut fließen. Bei allen Unterschieden der Anatomie zwischen Männern und Frauen – die »milderen« Formen scheinen in ihrer Tragweite der männlichen Beschneidung durchaus vergleichbar. Nun dient die Beschneidung von Mädchen sicherlich auch dazu, weibliche Sexualität zu regulieren. Allgemeiner gesagt: die heranwachsenden Frauen in ihre zukünftige – vom Standpunkt der Gleichberechtigung der Geschlechter her betrachtet: untergeordnete – Rolle zu drängen. Als Gründe für die Entfernung der Klitoris, berichtet die Ethnologin Rita Schäfer (1997, S. 81 f.), werden beim Stamm der Mende in Sierra Leone angegeben: Die jungen Frauen sollten Schmerzen zu ertragen lernen, und vor allem müsse durch das Abtrennen eines als »männlich« angesehenen Körperteils die Geschlechtsidentität der Frauen verstärkt werden. Eine analoge Funktion hat aber auch die Beschneidung der Jungen: Der Heranwachsende soll die ihm zukommende Rolle eines »richtigen« Mannes annehmen – »richtig« im Sinne dessen, was die Tradition vorgibt. Und dazu muss die Vorhaut als ein quasi weibliches Stück am Körper abgetrennt werden.

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Von diesen Voraussetzungen her wird vielleicht verständlich, was uns im Westen zunächst so befremdlich vorkommt: dass im nachkolonialen Afrika nicht nur die männliche, sondern oft auch die weibliche Beschneidung als Ausdruck »afrikanischer Identität« hochgehalten wird. Andererseits hat sich im Westen, das zeigte die Diskussion im Jahr 2012 nach dem Urteil des Kölner Landgerichts, ein merkwürdig gespaltener Diskurs zum Thema »Beschneidung« ausgebildet: Bei den Jungen wird der Pubertätsritus der Muslime, der Geburtsritus der Juden als ehrwürdiger Bestandteil der Frömmigkeit in den Weltreligionen aufgefasst und wie selbstverständlich akzeptiert; bei den Mädchen wird ein – bei allen Unterschieden – vergleichbarer Ritus ebenso selbstverständlich und ohne jedes Interesse für die religiösen Implikationen von vornherein zum Verstoß gegen die Menschenrechte erklärt. Die Diskrepanz wird bereits in der »politisch korrekten« Bezeichnung deutlich: Die männliche Beschneidung wird in der Regel betont sachlich als »Zirkumzision« bezeichnet, das weibliche Pendant nennt sich »weibliche Genitalverstümmelung«. Verschiebungen ins Rationale – und Pseudo-Rationale Als in der Neuzeit europäische Reisende die Pubertätsriten außereuropäischer Völker zu Gesicht bekamen, reagierten sie oft verständnislos. Der finnische Soziologe Edvard Westermarck beschrieb die Beschneidung als »Verstümmelung der Genitalien« (zit. nach Wikipedia »Zirkumzision«). War sich Westermarck nicht bewusst, dass in den jüdischen Gemeinden Europas bereits bei den Neugeborenen ein entsprechender Ritus praktiziert wird? Und sah er nicht, dass seit der Aufklärung die Beschneidung auch in vielen westlichen Ländern populär geworden war? Es war eine Beschneidung nicht aus religiösen, sondern aus rein weltlichen Motiven. Den Gedanken hatte bereits im 12. Jahrhundert der jüdische Arzt und Philosoph Moses Maimonides vorgegeben, dem das alte Ritual offenbar Verständnisschwierigkeiten bereitete: Sinn der Beschneidung sei es, die Geschlechtsorgane zu schwächen, sodass sie zwar noch zur Zeugung taugen, aber keine überschüssige Lust mehr zulassen könnten. Ob sich dieser angestrebte Zweck damit tatsächlich erreichen lässt, darf man bezweifeln, einiges – wie die nachlassende sexuelle Sensitivität der Eichel nach der Beschneidung – spricht jedoch dafür. Wie auch immer: Im 19. Jahrhundert häuften sich vor allem in Großbritannien, den britischen Kolonien und Nordamerika die Publikationen, die eine Beschneidung der Vorhaut zur Vorbeugung gegen Masturbation empfahlen. Zum Beispiel der Arzt Athol A. W. Johnson: »In Fällen von Masturbation müssen wir, wie ich glaube, die Angewohnheit brechen,

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indem wir die betreffenden Körperteile in einen solchen Zustand bringen, dass es zu viel Mühe macht, mit der Praktik fortzufahren. Zu diesem Zweck, falls die Vorhaut lang ist, können wir den Patienten beschneiden mit gegenwärtigem und wahrscheinlich auch zukünftigem Vorteil. Auch sollte die Operation nicht unter Chloroform vorgenommen werden, so dass der erlittene Schmerz mit der Angewohnheit, die wir auszurotten wünschen, in Verbindung gebracht werden kann« (Johnson, 1860). Parallel hierzu empfahl der Gynäkologe Isaac Baker Brown (1866) die Beschneidung der Klitoris als Mittel gegen Epilepsie und Hysterie bei Frauen. Auch die weibliche Beschneidung hatte früher im Westen ihre Befürworter. Bei den Jungen sind die Zahlen in Großbritannien, Kanada und Australien inzwischen stark zurückgegangen, seit die Krankenkassen die Kosten nicht mehr übernehmen. In den USA dagegen werden heute schätzungsweise ein Drittel aller neugeborenen Knaben sozusagen routinemäßig beschnitten. Das Argument Masturbation ist aus der Mode gekommen; jetzt heißt es, die Beschneidung beuge – zumindest bei erwachsenen Männern – gegen alle möglichen Krankheiten vor, wie Penis- und Gebärmutterhalskrebs und vor allem HIV. Für viele Gebiete Afrikas empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation die Beschneidung bei erwachsenen Männern sogar ganz offiziell.5 Selbst wenn man nicht immer und überall materielle Interessen wittert: Der Gedanke, dass die Beschneidung einen nicht ganz unbeträchtlichen wirtschaftlichen Faktor im Gesundheitswesen ausmacht, ist hier schwer abzuweisen. Unter Ärzten sind all diese Argumentationen, vorsichtig gesagt, sehr umstritten; die Argumentation läuft durchweg statistisch, Kausalitäten werden nicht nachgewiesen. Vielleicht handelt es sich doch eher um Pseudo-Rationalisierungen: Einem religiösen Ritual, das sich schwer verstehen lässt, werden Motive untergeschoben, die im Rahmen eines naturwissenschaftlichen Weltbildes plausibel erscheinen. Das gilt auch für die populäre Theorie, die Beschneidung sei aus hygienischen Motiven entstanden. Ein Gedanke, der sich in sehr verschiedene Richtungen wenden lässt. Da wird dann entweder argumentiert, Gott in seiner Weisheit habe gewusst, dass der Mensch (der Mann) an dieser Stelle nachbesserungsbedürftig sei, daran solle man sich halten. Oder auch umgekehrt, in der heutigen Zeit, wo fließendes Wasser zur Verfügung steht, dürfe man dieses Gebot getrost als überholt ansehen. Und dann ist da noch ein Motivkomplex, aus dem heraus sich heute viele Erwachsene beiderlei Geschlechts zu einer Beschneidung entschließen: Das 5

Vgl. zur Kritik an den immer wieder behaupteten angeblichen medizinischen Vorteilen der Beschneidung den Beitrag von Christoph Kupferschmid in diesem Buch.

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Internet ist voll von Erörterungen über ästhetische oder sexuelle Vor- (aber auch Nachteile) einer Beschneidung. Eine Frage des sich wandelnden Schönheitsideals; manche reden auch von Deformation, das ist bei der Beschneidung nicht anders als bei Tätowierung oder Piercing. In Südkorea, einem Land, in dem weder Judentum noch Islam eine große Rolle spielen, das jedoch seit dem Koreakrieg in intensivem Kontakt zur US-amerikanischen Kultur steht, hat die Mode vor allem bei jungen Männern zu einem wahren Boom geführt (Ku, Kim, Lee u. Park, 2003). Grenzmarkierungen – politisch und kulturell Beschneidung kann eben auch eine Sache der Mode sein. In der griechischen Antike galt anscheinend gerade umgekehrt die von der Vorhaut entblößte Eichel als lächerlich. Dass der griechisch-syrische König Antiochos IV. Epiphanes um 167 v. Chr. versuchte, die jüdische Sitte der Beschneidung zu unterbinden, hatte jedoch eindeutig politische Gründe. »Die Beschneidung verbot er«, berichten die Makkabäer-Bücher. »Die Frauen, die ihre Söhne hatten beschneiden lassen, wurden getötet, wie Antiochos befohlen hatte. Man hängte ihnen die Knäblein an den Hals in ihren Häusern und tötete auch die, die sie beschnitten hatten« (1 Makk 1,51–646). »Zwei Frauen nämlich wurden vorgeführt, weil sie ihre Söhne beschnitten hatten. Denen band man die Kindlein an die Brust und führte sie öffentlich herum durch die ganze Stadt und warf sie zuletzt über die Mauer hinab« (2 Makk 6,10). Die Beschneidung war Ausdruck einer besonderen Kultur, die der König nicht dulden wollte, da er eine Gefährdung seiner Herrschaft, eine Abspaltung des jüdischen Territoriums von seinem Reich, befürchtete. Die Makkabäer-Bücher bieten diesen »clash of civilizations« aus jüdischer Perspektive: Der König »gebot, die Leute an alle Unreinheiten und heidnischen Bräuche zu gewöhnen« (1 Makk 1,51). Die »heidnischen Bräuche« werden auch die Sportspiele gewesen sein. Die griechische Sitte, dabei nackt aufzutreten, muss Angehörige des Judentums, die auf Angleichung bedacht waren, in Verlegenheit gebracht haben. Der Historiker Flavius Josephus (1987, XII, 5, 1) im 1. Jahrhundert n. Chr. über Juden, die sich unter König Antiochos »von ihren heimischen Sitten und Gebräuchen lossagen und nach griechischer Weise« leben wollten: Sie baten den König, »er möge 6

Die Zitate aus den Makkabäer-Büchern entstammen der Ausgabe Luther-Bibel 1984, zu fi nden unter http://www.bibelwissenschaft.de/online-bibeln/luther-bibel-1984/lesen-imbibeltext/bibel/text/lesen/stelle/45///ch/8f81cabae9c6cf98bb237b3b8c8fa060/

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ihnen gestatten, in Jerusalem eine Turnschule zu erbauen. Als der König ihnen diese Erlaubnis gab, verhüllten sie die Beschneidung ihrer Schamteile, so dass sie sich auch bei entblößtem Körper von den Griechen nicht unterschieden.« Anscheinend versuchten die assimilationswilligen Juden, ihre Vorhaut durch Strecken wiederherzustellen oder doch vorzutäuschen. Das wäre, wenn man die heutige Praxis der Beschneidung im Judentum voraussetzt, schwer vorstellbar. Offenbar war es damals noch nicht üblich, die innere Vorhaut restlos abzutrennen. Der Brauch einer vollständigen Entfernung wurde vermutlich erst eingeführt, um solche Versuche der »Wiederherstellung« unmöglich zu machen. Antiochos wurde in der aufgeregten Debatte des Jahres 2012 gelegentlich mit Hitler und Stalin in einen Topf geworfen. Ein näher liegender Vergleich findet sich im Werk des Flavius Josephus selbst, einige Kapitel später. Über den hasmonäischen König Aristobul I., 104 oder 103 v. Chr., inzwischen hatten die Juden ihre Unabhängigkeit vom Seleukidenreich errungen: »Er nahm einen Teil des Ituräervolkes in dasselbe [das Judentum] auf, indem er die Ituräer zur Beschneidung nötigte« (zit. nach Schäfer, 2010, S. 144). Eine Zwangsbeschneidung – das Gegenstück zum Verbot. Der Versuch der Seleukidenkönige, die Beschneidung zu unterbinden, blieb in der Geschichte beinahe ohne Nachfolge. Die Nachricht, Kaiser Hadrian habe um 130 n. Chr. ebenfalls ein solches Verbot erlassen (Schäfer, 2010, S. 112), geht vermutlich auf einen Irrtum des Chronisten zurück. Real ist jedoch zweifellos, dass in der antiken Welt die jüdische Beschneidung oft mit Abscheu betrachtet wurde. So sah es auch der römische Historiker Tacitus: Die Juden »haben die Beschneidung ihrer Geschlechtsteile eingeführt, um sich durch dieses besondere Merkmal kenntlich zu machen« (1960, V, 2). Was in der Selbstwahrnehmung positiv gewertet wurde, machte von außen betrachtet den Eindruck einer verdächtigen Abgrenzung vom Rest der Menschheit. Der Princetoner Judaist Peter Schäfer (2010, S. 147 ff.) hat bei antiken Schriftstellern noch weitere Belege für eine judenfeindliche, oft freilich auch komische Verwendung des Motivs gefunden. In dem Roman »Satyrikon« des Petronius (1986, 102) zur Zeit Kaiser Neros ist das beschnittene Glied das unverwechselbare Charakteristikum der Juden – so wie auch anderen Völkern ihre Eigenheiten unterstellt werden. »Warum willst du uns dann nicht gleich beschneiden«, sagt eine der Figuren, »damit wir wie Juden aussehen, oder die Ohren durchlöchern, damit wir’s den Arabern nachtun, oder das Gesicht mit Kreide bemalen, damit die Gallier uns für ihre Mitbürger halten?« Dem neuplatonischen Philosophen Sallustios im 4. Jahrhundert n. Chr. gar geriet die Beschneidung in eine Reihe mit angeblichen Bräuchen der Perser und der Massageten: Den einen sagte er nach, mit ihren Müttern Kinder zu zeugen,

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den anderen, ihre Väter aufzuessen (zit. nach Schäfer, 2010, S. 147). Und für die Juden galt eben die Beschneidung als charakteristisch. Einen Höhe- (oder Tief-)punkt bösartiger Polemik scheint sich im 1. Jahrhundert der alexandrinische Literat Apion geleistet zu haben. Apions Worte sind nicht überliefert; offenbar war es seine Absicht, das Judentum insgesamt durch den aus hellenistischer Sicht kuriosen Brauch der Beschneidung lächerlich zu machen. Flavius Josephus war gekränkt; er verwies darauf, dass die Beschneidung auch unter ägyptischen Priestern üblich sei, und erzählte für das Publikum eine sehr erbauliche Geschichte über das schreckliche Ende seines Gegners: Apion sei »wegen der Beschimpfung seiner heimatlichen (gemeint ist: ägyptischen) Gesetze nach Gebühr bestraft worden«, nämlich mit einem Geschwür, das seine Beschneidung unumgänglich machte. Daran sei er schließlich »unter fürchterlichen Qualen« gestorben (zit. nach Schäfer, 2010, S. 144). Eine juristische Studie und ein überraschendes Gerichtsurteil … In aller Regel also wurde die jüdische Beschneidung von nichtjüdischen Obrigkeiten geduldet; im islamischen Machtbereich ohnehin, wo ja ebenfalls eine Form der Beschneidung üblich war und ist, aber auch im christlichen Abendland. Eine Duldung wohl eher aus Desinteresse denn aus Respekt – bis in die frühe Neuzeit hinein gab es für die jüdischen Gemeinden keinerlei Sicherheit gegen Pogrome. Der Nationalsozialismus sah erst recht keinen Grund, in das jüdische Ritual einzugreifen. Im Gegenteil, das Fehlen der Vorhaut konnte im Einzelfall als Erkennungszeichen genutzt werden, um Juden zur Ermordung zu »selektieren«. Nur in der Sowjetunion, die den Atheismus zur Staatsdoktrin erhoben hatte, wurde die Beschneidung zeitweise rigoros unterdrückt. Das führt dazu, dass von den Juden, die heute in Deutschland leben, eine Mehrheit nicht beschnitten ist. Natürlich bemühen sich die jüdischen Gemeinden, diese Entwicklung zumindest für den Nachwuchs wieder umzukehren. Vor diesem Hintergrund ist es nicht weiter verwunderlich, dass das Urteil des Kölner Landgerichts vom Mai 2012 und die folgende Debatte als Schock empfunden wurden, vor allem im Judentum, auch im deutschen Islam, indirekt als Bedrohung zweier verwandter Religionen, auch in den christlichen Kirchen. Dabei hatte es im Judentum bereits im 19. Jahrhundert vereinzelt Stimmen gegeben, die das alte Ritual infrage stellten. 1844 forderte der Rabbi Samuel Holdheim, von einer Beschneidung der Säuglinge abzusehen und sie auf das Erwachsenenalter zu verschieben (Hödl, 2007, S. 189). Dass da Ungemach heraufziehen könnte, werden die Leser juristischer Fachliteratur bereits seit 2008 geahnt haben. Der Passauer Strafrechtslehrer Holm

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Putzke (2008) veröffentlichte eine Studie mit der These: Die Beschneidung von Knaben müsse nach § 223 StGB eigentlich als Körperverletzung geahndet werden. Die Diskrepanz zwischen diesem juristischen Ansatz und der innerreligiösen Perspektive wird vor allem aus dem deutlich, was bei Putzke nur am Rande eine Rolle spielt, aber für streng religiös denkende Menschen das einzig Relevante sein muss: Laut Bibel bestätigt die Beschneidung den »Bund mit Gott«. »Ein Unbeschnittener, eine männliche Person, die am Fleisch ihrer Vorhaut nicht beschnitten ist, soll aus ihrem Stammesverband ausgemerzt werden. Er hat meinen Bund gebrochen« (Gen 17,14). Ob dieser »Bund« ein Faktum oder eine Illusion ist, wird zwischen religiös und areligiös denkenden Menschen wohl auf immer im Streit bleiben. Jedenfalls entzieht sich der Bund einer juristischen Argumentation und damit, so folgert Putzke, muss offen bleiben, ob die religiös motivierte Beschneidung dem Wohl des Kindes dient. Dabei hat Putzke (2008, S. 701) die religiöse Dimension durchaus ernst genommen, aber bloß als subjektives Erlebnis des aufwachsenden Jungen, als Faktor im Prozess der Sozialisation: »Ausgesprochen wichtig ist die Rolle der Beschneidung […] als Identifikationsmittel.« Ein unbeschnittener Knabe läuft Gefahr, im Kreis seiner Altersgenossen nicht akzeptiert zu werden. Einen Rechtfertigungsgrund kann Holm aber auch hier nicht sehen: Das Argument würde darauf hinauslaufen, dem Bestehenden bloß deshalb, weil es besteht, eine Bestandsgarantie zu geben. Ein Punkt, an dem die Frage ins Rechtsphilosophische hinübergleitet: Sind die etablierten Religionen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt derart grundlegend, dass das Rechtssystem ihre Gebräuche auch gegen sonst allgemein geltende Grundsätze schützen muss? Übrigens müsste eine solche Argumentation, wenn man sie für die männliche Beschneidung gelten lässt, je nach Milieu auch für andere Körperverletzungen gelten – etwa die weibliche Beschneidung. … und eine emotional erregte Debatte Putzkes Aufsatz fand zunächst nur in der juristischen Fachpresse ein Echo. Zum öffentlichen Thema wurde die Beschneidung erst im Mai 2012 durch das Urteil des Kölner Landgerichts. Offiziell wurden die jüdischen Gemeinden in Deutschland in der folgenden Debatte so gut wie ausschließlich durch entschiedene Beschneidungsbefürworter vertreten. Dieter Graumann, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, kritisierte das Urteil des Kölner Landgerichts als »beispiellosen und dramatischen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften« (Süddeutsche Zeitung, 2012). »Ein Verbot der Beschneidung stellt die Existenz der jüdischen Gemeinschaft in Deutsch-

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land infrage«, sagte der Präsident der Konferenz Europäischer Rabbiner, Pinchas Goldschmidt (Focus-Online, 2012). »Sollte das Urteil Bestand haben, sehe ich für die Juden in Deutschland keine Zukunft.« Es ist zweifellos richtig, in den Leserbriefspalten der Tageszeitungen wurde viel an braunem Sumpf nach oben gespült; die schlimmsten Auswüchse bekam die Öffentlichkeit wahrscheinlich gar nicht zu Gesicht, weil die Redaktionen sie gar nicht erst aufnahmen. Aber ebenso zweifellos war das Urteil selbst nicht von Antisemitismus getragen und in vielen Kommentaren ging es um ein ganz und gar sachliches Argument: das Recht auf körperliche Unversehrtheit, mitsamt den psychischen Folgen, die von dem Beschneidungsvorgang drohen können. Da haben sich viele Vertreter des Judentums die Antwort wohl etwas leicht gemacht: göttlicher Befehl (Gen 17) daran dürfe kein weltliches Recht rühren. Punkt. Dabei ist doch offenkundig, dass die Menschenrechte, auf die sich die Kritiker des Beschneidungsbrauchs beriefen – konkret also: das Recht auf körperliche Unversehrtheit –, letztlich ebenfalls in der biblischen Überlieferung eine Wurzel haben. Es fand sich auch die eine oder andere Stimme aus dem Judentum, die das bestätigte. Der britische Filmemacher Viktor S. Schonfeld (2012) äußert in seinem Artikel »Dieses Ritual widerspricht meinen jüdischen Werten« in der »Süddeutschen Zeitung«: »Sollte dieser Entwurf der Bundesregierung, der es Eltern erlaubt, ihre minderjährigen Söhne beschneiden zu lassen, angenommen werden, so wäre das tief beklagenswert. Ich sage dies als jüdischer Vater, dessen Vorfahren stolze Rabbiner waren und dessen Verwandte teilweise im Holocaust ums Leben kamen.« Und eine beschneidungskritische Internetseite aus dem Judentum zitierte den amerikanischen Nobelpreisträger Isaac Bashevis Singer: »Eine Stimme vom Himmel sollte ignoriert werden, wenn sie nicht auf der Seite der Gerechtigkeit steht« (Charta Beschneidungsforum). Singer wiederholte damit einen Gedanken, den Immanuel Kant (1. Absch., A 103, Anm.) 1798 in seiner Schrift über den »Streit der Fakultäten« zu der Geschichte von Abraham und Isaak vorgetragen hatte: »Abraham hätte auf diese vermeinte göttliche Stimme antworten müssen: ›dass ich meinen guten Sohn nicht töten solle, ist ganz gewiss; dass aber du, der du mir erscheinst, Gott sei, davon bin ich nicht gewiss, und kann es auch nicht werden, wenn sie auch vom (sichtbaren) Himmel herabschallete.‹« Kants Argument löst die historisch überlieferte Religion in reine Moralphilosophie auf: Mythen und Rituale kommen allenfalls noch insoweit in Betracht, als sie den Forderungen des Sittengesetzes nicht widersprechen. Aber es gibt viele Juden und auch Christen – und sicherlich noch viel mehr Muslime –, die sich mit dieser Position nicht zufriedengeben wollen. Der Konflikt ist unaus-

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weichlich, auch wenn es bei der Beschneidung nicht um eine Tötung geht, sondern »bloß« um Körperverletzung. Ausgerechnet der Generalsekretär des Zentralrats der Juden, Stephan Kramer (Lau, 2012), von dem doch eine Verteidigung des Rituals ohne jedes Wenn und Aber zu erwarten gewesen wäre, brachte in einem Interview mit der »Zeit« ein Stück Realismus in die Diskussion: Es sei »idiotisch, Kritik daran mit dem Argument abzutun, es täte nicht weh. Es tut weh. […] Wir müssen auch begründen wie wir rechtfertigen, dass die körperliche Züchtigung eines Kindes – zu Recht – verboten ist, aber ihm ein Stück von der Vorhaut abzuschneiden soll in Ordnung sein«. Kramer zum Argument, die Beschneidung sei »identitätsstiftend, und man hat es seit 5.000 Jahren so gemacht«: »Das allein kann noch keine Begründung sein, die mich zufrieden stellt. […] Ich habe noch nie erlebt, dass am Eingang der Synagoge das Geschlechtsteil kontrolliert wird.« Anscheinend wurde Kramer nach seinem Interview zur Ordnung gerufen und konnte sich fortan nicht mehr in diesem Sinn äußern. Dabei hatte er doch bloß wiederholt, was bereits Paul Spiegel gesagt hatte: »Natürlich schreit das Baby, natürlich tut ihm der Eingriff weh« (2003, S. 40) – weh tut nicht zufällig und unbeabsichtigt, sondern deshalb, weil das Ritual bei vollem Bewusstsein durchgeführt werden muss. Spiegel wollte das Ritual verteidigen, Kramer es jedenfalls nicht angreifen, rang freilich mit sich selbst bei der Suche nach einer Rechtfertigung. Aber es gibt auch im Judentum Bewegungen, die sich gegen die Beschneidung von Kleinkindern wenden7, sie durch einen rein symbolischen Ritus ablösen wollen; wenn der Junge zu einer eigenen Entscheidung in der Lage sei, könne das blutige Ritual ja nachgeholt werden. Randphänomene vorläufig – dennoch. »Brit Shalom« wird diese Alternative zur Brit Mila genannt, bei der die Beschneidung mitsamt Namensgebung nur symbolisch erfolgt, die ernsthafte, blutige vielleicht später nachgeholt wird. Auf islamischer Seite war das Bild ähnlich: Verteidigung des Rituals durch die offiziellen Vertreter, mit Berufung auf das Vorbild des Propheten, von einzelnen Individuen auch kritische Stimmen. Nur ein Beispiel: Der integrationspolitische Sprecher der Partei Bündnis 90/Die Grünen, Memet Kilic (Trauthig, 2012), selbst Muslim, in der »Stuttgarter Zeitung«: »Denken Sie nur daran: im Petitionsausschuss beschäftigen wir uns gerade damit, ob man Pferde wirklich brandmarken muss oder ob es nicht mildere Verfahren gibt. Da sollte die Frage nach der Beschneidung kleiner Jungen auch kein Tabu sein«. Insgesamt war jedoch der Eindruck zu gewinnen, dass die deutschen Muslime an der ganzen 7

Jérôme Segal nimmt zu dieser Entwicklung in diesem Buch ausführlich Stellung.

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Frage weniger interessiert seien. Das wäre auch nicht weiter verwunderlich: Es hat in Deutschland keinen staatlich verordneten Massenmord an den Muslimen gegeben. Ein weiteres sehr bemerkenswertes Phänomen an der ganzen Debatte: die Selbstverständlichkeit, mit der die christlichen Kirchen sich in der Solidarität mit den anderen »abrahamitischen« Religionen für die Knabenbeschneidung einsetzten – also einen Brauch, dessen Ablehnung mit der Genese des Christentums doch aufs Engste zusammenhängt. Freilich – damals ging es nicht um »Menschenrechte«, so wie wir diesen Begriff heute verstehen; davon kann vor dem 18. Jahrhundert keine Rede sein. Das gemeinsame Interesse heute von Judentum und Islam einerseits, den christlichen Kirchen andererseits ist deutlich: die Kinder frühzeitig, sozusagen »volkskirchlich«, »bei der Stange zu halten«. Da steht das Recht der Religionsgemeinschaften vor dem Recht des Individuums, aus dessen Perspektive Religionsfreiheit ganz wesentlich eben auch das Recht ist, die durch Familientradition angestammte Religion abzulegen und womöglich gar keine Religion zu haben. Milderungen und Ohnmachtsanfälle Die deutsche Geschichte mit dem Jahrtausendverbrechen des Holocaust gab der Auseinandersetzung ihren Horizont. Wäre sie anders geführt worden, wenn ein Gericht in irgendeinem anderen europäischen Land jenes Urteil gefällt hätte? Wären die offiziellen Vertreter von Judentum und Islam eher bereit gewesen, sich auf die Argumente der Kritiker einzulassen, wenn nicht ausgerechnet Deutsche diese Kritik an einem zentralen Ritus ihrer Religion vorgebracht hätten? Im August 2012 formulierte der Deutsche Ethikrat (2012) einige »Mindestanforderungen« um den Konflikt zwischen dem Recht des Einzelnen und dem der Religionsgemeinschaften, wenn schon nicht aufzulösen, dann doch zu mindern. Einer dieser Punkte: »Anerkennung eines entwicklungsabhängigen Vetorechts des betroffenen Jungen«. Bei der jüdischen Beschneidung von Neugeborenen stellt sich die Frage gar nicht erst; aber was ist, wenn ein heranwachsender Muslim Nein sagen möchte? Verlangt man von einem Zehn- oder Zwölfjährigen, vielleicht aber auch erst Sechs- oder Achtjährigen, eine Verstoßung aus der Familie in Kauf zu nehmen? Auch mit der »qualifizierten Schmerzbehandlung« dürfte es nicht ganz einfach stehen. Im Judentum ist umstritten, inwieweit so etwas überhaupt zulässig sein könnte. Im Islam akzeptieren manche Eltern inzwischen eine Vollnarkose im Krankenhaus – aber damit entfällt natürlich die große Familienfeier der Erwachsenen, auf die es doch eigentlich ankommt, zumindest in ihrer tradi-

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tionellen Form. »Fachgerechte Durchführung des Eingriffs«: Im Ethikrat hatte man natürlich an das medizinische »Fach« gedacht; aber wie führt man eine Operation medizinisch »fachgerecht« durch, die medizinisch gar nicht nötig ist? Die Praktiker der Beschneidung werden bei »fachgerecht« ohnehin eher die korrekte Abwicklung des Rituals im Sinn haben. In diesem Sinn haben natürlich auch die Beschneiderinnen von Mädchen ihr »Fach« und ihre »Fachethik«. Ist es abwegig zu vermuten, dass bei der Geißelung der spartanischen Jünglinge ebenfalls eine »fachgerechte Durchführung« verlangt wurde? Pausanias berichtet, dass bei der Zeremonie die Priesterin mit dem Holzbild der Artemis Orthia daneben stand. Das Bild sei an sich klein und leicht; jedoch »wenn aber jemand aus Rücksicht auf Schönheit oder Rang eines Epheben vorsichtig schlägt, dann wird das Bild für die Frau zu schwer und nicht mehr leicht tragbar« (Pausanias, 1972, III, 16, 11). Kurzum: Die Göttin beklagte sich, wenn bei dem Ritual nicht genug Blut floss. Der Arzt Leo Latasch, als jüdischer Vertreter im Ethikrat, wollte dem Gremium demonstrieren, dass die übliche Praxis der Beschneidung im Grunde doch recht harmlos sei, jedenfalls im Vergleich mit sonst üblichen Eingriffen, und führte zwei Dokumentarfilme vor, die Beschneidung eines kleinen Jungen und zum Vergleich das Schießen von Löchern durch die Ohrläppchen bei einem Mädchen. Die »Frankfurter Allgemeine« (Haupt, 2012) berichtete: »[…] währenddessen brach eine Frau im Saal ohnmächtig zusammen. Ihr war schlecht geworden, sie hatte sich einen Schluck Wasser holen wollen, es aber nicht mehr geschafft. Einem anderen Besucher wurde so übel, dass er den Sitzungssaal verlassen musste. Ein Zuhörer rief ›Sadist‹ in Richtung Latasch. […] Ein Zuhörer rief noch ›kannibalistisch‹, dann ging die Sitzung weiter. Latasch sprach noch fast zwanzig Minuten, er redete von uneingeschränkter ›Leistungsfähigkeit‹ beschnittener Männer und der Unmöglichkeit, auf die Beschneidung Neugeborener zu verzichten.« Wer die Situation nachempfinden möchte: Das Video mit der Beschneidung des kleinen Jakob war zunächst weiterhin im Internet zu sehen8. Ein vergleichbarer Film mit einer muslimischen Beschneidung war nicht zu finden. Trotz des Schocks: Der Ethikrat kam zu dem Schluss, man müsse das Beschneidungsritual wohl akzeptieren, es eben nur, soweit möglich, zu mildern versuchen. Und das Motiv ist ja auch nachzuvollziehen: Man scheute – vor 8

»The Circumcision of Jacob Chai« ist das von Prof. Dr. med. Leo Latasch in Ausschnitten im Ethikrat vorgeführte Video, ursprünglich abrufbar unter http://www.youtube.com/ watch?v=xTxD6 l-8ppw Das Video wurde leider blockiert. Alternativen unter http://vimeo.com/22940047 und http:// www.youtube.com/watch?v=xJd9dUMRUL8 (Zugriff am 06. 10. 2013).

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dem historischen Hintergrund des Holocaust in Deutschland – einen, sei es auch bloß argumentativen, Konflikt mit den Religionsgemeinschaften. Immerhin – der dritte Punkt aus den Forderungen des Ethikrates ist auch in den neuen Paragrafen des Bürgerlichen Gesetzbuchs eingegangen, der von Bundestag und Bundesrat im Dezember 2012 mit großer Mehrheit beschlossen wurde. Unter der Bedingung, dass die Beschneidung »nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden soll«, gilt es nun als »Recht« der Sorgeberechtigten, also in der Regel der Eltern, in die Beschneidung ihrer männlichen Kinder einzuwilligen (BGB, § 1631d). Wie das in der Praxis aussieht, lässt sich heute wohl noch nicht beurteilen. Den meisten Parteien, muss man befürchten, war es auch nicht so wichtig: Alle Fraktionen außer der »Linken« hatten vor allem das Ziel, das Thema rasch und unauffällig wieder los zu werden. Eine »Sternstunde« des Parlaments, wie die Bundesjustizministerin (Bundesministerium der Justiz, 2012) nachher sagte? Realistisch wird man sagen müssen: Die Religionsgemeinschaften forderten einen Kotau des säkularen Staates vor ihren Traditionen – und sie erhielten ihn. Zeitweise war eine alternative Konstruktion diskutiert worden: ins Strafgesetzbuch eine Klärung hineinzuschreiben, dass die religiös motivierte Beschneidung von Knaben straffrei bleibt – unter der Voraussetzung, dass sie möglichst schonend, also schmerzfrei und unter Vermeidung aller Risiken durchgeführt wird. Es kam gar nicht erst zu einer Detaildiskussion9. Die Vertreter der Religionsgemeinschaften wehrten diesen Vorschlag empört ab, weil damit doch, wenigstens prinzipiell, der Widerspruch zwischen der Beschneidung und dem Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit betont worden wäre. »Wat mut, dat mut« Wenn die erste Empörung abgeklungen sei, werde hoffentlich eine Diskussion darüber einsetzen, »wie viel religiös motivierte Gewalt gegen Kinder eine Gesellschaft zu tolerieren bereit ist«, hat der Passauer Strafrechtler Holm Putzke (2012), der die Debatte vier Jahre zuvor angestoßen hatte, das Kölner Urteil kommentiert. Mit etwas anderer Akzentsetzung gefragt: Darf sich der Staat seiner Aufgabe entziehen, das Individuum vor dem Zugriff mächtiger Organisationen und Traditionen zu schützen? Nun, was die Vertreter der Religionsgemeinschaften auf kritische Fragen geantwortet haben, erinnerte doch sehr an eine Auskunft, die der Heidelberger Indologe Axel Michaels (2007, S. 105 f.) bei Forschungen in Nepal erhielt. Er fragte einen Gesprächspartner, warum bei den hinduisti9

Wie Marlene Rupprecht (MdB) in ihrem Beitrag zu diesem Buch minutiös schildert.

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schen Opfern so viel Blut fließen müsse. Die Antwort lautete: »Wir wissen es nicht. Aber es muss sein.« Michaels (2007, S. 106) hat dieses Argument ins Niederdeutsche übersetzt: »Wat mut, dat mut«, und resümiert: »Besser kann man ein Ritual – und sei es noch so blutig – nicht in eine Formel zwingen.« So ist es wohl auch – nur dass weder unser analytischer Verstand noch unsere moralische Vernunft sich mit dieser Auskunft zufriedengeben wollen. Literatur Apuleius von Madaura (1961). Metamorphosen oder Der goldene Esel. Übersetzt von A. Rode. Reinbek: Rowohlt. Bibel. Bibelserver (Hrsg.). Einheitsübersetzung. Zugriff am 10. 04. 2013 unter http://www.bibleserver.com/start/EU. Bibelwissenschaft. Das wissenschaftliche Bibelportal der Deutschen Bibelgesellschaft. Zugriff am 15. 11. 2013 unter http://www.bibelwissenschaft.de/online-bibeln/luther-bibel-1984/lesen-im-bibeltext/bibel/text/ lesen/stelle/45///ch/8f81cabae9c6cf98bb237b3b8c8fa060/Bieritz, K.-H. (1987). Das Kirchenjahr. Feste, Gedenk- und Feiertage in Geschichte und Gegenwart. München: C. H. Beck. Bleibtreu-Ehrenberg, G. (1980). Mannbarkeitsriten. Zur institutionellen Päderastie bei Papuas und Melanesiern. Frankfurt a. M. u. a.: Ullstein. Blumenberg, Y. (2007). Wie kann aus der Begrenzung die Vollständigkeit entspringen? Psychoanalytische Überlegungen zur Beschneidung in der jüdischen Tradition. In Ch. von Braun, Ch. Wulf (Hrsg.), Mythen des Blutes (S. 227–244). Frankfurt a. M. u. New York: Campus. Bornkamm, G. (1969). Paulus. Stuttgart u. a.: Kohlhammer. Brown, I. B. (1866). On the curability of certain forms of insanity, epilepsy, catalepsy, and hysteria in females. London: Hardwicke. Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Zugriff am 21. 5. 2013 unter http://www.gesetze-im-internet.de/ bgb/Bundesministerium der Justiz. Presseerklärung vom 14. 12. 2012. Zugriff am 21. 05. 2013 unter http://www.bmj.de/SharedDocs/Kurzmeldungen/DE/2012/20121214_Bundestag_entscheidet_ueber_die_beschneidung.html?nn=3433226 Charta Beschneidungsforum. Beschneidung von Jungen. Zugriff am 13. 04. 2013 unter http://www. beschneidung-von-jungen.de/home/beschneidung-und-religion/judentum/beschneidungim-judentum.html Deutscher Ethikrat (2012). Ethikrat empfiehlt rechtliche und fachliche Standards für die Beschneidung. Pressemitteilung 09/2012. Zugriff am 12. 04. 2013 unter http://www.ethikrat.org/presse/ pressemitteilungen/2012/pressemitteilung-09–2012 Eliade, M. (1961). Das Mysterium der Wiedergeburt. Initiationsriten, ihre kulturelle und religiöse Bedeutung. Zürich u. Stuttgart: Rascher. Esser, F. (2012). Mein Sohn freut sich auf seine Beschneidung. Bildzeitung vom 10. 07. 2012. Zugriff am 12. 04. 2013 unter http://www.bild.de/news/inland/beschneidung/mein-sohn-freut-sichauf-seine-beschneidung-25078404.bild.html Flavius Josephus (1987). Jüdische Altertümer. Übersetzt von H. Clementz. Wiesbaden: Fourier. Focus-Online (2012). Beschneidungs-Urteil empört Rabbiner: »Schwerster Angriff auf das jüdische Leben seit dem Holocaust«. Focus-Online vom 12. 07. 2012. Zugriff am 13. 04. 2013 unter http://www.focus.de/politik/deutschland/tid-26512/beschneidungs-urteil-empoert-rabbinerschwerster-angriff-auf-das-juedische-leben-seit-dem-holocaust_aid_781078.html Foote, G. W., Wheeler, J. M. (1887). Crimes of christianity. Zugriff am 10. 10. 2013 unter http://

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Medizingeschichtliche und urologische Aspekte der Knabenbeschneidung

Zur Einführung Nach einer medial weit angelegten öffentlichen Debatte1 wurde im Jahre 2012 in der Bundesrepublik Deutschland ein Gesetzgebungsverfahren auf den Weg gebracht, das in § 1631d BGB die Zulässigkeit der nichtmedizinischen Knabenbeschneidung ab dem 28. 12. 2012 endgültig regelte und in dem auch festgelegt wurde, dass in den ersten sechs Monaten nach der Geburt des Kindes auch von einer Religionsgesellschaft dazu vorgesehene Personen Beschneidungen ausführen dürfen (Deutscher Bundestag, 2012, S. 26073–26107, S. 26110–26112, S. 25151–26172). International wurde 2009 die juristische Behandlung eines religiös motivierten Beschneidungsfalles eines Jungen zum Beispiel im »Journal of Clinical Ethics« multiperspektivisch diskutiert (Davis, 2009; Dolgin, 2009). Nach einer kurzen Übersicht werden in dem folgenden Beitrag neben fachurologischen Aspekten besonders die verschiedenen medizinhistorischen Zusammenhänge in den Weltreligionen und die Medikalisierung eines beispielsweise im Judentum und Islam religiös motivierten Eingriffs vorgestellt und diskutiert. Die Knabenbeschneidung als historische, religiöse und kulturell motivierte Operation Die Zirkumzision (lat. Circumcisio; hebr. Milah, griech. Peritome, mhd. Besnîden: »stutzen, zurückschneiden«), die totale oder teilweise Entfernung der Vorhaut (Präputium) des männlichen Gliedes mit oder ohne medizinische Indikation, gehört neben dem Steinschnitt, der offenchirurgischen Entfernung von 1

In dieser Debatte dienten auch historische Darstellungen in führenden deutschen Tageszeitungen als Argumentationslinie. So wurde bei einem Telefoninterview des Autors dieses Beitrags für die »FAZ« (Schulz, 2012) aus dem Wort »kaum« im Interview in der markanten Überschrift »kein«. Eine schrift liche Stellungnahme wurde nicht abgedruckt.

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Blasensteinen durch Handwerkschirurgen, der Hydrozelenpunktion (Punktion eines Wasserbruches des Hodens) und dem transurethralen Katheterismus (der Einführung eines Blasenkatheters durch die Harnröhre) wohl zu den ältesten mit der Medizin assoziierten urologischen Eingriffen. Nach verschiedenen in der Literatur vorliegenden Quellenangaben sind ungefähr 25–33 % der männlichen Weltbevölkerung beschnitten. Der Eingriff ist wohl die häufigste Operation im Kindesalter; in den USA werden heute circa 55–60 % der Neugeborenen beschnitten, in den 1970er Jahren waren es um die 70 % (Wallerstein, 1985), in Deutschland und Österreich heute circa 10 %. Aber schon die Erhebung der Daten wird kontrovers diskutiert. Konsens herrscht, dass die Zahlen in den USA eher abnehmen (Moses, Bailey u. Ronald, 1998; World Health Organization and Joint United Nations Programme on HIV/AIDS, 2007). Interessanterweise wurden ökonomische Aspekte bisher nur wenig untersucht (Money, 1989). Bei den Anzeigestellungen unterscheidet man lehrbuchmäßig stets die medizinisch indizierten von den rituellen Beschneidungen (Rübben u. Rübben, 2012). Bei den medizinisch indizierten steht heute die Phimose, die Vorhautenge, neben Entzündungen und nicht reponierbarer Paraphimose im Vordergrund (Rickword, 1999 [britische Sicht]; Holman u. Stuessi, 1999 [US-Sicht]; die AWMFLeitlinie Phimose und Paraphimose wird zurzeit überarbeitet, eine aktuelle Darstellung siehe Rübben u. Rübben, 2012, sowie den Beitrag von Kupferschmid in diesem Buch). Dies war nicht immer so. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts umfasste der Indikationsrahmen auch die Neurasthenie, die Onanie oder allgemein Geschlechtskrankheiten sowie Hygiene (Guiteras, 1912; Kaufmann, 1886, insb. S. 192 f.; Fleury, 1851). Bei heißem trockenem Klima und gleichzeitig mäßiger Hygiene konnte seinerzeit ein gesundheitlicher Nutzen aus der Zirkumzision resultieren, wie einige Forscher vermuten. Die Studienlage zu allen weiteren Indikationen, wie zum Beispiel Harnwegsinfekten und Zervixkarzinomen der Frau, ist unsicher und scheint eher von der Nationalität, Religion, Studienfinanzierung, Kohortengröße etc. abhängig zu sein. Die Diskussion um einen Infektschutz insbesondere vor der Syphilis (Hutchinson, 1855) dauerte seit dem 19. Jahrhundert bis zur antibiotischen Ära an. Die Phimose als urologisch bedeutsame Erkrankung ist spätestens seit dem Film der Regisseurin Sofia Copolla »Marie Antoinette« (USA 2006) als Eheproblem Ludwigs XVI. (1754–1793) und seiner Frau Marie Antoinette (1755–1793) auch einem weiteren Publikum bekannt. Bekanntermaßen konnte der französische König die Ehe nicht vollziehen, da bei einer wahrscheinlich bestehenden Phimose bzw. bei einem Frenulum breve

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(einem verkürzten Vorhautbändchen) nur schmerzhafte Erektionen möglich waren. Ob sein Leibarzt Joseph-Marie-François Lassone (1717–1788) eine Operation ausführte, lässt sich aus den französischen oder österreichischen Quellen bisher direkt nicht entnehmen. Den gesamten Umstand beschrieb Stephan Zweig in seinem Roman »Marie Antoinette: Bildnis eines mittleren Charakters« meisterhaft (Zweig, 1932). Erst spät gebar Marie Antoinette den ersehnten Thronfolger (Androutsos, 2002; Wikipedia, 2013; Andresen, 2010; Lasson, 1787). Embryologie und Klinik Ab der 12. Schwangerschaftswoche ist die Vorhautanlage als Hautfalte (epitheliale Falte) auf dem Geschlechtshöcker (Genitaltuberkel) zu erkennen, welche zunächst mehr auf der dorsalen Seite ausgebildet ist. Im 5. Schwangerschaftsmonat fusioniert sie ventral und die Raphe scroti wird gebildet. Die innere Oberfläche/das innere Vorhautblatt und die Schleimhaut der Eichel (Glans penis) bestehen aus demselben Gewebe und sind fast vollständig miteinander verschmolzen. Ab dem 6. Monat führt dann die zunehmende Akkumulation von abgeschilferten Epithelzellen zu einer sanften und allmählichen Separation des inneren Vorhautblatts von der Glans. Das gebildete infantile Smegma weist gegenüber dem Erwachsenen eine völlig andere Zusammensetzung aus (Favori, Balassiano, Costa u. Sampaio, 2012; Cold u. Taylor, 1999). Bei der Geburt lässt sich die Vorhaut nur bei circa 4–5 % der Jungen zurückstreifen, somit ist dies bei Neugeborenen physiologisch und nicht einer Phimose gleichzusetzen. Im Alter von sechs Monaten lässt sich bei etwa 20 % der Jungen die Vorhaut zurückstreifen, bei den Dreijährigen sind es 90 %. Bei 17-jährigen Jungen findet sich nur noch in etwa 1 % eine nicht zurückstreifbare Vorhaut und in 3 % Verklebungen (Rübben u. Rübben, 2012; Gairdner, 1949). Ein regelmäßiges Zurückziehen der Vorhaut mit dem Ziel einer Vorhautdilatation bzw. eines Stretchings sollte bei Phimosen nicht durchgeführt werden. Der fibröse Ring kann zwar häufig ausreichend geweitet werden, jedoch entstehen hierbei kleine epitheliale Läsionen, welche die Entstehung von Vorhautentzündungen begünstigen und somit aus einer relativen Phimose eine absolute entstehen kann. Von diesen physiologischen Veränderungen lassen sich Pathologien abtrennen wie die Paraphimose, auch »Spanischer Kragen« genannt. Häufig finden wir diese in der klinischen Routine bei unsachgemäßer Katheterpflege, wenn nach dem Waschen die Vorhaut nicht in die Ursprungslage zurückgestreift wird.

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Bei einer Paraphimose kommt es zu einer langsamen Behinderung der Lymphdrainage und des Blutstroms. Bei diesem urologischen Notfall ist eine sofortige Reposition nach vorheriger Kompression notwendig. Sollte dies manuell nicht möglich sein (ein Peniswurzelblock als lokale Anästhesiemethode kann hilfreich sein), erfolgt die dorsale Inzision, also ein Längseinschnitt der oberen Vorhaut (Rathert, 1993). Auch rezidivierende Vorhautentzündungen und Entzündungen der Glans penis können über Schwellungen und Narbenbildungen zu Phimosen führen und gleichzeitig diese Entzündungszustände weiter unterhalten. Verengungen der Vorhaut können, nicht nur bei Senioren, sogar Blasenentleerungsstörungen befördern (Hautmann u. Huland, 2006, S. 428; Schumacher, Winiker, Aebersold Keller u. Caduff, 2013). Auch ein Zusammenhang mit einem HIV-Risiko wurde in der Literatur diskutiert, ein statistischer Zusammenhang aber nach allgemein gültigen statistischen Regeln nicht nachgewiesen (Van Howe, Svoboda u. Hodges, 2005). Auch wurde die Beschneidung als Schutz vor venerischen Erkrankungen angesehen. In einer großen Literaturübersicht von Van Howe et al. (2005) fand sich hierfür jedoch kein eindeutiger Hinweis. Es zeigte sich kein deutlicher Trend dahingehend, dass Männer mit intakter Vorhaut häufiger an Syphilis, einem Ulcus molle oder einer Herpesinfektion erkranken (Van Howe, 1999). Die Diskussion über die Technik der Operation ist in der Literatur seit längerem abgeschlossen, es existieren weit mehr als hundert verschiedene Operationstechniken in verschiedenen Modifikationen (Kaless, 1983; Kaufmann, 1886; Schröder, 1937). Mit der Beschneidung, insbesondere ohne medizinische Indikation, bildeten sich schon früh Gegenbewegungen und Operationen heraus. Der römische Enzyklopädist Celsus (25 v. Chr. bis 50 n. Chr.) beschrieb in seinen »De medicina libri octo« bereits zwei operative Techniken, um den Eingriff rückgängig zu machen. Weitere Erwähnungen bei Galen (131–200 n. Chr.) und Paulus von Aegina (circa 625–690 n. Chr.) wiederholen diese Beschreibungen (Hodges, 2001; Schultheiss, Truss, Stief u. Jonas, 1998; Adams, 1844–1847). Andere Autoren führen Dehnungen des verbliebenen Hautanteils durch (Griffin, 1992). Teils werden heute unter anderem Hauttransplantate in das äußere Vorhautblatt eingefügt. Felix Bryk (2001, S. 18), der in den 1920er Jahren eine Übersicht aller Gebiete dieses Themenkreises herausbrachte und die auch eine englische Übersetzung erfuhr, unterscheidet fünf Arten der Beschneidung: 1. körperliche Beschneidung (die eigentliche Operation), 2. geistige Beschneidung (von Paulus eingeführter Begriff im Gegensatz zur körperlichen und mit Aufnahme in die »neue« Religion [Christentum] verbunden),

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3. fiktive Beschneidung (gemeint ist die symbolisch-magische Übertragung der Beschneidung auf den de facto nichtbeschnittenen Moses), 4. posthume Beschneidung (bei orthodoxen Juden geübter Brauch, falls ein Junge vor der Beschneidung stirbt), 5. göttliche/himmlische Beschneidung (Der Begriff knüpft an die Problematik der Vorhaut Christi an, die dieser bei seiner Himmelfahrt besessen oder nicht besessen habe. Für viele Theologen des Mittelalters war die Vorhaut nicht zur Integrität des Auferstandenen notwendig, andere aber meinten, dass dadurch andere Auferstandene nicht Christus gleich wären und sich vor dem Eintritt in die Seligkeit erst dem Eingriff unterwerfen müssten; Bryk, 1931, S. 12). Die vielfältigen Deutungsmuster der Beschneidung reichen von Wiedergeburtstheorien, Opfern, kultischer Reinheit, Weihe, apotropäischem (ἀποτρόπαιος »abwehrend«, Handlungen die Dämonen abwehren sollen) Ritus, Magie, Vorbereitung auf den Sexualakt des Mannes, Steigerung oder Minderung der sexuellen Lust, Initiation, Härtetest, ethnischem Zeichen, sozialer Unterscheidung, symbolischer Kastration und Inszestprophylaxe bis hin zu rein medizinischen Gründen bei Verengung des Präputiums (Alabay, 2012, S. 140–148). Historische Aspekte der Knabenbeschneidung Die Ursprünge des Eingriffs lassen sich nicht genau lokalisieren und verlieren sich im »Dunkeln« der Geschichte (Bryk, 1931, S. 98–126). Sie ist nicht spezifisch für das Judentum oder den Islam, sondern kommt bei vielen indigenen Bevölkerungsgruppen in trockenen Gebieten Afrikas (Bryk, 1928, S. 54–71) und Australiens vor. Es gibt Vermutungen, dass die Beschneidung der Kontrolle des Geschlechtslebens (bei Sklaven) dienen sollte, ohne die Fruchtbarkeit zu beeinflussen. Es gibt auch Auffassungen, die die Beschneidung als modifizierte Kastration ansehen (Mordeniz u. Verit, 2009). Bei einigen Völkern gehört die Beschneidung zu den Initiationsritualen (Bosse, 2000, S. 83–91; Haeger, 2005, S. 30–32). Bei den Bambara in Südost-Mali stellt die Beschneidung einen Mannbarkeitsritus dar, der die ursprüngliche Androgynität, als »verhexte Weiblichkeit« durch die Vorhaut symbolisiert, aufheben soll (Eliade u. Culianu, 2004, S. 37–39). Bei australischen Ureinwohnern und Bewohnern der westpazifischen Inseln wird der Eingriff im Rahmen von weiteren Initiationsriten ausgeführt. Oftmals wird hier zusätzlich die vordere Harnröhre gespalten oder es werden weitere Implantate unter die Penisschafthaut oder Eichel eingesetzt.

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Beschneidung im alten Ägypten

Bereits in einem Grabrelief des Ankh-ma-hor, Architekt des Pharaoh Teti (2345– 2333 v. Chr.) aus Sakkara (südlich von Kairo), wird eine Beschneidung (Sebi) – wahrscheinlich von Sklaven – dargestellt (s. Abbildung 1). Die Ägypter gehören zu denjenigen westsemitischen Volksgruppen (Barton, 1902, S. 98–100; Wilson, 1950; Zacco, 2002), die den Eingriff praktizierten, ebenfalls wie weitere Stämme, unter anderem die Kanaaniter, Ammoniter, Moabiter, Edomiter, Phönizier, Aramäer und die Israeliten. Der Eingriff wurde bereits von Herodot erwähnt, der erklärte, dass das Ritual »der Reinlichkeit wegen« ausgeführt werde (zit. nach Deusel, 2012, S. 48; Dunsmuir u. Gordon, 1999; Herodot, o. J., S. 114–117; Reich, 1869).

Abbildung 1: Grabrelief Ankh-ma-hor/Sakkarah, 6. Dynastie 2350–2000 v. Chr., Museum und Archiv, Deutsche Gesellschaft für Urologie, Repro Keyn, mit freundlicher Genehmigung

Beschneidung im Judentum (Brit Mila)

Im Judentum wird die Beschneidung (Brit Mila) auf den Stammvater Abraham um 1800–1600 v. Chr. zurückgeführt (Bryk, 2001, S. 34–58). Forschungen deuten jedoch darauf hin, dass die Israeliten das Beschneiden der männlichen Vorhaut von den Ägyptern übernommen haben könnten oder sogar erst im Babylonischen Exil um 600 v. Chr. einführten (Gollaher, 2000, S. 6). Durch die Einführung des Rituals wurde die Beschneidung von neugeborenen Jungen zur religiösen Pflicht. Sie muss am achten Tag nach der Geburt stattfinden. Im Judentum sieht man die Beschneidung als Bund mit Gott an, sodass sie bis heute zur Anwendung kommt (Deusel, 2012, S. 28–46; Gollaher, 2000, S. 6–30, insb. S. 8–10). Die Beschneidung war ein wichtiges Zeichen des Bekenntnisses zum Judentum in Mitteleuropa (Glick, 2005, S. 55–115). Heute stellt sie für viele eher weltlich Lebende das letzte überhaupt noch verbliebene Zeichen der Verbindung zum Judentum dar (Schlich, 1998, S. 147).

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Beschneidung im Römischen Reich

Wie die Griechen waren die Römer nicht nur aus soziokulturellen Gründen gegen eine Beschneidung, die ihnen als pejorativ und politisch suspekt vorkam (Hodges, 2001). Weiterhin sahen sie darin eine Identifikation mit den Juden (Deusel, 2012, S. 98–99; Schäfer, 2010, S. 139–156). Der Eingriff wurde ähnlich wie eine Kastration angesehen. Die römische Gesetzgebung verbot den Eingriff der Kastration ebenfalls, da Eunuchen-Sklaven als wertvoller galten, da diese ihrem Herrn loyaler sein sollten (Abusch, 2003, S. 75–86). Beschneidung im Christentum (Circumcisio)

Der Apostel Paulus als Nichtjude sprach sich gegen die Beschneidung der Heidenchristen aus und interpretierte die körperliche bzw. geistige Beschneidung neu (Gollaher, 2000, S. 31–33). Nur einige Kirchen wie die koptisch-orthodoxe oder die äthiopisch-orthodoxe Kirche hielten an dem Ritus fest. Im Christentum löste die Taufe die Beschneidung als Zeichen des Neuen Bundes ab (Deusel, 2012). Bei den Judenchristen zählte die Zirkumzision zu den zentralen Fragen der neuen religiösen Bewegung. Hätte man sie zu den Heilserfordernissen gewertet, so hätte dies die Missionstätigkeit vor allem von Paulus massiv erschwert, wenn nicht gar verunmöglicht, da Erwachsene nicht zu einem solchen Akt zu bewegen gewesen wären. Auf dem Jerusalemer Konzil um die Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. setzte sich aufgrund der Autorität des Jakobus letztlich die Position von Paulus durch, der auf die körperliche Beschneidung verzichten wollte und stattdessen eine spirituelle Beschneidung propagierte. Die Abkehr von der Beschneidung bildete eine entscheidende Weichenstellung für die Verselbstständigung der neuen religiösen Bewegung des Christentums von der jüdischen Orthodoxie (Maier-Leonhard, 1959, S. 967–976). Daher existiert zu diesem besonderen Themenkomplex eine umfangreiche religionswissenschaftliche Literatur (Conzelmann, 1978; Baumann, 1986). Medizinisch festzuhalten bleibt, dass bei den »rituellen« Eingriffen immer eine radikale Resektion des inneren und äußeren Vorhautblatts im Bereich des Sulcus coronarius (Eichelkranzfurche) vorgenommen wird. Die »Beschneidung Christi« als Topos in der Kunst

Die Beschneidung Jesu (circumcisio domini) bildet einen interessanten Topos der Kunstgeschichte (Mattelaer, Schipper u. Das, 2007; Pust, Drost, Willerding u. Bschleipfer, 2005) und religionsgeschichtlich entbrannte über die »Hochheilige Vorhaut Christi« und deren Status (sanctum praeputium) ein Streit. Der Wiederauferstandene war ja seiner Vorhaut beraubt. In unzähligen Altarbildern,

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besonders in Zyklen des Marienlebens oder auch als Einzeldarstellung, wurde der operative Eingriff bildlich, teils in antijüdischer Haltung, mit übergroßen Messern oder Scheren im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit dargestellt (s. Abbildung 2).

Abbildung 2: Beschneidung Christi, Meister des Tucher-Altars, Aachen Suermondt – Ludwig-Museum, Inv. 312 (um 1450), Öl, Nadelholz 101 x 90, Abb. Museum und Archiv, Deutsche Gesellschaft für Urologie

Ob die »Abschaffung« des Festes aus dem liturgischen Kalender 1969 auf eine antijüdische Haltung der katholischen Kirche zurückzuführen ist oder eher eine Leibferne ausdrückt, bleibt in den Untersuchungen zu diesem Themenbereich umstritten (vgl. hierzu Religionsphilosophischer Salon, 2012; Gollaher, 2000, S. 35; Müller, 1907, S. 51; Clemen, 1909, S. 137–144; Shell, 1997; Palazzo, 2005).

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Dass Jesus gemäß jüdischem Brauch (Gen 17,10–14) am achten Lebenstag (1. Januar, Zirkumzisionsstil des Kalenders2) beschnitten wurde, berichtet der Evangelist Lukas. Nach christlicher Auffassung galt die Beschneidung als Argument, dass Jesus Christus »wahrer Mensch und wahrer Gott« sei. Beschneidung im Islam

Die männliche Beschneidung im Islam wird universal unter Muslimen vollzogen (Ruthven, 2000, S. 110). Darüber hinaus kommt dem Eingriff eine tiefe Bedeutung für das Gemeinschaftserleben zu (Gollaher, 2000, S. 44–52). Er geht auf jüdische und christliche vorislamische Traditionen zurück (Alabay, 2012, S. 135–221). Bei zwei der sunnitischen sowie den schiitischen Rechtsschulen gilt die Beschneidung als religiöse Pflicht (wajib), bei den weiteren sunnitischen Rechtsschulen gilt sie als mit Nachdruck empfohlene Tradition des Propheten (sunna muakkadah). Im Koran wird der Eingriff hingegen nicht explizit erwähnt. In der Regel wird er im Alter zwischen sieben und 13 Jahren durchgeführt. Die Beschneidungsdebatte im 18. und 19. Jahrhundert – Moralisierung und Medikalisierung der Zirkumzision

Zur Zeit der Aufklärung keimte eine Anti-Onanie-Debatte unter nichtreligiösen Vorzeichen auf. Eine wichtige Basis und Argumentationsgrundlage war das ab 2

Es gibt unterschiedliche Stile des Kalenderanfangs und der Jahreszählung: Innerhalb des julianischen Kalenders (und teilweise auch noch innerhalb des gregorianischen) waren im Mittelalter und der frühen Neuzeit verschiedene Jahresanfänge (Stile) bekannt. Vorcäsarischer Kalender: Jahresanfang am 1. März (Verbreitung: Russland (bis 13. Jh.), Venedig (bis 1797), Frankenreich (bis ins 8. Jh.). Dieser Jahresanfang entspricht dem römischen Kalender vor Cäsar. Zirkumzisionsstil: 1. Januar zufällig gleich dem jüngeren römischen Kalender nach Verlegung des Jahresanfangs vom 1. März auf 1. Januar (später auch im gregorianischen Kalender). Annunciationsstil (Calculus Florentinus): Das Jahr beginnt am 25. März (England bis 1752, Pisa bis 1749; Kirchenprovinz Trier bis 1648). Osterstil: Verbreitung: Frankreich (bis 1563), Kirchenprovinz Köln. Da der Ostertermin beweglich ist, kamen gewisse Daten im März/April in einem Jahr doppelt vor, in einem anderen überhaupt nicht. Statt am Ostersonntag fi ng man das Jahr manchmal auch am Karfreitag oder Karsamstag an. Jahresanfang am 1. September: in Teilen des byzantinischen Reiches, Russland bis 1700. Weihnachtsstil/Nativitätsstil: das Jahr beginnt am 25. Dezember (Geburt Christi), (Verbreitung: Kirchenprovinz Mainz und der größte Teil Deutschlands. Die heutige Wendung »zwischen den Jahren« bedeutet eigentlich »zwischen den beiden Terminen, an denen man ein Jahr anfangen kann« und erinnert somit noch an den Weihnachtsstil). In Kulturkreisen mit Mondkalender (Judentum, Islam, Südostasien) ist der Jahresanfang variabel.

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1760 in unzähligen Auflagen und Übersetzungen verbreitete Werk des Lausanner Arztes Simon Auguste Tissot (1728–1797) »L’onanisme. Dissertation sur les maladies produites par la masturbation« (Tissot, 1760; Singy, 2010) (s. Abbildung 3).

Abbildung 3: Frontispiz der deutschen Ausgabe der Arbeit Tissots zur Onanie, 1760, Repro Keyn, mit freundlicher Genehmigung

Dieses beförderte besonders von England ausgehend eine breite nichtreligiös motivierte Indikationsstellung der Operation (Darby, 2003a), da diese Form der Eigensexualität nach Auffassung zeitgenössischer Autoren zu Epilepsie, Neurasthenie und zur »Erweichung von Körper und Geist« führen könnte. Zwischen 1860–1870 nahm die Diskussion in der medizinischen Fachliteratur nochmals deutlich zu (Johnson, 1823, »promotes circumcision of boys with long foreskins to ›cure‹ masturbation«, zit. nach http://www.circumstitions.com/Chronology. html; Gollaher, 1994). 1881 erschoss Charles Guiteau (1841–1882) den amerikanischen Präsidenten James A. Garfield (1831–1881). Das Unbeschnittensein und die Smegmaretention Guiteaus wurden für seine geistige Unzurechnungsfähigkeit als ursächlich angesehen (Hodges, 1999, S. 45). Parallel hierzu begann in den USA, in England und teilweise auch in Australien eine breite Propagierung des Eingriffs zur Hygieneverbesserung und Masturbationskontrolle (Glick, 2005, S. 149–178). Zu den bekanntesten medialen Verfechtern in den USA gehörte der Cornflakes-Hersteller John Harvey Kellogg (1852–1943, s. Abbildung 4), der den Eingriff in populären Schriften warm empfahl (Kellogg, 1888, S. 290–296, s. Abbildung 5). Der 1993 erschienene Roman von T. C. Boyle »The Road to Wellville« wurde 1994 unter gleichnamigem Titel (deutsche Übersetzung: »Willkommen in Wellville«) verfilmt mit Anthony Hopkins als John Kellogg. Die Beschneidungsdebatte im 19. Jahrhundert ist ein prägnantes Beispiel für die Medikalisierung eines initial kulturell geprägten Eingriffs besonders

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Abbildung 4: John Harvey Kellogg (1852–1943), Miterfinder der Cornflakes und der Erdnussbutter, Leitender Arzt des Battle Creek Sanatoriums

Abbildung 5: Frontispiz »Plain Facts for Old and Young«, Repro Keyn, mit freundlicher Genehmigung

in den USA. Das soziologische und historische Modell der Medikalisierung beschreibt die Ausweitung medizinischer Deutungshoheit und Handlungssphären in ursprünglich nicht medikale oder medizinisch begriffene gesellschaftliche und religiös-kulturelle Bereiche (Conrad, 2007; Darby, 2001; Darby, 2005; Gollaher, 1994). Die medizinische Fachliteratur war mit Artikeln zu positiven Effekten der Beschneidung geradezu überhäuft, insbesondere nachdem der Arzt Lewis A. Sayre (1820–1900) angeblich nachwies, dass das Krankheitsbild der spinalen Paralyse, nach dem Wissensstandard der Zeit entstanden durch falsche Verschaltung von cerebralen Reflexbahnen, hierdurch geheilt werden könne (Fisher, 1895, S. 875; Hutchinson, 1891; Moses, 1871; Sayre, 1870; Sayre, 1876, S. 13–18). In einer Arbeit von 1894 wurden 29 Indikationen zur Zirkumzision angegeben, wobei die Syphilis hier noch nicht einmal genannt wurde (Ricketts, 1894). Diese »hygienischen« antimasturbatorischen Empfehlungen zur Zirkumzision tauchen noch 1970 in der »Bibel der Amerikanischen Urologie«, 3. Auflage, von Meredith F. Campell (1894–1969), auf: »Parents readily recognize the importance of local cleanliness and genital hygiene in their children and are usually ready to adopt measures which may avert masturbation. Circumcision is usually advised on these grounds […]« (Campbell u. Harrison, 1970, S. 1836) und spiegeln so noch immer die weit verbreitete Publikation von Peter Charles Remondino

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(1846–1926), einem Arzt aus San Diego, wider, der 1891 eine auflagenstarke »History of Circumcision from earliest times to the present« verfasste (Remondino, 1891). Das Statement der positiven Beeinflussung von Onanie (Spratling, 1895, S. 443)‚ Bettnässen (Bell, 1873; Sayer, 1887, S. 631–633), Syphilis (Darby, 2003b; Freeland, 1900), Krebs, Vorhautkonkrementen und Rektumprolaps (Naylor, 1901) veranschaulicht die lang andauernde Debatte in den USA mit Entwicklung einer Durchschnittsindikation gut. Die am Ende des 19. Jahrhunderts in den USA sehr populäre Orifizialchirurgie (Chirurgie an den Körperöffnungen) sollte helfen, chronische Leiden positiv zu beeinflussen (Pratt, 1912). Gerade die jüdische Zirkumzisionstradition war eine wichtige Verbindungslinie zur säkularen Propagierung der Beschneidung in den USA, da sich die innerjüdischen Argumente bei einem hohen jüdischen Bevölkerungsanteil mit den sich neu entwickelnden naturwissenschaftlich anmutenden Begründungen in den USA stark vermischten (Glick, 2005, S. 174–177; S. 179–215). Während um 1860 noch nicht einmal 1 % der männlichen Amerikaner beschnitten waren, waren es um 1970 fast 90 %. Aus einem rituellen Eingriff hatte sich in den USA ein medizinisch indizierter, medikalisierter Eingriff entwickelt (Gollaher, 1994). War besonders in den englischsprachigen Ländern die Neugeborenenbeschneidung weit verbreitet, übernahm jedoch bis auf die USA kein weiteres Land diesen Eingriff als Routine (Wallerstein, 1985). Ab Ende der 1940er Jahre regte sich in England erstmals Widerspruch mit einer Publikation des britischen Pädiaters Douglas Gairdner (1910–1992) mit dem Titel »The Fate of the Foreskin« (1949), in der er später auch unnötige Tonsillektomien anprangerte. Interessanterweise wurde und wird der ökonomische Aspekt der Operation bisher in der Literatur nur wenig beleuchtet. In den USA wurde 2012 eine Kostenzunahme bei sinkenden Beschneidungszahlen aufgrund der Rate gestiegener Harnwegsinfekte diskutiert (Jaslow, 2012; siehe hierzu aber den Beitrag von Kupferschmid in diesem Buch). Kritik und gesetzliche Regelungen zur religiösen Beschneidung in Deutschland im 19. Jahrhundert

Im Gegensatz zu den USA wurde im deutschen Sprachraum die jüdische Zirkumzision und insbesondere die Mezizah, das Absaugen des blutigen beschnittenen Gliedes mit dem Mund, schon im 19. Jahrhundert, noch vor genauer Kenntnis der Bakteriologie, von ärztlicher Seite kritisch betrachtet, weil diese Praxis medizinische Risiken barg. Auf theologischer Seite wurde dieser Eingriff als Hindernis für eine Integration der jüdischen Bevölkerung angesehen (Paulus, 1831).

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Mit verschiedenen Gesetzen und Verordnungen wurde in Deutschland eine Sachkunde des Mohels (des jüdischen Beschneiders) verlangt (z. B. Berlin 1819: »dass künftig bei dem Beschneidungsgeschäfte ein Wundarzt zugegen […] [und der Beschneider ein] anerkannt sittsamer Manne [ist], der von dem Wundarzte gehörig instruiert worden ist«). Für das Rheinland wurde 1830 (Bergson, 1844, S. 40–43) festgelegt, »jedem nicht zur Beschneidung der Judenkinder Autorisierten die Beschneidung [zu] verbieten« (Bryk, 2001, S. 234; Salomon, 1844, S. 58–61). Dies ermöglichte letztendlich der jüdischen Bevölkerung, unter medizinischer und staatlicher Aufsicht den Eingriff bei noch nicht abgeschlossener innerjüdischer Debatte weiter auszuüben. Reformrabbiner diskutierten 1843 in Frankfurt die Frage der Beschneidung. Die Argumentationslinie war schon damals, dass eine Beschneidung nicht ausschlaggebend sei für eine Mitgliedschaft in der jüdischen Gemeinde. Die Diskussion dauerte über zwanzig Jahre und endete mit der Übernahme der Haltung gemäßigter Reformer, die den Eingriff, wenn auch mit Änderungen der operativen Technik und der Hygiene, beibehalten sehen wollten (Ben Rabbi, 1844; Bryk, 2001, S. 235–236; Deusel, 2012, S. 123–125, S. 127; Holdheim, 1844; Gollaher, 2000, S. 27; Judd, 2007; Trier, 1844, mit einer Auswahl von Briefen an den Frankfurter Rabbiner, die die Beschneidung aus vielfältigen innerjüdischen Blickwinkeln als unbedingt notwendig erachten). So publizierte Leopold Zunz (1794–1886), einer der Begründer der »Wissenschaft des Judentums«, 1844 ein »Gutachten über die Beschneidung«, in dem er Argumenten der Reformbewegung Rechnung trug, aber davor warnte, Grundbestandteile des Judentums zu veräußern (Deusel, 2012, S. 126; Wieseltier, 1981). Allerdings gewannen jetzt auch in der innerjüdischen Debatte zunehmend Ärzte und medizinische Argumente an Bedeutung. Der Hamburger Arzt Moritz Gustav Salomon (1817–1883) kam 1844 zu dem Ergebnis, dass die Beschneidung überhaupt keine religiöse, sondern lediglich eine politische Bedeutung habe. Salomon untermauerte seine medizinischen Argumente mit religiösen, ohne sich aber durch rabbinische Autoritäten abzusichern (Salomon, 1844; Sökeland, 2012; Wolff, 2002, insb. S. 135). Nur ein Jahr später gab der österreichische Arzt Gideon Brecher (1797–1873) in einer Schrift insbesondere den Mohels eine Anleitung für die Praxis. Im Gegensatz zu anderen Ärztekollegen forderte er lediglich den Verzicht auf die Mezizah (Brecher, 1845). Der jüdische Dessauer Arzt Adolph Arnhold (1808–1872) beschrieb 1847 ausführlich, warum die Beschneidung als »verbindliches Ritual der Juden« überholt sei. Er ging von religiösen Überlegungen aus, bezeichnete die biblischen

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Beschneidungsanordnungen als lediglich für die »unbefangenen Gläubigen« von Bedeutung und kam zum Ergebnis, dass der materielle Akt der Beschneidung zur »überflüssigen und nutzlosen Schale des geistig entblößten Kerns« geworden sei. Die medizinischen Argumente nahmen bei ihm allerdings nur eine untergeordnete Stellung ein (Arnhold, 1847). Die beschriebenen medizinischen Arbeiten wurden in der zweiten Auflage von Virchows »Handbuch der speciellen Pathologie und Therapie« unter der Überschrift »Krankheiten des Präputiums« ausführlich im Literaturverzeichnis gewürdigt und waren somit auch nichtjüdischen Ärzten bekannt (Virchow, 1864, S. 3–4). Im gleichen Zeitraum wurden seitens des Staates weitere Verordnungen zur Durchführung der Beschneidung erlassen. Eine Verordnung der Stadt Frankfurt am Main aus dem Jahr 1843 sollte den Gefahren einer Beschneidung durch dafür nicht qualifizierte Personen vorbeugen (Kirchheim, 1843) und lenkte auch hier – wie zuvor schon in Preußen und im Rheinland – die Diskussion staatlicherseits in eine medizinische Richtung (vgl. Abbildung 6).

Abbildung 6: Frontispitz »Der Orient«, 1843. Die Diskussion um die Beschneidung in Frankfurt 1843 wurde in der jüdischen Presse ausführlich wahrgenommen und diskutiert.

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Im Königreich Sachsen entschied 1844 das Innenministerium, die »Beschneidung als religiöse[n] Brauch […] völlig frei und unangetastet, wie bisher zu belassen« (Allgemeine Zeitung des Judenthums, 1844, S. 701). Gleichzeitig wurden bestimmte Anforderungen in Bezug auf die Beschneider und die Durchführung der Beschneidung formuliert, die dem Schutz der Gesundheit der betroffenen Kinder dienen sollten. Im Königreich Württemberg erließ 1856 die Israelitische Oberkirchenbehörde selbst eine detaillierte Verordnung zur Durchführung der Beschneidung, die – »ohne die Ritualgesetze zu verletzen« – den Zweck hatte, »das Leben und die Gesundheit der zu beschneidenden Kinder vor etwaigen Gefahren sicher zu stellen und z. B. die Mezizah verbot« (Allgemeine Zeitung des Judenthums, 1857, S. 182–184, s. Abbildung 7).

Abbildung 7: Frontispiz »Allgemeine Zeitung des Judenthums«, dem wichtigsten Sprachrohr des liberalen Judentums in Deutschland, 1844, das über die Regelungen in Sachsen seine Leser ausführlich informiert.

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Somit wurde die Beschneidung als operativer Kultusakt im 19. Jahrhundert nicht verboten, sondern der Aufsicht der Medizinalbehörden und damit der Ärzte unterstellt. Der jüdische Arzt Julius Jaffé urteilte 1886 in seiner Schrift über das für Juden bestehende Dilemma, es sei »unmöglich zu verlangen, dass ein Ritus, der durch Jahrtausende bestanden hat, und eine unumstößliche Bedingung für die Aufnahme in die jüdische Religionsgemeinschaft bildet, aufgegeben werden soll, wohl muss man auf der Forderung bestehen, dass derselbe so ausgeführt wird, daß weder Leben noch Gesundheit der Kinder dadurch gefährdet werde« (Jaffé, 1886, S. 2–8; Jütte, 2012). Die derzeitig in Deutschland gültige Gesetzesregelung der Beschneidung ist wieder auf diesem Stand angelangt. Die Diskussion war somit bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einerseits Teil der jüdischen Identitätsbildung zwischen Tradition und Reform und andererseits Ausdruck einer Medikalisierung eines zunächst religiös-kulturellen Ritus, eingebettet in einen kommunal dominierten gesetzlichen Handlungsrahmen im Deutschland vor der Reichseinigung. Zum Ende des 19. Jahrhunderts verteidigten auch einige jüdische Ärzte die Beschneidung gerade in Hinblick auf die Haltung in Großbritannien und den USA (Efron, 2001, S. 222–233). In drei Phasen nahmen die liberalen Juden jeweils unterschiedliche Neubestimmungen der Beschneidung vor und alle drei Formen des nichttraditionellen Umgangs mit der Brit Mila spiegeln so die Assimilations- und Akkulturationshoffnungen aufgeklärter Juden wider (Hödl, 2007). Die Verteidigungshaltung einiger korrespondiert mit wieder zunehmender ärztlicher Kritik etwa an der Mezizah zu dieser Zeit, weil diese Praxis mit der Übertragung von Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten und die Beschneidung allgemein mit »Unglücksfällen« (z. B. zu tiefer Schnitt, Verbluten etc.) assoziiert wurde, wobei in den Publikationen antisemitische Tendenzen nicht vorhanden waren, sondern auf dem Wissenschaftsniveau der Zeit diskutiert wurde (Almkvist, 1926; Arluck u. Winocouroff, 1912; Bernhardt, 1900; Bryk, 2001, S. 54–56; Katz, 1998; Münz, 1898; Pott, 1898). Die Befürworter der Mezizah führten und führen teils auch heute wieder an (mit dem Zusatzargument Bakterien abtötender Speichelelemente; Goldberger, 1991), dass auch Bisswunden ausgesaugt würden und der vom Mohel vorher eingenommene Alkohol desinfizierend wirke (Rosenbaum, 1912, S. 32–41). Auf der Internationalen Hygieneausstellung 1911 in Dresden wurden besonders die Vorteile des Eingriffs in Hinblick auf die Vermeidung einer Übertragung von Geschlechtskrankheiten herausgestellt (Bamberger, 1911a, S. 531–537; Weissenberg, 1911; Wiesemann, 1995). In einer weite auch nichtjüdische Kreise erreichenden Publikation zur Ausstellung erkennt man gut, dass der Medika-

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lisierungsprozess nunmehr weit fortgeschritten ist, das Ritual ist de facto eine medizinische Operation unter den zu dieser Zeit herrschenden Sterilitätsanforderungen: Händedesinfektion mit Lysol, sterilisierte Instrumente, ordentliches Verbandsmaterial (Bamberger, 1911b, S. 106–111). Der Autor selbst stellte fest, dass der religiöse Charakter des Eingriffs zugunsten einer medizinischen Operation in den Hintergrund getreten sei. Fazit Ausführliche gesellschaftliche Debatten um die Beschneidung besonders in den USA oder in Deutschland lassen sich nach einer Diskussion im frühen Christentum wieder für das 18. und 19. Jahrhundert nachweisen. Die Auseinandersetzung um die Beschneidung demonstriert dabei beispielhaft die Ausweitung medizinischer Deutungshoheit und Handlungssphären in ursprünglich nicht medizinisch begriffene gesellschaftliche Bereiche. Wenn Medikalisierungsprozesse dabei nicht als »natürlich« begriffen werden, stellt sich in der Folge die Frage nach den Protagonisten (Fegert, Kölch u. Fangerau, 2012, S. 47–49; Marx u. Moll, 2014, S. 19). In erster Linie stehen hier die Ärzte selbst im Verdacht, die eigene Handlungskompetenz erweitern zu wollen. Medizinische Argumentationsmuster könnten aber auch, wie in diesem Fall, politischen Zielsetzungen dienen. Die beschriebene Diskussion war Teil der jüdischen Identitätsbildung im sich selbst findenden Deutschland vor der Reichseinigung 1871. Die jüdischen Bürger waren nicht nur Objekt von Emanzipation, Diskriminierung und Eingliederung der deutschen Teilstaaten, sondern nahmen durch solche Diskussionen aktiv am Reichseinigungsprozess teil (Judd, 2007). Ende der 1920er Jahre flammte, unter Rückgriff auf die älteren Debatten, die Diskussion erneut auf. Dies erfolgte psychologisch geschickt, indem Religionskritik diskursiv mit Seuchengefahr und der Gefährdung außerfamiliärer Gruppen durch eine religiöse Praxis verschränkt wurde (Glover, 1929; Wiesemann, 1993). Ein Rückgriff darauf findet in den aktuellen Diskussionen allerdings nicht statt. Literatur Abusch, R. (2003). Circumcision and castration under Roman law in the Early Empire. In E. W. Mark (Hrsg.), The covenant of circumcision (pp. 75–86). Hanover u. London: Brandeis University Press of New England. Adams, F. (Ed.) (transl.) (1844–1847). The seven books of Paulus Aegineta (Bd. 1). London: Sydenham Society.

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Volker von Loewenich

Medizinethische Aspekte der rituellen Genitalbeschneidung nicht einwilligungsfähiger Jungen

Rechtliche Aspekte Das Urteil des Kölner Landgerichtes vom Mai 2012 (LG Köln in NJW 2012; 2128) hat im In- und Ausland sehr viel Aufmerksamkeit erregt und eine mitunter recht emotionale Debatte ausgelöst, darüber, ob eine medizinisch nicht indizierte Beschneidung und damit auch jede rituelle Beschneidung eine Körperverletzung sei (§ 223 StGB), vielleicht sogar eine gefährliche (§ 224 StGB) oder eine schwere (§ 226 StGB). Medizinisch indizierte Eingriffe sind nur dann keine Körperverletzung, wenn der Patient nach Aufklärung zugestimmt hat oder wenn bei Kindern dessen Sorgeberechtigte ihre informierte Einwilligung gegeben haben. Ist der Eingriff medizinisch nicht indiziert, dann erhebt sich die unterschiedlich bewertete Frage, ob Sorgeberechtigte mit ihrer Einwilligung nicht ihr Sorgerecht bzw. ihre Sorgepflicht verletzen (§ 1660 a BGB), da sie nicht im Interesse des Kindeswohles (eines nicht genau definierbaren Begriffes) entscheiden würden. Bezüglich der juristischen Fachdiskussion darf auf die Beiträge von H. Putzke, R. D. Herzberg sowie von J. Scheinfeld in diesem Buch und die dort zitierte Literatur verwiesen werden. Im Dezember 2012 trat § 1631d BGB in Kraft. Hier wird Sorgeberechtigten das Recht zugestanden, auch in eine medizinisch nicht indizierte Beschneidung eines Knaben einzuwilligen, wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt wird und solange sie nicht das Kindeswohl gefährdet. Damit ist de facto ein Arztvorbehalt festgeschrieben. Dieser wird aber im folgenden Absatz relativiert: In den ersten sechs Lebensmonaten dürfen auch Nichtärzte beschneiden, wenn sie von einer Religionsgemeinschaft dafür vorgesehen und für den Eingriff besonders ausgebildet sind. Da es zu den Regeln der ärztlichen Kunst gehört, bei jedem Eingriff für Schmerzfreiheit zu sorgen, Nichtärzte aber eine wirksame Anästhesie nicht durchführen dürfen, ist dieses Gesetz in sich widersprüchlich. Es ist auch insofern unlogisch, als die rituelle Beschneidung von Mädchen sehr zu Recht strikt verboten und strafbewehrt ist, und zwar nicht nur in verstümmelnder, sondern auch in minimaler, das heißt nicht ver-

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stümmelnder Form (oberflächliches Ritzen der Klitoris). Diese letztgenannte Ausführung ist somit harmloser als die männliche Beschneidung, bei der funktionell bedeutsame Körpersubstanz entfernt wird und die damit ein verstümmelnder Eingriff ist. Warum wurde dieses Gesetz, das bestimmten Religionsgemeinschaften ein Sonderrecht einräumt, in dieser Form mit deutlicher parlamentarischer Mehrheit beschlossen? Auf das Kölner Urteil hatten Muslime wenig und maßvoll reagiert, christliche Minderheiten, die rituell beschneiden (z. B. Kopten), gar nicht, aber religiös orientierte Juden sehr energisch (meist sachlich und maßvoll im Ton, seltener polemisch). Es ist nicht verwunderlich, dass die Mehrheit der Parlamentarier diesen Gesetzentwurf des Bundesministeriums für Justiz absegnete. Richard Wagner hat es in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« vom 22. 09. 2012 wohl richtig formuliert: »Zu gering ist das Interesse der Politik und zu groß die Furcht der [Mehrheit der] Politiker, dieses Minenfeld zu betreten« (Wagner, 2012). Medizinische Aspekte Besonders in den USA wurden gesundheitliche Vorteile einer generellen Beschneidung junger Säuglinge angeführt. Gerade in den USA spielen oder spielten aber auch extreme moralische Gesichtspunkte (Erschwerung der Masturbation) bestimmter christlicher Denominationen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Medizinische Vorteile wurden zwar behauptet, konnten trotz einer großen Menge befürwortender Publikationen nie wissenschaftlich überzeugend bewiesen werden. Schließlich ist nicht zu übersehen, dass Befürwortungen genereller Beschneidungen zum Teil auch an besonderen Gruppeninteressen orientiert sind. Zu den Einzelheiten siehe die Beiträge von M. Stehr und M. Schäfer sowie von Chr. Kupferschmid in diesem Buch. Immer wieder wird von Befürwortern der Beschneidung junger Säuglinge behauptet, es handele sich um einen harmlosen Eingriff. Indessen sind Aussagen von Beschneidern, es habe bei den von ihnen beschnittenen Knaben nie oder kaum jemals eine Komplikation gegeben, ohne jeden Aussagewert: Gibt es Komplikationen, dann werden die Betroffenen nicht dem Beschneider vorgestellt, der keine therapeutischen Möglichkeiten hat, sondern Kinderchirurgen oder Urologen. Daher wird munter darüber gestritten, wie hoch die Komplikationsrate sei, zwischen 0,2 % und 6 %! Erst im August 2013 wurde eine Studie aus Kopenhagen publiziert (Thorup, Thorup u. Ifaoui, 2013), in der 315 eigene kinderchirurgisch (das heißt medizinisch einwandfrei) beschnittene Knaben von drei Monaten bis 16 Jahren (Mittelwert 5 Jahre) nachverfolgt worden waren.

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Es ergab sich eine Rate behandlungsbedürftiger Komplikationen von 5,1 %, die zum Teil erst nach einigen Jahren manifest wurden. Nicht zu vergessen: Diese Studie bezieht sich ausschließlich auf rein somatische Nebenwirkungen, nicht auf eventuelle psychische. Medizinethische Aspekte Vorausgeschickt sei: Es gibt keine der Medizin eigene Ethik. Medizinethik ist die Anwendung allgemeiner Ethik auf ethische und moralische Fragestellungen in der Medizin. Beachtlicherweise gibt es in unserem Kulturkreis keine Kontroverse über folgende Prinzipien, die sich aus unserer jüdisch-hellenistischchristlichen Tradition herleiten: Gutes zufügen, nicht schaden, die Würde des Patienten und damit auch seine Autonomie achten, gerecht sein, fürsorglich handeln (nach Beauchamp u. Childress, ergänzt). Nimmt man diese Grundsätze ernst, dann kann man einer medizinisch nicht indizierten Beschneidung keinesfalls das Wort reden. Der Eingriff ist durchaus nicht frei von Komplikationen, immer wieder behauptete Vorteile sind nie bewiesen. Der Eingriff ist verstümmelnd, denn es wird funktionell bedeutsame Körpersubstanz entfernt, die nicht nachwächst, der Eingriff ist mithin nicht rückgängig zu machen. Es fehlen Funktionen, und der Knabe oder Mann ist dauerhaft körperlich gekennzeichnet. Er selbst konnte als Neugeborener oder als Knabe nicht entscheiden, ob er mit dieser Veränderung seines Körpers einverstanden ist oder nicht. Die Beschneidung verursacht erhebliche Schmerzen, und zwar nicht nur bei der Prozedur selbst, die ja unter Anästhesie vorgenommen werden könnte, sondern, wie bei anderen Operationen auch, noch später mit einem Maximum um den dritten postoperativen Tag. Das kann man übrigens schon im Alten Testament nachlesen (1. Buch Mose [griechisch Genesis, hebräisch Bereschit]; Gen 34,24–25). Bis zu Beginn der 1970er Jahre wurde spekuliert, dass junge Säuglinge noch nicht schmerzempfindlich seien. Inzwischen wissen wir, dass das Gegenteil richtig ist. Erstaunlicherweise wird diese alte Fehlmeinung mitunter auch heute noch zur Verharmlosung ritueller Beschneidungen Neugeborener herangezogen. In den beiden letzten Jahrzehnten wurde mehrfach über psychische Folgen der Beschneidung publiziert, aber schon 1945 erschien im »American Journal of Diseases of Children« ein eindrucksvoller Bericht von David M. Levy über die psychische Traumatisierung durch Beschneidung. Dass ein, vermutlich kleiner, Teil der als Kind Beschnittenen unter dieser Verstümmelung leidet, kann man an

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vielen Beiträgen im Internet ablesen. Da mögen vielleicht auch andere psychische Schwierigkeiten mit eingehen, nicht jedermann ist so vulnerabel. Immerhin ist aber zur Kenntnis zu nehmen, dass als Kind Beschnittene im Erwachsenenalter mit ihrer körperlichen Veränderung Schwierigkeiten haben können und sich deshalb sogar organisieren. Der Penis ist ein mit zentraler psychischer Bedeutung besetztes Körperteil, was die Psychoanalyse seit Freuds Zeiten beschäftigt. Im archäologischen Museum in La Valletta (Malta) kann man zahlreiche Penis-Skulpturen aus den dortigen neolithischen Tempeln betrachten: Offenbar hatte dieses Körperteil auch zu diesen Zeiten eine hohe spirituelle Bedeutung (s. Abbildung 1). Wenn man alle diese Beobachtungen respektiert, dann muss man zwangsläufig zu dem Schluss gelangen, dass eine medizinisch nicht nötige Beschneidung gegen den ethischen Grundsatz »nicht schaden« verstößt. Auch die Würde des Betroffenen einschließlich seiner Autonomie kann verletzt sein. Warum hadern einige Beschnittene so sehr mit ihrem Zustand, dass sie einen Arbeitskreis in der Organisation MOGiS e. V. gegründet haben?

Abbildung 1: Penis-Idol aus einem neolithischen maltesischen Tempel, offenbar beschnitten. Tempel-Periode 4000 bis 2500 v. Chr. (Mġarr-Phase oder Ġantija-Phase). Archäologisches Nationalmuseum La Valletta, Malta.

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Die Argumentation gegen eine medizinisch nicht indizierte Beschneidung, die aufgrund irgendwelcher säkularer Vorstellungen vorgenommen wird, ist wesentlich einfacher als die Infragestellung ritueller Beschneidungen, siehe hierzu auch den Beitrag in der Zeitschrift »Medizinrecht« des evangelischen Theologen Hartmut Kreß (2012). Im Islam ist die Beschneidung, meist im Schulalter vorgenommen, nicht zwingend, das heißt, sie wird im Koran nicht vorgeschrieben. Es handelt sich hier um eine sogenannte Sunna, eine religiöse Empfehlung, die jedoch in der Regel sehr strikt beachtet und auch von bestimmten theologischen Schulen uneingeschränkt gefordert wird. Viel strenger sind die Vorschriften im Judentum: In der Thora, hier im 1. Buch Mose (Gen 17,10–14), verlangt Gott von Abraham, als Zeichen des Bundes Gottes mit dem auserwählten Volk, alle neugeborenen Knaben am achten Lebenstag zu beschneiden, außerdem übrigens auch alles im Hause geborene oder gekaufte männliche Gesinde. Wer nicht an seiner Vorhaut beschnitten wird, wird aus dem Volk ausgestoßen, da er den Bund mit Gott gebrochen hat. Nach Gerhard von Rad (1969), ehemaliger Alttestamentler der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg, wurde die Beschneidung eingeführt gegen Ende der babylonischen Gefangenschaft im 6. vorchristlichen Jahrhundert und ist seither »zum herausragenden Identitäts- und Abgrenzungsmerkmal und zur Bekenntnisfrage bzw. zum sog. status confessionis geworden« (von Rad, zit. nach Kreß, 2012). Es ist daher nicht verwunderlich, dass das deutsche Judentum sehr empfindlich auf das oben genannte Kölner Urteil reagierte, wurde doch hier ein Essential religiöser Überzeugung und ethnischer Identität infrage gestellt. Diese Reaktionen, abgesehen von einigen wenigen sehr polemischen, verdienen taktvolle Beachtung und Respekt. Zwar wurde schon im 19. Jahrhundert, unter anderem von Rabbi Samuel Hodheim (1844), gegen eine religiöse Pflicht zur Beschneidung argumentiert (Hodheim, zit. nach Hödl, 2007), und es gibt bis heute auch aus dem Judentum Stimmen gegen die Beschneidung (JAC, 2003). Diese erreichten aber alle nicht entfernt die publizistische Wucht, die von dem Kölner Urteil ausging, das die jüdische Glaubensgemeinschaft aus ihrer Sicht so heftig und unerwartet traf. Das bedeutet indessen nicht, dass die rituelle Beschneidung aus ethischer Sicht gutgeheißen werden kann. Wie bereits erwähnt wurde, darf nach dem neuen § 1631d Abs. 2 die mosaische Beschneidung, die Brit Mila, zwar nicht nach dem Wortlaut des Gesetzes, aber de facto unter Vernachlässigung von Geboten ärztlicher Kunst durchgeführt werden, denn der Arztvorbehalt entfällt und damit auch die Möglichkeit einer wirksamen Anästhesie, die überdies bei Neugeborenen nicht unproblematisch ist. Daher kann die Einwilligung der Eltern

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Volker von Loewenich

nicht als mit dem Kindeswohl vereinbar angesehen werden, erleidet das Kind doch erhebliche Beschwerden und wird von Komplikationen bedroht. Somit wird gegen die oben formulierten medizinethischen Prinzipien verstoßen, die, soweit sie nicht auf die Beschneidung angewandt werden, von jüdischer Seite sonst überhaupt nicht infrage gestellt werden. Es könnte allenfalls eingewandt werden, dass das Kindeswohl durch Nichtbeschneiden beeinträchtigt wird, weil das Kind dann möglicherweise aus der Religionsgemeinschaft ausgeschlossen wäre bei strikter Auslegung von Genesis 17,14. Eine solche Begründung ist aber weder durch unsere medizinethischen Maximen noch rechtsphilosophisch zu vertreten. Ein Beispiel: Die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas lehnt jede Anwendung von Blut ab. Eltern verbieten Transfusionen oder die Gabe von Blutprodukten an ihre Kinder, auch wenn dies den Tod der Kinder bedeuten würde. Es gibt aber überhaupt keine Diskussion darüber, dass dann auf ärztlichen Antrag die lebensrettende Blutgabe gerichtlich gestattet und den Eltern ihr Sorgerecht für die Zeit der Behandlung entzogen wird. Denn die Inkaufnahme von Schädigung im Interesse von Glaubensinhalten ist nicht erlaubt und weder rechtlich noch ethisch zu rechtfertigen. Gegen Bräuche, die jahrtausendealt, aber nach unseren heutigen ethischen Vorstellungen nicht mehr zu rechtfertigen sind, mit Hilfe des Strafrechtes vorzugehen, ist politisch, aber auch nur politisch, problembehaftet, das ist zuzugeben. Dennoch bleibt der in § 1631d BGB praktizierte politische Opportunismus ethisch fragwürdig. Dass die männliche Beschneidung im Judentum seit mehr als zweieinhalbtausend Jahren praktiziert wird, ist kein Rechtfertigungsgrund, so wenig wie das im täglichen Betrieb mitunter gebrauchte Unlustargument »Das haben wir schon immer so gemacht«. Man kann auch einige tausend Jahre lang etwas falsch gemacht haben. Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen von 1990, von Deutschland 1992 ratifiziert, führt in Artikel 24 Abs. 3 aus: »Die Vertragsstaaten treffen alle wirksamen und geeigneten Maßnahmen, um überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, abzuschaffen.« Es bleibt daher ein ethisches Postulat, unsere mosaischen und muslimischen Mitbürger immer wieder auf diesen Satz hinzuweisen und für die Unterlassung ritueller Beschneidungen taktvoll zu werben, in Stellungnahmen (s. DAKJ, 2012), aber auch im individuellen ärztlichen Gespräch. Als höchst problematisch ist ferner anzusehen, wenn per Gesetz einer ethnischen oder religiösen Gruppe Rechte zugestanden werden, die gegen geltende Gesetze verstoßen. Unter anderem Reinhard Merkel (2012) und Jörg Scheinfeld (2013b) haben darauf mit guten Gründen hingewiesen.

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Medizinethische Aspekte der rituellen Genitalbeschneidung

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Christoph Kupferschmid

Die Beschneidung von Knaben aus kinder- und jugendärztlicher Sicht

Der lange Schatten unserer NS-Vergangenheit »Als hätte es den Holocaust, als hätte es den zwölfjährigen Hass- und Blutrausch der Nazis gegen die ›Beschnittenen‹, gegen das ›Weltjudentum‹ nie gegeben, forderte die Mehrheit der plötzlich vom Mitleid mit männlichen jüdischen Säuglingen erfassten Nation im Namen des Schutzes der körperlichen Unversehrtheit und der religiösen Selbstbestimmung die Bestrafung des blutigen archaischen Rituals.« »Es hat rund 4000 Jahre gedauert, bis deutsche Ärzte im Sommer 2012 die Beschneidung als Verbrechen entlarvten […] die verzögerte Reaktion der deutschen Kinderärzte wird noch besser verständlich, wenn man weiß, dass sie auch bei anderen Verbrechen sich Zeit zur Aufklärung zu lassen pflegen.« Christian Bommarius brachte es als Kommentator der »Frankfurter Rundschau« zu Papier (Bommarius, 2012a; b). In vielen Diskussionsrunden stand das scheinbare Paradoxon lähmend im Raum: Die Mahner seien in Wirklichkeit schuldige Anzuklagende. Kinder- und Jugendärzte in Deutschland hätten seit 1945 das Recht verwirkt, Mitleid mit jüdischen Kindern zu haben. Zumindest in der Beschneidungsdebatte. Und Mitleid mit den islamischen Kindern? Oder mit denjenigen, denen aus welchen Gründen auch immer die Vorhaut abgeschnitten wird? Die Diskussion um die medizinisch nicht indizierte Beschneidung geht weit über eine Kollision mit der jüdischen Tradition hinaus. Der Schatten unserer NS-Vergangenheit reicht jedoch weit. Zuweilen ist er grässlich lähmend: das Schicksal von über 700 jüdischen Kinderärztinnen und -ärzten nach 1939. Die anderen haben weggesehen. Versuche mit TBC-Impfstoffen an deutschen und an jüdischen Kindern. Die Namen Georg Bessau und Georg Hensel stehen hierfür stellvertretend. Mindestens 5.000 Kinder und Jugendliche wurden euthanasiert. Die Kinderärzte Werner Catel, Hans Heinzen und Ernst Wentzler wurden hierfür nicht zur Rechenschaft gezogen. Täterinnen und Täter in der NS-Zeit blieben lange Zeit ehrbare Kolleginnen und Kollegen.

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Die Beschneidung von Knaben aus kinder- und jugendärztlicher Sicht

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Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) gründete 1984 eine historische Kommission. In der »Dresdner Erklärung« hat sie 1998 an das Schicksal der Verfolgten erinnert. Sie hat ihre Schuld öffentlich eingestanden und bedauert (DGKJ, 1999). Die Verbrechen an den Kindern wurden für die bedrückende Ausstellung »Im Gedenken der Kinder« aufgearbeitet. Bei ihrer Präsentation auf dem Kinder- und Jugendärztetag 2010 in Potsdam hinterließ sie tiefe Betroffenheit (DGKJ, 2011). Thomas Beddies vom Institut für Geschichte der Medizin an der Berliner Charité hat die Ausstellung in einem beeindruckenden Katalog zusammengefasst (Beddies, 2012). Nicht die Religion entscheidet Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte in Deutschland dürfen und müssen heute gerade wegen ihrer Geschichte Mitleid mit allen Kindern haben, die ohne wirksame Betäubung eine unnötige schmerzhafte Prozedur erleiden – auch mit jüdischen Kindern. Die Verknüpfung einer Kritik an medizinisch nicht indizierten Beschneidungen mit dem Vorwurf des Antisemitismus ist untauglich. Dieser Vorwurf möchte allenfalls die Diskussion beenden, bevor sie im Kern begonnen hat. Insofern wird er beiden Teilen nicht gerecht: der Beschneidungsdebatte und der Antisemitismusdebatte. Jakob Augstein stellte hierzu fest: »Der Antisemitismus-Vorwurf wird inflationär gebraucht. Und er wird missbraucht. […] Dadurch verliert der Begriff seine Bedeutung und das Thema seine Würde« (Augstein, 2012). Die Verknüpfung einer Beschneidungskritik mit Antisemitismus verengt das Problem auf eine grob vereinfachende Perspektive. Weltweit sind die jüdischen Knaben unter den Beschnittenen eine kleine Minderheit. Die Mehrheit wird aufgrund muslimischer Traditionen beschnitten, manche als Mitglieder afrikanischer Kulturvölker. Die Beschneidungstradition in den angelsächsischen Ländern, besonders in den USA, ist nicht religiös bedingt und geht auf die Sexualfeindlichkeit im 19. Jahrhundert zurück. Einer großen Zahl von Erkrankungen, als deren Ursache eine Übererregung vermutet wurde, meinte man damit vorzubeugen. Später meinte man, der Gefahr einer Krebserkrankung durch Smegma mit Beschneidungen begegnen zu können. Viel zu viele Kinder werden jedoch heute noch im medizinischen Sektor ohne jegliche gesicherte Indikation beschnitten. Aus Nachlässigkeit von Ärzten, aus Unkenntnis oder aus Gewinnstreben. Alle drei Gründe verletzen die hippokratische Tradition. In unserem Rechtssystem ist jeder ärztliche Eingriff eine Körperverletzung, die nur unter eng gefassten Umständen straffrei bleibt. Immer wieder wird angeführt, dass Beschneidungen von neugeborenen Knaben und männlichen Säug-

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lingen einen gesundheitlichen Vorteil hätten und dadurch die zunächst rituell, traditionell oder ästhetisch begründeten Eingriffe gerechtfertigt seien. Die neue Diskussion um die Beschneidung muss unseren Blick schärfen. Sie soll Anlass sein, pädiatrische Positionen zur Beschneidung kritisch zu prüfen. Die medizinische Indikation sollte im Fokus stehen, wenn Kinder- und Jugendärzte zur Beschneidung Stellung nehmen. Das schließt die sozialpädiatrischen Aspekte ein. Daraus kann sich anschließend eine klarere Bewertung der medizinisch nicht indizierten Beschneidungen ergeben. Wann und wie soll eine Vorhautenge behandelt werden? In einem noch aktuellen Standardlehrbuch der Pädiatrie für Studenten wird die Phimose unter den urogenitalen Fehlbildungen abgehandelt. »Die distal enge Vorhaut lässt sich nicht zurückstreifen. […] Bis zum Ende des 2.–3. Lebensjahres ist eine Verklebung der Vorhaut mit der Glans physiologisch. […] Eine echte Phimose erfordert eine Zirkumzision« (Michalk, 1995). Das muss man als heutiges »Basiswissen« zur Phimose ansehen. Nach dieser Lehre entspräche es einer »unphysiologischen Phimose«, wenn sich die Vorhaut bei einem kleinen Jungen im Kindergartenalter nicht zurückstreifen ließe. Die noch aktuelle Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (Bartsch, Schmiedeke u. Tröbs, 2011) zur Phimose greift auf die entsprechende Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie zurück, die bis 31. 12. 2012 gültig war. Die Autoren gehen davon aus, dass 94 % der »unbehandelten neugeborenen Jungen« eine »physiologische Phimose« haben. Die naheliegende Frage, welche neugeborenen Jungen behandelt werden müssen, bleibt offen. Nach der Meinung der Autoren dieser Leitlinien löst sich die »physiologische Phimose bei der übergroßen Anzahl von Knaben im Alter von 3–5 Jahren«. Demnach wäre es eventuell pathologisch und therapiebedürftig, wenn sich die Vorhaut bei einem Jungen im Schulalter noch nicht zurückstreifen lässt. Die Leitlinie sieht hierin nur eine relative Indikation, weil die »spontane Rückbildung einer nicht narbigen Phimose auch jenseits dieser Altersstufe« möglich ist. Wie viel Vernarbung noch tolerabel ist, bleibt offen und auch die Frage, ob Vernarbungen in jedem Fall eine Therapieindikation darstellen. Offen bleibt auch die Frage, was der Bezugspunkt und die Altersgrenze einer »relativen Indikation« sein könnten. Auch welches die Umstände sind, die in diesem Alter bei einer nicht narbigen Vorhautenge einen Grund für eine Beschneidung darstellen. Solche Beschneidungen werden in Deutschland jedoch täglich vorgenommen. Andere Lehrbücher nennen andere Altersspannen bis zur vollständigen Lösung der Vorhaut: sechs, sieben oder acht Jahre. Diese Grenzen sind alle

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nicht durch Studien belegt. Das »Basiswissen« zum Thema Phimose, das heute Studenten und Ärzte aus den Lehrbüchern und aus den Leitlinien beziehen, ist weitgehend unbegründet und falsch. Bereits die Uneinheitlichkeit der Darstellungen hätte seit vielen Jahren Misstrauen erzeugen müssen. Unbegründete Empfehlungen für invasive Behandlungen kann man nicht hinnehmen. Wer Kinder aus medizinischen Gründen verletzt, braucht hierfür eine präzise begründete Indikation. Keinesfalls können die heutigen Lehrbücher und Leitlinien als Basis für eine Patientenaufklärung gemäß dem aktuellen Stand der Wissenschaft herangezogen werden. Eine solche Aufklärung in verständlicher und umfassender Weise gebietet das neue »Patientenrechtegesetz« in Deutschland seit dem 26. 02. 2013. Die neueste Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie zu Phimose und Paraphimose bleibt weiterhin auf der niedrigsten Qualitätsstufe (S1) und beschränkt sich auf die Auswertung von 17 Literaturzitaten. Obwohl die sparsam verwendete Literatur anderes aussagt, stellen die kinderchirurgischen Experten fest, dass Reifungsvorgänge eine »Auflösung der physiologischen Vorhautverklebung und -enge bei der übergroßen Mehrzahl der Knaben im Alter von 3 bis 5 Jahren« bedingen würden (AWMF, 2013). Bei unkompliziertem Verlauf sei der Beginn einer Therapie im Vorschulalter, bei Beschwerdefreiheit auch später, zu empfehlen. Der unsinnig konstruierte Gegensatz zwischen »unkompliziert« und »Beschwerdefreiheit« wird nicht näher spezifiziert. Auch engt die Leitlinie auf der einen Seite die Gründe für eine Beschneidung auf Vorhautengen durch Entzündungen und Narben streng ein, auf der anderen Seite eröffnet sie jedoch durch mangelnde Präzision, Relativierungen und innere Widersprüche einen großen Graubereich der Behandlung, die auch eine Beschneidung sein kann. Die Empfehlung einer Therapie bei »unkompliziertem Verlauf« im Vorschulalter pathologisiert einen Zustand, der an anderer Stelle der Leitlinie richtiger Weise als normal bezeichnet wird. Die externe Evidenz ist schmal In den 1970er Jahren begannen Bestrebungen, die wissenschaftlichen Ressourcen in der Medizin besser für den Alltag nutzbar zu machen. Hierdurch sollte dem großen Unwissen um die Wirkung einzelner Maßnahmen im Gesundheitswesen entgegengewirkt werden. Unter anderen bündelte die »Cochrane Collaboration« regelmäßig kontrollierte Studien in Reviews und stellte sie zur Verfügung. Evidenzbasierte Medizin (EBM), Qualitätsmanagement und »best practice« fanden in Deutschland zehn Jahre später erste Beachtung. Im Jahre 2000 hat der Gesetzgeber mit dem »GKV-Gesundheitsreformgesetz« Regelungen

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getroffen, die den Stellenwert der EBM in der Gesundheitsversorgung erhöht haben. In der Folge wurden viele Abläufe nach Prozess und Ergebnis untersucht und standardisiert, sowohl bei medizinischen Behandlungen als auch bei Operationen. Offensichtlich wurde die Beschneidung kleiner Knaben in der Medizin nie als eine echte Operation wahrgenommen, die Entfernung der Vorhaut nie als eine echte Verletzung. Der Kinderchirurg und Mitautor der kinderchirurgischen Leitlinie, Karl Becker, klassifiziert in seinem selbst verlegten Buch »Die rituelle Beschneidung« den Eingriff als einen »kleinen«. Im Vergleich zu den komplexen großen kinderchirurgischen Operationen mag das sogar stimmen. Die Beschneidung sei für ihn »ein guter Einstieg in die subtilen Operationstechniken der Kinderchirurgie und somit für die Ausbildung gut geeignet« gewesen. Die jungen Ärzte hätten an den kleinen Jungen den »sorgsamen Umgang mit dem kindlichen Gewebe, das Nähen und verletzungsarme Präparieren« lernen können (Becker, 2013). Das Problem ist nicht die Notwendigkeit, dass lernende Chirurgen Schritt für Schritt an kompliziertere Operationen herangeführt werden müssen. In der Verharmlosung (im Wortsinn: harm-los) der einfachen Dinge steckt die Gefahr. Es darf in der Medizin keine Schwelle geben, unterhalb derer Eingriffe wegen ihrer Geringfügigkeit weniger gut begründet oder mit geringerer Sorgfalt ausgeführt werden müssen. Becker hält in seinem Buch Beschneidungen kleiner Jungen als Vorbeugemaßnahme von Erkrankungen der Vorhaut für gerechtfertigt, was er als Koautor der Leitlinie gleichzeitig strikt ablehnt. Im Rahmen von qualitätsverbessernden Prozessen wurden die Indikation und die Grenzen für eine Beschneidung nie in der gebotenen Präzision definiert. Das gilt für die USA und für Deutschland gleichermaßen. Einzelne Mahner hat das große und gleichgültige Getriebe des Alltagsgeschäftes in der Medizin einfach neutralisiert. Unabhängig davon, ob diese auf die wichtige Funktion der Vorhaut als Organ hingewiesen haben oder darauf, dass ein nicht indizierter Eingriff gegen Kinder- und Menschenrechte verstößt. In der medizinischen Lehre haben wir Nachholbedarf in vier problematischen Feldern: Die Sprachregelung, eine mangelnde Kenntnis der normalen (physiologischen) Entwicklung der Vorhaut (Präputium), die Vorhautverklebungen und die Frage der Physiologie und Funktion der männlichen Vorhaut. Sprachregelung

Jugendliche mit einer Phimose sind an ihrem Penis nicht fehlgebildet. Sie haben keine »urogenitale Fehlbildung«. Die bislang unbestrittene Tatsache, dass Phimosen durch Erkrankungen der Vorhaut sekundär entstehen können, spricht gegen diese Einordnung. Phimosen sind eine Krankheit der Vorhaut mit ver-

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Die Beschneidung von Knaben aus kinder- und jugendärztlicher Sicht

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schiedenen Ursachen. Weit verbreitet und problematisch ist der Begriff »physiologische Phimose«. Wenn eine Phimose als abnorme, therapiebedürftige Veränderung angesehen wird, kann es keine »physiologische Phimose« geben. So wenig, wie es eine »physiologische Tonsillitis« gibt. Wir sollten von der physiologischen Entwicklung des Präputium reden und davon die Phimose als pathologischen Begriff abgrenzen. Physiologische Entwicklung der Vorhaut

Den meisten Ärzten fehlen ausreichende Kenntnisse über die physiologische Entwicklung der Vorhaut. Die wenigen Untersuchungen, die nach 1950 zu diesem Thema gemacht wurden, bleiben in den Lehrbüchern der Kinder- und Jugendmedizin weitestgehend unberücksichtigt. Die dünne Studienlage ist unter anderem in Beschneidungstraditionen begründet. Wir haben in der Medizin Kenntnisse über den natürlichen Verlauf von vielen physiologischen Vorgängen und von Erkrankungen durch eine riesige Zahl von Studien. Sehr viele dieser Studien stammen aus den USA. In einem Land jedoch, in dem bis zu 80 % der Männer traditionell beschnitten waren, sind systematische Beobachtungen zur physiologischen Entwicklung der Vorhaut unmöglich. Nach einer Publikation von Douglas Gairdner lässt sich die Vorhaut bei etwa 90 % aller Knaben ab dem Alter von 3 Jahren zurückstreifen (Gairdner, 1949). Diese Untersuchung aus dem Jahre 1949 scheint bis heute die Basis der Lehre zu sein. Schlimmer noch, der Kenntnisstand von 1949 ist offenbar häufig auch die Basis von Operationsindikationen. Gairdner hat seine Ergebnisse an einem Kollektiv von hundert Neugeborenen und zweihundert Jungen bis zum Alter von fünf Jahren erhoben. Bei den Knaben jenseits des Neugeborenenalters sei, so der Autor, teilweise bereits am Penis manipuliert worden. Welche Manipulationen im Einzelnen vorgenommenen wurden und mit welchem Resultat, bleibt unbekannt. Gairdner warnte daher in seiner Publikation selbst, dass die Zahlen aus diesem Grunde nicht präzise seien. Die Häufigkeit einer »echten Phimose« nimmt nach der Studie von Jakob Øster an knapp 2.000 Jungen von etwas unter 8 % bei sechs- bis siebenjährigen Knaben auf 0,9 % im Alter von 16–17 Jahren ab (Øster, 1968). Korrekt muss man bei den Jüngeren noch von einer Enge in der physiologischen Entwicklung sprechen und nicht von einer Phimose. Eine neuere Studie aus Havanna bezeichnet 0,4 % von 1.200 Jungen wegen einer Phimose oder Vorhautverklebung als therapiebedürftig (Morales, 2008). Allerdings rekrutierte diese Studie Klinikpatienten und schließt alle Fälle aus, bei denen zuvor Eingriffe an der Vorhaut vorgenommen wurden. Umfangreichere Untersuchungen, durch die Jakob Østers Beobachtungen an einem großen Kollektiv bestätigt werden

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könnten, gibt es in der Literatur nicht. Nirgends finden sich Angaben über die Vorhautentwicklung in Abhängigkeit von Pubertätsstadien. Diese wären jedoch die einzig valide Bezugsgröße, da die Entwicklung der Genitalien ganz wesentlich einer hormonellen Steuerung unterliegt. Vorhautverklebungen

Bei der Geburt eines Jungen ist dessen inneres Vorhautblatt meist noch mit der Eichel verklebt. Diese gemeinsame balanopräputiale Membran soll die Entwicklung der Schleimhaut schützen. Sie macht ein Zurückstreifen der Vorhaut unmöglich und verhindert gleichzeitig, dass Stuhl und Schmutz eindringen können. Wann sich diese Membran auflöst und damit die Oberflächen der Eichel und der Vorhaut völlig getrennt sind, ist individuell sehr unterschiedlich. Die Frage, ob sich die Vorhaut wegen einer distalen Enge oder einer Verklebung mit der Eichel nicht zurückstreifen lässt, ist nicht unerheblich, da man eine Verklebung nicht mit einer Beschneidung behandeln muss. Die Unterscheidung zwischen Verklebung und Enge trifft Hiroyuki Kayaba bei einer Studie an 603 japanischen Jungen (Kayaba et al., 1996). Obwohl in dieser Untersuchung nur bei circa 20 % der Jungen mit sechs Jahren eine Enge der distalen Vorhaut bestand, konnte diese bei circa 40 % nicht zurückgestreift werden. Der Grund waren Verklebungen. Nach Øster besteht bei der Hälfte der Zehnjährigen noch eine Vorhautverklebung, bei etwa 20 % reicht diese nach vorne bis zur Mündung der Harnröhre (Meatus). Erst mit 14 Jahren können 90 % der Jungen die Vorhaut leicht und vollständig zurückstreifen. Bis zum Alter von 16 Jahren haben sich fast alle Vorhautverklebungen spontan gelöst. Øster weist darauf hin, dass eine gewaltsame Lösung von Vorhautverklebungen zu narbigen Engen der Vorhaut führen kann, führt diese mögliche Komplikation aber nicht weiter aus. Die physiologische Entwicklung bis zur vollständigen Lösung der Vorhaut dauert also bei manchen Jungen bis zum Alter von 16–17 Jahren. Als ihren notwendigen Endpunkt kann man den Beginn der sexuellen Aktivität betrachten. Eine enge Vorhaut birgt das Risiko von Schmerzen beim Geschlechtsverkehr und die Gefahr einer Paraphimose. Verlässliche Daten über die Häufigkeit dieser Probleme finden sich jedoch in der Literatur nicht. Die Funktion der männlichen Vorhaut

Die Vorhaut ist ein komplexes Organ mit zahlreichen Funktionen. Ihre Anatomie und Physiologie ist in der medizinischen Literatur ausführlich beschrieben. Eine Übersicht hierzu findet sich unter anderem bei Svoboda und Van Howe (2013). Einerseits schützt sie die Eichel und vermindert andererseits Reibung, beispielsweise beim Sexualakt. Die subpräputiale Flüssigkeit scheint antibak-

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terielle und antivirale Schutzfaktoren zu haben. Mit einer hohen Dichte von Nerven und Tastkörperchen nimmt die Empfindung aus der Vorhaut teil an der allgemeinen sexuellen Empfindung. Die sensiblen Nerven aus dem oben liegenden, dorsalen Teil der Vorhaut ziehen nur teilweise entlang des Penisrückens. Teilweise ziehen sie über das Vorhautbändchen (Frenulum) nach oben. Dies erklärt den Umstand, weshalb ein dorsaler Penisblock beispielsweise vor einer Beschneidung keine vollständige Anästhesie des Schmerzempfindens der Vorhaut bewirkt. Es muss nicht immer Beschneidung sein Als Alternative zur chirurgischen Behandlung soll zunächst immer eine topische medikamentöse Therapie einer Phimose erfolgen. Seit 1993 hat eine Vielzahl von Studien die Wirksamkeit von Kortisoncremes bestätigt. Die Erfolgsraten schwanken zwischen 60 % und 95 %. Im Gegensatz zur ebenfalls hoch wirksamen Lokalbehandlung mit Östrogenen ist die Kortisonbehandlung weitestgehend nebenwirkungsfrei. Die Beschneidung der Vorhaut ist nicht die einzige operative Methode zur Beseitigung einer Phimose. Mit Blick auf die vielfältigen physiologischen Funktionen der Vorhaut empfehlen Cold und Taylor (1999) das Vorhaut erhaltende Vorgehen. Für die Vorhautplastik gibt es unterschiedliche Techniken. In Ländern mit geringer Beschneidungshäufigkeit, wie Japan, betrachtet man die Vorhautplastik als eine Methode, um Stigmatisierungen durch den beschnittenen Penis zu vermeiden (Hayashi, 2011). Sonderfälle Gesondert betrachten sollte man das kurze Frenulum als Ursache für eine verminderte Verschieblichkeit der Vorhaut. Auch hierbei können Schmerzen auftreten. Immer wieder wird jugendlichen Patienten mit kurzem Frenulum eine Beschneidung empfohlen. Diese ist jedoch in den meisten Fällen nach erfolgreicher Frenulumplastik unnötig (Rajan, McNeill u. Turner, 2006). Ein weiterer Sonderfall ist die Autoimmunerkrankung der Haut, der Lichen sclerosus (LS), im Genitalbereich. Über die Häufigkeit dieser Erkrankung, die bei Jungen etwa zehnmal seltener ist als bei Mädchen, kursieren abenteuerlich anmutende Zahlen. Ein LS soll bei 30 % der »angeborenen« Phimosen gefunden werden (Mattioli et al., 2002). Die Erkrankung soll auch Ursache für bis zu 80 % der erworbenen Phimosen sein. In fast allen Büchern, Monografien und Leitlinien wird beim LS eine Beschneidung empfohlen. Er zählt für die meisten

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Autoren zu den absoluten Operationsindikationen. Ziel dabei sei es, ein Fortschreiten des Prozesses und die Entwicklung einer Enge der Harnröhrenmündung (Meatusstenose) zu verhindern. Relevante Meatusstenosen treten jedoch auch in etwa 10 % der Fälle nach einer operativen Behandlung auf (Becker, 2011). Bei Mädchen ist die topische Behandlung eines LS mit potenten Kortikosteroiden und mit Calcineurin-Antagonisten Standard. Ob diese Behandlung auch bei Jungen hilft, ist nicht abschließend geklärt. Vincent und Mackinnon (2005) fanden bei knapp 18 % von 56 Jungen, die sie wegen eines LS mit topischen Steroiden behandelt haben, eine Heilung nach drei Monaten. Nach einer Behandlungsdauer von 14 Monaten stieg dieser Wert auf über 30 %. Die »British Association of Dermatologists« empfiehlt in ihren Leitlinien die Anwendung von potenten Kortikosteroiden als erste Behandlung des LS auch bei Jungen (Neill, Lewis, Tatnallu. Cox, 2010). Diese Behandlung ist effektiver, solange noch keine narbigen Veränderungen der Vorhaut bestehen (Kiss et al., 2001). Allenfalls anekdotisch sind Berichte über eine Behandlung von LS bei Jungen mit Calcineurin-Antagonisten, größere systematische Studien hierzu fehlen. Es fehlen auch vergleichende Studien einer operativen mit einer topischen Behandlung bei LS beispielsweise hinsichtlich der Entwicklung von Meatusstenosen. Aufgrund der Studienlage stellt die alleinige Tatsache, dass sich die Vorhaut nicht zurückstreifen lässt, bis ins Jugendlichenalter keinen pathologischen Zustand dar; insbesondere keine Indikation zur Operation. Dass in wenigen Einzelfällen eine enge Vorhaut deswegen pathologisch ist, weil sie den Harnabfluss aufstaut, bleibt hiervon unberührt. Ein Harnstau entsteht jedoch nie durch eine entwicklungsbedingte Vorhautenge, sondern durch Narben oder Erkrankungen wie einem LS. Die operative Behandlung soll auf solche Fälle beschränkt bleiben, die nicht auf medikamentöse Maßnahmen reagieren. Ob eine Vorhautenge bei Lichen sclerosus eine absolute Operationsindikation darstellt, ist derzeit zumindest fraglich. Anstelle einer Beschneidung der engen Vorhaut muss in jedem Einzelfall überlegt werden, ob nicht besser eine Vorhautplastik durchgeführt wird. Bei Patienten mit Lichen sclerosus, die operativ behandelt werden, ist eine Vorhautplastik nicht angezeigt. Die Befangenheit der weltweit führenden pädiatrischen Fachgesellschaft Die Stellungnahmen und Empfehlungen der »American Academy of Pediatrics« (AAP) haben weltweit einen hohen Stellenwert in der Definition kinder- und jugendärztlicher Standards. Üblicherweise sind sie fundiert recherchiert. In der

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Diskussion werden alle Aspekte der Materie umfassend beleuchtet und die Entscheidungen sind in der Regel gut nachvollziehbar. Zur Beschneidung hat sich die AAP 1971 erstmals geäußert. Letztendlich als Reaktion auf die jahrzehntelange Beschneidungspraxis in den USA stellte sie damals fest, dass es keine absolute Indikation für eine routinemäßige Beschneidung von Neugeborenen gibt. Diese Einschätzung wurde 1975 und 1983 in nachfolgenden Stellungnahmen bestätigt. 1989 kam die AAP zu einer anderen Auffassung. Sie vertrat jetzt, dass die Beschneidung von neugeborenen Jungen gesundheitliche Vorteile haben könnte. Die Prävention von Harnwegsinfekten und sexuell übertragbaren Krankheiten stand hierbei im Vordergrund (AAP, 1989). Die AAP trug den Ärzten auf, Eltern, die eine Beschneidung ihres Kindes wünschen, sorgfältig über Nutzen und Risiken aufzuklären. Sie gab den Ärzten allerdings keine verlässlichen Daten über die Risiken an die Hand. 1999 änderte die AAP ihre Meinung wieder und kam zu dem Schluss, dass die vorhandenen Daten nicht ausreichen würden, um eine Beschneidung von neugeborenen Knaben allgemein zu empfehlen. Der Eingriff hätte keinen gesundheitlichen Nutzen im Säuglingsalter. Die AAP ließ allerdings den Eltern die Freiheit, sich nach ausführlicher ärztlicher Beratung dennoch für die Operation zu entscheiden (AAP, 1999). Daraufhin wurde in einigen Bundesstaaten der USA die Beschneidung nicht mehr von der Krankenversicherung bezahlt und die Häufigkeit der Eingriffe ging insbesondere in diesen Gegenden stark zurück. An der Ostküste wurden in den letzten Jahren nur noch weniger als 10 % der Neugeborenen beschnitten. In manchen Staaten im Zentrum und im Mittleren Westen der USA, wo die Operation überwiegend weiter bezahlt wurde, werden heute noch über 80 % der neugeborenen Knaben beschnitten. Im Sommer 2012 hat die AAP ihre Empfehlung ein weiteres Mal geändert. Jetzt stellte sie, wie 23 Jahre zuvor, wieder fest, dass der Nutzen einer Beschneidung von neugeborenen Knaben die Risiken des Eingriffs überwöge (AAP, 2012). Wieder leitete der Schutz vor Harnwegsinfekten und vor sexuell übertragbaren Krankheiten den Entscheidungsprozess. Eine generelle Empfehlung zur Beschneidung aller männlichen Neugeborenen wollte die AAP jedoch nicht aussprechen. Allerdings hat sie 2012 erstmals empfohlen, dass die Beschneidung von den Krankenversicherungen bezahlt werden solle. Diese jüngste AAP Empfehlung wurde auch im Herbst 2012 von der Bundesregierung im Gesetzgebungsprozess herangezogen, mit dem schließlich die elterliche Sorge auf eine Einwilligung zur Beschneidung ausgedehnt wurde. Sie wurde auch immer wieder von jüdischen Beschneidern angeführt, um den medizinischen Nutzen ihrer Tätigkeit zu belegen. Dies geschah, zunächst berechtigt, im Vertrauen auf die hohe Reputation und den normalerweise hohen medizinisch-wissenschaftlichen Standard der Empfehlungen der AAP.

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Internationale Kritik Kaum eine AAP-Stellungnahme wurde national und international so heftig kritisiert und abgelehnt wie die jüngste zur Beschneidung von Knaben. Die AAP musste sich vorhalten lassen, dass ihre Mitglieder durch die lange Beschneidungstradition kulturell voreingenommen seien. Morten Frisch hat mit einer Autorengruppe aus vielen europäischen Ländern und aus Kanada den kritischen Blick der außeramerikanischen westlichen Welt auf die AAP fokussiert. Diese Autoren führen aus, dass die gesundheitlichen Vorteile einer Beschneidung, die von der AAP angeführt werden, fragwürdig seien und wenig Bedeutung für die öffentliche Gesundheit in einem westlichen Staat hätten. Es gebe keinen Grund für diese Operation zu einem Zeitpunkt, bevor die Jugendlichen alt genug sind, um selbst entscheiden zu können. Frisch und Koautoren sehen die Voreingenommenheit darin, dass es in den USA kulturell als normal gelte zu beschneiden. Ärzte aus anderen westlichen Ländern ohne Beschneidungstradition kommen demnach zu anderen Schlussfolgerungen (Frisch et al., 2013). Svoboda und Van Howe (2013), ein Jurist und ein Arzt aus den USA, wiesen der AAP nach, wissenschaftlich einseitig und unsauber gearbeitet zu haben. Wesentliche Themen seien ausgeklammert worden, die Literatur sei nur selektiv ausgewertet worden und die Schlussfolgerungen stünden in keinem Verhältnis zum Inhalt der Literatur. Die Versäumnisse würden die Glaubwürdigkeit der Stellungnahme in höchstem Maße untergraben. Tatsächlich findet sich in der neuesten AAP-Stellungnahme kein Satz über die Funktion der Vorhaut. Kondome als Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten werden nicht erwähnt, auch nicht die Körperhygiene. Sie setzt sich nicht mit den juristischen Gegebenheiten in den USA auseinander, nicht mit den Menschenrechten, der UN-Kinderrechtskonvention und auch nicht mit den eigenen bioethischen Empfehlungen. Die AAP erwähnt nicht, dass die USA als Land mit der höchsten Beschneidungsrate in der westlichen Welt auch jenes mit der größten Häufigkeit eben jener Krankheiten sind, die durch die Beschneidung verhindert werden sollen. Studien über Trauma und Schmerzen bei Kindern durch die Beschneidung bleiben genauso unerwähnt wie Hinweise auf eine Beeinträchtigung des sexuellen Empfindens. Brüche der Glaubwürdigkeit Die AAP lässt den Eltern weiten Entscheidungsraum, ob sie ihre Söhne beschneiden lassen wollen. Sie rät ihnen, die Abwägung der gesundheitlichen Vorteile einer Beschneidung gegenüber deren Risiken in Hinblick auf ihre religiösen,

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kulturellen und persönlichen Einstellungen zu treffen. Sie befürchtet, dass die gesundheitlichen Vorteile allein die anderen Faktoren nicht überwiegen könnten. In einer ebenfalls sehr heftig kritisierten Stellungnahme zur Beschneidung von Mädchen hat die AAP noch betont, dass das Elternrecht Grenzen habe. Sie verpflichtete die Ärzte, sich Elternwünschen zu widersetzen, die den Kindern Leid und Schaden zufügen. In dieser, später zurückgezogenen, Stellungnahme hielt die AAP gleichzeitig eine minimale rituelle Beschneidung (»ritual nick«) von kleinen Mädchen für einen möglichen Schutz vor einer späteren Genitalverstümmelung (AAP, 2010). Damit sie nicht mit sich selbst und den US-amerikanischen Gesetzen in Widerspruch geriet, definierte die AAP, dass diese minimale Genitalverstümmelung keine Verletzung darstelle. Besorgniserregend ist, dass die AAP auf der einen Seite einräumt, dass die gesundheitlichen Risiken einer Beschneidung nicht genau beziffert werden könnten. Auf der anderen Seite stellt sie, ohne den logischen Bruch zu benennen, fest, dass die Vorteile für die Gesundheit die Risiken überwögen. Da es nicht plausibel ist, dass das wissenschaftlich hochrangige Team diesen Bruch nicht selbst bemerkt hat, muss man eine arrogante Absicht unterstellen, den Leser trotz fehlender Daten von der Richtigkeit einer vorgefassten Meinung zu überzeugen. Anscheinend geht die AAP davon aus, dass ihre Autorität so groß sei, dass ihr auch offensichtlich unplausible Äußerungen geglaubt würden. Beschneidung ist lukrativ An dieser Stelle beginnt der Morast von Mutmaßungen, weshalb sie das tut. Hierin sind sich viele Kritiker einig, dass die Mitglieder der AAP-Kommission von ihrer eigenen Tradition der Beschneidung geleitet wurden. Mutmaßungen über den psychologischen Stellenwert eines Bruches mit der Tradition wurden angestellt. Was bedeutet es einzugestehen, dass eine langjährig vehement verfochtene Praxis falsch war? Was könnte hierdurch an Wut und auch an Schuldgefühlen ausgelöst werden? Andererseits wird der AAP-Kommission unterstellt, dass sie sich von wirtschaftlichen Erwägungen leiten lassen habe. Würden die amerikanischen Ärzte und die Eltern der neugeborenen Jungen der momentanen Empfehlung folgen, könnte der Umsatz durch Beschneidungen von derzeit 1,25 Milliarden US-Dollar im Jahr auf jährlich 2,25 Milliarden US-Dollar gesteigert werden. Die US-Organisation »Doctors Opposing Circumcision« (DOC) macht diese Rechnung auf. Sie begründet den Verdacht, dass die AAP durch finanzielle Interessen geleitet wurde, damit, dass ihre »task force« zur Beschneidung durch »Stakeholder« erweitert wurde. Stakeholder vertreten finanzielle Interessen ihrer Auftraggeber und Gesellschaften. Gemeint sind Mitglieder des »Ameri-

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can College of Obstetricians and Gynecologists« und der »American Academy of Family Physicians«. Beide seien im Gegensatz zur AAP Organisationen mit wirtschaftlichen Schwerpunkten. Ihre Mitglieder profitieren unmittelbar von der positiven Bewertung der Beschneidung neugeborener Knaben (DOC, 2012). Die Pflicht, Gesundes zu erhalten Der europäischen Kritik einer kulturellen Befangenheit durch Frisch et al. hat die AAP geantwortet. Sie ist der Auffassung, dass in einem Land, in dem ein Teil der Männer beschnitten ist, der andere nicht, ein viel unbefangeneres Verhältnis zur Beschneidung bestehe als in Ländern, in denen die Beschneidung eher unüblich ist. Ihr kultureller Bias sei daher eher neutral gegenüber einer Beschneidung, ganz im Gegensatz zu Europa, wo eher eine Gegnerschaft bestehe (AAP, 2013). Diese Auffassung mag vordergründig liberal und modern klingen. Sie lässt sich jedoch nur sehr schwer mit der hippokratischen Tradition vereinbaren. Die abendländische medizinische Kultur gebietet uns, parteiisch zu sein. »Primum nil nocere« bedeutet zuerst die Pflicht, zu erhalten. Die europäische Gruppe um Morten Frisch (2013) weist darauf hin, dass vorbeugende Eingriffe wesentlich präziser begründet werden müssen als Heileingriffe. Sie werden an Menschen vorgenommen, die gesund sind. Noch strengere Kriterien müssen bei vorbeugenden Eingriffen an Kindern angelegt werden. Diese sind noch nicht in der Lage, Vor- und Nachteile abzuwägen und rechtsverbindlich einzuwilligen. Trotz der starken Kritik an der wissenschaftlichen Qualität der AAP-Stellungnahme wird diese auch in den folgenden Abschnitten immer wieder als Basis herangezogen werden. Einerseits bietet sie die umfassendste Literatursammlung. Andererseits sind die Empfehlungen dieser anerkannt großen Autorität so machtvoll, dass sie im Einzelnen und glaubwürdig kritisiert werden müssen. Die Beschneidung junger Knaben und die Prävention sexuell übertragbarer Krankheiten Es gebe eine hohe wissenschaftliche Evidenz dafür, dass Beschneidungen vor Infektionen mit HIV, Herpes, Papillomaviren (HPV) und anderen sexuell übertragbaren Erkrankungen schützen. Die AAP benennt in ihrer Stellungnahme zur Beschneidung von 2013 unter anderem die WHO als Kronzeugin. Die DOC vermutet, dass die AAP ihre neue Kommission zur Beschneidung 2007 nur deswegen gebildet habe, um die Angst in der Bevölkerung vor HIV und AIDS dazu zu instrumentalisieren, dass wieder alle neugeborenen Jungen in den USA beschnitten würden. Ein gewiss sehr harter Vorwurf. DOC benennt

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fünf wissenschaftliche Arbeiten, die belegen, dass eine Beschneidung von neugeborenen Jungen nicht zu weniger HIV führt, die Beschneidung an sich vielleicht sogar zu mehr Erkrankungen (DOC, 2012). Die Beschnittenen könnten auf einen Schutz durch die Operation vertrauen und tatsächlich wirksame Schutzmaßnahmen vernachlässigen. Die entsprechenden Arbeiten sind zwischen 2008 und 2011 erschienen und sie werden von der AAP 2012 nicht erwähnt. Ähnlich sei die AAP beim Nachweis einer Schutzfunktion vor HPV-Infektionen durch Beschneidung vorgegangen. Tatsächlich taucht in der AAP-Stellungnahme das Wort »Impfung« im Zusammenhang mit HPV-Infektionen nicht auf. »Partisan« nennen Svoboda und Van Howe den Umgang der AAP mit der medizinischen Literatur. Diese wahllose Ausbeutung sei nicht nur unvollständig, oft seien Artikel falsch wiedergegeben und die Schlussfolgerungen seien nicht vom Inhalt gedeckt (Svoboda u. Van Howe, 2013). Europa ist anders Unabhängig davon, ob die Recherche, Analyse und Bewertung der Literatur zum Zusammenhang zwischen Beschneidung und sexuell übertragbaren Erkrankungen bei der AAP vollständig und korrekt sind, besteht das Problem der Übertragbarkeit. Die wesentlichen diesbezüglichen Studien wurden im subsaharischen Afrika und an Erwachsenen vorgenommen. Es gibt weltweit keine einzige Untersuchung, die belegt, dass die Beschneidung von männlichen Kindern eine einzige sexuell übertragbare Krankheit verhindert hätte. Die erwähnte Tatsache, dass diese Krankheiten in den USA bei hoher Beschneidungsrate viel häufiger sind als in Europa, wo wenig Männer beschnitten sind, muss zunächst als hartes Gegenargument gelten, das durch kontrollierte Studien widerlegt werden müsste. Die AAP hat die europäische Kritik mit dem Hinweis erwidert, dass man in der Kindheit das spätere Sexualverhalten nicht vorhersagen könne. Bereits 13-Jährige seien sexuell aktiv und der Kondomgebrauch sei nicht ausreichend verbreitet. Sie beklagt zu Recht 2.266 HIV-Infektionen 2008 bei amerikanischen Jugendlichen zwischen 13 und 19 Jahren. Die nächstliegende Frage, ob die männlichen unter ihnen mehrheitlich beschnitten oder unbeschnitten waren, bleibt unbeantwortet. Epidemiologische Studien müssten zwischenzeitlich auch in den USA belegen können, ob sich die Häufigkeit von HIV-Infektionen bei Sexualkontakten mit unbeschnittenen Jugendlichen (und auch Erwachsenen) von derjenigen mit beschnittenen unterscheidet. Die AAP teilte auch nicht mit, wie viele der Betroffenen sich bei Sexualkontakten angesteckt haben und wer die Infektion beim Drogenkonsum erworben hat.

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Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, dass nach deutschem Recht Jugendliche seit fast 60 Jahren in medizinische Eingriffe einwilligen können, sobald sie einsichtsfähig sind. Als frühester Zeitpunkt wird im Allgemeinen der 14. Geburtstag angesehen. In den USA wird eine Mündigkeit in manchen Bundesstaaten erst mit 21 Jahren erreicht. Bis dahin entscheiden die Eltern weitgehend über gesundheitliche Belange. Hiervon gibt es Ausnahmen, beispielsweise in der Diagnostik und Behandlung von sexuell übertragbaren Erkrankungen oder auch bei verheirateten Minderjährigen. Erst 2002 wurde in den USA die »mature minor«-Doktrin entwickelt, die der langjährigen deutschen Praxis entspricht. Danach könnten einsichtsfähige Jugendliche selbst über medizinische Maßnahmen bestimmen. Diese Rechtsdoktrin wurde aber erst in wenigen Bundesstaaten in Gesetzesform umgesetzt. Schützt die Beschneidung von neugeborenen Knaben das Kind später vor Harnwegsinfekten? Harnwegsinfekte sind die einzige bedeutungsvolle Erkrankung im Kindesalter, die durch eine Beschneidung im Neugeborenen- oder im Säuglingsalter in ihrer Häufigkeit reduziert werden kann. Die AAP führt aus, dass bei beschnittenen Jungen bis zum Alter von zwei Jahren drei- bis zehnmal weniger Harnwegsinfekte auftreten als bei unbeschnittenen. Sie bezieht sich unter anderem auf die Metaanalyse von Singh-Grewal, Macdessi und Craig (2005) bei der Feststellung, dass etwa hundert Beschneidungen von Neugeborenen notwendig seien, um eine Harnwegsinfektion bei einem männlichen Neugeborenen zu verhindern. Die Autoren selbst nennen 111 Beschneidungen als »number needed to treat«. To, Agha, Dick und Feldman (1998) schätzen die Zahl der notwendigen Eingriffe zur Verhinderung eines Harnwegsinfekts mit 198 knapp doppelt so hoch. Etwa einer von hundert kleinen Jungen erleidet einen Harnwegsinfekt. Harnwegsinfekte sind am häufigsten in den ersten sechs Lebensmonaten und viel häufiger bei denjenigen, die eine Fehlbildung der Nieren und ableitenden Harnwege haben, als bei organisch gesunden. Bei Kindern mit vesikoureteralem Reflux und bei solchen, die bereits einen Harnwegsinfekt durchgemacht haben, kann die Häufigkeit von Infektionen der Nieren und Harnwege durch eine Beschneidung um 10–30 % vermindert werden. Singh-Grewal et al. (2005) verweisen in ihrem Review darauf, dass bei einer Komplikationsrate von 2 % ein klinischer Nutzen von Beschneidungen nur bei solchen Jungen zu erwarten ist, die rezidivierende Harnwegsinfekte haben, oder bei solchen mit einem höhergradigen vesikoureteralen Reflux (Grad drei oder höher). Bei ansonsten gesunden Kindern wären nach den Daten der aus-

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gewerteten Studien auf neun durch Beschneidung verhinderte Harnwegsinfekte 20 Komplikationen durch die Beschneidung zu erwarten. Das entspricht 2,2 Komplikationen pro verhindertem Harnwegsinfekt. Nach den Ergebnissen von To et al. (1998) müsste man sogar mit vier Komplikationen pro verhindertem Harnwegsinfekt rechnen. Diese Betrachtung fehlt in den AAP-Empfehlungen, die dennoch ein Überwiegen des Nutzens der Beschneidung im Vergleich zu deren Risiken feststellt. Bei der AAP fehlt auch eine Abwägung des Nutzens der Beschneidung in der Prophylaxe von Harnwegsinfektionen gegenüber der Möglichkeit, diese mit Antibiotika zu behandeln und bei Risikopatienten durch eine prophylaktische Gabe von Antibiotika zu verhindern. Die Wörter »Antibiotikum« oder »antibiotisch« tauchen in der gesamten Stellungnahme nirgends auf. Svoboda und Van Howe weisen darauf hin, dass es etwa 39.000 US-Dollar kostet, durch Beschneidung eine Harnwegsinfektion in den USA zu verhindern. Demgegenüber stehen Kosten in Höhe von etwa 220 US-Dollar dafür, eine Harnwegsinfektion zu diagnostizieren und mit einem Antibiotikum zu behandeln. Was nützt wem? Systematische Studien über den Nutzen einer selektiven Beschneidung von neugeborenen Knaben, bei denen durch Ultraschall vor der Geburt eine Harnwegsfehlbildung festgestellt wurde, sind bislang nicht durchgeführt worden. In Deutschland hat sich dieses späte fetale Organscreening jedoch weitgehend etabliert. Nach einer neuesten Literaturanalyse von Braga et al. (2013) erleiden 2,2–2,8 % der Säuglinge mit einer vor der Geburt festgestellten niedriggradigen Hydronephrose Harnwegsinfekte. Eine generelle Prophylaxe mit Antibiotika nützt bei dieser Gruppe nichts. Zu viele müssten unnötig ein Medikament erhalten. Anders ist die Situation bei Säuglingen mit höhergradiger Hydronephrose im Mutterleib. Von diesen haben später 14,6 % trotz antibiotischer Prophylaxe Harnwegsinfekte gegenüber 28,9 % ohne Medikation. Um einen Harnwegsinfekt zu vermeiden müssten von diesen Kindern sieben prophylaktisch mit Antibiotika behandelt werden (Braga et al., 2013). Die Kosten hierfür lägen, nach der Berechnung von Svoboda, bei etwa 1.500 US-Dollar. Eine Auftrennung nach Geschlecht, Ursache der Hydronephrose und Beschneidungsstatus konnte in dieser Analyse allerdings nicht vorgenommen werden. Zwar schützt eine Beschneidung kleine Jungen vor Harnwegsinfektionen. Bei ansonsten Gesunden überwiegen die Risiken den Nutzen jedoch zwei- bis vierfach. Einen wirklichen Nutzen haben allenfalls jene mit einem höhergradigen vesikoureteralen Reflux und solche, die bereits einen Harnwegsinfekt hatten. Bei den anderen muss man zwei bis vier Komplikationen aufgrund der

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Beschneidung auf einen verhinderten Harnwegsinfekt erwarten. Der Vorteil einer Beschneidung gegenüber einer antibiotischen Therapie oder Prophylaxe wurde bislang nicht bewiesen. Die Kosten einer allgemeinen prophylaktischen Beschneidung könnten jedoch die Kosten der antibiotischen Prophylaxe um den Faktor 25 überwiegen. Ein wesentliches und limitierendes Problem bei diesen Betrachtungen ist, dass die genauen Risiken einer Beschneidung nicht bekannt sind. Die Größenordnung von 2 % aus der Metaanalyse von Singh-Grewal et al. (2005) scheint jedoch relativ breit akzeptiert zu werden. Eine neuere kinderchirurgische Untersuchung berichtet von einem Risiko über 5 % (Thorup, Thorup u. Ifaoui, 2013). Der Schmerz geht tief Es gibt keinen Zweifel mehr daran, dass auch Neugeborene und kleine Säuglinge Schmerzen empfinden. Diese Tatsache muss nicht mehr belegt werden. Schmerzen bei Neugeborenen lassen sich mit einer ganzen Reihe von psychometrischen Verfahren messen. Schmerzen haben einen Einfluss auf die vegetative Regulation von Neugeborenen. Sie verändern den Blutdruck, die Atmung, die Sauerstoffsättigung und auch den Blutfluss im Gehirn. Auf diese Weise können sie zu einer frühzeitigen neurologischen Schädigung beitragen (Hübler, 2010). Differenzierte Überlegungen zur Narkose bei Neugeborenen reichen in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück. Jackson Rees sah 1950 die Zeit gekommen, dass man die besondere Physiologie der Neugeborenen bei der Narkose genauer betrachtet (Rees, 1950). Jedoch erst 18 Jahre später stellte Charles Weiss in der medizinischen Literatur die Frage, ob bei der Beschneidung Neugeborener eine Schmerzbekämpfung nötig sei. Er verwies auf Beobachtungen, dass die Kinder nach der Operation eine Stressphase erleben. Weiss Bedenken war, dass sie das schmerzhafte Ereignis in ihr Unterbewusstes, an den »Sitz ihrer Libido«, aufnehmen könnten (Weiss, 1968). Robert Virtue hat die Frage von Charles Weiss durch einen Kommentar ergänzt: »What does an awake circumcision do with the physician? Might it not make him less sympathetic with his patient? I can not believe that it is good medicine for either the physician or the baby.« Schmerzen verändern späteres Verhalten

Neugeborene und Säuglinge reagieren auf Schmerzen. Bereits in den 1970er Jahren wurden in den USA eine ganze Reihe von Untersuchungen durchgeführt, die Verhaltensänderungen bei Säuglingen nach der Beschneidung nachgewiesen haben. Marshall, Stratton, Moore und Boxerman (1980) fassen zusammen,

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dass Neugeborene eine größere Fähigkeit haben, Erinnerungen zu speichern, als man das zuvor vermutet hatte. In einer eigenen Studie fanden sie Verhaltensänderungen bei 90 % von beschnittenen Neugeborenen im Vergleich zu unbeschnittenen. Sie befürchteten, dass die Schmerzerfahrung das zukünftige Verhalten beeinflussen könnte. Diese Verhaltensänderung könnte, so die Autoren, einen Einfluss darauf haben, wie andere mit dem Kind umgehen, und so die Interaktionen und Interaktionserfahrungen beeinflussen. In moderner Terminologie würde man vermuten, dass die Verhaltensänderung nach der Beschneidung einen Einfluss auf die Interaktions- und Bindungsqualität hat. Diesen Aspekt hat Marshall zusammen mit Porter und Rogers in einer zweiten Studie untersucht. Für diese Studie beobachteten die Autoren die Situation beim Füttern mit der Flasche. Beschnittene Kinder unterbrachen in der frühen Zeit nach der Operation das Trinken häufiger. Sie saugten schneller, stärker und abgestimmter. Sie konzentrierten sich stärker auf das Trinken und weniger auf die soziale Interaktion (Marshall, Porter u. Rogers, 1982). In den Studien von Marshall et al. hielten die Verhaltensänderungen jeweils nur für eine kurze Zeitspanne an. Ihre Langzeitwirkung blieb spekulativ. Dass Säuglinge das unangenehme Schmerzerlebnis tatsächlich speichern und es ihre spätere Reaktion auf ein neues Trauma verändert, haben Taddio, Katz, Ilersich und Koren (1997) beobachtet. Männliche Säuglinge, die zuvor beschnitten worden waren, reagierten bei einer Schutzimpfung vier bis sechs Monate später wesentlich stärker auf den damit verbundenen Schmerz als unbeschnittene. Die Arbeitsgruppe von Fran Lang Porter zeigte, dass die Wahrnehmung von Schmerzen sehr differenziert erfolgt. Bereits bei sehr unreifen Frühgeborenen steigern sich die physiologische Reaktion und das Verhalten mit zunehmender Schmerzintensität. Beschneidungen wurden in dieser Studie von den Ärzten als der am stärksten invasive Eingriff klassifiziert. Bei Beschneidungen fanden die Autoren den höchsten Anstieg der Herzfrequenz (Porter, Wolf u. Miller 1999). Schmerzen von Säuglingen werden ignoriert

Dennoch wurden und werden zahllose Neugeborene völlig ohne Betäubung beschnitten. Dies, wie in archaischen Zeiten, insbesondere durch die Beschneider der Religionsgemeinschaften. Manche berufen sich auf die Traditionen und lehnen deswegen eine Anästhesie generell ab: »Alles Künstliche steht im Widerspruch zum jüdischen Religionsgesetz«, sagte Oberrabbiner Yona Metzger bei seinem Deutschlandbesuch im August 2012 (Decker, 2012). Unter Juden gängige Praxis ist es, dem Säugling vor der Beschneidung einen Tropfen süßen Wein zu verabreichen, damit er sich beruhigt.

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Auch Ärzte haben zumindest bis zum Ende des 20. Jahrhunderts viele Neugeborene ohne jegliche schmerzmindernde Behandlung beschnitten. Und bis heute ist es trotz zahlreicher wissenschaftlicher Belege für die Schmerzempfindlichkeit kleiner Kinder gängige Praxis unter Ärzten, die Vorhaut mit schmerzmindernden Praktiken zu entfernen, die keine vollständig wirksame Anästhesie gewährleisten. Die Gründe hierfür kann man im Einzelnen nicht nachvollziehen. Es scheint jedoch immer noch eine gängige Praxis unter Ärzten beim Thema Beschneidung zu sein, die Risiken und Belastungen für die Kinder zu verharmlosen. Studienergebnisse werden missbraucht und ethische Schranken ignoriert. Noch 2012 hat der australische Mikrobiologe und missionarische Beschneidungsbefürworter Brian Morris publiziert, dass frühe Stresserfahrungen die Schmerzempfindlichkeit und die Schmerzreaktion des späteren Erwachsenen vermindern würden. Hierzu beruft er sich auf Experimente an Ratten (Morris et al., 2012). Einerseits ist dieser Vergleich hochproblematisch, andererseits könnte man aus ihm folgern, dass man die Folgen einer frühen Schmerzerfahrung tatsächlich bis ins Erwachsenenalter hinein beobachten kann. Morris zitiert aus etwa 250 in der medizinischen Datenbank »pub-med« erhältlichen Studien zu Schmerzen bei der Beschneidung von Neugeborenen und Säuglingen eine einzelne. Diese hat zum Ergebnis, dass eine anästhesierende Salbe (EMLA®) den Schmerz bei der Beschneidung vermindere oder ausschließe. Die Anwendung dieser Creme ist jedoch nach allen vergleichenden Studien anderen medizinischen Maßnahmen zur Schmerzverminderung unterlegen und kann nicht mehr als ausreichende Maßnahme gelten (Paix u. Peterson, 2012). In der Stellungnahme der AAP zur Säuglingsbeschneidung wird zur Schmerzbekämpfung im wesentlichen auf die Zusammenstellung der Cochrane Bibliothek von 2004 verwiesen (Brady-Fryer, Wiebe u. Lander, 2004). Diese Literaturübersicht offenbart insbesondere eine unfassbare Ignoranz in der medizinischen Forschung gegenüber Schmerzen bei Neugeborenen und Säuglingen. Sie fasst wissenschaftliche Studien an 2.500 kleinen Jungen zusammen. Diese stammen überwiegend aus den USA. Für statistische Vergleiche wurden die Kinder entweder mit schmerzbekämpfenden Maßnahmen verschiedener Art oder mit Plazebo oder ohne jegliche schmerzdämpfenden Maßnahmen operiert. Das bedeutet, dass bis ins 21. Jahrhundert hinein im Rahmen der medizinischen Wissenschaft eine ungeheure Anzahl von kleinen Kindern bewusst und absichtlich ohne jegliche Betäubung beschnitten wurde. Alle diese Studien mussten von einer Ethikkommission genehmigt werden. Die ethische Leichtfertigkeit beim Thema Beschneidung ist von den Beteiligten selbst an keiner Stelle problematisiert worden.

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EMLA®: gelungenes Product Placement, ungenügende Wirkung

Nach neuester Anschauung ist eine Vollnarkose die beste Art der Schmerzbekämpfung bei einer Beschneidung. Dies bedeutet, dass man mit dem Eingriff warten sollte, bis die Kinder älter sind. Wenn die Operation unter örtlicher Betäubung durchgeführt wird, sollte neben dem Operateur immer ein erfahrener Anästhesist beteiligt sein, der den Patienten überwacht und bei unzureichender Anästhesie eingreifen kann. Unter den Methoden zur örtlichen Betäubung ist die Infiltrationsanästhesie rund um den Penis einem »dorsalen Penisblock« überlegen. Salbenzubereitungen mit Lidocain-Prilocain (z. B. EMLA®) führen zu keiner ausreichenden Schmerzreduzierung (Paix u. Peterson, 2012). In der wissenschaftlichen Datenbank »pub-med« erhielt man am 24. 10. 2013 57 wissenschaftliche Arbeiten bei einer Anfrage mit den Stichworten »EMLA« und »circumcision«. Die älteste datiert aus dem Jahr 1988, die neueste vom Februar 2013. Ein großer Teil dieser Arbeiten betrifft Neugeborene und Säuglinge und ist in pädiatrischen Zeitschriften erschienen, überwiegend in englischsprachigen. Bemerkenswert dabei ist, dass die Creme in den Arbeiten mit ihrem Handelsnamen genannt wird und nicht als eine Mischung der oben angeführten pharmakologischen Bestandteile. Dies begründet immer den Verdacht, dass es in einer wissenschaftlichen Arbeit auch darum geht, das spezielle Markenpräparat in den Vordergrund und in Erinnerung zu rufen. Bei manchen der Arbeiten wird angegeben, dass sie von der Herstellerfirma Astra Pharma unterstützt wurden. Im Klartext bedeutet das meist, dass die Studie von der Herstellerfirma finanziert wurde und die Autoren ein Honorar erhalten haben oder eine andere Unterstützung ihrer Arbeit. Zudem kann es bedeuten, dass die Herstellerfirma als Auftraggeber entscheiden kann, ob die Studie publiziert wird, falls die Ergebnisse nicht den Erwartungen entsprechen sollten. Offensichtlich hatten weder Ethikkommissionen noch hoch bewertete Zeitschriften, wie das »New England Journal of Medicine«, das »Archive of Pediatric and Adolescent Medicine« oder »Pediatrics«, Probleme mit Produktnamen in den wissenschaftlichen Arbeiten. Der Name der Herstellerfirma Astra ist nicht im Stichwortverzeichnis von »pub-med« enthalten. So erscheinen bei einer Abfrage mit den Stichworten »EMLA« und »circumcision« und »Astra« lediglich vier Ergebnisse. Darunter finden sich solche nicht, bei denen der Herstellername entweder im Text oder bei der Erklärung der Interessenkonflikte auftaucht. Bei der Häufigkeit von Beschneidungen an Neugeborenen in den USA kann man den Markt für diese in jeder Hinsicht einfache Form der Anästhesie erahnen. Im August 2013 bewertete die europäische Zulassungsbehörde für Humanund Tierarzneimittel HMA den medizinischen Nutzen von EMLA®. »Auch wenn

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EMLA Creme den Schmerz statistisch signifikant vermindert«, schreiben die HMA-Autoren, »erscheint die berichtete Schmerzverminderung unzureichend,

um ethisch akzeptabel zu sein.« Daher kann nicht empfohlen werden, dass der Gebrauch von EMLA®-Salbe bei Beschneidungen in den nationalen Arzneimittelinformationen aufgeführt ist. Die Kommission empfiehlt, diese Indikationen zu entfernen, weil sie keinen Beweis für eine ausreichende Wirkung sieht. »Wenn eine Beschneidung medizinisch erforderlich ist, gibt es dafür vollständig wirksame Anästhesieverfahren«, schließt die Stellungnahme (HMA, 2013; Übersetzung durch den Autor). Deutscher Bundestag: örtlich betäubt

Fellmann, Müller und Graf berichten in einer Stellungnahme für den Deutschen Bundestag von 1.531 Beschneidungen im Zeitraum von 2003 bis 2012 am Jüdischen Krankenhaus in Berlin. 385 dieser Kinder waren Neugeborene, die auf Wunsch ihrer Eltern beschnitten wurden. Bis zum 14. Lebenstag wird am Jüdischen Krankenhaus die Beschneidung in Lokalanästhesie mit EMLA® vorgenommen. Das Präparat wird 30 Minuten vor dem Eingriff aufgetragen und ein zweites Mal postoperativ zur lokalen Schmerzbekämpfung (Fellmann, Müller u. Graf, 2012). Dieses Vorgehen ist in mehrfacher Hinsicht kritisch: 1. EMLA® führt nach wissenschaftlichen Studien bei Beschneidungen nicht zu einer ausreichenden Betäubung, da es nicht tief genug eindringt. 2. Die berichtete Einwirkdauer von 30 Minuten ist nur halb so lang, wie die vom Hersteller empfohlene Anwendungszeit vor dem Eingriff. 3. EMLA® soll nach den Angaben des Herstellers nicht auf offenen Wunden angewendet, also nicht postoperativ aufgetragen werden. 4. Die Creme soll bei Neugeborenen und Säuglingen bis zwei Monaten nicht länger als eine Stunde auf der Haut verbleiben, postoperativ aufgetragen verbleibt sie sicher länger. 5. Nach Applikation der maximalen Dosierung bei Neugeborenen und Säuglingen bis zu drei Monaten soll vor einer wiederholten Anwendung ein Zeitintervall von mindestens acht Stunden eingehalten werden. Diese Zeit wird für die postoperative Applikation sicher unterschritten. Die Beschneidung eines Neugeborenen in der von Fellmann et al. beschriebenen Weise erfolgt wegen der unzureichenden Anästhesie und einer nicht bestimmungsgemäßen Anwendung des Anästhetikums vermutlich nicht nach den Regeln der ärztlichen Kunst, wie es im neuen § 1631d BGB, dem »Beschneidungsgesetz« gefordert ist. Eine wirksame Aufklärung der Eltern nach dem Patientenrechtegesetz ist nicht möglich, wenn die genannten Probleme verschwiegen

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werden. Das Präsidium und die Mitglieder des Deutschen Bundestags haben mit großer Mehrheit hierin kein Problem erkennen können. Aus kinder- und jugendärztlicher Sicht muss man solch ein Vorgehen strikt ablehnen. Eine Zulassung als Lokalanästhetikum im Rahmen der Beschneidung bestand für EMLA® in Deutschland übrigens zu keinem Zeitpunkt. Eine frühe rituelle Beschneidung gefährdet das Kindeswohl

Die Schmerzverminderung mit einer örtlich betäubenden Creme, wie sie von Fellmann et al. für das Jüdische Krankenhaus beschrieben wird, ist das Modellbeispiel für das Vorgehen bei einer Beschneidung in den ersten sechs Lebensmonaten durch die Beauftragten der Religionsgemeinschaften, die keine Ärzte sind. EMLA® wird auch in der wissenschaftlichen Literatur aus neuester Zeit als das am meisten geeignete örtliche Betäubungsmittel für rituelle Beschneidungen beworben. Beydon, Ecoffey, Lienhart und Puybasset (2012) befürworten es deswegen, weil ihnen das Risiko einer Vollnarkose im ersten Lebensjahr zu groß erscheint. Die Risiken einer Beschneidung oder eines Schmerztraumas werden in dieser Arbeit nicht diskutiert. Die Beauftragten der Religionsgemeinschaften müssen zwar für die Durchführung der Beschneidung den Ärzten vergleichbar befähigt sein. Sie dürfen jedoch, weil sie keine Ärzte sind, keine wirksame örtliche Betäubung durch Injektion von Lokalanästhetika vornehmen. Eine Narkose, als wirksamste Betäubung, ist ihnen ebenfalls verwehrt. Diese sollte ohne schwerwiegende Gründe in den ersten Lebensmonaten ohnehin nicht erwogen werden, weil man eine Beeinträchtigung der späteren Entwicklung befürchten muss. Die rituelle Beschneidung durch Nichtärzte muss also in der Regel zu vermeidbaren Schmerzen führen wie jede Beschneidung mit Hilfe betäubender Cremes. Frühe Schmerzerfahrungen prägen sich bei Säuglingen ein und haben eine messbare Auswirkung auf das spätere Verhalten. Daher verstößt es aus kinder- und jugendärztlicher Sicht gegen das Kindeswohl, wenn man einem Säugling solche Schmerzen zufügt, ohne dass er einen direkten persönlichen gesundheitlichen Nutzen davon hat. Unmündige Kinder verdienen unsere besondere Fürsorge. Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e. V. (BVKJ) hat den Prozess der Meinungsbildung vom »Kölner Urteil« bis zum »Beschneidungsgesetz« im Dezember 2012 intensiv begleitet. Er hat zahlreiche Stellungnahmen und Expertisen abgegeben. Für die große Mehrheit der Kinder- und Jugendärzte in Deutschland wäre der Gesetzentwurf der Bundestagsabgeordneten Marlene Rupprecht (siehe ihren Beitrag in diesem Buch) und anderer (Bundestagsdrucksache 17/11430) ein praktikabler Kompromissvorschlag gewesen. Dort sollte eine medizinisch nicht notwendige Beschneidung erst dann erlaubt werden, wenn

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ein Junge das 14. Lebensjahr vollendet hat, einsichts- und urteilsfähig ist und der Beschneidung zugestimmt hat. Zudem sollte der Eingriff an die Facharztqualifikation zum Kinderchirurgen oder Urologen gebunden sein. Der Präsident des BVKJ, Dr. Wolfram Hartmann, schrieb in einer Stellungnahme zur Anhörung zum »Beschneidungsgesetz« am 26. 11. 2012: »Religiöse Vorschriften dürfen Ärztinnen und Ärzte in ihrer Fürsorge für ihre Patienten – und unmündige Kinder verdienen hier unsere ganz besondere Fürsorge – nicht beeinflussen. Jungen haben nach unserem Rechtsempfinden den gleichen grundgesetzlichen Rechtsanspruch auf körperliche Unversehrtheit wie Mädchen, sie dürfen nicht wegen ihres Geschlechts (Art. 3 GG) benachteiligt werden. Das Erziehungsrecht der Eltern und auch die Religionsfreiheit enden dort, wo die körperliche Unversehrtheit eines unmündigen und nicht einwilligungsfähigen Kindes angetastet wird (Art. 2 GG), ohne dass dafür eine klare medizinische Indikation vorliegt. Das gilt nach Auffassung aller pädiatrischer Verbände in Deutschland auch für andere Verletzungen der intakten Körperoberfläche wie Piercing, Tätowierungen und Ohrlochstechen« (Hartmann, 2012, S. 3). Im Juni 2013 hat der Deutsche Bundestag den neuen Strafrechtsparagrafen 226a beschlossen. Danach wird die Genitalverstümmelung von Mädchen (FGM) mit bis zu 15 Jahren Haft bestraft. Dies betrifft jegliche Form. Der Eingriff ist immer eine Straftat, unabhängig davon, ob im Einzelfall eine spätere gesundheitliche oder psychische Beeinträchtigung nachgewiesen wird. Der Regensburger Strafrechtsprofessor Tonio Walter schreibt dazu in der »Zeit« am 04. 07. 2013, dass damit der neue § 226a gegen einen zentralen Satz des Grundgesetzes verstoße, dass niemand wegen seines Geschlechtes benachteiligt oder bevorzugt werden darf (Walter, 2013). Es kann aus medizinischer Sicht keinen Zweifel daran geben, dass die Entfernung der Vorhaut der Jungen ein vergleichbar schädigender Eingriff ist wie beispielsweise ein Einschnitt in die Klitorisvorhaut beim Mädchen oder deren teilweise Entfernung (Genitalverstümmelung Typ Ia nach WHO). Walter weist auf die Verbrämung und Verharmlosung hin, wenn jede Form der Beschneidung von Mädchen »Verstümmelung« genannt wird, es bei Jungen aber »Beschneidung« heißt. Das eine betrachten wir dann zu Recht als strafbare Barbarei, über das andere können die Eltern verfügen. Walter vermutet, dass das Bundesverfassungsgericht den neuen Paragrafen im Strafgesetzbuch nicht durchgehen lassen wird. Allerdings muss es zuerst hierzu angerufen werden. Bei der Legalisierung der Jungenbeschneidung konnte das Quorum für eine Organklage aus dem Bundestag heraus hierfür nicht erreicht werden. Allerdings, so Walter, »müssen wir überlegen, wie viele Botschaften dieser Art wir Männern und Jungen noch zumuten möchten« (Walter, 2013).

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Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte sind Partner im Dialog Anfang Oktober 2013 hat die parlamentarische Versammlung des Europarates eine Entschließung verabschiedet, die körperliche Gewalt gegen Kinder verurteilt. Vor allem sind die Parlamentarier über solche Formen von Gewalt besorgt, deren Befürworter einen Nutzen für die Kinder behaupten, obwohl das Gegenteil längst bewiesen ist. Dazu zählen sie unter anderem auch die religiöse Beschneidung von Jungen. Sie empfehlen, dass die Staaten der Europäischen Union eine interkulturelle Debatte und einen interreligiösen Dialog anstoßen. Ziel soll es sein, einen breiten Konsens zu den Kinderrechten und zum Schutz der Kinder vor Gewalt zu finden, wie es in den Menschenrechten festgeschrieben ist. In interdisziplinären Gesprächen sollen unter anderem Ärzte und Religionsvertreter versuchen, schädliche Prozeduren abzuschaffen, die den Kinderschutz und neueste medizinische Standards nicht berücksichtigen. Es sei wichtig, den medizinischen, hygienischen und sonstigen Rahmen zu bestimmen, in dem beispielsweise die medizinisch nicht indizierte Beschneidung von kleinen Jungen geschehen kann. Zur selben Zeit haben die Kinderschutzbeauftragten von Finnland, Schweden, Norwegen, Dänemark, Island und Grönland ihre Regierungen aufgerufen, sicherzustellen, dass Jungen selbst darüber entscheiden können, ob sie beschnitten werden wollen oder nicht. Auch sie wünschen sich eine Diskussion aller Beteiligten, die einerseits von gegenseitigem Respekt getragen ist und andererseits die Selbstbestimmung im Blick behält. Immer mehr Menschen erkennen einen Konflikt zwischen archaischen Bräuchen und religiösen Vorschriften auf der einen und den Menschen- und Kinderrechten auf der anderen Seite. Dieser Konflikt lässt sich nicht im medizinisch-wissenschaftlichen Bereich lösen. Es bedarf hierfür eines breiten gesellschaftlichen Diskurses. Jedoch auch im medizinischen Bereich besteht eine Kluft zwischen den modernen Ansprüchen an Qualität und Präzision einerseits und dem Beschneidungsalltag andererseits. Diese muss dringend durch eine kritische Literaturanalyse und dadurch überbrückt werden, dass Studien, die jahrelang versäumt wurden, nachgeholt werden. Kinder- und Jugendärzte und Ärztinnen sind als Organspezialisten und Sozialpädiater, als Hausärzte und als Anwälte von Kindern und Jugendlichen eine wichtige Schnittstelle – sowohl in der gesellschaftlichen als auch in der innerärztlichen Meinungsbildung.

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Mattias Schäfer und Maximilian Stehr

Zur medizinischen Tragweite einer Beschneidung

Spätestens seit dem sogenannten »Beschneidungsurteil« des Kölner Landgerichts vom 07. Mai 2012 wird die Debatte über die Beschneidung von männlichen Säuglingen und Kleinkindern auf einem sehr emotionalen und von vielerlei Befindlichkeiten bestimmtem Niveau geführt. Dies ist nicht nur in Deutschland so: Im vergangenen Jahr führte eine viel beachtete tendenziöse und von wirtschaftlichen Interessen mitbestimmte Handlungsempfehlung der »American Academy of Pediatrics« (AAP’s task force on circumcision, 2012), die die routinemäßige Neugeborenenbeschneidung befürwortete, zu einer intensiven Diskussion sowie zu energischem Protest vor allem aus Europa (Frisch et al., 2013). Im Zentrum der Kritik stand hier neben einer einseitigen Auswahl und Bewertung der Studien, die das gewünschte Ergebnis unterstützten – nämlich, dass der Nutzen einer Beschneidung die Nachteile deutlich überwiege –, vor allem die Forderung, dass die (werdenden) Eltern der Kinder möglichst schon vor der Geburt, ja schon vor der Empfängnis auf den Nutzen einer routinemäßigen Beschneidung nach der Geburt hingewiesen werden sollten. Hierzu muss man wissen, dass die männliche Neugeborenenbeschneidung in den USA eine lange Tradition hat, die Beschneidungsraten aber seit einigen Jahren deutlich rückläufig sind – derzeit werden nur noch wenig mehr als die Hälfte aller männlichen Neugeborenen beschnitten (Owings, Uddin u. Williams, 2013). Durchgeführt wird diese in der Regel durch den Geburtshelfer und ist im überwiegend privat bezahlten Gesundheitssektor ein einträgliches Geschäft. Und so wundert es nicht, dass die genannte Handlungsempfehlung (die im Übrigen früheren Stellungnahmen der eigenen Organisation widerspricht) von der Vereinigung der Geburtshelfer unterstützt und mitgetragen wird – aus ethischer und wissenschaftlicher Sicht ein Skandal. Im Gegensatz dazu war in Deutschland die Diskussion nach dem Kölner Urteil vor allem von prominenten Vertretern islamischer und jüdischer Glaubenstraditionen bestimmt, die die Erlaubnis zur rituellen Zirkumzision

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von Jungen als unabdingbare Notwendigkeit ihres religiösen Lebens einforderten. Medizinische und wissenschaftliche Argumente gerieten dabei vielfach – ebenso wie das Wohl des Kindes, um das es eigentlich geht – in den Hintergrund. Daher soll im Folgenden versucht werden, den möglichen Nutzen einer Beschneidung im Säuglings- oder Kindesalter, aber auch Nachteile und Risiken aus medizinischer Sicht darzustellen und eine medizinisch-ethische Abwägung aus ärztlicher Sicht zu treffen. Maßgabe allen ärztlichen Handelns und aller ärztlicher Empfehlungen sollte dabei der Grundsatz sein, wie er im Genfer Ärztegelöbnis fomuliert ist: »Ich werde jedem Menschenleben von seinem Beginn an Ehrfurcht entgegen bringen und […] meine Kunst nicht in Widerspruch zu den Geboten der Menschlichkeit stellen.« Religiöse, politische und wirtschaftliche Gründe dürfen den Arzt nicht davon abbringen: »Ich werde mich in meinen ärztlichen Pflichten meinem Patienten gegenüber nicht beeinflussen lassen durch Alter, Krankheit oder Behinderung, Konfession, ethische Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politische Zugehörigkeit, Rasse, sexuelle Orientierung oder soziale Stellung« (Weltärztebund, 1994). Es ist vielleicht nötig, diese Grundlage des ärztlichen Selbstverständnisses vorauszuschicken, die unserer Sicht auf die religiös oder auch anders motivierte Routinebeschneidung männlicher Neugeborener und nicht einwilligungsfähiger Jungen zugrunde liegt. Entwicklung und Funktion der Vorhaut Bevor überhaupt über den Sinn oder Unsinn einer Beschneidung fundiert gesprochen werden kann, ist zunächst einmal eine umfassende Kenntnis über das Präputium, seine natürliche Entwicklung und seine Funktion erforderlich. Bereits das deutsche Wort »Vorhaut« könnte man bereits als sprachlich irreführend bezeichnen, legt es doch nahe, dass das Präputium nur ein Stückchen verzichtbares Gewebe ohne weitere Funktion, eben eine »Vor-Haut« sei. Dies aber entspricht nicht der Bedeutung dieses Körperteils, denn tatsächlich muss die Vorhaut als besonders spezialisiertes Gewebe mit zahlreichen unterscheidbaren und in der Kombination einzigartigen Funktionen angesehen werden. Das zeigt bereits die embryonale Entwicklung: Die Vorhaut entsteht aus Anteilen sowohl des äußeren (Ektoderm) als auch des mittleren Keimblatts (Mesoderm). Dies bedeutet, dass es sich hierbei um ein besonders spezialisiertes Gewebe am Übergang von Schleimhaut zu normaler Haut handelt – hierin ähnelt es etwa den Augenlidern, den kleinen Schamlippen, dem Anus oder den Lippen (Cold u. Taylor, 1999).

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Die Vorhaut besteht dementsprechend aus einer ganzen Reihe von zu unterscheidenden Strukturen: Schleimhaut, spezialisierte Nervenfasern und Sinneszellen, Muskelzellen, Bindegewebe und schließlich normaler haarloser Haut. Die Schleimhaut der Vorhaut und das Gewebe der Eichel sind dabei während der Embryonalentwicklung ein Gewebe, das sich in den molekularbiologischen Charakteristika nicht voneinander unterscheidet. Dementsprechend sind bei Geburt noch bei 96 % aller Jungen die Vorhaut und die Eichel fest miteinander verbunden. Die Lösung dieser Verklebungen ist ein spontaner Prozess, der sich erst in den ersten Lebensjahren vollzieht. Eine gewaltsame Separierung dieser natürlichen Verklebungen, wie sie insbesondere bei der Neugeborenenbeschneidung stattfindet, schädigt oder verletzt somit zwangsläufig die Eichel. Die Innervation der Vorhaut ist gleichermaßen komplex. Die somatosensorische Innervation, unter anderem für Berührungsempfindlichkeit und Wahrnehmung der Körperlage und -bewegung im Raum (Proprizeption) verantwortlich, verläuft über die dorsalen (hinteren) Nerven des Penis sowie anteilig über die perinealen Nerven. Sie entspringt, wie die autonome Innervation mit sympathischen und parasympathischen Fasern, aus dem Plexus lumbosacralis (einem Nervengeflecht der vorderen Spinalnerven des Lenden- und Kreuzbeinabschnittes des Rückenmarkes). Ein Teil dieser autonomen Nervenbahnen verläuft dabei der Harnröhre angrenzend bzw. durch deren Wandung. Dies illustriert bereits, dass die Schmerzausschaltung bei einer Zirkumzision nicht ganz trivial sein kann. Die Aufnahme von mechanischen Reizen erfolgt in einer Reihe von spezialisierten Nervenendigungen, die sich in großer Anzahl in der Vorhaut finden. Meißner-Tastkörperchen reagieren vor allem auf schnelle, Merkel-Körperchen auf langsame Druckveränderungen, Vater-Pacini-Körperchen sind verantwortlich für das Vibrationsempfinden. Freie Nervenendigungen (Nozizeptoren) in der Vorhaut sind verantwortlich für das Schmerzempfinden. Im Verhältnis zur Vorhaut ist die Eichel selbst relativ arm an Tastkörperchen, was nahelegt, dass die Vorhaut zum Erleben sexueller Empfindungen eine wichtige Rolle spielt. Die Durchblutung der Vorhaut ist ausgesprochen reichhaltig. Innerhalb der Schleimhaut findet sich ein ausgeprägter Gefäßplexus, der zum einen die vergleichsweise hohe Nachblutungsrate nach Zirkumzisionen erklärt, zum anderen ist er möglicherweise zur Produktion eines Flüssigkeitsfilmes erforderlich, ähnlich wie es von Vaginal- oder Vulvaschleimhaut bekannt ist. Ein Produkt der Präputialschleimhaut ist das Smegma, das häufig als Ausdruck mangelnder Genitalhygiene angesehen wird. Tatsächlich ist es jedoch bei Säuglingen mit noch verklebter Vorhaut in einem gewissen Maße physiologisch. Es besteht aus Talgdrüsensekret und Abbauprodukten der Schleimhautzellen. Außerdem finden sich unter anderem Fettsäuren und Steroide im Smegma. Die Funktion

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letzterer ist noch unbekannt. Möglicherweise spielen diese Steroide aber eine Funktion in der physiologischen Separierung von Eichel und innerem Vorhautblatt. Die Tatsache, dass steroidhaltige Cremes diese Lösung der Vorhautverklebungen beschleunigen können, stützt diese Hypothese. Auf keinen Fall aber ist das Auftreten von Smegma als eine Indikation zur Zirkumzision zu werten. Wie diese Darstellung der komplexen funktionellen Anatomie zeigt, besteht die Bedeutung der Vorhaut wesentlich in ihrer physiologischen Schutzfunktion der Eichel, vor allem im Säuglingsalter vor den physiologischen Lösungsvorgängen, sowie in der dichten Versorgung mit sensorischen Nervenendigungen. Allein diese Erkenntnis steht einer leichtfertigen bzw. medizinisch nicht indizierten Entfernung entgegen. Indikation und Kontraindikation Wann sollte dann überhaupt noch eine Zirkumzision erfolgen? Die hauptsächliche medizinische Indikation für eine Zirkumzision ist die pathologische Phimose. Sie ist abzugrenzen von der physiologischen Phimose, die regelhaft in den ersten Lebensjahren vorhanden ist und aus einem engen Präputium besteht, das verhindert, dass die Vorhaut über die Eichel zurückgestreift werden kann. Letztlich schützt diese physiologische Phimose die normalen Verklebungen der Vorhaut mit der Eichel. Dies betrifft im Alter von sechs Monaten noch etwa 90 % aller Jungen. Eine Zirkumzision dieser altersentsprechenden normalen Vorhautenge hieße, einen sich anatomisch normal entwickelnden Körperteil zu entfernen! Durch eine zunehmende Weitung des elastischen Präputiums kommt es in der Regel in den ersten vier bis fünf Lebensjahren zu einer Lösung der Verklebungen und einer Zurückstreifbarkeit der Vorhaut, dies kann aber auch erst später, etwa bis zur Pubertät, eintreten. Durch kleine Einrisse beim Zurückstreifen oder durch Entzündungen kann es zu einer Vernarbung der Vorhaut kommen. Erst dann wird aus der physiologischen eine pathologische Phimose, typischerweise nach dem fünften Lebensjahr. Vor einer Zirkumzision sollte dann zunächst eine topische Behandlung der Vorhaut mit einer steroidhaltigen Salbe vorgenommen werden, da sich in bis zu 90 % der Fälle die Vorhaut daraufhin weitet, sodass eine Zirkumzision vermieden werden kann (Ghysel, van der Eeckt u. Bogaert, 2009). Ätiologisch muss bei Vorliegen einer pathologischen Phimose auch ein Lichen sclerosus et atrophicans der Vorhaut in Betracht gezogen werden, eine entzündliche, nicht ansteckende Hauterkrankung, die zu einer weißlich-derben Veränderung der Vorhaut führt. Sie tritt in ungefähr 0,3–0,6 % aller Jungen auf, selten vor dem sechsten Lebensjahr (Rickwood u. Walker, 1989). Bei bis zu 34 % aller Vorhäute, die aufgrund einer pathologischen Phimose entfernt wurden,

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kann ein Lichen sclerosus histologisch nachgewiesen werden (Clouston, Hall u. Lawrentschuk, 2011). Die Erkrankung gehört vermutlich in den Formenkreis der Autoimmunerkrankungen und ist pathophysiologisch von einer zunehmenden Sklerosierung der unter der Epidermis liegenden Kollagenschichten gekennzeichnet. In diesen Fällen ist eine Zirkumzision dann natürlich indiziert – aber eben nach Ausschöpfen der konservativen Maßnahmen und unter Berücksichtigung der Entwicklung des wachsenden Organismus. Besondere Beachtung, weil unter Umständen nur vom geschulten Auge zu erkennen, verlangen die Kontraindikationen zur Zirkumzision: Alle angeborenen Fehlbildungen des Penis wie die Hypospadie (eine Fehlmündung der Harnröhre auf der Unterseite des Penis) oder der angeborene verborgene Penis (»buried penis«) stellen prinzipiell eine Kontraindikation der Beschneidung dar, da für eine chirurgische Korrektur dieser Fehlbildungen zu einem späteren Zeitpunkt häufig auf das Präputialgewebe zurückgegriffen werden muss (Mouriquand u. Mure, 2009; Tritschler, Füllhase, Stief u. Roosen, 2013). Der anatomische Formenreichtum dieser Fehlbildungen ist dabei sehr hoch: Auch unter einer äußerlich normal erscheinenden Vorhaut kann sich ein später operationsbedürftiger Befund (z. B. ein sogenannter Megalomeatus [Duckett u. Keating, 1989] oder eine subcoronare Hypospadie mit intakter Vorhaut [Attalla, 1991]) verbergen, der sich aufgrund der Verklebungen der Vorhaut nicht ohne Weiteres erkennen lässt. Gerade beim verborgenen Penis ist die Gefahr gegeben, dass in Unkenntnis des Befundes eine Zirkumzision durchgeführt wird, ja es stellt nachgerade einen Kunstfehler dar, da dies zum völligen Verlust der ohnehin schon kurzen Penisschafthaut führen kann und aufwendige Rekonstruktionen notwendig macht, mit denen sich häufig nur äußerst unbefriedigende Ergebnisse erzielen lassen (Riechardt u. Fisch, 2013). Bei allen angeborenen Fehlbildungen gilt: Ist die Vorhaut einmal entfernt, sind die operativen Korrekturmöglichkeiten sehr beschränkt und das kosmetische Resultat oft unzureichend. Neben diesen anatomischen Kontraindikationen können auch Erkrankungen des Gesamtorganismus wie zum Beispiel eine angeborene Blutungsneigung (Hämophilie) oder ein Immundefekt eine Kontraindikation zur Beschneidung sein – allerdings sind solche Erkrankungen bei einer Beschneidung im Neugeborenenalter in der Regel noch unerkannt. Durchführung einer (chirurgischen) Zirkumzision Weltweit gibt es eine Vielzahl von Verfahren, um eine Beschneidung durchzuführen. Technisch unterscheidet man zwischen zwei verschiedenen Operationsprinzipien: Bei der chirurgischen Zirkumzision wird die Vorhaut nach Lösen

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von eventuell noch bestehenden Verklebungen angeklemmt. Dann reseziert der Chirurg unter manuellem Schutz der Eichel nacheinander sowohl das äußere als auch das innere Blatt der Vorhaut, entweder mit dem Skalpell oder der Schere. Außerdem wird das Vorhautbändchen (Frenulum) durchtrennt. Darin verläuft die sogenannte Frenulumarterie, deren Blutung durch elektrische Verödung gestoppt wird. Anschließend wird die weitere Blutstillung der Wundfläche in der Regel mittels Verödung durch Strom vorgenommen. Danach werden die Vorhautblätter – zunächst an gegenüberliegenden Enden, um eine gute Symmetrie zu erreichen – mit selbstauflösendem Fadenmaterial vernäht (s. Abbildung 1a–d). Anschließend wird ein weicher Salbenverband angebracht. Diese Methode lässt sich in jedem Alter anwenden.

Abbildung 1a

Abbildung 1b

Abbildung 1c

Abbildung 1d

Abbildungen 1a–d: Durchführung einer Beschneidung: a) Anzeichnen der Schnittführung nach Anklemmen der Vorhaut. b) Absetzen des äußeren Vorhautblatts. Deutlich erkennt man das Ausmaß des Gewebeverlustes – ungefähr 50 % der Penisschafthaut! c) Resektion des inneren Vorhautblatts. d) Endergebnis nach Naht der beiden Vorhautblätter.

Alternativ kann die Beschneidung über ein speziell dafür konstruiertes Hilfsmittel erfolgen. Als Beispiel sei die Plastibell-Methode genannt: Hierbei wird ein Plastikring unter die Vorhaut geschoben und die noch bestehenden Vorhautverklebungen gelöst. Anschließend wird darüber von außen ein Faden eng über die Vorhaut geknotet, der sie von der Blutzufuhr abschneidet und zum Absterben

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der Vorhaut führt. Dabei verheilen die sich im Rahmen des Absterbeprozesses miteinander verklebenden Wundränder der beiden Vorhautblätter auch ohne Nähte. Diese Methode ist vor allem in den USA im Säuglings- und Neugeborenenalter verbreitet, wo sie immer noch als routinemäßige Zirkumzision vor allem von Geburtshelfern praktiziert wird. Wie eigene Erfahrungen zeigten, findet dieses Verfahren – ohne Narkose! – auch in Deutschland immer noch seine Anwendung. In Deutschland wird die (medizinisch indizierte) Beschneidung bei Kindern aber in der Regel als chirurgische Zirkumzision im Rahmen einer Vollnarkose durchgeführt. Zusätzlich kommen lokale Betäubungsverfahren wie der sogenannte Peniswurzelblock zur Reduktion der benötigten Narkosegase und zur Verminderung des postoperativen Wundschmerzes zum Einsatz. Komplikationen Die Zirkumzision ist weltweit der am häufigsten durchgeführte chirurgische Eingriff. Dennoch ist er nicht frei von Komplikationen: Die berichteten Komplikationsraten betragen zwischen 2 und 10 % (Williams u. Kapila, 1993). In der derzeit jüngsten Studie aus Dänemark wurde eine Rate an signifikanten Komplikationen von 5,1 % ermittelt (Thorup, Thorup u. Ifaoui, 2013). Bemerkenswerterweise ist dies eine Studie aus einem qualifizierten kinderchirurgischen Zentrum, mithin erfolgten die Zirkumzisionen also unter guten Bedingungen und in geübter Hand! Studien mit einer behaupteten geringeren Komplikationsrate zeigen dagegen deutliche methodische Mängel: Beispielsweise wurde in zwei großen amerikanischen Studien eine Komplikationsrate von 0,19 bis 0,22 % (Christakis et al., 2000; Wiswell u. Geschke, 1989) nach Neugeborenenbeschneidung angegeben – jedoch gab es keine weitere Nachsorge oder Nachbeobachtung, sodass die berichteten Zahlen sicher deutlich zu niedrig sind. Eine Umfrage in 458 Kinderarztpraxen in Deutschland im November 2012 ergab, dass dort innerhalb von weniger als drei Jahren (Januar 2010 bis November 2012) insgesamt 1858 Neugeborene und ältere Kinder mit Komplikationen nach einer Beschneidung vorstellig geworden sind (Hartmann, 2012). Dies allein illustriert schon eindrücklich, dass Komplikationen nach Beschneidung eben keine Rarität sind. Komplikationen umfassen die Nachblutung (als häufigste Komplikation), Wundinfektionen sowie die Penisdeviation bzw. -torsion durch fehlerhafte asymmetrische Annaht der Penishaut an die Eichel. Seltene Komplikationen können auch eine Verletzung der Eichel bis hin zur Amputation (Gluckman, Stoller, Jacobs u. Kogan, 1995) oder eine Urethralfistel (Stark, 2005) sein. Bei der Neugeborenenzirkumzision mit der Plastibell-Methode oder verwandten Verfahren kann durch die technisch bedingte Ungenauigkeit des Verfahrens ein Vorhaut-

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rest verbleiben, der zu einem kosmetisch ungünstigen Ergebnis führen kann (Pieretti, Goldstein u. Pieretti-Vanmarcke, 2010). Wenn durch die Beschneidung dagegen zu viel Vorhaut entfernt wird, resultiert ein Befund wie beim verborgenen Penis – mit ebenso unbefriedigenden Korrekturmöglichkeiten wie bei der angeborenen Form. Besondere Beachtung verlangt die Meatusstenose. Sie entsteht durch eine Hyperkeratose (Verhornung) des Epithels der Eichel aufgrund des nicht mehr vorliegenden Schutzes durch die Vorhaut, möglicherweise auch durch das Absetzen der Frenulumarterie, wodurch es zu Durchblutungsstörungen der Eichel und insbesondere der Harnröhrenöffnung kommt (Van Howe, 2006). Dies wiederum führt zu Schrumpfungsprozessen, die eine Verengung der Harnröhrenmündung begünstigen können. Die Inzidenz der Meatusstenose ist besonders nach der Zirkumzision im Neugeborenenalter erhöht und beträgt dort möglicherweise bis zu 20 % (Joudi, Fathi u. Hiradfar, 2011). Das ist im Übrigen keine neue Beobachtung: Bereits 1881 notierte W. M. Mastin, dass die Meatusstenose bei Juden so häufig war, dass die notwendige Meatotomie als die »zweite Zirkumzision« angesehen wurde (Mastin, 1881). Eine Meatusstenose kann zu einer relevanten Abflussbehinderung mit konsekutiver Schädigung der Blase und der Nieren führen. An einem unbeschnittenen und durch keine andere Operation tangierten Penis stellt die Meatusstenose im Übrigen eine ausgesprochene Rarität dar. Zirkumzision und sexuelles Empfinden Erst in den letzten Jahren ist der Zusammenhang zwischen einer Beschneidung und sexuellem Empfinden überhaupt in den Fokus des Interesses geraten. Wie die oben beschriebene anatomische Ausstattung der Vorhaut nahelegt, kann der Einfluss einer intakten Vorhaut auf das sexuelle Erleben schwer überschätzt werden. Der Verlust an sensibler Haut ist erheblich: Bei einer korrekt durchgeführten Zirkumzision werden bis zu 50 % der sich am Penis befindlichen Haut entfernt. Dabei handelt es sich aufgrund seiner nervalen Ausstattung um den sensibelsten Teil. Dies hat einen spürbaren und messbaren Sensibilitätsverlust zur Folge (Sorrells et al., 2007). Dadurch lassen sich negative Auswirkungen der Zirkumzision auf das Erleben von Sexualität erklären, die eindrücklich von Patienten geschildert werden, die erst im späten Jugend- oder Erwachsenenalter beschnitten wurden und somit in der Lage sind, einen Vergleich zu ziehen (Kim u. Pang, 2006; Bronselaer et al., 2013). Allerdings ist eine genaue Festlegung der Häufigkeit und der Intensität der negativen Auswirkungen auch methodisch schwierig, da nach Beschneidung im Kindes- und Jugendalter den Betroffenen ein Vergleich fehlt, das Thema sehr schambesetzt ist und kulturell bedingt nur schwer in Fra-

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gebögen erfasst werden kann, gerade in Gesellschaften, die einen hohen Anteil von zirkumzidierten Männern haben. Eine dänische Studie konnte statistisch signifikant zeigen, dass beschnittene Männer häufiger an Orgasmusstörungen leiden (Frisch, Lindholm u. Grønbæk, 2011). Eine jüngst publizierte deutsche Studie kommt zwar zu dem Ergebnis, dass zirkumzidierte Männer nicht häufiger an einer erektilen Dysfunktion leiden als nicht zirkumzidierte Männer (Hoschke et al., 2013). Allerdings weist auch diese Studie grobe methodische Schwächen auf. Schon der Untertitel (»Ergebnisse der Cottbuser 10.000-Männer-Fragebogenstudie«) ist irreführend. Zum einen war der Anteil der befragten Männer, die den Fragebogen beantworteten, gering, er lag bei lediglich 31,2 %, was zu einer Verzerrung der Ergebnisse führen kann (sogenannter »recall bias«). Zum anderen war von diesen der Anteil beschnittener Männer wiederum sehr gering (nur 167 Männer, etwa 6 % aller Antworten). Die zirkumzidierten Männer in der Studie waren zudem im Median elf Jahre jünger als nicht zirkumzidierte. Dies ist von besonderer Bedeutung, da die Wahrscheinlichkeit, an erektiler Dysfunktion zu erkranken, mit dem Alter steigt und daraus ebenfalls eine Verzerrung des Ergebnisses resultieren kann. Weiterhin wurde in der Studie keine Unterscheidung getroffen zwischen Männern, die im Erwachsenenalter beschnitten wurden, und solchen, bei denen der Eingriff im Kindes- und Jugendalter erfolgte. Naturgemäß ließen sich aus den verwendeten Fragebögen somit auch keine Informationen zur Erektionsfähigkeit im Vergleich vor und nach einer Beschneidung ableiten. Es muss aber als gesichert angesehen werden, dass das Entfernen der sensibel stark innervierten Vorhaut zu einem relevanten Verlust an (sexueller) Sensibilität führt, auch wenn der Effekt im Einzelnen schwer zu messen ist. Pathophysiologisch wäre jedenfalls noch viel schwerer zu erklären, wieso der Verlust eines derart sensiblen Körperteiles nicht zu einer Veränderung des Empfindens führen sollte. Letztlich ist also dieser Sensibilitätsverlust auch als eine Komplikation bzw. als eine dauerhafte negative Beeinträchtigung zu werten. Auch wenn das Ausmaß der individuellen Schädigung derzeit noch schwer zu quantifizieren ist, muss die ethische Konsequenz doch sein, aufgrund der potenziellen erheblichen Einschränkungen für das sexuelle Empfinden die nicht indizierte Beschneidung allein aus diesen Gründen abzulehnen. Todesfälle Zur Inzidenz von Todesfällen nach Beschneidung gibt es keine verlässlichen Zahlen. Sie dürfte auch durch die unterschiedlichen Bedingungen, unter denen sie durchgeführt wird, erheblich schwanken. In Ländern mit mangelhafter medizinischer Versorgung und Beschneidung unter schlechten hygienischen Bedin-

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gungen häufen sich Berichte mit großen Fallserien von Todesfällen (z. B. Meel, 2010). Immer wieder wurde in den letzten Jahren eine Studie zitiert, in der aus Daten der Säuglingssterblichkeit eine Anzahl von jährlich 117 toten Neugeborenen in den USA abgleitet wird (Bollinger, 2000). Die Studie basiert aber auf sehr gewagten Interpretationen und sollte – wenn überhaupt – nur mit äußerster Zurückhaltung benutzt werden: Bollinger vermutet, dass die statistisch nachgewiesene höhere Sterblichkeit von männlichen Säuglingen gegenüber weiblichen Säuglingen in den ersten Lebenstagen im Zusammenhang mit der in diesem Zeitraum durchgeführten Beschneidung stehen müsse. Dies ist aber so nicht statthaft, denn eine erhöhte Sterblichkeit von neugeborenen Jungen lässt sich auch in Gesellschaften mit niedriger Zirkumzisionsrate nachweisen. In der einzigen einigermaßen aussagekräftigen, populationsbasierten Studie aus Brasilien wird eine Mortalität nach medizinisch notwendiger Beschneidung in allen Altersklassen von 0,013 % ermittelt. Dies entspräche 13 Todesfällen auf 100.000 Beschneidungen (Korkes, Silva u. Pompeo, 2012). Aus Europa oder Amerika (oder anderen Ländern mit hochentwickelten Gesundheitssystemen) liegen keine Daten vor. Dennoch werden immer wieder dramatische Todesfälle publiziert, hier seien exemplarisch einige Fallberichte genannt: Tod eines Säuglings durch Sepsis nach fehlerhafter Plastibell-Beschneidung mit Obstruktion der Harnröhre (Paediatric Death Review Committee, Office of the Chief Coroner of Ontario, 2007); Tod zweier Säuglinge aufgrund einer Herpes-Simplex-Infektion nach ultraorthodoxem metzitzah b’peh-Ritual – dem Absaugen des Blutes von der Wunde des Penis durch den Mund des Mohel in New York (Centers for Disease Control and Prevention – CDC, 2012); Tod eines Säuglings durch massiven Blutverlust nach Beschneidung bei unerkannter Blutungsneigung (Hiss, Horowitz u. Kahana, 2000). Letztlich bleibt festzustellen, dass eine große Unsicherheit in Bezug auf die Inzidenz postoperativer Todesfälle besteht. Dennoch zeigen die Fallbeispiele klar, dass es auch unter optimalen medizinischen Bedingungen zu Todesfällen kommen kann. Und die reale Möglichkeit dieser schlimmsten denkbaren Komplikation betont aus medizinethischer Sicht eine strenge Indikationsstellung und Ablehnung nicht erforderlicher Beschneidungen. Die Zirkumzision als Prävention? Präventive Maßnahmen erfordern eine besondere Sorgfalt hinsichtlich Indikationsstellung und Komplikationsrate, da sie bei Menschen angewendet werden, die prinzipiell gesund sind. Sie müssen schwere Erkrankungen sicher verhindern und ihr Nutzen muss in einem positiven Verhältnis zu ihren Nebenwir-

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kungen stehen. Sie sind auch nur dann sinnvoll, wenn es keine weniger invasive Methode gibt, dasselbe Ziel zu erreichen. Für präventive Maßnahmen bei Kindern ist zudem der Nachweis erforderlich, dass sie bereits in einem Alter notwendig sind, in dem der Patient noch nicht selbst über die Notwendigkeit befinden kann. Klassisches Beispiel ist die Schutzimpfung. Im Rahmen der Beschneidungsdebatte, in der immer auch der präventive Charakter, insbesondere im Hinblick auf sexuell übertragbare Krankheiten, hervorgehoben wird, stellt sich die Frage, ob die Zirkumzision diese Anforderungen erfüllen kann. Tatsächlich lässt sich zeigen, dass Inzidenz und Prävalenz der meisten sexuell übertragbaren Krankheiten durch eine Zirkumzision nicht wesentlich beeinflusst werden – eine akribisch geführte und methodisch saubere Übersicht über die schwierige Studienlage hierzu findet sich in der ausführlichen Arbeit von Van Howe (2013). Dies gilt im Besonderen für Chlamydieninfektionen, Gonorrhoe, Infektionen mit Herpes-Simplex-Viren (HSV) und Humanen Papillomviren (HPV). Letztere verursachen neben Feig- und Genitalwarzen vor allem den Gebärmutterhalskrebs (Cervixkarzinom) bei Frauen. Für die Syphilis existieren widersprüchliche Daten. Unbeschnittene Männer haben möglicherweise ein erhöhtes Risiko, an Syphilis oder Ulcus molle zu erkranken, gerade bei der Syphilis ist die Studienlage aber nicht eindeutig. Für die Gonorrhoe und andere Erkrankungen mit eitrigem Ausfluss, wie Chlamydien- und Mykoplasmeninfektionen, scheint das Infektionsrisiko für unbeschnittene Männer dagegen sogar niedriger zu sein. In populationsbasierten Studien konnte bislang kein positiver Effekt der Beschneidung auf die Inzidenz dieser Infektionen nachgewiesen werden. Eher lässt sich aus den Daten ableiten, dass die Zirkumzision für die Gesamtheit der sexuell übertragbaren Erkrankungen (ausgenommen HIV) möglicherweise sogar ein erhöhtes Risiko darstellt. Für die Ansteckung mit dem HI-Virus gibt es ebenfalls keine eindeutige Evidenz für die Zirkumzision als präventive Maßnahme: Zwar gibt es einige randomisierte Studien, die vermuten lassen, dass die Beschneidung im Erwachsenenalter zu einer nachweisbaren Verminderung des Ansteckungsrisikos von Männern in Gebieten mit hoher Prävalenz von HIV führt. Allerdings konnten andere Studien diesen Vorteil nicht nachweisen, sodass hier bestenfalls von einer Vermutung gesprochen werden kann (Boyle u. Hill, 2005). Die WHO empfiehlt die Zirkumzision daher auch nur bei erwachsenen Männern in Gebieten mit hoher Durchseuchungsrate an HIV und nur im Zusammenspiel mit anderen präventiven Maßnahmen (WHO, 2013) – insbesondere der Verwendung von Kondomen. Keinerlei Hinweis für den Nutzen einer Zirkumzision als Schutz vor HIV gibt es für entwickelte Gesellschaften wie in Europa, wo die Durchseuchungs-

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raten wesentlich geringer und die Übertragungswege andere sind: In westlichen Staaten erfolgen die meisten sexuellen Übertragungen von HIV über gleichgeschlechtlichen Kontakt zwischen Männern und es gibt keine Daten, die einen Schutz durch Zirkumzision in dieser Gruppe belegen (Frisch et al., 2013). Ähnlich stellt sich die Situation beim Peniskarzinom dar, das mit einer Inzidenz von 0,9 auf 100.000 Männer zu den seltensten Krebserkrankungen gehört und in der Regel erst im fortgeschrittenen Alter auftritt. Zu den Risikofaktoren gehört zweifelsfrei das Vorliegen einer pathologischen Phimose, während aber bei vorhandener, gesunder Vorhaut das Risiko sogar erniedrigt zu sein scheint (Daling et al., 2005). Ein Lichen sclerosus erhöht ebenfalls möglicherweise das Risiko für das Auftreten eines Peniskarzinoms (Oertell et al., 2011). Dies unterstreicht die Bedeutung der Zirkumzision bei Auftreten einer dieser medizinischen Indikationen, nicht aber als Routinezirkumzision: Aufgrund der Seltenheit der Erkrankung bedürfte es rechnerisch bis zu 322.000 Zirkumzisionen, um ein Peniskarzinom zu verhindern (Learman, 1999; Christakis et al., 2000). Damit übersteigt das Risiko aufgrund der zu erwartenden Komplikationsrate hinsichtlich Morbidität und Mortalität den Nutzen dieser angeblich präventiven Maßnahme bei weitem. Darüber hinaus ist das Auftreten eines Peniskarzinoms – ähnlich dem Cervixkarzinom der Frau – mit einer HPV-Infektion assoziiert, die sich durch eine rechtzeitige Impfung und den Gebrauch von Kondomen verhindern lässt. Besonders durch die zunehmende Verbreitung der Impfung ist ein weiterer Rückgang der Inzidenz des Peniskarzinoms zu erwarten, wodurch die Anzahl der benötigten Zirkumzisionen pro vermiedener Erkrankung weiter ansteigen wird. Eine ähnliche Situation ergibt sich bei den Harnwegsinfekten: Zwar erleiden etwa 1 % aller ansonsten gesunden Jungen (ohne urologische Grunderkrankung) in ihrer Kindheit mindestens einen Harnwegsinfekt. Valide randomisierte Studien, die belegen könnten, dass die Rate an Harnwegsinfektionen durch Zirkumzision gesenkt werden könnte, existieren nicht (Jagannath, Fedorowicz, Sud, Verma u. Hajebrahimi, 2012). Überwiegend in Kohorten- und Fallkontrollstudien konnte zwar eine Reduktion der Rate auf 0,1 % gezeigt werden, aber dies bedeutet, dass es mindestens einhundert Zirkumzisionen bedarf, um einen Harnwegsinfekt zu verhindern (Singh-Grewal, Macdessi u. Craig, 2005). Anders ist die Situation bei Jungen, die eine angeborene Anomalie des harnableitenden Systems aufweisen. Hier kann – im Einzelfall – die Zirkumzision als therapeutische Maßnahme sinnvoll sein, um das Auftreten von komplizierten Harnwegsinfektionen zu verhindern. Aus medizinischer Sicht kann daher einer Routinezirkumzision kein präventiver Charakter zugesprochen werden. Für alle sexuell übertragbaren Krankheiten existieren präventive Maßnahmen, die deutlich einfacher und sicherer sind:

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Die Benutzung von Kondomen, die einen nahezu hundertprozentigen Schutz vor allen sexuell übertragbaren Krankheiten bietet, und die Impfung zur Vermeidung der HPV-Infektion. Vor allem aber besteht bei sexuell übertragbaren oder als Folge von sexueller Aktivität auftretenden Erkrankungen kein Grund, die Zirkumzision in einem Alter durchzuführen, in dem der Junge noch nicht sexuell aktiv ist und er noch nicht selbst über die von ihm bevorzugte Art und Weise der Prävention entscheiden kann. Als zukünftig mündigem Bürger sollte die Entscheidung über den unwiederbringlichen Verlust eines Körperteils ihm selbst überlassen bleiben. Zirkumzision und Schmerzfreiheit Zu den Regeln der ärztlichen Kunst gehört zweifellos, dass ein Eingriff in vollständiger oder zumindest weitestgehender Schmerzfreiheit durchgeführt wird. Das Kindswohl kann als gefährdet angesehen werden, wenn das Kind während der Operation unverhältnismäßige Schmerzen empfindet. Eine psychische Traumatisierung nach hilflos erlebter und bewusst wahrgenommener Zirkumzision im Kindesalter, wie sie etwa im Alter von drei bis fünf Jahren nach islamischem Ritus üblicherweise durchgeführt wird, ist nicht unwahrscheinlich und wird immer wieder berichtet (z. B. Hartmann 2012) und ist auch Thema weiterer Beiträge in diesem Buch; daher soll der Schwerpunkt hier auf dem Schmerzempfinden im Neugeborenenalter liegen und den Forderungen, die sich daraus ergeben. Es sei jedoch an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass es unter Kinderurologen Konsens ist, chirurgische Maßnahmen am Genitale – wie zum Beispiel die Korrektur einer Hypospadie – möglichst nicht im Alter zwischen drei bis fünf Jahren durchzuführen, um eine psychische Traumatisierung zu vermeiden (AAP, 1996). Es ist heute allgemein anerkannte wissenschaftliche Erkenntnis, dass auch Neugeborene Schmerzen empfinden. Das war nicht immer so. Noch bis in die 1970er Jahre war man der Meinung, dass Neugeborene und Säuglinge aufgrund ihres unausgereiften Nervensystems keine oder kaum Schmerzen hätten. Die Folge war, dass schmerzhafte Untersuchungen oder auch Eingriffe ohne nennenswerte Analgesie durchgeführt wurden. Weitreichende Erkenntnisse der Grundlagenforschung haben hier in den letzten Jahrzehnten zu einem völligen Umdenken geführt. Das Schmerzempfinden von Neugeborenen und Säuglingen lässt sich auch bei fehlender verbaler Ausdrucksmöglichkeit an Zeichen wie Herzfrequenz, Atemfrequenz, Blutdruck, Schweißsekretion und laborchemischen Stressfaktoren wie dem Cortisolspiegel im Blut messen (Soukup u. Kellner, 2013).

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Es konnte auf diese Weise gezeigt werden, dass die Schmerzwahrnehmungsschwelle bei Neugeborenen sogar signifikant niedriger liegt als bei Erwachsenen. Des Weiteren sind junge Säuglinge besonders anfällig für die sogenannte Schmerz-Hypersensivität, das heißt für die erhöhte Wahrnehmung von Schmerzen bei später auftretenden erneuten Schmerzreizen: Nachweislich reagierten zirkumzidierte Säuglinge auf Schmerzreize bei Impfungen deutlich stärker als nichtzirkumzidierte, obwohl die Zirkumzision bereits mehrere Monate zurücklag (Taddio, Katz, Ilersich u. Koren, 1995). Die Synapsenbildung ist im Rahmen der postnatalen Reifung und des Wachstums besonders ausgeprägt und wird durch Schmerzreize alteriert, was zu einer veränderten nervalen Ausstattung des Organismus führen kann, die möglicherweise zu einer lebenslang veränderten Reaktion auf Schmerzen führt. Dazu kommt, dass die absteigenden inhibierenden Nervenfasern im Rückenmark, die zu einer Reduktion des Schmerzempfindens führen, beim Neugeborenen deutlich unreifer sind. Dies bedingt eine verminderte Fähigkeit des Zentralnervensystems, Schmerzreize zu dämpfen. Neugeborene erleben also möglicherweise Schmerz im Vergleich zum Erwachsenenalter wesentlich intensiver und globaler (Anand u. Hickey, 1987). Der Schmerztherapie bei der neonatalen Zirkumzision kommt also eine überragende Bedeutung zu, und es ist nicht ersichtlich, wie eine nichtärztlich ausgebildete Person in der Lage sein soll, dies zu gewährleisten: Nichtinvasiveanalgetische Maßnahmen, wie zum Beispiel die Anwendung lokalanästhetischer Salben (z. B. EMLA®), die auch von nichtärztlichem Personal angewendet werden könnten, sind zur Schmerzbekämpfung jedenfalls nicht ausreichend (Paix u. Peterson, 2012; HMA, 2013). Kürzlich musste aufgrund der Studienlage auch der Hinweis auf eine ausreichende Betäubung der Genitalschleimhaut bei Zirkumzisionen mit dieser Salbe aus dem Beipackzettel entfernt und die Fachinformation geändert werden (Putzke, 2013). Somit stellt die Anwendung einen sogenannten off-label-Gebrauch dar. Selbst ein sogenannter, und nur durch ärztliches Personal durchzuführender, Peniswurzelblock allein kann die Schmerzausschaltung zwar besser, aber nicht vollständig gewährleisten (Brady-Fryer, Wiebe u. Lander, 2004). Dies ist durch die oben geschilderte nervale Versorgung der Vorhaut bedingt: Bei einem Peniswurzelblock werden die auf der Rückseite des Penis verlaufenden Hauptnerven (N. dorsalis penis) durch Injektion eines Lokalanästhetikums blockiert, nicht aber die anderen Anteile beispielsweise der perinealen Nervenäste. Eine Zirkumzision ist in diesem Alter – wie überhaupt im ganzen Kindesalter – also nur unter einer Vollnarkose mit ergänzenden regionalen Schmerzausschaltungsverfahren schmerzfrei und adäquat durchzuführen.

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Eine Zirkumzision ohne ausreichende Schmerzausschaltung – ganz gleich in welchem Alter – muss also aus ärztlicher Sicht strengstens abgelehnt werden. Auch wenn es kaum Hinweise darauf gibt, dass eine korrekt durchgeführte, klinisch gut überwachte Anästhesie mit richtig dosierten, kurzwirksamen Anästhetika kognitive Entwicklungsstörungen oder Lernbehinderungen mit sich bringt (Becke, Schreiber, Philippi-Höhne, Engelhard u. Sinner, 2013), darf nicht vergessen werden, dass jeder Anästhesie auch das zwar sehr seltene, aber nicht zu vernachlässigende Risiko eines schwerwiegenden Zwischenfalls bis hin zum Herz-Kreislauf-Versagen innewohnt. Und gerade Neugeborene und Kinder unter einem Jahr sind hiervon häufiger betroffen als ältere Kinder oder junge Erwachsene (Braz et al., 2009). Dass dies kein theoretisches Risiko ist, zeigt der von einem der Autoren selbst erlebte Fall eines Kindes mit bleibendem schwerem Hirnschaden nach Narkosezwischenfall bei einer medizinisch nicht indizierten Beschneidung. Eine gute und moderne Anästhesie soll medizinisch notwendige Eingriffe schmerzfrei oder zumindest erträglich machen. Auf keinen Fall darf aber im Umkehrschluss die Verfügbarkeit einer ausreichenden Anästhesie und Analgesie als Begründung oder Rechtfertigung zur Durchführung medizinisch nicht notwendiger Beschneidungen herhalten. Dies wäre aus Sicht des eingangs zitierten Votums des Weltärztebundes zu den normativen Grundlagen ärztlichen Handelns unethisch. Die Indikation zur Anästhesie steht und fällt mit der Indikation zum Eingriff selbst, und diese bemisst sich ausschließlich an Nutzen und Risiken für das Kind. Zum § 1631d BGB (»Beschneidungsgesetz«) Mit dem »Gesetz über den Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes vom 20. 12. 2012« (»Beschneidungsgesetz«) hat der Gesetzgeber ein bislang nicht dagewesenes Novum geschaffen: Zum ersten Mal wird ein nicht unerheblicher Eingriff in den menschlichen Körper, juristisch also eine Körperverletzung, aus nichtmedizinischen Gründen legitimiert. Darüber hinaus ist es nach Abs. 2 des Paragrafen sogar zulässig, dass diese Operation in den ersten sechs Lebensmonaten durch eine nicht dem ärztlichen Stand angehörige Person ausgeübt wird, wenn sie »vergleichbar befähigt« und dafür »ausgebildet« ist. Die ärztliche Tätigkeit ist durch vom Gesetzgeber vorgeschriebene Aus- und Weiterbildung genau geregelt. Es wird – zu Recht – ein fachärztlicher Standard bei jeder Operation gefordert. Und ausgerechnet die Zirkumzision des Neugeborenen soll außerhalb jeder Berufsordnung, jeder Qualitätssicherung oder

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Überprüfung durch staatliche Organe hinsichtlich Qualität, Schmerzausschaltung oder Hygiene stattfinden? Der Gesetzgeber hält schließlich ausdrücklich fest: »Die Durchführung von Beschneidungen durch die von einer Religionsgemeinschaft vorgesehenen Personen bedarf keiner behördlichen Erlaubnis« (BR-Dr. 597/12, S. 24). Die Ausnahmeregelung in § 1631d, Abs. 2 kollidiert gerade wegen der Notwendigkeit der besonderen ärztlichen Fürsorge aufgrund des erhöhten Schmerzempfindens im Säuglingsalter sowie der möglichen Folgeschäden mit den im vorherigen Absatz formulierten Erfordernissen und wirft so erhebliche medizinethische und medizinrechtliche Probleme auf. Auch die Frage des Schadensersatzes ist bislang vom Gesetzgeber nicht weiter beachtet worden: Wer haftet bei einem Schaden aufgrund einer Komplikation bei einer von einer nichtärztlichen Person durchgeführten Beschneidung, etwa einer schweren Infektion oder einer Verletzung der Eichel? Es bleibt festzuhalten, dass der Routinezirkumzision im Neugeborenen- oder Kindesalter aus medizinischer Sicht keine Rolle in der Präventivmedizin zugesprochen werden kann. Mehr noch: Sie kann aufgrund der möglichen Komplikationen, der notwendigen Schmerzausschaltung und der zu beachtenden Kontraindikationen per se nicht sachgerecht und ethisch vertretbar durch einen nichtärztlichen Beschneider ausgeführt werden – auch wenn das in Abs. 2 des § 1631d BGB ohne weitere Ausführung impliziert wird. Eine Beschneidung sollte grundsätzlich – wie jede Operation – nur nach sorgfältiger Abwägung durch einen Arzt in geeigneter Narkose durchgeführt werden. Es muss an dieser Stelle erlaubt sein, konservativen jüdischen Auffassungen, wie sie beispielsweise von Paul Spiegel noch 2004 vertreten wurden (Spiegel, 2003) – nämlich, dass das Erleben von Schmerzen bei der Beschneidung keine Schäden verursache, sondern sogar eine conditio sine qua non des Bundes mit Gott sei –, aus medizinethischer Sicht energisch zu widersprechen. Ein verantwortlich handelnder Arzt wird und muss aus dem hier Dargestellten ableiten, dass die rituelle oder routinemäßige Beschneidung des Neugeborenen, aber auch des (noch nicht einwilligungsfähigen) älteren Kindes – wie im Islam häufig praktiziert –, aufgrund der zu erwartenden Nachteile abzulehnen ist. Nicht zu schaden (»nihil nocere«) ist die zentrale ethische Grundlage ärztlichen Handelns. Das Unterlaufen dieses Grundsatzes, indem die medizinisch nicht indizierte Zirkumzision in den ersten sechs Lebensmonaten sogar nichtärztlichem Personal erlaubt wird, ist ein bedauerlicher Rückschritt, der aus ärztlicher Sicht nicht verstanden werden kann. Obwohl im Gesetzestext die Erlaubnis zur Zirkumzision an sich nicht an die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft geknüpft ist, führt die pri-

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mär auf Forderungen jüdischer und islamischer Religionsvertreter eingehende Zielrichtung des § 1631d BGB zu der nicht akzeptablen Situation, dass orthodoxe Positionen prominenter Religionsvertreter, die noch nicht einmal von allen Gläubigen so geteilt werden, wider jede wissenschaftliche Erkenntnis in unsere Rechtsordnung übernommen werden. Jeder ethisch denkende Arzt und auch jeder aufgeklärte Bürger wird dieser Praxis aus Gründen des Kinderschutzes widersprechen müssen. Umfragen haben dementsprechend auch gezeigt, dass die überwiegende Mehrheit der Bundesbürger das Beschneidungsgesetz ablehnt (Spiegel Online, 2012). Es mutet schon grotesk an, wenn deshalb Gegnern dieser nachgewiesenermaßen schädlichen und alle elementaren Grundlagen des Kinderschutzes missachtenden Praxis Nähe zum Antisemitismus oder Islamfeindlichkeit unterstellt wird. Die Kritik an der routinemäßigen Beschneidung von Jungen richtet sich nicht spezifisch gegen religiöse Gemeinschaften, sie schließt gleichermaßen auch die Kritik an von wirtschaftlichen und kulturellen Einflüssen getragenen Empfehlungen ein. Die Autoren empfinden tiefen Respekt vor den Traditionen und geistigen Wurzeln sowohl des Judentums als auch des Islam. Es steht uns nicht zu – und das ist auch nicht unser Anliegen –, religiöses Leben zu kritisieren. Welcher Arzt hätte nicht schon oft die heilsame Kraft des Glaubens bei seinen Patienten – wenn nicht bei sich selbst – erlebt! Und dies gilt nicht nur für die selbst gelebte Konfession. Wir möchten an dieser Stelle auch noch einmal an das eingangs zitierte Genfer Ärztegelöbnis erinnern, das uns Verpflichtung und Grundlage für unsere tägliche Arbeit ist und das uns Unabhängigkeit von konfessioneller Zugehörigkeit auferlegt. Als Ärzte sehen wir uns aber auch in der ethischen Pflicht, auf den eklatanten Widerspruch zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis eines nachgewiesenen Schadens für das Kind auf der einen Seite und gelebten Glaubenstraditionen auf der anderen Seite hinzuweisen. Gerade in Deutschland mit seiner aufgeklärten und Bürgerrechte als hohes Gut einschätzenden Gesellschaft sollte die Sensibilität hinsichtlich der Verletzung der körperlichen (und psychischen) Integrität von Kindern besonders ausgeprägt sein. Die im Rahmen der Beschneidungsdebatte legitimierte Einschränkung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit der uns anvertrauten Kinder kann als Bekenntnis zu historischer Verantwortlichkeit jedenfalls nicht dienlich sein. Dies gilt im besonderen Maße natürlich für die jüdische Beschneidung, auf die Abs. 2 des § 1631d zielt. Aber anders, als es die normative Festschreibung dieses Paragrafen suggeriert, zeigte die theologisch-ethische Diskussion innerhalb des Judentums in den vergangenen Jahrzehnten, dass medizinischer Fortschritt

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und neue wissenschaftliche Erkenntnisse natürlich rezipiert wurden und zu einer nachhaltigen Veränderung jüdischer Beschneidungspraxis geführt haben (Schorch, 2013): Jungen mit angeborener Blutungsneigung (so sie denn bekannt ist) dürfen unbeschnitten bleiben, ohne dass ihnen der Status als vollwertiger Jude mit allen Rechten und Pflichten verloren geht. Frühgeborene müssen erst acht Tage nach dem Ende der Inkubatorbehandlung beschnitten werden, weil dieser als Fortsetzung des Mutterleibes gedeutet wird. Dies zeigt anschaulich, dass sich religiöse und naturwissenschaftliche Erkenntnis harmonisch miteinander verbinden lassen, ein Prozess, der letztlich nur von innen heraus stattfinden kann. Das heißt aber auch, dass bestehende religiöse Überzeugungen – und seien sie noch so alt – aus wissenschaftlicher Sicht kritisch betrachtet werden dürfen. Zu dieser notwendigen Diskussion, die trotz »Beschneidungsgesetz« in Deutschland – aber nicht nur hier – weitergeführt werden sollte, soll mit diesem Text ein Beitrag geleistet werden. Literatur AAP, Section of Urology (1996). Timing of elective eurgery on the genitalia of male children with particular reference to the risks, benefits, and psychological effects of surgery and anesthesia. Pediatrics, 97, 590. AAP’s Task Force on Circumcision (2012). Circumcision policy statement. Pediatrics, 130 (3). 585– 586. Zugriff am 19. 11. 2013 unter http://pediatrics.aappublications.org/content/early/2012/08/22/ peds.2012–1989.full.pdf Anand, K. J. S., Hickey, P. R. (1987). Pain and its effects in the human neonate and fetus. The New England Journal of Medicine, 317 (21), 1321–1329. Attalla, M. F. (1991). Subcoronal hypospadias with complete prepuce: a distinct entity and a new procedure for repair. British Journal of Plastic Surgery, 44, 122–125. Becke, K., Schreiber, M., Phlippi-Höhne, C. J., Engelhard, K., Sinner, B. (2013). Anästhetikainduzierte Neurotoxizität. Stellungsnahme der Wissenschaftlichen Arbeitskreise Kinderanästhesie und Neuroanästhesie. Anaesthesist, 62 (2), 101–4. Bollinger, D. (2010). Lost boys: An estimate of U. S. circumcision-related infant deaths. Thymos: Journal of Boyhood Studies, 4 (1), 78–90. Boyle, G. J., Hill, G. (2011). Sub-Saharan African randomised clinical trials into male circumcision and HIV transmission: Methodological, ethical and legal concerns. Journal of Law and Medicine, 19, 316–334. Brady-Fryer, B., Wiebe, N., Lander, J. A. (2004). Pain relief for neonatal circumcision. Cochrane Database of Systematic Reviews, 18 (4). Braz, L. G., Braz, D. G., Cruz, D. S., Fernandes, L. A., Módolo N. S. P., Braz, J. R. C. (2009). Mortality in anesthesia: A systematic review. Clinics, 64 (10), 999–1006. Bronselaer, G. A., Schober, J. M., Meyer-Bahlburg, H. F., T’sjoen, G., Vlietinck, R., Hoebeke, P. B. (2013). Male circumcision decreases penile sensitivity as measured in a large cohort. BJU International, 111 (5), 820–827. Centers for Disease Control and Prevention (CDC) (2012). Neonatal herpes simplex virus infection following Jewish ritual circumcisions that included direct orogenital suction – New York City, 2000–2011. Morbidity and Mortality Weekly Report (MMWR), 8, 61 (22), 405–409.

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Matthias Franz

Beschneidung ohne Ende?

Ein Patient In meiner Sprechstunde erscheint ein 30-jähriger lediger Mann. Seine Eltern waren in den 1970er Jahren arbeitssuchend aus der Türkei eingewandert. Einige Jahre später wurde er hier in Deutschland geboren, im beruflichen Bereich mehrere Abbrüche, jetzt aber in fester Anstellung in einem sozialen Berufsfeld. Er berichtet unter erheblichem Leidensdruck von depressiven Beschwerden und Erektionsstörungen, die seit der Pubertät bestünden. Selbstbefriedigung sei zwar mit einigen Schwierigkeiten möglich, eine partnerbezogene Sexualität könne er jedoch aufgrund der Erektionsprobleme nicht erleben. Um die Genitalregion herum bestünden »Erregungsbarrieren«. Organisch sei mit seinem Glied eigentlich alles in Ordnung, es bestünden aber eine deutlich reduzierte Empfindsamkeit und an der Beschneidungsnarbe auch Missempfindungen bei Berührungen. Aufgrund seiner Beschwerden habe er sich schon als Jugendlicher zurückgezogen. Als Kind habe er an einer Hundephobie und Dunkelängsten gelitten, es finden sich weitere Hinweise auf kindliche Ängste. Das Verhältnis zu den Eltern ist bis heute gespannt und seitens des Patienten von Vorwürfen wegen deren Unverständnis und emotionaler Einfühlungsarmut gekennzeichnet. Auf weiteres Nachfragen berichtet der Patient von seiner Beschneidung, die im Alter von sechs Jahren vor der Einschulung stattfand. Der Patient wurde damals unter Versprechungen schöner »Überraschungen« in ein weit entferntes Krankenhaus gefahren, nicht informiert, was dort passieren würde. Er sei in einen Raum gekommen, habe sich auf eine Liege legen müssen, dann sei ihm eine Maske aufgesetzt worden. Während des ganzen Vorgangs habe er große Angst gehabt, sei festgehalten worden. Anschließend sei er mit schmerzendem, verbundenem Penis wach geworden, habe überhaupt nicht verstanden, was vor sich gegangen sei. Es sei etwas geschehen, was er auf keinen Fall gewollt habe. Besonders von der Mutter, die die Beschneidung betrieben habe, wie er später erfuhr, habe er sich verraten und betrogen gefühlt. Seine Beziehung zu ihr

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sei durch diesen Vertrauensbruch bis heute schwer beschädigt und manchmal hasse er sie regelrecht dafür, zeige ihr das auch in bedrohlicher Weise. Nach der Beschneidung sei es zu Nachblutungen gekommen, er habe deshalb einen Rock anziehen müssen und sei von den Cousins »als Mädchen« gehänselt worden. Der Kontakt zur Mutter habe danach etwas ekelhaft Sexuelles gehabt, vor Berührungen durch andere sei er lange Zeit ängstlich zurückgeschreckt. Als er in der Pubertät dann andere Jungen mit unbeschädigtem Penis gesehen habe, habe er seine Eltern konfrontiert und wissen wollen, warum sie ihm das angetan hätten. Sie hätten ihm keinen nachvollziehbaren Grund nennen können, er sei unglaublich wütend auf sie geworden und habe die Mutter sogar einmal bedroht. Heute schäme er sich für den unreflektierten Traditionalismus seiner Eltern und deren Einfühlungsarmut. Er selbst würde seinen Sohn auf keinen Fall beschneiden lassen. Der Patient kommentiert im Rückblick: »Man wird vergewaltigt und kann es nicht vergessen.« Hierzu passend berichtet er von wiederkehrenden Albträumen und intrusiven, szenisch ausgestalteten Angstfantasien. In manchen panischen Kinderträumen sei er von Riesen verfolgt worden. Im Alter von etwa zehn Jahren habe er abends im Bett liegend plötzlich einen hohen Pfeifton vernommen, Todesängste erlebt und sich nicht mehr bewegen können. Dann habe er vier hell leuchtende Punkte wahrgenommen und sehr komische, wie Außerirdische aussehende Wesen seien auf ihn zugekommen. Ihre Geschlechtsregion sei ausgespart gewesen. Unmittelbar vor seinem Bett hätten sie sich aufgelöst. Plötzlich sei alles weg gewesen. Derartige szenische Wahrnehmungen, verbunden mit völliger Hilflosigkeit und Bewegungsunfähigkeit, habe er auch später noch, zuletzt mit etwa Mitte zwanzig erlebt, einmal mit dem Gefühl, im Kopfkissen ersticken zu müssen. »Ich dachte, ich müsste sterben.« Der Patient selbst bringt diese Erlebnisse mit seiner Beschneidung in Verbindung. Die Geschichte dieses beschneidungstraumatisierten erwachsenen Mannes ist kein untypischer Einzelfall. Es lassen sich an diesem Fallbeispiel eindrucksvoll mögliche Komplikationen und Spätfolgen zeigen, die mit einer Genitalbeschneidung im Vorschulalter einhergehen können. Dazu muss man sich klar machen, dass in dieser psychosexuellen Entwicklungsphase der kindlichen Identitätsentwicklung die Ängste des Jungen um das hoch besetzte Genital sehr groß sind und dass diese (Kastrations-)Ängste nicht nur durch äußere Bedrohungen, sondern auch durch die lebhaften kindlichen Fantasien und vor allem auch durch ein infrage gestelltes Sicherheitsversprechen der Eltern verstärkt werden können. Wir können einiges aus dieser Fallgeschichte lernen. Zum einen, dass ein Kind in diesem Alter bemerkt, wenn es manipulativ von Erwachsenen und sogar seinen Eltern betrogen wird. Der Patient hat durchaus einige, sicher-

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lich durch Ängste verzerrte, aber trotzdem auch faktische Erinnerungen an die traumatische Situation der Beschneidung, in der er nicht nur seine Vorhaut, sondern auch das Vertrauen in seine Eltern verlor. Er erinnert in Albträumen bis heute die Zwangssituation auf der OP-Liege, das Zerplatzen der Illusion einer erfreulichen Überraschung, die Übermacht der fremden Männer (»Außerirdische«), die Atemmaske, das helle vierstrahlige Licht der OP-Lampe. Er erinnert den anschließenden Schrecken über sein schmerzendes und blutendes Glied, er erinnert die Komplikation der Nachblutung und dass er aus diesem Grund ein rockartiges Gewand tragen musste, wodurch er sich in seiner Männlichkeit lächerlich gemacht und ein weiteres Mal infrage gestellt sah. Er beschreibt auch sehr eindrucksvoll den tiefen Riss in seiner Beziehung zu seinen Eltern, insbesondere zu seiner Mutter, die für den Jungen im Alter zwischen etwa fünf und sieben Jahren eine besonders begehrenswerte und umworbene Bezugsperson darstellt. Der Patient ist bis heute voller Groll und Verachtung gegenüber seiner als trügerisch empfundenen Mutter, die ihn als Jungen auf dem Höhepunkt dessen kindlicher Verliebtheit in sie der Beschneidung, tiefer Verängstigung und Demütigung auslieferte. Er schildert weiterhin erhebliche körperliche Spätfolgen der Beschneidung in Form einer herabgesetzten Empfindsamkeit des Genitalbereichs und in Form von Missempfindungen im Bereich der Beschneidungsnarbe. Der kindliche Horror des Erlebens der Narkosevorbereitungen, die Bewegungslosigkeit, die Atemnot unter der Maske, das blendende Licht der OPLampe, die genitalen Schmerzen sind in den szenischen Intrusionen, in den wiederkehrenden Albträumen des Patienten kaum verhüllt konserviert. Aufgrund seiner tiefen Verunsicherung und seiner Ängste habe er über Jahre hinweg auf körperliche Berührungen schreckhaft reagiert, sich von Beziehungen zurückgezogen. Die partnerbezogenen Erektionsstörungen des Patienten könnten einem sexuellen »Totstellreflex« zur Verhütung weitergehender Traumatisierungen entsprechen. Ich werde für derartige Zusammenhänge später noch weitere Fallbeispiele geben. Festzuhalten bleiben aber schon an dieser Stelle als mögliche Komplikationen und Risiken der Genitalbeschneidung von Jungen im Vorschulalter: traumatische Ängste, Schmerzen, Nachblutungen des beschnittenen Gliedes, Wundheilungsstörungen, Missempfindungen im Bereich der Beschneidungsnarbe, Infragestellung und Verunsicherung des männlichen Identitätserlebens, Neurotisierung der weiteren kindlichen Entwicklung, Vertrauensbrüche in der Beziehung zu den Eltern verbunden mit chronifiziertem Groll und Verachtung hinter vordergründig loyaler Anpassung, bleibende Traumafolgestörungen in Form von Albträumen und intrusiven Fantasien verbunden mit szenisch-dis-

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soziativen Reminiszenzen und Todesängsten, eine beeinträchtigte Entwicklung sozialer Kompetenzen in Richtung Partnerschaft und eine gestörte Sexualität. Geschichtlich-kultureller Hintergrund1 Die Beschneidung der männlichen Vorhaut ist der älteste und wohl der am häufigsten durchgeführte operative Eingriff überhaupt. Die Erhellung der vorgeschichtlichen Hintergründe der männlichen Genitalbeschneidung jenseits der Darstellung und Erwähnung in etwa 5.000 Jahre alten ägyptischen Artefakten und in den deutlich jüngeren mythologischen Texten der drei abrahamitischen Religionen ist Gegenstand humanethologischer, anthropologischer sowie religions- und kulturgeschichtlicher Forschung. Diese haben aufgrund schwieriger Beleglagen notwendigerweise auch spekulativen Charakter (Alanis u. Lucidi, 2004; Zampieri, Pianezzola u. Zampieri, 2008). Es liegen Berichte von beschnittenen indianischen Ureinwohnern Südamerikas vor, auch in afrikanischen, vorderasiatisch-orientalischen Kulturen oder bei den australischen Ureinwohnern wurde und wird die männliche Genitalbeschneidung praktiziert, was die möglicherweise weltweite Verbreitung dieser Praxis bereits in prähistorischen Zeiten nahelegt. Altägyptische Quellen belegen die Jünglingsbeschneidung. Möglicherweise fungierte die männliche Genitalbeschneidung auch im Sinne einer Körpertrophäe als Mindervariante der Tötung des Feindes oder der praktizierten Kastration nach kriegerischer Gefangennahme oder auch zur Kennzeichnung von Sklaven (vgl. Alanis u. Lucidi, 2004). Die Rekonstruktion der archaischen Aspekte und der ursprünglichen Funktion des männlichen Beschneidungsrituals verliert sich im Dunkel prähistorischer Jägertraditionen. Der Begründungsdiskurs der rituellen Jungenbeschneidung wird demgegenüber bis heute beherrscht von vorgeblichen hygienisch-medizinischen Vorteilen, vor allem aber von religiösen Vorstellungen, zuweilen noch juristisch untermauert mit dem Grundrecht auf freie Religionsausübung. Der Ritus wird mit kollektiv verbindlichen Gesetzen und Traditionen begründet, welche auf die Absicherung der Identität und ein gottgefälliges Verhalten zielen. Referenziell verbindliche Vorbilder, beispielsweise im Judentum und Islam, sind dabei der beschnittene religiöse Erzvater Abraham oder der bereits vorhautlos geborene Prophet Mohammed. Denen, die diesen Vorbildern folgen und dem Beschnei1

Dieses Unterkapitel greift verschiedene Beiträge des Autors zu diesem Thema zusammenfassend und erweiternd auf (vgl. Franz, 2006, S. 113–134; Franz, 2008, S. 41–55; Franz, 2010, S. 183–214; Franz, 2012, S. 215–229).

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dungsritual unterworfen werden, werden außerordentliche Gratifikationen in Aussicht gestellt, wie zum Beispiel die Zugehörigkeit zu einer besonderen göttlichen Bundesgemeinschaft oder jenseitige Freuden. Zunächst möchte ich demgegenüber meine kulturhistorische Sichtweise auf die Entstehung und Funktion sakraler Ritualhandlungen im Allgemeinen darstellen. Aufgrund fehlender prädiktiver Realitätsmodelle war das Dasein vorgeschichtlicher Menschen alltagsnah durch den Terror unvorhersehbarer und unerklärlicher Naturerscheinungen und tödlicher Gefahren gekennzeichnet. Die Bewältigung der im Alltagserleben ständig präsenten Gefahr eines frühen unvorhersehbaren Todes und der damit verbundenen existenziellen Angstzustände vorgeschichtlicher Menschen waren im Rahmen eines animistischmagischen Realitätsverständnisses lediglich mit Hilfe zwanghaft wiederholter Ritualhandlungen möglich, deren Beruhigungspotenzial wahrscheinlich auch von der Qualität der Opfer abhing, mit denen die zuständige Gottheit zufriedengestellt werden musste. Wahrscheinlich schon frühmenschliche und vorgeschichtliche Gemeinschaften nutzten Rituale als magischen Versuch, um den Horror existenzieller Bedrohungen durch unbeherrschbare, unverständliche und passiv erlittene Naturerscheinungen, Krankheit und Tod einzugrenzen. Das mit diesen Bedrohungen und Katastrophen einhergehende Grauen soll durch die Wendung des Schreckens in einen Modus aktiven rituellen Gestaltens bewältigt, eingegrenzt oder zumindest erträglicher gestaltet werden (Burkert, 1997; Türcke, 2012). In Anlehnung an den Verhaltenswissenschaftler Norbert Bischof (1973, 2009) beginnt der Lebenszyklus eines Rituals unter derartigen angsterzeugenden Umweltbedingungen oder unbeherrschbar erscheinenden Gefahrensituationen zunächst als vorsprachlich-intuitive Inszenierung. Diese Inszenierung greift einerseits Elemente der befürchteten Bedrohung auf, dient andererseits gleichzeitig als zunächst funktionaler Organisator dem Schutz sozialer Bindungen und Übergänge angesichts der im Ritual thematisierten verunsichernden Bedrohungen. So könnte beispielsweise die patriarchalisch erzwungene Beschneidung heranwachsender Jungen der aggressiven und sexuellen Triebkontrolle in einer prähistorischen Jägerkultur mit hoher alltäglicher Gewalt- und Tötungsbereitschaft dienen. Derartige initial anpassungsfördernde gruppale Verhaltensmuster werden im Weiteren in einem normativen und legitimierenden Mythos verdichtet. Zum Beispiel schließt der Urvater einen Pakt mit der Gottheit, die bei Wohlverhalten beschenkt, bei Ungehorsam allerdings grausame Strafen androht. Diese Drohung zielt auf eine der stärksten Ängste von Männern. Die ultimative Strafe für Illoyalität – die Kastration – wird im symbolischen Beschneidungsakt thematisiert: Sexualität und Fortpflanzung ja – aber nur unter dem

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strafbewehrten Primat patriarchalischer Triebkontrolle: eine klare Kastrationsandrohung. Aggression und Tötungsbereitschaft nach außen ja – aber nicht innerhalb der vom patriarchalischen Führer und seinen Drohungen dominierten Bezugsgruppe. Ähnlich vermutet Burkert (1997, S. 88 ff.) – durchaus kompatibel zu den Vorstellungen Freuds, der in der Beschneidung der Söhne durch den Vater ebenfalls die angedrohte Kastration zur Kontrolle der Aggression und Sexualität der Söhne sieht –, dass die Jünglingsbeschneidung der absichernden Aggressionskontrolle diente, welche nach der Überwindung der Tötungshemmung des initiierten jugendlichen Jägers nötig wurde. Die durchaus nicht einfache Überwindung der Tötungshemmung stellte für Zehntausende von Jahren der Menschheitsentwicklung eine notwendige Voraussetzung der erfolgreichen und überlebenswichtigen Jagd dar. Die Initiation, die Wegführung der jungen Männer aus der mütterlichen Bindung, eröffnete und legitimierte die Möglichkeit zur Ausübung männlich-aggressiven Jägerverhaltens, zumeist markiert durch ein ebenfalls aggressives Ritual. In diesem wurde dem Initianden zugleich ein Generaldispens auf seine zukünftige Tötungsschuld in Aussicht gestellt. Die Tötung des möglichst großen Tieres während der Jagd trifft im archaischen Unbewussten der Gruppe nämlich zugleich auch ein Vatersymbol. Das »große Tier« sichert das Überleben der Gruppe, es gehört in zentraler Weise zu ihrem Lebenskontext und konstituiert als existenziell wichtiges Objekt somit auch die Gruppe. Es wird in Felsenmalereien und anderen totemistischen Objekten verehrt und in nachjagdlichen Ritualen um Verzeihung gebeten. Diese Rituale werden aufgrund ihrer eindringlichen Abbitte- und Unterwerfungselemente auch als »Unschuldskomödien« bezeichnet. Sie sollen die Schuld abtragen, die mit dem in der Latenz begangenen oder zumindest als auch möglich mitfantasierten Vatermord am »großen Tier« entstanden ist. Die nach außen auf das Jagdopfer gerichtete Aggression ist auf der Ebene der intragruppalen aggressiven Fantasien und Impulse assoziiert mit der Denkmöglichkeit, eben nun auch den dominierenden Vater angreifen und dessen Privilegien genießen zu können. An diesem Punkt könnte die rituelle männliche Genitalbeschneidung an der Schwelle zum Jünglingsalter eine nach außen sichtbare, strafandrohende und gleichzeitig exkulpierende Funktion besitzen, um die für die Jagd und den unbewusst assoziierten Vatermord nötige Tötungsaggression zu legitimieren bzw. auf das Tier oder den realen Außengegner zu fokussieren. Die Botschaft der Beschneidung, die sich an den jugendlichen Initianden (und an die zuschauende Gruppe) richten würde, wäre dann: »Schau her, ich schneide einen Teil deiner Männlichkeit ab, weil du nur den großen Tieren und unseren Feinden, aber nicht mir, dem Vater oder unse-

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rer Gruppe gefährlich werden darfst, wenn du nun zum Mann und Jäger wirst und lernen musst, zu töten. Weil du aber diesen Teil deines Gliedes (oder auch einen anderen Teil deines Körpers) dahin gegeben hast, darfst du auf der Jagd ohne bleibende Schuld töten. Solltest du aber auf den Gedanken kommen, deinen Vater oder andere Mitglieder deiner Gruppe anzugreifen, wirst du wieder die große Angst erleben, die du während deiner Beschneidung erlitten hast.« Diese Herstellung paternalistischer Loyalität unter bedrohlichen früheren Umweltbedingungen könnte ein vorgeschichtlicher Grund dafür sein, warum sich – auch abrahamitische – Religionen bis heute so intensiv für kindliche Genitalien von Jungen und deren rituelle Verletzung interessieren. Basierend auf dem Mythos des Bundes des Urvaters mit seinem Gott kommt es im Weiteren zur dogmatischen und sanktionsbewehrten Ausformulierung eines rational dann kaum noch hinterfragbaren göttlichen Gebotes, das schließlich als blind abgespultes Ritualgesetz ins Leere läuft, die Abgrenzung gruppaler Identität und die Ausübung klerikaler Gewalt über die Gläubigen aber erleichtert. Wie kulturgeschichtliches Treibgut wird es Jahrtausende später als aus der Zeit gefallenes Relikt oft nur noch aus unverstandener Loyalität und unter großem Gruppendruck heraus »geglaubt« und, »weil es schon immer so war«, wiederholt – im Fall der Beschneidung auf Kosten der betroffenen Jungen. Ein solcher Zyklus kann sich offensichtlich über sehr lange Zeiträume etablieren. Ursprünglich (dies ist das deutsche Wort für »archaisch«) besitzen Rituale also eine bindungssichernde und impulskontrollierende Funktion und dienen der magischen Bewältigung existenzieller Ängste und Gefahren durch aktiv wiederholende symbolische Inszenierung des primär passiv erlittenen, angsterzeugenden Vorgangs (vgl. Türcke, 2012). Insofern besitzen religiöse Rituale einen sozial regulativen, magisch-archaischen Kernaspekt und stellen – ähnlich wie Mythen – veränderungsträge Archive frühgeschichtlicher sozialer Organisation dar. Sie können als unhinterfragbare Tradition ausgestattet mit sanktionierender Drohkulisse jedoch auch zur Machtausübung missbraucht werden. Die Aufnahme einer personalen Beziehung zu einer Gottheit stellt aus religionsgeschichtlicher und psychoanalytischer Sicht eine progressive Entwicklung der Beziehung zwischen hilflosem Menschen und potenziell wie willkürlich vernichtender Natur dar. Diese Beziehung manifestiert sich wesentlich in der ritualisierten Darbringung des Opfers, dessen Doppelnatur – als Gabe, die der Gottheit gehört, aber vom Menschen erbracht wird – seine Mittlerfunktion sicherstellt. Das Opfer dient der Erhaltung des tragenden Lebensgrundes, der Fruchtbarkeit, der Beeinflussung der Witterung und der Vorbeugung von Naturkatastrophen in einer Umwelt, deren Funktionsgesetze nicht durchschaubar sind, letztlich also dem Überleben des Einzelnen, mehr noch dem seiner Bezugsgruppe.

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In seiner archaischen Form entspricht die Opfergabe dem Menschenopfer. Das rituelle Menschenopfer verdeutlicht die intendierte Umkehrung existenzieller Ängste im Opferritual eindrücklich: »Nicht ich kann jederzeit sterben oder in Stücke gerissen werden, sondern ich schwinge mich im Ritual zum Herr über Leben und Tod auf und besänftige gleichzeitig den unergründlichen Zorn der Natur und der Götter indem ich sie mit Opfern füttere.« Alle drei abrahamitischen Religionen, das Judentum, das Christentum und der Islam, beziehen sich bis heute in zentraler Weise auf ein besonderes Ritual, nämlich auf das heilige Blutopfer, speziell auf das Opfer des erstgeborenen Sohnes, welches in verschiedenen Varianten und Opferpraktiken (Beschneidung, Tieropfer, Opferfest, Kreuzigung mit Auferstehung, Abendmahl) abgeschwächt oder modifiziert wurde, in der kulturellen Latenz aber bis heute wirksam ist. Die entlastende Verwandlung des realen Grauens in sakrale Grausamkeit ist der funktionale Kern des Opferns. In sublimierter Form geschieht die Kontrolle mächtiger potenziell gefährlicher (Natur-)Kräfte und der hinter diesen vermuteten Gottheiten auch mittels zivilisierterer Varianten wie dem Tieropfer, Nahrungsopfer, Räucheropfer oder auch der Beschneidung. In jedem Fall wird die Gottheit dabei vom Menschen – oft an einem speziellen Tisch wie dem Altar – ernährt oder gefüttert. Vielleicht ist das auch ein tieferer Grund dafür, dass im Rahmen der orthodoxen Variante der jüdischen Beschneidung das blutende Glied des gerade beschnittenen Jungen vom Mohel in den Mund genommen und abgesaugt wird – ein mit erheblichen Infektionsrisiken verbundener Vorgang. In Analogie zum oralen Modus des kleinkindlichen Beziehungserlebens erfolgt auch in der animistischen belebten Außenwelt die Befriedung der im Inneren der Gottheit befindlichen bedrohlichen und in erschreckenden Naturereignissen projektiv wieder auffindbaren eigenen Aggression durch fütternde Zuwendung. Eine archaische Form dieser oralen Manipulation und magischen Besänftigung besteht in der in zahlreichen Kulturen nachweisbaren Darbringung von Menschenopfern – gewissermaßen als höchstwertige »Götterspeise« für glücklicherweise dann nicht mehr allzu unberechenbare und über ihren Durst und Hunger ansatzweise regulierbare Götter. Ähnlich wie in der oral determinierten frühkindlichen Beziehungskonstellation zwischen hilflosem Baby und mächtiger Mutter dient die Opferung als sorgende Rückfütterung also der Bindung und Beherrschung einer zuvor in die Gottheit projizierten und ja auch in der Realität der vorgeschichtlichen Natur vorgefundenen grauenerregenden »Aggression«. Der kulturgeschichtliche Fortschritt der manipulativen Fütterung der mächtigen Gottheit mit Opfern besteht darin, dass eine undurchschaubar katastrophal agierende Natur und die mit ihr verbundenen paranoiden Ängste zumindest in Ansätzen befriedet werden können.

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Die religionsgeschichtliche Universalität des Menschenopfers und insbesondere auch des Kindesopfers in zahlreichen Kulturen und Religionen ist jedenfalls eine vielfach belegte Tatsache (Rind, 1998; deMause, 1994). Die eigene Ohnmacht des Opfernden gegenüber einer ängstigenden Außenwelt reanimierte und repräsentierte auch eigene kindlich-traumatische Zustände, die in einer magisch-bedrohlichen Außenwelt erneut als real erlebt wurden. Das geopferte Kind fungierte so in einer unübersehbar bedrohlich erlebten Umwelt als Symbolisierungsmedium und Container eigener Ängste und Ohnmachtszustände (deMause, 1980). Im spätbronzezeitlichen Kulturkreis des südöstlichen Mittelmeerraumes erstreckte sich die Praxis des dem Baal Kanaans oder in Karthago der Tanit dargebrachten Kindesopfers bis hinein ins Karthago des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts (Huss, 1994)2. Die Auseinandersetzung der zugewanderten israelitischen Anhänger des monotheistischen Jahwe-Glaubens mit der in Kanaan bereits ansässigen westsemitischen und phönizischen Bevölkerung führte auf zahlreichen Gebieten zu einer Durchdringung und Entlehnung kanaanäischer Elemente (Kaiser, 1970). So wurde die Opferung von Kindern für den kanaanitischen Baal zeitweise auch in Israel praktiziert. Von König Ahas in Juda (741–725 v. Chr.) wie auch von König Manasse (696–642 v. Chr.) wird berichtet, dass sie ihre Söhne »durchs Feuer gehen« ließen (2 Kön 16,3 bzw. 2 Kön 21,6)3. Abrahams zunächst in Angriff genommene Opferung des Erstgeborenen erscheint in der erst im letzten Moment von Gott abgelehnten Tötung Isaaks als kaum verstelltes und eigentlich noch intendiertes archaisches Kindesopfer. Das Brandopfer des Erstgeborenen wurde im späteren Judentum, insbesondere in nachexilischer Zeit, sanktioniert (Lev 20,2–5; 2 Kön 23,10) und durch das Tieropfer abgelöst. Als ritualisierte Minderform des Kindesopfers kann auch die patriarchalische Beschneidung der männlichen Neugeborenen im Judentum angesehen werden. Die wohl aus Ägypten von der dort tradierten Jünglingsbeschneidung entlehnte Ritualhandlung ersetzte, symbolisierte und bewahrte damit auch latent das Blutopfer der männlichen Erstgeburt. Die Gleichsetzung von Vorhautbeschneidung mit Tötung wird auch in der Geschichte von der Bluttat von Sichem (Gen 34) oder in der Tötung von 200 Philistern durch David, der deren abgetrennte Vorhäute dem Saul als Brautpreis beibringen musste (1 Sam 18,25–27), angedeutet. 2

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Es existieren in diesem Zusammenhang auch Diskussionsbeiträge, welche das große Ausmaß der Praxis des phönizischen Kindesopfers bezweifeln und als taktische Legende im Sinne einer diffamierenden Propaganda Roms interpretieren (Azize, 2007). Die Bibelzitate entstammen der Ausgabe Luther Bibel 1984, zu fi nden unter http://www. bibelwissenschaft.de/online-bibeln/luther-bibel-1984/lesen-im-bibeltext/bibel/text/lesen/ stelle/45///ch/8f81cabae9c6cf98bb237b3b8c8fa060/

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Die jüdische Kritik am Kindesopfer hat nach Maciejewski zu dessen Ersatz durch die Genitalbeschneidung der jüdischen männlichen Kinder geführt (Maciejewski, 2002, S. 217 ff.). Als Beleg führt Maciejewski den traditionellen Beschneidungszeitpunkt des achten Lebenstages an: »Das aber ist mein Bund, den ihr halten sollt zwischen mir und euch und deinem Geschlecht nach dir: Alles, was männlich ist unter euch, soll beschnitten werden; eure Vorhaut sollt ihr beschneiden. Das soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und euch. Jedes Knäblein, wenn’s acht Tage alt ist, sollt ihr beschneiden bei euren Nachkommen. […] Wenn aber ein Männlicher nicht beschnitten wird an seiner Vorhaut, wird er ausgerottet werden aus seinem Volk, weil er meinen Bund gebrochen hat« (Gen 17,10–14). Am achten Tag nach der Geburt wurde auch das archaische Erstlingsopfer dargebracht: »Den Ertrag deines Feldes und den Überfluss deines Weinberges sollst du nicht zurückhalten. Deinen ersten Sohn sollst du mir geben. So sollst du auch tun mit deinem Stier und deinem Kleinvieh. Sieben Tage lass es bei seiner Mutter sein, am achten Tage sollst du es mir geben« (Ex 22,28–29). Die Bibelstelle Exodus 4,24–26 wird von Maciejewski (2002, S. 223 ff.) als verdeckte Schilderung der Überwindung des Kindesopfers gesehen. Das Thema der Tötung des erstgeborenen Sohnes wird zunächst schon in der vorangehenden Textpassage Exodus 4,22 f. exponiert: Moses, der in Midian bei seiner Frau Zippora und dem gemeinsamen Sohn Gershom lebt, erhält von Gott den Auftrag, wieder zurück nach Ägypten zu gehen, um dort vom Pharao die Freilassung des Volkes Israel zu fordern. Er soll den Pharao mit einer Drohung unter Druck setzen: »Und ich gebiete dir, dass du meinen Sohn [= Israel] ziehen lässt, dass er mir diene. Wirst du dich weigern, so will ich deinen erstgeborenen Sohn töten.« Moses macht sich auf den Weg und es folgt in Exodus 4,4–26 eine zunächst widersprüchlich erscheinende und schwer verständliche Textstelle: »Und als Moses unterwegs in der Herberge war, kam ihm der Herr entgegen und wollte ihn töten. Da nahm Zippora einen scharfen Stein und beschnitt ihrem Sohn die Vorhaut und berührte damit seine [Moses] Scham und sprach: Du bist mir ein Blutbräutigam. Da ließ er von ihm ab. Sie sagte aber Blutbräutigam um der Beschneidung willen.« Freud verstand diesen Text als bedrohliche Ahndung der Nachlässigkeit, mit der Moses das Gebot der Beschneidung verletzte, welche dann hastig von Zippora vollzogen wurde (Freud, 1939, S. 125). Die taktische Tendenz dieser Konstruktion sah Freud darin, die ägyptische Wurzel der jüdischen Beschneidungstradition zu überdecken. Maciejewski hingegen vertritt die These, dass die Brüche des oberflächlichen Erzählstranges dieses Textes durch die traumatische Qualität des Subtex-

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tes bedingt seien, da in diesem das im Judentum verpönte Kindesopfer thematisiert und Moses zugeschrieben würde. Die in sich zunächst widersprüchlich erscheinenden szenischen Fragmente des Textes könnten im Sinne einer assoziativen Motivverkettung durchaus auf das Thema der intendierten Tötung des Erstgeborenen durch Moses bezogen werden. Die inhaltlich entstellte Textpassage scheint zunächst von der Wanderung des Moses und seiner Einkehr in eine Herberge zu berichten, in der dann aber – schwer verständlich – Moses von seinem Auftraggeber angegriffen wird. Noch schwerer erschließt sich, dass räumlich und zeitlich von dieser Angriffsszene getrennt Zippora, die Frau des Moses, in einem nicht erkennbaren Zusammenhang mit dem vorangehenden Text beginnt, ihren Sohn Gershom zu beschneiden. Dahinter erscheint eine weitere Geschichte: Die von Moses geplante und begonnene Opferung seines Sohnes Gershom wird von dessen Mutter Zippora verhindert, indem sie in Kenntnis des midianitischen Rituals der Jünglingsbeschneidung (»Blutbräutigam«) die von Moses (»Herr«) beabsichtigte Opferung Gershoms zur Beschneidung modifiziert und Moses die blutige Vorhaut seines Sohnes entgegen hält, als wolle sie sagen: »Genug ist genug.« Mit dieser Vorhaut gibt sich Moses zufrieden – wie Gott sich mit dem Widder auf dem Berg Moria oder die olympischen Götter sich mit der Schulter des Pelops zufrieden gaben. Um die Geschichte der Ersetzung des Kinderopfers durch die Ritualerfindung der Beschneidung überhaupt mythologisch verdichtet erzählen zu können, musste der Text Exodus 4,24–26 einerseits die Kindestötung thematisieren, sie aber andererseits durch logische Brüche in der Erzählstruktur verdecken, da das Kindesopfer zum Zeitpunkt der schriftlichen Fixierung bereits sanktioniert war. Maciejewski sieht die Säuglingsbeschneidung insofern als eine innovative Synthese zweier Rituale: Erstens die traditionelle Praxis der Jünglingsbeschneidung als Männlichkeitsinitiation und zweitens das überkommene kanaanitisch-phönizische Molochopfer konvergieren aggressionsbindend in der Säuglingsbeschneidung des monotheistischen Jahwe-Glaubens. Es ist das Verdienst Maciejewskis, die jüdische Vorhautbeschneidung nicht mehr ausschließlich wie Freud als Ausdruck der patriarchalischen Kastrationsandrohung zur Erzeugung gehorsamer und sexuellen Verzicht leistender Vatersöhne zu verstehen. Freud interpretierte die männliche Genitalbeschneidung als ein Zeichen aus der Vorgeschichte der Menschheit, in welcher der Vater die Kastration seiner Söhne zu Sanktionszwecken und zur Aufrechterhaltung seiner sexuellen Dominanz in der Urhorde ausübte und sie später zur Beschneidung ermäßigte (Freud, 1918, S. 119). Freud stand in der wiederholten, unzählige Generationen umspannenden Abfolge der traumatischen Einschreibung der Beschneidung in das individuelle Körpergedächtnis und auch in die religiöse jüdische Identität. Maciejew-

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ski zufolge war er deshalb aufgrund seiner eigenen Befangenheit nicht in der Lage, den realtraumatischen Hintergrund der jüdischen Säuglingsbeschneidung und der dahinterstehenden Opferhandlung als eigentliches Motiv der von ihm ausschließlich konflikthaft ödipal konzipierten Kastrationsangst zu erkennen. Konzeptionell gab er der realen traumatischen Verletzung des Kindes bei seiner triebtheoretischen Ableitung des Ödipuskomplexes keinen Raum. Maciejewski geht indes so weit, Freud als unbewusstes Motiv für die »Entdeckung« der Psychoanalyse deren implizite Thematisierung des Beschneidungstraumas und dessen intendierte Aufhebung durch die Erfindung der Psychoanalyse zu unterstellen. Das heißt, dass Freud mit Hilfe der um den ödipalen Kastrationskomplex zentrierten psychoanalytischen Triebtheorie eigentlich versuchte, das bzw. sein eigenes Beschneidungstrauma, den Verlust seiner Vorhaut, aufzufinden, zu artikulieren und wahrnehmungsfähig werden zu lassen: »Wo Es war, soll Ich werden.« Insofern entsteht die – sicher auch heikle – Denkmöglichkeit, dass die Psychoanalyse Freuds und deren Fokussierung auf die Bedeutung der phantasmatischen Kastrationsängste in den Anfängen zunächst eine spezifisch jüdische Antwort auf die tradierte reale Traumatisierung der Säuglingsbeschneidung darstellt. Auch weil in der Säuglingsbeschneidung nach Maciejewski das abgewehrte Motiv des Kindesopfers noch implizit vermittelt wird, ist für die zentrale Konstruktion der Psychoanalyse Freuds, ausgehend vom Ödipuskomplex, das latente traumatische Potenzial der Beschneidung bedeutsam. Diese wird zwar in der Verletzung der Füße des ausgesetzten Kindes Ödipus thematisiert, Freud nutzte jedoch die spätere dramatische Verstrickung des Ödipus mit seinem Vater und deren Universalisierung zur Verfremdung und Abwehr des eigenen realen Traumas. Maciejewski spricht von einem interkulturellen Labeling des hellenischen Ödipusmythos, welchem die Funktion einer Deckerinnerung zukommt. Verstellt angesprochen und kaschiert wird aus dieser Sicht das jüdisch tradierte Beschneidungstrauma, das seinerseits für eine Transformation des Kindesopfers steht. Die traumatische Langzeitwirkung dieser Abfolge bedingte so, aufgrund der eigenen transgenerationalen Betroffenheit Freuds, dessen bekanntermaßen eingeschränkte analytische Sicht auf die Realität und die Folgen traumatischer Kindheitserfahrungen sowie die exklusive Betonung des ödipalen Phantasmas. Freud selbst lokalisierte in seiner »Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben« (Freud, 1909, S. 271) und in seiner Arbeit »Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci« (Freud, 1910, S. 165) – jeweils in einer Fußnote – die auf die jüdische männliche Genitalbeschneidung folgende Kastrationsangst konsequenterweise eher auf Seiten der – in ihrem Erleben noch unversehrten – unbeschnittenen Nichtjuden und vermutete in der Verdrängung dieser Angst der

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Unbeschnittenen eine unbewusste Wurzel des Antisemitismus (vgl. auch Freud, 1939, S. 198). Die pathologische Reaktion auf die Beschneidung erfolgt für Freud also auf Seiten der Unbeschnittenen und nicht auf Seiten der Juden, die diese von Kindheit an als (über-)lebbare Realität und identitätsstiftendes männliches Körperzeichen akzeptieren lernen würden (vgl. auch Gilman, 1994, S. 129 ff.). Maciejewski hebt in diesem Zusammenhang unter Berufung auf Freud hervor, dass die frühen Protagonisten der psychoanalytischen Bewegung ausschließlich Juden waren. Sie teilten die »Heimlichkeit der gleichen seelischen Konstruktion« (Freud, 1941, S. 51 f.) miteinander und daher war für sie der Bezug der Psychoanalyse auf das verborgene kollektive Beschneidungstrauma intuitiv evident. Als noch nicht explizierbare (»heimliche«) Referenz bestimmte dieser Zusammenhang aber auch die exklusive gruppale Identität der frühen Psychoanalyse. Kulturgeschichtliche und psychoanalytische Betrachtungen legen also verschiedene mächtige archaische Gestaltungsmotive des Beschneidungsrituals nahe: – die patriarchalische Reglementierung der Sexualität durch Kastrationsandrohung, – der Schutz der Gruppe und ihrer Ordnung vor impulsiver Aggression, – die Kanalisierung der Aggression auf die Jagd und territoriale Absicherung, – die transgenerationale Festigung der männlichen Identität und der Gruppenidentität, – die magische Beherrschung existenzieller Gefahren durch Opfer für salvatorisch zuständige Götter. Die Wirkmächtigkeit dieses Rituals liegt in der Größe der in ihm angesprochenen Ängste und in seiner expliziten wie auch impliziten Gewalt, in deren Kern das Kind sich von den eigenen Eltern an zentraler Stelle seines Körpers und seiner Emotionalität angegriffen und verlassen erlebt. Die Verleugnung des Gewaltaspektes der rituellen Beschneidung im religiösen Judentum Im Sinne eines ethnisch exklusiven Zeichens göttlicher Verbundenheit und Opferbereitschaft dient die Beschneidung neugeborener Jungen im Judentum als transgenerational tradierte, verletzende Körpereinschreibung der verpflichtenden Festigung der gruppal-religiösen Identität. Meines Erachtens macht der Subtext von Genesis 17, mit dem die Beschneidung eingeführt wird, die implizite patriarchalische Gewalt der Beschneidung

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sehr deutlich: Abraham erhält nach einigen, nicht ganz unerheblichen Verfehlungen die Erlaubnis und die Zusage, zahlreiche Kinder – also generativen Sex mit seiner Frau – zu haben. Aber nur zu den Bedingungen des Gottes, der von Abraham als Bundeszeichen der Loyalität ausgerechnet dessen Vorhaut fordert und damit die Möglichkeit einer Kastration andeutet. Gott wird in Genesis 17 ungewöhnlicherweise im Hebräischen als »El Shaddai« bezeichnet. Religionsgeschichtlich und ethymologisch wird »El Shaddai« mit einer ugaritisch-syrischen Berggottheit mit phallisch-aggressivem Zerstörungspotenzial in Verbindung gebracht, stellt also in diesem Textzusammenhang eine uralte Deifizierung eines patriarchalischen Machtanspruchs dar. Einige Bibelverse weiter droht dieser Gott dann doch recht robust mit der ultimativen Kastration: Wenn du dich nicht an meine Regeln hältst, rotte ich dich aus. »Wenn aber ein Männlicher nicht beschnitten wird an seiner Vorhaut, wird er ausgerottet werden aus seinem Volk, weil er meinen Bund gebrochen hat« (Gen 17,14). So wird verständlich, warum Juden, angesichts der zahlreichen katastrophalen historischen Judenverfolgungen bis hin zur Shoah, auch heute noch massive Angst und Empörung empfinden, wenn die Beschneidung wieder einmal zur Disposition steht. Man könnte die ganze biblische Szene hinsichtlich der sadistischen Aspekte des Gottesbildes aber in etwa auch so paraphrasieren: »Schau her, Gott. Ich fürchte, dass du mir eigentlich alles abschneiden willst. Ich habe ja auch schon gesehen, dass das wirklich bei manchen Männern so gemacht wurde. Deshalb mache ich mich jetzt selbst ganz klein und gebe dir schon einmal unter Schmerzen ein (für den göttlich geforderten Zeugungserfolg entbehrliches) Stück meines Gliedes. Dann lässt du mir den Rest und damit darf ich mich dann zu deinem Ruhme fortpflanzen (wenngleich auch weniger lustvoll). Ansonsten halte ich mich immer ganz genau an deine Vorschriften, denn wenn ich mich nicht an sie halte, schneidest du mir den Rest vielleicht doch noch ab oder rottest mich gleich ganz aus. Damit ich das nie vergesse, mache ich das zur Sicherheit auch mit meinen Söhnen. Die werden dann sehen, dass sogar ihr Vater Angst vor dir hat, weil er ja auch beschnitten ist. Und deshalb werden sie später auch Angst vor deiner Macht haben und sich ebenfalls immer ganz genau an deine zahlreichen Gesetze halten.« Bis heute sind viele – längst aber nicht mehr alle – jüdischen Eltern subjektiv der Überzeugung, dass sie ihren Jungen mit der Beschneidung etwas Gutes tun. Sie glauben, dass sie ihre Jungen in die Tradition eines Bundes mit ihrem Gott und ihrer sozialen Bezugsgruppe stellen und so die Voraussetzung für Generativität, Leben und Überleben schaffen – eingedenk der ägyptischen Gefangenschaft, des babylonischen Exils, der Zerstörung des zweiten Tempels

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und der ultimativen Verbrechen der Nationalsozialisten. Sie wollen als Eltern ihren Kindern etwas Gutes und natürlich nicht primär wehtun. Aber faktisch tun sie es ohne jeden Zweifel.4 Sie nehmen unmittelbare erhebliche Schmerzen, medizinische Risiken von Wundheilungsstörungen bis hin zu Todesfällen, eine reduzierte genitale Empfindungsfähigkeit und mittelbar auch Ängste durch fortgesetzte Gewaltzeugenschaft für ihre Jungen in Kauf. Der Gewaltaspekt, der je nach Zeitpunkt der Beschneidung während der kindlichen Entwicklung auch unterschiedliche Auswirkungen haben kann, wird von den meisten jüdischen Befürwortern der Beschneidung jedoch ausgeblendet. Dies geschieht aus zwei Gründen. Erstens vor dem Hintergrund eines prärationalen – aber identitätsstiftenden – religiösen Konzeptes von göttlichem Gesetz, fordernder göttlicher Zuwendung und Gehorsam. Zum Zweiten sind viele Eltern aufgrund des enormen Gruppendrucks und wegen eigener Betroffenheit sowie loyaler Gebundenheit ihren eigenen Eltern gegenüber nicht in der Lage, den uralten und evidenten Gewaltaspekt der Beschneidung zu fokussieren und einen empathischen Perspektivwechsel zugunsten des Erlebens ihres Jungen zu vollziehen. Dies gilt wohl für Männer noch mehr als für Frauen, deren Anwesenheit bei der orthodoxen jüdischen Beschneidung möglicherweise auch aufgrund potenziell störender mütterlicher Schutzreflexe eher nicht üblich ist. Den Gruppendruck, mit dem die Kritik am Gewaltakt der Beschneidung in jüdischen Gemeinden tabuisiert wird, beschreibt eindrucksvoll beispielsweise Haddas Golandsky (1999). Auch medizinisch gebildete Betroffene unterliegen ihm, wie das folgende Beispiel belegt. Eine die Säuglingsbeschneidung trotz aller Risiken befürwortende, pseudomedizinisch hergerichtete Stellungnahme der Autoren der »American Academy of Pediatrics« (AAP) im sogenannten »Circumcision policy statement« (AAP, 2012a) und im zugehörigen »Technical report« mit dem Titel »Male circumcision« (AAP, 2012b) wurde wegen Befangenheit, erheblicher Interessenkonflikte, einer völlig unzureichenden Methodik sowie eines massiven Reportbias unter anderem auch von deutschen ärztlichen Fachverbänden kritisiert (vgl. auch Svoboda u. Howe, 2013; Doctors Opposing Circumcision, 2012; Circumcision Resource Center, 2012)5. Ein Mitglied des Autorenteams – 4

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Ein zeitstabiler Effekt der Säuglingsbeschneidung im Sinne eines körperlichen Schmerzgedächtnisses und einer erhöhten Schmerzempfi ndlichkeit zumindest für das erste halbe Lebensjahr ist empirisch belegbar (Taddio, Katz, Ilersich u. Kore, 1997). Eine beschneidungskritische Übersicht international renommierter Experten in Reaktion auf die AAP-Stellungnahme wurde in der Zeitschrift »Pediatrics« erst mit großer Verzögerung und nach erfolgter Verabschiedung des jetzt gültigen Beschneidungsgesetzes im Deutschen Bundestag zur Publikation freigegeben (Frisch et al., 2013).

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Douglas Diekema – empfahl in anderen Zusammenhängen auch die Inzision weiblicher Genitalien (Mann, 2010). Andrew Freedman, ein weiterer Autor des Statements, hat mitgeteilt, dass er selbst seinen eigenen Sohn aus rituellen Gründen auf dem Küchentisch (!) seiner Eltern beschnitten habe. Er liefert einen illustrativen Hinweis auf den enormen traditionalistischen Gruppendruck in seiner Begründung für diesen Akt: »Yes, I do. I circumcised him myself on my parents’ kitchen table on the eighth day of his life. But I did it for religious, not medical reasons. I did it because I had 3,000 years of ancestors looking over my shoulder« (Freedman, 2012). Die Verleugnung des Gewaltaspekts der Genitalbeschneidung und die nicht erfolgte Einnahme einer selbstständigen empathischen Wahrnehmungsposition sind bei einer so großen und auch noch zuschauenden Ahnenreihe vielleicht aus psychologischer Sicht nachvollziehbar, muss aber wegen der möglichen erheblichen Komplikationen und des irrational-phantasmatischen Charakters der Begründung gleichwohl kritisiert werden. Es hat in der Küche keine Ahnenreihe zugeschaut. Es hat aber ein Kind vor Schmerz geschrien. Ein besonders eklatantes Beispiel für die Verleugnung des Gewaltaspektes der Beschneidung gegen jede wissenschaftliche Evidenz stellt die Homepage von Rabbi Goldberg dar: »Findet die Beschneidung am 8. Tag statt, wird kein Betäubungsmittel injiziert. Betäubungsmittel, die injiziert (gespritzt) werden, tragen ein weit höheres Risiko als der Schmerz durch den Schnitt. Der Schmerz ist bei kleinen Babys minimal, weil das Schmerzempfinden noch nicht voll ausgebildet ist« (vgl. www.beschneidung-mohel.de). Aber auch in auf Beschneidungen spezialisierten Kliniken wie dem Jüdischen Krankenhaus in Berlin wird offensichtlich auch jetzt noch in verleugnender Weise über das Schmerzempfinden Neugeborener hinweggesehen. Einem Bericht der »Süddeutschen Zeitung« vom 19. 12. 2013 zufolge wurde auch aktuell noch durch Mitarbeiterinnen dieser Klinik erklärt, dass das Schmerzempfindungssystem bei bis zu vierzehn Tagen alten Säuglingen noch nicht ausgereift sei (vom Lehn, 2013). Dieser Unsinn widerspricht allen wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Ausreifung des nozizeptiven Systems und zur Schmerzwahrnehmung bereits bei Säuglingen. Das Betrachten eines Beschneidungsvideos6 kann jeden Beobachter zudem leicht vom Gegenteil überzeugen. 6

»The Circumcision of Jacob Chai« ist das von Prof. Dr. med. Leo Latasch in Ausschnitten im Ethikrat vorgeführte Video, ursprünglich abrufbar unter http://www.youtube.com/ watch?v=xTxD6 l-8ppw Das Video wurde leider blockiert. Alternativen unter http://vimeo.com/22940047 http://www.youtube.com/watch?v=xJd9dUMRUL8

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Über diese (schmerz-)verleugnenden Darstellungen noch hinaus gehen die Einlassungen des orthodoxen Mohels Romi Cohn, nachzulesen in der »New York Times« vom 12. 09. 2012 (Otterman, 2012). Cohn nimmt für sich in Anspruch, 25.000 Beschneidungen durchgeführt und etwa 80 Beschneider ausgebildet zu haben. Die Beschneidung Neugeborener (Metzitzah B’peh mit oralem Absaugen des blutenden Penis nach Amputation der Vorhaut) hält der damals 83-jährige Cohn – offensichtlich unter Ausblendung der Reaktion des Kindes – für ein fröhliches Ereignis: »If you follow strictly the ritual, there will be no harm to the baby. […] A circumcision is a joyous occasion – nothing traumatic about it« (Otterman, 2012). Weiter berichtet der einflussreiche Mohel Cohn, dass er die von ihm abgeschnittenen Vorhäute nach der Beschneidung sammle und zusammen mit Sand und Nelken in Gläsern aufbewahre. Er wolle dann eines Tages auf dem Olivenberg in Israel zusammen mit diesen in Gläsern konservierten Vorhäuten begraben werden (Otterman, 2012). Bei allem Respekt vor den zuweilen für Außenstehende befremdlich anmutenden Besonderheiten religiös motivierter Bräuche lässt die hochspezifische Detailplanung der eigenen Beerdigung auch tieferliegende Motivationen des beschnittenen Beschneiders zumindest als plausibel erscheinen. Der Plan, mit all diesen Vorhäuten begraben werden zu wollen, könnte aus tiefenpsychologischer Sicht durchaus einem latenten Wunsch nach restitutiver eigener Vervollständigung des leidvoll Verlorenen entsprechen. In diesem Sinn könnte die Beschneidung anderer und das Einsammeln und Konservieren deren Vorhäute im unbewussten Erleben des Mohels Cohn tatsächlich eine »erfreuliche Gelegenheit« im Sinne einer Wiederaneignung sein. Immerhin bestreitet Romi Cohn aber zumindest nicht den Akt der Beschneidung als verletzende Entfernung des Vorhautgewebes. Genau dies aber tut eine prominente und in Deutschland hochgeehrte Jüdin, die Judaistin Edna Brocke, eine Großnichte Hannah Arendts. Im Rahmen einer vom Bundesforum Männer veranstalteten Tagung zur Beschneidungskontroverse äußerte diese Referentin mehrfach und auch nach kritischem Nachfragen daran festhaltend, dass bei der jüdischen Ritualbeschneidung Neugeborener keinerlei Gewebe entfernt und lediglich ein unbedeutender Einschnitt vorgenommen werde, der keine sichtbaren Folgen für das äußere Erscheinungsbild des Gliedes hätte (Brocke, 2013). Eine derartige Entwirklichung des Diskurses bezogen auf das unbestreitbare physische (und damit auch psychische) Trauma der Vorhautamputation ist in dieser markanten Weise sicher selten. Aber es demonstriert die grundlegende Tendenz vieler religiöser Beschneidungsbefürworter, schmerzhafte Fakten einfach nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen – und

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den Kritikern im Gefolge dieser verleugnenden Beschönigung dafür nicht selten pauschal antisemitische Motive zu unterstellen. Eine eingeschränkte Empathie gegenüber den Beschneidungsopfern bedingt so auch eine veränderte Wahrnehmungsorganisation gegenüber den traurigen Fakten. Bestürzenderweise gilt das sogar für psychoanalytische Berufskollegen, von denen man annehmen sollte, dass gerade sie sich mit der kindlichen Erlebnisperspektive aufgrund einer eingehenden Selbsterfahrung identifizieren können. Das ist aber zum Beispiel bei Yigal Blumenberg und Wolfgang Hegener nicht der Fall. Sie unterstellen Beschneidungskritikern wie Wolfgang Schmidbauer und mir pauschal eine kollektive Denunziation des Judentums und Geschichtsvergessenheit angesichts des Holocaust (Blumenberg u. Hegener, 2012; Blumenberg u. Hegener, 2013). Dabei sind diese Autoren offensichtlich in unreflektierbaren religiösen Fantasiesystemen und den dazugehörigen Loyalitäten befangen. Die traumatische Indoktrination der Beschneidung (Posener, 2012) widersteht wohl auch zuweilen dem Aufklärungsanspruch der Psychoanalyse. Unter Berufung auf Bodenheimer glauben diese Autoren tatsächlich, dass der beschnittene Mann gerade dadurch, dass die Vorhaut nicht natürlicherweise fehlt, sondern entfernt werden muss, zum wandelnden Zeichen der Pflicht des Menschen [sic!] wird, Gottes Welt zu vervollständigen und sich an ihr läutern zu lassen (Blumenberg u. Hegener, 2013). Derartige Glaubensüberzeugungen machen eine rationale Auseinandersetzung mit ihren Positionen schlechterdings unmöglich. Solche Anschauungen können heute unter den Bedingungen der in Deutschland und Europa geltenden Kinderrechte auf körperliche Unversehrtheit keinen normativ-präferenziellen Anspruch auf religiöse Sonderrechte zur Gewaltausübung mehr rechtfertigen (Franz, 2013a; 2013b). Leider reden Blumenberg und Hegener viel von der Notwendigkeit, kleine Jungen zu beschneiden. Aber sie reden nicht von dem enormen Gruppendruck, der auf zweifelnde Eltern ausgeübt wird. Sie reden erst recht nicht vom Schmerz, den Ängsten und den möglichen späteren Problemen beschnittener Kinder, obwohl genau dies ihre professionelle Aufgabe wäre. Zudem bestreiten Blumenberg und Hegener – wenngleich in einer Fußnote versteckt – auch noch die Existenz von seelisch durch die Beschneidung beschädigten Jungen und Männern (Blumenberg u. Hegener, 2012). Wie soll ein traumatisiertes Beschneidungsopfer als erwachsener Patient zu solchen Therapeuten Vertrauen fassen können? Die objektive Gewalt der im Beschneidungsritual erfolgenden Vorhautamputation besteht aber faktisch in der schweren irreversiblen hochschmerzhaften Körperverletzung der Intimzone, in der Inkaufnahme eines erheblichen Risikos für physische und psychische Komplikationen und Langzeitrisiken bis hin zu einer langfristig beeinträchtigten sexuellen Empfindungsfähigkeit. Und

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das alles ohne Einwilligung oder spätere Distanzierungsmöglichkeit des hiervon hilflos betroffenen Kindes. Empirische Arbeiten und Fallberichte Betroffener zu den möglichen Risiken liegen vor (vgl. Franz, 2012; Frisch, Lindholm u. Grønbæk, 2011; Frisch et al., 2013; sowie die weiteren medizinischen Beiträge in diesem Buch). Beginnend mit der Aufklärung dürfen wir heute teilhaben an der Entwicklung eines wachsenden gesellschaftlichen Bewusstseins und einer zunehmenden öffentlichen Sensibilität für die destruktiven Folgen von Gewalt. Dieser zivilisatorische Großtrend der Ächtung von Gewalt wurde in Europa gegen große Widerstände durch eine Festigung des demokratisch kontrollierten staatlichen Gewaltmonopols ermöglicht. Er geht – entgegen dem medial vermittelten Augenschein – einher mit einem faktischen Rückgang von Kindesmisshandlungen, Gewaltkriminalität und Kriegshandlungen (Pinker, 2011). Zu dieser gewaltärmer werdenden Zivilität steht die vom Beschneidungsritual ausgehende Normalisierung von körperlicher Gewalt in einem erheblichen Spannungsverhältnis. Dies gilt auch für die verstörende Gewaltzeugenschaft, der viele Kinder in den unterschiedlichen Beschneidungskulturen im Laufe ihrer Kindheit immer wieder ausgesetzt werden, wenn sie als Zeugen den rituellen Gewaltakt – ausgeführt oder gestattet von den elterlichen Bezugspersonen – miterleben. Manche Betroffene erleben und schildern dies wie der eingangs erwähnte Patient im Nachhinein als einen schweren Vertrauensbruch in der Beziehung zu ihren Eltern. Für die möglichen Langzeitauswirkungen dieser Gewaltzeugenschaft gibt auch Sigmund Freud in seiner triebtheoretischen Konstruktion des Vaterbildes ein Beispiel. Der Vater erscheint hier als bedrohlicher Rivale und distantes Autoritätsmodell. Insbesondere der Junge steht diesem Vaterbild als einer zumindest gewaltbereiten, potenziell kastrierenden Autorität gegenüber, die den Verzicht auf die Mutter und eine trotzige Unterordnung als Voraussetzung der späteren Identifikation mit dem Vater erzwingt. Der Vater steht hier – durchaus in Analogie zu Genesis 17 – nicht auf der Seite des Jungen, sondern ihm bei Illoyalität auch feindselig gegenüber. Der niederländische Kollege de Klerk (2007) vermutet in seiner in diesem Buch wiederabgedruckten beschneidungskritischen Arbeit, dass Freud als Junge in den beengten Wohnverhältnissen der Familie in der Freiberger Zeit wahrscheinlich Zeuge der Beschneidung des kleineren Bruders Julius durch den Vater selbst wurde. Freud selbst stellt keine Bezüge zwischen seinem triebtheoretischen Konzept der Kastrationsangst und seiner eigenen Biografie her, sondern verortet den Ursprung der Kastrationsangst in eher phylogenetischen Spekulationen vom kastrierenden Urvater und den triebhaften Söhnen der Urhorde.

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Bezogen auf ein immerhin denkbares Beschneidungstrauma aufgrund der kindlichen Gewaltzeugenschaft Freuds hätten diese Spekulationen fast schon den Charakter einer Deckerinnerung. Der Protest gegen den beschneidenden Vater könnte sich auch in der doch sehr deutlichen Geringschätzung und Ablehnung religiöser Überzeugungen durch den säkular-aufgeklärten jüdischen Wissenschaftler Sigmund Freud geäußert haben. Freud ersparte – wie übrigens auch der Begründer des politischen Zionismus Theodor Herzl – seinen eigenen Söhnen das Trauma der Genitalbeschneidung. Er selbst stellte so den eigenen Vater als gewalttätigen Traditionalisten bloß. Es ist sicher der intensiven Selbstreflexion und der Persönlichkeit Freuds geschuldet, dass er den Vater wegen dessen Kastrationsandrohung kritisieren und einen persönlichen Weg heraus aus der obligatorischen Sukzession der transgenerationalen Ritualabfolge finden konnte (Geller, 2008, S. 260, Fußnote 65; Rice, 1994). Die fortgesetzte Gewaltzeugenschaft angesichts der ihre Kinder beschneidenden Erwachsenen jedenfalls könnten bei manchen kleinen Jungen ängstigende Schlussfolgerungen bewirken: »Auf Erwachsene ist im Zweifelsfall kein Verlass, sie tun Dinge, die ich nicht verstehe, und sie selber verstehen sie wohl auch nicht. Sie fürchten sich vor einem mit Vernichtung drohenden Gott und sie verletzen kleine Kinder. Besser, man passt sich gehorsam an und macht, so gut es geht, mit, zeigt seine heimliche Enttäuschung über sie nicht. Mein Glied gehört wohl nicht wirklich mir. Es unterliegt einem gewalttätigen Zugriff durch mächtige Autoritäten, vor denen sich sogar meine Eltern fürchten. Der Stärkere darf dem Schwächeren im Namen Gottes also Körperteile abschneiden.« Zu derartigen Schlussfolgerungen und erschreckenden phantasmatischen Ausgestaltungen sind beobachtende Kinder durchaus in der Lage. Die entstehenden Widersprüche und die Gefährdung der Beziehung zu den Eltern können dann zu einem kindlichen Lösungsversuch im Sinne einer Identifikation mit dem Aggressor führen. Der Rückgriff auf diesen Abwehrmechanismus erfolgt häufig dann, wenn sich eine Person in einer ausweglos bedrohlich erlebten Lage befindet, die es nur durch die Identifikation mit den vermuteten Zielen und Motiven seiner Verfolger erleichtern kann. Transgenerationale Weitergabe traumatischer Kindheitserfahrungen Die Forschung zeigt, dass auch die Erfahrung elterlicher Gewalt während der Kindheit Brüche in der emotionalen Wahrnehmung und Empathiefähigkeit des später erwachsenen Kindes und wiederholende eigene Gewalthandlungen

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bewirken kann (z. B. Duke, Pettingell, McMorris u. Borowsky, 2010). Kindheitlich von den Eltern erfahrene Traumata können verinnerlicht und später selbst reinszenierend wiederholt werden. Kollektiv rituell vermittelte traumatische kindliche Erfahrungen können daher auch zu kollektiven Empathiebrüchen führen und zu gruppalen Überzeugungen mit Abwehrfunktion organisiert werden. Dadurch kann die Einfühlung in das Erleben der nächsten Opfergeneration beeinträchtigt werden. Ein solcher traumatisch bedingter Empathiebruch kann aufgrund hoher elterlicher Eigenbetroffenheit auch die Einfühlung in die Ängste der eigenen Kinder (z. B. vor der Beschneidung) betreffen und so zu einer Fortsetzung der rituellen Praxis beitragen. Dies gilt besonders, wenn das Ritual für die Kohäsion und Identität der sozialen Bezugsgruppe wichtig ist und mittels klerikaler Machtansprüche eingefordert wird. Kollektive Überzeugungen und Rituale werden gruppal also besonders dann unreflektierbar tradiert, wenn der Gewaltaspekt des ausgeübten Rituals aufgrund eigener Abwehrbedürfnisse der selbst traumatisch befangenen Eltern verleugnet werden muss. Dann kann das emotionale Erleben von Angst und Schmerz des kindlichen Opfers von den handelnden Erwachsenen eben nicht mehr empathisch erfasst werden und eine TäterOpfer-Kette kann sich transgenerational über historische Zeiträume hinweg etablieren. Ähnlich wie Eltern, welche ihre Trauer über kindheitlich erlittene Entbehrungen, Strenge oder Kränkungen in einer Depression verschließen und deshalb das Weinen ihrer eigenen Kinder nicht ertragen können, weil es sie an ihre eigene unverarbeitete und verdrängte Trauer erinnert, so können Eltern in dem Bereich, in dem sie selbst als Kinder von ihren Eltern traumatisiert worden sind, ihre eigenen Kinder oft gar nicht oder nur unter großen Anstrengungen empathisch begleiten. Bezogen auf das religiös motivierte Beschneidungsritual halten also zwei sich ergänzende und durch gruppalen Konformitätsdruck vermittelte Mechanismen die wiederholende Reinszenierung des Rituals aufrecht: zum einen die durch das eigene Beschneidungstrauma bewirkte Empathie- und Wahrnehmungsstörung der Eltern und Beschneider gegenüber den Schmerzen, Ängsten und Gefahren, denen sie ihre Kinder aussetzen; zum anderen eben die daraus folgende unbewusste Identifikation der betroffenen Kinder mit dem elterlichen Aggressor. Die mündet konklusiv in die transgenerationale Agenda: »Es kann und darf nicht schlecht gewesen sein, was meine Eltern damals mit mir gemacht haben. Deshalb tue ich es jetzt mit meinen Kindern auch. Und wenn ich es ihnen dann auch angetan habe, kann ich nicht mehr zurück und einsehen, dass das unter anderem auch ein schlimmer Gewaltakt war. Dafür festigt sich aber der Zusammenhalt und die Loyalität innerhalb unserer Gruppe.«

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Aufgrund der hohen emotionalen Eigenbetroffenheit der Ritualausübenden und der religiösen Referenzialität des Rituals entziehen sich solche Zusammenhänge häufig einer argumentativ-rationalen und faktenbasierten Auseinandersetzung. Bei vielen Außenstehenden, »Ungläubigen« oder säkularen Kritikern entsteht dadurch nicht selten der Eindruck einer geradezu verzweifelt wirkenden religiösen Selbstverblindung gegenüber rationalen Argumenten, resultierend aus selbstverschuldeter patriarchalischer Loyalität und Angst heraus. Soll aber das Verletzen der Genitalien kleiner Jungen durch Erwachsene wirklich auch noch heute und auf alle Zeit als der Kern der kollektiven Identität religiöser Gruppierungen begriffen und toleriert werden? Ist das wirklich alles? Geht es letztlich nur um das Hineinschneiden, um das Abschneiden? Geht es nur um die rituelle Verletzung kindlicher Genitalien, durch daran verdienende »Ärzte« und scheinbar legitimierte klerikale Spezialisten, deren unbewusste Motivation für die massenhaft vorgenommene Verstümmlung kindlicher Genitalien zumindest fragwürdig ist? Sind unbeschnittene Juden oder Moslems, die es durchaus und zunehmend gibt, auf einmal Ausgestoßene? Sollen nicht auch Jungen im Geltungsbereich des Grundgesetzes und der UN-Kinderschutzkonvention Gelegenheit erhalten, geschützt vor Verletzungen aller Art aufzuwachsen, bis sie selbst entscheiden können, welchem Gott sie welchen Körperteil opfern wollen oder eben auch nicht? Zum Glück müssen in einem aufgeklärten säkularen demokratischen Rechtsstaat auch religiöse Gruppen derartige Fragen heute ertragen. Religionen können nicht mehr um jeden Preis einen Durchgriff auch auf die physische Existenz, Integrität und Identität ihrer Gläubigen beanspruchen. Dies sollte besonders für die genitale Integrität aller Kinder und auch von Jungen gelten. Daran, dass diese Einsichten seit der Aufklärung bei uns so weit gedeihen konnten, hat übrigens bereits der Jude Spinoza, der dafür allerdings aus seiner jüdischen Gemeinschaft ausgeschlossen wurde, intensiv mitgearbeitet. Auch religiöse Traditionen können und sollten sich mit fortschreitender Zivilität ändern und anpassen. Selbst der Gott des Alten Testamentes besann sich und fasste nach der Sintflut schließlich den Entschluss, künftig auf derartig radikale Reinigungsmaßnahmen zu verzichten (Gen 9,11). Handelt es sich bei der religiös motivierten Beschneidung nicht auch um etwas, zu dem später einmal – ähnlich wie nach der Überwindung der Prügelstrafe oder der Aufdeckung institutionell getragener sexueller Gewalt gegen Kinder – gefragt werden wird: »Wie konnten wir das nur so lange Zeit zulassen?« Der Grüne Volker Beck, ein entschiedener und lautstarker Befürworter der rituellen Genitalbeschneidung von kleinen, nicht einwilligungsfähigen Jungen, räumt inzwischen bezogen auf das Thema des sexuellen Missbrauchs von Kin-

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dern und der früheren Befürwortung einer »gewaltfreien Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern« innerhalb seiner Partei aus heutiger Sicht ein, beim diesem Thema lange unkritisch gewesen zu sein. Möglicherweise werden er und andere Beschneidungsbefürworter/-innen sich erneut revidieren müssen, wenn in der Öffentlichkeit das Leid vieler betroffener beschnittener Jungen und Männer deutlicher wird (Beck, 1988). Im Gegensatz zu archaischen Ritualen, die eine bleibende Verletzung kindlicher Genitalien bewirken, ist der Schutzanspruch des Kindes vor jeglicher Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung sowie die Achtung seiner Würde und körperlichen Integrität als ethischer Standard juristisch und wissenschaftlich heute gut begründbar. Wir wissen heute aus zahlreichen Untersuchungen, dass Kinder keine Schmerzen erleiden sollten und dass Eltern und Erwachsene an den Genitalien von Kindern – von medizinisch unabweisbaren Notlagen abgesehen – nichts zu suchen haben. Man tut Kindern nicht weh, man macht ihnen keine Angst. Warum fällt es so vielen Vertretern abrahamitischer Religionen – christliche Amtsträger eingeschlossen – immer noch so schwer, diese elementaren Zusammenhänge vorbehaltlos zu akzeptieren? Die Entwicklung der Idee der Kinderrechte nahm in Europa 1693 mit John Lockes Schrift »Gedanken über Erziehung« ihren Anfang. Sie führte über die Kinderschutzgesetze gegen Ende des 19. Jahrhunderts in England schließlich hin zur UN-Kinderrechtskonvention von 1990 und erst im Jahr 2000 auch in Deutschland zum gesetzlich verankerten Recht von Kindern auf eine gewaltfreie Erziehung. Demnach sind jede Form körperlicher Gewaltzufügung, auch durch überlieferte gesundheitsschädliche Bräuche, sowie körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen durch die Eltern unzulässig. Eine andere, immer noch praktizierte Variante transgenerational tradierter und an Kinder weitergegebene Gewalt ist in Deutschland noch gar nicht so lange, aber mittlerweile nun doch verboten. In einigen westlichen Ländern ist sie auch heute noch erlaubt: die gerade erwähnte Prügelstrafe, von der bis heute so falsch wie häufig noch zu hören ist: »Eine ordentliche Tracht hat eigentlich noch niemandem geschadet!« Die in Europa – auch gegen den Willen vieler Eltern – mühsam erkämpfte Entwicklung der Kinderrechte hat in einem langwierigen zivilisatorischen Prozess dazu geführt, dass sie in vielen Ländern abgeschafft wurde, obwohl sie für viele Generationen zuvor (häufig ebenfalls klerikal befördert) eine absolute Selbstverständlichkeit und sicher auch identitätsbildend war. Die Prügelstrafe wurde im jüdischen Tanach – zum Beispiel im Alten Testament Sprüche 3,12 oder 13,24 oder 30,1–2 – und auch im christlichen Deutschland der Lutherzeit als Ausdruck elterlicher Liebe angesehen. Ihre Abschaffung zuguns-

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ten des Kinderschutzes zeigt, dass es möglich ist, einen Ausstieg aus dem transgenerationalen Zyklus der Weitergabe von Gewalt zu finden. Natürlich fällt es besonders den klerikalen Verfechtern der rituellen Beschneidung kleiner Jungen schwer, eine derartige Analogie zwischen unterschiedlichen Gewaltformen gegenüber Kindern und möglichen Langzeitauswirkungen auch nur zu denken. Nachdenklichkeit und Änderungsbereitschaft können am ehesten von innen her erfolgen, wenn die fehlende rationale Basis eines körper- und seelenverletzenden religiösen Rituals aufgrund von Widersprüchen zwischen einem sadistischen Gebot oder Gottesbild und einer zunehmend gewaltärmeren gesellschaftlichen Wirklichkeit mit der Zeit offensichtlich wird. Die Ausübung und Rechtfertigung klerikaler Gewalt über Kinderkörper sind nicht nur innerhalb des Christentums heute schwieriger geworden. Es existiert eine wachsende intensive Kritik auch an der Beschneidung nicht nur innerhalb der christlichen Kultur nordamerikanischer Prägung, sondern ebenfalls innerhalb des Judentums (Enosch, 2012; Sadeh, 2012; Segal, 2012). Dies bringen im Zusammenhang mit der rituellen Beschneidung jedenfalls zunehmend auch Mitglieder der jüdischen Community, auch in diesem Buch, zum Ausdruck. Enosch spricht von der Beschneidung als einem Akt der Vergewaltigung, Segal nennt sie einen barbarischen Akt. Dabei könnten viele seriöse Kritiker der Beschneidung diese durchaus tolerieren. Es geht ihnen ausschließlich darum, eine aus religiösen Überzeugungen für notwendig erachtete Genitalverletzung keinesfalls an nicht einwilligungsfähigen Kindern – gleich welchen Geschlechts – durchzuführen, sondern diesen Zugriff zu einem konsentierten Eingriff in einem Alter, das Einsicht und Einwilligung (oder Ablehnung) ermöglicht, zu transformieren. Eine weitere Option wäre es, das Ritual der Frühbeschneidung so weiterzuentwickeln, dass – wie zum Beispiel in der Praxis des Brit Shalom – eine nur angedeutete Symbolhandlung anstelle einer realen Verletzung des Gliedes vorgenommen wird. Medizinische Aspekte Ähnlich wie bei anderen Gesundheitsrisiken, die mit dem männlichen Geschlecht assoziiert sind (z. B. die deutlich erhöhte Suizidrate oder die um viele Jahre verringerte Lebenserwartung), bestehen auch in Bezug auf die leidvollen Aspekte der medizinisch nicht indizierten Genitalbeschneidung von Jungen eine deutlich verringerte öffentliche Anteilnahme und Aufmerksamkeit. Demgegenüber erfährt jegliche Form der rituellen Verletzung weiblicher Genitalien international eine ganz erhebliche Aufmerksamkeit und strafrechtliche Ahndung. Eine Ursache für diese Ungleichbehandlung von Kindern in Abhängigkeit von ihrem

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Geschlecht und die Ausblendung des sexuellen Gewaltaspektes bei der Genitalbeschneidung von Jungen auch in Deutschland besteht auch in der, verglichen mit einigen Formen der weiblichen Genitalbeschneidung, weniger verstümmelnden männlichen Beschneidung. Allerdings sind manche, relativ weniger verletzende – jedoch zu Recht verbotene – Varianten der weiblichen Genitalbeschneidung in ihrem traumatisierenden Ausmaß durchaus vergleichbar mit der Beschneidung des männlichen Genitales. Jedenfalls kann auch die Amputation der Vorhaut und des Vorhautbändchens im Säuglings- und Kindesalter zu erheblichen körperlichen, sexuellen oder psychotraumatischen Komplikationen und Leidenszuständen bis hinein in das Erwachsenenalter führen (Boyle, Goldman, Svoboda u. Fernandez, 2002; Frisch et al., 2011, 2013; Muula, Prozesky, Ronald, Mataya u. Ikechebelu, 2007; Okeke, Asinobi u. Ikuerowo, 2006; Taddio, Katz, Ilersich u. Koren, 1997; Weiss, Larke, Halperin u. Schenker, 2010). Die fachgerecht ärztlich durchgeführte Zirkumzision bei einem volljährigen, einwilligungsfähigen Mann aus medizinischen Gründen, aber auch aufgrund persönlicher ästhetischer, sexueller, hygienischer oder ritueller Präferenzen nach vollständiger Aufklärung über mögliche Risiken ist ethisch unproblematisch. Eine Erstattung der für die Durchführung des ärztlichen Eingriffs anfallenden Kosten durch die Krankenkassen erfolgt jedoch nur bei Vorliegen einer medizinisch begründeten Operationsindikation7. Es existiert aber kein rationaler, auch kein medizinischer Grund dafür, einem kleinen gesunden Jungen ohne dessen Einwilligung seine gesunde Vorhaut, also biologisch funktionales und hochempfindsames Körpergewebe, abzuschneiden. Trotzdem wird zur Rechtfertigung der rituellen Jungenbeschneidung eine Fülle nachgeschobener, pseudorationaler oder scheinmedizinischer Begründungen angeführt. Diese beziehen sich auf hygienische oder angebliche gesundheitliche Risiken. Ein Beispiel hierfür ist die schon erwähnte höchst tendenziöse und interessengeleitete Stellungnahme »Task Force on Circumcision« der »American Academy of Pediatrics« von 2012. Die pseudomedizinischen Begründungsfiguren besitzen häufig keine abgesicherte empirische Basis. Sie wechseln interessanterweise auch mit dem Zeitgeist. Heute nicht mehr übliche Argumentationen bezogen sich auf die gesund7

Es ist jedoch empfehlenswert, psychodiagnostische Expertise vor dem Eingriff hinzuzuziehen, wenn patientenseitig Hinweise auf eine Persönlichkeitsstörung oder körperdysmorphophobe Befürchtungen bestehen oder konfl iktneurotische und unbewusst selbstschädigende Tendenzen mitbestimmend für den Wunsch nach chirurgischen Manipulationen im Genitalbereich sein könnten. Dies könnte dazu beitragen, möglichen postoperativen Verarbeitungsstörungen und (auto-)destruktiven Eskalationen vorzubeugen (Franz, 2010; Püschel u. Cordes, 2001).

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heitsförderliche Verhütung von Masturbation, Hysterie oder Epilepsie. Sehr illustrativ – auch zum Verständnis des sexualfeindlichen Aspekts der Beschneidung – ist hier die Figur und Handlungsweise des christlich-freikirchlich erzogenen Arztes John Harvey Kellogg, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts maßgeblich und unermüdlich daran beteiligt war, in Nordamerika die bis heute – mit allerdings abnehmender Tendenz – weit verbreitete protestantische Variante der Jungenbeschneidung zu etablieren. Er begründete diese Maßnahme mit sexualhygienischen Argumenten, die sich insbesondere auf die Verhinderung der kindlichen Masturbation richteten. Heimliche Masturbation sah er als zentrale Ursache zahlreicher Krankheiten an (Kellogg, 1877) und empfahl deshalb zu ihrer Verhinderung die Beschneidung dezidiert ohne Schmerzbetäubung. Kellogg war offensichtlich sexualneurotisch schwer beeinträchtigt, er vermied lebenslänglich den Geschlechtsverkehr mit seiner Frau und ließ sich ersatzweise tägliche Klistiere verabreichen. Möglicherweise übertrug er eigene sexuelle Ängste in sein pseudomedizinisches Lehrgebäude. Es ist bemerkenswert, dass die bei der (Er)Findung von angeblichen medizinischen Vorteilen der rituellen Frühbeschneidung aufgebrachte Akribie und Kreativität durch eifrige Befürworter der Beschneidung die Bemühungen um Einfühlung in die Ängste und Risiken des Kindes bei Weitem übersteigen. Die biologische Bedeutung des Vorhautgewebes für die sexuelle Funktion und Empfindungsfähigkeit wird von den Verfechtern der Beschneidung dabei einfach verleugnet, wenn die Vorhaut des Jungen zu einem überflüssigen, störenden, ja sogar krankmachenden Stück Haut erklärt wird. Dies sind phantasmatische Konstruktionen, die Risiken der Beschneidung sind Realität. Angeführt werden heutzutage als angebliche medizinische Vorteile der Beschneidung die Vorbeugung von (sehr seltenen) Entzündungen der kindlichen Harnwege (vgl. hierzu den eingehenden Beitrag von Kupferschmid in diesem Buch) und von (extrem seltenen und erst in höherem Alter auftretenden) Peniskarzinomen. Die Erkrankungswahrscheinlichkeiten sind hier allerdings so gering, dass sie unterhalb der Komplikationsrate des Beschneidungseingriffs liegen (Stehr, Schuster, Dietz u. Joppich, 2001; Kupferschmid in diesem Buch). Diesem argumentativen Niveau entspräche die Forderung einer präventiven Amputation der weiblichen Brust bei einem Mädchen, um den noch viel häufigeren Brustkrebs zu verhüten. Angeführt werden auch bessere hygienische Verhältnisse nach Zirkumzision. So argumentierende Beschneidungsbefürworter und Kleriker scheinen erstaunlich wenig Vertrauen in die selbstverantwortlichen Reinigungsabsichten ihrer Glaubensbrüder zu setzen. Im Übrigen ermöglichen heutige Standards eine effektive Genitalhygiene auch ohne operativen Eingriff.

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Weiterhin wird auf die durch die Zirkumzision möglicherweise erschwerte Übertragung sexuell übertragener Infektionen (z. B. HIV, Herpesviren, Syphilis, Gonorrhoe oder humane Papillomviren) verwiesen. Diese Thesen besitzen zumeist keine wirklich abgesicherte empirische Basis (Alanis u. Lucidi, 2004; Stehr et al., 2001). Wahrscheinlich besteht eine übertragungshemmende Wirkung der Zirkumzision bezüglich ulzerierender Genitalinfektionen (Alanis u. Lucidi, 2004, Gray et al., 2009) und hinsichtlich pathogener humaner PapillomvirenVarianten (Gray et al., 2010; Serwadda et al., 2010; Tobian et al., 2009; Viscidi u. Shah, 2010) sowie am besten gesichert für das AIDS-Virus (HIV) in Hochrisikogruppen (Siegfried, Muller, Deeks u. Volmink, 2009). Als ursächlich hierfür werden eine hohe Empfänglichkeit der CD4-Rezeptoren der Langerhans-Zellen des inneren Vorhautblatts für HI-Viren sowie das feuchte Präputialmilieu und dortige Mikroläsionen angenommen. Es liegen drei große Bevölkerungsstudien zur HIV-Infektionsprophylaxe mittels Zirkumzision vor, die prospektiv, kontrolliert und randomisiert an jugendlichen und erwachsenen heterosexuell orientierten Männern aus Südafrika, Uganda und Kenia durchgeführt wurden (Auvert et al., 2006; Bailey et al., 2007; Gray et al., 2007; Siegfried et al., 2009). Es zeigte sich eine relative Reduktion der Rate der Neuinfektionen zwischen 38 % und 66 % innerhalb von zwei Jahren in der Interventionsgruppe im Vergleich zur unbeschnittenen Kontrollgruppe. Die Komplikationsrate der Zirkumzision lag zwischen 1,7 % und 7,6 %. Allerdings können diese Studien argumentativ nicht zur Rechtfertigung einer generellen oder rituellen Beschneidung sexuell ja noch gar nicht aktiver fünf- bis siebenjähriger Jungen oder gar Neugeborener herangezogen werden, auch da das Alter der jüngsten in die Stichprobe eingeschlossenen Jugendlichen bei 15 Jahren lag. Außerdem kann das Abschneiden der Vorhaut nicht als hinreichend wirksame Präventionsmaßnahme zur Vorbeugung von HIV-Infektionen angesehen werden (Hallett et al., 2011). Kondome schützen weitaus zuverlässiger vor einer Infektion mit sexuell übertragbaren Krankheiten. Den Gebrauch von Kondomen lehnen Beschnittene jedoch nicht selten als erregungsmindernd ab, da die sexuelle Empfindsamkeit ihres Gliedes ohnehin häufig infolge der Beschneidung eingeschränkt ist (Bronselaer et al., 2013). Aus objektiven medizinischen Gründen ist etwa bei 4 % aller Jungen eine Zirkumzision gerechtfertigt. Häufig kann diese und die damit verknüpfte Kastrationsangst aber auch durch alternative Behandlungsverfahren vermieden werden (Yilmaz, Batislam, Basar u. Basar, 2003). Indikationen sind bis über die Pubertät hinaus anhaltende und behindernde Vorhautverklebungen, chronischentzündliche Balanoposthitiden, Balanitis xerotica obliterans, Lichen sclerosus, schmerzhafte oder behindernde Vorhautverengungen, hierdurch bedingte Miktionsstörungen und lokale Entzündungen sowie Harnwegsinfekte auf der

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Grundlage von gravierenden urologischen Erkrankungen (Stehr et al., 2001). Zusätzlich zu einer medizinischen Behandlungsindikation muss nach umfassender Aufklärung über die Risiken des Eingriffs eine Einwilligung entweder des juristisch einsichts- und einwilligungsfähigen Betroffenen selbst oder der elterlichen Sorgeberechtigten vorliegen. Mögliche Komplikationen auch der medizinisch korrekt unter sterilen Bedingungen und mit Narkose oder Anästhesie chirurgisch durchgeführten Vorhautbeschneidung sind Nachblutungen, eine postoperative Narbenstenose, venöse Knoten der Penishaut, narbige Verwachsungsstränge zwischen Eichel und anschließender Haut des Penisschaftes mit dem Risiko von Erektionsbehinderungen und Entzündungen und der Notwendigkeit weiterer operativer Revision, Erektionsbehinderung durch ein verkürztes Frenulum, versunkener Penisschaft durch zu ausgiebige Resektion der Penisschafthaut, lokale Wundheilungsstörungen mit Gewebeverlust bis hin zur Gangrän, Wundinfektionen, Sepsis, unbeabsichtigte (Teil-)Amputationen der Eichel oder des Penisschaftes, Verengungen der Harnröhrenmündung an der Eichel (besonders häufig nach der Neugeborenenbeschneidung), Harnröhren-Fistelbildung, sich entwickelnde sexuelle Sensibilitätsverluste im Bereich der unbedeckten Eichel. Die Häufigkeit postoperativer Komplikationen unter Beachtung medizinischer Standards wird mit etwa 2 % der Fälle angegeben (Stehr et al., 2001). Anderen Untersuchungen zufolge schwanken die Komplikationsraten zwischen 0 % und 16 % in Abhängigkeit von der Erfahrung und den professionellen Bedingungen (Weiss et al., 2010) bis hin zu 24 % (Muula et al., 2007). Darüber hinaus bestehen Risiken bedingt durch Narkosezwischenfälle bis hin zu irreversiblen Gehirnschäden und Tod. Todesfälle durch Herpesinfektionen von Neugeborenen wurden auch nach rituellen orthodox-jüdischen Beschneidungen entsprechend der Metzitzah B’peh beschrieben. Die Virusübertragung erfolgte in diesen Fällen, weil ein Mohel als infektiöser Überträger das Blut vom Glied des beschnittenen Neugeborenen mit seinem Mund abgesaugt hatte (Gesundheit et al., 2004). Weiterhin sind je nach Alter, Betroffenheit und Miterleben des Kindes auch psychotraumatische Beeinträchtigungen mit leidvollen Folgen für die sexuelle Beziehungsfähigkeit möglich, wie dies der eingangs dargestellte Fallbericht demonstriert. Die Beschneidung im Islam Deshalb soll hier noch genauer auf die Bedeutung des Zeitpunktes der männlichen Genitalbeschneidung eingegangen werden. Von der fortgesetzten Gewaltzeugenschaft durch die Beobachtung beschneidender Erwachsener sind zwar Kinder im islamischen wie im jüdischen Kulturkreis betroffen. Die jüdische

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Tradition der Beschneidung des neugeborenen Kindes am achten Lebenstag hat jedoch für die Einschreibung in das implizite körperliche Schmerz- und Angstgedächtnis andere entwicklungspsychologische Konsequenzen als die Beschneidung von Jungen im Alter von etwa fünf bis sieben Jahren, wie sie in weiten Bereichen des Islam praktiziert wird. Das Kind in dieser – von Freud als ödipale Phase bezeichneten – Entwicklungsstufe verfügt im Gegensatz zum Neugeborenen über eine recht differenzierte Wahrnehmung von Beziehungen, Fakten und Kausalität von Vorgängen in seiner Umgebung. Andererseits ist es aber auch noch bestimmt von kindlichtriebhaften Fantasien, Grandiosität, magischem Denken und frühen Ängsten, die es auf den empathischen Schutz durch kompetente und Sicherheit gebende erwachsene Bezugspersonen angewiesen sein lassen. Gegenüber aggressiven Zumutungen und Übergriffen – gerade durch diese Bezugspersonen – ist das Kind immer ein ohnmächtiges und passives Opfer. Um innerhalb dieser für sie lebensnotwendigen Beziehung überhaupt existieren zu können und um die Beziehung zu ihren Bindungs- und Bezugspersonen nicht zu gefährden, passen sich Kinder aus Loyalität auch an neurotische Bedürfnisse oder destruktive Verhaltensweisen ihrer Eltern an. Kinder geben sich eher selbst die Schuld und sehen sich eher selbst als Anlass elterlicher Entgleisungen als ihre Bezugspersonen für deren Verhalten zu kritisieren, weil die große Abhängigkeit von diesen ihnen hierfür gar keinen Raum lässt. Dieser auf lange Sicht selbstschädigende Viktimisierungsprozess dient letztlich dem Schutz der Elternpersonen, auch und sogar gerade dann, wenn diese das Kind als Aggressoren schädigen. Diese Verhaltensmuster können verinnerlicht werden und erhöhen dann im späteren Leben das Risiko für Wiederholungshandlungen (Wöller, 2005). Sie erschweren und verlängern aufgrund ihrer Stabilität häufig auch psychotherapeutische Behandlungsprozesse. Diese Zusammenhänge sind aufgrund zahlreicher Studien gut belegt. Kinder lassen aus Bindungstreue fast alles, bis hin zu inzestuösem Missbrauch, mit sich machen, wenn es ihre Bezugspersonen von ihnen fordern. Ihnen zuliebe simulieren Kinder sogar noch Zustimmung zum Schrecklichen, wenn sie bemerken, dass ihre Bezugspersonen auch dies noch benötigen. Ihre Einsamkeit ist dann unvorstellbar. Diese Zusammenhänge sind grundsätzlich auch bedeutsam für das traumatische Erleben der eigenen Beschneidung auf dem Höhepunkt der phantasmatisch und von großen Ängsten um das eigene Genitale bestimmten Konsolidierungsphase der sexuellen Identitätsentwicklung des Jungen im Alter von etwa fünf bis sieben Jahren. Generell aber unterliegt die öffentliche Thematisierung problematischer Aspekte der rituellen Beschneidung des Gliedes in diesem Kindesalter bis

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heute – auch innerhalb des Islam – einer erstaunlichen Zurückhaltung. Es fehlt weitgehend jegliches Problembewusstsein. Die Verschwiegenheit oder das rationalisierende Herunterspielen und Kleinreden schädlicher Folgen dieses unreflektiert praktizierten, traumatischen Rituals ist im Hinblick auf die Beschneidung der weiblichen Genitalien mittlerweile durchbrochen worden. Dabei könnte aus entwicklungspsychologischer Sicht die rituelle Jungenbeschneidung und die daran geknüpften und später verdrängten Kastrationsängste eine kollektiv wirksame sexualtraumatische Erfahrung darstellen, die besonders in patriarchalisch geprägten Kulturen eine Ursache für die beobachtbare starke soziale Kontrolle im sexuellen Bereich (z. B. Geschlechtertrennung, erzwungene Ehestiftungen, starke Sanktionierung des Ehebruchs) und der Kontrolle der Frau (Verhüllung zur Vermeidung aufreizenden Verhaltens, tendenzielle Beschränkung auf den häuslichen Bereich, Beaufsichtigung durch männliche Verwandte) sein könnte. Die Zurüstung der Jungen für das islamische Beschneidungsritual besteht häufig in ihrer demonstrativ überbetonten Ausstaffierung mit phallischen Attributen. Die Jungen, die sich nicht immer freiwillig oder gar freudig diesem Eingriff unterziehen, treten entweder einzeln oder auch in Gruppen während dieser von der Familie oder Gemeinde oft festlich ausgestalteten Zeremonie auf – manchmal als kleine Sultane, Generäle oder soldatische Kämpfer mit entsprechender Bewaffnung verkleidet. Der Gewaltaspekt unterliegt dabei wiederum einer ganz erstaunlichen Verleugnung. Er wird kleingeredet und rationalisiert als Männlichkeitsritus durch die Ausstaffierung des kleinen Jungen (der ja noch in keiner Weise an der Schwelle zum Mannesalter steht) mit hypermaskulinen Attributen und Kostümierungen. Ihnen werden häufig große Geschenke versprochen und es wird ihnen zugesagt, dass sie nun ja bald zu einem richtigen Mann werden würden. Manche Kinder erfahren aber überhaupt nicht, was ihnen bevorsteht. Die Festgemeinde der Erwachsenen begleitet den Vorgang vielleicht auch noch mit einer eindrucksvollen Kulisse aus Freudengesängen und Tänzen, deren manipulativer Macht sich ein Kind im Vorschulalter nicht entziehen kann. Aber auch bei der islamischen Beschneidung handelt es sich um eine durch traditionelle Forderungen motivierte rituelle Veranstaltung letztlich zur Befriedigung der Bedürfnisse von Erwachsenen auf Kosten des Kindes. Das Kind übernimmt in diesem Ritual jedenfalls die Rolle eines passiven Opfers – mit möglichen körperlichen und seelischen Langzeitfolgen. Man gebe sich keinen Illusionen hin. Ein nicht geringer Teil der so manipulierten Jungen wird diese Manöver intuitiv durchschauen. Ein Teil wird die verdrängten eigenen kindlichen Affekte, die impulsive abwehrgetriebene Übersteuerung im Affektausdruck der Feiernden und die Unsicherheit der betei-

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ligten Erwachsenen spüren und Vertrauen in die Behauptungen von Erwachsenen verlieren. Viele Jungen wissen ja genau, dass sie eben nicht zu einem richtigen Mann werden, sondern ein Kind bleiben, wenn auch ein beschnittenes. Und viele Jungen spüren vielleicht auch, dass sie hier mitspielen müssen, um die unbewussten Wünsche der Erwachsenen zu erfüllen. Ein Blick in die Gesichter vieler dieser Jungen während der Beschneidungsprozedur zeigt Verunsicherung, Aufruhr und Schrecken, der im Gefühlsleben einiger dieser Jungen wohl auf Dauer konserviert wird. Die potenziell traumatische Wirkung dieses Rituals mag in patriarchalischen Gesellschaften eine funktionale Stabilisierung der Machtstrukturen bewirken. Aus psychoanalytischer Sicht erfolgt eine definitive Klarstellung hierarchischer Bezüge. Aus dieser schmerzhaften Machtdemonstration resultiert eine autoritätsgeneigte Disposition zu einer starken patriarchalischen Loyalität (um nicht noch weitergehend beschädigt zu werden), die im Einzelfall von machtorientierten Führerpersonen auch ausgenutzt werden kann. Die genitale Beschneidung des Jungen auf dem Höhepunkt der infantilen Sexualentwicklung bringt jedenfalls besondere Entwicklungsrisiken mit sich. Die Beschneidung wird von vielen Jungen, die emotional in dieser Altersphase zunehmend auf ihre Genitalität und männliche Rolle zentriert sind, wie eine Sanktions- oder Kastrationsdrohung erlebt. Der schmerzlich-traumatische Eingriff erfolgt unverstellt, bewusst wahrnehmbar und unter direktem Zugriff auf den libidinös und narzisstisch hoch besetzten Genitalbereich. Diese rituell erzwungene Gewalterfahrung im sexuellen Intimbereich wird bis heute von fast allen Jungen des islamischen Kulturkreises durchgemacht. Die eingangs erfolgten kulturgeschichtlichen Betrachtungen zur Genese und Funktion des Beschneidungsrituals im Sinne der patriarchalischen Trieb- und Aggressionskontrolle sind dabei zu trennen von der modernen Perspektive, die heute einzunehmen ist, wenn es um die möglichen Folgen der Beschneidung für die betroffenen kleinen Jungen und deren psychosexuelle Entwicklung geht. Die möglichen Langzeitfolgen einer etwa im Vorschulalter erlebten einschneidenden Gewalterfahrung für das erwachende männliche Identitätsgefühl und Rollenverhalten des Jungen liegen eigentlich offen zutage. Hier greift nun wirklich die von Freud beschriebene ödipale Szenerie aus sexuell-ödipalem Triebwunsch des Jungen in Bezug auf die geliebte und umworbene Mutter und dessen Sanktion durch die Kastrationsandrohung. Durch die von den Eltern des Kindes gewollte und dann auch noch real vollzogene Beschneidung kann es zur Internalisierung der Gewalt kommen, gefolgt von der trotzigen Unterordnung unter die bedrohliche väterliche Autorität und zu einer tiefen Enttäuschung am Verrat der zuvor als liebevoll, zärtlich oder auch verführerisch erlebten Mutter.

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Schließlich resultiert eine prononcierte Identifikation mit den aggressiven und maskulin-patriarchalischen Aspekten der männlichen Rolle und Ehre, verbunden mit den entsprechenden latenten Ängsten hinsichtlich deren Gefährdung. Die Identifikation mit dem schneidenden väterlichen Aggressor kann sich auch in der Ausbildung eines hochkränkbaren männlichen Ehrbegriffes niederschlagen, der im späteren Leben insbesondere bei impliziter Thematisierung des Beschnittenwordenseins eine heftige, auch aggressive narzisstische Stabilisierungsreaktion bewirken kann, um so die Wiederbewusstwerdung eigener realtraumatisch erlittener Kastrationsängste abzuwehren. Handeln im Tätermodus erspart dann das Erinnern im Opfermodus. Aus tiefenpsychologischer Sicht erscheint die im fundamentalistischen Islam und im radikalislamistischen Bereich bis heute propagierte Trias aus phallischer Demonstration, rigider Kontrolle der weiblichen Sexualität und dem Interesse an verstümmelnden Strafmaßnahmen jedenfalls bemerkenswert. Die auf die erlittene Beschneidung bezogene Angst kommt nach der Identifikation des Opfers mit dem eigentlichen Aggressor als reinszenierender Schnitt – dann aber am anderen – zur Darstellung. Gewalthandlungen und schneidende Gewalt sind natürlich nicht spezifisch für »den Islam«. Dies wäre eine unzulässige und unzutreffende Generalisierung. Archaisch-gewalttätige Elemente wie die Hexenverbrennung oder auch die Ausübung schneidender Gewalt während der Inquisition, der europäischen Religionskriege und der Kreuzzüge sind auch im christlichen Kulturkreis historisch unübersehbar vorhanden. Jedoch scheint schneidende Gewalt gegen Menschen auch heute noch besonders in islamischen Gruppen und Ländern8 kulturell akzeptiert zu sein und in akzentuierter Weise zur Darstellung zu kommen. Dies wird in der Überbetonung männlicher Attribute, der männlichen Fixierung auf die in der Öffentlichkeit demonstrativ getragene Klinge, im emotional unkontrollierten, demonstrativen Abfeuern von Schusswaffen in der Öffentlichkeit, in der heraldischen Abbildung von Säbeln in Nationalfahnen oder auch im Rahmen religiöser Traditionen fassbar. Beispielsweise das blutig-

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Das manipulative Spiel mit residualen Beschneidungsängsten kann auch politisch genutzt werden, wenn zum Beispiel von demokratisch nicht legitimierten Machthabern angesichts wachsender Systemkritik verkündet wird, dass man jeden Finger abschneiden werde, der das eigene Königreich berühre. Derartige metaphorische Codes werden von im Kindesalter genital beschnittenen Männern wahrscheinlich intuitiv wie intendiert so auch verstanden; insbesondere, wenn im Kontext darauf hingewiesen wird, dass regierungskritische Demonstrationen unislamisch seien und dem Koran wie auch der Sunna widersprächen (Alexander, 2011). Wenn das noch nicht genügt: Ein Blick auf das Schwert in der Nationalflagge gibt weitere Hinweise.

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ekstatische Schneideritual während der schiitischen Aschura9 wird unter dem Aspekt der Opferidentfikation vielleicht auch für Außenstehende verständlich als eine reinszenierende Überkompensation von Männern, die schon als Jungen durch schneidende Gewalt real und blutig traumatisiert worden sind. Die öffentliche Normalisierung schneidender Gewalt von Kindheit an, der intensive Einsatz verstümmelnder Körperstrafen (Abschneiden von Fingern, Händen, Köpfen), der in einigen arabischen Ländern noch offen getragene Dolch – dies alles erwächst, als wiederholende Vergeltungstendenz, möglicherweise auch aus einer früh und traumatisch erfahrenen eigenen Genitalbeschneidung sowie deren andauernder ritueller Reinszenierung an den heranwachsenden Jungen der Bezugsgruppe. Auch die möglichen Folgen für das resultierende Frauenbild des männlichen Erwachsenen erscheinen zumindest plausibel. Der Aspekt einer in der Öffentlichkeit weithin rigide reglementierten weiblichen Sexualität ist im islamischen Kulturkreis offensichtlich. Gestiftete Zwangsehen, die Verschleierung und das Verbergen der Frau vor den Blicken der Öffentlichkeit, öffentlich tolerierte Gewalt gegen Frauen im Extremfall in Form archaischer »Ehrenmorde« bei Verselbstständigungsversuchen junger Frauen, ja auch deren genitale Beschneidung lassen auf ein tief verankertes Bedürfnis nach Abwehr und Kontrolle weiblichsexueller Reize in der Öffentlichkeit und auf die Abwehr einer selbstbestimmten weiblichen Sexualität schließen. Es entsteht der Eindruck einer als Bedrohung und Gefahr erlebten sexuellen Weiblichkeit, wenn das Verbergen des weiblichen Kopfhaares, des Gesichtes oder des ganzen Körpers mitunter auch unter Androhung von Gewalt erzwungen wird. Aus psychodynamischer Sicht könnte hierfür die tiefe Enttäuschung über die den Jungen zunächst idealisierende und darum besonders verführerische Mutter mitursächlich sein. Diese Mutter verehrte zu Hause unverschleiert den in einer patriarchalischen Kultur besonders erwünschten und für das Selbstwertgefühl der Mutter deshalb auch hoch bedeutsamen Jungen. Andererseits aber lässt sie auf dem Höhepunkt seines ödipalen Begehrens dessen traumatische Beschneidung an zentraler Stelle zu. Die Mutter stellt für den Jungen nicht nur die frühe zentrale Bindungsperson dar, sondern sie wird vom ihm etwa im Vorschulalter auch hinsichtlich ihrer weiblichen Attribute durchaus wahrgenommen und begehrt. Diese frühen zärtlichen Gefühle für die Mutter können (und sollen?) durch die traumatische Beschneidung abrupt beschädigt werden, was 9

Durchgeführt zur Erinnerung an den in der Schlacht von Kerbela im Jahr 680 getöteten Husain ibn Ali, einen Enkel des Propheten Mohammed (Bildergalerie in Die Welt Online, Ashura Ritual, 2009).

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wiederum aus Sicht des Jungen wie eine schwere Bestrafung oder Enttäuschung erlebt werden kann. Verschärft wird dieser Beziehungs- und Vertrauensbruch häufig noch, wenn der zärtliche Umgang zwischen Mutter und dem zuvor idealisierten Sohn nach dessen Beschneidung plötzlich als nunmehr unangemessen verpönt wird. Das heißt, dass in dieser Entwicklungsphase das eigentlich spielerische kindlich-libidinöse Begehren des Jungen in patriarchalisch-erwachsener Weise (zu) ernst genommen und traumatisch sanktioniert wird, sodass sexuelles Begehren auch später noch mit Gewaltaspekten, erheblichen Schuldgefühlen und Ängsten assoziiert bleibt. Ein Beispiel für diese Zusammenhänge gibt der eingangs geschilderte Fallbericht. Der resultierende, zumeist unbewusste Hass auf die verführerische, aber dennoch traumatisierend-verräterische Mutter könnte im Weiteren zu einer paranoiden Kontrolle und Verachtung der als bedrohlich erlebten sexuellen Frau beitragen, da der übermächtige Kastrator nicht belangt und nur per Identifikation in der Wiederholung neutralisiert werden kann. Die tiefe seelische Verletzung und Bedrohung der männlich-sexuellen Identität kann zu den erwähnten späteren männlichen Überkompensationen, zu einer tiefgründigen Distanz gegenüber der Mutter, die dies alles zulassen konnte, und in der Folge zu einem Groll gegen Frauen im Allgemeinen beitragen. In diesem Zusammenhang sind auch entsprechende Vergeltungsmotive zu vermuten, wenn beispielsweise in einigen islamischen Ländern des mittleren Ostens unverhüllt sichtbar getragener weiblicher Körperschmuck als gefährliche Verführung mit massiven Strafen geahndet wird. Eine gewalttätige und möglicherweise von Vergeltungsmotiven getragene Kontrolle des weiblichen »Verführungspotenzials« wird durch die dargestellte Perspektive auf das kindliche Beschneidungstrauma vielleicht etwas verständlicher. Diese Auffälligkeiten lassen sich aus psychoanalytischer Sicht zumindest teilweise also auch als Langzeiteffekte sexueller Traumata und unbewusster Triebkonflikte verstehen. Die Psychoanalyse betont seit ihren Anfängen den Zusammenhang zwischen prägenden kindlichen Sexualkonflikten bzw. Traumatisierungen und sexualpathologischen Erlebnis- und Verhaltensweisen Erwachsener. Auch aus der modernen neurowissenschaftlichen und epidemiologischen Forschung wissen wir heute sehr viel über die große Stabilität und spätere Verhaltenswirksamkeit verinnerlichter kindlicher traumatischer Erfahrungen. Fallbeispiele Die dargestellten Zusammenhänge sind in Teilen spekulativ, sie lassen sich aber im Sinne kasuistischer Evidenz belegen. Eine systematische Forschung zu die-

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sem Themenbereich findet jedoch erstaunlicherweise noch nicht statt. Einige Fallbeispiele sollen nun die möglichen psychotraumatischen Langzeitfolgen der männlichen Genitalbeschneidung im Kindesalter illustrieren. (1) Eine konservierte traumatische Kastrationsangst eines der Flugzeugattentäter des 11. September, der in Form des Anschlags seinerseits eine hasserfüllte ultimative Kastration inszenierte, könnte in einer erhalten gebliebenen testamentarischen Verfügung zum Ausdruck kommen. Der radikalislamistische Flugzeugattentäter Atta verfügte nicht nur, dass auf seiner Beerdigung keine Frau anwesend sein solle. Er forderte darüber hinaus, bei offensichtlicher Verleugnung der physischen Folgen seines Flugzeugattentats für ihn selbst, die Aussparung der Genitalregion bei der Leichenwäsche – vielleicht, um nicht wieder verletzt zu werden, während sich sein Körper in einer hilflosen Lage befindet (Der Spiegel, 2001). Eine durch ihren Machtanspruch phallisch dominierende und gleichzeitig (sexuell) libertinäre und verführerische Metropole wie New York könnte auch vor einer solchen unbewussten Motivationskulisse ein ideales Ziel für einen rächenden Vernichtungsangriff darstellen. (2) Die in der religionsgeschichtlichen Latenz hinter der genitalen Beschneidung nachwirkende Kindesopferung wird kollektiv wiederholend leichter ausagiert, wenn gesellschaftliche Ohnmacht, Unterdrückung und Hilflosigkeit sich mit der empfundenen Bedrohung der gruppalen Identität verbinden und zur Verherrlichung des Märtyrertodes und Opferung von mit Sprengsätzen ausgestatteten Kindern und Jugendlichen führen. In israelischen Polizeiberichten über palästinensische Selbstmordattentäter fand sich die zunächst unverständlich wirkende Beschreibung eines bemerkenswerten Genitalbefundes. Mehrere für Anschläge mit Sprengstoffgürteln ausgestattete junge Männer umwickelten ihr Glied mit Zellstoffpapier, worüber sich der israelische Geheimdienst in belustigten Kommentaren mokierte: Man wolle wohl dafür sorgen, dass man als Märtyrer nach der Himmelfahrt den wartenden Jungfrauen an entscheidender Stelle unversehrt gegenübertreten könne (Follath, 2006). Aus psychotraumatologischer Sicht könnte es sich um den inszenierten Bewältigungsversuch einer in patriarchalischer Loyalität erlittenen Todesangst vor dem Selbstmordattentat bzw. um eine unter diesen Bedingungen reaktualisierte kindliche Kastrationsangst handeln: Das (wieder) bedrohte Glied ist nun schon verbunden und damit ist das Schlimmste – wie damals nach der Beschneidung – bereits überstanden. Es wird somit nicht zur ultimativen Kastration kommen. Auch in diesem wie im ersten Beispiel werden Fakten, nämlich die physischen Folgen der Explosion, für den Körper ganz offensichtlich verleugnet. Derartige dissoziative Brüche in der Realitätswahrnehmung sind angesichts großer – aktueller und kindlich erlebter – Gefahren keine Seltenheit.

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(3) In einer 1969 nach Deutschland gekommenen türkischen Migrantenfamilie wird 1973 das jüngste männliche Kind geboren. Der Junge wächst in der Herkunftsfamilie mit einem sehr strengen und gewalttätigen Vater auf. Der Vater wird schließlich 1986 in die Türkei ausgewiesen, als der Sohn 13 Jahre alt ist. Die Mutter ist mit der Erziehung zunehmend überfordert, als der Sohn in den nächsten Jahren in kriminelle Drogenkreise und wiederholt in Haft gerät. Beide Eltern werden 1997 in der Türkei von einem älteren Bruder ermordet. Mit 19 Jahren, nach den ersten Niederlagen und Zurückweisungen durch gleichaltrige Frauen, hat der junge Mann 1992 nach einer Schlägerei den Eindruck, dass seine Nase schief im Gesicht sitze. Er konsultiert in der Folge mit zunehmend rigiderer Überzeugung, dass mit der Nase »etwas nicht stimme«, zahlreiche Ärzte. Schließlich erwirkt er ohne eigentliche Indikation eine Nasenoperation, in der die Nase gerichtet werden soll. Diese Operation hatte nach Ansicht des Patienten nicht den gewünschten Erfolg. Im Gegenteil verfestigt sich bei ihm die Überzeugung, dass der Befund nur noch schlimmer geworden sei, die Verunstaltung noch zugenommen habe. Es folgt ein langer, vom Patienten mit viel destruktiver Intelligenz und Anspruchsdenken geführter Kampf um eine weitere Nasenoperation. Schließlich verspricht ihm eine attraktive Oberärztin einer südwestdeutschen HNO-Klinik lächelnd, dass sie ihn »wieder schön« machen werde. Es kommt zur Operation und wiederum zu einer Katastrophe. Der Patient ist vom Ergebnis entsetzt und sieht in der Verunstaltung seiner »verschnittenen« Nase nun die eigentliche Grundursache für sein gesamtes soziales Scheitern. Er beschließt sich zu rächen und besorgt sich im kriminellen Milieu eine Pistole. Im Folgenden malt er sich aus, wie er die Ärztin, die weiteren Kontakt mit ihm ablehnt und keine weitere OP-Indikation gegeben sieht, damit bedroht. Er weidet sich dabei an der Vorstellung ihrer Angst und daran, wie ihr blitzendes und vielversprechendes Lächeln in seinen Gedanken erstirbt. Er beschimpft sie in seinen Rachefantasien als Ratte und fragt sie – kurz bevor er sie in diesen Tagträumen auch erschießt –, ob sie in der Nacht nach seiner Operation einen besonders heftigen Orgasmus erlebt habe. Dann beschließt er im Alter von 26 Jahren, seine Fantasien umzusetzen, und betritt die Klinik, wartet dort auf die Ärztin. Es erscheint aber der Chefarzt, da die Oberärztin Urlaub hat. Der Patient steht auf, geht auf ihn zu und feuert seine Pistole ab. Er trifft den Chefarzt, der erste Schuss dringt in den Nasenrücken des Opfers ein, zwei weitere treffen den zusammenbrechenden Mann in Kopf und Hals. Er stirbt wenig später auf der Intensivstation. Der Täter wird nach seiner schnell erfolgten Verhaftung wegen Mordes zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt.

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Den Gerichtsakten zufolge diagnostiziert ein psychiatrischer Gutachter eine Dysmorphophobie und attestiert volle Schuldfähigkeit. Nach einigen Jahren im Gefängnis kommt es bei dem sehr schwer zu führenden und immer wieder mit Autoritäten hadernden Gefangenen zu einem lebensbedrohlichen Angriff auf einen Mitgefangenen unter der Dusche. Der Täter führt diesen Angriff mit einem aus Rasierklingen gebastelten Schneidewerkzeug aus und verletzt einen Mitgefangenen an der Halsschlagader. Die Rasierklingen hatte er sich zuvor zur Rasur im Genitalbereich erbeten. Gut zwei Jahre später, an einem Jahresende, erhängt er sich in der Haft. Man kann vermuten, dass es sich bei der Fixierung dieses destruktiv narzisstisch und hochaggressiv agierenden Mannes auf seine verschnittene Nase, die er als Ursache allen Übels – und ebenfalls als ursächlich für die sexuellen Zurückweisungen durch unerreichbare, aber verführerische Frauen – erlebt, um die Verschiebung und Reaktualisierung eines Beschneidungstraumas handelt. Die Rache für seine ödipale und wohl auch narzisstische Zurücksetzung im Rahmen der Beschneidung und für analog erlebte weitere Niederlagen gilt sowohl der verführerischen, schuldigen Frau (Oberärztin) als auch der schneidenden männlichen Autorität (Chefarzt). Die sexuelle Aufladung der Mordszene und der assoziierten Fantasien ist unverkennbar. Die Rache trifft schließlich nicht die ödipal verführerische Mutter (repräsentiert durch die Oberärztin), sondern den Chef-Kastrator an entscheidender Stelle. Eine Analogie zur Mordhandlung an den realen Eltern des Patienten drängt sich auf; diese wurde von dem Bruder mit einem Messer durchgeführt. Über die genauen Umstände der Beschneidung des Täters war leider nichts Genaues zu erfahren. Lediglich, dass diese im typischen Alter unter unklaren Umständen nicht in Deutschland, sondern extra in der Türkei, wohl bei einem Dorffriseur, durchgeführt worden sei. Es erscheint jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass hinter der dysmorphophobischen Fixierung des Täters auf die Rolle seiner verunstalteten Nase als Ursache aller Misserfolge und zunehmender Hilflosigkeit im Sinne einer Verschiebung auch beschneidungstraumatische Aspekte, die in einem gewalttätigen Familienmilieu nicht zu verarbeiten waren, wirksam sind. Diese inszenieren sich dann in entsprechenden Vernichtungsfantasien und der narzisstisch-rächenden Symbolik einer in ihrer Ausgestaltung hochspezifischen Tötungshandlung. (4) Ein 40-jähriger Patient, aufgewachsen im Iran, lebt mit einer deutschen Frau verheiratet zusammen. Er sucht aufgrund depressiver Beschwerden und schwerer sexueller Funktionsstörungen psychotherapeutische Hilfe auf. Befriedigender Verkehr sei ihm nicht mehr möglich. Er berichtet im Interview von seiner traumatischen Beschneidung in der Kindheit. Er sei trotz seiner großen kindlichen Angst vom Vater hierzu gezwungen worden. Es habe große Ver-

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sprechungen gegeben, was alles passiere, wenn er sich »zum Mann« machen lasse. Er habe sich noch in der Situation selbst massiv gewehrt und sich nach dem ersten Schnitt aus dem Stuhl herausgewunden, sei schreiend und blutend davongelaufen, jedoch wieder eingefangen worden. Die Beschneidung sei unter körperlichem Zwang zu Ende gebracht worden. Der bei diesen Schilderungen äußerst angespannt wirkende Patient kann ein Psychotherapieangebot nicht annehmen – möglicherweise befürchtet er, im psychotherapeutischen Prozess und aufgrund der mit diesem einhergehenden Abhängigkeit vom männlichen Therapeuten wieder verletzt zu werden. (5) Ein türkischstämmiger, beruflich sehr erfolgreicher Mann sucht wegen schwerer partnerschaftlicher Störungen stationäre psychotherapeutische Hilfe auf. Er wird von einer attraktiven Stationsärztin (ebenfalls türkischer Abstammung) behandelt. Er träumt unter großen Ängsten, dass ihm vom männlichen Chefarzt ein Arm abgeschnitten wird. Wiederum offensichtlich ist die typische Konstellation der verführerischen Frau, die sich dem Patienten (wie die Mutter) auch körperlich nähert, und der als bedrohlich kastrierend fantasierten Vaterautorität des Chefarztes. Es wird deutlich, wie hoch sanktioniert und überdeterminiert sexuelle Reize und Impulse aus der ödipalen Perspektive des Jungen im Patienten wahrgenommen werden. (6) Ein 34-jähriger türkischer Patient, Industriemechaniker, keine Kinder; die untypischerweise erst jetzt, also in relativ fortgeschrittenem Alter, geplante Heirat steht nun kurz bevor. Er lebt mit seiner Partnerin seit einem Jahr zusammen. Er schildert als aktuelle Beschwerden Schmerzen und Brennen in der Leiste und beim Samenerguss eine Hautreaktion (»Hautpickel«, ähnlich wie Gänsehaut), Berührungsempfindlichkeit der Haut, Juckreiz überall, Herzrasen, Atemnot, starke Kopfschmerzen, Nackensteifigkeit, starke Erschöpfung, Konzentrationsstörungen und unruhigen Schlaf. Der Patient fühlt sich durch diese Beschwerden stark beeinträchtigt, berichtet über deutliche Leistungseinschränkungen und über eine Zunahme der Beschwerden unter Belastung. Erste Probleme traten vor etwa einem Jahr (also seit Zusammenziehen mit der Partnerin) in Form von Halsentzündung, Druckschmerz oberhalb des Gliedes mit Hodenschwellung und einer »Explosion im ganzen Körper« auf. Unmittelbar zuvor verbrachte der Patient einen Urlaub in Asien, zusammen mit einem Freund. Im Rahmen der somatischen Diagnostik fanden sich keinerlei Hinweise auf eine somatogene Ursache der Symptomatik, womit der Patient jedoch keinesfalls einverstanden war. Er bestand mit einem manipulativen, massiven Handlungsdruck auf einer medikamentösen Behandlung, die er von einem Dermatologen – trotz fehlender objektiver Indikation – sogar erhielt und die erst nach psychosomatisch-konsiliarischer Empfehlung abgesetzt wurde. Der

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Patient hielt weiterhin unkorrigierbar an einer körperlichen Ursache seiner Beschwerden fest. Erst gegenüber einem männlichen Diagnostiker gab er an, dass es während des Urlaubes mehrmals zu ungeschütztem Geschlechtsverkehr mit Prostituierten gekommen sei. (Hierüber machte der Patient gegenüber einer weiblichen Ärztin zuvor keine Angabe; bei deren wiederholter Nachfrage nach einem möglichen sexuellen Hintergrund antwortete er mit stark entwertendem Ausdruck: »Wollen Sie auf etwas Bestimmtes hinaus?«) Er sei in Deutschland geboren und habe eine jüngere Schwester und einen älteren Bruder. Die Eltern des Patienten stammen aus der Türkei. Er selbst hätte lieber in der Türkei gelebt, es sei ein schönes Land und die Leute seien freundlicher und herzlicher. Der Vater sei nachsichtig, lieb und freundlich, habe aber auch seinen eigenen Willen. Die Mutter sei sensibler, versuche das Gute im Menschen zu sehen, sei nett und freundlich, habe einen Hygienetick und sei seine Hauptbezugsperson gewesen. Beide Eltern hätten immer versucht, das Beste für ihre Kinder zu tun. Der Patient selbst habe zwei Mal – wie er betont »freiwillig« – die Klasse wiederholt. Seit der 12. Klasse habe er vier bis fünf Jahre lang viel Haschisch geraucht, etwa ein bis zwei Joints pro Tag. Damals habe er auch das Abitur abgebrochen. Um seinen 18. Geburtstag herum gab es eine Rückenoperation wegen Wirbelgleiten: Er habe starke Schmerzen gehabt und sei in »einer weltweit bekannten Spezialklinik« operiert worden. Mit 23 Jahren habe er einen Arbeitsunfall an der Drehmaschine gehabt »und damals beinahe den rechten Arm verloren«. Im Alter von 17 habe er sich bei einer Schlägerei die Hand gebrochen. Zwischen seinem achten und 18. Lebensjahr habe er Leistungssport betrieben. Er selbst denkt, dass er im Leben sehr reich werde und es in der Selbstständigkeit sehr weit bringen werde: »Alles, was ich mache, ist immer sehr gut.« Mit seiner Partnerin fühle er sich wohl: Sie stamme aus Tunesien und wolle in Deutschland Elektrotechnik studieren. Im Alter von acht Jahren sei er im Rahmen eines Familienfestes feierlich beschnitten worden. Er habe große Angst gehabt, sei geschockt gewesen und habe geweint. Die Metallspitze, mit der die Beschneidung vorgenommen wurde, sei eklig gewesen. Während der Beschneidung habe der Vater Fotos gemacht. Die heute bestehenden Narben findet der Patient selbst »nicht schön«. Die zwei Wochen nach der Beschneidung habe er im Bett verbracht; ein Onkel habe die Wunde desinfiziert. Die Zeremonie habe in der Wohnung der Großmutter stattgefunden. Zu dieser Frau habe er vorher eine sehr herzliche Beziehung gehabt, die durch das Erlebnis der Beschneidung jedoch gestört worden sei. Von der Szene her imponiert ein junger, gepflegter, schlanker, circa 1,75 m großer, sehr ernst dreinblickender Patient, der im Gespräch mit einer weiblichen Ärztin jedoch immer wieder stark abwertend agiert: durch Belächeln der

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Situation, ironisches Nachfragen und indem er eine manipulative Pseudokooperation ausstrahlt. Für die Diagnostikerin wurde die Situation zunehmend schwerer erträglich, sodass sie den Patienten mehrfach darauf hinwies, dass das Gespräch keine Pflicht, sondern ein diagnostisches Hilfsangebot sei. Die szenisch vermittelten Entwertungen steigerten sich jedoch so weit, dass die Kollegin den Patienten damit konfrontierte, dass, sollten seine Provokationen fortbestehen, ein Gespräch nicht mehr möglich sei und deshalb abgebrochen werden müsse. Erst danach war der Patient in der Lage, auf sein fortwährend abwertendes Verhalten zu verzichten. Auch in diesem Fall scheinen aktualisierte beschneidungstraumatische Aspekte und Kastrationsängste die bestehende Symptomatik (Genitalschmerzen, starke irrationale Ängste in zeitlichem Zusammenhang mit der geplanten Heirat) zu bestimmen. Während der Beschneidung hilft der Vater dem ängstlichen Sohn nicht etwa, sondern macht Fotos, und ein Onkel sieht aufgrund von Wundkomplikationen wochenlang nach der Wunde. Unabhängig vom traumatisch erinnerten Beschneidungsritual tauchen im Bericht des Patienten immer wieder kastrationsassoziierte Bedrohungen der körperlichen Integrität auf: Als Jugendlicher hat er fast den rechten Arm verloren, sich die Hand gebrochen und eine Wirbelsäulenoperation über sich ergehen lassen. In einer biografischen Schwellensituation (geplante Hochzeit) werden die hierfür erforderlichen Separationsschritte und sexuellen Triebwünsche aufgrund des erlittenen Realtraumas ödipal traumatisch so stark kontaminiert, dass es zur Dekompensation kommt. Fassbar wird die Abwehr »gefährlicher« ödipaler Wünsche in den deutlichen Abwertungstendenzen gegenüber »der Frau«. Die vor der geplanten Hochzeit heimlich in Anspruch genommenen Prostituierten erscheinen prototypisch als gefährliche, triebhafte, verachtenswerte Frauen. Der Umgang mit ihnen zieht starke körperlich erlebte Ängste nach sich, die wahrscheinlich auch auf die Hochzeit mit der asexuell idealisierten Braut bezogen sind. Weiter zeigen sich entsprechende Abwertungen in der unangemessen sexualisierten Übertragungsszene im Umgang mit der Ärztin und biografisch in der nach der Beschneidung entwerteten Beziehung zur Großmutter, die wahrscheinlich als Cover-Double der Mutter fungiert. Die bislang stabilisierenden Abwehroperationen über die Identifikation mit dem heute idealisierten Vater/Aggressor und die offensichtlich unrealistische narzisstisch-patriarchalische Reaktionsbildung in Bezug auf die eigene Bedeutung und Großartigkeit (»Durch die Beschneidung wirst du zu einem großen Mann«, Operation in einer »weltweit bekannten Klinik«, »Alles, was ich mache, ist immer sehr gut«) sind unter dem Druck der aktualisierten, realtraumatisch bedingten Kastrationsängste in der ödipal kontaminierten Hochzeitssituation nicht mehr adaptiv, sodass es erheblicher

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Symptome bedarf, um die kindlichen Ängste abzuwehren bzw. zum Ausdruck zu bringen. (7) Ein 50-jähriger nordafrikanischer arbeitsloser, islamisch streng gläubiger Immigrant erlebt sich von deutschen Behörden zunehmend herabsetzend behandelt und fürchtet, dass seine persönlichen Daten ohne seine Erlaubnis weitergegeben und ausgenutzt werden könnten. Über mehrere Tage hinweg steigert er sich vor dem Hintergrund zuvor erlittener sequenzieller Zurückweisungen und Kränkungen in diesbezügliche paranoide Befürchtungen und zunehmende Hilflosigkeits- und Wutgefühle hinein. Er beschließt, den zuständigen Sachbearbeiter zu konfrontieren und im Fall der Bestätigung seiner Befürchtungen mit zwei Messern zu verletzen. Er trifft diesen Sachbearbeiter jedoch im Amt nicht an, wohl aber eine am Rande involvierte Kollegin. Auf Nachfragen und Konfrontation dieser Kollegin mit seinem Anliegen erklärt sie ihm, sie sei nicht zuständig und er solle die fraglichen Unterlagen zunächst selbst lesen, bevor er zu ihr komme. Daraufhin habe er sich von der Sachbearbeiterin provoziert, betrogen und hintergangen gefühlt und mit den Messern auf sie eingestochen. Er selbst verletzte sich dabei leicht am kleinen Finger. Die Frau starb an den Folgen des Angriffs. Die hinzugerufenen Polizisten überwältigten und verhafteten den Täter. Dabei wurde der Täter am Knie verletzt. Im Weiteren fiel der Täter zunächst dadurch auf, dass er in keiner Weise realisierte, welches Leid er dem Opfer und dessen Familie zugefügt hatte. Auf Vorhalte, dass es sich um eine junge Mutter handele, antwortete er, er selbst habe doch noch mehr Kinder als diese und er sei selbst schwer von den ihn brutal überwältigenden Polizisten am Knie verletzt worden und sei zudem noch am kleinen Finger verletzt. Dies finde keinerlei Beachtung, empörte sich der Täter. Diese Klagen über die erlittenen Bagatellverletzungen brachte er, der sich selbst als das eigentliche Opfer sah, wiederholt und, angesichts der Schwere seiner Tat, in beeindruckender Unangemessenheit vor. In der Untersuchungshaft fiel er durch impulsive Gereiztheit und Klagen über subjektiv erlebte Zurücksetzungen sowie dadurch auf, dass er sein Besteckmesser schärfte. Als Begründung gab er an, beim Essen so leichter Wurstpellen durchschneiden zu können. Die Kindheit des Täters war durch extreme Armut, eine streng religiöse islamische Erziehung, den frühen Verlust des Vaters durch Arbeitsmigration und fehlende Bildung unter den ländlichen Bedingungen seines Heimatlandes gekennzeichnet. Die psychiatrische Untersuchung ergab eine Intelligenzminderung, aber keinen Hinweis auf eine die Steuerungsfähigkeit beeinträchtigende schwere psychische Erkrankung. Das Thema Sexualität war weitgehend tabuisiert, der Täter war nicht bereit, hierzu Aussagen zu machen. Allerdings

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erinnerte er sich, als Junge von einer herumreisenden Beschneiderin den Vorschriften des Islam entsprechend beschnitten worden zu sein. Weitere Auskünfte wollte der Täter hierzu mit großer Entschiedenheit nicht machen. Auffällig war noch sein Bericht, als Kind einmal – ähnlich wie auch andere Kinder in seiner Umgebung – nachtblind (dissoziativer Zustand?) gewesen zu sein, sowie seine (Deck?)Erinnerungen an mehrere Verletzungen durch Unfälle im Kindesalter. Es ist nicht direkt belegbar, aber angesichts einiger Indizien denkbar, dass sich der Täter aufgrund der Behandlung durch die Behörde in einer subjektiv zunehmend hilflosen und paranoid verarbeiteten Situation befand, die er in ihren negativen Konsequenzen nicht mehr übersehen zu können glaubte. Die Bewaffnung mit Messern vor der beabsichtigten Konfrontation mit den Behördenmitarbeitern könnte inszenatorisch bedeuten: »Wenn ich mich wieder in einer hilflosen Situation befinde, dann werde nicht ich diesmal mit Messern bedroht und beschnitten, sondern diesmal schneide ich.« Nach der Tat äußerte der Täter, dass er sich durch das Verhalten des Behördenmitarbeiters in seinen Rechten beschnitten gefühlt habe. Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, dass die mit einem traumatischen kindlichen Beschneidungserleben verbundenen Angst- und Hilflosigkeitsgefühle durch den aktuell aufgetretenen Konflikt mit der Behörde reaktualisiert und in einer Wendung zur aktiven schneidenden Aggression abgewehrt werden sollten. In ähnlichen Situationen hatte es bereits früher gewalttätige Eskalationen gegeben. Zu einer solchen subjektiven beschneidungsassoziierten Opferperspektive passen auch das, angesichts des enormen vom Täter angerichteten Leides, sonst kaum nachvollziehbar selbstbezogene und demonstrativ wiederholte Klagen über die eigene (Bagatell-)Verletzung am Knie (immerhin in anatomischer Nähe zum Beschneidungsbereich) aufgrund der als brutal erlebten Überwältigung durch die Polizei und die dramatisierend wirkenden Klagen über den verletzten eigenen kleinen Finger. Dieses auf die mit dem Täter befassten Polizisten äußerst befremdlich wirkende Verhalten könnte auf unbewusst assoziativer Ebene dem Verletzungserleben des kleinen überwältigten und beschnittenen Jungen entsprechen. Die offensichtliche Diskrepanz zwischen der Klagsamkeit des Täters bezüglich der eigenen Bagatellverletzungen, verursacht durch die »übermächtige« Polizei, und seiner fehlenden Betroffenheit und Empathie für das von ihm verursachte Leiden wird verständlicher, wenn man die Opferperspektive des Täters in Zusammenhang mit reaktualisierten eigenen kindlichen Traumata bringt. Die zu der Tat führende Wut galt möglicherweise aus Sicht des kindlichen Beschneidungsopfers der herumreisenden Beschneiderin oder sogar der Mutter. Die Behördenmitarbeiterin hatte sich im Erleben des Täters möglicherweise in gleicher Weise geweigert, ihm in subjektiv hilfloser Lage beizustehen.

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In ohnmächtiger Wut wollte der Täter eine »erneute Beschneidung« verhindern: »Mein Herz hat geblutet, meine Wut kochte, ich wollte Rache«, erklärte der Angeklagte nach der Tat den Ermittlungsbeamten. In wiederum hilfloser Lage in der Justizvollzugsanstalt widmete er sich ganz unmittelbar erneut der Schärfung eines Messers – um (Zitat) »die Wurst besser durchschneiden zu können«. Diese Zusammenhänge sind – wenn bedeutsam und zutreffend – dem Täter sicher in großen Teilen unbewusst und ändern nichts an der Strafwürdigkeit des Verbrechens. Sie sollen nicht dazu dienen, unzulässige, einfach gestrickte generalisierende Schlussbildungen (etwa: Ein Beschneidungstrauma führt automatisch zu einer erhöhten Gewaltbereitschaft.) nahezulegen. Dies wäre völlig unhaltbar und liegt in keiner Weise in der Absicht des Autors. Aber einige anders kaum erklärbare Details dieses Falls werden möglicherweise vor dem Hintergrund eines nicht verarbeiteten Beschneidungstraumas verständlicher. Ein in der sexuellen Sphäre bewusst erlittenes kindliches Gewalttrauma, das im weiteren Lebensverlauf nicht verarbeitet werden konnte, dem vielleicht sogar noch weitere belastende oder ähnliche Erfahrungen folgten, kann jedenfalls unter ungünstigen Bedingungen im Hier und Jetzt einer stressbedingten Reaktualisierung erlebnisbestimmend und destruktiv handlungsleitend werden. (8) Das traumatische Erleben einer verdeckt und zudem auch noch auf dem Höhepunkt der infantilen sexuellen Entwicklung im Alter von sechs Jahren erzwungenen Genitalbeschneidung und die katastrophalen Langzeitfolgen für das spätere sexuelle Erleben und die Partnerschaft, demonstriert die folgende mir von dem Betroffenen freundlicherweise überlassene Patientengeschichte: »Ich wurde mit sechs Jahren beschnitten. Mein Vater zwang mich aus religiöser Überzeugung. Meine nicht in islamischer Tradition aufgewachsene Mutter, die anfangs skeptisch war, wurde von ihm und muslimischen Bekannten überredet. Keiner von denen erklärte mir, was Beschneidung bedeutet, und der Arzt sagte nichts. Da ich seit einer Krankheit im Kindesalter Probleme mit meinem Gehör habe, sollte ich zu einer Untersuchung, in der ich unter Vollnarkose operiert werden musste. Bei dieser Gelegenheit ließen mich meine Eltern ohne mein Wissen beschneiden. Mir hat man nichts gesagt. Aus Angst ich könnte eine Szene machen. Ich bin ins Krankenhaus gefahren worden und alle waren sehr nett zu mir. Dann bekam ich die Narkose. Das nächste, das ich weiß, ist, dass ich nackt auf der Bettkante sitze und bitterlich weine. Mein Penis sieht grotesk aus, er ist so geschwollen, dass er fast rund ist. Die Eichel, die ich davor noch nie gesehen habe, ist pink. Ein komischer Ring ist an ihrem Ende und hält die Haut zurück. Es tut furchtbar weh. Mein Vater beteuert immer wieder, wie stolz er auf mich ist. Das ich jetzt ein richtiger Muslim sei. Ich weine trotzdem.

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Die nächsten drei Wochen waren eine Qual. Ich weiß nicht, ob die Narben weh taten oder die vertrocknende freigelegte Eichel. Ich konnte keine Hose tragen. Ich konnte nicht laufen. Ich konnte mich im Bett nicht zudecken. Ich lag stundenlang im Bett auf dem Rücken mit angewinkelten Knien, damit die Decke meine hochempfindliche Eichel nicht berührte. Tagelang. Ich weinte häufig. Das erste Mal, als ich aufs Klo ging, wusste ich nicht, was passieren würde. Ich hatte Angst, es könnte weh tun. Und so war es. Von nun an hielt ich meinen Drang zurück, bis es nicht mehr ging. Der Druck war deshalb größer. Es war schlimmer. Aber ich hatte Angst. Irgendwann tat es nicht mehr weh. Ich konnte keine engen Hosen tragen. Wie lange weiß ich nicht. Es kommt mir heute wie eine Ewigkeit vor. Aber auch das verging. Irgendwann. Eines Tages spielte ich mit meinen Freunden in der Umgebung. Einer sagte, er müsse aufs Klo. Ich musste auch. Wir gingen zu einem Busch. Er machte die Hose auf und pinkelte. Ich pinkelte nicht. Ich schämte mich. Zum ersten Mal. Die Scham blieb. Bis heute. In der Schule beim Schwimmunterricht kämpfte ich mich immer ganz vorne an die Tür, um den Platz an der Ecke zu bekommen. Während die anderen Jungs nackt herumalberten, zog ich mich mit Hilfe eines Handtuchs um und verließ den Raum fluchtartig. In der Sauna zog ich immer eine Badehose an. Ich ging nie in Gemeinschaftsduschen. Niemand durfte wissen, dass ich anders war. Ich wollte immer gern wie die anderen sein. Einfach mal mit meinen Freunden nackt in den See springen. Sprüche wie: ›Der will uns seinen kleinen Schwanz nicht zeigen!‹, ertrug ich. Ich lachte mit. Niemand durfte den wahren Grund wissen. Heute weiß ich, dass ich nicht ausgelacht werden würde, aber das ›nicht nackt sein dürfen‹ brannte sich so in mein Unterbewusstsein, dass ich bis heute nicht die Kraft finde, diese Angewohnheit zu überwinden. Irgendwann begann ich über all das nachzudenken. Wieso bin ich beschnitten? Weil ich ein Muslim bin. Wieso bin ich ein Muslim? Mir fiel keine Antwort ein. Also wieso bin ich beschnitten? Ich sprach nie mit Freunden oder Freundinnen über meine Beschneidung. Und sie fragten auch wenig. ›Mein Vater ist halt Muslim‹ reichte immer als Antwort. Zum Glück. Erst jetzt beginne ich mich mit Beschneidung auseinanderzusetzen. Erst jetzt, mit 23, lese ich über die sexuellen Folgen. Lese ich über den Sensitivitätsverlust. Ich habe nie einen unbeschnittenen Penis erigiert gesehen und war sehr überrascht, als ich las, dass die Eichel weich, feucht und empfindlich ist. Ich lese über Verhornung, über Stimulanzzonen wie innere Vorhaut, Dorsalnerv oder Vorhautbändchen. Lese, dass beschnittene Männer nur die Schnittnarbe zur Stimulierung haben, da sich dort noch Reste der so sensiblen Vorhaut befin-

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den. Ich denke darüber nach, wie Sex sich anfühlen könnte, wenn alles noch da wäre. Aber das ist es nicht. Ja, es stimmt. Ich kann länger. Aber es ist kein Vergnügen. Noch kann ich nur länger. Aber ab wann kann ich gar nicht mehr? Ich bin 23 Jahre alt. Das heißt auch, dass ich mit circa 23-jährigen Frauen schlafe. Aber ich muss kämpfen. Unter 20 Minuten geht nichts. Manchmal habe ich nach einer Stunde einfach keine Lust mehr. Sex ist nicht schön, wenn man nur an seinen Orgasmus denken kann. Ein Urologe sagte mir, durch die Amputation meiner Vorhaut wären mir drei erogene Zonen mit 70 % aller Sexualnerven entfernt worden, und durch die ständige Reizüberflutung der Nerven meiner Eichel würden auch noch diese absterben. Dieser Prozess hätte bei mir bereits begonnen und ließe sich nicht aufhalten. Es ist möglich, dass ich in den nächsten Jahren kein sexuelles Gefühl in meinem Penis spüren könnte. Meine Beschneidung ist das Schlimmste, das man mir je angetan hat. Sie hat mein gesamtes Leben beeinflusst. Hat mich immer mit Scham erfüllt. Meiner Mutter tut es sehr leid. Sie sagt, sie würde es nie wieder tun. Das hilft seelisch, aber nicht körperlich. Meine Vorhaut ist weg und kommt nicht wieder.« (9) Es folgt mit freundlicher Genehmigung von Eran Sadeh, dem Gründer der Bewegung »Protect The Child« in Israel, die vom Herausgeber aus dem Englischen übersetzte Schilderung der Geschichte seiner Beschneidung und ihrer Folgen: »Ich bin Israeli. Ich bin Jude. Ich wende mich an alle Eltern, die beabsichtigen, ihr Kind beschneiden zu lassen. Vor 44 Jahren wurde ich in Tel Aviv als ein gesundes Baby mit einem vollkommenen Körper geboren. Acht Tage nach meiner Geburt drückte ein Mann meine winzigen Beinchen nach unten und ein anderer Mann schnitt ein Stück meines Gliedes mit einem Messer ab. Ich hatte Schmerzen, ich schrie, ich blutete. Es ging vorbei, aber der abgeschnittene Teil meines Gliedes ist für immer verloren. 36 Jahre später wurde mein Sohn geboren. Zwei Tage vor seiner geplanten Beschneidung suchten wir im Netz nach einem geeigneten Beschneider. Dabei stieß ich auf einen Text des großen jüdischen Philosophen Maimonides aus seinem Buch ›The Guide For The Perplexed‹10: ›Hinsichtlich der Beschneidung bin ich der Meinung, dass eines ihrer Ziele die Einschränkung des Geschlechtsverkehrs und die möglichst weitgehende Schwächung des Fortpflanzungsorgans ist, um die Mäßigung des Mannes zu bewirken. Manche Menschen glauben, mit der Beschneidung wird ein Defekt im männlichen Körperbau behoben. Aber darauf lässt sich leicht erwidern: 10 »Führer der Unschlüssigen«, verfasst im ausgehenden 12. Jahrhundert.

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Wie können Werke der Natur so mangelhaft sein, dass sie einer äußeren Ergänzung bedürfen, zumal der Nutzen der Vorhaut für dieses Organ so offensichtlich ist. Der körperliche Schaden, der diesem Organ zugefügt wird, ist das Ziel und die Absicht. Dies ist, so glaube ich, eindeutig der Grund für das Gebot der Beschneidung.‹ Ich war schockiert. Mir wurde klar, dass die jüdische Motivation für die Beschneidung in der Verringerung des sexuellen Vergnügens besteht, genau wie auch bei der weiblichen Genitalbeschneidung. Der Text hatte mich so aufgewühlt, dass ich jede erreichbare Information über den abgeschnittenen Teil meines Gliedes las. Und je mehr ich las und von Anatomie und Funktion der Vorhaut verstand, umso weniger konnte ich der schmerzlichen und empörenden Erkenntnis ausweichen, dass mein Körper gewaltsam verletzt worden war, dass mein Glied beschädigt und in seiner Lustempfindsamkeit unwiederbringlich beeinträchtigt worden war. Nie mehr könnte ich sexuelle Lust so intensiv empfinden, wie es natürlicherweise möglich gewesen wäre. Durch die Amputation der Vorhaut wird sexuell hoch sensibles Gewebe entfernt, das bei einem erwachsenen Mann etwa die Größe einer Scheckkarte besitzt. Ein Mann, der nicht mehr über seine Vorhaut als Teil des Penisschaftes verfügt, hat weniger Vergnügen, weil ihm mit der Vorhaut tausende hochempfindsamer Nervenendigungen abgeschnitten wurden. Die Vorhaut erleichtert als eine schützende Hülle das Gleiten des Penisschaftes, verringert Reibung und stimuliert spezielle Nervenendigungen und die Spitze des Gliedes. Dadurch wird der Verkehr für beide Partner angenehmer und lustvoller. Ich las weiter mit Abscheu die Beschreibung der rituellen jüdischen Beschneidung der peri’ah, bei der das [beim Baby] mit der Eichel verklebte innere Vorhautblatt abgerissen wird, wozu der Mohel seinen extra lang gewachsenen und geschärften Fingernagel benutzt. Und ich las von der Metiztzah B’peh, bei welcher der Mohel das blutende Glied in seinen Mund nimmt und das Blut absaugt. Noch einmal zur Klarstellung: Dies sind nach jüdischem Gesetz unverzichtbare Forderungen. Ich fand Berichte, die belegten, dass jedes Jahr allein in Israel hunderte von neugeborenen Jungen als Notfälle eingeliefert und operiert werden, um Komplikationen im Anschluss an die Amputation der Vorhaut zu behandeln. Aus Studien erfuhr ich, dass der Schmerz während der Beschneidung das Baby traumatisiert und seine Schmerzverarbeitung im späteren Leben dadurch beeinträchtigt wird. Und ich las Berichte von Müttern über die Schreie ihrer Jungen während der Wundheilung, wenn die offene Beschneidungswunde in Berührung mit Urin kam.

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Aber zu meiner Beruhigung erfuhr ich auch, dass Juden in Israel und überall auf der Welt in immer größerer Zahl sich dafür entscheiden, ihre Söhne unversehrt zu lassen. Dank all dieser Erkenntnisse, die ich an diesem Tag gewonnen hatte, entschieden meine Frau und ich uns ebenfalls dafür, unseren Sohn unversehrt zu lassen. Ich rief den Beschneider an und sagte den Beschneidungstermin ab. Es ist klar ersichtlich: Beschneidung ist nichts als ein beschönigender Begriff für die gewaltsame Amputation eines gesunden Körperteils eines hilflosen Kindes, gefolgt von einer irreversiblen körperlichen Beschädigung, Schmerzen und Risiken für das Kind. Und all das im Namen einer Religion und Tradition. Die Vorhautamputation widerspricht den Menschenrechten des Kindes, insbesondere dessen Recht auf körperliche Unversehrtheit und seinem Anrecht auf gleichen Schutz durch das Gesetz. Jüdische Autoritäten werfen den Kritikern der Beschneidung Antisemitismus vor, um ihre Kritik zu diskreditieren. Ich verurteile diesen Vorwurf. Die Bewegung derjenigen, die sich für die Ächtung der Beschneidung Minderjähriger einsetzt, hat nicht mit Antisemitismus zu tun, wohl aber mit dem Respekt für die Menschenrechte des Kindes. Es ist wichtig, sich klar zu machen, dass die Beschneidung keine unverzichtbare Voraussetzung jüdischer Identität darstellt.11 Nach jüdischem Gesetz übernimmt das Kind den Status der Mutter. Wenn also die Mütter eine Jüdin ist, so ist ihr Junge auch ein Jude, egal ob er beschnitten ist oder auch nicht. Noch eine Anmerkung für die Ärzte: Es gehört nicht zu Ihren Aufgaben [rituelle] Beschneidungen durchzuführen. Dies wäre und ist ein Verstoß gegen die wichtigste Regel Ihres ethischen Codex: Primum nil nocere – Zuallererst füge keinen Schaden zu. Die gewaltsame Amputation eines gesunden Körperteils bei einem nicht einwilligenden Minderjährigen ohne medizinische Indikation stellt eine Tätlichkeit mit Körperverletzung dar, die sowohl strafrechtliche als auch zivilrechtliche Haftung nach sich ziehen kann. Dies kann nicht einfach aufgehoben werden. Jede Gesetzgebung, die versucht die Beschneidung zu legalisieren, verstößt gegen die Verfassung, weil die Menschenrechte unteilbar gültig sind. Auch die Zustimmung der Eltern ist ungültig, weil die Amputation eines gesunden Körperteils des Kindes ohne medizinische Notwendigkeit nicht im Zustimmungsbereich elterlicher Autorität liegt. Ärzte! Ihr seid keine Beschneidungsautomaten! Eure berufliche Verpflichtung ist zu heilen und Patienten zu behandeln. Wird euch ein gesundes Kind vorgestellt – egal ob Junge oder Mädchen –, schneidet keinen Teil seines Körpers ab. 11 Vgl. hierzu die Beiträge von Segal und Gotzmann in diesem Buch.

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Der einzig mögliche legal und ethisch korrekte Ausweg aus diesem Rechtskonflikt ist es, den Zeitpunkt der Beschneidung auf ein Alter zu verschieben, in dem der Betreffende der Amputation eines Teils seines Penis rechtswirksam zustimmen kann. Diese Lösung beschränkt das Recht zur freien Religionsausübung. Aber diese erfolgt nur vorübergehend. Im Fall der gewaltsamen Vorhautamputation bei einem nicht einwilligungsfähigen minderjährigen Kind übergeht man dessen Recht auf körperliche Unversehrtheit für immer. Die Bewegung zur Abschaffung der erzwungenen Beschneidung Minderjähriger ist eine weltweite Bewegung. Überall auf der Welt hoffen Männer wie ich, die an ihrer Vorhautamputation leiden, hoffen Mütter und Väter, die unter dem Druck der Religion, der Tradition und des Gruppenzwanges gegen ihren Willen ihre Kinder verletzten, hoffen Eltern, die dem Konformitätsdruck mutig widerstanden, hoffen Wissenschaftler aller Fachrichtungen und ganz normale Menschen, die von dieser schädlichen, schmerzhaften und unmoralischen Praxis abgestoßen sind, auf die Ächtung der Beschneidung und ihr Verschwinden im Mülleimer der Geschichte. Ich möchte mit einigen Worten auf Hebräisch12 schließen:

‫םלועב םוקמ לכבו לארשיב םידוהי םכילא הנופ ינא‬: ‫רביא תונורתי לע ודמל‬ ‫םלשה ןימה‬, ‫ךותחה ןימה רביא תונורסח לע ודמל‬, ‫יתלבה העונתל ופרטצהו‬ ‫םלועל םהינב תא םילבקמש םידוהי תובבר לש הלדגו תכלוהה הריצעל תנתינ‬ ‫םפוג תומלשב עוגפל ילבמ‬, ‫םהל ביאכהל ילבמ‬, ‫םמולש תא ןכסל ילבמו‬.« Soweit der an seiner Beschneidung leidende Jude Eran Sadeh im Juli 2013. Diese und viele andere Fallgeschichten leidvoll Betroffener machen deutlich, wie traumatisch die Beschneidung von Jungen erlebt werden kann und wie im wahrsten Sinne des Wortes einschneidend die Langzeitfolgen eines unverarbeiteten Beschneidungstraumas sein können. Kindliche Verletzungen der sexuellen Sphäre und deren permanente rituelle Wiederholung entfalten, insbesondere wenn sie nicht innerhalb liebevoller Familienbezüge und eines stabil wertschätzenden sozialen Umfeldes verarbeitet oder falls nötig behandelt werden können, in der Regel eine destruktive Wirkung und werden weitgehend unreflektiert über die Generationen weitergegeben. Für derartige Zusam12 »Hiermit rufe ich alle Juden in Israel und überall auf der Welt auf: Setzt euch mit den Vorteilen eines intakten Penis auseinander, beschäft igt euch mit den Nachteilen eines beschnittenen Penis und schließt euch der unaufhaltsamen Bewegung Zehntausender Juden überall auf der Welt an, die ihre Söhne auf der Welt willkommen heißen, ohne deren körperliche Unversehrtheit zu verletzen, ohne ihnen wehzutun und Risiken zuzumuten.«

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menhänge – oder auch nur für die Möglichkeit der Anerkennung psychotraumatischer Folgen der rituellen Beschneidung kleiner Jungen im Übergang zum Schulalter – besteht derzeit auch im Islam leider kaum ein kritisches Bewusstsein. Die Einnahme einer empathischen, das ängstliche Erleben des Jungen nachvollziehenden Haltung und das In-Betracht-Ziehen der Möglichkeit, dass hier unter Umständen abträgliche Langzeitfolgen für die psychosexuelle Entwicklung des Jungen resultieren, sind nur selten anzutreffen. Das häufige Herunterspielen dieser Thematik behindert eine faktenbezogene Betrachtung dieses Rituals. Die nicht direkt betroffene Öffentlichkeit macht dieses Herunterspielen nur zu gern mit, da das Thema höchst unangenehm ist und an eigene Ängste rührt. Diese Empathiestörung wiederum beruht auf der Wirksamkeit kollektiver Tabuisierungen und der Verleugnung der traumatischen Qualität der Beschneidung aufgrund eigener Ängste. Es bleibt zu hoffen, dass endlich eine kritische Diskussion innerhalb der islamischen Gemeinden über die Ursachen und Folgen von Gewalt (Mönninger, 2006) unter der Perspektive einer kindgerechten, einfühlsamen Lösung der Beschneidungsproblematik beginnt. Ein Beispiel geben die mutigen Beiträge von Necla Kelek (2006; 2012), auch zu den deformierenden Aspekten einer patriarchalischen Sozialisation. Der Zeitpunkt der Beschneidung könnte diskutiert werden. Es existiert im Islam keine verbindliche Festlegung des Zeitpunktes wie im Judentum. Wenn nicht auf die männliche Genitalbeschneidung verzichtet werden kann, stellen die symbolische oder schmerzfreie Beschneidung unter klinischen Bedingungen nach Erreichen eines Alters, das Einsicht und Einwilligung ermöglicht, kindgerechte Alternativoptionen dar. Rechtlich gesehen jedenfalls handelt es sich bei diesem Eingriff im Hinblick auf das Fehlen einer medizinischen Indikation um eine Körperverletzung bei Minderjährigen mit potenziell bedrohlichen medizinischen Komplikationen (Putzke, 2008; Stehr, Putzke u. Dietz, 2008; Herzberg, 2009). Im Interesse des Kindes und seines Rechtes auf eine unbeschädigte körperliche Integrität und Sexualität wären der gänzliche Verzicht auf die männliche Genitalbeschneidung im Kindesalter und die freie Entscheidung des Erwachsenen sicherlich die beste Variante – zumal späteres Leid und Schadensersatzansprüche durch die Betroffenen oder auch angstgetriebene Impulsdurchbrüche in assoziativ mit der Beschneidung verknüpften, bedrohlich erlebten Belastungssituationen als schädliche »Nebenwirkung« der Beschneidung nicht völlig ausgeschlossen werden können.

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Das Kindesopfer und der Verzicht auf die Beschneidung im Christentum In der tendenziell antijudaischen Legende vom herodianischen Kindermord von Bethlehem erscheint die neutestamentliche Rezitation des Motivs vom archaischen Kindesopfer im Umfeld der Geburt Jesu als schwaches Echo eines nicht mehr realitätsgerechten Opferkultes. Das Kind Jesus überlebt (zunächst), und der Aufstieg eines Gottessohnes, der ohne die Forderung nach Opfern und Beschneidung auskommt, erfolgt. Die Tötung kleiner Kinder wird in der herodianischen Legende eindeutig als verbrecherischer Mord dargestellt. Einen Gott, der im Weiteren nun nicht mehr den männlichen Erstgeborenen oder wenigstens dessen Vorhaut fordert – sondern vielmehr sogar selbst seinen eigenen Sohn opfert –, muss man vordergründig nicht mehr so sehr fürchten oder durch zusätzliche Opfer »ruhigstellen«. Auch im gewandelten Kindesopfer des Abendmahls frisst nicht mehr ein gieriger, projektiv aggressiv aufgeladener Gott hilflose Menschenkinder, sondern der Mensch wird von Gott selbst gefüttert – allerdings nach wie vor immer noch mit Kinderblut und Kinderfleisch, dem Fleisch des Gottessohnes. Insofern kann man mit Freud, welcher in »Der Mann Moses und die monotheistische Religion« (Freud, 1939, S. 190) das Abendmahl als Reminiszenz der Totemmahlzeit versteht, von einer zivilisatorischen Rücknahme der im Judentum erreichten Vergeistigung des Monotheismus sprechen (S. 194) – allerdings nur, wenn man von dem Opferrelikt der jüdischen Vorhautbeschneidung absieht. Das Motiv des Kindesopfers wird daher im Christentum nicht wirklich überwunden, sondern lediglich verschoben, indem Gott dieses Opfer nun nicht mehr vom Menschen für sich fordert, sondern es selbst darbringt, den aggressiven Akt aber an die Menschen delegiert. In exakter Umkehrung der früheren Abfolge opfert Gott also nun zunächst sich selbst (auch wenn er sich dazu einiger Menschen bedient) in der menschlichen Gestalt seines Sohnes am Kreuz. Hierdurch kommt es zunächst zu einer Entlastung (»Erlösung«) von paranoiden Ängsten und der Notwendigkeit, sich bzw. die eigenen Kinder opfern zu müssen. Allerdings befindet sich die zuvor in hungrige und bedrohliche Götter projizierte Aggression nun wieder auf Seiten des Menschen, der dann umso erlösungsbedürftiger und von der Gnade Gottes abhängig ist. Die Umkehrung betrifft auch den kindlich oral fantasierten und im Abendmahl symbolisierten Akt der Beziehungsaufnahme und Objektkontrolle durch orale Inkorporation. Nunmehr verspeist und verinnerlicht der Mensch die Gottheit, nachdem die Wandlung von Brot und Wein des Abendmahls in das

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Fleisch und Blut des göttlichen Kindes stattgefunden hat (Mt 26,26.28). Die Inkorporation des Leibes Christi (»dies ist mein Leib«) erfolgt auf der Ebene archaischer kindlicher Fantasien also als orale Einverleibung – auch wenn das Abendmahl lange Zeit von den Anhängern des neuen Glaubens bewusst lediglich als Erinnerungsmahl vollzogen wurde. Insofern stellt auch die Verspeisung der Hostie ein zivilisatorisch umgearbeitetes Diminutiv und eine Abwehr des nur an der Oberfläche obsolet gewordenen Kindesopfers dar – realisiert durch die Wendung in sein Gegenteil: die Opferung des Gottessohnes.13 Der neue paulinisch propagierte Glaube belässt es dann auch bei der Taufe und klagt somit auch die Beschneidung nicht mehr ein. Wenn Gott nicht mehr (patriarchalisch) gefürchtet werden muss, braucht man ihm weder seine Söhne noch Körperteile zu opfern. Der Glaube allein und nicht das Opfer und die unbedingte Gesetzestreue stellen jetzt die Verbindung zur Gottheit sicher. Dies stellt wohl auch eine taktische Konzession an die römisch-hellenistische Umgebung der jungen jüdischen Sekte der ersten Christen dar. Immerhin indiziert die Überwindung des Beschneidungsrituals aber offensichtlich einen Traditionsbruch, der eine zivilisatorische Sublimierung der im Opferparadigma gebundenen Aggression erlaubte. Nota bene: Ein Abschied von archaischen Verletzungstraditionen ist möglich. In der Kreuzigungsszene erreicht die nun gegen Gottvater selbst möglich gewordene kindliche Aggression einen unverstellten, ultimativen Realitätsausdruck. Die Menschen nehmen sich mit ihrer gewachsenen Macht der Natur gegenüber nun das heraus, was sie zuvor nur projektiv oder im Opfer verdeckt zum symbolischen Ausdruck bringen konnten. Aus dem Opfer verlangenden, ängstigenden Gott wird der ausgepeitschte, gequälte und geopferte Gottessohn. Gott fordert von den Menschen – allerdings nur auf den ersten Blick – keine Menschenopfer oder Vorhäute mehr, sondern wird mit der Hilflosigkeit des am Kreuz geopferten Jesus identifiziert. In Jesus und seiner Passion erfolgt aus dieser Sicht eine empathische Identifikation Gottes mit kindlich-menschlicher Hilflosigkeit. Anstelle der früheren Aufladung des Gottesbildes mit paranoider Aggression und deren Besänftigung mit Opfern wird die Gottheit »humanisiert«, indem sie die äußerste Aggression ihrer Geschöpfe nun selbst zu ertragen hat – und erträgt. Allerdings muss zur Versöhnung, zur Befriedung des Verhältnisses Mensch–Gott eben immer noch ein Sohn sterben14. 13 Erst im Jahr 1215 folgte im Rahmen der Transsubstanziationslehre die kirchliche Dogmatisierung der Wandlung der Hostie in den real präsenten Leib und des Weines in das Blut des gekreuzigten Gottessohnes. 14 Vielleicht stellt der am Kreuz sterbende Gottessohn aufgrund von intuitiven Tiefenassoziationen für viele Moslems, die als Jungen bewusst erlebt beschnitten wurden, unbewusst

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Die Tiefensymbolik des gekreuzigten und letztlich doch auferstandenen Gottessohnes wurde von den Menschen im damaligen Palästina aufgrund der noch alltäglichen Präsenz des Opferparadigmas möglicherweise intuitiv als entlastend erlebt. Sie ermöglichte eine weitere Entängstigung und Rücknahme aggressiver Projektionen des Gottesbildes: »Gott opfert seinen Sohn und nicht mehr wir unsere Söhne. Wir essen jetzt seinen Sohn und nicht er unsere Söhne.« Nichtsdestotrotz findet auch diese Umdeutung des Verhältnisses zwischen Mensch und Gottheit in einem engen Bezug zum Kindesopfer statt. Die Opferung und Verspeisung Gottes im Abendmahl erleichtert über die dadurch mögliche stabile orale Inkorporation des idealisierten Objekts die Überwindung archaischer Ängste in einer durch Landwirtschaft, Fernhandel und Technik zunehmend beherrschbarer und wirklicher gewordenen Umwelt. Diese Umwelt eignete sich nicht mehr so schlüssig zur projektiven Aufladung mit inneren kindlichen Verfolgungsängsten wie der überwältigende Terror der prärational-animistischen Welterfahrung. So wird die »Vergebung« der frühkindlichen projektiven Aggressionsbewältigung und damit auch ein Ende der paranoiden Verfolgung durch eine Gottheit, die nur mit Opfern kleiner hilfloser Menschen zu besänftigen ist, möglich. Vergebung ist angesichts des nun offenbar gewordenen mörderischen Angriffs auf Gott bzw. seinen Sohn selbst und der hiermit einhergehenden Schuld aber auch notwendig (Freud, 1939, S. 196; S. 245). Der Verzicht auf die archaische Beschneidung kleiner Jungen oder Säuglinge im Christentum könnte jedoch eine Reduktion der Belastungen ermöglichen, die abrahamitische Religionen den in ihrem Einflussbereich aufwachsenden Kindern zumuten. In der Verehrung von Märtyrern (Blutzeugen), im häufig auf abgeschnittene Körperteile zentrierten Reliquienkult, angesichts des in vielen Kirchen zur Schau gestellten realistischen Abbildes des blutigen Jesus cruci fixus oder eben im Ritus des Abendmahls, werden aber auch im Christentum noch Opferreminiszenzen tradiert.

eine Reminiszenz, ein imaginatives Analogon der eigenen, väterlich tolerierten und initiierten Beschneidung dar und ist insofern verbunden mit real erlebter eigener Angst und Hilflosigkeit, die zum Beispiel durch Entwertung oder Verachtung abgewehrt wird. Neben vielen anderen, historisch leidvollen Erfahrungen, die sie im Zeichen des Kreuzes erfahren mussten, könnte dies miterklären, wieso der Gekreuzigte für viele Moslems kein sehr attraktives Glaubenssymbol darstellt.

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Ausblick Heute sind wir infolge fortgeschrittener Säkularisierung und technischer Fortschritte in der Naturbeherrschung bei der Bewältigung unserer existenziellen Ängste und unseres eigenen aggressiven Potenzials zunehmend auf uns selbst verwiesen. Zumindest in den europäischen Industriestaaten sind unsere (kindlichen) Ängste nicht mehr ohne Weiteres wie früher in einer alltäglich unmittelbar lebensbedrohlichen Außenwelt und dahinter stehenden drohenden Göttern repräsentiert. Wir brauchen eigentlich keine Opfer mehr und Kinder könnten im säkularen Europa eigentlich unbehelligt von archaischen Ängsten Erwachsener vor rachsüchtigen Göttern aufwachsen. Unter (vor-)geschichtlichen Umweltbedingungen und den Gegebenheiten einer patriarchalischen Organisation familiärer und gruppaler Zugehörigkeit früher einmal sozial regulative verletzende Opferrituale wirken heute im Europa offener, demokratischer und säkularer Staaten zunehemend wie aus der Zeit gefallene Relikte. Religiöse Traditionen sind aber auch Archive einer Jahrtausende währenden kollektiven Anpassungsgeschichte. Sie bewahren früher einmal adaptive soziale Regeln in normativen Mythen und Ritualen, die dann ihrerseits als Referenz und Orientierung dienen. Ihre Anpassung an neue soziale Realitäten und an sich entwickelnde Weltbilder erfolgt sehr träge, weil sie auf mächtigen Verboten beruhen und Veränderungen bei Menschen mit einem starken Glaubensbedürfnis Ängste, aber auch Wut auslösen können. Die offensive Einforderung des Beschneidungsrituals durch orthodoxe Religionsvertreter stellt heute in Europa allerdings eine Jahrhunderte währende Entwicklung der Kinderrechte speziell für die Jungen infrage. Unser Gehirn ist ein evolutionär optimierter aufmerksamkeitsgesteuerter Detektor für Neues. Es registriert in hoher Geschwindigkeit potenziell gefährliche Widersprüchlichkeiten in unserer Umgebung. Es ist in der Lage, auf Unerwartetes mit evolutionär erworbenen automatisierten Anpassungsprogrammen, aber auch mit der Frage nach dem Warum zu reagieren und Antworten zu suchen, die wir explorativ auf ihre Gültigkeit erproben oder auch theoretisch generalisierend modellieren können. Der »fantastische« innere Repräsentationsraum unserer Fantasie ermöglicht uns dabei die symbolische Simulation und Manipulation von Realität und die Entwicklung von Modellen der uns umgebenden Wirklichkeit. Diese Realitätsmodelle werden mit wachsender Kenntnis über die Funktionsgesetze unserer Umgebung immer objektiver und prädiktiver. Sie können innerhalb der Wissenschaftskultur tradiert werden und sind ihrerseits einem permanenten Selektionsdruck durch Falsifikation ausgesetzt.

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Unsere Fähigkeit, äußere Realitäten innerhalb eines Fantasieraumes zu repräsentieren, hat sich ebenfalls evolutionär entwickelt, um äußere Anpassungsanforderungen außerhalb instinktiver Verhaltensdispositionen mit größeren Freiheitsgraden in der Auswahl von Verhaltensoptionen bewältigen zu können. Dieses mächtige symbolische Anpassungssystem birgt aber auch das Risiko, dass sich unsere Fantasien verselbstständigen und von der äußeren Wirklichkeit entkoppeln können. Derartige phantasmatische »Modelle« dienen dann nicht mehr dazu, objektive äußere Probleme zu analysieren und zu lösen, sondern zum Beispiel dazu, innere Ängste zu bewältigen, um die eigene Identität oder gruppale Bindungen zu sichern und widerspruchsfrei zu halten. Wenden wir unsere analytischen und symbolischen Fähigkeiten auf metaphysische Probleme unserer Existenz wie die Frage nach dem Sinn oder der Finalität des Lebens an, produziert unser auf Herstellung von Widerspruchsfreiheit hin optimierte Fantasieapparat in der Regel illusionäre Scheinlösungen ohne objektiv reproduzierbaren Bezug zur äußeren Wirklichkeit. Dies bewirkt im Einzelfall eine neurotisch eingeschränkte Veridikalität der Faktenwahrnehmung oder auf der Basis kollektiv organisierter Glaubenssysteme eine eingeengte Sicht auf historische, physikalische oder evolutionäre Prozesse. Die Ablehnung der Evolutionstheorie oder der Quantentheorie zugunsten der Aufrechterhaltung mythologischer Konstrukte oder religiöser Überzeugungen sind Beispiele für derartige Realitätsbrüche. Die entstehenden intellektuellen und faktenbezogenen Brüche müssen dann per »Glauben« überbrückt oder mit »Sinn« erfüllt werden. Worte verlieren dann jedoch ihre semantische Symbolfunktion mit Verweischarakter auf interpersonell objektivierbare Gegenstände, Vorgänge oder Theorien und entfalten ein substanzartiges, konkretistisches Eigenleben. Der ontologische Gottesbeweis oder der Glaube an die wörtliche Bedeutung heiliger Texte beispielsweise basieren auf einer entsprechenden Schlussbildung vom Begriff auf die Existenz des Gegenstands. Die Stärke religiöser Fantasiesysteme liegt in ihrer scheinbaren Fähigkeit, auf alle Fragen – auch auf die Fragen nach den letzten Dingen und den damit zusammenhängenden Ängsten – eine Antwort zu geben. Ihre Schwäche liegt darin, dass es nur eine Antwort gibt, die mit den intern funktionalen Antworten anderer religiöser Fantasiesysteme nicht kompatibel ist. Die jeweils identitätssichernde Bedeutung unterschiedlicher religiöser Überzeugungen und deren Bedeutung für die Abwehr existenzieller – und rituell thematisierter – Ängste birgt dann notwendigerweise ein erhebliches und in der Geschichte immer wieder exzessiv ausagiertes Konfliktpotenzial. Aus diesem Grund ist es sinnvoll und in Europa hart und unter großen Opfern erkämpft, dass ein modernes Staatswesen dieses Konfliktpotenzial durch

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ein strikt durchgesetztes staatliches Gewaltmonopol eingrenzt. Dieser Staat muss dann zwangsläufig ein säkularer, demokratisch kontrollierter Verfassungsstaat sein, der seine Legitimation aus der Sicherung der Zivilgesellschaft gleichberechtigter Individuen auf der Grundlage der allgemeinen Menschenrechte und nicht aufgrund einer religiösen Überzeugung bezieht. Dies begründet die zivilisatorisch notwendige Priorisierung staatlichen Rechts gegenüber religiösen Überzeugungen, aber auch gegenüber aggressiven Ideologien. Und dies begründet letztlich auch den Primat der körperlichen Unversehrtheit nicht einwilligungsfähiger Kinder vor den religiösen Bedürfnissen von Erwachsenen. Deshalb ist es religionsübergreifend rational und unabweisbar, dass wir lernen müssen, Kinder nicht weiter als Opfer archaischer religiöser Traditionen zu behandeln oder ihnen religiös motivierte Gewalt zuzumuten. Wir müssen sie auf der Grundlage unserer Verfassung (Scheinfeld, 2013; vgl. auch die Beiträge von J. Scheinfeld und H. Putzke in diesem Buch) vielmehr bedingungslos und so weitgehend wie möglich vor traumatischer Überforderung und Missbrauch schützen, auch wenn es die eigenen Eltern sind, die diese Gewalt ausüben. Eine – möglicherweise für Beschneidungsbefürworter wie für die Kritiker der rituellen Genitalbeschneidung schwer zu erbringende – intellektuelle Voraussetzung hierfür könnte sein, zunächst auch anzuerkennen, dass Menschen- und Kindesopfer, die Kindesmisshandlung sowie auch die ritualisierte männliche Genitalbeschneidung angesichts großer Bedrohungen eine latente Option für die Bewältigung existenzieller Ängste und des aggressiven Potenzials in der magischen Matrix unseres kollektiven Unbewussten darstellen. Die Manifestation dieser Disposition in unreflektierten Traditionen, verletzenden Ritualen oder der kollektiven Verleugnungen ihrer Risiken wird nicht ohne Folgen für die Entwicklung der hiervon betroffenen Kinder bleiben können. Sie werden einer irrationalen, traumatischen Manipulation durch religiös abhängige Erwachsene unterworfen, aus welcher sie sich selbst oft nur unter großen Ängsten und Schuldgefühlen oder überhaupt nicht mehr befreien können. Es bleibt zu hoffen, dass mit einer wachsenden zivilisatorischen Bereitschaft zur empathischen Einfühlung in das Erleben der betroffenen Kinder unabhängig von deren Geschlecht auch in Deutschland die Sensibilität für die mit dem Eingriff verbundenen Risiken weiter zunimmt und überkommene Rituale und Bräuche mit zunehmend kritischem Bewusstsein auf ihre heutige Angemessenheit reflektiert werden können. Die zeitliche Verschiebung der rituellen Beschneidung bis zur Einwilligungsfähigkeit des Jungen oder die symbolische Transformation der traumatischen Aspekte des Rituals wie zum Beispiel im Brit Shalom wären wirklich am Kindeswohl orientierte Alternativen. Die Reduktion kindheitlich erfahrener Gewalt und Gewaltzeugenschaft wird lang-

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fristig wahrscheinlich auch zu einer Befriedung des gesamtgesellschaftlichen Klimas beitragen. Dazu bräuchte es im Fall der rituellen Genitalverstümmelung kleiner Jungen allerdings mutige Erwachsene und Politiker, die irrationalen religiösen Hardlinern die Stirn bieten können und sich nicht ängstlich wegducken. Ansonsten bliebe nur zu hoffen, dass der derzeit gültige, verfassungsrechtlich höchst bedenkliche § 1631d BGB möglichst bald einer Beurteilung durch das Verfassungsgericht unterworfen wird. Literatur Alanis, M. C., Lucidi, R. S. (2004). Neonatal circumcision: A review of the world’s oldest and most controversial operation. Obstetrical & Gynecological Survey, 59 (5), 379–395. Alexander, D. (2011). »Wir werden jeden Finger abschneiden«. Die Welt Online vom 10. 03. 2011. Zugriff am 23. 07. 2013 unter http://www.welt.de/politik/ausland/article12764434/Wir-werdenjeden-Finger-abschneiden.html American Academy of Pediatrics (AAP). (2012a). Circumcision policy statement. Pediatrics, 130 (3), 585–586. American Academy of Pediatrics (AAP). (2012b). Technical report: male circumcision. Pediatrics, 130, e757–e785. Zugriff am 22. 11. 2013 unter http://pediatrics.aappublications.org/content/130/3/e756.full Ashura Ritual (2009). Shi’ites commemorate Imam Hussein. Bildergalerie. Die Welt Online vom 07. 01. 2009. Zugriff am 07. 11. 2013 unter http://www.welt.de/english-news/article2984926/ Ashura-Ritual.html Auvert, B., Taljaard, D., Lagarde, E., Sobngwi-Tambekou, J., Sitta, R., Puren, A. (2006). Randomized, controlled intervention trial of male circumcision for reduction of HIV infection risk: the ANRS 1265 Trial. PLoS Medicine, 3 (5), e298. Zugriff am 22. 11. 2013 unter http://www.plosmedicine.org/article/info:doi/10.1371/journal.pmed.0020298#abstract0 Azize, J. (2007). Was there regular child sacrifice in Phoenicia and Carthage? In J. Azize, N. Weeks (Eds.), Gilgames and the world of ancient Assyria. Ancient Near Eastern Studies, Supplement 21 (S. 185–206). Leuven: Peeters Pub. Bailey, R. C., Moses, S., Parker, C. B., Agot, K., Maclean, I., Krieger, J. N., Williams, C. F., Campbell, R. T., Ndinya-Achola, J. O. (2007). Male circumcision for HIV prevention in young men in Kisumu, Kenya: a randomised controlled trial. The Lancet, 369 (9562), 643–656. Beck, V. (1988). Das Strafrecht ändern? Plädoyer für eine realistische Neuorientierung der Sexualpolitik. In J. S. Hohmann (Hrsg.), Der pädosexuelle Komplex (S. 255–268). Frankfurt a. M.: Foerster-Verlag. Auch: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-113750717.html sowie http:// www.spiegel.de/politik/deutschland/paedophilie-debatte-um-gruene-volker-beck-taeuschte-oeffentlichkeit-a-923357.html Zugriff am 22. 12. 2013. Bibel. Bibelserver (Hrsg.). Luther 1984. Zugriff am 20. 11. 2013 unter http://www.bibleserver.com/ start/EU. Bischof, N. (1973). Die biologischen Grundlagen des Inzesttabus. In G. Reinert (Hrsg.), Bericht über den 27. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (S. 115–142). Göttingen: Hogrefe. Bischof, N. (2009). Psychologie (2. Auflage) (S. 483 ff.). Stuttgart: Kohlhammer. Blumenberg, Y., Hegener, W. (2012). Juristischer und psychoanalytischer Furor gegen die Beschneidung – oder das alte Lied vom ausgeschlossenen Dritten. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 66 (11), 1118–1128.

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Adriaan de Klerk1

Die Bedeutung der Kastrationsangst und der Beschneidung in Freuds Werk und Leben

Vor einigen Jahren behandelte ich einen Tunesier. Als Muslim war er mit drei Jahren ohne Betäubung beschnitten worden. Im Verlauf der Behandlung kehrte die Erinnerung an seine Beschneidung immer wieder zurück. Er fand sie grauenhaft. Nicht nur die Beschneidung selbst war ein Horror, sondern er erinnerte sich auch des Geschreis seiner jüngeren Brüder. Sie kamen ebenfalls mit drei Jahren an die Reihe. Es waren Wiederholungen seiner eigenen Beschneidung. Mein Interesse an der Kastrationsangst als bedrohliche Fantasie in der phallischen Phase und an der Beschneidung nahm in dieser Behandlung ihren Anfang. Ich begann mich zu fragen, wie es bei Freud und seinen jüngeren Brüdern Julius und Alexander gewesen sein mag. Sie waren alle drei noch viel jünger als mein Patient, als sie beschnitten wurden. Sie waren Säuglinge. Was Freud betrifft, sind die Verhältnisse klar. Er wurde am 13. 05. 1856 nach jüdischem Brauch am achten Tag nach seiner Geburt beschnitten (Gay, 1988; Sajner, 1968). An diesem Tag, seiner Brit Mila, bekam er seine beiden Vornamen: Sigismund und Schlomo. Als ich nachforschte, ob Julius beschnitten war, erwies sich, dass von ihm keine Geburts- und Beschneidungsdaten bekannt sind, nur das Sterbedatum2. Umso wichtiger war es herauszufinden, ob Alexander beschnitten war. Tatsächlich ist es der Fall gewesen. Auf Nachfrage ließ die Israelitische Kultusgemeinde Wien mich wissen, dass es von Alexander ein Beschneidungsdatum gibt und dass er genauso wie Freud einen zweiten jüdischen Namen hatte: Efraïm3. Das bedeutete, dass in Freuds Familie die tradi1

2 3

Diese Arbeit des verstorbenen niederländischen Psychoanalytikers Adriaan de Klerk ist zuerst erschienen in »Die Neuen Leiden der Seele – Das (Un)Behagen in der Kultur«, herausgegeben von Gertraud Schlesinger-Kipp und Rolf-Peter Warsitz als Kongressband der Herbsttagung der DPV in Frankfurt a. M. 2007, S. 279–304. Der hier abgedruckte Text wurde aus dem Niederländischen ins Deutsche übersetzt von Dr. Dieter Becker und vom Herausgeber zur Erleichterung der Lesbarkeit aus der Vortragsform angepasst. Sbírka matrik, sign. P I 19, the Record book of death, Roman Catholic parish Príbor, vol VIII, S. 299; Archives von Opava (Troppau), Tschechië. E-Mail 26. 07. 2002: Alexander Efraim 1866 (April 19–April 26).

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Die Bedeutung der Kastrationsangst und der Beschneidung in Freuds Werk und Leben

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tionelle jüdische Beschneidung Brauch war.4 Ich konnte also davon ausgehen, dass Freud, wie mein Patient, nicht nur selbst beschnitten war, er musste auch der Wiederholung der Beschneidung der beiden Brüder ausgesetzt gewesen sein. Mir schien wahrscheinlich, dass dies einen bestimmten Einfluss auf ihn selbst und sein Werk gehabt haben musste. Ich begann zu vermuten, dass Freuds Konzept der Kastrationsangst in Verbindung zur eigenen Beschneidung, der seiner jüngeren Brüder, seiner männlichen Patienten und seiner ersten überwiegend jüdischen Mitarbeiter stand. Ich will diesen Gedanken eingehender ausarbeiten und untermauern. 1. Ich will zeigen, dass die neonatale Beschneidung von Jungen eine schmerzhafte Angelegenheit ist, mit Sicherheit, wenn sie ohne Betäubung vorgenommen wird. Als Freud 1856 geboren wurde, war von Betäubung keine Rede. In den 150 Jahren danach ebenso wenig. Ich beschränke mich ausdrücklich auf den Eingriff ohne Betäubung. Über die möglichen Folgen der Beschneidung mit Betäubung mache ich keine Aussage. 2. Anschließend will ich untersuchen, warum der schmerzhafte Charakter der neonatalen Beschneidung so lange geleugnet werden konnte und häufig immer noch geleugnet wird. 3. Danach will ich der Frage auf den Grund gehen, wie Freud über die Beschneidung dachte. Im Licht des gegenwärtigen Wissensstandes hoffe ich, zeigen zu können, dass, was Freud der Phylogenese zuschrieb – »Kastration« in der Urzeit und Beschneidung als Erinnerung daran –, aus seiner eigenen Ontogenese, der seiner Brüder (Colman, 1994; Maciejewski, 2006) und der seiner Patienten stammt. 4. Wenn die neonatale Beschneidung ohne Betäubung ein möglicherweise nicht erkannter traumatisierender Eingriff war, welche Konsequenzen hat das dann für Theorie und Praxis der Psychoanalyse? Das ist für mich eigentlich das Wichtigste, denn mit dieser Theorie und Praxis haben wir täglich zu tun. 5. Zum Schluss will ich einige Beispiele nennen, die meines Erachtens den verborgenen Einfluss der Beschneidung auf Freuds eigenes Leben zeigen. Im Folgenden werden die fünf Punkte näher erläutert. Folgen eines Eingriffs ohne Betäubung Was mag ein Baby eigentlich bei der Beschneidung erleben? Die Antwort können uns amerikanische, kanadische und englische Untersuchungen über die 4

Emanuel und Philipp hatten wahrscheinlich ebenfalls hebräische Namen wie Freud.

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Zirkumzision geben. Es gibt diese Untersuchungen, weil in der angelsächsischen Welt (Darby, 2005), vor allem aber in den USA, die säkulare neonatale Beschneidung als Routineprozedur seit etwa 1850 eingeführt wurde. Die Absicht war, die Masturbation zu erschweren, weil man dachte, sie sei eine Gefahr für die Gesundheit; und allerlei Krankheiten vorzubeugen. Diese Begründungen sind heute nicht mehr gültig, aber dennoch hat sich die Beschneidungspraxis in den USA weitgehend behauptet. Von Bedeutung ist, dass diese säkulare neonatale Beschneidung unter Weglassen der rituellen Elemente sich kaum von der jüdischen unterscheidet.5 Sie wird meistens drei Tage nach der Geburt vorgenommen. Wie bei der jüdischen Beschneidung fehlt in der Regel die Betäubung, weil sie Gefahren für das Baby in sich birgt. Ich frage nun: Was geschieht körperlich mit einem Baby bei der neonatalen Beschneidung? Da in den USA eine Antizirkumzisionsbewegung in Gang gekommen ist, existieren mittlerweile Videoaufnahmen, die das demonstrieren.6 Man sieht wie Beine und Arme des Babys festgebunden werden, die Desinfizierung folgt. Die Öffnung der Vorhaut wird geweitet. Die Innenhaut der Vorhaut ist normalerweise mit der Eichel verklebt. Bei der Beschneidung muss diese Verklebung gewaltsam gelöst werden. Natürlich verursacht das Schmerzen. Dann wird die Vorhaut eingeschnitten und zurückgeklappt. Dadurch blutet es stark. Die Vorhaut wird abgebunden und anschließend abgeschnitten. Der ganze Eingriff dauert 10–12 Minuten und die Wunde heilt gewöhnlich in einer Woche bis zehn Tagen. Zu dieser Prozedur möchte ich zwei Bemerkungen machen. (1) Im Gegensatz zu dem, was viele Leute denken, die sich nie mit der Beschneidung befasst haben, wird also nicht nur das Ende der Vorhaut entfernt, sondern die gesamte Vorhaut. Die säkulare amerikanische neonatale Beschneidung ist in dieser Hinsicht mit der jüdischen völlig identisch. Ich weiß nicht, ob die islamische Beschneidung genauso radikal ist. Sie findet meistens im Alter zwischen drei und sieben Jahren statt. Das Fehlen der Vorhaut erschwert die Masturbation. Außerdem wird die Haut der Eichel durch das Fehlen der schützenden Vorhaut im Lauf der Zeit derber und dadurch weniger sensibel. Neuere Untersuchungen (Sorrells et al., 2007) haben gezeigt, dass der intakte Penis eine viermal höhere Empfindlichkeit für Berührung aufweist. Klinisch kann das Folgen nach sich ziehen. Einer meiner Patienten, der als Junge beschnitten wurde, weigerte sich, ein Kondom zu benutzen, weil er damit wenig oder nichts fühlte. Ungeschützter Verkehr mit allen Risiken und Ängsten war die Folge. 5 6

Ein wichtiger Unterschied ist, dass die Brüder und Männer nicht herumstehen und nicht eine Wiederholung der eigenen Beschneidung erfahren. www.cirp.org CIRP. What happens during circumcision?

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(2) Eben weil die Vorhaut nicht von der Eichel zurückgezogen werden kann, sondern daran festsitzt, ist die neonatale Beschneidung ein schmerzhafter Eingriff. Im Netz7 kann man die Vorhaut eines Neugeborenen sehen. Die eines 15 Monate alten Jungen ist schon kürzer. Die Möglichkeit, die Vorhaut zurückzustreifen, entwickelt sich erst allmählich. Mit zehn Jahren haben 40–50 % der Jungen eine Vorhaut, die sich zurückstreifen lässt. Der Prozentsatz nimmt nach der Pubertät stark zu. Unter gleichen Verhältnissen wird eine Beschneidung, die an einer Vorhaut, die zurückgezogen werden kann – also in einem späteren Alter – immer weniger schmerzhaft sein, als wenn die gesamte Vorhaut von der Eichel abgezogen werden muss. Aber doch schmerzlich genug. »Für [die Psychiaterin-Psychoanalytikerin] Weigert war […] einer ihrer Haupteindrücke in der Türkei die traumatische Erfahrung der Beschneidung, die türkische Jungen in der Pubertät ohne jede Anästhesie über sich ergehen lassen mussten« (Holmes, 2007). Leugnung der neonatalen Beschneidung und deren schmerzhafter Charakter Ich werde mich jetzt mit den Ursachen befassen, warum der Schmerz dieser Prozedur früher nicht, wohl aber heute als möglicherweise traumatisierend angesehen wird. Dafür nenne ich drei Gründe: (1) Freud und in seinen Fußstapfen Anna Freud, nahmen an, dass es so etwas wie einen Reizschutz (Laplanche u. Pontalis, 1973) gebe, der das Baby in den ersten Lebensmonaten gegen Außenreize abschirme. So meinte Anna Freud, dass die Beschneidung immer zur Kastrationsangst führe, es sei denn, sie finde unmittelbar nach der Geburt statt (Freud, A., 1952/1987). Heute denkt man darüber ganz anders. Den Reizschutz gibt es nicht, ebensowenig wie die »normale autistische Phase« von Mahler, Pine und Bergman (1975, S. 41). Die beschützende Funktion liegt bei den Eltern. So schreibt ein Forscher: »In den ersten drei Monaten ist die Responsivität des Stress-Response-Systems in der Reaktion auf Stressoren hoch, wie zum Beispiel bei der körperlichen Untersuchung durch den Arzt. Das heißt, die Reaktion auf Stress ist sowohl physiologisch (Aktivierung des Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Systems) als auch im Verhalten (Schreien) heftig« (Schreuder, 2003, S. 104). Beim Erleiden der Beschneidung entbehrt der Säugling dieses elterlichen Schutzes. Interessant ist auch, dass trotz der Vorstellung vom Reizschutz Psychoanalytiker, zu denen auch Freud gehörte, über das Vorhandensein von Angst bei der Geburt speku7

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lierten (Freud, 1923, S. 289). Aber über eventuelle Schmerzen und Angst bei der Beschneidung acht Tage nach der Geburt kein Wort! (2) Es gibt einen zweiten Grund, warum die Säuglingsbeschneidung möglicherweise als nicht traumatisierend angesehen wird. Es bestand die medizinische Illusion, dass Säuglinge keine Schmerzen empfinden. Diese medizinische Illusion hat eine hundertjährige Geschichte, von circa 1880 bis 1980 (Cope, 1998). Der Beginn dieses medizinischen Irrtums, 1880, fällt also mit Freuds Studium und Karriere zusammen. Davor meinten die Ärzte, Säuglinge seien überempfindlich. 1872 entdeckte Paul Emil Flechsig, dass die Neuronen des Neugeborenen nur zum Teil myelinisiert sind und entsprechend nicht voll funktionsfähig sein könnten. Daraus schloss man, dass Säuglinge biologisch noch nicht »verdrahtet« seien und dass ihr Schmerzerleben also auch nicht vollwertig funktionieren könne. Das führte zu einer großen Anzahl medizinischer Eingriffe ohne Betäubung bei sehr kleinen Kindern. So schreibt ein anderer Forscher 1998: »Schmerz war viele Jahre ein Rätsel. […] Bis vor ungefähr zehn Jahren wurde angenommen, dass Säuglinge schlichtweg keine Schmerzen spürten. Frühgeburten mussten notwendige, aber traumatische medizinische oder chirurgische Eingriffe ohne Betäubung über sich ergehen lassen« (Fitzgerald, 1998, S. 20). Inzwischen erwiesen sich Säuglinge in dreierlei Hinsicht statt unempfindlich als extrem sensibel gegen Schmerzen: »Erstens, die sensorischen Nervenzellen des Rückenmarks sind bei Kindern reizbarer als bei Erwachsenen. Die Folge davon ist, dass der Schmerzreflex heftiger ausfällt und länger anhält.« Ein Baby reagiert also heftiger als ein Erwachsener. »Zweitens, die Schmerzreaktion ist globaler, weil das Baby noch keine deutliche Abbildung seines Körpers im Gehirn hat aufbauen können. Der Schmerzreiz lässt sich dadurch weniger genau lokalisieren und betrifft einen größeren Körperbereich.« Das ist ein wichtiges Ergebnis. Für den Säugling bedeutet das, dass ein viel größerer Körperbereich dem Beschneidungserleben ausgesetzt ist als nur der Penis. »Drittens, der Säugling empfindet den Unterschied zwischen schmerzhaften und angenehmen Berührungen weniger scharf, mit der Folge, dass auch bei letzterer ein Schmerzreflex auftreten kann« (Fitzgerald, 1998, S. 21). Das wussten Mütter schon immer, deshalb gehen sie mit ihrem Baby so vorsichtig um. Wenn die körperliche Untersuchung durch einen Arzt bereits eine Belastung des Stress-Response-Systems für ein Neugeborenes sein kann, wie viel mehr mag das für die Beschneidung ohne Betäubung gelten! In diesem Zusammenhang ist es auffallend, dass in unserer Berufsgruppe beim Erheben der Anamnese zwar nach früheren Tonsillektomien gefragt wird, selten aber nach einer neonatalen Beschneidung. Erst in den 1980er Jahren begann sich aufgrund verschiedener Untersuchungen das Bewusstsein durchzusetzen, dass bei der neonatalen Zirkumzision

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eine Betäubung nötig sein könnte. Schließlich kam 1999 die »American Academy of Pediatrics« (AAP, 1999) mit folgender Stellungnahme heraus: »Es gibt beträchtliches Beweismaterial, dass Säuglinge, die ohne Betäubung beschnitten werden, Schmerzen und physiologischen Stress erleben. Die neonatalen physiologischen Reaktionen auf den Beschneidungsschmerz umfassen Veränderungen des Herzschlags, des Blutdrucks, der Sauerstoffsättigung und des Cortisonspiegels. Ein Bericht erwähnt, dass beschnittene Säuglinge bei späteren Routineimpfungen eine stärkere Schmerzreaktion zeigen als unbeschnittene.« Diese offizielle Stellungnahme, aufgrund von etwa 120 Studien, ist wichtig, wenn man bedenkt, dass in den Vereinigten Staaten in den 1970er Jahren ungefähr 80 % der männlichen Bevölkerung entweder unmittelbar oder wenige Tage nach der Geburt beschnitten wurden, und zwar ohne Betäubung. Heute sind es ungefähr 60 %, mit fallender Tendenz. In anderen angelsächsischen Ländern war die Situation lange Zeit vergleichbar. Der Grund dafür war, dass in besseren Kreisen seit 1900 die Zirkumzision populär geworden war. Sie hatte die Funktion eines hygienischen Gruppenzeichens bekommen (Veen-Viëtor, 2000). Allmählich fand sie in allen Bevölkerungsschichten Anwendung. Der anatomisch korrekte Penis war ein beschnittener Penis, so stand es in den Handbüchern. In England sank nach Einführung des National Health Service kurz nach dem Zweiten Weltkrieg der Prozentsatz der Beschneidungen auf normale europäische Verhältnisse ab. Damals wurde der Eingriff nicht länger vorgenommen, wohl aber in den Vereinigten Staaten. (3) Es gab noch einen dritten Grund, weshalb Freud die Beschneidung als nicht eingreifend einschätzte. Das hatte mit seiner Auffassung vom Gedächtnis zu tun. Freud meinte, es gäbe für Erinnerungen nur eine Sorte Gedächtnis. Es war der sogenannten infantilen Amnesie unterworfen, die aus der Verdrängung der infantilen Sexualität resultierte und nicht aus der funktionellen Unreife (Laplanche u. Pontalis, 1973). Heute wissen wir, dass im Säuglingsalter das Gedächtnis funktionell gerade doch unreif ist. Es geht dabei um den Unterschied zwischen dem impliziten und expliziten Gedächtnis. Experimentelle Untersuchungen haben gezeigt, dass das Langzeitgedächtnis zwei Formen kennt. Das implizite oder prozedurale Gedächtnis, das von Geburt an aktiv ist, und das explizite oder autobiografische Gedächtnis, das erst nach einigen Jahren aktiv wird. Der Unterschied zwischen beiden Gedächtnisarten hängt mit den davon betroffenen Gehirnarealen zusammen. Diese Gehirnareale, Amygdala und Hippocampus, unterscheiden sich sowohl in der Funktion als auch im Reifungstempo. Nur im autobiografischen Gedächtnis können bewusste Erinnerungen gespeichert werden, im impliziten nicht. Ein Forscher sagt: »Diese Form des Gedächtnisses enthält den Niederschlag von Erfahrungen, an die man

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keine bewusste Erinnerung hat und die doch das Handeln beeinflussen. Es ist eine Abteilung des Gedächtnisses, in welche die Introspektion nicht vordringen kann« (Draaisma, 2001, S. 235). Die von der AAP genannte Untersuchung ist ein Beispiel dafür. Die neonatale Beschneidung kann nicht erinnert werden, hinterlässt jedoch Spuren. Kinder, die als Säuglinge ohne Betäubung beschnitten wurden, zeigten nach vier bis sechs Monaten bei Routineimpfungen eine größere Schmerzempfindlichkeit als nichtbeschnittene Säuglinge (Taddio, Katz, Ilersich u. Koren, 1997).8 Die Fixierung einer derartigen Empfindlichkeit ist nicht ohne Einschaltung des impliziten Langzeitgedächtnisses möglich. Also auch der Schmerz einer einmaligen neonatalen Beschneidung ohne Betäubung ist heftig genug und die Wundheilung dauert lange genug, um als größere Empfindlichkeit gegenüber Schmerzen in das implizite Gedächtnis des Säuglings aufgenommen zu werden. Die Existenz zweier Gedächtnissysteme anstelle, wie Freud dachte, eines einzigen hat zur Folge, dass lediglich indirekte Spuren einer traumatisierenden neonatalen Beschneidung zu finden sein werden, zum Beispiel als in späterem Alter entstandener Fantasien (Ubbels, 1998) oder nachweisbarer Empfindlichkeiten. Meine eigene Behandlungserfahrung mit Männern, die als Säuglinge beschnitten wurden, weist in diese Richtung. Ein Mann, der Arzt hatte werden wollen, sah wegen einer unerklärlichen Angst vor scharfen Gegenständen davon ab. Nichts in seiner Vorgeschichte gab einen Hinweis auf eine mögliche Ursache dafür. Bis ich plötzlich auf die Idee kam, er könnte als Kind beschnitten worden sein. Und ja, tatsächlich, eine jüdische Großmutter hatte bei ihm für die Beschneidung gesorgt. Ein anderer, der dann doch Arzt geworden war, erzählte mir, dass ihm Operationen und große blutende Wunden nichts ausmachen, ihm würde aber schlecht bei kleinen Wunden an Endgliedern, wie Fingern oder Zehen. Schlecht wurde ihm auch angesichts der Abbildung eines enormen Fingers auf einem Gemälde; der Finger wies 8

»Im Falle der Zirkumzision stehen dem Neugeborenen (›relationale‹) versorgende Hilfsquellen nicht zur Verfügung. Die nächste Stufe, Kampf-Flucht-Erstarrung, ist ebenfalls nicht hilfreich, weil diejenigen, welche die Prozedur vornehmen, das Neugeborene ohne Mühe festhalten und überwältigen. Alles was dem Neugeborenen übrig bleibt, ist die Verteidigungsebene des ›Schocks‹, die auf der Überflutung des Zentralnervensystems mit Schrecken, Wut, Betäubung und schließlich Lähmung und Dissoziation beruht; dies ist seine letzte Chance, die Herrschaft über das hohe Niveau der Aktivierung des Zentralnervensystems zu erlangen, das sonst den Tod zur Folge hätte. Das Anschauen von Videos von Säuglingen, die beschnitten werden, zeigt das deutlich demjenigen, der sich dessen bewusst ist. Die sogenannte ›Ruhe‹ nach der Zirkumzision ist wahrscheinlich eher ein Zustand der Dissoziation als Antwort auf den überwältigenden Schmerz und die Angst, als dass es sich um den Zustand friedlicher Entspannung handelt« (Rhinehart, 1999, S. 217). Siehe »metabolic shutdown« als Reaktion auf Traumen (Schore, 2002). »Trauma in the preverbal period« (Gaensbauer, 1995) ist in dieser Hinsicht auch äußerst relevant.

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eine Wunde auf, weil mit dem scharfen Rand eines Dünengrasblatts hineingeschnitten wurde.9 Der Patient betrachtete es selbst als Beweis dafür, dass seine Beschneidung Spuren hinterlassen hatte. Denn es gab sonst nichts in seiner Vergangenheit, das diese besondere Empfindlichkeit hätte erklären können. Muslimische Männer dagegen, bei denen die Beschneidung als Kind meistens in einem Alter erfolgt, im dem das explizite Gedächtnis funktioniert, können sich sehr wohl erinnern oder wieder erinnern wie bei meinem oben erwähnten Patienten. Richard, der kleine Patient aus dem kinderanalytischen Fallbericht von Melanie Klein, wurde mit drei Jahren beschnitten. Nach Angaben der Mutter entwickelte er daraufhin eine Phobie vor Schrammen. Dies ist ähnlich wie die oben erwähnte größere Empfindlichkeit gegenüber Routineimpfungen bei beschnittenen Säuglingen. Als Erwachsener erinnerte sich Richard, dass die Beschneidungserfahrung und dazu noch der kurz darauf folgende Herzanfall seines Vaters das Fürchterlichste war, was er je erlebt hatte (Grosskurth, 1986, S. 267). Ich ziehe Bilanz. Warum wurde früher die Säuglingsbeschneidung nicht als belastend angesehen? Die drei oben angeführten Gründe verstärken einander. Die psychoanalytische Auffassung über den Reizschutz und die Art des Gedächtnisses machten es unmöglich, den medizinischen Irrtum, Säuglinge empfänden keinen Schmerz, zur Diskussion zu stellen. Mit der Folge, dass man nicht auf die Idee kam, Säuglinge könnten durch intensiven Schmerz seelischen Schaden erleiden. Gegenwärtig ist man sich bewusst, dass Säuglinge extrem empfindlich sind und dass, wenn man sie Schmerzen aussetzt, Spuren zurückbleiben können, obwohl diese auf bewusstem Niveau nicht erinnerlich sind. Sigmund Freud über die Beschneidung Wie dachte Freud selbst über die Beschneidung? Seine eigene Beschneidung hat er nie als ein mögliches Trauma betrachtet. Er kommt auf die Beschneidung an vielen Stellen seines Werkes zu sprechen, aber niemals im Rahmen seiner eigenen Familien- oder persönlichen Entwicklungsgeschichte. Freud erwähnt die Beschneidung an vielen Stellen der »Gesammelten Werke«. Hier geht es vor allem um Passagen, wo er die Beschneidung mit der Kastration in der Urzeit und der Kastrationsangst in der phallischen Phase in Verbindung bringt (Freud, 1910, S. 165; 1913, S. 184; 1917, S. 167; 1918, S. 119; 1932, S. 93; S. 198; S. 230; 1940, S. 117). Seine Aussagen darüber enthalten folgende Elemente: 9

Ein Gemälde des holländischen Malers Co Westerik.

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1. In der Urzeit der Familie kastrierte der eifersüchtige, grausame Vater die heranwachsenden Söhne, wenn sie begannen, mit ihm um seine Frau zu rivalisieren. Dieser Vorgang gehörte laut Freud zur Entwicklung der Gattung, der Phylogenese, und wurde seines Erachtens in die Vererbung übernommen. 2. Dann wurde im Lauf der Zeit die Kastration zur Beschneidung abgemildert. Sie wurde ein Surrogat, Substitut und Symbol der Kastration. Indem die Söhne die Beschneidung akzeptierten, unterwarfen sie sich der totalen Macht des Vaters und Gottes. 3. Wenn heutzutage die Beschneidung vorgenommen wird, erinnert sie über die phylogenetische vererbte Spur an die Kastration der Urzeit und die damit verbundene Angst. 4. Der kleine Junge, der Kastrationsandrohungen und Anspielungen darauf von Seiten der Frauen hört, wird diese aufgrund des phylogenetischen Schemas schließlich dem Vater zuschreiben. 5. Es geht nicht darum, ob die Kastration tatsächlich durchgeführt wird; entscheidend ist, dass sie eine drohende Gefahr von außen darstellt und das Kind daran glaubt. Dafür gibt es gute Gründe, weil man ihm in der phallischen Phase, in der Zeit der frühen Selbstbefriedigung, oft genug mit dem Abschneiden des Gliedes droht. Anspielungen auf diese Strafe können regelmäßig eine phylogenetische Verstärkung bei ihm finden. Bei diesem letzten Punkt denkt man als Beispiel an die Mutter des Kleinen Hans, die drohte, ihn zum Doktor mitzunehmen, wenn er noch länger an seinem »Wiwimacher« spiele. Das kann man in Freuds Fallgeschichte nachlesen. Übrigen war eine solche Androhung damals in Wien gang und gäbe. Aufgrund der oben dargestellten Fakten der Schmerzforschung bei Säuglingen halte ich es für plausibel, dass die Beschneidung ohne Betäubung das Genitale des Säuglings »traumatisch sensibilisiert« (für diesen Begriff siehe: Kandel, 1998, 2001; Fitzgerald, 1998, S. 2310, Schreuder, 2003, S. 4111). Wahrscheinlich betrifft die traumatische Sensibilisierung nicht nur den Penis des Säuglings, 10 »Selbst eine einfache Verletzung der Haut kann Veränderungen hervorrufen, die zu einer Überversorgung dieses Bereiches mit sensorischen Nervenendigungen führen. Die Folge ist eine Überempfi ndlichkeit an dieser Stelle, noch lange nachdem die Wunde verheilt ist. […] Obwohl diese Veränderungen kurzfristig als eine zweckmäßige kompensatorische Einrichtung bezeichnet werden könnten, um den Verlust des sensorischen Inputs wettzumachen, können die Langzeitauswirkungen einer dauerhaften Alteration dem sensorischen Körperschema abträglich sein«. Siehe auch Anzieu (1996). 11 Angstkonditionierung ist eine angeborene Handlungstendenz im Dienste der Überlebensstrategie. Auch wenn man nur ein einziges Mal einem äußeren Reiz ausgesetzt ist, kommt eine Konditionierung zustande, die schwierig auszulöschen ist.

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sondern den ganzen Unterleib. Nunbergs Beobachtungen über anale Schmerzen und Spasmen bei Männern, die mit vier oder fünf Jahren beschnitten worden waren, weisen in diese Richtung: »Das Beschneidungstrauma sensibilisiert daher sowohl Anus als auch Penis. Beide Regionen geraten daher in der Vorstellung des Patienten durcheinander und werden austauschbar« (Nunberg, 1947, S. 153). Freuds Schema kann jetzt im Licht des Vorangegangenen wie folgt aufs Neue gelesen werden: Die Kastration braucht nicht länger als tatsächliches Geschehen der Phylogenese zugeschrieben zu werden. Man kann sie in die Ontogenese des Säuglings verlegen, weil er die Beschneidung als etwas wie eine Kastration erlebt. Im Fall Freuds kommt dazu, dass er die Beschneidung von Julius mitgemacht und als Kastration interpretiert haben muss, auch vor dem Hintergrund der geläufigen Kastrationsdrohungen seinerzeit gegen Kleinkinder als Strafe für Masturbation (Colman, 1994). Die ontogenetische Erklärung ist ökonomischer und liegt auf der Linie von Freuds eigenem Bestreben, wie er selbst sagt: »[…] aber ich halte es für methodisch unrichtig, zur Erklärung aus der Phylogenese zu greifen, ehe man die Möglichkeiten der Ontogenese erschöpft hat, ich sehe nicht ein, warum man der kindlichen Vorzeit hartnäckig eine Bedeutung bestreiten will, die man der Ahnenvorzeit bereitwillig zugestehen will« (Freud, 1918, S. 131). Nachträglich kann man sagen, dass Freud die phylogenetische Spekulation nötig hatte. Wahrscheinlich hatte er es jetzt mit dem klinischen Befund sehr heftiger Kastrationsangst in der phallisch-ödipalen Phase seiner meist als Säuglinge beschnittenen männlichen Patienten zu tun. Und er musste sie von irgendwo herleiten. Dass Freuds phylogenetische Spekulation wissenschaftlich keinen Bestand hat, wurde schon früher von anderen dargelegt (Gubrich-Simitis, 1988)12. 12 Dass die Kastrationsdrohung dem Vater zugeschrieben wird, ist das Ergebnis eines Prozesses, den man sich folgendermaßen vorstellen kann: Anfangs wird das Neugeborene die Ursache seiner Angst und seines Schmerzes nicht gut einordnen können. Aber dennoch wird sie als Drohung zum Bestandteil seiner elterlichen Introjekte. Der Säugling ist so durch den Lauf der Dinge besonders auf die beschützende Liebe seiner Mutter angewiesen. Die Angst vor dem bedrohenden Elter wird dann auf den Vater projiziert. Die Ambivalenz erfährt dann eine extreme Aufspaltung zwischen einer positiv erlebten Mutter und einem negativ erlebten Vater. Die Drohung verdichtet sich in dem Moment zur Kastrationsdrohung, in dem sich bei dem Jungen nach einigen Jahren die kindlichen und lustvollen Masturbationsfantasien Geltung verschaffen. Ja, sein Genitale war damals Zielscheibe eines schockierenden, wenn auch nicht mehr erinnerbaren Eingriffs. Die Wünsche des Jungen werden sich desto stärker auf die Mutter richten und einen vehementen inzestuösen Charakter annehmen, weil er doch in der oralen Phase schon besonders auf sie als bedeutendste Beziehungsperson und somit als schützendes und »gutes«Objekt angewiesen war. Von Seiten seines Vaters wird er lediglich die Wiederholung dessen fürchten, was er als Kind glaubte erlitten zu haben: Kastration. Da ungefähr gleichzeitig die explizite Gedächtnisfunktion verfügbar wird und vorher schon der Spracherwerb stattgefunden hat, kann die neonatale Beschädigung erst-

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Die hier angewandte Zurückführung der Phylogenese auf die Ontogenese stimmt mit den Auffassungen von Schur überein: »Ich habe in diesem Buch meine Annahme vorgetragen, dass Freuds hartnäckiges Festhalten an den Hypothesen der Vererbung erworbener Eigenschaften […] und der archaischen Erbschaft – dass diese Hypothesen sämtlich in seiner eigenen prähistorischen Zeit wurzelten: seinen ersten drei Jahren in Freiberg, wo er in einer Wohnung lebte, die aus einem einzigen Raum bestand, und in der er und zwei seiner Geschwister zur Welt kamen« (Schur, 1973, S. 559 f.). Schur nennt die Beschneidung von Sigmund und Julius jedoch nicht als mögliches bedeutungsvolles Element in Freuds »Prähistorie«. Damit befindet er sich übrigens in Gesellschaft von bekannten Freud-Biografen wie Peter Gay und Didier Anzieu. In einer spezifischen Monografie über das Thema »Freud and Judaism« (Meghnagi, Freud u. Solms, 1993) kommen Worte wie »Beschneidung«, »Brit Mila« und »Mohel« (derjenige, der die Beschneidung vornimmt) nicht vor. Offensichtlich auch hier ein blinder Fleck. Freud hat genauso wenig wie bei sich selbst den möglichen Einfluss der frühen Beschneidung auch nicht bei seinen Patienten sehen können. Das beste Beispiel dafür ist der »Rattenmann«, Ernst Jakob Lanzer (Kollbrunner, 2001). Freud nannte an keiner Stelle dessen Beschneidung, doch wurde er als jüdischer Junge an seinem achten Lebenstag beschnitten. Das teilte mir auf Nachfrage die Israelitische Kultusgemeinde Wien mit.13 Übrigens hat Freud selbst die Beschneidung im Zusammenhang mit der Beschneidung von Frauen als »grausam« bezeichnet. Und er ließ seine drei Söhne nicht beschneiden, wahrscheinlich aufgrund antireligiöser Motive.14 Konsequenzen für Theorie und Praxis der Psychoanalyse Für mich ist die Säuglingsbeschneidung zu einer Art Schlüssel geworden, mit dem ich besser verstehen kann, warum Freud dachte, wie er dachte. In diesem Zusammenhang zitiere ich gern Freud selbst: »Wir dürfen uns hier wiederum auf das Zeugnis der Beschneidung berufen, die uns wiederholt, als Leitfossil mals zur Kastrationsangst symbolisiert werden. Sie ist jetzt als Repräsentanz vorhanden. Sie lässt sich als Fantasie und damit auch als klinisch nachweisbares Erleben benennen. Daher scheint es zuzutreffen, dass die Kastrationsangst zur phallischen Phase gehört. Im Nachhinein ist zu sehen, dass das neonatale Trauma in Freuds Werk mit der Zeit eine doppelte Verschiebung erfahren hat. In die Vergangenheit, das heißt die Vorgeschichte, und in die Zukunft, das heißt die phallische Phase. 13 E-Mail vom 15. 10. 2002: 1878, Jan. 22 und 29. 14 Freud hat seiner Frau Martha, in der Woche nach der Eheschließung, 13. (Ziviltrauung) und 14. September (jüdische Trauung) 1886, für immer verboten, Sabbath zu feiern (Gay, 1988).

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sozusagen, die wichtigsten Dienste geleistet hat« (Freud, 1939, S. 139). Wenn ich durch diese Brille auf sein Werk und seine Theorie schaue, was sehe ich dann oder glaube zu sehen? (1) Könnte es eine Schlussfolgerung aus dem Vorigen sein, dass der Begriff »Kastrationsangst« auf ein tatsächlich stattgehabtes, Angst erzeugendes Ereignis im Leben des Säuglings, nämlich die Beschneidung, zurückgeführt werden kann? Dann kehrt die »Kastrationsangst« in der phallisch-ödipalen Phase als beängstigende Fantasie in dem Moment zurück, in dem sich bei dem inzwischen einige Jahre älteren Jungen der Wunsch zur frühen Selbstbefriedigung meldet und der Junge sich eingehend mit seinem Genitale beschäftigt. Vergessen wir nicht, dass diese spätere Selbstbeschäftigung eine Art Wiederholung ist von der Situation als Säugling: Das Glied wird gerieben, um die Beschneidung zu erleichtern (Colman, 1994, S. 608). Wenn diese Argumentation zutrifft, muss »Kastration« als zentrales organisierendes Konzept relativiert werden, denn nur ein kleiner Teil der gesamten männlichen Weltbevölkerung wurde als Säugling beschnitten. Nun lässt sich einwenden, dass Kastrationsangst auch ohne Säuglingsbeschneidung aufgrund des Talionsprinzips »Auge um Auge, Zahn um Zahn« vorkommt. Der Junge fürchtet die Rache seines Vaters, weil er ihn wegen seiner inzestuösen Wünsche gegenüber der Mutter weghaben will. Aber wenn das Talionsprinzip gilt, dann doch in beide Richtungen. Wurde dem Jungen vielleicht zuerst etwas angetan, dass er so gern seinen Vater beseitigen will? Zum Beispiel die Beschneidung? Rache und Vergeltung? Wir gelangen zur komplexen Interaktion zwischen dem individuellen Fantasieleben des Kindes einerseits und realen Ereignissen andererseits. Ich denke, dass Freud ohne die Vehemenz der Säuglingsbeschneidung nicht auf die Idee der Kastrationsangst als Angstkategorie gekommen wäre. Aber das bedeutet nicht, dass die Angst, eventuell weniger heftig, bei nicht vielen Männern bestehen würde. Das ist jedoch etwas anderes als die Annahme, dass sie bei allen Jungen in der Entwicklung vorkommt und immer als organisierendes Prinzip notwendig ist. Drei andere Autoren haben, unabhängig voneinander, aufgrund von verschiedenen Argumenten, in dieselbe Richtung gedacht: Colman (1994), Rudnytsky (1998) und Maciejewski (2002). (2) Ausgehend von der Wahrscheinlichkeit, dass es so etwas gibt wie ein neonatales Beschneidungstrauma, muss man den Psychoanalytikern nach Freud, welche die Rolle von Laios und Iokaste in den Blick rückten, nachträglich viel mehr Recht geben, als es bisher der Fall war (Bergmann, 1992). Kurz gesagt läuft es darauf hinaus, dass nicht Ödipus mit dem Vatermord angefangen hat, sondern seine Eltern ihm vorher nach dem Leben trachteten. Dabei geht es um zwei Dinge: die Durchbohrung seiner Füße und den Versuch, ihn umzubringen. Ich wende mich jetzt der Durchbohrung seiner Füße zu, weil sie als

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ein traumatisches Äquivalent zur Säuglingsbeschneidung angesehen werden kann. Dass es sich um eine traumatische Sensibilisierung seiner Füße handelt, ist an den Ereignissen an der Wegkreuzung abzulesen, wo Ödipus dem Laios begegnete. Von Ranke-Graves (1960), der die griechischen Mythen erforscht hat, erzählt es folgendermaßen: »Eines der Räder fuhr über den Fuß von Ödipus und in einer Aufwallung von Wut tötete er« erst den Wagenlenker und dann Laios. Als also eines der Räder Ödipus über den Fuß fuhr, einen Fuß mit der Narbe von der früheren Durchbohrung, geriet er in Wut und nahm nach dem bekannten Mechanismus der Identifizierung mit dem Aggressor Rache. Eine ziemlich übertriebene Reaktion, könnte man einwenden, zwei Menschen zu töten, es sei denn, man bedenkt, dass der Fuß im Spiel war. Worüber Sophokles den Ödipus sagen lässt: »Ein schmählich graunvoll Zeichen trug ich hier davon.«15 Anschließend hat Ödipus für eine Weile Profit aus seiner Behinderung gezogen. Wegen seiner »Fußempfindlichkeit« erweist er sich als einziger im Stande, das Rätsel der Sphinx zu lösen.16 Es handelt nämlich von Füßen – und nicht von Beinen, wie ziemlich oft ungenau gesagt wird. Ja, das Rätsel lautet: »Welches Wesen mit nur einer Stimme hat manchmal zwei Füße, manchmal drei, manchmal vier und ist am schwächsten, wenn es die meisten Füße hat?«17. Ödipus’ Füße spielen also nicht nur zu Beginn seines Lebens, sondern auch später eine zentrale Rolle. Als er sich dann die Augen aussticht, kann man darin eine Verschiebung der ursprünglichen Durchbohrung seiner Füße nach oben erblicken. Verstümmelung und Selbstverstümmelung also. Parallel dazu kann man sich fragen, ob nicht die Säuglingsbeschneidung auch das Risiko einer traumatischen Sensibilisierung des Genitales in sich birgt. Natürlich kann dieses Risiko je nach der genetisch festgelegten Verletzlichkeit des Kindes und der Verfügbarkeit liebevoller und beschützender Eltern verstärkt oder abgemildert werden. Über Ödipus’ Eltern braucht man wenig Zweifel zu haben: Sie waren ausgesprochen feindselig und wollten seinen Tod. (3) Schon vorher habe ich meine Zweifel an der universellen Gültigkeit der Kastrationsangst als organisierendem Prinzip der ödipalen Phase angemel15 Sophokles, König Ödipus, Vers 1035 in der Übersetzung von J. J. Donner. Die wörtliche Übersetzung lautet: »Da nahm ich eine schlimme Schande aus den Windeln mit.« 16 Ich danke Herrn Prof. Dr. Hans Werner Ritter, Marburg, der half, die originalen griechischen Texte über das Rätsel der Sphinx ausfi ndig zu machen. 17 Nach Robert von Ranke-Graves (1960, S. 8). Hier heißt es im Gegensatz zum Original »Beine« statt »Füße«. In der niederländischen Übersetzung ist es korrekt mit »Füße« wiedergegeben. Auch bei Gustav Schwab heißt es: »Es ist am Morgen vierfüßig, am Mittag zweifüßig, am Abend dreifüßig. Von allen Geschöpfen wechselt es allein die Zahl seiner Füße; aber eben, wenn es die meisten Füße bewegt, sind Kraft und Schnelligkeit bei ihm am geringsten« (1963, S. 160).

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det. Der Zweifel wird nicht nur durch seine Zurückführung auf den neonatalen Eingriff am Genitale ausgelöst. Es ist ein soziologischer Zufallsfaktor im Spiel. Freud arbeitete – mit Ausnahmen – im Umfeld von nahezu ausschließlich beschnittenen Männern. Das waren seine jüdischen Schüler und Patienten und auf Dauer amerikanische Patienten. Letztere stammten meist aus den besseren Kreisen, welche die neonatale Beschneidung als hygienisches Gruppenzeichen begrüßt hatten. Zudem waren sie oft noch Ärzte (Gay, 1988) und gehörten einer Berufsgruppe an, welche die neonatale Beschneidung als segensreich propagierte. Dieselbe Berufsgruppe, die später in den USA die Psychoanalyse als exklusives Jagdrevier für sich in Anspruch nahm. Kurzum, für diese Gruppe war die neonatale Beschneidung nicht nur ichsynton, sondern sogar sozio- und kultursynton. Es verwundert deshalb auch nicht, dass innerhalb dieser Gruppe kaum über die neonatale Beschneidung als mögliches Trauma nachgedacht wurde. Viele jüdische Psychoanalytiker, die während der Nazi-Herrschaft flüchteten, trafen in England und den Vereinigten Staaten eine Welt an, die, was die Säuglingsbeschneidung betraf, mit ihrem eigenen Hintergrund identisch war. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die amerikanisch-englische Psychoanalyse, verstärkt durch die Emigranten aus Europa, weltweit dominierend. Die ursprünglich wienerisch-jüdische Enklave, in der sich die Psychoanalyse entwickelt hatte, erfuhr dadurch eine enorme Verbreitung. Viele von Freuds richtungsweisenden Nachfolgern waren selbst neonatal beschnitten, genauso wie ihre männlichen Patienten. Das hat wahrscheinlich zur immer neu bestätigten Feststellung der Kastrationsangst geführt. Derweil blieb ihre möglicherweise tiefere Ursache verborgen. Man kann sich fragen, wie viele Kasuistiken von Männern ohne Erwähnung relevanter Daten über die neonatale Beschneidung publiziert wurden. Für die klinische Praxis bedeutet das, dass unzählige Unsicherheiten und Ängste nichtbeschnittener Männer simplifizierend und mit großer Bestimmtheit auf Kastrationsangst zurückgeführt wurden, während eine abwartendere und forschendere Haltung des Analytikers am Platz gewesen wäre. Psychoanalytiker nach Freud haben das Wort »Kastration« im erweiterten und eben im metaphorischen Sinne gebraucht. Freud selbst wehrte sich dagegen (Freud, 1909, G. W. VII, S. 246). Er nahm den Begriff »Kastrationsangst« wörtlich. Ich selbst finde die metaphorische Erweiterung des Begriffes unglücklich. Ja, die reale Erfahrung, auf der sie beruht, der neonatalen Beschneidung, ist eben nicht universell, sondern auf einen kleinen Teil der Weltbevölkerung beschränkt, das heißt vor allem amerikanische und jüdische Männer. Auch ohne die Kastrationsangst als organisierendes Prinzip bleibt Freuds Entdeckung des ödipalen Dreiecks mit all seinen Ambivalenzen und Frustrationen allgemein brauchbar, ich meine sogar, besser.

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(4) Nimmt man an, dass die Beschneidung für ein Neugeborenes viel eingreifender ist, als die Erwachsenen denken, das Äquivalent einer »Kastration«, begreift man besser, warum Freud die Wahrnehmung des Geschlechtsunterschiedes zwischen Männern und Frauen mit dem Besitz oder Nichtbesitz eines Penis, mit kastriert oder nicht kastriert beschrieb. Die Erfahrung, im Genitalbereich beschädigt zu sein, musste schlichtweg anders eingeordnet werden. Wo besser als bei Frauen, die nun einmal keinen Penis haben, also einen bequemen Aufhänger für dieses Erleben bilden: Projektion also. Natürlich ist es so, dass Freuds Ideen über Frauen stark von seiner Zeit beeinflusst waren. Aber die Säuglingsbeschneidung kann erklären, wie er auf seinen phallischen Monismus kam. Wenn der Penis von Verlust bedroht ist, wie bei der neonatalen Zirkumzision, wird sein Besitz narzisstisch überbewertet. Der Besitz ist dann nicht ein Anlass zu natürlichem männlichem Stolz, wie Frauen ihn auch auf ihre Weiblichkeit haben können. Es ist ein wackeliger Besitz. Die narzisstische Überbewertung des Penis muss den Eigentümer fortwährend über den drohenden Verlust beruhigen. Ich kenne männliche Patienten, die in früher Jugend beschnitten wurden und keinerlei Unvollkommenheit bei Frauen ertragen oder als Don Juan ständig Beruhigung über das Funktionieren ihres Geschlechtsteils suchen. Natürlich spielen dabei auch andere Faktoren als die Beschneidung eine Rolle. Meiner Meinung nach braucht man also die Kastrationsfantasie nicht als Urfantasie (Laplanche u. Pontalis, 1973), um den Geschlechtsunterschied zu begründen. (5) Freud nahm an, dass in der frühkindlichen Objektbeziehung Hass der Liebe vorausgehe (Freud, 1913, S. 451; Freud, 1915, S. 231). Seines Erachtens stammt das aus der ursprünglichen Zurückweisung der Außenreize durch das narzisstische Ich. Aber könnte diese Hypothese Freuds nicht in den extrem schmerzhaften Reizen der Beschneidung ihren Ursprung haben? Wäre er auch ohne die neonatale Beschneidung zu dieser Schlussfolgerung gelangt? Die gegenwärtige Forschung zeigt, dass sich der Säugling von Anfang an an der Außenwelt orientiert. Er neigt zur bedingungslosen Bindung. Unter diesem Gesichtspunkt ist Hass im Hinblick auf die Liebe sekundär. Aber sollen wir von Hass sprechen? Wäre Wut nicht besser? Das Wort Hass unterstellt unterdrückte Liebe und ohnmächtige, aufgestaute Wut auf eine überwältigende Übermacht. In der Hypothese des Todestriebes nimmt Freud an, dass diesem Hass sogar etwas vorausgeht, nämlich der primäre Masochismus. Beide Arten des Hasses, gegen sich selbst oder gegen andere, ließen sich bequem auf das Beschneidungserlebnis zurückführen. Der Säugling würde dann zu Beginn des Lebens durch die Beschneidung in eine sadomasochistische Dimension hineingeführt. Alles in allem denke ich, es wäre richtiger, bei der normalen Entwicklung davon auszugehen, dass Liebe

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und Wut wie bei allen Primaten von Anfang an nebeneinander vorkommen (vgl. auch Kollbrunner, 2001, S. 292). (6) In der Beschreibung der analytischen Situation spielt bei Freud »schneiden« – in die Chirurgenmetapher verpackt (Stepansky, 1999) – eine große Rolle. Warum? Man kann natürlich an Freuds histologische Untersuchungen denken und davor an das Spielen mit metallenen Gegenständen im Untergeschoss bei dem Schmied Zajic. Aber könnte dieses »Schneiden« auch als Umkehrung der Beschneidungssituation zu verstehen sein? Es gibt in der Konstruktion der analytischen Situation einige Elemente, die mich in diese Richtung denken lassen. Betrachtet man alte Drucke mit Abbildungen von Beschneidungen, dann liegt oder lehnt ein kleiner Junge auf dem Schoß eines Mannes, der ihn festhält. Der Mohel, der Beschneider, kniet vor dem Genitale des Jungen. Der Psychoanalytiker handhabt laut einer der bekannten Metaphern Freuds das chirurgische Messer der Analyse. Macht er verbal, was der Mohel damals mit seinem schneidenden Instrument machte? Im Psychoanalytiker scheint die Figur des Mannes, bei dem der Junge auf dem Schoß, sprich der Couch, liegt, und die des Mohel verschmolzen zu sein. Der Psychoanalytiker befasst sich mit der infantilen Sexualität, wie es die beschneidenden Erwachsenen damals mit dem Babygenitale des Jungen gemacht haben. Wenn man dies alles in Betracht zieht, lässt die von Freud entworfene psychoanalytische Situation an eine aktive Reinszenierung der passiv erlittenen Beschneidungssituation denken. Diese sechs Punkte aus Freuds Theorie und Praxis hängen meines Erachtens mit der neonatalen Beschneidung zusammen. Ich bin mir ganz bewusst, dass Franz Maciejewski seine eigenen Beiträge zu diesen Themen in seinem Buch »Psychoanalytisches Archiv und jüdisches Gedächtnis. Freud, Beschneidung und Monotheismus« (2002) gemacht hat. Beispiele für den verborgenen Einfluss der Beschneidung auf Freuds Leben Zum Schluss will ich einige Beispiele möglicher Spuren der Beschneidung in Freuds Leben nennen. Sie sind weniger bedeutend als das Vorausgegangene, weil wir in unserem Alltag weniger mit seinem Leben als mit seinem Werk zu tun haben. Doch können sie als eine Art Illustration etwas beitragen. Erneut bitte ich den Leser, mit mir durch eine bestimmte Brille sub specie circumcisionis zu schauen. Ich bin mir vollkommen bewusst, dass es sich hier um Vermutungen handelt, wenn man will, Spekulationen, die niemals wirklich bewiesen werden können, Spekulationen, die einen ansprechen oder nicht.

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(1) Ein erstes Beispiel: Freud verkürzte seinen Vornamen. Das war schon früher vielfach bemerkt worden. Mir fiel es auf, weil er seinen Vornamen bei der Brit Mila bekam. Ich denke, dass das Verkürzen des Vornamens sein Protest dagegen war. Er konnte das definitive Merkmal an seinem Penis nicht verändern, jedoch den Vornamen, den er bei dieser Gelegenheit erhielt. Peter Gay berichtet, dass die Namen, die sein Vater in die Familienbibel schrieb, Freuds Pubertät nicht überlebten. Schlomo, den zweiten Namen vom Großvater väterlicherseits, benutzte er nie. Und nachdem er in den letzten Schuljahren mit Sigmund experimentiert hatte, nahm er diesen Namen definitiv nach 1873 an, in dem Jahr, in dem er sich an der Universität Wien einschrieb. Aber warum gebrauchte er nie Schlomo? Eine Erklärung könnte sein, dass er lispelte (Kollbrunner, 2001, S. 16 f.). Das wäre aber eine nur funktionelle Erklärung. Ich denke, dass mehr im Spiel ist. Ich denke, dass er den rituellen hebräischen Namen Schlomo aus unbewusstem Protest gegen das schmerzhafte Ritual des Brit Mila, bei dem er den Namen erhielt, entfernte. Natürlich kann der unbewusste Protest nicht unabhängig von Freuds breiterem, gut dokumentierten Widerwillen gegen die Religion gesehen werden. Ein treffendes Beispiel hierfür ist die Tatsache, dass er in der ersten Woche ihrer Ehe seiner Frau Martha verbot, jemals wieder den Sabbat zu feiern. Könnte dieser autoritäre und unerwartete Eingriff in Marthas religiöse Bedürfnisse eine Wiederholung und Umkehrung des schmerzhaften Eingriffs an seinem Körper sein, als er ein Säugling war? Martha hat es jedenfalls als eine der schockierendsten Erfahrungen ihres Lebens bezeichnet. Freuds säkularer Name war Sigismund, ein populärer Name bei Juden, deren Vorfahren aus Polen stammten. Sie ehrten damit einige tolerante polnische Könige dieses Namens (Kobler, 1962). Warum veränderte Freud ihn? Wieder, weil er lispelte? Von Bedeutung ist die Tatsache, dass die wörtliche Bedeutung von Sigmund im Deutschen »vertraut mit, bekannt wegen des Obsiegens« ist. Wenn er den Namen schrieb, kürzte er ihn noch weiter zu »Sigm.«, damit noch mehr das verbleibende »Sieg«, obsiegen, betonend. Zusammenfassend denke ich, dass Freuds drastische Verkürzung seines Vornamens eine verschobene Selbstbeschneidung, eine Umkehrung von Passivität in Aktivität ist. Er besorgte sich einen eigenen Vornamen, emanzipierte sich damit von seiner schmerzhaften Vergangenheit und erklärte sich zum Sieger. (2) Es sind fünfundfünfzig eigene Träume Freuds bekannt. Es gibt aber einige, in denen Angst eine solche Rolle spielt, dass die Wunscherfüllung versagt und der Träumer erwacht. Ein derartiger Traum, der meines Erachtens als eine ziemlich buchstäbliche Abbildung der Beschneidungssituation verstanden werden kann, ist der folgende (Freud, 1900, S. 455). Leider kann hier nur ein kurzer Abschnitt des Traumes zitiert werden: »Der alte Brücke muss mir irgend

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eine Aufgabe gestellt haben; sonderbar genug bezieht sie sich auf Präparation meines eigenen Untergestells, Becken und Beine, das ich vor mir sehe wie im Seziersaal, doch ohne den Mangel am Körper zu spüren, auch ohne Spur von Grauen. Luise N. steht dabei und macht die Arbeit mit mir. Das Becken ist ausgeweidet, man sieht bald die obere, bald die untere Ansicht desselben, was sich vermengt. Dicke fleischrote Knollen, bei denen ich noch im Traum an Hämorrhoiden denke, sind zu sehen. Auch musste etwas sorgfältig ausgeklaubt werden, was darüber lag und zerknülltem Silberpapier glich.« Im Rest des Traumes spielen die Beine und die Frage eine große Rolle, ob sie ihn tragen können oder nicht. Im Zusammenhang damit nennt Freud in einer Fußnote Kinderwagen. Ich verzichte auf einen weiteren Kommentar, der Text spricht meines Erachtens für sich selbst. Nur möchte ich an die früher erwähnte Tatsache erinnern, dass der Säugling ein sehr globales Körperschema hat, wodurch die Beschneidung leicht als ein Anschlag auf den gesamten Unterleib erlebt werden kann. Anzieu (1996) widmet der Besprechung dieses Traumes zwölf fesselnde Seiten, ohne Freuds Beschneidung auch mit nur einem Wort zu erwähnen. Jedoch spricht er von Zergliederung und Trennung von der Mutter. Colman (1994) hat einige Träume Freuds neu interpretiert, im Lichte von möglichen Erinnerungen von Sigmund an die Beschneidung seines jüngeren Bruders Julius. (3) Wenn man die neonatale Beschneidung als wichtiges Ereignis am Beginn von Freuds Leben betrachtet, überrascht es, am Ende seines Lebens ihre unbewusste Wiederauferstehung anzutreffen. Schur (1973) berichtet aus Freuds letzten Tagen: »Die letzte Phase begann, als es ihm schwer wurde zu lesen.« Freud las nicht aufs Geratewohl, sondern sorgfältig ausgewählte Bücher aus seiner Bibliothek. Das letzte Buch, das er las, war Balzacs »La peau de chagrin« (1831). Nebenbei merke ich an, dass sich das Buch also schon in Freuds Bibliothek befand; er wählte es ganz bewusst aus. Das Buch ist ins Deutsche als »Das Chagrinleder«, aber auch »Die Schicksalshaut« und »Die tödlichen Wünsche« übersetzt. Nachdem er es gelesen hatte, sagte er beiläufig zu Schur: »Das war das richtige Buch für mich; es handelt von Einschrumpfen und Tod.« Der Schriftsteller Kollbrunner denkt, dass diese Äußerung eine Anspielung auf die vom Krebs befallene Schleimhaut in Freuds Mund ist. Die Mundhöhle und der Kiefer bereiteten ihm so viel Elend, so viel »chagrin«. Natürlich ist das angesichts Freuds Zustand und auf bewusster Ebene möglich. Aber es gibt meines Erachtens eine zweite, unbewusste Bedeutungsschicht. Das Buch handelt von einem Talisman aus einem losen Stück Eselshaut. Es hat die magische Eigenschaft, jeden Wunsch seines Besitzers zu erfüllen. Danach schrumpft es. Je mehr es schrumpft, desto kürzer ist die verbleibende Lebensspanne des Besitzers und desto näher rückt sein Tod. Ich denke, dass das Stück Eselshaut unbewusst die abgeschnittene und verlorene

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Vorhaut repräsentiert. Der Held des Buchs hat den Talisman gerade bei einem alten jüdischen Trödler gekauft, ein nicht unbedeutendes Detail, wenn man an das jüdische Beschneidungsritual denkt. Der Talisman trägt das Siegel des Salomo, genau desselben hebräischen Namens Schlomo, den Freud bei seiner Beschneidung erhielt, aber später verwarf. Die Magie des Talismans verweist wie selbstverständlich auf die frühe Kindheit. Das tut auch die unbegrenzte Wunscherfüllung. Aber warum muss der Besitzer des Talismans für die Erfüllung seiner Wünsche so bestraft werden? Warum darf er nicht glücklich und zufrieden sein? Weil der Penis als Ort des sexuellen Genusses und daher ein geeignetes Symbol für die Befriedigung aller Wünsche durch die Beschneidung von Anfang an mit einer katastrophalen Erfahrung verbunden ist. Besitz und Gebrauch des Talismans – sprich Vorhaut – stellen zwar magisch die wunscherfüllende Fähigkeit des intakten Penis wieder her, aber auch die Katastrophe der Beschneidung. Vergessen wir nicht, dass Freud Kastration mit Tod gleich setzte. Diese Gleichsetzung ist nicht zufällig. Wahrscheinlich ist es ein unbewusster Hinweis, dass der Säugling Todesangst erfährt während der Beschneidung. Freuds Faszination für dieses Buch enthält möglicherweise noch andere Elemente. Diese Elemente wurden mir schärfer bewusst nach der Lektüre von Maciejewskis Buch: »Der Moses des Sigmund Freud. Ein unheimlicher Bruder« (2006). Ich denke in erster Linie an die schuldhaften Todeswünsche gegen Julius. Der Besitzer des Talismans tötet einen Rivalen im Duell, indem er sich wünscht, dass seine Kugel trifft. Tatsächlich geschieht das, aber es war gleichzeitig einer seiner letzten Wünsche, und die Eselshaut schrumpft noch mehr zusammen. Der Täter realisiert, dass dieser magische Mord eine Art Selbstmord war, genau wie Freud mit dem Schuldgefühl über den magisch erfüllten Todeswunsch gegen seinen Bruder Julius rang. Außerdem kehrt in diesem Buch auch das Zwei-Frauen-Thema wieder, das in Freuds Leben eine so große Rolle spielte – man denke an Mutter Amalia und die Kinderfrau Monica Zajic sowie an Martha und Minna. Der Held schwankt zwischen zwei Lieben. Und schließlich kommt in diesem Buch die Ambivalenz gegenüber der Mutter vor. Sterbend beißt der Held der Geliebten in die Brust. Die verlorene Vorhaut kehrte in »Die Schicksalshaut« zurück und wurde der magische Ort von Leben und Tod. Es ist ein anschauliches Beispiel für die Rückkehr des Verdrängten. Der traumatische Beginn von Freuds Leben kehrt am Ende wieder zurück. Der Kreis war geschlossen.

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Die Beschneidung aus jüdischhumanistischer Perspektive

»According to the Talmud, a voice from heaven should be ignored if it is not on the side of justice«, Isaac Bashevis Singer (in »A Young Man in Search of Love«, 1978). »Wollt ihr uns Juden noch?« Mit diesen Worten hatte sich die Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, als »Überlebende der Schoah«, vehement gegen das Kölner Urteil zur Wort gemeldet (Knobloch, 2012). Ihr Artikel begann sogar folgendermaßen: »Sechzig Jahre lang habe ich als Überlebende der Schoah Deutschland verteidigt. Jetzt frage ich mich, ob das richtig war.« Ohne Zurückhaltung schrieb sie, dass die »verschwindend kleine jüdische Existenz in Deutschland« durch das Kölner Urteil infrage gestellt sei. In Österreich war die Lage nach dem Urteil nicht besser, die Wellen gingen hoch. So hatte der Ehrenpräsident der Israelitischen Kultusgemeinde, Ariel Muzicant, sich einen unseligen Vergleich erlaubt: Das Verbot der Beschneidung sei für ihn nichts weniger als dem »Versuch einer neuerlichen Shoah, einer Vernichtung des jüdischen Volkes, gleichzusetzen – nur diesmal mit geistigen Mitteln« (Hasewend u. Schachner, 2012). Wie können Frau Knobloch und Herr Muzicant ignorieren oder vergessen, dass sogar unter den Juden die Beschneidung in der Vergangenheit sehr umstritten war … und heute noch immer ist. Ein kurzer historischer Abriss soll beweisen, wie sich die verschiedenen Positionen entwickelt haben, und, vor allem, in welchem historischen Kontext diese zu sehen sind. Es stellt sich daher die Frage, wie man heutzutage eine humanistische und laizistische Position vertreten kann, die die »Zwangsbeschneidung« ablehnt, ohne die jüdische Identität in Gefahr zu bringen. Ist es denn wirklich nicht möglich, siebzig Jahre nach der Vernichtung der europäischen Juden, Reformen im Judentum zu befürworten? Die vielen Vereine und Gruppierungen zur Förderung progressiver und liberaler Ideen, die sich, besonders in den USA und in Israel, aber auch in Europa, seit dem Zweiten Weltkrieg entwickelt haben, veranschaulichen, dass die Auf-

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klärung immer noch im Gang ist. In diesem Sinne spielen auch Künstler in der Verbreitung der Ideen der Emanzipation eine Vorreiterrolle. Kurzer historischer Abriss Es ist bekannt, dass die Beschneidung in der Thora als Zeichen des Bundes zwischen Gott und dem jüdischen Volk beschrieben wird. Im ersten Buch Mose (Genesis), Kapitel 17, liest man: »Der Herr sprach zu ihm [Abram]: Ich bin Gott, der Allmächtige. Geh deinen Weg vor mir und sei rechtschaffen! Ich will einen Bund stiften zwischen mir und dir und dich sehr zahlreich machen. […] Das ist mein Bund mit dir: Du wirst Stammvater einer Menge von Völkern. Man wird dich nicht mehr Abram nennen. Abraham [Vater der Menge] wirst du heißen; denn zum Stammvater einer Menge von Völkern habe ich dich bestimmt. Ich mache dich sehr fruchtbar und lasse Völker aus dir entstehen; Könige werden von dir abstammen. Ich schließe meinen Bund zwischen mir und dir samt deinen Nachkommen, Generation um Generation, einen ewigen Bund: Dir und deinen Nachkommen werde ich Gott sein. […] Und Gott sprach zu Abraham: Du aber halte meinen Bund, du und deine Nachkommen, Generation um Generation. Das ist mein Bund zwischen mir und euch samt deinen Nachkommen, den ihr halten sollt: Alles, was männlich ist unter euch, muss beschnitten werden. Am Fleisch eurer Vorhaut müsst ihr euch beschneiden lassen. Das soll geschehen zum Zeichen des Bundes zwischen mir und euch. Alle männlichen Kinder bei euch müssen, sobald sie acht Tage alt sind, beschnitten werden in jeder eurer Generationen, seien sie im Haus geboren oder um Geld von irgendeinem Fremden erworben, der nicht von dir abstammt« (Gen 17,1–12). Mit dieser Begründung werden männliche Säuglinge am achten Tag beschnitten. Diese Operation sollte man jedoch genauer als »Zwangsbeschneidung« bezeichnen, da sie ohne den Willen der Betroffenen vollzogen wird. Darüber hinaus fragt man sich, warum denn Mädchen und Frauen kein Zeichen des Bundes mit Gott haben dürfen, und schließlich, ob Juden überhaupt alle Gebote der Thora unbedingt befolgen sollten. Im dritten Buch Mose (Levitikus) steht zum Beispiel: »Wenn jemand bei einem Manne liegt wie bei einer Frau, so haben sie getan, was ein Gräuel ist, und sollen beide des Todes sterben« (Lev 20,13). Außer einigen Fanatikern in Mea Shearim (dem streng orthodoxen Stadtteil von Jerusalem) würde kein vernünftiger Jude heute versuchen, Homosexuelle zu ermorden. So finden wir auch im fünften Buch Mose (Deuteronomium) folgende Strafe für Menschen, die Ehebruch begehen: »Wenn ein Mann dabei ertappt wird, wie er bei einer verheirateten Frau liegt, dann sollen beide sterben, der Mann, der bei der Frau gelegen hat, und die Frau. Wenn ein unberührtes Mädchen mit

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einem Mann verlobt ist und ein anderer Mann ihr in der Stadt begegnet und sich mit ihr hinlegt, dann sollt ihr beide zum Tor dieser Stadt führen. Ihr sollt sie steinigen und sie sollen sterben, das Mädchen, weil es in der Stadt nicht um Hilfe geschrien hat, und der Mann, weil er sich die Frau eines andern gefügig gemacht hat« (Dtn 22,23). Menschen, die diese Gebote nicht befolgen, zum Beispiel indem sie für die Gleichberechtigung von Homosexuellen einstehen oder einfach, weil sie gegen die Todesstrafe sind, könnten sich auch auf das Recht auf körperliche Unversehrtheit berufen, um sich gegen die Zwangsbeschneidung zu äußern. Wir werden im Folgenden sehen, dass man sich trotz der Vernichtung der Juden im Zweiten Weltkrieg kritisch zum Thema äußern sollte! Schon im alten Ägypten findet man die ersten Belege für Beschneidungen (2300 v. Chr.). Die Juden haben diese Praxis übernommen, religiös begründet, und das Ritual im Laufe der Zeit abgeändert. Im ersten Kapitel seines Buchs über »The world’s most controversial surgery« (2001) erklärt David Gollaher, wie die Beschneidung im Laufe der Zeit für manche Juden ein problematischer Eingriff geworden ist. Viele Juden hatten sich an die griechische Kultur assimiliert, wie etwa Flavius Josephus, der große Historiker der Antike, der fast nur auf Griechisch geschrieben hat. Die Griechen der Antike verabscheuten die Beschneidung als Genitalverstümmelung oder machten sich während sportlicher Wettkämpfe über die durch die Beschneidung freigelegte Eichel lustig. Daher versuchten manche Juden die Beschneidung rückgängig zu machen, indem sie das, was von der Vorhaut noch übrig war, dehnten, um den Eingriff so weit wie möglich ungeschehen zu machen. Als Reaktion entschieden die Rabbiner, die Beschneidung von nun an radikaler auszuführen: »To prevent this, probably around the middle of the second century, rabbis augmented milah [which meant cutting off a portion of an infant’s foreskin] with periah, a radical ablation of the foreskin that bared the glans entirely« (Gollaher, 2001, S. 17). Der dritte Schritt in dieser Entwicklung zu einer kompletten und (end)gültigen Beschneidung war die Metzitzah (oder Meziza), bei der das Blut direkt mit dem Mund des Mohels (des Beschneiders) abgesaugt wird, wobei es zu lebensgefährlichen Infektionen kommen kann (z. B. wenn der Mohel Herpesträger ist). Diese Etappe wird immer noch von ultraorthodoxen Gemeinden in der ganzen Welt praktiziert (mit 3.600 Mezizot pro Jahr allein in New York; Otterman, 2012). In der Entwicklung der Beschneidung schien es darum zu gehen, die Kinder auf eine Art und Weise zu »markieren«, die es ihnen später nicht ermöglichen sollte, diesen Bund zu leugnen. Parallel dazu scheint seit dem 1. Jahrhundert auch die Unterbindung der Lust sowie des sexuellen Genusses ein weiteres Ziel der Beschneidung geworden zu sein. Philon von Alexandria, einer der bedeu-

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tendsten Denker des hellenistischen Judentums, wollte mit der Beschneidung die »exzessive und überflüssige Lust« vermeiden (Glick, 2005). Diese Begründung findet sich bis in die puritanischen Vereinigten Staaten des 19. Jahrhundert wieder. In seinem Buch »Marked in your flesh: Circumcision from ancient Judea to modern America« führt Glick ein aufschlussreiches Zitat von Maimonides an. Der wichtigste jüdische Philosoph, Rabbi und Arzt des 12. Jahrhunderts befürwortete die Beschneidung aufgrund der dämpfenden Wirkung auf den Sexualtrieb (ein Beweis, dass man damals schon verstanden hatte, dass die Beschneidung mit Sensibilitätsverlust des Penis einhergeht). Spätestens im England des 18. Jahrhunderts wurde dieses Ritual als ein für das jüdische Volk zusammenhaltender Faktor gesehen. Als 1753 ein Gesetz die Einbürgerung von Juden ermöglichen sollte (die sogenannte »Jew Bill«), wurde die Ausführung von Beschneidungen offiziell erlaubt (wenn auch nur unter bestimmten Bedingungen). Die Aufregung der Engländer war groß und der Antisemitismus stark, weil viele Geschäftsleute sich vor der Konkurrenz der Juden fürchteten. So drückte die öffentliche Meinung ihre Angst letztendlich durch einen Angriff auf die Beschneidung aus. Dana Rabin hat es prägnant formuliert: »The threat seems to have been based on an anxiety about difference: fear that the naturalization of Jews would inaugurate a vast Jewish conspiracy to circumcise British men and to rob them of their masculinity and virility […] a fear of being taken unawares, fear of an infiltration by the Jews as well as a fear that universal circumcision would erase the distinction between different groups and erode their particularity as Christians, as Anglicans, and as Britons« (Rabin, 2006, S. 160). Nichtjuden waren auf dieses besondere jüdische Merkmal neidisch, aber niemand nutzte die Gelegenheit, die Beschneidung objektiv zu kritisieren. Erst in der französischen Aufklärung und ihrem jüdischen Pendant, der Haskala, wurde die Beschneidung innerhalb der jüdischen Gemeinden infrage gestellt. So hat der französische Philosoph Voltaire (1694–1778) die Beschneidung eindeutig in seinem »Essai sur les mœurs et l’esprit des nations« als »unnatürlichen Eingriff« verurteilt (Voltaire, 1769/1963, S. 252). Bei den Juden dauerte es noch fast ein Jahrhundert, bis sich Vernunft und rationales Denken bei der Behandlung dieses Themas artikulieren konnten. Die Beschneidung blieb zum Beispiel für Rabbi Nachman von Bratslav (1772–1810) wie für Maimonides ein Mittel, das Empfinden beim Sexualverkehr drastisch zu reduzieren. Er schrieb, dass der Zaddik (ein hochangesehener Mann im Chassidismus) Schmerzen beim »Kopulieren« empfinden soll, als Erinnerung an die Beschneidung (Glick, 2005). Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Thema Beschneidung fand erst ab den 1820er Jahren und vor allem 1840er

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Jahren mit der Reformbewegung statt. Der jüdische Arzt Philipp Wolfers (1796– 1832) verfasste 1831 ein kleines Buch mit einem Kapitel »Von der Beschneidung, in religiöser und hiernach in medizinisch-polizeilicher Beziehung«. Im fünften Kapitel schrieb er: »Der Rationalist wird den natürlichen Entstehungsgrund der Beschneidung nachzuweisen sich bemühen, zeigen, daß er andern Zeiten, anderen Völkern, einem anderen Clima angehörte und so die Beschneidung für unsere Zeiten, für unser Volk und für unser Clima verwerfen« (Wolfers, 1831, S. 48 und Storz, 2005 als Sekundärliteratur). Im gleichen Jahr veröffentlichte der Rechtsanwalt Gabriel Riesser (1806–1863) die »Vertheidigung der bürgerlichen Gleichstellung der Juden gegen die Einwürfe des Herrn Dr. Paulus: den gesetzgebenden Versammlungen Deutschlands gewidmet« (s. Abbildung 1). Paulus war ein Theologe, der die Beschneidung als »Nationalabsonderungszeichen« beschrieben hatte, um die Gleichstellung der Juden abzulehnen. Riesser berief sich auf die Religionsfreiheit, um seine

Abbildung 1: Titelblatt aus Riesser, 1831

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Stellung zu erläutern, und in seinem vierten und letzten Kapitel, konsequenterweise »Aufklärung« genannt, erzählt er von Fällen, bei denen jüdische Väter die Beschneidung ihrer Söhne verweigerten (Riesser, 1831, S. 63 f.). Der Zivilrechtler ging später einen Schritt weiter und wagte auch eine klare Kritik an der Zwangsbeschneidung, als er Folgendes schrieb: »Die Albernheit, dass das unbeschnittene Kind kein Jude sei und man nicht wisse, wohin es gehöre, bringt ja die einigermaßen kundige Orthodoxie selbst nicht mehr zu Markte, sondern sie redet bloß von der Unterlassungssünde des Vaters« (zit. nach Wollberg, 2007). Die Wissenschaft des Judentums, die sich zu dieser Zeit im Kontext der Emanzipation stark entwickelte, beruhte auf der Anwendung der historischkritischen Exegese auch auf die Grundtexte des Judentums (Tora und Talmud). Viele neue Zeitschriften baten damals um ausreichend Platz für langatmige Diskussionen, zum Beispiel die »Zeitschrift für die Wissenschaft des Judentums« (1823 begründet) oder von 1851 bis 1939 (!) die »Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums«. Anhand der Wochenzeitschrift »Der Orient«, die von 1840 bis 1851 erschien, lässt sich die damalige Diskussion um die Beschneidung eindrucksvoll rekonstruieren. In ihrer ersten Ausgabe nannte die Zeitschrift ihr Ziel: »Das Auserlesenste auf dem Gebiete der jüdischen und der damit verwandten orientalischen Geschichte und Literatur und das Gründlichste auf dem Felde der jüdischen Wissenschaft mitzutheilen«. Noch im ersten Jahr der Erscheinung, am 19. September 1840, erschien ein anonymer Artikel (von »L. L.«) gegen die Beschneidung von toten Säuglingen. Da es darum geht, die »Keuschheit des Subjectes« zu fördern, appelliert der Autor an die Vernunft: »Kein Vernünftiger wird nunmehr die Beschneidung bei einem todten Knaben anwendbar finden« (L. L., 1840 – notabene, chassidische Juden beschneiden immer noch tote Babys, siehe Parascandola, Blau, Paddock u. Badia, 2013). Nach der Gründung des »Frankfurter Vereins der Reformfreunde« (1842) wurde die Auseinandersetzung grundsätzlicher. Joseph Bergson, aus Berlin stammend, fasste seine Meinung auf zwei Seiten im »Orient« zusammen. Er schlug vor, eine Unterscheidung zwischen »fleischlicher und geistiger Beschneidung« einzuführen, und versicherte zugleich: »durch das Aufgeben der fleischlichen Beschneidung bezeuge man keine Lossagung vom alten Bunde«. Er verurteilte weiter eine »abnorme Gewalt-Procedur«, bezog sich auf die »Humanität« und bemerkte: »Doch ist der Mensch acht Tage nach der Geburt noch keine Person«. Seine Schlussfolgerung war eindeutig: »Hiernach rechtfertigt sich der Standpunkt vollkommen, auf welchem die Beschneidung durchaus nicht den Israeliten zum Israeliten macht« (Bergson, 1843, S. 283). Drei Monate nach Bergson (der bald ein Buch zum Thema herausbringen sollte, vgl. Bergson, 1844) schrieb Raphael Kirchheim (1804–1889) in der

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gleichen Zeitschrift einen Artikel, in dem man die Grundideen der Laizität wiederfindet. In seiner »Stimme eines Juden über die Beschneidung« interessierte er sich für die Frage der Eintragung der Kinder in die Geburtsregister. Viele Juden waren gezwungen, die Söhne zu beschneiden, weil sie sonst nicht in die konfessionellen Register eingetragen werden konnten. Es gab damals keine staatlichen Geburtsregister, sondern nur konfessionelle. Wer nicht im Register stand, konnte weder heiraten noch beerdigt werden. Hilfe schien für Kirchheim aus dem Ausland zu kommen: »Man hat sich schon oft auf das Beispiel Frankreichs und Belgiens berufen, in welchen Ländern es jedem freistehe, seine Kinder beschneiden zu lassen oder nicht. Allein in diesen Ländern ist die Kirche vom Staate so getrennt, dass sich der Staat das religiöse Bekenntniß seiner Staatsangehörigen gar nicht kümmert; man hat den Gebornen nur als Bürger des Staats eintragen zu lassen und dieser überläßt es seinem Gutbefinden, ob er sich zu einer Konfession bekennen will oder nicht« (Kirchheim, 1843, S. 415). Als Erwiderung auf diese kritischen Stimmen seitens des Reformjudentums versuchte der liberale Rabbiner Leopold Zunz (1794–1886) die Beschneidung zu retten. Er meinte, eine Abschaffung der Beschneidung würde das Judentum spalten, und erklärte, »ein Selbstmord ist keine Reform« (zit. nach Wollberg, 2007). Abraham Geiger (1810–1874), die vielleicht wichtigste Stimme des Reformjudentums, antwortete Zunz am 18. März 1845 mit einem inzwischen berühmten Brief, in dem er die Beschneidung strengstens verurteilt: »[Die Beschneidung] verbleibt ein barbarisch blutiger Akt, der den Vater mit Angst erfüllt, die Wöchnerin in krankhafte Spannung versetzt, und das Opferbewusstsein, das sonst dem Akte eine Weihe gab, ist doch nun einmal bei uns verschwunden, wie es denn, als ein rohes auch keine Befestigung verdient« (Geiger, Kirchheim u. Geiger, 1885, S. 181 f.). Man sollte die Schriften von Samuel Holdheim (1806–1860), einem Rabbiner, der sich ebenfalls stark gegen die Beschneidung eingesetzt hatte, nicht unerwähnt lassen (Glick, 2005). Etliche öffentliche Debatten wurden zwischen 1844 und 1871 in ganz Deutschland von der Reformbewegung ausgelöst. Von Anfang an wurde klargestellt, dass diejenigen, die ihre Söhne nicht beschneiden lassen, durchaus auch Mitglied in der Gemeinde sein dürfen. Zwei Themen wurden besonders intensiv behandelt: Das oben erwähnte Problem der Eintragung in das Register sowie die gesundheitlichen Aspekte. So wollte zum Beispiel 1850 der Arzt Ignaz Landauer seinen Sohn nicht beschneiden lassen. Nach kategorischer Ablehnung des lokalen Rabbiners, das Kind in das Register der Gemeinde einzutragen, musste die Familie Landauer nach Speyer auswandern (Judd, 2007, S. 21). Mit Hinsicht auf die gesundheitlichen Fragen sprach sich 1863

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der gemäßigt reformorientierte Rabbiner Zacharias Frankel (1801–1875) gegen die Beschneidungsprozedur der Meziza aus, in der er gesundheitliche Gefahren, die eindeutig von Ärzten beschrieben worden waren, erblickte. Risiken sah man durch die »unmittelbare[] Berührung des Speichels des Beschneiders mit der Wunde, besonders bei geschwüriger Absonderung durch kariöse Zähne, eigenthümlicher Ranzigkeit bei Krankheiten des Magens, der Speicheldrüse im Munde, specifischer Verderbniss durch besondere Gewohnheiten (Tabakrauchen), Speisen u. dgl. m.« (Frankel, 1863). Nach zahlreichen Todesfällen in Wien kam es zu einer Konfrontation mit den traditionellen Gelehrten des Talmuds, in dem das Ritual der Meziza beschrieben wird. Frankel schrieb am Ende seines Artikels (ohne zu erwähnen, dass die Meziza in Frankreich schon seit 1844 verboten war), dass auch, selbst wenn die Anweisung »aussaugen mit dem Munde« im Talmud stehe, die »medicinische Rücksicht« Vorrang haben solle (Frankel, 1863, S. 154 f.). Theodor Herzl (1860–1904), der Begründer des politischen Zionismus, kritisierte nicht nur die Meziza, sondern ließ, selbst nicht religiös, seinen Sohn Hans (1891–1930) nicht beschneiden. Trotzdem wurde er hochgeehrt und von allen als Jude anerkannt, sogar eine Stadt in Israel wurde nach ihm benannt. In seiner Herzl-Biografie schrieb Stewart: »Herzl and [his wife] Julie, who disagreed on much, had agreed that Hans should not be circumcised. […] Thus Herzl was faced with the dilemma of being, in his own eyes, a freethinking European, but in the eyes of Europe, a Jew« (Stewart, 1974, S. 202). Zwei Jahrzehnte später findet man in den Tagebüchern von Franz Kafka (1883–1924) eine Beschreibung der Beschneidung, die aussagekräftig für sein Verständnis dieses Rituals ist. Am 24. November 1911 erzählte er über die Beschneidung seines Neffen: »Es ist eine dadurch erschwerte Operation, daß der Junge, statt auf dem Tisch, auf dem Schoß seines Großvaters liegt und daß der Operateur, statt genau aufzupassen, Gebete murmeln muß. Zuerst wird der Junge durch Umbinden, das nur das Glied frei läßt, unbeweglich gemacht, dann wird durch Auflegen einer durchlochten Metallscheibe die Schnittfläche präzisiert, dann erfolgt mit einem fast gewöhnlichen Messer, einer Art Fischmesser, der Schnitt. Jetzt sieht man Blut und rohes Fleisch, der Moule [Mohel] hantiert darin kurz mit seinen langnägeligen zittrigen Fingern und zieht irgendwo gewonnene Haut wie einen Handschuhfinger über die Wunde« (Kafka, 1949, S. 204). Die Zeremonie hatte ihn offenbar so sehr erschüttert, dass er am nächsten Tag beschloss, über Beschneidungen in Russland zu berichten: »Der Beschneider, der sein Amt ohne Bezahlung ausübt, ist meist ein Säufer, da er, beschäftigt wie er ist, an den verschiedenen Festessen sich nicht beteiligen kann und daher nur

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etwas Schnaps herunterschüttet. Alle diese Beschneider haben deshalb rote Nasen und riechen aus dem Mund. Es ist daher auch nicht appetitlich, wenn sie, nachdem der Schnitt ausgeführt ist, mit diesem Mund das blutige Glied aussaugen, wie es vorgeschrieben ist. Das Glied wird dann mit Holzmehl bedeckt und ist in drei Tagen beiläufig heil« (Kafka, 1949, S. 205). Aus eben dieser Abscheu vor Beschneidungen (und vor allem vor der Meziza) haben viele Gemeindemitglieder verzichtet, ihre Söhne zu beschneiden. Es ist schwierig quantitative Daten anzuführen, Ellen Ginzburg Migliorino konnte aber die Anzahl der Beschneidungen für Triest im Zeitraum 1900–1914 (als die Stadt noch habsburgisch-österreichisch war) statistisch berechnen.1 Während 1901 noch 83,7 % der jüdischen Knaben beschnitten waren, sank dieser Anteil bis ins Jahr 1911 auf 60,7 %, das Jahr also, in dem Kafka seine Abscheu vor der Beschneidung seinem Tagebuch mitteilte (Ginzburg Migliorino, 1991, S. 448). Sigmund Freud zählte wie auch Herzl und Kafka zu den Juden, die der Beschneidung kritisch gegenüberstanden. Der Begründer der Psychoanalyse sah darin einen symbolischen Ersatz für die Kastration, einen Ausdruck der Unterwerfung unter den Willen des Vaters. In seinen drei Abhandlungen »Der Mann Moses und die monotheistische Religion« schrieb er: »Wenn wir hören, daß Moses sein Volk ›heiligte‹ durch die Einführung der Sitte der Beschneidung, so verstehen wir jetzt den tiefen Sinn dieser Behauptung. Die Beschneidung ist der symbolische Ersatz der Kastration, die der Urvater einst aus der Fülle seiner Machtvollkommenheit über die Söhne verhängt hatte, und wer dies Symbol annahm, zeigte damit, daß er bereit war, sich dem Willen des Vaters zu unterwerfen, auch wenn er ihm das schmerzlichste Opfer auferlegte« (Freud, 1939; Maciejewski, 2006). Einmal mehr kann man Freud des Sexismus überführen, da in seiner Interpretation der Beschneidung von den Töchtern keine Rede ist. Drei Schlussfolgerungen sind aus diesem historischen Abriss ersichtlich: Viele Juden waren sich bewusst, dass die Beschneidung das Empfinden stark reduziert, dass darüber hinaus die Beschneidung gefährlich ist (mit oder ohne Meziza), und nicht zuletzt, dass eine jüdische Kritik der Beschneidung durchaus möglich sein sollte.

1

Der Autor bedankt sich bei Tatiana Silla für den Hinweis auf die Daten über den Anteil der Beschneidungen in Triest.

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Humanistische und jüdische Bewegungen gegen die Zwangsbeschneidung Einige jüdische Intellektuelle sind im Anschluss an das Kölner Urteil zu Wort gekommen, jedoch wagte fast keiner von ihnen, die Beschneidung öffentlich zu kritisieren (Ausnahmen waren unter anderem V. S. Schonfeld, 2012, und Segal, 2012). So schrieb zum Beispiel der als eher fortschrittlich auftretende Historiker und Schriftsteller Doron Rabinovici in der »Süddeutschen Zeitung«: »Zudem kann gefragt werden, wieso der Bund durch einen Akt bekräftigt werden soll, der bloß an den männlichen Nachkommen durchgeführt wird. Sogar in Israel wendet sich eine kleine, aber stetig wachsende Gruppe von der Beschneidung ab, aber der Unterschied zwischen einer Ablehnungsfront innerhalb einer Kultusgemeinschaft und einem gerichtlichen Verbot von außen ist fundamental« (Rabinovici, 2012). Er erkennt also, dass die Beschneidung auf Sexismus beruht, denkt aber, dass man schmutzige Wäsche nicht in der Öffentlichkeit waschen sollte, einfach weil es den Antisemitismus fördert. Muss man sich aber wirklich nach den Antisemiten richten, bevor man eine Position bezieht? Die Begründung für das Fortbestehen der Beschneidung ist für den Schriftsteller einfach: »Die Brit Mila wird am bereits jüdisch geborenen Kind vollzogen, um den uralten Bund aufs Neue zu besiegeln. Die Brit Mila soll ein Identitätsmerkmal setzen, ein Erinnerungszeichen, das an die Abkehr vom Menschenopfer gemahnt«, und weiter: »Die Ahndung der Ärzte, die bereit sind, mit modernen Mitteln zu beschneiden, wird das Ritual nicht aus der Welt schaffen«. Wenn die Beschneidung von Säuglingen verboten würde, würde dies für Rabinovici bedeuten, dass »Juden, die nach ihrer jahrtausendealten Überlieferung leben wollen, in der Bundesrepublik nicht erwünscht [sind]« (Rabinovici, 2012). Schon wieder die Auschwitzkeule! Kritik scheint leider aufgrund der tragischen Geschichte der Juden in Deutschland akzeptabler, wenn sie nicht aus dem deutschsprachigen Raum kommt. Der jüdische Filmemacher Victor Schonfeld, der vier Monate nach Rabinovici einen Artikel mit dem Titel »Dieses Ritual widerspricht meinen jüdischen Werten« in derselben Zeitung schrieb, ist Brite. Sein Film »It’s a boy!« dokumentiert die für den Knaben gefährlichen Folgen eines solchen Eingriffs (Schonfeld, 1995). In den Vereinigten Staaten findet man auch kritische Stimmen, zum Beispiel im Buch von Leonard B. Glick, der im Zuge seiner Nachforschungen ebenfalls ein Beschneidungsgegner geworden ist. Er schreibt in der Einführung seines Buchs: »With regard to Jewish circumcision in particular, I realized that the practice is rooted in anachronistic sexist ideology and, finally, that removing infant

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foreskins neither promotes anyone’s later commitment to Judaism or contributes to the enhancement of Jewish life in America« (Glick, 2005, S. viii). Weiter liest man: »Why, when so many Jewish Americans have abandoned every bedrock traditional practice–daily (male) synagogue attendance and donning of phylacteries (tefillin), Sabbath observance, kosher diet, fasting on Yom Kippur, Passover dietary regulations, post-menstrual immersion in ritual baths for women, even the prohibition against intermarriage–why do most still believe that they must have their infant sons circumcised?« (Glick, 2005, S. viii). Die jüdische Identität bleibt in vieler Hinsicht ein Rätsel, weil sie sich nicht auf die Religion beschränken lässt. So wird zum Beispiel diskutiert, ob Juden eine Ethnie bilden. Der israelische Historiker Shlomo Sand spricht sogar von einer »Erfindung« des jüdischen Volkes (Sand, 2009, siehe auch Segal u. Schumann, 2011). Könnte die Beschneidung also einfach eine konventionelle Zeremonie darstellen, die es den Eltern erlaubt, sich und ihre Familie in die jüdische Identität umstandslos einzuschreiben? In seinem letzten Buch schreibt Sand über »laizistische Juden in der Welt« und wundert sich, dass Juden Knaben beschneiden, obwohl es »irrational« ist und eine klare Verletzung des Grundrechts des Mannes auf seine physische Unversehrtheit darstellt (Sand, 2013, S. 129). Viele Eltern, die ihre Söhne beschneiden, argumentieren: »Wie der Vater, so der Sohn«. Dazu merkt Glick an: »It seems more likely that fathers want their sons to resemble them, since they are the ones who see the child’s genitals, not the reverse« (Glick, 2005, S. 7) und in einem kürzlich erschienenen Artikel, bringt Netta Ahituv einen schlagkräftigen Vergleich: »[this] raises the question of whether brunette parents who have a redheaded boy have to dye their hair brown in order to resemble them« (Ahituv, 2012). Seit der Veröffentlichung des Buchs von Ronald Goldman, »Questioning circumcision: A Jewish perspective«, welches ein Meilenstein der Bewegung gegen die Zwangsbeschneidung ist, wurde eine neue Zeremonie eingeführt, die Brit Shalom, wörtlich der »Bund des Friedens« (Goldman, 1997). Es geht darum, das Kind (Sohn oder Tochter!) in der Gemeinschaft willkommen zu heißen, ohne es zu verstümmeln. Da nach dem Rabbiner Eugene Cohen in den Vereinigten Staaten schon 80 % der üblichen Brit Mila halachisch nicht gültig sind (das heißt, nicht im Einklang mit den religiösen Geboten stehen), könnte man daher doch auf den gesamten Eingriff einfach verzichten. Im Anhang seines Buchs beschreibt Goldman genau, wie diese Zeremonie des Brit Shalom aussehen kann. Er formuliert auch Musterbriefe, um die Teilnahme an einer Brit Mila abzulehnen, sowie Vorlagen um, ganz im Gegenteil, positiv auf eine Einladung zu einer Brit Shalom zu antworten. Heutzutage findet man Webseiten mit allen Adressen von Rabbis, die dieses Ritual organisieren. Es wäre sicher aufschluss-

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reich, diese Zeremonie der Brit Shalom mit der 1794 in Frankreich eingeführten republikanischen Taufe zu vergleichen. Im Zuge der Französischen Revolution, und ganz im Sinne der Aufklärung, wurde ein Ritual eingeführt, das die katholische Taufe ersetzen sollte (Mandret-Degeilh, 2011). David Gollaher hat sich ausführlich mit den verschiedenen Formen des Protests in den Vereinigten Staaten gegen die Beschneidung beschäftigt (Gollaher, 2001, Kap. 7). Nach einem Jahrzehnt unterschiedlicher Aktionen fand das erste große Treffen der Aktivisten 1989 in Kalifornien statt. Es ging darum, jede Art genitaler Verstümmelung zu verurteilen, inklusive der unterschiedlichen Varianten der noch weit schlimmeren weiblichen Genitalverstümmelungen. Die Aktivisten erklärten: »We recognize that the foreskin, clitoris and labia are normal, functional parts of the human body. Parents and/or guardians do not have the right to consent to the surgical removal or modification of their children’s normal genitalia. Physicians and other health-care providers have a responsibility to refuse to remove or mutilate normal parts of the body« (Gollaher, 2001, S. 161). Diese Beschneidungsgegner kamen aus unterschiedlichen Bereichen. Es waren Ärzte, Krankenpersonal und Zivilrechtler, die sich zum Beispiel für die Rechte der Homosexuellen engagiert hatten. Als Ergebnis dieser Bemühungen wurde 1985 eine Organisation, die gegen die Beschneidung agiert, die »National Organization of Circumcision Information Resource Centers (NOCIRC)«, von einer Krankenschwester namens Marilyn Milos gegründet. Innerhalb von zehn Jahren wurden 90 NOCIRC-Beratungsstellen in den Vereinigten Staaten eröffnet. Manche Persönlichkeiten wie Dean Edell, ein jüdischer Arzt, haben auch viel zu dieser Bewegung beigetragen, zum Beispiel durch die Teilnahme an populären Talkshows. Glick, der Autor von »Marked in your flesh«, erzählt wie er als Jude und Anthropologe zum Beschneidungsgegner geworden ist. Sein Buch ist nicht nur Marilyn Milos gewidmet, sondern auch dem Verein »Doctors Opposing Circumcision« (D.O.C.). Darüber hinaus erwähnte er auch Anwälte, die sich für die genitale Unversehrtheit engagieren: »Attorneys for the rights of the Child« (Glick, 2005). All diese Vereine und noch viele andere sind sorgfältig auf einer Webseite aufgelistet: jewsagainstcircumcision.org. Das Kölner Urteil hat auch in Israel viele Kommentare hervorgerufen. Im Sommer 2012 publizierte Netta Ahituv einen langen Artikel in der linksliberalen israelischen Tageszeitung »Haaretz« mit dem Titel »Even in Israel, more and more parents choose not to circumcise their sons«. Die Zahlen der Beschneidungen nehmen ab, schon 3 % der israelischen Babys mit jüdischen Eltern werden heute nicht beschnitten (s. Abbildung 2). Stimmen werden auch laut, die eine bessere Kontrolle der Mohalim verlangen (nur ein Drittel der Babys werden im

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Krankenhaus beschnitten, also mit der Möglichkeit einer Anästhesie und unter sterilen Bedingungen).

Abbildung 2: Zentrum von Tel Aviv, Israel, Januar 2012, Foto: J. Segal

Viele Webseiten auf Hebräisch helfen Familien, die sich Gedanken zum Thema machen (z. B. »Gonen al hayeled«, Schutz der Kinder). In Israel stehen den Eltern auch noch zwei Vereine zur Verfügung: »Ben Shalem«, der vom Minister Eliahu Suissa (Shas, ultraorthodoxe israelische Partei) physisch bedroht wurde, und »Kahal«, 2000 gegründet, mit einem besonderen Augenmerk für soziale Probleme. Es wird sicher noch einige Zeit dauern, bis die unbeschnittenen Männer in Israel toleriert werden, denn der soziale Druck ist immer noch groß. In Europa sind auch viele Juden mit diesem Druck konfrontiert. Eltern fürchten zum Beispiel, dass unbeschnittene Kinder nicht mehr in den Schulen der jüdischen Gemeinde akzeptiert werden. Eine Berliner jüdische Zeitschrift, »Golem – Europäisch-jüdisches Magazin« (2007), hat sich getraut, das Thema anzusprechen, während in Wien die Zeitschrift der offiziellen jüdischen Gemeinde, »Wina«, einfach ein Gespräch mit einem Rabbiner und Mohel geführt hat, mit dem aussagekräftigen Titel »Eine Debatte, die keine ist« (2012). Das Golem-Heft zum Thema Beschneidung wurde wie folgt mit Fragen eingeführt: »Was bewegte die erste Frau, die ihren eigenen Sohn beschnitten hat? Soll ein

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Kind ein sichtbares Zeichen seiner Herkunft haben? Wie kommt eine Frau dazu, Mohelet (Beschneiderin) zu werden? Was bedeutet es, den eigenen Enkel nach der Schoah beschneiden zu lassen in dem Wissen, daß dieses Zeichen in der Nazizeit ein Stigma war und bei Entdeckung den Tod bedeutet hat? Warum hat die christliche Tradition die Beschneidung Jesu aus dem kirchlichen Kalender entfernt? Was bewegt den Vater, der mit einer nicht-jüdischen Frau verheiratet ist, sein Kind beschneiden zu lassen?« Die Hoffnung scheint also nicht nur aus den Vereinigten Staaten und Israel zu kommen, sondern auch aus Europa (zumindest aus Berlin). Künstler als Vorreiter Seien es Schriftsteller, Maler oder Regisseure, Künstler haben immer eine Vorreiterrolle gespielt. Da der Film das Medium des 20. Jahrhunderts geworden ist, ist er auch in der Beschneidungsdebatte wichtig geworden. Im Jahre 1997 hatte Woody Allen in »Deconstructing Harry« (»Harry außer sich« im deutschsprachigen Raum) das Thema berührt. Dort hörte man einen Sohn, der seinen Vater fragte: »Why doesn’t your penis look like mine?«, und der jüdische Vater antwortet einfach: »Because your mother and I … never had you circumcised« (Allen, 1997). Es ist natürlich schwer zu beurteilen, wie solche Dialoge die Akzeptanz gegenüber Beschneidungsgegnern fördern können, aber ein sehr großes Publikum wird durch sie auf diese Problematik aufmerksam gemacht. Dokumentarfilme können noch stärker sein, wenn es um die Verteidigung von Ideen geht. Der Film von Eli Ungar-Sargon, »Cut«, mit dem Untertitel »Slicing through the myths of circumcision«, beleuchtet sehr gut die Vielfalt der jüdischen Identität. Der Regisseur, der selbst aus einer orthodoxen Familie stammt, ist nicht belehrend oder demonstrativ (Ungar-Sargon, 2007, vgl. auch seinen Artikel, Ungar-Sargon, 2011). Dieser Film wurde Ende 2010 in Wien im Rahmen des 18. Jüdischen Filmfestivals gezeigt, natürlich zusammen mit vielen anderen Filmen, darunter »Covenant: Women, God and all between (Birth)« von Nurit Jacobs-Yinon. Eine große Aufregung entstand in Wien, als die offizielle Vertretung der Juden in Österreich, die Israelitische Kultusgemeinde (IKG), das Festival verurteilte. Die Festivalleitung durfte nicht einmal ein Inserat in der offiziellen Gemeindezeitung kaufen, weil sie Filme im Programm hatte, die einerseits das Thema Homosexualität beleuchteten und andererseits sich offen mit dem Thema Beschneidung befassten. Der Präsident der IKG, Ariel Muzicant, und der Generalsekretär für jüdische Angelegenheiten, Raimund Fastenbauer, wollten nichts von diesem Festival wissen, obwohl sie die dort gezeigten Filme nie gesehen hat-

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Die Beschneidung aus jüdisch-humanistischer Perspektive

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ten (wie sie am 17. Januar 2011 eingestanden). Über die Beschneidung zu reden ist nach wie vor ein Tabu. Ariel Muzicant argumentierte damals weiter, man dürfe zu diesem Zeitpunkt, Winter 2010/11, nicht über die Beschneidung reden, da es gerade in diesem Zusammenhang im schwedischen Parlament zu heftigen Diskussion kam, die Anlass zur Besorgnis bei allen jüdischen Gemeinden Europas gab (über diese Affäre, siehe Segal, 2011). Filme wie »Cut« oder »Covenant« regten Diskussionen bei jüdischen Filmfestivals an. Der Regisseur Victor Schonfeld, selbst ein jüdischer Vater, agierte viel politischer: So hat er in der Zeit nach dem Kölner Urteil, und vor dem Beschneidungsgesetz seinen Film »It’s a boy!« an alle Mitglieder des Bundestags per E-Mail geschickt (Schonfeld, 1995). Dieser Film, der die Auswirkungen des Eingriffs auf kleine Jungen innerhalb der jüdischen und muslimischen Gemeinden in London untersucht, konnte dank des Internets eine rasche Verbreitung finden. Rückblickend scheint es heutzutage klar, dass man mit guten Gründen die rituelle Beschneidung ohne medizinische Indikation ablehnen darf, sogar aus einer jüdischen und humanistischen Perspektive. Warum dürfte man sich heute auch als Jude nicht mit diesem Thema auseinandersetzen, wie es beispielsweise im 19. Jahrhundert bereits möglich war? Sollte die Vernichtung des jüdischen Volkes im Zweiten Weltkrieg (die »Shoah«) alle Reformen des jüdischen Ritus auf Dauer unmöglich machen? Hoffentlich nicht. Die Aufklärung hat uns gezeigt, dass Menschenrechte vorrangig sein sollten. Literatur Ahituv, N. (2012). Even in Israel, more and more parents choose not to circumcise their sons. Haaretz vom 14. 06. 2012. Zugriff am 25. 07. 2013 unter http://www.haaretz.com/weekend/magazine/even-in-israel-more-and-more-parents-choose-not-to-circumcise-their-sons-1.436421 Allen, W. (1997). Deconstructing Harry. Jean Doumanian Productions. Bergson, J. (1843). Stimme über die Beschneidung. Der Orient, 4 (36), 283–284. Frankel, Z. (1863). Über die Meziza bei der Beschneidung. Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums, 12 (4), 153–155. Freud, S. (1939). Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Drei Abhandlungen. Amsterdam: De Lange. Geiger, L., Kirchheim, R., Geiger, A. (1885). Abraham Geiger’s Nachgelassene Schriften (Bd. 5). Berlin: Gerschel. Ginzburg Migliorino, E. (1991). L’antisemitismo e la comunità ebraica. In G. Todeschini, P. C. Ioly Zorattini (Hrsg.), Il Mondo ebraico: gli ebrei tra Italia nord-orientale e Impero asburgico dal medioevo all’età contemporanea (S. 433–455). Pordenone: Edizioni Studio Tesi. Glick, L. (2005). Marked in your flesh: Circumcision from ancient Judea to modern America. New York u. a.: Oxford University Press. Goldman, R. (1997). Questioning circumcision: A Jewish perspective. Boston: Vanguard Publications.

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Die Beschneidung aus jüdisch-humanistischer Perspektive

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Jenseits der Aufregungen – Zur Konstruktion des Jüdischen in der Beschneidungsdebatte

Jenseits der Talkshows und Stellungnahmen, der Wortmeldungen Berufener und noch mehr Unberufener lässt sich, nachdem der Bundestag im Dezember 2012 das »Gesetz über den Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes (MännlBeschnG)« beschlossen hat (Deutscher Bundestag, 2012a), sagen, dass sowohl der Weg zu dem Entwurf des Gesetzes, dessen Verabschiedung als auch die öffentliche Debatte Geschichte schreiben werden (Deutscher Bundestag, 2012b). Denn im Zentrum steht das Infragestellen der Differenz der Positionen und Aufgaben, die dem Gesetzgeber zukommen, und jenen, die den religiösen Gruppierungen zustehen, also des Verhältnisses des säkularen Staates zur Religion. Hier war der Gesetzgeber bereit, ein Grundrecht seiner Bürger zugunsten religiöser Normen einzuschränken, nämlich das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Er tat dies erschreckenderweise nicht wie erforderlich mit größter Zurückhaltung, sondern fahrig und überstürzt, in unbedachtem Nachvollzug religiöser Forderungen. Dies ist umso problematischer, als die daraus resultierende Einschränkung des Menschenrechts eine der wehrlosesten Gruppen betrifft. Vor dieser grundlegenden Problematik treten sogar die handwerklichen Mängel, die das schlecht gemachte Gesetz in sich trägt, zunächst in den Hintergrund (vgl. Deutscher Bundestag, 2012c; Hamburger Abendblatt, 2013; Merkel, 2012a; 2012b; 2012c; 2012d; 2012e). Daher ist es nicht nur die Ahnung, dass die Diskussionen damit nicht wie erhofft beendet sein werden, die eine Analyse des Geschehenen notwendig macht: Es ist der Gesetzfindungsprozess selbst. Hierbei gilt es sicherlich zunächst von all jenen Auswüchsen der erhitzten Debatte abzusehen, die eine Analyse der zentralen Frage erschweren. Zweifellos sind hier die antisemitischen Äußerungen im Rahmen der öffentlichen Debatte zu nennen. Die von Traumatisierung bestimmte Reaktion auf jüdischer Seite – die ihre Entsprechung auf der muslimischen Seite hatte – ist eher zu verstehen, wenn man sich die lange christliche antijüdische Tradition gegenüber der Beschneidung und die Instrumentalisierung solcher Debatten im 19. und 20. Jahrhundert vergegenwärtigt. So begrün-

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det die Kritik an dem Fortschreiben antisemitischer Stereotype ist: Gelingt es nicht, die rechtlichen Fragen hiervon zu lösen, ist eine vernunftgeleitete Entscheidungsfindung kaum möglich. Viele überzogene Äußerungen, teilweise auch aus den beiden religiösen Gruppierungen heraus, sind diesen verständlichen Ängsten geschuldet, und es ist zweifellos eine besondere Zumutung für dieselben, dennoch Besonnenheit zu wahren. Doch selbst im Zentrum der Debatte finden sich verstörende Stellungnahmen. Einige Erinnerungen mögen genügen: So ließ sich die Bundeskanzlerin immer wieder mit einer Äußerung zitieren, man werde die jüdische Beschneidung gesetzlich absichern, um sich nicht zu einer »Komiker-Nation« zu machen (Spiegel Online, 2012a). Wohlgemerkt: Die Regierungschefin sprach in diesem Ton über die Einschränkung eines Grundrechts. Auch Vertreter religiöser Gemeinschaften traten mit ähnlich überzogenen Äußerungen an die Öffentlichkeit, so Dieter Graumann, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden: Das bekannte Kölner Urteil mache »jüdisches Leben in Deutschland faktisch unmöglich« oder »alle jüdischen Jungs« weltweit seien beschnitten (ARD, Tagesschau, 2012; ZDF, Menschen bei Maischberger, 2012).1 Vielleicht gäbe es einige wenige fundamentalistische Eltern, die lieber auswandern würden, als etwa das Verschieben des Beschneidungstermins ihrer Kinder zu tolerieren. Schon die zweifellos hohe Zahl unbeschnittener Juden hierzulande lässt hieran jedoch erhebliche Zweifel aufkommen.2 Schaut man auf Äußerungen der in dieser Sache allein entscheidungsbefugten Rabbiner, so waren vereinzelte, in ihrer Logik verstörende Stimmen zu hören, wie jene des Berliner Gemeinderabbiners Yitzchak Ehrenberg, dass ein solches Verbot »aus Religionssicht noch schlimmer als physische Vernichtung« sei (Kramer, B., 2012; Schulze, 2012). Ähnliches gilt für die stets wiederholte Behauptung, dass die religiöse Beschneidung an sich infrage gestanden habe (vgl. Echo Online, 2013). Diese war weder jemals verboten, noch wurde dies in der rechtlichen Debatte angedacht. Zur Debatte stand vielmehr die Beschneidung von männlichen Säuglingen und 1 2

Abrufbar unter http://www.youtube.com/results?search_query=Loretta+Damel+Beschneidungsstreit&sm=3 (Zugriff am 04. 12. 2013); die Sendung »Menschen bei Maischberger« (2012). Die Aussagen Dieter Graumanns spielen mit den zahlreichen Definitionen des Jüdischseins, indem er diese auf die von den deutschen Gemeinden zumindest für die Gemeindemitgliedschaft als normativ vorausgesetzte orthodoxe (und im Grunde auch konservative) Defi nition für alle Personen nimmt. Sicherlich lebt in Deutschland jedoch eine ganz erhebliche Anzahl etwa von Personen, die nach israelischem Staatsbürgerrecht als Juden anerkannt würden, um nur eine von etlichen differierenden normativen Definitionen des Jüdischseins zu zitieren. Aber auch für die Mitglieder der Gemeinden, von denen ein ganz erheblicher Teil zum Beispiel in religiös gemischten Ehen lebt und die fast ausschließlich nichtreligiös sind, ist eine solche drastische Reaktion kaum zu erwarten.

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Kindern. Dass die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung Ritualen wie der Beschneidung ablehnend gegenübersteht, steht dabei auf einem anderen Blatt, zumal derlei sogar für die jeweils eigenen Theologen gelten dürfte, da sich deren Zustimmung in der Regel hauptsächlich auf die eigene und allenfalls auf einige damit assoziierte Traditionen erstreckt. Letztlich stellt diese skeptische Haltung gegenüber derart drastischen religiösen Ritualen, zumal wenn diese mit Zwang verbunden sind, eine positive Entwicklung zugunsten einer säkularen, pluralen Gesellschaft dar (vgl. Spiegel Online, 2012b). Doch ungeachtet aller Behauptungen und persönlichen Bewertungen stand es jedem Erwachsenen – im Rahmen der »guten Sitten« – stets frei, seinen Körper auf beliebige Weise zu modifizieren, was neben Tätowierungen und Schönheitsoperationen auch Verstümmelungen des Genitals einschließt. Die tatsächlich zur Debatte stehende Problematik der Zwangsbeschneidung war zumindest Kulturanthropologen, Religionswissenschaftlern und mit Grundrechtsfragen befassten Juristen seit langem vertraut. Auch den Vertretern der Religionsgemeinschaften, in denen derlei praktiziert wird, muss sie gegenwärtig gewesen sein, sofern man einen Begriff von den Grundrechten hatte, denn es steht außer Frage, dass ein solcher Akt gegen den ausdrücklichen Willen einer entscheidungsfähigen Person niemals akzeptiert würde. Dieser Bruch der Logik setzte sich bezeichnenderweise fort. Die breite, fast durchgängig ablehnende Diskussion um die sogenannte weibliche Beschneidung – also die unterschiedlichen Verletzungen und Verstümmelungen des weiblichen Genitals – dokumentiert dies beispielhaft. Es war stets bezeichnend, dass diese Debatte vor der Beschneidung von Männern Halt machte. Der Grund hierfür scheint insbesondere darin zu liegen, dass das Gros der Bevölkerung in der Beschneidung von Männern womöglich einen eigenartigen Brauch sieht, diesen unter dem Vorzeichen eines Akts der Körperhygiene aber noch als akzeptabel betrachtet. Im Gegensatz zu den vielen Befürchtungen der Ausgrenzung scheint diese Toleranz unter anderem aber auch darauf zu beruhen, dass die beiden hiermit in der Regel verbundenen religiösen Traditionen des Judentums und des Islam dennoch als zugehörig empfunden werden. Dieser Beitrag befasst sich aus einer spezifisch judaistischen, also aus der Erforschung jüdischer Kulturen kommenden Perspektive, mit deren religiösen Rechtstraditionen unter den folgenden Vorzeichen: Vor allem geht es um die Frage, wie der Konflikt zwischen den religiösen Vorschriften, dem grundlegenden Recht auf körperliche Unversehrtheit und der gleichfalls vom Staat garantierten religiösen Selbstbestimmung gelöst wurde. Die Analyse wird daneben einige allgemeine rechtstheoretische Überlegungen einbeziehen, jedoch ganz bewusst von einer »staatsrechtlichen« juristischen Bewertung – also von Fra-

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gen zur gültigen Rechtslage, zur Rechtsdeduktion oder der Angemessenheit des Gesetzes in Bezug auf nationale sowie internationale Gesetze – absehen. Hier gibt es zweifellos Berufenere, die sich auch schon vielfach zu Wort gemeldet haben (Merkel u. Putzke, 2013). Bei allen Bedenken gegenüber der Vorgehensweise und dem nun bestehenden Gesetz war eines immer klar: Man musste stets von einem Kompromiss ausgehen, der gezwungenermaßen Zugeständnisse von beiden Seiten erfordern würde. Im Nachhinein zeigt sich jedoch, der Preis des Gesetzes besteht vor allem in der Einschränkung des fraglichen Grundrechts. Und es bezahlen ihn diejenigen, die nicht gefragt werden und zumindest zum Teil auch gar nicht antworten können: die Kinder. Zudem steht zu befürchten, dass sich weder der Gesetzgeber noch die betroffenen Religionsgemeinschaften mit dem überstürzten Verfahren einen Gefallen getan haben, denn das Gesetz stellt einen nur wenig geschönten Sündenfall des Staates dar, um auf die klaren Analysen des Verfassungsjuristen Reinhard Merkel zu verweisen. Für die Religionsgemeinschaften könnte sich die damit angeschobene Aufweichung zentraler Sicherungsnormen einer pluralen Gemeinschaft, insbesondere da es sich um Minderheiten handelt, durchaus als ein Danaergeschenk herausstellen. Doch hierzu im Folgenden mehr. Der Beitrag geht in zwei Schritten vor. Zunächst werden einige grundlegende Charakteristika der Debatte herausgestellt. Im zweiten Schritt gilt das Interesse der religiösen Tradition des Judentums, wobei dieselbe notwendigerweise in Bezug zu der Diskussion auf staatlicher Seite gesetzt wird. Dazu werden einige technische Aspekte des Rituals betrachtet, danach die generelle Frage des Kindeswohls in den Blick genommen. Ziel dieser Vorgehensweise ist es, zweierlei darzustellen: zum einen, an welchen Punkten der Gesetzfindungsprozess versagte bzw. fehl ging; zum anderen, welche Aspekte zu diskutieren gewesen wären, hätte man einen Kompromiss im eigentlichen Sinne angestrebt. Zum ersten Punkt: Insbesondere für den säkularen Staat, der über den einzelnen religiösen Gruppierungen steht, ist es unverzichtbar, dass er seine Normen – wie dies für kulturelle Systeme insgesamt gilt – auf der Grundlage eigener, systemimmanenter Prozesse und Vorgaben konstituiert. Dies gilt für die einzelnen Religionsgemeinschaften gleichermaßen, die in dem vom Staat gewährten Rahmen eigenständig agieren. Die dadurch bedingten unterschiedlichen Perspektiven zeigen sich bereits in so grundlegenden Fragen wie der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft: Während der Staat diese von der Anerkennung durch eine entsprechende religiöse Gemeinschaft abhängig macht, den Austritt aus derselben daher auch als einen Austritt aus der Religionsgemeinschaft bewertet, verhält sich dies aus religiöser Sicht meist ganz anders. Im Judentum beispielsweise wird der Austritt aus der als Solidargemeinschaft verstandenen

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Religionsgemeinde zwar als moralisch verwerflich angesehen; am Zustand des Judeseins ändert dies nichts. Selbst an Punkten, an denen sich staatliche und religiöse Systeme berühren, muss es aufgrund der je eigenen Perspektiven und Definitionen demnach keineswegs zu derselben Bewertung kommen. Dabei beeinflussen sich beide Bereiche auf vielerlei Ebenen häufig und intensiv. Was die Logik der Normfindung betrifft, sind die gemeinsam bzw. gesamtgesellschaftlich diskutierten Fragen am Ende dennoch in Bezug auf den jeweils eigenen Deutungsrahmen zu entscheiden; das gilt auch dann, wenn es sich von außen betrachtet eher um symbolische Legitimationsakte handelt. Dass der deutsche Staat jenseits seines Neutralitätsgebots aufgrund seiner eigenen rechtlichen Würdigung von Religion in vielerlei Hinsicht eng mit religiösen Gemeinschaften verknüpft ist, ändert daran nichts, obschon es zu den bekannten, unüberschaubaren Verflechtungen und Verbindungen führt. Weiter als bis zu diesen Überlegungen muss man gar nicht gehen, um zu sehen, dass bei allen Kooperationen und Anerkennungen eines ganz sicher nicht möglich ist: Der säkulare Staat kann als eine religiös neutrale, übergeordnete Ebene weder für Religionsgemeinschaften Gesetze erlassen noch die Vorgabe religiöser Gruppen als solche direkt in das staatliche Recht übernehmen, will er nicht seine eigene Legitimität infrage stellen. Dieses rechtslogische Problem war dem Gesetzgeber beim Formulieren des fraglichen Gesetzes durchaus bewusst. Doch statt hier klar eigene und allgemeine, im eigenen rechtlichen Rahmen logische Regelungen zu finden, ging es eher um ein Verdecken des direkten Nachvollzugs religiöser Normen, wie etliche Details zeigen. Ein deutlicher Hinweis darauf ist, dass ein erheblicher Teil der Probleme des fraglichen Gesetzes nur dadurch entsteht, dass der Gesetzestext die direkte Integration religiöser Vorgaben so nicht wiedergeben kann. Der versuchte Spagat, zumal in unterschiedliche Richtungen zugleich, ist daher erwartungsgemäß missglückt. Der Prozess der Legitimation des rechtslogisch Unmöglichen setzte indes bereits weit früher ein, denn ein erheblicher Anteil der geführten Rechtsdebatte erklärt sich ausschließlich durch die Suche nach Legitimationen, die dem Gesetzgeber den direkten Nachvollzug religiöser Normsetzungen ermöglichen. Nur einige knappe Beispiele hierfür und für die problematischen Folgen, die sich daraus ergeben: Gesetze müssen in einem modernen Rechtsstaat notwendigerweise allgemein und abstrakt gefasst werden. Aus eben diesem Grund vermeidet das Gesetz zunächst den Bezug auf – zumal auf eine spezifische – Religion. Da man nur ein ganz spezifisches Ritual erlauben wollte, war diese Bezugnahme im vorliegenden Fall allerdings unvermeidbar. Zugleich führte man zugunsten des Judentums eine besondere Fristsetzung und die Zulassung nichtmedizinischen Personals ein, folgte damit letztlich der jüdischen Tradition mehr als der

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muslimischen – wenngleich letztere die für sie nicht notwendige Zusatzregelung prinzipiell ebenfalls nutzen könnte. Da der Staat nicht definieren kann, was die Charakteristika und damit die Inhalte von Religion sind, zumal eine größere muslimische Gruppe erklärte, dass die Beschneidung für sie lediglich kultureller Traditionsbestand, aber keine religiöse Forderung sei, war man gezwungen, dies noch weiter zu fassen, um nicht doch eine der fraglichen Gruppen auszuschließen. Nicht genug, dass damit bereits innerhalb des Gesetzes eine Hierarchie zwischen den zwei großen religiösen Traditionen des Judentums und Islam erstellt wurde. Das zunächst als Teil der religiösen Erziehung anerkannte Ritual verwandelte sich unter der Hand in ein kulturelles und gar in ein hygienisches. Dass bei der als »positiv« zugestandenen Beschneidung die jüdische bzw. muslimische Praxis gemeint ist – dies aber nicht gesagt werden konnte –, ergibt sich zweifellos aus den Fristen und der Zulassung dann wohlgemerkt nur »religiöser« Beschneider. Aus jedem dieser Aspekte ergeben sich weitere Probleme: So das lediglich pauschale Berufen auf einen medizinischen Standard3, wiewohl von vornherein klar war, dass gerade die Klärung der darunter subsumierten Aspekte unverzichtbar ist. Gleiches gilt für das Aufweichen der Regelungen medizinischer Praxis, da Personen ohne entsprechende Qualifikation Eingriffe und Medikationen erlaubt wurden, die zum Schutze des Patienten bislang ausschließlich in den Händen eines spezifisch gebildeten ärztlichen Fachpersonals lagen. Ursprünglich war, anders, als jetzt geschehen, nie daran gedacht worden, jeder möglichen »Weltanschauungsgemeinschaft« – der schwer fassbare Begriff zeigt das Problem – oder gar jeder ethnischen Gruppe derlei Privilegien zukommen zu lassen; auch nicht, wenn sich die Zulassung am Ende auf die Beschneidung des Penis, also auf Männer, und nur auf ein spezifisches Ritual, womöglich sogar in einer spezifischen operativen Ausführung unter Missachtung des Gleichheitsgedankens, beschränken ließe. Der Blick in ein Nachschlagewerk der Ethnologie zeigt, wie viele Spielarten an körperlichen Veränderungen, darunter auch zahllose Genitalverstümmelungen allein des Mannes existieren, die weder der Gesetzgeber noch mit großer Sicherheit die Vertreter der genannten Religionsverbände hierzulande als gesetzlich geschützte Praktiken etabliert sehen wollen. Das fragliche Gesetz musste, um dem Vorwurf eines Sonderrechts für einige religiöse Gemeinschaften zumindest formal zu entgehen, die Gruppe erweitern und bezog daher ethnische Traditionen und, noch erstaunlicher, sogar medizinisch-hygienische Überzeugungen der Eltern als erlaubte mit ein (Deut3

Und das unter Nichtberücksichtigung eines zentralen Standards ärztlichen Handelns: Niemals ohne medizinische Indikation Schaden zu verursachen.

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scher Bundestag, 2012a, S. 16 f., Begründung zu Artikel 1; zu Satz 1).4 Man muss gar nicht auf die Kommentierung des Gesetzestextes zurückgreifen, die zu verhindern versucht, was das Gesetz zumindest anregt, nämlich seine »missbräuchliche« Ausnutzung etwa durch boshafte Eltern oder was auch immer für Wahnsinnstaten man sich hier denken könnte. In Berlin versuchte man – ungeachtet der Begründung des Gesetzes – bereits, dieses kaum beherrschbare Problem im Vorfeld einzudämmen, indem man den Eltern eine formale Erklärung abforderte, dass der Eingriff aus religiösen Gründen geschehe. Die Religionsgemeinschaften reagierten darauf unverständlicherweise mit dem Vorwurf der Diskriminierung (American Jewish Committee, o. J.). Bei alledem vollzieht der Staat – mit einiger Mühe – zur Legitimation des Gesetzes jenen situativen Bruch der sonst gültigen Logik nach, der Religionen insbesondere kennzeichnet, bei dem vereinzelte Dinge, die auch die jeweilige Religion üblicherweise als widersinnig begreift, plötzlich als vernünftig und richtig anerkannt werden. So differenziert die Kommentierung des Gesetzes zwischen einer »positiven« Körperverletzung und einer »missbräuchlichen« und ist in der Folge dann bemüht, die männliche Beschneidung zu einem positiven Akt zu erklären.5 Wie widersinnig diese letztlich religiöse Denkweise ist, lässt sich schon daran ablesen, dass mit Sicherheit weder die Theologen der beiden genannten Gruppen noch ein Mitglied derselben, ebenso wenig wie jene, die hierzu ihre Zustimmung gaben, auch nur an sich selbst eine vergleichbare Operation wie die durch das Gesetz ermöglichte, also unter nicht klar geregelten medizinischen Umständen beispielsweise der Hygiene oder der Schmerztherapie vornehmen lassen würden. Nur wenn man der sonst gültigen Logik eine Absage erteilt, ist dies denkbar.6 Um das Argument weiterzuführen: Die Behauptung des Gesetzgebers, dass es sich bei alledem um einen positiven Akt handle, wiewohl dies einen Eingriff in die Grundrechte einer ganzen Personengruppe durch eine erhebliche, dauerhafte Körperverletzung mit all den Risiken medizinischer Eingriffe darstellt, führt begreiflicherweise in immer weitere Verkehrungen der allgemeinen Wahrnehmung. Ein Beispiel ist die grotesk wirkende Behauptung medizinischer 4

5 6

Vermutlich soll die Hinzunahme vermeintlich hygienischer Vorteile bei der männlichen Beschneidung das Verbot der weiblichen, die »mit keinerlei medizinischen Vorteilen« verbunden sei etc., stärken. Man denke nur an die Formulierung des ersten Entwurfs »ohne unnötige Schmerzen« bei einer medizinisch unnötigen Operation. Um eine aktuelle medizinische Veröffentlichung, zudem mit Bezugnahme zum jüdischen Beschneidungsakt, zum Stand der Dinge zu zitieren: Bolnick, Koyle und Yosha (2012, dort insb. S. 61–70, S. 77–122, S. 185–190, S. 233–241, S. 265–274). Zur allgemeinen Debatte siehe Denniston, Grassivaro Gallo, Hodges, Fayre Milos und Viviani (2006).

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Vorteile einer Beschneidung letztlich für alle Männer, und dies, obwohl es keiner medizinischen Fachkenntnisse bedarf, um derlei Argumente beiseitezuschieben (Staffen-Quandt, 20127). Niemandem würde sonst einfallen, sich aus Gründen einfachster Körperhygiene ein Körperteil abschneiden zu lassen, geschweige denn dies ganzen Generationen zuzumuten. Auch dächte niemand bei klarem Verstand daran, Säuglinge und Kinder einem solchen Akt zur Vermeidung sexuell übertragbarer Erkrankungen zu unterziehen, wiewohl diese für lange Zeit gar keinen Geschlechtsverkehr haben werden, diese Entscheidung dann gegebenenfalls selbst treffen könnten oder, wie die Mehrheit der Menschen, wohl doch lieber zu weniger drastischen Maßnahmen greifen. Die offenkundige Widersinnigkeit solcher Argumente zeigt das grundlegende Problem, nämlich dass hier rationalisiert werden soll, was letztlich nicht logisch zu vermitteln ist. Und dass dem so ist, liegt daran, dass die Bedeutung solcher Schwellenrituale gerade in der Verletzung sonst gültiger Grenzen und Normen liegt; sonst tunlich Vermiedenes und Verbotenes wie eine Verstümmelung des Körpers unter Schmerzen und Gefahren wird zu einem positiven Zeichen der Bewährung. Der Gesetzfindungsprozess endete keineswegs bei derlei Verdrehungen und Rationalisierungsversuchen: Die Debatte wurde von vornherein so geführt, dass letztlich gar keine klare, also auf die eigentlichen Bezugspunkte des fraglichen Rituals ausgerichtete Entscheidungsfindung möglich war. Bezeichnend war, was für derlei Debatten religiöser Inhalte generell kennzeichnend ist: Die Diskussion wurde im Wesentlichen aneinander vorbei geführt, und dort, wo die Argumente sich einmal berührten, wurden »Nebelwände« aufgerichtet, also alles im Unklaren gelassen, notfalls sogar jede Diskussion verweigert (Menschen bei Maischberger, 2012, ab 43:00 min). Daneben existierte natürlich eine pragmatische Argumentationsstrategie zur Steuerung und Beherrschung der Debatte.8 Ein bezeichnendes Beispiel stellt die Anerkennung signalisierende, faktisch aber uninteressierte Haltung gegenüber »anderen« kulturellen Traditionen dar, wie die vielfachen Bezugnahmen und Einschätzungen von politischer Seite auf jüdische oder – um einmal ein anderes Beispiel zu bemühen – muslimische Traditionen. So war immer wieder zu hören, dass die Beschneidung nach dem Koran gar nicht gefordert sei und lediglich spätere und weniger relevante Auslegungen wie die Sunna dies erwähnten. Der langjährige Vorsitzende des 7

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Die liberale Rabbinerin A. Deusel argumentiert hier auch als Medizinerin: »Es gibt Studien, wonach weniger als ein Drittel aller Männer eine konsequente Körper- und Intimpflege betreiben«. Diese Behauptung erscheint bereits fragwürdig; dass eine praktizierende Ärztin dies als Argument für die (Teil-)Amputation eines Körperteils anführt, ist unverständlich. Dies zeigt sich beispielsweise im Vergleich zweier Stellungnahmen des Generalsekretärs des Zentralrats der Juden, S. J. Kramer (2012).

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Zentralrats der Muslime, Nadeem Elyas, verwahrte sich zu Recht gegen solche Behauptungen und Übergriffigkeiten, denn beide Textkorpora gelten der Mehrzahl der Muslime als normative Rechtsquellen (Elyas, 2012). Was hier unter der Vorgabe und vermutlich dem Selbstverständnis eines liberalen Verstehenwollens der anderen Kultur geschah, ist eine Konstruktion des Anderen und eines Zerrbilds dieser Religion. Zudem stellt dies eine unzulässige Grenzüberschreitung dar, die man in Bezug auf die je eigene religiöse Tradition nicht tolerieren würde. Denn faktisch stilisierten sich hier christliche Politiker bzw. Disputanten zu muslimischen Geistlichen. Derlei geschah vielfach, auf vielen Ebenen und natürlich auch gegenüber dem Judentum. Hiermit kommen wir zum zweiten Teil, einer punktuellen Analyse der jüdischen Tradition in Bezug auf jene Punkte, die für die staatliche Seite zentral für ihre Legitimation des Beschneidungsgesetzes waren. Damit ist keineswegs eine »jüdische« Perspektive im Sinne einer religiösen Binnenperspektive gemeint, sondern eine fachlich informierte. Das Ziel kann es nur sein, die Versäumnisse der Diskussion aufzuzeigen. Ein erstes, strukturelles Problem ist sicherlich, dass die Debatten mit wenigen Ausnahmen mit politischen Vertretern der beiden Religionsgemeinschaften geführt wurden. Hierbei kann sich der Gesetzgeber nicht allein damit entschuldigen, dass die Religionsgemeinschaften sich so präsentierten und es ihm nicht zustehe, sich seine Gesprächspartner sozusagen auszusuchen: Bei Fragen zur christlichen Tradition würde man ganz selbstverständlich auch nicht primär Verwaltungsmitarbeiter und -repräsentanten, zumal religiöse Laien, sondern die jeweils legitimen religiösen Würdenträger befragen.9 Vorab gilt es jedoch, einige Dinge klarzustellen: Anders als dies meist wahrgenommen wird, bildet das Judentum keine in sich geschlossene Religionsgemeinschaft, sondern vereint zahlreiche religiöse Denominationen, die sich – um einen deutschen Rabbiner des 19. Jahrhunderts zu zitieren – ferner stehen als die katholische und protestantische Kirche (Hirsch, 1889, im Rahmen der Auseinandersetzung um die Abspaltung von der Gesamtgemeinde). Die Begriffe von Religion, von Gott, von Religionsausübung, von der Bedeutung religiösen Rechts, dessen Rechtsquellen usw. sind deutlich bis grundlegend verschieden, die gegenseitige Anerkennung ist von orthodoxer, zumal der konservativen Seite her strikt negativ bis ablehnend. Um die amerikanischen Zahlen zu nehmen, überwiegen – dies betrifft vereinfacht gesagt vor allem die westlichen, und dies sind weitgehend die sogenannten aschkenasischen Traditionen, die entspre9

Das Zurückdrängen des Rabbinats als zentrale Vertretung des Judentums durch die internen Verwaltungsorgane nach dem Holocaust hat eine lange Tradition; siehe zum Beispiel die Einschätzung des liberalen Rabbiners Henry Brandt (ARK, 2012).

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chende Modernisierungsprozesse durchlaufen haben – die jüdischen Reformgruppierungen mit etwa 90 %, knapp 10 % werden der Orthodoxie zugerechnet (Ament, 2005). Innerhalb dieser Großgruppen gibt es größere Bewegungen, die sich zum Teil erneut als eigenständige Denominationen stabilisiert haben, die ihrerseits wiederum oft in zahlreiche Untergruppen zerfallen. Zudem gibt es einen großen Anteil lediglich nominell religiöser Personen, im Staat Israel sogar eine große dezidiert antireligiöse Gruppe. Entscheidend für die weiteren Ausführungen ist hierbei, dass die Grundlage, dass das Judentum eine Rechtsreligion darstellt, in der Mehrzahl der jüdischen Denominationen zumindest in der direkten Wahrnehmung als ein allumfassendes göttliches Recht allenfalls eingeschränkt anerkannt ist, häufig in zentralen Aspekten anders begriffen und weiterentwickelt wurde. In der größten Gruppe, dem progressiven oder liberalen Judentum, wird es beispielsweise lediglich als ein unverbindlicher Traditionsbestand gewürdigt. Für die kleine Gruppe der Orthodoxie, die in sich eine enorme Vielfalt aufweist, ist dagegen kennzeichnend, dass das Jüdische Recht – die Halacha – als gottgegebenes Recht den zentralen normativen Faktor darstellt, weshalb deren Rabbiner eigentlich Rechtsgelehrte sind. Da sich die deutschen Gemeinden ungeachtet kleiner, vergleichsweise junger liberaler bzw. konservativer Reformgemeinden insgesamt als orthodox verstehen, und aus dieser Position verhandelten, seien hier allein die Bewertungen und Entscheidungen dieser Gruppe herangezogen. Um es deutlich zu sagen: Stünden hier reformjüdische Traditionen zur Debatte, hätten sich zahlreiche Konflikte zum staatlichen Recht niemals ergeben. Nicht da diese etwa die Beschneidung an sich ablehnen würden. Auch in diesen Traditionen hält man meist sogar an der Säuglingsbeschneidung fest, weshalb diese Problematik zweifellos bestanden hätte. Allerdings wurden insbesondere die medizintechnischen Fragen zur Ausführung des Rituals sowie zur Qualifikation der Operateure hier meist seit langem im Sinne der modernen Medizin geregelt, sodass beispielsweise eine religiöse Beschneidung in der liberalen Tradition häufig im Operationssaal eines Krankenhauses von einem Arzt vorgenommen wird, während ein Rabbiner in Sichtweite die notwendigen Gebete spricht. Solche Modernisierungen beseitigen einen erheblichen Anteil möglicher Bedenken, die eine säkulare Gesellschaft gegenüber dem Ritual haben könnte (vgl. z. B. Tabory u. Erez, 2003; ZDF). Kehrt man zur religiösen Tradition der Orthodoxie zurück, so wäre es ein Ding der Unmöglichkeit – zumal in einem begrenzten Artikel –, auch nur einige Bestimmungen zur Beschneidung detaillierter zu referieren. Dies nicht nur, da die Rechtsetzung von Rechtskonvoluten der Antike und Spätantike ausgehend interpretativ in einer breiten Debatte rabbinischer Interpreten bei einer nur geringen Hierarchisierung geschah und geschieht. So lassen sich häufig bes-

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tenfalls Mehrheitsvoten und -praktiken beschreiben oder Bewertungen weithin anerkannter Rechtsrespondenten. Häufig stehen dem dennoch parallele Rechtsauslegungen entgegen, die für spezifische Gruppen durchaus Verbindlichkeit erlangen können. Hinzu kommen zwei weitere, grundlegende Charakteristika des orthodoxen Verständnisses des Jüdischen Religionsrechts, die eine skizzenhafte, eindimensionale Darstellung erschweren. Zum einen ist die rabbinische Rechtsinterpretation kaum abstrakt, sondern gestaltet sich im Wesentlichen als ein Fallrecht, ein Grundzug, der so weit geht, dass selten übergreifende inhaltliche Konzepte genutzt bzw. formuliert werden. Derlei Systematisierungen erfassen allenfalls, aus der Perspektive moderner Rechtskulturen dennoch zweifellos unzureichend, den Aspekt der Rechtsdeduktion: Folglich entspricht die hier eingenommene Perspektive übergeordneter, die Rechtsprechung charakterisierender Begriffe nicht der binnenreligiösen Wahrnehmung, sondern sie stellt einen von außen kommenden Versuch dar, wesentliche Tendenzen zu beschreiben. Zum anderen geht das Rechtsverständnis von der mehrfachen Fiktion aus, dass das Recht von Gott gegeben und nur mehr richtig verstanden werden muss, also nicht verändert oder gar aufgehoben werden kann. Um ein Beispiel zum besseren Verständnis zu geben, wie sich dies auswirkt: Betrachtet man die Bestimmungen zu den möglichen Gegenständen, mit denen eine Beschneidung rechtsgültig vorgenommen werden kann, so haben sich die sehr weit gefassten antiken und spätantiken, also aus biblischen und talmudischen Texten geschöpften Bestimmungen verblüffenderweise erhalten, die mit scharfen Steinen, über Glas, verschiedene Arten von Messern und Scheren bis hin zu Fingernägeln eine Vielzahl möglicher Beschneidungsinstrumente zulassen. Die Rechtsdebatte hierzu reicht bis heute, wiewohl vermutlich bereits seit dem späten Mittelalter spezielle, dem damaligen medizinischen Standard entsprechende Operationsbestecke regulär in Gebrauch waren, die sich auch heute noch finden, oft jedoch bereits durch moderne Instrumente, etwa medizinische Einmalskalpelle, ersetzt wurden. Dass all die anderen Möglichkeiten dennoch prinzipiell erlaubt blieben, erklärt sich dadurch, dass es aus der spezifischen Rechtsvorstellung heraus problematisch ist, göttlich gesetztes Recht einzuschränken. Diese Tendenz verstärkt sich, wenn es sich nicht um die Ausdifferenzierung von Verbotenem, sondern im Gegenteil um das Beschränken positiver Gebote wie der rituellen Beschneidung handelt (z. B. Bleich, 2006, S. 75, siehe die Einschätzung Jechiel J. Weinbergs; allgemein: Steinberg u. Rosner, 2003, S. 194–224, präsentiert die Breite orthodoxer Haltungen). Dennoch gilt dies heutzutage allenfalls in dem Sinne, dass eine ausnahmsweise mit jenen anderen Gegenständen vorgenommene Beschneidung trotz aller Vorbehalte rituell gültig ist, wiewohl Rabbinat und Beschneider solche Methoden mit Nachdruck ablehnen würden. Man kann

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daher nicht ausschließlich die Rechtsdebatte berücksichtigen; vielmehr muss man die allgemeine, vom Rabbinat getragene Praxis einbeziehen. Eine letzte Bemerkung zuvor: Die jüdischen Rechtstexte setzen wie die anderer Rechtstraditionen auch in ihrer Sprache, Systematik und Logik ganz erhebliche Vorkenntnisse voraus. Dies liegt nicht nur an den schwer zugänglichen Rechtsquellen und dem geringen Grad der Kodifikation, sondern an der eigenen Logik der Rechtsinterpretation, die sich wie bei den meisten Theologien nicht durchgängig mit modernen Vorstellungen vernünftiger Argumentation deckt. Da sich dieser Beitrag nicht an Fachwissenschaftler richtet, sondern für ein breiteres Publikum beispielhaft zentrale Reibungsflächen und Diskussionsfelder zwischen staatlichem Recht und jüdisch-orthodoxem Rechtsdenken aufzeigen will, werden direkte Verweise auf für den Laien oft nur schwer verständliche kleinteilige Argumente, zumal einzelner Rabbiner, vermieden. Zugleich wurden als Verweise sprachlich zugängliche Darstellungen bevorzugt, darunter natürlich insbesondere solche orthodoxer Rabbiner, die auch in entsprechenden Entscheidungspositionen stehen, wobei der nicht einfache Versuch gemacht wurde, möglichst Autoren zu nutzen, die zugleich wissenschaftlich tätig sind, also ihrerseits eine distanzierte analytische Position beziehen. Da die symbolischen rituellen Anteile des Beschneidungsakts, etwa die Gebete, niemals strittig waren, können diese insgesamt außen vor bleiben, so dass die Darstellung sich primär auf die für das orthodoxe Judentum als Rechtsreligion entscheidende Ebene des Religionsrechts – der Halacha – bezieht, also auf deren aus der rabbinisch-talmudischen Tradition der Spätantike heraus bis heute weiterentwickelte religiöse Normsetzung. Wenden wir uns der spezifischen Analyse der orthodox-jüdischen Einschätzung der Beschneidung zu, so zeigt sich, wie erhellend eine kulturell informierte Position sein kann. Das zuvor zitierte Beispiel einer Medizinalisierung des Diskurses, also etwa jenes Bemühen vermeintlicher gesundheitlicher Vorteile10 zur Abwägung der Zulässigkeit bzw. des Risikos eines solchen Eingriffs, erhält eine völlig andere Bedeutung, wenn man sich vergegenwärtigt, dass dies für die religionsrechtliche Perspektive natürlich vollständig irrelevant ist. Das Rabbinat hat im Gegenteil – insbesondere seit den zunehmenden Forderungen nach einer Änderung des Operationsverfahrens – erhebliche Vorbehalte gegenüber jeder Medizinalisierung des Rituals, weshalb sehr konservative und ultraorthodoxe Kreise sogar dazu aufrufen, die Beschneidung ganz der vormodernen Praxis entsprechend ohne medizinische Hygiene und moderne Hilfsmittel 10 Zu den immer wieder behaupteten angeblichen medizinischen Vorteilen der Beschneidung vgl. auch den Beitrag von Christoph Kupferschmid in diesem Buch.

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vorzunehmen. Ein Beispiel hierfür bietet der Aufruf des ultraorthodoxen Berliner Gemeinderabbiners Ehrenberg im Fernsehen zu Beginn der Debatte, man solle die Beschneidungen weiter wie überliefert vornehmen, und nicht etwa im Jüdischen Krankenhaus der Stadt, sondern zu Hause oder in der Synagoge (ARD, 2012, ab 1:12:40 min). Aus diesem religiösen Verständnis heraus handelt es sich gerade nicht um einen Akt, der zugunsten medizinischer Vorteile vorgenommen werden sollte. Ganz im Gegenteil wird er von den Rabbinern als das verstanden, was er – jenseits der vielfachen Entrüstung und dem zum Teil auch wissentlichen Missverstehen des nicht wertenden, sondern deskriptiven juristischen Terminus – faktisch ist, nämlich eine bewusste Körperverletzung (Menschen bei Maischberger, 2012, z. B. ab 25:50 min, 43:00 min; Deutscher Bundestag, 2012c, S. 21–2411). Dass diese positiv besetzt, als ein Geschenk, eine Annäherung an Gott und dergleichen bezeichnet wird, ändert hieran nichts. Für Schwellenrituale typisch und für Mannbarkeitsrituale – und um ein solches handelt es sich trotz der erstaunlichen Verschiebung hin zum achten Lebenstag aus kulturanthropologischer Sicht natürlich – nahezu die Regel, stellt der Akt genau das Gegenteil dar, nämlich einen schmerzhaften Akt, der als Beweis für die Entschlossenheit der Annahme göttlicher Gebote und des Eintritts in die rituelle Gemeinschaft gilt. In eben diesem Sinne findet sich dies bei der ganz überwiegenden Mehrzahl orthodoxer Kommentatoren. Es zeigt sich auch daran, dass die Beschneidung in der rabbinischen Tradition als ein Verringern eines animalischen Anteils des Menschen gepriesen wird, da die dadurch bedingte Dämpfung der sexuellen Lust eine kontrollierte und damit moralische Sexualität begünstige. Wie sehr sich die rabbinische Vorstellung und das moderne Verständnis des Eingriffs als einen positiven medizinischen Eingriff zugunsten der Gesundheit, als einen die Lebensqualität erhöhenden Akt widersprechen, belegt auch, dass das Vergießen des Beschneidungsblutes einen unverzichtbaren Aspekt des Rituals darstellt, also die scharfe Verletzung des Glieds. Aus diesem Grund verbieten die meisten orthodoxen Respondenten weiterhin viele der modernen Operationsmethoden, zumal wenn diese den Blutfluss verhindern, wie die Mehrzahl medizinischer Beschneidungsklemmen. Nur wenige Rabbiner akzeptieren beispielsweise die Beschneidung mit Hilfe eines Lasers, dies jedoch nur, wenn dabei ein Minimum an Blut fließt. Die überwiegende Mehrzahl lehnt all dies strikt ab und votiert für die hergebrachte Methode mit einer die Vorhaut nicht quetschenden Klemme zum Schutz der Eichel und direktem Schnitt durch ein scharfes Instrument, da dies einen Blutverlust gewährleistet (z. B. Bleich, 2002, S. 48–51, Anm. 3, insbe11 Stellungnahme S. J. Kramers; im Vergleich dazu: Lau (2012).

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sondere die Stellungnahmen von M. Feinstein, E. Waldenberg, Y. Y. Weiss und M. Sternbuch; Bleich, 2010, S. 89–109; Namir, 2008, S. 193–194; zuvor die rabbinischen Gutachten, S. 192; The Chief Rabbinate of Israel, o. J.). Der Akt an sich wird zudem als gefährlich eingestuft, wenngleich versucht wird, Risiken einzuschränken. Deshalb existieren bereits seit der Spätantike Regelungen, die bezeichnenderweise ausgeweitet wurden, welche ein Verschieben des wichtigen frühen Beschneidungstermins vorschreiben, wenn das gesundheitliche Risiko für den Säugling zu groß ist. Die Einschätzung des Risikos ist natürlich erneut eine binnenkulturelle, in Bezug auf das Ritual gedachte. Allerdings orientiert sie sich durchaus an medizinischen Bewertungen, die, wie noch zu zeigen sein wird, jedoch einer vormodernen Medizin entstammen, wiewohl der modernen Medizin durchaus ein entscheidendes Mitspracherecht zugestanden wird. Dabei zeigt das Abwägen zwischen Gefährdung und der Bedeutung des Aktes, wie zentral die Beschneidung für das Judentum ist. Falls ein Zuwarten keine Lösung dieses Konflikts darstellt, wie etwa bei der Beschneidung von Blutern, lautet die pragmatische Regel, dass die Beschneidung eines solchen Kindes nur dann unterbleibt, wenn zwei Kinder derselben Mutter oder zweier Schwestern – im weiteren differieren die Auslegungen, wobei der Kreis positiverweise erneut erweitert wird – bereits bei der Beschneidung verblutet sind. Man sieht, dass das rabbinische Recht aus seiner Perspektive heraus durchaus Vorsichtsgründe gelten lässt, allerdings den religiösen Wertvorstellungen entsprechend. Da im Judentum wie in vielen anderen Religionen auch der menschliche Körper der eigenen Verfügungsgewalt zumindest teilweise entzogen und in eine göttliche gestellt wird – die Bewertung von Selbstmorden oder Abtreibungen sind hierfür bekannte Beispiele –, greifen die Argumente individueller Selbstbestimmung und körperlicher Integrität nicht. Dass der zitierte Fall heutzutage glücklicherweise kein Problem mehr darstellt, liegt an den Leistungen der modernen Medizin, nämlich der Entdeckung des Blutgerinnungsfaktors. Aus jüdischer Sicht gehen all die genannten medizinischen Argumente fehl. Sie dienen – gepaart mit einer kulturellen Übergriffigkeit – allein dem staatlichen Rechtsdiskurs, wobei der bewusst als Verletzung gedachte, den Körper schmerzhaft und sogar in seiner Funktionsfähigkeit verändernde Eingriff uminterpretiert werden soll. Tatsächlich hätte die staatliche Seite beantworten müssen, ob man die eigentliche religiöse Sinngebung des Akts legitimieren kann. Jede Abwägung, ob ein Eingriff – wohlgemerkt ohne medizinische Indikation – durch einen gesundheitlichen Nutzen aufgewogen werde, verbietet sich letztlich allerdings logischerweise ohnehin, weshalb die entsprechenden Legitimationen des Gesetzes mehrfach in die Irre gehen.

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Angemessenerweise muss man hinzufügen, dass die Kritik an einer Medizinalisierung des Diskurses auch die jüdische Seite trifft (Gotzmann, 1997, S. 251– 302; Judd, 2007, S. 21–153; Efron, 2008, S. 222–233; Gilman, 1995, S. 60–92; Glick, 2005, S. 115–178). Denn alle Vorstellungen etwa des Zentralrats der Juden verwiesen direkt auf diese medizinische Ebene, und es findet sich kaum eine jüdische nichtreligionsrechtliche Publikation, die dies nicht ebenso täte (Gotzmann, 1997, S. 107–123).12 Die Ursache hierfür ist in den Debatten zu Beginn der Moderne zu finden, als religiöse Praktiken auch christlicher Religionen, insbesondere aber des Judentums, und dann mit deutlich antisemitischem Tenor vor dem Hintergrund der entstehenden modernen Wissenschaften infrage gestellt wurden. Dies betraf neben den Beerdigungspraktiken oder jüdischen Ritualbädern unter anderem die Beschneidung, wobei deren Ablehnung im allgemeinen Verbürgerlichungsprozess noch durch negative sexuelle Konnotationen verstärkte wurde. Die Verteidigung solcher Gebote gegenüber dem zunehmend verbindlichen Deutungsanspruch der Medizin bedingte einen binnenjüdischen Perspektivenwechsel (S. J. Kramer, 2012, S. 7).13 Zu dieser Integration der zunächst nach außen gerichteten Verteidigungsstrategie kamen die schwindenden Kenntnisse um die eigene religiöse Tradition. Dadurch entwickelte sich ein der Umwelt gegenüber offener Paralleldiskurs, der aufgrund der zunehmend prinzipiellen Ablehnung von medizinischer Seite nunmehr allerdings an sein Ende gekommen sein könnte. Zugleich hatte das Judentum bereits seit dem Mittelalter jenseits des Rechts eine literarische Tradition der Rationalisierung religiöser Normen entwickelt, um den Gläubigen die oftmals unverständlichen, in sich teilweise widersprüchlichen, aufwändigen und sogar risikoreichen Regeln zu vermitteln, um jenen beschriebenen logischen Bruch, der immer wieder auch gefühlt wurde, zu mildern. Erstaunlicherweise finden sich hier jedoch keine zeittypisch medizinalisierten Deutungen zum Thema Beschneidung (Bleich, 2006, S. 63).14 Entscheidend ist freilich, dass gerade in der Orthodoxie all dies die Rechtsgültigkeit nicht beeinflusst. Selbst eine noch so fromme oder moralisch hochstehende Interpretation eines logisch nicht nachvollziehbaren Akts berührt dessen Gültigkeit in keiner Weise. Schon aus diesem Grund entspricht eine rationalisierende, zum Beispiel auf medizinische Vorteile verweisende Argumentation, den religiösen Vorgaben nicht.

12 Dies zeigt bereits die erste Kontroverse um die Frühe Beerdigung, bei der sich bereits die rabbinische Integration moderner medizinischer Argumente fi ndet. 13 Typisch ist der Hinweis, dass ausschließlich religiöse Gründe eine Rolle spielen, um dann auf die angeblichen medizinische Vorteile überzugehen. 14 Dies gilt so für die Moderne nicht mehr; siehe Hirsch (1889, S. 168–171).

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Ein weiterer Aspekt in diesem Zusammenhang, der uns zudem einen entscheidenden Schritt weiter führt, ist die Bedeutung des Schmerzes (Bleich, 2006, S. 57–92, insb. S. 67 ff.; Allen, 2011, S. 170–172; Reichman u. Rosner, 2000, S. 6–26). Dieser stellt in der religionsrechtlichen Diskussion, wie zu erwarten ist, einen zentralen Aspekt dar – ein weiteres Zeichen dafür, wie sehr die Verletzung des Körpers im Zentrum der religiösen Wahrnehmung steht. Zugleich beeinflusst dieser spezifische Aspekt die Frage, in welcher Weise das operative Ritual gestaltet werden kann bzw. muss. Dies wurde zu einem zentralen Punkt der allgemeinen juristischen und politischen Debatte, da sich bei dem erheblichen Eingriff, zumal bei Kindern, die Frage nach der Operationstechnik und weiteren medizinischen Details aufdrängt, was erneut zu einem Abwägen der Belastungen und des Risikos führt. Da an diesem Punkt aus Sicht des Gesetzgebers womöglich die Grenze des Zumutbaren erreicht sein könnte – der Gesetzestext selbst lässt dies nicht klar erkennen, da dies aufgrund von Monita insbesondere von jüdischer Seite unklar formuliert wurde –, sei auch hier die religionsrechtliche Sichtweise dargestellt. Vergegenwärtigt man sich die Bedeutung des Schmerzes für die rabbinische Interpretation, so wird ersichtlich, wie sehr dieses »Missverstehen« der jüdischen Tradition durch den Gesetzgeber in die Irre geht, denn letztlich biegt man sich, in einer eigenen rechtlichen Logik gefangen, die religiösen Traditionen zurecht. Insbesondere wenn es um die Beschneidung von Erwachsenen geht, ist in den Auslegungen bedeutender rabbinischer Autoritäten zu lesen, dass das Wahrnehmen und Ertragen des Schmerzes einen zentralen Bestandteil des Aktes darstellt, da dieser ein bewusstes Opfer zum Zeichen der Anerkennung Gottes ist. Damit ist die Frage des Schmerzes aber an den willentlichen Vollzug des Akts geknüpft. Daraus ergibt sich bereits der erste Unterschied der Bewertung der Erwachsenenbeschneidung im Vergleich zur Säuglingsbeschneidung, denn letztere können auch nach rabbinischer Vorstellung keine bewussten Entscheidungen treffen. Dem liegt zugrunde, dass religiöse Gebote, zumal derart bedeutende, erst als bewusste Willensakte wirklich erfüllt werden. Ein Ritual erlangt seine Gültigkeit allein durch die klare, auf dessen Bedeutung hin ausgerichtete Handlungsabsicht und die korrekte Ausführung, weshalb eine aus medizinischen oder anderen Gründen vorgenommene Beschneidung, selbst wenn das Ergebnis den rituellen Vorgaben entspräche, nicht als religiöse Beschneidung anerkannt wird. Darüber hinaus betrifft – anders als für Unmündige, also zum Beispiel Säuglinge und Kinder – bei Erwachsenen die Verpflichtung zur Beschneidung den Zu-Beschneidenden selbst. Die ganz überwiegende Zahl der Kommentatoren gestehen – wie dies auch etablierte Praxis ist – allerdings zu, dass der Beschneidungswillige deren Ausführung delegieren kann. Dies gilt gleichfalls für den jüdischen Vater, den – wie noch zu sehen sein wird – die Pflicht, seinen Sohn

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zu beschneiden, gleichermaßen persönlich betrifft. Obwohl die Erwachsenenbeschneidung in der Praxis durchgängig an rituelle Beschneider delegiert wird, betonen viele Kommentatoren dennoch, wie hoch die eigene Pflichterfüllung anzusetzen sei, denn mit der Übertragung gehen die religiösen Verdienste für den Akt auf den Ausführenden über.15 Da die Beschneidung bei Erwachsenen als willentlicher Akt bei deren vollem Bewusstsein vorgenommen werden müsste, stellt sich die Frage, wie eine Person – und hier wird lediglich an Volljährige gedacht – dies ohne Betäubung ertragen könne. Das Delegieren des Akts würde zwar eine Vollnarkose durchaus ermöglichen, denn mit der religiösen Pflicht geht auch die Verpflichtung zur geistigen Wachheit auf den Beschneider über. Dennoch stellen viele Kommentatoren die Frage, ob der Auftraggeber nicht dennoch entscheidungsfähig bleiben müsse. Wiewohl einige zentrale Kommentatoren darauf verweisen, dass dies bei vielen anderen Fällen der Übertragungen rechtlich-ritueller Akte keineswegs gefordert wird, oft auch gar nicht möglich wäre, lautet das Mehrheitsvotum, dass dies bei diesem wichtigen Ritual nicht zulässig sei: In der Konsequenz stimmen nur wenige Kommentatoren daher der Vollnarkose bei der Beschneidung von Erwachsenen zu. Eine deutliche Mehrheit erlaubt – abermals mit einigen renommierten Gegnern und trotz vieler Vorbehalte – allerdings eine Lokalanästhesie, die den Nervenreiz blockiert, den Wachheitszustand aber nicht beeinträchtigt. Der Grund für dieses Zugeständnis ist ganz entscheidend: Die überwiegende Mehrzahl orthodoxer Rabbiner sieht im Ertragen des Schmerzes zwar einen wichtigen, für die Gültigkeit des Aktes aber keinen notwendigen Faktor (Steinberg, 2008, S. 105–126, anbei rabbinische Responsen von Josef Efrati, Meir Brandsdorfer, Mordechai Elijahu, Mosche Halberstamm, Avraham Spira, Schmuel haLevi Wosner). Bei Säuglingen und sogar Kindern stellt sich dies erstaunlicherweise anders dar als die rechtliche Logik erwarten ließe. Hier stellt sich die Frage des willentlichen Vollzugs und infolgedessen des Ertragens von Schmerz schon deshalb gar nicht erst, da – anders als in der Debatte vereinzelt zu hören war – nach dem Religionsrecht für einen jüdischen Säugling oder Knaben selbst gar keine Verpflichtung besteht, sich beschneiden zu lassen (Bleich, 2006, S. 72; Jachter, 2009). Erstaunlicherweise besteht dennoch die weitverbreitete Praxis der Beschneidung von Säuglingen ohne jede Anästhesie. Teil der traditionellen Praxis ist lediglich, den Säuglingen minimale Mengen Alkohol oder Zucker zum Nuckeln zu geben, was als Schmerztherapie verstanden wird. Zum Teil – für all dies liegen 15 Zur Diskussion der Delegation: Bleich (2006, S. 68–72); siehe insbesondere die Diskussion bei Weinberg, Woszner und Sternbuch. Vgl. das Gutachten eines konservativen Rabbiners, der zugleich eine orthodoxe Stellungnahme würdigt, die Entscheidung über die Art der Anästhesie letztlich jedoch dem Beschneider anheimstellt (Kurtz, 1998).

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keinerlei Zahlen vor – werden auch geringe Mengen Schmerzmittel, zum Beispiel Schmerzzäpfchen, vor allem aber anästhetisierende Schmerzsalben verabreicht, vergleichbar jenen Gels, die der Zahnarzt auf die Mundschleimhaut aufträgt, um den Einstichschmerz der Spritze mit dem relevanten Anästhetikum zu vermindern. Auf medizinischer Seite ist man sich entgegen den immer wieder vorgetragenen Argumenten schon lange einig, dass derlei oberflächliche Betäubungsverfahren bei derart massiven Eingriffen wie dem Abtrennen der Vorhaut nicht ausreichen.16 Auch hier genügt es, in einem empathischen Perspektivwechsel die Personen in Gedanken beispielhaft zu vertauschen und sich selbst an die Stelle des Kindes zu denken, um zu einer angemessenen Antwort zu kommen. Die Frage, die sich aus jüdischer Perspektive stellt und die mit Rabbinern hätte diskutiert werden müssen, ist, weshalb man bei Erwachsenen einer Lokalanästhesie des Glieds zustimmt, bei den viel empfindlicheren Säuglingen und Kindern aber maximal einer medizinisch nicht überzeugenden Betäubung der Haut? Binnenkulturell wird dies verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass das jüdische Religionsrecht zwar seinerseits medizinische Standards kennt. Diese entstammen jedoch vor allem der Spätantike und dem Mittelalter, wiewohl die Gesetzesinterpretation in zahllosen Fällen die jeweilige Entwicklung des medizinischen Wissens durchaus nachvollzogen hat. Tatsächlich ist gerade die Ultraorthodoxie – zumal im Vergleich zu vielen anderen Religionen, aber auch im Vergleich zu säkularen Vorbehalten – gegenüber Neuerungen der Medizin, wie etwa der Gentechnik im Rahmen der Fortpflanzungsmedizin, sehr aufgeschlossen. Dies natürlich, soweit diese Neuerungen einem aus religiöser Perspektive wichtigem Ziel dienen, wie dem Erhalt der Gesundheit, was im Judentum traditionell hoch angesetzt wird, oder zugunsten einer Schwangerschaft. Bezeichnenderweise argumentiert man so auch, wenn es die Vermeidung unnötiger Schmerzen betrifft, da das Zufügen sowie die Inkaufnahme unnötiger Qualen religiös verboten sind (Bleich, 2006, S. 163–198; Bleich, 1998, S. 61–130; siehe dessen Stellungnahme zum »Pain Relief Promotion Act« von 2000 in den USA: Bleich, 2000). Bei der Beschneidung hält man dennoch an vormodernen medizinischen Vorstellungen fest. Ein Grund ist die Annahme eines überwiegenden Teils der Kommentatoren, dass Säuglinge ein vermindertes Schmerzempfinden hätten – eine Fehleinschätzung, die sich auch in der modernen Medizin lange gehalten hat. Zudem würden die notwendigen Spritzen für eine angemessene Lokalanästhesie, bei der die Nervenleitbahnen selbst blockiert werden, dem Kind weit größere Schmerzen zufügen als die Beschneidung selbst. Abermals erübrigt sich jeder medizinische Beleg, denn erneut bedarf es nur des gesunden 16 Vgl. den Beitrag von Christoph Kupferschmid in diesem Buch.

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Menschenverstands, um dieses Argument beiseitezuschieben. Jeder, der Kinder hat und kennt, weiß, dass sie sehr wohl Schmerzen fühlen und in welchen Zustand diese zumal einen hilflosen Säugling versetzen können. Die nachgerade stereotype, in vielen Darstellungen zum kulturellen Topos überformte Angst der jüdischen Mutter vor der Beschneidung ihres Sohnes zeigt, dass selbstverständlich weder jüdische Kinder noch deren Eltern hierbei eine Ausnahme machen. Erstaunlicherweise übergeht die rabbinische Rechtsdiskussion meines Wissens die naheliegende Variante, die derlei Bedenken aus der Welt räumen würde, nämlich dass man die Haut vor dem Einstich der Schmerzspritze durch das Auftragen des fraglichen Gels betäubt. Dem gleichfalls häufigen Argument, dass derlei Medikationen weit gefährlicher als das Beschneidungstrauma wären, eine vergleichbar widersinnige Argumentation, muss man nicht weiter folgen. Wenn man auf die besonderen Gefahren von Betäubungsmitteln verweist und dies als Argument zugunsten der traditionellen Methode anführt, bliebe logischerweise nur zu erwidern, dass diese selbstverständlich bestehen. Allerdings werden hier die Dinge verkehrt und an der Frage vorbei argumentiert, denn diese Risiken sind eine Konsequenz der Beschneidung, ohne letztere entstünde die Notwendigkeit einer Schmerztherapie gar nicht. Für den Gesetzgeber kann es erneut nur darum gehen, die Zulässigkeit dieser religiösen Körperverletzung, wie sie gefordert wird, nach eigenen Kriterien abzuwägen. Von Seiten der jüdischen Orthodoxie ist diese Frage entschieden; die Haltung gegenüber einer effektiven Lokalanästhesie durch einen sogenannten Peniswurzelblock bleibt durchgängig ablehnend. Um einmal das Argument eines renommierten orthodoxen Rabbiners des 20. Jahrhunderts, Jechiel Jakob Weinberg, zu zitieren: Eine Anästhesie mache den Körperteil zudem leblos wie einen Stein, und an einem Stein, also einem leblosen Gegenstand, könne man kein religiöses Gebot vollziehen (Weinberg, 1977).17 Ich zitiere diese bekannte Stellungnahme nur, um zu dokumentieren, wie stark die orthodox-rabbinische Vorstellung überholten Begriffen von Biologie und Medizin verbunden blieb. Zugleich – erneut zeigt sich hier eine durchaus positive Grundhaltung, obschon dies für den Gesetzgeber und wohl auch für die überwiegende Mehrzahl der Mediziner zu Recht nicht weit genug gehen wird – erlaubt und empfiehlt man sogar das Auftragen lokalanästhetischer Gels, da Schmerz eben keinen notwendigen Teil des Aktes darstellt.18 17 Ein anderer bekannter Einwand gegen eine Vollnarkose ist, dass der für das Kind nicht kontrollierbare Eingriff wie ein Überfall mit Körperverletzung zu werten sei, was einem religiösen Akt unangemessen ist. 18 Woher der Zentralrat seine Einschätzungen nimmt, etwa dass ab dem sechsten Monat von orthodoxer Seite bei Kindern der Vollnarkose zugestimmt werde, ist unklar; vgl. die Stellungnahme von S. J. Kramer (2012, S. 4).

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Dennoch müsste sich das orthodoxe Rabbinat der Frage stellen, weshalb man hier ganz im Gegensatz zu zahllosen Fällen, bei denen dem Urteil der modernen Medizin zugunsten religiös positiv bewerteter Ziele gefolgt wird, derart ablehnend entscheidet. Es ist charakteristisch, dass die moderne medizinische Expertise selbst hinsichtlich einiger Aspekte des Beschneidungsrituals anerkannt ist. So wird die religiös vorgeschriebene Verschiebung des Beschneidungstermins in zweierlei Hinsicht direkt von der modernen medizinischen Diagnostik abhängig gemacht: Dies gilt für die problematische Identifikation spätantiker Benennungen von Krankheitsbildern mit Erkrankungen, die der modernen Medizin vertraut sind, ebenso wie für die Verschiebung der Beschneidung.19 Dass diese Würdigung der allgemeinen Medizin auch für die – wiewohl begrenzte – Zulassung medizinischer Geräte gilt, dokumentiert nicht nur die Entwicklung spezifischer Beschneidungsbestecke seit dem Mittelalter. Auch die allerdings noch kontroverse Zustimmung, dass zum Ablösen und Einreißen des inneren Vorhautblatts, das bei Säuglingen noch mit der Eichel verklebt ist, anstelle der Fingernägel medizinische Sonden benutzt werden können, belegt dies. Ebenso wie der Gegensatz zu den religiös schwerer zu legitimierenden Zugeständnissen für die Beschneidung Erwachsener erzwingt dies eine Antwort auf die Frage, weshalb ausgerechnet den körperlich und in ihrer Abhängigkeit von der elterlichen Fürsorge Schwächsten aufgrund überholter medizinischer Vorstellungen eine vergleichbare Erleichterung verweigert wird, und dies trotz der sonst üblichen Würdigung einer zeitgemäßen Medizin und trotz der in sich widersprüchlichen Begründungen. Die Antwort liegt in der insbesondere bei derart zentralen religiösen Geboten, zumal der biblischen Überlieferung, begründeten Zurückhaltung, von einer einmal etablierten Praxis abzuweichen. Dies geschieht aus der Befürchtung heraus, dass jede Neuerung das Risiko einer Übertretung des Religionsrechts beinhalte und wurde seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend zu einem zentralen, fundamentalistischen Argument gegen eine als bedrohlich empfundene Moderne. Es findet sich – um einen weiteren zentralen Punkt anzuschneiden – in den seit dem 19. Jahrhundert andauernden Diskussionen um einen spezifischen Aspekt der Beschneidung immer wieder. Ein einzelnes historisches Beispiel soll

19 Der Talmud – bis heute die maßgebliche Rechtsschöpfungsquelle des orthodoxen Judentums – nennt als Verschiebungsgrund beispielsweise eine ihm bekannte Erkrankung mit dem unklaren Begriff »jarok« [in etwa: grün-gelblich]; bT Schabbat 134a; bT Chullin 47b. Die rabbinischen Versuche über die Jahrhunderte, dies mit einem spezifischen, jeweils vertrauten Krankheitsbild zu verbinden, gingen sehr weit. Heutzutage wird dies allgemein mit dem Krankheitsbild der modernen Medizin namens »Gelbsucht«, also Hepatitis, identifiziert. Auch bei anderen Krankheitsbildern wird eine fachärztliche Diagnose, ob das Kind in dem Zustand beschnitten werden könne, vorausgesetzt.

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genügen um die nahezu zweihundertjährige Geschichte der aktuellen Debatte in der gesamten westlichen Welt zu belegen. Spätestens in den 1830er Jahren führten das wachsende Verständnis der Übertragungswege von Krankheiten und etliche, medial weit verbreitete Verdächtigungen, dass bei einer Beschneidung die Syphilis auf Kleinkinder übertragen worden sei, dazu, dass die Vorschrift, die Schnittwunde mit dem bloßen Mund auszusaugen, infrage gestellt wurde. In diesem Zusammenhang äußerte der Wiener Gemeinderabbiner Lazar Horwitz, der sich zudem der Zustimmung des posthum zum Gründungsvater der Ultraorthodoxie erklärten Preßburger Rabbiners Mosche Sofer versichert hatte, dass dieses Gebot auch durch das Aussaugen über ein Glasröhrchen erfüllt werde, wodurch Infektionen ausgeschlossen waren. Hingegen entschied eine ganze Reihe renommierter Kollegen, allen voran der Altonaer Rabbiner Jakob Ettlinger, aufgrund des genannten Arguments, dass die etablierte Praxis unverändert aufrechterhalten werden müsse. Dennoch kam es wie bei anderen vergleichbaren Fällen zu einer zunehmenden Regulierung der Beschneidung durch Verwaltungsbehörden im Rahmen der öffentlichen Gesundheitsvorsorge. In den jüdischen Gemeinden entwickelte man, keineswegs nur als Reaktion auf externe Vorgaben, vergleichbare Vorschriften, was zum Teil auch die Ausbildung und Kontrolle der Beschneider betraf (Heilprin, 2008/09, S. 151–171; Sprecher, o. J.).20 Erst unter dem allgemeinen, auch die Religionen erfassenden Konservativismus der 1980er und 1990er Jahre begannen größere Teile der Orthodoxie derlei eigentlich erledigte Fragen wieder aufzurollen (Heilprin, 2008, S. 127–150). Mit dem Erstarken der insgesamt kleinen fundamentalistischen Gruppen, die durch die Religionspolitik des Staates Israel Rückenwind erhielten, kam auch die Frage des Aussaugens wieder vermehrt auf die Tagesordnung (Heilmann, 1998; Bilu, 2000). Es muss daher nicht wundern, dass das israelische, überwiegend ultraorthodoxe Oberrabbinat kürzlich mit dem Hinweis in die aktuelle deutsche Debatte eingriff, 20 Horwitz’ Anfrage und Sofers Antwort fi nden sich in Stern (1845, S. 47–50); wobei Sofers Argument sich darauf stützt, dass das Aussaugen ein medizinischer Akt zur Heilung sei, und nicht primär ein ritueller (Ettlinger u. Enoch, 1845–1854); das wesentliche Argument für die konservative Entscheidung geht auf Bedenken zurück, dass das Aussaugen mit dem Mund womöglich sogar ein biblisches Gebot darstellen könnte. Das Bluten als entscheidender Teil des Akts entstammt der hippokratischen Medizin, die bei Verletzungen der Körperextremitäten ein Bluten der Wunde, bei Körperhöhlungen jedoch das Verhindern von Blutungen vorschrieb. Das Aussaugen war damit ursprünglich eine medizinische Maßnahme zugunsten des Heilungsprozesses, die dann zunehmend ritualisiert wurde und sich in der Deutung von dem medizinischen Aspekt loslöste. Manche Rabbiner, wie zum Beispiel Mosche Sofer, erkannten dies zumindest teilweise durchaus noch an, wobei sich dies in der Orthodoxie seit Beginn des 19. Jahrhunderts offenbar rapide abschwächte (Horovitz zu einem Verbot in Frankfurt mit Bezug auf die Haltung S. R. Hirschs; Katz, 1998, S. 357–402; Jachter, 2001; Cooper, 2012).

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dass man das Aussaugen mit dem Mund weiterhin fordere, obwohl dies in vielen Staaten immer wieder zu Skandalen und Regelungsversuchen seitens der Behörden geführt hatte (z. B. Shaare Zedek Medical Center, 2006; Steinberg u. Westreich, 2012). In Israel – wohlgemerkt einem säkularen Staat, wiewohl die beiden Oberrabbinate inzwischen den Status staatlicher Institutionen haben – führte derlei zu staatlichen Regulierungen, die gegen den heftigen Einspruch der religiösen Kreise und des Oberrabbinats beispielsweise Standards für die Ausbildung der religiösen Beschneider auch in medizinischer Hinsicht festlegten. Dass man sich damit nur unzureichend durchsetzen konnte, ist der israelischen Situation geschuldet. Wie in Deutschland forderten auch dort Mediziner und deren Verbände erwartungsgemäß ein klares Mitspracherecht, was zu erneuten Kompromissen führte (State of Israel – Secretary of Health, o. J. a; o. J. b; ITIM, o. J.; Freier, 1983, S. 369–370). Letztlich muss zu dem spezifischen operativen Akt des direkten Aussaugens der Wunde am Glied mit dem Mund nichts gesagt werden: Von religionsrechtlicher Seite finden sich kaum andere Argumente als die genannten, und aus dem Blickwinkel medizinischer Hygiene verbietet sich dies selbstredend. Möglicherweise würde die religionsrechtliche Diskussion anders verlaufen, wenn stärker berücksichtigt würde, dass die Ansteckungsgefahr tatsächlich für Beschneider und Kind gleichermaßen besteht. Auch dass der bürgerliche Begriff von Sexualität jüdischen Kreisen diesen Teil des Rituals zunehmend peinlich macht, lässt auf eine Änderung hoffen. Obwohl der Zentralrat der Juden bei seiner insgesamt eigenartigen Vorstellung im Ethikrat diese Beschneidungspraxis noch verteidigte – ein Video einer ultraorthodoxen Beschneidung mit eher symbolischen Akten der Hygiene und diesem Ritual wurde als positives Beispiel angeführt –, reagierte neuerdings dessen Vorsitzender, Dieter Graumann, mit dem Kommentar auf das Beharren der Orthodoxie, man habe stets ausdrücklich betont, dass man diese Form der Umsetzung nicht befürworte (Jüdische Allgemeine, 2013; Deutscher Ethikrat, 2012; Haupt, 2012; Berliner Morgenpost, 2013; Latasch, 2012; Müller-Neuhof u. Keller, 2013). Hinter diese Haltung stellten sich nach Presseangaben sowohl die orthodoxe Europäische Rabbinerkonferenz als auch die Orthodoxe Rabbinerkonferenz Deutschlands. Bezeichnend ist, dass diese das Benutzen einer Pipette empfehlen, das direkte Aussaugen mit dem Mund aber nicht verbieten, wodurch der Konflikt letztlich nicht ausgeräumt wird (Die Welt, 2013).21 21 Dagegen Kramers Stellungnahme (S. J. Kramer, 2012, S. 5), wobei die Angabe, dass dies in Deutschland nicht geschehe, durch keinerlei Statistik unterlegt wurde. Ebenso Wagner (2013). Josef Schuster verweist ebenso auf ein zustimmendes Gutachten der Orthodoxen Rabbinerkonferenz (Zentralrat der Juden in Deutschland, 2012). Die Anfrage vom 01. 07. 2013 bei der Orthodoxen Rabbinerkonferenz nach einer spezifischen Entscheidung bzw. Beschlussfassung

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Die zentralen Fragen lauten: Wird die zuständige Orthodoxe Rabbinerkonferenz wirklich ein definitives Verbot aussprechen, dies ganz im Gegensatz zu der rabbinischen Zurückhaltung gegenüber Einschränkungen religiöser Gebote? Und können der Zentralrat der Juden bzw. die einzelnen jüdischen Gemeinden dessen Einhaltung gewährleisten? Dass der Zentralrat dem Vorstoß des israelischen Oberrabbinats, das sich mehrfach für die fragliche Methode des Aussaugens ausgesprochen hat, eine Absage erteilt, klingt erfreulich. Dass es seitens der in Deutschland amtierenden orthodoxen Rabbiner jedoch zu einem gegenteiligen Verbot kommen wird, ist unwahrscheinlich, da deren Bedeutung als Rechtsentscheider insbesondere in derlei zentralen Fragen gering ist. Dies zeigt sich auch in der Zusammensetzung des Rabbinatsgerichts ihres Verbandes, die bei drei rabbinischen Richtern stets zwei Kollegen des israelischen staatlichen Rabbinats vorsieht, die mit entsprechenden Kompetenzen ausgestattet von dort anreisen. Zumal dieses auf das israelische Oberrabbinat ausgerichtete Gremium für die hiesigen Gemeinden seine Bedeutung gerade dadurch gewinnt, dass dessen Entscheidungen insbesondere zum religiösen Personenstatus und zu eherechtlichen Fragen in Israel Bestand haben (ORD, o. J.; Zentralrat der Juden in Deutschland, 2012; siehe die relativierende Bewertung Schusters; vgl. ARK, 2012; Andel u. Fried, 2010). Wenden wir uns nunmehr von den technischen Details des jüdischen Beschneidungsrituals ab, und dem zweiten Komplex zu, durch den auf staatlicher Seite die Zulässigkeit der Jungenbeschneidung legitimiert wurde: Der Gesetzgeber musste das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und den Aspekt des Kindeswohls gegen die Frage abwägen, inwieweit die Säuglings- und Kinderbeschneidung durch das elterliche Sorgerecht gedeckt sein kann. Wie bekannt, ist inzwischen die körperliche Züchtigung verboten und der allgemeinen Rechtsprechung gemäß ist das elterliche Erziehungsrecht als eine Verpflichtung, im Interesse des Kindes zu dessen Wohl zu handeln, und nicht als eine Einschränkung kindlicher Rechte im Interesse der Eltern zu verstehen. In Kombination mit dem Recht der Religionsfreiheit steht den Eltern die Erziehung und Sozialisation ihrer Kinder in der jeweiligen religiösen Tradition frei, daher wurde zur Verteidigung der Beschneidung argumentiert, dass diese eine notwendige Voraussetzung für das harmonische Aufwachsen der Kinder in der jüdischen Gemeinschaft darstelle. blieb leider unbeantwortet. Bezeichnend ist die Reaktion des Rabbinatsgerichts der israelischen Edat Charedit, unter Vorsitz von Mosche Sternbuch, die den Berliner Lubavitcher Rabbiner Teichtal gegen die Aussage des Präsidenten der Europäischen Rabbinerkonferenz, P. Goldschmidt, in Schutz nehmen und das Aussaugen mit dem Mund erneut unterstützen (z. B. Gur u. Charedim, 2013; ebenso COL live, 2013).

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Zunächst stand generell die Behauptung im Raum, dass nur ein beschnittener Mann bzw. Junge Jude sei, was – wie jeder in jüdischen Dingen halbwegs Bewanderte weiß – gemäß den etablierten säkularen sowie allen religiösen Definitionen falsch ist (Karo, 2002, Schulchan Aruch 260–267).22 Der orthodoxen Rechtstradition entsprechend hängt das Judesein allein von der Geburt durch eine jüdische Mutter ab bzw. von einem rechtsgültigen Übertrittsverfahren, das allerdings die Beschneidung einschließt. Vielfach wurde zu Recht betont, wie zentral dieses Ritual im Judentum ist, und dies unabhängig von seiner spezifischen Ausgestaltung nicht nur in fast allen religiösen Denominationen, sondern auch für die Mehrzahl nichtreligiöser Juden als ethnisches Kennzeichen. Zwar gab es schon im 19. Jahrhundert eine zunehmende, insgesamt jedoch verschwindend geringe Zahl von Eltern, die ihre Kinder nicht beschneiden ließ, und heutzutage existieren sogar einige Gruppen und Organisationen, die dieses Ritual bewusst ablehnen. Indes vollzieht die Mehrheit dieses Ritual fraglos weiterhin. Ganz unabhängig davon bleiben aber unbeschnittene Männer Juden, denn die Beschneidung begründet die spezifische Aufnahme in die religiös-rituelle Gemeinschaft. Wenn man also nach der Benachteiligung nichtbeschnittener Kinder – und es geht hier nur um diese – fragt, muss man sich kundig machen, wovon diese Jungen ausgeschlossen bleiben. Ganz im Gegensatz zu allen Annahmen und Behauptungen besteht, wie schon gesagt wurde, für ein männliches Kind tatsächlich keine religiöse Pflicht sich beschneiden zu lassen. Diese Verpflichtung entsteht nach Jüdischem Recht erst mit dem Eintritt ins rituelle Erwachsenenalter, also mit dem 13. Lebensjahr (Kramer, 2012, S. 9).23 In der Zeit zuvor obliegt die Verpflichtung allein dem Vater des Jungen. Sollte dieser nicht in der Lage oder nicht gewillt sein, seinen Sohn beschneiden zu lassen, geht diese Verpflichtung nicht etwa auf die Mut22 Siehe hierzu etwa das Gutachten des vormaligen, letzten Leiters des orthodoxen Berliner Rabbinerseminars vor dem Holocaust, Jechiel Jakob Weinberg, in dem er den Status eines übertrittswilligen Nichtjuden, der aus medizinischen Gründen nicht beschnitten werden kann, mit demjenigen eines Juden vergleicht, der aus medizinischen Gründen von der Beschneidungspfl icht befreit ist. Letzterer falle auch dann nicht in die Kategorie eines »Orels« – eines Unbeschnittenen im Sinne von Nichtjuden –, eben da er bereits Jude ist und lediglich eine religiöse Pflicht nicht erfüllt hat bzw. von dieser befreit ist, während eine solche Pfl icht für einen Nichtjuden (also vor seinem Übertritt) gar nicht besteht; Weinberg, 1962. 23 Hier ist die Stellungnahme ebenso ganz eindeutig, verweist aber auf mögliche Stigmatisierungen der jüdischen »peer group«. Deutscher Bundestag (2012c, Kommentar S. Kramer, S. 35); die angeführten Beispiele der Ausgrenzung vom Ritual treffen für einen Jungen unter 13 Jahren jedoch gar nicht zu; vgl. dazu Deutscher Bundestag (2012c, S. 67 f.; »Es ist nicht so, dass der nicht beschnittene Junge tatsächlich, sage ich jetzt mal, nicht wirklich auch als Teil aufgenommen wird«, mit dem Verweis, dass es zu Ausgrenzung komme, vor allem aber von anderen Kindern.

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ter, sondern auf die Jüdische Gemeinde über, genauer gesagt auf das Rabbinat.24 Da die Vorstellung der Zwangsbeschneidung schon im 19. Jahrhundert selbst von keinem orthodoxen Rabbiner auch nur angedacht wurde, wiewohl man für einige Zeit noch die Unterstützung der Behörden erbat, also weder der Vater dazu gezwungen, noch das Kind gegen seinen eigenen Einspruch beschnitten wurde, muss die Frage der Beschneidung gegen den Willen der Eltern bzw. des Kindes nicht diskutiert werden. Eine derartig fundamentalistische Verletzung des Vorrangs staatlichen Rechts würde zudem das im Judentum seit Jahrhunderten gefestigte Konzept von Staat und Religion in Zweifel ziehen (Gotzmann, 2002, S. 212–242). Vergegenwärtigt man sich das religiöse Gebot wie es von religiöser Seite gedacht ist, so erscheint die Diskussion auf staatlicher Seite erneut in einem anderen Licht. Anders als die staatliche Gesetzgebung dies den eigenen Vorgaben entsprechend rationalisiert, wird von jüdisch-orthodoxer Seite genau das gefordert, was der Staat nicht zugeben kann: Nämlich dass im Interesse der religiösen Pflicht des Vaters, also des Erziehungsberechtigten, und eben nicht zugunsten des Kindes, dessen Beschneidung erlaubt werden müsse. Diese Perspektivverschiebung zeigt abermals, wie uninformiert der Gesetzgeber vorging und wie sehr er sich erneut ein Judentum erdachte, das mit den staatlichen Rechtsbegriffen vereinbart werden konnte. Geht man einen Schritt weiter und fragt nach den Konsequenzen für eine unterlassene bzw. verweigerte Beschneidung, so zeigt sich, dass gemäß den religionsrechtlichen Vorschriften möglicherweise Ausgrenzungen bei spezifischen religiösen Handlungen erfolgen, beispielsweise verwehrt man den Aufruf zur Toralesung im Gottesdienst. All dies betrifft jedoch zunächst den Vater. Dem Jungen, der bis zum 13. Lebensjahr gar nicht zur Beschneidung verpflichtet ist, kann diese Unterlassung des Vaters nicht angelastet werden. Das Problem des Umgangs mit einem religiös dissentierenden Vater muss hier nicht interessieren, da es allein um die Situation unbeschnittener Kinder geht. Mit dem Eintritt ins 13. Lebensjahr müsste ein unbeschnittener Junge jedoch ebenso wie ein tatsächlich Erwachsener durchaus Ausgrenzungen gewärtigen. Die gedachte Strafe bei Unterlassung der Eigenverpflichtung zur Beschneidung gehört zu den schärfsten, die das Judentum kennt, nämlich die Androhung der »göttlichen Auslöschung«. Da diese schrecklichste Strafe aber als solche Gott überlassen bleibt, bleiben als faktische Konsequenzen der Ausschluss von eini24 Dieses spezifische Detail zeigt erneut, in welchem Maß der Gesetzgeber die religiösen Grundlagen ignorierte, denn aus staatlicher Sicht ist dies natürlich ein Akt der Geschlechterdiskriminierung.

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gen rituellen Zusammenhängen: Diese umfassen in der Orthodoxie beispielsweise auch die Weigerung, diese Person zum rituellen Gebetsquorum – dem Minjan – zu zählen; die Teilnahme am Gebet dürfte jedoch kein Problem darstellen. Sicherlich bliebe er von Ritualen wie der Bar Mitzwa ausgeschlossen, zudem würde das Rabbinat unbeschnittenen Kindern ebenso wie Erwachsenen die religiöse Eheschließung, vielleicht sogar ein religiöses Begräbnis verweigern; für die Teilnahme am Pessach-Seder gilt zudem ein spezifisches Verbot. Für den religiös mündigen Jugendlichen ergeben sich also durchaus einschneidende Diskriminierungen, wiewohl ein Teil solcher Benachteiligungen vor dem Erreichen der staatlichen Volljährigkeit vermutlich ohnedies nicht zur Debatte steht. Doch wie bereits im 19. Jahrhundert einige Reformrabbiner anmahnten, würden solche Maßnahmen die Gemeinden vor die unangenehme Frage stellen, wie man in anderen Zusammenhängen mit der Vielzahl offenkundiger, schon aufgrund ihrer Stetigkeit systematischer schwerer religiöser Gebotsverletzungen umgeht, also mit den Übertretungen der Schabbatgebote, dem Essen unkoscherer Speisen oder der Nichtbeachtung der sogenannten Familienreinheit (Gotzmann, 1997, S. 228–237).25 All jene Personen, die einen Teil dieser Gesetze übertreten, müssten dann gleichermaßen zumindest in gewisser ritueller Hinsicht ausgeschlossen werden. In vielen orthodoxen Gemeinden in Amerika oder Israel ist dies durchaus üblich, in den fast ausnahmslos areligiösen deutschen Nachkriegsgemeinden war es jedoch nie der Fall. Betrachtet man den bisherigen Umgang gerade der jüdischen Gemeinden in Deutschland mit unbeschnittenen Kindern und Erwachsenen, so stellt sich der Sachverhalt, wie zahllose Beispiele belegen, ganz anders dar: Zunächst einmal ist die jüdische Gemeinschaft – selbst wenn man hierunter nur die Mitglieder jüdischer Gemeinden versteht – in Deutschland fast gänzlich areligiös. Die geschätzte Anzahl der Religiösen gemessen an den Normen der verschiedenen Denominationen bewegt sich sicherlich deutlich im unteren Prozentbereich. Darüber hinaus dürfte der Prozentsatz religiös gemischter Ehen in Deutschland im weltweiten Vergleich ganz oben anzusiedeln sein. Somit sind die Verhältnisse hierzulande völlig andere als etwa in einer sogenannten »modern/centrist«- oder gar konservativ-orthodoxen Gemeinde in den Vereinigten Staaten, von ultraorthodoxen und den meisten israelischen Synagogengemeinden ganz zu schweigen. Da nicht nur das Wissen, sondern auch das Interesse an Religion hierzulande gering war und – was ebenso für die alteingesessenen wie die etwa 90 % der 25 Vgl. die Haltung der amerikanischen Orthodoxie zur Orthopraxis, Heilman und Cohen (1986). Die areligiöse Haltung betrifft die kleinen reformorientierten Gruppen gleichermaßen.

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aus den ehemaligen GUS-Staaten neu zugewanderten Mitglieder zutrifft – die Anzahl unbeschnittener Jungen und Männer zugleich hoch ist, bleibt der liberale Umgang mit diesem Problem für die kleine Gemeinschaft letztlich überlebenswichtig (Kerneck, 2012; ARK, 2012; Kommentar S. Kramer unter Deutscher Bundestag, 2012c, S. 36 f., S. 69–71).26 Viele der Kinder aus gemischten Ehen – die unbeschnittenen und bezeichnenderweise sogar jene, die religionsrechtlich gar keine Juden sind – werden dementsprechend durchaus in die Gemeinden integriert, daher kann von einer besonderen Diskriminierung nicht die Rede sein. Allem Anschein nach verweigern zwar die meisten deutschen Gemeinden in Bezugnahme auf die orthodoxe Rechtsauslegung sowohl diesen nichtjüdischen Kindern jüdischer Väter als auch unbeschnittenen Juden – also auch jenen, die nach dem israelischen Staatsbürgerrecht als Juden anerkannt werden – die Gemeindemitgliedschaft. Doch schon aufgrund der großen Zahl solcher Fälle und auch aufgrund einer erfreulich offenen Haltung der Gemeinden werden regulär all diese Kinder, auch unbeschnittene, sogar in den Religionsunterricht integriert, also in die Vermittlung religiöser Vorstellungen und Rituale einbezogen. Gleiches gilt meines Wissens häufig für den Gottesdienst. Es spricht für die Gemeinden, dass der erkennbare Anteil struktureller Diskriminierung von Kindern verschwindend gering bleibt. Er betrifft in der Regel allein die Teilnahme an Freizeiten des Wohlfahrtsverbands, eine intern bezeichnenderweise dennoch kritisierte Regelung, die vermutlich aufgrund finanzieller Zwänge, vielleicht zudem als ein Anreiz an die Kinder und Jugendlichen, doch den Schritt der Beschneidung zu gehen, aufrechterhalten wird. Nicht zu Unrecht scheinen die Gemeinden zu befürchten, dass ein 13-jähriger Junge, wie viele Erwachsene auch, die nachträgliche Beschneidung ablehnen könnte. Dies zeigt die große Zahl beschneidungsunwilliger jüdischer Männer etwa in Israel, von denen meist nur die jüngeren vor allem aufgrund des sozialen Drucks in der Militärzeit und weit weniger aus religiöser Überzeugung zu diesem Schritt bereit sind. Auf wie viele in Deutschland dies zutrifft, lässt sich statistisch nicht erfassen, die genannten Zahlen lassen auf einen sehr kleinen Kreis schließen. Dennoch steht den Gemeinden jede Möglichkeit offen, dem durch die religiöse Erziehung in den Gemeinden und im Elternhaus entgegenzuwirken, weshalb aus staatlicher Sicht nichts gegen eine Verschiebung des Beschneidungstermins spräche, denn das Argument der Benachteiligung und Ausgrenzung trägt offenkundig kaum. Und zu einem pragmatischen Schaffen von Fakten, um das Pro26 Offenbar gibt es in Deutschland nicht einmal eine klare Linie, was die Aufnahme unbeschnittener Juden in die Gemeinde angeht. Eine eher hochgegriffene Einschätzung wäre Schneider, 1999.

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blem möglicher Beschneidungsunwilliger von vornhinein zu minimieren, sollte sich der Staat nicht verstehen. Doch dieser Aspekt wurde offenbar nicht einmal bedacht (Deutscher Bundestag, 2012c).27 Tatsächlich war unter anderem von einer Mitautorin dieses Buchs vorgeschlagen worden, dass man den Beschneidungstermin auf das vom Staat vorgegebene Alter der Religionsmündigkeit von 14 Jahren verschiebt. Dies wurde bekanntermaßen von jüdischer Seite insgesamt, von parlamentarischer Seite mehrheitlich abgelehnt. Ein solcher Kompromiss hätte mit dem Jüdischen Religionsrecht jedoch nur für den verbleibenden Zeitraum von einem Jahr kollidiert. Da die religiösen Grundlagen unbekannt blieben, kam es zu einem solchen, aus religionsrechtlicher Sicht sicherlich nicht positiven, zumindest aber eher gangbaren Weg gar nicht erst. Derlei Kompromissmöglichkeiten eröffnen sich tatsächlich etliche, wenn man die religionsrechtlichen Grundlagen kennt. Bei allen handelt es sich aus religiöser Perspektive stets um ein problematisches Zurückweichen der Religion, zumal wenn religionsrechtliche Spielräume bzw. Ausnahmeregelungen zugunsten eines für die Religion generell fragwürdigen Kompromisses genutzt würden. Jedoch hätte das Verschieben der Altersgrenze auf das 13. Lebensjahr die medizinischen Vorbehalte gegenüber einer Beschneidung im Säuglingsalter bzw. in jungen Jahren deutlich vermindert, da die orthodoxe Rechtsauslegung danach einer wirksamen Lokalanästhesie zustimmt. Man könnte auch argumentieren, dass sich die Frage der Entscheidungsfähigkeit mit 13 bzw. 14 Jahren anders darstelle als bei Säuglingen und Kleinkindern.28 Charakteristisch für das Aneinander-vorbei-Denken von Religion und Staat ist, dass das nun bestehende Gesetz die religiösen Vorgaben zumindest ihrer Logik nach mehr beeinträchtigt als ein solcher Kompromiss: Denn nach nun geltender Gesetzeslage ist die Beschneidung ab dem sechsten Lebensmonat nur noch durch einen Arzt erlaubt, was aller Wahrscheinlichkeit nach die für Säuglinge rabbinischerseits untersagte Lokalanästhesie im Sinne des Nervenblocks zur Folge haben wird. Außerdem dürfen danach religiöse Beschneider nicht mehr tätig werden, es sei denn, sie wären Ärzte – abermals eine Einschränkung des religiösen Rechts.

27 Vgl. die widersprüchlichen Angaben der Rabbinerin Deusel, dass ein unbeschnittenes Kind unter 13 Jahren aus der Religionsgemeinschaft ausgeschlossen sei, dann aber wiederum erst mit 13 Jahren in diese aufgenommen werde. 28 Wiewohl hieran natürlich erhebliche, nicht nur in der Rechtsprechung bereits etablierte Zweifel angebracht sind. Man denke nur, wie leicht in muslimischen Gemeinden Jungen dieser Altersstufe durch sozialen Druck und kleine Geschenke dazu gebracht werden, dieses Ritual vornehmen zu lassen und öfter sogar noch danach, trotz erheblicher Schmerzen, an den Feiern teilzunehmen.

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Eine andere, religiös schwierige, religionsgesetzlich formal jedoch mögliche Variante hinsichtlich der Fragen der Schmerztherapie bzw. der Problematik der Zulassung medizinisch unzureichend befähigter Beschneider – und damit auch all der Fragen der Hygiene sowie der Beschneidungstechniken – wäre gewesen, die Beschneidung, wie dies bei männlichen Proselyten häufiger getan wird, regulär in einem Krankenhaus von einem qualifizierten Chirurgen vornehmen zu lassen. Dieser muss weder jüdisch sein noch die Vielzahl der religiösen Regelungen beachten, solange die Operationsvariante die Eichel vollständig frei legt, im Ergebnis also eine Vollbeschneidung darstellt. Das Ersatzritual für die nun nicht mehr mögliche Beschneidung – Gleiches gilt regulär für Kinder, die ohne sichtbare Vorhaut geboren werden, und alle Personen, die bereits zuvor aus medizinischen Gründen beschnitten wurden – beinhaltet neben den üblichen Gebeten lediglich einige wenige Blutstropfen, mindestens aber einen, aus dem Rest der verbliebenen Vorhaut, wozu ein Nadelstich genügt. Auch hinsichtlich der so problematischen gesetzlichen Regelung, die zugunsten der jüdischen Gemeinschaft eine besondere Frist von sechs Monaten gewährt, in der rituelle Beschneider unter gewissen Voraussetzungen die Operation vornehmen dürfen, wäre ein anderer Kompromiss nahe gelegen, der erneut die religiösen Vorstellungen zwar beeinträchtigt hätte, allerdings nur in geringem Maße und – man sollte dies auch in der innerjüdischen Debatte nicht vergessen – zugunsten eines deutlichen Gewinns an Sicherheit für die Säuglinge: eine generelle Begrenzung des Rechts auf medizinisch nicht angezeigte Beschneidungen auf ausgebildete Ärzte. Dem wäre von religionsrechtlicher Seite lediglich entgegenzuhalten, dass diese jüdisch sein und nach orthodoxem Verständnis religiös leben müssten (Kramer, 2012, S. 4 f.).29 Dass man jüdischerseits darauf achtete, dass eine solche Beschränkung nicht vorgenommen wird und Mohalim – also rituelle Beschneider – operieren dürfen, erklärt sich religionsgesetzlich allein aus dem Rechtsverständnis, dass man dieses hoch eingeschätzte Gebot und das damit verbundene Sammeln von Verdiensten vor Gott möglichst vielen Personen, und nicht nur einigen wenigen jüdischen Ärzten, zukommen lassen möchte. Aus religiöser und religionsrechtlicher Perspektive stellt das Amt des Beschneiders, übrigens anders als vom Gesetzgeber verstanden, keineswegs 29 Man lehnte bereits die Möglichkeit ab, einen Arzt zur Beschneidung durch den Mohel zuzuziehen, unter anderem aufgrund der Befürchtung, dass dem »die mangelnde Mitwirkungsbereitschaft von Ärzten« entgegenstehen könne; bzw. dass die medizinische Aufk lärung durch den Mohel zu geschehen habe, denn: »Zudem besteht die Gefahr, dass der Arzt versuchen wird, die Eltern umzustimmen, wenn seine persönliche Meinung einer Beschneidung entgegensteht«. Allgemein hierzu z. B. das Gutachten von R. Elieser Jehuda Waldenberg (1983, S. 371–378).

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einen Beruf, sondern eine Berufung dar. Die entsprechenden Personen sind meist in ganz anderen Berufen tätig, und dies sind in der ganz überwiegenden Mehrzahl zweifellos keineswegs medizinische Tätigkeiten. Sie üben diesen Akt als Zeichen besonderer Frömmigkeit, eben zugunsten des Erwerbs positiver religiöser Verdienste durch den Beschneidungsakt aus, weshalb in der Regel hierfür auch kein Honorar, sondern lediglich eine reine Aufwandsentschädigung berechnet wird, da ein finanzielles Interesse derlei Verdienste schmälern würde. Dass der Gesetzgeber tatsächlich zugunsten derlei frommer Vorstellungen diese fragwürdige Ausnahmeregelung geschaffen hat, die wiederum entscheidende Probleme in sich trägt, ist kaum nachvollziehbar. Kurioserweise zeigt sich, dass sich trotz der behaupteten zentralen Bedeutung der orthodoxen Tradition in den deutschen Gemeinden kaum Personen finden, die nach orthodox religionsrechtlichen Vorgaben leben und damit überhaupt als Beschneider tätig sein könnten, weshalb der Zentralrat auf die Zahl von vier israelischen Beschneidern verweist, die hierzulande aktuell die Beschneidungen vornähmen. Denn eine strikt orthodoxe Lebensführung ist neben entsprechenden religionsrechtlich-medizinischen und weiteren ritualtechnischen Kenntnissen eine der zentralen Qualifikationen für das Amt und eine Voraussetzung für die Gültigkeit der Beschneidung. Dies ist eine Besonderheit der Entwicklung und Selbstdarstellung der jüdischen Gemeinden Deutschlands, die aus der selbstgewählten Perspektive heraus letztlich weit weniger eine Religionsgemeinde denn eine ethnische Gemeinschaft darstellen. Vermutlich stellt die Beschneidung für einen ganz erheblichen Anteil der Juden hierzulande tatsächlich kein religiöses Ritual dar, sondern ein ethnisch-kulturelles, das trotz aller Vorbehalte aufrechterhalten wird. Gerade aufgrund der geringen Wissensbestände kultureller Selbstversicherung und eines mangelnden Interesses daran wird die Beschneidung als ein wenig aufwändiges und zudem dauerhaftes Zeichen von Zugehörigkeit wahrgenommen (FAZ, 2012). Dass sich dies – ebenso wie natürlich die religiösen Argumentationen insgesamt – nur aus jenem eigenartigen Blickwinkel denken lässt, die auf die Wehrlosigkeit der Säuglinge ebenso wie auf deren erst lange nach dem Vollzug des Rituals einsetzendes bewusstes Erinnerungsvermögen spekuliert, sollte man nicht verschweigen (Staffen-Quandt, 2012). Vermutlich liegt die Schwierigkeit auf jüdischer Seite, einen ergebnisoffenen, mit Unsicherheiten befrachteten Dialog einzugehen, unter anderem darin begründet, dass man – insbesondere gegenüber dem in Israel in familien- und statusrechtlichen Dingen entscheidenden dortigen Oberrabbinat – Eindeutigkeit behaupten will. Letztlich stand in dem übereilten Gesetzgebungsverfahren der willentlichen Blindheit des Gesetzgebers eine fundamentalistische Haltung der Vertreter der jüdischen Gemeinden zur Seite: Deren Stellungnahmen verwiesen

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zur Begründung der Beschneidung und des problematischen Beschneidungszeitpunkts fast ausschließlich auf eine göttliche Gesetzgebung. Diese Abwehr anderweitiger Normen und die darin begründete fehlende Verhandlungsbereitschaft stellen eine bekannte, fundamentalistische Verweigerungsstrategie von Religionen dar. Derlei Verweise auf nicht zu hinterfragende göttliche Vorgaben oder gegebenenfalls auf eine viertausendjährige Praxis bauen darauf, dass die Gegenseite verständnisvoll von Nachfragen, Bedenken und möglichen eigenen Normansprüchen absieht. Sie setzt dabei voraus, dass der jeweils eigene Gott der Gegenseite nicht nur vertraut, sondern auch für diese autoritativ sei, wobei eine solche Verweigerungshaltung natürlich nur Erfolg verspricht, wenn die Gegenseite – wie dies in Deutschland regelmäßig der Fall ist – Religionen in vorsichtiger Zurückhaltung generell jene Würdigung zugesteht, die diese ihrerseits verweigern. Einen paradigmatischen Fall für ein solches Einfordern und das vorauseilende Preisgeben des für eine pluralistische Gesellschaft konstitutiven Aushandlungsprozesses kann man hier sehen (ARD, 2012, ab 10:41 min, 36:55 min, 1:00:10 min). Dass sich hinter der argumentativen Praxis auf religiöser Seite letztlich eine grundlegende Fehleinschätzung des Verhältnisses von religiöser Norm und säkularem Rechtsstaat verbirgt, die von einem fundamentalistischen Beharren auf dem Primat des Religionsgesetzes gespeist wird, wird noch offensichtlicher, wenn man sich ein Interview mit Yitzchak Ehrenberg, dem Rabbiner der Berliner Gemeinde und langjährigen Vorsitzenden der Orthodoxen Rabbinerkonferenz, vergegenwärtigt, in dem dieser – nur wenig von rhetorischer Zurückhaltung gebremst – die staatliche Gesetzgebung prinzipiell einer göttlichen unterstellte und die Kritiker der Beschneidungspraxis zudem als primitiv bezeichnete, da sie an die Evolution glauben, also an einen grundlegenden Bestandteil der Allgemeinbildung (N24, 2012; ARD, 2012, ab 38:55 min). Dem stehen Äußerungen wie jene des Verwaltungsleiters des Zentralrats bei der Anhörung des Bundestages zur Seite, die am Ende beschlossene Gesetzesvorlage bedeute für die jüdischen Gemeinden »eine Verschlechterung des bisherigen Status Quo« (Kramer, 2012, S. 3). Wohlgemerkt ging es bei dem Regelungsbedarf nicht generell um ein Beschränken religiöser Handlungen, sondern um das Grundrecht von Kindern auf körperliche Unversehrtheit und angemessene medizinische Behandlung, was durchaus im Interesse auch der jüdischen Gemeinschaft sein muss. Derlei eigenartig verschobene Perspektiven erfordern eine abschließende Analyse des Geschehens: Entstanden ist die Kontroverse, da der Gesetzgeber hierzulande, anders als in vielen anderen Staaten, die religiöse Beschneidungspraxis unbeachtet ließ und sich nicht um die stetige Körperverletzung an Jungen kümmerte. Dass dies im Widerspruch zu den immer wieder entrüstet geführ-

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ten Debatten etwa zur weiblichen Genitalbeschneidung oder zur körperlichen Züchtigung von Kindern stand, wurde ignoriert. Nachdem der Zentralrat der Juden als Reaktion auf das bekannte Kölner Urteil eine staatliche Regelung der Beschneidung, gemeint war deren rechtliche Absicherung und kein Infragestellen der religiösen Praxis, forderte, wiewohl das nachvollziehbare Gerichtsurteil letztlich an der bestehenden und bislang als unproblematisch wahrgenommenen Situation nicht wirklich etwas änderte, kam ein eigenartig fahriges Gesetzgebungsverfahren in Gang. Dieses schuf sich in ganz entscheidenden Punkten ein eigenes Bild zumindest von der jüdischen Beschneidung, das von den von jüdischer Seite als maßgeblich vorgegebenen religionsrechtlichen Normen weitgehend unabhängig war (vgl. Putzke, 2012). In Bezug auf diese selbstgeschaffene Chimäre wurde dann der Gesetzesentwurf im Rahmen des staatlichen Rechtsdiskurses legitimiert. Dass man von jüdisch religiöser Seite keine ergebnisoffene Diskussion führte, ist offensichtlich, denn jenseits abweisender Behauptungen war man nicht einmal bereit, kulturspezifische Vorstellungen und Regelungen eingehend dar- und somit zur Debatte zu stellen. Da die Gegenseite nicht nachfragte, kam es zu keinem Kompromiss im eigentlichen Sinne, sondern zu einem rechtlich in vielfacher Weise problematischen Zurückweichen des staatlichen Rechts zugunsten religiöser Regelungen. Es war aber nicht nur die staatliche Seite, die sich über Jahrzehnte nicht sorgte. Auch die jüdischen Gemeinden bzw. ihr Dachverband hatten sich, anders als das deutsche Judentum vor dem Holocaust und anders als viele andere jüdische Gemeinschaften heutzutage, bis dato offenbar weder um eine grundlegende Regelung des Rituals noch um die Ausbildung und Zulassung der Beschneider oder gar um eine generelle Aufsicht, womöglich in Gemeinschaft mit den Gesundheitsbehörden, gekümmert.30 Wäre dies der Fall gewesen, wäre diese Debatte vermutlich niemals aufgekommen und hätte sich wohl nicht zu einem Gegensatz von allgemeinen Grundrechten und spezifischen religiösen Normen zugespitzt. Vermutlich hätte man bereits im Vorfeld zu einem allgemein akzeptierten Kompromiss gefunden und es wäre nicht zu diesem Gesetz gekommen, das nur mühsam verdeckt Sonderrechte für spezifische Religionsgemeinschaften etabliert. Außerdem gibt das nun bestehende Gesetz auf dem Umweg einer vermeintlich individuellen Entscheidung der Eltern faktisch den 30 Kommentar S. J. Kramer unter Deutscher Bundestag (2012c, S. 65–71). Kramer verweist auf eine interne Recherche, ohne jedoch Daten vorzulegen; man vergleiche die Bemerkung zur »natürlichen Qualitätssicherung«. Die Mehrzahl der Mohalim stammen überwiegend aus dem Ausland. Die nunmehr für Deutschland angedachte Zahl zu zertifizierender Personen wäre vier, was die Frage aufwirft, wieso man bei dieser geringen Zahl nicht jüdische Mediziner nutzen könnte?

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von Religionsgemeinschaften gesetzten Normen Vorrang gegenüber den verbrieften Rechten der Schwächsten. Allem Anschein nach – denn von keiner jüdischen Gemeinde oder dem Zentralrat wurden gegenteilige Daten vorgelegt – liefen die Beschneidungen bisher weitgehend ungeregelt. Jedermann konnte nach eigenem Belieben einen Beschneider, auch aus dem Ausland, um seine Hilfe bitten. Ob die Qualifikationen derselben, die religionsgesetzliche Rechtmäßigkeit des stattgefundenen Beschneidungsakts oder die religiöse Lebensführung des Beschneiders geprüft wurden, ob die Gemeinden die Beschneider und Beschneidungen, mögliche Bedenken oder medizinische Komplikationen registrierten, ist unklar. Vermutlich überließ man all dies wie in der Frühen Neuzeit der persönlichen Verantwortung und der Dokumentation der Beschneider. Eine Frage drängt sich dabei auf: Wurde Personen, bei denen die Beschneidung nicht nach orthodoxen Vorgaben vorgenommen wurde oder wenn es Zweifel daran gab, bislang die Gemeindemitgliedschaft verweigert? Schon aufgrund der auch in dieser Hinsicht schwierigen Bedingungen nach dem Holocaust und erneut für die Immigranten aus den ehemals russischen Teilrepubliken dürfte derlei schon wegen der häufig mangelnden Dokumentation eher schwierig gewesen sein, weshalb man vermutlich kaum so strikt sein konnte, wie dies nun nachfolgenden Generationen abverlangt wird. Derlei ist schon deshalb entscheidend, da die Diskussion unter der Vorgabe geführt wurde, dass die strenge Einhaltung orthodoxer religionsgesetzlicher Normen für Juden hierzulande aus ihrem religiösen Bewusstsein heraus unverzichtbar sei. Entscheidend wird in jedem Fall sein, in welcher Weise zum Beispiel die jüdische Religionsgemeinschaft die nunmehr bestehenden rechtlichen Vorgaben umsetzen wird (Kramer, 2012, S. 3 ff.; Anchuelo, 2012).31 Wird und kann sie die Beschneidungen und die Beschneider regulieren? Dies würde beispielsweise bedeuten, dass die Vornahme einer Beschneidung durch andere als die dann dazu befugten Personen dazu führt, dass den so Beschnittenen die Aufnahme in die jüdischen Gemeinden verweigert würde, und dies, selbst wenn der Akt religionsrechtlich gültig ist. Vorstellbar ist dies zumindest auf der Grundlage der gültigen orthodoxen religionsrechtlichen Praxis bisher ebenso wenig, wie ein definitives Verbot spezifischer Operationstechniken. Dabei – und dieser Aspekt blieb in der öffentlichen Debatte ungenannt – zeigt die historische Perspektive, dass der säkulare Staat Religionen immer wieder erhebliche Zugeständnisse und Anpassungsleistungen abverlangt hat. Meist 31 Bislang scheint dieser Ausbildungsgang jedoch über die Ankündigung nicht hinausgekommen zu sein, siehe Anfrage bei der Orthodoxen Rabbinerkonferenz vom 01. 07. 2013 ohne Reaktion. Erstaunlicherweise äußerte sich die Rabbinerin Deusel, sie halte »so eine verpfl ichtende Fortbildung fast schon für diskriminierend« (Staffen-Quandt, 2012).

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geschah dies gegen deren heftigen Widerstand. Doch wiewohl die Konsequenzen aus religiöser Sicht oft einschneidend waren, gelang es der ganz überwiegenden Mehrzahl der Religionsgemeinschaften, sich hiermit zu arrangieren. Eine grundlegende Gefährdung der Existenz von Religion kann also kein Argument sein. Allerdings erwies sich, wie insbesondere die deutsch-jüdische Geschichte des 19. Jahrhunderts zeigt, ein Lavieren des Staates zwischen Zugeständnissen und abweisender Gesetzgebung für Religionsgemeinschaften als weit verheerender als das Beharren auf eindeutigen, säkularen Positionen. Denn derlei Ambivalenzen – die auch das aktuelle Gesetz charakterisieren – verunmöglichten es beispielsweise dem deutschen Rabbinat des 19. Jahrhunderts, zu einer die Religionsgemeinschaft sichernden Haltung zu finden. Die Geschichte dokumentiert zudem, dass die Existenz eines säkularen Staates eine unabdingbare Voraussetzung für die Anerkennung und gesicherte Existenz insbesondere religiöser und ethnischer Minderheiten darstellt (Gotzmann, 1997, S. 107–123, S. 251–302; Gotzmann, 2008/09). Der Staat wird sich im Nachtrag fragen lassen müssen, warum er beispielsweise dem religiösen Ehe-, Familien- oder Erbrecht etwa des Judentums mit seinen zahllosen Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen jede Anerkennung verwehrt, wiewohl es sich im Vergleich zum Grundrecht der körperlichen Integrität fraglos um geringere Rechtsgüter handelt. Vor vergleichbaren Fragen stehen auch die Vertreter etwa der jüdischen Gemeinschaft, auf deren Forderung hin zentrale Rechtsgrundlagen insgesamt infrage gestellt wurden. Und sowohl die Mitglieder der relevanten Religionsgemeinschaften als auch alle anderen Befürworter tragen als Staatsbürger eine Mitverantwortung für das Gemeinwesen und müssten beispielsweise erklären, bis zu welcher Grenze für sie denn andere erzwungene Akte verschiedenster ethnischer und religiöser Gruppierungen tolerierbar wären. Oder, um ein letztes Mal einen jener unpassenden, da bezeichnenderweise kaum zu konstruierenden Vergleiche zu bemühen: Jeder Erwachsene würde doch eine staatliche Zwangsmaßnahme, wie das Abtrennen eines Ohrläppchens, zumal ohne Narkose und angemessene Hygiene, für sich als groteske Zumutung zurückweisen. Wieso sollte dies also nicht für die Kinder gelten?

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Jenseits der Aufregungen – Zur Konstruktion des Jüdischen in der Beschneidungsdebatte

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Ethische und rechtliche Aspekte der Genitalbeschneidung

Einführung Ein konservativ-frommer Katholik, der kirchlichen Sündenlehre von Kindesbeinen an fest verhaftet, denkt angesichts seines vierjährigen Sohnes immer wieder zurück an die Sünde seines kindlichen Masturbierens und die Schuldgefühle, die damit verbunden waren. Vor beidem will er sein Kind bewahren. Er wendet sich an einen emeritierten Geistlichen, der in diesen Dingen noch strenger denkt, und bittet um Rat, wie er seinen Jungen von der Sünde abhalten, ihm die Gewissensnot ersparen und Gottes Zorn abwenden könne. Der Priester belehrt ihn über das probate Mittel der Beschneidung. Dieser Rat stützt sich auf Erfahrungen, die Millionen Beschnittene »am eigenen Leib« gemacht haben und worin die abnehmende, aber immer noch weite Verbreitung der frühkindlichen Zirkumzision in den USA ihre historische Wurzel hat. Lewis Sayre und John Harvey Kellogg, Ärzte und Moralapostel der Viktorianischen Zeit, kämpften in den 1870er Jahren den Kampf gegen die kindliche »Unkeuschheit« mit missionarischem Eifer. Immer mehr Eltern folgten der schauerlichen Therapieempfehlung, ihrem Jungen durch Wegschneiden der Vorhaut das Onanieren zu erschweren und möglichst zu verleiden. Denn mit diesem Eingriff nahmen oder verminderten sie ihnen die Empfindungen, die – ganz ohne Schuldgefühl! – der kindliche Thomas Mann (1922/1990, S. 312) alias Felix Krull – mangels »einer eigentlichen Bezeichnung dafür« – »unter dem Namen ›Das Beste‹ oder ›Die große Freude‹« zusammenfasste und »als ein köstliches Geheimnis hütete«. Kellogg wollte sogar den Schmerz nicht etwa vermeiden, sondern dem Ziele dienlich machen. »Ein Mittel gegen Masturbation«, sagte er, »welches bei kleinen Jungen fast immer erfolgreich ist, ist die Beschneidung. Die Operation sollte von einem Arzt ohne Betäubung durchgeführt werden, weil der kurze Schmerz einen heilsamen Effekt hat, besonders wenn er mit dem Gedanken an Strafe in Verbindung gebracht wird. Bei Mädchen ist die Behandlung mit unverdünnter Karbolsäure hervorragend geeignet, die unnatürliche Erregung

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zu vermindern« (Kellogg, zit. nach Schmidt-Salomon, 2012). Den historischen Zusammenhang mit dem Kampf gegen die Sünde der Sexualität beleuchtet neuestens auch Tonio Walter: »Dass sich die Beschneidung gegen die Sexualität richten kann, gilt auch für Jungen. Objektiv werden sie durch den Eingriff desensibilisiert, weil die Eichel jetzt ständig ungeschützt an der Kleidung reibt. Und subjektiv hat die Beschneidung von Jungen seit dem 19. Jahrhundert millionenfach den Zweck gehabt, ihnen die Selbstbefriedigung zu erschweren. Das wird heute gern verdrängt, ist aber der Grund, warum die Jungenbeschneidung in den puritanischen USA so verbreitet war – und heute stark rückläufig ist« (2013, S. 13). Denken wir uns den geschilderten Fall in seinem Fortgang nun so, dass Vater und Mutter übereinkommen, dem priesterlichen Rat gemäß, mit ihrer religiös motivierten Bitte um Beschneidung einen befreundeten Urologen aufzusuchen. Dieser stellt fest, dass die Operation medizinisch nicht erforderlich sei, und sieht sich vor die Frage gestellt, ob er sie dennoch vornehmen dürfte: Umfasst unter den gegebenen Umständen die Personensorge der Eltern das Recht, in die Beschneidung einzuwilligen, jedenfalls dann, wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden soll? Diese Formulierungen sind ausgerichtet am Text des neuen § 1631d des Bürgerlichen Gesetzbuchs, der vollständig wie folgt lautet: »Beschneidung des männlichen Kindes (1) Die Personensorge umfasst auch das Recht, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden soll. Dies gilt nicht, wenn durch die Beschneidung auch unter Berücksichtigung ihres Zwecks das Kindeswohl gefährdet wird. (2) In den ersten sechs Monaten nach der Geburt des Kindes dürfen auch von einer Religionsgesellschaft dazu vorgesehene Personen Beschneidungen gemäß Absatz 1 durchführen, wenn sie dafür besonders ausgebildet und, ohne Arzt zu sein, für die Durchführung der Beschneidung vergleichbar befähigt sind.« Wäre also die Körperverletzung (§ 223 StGB), die der Urologe mit dem Abschneiden des Präputiums in jedem Fall beginge, kraft wirksamer Einwilligung gerechtfertigt? Übrigens gibt es seit Neuestem, eingeschoben als § 226a in das Strafgesetzbuch, eine zweite Vorschrift, die Genitalverletzungen betrifft, die aber keine Erlaubnis gewährt, sondern scharfe Strafe androht. Sie richtet sich gegen die Mädchenbeschneidung und lautet wie folgt:

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Ethische und rechtliche Aspekte der Genitalbeschneidung

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»Verstümmelung weiblicher Genitalien Wer die äußeren Genitalien einer weiblichen Person verstümmelt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft.« Der Paragraf 1631d – Alles zum Wohle des Kindes? Mit Überlegung habe ich den Seiteneinstieg gewählt. Üblich ist ja ein anderes Vorgehen. Man fasst von den Penisbeschneidungen sofort die alltäglichen ins Auge, das heißt die von jüdischen und muslimischen Eltern gemäß ihrer religiösen Überlieferung gewollten. Aber wer so ansetzt, muss wissen, dass sich viele Ohren schon verschließen, wenn er am Recht der Eltern, ihre Söhne beschneiden zu lassen, auch nur Zweifel äußert. Und wenn er dieses Recht gar ausdrücklich verneint, dann schlagen ihm Empörung und oft genug sogar Beleidigungen entgegen, so fair, sachlich, besonnen und schlüssig er seine Ansicht auch begründet haben mag. »Geistige Brandstifter, die gegen Juden giften«, ohne »Empathie und Sensibilität«, beschimpft Charlotte Knobloch (2013) unter anderem einen »Strafrechtsprofessor, dessen Lehrmeister und eine laute Stimme im Ethikrat«, womit sie Putzke, Herzberg und Reinhard Merkel meint. Und diesen Autoren gilt wohl auch die hemmungslos-unsinnige Invektive, sie hätten »jüdische Menschen mit einer ungeahnten Dimension an offenem und zum Teil zügellosem Antisemitismus konfrontiert« (Knobloch, 2013). Viele Beschneidungsbefürworter unterstellen den Beschneidungskritikern, wenn diese nur den jüdisch-muslimischen Ritus thematisieren, ein Ressentiment gegen Juden und Muslime, weshalb sie es für die angemessene Reaktion halten, alles Vorbringen in Bausch und Bogen entrüstet abzuweisen. Ein exzentrisches Beispiel wie das eingangs gebildete kann dagegen auch dem Voreingenommenen die Augen öffnen, dass es um eine Kritik an den religiösen Riten von Minderheiten gar nicht geht; dass also zum Beispiel Heribert Prantl (2012) am Problem vorbeiargumentiert, wenn er »die Juden« schützen zu müssen glaubt und wenn er die strafrechtliche Verfolgung medizinisch unnötiger Zirkumzisionen ablehnt, weil das deutsche Strafrecht »kein Instrument der Judenmission« und Strafe »kein Mittel der spirituellen Aufklärung« sei. Kein vernünftiger Mensch würde eine Zeremonie der Penisbehandlung, so fremd und exotisch sie ihm auch erschiene, bekämpfen, wenn nur gewährleistet wäre, dass dem Kind Verletzungen und Gefahren erspart bleiben. Es handelt sich nicht um »die Juden« und »die Muslime«, die es religiös zu bekehren, sondern um die wehrlosen Jungen und Mädchen, die es vor medizinisch sinnlosen Körperverletzungen zu schützen gilt, ganz einerlei, worin diese bestehen und aus welchem Motiv heraus sie begangen werden. Und es ist nicht der Beschneidungs-

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kritiker, der es an »Empathie und Sensibilität« fehlen lässt, sondern die ihm dies vorwerfende Charlotte Knobloch (2013), wenn sie zum »Schutz der freien Religionsausübung« kleinen Jungen den Schutz vor einer grausamen Körpermisshandlung entziehen will. Es gibt Eltern – oder es könnte sie geben –, die ihre Kinder schlagen, zum Beispiel unbedacht, nur um ihren Zorn abzureagieren; oder weil sie glauben, nach kindlichen Übeltaten seien angemessene Züchtigungen erzieherisch wertvoll; oder weil sie den Willen ihrer Tochter brechen wollen, die sich in einen Schulkameraden verliebt hat und sich weigert, den Cousin zu heiraten; oder weil sie einer Sekte angehören, die eine mäßig schmerzhafte Geißelung der Kinder am Karfreitag den Eltern als ein frommes Ritual vorschreibt. Andere Eltern verlangen oder lassen es zu, dass jemand ihrer halbwüchsigen Tochter Schnitt- und Stichverletzungen am Geschlechtsteil beibringt, sei es weil sie damit einem religiösen Gebot ihrer Glaubensgemeinschaft gehorchen, sei es in der Absicht, das künftige Sexualleben der Tochter zu beeinflussen. Und es gibt Eltern – oder man kann sie sich immerhin vorstellen –, die ihrem Söhnchen vom gesunden Penis die gesunde Vorhaut abschneiden oder abschneiden lassen, zum Beispiel weil der Vater selbst beschnitten ist und findet, dass dies die sexuelle Lust beim Geschlechtsverkehr verlängert; oder weil sie sich davon eine leichtere Sauberhaltung der Eichel und zuverlässigere Verhütung späterer Krankheiten versprechen; oder weil sie zirkumzidierte Phalli ästhetischer finden; oder weil sie dem Sohn den Spott seiner Spiel- und Sportkameraden, die voraussichtlich alle beschnitten sein werden, ersparen wollen; oder weil sie sich von Gott aufgefordert glauben, etwas gegen das sündhaft-exzessive Onanieren ihres Sechsjährigen zu unternehmen; oder weil sie den Worten der Bibel tatsächlich einen von Gott erteilten Befehl entnehmen und ihrem Kind durch die Amputation einen vorteilhaften Bund mit Gott zu schenken glauben; oder weil sie dem sozialen Druck nachgeben, den ihre religiöse Gemeinschaft auf sie ausübt; oder weil sie den Akt zwar verabscheuen, aber für ihren Jungen erhebliche Nachteile fürchten, wenn er später beim Militär einen unbeschnittenen Penis vorweisen müsste1; oder weil die Beschneidung, ohne religiösen Sinn, schlicht zur Familientradition gehört; oder weil sie als junge Ärzte der Erwägung des Kinderchirurgen Karl Becker (2013, S. 146) folgen, dass »die Beschneidung ein guter Einstieg in die subtilen Operationstechniken der Kinderchirurgie und somit für die Ausbildung gut geeignet«, das heißt empfehlenswert sei, um den »sorgsamen Umgang mit dem kindlichen Gewebe, das Nähen und verletzungs1

Zu den beiden letzten Beispielen vgl. den in Israel spielenden Dokumentarfi lm »Circumcision« (2004) von Ari Libsker.

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Ethische und rechtliche Aspekte der Genitalbeschneidung

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arme Pärparieren« zu lernen. Es ist nicht einzusehen, dass es für die rechtliche Bewertung des Aktes – des Prügelns, der Mädchenbeschneidung, der Zirkumzision – eine Rolle spielen soll, welches Motiv ihn veranlasst, und dass vielleicht manche der genannten Beweggründe den Eltern ein Recht verschaffen, welches sie in den anderen Fällen nicht haben. Dies war auch der Ansatz des Gesetzgebers, als er Ende 2012 den § 1631d dem Bürgerlichen Gesetzbuch hinzufügte. Zwar ging es ihm erklärtermaßen in erster Linie um die rituellen Beschneidungen mosaischer und mohammedanischer Provenienz, wovon das Landgericht Köln eine beurteilt und für rechtswidrig befunden hatte. Darum auch wird die Freigabe der Körperverletzung von vornherein beschränkt auf das »männliche« Kind; für die weibliche Genitalbeschneidung hatte sich in der erregten Diskussion des Urteils in Deutschland niemand stark gemacht, obwohl sie mit religiösem Sinn von Millionen Eltern praktiziert wird und obwohl sie, wenn Mohammeds Maßgabe beachtet wird, eine viel geringere Auswirkung hat als die männliche Zirkumzision. Es verrät die tendenziöse, von politischem Druck geprägte Haltung des Gesetzgebers, dass im Text des § 1631d BGB und in der Entwurfsbegründung der euphemistische Terminus »Beschneidung« der Vorhautamputation bei Jungen vorbehalten bleibt, während vergleichbare und sogar minder schwerwiegende Verletzungen der weiblichen Genitalien undifferenziert als »Verstümmelung« bezeichnet werden. Tonio Walter hat dies jetzt, mit Blick auf die beiden neuen Vorschriften im BGB und im StGB, einer breiten Öffentlichkeit zu bedenken gegeben: »Liest man, was die Presse schreibt, geht es beim ›Verstümmeln‹ um das Herausschneiden der Klitoris, womöglich gefolgt von einem Zunähen der Vagina. Tatsächlich reicht der Tatbestand aber viel weiter. Das steht schon in seiner Begründung: Er erfasst sämtliche ›Veränderungen an den weiblichen Genitalien‹, auch eine nur teilweise Entfernung der Klitorisvorhaut, sogar bloße ›Einschnitte‹ in sie. Das ist deshalb so bemerkenswert, weil diese Vorhaut das Gegenstück ist zur Vorhaut des Mannes – deren Beschneidung nicht nur keinen besonderen Straftatbestand erfüllt, sondern die vor kurzem sogar mit § 1631d BGB ausdrücklich legalisiert worden ist. Das Gesetz verlangt lediglich, dass die Regeln der ärztlichen Kunst beachtet werden, vor allem, dass man eine Narkose gibt und ein steriles Skalpell benutzt. Bei einem Mädchen hilft das nichts – auch wenn es allein um die Klitorisvorhaut geht und die Eltern den Eingriff aus religiösen oder ethnischen Gründen wünschen« (Walter, 2013, S. 13). Was diese Verletzung von Mädchen betrifft, ist übrigens anzumerken, dass der Islam im Ganzen weit entfernt ist von der moralischen Verpönung, die seine Sprecher in Deutschland immer betonen. Nach dem Hadith (oder auch: nach einem Hadith) hat Mohammed die Mädchenbeschneidung ausdrücklich gebil-

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ligt (»Aber ja, es ist erlaubt«). Die Beschneiderin sollte dabei jedoch so schonend vorgehen, dass die Frau ihr Lustempfinden behält (»Wenn du schneidest, übertreibe aber nicht. So ist es besser für die Frau und erfreut mehr den Mann«, zitiert nach Kelek, 2012a, S. 103 f.). Darum erlauben viele muslimisch fromme Eltern nur eine »kleine« Beschneidung wie das Anritzen oder Durchstechen der äußeren Schamlippen (Stufe IV der WHO-Einteilung) und/oder die Entfernung der Klitoris-Vorhaut; Letzteres ist der von den Schafi’iten geforderte Eingriff, und sie wehren sich gegen das Wort »Verstümmelung«. In der Tat, es passt auf diese Genitalverletzung weniger als auf das Abschneiden des ganzen Präputiums. Aber bei seinem Legalisierungsversuch hat sich der Gesetzgeber gehütet, das »Recht«, welches von der Personensorge umfasst sein soll, auf die Einwilligung in religiös-rituelle Beschneidungen zu begrenzen. »Die […] Regelung differenziert […] nicht nach der Motivation der Eltern, insbesondere enthält sie keine Sonderregelung für religiös motivierte Beschneidungen, wenngleich diese in der Praxis die größte Fallgruppe der nicht medizinisch indizierten Beschneidungen in Deutschland bilden dürften. Ein ›Sonderrecht‹ allein für religiös motivierte Beschneidungen männlicher Kinder würde den möglichen unterschiedlichen Zwecksetzungen von Beschneidungen nicht gerecht« (Deutscher Bundestag, 2012, S. 16). Nun muss man im Auge behalten, dass das Gesetz die Körperverletzung, um die es geht, als einen Akt der Personensorge zu legalisieren versucht und sie damit dem § 1627 BGB unterwirft, wonach die Eltern alle »elterliche Sorge […] zum Wohl des Kindes auszuüben« haben. Sollte man wirklich von allen lege artis durchgeführten Amputationen der Vorhaut, auch wenn medizinisch nicht erforderlich, sagen dürfen, dass sie dem Kinde »zum Wohl« gereichen oder dass es doch wenigstens vertretbar sei, sie als Wohltat zu betrachten? Da hat der Gesetzgeber denn doch gefunden, dass man die Toleranz gegenüber Akten, die das kindliche Recht auf körperliche Unversehrtheit missachten, auch übertreiben könne, und so hat er den Grundsatz ein bisschen eingeschränkt: kein elterliches Einwilligungsrecht, »wenn durch die Beschneidung auch unter Berücksichtigung ihres Zwecks das Kindeswohl gefährdet wird« (§ 1631d Abs. 1 Satz 2 BGB). Eine gewisse Differenzierung »nach der Motivation der Eltern« soll nun also doch vorgenommen werden. Man müsse, sagt die Begründung, »auch den Zweck der Beschneidung in den Blick« nehmen; keine wirksame Einwilligung der Eltern in die Beschneidung, wenn »sich aus den besonderen Umständen des Einzelfalls eine Gefährdung des Kindeswohls« ergibt, was zum Beispiel in Betracht komme (nicht etwa feststehe!) »bei einer Beschneidung aus rein ästhetischen Gründen oder mit dem Ziel, die Masturbation zu erschweren« (Deutscher Bundestag, 2012, S. 18). Isensee (2013) sagt es so: »Die verbannte Differenzierung nach dem Motiv der Beschneidung […] kehrt also wieder zurück

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durch die Hintertür des Kindeswohls. Damit kehrt auch das formelle Problem zurück, wie sich diese Umstände verlässlich feststellen lassen.« Die Wahrheit ist, dass sie sich überhaupt nicht feststellen lassen, auch nicht unverlässlich. Wer ein wenig nachdenkt, erkennt die Aufforderung, »auch den Zweck der Beschneidung in den Blick« zu nehmen, als geradezu unsinnig. Zum einen: Sollte tatsächlich einmal ein Arzt, der Gesetzesbegründung gemäß, nach dem verfolgten Zweck fragen, so werden die Eltern einen Zweck, der vielleicht missbilligt würde, vorsichtshalber verschweigen und an seiner Stelle einen unverfänglichen nennen. Auch christliche Eltern, die in Wahrheit einen unüblichen Zweck verfolgen, etwa die Verhinderung des Onanierens, können sich ja unwiderleglich auf das Alte Testament berufen. Die gesetzliche Einschränkung wird sich praktisch nicht auswirken. Zum anderen: Es ist auch in der Sache falsch, eine Erlaubnis, deren objektive Voraussetzungen erfüllt sind, infrage zu stellen, wenn der an sich Berechtigte mit seinem Tun einen jenseits der Tat liegenden Zweck verfolgt, den viele oder manche missbilligen. Zum Beispiel darf der Angegriffene eine als Notwehr erforderliche Körperverletzung auch dann begehen, wenn er böswillig bezweckt, dem Angreifer einen bleibenden Schaden zuzufügen; er muss sich eben nur in den Grenzen des zur Abwehr objektiv Erforderlichen halten. So hätte es der Gesetzgeber auch hier sehen müssen. Als ein Akt der »Personensorge« soll die Einwilligung in die Beschneidung des »männlichen Kindes« den Eltern erlaubt sein. Dann darf es aber keine Rolle spielen, was sie über die Beschneidung hinaus im Sinn haben. Stellen wir uns vor, dass sich türkische Eheleute an einen Urologen wenden mit der Bitte, er möge ihren sechsjährigen Sohn beschneiden. § 1631d Abs. 1 Satz 1 BGB erklärt es im Rahmen der »Personensorge« zum »Recht« der Eltern, in diese Körperverletzung (wirksam) einzuwilligen (und damit dem Arzt für die eigentliche Tat eine Rechtfertigung zu verschaffen). Indirekt steckt darin zugleich die Wertung, dass die Eltern die Beschneidung »zum Wohl des Kindes« veranlassen. »Eine Gefährdung des Kindeswohls« soll sich aus der Beschneidung selbst, ungeachtet der Schmerzen, Komplikationsrisiken und lebenslangen Folgen, nicht ergeben. Soll nun dann eine Gefährdung anzunehmen sein, wenn die Eltern offenbaren, dass sie areligiös seien und keine Verbindung zu anderen Muslimen hätten, die Beschneidung aber dennoch wollten, weil sie nur beschnittene Penes kennen gelernt hätten, unbeschnittene Penes hässlich fänden und deshalb, bei aller religiösen Gleichgültigkeit, sie doch an der »Kultur« der muslimischen Beschneidung festhalten möchten? Und auch innerhalb der Beschneidungen mit religiösem Zweck scheint es mir geradezu absurd, das »Wohl des Kindes« hier gefördert und dort gefährdet zu sehen. Zwei Babys, zwei Elternpaare und zwei Beschneidungen, jeweils am

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achten Tag nach der Geburt. Alle Eltern handeln Gott zu Gefallen; den einen geht es um die Erfüllung des biblischen Gebotes (1. Buch Mose, 17. Kapitel), den anderen um die Vermeidung kindlich-sündhafter Unkeuschheit. Die körperlichen Torturen und Dauerfolgen sind vollkommen gleich und Übereinstimmung findet sich auch in den Köpfen der Eltern. In allen vieren herrscht der fromme Glaube, zum Wohle des Kindes einen guten Zweck zu verfolgen: einen Bund des Kindes mit Gott zu stiften, das Kind vor Sünde, Schuldgefühl und göttlicher Strafe zu bewahren. Wer könnte sich anheischig machen, hier ethisch zu unterscheiden, das heißt, die erste Zweckverfolgung ehrfürchtig zu respektieren, die zweite hingegen zu verachten und zu verpönen? Wer könnte eine juristisch-rationale Begründung geben, dass die gleiche Körperverletzung hier eine Straftat, eine schändliche Misshandlung des Kindes, dort aber als kindeswohldienliche Personensorge das gute Recht der Eltern sei? Motiverforschung? Auseinandersetzung mit Hörnle und Huster Entschieden die Gegenmeinung verfechten Hörnle und Huster (2013). Sie legitimieren den § 1631d BGB verfassungsrechtlich ausschließlich mit Art. 6 Abs. 2 GG. Deshalb kommt es nach ihnen darauf an, ob »der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit als ›vom elterlichen Erziehungsrecht gedeckt‹ beurteilt werden kann« (Hörnle u. Huster, 2013, S. 335, S. 338). Das harte Kriterium der medizinischen Erforderlichkeit scheidet für die Autoren natürlich aus. Sie müssen eingestandenermaßen ein »weiches Kriterium« heranziehen. Dieses definieren sie mit der Forderung, dass für die Eltern die Beschneidung des Kindes »unverzichtbarer Bestandteil eines Gesamtkonzepts vom guten Leben« (des Kindes) sein müsse. Demnach sei es für die Frage der Rechtfertigung des Aktes durchaus relevant, warum die Eltern ihr Kind beschneiden lassen wollen, und es sei »nicht zu beanstanden«, dass die Gesetzesbegründung die »Ausgrenzung« solcher Beweggründe wie Ästhetik und Masturbationserschwerung signalisiere. In meinen beiden Beispielen würde also der Arzt, der die begehrte Beschneidung ausführt, jedenfalls objektiv schweres Körperverletzungsunrecht begehen, weil die Einwilligung der Eltern ihn nicht rechtfertigt. Bei deren »persönlichen Präferenzen« (Ästhetik) bzw. »religiösen Erziehungszielen« (Masturbationserschwerung) sei die Beschneidung, finden die Autoren, kein »Bestandteil eines Gesamtpakets an Vorstellungen zum ›guten Leben‹ für das Kind«. Konsequent wäre danach, die Eltern – vorbehaltlich eines entschuldigenden Verbotsirrtums (§ 17 S. 1 StGB) – wegen der Körperverletzung zu bestrafen, sei es als mittelbare Täter oder als Anstifter. Hörnle und Huster (2013) sind dem Einwand ausgesetzt, dass ihre Lehre folgerichtig eine höchst problematische und fragwürdige Motiverforschungspflicht

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des Beschneiders betonen müsse. »Eine Nachprüfung der Motive«, sagt Isensee, »würde den Rechtsstaat […] in ein Dilemma führen. Die religiöse Ernsthaftigkeit lässt sich nicht zuverlässig feststellen und nicht verfahrensrechtlich zumutbar kontrollieren« (2013, S. 325). Ein ganz schwarzes Bild malt Tonio Walter: »Wenn es von den Motiven der Eltern abhängen soll, ob ihr Kind beschnitten wird, so wird es in der Praxis allein auf die erklärten Motive ankommen; darauf, was die Eltern als Motiv zu Protokoll geben. Wie einst für die Verweigerung des Wehrdienstes wird es dann im Internet Seiten geben, auf denen sich Eltern mit jenen Formulierungen versorgen können, die der Arzt akzeptiert. Ergebnis ist dann, dass Kinder männlichen Geschlechts tatsächlich schrankenlos zur Beschneidung freigegeben sind« (Walter, 2012, S. 114). Hörnle und Huster gehen auf solche Vorhaltungen nicht ein, sie setzen die Aufklärbarkeit stillschweigend voraus. Auf dieser Grundlage müssen sie dann aber Farbe bekennen! Nicht einmal das religiöse Motiv, dem Kind ein sündenfreies Leben zu erleichtern, rechtfertigt in ihren Augen die Beschneidung, gar nicht zu reden vom Beweggrund, dem Sohn einen nach dem Elternurteil schöneren Penis zu verschaffen. Wie muss denn dann die Begründung lauten, die den Autoren genügt? Hier erfährt nun ihr weiches Kriterium eine Präzisierung und Konkretisierung, die den Leser verblüfft, weil sie von der Beschneidungserlaubnis des § 1631d BGB praktisch nichts übrig lässt: Die Beschneidung ist nur dann »vom elterlichen Erziehungsrecht gedeckt«, wenn sie »unabdingbar für die Zugehörigkeit zur religiösen Gemeinschaft« ist. Diese gewaltige Restriktion bestätigt der letzte Absatz auf Seite 338 mit seinem Urteil zur zweiten großen Beschneidungstradition, die sich – im weitesten Sinne – auf gesundheitliche Gründe beruft. Wenn auch zögernd, verwehren Hörnle und Huster hier den Eltern die Beschneidung »aus Gründen der Prophylaxe (zur Verbesserung von Hygiene und zur Vorbeugung bei sexuell übertragbaren Krankheiten)« – entgegen der Gesetzesbegründung, die den § 1631d BGB im Sinne der Anerkennung auch dieser religionsindifferenten Motivation verstanden sehen will und deshalb betont, dass die Vorschrift »nicht nach der Motivation der Eltern« unterscheide und »keine Sonderregelung für religiös motivierte Beschneidungen« enthalte. Hörnle und Huster sehen das anders. Sie bringen als Beispiel »ein in Deutschland lebendes amerikanisches Ehepaar«, das »die Beschneidung nach den Gewohnheiten seiner Heimat wünscht« (2013, S. 339). Weil die Autoren des guten Willens sind, dem Gesetzgeber am Ende eine »im Wesentlichen« akzeptable Regelung zu bescheinigen, nennen sie die amerikanische Beschneidung nur »problematisch« und entschuldigen sich fast für unsere Rechtskultur. Es »läge im Verweis, dass dieser Grund nach deutschem Rechtsverständnis eine stellvertretende Einwilligung der Eltern nicht tragen könne, keine unzumutbare Belas-

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tung«. Was die Autoren nicht sehen oder nicht sehen wollen: Ihr Widerspruch trifft die gesetzliche Regelung ins Herz. Die Kritiker leiten aus der Zweck- und Kindeswohlklausel des § 1631d Abs. 1 S. 2 BGB eine radikale Reduzierung der elterlichen Einwilligungskompetenz ab, indem sie nur noch »erziehungskonzeptuelle« Einwilligungen gelten lassen und in diesem Rahmen am Ende bei dem Kriterium landen, die Beschneidung müsse »unabdingbar für die Zugehörigkeit zur religiösen Gemeinschaft« sein. Angesichts der Klarheit und Präzision des Gedankengangs der Autoren ist man geneigt, sie beim Wort zu nehmen. Das hieße, die elterliche Einwilligung wäre stets unwirksam, auch in den Fällen der rituellen Beschneidung jüdischer und muslimischer Knaben und auch, wenn die Regeln der ärztlichen Kunst eingehalten werden. Denn die Religionsgemeinschaft, der die Eltern angehören, nimmt deren Kinder von Geburt an in sich auf, die »Zugehörigkeit« setzt den Beschneidungsakt nicht voraus, schon gar nicht »unabdingbar«. Und die Autoren können dieser Konsequenz auch nicht ausweichen, indem sie auf ihr »weiches«, abstrakteres Kriterium zurückgreifen. Gewiss dürfen Eltern im Rahmen eines verantwortungsvollen »Gesamtkonzepts vom guten Leben ihres Kindes« die eigene Religion an das Kind weitergeben. Und zweifellos dürfen sie im Rahmen des Konzepts dafür sorgen, dass in ihrer Religionsgemeinschaft das Kind beeinflusst und geprägt wird. Aber dieser Prozess der religiösen Erziehung ist weder bei Juden noch bei Moslems davon abhängig, dass man dem Kind seine Vorhaut abschneidet. Millionen bekennender und praktizierender Muslime und Juden, die unbeschnitten geblieben sind, beweisen das, und jeder Geistliche, den man befragt, bestätigt es. Angesichts der unbestreitbaren Entbehrlichkeit des Rituals für das Dazugehören und für die darauf gegründete religiöse Erziehung werden Hörnle und Huster nicht ernstlich behaupten, die Beschneidung sei ein unverzichtbarer Bestandteil des elterlichen Gesamtkonzepts vom guten (religiösen) Leben ihres Kindes. Natürlich ist mir klar, dass die Autoren die traditionellen religiös-rituellen Beschneidungen, soweit sie Jungen betreffen, als nach Maßgabe des § 1631d BGB erlaubt ansehen. Aber ich finde es höchst aufschlussreich, dass sie in Wahrheit diesen Standpunkt mit ihrem wohlerwogenen Kriterium gar nicht vereinbaren können. Noch im Versuch, die Vorschrift zu verteidigen und zu rechtfertigen, zeigt sich, dass der Gesetzgeber gescheitert ist. Gründe für das Scheitern der Regelung Es ist klar, warum er scheitern musste: Die Bundesregierung hat die Regelung, wie es ihr Auftrag war, politisch korrekt gestaltet. Darum durften die Verfasser des Entwurfs nicht etwa dazu auffordern, bei der Frage nach dem Kindeswohl

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den kritischen Blick ins Zentrum, das heißt auf die Beschneidung selbst zu richten. »In den Blick genommen werden« soll stattdessen der »Zweck«, den die Eltern mit der Beschneidung verfolgen. Man ahnt, dass es dabei um Beschneidungen aus Motiven geht, die »nicht so oft vorkommen« und deren Anerkennung keine Lobby hat. Weil aber Seltenheit und fehlende Lobby für die Frage der Kindeswohlgefährdung nicht die geringste Rolle spielen, ist es ganz unmöglich, die Zweckklausel einleuchtend zu erklären. Die Begründung des Gesetzentwurfs geht darum über diesen Punkt mit einem einzigen Satz hinweg: »Im Rahmen der Kindeswohlprüfung muss auch der Zweck der Beschneidung in den Blick genommen werden (etwa bei einer Beschneidung aus rein ästhetischen Gründen oder mit dem Ziel, die Masturbation zu erschweren).« Die beiden Beispiele sollen natürlich das Gemeinte – nämlich dass manche Zwecke verwerflich seien – besonders deutlich machen. Aber nicht einmal für sie legen sich die Autoren fest. Anscheinend spüren sie, dass es wohl doch die Beschneidung selbst und die äußeren Umstände ihrer Durchführung sind, die dem Kind Leid antun und Schaden zufügen, und nicht etwa die Zweckvorstellungen in den Köpfen der Eltern. Es ist kaum bestreitbar, die beiden neuen Vorschriften, zur »Beschneidung des männlichen Kindes« im BGB und zur »Verstümmelung weiblicher Genitalien« im StGB, wurzeln in einer ebenso volkstümlichen wie grobschlächtigfalschen Unterscheidung. Tonio Walter hat sie in fünf Punkten anschaulich geschildert. »Erstens: Die Beschneidung von Mädchen heißt in allen Formen ›Verstümmelung‹, die der Jungen stets nur Beschneidung. Zweitens steht für die Beschneidung von Mädchen das Säbeln der Klitoris mit einer Glasscherbe oder Rasierklinge in Afrika, unter der Beschneidung von Jungen stellen sich die meisten Menschen einen medizinisch einwandfreien Eingriff vor. Drittens gilt für religiöse und ethnische Motive, dass man vor ihnen bei der Jungenbeschneidung großen Respekt haben muss, während sie bei der Mädchenbeschneidung nur Scheinlegitimationen sadistischer Barbarei sind. Und daher sind viertens auch die mildesten Formen der Beschneidung von Mädchen stets etwas ›völlig anderes‹ als noch die radikalste Beschneidung eines Jungen. Fünftens: Alle Formen der Mädchenbeschneidung führen zu schlimmsten körperlichen wie seelischen Schäden; alle Beschneidungen von Jungen verlaufen komplikationsfrei und haben keine nennenswerten Folgen.« »Mit der Wirklichkeit«, meint Walter abschließend, »hat das alles wenig zu tun« (2013, S. 13).

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Darf ein Kind zur Beschneidung gezwungen werden? – Ein Blick auf die maßgebenden Vorschriften Anders als um den »Zweck der Beschneidung« steht es um den Gesichtspunkt, den die Begründung erst an zweiter Stelle nennt: »Ebenso kann der entgegenstehende Wille eines nicht einsichts- und urteilsfähigen Kindes zu berücksichtigen sein« (Deutscher Bundestag, 2012, S. 18; wohl nicht gemeint ist hier der alltägliche Fall, dass die kindlich-instinktive Ablehnung der schmerzhaften Amputation geraume Zeit vorher durch Verharmlosung, Glücksverheißung und Geschenkeankündigung in ein angstvolles Einverständnis verwandelt wird). Ein Kind, das den Eingriff nicht will, ja sich vielleicht angstbesessen und unter Tränen dagegen wehrt, muss gezwungen werden, sei es durch brutale Gewalt oder durch die Androhung empfindlicher Übel, zum Beispiel durch den Hinweis, dass bei körperlichem Widerstand die Schmerzen nur noch größer würden. Sein Vertrauen, dass die Eltern es lieben und vor allem Übel bewahren, wird erschüttert oder zerstört. Zur aktuellen und andauernden Beeinträchtigung seines körperlichen Wohls kommen in solchem Fall zweifellos ein qualvoller psychischer Stress und eine handgreifliche Gefahr für das (künftige) seelische Kindeswohl. Fälle der Anwendung von Zwang gegen Kinder, die schon wissen, was ihnen bevorsteht, sind auch keineswegs selten. In Deutschland geht es dabei so gut wie immer entweder um eine medizinisch erforderliche Zirkumzision oder um die rituelle Beschneidung, also darum, dass das Kind zur Teilnahme an einer religiösen Übung gezwungen wird. Damit kommt ein gesetzliches Verbot von Verfassungsrang ins Spiel, nämlich über Art. 140 GG der Art. 136 Abs. 4 der Weimarer Reichsverfassung (WRV): »Niemand darf zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen werden.« Strafrechtlich folgt daraus das Werturteil der Verwerflichkeit des Zwanges (vgl. § 240 Abs. 2 StGB): Die Nötigung des Kindes mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel, also das Zwingen zur duldenden Teilnahme an der Beschneidungszeremonie ist eine rechtswidrige und strafbare Nötigung i. S. von § 240 StGB, sodass in diesem Fall auch die Körperverletzung (§ 223 StGB) nicht kraft elterlicher Einwilligung gerechtfertigt sein kann. Die Begründungsverfasser haben also sehr wohl den Fall der medizinisch unnötigen Beschneidung gegen den Willen des Opfers bedacht, aber nicht gesehen, dass dann das Kind gezwungen wird, und zwar, wenn es, wie fast immer, um die rituelle Beschneidung geht, zur Teilnahme an einer religiösen Übung. So bleiben die Art. 140 GG und 136 Abs. 4 WRV völlig unbeachtet – ein skandalöses Versäumnis, wenn man bedenkt, dass sie für viele Fälle die Entschei-

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dung eindeutig vorgeben: für die Fälle, in denen sich die geplante Beschneidung als Religionsausübung darstellt und ihr der Wille des Kindes aktuell entgegensteht, sodass seine Teilnahme an der religiösen Übung, wenn die Eltern darauf bestehen, erzwungen werden müsste. Warum diese Scheu, ein Verbot herauszustellen, das den Eltern bei der religiösen Prägung ihrer Kinder so deutliche Schranken setzt? Die Frage gehört in einen größeren Zusammenhang: Wie kommt es überhaupt, dass religiös motivierte Drangsalierungen der Kinder seitens ihrer Eltern kaum jemals das Jugendamt beschäftigen oder gar strafrechtlich verfolgt werden? Den Grund sehe ich darin, dass in der morgen- und abendländischen Kultur religiöses, frommes, gottesfürchtiges Handeln fast per definitionem als gutes, ethisch richtiges, sittlich gebotenes Handeln gilt. Akte der Religionsausübung genießen darum grundsätzlich einen Bonus. Zwar werden sie bei uns nicht mehr toleriert, wenn sie einem Menschen allzu Schreckliches antun. So akzeptieren wir nicht mehr die sakrale Tötung, wie Isaak sie um Haaresbreite erlitten hätte, oder das sogenannte Bauopfer (Einmauerung eines Neugeborenen ins Fundament) oder jene krasse Beschneidung, Kastration genannt, die die Manneskraft des Betroffenen dem lieben Gott zum Opfer bringt (ein modernes Beispiel religiöser Verblendung, die aus Verbrechen in Millionen Köpfen lobwürdigen Gottesdienst macht: Eltern lassen ihre Kinder in einem »heiligen Krieg« Selbstmordattentate verüben und so zu »Märtyrern« werden, die göttlichen Lohnes im Jenseits sicher sein dürfen). Aber wenn sich Eltern in der religiösen Erziehung ihres Kindes kleinere, traditionelle, unauffällige Überschreitungen der Verbotsgrenze zuschulden kommen lassen, dann begegnen sie ehrfürchtiger Toleranz und wohlwollendem Verständnis. Ein alltägliches Beispiel: Streng katholische Eltern nötigen ihren Zehnjährigen, der sich mit Gründen weigert, zur monatlichen Beichte und Kommunion durch Drohungen mit einem empfindlichen Übel: Wenn er seine religiöse Pflicht nicht erfülle, dürfe er nicht länger in der E-Jugend seines Vereins Fußball spielen. Eingesetzt als Druckmittel zur Verhinderung des Schuleschwänzens wäre gegen die Übelandrohung nichts einzuwenden. Aber hier erzwingen die Eltern mit ihr die »Teilnahme an religiösen Übungen«, und dazu darf »niemand« gezwungen werden, auch kein Kind von seinen Eltern. Die Nötigung ist nach verfassungsrechtlicher Wertung »verwerflich« (§ 240 Abs. 2 StGB) und somit rechtswidrig und strafbar. Nun stelle man sich vor, der Junge klagt seinem Onkel sein Leid, und beide beschweren sich beim Staatsanwalt über die Nötigung! Mit Sicherheit wird dieser abwinken und gar nicht erwägen, dass die Eltern bei der religiösen Prägung ihres Kindes vielleicht eine rechtswidrige Maßnahme treffen und ein Delikt begehen. Solche Toleranz und Elternrechtsüberschätzung in religiösen Angelegenheiten haben in der Bundesrepublik dafür gesorgt, dass Eltern jahrzehntelang

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unbehelligt ihre Frömmigkeit ausleben konnten – auch durch eine Beschneidung, die dem Betroffenen ein wichtiges und unersetzliches Stück seines Körpers raubte und dennoch, eben als religiöse, gottesdienstliche Zeremonie, eine ethisch gebotene Wohltat sein sollte. Noch im Juli 2012, in einer Fernsehdiskussion des Kölner Urteils, hat sich in diesem Geist der ultraorthodoxe Berliner Gemeinderabbiner Yitshak Ehrenberg vernehmen lassen. Mit einer Naivität, die denn nun doch verblüffte, trug er ein einziges Argument vor: Die Beschneidung stifte einen Bund mit Gott, und darum werde mit ihr dem Säugling ein Geschenk gemacht; jemandem etwas zu schenken sei allemal erlaubt, es bedürfe keiner Rechtfertigung. Ob man aber mit dem Geschenk, wurde er in einem anderen Gespräch mit der »Tageszeitung« befragt, nicht lieber warten solle, bis der Betroffene selbst über die Annahme entscheiden könne? Nein, antwortete der Gottesmann, die Beschneidung des Knaben zu verschieben sei »noch schlimmer als physische Vernichtung« (Kramer, 2012). Besser tot als unbeschnitten! »Immer sind, die für Gott zu streiten vorgeben, die unfriedlichsten Menschen auf Erden; weil sie himmlische Botschaft zu vernehmen glauben, sind ihre Ohren taub für jedes Wort der Menschlichkeit.« (Stefan Zweig) Einfluss der Religion auf § 1631d BGB Man denke sich einmal das religiöse Anliegen und damit den politischen Druck hinweg! Man frage sich auf dieser hypothetischen Grundlage, welche Chancen die Bundesregierung dann wohl gehabt hätte, den Text des § 1631d BGB zum Gesetz zu machen! Man stelle sich also vor, sie hätte ihren Gesetzesvorschlag ausschließlich auf die anderen, jetzt nur flankierenden Argumente und Beschwichtigungen gestützt! Um es religionsgeschichtlich zu veranschaulichen: Die Juden hätten es seit langer Zeit mit dem in der Genesis behaupteten Gottesbefehl der Sohnesbeschneidung genauso gehalten wie mit dem Befehl der Gesindebeschneidung und mit dem Befehl der Tötung ertappter Sodomiten. Sie hätten dem Befehl zu gehorchen nach und nach aufgehört und den alten Brauch zivilisatorisch überwunden. Mohammed hätte sogar, wollen wir weiter annehmen, ausdrücklich die Beschneidung aufs Strengste verboten, als einen Frevel am Gottesgeschenk des menschlichen Körpers. Die moderne Medizin hätte dann aber gegen massiven Protest besonders der muslimischen Religionsführer immer öfter die frevelhafte Zirkumzision als Heilmittel gegen die Phimose, manchmal auch nur zur Hygieneerleichterung eingesetzt und es hätten sich Anzeichen ergeben, dass gewisse Krankheiten bei beschnittenen Männern seltener auftreten, vergleichbar den gesundheitlichen Vorteilen, die die Tonsillek-

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tomie (Entfernung der Gaumenmandeln) und die Appendektomie (Entfernung des Blinddarmwurmfortsatzes) mit sich bringen. Und weiter noch angenommen, manche junge Männer mit sexuellen Kontakten ließen sich, mit Blick auf die Statistik, vorsorglich beschneiden. Wer käme da wohl auf die Idee, schon den Eltern, im Rahmen der »Personensorge«, das Recht einzuräumen, dass sie aus hygienischen, ästhetischen, präventivmedizinischen oder irgendwelchen anderen (nicht religiösen) Gründen eine Beschneidung ihres kleinen Jungen veranlassen dürften, obwohl es keinen einzigen Grund gibt, der diese schwerwiegende und folgenschwere Körperverletzung wirklich nötig macht? Wir wären uns alle einig, dass es dem Träger der normal beschaffenen Vorhaut selbst überlassen sein müsse, ob er später als urteilsfähiger Mensch einem der Gründe für seine Person und seine Lebensführung so viel Gewicht gibt, sich dafür ein wertvolles Stück seines Körpers abschneiden zu lassen. Nie und nimmer hätte der Gesetzesvorschlag, wenn die Bundesregierung ihn wirklich – ohne jeden politischen Druck! – gemacht hätte, eine Mehrheit im Bundestag gefunden. Und was den Druck betrifft, so mussten ihn schon traditionsreiche und gesellschaftlich starke Religionsgemeinschaften ausüben. Für eine kleine Gruppe hätte sich keine Hand gerührt. Man stelle sich einmal vor, der Beschneidungsbrauch wäre – wie geschildert – längst erloschen und religiös verpönt, hätte aber im 21. Jahrhundert eine bescheidene Renaissance erlebt! Ein alter Mann hätte behauptet, »er habe von Gott den Befehl empfangen, sich zur Besiegelung eines Bundes die Vorhaut abzutrennen« (ein Beispiel von Scheinfeld, 2013, S. 279). Um ihn scharen sich ein paar Dutzend Leute, die es ihm gleichtun und nach seiner Anweisung auch ihre männlichen Kinder beschneiden lassen; unter Berufung auf das Alte Testament, die neue Erleuchtung und im geistigen Streit mit allen großen Religionsgemeinschaften, die den Akt mit der afrikanischen Mädchenbeschneidung vergleichen und theologisch lehren, dass man den abrahamitischen Gottesbefehl, genau wie den der Sodomitentötung, »aus seiner Zeit heraus verstehen« müsse und heute nur noch in Form einer symbolischen Berührung befolgen dürfe. So klein und isoliert die Gruppe wäre, sie wäre doch eine »Religionsgesellschaft« mit den in Art. 140 GG, 137 WRV gewährten Rechten, und ihren Mitgliedern stünden, genau wie Katholiken und Muslimen, die Freiheiten des Art. 4 GG zu. Aber machen wir uns nichts vor! Wäre diese Gemeinschaft von einem Strafurteil betroffen worden, dass eine ihrer rituellen Jungenbeschneidungen als rechtswidrige Körperverletzung bewertet hätte, man hätte die empörten Gläubigen »im Regen stehen lassen«. Der »weltanschaulich neutrale« Staat, verkörpert in Parlament und Regierung, hätte keineswegs ein Gesetz geschaffen und darin »klargestellt, dass die Personensorge der Eltern auch das Recht umfasst, […] in die Beschneidung ihres […] männlichen Kindes einzu-

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willigen« (Deutscher Bundestag, 2012, S. 16). Darf die Befugnis, seinem Kind das Präputium ohne medizinische Notwendigkeit abschneiden zu lassen, davon abhängen, ob eine große oder eine kleine Religionsgesellschaft sie beansprucht? Und zeigt das gedankliche Experiment nicht, dass Scheinfeld (2013, S. 279) recht hat, wenn er betont: Mein »Hinweis bestreitet religiösen Menschen nicht das Recht, an solche Gottesbefehle zu glauben. Nur kann das staatliche Recht ein so gewonnenes Motiv nicht als letzten Grund für Eingriffe in das Grundrecht Dritter auf körperliche Unversehrtheit akzeptieren, was es ja außerhalb des ElternKind-Verhältnisses auch in keinem einzigen Fall tut – und ihm auch innerhalb bei weiblichen Kindern nicht in den Sinn kommt.« Vereinbarkeit des § 1631d BGB mit den Grundrechten Nun aber ist, dank des religiösen Anliegens und des politischen Drucks, der § 1631d BGB beschlossen und verkündet worden. Ist damit nicht, in seinen Grenzen, Klarheit geschaffen? Art. 2 Abs. 2 GG gewährleistet jedem »das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit«, doch sagt er zugleich, dass »in diese Rechte […] aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden« darf. Der neue BGB-Paragraf ist doch so ein Gesetz! Und konnten nicht auch vorher schon die Eltern aufgrund eines sogar höherrangigen Gesetzes in viele medizinisch unnötige Beschneidungen wirksam einwilligen (und damit dem Beschneider, strafrechtlich betrachtet, für die Verletzung des kindlichen Körpers einen Rechtfertigungsgrund verschaffen), weil sich Eingriffsbefugnisse bereits ergaben aus Art. 4 Abs. 2 GG (Religionsausübungsfreiheit der Eltern) und aus Art. 6 Abs. 2 GG (Pflege- und Erziehungsrecht der Eltern)? »So läuft die Frage der Rechtmäßigkeit«, sagt treffend Isensee (2013, S. 318), »letztlich auf die der Vereinbarkeit mit den Grundrechten hinaus«, und daran hat auch die Gesetzesnovelle nichts geändert. Denn der dritte Satz in Art. 2 Abs. 2 GG (der sogenannte Gesetzesvorbehalt) gibt der Legislative selbstverständlich keine freie Hand. Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit hat ein solches Eigengewicht, dass eine gesetzliche Eingriffserlaubnis an ihm gleichsam abprallt, wenn ihre Gründe ein zu geringes Gewicht haben (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit). Ein fiktives Beispiel: In einem Bundesland räumt der Gesetzgeber dem Lehrpersonal an öffentlichen Schulen das Recht ein, Schüler und Schülerinnen »aus gegebenem Anlass und zur Aufrechterhaltung der Disziplin maßvoll körperlich zu züchtigen«. Hier dürfte man sicher sein, dass das Bundesverfassungsgericht, wenn angerufen, aus dem Zeitgeist heraus sagen würde, dass das Gesetz unvereinbar sei sowohl mit Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (»Jeder hat das Recht auf […] körperliche Unversehrtheit«) wie mit Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG (»Die Würde des Menschen ist

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unantastbar«). Vor 60 Jahren hätte es das wohl noch nicht gesagt. Isensees Frage nach der »Vereinbarkeit mit den Grundrechten« muss also die Verfassungswidrigkeit des § 1631d BGB, das heißt dessen Unvereinbarkeit mit dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, in Betracht ziehen. Die Genitalbeschneidung in diesem Buch verfassungsrechtlich zu beurteilen obliegt Jörg Scheinfeld, auf dessen Beitrag ich verweise. Mir ist hauptsächlich die Frage gestellt, ob die von Eltern verlangten Körperverletzungen, die die Beschneider ohne medizinische Notwendigkeit begehen, ethisch und rechtlich erlaubt und darum straffrei sein können. Aber auch bei ihrer Beantwortung, das hat sich gerade gezeigt, spielt das Grundgesetz eine entscheidende Rolle. Darum, mit dem Vorbehalt der Korrektur und genaueren Klärung, die folgende Darstellung der eigenen Sicht. Die rituelle Beschneidung als erlaubte Religionsausübung (Art. 4 GG) – Germann, Steinbach, Bielefeldt Dass Art. 4 GG Körperverletzungen niemals legitimiert hat, auch keine religiös-rituellen Jungenbeschneidungen, steht außer Zweifel. Man muss es dennoch betonen, weil in der aktuellen Diskussion viele sogar in erster Linie auf die Religionsausübungsfreiheit pochen, wenn sie das Kölner Urteil (vom 07. 05. 2012, Aktenzeichen: 151 NS 169/11; NJW 2012, 2128) als offensichtlich falsch verwerfen oder gar, wie geschehen, als »Provinzposse« oder als »hingerotzt« und »groben Unfug« verhöhnen zu können glauben. Um die Belanglosigkeit des Art. 4 GG für unsere Frage ganz deutlich zu erkennen, muss man einmal die Religionsausübung in der Weise isolieren, dass allein diese Handlungsqualität den Rechtfertigungsgrund bilden kann. Denn hier liegt das Versäumnis, das die Erkenntnis trübt und viele die Relevanz des Art. 4 GG für unser Problem falsch einschätzen lässt. Man stellt sich die elterliche Religionsausübung durch Penisbeschneidung konkret immer nur vor als einen Akt der elterlichen Bestimmung über das Kind und glaubt, mit der Religionsfreiheit legitimieren zu können, was allenfalls mit einer Art »Erziehungsfreiheit« zu legitimieren wäre (dazu in den folgenden Abschnitten). Lassen wir also die elterliche Erziehung und Personensorge zunächst einmal ganz aus dem Spiel, wie zum Beispiel im bekannten Fall christlicher Sekten, deren gläubige Mitglieder ihre Religion vor allem dergestalt ausüben, dass sie andere in den Häusern aufsuchen und zu missionieren suchen. Wie nun, wenn ein so Betroffener dankend ablehnt und die Haustür schließen will, die fromme Missionarin aber sich in die Diele hineinzwängt, um Gottes Botschaft weiterzuverkünden? Es versteht sich von selbst, dass sie damit einen rechtswidrigen Angriff auf den Hausfrieden unternimmt. Ungeach-

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tet ihres Grundrechts auf »ungestörte Religionsausübung« (Art. 4 Abs. 2 GG) darf der Hausherr sie in eben dieser Tätigkeit massiv »stören«, indem er durch gewaltsames Hinausdrängen Notwehr übt. Nicht einmal für eine zweiminütige Hausfriedensbeeinträchtigung kann man sich auf das Recht freier Religionsausübung berufen! Die staatsbürgerliche Pflicht, Hausfriedensbrüche zu unterlassen (§ 123 StGB), hat höheren Rang. Und auch eine rechtliche Handlungspflicht schlägt den Anspruch auf Religionsausübung allemal aus dem Feld; zum Beispiel darf, wer bei einem Unglücksfall nach § 323c StGB zur Hilfeleistung aufgerufen ist, diese nicht deshalb verweigern, weil er gerade den Rosenkranz betet und ihn noch lange weiterbeten möchte. Er muss seine Religionsausübung aboder unterbrechen, um dem Verunglückten zu helfen. Frei sein und »ungestört« bleiben kann die »Religionsausübung« also nur in den Grenzen, die das staatliche Recht ihr zieht. »Es besteht kein Zweifel daran«, sagt Fischer (2013, Rn. 45a, 48), »dass sich individuelle und kollektive Religionsfreiheit innerhalb der staatlichen Rechtsordnung zu vollziehen haben. […] Aus Art. 4 GG ergibt sich kein Anspruch, den eigenen religiösen Glauben durch medizinisch sinnlose, im Einzelfall riskante Verstümmelung anderer Menschen zu praktizieren.« Aber auf die Schwere des Eingriffs kommt es nicht einmal an. Hörnle und Huster sagen es ganz allgemein: Es ist »ausgeschlossen […], über die Religionsfreiheit die Rechtsmacht zu Übergriffen in die Rechte Dritter zu erlangen. Niemand muss sich eine Körperverletzung gefallen lassen, weil der Eingreifende meint, damit ein religiöses Gebot zu erfüllen« (2013, S. 331). Art. 4 GG selbst macht das noch nicht deutlich, doch findet es sich an anderer Stelle verfassungsrechtlich klargestellt. Art. 140 GG lässt nämlich den Art. 136 WRV (als Bestandteil des Grundgesetzes) weitergelten, und in dessen erstem Absatz heißt es: »Die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten werden durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt.« Das Grundgesetz bestimmt also, dass niemandem die Ausübung seiner Religion einen Eingriff in fremde Rechte gestattet, etwa in das Hausrecht, das Eigentum, die Ehre, die Körperintegrität, und dass sie niemanden von einer Rechtspflicht entbindet, etwa der Pflicht, strafrechtliche Verbote und Gebote oder die Straßenverkehrsregeln zu befolgen. Denn alle diese Rechte und Pflichten sind solche des Staatsbürgers. Sie erfahren auch nicht die geringste Einschränkung, wenn sie mit eigenen oder fremden Interessen an »freier Religionsausübung« kollidieren. Solcher Einsicht kann freilich die Absicht gefährlich werden. Denn wer das Ziel, die Jungenbeschneidung zu rechtfertigen, unbedingt und in frommer Voreingenommenheit verfolgt, wird sich schwertun, dem Grundrecht der Religionsausübungsfreiheit von vornherein jede Relevanz im Austausch der Argu-

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mente abzusprechen. Umgekehrt eine beträchtliche Relevanz hat jüngst wieder, wie so viele andere, Michael Germann behauptet. Er bestreitet, dass es sich dem Richter verbiete, »bei der Anwendung des staatlichen Rechts auf religiöse Motive Rücksicht zu nehmen«. Denn solche »Blindheit«, meint er, »würde die Religionsfreiheit als Grundrecht ausschalten […]. Religiöse Motive zu ignorieren, nähme der Religionsfreiheit jegliche normative Wirkung«. Gewiss obliege dem Staat religiöse Neutralität, aber gerade sie gebiete, »religiöse Motive ohne eine Bewertung ihrer Richtigkeit oder Vernünftigkeit als Freiheitsäußerung gelten zu lassen und nach Maßgabe des spezifischen Schutzes in Art. 4 I–II GG darauf Rücksicht zu nehmen« (2013, S. 417). In meinen Beispielen hätten danach die ins Haus dringende Missionarin und der Rosenkranzbeter, juristisch beurteilt, gute Chancen. Bei der Verwirklichung eines Straftatbestandes soll es dem Täter zum Vorteil gereichen, dass er aus religiösem Beweggrund in ein fremdes Recht eingreift oder zulasten eines Anderen eine Handlungspflicht nicht erfüllt. »Der einfachgesetzliche Zweck einer ›optimalen‹ Durchsetzung« des jeweiligen Interesses – dass der Hausfriede gewahrt bleibt, der Verunglückte gerettet wird – »ist mit der Religionsfreiheit abzuwägen« (Germann, 2013, S. 418). Ich bestreite das und bleibe bei meiner These, dass es hier nichts abzuwägen gibt. Den Grund, weshalb ich dies vor fünf Jahren gesagt habe (Herzberg, 2009, S. 335 ff.), sehe ich aber nicht darin, dass ich meine Beiträge zur Beschneidungsdebatte »gröber schnitze«, als es Germann tut. Vielmehr erklärt sich unsere Divergenz daraus, dass ich mich strenger ans Gesetz halte. Germann (2013, S. 418) räumt halbherzig ein, was er nicht bestreiten kann: Art. 136 Abs. 1 WRV ordnet als eine gültige Vorschrift unserer Verfassung etwas zur »Ausübung der Religionsfreiheit« an. Es ist aber nun reines Wunschdenken und grobe Verfälschung, diese Anordnung dahin zu verstehen, man habe im Fall der rituellen Vorhautamputation bei Babys oder kleinen Jungen die »Durchsetzung körperlicher Unversehrtheit mit der Religionsfreiheit abzuwägen«. Die Vorschrift verbietet die Abwägung. Sie besagt klar und deutlich dies: Die Schranken, die die Gesetze (z. B. §§ 123, 223, 323c StGB) zum Schutze von Rechten und zur Begründung von Pflichten meiner Handlungs- und Unterlassungsfreiheit ziehen, verschieben sich um keinen Millimeter, wenn sich mein Handeln oder Unterlassen als Religionsausübung darstellt. Oder, beschränkt auf meine staatsbürgerlichen Rechtspflichten: Den Umfang der Pflichten, die aus den gültigen (verfassungsgemäßen) Gesetzen folgen, vermindert der Umstand, dass die von mir gewünschte Religionsausübung mit der Pflichterfüllung unvereinbar ist, um gar nichts; ich habe stets der Rechtspflicht nachzukommen, durch Draußenbleiben, durch Schonung des fremden Körpers, durch Leistung von Hilfe, und mir die damit unver-

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einbare Religionsausübung, das heißt die Missionierung, die Beschneidung, das Rosenkranzbeten, zu versagen. Es wundert mich nicht, dass Germann hier selbst, was er dem Landgericht Köln vorwirft, ein »Fehlurteil« fällt und ihm selbst »ein juristischer Kunstfehler« unterläuft. Denn es heißt das Problem grob vereinfachen und alle Differenzierungen versäumen, wenn man im Hinblick auf Art. 4 GG nur den einen Fall betrachtet, dass beide Eltern, die beide sorgeberechtigt sind, aus religiösem Motiv übereinstimmend in die Beschneidung ihres Sohnes einwilligen. Wer da zu unscharfer Betrachtung neigt, ist in großer Gefahr, zwei Grundrechte zu kontaminieren und eine Berechtigung, die vielleicht aus Art. 6 GG folgt, zugleich aus Art. 4 GG herzuleiten. Ich mag mir ja wünschen, dass Vater und Mutter auch kraft ihrer Religionsfreiheit ihr Kind rituell beschneiden lassen dürfen. Aber ehe ich es behaupte, muss ich prüfen, ob mir nicht die Rechtsordnung die Erfüllung des Wunsches verweigert. Um dies herauszufinden, muss ich mein Wunschdenken erproben, und das geht nur anhand eines Sachverhaltes, worin die von Germann ständig vorausgesetzte elterliche Harmonie fehlt und nicht nur das Kind, sondern auch eine oder die einzige sorgeberechtigte Person zum Opfer der Beschneidung wird. So ein Fall zeigt dann sofort, dass selbst der frömmsten und inbrünstigsten Religionsausübung nicht die geringste Bedeutung zukommt bei der Frage, ob die Körperverletzung durch Vorhautamputation gerechtfertigt ist. Das halte ich auch Armin Steinbach entgegen. Bei ihm läuft es am Ende darauf hinaus, dass er ohne Anbindung an das elterliche Sorgerecht dem religiösen Interesse an der Knabenbeschneidung schlicht den Vorzug gibt vor dem Bedürfnis des Jungen, körperlich unversehrt zu bleiben. »Zu den disponiblen Rechtsgütern gehört auch die körperliche Unversehrtheit, die ein einschränkbares Rechtsgut darstellt. Ob und inwiefern der Eingriff […] bei der Ausübung der grundsätzlich schrankenlos gewährten Religionsausübung hinzunehmen ist« – den Art. 136 Abs. 1 WRV übersieht Steinbach –, sei durch Abwägung zu bestimmen. Es komme darauf an, wie tief in den Körper eingegriffen wird und »welche Bedeutung der religiöse Brauch nach dem individuellen Selbstverständnis hat«. Je größer diese Bedeutung (für die laut Steinbach auch das »Selbstverständnis der Religionsgesellschaft« eine Rolle spielt), »umso eher muss seine Ausübung zu einer Einschränkung anderer Rechtsgüter führen können«. Es folgt die übliche Verharmlosung: »Bei der Beschneidung von Jungen treten Beeinträchtigungen nicht in einem Maße und einer Häufigkeit auf, um von einer einschneidenden und nachhaltigen Beeinträchtigung der Gesundheit sprechen zu können. Trotz vereinzelt auftretender nachteiliger Auswirkungen können diese eine Strafbarkeit bzw. ein Verbot der Beschnei-

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dung als einem Grundpfeiler des religiösen Selbstverständnisses im jüdischen und muslimischen Glauben nicht rechtfertigen«, vorausgesetzt freilich, die Beschneidung wird »möglichst kunstgerecht und schmerzfrei durchgeführt« (Steinbach, 2013, S. 9 f.). Stellen wir uns vor, dass einem jüdischen Vater, dem keine »elterliche Sorge« obliegt, von ganzem Herzen daran gelegen ist, seinen Neugeborenen beschneiden zu lassen. Johannes Friedrich (2012), Landesbischof a. D. und Mitglied im Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, macht in solchem Fall aus dem vermeintlichen Recht des Vaters geradezu dessen Pflicht, seine Religion auszuüben. Der Vater sei der »Versagung eines Lebensrituals« schuldig, wenn er seinem jüdischen Sohn »eine für seine religiöse Identität wichtige Tradition« vorenthalte. Dieser nehme an seiner »seelischen Unversehrtheit« Schaden, »wenn er feststellen muss, dass sein Vater einer zentralen religiösen Pflicht nicht nachgekommen ist und ihn dadurch seiner religiösen Heimat beraubt« hat. Ich lasse beiseite, dass Friedrich unter den Millionen Juden, deren Väter sich verantwortungsbewusst gegen die Beschneidung entschieden haben, nicht einen einzigen auffinden könnte, der die abenteuerliche These eines Seelenschadens bestätigen würde. Im Gegenteil, so gut wie alle werden ihren Vätern dankbar sein. Allenfalls und in extrem seltenen Fällen wird ein Junge mit unverletztem Penis in erwecktem Religionsbewusstsein seine Eltern bitten, doch noch beschnitten zu werden, und ihnen vielleicht zürnen, wenn sie – was weiß Gott das einzig Richtige wäre – den kindlichen Willen nicht gelten lassen. Aber dies nur nebenbei. Worauf es mir ankommt: Von einer Pflicht gar nicht zu reden, dem Vater in meinem Beispiel gäbe seine Religionsausübungsfreiheit nicht einmal das Recht, die Beschneidung vornehmen zu lassen. Das ist nicht das Ergebnis einer problematischen Abwägung, sondern eine vom Grundgesetz bestätigte bare Selbstverständlichkeit. Man denke sich den Fall einmal so, dass das jüdische Ehepaar sich schon vor der Geburt des Kindes hat scheiden lassen und die »elterliche Sorge« nach § 1626a Abs. 2 BGB allein der Mutter obliegt und zusteht. Sie hat sich aus Liebe zu ihrem Kind und wissend, was es erleiden würde, entschieden gegen die Beschneidung ausgesprochen. Der Vater und ein befreundeter Arzt nutzen nun die Abwesenheit der Mutter, gemeinsam und operationstechnisch korrekt das Ritual zu vollziehen. Es mag ja sein, dass, wie einst Abraham mit der Gesindebeschneidung, der Vater auch heute noch mit der Sohnesbeschneidung nach seinem »individuellen Selbstverständnis« (Steinbach, 2013, S. 9) eine »zentrale religiöse Pflicht« (Friedrich, 2012) erfüllt. Aber im Hinblick auf die Rechtslage muss uns das von Herzen gleichgültig sein. Die religiöse Pflichterfüllung war ihm rechtlich verboten, und so sind sie beide, er und der Arzt, als Mittäter strafbar wegen einer gefährlichen Körperverletzung (§§ 224 Abs. 1 Nr. 2,

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4; 25 Abs. 2 StGB)2. Ich glaube, dass dies niemand bestreiten wird, nicht einmal Friedrich, und, was ich unterstellen zu dürfen hoffe, auch Germann und Steinbach nicht. Bei aller Religionsfreundlichkeit, unser Rechtsstaat kann es nicht erlauben oder auch nur hinnehmen, dass jemand hinter dem Rücken der allein erziehungsberechtigten Person einem Kind die Vorhaut amputiert, weil er dies für seine unabdingbare religiöse Pflicht hält oder seine Religionsgemeinschaft es sogar dogmatisch zur Pflicht erklärt. In seinem Versuch einer Bemessung des Rechtes aus Art. 4 Abs. 2 GG fehlgegriffen hat auch Bielefeldt (2012, S. 71). Die Art. 140 GG, 136 Abs. 1 WRV nicht beachtend und ohne Blick für das Selbstverständliche bleibt er in der Ratlosigkeit stecken. Zwar gebe die Religionsfreiheit – dies immerhin sieht er – »keinen Freibrief für die Aushebelung anderer Menschenrechte oder sonstiger wichtiger Rechtsgüter. Konkrete Beschränkungen der Religionsfreiheit […] müssen aber mit Sorgfalt und unter strikter Beachtung dafür vorgegebener Kriterien erfolgen. Ein strafrechtlich bewehrtes generelles Verbot der Knabenbeschneidung wäre jedenfalls ein zu drastischer Eingriff.« Die Beliebigkeit solcher Aussagen zeigt sich in ihrer vollkommenen Umkehrbarkeit. Man könnte Bielefeldt entgegensetzen: Das Recht auf körperliche Unversehrtheit garantiert nicht die Verschonung von allen Beeinträchtigungen, die um fremder Rechte willen unumgänglich sind. Konkrete Beschränkungen des Grundrechtes aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG müssen aber mit Sorgfalt und unter strikter Beachtung dafür vorgegebener Kriterien erfolgen. Die rechtliche Gestattung der rituellen Knabenbeschneidung wäre jedenfalls ein zu drastischer Eingriff. – Über bloßes Gerede hinaus gelangt man erst, wenn man das hier »vorgegebene Kriterium«, nämlich das verfassungsrechtliche, auch entdeckt und anwendet. Dann ergibt sich: Weil man seine Religion laut Grundgesetz nur im Rahmen der Gesetze frei ausüben darf, muss sich die Religionsfreiheit sehr wohl den »drastischen Eingriff« des generellen Verbots der Penisbeschneidung gefallen lassen. Das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 2 GG beschränkt weder das staatsbürgerliche Recht des Kindes auf seine körperliche Unversehrtheit noch die staatsbürgerliche Pflicht des religiösen Menschen, dieses Recht zu achten, und sei es durch Nichterfüllung seiner religiösen Pflicht.

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Vgl. auch OLG Frankfurt, NJW 2007, 3580 zum Fall eines (nicht sorgeberechtigten) muslimischen Vaters, der gegen den allein maßgeblichen Willen der Mutter an seinem zwölfjährigen Sohn die Beschneidung hatte vornehmen lassen. Der Senat bewertet den Eingriff als rechtswidrige Körperverletzung und spricht dem Kind ein Schmerzensgeld zu.

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Die Beschneidung als elterliche Kindespflege (Art. 6 GG) Aber wie steht es, bezogen auf unsere Frage nach einer Rechtsgrundlage, um Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG? »Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht«. Ergab sich denn daraus schon seit langem für die Eltern, denen das Recht nicht entzogen war, die grundsätzliche und grundrechtliche Befugnis, ihren männlichen Kindern auch ohne medizinische Erforderlichkeit die Vorhaut abtrennen zu lassen? Der Gesetzgeber will dies so wahrhaben. In der Begründung des § 1631d BGB beruft er sich ausdrücklich auf Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG und sieht mit seiner Novelle keine Befugnis neu begründet, sondern nur »klargestellt«, dass Eltern im Rahmen der Kindespflege und -erziehung unter gewissen Voraussetzungen die Amputation veranlassen dürfen; genauer: »dass die Personensorge der Eltern auch das Recht umfasst, unter Einhaltung bestimmter Anforderungen in die Beschneidung ihres nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen« (Deutscher Bundestag, 2012, S. 16). In der Tat hat, im Gegensatz zu Art. 4 GG, der Art. 6 GG den Eltern immer schon einen deutlichen Spalt der Befugnis geöffnet, bei der Einwirkung auf ihre Kinder auch Straftatbestände zu verwirklichen. Zum Beispiel einen Hausfriedensbruch, § 123 StGB: Wenn ein Fünfzehnjähriger außerhalb des Elternhauses schon sein eigenes Appartement bewohnt, so werden die Eltern meistens das Recht haben, aus Sorge um den Sohn selbst gegen dessen Willen die Wohnung zu betreten (vgl. § 123 StGB). Selbstverständlich kann dieser Akt auch religiös motiviert sein, etwa vom Bestreben, dem Sohn ins Gewissen zu reden, dass er mit ihnen die Sonntagsmesse aufsuche. Mit Art. 4 GG hat dann aber das Recht auf Hausfriedensbruch nichts zu tun. Eltern dürfen auf ihre Kinder in vielerlei Hinsicht pflegerisch oder erzieherisch einwirken, in religiöser so gut wie in gesundheitlicher, ästhetischer, schulischer, sportlicher, künstlerischer, musikalischer Hinsicht. Das Recht der Eltern, ihr Kind religiös zu prägen, zu beeinflussen und so, indem sie religiöse Elternpflichten erfüllen, ihre eigene Religion auszuleben, ist ein Teil des Grundrechts aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG, aber mit diesem Teilrecht verbinden sich keine besonderen Befugnisse. Und was ergibt sich aus der grundgesetzlichen Norm für die Schutzgüter der Freiheit und der körperlichen Unversehrtheit des Kindes? Dürfen die Eltern unter Umständen »zum Wohl des Kindes« die Straftatbestände der §§ 239, 240 StGB und des § 223 StGB erfüllen, indem sie das Kind einsperren, nötigen oder sogar körperlich verletzen? Dass man dies bejahen (!) muss, zeigt der Vergleich der Befugnisse im Umgang mit eigenen Kindern auf der einen und fremden auf der anderen Seite. Auf den zehnjährigen Sohn darf man in angemessener

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Weise erzieherisch auch einmal durch Verhängung von Hausarrest einwirken, seinen Spielkameraden einzusperren wäre einem, wenn dessen Eltern nicht zustimmen, niemals erlaubt. Die pubertierende Tochter zum Schulbesuch zu nötigen durch die Entziehung ihres Smartphones ist das gute Recht der Eltern, die gleiche Maßnahme gegen die Freundin der Tochter zu treffen wäre deliktisches Unrecht. Was den eigenen Sohn betrifft, so dürfen ihm die Eltern (etwa anlässlich seiner Einschulung) auch gegen seinen Protest die langen Mädchenlocken abschneiden und sogar veranlassen, dass an ihm schwerwiegende Eingriffe vorgenommen werden, zum Beispiel, wenn medizinisch erforderlich (!), eine Zirkumzision oder vielleicht sogar, zur Vermeidung seelischen Leides, eine kosmetische Operation der Ohrmuscheln (dazu kritisch Scheinfeld in diesem Buch, S. 384). Anders bei einem fremden Kind, das ihnen Freunde für einen Sommermonat anvertraut haben. Da dürften sie solche Körperverletzungen nicht verüben und nicht veranlassen, selbst wenn sie mit guten Gründen fänden, dass die Eingriffe dem Wohl des Kindes dienlich seien. Aber auch bei den eigenen Kindern haben die Befugnisse zur Verwirklichung von Straftatbeständen enge Grenzen, sodass sogar recht harmlose Körperverletzungen rechtswidrig sein können. Das bekannteste Beispiel liefert jetzt § 1631 Abs. 2 BGB, der den Kindern »ein Recht auf gewaltfreie Erziehung« einräumt und »körperliche Bestrafungen«, etwa eine Ohrfeige oder eine Tracht Prügel aufs Gesäß, verbietet und zum Unrecht stempelt. Da hilft es den Eltern auch gar nichts, dass sie im Rahmen einer liebevollen und verantwortungsbewussten Erziehung mit so einer einzelnen Körperverletzung das Wohl ihres Kindes nicht im Entferntesten gefährden und sogar diesem Wohl durch maßvolle Züchtigung, was ihnen viele bestätigen würden, zu dienen überzeugt sind. Unrecht bleibt Unrecht und soll nicht verübt werden. Darum widerspreche ich Hörnle und Huster, die, den Zielpunkt der Legitimierung ritueller Zirkumzisionen vor Augen, aus Art. 6 Abs. 2 GG zu viel an Elternfreiheit ableiten: »Staatliche Interventionen sind nur in Extremfällen des elterlichen Versagens zulässig. […] Nur dasjenige Verhalten der Eltern gegenüber ihren Kindern, das nicht mehr nachvollziehbar als Pflege und Erziehung aufgefasst werden kann, sondern als Missbrauch dieses Auftrags oder als Vernachlässigung der Kinder bezeichnet werden muss, überschreitet die Grenzen des Elternrechts und eröffnet damit die Ausübung des staatlichen Wächteramts« (2013, S. 331 f.). Das ist nicht weit entfernt von der in sich widersprüchlichen Aussage, die Eltern hätten das Recht, ihren Kindern geringfügiges Unrecht anzutun. Und es ist auch nicht richtig, dass dem Staat nur in Fällen krasser, das Kindeswohl gefährdender Verfehlung die Ausübung seines Wächteramts eröffnet werde. So kann das Jugendamt oder die Staatsanwaltschaft, zum Beispiel dank der Anzeige eines Nachbarn, davon erfah-

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ren, dass wohlmeinend strenge Eltern es oft mit der Verhängung von Hausarrest ein wenig übertreiben (§ 239 StGB) und auch vor schmerzhafter Züchtigung nicht immer zurückschrecken (§ 223 StGB). Es wäre absurd, wenn die Amtsträger gegen diese kleinen Straftaten, die die Eltern hier trotz ihres guten Willens zulasten der Kinder begehen, nichts unternehmen dürften, wenn sie die Eltern nicht einmal ermahnen und verwarnen dürften, nur weil noch kein »Extremfall des elterlichen Versagens« vorliegt. Halten wir also fest: Das Grundrecht des Kindes auf körperliches Unversehrtbleiben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG), strafrechtlich bewehrt durch Strafdrohung in Fällen vorsätzlicher und fahrlässiger Körperverletzung (§§ 223 ff., 229 StGB), ist eine starke Bastion, die nicht immer faktisch, wohl aber juristisch weitgehend standhält, wenn Eltern kraft ihres Elternrechts (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) auf das Kind körperlich einwirken wollen. Natürlich geht es hier letztlich immer um Abwägung. Grundrecht steht gegen Grundrecht, und es gibt Konfliktlagen, wo die Richtschnur »Wohl des Kindes« die Entscheidung nicht eindeutig vorgibt, wo vielleicht der Vater sich für dieses Wohl mehr von einer »ordentlichen Tracht Prügel« (die ja laut Volksmund »noch niemandem geschadet hat«) und die Mutter mehr von mahnenden Worten verspricht. Hier hat auch der Gesetzgeber innerhalb des Art. 6 Abs. 2 GG einen Ermessensspielraum, und er kann darin eine Entscheidung treffen. Dies hat er, gewiss auch dem Zeitgeist folgend, mit § 1631 Abs. 2 BGB getan: Er hat das ungeschriebene, aber im Prinzip anerkannte Recht der Eltern, ihr Kind aus erzieherischen Gründen zu schlagen, das heißt den strafrechtlichen Rechtfertigungsgrund »elterliches Züchtigungsrecht«, aufgehoben und »körperliche Bestrafungen« ausdrücklich verboten. Aber es gibt auch Einwirkungen auf den Kindeskörper, für die es des ausdrücklichen Verbotes nicht bedarf, weil evident ist, dass sie den Eltern nicht erlaubt sein können. So würde es niemand vertretbar finden, dass ein Arzt an seinem vollkommen gesunden Kleinkind zur Vorbeugung den Blinddarmwurmfortsatz herausoperiert (Appendektomie), obwohl die Gefahr einer akuten und lebensbedrohlichen Appendizitis in jedem Lebensalter besteht und weitaus größer ist als etwa die Gefahr, an Peniskrebs zu erkranken. Und es erscheint uns allen inakzeptabel, dass etwa Eltern während des Ramadan ihr zuckerkrankes Kind in einem Maße zum Fasten zwingen, dass es gesundheitlichen Schaden erleidet; oder dass Eltern den frommen Empfehlungen einer christlichen Sekte folgen, wenn diese dahin gehen, die eigenen Kinder körperlich zu misshandeln oder zu entstellen. Beispiele: quälend langes Ins-Wasser-Tauchen bei der Taufe; maßvolle Mädchenbeschneidung zu Mariä Ehren, nach dem Vorbild mancher koptischer Christen; Geißelung und Aufdrücken einer Dornenkrone am Karfreitag; christlichreligiöse Prägung durch Tätowierung eines Kreuzes auf den Rücken, Oberarm

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oder Penis. Die Eltern mögen sich jeweils darauf berufen, prophylaktisch zum Besten ihres Kindes zu handeln bzw. ihm wertvollste Vorteile vor Gott und für sein Seelenheil zu verschaffen. Dies zu glauben und den Glauben zu bekennen haben sie die Freiheit (Art. 4 Abs. 1 GG), aber eine Befugnis zulasten des kindlichen Grundrechts können sie nicht daraus ableiten. Auseinandersetzung mit Michael Germann Zu solchen generellen Aussagen und exemplarischen Folgerungen, denen wohl fast jeder zustimmen wird, dringt Michael Germann (2013, S. 412 ff.) nicht vor. Er beschränkt sich in Anbetracht des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG auf die eine Frage, ob Eltern das Recht haben, ihrem Jungen die Vorhaut abschneiden zu lassen. Dabei führt er sich selbst und vielleicht auch den einen und anderen Leser gleich eingangs durch eine Art juristischer Verkehrung in die Irre. Denn er betrachtet unsere Diskussion als eine »Kriminalisierungsdebatte über die Knabenbeschneidung« (S. 412), sieht in seinen Gegnern »diejenigen, die […] nach wie vor ein Beschneidungsverbot fordern«, und hält ihnen als die entscheidende Frage entgegen, ob »das Grundgesetz ein Beschneidungsverbot fordert«, was wiederum voraussetze, »daß ein Beschneidungsverbot mit den Grundrechten vereinbar wäre« (S. 413). Das stellt die rechtlichen Gegebenheiten falsch dar, ja geradezu auf den Kopf und bereitet den Boden für falsche Fallbeurteilungen. Niemand verlangt eine »Kriminalisierung« des Abschneidens der Penisvorhaut. Sie ist ja bereits kriminell, das heißt, sie ist eine Straftat, und die Debatte betrifft nur die Frage, unter welchen Voraussetzungen diese qualvolle und gefährliche Körperverletzung – strafrechtsdogmatisch betrachtet: ausnahmsweise – gerechtfertigt und dann keine Straftat ist. Dementsprechend wird mit der Feststellung, dass manche »nach wie vor ein Beschneidungsverbot fordern«, und mit der Frage, ob »das Grundgesetz ein Beschneidungsverbot fordert«, die Rechtslage verdreht. Das Grundgesetz hat in Gestalt des § 223 StGB ein Beschneidungsverbot, genau wie zum Beispiel ein Zopfabschneide-, Zahnextraktions- oder ein Fußtrittverbot, vorgefunden und seine Schöpfer haben nicht eine Sekunde daran gedacht, das Verbot aufzuheben. Es ist abwegig, das von Germann immer wieder abwehrend beschworene »Beschneidungsverbot« als vielleicht nicht »mit den Grundrechten vereinbar« hinzustellen. War es in meinem Beispiel dem Vater und dem befreundeten Arzt, unbeschadet ihres religiösen Beweggrundes, etwa nicht rechtswirksam verboten, den Sohn zu beschneiden, ohne Wissen, gegen den Willen und hinter dem Rücken der sorgeberechtigten Mutter? Und würden etwa die frommen Muslime, die Kinder in ein türkisches Ferienlager locken und ihnen dort ohne Absprache mit den Eltern lege artis die Vorhaut abschnei-

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den lassen, kein Verbot des deutschen Strafrechts, kein »Beschneidungsverbot« (§ 223 StGB) missachten? Germann denkt nur an die Fälle elterlichen Einvernehmens und sieht in diesem verengten Rahmen infolge des Kölner »Fehlurteils« die »bis dahin bestehende Rechtssicherheit erschüttert« (2013, S. 413). Der Kontext lässt erkennen, wie das gemeint ist: Man konnte sich verlassen auf eine Strafjustiz, die davon ausging – und zu Recht davon ausging –, dass dem jüdisch-muslimischen Ritus kein »Beschneidungsverbot« entgegenstand. Daran ist richtig, dass »bis dahin« rituelle Beschneidungen, soweit ersichtlich, in keinem Fall strafrechtlich verfolgt worden sind. Aber dies kann man nicht auf das Fehlen eines rechtlichen Beschneidungsverbotes zurückführen. Die Justiz hat aus allbekannten Gründen weggesehen, sie wollte die vage Vermutung eines »das wird schon in Ordnung sein« rücksichtsvoll unüberprüft lassen, bis dann in Köln Staatsanwaltschaft und Landgericht den Frieden gestört haben. Nach § 152 Abs. 2 StPO war, bei gegebener Kenntnis, die Verfolgung auch vorher schon geboten, jedenfalls in den meisten Fällen, denn die Beschneidung verstieß gegen das Beschneidungsverbot, sie war eine rechtswidrige Körperverletzung und eine Straftat; wenn zum Beispiel im Rahmen eines familiären Beschneidungsfestes der befreundete Sünnetci gegen das angstvoll weinende Beschneidungskind (sünnet cocugu) sein Messer gebrauchte, wie er es in Anatolien gelernt hatte, ohne Risikowissen, ohne Belehrung der Eltern, ohne hygienische Vorsorge. Oder wenn in der Synagoge der Mohel eine orthodox-jüdische Brit Mila zelebrierte, als Nichtarzt, ohne Betäubung, ohne steriles Skalpell und mit oraler Blutabsaugung. Gewiss gab es auch religiös motivierte Beschneidungen, die ein Arzt, und zwar operationstechnisch korrekt, ausführte, sei es in der eigenen Praxis oder im Krankenhaus. Vielleicht wurden sie dann gegen besseres Wissen als medizinisch erforderlich hingestellt und damit dem strafrechtlichen Zugriff praktisch entzogen. Bei den ungetarnt rituellen Beschneidungen aber hatte die Staatsanwaltschaft allen Anlass zur Ermittlung. Denn aufgehoben wird das Verbot einer medizinisch unnötigen rituellen Beschneidung ja allenfalls unter der Voraussetzung einer wirksamen Einwilligung, und wirksam ist die Einwilligung des Betroffenen bzw. seiner Eltern nur, wenn sie in umfassender Kenntnis der unmittelbaren und mittelbaren Folgen der Operation abgegeben wird; insbesondere müssen die Eltern aufgeklärt werden über die Schmerzen, die auf das Opfer zukommen, die Komplikationsgefahren und die Dauerauswirkung auf das Sexualleben. Weil eine medizinisch nicht gebotene Operation keine Eile hat, ist bei ihr in puncto Aufklärung eine ganz besondere Sorgfalt geboten und »die Einwilligung […] nur dann wirksam, wenn der Einwilligende in der Lage gewesen ist, das Für und Wider genau zu beurteilen und gegeneinander abzuwägen«. Dies

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setzt voraus »daß ein Arzt […] dem Einwilligungsberechtigten die Gründe und Gegengründe eingehend auseinandersetzt, ihm Gelegenheit zu weiteren Fragen und Zeit zu ruhiger Überlegung gibt« (BGHSt 23, 379, 383). Das Oberlandesgericht Hamm (Beschluss v. 30. 08. 2013, Aktenzeichen 3 UF 133/13) hatte jüngst über das Begehren einer kenianischen, allein sorgeberechtigten Mutter zu befinden, die gegen den Willen des Kindesvaters alles daransetzte, ihren sechsjährigen Sohn beschneiden zu lassen. Der Senat für Familiensachen bewahrt den Sohn davor aus verschiedenen Gründen, von denen hier nur der folgende interessiert: »Nicht hinreichend sicher feststellen kann der Senat […] das Vorliegen einer weiteren – ungeschriebenen – Tatbestandsvoraussetzung: Die Wirksamkeit der Einwilligung der […] Personensorgeberechtigten in die Beschneidung hängt von einer ordnungsgemäßen und umfassenden Aufklärung […] über die Chancen und Risiken des Eingriffs ab«. Die Kindesmutter habe nicht dargelegt, geschweige denn glaubhaft gemacht, von einem Arzt in dieser Weise aufgeklärt worden zu sein (Rn. 32). An einer solchen »ordnungsgemäßen und umfassenden« Aufklärung und an einer danach wirksamen Einwilligung hat es nach meinen Informationen so gut wie immer gefehlt. Schlimmer noch, die auf Beschneidungen spezialisierten, mit den Eltern meist religiös verbundenen Ärzte pflegten den Eingriff zu verharmlosen. So trat in der ARD-Sendung »Menschen bei Maischberger« am 14. 08. 2012 ein Dr. Sebastian Isik auf, der Kinder zu Hunderten von Berufs wegen beschnitten hatte und weiterhin Kinder beschneiden wollte. Man konnte erkennen, wie er die Eltern »aufzuklären« pflegte: Mit einer lege artis ausgeführten Zirkumzision sei überhaupt kein Leid verbunden. »Das Kind merkt gar nichts, außer dem Betäubungspiekser, die Heilung verläuft wunderbar.« Der Akt sei gesundheitsdienlich und mit Impfung und Zahnklammereinsatz vergleichbar. Kein Wort zu den Auswirkungen auf das nahe und ferne Sexualleben, die er anscheinend aus seinem Blickfeld verbannt hatte; kein Wort auch zum Kölner Fall des gesunden Vierjährigen, wo die laut Landgericht kunstgerechte Beschneidung mit grässlichen und gefährlichen Komplikationen verbunden war und eine klinische Nachbehandlung – auf der Intensivstation! – von zehn Tagen sowie mehrere Nachoperationen nötig wurden. Wie immer man über die Legitimierbarkeit medizinisch unnötiger, insbesondere der religiös motivierten Zirkumzision denken mag – sie wurden vor dem Aufkommen eines allgemeinen Problembewusstseins durch die Bank rechtswidrig begangen. Denn der Beschneider hielt sich nicht an die lex artis und/oder er handelte ohne wirksame Einwilligung, weil er die Eltern unzureichend aufgeklärt, wenn nicht sogar irregeführt hatte. Ich beziehe mich damit auf eine im Strafrecht unstreitige Auffassung zum notwendigen rechtlichen Schutz

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sowohl des Kindes wie auch seiner Eltern vor schwerwiegenden Eingriffen in den kindlichen Körper. Auch Michael Germann, das unterstelle ich, wird nicht bereit sein, dieses Schutzniveau zu unterschreiten. Es ist ja schlimm genug, dass die Eltern anscheinend kaum Strafanträge stellen, obwohl sie nachher oft mit Entsetzen erkennen, dass sie unaufgeklärt waren und nicht hätten einwilligen sollen (man denke nur an die verzweifelte Mutter im Kölner Fall!). Aber den Beschneidern, nur weil sie sich auf die Religion berufen können, nun auch noch die Rechtmäßigkeit ihres nach deutschem Standard unverantwortlichen Treibens zu bescheinigen, das darf sich kein Jurist erlauben. Eine strafrechtswissenschaftlich gewonnene Erkenntnis, dass ein Tun rechtmäßig oder rechtswidrig ist, muss sich am Verfassungsrecht messen lassen. Das heißt aber nicht, dass man, wie Germann es macht, am grünen Tisch hochabstrakter grundgesetzlicher Artikel und grundrechtlicher Konstruktionen, ohne Blick auf straftatbestandliche Grenzen und strafrechtlich erarbeitete Rechtfertigungsgründe, festlegen könnte, was Eltern ihren Kindern körperlich anzutun oder antun zu lassen berechtigt sind. Eltern sind nicht nur Inhaber von Grundrechten, sondern zugleich scharf zu beobachtende potenzielle Täter von Straftaten gegen ihre Kinder. Wenn sie zum Beispiel einen Mohel zu einer kindeswohlwidrigen Operation veranlassen (z. B. zur qualvollen Beschneidung nach jüdisch-orthodoxem Ritus), dann geht es nicht nur, wie Germann (2013, S. 421) zu meinen scheint, um die Wertung, dass die Tat des Mohels »trotz der Einwilligung gegen die guten Sitten verstößt« (§ 228 StGB). Nein, die Eltern begehen selbst ein Delikt, nämlich eine Anstiftung zur Körperverletzung (§§ 223, 26  StGB) – vorbehaltlich eines sie entschuldigenden Verbotsirrtums (§ 17 S. 1 StGB). Germann (2013, S. 414 f.) verteidigt etwas, was, wie er einräumt, »vielen Befürwortern eines Beschneidungsverbotes anstößig« sei: eine dem »Verhältnismäßigkeitsgebot« geschuldete »Relativierung der körperlichen Unversehrtheit von Kindern um des Elternrechts und der Religionsfreiheit willen«. Zwar müsse der Staat dem Kind einen Mindestschutz gewährleisten, aber »die Prärogative der Eltern zur Kindeswohlbestimmung« verschaffe ihnen einen Spielraum »auch im Hinblick darauf, welcher körperliche Zustand dem Kindeswohl am besten entspricht«. Weil Germann ganz auf die Jungenbeschneidung fixiert ist, erfährt der Leser außerhalb dieses Falls nichts über die Konsequenzen. Es heißt eben nur, dass die Eltern entscheiden dürfen, »ob eine Beschneidung dem Kindeswohl entspricht«, dass sie also jedenfalls diese schwerwiegende Körperverletzung veranlassen dürfen, auch wenn sie medizinisch nicht erforderlich ist. Unklar bleibt ferner, welche Motive nach Germanns Vorstellungen die Berechtigung ausschließen. Masturbationsverhinderung? Penisverschönerung? Wascherleichterung? Peniskrebsrisikominderung? Germanns Tendenz ist wohl,

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auch derart motivierte Beschneidungen zu erlauben, denn irgendwie wollen ja auch diese Eltern »nur das Beste« für ihr Kind. Und »aus dem Schutzbereich des Elternrechts« ausscheiden sollen nur die »unter keiner Betrachtungsweise auf das Kindeswohl bezogenen Motive«. Wer Germanns Gedanken ausbauen will zu einer allgemeinen Theorie des Elternrechtes, eigene Kinder körperlich zu verletzen, dem drängt sich natürlich ein Schluss a maiore ad minus auf: Wenn den Eltern sogar erlaubt ist, ohne medizinische Notwendigkeit eine so schwerwiegende und sich lebenslang auswirkende Körperverletzung wie die Amputation der Vorhaut zu veranlassen, dann stehen ihnen erst recht Körperverletzungen von geringerer Schwere und schwächerer Auswirkung frei – unter der Voraussetzung, dass die Eltern nach ihrer Sicht das Kind zu seinem Wohl verletzen. Zu denken wäre da an all die oben genannten körperlichen Misshandlungen, wovon ich sagen zu dürfen glaubte, es erscheine »uns allen inakzeptabel«, dass Eltern so etwas gestattet sein könne. Hier hätte ich mich zu korrigieren: Germann würde – oder müsste doch konsequenterweise – sagen, es umfasse »die Prärogative der Eltern zur Kindeswohlbestimmung […] auch die Entscheidung darüber«, ob so eine geringere Verletzung »dem Kindeswohl dient«; zum Beispiel dem geistlichen Wohl, wenn das Kind dank einer am Karfreitag aufgedrückten Dornenkrone Jesu Leiden intensiv nacherlebt; oder dem körperlichen Wohl, wenn der Vater es zur Abhärtung eine Zeitlang in eiskaltem Wasser leiden lässt; oder dem charakterlichen Wohl, wenn er ihm beim Indianerspiel Schnittwunden beibringt. Mir will das nicht einleuchten. Es geht um Körperverletzungen, die einen Straftatbestand erfüllen (§ 223 StGB). Für keine dieser Taten findet sich im Strafrecht ein Rechtfertigungsgrund; insbesondere können sich die Eltern nicht, wie bei gefährlichen Angriffen, auf »Notwehr« berufen oder, wie bei krankheitsbedingten Operationen, auf den Aspekt des »Heileingriffs«. Nun einen Rechtfertigungsgrund aus Art. 6 GG herzuleiten scheint mir verfehlt. Diese Vorschrift wollte das grundsätzliche Verbot, Kinder körperlich zu misshandeln, auch für die Eltern nicht aufheben. Wenn die Misshandlung für das Kind objektiv schlimm und schädlich ist, dann müssen die Eltern sie unterlassen, selbst wenn sie subjektiv meinen, dem Wohl des Kindes zu dienen. Es gibt einen Klassiker der Verletzung des eigenen Kindes, deren Erlaubtheit auch das Strafrecht, natürlich in Grenzen, bis vor wenigen Jahren anerkannt hat: das bestrafende Züchtigen durch schmerzhafte Schläge. Dieses »elterliche Züchtigungsrecht« mochte man tatsächlich auf »die Prärogative der Eltern zur Kindeswohlbestimmung gemäß Art. 6 II 1 GG« zurückführen, und dem Besserwissen eines objektiv urteilenden Psychologen, Erziehungswissenschaftlers oder informierten Juristen hätte das Recht damals noch widerstanden. Stellen wir uns

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einmal vor, nach einer Strafanzeige klagt der Staatsanwalt einen Vater an, der »hart, aber gerecht« seinen zehnjährigen Sohn immer wieder durch bestrafendes Verprügeln zu erziehen und auf den rechten Weg zu bringen bemüht ist. In den 1950er Jahren etwa hätte der Verteidiger leichtes Spiel gehabt, die Anklage abzuwehren. Er hätte sich auf das »elterliche Züchtigungsrecht« berufen und es gleichsam veredeln können mit Michael Germanns Worten, dass das »staatliche Wächteramt« den Staat nicht ermächtige, »ein ›Optimum‹ körperlicher Unversehrtheit von Kindern zu definieren und gegen die elterlichen Vorstellungen von der körperlichen Integrität ihrer Kinder durchzusetzen« (2013, S. 414). Wenn die Eltern es mit der Misshandlung nicht übertrieben, dann blieb bei ihnen »die Prärogative und ein entsprechender Bestimmungsspielraum auch im Hinblick darauf, welcher körperliche Zustand dem Kindeswohl am besten entspricht«; zum Beispiel ein höchst schmerzhafter nach der notwendigen Bestrafung wegen Onanierens, Schwänzens der Sonntagsmesse oder sündhafter Gotteslästerung. Aber das ist Vergangenheit. Seit dem 08. 11. 2000 bestimmt § 1631 Abs. 2 BGB, dass »Kinder […] ein Recht auf gewaltfreie Erziehung« haben und unter anderem »körperliche Bestrafungen […] unzulässig« sind. Nicht einmal vergleichsweise harmlose Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit des Kindes wie ein paar Ohrfeigen oder Schläge aufs Gesäß sind den Eltern heute noch gestattet, mögen sie auch, wie so viele Menschen, überzeugt sein, mit solcher Züchtigung dem Wohl des Kindes am besten zu dienen und, wie in den Beispielen, zugleich Pflichten der Religion zu erfüllen. Bei dieser Rechtslage kann es nicht überzeugen, dass Germann dem Grundgesetz eine »Relativierung der körperlichen Unversehrtheit von Kindern« entnimmt mit der Begründung, sie sei »um des Elternrechts und der Religionsfreiheit willen […] dem Verhältnismäßigkeitsgebot geschuldet« (2013, S. 415). Man überlege: Wenn im Beispiel der Vater den Sohn von der Sünde der Unkeuschheit und »Selbstbefleckung« abzuhalten sucht, indem er ihm eine Ohrfeige oder eine Tracht Prügel verabfolgt, so begeht er eine rechtswidrige Körperverletzung und sieht sich mit Strafe bedroht. Wenn er ihm dagegen aus demselben religiös-erzieherischen Motiv die Vorhaut abschneiden lässt, dann soll ihm das nach Germann erlaubt sein. Das passt nicht zusammen. Interessenabwägung und Auseinandersetzung mit Carsten Schütz Bleiben wir bei der Kernfrage des Themas: Dürfen Eltern aufgrund ihres Rechtes auf »Pflege und Erziehung der Kinder« unter bestimmten Voraussetzungen auch eine Beschneidung an ihrem männlichen Kind durchführen oder durchführen lassen, selbst wenn sie medizinisch nicht erforderlich ist? Der Gesetz-

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geber von 2012 hat die Frage bejahen zu dürfen geglaubt; er sieht die Befugnis nicht neu geschaffen, sondern als eine aus Art. 6 GG folgende schon längst gegeben und von § 1631d BGB nur »klargestellt« und eingegrenzt. Richtig wäre das dann, wenn der Annahme der Beschneidungsbefugnis die richtige Abwägung zugrunde läge. Dies wiederum wäre jedenfalls dann zu verneinen, wenn man sagen müsste: Das Interesse des männlichen Kindes, an seinem Penis unversehrt zu bleiben und seine Vorhaut zu behalten, wiegt wesentlich schwerer als das Interesse seiner Eltern, das Kind auch ohne medizinische Erforderlichkeit beschneiden lassen zu dürfen. Dass das Interesse des Kindes an der Erhaltung seiner Vorhaut, die die Eichel schützt und für das sexuelle Empfinden äußerst wichtig ist, dass sein Interesse, verschont zu bleiben von Operations- und Wundheilungsschmerzen, von Komplikationsrisiken, von der Gefahr eines Traumas und andauernder Beeinträchtigung seines Sexuallebens, dass dieses Interesse ein sehr, sehr gewichtiges ist, brauche ich hier nicht zu begründen. Die Mediziner können es besser und tun es eindrucksvoller. Was sie sagen, findet traurige Bestätigung in hunderten von öffentlichen Äußerungen der jüngsten Zeit, abgegeben von Jugendlichen und Erwachsenen, die als Kind beschnitten wurden und dies bitter beklagen. Wer hier in Unkenntnis der körperlich-seelischen Auswirkungen einer Zirkumzision am männlichen Glied nicht richtig gewichtet, kann nur falsch abwägen. So ergeht es zum Beispiel Robert Spaemann, der die Beschneidung als Lappalie hinstellt, vergleichbar einer Masernimpfung, und dann befindet: »Falls man die Sache überhaupt zu einem Grundrechtskonflikt hinaufsteigern will, kann die Abwägung nur zugunsten der Freiheit der Eltern ausfallen« (2012, S. 50). Oder Alice Schwarzer in einem Internetbeitrag vom 02. 07. 2012. Sie anerkennt die Beschneidung als »Verletzung der körperlichen Unversehrtheit eines Kindes«, aber nur als »eine sehr, sehr geringe«; es handle sich »um einen sehr kleinen Eingriff, der […] innerhalb weniger Tage verheilt.« Dieser unverzeihlich leichtfertigen Fehlbeurteilung ist es dann adäquat, schon »hygienische Gründe […] unabhängig von Religion und Kultur«, für die Rechtfertigung des Eingriffs genügen zu lassen. Wobei selbst dagegen noch zu sagen wäre, dass Eltern in Deutschland gefälligst Wasser und Seife benutzen sollen, statt ihrem Jungen die Vorhaut abzuschneiden. Besonders weit daneben greift der Sozialrichter Carsten Schütz (2012). Hier lohnt sich eine nähere Betrachtung. Denn seine Polemik gegen jedwede Kritik am Beschneidungsrecht der Eltern ist typisch für viele Diskussionsbeiträge. Begrenztheit und Voreingenommenheit erlauben es Schütz, auch den gründlichsten Aufsatz mit einer läppischen Fußnote beiseitezuschieben und die verfassungsrechtlichen Ausführungen darin zu ignorieren, weil sie ihm nicht in

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sein Ich-weiß-alles-besser-Konzept passen. Auf dieser Grundlage fällt er dann seine Urteile. Sein erstes Urteil wirft dem Landgericht Köln »die Missachtung des Grundgesetzes durch selektive Wahrnehmung« vor, und zwar mit der originellen Begründung, es sei hier der Grundsatz »nulla poena sine lege parlamentaria« (»keine Strafe ohne ein parlamentarisch beschlossenes Gesetz«) entscheidend. Darauf ist sonst noch niemand gekommen. Schütz meint, die schwere und komplikative Penisverletzung im Kölner Fall sei so weit weg von allen Paragrafen des StGB, dass das Landgericht Köln die rechtswidrige Verwirklichung eines Straftatbestandes durch den angeklagten Arzt nur ins Blaue hinein, ohne gesetzliche Grundlage, habe behaupten können. Es hätte, schreibt Schütz, »ein Freispruch schon wegen Verstoßes gegen das Bestimmtheitsgebot erfolgen müssen«, womit wohl gemeint ist, dass die Strafkammer hätte sagen müssen, sie finde gar keine gesetzliche Bestimmung, die für rituelle Jungenbeschneidungen als Strafgrundlage in Betracht komme. Das ist eine abwegige Belehrung. Die gesetzliche Bestimmung ist der § 223 StGB, und es geht auf dessen Grundlage allein um die Frage, ob die vom Angeklagten begangene Körperverletzung rechtmäßig oder rechtswidrig war. Schütz glaubt, auf das Bestimmtheitsgebot pochen zu müssen, weil die religiös motivierte Beschneidung »in weit über 100 Jahren der Geltung der angewandten Strafrechtsnorm noch niemals als strafwürdiges Verhalten bestimmt worden ist«. Da vermisse ich die handwerkliche Qualität einer Urteilskritik, die wissenschaftlich zu sein beansprucht. Schütz hätte doch sehen müssen – und hat es übersehen! –, dass bei rituellen Beschneidungen der Vergangenheit fast nie die Voraussetzungen der Rechtmäßigkeit erfüllt waren, die für körperverletzende und riskante Operationen gelten (s. Auseinandersetzung mit Michael Germann). Und ich möchte unterstellen dürfen, dass auch er zum Beispiel in einer orthodox-jüdischen Beschneidung, ausgeführt von einem Nichtarzt, ohne Betäubung, ohne steriles Skalpell und mit oraler Blutabsaugung, eine rechtswidrige Körperverletzung gesehen hätte, einerlei, ob im Jahre 2012, 1960 oder anno 1900 ausgeführt. Aber selbst wenn alle die traditionell geduldeten Beschneidungen als kunstgerechte ärztliche Operationen nach umfassender Aufklärung der Eltern über alle Risiken vollzogen worden wären, hätte sich der Justiz jederzeit eine »gesetzliche Bestimmung«, eben § 223 StGB, angeboten, auf deren Grundlage sie hätte prüfen können, ob rituelle Vorhautamputationen wirklich gerechtfertigt seien. Zum Vergleich noch einmal die Annahme, es hätte im Jahre 1955 nach einer Strafanzeige ein fortschrittlicher Staatsanwalt ein Exempel zu statuieren versucht mit einer Anklage wegen Körperverletzung, und denken wir uns hinzu, dass es wie im Kölner Fall am Ende zum richterlichen Freispruch kommt, mit der Begründung, der Angeklagte habe mit der erziehe-

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rischen Verprügelung seines Sohnes zwar eine rechtswidrige Körperverletzung begangen, er sei aber wegen Verbotsirrtums entschuldigt. Mag sein, dass man sich unisono empört hätte mit der Begründung, Staatsanwalt und Richter hätten für diese Körperverletzung das »Züchtigungsrecht« der Eltern zu Unrecht verneint. Dieses habe eine mehrtausendjährige Tradition und schon die Bibel weise es als gottgegeben aus. Die beiden Herren hätten nur die Sprüche Salomos (13,1.24; 19,18) und den Hebräerbrief (12,5–7) lesen und diesen Gottesworten »Ehrfurcht« erweisen müssen. So töricht die Kritik gewesen wäre, den beiden Juristen eine Missachtung des Art. 103 Abs. 2 GG vorzuhalten wäre gewiss niemandem in den Sinn gekommen. Man hätte eben nur gesagt: Hier gilt ein Rechtfertigungsgrund, den ihr zu Unrecht verneint habt. Was Schütz gänzlich verkennt, ist etwas Elementares und jedem Juristen, der in seinem Fach zu Hause ist, Selbstverständliches: Staatsanwaltschaften und Gerichte können ihre Ansichten ändern. Sie können bestimmte Taten, die sie vielleicht jahrzehntelang knapp als sozialadäquat oder gerechtfertigt betrachtet und nicht verfolgt haben, jederzeit anders beurteilen und feststellen, dass das fragliche Verhalten in Wahrheit zumindest ein rechtswidriges (wenn auch nicht unbedingt schuldhaftes) ist. Und Schütz verkennt ferner, dass ein Richter ja auch erstmalig vor einer Rechtsfrage stehen kann (wie Richter Beenken in Köln) und dass er dann in seinem Urteil unabhängig ist, selbst von einer »gefestigten« höchstrichterlichen Ansicht. Schütz bemängelt das Kölner Urteil am Ende mit den Worten, es sei »handwerklich miserabel, weil argumentativ völlig unzulänglich«. Als Selbstkritik, bezogen auf den eigenen Aufsatz, wäre das passender. Das Landgericht und die Autoren (vor allem Putzke und Herzberg), denen es folgt, beginnen mit einer Wertung, die für Juristen, wenn sie ihr Handwerk verstehen, selbstverständlich ist: Das Abschneiden der Vorhaut erfüllt den Tatbestand des § 223 StGB, wie dies ja seit jeher schon für das Abschneiden eines Zopfes (der wieder nachwächst!) anerkannt war. Aber Schütz macht daraus, dass die so wertenden Juristen »religiöses Handeln […] mit Füßen getreten und […] als Misshandlung herabgewürdigt« haben. Er sollte wissen, dass das Abschneiden der Vorhaut eines Säuglings eine furchtbare »körperliche Misshandlung« i. S. des § 223 StGB ist, dass also jede Möglichkeit entfällt, es dazu »herabzuwürdigen«, und kein religiöses Handeln »mit Füßen getreten« wird, wenn man es vollkommen zutreffend einem Straftatbestand subsumiert. Schütz wirft seinen Gegnern vor, sie hätten das Verfassungsrecht missachtet: Putzkes »den Vorrang der Verfassung höflich missachtendes strafrechtliches Urteil«; von Herzberg »kein Wort zur Grundrechtskollision und dem verfassungsdogmatischen Werkzeug zu dessen Auflösung«. Das ist unter Juristen

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ein schwerer Vorwurf. »Aber das Gewicht des Vorwurfs befreit Sie nicht von der Aufgabe, den Vorwurf zu begründen«, halte ich Schütz entgegen, mit den Worten Harald Martensteins (2013, S. 6), dessen Glosse »Über den Unterschied zwischen Kritik und Beschimpfung« zu lesen ich jedem Polemiker empfehle. Schütz selbst ist es, der nicht sieht, worum es verfassungsrechtlich geht und was seine Gegner, das Grundgesetz vor Augen, längst als die entscheidende Frage erkannt haben: Ist es wirklich wichtiger, seinem Kind aus religiösem Grund die Vorhaut abschneiden zu dürfen, als das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit achten zu müssen? Darauf hätte Schütz eine begründete Antwort geben müssen. Aber statt dies zu tun, hält er seinem Gegner, dem bayerischen Beamten Holm Putzke, die »obersten Erziehungsziele« des Freistaats vor: Dessen Verfassung gebiete die »Ehrfurcht vor Gott« und die »Achtung vor religiöser Überzeugung«. Ehe man so was hinschreibt, sollte man nachdenken: Religiöse Überzeugungen achten zu müssen, kann nicht die Pflicht umfassen, Körperverletzungen gutzuheißen, die im Namen der Religion verübt werden. Und das Ehrfurchtsgebot ist gegenstandslos, sollte Putzke Atheist sein. Sollte er aber an Gott glauben, so könnte er gerade deshalb und umso entschiedener dafür kämpfen, dass man wehrlose Kinder nicht körperlich misshandle, dass man vielmehr ihr so überaus gewichtiges Interesse, von Schmerzen, drohenden Komplikationen und lebenslanger Körpereinbuße verschont zu bleiben, ehrfurchtsvoll achte. Auch ich vermag meinen Gott, dem ich Ehrfurcht schulde, nicht zu erkennen in jenem archaischen Wüstengott, der befiehlt, dass man Sodomiten töte und Kindern die Vorhaut abschneide. Das Kindeswohl als elterliches Interesse Bedenkt und erwägt man nun, nach der Gewichtung des kindlichen Interesses am Unversehrtbleiben, das Gegeninteresse der Eltern, sich für die Beschneidung zu entscheiden und sie »durchführen« (vgl. § 1631d BGB) zu lassen, so ist es wichtig, Folgendes zu betonen: Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG gewährt und schützt diese Freiheit von vornherein nur insoweit, wie die Beschneidung, als ein Akt der »Pflege« oder der »Erziehung« des Kindes, dessen Wohl befördert. Das hat auch der Gesetzgeber mit § 1631d BGB akzeptiert. Denn diese auf Art. 6 GG fußende Vorschrift lässt die Einwilligung der Eltern nur als »Personensorge« (= »Sorge für die Person des Kindes«, § 1626 Abs. 1 S. 2 BGB) berechtigt sein, und alle »elterliche Sorge« ist laut § 1627 S. 1 BGB »zum Wohl des Kindes auszuüben«. Es geht also bei der Gegenüberstellung der beiden Grundrechte im Fall der Beschneidung im Grunde um die Abwägung der Interessen ein und derselben Person. Denn die Eltern stehen vor der Frage, ob sie ihr Kind körperlich

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verletzen dürfen, obwohl sie von ihm nicht angegriffen werden, sich also in keiner Notwehrlage befinden. In dieser Situation sind sie allein der »Pflege«, der »Erziehung« und dem »Wohl des Kindes« verpflichtet und dürfen sich nur für das einzige oder das überwiegende Interesse des Kindes entscheiden. Hier liegt ein Unterschied zur Entscheidungskompetenz der Eltern dort, wo es nicht um die Frage erlaubter oder verbotener Körperverletzung geht, sondern etwa um die Wahl der Schule oder die berufliche Weichenstellung. Als mit dem »Wohl des Kindes« vereinbar betrachten wir dort auch Entscheidungen der elterlichen Sorge, die primär einem Elterninteresse dienen, etwa dem Anliegen, dass der Sohn die elterliche Bäckerei weiterführe. Der klare Fall einer »Pflege« des Kindes durch seine Beschneidung, einer »zum Wohl des Kindes« erteilten Einwilligung, ist natürlich dann gegeben, wenn der Eingriff um der Gesundheit des Kindes willen akut geboten ist. Hier ist der ärztlichen Beurteilung auch durchaus ein Spielraum zuzubilligen, und das elterliche Grundrecht kann die Freiheit geben, sich gegen, aber auch – zulasten des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit! – sich für die Beschneidung zu entscheiden. Alle anderen Fälle, also die außerhalb der medizinischen Erforderlichkeit oder Vertretbarkeit, sind problematisch. Zu beurteilen sind sie nach folgender Regel: Die Eltern dürfen kraft ihres Grundrechtes die Beschneidung veranlassen, wenn erstens auch das Kind ein Interesse hat, dem die Beschneidung dient, und es zweitens vertretbar ist, diesem Interesse den Vorrang zu geben vor dem gewaltigen anderen Interesse des Kindes, dass man ihm kein Leid antut und ihm dieses wichtige Stück seines Körpers erhält. Die erste Voraussetzung kann man vielleicht, mit einiger Anstrengung, generell als erfüllt ansehen im Hinblick auf einen Aspekt, den die Beschneidungsbefürworter hervorzukehren niemals versäumen: Die Sauberhaltung der Eichel fällt, vor allem im frühkindlichen Alter, etwas leichter, ist also bei beschnittenem Glied etwas besser gewährleistet, und die Statistik spricht dafür, dass bestimmte Krankheiten bei Unbeschnittenen etwas häufiger auftreten als bei Beschnittenen (was für AIDS übrigens nicht gilt: Die USA haben eine besonders hohe AIDS-Quote, obwohl hier besonders viele Männer beschnitten sind. Der Grund: Beschnittene verabscheuen Kondome, weil ihr sexuelles Empfinden abgeschwächt ist und bei Kondombenutzung fast gänzlich schwindet. Damit entfällt der wichtigste Schutzfaktor gegen die Ansteckung mit AIDS). Man mag hier, auch in Deutschland, im weitesten Sinn einen »Gesundheitsgewinn« anerkennen, der für das Kind vorteilhaft ist, aber viele Ärzte sagen, dass er bereits ausgeglichen werde durch den »Gesundheitsverlust«, den das Kind schon durch die schwere Verletzung als solche und durch die Entfernung einer schützenden Hülle erleide; denn die Eichel erfährt ungute Veränderungen, die ihr bei unbeschnittenem Glied erspart bleiben.

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Wie dem auch sei, es kommt am Ende entscheidend auf die zweite Voraussetzung an. Sie ist nicht erfüllt, wenn das Interesse des Kindes am Verschontbleiben und am Erhalt seiner Vorhaut wesentlich schwerer wiegt als das Interesse des Kindes, beschnitten zu werden. Im Licht dieser Fragestellung fällt an der Argumentation der Beschneidungsbefürworter etwas auf, worauf den Finger zu legen man bisher versäumt hat. Man sollte doch erwarten, dass diese Leute mit den Leiden und Nachteilen jener Kinder argumentieren, denen die Beschneidung versagt geblieben ist. Denn ihre Gegner tun ja umgekehrt genau dies mit Blick auf die durchgeführte Beschneidung. Aber soweit ich sehe, pflegt niemand, dessen Penis normal beschaffen ist, unter seinem Präputium zu leiden, auch kein Jude oder Moslem, und niemand benennt oder zitiert andere, die sich bei gesundem Penis darüber beklagen, nicht oder nicht rechtzeitig beschnitten worden zu sein. So gut wie überhaupt nicht wird in der Diskussion auch nur als abstrakte Behauptung ins Feld geführt, dass diejenigen Eltern, und seien es jüdische und muslimische, die sich gegen die Beschneidung entscheiden, ihrem Kind irgendwelche gesundheitlichen oder seelischen Nachteile zufügen. Beiseite lasse ich hier Äußerungen der metaphysischen Spekulation, die man hie und da zu lesen oder zu hören bekommt; zum Beispiel dass dem Kind, wenn es dank seiner Beschneidung nicht onaniere, auch keine göttliche Strafe drohe; oder die Geschenk-Theorie des Rabbiners Yitshak Ehrenberg, der die Versagung des Gottesbundes, den nur die Beschneidung stifte, für schlimmer hält als die »physische Vernichtung« des Kindes. Solche Begründungen sind nicht würdig, dass man sich damit befasst. – Wo also sollten wirkliche Nachteile liegen, wenn überall Wasser und Seife zur Verfügung stehen, die religiöse Erziehung unter einer Vorhaut gewiss nicht zu leiden hat und keine Gemeinde die An- und Aufnahme eines Kindes von dessen Beschneidung abhängig macht? Und selbst wenn die Gemeinden es täten oder sie doch die Nichtbeschnittenen eine Art Außenseitertum oder Zweitrangigkeit schmerzlich spüren ließen: »Aus der bloßen Rigidität«, sagt Thomas Fischer (2013, Rn. 50) sehr zu recht, »mit welcher eine soziale Gruppe ihre internen Regeln gegen Mitglieder durchsetzt, ergibt sich kein rechtlich tragfähiger Rechtfertigungsgrund für Verletzungshandlungen, die hierdurch erzwungen werden sollen«. Ich habe nur einen einzigen Beitrag gelesen, dessen Autor zu ahnen scheint, was er behaupten muss, um das gewünschte Abwägungsergebnis präsentieren zu können. Es ist dies der bereits (unter »Die rituelle Beschneidung als erlaubte Religionsausübung«) erwähnte Aufsatz des Landesbischofs a. D. Johannes Friedrich. Darin heißt es tatsächlich, der Sohn jüdischer Eltern nehme an seiner »seelischen Unversehrtheit« Schaden und sehe »sich seiner religiösen Heimat« beraubt, wenn er seinen intakten Penis betrachtet und »feststellen muss, dass

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sein Vater einer zentralen religiösen Pflicht nicht nachgekommen ist«. Ja, mit einem seelischen Schaden, den nur die Beschneidung verhindern kann, ließe sich was anfangen. Er würde ein Gegengewicht hergeben, ihn könnte man den Beschneidungskritikern, die mit den Leiden der Beschneidungsopfer argumentieren, entgegenhalten. Aber Friedrich kann seine Behauptung mit nichts belegen und mit keinem Zeugnis glaubhaft machen. Jeder erkennt es als die allein realistische Annahme, dass der junge Jude, der seine Vorhaut betastet, seinem Vater dankbar sein wird; er hat noch diesen hocherogenen Körperteil, er hat die Wahl, er kann noch selbst bestimmen, während so mancher andere, selbst wenn er keine körperlichen Beschwerden hat, es seinen Eltern als Missachtung seiner Würde und als Anmaßung vorwirft, dass sie in seiner eigenen und intimsten Angelegenheit nicht später ihn selbst haben entscheiden lassen und ihm ein wichtiges Stück seines Körpers unwiederbringlich geraubt haben. Nein, die Argumentation der Beschneidungsbefürworter lautet ganz anders. Zugunsten eines elterlichen Rechtes, ohne medizinische Erforderlichkeit die Beschneidung zu veranlassen, werden, was ja an sich auch naheliegt, rein elterliche Interessen angeführt. Zugespitzt formuliert: Die Beschneidung wird nicht als Kindes-, sondern als Traditions- und Religionspflege gerechtfertigt. Hier liegt der Grund, weshalb die Kritiker des Kölner Urteils sich spontan und hauptsächlich auf die Religionsfreiheit der Eltern (und nicht auf deren Pflege- und Sorgerecht) berufen haben. Man behauptet gar nicht erst, dass das Kind darunter litte, wenn es nicht beschnitten würde, sondern beruft sich immer nur darauf, dass es doch für andere, vor allem für die Eltern und engagierte Religionsführer, bitter und schmerzlich sei, ein heilig-überliefertes Ritual ihrer Religion nicht vollziehen zu dürfen. Ich will diesen Schmerz nicht gering achten, aber er kann bei der entscheidenden Abwägung nicht ins Gewicht fallen. Die Beschneidung dient ja nicht deshalb der »Pflege« und dem »Wohl« des Kindes und sie ist nicht deshalb »Sorge für die Person des Kindes«, weil der Vollzug des Rituals andere Menschen beglückt und ihr religiöses Bedürfnis befriedigt. »Wenn die Eltern«, sagt Tonio Walter, »die Beschneidung unbedingt wollen, aus welchen Gründen auch immer, so mag sie deren innerem Wohl dienen. Aber das ist nicht das Wohl des Kindes« (2012, S. 1114). In der Tat, und man kann es noch entschiedener sagen: Die Beschneidung ist das Gegenteil von »Pflege« und sie fördert nicht das »Wohl des Kindes«, sondern sie mindert es in ganz erheblichem Maße. In bedrückender Weise deutlich macht das der schon erwähnte, von einem Familiensenat des Oberlandesgerichtes Hamm zu beurteilende Fall (Beschluss v. 30. 08. 2013, Aktenzeichen 3 UF 133/13). Es ging um das Wohl und den Schutz des sechsjährigen G. Seine Eltern, beide Kenianer, waren verheiratet und sind geschieden. G. lebt bei seiner Mutter, die seit der Scheidung allein sorgeberech-

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tigt ist. Die Eltern streiten vor Gericht in einem »einstweiligen Anordnungsverfahren« (gemeint: in einem Verfahren der einstweiligen Anordnung) um das Recht der Mutter, seine Beschneidung zu veranlassen. Der Vater sucht die Zuerkennung dieses Rechtes zu verhindern, weil er gegen die Beschneidung ist, die Mutter will es zurückgewinnen, nachdem das Amtsgericht Dortmund es ihr entzogen und auf das Jugendamt als »Ergänzungspfleger« übertragen hat. Sie beruft sich – nach der Darstellung im Senatsbeschluss – auf § 1631d BGB und begründet ihr Vorhaben wie folgt: Zusammen mit G. besuche sie regelmäßig ihr Heimatland. Er solle »entsprechend dem in Kenia kulturell üblichen Ritus beschnitten werden, da er bei seinen Besuchen dort ansonsten – auch von seinen Verwandten – nicht als vollwertiger Mann angesehen werde. In Afrika sei das so, alle Jungen müssten das machen. In jedem Telefonat mit ihren Verwandten in Kenia, mit denen sie eng verbunden sei, werde sie gefragt, ob ihr Sohn G nun endlich beschnitten sei« (Rn. 8, 35). Man kann wohl sagen, dass die Lebenswirklichkeit mit diesem Fall dem Gesetzgeber und dem Gesetz eine Bewährungsprobe verschafft hat. Ablesbar an der Gesetzesbegründung ist es der Geist und Sinn des § 1631d BGB, der Mutter die Einwilligungsmacht zu geben und ihrem Beschneidungsbegehren zur Verwirklichung zu verhelfen. Die »Personensorge« wurde nach der Scheidung allein der Mutter zugewiesen, und davon umfasst ist nach § 1631d Abs. 1 S. 1 BGB auch das Recht, einzuwilligen in eine Beschneidung nach den Regeln der ärztlichen Kunst, wie sie hier erstrebt wird. Das Gesetz, betont die Begründung, »differenziert […] nicht nach der Motivation der Eltern«, nicht nur religiöse, auch ethnisch-kulturelle oder familiär-traditionelle Gründe dürfen die sorgeberechtigte Person motivieren. Nach allem, was der Gesetzgeber an Gedanken und Argumenten vorgetragen hat, müsste hier die für das Kind allein verantwortliche Mutter – nach hinreichender ärztlicher Aufklärung sowie Erfragung und Gewichtung des Kindeswillens – entscheiden dürfen. Das heißt: Das ihr vorläufig aberkannte Recht, wirksam einzuwilligen in eine lege artis durchzuführende Beschneidung des G., müsste ihr, wie sie es fordert, wieder zuerkannt werden. Eine auf dieser Grundlage durchgeführte Beschneidung wäre dann eine rechtmäßige Körperverletzung und als mit dem Wohl des Kindes vereinbar zu bewerten. So die Fiktion des Gesetzes. In Wahrheit aber wäre die Zirkumzision dem Wohl des Jungen schwer abträglich, denn eine solche Operation ist qualvoll, sie entfernt irreversibel ein schützendes, sexuell wichtiges Körperstück und ist mit beträchtlichen Komplikationsrisiken behaftet. Was die Mutter vorbringt, das sind ja bei Lichte besehen auch gar keine Argumente, dass ihrem Kind die Beschneidung zum Wohl gereiche, sondern sie sagt nur, dass es sie selbst und ihre Verwandten erfreuen und zufriedenstellen würde, wenn endlich dem heimatlichen Brauch Genüge geschähe.

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So trivial und borniert wird ein ethnisch-kulturell motivierter Beschneidungswunsch wohl meistens sein. Aber § 1631d BGB gibt auch ihm seinen Segen und will wahrhaben, dass bei einem so normalen Motiv wie dem der Antragstellerin das Kindeswohl durch die Beschneidung nicht gefährdet werde. Nun betrachte man das gesamte familienrechtliche Verfahren mit dem vorläufigen Schlusspunkt des unanfechtbaren OLG-Beschlusses! Mit Ausnahme der Mutter sehen alle Beteiligten, der Vater, das Amtsgericht, das Jugendamt, die Gutachterin und jetzt auch der Senat, das Kindeswohl bedroht, wenn es nach dem Willen der Mutter ginge und ihr tatsächlich das Recht, nach der gerichtlichen Entziehung, wiedereingeräumt würde. Es war zu erwarten, dass der Senat diese Vorschrift als verfassungskonform und gültig akzeptiert. Aber über ihren Sinn setzt er sich hinweg, indem er normale Gegebenheiten und Möglichkeiten betont und im Hinblick auf sie den Ausnahmefall annimmt, dass »durch die Beschneidung […] das Kindeswohl gefährdet wird« (§ 1631d Abs. 1 S. 2 BGB). Zum Beispiel weist er auf die Gefahr hin, dass es zur Einwilligung und zum Eingriff kommen werde ohne umfassende ärztliche Aufklärung und ohne ernsthafte Erkundung und Würdigung des Kindeswillens (Rn. 32, 29). Aber das muss man immer befürchten, und gerade hier war die Gefahr leicht zu bannen. Der Senat hätte nur dafür sorgen müssen, dass in mündlicher Verhandlung die Mutter über den Eigenwillen ihres Kindes und über die Auswirkungen und Risiken der Zirkumzision hinreichende Aufklärung erhielt. Offenbar wollte er nicht, dass hier ein Argument gegen die Wiedereinräumung des Rechtes wegfiel – weil er wusste, dass auch die aufgeklärteste Einwilligung der Mutter unvernünftig wäre und dem Kind nicht zum Wohle, sondern zum Schaden gereichen würde. Ferner betont er, dass die Mutter der Operation nicht beiwohnen wolle und sich dies »ausgesprochen negativ auf die Psyche des Kindes auswirken« könne (Rn. 41). Und er macht sich die Ausführungen einer Sachverständigen zu eigen, dass das evangelisch getaufte Kind »durch den […] Eingriff in dem sein Alltagsleben weit überwiegend prägenden deutschen Kulturkreis anders behandelt würde als die große Mehrzahl seiner etwa gleichaltrigen Kontaktpersonen«, dass »ein Verständnis des Kindes für den Sinn des irreversiblen Eingriffs nicht zu erwarten sei« und dass G. hierüber schließlich selbst »in einigen Jahren eigenverantwortlich […] entscheiden könne« (Rn. 40). Das ist alles wahr, berührt aber nicht den Hauptgrund, weshalb dem Kind der Eingriff erspart bleiben sollte. Denn der Senat vermeidet es, seinen ablehnenden Beschluss mit den gravierendsten Beeinträchtigungen und Gefährdungen des Kindeswohls zu begründen, also mit Schmerz, Körperverlust und Komplikationsrisiken. Denn ihm ist bewusst, dass diese Begründung dem Gesetzgeber gleichsam ins Gesicht schlüge und

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den § 1631d BGB offen missachten würde. Aber den Sinn der Vorschrift missachtet auch die gewählte Begründung, weil alles, was der Senat anführt, völlig normal ist bei einer vom Sorgeberechtigten ernsthaft gewollten Beschneidung eines in Deutschland lebenden Kindes. In der OLG-Entscheidung hat sich ein von allen (außer der Antragstellerin) empfundenes Schutzbedürfnis durchgesetzt gegen eine Regelung, die den Schutz des Kindes nicht will, um statt seiner die sorgeberechtigte Person zu schützen, nämlich in ihrem Interesse an der rituellen Misshandlung des kindlichen Körpers. Ich sehe in dem Beschluss ein Anzeichen, dass dem Gesetzgeber keine überzeugende Regelung gelungen ist und die Praxis sie immer wieder durch gesetzessinnwidrige Bejahung der Kindeswohlgefährdung (§ 1631d Abs. 1 S. 2 BGB) zu umgehen suchen wird. Für Necla Kelek geht mit der Inkraftsetzung des § 1631d BGB »ein Stück der aufgeklärten Zivilgesellschaft zu Ende«. Es war »bisher undenkbar […], dass das Grundrecht auf Unversehrtheit der Person einem wie auch immer begründeten religiösen Ritual […] geopfert wird. Religionsausübung ist nicht mehr ein Teil der durch die Verfassung garantierten Freiheit, sondern steht […] fortan über ihr. Das Kindeswohl wird als Verfügungsrecht über das Kind definiert« (2012b, S. 74). Aus demselben Geist heraus (der der Geist unserer Verfassung ist!) protestiert Thomas Fischer: »Es geht nicht um Verwirklichung der Selbstbestimmung der Sorgeberechtigten, sondern um das Kindeswohl. […] Dieses ist aber nicht eine Mischung aus elterlicher Selbstverwirklichung, Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit […], sondern eine eigenständige, an der physischen und psychischen Integrität des kindlichen Individuums ausgerichtete Position. Hinter diesen Grundsatz sollte man nicht zurückfallen« (2013, Rn. 48). Wolfram Höfling und seine »kriteriologische Operationalisierung« Anders sieht es der Staatsrechtler Wolfram Höfling. Das Problem liege in einem »pentagonalen Konfliktfeld«, die Lösung verlange eine »kriteriologische Operationalisierung«. Drei Kriterien benennt er: das »Intensitäts-«, das »Modalitäts-« und das »Kommunikabilitäts-Kriterium«. In ihrer Anwendung trifft Höfling – der Reihe nach – folgende Feststellungen: »Der Eingriff in die physisch-psychische Integrität ist lediglich von relativer Schwere und grundsätzlich beherrschbar. Die ›Evidenz normaler Lebenswege‹ von mehreren 100 Millionen beschnittener Männer lässt sich nur ›widerlegen‹ durch wirkliche valide Daten über gravierende Traumatisierungen.« – »Die Beschneidung bewirkt durch ihre Einbettung in einen kulturellen und religiösen Kontext i. d. R. keine Diskriminierungs- oder Demütigungswirkung« (wozu die »weibliche Genitalverstüm-

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melung« ein Gegenbeispiel bilde). – »Als seit Jahrhunderten bzw. Jahrtausenden tiefverwurzelte Praxis vermittelt gerade die religiös motivierte Zirkumzision den belastbaren Eindruck ›ernsthafter‹ existenzieller Überzeugung« (Höfling, 2013). Höfling will im Zuge seiner »kriteriologischen Operationalisierung« einleuchtend machen, dass »durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Neuregelung« in § 1631d BGB nicht bestehen, dass also Eltern, jedenfalls bei religiöser Motivation, auch ohne medizinische Indikation das Präputium ihres Sohnes amputieren lassen dürfen. Dafür bringt er vor: nur relativ schwerwiegend und »grundsätzlich beherrschbar« (womit wohl die Vermeidbarkeit von Komplikationen gemeint ist), nicht diskriminierend und nicht demütigend, seit langer Zeit »tiefverwurzelte Praxis« und getragen von »›ernsthafter‹ existenzieller Überzeugung«. Das ist ganz im Sinne der Religionsführer, die sich zur Verteidigung des fraglichen Brauches öffentlich geäußert haben und eine schwerwiegende Folge der Körperverletzung zu übergehen pflegen. So gibt sich jetzt auch Höfling »keine Rechenschaft über die Schwere des Eingriffs […]. Der Verlust einer erogenen Zone wird ebenso wenig berücksichtigt wie die dem Eingriff folgende Desensibilisierung der Eichel« (Scheinfeld, in diesem Buch, S. 378). Aber hier geht es mir um etwas anderes. Meine Kritik an der religionspolitischen Forderung der Religionsführer und an der Vorschrift, die sie erreicht haben, hat einen Punkt vernachlässigt, der zu bedenken bleibt und den ich Höfling zu bedenken gebe: das Gebot, Gleiches gleich zu behandeln und insbesondere niemanden wegen seines Geschlechtes oder wegen seines Glaubens zu benachteiligen (Art. 3 GG). Was die Religionssprecher gefordert und in Gestalt des § 1631d BGB durchgesetzt haben, ist ja nur eine ganz eng begrenzte Erlaubnis, aus religiösem Grund Kinder, wie § 223 StGB es ausdrückt, körperlich zu misshandeln und an der Gesundheit zu schädigen. Kraft elterlicher Einwilligung erlaubt sein kann nur gerade die körperliche Misshandlung und Gesundheitsschädigung, die in der »Beschneidung des […] männlichen Kindes« (§ 1631d BGB) besteht, womit allein die Total- oder Teilamputation der Penisvorhaut gemeint ist. Für keine einzige andere religiös motivierte Körperverletzung wurde das Gleiche verlangt und vom Gesetzgeber beschlossen. Sogar die direkt benachbarte Mädchenbeschneidung blieb, auch als ein von den Eltern gewollter religiöser Akt und selbst wenn auswirkungsschwächer als die männliche Zirkumzision, unumstritten, das heißt sie blieb als eine schändliche »Verstümmelung« der »äußeren Genitalien« (vgl. jetzt § 226a StGB) verpönt. An sich ist diese Aufrechterhaltung von Verbot und rechtlichem Schutz natürlich zu begrüßen, aber ebenso natürlich muss es Anstoß erregen, dass eine schwerwiegende Verletzung des männlichen Sexualorgans freigegeben ist, während bei weiblichen Kindern sogar deutlich leichtere Genitalverletzungen (z. B. das Anritzen oder Durchstoßen der Scham-

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lippen oder das Entfernen der Klitorisvorhaut) verboten geblieben sind und nach dem neuen § 226a StGB als Verbrechen verfolgt werden. Was das bedeutet, zeigt Scheinfeld (mit literarischen Nachweisen) in diesem Buch (S. 367 f.) am Beispiel schafi’itischer Eltern, die ihre verschiedengeschlechtlichen Zwillinge beschneiden lassen wollen: »Die Schafi’iten bilden eine Rechtsschule im Islam und beschneiden aus religiösen Gründen sowohl dem Knaben die Penisvorhaut als auch dem Mädchen die Klitorisvorhaut […]. Die beiden Eingriffe in den kindlichen Körper wiegen zumindest gleich schwer […]. Dennoch sagt das heutige einfache Recht den schafi’itischen Eltern: Die Penisvorhaut dürft ihr beschneiden, die Klitorisvorhaut nicht. Für diese Ungleichbehandlung gibt es keinen Sachgrund.« Gibt es einen befriedigenden Ausweg? Armin Steinbach glaubt ihn gefunden zu haben. Er teilt mit Argumenten, die denen Höflings gleichen, dessen Standpunkt, dass die rituelle Jungenbeschneidung in Grenzen erlaubt sein solle und »der Gesetzgeber eine verfassungskonforme Regelung geschaffen« habe. Aber unter dem Druck des grundgesetzlichen Verbotes der Benachteiligung von Jungen wegen ihres Geschlechtes (durch auf sie beschränkte Aufhebung strafrechtlichen Schutzes) und von manchen Eltern wegen ihres besonderen Glaubens (durch Aufrechterhaltung des strafrechtlichen Schutzes der Mädchen) weicht er in Sachen Mädchenbeschneidung von Höfling ab. Er sucht die Lösung gleichsam in einer Flucht nach vorn, indem er die analoge Anwendung des § 1631d BGB verlangt auf Fälle »der religiös motivierten Beschneidung der Klitoris, die hinsichtlich ihrer Auswirkungen mit der Beschneidung der Vorhaut vergleichbar ist« (Steinbach, 2013, S. 9 f.). Das ist in die »Freigabe«-Richtung konsequent und vermeidet den Fehler, den Höfling macht. Denn der behauptet, eben um der Konsequenz zu entgehen, im Hinblick auf die »weibliche Genitalverstümmelung« pauschal »demütigende und diskriminierende Begleiterscheinungen bzw. Motivationen elterlichen Verhaltens« (2013, S. 465). Steinbach sieht das mit Recht anders und hat den Mut zur Konsequenz. Aber man bedenke den Preis, den er zahlt! Von ein paar schafi’itischen Zuwanderern abgesehen sind in Deutschland alle gegen die Gestattung der Mädchenbeschneidung, auch wenn religiös motiviert und technisch korrekt ausgeführt, und die Notwendigkeit strenger Bestrafung (vgl. § 226a StGB) steht außer Streit. So wage ich zu behaupten, dass sogar Steinbach selbst die Rechtfertigung, die er folgerichtig annimmt, lieber nicht annehmen müsste und es ihn als zuschauenden Zeugen empören würde, wenn Eltern von ihrer Verstümmelungserlaubnis tatsächlich Gebrauch machen. Und es ist ja nicht einmal damit getan, dass man angesichts des Gleichbehandlungsgebotes die Integrität des weiblichen Genitals preisgibt. Wenn das Erlaubtsein der rituellen Jungenbeschneidung Prämisse und Ausgangspunkt ist,

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dann muss man die Erlaubnis ausdehnen auf alle religiös geforderten Verletzungen des Kindes, die nach Schmerzen, Risiken und Dauerfolgen nicht schwerer wiegen als die Zirkumzision. Stellen wir uns beispielhaft vor, eine christliche Sekte interpretiert den Beschneidungsbefehl des alttestamentarischen Gottes eigenwillig »im Geiste des Neuen Testaments«. Das »Zeichen des Bundes«, getragen am Fleische, soll einen Bund mit Jesus besiegeln und als eine Narbe in Kreuzesform dem Rücken eingeschrieben sein. Entsprechend beschneidet ein der Gemeinschaft angehörender Arzt den Säugling im Rahmen der Tauffeier. – Höfling beruft sich zugunsten der Penisbeschneidung unter anderem darauf, dass es sich bei ihr um eine »seit Jahrhunderten tiefverwurzelte Praxis« handle. Das träfe auf die christliche Rückenbeschneidung nicht zu. Aber das Grundgesetz ist gegenüber religiösen Praktiken neutral. Es urteilt nicht unterschiedlich je nachdem, ob eine »Religionsausübung« uralt und weit verbreitet oder neu und eng begrenzt ist. Wenn Eltern kraft des Elternrechts ihr Kind nach alter Tradition durch Penisbeschneidung religiös prägen und siegeln dürfen, dann dürfen sie es auch in einem neuen Geist durch Beschneidung an anderer Körperstelle, vorausgesetzt nur, dass diese Misshandlung nicht schwerer wiegt als jene. In öffentlichen Diskussionen wendet sich Höfling gegen die vergleichende Fallbetrachtung, indem er die Vergleichsfälle als lebensfremd beiseiteschiebt; man möge sie in rechtswissenschaftlichen Seminaren vortragen und die Studenten damit belustigen, aber für politisch-legislative Entscheidungen und für die verfassungsrechtliche Bewertung des § 1631d BGB hätten sie keinerlei Relevanz. Ich entnehme dieser Erwiderung das Zugeständnis, dass die vom Meinungsgegner jeweils ersonnene rituelle Misshandlung (hier: Einschneiden eines Kreuzes in den Rücken), wenn sie tatsächlich begangen würde, natürlich nicht straflos sein könne. Das Zugeständnis hat aber eine rechtliche Einsicht zur Konsequenz: Gegebenen Falls wären die Eltern wegen ihres Glaubens, der ihnen eine andere Misshandlung als die der Penisbeschneidung gebietet, »benachteiligt«, wie umgekehrt ihnen gegenüber die Penisbeschneider »bevorzugt« würden. Das wäre unvereinbar mit Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG, und dieser Befund erzwingt rechtliche Beurteilungen, die die rechtliche Ungleichbehandlung vermeiden, auch wenn die frommen Körperverletzungen, die Höfling mit Recht im realen Fall bestraft sehen möchte, bisher noch nicht begangen worden sind. Kurzum: Die Fiktionalität von Fällen, zu deren Betrachtung aufgefordert wird, widerlegt nicht das Argument, das sich aus der unzweifelhaften Lösung der Fälle ergibt; hier: aus der Strafbarkeit ritueller Verletzungen des kindlichen Körpers, die nicht im Abschneiden des Präputiums bestehen. Höfling bringt für seine Sicht vor, dass doch Millionen beschnittener Männer allem Anschein nach »normale Lebenswege« gehen, und fordert zur Entkräf-

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tung dieser »Evidenz«, dass man ihm mittels »valider Daten […] gravierende Traumatisierungen« nachweise; wobei er offenlässt, von welchem Traumatisierungsgrad und von welcher Opferanzahl an er sich als erschüttert bekennen würde. Es ist aber für die Frage, ob das rituelle Abschneiden der Vorhaut eine rechtswidrige Körperverletzung ist, ohnehin völlig belanglos, dass »mehrere 100 Millionen beschnittener Männer« ihre Lebenswege ohne »gravierende Traumatisierungen« zurücklegen. Das tun ja genauso die Millionen Menschen, die eine andere einmalige Misshandlung erlitten haben. Zum Beispiel weil ihr Vater sich ein einziges Mal zu einer Ohrfeige hat hinreißen lassen oder ihnen jemand leichtfertig eine Stichverletzung zugefügt hat, die alsbald vernarbt und nicht mehr weh tut. »Normal« verläuft auch das Leben der vielen, denen ein Arzt aus Geldgier ohne medizinische Notwendigkeit, aber technisch korrekt den Wurmfortsatz des Blinddarms herausoperiert hat. Ja, selbst ein Kind, dessen Eltern ihrem Gott einen seiner Zehen, ein Fingerendglied oder ein Stück Schamlippe geopfert haben, »verkraftet« den Verlust und wird unter dem Eingriff nicht dauernd leiden. Aber sie alle waren doch zweifellos Opfer einer rechtswidrigen Körperverletzung! Was Höfling anführt, ist also in unserem Streit ganz offensichtlich kein Argument. Die Rechtswidrigkeit einer Körperverletzung setzt nicht voraus, dass das Opfer »gravierende Traumatisierungen« davonträgt. Mehr noch, das Ausbleiben solcher Folgen einer Körperverletzung bedeutet für unsere Frage rein gar nichts. Es liefert uns nicht einmal ein winziges Indiz, dass Eltern im Recht waren, als sie ihr Kind, etwa mit einer Ohrfeige, eigenhändig misshandelten oder es, zum Beispiel in Gestalt einer Genitalbeschneidung, fremder Misshandlung auslieferten. Pro oder contra – was überzeugt? Ich will einmal versuchen, das Problem und den Streit – in seinem Kernbereich – mit einer Frage und zwei gegensätzlichen Antworten allgemeinverständlich zu skizzieren: Sollen Eltern das Recht haben, zumindest aus religiösen Gründen ihrem Kind die Vorhaut abschneiden zu lassen, ohne medizinische Notwendigkeit und ohne die eigenverantwortliche Zustimmung des Kindes? Ja. Die Beschneidung ist Gottes Befehl, lange Tradition, weltweit verbreitet und sowohl elterliche Religionsausübung wie für das Kind sinnvoll. Zum Segen des Kindes stiftet sie einen Bund mit Gott, prägt dem Körper unauslöschlich das Zeichen der Zugehörigkeit zum Judentum oder Islam auf und ermöglicht dem Kind den stärkenden Halt der Einbindung in die elterliche Religionsgemeinschaft.

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Nein. Gewiss dürfen Eltern entscheiden, in welche Religionsgemeinschaft ihr Kind hineinwachsen soll. Aber wie allgemein versichert wird, machen weder jüdische noch muslimische Gemeinden die Aufnahme des Kindes von der Beschneidung abhängig. Diese ist ein in jeder Hinsicht unnötiger Eingriff in das Grundrecht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit, fügt ihm Schmerzen zu, schafft Komplikationsgefahren und nimmt ihm unwiederbringlich mit lebenslang spürbaren Folgen einen Körperteil, der eine wichtige Schutz- und Sexualfunktion hat. Es ist völlig offen, ob der Beschnittene später seine körperliche Beeinträchtigung und religiöse Siegelung gutheißen oder verwünschen wird. Durch die Vernichtung seiner Vorhaut wird das Kind als Rechtssubjekt und in seiner Menschenwürde missachtet. Es kann nicht mehr selbst, wenn es reif genug ist, darüber bestimmen, ob es mit oder ohne Vorhaut leben will. Wer trotzdem glaubt, die rituelle Beschneidung des unmündigen Kindes sei Gottes Wille, muss diesem Gott von Rechts wegen den Gehorsam verweigern. Kann überhaupt ein Zweifel sein, welche Antwort die ethisch überlegene ist, welche den unvoreingenommen Fragenden überzeugen wird und welche dem Menschenbild des Grundgesetzes allein gerecht wird? Ich jedenfalls halte die zweite Antwort für richtig, denn ich komme zu folgendem Ergebnis: Weder Art. 4 noch Art. 6 GG verschaffen den Eltern das Recht, auch außerhalb der Fälle medizinischer Erforderlichkeit die Beschneidung ihres männlichen Kindes zu veranlassen. Diese Entscheidungsfreiheit einem der Artikel zu entnehmen ist jedenfalls unvereinbar mit dem Grundrecht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG. (Weitere Unvereinbarkeiten zu begründen unternimmt in diesem Buch Jörg Scheinfeld.) § 1631d BGB, dessen Schöpfer das Recht der Eltern als ein gegebenes nur »klarzustellen« glauben, gewährt es tatsächlich als etwas Neues, gerät dadurch aber in Widerspruch zum kindlichen Grundrecht. Er ist deshalb mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig. Dies wiederum bedeutet: Eine auf § 1631d BGB gestützte Körperverletzung wäre auf eine nichtige Erlaubnis gestützt und somit rechtswidrig. Man kann diesem Befund nicht etwa Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG entgegenhalten. Wie schon gesagt, der Gesetzgeber hat keine freie Hand, das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit durch einfache Gesetze einzuschränken, auch nicht, wenn Religionsgemeinschaften es fordern. Das wird sofort deutlich, wenn man sich Paragrafen vorstellt, die den Eltern zulasten ihrer Kinder andere Verletzungen mit religiösem Sinn erlauben; zum Beispiel eine maßvolle Beschneidung der weiblichen Genitalien, wie die Schafi’iten sie fordern, das Aufdrücken einer Dornenkrone oder das Schmücken des kindlichen Körpers mit einem Tattoo religiöser Symbolik. Dergleichen ist harmloser als das Amputieren des Prä-

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putiums, und dennoch sind wir sicher, dass ein BGB-Paragraf, der eine dieser Misshandlungen gestatten würde, vor dem Bundesverfassungsgericht keinen Bestand hätte. Körperverletzungen außerhalb der Notwehr müssen, damit sie den Eltern verfassungskonform erlaubt sein können, dem kindlichen Opfer einen rational anzuerkennenden Vorteil bringen, wie zum Beispiel Impfungen oder die Operation abstehender Ohren oder vielleicht sogar – aber hier hat sich der Gesetzgeber dagegen entschieden – die maßvolle Züchtigung zur Belehrung und Abschreckung eines dessen bedürftigen Kindes. Kritische Stimmen zu § 1631d BGB Geteilt wird meine Bewertung des § 1631d BGB von Scheinfeld (in diesem Buch), Eschelbach (2013, Rn. 9 ff., 35 ff.) und Paeffgen (2013, Rn. 103a-103d), die alle ihr Urteil »verfassungswidrig« nicht allein mit Art. 2 GG begründen, sondern noch andere Unvereinbarkeiten anführen. Fischer (2013, Rn. 50b) hingegen will, trotz allerschärfster Kritik, die neue BGB-Bestimmung anscheinend gelten lassen. »Die Praxis«, sagt er am Ende, »hat aber Entscheidung und Willen des Gesetzgebers zu respektieren«. In gewisser Weise »respektieren« würde ein Gericht den § 1631d BGB freilich auch dann, wenn es ihn für verfassungswidrig hielte. Denn es würde ja prüfen, ob sich aus der formalen Existenz der Bestimmung ein unvermeidbarer Verbotsirrtum ergäbe für die Beschneidungstäter und -teilnehmer, die in den Grenzen des § 1631d BGB handeln (darüber sogleich). Aber so will Fischer wohl kaum verstanden werden. Isensee wiederum (2013, S. 327) hätte meines Erachtens die harte Konsequenz ziehen müssen, denn er stellt gegen Ende fest: »Das Maßnahmegesetz hat sein Ziel nicht erreicht. Es […] genügt nicht dem Untermaß der grundrechtlichen Schutzpflicht für das Kind«, es ist »verfassungsrechtlich gescheitert«. Unter der letzten Zwischenüberschrift »Tabuvorbehalt praeter constitutionem« erwägt der Autor aber noch die »Hypothese eines ungeschriebenen Tabuvorbehalts von verfassungsrechtlicher Qualität«. Wenn ich Isensee richtig verstehe, so entscheidet er sich zwar noch nicht, zieht aber in Betracht, »im Konflikt zwischen rechtsstaatlicher Konsequenz und Wahrung des religiösen wie des gesellschaftlichen Friedens« eben diese Konsequenz, die er vom rechtsstaatlichen Standpunkt aus ziehen müsste, von Verfassungs wegen nicht ziehen zu dürfen; oder auch: medizinisch unnötige Vorhautamputationen, die ein verfassungswidriges Gesetz gestattet, dank ungeschriebener Verfassungsregel als erlaubt zu bewerten. Diese Hypothese einer verfassungskonformen Negierung gegebener Verfassungswidrigkeit scheint auch mir (wie Isensee selbst) noch nicht verifiziert. Ja, ich bin geneigt, sie als unhaltbar zu beurteilen.

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Unter denen, die den Gesetzgeber »verfassungsrechtlich gescheitert« sehen, nimmt Tonio Walter einen besonderen Standpunkt ein. Sein Thema war – im November 2012 – »Der Gesetzentwurf zur Beschneidung – Kritik und strafrechtliche Alternative« (der Entwurf ist unverändert Gesetz geworden), und es heißt gleich im ersten Satz dieses Beitrags, der Entwurf sei »verfassungswidrig, weil er Jungen allein aufgrund ihres Geschlechts benachteiligt«. Von anderen Verstößen gegen das Grundgesetz ist nirgends die Rede, weshalb man Walter dahin verstehen muss, dass er das fragliche Gesetz allein wegen Unvereinbarkeit mit Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG für »verfassungswidrig« befindet. Daraus erklärt sich Walters Vorschlag eines neuen § 223 Abs. 3 StGB, der an die Stelle des § 1631d BGB treten soll. Der vorgeschlagene Text handelt nämlich allgemein von der »Beschneidung eines […] Kindes« und nicht, wie der Text des § 1631d BGB, von der »Beschneidung des […] männlichen Kindes«. Ich zitiere Tonio Walters »Vorschlag für einen neuen Abs. 3 des § 223 StGB« vollständig: »Absatz 1 gilt nicht für die Beschneidung eines einsichts- und urteilsunfähigen Kindes, wenn seine Religionsgemeinschaft und die der Sorgeberechtigten die Beschneidung gebietet. Die Regeln der ärztlichen Kunst sind zu beachten. Ist das Kind fähig, seinen Willen verständlich zu äußern, und lehnt es die Beschneidung nachhaltig ab, entscheidet das Familiengericht. [Optionale Ergänzung: Beschneiden heißt die Vorhaut ganz oder zum Teil entfernen.]« Anzumerken ist, dass in der »optionalen Ergänzung« der Autor seine Definition »geschlechtsneutral« verstanden sehen will. Das heißt: Bei Übernahme der Definition ins Gesetz ist zwar – unter dessen Voraussetzungen! – auch die Mädchenbeschneidung straflos, aber nur insoweit, wie sie in der Beschneidung der Klitorisvorhaut besteht. Wenn dagegen die Definition nicht Gesetz wird, dann können auch – so verstehe ich Walter – andere Schnittverletzungen des weiblichen Genitales straflos sein, sofern sie sich – Gleichheitsgebot! – nicht schlimmer auswirken als die klassische Penisbeschneidung. Allerdings scheint mir Walter hier keine wirkliche Gleichbehandlung zu wollen. Auch auf der Grundlage seines § 223 Abs. 3 StGB soll es »die Praxis« irgendwie hinkriegen, selbst die religiös motivierte Mädchenbeschneidung zu bestrafen, und sei es mit der Begründung, »dass es im Gesetzgebungsverfahren zu jeder Zeit unstreitig gewesen ist, das absolute Verbot einer Beschneidung von Mädchen bestehen zu lassen« (Walter, 2012, S. 1110 ff.). Tonio Walter sagt offen, dass auch sein Lösungsvorschlag ein kompromisshaftes Zurückweichen vor politischem Druck sei. Die Frage, »ob Beschneidungen an kleinen Jungen überhaupt legalisiert werden sollten«, verneint er »im Grundsatz«, und wegen des Grundsatzes will er die Geltung seines Gesetzes auf

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fünf Jahre befristen. Aber zugleich hält er es für (auf Dauer?) »ausgeschlossen, ausgerechnet in Deutschland, Menschen jüdischen Glaubens und Muslime mit Kriminalstrafen zu verfolgen, wenn sie Gebote erfüllen, die ihnen ihr Glaube – aus ihrer Sicht auferlegt. […] Der Gesetzgeber sollte daher minimalinvasiv vorgehen und das Feuer nur dort löschen, wo es tatsächlich brennt. Das tut es nicht im Sorgerecht des BGB, sondern im Strafrecht.« Die Lösung, die sich in Walters Augen anbietet, ist der »wertneutrale« Tatbestandsausschluss, denn er sperre die Strafbarkeit, lasse aber offen, ob das straflose Verhalten damit auch erlaubt wird oder rechtswidrig bleibt und nur toleriert wird (Walter, 2012, S. 1116). Ein sich sofort aufdrängender Einwand: Dann bleibt aber auch offen, ob der operierende Arzt oder Mohel das Kind »rechtswidrig angreift« (vgl. § 32 StGB) und ob er deshalb der Nothilfe ausgesetzt ist, zum Beispiel vonseiten eines Angehörigen des Opfers, der die Beschneidung als einen barbarischen Akt bekämpft. Darf diese Frage offenbleiben? Von meinem Standpunkt aus ist die Antwort klar, weil ich den neuen § 223 Abs. 3 StGB genauso als verfassungswidrig bewerten müsste wie die neue BGBVorschrift. Das eine wie das andere »Maßnahmegesetz« gibt im Elterninteresse Eingriffe frei in das Grundrecht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit, und die Abwägung ergibt – mit Isensee zu sprechen –, dass »das Maßnahmegesetz […] nicht dem Untermaß der grundrechtlichen Schutzpflicht für das Kind« (2013, S. 327) genügt; oder mit eigenen Worten: Das Interesse des Kindes, am Geschlechtsteil unverletzt zu bleiben, wiegt wesentlich schwerer als das Interesse anderer, die Beschneidung des Kindes straflos durchführen bzw. veranlassen zu können. Der Angriff auf das Kind, den der zur Tat ansetzende Beschneider unternimmt, ist ein rechtswidriger Angriff. Hier zeigt sich, wie mir scheint, ein Versäumnis Tonio Walters. Er hätte verfassungsrechtlich, statt gleich die »Benachteiligung« der Jungen (Art. 3 GG) herauszustellen, erst einmal fragen müssen, ob die Erlaubnis der Jungenbeschneidung mit Art. 2 GG vereinbar ist. Denn wenn sie das, wie hier begründet, nicht ist, dann entfällt der Vorwurf, das Gesetz verstoße gegen das Gleichbehandlungsgebot. Vielmehr ist es dann ein wahrer Segen, dass der Gesetzgeber wenigstens die Mädchen in Ruhe gelassen hat. Zum Vergleich: Geschieht männlichen Schülern Unrecht, weil ein Landesgesetz unter bestimmten Voraussetzungen ihre körperliche Züchtigung erlaubt, dann würde das Gesetz um nichts besser durch seine Erstreckung auch auf Schülerinnen. Unrechtsmaßnahmen werden nicht schlimmer, sondern weniger schlimm, wenn sie sich »ungerecht« beschränken, das heißt nur bestimmte Leute belasten, andere aber verschonen. Und ein letzter Einwand: Tonio Walter hätte prüfen müssen, ob sich sein Anliegen, dass die religiös motivierten und lege artis durchgeführten (Jungen-)

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Beschneidungen straflos bleiben, nicht gleichsam von selbst erfüllt, und zwar auch auf Basis seiner (zutreffenden) Wertung, § 1631d BGB sei verfassungswidrig und nichtig. Die Frage ist zu bejahen. Streng beachtet und konsequent angewandt, ergibt schon das geltende Recht eine weitgehende Straffreiheit. Denn weil in unseren Fällen die Täter und Teilnehmer wohl fast immer den § 1631d BGB für gültig halten werden, ist ihnen, wenn von der Vorschrift gedeckt, allemal ein entschuldigender Verbotsirrtum (§ 17 S. 1 StGB) zuzubilligen; so auch Eschelbach: »Das Gesetz ist offensichtlich verfassungswidrig. […] Mit der Rechtsbehauptung des Gesetzgebers wird allerdings vorerst ein unvermeidbarer Verbotsirrtum ubiquitär« (2013, Rn. 9). Und auch im Ausnahmefall, dass der Beschneidungstäter selbst die Nichtigkeit der BGB-Bestimmung und dementsprechend die Rechtswidrigkeit der Beschneidung erkennt, stimmt die Lösung. Denn dann besteht kein Grund, warum das Gericht, obwohl es die Rechtslage genauso beurteilt, den Angeklagten, der wissentlich das Unrecht einer schwerwiegenden Gesundheitsschädigung begangen hat, freisprechen sollte. Tonio Walters Vorschlag hat aber genau diesen Freispruch zur Konsequenz. Und schließlich entfällt, weil insoweit keine Verbotsirrtümer die Unrechtserkenntnis verhindern, die Rechtsproblematik der Mädchenbeschneidung, die Walter so sehr zu schaffen macht. Er tut ja recht daran, hier an der »guten Ungerechtigkeit«, obwohl er sie theoretisch bekämpft, praktisch festzuhalten. Aber er könnte sich den Selbstwiderspruch ersparen, wenn er alle Paragrafen im BGB und im StGB so ließe, wie sie jetzt dastehen. Man kann darüber streiten, ob die vorläufige, auf die männliche Beschneidung beschränkte Straffreiheit, die Walter erstrebt, wünschenswert ist. Aber wenn man es bejaht, dann kann man die Sache getrost § 17 StGB überlassen. Er sagt für Beschneidungstaten, was er auch sonst sagt: Wer den Irrtum, die Tat sei kein Unrecht, nicht vermeiden konnte, handelt ohne Schuld und straffrei. Es besteht kein Anlass, für bestimmte Beschneidungen durch Ausgrenzung aus dem Tatbestand des § 223 StGB künstlich eine Strafbarkeitslücke zu schaffen. Schlussbetrachtung Zum Abschluss noch ein persönliches Wort: Wie so viele Beschneidungskritiker habe auch ich die Dinge früher anders gesehen und das jüdisch-muslimische Brauchtum der Knabenbeschneidung in seiner rechtlichen Statthaftigkeit nicht angezweifelt. Aber angestoßen von Necla Keleks Buch »Die verlorenen Söhne« (2006) habe ich gestutzt und nachzudenken begonnen. Ich musste mir eingestehen, geirrt zu haben. Mein Weg zur besseren Erkenntnis, den auch das Landgericht Köln gegangen ist, war der einer strengen rechtlichen Prüfung. Nicht jeder, der nachdenkt, wird sich auf diesen Weg begeben und einen neuen Stand-

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punkt finden. Ja, manche fühlen sich sogar erhaben über die in unserem Rechtsstaat selbstverständlich entscheidende Frage, ob eine rein religiös begründete Beschneidung mit der Rechtsordnung vereinbar oder ob sie damit unvereinbar ist. Man lese nur Alfred Bodenheimer (2012), der auf den 54 Seiten des eigenen Textes in dieser Frage keinen Standpunkt bezieht und es trotzdem – aufgrund wahrhaft abenteuerlicher Erwägungen – entschieden missbilligt, »dass ein seit jeher praktizierter jüdischer Brauch von einem deutschen Gericht als Staftat qualifiziert wurde« (S. 13). Aber kommen nicht auch dem Apologeten des religiösen Rituals wenigstens Zweifel, wenn er vom menschlichen Leid so vieler Betroffener hört, die sich jetzt endlich, nachdem sie lange aus Scham geschwiegen haben, öffentlich äußern? Von den Eltern, die sich Vorwürfe machen? Von den schweren Komplikationen, die so häufig sind? Von den jährlich über hundert Todesfällen allein in den USA (vgl. Merkel, 2012, S. 12)? Von den Muslimen, die im Bundestag für den Gegenentwurf der Kinderschutzbeauftragten gestimmt haben? Von Gegenbewegungen wie »Protect the Child« in Israel und »Jews Against Circumcision« in den englischsprachigen Ländern? Von der Schutz- und Sexualfunktion des Präputiums? Das sensorische Gewebe des Penis findet sich zu fast 70 % in der Vorhaut, sie hat für das sexuelle Lustgefühl große Bedeutung. Einem Kind dieses Körperteil ohne medizinische Notwendigkeit unwiederbringlich wegzuschneiden, kann nicht rechtens sein. Ein Gesetz, welches Kindern das anzutun gestattet, ist ein Fremdkörper im Organismus unserer Rechtsordnung; es darf keinen Bestand haben und muss vom Bundesverfassungsgericht, wenn es angerufen wird, verworfen werden. Literatur Becker, K. (2013). Die rituelle Beschneidung. Analyse eines dem modernen Pluralismus entsprungenen Diskurses. Norderstedt: Books on Demand. Bibel. Bibelserver (Hrsg.). Einheitsübersetzung. Zugriff am 20. 11. 2013 unter http://www.bibleserver. com/start/EU. Bielefeldt, H. (2012). Der Kampf um die Beschneidung. Das Kölner Urteil und die Religionsfreiheit. Blätter für deutsche und internationale Politik, 9, 63–71. Bodenheimer, A. (2012). Haut ab! Die Juden in der Beschneidungsdebatte. Göttingen: Wallstein. Deutscher Bundestag (2012). Gesetzentwurf der Bundesregierung. Entwurf eines Gesetzes über den Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes. Drucksache 17/11295. Zugriff am 30. 11. 2013 unter http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/112/1711295.pdf Eschelbach, R. (2013). Kommentar zu § 223 Strafgesetzbuch. In B. von Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar StGB. München: C. H. Beck. Fischer, T. (2013). Kommentar zu § 223 Strafgesetzbuch. In Auto/Hrsg.? Strafgesetzbuch und Nebengesetze (60. Aufl.). München: C. H. Beck. Friedrich, J. (2012). Beschneidung: eine religiöse Pflicht. Chrismon.de, Das evangelische OnlineMagazin, September 2012. Zugriff am 04. 12. 2013 unter http://chrismon.evangelisch.de/blog/ auf-ein-wort/beschneidung-eine-religioese-pflicht-15169

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Holm Putzke

Die Beschneidungsdebatte aus Sicht eines Protagonisten Anmerkungen zur Entstehung und Einordnung des Beschneidungsurteils sowie zum Beschneidungsparagrafen (§ 1631d BGB) und zu seinen Konsequenzen

Mit seinem Urteil vom 07. 05. 2012 hat das Landgericht Köln nicht nur in Deutschland Aufsehen erregt, indem es die medizinisch nicht notwendige Zirkumzision für rechtswidrig erklärte, die ein Arzt an einem vierjährigen Jungen muslimischer Eltern lege artis vorgenommen hatte. Dabei fiel dieses Urteil nicht aus heiterem Himmel. Es hatte eine Vorgeschichte in Form einer intensiven juristischen Debatte, die – ausgelöst vom ersten Beitrag des Verfassers (Putzke, 2008a) – im Jahr 2008 ihren Anfang nahm. Nachgezeichnet werden hier nicht nur diese Entwicklungslinien, sondern auch das Urteil sowie seine unmittelbaren politischen, gesellschaftlichen und rechtlichen Auswirkungen. Zudem soll ein Blick geworfen werden auf das politische Rechtsprodukt, den neu geschaffenen § 1631d BGB, bekannt auch als »Beschneidungsgesetz«. Ursprung der juristischen Diskussion Anfang 2008 erschien in der Festschrift zum 70. Geburtstag meines akademischen Lehrers, Rolf Dietrich Herzberg, mein Aufsatz »Die strafrechtliche Relevanz der Beschneidung von Knaben«, untertitelt mit »Zugleich ein Beitrag über die Grenzen der Einwilligung in Fällen der Personensorge« (Putzke, 2008a). Es handelte sich im deutschsprachigen Raum um die erste und zu dieser Zeit einzige umfassende Untersuchung zu der Thematik. Dass kein einziger deutscher Rechtswissenschaftler sich bis dato dieser Frage angenommen hatte, war schon damals erstaunlich. Denn der körperliche Eingriff war evident. Damit stellte sich die Rechtfertigungsfrage wie bei jedem ärztlichen Eingriff. Hier wird lebhaft diskutiert, ob bei einer Zustimmung die Verletzung des Körpers überhaupt dem Körperverletzungstatbestand des § 223 Abs. 1 StGB unterfällt oder bejahendenfalls unter welchen Umständen die tatbestandliche Körperverletzung durch eine Einwilligung des Rechtsgutsträgers gerechtfertigt sein kann.

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Holm Putzke

Die Tatsache, dass ein »Paukenschlag-Urteil« und die gesamte anschließende Diskussion sich im Großen und Ganzen zurückführen lassen auf einen einzigen Beitrag, kommt in der Welt der Wissenschaft nur selten vor. Die meisten Probleme sind mehrfach bis hin zur letzten Fußnote ausdiskutiert und neue Aufsätze vermögen kaum etwas am starren Meinungsbild zu verändern. Lässt sich die Entwicklung einer bestimmten Meinung hingegen monokausal zurückverfolgen, weckt dies bei manchen offenbar verstärkt das Interesse, sich auch der Entstehung dieser Rechtsauffassung und möglichen Motiven der Vertreter zu widmen. Natürlich ist es legitim, nach dem Erkenntnisinteresse eines Autors und den Hintergründen seiner Gedanken zu fragen. Wer etwa als amerikanischer Geburtshelfer einen Beitrag verfasst, in dem er frühkindliche Beschneidungen in den höchsten Tönen lobt, wird sich den Vorhalt gefallen lassen müssen, dass allein finanzielle Eigeninteressen seinen Standpunkt beeinflusst haben. Das dürfte auch für einige ambulant tätige Kinderchirurgen in Deutschland gelten, für die Vorhautbeschneidungen ein lukratives Geschäft sind und bei denen deshalb der Verdacht wohl nicht unberechtigt ist, krankhafte Vorhautverengungen großzügig zu diagnostizieren (vgl. vom Lehn, 2013). Diese Interessen machen Sachargumente, wenn sie von solchen Leuten vorgetragen werden, nicht eo ipso unbrauchbar, wecken aber begründete Zweifel an der Objektivität des Geschriebenen oder Gesagten. Wenn Juristen über das Erkenntnisinteresse eines Autors spekulieren, fehlen ihnen meist die Sachargumente, mit denen sie die Debatte hätten befruchten können. Wer etwa von meiner Sozialisation in der ehemaligen DDR auf eine religionsfremde Einstellung und fehlendes Verständnis für (religiöse) Minderheiten schloss, dem ging es nicht um den Austausch von Argumenten und um deren Analyse, sondern um die Produktion von Stimmungen. Mit Wissenschaft hatte das alles nichts zu tun. Ungeachtet dessen wussten solche Spekulanten augenscheinlich nichts davon, dass der Autor der Evangelischen Kirche angehörte und weder ein immer bereiter kleiner Pionier gewesen war noch zum »Freundschaft« rufenden Gefolge der FDJ gehört hatte – mehr Minderheit konnte man in der DDR kaum sein! Anstoß

Noch weniger genau mit den Tatsachen nahmen es in der Regel jene, die beschlossen hatten, sich zu empören. So behauptete etwa Lamya Kaddor am 24. 08. 2012 im »Deutschlandradio Kultur«, Rolf Herzberg habe nach der Lektüre des Buchs »Die verlorenen Söhne« von Necla Kelek der Autorin versprochen einzuschreiten und seinen Schüler mit der juristischen Ausarbeitung beauftragt. Solcher Unsinn war schon in der Ausgabe der Zeitschrift »Der Spiegel« vom

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Die Beschneidungsdebatte aus Sicht eines Protagonisten

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23. 07. 2012 zu lesen: »Herzberg war von der Schilderung abgestoßen und zugleich fasziniert, vor allem war er aber darüber erstaunt, dass sich bislang keiner seiner Juristenkollegen damit befasst hatte. Er versprach Kelek, sich des Themas anzunehmen. Holm Putzke, damals wissenschaftlicher Mitarbeiter, arbeitete sich ein« (Bönisch et al., 2012). Und Matthias Drobinski sagte in der Sendung »Glaubenssachen« (NDR kultur) vom 19. 08. 2012 Folgendes: »Herzberg ist beeindruckt, er lädt Necla Kelek ein, dazu eine muslimische Studentin, einen befreundeten türkischen Arzt und Holm Putzke, seinen aufstrebenden Assistenten.« Was die Genannten verbreitet haben, war weitgehend frei erfunden. Erstens hatte Rolf Herzberg Necla Kelek weder schriftlich noch mündlich versprochen einzuschreiten. Zweitens hatte er sie zu dem Anfang 2007 veranstalteten abendlichen Gespräch nicht eingeladen. Drittens war ich zum damaligen Zeitpunkt weder sein Mitarbeiter noch Assistent. Und viertens gab es keinen Auftrag, eine Ausarbeitung zur religiösen Beschneidung zu verfassen. Solche Abweichungen im Detail wären nicht der Rede wert, wenn sie in der Debatte nicht auch dazu genutzt worden wären, diverse Verschwörungsszenarien zu konstruieren und wild über die Motivation der Protagonisten zu spekulieren. Es passte aber auch einfach zu schön ins Bild: Ein aufstrebender Assistent bekommt von seinem Herrn und Meister, der die Beschneidung abstoßend findet und zudem bei der Islamkritikerin Necla Kelek im Wort steht, den Auftrag, die religiöse Beschneidung für strafbar zu erklären, was der Assistent mit dem Eifer eines folgsamen Untergebenen sogleich in Angriff nimmt. Das war für diejenigen, die wussten, wie es wirklich war, einigermaßen amüsant, für all jene, die auf der Suche nach einfachen Erklärungen waren, ein »gefundenes Fressen« und kam einer willkommenen Offenbarung gleich. Endlich mussten sie sich nicht mehr der unbequemen und komplexen juristischen Argumentation widmen, sondern konnten sich begnügen mit dem Hinweis auf eine von langer Hand geplante Kampagne zur Diskreditierung zweier Weltreligionen und ihrer Anhänger. Von hier bis hin zum Antiislamismus- und Antisemitismusvorwurf war der Weg nicht mehr weit. So offensichtlich unzutreffend und dumm solche Behauptungen auch waren, sie folgten (gezielt zur Diskreditierung eingesetzt) in der Tat auf dem Fuße – teilweise öffentlich, teilweise in Form beleidigender Zuschriften. Nun muss man wahrlich nicht jede Beleidigung zum Anlass nehmen, den kriminellen Urheber zur Verantwortung zu ziehen. Vor allem das Internet ist bekanntermaßen auch ein Sammelbecken für Menschen mit gestörter Sozialentwicklung, die es allein im Schatten der Anonymität wagen, sich ungehemmt zu verhalten, denen aber von Angesicht zu Angesicht sowohl der Mut als auch die rhetorischen Möglichkeiten fehlen würden, an einer sachlichen Auseinan-

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dersetzung teilzunehmen. Das ist die eine Seite. Auf der anderen sollte sich aber, wer beleidigt wird, nicht alles gefallen lassen, schon gar nicht, wenn die Beleidigung ein bestimmtes Maß des Zumutbaren überschreitet. Gegen verschiedene Täter habe ich daher Anzeige erstattet. Meistens endeten die Verfahren mit Strafbefehlen und Geldstrafen, die kleinlaut gezahlt wurden. Offenbar war es den Beleidigern peinlich genug, dass ihre wahre Identität ermittelt worden und nun bekannt war. So hat allein die Einleitung eines Strafverfahrens schon manchen Täter zur Besinnung gebracht. Hier scheint mir ein besonderer Fall von allgemeinem Interesse zu sein, weil er zeigt, wohin Voreingenommenheit und fehlende journalistische Professionalität führen können. Jennifer Nathalie Pyka, auf die noch zurückzukommen sein wird, will den guten Effekt von Strafanzeigen für die Beschneidungsdebatte nicht gelten lassen. Sie meint vielmehr, Beleidigungsanzeigen machten den »Kampf um die Vorhaut« zum »Streit um Befindlichkeiten« und ihn »endgültig zur Farce«, denn wer andere mit seiner Kritik verletze und verunsichere, müsse auch einstecken können (Pyka, 2013). Das klingt nur auf den ersten Blick plausibel. Bei genauerem Hinsehen steckt dahinter eine rechtsfeindliche Grundeinstellung. Der Ansatz führt – konsequent zu Ende gedacht – direkt zur Freigabe von Rechtsbrüchen. Denn danach würde derjenige das Recht verwirken, sich auf den Schutz des Strafrechts zu berufen, der seine Meinung äußert und dadurch bewirkt, dass andere sich verletzt oder verunsichert fühlen. Muss also derjenige, der sich lustig macht über die »Mutter Gottes«, damit rechnen, sanktionslos beleidigt zu werden? Und wo ist die Grenze? Leichte Körperverletzungen nach bloßer Karikierung des Propheten Mohammed, stärkere bei seiner Schmähung, auch wenn sie von der Meinungsfreiheit noch gedeckt ist? Spätestens jetzt wird deutlich, wie töricht das von Pyka Gesagte ist. Noch aber funktioniert der Rechtsstaat. Deshalb leitete die Staatsanwaltschaft München auch ein Ermittlungsverfahren gegen einen User bei Facebook ein, der im Juli 2012 unter einem Pseudonym in beleidigender Form mit mir Kontakt aufnahm. Dank seiner Profilangaben war der Inhaber des Profils rasch gefunden: ein vierzehnjähriger Schüler. Weil der Duktus der Beleidigung aber nicht gerade jugendtypisch war, gab es schon damals Zweifel an seiner Täterschaft. Gleichwohl erging zur Beweissicherung alsbald ein Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts München, der nach der Durchsuchung, weil er trotz zweifelhaften Tatverdachts gegen den Jungen gerichtet gewesen und nicht optimal begründet war, für rechtswidrig erklärt wurde. Durchgeführt wurde die Durchsuchung an einem Mittwoch um 6.20 Uhr. Weder die Mutter noch den beschuldigten Jungen schien der Inhalt des Durchsuchungsbeschlusses zu überraschen. Laut des Durchsuchungsberichts sagte

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Die Beschneidungsdebatte aus Sicht eines Protagonisten

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der Junge spontan: »Ja, da hat mein Papa nach der Fernsehsendung was bei mir geschrieben!« Eben jener befand sich gerade im Bad, erschien aber kurz darauf. Sichtlich gereizt und »in aufbrausender, fast cholerischer Verfassung« räumte er ein, der Täter gewesen zu sein, berief sich allerdings auf die Meinungsfreiheit. Das nun wiederum war selbst seinem Sohn zu viel, dem das Verhalten seines Vaters – so der Durchsuchungsbericht – »sichtlich unangenehm war« und der seinen Vater belehrte, dass »man seine Meinung schon äußern dürfe, aber nicht beleidigen«. Doch Maurice Z. aus Taufkirchen redete sich weiter in Rage und versuchte, die Polizisten zu provozieren. Unter anderem hielt er ihnen vor, dass sie sicher in der Ausbildung mitbekommen hätten, dass »Juden vergast« wurden und sie »die Schuld geerbt« hätten. Als ein Polizeibeamter erwiderte, er sei sich persönlich keiner Schuld bewusst, meinte Maurice Z. sinngemäß, dass er schon wisse, in welcher Ecke der Polizist stehe. Sodann drohte Maurice Z. mehrmals damit, dass er sich bei Frau Knobloch über den Vorfall beschweren und den Fall bei der Presse »sofort aufbauschen« werde. Bei der Verabschiedung entschuldigte sich die Ehefrau von Maurice Z. für sein Verhalten. Doch anscheinend gab es jedenfalls unter den seriösen Journalisten niemanden, der bereit war, den bei Lichte besehen unspektakulären Fall aufzugreifen. Allein die Bloggerin Jennifer Nathalie Pyka, die sich selbst als »freie Journalistin« bezeichnet, sah eine Gelegenheit, sich über die Beschneidungskritiker zu empören. Für eine wahrheitsgetreue Schilderung interessierte Pyka sich dabei wenig und journalistische Grundsätze trat sie mit Füßen: Aus dem Beginn der Durchsuchung um 6.20 Uhr macht Pyka »Punkt sechs Uhr«. Die anschließende Schilderung zum Vorgehen der Polizisten klingt dramatisch: »wenige Sekunden später stürmen sie das Zimmer des noch schlafenden Jugendlichen«. Wer zuvor die Überschrift gelesen hatte (»Jüdische Familie im Fadenkreuz deutscher Ermittler«), dem erschien die Szenerie unwillkürlich vor Augen: Deutsche Polizisten stürmen das Zimmer eines jüdischen Jungen, um ihn zu vernehmen und seine persönlichen Sachen zu beschlagnahmen. Was für ein Bild! Pyka wollte Assoziationen wecken. Das zu tun, steht ihr journalistisch zu – nicht aber, die Wahrheit zu verfälschen! Ob »Punkt sechs Uhr« oder »6.20 Uhr« mag man ihr als Folge schlampiger Recherche dabei noch nachsehen. Wer freilich einen Sachverhalt erdichtet und dem Schwindel die Tarnung eines Berichts verpasst, der verletzt handfest journalistische Grundsätze, nämlich die der wahrhaftigen Unterrichtung der Öffentlichkeit und der wahrheitsgetreuen Informationswiedergabe. Tatsächlich hatte die Mutter die Tür geöffnet und sich den Beschluss zunächst in Ruhe durchgelesen, bevor sie in den ersten Stock ging, um dort ihren Sohn zu holen. Von den im Erdgeschoss wartenden Polizisten wurde dieser sodann zunächst belehrt und über den Tatvorwurf informiert. Anschließend ließen sie

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sich sein Zimmer zeigen. Polizisten, die ins Zimmer eines schlafenden Jugendlichen stürmen, gab es nur im Artikel von Jennifer Nathalie Pyka, nicht aber an diesem Tag im Haus von Maurice Z. und seiner Familie. Ebenfalls verschwieg Pyka die von mir oben geschilderten Umstände, dass die Familie von Maurice Z. über den Tatvorwurf nicht einmal überrascht schien und dem Jungen das Verhalten seines Vaters geradezu unangenehm war sowie dass die Ehefrau sich bei der Verabschiedung bei den Polizeibeamten für das Verhalten ihres Mannes ausdrücklich entschuldigte. Die wahre Geschichte hätte einfach nicht zu dem Eindruck gepasst, den die »freie Journalistin« erwecken wollte. Pyka hat ein Zerrbild gezeichnet, nicht nur durch journalistisch zulässige Überzeichnung, sondern durch signifikante Verfälschung und Unterdrückung von Tatsachen. Es passt auch ins Bild, dass sie in einem späteren Beitrag zwar über die Einstellung des Verfahrens berichtet hat, aber verschwieg, dass der Vater – über seinen Verteidiger – zuvor gegenüber der Staatsanwaltschaft ein Geständnis abgelegt und sein die Durchsuchung auslösendes beleidigendes Verhalten bedauert hatte. Augenscheinlich brachte das Strafverfahren den Beleidiger zur Besinnung. Und weil Maurice Z. seine Täterschaft zugab und sich entschuldigte, war es durchaus vertretbar, das Verfahren schließlich wegen Geringfügigkeit einzustellen. Ein Münchner Anwalt versuchte anschließend vergeblich, die Einsicht in die Akten zu vereiteln. Wer weiß, welchen Inhalt sie haben, kennt den Grund: Es sollte anscheinend verhindert werden, dass der wahre und unspektakuläre Ablauf der Durchsuchung bekannt wird und Jennifer Nathalie Pyka sich vorwerfen lassen muss, evident schlampig recherchiert oder Tatsachen verfälscht und gelogen zu haben. Doch verweilen wir zunächst noch einen Moment bei der Entstehungsgeschichte. Jeder, der ein wenig Zeit und Muße gründlicher Recherche gewidmet hätte, wäre auf die Schilderung in meinem Festschriftaufsatz gestoßen (vgl. Putzke, 2008a, S. 671 f.). Abgespielt hat sich alles geradezu unspektakulär, nämlich wie folgt: Unter anderem aus der Lektüre des Buchs von Necla Kelek »Die verlorenen Söhne« entstand der Wunsch von Rolf Herzberg, sich auch mit den dort behandelten Themen näher zu befassen. Deshalb lud er Anfang 2007 eine muslimische Studentin, einen mit mir befreundeten türkischstämmigen Arzt und mich zu einem Gedankenaustausch ein. Wir unterhielten uns unter anderem über Integrationsthemen, Lebensläufe von Migrantinnen und Migranten und nachfolgenden Generationen sowie nicht zuletzt über Religion. So kam es, dass wir auch über religiös motivierte Beschneidungen von Mädchen und Jungen sprachen. Schon damals wunderten wir Juristen uns, warum die Knabenbeschnei-

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dung unkritisch toleriert zu werden schien, hingegen selbst leichteste Formen der Mädchenbeschneidung nach einhelliger Meinung als rechtswidrige Körperverletzungen galten. Nun folgte in der Tat ein Versprechen: Ich versprach Rolf Herzberg, mich mit der Thematik in rechtlicher Hinsicht intensiver zu beschäftigen. Aber es gab weder von ihm ein Versprechen an Necla Kelek noch einen an mich gerichteten Auftrag. Auch »versprach« das Thema nicht »wesentlich mehr Aufregung« als meine bisherigen Veröffentlichungen, wie die Autoren des oben genannten »Spiegel«-Beitrags in dem Kaffeesatz ihrer Redaktionstasse gelesen hatten; vielmehr versprach das Thema, einzig und allein geeignet zu sein für einen juristisch gehaltvollen Festschriftaufsatz. Nach diesem gemeinsamen Abend bis zum Tag der Übergabe besagter Festschrift im Februar 2008 kamen Rolf Herzberg und ich nie wieder auf das Thema zurück. Schließlich sollten die Festschrift und ihr Inhalt im Großen und Ganzen eine Überraschung sein. Bis zur Fertigstellung der Festschrift beschäftigte ich mich intensiv mit dem Thema, sprach mit Ärzten, aber auch Imamen, Rabbinern, Mohalim und sonstigen Beschneidern, Verfassungsrechtlern und Betroffenen. Ein Ergebnis stand weder am Anfang noch während des Überlegungs- und Schreibprozesses fest. Am Schluss entstand besagte vierzigseitige Abhandlung zur Knabenbeschneidung. Von einem Aufsatz zur juristischen Mehrheitsmeinung

Am 14. 02. 2008, dem 70. Geburtstag von Rolf Dietrich Herzberg, wurde ihm die Festschrift in der Wuppertaler Stadthalle feierlich überreicht. Enthalten war mein oben erwähnter Aufsatz zur Jungenbeschneidung. Darin vertrete ich die Auffassung, dass es sich bei einer medizinisch nicht notwendigen Beschneidung eines nicht einwilligungsfähigen Jungen um eine Körperverletzung handelt. Denn dem Kind wird ein erogener Teil seines Körpers irreversibel amputiert, was nachweislich zu einem Sensibilitätsverlust führt; dabei erleidet es Schmerzen, was zu Traumata führen kann, und es wird einem beachtlichen Operations- und Komplikationsrisiko ausgesetzt. Dieser Eingriff ist auch nicht gerechtfertigt – weder durch das Erziehungsrecht der Eltern noch durch deren Religionsausübung. Heiner Bielefeldt, der sich als UN-Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit durch meine Untersuchung offenbar besonders zur Wortmeldung herausgefordert fühlte, hat eine Form der Kritik gewählt, vor deren Folgen Ingeborg Puppe einst wie folgt warnte: »Übernehmen Sie […] niemals die Darstellung einer Meinung, die Sie selbst ablehnen wollen, von einem ihrer Kritiker […]« (Puppe, 1998, S. 288). Der Grund für Puppes Warnung liegt auf der Hand: Kritiker verändern das zu Kritisierende gern so, dass ihre Kritik passt,

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indem sie etwa den Kontext der Aussage verschweigen. Oft entspricht das, was sie kritisieren, dann aber gar nicht mehr dem, was der Kritisierte geäußert hat. Heiner Bielefeldt liefert dafür ein Paradebeispiel. Er stößt sich an folgender Aussage: »Welchen Nutzen verspricht die religiöse Beschneidung? Er muss messbar und rational begründbar sein, sonst könnten religiöse Handlungen etwa mit dem Seelenheil nach dem Tod gerechtfertigt werden und ließen jegliche Abwägung beliebig werden« (Putzke 2008a, S. 701). Er greift sie wie folgt auf: »Wenn sich dagegen die von Putzke formulierte Logik durchsetzen sollte, wonach nur solche religiösen oder weltanschaulichen Motive im Rahmen der Rechtsordnung berücksichtigt werden können, die sich eins zu eins in allgemein nachvollziehbare rationale Argumente bzw. in messbares Nutzenkalkül transponieren lassen, wäre dies nichts weniger als das Ende der Religionsfreiheit. Denn welche religiösen Überzeugungen, Interessen und Ansprüche könnten diesem rigiden Kriterium genügen?« (Bielefeldt, 2012, S. 66). Obwohl meine Aussage sich absolut klar und ausschließlich auf körperliche Eingriffe von der Intensität einer Jungenbeschneidung bezog, überträgt Bielefeldt sie in seiner Kritik auf sämtliches religiöses Verhalten. Mit seiner kontextverfremdenden Darstellung sichert Bielefeldt sich die Empörung der Leser, die nötig ist, um seinen Texten unkritische Zustimmung zu verschaffen. Wissenschaftlich ist das Ganze eine Unverschämtheit, verursacht entweder durch besondere Dreistigkeit oder groben Unverstand. Trotz Rechtswidrigkeit medizinisch nicht notwendiger Jungenbeschneidungen habe ich die Strafbarkeit der daran Beteiligten damals unter Annahme eines unvermeidbaren Verbotsirrtums nach § 17 Satz 1 StGB verneint: »Strafrechtliche Schuld ist demnach nicht in der Vergangenheit zu suchen. Für die Zukunft wird man allerdings von einem vermeidbaren Verbotsirrtum ausgehen müssen, jedenfalls sobald sich die Einsicht, die dieser Aufsatz bringt, verbreitet hat« (Putzke, 2008a, S. 708). Das Landgericht Köln hat die Sache – dies sei hier vorwegnehmend erwähnt – ganz genau so gesehen und den betreffenden Arzt unter Berufung auf § 17 Satz 1 StGB freigesprochen. Nun sind Festschriftaufsätze in der Regel nicht geeignet, eine grundlegende Diskussion zu entfachen und schließlich den Deutschen Bundestag zum Handeln zu bewegen. Damit sie wahrgenommen werden, ist es ratsam, deren Kernaussage an anderer Stelle zu platzieren, nicht um Doppelveröffentlichungen zu produzieren, sondern um die Sichtbarkeit des Geschriebenen zu erhöhen. So geschehen mit meinem Festschriftaufsatz. Mit gleicher Kernaussage erschienen Beiträge im Mai 2008 in der Zeitschrift »Medizinrecht« (Putzke, 2008b), im Juli 2008 in der »Monatsschrift Kinderheilkunde« (Putzke, Stehr u. Dietz, 2008) und im August 2008 im »Deutschen Ärzteblatt« (Stehr, Putzke u. Dietz,

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2008) – die beiden zuletzt genannten Beiträge in Autorengemeinschaft mit den Ärzten Maximilian Stehr und Hans-Georg Dietz, beide damals tätig am Dr. von Haunerschen Kinderspital in München. Diese Kooperation resultierte aus einem Kontakt, den ich während der Ausarbeitung meines Festschriftaufsatzes geknüpft hatte. Stehr und Dietz hatten sich schon 2001 der Thematik angenommen, damals den Fokus aber noch auf medizinisch-ethische Aspekte gelegt (Stehr, Schuster, Dietz u. Joppich, 2001). Ebenfalls im Mai 2008 erschien in der »Neuen Juristischen Wochenschrift« ein weiterer Beitrag, in dem ich einen Überblick gab zu den vorhandenen Judikaten. Er endet mit einem Ausblick, der vier Jahre später eintreten sollte: »Früher oder später wird sich auch die Rechtsprechung zu der Frage positionieren müssen, ob bei einem nicht einwilligungsfähigen Jungen die Einwilligung seiner Personensorgeberechtigten rechtfertigend wirkt. Aus Gründen der Rechtssicherheit wäre es vor allem für Ärzte wünschenswert, wenn dieser Fall eher früher als später einträte« (Putzke, 2008c, S. 1570). Diese unterschiedlichen Beiträge, verteilt auf medizinische und juristische Zeitschriften, sorgten dafür, dass die Problematik einem größeren Kreis zugänglich gemacht wurde. Vor allem unter Medizinern gab es – nicht erst seit dem Hinweis auf mögliche haftungsrechtliche Konsequenzen – insbesondere ethische Bedenken, sich an einem medizinisch nicht notwendigen Eingriff bei nicht einwilligungsfähigen Kindern zu beteiligen. Während diejenigen sich bestätigt fühlten, die derartigen Operationen ohnehin skeptisch gegenüberstanden, stellte eine mögliche Strafbarkeit für andere eine durchaus existenzielle Bedrohung dar. Gemeint sind vor allem einige niedergelassene Kinderchirurgen, deren wirtschaftlicher Erfolg auch von der Vornahme (religiöser) Knabenbeschneidungen abhing. Sie zählten und zählen – neben religiös-fundamentalistischen Brauchtumspflegern – zu den eifrigsten Verharmlosern des Eingriffs. In Leserforen, zum Beispiel des »Deutschen Ärzteblatts«, entlud sich ihr teils wütender Protest. Ich selbst bin in zahlreichen Diskussionsrunden auf sie getroffen und kann sagen: Je mehr sie mit Jungenbeschneidungen Geld verdienten, desto weniger wollten sie über die Folgen eines solchen Eingriffs etwas hören und umso stärker polemisierten sie gegen jene, die sich auf der Basis solider Fakten bemühten, den Schleier des Nichtwissens beiseitezuschieben. Man könnte auch sagen: Je schärfer die Klingen, umso stumpfer die Logik (vgl. Krause, 2012). Eine dieser Diskussionsrunden fand statt im Oktober 2008 in Berlin-Neukölln mit dem Titel »Die Beschneidung minderjähriger Knaben – medizinrechtliche Bewertungen versus soziokulturelle und religiöse Traditionen«. Veranstaltet wurde das Symposium von Bernd Tillig, dem Direktor und Chefarzt der Klinik für Kinder- und Neugeborenenchirurgie am Vivantes Klinikum Neukölln. Ich

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war zwar nicht eingeladen, entschloss mich aber, daran teilzunehmen, ohne dass die Veranstalter zunächst davon wussten. Der Saal war prall gefüllt und rasch wurde klar, wozu die Veranstaltung vornehmlich dienen sollte: zur Beruhigung der Ärzteschaft mit Blick auf zivil- und strafrechtliche Konsequenzen. Das war durchaus legitim, allerdings war niemand eingeladen, der die kritischen Aspekte in die Diskussion einbringen konnte oder wollte. In der anschließenden Diskussion entlud sich der aufgestaute Ärger über meinen juristischen Standpunkt. Da die Diskutanten nicht wussten, dass ich anwesend war, nahm niemand von ihnen ein Blatt vor den Mund. Dies ging so weit, dass die auf dem Podium sitzende Rechtsanwältin, die medizinisch nicht indizierten Jungenbeschneidungen zuvor juristische Unbedenklichkeit bescheinigt hatte, dazu überging, meinen Standpunkt vor Fehlinterpretationen zu schützen. An dieser Stelle meldete ich mich von einer der hinteren Reihen zu Wort. Ein Raunen ging durch den Saal und denjenigen, die zuvor ganz unverblümt das große Wort über mich geführt hatten, war sichtbar anzumerken, wie unwohl sie sich plötzlich fühlten. Ich bedankte mich für die Schützenhilfe und rückte einige Aspekte gerade, die in der Diskussion gehörig in Unordnung geraten waren. Als dann noch Reinhard Merkel (Hamburger Strafrechtsprofessor und Mitglied des Deutschen Ethikrats), der mich zu dem Symposium begleitet hatte, in ruhigen, gehaltvollen Worten ergänzte, dass die von mir vertretene Position »Hand und Fuß« habe, drohte den Veranstaltern ihr selbst gesetztes Ziel, die Ärzteschaft zu beruhigen, zu entgleiten. Eilig beendeten sie die Veranstaltung. In dieser Art und Weise verliefen Diskussionen bei Weitem nicht immer, was nicht zuletzt abhängig war von der Zusammensetzung der Runde. Wer sich einmal ganz unbefangen mit der Sachlage auseinandersetzt und sich einer juristisch exakten Argumentation öffnet, merkt schnell, dass das Festhalten an der medizinisch sinnlosen Jungenbeschneidung nur funktioniert, wenn man gewichtige Argumente missachtet und fatale normative Brüche in Kauf nimmt. Opfer davon wurden auch die ersten Opponenten, die im juristischen Schrifttum alsbald für die Rechtmäßigkeit medizinisch unnötiger Jungenbeschneidungen Partei ergriffen. Spürbar waren ihre Beiträge von der Absicht getragen, vor allem religiösen Beschneidungen rechtliche Unbedenklichkeit zu bescheinigen. Möglicherweise spielte dabei eine Rolle, dass sie selbst beschnitten worden waren oder ihre Kinder hatten beschneiden lassen. Persönliche Betroffenund Befangenheit waren freilich noch nie gute Ratgeber. Dass die unter solchen Umständen produzierten juristischen Texte einer objektiv-kritischen Überprüfung nicht standhielten, lag auf der Hand. Autoren, die sich mit einer derart einseitigen Argumentation auseinandersetzten, hatten es mit Kritik leicht, wie etwa die stichhaltigen Ausführungen Herzbergs (2009; 2010) an den ersichtlich

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um Schadensbegrenzung bemühten Abhandlungen von Schwarz (2008) und Fateh-Moghadam (2010) belegen. In den ersten beiden Jahren nach Erscheinen meiner Aufsätze spielte sich die entfachte Diskussion überwiegend in medizinischen Kreisen ab. Vor allem einige niedergelassene Kinderchirurgen wetterten gegen das Damoklesschwert des Strafrechts, was in den meisten Fällen sicher mit der schon erwähnten Angst vor finanziellen Einbußen zusammenhing, weniger mit der Sorge um die betroffenen Kinder oder die Religionsausübung der Eltern. Klinikärzte hingegen hatten von Anfang an weitaus weniger Schwierigkeiten, sich mit der Rechtslage, wie ich sie sah, anzufreunden. In vielen Diskussionsveranstaltungen wurde auf den ärztlichen Grundsatz primum non nocere (zuerst einmal nicht schaden) hingewiesen. Denn unmittelbare medizinische Vorteile gibt es bei einer medizinisch unnötigen Jungenbeschneidung nicht und die Nachteile (Schmerzen, Komplikationsrisiko, irreversibler Substanz- und Sensibilitätsverlust und vieles mehr) liegen auf der Hand. Doch der Diskurs beschränkte sich schon bald nicht nur auf Mediziner und Juristen, die sich aus Gründen persönlicher Betroffenheit zu Wort meldeten. Die Problematik hielt langsam Einzug auch in die juristische Kommentarund Lehrbuchliteratur. Dort überwog bald die Auffassung, medizinisch nicht indizierte Jungenbeschneidungen als rechtswidrige Körperverletzungen anzusehen. Deshalb kam das Urteil des Landgerichts (LG) Köln keineswegs überraschend – jedenfalls nicht für Mediziner und Juristen, die über ein Mindestmaß an Interesse verfügen, grundlegende wissenschaftliche Diskussionen und Entwicklungen zu verfolgen. Die Richter betraten dogmatisch also kein Neuland. Vielmehr konnten sie zurückgreifen auf eine zum damaligen Zeitpunkt vorherrschende Meinung. Natürlich trifft es zu, dass die Masse der Juristen damals noch eine schweigende war, was hervorzuheben etwa Beulke und Dießner (2012) sich berufen fühlten. Charlotte Knobloch setzte sogar noch einen drauf: Entschieden habe »ein einzelner Richter auf Grundlage einer juristischen Mindermeinung« (Knobloch, 2013). Wer allerdings glaubt, dass eine Berufungskammer mit einem einzigen Richter besetzt ist, dem kann man seine anderen Irrtümer nicht wirklich übelnehmen. Gelegenheit für schweigende Juristen, Stellung zu nehmen, gab es genug (vgl. die Auflistung bei Putzke, 2008c): Schon im Jahr 2002 sprach das Oberverwaltungsgericht (OVG) Lüneburg Eltern eines aus religiösen Gründen beschnittenen Jungen einen Anspruch gegen den Sozialhilfeträger auf Übernahme von Kosten für die Beschneidungsoperation zu (OVG Lüneburg, Neue Juristische Wochenschrift [NJW] 2003, 3290). Dabei verwiesen die Richter auf ein Urteil aus dem Jahr 1993, in dem das Gericht entschieden hatte, dass der Sozialhilfe-

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träger (analog zur Gewährung einer Beihilfe anlässlich einer christlichen Tauffeier) die Kosten für eine »Beschneidungsfeier« zu übernehmen habe (OVG Lüneburg, BeckRS 2005, 21681). Im Jahr 2004 hatte das LG Frankenthal einen Sachverhalt zu beurteilen, in dem der nichtärztliche Operateur eine religiöse Beschneidung fehlerhaft vorgenommen hatte, weil medizinische Mindeststandards nicht eingehalten worden waren (LG Frankenthal, MedR 2005, 243 ff.). Deshalb sprach es dem Kläger Schmerzensgeld zu. Ebenso entschied das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt in einem Beschluss vom 21. 08. 2007, weil der strenggläubige muslimische Vater eines zwölfjährigen Jungen – ohne Wissen der allein sorgeberechtigten Mutter – dessen Beschneidung veranlasst hatte (OLG Frankfurt, NJW 2007, 3580 ff.). Alle drei Entscheidungen widmen sich nicht ausdrücklich der Frage, ob Eltern mit rechtfertigender Wirkung in eine religiöse, also medizinisch nicht indizierte Beschneidung eines nicht einwilligungsfähigen Minderjährigen einwilligen dürfen. Dazu nahm allerdings schon im Jahr 2002 das Amtsgericht (AG) Erlangen Stellung (Beschluss vom 30. 07. 2002, Az.: 4 F 1092/01): Es entzog den Eltern des betroffenen Kindes, das bei Pflegeeltern lebte, gemäß § 1666 BGB das Recht, »religiös motivierte operative Eingriffe an dem Kind vorzunehmen« und begründete dies mit der Verletzung der körperlichen Integrität und den Risiken des Eingriffs (Narkose, Wundheilung, Narbenbildung). Zugleich nahm das Gericht den leiblichen Eltern das Recht aus der Hand, das Kind in Passangelegenheiten zu vertreten, um eine Ausreise mit anschließender Beschneidung im Heimatland des Vaters zu verhindern. Es gab also schon zehn Jahre vor dem Urteil des LG Köln eine gerichtliche Entscheidung, die in die gleiche Richtung wies. Niemand nahm dies damals zum Anlass, sich mit der Thematik zu beschäftigen. Wissenschaftlich entdeckt wurde das Thema erst 2008. Und erst nach dem Urteil des LG Köln folgte eine wahre Flut an Veröffentlichungen, die noch immer anhält. Kaum ein Thema hat innerhalb so kurzer Zeit derart viele Beiträge hervorgebracht. Das Urteil und seine öffentliche Wirkung Sachverhalt

Der Sachverhalt, der der Kölner Entscheidung zugrunde liegt, war nicht einmal besonders spektakulär, dokumentiert er doch einen durchaus üblichen Verlauf einer Beschneidung: Im November 2010 hatte ein in Köln niedergelassener Arzt, Facharzt für Chirurgie und nach eigenen Angaben gläubiger Muslim, mit Einwilligung der

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ebenfalls muslimischen Eltern eine medizinisch nicht notwendige Beschneidung an einem vierjährigen Jungen durchgeführt, wobei der Eingriff unter örtlicher Betäubung und aus religiösen Gründen stattfand. Obwohl der Arzt – laut eines Sachverständigen – den operativen Eingriff lege artis vorgenommen hatte, kam es zwei Tage danach zu Blutungen, was nicht unüblich ist. Die Mutter brachte den Jungen in die Kindernotaufnahme der Universitätsklinik Köln, wo ihn ein Urologe unter Vollnarkose operierte und die Blutungen gestillt werden konnten. Weil der behandelnde Arzt den begründeten Verdacht hatte, dass die Beschneidung nicht nach den Regeln der ärztlichen Kunst stattgefunden hatte, informierte die Klinik die Polizei. Zwangsläufig erhielt damit auch die Staatsanwaltschaft Kenntnis von der Sache und erhob Anklage gegen den Beschneider – weil der Arzt ein Skalpell benutzt hatte, sogar wegen gefährlicher Körperverletzung nach § 224 Absatz 1 Nr. 2 StGB. Das AG Köln eröffnete das Hauptverfahren, ging also zunächst von einer Verurteilungswahrscheinlichkeit aus, sprach den Angeklagten dann aber nach durchgeführter Hauptverhandlung aus rechtlichen Gründen frei, weil er wegen der Einwilligung der Personensorgeberechtigten gerechtfertigt gehandelt habe (AG Köln, Urteil vom 21. 09. 2011, Az.: 528 Ds 30/11, BeckRS 2012, 13648). Dagegen legte die Staatsanwaltschaft Berufung ein, die vom LG Köln verworfen wurde (LG Köln, Urteil vom 07. 05. 2012, Az.: 151 Ns 169/11, NJW 2012, S. 2128 f.). Dieses sprach den Angeklagten nämlich ebenfalls frei. Indes war die Begründung eine gänzlich andere: Im Gegensatz zum Amtsgericht bejahte die Kammer die Rechtswidrigkeit des Verhaltens, stützte den Freispruch sodann aber auf die fehlende Schuld des Arztes, indem das Gericht einen unvermeidbaren Verbotsirrtum nach § 17 Satz 1 StGB annahm. Die Staatsanwaltschaft verzichtete darauf, Revision einzulegen, obwohl sie es mit dem Ziel einer Verurteilung und der Begründung, der Verbotsirrtum sei vermeidbar gewesen, hätte tun können. Nicht nur das Verdikt der Rechtswidrigkeit, sondern auch der Freispruch sorgte für Kritik – seltsamerweise auch von Juristen. Der Vorwurf lautete, etwa von Beulke und Dießner (2012): »Die Entscheidung des LG Köln ist zunächst einmal eines: ärgerlich. Mit der Zubilligung des unvermeidbaren Verbotsirrtums im Kernstrafrecht hat sich das Gericht einer vertieften Auseinandersetzung mit der Problematik entzogen und eine höchstrichterliche Klärung im Ergebnis verhindert«. In die gleiche Kerbe schlugen Beck und Künast (2012): »Mit einem juristischen Kunstkniff (Freispruch für den angeklagten Arzt trotz angeblicher Strafbarkeit wegen eines zu entschuldigenden Verbotsirrtums) wurde eine höchstrichterliche Klärung verhindert.« Was hätten die Richter nach Meinung von Beulke und Dießner sowie Beck und Künast denn tun sollen? Den Angeklagten entgegen ihrer nach § 261 StPO

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gebildeten Überzeugung verurteilen? Das hätte glasklar den Tatbestand des § 339 StGB verwirklicht, wäre also eine Rechtsbeugung gewesen. Die Kölner Kammer hat sich weder »trickreich« noch mit einem »juristischen Kunstgriff« einer vertieften Auseinandersetzung entzogen, sondern es pflichtgemäß unterlassen, das Recht zu beugen. Das Gegenteil scheinen die Genannten aber zu fordern. An Absurdität ist dies kaum zu überbieten. Wenn Beck und Künast solchen Unsinn verbreiten, mag es einer in der Politik oft zu beobachtenden Oberflächlichkeit zuzuschreiben sein. Wenn aber ein Strafrechtsprofessor sich so etwas zurechnen lassen muss, weil er als Mitautor eines Aufsatzes auftritt, dann ist das mehr als sonderbar. Derartige Kommentare sollten vielleicht suggerieren, dass ein höheres Gericht auf die Rechtmäßigkeit der Beschneidung erkannt hätte. Das ist aber alles andere als gewiss. Wäre der Kölner Fall etwa in der 1. Instanz vor dem LG Köln verhandelt worden, wäre eine Revision der Staatsanwaltschaft beim 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs gelandet. Gerade dort sind aber zwei Richter tätig, die sich dezidiert gegen die Rechtmäßigkeit des Beschneidungsaktes ausgesprochen haben (Eschelbach, 2013, § 223 Rn. 9 u. 35; Fischer, 2013, § 223 Rn. 44a ff.). Das schriftliche Urteil wurde der Zeitschrift »Medizinrecht« zugesandt. Dort entschloss man sich, mich zu fragen, ob ich dazu eine Urteilsanmerkung verfassen würde. Dazu war ich gern bereit. Sie erschien Ende 2012 (Putzke, 2012a). Unmittelbar nach Übermittlung des Urteils an mich veröffentlichte ich zunächst einen kleineren Beitrag, der am 26. 06. 2012 in »Legal Tribune ONLINE« (LTO) erschien (Putzke, 2012b). Am Vortag hatte die »Financial Times Deutschland« die Sache aufgegriffen und über das Urteil berichtet. Aus dem Umstand, dass ich den Autor dieses Zeitungsbeitrags kannte, bastelte der Journalist Müller-Neuhof eine Art Verschwörungsszenario. Sein in der Zeitung »Der Tagesspiegel« erschienener Beitrag dokumentiert weniger die Wirklichkeit als vielmehr einigermaßen wirre Gedankenspiele. Doch allzu offensichtlich und zwanghaft bemüht konstruierte Müller-Neuhof aus Banalitäten und Zufälligkeiten seine ganz eigene Realität. In der Einleitung seines Artikels heißt es: »Die herrschende Meinung und die, die sie machten: Wie ein Rechtsprofessor, eine Staatsanwältin und ein Richter die Debatte um Beschneidung steuerten« (Müller-Neuhof, 2012). Wenn drei Leute gemeinsam etwas steuern, sprechen Strafjuristen von einer Bande. Es verwundert, dass MüllerNeuhof, immer auf der Suche nach größtmöglicher Dramatisierung und der Erregung von Aufmerksamkeit, nicht auch dieses Wort ins Spiel brachte. Dass die Beschneidungsdebatte in seinen Augen medial inszeniert war, wäre eigentlich ein Lob gewesen, das größer kaum hätte sein können. Doch Müller-Neuhof irrte. Besonders fantasievoll waren seine Reflexionen zu meiner vermeintli-

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chen Vorstellung: »Im Fall der Strafsache Beschneidung entstand der Eindruck, die religiöse Beschneidung sei ab sofort gerichtlich verboten. Und es ist kein Zufall, dass es so gekommen ist. Einige wollten es so. Einer von denen ist Holm Putzke.« Das klingt dramatisch. Man könnte den Satz allerdings auch wie folgt fassen: »Im Fall der Berichterstattung über die Strafsache Beschneidung entstand der Eindruck, die Beschneidungsdebatte sei medial inszeniert. Und es ist kein Zufall, dass dieser Eindruck entstehen sollte. Einige wollten es so. Einer von denen ist Jost Müller-Neuhof.« – Müller-Neuhof war nicht daran gelegen, die Entstehungsgeschichte sachlich richtig und nüchtern darzustellen. Möglicherweise fehlte ihm dazu auch juristisches Hintergrundwissen. Denn genauso blühend wie seine Ausführungen ist die juristische Ahnungslosigkeit, die seinen Text durchzieht. Reaktionen

Die Reaktionen auf die Kölner Entscheidung waren bekanntlich geteilt. Am lautesten meldeten sich gleich zu Anfang Vertreter des Judentums zu Wort. Deren Drohkulisse war gewaltig: Es handle sich um »den schwersten Angriff auf jüdisches Leben seit dem Holocaust« und bei einem Beschneidungsverbot sei »jüdisches Leben in Deutschland nicht mehr möglich«. Der Historiker Michael Wolffsohn hat solche Aussagen zutreffend als »substanz- und taktlos« zurückgewiesen (Wolffsohn, 2012). Den religiösen Wortführern war das gleichgültig – ihnen kam es allein auf die Wirkung der Drohkulisse an. Sie ließ nicht lange auf sich warten. Vor allem die Politik reagierte nicht reflektiert, sondern reflexhaft und panisch. Eschelbach (2013, § 223 Rn. 9.8) bringt es auf den Punkt: »Der wegen Übersehens der vorherigen Diskussion im In- und Ausland von einer einzelnen Gerichtsentscheidung überraschte deutsche Gesetzgeber ist eigentlich unvorbereitet, er will aber rasch handeln und die Knabenbeschneidung […] vom strafrechtlichen Unrechtstatbestand ausschließen.« Gerade damit aber lud die Politik die Religionsgemeinschaften ein, Maximalforderungen zu stellen, sprich darauf zu beharren, dass sich an dem archaischen Ritual der Beschneidung faktisch nicht viel ändern muss. Dazu Reinhard Merkel (2012b): »Die Verfasser des Entwurfs haben die beiden großen Religionsgemeinschaften von sämtlichen Zumutungen entlastet, die sich neben dem ohnehin fraglosen Schnitt den betroffenen Kindern zusätzlich aufbürden ließen.« Bevor die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sich umfassend zu der Thematik informierten, beschloss deren Mehrheit hastig – und getrieben vor allem von religiösen Gruppen – eine Resolution, nach der Beschneidungen an Knaben unter bestimmten Bedingungen generell zulässig sein sollten. Der Grund für diese Entscheidung ist wohl auch darin zu suchen, dass die meis-

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ten Abgeordneten von falschen Annahmen ausgingen. Sie glaubten, die Folgen eines islamfeindlichen Urteils korrigieren zu müssen. Das war ein Hirngespinst. Harald Stücker (2012) hat es damals treffend ausgedrückt: »Es geht nicht um Religion, es geht um die Kinder.« Von vielen Parlamentariern war später zu vernehmen, dass diese Resolution niemals in der vorliegenden Art und Weise zustande gekommen wäre, wenn alle Fakten zu Knabenbeschneidungen und die dem Urteil zugrunde liegende Argumentation im Detail bekannt gewesen wären. Denn der Eindruck eines irgendwie auch nur ansatzweise antireligiös motivierten Richterspruchs zerbröselte alsbald gänzlich. Die Kölner Richter hatten schlicht und einfach das geltende Recht angewandt und das Ergebnis vernünftig begründet. Natürlich hätten die Ausführungen an einigen Stellen intensiver ausfallen können. Wer dies aber dem Gericht vorhält, verkennt, dass das Gericht sich erstens auf eine intensiv geführte juristische Debatte berufen hat und dass es zweitens nicht die Aufgabe einer Berufungskammer ist, eine wissenschaftliche Diskussion fortzuführen, sondern eine vertretbare Entscheidung zu treffen. Genau diesem Auftrag ist das Kölner Landgericht gerecht geworden. Die Parlamentarier hingegen waren Opfer einer konzertierten religiös-klerikalen Drohkulisse geworden. Sie hatten nicht gemerkt, dass die Fäden, die sie meinten, in den Händen zu halten, jene waren, an denen andere zogen. Doch die Resolution hatte Fakten geschaffen. Gebunden an dieses voreilig festgelegte Ziel, erarbeitete das Bundesjustizministerium, ebenfalls in allergrößter Eile, einen unzureichend durchdachten Gesetzesentwurf. Die sonst so auf Bürgerrechte fixierte damalige Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger hatte die Rechte von Kindern offenbar nicht auf ihrer Agenda, womöglich weil sie nichts zum parlamentarischen Überleben der FDP beitragen konnten. Der Schutz von Kinderrechten allein war ihr anscheinend zu wenig, um sich für den Schutz körperlicher Unversehrtheit zu engagieren. Stattdessen verbreitete sie unter anderem, dass die Komplikationsrate bei Zirkumzisionen weltweit bei 0,01 % liege (dazu Putzke, 2013). Das war vor allem eines: naiv und ahnungslos. Es ist erschreckend, dass jemand, der einen solchen Unsinn verbreitet, die Verantwortung dafür trug, ein Gesetz zu erarbeiten. Die Aussage der damaligen FDP-Ministerin spiegelt sich nicht ansatzweise in wissenschaftlichen Studien. Niemand bestreitet, dass schwere Komplikationen selten sind. Doch auch Penis- oder Eichelamputationen kommen vor und sogar Todesfälle sind bekannt. Allein dies dokumentiert genügend Schadenspotenzial, um einen halbwegs vernünftigen Menschen zur Einsicht zu bringen, dass solche medizinisch unnötigen Eingriffe keinesfalls vom Elternrecht gedeckt werden. Darüber hinaus sind Schmerztraumata nachweisbar, in vielen Fällen kommt es

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zu Wundinfektionen und es sind Nachoperationen nötig – nicht zu reden von dem Sensibilitätsverlust, der bei zahlreichen Betroffenen spürbare physische und psychische Probleme verursacht. Was muss mit intelligenten Menschen los sein, wenn sie vor all dem Augen und Ohren verschließen? Nur zur Klarstellung: Ich weiß natürlich, dass die meisten beschnittenen Männer sich an den Verletzungsakt entweder nicht oder nicht negativ erinnern und mit ihrem Zustand zufrieden sind. Aber es gibt auch zahlreiche Erwachsene, die eine im Kindesalter zu vermeintlich erzieherischen Zwecken zugefügte Tracht Prügel unbekümmert mit den Worten kommentieren: »Geschadet hat es mir jedenfalls nicht.« Richtigerweise lassen wir das nicht gelten. Uns genügen schon das abstrakte Schadenspotenzial und einige dokumentierte Schädigungen, um das Recht auf gewaltfreie Erziehung notfalls auch mit dem Strafrecht durchzusetzen. Warum genügen uns dann nicht diejenigen, die durch eine Beschneidung physisch oder psychisch geschädigt wurden, um wegen des Risikos solcher Schäden die Vorhautabtrennung zu verbieten? Freilich ist von Komplikationen, Risiken und Schmerzen in der Gesetzesbegründung, die das Justizministerium erarbeitet hat, nicht viel zu lesen. Verwiesen wird stattdessen auf eine Stellungnahme der AAP, der »American Academy of Pediatrics« (AAP, 2012a; 2012b). Die abgewählte Bundesjustizministerin ließ es sich wiederum nicht nehmen, ihre Parteilichkeit zur Schau zu stellen. So behauptete sie ernsthaft, dass die AAP Beschneidungen sogar empfohlen habe. Dabei hat die AAP in ihrer aktuellen Stellungnahme keineswegs eine »Empfehlung« für Beschneidungen abgegeben, sondern lediglich geäußert, dass die Entscheidung darüber den Eltern überlassen werden sollte, weil gesundheitliche Vorteile beschnittener Neugeborener schwerer wögen als die Risiken. Was diese Begründung angeht, ist die Stellungnahme der AAP übrigens unbrauchbar. Erstens handelt es sich um eine von Lobbyisten beeinflusste Erklärung. Denn zu dem Verband gehören auch die US-amerikanischen Geburtshelfer. Vor allem für sie ist das Beschneiden von Neugeborenen ein profitables Geschäft. Ihre Umsätze brachen ein, nachdem die AAP sich in den Jahren 1999 und 2005 noch gegenteilig geäußert hatte. In der aktuellen Stellungnahme findet sich der verräterische Hinweis, dass die Kehrtwende der AAP ausdrücklich von den Geburtshelfern unterstützt wird. Zweitens bestand die Projektgruppe der AAP selbst aus zahlreichen Beschneidungsbefürwortern, die teilweise sogar ihre eigenen Kinder eigenhändig beschnitten hatten (vgl. hierzu den Beitrag von Matthias Franz in diesem Buch). Es liegt doch auf der Hand, dass solche Leute zur Rechtfertigung des eigenen Verhaltens die Vorhautamputation harmlos finden wollen und bestrebt sind, irgendetwas Nützliches daran zu entdecken.

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Nun wären die zwei vorstehend genannten Aspekte irrelevant, wenn das, was die AAP schreibt, in der Sache überzeugend wäre. Denn »auch wer als Einziger nach etwas ruft und dies aus finanziellem Eigeninteresse tut, kann mit seiner Forderung richtig liegen« (zutreffend Scheinfeld in diesem Buch). Doch die Projektgruppe hat aktuelle Studien ignoriert oder jedenfalls bei der Gesamtbetrachtung unberücksichtigt gelassen, unter anderem zu den Auswirkungen der Vorhautamputation auf die Sensibilität und zu den Folgen der erlittenen Schmerzen (vgl. dazu Svoboda u. Van Howe, 2013). Deshalb verwundert es nicht, dass zahlreiche kinderärztliche Verbände dem AAP-Pamphlet energisch widersprochen haben – kurz: die AAP steht mit ihrer Fehleinschätzung inzwischen weltweit zu Recht völlig isoliert da. Dass diese Verlautbarung gleichwohl in der Gesetzesbegründung kritiklos angeführt wird, dokumentiert das oberflächliche Niveau, auf dem die Ausführungen sich bewegen. Es zeigt auch, dass die gebetsmühlenartige Betonung, es gehe um das Kindeswohl und das Kind habe ein Recht auf körperliche Unversehrtheit, leeres Gerede und pure Heuchelei war. Man wollte das eigentliche Ziel verschleiern, das archaische Ritual der religiösen Beschneidung – koste es, was es wolle – zu retten. Trotz der Resolution des Bundestages wäre die anschließende Debatte wahrscheinlich anders verlaufen, wenn das Justizministerium Fakten objektiv gewichtet und nicht absichtsvoll selektiv gesammelt hätte. Hätte es das durch Studien solide belegte Schädigungspotenzial von Beschneidungen sachlich dargestellt, wäre die Mehrheit für das Gesetz bedrohlich ins Wanken geraten, weil vielen Bundestagsabgeordneten dann klar geworden wäre, dass sie keine Entscheidung treffen, die dem Wohl von Kindern dient. Aber solche Fakten wollte niemand wirklich in Erfahrung bringen. Die parlamentarischen Prozesse, welche diese Verblindung möglich machten und bislang aufrechterhielten, sind in diesem Buch im Beitrag von Marlene Rupprecht nachzulesen. Dass in der Politik kein Interesse daran bestand, das Zustandekommen des Gesetzes durch unbequeme Wahrheiten behindern zu lassen, zeigte sich auch an der Auswahl der Sachverständigen für den Rechtsausschuss. Deren Mehrheit segnete den Gesetzentwurf ab. Aber was war dieses Mehrheitsvotum wert? Bei allen Eingeladenen war von Anfang an völlig klar, wie sie votieren würden, weil sich die meisten vorher schon geäußert hatten. So standen von vornherein viele Beschneidungsbefürworter wenigen Kritikern gegenüber. Freilich haben die gezielt ausgewählten Sachverständigen genau das produziert, was die Politik bei ihnen bestellt hatte: einen Persilschein. So funktioniert Politik: Man lade sich die Applaudierer und Ja-Sager ein, die man braucht, und schon bekommt man das Ergebnis, das man haben möchte und das gerade ins Konzept passt.

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Warum wurden neben oder anstelle der jüdischen Beschneiderin Antje Yael Deusel und des Generalsekretärs des Zentralrats der Juden, Stephan J. Kramer, nicht Andreas Gotzmann, Professor für Judaistik an der Universität Erfurt, geladen oder der Historiker Michael Wolffsohn? Warum wurde der damals gerade zum Bundesgerichtshof berufene Henning Radtke gehört und nicht der langjährige BGH-Richter Thomas Fischer, Autor des bekanntesten StGB-Kommentars und seit kurzem Vorsitzender des 2. Strafsenats? Was qualifiziert Hans Kristof Graf, ärztlicher Direktor des Jüdischen Krankenhauses Berlin, gegenüber Boris Zernikow, Leiter des Deutschen Kinderschmerzzentrums, oder gegenüber Matthias Franz, Professor für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie? Oder was hat der Ehrenvorsitzende des Deutschen Familiengerichtstages, Siegfried Willutzki, für besondere Kompetenzen etwa im Vergleich zu einer Vertreterin oder einem Vertreter der Deutschen Kinderhilfe? Wieso wurde Aiman A. Mazyek eingeladen, der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, aber kein einziger von denen, die ihre Beschneidung beklagen und unter ihrem Zustand leiden? Und mit welchem Recht erhält der Kirchenrechtler Hans Michael Heinig den Vorrang etwa gegenüber Winfried Hassemer, dem ehemaligen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts? Wie man sieht: Leicht hätte die Sachverständigenrunde ganz anders besetzt werden können und dann wäre ein ganz anderes Ergebnis herausgekommen und die Medien hätten am nächsten Tag vermelden müssen: »Sachverständige uneins über Beschneidungsgesetz« oder »Sachverständige lehnen Beschneidungsgesetz ab«. Aber das hätte Sand ins Getriebe der überhastet angeworfenen Gesetzgebungsmaschinerie gestreut. Und mehr Bedenkzeit wollte sich die Politik nicht gönnen, weil sie den auf sie ausgeübten Druck als zu groß empfand und weil sie das Resultat einer faktenbasierten ruhigen Diskussion fürchten zu müssen glaubte. Inzwischen hat sich übrigens gezeigt, dass die Stellungnahme einiger Sachverständiger nicht einem Niveau entsprach, das hätte erwartet werden dürfen. Man werfe nur einen Blick auf die Ausführungen des Autorenkollektivs Fellmann, Müller und Graf (2012), letzterer der bereits erwähnte Direktor des Jüdischen Krankenhauses in Berlin, die sie für die Sachverständigenanhörung verfasst haben. Obwohl es schon damals ernstzunehmende Hinweise darauf gab, dass die Anwendung der EMLA®-Salbe bei Jungenbeschneidungen unzureichend ist, ließen sich Fellmann et al. (2012) davon nicht beeindrucken und erklärten ohne auch nur den kleinsten Anflug von Zweifeln: »Klinische Daten bzw. Evidenz, dass EMLA® keine ausreichende Schmerzlinderung bewirkt, sind bei adäquater Anwendung nicht gegeben.« Dass erhebliche Zweifel aber schon an dem in die Stellungnahme eingeflossenen medizinischen Sachverstand angebracht gewesen wären, zeigt allein die beschriebene Anwendungspraxis der EMLA®-Salbe:

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Die Autoren propagieren einen Einsatz der Salbe – trotz fehlender offizieller Zulassung dieses Präparats für die Schmerzbekämpfung bei Beschneidungen. Darüber hinaus wiesen sie zur Beurteilung der Effektivität der Schmerzverminderung auf sogenannte »weiche Faktoren« hin: »Dies beinhaltet eine sofortige Einstellung des Schreiens bei Rückkehr in die Arme der Mutter. Ein Verhalten, das auch vor der Operation beobachtet wird. Weitere Indikatoren sind, dass die Kinder rasch trinken und spontan Urin lassen.« Man hätte diese Faktoren getrost »Fellmann-Müller-Graf ’sche-Gewissensberuhigungs-Faktoren« nennen dürfen. Wissenschaftlich sind sie im konkreten Fall der Neugeborenenzirkumzision alles andere als verlässlich. Denn es stellt sich schon die dringende Frage, ob es eine Kontrollgruppe gab, bei der das Autorenkollektiv versuchsweise ohne den Einsatz von EMLA®-Salbe beschnitten und dabei beobachtet hat, welche Reaktion Säuglinge zeigen. Offenbar haben diese Kinder geschrien, danach nichts getrunken und nicht uriniert. Möglicherweise hatten die Sachverständigen aber auch die realen Schmerzensschreie von Säuglingen vor Augen, die in Synagogen von Mohalim beschnitten werden und deren Lippen mittels eines mit Wein getränkten Tuchs benetzt werden, bevor sie nicht selten in eine Art Schockzustand verfallen (vgl. dazu Paix u. Peterson, 2012, S. 511 ff.; Merkel u. Putzke, 2013, S. 445). Die von den Autoren beobachteten Reaktionen und die daraus abgeleiteten »weichen Faktoren« könnten genauso gut das Gegenteil bedeuten, nämlich fehlendes Schreien als schmerzbedingter Schockzustand und spontanes Urinieren als Folge extremen körperlichen Stresses. Die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten wollte offensichtlich vor allem solchen windigen Stellungnahmen vertrauen und sich davon manipulieren lassen. Das Beschneidungsgesetz (§ 1631d BGB) Regelungsgehalt

Erwartungsgemäß verabschiedete der Deutsche Bundestag am 12. 12. 2012 den § 1631d BGB, der seit dem 28. 12. 2012, wie hier zunächst einmal angenommen sei, geltendes Recht ist. 434 zustimmenden Abgeordneten widersprachen allerdings 100 Gegenstimmen und 46 Enthaltungen. Es gab sogar einen Gegenentwurf, der zahlreiche Unterstützer, wenn auch – ebenso erwartungsgemäß – keine Mehrheit fand und medizinisch nicht indizierte Jungenbeschneidungen erst ab 14 Jahren erlauben wollte. Seit § 1631d BGB als einfaches Recht gilt, werden medizinisch unnötige Zirkumzisionen an einwilligungsunfähigen Jungen nicht mehr bloß – wie vor der Gesetzesänderung – trotz Strafbarkeit wegsehend geduldet, sondern sind unter bestimmten Voraussetzungen sogar erlaubt. Gleichwohl enthält das Gesetz im

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Vergleich zum Rechtszustand vor seinem Inkrafttreten etliche gravierende Verschärfungen – vor allem mit Blick auf Beschneidungen durch Nichtärzte. Entscheidend sein wird die Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben in der Praxis. Bislang jedenfalls werden sie von nichtärztlichen Beschneidern in den meisten Fällen missachtet – teilweise offensiv und ganz bewusst. Arztvorbehalt

Erstens wird klargestellt, dass es diesen Personen zukünftig verboten ist, Kinder zu beschneiden, die älter als sechs Monate sind. Das ist ein Erfolg. Vormals wurde die Vorhaut der Kinder muslimischer Eltern oftmals von herumreisenden Beschneidern amputiert. Das verlief nicht immer glimpflich, wie zahlreiche Fälle belegen. Solchen Pfuschern ist aber längst nicht nachhaltig das Handwerk gelegt. Wenn Eltern mit Migrationshintergrund in ihre Heimatländer reisen, können sie ihre Jungen nach Lust und Laune von Nichtärzten beschneiden lassen, selbst wenn der betroffene Junge älter als sechs Monate ist. Strafbar ist das nicht, weil das deutsche Strafanwendungsrecht nicht greift, jedenfalls dann nicht, wenn die Tat am Tatort nicht mit Strafe bedroht ist (vgl. § 7 StGB), was bei einer Beschneidung etwa in der Türkei, Marokko oder Tunesien der Fall ist. Das kann sogar dann gelten, wenn zum Beispiel der Vater eine Beschneidung selbst gegen den ausdrücklichen Willen der Mutter durchführen lässt. Über einen solchen Fall hatte die Staatsanwaltschaft Freiburg zu entscheiden. Der Vater ist Tunesier, die Mutter Deutsche, sie haben ein gemeinsames, zum damaligen Zeitpunkt sechsjähriges Kind. Nach der Trennung vereinbarten beide beim Familiengericht Folgendes: »Die Eltern sind sich einig, dass das Kind nicht beschnitten werden darf.« Daran hielt der Vater sich nicht – während eines Tunesienurlaubs ließ er den Jungen beschneiden. Als die Mutter nach der Rückkehr des Kindes nach Deutschland davon erfuhr, erstattete sie Strafanzeige. Das daraufhin eingeleitete Ermittlungsverfahren wegen gefährlicher Körperverletzung stellte die Staatsanwaltschaft mangels Verurteilungswahrscheinlichkeit ein. Zwar glaubte sie der Einlassung des Vaters und der Bekräftigung des beschneidenden Arztes nicht, dass eine akute Phimose mit massiven Miktionsbeschwerden eine sofortige Beschneidung unumgänglich gemacht habe. Denn ein Sachverständiger kam zu dem eindeutigen Ergebnis, dass das plötzliche Auftreten einer schweren Phimose medizinisch nahezu ausgeschlossen sei, wenn es in den Jahren vorher nie irgendwelche Beschwerden gegeben hatte. Vater und Arzt hatten offenkundig gelogen. Allerdings setzt die Strafbarkeit einer im Ausland begangenen Körperverletzung voraus, dass die Tat auch nach tunesischem Strafrecht ein strafbares Verhalten darstellt. Genau das aber war nicht der Fall. Denn das tunesische Recht

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legt die rechtliche Vertretung eines Kindes, wozu auch die religiöse Erziehung des Kindes gehört, prinzipiell in die Hände des Vaters. Wie die Mutter darüber denkt, spielt in Tunesien grundsätzlich keine Rolle. Deshalb war die vor dem deutschen Familiengericht getroffene Vereinbarung in Tunesien irrelevant. Folgerichtig musste die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen den Vater einstellen. Der Gesetzgeber könnte leicht eine Lösung für solche Fälle vorsehen, indem er einfach das deutsche Strafrecht auf im Ausland begangene Beschneidungsstraftaten erstreckt (wie etwa in § 5 Nr. 9 hinsichtlich § 218 StGB geschehen). Doch leider endet Kinderschutz bei der Beschneidung der Genitalien nicht nur, wenn die Opfer Jungen sind, sondern auch an deutschen Grenzen. Aufklärung

Zweitens sind auch nichtärztliche Beschneider zukünftig verpflichtet, die Eltern über den Eingriff und die damit verbundenen Risiken umfassend aufzuklären. Das geschah bisher nie oder die Abtrennung der Vorhaut wurde verharmlost, weshalb viele Eltern gar nicht wussten, welchen Gefahren sie ihr Kind aussetzten. Die im Vorfeld des Gesetzes und noch immer geführte Diskussion hat deutlich gemacht, dass es sich mitnichten um einen harmlosen Eingriff handelt. Die Komplikationsrate ist zwar mit Blick auf schwere Verläufe nicht hoch. Aber auch über solche Verläufe ist aufzuklären. Allein die obligatorischen Wund- und Heilungsschmerzen haben aber alle beschnittenen Kinder auf sich zu nehmen. Leider gibt es nach wie vor sogar Mediziner, die behaupten, die Rate leichterer Komplikationen liege weit unter einem Prozent. Wer dies noch immer propagiert, bagatellisiert entweder ahnungslos oder bewusst und führt Eltern in die Irre. Eine solche Aufklärung ist falsch und macht die Einwilligung unwirksam. Dieselbe Konsequenz hat es, wenn nicht auf den mit einer Zirkumzision nachweislich verbundenen Sensibilitätsverlust hingewiesen wird. Liegt ein Behandlungsvertrag vor (§ 630a BGB), sind zudem die Aufklärungspflichten des § 630e BGB zu beachten und die Behandlung ist zu dokumentieren (§ 630f BGB). Damit eine Einwilligung wirksam ist, muss zumindest über Folgendes aufgeklärt werden (vgl. zum Ganzen Scheinfeld, 2013, S. 277): – irreversibler Verlust der Penisvorhaut, – Verlust ihrer schützenden Funktion (vor Schadstoffen, Reibung, Austrocknung und Verletzungen), – Verlust antibakterieller und antiviraler Funktionen, Kappung von Verbindungskanälen für zahlreiche bedeutende Venen, gegebenenfalls mit der Folge einer erektilen Dysfunktion sowie – psychische Folgen (z. B. Kastrationsängste bei Jungen, die den Beschneidungsakt bewusst miterleben).

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Auch auf die Möglichkeit folgender Komplikationen ist hinzuweisen (vgl. auch Stanford School of Medicine, 2012; Franz, 2012b, S. 219): – lokale Blutungen, – Nachblutungen, – lokale und systemische Infektionen, – unzureichende Vorhautverkürzung (mit der Folge einer Re-Zirkumzision aus ästhetischen Gründen oder wegen einer sekundären Phimose), – zu starke Vorhautverkürzung, – Verwachsungen der verbleibenden Penishaut mit der Glans, – Blasenbildung unter der verbleibenden Penishaut, – Meatitis (Entzündung der Harnröhrenöffnung), – Meatusstenose (Verengung der Harnröhrenmündung), – Harnsperre wegen des Verbandes, – sekundäre Phimose, – Chordee (abnormale Kurvenhaltung des [erigierten] Penis), – Hypospadie (zu weite und an der Unterseite des Penis mündende Öffnung des Harnwegs), – Epispadie (an der Oberseite des Penis mündende Harnöffnung), – Fistelbildung zwischen Harnröhre und Penishaut, – Nekrotisierung des Penis, – (Teil-)Amputation des Penis, – Schmerzen während und nach der Zirkumzision, – schmerzende Narben an Vorhautresten, – allergische Reaktionen auf Medikamente, – abnormale Wundheilung, – Behandlungsfehler, – Tod des Beschnittenen. Zu den Risiken zählen neben psychischen Spätfolgen (dazu Franz, 2012a, und in seinem Beitrag in diesem Buch) übrigens auch klassische Anästhesie- und Operationsrisiken. Dass Säuglingen nicht nur die Vorhaut amputiert wird, sondern der Beschneider versehentlich sogar Teile der Eichel abtrennt, kommt durchaus vor – erst jüngst wieder bei einer Brit Mila, die ein Mohel in Israel vornahm. Der Kinderchirurg Maximilian Stehr schildert einen bestürzenden Narkosezwischenfall mit eindrücklichen Worten: »Im Juli 2011 ging eine Mutter mit ihrem zweijährigen Sohn in eine kinderchirurgische Praxis in München. Der Junge war bis zu diesem Tag vollkommen gesund, ihm fehlte nichts. Der Junge sollte nach dem Willen seiner Eltern in der Arztpraxis aus religiösen Gründen beschnitten werden. Während der Nar-

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kose gab es einen Zwischenfall, das Kind ließ sich plötzlich nicht mehr beatmen. Der Sauerstoffgehalt im Blut sank ab, das Herz des Kindes hörte auf zu schlagen. Dramatische Szenen spielten sich in den folgenden Minuten ab. Die Ärzte versuchten, das Kind wiederzubeleben, verständigten den Münchner Kindernotarzt. Bei seinem Eintreffen war der kleine Körper seit mindestens zehn Minuten ohne ausreichende Sauerstoffversorgung. Die Wiederbelebung gelang, der Junge wurde im Notarztwagen in unser Krankenhaus gebracht. Dennoch, das Bewusstsein hat dieses Kind nie wieder erlangt, die Hirnschädigung durch den Sauerstoffmangel war zu stark« (Stehr, 2012b, S. 124). Zwei Dinge muss man sich immer ins Bewusstsein rufen. Erstens: Solche Verläufe sind zwar selten, kommen aber durchaus vor. Zweitens: Der einstmals kerngesunde Junge ist schwer hirngeschädigt, weil ihn Ärzte, dem Verlangen seiner religiös motivierten Eltern folgend, einem vollkommen unnötigen Risiko ausgesetzt haben! Während eine Aufklärung, wenngleich bei weitem nicht immer hinreichend, bei ärztlich durchgeführten Zirkumzisionen jedenfalls in Deutschland die Regel ist, erfolgt sie – trotz gesetzlicher Pflicht – bei der traditionellen jüdischen Beschneidung, der Brit Mila, entweder gar nicht oder nicht in der nach § 1631d BGB gebotenen Qualität. Dies liegt daran, dass diese Vorschrift auch Nichtärzten die Beschneidung erlaubt. Das stellt eine Sonderregel für jüdische Beschneider dar. Sie verfügen – jenseits der bloßen Vorhautamputation – meist über keine ausreichende medizinische Qualifikation und sind nicht vertraut mit den allgemein anerkannten fachlichen Standards. Deshalb werden sie selten dazu in der Lage sein, das von den Fachgesellschaften angeführte Risiko adäquat darzustellen. Abgesehen davon wäre es der Brit Mila, die der bedeutende Rabbiner Abraham Geiger einst als einen »barbarisch blutigen Akt« bezeichnet hat (Geiger, L., 1878, S. 181), wohl auch wenig zuträglich, wenn vor ihrer Durchführung den Eltern offen und ehrlich gesagt werden müsste, welche Risiken dieser irreversible Eingriff tatsächlich in sich trägt und welche massiven Schmerzen ein Säugling erleidet. Vielleicht hilft es auch, wenn man sich einredet, was Charlotte Knobloch propagiert: »Wir tun unseren Kindern nicht weh!« (Israelitische Kultusgemeinde, 2012). Kann man eine solche Verdrängung der Realität wirklich ernst nehmen? Säuglinge verfügen über kein schmerzunterdrückendes System, weshalb sie mehr Schmerzen empfinden als Erwachsene (Zernikow, 2012). Man muss schon in einer eigenen, von Autosuggestion geprägten Welt leben, in der medizinische Fakten keine Rolle spielen, um an das Gesagte zu glauben. Im Gegensatz zu Charlotte Knobloch lebt Stephan Kramer, Generalsekretär des Zentralrats der Juden, schon eher in der realen Welt: »Es ist auch idiotisch, Kritik daran mit dem Argument abzutun, es täte nicht weh. Es tut weh« (Lau, 2012).

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Die EMLA®-Salbe ist jedenfalls nicht geeignet, die Beschneidungsschmerzen von Säuglingen adäquat zu reduzieren. Aktuelle Studien belegen dies. Wird nicht darüber aufgeklärt, dass das Kind trotz der Behandlung mit EMLA®-Salbe massiven Schmerzen ausgesetzt wird, ist die Aufklärung fehlerhaft, die Einwilligung unwirksam und der Eingriff als gefährliche Körperverletzung strafbar. Eschelbach hat zweifellos Recht, dass es angesichts der eklatant defizitären Aufklärungspraxis derzeit keine wirksamen Einwilligungen geben dürfte (2013, § 223 Rn. 35.4): »Die verbreitete Behauptung falscher Tatsachen über Bedeutung, Tragweite, Risiken (OLG Oldenburg NJW-RR 1991, 1376) und Nebenwirkungen der Beschneidung […] führt deshalb dazu, dass erteilte Einwilligungen der Eltern unwirksam sind. Falsche Vorstellungen herrschen vor allem über die angebliche biologische Unwesentlichkeit der Vorhaut, ihre Unerheblichkeit für das männliche Empfindungsvermögen, insbesondere bei sexuellen Handlungen, die behauptete medizinisch-prophylaktische Relevanz der Entfernung der Vorhaut zur präventiven Verhinderung erheblicher Krankheiten beim Betroffenen und Ansteckungsgefahren bei Dritten, die angebliche Schmerzfreiheit bei und nach der Operation insbesondere für Säuglinge, die Unmöglichkeit oder Entbehrlichkeit von Anästhesie, die Gleichwertigkeit von Eingriffen im Krankenhaus oder durch einen Beschneider, der im Einzelfall kein Arzt ist, die Komplikationslosigkeit des Eingriffs und das regelmäßige Ausbleiben traumatischer Wirkungen des Eingriffs. In allen Punkten finden sich unwahre Tatsachenbehauptungen. Angesichts dieser Fehlinformationen kann es kaum jemals eine wirksame Einwilligung geben, sofern nicht im Einzelfall eine vollständige, zutreffende und neutrale ärztliche Aufklärung (OLG Oldenburg NJW-RR 1991, 1376) vor der nicht medizinisch indizierten Operation vorliegt […]«. »Mohelklausel«

Drittens werden in der »Mohelklausel«, dem Absatz 2 von § 1631d BGB, vor allem jüdische Beschneider, sogenannte Mohalim, verpflichtet, sich an medizinische Standards zu halten. Denn das Gesetz erlaubt Beschneidungen nur dann, wenn sie lege artis vorgenommen werden, also nach den Regeln der ärztlichen Kunst, worauf sich Absatz 2 bezieht. Sterilitätsstandards

Verletzt wird das neue Gesetz insoweit, wenn Sterilitätsstandards nicht eingehalten werden, die für vergleichbare medizinische Eingriffe üblicherweise gelten. Die meisten Ritualbeschneidungen finden aber nicht in einem Krankenhaus oder in einer ärztlichen Praxis statt, wo Sterilität des Beschneidungsbestecks und der unmittelbaren Umgebung gewährleistet werden können. Beschneidun-

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gen in Synagogen erfüllen diese Anforderungen in der Regel nicht. Dort gibt es kein minutenlanges Waschen der Hände mit anschließender Desinfizierung derselben; der Mohel trägt weder einen Kittel noch Handschuhe oder einen Mundschutz, nicht zu reden von nicht vorhandener Keimarmut der Operationsumgebung. Eine unter derartigen Umständen durchgeführte Brit Mila ist rechtswidrig – auch und gerade auf der Basis von § 1631d BGB. Verboten sind deshalb ganz klar Beschneidungen, die der Mohel mit seinem scharfen Fingernagel verrichtet oder bei denen er das Blut vom Penis des beschnittenen Babys mit seinem Mund absaugt, was bei dem in ultraorthodoxen Kreisen noch immer geforderten und praktizierten Ritual Metzitzah B’peh üblich ist. Schmerzbehandlung

Unzulässig sind zudem (nicht nur rituelle) Beschneidungen ohne wirkungsvolle Schmerzbehandlung (vgl. Deutscher Bundestag, 2012, S. 3). Dazu schreiben Hörnle und Huster: »Eine Einwilligung der Eltern wirkt auch bei Prozeduren nach § 1631d Abs. 2 BGB nur dann rechtfertigend, wenn die Beschneidung unter einer Betäubung erfolgt, die nach aktuellem medizinischem Kenntnisstand (nicht: nach dem Selbstverständnis einer Religionsgemeinschaft) effektiv die Entstehung erheblicher Schmerzen verhindert« (2013, S. 339). Die meisten jüdischen Beschneidungen fanden und finden ohne jegliche effektive Betäubung statt. Es wurde von jüdischen Vertretern oft auch gar kein Geheimnis daraus gemacht, dass der Schmerz für den Bund mit Gott unerlässlich sei. Inzwischen sind diese Stimmen nahezu verstummt. Nicht nur jüdische Beschneider haben mittlerweile gemerkt, dass es in der Öffentlichkeit alles andere als gut ankommt, wenn bekannt ist, dass acht Tage alte Säuglinge mit Absicht massiven körperlichen Schmerzen ausgesetzt werden. Doch die Stille ist trügerisch. Nach wie vor werden Säuglinge von Mohalim so beschnitten, wie diese es seit jeher praktiziert haben – nämlich ohne akzeptable, das heißt wirkungsvolle Schmerzbehandlung. Geändert hat sich allein der offizielle Sprachgebrauch, nicht aber das praktizierte Ritual – jedenfalls wenn Nichtärzte am Werke sind. Wer Jungen aber ohne wirksame Betäubung beschneidet, zelebriert nicht nur ein qualvolles Ritual, sondern macht sich auch wegen Körperverletzung nach § 224 StGB strafbar. Denn die von den Eltern erteilte Einwilligung ist unwirksam, weil der Eingriff nicht lege artis, sondern unter Missachtung der Voraussetzungen von § 1631d BGB stattfindet. Ralf Eschelbach, Richter am Bundesgerichtshof, weist zutreffend darauf hin, dass es sich bei der Beschneidung eines nur unzureichend gegen Schmerz geschützten Kindes um eine Gewalterfahrung

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im Intimbereich handelt, die objektiv noch schwerer wiegt als die meisten Fälle des schweren sexuellen Missbrauchs (Eschelbach, 2013, § 223 Rn. 9.4). Allerdings dürfte es noch einige Zeit dauern, bis die Vorgaben des § 1631d BGB ihre Wirksamkeit entfalten. Die Justiz wird gegebenenfalls dafür sorgen, dass es dazu kommt. Möglicherweise setzt sich bei den Beschneidern aber auch die Erkenntnis durch, dass die Einhaltung des Gesetzes sinnvoll ist. Bei einer gesetzeskonformen Lösung sind allerdings mehrere Aspekte zu beachten: Mohalim sind in der Regel keine Ärzte, weshalb es ihnen in diesem Fall auch nicht erlaubt ist, geeignete Schmerzmittel einzusetzen. Sie sind deshalb gar nicht in der Lage, eine wirkungsvolle Schmerzbehandlung vorzunehmen. Daraus folgt, dass Beschneidungen zukünftig ausschließlich dann durchgeführt werden dürfen, wenn der Beschneider zugleich die Voraussetzungen der Approbationsordnung für Ärzte erfüllt oder ein Arzt bei der Beschneidung anwesend ist und die Schmerzbehandlung übernimmt (ebenso Scheinfeld, 2013, S. 276). Wie hat eine Schmerzbehandlung auszusehen, damit sie wirkungsvoll ist? Ganz sicher fällt darunter nicht die bereits erwähnte und noch immer vorzufindende Praxis, den Mund des Säuglings mit Wein zu befeuchten. Vollnarkosen scheiden indes ebenfalls aus, weil sie bei einer Zirkumzision für einen acht Tage alten Säugling zu riskant wären. Bislang haben Ärzte sich deshalb vornehmlich auf den Einsatz der oben erwähnten EMLA®-Salbe verlassen. Inzwischen hat sich allerdings gezeigt, dass diese für den Einsatz bei Jungenbeschneidungen ungeeignet ist. Darauf hatten im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens etwa schon der Kinderchirurg Maximilian Stehr, inzwischen Chefarzt der Cnopf ’schen Kinderklinik in Nürnberg, und der Jurist Reinhard Merkel, Mitglied im Deutschen Ethikrat, nachdrücklich hingewiesen (Merkel, 2012b bzw. Stehr, 2012a). Doch die Mehrheit wollte damals nicht auf sie hören. Vielmehr vertrauten die Abgeordneten lieber dem oben schon erwähnten Autorenkollektiv Fellmann, Müller und Graf, das trotz einer anders lautenden Studienlage die Anwendung der EMLA®-Salbe in den höchsten Tönen lobte. Dass diese Salbe eine wirkungsvolle Schmerzbehandlung aber gerade nicht gewährleistet, wissen wir – dank der bemerkenswerten Hartnäckigkeit der Anästhesistin Birgit Pabst (vgl. Schulte von Drach, 2013) – spätestens seitdem die Herstellerfirma entsprechende Hinweise zur Jungenbeschneidung vom Beipackzettel entfernen musste, weil sie auf einer eklatant defizitären Studie fußten. Nicht zuletzt deshalb ist der Einsatz von EMLA® bei Neugeborenenbeschneidungen ein sogenannter Off-Label-Use, also eine nicht zugelassene Anwendung. Rückblickend muss man sagen: Kaum jemals vorher dürfte es eine derartige Manipulation von Parlamentariern in Form von Falschinformationen und Baga-

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tellisierung gegeben haben. Man muss kein Abraham sein, um sagen zu können, dass § 1631d BGB in seiner jetzigen Form niemals verabschiedet worden wäre, wenn sämtliche Fakten bekannt und objektiv gewürdigt worden wären. Ohne den vormals irrtümlich für tauglich gehaltenen Einsatz der EMLA®Salbe reduzieren sich die Möglichkeiten einer »wirkungsvollen Schmerzbehandlung« allerdings dramatisch. Einzig und allein eine lokale Betäubung in Form eines Peniswurzelblocks könnte dies möglicherweise sicherstellen. Allerdings sind Experten sich einig, dass eine derartige lokale Betäubung bei Säuglingen schwer zu steuern ist und selbst dann oft misslingt, wenn sie Spezialisten vornehmen (Zernikow, 2012). Nahezu zwingend ergibt sich dementsprechend Folgendes: Jenseits einer viel zu riskanten Vollnarkose ist eine wirksame Schmerzbehandlung bei der Säuglingsbeschneidung eine Illusion (vgl. Hartmann, 2012). Selbst eine wirksame Aufklärung vermag hieran nichts zu ändern. Weil die Abgeordneten, die § 1631d BGB zugestimmt haben, nach falscher Beratung vom Gegenteil ausgingen, sie eine effektive Schmerzbehandlung aber gerade zu einer der Hauptbedingungen erhoben haben, entfällt die Geschäftsgrundlage von § 1631d BGB mit Blick auf die Neugeborenenzirkumzision, was das Gesetz auch insoweit verfassungswidrig macht. Beschneidungszweck

Unzulässig sein soll eine Zirkumzision gemäß § 1631d Absatz 1 Satz 2 BGB ebenfalls, wenn »auch unter Berücksichtigung ihres Zwecks das Kindeswohl gefährdet wird«. Dies ist laut der Gesetzesbegründung beispielsweise der Fall, wenn Eltern eine Beschneidung aus rein ästhetischen Gründen oder mit dem Ziel vornehmen lassen wollen, die Masturbation zu erschweren. Um sich keinem Haftungsrisiko auszusetzen, sollte ein Operateur deshalb vor einer medizinisch unnötigen Jungenzirkumzision die Motivlage der Eltern erfragen. Wegen der inzwischen klaren Position der Fachverbände sollte eine Zirkumzision auch abgelehnt werden, wenn Eltern sie als vermeintlich gesundheitspräventive Maßnahme wünschen. Jedenfalls für ein Kind hat eine Zirkumzision keinerlei unmittelbaren medizinischen Nutzen, der in der Lage wäre, die Risiken aufzuwiegen. Kein seriöser Wissenschaftler bestreitet dies heute, allenfalls vollkommen blindwütige Fanatiker und Propagandisten, wozu etwa Brian J. Morris (z. B. Morris et al., 2012) gehört (Lehrkraft für Molekularmedizin an der University of Sidney), der mit kruden Pamphleten Low-impact-Zeitschriften füllt, in denen er wild entschlossen die Jungenbeschneidung preist – völlig losgelöst von allgemein anerkannten medizinischen und ethischen Bewertungsmaßstäben sowie wissenschaftlichen Mindestanforderungen.

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Unbedingt ist darauf zu achten, dass sämtliche Personensorgeberechtigten ihre Zustimmung erteilen. Ebenso ist – abhängig von der Entwicklung – der betroffene Junge, möglichst allein und kindgerecht, zu befragen, um zu erfahren, ob sein Wille dem Eingriff möglicherweise entgegensteht. Äußert oder verhält er sich ablehnend, ist der Eingriff unbedingt zu unterlassen, weil sein Veto zur Unwirksamkeit der (elterlichen) Einwilligung führt. Sowohl die Motivlage als auch die Maßnahmen, die vorgenommen werden, um das entwicklungsabhängige Vetorecht des betroffenen Jungen zu sichern, sind zu dokumentieren. Juristische Standpunkte In der Rechtswissenschaft wird das Urteil des Landgerichts Köln kontrovers diskutiert. StGB-Kommentare

Wenn man sich aber nur einmal die strafrechtlichen Standardkommentare anschaut, dann ergibt sich ein klares Bild. Schon 2010 schrieben Lenckner und Sternberg-Lieben im Kommentar Schönke/Schröder (Vor § 32 Rn. 41): »Sofern man das Kindeswohl […] nicht unter dem Blickwinkel der Vermeidung einer Ausgrenzung innerhalb des jeweiligen religiös-gesellschaftlichen Umfeldes des Kindes gewahrt sieht, dürfte kein Weg daran vorbeiführen, die elterliche Einwilligung in Ausübung des staatlichen Wächteramts (Art. 6 II 2 GG) für unwirksam zu erachten […]: Das Elternrecht aus Art. 6 I GG stellt ein auf Wahrung des Kindeswohls bezogenes Pflicht-Recht dar […]; der weitreichende Interpretationsprimat der Eltern betr. des Kindeswohls […] findet ebenso wie die Glaubensfreiheit der Eltern (Art. 4 I II GG) seine verfassungsimmanenten Schranken an der Körperintegrität (Art. 2 II) und dem allg. Persönlichkeitsrecht des Kindes (Art. 2 I iVm 1 I GG), zu dem auch die Selbstentscheidung über die Zuordnung zu einer Religionsgemeinschaft zählt […]«. 2011 kam Zöller im AnwaltKommentar (§ 223 Rn. 22) zu folgendem Ergebnis: »Werden nicht einwilligungsfähige Jungen beschnitten, so liegt darin eine rechtswidrige Körperverletzung i. S. v. § 223 StGB, da auch die etwaige Einwilligung der Inhaber der Personensorge nicht dem Kindeswohl entspräche und somit nicht rechtfertigend wirken kann.« Maßgeblich beeinflusst wurde das Urteil des LG Köln von der ebenfalls 2011 erschienenen Kommentierung Schlehofers im Münchener Kommentar (Vorbemerkung zu den §§ 32 ff. Rn. 143 f.). Dort heißt es (hier nur auszugsweise wiedergegeben): »Grenzen sind dem elterlichen Sorgerecht auch bei der Ein-

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willigung in eine Beschneidung (Zirkumzision) gezogen. Soweit die Eltern sie im Rahmen der religiösen Erziehung vornehmen lassen wollen, verwehren ihnen die §§ 1627 S. 1, 1631 Abs. 2 S. 1 BGB die Zustimmungsbefugnis. Denn nach § 1627 S. 1 BGB sind vom Sorgerecht nur Erziehungsmaßnahmen gedeckt, die dem Wohl des Kindes dienen. Erziehung durch Gewalt gehört nach § 1631 Abs. 2 S. 1 BGB aber nicht dazu. Er gibt dem Kind ausdrücklich ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Da er davon religiöse Erziehungsmaßnahmen nicht ausnimmt, gilt das Gewaltverbot auch für sie. Sie werden der Vorschrift auch nicht durch die Art. 4 Abs. 1, 6 Abs. 2 GG entzogen. Denn […] Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG [zieht] selbst den Grundrechten der Eltern gem. Art. 4 Abs. 1, 6 Abs. 2 GG eine verfassungsimmanente Grenze.« Nach dem Urteil – und schon unter Bezugnahme auf erste Eckpunkte einer Regelung der Beschneidung – bezog 2013 Paeffgen im Nomos-Kommentar Stellung (§ 228 Rn. 103c–d): »Es erscheint mehr als fraglich, ob das Recht zur religiösen ›Fremdbestimmung‹ gegenüber den eigenen Kindern so weit gehen darf, das Kind einem, wenn auch ganz geringen, aber nicht wegzuleugnenden Risiko nachhaltiger Schäden auszusetzen, um es in die eigene Religionsgemeinschaft einzuführen. Im Übrigen steht die Vehemenz, mit der breite Teile der Medien, aber auch der politisch herrschenden Klasse gegenüber den Beschneidungsbefürwortern zu Kreuze krochen, in diametralem Gegensatz zu der vollmundigen Verteidigung einer nicht nur ›gewaltfreien‹, sondern auch schmerz- und angstfreien Pädagogik. Dass eine Beschneidung, zumal ohne Betäubung, aber selbst nach deren Abklingen, schmerzhaft ist, wird allenfalls von denen bezweifelt, die dies für eine religiöse Notwendigkeit halten. […] Deswegen ist auch der Minimalkonsens, auf den sich der Deutsche Ethikrat verständigt hat, von einer sachgerechten Problemlösung weit entfernt. Kurz: In der Sache ist die medizinisch nicht indizierte Zirkumzision eine nicht rechtfertigungsfähige Körperverletzung.« Besonders gern verwiesen die Anhänger der Jungen-Genitalverstümmelung auf einen weiteren Standardkommentar zum Strafgesetzbuch, der seit jeher und nach wie vor für sich in Anspruch nehmen darf, nicht nur in der Praxis über großen Einfluss zu verfügen: den Kommentar von Fischer aus der Reihe »Beck’sche Kurz-Kommentare«. Im Jahr 2007 erschien dieser Kommentar in der 54. Auflage noch unter dem Namen »Tröndle/Fischer«. Dort wurde damals noch in Randnummer 3a zu § 223 StGB ohne auch nur den Hauch einer Begründung behauptet, dass religiöse Beschneidungen tatbestandslos seien. Dies ging freilich wohl auf den Kommentator Herbert Tröndle zurück, nicht hingegen auf den jetzigen Vorsitzenden des 2. Strafsenats am Bundesgerichtshof, Thomas Fischer. Letzterer sieht die Sache inzwischen differenzierter und grundlegend anders. So heißt

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es in der im Jahr 2013 erschienenen 60. Auflage (§ 223 Rn. 44a ff.): »Das Argument, beim Beschneiden handele es sich um ›Religionsausübung‹, ist unzutreffend: Aus Art. 4 GG ergibt sich kein Anspruch, den eigenen religiösen Glauben durch medizinisch sinnlose, im Einzelfall riskante Verstümmelungen anderer Menschen zu praktizieren« (Rn. 44a). In Rn. 50a formuliert Fischer unmissverständlich sein Ergebnis: »Eine Rechtfertigung auf der Grundlage der religiösen Überzeugungen von Sorgeberechtigten war nach bisherigem Recht abzulehnen. Das gilt nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund des § 1631 II BGB […]. Eine grundrechtswidrige Einschränkung religiöser (muslimischer oder jüdischer) Lebensgestaltung wäre mit einem Verbot ritueller Verstümmelungen selbstbestimmungsunfähiger Kinder nicht verbunden«. In gleicher Weise positioniert sich Ralf Eschelbach im Beck’schen OnlineKommentar (§ 223 Rn. 35.2, 35.3): »Das Recht spricht sich in Art 2 Abs 2 S 1 GG, § 223 StGB, aber auch in § 1631 Abs 2 BGB (Czerner ZKJ 2012, 374, 379) prinzipiell schon gegen Eingriffe in die Körpersphäre ohne medizinische Indikation aus. Ein medizinisch grundloser Eingriff in die Intimsphäre ist nach Art 1 Abs 1 GG niemals erlaubt (Art 79 Abs 3 GG). Damit bleibt es bei dem von der Tatbestandsmäßigkeit indizierten Befund, dass objektiv Unrecht vorliegt, weil auch § 1631d BGB verfassungswidrig und zudem generell wegen Kindeswohlgefährdung nicht einschlägig ist. […] Das Freiheitsrecht der Eltern aus Art 6 Abs 2 S 1 GG (Lack ZKJ 2012, 336, 338) gibt diesen keine Befugnis zum Eingriff in das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit aus Art 2 Abs 2 S 1 GG […].«

Primär verfassungsrechtliche Stellungnahmen

Von den Verfassungsrechtlern hat deutliche Kritik an dem Berliner Gesetz der Bonner Staatsrechtler Josef Isensee (2013) geäußert. Die bislang klügste und gründlichste Verteidigung des Gesetzes haben hingegen Hörnle und Huster (2013) vorgelegt. Das von ihnen herausgearbeitete Kriterium lässt allerdings – wie Herzberg in diesem Buch überzeugend darlegt – praktisch nichts übrig von der Beschneidungserlaubnis des § 1631d BGB (gegen Hörnle u. Huster auch Scheinfeld, 2013, S. 271 f., und ausführlicher in diesem Buch). Gedeckt sein solle die Beschneidung nur dann vom elterlichen Erziehungsrecht, wenn sie »unabdingbar für die Zugehörigkeit zur religiösen Gemeinschaft« ist. Das ist sie weder für das Judentum und erst recht nicht für den Islam. Denn die Zugehörigkeit zu beiden Religionsgemeinschaften ist vollkommen unabhängig vom Beschneidungsakt; Kinder jüdischer bzw. muslimischer Eltern werden vielmehr von Geburt an aufgenommen. Die Vorhautamputation stellt – wie Alan Posener

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(2012) zutreffend formuliert hat – nur noch einen Akt »frühkindliche[r] Indoktrination [dar], vermittels derer sich die Religionen fortpflanzen.« Unterhalb dieses Niveaus bewegen sich andere, etwa der aufgeweckte Kirchengeist Michael Germann, was sich allein daran zeigt, wie er es unternimmt, seine Gegner und ihre Beiträge überheblich abzuwerten. Die Ausführungen des Strafrechtlers Rolf Herzberg seien »weniger auf Verfassungsnormen bezogen denn auf Intuition und Wertepolitik« (Germann, 2013, S. 413 Fn. 4). Behauptungen dieser Art mag man aufstellen, wie man eben für alles Mögliche auf der Welt unqualifizierte Behauptungen aufstellen kann. Wer die Beiträge von Herzberg kennt, einem der profiliertesten Strafrechtswissenschaftler der Gegenwart, merkt rasch, dass Kirchenrechtler Germann den Ausführungen Herzbergs offensichtlich nicht gewachsen war. Dem Richter am Bundesgerichtshof Ralf Eschelbach, dem Regensburger Strafrechtslehrer Tonio Walter und anderen attestiert er »grundrechtsdogmatische Defizite« (Germann, 2013, S. 416 Fn. 20), mit anderen Worten grobe Unwissenheit. Solche Defizite könnten freilich auch bei demjenigen zu suchen sein, der sich für ein Elternrecht stark macht, das von einem Kindeswohl begrenzt wird, dessen Umfang die Eltern sogar bei massiven körperlichen Eingriffen selbst bestimmen dürfen. Aber Germann legt noch nach: Ralf Eschelbach verwechsele Strafrecht mit Verfassungsrecht. Wer sich allerdings in Kirchen besser als im Bundesverfassungsgericht auskennt, sollte sich vielleicht etwas zurückhalten mit derartiger Kritik. Im Gegensatz zu Michael Germann war Ralf Eschelbach langjähriger wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht. Germann verkennt seinerseits, dass Strafrecht als angewandtes Verfassungsrecht auch Aussagekraft für die Bedeutung der verfassungsgeschützten Rechtsgüter haben kann. Voraussetzung dafür ist allerdings die richtige Erfassung der Tatsachen, was sich über Germanns Text nicht einmal ansatzweise sagen lässt. Seine Ausführungen sind tatsachen- und lebensfremd. Auch macht es nicht gerade einen guten Eindruck, wenn man selbst schon in der zweiten Fußnote zu erkennen gibt, wie wenig man verstanden hat oder verstehen will. Dort schreibt Germann, dass unter anderem ich »eine Bestrafung der jüdischen und der muslimischen Knabenbeschneidung ohne Rücksicht auf das Grundrecht der Religionsfreiheit« gefordert hätte. Nun wüsste ich von einer solchen Forderung, gäbe es sie. Sie gab und gibt es nicht. Begründet habe ich allein, dass medizinisch nicht notwendige Knabenbeschneidungen, also auch religiös motivierte, auf dem Boden des damals geltenden Rechts eine strafbare Körperverletzung darstellten. Germann scheint der Unterschied zwischen Forderung nach Bestrafung und wissenschaftlicher Begründung von Strafbarkeit nicht geläufig zu sein.

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Was Kirchenrechtler Germann sich ausgedacht hat, nehmen nur diejenigen ernst, die nicht verstehen können und daran glauben wollen, was er schreibt. Wer Verfassungsrecht nicht als Kirchenrecht im weiteren Sinne auffasst – und das dürfte die Mehrheit der seriösen Verfassungsrechtler tun – wird seine Ausführungen verwerfen (vgl. die profunde Auseinandersetzung von Herzberg in diesem Buch) oder schlicht ignorieren. Aber auch die Aussagen von Kay Windthorst (2013) sind weit entfernt davon, wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen. Während er das Landgericht Köln für seine Entscheidung kräftig tadelt, lobt er den Gesetzgeber in den höchsten Tönen: Der zwischen dem Elternrecht, der Religionsfreiheit und der körperlichen Unversehrtheit des Kindes gefundene Ausgleich werde »in vorbildlicher Weise begründet«. Das ist eine kühne These. Sagen lässt sich dies weder für die Gesetzesbegründung noch für Windthorsts Kommentierung. Dort findet sich – abgesehen von falschen Tatsachenannahmen und bloßen Behauptungen – kein einziges Argument. Das ist selbst für einen »Studienkommentar« zu wenig. So wirft Windthorst dem Kölner Landgericht vor, »wesentliche verfassungsrechtliche Gewährleistungen« verkannt zu haben, er verkennt aber selbst wesentliche Sachverhaltsfragen. So behauptet er: »Nach jüdischem Glauben ist die Beschneidung eines Knaben am achten Tag nach der Geburt […] ein essenzielles Gebot […], das […] konstitutiv für die Zugehörigkeit zur jüdischen Glaubensgemeinschaft ist« (Windthorst, 2013, Rn. 54). Mit Verlaub, aber das ist grober Unfug. Es ist allgemein anerkannt, dass die Brit Mila für die Eigenschaft, ein Jude zu sein, keineswegs conditio sine qua non ist. Auf Basis dieser Falschannahme sind sämtliche Schlussfolgerungen Windthorsts Makulatur. Wem schon bei der Tatsachenermittlung grobe Fehler unterlaufen, der ist auch nicht in der Lage, die verfassungsrechtlichen Fragen adäquat zu beantworten. Erschreckend sind aber auch seine Ausführungen zur Schmerzbehandlung. Dazu schreibt er: »Über die Notwendigkeit einer Betäubung muss der Arzt oder Beschneider […] aufgrund der Umstände des Einzelfalls entscheiden. Bei älteren Kindern – spätestens ab dem 6. Monat – ist eine Betäubung medizinisch, also nach den Regeln der ärztlichen Kunst, indiziert« (Windthorst, 2013, Rn. 55). Angesichts dessen muss man fragen, ob Windthorst sich überhaupt ernsthaft beschäftigt hat mit § 1631d BGB und seiner Exegese. Schon in der Resolution des Bundestages war die Rede davon, dass Beschneidungen nur dann zulässig sein sollen, wenn sie »ohne unnötige Schmerzen« stattfinden, und die Gesetzesbegründung enthält die Forderung nach einer »effektiven Schmerzbehandlung« (Deutscher Bundestag, 2012, S. 7). Nun mag man ja kurz darüber nachdenken können, ob auch jüdische Beschneider mit »effektiver Schmerzbehandlung« beschneiden müssen (was zu bejahen ist, wie bereits erwähnt wurde). Dass dies

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Ärzte müssen, dafür bedarf es indes weder eines juristischen Studiums noch großer geistiger Anstrengung. Das steht klar und deutlich in Absatz 1. Wie kommt Windthorst nun darauf, dass bei Kindern unter sechs Monaten »der Einzelfall« darüber entscheidet, ob die Vorhautamputation mit oder ohne Betäubung stattfindet? Wenn er damit meint, dass es Fälle geben mag, in denen eine Betäubung kontraindiziert ist, dann träfe seine Aussage zwar zu, wäre aber nebulös, weil eine Betäubung dann der Regelfall wäre. Genau so sieht es das Gesetz vor und hat es der Gesetzgeber auch gewollt. Gewiss gibt es Fälle, in denen die Befindlichkeit des Kindes jede wirksame Betäubung verbietet. Aber dann verbietet sich auch die Beschneidung, denn sie wäre eine Quälerei und als solche unvereinbar mit den Regeln der ärztlichen Kunst. Es versteht sich von selbst, dass § 1631d BGB solche Quälerei nicht erlauben wollte. Windthorst sieht das anscheinend anders und will für die ersten Lebensmonate des Kindes den Eltern lieber die Quälerei erlauben als die Beschneidung verwehren; ein absurdes und skandalöses Gesetzesverständnis. Entweder ist Windthorst kindliches Leid gleichgültig oder er hat noch nie ein Kind mitfühlend beobachtet, dem ohne Betäubung seine Vorhaut amputiert wird. Anders ist es nicht zu erklären, dass er derart empathiebefreit die betäubungsfreie Beschneidung von Kleinkindern zum Regelfall erklärt. Windthorst lässt seinen Gedanken freien Lauf. Im eigenen Interesse wäre es klüger gewesen, sich intensiver mit der Thematik und den Fakten zu beschäftigen. Zu dieser Riege gehört auch der Kölner Staatsrechtler Wolfram Höfling. Er moniert an einem Aufsatz von Grams (2013), der in der Beschneidung des Knaben eine Verletzung der Würde und des Persönlichkeitsrechts erkennt, dass dieser keine »einzige Stimme aus der verfassungsrechtlichen (Kommentar-)Literatur« zitiert habe (Höfling, 2013, S. 463). Solche Kritiklust hätte Höfling auf seinen eigenen Beitrag anwenden sollen. Denn noch wichtiger als das Zitieren von Verfassungsrechtlern ist die Berücksichtigung der Gegenargumente. Anders als Grams gibt Höfling sich keine Rechenschaft darüber, dass der Beschneidungsakt in den Intimbereich des Kindes eingreift und dass er dem Kind eine erogene Zone raubt. Er macht dem Leser auch nicht plausibel, warum das Anritzen der äußeren Schamlippen keineswegs, die Abtrennung der Penisvorhaut aber sehr wohl vom Elternrecht gedeckt sein soll. Sein Leser erfährt auch nicht, warum christliche Eltern ihren Söhnen am Karfreitag keine Dornenkrone aufdrücken dürfen, sie aber sehr wohl das Elternrecht haben, ihnen die Vorhaut zu amputieren. Angesichts solcher Auslassungen ist das, was Höfling schreibt, mehr als nur juristisch unterkomplex.

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Fazit Das Landgericht Köln hat religiös motivierte Knabenbeschneidungen überzeugend für rechtswidrig erklärt. Kindern ohne medizinische Notwendigkeit einen gesunden und sensiblen Teil ihres Körpers irreversibel abzutrennen, entspricht nicht ihrem Wohl – sie werden Schmerzen sowie unnötigen Risiken ausgesetzt und der Eingriff bringt, jedenfalls im Kindesalter, keinerlei gesundheitliche Vorteile mit sich. Die deutsche Politik hätte ein klares Signal setzen können: Unser Grundgesetz erlaubt keine Genitalverstümmelungen – weder bei Mädchen noch bei Jungen! Bewirkt hat die Politik das Gegenteil. Sie hat den kindlichen Körper von Jungen in seinem sensibelsten Bereich dem staatlichen Schutz entzogen. Daran ändert auch nichts der zur Gewissensberuhigung geschaffene Sondertatbestand des § 226a StGB, der Frauenbeschneidungen nunmehr sogar ausdrücklich kriminalisiert. Denn dadurch ist die Widersprüchlichkeit nur noch vertieft worden: § 1631d BGB und § 226a StGB sind inkompatibel. Wer Jungenbeschneidungen erlauben und gleichzeitig alle Frauenbeschneidungen, selbst wenn weniger eingriffsintensiv, hart bestrafen will, der verletzt eklatant den Gleichheitssatz. Inzwischen ist der Wertungswiderspruch auch einigen Beschneidungsapologeten immerhin aufgefallen. Und an dieser Stelle zeigt sich die Kraft des Gleichheitsarguments: Es zwingt zur Gleichbehandlung der Jungenbeschneidung mit den milden Formen der Mädchenbeschneidung. Diese Konsequenz zu ziehen, haben sich die meisten bislang gescheut. Steinbach dürfte einer der Ersten sein, der sich zu dieser Konsequenz – nolens volens – bekennt: »Schwierig ist der Umgang mit ›milden‹ Formen der religiös motivierten Beschneidung der Klitoris, die hinsichtlich ihrer Auswirkungen mit der Beschneidung der Penisvorhaut vergleichbar ist. Diesen Sachverhalt wollte der Gesetzgeber offenbar nicht gesetzlich regeln. Für diese Fälle kann der neue § 1631d BGB analog angewendet werden« (2013, S. 10). – Meint Steinbach mit einer »milden« Beschneidung der Klitoris tatsächlich die teilweise Entfernung des äußerlich sichtbaren Teils der Klitoris, mit anderen Worten die sogenannte Klitoridektomie? Man liest es, ist entsetzt und vermag es kaum zu glauben, welche Folgen Wissenschaftler bereit sind zu billigen, allein um § 1631d BGB verfassungsrechtlich zu retten. Wer immer davor gewarnt hat, dass § 1631d BGB den Mädchenbeschneidern den Weg ebnet, darf sich notgedrungen jetzt bestätigt fühlen. Nicht zuletzt solche Entwicklungen zeigen: Der Staat wäre verpflichtet gewesen, alle Kinder vor medizinisch unnötigen Beschneidungen zu bewahren und sie erst zu erlauben, wenn die Entscheidung selbstbestimmt getroffen werden kann. Das gilt selbstverständlich auch für religiös motivierte Vorhautamputatio-

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nen. Religiöse Toleranz endet zwingend, wenn die körperliche Integrität von Kindern ohne medizinischen Grund nicht nur unerheblich irreversibel verletzt wird, vor allem wenn der Intimbereich betroffen ist. Dass der Gesetzgeber derartige Eingriffe erlaubt hat, ist ein »Sündenfall des Rechtsstaats« (vgl. Merkel, 2012a). Doch ein pessimistisches Fazit wäre verfehlt. Die Diskussion hat sowohl in der Öffentlichkeit als auch bei vielen muslimischen und jüdischen Eltern, die das Ritual mangels Hintergrundwissen unkritisch praktiziert haben, die Sensibilität geweckt für das Leiden der betroffenen Kinder und die Risiken, denen sie ausgesetzt werden. Noch immer erhalte ich Zuschriften, vor allem von jüdischen Müttern. Einige haben mir stolz mitgeteilt, dass sie sich dem blutigen Ritual erfolgreich widersetzt hätten, weil ihnen bewusst geworden sei, um was für eine grausame Tradition es sich bei der Brit Mila handelt. Solche Eltern gibt es viele und es werden immer mehr. Sie erkennen an, dass Kinder und ihre körperliche Integrität schützenswert sind und ein an die Stelle des blutigen Rituals tretender symbolischer Akt das religiöse Selbstverständnis in keiner Weise beeinträchtigt. Denn die heutige Welt entspricht nicht mehr derjenigen von Abraham. Was damals richtig war, ist heut meist falsch. Das gilt insbesondere für medizinisch unnötige Knabenbeschneidungen. Über kurz oder lang werden Genitalverstümmelungen von Jungen und Mädchen der Vergangenheit angehören. Religionsvertreter, die Genitalverletzungen von Kindern trotz religionskompatibler Alternativen zum nicht verhandelbaren Ritual erklären, werden diesen Zivilisierungsprozess nicht aufhalten. Dem Gesetzgeber ist es nicht geglückt, mit dem Beschneidungsparagrafen die Rechtmäßigkeit medizinisch nicht notwendiger Jungenbeschneidungen zu zementieren – schon gar nicht Akzeptanz oder gar Schweigen zu verordnen. Im Gegenteil: § 1631d BGB ist perfekt misslungen und ein verfassungswidriger Fremdkörper in unserer Rechtsordnung. Literatur AAP – American Academy of Pediatrics (2012a). Circumcision policy statement. Pediatrics, 130 (3), 585–586. AAP – American Academy of Pediatrics (2012b). Technical report: male circumcision. Pediatrics, 130, e757–e785. Zugriff am 22. 11. 2013 unter http://pediatrics.aappublications.org/content/130/ 3/e756.full Beck, V., Künast, R. (2012). Das ist keine Straftat. Berliner Zeitung vom 09. 07. 2012. Zugriff am 26. 08. 2013 unter www.berliner-zeitung.de/kultur/beschneidungs-debatte-das-ist-keine-straftat, 10809150,16572948.html Beulke, W., Dießner, A. (2012). »(…) ein kleiner Schnitt für einen Menschen, aber ein großes Thema für die Menschheit«. Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik (ZIS), 9 (7), 338–346. Bielefeldt, H. (2012). Der Kampf um die Beschneidung. Das Kölner Urteil und die Religionsfreiheit. Blätter für deutsche und internationale Politik, 9, 63–71.

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Jörg Scheinfeld

Die Knabenbeschneidung im Lichte des Grundgesetzes

Vorbemerkungen Ende 2012 trat § 1631d BGB in Kraft. Die Norm gestattet den Personensorgeberechtigten, ein nicht einwilligungsfähiges männliches Kind auch ohne medizinische Indikation an der Penisvorhaut beschneiden zu lassen. In rechtspraktischer Hinsicht interessiert nun vor allem, ob § 1631d BGB Bestand haben kann. Das entscheidet sich in erster Linie nach den Vorgaben der deutschen Verfassung. Der Beitrag bewertet daher die gesetzliche Erlaubnis der Knabenbeschneidung am Maßstab des Grundgesetzes. Dabei geht es ihm nur um die grundsätzliche Frage, ob die Einwilligungserlaubnis überhaupt, sozusagen in der kinderrechtsfreundlichsten Regelungsform, verfassungsgemäß sein kann; nicht behandelt werden andere verfassungsrechtliche Zweifels- und Auslegungsfragen des § 1631d BGB (zu ihnen Scheinfeld, 2013, S. 268 ff.). In der politischen wie auch in der juristischen Debatte wurden die verfassungsrechtlichen und rechtsethischen Fragen zum Teil verdunkelt durch das Anführen einiger Aspekte, die vom Maßgeblichen eher abzulenken geeignet sind. Um von diesen Aspekten im Folgenden nicht unbewusst irritiert zu werden, sollen sie eingangs genannt und als irrelevant markiert werden. Beginnen können wir mit dem Fragen nach den Motiven der Debattenführer. Als Beispiel dienen kann die Stellungnahme eines amerikanischen Kinderärzteverbandes, der American Academy of Pediatrics (AAP, 2012). Er hatte sich auf dem Höhepunkt der Debatte mit der Empfehlung zu Wort gemeldet, dass die Knabenbeschneidung wegen ihres (behaupteten) Nutzens für die Volksgesundheit im Ermessen der Eltern stehen solle. Für die Gegner der Knabenbeschneidung liegt der Hinweis nahe, dass es sich erstens weltweit um den einzigen Kinderärzteverband handelt, der für ein hygienisch-medizinisch hoch entwickeltes Land wie die USA eine solche Empfehlung ausspricht, und dass zweitens genau diese Ärzte ein enormes finanzielles Interesse an flächendeckenden Knabenbeschneidungen haben (das jährliche finanzielle Volumen der Knaben-

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beschneidungen in den USA wird auf 1,25 Milliarden US Dollar geschätzt). Bei Licht besehen sind die beiden – Unsachlichkeit des Gegners suggerierenden – Hinweise bedeutungslos. Die AAP könnte sehr wohl als einziger Ärzteverband richtig liegen mit der Empfehlung, und zwar trotz der mitschwingenden enormen finanziellen Interessen. Gerade wenn jemand ein starkes Interesse hat, kann er Punkte aufspüren, die andere nicht sehen (wollen) – man denke nur an den Angeklagten eines Strafprozesses. Für denjenigen, der an einer objektiven Bewertung interessiert ist, was richtig und was falsch ist, spielt es keine Rolle, wovon ein bestimmtes Vorbringen motiviert ist. Kurzum: Auch wer als Einziger nach etwas ruft und dies aus finanziellem Eigeninteresse tut, kann mit seiner Forderung richtig liegen. Es kommt also für die Bewertung der AAPStellungnahme nur darauf an, welche Argumente sie vorbringt. Das sind nicht viele – und vor allem keine tragfähigen (siehe bei Frisch et al., 2013; Svoboda u. Van Howe, 2013). Die Argumentationslinie der AAP ist darüber hinaus keine, die von Verfassungs wegen in Betracht zu ziehen wäre. Die Empfehlung der AAP bezieht sich in erster Linie auf die AIDS-Prophylaxe, fußt dabei aber nicht auf dem Nutzen für das individuelle Kind, sondern auf einer »utilitaristischen Gesamtverrechnung […] für die Gesamtheit der Bürger« (Hörnle u. Huster, 2013, S. 336). Dieses (monetäre) Kosten-Nutzen-Kalkül ist unvereinbar mit der Zuschreibung individueller Kerngrundrechte (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG). – Wie fremd uns die utilitaristische Sicht heute ist, zeigt zudem der 2010 erfolglos vorgeschlagene und konsequentialistisch begründete »Kompromiss« der AAP, bei Mädchen einen »ritual nick« zu erlauben, also das leichte Einkerben der Klitoris oder ihrer Vorhaut (dazu MacReady, 2010; Walter 2012a, S. 1112).1 Vernebelnde Beiträge finden sich auch bei den Beschneidungsbefürwortern – und bei neutralen Pressevertretern. So werden häufig die folgenden Fragen gestellt: Warum wird ausgerechnet in Deutschland so heftig gegen die Knabenbeschneidung anargumentiert? Stecken antijüdische oder antimuslimische Ressentiments dahinter? Was aber soeben noch für die Stellungnahme der AAP galt, muss jetzt natürlich für die Motive der Beschneidungskritiker gelten: Es mag in soziologischer und psychologischer Hinsicht durchaus lohnen, die beiden Fragen zu beantworten; rechtsethisch, verfassungsrechtlich und 1

Mit dem seinerzeitigen Vorschlag wollte die AAP verhindern, dass Mädchen »im Hinterhof« und dort von medizinischen Scharlatanen beschnitten werden. Auf einen solchen Gedanken wird sich das Recht, will es Recht bleiben, grundsätzlich nicht einlassen: »Eine Tat, die ethisch und rechtlich verboten sein sollte, darf der Rechtsstaat nicht deshalb erlauben, weil die potentiellen Täter ankündigen oder erwarten lassen oder man ihnen unterstellt, sie werden das Verbot missachten« (Herzberg, 2012, S. 497; vgl. auch bei Stücker, 2012b).

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rechtspolitisch sind sie bedeutungslos. Es mag für eine bequem-pauschale Diffamierung des Gegners nützlich sein, solche Vorurteile zu bedienen. In diesem Geiste ließe sich auch die Unterstützung, die Amtsträger der christlichen Kirchen Juden und Moslems gewähren, wohl damit erklären, dass sie Einschränkungen ihrer eigenen Religionsausübung fürchten. Denn so äußert sich erfrischend offen Wolfgang Huber (2012): Mit der Beschneidungsdebatte stehe auch für Christen etwas auf dem Spiel, nämlich »die Freiheit des Glaubens und der religiösen Betätigung«.2 Doch ist all dieses Fragen nach Motiven zur Gänze irrelevant. Wer klären möchte, ob sich die Knabenbeschneidung rechtsethisch oder verfassungsrechtlich legitimieren lässt, sollte sich – im Grunde müßig zu betonen, aber in dieser Debatte vielleicht nötig – nicht damit aufhalten, Motive für gewisse Standpunkte zu erforschen. Vielmehr muss er die Tragfähigkeit dieser Standpunkte und also die jeweils angeführten Argumente bewerten. Zugespitzt: Selbst wenn das Kölner Urteil fremdenfeindlich motiviert gewesen wäre, könnte es mit seiner verfassungsrechtlichen Bewertung der Knabenbeschneidung (im Ergebnis) doch richtig liegen; wie auch der Imam Recht haben kann, wenn er auf den Vorrang des religiösen Erziehungsrechts der Eltern pocht. Eben dies gilt es unabhängig von etwaigen Motiven zu klären. Obendrein ist das Unterstellen antisemitischer und islamophober Motive überhaupt nur plausibel auf Basis der Zulässigkeit der Knabenbeschneidung, recht betrachtet also von zirkelhaftem Charakter. Denn aus einer berechtigten Ablehnung der Beschneidung könnte man die Missbilligung gar nicht herleiten. Wer die von manchen Moslems praktizierte milde Form der Mädchenbeschneidung ablehnt, wird von niemandem als islamophob eingestuft. Wer für eine »effektive Schmerzbehandlung« auch und gerade bei der Säuglingsbeschneidung eintritt (Deusel, 2012, S. 7), wird von kaum jemandem als Antisemit eingestuft. Der Grund dafür liegt in der weitgehend anerkannten Berechtigung dieser auf das Kindeswohl zielenden Forderungen. Um die Berechtigung gerade zur Beschneidung selbst geht es aber in der Beschneidungsdebatte. Ist die Forderung, den verletzenden Eingriff in den Intimbereich Minderjähriger zu verbieten, in der Sache berechtigt, so ist der Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit nicht ableitbar. Die Anwürfe des Antisemitismus und der Islamophobie vernebeln daher nur, was es zu erhellen gilt: die Frage nach der Befugnis zum verletzenden Schnitt. 2

Der Gedanke ist allerdings in sich unstimmig, weil Protestanten und Katholiken derzeit keine Rituale kennen, die derart tief in den Körper eines Kindes schneiden; folglich werden Grundrechte des Kindes, die die Religionsausübung der christlichen Eltern begrenzen würden, gar nicht gegen christliche Rituale aktiviert.

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Der Polemikerin Klein (2012) möchte man allerdings noch die Frage zurufen: Wie könnte eine Kritik der frühkindlichen Knabenbeschneidung formuliert und vorgetragen werden, ohne dass der Kritiker als Antisemit gilt? In besonderem Maße zirkulär ist die vielfach erhobene Forderung, der Staat solle sich doch gegenüber den beschneidungswilligen Eltern »tolerant« zeigen (Bongardt, 2012, S. 193 f.; Zentralrat der Juden, 2013). Als intolerant möchte niemand gelten, weshalb der Appell nicht ungeschickt gewählt ist. Aber der Gegensatz Toleranz/Intoleranz passt von vornherein nicht, wenn um die Zulässigkeit einer körperverletzenden Praktik gestritten wird. Ob der Staat tolerant sein darf oder ob ihn nicht vielmehr seine Schutzpflicht und sein Wächteramt rechtlich zum Einschreiten zwingen, das ist gerade die Frage, die es zu beantworten gilt. Sie kann nicht sinnvoll beantwortet werden mit dem Appell, der Staat möge nicht verbietend eingreifen. Toleranz darf man wohl einfordern mit Blick auf bloß bagatellhafte Störungen, etwa das erträgliche Läuten der Kirchenglocken, oder mit Blick auf schädigungsfreies Verhalten, etwa das Tragen von Kopftüchern. Wo aber in den Körper und in Kernrechte Dritter eingegriffen wird, wo die Toleranz also »zulasten Dritter, zulasten der Kinder« geht, verliert die Forderung jedes argumentative Gewicht (Herzberg, 2012, S. 498). Hier einzusortieren ist auch der Debattenbeitrag von Habermas (2012). Er schilt die Kölner Richter, die vergessen hätten, dass auch der Islam zu Deutschland gehöre. Sodann schließt er den Punkt mit folgender Überlegung ab: »Das universalistische Anliegen der politischen Aufklärung erfüllt sich erst in der fairen Anerkennung der partikularistischen Selbstbehauptungsansprüche religiöser und kultureller Minderheiten.« Mehr an Begründung findet sich nicht. Dass das Kölner Urteil »unfair« ist, wird nur suggeriert. In die Kategorie vernebelnder Debattenbeiträge gehört auch das Sichentrüsten über gewisse Begrifflichkeiten. Kritiker der Knabenbeschneidung bezeichnen den Beschneidungsakt etwa als »Misshandlung«, »Gewalt«, »(sexuelle) Gewalt« oder »Verstümmelung«. Das monieren die Beschneidungsbefürworter und weisen darauf hin, dass solche Bezeichnungen die religiösen und beschneidungsaffinen Eltern tief kränken müssten. Auch dieser Einwand, so zeigt näheres Hinsehen, setzt die Zulässigkeit der Knabenbeschneidung voraus. Niemand würde sich entrüsten, bezeichnete man eine rechtswidrige Abtrennung einer erogenen Zone vom Genital eines Kindes als »Misshandlung« (§ 223 Abs. 1 StGB), als »sexuelle Gewalt« und als »Verstümmelung«. Der auf die verwendeten Begriffe zielende Einwand wäre aber selbst dann null und nichtig, wenn sich die Knabenbeschneidung am Ende als insgesamt rechtmäßig erweisen sollte. Es handelt sich dann eben um eine erlaubte »Verstümmelung«, wie auch die verlangte und medizinisch höchst angezeigte Amputation eines nekrotischen Fußes trotz der

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Rechtfertigung eine Verstümmelung des Körpers bleibt. In diesem Sinne gilt die Beschneidung der Frau oder des Mädchens in allen praktizierten Schweregraden als »Genitalverstümmelung« (WHO, 2013; BGH NJW 2005, 672, 673). Von diesem Sprachgebrauch muss nicht abgewichen werden, wenn beispielsweise eine erwachsene Frau sich zum Zwecke besserer sexueller Stimulierbarkeit selbstverantwortet die Klitorisvorhaut vom Arzt entfernen oder reduzieren lässt. Die Rechtmäßigkeit des Eingriffs ändert nichts an dem Umstand, dass ihr Genital »verstümmelt« worden ist. Dieses Faktum kann man auch bei religiöser Beschneidung, die aus Sicht der Eltern im besten Interesse des Kindes vorgenommen wird, nicht »wegspiritualisieren« (Isensee, 2013, S. 318). Irritierend sind insoweit die Darlegungen von Stephan Kramer. Einerseits schreibt er in seiner Stellungnahme für den Bundestag: »Wir tun unseren Kindern nicht vorsätzlich weh, die Beschneidung ist keine Strafmaßnahme oder Akt der Gewalt, sondern ein Initiationsritual zur Aufnahme in die Religionsgemeinschaft« (2012, S. 1 f.). Andererseits sagt er im Interview (Lau, 2012): »Es ist auch idiotisch, Kritik […] mit dem Argument abzutun, es täte nicht weh. Es tut weh. Es ist auch dummes Zeug, die Sache damit zu bagatellisieren, dass Mann diese paar Zentimeter Haut doch nicht braucht.« Wichtig für die Debatte um die Beschneidungserlaubnis ist nur, dass die für den Eingriffsakt verwendeten Bezeichnungen nichts präjudizieren. Selbst die Bezeichnung als Verstümmelung lässt Raum dafür, die Knabenbeschneidung als rechtmäßig einzustufen. Umgekehrt macht die Abkehr von diesem für weibliche Beschneidungen üblichen Begriff die Knabenbeschneidung nicht auch in der Sache weniger gravierend – da hat Stephan Kramer Recht. Der Streit um solche Worte ist deshalb insgesamt irrelevant für die rechtsethische und verfassungsrechtliche Bewertung der Knabenbeschneidung (siehe zum Ganzen einerseits Bielefeldt, 2012, S. 71, andererseits Franz, 2012b; Herzberg, 2012, S. 503; ferner Walter, 2012a, S. 1113). Die Beschneidungserlaubnis im Lichte der Verfassung³ Die verfassungsrechtliche Ausgangslage

Einer näheren Erörterung bedarf die Beschneidungsbefugnis in verfassungsrechtlicher Hinsicht überhaupt nur, wenn und soweit die Eltern des minderjährigen Jungen (oder die sonst Sorgeberechtigten) mit der Beschneidung einverstanden sind. Würde etwa ein Arzt den Jungen bei Gelegenheit eigenmächtig 3

Der folgende Text entspricht in der Sache weitgehend und in Passagen wörtlich dem Text unter II. meiner »Erläuterungen zum neuen § 1631d BGB« (Scheinfeld, 2013, S. 268 ff.).

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beschneiden, weil er meint, so sei es hygienischer oder so habe der Junge mit Eintritt der Geschlechtsreife prophylaktische Vorteile (ein geringeres Risiko, sich mit gewissen Krankheiten anzustecken), beginge er zumindest eine rechtswidrige Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB). Dies wäre genauso, schritte er – wiederum eigenmächtig – zur Impfung gegen Masern oder zur prophylaktischen Entfernung der gesunden Gaumenmandeln. Dritte Personen haben im Verhältnis zum Kind keinerlei Dispositionsbefugnis. Die rechtliche Lage ändert sich und macht näheres Hinsehen nötig, wenn die Eltern nach vorheriger umfassender Aufklärung in die Beschneidung einwilligen. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG gibt ihnen im Grundsatz die Befugnis, über das eigene Kind zu disponieren: »Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern«, aber zugleich »die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.« Mit dieser »Elternverantwortung«, wie das Bundesverfassungsgericht die Rechtsstellung benennt (BVerfGE 24, 119, 144), ist den Eltern sehr weitgehend die Entscheidungsbefugnis übertragen. Aber auch ihrer Dispositionsbefugnis sind Grenzen gesetzt, Art. 6 Abs. 2 GG liefert das Kind der Bestimmungsmacht seiner Eltern nicht vollständig aus: Das Kind ist »nicht Gegenstand elterlicher Rechtsausübung, es ist Rechtssubjekt und Grundrechtsträger, dem die Eltern schulden, ihr Handeln an seinem Wohl auszurichten« (BVerfGE 121, 69, 93). So dürften auch die Eltern beispielsweise nicht verfügen, dass ihrem Fünfjährigen prophylaktisch die Gaumenmandeln herausgeschnitten werden, denn der Eingriff liegt nicht in seinem Wohl (Fischer, 2013, § 223 Rz. 49). Eine dahingehende Einwilligung wäre unwirksam; der Arzt beginge wiederum eine rechtswidrige Körperverletzung, die Eltern zumindest eine Anstiftung dazu (§§ 223, 26 StGB). Der Staat ist in solchen Fällen in seiner Funktion als Wächter gefragt (Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG). Und das Kind hat ein Recht auf Schutz durch die staatliche Gemeinschaft, also einen Anspruch auf Schutz auch vor Übergriffen der Eltern; dieses Recht folgt aus Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG in Verbindung mit den bedrohten Grundrechten des Kindes. Die Vorschrift räumt den Eltern das Bestimmungsrecht im Interesse des Kindes ein; bei der Ausübung des Elternrechts »muss das Kindeswohl letztlich bestimmend sein und Vorrang vor den Elterninteressen haben« (Robbers, 2010, Rz. 149). Verfassungsrechtlich ergibt sich demnach ein Dreieck »Eltern – Kind – Staat«, das von einem nicht ganz leicht zu durchschauenden Rechte-Pflichten-Geflecht gekennzeichnet ist: In ihrer Beziehung zum Staat haben die Eltern ein Abwehrrecht, der Staat muss sich grundsätzlich aus der Eltern-Kind-Beziehung heraushalten. Für die Bestimmung, was im Wohl des Kindes liegt, gilt das Elternprimat. Die Eltern dürfen freilich nicht nur meinen, dem Kindeswohl zu dienen, sondern ihre Maßnahmen müssen objektiv und bei Einnahme eines ethisch neutralen

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Standpunktes vertretbar sein. Als Wächter darf der Staat nur eingreifen, wenn die Eltern das Kindeswohl gefährden. Dann aber besteht grundsätzlich eine Schutzpflicht des Staates, die wahrzunehmen der Junge in der Beziehung zum Staat rechtlich einfordern kann – dies wie gesagt über Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG in Verbindung mit seinen betroffenen Grundrechten. Ein gewisses Schutzniveau darf der Gesetzgeber nicht unterschreiten (»Untermaßverbot«; zum Ganzen BVerfGE 121, 69, 92; Fateh-Moghadam, 2010, S. 131 ff.; Germann, 2012, S. 83 ff.; Germann, 2013, S. 413 ff.; Höfling, 2012; Höfling, 2013, S. 463 ff.; Hörnle u. Huster, 2013, S. 328 ff.; Isensee, 2013, S. 318 f.; Rixen, 2013, S. 258 f.).4 Bei der Würdigung der Erlaubnisnorm des § 1631d BGB muss es also darum gehen, ob das elterliche Einwilligen in die Beschneidung noch vom Elternrecht gedeckt ist oder ob es schon das Kindeswohl gefährdet (und die spätere Beschneidung es dann verletzt). Konkreter gefragt: Liegt die Beschneidung näher an der Impfung und vergleichbaren Eingriffen, die durchzuführen den Eltern freisteht, oder liegt sie näher bei der prophylaktischen Entfernung der Gaumenmandeln, die das Kindeswohl schon verletzt und deshalb nicht mehr zur elterlichen Disposition steht? Die verletzten Grundrechte des Kindes

Mit der ausdrücklichen gesetzlichen Erlaubnis des körperverletzenden Beschneidungsaktes verletzt der Staat aktiv seine Schutzpflicht und greift mittelbar in Grundrechte des Kindes ein. Eingriffsqualität und Rechtswidrigkeit des Gesetzes ergeben sich jeweils aus den allseits anerkannten Umständen einer jeden Knabenbeschneidung: Bei der eingebüßten Vorhaut handelt es sich um eine erogene Zone, einen hochsensiblen Teil des Penis; sie weist um die 20.000 Nervenenden auf, spielt eine wichtige Rolle in sexueller Hinsicht und schützt die Eichel vor Austrocknung und Verhornung, hält sie also sensibel (näher Hartmann, 2012; Jaermann, 2010). Schon zu spät setzt daher die Frage an, die Hörnle und Huster im Hinblick auf die Grenze des Elternrechts für entscheidend halten: »Wie ist mit den unmittelbaren Eingriffsrisiken und den Verdachtsmomenten umzugehen, die sich auf die Spätfolgen von Beschneidungen beziehen?« (2013, S. 337; ähnlich Pekárek, 2013, S. 515). Gravierend genug ist schon der intimbereichsverletzende Eingriff selbst und seine unmittelbare Folge, der Verlust der erogenen und funktionalen Zone Penisvorhaut. Deshalb verletzen Beschneidungsakt und Erlaubnisgesetz das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit (Art. 4

Zur Vereinfachung lasse ich die Rechte der Religionsgemeinschaften im gesamten Beitrag außen vor. Sie haben jedenfalls nicht mehr an Rechten einzufordern als die Eltern (näher Isensee, 2013, S. 323).

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2 Abs. 2 S. 1 GG), das Persönlichkeitsrecht des Kindes (Art. 2 Abs. 1 mit Art. 1 Abs. 1 GG) sowie – wegen der Gestattung auch religiöser Beschneidungen – das Recht auf negative Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG). Das Persönlichkeitsrecht des Kindes ist betroffen, weil die Abtrennung der Vorhaut in das sexuelle Empfinden des Knaben, in seine Intimsphäre eingreift und das sexuelle Erleben lebenslang beeinflusst. Art. 2 Abs. 1 GG mit Art. 1 Abs. 1 GG schützt den Intim- und Sexualbereich unter dem ungeschriebenen Freiheitsrecht des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, und zwar in der speziellen Ausprägung des Rechts zur Selbstbestimmung in sexueller Hinsicht (BVerfGE 47, 73; 60, 134; 121, 175; Hofmann, 2011, Rz. 31). Aus der Verbindung mit dem Menschenwürdeprinzip des Art. 1 Abs. 1 GG ergibt sich gegenüber der allgemeinen Handlungsfreiheit und insbesondere für Intimbereichsverletzungen eine »Verstärkung des Schutzes« (Murswieck, 2011, Rz. 62). Daraus ist das Folgende abzuleiten: Selbst wenn man die empirische Situation hinsichtlich der Folgen einer Beschneidung für unsicher hält (das Beschnittensein wird von den Betroffenen vielfach bedauert, überwiegend aber begrüßt, näher Frisch, Lindholm u. Grønbæk, 2011, S. 1367 ff.), so steht außer Frage, dass der körperliche Eingriff das Sexualleben beeinflusst. Dies gilt manchem Juden gerade als Vorteil der Beschneidung: »Die Beschneidung zügelt das sexuelle Verlangen, was dem Menschen mehr Kraft gibt, es zur richtigen Zeit und für die richtigen Zwecke einzusetzen und sich von unangemessen sexueller Aktivität fernzuhalten« (Citron, 2013). Und hier wird nun etwas bedeutsam, was vor allem in der politischen Debatte nicht hinreichend klar gesehen oder beiseitegeschoben wurde: Die Entscheidung darüber, sich den besonders sensiblen und erogenen Teil seines Geschlechtsorgans abschneiden zu lassen (sei es aus Gründen der Ästhetik, der Hygiene, der Prophylaxe oder für einen Bund mit seinem Gott), betrifft die Intimsphäre der Person und ist eine höchstpersönliche Entscheidung, die nicht in Stellvertretung getroffen werden darf. Da völlig offen ist, ob der spätere, entscheidungsreife Erwachsene sich für eine Beschneidung entschiede und diesen Körperteil irgendeinem Interesse opferte, drückt die Anmaßung einer Stellvertreterentscheidung nur aus, dass man die – noch reifende – Persönlichkeit des Kindes nicht respektiert! (Ähnlich Eschelbach, 2013, Rz. 35.2; Grams, 2013, S. 334; zum Topos der höchstpersönlichen Entscheidung vgl. bei Mayr, 2010, S. 57 ff.) Die negative Religionsfreiheit ist betroffen, weil der Knabe bei religiöser Beschneidung lebenslang mit einem religiösen Identifikationsmerkmal versehen wird; das kann es ihm später erschweren, sich für eine andere Religion oder schlicht gegen die elterliche Religion zu entscheiden. Für das Judentum hat diesen Aspekt der Oberrabbiner Metzger (2012) in der Bundespressekonferenz

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anschaulich gemacht: »Die Brit Mila, die Beschneidung, das ist ein Bund, ein Abkommen, das jeder Jude hat mit seinem Gott. Sie ist ein ›Stempel‹, ein Siegel auf dem Körper eines Juden. Ein Siegel, von dem man sich nie verabschieden kann«. Damit soll der jüdische Mann »selbst an dem verlorensten Ort der Welt daran erinnert werden, dass er Jude ist«. »Man kann es«, sagt Herzberg (2012, S. 505) mit Recht, »kaum deutlicher sagen: Es soll dem Gezeichneten schwer gemacht werden, jemals im Leben sein Judentum abzulegen«. – Ähnliches gilt für die Sinngebung, wie Bodenheimer sie rezitiert: »Der beschnittene Mann wird also gerade dadurch, dass die Vorhaut nicht natürlicherweise fehlt, sondern entfernt werden muss, zum wandelnden Zeichen der Pflicht des Menschen, Gottes Welt zu vervollständigen und sich an ihr läutern zu lassen« (2012, S. 35). Ähnlich Citron (2013): »Es grenzt an eine Brandmarkung, mit denen die Gebieter in früheren Zeiten ihre Sklaven markierten. Es dient als Erinnerung daran, dass wir in G-ttes5 Diensten stehen, und auf Seinen Wegen gehen sollen.« Es ist gut möglich, dass der Erwachsene sich von dieser Gottespflicht lösen und nicht ständig an sie erinnert werden will – und also gerade kein »wandelndes Zeichen« der Gottgefälligkeit sein will. Es wird demnach nicht behauptet, die Beschneidung mache das Ablegen oder einen Wechsel der Religion unmöglich; abgestellt wird nur auf diejenige Erschwerung, die der Eingriff nach den Bekundungen der religiösen Führer gerade erstrebt. Diese Sicht findet für das Judentum eine Bestätigung darin, dass die Beschneidung anfangs viel milder durchgeführt worden ist; nur die Vorhautspitze ist abgetrennt worden. Die Rabbiner haben erst um das Jahr 150 n. Chr. eine radikalere Form verfügt, weil einige Beschnittene erfolgreiche Restitutionsversuche unternommen hatten. Dergleichen sollte unmöglich gemacht werden (Stücker, 2012a).6 Dass in das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit eingegriffen wird (Art. 2 Abs. 1 S. 1 GG), liegt auf der Hand. Um die Eingriffstiefe richtig einzuschätzen, muss man sich bewusstmachen, dass die Vorhaut eben nicht nur ein »Stück Haut« ist, sondern ein funktionaler Körperteil. Neben der Funktion, sexuelles Empfinden zu steigern, erfüllt sie weitere, auch gesundheitsfördernde 5 6

Aus religiösen Gründen vermeidet es der Autor, seinen Herrn beim Namen zu nennen. Nur als Hinweis auf die Erschwerung des Religionswechsels des Beschnittenen dürften auch die – auf das Religionsrecht des Kindes zielenden – Ausführungen des Landgerichts Köln fair und verständig interpretiert sein (siehe Neue Juristische Wochenschrift, 2012, S. 2129; auch Schlehofer, 2011, Rz. 143). – Die Beschneidungsbefürworter pflegen einen anderen Umgang mit dem Argument der negativen Religionsfreiheit: Sie nehmen es her in der Form einer Karikatur (»Die Beschneidung macht einen späteren Religionswechsel unmöglich!«), um es dann problemlos widerlegen zu können. Dem Meinungsgegner eine dermaßen schwache Position zuzuschreiben, ist nicht redlich.

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Funktionen (Hartmann, 2012). Diese weiteren Funktionen mit dem Abschneiden der Vorhaut aufzuheben, bedeutet einen eigenen, vom Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung unabhängigen Schaden. Vor ihm schützt den Jungen sein Recht aus Art. 2 Abs. 1 S. 1 GG. Dies alles folgt bereits aus den immer eintretenden körperlichen Folgen einer Vorhautabtrennung. Um zu erkennen, dass die kindlichen Grundrechte illegitim verletzt werden, muss man also nicht einmal die übrigen mit dem Eingriff einhergehenden Bedenklichkeiten einbeziehen – sie bestätigen freilich das Verdikt »verfassungswidrig«: Der vielfach auftretende Operationsschmerz, der immer auftretende Wundheilungsschmerz, die Risiken für Gesundheit und Leben des Kindes (Scheinfeld, 2013, S. 277), die Ängste und die drohende Traumatisierung älterer Kinder (Franz, 2012a, S. 7) sowie die mögliche (und vielfach auftretende und dann nicht selten erhebliche) Beeinträchtigung des Sexuallebens. Bronselaer et al. (2013, S. 820) fassen das Ergebnis ihrer Studie so zusammen: »This study confirms the importance of the foreskin for penile sensitivity, overall sexual satisfaction, and penile functioning.« Ein Blick auf Art. 3 Abs. 1 GG

Ohne gewichtige medizinische Indikation dürfen Eltern nicht vom Sexualorgan ihres Kindes eine erogene Zone abtrennen (lassen). Dieser Satz sagt etwas so Selbstverständliches, dass man sich wundert, wie er in der Beschneidungsdebatte außer Kraft gesetzt werden konnte. Beachtet und ausnahmslos gelten gelassen wird er vom einfachen Recht heute noch hinsichtlich eines Geschlechts, hinsichtlich der Mädchen. Bei Mädchen sind aber nicht nur die verbrecherischen Formen der Beschneidung verboten (insbesondere die Infibulation), sondern auch die leichtesten Formen, beispielsweise das Anritzen der äußeren Schamlippen oder das Durchstoßen der Schamlippen. Auch diese leichteren – meist auf Tradition oder Religion beruhenden – körperlichen Eingriffe fallen in die Stufe IV der von der WHO ausnahmslos geächteten Mädchenbeschneidung. Sie sind in Deutschland nach dem neuen § 226a StGB als Verbrechen strafbar und also schon gar nicht positiv erlaubt. Im Gegensatz zu dieser Rechtslage gestattet § 1631d BGB nun eine im Vergleich schwerere Verletzung des männlichen Sexualorgans. Besonders deutlich wird die Ungleichbehandlung, wenn man ein schafi’itisches Elternpaar als Beispiel nimmt, das seine ungleichgeschlechtlichen Zwillingskinder beschneiden lassen will. Die Schafi’iten bilden eine Rechtsschule im Islam und beschneiden aus religiösen Gründen sowohl dem Knaben die Penisvorhaut als auch dem Mädchen die Klitorisvorhaut (Von der Osten-Sacken u. Piecha, 2012). Die beiden Eingriffe in den kindlichen Körper wiegen zumindest

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gleich schwer (Hardtung, 2013, S. 10 f.; Karim u. Hage, 2008; Darby u. Svoboda, 2009, S. 301 ff.). Dennoch sagt das heutige einfache Recht den schafi’itischen Eltern: Die Penisvorhaut dürft ihr beschneiden, die Klitorisvorhaut nicht. Für diese Ungleichbehandlung gibt es keinen Sachgrund.7 Überhaupt kann der Vergleich mit der Mädchenbeschneidung vieles erhellen. Er hilft nämlich, die Argumente, die für die Gestattung der Knabenbeschneidung vorgebracht werden, richtig zu gewichten. Es empfiehlt sich, jeweils zu fragen: Welches Gewicht würden wir dem jeweiligen Argument geben, wenn es jemand für die Zulassung einer leichten (!) Form der Mädchenbeschneidung ins Feld führte (etwa für die Praxis der Klitorisvorhautbeschneidung)? Nehmen wir exemplarisch das Pro-Erlaubnis-Argument, dass die Knabenbeschneidung nicht von unqualifizierten Personen in der Illegalität und dort mit größeren Risiken durchgeführt werden soll. Diese Praxis gilt es selbstverständlich zu verhindern. Doch gilt dies bei der Mädchenbeschneidung ganz genauso. Dort wird das Argument aber vehement zurückgewiesen, wie die »American Academy of Pediatrics« bereits erfahren hat. Warum sollte es also bei der Knabenbeschneidung anders sein? Und in dieser Weise kann man für die einzelnen Argumente jeweils fragen: Würden wir die leichtesten Formen der Mädchenbeschneidung erlauben, weil sie (als unverhandelbares religiöses Ritual) vom Erziehungsrecht der Eltern gedeckt sind, weil sie Religionsausübung der Eltern sind, weil sie Tradition sind, weil wir tolerant sein sollten, weil der Wandel aus dem Inneren der Religionsgemeinschaft vollzogen werden muss, weil sie gewisse gesundheitsprophylaktische Vorteile versprechen? Und so weiter. Bei der Mädchenbeschneidung lautet die Antwort auf diese Fragen jeweils: nein. Es gibt keinen sachlichen Grund, bei der Knabenbeschneidung anders zu antworten. Bezieht man in die Betrachtungen mit ein, dass es bei Strafe verbotene Formen der Mädchenbeschneidung gibt (Anritzen der äußeren Schamlippen), die 7

Germann verteidigt die Ungleichbehandlung im Rahmen des Art. 3 GG wie folgt: »Der anatomische Unterschied zwischen Jungen und Mädchen ist weitaus größer als jegliche anatomische Analogie, die teilweise für eine Analogie zwischen der Knabenbeschneidung und der Verstümmelung weiblicher Genitalien bemüht wird« (2013, S. 423). Selbst wenn man das für Absatz 3 der Norm gelten ließe, müsste eine illegitime Ungleichbehandlung im Sinne des Absatzes 1 GG bejaht werden. Der Beurteilung im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG geht Germann nicht nach. Bliebe es bei Germanns These, dürfte der Gesetzgeber den sexuellen Missbrauch »an der kindlichen Vagina« verbieten und den »am kindlichen Penis« erlauben. Ein Problem der Gleichbehandlung läge wegen der »anatomischen Unterschiede« nicht vor! Nötig und ausreichend für die richtige Beurteilung ist dagegen die Abstraktion, dass alle Beschneidungsformen den Intimbereich körperlich verletzen und insoweit gleiche Sachverhalte bieten (Art. 3 Abs. 1 GG).

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deutlich weniger gravierend sind als die Abtrennung der Penisvorhaut, dann muss im Vergleich dazu die Knabenbeschneidung sogar erst recht verboten werden. Es ist vor dem Hintergrund dieser Ableitung verständlich, dass die Verteidiger der Knabenbeschneidung den Vergleich mit der Mädchenbeschneidung stets (empört) zurückweisen (siehe nur Beck, 2012; Rixen, 2013, S. 259). Die Zurückweisung ist stimmig, soweit sie sich auf die verbrecherischen Formen der Mädchenbeschneidung bezieht, beispielsweise auf die pharaonische TotalBeschneidung. Bei uns verboten sind aber – wie gesagt – auch die leichtesten Formen der Mädchenbeschneidung. Und diese leichten Formen bleiben im Schweregrad nun einmal hinter der Abtrennung der erogenen Zone »Penisvorhaut« zurück. Der beliebte Hinweis auf die »mangelnde Vergleichbarkeit« der Knaben- und Mädchenbeschneidung hat seinen Ursprung daher entweder in der Uninformiertheit oder in der Unredlichkeit dessen, der ihn vorbringt.8 Allgemein lässt sich daher sagen: Wenn die Knabenbeschneidung aus religiösen Gründen oder wegen des elterlichen Erziehungsrechts erlaubt ist, dann darf der Rechtsstaat nicht leichtere oder gleich schwere und religiös motivierte Eingriffe bei Mädchen verbieten. Die Religionsgemeinschaften, so sagt es das Bundesverfassungsgericht, müssen strikt gleichbehandelt werden, und zwar unabhängig von ihrer Stärke oder sozialen Relevanz (BVerfGE 108, 282, 298; auch Beschluss v. 22. 02. 2006 – Az. 2 BvR 1657/05 Rz. 21; bezogen auf den einzelnen Religiösen BVerfGE 32, 98, 106). Man müsste also ausloten, welche Eingriffe in die Genitalien von Mädchen nicht schwerer wiegen als die von § 1631d BGB erlaubten Eingriffe bei Jungen. Und dann müsste man entscheiden, ob man auch diese erlauben will – denn das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht zwingen den Gesetzgeber dazu, in eine Richtung konsequent zu sein (Art. 3 GG). So sagt Hardtung in einer Stellungnahme vor dem Rechts8

In der Verweigerung jeglichen Vergleichs von Mädchen- und Knabenbeschneidung, den uns bei Licht besehen sowohl die Rechtsethik als auch Art. 3 GG aufzwingen, liegt ein diskursethischer und intellektueller Tiefpunkt der Beschneidungsdebatte. Stücker (2012c) hat schön herausgestellt, dass dieser Haltung Ignoranz und Sexismus zum Grunde liegen. Und das ist noch eine freundliche Unterstellung, die etwa für Volker Beck von den Grünen nicht gelten darf. Er geriert sich als Menschenrechtler (Beck, 2012). Sollte er, der Mädchen- und Jungenbeschneidung für unvergleichbar erklärt, wirklich nicht wissen, dass unter die geächtete Genitalverstümmelung bei Mädchen auch Beschneidungsakte fallen, die an Eingriffstiefe deutlich hinter der einer Knabenbeschneidung zurückbleiben? – Nur noch Kopfschütteln auszulösen vermögen die Thesen von Klein (2012, S. 254 f.). Dem Vergleich zwischen der Penisvorhautbeschneidung und der Klitorisvorhautbeschneidung spricht sie unerschrocken die Berechtigung ab, weil diese, anders als jene, keine »verbreitete kulturelle Praxis« sei. Folglich diene der Vergleich »nicht der Gleichberechtigung der Geschlechter«, sondern sei vielmehr »frauenfeindlich«. Wie »so oft in der Geschichte« zeige sich, dass »Judenfeindschaft und Frauenverachtung« miteinander verknüpft werden.

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ausschuss: »§ 1631d BGB, der ausdrücklich nur für die Knabenbeschneidung konzipiert wurde, muss entsprechend […] auf diejenigen Formen der Mädchenbeschneidung angewendet werden, die in ihrem Schweregrad der Knabenbeschneidung gleichstehen oder sogar dahinter zurückbleiben. Art. 3 GG lässt keine Differenzierung zu, er stellt das gleich doppelt klar: ›Männer und Frauen sind gleichberechtigt‹ (Abs. 2 S. 1); ›Niemand darf wegen seines Geschlechtes […] benachteiligt oder bevorzugt werden‹ (Abs. 3 S. 1)« (2013, S. 5). Gegen dieses Differenzierungsverbot verstößt der Staat mit der Erlaubnisnorm des § 1631d BGB; er entzieht, wie Walter zutreffend betont, »den schwächsten Menschen in einem hochsensiblen Bereich das Recht auf körperliche Unversehrtheit allein auf Grund ihres Geschlechts. Das ist neu« (2012b, S. 12). Neben der Ungleichbehandlung von Jungen und Mädchen gibt es weitere Punkte, die ebenfalls deutlich machen, dass die Beschneidungserlaubnis sich nicht widerspruchsfrei in die deutsche Rechtsordnung integrieren lässt. Die folgenden verbotenen (und zum Teil strafbaren) Akte setze man in Beziehung zu dem von § 1631d BGB gedeckten Abschneiden der erogenen und intimen Zone Penisvorhaut: (1) Das Piercen des Sechsjährigen (§ 223 StGB), (2) das Sublimieren des Beschneidungsaktes dahin, nur noch ein religiöses Symbol auf die Penisvorhaut oder die Schamlippen zu tätowieren (§ 223 StGB); (3) das Ohrfeigen eines Fünfjährigen, damit dieser nicht erneut unvorsichtig auf die Straße läuft (§ 1631 Abs. 2 BGB, § 223 StGB); (4) das Mitnehmen eines Minderjährigen ins öffentlich zugängliche Sonnenstudio (§ 4 NiSG, Hinweis von Merkel, 2013); (5) das Spenden von 500 Euro aus dem kindlichen Vermögen, das die Eltern treuhänderisch verwalten, an die Glaubensgemeinschaft, der das Kind angehört und deren religiöses Gebot es damit erfüllt (§ 1641 S. 1 BGB, § 266 StGB; Beispiel von Herzberg, 2012, S. 494); (6) das als Karfreitagsritual verübte schmerzhafte Aufdrücken einer Dornenkrone auf den Kopf des Kindes oder das moderate Geißeln des Kindes (§ 223 StGB); (7) das Gewinnen von Knochenmark aus dem kindlichen Körper zwecks Rettung eines leukämiekranken Nachbarkindes (§§ 8, 8a, 19 Abs. 1 TPG). Vor dem Hintergrund dieser (strafbewehrten) Verbote erweist sich die in § 1631d BGB normierte Einwilligungserlaubnis nicht nur als Sonderrecht, sondern erneut als evident gleichheitssatzwidrig. Rechtfertigungsversuche Religionsfreiheit der Eltern (Art. 4 GG)

»Jede aktive Entfaltung eigener Freiheit, sei es der Religion, der Kunst, des Gewissens oder der, den eigenen Arm zu schwingen, endet an der Nase des

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andern (von dessen Vorhaut nicht zu reden)«, so sagt es Merkel (2012a), um den rechtstheoretisch anerkannten Befund zu beglaubigen, dass Freiheitsrechte es niemals erlauben, den Körper eines anderen absichtlich erheblich zu verletzen (im Ergebnis auch Fischer, 2013, § 223 Rz. 48). Denn ein Freiheitsrecht zu haben, bedeutet, das Recht zu bestimmten Handlungen zu haben, weil man sie will; und wie wenig einleuchten könnte eine Rechtfertigung des Eingriffs gegenüber dem Verletzten, die letztlich lautet: Ich darf deinen Körper verletzen, weil ich es so will (Merkel, 2012b, Minute 13:45). Dieser Sicht lässt sich nicht entgegenhalten, dass die Gläubigen ja »keine Wahl« haben, sondern von der Religion auf ihre Pflichten festgelegt werden. Denn dabei würde übersehen, dass die Gläubigen sich im Rechtssinne frei entscheiden, an wen und an was sie glauben. Das gilt für die grundsätzliche Wahl einer bestimmten Religion ebenso wie für bestimmte Glaubensinhalte. Gerade die Beschneidung macht Letzteres deutlich. Aus dem einschlägigen Bibeltext wählen die gläubigen Eltern und Beschneidungsbefürworter gerade die Passage als Glaubensinhalt, die sich auf die Beschneidung des eigenen Kindes bezieht. Schon den nächsten Satz, der die Beschneidung auch des »Gesindes« fordert (heute würde man vielleicht von Hausangestellten sprechen) erwählt niemand mehr zu seinem Glaubensinhalt. Dies macht die Wahlfreiheit des Einzelnen auch in religiösen Angelegenheiten sehr deutlich. Vor diesem Hintergrund wird dann einsichtig, dass die Begründung »Ich glaube nun einmal an die religiöse Richtigkeit meines Tuns« ganz allgemein keine absichtlichen Eingriffe in Rechtsgüter anderer legitimieren kann. Bei Isensee findet sich der Gedanke so ausgedrückt: »Die Grundrechte bieten dem Einzelnen rechtliche Räume, sich in seiner Subjektivität zu entfalten, nicht aber über Art, Reichweite und Grenzen dieser Räume zu disponieren. Denn damit könnte er über den Freiraum der anderen bestimmen. Da diese das gleiche Recht beanspruchen könnten, schlüge grundrechtliche Freiheit um in Anarchie« (2013, S. 322). Die rechtsstaatliche Idee der Gleichheit und Freiheit aller Bürger ist untrennbar verbunden mit der Untersagung einer willkürlichen Verletzung anderer Bürger. Wer sich die Freiheit nimmt, den anderen ohne Not oder Zustimmung zu verletzen, bestreitet ihm die Rechtsgleichheit. Freiheitsrechte (der Eltern) können folglich grundsätzlich keine Eingriffe in den Körper anderer Grundrechtsträger rechtfertigen. Das wird ganz deutlich, wenn man die Eltern-Kind-Beziehung einmal gedanklich aus dem Beschneidungskomplex herausstreicht. Würde ein orthodoxer Rabbiner und Mohel eine günstige Gelegenheit nutzen und einen Knaben eigenmächtig und gegen den Willen der Eltern beschneiden (was religionsrechtlich als seine Pflicht gelten darf), dann käme niemand auf die Idee, in eine Abwägung seines Religions-

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grundrechts mit den Rechten des Kindes und der Eltern einzutreten. Wenn das aber unbezweifelbar richtig ist, dann muss sich das Grundrecht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit auch klar und a limine durchsetzen gegenüber dem religiösen Freiheitsrecht der Eltern – auf eine Abwägung kommt es selbst in dieser Beziehung nicht an. Grundrechtstheoretisch verfehlt ist es daher, eine unmittelbare Kollision des elterlichen Religionsrechts mit den kindlichen Rechten für möglich zu halten und am Ende dem elterlichen Religionsrecht sogar den Vorrang zu geben (Bielefeldt, 2012; Schwarz, 2010). Sieht man dagegen den Schutzbereich der Religionsfreiheit sogar bei absichtlich-körperverletzenden Akten eröffnet, könnte sich positivrechtlich eine vernünftige Schranke dieser Freiheit immerhin aus Art. 140 GG mit Art. 136 WRV ergeben. Dort heißt es: dass »bürgerliche und staatsbürgerliche Rechte und Pflichten […] durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt« werden (Art. 136 Abs. 1 WRV). Und andere nicht an der Gesundheit zu schädigen, ist eine staatsbürgerliche Pflicht, die dann also bei Ausübung der Religionsfreiheit nicht »beschränkt« ist (Herzberg, 2010, S. 337 und in diesem Buch; Ehlers, 2011, Art. 140 mit Art. 136 Rz. 2 ff., 4). Die herrschende Meinung hingegen nimmt sich von der unbefangenen Lesart des Art. 140 GG mit Art. 136 Abs. 1 WRV nichts an. Sie bevorzugt einen Abwägungsansatz (BVerfGE 33, 23, 30 f.; 93, 1, 21). Auf Basis dieses Abwägungsansatzes ist aber zu bedenken, dass die kollidierenden Grundrechte im Wege praktischer Konkordanz zu einem Ausgleich gebracht werden müssen. Nötig ist »eine Regelung, die in ausgewogener Weise« den betroffenen Grundrechten »Rechnung trägt« (BVerfG, Neue Juristische Wochenschrift, 2002, S. 665). Die Berliner Staatsanwälte Brocke und Weidling umschreiben das so: »Dabei muss ein Ausgleich mit dem Ziel der größtmöglichen Optimierung der sich gegenüberstehenden Rechtspositionen erfolgen. Dies erfordert eine Abwägung der widerstreitenden Belange und verbietet es, einem rechtlichen Interesse generell den Vorrang einzuräumen« (2012, S. 455). Auf der Seite des Kindes stehen, wie erläutert, dessen Recht auf körperliche Unversehrtheit, seine negative Religionsfreiheit und sein Persönlichkeitsrecht. Auf der anderen Seite steht zunächst – im Hauptanwendungsfall der religiösen Beschneidung – das Interesse der Eltern, das Kind vollständig in eine Religionsgemeinschaft zu integrieren. Dieses Interesse wird aber kaum beeinträchtigt, wenn mit der Beschneidung bis zum Vorhandensein der Einsichtsfähigkeit des Kindes gewartet wird. Es ist für den Unbeschnittenen wohl in keiner Religionsgemeinschaft mit spürbaren Nachteilen verbunden, dass seine Vorhaut noch vorhanden und intakt ist (Herzberg, 2012, S. 489). In diesem Sinne bestätigt Kramer vom Zentralrat der Juden (Lau, 2012), er habe »noch nie erlebt, dass am Eingang der Synagoge das Geschlechtsteil kon-

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trolliert« worden sei. Insbesondere im Islam kommt es nicht selten vor, dass die Jungen erst mit zehn oder gar 13 Jahren beschnitten werden (Engin, 2012, S. 256); deshalb mutet es den muslimischen Eltern nicht viel zu, die Einwilligungsfähigkeit ihres Knaben abzuwarten – eine kleine Begrenzung der Religionsausübung übrigens, die den schafi’itischen Eltern eines Mädchens ganz selbstverständlich auferlegt wird. Dagegen schiebt die Erlaubnis der Beschneidung des Kindes (§ 1631d BGB) dessen Rechte vollständig beiseite: Es muss sich verletzen und religiös »stempeln« lassen und seine noch reifende Persönlichkeit übergehen lassen. Diese irreversible Verletzung der Grundrechte des Kindes verbietet der Gedanke der »praktischen Konkordanz« (Czerner, 2012, S. 434). Oder dürfen bei Zulassung der Jungenbeschneidung die Rechte des Jungen im Sinne von Brocke und Weidling als optimiert gelten? An dieser Stelle ist ein weiterer Punkt zu berücksichtigen: Eine Religionsgemeinschaft, die für die Vollwertigkeit ihrer minderjährigen Mitglieder einfordert, sie mögen sich erst einmal im Intimbereich verletzen lassen und eine erogene Zone opfern, übt illegitimen Nötigungsdruck aus (Eschelbach, 2013, § 223 Rz. 35.6). Zum Vergleich: Wie würden wir das Verhalten eines Fechtvereins einstufen, der zehnjährige Kinder zwar bei offiziellen Wettkämpfen für den Verein starten lässt, aber nur unter der Bedingung, dass sich die Anwärter zuvor einen die Zugehörigkeit zum Verein besiegelnden Schmiss auf dem Oberarm verpassen lassen? Es besteht kein Zweifel, dass dieses Verhalten der Vereinsverantwortlichen rechtswidrig wäre. Für Religionsgemeinschaften kann nichts anderes gelten; die Religion gibt ihnen kein Recht, Nötigungstaten zu begehen. Bevor die Eltern ihr Integrationsinteresse durch eine Körperverletzung ihres Kindes befriedigen, wäre es die Aufgabe der Religionsgemeinschaften, den rechtswidrigen Nötigungsdruck von den Eltern zu nehmen (Fischer, 2013, § 223 Rz. 50). »Wäre es nicht bizarr«, fragt Reinhard Merkel (Käfer, 2012), »wenn Religionsgemeinschaften autonom entscheiden dürften, wann sie in den Körper anderer Menschen eindringen dürfen?« Die Herstellung praktischer Konkordanz kann nach allem für das Integrationsinteresse der Eltern nur bedeuten, den Eingriff aufzuschieben, bis die Persönlichkeit des Jungen zu einer entscheidungsfähigen gereift ist und nicht übergangen wird, und er dann seinen Körper gegebenenfalls eigenverantwortlich verändern und irreversibel prägen lässt. Neben dem Integrationsinteresse haben jüdisch-religiöse Väter von Söhnen das gewichtige Anliegen, eine ihnen auferlegte religiöse Pflicht zu erfüllen, nämlich gerade die, ihren Sohn eigenhändig zu beschneiden oder ihn beschneiden zu lassen (dazu näher Gotzmann in diesem Buch). Mit diesem Interesse an der Pflichterfüllung können die Interessen des Kindes schon gar nicht in eine

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praktische Konkordanz gebracht werden. Ein Abwarten bis zur Entscheidungsreife des Sohnes muss bedeuten, dass der Vater seine religiöse Pflicht verletzt. In dieser Konstellation muss ein Interesse dem anderen weichen. Unter dem hier betrachteten Aspekt der Religionsfreiheit kann dies nur das Interesse des Vaters sein, wie ja auch das Interesse des jüdischen Arbeitgebers weichen muss, der eine religiöse Pflicht sieht, seinen Hausangestellten zu beschneiden (zum alttestamentarischen Befehl der Gesindebeschneidung siehe Genesis 17)9. Religionsrecht des Kindes (Art. 4 GG)

Einige Autoren stehen auf dem Standpunkt, dass das Religionsrecht des Kindes selbst für die Beschneidung streite und diese legitimiere; sie meinen, das Kind übe, obwohl Objekt der Beschneidung (und erst acht Tage alt), selbst Religion aus, und die Eltern entscheiden lediglich als Stellvertreter für das Kind (Bartsch, 2012, S. 607; Beulke u. Dießner, 2012, S. 343 ff.; Brocke u. Weidling, 2012, S. 456). Weil selbstverständlich auch nach diesem Ansatz das Kind sich (vertreten durch die Eltern) nicht alles Mögliche am Körper antun darf, muss es Grenzen des Stellvertreterrechts geben. Die Grenzen können aber nicht aus dem Religionsrecht des Kindes abgeleitet werden, weil dieses Recht dafür keinen Maßstab an die Hand gibt. Beulke und Dießner (2012) meinen zwar, der mutmaßliche Wille des Kindes gehe dahin, das jeweils anstehende Ritual der von den Eltern gewählten Religion zu vollziehen. Diese Interessenzuschreibung ist aber willkürlich: »Die Religionsfreiheit [des Kindes] bleibt […] völlig substanz- und damit richtungslos, weil ein Kind noch keine sachhaltigen religiösen Überzeugungen besitzt« (Hörnle u. Huster, 2013, S. 329; ähnlich Fischer, 2013, § 223 Rz. 45a). Es kommt deshalb auch nach diesem Ansatz letztlich nur wieder auf die Interessen der Eltern an. Bei Licht besehen weicht der Ansatz daher nicht vom üblichen Herangehen und dem Fragen nach der Kindeswohlgefährdung ab. Auch die Vertreter der genannten Sicht wollen ja nicht ableiten, dass die Beschneidung etwa eines schafi’itischen Mädchens an seiner Klitorisvorhaut erlaubt sei, weil das Kind vertreten durch seine Eltern seine Religion ausübe. Die Unzulässigkeit dieses Aktes wird nur anders begründet, sie folgt nicht daraus, dass die scha-

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»Das ist aber mein Bund, den ihr halten sollt zwischen mir und euch und deinem Samen nach dir: Alles, was männlich ist unter euch, soll beschnitten werden. Ihr sollt aber die Vorhaut an eurem Fleisch beschneiden. Das soll ein Zeichen sein des Bundes zwischen mir und euch. Ein jegliches Knäblein, wenn’s acht Tage alt ist, sollt ihr beschneiden bei euren Nachkommen. Beschnitten werden soll alles Gesinde, das dir daheim geboren oder erkauft ist. Und also soll mein Bund an eurem Fleisch sein zum ewigen Bund. Und wo ein Mannsbild nicht wird beschnitten an der Vorhaut seines Fleisches, des Seele soll ausgerottet werden aus seinem Volk, darum daß es meinen Bund unterlassen hat« (Gen 17,10–14).

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fi’itischen Eltern ihr unmittelbares Erziehungsrecht übertreten, sondern daraus, dass sie ihr Recht zur Stellvertretung des Kindes in religiösen Angelegenheiten überschreiten. In der Sache ändert sich an den angewendeten Kriterien nichts (näher dazu noch Herzberg, 2012, S. 492 ff.). Pflege- und Erziehungsrecht der Eltern (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG)

Da sich nun aus dem Religionsgrundrecht unmittelbar keine Beschneidungsberechtigung ergibt, hat sich die Diskussion verlagert hin zum Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG, dieses, so sehen es insbesondere einige Verfassungsrechtler, gebe ihnen das Recht zur Knabenbeschneidung. Der Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG gibt das Recht zur »Pflege« und zur »Erziehung«. Nähme man den Grundgesetzartikel beim Wort, so müsste sich die Beschneidung als ein Akt der Pflege oder Erziehung begreifen lassen. Üblich ist es aber, das Elternrecht als ein umfassendes Bestimmungsrecht, als eine »Gesamtverantwortung« zu verstehen (Robbers, 2010, Rz. 143). Das mag am Ende richtig sein, weil es Akte der Eltern gibt, die nicht buchstäblich zur »Pflege« oder »Erziehung« ausgeübt werden, aber dennoch dem Elternrecht unterfallen (z. B. die Bestimmung des Aufenthaltsortes). Darauf wird es indes nicht entscheidend ankommen. Die folgende Zuordnung der Rechtfertigungsversuche zur elterlichen Pflege und Erziehung versteht sich rein phänomenologisch. Pflegerecht der Eltern – Wächteramt des Staates

Fateh-Moghadam (2010, S. 136 ff.) hatte noch versucht, ein Recht der Eltern zur Beschneidung des eigenen Kindes als präventiv-medizinischen Akt der »Pflege« zu rechtfertigen: »Die Beschneidung« sei stets »mit nicht unerheblichen gesundheitlichen, insbesondere präventiv-medizinischen und hygienischen Vorteilen verbunden« und die Zustimmung der Eltern dürfe daher nicht als (grob) missbräuchlich und Überschreitung des Elternrechts eingestuft werden. Dem kann nicht gefolgt werden. Die hygienischen Vorteile zählen nicht, weil in Deutschland Seife und Wasser hinreichend zur Verfügung stehen (Walter, 2012a, S. 1113; Deusel, 2012, S. 188). Die präventiv-medizinischen Vorteile sind alle umstritten (Frisch et al., 2013, S. 796 ff.; Deutscher Bundestag, 2012, S. 8). Der Sachverständige, den das Kölner Landgericht bei seiner Entscheidung zur Knabenbeschneidung angehört hat, sieht »jedenfalls in Mitteleuropa keine Notwendigkeit, Beschneidungen zur Gesundheitsvorsorge vorzunehmen« (LG Köln, Neue Juristische Wochenschrift 2012, S. 2128). Vor allem aber sind die behaupteten prophylaktischen Vorteile sämtlich solche, die sich erst später realisieren, wenn der Junge Geschlechtsverkehr ausübt. Sie sind also alle zu haben, ohne dass man die Persönlichkeit des Jungen übergehen und ihm den verletzenden Beschnei-

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dungsakt aufzwingen müsste; er kann mit Eintritt der Entscheidungsreife noch rechtzeitig selbst wählen, ob er sich den Schnitt zumutet (Putzke, 2008, S. 690; Herzberg, 2010, S. 473). – Neben diesen rechtlichen Vorgaben des kindlichen Persönlichkeitsrechts tritt dann noch der faktische Umstand, dass die Beschneidung – wegen des von ihr verursachten Sensibilitätsverlustes – das Verwenden von Kondomen erschwert und manchem unmöglich macht; der Eingriff raubt dem Betroffenen dann gerade die Möglichkeit eines viel höheren Schutzes vor sexuell übertragbaren Krankheiten (Hartmann, 2012, Blatt 2). Getreu der oben gewonnenen Einsicht soll noch die Kontrollfrage gestellt und der Vergleich mit den leichten Formen der Mädchenbeschneidung gezogen werden: Würden wir die Reduktion der Klitorisvorhaut für rechtens erklären, wenn und weil einige medizinische Studien evidenzbasiert gewisse prophylaktische Vorteile für die Gesundheit der betroffenen Mädchen nahelegen? Zu dieser Konsequenz würde sich, ginge es um Mädchen, niemand versteigen. Die Kontrollfrage bestätigt, dass die bloß vorbeugende Vorhautbeschneidung nicht als »Pflege« im Sinne von Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG anzuerkennen ist. Der Vergleich mit der Mädchenbeschneidung scheint mir noch einen weiteren Streitfall zu erhellen. Besteht beim Knaben eine Phimose, bieten sich faktisch zunächst zwei Behandlungsmethoden an: zum einen die Beschneidung, die eine Vorhautverengung sicher beseitigt (das Risiko einer sekundären Phimose beiseite), und zum andern die mehrwöchige Behandlung mit kortisonhaltiger Salbe, die in circa 95 % der Anwendungen zum Erfolg führt (Putzke, Stehr u. Dietz, 2008, S. 786). Manche Autoren geben den Eltern im Fall einer diagnostizierten Phimose ein »Wahlrecht«, ob sie salben oder schneiden lassen (FatehMoghadam, 2010, S. 136; Herzberg, 2010, S. 472). Zu fragen ist aber: Würde man das elterliche Entscheidungsrecht auch dann so weit spannen, wenn es um eine atypisch verklebte und zu Entzündungen neigende Klitorisvorhaut ginge, für die eine Salbenanwendung zu 95 % Abhilfe verspräche? Das würde man nicht tun. Man würde sich vielmehr in Erinnerung rufen, dass vor einem solch massiven und irreversiblen Eingriff in den Intimbereich des Kindes die hochwahrscheinlich wirksame und weniger verletzende Behandlungsalternative erprobt werden sollte. Diese Sicht halte ich auch für zwingend geboten, wenn es um den Intimbereich Penis und um die Erhaltung der erogenen Zone Penisvorhaut geht (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, Art. 2 Abs. 1 GG mit Art. 1 Abs. 1 GG). Erziehungsrecht der Eltern – Wächteramt des Staates

Der Staatsrechtslehrer Wolfram Höfling (2012) hatte schon im Ethikrat den Standpunkt vertreten, dass die Entscheidung zur Beschneidung des eigenen minderjährigen Sohnes vom elterlichen Erziehungsrecht gedeckt sei. Diese Sicht

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hat er nun in einem Beitrag bekräftigt (2013). Problematisch ist dabei schon, ob das Abtrennen eines (intimen) Körperteils im Rechtssinne religiöse »Erziehung« sein kann. Die Subsumtion unter diesen Begriff liegt bei der Beschneidung eines achtjährigen (muslimischen) Jungen noch ein wenig näher als bei der Beschneidung eines Säuglings. Dem Achtjährigen kann man erklären, worum es bei dem Ritual geht, und man kann ihm so die elterliche Überzeugung vermitteln, dass es wichtig ist, seinem Gott und seinem Glauben ein Opfer zu bringen. Es gibt indes Stimmen, die eine Subsumtion unter den Begriff der Erziehung generell ablehnen: »Eine Operation, noch dazu im ›Kernbereich‹ des Rechts auf körperliche Unversehrtheit […] und in der Intimsphäre mit erheblichem Einfluss auf die sexuelle Gesamtentwicklung des Kindes, ist überhaupt kein Mittel der Erziehung, weil sich Erziehung in der Vermittlung von Wissen und Verhaltensregeln oder auch von Überzeugungen in Glaubensfragen (BVerfGE 93, 1, 17) ausdrückt, nicht aber in einer Substanzverletzung des Körpers« (Eschelbach, 2013, § 223 Rz. 35.3). Diese Sicht hat zumindest für die Säuglingsbeschneidung eine gewisse Überzeugungskraft. Andererseits gehört nach § 1 des Gesetzes zur religiösen Kindererziehung das Elternrecht, »die Religionszugehörigkeit ihrer Kinder festzulegen« (Schramm, 2011, S. 250). Die jüdische Säuglingsbeschneidung ist danach vielleicht doch einzustufen als ein Akt elterlicher »Erziehung«. Unterstellen wir einmal zur Erprobung der Höfling’schen These, dass der religiöse Beschneidungsakt ein solcher Akt der »Erziehung« ist! Höfling (2013, S. 465 f.) macht sich und dem Leser zunächst bewusst, dass es sich bei der Beschneidung um einen »Übergriff in die körperliche Unversehrtheit des Kindes« handelt. Doch auch gegen solche Eingriffe dürfe der Staat – in Ausübung seines Wächteramtes aus Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG – nur unter drei Bedingungen einschreiten: Erstens bei nicht mehr hinnehmbarer »Intensität der Beeinträchtigung kindlicher Rechtsgüter« (Beispiele: Vorenthalten einer medizinisch indizierten Behandlung; weibliche Genitalverstümmelung). Dieses Intensitätskriterium sei im Fall der Knabenbeschneidung nicht erfüllt, weil der Eingriff »lediglich von relativer Schwere und prinzipiell beherrschbar« sei: »Die ›Evidenz normaler Lebenswege‹ von mehreren 100 Millionen beschnittener Männer« lasse sich »nur ›widerlegen‹ durch wirklich valide Daten über gravierende Traumatisierungen«. Zweitens seien solche körperlichen Eingriffe der Eltern unzulässig, mit denen bestimmte »modale Faktoren« wie »demütigende und diskriminierende Begleiterscheinung bzw. Motivationen« verbunden sind (Beispiel: weibliche Genitalbeschneidung). Und drittens fehle den Eltern die Berechtigung zum Eingriff bei defizitärer »Authentizität« ihrer Entscheidung (Beispiel: »Heute Zungenpiercings für den Achtjährigen, morgen Subdermals für den Neunjährigen«).

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An Höflings Anwendung seines Intensitätskriteriums ist zu kritisieren, dass der Autor sich keine differenzierte Rechenschaft über die Schwere des Eingriffs gibt. Der Verlust einer erogenen Zone wird ebenso wenig berücksichtigt wie die dem Eingriff folgende Desensibilisierung der Eichel. Deshalb wird dann auch die Betroffenheit des kindlichen Persönlichkeitsrechts nicht gewürdigt, ferner die der negativen Religionsfreiheit zu Unrecht verneint (siehe dazu oben, S. 365 f.). Damit fehlen entscheidende Posten, die für ein »Intensitätskriterium« bedeutsam sind. Dem Hinweis auf die »Evidenz normaler Lebenswege« hat Mandla (2013) zutreffend entgegengesetzt: »Wäre sie taugliches Argument, könnte sogar die Schmerzbehandlung unterbleiben, weil anormale Lebenswege türkischer Männer vom Land genauso wenig bekannt sind wie Traumata aus den Jahrtausenden, in denen Beschneidungen nicht nach den heutigen Regeln der ärztlichen Kunst stattfanden. Aber weder müssen Menschen mit postoperativen Problemen gleich einen anormalen Lebensweg haben, noch ist selbstverständlich, dass Männer öffentlich ihre sexuellen Probleme erörtern; Männer, die die gesunde Alternative nicht kennen, nichts mehr ändern können, sich aber gegen Religion oder Tradition wenden müssten, für die ihnen dieses Opfer auferlegt wurde.« Dem ist nur noch hinzuzufügen, dass ja auch Millionen von beschnittenen Frauen »normale« Lebenswege vorzuweisen haben. Auch Hörnle und Huster (2013) bieten in ihrem umfassenden Beitrag eine Begründung dafür an, die elterliche Einwilligung in den Beschneidungsakt dem Erziehungsrecht aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG zu unterstellen. Nach ihrem Ansatz dürfen die Eltern in die – als invasiven Eingriff eingestufte – Knabenbeschneidung einwilligen, wenn und weil sie eine wichtige Maßnahme eines erzieherischen Gesamtkonzepts ist; der Akt ermögliche es diesen Eltern dann, ihrem Sohn die eigene Überzeugung vom »guten Leben« weiterzugeben; diese Vorstellung habe der ethisch neutrale Staat zu respektieren. Danach soll die Beschneidung beispielsweise zulässig sein in den Hauptfällen der jüdischen und muslimischen Beschneidungsrituale, nicht hingegen bei rein ästhetischen, hygienischen oder gesundheitsprophylaktischen Motiven der Eltern. Wollten Hörnle und Huster es ernst meinen, müssten sie sich zu der Konsequenz bekennen, dass die schafi’itischen Eltern unseres Beispiels (vgl. S. 367 f.) nicht nur ihrem Sohn die Penisvorhaut beschneiden lassen dürften, sondern auch jedes Erziehungsrecht hätten, ihrer Tochter die Klitorisvorhaut zu beschneiden. Das tun aber auch sie nicht. Wie alle anderen Verfechter des Erziehungsrechts lassen sie sich den Widerspruch zuschulden kommen, einen der Knabenbeschneidung vergleichbar schweren oder leichteren Eingriff beim Mädchen als Kindeswohlgefährdung und strafbares Unrecht einzustufen. Die von den Autoren angeführten Gründe für die Ungleichbehandlung sind nicht tragfähig. Sie

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lassen die Absicht durchscheinen – aus welchen Gründen auch immer –, das eine unbedingt zu gestatten (Knabenbeschneidung), das andere unbedingt zu verbieten (milde Mädchenbeschneidung): Nach Hörnle und Huster (2013, S. 332 f.) findet das Erziehungsrecht eine »harte Grenze« bei erheblichen Demütigungen des Kindes (siehe § 1631 Abs. 2 BGB) und bei erhöhter gesundheitlicher oder psychischer Gefährdung. Diese Kriterien würden die Autoren gegen die mittelschweren und gravierenden Formen der weiblichen Beschneidung geltend machen. Als weitere harte Grenze anerkennen die Autoren das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG), soweit dem Kind mit der Beschneidung erhebliche körperliche Schmerzen zugefügt werden. Daraus leiten sie die unabdingbare Voraussetzung einer effektiven Schmerzbehandlung ab. Daneben trete als »weiches« Kriterium, das in eine Gesamtabwägung einzustellen sei, die mit dem Akt verbundene »soziale Botschaft«. Dieses Kriterium wollen sie fruchtbar machen, um die Andersbehandlung von Knabenbeschneidungen und leichten Formen der Mädchenbeschneidung zu legitimieren. Für Letztere sei zu klären, »ob sich nicht die symbolische Botschaft wesentlich« unterscheide, »was zu vermuten« sei, »da die Vorstellung eines notwendigen Reinigungsrituals oder Versuche der Kontrolle von (nur) weiblicher Sexualität auf negativen Bewertungen von Eigenschaften« beruhen, »die angeblich Mädchen und Frauen zukämen.« Dieser Versuch der Rechtfertigung kann nicht überzeugen. Zum einen erstreckt sich diese Sicht nicht auf schafi’itische Eltern, die für Jungen- und Mädchenbeschneidung das identische Motiv der religiösen Pflicht haben. Mit einigem Recht würden sie den Vorwurf von sich weisen, die Beschneidung ihrer Tochter habe etwas mit einer Herabsetzung des Mädchens oder Unterdrückung ihrer Sexualität zu tun. Zum anderen würde es für manche Knabenbeschneidung ganz genauso gelten. Unter Muslimen gilt der Unbeschnittene zum Teil als »unrein« (Jerouscheck, 2008, S. 314; Kelek, 2012, S. 75). Und der israelische Mohel Menachem Fleischmann sagt in einem Radiobeitrag: »Die Vorhaut ist etwas Verabscheuungswürdiges, und deshalb schneiden wir sie ab« (Engelbrecht, 2012). Die soziale Botschaft ist hier keine bessere als bei der angeblich nötigen Reinigung des Mädchens. Sie lautet: Du hast etwas Schmutziges an dir, das weg muss; ohne den (verletzenden) Beschneidungsakt bist du nicht »vollwertig«, sondern unrein (wie die Unbeschnittenen). Und schließlich ist in den Blick zu nehmen, was denn das beschnittene Mädchen, wenn es reif genug ist, seinen Eltern vorwerfen wird. Doch nicht etwa: Wie konntet ihr mich nur als etwas Unreines betrachten! (Wo sie jetzt ja »rein« ist, wird sie das kaum belasten.) Sondern doch wohl eher: Wie konntet ihr euch

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nur anmaßen, ein Stück von meinem Körper, von meinem Intimbereich abzuschneiden! Diesen Vorwurf erheben jetzt auch viele als Kind beschnittene Männer. Die unverlangte Beschneidung kann also vom Betroffenen auch nachträglich als Anmaßung und Demütigung begriffen werden (Czerner, 2012, S. 379). Weiter verweisen Hörnle und Huster darauf, dass der »wichtige Aspekt der Unterdrückung der weiblichen Sexualität als Zweck der Frauenbeschneidung […] ignoriert werde«. Sehen wir einmal davon ab, dass es sich hierbei um einen grenzüberschreitend interpretativen Fremdeintrag außerreligiöser Rollenvorstellungen in ein religiöses Überzeugungssystem und insofern um eine kulturelle Enteignung handelt, die den Betroffenen ihr eigenes normatives Anschauungskonzept wegerklären möchte. Dann ist damit gleichwohl nichts vorgetragen, was ein Verbot gegenüber den Schafi’iten rechtfertigen könnte. Die schafi’itischen Eltern unterdrücken aus ihrer Sicht keineswegs die Sexualität ihrer Tochter. Der Zweck der Beschneidung ist derselbe wie bei der ihrer Söhne. Auch lässt sich manche erwachsene Frau sogar die Klitorisvorhaut beschneiden in der Meinung, so besser sexuell stimulierbar zu sein (Borkenhagen, 2008, S. 25). Noch weniger kann der Gedanke der Unterdrückung weiblicher Sexualität gegen die leichtesten Formen der weiblichen »Beschneidung« angeführt werden. Das Durchstoßen der Schamlippen mit einer Nadel etwa wiegt nicht schwerer als das Anbringen eines Intimpiercings; oder man nehme das Anritzen der äußeren Schamlippen oder den »ritual nick« (»a small cut to the clitoris [hood]«). Die Autoren vernachlässigen schließlich, dass die Knabenbeschneidung von manchen Gruppen gerade wegen der Dämpfung der männlichen Sexualität geschätzt wird (Citron, 2013). Der Aspekt der Unterdrückung der Sexualität fällt also nicht bei allen Formen der Mädchenbeschneidung ins Gewicht, sehr wohl aber bei mancher Knabenbeschneidung. Bei Hörnle und Huster hängt deshalb alles an der Äußerung, der Gesetzgeber dürfe »typisierend aufgreifen«, dass viele oder die meisten Mädchenbeschneidungen eine negative »soziale Botschaft« hätten (»Bändigung der weiblichen Sexualität«), und er dürfe daher Mädchenbeschneidungen insgesamt verbieten (ähnlich Germann, 2013, S. 423). An diesem Punkt ist es wichtig, sich eines bewusst zu machen: Das Argument impliziert, dass einige leichte Formen der Mädchenbeschneidung für sich betrachtet nicht verwerflich sind und rechtlich an sich nicht zu beanstanden wären. (Denn sonst wäre der Rückgriff auf das Typisierungsargument unnötig.) Dem Staat aber das Recht zuzubilligen, auch die für sich genommen rechtlich akzeptablen Beschneidungsarten zu verbieten, ist zweifach unplausibel. Erstens besteht vor dem Hintergrund der Strafbewehrung des Beschneidungsverbots ein Zurechnungsproblem. Die schafi’itischen Eltern werden nach dieser Sicht nur deshalb bestraft, weil andere Eltern an

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ihren Kindern Beschneidungsakte vollziehen, die schlimm und schon für sich genommen strafwürdig sind. Doch für die Akte dieser Eltern fehlt es an einem die Zurechnung begründenden Band. Für diese Taten sind die Schafi’iten nicht verantwortlich (allgemein dazu Hörnle, 2005, S. 185 ff.). Es leuchtet zudem nicht ein, dass die Typisierung gerade beim Geschlecht endet. Wer seiner Tochter die Klitoris abtrennen lassen möchte, kann sich doch sagen und sich rechtfertigen, in Deutschland darf man männlichen Kindern schließlich auch erogene Zonen abschneiden.10 Zweitens müssen Hörnle und Huster gefragt werden: Was ist mit dem Erziehungsrecht der (schafi’itischen) Eltern von Töchtern? Was wäre das für ein Erziehungsrecht, wenn es zurücktreten müsste, weil andere Eltern schlimme Dinge tun? Nein, wenn die leichten Formen der Mädchenbeschneidung für sich genommen vom Erziehungsrecht der Eltern gedeckt sind, dann setzt es sich auch durch gegen typisierend-weite Verbote dieser Praktiken. Wenn das Erziehungsrecht so stark ist, dass es die Entfernung einer erogenen Zone beim Jungen erlaubt, dann muss es sich auch und erst recht durchsetzen gegen solch typisierend-weite Verbote, gegen ein In-Haftung-genommen-Werden für Taten anderer. Verstärkt wird dieser Aspekt wohl von der zwingenden verfassungsrechtlichen Vorgabe, alle Religionen strikt gleich zu behandeln. Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt, dass es für die Glaubensfreiheit nicht ankommt auf die Stärke oder soziale Relevanz einer religiösen Vereinigung (BVerfGE 32, 98, 106). Gerade das Grundrecht der Religionsfreiheit versteht sich als Minderheitenschutz (BVerfGE 91, 1, 24; siehe auch Eschelbach, 2013, § 223 Rz. 35.2). Diese strikten Grundsätze müssten wohl über die Ausstrahlungswirkung der Glaubensfreiheit berücksichtigt werden bei der Bewertung der religiösen Erziehung im Rahmen von Art. 6 Abs. 2 GG. Aber selbst wenn man dies nicht gelten lassen wollte, müsste der Staat dann bei unmittelbarer Bestimmung des Elternrechts die strikte Gleichbehandlung der Glaubensrichtungen praktizieren: Denn diese Pflicht leitet das Bundesverfassungsgericht gerade aus der Verpflichtung zur ethischen Neutralität des Staates ab, auf die ja auch Hörnle und Huster ihr Erlaubnisplädoyer stützen (vgl. BVerfGE 32, 98, 106). Die Weltanschauung der Schafi’iten beispielsweise muss dann genauso hoch geachtet werden wie die der übrigen Moslems. Dasselbe gilt für Gewissensentscheidungen, etwa bei Entnahme von Knochenmark beim zehnjährigen Sohn zur Rettung des leukämiekranken Nachbarkindes: Wenn die Eltern ihre Sicht vom »guten Leben« dem 10 Siehe die auf Gleichbehandlung zielende Forderung des ägyptischen Gynäkologen Prof. Toprak (2012); siehe noch zu dem Aspekt der mit dem Beschneidungsgesetz bewirkten Schwächung des Kampfes gegen die Mädchenbeschneidung Herzberg (2012, S. 496 f.).

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zehnjährigen Sohn weitergeben wollen (»In Not geratenen Menschen muss man helfen, wenn einem die Hilfe zumutbar ist.«), dann wiegt das genauso viel wie die religiöse Motivation zur Beschneidung (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG mit Art. 4 Abs. 1 GG). Weil sich Beschneidung und Knochenmarksentnahme im Schweregrad entsprechen, müssen die Lösungen auch gleich liegen. Die §§ 8, 8a, 19 Abs. 1 TPG verbieten aber die Knochenmarksentnahme beim Zehnjährigen selbst dann, wenn er seinen Schulfreund vor dem Krebstod und sich selbst vor dem Verlust des Freundes bewahren möchte (vgl. auch bei Fischer, 2013, § 223 Rz. 48). Schließlich hält die These, der Gesetzgeber habe das Recht zur typisierenden Ächtung aller Arten von Mädchenbeschneidungen, auch einer weiteren Erprobung nicht stand. Zum einen impliziert die These, dass der Gesetzgeber etwa die Klitorisvorhautbeschneidung durchaus erlauben dürfte und dass er mit dieser Erlaubnis nicht gegen seine verfassungsrechtliche Schutzpflicht gegenüber den betroffenen Mädchen verstieße. Zum andern lebt die Typisierungsthese davon, dass schwere Formen der Mädchenbeschneidung in Deutschland (oder zumindest anderswo) überhaupt praktiziert werden. Und das heißt: Hätte der Kampf gegen die gravierenden Formen der Mädchenbeschneidung irgendwann flächendeckend Erfolg, entfielen – auf Basis der genannten These – Grund und Schutzpflicht, die milden Formen der Mädchenbeschneidung zu verbieten. Wollen Hörnle und Huster das wirklich so sehen? Ich vermute, dass sie doch eher der intuitiv als richtig erkannten Einschätzung folgen würden: Der Eingriff in den Intimbereich der Mädchen in Form der Klitorisvorhautreduktion, mag er religiös oder kulturell motiviert sein, verlangt ein Einschreiten des Staates als Wächter über die kindlichen Grundrechte (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG mit Art. 1 Abs. 1 GG). Bei genauer Betrachtung erweist sich demnach die gesetzliche Differenzierung zwischen Knabenbeschneidung und Mädchenbeschneidung als verfassungsrechtlich nicht tragfähig. Vielmehr muss aus dem Konsens, dass alle Formen der Mädchenbeschneidung, auch die leichtesten, verboten sind, Folgendes abgeleitet werden: Schon der Umstand, dass die Eltern ohne medizinischen Grund den sexuellen Intimbereich ihres minderjährigen Kindes verletzen, erzwingt das Beschneidungsverbot. Die Rechte der Kinder auf körperliche Unversehrtheit und auf Achtung ihrer offenen, noch reifenden Persönlichkeit stehen einer Beschneidungserlaubnis entgegen – auch unter dem Blickwinkel des elterlichen Erziehungsrechts. Indirekt bestätigen Hörnle und Huster (2013, S. 333) dieses Ergebnis, wenn sie das Zufügen erheblicher Schmerzen zu einer »harten Grenze« der Knabenbeschneidung erklären. Die betäubungslose Beschneidung ist wegen der Unzumutbarkeit der erheblichen Schmerzen unvereinbar mit dem Recht des Kin-

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des auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 1 S. 1 GG). Diese Sicht scheint sich derzeit als Konsens unter den Juristen zu etablieren (vgl. Hörnle u. Huster, 2013, S. 334, S. 339; Isensee, 2013, S. 324 ff.; Scheinfeld, 2013, S. 275 f.; Yalcin, 2012, S. 385). Dieselbe Unvereinbarkeit mit den Rechten des Kindes muss sich aber für den Beschneidungsakt als solchen ergeben, wenn das Interesse am Behalten der erogenen Zone Penisvorhaut beim Knaben zumindest genauso groß ist wie das Interesse, nicht während einer Beschneidung erheblich zu leiden. Und ein solches gewichtiges Erhaltungsinteresse darf man dem Jungen getrost zuschreiben. Die meisten unbeschnittenen Erwachsenen würden sich vermutlich – wenn eines unabdingbar wäre – eher Qualen vom Grade einer betäubungslosen Beschneidung an anderer Stelle zumuten als den schmerzlosen Verlust der Penisvorhaut hinzunehmen. Wenn diese Einschätzung zutrifft oder man ihre Richtigkeit nicht ausschließen kann, muss das Interesse am Erhalt der erogenen Zone Penisvorhaut sogar für schwerer gelten als das Interesse, keine Schmerzen zu erleiden. Dann aber muss sich das Integritätsinteresse ebenso gegen die Elterninteressen durchsetzen wie es das Interesse des Kindes tut, von Schmerzen verschont zu bleiben. Gegen alle Ansätze, die das Erziehungsrecht zugunsten der Eltern fruchtbar machen wollen, ist schließlich ein Wertungswiderspruch ins Feld zu führen. »Kinder«, so bestimmt es § 1631 Abs. 2 S. 1 BGB, »haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung«. Das schließt die religiöse Erziehung ein (Schlehofer, 2011, Vor §§ 32 ff. Rz. 143). Selbst wenn in § 1631 Abs. 2 S. 1 BGB nur ein »allgemeiner programmatischer Appell« zu sehen sein sollte (so Hörnle u. Huster, 2013, S. 333), verstößt § 1631d BGB doch klar gegen das Normprogramm der Nachbarvorschrift: »Der fundamentalistische Vater, der seinen Achtjährigen beim Onanieren erwischt und ihm zur Abgewöhnung eine heftige Ohrfeige gibt, macht sich strafbar. Beschließt er stattdessen, ihn zu demselben Zweck und unter der (wahren!) Angabe ›religiöse Gründe‹ beschneiden zu lassen, ebnet ihm das neue Gesetz den Weg« (Merkel, 2012a). Wenn die erzieherischen Prügel eine »entwürdigende Maßnahme« und als solche von Satz 2 des § 1631 Abs. 2 BGB verboten sind, dann muss die Beschneidung der Penisvorhaut – mag sie auch aus heiliger Tradition erfolgen – erst recht verboten sein. Wer das bestreitet, möge überlegen, was man dem Kind eher anzutun berechtigt sein soll, eine Tracht Prügel oder die Abtrennung der Vorhaut (sei es die des Penis oder die der Klitoris). Das allgemeine Gleichbehandlungsgebot (Art. 3 Abs. 1 GG)

In seinem Beitrag hat Ünal Yalcin (2012, S. 384) versucht, Art. 3 Abs. 1 GG zugunsten der elterlichen Beschneidungserlaubnis geltend zu machen. Er hat dabei einen Punkt herausgestellt, der näher betrachtet werden muss: Zwischen

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Beschneidung und vergleichbaren, den Eltern aber erlaubten körperlichen Eingriffen bestehe eine »Maßstabsungerechtigkeit«. Operationen wie beispielsweise das »Anlegen von Segelohren« oder die »Entfernung einer Höckernase« seien »deutlich riskanter und schwerwiegender« als die Beschneidung. Bei diesen (letztlich) »ästhetischen Eingriffen« werde indes – auch von den Beschneidungsgegnern – das Elternprimat akzeptiert, bei der Beschneidung werde es dagegen »nicht sachorientiert erörtert, sondern zielgerichtet ausgehöhlt«. Anders lasse »es sich nicht erklären, dass zumindest die Gefahr der Stigmatisierung und der sich daraus ergebenden sozialen Ausgrenzung von nicht beschnittenen Knaben in der religiösen oder kulturellen (Minderheits-)Gruppe nicht als Rechtfertigung für die Beschneidung zugelassen wird, aber die Gefahr von Hänseleien durch die Mehrheitsgesellschaft, z. B. wegen Segelohren, ausreichen soll.« Zunächst lässt Yalcin unberücksichtigt, dass mancher Kritiker der Knabenbeschneidung das Ohrenanlegen und die Höckernasenbegradigung sehr wohl bedenkt. Holm Putzke etwa sieht die Sache differenziert: »Schönheitsoperationen sind medizinisch unnötig und liegen deshalb nicht im Kindeswohl. Dies ändert sich erst dann, wenn etwa abstehende Ohren zu einer ernsthaften psychischen Belastung beim Kind führen. Dann ist die Korrektur medizinisch-psychologisch indiziert. Bei der Abwägung der Vor- und Nachteile darf freilich auch nicht vergessen werden, dass beim Ohrenanlegen kein Körperteil irreversibel abgetrennt wird« (2012, S. 22). In Putzkes Ausführungen ist eine »Maßstabsungerechtigkeit« nicht zu erkennen. Wie man sieht, lässt sich durchaus darüber nachdenken, ob den Eltern nicht auch das Korrigieren abstehender Kinderohren rechtlich untersagt ist; dies gilt vor allem, wenn das Kind (noch) psychisch unbelastet ist und nicht unter seinem Besonderssein leidet. Selbst im Fall schon auftretender Hänseleien und einem entsprechenden Leiden des Kindes wäre es ja in der Tat allenfalls angezeigt, den hänselnden Kindern »die Ohren lang zu ziehen«, als dem gehänselten Kind eine Operation aufnötigen zu lassen – zumal schon das mildere Ohrenlangziehen verboten ist (§§ 1631 Abs. 2 BGB, 223 StGB). Die Operation des Ohrenanlegens muss das betroffene Kind demütigen, weil es nicht so akzeptiert wird, wie es ist, sondern stattdessen genötigt wird, die Operation über sich ergehen zu lassen. Insoweit besteht tatsächlich eine Parallele zum (früher stigmatisierten) Beschnittenen. Ich neige daher der Sicht zu, das Anlegen der Ohren jedenfalls grundsätzlich nicht dem Elternrecht zu unterstellen. Bejaht man hingegen im Fall abstehender Kinderohren schon eine medizinisch-psychologische Indikation, lässt sich eine Ungleichbehandlung zur Knabenbeschneidung gut begründen. Denn die Ähnlichkeiten zwischen den Eingriffen enden recht bald. Anders als das Anlegen der Ohren greift der

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Beschneidungsakt in den Intimbereich des Kindes ein (Art. 2 Abs. 1 GG mit Art. 1 Abs. 1 GG). Das ist der Grund, warum doch wohl auch Yalcin seine Analogie nicht auf die Klitorisvorhautbeschneidung erstreckt sehen will! Zudem verursacht der Beschneidungsakt beim Jungen immer einen Sensibilitätsverlust am Geschlechtsorgan und beraubt den Körper mit der Vorhaut ihrer natürlichen biologischen Funktionen (Hartmann, 2012). Schließlich ist zu bedenken, dass ein Verbot der Knabenbeschneidung die Anzahl der unbeschnittenen Jungen auch innerhalb der beschneidungsaffinen Gruppen erhöhen würde. Das Beschneidungsverbot würde also der Stigmatisierung Unbeschnittener mit der Zeit den Nährboden entziehen (Putzke, 2008, S. 702 f.). Das Argument Yalcins, die Eltern müssten einer sozialen Ausgrenzung vorbeugen dürfen, unterstellt zudem, dass der beschnittene Junge unter seinesgleichen bleibt. In Deutschland ist es aber wahrscheinlicher, dass die meisten anderen Jungen, mit denen er zusammenkommt, nicht beschnitten sind. Dann könnte gerade das Beschnittensein zur Ausgrenzung führen. Der Beschneidungsakt ist also gar nicht geeignet, eine Ausgrenzung zu vermeiden. Keinen Kulturkampf übers Recht führen?

Isensee (2013) teilt die skizzierte Sicht auf die Verfassungsfragen weitgehend und erklärt das Erlaubnisgesetz des § 1631d BGB für »verfassungsrechtlich gescheitert«. Er will am Ende aber doch einen Weg gefunden haben, eine enge Beschneidungserlaubnis gelten zu lassen: Der Gesetzgeber dürfe die Beschneidung erlauben, um in Deutschland einen »Kulturkampf« zu verhindern (2013, S. 327). So verständlich das politisch ist, so wenig plausibel ist es empirisch und verfassungsrechtlich: Schon das jetzt geltende Beschneidungsgesetz begrenzt die Kultur mancher Moslems und Juden. So wird etwa den Juden auferlegt, die Beschneidung unter Anwendung effektiver Schmerzbehandlung zu vollziehen (§ 1631d Abs. 1 BGB), was viele Strenggläubige aus religiösen Gründen ablehnen (Metzger, 2012; Spiegel, 2010, S. 40); und den Moslems wird auferlegt, ein Veto des Kindes zu achten (§ 1631d Abs. 1 S. 2 BGB). Davor, diese Regelungen gesetzlich zu fixieren, musste der Gesetzgeber weder empirisch noch verfassungsrechtlich zurückschrecken. Auch sonst wird mit Teilen des Islam der »Kulturkampf« durchaus aufgenommen, wenn, wie behandelt, den Schafi’iten leichtere Eingriffe bei weiblichen Kindern untersagt werden. Schließlich ist weder von der Mehrheit der Moslems noch von der Mehrheit der Juden zu erwarten, dass sie im Fall eines Verbotes der Knabenbeschneidung ein letztlich fundamentalistisches Verständnis im Verhältnis von Religion und Staat einnehmen werden (Gotzmann, 2012). Isensees Idee enthält auch den unheimlichen Satz, der Gesetzgeber habe sich »im Konflikt zwischen rechtsstaatlicher Konsequenz und Wahrung des religiö-

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sen wie gesellschaftlichen Friedens« zulässigerweise für den Frieden entschieden (2013, S. 327). Er sagt damit, der Gesetzgeber dürfe in utilitaristischer Verrechnung Grundrechte der Kinder opfern, um den gesellschaftlichen Frieden zu wahren. Es ist aber gerade der Sinn eines Kerngrundrechts wie Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, einen solchen Utilitarismus zu verhindern. Droht vor diesem Hintergrund nicht vielleicht auch von der anderen Seite ein Kulturkampf, weil das Beschneidungsgesetz die Verfassungskultur antiutilitaristischer Kerngrundrechte preisgibt? Rücksichtnahme auf jüdische Belange von Gewicht

Hier und da findet sich der Gedanke geäußert, es dürfe nicht gerade Deutschland das erste Land sein, dass den Juden eine wichtige und im Großen und Ganzen bisher tolerierte Tradition verbietet (Isensee, 2013, S. 327: »Tabu«). Die historische Schuld der Deutschen und die damit heute noch zusammenhängende Verantwortung werden vermutlich die entscheidende Triebfeder für das Beschneidungsgesetz gewesen sein (Merkel, 2012c). Und in der Tat hätte man sich ein anderes Land als Vorreiter gewünscht. Doch ergibt auch dieser Aspekt verfassungsrechtlich keine Rechtfertigung. Die aus der Historie abgeleitete moralische Pflicht der deutschen Staatsorgane, auf alle jüdischen Belange von Gewicht besonders Rücksicht zu nehmen, dispensiert den Gesetzgeber nicht von seiner Schutzpflicht gegenüber allen in Deutschland betroffenen Kindern! Gerade auch gegenüber den jüdischen Kindern mutet die These paradox an. Ihre Unversehrtheit im Intimbereich ist ein Belang von außerordentlichem Gewicht (Art. 2 Abs. 1 GG mit Art. 1 Abs. 1 GG). In diesem Sinne sagt der jüdische Filmemacher Victor Schonfeld (2012): »Jüdische und muslimische Kinder verdienen es, vor einem schmerzhaften, gefährlichen […] Brauch geschützt zu werden« (vgl. noch bei Stücker, 2012c). Verbot oder strafbewehrtes Verbot?

Einem ähnlichen Irrtum unterliegen diejenigen, die vor einer Bestrafung der Knabenbeschneidung und ihrer Veranlassung zurückschrecken. Als Beispiel dienen kann hier der Beschneidungskritiker Tonio Walter (2012a, S. 1115 f.). Er steht zum einen auf dem Standpunkt, dass Beschneidungen an kleinen Jungen ohne medizinische Indikation« nicht »legalisiert werden sollten,« zugleich hält er »es aber für ausgeschlossen, ausgerechnet in Deutschland Menschen jüdischen Glaubens und Muslime mit Kriminalstrafen zu verfolgen, wenn sie Gebote erfüllen, die ihnen ihr Glaube – aus ihrer Sicht – zwingend auferlegt« (ebenso Spieckhoff, 2013, S. 338). Der Autor übersieht mit vielen anderen, die so denken, drei Aspekte: Erstens müssen auch jetzt schon Juden und Muslime jedenfalls dann mit Kriminal-

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strafen verfolgt werden, wenn sie aus Glaubensgründen das nunmehr geltende Knabenbeschneidungsrecht missachten – insbesondere wenn sie die Gebote der effektiven Schmerzbehandlung bzw. der Achtung des kindlichen Vetorechts missachten (§§ 223 Abs. 1, 225 Abs. 1 StGB, § 1631d BGB). Walters Satz hingegen fordert auch bei solcher Kindeswohlgefährdung den Rückzug des Strafrechts, denn wenn die Gläubigen meinen, mit der Tat ein »zwingendes Glaubensgebot« zu erfüllen, soll Strafe ja ausgeschlossen sein. Seine These sagt also mehr, als der Autor selbst zugesteht. Zweitens wurden immer schon »Muslime mit Kriminalstrafen« bedroht, obwohl ihre Taten der Erfüllung zwingender Glaubensgebote dienen: Den muslimischen Schafi’iten wurde trotz der bestehenden religiösen Pflicht immer schon das Beschneiden der Klitorisvorhaut bei Strafe verboten. Da Walter der Ansicht ist, das Geschlecht erlaube keine Differenzierung, müsste sich seine Forderung nach Vermeidung einer Strafverfolgung erstrecken auf die Schafi’iten und ihre Praktik der Klitorisvorhautbeschneidung. Die leichten Formen der Mädchenbeschneidung will er aber nicht, auch nicht übergangsweise gestatten (2012a, S. 1117). Walter macht also in der Sache nichts anderes, als er dem Gesetzgeber vorhält: Auf die Eltern geblickt, diskriminiert er etwa die Schafi’iten, nur weil ihre Opfer Mädchen sind; auf die Kinder geblickt, diskriminiert er die Jungen, weil er ihnen den strafrechtlichen Schutz vorenthält, den er den Mädchen in der Rechtsanwendung gewähren will. Drittens sollen nach Ansicht des Autors Anhänger eines weniger prominenten Glaubens von seiner Ausnahme- und Übergansregelung durchaus nicht profitieren, sondern nur die vorrangig involvierten »zwei Weltreligionen« (Walter, 2012a, S. 1116). Wo doch Art. 3 GG sein Hauptthema ist, bietet dies eine beachtliche Ungleichbehandlung. Obendrein ist es eine, die das Bundesverfassungsgericht sofort beseitigen würde, weil es betont hat, dass alle Religionen strikt gleich behandelt werden müssen (dazu oben, S. 381). Bleibt zuletzt die Frage, auf welche Weise der Gesetzgeber seine Schutzpflicht zu erfüllen hat. Selbstverständlich muss der Beschneidungsakt rechtswidrig bleiben, damit das Kind nicht sein Notwehr- und Nothilferecht verliert und damit bei schweren Folgen (etwa bei einer durch die Beschneidung nötig gewordenen Penisamputation) zivilrechtliche Ansprüche nicht schon allein wegen kunstgerechter Durchführung der Beschneidung ausgeschlossen sind (Eschelbach, 2013, § 223 Rz. 4). Aber muss das Verbot auch strafbewehrt sein? Oder darf der Gesetzgeber wenigstens diese Rechtsfolge für die Eltern vermeiden? Das Bundesverfassungsgericht räumt dem Gesetzgeber traditionell einen weiten Beurteilungsspielraum dafür ein, wie dieser Schutzpflichten erfüllt, und erst recht dafür, welches Verhalten er unter Strafe stellt (siehe nur BVerfG NJW 1999, 3399). Isoliert auf die Knabenbeschneidung geblickt, würde das Bundesverfassungsgericht

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dem Gesetzgeber vielleicht zugestehen, die Strafbarkeit auszuschließen – zumal bei religiöser Motivation. Diese Großzügigkeit des Gerichts wäre aber unangemessen. Jedenfalls bei solchen Eingriffen in den Genitalbereich des Kindes, die das sexuelle Empfinden beeinflussen (Klitorisvorhautbeschneidung, Penisvorhautbeschneidung) muss der Gesetzgeber seine Schutzpflicht erfüllen (Art. 2 Abs. 1 S. 1 GG mit Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG). Da etwa Aufklärungskampagnen allein keinen vollständigen Erfolg versprechen, steht dem Gesetzgeber kein anderes Mittel als die Strafandrohung zur Verfügung. Bezieht man das strafbewehrte Verbot der Mädchenbeschneidung in die Betrachtung mit ein, zwingt Art. 3 Abs. 1, Abs. 3 GG ohnehin zur Gleichbehandlung: Es gibt keinen sachlichen Grund, den strafrechtlichen Schutz, den man den Mädchen gewährt, den Jungen vorzuenthalten. Jedenfalls indirekt trifft den Gesetzgeber also eine verfassungsrechtliche Pflicht, Genitalbeschneidungen bei Kindern insgesamt zu bestrafen. »Hat sich der Gesetzgeber«, sagt das Bundesverfassungsgericht, »aufgrund des ihm zukommenden Spielraums zu einer bestimmten Einschätzung des Gefahrenpotenzials entschlossen, auf dieser Grundlage die betroffenen Interessen bewertet und ein Regelungskonzept gewählt, so muss er diese Entscheidung auch folgerichtig weiter verfolgen« (BVerfGE 121, 317, 362). Und Eingriffe in den kindlichen Genitalbereich, so bewertet es der Gesetzgeber nunmehr mit § 226a StGB, sind erhebliches und strafwürdiges Unrecht. Zwischen männlichen und weiblichen Genitalien zu differenzieren, ist dem Gesetzgeber verfassungsrechtlich verwehrt (Art. 3 Abs. 1, Abs. 3 S. 1 GG). Verletzt die Beschneidung die Menschenwürde des Kindes? Einige Autoren sehen durch den Beschneidungsakt die Menschenwürde des Kindes verletzt, dies auch dann, wenn die Eltern den Eingriff (aus religiösen Motiven) gewünscht haben und er lege artis durchgeführt worden ist (Eschelbach, 2013, § 223 Rn. 35; Grams, 2013, S. 334; Jerouscheck, 2008, S. 319). Im Ergebnis kann man dem beitreten. Denn nach der hier dargelegten Sicht verletzt der Beschneidungsakt rechtswidrig Persönlichkeitsrechte des Kindes, und zwar in seinem Intimbereich. Dies kann man für eine Verletzung der Menschenwürde hinreichen lassen und würde es vermutlich bei der Klitorisvorhautbeschneidung ohne Zögern tun. Wichtig erscheint mir aber der Hinweis, dass das Ergebnis »Menschenwürdeverletzung« – außerhalb eindeutiger Fälle wie staatlicher Folter oder Versklavung – abhängig bleibt von der vorherigen Bewertung der Rechtslage. Dass die Würde verletzt ist, ergibt sich erst aus der genauen Prüfung der vorgenannten Grundrechte des Kindes. Erst nach einer eingehenden Bewertung

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der widerstreitenden Interessen darf das Etikett »menschenwürdewidrig« aufgeklebt werden (allgemein zum Ganzen Herzberg, 2008). Der Topos der Menschenwürde bietet daher, jedenfalls in unserem Fall, keine Deduktionshilfe. Er bestätigt aber die staatliche Pflicht zum Einschreiten gegen die Verletzung des Kindes: Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG. Ausblick Die Beschneidungserlaubnis, sagt mit Recht der Bundesrichter Ralf Eschelbach (2013, § 223 Rz. 35), ist »offensichtlich verfassungswidrig«. Damit das Bundesverfassungsgericht dies auch aussprechen und das Gesetz für nichtig erklären kann, muss dem Gericht die Frage der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes vorgelegt werden. Mehrere Wege sind denkbar: Ein antragsberechtigtes Organ (Bundesregierung, eine Landesregierung oder ein Viertel der Mitglieder des Bundestages) könnte eine abstrakte Normenkontrolle anstrengen (Art. 93 Nr. 2 GG). Die Antragsberechtigten haben – auch aus ihrer Perspektive – allen Anlass, aktiv zu werden. Denn im Gesetzgebungsverfahren gab es zwei maßgebliche Einflussfaktoren für die Verabschiedung des Erlaubnisgesetzes: erstens den – die Beschneidungspraxis gutheißenden – Bericht der »American Academy of Pediatrics« und zweitens die Stellungnahmen einiger Sachverständiger, dass die EMLA®-Salbe bei der Säuglingsbeschneidung eine hinreichende Betäubung gewährleiste. Beides hat sich mittlerweile als unbegründet erwiesen. Ohnehin hatte die EMLA®-Salbe in Deutschland nie eine spezifische Zulassung für die Schmerzbekämpfung im Rahmen der Beschneidung. Ob die genannten Organe nun ihrer Pflicht gegenüber den schutzbedürftigen Säuglingen und anderen Kindern im Licht dieser Befunde gerecht werden, bleibt abzuwarten. Wahrscheinlicher ist jedoch der Fall, dass das Bundesverfassungsgericht die Frage in Gestalt einer Verfassungsbeschwerde vorgelegt bekommt (Art. 93 Nr. 4b GG). Die könnte insbesondere ein Betroffener erheben, er müsste allerdings zuvor den zivilrechtlichen Instanzenzug ausschöpfen. Im Fall der Zivilrechtsklage eines Betroffenen – gegen den Beschneider oder die Eltern – kann freilich auch das Zivilgericht, wenn es selbst den § 1631d BGB für verfassungswidrig hält, eine konkrete Normenkontrolle veranlassen (Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG). Denkbar ist dies auch in dem Fall, dass ein im Krankenhaus angestellter Chirurg den § 1631d BGB für verfassungswidrig hält und diese Operationen vorzunehmen ablehnt, ganz im Sinne des ärztlichen Gebots primum non nocere. Im Streitfall könnte es dann zu einer arbeitsrechtlichen Feststellungsklage kommen, in deren Verlauf das Arbeitsgericht eine solche Normenkontrolle beim Bundesverfassungsgericht beantragt.

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Es hat auch bereits einen Versuch gegeben, mit einem Antrag auf einstweilige Anordnung beim Bundesverfassungsgericht gegen eine Knabenbeschneidung vorzugehen. Der von Ehefrau und Sohn getrennt lebende Vater wollte verhindern, dass die Mutter den Jungen aus religiösen Gründen beschneiden lässt. Sein Eilantrag richtete sich gegen die Übertragung des alleinigen Sorgerechts auf die Mutter (siehe beim BVerfG unter Aktenzeichen 1 BvQ 2/13). Die dem Eilantrag des Vaters voraufgehende Entscheidung der Zivilgerichte offenbart eindrucksvoll, welch absurde Konsequenzen der § 1631d BGB zeitigt. Weil die Eltern über die religiöse Erziehung in Streit gerieten, und zwar insbesondere darüber, ob der Junge beschnitten werden soll, erklärten die Zivilrichter das gemeinsame Sorgerecht für kindeswohlabträglich und übertrugen der Mutter, als der vorrangigen Bezugsperson, das alleinige Sorgerecht. Man muss sich klarmachen, wie weit es gekommen ist: Ginge es um die religiös motivierte Klitorisvorhautreduktion oder den »ritual nick« bei einem Mädchen, würde vermutlich der beschneidungswilligen Mutter das Sorgerecht entzogen; hier aber, wo es um den gleich schweren bzw. sogar schwereren Eingriff beim Jungen geht, wird demjenigen das Sorgerecht entzogen, der die intimbereichsverletzende Körperverletzung verhindern will. Die zuständige Kammer des Bundesverfassungsgerichts hat den Antrag des Vaters abgelehnt. Allerdings hat sie nicht zugleich den § 1631d BGB verfassungsrechtlich abgesegnet, nicht einmal eine dahingehende Tendenz erkennen lassen. Irreführend ist es daher, wie Wolfram Höfling die Entscheidung wiedergibt, um seine These der Verfassungsmäßigkeit zu stützen: »Das BVerfG jedenfalls hat keinen Anlass gesehen, im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verhindern, dass eine Kindesmutter in Ausübung ihres alleinigen Sorgerechts die Beschneidung eines Jungen vornehmen lässt. In der Kammerentscheidung heißt es lapidar, nach der Einführung des § 1631d BGB könnte die Mutter ›im Rahmen der Ausübung der Gesundheitssorge gem. § 1631d Abs. 1 Satz 1 BGB nunmehr grundsätzlich die Beschneidung des Kindes veranlassen‹«. Sieht man sich die kurze Entscheidung genauer an, liest sie sich ganz anders. Die Kammer hat den Eilantrag allein mit der Begründung abgelehnt, dass der Vater zunächst »Rechtsschutz im fachgerichtlichen Verfahren suchen« müsse, er könne »das erstrebte Ziel […] durch das Anrufen anderer Gerichte« erreichen; ihn auf diesen Weg zu verweisen sei zumutbar, weil die Beschneidung des zweieinhalbjährigen Jungen nicht unmittelbar bevorstehe. Die Kammerentscheidung wäre wohl nicht anders ausgefallen, hätte der Vater eine (nicht unmittelbar) drohende Klitorisvorhautbeschneidung seiner Tochter verhindern wollen. Um zu erkennen, in welch verfälschender Weise Höfling den Kammerbeschluss wiedergegeben hat, sei er hier mit der Passage zitiert, die eher eine skep-

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tische Haltung der Verfassungsrichter gegenüber der Beschneidung zu erkennen gibt (Hervorhebungen vom Verfasser): »Mit dem […] Gesetz über den Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes (BGBl I 2012 S. 2749), […] hat die Frage der Rechtmäßigkeit der Beschneidung von männlichen Kindern ausdrücklich eine gesetzliche Regelung erfahren. Danach könnte die Mutter als alleinige Personensorgeberechtigte im Rahmen der Ausübung der Gesundheitssorge gemäß § 1631d Abs. 1 Satz 1 BGB nunmehr grundsätzlich die Beschneidung des Kindes veranlassen. Die Wahrscheinlichkeit, dass es vorliegend zu einer vom Antragsteller abgelehnten Beschneidung des Kindes kommt, dürfte damit gestiegen sein. Vor diesem Hintergrund ist eine fachgerichtliche Entscheidung über eine einstweilige Verhinderung der vom Antragsteller abgelehnten Beschneidung des Kindes nicht unerreichbar. So könnte der Antragsteller nach § 166  FamFG, §§ 1696, 1671 BGB eine vorläufige Abänderung der Sorgerechtsentscheidung – zumindest in dem für die Beschneidung relevanten Teilbereich der Gesundheitssorge – beantragen. Ferner könnte er bei den Fachgerichten eine Prüfung nach § 1666 BGB mit dem Ziel veranlassen, einstweilen zu verhindern, dass die Mutter die Beschneidung des Kindes vornehmen lässt. Über den Erfolg solcher Anträge müssen zunächst die Fachgerichte nach der aktuellen geltenden Rechtslage entscheiden.« Die Kammer sieht also trotz des § 1631d BGB die Chance des Vaters, die Schädigung des Sohnes zu verhindern. Die Aussage zu § 1631d BGB ist kein »lapidares« Gutheißen der Norm, sondern ist eingebettet in Ausführungen, die zu § 1631d BGB auf Distanz bleiben. Der Konjunktiv (»Danach könnte die Mutter«) bestätigt dies. Auch nach der Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts droht dem § 1631d BGB also, für verfassungswidrig erklärt zu werden. Niemand, der Beschneidungen veranlasst oder selbst vornimmt, kann sicher sein, dass die Erlaubnisnorm ihn von zivilrechtlichen Ansprüchen des Beschnittenen freihält. Es ist wünschenswert, dass das Bundesverfassungsgericht so früh wie möglich über die Gültigkeit des § 1631d BGB entscheidet und damit zugleich über das Schicksal der Jungen, die von einer Intimbereichsverletzung bedroht sind. Die unparteiische Betrachtung der Verfassungslage ergibt die Verfassungswidrigkeit des § 1631d BGB. Man darf darauf vertrauen, dass die Verfassungsrichter die Grundrechte der betroffenen Jungen ernster nehmen, als es die Mehrheit der Abgeordneten getan hat, und dass sie ihren Rechtsschutzauftrag erfüllen werden.

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Kinderrechte sind unverhandelbare Menschenrechte

Es gibt im Deutschen Bundestag ein ungeschriebenes Gesetz: Kein Gesetzentwurf verlässt das Hohe Haus so, wie es hineingekommen ist. Diese nach dem ehemaligen Verteidigungsminister Dr. Peter Struck benannte »Struck’sche Formel« wurde am 12. 12. 2012 außer Kraft gesetzt. Das »Gesetz über den Umfang der Personensorge bei Beschneidung des männlichen Kindes« (Deutscher Bundestag, 2012a) verließ das Parlament bis auf das letzte Komma genauso wie es eingebracht worden war. Und das, obwohl es drei Änderungsanträge zur Präzisierung auf der Grundlage des Gesetzentwurfs der Bundesregierung gab – und das, obwohl es noch am selben Morgen um 7.30 Uhr eine Anhörung im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend mit einer Reihe kritischer Stimmen und Anregungen für Änderungen zum Gesetzentwurf gegeben hatte. Hier wurde auch zum ersten Mal ein Betroffener angehört. Für die Anhörung des Rechtsausschusses im November hatten die Abgeordneten dies noch ausdrücklich abgelehnt. Was war der Grund für dieses überstürzte und unübliche Verfahren? Nach dem Urteil des Landgerichts Köln vom 07. 05. 2012, das die Beschneidung minderjähriger Jungen aus religiösen Gründen in Abwägung mit anderen grundgesetzlich geschützten Gütern als rechtswidrige Körperverletzung wertete, entstand eine breite, sehr emotional geführte öffentliche Diskussion darüber, ob ein medizinisch nicht indizierter Eingriff an einwilligungsunfähigen Jungen mit den Rechten des Kindes auf körperliche Unversehrtheit vereinbar sei, wenn die Eltern es aus religiösen Gründen wünschen. Einige Kinderrechtsorganisationen wie die Deutsche Kinderhilfe, die Giordano-Bruno-Stiftung, der Bund Deutscher Kriminalbeamter, der Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte (Hartmann, 2012), pro familia, Terre des Femmes (2012) und andere begrüßten das Kölner Urteil und forderten einen intensiven Dialog mit den Religionsgemeinschaften, Menschen-, insbesondere Kinderrechtsorganisationen, der Medizin und Betroffenen. Dazu sollte es ein zweijähriges Moratorium geben, währenddessen keinerlei gesetzliche Bestim-

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mungen, in welche Richtung auch immer, erlassen werden sollten. Für diese Position gab es in den Bundestagsfraktionen keine Mehrheiten. In allen Parteien und Fraktionen äußerten sich deren Spitzenpolitiker und -politikerinnen stattdessen mit einer großen Aufgeregtheit. Die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth warnte: »Wenn die Frage der Beschneidung […] allein auf den Willen der Kinder abgestellt würde, müsste das gesamte System der elterlichen Fürsorge fundamental neu geregelt werden« (Roth, 2012). Muss es nicht, denn schon jetzt gibt es eine Reihe von Bestimmungen, die die Elternrechte einschränken. Aber auch von anderen wurde weniger über den Eingriff und seine Auswirkungen diskutiert, sondern darüber, dass ohne eine gesetzliche Legitimierung der Jungenbeschneidung kein jüdisches und islamisches Leben in Deutschland mehr möglich sei. Die Religionsgemeinschaften in Deutschland, wie der Zentralrat der Juden, der Zentralrat der Muslime, die Deutsche Bischofskonferenz und die Evangelische Kirche, indes waren sich unisono in der Ablehnung des Kölner Urteils einig. Religionsfreiheit versus Kinderrechte Längst standen nicht mehr das Selbstbestimmungsrecht und die Unversehrtheit des Körpers von Kindern im Mittelpunkt der Diskussion, sondern die Frage, ob gerade Deutschland mit seiner Geschichte das erste Land sein sollte, das eine jüdische Tradition infrage stellt und möglicherweise einschränkt. Dabei existieren durchaus kritische Diskussionen besonders in nordeuropäischen Ländern über die Zulässigkeit von Beschneidungen. So will die finnische Justizministerin strenge Voraussetzungen für Beschneidungen. Auch wird in Norwegen nach dem Tod eines Säuglings aufgrund einer religiösen Beschneidung über ein Verbot diskutiert und in Dänemark sind sie seit 2005 nur nach Aufklärung durch einen Arzt oder in dessen Anwesenheit erlaubt. Und wie meistens, wenn es um schwierige Sachverhalte geht, wurde der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages beauftragt, einen Sachstand zur »Beschneidungspraxis und -diskussion in Deutschland und anderen europäischen Ländern« (WD 1-3000-092/12) zu erstellen. Der stellte fest, wie schwierig es ist, verlässliche Zahlen über religiöse Beschneidungen zu erhalten, da der Operationsschlüssel zum einen nur die stationären Operationen erfasst, zum anderen nicht unterscheidet zwischen medizinisch indizierten und anderen Eingriffen, wie zum Beispiel kulturellen, hygienischen oder präventiven (AIDSVorbeugung) Gründen. Auch gebe es das Phänomen, »dass ein medizinischer Aspekt vorgeschoben wird, um dahinter stehende religiöse Motive zu verdecken«. Ein weiterer Beweggrund, medizinische Aspekte vorzuschieben, könne auch die

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Übernahme der Kosten durch die Krankenkasse sein, so der Bericht weiter, der sich insbesondere mit der Situation in Schweden befasst: »Eine Einschränkung der rituellen Beschneidung gibt es nur in Schweden. Dort ist vor einer rituellen Beschneidung eine Bewilligung durch das Gesundheitsministerium erforderlich, weshalb nur 40 Prozent der jüdischen Jungen in Schweden beschnitten sein sollen. Dies habe jedoch, wie das Comité Représentatif des Institutions Juives en France (CRIF) dem Verfasser telefonisch mitteilte, einerseits zu einem signifikanten Anstieg vorgeschobener medizinischer Indikationen geführt, andererseits zu einem regen ›Beschneidungstourismus‹ in Nachbarstaaten.« Der Bericht verweist weiter auf eine Reihe von Initiativen in Österreich, Großbritannien und Frankreich gegen die Jungenbeschneidung, aber auch Aktivitäten wie »Jewish against Circumcision« oder eine von Muslimen betriebene Internetseite, die religiöse und medizinische Argumente gegen die Beschneidung von Jungen zusammenstellt. In Deutschland startete das Themenportal www. gegen-kinderbeschneidung.de, und der Verein MOGiS e. V. und die GiordanoBruno-Stiftung richteten eine öffentliche Petition an Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger, den Deutschen Bundestag und die Bundesregierung mit dem Titel »Beschluss eines 2-Jahres Moratoriums ›Körperliche Unversehrtheit von Kindern‹«. Es folgte eine weitere Bundestagspetition der Deutschen Kinderhilfe und weiterer Organisationen, die vom Deutschen Bundestag die »Einsetzung eines Runden Tisches von Religionsvertretern, muslimischen und jüdischen Befürwortern und Gegnern der Beschneidung, Psychologen, Psychoanalytikern, Kinderärzten, Kinderschützern und Vertretern der Jugendhilfe sowie weiteren Experten fordern, um das Thema Beschneidung in Deutschland wissenschaftlich fundiert zu diskutieren und eine Strategie zu erarbeiten, welche alle Interessen, vor allem aber die Belange des Kindeswohls, berücksichtigt«. Aber auch die Befürworter der Beschneidung blieben nicht passiv. »In Reaktion auf das Urteil aus Köln hat Edi Gast, ein Schweizer Multimillionär und orthodoxer Jude die Gründung eines Fonds zum Kampf gegen das ›Kölner Beschneidungsurteil‹ angekündigt. Dieser Fonds soll mit 10 Millionen Euro ausgestattet sein und Lobbyisten und Anwälte bezahlen, die sich im Europäischen Parlament und der Europäischen Union für die klassische Beschneidung einsetzen«, ist im Sachstandsbericht des Deutschen Bundestages zu lesen (Nachman Gur, zit. nach WD 1-3000-092/12). Insgesamt war das eine ungemütliche Situation für die Bundesregierung. Das Thema sollte also so schnell wie möglich vom Tisch. In einer Art »Basta-Politik« ließ die Bundeskanzlerin verlautbaren, Deutschland dürfe sich mit einem Verbot der Beschneidung nicht zur »Komiker-Nation« machen. Und selbst der sprachlich sehr sensible Bundespräsident Gauck entdeckte in einem Interview

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mit der »Süddeutschen Zeitung« einen »Vulgärrationalismus« mit antisemitischen und antimuslimischen Untertönen in der Beschneidungsdebatte. In dieser Situation versuchten die Bundestagsfraktionen – außer der Linksfraktion – in großer Eile, einen gemeinsamen Entschließungsantrag zu erarbeiten, der religiöse Beschneidungen unter bestimmten Umständen straffrei stellen sollte. Während der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter Graumann (2012), gegenüber der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« seine Freude zum Ausdruck gebracht hat, »dass die Politiker das so schnell eingesehen haben« und auf die Kritik aus den Religionsgemeinschaften reagierten, dämpfte Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (2012) die Erwartungen an eine umgehende gesetzliche Regelung. »Mit einem Schnellschuss ist doch niemandem gedient«, sagte sie dem Bayerischen Rundfunk. Man könne nicht einfach pauschal sagen, dass jeder religiöse Eingriff immer erlaubt sei. Auch warnte die Justizministerin, dass mit einer neuen Regelung Auswirkungen verbunden sein könnten, »die bestimmt von niemandem gewollt sind«. Schaffung von Rechtsfrieden zu Lasten der Schwächsten Trotzdem beschloss der Deutsche Bundestag in ungewohnter Hektik am 19. 07. 2012 in einer Sondersitzung, die während der Sommerpause eigentlich wegen finanzieller Hilfen für Griechenland anberaumt worden war, mehrheitlich einen Antrag der Fraktionen von CDU/CSU, SPD und FDP (Deutscher Bundestag, 2012b). Hierin wurde die Bundesregierung aufgefordert, »im Herbst 2012 unter Berücksichtigung der grundgesetzlich geschützten Rechtsgüter des Kindeswohls, der körperlichen Unversehrtheit, der Religionsfreiheit und des Rechts der Eltern auf Erziehung einen Gesetzentwurf vorzulegen, der sicherstellt, dass eine medizinisch fachgerechte Beschneidung von Jungen ohne unnötige Schmerzen grundsätzlich zulässig ist.« Den Grund für die Eile findet man in der Begründung: »Die rechtliche Einordnung der Beschneidung muss so schnell und so gründlich wie möglich geklärt werden. Der Deutsche Bundestag hält eine gesetzliche Klarstellung für geboten, die insbesondere unseren jüdischen und muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern ermöglicht, ihren Glauben frei auszuüben.« Damit wurde bereits im Antrag festgelegt, dass das Recht auf körperliche Unversehrtheit des Kindes nachrangig gegenüber dem Recht der Eltern auf Ausübung ihrer Religion geregelt werden sollte. Ganz wohl war den Abgeordneten dabei aber offensichtlich nicht, denn sie formulierten ganz am Ende des Antrages einen Satz, der lautet: »Eine Präjudizwirkung für andere körperliche Eingriffe aus religiösen Gründen darf sich hieraus nicht ergeben.« Welche anderen körperlichen

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Eingriffe im Namen der Religion sollten es denn sein, die man nicht erlauben wollte? Das Abtrennen der Vorhaut bei kleinen Jungen ist doch schon ein so massiver, schmerzhafter und irreversibler Eingriff. Oder hatte man vielleicht schon damals eine unbestimmte Ahnung, dass die Legalisierung der Jungenbeschneidung Auswirkungen auf bestimmte Formen der Genitalverstümmelung von Mädchen haben könnte? Der hastig angehängte letzte Absatz könnte zumindest darauf hindeuten. Hier heißt es: »Zudem hält der Deutsche Bundestag die Beschneidung männlicher Kinder, die weltweit sozial akzeptiert wird, für nicht vergleichbar mit nachhaltig schädlichen und sittenwidrigen Eingriffen in die körperliche Integrität von Kindern und Jugendlichen wie etwa die weibliche Genitalverstümmelung, die der Deutsche Bundestag verurteilt.« Eine Mehrheit der Abgeordneten aus allen Fraktionen stimmte für diesen Antrag. Allerdings gab es auch eine Reihe von Ablehnungen und persönliche Erklärungen, so unter anderem von den Grünen-Abgeordneten Memet Kilic und Viola von Cramon-Taubadel vom 19. 07. 2012 (Kilic u. Cramon-Taubadel, 2012). Sie setzen sich dafür ein, dass Betroffene mit 14 Jahren selbst entscheiden können, was mit ihrer Vorhaut geschieht. Die beiden Abgeordneten argumentieren, dass die Kinder nicht das Eigentum der Eltern, der Religionsgemeinschaften oder des Staates seien, sondern Individuen mit vollen Rechten, und führten in der Erklärung weiter aus: »Der säkulare Staat hat auch die Aufgabe, den Druck der Religionsgemeinschaften oder Weltanschauung auf einzelne Individuen abzuwenden oder dies zumindest abzumildern, damit sich das Individuum frei entfalten kann (Art. 2 Grundgesetz). Medizinisch notwendige Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit stehen hierbei außer Diskussion. Zur Disposition steht nur, inwieweit die blutigen Rituale der Religionsgemeinschaften, die einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit – sogar bei Kleinkindern – darstellen, allein der Entscheidung der Religionsgemeinschaften bzw. Eltern zu überlassen sind.« Die Abgeordneten konstatieren, dass sowohl wissenschaftliche wie politische Einigkeit darüber bestehe, dass die Zirkumzision einen irreversiblen und nicht zu bagatellisierenden Eingriff in die Körper von Menschen darstelle, dass es aber auf der anderen Seite soziologischer Fakt sei, dass sich viele Eltern in der Religions- und Traditionspflicht sähen, diesen Vorgang bei ihrem Kind vornehmen zu lassen. Aber: Mehrheit ist Mehrheit und so war nach dem Beschluss des Antrags die liberale Justizministerin, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, als zuständige Ressortchefin mit der Expertise ihres Hauses gefragt. Hätte sie nur auf die Worte des ehemaligen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Winfried Hassemer gehört, der am 26. 07. 2012 ausführte: »Schnelligkeit und Mehrheit hatten vermutlich einen einfachen Grund:

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Wer eine solche Regelung mit diesen Argumenten fordert, will selbst nicht wissen, was er regeln will; er bläst die Backen auf und drückt sich dann. Er tritt dabei im Mantel des Gesetzgebers auf und weist einen scheinbar breiten Ausweg aus einer Situation, die viele, die darüber nachdenken, für kompliziert, gar für verfahren halten. Er zeigt sich kundig in der Beschreibung des Problems und in den Grundzügen seiner Lösung: Vier Rechtsgüter müssen beachtet werden, und am Ende darf die lege artis durchgeführte Beschneidung eines Jungen nicht strafbar sein; das ist die simple Botschaft« (Hassemer, 2012, S. 179 f.). Dabei sieht Hassemer in dem Kölner Fall nicht nur eine Last, sondern auch eine Chance. Die Chance zum Nachdenken und Stellung zu beziehen angesichts von Problemen, die uns die Praxis faktisch geduldeter Beschneidungen bisher verdeckt habe. Der ehemalige Bundesverfassungsrichter kommt zu dem Schluss: »Selbst wenn ein Gesetz sichtbar wäre, das im Sinne der Empfehlungen vom 19. 07. 2012 die aufgebrochenen Dispute wieder beschwichtigen könnte – wir sollten ein solches Gesetz nicht erlassen.« Wie recht er haben sollte, zeigte sich in der Umsetzung des Antrages durch das Justizministerium. »Es wurde im wahrsten Sinne des Wortes das Kind mit dem Bade ausgeschüttet«, beklagte die Menschenrechtsorganisation Terre des Femmes, die zu einer Stellungnahme der vom Justizministerium vorgelegten Eckpunkte zur Straflosigkeit von medizinisch nicht erforderlichen Beschneidungen an nicht einwilligungsfähigenJungen aufgefordert wurde (Terre des Femmes, 2012). Dieser Entwurf sei mit heißer Nadel gestrickt. Er habe zwar das Ziel, mehr Rechtssicherheit zu schaffen, stattdessen werfe er mehr Fragen und Ungereimtheiten auf, als er Rechtssicherheit biete, so Terre des Femmes weiter. Wohl wissend, wie schwierig es sein würde, Regelungen nur zur religiösen Beschneidung und deren Belegbarkeit zu formulieren, verzichtete das Ministerium kurzerhand auf den religiösen Bezug und stellte gleich alle Beschneidungen, also auch aus sogenannten hygienischen und prophylaktischen Gründen, straffrei. Dieses Signal an Eltern: »Wenn sich euer Sohn nicht an allen Körperteilen richtig wäscht oder möglicherweise als Erwachsener ein – wenn auch unbedeutend und unbewiesen – geringeres Krebsrisiko haben soll, könnt ihr ihn straffrei beschneiden lassen«, ist fatal. Terre des Femmes kritisierte auch, dass die Bestimmung »im Einzelfall gebotene und wirkungsvolle Schmerzbehandlung« ad absurdum geführt werde, wenn bis zum sechsten Lebensmonat des Säuglings eine Person den Eingriff vornehmen dürfe, die keine Ärztin oder kein Arzt sei und daher auch keine Betäubung geben dürfe. Die wirkungsvolle Schmerzbehandlung bei der Beschneidungsoperation durch EMLA®-Salbe ist ebenfalls fragwürdig. EMLA® hat in Deutschland keine behördliche Zulassung für die medizinische Indika-

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tion Zirkumzision, des Weiteren notiert die European Medicines Agency (EMA) die EMLA®-Salbe wegen der dürftigen Studienlage zur Schmerzreduktion protokollarisch als ethisch inakzeptabeles Medikament für die Beschneidung. Fakt ist, weltweit existiert kein geeignetes lokales Betäubungsmedikament für die Neugeborenenbeschneidung. So ist die entscheidende Frage, warum ein Säugling, der älter als sechs Monate ist, ohne Schmerzen, zumindest beim Eingriff, beschnitten werden darf, dies aber einem Säugling unter sechs Monaten verwehrt bleibt, unbeantwortet, kann aber wohl nur der Religion geschuldet sein. Dass dieser irreversible und schmerzhafte Eingriff nicht dem geforderten Wohl des Kindes entsprechen kann, liegt auf der Hand. Narkoserisiken, Nachblutungen, Fistelbildungen und zum Teil lebenslange psychische Belastungen und sexuelle Einschränkungen sind unbestreitbar mögliche Folgen. Missachtung der UN-Kinderrechtskonvention Und das alles vor dem Hintergrund, dass Deutschland im Jahre 1992 die UNKinderrechtskonvention ratifiziert und 2010 die bis dahin bestehenden Vorbehalte zurückgenommen hat. Darin ist in Artikel 3 Absatz 1 der Vorrang des Wohles des Kindes verankert. In ihrer Stellungnahme zur Umsetzung der UNKinderrechtskonvention in Deutschland hat die National Coalition im September 2012 sehr eindeutig gemahnt: »Hinweisen möchte die National Coalition in diesem Zusammenhang jedoch auf die Vorgaben aus Artikel 3 Absatz 1 der UN-Kinderrechtskonvention, wonach sich die Vertragsstaaten dazu verpflichten, das Wohl des Kindes vorrangig zu berücksichtigen. Ein solcher Vorrang ist dem Regelungstext nicht zu entnehmen. Es entsteht vielmehr der Eindruck einer Nachrangigkeit der körperlichen und seelischen Unversehrtheit des Kindes mit Blick auf die Einwilligung zur Beschneidung. Damit steht der Vorschlag des Regelungstextes in der Tradition eines Verständnisses der Kinderrechte im Sinne eines Kinderschutzes, der der Subjektstellung von Kindern nicht ausreichend Beachtung schenkt. Orientierung könnten hier die Regelungen des Übereinkommens des Europarates über Menschenrechte und Biomedizin geben, in denen zum Schutz einwilligungsunfähiger Personen festgehalten wird: ›Bei einer einwilligungsunfähigen Person darf eine Intervention nur zu ihrem unmittelbaren Nutzen erfolgen‹« (National Coalition, 2012). Daneben legt Artikel 24 Absatz 3 der UN-Kinderrechtskonvention fest: »Die Vertragsstaaten treffen alle wirksamen und geeigneten Maßnahmen, um überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, abzuschaffen« (Vereinte Nationen, 1989). Dass, wie behauptet, bei der Abfassung dieses Artikels lediglich die weibliche Genitalverstümmelung gemeint sei, ist nicht nachvollziehbar. Immerhin hat die

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rot-grüne Bundesregierung im Jahre 2000 die UN-Kinderrechtskonvention zur Grundlage genommen, um im § 1631 BGB das Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung gesetzlich zu regeln und körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen zu verbieten. Die Beschneidungsdebatte aus Perspektive des Kinderschutzes war dann auch das Thema einer Pressekonferenz, die von der Deutschen Kinderhilfe mit dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte, dem Professor für Psychosomatische Medizin am Universitätsklinikum Düsseldorf Matthias Franz, dem Gründer von Protect the Child Eran Sadeh aus Israel und mir, als Vorstandsvorsitzenden von Terre des Femmes stattfand und ein überragendes Echo in den Medien fand. Hier wurden noch einmal das von Verbänden und Experten geforderte Moratorium, die Einrichtung eines Rundes Tisches zum Thema Beschneidungen von einwilligungsunfähigen Jungen und die Petition Nummer 26078 vorgestellt. Alternativer Gesetzentwurf Je länger die Diskussion anhielt, desto mehr wurden Fragen und Bedenken zur Zulässigkeit von Beschneidungen formuliert. Auch in der Bevölkerung war dieser Trend sichtbar. Waren im Juli 2012 bei einer Umfrage von YouGov im Auftrag des Nachrichtendienstes dpa 45 % der Befragten für ein Verbot der Beschneidung und 42 % dagegen, änderten sich die Ergebnisse fünf Monate später enorm. Infratest dimap ermittelte im Auftrag des Vereins MOGiS einen Wert, der bei 70 % gegen das Beschneidungsgesetz lag. Auch im Bundestag formierte sich der Widerstand. Abgeordnete verschiedener Fraktionen erarbeiteten einen Gesetzentwurf (Deutscher Bundestag, 2012c) quasi aus der Mitte des Hauses, der einen neuen § 1631d BGB formulierte. Danach sollte die Personensorge auch das Recht umfassen, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des männlichen Kindes einzuwilligen. Voraussetzung sollten allerdings die Vollendung des 14. Lebensjahrs und die volle Einsichts- und Urteilsfähigkeit sein sowie dessen Zustimmung zur Beschneidung und die Ausführung nach den Regeln der ärztlichen Kunst, von einer Ärztin oder einem Arzt mit der Befähigung zum Facharzt für Kinderchirurgie oder Urologie durchgeführt. Ergebnisorientierte Anhörung In einer öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses am 26. 11. 2012 trugen dann elf Sachverständige ihre Positionen vor zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung und dem Alternativentwurf, der von 66 Abgeordneten der Oppositions-

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fraktionen unterzeichneten Gesetzesinitiative. Betroffene, die über ihre körperlichen und/oder seelischen Verletzungen hätten sprechen können, sollten nicht gehört werden. Geladen waren drei Mediziner, fünf Juristen, ein Vertreter des Zentralrats der Juden, eine Rabbinerin und Medizinerin sowie ein Vertreter des Zentralrats der Muslime. Letztere sprachen sich in großer Einigkeit uneingeschränkt für die Beschneidung des männlichen Kindes und damit für den Regierungsentwurf aus, weil es in ihren Religionen Tradition sei und zu ihren religiösen Pflichten gehöre und zudem zur Rechtssicherheit und zum Frieden beitrage. Die Beschneidung sei der weltweit häufigste chirurgische Eingriff – so seien 30 % der männlichen Weltbevölkerung beschnitten. Es sei kein Akt der Gewalt, sondern ein Initiationsritual zur Aufnahme in die Religionsgemeinschaft und daher gerade keine Verletzung des Kindeswohls. Die geistige und geistliche Prägung des Kindes gehörten entschieden zum Kindeswohl, so der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan J. Kramer (2012), in der Anhörung. Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aimann A. Mazyek, begrüßte, dass die Beschneidung unabhängig von der religiösen Motivation zulässig sein solle, »denn die Überprüfung der religiösen Motivation würde einer staatlichen Gesinnungsprüfung gleichkommen« (Mazyek, 2012). In seiner schriftlichen Stellungnahme zur Anhörung führt er weiter aus: »Die Knabenbeschneidung wird im Islam in Anlehnung an die Tradition des Propheten Abraham und an die jüdische und ursprüngliche christliche Tradition weitergeführt. So wird die Beschneidung bei allen muslimischen Völkern seit Jahrhunderten als islamische Tradition und Pflicht gepflegt« (Mazyek, 2012). Bei zwei der sunnitischen Rechtsschulen sowie bei den schiitischen Rechtsschulen gelte die Beschneidung als Pflicht, bei den restlichen sunnitischen Rechtsschulen gelte sie als Sunna (mit Nachdruck empfohlene Prophetentradition). Die Bamberger Rabbinerin Antje Yael Deusel erläuterte die Grundlagen in der hebräischen Bibel, die geschichtliche Entwicklung und die heutige Bedeutung der Beschneidung (Deusel, 2012). Sie sei »kein archaisches Ritual«, sondern die Durchführung werde immer nach dem aktuellen Stand der Medizin vorgenommen. Die Brit Mila sei auch gegenüber der nichtjüdischen Umgebung nicht verhandelbar und Juden seien auch nicht verpflichtet, rationale Einwände oder gar Entschuldigungen zu suchen, um ihr Festhalten an der Beschneidung zu rechtfertigen. Sie lehne eine Beschneidung von Jungen erst nach dem 14. Lebensjahr ab, weil sie traumatisch sein könne und eher einer Mutprobe oder einem Männlichkeitsritual gleichkomme. Generalsekretär Stephan J. Kramer ging noch weiter. Er forderte, dass sichergestellt werden müsse, dass der Mohel die Beschneidung in den ersten sechs Monaten auch ohne Anwesenheit eines Arztes oder einer Krankenschwester durchführen könne.

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Bei den Medizinern und Juristen gab es keine einheitliche Meinung. Der Direktor der Urologischen Universitätsklinik Rostock, Prof. Dr. med. Oliver Hakenberg, erläuterte den Abgeordneten, dass die Vorhaut »kein überflüssiges Körperteil« sei, andernfalls wäre sie im Laufe der Evolution verschwunden (Hakenberg, 2012). Von daher sei die Behauptung, eine Beschneidung sei medizinisch sinnvoll, »nicht tragbar« und könne nur einem »wirtschaftlichen Interesse« geschuldet sein. Der Urologe berichtete von circa 3 % Komplikationen bei der Zirkumzision und hielt den Zeitraum von sechs Monaten für einen Eingriff eines Nichtarztes für zu lang. Entschieden widersprach er der Empfehlung der »American Academy of Pediatrics« (AAP) für eine generelle medizinische Indikation zur Zirkumzision aus hygienischen Gründen. Eine Senkung der HIV-Übertragungsrate gebe es zwar für manche Regionen in Afrika, dies sei aber nicht auf Europa mit einer anderen HIV-Prävalenz übertragbar. Kondome hätten hier eine größere Schutzwirkung. Der Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, Dr. med. Wolfram Hartmann, lehnte den Entwurf der Bundesregierung aus kinder- und jugendärztlicher Sicht rundum ab und befürwortete den Alternativentwurf als Kompromiss. Er habe den Hippokratischen Eid geleistet, darin kämen nur die Betroffenen vor – also in diesem Fall das männliche Kind – und nicht etwa die Eltern. Es müsse ihm als Anwalt für das Kindeswohl erlaubt sein, jahrtausendealte religiöse Riten und Gebräuche, die die körperliche Unversehrtheit eines minderjährigen und nicht einwilligungsfähigen Kindes dauerhaft beeinträchtigen, aufgrund neuer Erkenntnisse im 21. Jahrhundert zu hinterfragen und ein Nachdenken darüber anzuregen, ob es nicht auch für Jungen möglich sei, in der religiösen Tradition seiner Eltern erzogen zu werden, ohne dass ihnen die Vorhaut entfernt werde. Auch widersprach er wie schon Prof. Hakenberg der Stellungnahme der AAP, die nach seinen Angaben inzwischen von nahezu allen anderen pädiatrischen Gesellschaften und Verbänden der Welt als wissenschaftlich nicht haltbar eingestuft sei, und kündigte eine Gegenstellungnahme von international tätigen Medizinern Anfang 2013 an, die durch umfangreiche Literatur belegt sei. Hartmann sprach sich für einen symbolischen Akt der Beschneidung, der sogenannten Brit Shalom aus, die in vielen Ländern der Erde und auch in Israel gepflegt werde. Das habe keineswegs dazu geführt, dass unbeschnittene Kinder vom religiösen Leben ausgeschlossen werden oder dass jüdisches oder muslimisches Leben in diesen Ländern nicht mehr möglich sei (Hartmann, 2012). Prof. Dr. med. Hans Kristof Graf vom Jüdischen Krankenhaus Berlin, das zugleich Akademisches Lehrkrankenhaus der Charité ist, ging ausschließlich auf die medizinische Dimension der Beschneidung ein. Er berichtete von 1.531 Zirkumzisionen in den letzten zehn Jahren in seiner Einrichtung. Davon seien 385

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bei neugeborenen jüdischen Jungen innerhalb der ersten zwei Lebenswochen erfolgt. Vor dem 14. Lebenstag erfolge eine Lokalanästhesie mit EMLA®-Salbe, danach eine Vollnarkose, über deren Risiko gerade in den ersten zwei Lebensjahren die Eltern aufgeklärt würden, wobei die Klinik rät, zum Beispiel bei Erkrankungen, die Beschneidung nach dem ersten Lebensjahr durchzuführen, da sich dann das Narkoserisiko deutlich verringere. Sein Haus könne aufgrund des niedrigen Risikoprofils und der ausführlichen Elterngespräche eine optimale Versorgung der Neugeborenen und älteren Jungen gewährleisten und den Eltern ein Verfahren anbieten, das gut und sicher sei (Fellmann, Müller u. Graf, 2012). Prof. Dr. Hans Michael Heinig von der Georg-August-Universität Göttingen, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Kirchen- und Staatskirchenrecht, bescheinigte dem Regierungsentwurf, er sei rechtssystematisch sachgerecht und verfassungsrechtlich über jeden Zweifel erhaben. Auf Grundlage des verfügbaren »gesicherten« Wissens stelle die Beschneidung aus grundgesetzlicher Sicht keine generelle Kindeswohlgefährdung im Sinne des Art. 6 II 2 GG (staatliches Wächteramt) dar. Heinig (2012) wies darauf hin, dass ein entgegenstehender Kindeswille selbstverständlich zu berücksichtigen sei und nach § 1626 II und 1631 II BGB sorgerechtlich sichergestellt sei. Auf das Glatteis, wie der entgegenstehende Wille eines acht Tage alten Säuglings ermittelt werden kann, ließ sich niemand der Sachverständigen ein. Bei älteren Kindern, die sich verbal äußern könnten, müssten Ärzte eigentlich auf den Eingriff verzichten. In der Anhörung gab es jedoch keinen Hinweis dazu, dass der entgegenstehende Wille eines Jungen jemals zum Abbruch des Eingriffs geführt hat. Dem Alternativgesetzentwurf erteilte Heinig (2012) eine eindeutige Absage, da seiner Meinung nach ein Verbot der Beschneidung bis zum 14. Lebensjahr einen erheblichen Eingriff in das Recht der Eltern auf religiöse Erziehung der Kinder bedeuten würde. Ähnlich argumentierte sein Kollege Prof. Dr. Christian Walter vom Lehrstuhl für Völkerrecht und Öffentliches Recht der Ludwig-Maximilians-Universität München. Der Staat dürfe sich nicht die Entscheidung darüber anmaßen, was für die Entwicklung minderjähriger Jungen unter 14 Jahren die richtige Entscheidung sei. Das dürfe er nur, wenn entsprechend gesicherte Erkenntnisse über die Schädlichkeit der Beschneidung vorlägen. An dieser Stelle war es besonders bedauerlich, dass kein Betroffener über seine persönlichen Erfahrungen bezüglich der Schädlichkeit des Eingriffs hat berichten können (Walter, 2012). Auch der Richter am Bundesgerichtshof, Prof. Dr. Henning Radtke (2012), schloss sich dieser Argumentation an. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG liege die Vorstellung zugrunde, dass die Eltern am besten in der Lage seien dem Wohl ihres Kindes Rechnung zu tragen.

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Prof. Siegfried Willutzki verlangte aufgrund des »weltweit eindeutig negativen Echos auf das Urteil des Landgerichts Köln zur Strafbarkeit der Beschneidung […] eine rasche Reaktion der deutschen Rechtspolitik, um drohenden Schaden von deutschem Ansehen in der Welt abzuwenden« (Willutzki, 2012, S. 1). Er halte das Gesetz nur aus dem Grunde für notwendig und sinnvoll, »um jüdischen und muslimischen Mitbürgern das Gefühl zu nehmen, in unserer Gesellschaft ausgegrenzt zu werden« (S. 1). Objektiv sei es eigentlich überflüssig, weil die Zulässigkeit der Jungenbeschneidung sich bereits verfassungs- und familienrechtlich aus dem geltenden Recht ergebe. Er sah das Kindeswohl nicht gefährdet, da man dem Wohl des Kindes allein unter medizinischen Gesichtspunkten nicht gerecht würde. Prof. Dr. Reinhard Merkel, Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg, billigte als einziger Jurist den Regierungsentwurf nicht (Merkel, 2012). Er sieht eine klaffende Schutzlücke zulasten des Kindes und verwies auf einen Forschungsbericht über die weltweite Studienlage zur Anästhesie bei Beschneidungen, der die Salbe EMLA® als höchst unzulänglich bezeichnet und den Regeln der ärztlichen Kunst bei der Schmerzbekämpfung nicht genüge. Merkel kommt zu dem Schluss: »Was nichtärztliche Beschneider bei der Schmerzbehandlung allenfalls dürfen und können, ist unzulänglich; was ausreichend und deshalb geboten wäre, ist ihnen gesetzlich untersagt« (Merkel, 2012). Auch das »natürliche Vetorecht«, also das Zittern und Weinen oder Losbrüllen als Abwehrreaktion – so wie es der Deutsche Ethikrat in seiner Presseerklärung am 23. 08. 2012 gefordert hatte –, fehle fast vollständig. Ebenso sei das Hinterfragen, ob missbilligenswerte Motive der Eltern, wie rein ästhetische Gründe oder um Masturbation zu erschweren, durch den Zusatz »auch unter Berücksichtigung ihres Zwecks« als Versagungsgrund einer Beschneidung hinreichen, nicht ausreichend. Merkel brachte es auf den Punkt: »Es ist verboten, wenn ein Vater, der seinen Sohn beim Masturbieren erwischt, ihm eine Ohrfeige gibt, aber es kann erlaubt sein, wenn er ihn aus diesem Grunde beschneiden lässt.« Um bessere Informationen über die Risiken der Beschneidung zu erhalten, forderte Merkel eine Meldepflicht für alle gravierenden Komplikationen, die infolge vor Beschneidungen auftreten, mindestens für die, die eine anschließende kinderurologische Operation nach sich ziehen. Nach den Vorträgen der Sachverständigen waren die ausreichende Schmerzbehandlung von Säuglingen unter sechs Monaten, der entgegenstehende Wille des Kindes und die Frist von sechs Monaten, während der jemand ohne ärztliche Ausbildung den Eingriff vornehmen kann, Gegenstand einer umfangreicheren Diskussion. Die Mehrheiten waren von vornherein klar und veränderten sich nicht. Neun Sachverständige stimmten dem Regierungsentwurf zu, zwei waren dagegen.

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Unterschiede zwischen männlicher Beschneidung und weiblicher Genitalverstümmelung Im Gegensatz zur männlichen Beschneidung, bei der es lediglich eine Form – die Entfernung der Vorhaut –, allerdings mit unterschiedlicher Eingriffstiefe, gibt, existieren bei der weiblichen Genitalverstümmelung (FGM = female genital mutilation) verschiedene Formen. Grundsätzlich wird nach der Weltgesundheitsorganisation (WHO) FGM so beschrieben: »FGM umfasst alle Verfahren, die die teilweise oder vollständige Entfernung der weiblichen äußeren Genitalien oder deren Verletzung zum Ziel haben; sei es aus kulturellen oder anderen nichttherapeutischen Gründen.« Die vier FGM-Typen werden folgendermaßen definiert: Typ I: Teilweise oder vollständige Entfernung der Klitoris und/oder der Klitorisvorhaut (Klitoridektomie). Typ II: Teilweise oder vollständige Entfernung der Klitoris und der kleinen Schamlippen, mit oder ohne Entfernung der großen Schamlippen (Exzision). Typ III: Entfernung der inneren und teilweise Entfernung der äußeren Schamlippen, mit oder ohne Entfernen der Klitoris und anschließendem Zusammenheften oder -nähen bis auf eine winzige vaginale Öffnung (Infibulation). Typ IV: Alle anderen schädigenden Eingriffe, die die weiblichen Genitalien verletzen und keinem medizinischen Zweck dienen (z. B. Einstechen, Durchbohren, Ausbrennen). Diese Beschreibungen machen deutlich, dass es einen fundamentalen Unterschied zwischen der männlichen und weiblichen Beschneidung gibt und ein pauschaler Vergleich die weibliche Genitalverstümmelung verharmlosen würde. Genitalverstümmelung kann bei den Betroffenen körperliche, seelische und sexuelle Schäden verursachen, die zu drastischen Beeinträchtigungen der Lebensqualität, häufig sogar zum Tod führen können. Hoher Blutverlust, andauernde Schmerzen, Inkontinenz und Sterilität können die Folge sein. Oft wird die Beschneidung bei mehreren Mädchen nacheinander mit einem Messer, einer Schere, einer Rasierklinge durchgeführt, mit der Folge von Infektionen und HIV-Übertragungen. Die Infibulation kann zu immensen Beschwerden beim Wasserlassen, der Menstruation und beim Sexualverkehr führen und stellt ein erhebliches Geburtsrisiko für Mutter und Kind dar. Daneben können auch psychische Beschwerden entstehen. Da die Jungenbeschneidung meistens unter hygienischeren Bedingungen und auch meist von Ärzten und in Krankenhäusern unter Betäubung erfolgt,

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sind die Schmerzen beim Eingriff in keiner Weise mit denen der Mädchen zu vergleichen. Aber natürlich gibt es auch Komplikationen, die mit zwei bis vier Prozent angegeben werden wie Fistelbildung, Nachblutungen, Verletzung der Eichel; das Risiko der Narkose ist stets vorhanden. Daneben sind auch Todesfälle aufgrund der Beschneidung bekannt. Nach dem Kölner Urteil und der sich daran anschließenden Diskussion wird von betroffenen Männern berichtet, dass die Empfindungsfähigkeit stark reduziert und sie dadurch in ihrer Sexualität eingeschränkt sind. Die Begründungen, die zur Rechtfertigung der Beschneidungen bei Männern und Frauen herangezogen werden, sind sehr unterschiedlich. Die weibliche Genitalverstümmelung wird als Jahrtausende altes Ritual oft als religiöse und gesellschaftliche Pflicht angesehen. Sie beruht auf patriarchalen Strukturen und dient der Unterdrückung der weiblichen Sexualität (die Infibulation soll die Masturbation verhindern) und soll die Jungfräulichkeit vor der Ehe und die sexuelle Treue garantieren. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe und der Glaube, nur eine beschnittene Frau sei eine reine Frau, führen dazu, dass dies eine Voraussetzung für eine Heirat ist. Die Begründungen für die Jungenbeschneidung sind hauptsächlich in der Religion begründet. Auch hier spielt die Zugehörigkeit zu einer Gruppe – in diesem Fall einer Religionsgemeinschaft – eine große Rolle. Dabei wird die Aufnahme in die Religionsgemeinschaft als Teil des Kindeswohls angesehen. Daneben gibt es ganz besonders in den USA die meisten Beschneidungen ohne Religionsbezug. Viele glauben offensichtlich, es sei hygienischer, wenn dem Mann die Vorhaut fehle. Welch irre Vorstellung, dass im 21. Jahrhundert Männer nicht in der Lage sein sollen, ihren Körper rein zu halten. Tatsächlich wurde die Beschneidung im 19. Jahrhundert als Mittel gegen Masturbation eingeführt und steht als Symbol für Sexualfeindlichkeit. So schrieb der Erfinder der Frühstücksflocken John Harvey Kellogg: »Eine Abhilfe für Masturbation, die bei kleinen Jungen fast immer erfolgreich ist, ist die Beschneidung. Die Operation sollte ohne Betäubung vorgenommen werden.« Der Schmerz habe einen »heilsamen Effekt« (Kellogg, 1888, S. 295). Die Beschneidung eines Säuglings als vorbeugende Maßnahme gegen ein Peniskarzinom im Erwachsenenalter wird von einigen Medizinern trotz dessen großer Seltenheit offensichtlich immer noch als akzeptabel angesehen. Dass die Weltgesundheitsorganisation eine prophylaktische Beschneidung zur Verhinderung von HIV-Infektionen als probates Mittel empfiehlt, gilt nur für Männer in Ländern niedrigen Hygienestandards und nicht für Europa mit einer niedrigen Prävalenz. Das Benutzen eines Kondoms ist hier ein weitaus effektiverer Schutz.

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Gemeinsamkeiten in den Begründungen finden sich also in unterschiedlichen Ausprägungen in der Religion, der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, der Kontrolle der Sexualität und der »Reinlichkeit«. Es gibt aber auch eine Gemeinsamkeit beim Schutz in Deutschland. Gilt es, ein Mädchen vor genitaler Verstümmelung zu schützen, so hat die rot-grüne Bundesregierung die weibliche Genitalverstümmelung als geschlechtsspezifische Verfolgung und damit als Asylgrund mit einem Bleiberecht versehen. Ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 05. 11. 1991 (9C 118.90) und des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes von 1994, Az. 12 UE 2496/94, haben übereinstimmend festgestellt, dass es sich um einen asylrelevanten Eingriff in die physische und psychische Integrität auch von Männern handelt, wenn ihnen beim türkischen Militär eine Zwangsbeschneidung droht. Sie bezeichnen diese als »Maßnahmen, die die Opfer unter Missachtung ihres religiösen und personalen Selbstbestimmungsrechts zum bloßen Objekt erniedrigen und deshalb das religiöse Existenzminimum berühren […] und stellen nach ihrem inhaltlichen Charakter objektiv und nicht nur aus der Sicht derjenigen, die sie anordnen oder veranlassen, und derjenigen, die sie durchführen, einen ersten und unabänderlichen äußeren Schritt zur zwangsweisen Bekehrung der Opfer zum Islam dar.« Diese Urteile sind überzeugend, es stellt sich jedoch die Frage, warum Männern ein solcher Schutz vor Beschneidung in Deutschland gewährt wird, während er minderjährigen Knaben per Gesetz verwehrt wird. Bei der Art des Eingriffs gibt es eine Vergleichbarkeit zwischen Mädchen und Jungen allerdings lediglich in einem Fall, nämlich bei der Entfernung der Klitorisvorhaut der Mädchen. Sie ist das Pendant zur männlichen Beschneidung und wird von einer der vier Rechtsschulen des Islam (Schafi’iten) auch für Frauen als religiöse Pflicht angesehen. Angriff auf Verbot der weiblichen Genitalverstümmelung Mitten in die Diskussion über die Legalisierung der Jungenbeschneidung platzte die Forderung eines namhaften ägyptischen Gynäkologen. Mohamed Kandil, Mitglied der Genfer Stiftung für Medizinische Ausbildung und Forschung, die eng mit der Weltgesundheitsorganisation zusammenarbeitet, forderte auf der Medizin- und Biologie-Plattform F1000 die weltweite Legalisierung der Mädchenbeschneidung (Kandil, 2012). Eine Beschneidung des Types I sei gleichwertig mit der Jungenbeschneidung. Sie müsse allerdings durch erfahrenes Personal und unter Betäubung vorgenommen werden. Und in Anspielung auf die deutsche Diskussion schreibt Kandil: »Das Verbot der weiblichen Genitalbeschneidung scheint geschlechtsbezogen zu sein, insbesondere weil kein ähn-

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liches Handeln gegen männliche Beschneidung vorgenommen wurde. Gegner weiblicher Genitalverstümmelung, welche die männliche Beschneidung als sicher betrachten, sollten sich für die Verbesserungen der Bedingungen für eine weibliche Beschneidung aussprechen, statt ein Verbot durchzusetzen«1 (Kandil, 2012, zit. nach Toprak, 2012). Das war genau das, wovor die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes im Vorfeld der Gesetzgebung gewarnt hatte. Nämlich, dass die Legalisierung der männlichen Beschneidung zu Forderungen nach einer weiblichen Genitalverstümmelung auf der Grundlage des Gleichheitsgrundsatzes führen könnte. Da der Bundesgerichtshof im Jahre 2004 in einem Urteil jede Unterscheidung nach der Art der Verstümmelung verbietet, da »in allen Fällen eine grausame, folgenschwere und durch nichts zu rechtfertigende Misshandlung vorliegt« (Bundesgerichtshof, 2005), muss das logischerweise heißen: Das Entfernen der Klitorisvorhaut ist zu Recht verboten und wird strafrechtlich verfolgt, das Entfernen der Penisvorhaut ist erlaubt. Ob unsere Rechtsprechung diesen Widerspruch aushalten kann? In Indonesien geht man sogar noch weiter: Dort dürfen Ärzte den vorderen Teil der Klitorishaut entfernen, ohne eine Bestrafung befürchten zu müssen. Der Vorsitzende des Ulema-Religionsgelehrtenrates, Maruf Amin, hat sogar alle Ärzte und Krankenhäuser aufgefordert, sich den Wünschen der Eltern nach Beschneidung ihrer Töchter nicht zu verweigern. Sein Stellvertreter sprach gar von einem Grundrecht auf Beschneidung für Männer und Frauen, die »Teil der Lehren des Islam« sei. Ein weiteres Mitglied des Rates bezeichnete den Brauch als »religiöse Verpflichtung«, die an allen Frauen vorgenommen werden sollte, um ihren Geschlechtstrieb unter Kontrolle zu halten (Mühlbauer, 2013). Befassung des Themas auf Grünen-Parteitag Stellvertretend für die Debatte in der Gesellschaft sollte sich auch die 34. Bundesdelegiertenkonferenz der Bündnisgrünen in Hannover im November 2012 mit diesem Thema beschäftigen. Aus einer Vielzahl von Kreisverbänden gab es vier Anträge, die sich gegen eine Beschneidung von Jungen ohne medizinische Indikation aussprachen. Ein Antrag aus der Grünen Bundestagsfraktion, der bei diesen ethischen und religiösen Fragen auch eine Gewissensentscheidung sah, forderte »die Beschneidungsdebatte im gegenseitigen Respekt« zu füh1

Originalzitat: »The ban against FGC seems to be gender based, especially because no similar act was taken against male circumcision. If male circumcision is considered safe by anti FGC groups, they should advise how to render FGC as safe as male circumcision instead of enforcing the ban against it« (Kandil, 2012).

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ren, anerkannte die vielen Argumente für und gegen die Beschneidung, ohne jedoch eine Festlegung auf eine bestimmte Position vorzusehen. Ein weiterer Antrag sprach sich »gegen eine Kriminalisierung der männlichen Beschneidung aus religiösen Gründen« aus. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Christinnen und Christen forderte im Antrag V-25-018 eine gutachterliche Stellungnahme der Bundestagsfraktion und eine Verweisung an die im vom Bundesverband im Jahre 2010 beschlossene Kommission zum Religionsverfassungsrecht, da es sich um ein Problem handele, das die grundgesetzlich garantierte individuelle Religionsfreiheit tangiere und daher nur unter Berücksichtigung des geltenden Religionsverfassungsrechts gelöst werden könne. Bevor jedoch die Diskussion zu den verschiedenen Anträgen, die in den Monaten davor sehr intensiv beraten wurden, erfolgen konnte, gab es einen scheinbar spontanen Geschäftsordnungsantrag auf Nichtbefassung aller Anträge. Mit knapper Mehrheit konnte das Unterfangen abgelehnt werden und kurz vor Mitternacht entbrannte eine heftige Diskussion, manchmal gepaart mit unsachlichen Argumenten und persönlichen Angriffen. Zu einer Abstimmung kam es allerdings nicht, da die Landesvorsitzende aus Nordrhein-Westfalen, Monika Dücker mit der ganzen Autorität ihres Amtes den Antrag der Bundesarbeitsgemeinschaft Christinnen und Christen auf Nichtabstimmung begründete. Dieser erhielt dann eine knappe Mehrheit. Es wurde vereinbart, das Thema nach der Bundestagswahl in einer Kommission zu bearbeiten und die Abstimmung im Bundestag wurde freigegeben. Schwarzer Tag für Kinderrechte Am 12. 12. 2012 protestierten eine Reihe von Organisationen und Einzelpersonen noch einmal vor dem Brandenburger Tor und warnten vor der überstürzten gesetzlichen Regelung bei diesem ethisch und moralisch komplizierten Thema. Doch im Deutschen Bundestag war schon längst alles klar. Während draußen Kinderschützer und Menschenrechtsaktivistinnen noch im letzten Moment versuchten, das Gesetz zu verhindern, beschlossen die Abgeordneten mit großer Mehrheit das Beschneidungsgesetz in unveränderter Form. Selbst Änderungsanträge, die das Gesetz vom Grundsatz her befürworteten, aber zum Beispiel den entgegenstehenden Willen eines Kindes präzisierten und die Frist von 6 Monaten auf 14 Tage verkürzen wollten (Deutscher Bundestag, 2012d) bzw. die Frist auf zwei Monate verkürzen wollten (Deutscher Bundestag, 2012e) oder die eine Rechtsverordnung des Bundesministeriums für Gesundheit forderten, die Ausbildungsvoraussetzungen und Anforderungen an die Schmerzbehandlung, zur Feststellung der gesundheitlichen Unbedenklichkeit und die Ermittlung

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eines entwicklungsabhängigen Vetorechts (Deutscher Bundestag, 2012f) festschreiben sollten, erhielten keine Mehrheit. 434 Abgeordnete stimmten für das Gesetz, 100 stimmten dagegen und 43 enthielten sich. Ganz anders sieht das die deutsche Bevölkerung. Wie bereits erwähnt, lehnen nach einer repräsentativen Studie im Auftrag von MOGiS e. V. 70 % der Deutschen das mit großer Mehrheit beschlossene Gesetz zur Beschneidung von Jungen ab. Feministinnen melden sich zu Wort Während die Debatte um die männliche Beschneidung weitgehend als »Männerthema« angesehen wurde, gab es doch einige Feministinnen, die sich zu Wort meldeten. So hält zwar die Feministin Alice Schwarzer in ihrem Blog am 02. 07. 2012 die Verurteilung der männlichen Beschneidung für eine realitätsferne politische Correctness, teilt aber dennoch die Auffassung der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes, dass religiöse Argumente kein Grund für die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit eines Kindes sein dürften, was die Beschneidung ohne jeden Zweifel sei (Schwarzer, 2012). Aber Schwarzer findet einen anderen Grund für die Zustimmung zur Beschneidung. Es sprechen für sie vor allem hygienische Gründe dafür, unabhängig von Religion und Kultur. Bedeutet das: Männer können sich nicht richtig waschen, also muss man sie schon als Jungen beschneiden? Am 25. 11. 2012, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, beschäftigte sich die feministische Sprachwissenschaftlerin Luise F. Pusch in ihrem Blog »Laut und Luise« mit dem Thema Gewalt gegen minderjährige Jungen, nämlich der Beschneidung. Sie schreibt: »Wie unzählige Frauen kämpfe ich seit Jahrzehnten gegen das grauenvolle Verbrechen der Genitalverstümmelung an Mädchen, die noch vor kurzem – in Analogie zur Beschneidung der Jungen – ebenfalls Beschneidung genannt und damit in krimineller Weise verharmlost wurde. Die Debatte geht uns insofern direkt an, als eine gesetzliche Befürwortung der männlichen Beschneidung auf die gesetzliche Behandlung der weiblichen Genitalverstümmelung ›abfärben‹ könnte« (Pusch, 2012). Auch sie sah bisher die Beschneidung als eine hygienische Maßnahme und Prophylaxe unter anderem gegen Gebärmutterhalskrebs und ein eher notwendiges Übel an, ähnlich wie Impfungen: Tut zwar weh und kann auch gefährlich sein, ist aber letztlich nur gut für die Gesundheit – zumindest der Frauen. Inzwischen komme sie jedoch zu dem Schluss, »dass nicht nur die weibliche Genitalverstümmelung verboten gehört, sondern auch die männliche Beschneidung. Wenn die Knaben erwachsener sind, sollen sie selbst entscheiden dürfen, ob sie sich beschnei-

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den lassen wollen, um besser in ihre Religionsgemeinschaft zu passen.« Und sie konstatiert: »Es mag ungewohnt sein, für Menschenrechte von Männern einzutreten, die ja eher dafür bekannt sind, dass sie die Menschenrechte von Frauen systematisch mit Füßen treten. Aber für männliche Säuglinge gilt das noch nicht. Vielleicht nützt es auch uns Frauen etwas, wenn es einen männlichen Initiationsritus weniger gibt.« Heide Oestreich, Redakteurin der »Tageszeitung«, bezeichnet den Gesetzentwurf kinderrechtlich als Fiasko, der Beschneidungsschmerz werde bagatellisiert (Oestreich, 2012). Im »Feministischen Zwischenruf« schreibt sie im Oktober 2012: »Es hilft nicht, wir müssen über dieses Ritual reden – auch wenn es Teil der jüdischen Kultur ist. Wir müssen darüber reden, dass hier ein patriarchaler Gott ein Opfer von einem Jungen verlangt, ihn symbolisch kastriert und ihm so sein Gesetz einbrennt. Wenn dieses Ritual die jüdische Gesellschaft zusammenschweißt, dann bedeutet das auch, dass es eine Gemeinschaft von Männern ist – Frauen kommen ja nicht vor. Das Ritual nimmt dem Jungen ein sensibles Teil seines Körpers und macht ihn im wahrsten Sinne des Wortes härter. Wer fühlt mit diesem Jungen? Viele Eltern, lautet die Antwort. Eltern, die ihre Söhne einfach nicht beschneiden lassen, ohne großes Aufhebens darum zu machen, die ein Ersatzritual finden. Warten, bis das Kind allein entscheiden kann. Ja, obwohl die Beschneidung ein uralter Brauch ist, kann man sie verändern. Besser gesagt: Weil die Beschneidung ein uralter Brauch ist, aus Zeiten, in denen es noch keine Kinderrechte gab, muss man sie verändern. Sie ist eine schädliche traditionelle Praktik.« Ebenso pointiert argumentiert eine grüne Aktivistin. Sie fordert in einem Offenen Brief alle Feministinnen auf, zu ihrem Wort zu stehen. »Als Feministinnen haben wir die Forderung nach der Unteilbarkeit der Menschenrechte stets hochgehalten. Wenn wir diese jetzt männlichen Säuglingen und Kindern verweigern wollen, begehen wir Verrat an unseren eigenen Überzeugungen und sind nicht besser als diejenigen, die uns [Frauen] das Recht auf körperliche Unversehrtheit nicht zugestehen wollten. Gerade wir als Frauen und Feministinnen sollten wissen, was es bedeutet, aus einer schwächeren Position heraus für unsere Rechte kämpfen zu müssen, gerade wir dürfen jetzt denen in der schwächeren Position – den wehrlosen Kindern – unsere Hilfe nicht verweigern, indem wir die Körperverletzung, die an ihnen vorgenommen wird, herunterspielen, indem wir diesen Vergleich negieren. Solange wir diesen Schritt nicht tun, machen wir uns zu einem Werkzeug des Patriarchats und unterstützen dessen Grundprinzip der Macht des Stärkeren gegenüber dem Unterdrückten – passiv, aber wirksam« (Nauy, 2913). Und sie mahnt weiter, den Schmerz der unter den Folgen einer Beschneidung leidenden betroffenen Männer ernst

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zu nehmen. Eine Aussage wie »wenn er beim Sex länger braucht, hab ich ja auch mehr davon« unterscheide sich in ihrer Machohaftigkeit keineswegs von einer Aussage wie »eine zugenähte Vagina ist enger und fühlt sich besser an«, die sie noch nie von einem Mann gehört habe. Der eigentliche Skandal, so die grüne Feministin weiter, sei der, dass »wir so lange gebraucht haben, um hinzusehen und zu begreifen. Als Frauen können wir mit Blick auf unsere Geschichte zu unserer Verteidigung vortragen, dass wir mit dem Kampf um unsere eigenen Rechte beschäftigt waren. Als Feministinnen des 21. Jahrhunderts haben wir aber nun die Pflicht, zu unserem Wort zu stehen und endlich mit dem Hinsehen zu beginnen« (Nauy, 2013). Fazit Es gibt weder für die männliche noch die weibliche Beschneidung einen rationalen Grund. Die körperliche Unversehrtheit von Kindern ist ein Menschenrecht und muss für alle Kinder gleichermaßen gelten, egal welcher Herkunft, Religion und welchen Geschlechts sie sind. Menschenrechte sind nicht teilbar – auch nicht zwischen Mädchen und Jungen. Irreversible Eingriffe in die Unversehrtheit von Kindern – mit Ausnahme medizinisch notwendiger Behandlungen – müssen generell verboten werden. Rein religiös begründete Motive müssen hinter die Beachtung der Menschenrechte zurücktreten. Es stellt sich zudem die Frage, wie der säkulare Staat die Beschneidung als Ausübung der Religionsfreiheit akzeptiert und gleichzeitig das Tragen von Kopftüchern in Schulen verbietet. Wir brauchen endlich die Weiterführung einer gesellschaftlichen Debatte, die durch die Gesetzgebung vom 12. 12. 2012 beschnitten wurde. Eltern müssen davon überzeugt werden, dass kleine Jungen ohne medizinische Notwendigkeit keinem riskanten Eingriff ausgesetzt werden dürfen. Und es existieren inzwischen eine Reihe von Initiativen auch in den Religionsgemeinschaften, die es zu stärken gilt. So gab es in Israel im Jahre 2006 eine Umfrage, wonach ein Drittel der Eltern die Beschneidung ihrer Söhne ablehnen, aber dann doch dem Druck der Familie und Gesellschaft nicht standgehalten haben, sodass es letztendlich nur knapp 15 % waren (Riebsamen, 2012). Dennoch wächst die Zahl derer, die sich gegen dieses Ritual entscheiden. Jungen sollen sich, wenn sie alt genug sind, selbst für oder gegen eine Beschneidung entscheiden können. Das bedeutet eine Rücknahme des Gesetzes zur Legalisierung der Knabenbeschneidung (§ 1631d BGB), eine umfangreiche Diskussion mit allen Beteiligten und ein Aussetzen aller gesetzlichen Regelungen für mindestens zwei Jahre. Dies waren im Übrigen auch die Forderungen, die anlässlich des 1. Jahrestages des Kölner Urteils am 07. 05. 2013 in einer Kundgebung vor dem Landgericht und dem Kölner Dom

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von mehreren Initiativen erhoben wurden. Eines ist sicher: Das Thema ist kein Tabuthema mehr, die Jungenbeschneidung kann nicht mehr bagatellisiert werden und die Diskussion kann auch nicht durch die Legalisierung per Gesetz verhindert werden. Sie wird weitergehen. Inzwischen mehren sich auch Strafrechtskommentare von Juristen, die das Beschneidungsgesetz ablehnen und es als teilweise nicht verfassungskonform ansehen. Die religiösen und kulturellen Argumente, die jetzt für die Jungenbeschneidung angeführt werden, sind der Verfasserin im Übrigen sehr gut bekannt. Als sie im Jahre 1996 die erste Anhörung zu dem Thema Genitalverstümmelung im Deutschen Bundestag durchführte, erging an sie der Vorwurf, dass man sich nicht in andere Kulturen oder Religionen einzumischen habe. Und das, obwohl sie im Jahre 1995 auf der Weltfrauenkonferenz in Peking die ausdrücklichen Forderungen afrikanischer Aktivistinnen zur Unterstützung im Kampf gegen dieses grausame Ritual erfüllte. Damals wollte die Bundestagsverwaltung den Begriff »Genitalverstümmelung« auch nicht in die offiziellen Bundestagspapiere schreiben, sondern verharmlosend von »Beschneidung« reden. Heute nach fast zwanzig Jahren wird diese Praktik weltweit als Menschenrechtsverletzung geächtet. Trotz vieler Versuche und fraktionsübergreifender Initiativen hat der Deutsche Bundestag fast zwanzig Jahre gebraucht, um Genitalverstümmelung als schwere Körperverletzung in das Strafgesetzbuch aufzunehmen. Die Straffreiheit von Jungenbeschneidung wurde jedoch in weniger als fünf Monaten beschlossen. Auch bei der männlichen Beschneidung geht es um zutreffende Begriffe. Betroffene reden nicht von Beschneidung, sondern von Vorhautamputation, was den Grad der Verletzung auch deutlicher beschreibt. Aus der Diskussion um das sexuelle Selbstbestimmungsrecht von Frauen ist bekannt, dass sich Gesetze nur sehr langsam verändern lassen – gerade, wenn sie erst beschlossen wurden. Bleibt zu hoffen, dass das gesellschaftliche Bewusstsein auch der Politik zu mehr Mut verhilft. Die Bevölkerung ist da offensichtlich schon ein Stück weiter. 70 % sind gegen das Gesetz – für eine Parlamentsmehrheit werden nur 50 % gebraucht. Um sie zu erreichen, wird also ein langer Atem gebraucht – aber er lohnt sich. Immerhin geht es um nicht mehr und nicht weniger als um ein Menschenrecht und das gilt universell für Mädchen und Jungen und ist auch nicht verhandelbar.

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Marlene Rupprecht

Das Recht, alles zu glauben – nicht aber, alles zu tun Zum schwierigen Verhältnis zwischen Kinderrechten und Religionsfreiheit

Einleitung Am 12. 12. 2012 hat der Deutsche Bundestag nach ernsthafter Debatte die Beschneidung von Jungen gesetzlich geregelt. Danach sind ärztlich fachgerecht ausgeführte Beschneidungen bis zum sechsten Monat des Kindes grundsätzlich zulässig. Für den entsprechenden Regierungsentwurf stimmten in namentlicher Abstimmung 434 von 580 anwesenden Abgeordneten. Für den von mir gemeinsam mit den Kinderpolitikerinnen von Grünen und Linken initiierten Alternativentwurf, der die Beschneidung nur an Jungen ab 14 Jahren, nur bei deren Einwilligung und nur durch Kinderchirurgen und Urologen erlauben wollte, stimmten 91 Abgeordnete. Ich hatte vor der Abstimmung nochmals darauf hingewiesen, dass das Elternrecht wie auch das Recht auf freie Religionsausübung kein grenzenloses »Verfügungsrecht« ist, sondern durch die Menschenrechte und das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit eingeschränkt wird: Um das Recht auf freie Religionsausübung ausdrücklich zu würdigen, setzte unser Alternativentwurf an der Religionsmündigkeit an, die mit dem vollendeten 14. Lebensjahr einsetzt. Um die vorangegangene politische Debatte richtig einschätzen und für die weitere Behandlung der Problematik die richtigen Schlüsse ziehen zu können, ist es notwendig, die Genese dieses Gesetzes Revue passieren zu lassen. Anlass und Rahmen der parlamentarischen Debatte Am Anfang der ganzen Debatte stand die Entscheidung des Landgerichts Köln, das mit seinem Urteil vom 07. 05. 2012 die Beschneidung minderjähriger Jungen aus religiösen Gründen als rechtswidrige Körperverletzung gewertet hat. Dadurch war, wie die Bundesregierung in der Problembeschreibung zu ihrem späteren Gesetzesentwurf feststellte, eine »erhebliche Rechtsunsicherheit entstanden, denn bis zu deren Bekanntwerden [Anm. der Entscheidung des Land-

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gerichts Köln] Ende Juni 2012 war in der Rechtspraxis unbestritten, dass Eltern grundsätzlich auch in eine nicht medizinisch indizierte, zum Beispiel religiös motivierte Beschneidung rechtswirksam einwilligen können« (Deutscher Bundestag, 2012a, S. 1). Als mir ein paar Wochen später entsprechende Presseveröffentlichungen, die anfangs gar nicht groß oder prominent aufgemacht waren, auffielen, dachte ich eingedenk der intensiven Diskussionen um Kinderrechte und Kindeswohl, die ich seit Jahren im Deutschen Bundestag und in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, aber auch bei Symposien und Fachtagungen führte: Schön, dass es auch bei uns in Deutschland Richterinnen und Richter gibt, die die Kinderrechte achten und in ihrer täglichen Arbeit berücksichtigen. In den darauffolgenden Tagen sprach ich mit vielen Menschen und auch mit Vertreterinnen und Vertretern aus Verbänden, die sich ebenfalls mit Kinderrechten beschäftigen. Die meisten von ihnen hatten das veröffentlichte Urteil gar nicht zur Kenntnis genommen. Ich habe früh bemerkt, dass die Fragestellung auch von einschlägigen Fachleuten bislang gar nicht in Bezug zu den Kinderrechten gesetzt worden ist, und mich deshalb entschlossen, zunächst keine öffentliche Stellungnahme dazu abzugeben, um das Thema nicht konfrontativ zu besetzen. Generell habe ich jedoch den in diesem Urteil dokumentierten Bewusstseinswandel positiv gesehen. Die ersten, sehr heftigen öffentlichen Reaktionen von Religionsgemeinschaften machten jedoch schon deutlich, dass die Verfechter der religiös begründeten Beschneidung an Jungen sich massiv angegriffen fühlten. Darauf folgten erste Politikerinnen und Politiker, die durchwegs Urteilsschelte betrieben und das Gericht teilweise als inkompetent abqualifizierten. Daraufhin habe ich mich bemüht, in einer ersten Stellungnahme vom 02. 07. 2012 den Sachverhalt aus Sicht einer Kinderpolitikerin zu schildern. »Das Urteil der Kölner Richter, wonach religiös motivierte Beschneidung von Jungen als Körperverletzung zu werten ist, legt eindeutig dar, dass die religiös begründete Beschneidung von Jungen auf Verlangen der Eltern weit über die Ausübung des Elternrechts hinausgeht und auch durch das Grundrecht auf Religionsfreiheit nicht gedeckt ist. Es verstößt vielmehr gegen das grundgesetzlich garantierte Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit. Eine Beschneidung, die ohne die Einwilligung eines Kindes und ohne medizinische Notwendigkeit vorgenommen wird, ist aber nicht nur ein Verstoß gegen ein verfassungsmäßiges Schutzrecht. Es missachtet fundamentale Zielsetzungen der UN-Kinderrechtskonvention wie das Recht auf Gesundheit und den Schutz vor Gewaltanwendung.

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Eine generelle Straffreiheit für Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit Schutzbefohlener aus religiösen Gründen wäre geradezu die Aufforderung, auch andere Methoden körperlicher Einflussnahme und Züchtigung mit religiösen Begründungen zu rechtfertigen. Dem stehen die UN-Kinderrechte eindeutig entgegen« (Rupprecht, 2012). Ich habe ganz bewusst keine Forderung nach einer raschen, rechtssicheren Regelung aufgestellt, sondern einen Diskurs angeregt, um das offenbar gewordene Missverhältnis zwischen Rechtsprechung und gängiger Praxis sorgfältig und differenziert aufzuarbeiten. Dazu ist es jedoch nicht mehr gekommen. Der Beginn der parlamentarischen Beratungen Äußerer Anlass war eine Sondersitzung zur Euro-Rettung während der Parlamentarischen Sommerpause, innerhalb der auch eine fraktionsübergreifende Resolution an die Bundesregierung zur Beschneidung verabschiedet werden sollte. Tenor dieser Aufforderung an die Bundesregierung und der kompletten politischen Debatte war folgender: Da durch das Landgericht Köln ein rechtlicher Widerspruch aufgedeckt worden sei, müsse man das Recht so gestalten, dass jüdisches Leben in Deutschland möglich bleiben muss. Es ging also von vornherein nicht um einen ergebnisoffenen Diskurs, sondern um ein Bekenntnis, dem die klare Zielsetzung zugrunde lag, die Beschneidung zu erlauben bzw. straffrei zu stellen. In dieser ersten Phase der öffentlichen Debatte war auch klar zu erkennen, dass das Hauptargument der Beschneidungsbefürworter einzig und allein in der Formulierung bestand, jüdisches Leben müsse in Deutschland möglich bleiben. Während sich, abgesehen vom Bund der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland (BDAJ), viele muslimische Verbände – vermutlich zur Vermeidung von islamfeindlichen Reaktionen wie bei der Schächtungsdebatte in Frankreich – zunächst überhaupt nicht bzw. nicht sehr prononciert äußerten, arbeiteten nicht nur jüdische Organisationen, sondern auch die Beschneidungsbefürworter im Deutschen Bundestag unterschwellig bis offen mit allen Konnotationen des Gedankengangs vom weiter zu ermöglichenden jüdischen Leben in Deutschland. Weder in der SPD-Bundestagsfraktion, der ich angehöre, noch in den anderen Fraktionen hatten sich zuvor mehr als eine Handvoll Parlamentarier/-innen mit der nicht medizinisch indizierten Beschneidung an einwilligungsunfähigen Jungen beschäftigt. Damit sind fast alle der 620 Bundestagsabgeordneten buchstäblich »kalt erwischt« worden.

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Ich hätte deshalb erwartet und habe dafür plädiert, dass das Parlament sich zuerst fach- und sachkundig machen würde, bevor es innerhalb von nur vier Wochen eine derart weitreichende Grundsatzentscheidung trifft. Das ist jedoch leider nicht gemacht worden. Vielmehr folgt der von den Fraktionsspitzen von CDU/CSU, FDP und SPD eingebrachte Antrag vom 19. 07. 2012 unter dem Titel »Rechtliche Regelung der Beschneidung minderjähriger Jungen« (Deutscher Bundestag, 2012b) der skizzierten Zielsetzung. Er fordert »die Bundesregierung auf, im Herbst 2012, unter Berücksichtigung der grundgesetzlich geschützten Rechtsgüter des Kindeswohls, der körperlichen Unversehrtheit, der Religionsfreiheit und des Rechts der Eltern auf Erziehung, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der sicherstellt, dass eine medizinisch fachgerechte Beschneidung von Jungen ohne unnötige Schmerzen grundsätzlich zulässig ist« (Deutscher Bundestag, 2012b, S. 1). Auf dem ersten Antragsentwurf waren auch die Bündnisgrünen noch als Antragsteller enthalten, sind jedoch dann, quasi »im letzten Moment«, nach einer kontrovers verlaufenden Fraktionssitzung noch abgesprungen. In einem persönlichen Gespräch mit Frank-Walter Steinmeier konnte ich erreichen, dass wir innerhalb der SPD-Bundestagsfraktion trotz des großen Zeitdrucks wenigstens eine halbe Stunde im Rahmen unserer Fraktionssitzung zur Euro-Rettung auch über die Beschneidungsproblematik diskutierten. Ich habe als eine der letzten Abgeordneten das Wort ergriffen und meine grundlegenden Argumente erläutert. Viele Kolleginnen und Kollegen haben mir gegenüber danach eingeräumt, dass sie sich über die Problematik zuvor nicht differenziert informiert hatten und sich ohne die bereits beschriebene Vorfestlegung nach meiner Argumentation bei etwaigen Abstimmungen anders verhalten hätten. In einer schriftlichen Erklärung zur Beschlussfassung am 19. 07. 2012 habe ich mit acht weiteren SPD-Abgeordneten die Beweggründe für unsere Ablehnung der Resolution erläutert: »Wir verkennen nicht, dass die Entscheidung des Kölner Landgerichts mit erheblichen Irritationen und gesellschaftlichen Verwerfungen, insbesondere bei Angehörigen der jüdischen oder muslimischen Glaubensgemeinschaft, verbunden sein kann. Sie können nur schwer oder überhaupt nicht verstehen, weshalb eine über viele Generationen vollzogene Praxis ihres Glaubensbekenntnisses nun in Deutschland verboten und strafrechtlich relevant sein soll. Dennoch können Grundrechtsfragen nach unserer Auffassung aber nicht allein mit Verweis auf das tradierte Handeln und dadurch beantwortet werden, dass man ein rechtliches Problem auf einen scheinbar rechtsfreien Raum verschiebt. […] Die Mehrheit des Deutschen Bundestages hat sich mit dem von uns abgelehnten Antrag dafür ausgesprochen, in naher Zukunft eine gesetzli-

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che Regelung zur Rechtfertigung der religiös motivierten, medizinisch nicht indizierten Beschneidung von Jungen zu schaffen. Ein solches Gesetz stünde in unseren Augen auch im Widerspruch zum Grundgesetz. Dies vor allem deshalb, weil das Grundgesetz weder einen Vorrang des elterlichen Rechts auf religiöse Kindererziehung vor dem Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung kennt und weil im Grundgesetz durch die Rechte der Religionsgemeinschaften nach Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 1 WRV die staatsbürgerlichen Rechte des Kindes richtigerweise nicht beschränkt werden. Auch deshalb lehnen wir das Ansinnen des Antrages ab« (Deutscher Bundestag, 2012c, S. 22854 f.). 14 Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen zeigten die Intention derjenigen auf, die die Resolution aus Kinderrechtsgründen nicht mittragen konnten: »Der Deutsche Bundestag sollte sich beim heiklen Thema der religiös motivierten Beschneidung von Jungen im Dialog mit den Religionsgemeinschaften, den Ärzteverbänden, den Kinderrechteverbänden etc. um eine kultursensible Lösung bemühen, die Kinder als Träger eigener Rechte in den Mittelpunkt stellt. Der vorgelegte Antrag wird diesem Anspruch nicht gerecht« (Deutscher Bundestag, 2012c, S. 22855). Dass auch Abgeordnete anderer Fraktionen – ungeachtet der inhaltlichen Problematik – allein schon die Vorgehensweise als »Überrumpelungstaktik« werteten, zeigt die zu Protokoll gegebene persönliche Erklärung von Burkhardt Müller-Sönksen (FDP): »Der vorgelegte interfraktionell erarbeitete Antrag findet nicht meine Zustimmung. […] Die Notwendigkeit in dieser grundsätzlichen Frage, in Form eines Ad-hoc-Verfahrens zu einer zeitnahen gesetzlichen Regelung zu kommen, ist aus meiner Sicht mit Blick auf die Komplexität der Thematik nicht angemessen. Die Debatte über religiöse Beschneidungen sollte ohne Präjudiz, wie die im Antrag vorgenommene Vorfestlegung, die religiöse Beschneidung weiterhin zu ermöglichen, erfolgen« (Deutscher Bundestag, 2012c, S. 22852). Die Plenarsitzung am 19. 07. 2012 In der Plenarsitzung am 19. 07. 2012 formulierte zunächst der CDU-Abgeordnete Dr. Günter Krings seinen Beitrag als »klares Signal an die jüdischen und muslimischen Gemeinden in Deutschland […], dass jüdisches und muslimisches Leben insbesondere in Deutschland weiterhin nicht nur möglich ist, sondern auch nicht unzumutbar erschwert wird« (Deutscher Bundestag, 2012c, S. 22829). Christine Lamprecht (SPD) ergänzte, es sei »inakzeptabel, diese Rechtsunsicherheit weiterhin bestehen zu lassen«, zumal dies auch die Gefahr berge, dass

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Beschneidungen »in Hinterzimmern vorgenommen würden oder ein Beschneidungstourismus in Gang gesetzt würde«. Man wolle zwar die unterschiedlichen Rechtsgüter gegeneinander abwägen, zugleich jedoch ein Signal senden, »dass muslimische und jüdische Religionsausübung in diesem Land möglich sein muss« (Deutscher Bundestag, 2012c, S. 22830 f.). Als erster problematisierte Jens Petermann (Die Linke), dass der Entschließungsantrag eilig und »eigentlich ohne Debatte durchgewunken« werden sollte, und brachte das Dilemma auf den Punkt: »Natürlich sind die Achtung der Religion und der Freiheit religiöser Betätigung etwas Selbstverständliches. Das eigentliche Problem liegt auf einer anderen Ebene; das ist hier schon angesprochen worden. Wie ist es um den Grundrechtsschutz des minderjährigen, religiös unmündigen Kindes auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung gegenüber den Grundrechten der Eltern auf Religionsfreiheit und deren Elternrecht bestellt?« (Deutscher Bundestag, 2012c, S. 22832). In seinem Beitrag finden sich zwei weitere wesentliche Aspekte: »Eine Entscheidung der Eltern zur Vermeidung einer religiösen Ausgrenzung kann die Einwilligung des kleinen Patienten nicht ersetzen, da keine medizinische Indikation vorliegt und der Eingriff nicht dem Kindeswohl dient. Durch eine Beschneidung wird der Körper des Kindes dauerhaft und irreparabel verändert. Diese Veränderung läuft dem Interesse zuwider, später in freier Selbstbestimmung über eine Religionszugehörigkeit entscheiden zu können« (Deutscher Bundestag, 2012c, S. 22833). Mein erstes und in der Öffentlichkeit ausweislich Hunderter von Zuschriften stark beachtetes Eingreifen in die Debatte selbst fand statt, als Volker Beck, Parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, eben nicht auf die mir bekannten divergierenden Meinungen innerhalb seiner Fraktion und die ja auch in seiner Fraktion offen dokumentierten Widersprüchlichkeiten abhob, sondern in bemerkenswerter argumentativer Volte ausführte, dass die rechtswirksame Einwilligung von Eltern in die Beschneidung gedeckt sei vom »Recht des Kindes, als gleichberechtigtes und vollwertiges Mitglied einer Religionsgemeinschaft, der die Familie angehört, aufzuwachsen«. Außerdem sei der Eingriff »in der Tat irreversibel, aber doch vergleichsweise gering« (Deutscher Bundestag, 2012c, S. 22833 f.). Daraufhin brachte ich im Wege einer Zwischenfrage folgende Aspekte in die Diskussion ein: »Herr Kollege Beck, Sie wissen, dass das Bundesverfassungsgericht schon 1968 festgestellt hat, dass Kinder Grundrechtsträger sind, und zwar ohne Einschränkung; man hat das nicht am Alter festgemacht. Außerdem haben

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wir die UN-Kinderrechtskonvention im letzten Jahr in diesem Hause mit breiter Mehrheit in inländisches Recht umgesetzt. In Art. 24 Abs. 3 der UN-Kinderrechtskonvention steht eindeutig, dass die Vertragsstaaten alles versuchen, um Bräuche, die Kinder verletzen, zu beseitigen. Wir haben im Jahr 2000 hier im Hause nach langer Diskussion mit großer Mehrheit beschlossen, dass Eltern ihre Kinder gewaltfrei erziehen müssen. Damit haben wir zum ersten Mal Kinder als Rechtssubjekte in ein Gesetz aufgenommen. Das heißt, dass Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung haben. Das gilt auch für die religiöse Erziehung. Man nimmt niemandem das Recht, Kinder religiös zu erziehen. Im Gegenteil: Es ist Aufgabe der Eltern, Kinder wertorientiert zu erziehen und sie auf das Leben in dieser Gesellschaft vorzubereiten. Aber wir haben den Grundsatz der Gewaltfreiheit. Ich frage mich, wie Sie diesen Antrag mit der UN-Kinderrechtskonvention und den Grundrechten vereinbaren wollen. Ich glaube, dass eine ehrliche Diskussion stattfinden muss. Meine Bitte an die Kollegen ist: Wenn wir uns in der Sommerpause mit diesem Thema beschäftigen, sollten wir nicht vorschnell nur auf die Menschen in unserem Land schauen, die ihre Auffassung laut genug äußern. Man sollte auch auf all diejenigen schauen, die sich nicht äußern, für die wir hier aber im Parlament sitzen, nämlich auf die Kinder. Ihnen müssen wir klar zur Seite stehen und eine Stimme geben, wenn es um solche gesellschaftlichen Entwicklungen geht. Ich hoffe, Sie stimmen mir zu, dass alles, was wir hier tun, auf dem Boden des Grundgesetzes stehen muss. Das ist die Basis all unseres Handelns. Ich bitte die Regierung, einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen. Deshalb meine Frage an Sie: Wie wollen Sie dieses Gesetz mitgestalten, wenn Sie sich schon jetzt im Voraus festlegen, dass in dem Gesetz eine Straffreiheit vorgesehen werden soll?« (Deutscher Bundestag, 2012c, S. 22834). Der von mir angefragte Kollege antwortete daraufhin, dass er seine Rechtsposition in völligem Einklang mit der UN-Kinderrechtskonvention sehe, wiederholte nochmals, dass eine Beschneidung seiner Meinung nach keine gesundheitliche Beeinträchtigung, sondern nur eine Beeinträchtigung ohne pathologischen Befund beinhalte. Deshalb sei es, so Beck, »im Rahmen des Grundrechtsausgleichs mit zu erörtern, welchen Stellenwert der Beschneidungsbefehl für diese Religion« habe: »Und da kommen wir zu dem Ergebnis: Es handelt sich um den ersten Befehl Gottes, der für diese Religion gilt, und er ist das Fundament des Glaubens aller abrahamitischen Religionen.« Bereits zuvor hatte Beck ausgeführt: »Sie dürfen

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nicht übersehen, dass der Beschneidungsbefehl in der jüdischen Religion und im islamischen Glauben fundamental ist. Die Begründung des Bundes Gottes mit dem Volk Israel und Abraham in Genesis 17 beginnt mit dem Befehl an Abraham, die Kinder des Volkes Israel zu beschneiden, sobald sie acht Tage alt sind« (Deutscher Bundestag, 2012c, S. 22834). Wie sehr gerade Volker Beck versuchte, die Debatte frühzeitig durch eine überwiegend auf das Judentum abzielende religiöse Argumentation und durch Anspielung auf latente antisemitische Bezüge der Beschneidungsdiskussion zu beeinflussen, zeigt seine Schlussbemerkung: »Kommt es Ihnen nicht merkwürdig vor, dass ausgerechnet Deutschland das erste und einzige Land auf dieser Welt sein sollte, wo die Beschneidung von Juden und Muslimen strafbar sein soll?« (Deutscher Bundestag, 2012c, S. 22835). Rechtliche und medizinische Differenzierung Um diese einseitige und pauschalierende Argumentation in Richtung einer differenzierten Sichtweise auf den gesamten Problemkomplex zu weiten, habe ich unmittelbar nach der Sitzung vom 19. 07. 2012 in einem Brief meinen Informationsstand als Kinderbeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion zur Kenntnis gegeben. Ich habe darin zunächst die rechtliche Situation geschildert und auf das einschlägige Urteil des Bundesverfassungsgerichts sowie das Grundgesetz hingewiesen. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 29. 07. 1968 (siehe unter anderem Benassi, 2012) sind Kinder Grundrechtsträger. Damit gelten die Grundrechte für sie uneingeschränkt. Dies bezieht sich also auch auf Art. 2, Abs. 2 GG: »Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden.« Danach habe ich erläutert, dass auch die internationale Rechtssetzung für die Beschneidungsdebatte relevant ist. Seit 05. 04. 1992 ist die UN-Kinderrechtskonvention nämlich auch für Deutschland gültig. Am 15. 07. 2010 ist sie mit Rücknahme der Vorbehalte durch den Deutschen Bundestag sogar nun uneingeschränkt als inländisches Recht in Kraft getreten. Damit besitzen nachfolgende Artikel Gültigkeit: – Art. 24 Abs. 3 »Die Vertragsstaaten treffen alle wirksamen und geeigneten Maßnahmen, um überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, abzuschaffen.« – Art. 3, Abs. 1 »Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerich-

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ten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.« – Art. 3, Abs. 2 »Die Vertragsstaaten verpflichten sich, dem Kind unter Berücksichtigung der Rechte und Pflichten seiner Eltern, seines Vormunds oder anderer für das Kind gesetzlich verantwortlicher Personen den Schutz und die Fürsorge zu gewährleisten, die zu seinem Wohlergehen notwendig sind; zu diesem Zweck treffen sie alle geeigneten Gesetzgebungs- und Verwaltungsmaßnahmen.« Schließlich heißt ist in § 1631 BGB (Inhalt und Grenzen der Personensorge), Abs 2: »Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. [Hierzu gehört auch die religiöse Erziehung.] Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.« Diese Rechtsquelle ist seit dem 08. 11. 2000 in Kraft und gleichzeitig die erstmalige Nennung der Kinder als Rechtssubjekte im Bürgerlichen Gesetzbuch. Ich habe weiterhin erläutert, dass die Strafrechtlerin Dr. Grischa Merkel zusätzlich darauf hinweist, dass eine Ausnahmeregelung nur für eine oder zwei Religionsgemeinschaften wiederum den Gleichheitsgrundsatz massiv verletzen würde: »Würden wir die Freiheit der Religionsausübung so verstehen, dass sie das Recht auf körperliche Unversehrtheit von Kindern einschränkt, wie Sie es fordern, dann müsste das freilich auch für andere Religionen und deren Rituale gelten, denn willkürlich darf kein Rechtsstaat handeln.« Dies gilt umso mehr, als weder für den jüdischen noch den muslimischen Ritus der Beschneidung eine medizinische Folgenlosigkeit angenommen werden kann, wie dies immer wieder fälschlicherweise behauptet wird. Dazu im nächsten Abschnitt mehr. Im Hinblick auf die medizinischen Aspekte, zu denen ich hier insbesondere hinsichtlich Anatomie, Narkotisierung, Komplikationen und Folgen auf die anderen Beiträge in diesem Buch verweisen darf, habe ich die Stellungnahme des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ e. V.) vom 17. 07. 2012 zitiert, wonach »das Kindeswohl und das Recht der Kinder auf körperliche Unversehrtheit an erster Stelle stehen« müssen. Diese Stellungnahme wendet sich gegen die Bagatellisierung der Beschneidung als »Form der Körperverletzung, bei der es auch zu lebenslangen körperlichen und […] seelischen Verletzungen kommen kann« (BVKJ, 2012a). Weiterhin zitiert habe ich auch die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin e. V. – Dachverband der kinder- und jugendmedizinischen Gesellschaften, die die Frage gestellt hat, »ob ein Ritus, der auch von manchen zu ihrem Glauben stehenden Juden und Muslimen als archaisch empfunden

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wird, überdacht werden sollte« (Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin, 2012). Das religiöse Argument: Ein alternativloser Ritus? Erste Reaktionen auf das Gerichtsurteil – interessanterweise fast ausschließlich aus dem Umfeld jüdischer Organisationen – sprachen davon, dass eine gegenteilige Regelung jüdisches Leben in Deutschland unmöglich mache, und stellten damit – ob bewusst oder unbewusst sei dahingestellt – einen Bezug zur Shoa her. Ich habe in einem Interview mit der »Jüdischen Allgemeinen« verdeutlicht, dass negative Auswirkungen auf die Ausübung der Religion absolut vermeidbar sind, wenn die Angehörigen der Glaubensgemeinschaften bereit sind, die genannten medizinischen Erkenntnisse dahin gehend zu berücksichtigen, dass eine Veränderung der Riten ins Symbolische (z. B. analog zum christlichen Taufakt etc.) erfolgt, um eine bewusste Entscheidung für oder gegen die Beschneidung erst bei Eintritt der Religionsmündigkeit und unter Berücksichtigung der mit dem Lebensalter abnehmenden Komplikationsrate zu ermöglichen. Hierbei sollte auch berücksichtigt werden, dass es sowohl im jüdischen (Initiative »Ben Shalem – intakter Sohn« in Israel und »Jews Against Circumcision«) wie im muslimischen Bereich (hier vor allem in England) religiöse Bewegungen gibt, die die Beschneidung von Kindern ablehnen und eben diesen Kritikpunkten damit Rechnung tragen. Bei den muslimischen Organisationen in Deutschland hatte sich insbesondere Serdar Akin, Bundesvorsitzender des Bundes der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland (BDAJ) entsprechend eindeutig zur Berücksichtigung der Kinderrechte positioniert (Akin, o. J.). Eine Verhinderung der Religionsausübung wird also bei jüdischen und muslimischen Reformbewegungen überhaupt nicht gesehen, Zielsetzung der Aktivitäten ist einzig und allein eine Anpassung der archaischen Riten an die aufgeklärte, auf den Menschenrechten beruhende Zeit. Die internationale Initiative »Jews Against Circumcision« (JAC, www.jewsagainstcircumcision.org) zeigt unter anderem auf, welche mit der Todesstrafe belegten religiösen Verbote aus der Tora (z. B. Homosexualität, Blasphemie, Hurerei bei Frauen etc.) aufgrund zivilisatorischer Entwicklungen heute nicht mehr geahndet werden und welche Praktiken (z. B. Sklaverei, Menschen- und Tieropfer, Frauengehorsam etc.) nicht mehr angewendet bzw. verboten sind. JAC argumentiert mit den beschneidungskritischen Veröffentlichungen des mittelalterlichen Reformrabbiners Moses Maimonides und zeigt sich überzeugt

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davon, dass »die barbarische und primitive Folter und verstümmelnde Praxis der Beschneidung keinen Platz im modernen Judentum« hat. Dies gelte umso mehr, als das Beschneidungsgebot der Tora in den ersten beiden Genesis-Fassungen noch nicht enthalten sei. Weiterhin beruft sich JAC auf die zehn wichtigsten Werte des Judentums und stellt fest, dass davon neun durch die Beschneidung verletzt werden würden. Gemäß dem Gebot der »Liebe zum Lernen« sei es notwendig, die religiöse Praxis den medizinischen und psychologischen Erkenntnissen anzupassen. Sie bietet als alternativen Ritus die Brit Shalom an, eine Taufzeremomie, wie sie auch in jüdischen Gemeinden für Mädchen ausgeübt wird. Ähnlich agiert in Israel selbst auch die Initiative »Ben Shalem« (intakter Sohn). Als Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarats und international aktive Kinderpolitikerin kann ich die Behauptung, Deutschland sei das einzige Land, in dem die Berechtigung der Kleinkind-Beschneidung in Zweifel gezogen werde, überhaupt nicht bestätigen. Vielmehr listet die National Coalition in ihrem Newsletter (National Coalition, 2012) auf, dass es unter anderem in Israel, den Niederlanden, in Norwegen, Kanada, Frankreich und den USA Institutionen gibt, die Debatten angestoßen haben, inwiefern die Beschneidung von Kleinkindern noch zeitgemäß ist. Für die muslimische Seite führt »Quranic Path« (o. J.) die Gründe an, die aus muslimischer Sicht gegen die Beschneidung sprechen: »Allah is the One who made the Earth a habitat for you, and the sky as a structure, and He designed you, and has perfected your design« (Qur’an 40:64). Ich habe deshalb mehrfach bei den Beratungen im Deutschen Bundestag darauf hingewiesen, dass von einer international isolierten Position der Diskussion in Deutschland also überhaupt nicht die Rede sein kann. Wichtige Aspekte, die keine Rolle spielten Überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wurden Begründungszusammenhänge in Bezug auf die Beschneidung sowohl von Jungen als auch von Männern außerhalb der genannten Religionsgemeinschaften. Die vor allem in den USA und England beobachtbare Akzeptanz der Beschneidung hat sich zur Verhinderung der Masturbation im prüden gesellschaftlichen Klima des viktorianischen England entwickelt und über die Neuenglandstaaten und die britischen Kolonien verbreitet. Die Behandlung dieses Arguments hätte jedoch unter Umständen zu dem irritierenden Schluss geführt, dass die Erlaubnis für nicht medizinisch indizierte Beschneidungen kein Akt religiöser Toleranz, sondern vielmehr in nicht

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unerheblicher Intensität auch ein Relikt überkommener Moralvorstellungen aus monarchistischer Zeit wäre. Nicht unerheblich – und dennoch ebenso wenig thematisiert – wurden auch aktuelle Aspekte wie Schönheitsideale, die bei Männern wie bei Frauen kosmetisch motivierte Operationen im Genitalbereich vorsehen, sowie insbesondere bei Homosexuellen verbreitete Sexualpraktiken, aus denen eine Präferenz für die Beschneidung folgt. Im Sinne einer falsch verstandenen »political correctness« wurden jedoch die letztgenannten Aspekte tabuisiert, da sich das religiöse Existenzrecht bereits frühzeitig als das reflexsicherste in der Debatte herauskristallisiert hatte. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung und der Einfluss der Lobbyisten Als Anfang November 2012 der Gesetzesentwurf der Bundesregierung vorlag und in die Ausschüsse zur Beratung ging, habe ich fraktionsunabhängig bei vielen Kolleginnen und Kollegen das Unwohlsein bemerkt, das mit dem Ignorieren all dieser Erkenntnisse einherging. In vielen Fällen war das Beratungsverhalten wie auch die spätere Entscheidung nicht bestimmt von innerer Überzeugung, sondern von einer großen Angst, sich als Antisemit/-in oder Islamhasser/-in verunglimpft zu sehen. Die Bemühungen kreisten sodann um die Frage, wie ein operativ, hygienisch und vor allem schmerztherapeutisch den aktuellen Erkenntnissen entsprechendes Verfahren gesetzlich geregelt werden kann, das die praktizierten Riten durch medizinisch nicht befähigte Beschneider hinnimmt. Entsprechend wählte die Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf den Ansatz, »im Recht der elterlichen Sorge (§§ 1626 ff. des Bürgerlichen Gesetzbuchs – BGB) klarzustellen, dass die Personensorge der Eltern grundsätzlich auch das Recht umfasst, bei Einhaltung bestimmter Anforderungen in eine nicht medizinisch indizierte Beschneidung ihres nicht einsichts- und urteilsfähigen Sohnes einzuwilligen. Dies soll nur dann nicht gelten, wenn im Einzelfall durch die Beschneidung auch unter Berücksichtigung ihres Zwecks das Kindeswohl gefährdet wird. In den ersten sechs Monaten nach der Geburt des Sohnes dürfen auch von einer Religionsgesellschaft dazu vorgesehene Personen die Beschneidung vornehmen, wenn sie dafür besonders ausgebildet und für die Durchführung der Beschneidung einer Ärztin oder einem Arzt vergleichbar befähigt sind« (Deutscher Bundestag, 2012a, S. 1). Der Gesetzentwurf schlug vor, einen § 1631d BGB einzufügen:

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»Beschneidung des männlichen Kindes (1) Die Personensorge umfasst auch das Recht, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden soll. Dies gilt nicht, wenn durch die Beschneidung auch unter Berücksichtigung ihres Zwecks das Kindeswohl gefährdet wird. (2) In den ersten sechs Monaten nach der Geburt des Kindes dürfen auch von einer Religionsgesellschaft dazu vorgesehene Personen Beschneidungen gemäß Absatz 1 durchführen, wenn sie dafür besonders ausgebildet und, ohne Arzt zu sein, für die Durchführung der Beschneidung vergleichbar befähigt sind« (Deutscher Bundestag, 2012a, S. 5). In den darauf folgenden Anhörungen und Ausschussberatungen habe ich erneut meine Erfahrungen aus Gesprächen mit vielen Kinderärzten und -ärztinnen wiedergegeben, wonach bei acht Tage alten Babys ein großes Problem beim Narkotisieren besteht, weil die Gefährlichkeit der Narkose exorbitant hoch ist und nur eine lokale Anästhesie infrage kommt. Die in diesem Zusammenhang immer wieder als probates Mittel genannte ELMA®-Betäubungssalbe ist jedoch laut Beipackzettel eindeutig ungeeignet, auch wenn dies unter anderem auch in der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung erneut referiert wird (Deutscher Bundestag, 2012a, Anlage 1; siehe hierzu auch den Beitrag von Kupferschmid in diesem Buch). Ich bot Kolleginnen und Kollegen, die das Narkose- bzw. Betäubungsproblem durch die Salbe für erledigt erklärt hatten, im Bundestag an, einen Selbsttest zu machen und einen – bezogen auf eine Beschneidung vernachlässigbaren – Schnitt in eine Fingerkuppe durch Auftragen einer von mir mitgebrachten Salbe zu betäuben. Niemand stellte sich zur Verfügung! Ebenso skandalös wie die von vielen Beschneidungsbefürwortern wider besseres Wissen als Lösung des Betäubungsproblems vertretene EMLA®-Salben-Anwendung war das Nichterscheinen eines bereits abgegebenen und mit neuen statistischen Auswertungen versehenen beschneidungskritischen Beitrags in einer amerikanischen Fachzeitschrift. Wie »Der Tagesspiegel« im März 2013 aufdeckte, hatte sich »der US-Kinderärzteverband AAP 2012 mitten in der deutschen Debatte mit einem positiven Fazit zur Neugeborenenbeschneidung im Fachblatt Pediatrics zu Wort gemeldet und wurde viel zitiert. Jetzt antworten europäische Kinderärzte in der gleichen Zeitschrift – und lassen kaum ein gutes Haar an der Stellungnahme ihrer amerikanischen Kollegen. Die Schlussfolgerungen der AAP seien wissenschaftlich kaum haltbar und von kultureller

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Voreingenommenheit geprägt, schreiben 38 Autoren aus 17 Nationen, darunter die Vorsitzenden von 19 europäischen Kinderärzteverbänden« (Kirchner, 2013). Von Religionsgemeinschaften bis hin zum Staat Israel, der auf unterschiedliche Weise vorstellig geworden ist, und vor allem durch jüdische Rabbiner wurde vor allem auf die Führungsebenen der Fraktionen ganz massiver Druck ausgeübt, den Gesetzentwurf der Bundesregierung zu verabschieden. Auf der Gegenseite gelang es weder dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e. V. (BVKJ, 2012b) noch anderen Initiativen, durch Sachinformationen die hohe Relevanz der Gefahren und Folgen der Beschneidung an neugeborenen Jungen bzw. Jungen im Kindesalter ausreichend zu verdeutlichen und auf einen differenzierten Diskurs zu drängen. Selbst der Film »It’s a Boy!« (Schonfeld, 2012), in dem der jüdische Dokumentarfilmer Victor Schonfeld die Gefahren der Beschneidung mit äußerst brutalen Bildern verdeutlicht, fand auch in den Medien nicht genügend Widerhall, um zu verdeutlichen, dass der Eingriff in das körperliche Selbstbestimmungsrecht von Kindern keine simple Rechtsgüterabwägung ist. Zahlreiche Kinderschutzorganisationen und auch psychotherapeutische Vereinigungen sahen sich nicht in der Lage, eine eindeutige Stellung einzunehmen, sodass auch sie als Referenzpunkte für die Kontroverse ausfielen. Der Alternativentwurf Nachdem die Bundesregierung ihren von den vier Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen getragenen Entwurf eingebracht hatte, überlegten zahlreiche Abgeordnete, die bereits im Juli 2012 die Entschließung nicht mittragen konnten, wie man dem Deutschen Bundestag darstellen konnte, dass eine alternative Vorgehensweise möglich wäre. Das Resultat war ein von 67 Abgeordneten unterzeichneter sogenannter »Gruppenantrag«, den ich fraktionsübergreifend mit meinem Fraktionskollegen Rolf Schwanitz (SPD) und meinen Kolleginnen Diana Golze (Die Linke) und Katja Dörner (Bündnis 90/Die Grünen), ebenfalls Kinderpolitische Sprecherinnen ihrer Fraktionen, am 08. 11. 2012 unter dem Titel »Entwurf eines Gesetzes über den Umfang der Personensorge und die Rechte des männlichen Kindes bei einer Beschneidung« (Deutscher Bundestag, 2012d) einbrachte und der das Ziel verfolgte, die Rechte von Kindern weder religiös motiviert noch aus anderen Erwägungen zur Disposition zu stellen. Nach sorgfältiger Abwägung der grundgesetzlich geschützten Rechtsgüter, insbesondere dem Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit, dem Recht der Eltern auf elterliche Erziehung, der Religionsfreiheit des Kindes sowie dem

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Schutz des Kindeswohls legten wir in unserem Gesetzentwurf fest, dass eine Beschneidung von Jungen unter Einhaltung bestimmter Anforderungen im Recht der elterlichen Sorge (§§ 1626 ff. des Bürgerlichen Gesetzbuchs – BGB) grundsätzlich erlaubt sein sollte. Da es sich unserer Meinung nach jedoch um einen dermaßen schwerwiegenden Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Kindes handelt, sollte dieser nur mit dessen ausdrücklicher Einwilligung vorgenommen werden, weshalb wir die Vollendung des 14. Lebensjahres und die Einsichts- und Urteilsfähigkeit des betroffenen Kindes voraussetzen wollten (Deutscher Bundestag, 2012d, S. 2). Anders als die Befürworter der jetzt getroffenen Beschneidungsregelung hatten wir dabei immer im Blick, dass die Beschneidung ein schmerzvoller und mit Risiken behafteter chirurgischer Eingriff ist: Die irreversible Entfernung des hochsensiblen, erogenen und funktional wichtigen Körperteils hat dauerhafte physische, psychische und sexuelle Auswirkungen. Dessen waren und sind wir uns stets bewusst. Aus diesem Grund haben wir eine zweite Bedingung in unseren Entwurf eingeführt, die sich vom Regierungsentwurf unterscheidet: Die Beschneidung sollte nicht nur nach den Regeln der ärztlichen Kunst, sondern ausnahmslos von einer Ärztin oder einem Arzt mit der Befähigung zum Facharzt für Kinderchirurgie/Urologie erfolgen. Unser Entwurf lautete deshalb wie folgt (Deutscher Bundestag, 2012d, S. 4): »§ 1631d Beschneidung des männlichen Kindes Die Personensorge umfasst auch das Recht, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des männlichen Kindes einzuwilligen, wenn es das 14. Lebensjahr vollendet hat, einsichts- und urteilsfähig ist, der Beschneidung zugestimmt hat und diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst von einer Ärztin oder einem Arzt mit der Befähigung zum Facharzt für Kinderchirurgie oder Urologie durchgeführt werden soll. Dies gilt nicht, wenn durch die Beschneidung auch unter Berücksichtigung ihres Zwecks das Kindeswohl gefährdet wird.« Die Debatte am 12. Dezember 2012 und Schlussabstimmung Am 12. 12. 2012 kam es dann im Rahmen der 2. und 3. Lesung zur Beschlussfassung über den erläuterten Gesetzentwurf der Bundesregierung und den von mir und weiteren 66 Abgeordneten unterzeichneten Alternativentwurf sowie über einige Änderungsanträge, die vor allem die Frist für einen etwaigen Ein-

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griff, eventuelle Regelungen zur Evaluierung des Gesetzes, vor allem im Hinblick auf die Dokumentation und Erfassung der Anzahl der Eingriffe etc., betrafen. Der FDP-Abgeordnete Stephan Thomae rückte die Thematik als erster Redner gleich in einen historischen Kontext. Für ihn rührt »die Beschneidung von Knaben […] an drei delikate Tabuthemen« – und zwar das Wohl von Kindern, den Schutz religiöser Minderheiten sowie die Tatsache, dass »Menschen jüdischen Glaubens im Mittelpunkt der Diskussion« stünden – »und damit geht es auch um ein Stück deutscher Geschichte« (Deutscher Bundestag, 2012e, S. 26073). Wie schwer jedoch nicht nur der geschichtliche Blickwinkel wog, sondern wie selbstverständlich vor allem subjektive religiöse Empfindungen im Wege einer wertrationalen Priorisierung als objektives Entscheidungsargument gewichtet wurden, zeigt eine weitere Einlassung Thomaes, in der er einen aus dem Alternativentwurf abgeleiteten Entscheidungszwang kritisiert, »diesen immerhin nicht zu vernachlässigenden Eingriff an sich vornehmen zu lassen oder ihn abzulehnen mit der Konsequenz, dass man aus der Religionsgemeinschaft seiner Eltern, seiner Familie ausgeschlossen bleibt und an der kulturellen Identität seines eigenen Volkes jedenfalls nicht ganz und gar teilhaben kann« (Deutscher Bundestag, 2012e, S. 26074). Der Begriff »Volk« wird hier mithin unreflektiert in einer Bundestagsdebatte nicht mehr als Synonym für die Gesamtheit von Staatsangehörigen verwendet, sondern für Angehörige einer Religionsgemeinschaft. Dass der Regierungsentwurf einzig und allein den auch von Thomae nochmals explizit genannten Zielen der Lösung des durch das Gerichtsurteil ausgelösten Konflikts und einer dauerhaften Rechtssicherheit für den entsprechenden religiösen Brauch dienen soll (»Eltern jüdischen Glaubens einen Weg freizuhalten, ihre neugeborenen Söhne gemäß jahrtausendealter Tradition beschneiden zu lassen, ohne sich dabei strafbar zu machen«, Deutscher Bundestag, 2012e, S. 26074) und somit keiner unvoreingenommenen rechtlichen, politischen oder gar medizinischen Prüfung unterzogen worden ist, zeigt auch die in der Debatte begründete Ablehnung eines Änderungsantrags, der eine Evaluierung des Gesetzes nach fünf Jahren bezweckte: »Wir sollten jedoch den Mut haben, heute eine abschließende Regelung zu finden« (Deutscher Bundestag, 2012e, S. 26074). Die »Augen zu und durch«-Mentalität vor allem seitens der CDU/CSU/ FDP-Regierungskoalition in der Debatte illustrieren auch die Erklärungen zu der ebenfalls von den SPD-Kollegen Lambrecht und Lischka in ihrem Änderungsantrag geforderten Rechtsverordnung zur Regelung der Qualifikation von religiösen Beschneidern ohne ärztliche Ausbildung. Hier antwortete der FDPAbgeordnete Thomae nur lapidar, aus diesem Begehren spreche »ein gewisses Misstrauen dahingehend, dass die Glaubensgemeinschaften nicht selbst dafür

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Sorge tragen könnten, inwieweit die Beschneider diesen medizinischen Eingriff vornehmen können« (Deutscher Bundestag, 2012e, S. 26074). Dies hieße im Umkehrschluss, dass überall dort, wo der Gesetzgeber Vertrauen in die Zielgerichtetheit und Lauterkeit von Handlungen hätte, eine rechtliche Regelung zum Schutz Dritter unterbleiben könne. Dies würde zu zahlreichen rechtsfreien Räumen führen. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier führte als nächster Redner aus, in welcher Atmosphäre der Konflikt inzwischen vor allem auf dem Niveau der Äußerungen in E-Mails und Internetforen angekommen war: »Da werden Befürworter einer gesetzlichen Regelung als Kinderschänder beschimpft; Gegner der Beschneidung werden dem Verdacht ausgesetzt, antisemitisch zu sein. Beide Vorwürfe sind völlig unangemessen« (Deutscher Bundestag, 2012e, S. 26076). Steinmeier warb für eine differenzierte Sichtweise: »Im Grundgesetz ist das Kindeswohl zu Recht als hoher Wert definiert. Aber die ganze Wahrheit ist: Es steht eben nicht allein, sondern auf gleicher Ebene mit elterlicher Sorge, Religionsfreiheit und Freiheit der Religionsausübung. Das sind Rechtsgüter desselben verfassungsrechtlichen Ranges. Kindeswohl ist auch körperliche Unversehrtheit. Es erschöpft sich aber eben nicht darin, sondern es geht auch um Werte, Sicherheit und Identität. Kindeswohl bedeutet auch Zugehörigkeit. Deshalb wehre ich mich dagegen, einen Ritus, der für einen Teil unserer Mitbürger nun einmal zum Kern ihrer Identität, zum Kern ihrer Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft gehört, per se als kindeswohlfeindlich abzustempeln« (Deutscher Bundestag, 2012e, S. 26076). Abschließend drückte der SPD-Fraktionsvorsitzende in einem Satz aus, was es so schwierig machte, rein sachbezogen zu argumentieren: »Ich fühle mich ausgesprochen unwohl mit der Vorstellung, dass ausgerechnet wir Deutsche unseren jüdischen Mitbürgern beibringen, was Inhalt von Lebensschutz und Kindeswohl ist« (Deutscher Bundestag, 2012e, S. 26076). Seine SPD-Kollegin Aydan Özoguz knüpfte daran an und machte auf den Widerspruch aufmerksam, dass von einer eventuellen Beschneidungsregelung erheblich mehr muslimische Kinder betroffen seien als jüdische, die öffentliche Diskussion sich aber fast ausschließlich um letztere Religionsgemeinschaft drehe: »Fast ein wenig absurd mutet es auch an, dass Muslime in diesen letzten Wochen und Monaten fast ein Stück erleichtert darüber sein mussten, dass das Urteil auch Jüdinnen und Juden in Deutschland betrifft. Sie haben selber immer wieder zum Ausdruck gebracht, dass man gar nicht wissen möchte, wie diese Debatte sonst verlaufen wäre« (Deutscher Bundestag, 2012e, S. 26093). Andrea Astrid Voßhoff für die CDU/CSU-Fraktion betonte zwar zunächst, dass der Gesetzgeber »einen möglichst unverstellten Blick« darauf zu werfen

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habe, »was unsere Verfassung, was unsere Rechtsordnung zulässt«. Gleichzeitig definierte sie aber ein auch in anderen Zusammenhängen wie bei Diskussionen zur Kinder- und Jugendhilfe immer wieder zu findendes, stark elternbezogenes Verhältnis zwischen staatlicher Verantwortung und Elternbestimmung beim Kindeswohl: »Für den Begriff des Kindeswohls ist nach unserem geltenden Familienrecht daher wesentlich, dass die Eltern seinen konkreten Inhalt bestimmen, dass sie entscheiden, was nach ihrem Verständnis dem Kindeswohl dienlich ist. Eine grundgesetzliche Schutzpflicht des Staates gegenüber dem Kind ergibt sich nur dort, wo die von den Eltern getroffenen Entscheidungen klar und eindeutig nicht mehr mit dem Kindeswohl vereinbar sind, wenn also das Kindeswohl gefährdet ist. Diese Grenze ist bei einem medizinisch nicht indizierten Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, also bei einem Eingriff in die in Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes genannten Rechte, nicht automatisch überschritten« (Deutscher Bundestag, 2012e, S. 26077). Der CSU-Abgeordnete Johannes Singhammer stützte diese Argumentation: »Kinder können sich gegen die Religion ihrer Eltern entscheiden, wenn sie alt genug sind. Dass Eltern für Kinder Entscheidungen übernehmen und – auch aufgrund ihrer religiösen Erfahrungen – das Beste für sie wollen, ist nichts Absonderliches, sondern schlicht etwas Selbstverständliches« (Deutscher Bundestag, 2012e, S. 26085). Für seinen CDU-Kollegen Norbert Geis geht das Elternrecht sogar so weit, »dass die Eltern das ihnen von der Verfassung eingeräumte Recht haben, darüber zu entscheiden, was richtig und was falsch für das Kind ist, was dem Kindeswohl entspricht und was nicht. Nicht der Staat hat das Interpretationsrecht, nicht die Ärzte, nicht die Gesellschaft oder sonst irgendjemand, sondern zunächst haben allein die Eltern das Interpretationsrecht, zu entscheiden, was dem Wohl des Kindes entspricht« (Deutscher Bundestag, 2012e, S. 26088). Den alternativen Gesetzentwurf, Beschneidung nur bei Einwilligung von über 14-Jährigen zuzulassen, lehnte Voßhoff ab: »Dies wäre ein staatliches Verbot, und dies wäre – ich habe das vorhin schon ausgeführt – ein nicht gerechtfertigter Eingriff in die elterliche Sorge. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sie diesen Gesetzentwurf unterstützen, er würde Eltern, die ihrem Kind weiterhin die Religionszugehörigkeit zugestehen wollen, dazu zwingen, ins Ausland zu gehen. Sie laufen Gefahr, die Eltern zu kriminalisieren« (Deutscher Bundestag, 2012e, S. 26078). Diana Golze (Die Linke) problematisierte dagegen insbesondere die nicht kindgerechte Schmerzbehandlung bei einer Fortdauer der rituellen Beschneidung ohne ausreichende Betäubung: »In der Anhörung ist, wie ich finde, sehr deutlich geworden, dass die Anwendung der sogenannten EMLA®-Salbe, selbst

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wenn sie durch Schmerzzäpfchen ergänzt wird, aus der Sicht der Medizinerinnen und Mediziner absolut unzureichend ist. […] Sie ist also nicht einmal ausreichend, um die Blutentnahme an der Ferse schmerzfrei zu gestalten« (Deutscher Bundestag, 2012e, S. 26079). Golze machte dabei auch den Zusammenhang zwischen effektiver Schmerzbehandlung und ärztlicher Qualifikation deutlich: »Ein Nichtarzt hat gar nicht die gleichen Möglichkeiten wie ein Arzt: Er darf gar keine wirklich wirksame Anästhesie vornehmen; das verbietet ihm das Arzneimittelgesetz. Die Rechtfertigung: ›Wir wollen ja auch, dass die Beschneidung nach den Regeln der ärztlichen Kunst vorgenommen wird‹, ist also nicht haltbar; denn Nichtärzte dürfen gar nicht handeln, wie ein Arzt es darf« (Deutscher Bundestag, 2012e, S. 26079). Der Deutsche Ethikrat, so Diana Golze, habe eine qualifizierte Schmerzbehandlung gefordert. »An diesem Punkt bleibt der Gesetzentwurf der Bundesregierung deutlich hinter den Vorgaben des Deutschen Ethikrates zurück« (Deutscher Bundestag, 2012e, S. 26079). Die Kinderrechte, so das Fazit der Linken-Abgeordneten, hätten in den letzten Jahrzehnten eine deutliche Aufwertung erfahren: »Aber ich kann mich doch nicht glaubhaft für das Recht des Kindes auf Schutz, Förderung und Beteiligung sowie für die Schaffung kindgerechter Lebensverhältnisse einsetzen, wenn ich gleichzeitig sage: Die Rechte des Kindes hören dort auf, wo Religion anfängt« (Deutscher Bundestag, 2012e, S. 26079). Für eine Minderheit in der Linken-Fraktion, die den Regierungsentwurf unterstützte, generalisierte Lukrezia Jochimsen: »Das Zusammenleben mit der jüdischen und muslimischen Minderheit in unserem Land ist nach wie vor nicht selbstverständlich und frei von Ängsten. Ich erachte es als Aufgabe von uns Parlamentariern, gerade im Mehrheit-Minderheiten-Verhältnis hierzulande Rechtssicherheit und Schutz zu schaffen, anstatt Verbote aufzustellen« (Deutscher Bundestag, 2012e, S. 26086). Für Bündnis 90/Die Grünen stellte Renate Künast zunächst nochmal fest: »Beschneidungen erfüllen den Tatbestand der Körperverletzung. Jetzt ist die Frage, ob es Rechtfertigungsgründe gibt – ähnlich wie im Fall von Notwehr und Notstand –, aufgrund derer man von einer strafrechtlichen Verfolgung absieht.« Sie wolle jedoch nicht, »dass im Normalfall nach einer Beschneidung am Ende Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht stehen« (Deutscher Bundestag, 2012e, S. 26080). Künast erklärte ihre Zustimmung zum Regierungsentwurf damit, »dass Eltern vor dem Hintergrund der elterlichen Sorge und der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft bei gesunden Kindern und bei Einhaltung der Hygiene verantwortungsvoll zu dem Ergebnis kommen können, einer Beschnei-

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dung zuzustimmen. Ich würde mir wünschen, die Religion würde sich erneuern. Aber das entscheide nicht ich, sondern das entscheidet die Religion von innen« (Deutscher Bundestag, 2012e, S. 26081). Marieluise Beck (Bündnis 90/Die Grünen) verwies in einer Zwischenfrage an den ebenfalls in der Debatte sprechenden Berliner Justizsenator Thomas Heilmann – er hatte betont, »dass mit diesem Gesetzentwurf das Zeichen gesetzt werden soll, dass jüdisches und muslimisches Leben in unserem Land gewollt und gewünscht ist« – auf den Zusammenhang mit der Integrationsdebatte und bat darum, diese Aussage dahin gehend zu erweitern, »dass jüdisches und muslimisches Leben auch zu den Bedingungen der Juden und Muslime gewünscht ist und nicht nur zu unseren Bedingungen« (Deutscher Bundestag, 2012e, S. 26091). Dagegen betonte ihre Fraktionskollegin Katja Keul: »Niemand will muslimischen oder jüdischen Eltern die Staatsanwaltschaft ins Haus schicken. Der von der Mehrheit des Hauses vorgelegte Gesetzentwurf ist allerdings schlicht nicht geeignet, die von ihm selbst anvisierte und für nötig befundene Rechtsklarheit herzustellen« (Deutscher Bundestag, 2012e, S. 26087). Für die Befürworterinnen und Befürworter des Alternativentwurfs habe auch ich das Wort ergriffen. Ich habe darauf aufmerksam gemacht, dass für das Aufwachsen von Kindern zuallererst die Eltern zuständig sind: »Nach Art. 6 Abs. 2 des Grundgesetzes ist es ihr Recht und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht, Kinder zu erziehen. Das heißt auch, sie in Werten und für Werte zu erziehen, und dazu gehört die religiöse Erziehung ebenfalls. Es ist also ihre Pflicht, Kinder auf das Leben vorzubereiten und ihnen zu helfen, eigenständige Persönlichkeiten und verantwortungsbewusste Mitglieder unserer Gesellschaft zu werden. Da hat sich der Staat nicht einzumischen; aber dieses Recht der Eltern ist ein Verantwortungsrecht und kein Verfügungsrecht. Der Staat hat Kinder als Rechtssubjekte zu respektieren, als Inhaber von Grundrechten.« Ich habe darauf hingewiesen, dass der Deutsche Bundestag im Zusammenhang mit der gewaltfreien Erziehung dem Elternrecht Grenzen gesetzt hat (Deutscher Bundestag, 2012e, S. 26083). Mehrfach haben wir uns in der Kinderkommission des Deutschen Bundestags beim Thema »Kindergesundheit« mit den Erkenntnissen der Medizin der letzten dreißig Jahre auseinandergesetzt. Dies habe ich auch in dieser Debatte nochmals deutlich gemacht und daran erinnert, dass es eindeutige Befunde sowohl hinsichtlich der erheblichen Schmerzen für die betroffenen Säuglinge und Kleinkinder als auch die Folgen und Risiken einer Beschneidung gibt: »Dies haben die Fachverbände, die in diesem Bereich die Berufenen sind, getan. Sie haben sich eindeutig und klar dahin gehend geäußert, dass die Beschneidung ein sehr risikobehafteter, ein irreversibler und ein mit lebenslangen Folgen

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behafteter Eingriff ist. […] Wenn Sie zu dieser Erkenntnis kommen, müssen Sie dafür sorgen, dass wir, weil der Eingriff so gravierend ist, die Einsicht und die Einwilligungsfähigkeit des Betroffenen brauchen. Dies haben wir mit unserem Alternativgesetzentwurf gemacht. Wir gehen aufgrund der Erkenntnisse der medizinischen Forschung davon aus, dass der Eingriff so gravierend ist, dass die Einsichtsfähigkeit von Kindern vorausgesetzt werden muss. Das muss generell gelten. Der Gesetzgeber kann nicht individuell entscheiden. Deshalb wollen wir bis zum 14. Lebensjahr der Kinder warten und sie dann fragen, ob sie mit dem Eingriff einverstanden sind (Deutscher Bundestag, 2012e, S. 26083). Unterbrochen wurde mein Beitrag durch eine Zwischenfrage von Volker Beck (Bündnis 90/Die Grünen), der unter Bezugnahme auf eine Aussage aus dem Bundesjustizministerium argwöhnte, gemäß dem Alternativentwurf sei »die ganze Palette familienrichterlicher Interventionen« denkbar, und mir die Frage stellte, ob »man dieses Kind noch bei den Eltern lassen [könne], die es der Gefährdung einer Beschneidung aussetzen?« Ich habe darauf erwidert, dass die Konsequenzen dieselben seien wie beim Regierungsentwurf: »Wenn die Fristen nicht eingehalten werden und jemand ohne entsprechende medizinische Ausbildung den Eingriff vornimmt, wenn also jemand nach der Frist, die heute eventuell beschlossen wird – nach dem Regierungsentwurf beträgt sie sechs Monate –, einen solchen Eingriff nicht von einem Arzt durchführen lässt, ist der Vorgang ebenfalls strafrechtlich bewehrt. Es ist ebenfalls strafrechtlich bewehrt, wenn jemand eine Beschneidung vornimmt und ein Kind dabei verletzt; denn damit hat er eine Körperverletzung begangen, auch wenn er eigentlich ganz legal gehandelt hat« (Deutscher Bundestag, 2012e, S. 26084). Deutlich gemacht habe ich aber auch, dass ich möchte, dass die Beschneidung von Kinderchirurgen durchgeführt wird – gemäß des interfraktionellen Antrags »Kindergesundheit« von 2002, wonach Kinder von Kinderärzten behandelt werden sollen und nicht von anderen Medizinern. Dies muss auch für einen erheblichen chirurgischen Eingriff bei Säuglingen und Kleinstkindern wie die Beschneidung gelten – ganz gleich, aus welchem Grund sie durchgeführt wird. In der abschließenden Abstimmung erhielt der fraktionsübergreifende Alternativentwurf 91 Ja- und 461 Nein-Stimmen bei 31 Enthaltungen. Nachdem die eingebrachten Änderungsanträge ebenfalls mehrheitlich abgelehnt worden waren, sprachen sich 434 Abgeordnete für den Gesetzentwurf der Bundesregierung aus, 100 Abgeordnete lehnten ihn ab und 46 enthielten sich.

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Herausforderungen für Politik und Wissenschaft: Unvoreingenommenes Monitoring und begleitende Forschung Die Befürworterinnen und Befürworter der somit am 12. 12. 2012 beschlossenen Regelung behaupten, dass die jetzt gefundene Lösung das Resultat einer Abwägung der nachfolgenden Grundrechte und Rechte sei, und diese – quasi erwartungs- und wunschgemäß – eine Zulässigkeit der nichtmedizinischen Beschneidung von Jungen aus religiösen Gründen ergeben hätten. Auch nach intensiver Diskussion halte ich diese Position für nicht haltbar, da für mich – das Elternrecht gemäß Art. 6 GG in Verbindung mit § 1626 und § 1631 BGB bereits dort seine Grenzen findet, wo das Kindeswohl betroffen ist. Daraus folgt, dass eine körperliche Schädigung eines Kindes nicht zulässig ist, – die Freiheit der Religionsausübung nach Art. 4 und 140 GG ihre Grenzen im Wächteramt des Staates gemäß Art. 2 und 6 GG sowie Art. 24, Abs. 3 UNKRK findet – und schließlich mit der Rücknahme der Vorbehalte die UN-Kinderrechtskonvention vollgültiges inländisches Recht darstellt. Sie erlaubt keinerlei Eingriff in die körperliche Unversehrtheit von Kindern. Auch wenn das Abstimmungsergebnis veranschaulicht hat, dass eine deutliche Mehrheit der Bundestagsabgeordneten in einer Rechtsgüterabwägung der Religionsausübung der Eltern gegenüber einer stringenten Umsetzung der Kinderrechte den Vorzug gibt, sollte doch auch die sehr bewusste Haltung der fraktionsübergreifenden Minderheit nun dazu führen, dass die Umsetzung und Auswirkung der Novelle sehr aufmerksam begleitet werden. Ich erwarte nichts weniger, als dass eine Kontrolle über die medizinische Qualität von Beschneidungen in Deutschland, über Komplikationsquoten, Nebenwirkungen und Spätfolgen stattfindet. Nur mit einem solchen Monitoring, das durch ärztliche Meldepflichten ergänzt werden muss, kann sichergestellt werden, dass letztlich auch die Geeignetheit der nun getroffenen Regelungen überprüft wird. Das jetzige Gesetz sieht dies nicht zwingend vor, weshalb es auch in dem Rahmen der weiterführenden gesellschaftlichen Diskussion Aufgabe der Wissenschaft sein sollte, darauf ein waches Auge zu haben und das Thema in der laufenden Forschung zu berücksichtigen. Hier sind besonders die Berichte der Betroffenen selbst über erlittene Komplikationen und gesundheitliche, seelische oder sexuelle Beeinträchtigungen von großer Bedeutung. Erst mit weiteren Befunden wird man jenseits aller Pauschalierungen beurteilen können, ob das neue Gesetz sinnvoll ist oder ob man entsprechend nach-

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arbeiten muss. Der im Herbst 2013 zu wählende 18. Deutsche Bundestag steht in dieser Frage vor der großen Aufgabe, nach den Aufgeregtheiten und Pauschalierungen des Jahres 2012 zurückzufinden zu einer sachgerechten und rechtssystematisch klaren Analyse der Beschneidungsproblematik. Diese hat auch den Teilaspekt zu klären, weshalb es zwar erst in jüngster Zeit Anträge fast aller Fraktionen zur Strafverschärfung der Genitalverstümmelung bei Mädchen gab, Eingriffe im Genitalbereich bei Jungen jedoch ohne Berücksichtigung neurologischer und medizinischer Erkenntnisse hinsichtlich der Bedeutung des entfernten Gewebes straffrei sein sollen. Obwohl die neue Gesetzeslage von zahlreichen Seiten kritisiert wird, ist die Initiative für eine Korrektur des Gesetzes auf dem Wege einer Normenkontrollklage vor dem Bundesverfassungsgericht in absehbarer Zeit eher unwahrscheinlich, da die hierfür notwendige Anzahl an Unterzeichner/-innen – ein Viertel der Mitglieder des Bundestags wäre notwendig – mit Blick auf die Abstimmungsverhältnisse zu den Gesetzesvorhaben wohl kaum zusammenkommen wird. Realistischer erscheint meines Erachtens der Weg über die Klage von Betroffenen, zumal der im Kinderschutz aktive Verein »MOGiS e. V. – Eine Stimme für Betroffene« sich ebenfalls des Themas annimmt und auch Aspekte der Beschneidungspraxis nach Verabschiedung des neuen Gesetzes aufgreift. Mehrere rezente Strafrechtskommentare sehen dafür gute Gründe: So stellt Dr. Ralf Eschelbach, Richter am Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe, fest: »Der Gesetzgeber selbst hat durch den Eingriff in unverfügbare Rechtspositionen (Art 1 Abs 1 GG), namentlich das Recht der sexuellen Selbstbestimmung und der ungestörten kindlichen Sexual- und Gesamtentwicklung, Verfassungsrecht verletzt (Art 79 Abs 3 GG), weshalb § 1631d BGB, der zudem auch Art 3 Abs 2 GG nicht beachtet, offensichtlich verfassungswidrig ist« (Eschelbach, 2013). Der Bonner Strafrechtsprofessor Dr. Hans-Ullrich Paeffgen begründet dies unter anderem damit, dass massive, weitgehend irreversible Eingriffe in die körperliche Integrität nicht durch schlichte Zustimmung der Erziehungsberichtigten legitimiert werden können: »Es erscheint mehr als fraglich, ob das Recht zur religiösen ›Fremdbestimmung‹ gegenüber den eigenen Kindern so weit gehen darf, das Kind einem, wenn auch ganz geringen, aber nicht wegzuleugnenden Risiko nachhaltiger Schäden auszusetzen, um es in die eigene Religionsgemeinschaft einzuführen. […] Deswegen ist auch der Minimalkonsens, auf den sich der Deutsche Ethikrat verständigt hat, von einer sachgerechten Problemlösung weit entfernt. Kurz: In der Sache ist die medizinisch nicht indizierte Zirkumzision eine nicht rechtfertigungsfähige Körperverletzung« (Paeffgen, 2013). Auch auf internationaler Ebene wird die Diskussion weitergehen. Im Ausschuss des Europarats für Soziales, Gesundheit und nachhaltige Entwicklung

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befinden sich derzeit ein Bericht und ein Entschließungsentwurf zur körperlichen Unversehrtheit von Kindern in Beratung. Generell ist darauf zu achten, dass bestehende Gesetze und internationale Übereinkommen umgesetzt und eingehalten werden, dass diese Basis unseres Rechtsstaates allen mit Kindern betrauten Personen bekannt gemacht wird, eine gesamtgesellschaftliche Diskussion und Bewusstseinsbildung auf Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie (sie sind die elementaren Prinzipien unserer Gesellschaft) anzustoßen und zu befördern. Schließlich gilt es, diese Diskussion auch mit allen gesellschaftlichen und religiösen Gruppen in gegenseitigem Respekt zu führen. Dabei würde es sicher helfen den Blick zu weiten auf die Frage, inwiefern die körperliche Unversehrtheit und die Selbstbestimmung von Kindern, zum Beispiel auch im Hinblick auf die Festlegung des Geschlechts, ohne Einwilligung von Kindern getroffen werden kann. Wenn es gelingt, dass das Recht auch in diesen Fragen einen achtsameren und respektvolleren Umgang der Eltern mit ihren Kindern vorsieht, könnte viel individuelles Leid in den späteren Lebensjahren der Kinder vermieden werden. Literatur Akin, S. (o. J.). Bund der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland e. V. (BDAJ). Mein Körper! – Meine Entscheidung? Zugriff am 24. 06. 2013 unter http://www.aagb.net/index.php?option= com_content&view=article&id=526&catid=61 Benassi, G. (2012). Kinderrechte mit Kindeswohlvorrang ins Grundgesetz. Zugriff am 24. 06. 2013 unter http://www.national-coalition.de/pdf/1_12_2011/KRK.pdf BVKJ – Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (2012a). Rituelle Beschneidungen bei Minderjährigen – Kinder- und Jugendärzte fordern: Allein das Recht eines Kindes auf körperliche Unversehrtheit zählt. Zugriff am 12. 08. 2013 unter http://www.kinderaerzte-im-netz.de/bvkj/ pressezentrum/show.php3?id=392&nodeid=105 BVKJ – Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (2012b). Verbände und Experten fordern Moratorium und Einrichtung eines Runden Tisches in der Diskussion um Beschneidungen von einwilligungsunfähigen Jungen. Zugriff am 24. 06. 2013 unter http://www.kinderaerzteim-netz.de/bvkj/pressezentrum/show.php3?id=403&nodeid=105 Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin e. V. (2012). Stellungnahme zur Beschneidung von minderjährigen Jungen. Zugriff am 24. 06. 2013 unter http://dakj.de/media/stellungnahmen/ ethische-fragen/2012_Stellungnahme_Beschneidung.pdf Deutscher Bundestag (2012a). Drucksache 17/11295. Entwurf eines Gesetzes über den Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes. Zugriff am 12. 08. 2013 unter http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/112/1711295.pdf Deutscher Bundestag (2012b). Drucksache 17/10331. Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP. Rechtliche Regelung der Beschneidung minderjähriger Jungen. Zugriff am 12. 08. 2013 unter http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/103/1710331.pdf Deutscher Bundestag (2012c). Plenarprotokoll 17/189. Stenografischer Bericht. 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. 07. 2012. Zugriff am 12. 08. 2013 unter http://dip21.bundestag.de/dip21/ btp/17/17189.pdf

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Das Recht, alles zu glauben – nicht aber, alles zu tun

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Deutscher Bundestag (2012d). Drucksache 17/11430. Gesetzentwurf. Entwurf eines Gesetzes über den Umfang der Personensorge und die Rechte des männlichen Kindes bei einer Beschneidung. Zugriff am 12. 08. 2013 unter http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/114/1711430.pdf Deutscher Bundestag (2012e). Plenarprotokoll 17/213. Stenografischer Bericht. 213. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2012. Zugriff am 12. 08. 2013 unter http://dip21.bundestag.de/ dip21/btp/17/17213.pdf Eschelbach, R. (2013). In B. von Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar StGB. Rn 35–35.8 (08. 03. 2013, Edition 22). München: C. H. Beck. Jews Against Circumcision (o. J.). Zugriff am 03. 12. 2013 unter http://www.jewsagainstcircumcision.org/ Kirchner, R. (2013). Beschneidung. Kinderärzte streiten über den Sinn des Eingriffs. Der Tagesspiegel vom 19. 03. 2013. Zugriff am 24. 06. 2013 unter http://www.tagesspiegel.de/wissen/beschneidungkinderaerzte-streiten-ueber-den-sinn-des-eingriffs/7947084.html National Coalition (2012). National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland. Sondernewsletter 5/2012. Zugriff am 24. 06. 2013 unter http://www.nationalcoalition.de/newsletter/1342685184.html Paeffgen, H.-U. (2013). In U. Kindhäuser, U. Neumann, H.-U. Paeffgen (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Rn 103a–103d (4. Aufl.). Baden-Baden: Nomos. Quranic Path (o. J.). Circumcision – Does the Qur’an approve it? Zugriff am 24. 06. 2013 unter http:// www.quranicpath.com/misconceptions/circumcision.html Rupprecht, M. (2012). Beschneidung missachtet Kinderrechte. Zugriff am 03. 12. 2013 unter http:// www.marlene-rupprecht.de/index.php?nr=45654 Schonfeld, V. S. (2012). It’s a boy! Großbritannien, Auszüge. Zugriff am 24. 06. 2013 unter http:// www.youtube.com/watch?v=uLgygqqWYOI

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Die Autorinnnen und Autoren

Matthias Franz, Prof. Dr., Professor für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Psychoanalytiker und Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, ist stellvertretender Direktor des Klinischen Institutes für Psychosomatische Medizin am Universitätsklinikum Düsseldorf. Andreas Gotzmann, Prof. Dr., Gründungsprofessor des Lehrstuhls für Judaistik und Religionswissenschaft der Universität Erfurt. Forschungsschwerpunkte: deutsch-jüdische Geschichte der Frühen Neuzeit und der Moderne, insbesondere grundlegende kulturgeschichtliche Aspekte, Fragen der allgemeinen Theoriebildung, sowie jüdische Rechts- und Religionsgeschichte. Rolf Dietrich Herzberg, Prof. Dr., geboren 1938 in Wuppertal, Studium der Rechtswissenschaft ab 1957, Staatsexamina 1962 und 1966, Promotion und Habilitation 1967 und 1971 an der Universität zu Köln, seit 1974 o. Professor an der RuhrUniversität Bochum, seit 2003 emeritiert. Adriaan de Klerk, Drs. (1936–2010), Studium der Sozialpsychologie und Klinischen Psychologie in Amsterdam, Weiterbildung zum Psychoanalytiker und Familientherapeuten. Arbeit in Riagg (regionale instelling ambulante geestelijke gesondheitssorg) und zuletzt in eigener Praxis in Amstelveen. Christoph Kupferschmid, Dr. med., Kinder- und Jugendarzt, Kinderkardiologe, Ausbildung in Hypnotherapie. Seit 26 Jahren in der ambulanten pädiatrischen Versorgung in einer hausärztlich-fachärztlichen Schwerpunktpraxis. Chefredakteur der Zeitschrift des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte e. V. »Kinder- und Jugendarzt«, Mitglied in der Kommission für ethische Fragen der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin.

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Die Autorinnnen und Autoren

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Volker C. H. von Loewenich, Prof. Dr., Studium der Humanmedizin in Erlangen und Wien. Staatsexamen 1960, Promotion 1961, bis 1966 wissenschaftlicher Assistent am physiologischen Institut der Universität Erlangen-Nürnberg. Ab 1966 Universitäts-Kinderklinik Frankfurt a. M., Facharzt 1969. Ab 1969 Aufbau und ab 1972 Leitung einer Abteilung für Neonatologie. 1973 Univ.-Professor. Gründungsmitglied der Deutsche Gesellschaft für Perinatale Medizin und der Gesellschaft für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin e. V., ab 1981 zusätzlich Medizin-Ethik. Sprecher der Kommission für ethische Fragen der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ). Friedrich Moll, Dr. med., M. A. FEBU ist Facharzt für Urologie bei den Kliniken der Stadt Köln gGmbH und hat einen Lehrauftrag für die Geschichte der Urologischen Praxis am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universität Ulm. Er ist Kurator des Museums und Archivs der Deutschen Gesellschaft für Urologie, Düsseldorf, und Leiter des Arbeitskreises Geschichte der Akademie Deutscher Urologen. Holm Putzke, Univ.-Prof. Dr., LL.M. (Krakau), ist Inhaber einer Professur für Strafrecht an der Universität Passau. Als Sachverständiger war er u. a. tätig für die EU, die OSZE und den Deutschen Bundestag. Zu seinen Forschungs- und Tätigkeitsbereichen gehören neben dem Straf- und Strafprozessrecht das Medizin-, Wirtschafts- und Jugendstrafrecht. Zudem ist er als Strafverteidiger tätig. Marlene Rupprecht, MdB seit 1996, Mitglied der Kinderkommission des Deutschen Bundestags und Kinderbeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion sowie 2012/2013 erste Generalberichterstatterin der Parlamentarischen Versammlung des Europarats für Kinder, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den Themen Kinderrechte und Kindergesundheit. Mattias Schäfer, Dr. med., geboren 1977, studierte von 1998 bis 2005 Medizin an der Universität Heidelberg. Dort promovierte er 2006 auch zum Dr. med. Nach einer allgemeinchirurgischen Basisweiterbildung in der Schweiz durchlief er ab 2007 die Weiterbildung zum Facharzt für Kinderchirurgie an der Cnopf ’schen Kinderklinik in Nürnberg bei Dr. H. J. Beyer. Derzeit arbeitet er dort als Facharzt mit Schwerpunkt Kinderurologie bei Herrn Prof. Dr. Maximilian Stehr. Jörg Scheinfeld, Privatdozent Dr. iur., lehrt Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Mainz. Er hat unter anderem die Lehrbefugnis in den Fächern Medizinstrafrecht und Rechtsphilosophie.

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Die Autorinnnen und Autoren

Irmingard Schewe-Gerigk war von 1994 bis 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages, Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen Bundestagsfraktion und frauen- und familienpolitische Sprecherin, vor ihrem Eintritt in den Deutschen Bundestag war sie als Regierungsangestellte im Ministerium für die Gleichstellung von Frau und Mann, NRW, tätig. Seit 2009 ist sie Vorstandsvorsitzende der Frauenrechtsorganisation »Terre des Femmes«. Jérôme Segal, Dr. phil., Dipl.-Ing., Ausbildung zum Diplomingenieur in einer französischen »Grande école« und Studium der Philosophie und Geschichte. Assistenzprofessor an der Universität Paris-Sorbonne, seit 2011 Koordinator des Doktoratskollegs Naturwissenschaft im historischen, philosophischen und kulturellen Kontext an der Universität Wien. Seit 2004 Wissenschaftsattaché der französischen Botschaft, Lehr- und Forschungstätigkeit an zwei Wiener Universitäten und am Interdisciplinary Centre for Comparative Research in the Social Sciences (http://jerome-segal.de). Maximilian Stehr, Prof. Dr., Chefarzt der Abteilung für Kinderchirurgie und Kinderurologie, Cnopf ’sche Kinderklinik Nürnberg, 1. Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Kinderurologie der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie (DGKCH) und Fellow of the European Academy of Paediatric Urology (FEAPU). Josef Tutsch, geboren 1950. Studium der Germanistik und der Philosophie. In Berlin als freier Journalist tätig, in der Hauptsache für das Internetportal www. scienzz.com. Arbeitsschwerpunkte: Ideen- und Kulturgeschichte.

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