Die Übermacht des Seins: Heideggers Auslegung des Bezuges von Mensch und Natur und Hölderlins Dichtung des Heiligen [1 ed.] 9783428479023, 9783428079025

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Die Übermacht des Seins: Heideggers Auslegung des Bezuges von Mensch und Natur und Hölderlins Dichtung des Heiligen [1 ed.]
 9783428479023, 9783428079025

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Philosophische Schriften Band 10

Die Übermacht des Seins Heideggers Auslegung des Bezuges von Mensch und Natur und Hölderlins Dichtung des Heiligen Von

Stephanie Bohlen

Duncker & Humblot · Berlin

STEPHANIE BOHLEN

Die Übermacht des Seins

Philosophische Schriften Band 10

.. Die Ubermacht des Seins Heideggers Auslegung des Bezuges von Mensch und Natur und Hölderlins Dichtung des Heiligen

Von

Stephanie Bohlen

DUßcker & Humblot . Berliß

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Wissenschaftlichen Gesellschaft Freiburg

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Bohlen, Stephanie: Die Übermacht des Seins: Heideggers Auslegung des Bezuges von Mensch und Natur und Hölderlins Dichtung des Heiligen / von Stephanie Bohlen. - Berlin : Duncker und Humblot, 1993 (philosophische Schriften; Bd. 10) Zug\.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1993 ISBN 3-428-07902-7 NE:GT

D25 Alle Rechte vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 3-428-07902-7

Inhaltsverzeichnis A. Vorbereitender Teil

I.

Einleitung

11

1. EinjUhrung in die Frage nach der Natur . . . . . . . . .

11

2. Zur Rezeption Heideggers in der katholischen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . ..

17

3. Zum Gedankengang der vorgelegten Erörterung

24

11. Die Geschichte der metaphysischen Auslegung von Sein und Natur . . . . . . . . . .

28

..................... .

28

1. Der Rückgang in die Geschichte der Metaphysik

2. Die metaphysische Auslegung des Seins auf Beständigkeit hin

28

a) Die Beständigkeit des Erscheinenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28

b) Die Beständigkeit des Gescha ffenen

31

c) Die Beständigkeit des Vorgestellten

34

d) Die Beständigkeit des Bestands

37

3. Die Frag-würdigkeit der metaphysischen Auslegung des Seins . . . . . . . . . . . . . . III. Die dichterische und denkerische Grundstellung Hölderlins

43

...............

48

1. Heideggers Denken und die Dichtung Hölderlins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

2. Hölderlins Geschichtsdenken

50

a) Hölderlins Aufklärungskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

b) Der Gang der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

........ .

60

d) "Der Ister": Dichtung des Wesens der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

68

c) "Germanien": Dichtung des geschichtlichen Wesens der Deutschen

.................................. .

76

a) "Wie wenn am Feiertage ... ": Dichtung des Heiligen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

b) Hölderlins Kritik an Fichtes Grundstellung

84

3. Hölderlins Seinsverständnis

c) Schönheit und intellektuale Anschauung

....................... .

89

6

Inhaltsverzeichnis d) Die "nothwendige Willkür des Zevs" .

92

e) "Natur, in der Einwirkung Geschichte"

95 97

4. Hölderlins Wesensbeslimmung der Diehlung ...

97

a) "Andenken": Dichtung des Wesens der Dichtung b) Das Wesen der Erinnerung und die Dichtung ... .

107

5. Hölderlins Auslegung des Wesens der Freiheil ..... .

109

a) "Der Rhein": Dichtung des Wesens der Freiheit . . . . . . .

109

b) Das Streben des Menschen nach Freiheit

....... .

119

c) Die Freiheit des Menschen und die Faktizität der Natur

122

6. "Heimkunft/An die Ve/Wandlen": Feier des Seins .... .

124

7. Hölderlins Diehlung und die Nol seiner Zeil . . . . . . . . . . . .

134

B. Hauptteil I.

Vom ersten zum anderen Anfang der Geschichte ..... .

139

1. Die Seinsvergessenheil der Melaphysik

139 143

2. Dichlen und Denken in der Zeil des Übergangs . .

145

4. Von der Fundamemalomologie zum seinsgeschiehllichen Denken.

147

............. .

148

3. Von der Leiifrage der Melaphysik zur Grnndfrage des Denkens 5. Vorgriff: Der andere Anfang des Denkens

11. Die fundamentalontologische Ausarbeitung der Seinsfrage .... . ...... 1. Der Ansalz der Fundamemalomologie Heideggers . .

152 152

a) Zum Gedankengang von "Sein und Zeit"

152

b) Zur erneuten Entfaltung der Seinsfrage .

154

2. Die Übetwindung der lranszendenlalen Subjekliviläl ...

157

a) Intentionalität als Grundhaltung des Daseins . . . . . . .

157

b) Die Fundierung der Intentionalität in der Transzendenz

160

c) Transzendenz und Zeitlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . .

161

d) Transzendenz und Selbstheit . . . .

166

e) Die Abgriindigkeit der Transzendenz ..

169

3. Die Fundamenlalanalyse des Daseins und die Frage nach der Elhik

171

a) Transzendenz und Freiheit des Daseins . . . . . . . . . . . . .

171

b) Sprache: Bekundung der Einheit von Freiheit und Wahrheit

174

Inhaltsverzeichnis

7

c) Von der Fundamentalontologiezur Metontologie

180

4. Der Ansatz der Gottesfrage im Kontext der Fundamentalontologie

184

a) Das Fundament der ursprünglichen Erfahrung von Natur

184

b) Heideggers Interpretation des mythischen Daseins ...

193

c) Die mythische Erfahrung des Seins und das Heilige ..

197

d) Die mythische Erfahrung des Seins und das Göttliche .

198

III. Zur Kehre des Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

205

1. Die Kehre: Umkehr des Ganzen und Einkehr in den Grund

205

2. Von der Gewoifenheit des Daseins zum Wuif des Seins

208

3. Von der Transzendenz des Daseins zum Ereignis

213

4. Von der Geschichtlichkeit des Daseins zur Epochalität des Seins

216

IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage .

220

1. Das Wesen des Seins und die Dichtung .

220

a) Die Kehre im Wesen der Dichtung ...

220

b) Die Offenbarung des Seins in der Grundstimmung der Dichtung

223

c) Die Zeitigung ursprünglicher Zeit in der Grundstimmung der Dichtung

228

d) Die Grundstimmung der Dichtung des Übergangs

237

e) Die Grundstimmung des übergänglichen Denkens

240

2. Der seinsgeschichtliche Entwllif zukünftigen Menschseins .

246

a) Die Fragestellung der Vorlesung vom Wintersemester 1934/35

246

b) Die Wesung des Seins und der Wesenswandel des Menschen ..

251

c) Die Geschicklichkeit des Seins und die Geschichte des Menschen

255

d) Hölderlins Dichtung geschicklichen Daseins . . . . . . .

261

3. Zur seinsgeschichtlichen Entfaltung des Gottesgedankens

266

a) Der Ansatz der seinsgeschichtlichen Entfaltung des Gottesgedankens

266

b) Der Anspruch der Götter und die Sprache des Menschen

271

c) Die Geschichte: Spur des "letzten Gottes"

276

4. Die Wesung des Seins . . . . . . . . . . . . . .

280

a) Von der Frage nach dem Apriori zum Denken des Ursprungs ..

280

b) Das Ursprungsgeschehen schlechthin: Fügung der Fuge des Seins.

287

c) Das Ursprungsgeschehenund die Erfahrung des Heiligen

291

d) Die Fuge des Seins und das Gefiige des Seienden

297

8

Inhaltsverzeichnis 304

e) Die Fuge des Seins und das Erfragen der Zerklüftung . . . . . . . ... .

308

g) Die Kluft von Erde und Welt im Sein überhaupt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

309

5. Hälderlins Dichtung und die anfängliche Eifahrung des Seins . . . . . . . . . . . . .

314

a) Die "vaterländische Wendung" Hölderlins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

314

b) Heideggers Rückgang in den Anfang der Geschichte

320

f) Die Kluft von Entwurf und Geworfenheit im Sein des Daseins

c) Die Nähe der Dichtung Hölderlins zu der des Anfangs

V.

................

325

d) Der Nachklang des anfänglichen Denkens in Aristoteles' "Physik" . . . . . . . . .

338

e) Heraklits Denken des Seins und Hölderlins Sage des Heiligen . . . . . . . . . . .

343

Dichten und Denken des Übermächtigen

354

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ............

371

Siglen verzeichnis A. Schriften Heideggers GA

Martin Heidegger Gesamtausgabe. Ausgabe letzter Hand. FrankfurtIM . 1976ff. (Für die Aufschlüsselung der einzelnen Bände vgl. das Literaturverzeichnis)

EHD

Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. 5., durchges. Aufl., Frankfurt/M. 1981.

EiM

Einfiihrung in die Metaphysik. 4., unveränd. Aufl., Tübingen 1976.

HW

Holzwege. 6., durchges. Aufl., Frankfurt/M. 1980.

ID

Identität und Differenz. 7. Aufl., Pfullingen 1982.

NI,II

Nietzsche. 2. Bde. Pfullingen 1961.

SdD

Zur Sache des Denkens. 3. Aufl., Tübingen 1988.

SpG

Spiegel-Gespräch mit Martin Heidegger am 23.9.1966. In: Antwort. Martin Heidegger im Gespräch. Hg. von Günther Neske und Emil Kettering. Pfullingen 1988, 81111.

SuZ

Sein und Zeit. 15., an Hand d. Gesamtausg. durchges. Aufl. mit den Randbemerkungen aus dem Handex. des Autors im Anhang, Tübingen 1979.

UzS

Unterwegs zur Sprache. 6. Aufl., Pfullingen 1979.

VA

Vorträge und Aufsätze. 5. Aufl., Pfullingen 1985.

WG

Vom Wesen des Grundes. In: GA 9, 123-175.

WW

Vom Wesen der Wahrheit. In: GA 9, 177-202.

WhD

Was heißt Denken? 4. Aufl., Tübingen 1984.

WiM

Was ist Metaphysik? In: GA 9, 103-122.

B. Schriften Hölderlins StA

Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe. 8 Bde. Hg. von Friedrich Beißner und AdolfBeck. Stuttgart 1946-1985.

A. Vorbereitender Teil I. Einleitung 1. Einführung in die Frage nach der Natur Ernster denn je zuvor stellt sich uns heute die Frage, wie wir im Einklang mit der Natur leben können. Dabei setzen wir wie selbstverständlich voraus, daß wir nicht nur wissen, wer der Mensch ist, sondern auch, was das Wort "Natur" meint. Gleichwohl ist dieser Begriff keineswegs eindeutig. I Das Wort "Natur" geht etymologisch auf nasci, geboren werden, entstehen, wachsen, zurück. Das ihm entsprechende griechische Wort "cpV(TLC;" läßt sich auf *bheu, eine indogermanische Wurzel, die die Grundbedeutungen Wachsen, Werden und Aufgehen hat, zurückführen. 2 Von daher ist zu verstehen, daß wir unter dem "Natürlichen" auch heute noch das verstehen, was aufgeht, sich entfaltet und wieder vergeht. Dabei gebrauchen wir das Wort "Natur" in einem engeren Sinne zur Bezeichnung des Seienden, welches ist, ohne vom Menschen hervorgebracht worden zu sein. Was "Natur" bedeutet, bestimmt sich für uns hierbei in Abgrenzung zu Kultur, Technik, Sitte und Gesetz. Sprechen wir aber von "Natur" im weitesten Sinne, dann meinen wir das Seiende im Ganzen. Alles, was überhaupt ist, ist Natur - auch der Mensch. Schon im griechischen Denken findet sich das Wort "CPV(TLC;" nicht nur als Bezeichnung für das Ganze des nicht erst durch den Menschen hervorgebrachten Seienden, sondern auch als Name für das Sein. 3 Hören wir dabei das Wort "cpV(TLC;" in dem ursprünglichen griechischen Sinne, so spricht sich darin ein Seinsverständnis aus, das durch die Erfahrung der Einheit von Sein und Werden geprägt ist. Das Sein der cpv(JEL ÖVTOt besteht darin, daß sie werdend zu einer Gestalt (fiöoc;) aufgehen, in der das Werden zur Ruhe gelangt. Auf diese

I Vgl. zum folgenden den ausfiihrlichen Artikel "Natur" von F. Kau/bach. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. vonJ. Ritter/ K. Gründer. Bd. 6. Darmstadt 1984, Sp. 421-478. Vgl. B. Casper: Zur Bedeutung und zum Gebrauch des Wortes Natur im abendländischen Denken. In: Der umstrittene Naturbegriff. Person - Mensch - Sexualität in der kirchlichen Morallehre. Hg. von F. Böckle. Düsseldorf 1987, 31-44.

2

Vgl. D. Mannsperger: Physis bei Platon. Berlin 1969, 38ff.

, Vgl. dazu GA 29/30, 46f.

12

A. I. Einleitung

Gestalt hin kann dann das Seiende als das, was es ist, angesprochen werden, da es sich in ihr als es selbst bekundet solange, bis es wieder vergeht. Werden, Bestehen und Vergehen bilden jenes einheitliche Geschehen, in dem das Sein des Seienden besteht. 4 Doch schon die frühesten griechischen Denker, die von der Natur handelten, fragten nach der (jJV(1U; als der CtPX~, dem Ursprung und dem Ziel und insofern denn auch dem Wesensgesetz des Geschehens, das das Werden des Seienden bestimmt. Dabei wurde offenkundig, daß das Seiende stets zu einer Gestalt aufgeht, die ihm eigentlich immer schon zu eigen war, - einer Gestalt, die ihm "von Natur aus" zukommt. In dieser Erfahrung bereitete sich die für die Geschichte unseres Denkens entscheidende Verengung des Begriffs der Natur auf den des allem Werden voraufgehenden Wesens, des 70 7L ~" Ei"at, vor. Dadurch, daß Natur als das gedacht wurde, was das Seiende immer schon war und ist, wird die Erfahrung des Werdens als uneigentlich abgedrängt. Eigentlich ist nur das Beständige, das, was sich in allem Werden durchhält. In der Identifikation der Natur mit dem Wesenhaften, die ihrerseits auf der Trennung von eigentlich und uneigentlich Seiendem beruht, wird die Natur einerseits zum Maß der Sittlichkeit. Sittlich ist nunmehr das, was der wahren Natur des Seienden, die der Mensch nur erkennt, wenn er auf das Bleibende schaut, entspricht. Andererseits ermächtigt sich der Mensch durch die Frage nach den Wesensgesetzen des Werdens und nach dem Bleibenden, das sich in allem Werden durchhält, auch schon zu einem Ausgriff auf die Natur, die diese immer mehr seiner Herrschaft unterwirft - einer Herrschaft, die sich in unserer Zeit gegen den Menschen zu wenden droht. Platon ist der erste, der die Trennung von eigentlich und uneigentlich Seiendem, ÖPTWC; Ö" und Jl~ ö'" ausgearbeitet und dadurch die wahre Natur als Norm sittlichen HandeIns eigens begründet hat. Das Anliegen Platons wird u.a. deutlich im "Tirnaios" .5 Zu Beginn des Gesprächs ruft Sokrates die grundlegenden Eigenschaften der idealen 1rOAtC; in Erinnerung. Um sie nicht nur als Utopie, sondern in ihrer Faktizität vor Augen zu stellen, kündigt Kritias an, von der frühen Geschichte Athens zu berichten. Zuvor aber möge Timaios von der Entstehung der Welt und des Menschen erzählen. Der Schöpfungsmythos, den Timaios daraufhin vorträgt, bindet das Geschehen in der 1rOAtC; über die Frühzeit der Geschichte hinaus an die Entstehung der Welt zurück, die Platon

• Auch Mannsperger, 42, vertritt die These, die indogennanische Wurzel "bheu umfasse Sein und Werden. Diese Wurzel hat seiner Meinung nach "die Fähigkeit, das Sein in der Bewegung festzuhalten, sie antwortet auf die Frage, wie die Gegensätze Ruhe und Bewegung zusammenhängen können: in der Wirklichkeit, die in "bheu - wie auch immer - Wort geworden ist, sind heide vereint. " , PlalOn: Timaios 27c - 29d.

1. Einführung in die Frage nach der Natur

13

als Geschehen urzeitlicher Ordnung des Seienden auslegt. Indem der Mythos das Seiende im Ganzen als geordnetes darstellt, gibt er den Kontext vor, in dem die 7rOAtC; und ihre Gesetze als Teil der Ordnung des Ganzen verstanden werden können. Dabei liegt dem Mythos der Chorismos zwischen der Welt des Gewordenen und der der ewigen Ideen zugrunde. Die Ordnung des Gewordenen ist nur Abbild der Ordnung der Ideen, die das eigentliche Sein des Seienden ausmachen. Der Geschichte der Menschen voraufgehend, geht von ihr die Forderung aus, daß der Mensch im Einklang mit ihr handele. Ihr hat daher auch die Ordnung der 7rOAtC; zu entsprechen. Indem Platon also das Werden und Vergehen aus der Natur qua eigentlicher ausscheidet, begründet er die cPVUtC; als das Ideal, das den Menschen allem vorauf bindet. 6 Darin, daß die gewordene und werdende Welt als Abbild einer ewigen, idealen Ordnung verstanden wird, gründet auch die thomanische Lehre vom Naturrecht, deren Anliegen es ist, die Autonomie menschlicher Sittlichkeit theologisch zu begründen. 7 Auch sie verzichtet nicht auf die Annahme, das Ganze des Seienden sei durch bleibende Wesenseigenschaften bestimmt, an denen der Mensch sein Handeln auszurichten habe. Thomas von Aquin geht zwar durchaus davon aus, daß die Sittlichkeit der Menschen geschichtlichen Bedingungen unterworfen ist. Die "participatio legis aetemae in rationali creatura"8 muß in der Geschichte immer wieder neu aktualisiert werden. 9 Aber dadurch, daß Thomas von Aquin die Geschichtlichkeit des Menschen in den Kontext der Endlichkeit einstellt, bewahrt er die lex naturalis in ihrem Wesen doch vor der geschichtlichen Relativierung. Ihr Anspruch bleibt stets derselbe, auch wenn wir ihn nie ganz erfüllen. 1O Die Lehre vom Naturrecht, in der die normative

• Nach Mannsperger, 60, wird die LMeTOcj>OL zu legen. 6 Anband des Höhlengleichnisses, das von der Überwindung der Cxll'O/LOEVeTiO/ erzählt und vor dem stets drohenden Verlust der 1I'0/LOE!a warnt, stellt Platon anschaulich dar, wie schwer die Einkehr in die Grundhaltung des Daseins ist, in der der Mensch ständig den Blick auf das Eigentliche, das Wesenhafte richtet. Dabei steht für Platon fest, daß nur diejenigen, welche das uneigentlich Seiende auf das eigentliche hin durchschauen, auch die Geschicke der lI'OALC; im Einklang mit dem wahren Sein, der cj>VeTLC;, lenken können. 7 Die Erhebung der cj>VeTLC; zur Norm menschlichen Daseins geht somit bei Platon einher mit der Scheidung

3

Plalon: Politeia 7, 514a,2 - 517a,7.

• Vgl. zum Folgenden GA 9, 203-238. , GA 9, 221 unter Bezugnahme auf PlalDn: Politeia 6, 484c,5ff. • Plalon: Politeia 5, 473d. 7 Menschliche Gesetzgebung hat nach Plalon, Nomoi 4,716a und 10, 890d im Einklang mit der ideel1en Ordnung zu stehen. Sie ist insofern im eigentlichen Sinne von Natur aus.

30

A. 11. Die Geschichte der metaphysischen Auslegung von Sein und Natur

von eigentlich und uneigentlich Seiendem, Wesenhaftem und Unwesentlichem, und zwar derart, daß der normative Charakter der cj>U(ftr:; erst aufgrund der Scheidung als denkerisch begründet angesehen werden kann. Heideggers Auslegung des Höhlengleichnisses zufolge wird in ihm aber auch schon der Grund für die Geschichte der Metaphysik und mit ihr für die Herrschaft des Menschen über das Seiende im Ganzen gelegt. In dem platonischen Mythos wird die Geschichte der Einkehr des Menschen in das eigene Sein als Geschichte der Befreiung vom Uneigentlichen und des Freiwerdens für das Eigentliche erzählt und dabei das Eigentliche als das beständig Unverborgene bestimmt. Statt aber nach der Unverborgenheit des Unverborgenen, der aA~tJ€La, und dem Bezug des Menschen zu ihr zu fragen, geht es Platon laut Heidegger nur darum, eine Bestimmung des Wesens der ioea vorzulegen, um begründet dazu auffordern zu können, den Blick auf die EWTJ zu richten. Vor die Erfahrung der aA~tJ€La, der Unverborgenheit, in der Seiendes erscheine, dränge sich bei Platon erstmals der Gedanke der optJOTr/r:;, der rechten Ausrichtung des Blicks auf das ideelle Sein. Der Wesenswandel der Wahrheit von der aA~tJ€La zur optJOTr/r:; bringe es mit sich, daß Wahrheit seit Platon nicht mehr als Bestimmung des Seins des Seienden gelte. Als optJOTr/r:; werde sie zur Richtigkeit des Vernehmens des Seienden als einem solchen durch den Menschen. "Die Wahrheit ist nicht mehr als Unverborgenheit der Grundzug des Seins selbst, sondern sie ist, zufolge der Unterjochung unter die Idee zur Richtigkeit geworden, fortan die Auszeichnung des Erkennens des Seienden. ,,8 Das Wesen des Menschen wird entsprechend nicht mehr vom Bezug des Menschen zur Unverborgenheit des Seins her gedacht. Der Mensch wird vielmehr zu dem, der die Ideen immer schon im Blick hat, und dem es ständig darum geht, das, was im Schein der Ideen erscheint, als das, was es ist, zur Sprache zu bringen. Darauf macht Heidegger auch in der Auslegung des Wesens der 7rmOEI.a aufmerksam, welches darin bestehe, "den Menschen frei und fest zu machen für die klare Beständigkeit des Wesensblickes .• 9 Die Auslegung von Sein auf Beständigkeit hin, die Interpretation der Wahrheit als Richtigkeit und die Deutung des Menschen als des Seienden, welches das Seiende als solches zu vernehmen mächtig ist, begründen in ihrer Einheit die Geschichte des abendländischen Denkens, die Geschichte der Metaphysik. Und es wird zu bedenken sein, inwiefern sie sich auch in den kommenden Epochen durchhalten.

• GA 9,234. • GA 9,229.

2. Die metaphysische Auslegung des Seins auf Beständigkeit hin

31

Folgt man der Interpretation Heideggers, dann bestimmt Platon das Wesen der Ideen als "Schein- und Sichtsamkeit".10 Als solche ermöglichen sie das Erscheinen des uneigentlich Seienden, welches in ihrem Schein sichtbar wird. Und da Sichtbarkeit, Unverborgenheit und Sein griechisch gedacht eins sind, ermöglicht das eigentlich Seiende, die Ideen, es dem uneigentlich Seienden zu sein. Daß die Ermöglichung von Sein von den Ideen ausgeht, gilt insbesondere für die Idee aller Ideen, ~ Toii oratJoii iOea, die Platon auch "TO tJ€iop", das Göttliche, nennt. ll In ihr ist nicht nur die Wesenhaftigkeit aller Ideen gegeben, sondern sie ist als solche auch der Ursprung des Wesens aller Ideen, sofern die Scheinsamkeit der Ideen von ihrem Schein her aufscheint. Die Ermöglichung des Erscheinens der p.~ öP7a durch die Scheinsamkeit der Ideen, welche ihrerseits durch den Schein des Göttlichen ermöglicht ist, darf nach Heidegger nicht als Verursachung von Sein gedacht werden. Wohl werde durch Platons Unterscheidung von eigentlich und uneigentlich Seiendem eigens aufflillig, daß auch die p.~ öpm sind, und daß ihr Sein nicht fraglos ist. Darin bahne sich die Unterscheidung von Daßsein und Wassein an,12 die es ernötige, daß im Gefolge Platons nach dem Grund oder der Ursache, durch die das Seiende begründet sei, gefragt werde. Doch erst im Mittelalter werde das Seiende im Ganzen als durch das Göttliche verursacht gedacht. 13 b) Die Beständigkeit des Geschaffenen Obwohl der Ansatz Platons in der Grundhaltung des thomanischen Denkens noch deutlich erkennbar ist, kommt es in ihm doch zu einer grundlegend anderen Deutung des Bezugs des Menschen zur Natur und zwar dadurch, daß die Auslegung des Seins im Kontext des Glaubens an Gott, den Schöpfer, erfolgt. Die im Schöpfungsglauben begründete Interpretation des Seins wurde von Heidegger mehrfach kritisiert. Für ihn steht fest, daß der Glaube an Gott, den Schöpfer, nicht nur die Frage nach dem "göttlichen Gott" unmöglich rnacht. 14 Er ist auch der Grund für die "Denaturierung der Natur", ohne die die Herrschaft des Menschen über die Natur, die unsere Zeit bestimmt, un-

10

GA 9,225.

11

GA 9, 228f.

12

Vgl. NIl 15: "Mit und in der Unterscheidung des OPTW!; OP und des

Ti lOTlP und TO lOTlP (das Ti und das 071)."

" N Il 413f. .. lD 64f.

Jl1!

OP scheiden sich TO

32

A. 11. Die Geschichte der melllphysischen Auslegung von Sein und Natur

denkbar wäre. ls Um die Einwände Heideggers zu verdeutlichen, wenden wir uns im Folgenden einigen Grundzügen der thomanischen Philosophie zu. Im Ausgang von der Differenz zwischen dem Seienden und seinem Sein l6 weist Thomas in der sogenannten Transzendentalienlehre auf die Vielfalt unseres Sprechens von Sein hin, wobei er vor allem die Zwiefalt von ens und res hervorhebt. Werde Seiendes als res angesprochen, gehe es um das Wesen, d.h. die Washeit (essentia) des Seienden. Der Begriff ens dagegen sei "ab actu essendi" genommen. 17 Die beiden Möglichkeiten der Benennung eines Seienden deuten darauf hin, daß Seiendes, was auch immer es ist, dadurch ist, daß es am Sein selbst partizipiert. Das Sein, welches allem Seienden gemeinsam ist (esse commune) bestimmt Thomas als Aktualität, welche nur in eins mit Potentialität zu denken ist. Die Auslegung des Seins in der Zwiefalt von essentia und ex'istentia, potentia und actus bringt es mit Notwendigkeit mit sich, daß Thomas von Aquin das Ganze des Seienden als Gefüge von Ursachen und Verursachtem, Wirkungen und Bewirktem betrachtet. Daß ein Seiendes ist, ist immer bewirkt durch ein ens actu, "quia quod est in potentia, non reducitur in actum nisi per ens actu" 18. Sein wird dadurch als Wirklichkeit (Wirken oder Erwirktsein) bestimmt. 19 Die Einheit von Sein und Kausalität, die darin entspringt, fordert das Denken dazu auf, eigens nach den Gründen zu fragen, warum Seiendes ist. Denken geschieht dann als Er- und Begründen des Seienden in seinem Sein. Darum übersteigt Thomas von Aquin das Ganze des Seienden, das in seiner Begründungsbedürftigkeit aufflillig wird, auf das höchste Seiende (summum ens) hin, welches aus sich heraus seiend (ipsum esse per se subsistens) das Seiende im Ganzen zu begründen mächtig ist.2/! Daß für

" EiM 147f.; GA 39, 195f.; GA 65, 127, 132 u.ö.

I. Es ist wichtig, die unterschiedliche Absicht, mit der Th. von Aquin einerseits und Heidegger andererseits die sogenannte ontologische Differenz thematisieren, zu beachten. Der Aquinate übersteigt das Seiende im Ganzen auf das esse commune hin, um dieses als Spur zum ipsum esse subsistens deutlich werden zu lassen. Heidegger dagegen thematisiert die ontologische Differenz im Kontext der Grundfrage nach dem Sinn von Sein als dem, von woher wir dergleichen wie Sein und Seiendes verstehen. Daß die Metaphysik diese Frage nicht gestellt hat, rechtfertigt HeideggersThese, sie sei durch die Seinsvergessenheit geprägt. Die unterschiedliche Fragestellung wurde in der frühen katholischen Heideggerrezeption nicht hinlänglich beachtet. Vgl. etwa die frühen Stellungnahmen von Latz, 1975,41; Ders., 1978, 25f. 17

Th. von Aquin: De verilllte, q.l, a.l.

I.

Th. von Aquin: Summa theologiae I, q.3, a.l.

" Zum Übergang von der Ermöglichung des Anwesens zum Erwirken vgl. N 11 413f. 20 Th. von Aquin: Summa theologiae I, q.44, a.1. Latz, 1975, 180-206, insistiert unter Berufung auf S.th. I, q.45, a.2, ad. 2 darauf, daß der Aquinate den Unterschied zwischen mullltio und creatio betone. Da aber beide gleichermaßen im Horizont von Kausalität gedacht werden, kann

2. Die metaphysische Auslegung des Seins auf Beständigkeit hin

33

Thomas von Aquin die Zwiefalt von actus und potentia, existentia und essentia die Ursprungserfahrung des Denkens ist, die er selbst nicht mehr in Frage stellt, wird gerade in der Annäherung an das höchste Seiende (summum ens), das das Wesen des Seins rein in sich ausprägt, deutlich. In ihm fallen nach Thomas Wesen und Sein in eins, so daß es dem Wesen nach actus purus ist. 21 Die Differenz von Sein und Wesen erscheint dadurch zwar im höchsten Seienden aufgehoben, wird jedoch als der Kontext der denkenden Annäherung an Gott gerade nicht aufgegeben. 22 Daß die Differenz von Sein und Wesen, existentia und essentia die Wesensgrenze des thomanischen Denkens darstellt, wird auch darin deutlich, daß Gott als actus purus nicht nur causa prima ist, sondern auch "summum bonum" genannt werden kann. Heidegger zufolge ist "der Name summum bonum [ ... ] der reinste Ausdruck für die Kausalität, die dem reinen Wirklichen gemäß seinem Erwirken der Beständigkeit alles Bestandhaften eignet,m. Der derart zu deutende Name "summum bonum" stelle einen Anklang dar an Platons Erfahrung, das Göttliche (TO tJewv) sei ~ wia TaU a)'atJou, insofern ihr Schein das Erscheinen des Seienden im Ganzen als einem solchen ermögliche. Heidegger betont aber ausdrücklich, daß Platon das Erscheinen nicht als begründetes oder der Begründung bedürftiges denke. Erst Thomas von Aquin frage nach dem Grund, welcher das Seiende als solches zu begründen mächtig sei. Dadurch werde Gott nur noch vom Seienden her als das summum ens und auf das Seiende zu als causa prima gedacht. Geht das Wesen Gottes darin auf, Grund des Seienden im Ganzen zu sein, droht er laut Heidegger "alles Heilige und Hohe, das Geheimnisvolle seiner Ferne zu verlieren"24. Doch Heideggers Kritik an der Synthese von Schöpfungsglauben und Seinsdenken geht noch weiter. Die thomanische Auslegung des Seins in der Zwiefalt

er Heideggers These, daß das Verständnis von Sein als begründeter Wirklichkeit durch den Schöpfungsglauben verabsolutiert werde, dadurch nicht widerlegen. Vgl. auch Lotz, 1978, 22; Ders., 1979,13. 21

1h. von Aquin: Summa theologiae I, q.3, a.4.

22 Lotz, 1975,37, wirft Heidegger vor, er verdunkele dadurch, daß er Gott als seiend bezeichne, die thomanische These "Deus non est in aliquo genere" . Heideggers Kritik richtet sich jedoch gegen die Weise, in der das alles Denken transzendierende Wesen Gottes in der mittelalterlichen Scholastik aufgewiesen wird. Man geht aus von dem Seienden, in dem Aktualität und Potentialität zumal walten. Von da aus denkt man auf das höchste Seiende, das reine Aktualität ist, hin. Dadurch wird der Kontext der Aktualität nicht durchbrochen. Insofern nun Aktualität als Kausalität ausgelegt wird, wird Gott zu dem Grund, in dem das Seiende im Ganzen gründet. Als causa prima ist er vom Seienden her und auf es zu gedacht. Das Sein Gottes wird gar nicht in Frage gestellt.

23

N " 416.

"VA30. 3 Bohlen

34

A. 11. Die Geschichte der metaphysischen Auslegung von Sein und Natur

von Wirkungen und Bewirktem verstelle nicht nur den ursprünglichen Bezug des Menschen zu Gott, sondern sie "denaturiere" auch die Natur. 25 Denn im Kontext des Schöpfungsglaubens könne die Natur nur als von Gott Erwirktes und das bedeute als ein "Gemachtes" - gedacht werden. Das wiederum ermögliche es, daß die Natur in der Neuzeit, der alles als machbar gelte, den Machenschaften des Menschen endgültig ausgeliefert werde. 26 Außerdem könne die Natur für den Glaubenden, dem es wesenhaft darum gehe, in der Nähe Gottes beheimatet zu sein, niemals das Ganze desjenigen Seienden sein, in dem er sich Heimat zu finden erhoffe. Dadurch werde der Glaubende der Sorge um das eigene Sein enthoben. Die Notwendigkeit entfalle, immer wieder danach zu fragen, was das Seiende im Ganzen eigentlich sei und warum es überhaupt sei. 27 Die Entlastung des Menschen von der Sorge um das Sein des Seienden wird durch die thomanische Interpretation der Wahrheit noch verstärkt. Wahrheit ist nach Thomas von Aquin adaequatio rei et intellectus, Angleichung des Seienden an das in intellectu divino ihm immer schon zugedachte Sein und Angleichung des intellectus humanus an das Sein des Seienden. Da das Sein dem Seienden immer schon zugedacht ist, kann der Mensch wohl zur Sprache bringen, was das Seiende ist, das Sein des Seienden ist aber unabhängig davon, ob er das tut oder nicht. Wir werden an anderer Stelle noch ausführlich darauf zu sprechen kommen, daß Heidegger dagegen die These vertritt, der Mensch entscheide im Sprechen erst darüber, was das Seiende eigentlich sei. Und ein Grund der wiederholt vorgetragenen Ablehnung des Schöpfungsglaubens dürfte die Überzeugung Heideggers sein, der Glaube spreche dem Menschen die Möglichkeit ab, darüber zu entscheiden, was das Seiende denn eigentlich sei. c) Die Beständigkeit des Vorgestellten Für das neuzeitliche Denken ist es charakteristisch, daß neben der aus dem Glauben eröffneten Grundhaltung des Menschen zum Seienden im Ganzen und durchaus auch in Konkurrenz zu ihr der Versuch unternommen wird, unter Ausklammerung der Gottesfrage in ein dem Menschen gemäßes Verhältnis zur

2>

Vgl. S. 32, Anm. 15.

26

GA 65, 111.

27 EiM 5f. Es ist allerdings zu betonen, daß Th. von Aquin den Menschen durchaus zur Sorge um das Sein auffordert. Denn in der Auslegung des Schöpfungsglaubenswird der Mensch als das Seiende gedacht, das hineingestellt ist in das Endliche und offen ist fiir das Unendliche, welches in einem zumal das Vollendete ist. Als solcher ist er dazu aufgerufen, das Veränderliche und Unvollkommene auf das Gute hin zu wandeln. Vgl. dazu ausfiihrlich KI14xen, 230-241.

2. Die metaphysische Auslegung des Seins auf Beständigkeit hin

35

Natur zu gelangen. Es ist vor allem Descartes'28 Verdienst, den Weg in dieses neue Denken gebahnt zu haben. 29 Wir wollen Heideggers Ausführungen folgend aufzeigen, wie sich in der Philosophie Descartes' der Übergang zur Neuzeit vollzieht und dann die Konsequenzen bedenken, die der neue Ausgriff des Menschen auf das Ganze des Seienden mit sich bringt. Bei Descartes steht die Frage nach der Methode im Vordergrund. Gesucht wird nach einem Weg, der zu wahren, und d.h. für Descartes gesicherten, Erkenntnissen führt. Weil das Denken erst dort Sicherheit erlangt, wo schlechthin nicht mehr gezweifelt werden kann, wandelt sich die Frage nach den Bedingungen wahrer Erkenntniss bald in die Suche nach dem fundamenturn absolutum inconcussum veritatis, dem unbezweifelbaren Grund aller Wahrheit. Ihn erkennt Descartes darin, daß es dem denkenden Ich schlechthin unmöglich ist, an dem eigenen Sein zu zweifeln. Die res cogitans kann ihres eigenen Seins offenbar sicher sein. Der Satz "Ich denke, also bin ich" gilt daher Descartes als der erste Grundsatz der Philosophie.30 In Heideggers Sicht der Metaphysik markiert er zugleich auch den Beginn des neuzeitlichen Denkens. 31 Indem nämlich anerkannt wird, daß dieser Satz nicht angezweifelt werden kann und eben darum wahr ist, wird die Identifikation von Wahrheit und Gewißheit als das Maß des Philosophierens gesetzt. 32 An der Evidenz dieses Satzes mißt sich nun, was überhaupt noch als wahre Erkenntnis gelten kann. Wahr ist laut Descartes alles, was "wir ganz klar und deutlich begreifen"; und die Frage

2S Descartes' Schriften werden nach den bei Meiner erschienenen Ausgaben zitiert, und zwar wie folgt: R. Descartes: Die Prinzipien der Philosophie. Übers. u. erl. von A. Buchenau. 7. Aufl., Hamburg 1965. (Philosophische Bibliothek 28); Ders.: Discours de la methode. Franz. u. deutsch. Übers. u. hg. von L. Gäbe. Nachdruck der Ausg. v. 1960, Hamburg 1969. (Philosophische Bibliothek 261); Ders.: Meditationes de prima philosophia. Lat. u. deutsch. Auf Grund d. Ausg. von A. Buchenau neu hg. von L. Gäbe. Durchges. von H. G. Zekl. 2. Aufl., Hamburg 1977. (Philosophische Bibliothek 250a). Angegeben werden Kapitel, Abschnitt und in Klammem die Seitenzahl der Meiner-Ausgabe.

29 Zu Heideggers Descartes-Interpretation vgl.: F.-W. von Hernnann: Sein und Cogitationes. Zu Heideggers Descartes-Kritik. In: Durchblicke. Martin Heidegger zum 80. Geburtstag. Hg. von V. Klostermann. Frankfurt/M. 1970,235-254. 30

Descartes: Discours, 4. Teil, Abs. 1 (52f.); Ders.: Meditationes, 2. Med., Abs. 3. (44f.).

11

N 11 142.

12 Der Satz ist keine Schlußfolgerung im Sinne der Logik. Vielmehr stiftet er in der Identifikation von Wahrheit und Gewißheit das Maß, von dem her er gilt. Daß Descartes alle Erkenntnis dem Maßstab der Gewißheit unterwirft, gehört zu den von ihm nicht eigens bedachten Voraussetzungen seines Denkens. Zu dem Grundsatz Descartes' als der ursprünglichen Stiftung des Zusammenhangs von Denken, Existenz und Gewißheit vgl. N 11 175-179.

3"

36

A. 11. Die Geschichte der metaphysischen Auslegung von Sein und Natur

lautet nun nur noch, welche Seienden es sind, die wir deutlich begreifen können. 33 Die Einheit von Wahrheit, Gewißheit und Deutlichkeit des Begreifens, der Descartes das Denken unterstellt, gibt jene Grundhaltung des Menschen zum Seienden im Ganzen vor, die Heidegger als Vorstellen desselben bestimmt. In allen Verhaltungen des Menschen zum Seienden geschieht ein Vorstellen des Seienden als solchem. Denn alle Verhaltungen zu Seiendem sind intentional auf Seiendes bezogen. 34 Das Vorstellen geschieht laut Heidegger immer als Zustellen und Sicherstellen. Vorstellend stellt der Mensch das Seiende im Ganzen auf sich zu, um es in solcher Zustellung zweifelsfrei als das Vorgestellte sicherzustellen. Da das Vorstellen um der Sicherstellung des Seienden willen geschieht, geht es in ihm immer schon um ein Feststellen. Denn erst des Festgestellten, dem die Beständigkeit des Vorgestelltseins zu eigen ist, kann man sicher sein. Dabei geht Descartes davon aus, daß der Mensch sich selbst als desjenigen Seienden sicher sein kann, von dem das Vorstellen ausgeht und auf den zu es geschieht. Das ego cogito, das das eigene Sein nicht in Frage stellt, wird dadurch zum herausgehobenen subiectum, zum Subjekt, von dem her die Objektivität der Objekte zu denken ist. Im Unterschied zum Vernehmen wird der Mensch durch das Vorstellen zum Maß für das Sein des Seienden. Denn in ihm wird nur solches als seiend angenommen, das "dare et distincte" vorgestellt werden kann. 35 Deutlich ist für das vorstellende Denken nur das Berechenbare; Kontext der Auslegung des Seienden als des Berechenbaren die Interpretation des Seins als der mathesis universalis. Was auch immer ist, kann in ihrem Horizont berechnet werden. Aufgrund des Übergangs, der sich im Denken Descartes voIlzieht, bleibt die Auslegung von Sein als VorgesteIltheit bei ihm zwar eingetragen in die von Sein als Geschaffenheit. 36 Das Seiende ist, da es geschaffen ist, im Sein unabhängig von dem es vorsteIlenden Suhjekt. Dennoch kann es sich nun nur noch insoweit bekunden, als es berechenbar ist. Die Identifikation von Wahrheit und Gewißheit und die mit ihr einhergehende Auslegung des Seins des Seienden im Ganzen als einer mathesis universalis begründen laut Heidegger den zweiten Schritt auf dem Weg zur Denaturierung

33

Descartes: Discours, 4. Teil, Abs. 3. (54f.).

14 Nach Descar/es: Prinzipien, I. Teil, Abs. 9 (8) sind alle Verhaltungen des Menschen cogitationes. Vgl. auch Nil 156. 15

Descartes: Discours, 4. Teil, Abs. 3 (54f.).

36 N 11 169: "Descartes hat so wenig wie später Kantjemals dara:: ge/weit'clt. dan das Seiende und als seiend Festgestellte in sich und von sich aus wirklich is'. Aber die Frage bleibt, was hierbei Sein besagt und wie das Seiende durch den Menschen a!s ,hon wm Subjekt gcwordenen zu ereichen und zu sichern sei."

2. Die metaphysische Auslegung des Seins auf Beständigkeit hin

37

der Natur. 37 Denn sie führt dazu, daß der Mensch sich herausgefordert erfährt, alles, was ist, zu messen und zu berechnen, derart für sich sicherzustellen und dadurch seine eigene Stellung inmitten des Seienden zu sichern. Dadurch wandelt sich die Natur zu jenem berechenbaren Ganzen, das am Ende nur noch die Gestalt des berechenbaren Bestands haben wird. Die vollständige Erforschung der Gesetze der Natur verspricht nach Descartes, "das allgemeine Beste aller Menschen zu befördern". Darum sei es für uns erstrebenswert, zu "Herren und Eigentümern der Natur" zu werden. 38 Daß die Herrschaft des Menschen über die Natur sich auch von Grund auf gegen den Menschen wenden und in eine Herrschaft des Menschen über den Menschen wandeln könnte, erkennt Descartes offenbar noch nicht. d) Die Beständigkeit des Bestands Nietzsche39 führt die Auslegung des Seins des Seienden von der Subjektivität des Subjekts her, welche mit Descartes beginnt, fort und denkt sie weiter zur Philosophie der absoluten Subjektivität. Heidegger zufolge "[ ... ] gilt es zu sehen, daß Nietzsche auf dem von Descartes gelegten Grunde der Metaphysik steht, und inwiefern er auf diesem Grunde stehen muß. "40 Denn dann werde deutlich, daß Nietzsches Verabsolutierung der Subjektivität diejenige Möglichkeit metaphysischen Denkens darstellt, in der die Grundstellung Descartes' nochmals derart verwandelt wird, daß darin die Geschichte der Metaphysik als Ganze sowohl zu ihrer Vollendung gelangt als auch endgültig zu Ende geht, da sie unmöglich wird. Und erst wenn Nietzsches Denken als das die Metaphysik vollendende und zugleich beendende Denken deutlich geworden ist, kann dann nach dem Weg, der "von Nietzsche weg auf die andere Seite"41 führt, gefragt werden. Heidegger geht es daher in den Nietzsche-Interpretationen einerseits um die Aufdeckung der Grundstellung Nietzsches und

37

EiM 147f.

3.

Descartes: Discours, 6. Teil, Abs. 2. (100f.).

Heidegger zitiert die Schriften Nietzsches nach der von O. Weiß, Leipzig 1911, herausgegebenen Großoktavausgabe der Werke Nietzsches in 20 Bänden. Wir velWenden die gebräuchlichere, textgleiche Taschenausgabe des Kröner-Verlags, Stuttgart 1950ff. Zitiert werden die Schriften Nietzsches nach Schrift, Kapitel und Aphorismus bzw. Seitennummer . Angegeben werden auch die Stellen, an denen sich die Zitate in der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Nietzsches in 30 Bänden von G. Colli/M. Montinari, Berlin 1967ff. (KGW) finden, wobei die Zitation nach Band- und Seitenzahl erfolgt. 39

40

N II 173f., vgl. N II 149, 187.

4'Wh021.

38

A. 11. Die Geschichte der metaphysischen Auslegung von Sein und Natur

andererseits um ihre Auslegung als des Endes der Metaphysik, das die Frage ernötigt, ob es einen Weg gibt, der in ein anderes Denken führt. 42 Nietzsches Interpretation der Geschichte kommt insofern mit der Heideggers überein, als schon Nietzsche die Erfahrung zur Sprache bringt, daß die Trennung von Eigentlichem und Uneigentlichern, Übersinnlichem und Sinnlichem der Grund ist, in dem das Wesen des abendländischen Denkens gründet. Ihm zufolge war das ganze Denken bis zu ihm hin dem Wesen nach Platonismus, d.h. dadurch bestimmt, daß das Übersinnliche als das Wesenhafte und darum denn auch Sinngebende galt. Im Hinblick auf das Ganze der Geschichte konstatiert Nietzsche eine stetige Abnahme der sinngebenden Macht des Übersinnlichen, die es erlaubt, die Geschichte als Geschichte des Nihilismus zu begreifen. Der Nihilismus hebt an, sobald der Mensch im Werdenden und Vergehenden nach dem bleibenden Sinn sucht, ohne ihn finden zu können. Er entfaltet sich, wenn der Mensch dann erkennt, daß es die Ganzheit und Einheit des Seins, auf die er gehofft hat, im Werdenden gar nicht gibt. Er vollendet sich, sobald der Mensch erkennen muß, daß der Glaube an das Ewige, welches er dem Werdenden, von dem er sich in seiner Suche nach Sinn enttäuscht sah, als das Wahrere vorzog, nur der eigenen Sehnsucht nach Sinn entsprang. 43 Am Ende der Geschichte gilt das Übersinnliche, das Ideale, schlechthin nichts mehr. Nun wird eigens offenkundig, daß die abendländische Geschichte als Geschichte des Nihilismus anzusehen ist, welche, in ihrem Wesen von der platonischen Trennung von Sinnlichem und Übersinnlichem bestimmt, in der Erkenntnis endet, daß das Übersinnliche nicht die Macht hat, als das Ideale dem Seienden im Ganzen Sinn zu geben. "Der ganze Idealismus der bisherigen Menschheit ist im Begriff, in Nihilismus umzuschlagen, - in den Glauben an die absolute Wertlosigkeit, d.h. Sinnlosigkeit. ,,44

Daß das Sinnliche sinnlos zu werden droht, da das Übersinnliche ihm keinen Sinn mehr geben kann, bekennt der Denker in dem Satz "Gott ist tot", in welchem Gott für alle übersinnlichen Ideale steht. In dem Wort vom Tod Gottes verkündet er das Ende der Geschichte der platonischen Deutung des Seienden im Ganzen.

41 Zu Heideggers Nietzsche-Rezeption vgl.: E. Hefirich: Nietzsche im Denken Heideggers. In: Durchblicke. Martin Heideggerzum 80. Geburtstag. Hg. von V. Klostermann. FrankfurtIM. 1970, 331-349; Keuering, 1987, 138-148. Zu den einzelnen Phasen der Nietzsche-Rezeption Heideggers vgl. W. Müller-Lauter: Das Willenswesen und der Übermensch. Ein Beitrag zu Heideggers Nietzsche-Interpretationen. In: Nietzsche-Studien 10/11 (1981/82) 132-177, Disk. 178-192 .

., Nietzsehe: Der Wille zur Macht, A. 12; KGW VIII 2, 288ff. .. Nietzsehe: Der Wille zur Macht, A. 617; KGW VIII 1, 321.

2. Die metaphysische Auslegung des Seins auf Beständigkeit hin

39

Sinn erfährt der Mensch nur dort, wo er sich an Ideale halten kann. Der Machtzerfall der Ideale, Heidegger spricht von der "Verwesung des Wesenhaften"4S, bedingt die Erfahrung der Sinnlosigkeit oder, wie Nietzsche auch sagt, der "Wertlosigkeit". Daraus geht hervor, daß die Ideale für ihn "Werte" darstellen. Daß der Idealismus der Menschheit in Nihilismus umschlägt, bedeutet, daß alle Werte wertlos geworden sind. 46 Da der Mensch aber nur ertragen kann, daß das Seiende ist, wenn er annehmen darf, daß Sein Sinn hat, fühlt er sich nunmehr genötigt, die Entwertung aller Werte in eine Umwertung derselben zu verwandeln. Der Umwertung der Werte muß nach Nietzsche denkend der Grund gelegt werden durch eine Aufdeckung des Wesens der Werte. Denn nur wenn geklärt ist, was ein Wert eigentlich ist, kann die Umwertung der Werte begründet erfolgen. Es ist daher zu fragen, was das Seiende im Ganzen ist, so daß mit der Erfahrung des Seins auch schon die des Wertes verbunden ist. Das Seiende im Ganzen stellt sich für Nietzsche dar als ein ständig im Werden begriffenes. Im Werden bekundet sich für ihn das Leben. Leben wiederum bedeutet für ihn Sein. 47 Vom Lebendigen im engeren Sinne her legt er sodann das Werden und d.h. das Sein des Seienden aus als Wille zur Macht. "Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht; [ ... ],,48 Folgt man Heidegger, ist mit der Wendung "Wille zur Macht" gesagt, was das Seiende als solches ist. Alles, was ist, ist Willen zur Macht. In ihm besteht die Seiendheit des Seienden. Heidegger zufolge will der Wille zur Macht allem voran das eigene Wesen. Er will sich selbst, und zwar als Willen zur Macht. Dadurch ermächtigt er sich selbst zum Machten. 49 Macht wollen bedeutet: nach mehr Macht streben. Als Wille zur Macht kann der Wille nur wesen, indem er ständig auf mehr Macht aus ist. Die Selbstermächtigung zur Macht geht entsprechend einher mit der Ermächtigung zur ständigen Übermächtigung schon

4S

HW 217 .

.. Vgl. Nietzsehe: Der Wille zur Macht, A.2: "Was bedeutet Nihilismus? - Daß die obersten Werte sich entwerten."; KGW VIII 2, 14. 47 Vgl. Nietzsehe: Der Wille zur Macht, A. 582: "Das Sein - wir haben keine andere Vorstellung davon als 'leben'. - Wie kann also Totes 'sein'?"; KGW VIII I, 151.

4. Nietzsehe: Also sprach Zarathustra 11, S. 124; KGW VI I, 143. 4. Laut Heidegger ist die Grundbestimmung des Willens der Befehl. Der Wille stellt sich unter den Befehl des eigenen Wesens. Er befiehlt sich selbst das Wollen von Macht. Der Befehl ist daher die Ermächtigung des Willens zu sich selbst. Durch die Zurucknahme des Willens zur Macht in den Willen zum Willen und die Aufdeckung des Befehls als der Grundbestimmung des Willens, welche laut Müller-Lauter, 141-148, deutlich von Nietzsches Willensauslegung abweicht, ruckt das Wesen des Willens in die Nähe der in SuZ ausgearbeiteten Entschlossenheit (Vgl. N 151 u. 651; NIl 265; HW 230f.).

40

A. 11. Die Geschichte der metaphysischen Auslegung von Sein und Natur

errungener Machtstufen. Dabei strebt der Wille sowohl danach, erreichte Machtstufen zu überwinden, als auch danach, die schon errungene Macht in der Überwindung zu erhalten. Von daher legt Nietzsche das Wesen der Werte aus. Sie sind die Bedingungen zur Erhaltung und Steigerung der Macht, auf die es dem Willen zur Macht ankommt. "Der Gesichtspunkt des 'Werts' ist der Gesichtspunkt von Erhaltungs-, Steigerungs-Bedingungen in Hinsicht auf komplexe Gebilde von relativer Dauer des Lebens innerhalb des Werdens. "so

Unter Berufung auf den oben zitierten Satz bestimmt Heidegger die von Nietzsche gedachten Werte als "die vom Willen zur Macht selbst gesetzten Bedingungen seiner selbst. "51 Heidegger erläutert, der Wille zur Macht ermächtige sich selbst zum eigenen Machten dadurch, daß er das vorstelle, womit er rechnen müsse, solle die Macht erhalten oder auch gesteigert werden. Indem er solches vorstelle, setze er die Gesichtspunkte, auf die er es absehe, als Werte. Der Ursprung der Werte sei der Wille zur Macht. "Der Wert ist Wert, insofern er gilt. Er gilt, insofern er als das gesetzt ist, worauf es ankommt. Er wird so gesetzt durch ein Absehen und Hinsehen auf solches, womit gerechnet werden muß. "52 Es ist der Mensch, den Nietzsche im Gefolge Descartes' als das vorstellende Seiende begreift, durch den das Setzen von Werten geschieht. Indem er mit solchem rechnet, worauf es ihm ankommt, entspricht er dem Willen zur Macht, der in ihm machtet. 53 Nachdem nunmehr der Willen zur Macht als der Ursprung der Werte aufgedeckt und der Mensch als das wertsetzende Seiende begriffen ist, können die Grundwerte metaphysischen Denkens, Sein, Wahrheit und Gott, aus ihrem Urspung heraus erklärt werden. Beginnen wir mit dem Sein! Das Sein des Seienden ist laut Nietzsche das Werden, das auszulegen ist als Erhaltung und Steigerung von Macht. Seiendes ist, indem es immer mächtiger wird. Die Steigerung von Macht kann Nietzsche zufolge aber nicht ins Unendliche fortgehen. Das Werden kann entsprechend nur dann ein ständiges Werden sein, wenn es immer wieder in sich zurückkehrt. Der Wille zur Macht kann darum denn auch beständig nur wesen in der Weise der ewigen Wiederkehr des Gleichen.

'" Metzsehe: Der Wille zur Macht, A. 715; KGW VIII 2,278. " HW 227. "HW 224. " Das Subjekt setzt zwar die Werte, es steht dabei aber laut Heidegger im Brauch des Seins, d.h. es entspricht dem Anspruch, den das von Nietzsehe als Willen zur Macht gedeutete Sein selbst an es stellt. Vgl. HW 247.

2. Die metaphysische Auslegung des Seins auf Beständigkeit hin

41

"Dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen - das ist der höchste Wille zur Macht [00.) Daß alles wiederkehrt, ist die extremste Annäherung einer Weil des Werdens an die des Seins: - Gipfel der Betrachtung."

Der Wille zur Macht sichert den eigenen Bestand, indem er "dem Werden den Charakter des Seins aufprägt". 54 Ihm gilt das Werden selbst als ewig. Damit hebt Nietzsche die Trennung von Werden und Sein, Zeit und Ewigkeit auf und nimmt dem metaphysischen Denken, dessen Wesen darin besteht, daß es das zeitlich Seiende auf das Ewige hin übersteigt, den Grund. Mit Nietzsche endet der Platonismus. Mit ihm endet die Metaphysik. Daß Nietzsche aber das Sein des Seienden einerseits als Willen zur Macht und andererseits als ewige Wiederkehr des Gleichen begreift, ist Heidegger zufolge ein deutlicher Beleg dafür, daß Nietzsche dennoch von Grund auf metaphysisch denkt. Denn in der Auslegung von Sein als Willen zur Macht und ewiger Wiederkehr des Gleichen ist die metaphysische Bestimmung von Sein in der Zwiefalt von Was- und Daßsein noch deutlich erkennbar. 55 Auch daß Nietzsche das Daß sein des Seienden als ewige Wiederkehr des Gleichen denkt, d.h. annimmt, das Sein sei ewig, sofern es als das Gleiche ständig wiederkehrt, belegt, daß Nietzsche die metaphysische Auslegung von Sein auf Beständigkeit hin übernimmt. Mit Nietzsche endet daher die Metaphysik; er steht aber noch in der Geschichte der Metaphysik. Heidegger kommt es nun darauf an, deutlich zu machen, daß Nietzsche nicht nur der metaphysische Denker ist, der die Metaphysik beendet. Er ist es auch, der sie vollendet, indem er Descartes' Entwurf der Subjektivität zur Philosophie der absoluten Subjektivität fortführt. Es wurde schon gesagt, daß sowohl Descartes als auch Nietzsche den Menschen als das vorstellende Seiende begreifen. Nach Descartes ist der Mensch dadurch, daß er sich im Vorstellen stets als den Vorstellenden erfährt, das Seiende, das um das eigene Sein weiß, und zwar als um das Sein, dessen es gewiß sein kann. Nietzsche zufolge ist auch die Gewißheit ein Wert, d.h. auch ihr Ursprung ist der Wille zur Macht, der das Seiende im Ganzen, allem voran aber das vorstellende Seiende, das Subjekt, bestimmt. 56 Sofern das Subjekt ist, will es sich selbst, und zwar als

,.. Nach Heidegger ist die Auslegung des Seins als Wert, der gilt, insofern er gesetzt ist, "[00') die größte Blasphemie, die sich dem Sein gegenüber denken läßt." (GA 9, 349) " Das Seiende, das als solches Wille zur Macht ist, ist, d.h. es west im Ganzen an, indem es als das Gleiche ewig wiederkehrt. In der ewigen Wiederkehr beruht die Anwesenheit des Seienden, sein Sein im Sinne des Daßseins. Die Rückführung von Nietzsches Interpretation des Seins auf die metaphysische Zwiefalt von Was- und Daßsein ist nur möglich im Kontext der Frage Heideggers nach der Ermöglichung der Grundartikulationen des Seins durch die Zeit, wobei auch hier innerhalb der Nietzsche-Vorlesungen ein deutlicher Fortgang des Gedankens zu konstatieren ist. Vgl. N I 26, 464; N 11 16,284; HW 248. >6

Vgl. Metzsche: Der Wille zur Macht, A. 588; KGW VIII I, 319.

42

A. 11. Die Geschichte der metaphysischen Auslegung von Sein und Natur

mächtiges. Darum stellt es solches vor, worauf es ihm um des eigenen Seins, der eigenen Mächtigkeit willen ankommt. Auch die Gewißheit ist ein solcher Wert, genauer: sie ist der grundlegende Wert, durch den sich das vorstellende Subjekt zum Vorstellen des Ganzen des Seienden ermächtigt. Indem es sich dazu ermächtigt, das Seiende im Ganzen wissen und sich seiner durch das Wissen bemächtigen zu wollen, entspricht es dem Willen zur Macht, der in ihm und durch es machtet. Und insofern es im Streben nach Wissen dem Willen zur Macht entspricht, ist sein Streben auch gerecht. Denn gerecht ist, was dem Willen zur Macht entspricht. Das Subjekt will sein. Darum strebt es danach, das eigene Sein zu sichern. Des eigenen Seins gewiß kann es aber nur sein, wenn es sich des Seienden im Ganzen versichert. Da auch das Vorstellen dem Willen des Subjekts zur Sicherung des eigenen Seins gerecht zu werden hat, geht es in ihm darum, das vorstellbare Seiende durch das Vorstellen selbst festzustellen, d.h. es für das vorstellende Seiende und auf es zu als Bestand sicherzustellen. Denn nur im Ganzen des sichergestellten Bestandes kann sich das Subjekt des eigenen Wesensbestandes sicher sein. Die Vorgestelltheit des Vorgestellten, die schon Descartes als Sein des Seienden denkt, wandelt sich durch Nietzsche zur Beständigkeit des Bestandes, in dem und durch den das Subjekt bestehen kann. Indem der Mensch den Willen zur Macht in den eigenen Willen aufnimmt, wird er zum Übermenschen. Indem dieser sagt, was zu gelten hat, kommt in ihm der Wille zur Macht zu sich als der, "der sich im Setzen der Werte als der Bedingungen seines eigenen Wesensbestandes sichert und so sich selbst ständig gerecht wird und in solchem Werden Gerechtigkeit ist. ,,57 In Nietzsches Lehre vom Übermenschen wird das Subjekt zum absoluten Subjekt, welches neben dem eigenen Sein, dem Willen zur Macht, kein Maß mehr braucht, an dem es sein Verhalten zum Seienden messen müßte. Darum kann es den Übermenschen auch erst dann geben, wenn der Wert, der einst als das Maß galt, an dem menschliches Dasein zu messen ist, Gott, destruiert worden ist. "Tot sind alle Götter: nun wollen wir, daß der Übennensch lebe' - dies sei einst am großen Mittage unser letzter Wille! - ..

Nur noch auf sich gestellt, geht es dem Übermenschen um die Sicherung des eigenen Seins. Und um der Sicherung des eigenen Seins willen muß der Übermensch das Seiende im Ganzen als Bestand vorstellen. In der Technik, jenem Ausgriff des Menschen auf das Seiende, der darauf aus ist, dieses als Bestand zu stellen, verdichtet sich Nietzsches Grundstellung. In ihr wird jedoch auch

"HW 241.

3. Die Frag-würdigkeit der metaphysischen Auslegung des Seins

43

erfahrbar, daß sie auf den Menschen zurückschlägt, dergestalt, daß auch er zum Bestand-teil des Bestandes wird. 58 Fassen wir zusammen! Nietzsche deckt zum einen das Wesen der Geschichte auf, den Nihilismus, der in der Trennung von eigentlich und uneigentlich Seiendem anhebt und durch eine ständig zunehmende Verwesung des Wesenhaften, der Werte, bestimmt ist. Heideggers Kritik an der Metaphysik geht insofern auf Nietzsches Aufdeckung des Nihilismus zurück, als auch er in der Metaphysik eine einheitliche Denkgeschichte sieht, die in der Frage nach dem eigentlich Seienden gründet. Nietzsche hebt die genannte Trennung auf, indem er Sein als Willen zur Macht in der ewigen Wiederkehr des Gleichen auslegt. Darin endet die Metaphysik. Als Überstieg über das zeitlich Seiende auf das ewige Sein hin wird sie unmöglich. Nietzsche ist zum anderen der Vollender der Metaphysik. Denn er verwandelt Descartes' Philosophie der Subjektivität in die Lehre vom Übermenschen. Dieser ist der Mensch, der darum weiß, daß es "Sein" nur gibt, insofern er es als Wert gesetzt hat. Er ist in einem zumal der, der auszuhalten hat, daß es kein Maß gibt, an dem sein Dasein zu messen ist, keinen Halt, der ihn in dem Verhalten zum Seienden noch halten könnte. Der Übermensch ist der schlechthin halt-lose, heimatlose Mensch. Die Not, die wir heute, im Zeitalter der Technik, immer deutlicher erfahren, nötigt uns daher zu der Frage, ob Nietzsches Lehre vom Übermenschen das letzte Wort ist, oder ob die Metaphysik und mit ihr die Philosophie der Subjektivität noch einmal derart in Frage gestellt werden kann, daß es zu einem grundlegenden Wandel des Menschen kommt.

3. Die Frag-würdigkeit der metaphysischen Auslegung des Seins Anband der skizzierten Grundstellungen abendländischen Denkens sollte Heideggers Einsicht in das Wesen der Metaphysik verdeutlicht werden. Das metaphysische Denken ist dadurch bestimmt, daß es danach fragt, was das Seiende ist, insofern es ist. Die Frage nach dem Seienden als Seiendem ist die Leitfrage der Metaphysik. 59 Von ihr ist das metaphysische Denken des Seins geleitet. Nach dem Sein des Seienden fragend, wird in der Metaphysik das Seiende im Ganzen auf das Sein hin überschritten. Es konnte belegt werden, daß

"Vgl. N 11 309: "Die Machinalisierung ennöglicht eine kraftsparende, d.h. zugleich kraftspeichernde,jederzeit überallhin übersehbare Meisterung des Seienden. In ihren Wesensbezirk gehören auch die Wissenschaften. [ ... ) Als die betriebsmäßige und lenkbare Erforschung alles Seienden stellen sie dieses fest und bedingen durch ihre Fest-stellungen die Bestandsicherung des Willens zur Macht. Die Züchtung des Menschen aber [ ... ] ist die Aufspeicherung und Reinigung der Kräfte in die Eindeutigkeit des streng beherrschbaren 'Automatismus' allen Handeins. " '" GA 65, 75ff.

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A. 11. Die Geschichte der metaphysischen Auslegung von Sein und Natur

in allen metaphysischen Grundstellungen, in welchen die metaphysische Auslegung des Seins und die Geschichte ihres Wandels zur Entfaltung kommt, deutlich wird, daß die Entscheidung, das eigentliche Sein in dem zu erblicken, von dem her und auf das hin das Seiende als beständiges angesprochen werden kann, die Entscheidung ist, in welcher unsere Geschichte - und d.h. auch die Not unserer Zeit - gründet. Schon nach Platon ist das uneigentlich Seiende (Jl-YJ Öl') nur, insofern es im Schein des eigentlich Seienden (ÖJfTWC; Öl') erscheint. Das eigentlich Seiende aber ist das Beständige, jene Anblicke (€i1irJ), im Hinblick auf die das Seiende als das, was es ist, erblickt werden kann. Platons Unterscheidung von ÖJfTWC; Öl' und Jl-YJ Öl' ermöglicht es, danach zu fragen, warum das uneigentlich Seiende überhaupt ist. Dadurch, daß das Denken des Seins in die Nähe zum Glauben an die Schöpfung gelangt, wird die Frage nach dem Warum einerseits zu der Grundfrage des Denkens, andererseits aber gibt der Glaube nunmehr dem Denken die Antwort auf sie vor. Das Seiende ist, da es geschaffen ist. Und nur als Geschaffenem kommt ihm auch Beständigkeit zu. In der Zwiefalt von actus und potentia wird das Geschaffensein des Seienden als Verursachtsein gedeutet. Verursachen aber ist Heidegger zufolge ein Modus des Machens. 60 Indem das mittelalterliche Denken das Seiende als von Gott, der causa sui, verursachtes, und d.h. gemachtes, betrachtet, genügt es einerseits der Forderung, den Grund dafür, warum überhaupt Seiendes ist und inwiefern ihm im Ganzen Beständigkeit zukommt, anzugeben. Andererseits aber bringt es dadurch das Seiende erstmals in die Nähe der "Machenschaft" , die Heidegger in den "Beiträgen" als das in der Neuzeit zu Tage tretende Wesen der Seiendheit des Seienden aufdeckt. 61 "Allein, in der Zeit des ersten Anfangs, da es zur Entmachtung der c/JVatC; kommt, tritt noch nicht die Machenschaft in ihrem vollen Wesen an den Tag. Sie bleibt verhüllt in der beständigen Anwesenheit [ ... ). Der mittelalterliche actus-Begriffverdeckt bereits das anfanglich griechische Wesen der Auslegung der Seiendheit. Damit hängt es zusammen, daß nun das Machenschaftliche sich deutlicher vordrängt und durch das Hereinspielen des jüdisch-christlichen Schöpfungsgedankens und der entsprechenden GottesvorsteIlung das ens zum ens creatum wird. Auch wenn man ein grobes Ausdeuten der Schöpfungsidee sich versagt, so bleibt doch wesenllich das Verursachtsein des Seienden. Der Ursache-Wirkungs-Zusammenhangwird

60 Insbesondere wtz, 1975, 180-206, hat die Differenz von menschlichem Machen und göttlichem Schaffen betont. Von ihr sieht Heidegger ab, um die mittelalterliche Auslegung der Schöpfung als einen Schritt auf dem Weg zum Offenbarwerden der Machenschaft, dem neuzeitlichen Wesen des Seins, transparent zu machen. 61 Zur Verwendung des Begriffs der "Machenschaft" vgl. GA 65, 126: "Im Zusammenhang der Seinsfrage soll damit nicht ein menschliches Verhalten, sondern eine Art der Wesung des Seins benannt werden .•

3. Die Frag-würdigkeit der metaphysischen Auslegung des Seins

45

zum allbeherrschenden (Gott als causa sui). Das ist eine wesentliche Entfernung von der CPVOIC; und zugleich der Übergang zum Hervorkommen der Machenschaft als Wesen der Seiendheit im neuzeitlichen Denken ...62

Daß das einst als Geschaffenes erfahrene Seiende in der Neuzeit zu dem wird, dessen Seiendheit darin besteht, ein Gemächte zu sein, kann Heidegger insofern behaupten, als seit Descartes nur noch als seiend gilt, was das Subjekt vorstellt und als vorgestelltes Objekt auf sich zustellt. Das Sein des Seienden besteht nun in der Vorgestelltheit, wobei unser Durchgang durch die Geschichte der Metaphysik ergab, daß laut Heidegger das Vorstellen stets einhergeht mit dem Feststellen des Seienden. Nur als Festgestelltem eignet dem Seienden Beständigkeit, nur als solches ist es. Durch das feststellende Vorstellen wird das Seiende aber auch schon offenbar als beherrschbares. Dadurch, daß er den Unterschied von Sein und Werden aufhebt, vollendet Nietzsche die Auslegung von Sein auf Beständigkeit hin nicht nur; er führt sie auch auf ihren Ursprung, den Willen zur Macht, zurück. Es ist der Wille zur Macht, d.h. das Sein selbst, das das Subjekt nötigt, das wesenhaft Unbeständige zum Beständigen zu erklären, damit es selbst im Bestand bestehen kann. Das bedeutet aber auch, daß das Seiende nun überhaupt nur noch ist, sofern das Subjekt will, daß es sei. Indem die Seiendheit des Seienden in der Neuzeit das Wesen der Machenschaft annimmt, wird das Seiende nur noch erfahren als subjektiv Gesetztes, wobei das Subjekt, des eigenen Willens mächtig, an sich selbst zur Setzung des Seienden ermächtigt ist. Von daher charakterisiert Heidegger u.a. in den "Beiträgen zur Philosophie" unsere Zeit als die Zeit, in der alles machbar geworden ist, sofern man nur den nötigen Willen dazu aufbringt. Der Wille, betont Heidegger, sei aber immer schon gebunden an die durch die Aufdeckung der Machenschaft in ihrem Wesen begriffene Auslegung des Seienden als des Vorstellbaren und Vorgestellten. 63 Da im Kontext der Machenschaft alles machbar ist, duldet unsere Zeit nichts Frag-würdiges mehr. Wohl gibt es immer noch offene Fragen, denen nachzugehen bedeutet, das Seiende im Ganzen immer umfassender zu ergründen. Doch das Ergründen selbst geschieht insofern machenschaftlich, als es nicht zulassen kann, daß es wesenhaft Unergründliches gibt, welches uns immer wieder neu zur Frage werden wird. 64 Unser Zeitalter ist daher Heidegger zufolge das der völligen Frag-Iosigkeit, welche ihrerseits ermöglicht ist durch die Seinsverlassenheit des Seienden. 65

.2 GA 65, 126f. •3

GA 65, 108f.

64 Vgl. dazu Hcidcggcrs Beslimmung des Wesens neuzeitlicher Wissenschaft: GA 65, 141-166 lind HW 73-110.

"GA 65, 123

II.Ö.

46

A. 11. Die Geschichte der metaphysischen Auslegung von Sein und Natur • Seinsverlassenheit des Seienden: daß das Seyn vom Seienden sich zuriickgezogen und das Seiende zunächst (christlich) nur zu dem von anderem Seienden Gemachten wurde. Das oberste Seiende als Ursache alles Seienden übernahm das Wesen des Seyns. Dieses ehemals vom Schöpfergott gemachte Seiende wurde dann zum Gemächre des Menschen, sofern jetzt das Seiende nur in seiner Gegenständlichkeit genommen und beherrscht wird.,,66

In der Erfahrung des Seienden als des von Gott Gemachten oder auch als eines Gemächtes des Menschen hat Seiendes, behauptet Heidegger, das Wesen des Seins übernommen, insofern es als Grund des Seienden erfahren wird. Es kommt nun nicht mehr zu der Erfahrung, daß Seiendes nur sein kann, da vor allem Seienden das Sein schon west. Das Wesen des Seins gerät endgültig in Vergessenheit. An anderer Stelle wird noch darzulegen sein, inwiefern Heidegger an oben zitierter Stelle behaupten kann, es sei das Sein selbst, welches sich vom Seienden zurückgezogen und durch den eigenen Rückzug die Geschichte der Metaphysik als Geschichte zunehmender Vergessenheit des Seins erst ermöglicht habe, so daß die Seinsvergessenheit des Denkens als Folge der Seinsverlassenheit des Seienden, die ihrerseits vom Sein selbst ausgeht, betrachtet werden kann. 67 Auf eine erste Folgerung, die sich aus unserem Durchgang durch die Geschichte der Metaphysik für unsere Frage nach der Ermöglichung eines Wandels unseres Bezugs zur Natur, möchten wir aber schon hier aufmerksam machen. Sollte ein solcher Wandel überhaupt möglich sein, kann er nur begründet werden durch die Infragestellung der metaphysischen Auslegung von Sein auf Beständigkeit hin, welche mit der Infragestellung der Subjektivität insofern verbunden ist, als die metaphysische Auslegung des Seins mit Nietzsche begriffen werden kann als dem conatus essendi des Subjekts entspringend. Da die Seinsverlassenheit des Seienden, die Seinsvergessenheit des Denkens und der Zerfall der Wahrheit eine Einheit darstellen,68 ist die Infragestellung der metaphysischen Auslegung von Sein zu verbinden mit der Frage nach der ursprünglichen Interpretation des Wesens von Wahrheit. Im platonischen Höhlengleichnis kommt die Erfahrung der Einheit von Sein und Wahrheit noch zur Sprache. Das Seiende ist laut Platon, sofern es erscheint, d.h. als unverborgenes aufscheint, wobei das uneigentlich Seiende nur im Schein des eigentlich Seienden erscheinen kann. Das eigentlich Seiende sind i] ei1i1J. Von ihnen sagt Platon, sie seien TCx CxA1JtJiaTO:TOI, immer schon unverborgen im

66

GA 65,111 .

• 7 GA 65, 114f. Heideggerbetont, die Seinsverlassenheit des Seienden sei "[ ... ) nicht einfach 'Verfall', sondern [ ... ) die erste Geschichte des Seyns selbst, die Geschichte des ersten Anfangs und des von ihm Abkünftigen und so notwendig Zuriickbleibenden.· (GA 65, 111)

•• Vgl. GA 65, 113.

3. Die Frag-würdigkeit der metaphysischen Auslegung des Seins

47

Bezug auf den Menschen. Statt aber nach der Unverborgenheit zu fragen, geht es Platon darum, den Menschen aufzufordern, den Blick auf die E'Ui'T/ zu richten. Dadurch begründet Platon den Wandel von der aA~tJw:x zur optJoTY/C;. Dieser setzt sich fort bei Thomas von Aquin, für den die Wahrheit in der adaequatio intellectus et rei besteht. Der Intellekt wird dadurch zur eigentlichen Stätte der Wahrheit. 69 Im Denken Descartes' wird die Wahrheit dann zur Gewißheit des Vorstellens. Indem nur noch das als wahr angenommen wird, dessen das Subjekt sicher sein kann, gibt der Mensch dem Seienden die Wahrheit vor. Der Zerfall der Wahrheit wird endgültig besiegelt durch Nietzsehe, der sie auf den Willen zur Macht zurückführt. Wahr ist das Vorstellen, insofern es dem Willen zur Macht gerecht wird. Das ist der Fall, sobald es das Seiende als den Bestand, in dem das vorstellende Subjekt bestehen kann, fest-stellt, auch wenn dieses am Ende selbst zum Bestand-teil des von ihm Festgestellten wird. In Nietzsches Denken, das in der Konzeption des Übermenschen den Menschen eigens zur Herrschaft über das Seiende im Ganzen aufruft, klingt aber auch an, daß es für uns kaum zu ertragen ist, keine Wahrheit mehr zu kennen, die nicht nur deshalb gilt, weil wir sie eigenmächtig zur Wahrheit erklärt haben. Für Heidegger steht fest, daß erst die Erfahrung der Not, die Nietzsche u.a. in der "Rede des tollen Menschen"70 zur Sprache bringt, die Frage ernötigt, ob es einen Weg gibt, der vom Ende der Metaphysik aus in ein gewandeltes Denken führt. Die Frage nach dem Übergang läßt ihn aufmerksam werden auf die Dichtung Hölderlins. Wenn wir uns ihr im Folgenden zuwenden, wird zu zeigen sein, daß Hölderlin in der Tat der Dichter ist, der "in die Zukunft weist"?1, weil es ihm in der Dichtung darum geht, die Not einer Zeit, in der das Seiende nur noch als "Gemächte" erfahren wird, zu wenden .

•• Vgl. 1h. von Aquin: De veritate, q.l, a.4, resp.: "[ ... ) veritas proprie invenitur in intellcctu humano vel divino·. 70

Niel~che:

71

SpG 106.

Die fröhliche Wissenschaft, A. 125; KGW V 2, 158ff.

III. Die dichterische und denkerische Grundstellung Hölderlins

1. Heideggers Denken und die Dichtung Hölderlins Heideggers Hölderlin-Interpretationen sind in der Forschung sehr umstritten. Neben undifferenzierter Ablehnung findet man durchaus auch differenzierte Kritik an der Auslegung einzelner Verse oder ganzer Strophen. l Es ist offenkundig, daß Heidegger in seinen Erörterungen auf Interpretationen zurückgreift, die zur Zeit der Abfassung der Hölderlin-Vorlesungen vorlagen. Die Hölderlin-Deutung Beißners wird sogar eigens genannt. 2 Einige der Interpretationen sind inzwischen überholt, so daß man davon ausgehen kann, daß Heidegger heute viele Verse anders auslegen würde, ohne die Intention der eigenen Interpretationen dadurch aufzugeben. Der Grundgedanke der Hölderlin-Auslegung Heideggers aber mußte der Hölderlin-Forschung solange von Grund auf fremd bleiben, wie sie Hölderlin in den Kontext des deutschen Idealismus einstellte, ohne Heideggers These, der deutsche Idealismus denke von der Subjektivität her, Hölderlin dagegen habe die Subjektivität schon überwunden, eigens in Frage zu stellen. 3 Von anderer Seite wird oft davon

I Vgl. dazu Ch. lamme: "Dem Dichten vor-denken." Aspekte von Heideggers "Zwiesprache" mit Hölderlin im Kontext seiner Kunstphilosophie. In: ZfphF 38 (1984), 191-218, bes. 2\2ff.

2 F. Beißner: Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen. 2. Aufl., Stuttgart 1961 (1. Aufl. 1933). Es wurde schon wiederholt kritisiert, daß Heidegger Beißners Auslegung des Bezugs von Griechenland und Hesperien im Denken Hölderlins unkritisch gefolgt sei. Wir werden darauf an anderer Stelle ausführlich zu sprechen kommen.

1 Vgl. dazu lamme, 1984, 215-218. Jamme macht auf die Verwandtschaft der Urerfahrung Hölderlins mit den Denkbemühungendes jungen Hegel aufmerksam und kritisiert die Eliminierung der historischen Bezüge in den Hölderlin-Interpretationen Heideggers, deren Ursprung er zutreffend in Heideggers Sicht der Stellung Hölderlins in der Geschichte des Seins vermutet. Die Einbindung Hölderlins in die Geschichte des deutschen Idealismus soll hier nicht geleugnet werden. Heideggers These, Hölderlins Stellung in der Geschichte des Seins sei die des Übergangs von der Metaphysik in ein anderes Denken, wird nur verständlich im Kontext der Heideggerschen Interpretation der idealistischen Grundstellung. Der Idealismus stellt nach Heidegger ein Denken dar, das von der Subjektivität her denkt und das Subjekt zum Grund des Systems, welches es aufzustellen gilt, erklärt, ohne die Grenzen der Subjektivität in Frage zu stellen. Vgl. dazu u.a. GA 65, 202ff. Wie im einzelnen zu zeigen sein wird, ist Hölderlin dagegen nach Heidegger der Denker, der die Subjektivität überwindet. Insofern geht der Bruch nach Heidegger auch mitten durch den Freundeskreis um Hölderlin und Hegel. Zu fragen wäre allerdings, ob Hegels Grundstellung eindeutig noch der Philosophie der Subjektivität zuzuordnen ist, oder ob Heidegger Hegel einseitig interpretiert. Und gelingt nicht schon dem späten Schelling der Schritt über die

I. Heideggers Denken und die Dichtung Hölderlins

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ausgegangen, Heidegger verdeutliche das eigene Seinsdenken zwar im Rückgriff auf die Dichtung Hölderlins, der Bezug zu Hölderlin sei aber sekundär. Das führt dazu, daß einzelne Sätze aus den Interpretationen Heideggers entnommen werden, ohne den Charakter der Interpretation zu beachten, der es erfordert, daß man immer wieder danach fragt, ob Heidegger Hölderlin nur wiedergibt, oder ob er ihn von den Erfahrungen des eigenen Denkens her auslegt. Angesichts dessen werden wir uns in einem eigenen Abschnitt mit den oben genannten Gedichten beschäftigen, und zwar ohne ständig auf Heideggers Interpretationen Bezug zu nehmen, um so die "Grundstellung" Hölderlins aus den Gedichten selbst zu erheben. Und erst in dem zweiten Teil unserer Überlegungen werden wir dann nach der Hölderlin-Rezeption Heideggers fragen. Wir hoffen, dadurch genauer klären zu können, wie er Hölderlins Dichtung in die eigene Konzeption der Geschichte des Seins integriert. In der nun folgenden DasteIlung der dichterischen und denkerischen Grundstellung Hölderlins geht es uns darum auszuarbeiten, was Hölderlin näherhin unter "Natur" versteht und wie er das unter diesem Titel Gedachte in seiner Dichtung zur Sprache bringt. Wir hoffen, deutlich machen zu können, daß es sowohl Hölderlin als auch Heidegger darum geht, durch das "Denken des Ungedachten", des Seins, die Not einer Zeit, die durch die Unterwerfung der Natur durch den Menschen entstanden ist, zu überwinden. Ferner werden wir näher auf die Bedeutung zu sprechen kommen, die Hölderlins Dichtung des Wesens des Dichters für Heideggers Bestimmung des Seins des Menschen hat. Und in diesem Kontext wird dann auch der Bezug des Menschen zur Natur und zum Heiligen bzw. Göttlichen eigens zu bedenken sein. Uns geht es vor allem darum, deutlich zu machen, daß die Erfahrung, in der Hölderlins Dichtung ihren Ursprung hat, der Grunderfahrung entspricht, der das Denken Heideggers entspringt. Sollten wir dabei auf Gedanken aufmerksam werden, die Hölderlin im Kontext der Deutung des Heiligen, des Wesens des Dichters und der Natur zur Sprache bringt, und die Heidegger kaum oder gar nicht aufgreift, sind sie als der Ort zu benennen, von dem eine Erörterung auszugehen hätte, welche

Subjektivität hinaus? Erst nach der Erörterung dieser Fragen kann dann nach dem Bezug des Dichtens Hölderlins zu dem Denken Hegels und Schellings gefragt werden. Zum Verhältnis Hölderlins zu Hegel und zur Bedeutung Hölderlins fiir den deutschen Idealismus vgl. u.a.: D. Henrich: Hegel und Hölderlin. In: Ders.: Hegel im Kontext. Frankfurt/M. 1971; G. Kurz: Mittelbarkeit und Vereinigung. Zum Verhältnis von Poesie, Reflexion und Revolution bei Hölderlin. Stuttgart 1975; G. Schmidlin: "Die Psyche unter Freunden". Hölderlins Gespräch mit Schelling. Im: Hlb 19120 (1975-77) 303-327; P. Kondylis: Die Entstehung der Dialektik. Eine Analyse der geistigen Entwicklung von Hölderlin, Schelling und Hegel bis 1802. Stuttgart 1979; Ch. lamme: "Ein ungelehrtes Buch". Die philosophische Gemeinschaft zwischen Hölderlin und Hegel in Frankfurt 1797-1800. Bonn 1983. 4 Bohlen

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A. III. Die dichterische und denkerische Grundstellung Hölderlins

Heideggers Denkwege in der Nähe der Dichtung Hölderlins weiterführen würde.

2. Hölderlins Geschichtsdenken a) Hölderlins Aufklärungskritik Wie anhand der Spätdichtung Hölderlins im einzelnen zu zeigen sein wird, versteht Hölderlin selbst seine Dichtung als eine Dichtung in der "Mitte der Zeit", von der aus die vergangene Zeit als Zeit der Sehnsucht nach dem Anbruch jener Epoche, die nun begonnen hat, die kommende Zeit als Zeit der Erfüllung dessen, was sich in diesem Beginn ankündigt, zu interpretieren ist. In dieser Stunde des Übergangs, nimmt Hölderlin an, ist es dem Dichter aufgegeben, das Gewesene erinnernd zu bewahren und das Künftige ausdauernd zu erharren, damit so im Horizont der Totalität der Geschichte der Sinn jener Epoche, die sich nun Bahn bricht, sichtbar werde. Dabei sei vorgreifend schon gesagt, daß Hölderlin davon ausgeht, daß die kommende Epoche, die er anzukündigen hat, eine Zeit der Freude, der wesenhaften Erfüllung des Menschen sein wird. In ihr, so hofft er, werde die Menschheit endlich zu wahrer Menschlichkeit finden. Diese Hoffnung spiegelt sich auch in den Briefen Hölderlins wider. So schreibt er während seines Tübinger Studiums an seinen Bruder: "Wir leben in einer Zeitperiode, wo alles hinarbeitet aufbessere Tage. Diese Keime der Aufklärung, diese stillen Wünsche und Bestrebungen Einzelner zur Bildung des Menschengeschlechts werden sich ausbreiten und verstärken, und herrliche Früchte tragen ... 4

Wie aus obigem Zitat ersichtlich, setzt Hölderlin seine Hoffnungen ganz auf die Bildung des Menschengeschlechts. Dabei geht er, jene These übernehmend, welche die Grundstellung der deutschen Aufklärung bestimmt, davon aus, daß mit der Bildung auch die Besserung des Menschengeschlechts einhergehen werde. Der Glaube an die Macht der Aufklärung ist bei dem Studenten Hölderlin noch ganz ungebrochen. Mit ihm verbindet sich die Erwartung, es werde schon bald zu einer umfassenden "Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten"5, d.h. einer grundlegenden Wandlung des Denkens und Fühlens der Menschen, kommen. Und Hölderlin geht davon aus, daß sich die stetige Entfaltung der Menschlichkeit am Ende in der Konstitution einer von Freiheit, Freundschaft und Freude bestimmten Gemeinschaft der Menschen vollenden

• StA VII, 92f. , StA VI I, 229.

2. Hölderlins Geschichtsdenken

51

wird. 6 So stellt er in dem genannten Brief an den Bruder die eigene Dichtung ausdrücklich in den Dienst der Aufklärung. Sie soll die Bildung und Besserung des Menschengeschlechts fördern und so dazu beitragen, den Anbruch der ersehnten Zeit endlich herbeizuführen. 7 Dichtung, "diß unschuldigste aller Geschäffte"s, erhält somit ihre Rechtfertigung dadurch, daß sie als revolutionäres, d.h. die angestrebte "Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten" förderndes, Handeln ausgelegt wird. Diese herausragende Bedeutung, die nicht nur Hölderlin, sondern viele Gebildete seiner Zeit der Dichtung bescheinigen, gründet vor allem in der Annahme, durch die Dichtung könnten die Ideale der Aufklärung dergestalt anschaulich gemacht werden, daß sie nicht länger nur die Gebildeten, sondern das ganze Volk bewegen. Diese Hoffnung manifestiert sich auch im sogenannten "Systemprogramrn"9, das aus dem philosophischen Gespräch Hegels, Hölderlins und Schellings erwachsen ist. Obwohl die Frage, inwieweit Hölderlin an der Entstehung des "Systemprogramms" beteiligt war, bisher ungeklärt ist,1O darf man doch mit Sicherheit davon ausgehen, daß er die entscheidenden Thesen dieses Textes auch im Hinblick auf sein eigenes Dichten und Denken akzeptierte. In ihm wird, ausgehend von dem Gedanken, "der höchste Akt der Vernunft" sei "ein ästhetischer Akt", die Aufhebung der Philosophie in die Dichtung gefordert. Diese soll eine neue Mythologie zur Sprache bringen, denn - so der Verfasser

• Es ist für die Situation in Deutschland gegen Ende des 18. lahrhunderts charakteristisch, daß die Erfahrung, daß die zu elWartende politisch-soziale Revolution ausbleibt, dahingehend gedeutet wird, daß dieser Revolution eine revolutionäre Entfaltung der Menschlichkeit voraufgehen müsse. Sie denkerisch zu ennöglichen ist das Ziel der Philosophie, sie zu fördern und zu verbreiten die Aufgabe der Dichtung. Zum Verhältnis von politisch-sozialer und geistig-kultureller Revolution in Deutschland vgl. lamme, 1983,21-26. 7 Ähnlich legitimiert Schiller in seinen Briefen "Über die ästhetische Erziehung" den Anspruch der Kunst in einer Zeit gesellschaftlicher Umbruche. Unter der Voraussetzung, daß auch die Kunst an der eigentlichen Aufgabe der Zeit, der Konstitution wahrer politischer Freiheit, zu messen sei, vertritt Schiller die These, die Beschäftigung mit ihr sei dadurch zu rechtfertigen, "daß man, um jenes politische Problem in der Erfahrung zu lösen, durch das ästhetische den Weg nehmen muß, weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freyheit wandert." F. Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Im Auftrag des Goethe- und Schiller-Archivs und des Schiller-Nationalmuseums hg. von 1. Petersen u.a .. Weimar 1943ff. Bd. 20: Philosophische Schriften I. Hg. von B. von Wiese. Weimar 1962, 309-412 (312). (Im Folgenden zitiert: NA mit Angabe der Band- und Seitenzahl)

• StA VII, 311. • Zum Folgenden vgl. StA IV 1, 298f. tO Zur Überlieferungs- und Forschungsgeschichte des "Systemprogramms" vgl.: Mythologie der Vernunft. Hegels "ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus". Hg. von eh. lamme/Ho Schneider. Frankfurt/M. 1984.

4"

52

A. III. Die dichterische und denkerische Grundstellung Hölderlins

des "Systemprogramms" - "[ ... ] wir müssen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muß im Dienste der Ideen stehen, sie mus eine Mythologie der Vernunft werden." Durch die Dichtung, welche dem "Systemprogramm" zufolge nur eine mythologische sein kann, sollen die Ideale der Aufklärung anschaulich dargestellt werden, damit sie auch die weniger Gebildeten ansprechen. "Ehe wir die Ideen ästhetisch d.h. mythologisch machen, haben sie rur das Volk kein Interesse und umgekehrt ehe die Mythologie vernünftig ist, muß sich der Philosoph ihrer schämen. [ ... ] die Mythologie muß philosophisch werden, um das Volk vernünftig, und die Philosophie muß mythologisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen. "

Indem die Dichtung den idealen Mythos zur Sprache bringt, stiftet sie das Maß der Existenz des Volkes, jene neue Religion, von der der Verfasser des "Systemprogramms" annimmt, sie werde "das lezte, gröste Werk der Menschheit" sein. Erst in der Konstitution dieser Religion vollendet sich die Aufklärung des Volkes. 11 Denn sie ist der Grund, in dem die von Freiheit und Freundschaft bestimmte Gemeinschaft gründet. Diese Konzeption der "Mythologie der Vernunft" setzt voraus, daß es überhaupt möglich ist, mythische Wahrheiten philosophisch auf den Begriff zu bringen und umgekehrt Vernunftbegriffe mythisch anschaulich zu machen. Daß mythisches Sprechen und philosophisches Denken dergestalt in Beziehung zueinander gesetzt werden, liegt der Dichtung des deutschen Idealismus, insbesondere der Hölderlins zugrunde. So läßt sich Hölderlins Dichtung verstehen als Versuch, die Deutschen auf einen neuen Mythos zu verpflichten und sie auf diese Weise wieder in einen religiösen Kontext einzubinden. Ihre eigentliche Intention ist die Konstitution einer neuen, "ästhetischen Kirche". 12 Eine Anregung von Liebrucks aufgreifend hat Jamme die These verfochten, das Spezifikum der Hölderlinschen Dichtung bestehe darin, daß in ihr der Versuch unternommen werde, die mit der Aufklärung einhergehende Entmythologisierung der Natur, die eine Herrschaft des Menschen über die Natur nach sich zog, durch eine neue, nunmehr philosophisch fundierte, mythische Auslegung der Natur rückgängig zu machen. 13 Jammes Ausführungen bezie-

11 Vgl. dazu den Brief an Hegel vom 26.1.1795, StA VI I, 154ff. (156): "Ich gehe schon lange mit dem Ideal einer Volkserziehung um, u. weil Du Dich gerade mit einem Teile derselben der Religion beschäftigest, so wähl ich mir vieleicht Dein Bild und Deine Freundschaft zum conduclor der Gedanken in die äußere Sinnenwelt, [ ... ]." 12

StA VI I, 330. Vgl. StA III, 32.

" eh. lamme: "Jedes Lieblose ist Gewalt". Der junge Hegel, Hölderlin und die Dialektik der Aufklärung. In: HJb 23 (1982/83) 191-228. Ähnlich B. liebrucks: "Und". Die Sprache Hölderlins in der Spannweite von Mythos und Logos, Wirklichkeit und Realität. Bern, Frankfurt/M., Las

2. Hölderlins Geschichtsdenken

53

hen sich vor allem auf Hölderlins spätes Dichten und Denken, in dem sich, anders als in den Gedichten der Tübinger Zeit, die Einsicht in die Einseitigkeit der deutschen Aufklärung und ihre Folgen ausspricht. Während der schon erwähnte Tübinger Brief an den Bruder noch von einem ungebrochenen Vertrauen in die Aufklärung getragen scheint, deutet der ebenfalls an den Bruder gerichtete Brief vom 21. August 1794, in dem Hölderlin von der "stokfinstern Aufklärung" 14 spricht, nicht nur darauf hin, daß Hölderlin sich in Anbetracht des Terrors in Frankreich und der Rückständigkeit Deutschlands schon bald in seinen Hoffnungen getäuscht sah, sondern auch, daß er früh auf die Folgen einer einseitig auf die Bildung der Vernunft abhebenden Aufklärung aufmerksam wurde. Aufklärung wurde zunächst einseitig mit der Befreiung des Menschen zum selbständigen Gebrauch der Vernunft in eins gesetzt. Demgegenüber trat die Förderung der in der Sinnlichkeit und im Gefühl fundierten Fähigkeiten in den Hintergrund. Das wiederum führte zu einer Bildung der Menschen, die es aufgrund ihrer Einseitigkeit nicht vermochte, wahre Menschlichkeit zu begründen. In der Spätaufklärung wurde daher die Forderung nach einer ganzheitlichen Bildung der Menschen laut, wobei man im Gefolge Schillers davon ausging, daß es sich dabei nur um eine ästhetische Erziehung handeln könne. 15 So fordert auch Hölderlin die Befreiung der Herzen und die Restitution des Einklangs von Sinnlichkeit und Vernunft. 16 Als erstes Dokument einer expliziten Aufklärungskritik Hölderlins ist die metrische Fassung des "Hyperion" anzusehen. Der Text beginnt mit dem Bekenntnis des Erzählers, "die Schule des Schiksaals und der Weisen" habe ihn

Vegas 1979, bes. 349, 363f., 543. Zum geschichtlichen Kontext der Aufklärungskritik Hölderlins vgl. auch: Ch. lamme: Aufklärung via Mythologie. Zum Zusammenhang von Naturbeherrschung und Naturfrömmigkeit um 1800. In: Idealismus und Aufklärung. Kontinuität und Kritik der Aufklärung in Philosophie und Poesie um 1800. Hg. von Ch. Jamme/G. Kur.l. Stullgart 1988,3558 . .. StA VI I, 131. " Zur Kritik der Spätaufklärung an der einseitigen Aufklärung der Vernunft grundlegend G. Sauder: Empfindsamkeit. Bd. I: Voraussetzungen und Elemente. Stullgart 1974. Zu Hölderlin: G. Kurz: Höhere Aufklärung und Aufklärungskritik bei Hölderlin. In: Idealismus und Aufklärung. Kontinuität und Kritik der Aufklärung in Philosophie und Poesie um 1800. Hg. von Ch. Jamme/G. Kurz. Stullgart 1988,259-282. 16 Schon in einem Brief von 1790 an seine Muller stellt Hölderlin der "kalten Vernunft" den "Glauben des Herzens" gegenüber (StA VII, 64). Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf das 1796 entstandene Gedicht" An die klugen Rathgeber" (StA I I, 223f.), in dem Hölderlin die Unterdrückung des Herzens als entscheidendes Hemmnis auf dem Weg zu einer besseren Welt deutet.

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A. III. Die dichterische und denkerische Grundstellung Hölderlins

"[ ... ] ungerecht und tyrannisch gegen die Natur gemacht".17 Im Fortgang der Erzählung wird dann deutlich, daß die Geschichte Hyperions ihren Urspung in der Sehnsucht hat, jene Freiheit, die dem Menschen aufgrund seiner Vernunft zu eigen ist, zu entfalten. Sie führt Hyperion hinaus in die Welt. Sie führt ihn auch zu der "Schule der Weisen", von der Hölderlin in der endgültigen Fassung des Romans sagt: "Ach! wär' ich nie in eure Schulen gegangen. Die Wissenschaft, der ich in den Schacht hinunter folgte, von der ich, jugendlich thöricht, die Bestätigung meiner reinen Freude erwartete, die hat mir alles verdorben. Ich bin bei euch so recht vernünftig geworden, habe gründlich mich unterscheiden gelernt von dem, was mich umgiebt, bin nun vereinzelt in der schönen Welt, bin so ausgeworfen aus dem Garten der Natur, wo ich wuchs und blühte, und vertrokne an der Mittagssonne" ."

Weisheit wird hier in eins gesetzt mit Wissen. Wissen zu erwerben aber bedeutet, das Ganze des Seienden zu verobjektivieren, damit es zum Objekt des Wissens werden kann. Die Wissenschaften bedingen so die Verobjektivierung des Seienden. Als solche begründen sie die Trennung von Subjekt und Objekt. In ihnen lernt der Mensch sich zu unterscheiden von dem, was ihn umgibt. Indem er sich aber von der Natur zu unterscheiden lernt, wird ihm diese als Grenze der eigenen Freiheit deutlich. Das wiederum führt zu einem tyrannischen Verhalten der Natur gegenüber. Solange sie nämlich nur als Grenze der Freiheit erfahren wird, hat es den Anschein, als müsse der Mensch sie um der Freiheit willen beherrschen lernen. Dabei erkennt der Mensch nicht, so kritisiert der Verfasser, daß menschliche Freiheit endliche Freiheit ist, die ihrem Wesen nach darauf angelegt ist, sich an dem, was ist, zu bewähren. Der Widerstand, den die Natur der Freiheit entgegensetzt, ermöglicht die Bewährung der Freiheit. Außerdem muß die Unterdrückung der Natur mit Notwendigkeit in eine Herrschaft des Menschen über sich selbst umschlagen. Denn wenn die Natur lediglich als Grenze der Freiheit angesehen wird, muß der, der um die Entfaltung seiner Freiheit ringt, ständig gegen seine eigene Sinnlichkeit angehen und seine Neigungen zugunsten seiner Pflichten negieren. Insofern der Mensch aber wesenhaft der Natur verbunden ist, stellt die Spaltung von Vernunft und Sinnlichkeit, Pflicht und Neigung, in die er sich immer tiefer hineinbegibt, eine Spaltung seines eigenen Seins dar. Mit der Zerrissenheit des Menschen, die aus der Unterdrückung seiner eigenen Natur resultiert, geht die Herrschaft des einen Menschen über den anderen Menschen einher. Denn die Freiheit des einen begrenzt die Freiheit des anderen. So schlägt die Unterdrückung der Natur in eine Unterdrückung des Menschen durch den Menschen um.

I7

StA III, 186.

'8 StA I1I, 9.

2. Hölderlins Geschichtsdenken

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"Ich wollte zähmen, herrschen wollt ich, richtete Mit Argwohn und mit Strenge mich, und andre. ,,19

Hölderlins frühe Kritik an der Naturfeindlichkeit der Aufklärung findet sich in der endgültigen Fassung des Romans wieder. Als Paradigma eines aufgeklärten aber der Natur entfremdeten Menschengeschlechtes charakterisiert der Verfasser gegen Ende des Romans das Volk der Deutschen. 20 Sie werden als ein Volk geschildert, das die Natur, von der doch alles Werdende ausgeht, in die alles Seiende geborgen ist, und in die alles Vergehende zurückkehrt, mißachtet. Weder können sie den Gang der Natur, das Werden und Vergehen, das auch ihr Sein bestimmt, annehmen, noch sind sie in der Lage, die Zwiefalt von Natur und Freiheit, Sinnlichkeit und Vernunft in sich zum Ausgleich zu bringen. 21 Während in der Zerrissenheit der Deutschen das Wesen einer Epoche anschaulich wird, in der die Trennung von Natur und Freiheit immer schmerzlicher erfahren wird, verkörpern die Athener ein Menschengeschlecht, das sich weder von der Natur beherrscht wähnte noch danach trachtete, sich die Natur zu unterwerfen. 22 Die Athener, führt Hyperion aus, fühlten sich eins mit der Natur. Darum hielten sie es für selbstverständlich, nach dem Übersinnlichen bzw. Idealen zu streben, ohne das Sinnliche bzw. Reale zu verleugnen. Dies führt Hölderlin in seinem Roman darauf zurück, daß den Athenern ein Schicksal beschieden war, welches keinen Bruch der Einheit von Natur und Kunst aufwies. 23 Ihre Geschichte sei völlig ungestört verlaufen, wodurch es ihnen möglich gewesen sei, ihre angeborenen Anlagen frei zu

19

StA III, 187.

20

StA III, 153-156.

21 Den Deutschen im "Hyperion" entsprechen die Agrigentiner im "Empedokles"-Projekt. Im "Grund zum Empedokles" wird Empedokles als Opfer einer Zeit, die durch den Gegensatz von Natur und Kunst bestimmt ist, bezeichnet. Er habe zum religiösen und politischen Reformator werden müssen, um "die freigeisterische Kühnheit, dieses negative Räsonniren, Nichtdenken des Unbekannten" der Agrigentiner zu überwinden (StA IV I, 158). Während die Agrigentiner vergeblich versuchen, die Natur durch abstrakte Begriffe zu durchschauen und zu beherrschen, weiß sich Empedokles einig mit ihr. 22

Vgl. StA III, 77f.

Schon in seinem Magisterspezimen über die "Geschichte der schönen Künste unter den Griechen" (StA IV 1, 189-206), das als erstes Dokument der intensiven Beschäftigung Hölderlins mit den Griechen gelten kann, vertritt Hölderlin die These, der "Nationalgeist" dieses Volkes sei durch die Kunst von Grund auf bestimmt gewesen. Dies führt er sodann auf eine Eigenschaft zurück, die den Griechen seiner Meinung nach von Natur aus zukam: ihre Empfänglichkeit für das Schöne. Da mit ihr eine natürliche Freiheit und ein angeborener Heldenmut verbunden gewesen sei, habe sich mit zunehmender Entfaltung der Kunst auch die von einer wahren Demokratie geprägte Verfassung der Polis gefestigt. Auch dieser Aufsatz schließt mit dem Hinweis, es sei den Griechen nicht möglich gewesen, sich auf dem Zenit ihrer Kultur zu halten. 21

56

A. III. Die dichterische und denkerische Grundstellung Hölderlins

entfalten. "Sich selbst überlassen, wie der werdende Diamant, ist ihre Kindheit. 024 Indem die Athener nur entfaltet hätten, was ihnen von Natur aus mitgegeben gewesen sei, seien sie dem Plan der Natur entsprechend ihrer Vollendung entgegengegangen. Erst als sie in ihrer vollendeten Menschennatur gefestigt gewesen seien, wäre es auch zur Ausbildung von Kunst und Religion gekommen. Die Kunst sei ihnen der Spiegel gewesen, in dem sie sich in ihrer eigenen Schönheit anschauten, die Religion das Fest, in dem sie sich in ihrer Göttlichkeit feierten. Die Natur aber müsse angesehen werden als der Ursprung, von dem Kunst und Religion ausgingen, und zugleich als das Ziel, dem sie entgegengingen. "Das erste Kind der menschlichen, der göttlichen Schönheit ist die Kunst. In ihr veljüngt und wiederholt der göttliche Mensch sich selbst. Er will sich selber fiihlen, darum stellt er seine Schönheit gegenüber sich. So gab der Mensch sich seine Götter. Denn im Anfang war der Mensch und seine Götter Eins, da, sich selber unbekannt, die ewige Schönheit war. ,,25

Kunst und Religion der Athener stellten demnach ein integratives Moment des teleologisch interpretierten Geschichtsgangs der Natur dar, dessen Telos die vollkommene Entfaltung dieses Volkes zu sein schien. Dabei steht für Hölderlin fest: "Der Mensch ist aber ein Gott, so bald er Mensch ist. Und ist er ein Gott, so ist er schön. ,,26 Sich zur wahren Menschlichkeit zu erheben, meint dann aber, seiner eigenen göttlich-schönen Natur inne zu werden, sie zu entfalten und sich dadurch immer mehr in die Totalität der Natur zu integrieren, die als das Ganze, von dem der Mensch nur ein Teil ist, das Göttliche schlechthin ist. Gerade diese Einigkeit des "Gottes in uns"27 mit dem Göttlichen überhaupt bestimmte Hölderlin zufolge das Dasein der Athener: "[ ... ] es war ein göttlich Leben, und der Mensch war da der Mittelpunkt der Natur. ,,28 Mit dem Untergang Athens aber zerfiel die Einheit von Natur und Kunst. Es begann jenes Zeitalter, in dem die Menschen "[ ... ] der Hülfe [ ... ], womit die Natur dem großen Geschäfte der Bildung entgegenkömmt [ .. .]"29, nicht mehr achteten und statt dessen versuchten, sich die Natur zu unterwerfen, wobei die

24 StA III, 78. Mit dieser These überträgt Hölderlin das von Rousseau entworfene Ideal einer negativen Erziehung auf die Geschichte einer Kultur.

" StA III, 79. 26

StA 111, 79.

27

Zu der johanneischenWendung "der Gott in uns" vgl. StA III, 16f., 29, 89,104,167 U.ö.

2. StA III, 84. 29

StA III, 186.

2. Hölderlins Geschichtsdenken

57

Natur dem Menschen in dem Maß, in dem er sich von ihr entfernte und entfremdete, bedrohlicher wurde. 30 Je mehr das Leid, welches die Trennung nach sich zog, wuchs, umso deutlicher wurde, daß die Restitution der Einheit mit der Natur das Ideal sei, das zu erstreben dem Menschen aufgegeben ist, insofern es ihm wesenhaft darum geht, mit sich selbst eins zu sein. b) Der Gang der Geschichte Die Einsicht, Aufgabe der Dichtung sei die Restitution der Einheit von Mensch und Natur, verbindet Hölderlin auf der Ebene seiner dichterischen und denkerischen Besinnung, die sich in den vorläufigen Fassungen des "Hyperion" ausspricht, mit einer Geschichtsauffassung, die im Vorwort des sogenannten Thalia-Fragments durch den Begriff der "exzentrischen Bahn" angezeigt wird. "Die exzentrische Bahn, die der Mensch, im Allgemeinen und Einzelnen, von einem Punkte (der mehr oder weniger reinen Einfalt) zum andern (der mehr oder weniger vollendeten Bildung) durchläuft, scheint sich, nach ihren wesentlichen Richtungen, immer gleich zu seyn. ,,"

Demnach ist die Geschichte des einzelnen Menschen wie die der Menschheit durch eine "exzentrische Bahn" definiert. 32 Ihre Pole, "reine Einfalt" und "vollendete Bildung", können nur "mehr oder weniger" erreicht werden. Sie stellen jene Zustände dar, zwischen denen das Dasein des Menschen geschieht

30 Vgl. dazu die Vorrede zur vorletzten Fassung des "Hyperion": "Wir sind zerfallen mit der Natur, und was einst, wie man glauben kann, Eins war, widerstreitet sich jezt, und Herrschaft und Knechtschaft wechselt auf beiden Seiten. Oft ist uns, als wäre die Welt Alles und wir Nichts, oft aber auch, als wären wir Alles und die Welt nichts." (StA II1, 236) In der endgültigen Fassung des Romans gelangt Hyperion erst im Durchgang durch jenen Reflexionsprozeß, der sich in seinen Briefen dokumentiert, zu der Einsicht, daß die Herrschaft über die Natur, unter der er selbst leidet, dem Zerfall der Einheit des Seins entspringt. Ehe dies geschieht, muß er sie als unerklärliches und schmerzliches Faktum hinnehmen. "Wie ists denn nun? wie bist du denn zur Magd geworden, griechische freie Natur?" (StA II1, 107)

" StA II1, 163. 32 Zum Begriff der "exzentrischen Bahn" vgl. W. Schadewaldt: Das Bild der exzentrischen Bahn bei Hölderlin. In: HJb 6 (1952) 1-16. Gegen die von Schadewaldt vertretene Interpretation der exzentrischen Bahn als Ausdruck des bipolaren menschlichen Wesens hat L. Ryan: Hölderlins "Hyperion". Exzentrische Bahn und Dichterberuf. Stuttgart 1965, Einspruch erhoben. Seiner Meinung nach handelt es sich bei der exzentrischen Bahn um ein Bild rur die Geschichte des Menschen, der aufgrund seiner Selbstbezüglichkeit immer wieder vom Zentrum, der Totalität der Natur, abirrt, um erneut in sie einzukehren. F. Strack: Ästhetik und Freiheit. Hölderlins Idee von Schönheit, Sittlichkeit und Geschichte in der Frühzeit. Tübingen 1976, 179-220, hat diese Auslegung dahingehend präzisiert, daß dabei weder die Tendenz des Menschen, sich als Selbst zu ergreifen, negativ bewertet, noch das Ziel der "exzentrischen Bahn" mit ihrem Ausgangspunkt in eins gesetzt werden dürfe, insofern der Mensch im Telos der Geschichte im höchsten Sinne er selbst und zugleich eins mit dem Ganzen sei. Dieser Interpretation schließen wir uns an.

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A. III. Die dichterische und denkerische Grundstellung Hölderlins

und denen man sich nur assymptotisch annähern kann. Menschsein bedeutet, von einem "Zustand der höchsten Einfalt" aus nach einem "Zustand der höchsten Bildung", wie Hölderlin die Pole in dem schon in Waltershausen entstandenen Fragment "Über das Gesez der Freiheit"33 nennt, zu streben. In beiden Zuständen ist der Mensch eins mit der Natur. Die Einheit begriindend aber ist im Zustand der Einfalt "die bloße Organisation der Natur"; im Zustand der Bildung entsteht sie durch die" Organisation, die wir uns selbst zu geben im Stande sind".34 Die Bahn, die von einem zum anderen Pol zu durchlaufen ist, ist durch die Trennung des Menschen als des einzelnen und sich von dem Ganzen auch immer mehr vereinzelnden bestimmt. Auch in dem Fragment "Über das Gesez der Freiheit" unterscheidet Hölderlin einen gewesenen "Naturzustand", in dem Mensch und Natur noch eins waren, den Zustand der Geschichte, die durch die Trennung der bei den geprägt ist, sowie einen künftigen "vesten Zustand", in dem der Mensch die Trennung von der Natur wieder überwunden haben wird. Die Geschichte des Menschen tendiert demzufolge auf die Restitution des urspriinglichen Zustandes in einem endgültigen Zustand hin. Dabei kann Restitution hier nicht meinen, daß der Mensch am Ende wieder einfältig eins würde mit der Natur. Daß er sich nur in der Distanz zur Natur als Selbst begreifen konnte, rechtfertigt nicht nur die Aufhebung des urspriinglichen Zustandes. Damit ist auch schon gesagt, daß der Ursprung der Geschichte nie mehr ganz eingeholt werden kann. Denn sobald der Mensch sich auf sich qua Selbst besinnt, findet er sich schon in der Distanz zur Natur vor. Gelänge es ihm, diese Distanz völlig zu überwinden, gäbe er sich als Selbst auf. Der "veste Zustand" stellt daher eine Wieder-holung des "Naturzustands" dar, in dem das einst Gewesene als nunmehr eigentlich Angeeignetes wiedererlangt wird, und zwar derart, daß die Einheit von Natur und Freiheit nun in die Versöhnung bei der verwandelt wiederkehrt. Der Mensch kann nicht in den Ursprung seines Geschichtsgangs einkehren. Hölderlin nimmt aber nun gleichsam das Telos der Geschichte, die Einheit von Mensch und Natur, in welcher der Mensch wahrhaft frei ist, da es ihm gelungen ist, Natur und Freiheit in sich zu versöhnen, in die Geschichte hinein, indem er sie im Dasein der Athener als eine gewesene und somit auch wiederhol bare Möglichkeit verdeutlicht. Am Paradigma der Griechen zeige sich, daß Natur und Kunst schon einmal eine Einheit bildeten. Darum bürge dieses Volk dafür, daß die Trennung von Natur und Kunst, die sich in den Spaltungen von Natur und Freiheit, Sinnlichkeit und Vernunft, Neigung und Pflicht, und auch in der Spannung von Natur und Wissenschaft bzw. Technik

" StA IV I, 211 f. 14

StA III, 163, vgl. ebd. 180.

2. Hölderlins Geschichtsdenken

59

wiederholt, überwunden werden könne. In Anbetracht der Not der Zeit um 1800 ist es Hölderlin zufolge erforderlich, daß die Menschen dessen wieder eingedenk werden, daß sie selbst nur ein Teil der Natur sind. Descartes' These widerrufend, betont Hölderlin, die Menschen seien nicht dazu berufen, "Herrn und Meister" der Natur zu sein. Ihre Aufgabe sei es, sich von der Natur in den Brauch nehmen zu lassen, damit diese in das Telos ihrer eigenen Geschichte gelangen könne. In einem Brief vom 4. Juni 1799 geht Hölderlin ausführlich auf das "Paradox" ein, "[ ... ] daß der Kunst- und Bildungstrieb [ ... ] ein eigentlicher Dienst sei, den die Menschen der Natur erweisen", und fordert Philosophie, Kunst und Religion auf, dazu beizutragen, "[ ... ] daß sich der Mensch, dem die Natur zum Stoffe seiner Thätigkeit sich hingiebt, den sie, als ein mächtig Triebrad, in ihrer unendlichen Organisation enthält, daß er sich nicht als Meister und Herr derselben dünke und sich in aller seiner Kunst und Thätigkeit bescheiden und fromm vor dem Geiste der Natur beuge, den er in sich trägt, den er um sich hat, und der ihm Stoff und Kräfte giebt; ,,35

Dazu möchte Hölderlin in seiner Dichtung beitragen. Dabei geht es ihm keineswegs darum, die Aufklärung rückgängig zu machen, sondern darum, den Deutschen einen Weg zu eröffnen, auf dem sie im Durchgang durch die Aufklärung zu einer neuen Einheit mit der Natur finden können. Darum begnügt er sich in seiner Dichtung auch nicht damit, die Mythen der Griechen nur in Erinnerung zu rufen. Er versucht vielmehr, den Menschen ihre Eingebundenheit in die Natur in einer neuen Mythologie, die man durchaus als eine "Mythologie der Vernunft" verstehen darf, deutlich zu machen. Wir wenden uns nun der späten Dichtung Hölderlins zu. Wir beschränken uns dabei weitgehend auf die Gedichte "Germanien" , "Wie wenn am Feiertage ... ", "Der Rhein", "Der Ister" , "Andenken" und "Heimkunft/An die Verwandten", da nur zu diesen Gedichten eingehende Interpretationen Heideggers vorliegen. Dabei erfolgt unsere Annäherung an die Gedichte stets in zwei Schritten: In einem ersten Schritt versuchen wir, das Gedicht textimrnanent, d.h. im Durchgang durch die einzelnen Strophen, zu verstehen. Dieses Auslegungsverfahren wurde gewählt, weil es der Methode, die den Heideggerschen Interpretationen zugrunde liegt, weitgehend entspricht. Dabei ist zu betonen, daß es uns dabei lediglich um eine Lektüre der Gedichte geht, aus der hervorgeht, wie Hölderlin in ihnen die Einheit von Mensch und Natur zur Sprache bringt. Dies bedeutet, daß wir nur auf einige Forschungsfragen aufmerksam machen, auf eine ausführliche Darstellung der Rezeption der Hölderlinschen Dichtung sowie eine eingehende Diskussion der strittigen Fragen zur Interpretation aber verzichten werden. Ausgehend von unserer Lektüre

" StA VII, 329.

60

A. 111. Die dichterische und denkerische Grundstellung Hölderlins

geht es uns dann in einem zweiten Schritt darum, die philosophischen Implikationen der dichterischen Darstellung des Menschen und der Natur herauszuarbeiten und im Rückgriff auf andere Texte Hölderlins nachzuvollziehen. Unser Ziel ist es, die Grundgedanken der Hölderlinschen Konzeption einer neuen Naturmythologie darzulegen und zu zeigen, wie diese in seiner Dichtung zur Sprache kommt. Es wird dann an Heideggers HölderlinInterpretationen die Frage zu stellen sein, ob diese - abgesehen von Fehlern in der Auslegung einzelner Verse und Strophen - doch im Ganzen der Intention Hölderlins gerecht werden. c) "Germanien": Dichtung des geschichtlichen Wesens der Deutschen Der vermutlich noch im Jahre 1801 entstandene Gesang "Germanien"36 besteht aus sieben sechzebnzeiligen Strophen. Er kündet von dem Geschick, zu dem "Germania" erwählt ist. Dieses Geschick wird in der vierten Strophe, die das Zentrum des Gedichts bildet, eigens genannt: "'Du bist es, auserwählt, , Allliebend und ein schweres Glük 'Bist du zu tragen stark geworden,"

01.

62ff.)

Die ersten drei Strophen führen auf das Ereignis dieser Erwählung hin, die letzten drei Strophen machen deutlich, worin diese eigentlich besteht. Das Gedicht beginnt mit der Besinnung des Dichters auf die geschichtliche Situation, in der er sich befindet. Die Götter, die "in dem alten Lande", d.h. Griechenland verehrt wurden, und die das Dasein der Griechen bestimmten, sind entflohen. Der Dichter darf die alten Mythen und Sagen, die von den Göttern Griechenlands handeln, nicht einfach wiederholen. (V. Hf.) Auch darf er den einst erschienenen Göttern nicht nur als den unwiderruflich Entflohenen nachtrauern. "Und riikwärts soll die Seele mir nicht fliehn Zu euch, Vergangene! die zu lieb mir sind." 01. 12f.)

Begründet wird dieser Verzicht, den der Dichter sich selbst zuspricht, in den Versen 14 bis 16. Der Dichter fürchtet, es könne tödlich sein, das Göttliche nochmals so zu schauen, wie es einst erschien. Dahinter verbirgt sich die Einsicht, daß die Menschen die Offenbarkeit des Göttlichen nur zu Zeiten ertragen können. Wenn Göttliches offenbar wird, müssen sie ihm im Grunde ihres eigenen Seins standhalten. So wie die Griechen einst dem Anspruch der Götter entsprachen, ist es dem Dichter und den Menschen seiner Epoche offenbar nicht mehr möglich. Darum können die entflohenen Götter nicht zurückgerufen

l6

Text: StA II I, 149-152; Erläuterungen: StA II 2, 738-742.

2. Hölderlins Geschichtsdenken

61

werden. Doch der Dichter weiß auch, daß jene Einkehr bei der griechischen Erfahrung des Göttlichen, die diese nur als unwiederbringlich vergangene betrauert und sich so im Vergangenen verliert, ebenfaIls tödlich sein wird. Denn sie eröffnet keine Zukunft, sondern hebt den Gang der Geschichte selbst auf. Die Götter, die in der ersten Strophe als die Vergangenen bezeichnet werden, werden zu Beginn der zweiten Strophe nochmals angesprochen: "Entflohene Götter! auch ihr, ihr gegenwärtigen, damals Wahrhaftiger, ihr hattet eure Zeiten!" ('I. l7f.)

Die Einsicht in die Zeitlichkeit der Götter und die Offenbarkeit des Göttlichen wird dem Dichter zum Grund der Hoffnung, es könne wieder eine andere Zeit kommen, in der die Götter erneut bei den Menschen einkehren. Die Ahnung der Wiederkehr der Götter, die schon in der ersten Strophe anklingt, bricht in der zweiten Strophe durch. Die Götter drängen erneut heran, sie erscheinen wieder. Dabei wandelt sich der Charakter der Offenbarkeit des Göttlichen. Dergestalt hat auch das Göttliche seine Zeiten - seine Geschichte. Der Dichter entfaltet dann aber in der zweiten Strophe erst einmal das Wesensgesetz der dürftigen Zeit als der Zeit, in der sich die Götter den Menschen entziehen. Die Flucht der Götter trifft zuerst diejenigen, die eigens zu ihrem Dienst besteIlt sind: die Priester, mit denen sich der Dichter offenbar identifiziert. Dann aber zerfallen auch Tempel, Bild und Sitte (V. 22). Religion, Kunst und Moralität vermögen die Menschen nicht mehr an sich zu binden. Dunkelheit, Sinnlosigkeit breitet sich aus. "Nur als von Grabesflammen, ziehet dann Ein goldner Rauch, die Sage drob hinüber," ('I. 24f.)

In den alten Sagen und Mythen erinnert man sich der Anwesenheit der Götter. Dadurch bewahrt man das Andenken an das Göttliche. Weil in den Sagen die Dimension des Göttlichen offengehalten wird, bieten sie zugleich die Gewähr dafür, daß die Menschen den Fehl der Götter als solchen empfinden und eine neue Ankunft der Götter erwarten. Daß diese sich in Kürze ereignen wird, darauf deutet schon aIles hin. "Denn die da kommen soHen, drängen uns, Und länger säumt von Göttermenschen Die heilige Schaar nicht mehr im blauen Himmel" ('I. 30ff.)

Der Himmel, von dem es schon in der ersten Strophe hieß, daß er die Menschen ahnungsvoll umschatte, wird jetzt zu der Sphäre, die die gewesenen Götter in sich birgt und aus der sie erneut herannahen. Die Natur ist hier der Bereich, in dem sich die Flucht und das Erscheinen der Götter ereignet. Aus ihr heraus spricht sich dem Menschen Göttliches zu. So ist es denn auch verständlich, daß sich die Sehnsucht des Dichters in der ganzen Natur

62

A. III. Die dichterische und denkerische Grundstellung Hölderlins

widerspiegelt. Das Land verharrt in der Erwartung des Kommenden. Der Himmel ist voller Ahnungen. Die Ströme sehnen die Götter herbei (V. 6-9). Daß der Dichter in seiner Sehnsucht vor allem die "Wasser der Heimat" anspricht, und sich die dichterische Besinnung auf das Göttliche somit als Gespräch des Dichters mit den Strömen, die das Land durchziehen, entfaltet, erklärt sich von daher, daß das Wesen der Ströme dem Wesen der Dichter entspricht. Wie wir anband der Stromdichtungen Hölderlins ausführlicher darlegen werden, begründet der Dichter das geschichtliche Dasein der Menschen, das stets dichterisch geschieht. Ebenso ermöglichen die Ströme das Wohnen der Menschen auf der Erde, indem sie das Land urbar machen. Nachdem er das Gesetz der dürftigen Zeit entfaltet hat, wendet sich der Dichter in der dritten Strophe wiederum der Natur zu, die die neue Ankunft der Götter erwartet. Nun aber weitet sich für ihn die Landschaft und gibt den Blick über die Grenzen der Heimat hinaus frei bis in den Orient. Wie aus den Hymnen "Am Quell der Donau"37 und "Der Ister"38 ersichtlich wird, ist der Orient die Stätte, die den Ursprung der Sprache und zugleich den Anfang der Geschichte der Menschheit birgt. Daß die Geschichte der Sprache und die Geschichte der Menschheit ineins zu setzen sind, ist verständlich, insofern der Mensch erst in der Sprache - im ursprünglich gesprochenen Wort "Ich" - zu sich kommt. Damit beginnt dann aber auch jene Geschichte, in der der Mensch sich von sich aus als Mensch entfaltet, die Geschichte der Kultur. Die Erinnerung an das Gewesene und Erwartung des Kommenden, die in den beiden ersten Strophen vollzogen wurde, verbindet sich nun mit einer intuitiven Erfahrung der Totalität der Geschichte. Da der Dichter einer solchen Erfahrung, die ihn über sein geschichtlich gebundenes Dasein erhebt, kaum standhalten kann, tritt er hinter dem Mann, den vom Orient her "der Wandlungen viele bewegen" (V. 38), zurück. Der Mann schaut den in den Versen 42 bis 48 geschilderten Flug des Adlers, der, von Asien kommend, über Griechenland und Italien fliegt und dann sogar die Alpen überschwingt. In dem Flug des Adlers wird die Geschichte der Menschheit, die identisch ist mit der Geschichte der Sprache, sichtbar. Daß Hölderlin Asien, Griechenland und Italien als die entscheidenden Stufen im Gang dieser Geschichte ansieht, zeigt, wie sehr er der Tradition des deutschen Idealismus verhaftet ist. Asien steht hier für den Ursprung, in den erneut einzukehren unmöglich ist. Griechenland und Italien stellen den ersten Zenit der Zeiten dar, die Zeit eines Menschentums, das eins war mit dem Ganzen. Der Flug des Adlers suggeriert sodann, die Geschichte strebe einem neuen Gipfel entgegen, der in Deutschland zu verorten sein werde. Denn der Adler sieht zwar die Vielfalt der Länder

37

StA II I, 126-129.

" StA II I, 190ff.

2. Hölderlins Geschichtsdenken

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nördlich der Alpen. Aber er ist gesandt zu "Gennania", die, wie zu zeigen sein wird, das Wesen der Deutschen verkörpert. "Gennania" wird als "die stillste Tochter Gottes", "die zu gern in tiefer Einfalt schweigt", bezeichnet (V. 49f.). In tiefer Einfalt verharrend, bleibt Gennania von den Stünnen der Zeit, die Hölderlin in den Revolutionswirren und kämpfen zu seiner Zeit toben sieht, in ihrem Eigensten unberührt. In der Unschuld ihres Herzens ahnt sie "ein Besseres", d.h. eine wahre Wende der Zeiten, der sie ihre ganze Aufmerksamkeit schenkt. Dies erkennt der Adler und gewinnt darin seine Jugend wieder. Alles deutet darauf hin, daß der Gang der Geschichte nun unterbrochen ist und eine neue Zeit anbrechen wird, in der die Götter sich den Menschen wieder zuwenden werden. Lächelnd verkündet der Adler, der Bote der Götter, die Berufung Germanias. Sie ist dazu auserwählt, "ein schweres Glük" zu tragen (V. 62f.). Wie bereits angedeutet, resultiert die Schwere des verheißenen Glücks daraus, daß diesem Glück nur derjenige gerecht wird, der ihm in der Grundhaltung seines Daseins entspricht. Wie aus anderen Gedichten hervorgeht 39 , sieht Hölderlin vor allem zwei Wege, auf denen der Mensch das Glück verfehlt. Einerseits kommt es vor, daß der Mensch sich an das Glück derart gewöhnt, daß er vergißt, daß nicht er es ist, der seinem Dasein Sinn verleihen kann, sondern daß es sich dabei stets um eine Gabe der Götter handelt, denen er Dank schuldet. Andererseits ist es aber auch denkbar, daß der Mensch so sehr im Glück aufgeht, daß er vergißt, sein Dasein in die Hand zu nehmen. Dem schweren Glück standhalten, bedeutet, die Gabe der Götter dankbar anzunehmen und aus ihr heraus sein Dasein sinnvoll zu gestalten. Dazu mußte auch Gennania erst heranreifen. Die Botschaft des Adlers wird im Folgenden weiter entfaltet. Als Germania noch nicht erwacht war, und als sie noch nicht wußte, wer sie sei, d.h. als sie ihre geschichtliche Sendung noch nicht kannte, da hatten die Götter sie schon erwählt. So ließen sie ihr, als sie sich den Menschen einst entzogen, ein Freundeszeichen zurück. Sie schenkten ihr "die Blume des Mundes", die Sprache (V. 70f.). Obwohl Germania in der langen Zeit, in der sich die Götter verbargen, nur einsam redete, d.h. ihr Sprechen kaum Gehör fand, wirkte es doch hinein in die Zeit. "Doch Fülle der goldenen Worte sandtest du auch, Glükseelige! mit den Strömen und sie quillen unerschöpflich In die Gegenden all. [ ... ]" (V. 73 ff.)

,. Vgl. dazu V. 81-88 der Elegie "Brod und Wein" (StA 11 1, 92) und V. 22-29 der zweiten Fassung der Hymne "Griechenland" (StA 11 1, 256). Auch in V. 204f. der Rhein-Hymne (StA 11 1, 148) stellt Hölderlin fest: "Denn schwer ist zu tragenl Das Unglük, aber schwerer das Glük." Gemeint ist das Ereignis des Brautfestes von Menschen und Göttern, dem standzuhalten nur wenige in der Lage sind.

64

A. III. Die dichterische und denkerische Grundstellung Hölderlins

In diesen Versen wird die schöpferische Macht der Sprache deutlich. Weil sie es ist, die das Menschsein der Menschen überhaupt ermöglicht, wird sie mit den Strömen, in denen der Dichter den Grund menschlichen Dasein schaut, ausgesandt. Die fünfte Strophe schließt mit dem Gedanken, daß "Germania" in ihrem Wesen "der Mutter", die die Mutter von allen und allem ist, entspricht. Denn wie in ihr so waltet auch in "Germania" der Streit von Liebe und Leid, Ahnung und Frieden (V. 75-80). In den beiden folgenden Strophen fordert der Adler "Germania" mehrfach auf, "die Mutter" zu nennen. Denn "[ ... ] bei dem Nahmen derselben/ Tönt auf aus alter Zeit Vergangengöttliches wieder" (V. 99f.). Indem sie genannt wird, spricht sich wie einst in den alten Sagen und Mythen Göttliches zu. Aber die Erfahrung des Göttlichen, mit der die neue Zeit beginnt, hat sich grundlegend gewandelt. "Wie anders ists! und rechthin glänzt und spricht Zukünftiges auch erfreulich aus den Femen." (V. 101f.)

Die erhoffte Zukunft gründet in einer neuen Erfahrung des Göttlichen. Dabei spricht der Dichter das Sein des Göttlichen nicht aus. Denn er weiß, daß derjenige schuldig wird, der danach trachtet, das Göttliche auf den Begriff zu bringen. Darum fordert er "Germania" auf: "Dreifach umschreibe du es, Doch ungesprochen auch, wie es da ist, Unschuldige, muß es bleiben" (V. 94ff.)

Es gilt demzufolge, im dichterischen Namen der Mutter das Göttliche zu evozieren, und zwar so zu evozieren, daß es dabei nicht ausgesprochen, d.h. definiert wird. Was zwar evoziert aber nicht definiert werden darf, ist das an sich Unaussprechliche, das Ab-solute, das sich aufgrund seines eigenen unendlichen Wesens von der Sprache, die stets endliche Sprache ist, immer schon absolviert hat. Im Gegensatz zur Definition mittels des zutreffenden Begriffs weist das Nennen des mythischen Namens auf das Unaussprechliche als solches hin. Das Unaussprechliche ist "die Mutter", die einer Lesart zufolge "den Abgrund trägt "40 , die Natur als der verborgene Grund, von dem alles ausgeht und in den alles zurückkehrt. Der Dichter verfehlt seine Berufung aber nicht nur, wenn er das Unaussprechliche ausspricht, sondern sogar schon dann, wenn er es zur Unzeit nennt. "Denn Sterblichen geziemet die Scbaam" (V.87), stellt der Dichter fest und führt aus, daß die Menschen das Göttliche in den Zeiten, in denen es sich entzieht, nur via negativa nennen dürfen. Dann nennen sie "die Mutter" nicht beim Namen, sondern heißen sie nur "die Verborgene". Nur "zwischen Tag

.. Vgl. die Lesart zu V. 76, StA II 2, 739.

2. Hölderlins Geschichtsdenken

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und Nacht", in der Zeit des Übergangs, ist es an der Zeit, "die Mutter" zu nennen. Noch aber waltet der Aether, der Geist, der der dritten Strophe zufolge den Gang der Geschichte bestimmt, im Stillen. Noch ist der Anbruch der neuen Zeit nicht erfolgt. 41 Aber an den Feiertagen, an denen man des gewesenen und kommenden Göttlichen eingedenk ist, gibt Germania "[ ... ] wehrlos Rath [ ... ] rings/ Den Königen und den Völkern." (V . lllf.). Halten wir fest. Hölderlin betont die Eingebundenheit des Dichters in die Natur. Mit ihr ist er eins und zwar aufgrund der Stimmungen, die sowohl ihn als auch die ihn umgebende Natur bestimmen. Die Natur kann dem Dichter zur Sphäre werden, aus der heraus ihn Göttliches anspricht. Die Erfahrungen des Göttlichen, welche dem Wandel der Zeiten unterworfen sind, verdichten sich nunmehr, nach langer Zeit der Verborgenheit des Göttlichen, zur Ahnung des Wesens "der Mutter". Der Name "die Mutter" nennt die Natur, nun aber nicht mehr als eine Sphäre des Seienden, die etwa von der der Geschichte abzugrenzen wäre, sondern als den Grund, aus dem alles hervorgegangen ist, und der - darauf deutet die getilgte Lesart hin - zugleich der Abgrund ist, in den alles wieder eingehen wird. In den Zeiten des Übergangs entbirgt sich der abgründige Grund, und zwar als der ansonsten verborgene. Er ist der unendliche, der auch in den Zeiten, da er erfahrbar wird, die Erfassung durch den endlichen Begriff verwehrt. Wie aus der Hymne "Germanien " ersichtlich, sind nicht nur die Tübinger Hymnen, sondern auch die sogenannten "Vaterländischen Gesänge" von dem Glauben an eine Zukunft, in der der Mensch wahrhaft Mensch sein wird, getragen. Dies mag unter anderem darauf zurückzuführen sein, daß Hölderlin sich durch den Friedensschluß von Luneville vom 9. Februar 1801 in seinen Hoffnungen bestärkt sah, gab er doch Anlaß zu der Erwartung, die Zeit der Revolutionskriege, die in der vorliegenden Hymne in den Metaphern des bedrohlichen Sturms (V. 52f.) und des ernsten Zorns am Himmel (V.91) anklingt, sei nun bald vorüber. Von daher glaubt Hölderlin, die vergangene bzw. vergehende Zeit als Zeit der zögernden Ankunft einer Epoche des Heils interpretieren zu können. 42 Wie die Interpretation von "Germanien " ergab,

4' Für diese Interpretation spricht auch die Fortsetzung des Gesangs '"Der Mutter Erde", in der der Dichter sagt, lange habe man der Mutter dunkle Namen gegeben, '"[ ... ) denn es schä-!met, sein Liebstes zu nennen, sich von Anfang der Mensch, doch! wenn er Größerem sich genaht, und der Hohe hat es geseegnet, dann! nennt [er], was ihm eigner ist, beim eigenen Nahmen.! und siehe mir ist, als hört' ich den großen Vater sagen,! dir sei nun die Ehre vertraut, und! Gesänge sollest du empfangen in seinem Nahmen," (StA II 2, 683). 42 Vgl. Hölderlins Brief an die Schwester vom 23.2.1801, StA VI I, 413f.: "Ich glaube, es wird nun recht gut werden in der Welt. Ich mag die nahe oder die längstvergangene Zeit betrachten, alles dünkt mir seltne Tage, die Tage der schönen Menschlichkeit, die Tage sicherer, furchtloser Güte, und Gesinnungenherbeizuführen, die eben so heiter als heilig, und eben so erhaben als

5 Bohlen

66

A. III. Die dichterische und denkerische Grundstellung Hölderlins

geht Hölderlin davon aus, daß Deutschland, das "heilig Herz der Völker"43, dazu berufen sei, die endgültige Ankunft dieser Tage dichterisch und denkerisch zu ermöglichen. Denn, führt Hölderlin in dem schon erwähnten Brief an Ebel vom 10. Januar 1797 44 aus, Deutschland ist ein stilles und bescheidenes Land, in dem viel gedacht und gearbeitet wird. Und es ist gerade der Ernst, den Hölderlin als Grund dafür angibt, daß die Deutschen dazu berufen sind, den anderen Völkern "wehrlos Rath" zu geben. Dieses stille und bescheidene Volk wird in der Hymne "Germanien" besungen. Dabei ist es nun aber wichtig zu sehen, daß das in "Germanien" zur Anschauung gebrachte Wesen der Deutschen gerade nicht das Wesen jenes Volkes ist, das Hölderlin im "Hyperion" vor Augen hat. Dieses steht für ein Menschengeschlecht, das sich durch die Entmythologisierung und Erforschung der Natur nahezu vollständig von ihr entfremdet hat. Weil es sich ausschließlich auf sein Wissen und Erkennen beruft, ist es "tiefunfähig jedes göttlichen Gefühls" .45 Die in der Hymne gedachten Deutschen dagegen zeichnen sich gerade aus durch ihre Fähigkeit, tief und echt zu empfinden, eine Fähigkeit, die sie unmittelbar mit der Natur vereint. Wer aber sind die Deutschen, die sich durch ihre Empfindsamkeit auszeichnen? Eine vorläufige Antwort auf diese Frage ergibt sich aus der dichterischen Charakterisierung "Germanias". Sie wird geschildert als ein stilles, träumendes Kind, das sich seine Einfalt und Unschuld bewahrt hat. Einfalt und Unschuld sind hier im Sinne Rousseaus als Zeichen einer ungebrochenen Ursprünglichkeit zu verstehen. Daraus läßt sich folgern, daß Hölderlin darauf vertraut, in Deutschland habe sich durch die Geschichte hindurch, die sich als Geschichte zunehmender Entfremdung erwiesen hat, ein Refugium der ursprünglichen Naturverbundenheit erhalten, von dem aus nun, da die Zeit des Friedens naht, die Restitution des eigentlichen Wesens dieses Volkes ausgehen könne. Er baut darauf, daß diejenigen, die sich eins wissen in der Erwartung des Kommenden, stellvertretend für die vielen, die durch die Distanzierung von der Natur und die Erfahrungen der vergangenen Zeit ihren Glauben an die Zukunft verloren haben, den Weg in die kommende Epoche eröffnen werden. Hölderlin vertritt demzufolge das Konzept einer "Elite"46, die sich schon dadurch auszeichnet,

einfach sind." "StA II 1, 3 . .. StA VI I, 228ff. ., StA III, 153 . .. Vgl. auch StA III, 63. Dabei stellt Hölderlin weder an dieser Stelle noch in den Hymnen die Konzeption einer Elite, die ihrerseits auf eine Differenzierung der Menschen zuriickzufiihren ist, in Frage. Ansätze zu einer derartigen Reflektion finden sich aber im "Grund zum Empedokles" ,

2. Hölderlins Geschichtsdenken

67

daß sie von einer Zukunft, in der der Mensch wahrhaft Mensch sein wird,

überhaupt noch träumen kann. Eine Erörterung der politischen Dimension des Seinsdenken Heideggers hätte hier ihren Ausgang zu nehmen. Schon der Titel des fünften Kapitels der "Beiträge zur Philosophie", "Für die Wenigen - Für die Seltenen"47 belegt, daß auch Heidegger "elitär" denkt. Auch er geht davon aus, daß es nur wenige sein können, die stellvertretend für viele den Übergang in eine andere Geschichte wagen können. Ob eine solche Konzeption notwendig ist und - falls sie es ist - warum, wäre noch zu fragen. Da es uns aber nur darum geht, die Frage nach einem möglichen Wandel unseres Bezugs zur Natur zu stellen, werden wir darauf in unseren Ausführungen nicht näher eingehen können. Germanias Einfalt entspricht ihr Verhalten in einer Zeit, "da ein Sturm! Todtdrohend über ihrem Haupt ertönte;" (V.52f.). Wie erwähnt, klingt darin die Zeit der Revolutionskriege an. Wenn Hölderlin darauf insistiert, daß Germania in ihrem Eigenen von den Stürmen der Zeit nicht zerbrochen wird, nimmt er, wie an anderer Stelle auch, Stellung gegen die Meinung, durch den Krieg könne die Erneuerung der Zeiten beschleunigt werden4S • Gewalt und Unterdrückung vertiefen die Entfremdung des einen Menschen von dem anderen sowie die des einzelnen vom Ganzen der Menschheit. Sie bedingen eine Zunahme der Trennungen, die es zu überwinden gilt. Darum wird schuldig, wer sich auf den Krieg einläßt. Die Erneuerung des geschichtlichen Daseins der Deutschen kann den späten Gesängen Hölderlins zufolge nur aus einer neuen Dichtung, die ein gewandeltes Denken nach sich zieht, erfolgen. So gesteht Hölderlin auch in der Ode "An die Deutschen" ein, die Deutschen

in dem der Stellvertretungsgedanke mit dem des Opfertodes verbunden wird. Empedokles ist Hölderlin zu folge das Opfer seiner Zeit. Denn in ihm lösen sich die Probleme seiner Zeit dadurch, daß sich in ihm die Gegensätze, die die Zeit prägen, vereinen. Er aber muß untergehen, "weil sonst das Allgemeine im Individuum sich verlöre, und [ ... ] das Leben einer Welt in einer Einzelnheit abstürbe; [ ... ]" (StA IV I, 156f.) . •7

GA 65,11.

.1 Vor allem im "Hyperion" hat Hölderlin sich eingehend mit dem Phänomen der Revolutionskriege auseinandergesetzt. In den Absichten Alabandas und seiner Freunde bringt er ein Engagement für den Fortschritt der Menschheit zur Sprache, das sich mit der Verachtung derer, die ihm im Wege stehen, verbindet. Da Hyperion spürt, daß die Verachtung und gewaltsame Unterdriickung des anderen stets aus einem Widerspruch, in den der einzelne mit sich selbst geraten ist, resultiert, lehnt er Alabandas Forderung zum Kampf zunächst ab. Zwar folgt er später doch Alabandas Ruf zum Krieg mit der Begriindung: "Die heilige Theokratie des Schönen muß in einem Freistaat wohnen, und der will Plaz auf Erden haben, und diesen Plaz erobern wir gewiß," (StA III, 96) Aber er scheitert, da sich der anfangs gerechte Kampf in sein Gegenteil verkehrt. 5·

68

A. III. Die dichterische und denkerische Grundstellung Hölderlins

seien "Thatenarm und gedankenvoll "49. Aber gerade darauf gründet er auch alle Hoffnungen. "Aber kommt, wie der Stral aus dem Gewölke kommt, Aus Gedanken vieleicht, geistig und reif die That?" ('I. 5f.)

Die These von der geschichtlichen Sendung der Deutschen, die durchaus als Kompensation ihrer "Thatenarmut" interpretiert werden kann,so kommt in der Erwählung "Germanias" zur Priesterin zur Sprache. Der Rat, den sie den Völkern gibt, besteht u.a. darin, daß sie sich "der Mutter" als Priesterin zur Verfügung stellt. Ihr Dasein entspricht dem Wesen der Natur, welche das Göttliche ist. Und sollte es gelingen, das Dasein der Völker noch einmal in der Erfahrung des Göttlichen zu begründen, dann wird das verbunden sein mit einer neuen Einsicht in das Wesen der Natur, welche in ihrem Namen schon anklingt. 51 Ehe wir anband der Hymne "Wie wenn am Feiertage ... " näher auf Hölderlins Dichtung der Natur eingehen werden, wenden wir uns im folgenden Kapitel der Hymne "Der Ister" zu. Denn sie steht insofern in der Nähe zu der schon besprochenen Hymne "Germanien ", als auch in ihr Hölderlins Deutung der Geschichte zur Sprache kommt. d) "Der Ister": Dichtung des Wesens der Geschichte Eine der Hymne "Germanien" analoge Geschichtsdeutung findet man in der Hymne "Der Ister" .52 Das nachträglich "Der Ister" titulierte Hymnenfragment entstand vermutlich 1803. Die drei vollendeten Strophen des Gedichts umfassen je 20 Verse. Ein triadischer Aufbau war wahrscheinlich nicht beabsichtigt. Die Hymne beginnt mit dem Ruf: "Jezt komme, Feuer! Begierig sind wir Zu schauen den Tag," ('I. Hf.)

49

StA 11 1,9, V. 4.

>0 Inwiefern ein solcher Vorwurf auch gegen das seinsgeschichtliche Denken Heideggers erhoben werden kann, sei hier dahingestellt. >I Auch die Botschaft des Empedokles gipfelt in der Aufforderung, der "alten Götter Nahmen" zu vergessen und sich zur neuen Gottheit, der Natur, zu bekehren. (StA IV I, 65) >2 Text: StA 11 I, 190ff.; Erläuterungen: StA 11 2, 807-816. Von den vorliegenden Interpretationen zur Hymne "Der Ister" sei eigens genannt: W. Biemel: Zu Heideggers Deutung der IsterHymne. Vorlesung S.S. 1942, GA 53. In: HeideggerStudies 3/4 (1987/88) 41-60.

2. Hölderlins Geschichtsdenken

69

Angesprochen ist das Feuer. Mit ihm kommt der Tag, den der Dichter nun bald zu schauen hofft. Das Wort "wir", das in der ersten Strophe viermal verwendet wird, macht deutlich, daß der Dichter die Sehnsucht des eigenen Volkes bzw. des ganzen Menschengeschlechts zur Sprache bringt. Das Feuer bringt das Licht, dem die Dunkelheit der Nacht weichen muß, so daß der Tag anbrechen kann. Für das Feuer ist aber auch charakteristisch, daß es befeuert. In dem Ruf nach ihm ist daher der unendliche Geist, der den endlichen Geist entfacht, mitgerufen. Es kommt die Sehnsucht zum Ausdruck, der Geist möge die Menschen neu begeistern, so daß ihre Begeisterung zum Ursprung des neuen Tages, einer neuen Zeit, werden kann. Ähnlich erwartet auch der Dichter der Hymne "Wie wenn am Feiertage ... " die Ankunft des Geistes, von der er sich den Aufgang des Tages erhofft. 53 Doch wie in der Hymne "Wie wenn am Feiertage ... " klingt auch in dem Gesang "Der Ister" an, daß dem neuen Tag die Nacht voraufgeht. Zwar kündigt sich der Tag im "Waldgeschrei ", dem Gesang der Vögel, schon an. 54 Doch das fühlt nur der, der die Nacht durchgestanden hat. Von der Hymne "Germanien" her ist uns bekannt, daß Hölderlin die Nacht mit der Zeit der Verborgenheit des Göttlichen, der Abwesenheit der Götter, verbindet. Sie wird in "Der Ister" dadurch gerechtfertigt, daß sie als Zeit der Bewährung gedeutet wird. Nur wer sich in ihr bewährt, kann dem Aufgang des neuen Tages, der Wiederkehr der Götter, entgegensehen. In den folgenden Versen 7 bis 20 deutet der Dichter dann sein eigenes Geschick an und darin das Schicksal des Menschengeschlechts, für das er spricht. Lange schon hat es das Schickliche gesucht. Wie aus den Versen 15 bis 20 hervorgeht, stellt die Suche nach dem Schicklichen die Suche nach einer Stätte, an der man wohnen kann, die Suche nach der Heimat, dar. Die Sehnsucht nach der Heimat führte das Volk des Dichters aus der Feme in das Land, in dem es nun eine Heimat gefunden hat. Es kam vom Indus und Alpheus her, d.h. aus Asien und Griechenland. In der Hymne "Germanien " stehen die beiden Länder, die hier in ihren Strömen genannt werden, für den Ursprung der Menschheitsgeschichte und ihren ersten Zenit. Die Wanderung des Menschengeschlechts vom Indus zum Alpheus - auch das wurde anhand der Hymne "Germanien" schon dargelegt - entspricht der Geschichte der Sprache. Ihr Ursprung ist mit dem Ursprung der Menschheitsgeschichte identisch, sofern der Mensch nur Mensch ist, indem er spricht. Die Geschichte der Griechen stellt für Hölderlin einen ersten Gipfel auch der Sprachgeschichte dar, wie u.a. anhand des bekannten Briefs an Böhlendorff vom 4. Dezember 1801 zu belegen wäre, in dem Hölderlin die Darstellungsgabe der Griechen, insbe-

>3

StA II I, II8ff., V. 19-27. Zur Interpretation der Hymne vgl. das folgende Kapitel.

,. Zur Interpretation des Begriffs "Waldgeschrei" vgl. StA II 2,813.

70

A. 111. Die dichterische und denkerische Grundstellung Hölderlins

sondere die Homers, eigens hervorhebt. 55 Aus ihm geht auch hervor, daß die Suche nach dem Eigenen, dem Schicklichen, für Hölderlin eng mit der Suche nach einer eigenen Sprache verbunden ist. Denn das Wesen der Menschen, ihr geschichtliches Wohnen auf der Erde, wird begründet durch die Sprache, die ihnen das Ganze des Seins eröffnet. Die erste Strophe spricht davon, daß die Suche nach dem Schicklichen noch nicht beendet ist. Sie führt weiter auf die "andere Seite" (V. 14), d.h. von Asien und Griechenland, den Ländern im Osten und Süden, aus gesehen nach Nordwesten, in die Länder, die nördlich der Alpen gelegen sind. Um dorthin zu kommen, braucht man "Schwingen"; es bedarf der Beflügelung durch den Geist. Er ist der Grund der Geschichte, und er wird am Ende auch das Wohnen der Menschen begründen, und zwar dadurch, daß er, in die Dichtung geborgen, die Menschen begeistern wird. 56 Durch das Land, das das Volk des Dichters von Asien und Griechenland her kommend erreicht, strömen die Donau und der Rhein. Vom Ganzen der sogenannten Stromdichtungen Hölderlins her wird man sagen dürfen, daß der Dichter in den Strömen, die das Land urbar machen und dadurch das Wohnen der Menschen ermöglichen, die eigene Berufung erkennt. Er ist dazu berufen, das Dasein der Menschen zu begründen, indem er ihnen die Sprache gibt, die ihnen das Ganze des Seienden eröffnet. Den deutschen Strömen, der Donau und dem Rhein, wendet sich der Dichter im Folgenden zu. In der zweiten Strophe geht er auf die Donau ein, die er mit ihrem ursprünglichen Namen anspricht: "Man nennet aber diesen den Ister" (V. 21).57 Er hebt die Bäume hervor, die an den Ufern des Ister stehen. Hoch aufragend halten sie das Tal des Stromes dem Feuer der Sonne entgegen. "Es brennet der Säulen Laub," (V. 22) Felsen springen weiter oben hervor und spenden dem Tal Schatten. Höhe und Tiefe, Licht und Schatten verbinden sich am Strom und durch ihn. Daher wundert es den Dichter denn auch nicht, daß der Strom "[ ... ] Herkules zu Gaste geladen" (V. 28), der "Vom heißen Isthmos kam" (V. 31), um Schatten zu suchen am Ister. Der Gesang ruft hier den Mythos des Herkules, den Pindar im dritten Olympischen Siegeslied überliefert, in Erinnerung. 58 Dort wird erzählt, daß Herkules an den Quell des Ister wanderte, um von dort Ölbäume zu holen, die den Griechen Schatten spenden sollten. Das Ende der zweiten Strophe bekundet, daß der Ister das Begehren des Herkules erfüllte. Dort fand Herkules, der aus Griechenland, dem Land, das dem Feuer der

" StA VII, 425f. 56

Vgl. auch V. 37-49 der Hymne "Wie wenn am Feiertage ... ", StA II 1, 119.

Die Griechen nannten die ganze Donau "Ister" , die Römer nur die untere Donau. Vgl. StA 11 2, 813f. >7

51

StA 11 2, 814f.

2. Hölderlins Geschichtsdenken

71

Sonne ausgesetzt ist, kam, den ersehnten Schatten. Und die Verse 34 bis 40 greifen die Erfahrung, die in den Versen 22 bis 26 schon anklingt, nochmals auf. Am Ister werden Licht und Schatten, Höhe und Tiefe eins. Die Zeit der Einheit, die in der durch den Strom geschehenden Einigung gründet, ist die Zeit des Mittags (V. 39), der Zenit der Zeit. Die Gastlichkeit des Ister, von der die Hymne erzählt, erlaubt den Gedanken, daß Süden und Norden, Griechentum und Deutschtum zu verbinden sind, und daß der erste Gipfel der Zeit noch einmal wiederholt werden könnte. Doch der Strom verbindet nicht nur Norden und Süden, sondern auch Westen und Osten. "Der scheinet aber fast Rükwärts zu gehen und Ich mein, er müsse kommen Von Osten." 01. 41-45)

Die Verse stellen Beißner zufolge "den Keim des Gedichts dar". S9 Sie bedürfen daher einer eingehenderen Interpretation. Der Ister scheint rückwärts zu gehen, d.h. ständig in die eigene Quelle zurückzukehren. Der Dichter geht nicht näher darauf ein, wodurch ein solcher Eindruck entsteht. Im Bezug auf den Duktus des Gedichts ist nur wichtig, daß er ihm Anlaß ist, die Vermutung zu äußern: "Ich mein, er müsse komment Von Osten" (V. 43f.). In dem Anschein des rückwärts gerichteten Strömens wird das wahre Wesen des Ister anschaulich. Darauf geht Heidegger in der Vorlesung vom Sommersemester 1942 zu "Hölderlins Hymne 'Der Ister'" ausführlich ein. In V. 43f. der Hymne, betont er, komme die Einsicht in die Wahrheit des Stromes zur Sprache: "Der Strom geht in Wahrheit rückwärts. Seine Herkunft hat diese Art. Aber das zu denken, ist fast nicht im Denken eines Menschen zu wagen. [ ... ] Vielmehr kann die Schau des Dichters nur vermutend auf das wahre Strömen des Stromes blicken". 00 Es ist offenkundig, daß eine solche Vermutung nur aufkommen kann im Kontext der Einsicht in den Gang der Menschheitsgeschichte, welche in der ersten Strophe in der Wanderung vom Indus und Alpheus her an den Ister zur Sprache kommt. Weil der Ursprung der Sprache und mit ihr der Ursprung der Geschichte der Menschheit laut Hölderlin nur im Osten liegen kann - eine These, die vor Hölderlin auch schon Herder vertreten hat61 - muß auch der Strom in Wahrheit von Osten kommen. Das rückwärts gerichtete Strömen des Stromes bindet nun den Westen zurück

,., StA 11 2,815. '" GA 53, 43 . • , J. G. Hader: Älteste Urkunde des Menschengeschlechts. I. Bd. 1774. In: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 6. Hg. von B. Suphan. Berlin 1883, 193-530.

A. III. Die dichterische und denkerische Grundstellung Hölderlins

72

an den Osten. Der Dichter, der ihm nachsinnt, kehrt denkend in den Ursprung ein und betrachtet so die Geschichte von ihrem Ursprung her. Unter Berufung auf die Verse 4lf. behauptet Beißner in den Anmerkungen zur Hymne "Der Ister" , die Donau, welche ansonsten den Weg nach Osten bahne, begründe hier "die ostwestliche Rückbeziehung, in der Heimkunft aus der Kolonie. "62 Beißner verweist dann selbst auf folgende Verse aus einem Entwurf zu der Elegie "Brod und Wein"63: '[ ... ) nemlich zu Hauß ist der ist der Geist Nicht im Anfang, nicht an der Quell. Thn zehret die Heimath Kolonie(n) liebt, und tapfer Vergessen der Geist. '

Die angeführten Verse wurden 1933 von Beißner erstmals zugänglich gemacht. 64 Er legt sie folgendermaßen aus: "Im Anfang, an seiner Quelle, am Beginn des Weges zu seiner Bildung ist der Geist eines Volkes nicht bei sich zu Hause. Um das Eigene zu lernen, muß er sich in die Fremde, in die Kolonie begeben, [ ... ). ,65

Um seine Interpretation zu belegen, führt Beißner eine Stelle aus dem bekannten Brief Hölderlins an Böhlendorff vom 4. Dezember 1801, der ihm als "der beste Kommentar zu diesen schwierigen Versen" gilt. 66 In ihm unterscheidet Hölderlin Deutsche und Griechen im Bezug auf das ihnen Eigene, welches das von Natur aus Mitgegebene ist, sowie das Fremde, welches im Gang der Geschichte anzueignen ist. Das den Griechen ursprünglich Eigene und den Deutschen Fremde ist ihm zufolge das "Feuer vom Himmel", das den Griechen ursprünglich Fremde und den Deutschen Eigene die "Klarheit der Darstellung". Er vertritt sodann die These, wir könnten den Griechen "gerade in unserm Eigenen, Nationellen nicht nachkommen", denn "der freie Gebrauch des Eignen" sei "das schwerste", betont aber auch, das Eigene müsse "so gut gelernt seyn, wie das Fremde. "67 Daraus ist nach Beißner zu ersehen, daß es am Ende immer auf das Eigene ankomme. Um in ihm heimisch zu werden, müsse die Aneignung des Fremden erfolgen. Beißners Interpretation der Verse der Elegie "Brod und Wein" erfolgt dann von der anband des BöhlendorffBriefs aufgestellten These her, der Aneignung des Fremden folge die des Eigenen. Das "Brod und Wein" zufolge der Geist am Anfang nicht zuhause ist,

.2

StA 11 2, 815.

63

StA 11 2, 608 .

.. Beißner, 21961, 147. 6>

StA 11 2, 621.

66

StA 11 2, 621.

67

StA VII, 425f.

2. Hölderlins Geschichtsdenken

73

bedeutet nach Beißner, daß er in die Ferne wandern muß, da er nur von dort her in die Heimat, den Ursprung der Wanderung, zurückkehren kann. Von daher interpretiert Beißner denn auch die Hymne "Der Ister" dahingehend, daß in den Versen 41 bis 44 der Ister als jener Strom bedacht werde, der "die ostwestliche Rückbeziehung, in der Heimkunft aus der Kolonie" begründe. 68 Der von Beißner entfaltete Bezug von Ausfahrt und Heimkunft, Fremdem und Eigenem, hat die Hölderlin-Forschung bis in die 80er Jahre beschäftigt,69 obwohl das entscheidende Argument gegen Beißners Interpretation schon 1947 von Gadamer vorgetragen wurde, der den Einwand erhoben hat, die zitierten Verse seien im Kontext der Elegie "Brod und Wein" und nicht von dem genannten Brief her auszulegen. 70 Der Elegie ist jedoch nicht zu entnehmen, daß der Weg des Geistes in die Heimat mit einer Rückkehr in den Ursprung einhergehen wird. Da Heidegger in den Hölderlin-Vorlesungen immer wieder auf Beißners Bestimmung des Bezugs von Eigenem und Fremdem, Griechischem und Deutschem zurückgreift, werden wir nicht umhin können, an anderer Stelle nochmals ausführlich darauf zu sprechen zu kommen. Hier genügt es zu sehen, daß Beißners These, der Strom begründe "die ostwestliche Rückbeziehung, in der Heimkunft aus der Kolonie" einer Deutung des Bezugs von Heimat und Fremde entspringt, die anhand der Hymne "Der Ister" nicht zu bestätigen ist. Beißner beachtet in seiner Interpretation nämlich nicht, daß die Anschauung des rückwärts gerichteten Strömens des Ister in den Versen 43f. der Hymne überboten wird durch die Einsicht in das wahre Strömen des Stromes, welcher von Osten kommen müßte. Die Anschauung des Stromes öffnet sich auf die Einsicht in das Wesen der Ströme, welches das der Sprache ist, und mit ihr auf die Einsicht in den Gang der Geschichte, welcher sowohl der Weg des unendlichen Geistes als auch der Weg der Sprache, in welcher der Geist endlich offenbar wird, und der Weg der Sprechenden ist. Und erst die Erfahrung der Geschichte, die dem Dichter in der Betrachtung des rückwärts gerichteten Strömens des Stromes, der denkenden Einkehr in den Ursprung, widerfahrt, gibt Grund zu der Hoffnung, ein neuer Tag, eine neue Zeit könne anbrechen. Ganz ähnlich wagt der Dichter in der Ode "Ermunterung" zu hoffen, daß

.. StA 11 2,815. 69 Sie dürfte nach dem Aufsatz von H. J. Kreutzer: Kolonie und Vaterland in Hölderlins später Lyrik. In: HJb 22 (1980/81) 18-46, endgültig als widerlegt gelten. Vgl. auch P. Szondi: Überwindung des Klassizismus. Der Brief an Böhlendorffvom 4. Dezember 1801. In: Ders.: Hölderlin Studien. FrankfurtIM. 1967,85-104.

70 H.-G. Gadamer: Hölderlin und das Zukünftige. In: Ders.: Kleine Schriften 11: Interpretationen. 2. verb. Aufl., Tübingen 1979, 45-63.

74

A. IlI. Die dichterische und denkerische Grundstellung Hölderlins "[ ... ) er, der sprachlos waltet und unbekannt Zukünftiges bereitet, der GOII, der Geist Im Menschenwort, am schönen Tage Kommenden Jahren, wie einst, sich ausspricht." 7\

Obwohl der Dichter weiß, daß darüber noch einiges zu sagen wäre, geht er nicht näher auf den Weg des Ister ein. Statt dessen wendet er sich dem Rhein zu, der "seitwärts hinweggegangen" ist (V. 48f.). Dem Rhein, der von Osten nach Westen fließt und dann gegen Norden abbiegt, ist die Hymne "Der Rhein" gewidmet. 72 Die dort vorgelegte Deutung der Bahn des Rheins führt Hölderlin in dem Fragment "Der Ister" nicht noch einmal aus. Dennoch wird deutlich, daß die Schicksale, die sich in den beiden Strömen ereignen, in eins gedacht werden müssen, da sie ein Geschick, das Geschick des Volkes des Dichters, begründen. Ohne näher auf das Schicksal des Rheins und des Isters einzugehen, stellt der Dichter fest: "[ ... ] Umsonst nicht gehn/ Im Troknen die Ströme [ ... ]" (V. 49f.). Schon in der ersten Strophe klang an, daß die Ströme den Menschen das Land, in dem sie wohnen können, urbar machen. Insofern ist ihr Strömen nie vergeblich. Doch wodurch machen die Ströme das Land urbar, wodurch begründen sie in ihrem Strömen das Wohnen der Menschen? Der Dichter deutet es nur an: "[ ... ] Ein Zeichen braucht es/ Nichts anderes [ ... ]" (V.50f.). Die Ströme sind Zeichen, und zwar Zeichen dessen, was in ihnen zur Anschauung gelangt. In einer Lesart wird die Frage gestellt: "Aber wie?" Und dann merkt der Dichter an: "Sie sollen nemlich/ Zur Sprache seyn. "73 Sie sind die Sprache dessen, dem sie derart entsprechen, daß es in ihrem Strömen zur Darstellung gelangt. Inwiefern die Ströme Zeichen, Sprache, sind, wird deutlich, wenn man sich nochmals vor Augen hält, daß schon in den beiden ersten Strophen angedeutet wurde, daß im Strömen des Stromes hell und dunkel, brennend und kühlend, oben und unten eins werden und zum Ausgleich gelangen, einem Ausgleich, dem der Mittag, die Zeit des Ausgleichs, zugeordnet ist. Die Erfahrung der Zeit des Ausgleichs wird in der dritten Strophe nochmals aufgegriffen. Die Ströme ereignen die Einheit von Sonne und Mond, Tag und Nacht. In ihnen wird die Einheit der Zeit und dadurch das Ewige in der Zeit offenbar. Und indem solches geschieht, werden sie zur "Freude des Höchsten" (V. 56). Ihn nennt Hölderlin an anderer Stelle auch "den Äther" oder "Vater Äther".74 Nun kann er, der unendliche Geist, "herunterkommen".

71

StA 11 I, 35f., V. 25-28.

72

StA 11 1, 142-148.

73

StA 11 2, 810.

7.

Vgl. die Hymne "Heimkunft! An die Verwandten", StA 11 1, 96-99.

2. Hölderlins Geschichtsdenken

75

Er neigt sich dem Endlichen zu, insbesondere den Menschen, welche der Dichter nun "Kinder des Himmels" nennt (V. 58). In den letzten Versen der dritten Strophe vergleicht der Dichter den Ister mit dem Rhein. Der Ister erscheint ihm allzu geduldig, ganz anders als der Rhein, der ungeduldig nach Freiheit strebt. Fast scheint der Ister der Freiheit zu spotten, so still geht er durch das Land. In den Erläuterungen zu der Stelle findet sich der Hinweis auf das Gedicht "Die Wanderung "75 , in dem von den Deutschen als den "Allzugedultigen" (V. 105) gesprochen wird. Die Erfahrung, daß die Ankunft der Zeit, in der die Deutschen ihre Freiheit ergreifen werden, immer noch aussteht, wird in der Hymne "Der Ister" , die auch dadurch an "Germanien " erinnert, dahingehend gedeutet, daß in der Stille das Neue aufgeht. In ihr geschieht, was auch der Dichter nicht vorwegnehmen kann: "Was aber jener thuet der Strom, Weis niemand." 01. 71f.)

Niemand kann wissen, was sich im Strömen des Stromes ereignet. Und doch begründet die Hymne "Der Ister" die Ahnung des wahren Wesens der Ströme. Denn in ihr kommt zur Sprache, daß im Strömen der Ströme Einigung geschieht. Geeint wird das an sich Getrennte: Höhe und Tiefe, Licht und Dunkel. Es ereignet sich hierin die Versöhnung der Gegensätzlichkeit des einander Entgegengesetzten. Indem solches geschieht, werden die Ströme zu "Zeichen" des einen Einigenden, in dem das Wohnen der Menschen seinen Grund findet. "Sprache" des Einen ist der Ister auch insofern, als in ihm der Gang der Geschichte zur Anschauung gelangt, wodurch die Geschichte als Einheit ihrer Epochen erst verständlich wird. Und nur im Horizont der so verstandenen Geschichte findet dann die Hoffnung des Dichters einen Anhalt, eine neue Zeit könne anbrechen, eine Zeit, auf welche die Geschichte von Anfang an zuging. Die Hymne "Der Ister" bestätigt also das anhand des Gesangs "Germanien" zu Hölderlins Geschichtsdenken Dargestellte. Sie gewährt außerdem einen ersten Einblick in Hölderlins Denken des Seins als des einen Einigenden. Anhand der Hymne "Wie wenn am Feiertage ... " werden wir nun näher auf Hölderlins Seinsdenken eingehen. Wir nähern uns auch diesem Gedicht, indem wir zunächst eine explizierende Lektüre der einzelnen Strophen vornehmen.

7> Ebd. 138-141. Vgl. auch den Brief an Ebel vom 10.1.1797 (StA VII, 228ff.) und den "Gesang des Deutschen", StA 11 I, 3, V. 9.

76

A. III. Die dichterische und denkerische Grundstellung Hölderlins

3. Hälderlins Seins verständnis a) "Wie wenn am Feiertage ... ": Dichtung des Heiligen Die Hymne 'Wie wenn am Feiertage .... 76 ist auf insgesamt neun Strophen hin angelegt und gliedert sich in drei Triaden. 77 Da Heideggers Interpretation auf den Text der Ausgabe von Hellingraths zurückgreift, die nur die vollendeten Strophen des Gedichts wiedergibt, beachtet er den triadischen Aufbau des Gedichts nicht. Auch auf die Bruchstücke aus den Handschriften, auf die von Hellingrath in den Anmerkungen aufmerksam gemacht hat, und die schon Zinkernagel dem Text als achte Strophe anfügte, geht Heidegger nicht näher ein. Von daher bleibt seine Auslegung von vornherein fragmentarisch. Die ersten bei den Strophen des Gedichts bilden eine syntaktische Einheit. Der Vergleich, der in der ersten Strophe durch die Konjunktion "Wie wenn" eingeleitet wird, wird in der zweiten Strophe, die mit dem Wort "So" beginnt, weitergeführt. Die erste Strophe schildert den Gang eines Landmanns, der nach einer Gewitternacht hinausgeht, um nach dem Feld zu sehen. Das Gewitter klingt im verhallenden Donner noch nach. Aber der Strom, der über seine Ufer getreten war, ist schon in seine Bahn zurückgekehrt. Die Sonne scheint wieder

76 Text: StA 11 I, 118ff.; Erläuterungen: StA 11 2, 667-679. Folgende Interpretationen seien eigens genannt: E. Lachmann: Hölderlins erste Hymne. In: DVjs 17 (1939) 221-251; L. R5>an: Hölderlins prophetische Dichtung. In: Jb der Deutschen Schillergesellschaft 6 (1962) 194-228; J. Lang: Das Heilige und die Physis. Hölderlins Dichtung "Wie wenn am Feiertage ... ". Diss., München 1969; H. Pongs: Das ewige Herz in Hölderlins Dichtung. In: Worte und Werte. Bruno Markwardt zum 60. Geb. Hg. von G. Erdmann u. A. Eichstaedt. Berlin 1961,292-314; Das.: Hölderlins mythisches Bild: Verfremdung Hölderlins. Zerstörung des mythischen Bildes. In: Das.: Dichtung im gespaltenen Deutschland. Stuttgart 1966,86-119; P. Szondi: Der andere Pfeil. Zur Entstehungsgeschichtedes hymnischenSpätstils. In: Ders.: Hölderlin-Studien. Frankfurt/M. 1967, 33-54; Das.: Interpretationsprobleme. Hölderlin: Feiertagshymne, Friedensfeier. In: Das.: Einfiihrung in die literarische Hermeneutik. Frankfurt/ M. 1975, 193-402; A. Seifert: Untersuchungen zu Hölderlins Pindar-Rezeption. München 1982, 93-349; G. Wohlfart: Kunst und Sprache. Töne der Stille: Versuch einer Interpretation der Verse 43-49 von Hölderlins Hymne "Wie wenn am Feiertage". In: Das.: Der Punkt. Ästhetische Meditationen. Freiburg, München 1986, 151-198. Weitere Interpretationen findet man in der Hölderlin-Bibliographie, die im Literaturverzeichnis angegeben ist. 77 So schon Beißner, 21961, 96-103. Vgl. StA 11 2, 676ff. Beißner hat überdies darauf hingewiesen, daß der Aufbau der Hymne der pindarischen Chorlyrik nachempfunden sei, wobei Pindar allerdings auf eine Strophe jeweils eine Antistrophe gleichen Metrums und eine metrisch alternierende Epode folgen lasse, während Hölderlin drei Strophen mit drei divergierenden Metren zu einer Trias zusammenfasse. Dagegen hat Lachmann, 221-251, Einspruch erhoben. Der Ausgabe von Hellingraths folgend, vertritt er die These, das Gedicht bestehe aus drei Strophenpaaren, denen ein Abgesang folge, der aus einer zwölf Verse zählenden Strophe bestehe. Seifert, 1982,93-349, hat die These Beißners in neuerer Zeit wieder aufgegriffen und durch seine eingehende Analyse des Gedichts wohl endgültig bewiesen.

3. Hölderlins Seinsverständnis

77

ruhig über dem Land und die Bäume erglänzen in ihrem Schein. In dieser Stunde enthüllt sich das Gewitter als eine "günstige Witterung" - ein Ereignis, welches das ganze Land erneuerte. Dies erlaubt es, das Land, nach dem der Landmann schaut, mit dem Dasein der Dichter zu vergleichen. 78 Daß auch sie "unter günstiger Witterung" stehen,19 wird in der zweiten Strophe näher erläutert. In ihr führt der Dichter zunächst aus, daß nicht alle, die bei einem Meister in die Lehre gegangen sind, sondern nur diejenigen, welche sich darüber hinaus auch durch ihre Genialität auszeichnen, wahrhaft Dichter genannt werden können. 80 Genialität aber ist eine Mitgift der Natur. Ohne ihre Gunst kann das Dichten niemals gelingen. So ist die Natur denen, die zum Dichten berufen sind, von vornherein verbunden. Dies zeigt sich vor allem darin, daß die Dichter in besonderem Maße das Walten der Natur empfinden. Sie fühlen, daß die Natur in allem, was überhaupt ist, gegenwärtig ist. Allgegenwärtig ist sie zum einen als der Ursprung, aus dem alles, was ist, entspringt, und zum anderen als der Grund, der alles Seiende als solches begründet. In dem Adverb "allgegenwärtig", durch das das Walten der Natur näher bestimmt wird, deutet sich an, daß Hölderlin unter dem Titel "Natur" das Sein als das Eine denkt, das in allen Seienden west. In der Hymne "Wie wenn am Feiertage ... " wird es nicht nur als "mächtig", sondern auch als "göttlich schön " charakterisiert. Im Kontext der Ausarbeitung der philosophischen Implikationen des Gedichts wird näher zu erläutern sein, inwiefern das Sein, "das Eins ist und Alles"sl, wesenhaft schön ist.

71 Daß schon in V. 10 die Dichter angesprochen sind, geht aus der Prosa fassung deutlich hervor. Vgl. StA II 2, 668. 79 Der in den beiden ersten Strophen durchgeruhrte Vergleich legt zunächst die Interpretation nahe, der Gang des Landmanns werde in Analogie zu dem Stehen der Dichter gesetzt. Vgl. EHD 52: "Wie ein Landmann auf seinem Gang, froh ob der Behütung seiner Welt, in der Feldmark verweilt, 'So stehn sie unter günstiger Witterung' - die Dichter." Dieser Interpretation hat Szondi, 1967,37, und 1975,241, widersprochen. Insofern das Wort "stehn" von V. 9 in V. 10 aufgenommen wird, entspricht das Stehn der Dichter dem der Bäume unter stiller Sonne, das sich mit dem ruhigen Strömen des Stromes, dem frischen Grünen des Bodens und dem Traufen des Weinstocks verbindet. Diese Auslegung wird durch die Prosafassung gestützt. Daß das eigentliche metaphorische Äquivalent rur die Dichter der Weinstock ist, wie Seifert, 1982,129, meint, ist angesichts des Gesamtwerks Hölderlins zu bejahen. 10 Wie aus einem Brief an Schelling ersichtlich ist, vertritt Hölderlin die Auffassung, daß die Kunst und der aus ihr hervorgehende Bildungstrieb "nicht einmal denkbar sind ohne ihr inneres Element, die natürliche Anlage, das Genie, und ohne ihr äußeres, die Erfahrung und das historische Lernen." (StA VI I, 348) Genie und Erfahrung greifen somit in der Ausbildung der Kunst ineinander, wobei dem Genie die Priorität zukommt.

" StA III, 53.

78

A. III. Die dichterische und denkerische Grundstellung Hölderlins

Es gibt Zeiten, Zeiten des Jahres und Zeiten der Völker, in denen die Natur scheinbar ruht. Ihr Walten ist dann kaum mehr spürbar. Der Gedanke, daß die Natur sich sowohl in den Jahreszeiten und dem Ganzen des sogenannten naturhaft Seienden als auch im Dasein der Völker darstellt, belegt nochmals, daß das, was Hölderlin in diesem Gedicht "Natur" nennt, nicht auf eine Sphäre des Seienden, die etwa mit der der Geschichte zu kontrastieren wäre, verengt werden darf. Die Natur, von der "Wie wenn am Feiertage ... " spricht, ist nicht der Gegensatz zur Geschichte, sondern der Ursprung der Zeiten, der in den Zeiten der Geschichte zur Darstellung gelangt. Solange die Natur in Ruhe verharrt, hat es den Anschein, als seien die Dichter allein. Aber die Trauer, die sie empfinden, ist zugleich Ahnung. Indem sie an das einstige Walten der Natur zurückdenken, ahnen sie auch schon, daß es erneut geschehen wird. Diese Ahnung ist Vers 18 zufolge zugleich die Ahnung der Natur selbst, die in der Stille ihr erneutes Zur-Sprache-kommen im Wort der Dichtung erharrt. "Jezt aber tagts!" (V. 19). Der neue Tag bricht an, die Natur erwacht. Was nun geschieht, besingt der Dichter als Ankunft des Heiligen, der seine Dichtung gewidmet ist. Im Hinblick auf eine eingehendere Auslegung der Verse 19 und 20 sind die in der ersten Strophe angegebenen Zeiten zu beachten. In ihr ist die Rede vom Morgen eines Feiertages. 82 Der Feiertag ist die dem Alltag enthobene Zeit, in der des Heiligen gedacht wird. Dies weist schon auf die dritte Strophe hin, in der die Ankunft des Heiligen hymnisch gefeiert wird. Die Natur ist "älter denn die Zeiten" (V. 2lf.). Und doch stellt sie sich nur im Wandel der Zeiten, insbesondere im Übergang zu einer neuen Epoche der Geschichte dar. Anhand des Fragments "Das Werden im Vergehen"83 wird noch genauer zu bedenken sein, inwiefern die Natur in der Geschichte offenbar wird, und zwar derart, daß sie sich in der Abfolge der Epochen als der Grund, der die Einheit von Geschichte begründet, zu denken gibt. Indem die Natur zu sich kommt, beginnt eine neue Zeit. In ihrem Aufgang wandeln sich die Zeiten. Den Übergang von einer zur anderen Epoche verbindet der Dichter mit dem Gedanken an die Revolution. "Die Natur ist jezt mit Waffenklang erwacht" (V. 23). In diesem Vers klingt nicht nur die historische Situation, in der die Hymne "Wie wenn am Feiertage ... " entstand, an. 84

82 Im Entwurf lauteten die Eingangsverse des Gedichts: "Wie wenn der Landmann am Feiertage/ zu betrachten hinausgeht, des Abends, wenn/ aus heißer Luft die kühlenden Blize fielen/ den ganzen Tag" (StA II 2, 667). Die Änderung von "des Abends" zu "des Morgens" ist wohl darauf zurückzuführen, daß nach Ausarbeitung der dritten Strophe von ihr her eine relecture der ersten Strophe erfolgte .

.. StA IV I, 282-287 . .. Diese Auslegung wird in der Hölderlin-Forschung allgemein vertreten. Heideggers Deutung des Verses, in der das Tagen als "das Lichtwerden der in allem gegenwärtigen Lichtung" in-

3. Hölderlins Seinsverständnis

79

Vielmehr bekundet sich in ihm die grundlegende Einsicht, daß die Natur als der Grund der Zeiten sich vor allem im Bruch der Zeiten, der Diachronie der Geschichte, darstellt. Darum erfahren die Dichter die "Thaten der Welt" in den Zeiten epochaler Wenden als "Zeichen", in denen sich das Walten der Natur, das die Einheit der Geschichte begründende Wesen von Sein, bekundet. 85 Die erste Triade endet, indem das Zu-sieh-kommen der Natur als ein erneutes Sich-fühlen der Begeisterung bezeichnet wird (V. 26f.). Hölderlin verwendet den Begriff des Geistes nicht in Abhebung von dem der Natur. Es ist vielmehr die Natur selbst, die als Geist zu sich kommt. Die Natur wird Geist, indem sie in ihrem eigenen Erwachen und durch es den Dichter be-geistert. Derart eröffnet sie den Dichter auf sich hin, damit dieser ihre Offenbarung in der Dichtung ins Werk setze. Diesen Gedanken führt die zweite Triade weiter aus. Durch die zweimalige Verwendung des Wortes "jezt" schließt die vierte Strophe eng an die dritte an. Jetzt, da die Natur mit Waffenklang erwacht ist, werden die "Thaten der Welt" den Dichtem zu "Zeichen". Denn auch in ihnen machtet die Natur, in ihnen offenbart sie ihr Wesen. Indem die Dichter dies erkennen, wird ihnen deutlich, daß es von Anfang an die Natur war, die es immer wieder den Menschen gestattete, in ihr Heimat zu finden. Davon kündet denn auch das Lied, das der vom Geist getroffene Dichter singt. Es ist das Wesen des Liedes, d.h. der Dichtung, den unendlichen Sinn, der sich dem Dichter zuspricht, indem die Natur zu sich kommt, ins endliche Wort zu hüllen. Darum bekundet es die Einheit von Unendlichkeit und Endlichkeit, Göttlichem und Sterblichem als seinen eigenen Ursprung. 86 Wie wir schon ausführten, erklingt das Lied nur zu Zeiten - dann, wenn die Wetter, die in einem zumal die Gewitter der Natur im engeren Sinne und die Gewitter der Geschichte sind, deutungsvoll und vernehmlich werden. In den Gewittern wird das Machten der Natur, d.h., mythisch gedeutet, das Walten des Göttlichen, erfahrbar. 87 Ihr Ursprung birgt sich in einem unvordenklichen Einst, dem

terpretiert und dann als "das stillste aller Ereignisse" ausgelegt wird, welches insofern mit Waffenklang geschehe, als es sich im Wort ereigne, das Wort aber jene Waffe sei, die das Wesen vom Unwesen scheide (EHD 58), bezeichnet Szondi, 1975,251, als "halsbrecherisch".

" Szondi, 1975, 252-260, erkennt darin eine Legitimation des Krieges als des Weges, der in die Zukunft führt. Das widerspräche allerdings Hölderlins Ausführungen im "Hyperion", in dem der Krieg als Mittel zur Besserung der Zeiten eindeutig abgelehnt wird. 86 Darauf deutet schon in V. 38f. hin, daß das Lied "[ ... ) der Sonne des Tags und warmer Erdl Entwächst, [ ... ]". In ihm verbinden sich Licht und Dunkel, Himmel und Erde. In V. 48f. wird der Gesang dann eigens als Werk der Götter und Menschen bezeichnet. In den Handschriften findet sich statt des Verbs "entwächst" "entwacht". Diese Lesart hält Heidegger für die ursprüngliche (EHD 66). Die Interpretation bleibt davon weitgehend unberührt. 17

Vgl. dazu den Brief an Böhlendorffvom 4.12.1801, StA VII, 425-428, und StA 11 1,210.

80

A. III. Die dichterische und denkerische Grundstellung Hölderlins

Abgrund der Geschichte. In den "Tiefen der Zeit" (V. 40) waltet die Natur im Verborgenen. In ihnen bereitet sie ihre eigene Offenbarung vor. Strophe fünf endet mit der Fuge: "Des gemeinsamen Geistes Gedanken sind, Still endend in der Seele des Dichters," (11. 43f.)

Da der syntaktische Bezug der Verse, die Heidegger wohl zu unrecht als in sich geschlossene Fuge liest,88 fraglich ist, versuchen wir, sie im Kontext der zweiten Triade zu erläutern89 . Die Natur ist, insofern sie in der Geschichte zu sich kommt, Geist. Weil nun die Natur alles, was überhaupt ist, durchmachtet, ist auch der Geist allem gemein. Darum bekundet er sich denn auch in den Wettern. Wenn der Dichter nun zu Zeiten vernimmt, was die Wetter eigentlich, d.h. mythisch gedeutet, sind, nämlich Bekundungen des unendlichen Geistes, kommt der Geist in ihm zu sich. Betroffen vom Geist "erbebt" der Dichter "von Erinnerung" (V. 46f.). Schmidt hat darauf hingewiesen, daß in dem Wort "Erinnerung" Platons Theorie der Anamnesis anklinge. 90 Der Dichter ist von alters her mit der Natur vertraut. Er nimmt immer schon an des Geistes Gedanken teil. Doch nun, da ihn die Wetter treffen, wird er der Einheit von Natur und Geschichte, Unendlichem und Endlichem eigens inne. Dieses Geschehen ereignet sich still. Denn es geht der Dichtung vorauf. Doch

s. EHD 67. 89 Mehrfach wurde darauf hingewiesen, daß in der Handschrift der Punkt am Ende von V. 42 fehlt. Vgl. W. Bröcker: Die Auferstehung der mythischen Welt in der Dichtung Hölderlins. In: Ders.: Das was kommt, gesehen von Nietzsche und Hölderlin. Pfullingen 1963, 47, Anm. 42; Szondi, 1967,38, Anm. 6; Ders., 1975, 268ff. Der Punkt wurde durch von Hellingrath eingefügt und dann in die folgenden Ausgaben übernommen. Dagegen findet sich in der Handschrift ein Punkt am Ende von V. 44, den Beißner durch ein Komma ersetzt hat. Im Prosaentwurf bilden die V. 37ff. einen einzigen Satz. Daher vertritt Szondi die These, Strophe fünf sei ihrem Sinn nach wie folgt zu lesen: Die Wetter sind des gemeinsamen Geistes Gedanken. Sie enden still in der Seele des Dichters, die von Erinnerung erbebt. Dieser Auslegung wurde neuerdings von Seifert, 1982,176-183, widersprochen. Er stellt fest, daß die grammatikalische Verbindung zwischen dem Subjekt des Relativsatzes und dem ursprünglich vorgesehenen Prädikat dadurch aufgegeben worden sei, daß das den Relativsatz abschließende finite Verb "hinwandeln" eingefügt wurde. Dadurch bilden V. 43f. seiner Meinung nach nun eine eigenständige Fuge. Vom fragmentarischen Charakter der Hymne her wird man davon ausgehen können, daß auch für Hölderlin der Bezug der V. 43f. noch offenstand. Es ist daher legitim, Strophe fünf in der von Szondi vorgeschlagenen Weise zu lesen. Auch die Setzung des Kommas am Ende von V. 44 ist sinnvoll, da durch sie der durch die Konjunktion "daß" angezeigte Bezug der Strophen fünf und sechs transparent wird. Fraglich erscheint uns dagegen die These Seiferts, die Wetter dürften nicht mit des Geistes Gedanken identifiziert werden, da der Dichter an diesen immer schon Anteil habe, was erst ermögliche, daß er von jenen getroffen werden könne.

90 J. Schmidl: Hölderlins später Widerruf in den Oden "Chiron", "Blödigkeit· und "Ganymed·. Tübingen 1978, 167f. Seine Anregung wurde von Seifert, 1982, 193ff., aufgegriffen.

3. Hölderlins Seinsverständnis

81

die Stille ist der Ursprung der Dichtung. Denn der Dichter, der begeistert durch den Geist das Wesen der Natur erkennen darf, fühlt sich genötigt, ihr Machten weiterzugeben. Die zweite Triade, die das Zu-sich-kommen der Natur als den Ursprung der Dichtung thematisiert, endet damit, daß dieses Geschehen durch den Mythos der Geburt des Weingottes Dionysos verdeutlicht wird. Wie der Dichter vom göttlichen Feuer entzündet, den Gesang erklingen läßt, so gebar Semeie, vom Blitz des Gottes Zeus getroffen, Dionysos, den Gott des Weines. Auch in ihm, der von einem Gott gezeugt und von einer Sterblichen geboren wurde, fand die Vermittlung von Unendlichem und Endlichem statt. Ihre Frucht ist den Menschen im Wein übereignet. 91 Die mythische Identifikation des Ursprungs der Dichtung mit der Geburt des Dionysos verdichtet sich zur Ineinssetzung des Liedes und des Weines. Daran knüpft die siebte Strophe, die die dritte Triade einleitet, an: "U nd daher trinken himmlisches Feuer jezt Die Erdensöhne ohne Gefahr.· (11. 54f.)

Der Dichter reicht das ins Lied geborgene Göttliche den Menschen. In der Vermittlung durch das Lied ist der Anspruch des Göttlichen, der den Dichter unmittelbar betrifft, gemildert. Dadurch werden die Menschen geschont, die das Göttliche sonst kaum ertragen könnten. Darauf deutet auch schon der Semelemythos hin. Semeie, die "[ ... ] sichtbar/ Den Gott zu sehen begehrte [ ... ]" (V. 50f.), starb, von Zeus tödlich getroffen. Da sie der Unmittelbarkeit des Gottes, die sie von sich aus suchte, wodurch sie schuldig wurde, nicht standhalten konnte, wurde sie vom höchsten Gott vernichtet. Denn der Mensch darf sich den Göttern nicht eigenmächtig nähern, sondern muß ihre Nähe erwarten. Die dritte Triade sollte den Bruchstücken zufolge vor der Gefahr warnen, daß auch die Dichter, die der Gott unmittelbar angeht, schuldig werden. Obwohl Heidegger die Bruchstücke zur Fortsetzung der Hymne nicht beachtet, geht er auf die drohende Verschuldung der Dichter doch anband des Mythos der Semeie ein. 92 Nur die Dichter, die schuldlos bleiben, können der Unmittelbarkeit des Gottes standhalten. Ohne Schuld sind der Hymne zufolge diejenigen, die "reinen Herzens" sind, d.h. die sich die Einfalt und ungebrochene Ursprünglichkeit, die auch in der Ode "Dichterberuf"93 als die wahre Grundhaltung der Dichter gefordert wird, bewahrt haben. Ihr Herz

.1 In der ersten Strophe deutet sich schon an, daß der Wein die Frucht des Himmels und der Erde ist. 92

EHD 70f.

•3

StA 11 I, 46ff.

6 Bohlen

82

A. 111. Die dichterische und denkerische Grundstellung Hölderlins

bleibt fest, auch wenn der Gott sich ihnen naht. 94 Das ist denn auch die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß die Dichter in der Betroffenheit durch das Göttliche nicht aufgehen und in der Ankunft des Heiligen nicht zerbrochen werden, sondern ihr als Dichter entsprechen können. Sie leiden die "Leiden des Stärkeren" mit (V. 64). Wie aus der Prosafassung hervorgeht, ist damit gemeint, daß sie als sie selbst die Leiden der Natur mittragen müssen. 95 Die Natur aber leidet, insofern sie sich im Endlichen, in der Geschichte, darstellt, um in ihr zu sich zu kommen. Ein ähnlicher Gedanke findet sich schon Im "Hyperion". Dort bedenkt Hyperion: "Muß nicht alles leiden? Und je treflicher es ist, je tiefer! Leidet nicht die heilige Natur? 0 meine Gottheit! daß du trauern könntest, wie du seelig bist, das konnt ich lange nicht fassen. "96

Der Ausgabe Beißners zufolge beginnt in Vers 67 eine neue gedankliche Einheit. Ihr Beginn ist durch den Ruf: "Doch weh mir!" markiert. In den Schlußstrophen beabsichtigte Hölderlin offensichtlich, auf die Gefahr, die den Dichtem droht, näher einzugehen. Inwiefern sie die Aufgabe, zu der sie berufen sind, auch verfehlen können, deutet sich in den überlieferten Bruch-

... In V. 66 ist wie in V. 61 vom Herz der Dichter die Rede. Darauf deutet auch der Prosaentwurf hin, in dem vom "inneren Herzen" gesprochen wird, dem ein "von selbgeschlagener Wunde" blutendes Herz gegenübergestellt wird (StA 11 2, 669). Lachmann, 238ff., hat demgegenüber mit dem Hinweis auf die auch in der Ausgabe von Hellingraths zugrundegelegten Handschriften, in denen sich die Lesart "das ewige Herz" findet, die Vermutung geäußert, das Herz bezeichne das Herz der Natur. Diese These wurde vehement verteidigt von Pongs, 1961,292-314. Vgl.: Ders., 1966,86-119. Eine eingehende Diskussion des Textes und seiner Lesarten findet sich bei Szondi, 1975, 300-313. Auch wenn er das editorische Verfahren Beißners in Frage stellt, stimmt er ihm doch dahingehend zu, daß die in der StA gedruckte Version des Textes der Intention Hölderlins entspreche. Heidegger, EHD 72, dagegen setzt das Herz mit dem Heiligen in eins. Außerdem ergänzt er einen Punkt am Ende von V. 62, weil er von vornherein davon ausgeht, daß das Gedicht am Ende zu dem von ihm Gedichteten, dem Heiligen, zurückkehren müsse. "Mit dem Vers 62 schließt die siebente Strophe inhaltlich; aber auch gemäß der rur die Strophen gewählten Versanzahl. Das bei Hellingrath und Zinkernagel am Ende von Vers 62 nach 'Hände' gesetzte Komma steht nicht in der Urschrift. Mit Vers 63 beginnt ein Denken, das in das Sagen des Heiligen zurückkehrt und die Vollendung des Gedichts einleitet. Deshalb wurde im vorliegenden Text an das Ende von Vers 62, das bei Hölderlin ohne Satzzeichen geblieben, ein Punkt gesetzt." Aus dem Prosaentwurf geht jedoch deutlich hervor, daß die Verse 61-66 eine inhaltliche und syntaktische Einheit bilden. Auch ist es keineswegs notwendig, daß das Gedicht am Ende zu dem Heiligen zurückkehrt. Es bleibt vielmehr zu fragen, inwiefern das Herz der Dichter ein "ewiges Herz" ist. Eine Antwort darauf gibt die Lesart "inneres Herz". Im Innersten seines Herzens berührt den Dichter immer schon das Ewige. Hier ist er "Unendlichem! Bekannt seit langer Zeit" (V. 45f.). Bei diesem Gedanken handelt es sich um einen auf die platonische Anamnesislehre zurückgehenden philosophischen Topos, der vor allem auch in die Mystik Eingang gefunden hat. .5 StA 11 2, 669 .

.. StA 111, 150.

3. Hölderlins Seinsverständnis

83

stücken aber lediglich an. Sie sprechen dafür, daß die Dichter schuldig werden, wenn sie von sich aus die Nähe der Götter suchen, um diese zu schauen. Die Dichter dürfen nicht versuchen, die Begegnung mit den Göttern zu erzwingen, sondern müssen die Distanz zwischen Göttern und Menschen hinnehmen. 97 Dazu, "das Ungleiche nicht länger zu dulden"98, könnte sie jedoch verleiten, daß sie, denen die Natur, das Unendliche, wesenhaft nahe ist, ihre Endlichkeit mehr als andere erfahren. Daß Hölderlin daran dachte, die Hymne mit diesem Gedanken zu schließen, zeigt der Prosaentwurf: ''[ ... ) Aber wenn von selbgeschlagener Wunde das Herz mir blutet, und tiefverloren der Frieden ist, u. freibescheidenes Genügen, Und die Unruh, und der Mangel micht treibt zum Überflusse des Göttertisches, [ ... )"99

Doch dieser Entwurf wurde nicht mehr ausgearbeitet. Die Hymne blieb ein Fragment. Warum sie nicht vollendet wurde, läßt sich nicht rekonstruieren. 1OO

97 Lachmann, 233ff., interpretiert die betreffenden Zeilen im Ausgang vom Wort des "falschen Priesters". Dieses erinnere an Empedokles, dessen Schicksal ein Beispiel dafür sei, was geschehe, wenn es nicht an der Zeit dafür sei. Daraus sei zu folgern, daß Hölderlin zunächst daran dachte, das Gedicht mit dem Hinweis auf die Möglichkeit, daß der Dichter sich zur Unzeit an das Göttliche wage, zu beenden. Dieses sei aber nach Ausarbeitung der Strophe drei nicht mehr möglich gewesen, so daß dieser Entwurf schließlich verworfen worden sei. Diese These gründet, wie Szondi, 1975, 290, gezeigt hat, auf der Voraussetzung, daß die Schuld des Dichters nur darin bestehen kann, daß er sich den Göttern zur Unzeit nähert. Szondi hat dagegen aufgewiesen, daß mit dem Nahen der Götter das Nahen des Dichters konfrontiert wird. Der Dichter muß das Nahen des Gottes, das nur von diesem ausgehen kann, erwarten. Dies verlange "eine Offenheit, eine Empfanglichkeit, die vom eigenen Ich absieht". Dieser Interpretation ist sicher zuzustimmen. Demgegenüber greift die nachstehend ztitierte Interpretation, die die Schuld des Dichters darin sieht, daß er zuviel des Göttlichen schaut und aussagt, sicher auf Gedankengut Hölderlins zurück, läßt sich aber anhand der Hymne "Wie wenn am Feierabend ... " nicht ausweisen. Vgl. M. Mommsen: Die Problematik des Priestertums bei Hölderlin. In: HJb 15 (1967-68) 53-74 .

•• Vgl. V. 119f. von "Der Rhein", StA 11 I, 142-152 . .. StA 11 2, 669f. In einer Lesart zum Entwurf findet sich statt "von selbgeschlagenerWunde" die Wendung "von anderem Pfeile". Dazu fiihrt Szondi, 1967, 45, aus: "Der andere Pfeil kommt nicht vom Gott, sondern vom Menschen selbst: die Wunde hat sich der Mensch selber geschlagen. An die Stelle des Mitleidens der Leiden des stärkeren Gottes, der dennoch der Menschen bedarf, tritt das Leiden an sich selber, an der eigenen Schwäche." 100 Vgl. EHD 75: "Das Gedicht ist in mannigfacher Hinsicht unvollendet. Die Gestaltung des Schlusses zumal, für die Hölderlin selbst sich einst entschieden hätte, bleibt unbestimmbar. Aber alle Unvollendung ist hier nur Folge des Überflusses, der aus dem innersten Anfang des Gedichtes quillt und das bündige Schlußwort verlangt." (EHD 75) Schon Lachmann, 250, hat auf die enge Beziehung zwischen der Hymne und dem Gedicht "Hälfte des Lebens", die es nahelegt, dieses als Antwort auf jene zu werten, hingewiesen. Diesen Sachverhalt hat Szondi, 1967,49-54, auf die

6'

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A. III. Die dichterische und denkerische Grundstellung Hölderlins

b) Hölderlins Kritik an Fichtes Grundstellung Die Hymne "Wie wenn am Feiertage ... " feiert die Ankunft des Heiligen, die sich im Zu-sieh-kommen der Natur ereignet. Wie sich im Durchgang durch das Gedicht zeigte, benennt Hölderlin mit dem Wort "Natur" nicht die Sphäre des Seienden, die gegen die der Geschichte abzugrenzen wäre. "Natur" ist hier vielmehr Anzeige dessen, was Hölderlin an anderer Stelle als "das Seyn, im einzigen Sinne des Worts" bezeichnet. 101 Was versteht er näherhin unter dem univok zu verwendenden Begriff "Seyn"? Einen ersten Aufschluß darüber vermittelt die Wendung, die Hölderlin an der genannten Stelle mit dem Begiff "Seyn" in eins setzt: "[D]as Seyn, im einzigen Sinne des Worts" ist das "EI' Km TIol' der Welt"I02, welches "Eins ist und Alles "103. Das eine Sein west in allen Seienden als der eine Grund, von dem her alles Seiende als solches ist. Dadurch einigt es alles Seiende zu einer Einheit. Diese Einheit, die im Sein begründet ist, hebt aber die Vielheit des Seienden nicht auf. In ihr kann durchaus das eine Seiende neben dem anderen Seienden bestehen. Sein ist von daher auszulegen als der eine Grund des einheitlichen Gefüges des Seienden im Ganzen; Hölderlin nennt es das "System" des Seienden. Im Folgenden werden wir zunächst versuchen, Hölderlins Verständnis des Seins als des ontologischen Grundes des Gefüges des Seienden zu explizieren, um dann fragen zu können, inwiefern in der Dichtung der Natur das Sein selbst zur Anschauung gelangt. Daß das Seiende im Ganzen ein Gefüge bildet, wird u.a. darin sichtbar, daß der Mensch sich als das Subjekt immer schon dem Seienden, inmitten dessen er sich befindet, der Gesamtheit aller Objekte, entgegengesetzt erfahrt. Die Frage, wie das Sein als der eine Grund in allen Seienden wesen könne, fallt von daher mit der Frage nach dem transzendentalen Grund des Bezugs des Subjekts zu den Objekten zusammen. Auf diese Frage geht Hölderlin insbesondere in den Aufsätzen, Fragmenten und Briefen, die im Kontext seiner intensiven Auseinandersetzung mit der Philosophie Fichtes entstanden sind, näher ein. 104 In seinen Ausführungen geht er davon aus, daß das "System"

Biographie Hölderlins zuriickgeführt, der in seinem Spätwerk ganz von sich absehe, so daß für den "anderen Pfeil", der vom Verlust Diotimas herriihre, kein Raum mehr bleibe. Eine solche Interpretation der Dichtung bleibt jedoch kaum ausweisbar . 101

StA III, 236f.

102

StA III, 236.

103

StA III, 53.

104 Bereits in Waltershausen las Hölderlin eigenen Angaben zufolge Fichtes "Wissenschaftslehre" (StA VII, 155). Ab November 1794 hielt er sich dann in Jena auf. An der dortigen

3. Hölderlins Seinsverstiindnis

85

des Seienden, welches sich durch die Trennung des Subjekts von den Objekten bestimmt, auf einen allen Trennungen voraufgehenden Grund zurückgeführt werden müsse, Im Aufweis dieses Grundes erkennt er "[ .. ,] die unnachläßliche Forderung, die an jedes System gemacht werden muß [",],,105, insofern die philosophische Aneignung des Seienden im Ganzen die Begründung des Gefüges desselben aus seinem Grund heraus erfordert, Das Fragment "Urtheil und Seyn" 106 ist dieser Aufgabe, die Hölderlin als die grundlegende Aufgabe der Philosophie erfaßt, gewidmet. In diesem Fragment zeigt Hölderlin erstens, daß der Bezug des Subjektes zu den Objekten und umgekehrt eine Einheit voraussetzt, wovon Subjekt und Objekt die Teile sind, und zweitens, daß diese Einheit ontologisch zu interpretieren ist. 107 Dabei geht er aus von dem Satz "Ich bin Ich", durch den Fichte in der "Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre" von 1794/95 die in der ursprünglichen Tathandlung des Ich schlechthin gesetzte Identität des Ich als des

Universitiit hörte er die Vorlesungen Fichtes. Begeistert berichtete er seiner Mutter: "Fichte's neue Philosophie beschäftigt mich izt ganz. Ich hör' ihn auch einzig und sonst keinen." (StA VI I, 142) Ähnlich äußerte er sich auch Neuffer gegenüber: "Fichte ist jezt die Seele von jena. Und gottlob! daß ers ist. Einen Mann von solcher Tiefe und Energie des Geistes kenn' ich sonst nicht." (StA VI I, 139) Die Begeisterung ftir Fichte hinderte Hölderlin aber nicht daran, sich von Anfang an kritisch mit seiner Philosophie auseinanderzusetzen. Vgl. StA VI I, 154ff. 10'

StA VI I, 181.

106 Zum Folgenden vgl. StA IV I, 216f. Das Fragment wurde 1930 wiedergefunden, 1961 in der StA erstmals veröffentlicht. Der Text war Heidegger bei der Abfassung seiner HölderlinVorlesungen also wahrscheinlich nicht bekannt. Es erscheint uns dennoch sinnvoll, ausftihrlicher auf das Fragment einzugehen, da sich in ihm der Ansatz des eigenstiindigen Denkens Hölderlins gut aufzeigen läßt. Die Relevanz dieses Textes für die Ausbildung der Hölderlinschen Vereinigungsphilosophie, deren Konzeption wir hier insoweit referieren, als dies zu einem vertieften Verstiindnis der Gedichte beiträgt, wurde im Gefolge des Aufsatzes von D. Henrich: Hölderlin über Urteil und Sein. Eine Studie zur Entwicklungsgeschichte des Idealismus. In: HJb 14 (1965/66) 73-96, mehrfach ausgearbeitet. Es sind zu nennen: Ders., 1971, 9-40; F. Strack: Ästhetik und Freiheit. Hölderlins Idee von Schönheit, Sittlichkeit und Geschichte in der Frühzeit. Tübingen 1976; M. Franz: Das System und seine Entropie. "Welt" als philosophisches und theologisches Problem in den Schriften Friedrich Hölderlins. Diss., Saarbrücken. 1979; Sowie die aus S. 49 unter Anm. 3 genannten Schriften von Kurz, 1975, bes. 61-66; Kondylis, bes. 283-366, und Jammme, 1983, bes. 71-98. Nach Abschluß der Arbeit erschien: D. Henrich: "Der Grund im Bewußtsein". Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794-1975). Stuttgart 1993. 107 Dcr Text umfaßt zwei Abschnitte, deren ursprüngliche Reihenfolge nicht sicher ist. In dem einen Abschnitt wird aus dem Begriff des Urteils auf eine der Subjekt-Objekt-Trennung voraufgehende Einheit geschlossen. Es folgt eine Reflexion über die Modalbestimmungen, die wir hier außer acht lassen können. In dem anderen Abschnitt wird die Einheil, die die Subjekt-ObjektTrennung als solche ermöglicht, ontologisch interpretiert.

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A. III. Die dichterische und denkerische Grundstellung Hölderlins

absoluten Subjekts zur Sprache bringt. 108 Dazu führt Hölderlin in dem genannten Fragment aus, daß von Identität faktisch nur dort gesprochen werden kann, wo ein Ich sich als solches weiß. Dies ist aber nur möglich aufgrund des reflexiven Bezugs des Ich zu sich, den das Ich immer schon übernommen hat, sobald es seine eigene Identität erfaßt. Der Satz "Ich bin Ich" setzt somit Reflexion, und d.h. die Trennung des Ich als des reflektierenden Subjektes von sich als von dem reflektierten Objekt, voraus. Das Ich schlechthin kann, da es "früher" ist als die Trennung von Ich und Nicht-Ich, Subjektivität und Objektivität, nicht auf sich reflektieren. Es kann sich damit auch nicht selbst wissen. Hölderlin zufolge ist es daher auch verfehlt, es überhaupt als "Ich", als Subjekt, zu denken. In einem Brief vom 26. Januar 1795 an Hegel, in dem Hölderlin anmerkt, er glaube, Fichte wolle "[ ... ] über das Factum des Bewußtseins in der Theorie hinaus [ ... ]", kritisiert Hölderlin nicht, daß Fichte überhaupt nach dem Absoluten fragt, sondern daß er dieses als absolutes "Ich" denkt. Denn "[ ... ] in dem absoluten Ich [ist] kein Bewußtsein denkbar, als absolutes Ich hab ich kein Bewußtsein, und insofern ich kein Bewußtsein habe, insofern bin ich (für mich) nichts, also das absolute Ich ist (für mich) Nichts. "109 Der Begriff "absolutes Ich" erscheint Hölderlin als in sich widersprüchlich. Und ohne dies eigens zu betonen, folgert er daraus, daß der Grundsatz der "Wissenschaftslehre" Fichtes nicht jener Grundsatz sein kann, von dem her die Begründung des "Systems" des Seienden im Ganzen als einem solchen geschehen kann. Es bleibt zu fragen, was der Trennung des Ich qua Subjekt von sich qua Objekt voraufgeht und ermöglicht, daß das Ich, das der Subjekt-Objekt-Trennung schon unterworfen ist, wann immer es auf sich reflektiert, dennoch in der Reflexion auf sich als auf sich selbst zurückkommt. "Wie kann ich sagen: Ich! ohne Selbstbewußtseyn? Wie ist aber Selbstbewußtseyn möglich? Dadurch daß ich mich mir selbst entgegeseze, mich von

10' Fichte geht es um den AufWeis des transzendentalen Grundes allen Wissens. Wie er zeigen kann, ist Wissen überhaupt nur möglich aufgrund der ursprünglichen Tathandlung des Ich, in der dieses sich aus sich selbst heraus als es selbst weiß. Diese Tathandlung bezeichnet Fichte auch als "Setzen des Ich durch sich selbst". Sie stellt das "Seyn" desselben dar. "Das Ich sezt sich selbst, und es ist, vermöge dieses bloßen Setzens durch sich selbst; und umgekehrt: Das Ich ist, und es sezt sein Seyn, vermöge seines bloßen Seyns.-" J. G. Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre 1794. In: Ders.: Werke 1793-1795. Hg. von R. Lauth u. H. Jacob unter Mitwirkung von M. Zahn. Stuttgart-Bad Canstatt 1965 (Gesamtausgabe der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, Abt. I: Werke, Bd. 2), 259. (Im Folgenden zitiert GA I mit Angabe der Bandund Seitenzahl). 109

StA VII, 155.

3. Hölderlins Seinsverständnis

87

mir selbst trenne, aber ungeachtet dieser Trennung mich im entgegengesezten als dasselbe erkenne. Aber in wieferne als dasselbe?,,11O

Die Einheit, die gewährleistet, daß das Ich in der Reflexion auf sich selbst zurückkommt, geht dem Ich als solchem vorauf. Beeinflußt von Spinoza vertritt Hölderlin die These, diese Einheit sei ontologisch zu interpretieren. 11I Er nennt sie daher mit den Titeln "absolutes Seyn" bzw. "Seyn schlechthin". Mit dem Faktum des Selbstbewußtseins ist die Differenzierung des Seins schlechthin in eine Sphäre der Subjektivität und eine Sphäre der Objektivität immer schon gegeben. Diese Differenzierung bezeichnet Hölderlin in dem Fragment "Urtheil und Seyn" als "Ur-Theilung", ohne diese allerdings als das ursprüngliche Ereignis des Seins zu erörtern . • Unheil. ist im höchsten und strengsten Sinne die urspriingliche Trennung des in der intellectualen Anschauung innigst vereinigten Objects und Subjects, diejenige Trennung, wodurch erst Object und Subject möglich wird, die Ur=Theilung. Im Begriffe der Theilung liegt schon der Begriff der gegenseitigen Beziehung des Objects und Subjects aufeinander, und die nothwendige Voraussezung eines Ganzen wovon Object und Subject die Theile sind .• 112

Die ursprüngliche Differenzierung von reflektierendem und reflektiertem Ich ist zwar paradigmatisch für das Geschehen der Ur-Theilung. In der Praxis aber wird sie deutlich in der Entgegensetzung von Ich und Nicht-Ich, der Entgegensetzung des Subjekts und der Gesamtheit der Objekte, auf die sich das Ich als Subjekt immer schon verwiesen sieht. "'Ich bin Ich' ist das passendste Beispiel zu diesem Begriffe der Urtheilung, als Theoretischer Urtheilung, denn in der praktischen Urtheilung sezt es sich dem Mchtich, nicht sich selbst entgegen.·113

110

StA IV 1,217.

I \I Hölderlins Fichte-Rezeption ist von vornherein durch seine Spinoza-Lektüre beeinflußt, was dazu fiihrt, daß er das von Fichte gedachte Ich zunächst mit Spinozas Substanz identifiziert, wie anhand des Briefes an Hegel vom 26.1.1795, StA VI I, 155, nachzuweisen ist. Diese Rezeption der Philosophie Fichtes, in welcher der Gedanke des absoluten Ich von einem substanzontologischen Ansatz her aufgegriffen und die Aufdeckung des absoluten Ich als der ursprünglichen Tathandlung daher denn auch verfehlt wird, ist insofern als produktiv zu bezeichnen, als sie Hölderlin dazu veranlaßt, nach dem ontologischen Grund zu fragen, der dem selbstbewußten Ich voraufgeht. 112

StA IV I, 216.

113

StA IV I, 216.

88

A. 111. Die dichterische und denkerische Grundstellung Hölderlins

Der transzendentale Grund jener Erfahrung, die sich in dem Satz "Ich bin Ich" ausspricht, ist demzufolge die Differenzierung des Seins schlechthin in die Sphären der Sujektivität und Objektivität. Mit der philosophischen Ausarbeitung des Gedankens der "Ur-Theilung" legitimiert Hölderlin einerseits die Trennung des Menschen von der Natur. Denn sie enthüllt sich nun als die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß der Mensch sich überhaupt als Ich erfahren und in seinem Dasein als Selbst ergreifen kann. Andererseits begründet Hölderlin durch das in "Urtheil und Seyn" Gedachte seine Kritik am Herrschaftsanspruch des Menschen über die Natur, indem er ihn durch eine ontologische Analyse der Subjektivität widerlegt." 4 Denn aus dem Fragment geht hervor, daß der Mensch, der auf sein Sein reflektiert, dessen inne werden muß, daß er sich nicht in sich schließen kann. Insofern er sich nur als Ich wissen kann in der Entgegensetzung zum Nicht-Ich, ist er immer schon aufgeschlossen auf die Natur hin, die ihn in ihrer unhintergehbaren Eigen- und Widerständigkeit angeht. Er ist sogar auf sie angewiesen insofern, als er nur von ihr her auf sich zurückkommen kann. Daß dadurch laut Hölderlin die Freiheit des Menschen als positive Freiheit begründet wird, muß noch im einzelnen belegt werden. Vorgreifend sei gesagt: Freiheit besteht für Hölderlin ihrem Wesen nach in dem Streben nach Unendlichkeit. Doch sie stellt faktisch immer schon ein endliches Streben nach Unendlichkeit dar, insofern das Ich genötigt ist, seine Freiheit derart zu ergreifen, daß es denkend und handelnd dem Nicht-Ich, der Natur, entspricht. Nur jene Freiheit, die Entsprechung bedeutet, ist positive, da antwortende, und daher denn auch zu verantwortende Freiheit. Darum kann es dem Menschen nicht darum gehen, die Natur auf sich zu reduzieren, sondern allein darum, in ein herrschafts freies Verhältnis zu dieser zu gelangen, ein Verhältnis, in dem weder der Mensch die Natur unterdrückt, noch die Natur den Menschen beherrscht. Es ist somit festzuhalten, daß es sowohl Hölderlin als auch Heidegger darum geht, den Menschen wieder in einen ursprünglichen Bezug zur Natur einzustellen. Hölderlin gelingt dies, indem er von der Faktizität des um das eigene Sein wissenden Menschen her denkt. Insofern der Mensch "Ich" sagen kann, gründet er in einem Grund, der als Trennung und Einheit von Subjektivität und Objektivität zumal west. Daher steht das Subjekt immer schon im Bezug zu den Objekten, findet sich der Mensch immer schon im Verhältnis zur Natur vor. Dadurch, daß der Mensch die Trennungen, denen er unterworfen ist, nicht aufheben kann, ist die ihm wesenhafte Freiheit nur im Geschehen der Entsprechung wahrhaft zu ergreifen. Gerade dadurch kommt er als das Wesen der Freiheit zu'ch.

'14

Vgl. dazu lamme, 1983, 88f.

3. Hölderlins Seinsverständnis

89

c) Schönheit und intellektuale Anschauung Der Mensch, dem es wesenhaft um sein Sein geht, strebt danach, die ursprüngliche Einheit, die ihn mit der ihn umgebenden Natur verband, zu restituieren. Mit der endgültigen Überwindung aller Trennungen ginge aber die Aufhebung des transzendentalen Grundes des Seins des Menschen einher. Denn sich als Selbst verstehen kann er nur im Kontext der Trennung von Ich und Nicht-Ich. Daher macht Hölderlin in der Vorrede zur vorletzten Fassung des Romans im Kontext der Deutung des menschlichen Daseins als einer "exzentrischen Bahn" ausdrücklich darauf aufmerksam, daß es wohl das Ziel all , unseren Strebens sei, uns wieder mit der Natur zu vereinigen. "Aber weder unser Wissen noch unser Handeln gelangt in irgend einer Periode des Daseyns dahin, wo aller Widerstreit aufhört, wo Alles Eins ist; die bestimmte Linie vereiniget sich mit der unbestimmten nur in unendlicher Annäherung. "tt5

Insofern nun aber Denken und Handeln die Trennung von Mensch und Natur, Subjektivität und Objektivität voraussetzen und daher lediglich eine asymptotische Annäherung an das Sein schlechthin ermöglichen, stellt sich die Frage, wie der Mensch dessen denn überhaupt dergestalt eingedenk sein könne, daß es ihn als das Ideal seiner Geschichte angeht. Wie spricht ihn das eine Einigende, das Sein schlechthin, überhaupt an? Dem Fragment "Urtheil und Seyn" zufolge stellt sich die Einheit des Seins in der sogenannten "intellectualen Anschauung" dar. Wie aus den Briefen Hölderlins an Schiller vom 4. September 1795116 und an Niethammer vom 24. Februar 1796" 7 hervorgeht, interpretiert Hölderlin die intellektuale Anschau-

'" StA I1I, 236. Vgl. dazu auch das Fragment "Hermokrates an Cephalus", StA IV 1,213, in dem Hölderlin sich gegen die Annahme wehrt, "[ ... ] das Ideal des Wissens könnte wohl in irgend einer bestimmten Zeit in irgend einem Systeme dargestellt erscheinen [ ... ]"". 116 StA VII, 181: "[ ... ] ich suche zu zeigen, daß die unnachläßliche Forderung, die an jedes System gemacht werden muß, die Vereinigung des Subjects und Objects in einem absoluten - Ich oder wie man es nennen will - zwar ästhetisch, in der intellectualen Anschauung, theoretisch aber nur durch eine unendliche Annäherung möglich ist [ ... ]". Wie aus dem Brief ersichtlich, hat Hölderlin die Differenz zwischen seinem eigenen Gedanken des Absoluten und Fichtes Konzeption des absoluten Ich noch nicht soweit durchdacht, daß er es für nötig hielte, sich auch sprachlich von Fichte abzusetzen.

117 StA VII, 202f. Aus dem Brief geht hervor, daß Hölderlin beabsichtigte, von seiner Konzeption der intellektualen Anschauung her eine eigene Ästhetik zu konzipieren, die er unter dem Titel "Neue Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen" zu veröffentlichen gedachte. "In den philosophischen Briefen will ich das Prinzip finden, das mir die Trennungen, in denen wir denken und existiren, erklärt, das aber auch vermögend ist, den Widerstreit verschwinden zu machen, den Widerstreit zwischen dem Subject und dem Object, zwischen unserem Selbst und der

90

A. III. Die dichterische und denkerische Grundstellung Hölderlins

ung als eine ästhetische Erfahrung,118 Indem das Schöne den Menschen bestimmt und durchstimmt, kommt es zu einer intuitiven Erfahrung des Seins selbst. In der Betroffenheit durch das Schöne wird "das Seyn, im einzigen Sinne des Worts", offenbar als "das EI' KCXL TIal' der Welt" ,119 Dabei bürgt die Betroffenheit durch das Schöne, das Gefühl der Erhabenheit, Hölderlin zufolge dafür, daß die alles Getrennte einigende Einheit des Seins nicht nur ein Idee ist, sondern daß sie in der Tat als das machtet, welches das Denken und Handeln des Menschen immer schon begründet und leitet. "Wir hätten auch keine Ahndung von jenem unendlichen Frieden, von jenem Seyn, im einzigen Sinne des Worts, wir strebten gar nicht, die Natur mit uns zu vereinigen, [ ... ) wenn nicht dennoch jene unendliche Vereinigung, jenes Seyn, im einzigen Sinne des Worts vorhanden wäre. Es ist vorhanden - als Schönheit. .. 120

Die Schönheit kann nur dann als Offenbarung des Seins selbst begriffen werden, wenn ihr Wesen dem des Seins entspricht. Nur dann kann "Schönheit" der dichterische Name dessen sein, "das Eins ist und Alles" 121 , Im "Hyperion" bestimmt Hölderlin das Wesen der Schönheit in Anlehnung an ein Wort Heraklits als "das €I' oLa4

StA VI 1,229.

", Aus der dritten Fassung des Gedichts "Versöhnender, der du nimmergeglaubt" , StA II 2, 137, V. 49ff. 2,. EHD 38ff.

B. Hauptteil I. Vom ersten zum anderen Anfang der Geschichte 1. Die Seins vergessenheit der Metaphysik Wie Heidegger im sogenannten "Spiegel" -Gespräch von 1966 bekennt, steht sein Denken "in einem unumgänglichen Bezug zur Dichtung Hölderlins" 1• Schon mehrfach wurde der Versuch unternommen, diesen Bezug näher zu bestimmen. 2 Dabei kamen immer wieder neue Aspekte der Hölderlinrezeption Heideggers ans Licht. Doch erst nach der Veröffentlichung aller Vorlesungen, die Heidegger zur Dichtung Hölderlins gehalten hat, sowie des Manuskripts "Beiträge zur Philosophie", das einen grundlegenden Einblick in das seinsgeschichtliche Denken Heideggers gewährt, ist es nunmehr möglich, Heideggers Denken in der Nähe zu Hölderlins Dichten umfassender zu erörtern. 3 Heideggers eigenen Angaben zufolge gründet das von ihm in "Sein und Zeit" begonnene Denken in der Erfahrung der Seinsvergessenheit des ganzen abend-

I

SpG 106.

2 Vgl. u.a.: B. Allemann: Hölderlin und Heidegger. 2. Aufl., Zürich, Freiburg 1956;A. Pellegrini: Friedrich Hölderlin. Sein Bild in der Forschung. Berlin 1965,205-228; R.-E. Schulz-SeilZ: "Bevestigter Gesang". Bemerkungen zu Heideggers Hölderlin-Auslegung. In: Durchblicke. Martin Heideggerzum 80. Geburtstag. Frankfurt/M. 1970,63-96; O. Pöggler: Es fehlen heilige Namen. Das Denken Martin Heideggers in seinem Bezug auf Hölderlin. In: Zeitwende 48 (1977) 65-79; Ders.: Heideggers Begegnung mit Hölderlin. In: Man and World 10 (1977) 13-61; B. Böschenslein: Die Dichtung Hölderlins. Analyse ihrer Interpretation durch Martin Heidegger. In: Zeitwende 48 (1977) 79-97; lamme, 1984,191-218, (dort weitere Literatur); Klassiker in finsteren Zeiten. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach a.N. Hg. von B. Zeller. Stuttgart 1983; Kellering, 1987, 179-219;A. Gelhmann-Sieferl: Heideggerund Hölderlin. Die Überforderung des "Dichters in dürftiger Zeit". In. Heideggerund die praktische Philosophie. Hg. von A. Gethmann-Siefert/O. Pöggeler. FrankfurtIM. 1988, 191-227; O. Pöggeler: Einleitung: Hölderlin, Hegel und Heidegger im amerikanisch-deutschen Gespräch. In: Martin Heidegger. Kunst, Politik, Technik. Hg. von eh. Jamme/K. Harries. München 1992, 7-42.

3 Einen Beitrag dazu hat in neuerer Zeit S. Ziegler: Heidegger, Hölderlin und die Aletheia. Martin Heideggers Geschichtsdenken in seinen Vorlesungen 1934/35 bis 1944. Berlin 1991, vorgelegt. Leider finden die "Beiträge zur Philosophie" in ihren Ausführungen kaum Beachtung.

140

B. I. Vom ersten zum anderen Anfang der Geschichte

ländischen Denkens,4 welches in dem Augenblick begann, "[ ... ] da der erste Denker fragend sich der Unverborgenheit des Seienden stellt[e] mit der Frage, was das Seiende sei". 5 Damals wurde erstmals die Frage nach dem Seienden und dessen Sein gestellt. Mit der Frage "'Ti TO äv", welche das Seiende in Frage stellt, und zwar als ein solches ( öv Väv) begann laut Heidegger die Geschichte des abendländischen Denkens, die Geschichte der Metaphysik. ·Wird nach dem Seienden als Seiendem gefragt (öp V /lp) und in dieser Ansetzung und Richtung somit nach dem Sein des Seienden, dann steht der Fragende im Bereich der Frage, von der der Anfang der abendländischen Philosophie und deren Geschichte bis zum Ende in Nietzsche geleitet war. Wir nennen deshalb diese Frage nach dem Sein (des Seienden) die Leitfrage .• 6

Solange die Frage nach dem Seienden als Seiendem oder dem Seienden, insofern es ist, das Denken des Seins leitet, wird Sein nur vom Seienden her und auf das Seiende zu bedacht. Vom Seienden her betrachtet, erfahrt das metaphysische Denken das Sein als das allem Seienden Gemeine, das Allgemeine. Auf das Seiende hin gesehen stellt sich Sein dar als das Vorgängige, das Apriori.? Sofern nun ein nur als das AIlgemeine erfahren wird, hat es den Anschein, als sei das Sein nur etwas Nachträgliches, das Seiende aber das eigentlich Fragwürdige. Wird das Sein dagegen als Apriori gedeutet, scheint es, als könne gar nicht weiter nach ihm gefragt werden. Zur Frage, die man nicht fragen muß oder auch nicht fragen kann, erklärt, gerät die Seinsfrage in der Metaphysik immer mehr in Vergessenheit. 8 Darum kann Heidegger das in der Leitfrage gründende Denken, die Metaphysik, als seins vergessen charakterisieren. Die Seinsvergessenheit, welche ihrereits dadurch ermöglicht ist, daß der Anfang unserer Geschichte auch der Anfang des Rückzugs des Seins aus dem Seienden ist insofern, als sich in ihm zwar das unverborgene Seiende, nicht aber die Unverborgenheit selbst zu denken gibt, ist laut Heidegger der Grund dafür, daß die Geschichte der Metaphysik durch eine stete Zunahme der Seinsverlassenheit des Seienden bestimmt ist bis hin zu dem Verdacht Nietzsches, "Sein" sei nurmehr der "letzte[] Rauch der verdunstenden Realität".9 Wird jedoch offenbar, daß die Leitfrage nicht nur der Grund, sondern auch die Wesensgrenze des traditioneIlen Denkens ist, kann das Denken neu ansetzen. Der eigenen

• GA 9,328. Vgl. SdD 31 u.ö. , GA 9, 189. • GA 65,75. 7

GA 65, 11lf.

• GA 65, 116f.; vgl. schon SuZ 2ff. 9

Melzsche: Götzen-Dämmerung, S. 96; KGW VI 3,70; vgl. EiM 27.

I. Die Seinsvergessenheit der Metaphysik

141

Seinsvergessenheit innewerdend, erkennt es, daß es nun gilt, das Sein nicht nur vom Seienden her zu denken, sondern es "aus ihm selbst zu erdenken", in der Hoffnung, eines Tages könne nicht nur die Seinsvergessenheit, sondern auch die Seinsverlassenheit überwunden und das Seiende wieder ursprünglich im Sein gegründet werden. Inwiefern die Seinsvergessenheit der Metaphysik und die Seinsverlassenheit des Seienden eine unaufhebbare Einheit bilden, klang in unserer Betrachtung der Grundstellungen des Denkens schon an. In der Frage "Ti 70 ö,," wird nach dem Seienden als solchem gefragt, d.h. nach dem Seienden, insofern es ist. Für die Griechen fällt Sein mit Unverborgenheit oder Offenbarkeit in eins. "Seiendes ist" bedeutet für sie: "Seiendes west an als offenbares". Insofern gründet die Leitfrage der Metaphysik in der Erfahrung der Offenbarkeit des Seienden. Dennoch stellen die Griechen die Unverborgenheit des Seienden selbst nicht in Frage, sondern wenden sich nur dem unverborgenen Seienden zu. Dadurch begründen sie die Geschichte der Metaphysik, für die es bestimmend ist, daß in ihr nie nach der Offenheit des Seins und auch nie nach dem Bezug des Menschen zur Offenheit des Seins gefragt wird. 1O Ihr Ende erfahren wir in unseren Tagen, in einer Zeit, da der Mensch zu dem Subjekt geworden ist, welches das Seiende im Ganzen nur noch als Gesamtheit der Objekte erfährt. Nietzsehe ist es, der die Aufhebung von Sein in Subjektivität zu Ende zu denken gewagt hat. Ihm zufolge gibt es "Sein" und "Gott" nur insofern, als sie vom Subjekt als das gesetzt sind, worauf es ihm um des eigenen Seins willen ankommt. Das aber bedeutet: "Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! "11 Und Nietzsehe fährt fort: "Es gab nie eine größere Tat - und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!" Mit der Einsicht, daß Sein und Gott ihren Ursprung in unserem Willen zu sein haben, beginnt eine "höhere Geschichte", es beginnt die Zeit des Übermenschen, des absoluten Subjekts. Nietzsches Wort vom Tod Gottes kann man daher als Aufforderung auslegen, dem Anspruch der Geschichte dadurch zu entsprechen, daß wir die nur auf den eigenen Willen zu sein gegründete Subjektivität als das uns bestimmte Sein annehmen. Der zitierte Text ruft dazu auf, sich der Zeit ohne Gott zu stellen. Er kündet aber auch von dem Erschrecken am Ende der Geschichte, deren Signum die Aufhebung von Sein (Gott) in Subjektivität ist. "Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen?"12 Das ist der

10

VgJ. dazu GA 9, 322, 370, u.ö.

11

Nierzsche: Die fröhliche Wissenschaft, A. 125; KGW V 2, 158ff.

12

Nierzsche: Die fröhliche Wissenschaft, A. 125; KGW V 2, 158ff.

142

B. I. Vom ersten zum anderen Anfang der Geschichte

Ansatzpunkt der Denkwege Heideggers, jenes Denkens, das den Menschen nicht mehr auf das Subjekt reduziert, sondern ihn vom Sein her zu denken wagt. Ihm ist die Nähe zur Dichtung Hölderlins eigen. Denn auch sie hat ihren Ursprung in der Erfahrung, daß jenes Denken, welches das Subjekt zum Ursprung von Denken und Sein erklärt, den Bezug des Menschen zum Seienden im Ganzen notwendig zerstören muß. Wenn daher Hölderlin das "Nichtdenken des Unbekannten" bedauert13 und Heidegger die Seinsvergessenheit der Metaphysik betont, geht es bei den darum, durch die Zuwendung zum Sein selbst die Infragestellung der Philosophie der Subjektivität zu ermöglichen, um den Menschen wieder in ein heiles Verhältnis zur Natur einzustellen, - ein Verhältnis, das nicht nur im Bezug auf den Dichter als "religiöses Verhältnis" bezeichnet werden kann, da es in einer ursprünglichen Erfahrung des Göttlichen gründet. Auch Heidegger geht davon aus, daß wir nur dann in ein heiles Verhältnis zum Seienden im Ganzen gelangen können, wenn es uns gelingt, uns wieder den Dimensionen des Heiligen und Göttlichen im Sein zu öffnen. 14 Von daher ist auch zu verstehen, daß Heidegger in den "Beiträgen zur Philosophie" auf den "Vorbeigang des letzten Gottes" hindenkt. Auch in dem schon erwähnten "Spiegel-Gespräch" bekennt Heidegger: "Nur ein Gott kann uns noch retten" .15 Da Hölderlin den Gott erwarte, sei er "der Dichter, der in die Zukunft weist" .16 Um unserer Zukunft willen, sollten wir uns der Dichtung Hölderlins öffnen. Ihr Gehör zu verschaffen, sei die Aufgabe des Denkens, welches "aus eigenem Ursprung"17, und d.h. aus der Grunderfahrung der Seinsvergessenheit heraus, in das Gespräch mit der Dichtung Hölderlins eintrete. Unter besonderer Berücksichtigung der Hölderlin-Vorlesungen Heideggers werden wir im folgenden Abschnitt unserer Arbeit im einzelnen zeigen, daß die Nähe von Dichten und Denken ihren Ursprung in der beide gründenden Erfahrung der Seinsvergessenheit hat. Wir werden von da aus zu fragen haben, inwiefern sowohl in Hölderlins Dichten als auch in Heideggers Denken die Vergessenheit von Sein überwunden wird. Erst dann können wir uns auch die Frage stellen, ob dadurch der Weg zu einer ursprünglichen Erfahrung des Seins eröffnet wird, einer Erfahrung, die der Dichter als eine Erfahrung des Heiligen deuten kann.

13

StA IV I, 158.

" Vgl. GA 9, 35If.; HW 266ff., 315.

" SpG 99f. 16

SpG 106.

17

GA 39, 151.

2. Dichten und Denken in der Zeit des Übergangs

143

2. Dichten und Denken in der Zeit des Übergangs Um die Analogie der Grunderfahrungen, die Heideggers Denken in die Nähe zu Hölderlins Dichten bringt, im einzelnen darzustellen, ist es erforderlich, nochmals an Hölderlins Deutung der Geschichte zu erinnern. Dem idealistischen Geschichtsdenken folgend, nimmt Hölderlin an, ehe der Mensch des eigenen Seins, der Freiheit, inne werde, sei er einfältig eins mit dem Ganzen der Natur. 18 Im Mythos feiere er sie als das Göttliche, das zwar in allem Seienden, vor allem aber im Menschen, sofern er wahrhaft Mensch sei, offenkundig werde. "Der Mensch ist aber ein Gott, so bald er Mensch ist. Und ist er ein Gott, so ist er schön", sagt Hyperion in dem gleichnamigen Roman, und er führt aus, am Anfang der Geschichte seien der Mensch und die Götter noch eins gewesen. 19 Für Hölderlins Geschichtsdenken charakteristisch ist nun, daß er den ungebrochenen Einklang von Mensch und Natur nicht in eine Zeit vor aller Zeit verlegt, sondern an das Dasein der Griechen bindet. Er geht davon aus, daß die Einheit von Mensch und Natur erst mit dem Untergang Griechenlands zerbrach. Es kam zur Entmythologisierung, d.h. Entgöttlichung der Natur. Sie wurde dem Menschen zum Objekt, welches er beherrschen zu können glaubte. "[ ... ] wie bist du denn zur Magd geworden, griechische freie Natur?"20 fragt Hyperion, und an anderer Stelle bedauert er den Untergang Griechenlands: "Wir sind zerfallen mit der Natur, und was einst, wie man glauben kann, Eins war, widerstreitet sich jezt, und Herrschaft und Knechtschaft wechselt auf beiden Seiten. Oft ist uns, als wäre die Welt Alles und wir Nichts, oft aber auch, als wären wir alles und die Welt nichts. "21 Nicht nur aus der oben zitierten Stelle aus dem "Hyperion" , sondern auch aus den Briefen Hölderlins geht hervor, daß er erkennt, daß die Herrschaft des Menschen über die Natur denkerisch durch jene Reduktion von Sein in Subjektivität begründet wird, für deren Vertreter er Fichte hält. Da der Mensch aber nur wahrhaft er selbst sein kann, wenn es ihm gelingt, den Streit von Natur und Freiheit im eigenen Dasein zu versöhnen, kommt es für Hölderlin darauf an, im Gegenhalt zu Fichte die Reduktion von Sein in Subjektivität zu überwinden und die Einheit des Seins, welche vor der Trennung von Subjektivität und Objektivität gegeben war, zu restituieren. Dabei darf der

.. Vgl. das Fragment "Über das Gesez der Freiheit", StA IV I, 211 f., und das Vorwort zum Thalia-Fragment des "Hyperion", StA nr, 163. 19

20 21

nr, 79. StA nr, 107. StA nr, 236. StA

144

B. I. Vom ersten zum anderen Anfang der Geschichte

Mensch allerdings die erlangte Freiheit nicht einfach wieder aufgeben und in den Zustand der Einfalt zurückkehren, sondern er muß, die eigene Freiheit bewahrend, nun auch die Eigenständigkeit der Natur anerkennen. Daß das eine Sein, welches Freiheit und Natur in sich vereint, bislang ungedacht blieb, gibt Hölderlin Grund zu der Hoffnung, die Freiheit könne wieder in Einklang mit der Natur gebracht und diese als das göttliche Ganze, dem "der Gott in uns" entspricht, bewußt gemacht werden. Darum fordert er immer wieder dazu auf, der Natur ihre Göttlichkeit durch einen neuen Mythos zurückzugeben, und zwar einen Mythos, von dem im sogenannten Systemprogramm verlangt wird, daß er den Einsichten der Vernunft gemäß sei. 22 Dem entspricht nicht nur die Aufforderung des Empedokles, das Volk möge "[d]er alten Götter Nahmen" vergessen und sich zur neuen Gottheit, der Natur, bekehren,23 sondern auch der Auftrag an "Germania" , "die Mutter" zu rufen, denn "[ ... ] bei dem Nahmen derselben/ Tönt auf aus alter Zeit Vergangengöttliches wieder. "24 Nach Hölderlin ist der Untergang Griechenlands der Anfang einer Geschichte ständig zunehmender Entgöttlichung der Natur. Von daher ist auch die Metapher von der Flucht der Götter, die er in "Germanien" verwendet, zu interpretieren. Doch Hölderlin kündigt in "Germanien " auch die Wiederkehr der Götter an. Der Hymne zufolge wird ihnen der Weg geebnet durch das "Nennen der Mutter". Die Dichtung, näherhin die mythische Deutung der Natur, bereitet - darin dem Denken des "Seyns, im einzigen Sinne des Worts" entsprechend - die erneute Erfahrung der Göttlichkeit des Wesens der Natur vor, und zwar u.a. dadurch, daß sie das "Nichtdenken des Unbekannten" als solches zur Sprache bringt. Die Hoffnung auf eine grundlegende Wende der Zeiten, zu der Hölderlin sich in der Hymne "Germanien" bekennt, interpretiert Heidegger in der Vorlesung vom Wintersemester 1934/35 zu "Hölderlins Hymnen 'Germanien' und 'Der Rhein''', die sich auch dadurch als "in engstem Bezug zu religionsphänomenologischen Fragen stehend erweist" 25, als Ankündigung des bevorstehenden Übergangs, der "von Nietzsche weg auf die andere Seite führt"26. Gerade uns, die wir noch auf dem von Nietzsche gegründeten Grund stehen, gehen die Hymnen Hölderlins an. Denn Hölderlins Dichtung der Flucht der Götter nimmt Nietzsches Sage vom Tod Gottes vorweg. Doch anders als Nip-tzsche denkt Hölderlin, Heideggers Auslegung zufolge, auf den anderen Anfang hin, den Anfang der Geschichte, in der eines

22

StA IV 1, 299.

23

StA IV 1,65.

2. StA 11 I, 152, V. 99f. H

Jamme, 1984, 197.

26

WhD 21.

3. Von der Leitfrage der Metaphysik zur Grundfrage des Denkens

145

Tages der denkenden Einkehr in das Wesen des Seins die Überwindung der Seinsverlassenheit des Seienden folgen könnte. Darum wird in der Dichtung Hölderlins der Übergang vom ersten zum anderen Anfang der Geschichte eröffnet. Die Analogie zu Heideggers Deutung der Geschichte ist evident. Mit Hölderlin verbindet ihn nicht nur die Zuwendung zu den Griechen, in deren Mythen er die ursprüngliche Erfahrung von Sein zu finden hofft. Mit ihm kommt er auch darin überein, daß unsere Zeit die Zeit ist, in der Göttliches nur noch als Gewesenes erinnert oder als Zukünftiges erhofft werden kann. Und Hölderlins Ahnung der Wiederkehr der Götter gilt ihm als Aufforderung, den Übergang in den anderen Anfang auch denkend zu begründen. Doch wie Hölderlin in der Dichtung das Nochnicht des kommenden Gottes aushalten muß, so muß auch Heidegger in den "Beiträgen", die auf den "Vorbeigang des letzten Gottes" hindenken, erkennen: "Die Zeit der Erbauung der Wesensgestalt des Seienden aus der Wahrheit des Seyns ist noch nicht gekommen".27 Wir können nur hoffen, daß wir Sein und Seiendes eines Tages wieder ursprünglich erfahren dürfen, und daß dadurch sowohl die Seinsverlassenheit des Seienden als auch die Heimatlosigkeit des Menschen überwunden werden.

3. Von der Leitfrage der Metaphysik zur Grundfrage des Denkens In der Besinnung auf die Geschichte der Metaphysik kann das Erschrecken ob der Seinsverlassenheit des Seienden zu der Erfahrung werden, die unser Denken bestimmt. Dann werden wir erkennen, "[00'] daß alle Metaphysik (gegründet auf die Leitfrage: was ist das Seiende?) außerstande blieb, den Menschen in die Grundbezüge zum Seienden zu rücken. "28 Nur wenn wir uns dieser Erfahrung stellen, kann die Frage aufkommen, ob die Hoffnung auf eine Überwindung der Metaphysik begründet ist. Warum die Metaphysik zu überwinden ist, wird ebenfalls nur in der Besinnung auf den ersten Anfang der Geschichte des Denkens offenkundig. In der die Metaphysik begründenden Frage "Ti TO öv" wird nach dem Seienden als solchem gefragt. Eine solche Frage kann nur aufgrund der Erfahrung der Offenbarkeit des Seienden gestellt werden. Dennoch wird in der Geschichte der Metaphysik die Offenbarkeit des Seienden im Ganzen nicht in Frage gestellt, womit verbunden ist, daß auch der

27

GA 65, 5.

2.

GA 65, 12.

10 Bohlen

146

B. I. Vom ersten zum anderen Anfang der Geschichte

Mensch nicht in seinem Bezug zur Offenheit des Seins, von Heidegger auch Wahrheit genannt, in Frage gestellt wird. 29 "Der erste Anfang erfährt und setzt die Wahrheit des Seienden, ohne nach der Wahrheit als solcher zu fragen, [ ... ). Der andere Anfang erfährt die Wahrheit des Seyns und fragt nach dem Seyn der Wahrheit, um so erst die Wesung des Seyns zu gründen und das Seiende als das Wahre jener ursprünglichen Wahrheit entspringen zu lassen. "30

Der Übergang vom erstanfänglichen Denken, der Metaphysik, in das andersanfängliche Denken geschieht demnach im Übergang von der Leitfrage nach dem Sein des Seienden in die Frage nach der Offenheit oder Wahrheit des Seins, der sogenannten Grundfrage des Denkens, welche dem oben Gesagten zufolge nur zu fragen ist in eins mit der Frage nach dem Bezug des Menschen zur Offenheit des Seins. "Die ursprüngliche Zueignung des ersten Anfangs (und d.h. seiner Geschichte) bedeutet das Fuß fassen im anderen Anfang. Dieses vollzieht sich im Übergang von der Leitfrage (was ist das Seiende?, Frage nach der Seiendheit, Sein) zur Grundfrage: was ist die Wahrheit des Seyns? (Sein und Seyn dasselbe und doch grundverschieden.) Dieser Übergang ist geschichtlich begriffen die Überwindung und zwar die erste und erstmögliche aller 'Metaphysik' ... 31

Bezüglich des Übergangs von der Leitfrage zur Grundfrage betont Heidegger in den "Beiträgen zur Philosophie" die Bedeutung von "Sein und Zeit": "Von der Leitfrage zur Grundfrage gibt es nie einen unmittelbaren, gleichsinnigen, die Leitfrage noch einmal (auf das Seyn) anwendenden Fortgang, sondern nur einen Sprung, d.h. die Notwendigkeit eines anderen Anfangs. Wohl dagegen kann und muß durch die entfaltende Überwindung der Leitfragenstellung und ihrer Antworten als solcher ein Übergang geschaffen werden, der den anderen Anfang vorbereitet und überhaupt sichtbar und ahnbar macht. Dieser Übergangsbereitungdient 'Sein und Zeit', d.h. es steht eigentlich in der Grundfrage ohne diese rein aus sich anfänglich zu entfalten" .32

Inwiefern "Sein und Zeit" den Übergang von der Metaphysik, dem Denken des Seins vom Seienden her und auf das Seiende zu, zu dem Denken, das das Sein als solches denkt, bahnt, ist im folgenden ausführlicher zu erläutern. Ehe wir uns dem näher zuwenden, ist es erforderlich, vorgreifend auf den grundle-

29

Vgl. dazu GA 9, 322 u. 370.

30

GA 65, 179.

31

GA 65, 171.

32

GA 65,76.

3. Von der Leitfrage der Metaphysik zur Grundfrage des Denkens

147

genden Unterschied des in "Sein und Zeit" begangenen Denkwegs und des Denkens der "Beiträge", in denen es zur anfänglichen Entfaltung der Grundfrage kommt, aufmerksam zu machen. Wir werden im Kontext der Erörterung der sogenannten Kehre im Denken Heideggers nochmals darauf zu sprechen kommen.

4. Von der Fundamentalontologie zum seinsgeschichtlichen Denken In "Sein und Zeit" beginnt der Weg in das neue Denken, den anderen Anfang. Heidegger wiederholt dort die Frage nach dem Sein des Seienden, und zwar derart, daß er die Auslegung von Sein als beständiger Anwesenheit daraufhin in Frage stellt, von woher sie erfolgt. Klingen in ihr nicht Präsenz und Dauer an, so daß sie als ein Indiz dafür zu gelten hat, daß Sein von der Zeit her verstanden wird?33 So lautet die Frage, der Heidegger in "Sein und Zeit" nachgeht. Den dort begangenen Denkweg charakterisieren wir in Anlehnung an die Terminologie von Herrmanns alsJundamentalontologische Ausarbeitung der Seinsjrage. 34 Indem Heidegger in "Sein und Zeit" die Einheit der Verständlichkeit des Seins und der Zeit aufdeckt, kommt es auch zu einer ursprünglichen Auslegung des Seins des Menschen. Der Mensch ist er selbst, indem er die Offenheit des Seins, in die er geworfen ist, entwerfend offenhält. Dergestalt ist er das Da des Seins: "Dasein". Erst zu Beginn der 30er Jahre erkennt Heidegger, daß die Geworfenheit und mit ihr auch die Entwürfe des Daseins in das Wesen des Seins selbst zurückzunehmen sind. Dadurch kommt es zur anfänglichen Entfaltung der Seinsfrage, in der eigens deutlich wird, daß der Mensch durch das Sein selbst zum Dasein wird. In ihm ereignet das Sein selbst sich die Stätte der eigenen Offenheit. Da hierin auch die Einheit der Geschichtlichkeit des Daseins und der Epochalität des Seins als eigens zu denkende offenkundig wird, kann der um 1930 beginnende Denkweg Heideggers auch als seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsjrage bezeichnet werden. Von ihm her auf das eigene Denken zurückblickend kann Heidegger dann in den "Beiträgen" und im "Humanismus-Brief" behaupten, mit der in "Sein und Zeit" ausgearbeiteten Wiederholung der Seinsfrage beginne schon die Überwindung der Metaphysik und ihrer Auslegung des Seins des Seienden, insbesondere aber des Seins des Menschen. Wenn wir daher nun den Übergang von der Leitfrage in die Grundfrage anhand von "Sein und Zeit" und den Abhandlungen und Vorlesun-

31

Vgl. SuZ 25 .

.. F.-W. von Herrmann: Das Ende der Metaphysik und der andere Anfang des Denkens. Zu Heideggers 'Kehre'. In: Freiburger Universitätsblätter 28 (1989), H. 104,47-60; 10'

148

B. l. Vom ersten zum anderen Anfang der Geschichte

gen, deren Gedanken in der Nähe zu "Sein und Zeit" stehen, verfolgen, ist vor allem darauf zu achten, inwiefern es in der Aufdeckung der Zeit als des Horizontes von Sein zu einer Interpretation des Seins das Menschen kommt, die dann dazu nötigt, das Verhältnis von Sein und Menschenwesen nochmals anfänglicher vom Sein her zu entfalten.

5. Vorgriff: Der andere Anfang des Denkens Im "Humanismus-Brief" geht Heidegger, auf den von "Sein und Zeit" bis in die Mitte der 40er Jahre gegangenen Denkweg zurückblickend, ausführlicher darauf ein, inwiefern der Übergang in das andersanfängliche Denken mit dem Wesenswandel des Menschen verbunden ist. Dazu hebt er den in "Sein und Zeit" zu findenden Satz "Das 'Wesen' des Daseins liegt in seiner Existenz"35 von der metaphysischen Auslegung des Seins des Menschen ab. Er führt aus, die traditionelle Auskunft über das Wesen des Menschen laute: "Homo est animal rationale". 36 In ihr werde der Mensch als ein Seiendes unter anderen Seienden genommen. Als die differentia specifica, die das Wesen des Menschen begrenzt, werde sodann die ratio, zu deutsch: die Vernunft, angegeben. Sie wiederum werde als ein Vermögen des Menschen ausgelegt, nämlich als das Vermögen, das Seiende als solches zu vernehmen. Im Durchgang durch die Grundstellungen der Metaphysik wurde deutlich, daß unsere Geschichte, welche auch die Geschichte unserer Selbstauslegung ist, durch den von Descartes begründeten Wandel in der Interpretation des Vernehmens geprägt ist. Seit Descartes wird das Vernehmen als Vorstellen gedacht. Infolgedessen wird der Mensch nun begriffen als das vorstellende Subjekt, das im Vorstellen das Seiende, welches darin zum Objekt wird, auf sich zustellt. Das Zustellen ist nach Heidegger zugleich ein Sicherstellen. In ihm versichert sich das vorstellende Subjekt der von ihm vorgestellten Objekte. Dem Grundsatz "Wissen ist Macht" folgend, kann man auch sagen, daß der Mensch, der sich von der Subjektivität her denkt, im Grunde immer schon danach strebt, sich des Seienden im Ganzen zu bemächtigen. Die Erfahrung des Seins des Seienden, welche in dem Begriff "Machenschaft" anklingt, ist der Kontext der Auslegung des Menschen als des Subjekts. Sie wird daher auch nur durch den von Heidegger angestrebten Wesenswandel des Menschen überwunden werden können. Der Auslegung des Menschen als animal rationale gesteht Heidegger zwar zu, sie sei zutreffend. Es geht ihm daher auch nicht darum, sie zu verwerfen. Und

"SuZ 42. 36

GA 9, 322.

5. Vorgriff: Der andere Anfang des Denkens

149

doch behauptet er, in ihr werde "[ ... ] das Wesen des Menschen zu gering geachtet und nicht seiner Herkunft gedacht, welche Wesensherkunft für das geschichtliche Menschentum stets die Wesenszukunft bleibt. "37 Das bedeutet, daß die Metaphysik nicht auf den Ursprung des Wesens des Menschen hindenkt und daher den Menschen auch nicht von der ihm eigenen Wesensherkunft her denken kann. Sie verhindert nach Heidegger sogar, daß der Mensch in das eigene Wesen findet. Doch nur eingedenk des eigenen Ursprungs wird der Mensch noch eine Zukunft haben. Darum gilt es, die Metaphysik, ihre Leitfragenstellung und die durch sie bedingte Auslegung des Menschen von Grund auf zu überwinden. Dazu sagt Heidegger im "Humanismus-Brief", die Wesensherkunft der Metaphysik und ihre Grenze seien schon in "Sein und Zeit" frag-würdig geworden. 38 Der dort schon angelegten Frage nach der "Wesensherkunft" oder dem "Wesensgrund" der Metaphysik geht Heidegger in der Freiburger Antrittsvorlesung "Was ist Metaphysik" eigens nach. Im Gang der Vorlesung wird deutlich, daß Metaphysik geschieht, indem die Frage nach dem Seienden als solchem, d.h. als offenbarem, gestellt wird. Insofern gründet die Metaphysik in der Erfahrung der Offenbarkeit des Seienden. Die Frage nach ihrem Wesensgrund fallt daher mit der Frage nach der Offenbarkeit des Seienden und ihrem Wesens grund in eins. Da die Metaphysik ihrer Leitfrage folgend zwar das Seiende als offenbares, nicht aber die Offenbarkeit als solche in Frage stellt, erkennt sie nicht, daß sowohl die Offenbarkeit (VorsteIlbarkeit) des Seienden als auch die Offenständigkeit (Vorstellen) des Menschen dadurch ermöglicht sind, daß der Mensch als das existierende auch das gelichtete, d.h. das durch Seinsverständnis ausgezeichnete Seiende ist, woraus zu folgern ist, daß die Existenz bzw. Ek-sistenz (beide Begriffe gebraucht Heidegger im "Humanismus-Brief" synonym) "der Grund der Möglichkeit der Vernunft, ratio", ist. 39 Wenn aber die Existenz der Grund der Möglichkeit der Vernunft ist, dann kann die Offenheit von Sein keine Setzung des durch Vernunft ausgezeichneten Seienden, des Subjekts, sein. Schon in "Sein und Zeit" betont Heidegger daher auch ausdrücklich, daß das den Menschen Lichtende kein Seiendes sei. Es ist die Verfassung des Seins des Daseins selbst, aufgrund derer der Mensch das gelichtete Seiende ist, jene Einheit von Entwurf und Geworfenheit, mit der auch schon der offenständige Bezug zum Seienden als solchem gegeben ist. Sie nennt Heidegger in "Sein und Zeit" kurz "die Sorge"40.

37

GA 9,323.

38

GA 9, 322.

39

GA 9, 324.

40

SuZ § 41.

150

B. I. Vom ersten zum anderen Anfang der Geschichte

Aus dem "Humanismus-Brief" und den "Beiträgen zur Philosophie" geht hervor, daß das Wort "Sorge" den eigentlichen Bezug des Menschen zum Sein zur Sprache bringt. Auf ihn, behauptet Heidegger, sei schon in "Sein und Zeit" hingedacht worden. 41 In "Sein und Zeit", Paragraph 41, wird der Titel "Sorge" aber noch rein ontologisch-existenzial zur Anzeige der Struktur des Daseins, welche wesenhaft dadurch bestimmt ist, daß es ihm "in seinem Sein um sein Sein geht"42, verwendet. Im "Humanismus-Brief" dagegen klingt an, daß das Denken um unserer Zukunft willen dazu gebracht werden muß, den Menschen von der "Sorge" her zu begreifen. Entsprechend betont Heidegger in den "Beiträgen" nicht nur ausdrücklich, daß das Umwillen der Sorge nicht nur das Sein des Menschen, sondern Sein überhaupt betreffe. Er verwendet den Titel "Sorge" nun, über die Anzeige der existenzialen Struktur des Daseins hinaus, zur Nennung des Zieles, um das es uns auch existenziell gehen muß. Die "Beiträge", führt Heidegger aus, seien "Ziel setzendes Denken". Und er erläutert: "Nicht irgend ein Ziel und nicht das Ziel überhaupt, sondern das einzige und so einzelne Ziel unserer Geschichte wird gesetzt. Dieses Ziel ist das Suchen selbst, das Suchen des Seyns. Es geschieht und ist selbst der tiefste Fund, wenn der Mensch zum Wahrer der Wahrheit des Seyns, zum Wächter für jene Stille wird und dahin entschieden ist. Sucher, Wahrer, Wächler sein - das meint die Sorge als Grundzug des Daseins. In ihrem Namen sammelt sich die Bestimmung des Menschen, sofern er aus seinem Grunde, d.h. aus dem Da-sein begriffen wird [ ... 1.,,43

Heidegger verbindet damit die Hoffnung, es könne gelingen, "[ ... ] die Not der Seinsverlassenheit zu verwandeln in die Notwendigkeit des Schaffens als der Wiederbringung des Seienden. "44 Denn der Mensch, der sich von der Sorge her begreift, weiß, daß er gerade nicht das Subjekt ist, welches Sein eigenmächtig setzen kann; was umgekehrt bedeutet, daß Sein keine Setzung, kein "Gemächte" des Menschen ist. Er weiß, daß sein Wesen nicht darin besteht, "[ ... ] daß er die Substanz des Seienden, als dessen ' Subjekt' ist, um als der Machthaber des Seins das Seiendsein des Seienden in der allzu laut gerühmten 'Objektivität' zergehen zu lassen. "45 Er ist vielmehr der, der dem eigenen Sein, dem Dasein, welches als "Sorge" geschieht, nur entsprechen kann, indem er "Sorge" für das Sein des Seienden im Ganzen trägt, und der darum bereit

4\

GA 9,331; GA 65, 17f.

42

SuZ 12.

43

GA 65, 17f.

.. GA 65, 17f. " GA 9, 330.

5. Vorgriff: Der andere Anfang des Denkens

151

ist, die Wahrheit des Seins zu hüten. In der Auslegung des Seins des Dasein, der ekstatischen Existenz, als "der Sorge", wird demnach, seinsgeschichtlich betrachtet, auf den Wandel des Menschen vom "Herrn des Seienden" zum "Hirten des Seins" hingedacht, mit dem Heidegger die Hoffnung verbindet, eines Tages könne uns das Seiende, erfahren aus der Wahrheit des Seins, wieder als "das Wahre" ansprechen, dessen Anspruch wir in unserem Dasein zu entsprechen haben. Da "Sein und Zeit" den Übergang von der Metaphysik in das andersanfangliche Denken erst ahnbar macht, muß jede Erörterung der Hölderlin-Vorlesungen Heideggers, die nicht von "Sein und Zeit" her erfolgt, scheitern. Wir greifen daher nun nochmals auf "Sein und Zeit" zurück. Die Frage, der wir im folgenden Kapitel nachgehen werden, lautet: Inwiefern wird durch die Aufdeckung des Seins des Menschen als "der Sorge" der Weg zu einer gewandelten Auslegung des Wesens des Menschen eröffnet, einer Auslegung, die den Menschen vom Ursprung seines Wesens, der Offenheit des Seins, her denkt. Inwiefern wird darin der Übergang in das andersanfangliche Denken gebahnt? Und warum gelingt es Heidegger in "Sein und Zeit" dennoch nicht, den Bezug des Menschen zur Wahrheit des Seins "rein aus sich anfanglich zu entfalten"? Wir hoffen, dadurch die Auslegung des Wesens des Menschen in den Hölderlin-Vorlesungen in ihrer Stellung im Ganzen des Heideggerschen Denkens besser verorten zu können.

11. Die fundamental ontologische Ausarbeitung der Seinsfrage 1. Der Ansatz der Fundamentalontologie Heideggers a) Zum Gedankengang von "Sein und Zeit" Wir beginnen unsere Überlegungen zu "Sein und Zeit" mit einer kurzen Skizze der Absicht und des Gedankenganges der Abhandlung. 1 Paragraph 8 zufolge war "Sein und Zeit" auf zwei Teile hin angelegt. Im ersten Teil sollte "[d]ie Interpretation des Daseins auf die Zeitlichkeit und die Explikation der Zeit als des transzendentalen Horizontes der Frage nach dem Sein" erfolgen. 2 Darauf sollte im zweiten Teil der Abhandlung eine eingehende Erörterung der Temporalität des Seins geschehen. Der Titel des zweiten Teiles, der als Rückgang in die Geschichte des Denkens konzipiert war, hätte gelautet: "Grundzüge einer phänomenologischen Destruktion der Geschichte der Ontologie am Leitfaden der Problematik der Temporalität".3 Doch die Veröffentlichung des zweiten Teiles von "Sein und Zeit" blieb aus. Auch von den geplanten drei Abschnitten des ersten Teiles wurden nur die beiden ersten Abschnitte, "Die vorbereitende Fundamentalanalyse des Daseins" und "Dasein und Zeitlichkeit", veröffentlicht. Man kann aber davon ausgehen, daß die Grundgedanken, die im dritten Abschnitt, "Zeit und Sein", zur Ausführung gekommen wären, in der Vorlesung vom Sommersemester 1927 zu den "Grundproblemen der Phänomenologie" vorgetragen wurden. Denn eine Marginalie zum Manuskript der Vorlesung belegt, daß es sich bei ihr um eine "Neue Ausarbeitung des 3. Abschnitts des I. Teiles von 'Sein und Zeit'" handelt. 4 Der Denkweg des ganzen ersten Teiles von "Sein und Zeit" ist daher unter Berücksichtigung der Vorlesung vom Sommersemester 1927 zu skizzieren.

I Vgl. dazu ausführlich: F.-W. von Hen'mann: Hermeneutische Phänomenologie des Daseins. Eine Erläuterung von "Sein und Zeit". Bd. I: "Einleitung: Die Exposition der Frage nach dem Sinn von Sein". FrankfurtIM . 1987.

2

SuZ 39.

3

SuZ 39.

• GA 24, I, Anm. I. Zum Verhältnis der Vorlesung zu SuZ vgl.: F.- W. von Hermzann: Heideggers "Grundprobleme der Phänomenologie". Zur "Zweiten Hälfte" von "Sein und Zeit". FrankfurtIM . 1991.

1. Der Ansatz der Fundamentalontologie Heideggers

153

Der Titel "Die Interpretation des Daseins auf die Zeitlichkeit und die Explikation der Zeit als des transzendentalen Horizontes der Frage nach dem Sein" zeigt die Intention des ganzen ersten Teiles von "Sein und Zeit" an. In ihm geht es darum, den transzendentalen Horizont, von dem her das Dasein Sein versteht, zu explizieren. Es soll gezeigt werden, "[ ... ] daß das, von wo aus Dasein überhaupt so etwas wie Sein unausdrücklich versteht und auslegt, die Zeit ist. Diese muß als der Horizont alles Seinsverständnisses und jeder Seinsauslegung ans Licht gebracht und genuin begriffen werden. "5 Die Aufdeckung der Zeit als des Horizontes von Sein erfolgt im Ausgang vom Dasein. Denn es ist das Seiende, dessen Sein durch das Verstehen von Sein bestimmt ist. Die These Heideggers, "Seinsverständnis ist selbst eine Seins bestimmtheit des Daseins"6, ist für den Duktus von "Sein und Zeit" grundlegend. Denn aus ihr folgt, daß die Einheit der Verständlichkeit und des Verstehens von Sein nur im Rückgang auf das Sein des Daseins erörtert werden kann. Die Aufdeckung des Horizontes des Seinsverständnisses bedarf der Analyse des Seins des Daseins. Darum nimmt die Entfaltung der Seinsfrage sowohl in "Sein und Zeit" als auch der Vorlesung vom Sommersemester 1927 ihren Weg über eine Fundamentalanalyse des Daseins, in der jene Seinsstrukturen des Daseins aufgedeckt werden, die das Verstehen von Sein existenzial ermöglichen. Der Gedankengang von "Sein und Zeit" und der Duktus der Vorlesung vom Sommersemester 1927 sind ferner dadurch bestimmt, daß Heidegger die Aufdeckung des Horizontes, von dem her das Dasein Sein überhaupt versteht, auf zwei Schritte hin anlegt. In einem ersten Schritt wird die Frage nach dem Horizont, von dem her das Sein des Daseins zu verstehen ist, gestellt. Um ihn aufzudecken, bedarf es der Analyse der Seins struktur des Daseins. Sie wird im ersten Abschnitt des ersten Teiles von "Sein und Zeit" unter dem Titel "die Sorge" verdeutlicht. Als Seinssinn der Sorge wird im zweiten Abschnitt des ersten Teiles, dessen Titel "Dasein und Zeitlichkeit" lautet, die ekstatische Zeitlichkeit aufgedeckt und expliziert. Sie ist der Horizont, von dem her die Struktur der Sorge, und d.h. das Sein des Daseins, verständlich wird. In einem zweiten Schritt wäre dann danach zu fragen, inwiefern die Explikation der ekstatischen Zeitlichkeit den Weg zur Aufdeckung des Horizontes, von dem her Sein überhaupt verstanden wird, bahnt. Die veröffentlichten Abschnitte von "Sein und Zeit" bieten nur eine Ausführung des ersten Schrittes. Sie beantworten lediglich die Frage nach dem Sinn

, SuZ 17. • SuZ 12.

154

B. 11. Die fundamentalontologische Ausarbeitung der Seinsfrage

des Seins des Daseins, insofern in ihnen gezeigt wird, daß das Sein des Daseins von der ekstatischen Zeitlichkeit her verständlich wird. Darüber hinaus wird die ekstatische Zeitlichkeit als die ursprüngliche Zeit gedacht. Offen bleibt dagegen die Frage, ob Sein überhaupt von der ursprünglichen Zeit her verständlich wird. "Aber mit dieser Auslegung des Daseins als Zeitlichkeit ist nicht auch schon die Antwort auf die leitende Frage gegeben, die nach dem Sinn von Sein überhaupt steht. "7

Sie zu beantworten, wäre die Aufgabe des dritten Abschnittes des ersten Teiles von "Sein und Zeit" gewesen. 8 Wie aus dem Titel, der die Aufgabe des ganzen ersten Teiles von "Sein und Zeit" angibt, ersichtlich ist, sollte der Interpretation des Daseins auf die Zeitlichkeit, welche nach der Aufdeckung der Seinsstruktur des Daseins im zweiten Abschnitt des ersten Teiles erfolgt, im dritten Abschnitt die Explikation der Zeit als des transzendentalen Horizontes der Frage nach dem Sein folgen. Aus unterschiedlichen Gründen wurde dieser Abschnitt, der den Titel "Zeit und Sein" tragen sollte, nicht veröffentlicht. 9 Mit der zum dritten Abschnitt überleitenden Frage "Offenbart sich die Zeit selbst als Horizont des Seins?" endet der veröffentlichte Teil von "Sein und Zeit". IO Sie wird erneut aufgegriffen in der Vorlesung vom Sommersemester 1927, zu "Grundprobleme der Phänomenologie", in der Heidegger eine "Neue Ausarbeitung des 3. Abschnitts des 1. Teiles von 'Sein und Zeit'" vortrug. 11 Die Vorlesung führt den Gedanken von "Sein und Zeit" aber nicht nur weiter aus, sondern entfaltet die Seinsfrage noch einmal neu. Auf einige Unterschiede des Aufbaus der Vorlesung zu dem in "Sein und Zeit" begangenen Denkweg sei eigens aufmerksam gemacht. b) Zur erneuten Entfaltung der Seinsfrage In der Vorlesung zu den "Grundproblemen der Phänomenologie" stellt Heidegger die Seins frage im Ausgang von vier Thesen, die in der Geschichte der Auslegung des Seins aufgestellt wurden. Im ersten Teil der Vorlesung zeigt er,

7

SuZ 17.

• Vgl. dazu von Hernnann, 1991,25. 9 Heidegger selbst fiihrt als Grund an, daß das Denken "mit Hilfe der Sprache der Metaphysik nicht durchkam" (GA 9,328). Diese Begriindung entspricht aber bereits dem gewandelten Denken Heideggers. Über die urspriinglichen Griinde, die ihn bewogen haben, die Veröffentlichung des dritten Abschnittes zuriickzuhalten, lassen sich nur Vermutungen anstellen.

10

SuZ 437.

11

GA 24, I, Anm. I.

1. Der Ansatz der Fundamentalontologie Heideggers

155

daß in den vier Thesen vier Grundprobleme der Phänomenologie zur Sprache

kommen, deren Erörterung erst aufgrund der Beantwortung der Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt möglich ist. Diese wird dann im zweiten Teil der Vorlesung vom Sommersemester 1927 eigens gestellt und auch beantwortet. Auch in der Vorlesung vom Sommersemester 1927 stellt Heidegger die Seinsfrage im Ausgang vom Seinverständnis, welches "[ ... ] selbst die Seinsart des menschlichen Daseins [hat]" .12 Daraus folgert er wiederum, daß nur die Analyse des Seins des Daseins und die darauf folgende Beantwortung der Frage nach dem Sinn des Seins des Daseins zur Aufdeckung des Horizontes, vom dem her Sein überhaupt verstanden wird, führen können. Als Seinssinn des Daseins wird in der Vorlesung zu den "Grundproblemen der Phänomenologie" die Zeitigung der Zeitlichkeit des Daseins expliziert. ·Wenn die Zeitlichkeit den Seinssinn des menschlichen Daseins konstituiert, zur Seinsverfassung des Daseins aber Seinsverständnis gehört, dann muß auch dieses Seinsverständnis nur auf dem Grunde der Zeitlichkeit möglich werden. Hieraus erwächst die Aussicht auf eine mögliche Bewährung der These: Der Horizont, aus dem her dergleichen wie Sein überhaupt verständlich wird, ist die Zeit. .13

Mit dem Aufweis der Zeitlichkeit als dem Sinn des Seins des Daseins geht die Aufdeckung eines ursprünglichen Verständnisses von Zeit einher. Die ursprüngliche Zeit zeitigt sich ekstatisch, d.h. als Einheit ihrer Dimensionen, Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart. Als solche eröffnet sie das Dasein auf Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart hin. Und nur als derart eröffnetes kann das Dasein sich verstehend zum eigenen Sein verhalten. Im Ausgang von der ekstatischen als der ursprünglich gezeitigten Zeit kann dann erst gezeigt werden, daß Sein überhaupt von der Zeit her verstanden wird, daß dementsprechend die Interpretation von Sein überhaupt temporal zu erfolgen hat, und daß in der Geschichte der Metaphysik Sein in der Tat stets auf Zeit hin entworfen wurde. Das geschieht in den Paragraphen 20 und 21 der Vorlesung vom Sommersemester 1927, welche die Titel tragen: "Zeitlichkeit und Temporalität" und "Temporalität und Sein". Im Paragraphen 20, "Zeitlichkeit und Temporalität", ordnet Heidegger den Ekstasen der Zeitlichkeit sogenannte horizontale Schemata zu. Dazu führt er aus:

12GA24,21. 13

GA 24,22.

156

B. 11. Die fundamentalontologische Ausarbeitung der Seinsfrage ·So wie die Ekstasen in sich die Einheit von Zeitlichkeit ausmachen, so entspricht der ekstatischen Einheit der Zeitlichkeit je eine solche ihrer horizontalen Schemata .• 14

Aufgrund der ekstatischen Zeitlichkeit auf Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart hin eröffnet, ist das Dasein in einem zurnal auf die den Ekstasen der Zeitlichkeit entsprechenden horizontalen Schemata hin eröffnet. Von ihnen her erfolgt die temporale Auslegung von Sein überhaupt, was Heidegger im Paragraphen 21, "Temporalität und Sein", anband der in der Geschichte unseres Denkens führenden Auslegung von Sein als Anwesenheit auch belegen kann. In der Vorlesung zu den "Grundproblemen der Phänomenologie" beantwortet Heidegger die Seinsfrage somit durch die Aufdeckung des Sinns des Seins des Daseins und die Bewährung der These: "Der Horizont, aus dem her dergleichen wie Sein überhaupt verständlich wird, ist die Zeit. ,,15 Insofern es auch in "Sein und Zeit" darum geht, die Zeit als den Horizont des Verstehens von Sein überhaupt aufzudecken, führt die Vorlesung vom Sommersemester 1927 den Gedankengang von "Sein und Zeit" fort. Ein bedeutender Unterschied der Vorlesung zu "Sein und Zeit" besteht jedoch darin, daß Heidegger in "Sein und Zeit" das Dasein zwar sowohl als Sein zum Tode als auch als In-der-Welt-sein bestimmt, den Horizont des Seins des Daseins dann aber vorrangig von der Sterblichkeit des Daseins her expliziert. Inwiefern das Sein des Daseins als das Sein zum Tode von der Zeitigung der ekstatischen Zeitlichkeit her verständlich wird, wird ausführlich erörtert; die Fragen nach der Zeitlichkeit des In-der-Welt-seins und dem Horizont der welthaften Offenheit von Sein bleiben dagegen lange ausgeblendet. Erst im Paragraphen 69 kommt Heidegger eigens auf die Zeitlichkeit des In-der-Welt-seins zu sprechen. In der Vorlesung zu den "Grundproblemen der Phänomenologie" dagegen wird die in der Zeitlichkeit des Daseins als des In-der-Welt-seins gezeitigte horizontale Erschlossenheit von Sein von Anfang an stärker betont. Die Offenheit von Sein als welthaftem Horizont des Seienden im Ganzen wird dadurch ausdrücklich zum Zentrum des Gedankens erhoben. 16 In diesem Kontext erfolgt auch die Auslegung des Seins des Daseins als des Geschehens von Transzendenz. Da sie nicht nur im Hinblick auf den unveröffentlichten

14

GA 24, 429.

"GA 24, 22. 16 Im Bezug auf SuZ fiihrt Heidegger in der Vorlesung vom Sommersemester 1928 allerdings aus, die Transzendenz und d.h. die Erschlossenheit von Welt im Sein des Daseins müsse "auf dem ganzen Weg der Untersuchung immer als zentral in den Blick kommen." (GA 26, 214) Überdies sei die Gründung der Intentionalität in der Transzendenz schon in SuZ "als ontologisches Grundproblem fixiert." (GA 26, 215)

2. Die Überwindung der transzendentalen Subjektivität

157

dritten Abschnitt des ersten Teiles von "Sein und Zeit", 17 sondern auch für die Abhandlung "Vom Wesen des Grundes" und die Vorlesung "Was ist Metaphysik" bedeutend ist, gehen wir im Folgenden unter Berücksichtigung der "Neuen Ausarbeitung des 3. Abschnitts des I. Teiles von 'Sein und Zeit'" auf Heideggers Interpretation des Daseins als des Geschehens der Transzendenz ausführlicher ein, um von da aus den Konnex der ekstatischen Zeitlichkeit des Daseins und der in ihr gezeitigten Erschlossenheit von Sein, welche das Verstehen des Seienden im Ganzen als einem solchen ermöglicht, zu klären. Unsere Frage lautet weiterhin, inwiefern die Aufdekkung der Transzendenz, welche die Struktur der Sorge hat, den Weg zur Überwindung der Auslegung des Menschen von der Subjektivität her eröffnet.

2. Die Übenvindung der transzendentalen Subjektivität a) Intentionalität als Grundhaltung des Daseins Oben wurde gesagt, daß die Aufdeckung der Zeit als des Horizontes von Sein überhaupt im Kontext der fundamentalontologischen Ausarbeitung der Seinsfrage in zwei Schritten erfolgt. In einem ersten Schritt wird der Silln des Seins des Daseins aufgedeckt und expliziert. In einem zweiten Schritt wird dann nach dem Sinn von Sein überhaupt gefragt. Das Verstehen von Sein überhaupt wird entsprechend in den Kontext des Verstehens, welches dem Dasein im Bezug auf sein eigenes Sein zu eigen ist, eingestellt. Ontisch unterscheidet sich das Dasein dadurch von allem anderen Seienden, daß es um willen seines Seins existiert, d.h. in seinem Sein durch die Sorge um sein Sein bestimmt ist. Als solches hat das Dasein "in seinem Sein zu diesem Sein ein Seinsverhältnis "18, welches wesenhaft durch das Verstehen von Sein geprägt ist. Und indem sich das Dasein verstehend zu seinem eigenen Sein als dem Sein eines Seienden verhält, versteht es Sein überhaupt. Das Verstehen von Sein überhaupt ist also eingebunden in das verstehende Verhältnis des Daseins zum eigenen Sein und umgekehrt; das Dasein kann sich nur um das eigene Sein sorgen, da es auf Sein überhaupt hin eröffnet ist. Die Auslegung des Menschen als des Seienden, dessen Selbstsein darauf beruht, daß es als das

17 In einer Anmerkung zu WG behauptet Heidegger, die veröffentlichten Abschnitte von SuZ hätten "nichts anderes zur Aufgabe [ ... ], als einen konkret-enthüllenden Entwurf der Transzendenz (vgl. §§ 12-83; bes. § 69)" und zwar um der in der Überschrift des ganzen ersten Teiles angezeigten Absicht willen, "den 'Iranszendenlalen Horizont der Frage nach dem Sein' zu gewinnen." (GA 9, 162, Anm. 59) 18

SuZ 12.

158

B. 11. Die fundamentalontologische Ausarbeitung der Seinsfrage

Subjekt immer schon auf sich bezogen ist, so daß es die Sphäre der eigenen Subjektivität erst transzendieren muß, um in den Bezug zur Sphäre der Objekte zu treten, lehnt Heidegger in "Sein und Zeit" und den Vorlesungen, die den Gedanken von "Sein und Zeit" weiter entfalten, als phänomenologisch unhaltbar ab. 19 Der Mensch verhält sich nicht primär zu sich selbst und dann erst zu dem Seienden, welches nicht er selbst ist, etwa zu anderen Menschen oder auch zur Natur. Vielmehr kann er das eigene Sein nur als das Sein verstehen, welches er selbst ist, wenn er sich zugleich verstehend zu der Differenz, die ihn von allem anderen Seienden unterscheidet, verhält. Darum steht er als er selbst immer schon in einem verstehenden Bezug zum Seienden im Ganzen. Im Hinblick darauf bestimmt Heidegger das Sein des Menschen in "Sein und Zeit" als "Sein bei" in der Welt begegnendem Seienden. 20 Daß der Mensch immer schon beim Seienden als solchem ist, hat im Grunde schon Husserl 21 durch die Aufdeckung der intentionalen Struktur des Bewußtseins zeigen können. Als intentinal verfaßtes ist das Bewußtsein immer bezogen auf etwas. 22 Und obwohl Heidegger Husserls Aufdeckung der intentionalen Verfassung des Bewußtseins anerkennt,23 wirft er ihm doch vor, die Relevanz der Aufdeckung der Intentionalität für die Auslegung des Seins des Menschen nicht erkannt zu haben:

•• SuZ 60f., 200-212,366; Ga 24, § 9b; Ga 26, 160ff., 205f., 213. 20

SuZ 54ff.

2' Die Werke Husserls werden zitiert wie folgt: E. Husserl: Logische Untersuchungen.2. Bd., I. Teil: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. Hg. von U. Panzer, Den Haag 1984 (Husserliana XIX/I); Ders.: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. I. Buch: Allgemeine Einftihrung in die reine Phänomenologie. Neu hg. von K. Schuhmann. Den Haag 1976 (Husserliana III/i). Grundlegend zu dem Verhältnis Heideggers zu Husserl: F. - W. von Hernnann: Der Begriff der Phänomenologie bei Heidegger und Husserl. Frankfurt/M. 1981. 22 Das Wesen der die Verfassung des Bewußtseins charaktersierenden Intentionalität ist die Ausrichtung auf etwas, in welcher der Bezug zum Gegenstand schon gegeben ist. Dabei ist festzuhalten, daß in den intentionalen Erlebnissen des Bewußtseins stets die Sache selbst zur Gegebenheit kommt. Denn der intentional gegenwärtige Gegenstand ist das intendierte Seiende in der jeweiligen Weise seines Intendiertseins. Vgl. Husserl: Logische Untersuchungen, 389ff.

23 Bezüglich der Gegenstandskonstitution unterscheidet Husserl zwischen den fundierenden Akten, die den Gegenstand schlicht zur Gegebenheit bringen, und den fundierten Akten, die den Gegenstand ausdriicklich in seiner kategorial zur Sprache zu bringenden Gegenständlichkeit sehen lassen. Die Konstitution des Gegenstandes um faßt somit das schlichte Vernehmen und das explizite Sehenlassen des Seienden in seinem Sein. Heidegger zufolge wird in der Einheit von schlichtem Vernehmen und explizitem Sehenlassen "zum erstenmal der konkrete Weg einer ausweisenden und echten Kategorienforschung gewonnen." (GA 20, 97f.)

2. Die Überwindung der transzendentalen Subjektivität

159

"Die Einsicht in die Intentionalität geht nicht so weit, daß man zugleich sieht, daß das Erfassen dieser Struktur als Wesensstruktur des Daseins den ganzen Begriff des Menschen revolutionieren muß. Erst dann aber wird ihre zentrale philosophische Bedeutung deutlich. ,,24

Heideggers Kritik richtet sich vor allem gegen Husserls Deskription des "reinen Bewußtseins", die methodisch auf den Verfahren der Epoche und Reduktion beruht. In der Epoche wird bekanntlich die Generalthesis der sogenannten natürlichen Einstellung, d.h. der allen Lebensvollzügen zugrundeliegende Glaube an die Faktizität der bewußtseinstranszendenten Welt, eingeklammert.2j Derjenige, der durch die Epoche die eigentlich phänomenologische Einstellung gewonnen hat, enthält sich der Frage nach dem Sein der Dinge, insofern diese nicht intentional vermeinte Gegenstände sind. Ihm geht es allein um die Reflexion darauf, wie sich etwas als intentum einer intentio bekundet. Die Epoche, d.h. die Einklammerung der Thesis der bewußtseinstranszendenten Welt, ist die erste Stufe der phänomenologischen Reduktion. Die in ihr zur Deutlichkeit gebrachte Sphäre des Bewußtseins wird dann der sogenannten eidetischen Reduktion unterworfen, um so die Strukturen der Intentionalität zur Abhebung zu bringen. 26 Das dadurch explizierte "reine Bewußtsein" zeichnet sich nach Auffassung Husserls dadurch aus, daß es sich selbst als der absolute Ursprung jeder Gegenstandskonstitution unmittelbar gegeben ist. 27 Darum hält er es denn auch für legitim, von ihm, dem von der phänomenologischen Reduktion nicht betroffenen sogenannten "phänomenologischen Residuum" , her Phänomenologie als strenge Wissenschaft zu begründen. 28

2'

GA 26, 167.

2>

Husserl: Ideen I, § 3If.; Vgl. GA 20,136.

26 Insofern der thematische Blick der husserlschen Phänomenologie auf invariante Wesensformen gerichtet ist, zielt das Bemühen auf eine "analytische Deskription der Intentionalität in ihrem Apriori." (GA 20, 108) 27 Husserl: Ideen I, 98, zufolge ist sich das reine Bewußtsein insofern absolut gegeben, als die Thesis des ego cogito und seiner cogitationes schlechthin unbezweifelbar ist. Anhand des in Anlehnung an Descartes durchgeführten Gedankenexperimentseiner vollständigen Vernichtung der bewußtseinstranszendenten Dingwelt zeigt er ferner, daß das reine Ich darüberhinaus absolut ist in dem Sinne, daß es "nulla 're' indiget ad existendum", während die Sphäre der Natur phänomenologisch ausweisbar nur ist, insofern sie sich in Entsprechung zu den Intentionen des transzendentalen Subjekts bekundet. (Ideen I, 104) Vgl. GA 20, 144f.

2. Indem Husserl die Sphäre der Immanenz charakterisiert als die Region des reinen, absolut gegebenen und konstituierenden Seins intendiert er, das Bewußtsein als den Gegenstand einer strengen Wissenschaft auszuweisen. Von der phämomenologischenReduktion nicht betroffen, "[ ... ) bleibt es als 'phänomenologisches Residuum' zurück, als eine prinzipiell eigenartige Seinsregion, die in der Tat das Feld einer neuen Wissenschaft werden kann - der Phänomenologie." (Husserl: Ideen I, 68)

160

B. 11. Die fundamentalontologische Ausarbeitung der Seinsfrage

Das entscheidende Desiderat der Ausführungen Husserls sieht Heidegger darin, daß in ihnen der Frage nach dem als Bewußtsein konstituierten Seienden nicht nachgegangen wird. 29 Die Frage, aufgrund welcher Seinsstruktur es dem als Bewußtsein konstituierten Seienden möglich ist, sich intentional zu sich und zu anderem Seienden als solchem zu verhalten, wird bei Husserl nicht nur gar nicht gestellt. 30 Husserl verstellt Heidegger zufolge sogar den Blick auf das Seinsgeschehen, in dem Seiendes als solches faktisch erfahren wird und zwar dadurch, daß er, um der Grundlegung der Phänomenologie als strenger Wissenschaft willen, den Rückgang auf das "reine Bewußtsein" fordert. Phänomenologisch betrachtet zeigt sich das Seiende nämlich nicht einem "reinen Bewußtsein", sondern dem faktisch existierenden Dasein, das kein "Residuum reiner Subjektivität" kennt, da es immer schon "draußen" ist beim Seienden als solchem und zwar derart, daß es in seinem Sein dem Seienden "ausgesetzt" ist, inmitten dessen es sich befindet. 3! b) Die Fundierung der Intentionalität in der Transzendenz Heideggers Denkweg führt über das von Husserl schon Gedachte hinaus, insofern Heidegger nach der Seinsart des intentional verfaßten Seienden und mit ihr nach dem ontologischen Fundament der Intentionalität fragt. In der Analyse des Seins des Daseins wird deutlich, daß das Dasein sich nur intentional verhalten kann, weil ihm aufgrund der Verfassung des eigenen Seins Sein als Welt erschlossen ist, in welcher es zur Begegnung mit Seiendem kommen kann. Die "vor aller Verhaltung geschehende Grundverfassung" des Daseins32 , den ontologischen Grund der Intentionalität, nennt Heidegger in "Sein und Zeit" das "In-der-Welt-sein" des Daseins. In den auf "Sein und Zeit" folgenden Vorlesungen verwendet er auch den Titel "Transzendenz". Immer wieder betont Heidegger die Differenz zwischen der von ihm erstmals ausgearbeiteten Seinsverfassung der Transzendenz und der schon von Husserl aufgedeckten Grundhaltung der Intentionalität:

29

GA 26, 167.

Vgl. GA 20, 159; vgl. auch W. Biemel: Husserls Encyclopaedia-Britannica-Artikelund Heideggers Anmerkungen dazu. In: Husserl. Hg. von H. Noack. Darmstadt 1973,282-315. Biemel zitiert in diesem Zusammenhang die Anlage I zu einem Brief Heideggers an Husserl vom 22.10.1927: "Es gilt zu zeigen, daß die Seinsart des menschlichen Daseins total verschieden ist von der alles anderen Seienden, und daß sie als diejenige, die sie ist, gerade in sich die Möglichkeit der transzendentalen Konstitution birgt." (308f.) 30

31 Heideggers Phänomenologie des Alltags klammert darum die Bezüge des Daseins zur Gesamtheit des Seienden, das ihm innerweltlich begegnet, gerade nicht aus. 32

GA 9, 137.

2. Die Überwindung der transzendentalen Subjektivität

161

"Das Transzendenzproblem überhaupt ist nicht identisch mit dem Problem der Intentionalität. Diese ist als ontische Transzendenz nur möglich auf dem Grunde der ursprünglichen Transzendenz: dem In-der- Weil-sein. Diese Urtranszendenz ermöglicht jegliches intentionale Verhältnis zu Seiendem. "33

Durch die Aufdeckung der Transzendenz als dem Geschehen faktischer Existenz wird die Intentionalität, d.h. die Einheit von intentio und intentum, Vorstellen und Vorgestelltem, ontologisch begründet. Der eingangs zitierten Stelle aus der Vorlesung vom Sommersemester 1928 zufolge kommt das einer "Revolution" der Auslegung des Menschen gleich. 34 Im Kontext der fundamentalontologischen Ausarbeitung der Seinsfrage, in dem auch die Vorlesung vom Sommersemester 1928 steht, betrachtet Heidegger die von ihm vorgelegte Auslegung des Seins des Menschen noch als eine ursprünglichere Interpretation der Subjektivität,35 die insofern als "revolutionär" zu betrachten ist, als in ihr deutlich wird, daß es gerade kein "Residuum reiner Subjektivität" gibt, kein "reines Ich", welches allen Fragen enthoben wäre, sondern daß der Mensch immer schon beim Seienden ist; daß er dem Seienden im Ganzen als einem solchen ausgesetzt ist, und zwar derart, daß er sich in seiner Ausgesetztheit selbst zur Frage wird. Wer ist er, daß er nur als In-der-Welt-sein er selbst sein kann? Und wodurch ist ihm der Überschritt zur Welt überhaupt möglich? c) Transzendenz und Zeitlichkeit Der Titel "Transzendenz" bringt zur Sprache, daß das Sein des Daseins die Verfassung eines Geschehens hat. Schon in "Sein und Zeit" geht Heidegger davon aus, daß das Sein des Seienden, dem es in seinem Sein um sein Sein geht, nur ein Geschehen darstellen kann und darum auch als solches zur Auslegung zu bringen ist. Dazu nimmt er im ersten Abschnitt des ersten Teiles von "Sein und Zeit" die existenzielle Sorge des Daseins um sein Sein in die ontologische Struktur der Sorge zurück. 36

33 GA 26, 170; vgl. GA 9, 135; Heidegger selbst verweist auf SuZ § 69 c, 364ff. u. 363, Anm.l. 34

GA 26, 167.

3$ Vgl. GA 26, 211: "Das Subjekt transzendiert qua Subjekt, es wäre nicht Subjekt, wenn es nicht transzendierte. Subjektsein heißt Transzendieren." Vgl. GA 9, 137f. 36 Die in der traditionellen Philosophie geläufige Methode, das Sein des Daseins kategorial zu bestimmen, lehnt Heidegger, SuZ 44f., ab. Denn Sein als Existenz kommt nur dort ursprünglich zur Sprache, wo es aus dem Vollzug heraus erfahren und als ein Seinsgeschehenthematisiert wird. Dazu bedarf es sowohl der Suche nach einer geeigneten Zugangsweise wie auch einer eigens ausgearbeiteten Begriffiichkeit. Darum beschreitet Heidegger den Weg, im Rückgang von den existenziellen Vollzügen auf die sie ermöglichenden ontologischen Strukturen der Existenz die Seinsverfassung des Daseins aufzudecken.

11 ßohlen

162

B. 11. Die fundamentalontologische Ausarbeitung der Seinsfrage

Sich um das eigene Sein sorgen, kann offenkundig nur Seiendes, welches seinem eigenen Seinkönnen gegenüber eröffnet ist. Das ist beim Dasein der Fall. Denn dessen Sein ist so verfaßt, daß es über das Faktische hinaus ins Mögliche reicht. Daß seine Existenz den Charakter der Möglichkeit hat, ist "[ ... ] die ursprünglichste und letzte positive ontologische Bestimmtheit des Daseins; [ ... ]. "37 Von der Einsicht, daß das Dasein ständig über die eigene Faktizität hinaus und in das Seinkönnen hinein eröffnet ist, destruiert Heidegger in den auf "Sein und Zeit" folgenden Vorlesungen und Abhandlungen den metaphysischen Freiheitsbegriff. Wird das Wesen der Freiheit nicht im Kontext der Kausalität bestimmt, sondern vom Daseinsgeschehen her ursprünglich gedacht, enthüllt sie sich als der im Sein des Daseins gegebene Überschuß des Möglichen über das Faktische. Heidegger spricht daher auch vom "übertrifftigen" , das Faktische übertreffenden Charakter der Freiheit. 38 Die derart zu charakterisierende Freiheit aber ist endliche, in ihrem Wesen durch Nichtigkeit bedingte Freiheit. Das wird deutlich, sobald die existenziale Struktur des Daseins, die Struktur der Sorge, als Einheit eines mehrdimensionalen Strukturgefüges aufgedeckt ist. Dabei ist von der Frage auszugehen, aufgrund welcher existenzialer Strukturen das Dasein auf das eigene, oben als Möglichsein charakterisierte Sein hin eröffnet ist. Im Entwurf wirft sich das Dasein das Seinkönnen, welches es ist, vor und verhält sich derart verstehend zu seinen Möglichkeiten, und d.h zu seinem Sein. "Das Verstehen ist, als Entwerfen, die Seinsart des Daseins, in der es seine Möglichkeiten als Möglichkeiten ist. "39 Doch im Entwurf der eigenen Möglichkeiten versteht es sich auch schon als das Seiende, dem es in seinem Sein um das eigene Sein geht. Es erfährt sich geworfen in die Sorge um sein Sein. Die Geworfenheit ist dem Dasein vorrangig aufgrund der Seinsart der Befindlichkeit, die sich in den Stimmungen bekundet, erschlossen. Es "fühlt" die Last der Verantwortung für das ihm überantwortete Sein, eine Last, mit der es, sofern es ist, auch schon belastet ist. 40 Existierend ist das Dasein zwar "der Grund seines Seinkönnens. "41 Doch "daß es ist und zu sein hat", ist ihm aufgrund seines Seins zu eigen. Als es selbst hat es das ihm eigene Sein weder begründet noch wird es ergründen, warum es als solches ist. "Grundsein besagt demnach, des eigensten Seins von Grund auf nie mächtig sein. Dieses

'7 SuZ 143f. 38

Vgl. GA 26, 248; GA 9, 164.

39

SuZ 145 .

.. Vgl. SuZ 134. 4'

SuZ 284.

2. Die ÜbelWindung der transzendentalen Subjektivität

163

Nicht gehört zum existenzialen Sinn der Geworfenheit. Grundseiend ist es selbst eine Nichtigkeit seiner selbst. "42

Die Erschlossenheit von Sein im Sein des Menschen wird demnach konstituiert durch die Einheit von Entwurf und Geworfenheit, Verstehen und Befindlichkeit. Bei den genannten Seinsarten handelt es sich um Dimensionen jener existenzialen Struktur, durch die das Dasein sich selbst gegeben ist, und zwar als "Sich-vorweg-schon-sein-in-(der-Welt-) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden).43 Sie nennt Heidegger in "Sein und Zeit" "die Sorge". In der genannten Wendung, in der das Sein des Daseins als mehrdimensionales ontologisches Strukturgefüge zur Sprache kommt, wird das Sein des Daseins gedacht als ein Geschehen endlicher Freiheit, welches sich im Spielfeld von Entwurf und Geworfenheit hält. Das Dasein kann sich nur verstehend auf sein Seinkönnen hin entwerfen, weil es an sich selbst zukünftig ist. Sich selbst vorweg kommt es ständig in den eigenen Möglichkeiten auf sich zu. Im Entwurf, in dem es sich seine Möglichkeiten vorwirft, wird ihm in einem zumal sein eigenes Gewesen offenbar, die Faktizität, die es in jeden Entwurf mitzunehmen gilt, da dieser durch jene immer schon verendlicht ist. Die Einheit von Entwurf und Geworfenheit ist transzendental ermöglicht durch die Einheit von Zukunft und Gewesenheit. Und nur in dem Zumal von Zukunft und Gewesenheit ereignet sich Gegenwart, die Zeit, in der das Dasein im Verhalten zu Seiendem, welches als gegenwärtig anwesend erfahren wird, es selbst ist. Das Sein des Daseins, die Sorge, erweist sich somit als ein Geschehen, das sich in den drei Ekstasen der Zeit entfaltet, und dessen Mehrdimensionalität von der Mehrdimensionalität der ekstatischen Zeit her verständlich wird. Verstehen und Befindlichkeit bilden eine Einheit. Beide werden stets in einem zumal gezeitigt. Wie jedes Verstehen gestimmt ist, so birgt auch jede Stimmung anfanglich schon das Verstehen in sich. Und weder kann die Befindlichkeit durch das Verstehen aufgehoben werden noch umgekehrt. Daraus folgt, daß die durch die Geworfenheit bedingte Nichtigkeit in allen Entwürfen des Daseins machtet. Zum einen ist das Dasein "[ ... ] als geworfenes [ ... ] in die Seinsart des Entwerfens geworfen. "44 Zum anderen kann es sich nur auf die Möglichkeiten hin entwerfen, in die es schon geworfen ist. "Der Entwurf ist nicht nur als je geworfener durch die Nichtigkeit des Grundseins bestimmt,

.2 SuZ 284 . •, SuZ 192 . .. SuZ 145. 11'

164

B. 11. Die fundamentalontologische Ausarbeitung der Seins frage

sondern als Entwuif selbst wesenhaft nichtig. "45 Indem das Dasein eine bestimmte Möglichkeit ergreift, verendlicht es auch schon das Ganze der Möglichkeiten, die es "an sich", d.h. im Hinblick auf das "übertrifftige" Wesen der Freiheit, sein könnte. "Die Sorge selbst ist in ihrem Wesen durch und durch von Nichtigkeit durchsetzt. Die Sorge - das Sein des Daseins - besagt demnach als geworfener Entwurf: Das (nichtige) Grundsein einer Nichtigkeit. Und das bedeutet: Das Dasein ist als solches schuldig, [ ... ]."46

Die Einsicht, daß das Dasein ein Seinsgeschehen darstellt, kommt auch in der Auslegung des Seins des Daseins als der Transzendenz zur Sprache. In ihr wird außerdem die Bezogenheit des Daseinsgeschehens auf einen Horizont offenkundig. Denn, daß Dasein die Seinsverfassung der Transzendenz hat, bedeutet, daß es das Geschehen des Überstiegs über das Seiende im Ganzen auf Welt hin darstellt. Anband der Explikation dessen, was "Welt" nach Heidegger bedeutet, kann daher die ontologische Struktur der Transzendenz näher erläutert werden. Mit dem Wort "Welt" nennt Heidegger das Sein als den offenen Horizont, in dem das Seiende im Ganzen derart offenbar wird, daß der Mensch sich zu ihm als solchem verhalten kannY Welt fällt also mit der horizontalen Erschlossenheit des Seins in eins. 48 Weil Welt nur für ein durch Seinsverständnis ausgezeichnetes Seiendes walten kann, nimmt Heidegger das Phänomen der Welthabe in die existenziale Struktur der Weltlichkeit zurück. 49 Dasein ist In-der-Welt-sein. Entsprechend ist die Transzendenz nicht eine Verhaltung des Daseins neben anderen, "[ ... ] sondern die Grundverfassung

4j

SuZ 285 .

.. SuZ 285. 07 Vgl. GA 9, 143 u. 156f.; GA 26, 231 ff. Schon SuZ, 64f., wird unterschieden zwischen zwischen ontischer und ontologischer Verwendung des Titels "Welt". Demnach bedeutet Welt entweder das All des Seienden oder ein Seinsphänomen. Soll Welt das Ganze, in dem das Dasein lebt, bezeichnen, verbirgt sich in dieser Verwendung bereits eine vorontologisch-existenzielle Bedeutung, die auf die ontologische Struktur der Welt als des Horizontes, in dem sich faktische Existenz hält, hinweist. Von diesem Weltbegriff abgeleitet ist der Terminus "Welt1ichkeit", der die Seinsart des Daseins als des In-der-Welt-seins bezeichnet. OB Der im Kontext der Transzendenz des Daseins erarbeitete transzendentale Weltbegriff Heideggers nennt ein Seinsphänomen, d.h. eine Dimension der Erschlossenheit von Sein. F.-W. von Herrmann: Subjekt und Dasein. 2. stark erw. Aufl., Frankfurt/M. 1985,93, hat darauf aufmerksam gemacht, daß die ganzheitliche Erschlossenheit von Sein zwiefach dimensioniert ist. Sein ist sowohl gelichtet als selbsthafte Existenz wie als welthafter Horizont des Seienden im Ganzen. Von Herrmann zeigt dies formal an durch den Begriff "selbsthajt-ekstatisch-horizontale Erschlossenheit von Sein überhaupt".

O' Vgl.

SuZ § 12.

2. Die ÜbelWindung der transzendentalen Subjektivität

165

seines Seins, auf deren Grunde es sich allererst zu Seiendem verhalten kann. "so Als transzendierendes ist das Dasein immer schon welthaft gelichtet. Denn Transzendenz erfolgt immer auf Welt hin. Umgekehrt ist Welt als Horizont des Seienden im Ganzen nur erschlossen in der Erschlossenheit des Daseins als des In-der-Welt-seins. Daraus wiederum folgt, daß die Welt, jenes Ganze der Bedeutsarnkeit, von dem her das Dasein die Bedeutung, die es mit einzelnem Seienden auf sich hat, selbst von der Seinsart des Daseins sein muß. Von daher ist die These aufzustellen, daß Welt nur den Charakter des Umwillens haben kann, welcher das Dasein als das Seiende, dem es in seinem Sein um sein Sein geht, bestimmt. Ihre Bewährung erfolgt in den Paragraphen 15 bis 18 von "Sein und Zeit", in denen Heidegger verdeutlicht, daß Welt in der Tat von der Seinsart des Daseins selbst ist. 51 Daraus, daß Welt ein Seinsphänomen ist und die Seinsart des Daseins hat, ist zu folgern, daß das Dasein aufgrund der ekstatischen Zeitlichkeit auf Welt hin eröffnet ist. Dazu führt Heidegger schon in "Sein und Zeit", § 69 c) aus: "Die existenzial-zeitliche Bedingung der Möglichkeit der Welt liegt darin, daß die Zeitlichkeit als ekstatische Einheil so etwas wie einen Horizonl hai .• 52

Inwiefern der ekstatischen Zeitlichkeit ein Horizont eignet, führt Heidegger erst in der Vorlesung vom Sommersemester 1927 aus. Dort ordnet er den Ekstasen der Zeitlichkeit sogenannte horizontale Schemata zu. Da Heidegger zufolge der Einheit der Ekstasen der Zeit die Einheit ihrer horizontalen Schemata entspricht, 53 ist das Dasein, welches sich in der Einheit der Ekstasen der Zeit zeitigt, auch auf die Einheit der der Zeitlichkeit eigenen horizontalen Schemata hin eröffnet. Sie bilden den einigen Horizont der Welt. 54 Von den horizontalen Schemata der ekstatischen Zeitlichkeit her kann das Dasein Künftiges als solches erwarten, Gewesenes als solches erinnern und Anwesendes als solches erfahren. Die Offenheit des Daseins für Künftiges, Gewesenes und Anwesendes wiederum ist mit der Weltlichkeit des Daseins identisch. Darauf denkt Heidegger schon in "Sein und Zeit" hin, wenn er sagt: "[A]uf dem Grunde der horizontalen Verfassung der ekstatischen Einheit der Zeitlichkeit gehört zum Seienden, das je sein Da ist, so etwas wie erschlossene Welt. "55

'" GA 26, 211. 5'

Vgl. auch GA 24, 231-242; GA 26, 246f.; GA 9, 157.

52

SuZ 365.

5)

Vgl. GA 24, 429.

" GA 24, 378; SuZ § 69c; GA 26, § 12. " SuZ 365.

166

B. H. Die fundamentalontologische Ausarbeitung der Seinsfrage

Mit der Aufdeckung der horizontalen Verfaßtheit der ekstatischen Zeitlichkeit ist die Frage, inwiefern die Zeitlichkeit des Daseins das Verstehen von Sein überhaupt ermöglicht, beantwortet. "Die Transzendenz des In-der- Weil-seins gründel [ ... ] in der ursprünglichen ekslatisch-horizonlalen Einheil der Zeillichkeil. Wenn Transzendenz das Seinsverständnis ermöglicht, Transzendenz aber in der ekstatisch-horizontalen Verfassung der Zeitlichkeit grundet, dann ist diese die Bedingung der Möglichkeit des Seinsverständnisses .• 56

Im Paragraphen 21 der "Grundprobleme der Phänomenologie" wird die Explikation der ekstatisch-horizontalen Zeitlichkeit als der Bedingung der Möglichkeit des Verstehens von Sein überhaupt dadurch bewährt, daß die Erfahrung der Anwesenheit des Anwesenden in das horizontale Schema der Praesenz zurückgenommen wird. Dasein kann Seiendes nur als Anwesendes deuten, da es auf Anwesenheit überhaupt hin eröffnet ist. Dies wiederum gründet darin, daß es aufgrund der ekstatischen Zeitlichkeit an das Schema der Praesenz, von der her Anwesenheit als solche erfahrbar wird, entrückt ist. Daher ist die Zeitlichkeit des Daseins auch die Bedingung der Möglichkeit der metaphysischen, an der Praesenz orientierten Auslegung von Sein als beständiger Anwesenheit. d) Transzendenz und Selbstheit Die zweite Hälfte der Marburger Vorlesung vom Sommersemester 1928 zu den "Metaphysischen Anfangsgründen der Logik" und die Abhandlung "Vom Wesen des Grundes" knüpfen eng an "Sein und Zeit" und die Vorlesung zu den "Grundproblemen der Phänomenologie" an. Die Verbindung der Seinsfrage mit der Frage nach dem Wesen des Grundes führt dazu, daß die Folgerungen, die sich bezüglich der Frage nach dem Verhältnis des Menschen zum Seienden im Ganzen aus Heideggers Auslegung des Daseins als des In-derWelt-seins ergeben, dort deutlicher werden als in "Sein und Zeit". Außerdem wird in ihnen, ebenfalls bedingt durch die Frage nach dem Wesen des Grundes, die Geworfenheit des Daseins ausführlicher besprochen. Da sie es ist, in der die ursprüngliche Erfahrung von Natur ontologisch fundiert ist ,57 ist die Frage, ob eine Wandlung unseres Bezugs zur Natur überhaupt möglich ist, im Ausgang von der Vorlesung zu den "Metaphysischen Anfangsgründen der Logik" und der Abhandlung "Vom Wesen des Grundes" zu stellen. In der Vorlesung zu den "Metaphysischen Anfangsgründen der Logik" und entsprechend auch in der Abhandlung "Vom Wesen des Grundes" geht es da-

,. GA 24, 429. " Vgl. GA 9, 155, Anm. 55.

2. Die Überwindung der transzendentalen Subjektivität

167

rum, die Transzendenz als den Ursprung des Grundes zu explizieren. "Inwiefern liegt in der Transzendenz die innere Möglichkeit für so etwas wie Grund überhaupt? "58, lautet die zu beantwortende Frage. Heidegger geht wiederum davon aus, daß das Dasein, sofern es überhaupt ist, auch schon beim Seienden ist. Es zeitigt das eigene Sein, die Existenz, als "Sein-bei". Dieses ist nach Heidegger an sich enthüllend. "Zur Existenz gehört das Sein-bei als enthüllendes. "59 Es enthüllt das Seiende in seinem Sein. Das Enthüllen kann vorprädikativen oder prädikativen Charakter haben, immer aber wird in ihm das Seiende als das Seiende, das es von sich her ist, offenbar. Schon in der Vorlesung "Die Grundprobleme der Phänomenologie" und ebenso in der darauf folgenden Kant -Vorlesung vom Wintersemester 1927/28 betont Heidegger ausdrücklich, daß das Sein des Seienden an sich unabhängig sei von der Existenz des Daseins. oo Und auch in der Vorlesung zu den "Metaphysischen Anfangsgründen der Logik" sagt er: "Seiendes ist an ihm selbst das Seiende, was es ist und wie es ist, auch wenn z.B. Dasein nicht existiert. "61 Aber nur sofern Dasein existiert und in seinem Sein die Offenheit von Sein überhaupt gegeben ist, kann auch das Seiende als das, was und wie es von sich aus ist, offenbar werden. "Nur sofern das existierende Dasein sich selbst so etwas wie Sein gibt, kann sich das Seiende in seinem An-sich bekunden, d.h. kann zugleich und überhaupt die erste These verstanden und erkannt werden. "62 Insofern ist die Existenz des Daseins die Bedingung der Möglichkeit nicht des An-sieh-seins, sondern der vorprädikativen wie prädikativen Offenbarkeit des Seienden. Nach dem Sein des Seienden können wir nur fragen, insofern Seiendes für uns offenbar ist. Sein fällt für uns mit Offenbarkeit in eins. Und daher ist die Frage nach dem Sein des Seienden verbunden mit der Frage nach dem ermöglichenden Grund der Offenbarkeit des Seienden als einem solchen. Um sie zu beantworten wird in den oben genannten Abhandlungen in einem ersten Schritt die Seinsverfassung des Daseins, die Transzendenz, als der ermöglichende Grund der Offenbarkeit des Seienden als solchem aufgedeckt.

51

GA 9, 163; vgl. GA 26, 203.

'" GA 26,162. 60 GA 24, 240; vgl. dazu GA 25, 19: "Die physische Natur kann nur innerweltlich vorkommen, wenn Welt, d.h. Dasein, existiert. Die Natur kann aber sehr wohl in ihrer eigenen Weise sein, ohne innerweltich vorzukommen, ohne daß menschliches Dasein und damit eine Welt existiert; und nur weil die Natur von sich aus vorhanden ist, kann sie auch dem Dasein innerhalb einer Welt begegnen."

6'

GA 26, 194.

62

GA 26, 195.

168

B. 11. Die fundamentalontologische Ausarbeitung der Seinsfrage

In einem zweiten Schritt wird dann die Transzendenz auf ihre Struktur hin analysiert. Transzendenz geschieht, indem das Dasein das Seiende im Ganzen überschreitet, und zwar auf Welt hin. 63 In ihr gibt es sich jenen Horizont zu verstehen, von dem her das einzelne Seiende erst als das Seiende, das es an ihm selbst ist, verständlich wird. Um hier der Annahme vorzubeugen, das Phänomen der Welt werde unzulässig subjektiviert, insistiert Heidegger darauf, daß Dasein überhaupt nur in der Weise des In-der-Welt-seins möglich ist. Das Selbstverhältnis, welches das Dasein ist, kann begriffen werden als eine immer schon geschehene und ständig wieder geschehende Identifikation des Daseins mit sich selbst. Dabei kann das Dasein das Sein, welches es selbst ist, nur als solches identifizieren, wenn es sich auch verstehend verhält zu dem Unterschied, der es von allem anderen Seienden scheidet. Der ermöglichende Grund des Selbstverhältnisses des Daseins muß von daher identisch sein mit dem ontologischen Fundament der Verständlichkeit von Sein in der Zwiefalt von selbsthaftem und naturhaftem Sein. Als solchen deckt Heidegger die Transzendenz des Daseins auf. "Im Überstieg kommt das Dasein allererst auf solches Seiendes zu, das es ist, auf es als es 'selbst'. Die Transzendenz konstituiert die Selbstheit. Aber wiederum nie zunächst nur diese, sondern der Überstieg betrifft je in eins auch Seiendes, das das Dasein 'selbst' nicht ist; genauer: im Überstieg und durch ihn kann sich erst innerhalb des Seienden unterscheiden und entscheiden, wer und wie ein 'Selbst' ist und was nicht. "64

Aufgrund der Seinsverfassung der Transzendenz ist es dem Dasein möglich, sich zu sich als zu einem Selbst zu verhalten. Darin verhält es sich dann auch schon zu dem Seienden, welches nicht es selbst ist, und zwar als zu einem solchen. Denn transzendierend übersteigt es das Seiende im Ganzen -auch sich selbst - auf Welt hin. Dadurch kann es dann von der Welt her auf das Seiende, welches nur im Horizont von Sein überhaupt in der Differenz von selbsthaft und naturhaft Seiendem verständlich wird, zurückkommen und sich in solchem Zurückkommen als durch Existenz bestimmtes Selbst verstehen. Und nur derart ist selbsthafte Existenz möglich. Was bedeutet das für das Selbstverständnis des Menschen? Indem Heidegger die Selbstheit des Daseins in die Transzendenz zurücknimmt, wird deutlich, daß das Wesen des Menschen im Rückgang auf die transzendentale Subjektivität grundlegend verfehlt wird. Denn es gibt kein

63

GA 9, 137f.; GA 26, 211 .

.. GA 9, 138. Vgl. GA 26, 233f.: "Das Seiende, das in der Transzendenz übersprungen wird, ist aber nicht nur dasjenige, was das Dasein selbst nicht ist, sondern in der Transzendenz überspringt das Dasein gerade sich selbst als Seiendes - genauer: dieser Übersprung ermöglicht es, daß das Dasein so etwas wie es selbst sein kann."

2. Die Überwindung der transzendentalen Subjektivität

169

"reines Ich", kein Selbst, das sich nicht schon in der Offenheit von Sein als Welt vorfände. Da aber in der Offenheit von Welt Sein stets offenbar wird in der Unterscheidung von selbsthaftem und naturhaftem Sein, und das Dasein nur aufgrund der genannten Unterscheidung überhaupt es selbst sein kann, ist auch kein Selbst denkbar, welches allein bei sich wäre. Falls das Dasein es selbst ist, ist es auch schon "draußen" bei dem Seienden, inmitten dessen es sich befindet, wobei Heidegger selbst darauf aufmerksam macht, daß das Wort "draußen" immer noch den zu überwindenden Gedanken nahelegt, es gebe überhaupt "Drinnen" und "Draußen". 65 Genau genommen gibt es kein "Draußen-sein", weil es kein "Drinnen-sein" des Subjekts gibt. Denn sofern das Subjekt bei sich ist, ist es auch beim Ganzen der Objekte, und zwar derart, daß es sich selbst als Selbst gerade in seiner intentionalen Bewgenheit auf das Seiende im Ganzen gegeben ist. "Zur Intentionalität gehört nicht nur ein Sichrichten - auf und nicht nur ein Seinsverständnis des Seienden, worauf es sich richtet, sondern auch das Mitenthülltsein des Selbst, das sich verhält. "66 Daraus, daß das Dasein sich vor aller Reflexion auf sich schon gegeben ist durch die Mitenthüllung, die mit aller Enthüllung von Seiendem als solchem gegeben ist, folgert Heidegger, daß das Dasein sich selbst gewöhnlich von dem Seienden her versteht, zu dem es sich verhält, so daß es nur uneigentlich es selbst istY Das ist der Grund dafür, daß das Dasein sich selbst in seiner Seinsverfassung "ontologisch am fernsten"68 und als solches der aneignenden Besinnung auf das eigene Sein überhaupt bedürftig ist. e) Die Abgründigkeit der Transzendenz In der Zeitigung der Transzendenz des Daseins erhält das Seiende Gelegenheit zum Welteingang. "Welteingang hat den Charakter des Geschehens, der Geschichte. Welteingang geschieht, wenn Transzendenz geschieht [ ... ]. "69 Zu betonen ist dabei, daß die Zeitigung der Transzendenz als der ermöglichende

., SuZ 60f. .. GA 24, 225f. In der Vorlesung vom Sommersemester 1927 fordert Heideggereine ursprüngliche Auslegung der res cogitans als des ego cogito me cogitare. In ihr zeigt sich, daß das Dasein sich in seiner intentionalen Ausrichtung auf das naturhaft Seiende immer schon selbst gegeben ist. Die Selbsthabe des Daseins kann daher nicht aus der Rückwendung auf einen isolierten Ich-Pol erklärt werden. Vgl. F. -K. Blust: Selbstheit und Zeitlichkeit. Heideggers neuer Denkansatz zur Seinsbestimmung des Ich. Würzburg 1987, 48. 67 GA 24, 226ff. Schon SuZ 16 ist die Rede von der "ontologische[n] Rückstrahlung des Weltverständnisses auf die Daseinsauslegung" .

61

SuZ 16.

6. GA 26, 251.

170

B. II. Die fundamentalontologische Ausarbeitung der Seinsfrage

Grund der Selbstheit keine Verhaltung des Selbst darstellen kann. Sie geschieht vielmehr im Sein des Daseins derart, daß sie das Geschehen des Seins ausmacht, als welches das Sein des Daseins verfaßt ist. Das Geschehen der Transzendenz ist dasjenige Ereignis im Sein des Daseins, in welchem das Dasein als Selbst und die Natur als Natur zur Enthüllung gelangen, und zwar immer in einem zurnal. Darum erfährt sich das Dasein in seiner ontologischen Verfassung des In-der-Welt-seins ontisch immer schon dem in der Welt offenbaren Seienden entgegengesetzt. "Die Transzendenz, die im vorhinein Seiendes, und nichts anderes, übersprungen hat, ermöglicht allererst, daß dieses zuvor Übersprungene als Seiendes ontisch gegenübersteht und als Gegenüberstehendes nun an ihm selbst erfaßbar ist." 70

Sofern das Dasein sich als Selbst versteht, erfährt es sich auch schon dem Seienden, inmitten dessen es sich befindet, ausgesetzt. Als das transzendierende, d.h. auf Welt hin eröffnete Seiende, ist es dem Seienden, das in der Welt an ihm selbst offenbar wird, ausgesetzt, und zwar derart, daß es "ohnmächtig" ist, dem Angegangen-werden durch das Seiende zu entgehen. Das Angegangenwerden vom Seienden wird dem Dasein allem voran offenbar in den Stimmungen, die es bestimmen. In ihnen erfährt es sich eingenommen von dem Seienden, in das es geworfen ist. "Transzendenz heißt Weltentwurf, so zwar, daß das Entweifende vom Seienden, das es übersteigt, auch schon gestimmt durch waltet ist. 071 Die Eingenommenheit des Daseins durch das Seiende ist fundiert in der Geworfenheit. Sie ist das ontologische Fundament der Ohnmacht des Daseins im Bezug auf das Walten des Seins des Seienden, welchem das Dasein aufgrund der Verfassung seines Seins ausgesetzt ist. Die Ausgesetztheit ihrerseits wird nur von der ekstatisch-horizontalen Zeitigung der Zeitlichkeit her verständlich. Daß das Dasein dem Seienden ausgesetzt ist, gründet darin, daß es aufgrund der ekstatisch-horizontalen Zeitigung des eigenen Seins den Horizont eröffnet und offenhält, von dem her ihm das eigene Sein in eins mit dem Sein des Seienden im Ganzen offenbar wird. Daß Transzendenz überhaupt geschieht und daß in ihr das Seiende die Gelegenheit erhält, in die ihm eigene Offenbarkeit einzugehen, kann das Dasein als Selbst weder eigenmächtig begründen noch auch ergründen.

70

GA 26, 212.

71

GA 9, 166.

3. Die Fundamentalanalyse des Daseins und die Frage nach der Ethik

171

"Welteingang ist gegründet auf die Zeitigung der Zeitlichkeit. Daß es überhaupt so etwas wie Zeitlichkeit gibt, ist das Urfaktum im metaphysischen Sinne." 72

Fragt das Dasein daher nach dem Grund des eigenen Seins, eine Frage, die die Faktizität des Seins des Seienden ernötigt, wird ihm die Ab-gründigkeit der Urgeschichte der Transzendenz als der Abgrund im eigenen Sein deutlich. Aufgrund der Abgründigkeit der Transzendenz des eigenen Seins nie mächtig, ist das Dasein wesenhaft ohnmächtig. Die Eröffnung von Sein geschieht zwar in ihm aber doch so, daß sie seiner Macht gerade nicht unterworfen ist. 73 "Solche Ohnmacht (Geworfenheit) aber ist nicht erst das Ergebnis des Eindringens von Seiendem auf das Dasein, sondern sie bestimmt dessen Sein als solches. "74

3. Die Fundamentalallalyse des Daseins und die Frage nach der Ethik a) Transzendenz und Freiheit des Daseins Darin, daß das Dasein dem Seienden derart ausgesetzt ist, daß es von dem gestimmt wird, worauf es als befindliches immer schon eingestimmt ist, bekundet sich die Nichtigkeit, d.h. die Endlichkeit der Freiheit des Daseins. Um die ethischen Konsequenzen der Interpretation des Seins des Daseins als des Geschehens von Transzendenz zu erläutern, ist es erforderlich, das oben zur Ohnmacht des Daseins Dargelegte durch eine Erörterung von Heideggers Auslegung der Transzendenz des Daseins als des Urgeschehens von Freiheit zu ergänzen. 75 Es wurde schon angedeutet, daß das Dasein aufgrund dessen, daß es die Verfassung des Möglichseins hat, durch "Freiheit" bestimmt ist. Denn nur das Seiende, dem ein Reichtum von Möglichkeiten zu eigen ist, der die Mitgift des Faktischen übertrifft, hat Zukunft. Nur ein solches Seiendes ist frei, um willen des eigenen Seins zu sein.

72

GA 26, 270.

73 Auch Schmidinger, 162, fuhrt aus, das Verstehen von Sein gründe nach Heidegger nicht in einem Akt, in dem sich das seinsverstehende Subjekt als solches konstituiert, sondern in dem "Urfaktum" , das Sein sich immer schon geöffnet hat im Seinsverständnis des Daseins. Mit Heideggers Begriff des Daseins ist das transzendentale Ich als letzte Instanz der Sinnkonstitution verabschiedet. Zur Differenz von Subjekt und Dasein vgl. auch von Hernnann, 1985, bes. 20. 74

GA 9, 175.

7> Zu Heideggers Phänomenologie der Freiheit ausfiihrlich: G. Figa/: Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit. FrankfurtiM . 1988.

172

B. 11. Die fundamentalontologische Ausarbeitung der Seinsfrage

Im Paragraphen 11 der Vorlesung vom Sommersemester 1928 erörtert Heidegger die Einheit von Freiheit, Umwillen und Transzendenz des Daseins. Dort behauptet er die Identität von Freiheit und Transzendenz und legt von daher die Welt aus als innere Ermöglichung von Freiheit. "Nur wo Freiheit, da ein Umwillen, und nur da Welt. Kurz gesagt: Transzendenz des Daseins und Freiheit sind identisch! Freiheit gibt sich selbst die innere Möglichkeit; ein Seiendes als freies ist in sich selbst notwendig transzendierendes. "76

Um die These zu belegen, daß Freiheit und Transzendenz derart eins sind, daß die Transzendenz, die in der Freiheit ihren Ursprung hat, erst ermöglicht, daß es dem Dasein um das eigene Sein geht, macht Heidegger auf folgenden Sachverhalt aufmerksam: In der Struktur des Umwillens wird deutlich, daß die Freiheit des Daseins auf Bindung hin angelegt ist. Als freies hat es sich immer schon an das gebunden, worum es ihm geht. Und in dem ursprünglichen Entwurf des eigenen Seins als des Seins, umwillen dessen es existiert, "[ ... ] gibt sich das Dasein die ursprüngliche Bindung. Die Freiheit macht das Dasein im Grunde seines Wesens ihm selbst verbindlich, genauer: gibt ihm selbst die Möglichkeit der Bindung ... 77 Das dargelegte Wesen der Freiheit ist nunmehr auf die Transzendenz des Daseins hin zu bedenken. Transzendenz geschieht immer auf Welt hin. Welt ist das Ganze der Bedeutsarnkeit, von dem her die Bedeutung des einzelnen Seienden verständlich wird. Von ihr her wird dem Dasein auch das Sein, welches es selbst ist, erst als solches verständlich. Daraus folgt, daß auch die Welt nur die Verfassung des Umwillen haben kann. 78 Sie entspringt in eins mit dem Umwillen aus dessen Ursprung, der Freiheit des Daseins. "Das Dasein ist so, daß es um willen seiner existiert. Wenn aber die Welt es ist, im Überstieg zu der sich allererst Selbstheit zeitigt, dann erweist sie sich als das, worumwillen Dasein existiert. Die Welt hat den Grundcharakter des Umwillen von ... [ ... )."79

In dem aus der wesenhaften Freiheit entspringenden Entwurf des Umwillen bindet sich das Dasein auch schon an die Möglichkeiten zu sein, die es als das Sein, um das es ihm geht, entworfen hat. Der ermöglichende Grund solcher Bindung ist das Wesen des Entwurfs, woraus folgt, daß Entwerfen bedeutet: sich das Entworfene vorhalten. Als freies hält sich das Dasein das Ganze der

76

GA 26, 238.

77

GA 26, 247; vgl. GA 9, 164.

7. Vgl. dazu auch SuZ §§ 14-18. 79

GA 9, 157.

3. Die Fundamentalanalyse des Daseins und die Frage nach der Ethik

173

eigenen Möglichkeiten als das, umwillen dessen es existiert, vor. Dieses Ganze aber ist die Welt, jene horizontale Offenheit von Sein, zu der sich das Dasein immer schon verhält, und die als solche der ermöglichende Grund der einzelnen Verhaltungen des Dasein zu Seiendem als offenbarem ist. "Das Dasein als freies ist Weltentwurf. Dieses Entwerfen wird aber nur so entworfen, daß das Dasein sich darin hält, und zwar derart, daß dieser freie Halt bindet [ ... ]. Diese Bindung hält sich die Freiheit selbst entgegen. Die Welt ist in der Freiheit wider diese selbst gehalten. Die Welt ist freier Widerhalt des Worumwillen des Daseins . ..80

Freiheit und Transzendenz sind demnach eins. Die Zeitigung der Freiheit ist das Geschehen von Transzendenz. Und da das Dasein nur als transzendierendes frei ist, hat es sich auch immer schon an Welt, auf die hin Transzendenz geschieht, gebunden. Es wurde schon gesagt, daß das Dasein insofern frei sei, als der Reichtum der Möglichkeiten, die ihm zu eigen sind, und auf die hin es sich entwerfen kann, die ihm in der Geworfenheit übereignete Faktizität des Seins übertrifft. Das gilt auch für den Entwurf von Welt, dem Ganzen der Möglichkeiten, das sich dem Dasein im Geschehen der Transzendenz eröffnet. "Die Welt als das Ganze der wesenhaften inneren Möglichkeiten des Daseins als des transzendierenden übertrifft alles wirklich Seiende. ,,81 Da im Geschehen der Transzendenz mit dem Aufgang von Welt auch der Eingang des Seienden in Welt einhergeht, wird das Seiende in der Zeitigung der Freiheit des Daseins als das Seiende, das es von sich her ist, offenbar. Es offenbart an ihm selbst die eigene Faktizität, so daß das transzendierende Dasein das Seiende stets als Verwirklichung des Möglichen erfährt. Die Verwirklichung des Möglichen in der Zeitigung der Freiheit geschieht genau betrachtet so, daß in ihr das übertrifftige Sein des Daseins verendlicht wird. Dadurch geht Welt auf als endliche Welt des Daseins. Auch in der Abhandlung "Vom Wesen des Grundes" betont Heidegger den "übertrifftigen" Charakter des Weltentwurfs, indem er ihn als "überschwingend " bezeichnet. Sich die eigenen Möglichkeiten entwerfend vorhaltend, "überschwingt" das Dasein das Seiende im Ganzen, welches im Entwurf auch schon offenbar wird als das Ganze des Faktischen, durch das dem Dasein bestimmte Möglichkeiten zu sein auch schon entzogen sind. Der Entzug von Möglichkeiten verendlicht die Welt aber nicht nur, sondern er gibt ihr auch jene Bestimmtheit, die es dem Dasein erlaubt, von seiner Welt zu sprechen. "Der Entzug verschafft gerade der Verbindlichkeit des verbleibenden entworfenen

10

GA 26, 247f.; vgl. GA 9, 164.

8' GA 26, 248.

174

B. 11. Die fundamentalontologische Ausarbeitung der Seinsfrage

Vorwurfs [d.h. der Welt] die Gewalt ihres Waltens im Existenzbereich des Daseins. "82 In der Endlichkeit der Freiheit des Daseins geht Sein auf als endliche Welt. Es öffnet sich als das Offene, in dem das Seiende im Ganzen auf eine bestimmte Art offenbar wird. Und nur als derart offenbarem kommt dem Seienden als solchem denn auch Verbindlichkeit zu. Gerade in der Erfahrung der Endlichkeit der Offenbarkeit des Seins geht Sein auf als der Halt, der die Freiheit bindet, und der als solcher alles Verhalten zu Seiendem hält. Die ekstatische Einheit der Zeitlichkeit, die Einheit von Entwurf und Geworfenheit, ist es, welche die Erfahrung der Verbindlichkeit von Welt, d.h. der Offenheit von Sein als des Anspruchs, dem es im Dasein zu entsprechen gilt, begründet. b) Sprache: Bekundung der Einheit von Freiheit und Wahrheit In der Zeitigung der Freiheit des Daseins, der Urgeschichte der Transzendenz, wird das Seiende im Ganzen an ihm selbst endlich offenbar. Die Erfahrung der Endlichkeit der Offenbarkeit des Seienden im Ganzen, die ihrerseits nur ein Seiendes machen kann, das dem Wesen nach "weiter" ist als das faktisch Offenbare, macht es notwendig, daß das Verstehen, in dem das Seiende eigens als das, was und wie es ist, ent-deckt wird, der Forderung nach dem Grund zu genügen hat. Das Dasein muß als das transzendierende Seiende sein Entdecken von Seiendem vom Seienden selbst her begründen können. Denn nur dann kann es davon ausgehen, daß das eigene Verstehen ein "wahres" Verstehen ist. 83 In der Abhandlung "Vom Wesen des Grundes" weist Heidegger selbst darauf hin, daß die Aufdeckung des Wesens des Grundes aus der Transzendenz des Daseins das Denken in die Frage nach den Wesen der Wahrheit nötige. 84 Ihr ist der Vortrag "Vom Wesen der Wahrheit" gewidmet, der nach Heideggers eigenen Angaben 1930 gedacht, aber erst 1943 in mehrfach überarbeiteter Fassung veröffentlicht wurde,ss Im vierten Abschnitt des genannten Vortrags wird die Freiheit ausdrücklich als Sein lassen des Seienden bestimmt. 86 Indem es ihr darum geht, das Seiende sein zu lassen, was und wie es von sich her ist, achtet sie das Sein des Seienden. Die Auslegung des Wesens der Freiheit als "Seinlassen von Seiendem" greift die geläufige Bestimmung der Freiheit als

82

GA 9, 167.

Sl

GA 9, 168f.

.. GA 9,171. ., GA 9, 328 u. 483 . .. GA 9,188.

3. Die Fundamentalanalyse des Daseins und die Frage nach der Ethik

175

posItiver Freiheit auf. Sie wird in "Vom Wesen der Wahrheit" auf ihren ermöglichenden Grund hin bedacht. Daß das Dasein das Seiende es selbst sein lassen kann, gründet zum einen darin, daß das Dasein, welches als Sein-bei existiert, immer schon in einem verstehenden Bezug zum Seienden als solchem steht; es ist offenständig zum Seienden. Die Offenständigkeit wird deutlich in allen Verhaltungen des Daseins zum Seienden. "Das Verhalten ist offenständig zum Seienden. Jeder offenständige Bezug ist Verhalten. ,,87 Der andere Grund, der das Seinlassen von Seiendem ermöglicht, ist die Offenbarkeit des Seienden selbst. Nur wenn das Seiende als das Seiende, das es von sich her ist, offenbar werden kann, kann das Dasein es im Verhalten auch als das, was und wie es ist, entdecken. Die Offenständigkeit des Daseins und die Offenbarkeit des Seienden sind ihrerseits nur möglich innerhalb eines Offenen, das durch das Verhalten nicht erst eröffnet werden kann, da es selbst der ermöglichende Grund allen Verhaltens ist. "Alles Verhalten aber hat seine Auszeichnung darin, daß es, im Offenen stehend, je an ein Offenbares als ein solches sich hält. "88 Das Seinlassen von Seiendem ist demnach dadurch ermöglicht, daß das Dasein schon im Offenen steht, schon eingelassen ist in das Offene. Und da die Offenständigkeit des Daseins einerseits und die Offenbarkeit des Seienden andererseits des Offenen bedürfen, geht das Seinlassen des Seienden stets einher mit dem Sicheinlassen auf das Offene selbst. Wie wir in den vorangegangenen Abschnitten ausführten, nimmt Heidegger die Offenheit des Offenen in der Vorlesung vom Sommersemester 1928/29 zu den "Metaphysischen Anfangsgründen der Logik" und der Abhandlung "Vom Wesen des Grundes" in die Transzendenz, das Urgeschehen der Freiheit, zurück. In ihm öffnet sich das Offene, als welches Sein west. Im Kontext der Auslegung der Freiheit als des Urgeschehens der Transzendenz interpretiert Heidegger das Offene des Seins als den Horizont, auf den hin das Dasein das Seiende im Ganzen transzendiert und von dem her es das Seiende als solches versteht. In der Zeitigung der Transzendenz, erläutert Heidegger in einer Beilage zu der Vorlesung vom Sommersemester 1928/29, entspringe jene "Feme", die es dem Dasein erst möglich mache, dem Seienden wahrhaft "nahe" zu sein. 89 Analog dazu führt er in "Vom Wesen der Wahrheit" aus, das "Sicheinlassen auf die Entborgenheit des Seienden" entfalte sich "[ ... ] zu einem Zurücktreten vor dem Seienden, damit dieses in dem, was es ist und wie es ist, sich offenbare [ ... ]. "90 Schon darin wird deutlich, daß Heidegger die

.., GA 9, 184. gg

GA 9, 184 .

.. GA 26, 285. 90

GA 9, 188f.

176

B. H. Die fundamentalontologische Ausarbeitung der Seinsfrage

Offenheit des Seins in "Vom Wesen der Wahrheit" noch von der Transzendenz des Daseins her denkt, auch wenn er dort die Auslegung von Sein als des Horizontes des Seienden schon vermeidet. Wir werden an anderer Stelle noch ausführlich darzulegen haben, daß er mit der sogenannten Kehre nicht nur den Gedanken des Horizontes überwindet, sondern auch die Interpretation von Sein im Ausgang von der Transzendenz des Daseins aufgibt. An dieser Stelle geht es uns nur darum zu belegen, daß Heidegger das Sicheinlassen des Daseins auf die Offenheit des Offenen analog zu der Auslegung des Urgeschehens von Transzendenz denkt und als den ermöglichenden Grund des Seinlassens des Seienden aufdeckt. Wie die Transzendenz auch zeitigt sich das Sicheinlassen auf die Offenheit des Offenen in der Einheit der ekstatischen Zeit. Aufgrund der Geworfenheit ist das Dasein immer schon eingelassen in die Offenheit von Sein. Sie ist ihm in den Stimmungen übereignet und zwar als eigens zu entfaltende. Die Entfaltung geschieht durch den Entwurf. Das in Geworfenheit und Entwurf zu zeitigende Sein des Daseins charakterisiert Heidegger als an sich ek-sistent, aus-setzend. Es setzt das Dasein dem Seienden als offenbarem aus, indem es dieses einsetzt in die Offenheit des Seins, jene Wahrheit, deren Ursprung die wesenhafte Freiheit des Daseins ist. "Die in der Wahrheit als Freiheit gewurzelte Ek-sistenz ist die Aus-setzung in die Entborgenheit des Seienden als eines solchen. "91 Und nur aufgrund der Ausgesetztheit in die Offenbarkeit des Seienden im Ganzen kann es dann auch das einzelne Seiende seinlassen, was und wie es ist, oder auch nicht. ·Weil jedoch die Wahrheit im Wesen Freiheit ist, deshalb kann der geschichtliche Mensch im Seinlassen des Seienden auch nichr das Seiende sein lassen, das es ist und wie es ist. ..92

Was bedeutet das für die Sprache des Menschen?93 Schon in "Sein und Zeit", Paragraph 44, erinnert Heidegger daran, daß das CtAr/lJdletp dem AO)'OV(1L(;" genannt worden sei. 52 In ihm kommt demnach die ursprüngliche Erfahrung von Sein zur Sprache. Den Grundgedanken der Vorlesung vom Wintersemester 1934/35 aufgreifend, führt Heidegger dann aus, daß das Wesen der Dichter darin bestehe, der Natur zu entsprechen. Entsprechung geschehe, indem die Gestimmtheit der Natur zur Stimmung der Dichter werde. Daher könne in Zukunft auch nur der, welcher von den Stimmungen bestimmt sei, die die Natur durchstimmen, noch Dichter genannt werden. "Aus dieser Entsprechung wird das Wesen des Dichters neu entschieden. ,,53 In "Wie wenn am Feiertage ... " besteht das Geschehen der Entsprechung genauer betrachtet darin, daß die Ahnung der Natur zur Ahnung der Dichter wird. Von daher erfolgt Heideggers denkende Auslegung der zweiten Strophe der Hymne, nach der die Dichter, die trauern, d.h. Heidegger zufolge: die trauernd des Gewesenen gedenken, in einem zumal ahnende sind. "Sie [die Dichter) scheinen allein zu seyn, doch ahnen sie immer. Denn ahnend ruhet sie selbst auch." 01. 17f.)

4' Vgl.

dazu die Aufdeckung der Grundstimmung von "Germanien" , GA 39, § 8.

'" GA 53, 6. " GA 53, 7.

"EHD 57. " EHD 55.

236

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage

Den zitierten Versen entnimmt Heidegger, daß die Dichter, die des Gewesenen gedenken, darin das Künftige ahnen. Ihr Andenken erharre das Gewesene als das Zukünftige. Dadurch werde ihnen das in die Feme Gegangene zu dem in die Nähe Kommenden. "Die Ahnung denkt vor in das Feme, das sich nicht entfernt, sondern im Kommen ist. ,,54 Die Zeit der Ahnung ist demnach die ursprüngliche Zeit, in der Gewesenes und Zukünftiges, Fernes und Nahes in eins fallen. Solche Zeit zeitigt sich im Andenken der Dichter und ist insofern an die Zeitlichkeit des Daseins gebunden. Daß diesem aber das Gewesene als das Zukünftige wiederkehren kann und zu Zeiten auch wiederkehrt, kann das Dasein selbst nicht begründen. Darum muß es davon ausgehen, daß die Zeitigung ursprünglicher Zeit, welche in der Stimmung und als Gestimmtheit geschieht, nicht von ihm bestimmt werden kann, sondern von dem Kommenden bestimmt wird, das zugleich das Gewesene ist: der Natur, die sich in ihrer Ankunft als das Heilige offenbart. Ursprung der Stimmung, in die der Dichter gestimmt ist, ist also laut Heidegger die Natur. Von ihr durchstimmmt, erfährt sich der Dichter zum Dichter be-stimmt. Und da der Dichter nur Dichter ist, insofern er dazu bestimmt, d.h. berufen ist, ist ihm auch das, was er zu sagen hat, die Sage der Natur als des Heiligen, schon vom Heiligen selbst zugesagt. °Das Wort des Dichters ist das reine Rufen dessen, was jene immer ahnenden Dichter erharren und ersehnen. Das dichterische Nennen sagt das, was das Gerufene selbst aus seinem Wesen den Dichter zu sagen nötigt. So genötigt nennt Hölderlin die Natur 'das Heilige'. 055

Das Wort des Dichters ist "reines Rufen". Ein solches Rufen achtet das Gerufene als das, was nur gedacht werden kann, wenn es sich von sich aus zu denken gibt. Sein Wesen ist das des in "Andenken" gedichteten Grüßens. Nicht nur im Grüßen, sondern auch im Rufen walten Nähe und Feme. ODer Ruf ruft zwar her. So bringt er das Anwesen des vordem Ungerufenen in eine Nähe. Allein, indem der Ruf herruft, hat er dem Gerufenen schon zugerufen. Wohin? In die Feme, in der Gerufenes weilt als noch Abwesendes. Das Herrufen ruft in eine Nähe. Aber der Ruf entreißt gleichwohl das Gerufene nicht der Feme, in der es durch das Hinrufen gehalten bleibt. Das Rufen ruft in sich und darum stets hin und her; her: ins Anwesen; hin: ins Abwesen. 056

54

EHD 55.

"EHD 57f. >6

UzS 21.

I. Das Wesen des Seins und die Dichtung

237

In dem Vortrag "Die Sprache", aus dem die oben zitierte Stelle stammt, charakterisiert Heidegger die Anwesenheit des Gerufenen als "ein ins Abwesen geborgenes Anwesen ... 57 Nur derart Anwesendes geht uns von sich aus an und gibt sich uns in dem ihm eigenen Wesen zu denken. Der Dichter ist dazu berufen, die Einheit von Nähe und Ferne, Anwesen und Abwesen, ins Werk zu setzten, und zwar derart, daß das Werk auch Dichtung dessen ist, daß der Dichtende in dem von ihm Gedichteten, der Zeitigung ursprünglicher Zeit und der Einräumung ursprünglichen Raumes, gründet. d) Die Grundstimmung der Dichtung des Übergangs Ehe wir uns die Frage stellen werden, warum der Dichter sich genötigt fühlt, die Natur "das Heilige" zu nennen, versuchen wir, das oben zum Wesen der Grundstimmungen Dargelegte kurz zusammenzufassen. Hölderlin zufolge ist der Ursprung der Dichtung das Ereignis des Fühlbarwerdens des Seins. Sein macht sich von sich aus fühlbar, es teilt sich dem Dichter mit als Gefühl, und zwar um durch ihn zu sich selbst zu kommen, wie folgende Verse der Hymne "Der Rhein" erläutern: "[ ... ) Denn weil Die Seeligsten nichts fühlen von selbst, Muß wohl, wenn solches zu sagen Erlaubt ist, in der Götter Nahmen Theilnehmend fühlen ein Andrer, Den brauchen sie; [ ... ) .58

Die Mitteilung des Seins, welche der Dichter durchaus auch als Offenbarung des Heiligen oder Göttlichen deuten kann, erfolgt als Eröffnung des Dichters auf das Heilige hin. Das Sein selbst stimmt den Dichter ein in das Gefühl eins zu sein mit dem Ganzen, einem Gefühl, welches dem Wesen des Seins, das als das Eine das Ganze eint, entspricht. Aus diesem Gefühl entspringt die Dichtung. Sie ist ihrem Wesen nach Sage des Seins, insofern sie von ihrem eigenen Ursprung, der Erfahrung der All-Einheit im Gefühl der Einigkeit mit allem, was ist, spricht und sie als Selbstmitteilung des Seins deutet. Hölderlin ist für Heidegger insofern der "Dichter des Dichters"59, da er das Wesen der Dichter aus dem Geschehen der Entsprechung des sich mitteilenden Seins und der Vermittlung des Seins mit sich selbst durch den Dichter bestimmt. Darum betont Heidegger in den Hölderlin-Vorlesungen immer wieder, daß die Dichtung ihrem Wesen nach gestimmtes Sagen sei, Sagen, welches aus einer

>7

UzS 22.

" StA II I, 145, V. 109-114. 59

EHD 34.

238

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage

Stimmung entspringt. Das Gedichtete denkend, legt er das Wesen der Stimmungen von der Geworfenheit des Daseins her aus. Er steIlt damit Hölderlins dichterische Begründung der Dichtung ein in den Kontext der eigenen denkerischen Auslegung des Seins des Daseins, dessen Zeitigung in der ekstatischen Einheit von Entwurf und Geworfenheit erfolgt. Aufgrund der Geworfenheit ist das Dasein immer gestimmtes Dasein. Da in den Stimmungen die Entbergung des Seienden im Ganzen geschieht, zeitigt sich in ihnen Zeit, räumt sich in ihnen Raum ein. Die sogenannte Grundstimmung ist insofern eine besondere Stimmung, als sie Zeit als Einheit von Gewesenheit und Zukunft und Raum als Einheit von Feme und Nähe eröffnet. Aus einer solchen Grundstimmung entspringt Heidegger zufolge auch Hölderlins Dichtung. Denn in ihr wird das Gewesene, welches als solches in einem zumal das Feme ist, als das in die Nähe Kommende, das Zukünftige, erwartet. Die Zeitigung der Zeit, in der das Gewesene zum Zukünftigen wird, ist die Zeit, in der Geschichte neu anfängt. Als Zeit des Anfangs entspricht sie dem schon in "Sein und Zeit" gedachten Augenblick, in dem sich dem Dasein dadurch, daß es in die Eigentlichkeit geworfen wird, diejenige Zukunft eröffnet, die nur ihm übereignet ist, und die daher auch nur von ihm als ihm selbst angeeignet werden kann. oo Es sind die Grundstimmungen und unter ihnen vor allem die Angst, die das Dasein in die Eigentlichkeit nötigen und dadurch eine ursprüngliche Erfahrung des Seins ermöglichen. Schon in der Vorlesung "Was ist Metaphysik?" betont Heidegger, daß wir die Zeitigung der Zeit einer Grundstimmung nicht von uns aus bestimmen können. 6t In den "Beiträgen" greift er diesen Gedanken erneut auf: Wohl können wir uns durch die Aufdeckung des Wesens der Stimmungen auf "den stimmenden Einfall der Grundstimmung" vorbereiten. Die Zeitigung der Grundstimmung selbst muß aber "[ ... ] von Grund aus ein Zu-faIl bleiben [ ... ]"62 Uns bereit zu machen für das, was uns eines Tages zufaIlen könnte, ist die Intentionen, die Heidegger sowohl in den "Beiträgen" als auch den HölderlinVorlesungen verfolgt. Und von daher ist auch zu verstehen, daß er die Grundstimmung der Dichtung Hölderlins auf die Bereitschaft des Dichters hin auslegt, das zu erharren, was von sich aus kommen wird. Heideggers Denken nach der sogenannten Kehre ist dadurch bestimmt, daß in ihm die Zeitigung der Grundstimmungen nicht mehr wie in "Sein und Zeit" und den darauf folgenden Vorlesungen und Abhandlungen ungeschichtlich

60

Vgl. SuZ § 74.

0' GA 9, 118.

0' GA 65, 22.

1. Das Wesen des Seins und die Dichtung

239

gedacht, sondern an die geschehene und geschehende Geschichte gebunden wird. 63 Mitten in der Geschichte kann es zum Bruch der Zeiten kommen, kann sich die Zeitigung einer Grundstimmung ereignen. Und daß solches in unserer Geschichte schon mehrfach geschehen ist und immer wieder geschieht, kann durch den Rückgang in unsere Geschichte belegt werden. Das ist auch der Grund dafür, daß Heidegger betont, Hölderlins Dichtung habe ihren "metaphysischen Ort", so daß man sie in der Geschichte unseres Daseins, der Geschichte der Metaphysik, verorten könne. 64 "Hölderlin dichtet das Wesen der Dichtung - aber nicht im Sinne eines zeitlos gültigen Begriffes. Dieses Wesen der Dichtung gehört in eine bestimmte Zeit. Aber nicht so, daß es sich dieser Zeit als einer solchen schon bestehenden nur gemäß machte. Sondern indem Hölderlin das Wesen der Dichtung neu stiftet, bestimmt er erst eine neue Zeit. Es ist die Zeit der entflohenen Götter und des kommenden Gottes. Das ist die dÜl:ftige Zeit, weil sie in einem gedoppelten Mangel und Nicht steht: im Nichtmehr der entflohenen Götter und im Nochnicht des Kommenden.·.65

Dichtung, die der Stimmung, in der das Gewesene zum Zukünftigen wird, entspringt und die Zeitigung solcher Zeit ins Wort birgt, ist Dichtung des Übergangs. Nach Heidegger entspricht ihr das sogenannte übergängliche Denken, jenes Denken, das den Übergang von der Metaphysik zum Denken des Seins wagt.

63 Diese These vertritt auch K. Held: Grundbestimmung und Zeitkritik bei Heidegger. In: Zur philosophischen Aktualität Heideggers. Symposion der Alexander von Humboldt-Stiftung vom 24.28. April 1989 in Bonn Bad-Godesberg. Bd. I: Philosophie und Politik. Hg. von D. Papenfuss/O. pöggeler. FrankfurtIM . 1991, 31-56. Auch er merkt an, die Grundstimmung der Angst werde in SuZ noch nicht in ihrem Bezug zur Geschichte des Daseins bedacht, obwohl der Duktus des Werks dies nahelegen würde. Den Übergang in das seinsgeschichtliche Denken bahne erst die Erfahrung: "Die Stimmung des Augenblicks, worin sich die Grundbefindlichkeit meldet, muß selbst geschichtsbezogen sein." (37) Während die Grundstimmung der Angst in SuZ und auch noch in WiM als übergeschichtliche Möglichkeit des Daseins verstanden würde, erfolge in der Vorlesung vom Wintersemester 1929/30 im Kontext der dort vorgelegten Analyse der Langeweile die Hineinnahme der Stimmungen in die Geschichte. Vgl. dazu auch: M. Haar: Stimmung et pensee. In: Heidegger et I'idee de la phenomenologie. Dordrecht 1988. Dem ist zuzustimmen, auch wenn Heidegger schon in der Freiburger Antrittsvorlesung andeutet, daß die Zeitigung der Angst nicht vor der Geschichte des Daseins, sondern in ihr erfolgt, und insofern schon hier auf die Hinneinnahme der Grundstimmungen in die Geschichte hindenkt.

.. GA 39, 15,287-294 . ., EHD 47.

240

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage

e) Die Grundstimmung des übergänglichen Denkens Hölderlin dichtet das Wesen der Dichtung, insofern er in seinen Gedichten den Ursprung der eigenen Dichtung dichtet: den Anspruch des Seins, von dem er, der zum Dichter Berufene, angesprochen wurde, noch ehe er selbst zu sprechen begann. Das Wesen der Dichtung ist demzufolge das der Entsprechung. Das Sprechen, das in ihr geschieht, ist dann und nur dann wahres Sprechen, wenn es dem Anspruch des Seins wahrhaft entspricht. Da dieser sich dem Dichter als Stimmung zuspricht, ist die Grundstimmung, aus der die Dichtung entspringt, in einem zumal der Grund der Wahrheit der Dichtung, wie Heidegger in seiner Antwort auf die Frage "Was ist das - die Philosophie?" erläutert: "Und erst auf dem Grunde der Gestimmtheit [ ... ] empfangt das Sagen des Entsprechens [ ... ] seine Bestimmtheit. "66 Was für das Dichten gilt, gilt auch für das Denken. Auch es dringt nur zur Wahrheit vor, wenn das in ihm Gedachte dem Anspruch, den das zu Denkende von sich aus an es stellt, entspricht. Worum es dem Denken immer schon geht und immer noch zu gehen hat, ist nach Heidegger das Sein. Und er geht davon aus, daß sich das Sein auch dem Denken in Stimmungen zuspricht. Denn schon aus Heideggers Analyse der Angst in "Sein und Zeit" geht hervor, daß die Stimmungen uns offenbaren, wie es um unser Sein steht. 67 Derart sprechen sie uns auf unser Sein und mit ihm auf das Sein des Seienden im Ganzen hin an. Wir entsprechen ihnen, indem wir uns eigens auf unser Dasein besinnen. Die These, das Wesen von Dichten und Denken, das Wesen der Sprache überhaupt, sei das der Entsprechung, welche erst aufgrund der Gestimmtheit, die sich in ihr als ihr Ursprung ausspricht, Bestimmtheit erlangt, ist anband der Geschichte des Denkens zu bewähren. Inwiefern kann man behaupten, die Geschichte des Denkens stelle eine Geschichte von verbindlichen Auslegungen des Seins dar, deren Verbindlichkeit dadurch begründet sei, daß der geschichtliche Wandel der Auslegungen des Seins auf einen Wandel der Stimmungen zurückzuführen sei? Insbesondere ist zu fragen, welches die Grundstimmungen des Anfangs und des Endes der Geschichte der Metaphysik sind und aus welcher Stimmung das seinsgeschichtliche Denken Heideggers entspringt. Auf die oben gestellten Fragen geht Heidegger ausführlich ein in den "Beiträgen zur Philosophie" sowie der parallelen Vorlesung vom Wintersemester 1937/38 zu "Grundfragen der Philosophie". In den "Beiträgen" betont er, daß

.. M. Heidegger: Was ist das - die Philosophie? 9. Aufl., Pfullingen 1988,36. 67

SuZ § 40.

1. Das Wesen des Seins und die Dichtung

241

das Denken not-wendiges und als solches verbindliches Denken sei, sofern es aus der Erfahrung einer Not entspringe: • Alle Notwendigkeit wurzelt in einer Not. Die Philosophie als die erste und äußerste Besinnung auf die Wahrheit des Seyns und das Seyn der Wahrheit hat ihre Notwendigkeit in der ersten und äußersten Not.·68

Die "erste und äußerste Not", in der die Notwendigkeit des Seinsdenkens gründet, bestimmt Heidegger als das, "[ ... ] was den Menschen im Seienden umtreibt und ihn zuerst vor das Seiende im Ganzen und in die Mitte des Seienden und so zu sich selbst bringt und damit jeweils Geschichte anfangen oder untergehen läßt."69 Und er fahrt fort: "Dieses Umtreibende ist die Geworfenheit des Menschen in das Seiende, die ihn zum Werfer des Seins (der Wahrheit des Seyns) bestimmt." Es sind die Stimmungen, die den Übergang von der Uneigentlichkeit zur Eigentlichkeit des Daseins ermöglichen. Denn sie bringen den Menschen zu sich selbst und als Selbst vor das Seiende im Ganzen, welches sie ihm als solches offenbaren, wobei die in ihnen gegebene Offenbarkeit des Seienden im Ganzen noch zu entfalten ist, und zwar durch den Entwurf des Seins. Derart bestimmt die Geworfenheit den Menschen zum Entwurf des Seins, in dem Geschichte anfangt. Anders als in "Vom Wesen des Grundes", in dem der Geschichte begründende Entwurf des Seins noch als Urgeschehen der Transzendenz gedeutet und ungeschichtlich gedacht ist, wird er in den "Beiträgen zur Philosophie" an die Geschichte gebunden. Als die ursprüngliche Not west die Geworfenheit "[ ... ] in den wesentlichen Anfangen und Übergängen der Geschichte des Menschen verschieden. "70 Die Stimmungen wandeln sich. Mit ihnen wandeln sich die Zeiten der Geschichte. Und es ist möglich, die Epochen unserer Geschichte von den sie begründenden Grundstimmungen her zu interpretieren. Sowohl in den "Beiträgen zur Philosophie" als auch der Vorlesung vom Wintersemester 1937/38 geht Heidegger ausführlich auf den ersten Anfang der Geschichte unseres Denkens ein. Mit Bezug auf Platons "Theätet" und Aristoteles' "Metaphysik "?l bestimmt er die Grundstimmung des ersten Anfangs als das Er-staunen: "Die Grundstimmung des ersten Anfangs ist das Erstaunen, daß Seiendes ist, daß der Mensch selbst seiend, seiend ist in dem, was

6' GA 65, 45. 6. GA 65, 45. 10

GA 65, 46.

11

Platon: Theätet 155d, 2ff.; ArislOleles: Metaphysik A.2, 982b, II ff.

16 Dohlen

242

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage

er nicht ist. "72 In ihr zeitigte sich der Augenblick, in dem erstmals die Frage nach dem Seienden als solchem gestellt wurde, der Augenblick, in dem die Geschichte unseres Denkens begann. Das Staunen ist die anfängliche Stimmung par exellence. 73 Es bringt den Menschen vor das Seiende im Ganzen, nötigt ihn anzuerkennen, daß das Seiende ist, und zwingt ihn in das Streben danach zu erkennen, was das Seiende ist. Der Bezug zum Seienden, in den das Dasein dadurch versetzt wird, kann aber sowohl den Charakter der Eigentlichkeit als auch der Uneigentlichkeit haben. Held hat darauf aufmerksam gemacht, daß Heidegger schon in "Sein und Zeit" die Neugier als Modus des uneigentlichen Staunens deutet. 74 Die Gier nach immer Neuem führt das Dasein vom Wesensgrund des eigenen Seins und vom Ursprung des Seienden im Ganzen weg. Nach Held ist ihr Pendant in den späten Texten Heideggers das schon von Heraklit kritisierte Streben, alles, was überhaupt ist, erkunden zu wollen. 75 Dem uneigentlichen Modus des Staunens korrespondiert denn auch der Weg, der zu Anfang der Geschichte unseres Denkens eingeschlagen wurde. Statt nach dem einen Sein und dessen Wesen zu fragen, wurde nur nach dem Seienden und dessen Seiendheit gefragt. Die Geschichte, die damals begann, endet nun, da der Mensch Heidegger zufolge im Begriff ist, das Staunen darüber, daß Seiendes ist, aufzugeben und "Sein" zum sinnlosen Wort zu erklären. In Nietzsches Denken, in dem die Sinnlosigkeit von Sein eigens begründet wird, wird nach Heidegger auch das Erschrecken in Anbetracht des Endes offenkundig. In ihm wird die Not, die unsere Zeit von Grund auf bestimmt, die Not der Seinsverlassenheit des Seienden, der die Seinsvergessenheit des Denkens entspricht, zu der Erfahrung, die das Denken des Seins ernötigt. Darum ist sie die Grundstimmung, die den Übergang zum anderen Anfang möglich macht. Sie begründet die Not-wendigkeit des anderen Denkens. Und das ist denn auch der Grund dafür, daß Heidegger in Anlehnung an Hölderlin immer wieder betont, heute komme es darauf an, die Bereitschaft zu wecken, uns der Not unserer Zeit, der Zeit ohne Gott, zu stellen. Soll es von da aus zum Übergang in eine andere Zeit kommen, muß sich das Erschrecken in Anbetracht des Endes in eine anfängliche Grundstimmung, die Grundstimmung des anderen Anfangs, verwandeln. Zu ihr sagt Heidegger in den "Beiträgen":

72 GA 65, 46. Vgl. GA 45, 170: "Das Er-staunen ist die Grundstimmung, die anfänglich den Menschen in den Anfang des Denkens stimmt, weil sie allererst den Menschen in jenes Wesen versetzt, das sich dann inmitten des Seienden als solchen im Ganzen findet und befindet!"

13

Vgl. Held, 1991,45.

74

Vgl. SuZ 170ff.

7>

Held, 1991,47; vgl. GA 45, 134.

I. Das Wesen des Seins und die Dichtung

243

"Die Grundstimmung des anderen Anfangs kann nur kaum jemals und gar im Übergang zu ihm durch einen Namen genannt werden. Die Vielnamigkeit aber verleugnet nicht die Einfachheit dieser Grundstimmung und zeigt nur in das Ungreifliche alles Einfachen. Die Grundstimmung heißt uns: das Erschrecken, die Verhaltenheit, die Scheu, die Ahnung, das Er-ahnen." 76

Das Erschrecken entspricht als geschichtliche Grundstimmung der Stimmung der Angst. 77 Sowohl in der Angst als auch im Erschrecken wird uns das Gewohnte, das Seiende, zum Ungewöhnlichen. Wir beginnen uns darüber zu wundern, daß Seiendes ist und nicht vielmehr Nichts. Das Erschrecken kann sich zum Staunen verdichten. 78 Dann wird die Besinnung auf die Grundstimmung des ersten Anfangs für uns zur Rückkehr in den Ursprung. 79 Soll die Wiederholung des Anfangs aber derart geschehen, daß sich durch sie Zukunft eröffnet, darf der alte Weg nicht noch einmal eingeschlagen werden. Daß es überhaupt einen anderen Weg gibt, wurzelt in der Ambivalenz des Staunens, dem in der Leitfragenstellung der Metaphysik nur einseitig entsprochen wurde. Sie aufzudecken bedeutet, die Not-wendigkeit der Wieder-holung des ersten und des Übergangs in den anderen Anfang sichtbar zu machen, wie schon Held treffend bemerkte: "Heidegger hat seine ganze Aufmerksamkeit deshalb der Ambivalenz des anfänglichen Staunens und insbesondere seiner seinsgeschichtlich interpretierten Uneigentlichkeitzugewandt, weil er sie brauchte, um dem Vordenken auf den anderen Anfang eine phänomenologische Verbindlichkeit zu geben. Die Hoffnung auf einen solchen anderen Anfang bliebe nämlich ohne jeden Anhalt, wenn nicht am Phänomen des Ursprungs, von dem die Philosophie der Tradition getragen war, eine Ambivalenz aufgewiesen werden könnte. Im Ursprung war eine Denkmöglichkeit im Spiel, die unbeachtet blieb, aber von Anfang an hätte ergriffen werden können . .80

7. GA 65, 21f; vgl. GA 45, 2. 77 Indem Heidegger sowohl im Nachwort als auch in der Einleitung zu WiM die Einheit von Angst und Schrecken betont, nimmt er die in WiM noch ungeschichtlich gedachte Angst in die Geschichte hinein. Vgl. GA 9, 306f., 371.

71

GA 45, 197.

79 Held, 1991,49, glaubt Heidegger vorwerfen zu müssen, er meine, der Mensch sei heute überhaupt nicht mehr fähig zu staunen, und denke darum auf einen grundlegend anderen Anfang hin. Vermeintlich gegen Heidegger plädiert Held rur eine "Wieder-holung des gewesenen ersten Anfangs", die möglich werde durch "eine Besinnung auf die im eigentlichen Staunen mitschwingende Scheu". Darum geht es auch Heidegger. Auch er strebt den Übergang in den anderen Anfang als Rückkehr in den Ursprung an. Ob die Rückkehr zum Ursprung aber möglich ist, was sich an der Frage entscheidet, ob das Staunen noch möglich ist, kann nach Heidegger keiner sagen .

.. Held, 1991,48. 16*

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage

244

In das Staunen in Anbetracht des Seienden kann nämlich auch die Ahnung einbrechen, daß das Seiende nur ist, da Sein immer schon west, und zwar dergestalt, daß es als Sein des Seienden wesend das eigene Wesen auch schon verbirgt. Wird von daher die Frage nach dem Sein und dessen Entborgenheit, in der sich in einem zumal Verbergung ereignet, gestellt, kann es zu der, das seinsgeschichtliche Denken begründenden, Erfahrung kommen, daß auch das Wesen des metaphysischen Denkens das der Entsprechung ist, und zwar insofern, als die Seinsvergessenheit der Metaphysik der Verborgenheit des Seins, die im Wesen des Seins selbst gründet, gemäß ist. Daß das Sein sich selbst verbirgt, daß es an sich hält, ist die uns zugeworfene Schickung des Seins. Sie bestimmt unser Schicksal, das Schicksal der Metaphysik. Dem An-sieh-halten des Seins als solchem entspricht das Dasein in der Stimmung der Verhaltenheit. 81 In ihr erkennt es zum einen das An-sieh-halten des Seins als Schickung des Seins an, welche zu der Hoffnung auf eine andere Schickung, auf einen anderen Anfang, berechtigt. Doch die Verhaltenheit ist auch die Stimmung des Wartens. In ihr hält das Dasein selbst an sich. Dadurch hebt es den Schrecken auf in die Scheu, die sich hütet, die Öffnung des Seins erzwingen zu wollen. 82 Sie ist die Stimmung, die uns der künftigen Offenbarung des Seins nähert. Sofern diese überhaupt geschieht, kann sie nur vom Sein selbst ausgehen. Die Verhaltenheit, die Heidegger auch "die stimmende Mitte des Erschreckens und der Scheu"83, nennt, da sie in sich Schrecken und Scheu vereint, ist die Stimmung, in der sich die Zeit des Übergangs selbst zeitigt.

In der sechsten Strophe der Hymne "Germanien" gesteht der Dichter ein, lange sei "das Ungesprochene" verhüllt gewesen, und "ungesprochen" müsse es auch bleiben. Doch es sei an der Zeit, es nennend zu enthüllen, denn "[ ... ] zwischen Tag und Nacht" müsse "Einsmals ein Wahres erscheinen" (V. 92f.). In der Vorlesung vom Wintersemester 1934/35 nimmt Heidegger Bezug auf die zitierten Verse und gibt zu bedenken, daß das Warten derer, die das Ereignis des Wahren erharren, wohl noch lange Zeit dauern wird. "Diese lange Zeit läßt aber 'Einsmals' das Wahre - das Offenbarwerden des Seyns - sich ereignen. "84 Die Grunderfahrung Heideggers ist die Einsicht, daß das Dasein die Zeitigung ursprünglicher Zeit nie eigenmächtig "machen" kann. Das bedeutet, fundamentalontologisch gedacht, daß es das Ereignis der Transzendenz nicht

11

Vgl. GA 45, 2; GA 65,8, 14ff., 31-36,107,395.

82

GA 45, 2; GA 65, 396; EHD 131f..

"GA 65, 17 . .. GA 39,56.

1. Das Wesen des Seins und die Dichtung

245

eigenmächtig setzen kann85 , seinsgeschichtlich gedacht, daß es, in die Offenbarung von Sein versetzt, zum Entwurf von Sein ermächtigt wird. Es kann sich allenfalls in sie versetzt erfahren. In der Auslegung des Seins als des Ereignisses hält Heidegger an dem oben Dargelegten fest. Daß das Ereignis der Offenbarung des Seins sich ereignet, steht nicht in unserer Macht. Es bedarf dazu unserer Ver-setzung aus dem Gewohnten, dem Seienden, vor das Ungewöhnliche, daß Seiendes ist, - einer Versetzung, die nur durch eine Grundstimmung geschehen kann. Doch wie der Dichter in "Germanien " sich darauf beruft, er fühle schon, daß die gewesenen Götter wiederkehren (V. 2732), so geht auch Heidegger davon aus, daß die Wandlung des Erschreckens ob des Endes in die Ahnung des anderen Anfangs schon begonnen hat. Das Warten Heideggers ist von Grund auf getragen von der Hoffnung auf eine Zukunft, die auch kommen wird, es sei denn, wir weigern uns, wieder zum Staunen zu finden. Heidegger verbindet mit dem anderen Anfang die Hoffnung, das Seiende könne uns nochmals als "das Wahre" ansprechen, d.h. als das, dessen Sein wir in unserem Dasein zu entsprechen haben. Noch ist es dazu nicht an der Zeit. "Somit vermögen die 'Beiträge', obzwar sie schon und nur vom Wesen des Seyns, d.i. vom 'Er-eignis', sagen, noch nicht die freie Fuge der Wahrheit des Seyns aus diesem selbst zu fügen. ,,86 Und solange diese Erfahrung von Sein noch aussteht, kann das Denken lediglich formal den Absprung von der Metaphysik und den Einsprung in das seinsgeschichtliche Denken, "das Erdenken des Wesens des Seyns", fordern, ohne sagen zu können, welche Gestalt die Offenbarkeit des Seienden im Ganzen eines Tages inhaltlich wohl annehmen wird. Wenn Heidegger daher mit Hölderlin von der neuen Gründung der Geschichte der Deutschen spricht,87 stellt er zwar die schon zur Zeit Hölderlins gängige Identifikation der Deutschen mit dem Volk der Dichter und Denker nicht in Frage. Es sind die Deutschen, die auch nach Heidegger dazu berufen sind, den Anfang des Denkens in den anderen Anfang zu verwandeln, und zwar aufgrund der Verwandtschaft ihrer Sprache mir der der Griechen. 88 Aber weder möchte er dadurch das faktische Deutschtum absolut setzen, noch leitet er daraus einen Machtanspruch ab. Vielmehr betont er mit Hölderlin, die Deutschen seien dazu berufen, den Völkern "wehrlos Rath" zu geben, einen Rat, der in einem ursprünglichen Denken des Seins und einer gewandelten

., Vgl. dazu nochmals GA 9, 175: "[ ... ] daß die Transzendenz als Urgeschehen sich zeitigt, steht nicht in der Macht dieser Freiheit [der Freiheit, die dem Dasein qua Selbst eignet] selbst." .. GA 65, 4 . .., GA 39,290.

'8 SpG 107.

246

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage

Auslegung des Wesens des Menschen gründet. 89 Wie Hölderlin geht es auch Heidegger darum, uns wieder in einen wesenhaften Bezug zum Seienden im Ganzen, insbesondere zur Natur einzustellen. Und sowohl dem Dichter als auch dem Denker ist deutlich, daß ein solcher Bezug nur denkbar ist, wenn zuvor die Trennung von Subjektivität und Objektivität bzw. die Auslegung des Menschen als des die Natur beherrschenden Subjekts von Grund auf überwunden wird. 2. Der seinsgeschichtliche Entwurf zukünftigen Menschseins a) Die Fragestellung der Vorlesung vom Wintersemester 1934/35 Die Frage nach dem Sein Gottes bzw. der Götter und dem Wesen des Menschen kann nach Heidegger erst gestellt werden, wenn zuvor das Sein selbst gedacht wurde. Dies geschah zumindest vorläufig in den beiden vorangegangenen Kapiteln zur Kehre einerseits und zum Wesen der Dichtung andererseits. In ihnen wurde deutlich, daß Sein insofern "kehrig" west, als es den Menschen auf sich hin eröffnet, damit es durch ihn als Sein des Seienden zur Sprache kommen kann. Um die Frage nach dem Sein des Menschen sowie dem Wesen des Gottes oder der Götter nun eingehender zu klären, greifen wir nochmals auf die Vorlesung vom Wintersemester 1934/35, "Hölderlins Hymnen 'Germanien' und 'Der Rhein''', zurück. Anband ihrer werden wir unsere Darlegungen zur Kehre im Wesen des Seins vertiefen, um von da aus nach den Dimensionen im Ereignis des Seins fragen zu können, von denen her Sterblichkeit und Göttlichkeit zu denken sind. Zuvor aber sind einige Anmerkungen zum Duktus der genannten Vorlesung im allgemeinen und der Auslegung der Rhein-Hymne im besonderen von Nöten. In der ersten Hälfte der Vorlesung erörtert Heidegger anhand der Hymne "Germanien" das Wesen der Stimmungen und fragt nach der Grundstimmung der Dichtung Hölderlins sowie deren metaphysischem Ort. In der zweiten Hälfte der Vorlesung, die der Hymne "Der Rhein" gewidmet ist, gibt Heidegger dann eine Einführung in die Interpretation des Seins des Menschen, in welcher das Wesen des Menschen von seinem Bezug zum Ereignis des Seins her

.. Wie Hölderlins Hoffnung, das deutsche Volk könne durch die Dichtung zur Menschlichkeit gebracht werden, als Kompensation politischer Machtlosigkeit zu kritisieren ist, kann auch Heidegger der Vorwurf der fatalen Fehleinschätzung realer Machtverhältnisse kaum erspart werden.

2. Der seinsgeschichtliche Entwurf zukünftigen Menschseins

247

gedacht wird. Dabei ist die Auslegung der Hymne "Der Rhein"90 sicher diejenige unter den Hölderlin-Interpretationen, deren Gedankengang am schwersten zu folgen ist. Das liegt u.a. daran, daß Heidegger den triadischen Aufbau der Hymne nicht zum Ausgang seiner Interpretation macht, sondern ohne nähere Angabe von Gründen behauptet, "[d]ie Angel, in der sich gleichsam die ganze Dichtung dreht, [sei] im Beginn der Strophe X in den ersten vier Versen zu suchen, "91 "Halbgötter denk' ich jezt Und kennen muß ich die Theuern, Weil oft ihr Leben so Die sehnende Brust mir beweget." 01.135-138)

Von daher ergibt sich die für die folgende Interpretation bestimmende These, im Gedicht werde das Wesen der Halbgötter gedacht, d.h. ihr Sein entworfen. 92 Ferner beachtet Heidegger die für die Auslegung der Hymne relevante Anmerkung Hölderlins zum "Gesez des Gesangs" nicht, weIche der These Anhalt gibt, in den Strophen eins bis neun werde das Schicksal des Rheins und in den Strophen zehn bis fünfzehn das Geschick Rousseaus thematisiert. 93 Heidegger wendet sich ausdrücklich gegen die Annahme, in Strophe zehn gehe es um Rousseau. Da dessen Nennung eine spätere Variante darstelle, müsse "[d]ie ursprüngliche Auslegung der Strophe [ ... ] freigehalten werden vom Bezug auf Rousseau [ ... ]".94 Die auf die oben zitierten Verse 135 bis 138 folgenden Verse der zehnten Strophe sowie die Strophen elf bis fünfzehn stellen nach Heidegger nur die weitere Entfaltung des mit Beginn der zehnten Strophe an sich schon gelungenen Denkens des Seins der Halbgötter dar. Dieses werde in den Versen 139 bis 149 vom Göttlichen, dem "Fremden", her betrachtet und ab Vers 150 vom Sein der Menschen, der "Söhne der Erde", abgehoben. Die Ausklammerung der Nennung Rousseaus ist aber von der Hymne her kaum zu begründen. 9s Auch wenn es Heidegger in der Auslegung

90 Der Interpretation liegt der Text nach der Ausgabe von Hellingraths zugrunde. Die Abweichungen zu dem in der StA edierten Text sind für die Auslegung des Gedichts unerheblich.

9' GA 39, 163. Ähnlich schon Böckmann, 396. Diese These zeichnet Gliederung und Auslegung des Gedichts vor. Daß sie sich in der darauf aufbauenden Interpretation bewährt, legitimiert sie, unter Zugrundelegung literaturwissenschaftlicher Kriterien betrachtet, nicht. 92

GA 39, 164, 226.

93

Vgl. oben S. 109ff.

.. GA 39,278 . ., Es ist zu kritisieren, daß Heidegger wiederholt betont, Hölderlin gelange oft erst in der endgültigen Fassung zu dem eigentlich zu Sagenden (vgl. GA 39, 270ff.), in der Auslegung der zehnten Strophe der Rhein-Hymne aber die Tatsache, daß die Nennung Rousseaus in der endgültigen Ausarbeitung des Gedichts eingefügt wurde, als Argument anführt, um Rousseau in

248

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage

nur darum geht, das Sein der Halbgötter zu denken, hätte er doch der Frage nachgehen müssen, inwiefern auch und gerade im Geschick Rousseaus deren Wesen anschaulich wird. Vor dem Hintergrund der Kritik, die gegen den Ansatz der Interpretation der Rhein-Hymne vorgebracht werden kann, wird aber um so deutlicher, worauf es Heidegger in der Vorlesung vom Wintersemester 1934/35 ankommt. Es geht ihm allein darum, das Sein der Halbgötter zu denken, und zwar als das Sein, von dem her dann nach dem Sein der Götter und der Menschen gefragt werden kann. ·Wer sie [die Halbgötter] denkt, bewegt sich in der Frage nach dem Wesen des Menschen und in eins damit in der Frage nach dem Wesen der Götter. Wer diese in sich zusammengehörigen Fragen wirklich fragt, fragt so, weil er weder das Wesen des Menschen noch das Wesen der Götter weiß, und er fragt, um dieses zu wissen, nach dem Wesen der Halbgötter.·96

Zu Beginn der Vorlesung vom Wintersemester 1934/35 behauptet Heidegger, die Halbgötter seien "Zwischenwesen, nicht ganz Götter, aber auch mehr als Menschen. "97 Den Weg, ihr Sein von dem der Menschen oder der Götter her zu ergründen, wehrt er jedoch als ungangbar ab. Das Göttliche, so argumentiert er, mute uns nur noch aus der Feme der Erinnerung an. Auch wer der Mensch sei, stelle eine offene Frage dar. Und sogar was der Mensch sei, müsse erst noch geklärt werden. Ehe wir daher nach dem Eigenen unseres geschichtlichen Daseins fragen könnten, sei zu bedenken, welches Wesen dem Menschen zukomme. Nach ihm wiederum könne nur im Ausgang vom Sein der Halbgötter gefragt werden. Indem der Dichter ihr Sein entwerfe, eröffne er den Grund, von dem aus dann nach dem Sein der Menschen und Götter gefragt werden könne. 98 Die These, was und wer der Mensch sei, sei uns noch unbekannt, suggeriert, die metaphysische Interpretation des Wesens des Menschen dringe noch nicht zum Eigentlichen vor, und sie legt die Erwartung nahe, Heidegger werde anband der Hymne "Der Rhein" den Weg zu einer ursprünglicheren Auslegung des Menschlichen eröffnen. Im Kontext der einführenden Betrachtung zu Heideggers Denken der 30er und 40er Jahre wurde vorgreifend schon darauf hingewiesen, daß der Übergang vom ersten zum anderen Anfang der

der Interpretation weitgehend auszuklammern. 96

GA 39, 166.

'17

GA 39, 165 .

• 8 Die Stiftung des Seins der Halbgötter ist laut Heidegger "der innere Wille dieses Gedichts.· (GA 39, 173)

2. Der seinsgeschichtliche Entwurf zukünftigen Menschseins

249

Geschichte, welcher mit dem Absprung von der Metaphysik und dem Einsprung in das Denken der Wahrheit des Seins beginnt, zur Wandlung des Menschen vom "Herrn des Seienden" zum "Hirten des Seins" führt. Der Wandel der Geschichte und der Wandel der Auslegung des Menschen bilden also eine Einheit. Von daher sind Fragestellung und Aufbau der Vorlesung vom Wintersemester 1934/35 zu verstehen, auf den wir im folgenden kurz eingehen wollen. Nach der Einleitung kommt Heidegger im ersten Teil der Vorlesung auf die Hymne "Germanien " zu sprechen, anhand derer er im ersten Kapitel der Vorlesung das Wesen der Dichtung erörtert und deren Ursprung, die sogenannten Grundstimmungen, aufdeckt. Zu beachten sind hierzu vor allem die Paragraphen vier, "Über das Wesen der Dichtung", und sieben, "Der Sprachcharakter der Dichtung". In ihnen führt Heidegger aus, daß Sein uns nur in der Sprache und als Sprache offenbar ist. Die Sprache ist die Offenheit des Seins; mit der bekannten Wendung aus dem "Humanismus-Brief" gesagt: "Die Sprache ist das Haus des Seins·, in dem wir, die Sprechenden, "wohnen".99 Und da wir nur in der Offenheit des Seins Seiendes als solches erfahren können, ist die Sprache der Grund unseres Da-seins. Darum entspricht unsere Sprache auch jeweils unserer Stellung inmitten des Seienden, der Grundstellung unseres Daseins. Die Paragraphen vier und sieben bilden innerhalb der Vorlesung vom Wintersemester 1934/35 den Rahmen für die Paragraphen fünf und sechs, in denen Heidegger den Gedanken entfaltet, daß Hölderlin als der "Dichter unseres Vaterlandes" auch der Dichter der Geschichtlichkeit unserer Geschichte sei. Er betont: "Das 'Vaterland' ist das Seyn selbst, das von Grund aus die Geschichte eines Volkes als eines daseienden trägt und fügt: die Geschichtlichkeit seiner Geschichte .• !OO Unter dem "Vaterland" ist demnach jene geschichtliche Fügung der Offenheit von Sein zu verstehen, in welche eingefügt der Mensch geschichtlich je in ein Verhältnis zum Ganzen des Seienden zu stehen kommmt. In Hölderlins Dichtung geht es Heidegger zufolge also um nichts anderes als um unser Sein, um das Verhältnis, das wir zu uns und zum Seienden im Ganzen haben könnten. Daß eine solche Interpretation Hölderlins Deutung des "Vaterlandes" als einer "besondern Wechselwirkung" von Mensch und Natur IO ! durchaus nahe ist, sei hier nur angemerkt. Von "Sein und Zeit" her gedacht, kann die Frage, wer wir sind, nur als Frage nach der Geschichtlichkeit unserer Geschichte gestellt werden. Darum geht Heidegger im zweiten Kapitel des ersten Teiles der Vorlesung ausführlich auf

99

GA 9, 313.

100

GA 39, 121.

101

StA IV I, 282.

250

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage

den Bezug der Dichtung, durch welche uns Sein eröffnet ist, zu unserem geschichtlichen Dasein ein. Dabei greift er zum einen den Grundgedanken des ersten Kapitels nochmals auf; er erinnert an die Gründung unseres Daseins in der Dichtung. Zum anderen deckt er nun die Zeitigung der Zeit, welche in der Geschichtlicbkeit des Daseins geschieht, als den Ursprung der Dichtung auf. Indem er sowohl betont, daß unser Dasein in der Dichtung gründet, als auch, daß die Dichtung umgekehrt in der Zeitigung der Geschichte ihren Ursprung hat, bringt er die Kehre im Wesen des Seins zur Sprache, so daß die Vorlesung vom Wintersemester 1934/35 als einer der ersten Entwürfe des seinsgeschichtlichen Denkens zu betrachten ist. Heidegger entfaltet die dargelegten Gedanken anband der Hymne "Germanien ". Ausführlich interpretiert er aber nur die Strophen eins und zwei sowie die ersten sechs Verse der Strophe drei. Die Verse, nach denen er die Auslegung der Hymne unterbricht, lauten: "Daß schauen mag bis in den Orient Der Mann und ihn von dort der Wandlungen viele bewegen.· (V. 37f.)

Heidegger begründet die Unterbrechung der Auslegung in folgenden Sätzen: "Wir haben den Standort des Mannes erreicht, - es ist der Dichter selbst, den da der Wandlungen viele bewegen. Es galt, vor der Weiterfiihrung der Auslegung dieses Gedichtes das Sinnen und Denken des Mannes deutlicher zu erfahren, ins Wissen zu heben, was und wie dieser Mann denla, der die Flucht der alten und den Andrang der kommenden Götter erfährt .• 102

Der Mann, welcher der Dichter ist, bedenkt die Flucht der alten und ahnt die Ankunft der kommenden Götter. Darum dichtet er die Zeit als Nichtmehr der gewesenen und Nochnicht der künftigen Götter. In solcher Zeit ist es uns aufgegeben zu fragen, wer wir sind. Heideggers Deutung zufolge gibt darauf die Hymne "Der Rhein" eine Antwort, insofern im Schicksal des Rheins unser Schicksal deutlich wird. Darum eröffnet er im zweiten Teil der Vorlesung einen Zugang zu dem Sein, welches "Schicksal" genannt werden kann, im allgemeinen und zum Geschick des Rheins im besonderen. Wir werden im Fortgang der Arbeit noch zu belegen haben, daß er uns dadurch in unsere geschichtliche Bestimmung einführt. Von daher ergibt sich folgender Aufbau der Vorlesung: Im ersten Teil gibt Heidegger anband der Hymne "Germanien" den Übergang vom ersten zum anderen Anfang der Geschichte zu denken. Im zweiten Teil, welcher der Rhein-Hymne gewidmet ist, führt er uns zur Wandlung unseres Wesens. Und erst nach der Einführung in die gewandelte Auslegung unseres Seins greift er die unterbrochene Auslegung der Hymne "Germanien " erneut auf.

102

GA 39, 224.

2. Der seinsgeschichtliche Entwurf zukünftigen Menschseins

251

b) Die Wesung des Seins und der Wesenswandel des Menschen Der von Heidegger angestrebte Wandel der Auslegung des Wesens des Menschen wurde im Kontext unserer Darlegungen zur sogenannten Kehre im Denken Heideggers schon erörtert, so daß wir uns nun darauf beschränken können, den Grundgedanken des Übergangs vom Subjekt, dem "Herrn des Seienden", zum Dasein, dem von der "Sorge" um das Sein bestimmten "Hirten des Seins" in Erinnerung zu rufen, um dann nach dem Bezug des Menschen zu den Göttern zu fragen. Während Heidegger in den 20er Jahren noch glaubte, durch die Analyse des Daseins den Weg zu einer ursprünglicheren und insofern die gängige Interpretation auch bereits in Frage stellenden Auslegung der Subjektivität eröffnet zu haben,103 wertet er die eigene Wesensauslegung des Menschen nach der Kehre als grundlegende Überwindung der metaphysischen Bestimmung des Menschen als des Subjekts. 104 Um Heideggers Forderung, der Mensch müsse zum "Hirten des Seins" werden, begreifen zu können, muß man sich daher sein Verständnis von Subjektivität vor Augen halten. Heidegger zufolge wird das Sein des Subjekts zum einen durch den vorstellenden Bezug zum Seienden im Ganzen bestimmt. Das Subjekt ist das Seiende, welches das Seiende als Gesamtheit der Objekte vorstellt, um sich ihrer zu vergewissern. Zum anderen ist das Subjekt dadurch bestimmt, daß es im Vorstellen des Seienden sich ständig mit vorstellt, was dazu führt, daß es glaubt, des eigenen Seins apriori gewiß sein zu können. Und aufgrund des Glaubens an die apriorische Gewißheit des eigenen Seins, stellt das Subjekt die Frage nach dem ermöglichenden Grund des VorsteIlens und der VorsteIlbarkeit des Seienden als solchem grundsätzlich nicht. In "Sein und Zeit" aber wird nach dem ermöglichenden Grund des Vorsteilens und des Bezugs des vorstellenden Subjekts zu den vorgestellten Objekten gefragt. In der Aufdeckung der Einheit von Entwurf und Geworfenheit kommt erstmals zur Sprache, daß die Offenheit des Seins nicht erst durch das vorstellende Subjekt eröffnet werden kann, da sie im Vorstellen immer schon als der ermöglichende Grund des VorsteIlens erfahrbar wird. Darum ist sie "früher" als das Vorstellen selbst. Ihre Eröffnung geschieht schon im Sein des vorstellenden Seienden und ist, sofern es ein solches gibt, immer schon geschehen. Die Zeitigung der Einheit von Entwurf und Geworfenheit, die Heidegger in "Sein und Zeit" kurz "die Sorge" nennt, ist es, welche den Menschen derart "lichtet", daß sich ihm, dem gelichteten Seienden, das Ganze des Seienden in

103

Vgl. GA 9, 138; GA 26, 211.

104

GA 9,327,330; GA 65,259,303

u.Ö.

252

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage

der Lichtung des Seins als vorstellbares zu denken gibt. "Was dieses Seiende wesenhaft lichtet, das heißt es für es selbst sowohl 'offen' als auch 'hell' macht, wurde vor aller 'zeitlichen' Interpretation als Sorge bestimmt. In ihr gründet die volle Erschlossenheit des Da. "105 Um das Licht, welches das Dasein lichte, genauer zu bestimmen, müsse der Sinn der Sorge aufgedeckt werden. Als solcher wird in "Sein und Zeit" die ekstatische Zeitlichkeit expliziert. "Die ekstatische Zeitlichkeit lichtet das Da ursprünglich. "106 Die Einsicht in die Zeitlichkeit als den Sinn des Seins des Daseins und deren ekstatische Verfaßtheit führt dazu, daß Heidegger in den auf "Sein und Zeit" folgenden Vorlesungen und Abhandlungen die "Ohnmacht" des Menschen betont, welcher sich nicht selbst zum eigenen (Subjekt)-sein ermächtigen kann, bis er um 1930 die Subjektivität endgültig überwindet. Der Grund zu ihrer Überwindung wird aber schon in "Sein und Zeit" gelegt. Denn obwohl Heidegger in den Abhandlungen der 20er Jahre auf der Prioriät des Entwurfs besteht, betont er doch schon in "Sein und Zeit", daß die Einheit der ekstatischen Zeitlichkeit der Grund dafür sei, daß das Dasein Sein nur als geworfenes entwerfen könne. 107 Die Geworfenheit ist das Fundament der ontologischen Ohnmacht des Daseins, welche sich ontisch allem voran darin bekundet, daß das Dasein als Selbst dem Seienden im Ganzen als einem solchen ausgesetzt ist. Die Einsicht, daß das Dasein als das ek-sistierende das aus-gesetzte Seiende ist, begündet die Überwindung der Subjektivität, die Heidegger endgültig gelingt im "Schritt zurück" von der Transzendenz zum Ereignis. In den 30er Jahren geht Heidegger zunächst ausführlicher auf die Folgen ein, die sich aus der Tatsache ergeben, daß das Dasein Sein nur als geworfenes entwerfen kann. Der Entwurf des Daseins - sowohl der des eigenen Seins als auch der des Seins des Seienden im Ganzen - ist dadurch bestimmt, daß in ihm die Geworfenheit als solche eigens offenbar wird. Es wird deutlich, daß das Dasein Sein nur entwerfen kann, da es qua geworfenes dem Seienden als solchem ausgesetzt und von dessen Faktizität angesprochen ist. Im Entwurf, in dem das Dasein in das Sein vordringt, geht es auch immer schon in die eigene Geworfenheit zurück. Und insofern muß die Geworfenheit als der Ursprung der Eröffnung von Sein betrachtet werden. Das wirft die Frage nach der Herkunft der Geworfenheit auf. Die Vorlesung vom Wintersemester 1934/35 ist schon ein Beleg für die Kehre in Heideggers Denken. Denn dort wird die das seinsgeschichtliche Denken begründende Erfahrung vorgetragen, daß die

10'

SuZ 350.

106

SuZ 351.

107

SuZ 145.

2. Der seinsgeschichtliche Entwurf zukünftigen Menschseins

253

Geworfenheit ihren Ursprung im Sein selbst hat. Das Sein selbst erwirft die Geworfenheit des Daseins, indem es sich ihm zuwirft. Das bedeutet: Das Sein selbst wirft das Dasein in den Entwurf des Seins, so daß der Entwurf als Antwort auf das in der Geworfenheit Überantwortete zu deuten ist. Von daher begreift Heidegger die Öffnung von Sein in den 30er Jahren, etwa in den "Beiträgen zur Philosophie" als Ereignis der Einheit von ereignendem Zuwurf des Seins und ereignetem Entwurf des Daseins, anders gesagt, als Ereignis des Einklangs von Schwung und Gegenschwung: "Der Werfer selbst. das Da-sein, ist geworfen, er-eignet durch das Seyn. [ ... ] Indem der Werfer entwirft, die Offenheit eröffnet, enthüllt sich durch die Eröffnung, daß er selbst der Geworfene ist und nichts leistet, als den Gegenschwung im Seyn aufzufangen, d.h. in diesen und somit in das Ereignis einzurücken und so erst er selbst, nämlich der Wahrer des geworfenen Entwurfs, zu werden ... 108

Die Aufdeckung der Herkunft der Geworfenheit aus dem Wurf des Seins veranlaßt Heidegger also dazu, daß Offenbarungsereignis von Sein als Geschehen von Anspruch und Entsprechung zu deuten. Die sich ereignende Einheit von Anspruch und Entsprechung nennt er in den Hölderlin-Interpretationen auch "das eigentliche Gespräch". 109 Es handelt sich also um ein "dialogisches" Geschehen, welches Heidegger zufolge an die Stimmungen gebunden ist. Sein wirft sich dem Dasein zu, bedeutet nämlich, daß es das Dasein als Stimmung anspricht. Das Dasein entspricht dem Anspruch des Seins, indem es, aus der vom Sein selbst erworfenen Stimmung heraus sprechend, das Sein lichtet, welches ihm in den Stimmungen schon zugeworfen ist, auch wenn es dort noch in dem Dunkel, das dem Licht der Sprache weichen wird, geborgen ist. Und derart birgt das Dasein Sein in die Endlichkeit der Sprache, wodurch es zum "Hirten" wird, der die Offenheit des Seins "hütet". Heidegger knüpft daran die Hoffnung auf einen gewandelten Bezug des Menschen zum Seienden im Ganzen: Wird der Mensch dessen inne, daß er vom Sein selbst zum Entwurf von Sein ermächtigt ist, wird es ihm nicht mehr darum gehen, "[ ... ] das Seiendsein des Seienden in der allzu laut gerühmten 'Objektivität' zergehen zu lassen" 110, sondern darum, in der existenziellen "Sorge" um das Sein, welches er gerade nicht als subjektive Setzung betrachten kann, dem eigenen Sein, welches die existenziale Struktur "der Sorge" hat, zu entsprechen.

lOS

GA 65, 304; vgl. GA 65, 239, 259; GA 9,327,330,337; GA 39, 175.

109

EHD 38ff.; GA 39, 68-72.

110

GA 9, 330.

254

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage "[ ... ] der Mensch ist als der ek-sistierende Gegenwurf des Seins insofern mehr denn das animal rationale, als er gerade weniger ist im Verhältnis zum Menschen, der sich aus der Subjektivität begreift. Der Mensch ist nicht der Herr des Seienden. Der Mensch ist der Hirt des Seins. In diesem 'weniger' büßt der Mensch nichts ein, sondern er gewinnt, indem er in die Wahrheit des Seins gelangt. Er gewinnt die wesenhafte Annut des Hirten, dessen Würde darin beruht, vom Sein selbst in die Wahrnis seiner Wahrheit gerufen zu sein. Dieser Ruf kommt als der Wurf, dem die Geworfenheit des Daseins entstammt. "111

Gelingt es uns, die Auslegung unseres Seins von der Subjektivität her zu überwinden, dann wird uns die Herkunft unseres Wesens zur Wesenszukunft, d.h. zum Grund der künftigen Geschichte, in der wir uns als die "Wächter der Wahrheit des Seins" begreifen, "[ ... ] welche Wächterschaft angezeigt ist als die 'Sorge'. "112 Der schon in "Sein und Zeit" verwendete Titel "die Sorge", der dort nur zur formalen Anzeige der existenzialen Struktur des Daseins Verwendung findet, wird in der Kehre zur Anzeige einer Grundhaltung des Daseins, die von der Sorge um das Sein bestimmt ist, die das Dasein schon übernommen hat, sofern es spricht, und die es immer wieder neu zu übernehmen gilt. Ausführlich geht Heidegger in den "Beiträgen" auf den Wurf des Seins ein. Dort interpretiert er das Wesensgeschehen des Seins als Öffnung jener Offenheit, in der dann Seiendes als Seiendes erfahrbar wird. Sie geschieht, indem Sein sich dem Menschen zuwirft, um in seinem Sein "da", d.h. offen zu sein. Die Eröffnung des Menschen durch das Sein auf es hin, durch die der Mensch allererst zum Da-sein wird, zeigt Heidegger in den "Beiträgen" mittels der Wendung "Das Ereignis gründet in sich das Da-sein" an. 113 Ebenso gilt auch der Satz: "Das Da-sein gründet das Ereignis" .114 Denn nur dadurch, daß der Mensch als Da-sein die Offenheit des Seins, die ihm in der Geworfenheit zugeworfen ist, entwerfend entfaltet, kann das Sein als Sein des Seienden wesen. "Der Bezug des Da-seins zum Seyn gehört in die Wesung des Seyns selbst, was auch so gesagt werden kann: das Seyn braucht das Da-sein, west gar nicht ohne diese Ereignung. "115

111

GA 9, 342.

112

GA 65, 297.

113

GA 65,261.

114

GA 65, 261.

I" GA 65,254.

2. Der seinsgeschichtliche Entwurf zukünftigen Menschseins

255

Das Wesensgeschehen des Seins weist somit folgende Struktur auf: Offenbarwerdend er-eignet Sein das Da-sein, den geworfenen Entwerfer. Und im Entwurf des Daseins gelangt das Sein in das eigene Wesen; es wird in ihm als Sein des Seienden offenbar. Diese Struktur des Seins nennt Heidegger "[ ... ] die Kehre, die eben das Wesen des Seins selbst als das in sich gegenschwingende Ereignis anzeigt. "116 Sie ist identisch mit dem Wesen des Seins selbst und als solche in einem zumal der ermöglichende Grund der im "Humanismus-Brief" erwähnten Einkehr in den Grund von "Sein und Zeit" .117 c) Die Geschicklichkeit des Seins und die Geschichte des Menschen Die These, daß das Sein sich von sich aus dem Dasein zuwirft und dadurch das Dasein des Menschen ermöglicht, kann nur aufrechterhalten werden, wenn es gelingt, die Geschichtlichkeit faktischer Existenz in das Wesen, d.h. die Wesung des Seins, zurückzunehmen. Dazu ist die Einheit von Sein und Zeit als die dem Sein eigene Geschichte zu erörtern, in der dieses das Denken in epochal sich wandelnden Weisen angeht. Während im Kontext der fundamentalontologischen Ausarbeitung der Seinsfrage nur die Geschichtlichkeit des Daseins zum Thema wird, kommt in der seinsgeschichtlichen Ausarbeitung der Seinsfrage auch die Geschichtlichkeit oder Epochalität des Seins zur Sprache. Noch in der ersten Ausarbeitung der Seins frage gelangt Heidegger zu der Einsicht, daß "das Sein selbst im Wesen endlich ist", da es sich nur in der Endlichkeit des transzendierenden Daseins offenbaren kann. 118 In der Abhandlung "Vom Wesen der Wahrheit" wird erstmals auf die anfängliche Eröffnung von Sein überhaupt eingegangen und dadurch die Verendlichung des Seins als Vergeschichtlichung desselben gedeutet. 119 In den Texten nach der Kehre, in denen Heidegger die Offenheit des Seins vom Sein selbst herkünftig denkt, erfolgt schließlich die Begründung der Vergeschichtlichung des Seins aus dem Sich-zuwerfen oder Sich-zuschicken des Seins. Die Besinnung auf die Geschichte der Metaphysik macht deutlich, daß Sein immer wieder anders ausgelegt wurde. Heidegger geht davon aus, daß der Wandel der Grundstellungen des Denkens in Entsprechung steht zu dem Wandel der Entbergungen des Seins. Aufgrund dessen ist aus der Grunderfahrung, daß es überhaupt Geschichte gibt, zu folgern, daß Sein sich in allen hisherigen Schickungen endlich offenbarte und auch weiterhin stets endlich offenbaren

116

GA 65, 26l.

117

GA 9, 328.

118

GA 9, 120.

119

GA 9, 189.

256

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage

wird. Im Hinblick darauf spricht Heidegger u.a. in der späten Abhandlung "Zeit und Sein" davon, daß Sein sich uns "epochal" öffne. l20 Darin klingt an, daß die Epochen unserer Geschichte in den endlich-geschichtlichen Schickungen des Seins gründen. Denn sobald Sein sich uns geschicklich, d.h. in einer bestimmten, epochalen Gestalt, lichtet, wird es uns offenbar als der Anspruch, dem zu entsprechen bedeutet, in eine bestimmte Grundstellung zum Seienden im Ganzen einzukehren, worin dann eine bestimmte Epoche der Geschichte beginnt. Ferner ist damit gesagt, daß das Sein selbst Epoche übt. Indem es sich entbirgt, hält es an sich derart, daß jede Entbergung von Sein auch eine Verbergung desselben beinhaltet. Dabei hält Sein nicht nur die zukünftigen Entbergungen seiner selbst zurück, sondern es verbirgt allem voran das eigene geschickliche Wesen, so daß die geschichtlichen Lichtungen von Sein vom Sein selbst gelichtete Lichtungen für das sich verbergende Sein darstellen. 121 Dabei kann keiner sagen, ob es sich für uns eines Tages noch einmal in einer anderen Gestalt offenbaren wird. Doch die Hoffnung darauf ist Heidegger zufolge insofern begründet, als das An-sieh-halten des Seins, die Verbergung des eigenen Wesens, Rückhalt der noch offenen Zukunft ist. Aus der eigenen Verborgenheit heraus kann Sein immer wieder neu auf uns zukommen und sich uns zu denken geben. Und nie wird unser endliches Denken die Unendlichkeit, die sich in der Verborgenheit des Seins birgt, erschöpfen können. Die Konzeption des schickend-geschicklichen Wesens des Seins drängt dazu, die Geschichte der Metaphysik von der Geschicklichkeit des Seins her zu interpretieren. In der Vorlesung vom Wintersemester 1937/38, "Grundfragen der Philosophie", die schon insofern in der Nähe zur Vorlesung vom Wintersemester 1934/35 steht, als in ihr die Frage nach dem Wesen der Grundstimmungen aufgenommen und ihre Relevanz für die Geschichte unseres Denkens erläutert wird, geht Heidegger ausführlich auf die Einheit von Entbergung und Verbergung im Wesen des Seins ein. Schon im Entwurf zur Vorlesung begründet er die Notwendigkeit der Wiederholung der Frage nach dem Sein mit der Aufdeckung des Er-schreckens ob der Seinsverlassenheit des Seienden, der Grundstimmung unserer Zeit. 122 Sie nötige in die Besinnung auf den Anfang der Geschichte unseres Denkens. Denn soll es überhaupt noch eine Zukunft, einen anderen Anfang der Geschichte, geben, muß gezeigt werden können, daß der erste Anfang wiederhol bar ist. Es muß verdeutlicht werden können, daß es möglich ist, die Frage nach dem Sein noch einmal anders zu stellen. Darum erfolgt sowohl im Entwurf zur Vorlesung und als auch in der

120

SdD 9.

121

GA 45, 189; GA 65, bes. 348-357.

122

GA 45, 198.

2. Der seinsgeschichtliche Entwurf zukünftigen Menschseins

257

Vorlesung selbst eine Besinnung auf die griechische Erfahrung des Seins, deren Grundgedanken uns schon vertraut sein dürften. Die Griechen erfuhren das Seiende als unverborgenes und fragten nach dem Seienden als unverborgenem. Sein entbarg sich ihnen darin als Unverborgenheit. Dennoch fragten sie nicht nach der Unverborgenheit selbst. Darum erkannten sie auch nicht, daß das Sein das eigene Wesen verbarg, indem es sich ihnen als Lichtung des Seienden entbarg, so daß schon die erste geschichtliche Entbergung des Seins eine Lichtung für das sich verbergende Sein darstellt. Nur dadurch, daß das Sein selbst sich im Anfang des Denkens nur als Sein des Seienden zu denken gab und in solcher Entbergung das eigene Wesen verbarg, konnte es geschehen, daß vergessen wurde, nach dem Sein als solchem, nach der Offenheit des Seins, zu fragen. In der Besinnung auf den ersten Anfang wird demnach deutlich, daß die Seinsverlassenheit des Seiende eine Folge der vom Wesen des Seins selbst ermöglichten Grundentscheidung unserer Geschichte ist: der Entscheidung, die Frage nach dem Sein nur als Frage nach dem Sein des Seienden zu stellen. Indem die Verbergung als solche auffällig wird, schickt sich Sein dem Denken auch schon erneut zu und begründet dadurch dessen zukünftiges Geschick. Denn nun gilt es, das Wesen des Seins eigens zu bedenken. Daß solches geschieht, ist aus der Geschichte der Metaphysik nicht abzuleiten. Insofern geschieht die Kehre des Denkens, welche verbunden ist mit der Abkehr vom Gewohnten, dem offenbaren Seienden, und der Zuwendung zum schlechthin Ungewöhnlichen, der Offenheit des Seins, als Sprung, und zwar als Sprung, der vom Sein selbst ermöglicht ist. Denn das Sein selbst stimmt in jene Stimmung, in welcher die Einkehr in das Wesen des Seins selbst ersprungen werden kann. Gegen das seinsgeschichtliche Denken Heideggers, daß sich um die Zeit der Abfassung des Vortrags "Vom Wesen der Wahrheit" Bahn bricht, wurde schon bald der Vorwurf erhoben, in ihm werde das Wesen des Seins als ein das geschichtliche Dasein des Menschen erst begründendes und insofern denn auch von der Geschichte zu lösendes Ursprungsgeschehen gedacht. Dieser Vorwurf wiegt umso schwerer, als er die These begründet, das seinsgeschichtliche Denken führe zur Aufhebung der Freiheit, da ihm zufolge der Mensch nur insofern frei sei, als er in der eigenen Geschichte dem sich öffnenden Sein nur noch entsprechen könne. Das würde bedeuten, daß die Geschichtlichkeit des Menschen in Heideggers spätem Denken begrenzt würde auf dessen Offenheit für das Schicksal im Sinne des ihm vom Sein selbst bestimmten Geschicks. Zwar betont Heidegger immer wieder, daß das Sein das Dasein braucht, da es nur offenbar werden kann, indem es den Menschen auf sich hin eröffnet. 123

123 So betont Heideger etwa in dem Aufsatz "Zur Seinsfrage" von 1955 (GA 9, 410): "Gehört zum 'Sein' die Zuwendung, und zwar so, daß jenes in dieser beruht, dann löst sich das 'Sein' in

17 Bohlen

258

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage

Insofern ist das Sein kein "Es", welches die Freiheit des Menschen aufheben könnte. Dennoch hielt Marx es für erforderlich, den Einwand, Heideggers Deutung des Seins führe zur Aufhebung der Freiheit, nochmals aufzugreifen, wobei er sich auf "Vom Wesen der Wahrheit" berief. Da in seiner Kritik das Grundproblem des seinsgeschichtlichen Denkens deutlich wird, werden wir hier kurz auf sie eingehen. 124 Die Kritik von Marx bezieht sich vor allem auf die Deutung der Unwahrheit, die in aller Wahrheit als das "wesentliche Gegenwesen zum anfänglichen Wesen der Wahrheit" west. l25 Daß sich die Einheit von Wahrheit und Unwahrheit, Entbergung und Verborgenheit, zugunsten des entborgenen Seienden verbirgt, ist nach Heidegger der ermöglichende Grund jener Geschichte der "Irre", in der wir uns dadurch immer weiter von unserem eigenen Wesensgrund entfernen, daß das Sein selbst für uns in Vergessenheit gerät. Marx bringt den Einwand vor, es werde kein Maß angegeben, von dem her jene Wahrheit, deren Ursprung das "wesentliche Gegenwesen zum anfänglichen Wesen der Wahrheit" sei, und die in die Irre führe, von der "wahren", einer wesenhaften Erfahrung des Seins entspringenden, Wahrheit unterschieden werden könnte. Auch die Frage, wodurch der Mensch die Unwahrheit überwinden und zur Wahrheit finden könne, werde nicht gestellt. Da jedoch nicht jede Offenbarkeit des Seienden im Ganzen auch schon gut sei, sei es durchaus denkbar, daß wir zu Zeiten zwar der Wahrheit des Seins, keineswegs jedoch dem Guten entsprächen. 126 Der vorgebrachte Einwand deutet auf ein Grundproblem des gekehrten Denkens hin, welches dadurch, daß es die Geworfenheit des Daseins in den Wurf des Seins zurücknimmt, den Gedanken nahelegt, Sein wese schon, noch ehe es den Bezug zum Menschen aufnimmt. Von daher kommt es dann zu der These, Heidegger hypostasiere das Sein zu einem "Es", neben dem der Mensch keine eigene Freiheit mehr haben könne. Darin wird aber, genau betrachtet, die metaphysische Herkunft des Denkens deutlich, welches die Ursprünglichkeit

die Zuwendung auf." Vgl. GA 65, 254. 12. W. Marx: Heidegger und die Tradition. Eine problemgeschichtliche Einführung in die Grundbestimmungen des Seins. 2., durchges. Aufl. Hamburg 1980, bes. 241-252; Ders.: Gibt es auf Erden ein Maß? Grundbestimmungeneiner nichtmetaphysischenEthik. Hamburg 1983,13-34. 12>

GA 9, 197.

12. Auch Schmidinger, 285f, hat die Vennutung geäußert, Heidegger sei es wohl wichtiger erschienen, "über das Wesen der Freiheit dem Wesen der Lichtung näherzukommen [ ... ], als sich zu fragen, wie der entscheidende und denkende Mensch in Freiheit dem 'Wesen' der Freiheit [ ... ] entsprechen könne [ ... )."

2. Der seinsgeschichtliche Entwurf zukünftigen Menschseins

259

des Seins temporal deutet und in ihm das erkennt, welches "früher" ist als das Seiende. Das führt zu der Annahme, Heidegger ordne dem offenbaren Seienden und der Offenbarkeit des Seienden im Ganzen das Geschehen der Eröffnung von Sein als das Apriori vor. Auch für Heidegger stellte der Apriorismus des Seins bis in die 30er Jahre noch ein Problem dar. Erst die Erfahrung des kehrigen Wesens des Seins ermöglichte dessen Überwindung. 127 Denn sie führte zu der Einsicht, daß das Ereignis des Seins in der Übereignung des Seins an den Menschen und der Aneignung des Menschen als des Da-seins besteht. Sein ereignet sich als das Verhältnis, in welchem es den Menschen auf sich hin eröffnet, um in die eigene Offenheit zu gelangen. l28 Als Verhältnis wesend ist das Sein zwar kein Seiendes, kein "Es", welches die Freiheit des Menschen aufheben könnte. Dennoch ist zu sagen, daß Heidegger zufolge jener Entwurf des Seins, den das Dasein entwirft, in der Geschichte, d.h. nachdem er erfolgt ist, mit Notwendigkeit als geworfener Entwurf erkennbar wird. Es ist zwar durchaus denkbar, daß der Mensch zu Zeiten Sein anders deuten wird. Im nachhinein wird ihm dann jedoch wiederum klar werden, daß er dadurch einer gewandelten Offenbarung des Seins entsprach. 129 Das bedeutet, daß die Freiheit des Menschen in der Tat darin besteht, die Erfahrungen, die ihm vom Sein her widerfahren, zur Sprache zu bringen und dadurch in jenen Grund zu finden, von dem aus er die Geschichte als seine eigene Geschichte in Freiheit, der endlichen Freiheit des Selbst, ergreifen kann. Freiheit bedeutet hier, Freiheit zur Ent-sprechung, zur Antwort auf das, was sich in den Grundstimmungen als das zu Ver-antwortende zuspricht. Die Frage, was es Heidegger erlaubt, unsere Zeit als Zeit der Irre zu deuten, ist daher durchaus zu stellen. Dazu ist zu sagen, daß sich in "Vom Wesen der Wahrheit" der mit der Kehre verbundene Wandel vom systematischen zum geschichtlichen Denken Bahn bricht. Das Denken wird dadurch zum erfahrenden Denken. Es wird dessen eingedenk, daß es keine andere Aufgabe hat, als die faktisch geschehene und geschehende Geschichte zu bedenken. Damit verbunden ist die Einsicht, daß es kein ungeschichtliches Maß geben kann, an dem Geschichte zu messen wäre. Ein solches Maß anzugeben, würde

127

GA 65, 222.

12.

GA 9, 332.

129 Darum kann dem Einwand von Marx dadurch nicht begegnet werden, daß man die Offenheit des Offenen als den ontologischen Grund aller Maßgabe und Maßnahme begreift und als das "Ur-Maß" auslegt, in dem alle Maße gründen, das aber selbst kein Maß darstellt, wie Keuering, 1987, 362ff., vorgeschlagen hat. Wohl ist die Offenheit des Offenen das "Ur-Maß" und als solches der Ursprung aller Maßnahme und Maßgabe. Doch sie ist nicht ein den Zeiten enthobener transzendentaler Grund aller Maße, sondern sie hat ihre eigene Geschichte, und diese Geschichte gibt in der Tat den geschichtlichen Kontext des Daseins der Menschen vor.

17'

260

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage

bedeuten, sich aus der Geschichte heraus zu stellen. Vielmehr sind die Zeugnisse der ursprünglichen Erfahrung von Geschichte, welche etwa Dichtungen darstellen, ernstzunehmen. Denn in ihnen spricht sich jene Grundstimmung aus, die eine Epoche begründet. Sie ist die verborgene Wahrheit einer Zeit. Und so muß es uns zu denken geben, daß die Dichtung, insbesondere die Hölderlins, unsere Zeit als eine Zeit der Heimatlosigkeit deutet. Nur der, der dem eigenen Denken zugesteht, daß es dem Wesen nach erfahrendes und auf jene ursprünglichen Erfahrungen, von denen die Dichtung spricht, hin angelegtes Denken ist, kann Heideggers Deutung der Zeit als Zeit der Irre annehmen. Insofern kann man auch nicht einfach sagen, es stelle ein Desiderat des seinsgeschichtlichen Denkens dar, daß in ihm wohl nach dem Grund der endlichen Freiheit des Menschen gefragt aber kein Maß genannt werde, anhand dessen gesagt werden könnte, in welchen Zeiten der Mensch nur durch die Absage an die ihm geläufige Auslegung des Seins zu sich gelangen werde. Ein solches "Maß" wird durchaus genannt, nämlich der Mensch selbst, welcher die Erfahrung der eigenen Heimatlosigkeit macht. Wer mit Heidegger die Erfahrung des Erschreckens ob der Seinsverlassenheit des Seienden und der Heimatlosigkeit des Menschen teilt, wird auch mit ihm danach fragen, ob es für uns überhaupt eine Heimat geben kann. Dem, der solches fragt, geht es immer schon um Heil und Unheil. Geschichtliches, der Erfahrung entspringendes Denken ist daher Denken in der Hoffnung auf Heil; Denken, das auf das Heilige qua die Zeit Erlösende hindenkt. An Heideggers seinsgeschichtliches Denken wäre von daher die Frage zu stellen, ob nicht das Dasein, welches durch die Offenheit für das Zukünftige bestimmt ist, durch eine Ahnung von Heil und Erlösung -man könnte auch sagen: eine Ahnung von eigentlichem Selbstsein - bewegt ist, die es ihm dann auch möglich macht, wesenhafte Erfahrungen von wesenlosen zu unterscheiden. Auf jeden Fall bleibt zu betonen, daß Freiheit nur menschliche Freiheit ist, wenn sie auf Erfahrungen eingeht, die nicht auf subjektive Setzung zu reduzieren sind. Da die Philosophie der Subjektivität nach Heidegger jeden Anspruch auf die Subjektivität des Subjekts zurückführen muß, kann sie Freiheit nicht als Geschehen der Entsprechung denken und dringt daher denn auch nicht zum Wesen der Freiheit vor. Heideggers Interpretation zufolge kommt in der Hymne "Der Rhein" das Wesen der Freiheit zur Sprache. Denn der Rhein, den der Dichter "den freigebomen" nennt (V. 33), gelangt in das Eigene durch die Annahme der ihm geschicklieh zugefallenen Bestimmung.

2. Der seinsgeschichtliche Entwurf zukünftigen Menschseins

261

d) Hölderlins Dichtung geschicklichen Daseins Die Vorlesung vom Wintersemester 1934/35 kann auch insofern als einer der ersten Entwürfe des seinsgeschichtlichen Denkens betrachtet werden. Denn in ihr geht Heidegger am Paradigma des Rheins erstmals ausführlich auf die Einheit der Geschicklichkeit des Seins und der Geschichtlichkeit des Menschen ein. Nachdem er in der Einleitung zur zweiten Hälfte der Vorlesung betont hat, daß es darauf ankomme, das Wesen der Halbgötter zu denken, bestimmt er ihr Sein als "Schiksaal", wobei er sich auf die Verse neun bis elf der RheinHymne beruft: "I ... ] so Vernahm ich ohne Vermuthen Ein Schiksaal, [ ... ]" (V. 9-11)

Das Schicksal, das der Dichter unvermutet schauen darf, ist das des Rheins, welcher in Vers 31 "der Halbgott" genannt wird. Daraus folgert Heidegger, daß das Wort "Schiksaal" der Name für das Sein der Halbgötter sei. "Was da Schicksal heißt, das ist dichterisch im Durchdenken des Seyns der Halbgötter zu sagen [ ... ]. "130 Erst vom Wesen des Schiksals her, welches im Rhein gedacht werde, könne dann nach dem Sein der Götter und der Menschen gefragt werden. "Gedacht ist mit Schicksal das Seyn der Halbgötter - ein übermenschliches und zugleich untergöttliches Seyn, so zwar, daß gerade das Menschsein und das Gottsein je in ihrer Weise diesem Sein als Schicksal entsprechen, d.h. einje eigenes Verhältnis zu ihm haben."I3I

In den darauf folgenden Ausführungen deutet Heidegger dann an, daß das zu denkende "übermenschliche" Sein dasjenige Sein ist, welches einem Menschen zukommt, der "nicht einfach nur eben so Mensch ist" ,132 sondern dem das Erleiden des ihm vom Sein selbst zugeschickten Schicksals zum Ursprung der Leidenschaft für das Schickliche wird. "Erst in solchem Leiden ergreift uns ein Schicksal, das nie nur vorhandenes ist, sondern Schickung, d.h. uns geschickt, so zwar, daß es uns unserer Bestimmung entgegenschickt, gesetzt, daß wir selbst uns darein wahrhaft schicken und um das Schickliche wissen und wissend es wollen. "133

"" GA 39, 173. '" GA 39,174. 132

GA 39, 175.

m

GA 39, 176.

262

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage

Durch die in der Vorlesung vom Wintersemester 1934/35 vorgetragene Interpretation der Hymne hofft Heidegger auch uns zur denkenden Erfahrung des Seins, welches als Schicksal geschieht, zu führen, um dadurch den Wandel unseres Seins zur Eigentlichkeit zu begründen. Während Heidegger die Eigentlichkeit unseres Seins in "Sein und Zeit" als Entschlossenheit bestimmt, deutet er sie an der oben zitierten Stelle der Vorlesung vom Wintersemester 1934/35 als Leidenschaftlichkeit. Denn nun denkt er auch die Eigentlichkeit des Daseins vom Sein selbst her. Das Wort "Leidenschaft" soll andeuten, daß Sein erlitten wird, und daß das Erleiden des Seins der Ursprung der Leidenschaft, d.h. der existenziellen "Sorge" für das Sein, ist. Im Halbgott wird so anschaulich, wer wir sein könnten, würden wir die Auslegung unseres Seins von der Subjektivität her überwinden und unser Sein als das uns vom Sein selbst zugeschickte Geschick betrachten. Dazu ist die Erfahrung der Kehre, d.h. die Einsicht in "das Wesen des Seins selbst als das in sich gegenschwingende Ereignis"l34, unabdingbar. Denn in ihr erkennen wir erst, daß unsere Entwürfe unserer Geworfenheit entspringen, welche ihrerseits vom Sein selbst erworfen ist. Darum erinnert Heidegger denn auch im Kontext der skizzierten Auslegung der ersten Strophe der Rhein-Hymne an das Verhältnis der Entsprechung des Entwurfs zu der Geworfenheit. ·Unser Sein ist solches, darein wir [ ... ] geworfen sind, ohne die Wurtbahn zu kennen und ohne daß wir zumeist und zunächst diese Geworfenheit eigens in unser Dasein übernehmen [ ... ]. Aber so oder so müssen wir das Sein, dem wir überantwortet sind, verantworten. Das sagt: Unser Sein ist nicht nur Gewotjenheit, es ist zugleich Entwutj, [ ... ] .• 135

Der Entwurf eröffnet die "Wurfbahn der Geworfenheit" als das uns überantwortete und von uns zu verantwortende Sein. Und indem wir unser Sein derart in Entsprechung zu unserer eigenen Geworfenheit entwerfen, begründen wir unser Dasein, welches geschichtliches, schicksalhaftes Dasein ist. Mit dem eigentlichen Sein der Halbgötter konfrontiert Heidegger gegen Ende der Vorlesung das uneigentliche Sein derer, die aufgehen in dem, was "man" für schicklich hält, anstatt offen zu sein für das Schicksal, das ihnen und nur ihnen zugeschickt ist. Sie würden in Strophe elf als "Söhne der Erde" angesprochen. Ihnen werde in Vers 164 das Epitheton "sorglosarrn" zugeordnet. Das Adjektiv legt Heidegger dann von der Sorge-Struktur des Daseins her aus. "Sein und Zeit" zufolge ist mit dem Sein des Daseins, der Sorge, die Tendenz verbunden, sich gerade nicht um das eigene Sein zu sorgen. Diese Tendenz wird in den Hölderlin-Vorlesungen dafür verantwortlich gemacht, daß

1" GA 65, 261. 13>

GA 39, 175.

2. Der seinsgeschichtliche Entwurf zukünftigen Menschseins

263

das Dasein sich die Frage nach der eigenen geschichtlichen Bestimmung gewöhnlich gar nicht stellt, sondern sich nur auf die Möglichkeiten verlegt, die "man" für das Schickliche hält. In der Auslegung der Hymne "Der Rhein" charakterisiert Heidegger diese Tendenz als "Flucht in die Sorglosigkeit" .136 Noch ehe Heidegger im Ausgang von Strophe elf der Rhein-Hymne das Sein des Halbgottes von dem Sein derer, die "einfach nur eben so Mensch" sind, abhebt, macht er anhand der zehnten Strophe, die in Vers 149 mit der Frage nach dem Namen des "Fremden" endet, auf einen anderen Modus des Daseins aufmerksam. In dem genannten Vers werde das Sein des Seienden entworfen, dessen Wesen "der ständige, ungebrochene Einklang mit den Göttern und dem Seyn überhaupt - der Natur" sei, I37 was den Gedanken an Rousseau nahelege. Von "Sein und Zeit" sowie der Vorlesung "Metaphysische Anfangsgründe der Logik" her wird man sagen dürfen, daß Heidegger hiermit an das mythische Dasein erinnert, welches dadurch bestimmt ist, daß es vom Sein des Seienden im Ganzen benommen ist. Die Benommenheit kann nur aufgehoben werden durch die Entfremdung von der Natur, die Heidegger in der HölderlinVorlesung von 1934/35 auch als "Aufstand" gegen die Götter begreift. 138 Die anfängliche Ent-fernung oder Befreiung von der Natur ist der Ursprung der Sprache, jenes Ereignis, in dem der Mensch erstmals "Ich" zu sagen wagt. Heidegger sieht die eigentliche Existenz, in der der Mensch sein Sein eigens als geschichtliches Selbst entwirft, demnach durch zwei Modifikationen uneigentlichen Daseins bedroht, zum einen dadurch, daß die Ferne, die den Menschen als geschichtliches Selbst von der Natur trennt, gar nicht erst erfahren wird, und zum anderen durch das Aufgehen in jenem Sein, das durch die Sprache, die "man" spricht, schon gedeutet ist. I39 Der Halbgott verharrt weder sprachlos in der ungebrochenen Einigkeit mit dem Ganzen des Seins, noch geht er auf in der Totalität, welche die Sprache, die "man" spricht, begründet. Er ergreift sein Sein als er selbst, wissend, daß er sich darin in das ihm von Anfang an bestimmte Geschick fügt. Und die Tatsache, daß der Halbgott sich dem Schicksal fügt, welches ihm zugeschickt

'16 Die Tendenz zur Uneigentlichkeit wird in SuZ §§ 26f., 35-38, anhand der" Alltäglichkeit" thematisiert. Dazu merkt Heidegger 1934/35 an: "Die Alltäglichkeit ist eigentlich Sorg-Iosigkeit, indem sie die Sorge nur in das Be-sorgen und die Für-sorge hinausverlegt und so in ihrem Wesen verbirgt." (GA 39,281) 137

GA 39, 278.

UI

GA 39, 66.

'39 Auffällig ist hierbei die Analogie zu Hölderlins Konzeption der exzentrischen Bahn, nach der das Sein des Menschen durch die "reine Einfalt" einerseits und die "vollendete Bildung" andererseits dem Wesen nach begrenzt ist.

264

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage

ist, führt Heidegger zufolge dazu, daß die Betrachtung des Rheins einmündet in die Einsicht: "Ein Räthsel ist Reinentsprungenes. " (V. 46) Der Bezug des Rheins zum Ursprung wird dem Dichter zur Frage. Von ihm handeln die folgenden Strophen. Nach der vorgreifenden Erörterung des Seins des Halbgottes entfaltet Heidegger dessen Geschick näher im Durchgang durch die einzelnen Strophen der Hymne. Dabei gelingt es ihm, über die formale Betrachtung schicksalhaften Seins hinaus ein bestimmtes Geschick zu veranschaulichen: das Geschick derer, für die es Heimkunft nur noch durch Umkehr vom Seienden zum Sein selbst geben kann. Die Vorlesung vom Wintersemester 1934/35 stellt insofern auch einen frühen Beleg des Wandels vom systematischen zum geschichtlichen Denken Heideggers dar. Der Grundgedanke der Interpretation des Schicksals des Rheins wird schon in der Auslegung der ersten Strophe angedeutet. Dort wird das "Alpengebirge" geschildert. Unter Bezug auf die Verse sieben bis neun "Und Alpengebirg der Schweiz auch überschattet Benachbartes dich; denn nah dem Herde des Hauses Wohnst du, [ ... ]"

und siebzehn bis neunzehn "[ ... ] Darum ist Dir angeboren die Treue. Schwer verläßt, Was nahe dem Ursprung wohnet, den Ort."

des Gedichts "Die Wanderung"l40 identifiziert Heidegger die Nähe des AIpengebirges mit der "Nähe des Ursprungs", die er als Nähe zur "Wesentlichkeit des Seyns" auslegt, und behauptet, der in dem Gesang "Die Wanderung" entfaltete Ursprungsgedanke komme auch in der Hymne "Der Rhein" zur Sprache. 141 Denn in ihr werde Vers 46 zufolge das Wesen des "Reinentsprungenen " gedacht. Es handele sich dabei um das Sein des Seienden, welches durch die Nähe des Ursprungs, der Wesentlichkeit des Seins, bestimmt sei. Und nur solches Sein könne Schicksal genannt werden. Uns, die wir wieder in die Nähe des Seins zu finden hoffen, sei es aufgegeben, das Geschick des Rheins, d.h. dessen Bezug zum Ursprung, zu bedenken. Unter besonderer Berücksichtigung des "Humanismus-Briefes" ist es Kettering gelungen, zu belegen, daß in dem Wort "Nähe" der Grundgedanke des in "Sein und Zeit" erstmals und in den 30er Jahren nochmals gewandelt begon-

140

StA 11 I, 138.

\41

GA 39, 191.

2. Der seinsgeschichtliche Entwurf zukünftigen Menschseins

265

nenen Seinsdenkens Heideggers zur Sprache komt. 142 Denn es nennt sowohl den Bezug des Seins zum Menschen als auch den Bezug des Menschen zum Sein. Dabei zeigt Heideggers Verwendung des Worts "Nähe" im "Humanismus-Brief" nicht nur die Einheit der beiden Bezüge an, sondern macht deutlich, daß der Mensch dem Sein deshalb nahe ist, weil das Sein selbst ihn in die Nähe zu sich versetzt. Das Sein selbst ereignet die Nähe, und zwar indem es sich als Nähe, als Zuwendung zum Menschen, ereignet. Zum anderen unterscheidet sich die Verwendung des Wortes im "Humanismus-Brief" insofern von der in "Sein und Zeit", als die Erfahrung von Nähe in ihm an die geschehene und geschehende Geschichte gebunden wird, worin wiederum die Vergeschichtlichung des Denkens Heideggers in der Kehre deutlich wird. Im "Humanismus-Brief" vertritt Heidegger nämlich die These, für uns komme es darauf an, wieder in die Nähe des Seins zu finden. Sie werde in der Rede über Hölderlins Elegie "Heimkunft" die "Heimat" genannt, wobei die Auslegung der Nähe als der "Heimat" aus der Erfahrung der Seinsvergessenheit heraus erfolge. 143 In dem genannten Vortrag wird die "Heimkunft" als "Rückkehr in die Nähe zum Ursprung" gedeutet. l44 In der hier zu behandelnden Rhein-Hymne wiederum wird deutlich, daß die "Nähe zum Ursprung" das Schicksal des Rheins bestimmt. Man darf daher vermuten, daß Heidegger an ihm aufdecken wird, was es für uns bedeutet, die Seinsvergessenheit des Denkens zu überwinden und wieder in die Nähe des Seins zu finden. Heidegger geht ausführlich auf den Bezug des "Reinentsprungenen " zum Ursprung ein. Vers 48 der Hymne zitierend, "Wie du anfiengst, wirst du bleiben," betont er, der Ursprung bestimme das Geschick des Entsprungenen, indem er ihm als der Anfang in einem zumal das Ende vorgebe. "Der Anfang überspringt das Entsprungene, und vorspringend überdauert er das Bleibende, umfängt dieses von seinem Ende her und wird ihm so zugleich Ziel" .145 Demnach ist die Geschichte des Rheins als des "Reinentsprungenen " teleologisch verfaßt, und zwar derart, daß ihr Anfang in einem zumal auch ihr Telos ist. Darum kann der Rhein nur dadurch in das Eigene gelangen, daß jenem Strömen, welches ihn vom Ursprung wegführt, ein Streben widerstreitet,

'.2 Keuering,

1987.

,., GA 9, 337f. ,.. EHD 23. w GA 39, 247. Vgl. auch GA 39, 241: "Der reine Ursprung ist nicht jener, der einfach anderes aus sich entläßt und es ihm selbst überläßt, sondern jener Anfang, dessen Macht ständig das Entsprungene überspringt, ihm vorspringend es überdauert und so in der Griindung des Bleibenden gegenwärtig ist; gegenwärtig nicht als das von friiher her nur Nachwirkende, sondern als das Vorausspringende, das somit als Anfang zugleich das bestimmende Ende, d.h. eigentlich Ziel ist."

266

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage

welches ihn im ständigen Bezug zum Urspung begründet, was, folgt man der Auslegung Heideggers, im Bruch der Stromrichtung zur Sprache kommt. l46 "Das Reinentsprungen muß umwillen seines En/sprnngenseins den Ursprung wollen. Dieser Wille wird zum Gegenwillen gegen die Ursprungsmächte, die die Bestimmung des Entsprungenseins wollen .• 147

Der Ursprung kann nur im Entsprungenen in das Eigene gelangen. Nur dort wird der Ursprung zum Grund der Geschichte. Darum wollen die "Mächte des Ursprungs" den Rhein als Entsprungenen. Der Reinentsprungene, der Halbgott, dagegen erstrebt die Einkehr in den eigenen Ursprung. Denn nur von ihm her kann er das eigene Geschick begreifen. Geschichte stellt sich darum dar als strittige Einheit zweier Strebetendenzen. Vom Ursprung her gedacht, ist die Grundtendenz der Geschichte die immer weitere und umfassendere Entfaltung des im Ursprung Eröffneten. Vom Entsprungenen her betrachtet, ist in der Geschichte die Tendenz zur Rückkehr in den Ursprung auszumachen. Heidegger stellt somit die "Trieblehre" Hölderlins, die wir in Kapitel A. III, 5 b) zur Interpretation der Rhein-Hymne heranzogen, in einen geschichtsphilosophischen Kontext ein. "Der Rhein" wird ihm dadurch zur Dichtung eines Menschentums, dessen Geschick es sein wird, daß es nur im Durchgang durch einen Bruch in der eigenen Geschichte in das Eigene gelangen kann. Gegen Ende der Vorlesung vom Wintersemester 1934/35 wird Heidegger dann andeuten, daß das Ziel der Geschichte des "Reinentsprungenen", d.h. das Ziel unserer Geschichte, die Rückkehr zum Ursprung ist, jene Rückkehr in die Nähe des Seins, welche für uns identisch ist mit der Einkehr in den ersten Anfang unserer Geschichte. Zuvor aber gibt er eine Einführung in das Wesen des Ursprungs, in der das Wesensgeschehen des Seins wiederum strukturell betrachtet wird, wobei es zur Aufdeckung der Dimensionen des Ereignisses kommt.

3. Zur seinsgeschichtlichen Entfaltung des Gottesgedankens a) Der Ansatz der seinsgeschichtlichen Entfaltung des Gottesgedankens Heideggers Auslegung der Hymne "Der Rhein" zufolge wird in den Strophen zwei bis neun das Wesen des Ursprungs betrachtet. Sowohl das Ursprungsgeschehen selbst als auch die Entfaltung des Ursprungs im Entsprungenen werde in den betreffenden Strophen der Hymne bedacht. In ihnen komme der "gefesselte Ursprung in seinem Entspringen als dem Entsprungenen" zur

'46 GA 39, 204, 233. 147

GA 39, 267.

3. Zur seinsgeschichtlichen Entfaltung des Gottesgedankens

267

Sprache. l48 Insbesondere Strophe zwei handele vom Ursprung als solchem. In ihr würden die "Eltern" des Halbgottes, die "Mutter Erd'" und der "Donnerer" , Zeus, genannt. An sie erinnerten auch folgende Verse der vierten Strophe: "[ ... ] das meiste nemlich Vermag die Geburt, Und der Lichtstral, der Dem Neugebornen begegnet."

01

50-53)

Dazu führt Heidegger aus: "Geburt meint hier die Herkunft aus dem verschlossenen Dunkel des Schoßes, die 'Mutter Erd'" .149 In ihr werde die eine "Macht des Ursprungs" genannt. Die andere sei der "Lichtstral", der "Bliz", in dem das Göttliche offenbar werde. Zur Deutung der sogenannten "Mächte des Ursprungs", "Erde" und "Donnerer" , "Geburt" und "Lichtstrahl", müssen wir unseren Ausführungen zur "Urfuge des Seins" vorgreifen. Es wird im einzelnen noch zu belegen sein, daß das Entspringen des Ursprungs, das Offenbarungsgeschehen des Seins, als Zerklüftung des Seins oder als Fügung des einen Seins zur Fuge von Erde und Welt zu denken ist. "Welt" nennt Heidegger den offenen Kontext, in dem sich dem Dasein das eigene geschichtliche Sein und mit ihm das des Seienden im Ganzen eröffnet. Die Öffnung von Sein als Welt, welche im geworfenen Weltentwurf des Daseins geschieht, legt Heidegger aus als Gestaltwerdung von Welt. Denn indem Sein offenbar wird und uns auf sich hin eröffnet, erlangt es für uns eine bestimmte, epochale Gestalt. Man wird von daher kaum umhin können, in Heideggers Auslegung der Öffnung von Sein als des Ereignisses, in welchem das ehedem Unbestimmte zur Bestimmtheit einer Gestalt findet, einen Nachklang des von der Metaphysik her bekannten Gedankens der Formalität allen Seins zu erkennen. Gleiches gilt auch für Heideggers Auslegung der "Erde". Sein entbirgt sich dem Dasein aus jener Verborgenheit heraus, die "älter" ist als die Entborgenheit, "älter" auch als die Entbergung von Sein, und die in keiner Entbergung ganz aufgehoben wird, sondern als das erhalten bleibt, von woher Entbergung immer wieder anfänglich geschehen kann. ISO Das Wort "Erde", welches das Ganze der Natur und ihres Machtens nennt, durch das dem Menschen die Zeiten und Räume des Daseins vorgegeben sind, zeigt zum einen diese Dimension der Herkunft des Weltentwurfs an. Derart erinnert es an die metaphysische Interpretation der Materialität als des Woraus und Woher des Geformten. Das gilt auch für die Verendlichung von Sein, die

148

GA 39, 202.

14. GA 39, 242. "0 Vgl. GA 9, 193f.

268

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage

geschieht, sobald die Offenheit von Sein, die Welt, geborgen wird in das offenbare Seiende. Auch sie verbindet Heidegger mit der Erde, welche als die Verbergende die Entbergung, die auf sie gegründet und von ihr getragen wird, begrenzt. Anders als die metaphysische Konzeption der Materialität ist Heideggers Aufdeckung der Erde aber nicht nur auf eine Deutung des Seins des Seienden, sondern auf das Sein selbst bezogen. Sein selbst west als Erde, d.h. als verborgenes Woher und bergendes Worin der eigenen Offenbarkeit. Heidegger zufolge ist es "der Lichtstral, der! Dem Neugebornen begegnet" (V. 52f.), in dem die Gestaltwerdung des Seins anhebt. In den Texten Heideggers finden sich nur wenige Andeutungen, die eine eingehende Interpretation der Dichtung des "Blizes Gottes" durch das vom Wesen des Seins betroffene Denken erlauben, obwohl Heidegger nach der Kehre offenbar davon ausgeht, daß der Gottesgedanke derart mit dem Denken des Seins verbunden ist, daß er nicht ausgeklammert werden kann. Anders ist kaum zu erklären, daß er nach 1930 ständig von "dem Gott" oder "den Göttern" spricht. In welchem Verhältnis stehen also das Denken des Seins und seiner Geschichte zu dem Denken "der Götter" und "des Gottes". Aus den "Beiträgen zur Philosophie?" ist zu entnehmen, daß die Kehre qua Einkehr in das Denken des Ereignisses verbunden ist mit der Erfahrung, daß das Ereignis sich nur ereignen kann als Übereignung des Gottes an den Menschen und Zueignung des Menschen zu dem Gott. 151 Das bedeutet: Sofern Sein sich überhaupt eröffnet, öffnen sich in ihm auch die Dimensionen göttlichen und menschlichen Seins. Obwohl Heidegger somit nach der Kehre die Eröffnung der Dimension, von der her Göttliches als solches erfahren werden kann, als einen konstitutiven Aspekt der Eröffnung von Sein überhaupt betrachtet, bleibt es doch bei einer fonnalen Betrachtung des Göttlichen. Die Frage, wer der Gott oder die Götter sind, wird inhaltlich nicht beantwortet. Eine Antwort auf sie könnte auch nur in eins mit der Beantwortung der Frage, wer wir sind, gegeben werden. Denn das Sein der Götter und unsere Geschichte sind vom Ereignis her gedacht eins. Der Gott oder die Götter sind nur, insofern sie uns übereignet und wir ihnen zugeeignet sind. Als unsere Götter haben auch sie ihre Geschichte - eine Geschichte, die nur in Entsprechung zu unserer Geschichte gedacht werden kann. Und solange die Frage, wer wir sind, noch offen ist, muß nach Heideggers Ansicht auch offen bleiben, was der Name "Gott" bedeutet. Insofern gilt die frühe Weigerung Heideggers, das Wort "Gott" im Denken allzu unbedarft zu gebrauchen, durchaus auch für seine späten Texte. Dennoch können wir nun, da wir die Kehre im Wesen des Seins bedacht haben, deutlicher erkennen, warum das Denken, welches Sein als Ereignis erfahren hat, auch genötigt ist, "den Gott" zu denken. Dabei wird sich auch unsere These bestätigen, daß die

'" Vgl. GA 65, 280.

3. Zur seinsgeschichtlichen Entfaltung des Gottesgedankens

269

ursprüngliche Erfahrung des Göttlichen eingebunden ist in die ursprüngliche Erfahrung von Natur, der Erfahrung von Natur als einem übermächtigen Machten. Rekapitulieren wir dazu nochmals kurz, welchen Zugang zum Gottesgedanken Heidegger in den Vorlesungen und Abhandlungen der späten 20er Jahre eröffnet. Die in einer Anmerkung zur Vorlesung "Metaphysische Anfangsgründe der Logik"152 sowie einer Marginalie zur Abhandlung "Vom Wesen des Grunoes"153 angeführte These, die Aufdeckung der Transzendenz des Daseins sei das Fundament, von dem aus nach dem Gottesverhältnis des Menschen gefragt werden könne, wobei in einem ersten Schritt die Offenbarkeit von Sein qua Übermächtigkeit oder Heiligkeit aus der Transzendenz heraus begründet werden müsse, findet gewandelt Eingang auch in das späte Denken Heideggers. In der ersten Hälfte der 30er Jahre gelingt Heidegger der "Schritt zurück" von der Transzendenz des Daseins in das Ereignis des Seins, der dann zur Überwindung des Gedankens der Transzendenz führt. Entsprechend eröffnet Heidegger den Zugang zum Gottesgedanken in den Schriften, die nach 1930 entstandenen sind, nicht mehr von der Transzendenz des Daseins, sondern vom Wesensgeschehen des Seins her. Er hält aber daran fest, daß die Erfahrung des Heiligen, die ihrerseits in der Erfahrung des Seins selbst ihren Ursprung hat, den Grund darstellt, von dem aus dann nach dem Gott gefragt werden kann. Nur wenn Sein sich uns als das Heilige offenbart, kann es sein, daß uns Göttliches übereignet oder wir einem Gott zugeeignet werden. "Erst aus der Wahrheit des Seins läßt sich das Wesen des Heiligen denken. Erst aus dem Wesen des Heiligen ist das Wesen von Gottheit zu denken. Erst im Lichte des Wesens von Gottheit kann gedacht und gesagt werden, was das Wort 'Gott' nennen soll. "154

Inwiefern die Auslegung des Seins des Daseins als Transzendenz die Erfahrung des Seins qua Übermächtigkeit oder Heiligkeit ermöglicht, wurde an anderer Stelle ausführlich dargelegt. Als das transzendierende Seiende ist das Dasein immer schon auf Sein überhaupt hin eröffnet. Es ist eingesetzt in die Offenheit von Sein, die sich ihm in der Geworfenheit als zu entfaltende eröffnet. Dergestalt ist das Dasein dem Sein ausgesetzt, so daß es ständig von dem Sein des Seienden, in welches es geworfen ist, durchstimmt und bestimmt wird. Das wiederum macht ihm deutlich, daß es das Sein nie auf eine eigenmächtige Setzung reduzieren kann, sondern als das Übermächtige anzuerkennen hat. Die Einsicht in die Übermacht des Seins bahnt den Weg zu der

I>2

GA 26, 211, Anm. 3.

m

GA 9, 159, Anm. 56.

,,. GA 9, 351.

270

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage

Erfahrung, daß das Dasein vom Sein selbst zum eigenen Sein ermächtigt ist. Diese Ermächtigung legt Heidegger in den 30er Jahren aus als Ereignung des Daseins durch das Sein. Die Einsicht, daß das Sein des Daseins als "Ausgesetztheit in die Übennacht des Seyns"155 geschieht, zu der Heidegger in der Erörterung mythischen Daseins einerseits und der Konfrontation mit der Dichtung Hölderlins andererseits gelangt, erklärt, warum Heidegger in den späten Texten öfter von dem Heiligen sprechen kann als das vor der Kehre noch der Fall war. Daß die Erfahrung des Seins als des Heiligen mit der Gotteserfahrung nicht einfachhin identisch ist, betont Heidegger nicht nur in seinen frühen Anmerkungen zur Gottesfrage, 156 sondern auch an der zitierten Stelle aus dem "Humanismus-Brief" .157 Es gilt daher, den Bezug der Offenbarkeit des Heiligen zu' jener Erfahrung, in der "Gott ins Denken einfällt", genauer zu klären. Im Kontext der Fundamentalontologie nimmt Heidegger die Interpretation des Seins qua Heiligkeit vor unter Bezugnahme auf Cassirers Phänomenologie des mythischen Daseins. Wie an anderer Stelle ausführlich dargelegt wurde, ist dessen Bezug zur Offenheit des Seins primär durch die Geworfenheit bestimmt. Darum wird es vom Sein als dem Heiligen übermachtet, und zwar derart, daß es am Anfang ganz benommen ist durch das Sein. Und wir erwähnten, daß Heidegger - dem idealistischen Geschichtsdenken durchaus verbunden annimmt, die Geschichte, in welcher der Mensch in das Eigene gelangt, hebe an in der Aufhebung der Benommenheit durch die mythisch gedeutete Natur, einem Geschehen ursprünglicher Ent-fremdung. Im Bezug auf die Frage nach dem Gottesgedanken ist zu beachten, daß die Aufhebung der Benommenheit Heidegger zufolge nur dadurch geschehen kann, daß der Mensch das eigene Sein entwirft als das, worumwillen er ist. Unter Berufung auf die in "Vom Wesen des Grundes" dargelegte Interpretation des orym'J6" als des e"eKa, des Umwillens, auf welches hin Transzendenz geschieht, äußerten wir die Vermutung, das der Entwurf des Umwillens als Eröffnung der Dimension göttlichen Seins betrachtet werden muß. Man könnte also sagen, daß dem Dasein gerade dann, wenn es ihm um das eigene Sein und um die eigene Geschichte geht, Göttliches zu denken einfällt.

ov

Im Kontext der oben erwähnten Vermutung, für Heidegger sei die Eröffnung der Dimension des Göttlichen in der Offenheit von Sein überhaupt an den

'" GA 39, 31.

,>6 GA 9, 159, Anm. 56; GA 26,211, Anm. 3. '" GA 9,351.

3. Zur seinsgeschichtlichen Entfaltung des Gottesgedankens

271

Entwurf des Umwillens gebunden, wurde uns das Grundproblem der Ausarbeitung der Seinsfrage im Ausgang von der Transzendenz des Daseins nochmals deutlich. Wird die Zeitigung der Transzendenz vom Entwurf her gedacht und der Entwurf überdies analog zur Setzung gedeutet, muß es den Anschein haben, als sei der Entwurf des Umwillens die "Ursetzung" des Subjekts. Daraus wiederum wäre zu folgern, daß auch das Göttliche nur subjektive Setzung sei. Das aber widerspricht der Intention Heideggers. Denn schon aus "Sein und Zeit" geht eindeutig hervor, daß Entwurf und Geworfenheit eine Einheit bilden, die man nicht aufheben kann, da auch die Einheit der ekstatischen Zeitlichkeit nicht aufzuheben ist. Von daher ist davon ausgehen, daß das Dasein auch das eigene Umwillen nur entwerfen kann, da es als geworfenes schon auf das hin eröffnet ist, worum es ihm geht. Im Bezug auf den Gottesgedanken bedeutet dies, daß wir Göttliches nur erstreben können, da es uns schon als zu Erstrebendes offenbar geworden ist. Das im vorangegangenen Abschnitt nochmals auf die Gottesfrage hin exponierte Grundproblem der fundamentalontologischen Ausarbeitung der Seinsfrage wird um 1930 überwunden. Der Gang der Kehre führt dazu, daß die Eröffnung von Sein und in ihr die des Göttlichen nicht nur durch den Entwurf des Daseins, sondern - ursprünglicher noch - durch den Wurf des sich zuwerfenden Seins ereignet gedacht wird. Sein wirft sich dem Dasein zu; es "fällt" dem Denken zu . Und in eins mit dem "Zu-fall" 158 des Seins " fäll t" auch "Gott ins Denken ein". Denn indem Sein sich in der Endlichkeit des Daseins eröffnet, verendlicht es sich selbst zu jenem Anspruch, den das Dasein nur als göttlichen Anspruch erfahren kann, da er es ist, der die Grundbewegung der Eksistenz, das Sich-vorweg-sein als Aussein auf das, worum es geht, begründet. Dadurch, daß Heidegger in und nach der Kehre auch den Einfall Gottes vom" Zu-fall" des Seins her deutet, überwindet er die Subjektivierung des Gottesgedankens, die man ihm in Anbetracht der frühen Texte noch vorwerfen könnte, wobei ein solcher Vorwurf allerdings in das Ganze der subjektivitätsphilosophischen Fehlinterpretation der fundamentalontologischen Ausarbeitung der Seins frage einzuordnen wäre. b) Der Anspruch der Götter und die Sprache des Menschen Mehrere Stellen aus den Hölderlin-Interpretationen Heideggers bestätigen unsere These, daß sich dem Dasein im Göttlichen das offenbart, von dem als dem h€KO/ her sich dem Dasein das Ganze des Seienden fügt. So führt Heidegger in der Vorlesung vom Wintersemester 1934/35 aus, Sein spreche sich dem

ou

'" Vgl. GA 65, 22.

272

B. N. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage

Dasein als Stimmung zu, um dann von ihm als "Welt" ausgesprochen zu werden. "Die Sprache selbst hat ihren Ursprung im Schweigen. Erst muß in diesem dergleichen wie 'Seyn' sich gesammelt haben, um dann als 'Welt' hinausgesprochen zu werden. Jenes vorweltliche Schweigen ist mächtiger als alle menschlichen Mächte. Kein Mensch für sich hat je Sprache erfunden, d.h. war für sich stark genug, die Gewalt jenes Schweigens zu brechen, es sei denn unter dem Zwang des Gottes. "159

Auch in dem Vortrag zu der Hymne "Wie wenn am Feiertage ... " betont Heidegger, daß die Offenbarung des Seins, die der Dichter im Tagen der Natur zur Sprache bringe, dem Schweigen entspringe. In der gebotenen Stille erwarte der Dichter die Ankunft des Heiligen. Doch das Schweigen müsse gebrochen werden, und dazu bedürfe es des Blitzes Gottes. "Die in der Seele des Dichters still gehegte Glut des Lichten bedarf der Entzündung. Stark genug dazu ist nur ein Lichtstrahl, der wieder vom Heiligen selbst entsandt wird. Also muß ein Höherer, der dem Heiligen näher und gleichwohl stets noch unter ihm ist, ein Gott, den Blitz der Entzündung in die Seele des Dichters werfen." 100

Von dem "Lichtstrahl" spicht auch die Hymne "Der Rhein". Er wird von Heidegger als die eine "Macht des Ursprungs" gedacht, der die "Geburt" aus dem Dunkel der "Mutter Erd'" widerstreite. 161 Unter Berufung auf Hölderlins Brief an Böhlendorffvom 4. Dezember 1801 führt Heidegger aus: "Der Lichtstrahl ist der Blitz. Donner, Blitz, Gewitter ist für Hölderlinjenes, worin nicht nur ein Göttliches sich meldet, sondern worin das Wesen des Gottes sich offenbart. "162 Das Sein Gottes wird deutlich im Blitz. Denn Gott ist, indem er aufstrahlt und durch den Strahl des eigenen Seins das Seiende im Ganzen lichtet. Dazu merkt Heidegger an: "Im Lichtstrahl empfängt das Entspringende die Möglichkeit des Lichtblickes, d.h. jenen Wesensblick, in dem die Überfülle eines großen Wollens der Gestaltwerdung entgegendrängt. "163 Der Lichtblick ist demnach der "Wesensblick" . Das Wort "Wesensblick" ist ein Synonym für "Wesensschau" . Von ihr her ist der Gottesgedanke Heideggers zu erörten.

I'" GA 39,218. 160

EHD 68.

161

Vgl. GA 39, 242.

162

GA 39, 242, vgl. StA VI I, 427.

163

GA 39, 243.

3. Zur seinsgeschichtlichen Entfaltung des Gottesgedankens

273

Zur "Wesensschau" merkt Heidegger schon in "Sein und Zeit" an, sie müsse von der Seinsstruktur des Daseins her gedacht werden. l64 Eine Erörterung des "Wesensblicks" nimmt er aber erst in der Vorlesung vom Wintersemester 1931132, die den Titel "Vom Wesen der Wahrheit" trägt, vor. Sie enthält eine Auslegung des platonischen Höhlengleichnisses. Die Grundgedanken der Interpretation dürften aus der Abhandlung "Platons Lehre von der Wahrheit"165 bekannt sein. Für unsere Frage nach Heideggers Konzeption des sogenannten "Wesensblicks" sind folgende Überlegungen entscheidend: Der platonische Mythos deutet die Einkehr des Menschen in das Eigene als Geschehen der Befreiung. Daraus folgert Heidegger, das Wesen des Menschen sei schon nach Platon die Freiheit. Heidegger erläutert, der Mensch kehre in das eigene Sein, die Freiheit, ein, indem er den Aufstieg ans Licht wage. Dieser gehe einher mit der Zuwendung zu den Ideen. Daraus ergebe sich die Frage, was denn das Wesen der Ideen mit dem des Lichtes gemein habe. l66 Heidegger erläutert, die Ideen selbst seien "das Lichtende". Denn von ihnen her werde Platon zufolge licht, was das Seiende eigentlich sei. Heidegger führt ferner aus, Platon interpretiere das Wesensgeschehen der Freiheit als ein Freiwerden für die Bindung an das Licht, welches das Ganze des Seienden lichtet: "Freiwerden heißt sich binden an das eigentlich Lichtende, [ ... ]. "167 Der Grundgedanke der Auslegung des Seins des Daseins, der Freiheit, als des Urgeschehens von Transzendenz ist darin unschwer wiederzuerkennen. Das Wesensgeschehen der Freiheit, welche das Dasein als Transzendenz zeitigt, ist das Ereignis der Bindung des Daseins an das Offene, das Sein, von dem her das Seiende als solches offenbar wird. 168 Sie entspringt dem ursprünglichen Entwurf des Umwillens. In ihm bindet das Dasein sich an das Sein als an das, worum es ihm geht. Er muß vor allem Verhalten zu Seiendem als Seiendem schon geschehen sein, da dem Dasein nur im Licht des Seins das Seiende als solches licht wird. Das Wesen der Freiheit nennt Heidegger in der Vorlesung vom Wintersemester 1931132 "den Lichtblick". "Das Wesen der Freiheit ist dabei, kurz gesagt, der Lichtblick: sich im voraus ein Licht aufgehen lassen und an das Licht sich bin-

'64 Vgl. SuZ 147: • Auch die phänomenologische 'Wesensschau' gründet im existenzialen Verstehen. Über diese Art des Sehens darf erst entschieden werden, wenn die expliziten Begriffe von Sein und Seinsstruktur gewonnen sind, als welche einzig Phänomene im phänomenologischen Sinne werden können."

,., GA 9, 203-238.

'66 GA 34, 52.

'.7 GA 34, 60. ,•• Vgl. dazu nochmals GA 9, 163f. 18 Bohlen

274

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage

den. "169 Der Lichtblick ist demnach der Entwurf des Seins, der vor aller Erfahrung des Seienden als solchem zu entwerfen ist. Heidegger macht in der Vorlesung vom Wintersemester 1931/32 darauf aufmerksam, daß bisher noch nie bedacht worden sei, daß es die Ideen als Anblicke nur geben könne, sofern sie erblickt würden, das Erblicken selbst aber aus dem Bezug zum Erblickten zu begreifen sei. "Das Ideenproblem kann nur neu gestellt werden, indem es aus der ursprünglichen bindenden Einheit des Erblickenden und Erblickten selbst gefaßt wird. "170 Als Einheit des Erblickenden und Erblickten enthüllt er sodann die Einheit von Entwurf und Entworfenem. Sein gibt es nur in dem Entwurf des Daseins. Insofern wird in der Wesensschau Sein er-schaut.I?1 Darin entspricht sie der wesenhaften Sprache, die im Nennen des Namens das Seiende zum Sein ernennt. Dajedoch der Entwurf nur aus der Geworfenheit heraus erfolgen kann, gehen das Erschauen des Wesens und das Nennen des Namens niemals nur von dem Schauenden oder Sprechenden aus. Das Erblicken des Seins des Seienden ist immer schon begründet durch das Sein, das offenbarwerdend das Dasein auf sich selbst und - in eins damit - auf das Seiende als solches hin eröffnet. 172 Nach Heidegger können wir also das Wesen des Seienden nur dadurch zur Sprache bringen, daß uns das Wesenhafte schon als solches angesprochen hat. "Der Bezug zum Wesenhaften, darin der geschichtliche Mensch frei wird, kann nur im Wesenhaften selbst den Ursprung haben", führt er in der Vorlesung vom Sommersemester 1941, die den Titel "Grundbegriffe" trägt, aus. I73 Heideggers Auslegung der Hymnen Hölderlins zufolge erinnert auch das Nennen der Götter an das "kehrige" Wesen des Seins, welches im Entwurf, durch den es "ist", als das den Entwurf Gründende offenbar wird. Denn das Maß, an dem die Wesenhaftigkeit des Seins alles Seienden zu messen ist, ist das Göttliche. Alle anderen Wesenheiten transzendierend (i:7rfKHPCX T~C; ouuiaC;) geht es uns an als das, von dem her und auf das hin uns das Ganze des Seienden gelichtet ist. Indem wir das Göttliche beim Namen nennen, sagen wir, was das Wort "Sein" uns überhaupt sagt. So bringen wir die uns zugeworfene Offenbarkeit des Seins selbst zur Sprache, und zwar als das Maß, von dem wir

'6' GA 34, 60. 170

GA 34, 7l.

171

Vgl. GA 34, 71; GA 45, 83, 94ff. u.Ö.

Heideggers Auslegung der Wesensschau kann daher im Gegensatz zu der Husserls nur vom Sein des Daseins, nicht von der Subjektivität des Subjekts her nachvollzogen werden. 172

173

GA 51, 6.

3. Zur seinsgeschichtlichen Entfaltung des Gottesgedankens

275

uns angesprochen erfahren, und das daher denn auch niemals unsere Setzung, unser "Gemächte " , sein kann. Indem der Dichter das Wesenhafte, das er schaut, als das Göttliche zu Wort bringt, bekennt er dementsprechend, daß er nur als der schon Angesprochene sprechen kann. "Aber die Götter können nur dann ins Wort kommen, wenn sie selbst uns ansprechen und unter ihren Anspruch stellen. Das Wort, das die Götter nennt, ist immer Antwort auf solchen Anspruch. Diese Antwort entspringt jeweils aus der Verantwortung eines Schicksals .• 174

Der Mensch gründet Geschichte, indem er sagt, was das Seiende für ihn bedeutet, und welches ihm als das Wesenhafte gilt. Dabei entspricht er in seinem Sprechen dem Anspruch, der vom Wesenhaften selbst ausgeht. Und, insofern das Wesenhafte als das Göttliche gedeutet werden kann, betont Heidegger, die Gründung von Geschichte könne nur geschehen, indem der Mensch "die Erde", d.h. das Ganze, in welches er geworfen ist, den Göttern entgegenhalte. 175 Demnach ist der Mensch nur Mensch, insofern er offen ist für das Göttliche. Und er ist nur wahrhaft frei, indem er sich in Freiheit an das Göttliche als an das, worumwillen er ist, bindet, - ein Gedanke, auf den hin Heidegger im "Humanismus-Brief" den Spruch Heraklits "~t}or:; Ctvt}PW7r'l! oaiJ.'wv" auslegt: "der Mensch wohnt, insofern er Mensch ist, in der Nähe Gottes. "176 Doch der Mensch bedarf nicht nur des Gottes; auch der Gott braucht den Menschen. Denn nur das Dasein, das als sterbliches das Nichts offenhält, von dem her Sein endlich offenbar wird, kann jenes Maß, welches im Gott aufscheint, in den Grund des eigenen geschichtlichen Daseins verwandeln und als solchen bewahren. Daran erinnern nach Heidegger folgende Verse aus der Hymne "Mnemosyne": "[ ... ) Nicht vermögen Die Himmlischen alles. Nemlich es reichen Die Sterblichen eh' an den Abgrund. [ ... )"177

Der Halbgott ist der, welcher zwischen den "sorglosen" Menschen, die dem Gewohnten verhaftet sind, und den Göttern, in denen das Ungewöhnliche erscheint, steht. Geworfen in die Nähe zur Wesenhaftigkeit des Seins, strebt er nach dem Wesentlichen als dem, wofür er "leidenschaftlich" einstehen kann. Derart stellt er sich hinein in jene Wurfbahn, die ihm vom Sein selbst her

18"

174

EHD 40.

17>

Vgl. GA 39, 105.

176

GA 9, 354f.

In

StA II 1, 193, V. 12ff; vgl. EHD 69, GA 39, 106.

276

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage

eröffnet ist. 178 In der Dichtung des Halbgottes stellt der Dichter sich so das eigene Sein vor Augen. Denn er selbst ist dazu berufen, das Wesenhafte zu nennen. Und Heideggers Interpretation zufolge kommt im Entwurf des halbgöttlichen Daseins, der dichterischen Existenz, außerdem zur Sprache, wer wir sein könnten, wären wir nicht immer noch der Metaphysik und ihrer Auslegung unseres Seins verhaftet. c) Die Geschichte: Spur des "letzten Gottes" Unsere Darlegungen zum Ursprungsgeschehen von Geschichte, dem Ereignis der Übereignung des Gottes an den Menschen und der Zueignung des Menschen zu dem Gott, ermöglichen es uns, in einem kurzen Exkurs auf Heideggers Ankündigung des "letzten Gottes" einzugehen. Denn Heideggers Entwurf des "letzten Gottes" kann nur im Durchgang durch die seins geschichtliehe Entfaltung der Seinsfrage erörtert werden, die in den "Beiträgen" erstmals in einem" Aufriß" Gestalt erlangt, der dem "Grundriß der Geschichtlichkeit des Übergangs selbst entnommen" ist. 179 Er umfaßt sechs Abschnitte, denen ein Abschnitt mit dem Titel "Vorblick" vorangestellt ist. Dabei handelt es sich nicht etwa um einleitende Bemerkungen, die man auch übergehen kann. Denn um die Stellung zu erlangen, von welcher der "Aufriß" der "Beiträge" durchsichtig wird, bedarf es eines ersten Durchblicks auf das Ganze, genauer gesagt: eines ersten Einblicks in die Geschichte als die geschichtliche Wesung des Seins. ISO Darin muß anfanglieh sichtbar werden, daß in der Not unserer Zeit das Sein selbst und dessen Geschichte anklingt, welchem Anklang nur ent-

178 Dem entspricht Heideggers Auslegung der Verse 38 bis 45 der Rhein-Hymne, GA 39, 206212. In ihnen wird von den Göttersöhnen behauptet, ihnen sei "Der Fehl, daß sie nicht wissen wohin?/ In die unerfahme Seele gegeben." Dagegen wisse der Mensch, wo er bauen solle. Das Nichtwissen der Göttersöhne begrundet Heidegger durch das Übermaß der ihnen vom Ursprung auferlegten Bestimmung. Die Deutung entspricht weitgehend der in der Hö1derlin-Forschung vertretenen Interpretation. Gegen Heideggers Auslegung der letzten Strophe der Ode "Dichterberur, die er zur Interpretation des Wortes "Fehl" bemüht, vgl. jedoch Schulz-Seitz, 78ff. 179

GA 65, 6. Zum Aufbau der "Beiträge" vgl. von Hernnann, 1991 a, 29-49.

180 Eine analoge Struktur weist Heideggers Interpretation der Hymne" Andenken" auf. In ihr wird unter Bezugnahme auf Beißner die These vertreten, die Schiffer würden dem Dichter eines Tages auf dem Gang an die Quelle folgen. Folgt man dem seinsgeschichtlichen Denken Heideggers, ist die Grundstellung des Dichters deshalb eine andere als die der Schiffer, weil der Dichter schon an dem Ort steht, von dem her die Ausfahrt der Schiffer in die Feme - seinsgeschichtlich gedacht: der Rückgang in die Geschichte - als Gang auf die Kehre zu begriffen werden kann. Wie zu belegen ist, grundet die Auslegung von" Andenken" weder in dem Duktus der Hymne, an der die These, die Schiffer seien die künftigen Dichter, keinen Anhalt findet, noch auch in der Interpretation Beißners. Ihre Notwendigkeit grundet rur Heidegger in der Einsicht in die Geschichte des Seins selbst.

3. Zur seinsgeschichtlichen Entfaltung des Gottesgedankens

277

sprochen werden kann durch den Rückgang in den ersten Anfang. Wird deutlich, daß er wiederholbar ist, da uns in ihm eine Möglichkeit, nach dem Sein zu fragen, übereignet wurde, die aber noch nicht eigens angeeignet ist, spielt sich uns der andere Anfang zu. Dann wird der Sprung in das Ereignis möglich, welches aufgrund der Kehre im Wesen des Seins nur geschehen kann im Einklang von Zuwurf und Gegenwurf, Schwung und Gegenschwung, Anspruch und Entsprechung; man kann auch sagen: als Übereignung Gottes an den Menschen und Zueignung des Menschen zu dem Gott. Darum folgen in den "Beiträgen" auf die Abschnitte "Der Anklang", "Das Zuspiel", "Der Sprung" und "Die Gründung" zwei Abschnitte, die den "Zukünftigen" einerseits und dem "letzten Gott" andererseits gewidmet sind, ehe in dem letzten Kapitel das Ganze nochmals gewandelt vorgetragen wird. Kann aufgrund der Skizze des Gedankengangs der "Beiträge" nun die Frage geklärt werden, wer "die Zukünftigen" sind? Und wer ist "der letzte Gott"? Im ersten Abschnitt der "Beiträge" werden die Zukünftigen bestimmt in Abgrenzung zu den "Späteren", "[ ... ] die nichts mehr vor sich und nichts mehr hinter sich haben." 181 Letztere verschließen sich davor, daß es gilt, das Vergangene als Gewesenes anzunehmen, welches in einen anderen Anfang hinein verwandelt werden kann. Als solche haben sie auch "nichts mehr vor sich" . Für sie geht die Zeit zwar immer weiter. Doch für sie gibt es jene Brüche in der Zeit nicht, in denen aus dem Gewesenen heraus Zukunft aufbricht. Anders die Zukünftigen; sie sind "[d]ie Widerständigen gegen den Stoß des Seyns" .182 Sie wissen darum, daß Sein sich in immer neuen und anderen Stößen ereignen kann. Denn sie sind von der Grundstimmung der Verhaltenheit bestimmt, durch die sie auf das An-sich-halten des Seins hin geöffnet sind. "Die Grundstimmung enthält das Zumutesein, das Gemüt des Mutes als des gestimmt-wissenden Willens des Ereignisses" .183 Indem sie das Ereignis in ihren Willen aufnehmen, akzeptieren sie unser Zeitalter als die Epoche des Untergangs, in der die Geschichte des ersten Anfangs zu Ende geht, und zwar derart, daß der Untergang zum Ursprung eines anderen Anfangs wird. Mit der Abkehr vom Gewesenen ist verbunden, daß die Zukünftigen frei werden von den "Götzen", jenen Göttern, von denen her sich uns das Seiende im Ganzen einst eröffnete, die aber nun nicht mehr die Macht haben, Sein offen zu halten. Und gerade darin werden sie frei für den kommenden Gott. 184

,8\ GA 65, 96. 102

GA 65,395.

'83

GA 65, 396.

'84 Hölderlin ist Heidegger zu folge nicht nur einer der Zukünftigen, sondern "der Zukünftigste" . Denn er kommt, begriindet in dem Wissen um die Geschichtlichkeit des Seins selbst

278

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage

Wie Pöggeler zutreffend bemerkt, vermeidet Heidegger es auch in den "Beiträgen", Möglichkeiten der Auslegung der Gotteserfahrung zu werten, etwa indem er eine monotheistische Gottesvorstellung einer polytheistischen vorzöge oder gar beide abwerten würde mit dem Argument, der pantheistische Gottesgedanke sei der eigentlich philosophische. 185 Seine Rede von dem Gott oder den Göttern ist derart offen für alle Modifikationen des Gottesverhältnisses des Menschen, daß sie sogar Nietzsches Atheismus als eine mögliche geschichtliche Gotteserfahrung anerkennen kann. Damit nimmt Heidegger ernst, daß über das Sein Gottes nur geredet werden kann im Kontext unseres Verhältnisses zu ihm. Denn Gott "ist" Gott, sobald in ihm das aufleuchtet, was uns dem Seienden im Ganzen entrückt und über uns selbst hinausrückt, so daß wir dann von ihm her in den Bezug zum Seienden einrücken können, welches erst im Lichte Gottes als wesenhaftes und wesenloses licht wird. 186 Um nun Heideggers Rede vom" letzten Gott" verstehen zu können, ist zu beachten, daß er zu Beginn des Abschnitts sieben der "Beiträge" darauf aufmerksam macht, daß das Verständnis des Todes den Zugang eröffne zum rechten Verständnis des "letzten Gottes". In "Sein und Zeit" wird der Tod gedacht als die äußerste und als solche auch unüberholbare Möglichkeit des Da-seins. 187 In ihn vorlaufend, erfahren wir erst die Vorläufigkeit aller anderen Möglichkeiten. Das wiederum macht es uns möglich, uns zu den vorläufigen Möglichkeiten als solchen zu stellen. Wie der Tod die äußerste Möglichkeit des Daseins ist, von der das Ganze des Daseinsgeschehens durchleuchtet ist, so ist der "letzte Gott" der Äußerste, der alle anderen Gotteserfahrungen schon überholt hat. 188 Das kann aber nur dann der Fall sein, wenn er nicht der letzte Gott in der Sukzession der an- und abwesenden, gewesenen und zukünftigen Götter ist, sondern wenn in ihm das aufleuchtet, von dem her alle anderen Gotteserfahrungen als vor-läufige Erfahrungen offenkundig werden. Hölderlin und Nietzsehe haben es gewagt, die Vorläufigkeit geschichtlicher Gotteserfahrungen zur Sprache zu bringen: Hölderlin in der Sage von der Flucht der gewesenen Götter; Nietzsehe in der Verkündigung des Todes Got-

und die darin Anhalt findende Hoffnung einer erneuten Schickung des Seins, auf die Geschichte zurück, um sie als Ganze den kommenden Göttern zu öffnen. Vgl. GA 65, 401.

,,, Pöggeler, 1992, 475. '86

Vgl. GA 65,399.

187

SuZ §§ 50-53.

,•• Ähnlich auch Pöggeler, 1992,475. Eine analoge Konzeption der Aufhebung aller bisherigen Gotteserfahrungen in eine äußerste Erfahrung findet sich in Hölderlins "Friedensfeier" , StA 11 1,

130-137.

3. Zur seinsgeschichtlichen Entfaltung des Gottesgedankens

279

tes. Wird die von ihnen behauptete Vergänglichkeit (Sterblichkeit) des Göttlichen ernst genommen, stellt sich die Frage, von woher die Geschichtlichkeit der Offenbarkeit des Göttlichen als solche deutlich wird. Das nötigt dazu, auf den "letzten Gott" hinzudenken, dessen Aufleuchten als unüberholbare Möglichkeit der Gotteserfahrung alle anderen Möglichkeiten als geschichtliche Möglichkeiten lichtet, und das daher denn auch an das Ereignis als die Ereignung der Einheit von Geschichte gebunden ist. Umgekehrt wird dem, der vom Ereignis her denkt, die Geschichte der gewesenen Götter zur Spur des "letzten Gottes", von dem Heidegger in den "Beiträgen" sagt, er habe seine Wesung "[ ... ] im Wink, dem Anfall und Ausbleib der Ankunft sowohl als auch der Flucht der gewesenden Götter und ihrer verborgenen Verwandlung. "189 Die Geschichte selbst ist der Wink des letzten Gottes, seine Spur, die uns den Weg in das Ereignis spurt. In den vorangegangenen Überlegungen sprachen wir durchgängig vom" Aufleuchten" des letzten Gottes; Heidegger selbst spricht in Anlehnung an die Dichtung Hölderlins vom "Vorbeigang" 190, wodurch die Zeitlichkeit der Epiphanie Gottes deutlicher zum Ausdruck kommt. Davon ausgehend, daß die Auslegung von Ewigkeit nur im Kontext eines Verstehens von Zeit überhaupt erfolgen kann, deckt Heidegger auf, daß alle metaphysischen Deutungen von Ewigkeit ihren Ursprung haben in der Interpretation der Zeit als des "reinen Vergehens des Jetzt im Nacheinander" .191 Die in "Sein und Zeit" erstmals aufgedeckte ursprüngliche Zeit dagegen erlaubt die Auslegung von Ewigkeit auf dem Grunde der Erfahrung des Augenblicks. In ihm ereignet sich die "Fülle der Zeit", da in ihm die Ekstasen der Zeit derart zur Einheit gelangen, daß es zur Gründung von Geschichte kommt. Wird der Augenblick in "Sein und Zeit" noch von der Geschichtlichkeit des Daseins her gedacht, ist er nach der Kehre als die Zeit des Sich-Ereignens des Ereignisses zu begreifen. Im Ereignis, in welchem der Gott "vorbeigeht", d.h. für einen Augenblick nur aufleuchtet, werden das Gewesene und das Zukünftige eins derart, daß das Gewesene zum Zukünftigen wird und Geschichte neu anhebt. l92

189

GA 65,409.

190

GA 65, 17, 27, 413f. u.ö.

191

GA 39, 55.

!92 Man könnte Augustinus als einen Denker anfuhren, der im siebten Buch der "Confessiones" die Zeitlichkeit der Offenbarung Gottes im ihrem Augenblickscharakter dargestellt hat, ohne dadurch auch schon zu einer die Metaphysik überwindenden Deutung der Ewigkeit vorgedrungen zu sein.

280

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage

Die Frage drängt sich auf, ob es überhaupt sinnwoll ist, von der Gründung der Geschichte im Vorübergang des letzten Gottes zu sprechen. Inwiefern ist auch die Erfahrung des Äußersten noch geschichtliche Erfahrung? Die Frage zu beantworten, würde bedeuten, sich über die Geschichte zu stellen. Heidegger geht davon aus, daß mit dem Vorbeigang des letzten Gottes die Geschichte erst zu der Fülle ihrer Möglichkeiten befreit wird. "Der letzte Gott ist nicht das Ende, sondern der andere Anfang unermeßlicher Möglichkeiten unserer Geschichte. "193 Ihn zu begründen, ist die Aufgabe derer, die erkannt haben, daß der Übergang in eine andere Zeit nur geschehen kann durch den Sprung injenes Denken, welches das Sein selbst in seiner Frag-würdigkeit anerkennt.

4. Die Wesung des Seins a) Von der Frage nach dem Apriori zum Denken des Ursprungs Hölderlins Hymne "Germanien" fordert dazu auf, "die Mutter", d.h. die Natur, zu nennen, da "bei dem Nahmen derselben" das gewesene Göttliche wieder erfahrbar werde (V. 99f.). Nur so kann nach Hölderlin die Zeit eine andere werden. Auch im "Empedokles" wird an die gewesenen Götter erinnert. Doch dann ruft der Dichter dazu auf, "der alten Götter Nahmen" abzusagen und sich zur neuen Gottheit, der Natur zu bekehren. 194 Die Natur ist das Göttliche. In der Besinnung auf ihr Wesen wird die erhoffte Zukunft anbrechen. Hölderlins Dichtung, die durchaus als die im sogenannten Systemprogramm geforderte "Mythologie der Vernunft"195 angesehen werden darf, ist dementsprechend der Natur gewidmet. In ihr wird das Wesen der Natur dichtend gedacht. Unser Durchgang durch die späten Gedichte Hölderlins, zu denen Interpretationen Heideggers vorliegen, ergab, daß sich in der Hymne "Wie wenn am Feiertage ... " Hölderlins Naturmythologie insofern verdichtet, als in ihr das Wesen der Natur als Geschehen ihrer Offenbarung in der Geschichte dargestellt wird. Die Interpretation der Hymne durch Heidegger wird uns nun beschäftigen. Heideggers Auslegung der Hymne "Wie wenn am Feiertage ... " liegt der Text der Ausgabe von Hellingraths zugrunde. Ihr zufolge besteht das Gedicht aus sieben Strophen, die außer der fünften, um eine Zeile verkürzten, und der

19'GA65,411.

I" StA IV

1,65.

19' StA IV I, 299.

4. Die Wesung des Seins

281

siebten, zwölf Verse zählenden Strophe, je neun Verse aufweisen. Die Fragmente des Gedichts, die von Hellingrath in den Anmerkungen mitteilt, beachtet Heidegger nicht. Dadurch gibt die Interpretation den Gedankenduktus des ganzen Gedichts kaum wieder. Auf die Fraglichkeit der Auslegung des Verses 65, die in die These mündet, das Gedicht kehre am Ende zu dem Heiligen als dem eigentlich zu Dichtenden zurück, wurde bereits hingewiesen,l96 ebenso auf die Ineinssetzung des Dichters mit dem Landmann, die schon Szondi in Frage gestellt hat. 197 Uns kommt es nun aber nicht auf eine literaturwissenschaftliche Kritik an der Interpretation Heideggers an, sondern ausschließlich darauf, seine Auslegung des im Gedicht geschehenden Nennens der Natur, die wiederum von dem in "Sein und Zeit" und den darauf folgenden Abhandlungen zum Durchbruch gekommenen Denken des Seins her erfolgt, zu verdeutlichen. In unserer Interpretation der Hymne "Wie wenn am Feiertage ... " konnten wir zeigen, daß Hölderlin in ihr unter dem Namen "Natur" das Eine ins Wort ruft, das er im "Hyperion" auch "das Seyn, im einzigen Sinne des Worts"l98 nennt, jenen einen Seinsgrund, der in allen Seienden west und von dem her alles, was ist, auch schon von Grund auf geeint ist. Schon in der Einleitung des in den Jahren 1939/40 wiederholt gehaltenen und 1941 veröffentlichten Vortrags zu "Wie wenn am Feiertage ... " wird offenkundig, daß auch Heidegger davon ausgeht, daß der Dichter, indem er das Walten der Natur dichtet, das Wesen des Seins denkt. Denn Heidegger beginnt die Auslegung der Hymne mit einer Deutung der Verse 11 bis 13, in denen der Bezug der Natur zu den Dichtern zur Sprache kommt. In ihnen werden der Natur und ihrem Handeln die Attribute "allgegenwärtig", "mächtig" und "göttlichschön" zugeordnet. Mit Bezug auf das erstgenannte Attribut stellt Heidegger fest, daß der Name "Natur" in "Wie wenn am Feiertage ... " "das Allgegenwärtige" nenne, das in allem Anwesenden anwese. l99 Das Wort "Natur" meine weder ein einzelnes Seiendes noch eine Region des Seienden, etwa diejenige, die gegen die Geschichte abzugrenzen wäre, noch auch die Gesamtheit aller Seienden. Das in allen Seienden Wesende, das dennoch kein Seiendes ist, nennt der Denkende bekanntlich "das Sein". In dem Vortrag von 1939/40 geht es Heidegger darum, die Seinserfahrung, in der "Wie wenn am Feiertage ... " gründet, aufzudecken. Da die Auslegung der Hymne offenkundig auf Heideggers eigenen Denkwegen basiert, werden wir zu erörtern haben, inwiefern jenes

'96 Vgl. oben S. 82, Anm. 94. '97 Szondi, 1967,37; Ders., 1975,241; vgl. oben S. 77, Anm. 79. ,., StA III, 236f. '99

EHD 52.

282

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage

Denken des Seins, das in Hölderlins Hymne stattfindet, Heideggers eigenem Seinsdenken entspricht. Die Natur, d.h. das Sein, behauptet Heidegger, wese in aHen Seienden an, sei jedoch kein Seiendes und könne daher vom Seienden her auch nie ergründet werden. Auch in dem Nachwort zur fünften Auflage von "Was ist Metaphysik?" betont er, daß es "[ ... ] zur Wahrheit des Seins gehört, daß das Sein nie west ohne das Seiende, daß niemals ein Seiendes ist ohne das Sein. "200 Das besagt, daß nicht nur das Seiende durch den Bezug zum Sein, sondern auch das Sein durch den Bezug zum Seienden bestimmt ist. Es liegt daher nahe, Sein vom Seienden her zu denken. Das geschieht denn auch in der Metaphysik, auf deren ontotheologische Verfassung Heidegger wiederholt aufmerksam gemacht hat. Ausgehend von der Erfahrung, daß das Seiende, insofern es ist, einer Begründung bedarf, wird in ihr erstens das Sein als der Grund des Seienden ausgelegt und zweitens das in sich gründende Seiende, Gott, als der erste Grund, durch den das Ganze des Seins begründet ist, aufgewiesen. 201 Das bedeutet, daß in ihr zum einen das Sein vom Seienden her gedacht und zum anderen auf das Seiende zu ausgelegt wird. Daraus wiederum folgt, daß das Sein in der Metaphysik nur insoweit erfahren wird, als es auf das Seiende bezogen ist als dessen Grund. Daß das Sein als der Grund west, wird jedoch kaum bedacht. Auch kritisiert Heidegger, daß in der Metaphysik der Aufweis Gottes als Begründung des Seins des Seienden im Ganzen gilt. Da nämlich für jedes Seiende, und d.h. auch für Gott, insofern er als der, der ist, gedacht wird, gilt, daß Seiendes nur sein kann, da "es" Sein schon "gibt", genügt es nicht, das Sein Gottes als den Grund des Seins des Seienden im Ganzen zu betrachten. Daß auch Gottes Sein durchaus in Frage gesteHt werden kann, macht das Ungenügen der ontotheologisch verfaßten Metaphysik deutlich. Heidegger fordert dazu auf, Sein nicht länger in der Art der Metaphysik, sondern "[ ... ] ohne Rücksicht auf die Beziehung des Seins zum Seienden" zu denken. 202 Dasselbe ist gemeint, wenn Heidegger in den "Beiträgen zur Philosophie" behauptet, das Sein könne nicht mehr vom Seienden her gedacht werden, sondern müsse "aus ihm selbst erdacht werden". 203 "Wenn Seiendes ist, muß das Seyn wesen. Wie aber west das Seyn?"204, fragt Heidegger. Und nur wenige Sätze später sagt er, die Wesung des Seins selbst, die zu

200

GA 9, 306.

201

Vgl. bes. ID 31-67.

202

SdD 25, 35.

203

GA 65,7,456-465.

204

GA 65,7.

4. Die Wesung des Seins

283

denken er aufgebrochen sei, nenne er "das Ereignis". Auf dieses denkt Heidegger auch in der Auslegung der Hymne "Wie wenn am Feiertage ... " hin. Falls Seiendes ist, muß Sein als Sein des Seienden wesen. In Heideggers Kritik an der ontotheologischen Verfassung der Metaphysik, insbesondere dem metaphysischen Gottesgedanken, deutet sich schon an, daß es Heidegger zufolge gilt, dessen inne zu werden, daß im Ganzen des Seienden kein Grund dafür gefunden werden kann, daß "es" Sein immer schon "gibt". Grundlos, abgründig west Sein immer schon als Sein des Seienden. Daran erinnert nach Heideggers Auslegung auch Hölderlins Wort von der "mächtigen" Natur (V. 23): "Die Natur hat nicht irgendwoher noch eine Macht zu Lehen. Sie ist das Machtende selbst. ,,205 Daraus, daß die Natur ohne Grund machtet, ist zu folgern, daß ihr Machten keines Grundes mehr bedaif, da sie selbst der Grund oder Ursprung schlechthin ist. In der Interpretation des Verses 23 wird deutlich, worauf es Heidegger in dem Vortrag zu "Wie wenn am Feiertage ... " ankommt, nämlich darauf, durch die Interpretation der Dichtung Hölderlins in das Denken, welches das Sein ohne das Seiende zu denken wagt, einzuführen und dadurch den Zugang zur Erfahrung der Abgründigkeit des machtenden Seins zu eröffnen. In der Metaphysik gilt es als ausgemacht, daß das Sein als das Begründende das "Frühere" sei, das Seiende als das Begründete das "Spätere". Daß vom Sein gesagt wird, es sei "das Frühere" oder auch "das Apriori", deutet darauf hin, daß Sein von der Zeit her gedacht wird. Es wundert daher kaum, daß Heidegger schon in den Vorlesungen "Grundprobleme der Phänomenologie" und "Metaphysische Anfangsgründe der Logik" eine ursprüngliche Auslegung des Seins als des Apriori fordert. 206 ·Wenn Apriori ein Grundcharakter des Seins, und wenn Apriori eine Zeitbestimmung ist, Zeit aber mit Sein zusammenhängt, so zwar, daß das Seinsverständnis in der Zeitlichkeit des Daseins verwurzelt ist, dann besteht ein innerer Zusammenhang zwischen Apriori und Zeitlichkeit, d.h. der Seinsverfassung des Daseins, der Subjektivität des Subjektes .• 207

Zwar findet man in den Vorlesungen und Abhandlungen nach 1930 die Forderung nach einer von der Zeitlichkeit des Daseins her erfolgenden Interpretation der Apriorität des Seins nicht mehr. Denn der "Schritt zurück" von der Transzendenz des Daseins in das Ereignis des Seins, der verbunden ist mit der Überwindung des Horizontgedankens, verbietet die Auslegung der

20'

EHD 53.

206

Vgl. dazu GA 24, 461-469; GA 26, 184-187.

207

GA 26, 189.

284

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage

ontologischen Differenz von der Zeit her. 208 Dennoch sind die wenigen Anmerkungen, die Heidegger in den "Grundproblemen der Phänomenologie" und den "Metaphysischen Anfangsgründen der Logik" bezüglich der Apriorität des Seins macht, insofern für uns relevant, als er in den Hölderlin-Interpretationen Sein immer wieder als den Ursprung zur Sprache bringt, so etwa in der von uns schon besprochenen Auslegung der Rhein-Hymne. Und es ist anzunehmen, daß die Deutung des Ursprungs der des Apriori entspricht. In den "Beiträgen" vertritt Heidegger die These, Platon habe mit der Identifikation von OPTWC; OV und 7rPOTf.POV den Grund dafür gelegt, daß in der Metaphysik das Sein als das F rühere (Vorgängige) gelte. 209 Der platonischen Lehre von der Anamnesis entsprechend, sei damit verbunden, daß man auch stets anerkannt habe, daß der Kenntnis des Seins die Priorität vor dem Erkennen des Seienden zukomme. Denn auch wenn uns nur selten das Sein eigens auffällig werde, könnten wir Seiendes als solches doch nur erkennen, da wir "Sein" vorgängig schon erkannt hätten. Insofern sei die Erkenntnis des Seins stets "früher" (prius) als die des Seienden. Von daher ist es nur konsequent, daß das idealistische Denken, demzufolge etwas ist, insofern es vorstellend oder vorgestellt ist, dem Vorstellen die Priorität vor dem Vorgestelltsein zuspricht. Ihr gilt das transzendentale Ich, das, sofern es ist, Sein setzt und dadurch zum Ursprung des VorsteIlens wird, als das Apriori, der Ursprung schlechthin, von dem das Denken auszugehen hat. Dazu führt Heidegger in den "Beiträgen" aus: "Was in 'Sein und Zeit' als 'Seinsverständnis' angesetzt ist, schien nur die Erweiterung dieses vorgängigen VorsteIlens zu sein, und dennoch (Verstehen als Ent-wurf - Da-sein) ist es etwas ganz anderes; als Übergang aber weist es in die Metaphysik zurück. "210 Fragen wir uns daher, inwiefern das in "Sein und Zeit" dargelegte "Seinsverständnis" nur als Erweiterung des vorgängigen VorsteIlens verstanden werden konnte. In "Sein und Zeit" zeigt Heidegger, daß das Seinsverständnis, das nur dem Dasein als dem existierenden Seienden zu eigen ist, der ermöglichende Grund des Verhaltens zu Seiendem als solchem ist. Demnach kommt dem verstehenden (offenständigen) Verhältnis des Daseins zum Sein die Priorität vor dem Verhalten zum Seienden zu. Das offenständige Verhältnis des Daseins zum Sein wird nach "Sein und Zeit" vor allem durch den Entwurf von Sein, der auf die Zeit als den Horizont des Seins hin erfolgt, offen gehalten. Dazu führt Heidegger in den "Grundproblemen der Phänomenologie" aus:

201

Vgl. GA 65, 222f.

209

GA 65, 222f.

210

GA 65, 223.

4. Die Wesung des Seins

285

"Die Möglichkeit des Verhaltens zu Seiendem verlangt ein vorgängiges Seinsverständnis, und die Möglichkeit hinwiederum des Seinsverständnisses verlangt einen vorgängigen Entwurf auf die Zeit. ,,211

Man konnte daher annehmen, die Offenheit des Seins werde in einem "UrEntwurf" von Sein durch das Dasein eröffnet, wobei der Eröffnung der Charakter einer Setzung zukäme. "Entwurf" wäre dann nur ein Synonym für "Setzung" , "Dasein" nur ein anderer Name für das transzendentale Subjekt. Das würde aber auch bedeuten, daß "Sein und Zeit" durchaus noch in den Kontext der Transzendentalphilosophie einzuordnen wäre. Doch wie uns deutlich wurde, wird schon in "Sein und Zeit", eindeutiger noch in den Vorlesungen zu den "Grundproblemen der Phänomenologie" und den "Metaphysischen Anfangsgründen der Logik" das Wesen des Entwurfs und das Sein des entwerfenden Daseins anders gedacht. Denn Heidegger betont schon dort, daß der U rEntwurf von Sein nur geschehen kann, insofern Dasein in die Zeitigung ursprünglicher Zeit geworfen ist. Daraus, daß das Dasein der "geworfene Entwerfer des Seins" ist, folgt, daß die Zeitigung der Zeit selbst "das Früheste" ist, der Ursprung, dem auch das Sein des Daseins entspringt. In diesem Sinne führt Heidegger in den "Grundproblemen der Phänomenologie" aus: "Weil das ursprünglich Ermöglichende, der Ursprung von Möglichkeit selbst, die Zeit ist, zeitigt sich die Zeit selbst als das Früheste schlechthin. Früher als jedes mögliche Früher irgendwe1cher Art ist die Zeil, weil sie die Grundbedingung rur ein Früher überhaupt ist. Und weil die Zeit als Quelle aller Ermöglichungen (Möglichkeiten) das Früheste ist, sind alle Möglichkeiten als solche in ihrer Ermöglichungsfunktion vom Charakter des Früher, d.h. apriori. "212

Mit dem gewandelten Seinsdenken nach der sogenannten Kehre verwirft Heidegger die Forderung, die Deutung des Seins als des Apriori durch eine von der Zeitlichkeit des Daseins her erfolgende Interpretation zu begründen. "Im Übergang aber nur scheinbar das' Apriori' noch ein 'Problem': das Verhältnis von Seyn und Seiendem ist vom Ereignis her begriffen ganz anders."213 Inwiefern sich das Verhältnis von Sein und Seiendem vom Ereignis her ganz anders darstellt, kann uns nur deutlich werden, wenn wir uns jene Grunderfahrung, die zur Kehre des Denkens führt, nochmals in Erinnerung rufen. Zu Beginn der 30er Jahre erkennt Heidegger, daß die Geworfenheit des Daseins, in der der ursprüngliche Entwurf von Sein gründet, nur vom Sein, wel-

211

GA 24, 462f.

212

GA 24, 463.

2\3

GA 65, 222.

286

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage

ches das Da-sein als Stätte der eigenen Offenbarkeit begründet, erworfen sein kann. Das Geschehen, in dem Sein die Geworfenheit des Daseins erwirft, nennt er nun "das Ereignis". Daraus, daß Sein im Ereignis als Sein des Seienden offenbar wird, folgt für die Einheit von Sein und Seiendem: Sein ist nie "früher" als Seiendes gegeben. Für uns geschehen vielmehr die Eröffnung von Sein (der Aufgang von Sein als Welt) und die Offenbarung des Seienden im Ganzen (der Eingang von Seiendem in Welt) stets in einem zumal. Die Aufdeckung der Einheit der Zeitlichkeit des Daseins und der Temporalität des Seins als des ermöglichenden Grundes allen Seinsverständnisses macht deutlich, daß das Verstehen von Sein und das Verstehen des Seienden als solchem einen Ursprung haben, nämlich die Zeitigung der Zeitlichkeit. Daraus folgt, daß das Dasein, sofern es auf das Sein hin eröffnet ist, auch für das Seiende offen, und d.h. ihm ausgesetzt ist. Mit der Einsicht in die durch die Transzendenz begründete Ausgesetztheit des Daseins überwindet Heidegger schon in den 20er Jahren die transzendentalphilosophische, von der Subjektivität des Subjekts her erfolgende Auslegung des Apriori. Die Frage nach dem Apriori kehrt in den Abhandlungen der 30er Jahre, vor allem auch in den Hölderlin-Interpretationen Heideggers dennoch wieder, und zwar als Frage nach dem Ursprung. Als solchen denkt Heidegger nach der sogenannten Kehre das Ereignis, das Geschehen der Eröffnung von Sein, das mit dem Wesen des Seins identisch ist. Wir versuchen, den grundlegenden Wandel der frühen Frage Heideggers nach dem Apriorismus des Seins zu dem späten Denken des Ereignisses als des Ursprungs zu verdeutlichen. Man könnte annehmen, "früher" als das Seiende und auch "früher" als das Sein, das als Sein des Seienden west, sei das Ereignis. Dafür spräche u.a. eine Stelle aus dem Seminar zu dem späten Vortrag "Zeit und Sein", in dem Heidegger Sein auf "das Eigene" hin bedenkt und als solches das Ereignis als das Geschehen, in dem Sein er-eignet wird, aufdeckt. 214 In dem Seminar wird der Gedankengang des Vortrags erläutert: "Von der metaphysischen Denkart her könnte der ganze Weg des Vortrags, und d.h. die Bestimmung des Seins aus dem Ereignis, als Rückgang in den Grund, den Ursprung gedeutet werden.

214 Vgl. SdD 5f., 21-25. Anfiihren könnte man auch die Änderung des Nachwortes zu WiM. Im Nachwort der 4. Aufl. sagt Heidegger, daß es "zur Wahrheit des Seins gehört, daß das Sein wohl west ohne das Seiende, daß niemals aber ein Seiendes ist ohne das Sein". Für die 5. Aufl. änderte er obigen Satz dahingehend ab, daß nun behauptet ist, daß es "zur Wahrheit des Seins gehört, daß das Sein nie west ohne das Seiende, daß niemals ein Seiendes ist ohne das Sein." (GA 9, 306) Die Änderung der TextsteIle dokumentiert keinen Wandel im Denken Heideggers, wohl aber zwei Dimensionen des Wesens des Seins. Das Wesen des Seins ist der Ursprung der Differenz von Sein und Seiendem, die in der Übereignung des Seins an das Dasein autbricht. Insofern west Sein "ohne" das Seiende. In der 5. Aufl. dagegen betont Heidegger, daß das Sein, sobald es uns zugeeignet ist, auch schon als Sein des Seienden west. Das hebt aber die These, daß es der Ursprung der Differenz von Sein und Seiendem sei, nicht auf. Vgl. dazu Mal/er, 56f.

4. Die Wesung des Seins

287

Das Verhältnis von Ereignis und Sein wäre dann das Verhältnis des Apriori zum Aposteriori [ ... ]. "215 Die obige Auslegung des Verhältnisses von Ereignis und Sein ist zwar insofern metaphysisch, als Apriori und Aposteriori von der eindimensionalen Zeit, in der das Spätere auf das Frühere folgt, her gedacht sind. Da jedoch das Ereignis im Ereignen des Seins besteht, geschehen das Ereignen des Ereignisses und das Offenbarwerden von Sein in einem zumal. Davon abgesehen ist die Deutung des Gedankengangs des Vortrags insofern zutreffend, als das Wesen des Ereignisses das des Ursprungs ist, der zwar als Ursprung nur im Entsprungenen west, darin jedoch sein Eigenes, die reine Ursprünglichkeit des Entspringens, ständig als das immer schon Gewesene oder "stets Einstige" bekundet. Nachdem deutlich geworden sein dürfte, inwiefern Heideggers Erörterung des Wesensgeschehens des Seins als des Ursprungs von der metaphysischen Auslegung des Seins als des Apriori abzuheben ist, können wir uns nun wieder Heideggers Vortrag "Wie wenn am Feiertage ... " zuwenden. Es wird im Folgenden zu belegen sein, daß es Heidegger in ihm darum geht, uns anband der Hymne "Wie wenn am Feiertage ... " in das Denken des Seins als des Ursprungs, aus dem die Zeiten der Geschichte abgründig entspringen, einzuführen. b) Das Ursprungsgeschehen schlechthin: Fügung der Fuge des Seins Heideggers Deutung des Seins als des Ursprungs nimmt ihren Ausgang von der dritten Strophe der Hymne, in der das Heilige genannt wird. "Jezt aber tagts! Ich harrt und sah es kommen, Und was ich sah, das Heilige sei mein Wort." (V .19f.)

Heidegger entnimmt den zitierten Versen: "Das Heilige ist das Wesen der Natur. Diese enthüllt als das Tagende ihr Wesen im Erwachen. "216 Indem der neue Tag aufgeht, wird das Wesen der Natur offenbar. Nun wird deutlich, daß sie erst dadurch in das Eigene gelangt, daß sie "erwacht", d.h. im Geist und als Geist "fühlbar" wird. Die Zeit, die das Offenbarwerden der Natur zeitigt, ist dementsprechend die Stunde der Begeisterung. Indem die Natur "erwacht", wird in allem, was ist, ihr Geist "fühlbar". Auch der Dichter wird be-geistert, so daß die Dichtung, die der Begeisterung entspringt, zu betrachten ist als vom Unendlichen ereignet, welches von sich aus danach strebt, im endlichen Wort offenbar zu werden.

m SdD 33. 21.

EHD 59.

288

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage

Die Natur und der Geist sind ursprünglich eins. Denn die Natur selbst ist es, die "in ihr Kommen vordenkt" .217 Sie ahnt ihre eigene Offenbarung im Geist und als Geist, so zwar, daß in der Ahnung die Geistwerdung schon anhebt. Und sie wird zum Geist, indem ihre Ahnung die Ahnung der Dichter begründet. "Sie [die Dichter) scheinen allein zu seyn, doch ahnen sie immer. Denn ahnend ruhet sie selbst auch." 01. 17f.)

Natur und Geist bilden also eine Einheit. Sie stellen eine einige Seinsfuge dar. Einen analogen Gedanken finden wir in Schellings Abhandlung "Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände", 218 zu der Heidegger im Sommersemester 1936 eine Vorlesung hielt, der 1941 eine weitere Schelling-Vorlesung folgte. Da anzunehmen ist, daß die Gedanken zu "Wie wenn am Feiertage ... ", die Heidegger in den Jahren 1939 und 1940 vortrug, u.a. auch von den SchellingVorlesungen von 1936 und 1941 her zu erörtern sind, geben wir im Folgenden einige Grundgedanken der Vorlesung vom Sommersemester 1936 wieder, ohne jedoch Heideggers Schelling-Interpretation hier ausführlich zu erörtern. 219 In der genannten Vorlesung führt Heidegger aus, daß Schelling davon ausgehe, daß das Ganze des Seienden ein Gefüge bilde. Für ihn falle die idealistische Forderung nach dem "System", in dem das Seiende im Ganzen zur Sprache gebracht werden kann, mit der Forderung in eins, das Gefüge des Seienden nicht nur darzustellen, sondern auch zu begründen. Diesem Anliegen sei auch die sogenannte Freiheits-Abhandlung gewidmet, in der Schelling die Begründung des Gefüges des Seienden dadurch gelinge, daß er das Seiende im

217

EHD 55.

211

Zur Zitation vgl. S. 127, Anm. 222.

Eine eingehendere Interpretation der Schelling-Auslegung Heideggers hälle den in den 30er Jahren erfolgenden Wandel in Heideggers Denken zu beachten. Einleitend sagt Heidegger noch 1936: "[ ... ) Schelling ist der eigentlich schöpferische und am weitesten ausgreifende Denker dieses ganzen Zeitalters der deutschen Philosophie. Er ist das so sehr, daß er den deutschen Idealismus von innen her über seine eigene Grundstellung hinaustreibt. Freilich bringt er das Fragen noch nicht an jenen metaphysischen Ort, in den sich Hölderlin dichterisch hinauswerfen mußte, um damit allerdings recht einsam zu bleiben." (GA 42, 6) Wir entnehmen daraus, daß er Schelling 1936 als den Denker ansieht, der das Denken des ersten Anfangs bis an die Grenze führt. In den folgenden Jahren ordnet er Schelling dann eindeutiger der Metaphysik zu. Vgl. GA 49, § 1. Unter dem Aspekt der GOllesfrage bietet A. Jaeger, 1978, eine ausführliche Interpretation der Schelling-Vorlesung von 1936. 219

4. Die Wesung des Seins

289

Ganzen zum einen auf seinen Grund, Gott, zurückführe und zum anderen deutlich mache, daß das Sein des Grundes als Seinsfuge zu denken sei. 22D Um das zu zeigen, legt Schelling Gottes Sein als Werden aus. Gott ist erst dann eigentlich er selbst, wenn er existiert. Da das Existieren Gottes für Schelling mit der Offenbarung Gottes gleichbedeutend ist, bedeutet obiger Satz: Gott ist eigentlich er selbst als der sich offenbarende und dergestalt offenbare. Er ist dagegen nur uneigentlich er selbst, solange er lediglich Grund der eigenen Existenz ist. Der Grund der Existenz Gottes, den Schelling auch "die Natur" nennt, ist noch nicht das eigentliche Selbstsein Gottes und doch schon in ihm. "Da nichts vor oder außer Gott ist, so muß er den Grund seiner Existenz in sich selbst haben [ ... ]. Dieser Grund seiner Existenz, den Gott in sich hat, ist nicht Gott absolut betrachtet, d.h. sofern er existirt; denn er ist ja nur der Grund seiner Existenz, Er ist die Natur - in Gott; ein von ihm zwar unabtrennliches, aber doch unterschiedenes Wesen. "221

Denn Gott ist, indem er aus sich heraus in sein Selbstsein hervorgeht. Dabei ist der Hervorgang Gottes in einem zumal Rückgang in das eigene Sein, die Natur in Gott, die in der Existenz als deren Grund offenbar wird. Weder ist der Grund als solcher, ehe Gott existiert, noch wird der Grund als Grund durch die Existenz aufgehoben,222 sondern durch sie wird die Natur, die immer schon in Gott ist, als der Grund der Existenz eigens begründet. "Es ist hier kein Erstes und kein Letztes, weil alles sich gegenseitig voraussetzt, keins das andere und doch nicht ohne das andere ist. Gott hat in sich einen innern Grund seiner Existenz, der insofern ihm als Existirendem vorangeht; aber ebenso ist Gott wieder das Prius des Grundes, indem der Grund, auch als solcher, nicht seyn könnte, wenn Gott nicht actu existirte. "223

Daraus, daß Gottes Sein ewiges Werden ist, das in der Fuge von Grund und Existenz geschieht, ist zu folgern, daß Gottes Werden weder nur im Grund noch nur in der Existenz anheben kann. Es entspringt vielmehr in der ewigen Sehnsucht, als welche der "noch dunkle Grund", den Schelling auch den "Ur-

220 Daß Schelling die Frage nach dem Gefüge des Seienden im Ganzen in die Frage nach dem Grund des Gefüges verlagert, zeigt nach Heidegger, daß er der Ontotheologie verhaftet bleibt. Vgl. dazu GA 42, 86ff. 221

Schel/ing, 249f. (VII 357f.).

222 Vgl. GA 42, 203: "Jenes Noch-nicht des Grundes verschwindet nicht, nachdem Gott zum Existierenden geworden, und wird nicht als ein bloßes Nicht-mehr abgestoßen, sondern, da es ein Ewiges Werden ist, bleibt das Noch-nicht; es bleibt in Gott die ewige Vergangenheit seiner selbst in seinem Grunde."

221

Schelling, 250 (VII 358).

19 Bohlen

290

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage

grund oder vielmehr Ungrund" nennt, west - die Sehnsucht, in der Existenz als deren Grund offenbar zu werden. 224 Im Bezug auf Heideggers Denken in der Nähe zum Dichten Hölderlins ist zu erwähnen, daß Heidegger zwar auf die ontotheologische Fragestellung Schellings aufmerksam macht. Sie bedingt die Verengung der Frage nach dem Sein zur Frage nach dem Sein Gottes. Heidegger erkennt die Auslegung des Seins Gottes als eines Geschehens, in dem es Freiheit geben kann, dennoch an. 225 Anband von Hölderlins Interpretation der Hymne "Wie wenn am Feiertage ... " wird zu zeigen sein, daß es Hölderlin gelingt, Sein als Geschehen der Fügung der Fuge des Geeinten zu denken ohne die Seinsfrage ontotheologisch anzusetzen. Das bedeutet, daß Hölderlin das Sein selbst als ein Seinsgeschehen denkt. Und insofern kommt in Hölderlins Dichten des Heiligen in der Tat ein Denken des Seins zur Sprache, das in der Nähe zu Heideggers Denken des Ereignisses steht. Kehren wir also nun zu der Hymne "Wie wenn am Feiertage ... " zurück. Der Darstellung des Wesens Gottes, das Schelling als die Geschichte des Werdens Gottes in der Fuge von Grund und Existenz zur Sprache bringt, entspricht Hölderlins Deutung des Wesens der Natur. Sie ist "der dunkle Grund", dem die Sehnsucht, offenbar zu werden, wesenhaft zu eigen ist. Darum "denkt sie in ihr Kommen vor", ahnt sie ihre eigene Offenbarung. Auch Heidegger betont, daß das Kommen, in dem das Wesen der Natur besteht, und das Tagen ein Geschehen bilden. "Das Tagen ist das Kommen der vormals ahnend ruhenden Natur. Das Dämmern ist die Natur selbst im Kommen. ,,226 In ihrer Ankunft fügt sich die Natur, die an sich eine ist, zur Fuge von Natur und Geist. Das Eine wird zur Einheit des Geeinten. Und nur aufgrund der dadurch gefügten Fuge kann die Natur dann im Geist, dessen Zeit die Geschichte ist, zu sich kommen. Obwohl die Analogie zu Schellings Deutung des Seins Gottes als der Geschichte des Werdens Gottes in der Fuge von Grund und Existenz wohl offenkundig sein dürfte, ist doch vor allem Fichte als der eigentliche Anreger des in der Hymne "Wie wenn am Feiertage ... " dargestellten Gedankens zu nennen. In unseren Darlegungen zu Hölderlins Ontologie machten wir auf das Fragment "Urtheil und Seyn"227 aufmerksam, das der Fichte-Kritik Hölderlins zuzuordnen ist. Dort fragt Hölderlin nach dem Einenden in den Trennungen,

22.

Schelling, 298 (VII 406).

m GA 42, § 6. 226

EHD 57.

227

StA IV 1, 216f.

4. Die Wesung des Seins

291

in denen uns das Seiende im Ganzen als solches offenbar ist, und er begreift die Trennungen, insbesondere die Trennung von Subjektivität und Objektivität, als Resultat einer "Ur-Theilung" des Einen. Das "Urtheil" behauptet Hölderlin, sei die "[ ... ] Trennung, wodurch erst Object und Subject möglich wird, die Ur = Theilung. "228 Daraus, daß Hölderlin schon in dem genannten Fragment die "Ur-Theilung" als den ermöglichenden Grund der Subjektivität auslegt, ist zu folgern, daß für ihn das als Selbst zu begreifende Subjekt gerade nicht der Grund der "Ur-Theilung" ist. Wird die "Ur-Theilung" aber nicht vom Subjekt her begriffen, kann sie nur als Geschehen des Seins selbst gedacht werden, was dazu führt, daß Sein als Geschehen oder Ereignis ausgelegt werden muß. Die in den späten Hymnen dichtend vorgetragene Deutung des Seins differiert insofern von dem Grundgedanken des Fragments "Urtheil und Seyn", als in ihnen die "Ur-Theilung" eigens vom Sein her gedacht wird. Sie ist das Wesens geschehen des Seins selbst, welches west, indem es sich zur Fuge von Natur und Geschichte fügt. In den folgenden Kapiteln wird zu zeigen sein, daß auch Heidegger das Wesensgeschehen des Seins als Ereignis einer "Teilung", die im Sein selbst geschieht, auslegt. Auch er geht davon aus, daß dem Sein selbst das Streben zu eigen ist, offenbar zu werden. Die Offenbarung des Seins, die vom Sein selbst ausgeht, kann nur geschehen durch die Übereignung des Seins an den Menschen, der die Offenheit von Sein in der Sprache und durch sie entfaltet. Mit der Bergung der Offenheit von Sein in die Sprache ist verbunden, daß das eine Sein aufbricht zur Fuge des Seins des Seienden, insbesondere zur Fuge von Natur und Geschichte. Uns, die wir in der Geschichte stehen, ist das Ereignis des Seins immer schon entzogen. Seine Entzogenheit deutet Heidegger in der Rede zu "Wie wenn am Feiertage ... " temporal. Ehe wir daher auf die "Urfuge" des Seins näher eingehen, betrachten wir kurz die Zeitlichkeit des Ereignisses, weIche uns Spur zur Erfahrung des Seins als des Heiligen ist. c) Das Ursprungsgeschehen und die Erfahrung des Heiligen Neben dem Fragment "Urtheil und Seyn" erwähnten wir in unseren Darlegungen zu Hölderlins Seinsdenken auch die Abhandlung "Das Werden im Vergehen "229, in der Hölderlin - "Wie wenn am Feiertage ... " nahezu präludierend - den Gedanken der "Ur-Theilung" des Seins geschichtsphilosophisch entfaltet. In ihr wird das Eine als "die Welt aller Welten" gedeutet, aus der immer wieder "besondere Wechselwirkungen von Mensch und Natur", d.h. endliche Gefüge des Seins des Seienden, entspringen. Die "Welt aller Welten"

19'

228

StA IV 1, 216.

229

StA IV 1, 282-287.

292

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage

offenbart sich im Wandel der Zeiten als das Eine, von dem her die Zeiten immer schon geeint sind. Sie stellt sich dar "[ ... ] nur in aller Zeit -oder im Untergange oder im Moment, oder genetischer im Werden des Moments und Anfang von Zeit und Welt [ ... ]. "230 Sie würde uns wohl unmittelbar anschaulich, könnten wir alle Zeiten in einem zumal erblicken. Doch wir sind der Abfolge der Zeiten unterworfen, die Ganzheit der Geschichte ist uns entzogen. Lediglich im Übergang des Gewesenen in das Zukünftige, dann, wenn die uns vertraute Welt untergeht und aus dem Untergang heraus eine neue Welt aufgeht, können wir die Einheit der Geschichte erahnen. Eine solche Zeit des Übergangs ruft die Hymne "Wie wenn am Feiertage ... " ins Wort. Denn der Anbruch des Tages ist die Zeit, in der der unendliche Geist den endlichen Geist der Menschen ergreift, um ihr Dasein und dadurch auch die Zeiten der Geschichte zu erneuern. Im Übergang der Zeiten wird die Natur als der Ursprung des Geistes und der Geschichte offenbar. Davon spricht auch die dritte Strophe der Hymne "Wie wenn am Feiertage ... ": "Jezt aber tagts! Ich harrt und sah es kommen, Und was ich sah, das Heilige sei mein Wort. Denn sie, sie selbst, die älter denn die Zeiten Und über die Göttter des Abends und Orients ist, Die Natur ist jezt mit Waffenklang erwacht,· 01. 19-23)

Hölderlins Begriff der "besonderen Wechselwirkung von Mensch und Natur" entspricht Heideggers Konzeption der Grundstellungen des Daseins. In Anbetracht des geschichtlichen Wandels, dem unser Verhalten zu Seiendem als solchem offenkundig unterworfen ist, erweitert Heidegger in den Abhandlungen und Vorlesungen der späten 20er und frühen 30er Jahre die Frage nach dem Apriori, dem ermöglichenden Grund unseres Verhaltens zu Seiendem, zur Frage nach dem ermöglichenden Grund der Grundstellungen geschichtlichen Daseins. Aufgrund des entbergenden Wesens der Stimmungen bedeutet die Versetzung des Daseins in eine bestimmte Stimmung die Geworfenheit in eine bestimmte Offenbarkeit von Sein und die Einsetzung in ein bestimmtes geschichtliches Verhältnis zum Seienden im Ganzen. Der Wandel der Grundstellungen unseres Daseins gründet in dem Wandel der Stimmungen, die uns das Seiende im Ganzen entbergen. In den vorangegangenen Kapiteln wurde ausführlich dargelegt, daß die Grunderfahrung der Kehre die Erfahrung der Herkunft der Geworfenheit aus dem Wurf des Seins ist. Aus dem Wandel der Stimmungen, die uns bestimmen, sowie dem unserer Grundstellungen ist dann zu folgern, daß Sein sich uns immer wieder anders zuwirft oder zuschickt. Daß Sein als Einheit seiner Schickungen west, ist der Grund der Geschichte, der Einheit ihrer Zeiten.

230

StA IV I, 282.

4. Die Wesung des Seins

293

In den oben zitierten Versen der Hymne "Wie wenn am Feiertage ... " sagt der Dichter, die Natur sei "älter denn die Zeiten" (V. 21). Als der Ursprung der Zeiten wird die "Welt aller Welten" in allen Welten offenbar als die immer schon wesende. Und doch gelangt sie nur in den einzelnen Welten und ihrer Einheit zur Darstellung. Nur in ihnen kann sie als der Ursprung der Geschichte wesen. Für Heideggers Interpretation der Strophe ist wiederum die Schelling-Vorlesung von 1936 erhellend. In ihr betont Heidegger, daß Gottes Sein nur von der Zeitigung der ursprünglichen Zeit her zu denken sei, in welcher Zukunft und Gewesenheit in einem zumal gezeitigt werden. Denn Gott ist, indem er wird, und er wird der, der er schon ist und war. Derart ist Gottes Werden Rückgang in die eigene Gewesenheit. Im Werden wird das Gewesene, "die Natur in Gott", als der Grund eigens begründet. Auch das Offenbarwerden der Natur ist nur von der Zeitigung der ursprünglichen Zeit her auszulegen. Denn auch die Natur, die im Geist in das Eigene gelangt, wird in der Geschichte als deren Ursprung offenbar. Indem sie in die Geschichte eingeht, wird sie, was sie an sich schon immer ist: der Ursprung der aus ihr entsprungenen Zeiten. Die Ursprünglichkeit des Ursprungs aber ist uns, die wir stets in einer bestimmten Zeit stehen, schon entzogen. Von daher erfolgt auch Heideggers Auslegung der Verse 21 und 22 der Hymne "Wie wenn am Feiertage .... ", in denen das" Alter" der Natur bedacht wird. °Die Natur ist älter als jene Zeiten, die den Menschen und Völkern und Dingen zugemessen sind. Nicht aber ist die Natur älter denn 'die Zeit'. Wie soll auch die Natur älter sein als 'die Zeit'? Solange sie 'älter denn die Zeiten' bleibt, ist sie freilich 'älter', also früher, also zeitiger, also gerade zeithafter denn 'die Zeiten', mit denen die Erdensöhne rechnen. 0231

Da die Natur nur in der Geschichte in das Eigene gelangt, bilden Natur und Geschichte eine unaufhebbare Einheit. Die Natur west zeithaft. Insofern ist sie "die Zeit". Im Wandel der Zeiten aber wird sie als der Ursprung erfahrbar, von dem her die Zeiten immer schon geeint sind, und der nur "ist", insofern er das Gewesene und das Zukünftige eint. Als solche ist sie uns immer schon in ein "stetes Einst" hinein entzogen. Sie ist "älter" als die Geschichte, in die wir geworfen sind und kann doch nur in der Einheit mit unserer Geschichte gezeitigt werden. Wie oben erwähnt, betrachtet auch Heidegger das Wesensgeschehen des Seins als den Ursprung von Geschichte. Schon im Kontext der fundamentalontologischen Ausarbeitung der Seinsfrage erörtert er die Transzendenz des Daseins

231

EHD 59.

294

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage

als den Grund der geschehenden Geschichte, jener Zeit, in der es uns in unserem Verhalten zu Seiendem um das Sein geht. Als die "Urgeschichte"232 ist das Ereignis der Transzendenz stets "älter" denn die Zeiten unserer Geschichte. Nach der Kehre wird die ursprüngliche Eröffnung von Sein im Sein des Daseins vom Sein her gedacht, wodurch in einem zumal die Transzendenz des Daseins überwunden wird. Das Sein selbst ist der Ursprung. Es wird offenbar, indem es das Dasein in eine Stimmung versetzt und dadurch in einen bestimmten Bezug zum Seienden als solchem, und d.h. in eine bestimmte Grundstellung, einsetzt. Das Offenbarungsgeschehen des Seins ist daher der Ursprung der Geschichte. Als der eine wird er offenbar im Geeinten, der Einheit der Zeiten der Geschichte. Von ihnen her betrachtet, hat er sich uns aber auch schon entzogen. Obwohl das im Ursprung selbst Übereignete erst in der Geschichte zur Entfaltung kommt dadurch, daß wir es eigens aneignen, ist der Ursprung für uns der Gewesene, der "stets Einstige", in den wir nur erinnernd einkehren können. Heidegger zufolge nennt der Dichter in der dritten Strophe die Natur aufgrund ihres Alters auch "das Heilige". "Die Natur nennt Hölderlin das Heilige, weil sie 'älter denn die Zeiten und über die Götter' ist. ,,23) Es ist die mit dem Ursprung verbundene Zeiterfahrung, die ihn als "das Heilige" offenbart. Die Zeit des Heiligen ist das "stete Einst", jene Rückbindung an das Gewesene, aufgrund derer das Entsprungene zwar im Ursprung gründet, der Ursprung aber vom Entsprungenen her nicht zu er- oder begründen ist. Für das von der Metaphysik herkommende Denken stellt sich hier die Aufgabe, die Zeit des Heiligen, d.h. die Ewigkeit, neu zu denken. In unseren Darlegungen zu Heideggers Entwurf des "letzten Gottes" machten wir schon darauf aufmerksam, daß die Aufdeckung der ursprünglichen Zeit in "Sein und Zeit" den Weg zu einer gewandelten Auslegung von Ewigkeit eröffnet. Auch in in der Schelling-Vorlesung von 1936 deutet Heidegger an, daß die aristotelische Konzeption der Zeit, die nur jene Folge kennt, in der ein Jetzt auf das andere folgt, keinen Zugang zum Wesen der Ewigkeit eröffne. Dieses müsse vom Augenblick her gedacht werden, in dem Zukunft und Gewesenheit eine Einheit bilden,234 "Sein und Zeit" zufolge ist der Augenblick die Zeit, in der das Dasein durch die Erfahrung der Einheit von Zukunft und

232

GA 9, 159; vgl. GA 26, 270.

233

EHD 59.

214 Vgl. GA 42, 197: "Die ursprüngliche Gleich·Zeitigkeit besteht darin, daß Gewesensein und Künftigsein sich behaupten und gleichursprünglich mit dem Gegenwärtigsein als die Wesensfülle der Zeit selbst ineinander schlagen. Und dieser Schlag der eigenclichen Zeillichkeil, dieser Augenblick, 'ist' das Wesen der Ewigkeit, nicht aber die bloß stehengebliebene und stehenbleibende Gegenwart, das nllnc slans." Vgl. schon GA 39, 54f.

4. Die Wesung des Seins

295

Gewesenheit in das Eigene gelangt. Das Dasein erfahrt ihn als Aufforderung zur Wieder-holung, zum Entwurf der eigenen Geschichte. 235 Der Augenblick ist darum die Zeit, in der die Gründung von Geschichte durch den Seinsentwurf des zur Eigentlichkeit gelangten Daseins erfolgt. Die Erfahrung der Eigentlichkeit wiederum ist nach Heidegger der Grund, von dem her eine Auslegung des Wesens der Ewigkeit zu erfolgen hat. Von daher gedachte Ewigkeit kann nur als Analogat zur Erfahrung der Einheit der Zeiten, welche in einem zumal der Grund von Geschichte ist, interpretiert werden. Der Augenblick, in dem es zur Gründung von Geschichte kommt, ist die Spur der Ewigkeit. Denn in ihm ereignet sich die Einheit der Zeiten. Wird er vor der Kehre noch vom Dasein und dessen Geschichtlichkeit her gedacht, muß er nach der Kehre vom Sein selbst her verstanden werden. Es handelt sich um den Augenblick, in dem das Sein selbst uns "anblickt". Fassen wir zusammen. Nach Hölderlin bekundet die Natur ihr Wesen, indem sie als der Ursprung der Zeiten in der Geschichte offenbar wird. Auch Heidegger zufolge west das Sein als Ursprungsgeschehen von Geschichte. Denn indem Sein uns im Ereignis als das Offene übereignet wird, in dem uns das Seiende im Ganzen eröffnet ist, finden wir uns auch schon in eine sogenannte Grundstellung geworfen und dadurch in unserem geschichtlichen Dasein begründet. Daß die Übereignung des Seins geschicklich erfolgt, wird im geschichtlichen Wandel der Grundstellungen deutlich. Den Wandel als Wandel zu erkennen, bedeutet, die Zeiten als Zeiten einer Geschichte zu erfahren. Zwar wird darin auch der eine Ursprung, aus dem sie entsprungen sind oder noch entspringen werden, offenbar als der, von dem her der die Zeiten immer schon geeint sind. Doch er bleibt uns, die wir dem Wandel der Zeiten unterworfen sind, auch als der offenbare noch entzogen. Wohl können wir uns ihm denkend zuwenden, nie jedoch werden wir ihn erschöpfend ergründen können. Darauf deutet das "stete Einst" hin, das Hölderlin als die Zeit des Ursprungs zur Sprache bringt. Heideggers Interpretation zufolge handelt es sich dabei um die Zeit des Heiligen. In der Deutung der Natur als des Heiligen geht Heidegger vor allem von der dritten Strophe aus, nach der die Natur "älter denn die Zeiten" ist. Im Anbruch des Tages wird die Natur erfahrbar als der Ursprung des Geistes und der Geschichte, der unerkannt immer schon dazu drängt, offenbar zu werden; ein Geschehen, das Vers 25 zufolge "Nach vestem Geseze" erfolgt. Zur Interpretation der dritten Strophe führt Heidegger folgende Marginalie Hölderlins zu einem Pindar-Fragment an:

m SuZ 385.

296

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage 'Das Unmittelbare streng genommen, ist fiir die Sterblichen unmöglich, wie fiir die Unsterblichen; der Gott muß verschiedene Welten unterscheiden, seiner Natur gemäß, [ ... ). Der Mensch, als Erkennendes, muß auch verschiedene Welten unterscheiden, weil Erkenntniß nur durch Entgegensezung möglich ist. Deswegen ist das Unmittelbare, streng genommen, fiir die Sterblichen unmöglich, wie fiir die Unsterblichen. Die strenge Mittelbarkeit ist aber das Gesez. ,236

Heidegger entnimmt der Anmerkung Hölderlins, daß das Wesen des Unmittelbaren darin besteht, zu vermitteln und dadurch Mittelbares zu ermöglichen. "Das Unmittelbare ist selbst nie ein Mittelbares, wohl dagegen ist das Unmittelbare, streng genommen, die Vermittlung, d.h. die Mittelbarkeit des Mittelbaren, weil sie dieses in seinem Wesen ermöglicht. Die 'Natur' ist die alles vermittelnde Mittelbarkeit, ist 'das Gesez'. ,,237 Er führt dann den Gedanken Hölderlins fort, indem er behauptet, daß das Unmittelbare im Geschehen der Vermittlung keineswegs aufgehe, sondern, die eigene Ursprünglichkeit bewahrend, immer wieder zum Ursprung werden könne. 238 Da das Unmittelbare das eigene Wesen, die reine Unmittelbarkeit, immer schon war, noch ehe Mittelbares ward, ist es das "stets Einstige". Es gilt nun wiederum, die Deutung der Natur als des Unmittelbaren, das auch als strenge Mittelbarkeit west, in Heideggers Seinsdenken einzutragen. Sein ist Unmittelbarkeit, d.h. reine Ursprünglichkeit. Die Ursprünglichkeit des Ursprungs kann man aus dem Entsprungenen nie ableiten. Darum kann das Wesensgeschehen des Seins, die Öffnung des Offenen, von dem in ihr Offenbaren, dem Seienden, weder er- noch begründet werden. Dennoch ist es dem Offenen wesenhaft zu eigen, daß in ihm das Seiende im Ganzen offenbar wird, und zwar als jenes Gefüge des einen und anderen, in dem es sowohl Einheit als auch Trennung gibt. Als solches west das Sein als das Vermittelnde, die Mitte des Mittelbaren. "Das Offene vermittelt die Bezüge zwischen allem Wirklichen. Dieses besteht nur aus solcher Vermittlung und ist daher ein Vermitteltes. Das also Mittelbare ist nur kraft der Mittelbarkeit [ ... ). Das Offene selbst jedoch, das allem Zu- und Miteinander erst den Bereich gibt, darin sie sich gehören, entstammt keiner Vermittlung. Das Offene selbst ist das Unmittelbare. ,,239

236

StA V I, 285.

237

EHD 62.

238 Darauf, daß Heidegger Hölderlins Gedanken nicht nur wiedergibt, sondern erweitert, hat schon Schulz-Seitz, 69, aufmerksam gemacht. 239

EHD 61.

4. Die Wesung des Seins

297

Von da aus ist denn auch zu verstehen, warum der Dichter in der dritten Strophe die tagende Natur als das Heilige ins Wort ruft. Nach Heidegger ist das Unmittelbare das wesenhaft Heile. Denn in der Vermittlung des Mittelbaren wird die reine Unmittelbarkeit des Unmittelbaren offenbar in ihrer Entzogenheit. Dergestalt bleibt das Wesen des Unmittelbaren unnahbar für den, der sich ihm von dem Mittelbaren her nähern will. Als das "Un-nahbare" ist es das wesenhaft Heile. Dennoch gönnt das Unmittelbare dem Mittelbaren, das der Vermittlung bedarf, das eigene Wesen. Dergestalt west es als das "Heilgewährende" . Das Zumal des Heilen und Heilgewährenden ist nach Heidegger das Wesen des Heiligen. 240 Die Natur west als das Heilige, insofern sie als die Mitte das Seiende im Ganzen vermittelt, ohne in ihrem Wesen vom Seienden her ermittelt werden zu können. Daß darin Heidegger zufolge das Wesen des Seins selbst gedacht wird, belegt nicht nur die Ineinssetzung der Natur und des Offenen in dem Vortrag zu "Wie wenn am Feiertage ... ". Dafür spricht auch folgende Stelle der "Beiträge": "Das Ereignis ist die sich selbst ermittelnde und vermittelnde Mitte, in die alle Wesung der Wahrheit des Seyns im voraus zurückgedacht werden muß. Dieses im voraus dahin Zurückdenken ist das Er-denken des Seyns. Und alle Begriffe vom Seyn müssen von da her gesprochen werden. ,,241

Es bleibt uns zu fragen, inwiefern das Unmittelbare, der Ursprung schlechthin, als das Vermittelnde alles Entsprungenen west. d) Die Fuge des Seins und das Gefüge des Seienden Jede Offenbarung ist angewiesen auf den, dem sie gilt. 242 Darum braucht Hölderlin zufolge die Natur den Menschen, insbesondere den Dichter. In ihm, dem endlichen Geist, findet sie, der unendliche Geist, die Stätte, an der sie zu sich kommen kann. "Des gemeinsamen Geistes Gedanken sind, Still endend in der Seele des Dichters,

240

EHD 63.

241

GA 65, 73.

2.2 Daher behauptet Schelling, Gott brauche den Menschen. Nur dadurch, daß er jenen als der offenbare angehe, könne er existieren. Vgl. dazu GA 42, 207: "Der Mensch muß sein, damit der Gott offenbar werde. Was ist ein Gott ohne den Menschen? Die absolute Form der absoluten Langeweile. Was ist ein Mensch ohne den Gott? Der reine Wahnsinn in der Gestalt des Harmlosen. Der Mensch muß sein, damit der Gott 'existiere'."

298

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage Daß schnellbetroffen sie, Unendlichem Bekannt seit langer Zeit, von Erinnerung Erbebt, [ ... )" (V. 43-47)

Hölderlins Dichtung des Geistes, der den Dichter begeistert, entspricht Heideggers Denken des Seins, das den Menschen auf sich hin eröffnet, um ihn als Stätte der eigenen Offenbarkeit zu begründen. Die Eröffnung des Menschen durch das Sein auf das Sein hin geschieht durch die Stimmung, in der die "Stimme des Seins", das Sprechen des Menschen gründend, "spricht". Der Hymne "Wie wenn am Feiertage ... " zufolge wird die Natur nur in der Stille als der Geist, der begeistert, "fühlbar". Ebenso wird laut Heidegger nur derjenige, welcher das eigene Sprechen aufgibt, damit allein die "Stimme" des Seins spreche, zu der Einsicht gelangen, daß nur eine gewandelte und sich immer wieder wandelnde Sprache dem Wesen des Seins zu entsprechen vermag. Und da nach Heidegger Sprache nur insofern wesenhafte Sprache ist, als sie dem Anspruch des Seins ent-spricht, ist die Stille, d.h. das Schweigen, in dem das Dasein an sich hält, der Ursprung der wesenhaften Sprache. 243 Von daher ist auch zu erklären, daß Heidegger unter Berufung auf Vers 44 betont, das Tagen der Natur sei "das stillste aller Ereignisse" .244 Die tagende Natur, d.h. das von sich aus offenbar werdende Sein, fordert den Dichter dazu auf, die ihm in der Stimmung schon zugeworfene, jedoch noch unentfaltete Offenheit des Seins zur Offenbarkeit des Seienden zu entfalten. Sobald der Dichter der "Stimme" des Seins, die ihn in aller Stille bestimmt, entspricht, kommt Sein zur Sprache. Dadurch wird es offenbar als Welt. So deutet Heidegger auch in der Rede zu "Wie wenn am Feiertage ... " das Schweigen, in dem die Grundstimmung aufkommt, als den Ursprung der Offenheit des Seins als Welt: "Die Offenheit des Offenen fügt sich zu dem, was wir 'eine Welt' nennen. Deshalb allein treten für diese Dichter die Zeichen und die Taten der Welt in ein Licht; denn die Dichter sind nicht wc1tlos." W

Wir werden im Folgenden der Frage, was es bedeutet, daß Sein sich zur Welt fügt, ausführlicher nachgehen, da Heideggers Seinsdenken von daher nochmals deutlichere Konturen erhält.

243

Vgl. dazu GA 65, 78f.

2.. EHD 58. Die Verse 43f. stellen Heidegger zufolge eine von den folgenden Versen abzuhebende Wendung dar, die lautet: "Des gemeinsamen Geistes Gedanken sind,! Still endend in der Seele des Dichters." (EHD 67). Auf die Einwände, die dagegen zu erheben sind, gingen wir an anderer Stelle schon ein. Vgl. oben S. 80, Anm. 89. W

EHD 64; vgl. GA 39, 218.

4. Die Wesung des Seins

299

Daß die Dichter der oben zitierten Stelle zufolge "nicht weltlos" sind, besagt, daß ihr Sein das des In-der-Welt-seins ist. Heidegger erinnert dadurch an die Darlegungen zur Weltlichkeit der Welt, die er in "Sein und Zeit", Paragraph 18, vorgelegt hat. Die Offenheit der Welt wird dort auf die Weltlichkeit des Daseins zurückgeführt. Nur dem Seienden, dessen Sein die Verfassung des Inder-Welt-seins hat, kann Sein als Welt offenbar werden. Der "Urentwurf" des Daseins, in dem das Dasein das eigene Sein aneignet, ist daher denn auch der Entwurf von Welt, dem Ganzen bedeutsamer Bezüge, von dem her das Dasein sein Sein deutet. 246 Als Entwurf des Daseins ist auch der Weltentwurf durch Nichtigkeit bestimmt. Die Aneignung des Seins des Daseins durch den Entwurf kann nur in Entsprechung zu der Geworfenheit des Daseins erfolgen, woraus folgt, daß das Dasein Welt nur entwerfen kann, da es immer schon mit Bedeutsamkeit überhaupt vertraut ist. Die aufgrund der Geworfenheit gegebene Vertrautheit des Daseins mit Welt als dem Bezugsganzen des Bedeutens, von dem her es das eigene Sein deutet, stellt den Grund dar, in dem das Sein der Sprache gründet - ein Gedanke, der im Paragraphen 34 von "Sein und Zeit", der eigens der Sprache gewidmet ist, nochmals aufgegriffen wird. Aus ihm geht hervor, daß das bedeutende Ganze, in welches das Dasein geworfen ist, in den Bedeutungen, in denen sich dem Dasein das Sein des einzelnen Seienden entbirgt, wiedergegeben werden kann. Das Wesen der Sprache, in dem auch das Sprechen des Daseins gründet, besteht demnach darin, daß in ihr das Bedeutungsganze zum Gefüge der Bedeutungen wird, die in den Worten, die das Dasein ausspricht, zu Wort kommen. 247 Indem das Wort die Bedeutung nennt, die dem Dasein in der Deutung des Seins des Seienden deutlich wurde, sagt es, was das Seiende ist. Dadurch ist auch schon gesagt, was es flicht ist. In der Sprache wird Seiendes stets als das eine und nicht das andere offenbar. Entsprechend ist in ihr das eine immer schon auf das andere bezogen dergestalt, daß sich die Bedeutung des einzelnen Seienden aus dem Bezugsganzen des Bedeutens, der Welt, welche als ein Gefüge von Bedeutungen zu betrachten ist, ergibt. Und insofern uns das Seiende im Ganzen als solches nur in der Sprache offenbar wird, ist es uns eröffnet als ein Gefüge, in dem das eine mit dem anderen verfugt ist. In der Vorlesung vom Sommersemester 1936 betont Heidegger daher in Anlehnung

246

V gl. SuZ 87.

247 Vgl. SuZ 161: "Rede ist die Artikulation der Verständlichkeit. [00') Das in der redenden Artikulation Gegliederte als solches nennen wir das Bedeutungsganze . Dieses kann in Bedeutungen aufgelöst werden.·

300

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage

an Schelling: "Sofern wir 'Seyn' überhaupt verstehen, meinen wir dabei so etwas wie Gefüge und Fügung. "248 Daß Heidegger die horizontal eröffnete Offenheit von Sein schon in "Sein und Zeit" als Gefüge von Bedeutungen interpretiert, wurde hier nochmals eigens betont, da sich daraus Konsequenzen ergeben, die Heideggers Seinsdenken wiederum in die Nähe zur Naturdichtung Hölderlins bringen. Denn unter Berufung auf Spinozas bekannte Wendung "omnis determinatio est negatio"249 würde auch Hölderlin sagen, das Sein des einzelnen Seienden könne nur dadurch erkannt werden, daß im Ganzen des Seins das eine Seiende als von dem anderen Seienden unterschiedenes erfahrbar wird. In der von Heidegger in der Rede zu "Wie wenn am Feiertage ... " zitierten Anmerkung zu dem Fragment "Das Höchste" behauptet auch er: "Erkenntniß [ist] nur durch Entgegensezung möglich. "250 Davon ausgehend fragt Hölderlin schon in dem frühen Fragment "Urtheil und Seyn"251 nach dem Grund, der uns dazu nötigt, das Seiende trotz der Entgegensetzungen, die es uns als solches eröffnen, doch als ein Eines zu erfahren, dem Grund, der die Auslegung des Seins als eines Gefüges oder, mit Hölderlins Worten gesagt, eines "Systems" ermöglicht. Das Anliegen Schellings teilend, das "System" aus dem eigenen Grund heraus zu begründen, geht es Hölderlin darum, das "Prinzip" aufzudecken, das "[00'] die Trennungen, in denen wir denken und existiren, erklärt [00']' "252 Während er in dem frühen Fragment "Urtheil und Seyn" den Schritt zurück geht von dem Getrennten zum Einigenden, welches ihm zufolge nur das Sein selbst sein kann, begründet er in den dichtungstheoretischen Abhandlungen und späten Gedichten die Faktizität der Entgegensetzungen von dem Wesensgeschehen des Seins her, das er als jene "Ur-Theilung" denkt, in der das Eine aufbricht in die Einheit des Getrennten: Natur und Geist, Objektivität und Subjektivität, Endlichkeit und Unendlichkeit. Da laut Hölderlin "Erkenntniß nur durch Entgegensezung möglich [ist]" und "Entgegensezung" in den oben genannten Trennungen anhebt, ist die "Ur-Theilung" des Seins der Grund der Erfahrbarkeit des Seienden im Ganzen und als solcher das Ursprungsgeschehen schlechthin.

248

GA 42, 86.

Vgl. W. Hübner: Zu Spinozas Satz "Omnis determinatio est ncgatio". In: Positionen der Negativität. Hg. von H. Weinrich. München 1975. 249

HO

StA VI, 285.

2>1

StA IV 1, 216f.

m StA VII, 203.

4. Die Wesung des Seins

301

Auch der Hymne "Wie wenn am Feiertage ... " zufolge erfolgt die "Ur-Theilung", die Teilung des Einen in die Einheit von Natur und Geschichte, "Äther" und "Abgrund" (V. 24), vom Einen her. Sie ist das Wesens geschehen des Seins selbst. In unseren Darlegungen zur Kehre im Wesen der Dichtung nahmen wir schon vorweg, daß auch Heidegger in den frühen 30er Jahren zu der Einsicht gelangt, daß die Fügung des Gefüges, welches die Sprache darstellt, vom Sein selbst her geschieht. Dieser Gedanke ist nun anhand der Auslegung von "Wie wenn am Feiertage ... " zu vertiefen. In Texten und Vorträgen nach der sogenannten Kehre führt Heidegger das Sprachdenken von "Sein und Zeit" insofern klärend fort, als er nun eigens betont, daß Sein uns nur in der Sprache und als Sprache eröffnet ist. Der Gedanke, daß Sein uns nur in der Sprache gegeben ist, kann dabei durchaus als Fortführung der Aufdeckung der Einheit von Sein und Sprache in "Sein und Zeit" betrachtet werden. Heideggers Sprachdenken wandelt sich nach "Sein und Zeit" jedoch insofern, als er in den nach 1930 entstandenen Schriften und Vorlesungen davon ausgeht, daß das Sein oder Wesen des Seienden keineswegs der Geschichte enthoben ist. Zu Zeiten gilt es vielmehr, noch ursprünglicher oder wieder ursprünglich zu sagen, was das Seiende eigentlich ist. Und aufgrund der Einheit von Sein, Sprache und Offenbarkeit, fällt dann die Entscheidung darüber, was das Seiende ist und was es nicht ist. Heideggers Interpretation zufolge erinnert daran die Wendung "Die Natur ist jezt mit Waffenklang erwacht" (V. 23). Sie deutet er auf das Wort hin, welches das Wesenhafte nenne, dadurch das Wesen vom Unwesen scheide und dergestalt "Waffe" sei. 253 Nach der Kehre geht Heidegger aber nicht nur eigens auf die Geschichtlichkeit von Sprache ein. Anders als in "Sein und Zeit" begreift er nun die Sprache von dem Geschehen der Ent-sprechung her, in welchem ihr Wesen gründet. Demnach können wir überhaupt nur sprechen, da wir uns schon vom Sein angesprochen erfahren. 254 Ursprung unseres Sprechens, welches das Seiende nennt und zum Sein ernennt, ist die Stimmung, die uns vor das Seiende versetzt. In solcher Versetzung erfahren wir, daß das Seiende ist, und wir fühlen uns dazu aufgefordert, danach zu fragen, was es ist und wie es ist. Zwar eröffnet die Stimmung, die schon der Abhandlung "Vom Wesen des Grundes" zufolge eine "Dämmerung" von Sein zeitigt,255 das Ganze des Seienden noch nicht entschieden genug. Das geschieht erst durch unser Sprechen.

m EHD 58. 2>4

Vgl. u.a. GA 9,323.

m Vgl. GA 9, 167.

302

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage

Indem es das Seiende beim Namen nennt, sagt es ihm die Entschiedenheit des Seins zu. "Sofern diese Not [die Not einer Grundstimmungl über den Menschen kommt, verselZl sie ihn in dieses Zwischen des noch unentschiedenen Seienden als solchen, des Unseienden im Ganzen. [ ... 1Diese Versetzung setzt den Menschen erstmals in die Entscheidung der entschiedensten Bezüge zum Seienden und Unseienden. ,,256

Das Verhältnis von Sein und Mensch wird hier genau bestimmt. Das Sein braucht den Menschen, um in dessen Sprache in die eigene Offenbarkeit zu gelangen. Darum spricht das Sein den Menschen an, und zwar, indem es ihn in eine Grundstimmung wirft. Der Anspruch des Seins wird erfahren als Versetzung vor das Seiende im Ganzen, welche Versetzung in sich die Aufforderung enthält, zu sagen, was und wie das Seiende ist. Und in solchem Sagen wird dann das Seiende in sein Sein hinein entschieden. Ohne es gäbe es keine Entschiedenheit des Seins. Insofern geschieht die Eröffnung von Sein, und d.h. die Fügung des Gefüges, als welches uns Sein offenbar ist, durch unser Sprechen. Der Ursprung unseres Sprechens aber ist das Sein selbst, das uns als Stimmung anspricht. Die Sprache, betont Heidegger daher denn auch im "Humanismus-Brief", ist "das vom Sein ereignete und aus ihm durchfügte Haus des Seins. "257 Heideggers Interpretation der dritten Strophe der Hymne "Wie wenn am Feiertage ... ", vor allem die Auslegung des dort erwähnten Geistes der Natur, basiert auf der oben skizzierten Einsicht in die Einheit von Sein und Sprache. Wie oben dargelegt, geht Heidegger davon aus, daß der Wesensgrund der Sprache jenes Geschehen ist, in dem das Dasein vom Sein dazu bestimmt wird, Sein derart zu entwerfen, daß der Entwurf dem als Stimmung zugeworfenen Anspruch des Seins entspricht. Der Wesensgrund der Sprache ist in einem zumal der des Denkens. Dem "Humanismus-Brief" zufolge ist dasjenige Denken "wesentliches Denken", dem es darum geht, denkend dem Anspruch des Seins zu entsprechen. 258 "Das Denken ist des Seins, insofern das Denken, vom Sein ereignet, dem Sein gehört. Das Denken ist zugleich Denken des Seins, insofern das Den-

2>6

GA 45, 160.

2>7

GA 9, 333.

2>8 In der Interpretation zu Hölderlins Hymne" Andenken" deutet Heidegger das "wesentliche Denken" als grüßendes Denken, welches das grüßt, von dem es schon gegrüßt ist. Auch darin hebt Heidegger auf die Entsprechung ab, die das Wesen des Denkens bestimmt.

4. Die Wesung des Seins

303

ken, dem Sein gehörend, auf das Sein hört. Als das hörend dem Sein Gehörende ist das Denken, was es nach seiner Wesensherkunti ist. .. 259

Das "wesentliche Denken" erkennt, daß es das Sein nur denken kann, da es schon vom Sein auf es hin eröffnet wurde. Dergestalt erfährt es sich als vom Sein er-eignetes, d.h. im eigenen Wesen gegründetes, Denken. Das Denken gehört jedoch nicht nur dem Sein, sondern es hört auch auf das Sein. Seinem Anspruch entsprechend, entfaltet es die ihm in der Stimmung und als Stimmung zugeworfene Offenheit des Seins zur Offenbarkeit des Seienden im Ganzen. Was für die Sprache gilt, gilt daher auch für das Denken. In ihm und durch es ereignet sich das Wesensgeschehen des Seins selbst. An das wesentliche Denken erinnern laut Heidegger die Verse 24 bis 27 der Hymne "Wie wenn am Feiertage ... ". Indem die Natur zu sich kommt, "Fühlt neu die Begeisterung sich," (V. 26). Dazu legt Heidegger in der Rede von 1939/40 folgende Interpretation vor: "Sie [die Naturl ist selbst 'die Begeisterung'. Be-geistan kann sie nur, weil sie 'der Geist' ist. Der Geist waltet als die nüchterne aber kühne Aus-einandersetzung, die alles Anwesende in die wohlgeschiedenen Grenzen und Gefiige seiner Anwesung einsetzt. Solches Auseinandersetzen ist das wesentliche Denken. Das Eigenste 'des Geistes' sind die 'Gedanken', durch die alles, weil auseinandergesetzt, gerade zusammengehört. ,~60

Die Natur, d.h. das Sein, ist selbst "der Geist". Dem Geist zugehörig sind die "Gedanken", d.h. das "wesentliche Denken", das, vom Sein ereignet, das Seiende in das Sein fügt, so zwar, daß es das Ganze des Seienden als einiges und das einzelne Seiende als vom anderen getrenntes denkt. Daraus geht hervor, daß die Fügung des Gefüges des Seins zwar durch das wesentliche Denken geschieht. Sie geht dennoch vom Sein selbst aus, welches das Denken als ihm zugehöriges ereignet. Es ist das Sein, das durch das wesenhafte Denken und das wesenhafte Sprechen das Gefüge des Seins des Seienden fügt. Von daher legt Heidegger dann auch aus, daß der Dichter die Natur in Vers 13 nicht nur "mächtig", sondern auch "göttlichschön" nennt. Zwar geht er dazu weder auf die von uns angeführte Stelle aus dem "Hyperion" ein, an der Hölderlin die Natur als das "EI' KW Ilol''' bedenkt und ihr den Namen "Schönheit" gibt,261 noch nimmt er Bezug auf die ebenfalls im "Hyperion" zu findenden Sätze, in denen ausgeführt wird, daß das "EI' KW Ilol''' im "fl' OW

HW 49.

286

HW 34.

,..., HW34.

2" In einer Anmerkung zU WG legt Heidegger dar, daß Entwurfund Geworfenheit differente Erfahrungen des Seins des Seienden vorgeben. In dem vom Entwurf des eigenen In-der-Welt-seins geleiteten Verhalten wird Seiendes als Zeug entdeckt. Das Dasein kann sich aber nur deshalb zu Seiendem als solchem verhalten, weil ihm das Ganze des Seienden in den Stimmungen offenbar ist

312

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage

relevanten Grundgedanken aufmerksam gemacht. Die Öffnung des Seins als Welt deutet Heidegger als Gestaltwerdung. Indem Sein offenbar wird und uns auf sich hin eröffnet, erlangt es für uns eine bestimmte, epochale Gestalt. Ebenso ist es offenkundig, daß in Heideggers Deutung der "Erde" die metaphysische Interpretation der Materialität als des Woraus und Woher des Gestalthaften noch nachklingt. Anders als die metaphysisch gedachte Materialität ist Heideggers Aufdeckung der "Erde" aber nicht nur auf eine Deutung des Seins des Seienden, sondern auf das Sein selbst, d.h. dessen Wesung bezogen. Sein selbst west als "Erde", als verborgenes Woher der eigenen Offenbarkeit. Und in der Offenheit von Welt wird das Ganze des Seins, die "Erde", offenbar als das Bergende, dessen die Öffnung von Sein bedarf. Der Vortrag "Vom Ursprung des Kunstwerkes" führt uns sodann tiefer in Heideggers Naturverständnis hinein. Denn Heidegger kritisiert im Kontext der Aufdeckung der Einheit von Welt und Erde den modemen, durch Descartes Gedanken der mathesis universalis begründeten Zugang zur Natur. Die Erde kommt als Erde, d.h. als das Ganze der Natur, das uns in der Geworfenheit übereignet ist, damit wir es entwerfend aneignen und zum Grund unseres Daseins wandeln können, nur dort in das Offene, wo sie nicht zum beherrschbaren Objekt gemacht wird, sondern "wo sie als die wesenhaft Unerschließbare

und zwar als Natur. "Natur ist ursprünglich im Dasein offenbar dadurch, daß dieses als befindlichgestimmtes inmillen von Seiendem existiert" (GA 9, 155, Anm. 55). Den dargelegten Gedanken aufgreifend, entfaltet Heidegger in der Abhandlung "Der Ursprung des Kunstwerkes" von 1935/36 eine ursprüngliche Auslegung der Einheit von Stoff und Form. Er geht davon aus, daß bei der Aufdeckung von Stoff und Form als grundlegender Dimensionen des Seins das Zeug als Paradigma des Seienden genommen wurde. Denn daraus, wozu etwas dienlich ist, ergibt sich die Anordnung der Form, die ihrerseits die Anordnung des Stoffes bestimmt. Dienlichkeit wiederum ist der Grundzug der Zeughaftigkeitdes Zeugs (HW 13). Doch anhand des Gebrauchs ist zu belegen, daß das Zeug nie nur dienlich, sondern die Dienlichkeit "nur die Wesensfolge der Verläßlichkeit" ist (HW 19). Indem nämlich Seiendes in den Dienst genommen wird, wesen in ihm Welt und Erde an. Ersteres ist uns aus SuZ, § 18, geläufig. Das Wozu der Dienlichkeit nennt Heidegger dort die Bewandtnis. Sie ergibt sich aus dem Bewandtnisganzen, der Welt. Seiendes gebrauchen kann daher nur der, der mit Welt vertraut ist. In einem zumal ist im Zeug "Erde" da. "Erde" nennt Heidegger auch in der Kunstwerk-Abhandlung die Natur. Sie west nicht nur in der Stofflichkeit des Zeugs an, sondern wird auch im Gebrauch erfahren. Denn das Dasein ist gerade im Ergrdfen von Welt der Natur leibhaftig ausgesetzt. U.a. ist es den Bedingungen von Geburt und Tod, Aufgang und Untergang unterworfen. Aufgrund der Anwesenheit von Welt und Erde ist das Zeug mehr als nur dienlich. Von ihnen her ruht es in sich. "Die Ruhe des in sich ruhenden Zeuges besteht in der Verläßlichkeit. An ihr ersehen wir erst, was das Zeug in Wahrheit ist" (HW 20). Das Stoff-FormGefüge gründet demnach in der Einheit von Erde und Welt, welche die Verläßlichkeit, und d.h. das Sein des Seienden, ausmacht. Dabei bildet die Einheit von Welt und Erde das eine Ganze, in dem das Dasein als geworfen-entwerfendes immer schon innesteht, wobei der Anmerkung zu WG zufolge der Entwurf vor allem die Offenbarkeit von Welt, die Geworfenheit vor allem die Zugehörigkeit zur Erde offenhält. Eine systematische Interpretation des Vortrags "Der Ursprung des Kunstwerks" bietet von Hermrann, 1980.

4. Die Wesung des Seins

313

gewahrt und bewahrt wird, die vor jeder Erschließung zurückweicht und ständig sich verschlossen hält. "289 Das geht auch aus der Interpretation zu "Wie wenn am Feiertage ... ", anhand derer Heidegger in das Wesensgeschehen des Seins einführt, hervor. Heideggers Interpretation zufolge nennt die Hymne die Natur das Heilige, da sie der verborgene Grund der Geschichte ist, der uns, die wir der Geschichte unterworfen sind, als der "stets Einstige" gilt. Wohl kann die Natur nur dadurch zum Grund der Geschichte werden, daß sie in der Dichtung als solcher begründet wird. Doch indem solches geschieht, wird auch schon deutlich, daß uns das, wessen wir bedürfen, um geschichtlich sein zu können, in der Natur, dem Ganzen des Seienden, dem wir als geworfene ausgesetzt sind, immer schon gegeben ist. "Die Natur hat 'zuvor' 'lächelnd' den Menschen 'den Aker' gebauet. Das Wort 'der Acker' steht hier [ ... ] für alles, worauf und woraus die Menschen leben. ,,290 Demnach meint "der Acker" die "Erde" als den heimatlichen Grund, auf dem die Menschen wohnen können. Lange Zeit wurde die Natur in ihrem Wesen verkannt. Statt zu bedenken, daß geschichtliches Dasein nur gelingen kann, wenn das Wohnen auf die Erde gegründet und sie als der unergründbare Grund anerkannt wird, wurde sie von Menschen gesetzten Zwecken unterworfen und dadurch zum Objekt gemacht. Das in den Versen 34 bis 36 erwähnte Lächeln der Götter interpretiert Heidegger denn auch als Metapher für die Natur, die in ihrer Heiligkeit hinnimmt, daß die Menschen nicht bedenken, daß ihr Wesen darin besteht, ihnen den Grund ihres Daseins zu bereiten. Rekapitulieren wir das Dargelegte nochmals kurz. Heidegger verbindet schon in den frühen Abhandlungen und Vorlesungen die Frage nach dem Sinn von Sein mit der Frage nach der Einheit der mannigfaltigen Bedeutung des Seins. Während er die gestellte Frage im Kontext der sogenannten func\amentalontologischen Ausarbeitung der Seinsfrage im Ausgang von der Zeitigung der Zeitlichkeit des Daseins, welche ekstatisch-horizontal erfolgt, angeht, legt er die Vielfältigkeit unseres Sprechens von Sein in der sogenannten seinsgeschichtIichen Ausarbeitung der Seinsfrage vom Offenbarungsgeschehen des Seins selbst her aus. Hölderlins Frage nach dem ermöglichenden Grund von Erkenntnis überhaupt entspricht insofern Heideggers Seinsfrage, als Hölderlin davon ausgeht, daß der erfragte Grund in einem zumal der Grund der Entgegensetzungen, in denen und durch die uns das Seiende im Ganzen eröffnet ist, sein muß. Auch darin, daß Hölderlin die transzendentalphilosophische Fragestellung in den Kontext der ontologischen Frage nach dem Sein

289

HW 32.

290

EHD 65.

314

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage

überhaupt einstellt, wird die Nähe von Hölderlins Dichten und Heideggers Denken deutlich. In dem frühen Fragment "Urtheil und Seyn" führt Hölderlin aus, daß die Entgegengesetztheit des Entgegengesetzten nur aufgrund des das Entgegengesetzte als Ganzes Einigenden erfahren werden könne, und er vertritt gegen Fichte die These, daß das Einigende nur das Sein selbst sein kann. Der dort erstmals angedeutete Gedanke der "Ur-Theilung" des Seins kommt in den späten Abhandlungen und Gedichten Hölderlins entfaltet zur Sprache. In der "Ur-Theilung" fügt sich das Eine zur Fuge von Geschichte und Natur, Ich und Nicht-Ich, Unendlichkeit und Endlichkeit. Und insofern "Erkenntnis nur durch Entgegensezung möglich [ist]" und "Entgegensezung" überhaupt in der Gegensätzlichkeit von Ich und Nicht-Ich anhebt, ist die "Ur-Theilung" des Seins der ermöglichende Grund der Erkenntnis des Seienden als Seiendem und als solcher das Ursprungsgeschehen schlechthin. Analog zu Hölderlins Gedanken der Urteilung des Seins deutet Heidegger das Offenbarungsgeschehen des Seins als Ereignis der "Zerklüftung" des Seins. In der von Hölderlin gedachten Kluft von Äther und Abgrund erkennt er den "Urstreit" , der im Sein west, den Streit von Erde und Welt, wieder. Daß Erde und WeIt als strittige einig sind, begründet er durch die Aufdeckung der Abgründigkeit von Sein, d.h. der Einheit von Wahrheit und Unwahrheit im Wesen des Seins. Das Wesensgeschehen des Seins, die Öffnung des Offenen, ist das Geschehen, in dem die Kluft entsteht: Übergang des Einen in die Einheit des Geeinten, Urgeschehen der Zerklüftung des Seins. Daß die Wesung des Seins sich ereignet als Fügung der Fuge von Erde und Welt, ist auch der Grund der im vorangegangenen Abschnitt erörterten "dialogischen" Struktur des Ereignisses, welches sowohl den Gott braucht, damit Sein als Welt, d.h. als Kontext geschichtlichen Daseins, offenbar werden kann, als auch des Menschen bedarf, aufgrund dessen der Offenheit von Sein jene Endlichkeit eignet, die ihr erst ihre Entschiedenheit gibt. 5. Hölderlins DichTung und die anfängliche E,jahrung des Seins a) Die "vaterländische Wendung" Hölderlins Heidegger teilt mit Hölderlin, dem Dichter, der das "Nichtdenken des Unbekannten"291 beklagt, die Einsicht in die Frag-würdigkeit des Seins. Dabei ist sein Denken insofern dem Dichten Hölderlins veIWandt, als beide ihre Frage nach dem Sein mit einer Infragestellung der Subjektivität verbinden. Gegen Fichte einerseits und Husserl andererseits glauben sie darauf bestehen zu müssen, daß die Wißbarkeit bzw. Verständlichkeit von Sein überhaupt von der

291

StA IV I, 158.

5. Hölderlins Dichtung und die anfangliche Erfahrung des Seins

315

Subjektivität des Subjekts her nicht begründet werden kann. Denn das Subjekt ist nur insofern Subjekt, als es sich als Selbst versteht. Versteht das Subjekt sich aber als Selbst, weiß es sich auch immer schon dem Seienden, welches nicht es selbst ist, entgegengesetzt; es erfährt sich als das selbsthaft Seiende dem naturhaft Seienden und dessen Sein "ausgesetzt", um den Sachverhalt mit einem Wort Heideggers zu bezeichnen, welcher die Ausgesetztheit des Selbst auch als "Ausgeliefertsein " bestimmt. 292 Dadurch deutet er an, daß das Dasein ohnmächtig ist im Bezug auf das ihm entgegengesetzte Seiende, dessen Faktizität es anerkennen muß. 293 Da die Entgegensetzung von selbsthaft und naturhaft Seiendem schon gegeben ist, sobald das Selbst sich als solches erfaßt, muß angenommen werden, daß ihr Ursprung im Sein geborgen und verborgen ist. Davon ausgehend, dringen Hölderlin und Heidegger zu einem Seinsdenken vor, in dem Sein als Ereignis gedacht wird - näherhin als das Ereignis, weIches die Entgegensetzung von selbsthaft und naturhaft Seiendem ermöglicht, indem es sich ereignet als Fügung der Fuge, in welcher das durch Einheit und Anderheit zugleich bestimmte Gefüge des Seienden im Ganzen begründet ist. Anhand der Hymne "Wie wenn am Feiertage ... " gingen wir darauf im vorangegangenen Kapitel unserer Darlegungen ausführlich ein. In besagter Hymne stellt Hölderlin dar, daß das Eine, weIches der Dichter "das Heilige" nennt, sich selbst zur Fuge von Natur und Geist fügt. Obwohl an sich eins, öffnet es sich für uns nur in der Entgegensetzung von Formalität und Materialität, Licht und Dunkel, "Äther" und "Abgrund". Die von Hölderlin dichtend gedachte Urfuge des Seins interpretiert Heidegger von der eigenen Einsicht in das Wesen des Seins her als Fuge von Erde und Welt, weIche ihrerseits in der Kluft von Verborgenheit und Entborgenheit ihren Ursprung hat. Da Sein nur durch den geworfenen Entwurf des Daseins offenbar werden kann, welches durch Nichtigkeit (Endlichkeit) bestimmt ist, west Sein stets sowohl als Entbergung wie auch Verbergung. Die Verendlichung von Sein geschieht durch uns, die wir die Offenheit von Sein in die Endlichkeit von Sprache bergen. Dabei bringen wir in unserem Sprechen die Faktizität von Sein, in welche wir geworfen sind, als den verborgenen Ursprung aller unserer Entwürfe zur Sprache, als den unfaßlichen Grund, in dem alles sprachliche Erfassen von Sein und Seiendem abgründig gründet. Nach Ansicht Heideggers entspricht Hölderlins Dichtung des Urgeschehens des Heiligen, der Fügung des Einen zur Fuge des Geeinten, jener Seinserfahrung, die in dem griechischen Wort "vaLC;" anklingt.

292

So schon GA 24, 240; GA 3,267.

293

Vgl. GA 26, 212.

316

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage "Hölderlins Wort 'die Natur' dichtet ihr Wesen in diesem Gedicht nach der verborgenen Wahrheit des anfänglichen Grundwortes (j)VOII;. Aber Hölderlin hat die auch heute noch kaum ennessene Tragkraft des anfänglichen Grundwortes (j)VOLC; nicht gekannt. Insgleichen will Hölderlin mit dem, was er 'Natur' nennt, nicht das in alter griechischer Zeit Erfahrene nur wieder aufleben lassen. Hölderlin dichtet in dem Wort 'die Natur' ein Anderes, das wohl in einem verborgenen Bezug zu Jenem steht, was einstmals (j)VOLC; genannt worden .• 294

Wir beenden daher unsere Darlegungen mit einigen Anmerkungen zu Heideggers Deutung der griechischen Seinserfahrung. Warum kann er behaupten, Hölderlins Dichtung stehe in einem verborgenen Bezug zum Denken der Griechen? Inwiefern sagt Hölderlin das von den Griechen Erfahrene noch einmal anders? Von weIcher Art ist der Bezug seines Dichtens zum Dichten und Denken der Griechen? Und warum mußte dieser Bezug bislang verborgen bleiben? Um die Fragen, weIche die oben zitierten Sätze Heideggers aufwerfen, zu klären, muß in einem ersten Schritt danach gefragt werden, von weIchem Ort in der Geschichte die Nähe der Dichtung Hölderlins zum Denken der Griechen überhaupt erblickt werden kann. Es wird zu verdeutlichen sein, daß erst der Sprung in das seinsgeschichtliche Denken den Blick für den angesprochenen Bezug öffnet. Entsprechend ist die Einheit von Hölderlins Denken und Dichten zu dem der anfänglichen Denker auch von daher zu erörtern. Es dürfte bekannt sein, daß Heidegger die These, Hölderlins Dichtung der Natur könne nur aus ihrem Bezug zur griechischen Seinserfahrung verstanden werden, unter Berufung auf Beillners Theorie der sogenannten "vaterländischen Wendung" Hölderlins vertritt.~95 An ihr wurde sowohl in der Hölderlin- als auch Heidegger-Forschung wiederholt Kritik geübt. 296 Auch wir kamen im Kontext unserer Interpretation der Hymne "Der Ister" schon einmal kurz darauf zu sprechen. Es scheint uns aber angebracht, nun noch einmal ausführlicher darauf einzugehen, da Heideggers Bezugnahme auf Beißners Hölderlin-Interpretation nur im Kontext der im ersten Kapitel des zweiten Teils unserer Ausführungen dargestellten Auffassung des Wesens der abendländischen Geschichte und ihrer Auslegung des Seins besprochen werden kann. In der Hoffnung, dadurch auch die Ansicht widerlegen zu können, Heideggers Hölderlin-Interpretationen seien schon deshalb als überholt anzusehen, weil

294

EHD 57.

29> F. Beißner: Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen. 2. Aufl., Stuttgart 1961 (I. Aufl. 1933). 296 Zu Heideggers Rezeption der Hölderlin-Auslegung Beil\ners vgl. Ziegler, 54-57, 198-204; Kellering, 1987, 195-202.

5. Hölderlins Dichtung und die anfängliche Erfahrung des Seins

317

sich die Darlegungen Beißners als fragwürdig erwiesen haben, werden wir die Grundzüge der Forschung zu Hölderlins "vaterländischen Wendung" in einem kurzen Exkurs skizzieren und den Ansatz der Interpretation Heideggers davon abheben. Uns geht es darum, deutlich zu machen, daß die Nähe von Hölderlins Dichten der Natur zu dem griechischen Denken des Seins überhaupt nur zu begreifen ist im Kontext der seinsgeschichtlichen Einsicht in den Bezug des ersten zum anderen Anfang der Geschichte sowie Hölderlins Stellung im Übergang der Zeiten. Michel sprach erstmals im Jahr 1919 von Hölderlins "abendländischer Wendung", worunter er eine zunehmende Anerkennung der Endlichkeit und Begrenztheit des Daseins durch Hölderlin verstand. 297 Zum Beleg seiner These berief Michel sich auf Hölderlins Brief an Böhlendorff vom 4. Dezember 1801 298 , in dem Hölderlin Griechen und Deutsche im Hinblick auf das "NationeIle" unterscheidet, wobei er unter dem "Nationellen " das "Natürliche" eines Volkes, d.h. das ihm von der Natur Mitgegebene, versteht. Hölderlin führt aus, das "Nationelle" der Deutschen sei "die Klarheit der Darstellung", das der Griechen "das Feuer vom Himmel". Er vertritt sodann die These, "der freie Gebrauch des Eigenen" sei "das schwerste". Darum werde "[ ... ] das eigentliche nationelle [ ... ] im Fortschritt der Bildung immer der geringere Vorzug werden". Zwar gesteht er zu: "Aber das eigene muß so gut gelernt seyn, wie das Fremde". Insofern hält er es auch für sinnvoll, daß die Deutschen sich im Bezug auf die "Klarheit der Darstellung" an den Epen der Griechen üben. Er geht aber offensichtlich davon aus, daß sie in ihrer eigenen Dichtung deren Klarheit nie erreichen werden. Die Deutschen werden die Griechen eher in dem übertreffen, was sie im Gang der Geschichte erst aneignen müssen, da es ihnen nicht schon von Natur aus gegeben ist. Michel machte ferner aufmerksam auf eine Stelle aus Hölderlins Anmerkungen zur Übersetzung der "Antigone" , an der Hölderlin Griechen und Deutsche wiederum im Hinblick auf die Grundtendenz ihrer Geschichte unterscheidet. Die Haupttendenz der Griechen sei es gewesen, "sich jassen zu können, weil darin ihre Schwäche lag", dagegen sei es "die Haupttendenz in den Vorstellungsarten unserer Zeit [. .. ], etwas treffen zu können, Geschik zu haben, da das Schicksaallose, das övap.opo/J, unsere Schwäche [sei]" .299 In seiner Abhandlung "Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen" hat Beißner kritisiert, daß die von Michel vertretene These von einer Wendung im

297 Der bereits 1919 entstandene gleichnamige Essay wurde inzwischen mehrfach veröffentlicht, u.a.: W. Michel: Hölderlins abendländische Wendung. 2. Aufl., Jena 1923. 298

StA VI I, 425-428.

299

StA V I, 269f.

318

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage

Sinne einer Zuwendung zum Endlichen im Widerspruch steht zu den von ihm angeführten Stellen. Den Begriff der "vaterländischen Wendung" dennoch aufgreifend, vertritt er die These, in dem Böhlendorff-Brief komme Hölderlins Ansicht zum Ausdruck, der Aneignung des Fremden müsse die des Eigenen folgen, damit sich so der Ausgleich von Angeborenem und Erworbenem herstelle. 300 Neben den schon zitierten Stellen hat Beißner folgende Verse aus einem Entwurf zu der Schlußstrophe der Elegie "Brod und Wein" erstmals mitgeteilt: "[ ... ) nemlich zu Hauß ist der Geist Nicht im Anfang, nicht an der Quell. Ihn zehret die Heimath. Kolonie[n) liebt, und tapfer Vergessen der Geist. Unsere Blumen erfreun und die Schatten unserer Wälder Den Verschmachteten. Fast wär der Beseeler verbrandt. ,,301

Auch sie sprechen nach Beißner dafür, daß die Geschichte nur gedacht werden kann als Geschichte der Heimkehr, welche das Dasein in der Fremde voraussetzt. 302 Heidegger ist ihm in seinen Hölderlin-Interpretationen weitgehend gefolgt. Und wie Beißner stellt auch er nicht in Frage, daß der Böhlendorff-Brief, die Anmerkungen zur Übersetzung der "Antigone" und die oben angeführten Verse sich wechselseitig erhel\en. Die von Beißner und Heidegger vertretene und von Allemann 303 nochmals

300

Beißner, '1961, 147-184.

301

StA 11 2, 608, V. 4-15.

Beißner, StA 11 2,621, deutet die Verse wie folgt: "In Anfang, an seiner Quelle, am Beginn des Weges zu seiner Bildung ist der Geist eines Volkes nicht bei sich zu Hause. Um das Eigene zu lernen, muß er sich in die Fremde, in die Kolonie begeben, muß dort anfangen, muß tapfer vergessen, und dazu kann dem deutschen Geist der griechische helfen, er ist ihm sogar unentbehrlich. " 302

301 B. Allemann: Hölderlin und Heidegger. Zürich, Freiburg/Br. 1954. Ausgehend von den Entwürfen und Abhandlungen zur Tragödie des Empedokles interpretiert Allemann die Wendung Hölderlins als Absage an das Streben des Selbst nach Vereinigung mit dem Ganzen und Anerkennung des Gesetzes, welches den Trennungen entspricht. In den Protagonisten der Tragödie, Empedokles und Strato, sieht Allemann die beiden Grundtendenzen menschlichen Strebens verdeutlicht, das "königliche" und das "empedokleische Prinzip", von denen er behauptet: "Das eine ist der Satzung und dem Bleiben auf dieser Erde verpflichtet, das andere dem großen Ausgleich und Weggang in die andere Welt." (22f.) Er führt sodann aus, Hölderlin dichte das Scheitern des Empedokleischenzugunsten der Ent faltung des Königlichen, was jedoch der Intention der Tragödie völlig widerspricht. Denn der Tod des Empedokles ist kein Scheitern, sondern tragisches Opfer, welches zur Erlösung der Menschen führt. In Empedokles wird auch nicht das Streben nach dem "Weggang in die andere Welt" anschaulich, sondern in ihm ereignet sich die Versöhnung der Trennungen, die menschliches Dasein bestimmen. Er ist der, in dem sich die "Vereinigung zeigte, welche das Problem des Schicksals auflöste, das sich aber niemals sichtbar und individuell auflösen kann, weil sonst das Allgemeine im Individuum sich verlöre und, [ ... ) das

5. Hölderlins Dichtung und die anHingliche Erfahrung des Seins

319

gewandelt vorgetragene These, der Ausfahrt ins Fremde müsse die Rückkehr ins Eigene folgen, wurde mehrfach widersprochen. So hat Hof darauf aufmerksam gemacht, daß weder in den Anmerkungen zur Übersetzung der "Antigone" noch in dem Brief an Böhlendorff von einer Wendung ins Eigene gesprochen werde. Daher könne auch "[ ... ] keine Rede davon sein, daß auf der dritten Stufe der Geistesentwicklung eine ausgleichende Rückkehr aus dem Fremden ins Nationelle erfolgte, auch wenn diese Rückkehr, wie Beißner will, so verstanden werden soll, daß das Fremde nicht völlig aufgegeben, sondern mit ins Eigene hineingenommen wird. "304 Vielmehr sei Hölderlins späte Dichtung von der Erkenntnis bestimmt, daß der Dichter sich "[ ... ] der Urtendenz seines Wesens überlassen dürfe, da sie ja gar nicht das Ureigene, sondern vielmehr das Aufgegebene sei. "305 Unter methodischem Gesichtspunkt hat Kreutze~ die Interpretation Beißners, die auf der Annahme beruht, daß sich die von ihm angeführten Texte unbeschadet ihrer formalen und inhaltlichen Differenzen wechselseitig erhellen, in Frage gestellt. Er konnte zeigen, daß der Begriff der Wanderung als eines einheitlichen Konzepts der Dichtung Hölderlins, aufgrund dessen dann auch von einer "Wendung" oder "Umkehr" Hölderlins gesprochen werden könnte, ganz aufzugeben ist. Jede Erörterung des Bezugs Hölderlins zu den Griechen, die darin gründet, daß die angeführten Stellen aus den Schriften Hölderlins ohne weiteres vereinbar seien, ist seither der Grund entzogen. 307 Doch bedeutet das auch schon, daß Heideggers Hölderlin-Interpretationen als überholt anzusehen sind?

Leben einer Welt in einer Einzelnheit abstürbe;" (StA rv I, 156f.) Das Opfer des Empedokles ermöglicht, daß solche Versöhnung zum allgemeinen Grund menschlichen Daseins werden kann. Da Allemann den Sinn des Todes des Empedokles nicht erkennt, glaubt er, Hölderlin propagiere die Einkehr in das Königliche und das Ausdauern unter seinem Gesetz. Von daher ergibt sich dann auch seine Auslegung des Briefes an Böhlendorff, der zu folge die Griechen im Fortschritt der Bildung zu immer mehr Nüchternheit, welche laut Allemann dem "königlichen Prinzip" entspricht, fanden. Darin sollen die Deutschen ihnen nachfolgen, auch auf die Gefahr hin, daß sie die Klarheit der Darstellung der Griechen nie erlangen werden. 304 W. Hof: Zur Frage einer späten "Wendung" oder "Umkehr" Hölderlins. In: HJb II (195860) 120-159 (135).

30' Hof, 1958-60,131. 306

H.J. Kreutzer: Kolonie und Vaterland in Hölderlins später Lyrik. In: HJb 22 (1980/81) 18-

46. 307 Zur weiteren Erforschung der Frage einer eventuellen "Wende" Hölderlins: W. Lange: Das Wahnsinns-Projekt oder was es mit einer "antiempedokleischen Wendung" im Spätwerk Hölderlins auf sich hat. In: DVjs 63 (1989) 645-678, sowie die Stellungnahme von J. Schmidt, ebd. 679-711.

320

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage

b) Heideggers Rückgang in den Anfang der Geschichte Heidegger nimmt in seinen Vorlesungen und Abhandlungen mehrfach Bezug auf die angeführte Stelle aus dem Brief an Böhlendorff sowie auf deren Interpretation durch Beißner. Erstmals erwähnt er den Brief Hölderlins in der Vorlesung vom Wintersemester 1934/ 35, "Hölderlins Hymnen 'Germanien' und 'Der Rhein'".308 In dem Brief komme Hölderlins Einsicht in das Wesen griechischen und deutschen Daseins zum Ausdruck. Hölderlin, erläutert Heidegger, habe erkannt, daß das Eigene der Griechen "das Betroffenwerden durch das Seyn im Ganzen", das der Deutschen "das Fassenkönnen des Seyns in der erwirkenden Darstellung des Seyenden" sei. 309 Schon daß Heidegger die von Hölderlin verwendeten Begriffe "das Feuer vom Himmel" und "die Klarheit der Darstellung" derart interpretiert, ist als deutlicher Beleg dafür zu werten, daß er Hölderlins Auslegung des Bezugs von griechischer und deutscher Dichtart nicht nur zu einer Interpretation des Wesens griechischen und deutschen Daseins erweitert, sondern auch in den Kontext der eigenen Auslegung des Seins des Daseins einstellt. Entsprechend wehrt er auch in der Vorlesung zu "Hölderlins Hymne 'Der Ister' " das Ansinnen ab, den Brief nur als eine Anmerkung zur deutschen Dichtart zu verstehen. 3lO In ihm gehe es um das Heimischwerden der Deutschen, welches die "einzige Sorge der Dichtung Hölderlins" sei. 311 Um des eigenen Heimischwerdens willen fordere Hölderlin die Deutschen dazu auf, das "Feuer vom Himmel" zu erfahren. Heidegger legt die von Hölderlin gebrauchte Wendung "Feuer vom Himmel" aus als einen Namen für das uns treffende Sein und entnimmt dem Brief Hölderlins, daß es uns um unserer eigenen Zukunft willen darum gehen muß, uns vom Sein treffen zu lassen. Es ist offenkundig, daß die Interpretation Heideggers in dessen eigener Einsicht in das Sein des Daseins gründet, welches als "Sorge" geschieht, d.h. sich in der Einheit von Geworfenheit und Entwurf zeitigt. In der Geworfenheit erfährt das Dasein die eigene Betroffenheit durch das sich zuwerfende Sein. Sie wird ihm zum Grund der Darstellung des Seienden im Ganzen, sobald es aus ihr heraus das Seiende als solches zur Sprache bringt. Zu sagen, was das Seiende ist, bedeutet, Sein fassen, begreifen und auf den Begriff bringen zu wollen. Daß das Dasein in der begrifflichen Erfassung des Seins mit Notwendigkeit scheitern muß, da das Wesen des Seins selbst unfaßbar ist, deutet Heidegger in der Vorlesung vom Wintersemester 1934/35 nur an, obwohl er den Gedanken des Systems um diese Zeit schon

308

GA 39, 290-294.

309

GA 39, 291f.

3\0

GA 53, 154.

111

GA 53, 60.

5. Hölderlins Dichtung und die anfängliche Erfahrung des Seins

321

verabschiedet haben dürfte. "Die Gewalt des Seyns muß für das Fassenkönnen erst wieder und wirklich zur Frage werden. "312 Im Bezug auf Heideggers Übernahme der These Beißners ist auff()(W;". Denn "c/>VH/I" bedeutet "wachsen" und "wachsen machen". Im Wachsen geschieht der Aufgang des Wachsenden aus sich selbst heraus zu sich selbst. Daß die Sophokleische Wesensbestimmung des Menschen einzusteHen ist in den Kontext der Erfahrung von Sein als c/>v(n~, geht aus dem Duktus der Vorlesung "Einführung in die Metaphysik" eindeutig hervor. Und in der Vorlesung zu "Hölderlins Hymne 'Der Ister' " führt Heidegger eigens aus, das Wissen um die c/>vaL~ sei der Grund, auf dem die im Chorlied entfaltete Wesensbestimmung des Menschen erfolge. Es komme in den Versen 373 bis 375 als Wissen vom Herd und Herdfeuer zur Sprache. Erinnert sei daran, daß Heideggers Auslegung zufolge Hölderlin das "Feuer vom Himmel" erfahren muß, um in das Eigene zu gelangen, d.h. jene Sprache zu finden, die dem Heiligen entspricht. Von daher ergibt sich nun der nächste Schritt, der auf dem Weg zurück in das anfängliche Denken zu gehen ist. Es konnte belegt werden, daß Heideggers Interpretation der" Antigone" auf die Aufdeckung der Nähe der Sophokleischen Wesensbestimmung des Menschen zu Hölderlins "Dichten des Dichters" abhebt. Die anband der "Antigone" entfaltete Wesensbestimmung des Menschen ist nur zu verstehen aufgrund der Einsicht in das Wesen der c/>vaL~, welche nach Heidegger in dem Wissen vom Feuer zur Sprache kommt. Hölderlins "Dichten des Dichters" wird nur begreiflich im Kontext der Erfahrung des Wesens der Natur, welche der Dichter "das Heilige" nennt. Das Wesen des Heiligen wiederum entspricht dem des Feuers. Von daher wirft unsere Beschäftigung mit Heideggers Einsicht in die Analogie, die Hölderlins "Dichten des Dichters" und die sophokleische Wesensbestimmung des Menschen verbindet, nochmals die Frage auf, inwiefern Hölderlins Dichtung des Heiligen als Wiederholung der griechischen Auslegung des Wesens der c/>vaL~ zu betrachten ist. Es würde sich anbieten, nun unmittelbar zu einer Erörterung der anfänglichen Erfahrung der c/>vaL~ überzugehen. Das würde aber nach Ansicht Heideggers bedeuten, daß wir unsere eigene Geschichte, unsere Herkunft aus der Metaphysik, nicht ernst genug nähmen. Für uns kann eine Erörterung der anfänglichen Erfahrung der c/>vaL~ nur geschehen im Rückgang von der metaphysischen Auslegung des Seins, der Auslegung des Seins als Seiendheit (ovaia) des Seienden. Die Annäherung an die ursprüngliche Deutung der c/>vaL~, mit der wir uns in den folgenden Abschnitten beschäftigen werden, erfolgt in zwei Schritten. In einem ersten Schritt werden wir nach dem "Nachklang" der anfänglichen Seinserfahrung in dem ersten metaphysischen, dem Aristotelischen Entwurf von Sein fragen,362 ehe wir uns in einem zweiten

362 Auch in der Vorlesung vom Sommersemester 1935 elWähnt Heidegger, daß bei Aristoteles das Wissen um die urspriingliche Bedeutung des Wortes "vou;" noch anklingt. Vgl. EiM 12.

22

Bohlen

338

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage

Schritt Heraklits Deutung der V(TLr; zuwenden werden. Dabei überlassen wir es wiederum anderen, Heideggers Aristoteles- und Heraklit-Interpretation ausführlicher zu besprechen. 363 Uns geht es nur um die Klärung der Frage, aufgrund welcher Interpretation der griechischen Seinserfahrung es Heidegger möglich ist zu behaupten, Hölderlin dichte in dem Wort "Natur" "ein Anderes, das wohl in einem verborgenen Bezug zu jenem steht, was einstmals VULr; genannt worden. ,,364 d) Der Nachklang des anfänglichen Denkens in Aristoteles' "Physik" Aus dem Jahr 1939 stammt Heideggers Abhandlung "Vom Wesen und Begriff der VULi;. Aristoteles, Physik B, 1", in der der Aristotelische Entwurf der VULr; ausführlich erläutert wird. Einleitend betont Heidegger, bei der "Physik" des Aristoteles handele es sich nur noch um den Nachklang des anfänglichen Entwurfs der VULr;. Doch als erste umfassende Auslegung des Wesens der VULr; stelle sie zugleich das "Grundbuch der abendländischen Philosophie" dar. 365 Sie eignet sich daher für uns besonders dazu, im Durchgang durch sie den Übergang von der anfang lichen Erfahrung des Seins zum metaphysischen Seinsentwurf zu verdeutlichen. Aristoteles geht von folgender Grunderfahrung aus: "~IJ."iv 0' iJ1rOKfLUt'}w Ta VUH ~ 7raVTa ~ €VLa KLVOVIJ.fVa fivw· O~AOV O'i:K T~r; i:7ra"yw"y~r;" .366 Heidegger entnimmt dem Satz, das Wesentliche der VUH öVTa sei ihre Bewegtheit (KLI'TJULr;). Sie kommt ihnen nach Aristoteles nicht nur zu, sondern macht ihr Sein, ihre OVULa aus, wie Heidegger unter Berufung auf eine weitere Stelle der Aristotelischen "Physik" betont. 367 Daraus folgert er, daß die Erörterung der Aristotelischen Wesensbestimmung der VULr; eine Auslegung des Wesens von Bewegung erfordert. 368 Vor allem müsse geklärt werden, inwiefern Bewegung und Ruhe (Stillstand) nach Aristoteles eine Einheit bilden. Denn nur von daher könne dann auch die Einheit von Werden und Sein, die im Wort "VULr;" noch zur Sprache komme, verständlich werden.

363 Zu Heideggers Heraklit-Interpretation vgl.: Heidegger on Heraclitus. A New Rcading. Hg. von K. Maly/P. Emad. Lewiston, Queenston 1986.

,... EHD 57. 36'

GA 9, 242.

366 Arisloleles: Physik 185 a 12ff. Zitiert nach: Aristoteles' Physik. Vorlesungen über Natur (griech.-dt.). I. Halbbd. Übers., mit einer Einl. und Anm. hg. von H. G. Zekl. Hamburg 1987 (philosophische Bibliothek 380). 367

GA 9, 259. Unter Berufung auf A,;sloleles: Physik 192 b 32f.

36.

GA 9, 244.

5. Hölderlins Dichtung und die anfängliche Erfahrung des Seins

339

Bezüglich der Seienden, die von der ~U(JLI:; her sind, sagt Aristoteles in der "Physik": "TOU7W" J.l.Ev "(o.p f.Ka(J70" Ev €aV7~ ixpX~" €XH Ktvij(JEW~ Kat q7CxqEW~ [ ... ]".369 Klammem wir die Frage nach dem Bezug von Bewegung (Kil'1/qt~) und Stillstand «(J7Cx(Jt~) noch aus. Den ~U(JH ö"m, erläutert Heidegger den zitierten Satz, sei die ixpX~ Kt"~(JEW~ zu eigen. Die ixpX~, welche die Bewegtheit des von der ~Uqt~ her Seienden im Ganzen durchwalte, walte in dem Bewegten selbst, d.h. sie seien an ihnen selbst und von ihnen selbst her bewegt. 370 Bewegung betrachtet Aristoteles als J.l.E7aßoAiJ, wozu Heidegger erläutert:. "Jede Bewegtheit ist Umschlag von etwas (€K n"o~) zu etwas (Ei~ n)". 311 Dabei schlägt das sich Bewegende nicht in ein anderes Seiendes um, sondern es bewegt sich auf sich selbst zu, und zwar laut Heidegger, indem es, zu sich selbst aufgehend, in sich selbst, genauer in die ixpxiJ der eigenen Bewegtheit, zurückgeht. Heidegger verdeutlicht dies anhand einer Pflanze. Um aus ihren Wurzeln heraus aufgehen zu können, muß sie sich ständig in sie zurückgründen. Das Wesen der ~u(Jt~ denken, bedeutet also Heideggers Interpretation zufolge, den Aufgang des Seienden zum eigenen Sein als Rückgang des Seienden in das eigene Sein zu erfahren. Für Heideggers Deutung des Wesens der Metaphysik bestimmend ist die Einsicht, daß es im Gefolge des aristotelischen Denkens offenbar nicht gelang, den oben angesprochenen Aufgang des Seienden zum eigenen Sein als Rückgang in dasselbe zu begreifen. Denn statt nach dem Wesen der Bewegtheit selbst zu fragen, war man laut Heidegger nur aufmerksam auf deren entelechiale Verfassung, welche von Aristoteles erstmals zur Sprache gebracht wurde. Um das zu verdeutlichen, ist es nunmehr erforderlich, die oben ausgeklammerte Frage nach der Einheit von Bewegung (Kil'1/(Jt~) und Stillstand (q7Cx(Jt~) aufzugreifen. Der Stillstand, in dem Seiendes als Ständiges deutlich wird, ist nach Aristoteles insofern 7EAOr:; der Bewegtheit, als sich in ihm die Bewegung sammelt und als gesammelte in ihm zur Ruhe kommt. Daß die Bewegtheit des Seienden im Gefolge des Aristotelischen Seinsentwurfs nur noch von ihrem 7EAO~ her bzw. auf es hin gedacht wurde, das 7EAO~ aber nicht als sammelndbewahrende Aufhebung eines Geschehens begriffen wurde, ist Heidegger zufolge der Grund dafür, daß die Bewegung am Ende ganz aus der Wesensbestimmung des Seins verdrängt werden und Sein in den Gegenhalt zum Werden gelangen konnte. 372 Als Grund der Auslegung von Sein auf Beständigkeit hin ist der aristotelische Entwurf der entelechial verfaßten

369

Arislole/es: Physik 192 b 13f.

310

GA 9, 247f.

J7I

GA 9, 249.

m GA 9, 282ff.; GA 65, 126 U.ö. 22·

340

B. IV. Die seinsgeschichtliche Ausarbeitung der Seinsfrage

Bewegtheit des Seienden - seinsgeschichtlich betrachtet - auch der Grund der Degradierung des Seienden zum bestell baren Bestand. Die aristotelische "Physik" ist, gerade indem sie die angesprochene Denaturierung der Natur begründet, das "Grundbuch der abendländischen Philosophie". Uns aber geht er hier um den "Schritt zurück" in die Bewegung selbst, die das Sein des Seienden, die ovuLa des Seienden, ausmacht. Heideggers Ausführungen dazu werden verständlich, wenn man sich nochmals die Etymologie des Wortes "c/>VULC;" in Erinnerung ruft. In der Vorlesung "Einleitung in die Metaphysik" führt Heidegger aus, c/>UHII enthalte etymologisch einen Anklang an c/>CXtVEu'/Jm "erscheinen". 373 Das Aufgehen des Seienden sei von daher zu verstehen als ein Sich-Entfalten, und zwar aus dem Verborgenen heraus in die Unverborgenheit hinein. Das sei die Art des Seins, der Anwesung, als welche die c/>VCJLC; selbst wese. Die Erfahrung des Seins, die im Wort "c/>VULC;" noch anklingt, nennt demnach das Geschehen der Anwesung, die zu denken ist als ein Sich-Entfalten oder Sich-Hineinstellen des Seienden in die eigene Unverborgenheit und als Stehen in ihr, wobei das zuletzt Genannte r€AOC; des Erstgenannten ist. Und sofern der Aufgang des Seienden zum eigenen Sein immer auch ein Rückgang des Seienden in das eigene Sein ist, kann das Sich-Hineinstellen in die Unverborgenheit nur so geschehen, daß das Seiende sich darin in einem zumal in die eigene Verborgenheit zurückstellt, so daß im Sein des Seienden Unverborgenheit und Verbergung zumal wesen. Auf die Einheit von Unverborgenheit und Verbergung kommt es uns an, wenn wir nun Heideggers Deutung der Aristotelischen Auslegung der c/>VULC; als der ovuLa bedenken. Inwiefern die c/>UULC; als OVUtCX des Seienden zu betrachten ist, geht laut Heidegger aus "Physik" 193 a 28-31 hervor. Dort sagt Aristoteles, die c/>UULC; werde als VA1/ und JlOPc/>~ angesprochen. Unter Berufung auf den letzten Satz des genannten Abschnitts der "Physik" besteht Heidegger darauf, die JlOPc/>~ vom EWOC; und, in eins mit ihm, von ihrem Bezug zum AO/,OC; her zu denken. In unseren einleitenden Darlegungen zur platonischen Grundstellung wurde der Begriff Eiooc; schon geklärt. EiOoC; meint das Aussehen, den Anblick, den bietend Seiendes sich selbst darbietet, und auf den hin es dann auch vom AO/,OC; als das, was es ist, angesprochen werden kann. Die Einheit von JlOPc/>~ und EWOC; legt es also nahe, unter der JlOPc/>~ den Anblick des Seienden, in welchem stehend es sich als sich selbst unserem Blick darbietet, zu verstehen. Wird aber die JlOPc/>~ eigens aus dem Geschehen der Anwesung begriffen, dann wird deutlich, daß sie nicht nur das Stehen des Seienden in einem Aussehen, sondern auch das Sich-Stellen in es nennen muß. Um bei des in einem Wort zu fassen, übersetzt Heidegger den Begriff "JlOPc/>~" durch die

'" EiM 77.

5. Hölderlins Dichtung und die anflingliche Erfahrung des Seins

341

Wendung "Gestellung in das Aussehen".374 Aufgrund der entelechialen Verfaßung der Bewegtheit des Seienden sammelt sich auch die Gestellung in das Aussehen dort, wo sich das Stellen des Seienden in das Stehen sammelt, so daß es nun als Ständiges oder beständig Anwesendes angesprochen werden kann. 375 Die Anwesung, welche oben als Gestellung in das Aussehen bestimmt werden konnte, deutet Heidegger im Fortgang der Auslegung der "Physik" als "oDor; i:K ~V(jEWr; Eir; ~V(jL"", als Gang, in dem das sich in das eigene Aussehen Stellende zu sich als dem im eigenen Aussehen Stehenden gelangt. 376 Dabei ist die Anwesenheit des Seienden stets dadurch bestimmt, daß in ihr die Anwesung, d.h. der Weg, der zur Anwesenheit führte, mit anwest. Und wie in der Anwesenheit das Woher der Anwesung, d.h. des Aufgangs des Seienden zur eigenen Gestalt, mit anwest, so west in der Anwesung auch schon ihr Wohin, die Gestalt, zu der das Seiende aufgeht, an und zwar als noch abwesende. Heidegger erläutert den Gedanken wiederum am Paradigma der Pflanze: "Die IWPi/ als ')'fVWLr;; ist M6r;;, das Unterwegs von einem 'Noch nicht' zum 'Nicht mehr'. Die Gestellung in das Aussehen läßt stets so anwesen, daß zugleich in der Anwesung eine Abwesung anwest. Indem die Blüte 'aufgeht' (V(1Lf; sagt." Von daher wird nun auch verständlich, warum Heidegger annimmt, die "Antigone" des Sophokles und die Sprüche Heraklits könnten gleichermaßen dem Anfang der Geschichte zugeordnet werden. In der Interpretation der" Antigone" hebt Heidegger darauf ab, daß das Wissen vom Wesen des Menschen, welches der Chor vorträgt, das Wissen vom Sein selbst, dem Feuer, voraussetzt. Das Wissen vom Feuer ist das Wissen vom Wesen des Seins, der !j>V(1LV(1LvmvaLeherrschung und Naturfrömmigkeit um 1800. In: Idealismus und Aufklärung. Kontinuität und Kritik der Aufklärung in Philosophie und Poesie um 1800. Hg. von Ch. Jamme/G. Kurz. Stuttgart 1988,35-58. (Deutscher Idealismus 14). Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die tc;hnologische Zivilisation. 8. Aufl., FrankfurtfM. 1988. Jung, Matthias: Zum Verhältnis von Philosophie und Theologie im Denken Martin Heideggers. In: ThPh 61 (1986) 404-413. Jung, Matthias: Das Denken des Seins und der Glaube an Gott. Zum Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Martin Heidegger. Würzburg 1990. (Epistemata: Reihe Philosophie 83). Kaulbach, Friedrich: Artikel "Natur". In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von J. RitterlK. Gründer. Darmstadt 1971ff., Bd. 6 (1984), Sp. 421-478. Keuering, Emil: NÄHE. Das Denken Martin Heideggers. Pfullingen 1987. Keuering, Emil: NÄHE als Raum der Erfahrung des Heiligen. Eine topologische Besinnung. In: Auf der Spur des Heiligen. Heideggers Beitrag zur Gottesfrage. Hg. von G. pöltner. Wien, Köln 1991,9-22. Klassiker in finsteren Zeiten 1933-1945. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schil ler-NationalmuseumMarbach a.N. Hg. von B. Zeller. Stuttgart 1983. (Marbacher Kataloge 38).

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