Die Behandlung von Unvereinbarkeiten zwischen rechtskräftigen Zivilurteilen nach deutschem und europäischem Zivilprozeßrecht [1 ed.] 9783428487493, 9783428087495

Der Verfasser behandelt in einem ersten Teil rechtskräftige deutsche Urteile, die sich widersprechen. Nach seiner Auffas

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Die Behandlung von Unvereinbarkeiten zwischen rechtskräftigen Zivilurteilen nach deutschem und europäischem Zivilprozeßrecht [1 ed.]
 9783428487493, 9783428087495

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Schriften zum Prozessrecht Band 130

Die Behandlung von Unvereinbarkeiten zwischen rechtskräftigen Zivilurteilen nach deutschem und europäischem Zivilprozeßrecht Von Markus Lenenbach

Duncker & Humblot · Berlin

MARKUS LENENBACH

Die Behandlung von Unvereinbarkeiten zwischen rechtskräftigen Zivilurteilen nach deutschem und europäischem Zivilprozeßrecht

Schriften zum Prozessrecht Band 130

Die Behandlung von Unvereinbarkeiten zwischen rechtskräftigen Zivilurteilen nach deutschem und europäischem Zivilprozeßrecht

Von Markus Lenenbach

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Lenenbach, Markus: Die Behandlung von Unvereinbarkeiten zwischen rechtskräftigen Zivilurteilen nach deutschem und europäischem Zivilprozessrecht / von Markus Lenenbach. - Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Schriften zum Prozessrecht ; Bd. 130) Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1994/95 ISBN 3-428-08749-6 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0219 ISBN 3-428-08749-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©

Meinen Eltern

Vorwort Die Arbeit hat im Wintersemester 1994/1995 der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau als Dissertation vorgelegen. Das Manuskript habe ich im Sommer 1994 abgeschlossen. Bis Februar 1996 veröffentlichte Rechtsprechung und Literatur wurde eingearbeitet. Mein besonderer Dank gilt meinem verehrten Lehrer, Herrn Prof. Dr. Dieter Leipold, der diese Arbeit anregte und betreute und sich jederzeit bereit fand, auftretende Fragen mit dem Verfasser zu diskutieren. Herr Prof. Dr. Leipold hat darüber hinaus die Freude an der wissenschaftlichen Arbeit in mir geweckt. Auch dafür schulde ich ihm Dank. Herrn Prof. Dr. Rolf Stürner danke ich für sein konstruktives Zweitgutachten. Dank schulde ich auch der Deutschen Forschungsgesellschaft, die den Fortgang der Arbeit durch ein sechsmonatiges Stipendium forderte.

Freiburg i. Br., im September 1996 Markus Lenenbach

Inhaltsverzeichnis Einleitung

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Teil 1 Die Behandlung von Unvereinbarkeiten zwischen rechtskräftigen deutschen Zivilurteilen

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A. Umfang der Untersuchung 14 I. Mißachtung der Urteilswirkungen einerfrüheren rechtskräftigen Entscheidung in einem späteren Verfahren 14 II. Zweites den Geltungsanspruch einesfrüheren Urteils nachträglich in Frage stellendes Judikat 16 B. Die rechtliche Behandlung der Urteilskollision 18 I. Einführung in die Problemstellung 18 II. Die Lösung des Problems der Urteilskollision nach dem Verständnis des CPO-Gesetzgebers 20 1. Die verzichtbare Einrede der Rechtskraft 21 2. Der Inhalt der Einrede der Rechtskraft 22 3. § 580 Nr. 7a ZPO nach dem Verständnis des historischen Gesetzgebers 27 4. Folge des gewandelten Rechtskraftverständnisses auf Auslegung und Geltung des § 580 Nr. 7a ZPO 28 III. Vorrang des zweiten Urteils 29 1. Die materiell-rechtliche Rechtskrafttheorie 30 2. Verzicht auf die durch ein früheres Urteil erlangte Rechtsposition 33 3. Umkehrschluß aus § 580 Nr. 7a ZPO 35 4. Die lex-posterior-Regel 36 5. Der neuste Erkenntnisstand als Maßstab 40 6. Die Macht des Faktischen 41 7. Kein öffentliches Interesse im Falle der Urteilskollision 42 8. Übersehen des ersten Urteils als von der Rechtskraft des zweiten Urteils geheilter Fehler 43 IV. Der Vorrang des ersten Urteils 45 1. Die Unwirksamkeit des zweiten Urteils wegen eines besonders schweren Verfahrensmangels 45 2. Berufung auf § 580 Nr. 7a ZPO 47 3. Die Lösung Gauls 48 4. Analogie zu § 328 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 2 ZPO 49 5. § 826 BGB 51 V. Wegfall der die materielle Rechtskraft rechtfertigenden Gründe 52 VI. Auffassungen, die weder den Vorrang des ersten noch des zweiten Urteils annehmen .. 56 1. Fortbestehen des Geltungskonfliktes 56 2. Ein drittes, die Urteilskollision aufhebendes Gestaltungsurteil 56

Inhaltsverzeichnis

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VII. Eigene Lösung der Urteilskollision 1. Fehlende materielle Rechtskraft des zweiten Urteils a) Rechtskraftzwecke und deren Verfehlung durch das zweite Urteil b) Die Zweckwidrigkeit als Unwirksamkeitsgrund c) Entkräftung möglicher Einwände 2. Die übrigen Urteilswirkungen a) Formelle Rechtskraft und Kostenentscheidung b) Vollstreckbarkeit c) Kollidierende Gestaltungsurteile d) Tatbestandswirkung 3. Prozessuale Geltendmachung der Urteilskollision VIII. Zweite gleichlautende Entscheidung C. Mißachtung einer präjudiziellen Urteilswirkung eines ersten Urteils in einem zweiten Verfahren I. Bisher vertretene Ansichten II. Eigene Lösung 1. Keine Zweckverfehlung durch das zweite Urteil 2. Die Mißachtung der materiellen Rechtskraft des ersten Urteils als von der materiellen Rechtskraft des zweiten Urteils geheilter Fehler 3. Mißachtung anderer Urteilswirkungen in einem zweiten Verfahren 4. Wiederaufnahme des zweiten Verfahrens nach § 580 Nr. 7a ZPO 5. Mißachtung der Tatbestandswirkung in einem späteren Verfahren

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D. Zweites, den Geltungsanspruch eines früheren Urteils in Frage stellendes Urteil 92 I. Früheres Leistungsurteil und ex tunc wirkendes Gestaltungsurteil 92 1. Bisher vertretene Ansichten 93 2. Ablehnung der Auffassung Leglers und eigene Ansicht 96 II. Früheres Leistungsurteil und späteres Feststellungsurteil 99 1. Urteil über eine Leistungsklage und Statusurteil mit Wirkung für und gegen jedermann 100 2. Eigene Lösung: Fortbestehen des Konfliktes 104 Teil 2 Die Behandlung von Unvereinbarkeiten zwischen rechtskräftigen Urteilen nach dem EuGVÜ, dem Luganer Anerkennungs- und Vollstreckungsubereinkommen und nach § 328 Abs. 1 Nr. 3 ZPO

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A. Einführung in die Problemstellung

111

B. Die Behandlung von Unvereinbarkeiten nach dem EuGVÜ I. Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ 1. Der Begriff der Unvereinbarkeit a) Vertagsautonome Auslegung b) Die richtige Auslegungsart bei Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ c) Die mit dem EuGVÜ verfolgten Ziele d) Der Zusammenhang zwischen den Artikeln 21,22,26 Abs. 1 und Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ und seine Bedeutung für die Interpretation von Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ e) Zur Auslegung des Begriffs der "Unvereinbarkeit" vertretene Auffassungen aa) EuGH (1) Kritik

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Inhaltsverzeichnis (2) Die Annahme eines autonomen europäischen Streitgegenstandsbegriffes als Grundlage der Auslegung des Begriffs der Unvereinbarkeit - Kritik an der Auffassung von Isenburg-Epple und der des EuGH bb) Wolf cc) Mauro dd) Koch f) Eigene Auffassung zur Auslegung des Begriffs der Unvereinbarkeit: Unvereinbarkeit als Widerspruch der Urteilswirkungen aa) Anerkennung im Sinne des EuGVÜ (1) Die anerkannte Entscheidung bleibt ausländischer Hoheitsakt (2) Umfang der Wirkungen des ausländischen Urteils im Anerkennungsstaat (3) Gleichbehandlung des anerkannten Urteils mit Urteilen des Anerkennungsstaates bb) Übereinstimmung der eigenen Auffassung mit den Zielen des EuGVÜ und dem Zweck des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ g) Die Lösung von Widersprüchen zwischen Entscheidungen der EuGVÜ-Staaten nach dem vorliegend entwickelten Konzept - dargestellt anhand von Fallbeispielen aa) Die objektiven Grenzen der Rechtskraft im französischen Recht bb) Die objektiven Grenzen der Rechtskraft im englischen Recht cc) Behandlung von Widersprüchen zwischen Urteilen nach Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ 2. "Entscheidung" i.S.v. Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ 3. "Dieselben Parteien" i.S.v. Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ 4. Probleme, die sich aus der unterschiedlichen Bestandskraft der unvereinbaren Entscheidungen ergeben - Auslegung des Begriffs "Ergangen" i.S.v. Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ a) Bisherige Auffassungen b) Eigene Auffassung 5. Rechtsfolgen der Unvereinbarkeit a) Gänzlich unvereinbare Entscheidungen b) Rechtsfolgen teilweiser Unvereinbarkeit 6. Übereinstimmende Entscheidungen zum gleichen Streitgegenstand II. Unvereinbarkeit einer Entscheidung aus einem Nichtvertragsstaat mit Entscheidung aus einem Mitgliedsstaat des EuGVÜ, die in einem dritten Mitgliedsstaat anerkannt werden sollen 1. Problemstellung 2. Grundsätzliche Anerkennungsfähigkeit beider Entscheidungen 3. Unvereinbarkeit im Sinne des Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ 4. Früher ergangene Entscheidung des Nichtvertragsstaates 5. Rechtsfolgen der Unvereinbarkeit 6. Zuerst ergangene Entscheidung des Vertragsstaates und später ergangene Entscheidung des Nichtvertragsstaates III. Unvereinbarkeiten zwischen zwei von verschiedenen EuGVÜ-Vertragsstaaten erlassenen Entscheidungen, die in einem dritten EuGVÜ-Vertragsstaat anerkannt werden sollen

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C. Die Behandlung von Unvereinbarkeiten nach dem Luganer Übereinkommen

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D. Die Behandlung von Unvereinbarkeiten nach § 328 Abs. 1 Nr. 3 ZPO und nach Art. 7 § 1 FamRÄndG ' I. Auslegungsmaßstab II. Das Anerkennungshindernis des § 328 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 1 u. 2 ZPO

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Inhaltsverzeichnis 1. Urteil eines ausländischen Gerichtes 2. Anerkennung i.S.v. § 328 ZPO a) Gleichbehandlung des anerkannten Urteils mit deutschen Urteilen b) Umfang der Erstreckung der Wirkungen des ausländischen Urteils 3. Unvereinbarkeit 4. Dieselben Parteien 5. "Erlassenes" deutsches und "anzuerkennendes früheres" ausländisches Urteil 6. Rechtsfolgen der Unvereinbarkeit III. Art. 7 § 1 FamRÄndG

201 202 202 202 204 206 206 207 209

Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse

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Literaturverzeichnis

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Einleitung Es ist die Aufgabe eines Zivilurteils, Rechtsklarheit und Rechtsgewißheit herbeizuführen. Nun gibt es aber Urteile, die dadurch Rechtsunklarheit schaffen, daß sie in Widerstreit geraten. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn über denselben Streitgegenstand sich widersprechende Urteile ergehen oder wenn eine Entscheidung ergeht, die die Gestaltungswirkung eines früheren Urteils nicht beachtet. Die Behandlung solcher und ähnlicher Unvereinbarkeiten zwischen rechtskräftigen Urteilen stößt im deutschen Zivilprozeßrecht auf Schwierigkeiten. Diese Schwierigkeiten aufzuzeigen und zu lösen, ist das Anliegen des ersten Teils dieser Arbeit. Treten Unvereinbarkeiten zwischen Urteilen eines Anerkennungsstaates und eines ausländischen Staates oder zwischen Entscheidungen verschiedener ausländischer Staaten auf, ergeben sich Probleme bei der Anerkennung der ausländischen Urteile. Die Art. 27 Nr. 3 u. Nr. 5 EuGVÜ und Art. 27 Nr. 3 u. Nr. 5 LugÜbk sowie § 328 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 1 u. Alt. 2 ZPO enthalten für diese Fälle Regelungen. Der Auslegung dieser Normen widmet sich der zweite Teil dieser Untersuchung.

Teil 1

Die Behandlung von Unvereinbarkeiten zwischen rechtskräftigen deutschen Zivilurteilen A. Umfang der Untersuchung Unter dem Schlagwort "rechtskräftige einander widersprechende Urteile" oder "zweites rechtskräftiges Urteil" wird in der Literatur 1 nur die Nichtbeachtung der materiellen Rechtskraft eines ersten Urteils in einem zweiten Verfahren abgehandelt. Selbst Monographien zu der Thematik2 beschränken ihre Betrachtungen auf diesen Fall. Widersprüche zwischen Zivilurteilen werden damit - zumindest begrifflich - auf den Rechtskraftkonflikt verkürzt. Diese Untersuchung hat sich zum Ziel gesetzt, Fallgestaltungen, bei denen rechtskräftige Urteile kollidieren, umfassender zu behandeln. Als Oberbegriff für Fälle, in denen rechtskräftige Entscheidungen in Widerstreit zueinander treten, wird der der "Unvereinbarkeit" gewählt. Es werden Grundkonstellationen der Urteilsunvereinbarkeiten untersucht und Prinzipien zu deren Lösung entwickelt.

I. Mißachtung der Urteilswirkungen einer früheren rechtskräftigen Entscheidung in einem späteren Verfahren Eine erste Gruppe von Urteilsunvereinbarkeiten läßt sich dadurch kennzeichnen, daß die einer ersten rechtskräftigen Entscheidung zukommenden Urteilswirkungen in einem zweiten Prozeß nicht beachtet wurden, obwohl sie für das zweite Urteil maßgeblich gewesen wären.

1 Baumbach/Lauterbach/Hartmann, Einf. §§ 322-327 RN 19; Blomeyer, ZPR, § 49 IV, S. 276; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR 15 , § 100 III 1 d, S. 570; Stein/Jonas/Leipold 10, § 322 RN 226 Zeiss ZPR, § 47 II 3 b, RN 346; Zöller/Vollkommer, Vor § 322 RN 78. 2 Holtz, Urtheil wider Urtheil, 1890; Simon, Die Behandlung einander widersprechender rechtskräftiger Zivilurteile, 1978.

Α. Umfang der Untersuchung

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Zuerst ist die Mißachtung der materiellen Rechtskraft des ersten Urteils zu nennen, wobei zwei Fälle zu unterscheiden sind. Das zweite Judikat ergeht über einen mit dem ersten identischen Streitgegenstand. Möglich ist dann sowohl eine zweite der ersten widersprechende (=Urteilskollision) als auch eine mit der ersten übereinstimmende Entscheidung. Des weiteren kann das erste rechtskräftige Judikat, das für eine Vorfrage eines zweiten Verfahrens vorgreiflich ist, in diesem nicht beachtet werden. Beide Fälle der Nichtbeachtung der materiellen Rechtskraft werden im folgenden mit dem Terminus "Rechtskraftkonflikt" bezeichnet. Ein solcher Rechtskraftkonflikt besteht zum Teil auch bei sich widersprechenden Gestaltungsurteilen. Wird eine erste Gestaltungsklage rechtskräftig abgewiesen3 und spricht eine spätere Entscheidung die Gestaltung aus, wurde im zweiten Verfahren die Rechtskraft nicht beachtet. Ebenso verhält es sich, wenn das erste Judikat die Gestaltung bejaht und ein zweites sie verneint, soweit man mit der h. M. 4 einem die Gestaltung aussprechenden Urteil Rechtskraftwirkung zukommen läßt. Besonderheiten treten auf, wenn einem ersten die Gestaltung bejahenden Urteil ein zweites die Gestaltung aussprechendes folgt, da dann der zweiten Entscheidung das zu gestaltende Rechtsverhältnis fehlt. Zu erwähnen ist noch der Fall der Nichtbeachtung der Gestaltungswirkung in einem späteren Prozeß, in dem sie präjudiziell gewesen wäre. Beispiel 1: Nach der Scheidung kauft der geschiedene Ehemann einen Kühlschrank. Der Verkäufer verklagt die geschiedene Ehefrau unter Berufung auf § 1357 Abs. 1 S. 2 BGB. Die Frau wird rechtskräftig zur Zahlung verurteilt.

Eine Mißachtung einer Urteilswirkung in einem späteren Urteil liegt auch vor, wenn dieses sich zu der von einem früheren Urteil ausgehenden Interventionswirkung (§ 68 ZPO) in Widerspruch setzt. Zuletzt sei auf Fallgestaltungen hingewiesen, die die Tatbestandswirkung eines rechtskräftigen Judikats betreffen. Denkbar ist, daß in einem späteren Verfahren die von einem früheren Urteil ausgehende Tatbestandswirkung nicht beachtet wird.

3

Bei einem eine Gestaltungsklage abweisenden Urteil handelt es sich zwar nicht um ein Gestaltungsurteil, sondern um ein Feststellungsurteil, denn die Rechtslage wird gerade nicht durch den Richterspruch gestaltet. Wegen des engen sachlichen Zusammenhangs werden diese Urteile und die sich aus ihnen ergebenden Urteilsunvereinbarkeiten in einer Fallgruppe mit den von Gestaltungsurteilen hervorgerufenen Unvereinbarkeiten behandelt. 4

Rosenberg/Schwab/Gottwald ZPR 15 , § 94 III 2, S. 529; Schlosser, Gestaltungsklagen, S. 406 ff.; 20 Stein/Jonas/Leipold , § 322 RN 66 f.

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Teil 1: Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

Beispiel 2: Ein Bürge bürgt für einen nach § 194 Abs. 1 BGB in zwei Jahren verjährenden Anspruch. Der Gläubiger erstreitet später gegen den Hauptschuldner ein rechtskräftiges Leistungsurteil. Fünf Jahre danach erhebt der Bürge Klage auf Feststellung, daß er dem Gläubiger nicht mehr hafte, da die Forderung gegen den Hauptschuldner verjährt sei (Einrede nach § 768 Abs. 1 S.l BGB). Der Klage wird stattgegeben, obwohl die Hauptschuld nach § 218 Abs. 1 S. 1 BGB in dreißig Jahren verjährt.

II. Zweites den Geltungsanspruch eines früheren Urteils nachträglich in Frage stellendes Judikat Die zweite Gruppe von Unvereinbarkeiten zeichnet sich dadurch aus, daß nach einem ersten Urteil ein zweites Judikat ergeht, das zum Streitgegenstand ein Rechtsverhältnis hat, das im ersten Verfahren eine entscheidungserhebliche Vorfrage darstellte. Das zweite Urteil entscheidet über das Bestehen oder Nichtbestehen des Rechtsverhältnisses entgegengesetzt zu der Beurteilung in den Entscheidungsgründen des ersten Urteils. Damit stellt die zweite Entscheidung nachträglich den Geltungsanspruch der ersten in Frage, da sie ausspricht, daß die erste Entscheidung das Rechtsverhältnis falsch beurteilt hat. Zwar lautet der Tenor des zweiten Urteils nicht, das erste Urteil habe das Rechtsverhältnis falsch festgestellt. Jedoch stellt sie rechtskräftig ein Rechtsverhältnis fest, das in den Entscheidungsgründen des ersten Urteils entgegengesetzt beurteilt wurde und macht damit die Fehlerhafigkeit des ersten Urteils offensichtlich. Damit greift die zweite Entscheidung nachträglich in den Geltungsanspruch des ersten Urteils ein, sie stellt diesen in Frage. Seit RGZ GrZS 169, 129 wurde die Frage, wie sich ein inter omnes wirkendes Vaterschaftsfeststellungsurteil auf ein älteres Unterhaltsurteil auswirkt, das die Vaterschaft anders beurteilt hatte als das Feststellungsurteil, kontrovers diskutiert 5. Dieses Problem wird heute kaum mehr praktisch werden, da nach § 1600 S. 2 BGB Rechtswirkungen der nichtehelichen Vaterschaft erst geltend gemacht werden können, wenn die Vaterschaft durch Anerkennung oder gerichtliche Entscheidung für und gegen alle festgestellt wurde. Nach heutiger Rechtslage sind aber Fallgestaltungen denkbar, die dem in RGZ 169, 129 angesprochenen Grundproblem, ob sich ein jüngeres inter omnes wirkendes Feststellungsurteil auf ein älteres Leistungsurteil auswirken kann, entsprechen. Dies ist denkbar bei einer das Bestehen des Eltern-Kind-Verhältnisses oder der elterlichen Sorge feststellende Entscheidung (§ 640 h S. 1 ZPO) - die besondere Regelung des § 640 h S. 2

5

Vergleiche zum Diskussionsstand: Gaul, FamRZ 1959, S. 334.

Α. Umfang der Untersuchung

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ZPO interessiert an dieser Stelle nicht -, wenn vorher ein diese Fragen anders beurteilendes Leistungsurteil ergangen ist. Beispiel 3: Der 0 , Sohn des A und der B, und der K, Sohn des X und der Y, werden zur gleichen Zeit im gleichen Krankenhaus geboren. Der Ο stirbt wenige Stunden nach der Geburt. Aufgrund einer Verwechslung wird ein Totenschein für den Κ ausgestellt und der in Wahrheit noch lebende Κ als 0 dem A und der Β als ihr Sohn mitgegeben. Mit sechzehn Jahren klagt der Κ gegen seinen vermeintlichen Vater, den A, auf Zahlung von Unterhalt. Der A wird zur Zahlung verurteilt. Als der Κ zwanzig Jahre alt ist, stellt ein Gericht fest, daß der Κ nicht von A und B, sondern von X und Y ehelich abstammt.

Ähnliche Konfliktlagen sind auch zwischen einem Leistungsurteil und einem inter partes wirkenden Feststellungsurteil denkbar. Dies ist der Fall, wenn ein Leistungsurteil ergeht, für das die Beurteilung des Bestehens beziehungsweise Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses vorgreiflich war und später ein Feststellungsurteil, das dieses Rechtsverhältnis zwischen den Parteien insoweit vom Leistungsurteil abweichend feststellt, als es dessen Bestehen oder Nichtbestehen zu dem für das Leistungsurteil maßgeblichen Zeitpunkt feststellt. Beispiel 4: Der A wird verurteilt, an den Β D M 1.000,- Schadenersatz zu zahlen, da er am 10. 10. 1992 das Auto des Β beschädigt habe. In einem späteren Feststellungsurteil, das in einem weiteren Prozeß zwischen A und Β ergeht, wird festgestellt, da Β am 10. 10. 1992 nicht Eigentümer des beschädigten Autos gewesen sei.

Ein Gestaltungsurteil, das mit Wirkung ex tunc ein Rechtsverhältnis gestaltet, von dessen Bestehen ein früheres Leistungsurteil ausgegangen ist, stellt die Richtigkeit des Leistungsurteil nachträglich in Frage. Beispiel 5 6 : Auf Klage des Patentinhabers wird ein Patentverletzer zur Leistung von Schadenersatz verurteilt. Nachträglich wird auf Klage des verurteilten Patentverletzters oder eines Dritten hin das Patent für nichtig erklärt.

Das Gestaltungsurteil zeigt zwar nicht die Fehlerhaftigkeit des Leistungsurteils auf, da im Zeitpunkt der letzten Tatsachenverhandlung des Leistungsprozesses das Rechtsverhältnis noch nicht gestaltet war, das Gericht somit richtig entschied. Die rückwirkende Gestaltung der für den Leistungsprozeß maßgeblichen Rechtslage stellt aber einen Eingriff in den Geltungsanspruch des Leistungsurteils dar, entzieht ihm den Rechtsboden7.

6

Nach Schlosser, Gestaltungsklagen, 1966, S. 253, Beispielsfall 2.

7

Gaul, Wiederaufnahmerecht, S. 214.

2 Lenenbach

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Teil 1: Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

B. Die rechtliche Behandlung der Urteilskollision I. Einführung in die Problemstellung Die schärfste Art der Unvereinbarkeit ist die zwischen zwei rechtskräftigen Entscheidungen, die denselben Streitgegenstand entgegengesetzt beurteilen. Beispiel: Das erste Urteil stellt im Prozeß des A gegen den Β das Bestehen des Eigentums des A an einer Sache fest. Der späteren Klage des Β auf Feststellung, daß A nicht Eigentümer der Sache sei, wird ebenfalls stattgegeben.

Die Untersuchung dieser in der Praxis selten vorkommenden Fallgestaltung8 ist rechtstheoretisch äußerst reizvoll und lehrreich. Um eine Antwort auf die Frage zu finden, wie der Konflikt zweier sich widersprechender Entscheidungen zu lösen ist, müssen die dadurch betroffenen Interessen, die Gründe, die die Rechtskraft rechtfertigen, die Anwendbarkeit der für andere Staatsakte geltenden Kollisionsregeln auf die Unvereinbarkeit zweier rechtskräftiger Urteile (zum Beispiel die lex-posterior Regel) und andere die Stellung des Urteils in der Rechtsordnung betreffende Problemkreise betrachtet werden. Die gerade nur angedeutete Vielschichtigkeit und die Fülle grundsätzlicher Rechtsfragen, die bei der Behandlung der Urteilskollision auftauchen, dürften der Grund sein für das im auffalligen Mißverhältnis zur praktischen Relevanz stehende Interesse der Wissenschaft an dem Problem sich widersprechender rechtskräftiger Entscheidungen9. Eine Ansicht geht vom Vorrang des ersten Urteils aus. Das zweite Urteil sei unwirksam, da es an einem besonders schweren Verfahrensfehler leide 10 . Der

8 Soweit ersichtlich existieren acht Entscheidungen, die diese Problematik behandeln: OLG Lübeck Seuf Arch Bd. 6 (1853), Nr. 107; OLG Königsberg OLGZ 23 (1911), S. 173; RGZ 52, S.216; 112, S. 297; KG HRR 1936 Nr. 1452; BGH NJW 1981, S. 1517; BAG NJW 1986, S. 1831; AG Gummersbach NJW-RR 1986, S. 1391 ( zur Kollision eines türkischen mit einem deutschen Urteil, aber mit allgemeinen Ausführungen zur Urteilskollision); RG JW 1912, S. 517 f. (Das RG behandelt das Problem der Urteilskollision nicht, sondern befaßt sich ausschließlich mit einer Klage aus § 826 BGB gegründet auf sittenwidrige Erschleichung des zweiten Urteils. Der im ersten Prozeß rechtskräftig Unterlegene erwirkte dadurch ein ihm günstiges, dem ersten Urteil widersprechendes Versäumnisurteil, daß er die öffentliche Zustellung der Klage und der Ladung erreichte, obwohl er den Aufenthaltsort des Beklagten kannte). - Vgl. auch BGHZ 43, S. 80 (Kollision zweier rechtskräftiger Todeserklärungen). 9 Die einzelnen Ansichten werden im folgenden vorgestellt. Das Thema der sich widersprechenden rechtskräftigen Urteile war Gegenstand zweier Dissertationen: Holtz, Urtheil wider Urtheil, 1890; Simon, Die Behandlung einander widersprechender rechtskräftiger Zivilurteile, 1978. 10

Baumbach/Lauterbach/Hartmann,,

Einf. §§ 322-325 RN 19; Sauer, JR 1951, S. 257, S. 258 f.

Β. Behandlung der Urteilskollision

19

BGH 11 und das BAG 1 2 leiten den Vorrang des ersten Urteils aus § 580 Nr. 7a ZPO ab. Nach Gaul 13 kommt dem zweiten Urteil aus logischen Gründen keine materielle Rechtskraft zu, da es auf eine unmögliche Feststellung gerichtet sei, denn es sei unmöglich, daß die zweite Entscheidung die Feststellung der Unbestreitbarkeit zum Inhalt habe, wenn die Rechtsfolge aufgrund der fortbestehenden ersten rechtskräftigen Feststellung nach wie vor bestritten werden könne. Nach anderer Auffassung geht die zweite Entscheidung vor. Nach der materiellrechtlichen Rechtskrafttheorie ändert das rechtskräftige Urteil die außerprozessuale Rechtslage gemäß seinem Ausspruch, so daß das zweite Urteil die durch eine erste Entscheidung entstandene Rechtslage abändert und damit auch die erste Entscheidung außer Kraft setzt14. Die Verfasser der CPO gingen davon aus, daß die durch ein erstes Urteil begünstigte Partei auf die Rechtskraft dieses Urteils wirksam verzichtete, wenn sie sich in einem zweiten Prozeß nicht auf das erste Urteil berief 5 . Der Vorrang des zweiten Urteils wird auch mit Hilfe eines Umkehrschlusses aus § 580 Nr. 7a ZPO begründet 16. Wenn die Nichtbeachtung der ersten Entscheidung nur mittels der Restitutionsklage geltend gemacht werden könne, räume der Gesetzgeber dem zweiten Urteil den Vorrang ein, wenn die Restitutionsklage nicht erhoben werde. Die alleinige Geltung des jüngeren von zwei sich widersprechenden Judikaten leitet das RG 1 7 aus dem Grundsatz "lex posterior derogat legi priori" ab. Des weiteren wird der Vorrang des zweiten Urteils damit begründet, daß es das dem gegenwärtigen Erkenntnisstand zeitnähere sei 18 , daß es aufgrund seiner Existenz das erste verdränge 19, oder daß an dem Konflikt zweier rechtskräftiger Urteile kein öffentliches Interesse bestehe und nur auf die Parteiinteressen abzustellen sei, wobei es billig sei, die Partei zurücktreten zu lassen, die das erste Urteil zu ihren Gunsten hätte geltend machen können 20 .

U

BGHNJW 1981, S. 1517, S. 1518.

12

BAG NJW 1986, S. 1831, S. 1832.

13

Gaul, Wiederaufnahmerecht, S. 95.

14

Kohler, ZZP 10 (1887), S. 449, S. 470; Pagenstecher, Materielle Rechtskraft, S. 344 f.; RGZ 52, S. 216, S. 218. 15

Hahn, Materialien, S. 382 zu § 520; ausführlich unten Β II 1.

16

Citron, Das Recht, 1909, S. 834; Stein/Jonas/Leipold

17

RGZ 52, S. 216, S. 218; ebenso: Reichel, Festschrift für Wach, S. 3, S. 46; Zeiss, ZPR, RN 346.

10

, § 322 RN 226; KG HRR 1936 Nr. 1452.

18

Roth, S. 11 l ;AG Gummersbach NJW-RR 1986, S. 1391, S. 1392.

19

Bruns, FamRZ 1957, S. 201, S. 203.

20

Habscheid, Festschrift für Fragistas, S. 529, S. 556.

20

Teil 1: Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

Dölle 2 1 und Simon 22 geben keinem der beiden Urteile den Vorrang. Vielmehr sei eine prozessuale Gestaltungsklage sui generis erforderlich, die bestimme, welches der beiden Urteile vorgehe. Maßstab für die Entscheidung des Gerichts, das über die Gestaltungsklage entscheide, sei neben der sachlichen Richtigkeit auch die Schutzwürdigkeit der Parteien 23. Bötticher 24 schließlich gelangt zu der Erkenntnis, daß die Urteilskollision als praktisch seltener Ausnahmefall nicht auflösbar sei und daher ungelöst fortbestehe. Im folgenden werden die dargestellten Ansichten kritisch gewürdigt und eine eigene Auffassung zur Lösung der Urteilskollision entwickelt.

II. Die Lösung des Problems der Urteilskollision nach dem Verständnis des CPO-Gesetzgebers Die Lösung des Problems rechtskräftiger sich widersprechender Urteile über den gleichen Streitgegenstand glaubt der unbefangene Leser in § 580 Nr. 7a ZPO zu finden, in dem zu lesen steht, "die Restitutionsklage findet statt, wenn die Partei ein in derselben Sache erlassenes, früher rechtskräftig gewordenes Urteil auffindet öder zu benutzen in den Stand gesetzt wird". Aber schon die genauere Lektüre der §§ 580 ff. ZPO läßt Zweifel an der Durchdachtheit dieser Regelung keimen. Warum steht das Auffinden eines rechtskräftigen Urteils wiederaufnahmerechtlich dem Auffinden einer Urkunde gleich? Wie erklärt sich die Fristenregelung des § 586 ZPO, wonach die Restitutionsklage innerhalb eines Monats nach Kenntniserlangung vom Restitutionsgrund zu erheben ist (§586 Abs. 1, 2 S. 1 ZPO) und fünf Jahre nach Rechtskraft des Urteils unstatthaft ist (§ 586 Abs. 2 S. 2 ZPO), obwohl der Konflikt sich widersprechender rechtskräftiger Judikate unbefristet fortbesteht? Was hat die Nichtbeachtung einer Prozeßvoraussetzung (Rechtskraft bei identischen Streitgegenständen zweier Klagen) mit den anderen Restitutionsgründen gemein? Die Vorstellungen, die der historische Gesetzgeber mit der Regelung des § 580 Nr. 7a ZPO verband, sind für das Verständnis dieser seit Erlaß der CPO unveränderten Norm von entscheidender Bedeutung. Auch geben sie Aufschluß darüber, wie der CPO-Gesetzgeber das Problem der Urteilskollision löste und ob seine Lösung des Problems heute noch anzuerkennen ist.

21

Dölle, DR 1943, S. 825, S. 827 f.

22

Simon, Diss., S. 92 ff.

23

Simon, Diss., S. 154 f.

24

Bötticher, Rechtskraft, S. 44 ff.

Β. Behandlung der Urteilskollision

21

/. Die verzichtbare Einrede der Rechtskraft Die fehlende Verfügungsmacht der Parteien über die materielle Rechtskraft sowie deren Berücksichtigung von Amts wegen werden heute kaum noch in Frage gestellt25. Im Gegensatz dazu sah der Gesetzgeber der CPO durch "die Ermittlung eines widersprechenden Urtheils" die "Versäumung der exceptio rei judicatae involviert" 26 . Aufschluß über das Verständnis dieser Äußerung in den Materialien zur CPO geben die Protokolle zum sogenannten Hannoverschen Entwurf 27 . Dort 28 wurde es als nicht gerechtfertigt angesehen, "lediglich dem Umstände, daß die Sache anders bereits rechtskräftig entschieden sei, die Wirkung beizulegen, daß das zuletzt erlassene Urtheil nichtig sei. Dieser Umstand, welcher mit der Einrede der rechtskräftig entschiedenen Sache geltend gemacht werden müsse, sei ebenso zu behandeln wie andere Einreden."[...] "Diese Einrede könne" die Partei, "wenn der Gegner die aus dem früheren Prozesse ihr erwachsenden Vorteile in dem neuen Prozesse bei Seite setzen wolle, in dem letzteren geltend machen; thue sie dies nicht, so liege darin ein Verzicht auf das frühere Urtheil 29 "[..] Denn "das rechtskräftige Urtheil habe gewissermaßen die Natur eines Vertrages und daher können die Parteien auf die aus dem Urtheile ihnen zufließenden Rechte ganz oder theilweise verzichten 30 ."[...] Es "würde gegen die Natur der Einreden verstoßen, gleichwohl eine Nichtigkeit des früheren Urtheils anzunehmen", da diese "nur insofern beachtet werden dürfen, als sie vorgeschützt seien31." [...] Die "Einrede der rechtskräftig entschiedenen Sache könne nicht von Amts wegen geltend gemacht werden 32 ."

25

Für alle: Bülow, Absolute Rechtskraft des Urteils AcP 83 (1894) S. 1ff.; Gaul, Festschrift für Flume, S. 443, S. 512ff.; ders., Rechtskraftdurchbrechung, S. 18 f. (Beachtung der Rechtskraft von Amts wegen ist Gewohnheitsrechtssatz); Rosenberg/Schwab/Gottwald ZPR 15 , § 151 III 4, S. 918; Stein/Jonas/Leipold 20, § 322 RN 221; BGHZ 36, S. 365, S. 367; NJW 1989, S. 2133, S. 2134. - a. A. Schlosser, Parteihandeln, S. 12 ff, insbes. 14 f. (Parteien können auf die Rechtskraft einvernehmlich verzichten, wenn sie dafür beachtenswerte Gründe haben). 26

Hahn, Materialien, S. 381 zu § 519 Ziff. 7a CPO; so schon: Preuß. Justizministerium, Entwurf CPO, 1871, S. 392 zu §493 und Kommission des Bundesrates, Entwurf CPO, 1872, S. 441 zu § 512. 27 Damit ist der Entwurf der auf Beschluß der dt. Bundesversammlung im Jahre 1862 eingesetzten Kommission zur Beratung einer ZPO ftlr die dt. Bundesstaaten gemeint (Vgl. Stein/Jonas/Schumann 20, Einl. RN 105). Die Protokolle zu diesem Entwurf sind ab 1862 erschienen. 28 Protocolle der Commission zur Berathung einer allg. CPO f. d. dt. Bundesstaaten Bd.X, S. 3733. - Diese Protokolle werden nachfolgend mit "Protocolle" zitiert. 29

Protocolle, S. 3815.

30

Protocolle, S. 3734.

31

Protocolle, S. 3815.

32

Protocolle, S. 3817.

Teil 1: Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

22

Diese Ausführungen sind ein beredtes Zeugnis für die damalige Beurteilung des Konfliktes widersprechender rechtskräftiger Erkenntnisse: Das rechtskräftige Urteil stand zur freien Disposition der Parteien und durfte nur, wenn es als Einrede dem Gericht des zweiten Prozesses zur Kenntnis gebracht wurde, der richterlichen

Entscheidungsfindung zugrunde gelegt werden. Wurde die exceptio

rei judicatae nicht erhoben, lag ein zulässiger Verzicht auf die Rechte aus dem ersten Urteil vor. E i n zweites Urteil, das nach einem ausdrücklichen oder durch Nichterhebung der Einrede erfolgten Verzicht auf ein erstes Urteil erging, setzte sich m i t dem ersten Urteil nicht in Widerspruch, da dieses durch den Verzicht außer Geltung trat. N u r das letzte Urteil galt. Z u klären bleibt der Inhalt der Einrede der rechtskräftig entschiedenen Sache 33 .

2. Der Inhalt der Einrede der Rechtskraft M i t G a u l 3 4 ist die exceptio rei judicatae auf der Grundlage der materiell-rechtlichen Rechtskrafttheorie zu sehen, w e i l auch der historische Gesetzgeber dieser Auffassung war. In den Materialien zur C P O 3 5 finden sich allerdings nur Ausführungen zur formellen Rechtskraft und zum Umfang der materiellen Rechtskraft 3 6 . Die Regelung der materiellen Rechtskraft wurde i m übrigen dem BGB-Gesetzgeber vorbehalten, da die materielle Rechtskraft als ins Privatrecht

33 Braun, Restitution II, S. 386-389 weist auf den Einredecharakter der Rechtskraft nach dem Verständnis des CPO-Gesetzgebers hin, spricht die Frage nach dem Inhalt dieser Einrede aber nicht an. Er führt lediglich aus (S. 386): "Ein rechtskräftiges Urteil gab der Partei zwar das Recht, eine erneute Sacheinlassung in jedem späteren Verfahren zu verweigern; sie mußte aber [...] die Rechtskrafteinrede ausdrücklich erheben." und S. 388 FN 12: "Wenn der siegreiche Kläger seine Klage erneuert, ist bei Erhebung der Rechtskrafteinrede wohl immer Prozeßabweisung erfolgt." 34 Die Verbindung des Einredecharakters mit der materiell-rechtlichen Rechtskrafttheorie stellt Gaul, in Festschrift für Weber, S. 155, 166 ff. deutlich heraus. In seinen "Grundlagen d. Wiederaufnahmerechts", S. 89 f. wird der Einredecharakter nur in der Bemerkung, "durch die Vorlage der Urteilsurkunde wird [...] ein zivilrechtlicher Tatbestand [...] bewiesen" (S. 89) angesprochen. Ansonsten erklärt Gaul § 580 Nr. 7a ZPO als Rückgängigmachung des durch das Urteil zuerkannten Rechts, als Behebung der durch das zweite Urteil erfolgten materiellen Rechtsverletzung, ohne den Einredecharakter zu erwähnen. Gaul setzt sich damit in Widerspruch zu dem von ihm vertretenen Restitutionsprinzip der Korrektur offenbarer Fehler in der tatsächlichen Urteilsgrundlage (Gaul Wiederaufnahmerecht, S. 206 ff./207/209 f./211 ff./215), das der Gesetzgeber auch bei § 580 Nr. 7a ZPO verfolgt habe (Gaul, Wiederaufnahmerecht, S. 90 f.). Denn eine Restitution wegen Mißachtung der durch das erste Urteil geschaffenen Rechtslage, also wegen eines Fehlers in der rechtlichen Beurteilung ist nach Gaul gerade nicht möglich. In Festschrift für Flume, Bd. I, S. 443 ff. geht Gaul im Zusammenhang mit § 580 Nr. 7a ZPO nur auf den Einredecharakter des rechtskräftigen Urteils ein (S. 500 f.) und behandelt davon getrennt die materiell-rechtliche Rechtskrafttheorie (S. 502 f.). 35

Hahn, Materialien, S. 420 f. zu § 598.

36

Hahn, Materialien, S. 290 ff. zu § 283.

Β. Behandlung der Urteilskollision

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gehörig angesehen wurde 37 . Diese Auffassung belegt sowohl § 69 ZPO, der von der Rechtskraft nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts spricht 38 , als auch die Regelung des § 191 des I. Entwurfs des BGB. Die in den Materialien zum BGB diesbezüglich enthaltenen Bemerkungen sind jedoch unklar. Es wird die nur deklaratorische Wirkung des Urteils betont 39 und von der konstitutiven Kraft des materiell unrichtigen Urteils gesprochen 40. Bessere Auskunft über den gesetzgeberischen Willen geben die Vorentwürfe zum BGB (1876-1887). Nebenbei sei bemerkt, daß die Materialien zum BGB, was ihre Ausführungen zur materiellen Rechtskraft betrifft, eine verkürzte, wörtliche Übernahme der Vorentwürfe darstellen. Die Redaktoren der Vorentwürfe führen zum materiell unrichtigen Urteil aus: "Einschneidender wirken die materiell unrichtigen Urtheile. Begrifflich handelt es sich bei ihnen allerdings nicht um Rechtsbegründung, sondern um Rechtsanwendung41. [...] Der Richter spricht aus, daß der ihm vorliegende Thatbestand den geltend gemachten Anspruch mit seinem Eintreten erzeugt habe, und da diesem Ausspruch maßgebende Bedeutung zukomme, so muß der betreffende Thatbestand rechtlich als der Entstehungsgrund gelten, auch wenn er dies in Wirklichkeit nicht ist 42 . [...] Thatsächlich gelangt der Anspruch erst mit dem unrichtigen Urtheile und durch dasselbe zur Existenz43. [...] Ist es richtig, daß das dem wirklichen Sachverhalte nicht entsprechende kondemnatorische Urtheil begrifflich Rechte nicht begründet, sondern nur feststellt, daß eine zur Erzeugung des Anspruchs ungeeignete Thatsache denselben gleichwohl erzeugt habe, so ist bei unrichtiger Absolutoria gleichfalls davon auszugehen, daß sie den Anspruch nicht mit dem Eintritt der Rechtskraft zum Erlöschen bringt, sondern ausspricht, daß die dem Anspruch zu Grunde liegende Thatsache keine rechtserzeugende gewesen, mithin überhaupt kein Anspruch entstanden sei 44 ." Die Redaktoren waren also der Ansicht, daß ein unrichtiges Urteil den materiellen Anspruch begrifflich nicht zum Entstehen oder Erlöschen bringe, sondern, daß es feststellt, daß der ihm zugrundeliegende Sachverhalt die Entstehung beziehungsweise das Erlöschen des materiellen Anspruchs herbeiführt, auch wenn dies materiell unrichtig ist. Damit sprechen sie dem Urteil mittelbar eine das

37

Gaul, Festschrift für Flume, Bd. I, S. 443, S. 499.

38

Gaul, Festschrift für Flume, S. 443, S. 502.

39

Mugdan, Materialien, S. 553 f.

40

Mugdan, Materialien, S. 553.

41

Gebhard, Vorentwürfe, S. 495.

42

Gebhard, Vorentwürfe, S. 495.

43

Gebhard, Vorentwürfe, S. 496.

44

Gebhard, Vorentwürfe, S. 500.

Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

24

materielle Recht gestaltende Kraft zu. Stellt das Urteil nämlich verbindlich fest, daß ein bestimmter Sachverhalt einen materiellen Anspruch entstehen oder nicht entstehen läßt, entsteht mit dem Urteil der materielle Anspruch oder er geht unter. Denn es macht keinen Unterschied, ob durch das Urteil festgestellt wird, daß eine Tatsache rechtsgestaltend wirkt und deshalb ein materieller Anspruch entsteht oder ob das Urteil die materielle Rechtslage unmittelbar gestaltet. Die Redaktoren sprechen dies aus, wenn sie ausführen: "Der Anspruch gelangt erst mit dem unrichtigen Urtheile und durch dasselbe zur Existenz" 45 . Ebenso gehen die Protocolle zum Hannoverschen Entwurf 6 von der rechtserzeugenden Kraft des rechtskräftigen Urteils aus. Diese Rechtskrafttheorie 47 sprach dem rechtskräftigen Urteil rechtsgestaltende Wirkung zu. Das Judikat stelle im Falle seiner Übereinstimmung mit der materiellen Rechtslage einen zusätzlichen Entstehungsgrund für den Anspruch des Klägers dar, wenn es dem Klageantrag entspreche, beziehungsweise einen Erlöschensgrund, wenn die Klage abgewiesen werde. Weiche die richterliche Sentenz von der Rechtslage ab, gestalte sie diese gemäß ihrem rechtskräftigen Ausspruch, so daß sie den klägerischen Anspruch mit konstitutiver Wirkung zum Entstehen oder Erlöschen bringe. Diesen durch das Urteil entstandenen Entstehungs- beziehungsweise Erlöschensgrund könne der Kläger beziehungsweise Beklagte in einem Folgeprozeß 48 gegen den erhobenen Anspruch einwenden. Die konstitutive Wirkung der gerichtlichen Entscheidung wurde als vertragsähnlich bezeichnet49, mit der eines Gesetzes verglichen 50 oder ohne Anlehnung an eine bekannte rechtliche Erscheinung angenommen51. Das durch das Urteil geschaffene Recht konnte der durch die Entscheidung Begünstigte gegen eine Klage des im ersten Prozeß Unterlegenen "einredeweise"

45

Gebhard, Vorentwürfe, S. 496.

46

Protocolle, S. 3733 f.

47

Endemann, Dt. CPR, § 145 III, S. 545 f., § 147 III, S. 558; Kohler, BürglR, § 72 I, S. 218 f.; Pagenstecher, Rechtskraft, S. 304 f./343 ff.; RGZ 52, S. 216, S. 218; 46, S. 75, S. 78; 46, S. 334, S. 336; 75, S. 26, S. 27 f.; Protocolle, S. 3733 f. 48

Die meisten Ausführungen beziehen sich auf eine spätere Klage mit identischem Streitgegenstand. Bei Präjudizialität der ersten rechtskräftigen Entscheidung im Zweitprozeß gilt dasselbe. Vgl. Kohler, Prozeßrecht. Forschungen, S. 93 f. 49

Endemann, Dt. CPR, § 145 III, S. 545 f., § 147 III, S. 558 (Quasicontract); Pagenstecher, Rechtskraft, S. 345 FN 814 (Feststellungsvertrag). 50

RGZ 52, S. 216, S.218.

51

Kohler, BürglR, § 72 I, S. 218 f.; RGZ46, S. 75, S. 78; 75, S. 213, S. 215.

Β. Behandlung der Urteilskollision

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einwenden. Diese Einrede wurde als zivilrechtliche angesehen52. Eine Einrede im materiellen Sinne (= zivilrechtliche) war nach Auffassung des BGBGesetzgebers53 "ein Umstand, welcher die Befugnis gewährt, die Befriedigung eines Anspruchs verweigern zu dürfen, obwohl der Anspruch an und für sich besteht.[...] Die Einrede kann nur im Prozesse mit Erfolg geltend gemacht werden". Die exceptio rei judicatae konnte damals nur vom Richter beachtet werden, wenn sich die begünstigte Partei ausdrücklich im Prozeß auf sie berief; selbst, wenn die Tatsache der rechtskräftigen Entscheidung notorisch war oder von den Parteien als Streitstoff vorgetragen wurde, durfte der Richter das Urteil nicht beachten54. Die Einrede der Rechtskraft wurde als Gegenrecht des im zweiten Prozeß Beklagten angesehen, wenn eine Klage zum gleichen Streitgegenstand in einem früheren Urteil abgewiesen wurde 55. Ob sich der Kläger des zweiten Prozesses, wenn eine präjudizielle rechtskräftige Entscheidung im ersten Prozeß für ihn günstig war, ausdrücklich auf sein Urteilsrecht berufen mußte, ist eine Frage, die nicht behandelt wird. Die Problematik des Einredecharakters der Rechtskraft wurde nur angesprochen, wenn der Beklagte des Zweitprozesses auf ein ihm günstiges Urteil verweisen konnte. Es spricht vieles dafür, daß der Kläger eines zweiten Prozesses das ihm aus dem ersten Judikat zustehende Urteilsrecht nicht ausüben mußte, sondern es genügte, daß er dem Gericht das Bestehen des Urteilsrechts vortrug wie jede andere seinen Anspruch begründende Tatsache. Denn zum einen wurde eine Einrede auch damals als das Erheben eines Gegenrechts aufgefaßt 56 und der Kläger machte eine seinen Anspruch begründende Tatsache geltend und kein Gegenrecht, wenn er sich auf die materielle Rechtskraft eines präjudiziellen Urteils berief. Zum anderen gab man dem Beklagten im Falle eines ersten, ihn verurteilenden Judikats nicht die Einrede der Rechtskraft, wenn der Kläger eine neue Klage zum gleichen Streitgegenstand erhob, da die Einrede nur bei einer eine erste Klage abweisenden Entscheidung bestehe57. Dann wäre es aber widersprüchlich, wenn die Einrede der Rechtskraft vom Kläger des zweiten Verfahrens für den Fall zu erheben gewesen

52 Bülow, Proceßeinreden, S. 82 (Rechtskrafteinrede der Verjährungseinrede gleichstellt), S. 227; Gebhard, Vorentwürfe, S. 523; Mugdan, Materialien, S. 550/555 f. 53

Mugdan, Materialien, S. 550.

54

Gebhard, Vorentwürfe, S. 523/524/528; Mugdan, Materialien, S. 555 f./813; Die Redaktoren (Gebhard S. 524 ff.) sowie die erste Kommission der Beratungen zum BGB (Mugdan S. 555 f.) lehnten nach ausführlicher und umfassender Abwägung der für und wider die Berücksichtigung von Amts wegen sprechenden Argumente diese ab. 55

Mugdan, Materialien, S. 555 f./556 f.

56

Mugdan, Materialien, S. 549 f.

57

Mugdan, Materialien, S. 556 f.

26

Teil 1: Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

wäre, daß er ein präjudizielles früheres Urteil in den zweiten Prozeß einführen wollte 58 . Lent 5 9 und Gaul 60 halten nach dem heutigen Verständnis 61 einer materiellen Einrede die materiell-rechtliche Rechtskrafttheorie und den Einredecharakter eines rechtskräftigen Urteils für unvereinbar; bei der Einrede der Rechtskraft handle es sich in Wahrheit um eine rechtsvernichtende Einwendung, da auf eine selbständige Gegennorm verwiesen werde. Aber auch Gaul 62 hält an dem rechtshistorischen Befund fest, der CPO- und BGB-Gesetzgeber sei vom Einredecharakter der Rechtskraft auf der Grundlage der materiell-rechtlichen Rechtskrafttheorie ausgegangen. Die Vorstellungen des CPO-Gesetzgebers die Wirkung eines rechtskräftigen Urteils betreffend lassen sich damit wie folgt zusammenfassen: Auf den durch das rechtskräftige Judikat geschaffenen Entstehungs- beziehungsweise Erlöschensgrund (=Urteilsrecht) konnte sich die Partei, der das erste Urteil günstig war, im zweiten Prozeß berufen. Der Beklagte mußte die Einrede im Zweitprozeß vorbringen, d. h. er mußte die Tatsache des Vorliegens eines Urteilsrechts vortragen und das Einrederecht im Prozeß ausüben. Auf das Einrederecht konnte er verzichten. Übte der Beklagte die exceptio rei judicatae aus, mußte das Gericht, soweit die Rechtskraft der ersten Entscheidung reichte, in der Sache gemäß dem ersten Urteil judizieren. Für den Kläger des Zweitprozesses reichte es aus, das Bestehen des Urteilsrechts in den Prozeß einzuführen, um seine durch das Urteil erlangte Rechtsposition zu sichern. Im Falle identischer Streitgegenstände wurde die zweite Klage als unbegründet abgewiesen beziehungsweise ihr wurde stattgegeben63, denn durch das erste Urteil wurde zwischen den Parteien ein materiell-rechtliches Urteilsrecht geschaffen 64. Bei Präjudizialität der ersten

58 Braun, Restitution II, S. 386 f. geht davon aus, daß die jeweils von dem früheren Urteil begünstigte Partei die Einrede der Rechtskraft erheben mußte. 59

Lent , Gesetzeskonkurrenz, S. 319 f.

60

Gaul, Festschrift für Flume, S. 443, S. 485 f.; ders., Festschrift für Weber, S. 155, S. 167 FN 61.

61 Vgl. dazu: Jahr, JuS 1964, S. 125, S. 128; S. 293, S. 293 f./298; Lorenz, BGB-AT, S. 248 ff.; Stein/Jonas/Leipold 20, § 146 RN 4; Rosenberg/Schwab/Gottwald ZPR , 5 , § 104 II 2, 3, S. 589 f.: Einrede im Sinne des materiellen Rechts ist ein die Durchsetzbarkeit des Anspruchs hemmendes Gestaltungsrecht, dessen Ausübung im Prozeß als Tatsache einzubringen ist; Einwendungen sind alle gegen einen Anspruch gerichteten (rechtshindernden, rechtshemmenden, rechtsvernichtenden) Gegennormen. 62

Gaul, Festschrift für Flume, S. 443, S. 483/493 f.

63

Mugdan, Materialien, S. 557 meint für den Fall, daß ein im ersten Verfahren erfolgreicher Kläger den Beklagten mit einer zweiten Klage mit identischem Streitgegenstand überzieht, daß der zweiten Klage stattzugeben sei. Dem Beklagten stehe in diesem Fall die Einrede der Rechtskraft nicht zu. 64

Denkbar ist auch eine Abweisung als unzulässig; so Braun, Restitution II, § 13 11, S. 388 FN 12.

Β. Behandlung der Urteilskollision

27

Sentenz für eine Vorfrage des zweiten Prozesses führte die Einrede der Rechtskraft beziehungsweise der Vortrag des Kläger, ihm stehe das Urteilsrecht zu, zu einer Bindung an den Inhalt des ersten Erkenntnisses 65.

3. § 580 Nr. 7a ZPO nach dem Verständnis des historischen Gesetzgebers Diese Rechtskraftauffassung ermöglicht eine widerspruchsfreie Integration des § 580 Nr. 7a ZPO in das Restitutionsrecht. Das aufgefundene oder benutzbar gewordene rechtskräftige Urteil beweist wie eine Urkunde (§ 580 Nr. 7b ZPO) einen bisher unberücksichtigten, von einer Partei vorzubringenden Umstand, der die Tatsachengrundlage eines der Partei günstigen Rechtssatzes bildet. Die Anwendung des § 582 ZPO auf § 580 Nr. 7a ZPO wird verständlich, wenn man den Einredecharakter der Rechtskraft zugrunde legt. Die Restitutionsklage soll nicht schon dann eröffnet werden, wenn der Sachverhalt, von dem das Gericht bei seiner Entscheidung ausging, von dem in Wahrheit bestehenden Sachverhalt abweicht. Sondern sie soll erst zulässig sein, wenn die Divergenz von tatsächlicher Urteilsgrundlage und Wirklichkeit auf dem unverschuldeten Versäumen eines Parteivorbringens beruht 66 . Die Geltung der FünQahresfrist des § 586 Abs. 2 S. 2 ZPO für § 580 Nr. 7a ZPO erklärt sich mit der historischen Rechtskraftauffassung problemlos. Die in der Rechtskraft verkörperten Werte der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens treten bei Zulässigkeit der Restitutionsklage gegenüber der materiellen Gerechtigkeit zurück. Nach Ablauf der Fünfjahresfrist kehrt sich das Werteverhältnis um, ein Angriff auf das rechtskräftige Urteil ist endgültig untersagt. Nach heutiger Rechtskraftauffassung besteht der Urteilskonflikt auch nach fünf Jahren - positivrechtlich ungelöst - fort. Für den CPO-Gesetzgeber bestand ab der Rechtskraft des zweiten Urteils kein Konflikt mehr, da durch den ausdrücklich oder durch Nichterhebung der Einrede der Rechtskraft beziehungsweise durch Nichtvortragen des Urteilsrechts durch den Kläger erklärten Verzicht auf das erste Urteil das erste Urteil seine Geltung verlor.

65 Savigny, System Bd. VI 1847, § 281, S. 270 f.; Dernburg, Pandekten Bd. I, 1884, § 162, S. 367: Ob auch der Kläger die "Einrede der Rechtskraft" in einem Folgeprozeß erheben mußte, in dem eine präjudizielle Frage entscheidungserheblich war, die im ersten Prozeß zu seinen Gunsten rechtskräftig entschieden wurde, wird von den Vertretern der materiell-rechtlichen Rechtskrafttheorie nicht erörtert. 66

Hahn, Materialien, S. 382 zu § 520.

28

Teil 1: Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

Der Wortlaut des § 580 Nr. 7a ZPO - "ein in derselben Sache erlassenes, früher rechtskräftig gewordenes Urteil" - legt erne Begrenzung dieser Vorschrift auf sich widersprechende Entscheidungen mit identischem Streitgegenstand nahe. Sieht man die Funktion dieser Restitutionsnorm in der Möglichkeit des Nachholens der Einrede der Rechtskraft beziehungsweise des Vortrags des Urteilsrechts durch den Kläger, bildet der Wortlaut keinen Grund, sie nicht auch auf Fälle der Präjudizialität anzuwenden. Beidemal - identischer Streitgegenstand und Präjudizialität - geht es um das Nachholen desselben Vorbringens und beidemal hat dieses Vorbringen dieselbe Wirkung: es bindet das Gericht an das durch die erste Entscheidung geschaffene materielle Recht67. Mit den rechtsdogmatischen Augen des CPO-Gesetzgebers betrachtet ist § 580 Nr. 7a ZPO die Möglichkeit, die die Einrede der Rechtskraft beziehungsweise das Urteilsrecht des Klägers begründenden Tatsachen - das rechtskräftige Urteil und die Ausübung der Einrede - nach rechtskräftigem Abschluß des zweiten Rechtsstreites vorzubringen, wenn die durch das erste Urteil begünstigte Partei diesen Tatvortrag unverschuldet versäumt hatte.

4. Folge des gewandelten Rechtskraftverständnisses Auslegung und Geltung des § 580 Nr. la ZPO

auf

Nach den heute herrschenden prozessualen Rechtskrafttheorien ist die materielle Rechtskraft eines Urteils nicht als materiell-rechtlicher Tatbestand zu verstehen, sondern als prozessuales Institut. Das Wesen der Rechtskraft besteht darin, daß Gerichte und und Parteien in einem späteren Prozeß an die rechtskräftige Entscheidung gebunden sind. Eine Ansicht 68 begreift die Rechtskraft als prozessuale Bindungsnorm. Das Gericht dürfe über eine wiederholte Klage zwar erneut entscheiden, müsse aber die schon rechtskräftig entschiedene Rechtsfolge ohne erneute Prüfung ebenso wie vom rechtskräfigen Urteil ausgesprochen entscheiden. Nach anderer Ansicht 69 verbietet die Rechtskraft jegliche neue Verhandlung und Entscheidung über die rechtskräftig festgestellte Rechtsfolge; die Rechtskraft wird als prozessuale Verbotsnorm angesehen.

67

So auch Protocolle, S. 3813; Förster§ 543, 8a (die dort gewählte Formulierung spricht für Einbeziehung des Falles der Präjudizialität); Förster/Kann\ § 580, 2 g aa (h.M. sei, daß auch Präjudizialität unter § 580 Ziff. 7a ZPO falle); Planck, CPR, § 161 II A 2, S. 583. Hellwig, Rechtskraft, S. 12/18. M

Bötticher, Rechtskraft, S. 139 ff.; Rosenberg/Schwab/Gottwald NJW 1985, S. 2535, S. 2535 f.

ZPR15, § 151 III, S. 917 f.; BGH

Β. Behandlung der Urteilskollision

29

Nicht nur das Verständnis darüber, was Wesen der materiellen Rechtskraft ist, hat sich gewandelt, seit § 580 Nr. 7a ZPO geschaffen wurde. Ging man früher davon aus, daß die Rechtskraft nur auf Parteieinrede hin zu beachten sei, ist man heute fast einhellig der Auffassung, daß die Rechtskraft von Amts wegen zu berücksichtigen ist 70 . Mit der gewandelten Auffassung die Berücksichtigung eines rechtskräftigen Urteils betreffend rechtfertigt Gaul 71 die Nichtanwendbarkeit des § 582 ZPO und Braun 72 die Nichtgeltung der §§ 582, 586 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 ZPO bei einer Restitution nach § 580 Nr. 7a ZPO. Sei es früher konsequent gewesen, bei schuldhafter Versäumung der exceptio rei iudicatae die Restitutionsklage zu versagen, sei es heute widersprüchlich, wenn es der Partei wegen der Berücksichtigung der Rechtskraft von Amts wegen gestattet sei, sich zunächst passiv zu verhalten, ohne Nachteile befürchten zu müssen, an diese erlaubte Passivität später aber den Ausschluß der Restitutionsklage zu knüpfen. Der Frage, ob dieser Ansicht zu folgen ist oder ob sich aus dem gewandelten Rechtskraftverständnis andere Konsequenzen für die Auslegung des § 580 Nr. 7a ZPO ergeben, wird erst an späterer Stelle nachgegangen73. Vorher wird untersucht, wie der Konflikt sich widersprechender rechtskräftiger Urteile nach heutigem Zivilprozeßrecht zu lösen ist, wenn eine Wiederaufnahmeklage nicht erhoben wurde oder unzulässig ist.

I I I . Vorrang des zweiten Urteils Die Rechtsordnung hält für die Kollision anderer Rechtsakte als Gerichtsurteile Regeln bereit: die lex posterior geht der lex prior vor, Rechtsgeschäfte zwischen Privaten können grundsätzlich von diesen abgeändert werden. Der Grundgedanke jener Kollisionsregel ist, daß ein späterer Rechtsakt, soweit er mit einem früheren kollidiert, diesem vorgeht. Es liegt nahe, das Problem einander widersprechender Entscheidungen nach diesem Prinzip der Geltung des letzten Aktes zu lösen.

70

Wie FN 25.

71

Gaul, Wiederaufnahmerecht, S. 97 f.

72

Braun, Restitution II, S. 397 f. (zu § 582 ZPO)/ S. 403 (zu § 586 Abs. I ZPO).

73

Vgl. unten Teil 1 Β VII3.

30

Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

1. Die materiell-rechtliche

Rechtskrafttheorie

Diesen Weg geht konsequenterweise die materiell-rechtliche Rechtskrafttheorie 74 . Nach ihr ändert ein rechtskräftiges Urteil die außerprozessuale Rechtslage gemäß seinem rechtskräftigen Ausspruch. Das rechtskräftige Fehlurteil ist ein Entstehungsgrund für bisher nicht bestehende und ein Erlöschensgrund für bisher bestehende Rechte75. Entspricht das Judikat der materiellen Rechtslage, soll es nur eine deklaratorische Bestärkung der richtig erkannten materiellen Rechtslage sein76, wobei dunkel bleibt, was man sich unter dieser "Bestärkung" vorzustellen hat. Ergeht ein zweites einem ersten widersprechendes Urteil über denselben Streitgegenstand, ändert das zweite Urteil die durch das erste Urteil deklaratorisch bestärkte oder konstitutiv gestaltete Rechtslage gemäß seinem Ausspruch. Damit löst sich die Urteilskollision durch die dem rechtskräftigen Richterspruch zukommende Wirkung, die Rechtslage so zu gestalten, daß sie diesem entspricht. Will man die materiell-rechtliche Rechtskrafttheorie kritisch würdigen, muß man genauer untersuchen, worin die rechtsgestaltende Wirkung des Urteils zu sehen ist. Kohler 77 gibt der rechtskräftigen Entscheidung dieselbe Wirkung, die ein Rechtsgeschäft zwischen den Parteien haben könnte. Rechte am Rechtsstreit unbeteiligter Dritter berühre das rechtskräftige Urteil nicht. Nach Pagenstechers78 berühmten Worten ist "Resultat [ergänze: des Prozesses] seiner Idee nach Deklaration der Wahrheit. Ist das, was der Richter deklariert, aber nicht die Wahrheit, so wird wahr, was er (als wahr) deklariert." Damit auch das unrichtige Urteil die Wahrheit deklariert, gibt Pagenstecher79 ihm eine einem Feststellungsvertrag zwischen den Parteien entsprechende Wirkung. Die Parteien seien daher, verpflichtet sich so zu verhalten, als wenn sie einen Feststellungsvertrag geschlossen hätten, der die durch das Urteil getroffene Rechtsfeststellung zum Inhalt habe. Auf die für die materiell-rechtliche Rechtskrafttheorie besonders heikle Frage, wie ein Urteil wirkt, das das Eigentum oder sonst ein absolutes Recht im Prozeß zwischen A und Β dem A zuspricht, wenn es in Wahrheit dem

74

Kohler, ZZP 10 (1887), S. 449, S. 470; ders., Prozeßrechtliche Forschungen, S. 97; ders., ArchBürgR Bd. 42 (1916), S. 113, S. 115 f.; Jaeger , Konkursordnung, § 164 Anm. 7; Pagenstecher, Materielle Rechtskraft, 1905, S. 344 f.; RGZ 52, S. 216, S. 218; 112, S. 297, S. 300 f. 75

Böhmer, Grundlagen, S. 128 ff.; Pagenstecher, Materielle Rechtskraft, S. 305; RGZ46, S. 75, S. 78; 46, S. 334, S. 336; 75, S. 213, S. 215. 76

Böhmer, Grundlagen, S. 129; Kohler, BürgerlR, S. 218.

77

Kohler, Festschrift für Klein, S. 1, S. 2 f./7 ff.

78

Pagenstecher, Materielle Rechtskraft, S. 305.

79

Pagenstecher, Materielle Rechtskraft, S. 305/308.

Β. Behandlung der Urteilskollision

31

am Prozeß nicht beteiligten D zusteht, antwortet Pagenstecher80: "Es muß [...] rechtsändernde Wirkung insoweit haben, als die Parteien eine solche durch Verträge in Verbindung mit lediglich von ihnen abhängigen Handlungen hervorbringen können". Der materiell-rechtlichen Theorie wird entgegengehalten, sie stehe in Widerspruch zu den Vorschriften über die subjektiven Grenzen der Rechtskraft (§§ 325 ff. ZPO), da die Veränderung der materiellen Rechtslage notwendig für und gegen alle gelte und eine trotzdem vorgenommene Beschränkung der Rechtskraftgrenzen systemwidrig sei 81 . Schon Lent 82 und Goldschmidt 83 haben daraufhingewiesen, daß sich die materiell-rechtliche Rechtskrafttheorie mit den §§ 325 ff. ZPO vereinbaren lasse und insbesondere ein unrichtiges Eigentumsfeststellungsurteil nicht notwendig inter omnes wirken müsse, wenn man die Rechtskraft materiell-rechtlich verstehe, da auch das materielle Recht relatives Eigentum kenne (§§ 135, 161 BGB) 84 . Versteht man die materielle Rechtskraft als eine Einwirkung des Urteils auf die materielle Rechtslage und erkennt an, daß diese Einwirkung eine urteilsspezifische, von den Wirkungen eines Gesetzes oder eines Rechtsgeschäftes wesensverschiedene Erscheinung ist 85 , erscheint es ohne Systembruch denkbar, die materiell-rechtliche Wirkung des Urteils auf die Parteien zu beschränken 86. Ebenso verfehlt ist der Einwand, die materiell-rechtliche Theorie könne die Rechtskraft von Prozeßurteilen und von Urteilen mit öffentlich-rechtlichem Streitgegenstand nicht erklären 87. Versteht man unter materiellem Recht das Recht, das die vom Urteil erfaßte Rechtsfolge regelt, bereitet die materielle Rechtskraft derartiger Urteile auch der materiell-rechtlichen Theorie keine Probleme 88.

80

Pagenstecher, Materielle Rechtskraft, S. 314/466 f.

81

Hellwig, System, Bd. 1, S. 781; Rosenberg, ZPR 9 , § 148 II 1 a, S. 736; Rosenberg/Schwab, ZPR14, § 152 III 1 b, S. 972. 82

Lent, Gesetzeskonkurrenz, Bd. 2, S. 232.

83

Goldschmidt, Rechtslage, S. 177.

84

Auch Schwab konstatiert (ZZP 77 (1964), S. 124, S. 132), daß eine Beschränkung der materiellen Rechtskraft auf das Verhältnis der Parteien nach der materiell-rechtlichen Theorie auf der Grundlage des Gesetzes möglich sei. Diese Aussage erstaunt, da er dies in Rosenberg/Schwab, ZPR14 § 152 III 1 b), S. 972 der materiell-rechtlichen Theorie als systemwidrig anlastet. 85

Böhmer, Grundlagen, S. 126 ff.

86

Stein/Jonas/Leipold

87

Jauernig, ZPR, § 62 II 3 b, S. 218; Rosenberg, ZPR 9 , § 148 II 1 a, S. 736.

88

Stein/Jonas/Leipold



, § 322 RN 28.

20

, § 322 RN 27.

32

Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

Der Vorwurf, die materiell-rechtliche Theorie stehe in Widerspruch zum Gewaltenteilungsprinzip, da Rechtsschöpfung Aufgabe des Gesetzgebers und nicht des Richters sei, dieser habe die Rechtslage nur festzustellen 89, überzeugt auch nicht. Es ist schon verwunderlich, daß die prozessuale Rechtskrafttheorie diesen Einwand vorbringt, da auch nach ihr jedes Urteil rechtsschöpferisch wirkt. Denn die materielle Rechtskraft ist nach der prozessualen Theorie nichts anderes als die Erzeugung einer prozessualen Norm, die es dem Richter eines Folgeprozesses verbietet, überhaupt noch einmal (Wiederholungsverbot) oder widersprechend (Widerspruchsverbot) zu entscheiden90. Ob das Urteil eine materielle oder eine prozessuale Norm erzeugt, kann aber, was den Widerspruch gegen das Gewaltenteilungsprinzip angeht, keinen Unterschied machen. Auch ist die Behauptung, ein Urteil könne bestimmungsgemäß nicht rechtsschöpferisch sein, unbewiesen und wird als petitio principii gebraucht: ein Urteil ist nicht rechtserzeugend, weil es nicht rechtserzeugend sein darf. Der vermeintliche Vorwurf gegenüber der materiellrechtlichen Theorie deckt in Wahrheit eine entscheidende Schwäche der prozessualen Theorie auf. Die Frage nach dem Geltungsgrund des Urteils, nach der rechtstheoretischen Einordnung der Rechtskraft des Urteils in der Gesamtrechtsordnung wird von ihr außen vor gelassen und ins Reich der "unprozessualen juristischen Metaphysik" verwiesen 91. Lent 92 und Goldschmidt93 haben gezeigt, daß die materiell-rechtliche Theorie ihr selbst gestecktes Ziel 9 4 , ein Auseinandergehen von materiell-rechtlicher Rechtslage und Urteilsfeststellung zu verhindern, nicht erreiche. Nach der materiell-rechtlichen Theorie entsteht durch das - materiell unrichtige rechtskräftige Urteil ein nicht bestehendes als bestehend festgestelltes Recht beziehungsweise ein bestehendes als nicht bestehend festgestelltes Recht erlischt. Die materielle Rechtskraft ist auch nach der materiell-rechtlichen Theorie auf die Parteien des Rechtsstreits beschränkt. Am Prozeß unbeteiligte Dritte können die zwischen den Parteien festgestellte Rechtslage weiterhin mit Erfolg bestreiten 95. Daher stimmen materielle Rechtslage und Urteilsfeststellung nur überein, soweit sie im Verhältnis der Parteien des Rechtsstreits zueinander Bedeutung erlangen. Für am Rechtsstreit unbeteiligte Dritte besteht die doppelte Rechtsordnung dagegen weiterhin fort.

89

Rosenberg/Schwab ZPR l 4 , § 152 III 1 a, S. 972.

90

Koussoulis, Rechtskraftlehre, S. 24 ff.

91

Gaul, Festschrift für Flume, S. 443, S. 452; Schwab, JuS 1976, S. 69, S. 74.

92

Lent , Gesetzeskonkurrenz, Bd. 2, S. 194 ff., insb. S. 211 f./221 ff./240 f.

93

Goldschmidt, Rechtslage, S. 180 ff.

94

Kohler, Festschrift für Klein, S. 1, S. 3 f.

95

Kohler, Festschrift für Klein, S. 1, S. 2 f./7; ders., Beiträge, S. 12 f./12 FN 25.

Β. Behandlung der Urteilskollision

33

Das Anliegen der materiell-rechtlichen Theorie, eine widersprüchliche Rechtsordnung zu verhindern, verengt ihren Blick auf das unrichtige Urteil. Das mit der materiellen Rechtslage übereinstimmende Urteil hat nicht die Wirkung, die Rechtslage zu gestalten, sondern stellt sie nur deklaratorisch fest. Anders gewendet bedeutet dies, daß die Urteilswirkung, die mit materieller Rechtskraft bezeichnet wird, nur unrichtigen Urteilen zukommt. Richtige Urteile wirken keine materielle Rechtskraft 96. Auch nach der materiell-rechtlichen Theorie ist die materielle Rechtskraft das Rechtsinstitut, das die endgültige und verbindliche Klärung der Rechtslage herbeiführt, indem mit der materiellen Rechtskraft die Frage nach der Richtigkeit des Urteils unzulässig wird. Wirkt das materiell richtige Urteil aber keine materielle Rechtskraft, kann auch nach formell rechtskräftiger Entscheidung eines Rechtsstreits zulässigerweise die Richtigkeit eines Urteils bestritten werden. Das Urteil verfehlt damit seinen Zweck, Rechtsklarheit und Rechtsgewißheit zu schaffen 97. Pagenstecher98 entgegnet diesem Einwand, die fehlende Rechtskraft des richtigen Urteils schade nicht. Denn eine Partei des rechtskräftig abgeschlossenen Prozesses könne nur einwenden, das Urteil sei richtig, dann ergebe sich die Bindung des Gerichts aus dem materiellen Recht selbst oder es sei unrichtig, was zu einer Bindung aufgrund der materiellen Rechtskraft führe. Dies überzeugt schon deshalb nicht, da die ZPO ersichtlich in den §§ 322 Abs. 1, 325 ff. davon ausgeht, allen Urteilen komme materielle Rechtskraft zu. Auch läßt sich diese Ansicht rechtstheoretisch kaum halten, da das richtige Urteil einem privaten Rechtsgutachten gleichgestellt wird, was auch Pagenstecher99 ablehnt. Die materiell-rechtliche Rechtskrafttheorie kann somit Wesen und Wirkung der materiellen Rechtskraft nicht überzeugend erklären. Sie ist als Rechtskrafttheorie abzulehnen und daher nicht geeignet, als Grundlage zur Lösung des Problems der Urteilskollision zu dienen.

2. Verzicht auf die durch ein früheres

Urteil erlangte Rechtsposition

Nach Auffassung des CPO-Gesetzgebers 100 und der das BGB vorbereitenden Kommission 101 wurde ein rechtskräftiges Urteil in einem späteren Verfahren nur

96

Goldschmidt,

Rechtslage, S. 183 f.

97

Goldschmidt,

Rechtslage, S. 184; Lent , Gesetzeskonkurrenz, Bd. 2, S. 267 ff./278.

98

Pagenstecher, ZZP 37 (1908), S. 1, S. 12; ders., RheinZ VI (1914), S. 489, S. 547 FN 5.

99

Pagenstecher, Materielle Rechtskraft, S. 35.

100

Vgl. oben Teil 1 Β II 1.

101

Mugdan, Materialien, S. 555 f./812 f.

3 Lenenbach

34

Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

berücksichtigt, wenn sich die von dem Urteil begünstigte Partei im Prozeß auf das Urteil berief. Unterließ es die Partei, das ihr günstige Urteil in das zweite Verfahren einzuführen, wurde darin ein ausdrücklicher oder konkludenter Verzicht auf das erste Urteil gesehen. Dieser Verzicht hatte zur Folge, daß das erste Urteil außer Kraft gesetzt wurde 102 . Das Urteil stand nach dieser Ansicht zur freien Disposition der durch es begünstigten Partei. Eine Urteilskollision trat danach nicht ein, da das erste Urteil dadurch, daß es im zweiten Prozeß nicht vorgetragen wurde, außer Kraft trat und folglich nur das zweite Urteil galt. Versäumte es die durch das erste Urteil begünstigte Partei unverschuldet, das erste Urteil im zweiten Prozeß vorzutragen, konnte sie gegen das zweite Urteil Restitutionsklage nach § 580 Nr. 7a ZPO erheben und im dann stattfindenden Wiederaufnahmeverfahren das erste Urteil geltend machen. Der ideengeschichtliche Grund für diese Ansicht liegt in der bürgerlich-liberalen Grundhaltung, die Ende des 19. Jahrhunderts vorherrschte und die die Gesetzeswerke der CPO und des BGB wesentlich prägte. Das Urteil war danach nur das Mittel, um private Rechte durchzusetzen. Obwohl Hoheitsakt des Gerichts sah man das rechtskräftige Urteil nur als besondere, mit staatlichen Zwangsmittel durchsetzbare Ausprägung des rechtskräftig festgestellten privaten Rechts an. "Das rechtskräftige Urtheil habe gewissermaßen die Natur eines Vertrages und daher können die Parteien auf die aus dem Urtheile ihnen zufließenden Rechte ganz oder theilweise verzichten." 103 Ein Verzicht durch eine Partei auf die Wirkungen einer rechtskräftigen Entscheidung ist nur dann zulässig und wirksam, wenn am Fortbestand der Entscheidung ausschließlich diese Partei ein Interesse hat oder das öffentliche Interesse hinter dem privaten Interesse völlig zurücktritt. Andernfalls fehlt der Partei die Verfügungsmacht über die Urteilswirkungen. Das Urteil hat zuvörderst den Zweck, zwischen den Parteien Rechtsklarheit zu schaffen, indem es die konkrete Rechtslage verbindlich feststellt 104. Das private Interesse am Urteil und seinen Wirkungen steht daher im Vordergrund. Daneben bestehen aber beachtenswerte öffentliche Interessen, die für den Bestand des Urteils streiten. Die aus der materiellen Rechtskraft fließende Wirkung des Verbots der Klagewiederholung ist Ausdruck des Gedankens der Einmaligkeit staatlichen Rechtsschutzes105. Der Staat stellt seine Gerichte für denselben Rechtsstreit nur

102

So Protocolle, S. 3734; Hahn, Materialien, S. 381 zu § 519 Ziff. 7a CPO; OLG Königsberg OLGZ 23 (1914), S. 173, S. 174. 103

Protocolle, S. 3734.

104

Stein/Jonas/Leipold

20

Stein/Jonas/Leipold

ao

105

, § 322 RN 32/37 f. , § 322 RN 39.

Β. Behandlung der Urteilskollision

35

einmal zur Verfügung. Damit soll eine Überlastung der Gerichte verhindert werden. Zudem ist zu bedenken, daß die Gerichtskosten den tatsächlichen finanziellen Aufwand, den die öffentliche Hand bei der Durchführung eines Zivilverfahrens hat, nicht decken. Auch deshalb besteht ein öffentliches Interesse an der Vermeidung von Doppelprozessen106. Diese öffentlichen Interessen sind so erheblich, daß sie bei einem Verzicht der durch das Urteil begünstigten Partei auf die Urteilswirkungen nicht zurücktreten. Daher kann die begünstigte Partei nicht wirksam auf das Urteil verzichten.

3. Umkehrschluß aus § 580 Nr. 7a ZPO Eine weitere Ansicht 107 schließt daraus, daß die Nichtbeachtung der Rechtskraft des ersten Urteils als inhaltlicher Mangel des zweiten Urteils nur nach § 580 Nr. 7a ZPO im Rahmen einer Restitutionsklage geltend gemacht werden könne, das zweite Urteil gehe vor, wenn die Restitutionsklage nicht erhoben werde. Dieser Umkehrschluß wäre unter zwei Voraussetzungen berechtigt. Erstens müßte aus der Regelung des § 580 Nr. 7a ZPO folgen, daß die Rechtsfolge "Vorgehen des ersten Urteils" nur dann und sonst nie eintritt, wenn eine Restitutionsklage gegen das zweite Urteil erfolgreich war. Und zweitens müßte sich nachweisen lassen, daß bei Nichtvorgehen des ersten Urteils das zweite vorgehen soll 108 . Um die Richtigkeit dieser Auffassung nachprüfen zu können, ist es erforderlich, sich mit der ratio legis des § 580 Nr. 7a ZPO auseinanderzusetzen. Für den Gesetzgeber der CPO stellte § 580 Nr. 7a ZPO die Möglichkeit dar, das unverschuldet versäumte Vorbringen der die Einrede der Rechtskraft begründenden Tatsachen nachzuholen109. Nach der Ansicht des Gesetzgebers löst sich die Urteilskollision zugunsten der alleinigen Geltung des zweiten Urteils auf, wenn nicht ausnahmsweise eine Restitutionsklage gegen das zweite Urteil erfolgreich war. Denn die von der ersten rechtskräftigen

106

Braun, Restitution II, S. 401.

107

Citron, Das Recht, 1909, S. 834; Habscheid, Festschrift für Fragistas, S. 529, S. 555; Heim, Feststellungswirkung, S. 21\,Hellwig, System, Bd. 1, S. 810; Stein/Jonas/Leipold 20, § 322 RN 226; Kohler, ZZP 10 (1887), S. 449, S. 470; Stein/Jonas/Pohle I 8 , § 322 II 7; Roth, S. I l l ; Schwartz, Festgabe für Dernburg, S. 309/319/323; Wieser, S. 193; KG HRR 1936 Nr. 1452. 108 Larenz, Methodenlehre, S. 390 f.; Bydlinski, Methodenlehre, S. 476 f.: Umkehrschluß bedeutet, daß nach dem Zweck einer Regelung eine Rechtsfolge X nur beim Vorliegen des Tatbestandes Τ eintritt und daraus folgt, daß sie sonst nicht eintritt. Welche Rechtsfolge bei anderen Tatbeständen eintritt, darüber gibt das argumentum e contrario keinen Aufschluß. - Insofern gründet nur die erste, fiir Leipolds Ansicht erforderliche Voraussetzung, auf der Figur des Umkehrschlusses; die zweite bedarf zu ihrem Nachweis anderer methodologischer Mittel. 109

Hahn, Materialien, S. 381; oben Teil 1 Β II 3.

Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

36

Entscheidung begünstigte Partei konnte auf diese verzichten und die materielle Rechtskraft von Urteilen verstand der Gesetzgeber auf der Grundlage der materiell-rechtlichen Rechtskrafttheorie, so daß das zweite Urteil das erste aus der Welt schaffte. Nach der gesetzgeberischen Vorstellung ist der Urteilskonflikt so zu behandeln, wie es von der oben dargestellten Auffassung vorgeschlagen wird. Die gesetzgeberische Lösung der Urteilskollision beruht aber nicht auf einer von einem zeitbedingten prozessualen Verständnis losgelösten Kollisionsnorm. Sie ist vielmehr die konsequente Umsetzung der bei Erlaß der CPO geltenden prozessualen Ansichten. Eine Auffassung, die zum gleichen Ergebnis bei der Lösung des Problems divergierender Doppelentscheidungen wie der Gesetzgeber gelangt und die tragenden legislatorischen Vorstellungen ablehnt 110 , ohne eine eigene Begründung für ihre Lösung zu geben, ist nicht recht überzeugend. Sie beschränkt sich nämlich in der Feststellung eines Ergebnisses, ohne dieses zu begründen. Damit ist nicht gesagt, daß das von dieser Ansicht vertretene Ergebnis nicht aus anderen Gründen zutrifft. Nur ist ihr Ergebnis mit der von ihr vorgetragenen Argumentation nicht zwingend. Dies zeigt sich auch daran, daß der BGH 1 1 1 und das B A G 1 1 2 bei der Urteilskollision dem ersten Urteil den Vorrang einräumen, auch wenn die Restitutionsklage nicht erhoben wurde. Zur Begründung verweisen beide Gerichte allein auf § 580 Nr. 7a ZPO, aus dem sich der Vorrang der ersten Entscheidung ergebe.

4. Die lex-posterior-Regel Die alleinige Geltung des jüngeren von zwei sich widersprechenden Judikaten läßt sich mit dem Grundsatz "lex posterior derogat legi priori" begründen, vorausgesetzt dieser Grundsatz gilt auch bei der Kollision zweier Urteile. Das RG 1 1 3 geht ohne Begründung davon aus, daß diese für die Kollision von Gesetzen aufgestellte Regel auch für die Kollision von Urteilen gelte, wenn es ausführt: "Das Verhältnis der beiden entgegengesetzten Entscheidungen zueinander stellt sich nicht anders als das Verhältnis zweier Gesetze entgegengesetzten Inhalts [ergänze: dar], von denen selbstverständlich das neue dem älteren vorgeht". 114 Um beurteilen zu können, ob die Kollisionsregel "lex posterior" auch auf den Fall der

1,0

So Leipold, der die materielle Rechtskraft für unverzichtbar hält (Stein/Jonas/Leipold 20, § 322 20 RN 221) und die materiell-rechtliche Rechtskrafttheorie (Stein/Jonas/Leipold , § 322 RN 35) ablehnt. lu

BGHNJW

1981, S. 1517, S. 1518.

1,2

&4GNJW 1986, S. 1831, S. 1832.

113

RGZ 52, S. 216, S.218.

1,4

Ebenso: Kohler, ArchBürgR Bd. 42 (1916), S. 113, S. 116; Reichel, Festschrift für Wach, S. 3, S. 46; Zeiss , ZPR, RN 346; AG Gummersbach NJW-RR 1986, S. 1391, S. 1392.

Β. Behandlung der Urteilskollision

37

Urteilskollision anwendbar ist, genügt weder das reichsgerichtliche Behauptung, daß dieses sei so, noch der Hinweis auf die gewohnheitsrechtliche Geltung dieses Satzes115. Es bedarf vielmehr der Klärung der diese Kollisionsregel tragenden Erwägungen und rechtfertigenden Gründe. Die Verfassungsnormen, die den Gesetzgeber ermächtigen, Gesetze zu erlassen, sind gleichzeitig eine Ermächtigung zur Abänderung alter Gesetze116. Der Gesetzgeber als Organ eines im Inneren souveränen Staates nimmt an dieser Souveränität insoweit teil, als es zur Erfüllung seiner Aufgaben notwendig ist 117 . Diese bestehen darin, dem sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben einen normativen Ordnungsrahmen zu geben und für Probleme der Gemeinschaft und des einzelnen Regeln zu schaffen 118. In einer sich schnell wandelnden modernen Gesellschaft treten ständig neue zu lösende Probleme auf oder alte Probleme können aufgrund neuer Einsichten - vermeintlich - besser gelöst werden. Zudem besteht die Funktion der Gesetzgebung heute zumindest auch in der Umsetzung politischer Ziele zur Gestaltung der sozialen Wirklichkeit 119 . Damit der Gesetzgeber diese Aufgaben erfüllen kann, muß er befugt sein, alte Gesetze durch neue zu ersetzen 120. Er besitzt Rechtssetzungsautonomie, soweit seiner Souveränität nicht von der Verfassung Grenzen gesetzt sind. Auch wenn man die Kollisionsregel, "lex posterior derogat legi priori", derart funktionell begründet, gilt sie nur, wenn der Gesetzgeber durch das neue Gesetz jede diesem widersprechende Regelung ausdrücklich oder konkludent widerrufen hat 121 , wobei ein konkludenter Widerruf in der Regel angenommen werden kann. Läßt der Gesetzgeber erkennen, daß er durch ein neues Gesetz ein altes nicht ändern will, zum Beispiel weil das alte Gesetz eine bewährte Kodifikation darstellt, kann unter Umständen auch das ältere Gesetz vorgehen 122 . Es ist daher falsch, wenn zum Teil 1 2 3 der Vorrang des älteren Gesetzes stets, auch wenn ein Wille zur Aufhebung des älteren nicht vorliegt, allein deshalb behauptet wird,

U5 BVerwG NJW 1991, S. 673, S. 674; NJW 1991, S. 1074, S. 1075: Der Grundsatz lex posterior derogat legi priori gelte auch für den Konflikt von Satzungen, er sei gewohnheitsrechtlich anerkannt. 1.6

Bötticher, Rechtskraft, S. 58; Bydlinski,

1.7

Würtenberger,

118

Ossenbühl, Hdb., Bd. 3, § 61 RN 22, S. 292.

119

Klein, Hdb., Bd. 2, § 40 RN 17, S. 350 f.; Ossenbühl, Hdb., Bd. 3, § 61 RN 22, S. 291.

120

Würtenberger,

Methodenlehre, S. 574.

Staatsrecht. Probleme, S. 347.

Staatsrecht. Probleme, S. 347.

121

Ehrlich, Logik, S. 139; Engisch, Einheit, S. 47 f.; Wolf, ARWP, Bd. 19 (1925/26), S. 243, S. 263 if.: die lex posterior Regel sei Unterfall des Gesetzes der maßgebenden Bedeutung des späteren Verhaltens; Würtenberger, Staatsrecht!. Probleme, S. 348 f. 122

Würtenberger,

123

Beling, Krit. Viertelsjahresschrift, 1925, S. 104, S. 114.

Staatsrecht!. Probleme, S. 348 f.

38

Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

weil im Falle der Kollision zweier Gesetze der Satz, "lex posterior derogat legi priori", eingreife. Man kann sagen, daß im Zweifel ein Widerruf des älteren durch ein neueres Gesetz anzunehmen ist. Einer, wenn auch nur stillschweigenden, auf Aufhebung des älteren Gesetzes gerichteten Willensäußerung des Gesetzgebers bedarf es aber stets, um dem jüngeren Gesetz den Vorrang zu verschaffen. Die Kollisionsregel, "lex posterior derogat legi priori", ist daher ein ausdrücklicher oder konkludenter Widerruf eines älteren durch ein neueres Gesetz. Sie greift nur ein, soweit der Widerrufende die Verfügungsmacht über die durch die frühere Willensäußerung geschaffene Rechtslage hat. Führt man die lex-posterior-Regel auf die rechtstheoretische Grundfigur "Widerruf bei bestehender Widerrufsbefugnis" zurück, löst sich die Kollision zweier Gesetze nach dem gleichen Prinzip wie die zweier privater Willenserklärungen 124. In beiden Fällen widerruft das eine frühere Willensäußerung abgebende Subjekt dieselbe durch eine spätere. Dieser Widerruf ist wirksam, soweit der Autonomie des Widerrufenden durch die Rechtsordnung keine Grenzen gesetzt sind 125 . Eine Übertragung der lex-posteriorRegel auf den Geltungskonflikt zweier gerichtlicher Entscheidungen kommt daher nur in Frage, wenn das zweite Urteil einen wirksamen Widerruf des ersten darstellt. Der Einwand Böttichers 126, dies sei deshalb abzulehnen, da ein Widerruf nur von demselben Subjekt möglich sei, das die zu widerrufende Willenserklärung abgegeben habe, sich widersprechende Urteile aber von verschiedenen Gerichten erlassen worden seien, überzeugt nicht. Die Rechtsprechung ist eine einheitliche dritte Gewalt, der alle Äußerungen ihrer Einzelsubjekte zuzurechnen sind. Hilfreicher ist es, die Möglichkeiten der Rechtsprechung zu untersuchen, ihre eigenen Entscheidungen zu widerrufen. Das Gericht, das in End- und Zwischenurteilen Entscheidungen fällt, ist an diese gemäß § 318 ZPO gebunden. Hat ein Gericht ein Urteil erlassen, kann es dieses selbst grundsätzlich nicht mehr ändern, es sei denn, es liegt einer der Ausnahmetatbestände der §§ 319 - 321 ZPO vor. Die Abänderung eines erlassenen Urteils ist nur durch ein Gericht höherer Instanz im Instanzenzug oder ausnahmsweise durch das das Urteil fällende Gericht selbst bei einer Wiederaufnahme des Verfahrens möglich. Unabhängig von zivilprozessualen Instituten kommt noch eine Aufhebung einer rechtskräftigen Entscheidung durch das BVerfG in Betracht. Außerhalb dieses numerus clausus der Aufhebungs- und Abänderungsbefugnisse stehen der Rechtsprechung keine Befugnisse zu, eine Entscheidungen zu beseitigen. Gegen die Anwendung

124

Wolf, ARWP, Bd. 19 (1925/26), S. 243, S. 263 ff.

125

Daher ist es konsequent von Kohler, ZZP 10 (1887), S. 449, S. 470, wenn er auf der Grundlage seiner Theorie, nach der die Urteilsfeststellung wie ein Rechtsgeschäft zwischen den Parteien wirkt, die Urteilskollision mit der Kollision zweier Verträge vergleicht und beide Fälle nach den gleichen Grundsätzen löst. 126

Bötticher, Rechtskraft, S. 59 f.

39

Β. Behandlung der Urteilskollision

der lex-posterior-Regel auf die Urteilskollision spricht auch der fehlende Widerrufswille des Gerichts des zweiten Verfahrens. Die lex-posterior-Regel setzt voraus, daß das Subjekt, das einen Rechtsakt erläßt, der einem älteren widerspricht, den älteren Akt widerrufen will. Dieser Wille fehlt dem Gericht des Zweitprozesses, wenn es das erste Urteil übersieht, da es sich eines früheren seiner jetzt erlassenen Entscheidung widersprechenden Judikats nicht bewußt ist. Der Zulassung des Widerrufs rechtskräftiger Judikate durch ein späteres inhaltlich widersprechendes Urteil stehen zudem die Aufgabe und das Wesen der Rechtsprechung entgegen. Rechtsprechung ist die in einem besonders geregelten Verfahren zu letztverbindlicher Entscheidung führende Beurteilung von Sachverhalten in Anwendung des geltenden Rechts durch ein unbeteiligtes Staatsorgan 127. Auch wenn über das Wesen der Rechtsprechung im einzelnen Streit besteht und die gerade gegebene Definition angegriffen wird, herrscht insoweit Einigkeit, als das Kriterium der letztverbindlichen Entscheidung konkreter Streitigkeiten vorhanden sein muß, damit von Rechtsprechung gesprochen werden kann 128 . Für die Rechtsprechung ist also wesenstypisch, daß sie zu einer verbindlichen und unabänderlichen Entscheidung führt. Rechtskräftige Urteile sollen ihre Geltung behalten und nicht wie Gesetze stetig sich wandelnden Umständen und politischen Zielen angepaßt werden. Während Gesetzgebung wesensmäßig dynamisch und auf Veränderung abzielend angelegt ist, ist Rechtsprechung statisch. Da sich der Grundsatz "lex posterior" auch aus der Überlegung rechtfertigt, nur wenn der Gesetzgeber seine eigenen Akte aufheben kann, ist er in der Lage, seine ihm zukommende Funktion zu erfüllen, spricht das gerade aufgezeigte Wesen der Rechtsprechung gegen die Anwendung dieser Kollisionsnorm auf Akte der Judikative. Schumann129 ist der Auffassung, die lex-posterior-Regel gelte dann notwendig für die Urteilskollision, wenn man die materielle Rechtskraft als Schaffung einer konkreten Norm verstehe. Husserl 130 und Sauer 131 haben zum Beispiel ein solches Rechtskraftverständnis. Die rechtstheoretische Einordnung der Rechtskraft ist aber nicht dafür entscheidend, ob im Kollisionsfall die lex-posterior-Regel gilt. Nicht weil eine wie auch immer geartete Norm vorliegt, gilt diese Kollisionsregel, sondern weil die Erwägungen gegeben sind, die dieser Regel zugrundeliegen. Es

127

Stern, Staatsrecht, Bd. 2, S. 898.

128

Bettermann,, Hdb., Bd. 3, § 73 RN 38, S. 793; Stein/Jonas/Schumann Staatsrecht, Bd. 2, S. 898; BVerJGE 54, S. 277, S. 291. 129

Schumann, Verfassungsbeschwerde, S. 279 FN 13.

130

Husserl, Rechtskraft, Bd. 1, S. 17 ff.

131

Sauer, Methodenlehre, S. 513.

20

, Einl. RN 477; Stern,

40

Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

bleibt daher dabei, daß sich die Urteilskollision nicht nach dem Grundsatz, "lex posterior derogat legi priori", beseitigen läßt.

5. Der neuste Erkenntnisstand als Maßstab Als Grund für das Vorgehen des zweiten Urteils wird angeführt, es sei das dem gegenwärtigen Erkenntnisstand zeitnähere 132 und es spreche eine Vermutung dafür, daß es der gegenwärtigen Sachlage am besten entspreche 133. Sollte damit gemeint sein, daß aufgrund einer Änderung der Sach- und Rechtslage dem zweiten Verfahren ein anderer Streitgegenstand zugrundeliegt, fehlt es schon an einer Urteilskollision. Geht man davon aus, der Maßstab der größeren Aktualität sei deshalb zur Lösung des Geltungskonfliktes geeignet, da die jüngere Entscheidung die richtigere sei, steht und fällt diese Aussage mit der Schlußfolgerung, weil aktueller, daher richtiger. Betrachtet man die tatsächliche Seite des Prozesses, erscheint diese Prämisse zweifelhaft. Je länger der Sachverhalt zurückliegt, je schwieriger gestaltet sich seine Aufklärung. Die Erinnerung von Zeugen läßt nach, Gegenstände des Augenscheins und eines Gutachtens verändern sich und selbst bei den in der Zeit typischerweise unveränderlichen Urkunden steigt mit zunehmender Zeit die Gefahr, daß sie zerstört werden oder verloren gehen. Es gilt daher eher die Vermutung, daß der Sachverhalt mit fortschreitender Zeit unrichtiger ermittelt wird. Der Schluß von der Aktualität auf die Richtigkeit könnte aber auf die rechtliche Seite des Verfahrens zutreffen. In einem zweiten Prozeß können neue Erkenntnisse der Rechtswissenschaft sowie eine geänderte Rechtsprechung, die bei Erlaß des ersten Urteils noch nicht bekannt waren, berücksichtigt werden. Es erscheint aber kaum möglich, im Zusammenhang mit juristischen Ansichten von größerer Richtigkeit zu sprechen. Rechtswissenschaft ist eine normative Wissenschaft. Verschiedene Auffassungen zu einem Problem können nicht wie bei naturwissenschaftlichen Fragestellung experimentell verifiziert oder falsifiziert werden. Sie können nur durch Argumente mehr oder weniger gut begründet werden. Welches Argument überzeugender und welche Auffassung "richtiger" ist, ist eine Wertungsfrage, die im Laufe der Zeit verschieden beurteilt werden

132

AG Gummersbach NJW-RR 1986, S. 1391, S. 1392.

™ Roth, S. 111.

Β. Behandlung der Urteilskollision

41

kann 134 . Aktualität in der Beurteilung von Rechtsfragen bedeutet daher nicht größere rechtliche Richtigkeit, sondern ein Abstellen auf einen gerade geltenden Meinungsstand, der sich alsbad wieder ändern kann. Auch das Wesen der Rechtsprechung, konkrete Streitigkeiten letztverbindlich zu entscheiden, steht einer Kollisionsnorm des aktuelleren Erkenntnisstandes entgegen. Dem Gedanken der größeren Aktualität kann nur bei Rechtsinstituten die Bedeutung einer Kollisionsnorm zukommen, deren Funktion es ist, "auf der Höhe der Zeit zu sein". Die Rechtsprechung soll aber Frieden und Gewißheit herstellen und nicht mit der Mode gehen. Soweit Roth 135 auf die Richtigkeit als Maßstab abstellt, stehen diesem Maßstab die gleichen Bedenken entgegen wie dem des neueren Erkenntnisstandes. Das jüngere Urteil ist eher unrichtiger, da die Sachverhaltsermittlung mit der Zeit schwieriger wird. Eine rechtskräftige Entscheidung einem neueren Sachstand weichen zu lassen, widerspricht der Funktion der Rechtsprechung.

6. Die Macht des Faktischen Bruns 136 sieht als Gesichtspunkt für "einen gewissen verdrängenden Vorrang" des zweiten Urteils an, daß es "einfach existiert". Das erste Urteil ist aber genauso vorhanden wie das zweite, so daß die bloße Existenz kein Anknüpfungspunkt für eine Kollisionsregel sein kann. Zudem hat das "Faktische an sich" keine rechtliche Bedeutung. Der Begriff "normative Kraft des Faktischen" ist mehr schillernd als aussagekräftig. Werden an eine Tatsache rechtliche Folgen geknüpft, handelt es sich um eine normale rechtliche Wirkung, die einer Tatsache

134

Als Beispiel sei die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Haftung des Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber genannt. Bis vor kurzem war entscheidend, ob der Arbeitnehmer den Arbeitgeber im Rahmen des Arbeitsverhältnisses bei einer gefahrengeneigten Arbeit schädigte. War dies nicht der Fall, haftete der Arbeitnehmer wie jede andere Person nach dem Maßstab des § 276 BGB. Lag gefahrengeneigte Arbeit vor, war innerhalb des BAG streitig, welcher Haftungsmaßstab gelten sollte. Nach BAG NJW 1983, S. 1693 sollte der Arbeitnehmer nur bei Vorsatz und grober Fahrlässigkeit haften. Nach BAG DB 1987, S. 1948 haftet der Arbeitnehmer bei Vorsatz und grober Fahrlässigkeit voll, bei mittlerer Fahrlässigkeit soll der Schaden zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gequotelt werden und im Falle leichtester Fahrlässigkeit trifft den Arbeitnehmer keine Haftung. Seit neustem soll diese Haftungstrias stets gelten, wenn der Arbeitnehmer den Arbeitgeber bei betrieblich veranlaßter Tätigkeit im Rahmen des Arbeitsverhältnisses schädigt, auch wenn keine gefahrengeneigte Arbeit vorliegt (BAG NJW 1993, S. 1732). Das letzte Urteil des Bundesarbeitsgerichts ist das neuste; ob es richtiger ist als die vorhergehenden Entscheidungen, läßt sich kaum sagen. 135

Roth, S. 111.

136

Bruns, FamRZ 1957, S. 201, S. 203.

42

Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

zukommt, da sie sich unter ein Tatbestandsmerkmal einer Norm subsumieren läßt. Die Tatsache hat normative Kraft nicht, weil sie ist, sondern weil ihr diese Wirkung von der Rechtsordnung durch gesetzte oder ungeschriebene Normen gegeben wird. Es bedürfte daher eines Rechtssatzes, "daß die Tatsache zweites Urteil die Tatsache erstes Urteil verdrängt", um der Urteilskollision abzuhelfen. Das bloße Vorhandensein des zweiten Judikats hat dagegen keinerlei derogierende Kraft 137 .

7. Kein öffentliches

Interesse im Falle der Urteilskollision

Habscheid 138 sieht das öffentliche Interesse als nicht mehr berührt an, wenn es erst einmal zu widerstreitenden Urteilen gekommen ist. Daher könnten öffentliche Interessen nicht für den Vorrang eines der beiden Urteile herangezogen werden. Für das Verhältnis der sich widersprechenden Entscheidungen seien deshalb allein die Parteiinteressen maßgeblich. Wäge man diese ab, sei es billig, das Risiko, daß ein zweites vom ersten abweichendes Judikat Maßgeblichkeit erlange, der Partei aufzuerlegen, die das erste Urteil zu ihren Gunsten hätte geltend machen können. Habscheids These kann nur zugestimmt werden, wenn im Fall einander widersprechender Urteile keine öffentlichen Interessen betroffen sind. Kommt es zu widersprechenden rechtskräftigen Entscheidungen über den gleichen Streitgegenstand, offenbart sich in deutlicher Weise das Versagen der Rechtsprechung. Die wesentliche Aufgabe eines Zivilurteils ist die Schaffung von Rechtsgewißheit unter den Parteien 139. Nach rechtskräftigem Abschluß eines Zivilrechtsstreits muß unter den Parteien feststehen, was zwischen ihnen rechtens ist. Statt endgültige Verbindlichkeit im Streit zwischen Privaten zu schaffen, verschärfen die kollidierenden Entscheidungen die Ungewißheit über das, was rechtens ist. Denn jetzt kann jede Partei unter Berufung auf ein rechtskräftiges Urteil behaupten, sie habe recht. Die Rechtsprechung hat ihre Aufgabe nicht erfüllt. Sie hat gerade das Gegenteil von dem produziert, was sie durch ihre Urteile schaffen soll, nämlich Rechtsungewißheit und Rechtsunsicherheit. Der Rechtsprechung kommt neben der Schaffung von Rechtsgewißheit zwischen den Parteierl die Aufgabe zu, durch die Beendigung des Streites zwischen den Privaten für ein friedliches Zusammenleben der Bevölkerung zu sorgen.

137

Im Ergebnis ebenso Simon, Diss., S. 43.

138

Habscheid, Festschrift für Fragistas, S. 529, S. 556; ihm folgend Wieser, S. 193 f.

139

Stein/Jonas/Leipold

10

, § 322 RN 30 f.

Β. Behandlung der Urteilskollision

43

Besteht in der Bevölkerung Vertrauen in die Rechtsprechung, bildet sich ein Konsens, daß Streitigkeiten vor Gericht auszutragen sind. Die Judikative erfüllt damit eine Befriedungsfunktion. Dieser Aufgabe kann die Rechtsprechung aber nur genügen, wenn sie Ansehen in der Bevölkerung genießt und die Allgemeinheit auf die Richtigkeit ihrer Urteile 140 und darauf vertraut, daß nach dem Abschluß eines gerichtlichen Streits Rechtsklarheit zwischen den streitenden Parteien herrscht. Durch das für jedermann evidente Offenbarwerden des Versagens der Rechtsprechung im Falle sich widersprechender Urteile über denselben Streitgegenstand besteht die Gefahr, daß die Rechtsprechung ihr Vertrauen und Ansehen in der Bevölkerung einbüßt. In dem Maße, in dem sie dieses Ansehen und Vertrauen verliert, ist es ihr nicht mehr möglich, befriedend auf die Allgemeinheit einzuwirken. Entgegen Habscheids Ansicht berührt die Urteilskollision daher nicht nur die privaten Interessen der Parteien, sondern auch das öffentliche Interesse daran, daß die Rechtsprechung ihre Befriedungsfunktion erfolgreich erfüllt.

8. Übersehen des ersten Urteils als von der Rechtskraft des zweiten Urteils geheilter Fehler Die materielle Rechtskraft des Urteils hat zur Folge, daß grundsätzlich alle Fehler des rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens in Zukunft rechtlich unbeachtlich sind, gleich ob es um solche bei der Sachverhaltsermittlung oder bei der Rechtsanwendung geht 141 . Fortan gilt die rechtskräftig festgestellte Rechtslage als richtig. Wendet man diese Grundsätze auf den Geltungskonflikt zweier Judikate an, läßt sich argumentieren, das Übersehen des ersten Urteils mit allen seinen Wirkungen ist ein Fehler des zweiten Verfahrens, der nach dessen rechtskräftigem Abschluß unbeachtlich ist. Die Rechtskraftwirkung der zweiten Entscheidung würde das erste Urteil außer Kraft setzten, das zweite Urteil wäre vorrangig. Die fehlerheilende Kraft der Rechtskraft erfaßt Fehler, die dem Gericht in dem zum Urteil führenden Verfahren unterlaufen sind. Dies trifft auch auf die Urteilskollision zu, wenn man darauf abstellt, daß im zweiten Verfahren das Verbot der Klagewiederholung 142 nicht beachtet wurde. Die materielle Rechtskraft

140

Johannsen, Festschrift 45. DJT, S. 81, S. 84 ff.; LG Deggendorf FamRZ 1957, S. 178, S. 180.

141

Stein/Jonas/Leipold

142

20

, § 322 RN 262 f.

Für die vorliegende Fragestellung ist es gleichgültig, ob man das Verbot der Klagewiederholung aus der materiellen Rechtskraft selbst (Rosenberg/Schwab/Gottwald, § 151 III 1, S. 917) oder aus dem für den zweiten Prozeß fehlenden Rechtsschutzbedürfnis (.Arens, RN 353) herleitet.

44

Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

bewirkt, daß die im Urteil festgestellte Rechtslage als unangreifbar richtig gilt 1 4 3 . Von den Ausnahmefällen der Unwirksamkeit der Entscheidung oder der Wiederaufnahme des Verfahrens (§§ 578 ff. ZPO) abgesehen, können Zweifel an der Richtigkeit des Urteil mit in der Rechtsordnung zu beachtender Erheblichkeit nicht mehr geltend gemacht werden 144 . Fehler, die dem Gericht bei der rechtskräftig gewordenen Entscheidung unterlaufen sind, gleich ob sie in einer ungenügenden Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhaltes oder in der unrichtigen Anwendung des Rechts liegen, können der Entscheidung mit Erfolg nicht mehr entgegengehalten werden. Die besondere Kraft des rechtskräftigen Urteils besteht eben gerade darin, daß die zur Entscheidung gestellte Rechtslage zwischen den Parteien letztverbindlich konkretisiert ist, das heißt unter Ausschluß jeglicher Möglichkeit, die Richtigkeit in Frage zu stellen. Nur wenn der Richterspruch unabhängig von in dem ihm vorausgehenden Verfahren gemachten Fehlern gilt, kann er seinen Zweck erfüllen, Rechtsfrieden und Rechtsgewißheit zwischen den Parteien herzustellen. Soweit bei der Urteilsfindung gemachte Fehler nicht mehr geltend gemacht werden können, kann man davon sprechen, daß die materielle Rechtskraft diese Fehler heilt. Würde man die Rechtskraftwirkung des zweiten Urteils soweit gehen lassen, daß das erste Urteil gänzlich außer Kraft tritt, käme der Rechtskraft die Macht zu, einen gleichrangigen Hoheitsakt zu verdrängen. Diese Wirkung hat aber die materielle Rechtskraft nicht. Sie heilt nur Fehler des dem Urteil vorausgehenden Verfahrens. Der Fehler, der dem Gericht im zweiten Prozeß unterlaufen ist, ist die Nichtbeachtung des Verbots der Klagewiederholung. Die fehlerheilende Wirkung der materiellen Rechtskraft ist nicht als Aufhebung oder als Außergeltungsetzen aller dem Urteil und seiner Begründung entgegenstehenden Rechtsakte zu verstehen. Die Rechtskraft führt vielmehr dazu, daß die Einwendung, das zum Urteil führende Verfahren sei fehlerhaft, in der Rechtsordnung unbeachtlich ist. Die Rechtskraft des späteren Urteils derogiertdaher nicht das frühere Urteil, sondern schützt nur das spätere vor weiteren Angriffen. Die materielle Rechtskraft des zweiten Urteils hat daher die Wirkung, daß das Urteil nicht mit der Behauptung angegriffen werden kann, es habe das erste Urteil übersehen; von der Möglichkeit einer Wiederaufnahmeklage nach § 580 Nr.7a ZPO einmal abgesehen.

143

Dies gilt nach allen Rechtskrafttheorien. Streitig ist nur, ob diese Unangreifbarkeit eintritt, weil die Rechtskraft - nur - die Gerichte bindet (so Gaul Festschrift für Flume, S. 443, S. 524) oder weil die Rechtskraft eine die Parteien bindende Norm darstellt (.Stein/Jonas/Leipold 20, § 322 RN 34 ff.; Rosenberg/Schwab/Gottwald, § 151 II 3 b, S. 916 f.). 144 20 Stein/Jonas/Leipold , § 322 RN 38/262 f.; Stein/Jonas/Grunsky Schumann, Festschrift für Bötticher, S. 289, S. 307/311/319.

20

, vor § 578 RN 15f.;

45

Β. Behandlung der Urteilskollision

IV. Der Vorrang des ersten Urteils Da alle Versuche gescheitert sind, den Vorrang des zweiten Urteils zu begründen, liegt die Annahme nahe, daß die erste von zwei sich widersprechenden Entscheidungen vorgeht.

1. Die Unwirksamkeit des zweiten Urteils wegen eines besonders schweren Verfahrensmangels Thumm 145 will die materielle Rechtskraft der zweiten Entscheidung wegen der bereits bestehenden Bindung an das erste Urteil entfallen lassen. Sauer 146 spricht dem zweiten Urteil die Rechtsbeständigkeit ab, da die Verletzung des Grundsatzes der Einmaligkeit die Unwirksamkeit derselben zur Folge habe. Hartmann 147 hält das zweite Urteil für wirkungslos, da es gegen die öffentliche Ordnung verstoße, denn der zweite Prozeß sei unzulässig. Alle Autoren begründen die Unwirksamkeit der zweiten Entscheidung, beziehungsweise das Fehlen deren materieller Rechtskraft, mit dem Verstoß gegen die materielle Rechtskraft des ersten Urteils 148 . Das zweite Judikat soll also deshalb unwirksam sein, da es an einem besonders schweren Verfahrensfehler leidet. Schwerwiegende Verfahrensfehler können nach allgemeiner Auffassung 149 zur Aufhebbarkeit einer rechtskräftigen Entscheidung führen, wenn sie Wiederaufhahmegründe (§§ 579 f. ZPO) darstellen, und die Unwirksamkeit begründen, wenn sie einen ungeschriebenen Nichtigkeits- oder Unwirksamkeitstatsbestand erfüllen. Die Frage nach der Auswirkung des Fehlers auf das rechtskräftige Judikat sollte ausschließlich nach zivilprozessualen Grundsätzen behandelt werden. Wenn Simon 150 die Unhaltbarkeit der Auffassung von der Unwirksamkeit des zweiten Urteil mittels eines Rückgriffs auf die allgemeinen Lehren von der Fehlerhaftigkeit der Staatsakte nachzuweisen versucht, beachtet er nicht, daß verfahrensmäßige und inhaltliche Fehler bei den verschiedenen Hoheitsakten verschiedene Folgen haben und unterschiedlich verfahrensrechtlich behandelt werden. So führt zum Beispiel bei einer Rechtsverordnung jeder wesentliche

145

Thumm, S. 33 f./63/69 f.

146

Sauer, JR 1951, S. 257, S. 258 f.

147

Baumbach/Lauterbach/Hartmann,

148

Ebenso Jerusalem, 1930,; Koussoulis, Rechtskraftlehre, S. 82.

149

Einf. §§ 322-327 RN 19.

Stein/Jonas/Leipold 20, § 322 RN 262 f.; Lüke/Zawar, Schwab/Gottwald ,5, § 62 I 2, S. 339. 150

Simon, Diss., S. 33 ff.

JuS 1970, S. 205, S. 212 f.; Rosenberg/

46

Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

Verfahrensfehler und jeder materielle Fehler zur Nichtigkeit 151 . Verstoßen Gesetze gegen höherrangiges Recht sind sie nichtig, wobei ein Verfassungsverstoß des an das Grundgesetz gebundenen Gesetzgebers nur vom BVerfG festgestellt werden darf (Art. 100 Abs. 1 GG). Die unterschiedliche materielle und prozessuale Behandlung von fehlerhaften Staatsakten beruht zum einen auf verschiedenen gesetzlichen Regelungen, zum anderen auf der verschiedenartigen Interessenlage 152. Die Auswirkungen des Verfahrensfehlers "Verstoß gegen das Verbot der Klagewiederholung" auf das zweite Urteil sind daher allein an zivilprozessualen Maßstäben zu messen. Schwere Verfahrensfehler machen eine rechtskräftige Entscheidung vernichtbar, wenn sie Wiederaufhahmegründe darstellen. Bei der Nichtbeachtung des Verbots der Klagewiederholung liegt der Wiederaufhahmegrund des § 580 Nr. 7a ZPO vor. Dies spricht gegen die Annahme, der in der Nichtbeachtung des Verbots der Klagewiederholung liegende Verfahrensfehler wirke sich auf die Wirksamkeit des zweiten Urteils aus, da eine Wiederaufnahmeklage ein wirksames, wenn auch fehlerhaftes Urteil voraussetzt 153. Es bleibt zu klären, ob die aus allgemeinen Grundsätzen entwickelten Nichtigkeits- und Unwirksamkeitsgründe 154 zur Beachtlichkeit des Verfahrensfehlers des zweiten Prozesses führen. Zur Unwirksamkeit eines Urteils führt das Fehlen der deutschen Gerichtsbarkeit auf Seiten des Beklagten 155 , der Ausspruch einer unserer Rechtsordnung unbekannten Rechtsfolge 156 und eine Entscheidung, die aus rechtlichen oder tatsächichen Gründen keine ihrem Inhalt entsprechende Wirkung entfalten kann oder unbestimmt ist 157 , auch die Verletzung oberster Grundsätze des Parteiprozesses 158 sowie der Erlaß eines Urteils, ohne daß Klage

151

Maurer, VerwR, § 13 RN 15.

152

Lüke/Zawar,

JuS 1970, S. 205.

153

Ähnlich Gaul, Wiederaufnahmerecht, S. 95: Die Annahme, der in der Nichtbeachtung der Rechtskraft liegende Verfahrensverstoß führe zur Nichtigkeit desUrteil, begegne dem Bedenken, daß § 579 ZPO bei schweren Verfahrensverstößen nur Vemichtbarkeit vorsehe. 154

Der dogmatische Unterschied interessiert vorliegend nicht.

155

Stein/Jonas/Grunsky

156

Lüke/Zawar, 1989, S. 268. 157 158

20

, vor §§ 578 RN 5.

JuS 1970, S. 205, S. 212; BGH VersR 1987, S. 1195; OLG Oldenburg MDR

Rosenberg/Schwab/Gottwald

,5

, § 62 IV 2 c, S. 343 f.; BGHZll, S. 125, S. 126.

BGH VersR 1987, S. 1195: Zwar geht es in dem Urteil um die Wirksamkeit einer Verfügung, durch die die Berufungsbegründungsfrist verlängert wurde. Die Aussagen des BGH zur Auswirkung von Verfahrensfehlern auf die Wirksamkeit von Entscheidungen beziehen sich aber auf alle gerichtlichen Entscheidungen.

Β. Behandlung der Urteilskollision

47

erhoben wurde 159 . Darüberhinaus werden noch weitere Unwirksamkeitsgründe diskutiert 160 , die hier nicht interessieren. Keiner der allgemein anerkannten Unwirksamkeitsgründe liegt vor, wenn ein Urteil an dem Verfahrensfehler der Nichtbeachtung des Verbots der Klagewiederholung leidet. Wenn Hartmann 161 ausführt, das zweite Urteil sei unwirksam, da es eine unzulässige Rechtsfolge ausspreche, und die Unzulässigkeit aus dem ne bis in idem Grundsatz, der für ihn die Wirkung der materiellen Rechtskraft ausmacht, herleitet, wird nicht deutlich, warum der Verstoß gegen das Verbot der Klagewiederholung schwerer wiegt als andere Verfahrensfehler. Das Verbot, neu zu verhandeln und zu entscheiden, führe nur im Fall der Urteilskollision zur Unwirksamkeit der zweiten Entscheidung; wird die Rechtskraft in ihrer präjudiziellen Wirkung übersehen, soll dagegen das zweite Urteil vorgehen. Weshalb das Verbot, neu zu verhandeln und zu entscheiden, nur wenn es als negative Prozeßvoraussetzung wirkt, die Kraft hat, die Unwirksamkeit des zweiten Urteils zu begründen, bleibt unklar und ist widersprüchlich. Da der Verfahrensverstoß der Mißachtung des Verbots der Klagewiederholung keinen anerkannten Nichtigkeitsgrund eines Urteils darstellt und die Nichtigkeit des zweiten Urteil nicht mit von den anerkannten Nichtkeitsgründen abweichenden Erwägungen begründet wird, führt der Verfahrensfehler nicht zur Nichtigkeit des zweiten Urteils.

2. Berufung auf § 580 Nr. 7a ZPO Der BGH 1 6 2 und das BAG 1 6 3 gehen vom Vorrang des ersten Urteils aus. Zur Begründung verweisen beide Gerichte lediglich auf § 580 Nr. 7a ZPO, der für diese Lösung der Urteilskollision spreche. Koussoulis164 wendet § 580 Nr. 7a ZPO analog an, um das Vorgehen des ersten Urteils zu begründen, wenn die Restitutionsklage unzulässig ist oder nicht erhoben wurde. § 580 Nr. 7a ZPO liege die gesetzgeberische Entscheidung für die prozessuale Rechtskrafttheorie zugrunde, so daß dem ersten Urteil deshalb der Vorrang zukomme, da das zweite Urteil unter Verstoß gegen die Rechtskraft des ersten ergangen sei. § 580 Nr. 7a ZPO enthält keine von einem bestimmten Rechtskraftverständnis losgelöste Kollisionsregeln für den Fall einander widersprechender Judikate. Die

159

Jauernig, Zivilurteil, S. 150 ff.

160

Rosenberg/Schwab/Gottwald

161

Baumbach/Lauterbach/Hartmann,

,5

, § 62 IV 2 d, S. 344.

162

BGH NJW 1981, S. 1517, S. 1518.

163

BAG NJW 1986, S. 1831, S. 1832.

164

Koussoulis, Rechtskraftlehre, S. 82.

Einf. §§ 322-327 RN 11/19.

48

Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

Norm ist vielmehr Ausdruck des Rechtskraftverständnisses des die ZPO erlassenden Gesetzgebers. Dessen Intention war es 165 , der Partei, die die Einrede der Rechtskraft unverschuldet versäumt hatte, mit § 580 Nr. 7a ZPO die Möglichkeit zu eröffnen, die Einrede noch nach Rechtskraft des zweiten Urteils vorbringen zu können. Der Gesetzgeber von 1879 ging davon aus, daß die Parteien auf das rechtskräftige Urteil verzichten können, und stand auf dem Boden der materiell-rechtlichen Theorie. Für ihn ging daher das zweite Urteil vor. § 580 Nr. 7a ZPO enthält mitnichten die gesetzgeberische Entscheidung für die prozessuale Theorie oder den Vorrang des ersten Urteils. Wer sich auf den gesetzgeberischen Willen zur Lösung der Urteilskollision berufen will, kann dies überzeugend nur tun, wenn er von der Verzichtbarkeit des ersten Urteils und von der materiell-rechtlichen Theorie ausgeht. Da weder der BGH 1 6 6 noch das B A G 1 6 7 dies tun, sondern vielmehr der prozessualen Rechtskrafttheorie folgen und davon ausgehen, daß die Rechtskraft von Amts wegen zu beachten sei, überzeugt ihre Ansicht nicht.

3. Die Lösung Gauls Gaul 1 6 8 geht davon aus, daß dem zweiten Urteil aus logischen Gründen keine materielle Rechtskraft zukommen könne. Das zweite Urteil sei auf eine unmögliche Feststellung gerichtet, da es unmöglich sei, daß das zweite Erkenntnis die Feststellung der Unbestreitbarkeit zum Inhalt habe, wenn die Rechtsfolge aufgrund der ungeschmälert fortwirkenden, entgegengesetzt lautenden rechtskräftigen Feststellung des früheren Urteils nach wie vor bestritten werde könne. Zutreffend entgegnet Vollkommer 169 Gaul, er bediene sich einer petitio principii. Denn Gaul argumentiere, das zweite Urteil sei auf eine unmögliche Feststellung gerichtet, weil die Feststellung unmöglich sei. Damit läßt er aber offen, was er beweisen müßte.

165

Zur ratio legis des § 580 Nr. 7a ZPO ausführlich oben Teil 1 Β II 3.

166

BGH NJW 1985, S. 2535, S. 2535 f.; NJW 1989, S. 2133, S. 2134.

167

BAG NJW 1984, S. 1710, S. 1711.

168

Gaul, Wiederaufnahmerecht, S. 95; ders., Festschrift für Weber, S. 155, S. 169 f.; ihm folgend Blomeyer, ZPR, § 49 IV, S. 249; Rosenberg/Schwab/Gottwald ZPR , 5 , § 100 III 1 d, S. 570. 169 Vollkommer, RPfleger 1957, S. 392, S. 393; ihm zustimmend Habscheid, Festschrift für Fragistas, S. 529, S. 556.

Β. Behandlung der Urteilskollision

49

4. Analogie zu § 328 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 2 ZPO Der Vorrang des ersten Urteils ließe sich mit einer Analogie zu § 328 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 2 ZPO begründen. § 328 ZPO regelt die Voraussetzungen der Anerkennung eines ausländischen Urteils in Deutschland. In dieser Norm ist der Konflikt zweier ausländischer Entscheidungen gelöst. Die beiden ausländischen Entscheidungen werden im Gegensatz zum Fall der Kollision eines deutschen mit einem ausländischen Urteil 170 als gleichwertig angesehen. § 328 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 2 ZPO stellt mit dem Prioritätsprinzip eine Kollisionsregel auf, die den Fall zweier sich widersprechender Urteile regelt und ausschließlich an der dabei gegebenen Interessenlage orientiert ist. Die von § 328 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 2 ZPO geforderte Unvereinbareit liegt unstreitig vor, wenn zwei sich widersprechende Urteile über denselben Streitgegenstand ergehen 171. Damit regelt diese Norm eine Problematik, die dem ersten Anschein nach grundsätzlich der zweier einander widersprechender deutscher Entscheidungen entspricht. Eine Analogie erscheint daher möglich. Analogie bedeutet die Erstreckung einer Rechtsfolgenanordnung einer Norm oder eines Normkomplexes auf einen Sachverhalt, der vom auslegbaren Tatbestand der Norm unmittelbar nicht erfaßt ist, bei dem aber die Ähnlichkeit der Interessenlage, die der Norm und dem Sachverhalt zugrundeliegt, eine Anwendung der Rechtsfolge auch auf diesen Sachverhalt wegen des Grundsatzes der Gleichbehandlung gebietet 172 . Neben dem Vorliegen einer planwidrigen Gesetzeslücke erfordert eine Analogie daher eine weitgehende Ähnlichkeit der Interessenlage, die die Norm trägt mit derjenigen, die den ungeregelten Sachverhalt auszeichnet. Die Bestimmung der ratio legis orientiert sich dabei an den gleichen Kriterien, die zur Auslegung einer Norm herangezogen werden, das heißt an historischen, grammatikalischen, systematischen und teleologischen Gesichtspunkten173. Die so gefundene ratio legis ist mit der den Sachverhalt

170 Nach § 328 Abs. 1 Ziff. 3 Alt. 1 ZPO wird eine ausländische Entscheidung nicht anerkannt, wenn sie mit einer von einem deutschen Gericht erlassenen Entscheidung unvereinbar ist. Die inländische Entscheidung geht stets vor, auch wenn sie später als die ausländische und damit unter Mißachtung deren Rechtskraft ergangen ist. Die Bevorzugung der deutschen Urteile dient dem Schutz der nationalen Souveränität Deutschlands (Stein/Jonas/Schumann 20,§ 328 RN 199). 171

Schach, IZVR, RN 859; Stein/Jonas/Schumann^, 1015, S. 1019.

§ 328 RN 199; UV-BW

FamRZ 1990, S.

172 Bydlinski, Methodenlehre, S. 475; Heck, AcP 112 (1914), S. 1 ff., S. 194 f.; Schmalz, Methodenlehre, RN 327. 173 Bydlinski, Methodenlehre, S. 475; Schmalz, Methodenlehre, RN 328. - Pawlowski, Methodenlehre, RN 489/493/496/507: Die entscheidenden Aspekte für die Rechtfertigung einer Rechtsfortbildung seien der Gesetzeszweck und das aus dem Zusammenhang eines Rechtsgebietes sich ergebende Wertesystem.

4 Lenenbach

50

Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

auszeichnenden Interessenlage zu vergleichen. Das sich aus diesem Vergleich ergebende Maß der Ähnlichkeit ist ausschlaggebend dafür, ob die Rechtsfolge der Norm aus Gleichbehandlungsgründen auch auf den Sachverhalt - analog anzuwenden ist. § 328 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 2 ZPO regelt eine Anerkennungsvoraussetzung für die Anerkennung einer ausländischen Entscheidung in Deutschland. Die Anerkennung einer ausländischen Entscheidung vollzieht sich ispo iure ohne ein besonderes Anerkennungsverfahren, allein aufgrund des Gesetzesbefehls des § 328 ZPO 1 7 4 . Wenn § 328 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 2 ZPO im Fall zweier ausländischer anerkennungsfähiger Urteile dem später erlassenen die Anerkennung versagt, bedeutet dies, daß die zweite Entscheidung im Anerkennungsstaat hinsichtlich ihrer Urteilswirkungen unbeachtlich ist. Nur das erste Urteil ist rechtlich existent. Im Anerkennungsstaat kommt es daher zu keiner Kollision zweier ausländischer Urteile, die § 328 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 2 ZPO nach dem Prioritätsgrundsatz auflöst. Eine Urteilskollision im Anerkennungsstaat wird vielmehr durch die Versagung der Anerkennung des zweiten Urteils verhindert und nicht eine bestehende Kollision behoben. Sucht man nach einem deutschen Rechtsinstitut, das die Kollision zweier deutscher Urteile verhindern soll, findet man die Rechtshängigkeit. Die Rechtshängigkeit ist negative Prozeßvoraussetzung und hat die Wirkung, daß während der Rechtshängigkeit eines prozessualen Anspruchs derselbe Anspruch von denselben Parteien nicht noch einmal anhängig gemacht werden darf (§ 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO), das heißt, eine neue Klage zu demselben Streitgegenstand ist unzulässig. Zweck der Rechtshängigkeit ist es auch, widersprechende Entscheidungen über denselben Streitgegenstand zu verhindern 175 . Die Rechtshängigkeit löst keine schon bestehende Urteilskollision, sondern will diese verhindern. Eine vergleichbare Wirkung hat § 328 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 2 ZPO. Auch diese Norm verhindert das Entstehen einer Urteilskollision im deutschen Rechtsraum. Sie enthält aber keine Kollisionsregel zur Auflösung einer bestehenden Kollision. Damit fehlt § 328 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 2 ZPO die Wirkung, die erforderlich wäre, die Kollision sich widersprechender deutscher Urteile zum gleichen Streitgegenstand aufzulösen. In § 328 ZPO ist die Anerkennung ausländischer Entscheidungen in Deutschland geregelt. Normiert wird in den einzelnen Nummern des § 328 Abs. 1 ZPO, welche Voraussetzungen ein ausländisches Urteil erfüllen muß, damit es in der deutschen Rechtsordnung rechtliche Geltung erlangt. Das Anerkennungsrecht "ist

174 175

Riezler, IZPR, S. 512/515.

Rosenberg/Schwab/Gottwald, § 100 1, S. 568 f.; Stein/Jonas/Schumann 20 , § 261 RN 3/51; R 160, S. 338, S. 344 f: Zweck der Rechtshängigkeit sei es, den doppelten Aufwand an Kosten, Mühe und Zeit sowie widersprechende Entscheidungen zu verhindern.

51

Β. Behandlung der Urteilskollision

eine Regelung des internationalen Verkehrs auf dem Gebiet der Justiz" 176 . Dies gilt auch für § 328 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 2 ZPO. Auch diese Norm regelt nur eine besondere Anerkennungsvoraussetzung. Mit dieser Regelung will der Gesetzgeber nur Fragen der Anerkennung ausländischer Urteile regeln 177 . Rein innerdeutsche Sachverhalte fallen aus dem Regelungsbereich des § 328 ZPO heraus. Eine analoge Anwendung des § 328 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 2 ZPO auf den Fall sich widersprechender deutscher Urteile ist daher nicht möglich.

5. §826 BGB Da sich der Vorrang des ersten Urteils nicht mit prozessualen Regeln begründen läßt, wird untersucht, ob dieses Ergebnis mit Hilfe einer Klage aus § 826 BGB gegen das zweite Urteil erreicht werden kann. Diese Klage ist gegen ein rechtskräftiges Urteil gerichtet und hat die Herausgabe des Titels und die Unterlassung der Zwangsvollstreckung oder den Ersatz des Schadens, der durch die Ausnutzung des rechtskräftigen Urteils entstanden ist, zum Ziel 1 7 8 . A u f die Diskussion um die Zulässigkeit der Klage aus § 826 BGB 1 7 9 wird erst eingegangen, wenn § 826 BGB nach irgendeiner Auffassung zur Lösung der Urteilskollision führt. Ist nämlich eine Klage aus § 826 BGB gegen das zweite Urteil auch nach den Ansichten, die die die Zulässigkeit dieser Klage bejahen, nicht erfolgreich, erscheint es überflüssig, in die Diskussion über die Zulässigkeit der Klage aus § 826 BGB einzusteigen. Es wird daher untersucht, ob der Anspruch aus § 826 BGB - seine Zulässigkeit unterstellt - den Konflikt einander widersprechender Urteile überhaupt lösen kann. Der Anspruch aus § 826 BGB hat als erste Voraussetzung die sachliche Unrichtigkeit des angegriffenen Urteils. Das Urteil muß im Ergebnis dem materiellen Recht widersprechen. Verfahrensfehler, die zu keiner vom materiellen Recht abweichenden Entscheidung führen, können den Anspruch aus § 826 BGB nicht begründen 180. Nach allen heute vertretenen Rechtskrafttheorien bewirkt das Urteil keine Änderung der materiellen Rechtslage, sondern bindet Parteien und Gerichte an die rechtskräftige Entscheidung. Wenn im zweiten Prozeß das erste Urteil

176

KG OLG Rspr Bd. 17 (1908), S. 327, S. 328.

177

BT-Drucks. 10/504, S. 87 f.

178

Stein/Jonas/Leipold

20

, § 322 RN 274; RGRK/Steffen,

179

§ 826 RN 78.

Für die Zulässigkeit: st. Rspr: RGZ 163, S. 292 ff:; BGHZ 50, S. 115; 101, S. 380; 103, S. 44; Grunsky, ZIP 1986, S. 1361. Gegen die Zulässigkeit: Gaul, Wiederaufnahmerecht, S. 99ff.; ders., Jus 1962, S. 1, S. 2 ff.; Rosenberg/Schwab ZPR M , § 163 II, S. 1041 ff. 180

RGZ 163, S. 292,293 f.; BGHZ 101, S. 380, S. 384 f.

52

Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

nicht beachtet wurde, besteht daher die Fehlerhaftigkeit, an der das zweite Urteil leidet, nicht in einem Verstoß gegen das materielle Recht, sondern in dem Verfahrensfehler der Nichtbeachtung des Verbots der Klagewiederholung. Mit der Klage aus § 826 BGB soll ein Ausgleich geschaffen werden zwischen den Werten der formalen Rechtssicherheit, verkörpert durch die materielle Rechtskraft, und der materialen Gerechtigkeit, die im materiellen Recht ihren Ausdruck gefunden hat 181 . Bei der Urteilskollision treten zwei grundsätzlich gleichwertige Staatsakte in Widerspruch, die beide Rechtsfrieden und Rechtssicherheit schaffen wollen. Es liegt ein Konflikt vor, bei dem Rechtssicherheit mit Rechtssicherheit kollidiert und der die materiale Gerechtigkeit nicht berührt 182 . Daher besteht bei einer Urteilskollision eine Interessenlage, die sich von der, die einer Klage aus § 826 BGB zugrundeliegt, erheblich unterscheidet.

V. Wegfall der die materielle Rechtskraft rechtfertigenden Gründe Eine besondere Qualität kommt der Urteilskollision deshalb zu, da über dieselbe Rechtsfolge zwischen denselben Parteien genau entgegengesetzt mit materieller Rechtskraft entschieden wurde. Materielle Rechtskraft bedeutet, daß die festgestellte Rechtsfolge von allen künftig mit Streitigkeiten zwischen den Parteien befaßten Gerichten ihrer Entscheidung zugrundezulegen ist und daß die Rechtsfolge für die künftigen Rechtsbeziehungen der Parteien maßgeblich ist 183 . Liegen divergierende Doppelentscheidungen vor, wird beiden Parteien mit dem Anspruch auf verbindliche Geltung bescheinigt, sie seien im Recht. Läßt sich nachweisen, daß im Falle sich widersprechender Entscheidungen eine Entscheidung der materiellen Rechtskraft nicht fähig ist, ist der Konflikt entschärft, da dann klar ist, welche Entscheidung die maßgebliche ist. Die materielle Rechtskraft bewirkt bei der Urteilskollision das Gegenteil von dem, was sie herbeiführen soll, nämlich Unfriede und Ungewißheit statt Friede und Gewißheit. Ist sie dann überhaupt noch tragbar oder fehlt ihr die Rechtfertigung? Um eine Antwort darauf geben zu können, ist zu klären, warum das Institut der Rechtskraft überhaupt einer Rechtfertigung bedarf. Es ist der primäre Zweck eines Zivilprozesses, die Verwirklichung und Durchsetzung der privaten

181

RGZ 79, S. 389, S. 393; BGHZ 103, S. 44, S. 46; NJW 1983, S. 2317, S. 2318; LG Hannover NJW 1979, S. 221, S. 222. 182

Gaul, Wiederaufnahmerecht, S. 74 f.

183

Benda/Weber,

ZZP 96 (1983), S. 285, S. 291; Stein/Jonas/Leipold

20

, § 322 RN 34.

53

Β. Behandlung der Urteilskollision

Rechte der Parteien zu sichern 184 . Da der Rechtsstreit auf der Grundlage eines dem wirklichen Geschehen entsprechenden Sachverhaltes und gemäß dem materiellen Recht entschieden werden soll, dient der Prozeß auch der Bewährung des objektiven Rechts 185 . Diesen Zwecken 186 des Zivilprozesses wird am besten gedient, wenn der Prozeß solange fortgeführt wird, bis Tatsachen- und Rechtslage optimal aufgeklärt sind und daher ein richtiges Urteil ergeht. Gäbe es nur diese Interessen an einem Zivilprozeß, müßte zudem stets weiterprozessiert werden, wenn sich an der Richtigkeit der Entscheidung Zweifel auftun. Eine derartige Verewigung des Prozesses widerspricht aber dem Interesse der Parteien, denn nur ein vor einem Gericht ausgetragener Rechtsstreit der in absehbarer Zeit ein Ende findet, verwirklicht ihre Rechte und bringt Rechtsfrieden in ihre Beziehung 187 . Auch das Interesse der Allgemeinheit an Rechtsfrieden und Rechtssicherheit 188 sowie das öffentliche Interesse an einem vernünftigen Umgang mit der "Resource Rechtsprechung" fordern, daß der Rechtsstreit einmal ein Ende hat. Ist ein Rechtsstreit zu einem rechtskräftigen Abschluß gelangt, ist er grundsätzlich endgültig beendet und darf nicht mehr weitergeführt werden. Beim falschen Urteil ist die materielle Rechtskraft daher das Institut, das den Konflikt zwischen materialer Gerechtigkeit im Einzelfall und den Interessen der Allgemeinheit an Rechtsfriede und Rechtssicherheit zugunsten letzterer Werte löst. Das bedeutet, daß beim falschen Urteil dem Prozeßverlierer sowie dem Interesse an der Bewährung der objektiven Rechtsordnung zugunsten anderer Interessen ein Opfer abverlangt wird 189 . Die Frage nach der Rechtfertigung der materiellen Rechtskraft ist die Frage nach der Rechtfertigung dieses Opfers. Sie kann nicht allein mit einem Hinweis auf Rechtsfriede und Rechtssicherheit beantwortet werden. Eine überzeugende Lösung muß aufzeigen, daß die betroffenen Interessen des Prozeßverlierers und das Interesse an der Bewährung der objektiven Rechtsordnung soweit geschützt werden, daß ihr Zurücktreten im Einzelfall zumutbar erscheint. Die Diskussion um die Rechtfertigung der Rechtskraft ist im Hinblick auf zwei Fallgruppen geführt worden, den Vollstreckungsbescheid über sittenwidrige Forderungen und die inhaltliche Bindungswirkung eines formell bestandskräftigen Verwaltungsaktes. Die hier interessierende Fragestellung, ob im Falle

184 185

Stein/Jonas/Leipold

20

, § 322 RN 30; Stein/Jonas/Schumann

20

Stein/Jonas/Leipold

20

, § 322 RN 30; Stein/Jonas/Schumann

20

, Einl. RN 4/6.

, Einl. RN 10.

186

Zu den weiteren Zwecken des Zivilprozesses, die in diesem Zusammenhang nicht interessieren, vgl. Stein/Jonas/Schumann 20, Einl. RN 11 ff. 187

Stein/Jonas/Leipold

188

BGHZ 38, S. 333, S. 336.

m

20

, § 322 RN 31.

Rosenberg/Schwab/Gottwald

ZPR , 5 , § 151 I, S. 915; BGHZ 38, S. 333. S. 336.

54

Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

der Urteilskollision die die Rechtskraft rechtfertigenden Gründe ganz oder zum Teil ausfallen, gestattet es, sich mit einem kurzen Überblick über die in der Diskussion um die Rechtfertigung der Rechtskraft vertretenen Meinungen zu begnügen. Ein staatlicher Hoheitsakt wird nur dann als der materiellen Rechtskraft fähig angesehen, wenn er am Ende eines justizförmigen und rechtsstaatlichen Verfahrens steht, das durch seine Verfahrensausgestaltung eine besonders hohe Gewähr für die Richtigkeit der in ihm ergehenden Entscheidungen bietet 190 . Als zur Rechtfertigung der Rechtskraft notwendige Verfahrensprinzipien werden der Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit 191, der Grundsatz des fairen Verfahrens 192, das aus dem Rechtsstaatsprinzip fließende Gebot, materiale Gerechtigkeit zu verwirklichen 193 und die Unabhängigkeit des über den Rechtsstreit Entscheidenden194 genannt. Darüberhinaus wird verlangt, daß ein Gericht zumindest eine Schlüssigkeitsprüfung durchgeführt haben müsse, damit eine in einem Rechtsstreit ergangene Entscheidung in Rechtskraft erwachsen könne 195 . Nach anderer Ansicht reicht es aus, wenn der Beklagte wie im Mahnverfahren die Möglichkeit hat, eine gerichtliche Entscheidung herbeizuführen, die in einem mit allen Richtigkeitsgewährleistungen ausgestatteten Verfahren ergeht 196 . Neben der objektiven Verfahrensausgestaltung wird als zweite Säule, die die materielle Rechtskraft trägt, die hinreichende Gewährung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) postuliert. Braun 197 meint, wenn sich die Frage nach der materiellen Rechtskraft einer Entscheidung stelle, sei nicht nur zu prüfen, ob sich der Beklagte in zumutbarer Weise rechtliches Gehör habe verschaffen können, sondern ebenso bedeutsam sei, ob er an der gerichtlichen Entscheidung habe mitwirken müssen, das heißt, ob für ihn ein Zwang zur Einlassung bestanden habe. Ein solcher Einlassungszwang bestehe nur, wenn es angemessen und zumutbar erscheine, daß der Beklagte zur Abwendung rechtlicher Nachteile aktiv

190 Zur materiellen Rechtskraft im Zivilprozeß: Arens, Festschrift Waseda, S. 689, S. 700 f.; Bamberg, Diss., S. 127 f./130/137/163; Braun, Rechtskraftdurchbrechung, S. 71; Grün, Diss., S. 206 ff. - Zur Bestandskraft Verwaltungsakt: Jesch, S. 84 ff.; Krusch, S. 47 f.; BVerG NJW 1976, S. 340, S. 340 f.; BGHZ9, S. 129, S. 133 f.; NJW 1991, S. 1168, S. 1169 f. 191

Grün, Diss., S. 206 ff.; Braun, Rechtskraftdurchbrechung, S. 91.

192

Grün, Diss., S. 206 ff.

193

Prütting/Weth,

194

Jesch, S. 87; Krusch, S. 47.

S. 18 f./57 ff.

195 Bamberg, Diss., S. 134 f./137/163; Braun, Rechtskraftdurchbrechung, S. 91; OLG Köln WM 1986, S. 803, S. 805; OLG Stuttgart NJW 1985, S. 2272, S. 2273. 196 197

Grün, Diss., S. 197 f.; Grunsky, JZ 1986, S. 626, S. 628 f.; ders., ZIP 1986, S. 1361, S. 1364 f.

Braun, Rechtskraftdurchbrechung, S. 71 ff./91; ders., WM 1986, S. 781, S. 783 f.; zustimmend Arens, Festschrift Waseda, S. 689, S. 697.

Β. Behandlung der Urteilskollision

55

werde. Anderer Ansicht 198 nach genügt die bloße Möglichkeit, sich am Rechtsstreit zu beteiligen und seinen Standpunkt in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht effektiv geltend machen zu können, um einer Entscheidung materielle Rechtskraft zuzusprechen. Zusammenfassend kann mit Arens 199 gesagt werden, daß "einerseits eine am Recht gemessene Richtigkeitsgewähr und andererseits die Disposition der Parteien beziehungsweise die Fiktion ihrer Ausübung in einem ausgewogenen Verhältnis stehen müssen", damit die materielle Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung gerechtfertigt ist. Das Opfer, das dem Prozeßverlierer und dem Interesse an Bewährung der objektiven Rechtsordnung durch die materielle Rechtskraft beim falschen Urteil abverlangt wird, ist deshalb zumutbar und erträglich, da der Zivilprozeß prozessuale Kautelen enthält, die die betroffenen Interessen hinreichend schützen200. Es ist also nicht das Ergebnis des Zivilprozesses als solches, losgelöst von seinem Zustandekommen, sondern der sichere Weg zu einer gerichtlichen Entscheidung, der deren materielle Rechtskraft rechtfertigt. Für die Urteilskollision ist aber nicht typisch, daß die sich widersprechenden Entscheidungen in Verfahren ergangen sind, in denen die die Rechtskraft tragenden Prinzipien mißachtet wurden. Der Fehler, der dem Gericht im zweiten Verfahren unterlaufen ist, ist die Nichtbeachtung des Verbots der Klagewiederholung. Auch wenn die Zivilprozesse, bis auf die Nichtbeachtung der rechtskräftigen Entscheidung im zweiten Verfahren, ordnungsgemäß verlaufen sind, kann es zu sich widerspechenden Entscheidungen kommen. Die materielle Rechtskraft beider Entscheidungen ist ebenso wie bei Fehlentscheidungen aus sonstigen Gründen, die in einem die Rechtskraft rechtfertigenden Verfahren ergangen sind, gerechtfertigt.

198 Grün, Diss., S. 197 f.; Grunsky, JZ 1986, S. 626, S. 628 f.; Orfanides, ZZP 103 (1990), S. 119, S. 122ff.; Stein/Jonas/Leipold 20, § 325 RN 1 f./81 (Zur Rechtfertigung der subjektiven Grenzen der Rechtskraft). 199 200

Arens, Festschrift Waseda, S. 689, S. 698 f./700 f.

Auf die Bedeutung einer den elementaren Anforderungen an die Verfahrensgerechtigkeit genügenden Prozeßführung für die Rechtfertigung der Rechtskraft weist Hoffmann, Diss., S. 132 f./155 f./159 f. hin.

Teil 1: Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

56

VI. Auffassungen, die weder den Vorrang des ersten noch des zweiten Urteils annehmen 1. Fortbestehen des Geltungskonfliktes Bötticher 201 untersucht die Urteilskollision und gelangt zu dem Ergebnis, diese sei nicht aufzulösen und bestehe, als praktisch selten vorkommender Ausnahmefall, unlösbar fort. Diese Ansicht Böttichers stößt auf verfassungsrechtliche Bedenken. Verbietet der Staat dem einzelnen Bürger seine privaten Rechte selbst durchzusetzen, muß er ihm einen wirkungsvollen staatlichen Rechtsschutz zur Verfügung stellen 202 . Effektiver, dem Rechtsstaatsprinzip genügender Rechtsschutz erfordert, daß die am Ende eines Zivilprozesses stehende Entscheidung verbindlich und unangreifbar ist, daß der private Streit durch das Urteil verbindlich geklärt wird 2 0 3 . Würden zwei sich widersprechende Urteile gelten, hätte die Rechtsprechung einen gemessen am Rechtsstaatsprinzip bedenklichen Zustand der Rechtsunsicherheit geschaffen. Böttichers Auffassung vom Fortbestehen des Geltungskonfliktes steht unter der Prämisse, daß keines der beiden Urteile vorgeht. Es wird aber sogleich gezeigt 204 , daß diese Annahme nicht recht überzeugt, daß vielmehr dem zweiten Urteil die materielle Rechtskraft fehlt.

2. Ein drittes, die Urteilskollision

aufhebendes Gestaltungsurteil

Nach Dölle 205 hat der Rechtssuchende im Fall der Urteilskollision erneut einen Anspruch auf Rechtsschutzgewährung, der durch ein Gestaltungsurteil zu verwirklichen sei, das bestimme, welche Entscheidung als die sachlich richtige vorgehe. Simon 206 greift Dölles Lösungsvorschlag auf und entwickelt ihn weiter. Der Staat trage an der Nichtbeachtung des ersten Urteils Mitverantwortung 207 . Da auch im Verhältnis Bürger Staat der Grundsatz von Treu und Glauben gelte, müsse der Staat, weil er durch seine Mitverantwortung an der Urteilskollision

201

Bötticher, Rechtskraft, S. 44 ff., insb. S. 64; ebenso Holtz, Diss., S. 51 f.

202

BVerfGE

203

Benda/Weber,

204

Vgl. unten Teil 1 Β VII.

54, S. 277, S. 292 f. ZZP 96 (1983), S. 285, S. 291 ; BVerfGE

205

2, S. 380, S. 403.

Dölle, DR 1943, S. 825, S. 827 f.; ihm folgend: Lerche, Rechtsweg, S. 115; Schumann, Verfassungsbeschwerde, S. 279 f.; Vollkommer, RPfleger 1957, S. 392, S. 392 f. 206

Simon, Diss., S. 92 ff.

207

Simon, Diss., S. 135f./141.

Β. Behandlung der Urteilskollision

57

treuwidrig gehandelt habe, dem Bürger die Möglichkeit bieten, die sich daraus ergebenden unerträglichen Folgen zu beseitigen208. Die Rechtskraft stehe dem nicht entgegen, da sie im Falle divergierender Doppelentscheidungen keinen Rechtsfrieden schaffe und daher ihren Zweck nicht erfülle 209 . In dieser Situation sei es gerechtfertigt, dem Rechtssuchenden erneut einen Anspruch auf Rechtsschutzgewährung zu geben210, der durch einen Rechtsbehelf sui generis zu erfüllen sei. Dieser Rechtsbehelf bestehe in einer prozessualen Gestaltungsklage, deren Ziel es sei, ein Urteil aufzuheben und das andere zu bestätigen. Diese Gestaltungsklage sei zur Restitutionsklage nach § 580 Nr. 7a ZPO subsidiär. Der Maßstab, nach dem das Gericht den Vorrang eines der beiden Urteile zu bestimmen habe, sei nicht allein die sachliche Richtigkeit, sondern auch der Umstand, daß eine Partei das erste Urteil kannte oder aus anderen schwerwiegenden Gründen nicht schutzwürdig sei 211 . Gaul 212 hält dieser Auffassung zurecht entgegen, sie laufe dem numerus clausus der Gestaltungsklagen zuwider und es sei nicht einzusehen, warum innerhalb der ersten fünf Jahre (§ 586 Abs. 2 S. 2 ZPO) stets das erste Urteil vorgehen solle, nach Ablauf der Frist aber auf den Maßstab der sachlichen Richtigkeit zurückgriffen werde, um die Urteilskollision aufzulösen. Simon 213 glaubt letzteren Einwand mit dem Argument ausräumen zu können, in den ersten fünf Jahren sei das erste Urteil gesetzlich privilegiert, danach seien beide Urteile gleichberechtigt, so daß nach allgemeinen prozessualen Grundsätzen die sachliche Richtigkeit wieder in den Vordergrund trete. Dies trifft nicht zu. Fünf Jahre nach Rechtskraft des mit einem Restitutionsgrund behafteten Urteils ist die Restitution endgültig versagt (§ 586 Abs. 2 S. 2 ZPO). Ihrem Zweck, fünf Jahre nach rechtskräftigem Abschluß des Rechtsstreites der Rechtsklarheit und dem Rechtsfrieden endgültig den Vorrang vor dem Interesse der Partei an der Korrektur des fehlerhaften Urteils zu geben214, konnte diese Fristenregelung nach dem bei Erlaß der CPO geltenden Rechtskraftverständnis 214' gerecht werden. Denn wenn das rechtskräftige Urteil nur auf eine Parteieinrede hin zu berücksichtigen ist und ein zweites, einem ersten Judikat widersprechendes Urteil die Rechtslage gemäß seinem Ausspruch gestaltet (materiell-rechtliche

208

Simon, Diss., S. 136ff./142.

209

Simon, Diss., S. 142/144 f./148 f./152 f.

2.0

Simon, Diss., S. 154.

2.1

Simon, Diss., S. 154 f.

212

Gaul, Wiederaufnahmerecht, S. 98.

2

" Simon, Diss., S. 157 f.

2,4

BGHZ 19, S. 20, S. 22.

2,4a

Dazu oben Teil 1 Β II 3.

Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

58

Rechtskraftheorie), ist die Rechtslage auch ohne Erhebung einer Restitutionsklage eindeutig: nur das zweite Urteil gilt. War es früher klar, wie der Konflikt sich widersprechender Urteile über denselben Streitgegenstand vor und nach Ablauf der Fünfjahresfrist zu lösen ist - das zweite Urteil ging vor -, herrscht heute Uneinigkeit. Alle denkbaren Lösungsmöglichkeiten, die im einzelnen schon dargestellt wurden, werden vertreten 214b . Grund für den Meinungsstreit ist das geänderte Rechtskraftverständnis. Die materielle Rechtskraft ist von Amts wegen zu beachten und nicht parteidisponibel; ein rechtskräftiges Urteil führt nicht zur Umgestaltung des materiellen Rechts. Der Konflikt zweier Urteile läßt sich daher nicht wie nach der materiellen Rechtskrafttheorie aus den Wirkungen des Urteils ableiten. Vor wie nach Ablauf der Fünfjahresfrist des § 586 Abs. 2 S. 2 ZPO entsteht wegen der ungeklärten Rechtslage hinsichtlich der Lösung der Urteilskollision ein Zustand der Rechtsunklarheit und es wird nicht, wie es die Fristenregelung bezweckt, durch den Ausschluß der Restitutionsklage endgültig Rechtsklarheit geschaffen. Da die Fristenregelung des § 586 Abs. 2 S. 2 ZPO ihren Zweck bei einer Restitutionsklage nach § 580 Nr. 7a ZPO nicht mehr erfüllen kann, ist sie im Falle einer Restitutionsklage nach § 580 Nr. 7a ZPO nicht mehr anzuwenden. Eine Wiederaufnahmeklage gemäß § 580 Nr. 7a ZPO gegen das zweite Urteil ist daher unbefristet zulässig2140. Wenn man mit Simon von einer Privilegierung des ersten Urteils spricht, endet diese nicht nach fünf Jahren, sondern besteht unbefristet fort. Gegen Simon spricht zudem die hier gefundene Lösung 215 , wonach dem zweiten Urteil die materielle Rechtskraft fehlt, das erste Urteil also vorrangig ist. Denn Simon hält eine dritte, die Rechtslage klärende Gestaltungsklage nur für erforderlich, weil er den Vorrang einer der beiden kollidierenden Entscheidungen ablehnt 216 .

2,4b

Vgl. oben Teil 1 Bill ,IV, VI.

2l4c

Ausführlich zur Wiederaufnahmeklage nach § 580 Nr.7a ZPO und zur Nichtgeltung des § 586 Abs. 2 S. 2 ZPO unten Β VII 3. - Auch Gaul, Wiederaufnahmerecht, S. 98 ist der Auffassung, daß auf eine Klage nach § 580 Nr. 7a ZPO § 586 Abs. 2 S. 2 ZPO nicht mehr anwendbar ist. 2.5

Vgl. unten Teil 1 Β VII.

2.6

Simon, Diss., S. 31 ff.

59

Β. Behandlung der Urteilskollision

V I I . Eigene Lösung der Urteilskollision 1. Fehlende materielle Rechtskraft

des zweiten Urteils

a) Rechtskraftzwecke und deren Verfehlung durch das zweite Urteil Bei der Urteilskollision stehen sich zwei rechtskräftige Richtersprüche mit entgegengesetztem Tenor gegenüber: Eine erste rechtskräftige Entscheidung im Prozeß des A gegen den Β verurteilt den Β zur Zahlung; in einem späteren Prozeß mit identischem Streitgegenstand wird die Zahlungsklage des A abgewiesen. Beiden Parteien wird mit dem gleichen Anspruch auf Endgültigkeit der Entscheidung von einem Zivilgericht bescheinigt, daß sie recht haben. Es steht mit materieller Rechtskraft und damit mit inhaltlicher Letztverbindlichkeit fest, daß Β verpflichtet ist, zu zahlen, und daß Β nicht verpflichtet ist, zu zahlen. Damit scheint endgültig festzustehen, daß die Rechtslage ungeklärt ist und bleibt. Dieser Befund lenkt den Blick auf die Urteilswirkung, deren Zweck es ist, Rechtsklarheit zu schaffen: die materielle Rechtskraft 217. Ob die materielle Rechtskraft diesen und andere Zwecke, denen sie dient, im Falle der Urteilskollision erfüllen kann, erscheint fraglich. Die Frage nach den weiteren Zwecken, denen die materielle Rechtskraft dient, wird kontrovers beantwortet. Zum Teil 2 1 8 werden die Bewahrung von Rechtsfrieden unter den Parteien, die Verhinderung der mehrfachen Inanspruchnahme der Gerichte in derselben Sache sowie die Erhaltung des Ansehens der Rechtsprechung durch Vermeidung widersprechender Urteile als Rechtskraftzwecke genannt. Letzteres erscheint angreifbar, da das Ansehen der Rechtsprechung durch richtige Entscheidungen erreicht werden sollte und nicht dadurch, daß der Mantel der Unangreifbarkeit über Fehlurteile gedeckt wird 2 1 9 . Eine andere Ansicht 220 sieht die Rechtskraft als ein in erster Linie im öffentlichen Interesse stehendes Institut an. Sie diene dem Allgemeininteresse an der Wahrung des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit sowie der Wahrung der Autorität des Staates und des Ansehens der Gerichte. Sie diene auch, aber erst in zweiter Linie dem Interesse des Prozeßsiegers, vor weiteren Anfechtungen des Gegners geschützt zu sein. Gegen die beiden dargestellten Ansichten läßt sich vorbringen, daß sie das private Interesse nicht in den Vordergrund stellen. Der Zivilrechtsstreit wird aber von den Parteien und

217 Daß die materielle Rechtskraft diesem Zweck dient, ist anerkannt. Vgl. Stein/Jonas/Leipold 15 § 322 RN 30; Rosenberg/Schwab/Gottwald , § 151 I, S. 915. 2,8

Rosenberg/Schwab/Gottwald

,5

, § 151 I, S. 915; Stein/Jonas/Schönke

219

20

Stein/Jonas/Leipold

220

Gaul, Wiederaufnahmerecht, S. 48; BGHZ 36, 367.

, § 322 RN 33.

l

\ § 322 II 4.

20

,

60

Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

über ihr ganz privates Recht geführt. Entscheidet das Gericht den Rechtsstreit und erwächst die Entscheidung in materieller Rechtskraft, erscheint es nicht recht überzeugend, den Hauptzweck der mit der materiellen Rechtskraft erreichten Maßgeblichkeit in der Sicherung öffentlicher Belange zu sehen. Das Urteil beendet den Streit der Parteien. Es ergeht für die Parteien und nicht für die Allgemeinheit oder zum Schutze der Autorität des Staates. Die materielle Rechtskraft hat daher die Aufgabe, der Entscheidung des Gerichts im privaten Rechtsstreit inhaltliche Letztverbindlichkeit zu geben und dadurch das Rechtsverhältnis zu klären und den Streit endgültig zu beenden. Die materielle Rechtskraft dient daher primär dem Schutz der privaten Rechte der Parteien sowie der Schaffung von Rechtsklarheit und Rechtsfrieden zwischen ihnen 221 . Damit wird mittelbar auch der Allgemeinheit gedient, da Rechtsfriede und Rechtsklarheit zwischen einzelnen Mitgliedern der Gemeinschaft zu Rechtsfriede in der Gemeinschaft führen. In zweiter Linie erfüllt die materielle Rechtskraft den Zweck, die Gerichte zu entlasten, da sie als negative Prozeßvoraussetzung verhindert, daß derselbe Rechtsstreit mehrfach gerichtlich ausgetragen wird 2 2 2 . Die materielle Rechtskraft klärt die Rechtslage unter den Parteien und ermöglichen ihnen, sich auf die verbindlich festgestellte Rechtslage einzustellen und nach dieser Dispositionen zu treffen. Diese Aussage trifft zu, wenn eine rechtskräftige Entscheidung den Rechtsstreit beendet. Ergeht aber ein zweites, dem ersten widersprechendes Judikat, tritt erneut ein Zustand der Rechtsungewißheit ein. Den Parteien wird mit richterlicher Autorität und damit mit dem Anspruch auf letztverbindliche Geltung bestätigt, daß die sich aus ihrem streitigen Rechtsverhältnis ergebende Rechtsfolge sowohl A wie Nicht-A ist. Sobald das zweite Urteil Rechtskraft entfaltet, ist die Rechtslage ungeklärter und ungewisser als zu dem Zeitpunkt, zu dem im Rechtsstreit zwischen den Parteien noch keine rechtskräftige Entscheidung ergangen war. Denn vor dem ersten Urteil war die Rechtslage zwischen den Parteien zwar noch nicht verbindlich festgestellt; es bestand aber noch die Möglichkeit, daß der Rechtsstreit durch einen Richterspruch geklärt wird. Mit der Rechtskraft des zweiten Urteils ist die Rechtslage zweimal verbindlich, aber genau entgegengesetzt festgestellt worden. Damit wird die Rechtslage ungewisser den je. Statt die privaten Rechte der Parteien zu schützen, ihnen eine sichere Grundlage für ihre Dispositionen zu geben, gefährdet das zweite Urteil die Parteirechte und entzieht eine ehemals durch das erste Judikat vorhandene Dispositionsgrundlage. Hat nach dem ersten Urteil Rechtsfriede unter den Parteien geherrscht, tritt mit dem zweiten Urteil eine

221 Stein/Jonas/Leipold NJW-RR 1987, S. 831, S. 832. 222

Stein/Jonas/Leipold



, § 322 RN 30 ff.; Lüke, Festschrift Schiedermair, S. 377, S. 387; BGH

20

, § 322 RN 32.

Β. Behandlung der Urteilskollision

61

Situation verstärkten Unfriedens ein, da nun auch der Sieger des zweiten Prozesses mit dem gleichen Anspruch auf Verbindlichkeit wie der Gewinner des ersten Verfahrens und von der gleichen Autorität getragen behaupten kann, die Rechtslage zwischen den Parteien bestimme sich künftig, wie sie im zweiten Urteil festgestellt ist. Das zweite Urteil stellt sich daher als Negation einer richterlichen Entscheidung dar. Die Parteien erhalten Steine statt Brot. Den Zwecken, denen die materielle Rechtskraft dient, widerspricht die zweite Entscheidung in höchstem Maße. Und zwar auch dann, wenn man den Zweck der materiellen Rechtskraft darin sieht, Rechtsfrieden und Rechtssicherheit im Allgemeininteresse zu schaffen sowie das Ansehen des Staates zu wahren. Denn widersprechende Urteile sorgen für Unfriede und Unsicherheit in der Rechtsgemeinschaft und vermindern das Ansehen der Rechtsprechung.

b) Die Zweckwidrigkeit als Unwirksamkeitsgrund Der Umstand, daß die materielle Rechtskraft ihre Zwecke vollständig verfehlt, bietet den Ansatzpunkt zur Lösung des Problems der Urteilskollision. "Alles, was auf dem Boden des Rechts sich findet, ist durch den Zweck ins Leben gerufen und um eines Zweckes willen da, das ganze Recht ist nichts als eine einzige Zweckschöpfung." 223 Recht ist Zweckschöpfung. Dieser Satz von Jherings, der heute zum Allgemeingut der Rechtswissenschaft gehört, wirkt sich in vielen Bereichen des Rechts aus. Der Zweck eines Rechtsakts, gleich ob er privatrechtlicher oder öffentlich-rechtlicher Natur ist, bestimmt seine Auslegung und den Umfang seiner Geltung. Der Anwendungsbereich einer Norm wird über ihren Wortlaut hinaus ausgedehnt (= Analogie) oder entgegen ihrem Wortlaut eingeschränkt (= teleologische Reduktion), wenn ihr Zweck dies gebietet 224 . Ein Rechtsakt gilt, soweit sein Zweck reicht und soweit er den mit ihm verfolgten Zweck erfüllen kann. Zu Ende gedacht bedeutet dies, daß ein Rechtsakt, der seinen Zweck völlig verfehlt, nicht gilt, er unwirksam ist. Einige anerkannte Beispiele stützen diesen Gedankengang. Normen, die durch den Wandel der Normsitution ihren Zweck ganz oder teilweise nicht mehr erfüllen können, treten ganz oder teilweise außer Kraft 225 . Die Kollisionsregel "lex posterior derogat legi priori" leitet sich aus Zweckerwägungen her. Die Gesetzgebung kann ihren Zweck, durch Gesetze für eine sich wandelnde Umwelt neue, zeitangemessene Lösungen aufzustellen, nur erfüllen, wenn ältere Gesetze, die mit neueren kollidieren, außer Kraft treten. Bei privaten Rechtsgeschäften führt die

223

von Jhering, Zweck im Recht, Bd. 1, S. 344.

224

Larenz, Methodenlehre, S. 381 ff./391 ff.

225

Bydlinski,

Methodenlehre, S. 588 ff.; Löwer, Cessante.

62

Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

Nichterreichbarkeit des verfolgten Zweckes zur Unwirksamkeit des von der Zweckverfehlung ergriffenen Teils des Rechtsgeschäftes. Kann der mit der Hauptleistungspflicht erstrebte Zweck nicht erreicht werden, liegt ein Fall der Unmöglichkeit nach § 275 Abs. 1 BGB vor 2 2 6 , der das Erlöschen der betroffenen Primärleistungspflicht zur Folge hat. Zwar bleibt der Schuldner zur Leistung von Schadensersatz nach § 280 Abs. 1 BGB oder § 325 Abs. 1 BGB verpflichtet, wenn er die Unmöglichkeit zu vertreten hat. Das heißt aber nicht, daß die Leistungspflicht fortbesteht. Vielmehr tritt an die Stelle der erloschenen Primärleitungspflicht ersatzweise die Schadensersatzpflicht 227. Für rechtskräftige Urteile ist dem Grundsatz nach anerkannt, daß diese ganz oder teilweise unwirksam sein können, wenn sie an äußerst schweren Fehlern leiden 228 . Unklarheit besteht über die einzelnen Fälle, die die Unwirksamkeit begründen. Die Fälle der unwirksamen Urteile lassen sich in zwei Gruppen einteilen. Bei der ersten Gruppe führt die Schwere des Fehlers zur Unwirksamkeit 2 2 9 . Die zweite Gruppe kennzeichnet, daß das Urteil insgesamt oder einzelne Urteilswirkungen ihren Zweck verfehlen oder zweckwidrig sind 230 . Für das rechtskräftige Urteil gilt daher das gleiche wie für alle anderen Rechtsakte. Soweit das rechtskräftige Urteil seine Zwecke nicht erreichen kann oder zweckwidrig ist, kann es keine rechtliche Geltung beanspruchen und ist unwirksam. Mit dieser Erkenntnis läßt sich die Urteilskollision teilweise auflösen. Die materielle Rechtskraft des zweiten Urteils verfehlt nicht nur ihren Hauptzweck, Rechtsklarheit und Rechtsgewißheit zwischen den Parteien zu schaffen, sondern widerspricht diesem Zweck, da sie erneut eine ungewisse Rechtslage zwischen den Parteien entstehen läßt. Herrscht zwischen den Parteien Rechtsungewißheit, bedeutet dies auch für die Allgemeinheit einen Zustand der Rechtsunsicherheit, so daß das zweite Urteil auch seinen öffentlichen Zwecken zuwiderläuft. Die Zweckwidrigkeit führt zur Unwirksamkeit der Urteilswirkung "materielle Rechtskraft "des zweiten Urteils. Unwirksamkeit bedeutet, daß ein Rechtsakt die von ihm beabsichtigten Rechtsfolgen nicht herbeiführen kann 231 . Der Rechtsakt

226

Beuthien, Zweckerreichung, S. 306 f.; Palandt/Heinrichs,

§ 275 RN 9 f.

227

Palandt/Heinrichs ,§ 275 RN 24; Staudinger/Löwisch, § 275 RN 44. - a. A: Kohler, 1991, S. 943, S. 945: Die Preisleistungspflicht bestehe weiter, wandle sich aber in eine Schadensersatzpfl icht. 228 Stein/Jonas/Grunsky S. 625, S. 626 f. 229

20

, vor §§ 578 RN 3 ff.; Jauernig, Zivilurteil, S. 141 ff.; Kisch, LZ 1923,

Vgl. oben Teil 1 Β IV 1, Beispiele in FN 155/156/158/159.

230

Götz, Diss., S. 42 sieht in der Nichterreichbarkei tdes Zweckes den Grund aller Unwirksamkeitsgründe. 231

JuS

Bötticher, Rechtskraft, S. 6; Stein/Jonas/Grunsky

20

, vor §§ 578 RN 3.

Β. Behandlung der Urteilskollision

63

ist insoweit unwirksam, als er von dem Unwirksamkeitsgrund betroffen ist. Da das 2weite Urteil die Zwecke, denen die materielle Rechtskraft dient, vollständig verfehlt, fehlt ihm die materielle Rechtskraft 232.

c) Entkräftung möglicher Einwände Braun 233 entgegnet der auch vorliegend vertretenen Lösung, sie leiste der Möglichkeit des Mißbrauchs Vorschub. Der im ersten Prozeß teilweise unterlegene Kläger könne insbesondere gegen die ahnungslosen Erben des Beklagten erneut Klage erheben und im zweiten Verfahren vollständig obsiegen. Verliere er insgesamt, könne er das erste Urteil hervorholen und sich auf die Unwirksamkeit des zweiten berufen. Mißbräuche gibt es immer. Der Einwand, eine ansonsten überzeugende Lösung berge Mißbrauchsgefahren in sich, greift daher höchstens, wenn eine andere Auffassung ebenso stichhaltig und zudem gegen Mißbrauch besser gewappnet ist. Wie bereits gezeigt, sind die sonst zur Lösung des Problems der Urteilskollision vertretenen oder denkbaren Auffassungen nicht völlig überzeugend. Zudem ist zu beachten, daß bei einem Vorrang des zweiten Urteil der Anreiz zum Mißbrauch größer ist, als bei einem Vorrang des ersten Urteils. Klagt nämlich die im ersten Prozeß unterlegene Partei gegen die nichtsahnenden Erben des Prozeßgegners und obsiegt im zweiten Verfahren, würde der Mißbrauch Treibende sogar nach der objektiven Rechtslage obsiegen. Der hier vertretenen Auffassung, die Zweckwidrigkeit führe dazu, daß dem zweiten Urteil keine materielle Rechtskraft zukomme, könnte entgegengehalten werden, es gebe neben den hier angeführten Zwecken des Urteils weitere Urteilszwecke, die durch die zweite Entscheidung nicht beeinträchtigt werden, nämlich die von der prozessualen Rechtskrafttheorie 234 vertretenen Rechtskraftzwecke: Schaffung von Rechtsfrieden und Rechtssicherheit im Allgemeininteresse, Schutz des Ansehens der Gerichte und der Staatsautorität durch Verhinderung widersprechender Urteile und Ersparen von Zeit und Kosten. Nimmt man mit der hier vertretenen Auffassung an, daß das Urteil und die Rechtskraft vornehmlich dem Parteiinteresse dient, Rechtsgewißheit und Rechtsklarheit zu erlangen, und nur als Folge des Schutzes der Parteirechte öffentlichen

2,2 Ansatzweise vertritt schon Gaul, Festschrift für Weber, S. 155, S. 169 FN 70 diese Lösung, ohne jedoch eine nähere Begründung dafür zu geben, daß dem zweiten Urteil die materielle Rechtskraft fehlt. 253

Braun, Restitution II, S. 390.

234

Rosenberg/Schwab

14

, § 152 I, S. 970 f.

64

Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

Interessen 2 3 5 , führt die Nichterreichung der parteibezogenen Zwecke automatisch zur Verfehlung der öffentlichen Zwecke. Auf einen letzten denkbaren Einwand gegen die hier vertretene Ansicht ist noch einzugehen. Man könnte argumentieren, mit der Rechtskraft des zweiten Urteils sei es nicht nur dem zweiten Urteil unmöglich, seine Zwecke zu erfüllen, vielmehr gelte das gleiche für das erste Urteil. Auch die erste Entscheidung stifte Unruhe zwischen den Parteien, wenn ein später den Rechtsstreit beurteilendes Gericht mit der gleichen Autorität wie das zuerst entscheidende die Rechtslage genau entgegengesetzt konkretisiere. Warum nur das zweite Urteil zweckwidrig sei, ihm daher die materielle Rechtskraft fehle und nicht das erste oder beide, sei nicht ersichtlich. Solange nur das erste Urteil vorhanden war, herrschte unter den Parteien Rechtsfriede und Rechtsgewißheit, ihre Rechte waren geschützt. In dem Augenblick, in dem die zweite Entscheidung in der Rechtsordnung in Geltung tritt, entsteht erneut eine Situation der Ungewißheit. Es ist allein das zweite Urteil, das Unfriede stiftet und die bisher bestehende Gewißheit angreift. Daher verfehlt das erste Urteil nicht ab dem Zeitpunkt der formellen Rechtskraft des zweiten seine Zwecke, sondern mit seiner Rechtskraft widerspricht der zweite Richterspruch den Zwecken, denen die materielle ernes Urteils dient. Die materielle Rechtskraft des zweiten Urteils verfehlt von Anfang an ihre Zwecke und ist damit ein anfänglich wirkungsloses Rechtsinstitut. Anfängliche Wirkungslosigkeit bedeutet, daß dem zweiten Urteil nie materielle Rechtskraft zukommt. Es bestehen daher zu keinem Zeitpunkt Wirkungen der zweiten Entscheidung, die die Erfüllung der Urteilszwecke durch das erste Urteil in Frage stellen könnten.

2. Die übrigen Urteilwirkungen a) Formelle Rechtskraft und Kostenentscheidung Es bleibt noch die Wirksamkeit der weiteren Wirkungen des Urteils zu klären. Mit Jauernig 236 ist dabei zwischen den Eigenschaften des Tatbestandes des Urteils und den Urteilswirkungen zu unterscheiden. Der Tatbestand ist das "Urteil" im Sinne des Gesetzes. Dem Tatbestand der richterlichen Entscheidung kommen bestimmte Eigenschaften zu. Diese Tatbestandseigenschaften des Urteils sind die formelle Rechtskraft, die instanzbeendigende Wirkung und die Rechtsmittelfähig-

235

Vgl. oben Teil 1 Β VII 1 a).

236

Jauernig, Zivilurteil, S. 141 ff.

65

Β. Behandlung der Urteilskollision

keit 237 . Urteilswirkungen sind dagegen Wirkungen, die einem bestimmten Urteil seiner Art nach zukommen. Urteilswirkungen sind die materielle Rechtskraft, die innerprozessuale Bindungswirkung, die Vollstreckbarkeit und die Gestaltungswirkung 238 . Wenn ein mit den Tatbestandseigenschaften ausgestatteter Urteilstatbestand vorliegt, ihm aber die typischen Urteilswirkungen fehlen, liegt ein wirkungsloses Urteil vor. Fehlen dem Urteil auch die Tatbestandseigenschaften, ist es nichtig. Die Auswirkungen der Urteilskollision auf die Tatbestandseigenschaften des Urteils und den Kostenausspruch werden zunächst untersucht. Formelle Rechtskraft bedeutet Unanfechtbarkeit einer Entscheidung mit ordentlichen Rechtsmitteln. Sie kommt gerichtlichen Entscheidungen zu, die von Anfang an unanfechtbar sind oder die durch Ablauf der für sie geltenden Rechtsmittelfristen unanfechtbar werden 239 . Die formelle Rechtskraft soll verhindern, daß eine Entscheidung nach einem bestimmten Zeitpunkt aufgehoben wird; sie sichert den Bestand der Entscheidung. Diese Aufgabe kann sie auch im Fall eines zweiten, einem ersten widersprechenden Urteil erfüllen. Das zweite Urteil ist mit ordentlichen Rechtsmitteln nicht mehr angreifbar. Der inhaltliche Widerspruch der beiden Judikate und die dadurch verursachte Rechtsunsicherheit berühren die formelle Rechtskraft nicht 240 . Auch die Regelung des § 580 Nr. 7a ZPO spricht dafür, daß dem zweiten Urteil formelle Rechtskraft zukommt. Denn die Wiederaufnahmeklage richtet sich nicht gegen die materielle Rechtskraft, sondern sie beseitigt die formelle Rechtskraft eines Urteils. Sie macht das unanfechtbar gewordene Urteil wieder angreifbar 241. Würde dem zweiten Urteil die formelle Rechtskraft fehlen, wäre § 580 Nr. 7a ZPO überflüssig. Die Wirksamkeit der Kostenentscheidung in einem wirkungslosen Urteil folgt aus der rechtlichen Selbständigkeit der Entscheidung über die Kosten von der Entscheidung im Rechtsstreit selbst. Der Kostenausspruch ist nicht unselbständiger Teil der Hauptsacheentscheidung, sondern von dieser rechtlich getrennt zu behandeln 242 . Die Unwirksamkeit der Entscheidung über den Streitgegenstand zieht daher die Unwirksamkeit der Kostenentscheidung nur nach sich, wenn der

237 Diese Eigenschaften kommen dem wirkungslosen Urteil auch zu nach: Götz, Diss., S. 40; Rosenberg/Schwab u , § 61 IV 1, S. 363 f.; Zöller/Vollkommer, Vor § 300 RN 19; zweifelnd, ob wirkungslosem Urteil formelle Rechtskraft zukommt Lüke/Zawar, JuS 1970, S. 205, S. 212 FN 97. 238

Jauernig, Zivilurteil, S. 142.

239

Rosenberg/Schwab/Gottwald

15

, § 1491, S. 908; Stein/Jonas/Leipold

240

20

, § RN 322 RN 3.

Auch Gaul, Wiederaufnahmerecht, S. 96 ff. gelangt zu dem Ergebnis, daß dem zweiten Urteil die materielle Rechtskraft fehle, ihm aber formelle Rechtskraft zukomme. 241

Gaul, Wiederaufnahmerecht, S. 96; 108 ff.

242

Jauernig, Zivilurteil, S. 143 f.

5 Lenenbach

66

Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

Grund der Unwirksamkeit auch letztere erfaßt 243 ; das heißt, bezogen auf den hier untersuchten Fall, wenn die Kostenentscheidung im zweiten Urteil ihren Zweck nicht erfüllen kann. Die Kostenentscheidung bestimmt, wer im Verhältnis der Parteien zueinander die Prozeßkosten, verstanden als alle durch den Rechtsstreit verursachten Aufwendungen der Parteien, zu tragen hat 244 . Zweck der Kostenentscheidung ist die gerechte Verteilung der durch den Rechtsstreit verursachten Kosten unter den Parteien 245. Da auch ein Rechtsstreit über einen Streitgegenstand, über den schon früher entgegengesetzt entschieden wurde, Kosten verursacht, die verteilt werden müssen, schlägt die Zweckwidrigkeit der Entscheidung über die Hauptsache im zweiten Urteil nicht auf die Kostenentscheidung durch. Diese ist wirksam. Mit dieser Lösung wird ein Einwand Brauns 246 gegen die Wirkungslosigkeit des zweiten Urteils entkräftet. Braun bildet den Fall, daß ein im ersten Prozeß nur teilweise obsiegender Kläger gegen die vom ersten Urteil nichtsahnenden Erben des Beklagten erneut klagt und im zweiten Prozeß gänzlich abgewiesen wird. Da mit der Unwirksamkeit des zweiten Urteils auch die Kostenentscheidung unwirksam sei, stehe man vor dem ungerechten Ergebnis, daß die arglistig in den zweiten Prozeß gezogenen Erben keinen Kostenanspruch hätten. Dies trifft nach der hier gefundenen Lösung nicht zu. Mit dem bisher gefundenen Ergebnis lassen sich alle Urteilskollisionen auflösen, bei denen sich der Widerspruch zwischen den beiden Urteilen auf eine Kollision der materiellen Rechtskraft beschränkt. Dies ist der Fall, wenn die einzige Urteilswirkung des zweiten Urteils die materielle Rechtskraft ist, das heißt, wenn das zweite Urteil ein Feststellungsurteil oder ein eine Gestaltungsoder Leistungsklage abweisendes Urteil ist 247 . Da dem zweiten Judikat seine einzige Urteilswirkung fehlt, ist es wirkungslos.

243

Jauernig, Zivilurteil, S. 144.

244

Rosenberg/Schwab

§ 87 I, S. 490.

245

Becker-Eberhard, Diss., S. 35 ff: Prozeßkostenerstattung ist rechts widrigkeits- und verschuldensunabhängige Veranlassungshaftung; Stein/Jonas/Leipold 20, vor §§ 91 RN 6. 246 247

Braun, Restitution II, S. 390 f.

Denn ein eine Leistungs- beziehungsweise eine Gestaltungsklage abweisendes Urteil erschöpft sich in der rechtskräftigen Feststellung, daß dem Kläger das eingeklagte Leistungsbeziehungsweise Gestaltungsrecht nicht zusteht. Ein solches Urteil ist daher auch ein Feststellungsurteil.

67

Β. Behandlung der Urteilskollision

b) Vollstreckbarkeit Offen ist damit noch, wie die Urteilskollision zu behandeln ist, wenn das zweite Urteil ein Leistungs- oder Gestaltungsurteil ist. Den Fall eines zweiten Leistungsurteils soll folgendes Beispiel veranschaulichen. Beispiel:Eine erste rechtskräftige Entscheidung im Prozeß des A gegen den Β weist die Zahlungsklage des A ab. In einem späteren Prozeß mit identischem Streitgegenstand wird Β zur Zahlung an A verurteilt.

Auch in dieser Fallkonstellation gilt, daß dem zweiten Urteil keine materielle Rechtskraft zukommt. Die fehlende materielle Rechtskraft führt aber nicht zwingend zur Verneinung der Vollstreckbarkeit des zweiten Urteils, denn die materielle Rechtskraft ist nicht Voraussetzung der Vollstreckbarkeit eines Urteils. Für vorläufig vollstreckbar erklärte Urteile und Vorbehaltsurteile sind vollstreckbar, ohne in materieller Rechtskraft zu erwachsen. Ein Urteil ist vollstreckbar, wenn seine vollstreckbare Ausfertigung vorliegt (§ 724 Abs. 1 ZPO) und es einen vollstreckbaren Inhalt hat. Letzteres ist der Fall bei allen formell rechtskräftigen Urteilen, die ihrer Art nach einen vollstreckungsfähigen Inhalt haben und bestimmt sind 248 , also grundsätzlich bei formell rechtskräftigen Leistungsurteilen. Diese Voraussetzungen erfüllt das zweite Urteil: es verurteilt den Beklagten zu einer Leistung und es ist formell rechtskräftig. Auch der Umstand, daß einem Leistungsurteil in der Regel materielle Rechtskraft zukommt, diese dem zweiten Urteil aber fehlt, hat nicht zur Folge, daß dem zweiten Urteil die Vollstreckungswirkung abzusprechen ist. Jauernig 249 zeigt auf, daß es neben Urteilen, denen keinerlei Urteilswirkungen zukommen - sogenannte wirkungslose Urteile -, auch Urteile gibt, bei denen nur einzelne Urteilswirkungen von einem Unwirksamkeitsgrund betroffen sind. Neben anderen Fällen führt Jauernig 250 das Beispiel eines Leistungsurteils an, das vollstreckbar ist, dem aber die materielle Rechtskraft fehlt. Das Leistungsurteil, das einem ersten die Leistungsklage abweisenden Urteil widerspricht, enthält einen klaren und eindeutigen Leistungsbefehl. Das staatliche Vollstreckungsorgan hat nur die Ausfertigung des Titels in Händen, um zu prüfen, ob das Urteil vollstreckbar ist. Der Grundsatz der Formalisierung des Vollstreckungsverfahrens verbietet es, die Vollstreckbarkeit einer Entscheidung

248

Müko/Krüger,

249

Jauernig, Zivilurteil, S. 189 f.; Rosenberg/Gaul/Schilken,

250

§ 704 RN 5 f.; Baur/Stürner,

RN 159. S. 97.

Jauernig, Zivilurteil, S. 190: Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger DM 1.000,- zu zahlen, weil dem Kläger ein Anspruch aus Kaufvertrag vom 1. 2. oder aus Dahrlehnsvertrag vom 1.3. zustehe. Mangels eindeutiger Entscheidung über den Streitgegenstand komme dem Urteil keine materielle Rechtskraft zu. Es sei aber vollstreckbar, da es die zu erzwingende Leistung klar bezeichne.

68

Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

von der materiell-rechtlichen oder verfahrensrechtlichen Richtigkeit des Erkenntnisverfahrens abhängig zu machen 251 . Ein Titel, der einen vollstreckungsfähigen Inhalt hat und der formell rechtskräftig ist, ist daher vollstreckbar. Ob er im Wiederaufnahmeverfahren oder mit vollstreckungsrechtlichen Rechtsbehelfen aufhebbar ist, ist eine Frage, die die grundsätzliche bestehende Vollstreckbarkeit nicht berührt.

c) Kollidierende Gestaltungsurteile Gibt ein erstes Urteil einer Klage auf Gestaltung statt und weist ein späteres Judikat eine Klage zu demselben Streitgegenstand ab, ist das zweite Urteil wegen seiner Zweckwidrigkeit wirkungslos, da es als einzige Wirkung die materielle Rechtskraft hat. Ergehen die Gestaltungsurteile in umgekehrter zeitlicher Reihenfolge, also zuerst das abweisende und dann das stattgebende Urteil, kann man zweifeln, ob das erste Urteil vorgeht. Denn eine zweite Entscheidung könnte das auch nach dem ersten Urteil weiterbestehende Rechtsverhältnis noch gestalten. Besonders einleuchtend scheint dieser Gedanke, wenn das zweite Urteil mit Wirkung ex tunc das Rechtsverhältnis vernichtet. Schlosser 252 nimmt auch an, daß ein einer Patentnichtigkeitsklage stattgebendes Urteil ein früheres dieselbe Klage abweisendes Urteil "so gut wie von selbst aufhebe". 253 Diese Ansicht löst die Kollision von Gestaltungsurteilen nach den gleichen Grundsätzen wie die materiell-rechtliche Rechtskrafttheorie den Konflikt sich widersprechender Urteile über denselben Streitgegenstand: weil das zweite Urteil die Rechtslage gemäß seinem Ausspruch umgestaltet, gilt nur das zweite Judikat, das erste wird derogiert. Betrachtet man nur den Konflikt zweier Gestaltungsurteile, ist dieser Gedankengang in der Tat naheliegend. Denn das Gestaltungsurteil ist die einzige Urteilsart, die nach heutiger Auffassung die Rechtslage ändert. Der Grund für die Rechtsänderung durch Urteil liegt aber nicht in einer besonderen Kraft des Gestaltungsurteils im Unterschied zu anderen Urteilen, sondern in der Ausgestaltung des materiellen Rechts oder des Prozeßrechts. Das materielle Recht beziehungsweise das Prozeßrecht verlangt für den Eintritt bestimmter Gestaltungen nicht nur eine private Gestaltungserklärung, sondern ein Urteil, das die Gestaltung ausspricht (Auflösung der Ehe: § 1564 S. 2 BGB; Auflösung einer

251

Gaul, RPfleger, 1971, S. 81, S. 90 ff.

252

Schlosser, Gestaltungsklagen, S. 260.

253 Schlosser, Gestaltungsklagen, S. 260 FN 17 vertritt die Auffassung, daß von zwei sich widersprechenden Urteilen über denselben Streitgegenstand das zweite vorgehe.

Β. Behandlung der Urteilskollision

69

OHG: § 133 Abs. 1 HGB; Ausschluß eines Gesellschafters aus einer OHG: § 140 Abs. 1 HGB). Die Gestaltungswirkung ist daher eine mit dem Urteil beabsichtigte Tatbestandswirkung. Sie ändert das zu gestaltende Rechtsverhältnis. Ihre gestaltende Kraft geht aber nicht soweit, daß sie ein früheres Urteil beseitigen könnte. Diese Wirkung hat allein eine erfolgreiche Wiederaufnahmeklage. Geht man mit der h. M . 2 5 4 davon aus, daß ein Gestaltungsurteil in materieller Rechtskraft erwächst, kollidieren auch bei einem ersten, eine Gestaltungsklage abweisenden Urteil und einem zweiten, die Gestaltung aussprechenden Urteil materielle Rechtskraft mit materieller Rechtskraft. Nach der vorliegend vertretenen Auffassung kommt dem zweiten Urteil dann keine materielle Rechtskraft zu. Es liegt somit ein wirkungsvermindertes zweites Urteil vor, dem, wenn überhaupt, nur Gestaltungswirkung zukommt. Möglicherweise fehlt dem zweiten Judikat auch die Gestaltungswirkung. Wirksamkeitsvoraussetzung der Gestaltungswirkung ist nur die formelle Rechtskraft, nicht die materielle Rechtskraft 255. Die Gestaltungswirkung ist insofern einer Tatbestandswirkung ähnlich, die ein formell rechtskräftiges Urteil zur Voraussetzung hat. Da dem zweiten Urteil formelle Rechtskraft zukommt, hat es auch Gestaltungswirkung. Rechtssicherheit und Rechtsklarheit streiten auch für das Bestehen der Gestaltungswirkung. Auf den Gestaltungsausspruch verlassen sich neben den Prozeßparteien auch andere Personen, für deren Interessen das zu gestaltende Rechtsverhältnis von Bedeutung ist 256 . Für diesen Personenkreis ist es wichtig zu wissen, wie die Rechtslage sich darstellt. Sie ergibt sich eindeutig aus dem Tenor des zweiten Urteils. Ein Widerspruch zur ersten Entscheidung besteht insoweit nicht, da diese nur rechtskräftig feststellt, daß dem Kläger kein Gestaltungsrecht zusteht. Das erste Urteil hat aber keine "negative Gestaltungswirkung", die die Gestaltung des Rechtsverhältnisses verbietet. A u f die gerichtlich ausgesprochene Gestaltung im zweiten Urteil muß sich der Rechtsverkehr bis zur Aufhebung des Gestaltungsurteils verlassen können. Die Gestaltungswirkung erfüllt auch ihren Zweck. Dieser ist nicht in den Gründen zu sehen, die den Gesetzgeber bewogen haben, für die Ausübung be-

254

Rosenberg/Schwab/Gottwald Schlosser, Gestaltungsklagen, S. 406 ff.

' 5, § 94 III 2, S. 529; Stein/Jonas/Leipold

255

Rosenberg/Schwab/Gottwald

256

' 5 , § 94 III 1, S. 529.

Zum Beispiel die Gläubiger einer OHG.

20

, § 322 RN 6

70

Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

stimmter Gestaltungen die Erhebung einer Klage vorzuschreiben 257. Tritt die Änderung einer Rechtslage erst und nur dann ein, wenn ein rechtskräftiges Gestaltungsurteil ergangen ist, ist stets klar, welche Rechtslage besteht. Im Unterschied zu einer Gestaltung durch private Willenserklärung, die erst verbindlich feststeht, wenn sie von einem Gericht verbindlich festgestellt wurde, erfordert die Gestaltung durch Urteil eine vorherige gerichtliche Überprüfung der Gestaltungsvoraussetzungen. Der Grund für die Notwendigkeit von Gestaltungsklagen ist der Weg, der bis zur Gestaltung durch das Gericht zu beschreiten ist, und nicht die Gestaltungswirkung als das Ergebnis des Verfahrens 258. Die Gestaltungswirkung eines Gestaltungsurteils hat den gleichen Zweck wie die Gestaltung durch private Willenserklärung. Sie will die Rechtslage nach dem Ausspruch des die Gestaltung erklärenden Subjekts - private Partei oder Gericht ändern. Diesen Zweck erfüllt das Urteil, wenn die Voraussetzungen für die Gestaltungswirkung - ein formell rechtskräftiges Gestaltungsurteil und eine Norm, die die Rechtsänderung von einem solchen Ausspruch abhängig macht gegeben sind. Als Ergebnis läßt sich festhalten, daß dem späteren Gestaltungsurteil Gestaltungswirkung, aber keine materielle Rechtskraft zukommt. Ein möglicher Einwand gegen diese Lösung könnte lauten, der Sieger des zweiten Prozesses und jede andere Person könne sich auf die Gestaltungswirkung des fehlerhaften zweiten Urteils berufen und dadurch könnte der Sieger des ersten Prozesses geschädigt werden. Dies sei wenig interessengerecht, der Sieger des ersten Prozesses müsse geschützt werden. Diese Kritik trifft aber nur zum Teil zu. Der Sieger des ersten Prozesses ist nicht schutzlos, wenn sich jemand auf die von der zweiten Entscheidung ausgehende Gestaltungswirkung beruft. Ihm stehen dann Schadensersatzansprüche zu. Gegen seinen Prozeßgegner werden dies in der Regel vertragliche Ansprüche sein, gegen sonstige Personen kommt meist nur der Anspruch des § 826 BGB in Betracht. Dem Schadensersatzanspruch steht nicht die materielle Rechtskraft des zweiten Urteils entgegen, da diesem keine materielle Rechtskraft zukommt 259 . Gegenüber dem Prozeßgegner steht vielmehr

257

Als solche kommen in Betracht: Schaffung von Rechtssicherheit durch gerichtliche Entscheidung 0Schlosser, Gestaltungsklagen, S. 30/32 f.), große Publizität der Rechtslage (Kisch, Beiträge. S. 51 ; Schlosser, Gestaltungsklagen, S. 32), Eintritt von Nachteilen für abwesende Personen nur, wenn die Gestaltung zuvor in einem Zivilprozeß geprüft und ausgesprochen wurde (Schlosser, Gestaltungsklagen, S. 32), sowie Allgemeininteressen an der Gestaltung (Dölle, Festschrift für Bötticher, S. 93, S. 95; Fasching, ÖsUurBl. 1975, S. 505, S. 506). 258 Schmidt, JuS 1986, S. 35, S. 36 beschreibt dies schlagwortartig mit, "erst der Prozeß, dann die Gestaltung". 259

Stein/Jonas/Leipold 20, § 322 RN 275: Die materielle Rechtskraft des Gestaltungsurteils schließt Schadensersatzansprüche aus, die darauf gründen, daß das Gestaltungsrecht dem Prozeßsieger nicht zustehe.

Β. Behandlung der Urteilskollision

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aufgrund der Rechtskraft des ersten Urteils fest, daß ihm kein Gestaltungsrecht zusteht.

d) Tatbestandswirkung Ergehen zwei sich widersprechende Urteile über den gleichen Streitgegenstand und löst eines der Urteile eine Tatbestandswirkung aus, scheint ebenfalls eine Urteilskollision vorzuliegen. Betrachtet man die einzelnen Fälle der Tatbestandswirkungen, zeigt sich, daß es zu einer Kollision von Tatbestandswirkungen nicht kommen kann. Der Grund dafür liegt in den Entstehungsvoraussetzungen der Tatbestandswirkungen. Entweder wird eine Tatbestandswirkung von einem formell rechtskräftigen Urteil ausgelöst260 oder es genügt ein vollstreckbares Urteil 261 . Allein das Bestehen einer formell rechtskräftigen oder einer vollstreckbaren Entscheidung löst die Tatbestandswirkung aus. Da jedem der beiden kollidierenden Urteile nach der vorliegend gefundenen Lösung diese Urteilswirkungen zukommen, lösen sie auch entsprechende Tatbestandswirkungen aus. Zu einer Kollision kann es dabei nicht kommen, da nur eines der beiden einander widersprechenden Judikate die Tatbestandswirkung auslöst, das andere aber weder eine entgegengesetzte Tatbestandswirkung hervorruft, noch die Tatbestandswirkung blockiert. Lediglich wenn die materielle Rechtskraft Entstehungsvoraussetzung der Tatbestandswirkung ist, kann das zweite Urteil sie nicht auslösen, da ihm keine materielle Rechtskraft zukommt.

3. Prozessuale Geltendmachung der Urteilskollision Das bisher gefundene Ergebnis läßt noch offen, ob das ganz oder teilweise wirkungslose zweite Urteil beseitigt werden kann. § 580 Nr. 7a ZPO scheint die Lösung dieses Problems zu beinhalten: "Die Restitutionsklage findet statt, wenn die Partei ein in derselben Sache erlassenes, früher rechtskräftig gewordenes Urteil auffindet" Genau diese Situation besteht bei der Urteilskollision. Bedenken gegen die Anwendung des § 580 Nr. 7a ZPO könnten sich aus dem Wandel der

260 Nach § 218 Abs. 1 S. 1 BGB verjährt ein (formell) rechtskräftig festgestellter Anspruch in dreißig Jahren, auch wenn er an sich einer kürzeren Verjährung unterliegt. 261 Nach § 775 Nr. 1 ZPO ist die Zwangsvollstreckung einzustellen oder zu beschränken, wenn die Ausfertigung einer vollstreckbaren Entscheidung vorgelegt wird, aus der sich ergibt, daß das zu vollstreckende Urteil aufgehoben, daß die Zwangsvoll steckung für unzulässig erklärt oder ihre Einstellung angeordnet ist.

72

Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

rechtsdogmatischen Grundlagen ergeben, von denen der Gesetzgeber beim Erlaß des § 580 Nr. 7a ZPO ausging. Für den Gesetzgeber war diese Norm eine Regelung, die der im zweiten Prozeß unterlegenen Partei die Möglichkeit gab, die Einrede der Rechtskraft nachzuholen262. Durch eine erfolgreiche Restitutionsklage wurde das von dem zweiten Urteil geschaffene Judikatsrecht beseitigt und die Rechtslage wieder in Geltung gesetzt, die das erste Urteil geschaffen hatte 263 . § 580 Nr. 7a ZPO diente daher auch dazu, die durch das zweite Urteil erfolgte Verletzung des materiellen Rechts rückgängig zu machen 264 . Aus der Sicht des historischen Gesetzgebers bestand zwischen den Nummern 7a und 7b des § 580 ZPO ein innerer Zusammenhang. § 580 Nr. 7b ZPO erlaubte die nachträgliche Einbringung von Tatsachen in den Prozeß, wenn die Tatsachen urkundlich bewiesen wurden. § 580 Nr. 7a ZPO gibt dem Restitutionskläger die Möglichkeit, die die Einrede der Rechtskraft begründenden Tatsachen nach der Rechtskraft des zweiten Urteils noch in das Verfahren einzuführen. Auch diese Tatsachen sind mit einem qualifizierten Beweismittel, dem Urteilstenor, nachzuweisen. Nach keiner der heute vertretenen Rechtskrafttheorien hat die Rechtskraft die Kraft, die materielle Rechtslage zu gestalten. Je nach vertretener Auffassung stellt die materielle Rechtskraft eine prozessuale Bindungsnorm 265 , eine prozessuale Verbotsnorm 266 , eine prozessuale Verbots- und Bindungsnorm 267 dar oder die präjudizielle Wirkung der Rechtskraft wird auf die durch das Urteil herbeigeführte verbindliche Konkretisierung der Rechtslage zwischen den Parteien, die Wirkung als negative Prozeßvoraussetzung auf den Grundsatz der Einmaligkeit zurückge-führt 268 . Aus dem unterschiedlichen rechtstheoretischen Verständnis der Rechtskraft bei Erlaß des § 580 Nr. 7a ZPO und nach den heute vertretenen Theorien läßt sich kein Funktionswandel des § 580 Ziff. 7a ZPO herleiten. Denn die materielle Rechtskraft des Urteils hat sowohl nach der materiell-rechtlichen, als auch nach

262

Vgl. oben Teil 1 Β II 3.

263

Der Gesetzgeber ging von der materiell-rechtlichen Rechtskrafttheorie aus, nach der ein Urteil die Rechtslage gemäß seinem Ausspruch gestaltete. Näher dazu oben Teil 1 Β II 2. 264

Gaul, Wiederaufnahmerecht, S. 89.

265

Hellwig, Rechtskraft, S. 12/18.

266 Bötticher, Rechtskraft, S. 139 ff.; Rosenberg/Schwab/Gottwald§ BGHZ 36, S. 365, S. 367. 267 268

151 II 3, III, S. 916 ff.;

Gaul, Rechtskraftdurchbrechung, S. 19 f.

Stein/Jonas/Leipold S. 385 ff.



, § 322 RN 34 f./43 f.; Lühe, Festschrift für Schiedemair, S . 377,

Β. Behandlung der Urteilskollision

73

den modernen Theorien eine konstitutive Wirkung, die in der Entstehung einer Norm besteht269. Die materielle Rechtskraft ist von Amts wegen zu berücksichtigen 270. Obwohl die Rechtskraft einer Entscheidung als von Amts wegen zu beachtender Umstand angesehen wird, stellt das rechtskräftige Urteil eine Tatsache dar, die die Tatsachenbasis eines Rechtssatzes - nach vorherrschender Ansicht eines prozessualen271 - bildet, der die Wirkung der materiellen Rechtskraft als Rechtsfolge hat. § 580 Ziff. 7a ZPO hätte sonach auch heute noch die Funktion, die Möglichkeit zu eröffnen, einen unverschuldet nicht erfolgten Tatsachenvortrag nachzuholen. Nach heutigem rechtstheoretischem Verständnis liegt der Fehler, an dem ein zweites einem ersten widersprechendes Urteil leidet, nicht in der Verletzung des durch das erste Urteil geschaffenen Judikatsrechts. Der Fehler, an dem das zweite Urteil leidet, ist die Nichtbeachtung der materiellen Rechtskraft des ersten Urteils. Das Gericht des zweiten Prozesses hat eine von Amts wegen zu berücksichtigende Tatsache nicht beachtet und deshalb ein objektiv verfahrensfehlerhaftes Urteil gefällt 272 . Die Nichtberücksichtigung der materiellen Rechtskraft entspricht damit den Fällen der Nichtigkeitsklage des § 579 Abs. 1 ZPO. § 580 Nr. 7a ZPO ist daher nach heutigem prozessualem Verständnis systematisch ein Fall der Nichtigkeitsklage 273 . § 580 Nr. 7a ZPO ermöglicht den Verfahrensfehler der Nichtberücksichtigung der materiellen Rechtskraft des ersten Urteils im zweiten Verfahren zu beheben. Nach der hier vertretenen Auffassung hat die Kollision zweier Urteile nur die Konsequenz, daß dem zweiten Urteil die materielle Rechtskraft fehlt. Alle anderen Wirkungen kommen ihm dagegen zu. Gaul 274 gelangt zu dem gleichen Ergebnis, wenn auch mit anderer Begründung für den Wegfall der materiellen Rechtskraft der zweiten Entscheidung. Er weist nach, daß die Restitutionsklage

269 Schon Koussoulis, Rechtskraftlehre, S. 24 ff. hebt hervor, daß alle Rechtskrafttheorien dem Urteil rechtsgestaltende Kraft geben. 270

Für alle: Bülow, Absolute Rechtskraft des Urteils AcP 83 (1894) S. 1 ff.; Gaul, Festschrift für Flume, S. 443, S. 512 ff.; ders., Rechtskraftdurchbrechung, S. 18 f. (Beachtung der Rechtskraft von 14 Amts wegen ist Gewohnheitsrechtssatz); Rosenberg/Schwab , § 152 V 2, S. 975; Stein/Jonas/Leipold 20, § 322 RN 221; BGHZ 36, S. 365, S. 367, NJW 1989, S. 2133, S. 2134. 27 1

Rosenberg/Schwab

27 2

l4

Braun, Restitution II, S. 392 f.; Gaul, Wiederaufnahmerecht, S. 94.

27 3

Braun, Restitution II, S. 392 f.; Gaul, Festschrift für Kralik, S. 157, S. 165.

27 4

Gaul, Wiederaufnahmerecht, S. 95.

, § 152 III, IV, V, S. 972 ff.

74

Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

auch gegen ein Urteil möglich ist, dem die materielle Rechtskraft fehlt 275 . Eine Wiederaufnahmeklage ist nämlich nicht auf die Beseitigung der materiellen Rechtskraft gerichtet. Sie richtet sich gegen die formelle Rechtskraft. Durch die Wiederaufnahmeklage wird die durch die formelle Rechtskraft eingetretene Unangreifbarkeit beseitigt. Das unanfechtbare Urteil wird wieder prozessual angreifbar. Die Wiederaufnahmeklage will "die Beseitigung des angefochtenen Urteils in seinem aktmäßigen Bestand"276 und damit die Aufhebung der formellen Rechtskraft. Rechtssystematisch und rechtsdogmatisch bestehen daher keine Bedenken § 580 Nr. 7a ZPO auf der Grundlage des heutigen Verständnisses von der materiellen Rechtskraft auf den Fall sich widerspechender Judikate anzuwenden. Ob und mit welchen Modifizierungen § 580 Nr. 7a ZPO gilt, ist nicht nach dogmatisch-systematischen Erwägungen, sondern nach der Interessenlage zu beurteilen, die bei der Urteilskollision besteht. Für den historischen Gesetzgeber, der von der materiell-rechtlichen Rechtskrafttheorie ausging, verlor der Prozeßsieger des ersten Prozesses durch das zweite Urteil sein Judikatsrecht, da das zweite Urteil die Rechtslage nach seinem Ausspruch gestaltete. Mit Hilfe der Restitutionsklage nach § 580 Nr. 7a ZPO konnte der Sieger des ersten Prozesses diesen Verlust wieder rückgängig machen. Nach der vorliegend vertretenen Ansicht sieht sich der Sieger des ersten Prozesses einer zweiten Entscheidung ausgesetzt, die ihn in ähnlich starkem Maße in seinen Rechten beeinträchtigt. Ist das zweite Urteil ein Leistungsurteil, ist es vollstreckbar. Die Vollstreckbarkeit entfällt nach § 775 Nr. 1 ZPO erst, wenn eine das zweite Urteil aufhebende Entscheidung vorliegt. Ebenso verhält es sich mit einem zweiten Gestaltungsurteil. Seine Gestaltungswirkung entfällt erst, wenn es aufgehoben wurde. Selbst die Aufhebung eines zweiten Feststellungsurteils ist für den Sieger des erstes Prozesses sinnvoll. Zwar kommt dem Feststellungsurteil keine materielle Rechtskraft zu. Es beschwert den Sieger des ersten Verfahrens aber insbesondere durch seine Kostenentscheidung, die zu seinen Lasten lautet und die, wäre das erste Urteil beachtet worden, zu seinen Gunsten ausgefallen wäre. Diese Interessenlage verlangt nach der Aufhebung des zweiten Urteils. Sie rechtfertigt ebenso wie auf der Grundlage des Rechtskraftverständnisses des historischen Gesetzgebers die Durchbrechung der Rechtskraft im Einzelfall zugunsten des Restitutionsklägers. Denn für den Sieger des ersten Prozesses ist es gleichgültig, ob das zweite Urteil ergeht, weil er eine Einrede versäumt hat oder weil das Gericht einen Verfahrensfehler begangen hat. Für ihn ist entscheidend, daß er Gefahr läuft, um seinen Prozeßsieg gebracht zu werden.

27 5

Gaul, Wiederaufnahmerecht, S. 96 ff.

27 6

Gaul, Wiederaufhahmerecht, S. 96/108.

Β. Behandlung der Urteilskollision

75

Eine Klage auf Feststellung, daß dem zweiten Urteil die materielle Rechtskraft fehlt, hilft dem Sieger des ersten Prozesses nicht weiter. Denn ein entsprechendes Feststellungsurteil nimmt dem zweiten Urteil weder die Vollstreckbarkeit, noch die Gestaltungwirkung und hebt auch den Kostenausspruch nicht auf. Der einzig interessengerechte Rechtsbehelf ist daher eine Wiederaufnahmeklage gegen das zweite Judikat 277 . Gaul 278 und Braun 279 , die einzigen Autoren, die sich mit den Auswirkungen des geänderten Rechtskraftverständnisses auf § 580 Nr. 7a ZPO beschäftigen, bejahen grundsätzlich die weitere Geltung dieser Norm. Mit der gewandelten Auffassung die Berücksichtigung eines rechtskräftigen Urteils betreffend - früher auf Parteieinrede hin, heute von Amts wegen - rechtfertigt Gaul 280 die Nichtanwendbarkeit des § 582 ZPO und Braun 281 die der §§ 582, 586 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 ZPO bei einer Restitution nach § 580 Nr. 7a ZPO. Sei es früher konsequent gewesen, bei schuldhafter Versäumung der exceptio rei iudicatae die Restitutionsklage zu versagen, sei es heute widersprüchlich, wenn es der Partei wegen der Berücksichtigung der Rechtskraft von Amts wegen gestattet sei, sich zunächst passiv zu verhalten, ohne Nachteile befürchten zu müssen, an diese erlaubte Passivität später aber den Ausschluß der Restitutionsklage zu knüpfen. Geht man wie Gaul 282 und Braun 283 von der herrschenden Interpretation des Grundsatzes der Berücksichtigung von Amts wegen aus, obliegt den Parteien auch unter dessen Geltung die Beibringung des Tatsachenstoffes. Die h. M . 2 8 4 versteht unter Prüfung von Amts wegen nämlich nur den Ausschluß der Verfügungsmacht der Parteien über die Beweisnotwendigkeit der von diesen in den Prozeß eingeführten oder offenkundigen Tatsachen, das heißt die Nichtanwendbarkeit der §§ 138 Abs. 3, 288 Abs. 1, 330 Abs. 1 ZPO, die

27 7

Gaul, Wiederaufnahmerecht, S. 96 f.

27 8

Gaul, Wiederaufnahmerecht, S. 88 ff.

27 9

Braun, Restitutionsrecht II, S. 385.

280

Gaul, Wiederaufnahmerecht, S. 97 f.

281

Braun, Restitution II, S. 397 f. (zu § 582 ZPO), S. 403 (zu § 586 Abs. 1 ZPO).

282

Gaul, ZZP 80 (1967), S. 151, S. 153 f.: Dort rückt Gaul den Grundsatz der Berücksichtigung von Amts wegen in die Nähe der Offizialmaxime, betont aber sowohl, der Grundsatz gehöre zum Bereich der Stoffsammlung, als auch, die Nähe zur Offizialmaxime ändere am Ergebnis nichts. 283 Braun, Restitution II, S. 110: Beachtung der Rechtskraft von Amts wegen bedeute, daß die Rechtslage so zu behandeln sei, als ob die Einrede der Rechtskraft stets schon erhoben sei. 284

Arens, ZPR, RN 20; Baumbach/Lauterbach/Hartmann, Grdz vor § 128 RN 39; Stein/ Jonas/Leipold 20, vor § 128 RN 95; Rimmelspacher, Prüfung von Amts wegen, S. 150/159 f.; l5 Rosenberg/Schwab/Gottwald , § 78 V, S. 433 f.; Stein, Private Wissen, 1893, S. 92 f.; Zöller/Greger, vor § 128 RN 10 f./§ 139 RN 14; ständige Rechtsprechung seit RGZ 160, S. 338, S. 346 ff.; BGH NJW 1976, S. 149; NJW 1982, S. 1467, S. 1468; NJW 1989, S. 2064, S. 2065.

76

Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

mangelnde Notwendigkeit einer Parteirüge bezüglich der von Amts wegen zu beachtenden Umstände sowie die gemäß § 139 Abs. 2 ZPO bestehende Pflicht, auf Bedenken hinzuweisen. Die Beibringung des Tatsachenstoffes sei weiterhin Sache der Parteien, Prüfung von Amts wegen sei keine Amtsermittlung. Legt man dieses Verständnis zugrunde, sind die §§ 582, 586 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 ZPO nicht widersprüchlich, denn die Partei trägt die Nachteile ihrer Passivität bei der Tatsachenbeibringung sowohl im normalen Zivil- (bringt eine Partei eine ihr günstige Tatsache nicht vor, wird diese, auch wenn sie von Amts wegen zu berücksichtigen ist, der richterlichen Entscheidungsfindung nicht zugrunde gelegt) als auch im Restitutionsverfahren 285. Die Ansicht von Gaul und Braun wäre überzeugend, wenn den Parteien unter der Geltung des Grundsatzes der Berücksichtung von Amts wegen die Verantwortung für die Einbringung des Tatsachenstoffes abgenommen wäre. Soweit der Untersuchungsgrundsatz zur Anwendung kommt, ist dies der Fall. Der Grundsatz der Berücksichtigung von Amts wegen wird aber von niemandem als Untersuchungsgrundsatz verstanden und ist auch in seiner Ausformung in der ZPO nicht als solcher zu verstehen. Er gilt für ein Zivilverfahren nach der ZPO nur, wenn er ausdrücklich angeordnet ist 286 , wie zum Beispiel nach den §§616 Abs. 1, 640 d ZPO. Die meiste Verantwortung weisen Rimmelspacher 287, Grunsky 288 und Leipold 289 dem Gericht zu, wenn der Grundsatz der Berücksichtigung von Amts wegen für Prozeßvoraussetzungen gilt. Nach diesen Autoren darf das Gericht die für die Unzulässigkeit der Klage sprechenden Tatsachen in den Prozeß einführen, da sonst das Interesse an der Einhaltung der prozessualen Ordnung nicht wirksam zu schützen sei. Aber auch nach dieser Ansicht hat das Gericht im Gegensatz zum sonstigen Zivilprozeß nur auch das Recht und die Pflicht die die Unzulässigkeit begründenden Tatsachen in den Prozeß einzuführen. Die Parteien sind deshalb nicht ihrer Obliegenheit entbunden, den Tatsachenstoff für den Prozeß, auch für die Prozeßvoraussetzungen, beizubringen. Es läßt sich höchstens sagen, daß Gericht und Parteien die gleiche Verantwortlichkeit trifft. Die §§ 582, 586 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 ZPO sind daher nicht deshalb widersprüchlich, weil heute für die Berücksichti-

285 Der BGH weist in BGHZ 65, S. 300, S. 302 daraufhin, daß es sich bei den Tatbeständen der Ziffern 7a und 7b des § 580 ZPO um Fälle handele, bei denen die Fehlerhaftigkeit des Urteils in den Verantwortungsbereich des Restitutionsklägers falle. 286

Stein/Jonas/Leipold

287

20

Rimmelspacher, Prüfung von Amts wegen, S. 159 f.

, vor § 128 RN 89 f.

288

Grunsky, Verfahrensrecht, S. 203 f.

289

Stein/Jonas/Leipold

20

, Vor § 128 RN 95.

Β. Behandlung der Urteilskollision

77

gung der materiellen Rechtskraft der Grundsatz der Berücksichtigung von Amts wegen gilt. Überzeugend ist dagegen die Begründung, die Gaul 290 für die Nichtgeltung des § 586 Abs. 2 S. 2 ZPO gibt. Die Fünfjahresfrist, die § 586 Abs. 2 S. 2 ZPO aus Rechtssicherheitsgründen setze, müsse um der Rechtssicherheit willen durchbrochen werden. Fünf Jahre nach Rechtskraft des mit einem Restitutionsgrund behafteten Urteils ist die Restitution endgültig versagt (§ 586 Abs. 2 S. 2 ZPO). Diese Ausschlußfrist ist keine Notfrist, sie ist nicht verlängerbar und eine Einsetzung in den vorherigen Stand gegen ihre Versäumung kommt nicht in Betracht 291 . Ihrem Zweck, fünf Jahre nach rechtskräftigem Abschluß des Rechtsstreites der Rechtsklarheit und dem Rechtsfrieden endgültig den Vorrang vor dem Interesse der Partei an der Korrektur des fehlerhaften Urteils zu geben 292 , konnte diese Fristenregelung nach dem bei Erlaß der CPO geltenden Rechtskraftverständnis 293 gerecht werden. Denn wenn das rechtskräftige Urteil nur auf eine Parteieinrede hin zu berücksichtigen ist und ein zweites, einem ersten Judikat widersprechendes Urteil die Rechtslage gemäß seinem Ausspruch gestaltet (materiell-rechtliche Rechtskraftheorie), ist die Rechtslage auch ohne Erhebung einer Restitutionsklage eindeutig: nur das zweite Urteil gilt. War es früher klar, wie der Konflikt sich widersprechender Urteile über denselben Streitgegenstand vor und nach Ablauf der Fünfjahresfrist zu lösen ist - das zweite Urteil ging vor -, herrscht heute Uneinigkeit. Alle denkbaren Lösungsmöglichkeiten, die im einzelnen schon dargestellt wurden, werden vertreten 294. Grund für den Meinungsstreit ist das geänderte Rechtskraftverständnis. Die materielle Rechtskraft ist von Amts wegen zu beachten und nicht parteidisponibel; ein rechtskräftiges Urteil führt nicht zur Umgestaltung des materiellen Rechts. Der Konflikt zweier Urteile läßt sich daher nicht wie nach der materiellen Rechtskrafttheorie aus den Wirkungen des Urteils ableiten. Es bedarf einer eigenen Norm, die die Kollision von Urteilen auflöst. Da diese immateriellen Rechts. Der Konflikt zweier Urteile läßt sich daher nicht wie nach der materiellen Rechtskrafttheorie aus den Wirkungen des Urteils ableiten. Es bedarf einer eigenen Norm, die die Kollision von Urteilen auflöst. Da diese im positiven Recht nicht vorhanden ist, gehen die Ansichten zu dem Problem

290

Gaul, Wiederaufnahmerecht, S. 98.

291

Stein/Jonas/Grunsky

292

BGHZ 19, S. 20, S. 22.

293

Dazu oben Teil 1 Β II 3.

294

Vgl. oben Teil 1 Β III, IV, VI.

20

, § 586 RN 10; BGHZ 19, S. 20, S. 21.

78

Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

auseinander. Vor wie nach Ablauf der Fünfjahresfrist des § 586 Abs. 2 S. 2 ZPO entsteht wegen der ungeklärten Rechtslage hinsichtlich der Lösung der Urteilskollision ein Zustand der Rechtsunklarheit und es wird nicht, wie es die Fristenregelung bezweckt, durch den Ausschluß der Restitutionsklage endgültig Rechtsklarheit geschaffen. Hinzu kommt noch, daß der Sieger des ersten Prozesses nach der vorliegend vertretenen Ansicht auch nach Ablauf der Fünfjahresfrist der Gefahr der Vollstreckung aus dem zweiten Urteil ausgesetzt ist und auch die Gestaltungswirkung ernes zweiten Gestaltungsurteil weiter wirkt. Die Fünfjahresfrist macht also heute keinen Sinn. Sie widerspricht sogar ihrem eigenen Zweck, Rechtssicherheit zu schaffen. Daher gilt § 586 Abs. 2 S. 2 ZPO im Falle einer Restitutionsklage nach § 580 Nr. 7a ZPO wegen eines zweiten widersprechenden Urteils nicht. Die gleichen Gründe, die fÜ r die Nichtgeltung des § 586 Abs. 2 S. 2 ZPO sprechen, streiten auch für die Nichtgeltung der §§ 582, 586 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 ZPO. Die Rechtsunsicherheit, die das zweite Urteil hervorruft, die Gefahr der Vollstreckung und die Gestaltungswirkung bestehen auch, wenn der Restitutionskläger diese Tatbestände erfüllt. Da sein Nichthandeln weder das erste, noch das zweite Urteil außer Kraft setzt, besteht die Urteilskollision mit allen ihren Auswirkung fort. Nach § 584 Abs. 1 ZPO ist grundsätzlich das Gericht, dessen Entscheidung angefochten wurde, für die Restitutionsklage ausschließlich zuständig 295 , als Ausnahme von diesem Grundsatz aber das Berufungsgericht für eine Restitutionsklage gegen ein Revisionsurteil gemäß § 584 Abs. 1 Hbs. 2 ZPO, wenn diese auf den Restitutionsgrund des § 580 Ziff. 7a ZPO gestützt wird. Diese Zuständigkeitsregelung soll die Aufgabenverteilung zwischen Berufungs- und Revisionsinstanz im Restitutionsverfahren gewährleisten 296. Das Berufungsgericht ist - wie sonst auch - für die Tatsachenseite des Rechtsstreites zuständig. Soweit das Sachverhältnis betreffende Fragen in der Revision aufklärungsbedürftig sind, darf das Revisionsgericht diese grundsätzlich nicht selbst zu beantworten versuchen, sondern muß den Rechtsstreit insoweit an das Berufungsgericht zurückverweisen 297 . Diese Kompetenzverteilung will § 584 Abs. 1 Hbs. 2 ZPO sicherstellen, indem er Restitutionsklagen gegen Revisionsentscheidungen an das

295

Hahn, Materialien, S. 382 zu § 523; Rosenberg/Schwab/Gottwald

296

Gaul, Wiederaufnahmerecht, S. 207 ff.

297

15

Rosenberg/Schwab/Gottwald ZPR, RN 702/RN 720.

15

, § 161 I 1, S. 971 f.

§ 145 II 2, S. 885/§ 146 II 2a,S. 890/§ 1461 II 1, S. 891f.; Zeiss ,

79

Β. Behandlung der Urteilskollision

Berufungsgericht verweist, wenn die Restitution auf eine fehlerhafte Tatsachenbasis des Urteils gestützt wird 2 9 8 . Den Gleichlauf des Prüfungsumfanges des normalen mit dem des Restitutionsverfahrens hat § 584 Abs. 1 Hbs. 2 ZPO zum Ziel; der Gleichlaufgedanke rechtfertigt auch die Ausnahme von der Zuständigkeitsregelung des § 584 Abs. 1 Hbs. 1 ZPO. Bei einer Restitutionsklage nach § 580 Nr. 7a ZPO gegen ein Revisionsurteil macht die Regelung des § 584 Abs. 1 Hbs. 2 ZPO jedoch keinen Sinn. Anerkanntermaßen können Tatsachen, die Prozeßvoraussetzungen betreffen, in der Revisionsinstanz vorgebracht werden 299 und das Vorliegen der Sachurteilsvoraussetzungen - auch eines früheren rechtskräftigen Urteils 300 - ist ohne Parteiantrag von Amts wegen zu prüfen. Der Gleichlauf der Prüfungskompetenz von Hauptsache- und Restitutionsverfahren ist mithin bei einer Restitution gegen ein Revisionsurteil wegen einer bisher nichtbeachteten rechtskräftigen Entscheidung (= § 580 Nr. 7a ZPO) auch gesichert, wenn das Revisionsgericht für die Restitutionsklage zuständig ist. Die Ausnahme von der Zuständigkeitsbestimmung des § 584 Abs. 1 Hbs. 1 ZPO verliert daher ihre Rechtfertigung.

V I I I . Zweite gleichlautende Entscheidung Eine etwas andere Rechtslage als bei der Urteilskollision besteht, wenn eine zweite Entscheidung über denselben Streitgegenstand ergeht, die mit der ersten übereinstimmt. Durch die materielle Rechtskraft des zweiten Urteils wird zwar nicht, wie durch eine der ersten widersprechende Entscheidung, die geschaffene Rechtsgewißheit erneut getrübt und auch kein Unfrieden gestiftet. Ihre Zwecke, die privaten Rechte der Parteien zu schützen und Rechtsgewißheit zwischen den Parteien zu schaffen, kann die Rechtskraft des zweiten Urteils aber nicht mehr erfüllen. Denn schon die materielle Rechtskraft des ersten Judikats kommt diesen Zielen vollständig nach. Daher verfehlt auch bei gleichlautenden Urteilen über den gleichen Streitgegenstand die materielle Rechtskraft des zweiten Urteils ihre Zwecke. Dem zweiten Urteil kommt daher keine materielle Rechtskraft zu 3 0 1 . Ergehen zwei Urteile, die eine Klage auf Gestaltung desselben Rechtsverhältnisses abweisen, ergeben sich keine Besonderheiten zu sonstigen Fällen, in denen

298

Hahn, Materialien, S. 383 zu § 523.

299

BGHZ3\, S. 279, S. 282; Rosenberg/Schwab/Gottwald

15

, § 145 II 3 d, S. 885 m. w. N.

300

BGH NJW 1989, S. 2133, S. 2134 ( für früheres rechtskräftiges Urteil mit identischem Streitgegenstand); BGH WM 1989, S. 1897, S. 1899 (für rechtskräftige präjudizielle Entscheidung). 301

Im Ergebnis ebenso: Gaul, Festschrift für Weber, S. 155, S. 169 f.

80

Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

über denselben Streitgegenstand zwei gleiche Entscheidungen erlassen werden, da einem eine Klage auf Gestaltung abweisenden Urteil nur materielle Rechtskraft, aber keine Gestaltungswirkung zukommt 302 . Das zweite Urteil ist wirkungslos, da ihm seine einzige Urteilswirkung, die materielle Rechtskraft fehlt 303 . Folgt auf ein erstes, einer Klage auf Gestaltung stattgebendes Urteil ein identisches zweites Gestaltungsurteil, ist nach allgemeiner Ansicht das zweite Urteil wirkungslos. Denn das zu gestaltende Rechtsverhältnis ist durch das erste Urteil schon gestaltet worden und es gibt daher nichts mehr, was gestaltet werden kann 304 . Ergehen zwei Leistungsurteile, fehlt dem zweiten zwar die materielle Rechtskraft. Es ist aber vollstreckbar. Denn die materielle Rechtskraft ist keine Voraussetzung der Vollstreckbarkeit. Das zweite Urteil ist formell rechtskräftig und erfüllt auch die sonstigen Vollstreckungsvoraussetzungen 305. Der Titelinhaber kann wählen, aus welchem Titel er vollstreckt. Damit ist der Beklagte und Titelschuldner der Gefahr einer zweifachen Vollstreckung ausgesetzt. Leistet der Schuldner auf einen der beiden Titel, ist der titulierte materielle Anspruch in Höhe der Leistung erfüllt. Will der Gläubiger danach aus einem der beiden Titel vollstrecken, kann der Schuldner Vollstreckungsgegenklage erheben (§ 767 ZPO). Der Erfüllungseinwand ist hinsichtlich beider Titel nach dem Zeitpunkt des § 767 Abs. 2 ZPO entstanden und damit nicht präkludiert. Da beide Titel denselben materiellen Anspruch titulieren, greift der Erfüllungseinwand gegen beide Vollstreckungstitel durch, gleich auf welchen geleistet wurde. Es fragt sich, ob der Titelschuldner erst den Versuch der Doppelvollstreckung abwarten muß oder ob er das zweite Urteil schon vorher beseitigen kann. Gaul 306 hat diese Fragestellung untersucht und ist zu dem Ergebnis gelangt, daß das zweite Urteil mittels einer Wiederaufnahmeklage nach § 580 Nr. 7a ZPO aufgehoben werden kann. Er weist zu recht daraufhin, daß der Gesetzgeber mit § 580 Nr. 7a ZPO nur den Widerspruch zweier Urteile regeln, nicht aber bei

302

Stein/Jonas/Leipold

303

20

Vgl. oben Teil 1 Β VII 1.

, § 322 RN 65.

304

Goldschmidt, AcP 117 (1919), S. 1,S. 15; Jauernig, Zivilurteil, S. 175 f.; Seckel, Festschrift für Koch, S. 205, S. 243 (zweites Urteil ist Schlag ins Wasser). 305

Gaul, Festschrift für Weber, S. 155, S. 169 f.; OLG Karlsruhe MDR 1977, S. 937.

306

Gaul, Festschrift für Weber, S. 155, S. 166 ff.

Β. Behandlung der Urteilskollision

81

übereinstimmenden Entscheidungen über den gleichen Streitgegenstand die Restitutionsklage eröffnen wollte 307 . Der Grund dafür sei im Rechtskraftverständnis des Gesetzgebers zu sehen, der von der materiell-rechtlichen Rechtskrafttheorie ausging. Danach sei durch ein rechtskräftiges Urteil die materiell-rechtliche Rechtslage geändert worden und die Rechtskraft sei nur auf Einrede hin zu berücksichtigen gewesen. Die Einrede sei darauf gerichtet gewesen, einen Widerspruch mit dem durch das rechtskräftige Urteil geschaffene Judikatsrecht zu verhindern. Die Nichtbeachtung der Einrede der Rechtskraft sei daher eine Verletzung des materiellen Rechts gewesen. Die materielle Rechtskraft habe nur die Wirkung einer positiven Bindungsnorm, die das Gericht an das Judikatsrecht gebunden habe, gehabt. Sie sei aber nicht als negative Prozeßvoraussetzung verstanden worden 308 . Im Falle gleichlautender Urteile habe daher kein Rechtskraftverstoß und daher kein Fall des § 580 Nr. 7a ZPO vorgelegen. Gaul 309 kommt zu dem Ergebnis, daß nach dem von ihm vertretenen Rechtskraftverständnis § 580 Nr. 7a ZPO auch auf den Fall übereinstimmender Urteile anwendbar sei. Denn die materielle Rechtskraft habe sowohl die Wirkung einer prozessualen Bindungsnorm als auch einer prozessualen Verbotsnorm. Gegen letztere, die eine erneute Entscheidung über den gleichen Streitgegenstand verbiete, verstoße das zweite Urteil. Der Verfahrensverstoß der Nichtbeachtung der materiellen Rechtskraft, dessen Behebung § 580 Nr. 7a ZPO heute bezwecke, liege daher sowohl bei widersprechenden als auch bei gleichlautenden Entscheidungen vor. Gaul 310 meint, es sei für die prozessualen Rechtskrafttheorien, die in der materiellen Rechtskraft nur ein prozessuales Bindungsgebot sehen und die Unzulässigkeit eines zweiten Prozesses aus dem fehlenden Rechtsschutzbedürfnis herleiten, konsequent, wenn sie die Anwendbarkeit des § 580 Nr. 7a ZPO auf den Fall übereinstimmender Urteile verneinten. Es erscheint aber nicht recht überzeugend, die Anwendbarkeit des § 580 Nr. 7a ZPO von einer bestimmten Rechtskrafttheorie abhängig zu machen. Grunsky 311 bemerkt zu recht, daß der Streit um die richtige Rechtskrafttheorie nicht um Begriffe und dogmatische Spitzfindigkeiten zu führen sei, sondern die beteiligten Interessen das maßgebliche Kriterium seien, wenn es um Fragen der Rechtskraft ginge. Braun 312 weist daraufhin, daß für die Beantwortung der Frage, ob § 580 Nr. 7a ZPO auch

307

Gaul, Festschrift für Weber, S. 155, S. 166.

308

Gaul, Festschrift für Weber, S. 155, S. 160 f.

309

Gaul, Festschrift für Weber, S. 155, S. 169 f.

310

Gaul, Festschrift für Weber, S. 155, S. 168.

311

Grunsky, Verfahrensrecht, S. 494.

3,2

Braun, Restitution II, S. 393 ff.

6 Lenenbach

82

Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

den Fall gleichlautender Urteile erfasse, nicht der Streit über die richtige Rechtskrafttheorie maßgeblich sei, sondern allein Sachgründe. Er stellt auf das Interesse des Wiederaufnahmeklägers an der Aufhebung des zweiten Urteils ab. Eine Auslegung des § 580 Nr. 7a ZPO, die auch den Fall gleichlautender Urteile als unter diese Norm fallend ansieht, provoziert keinen Widerspruch zum Willen des Gesetzgebers. Aus der kurzen Bemerkung in den Materialien zur CPO 313 , die im Zusammenhang mit § 580 Nr. 7a ZPO von der Existenz eines widersprechenden Urteils sprechen, kann nicht die Unanwendbarkeit des § 580 Nr. 7a ZPO auf den Fall gleichlautender Entscheidungen hergeleitet werden. Diese Bemerkung ist nur erläuternder Art und setzt sich mit der hier behandelten Problematik nicht auseinander 314. Unter dem Widerspruch, den das zweite einem früheren widersprechende Urteil auslöste, verstand der Gesetzgeber einen Verstoß gegen das materielle Recht, der dadurch entstand, daß das Gericht wegen der Nichterhebung der Einrede der Rechtskraft das durch das erste Urteil geschaffene Judikatsrecht nicht berücksichtigte. Der Widerspruch, den ein zweites Urteil nach heutigem prozessualem Verständnis hervorruft, ist im Verfahrensverstoß der Nichtbeachtung des ersten Urteils zu sehen. Diesen Widerspruch wollte der Gesetzgeber aber mit § 580 Nr. 7a ZPO nicht regeln. Die Materialienstelle kann daher nicht als Grund herangezogen werden, die Anwendbarkeit des § 580 Nr. 7a ZPO auf den Fall gleichlautender Entscheidungen abzulehnen. Zur Zeit der Schaffung der CPO war die Lehre von den Urteilswirkungen erst im Entstehen begriffen 315 . Der Gesetzgeber ging daher mit der damals allgemeinen Auffassung davon aus, daß die materielle Rechtskraft, die er als Bindung an das durch das Urteil geschaffene Judikatsrecht verstand, die einzige Urteilswirkung sei. Daher konnte er die Problematik, ob § 580 Nr. 7a ZPO auch auf den Fall gleichlautender Entscheidungen anwendbar ist, nicht bedenken. Der gesetzgeberische Wille kann daher für die Lösung dieser Frage nicht herangezogen werden. § 580 Nr. 7a ZPO ist vielmehr gemäß dem heutigen prozessualen Verständnis und der sich daraus ergebenden Interessenlage auszulegen. Nach heutigem prozessualem Verständnis ist § 580 Nr. 7a ZPO systematisch ein Fall der Nichtigkeitsklage nach § 579 ZPO 316 . Der mit Hilfe der Wieder-

m 314

Hahn, Materialien, S.381. Braun, Restitution II, S. 395.

315

Grundlegend beschäftigten sich mit den verschiedenen Urteilswirkungen: Kisch, Beiträge zur Urteilslehre, 1903; Kuttner, Die privatrechtlichen Nebenwirkungen der Zivilurteile, 1908. 316

Braun, Restitution II, S. 392 f.; Gaul, Festschrift für Kralik, S. 157, S. 165.

Β. Behandlung der Urteilskollision

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aufnahmeklage zu behebende Fehler liegt in der Nichtbeachtung der von Amts wegen zu beachtenden materiellen Rechtskraft 317. Legt man § 580 Nr. 7a ZPO in dieser Weise aus, ist nicht zu erklären, warum nur die Nichtbeachtung der materiellen Rechtskraft in ihrer Ausformung als Bindungsgebot ein Verfahrensverstoß sein sollte, der eine Wiederaufnahmeklage eröffnet. Durfte das zweite Urteil nicht ergehen, weil ein erstes Urteil über den gleichen Streitgegenstand vorhanden war, liegt der Fehler ebenfalls in der Nichtbeachtung einer von dem ersten Urteil ausgehenden Wirkung. Ob man diese Wirkung der materiellen Rechtskraft oder dem fehlenden Rechtsschutzbedürfiiis zuschreibt, ist für die Auslegung des § 580 Nr. 7a ZPO unerheblich. Maßgeblich ist, daß das zweite Verfahren wegen des vorhandenen ersten Urteils als unzulässig hätte abgewiesen werden müssen. Es läßt sich nämlich nicht sagen, daß der dann vorliegende Verfahrensverstoß in geringem Maße einer Behebung bedarf, als die Nichtbeachtung der materiellen Rechtskraft, wenn es im zweiten Prozeß zu einander widersprechenden Urteilen kommt. Insbesondere für den Restitutionskläger ist dies nicht einzusehen. Denn für ihn ist allein entscheidend, daß eine Urteilswirkung übersehen wurde, deren Beachtung ein günstigeres Ergebnis im zweiten Verfahren zur Folge gehabt hätte. Für die Anwendung des § 580 Nr. 7a ZPO ist daher entscheidend, daß eine Wirkung des ersten Urteils übersehen wurde, die von Amts wegen zu beachten war und daß der Restitutionskläger ein Interesse an der Aufhebung des zweiten Urteils hat 318 . Ergeht ein zweites Leistungsurteil, hat der Beklagte und Verlierer des zweiten Prozesses ein Interesse daran, die Gefahr der doppelten Vollstreckung abzuwenden. Ergehen zwei gleichlautende Feststellungsurteile, ist der Beklagte durch die Kostenentscheidung zugunsten des Klägers belastet. Denn wäre der zweite Prozeß als unzulässig abgewiesen worden, hätte der Kläger die Kosten tragen müssen. Ebenso ist die Interessenlage im Falle eines zweiten Gestaltungsurteils. In allen Fällen eines späteren Urteils, das zum gleichen Streitgegenstand wie ein früheres ergeht und mit diesem übereinstimmt, ist daher eine Wiederaufnahmeklage nach § 580 Nr. 7a ZPO statthaft. Offen ist noch, ob wie bei einer Wiederaufnahmeklage wegen einer Urteilskollision auch bei einer Wiederaufnahmeklage im Falle gleichlautender Urteile die §§ 582, 586 Abs. 1, Abs. 2 ZPO nicht gelten. Der Grund für die Nichtgeltung dieser Normen ist die Rechtsunsicherheit, die das zweite dem ersten

517 318

Vgl. oben Teil 1 Β VII 3.

Ähnlich Braun, Restitution II, S. 396, der die Anwendbarkeit des § 580 Nr. 7a ZPO auf den Fall gleichlautender Urteile damit rechtfertigt, daß dabei gegen eine ähnliche Verfahrensregel verstoßen werde wie im Fall widersprechender Urteile und dieser Verfahrensverstoß die Parteien auch in ähnlicher Weise belaste.

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Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

widersprechende Urteil bis zu seiner Aufhebung verursacht 319. Ein zweites dem ersten Urteil entsprechendes Urteil ruft keine Rechtsunsicherheit hervor. Es bestätigt nur die erste Entscheidung. Ergehen zwei übereinstimmende Leistungsurteile, besteht aber ein anderer Grund, der die Nichtgeltung der §§582, 586 ZPO rechtfertigt. Weder die Verwirkungsregeln der §§ 582, 586 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 ZPO, noch die Ausschlußfrist des § 586 Abs. 2 S. 2 ZPO können verhindern, daß es zu einer Doppelvollstreckung kommt. Auch wenn diese Tatbestände erfüllt sind, kann der Titelgläubiger noch vollstrecken. Die Anwendung der §§ 582, 586 ZPO hätte lediglich zur Folge, daß der Titelschuldner erst abwarten müßte, bis der Gläubiger tatsächlich eine Doppelvollstreckung versucht, und nicht schon vorher durch die Aufhebung des zweiten Urteils mittels einer Wiederaufnahmeklage die Gefahr der Doppelvollstreckung beheben kann. Ab dem Zeitpunkt des Beginns des zweiten Vollstreckungsverfahrens kann er eine Vollstreckungsgegenklage erheben (§ 767 ZPO), um erne zweimalige Vollstreckung aus demselben materiellen Anspruch zu verhindern. Es macht aber keinen Sinn, den Titelschuldner nach fünf Jahren (§ 586 Abs. 2 S. 2 ZPO) oder wenn er eine Restitutionsklage schuldhaft nicht erhebt (§§ 582, 586 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 ZPO) allein auf die Vollstreckungsgegenklage zu verweisen und ihm vor Erfüllung dieser Tatbestände zusätzlich die Möglichkeit einer Wiederaufnahmeklage nach § 580 Nr. 7a ZPO zu geben, danach aber nicht mehr. Die §§ 582, 586 Abs. 1, Abs. 2 ZPO gelten daher im Falle gleichlautender Leistungsurteile nicht. Ergehen gleichlautende Urteile über den gleichen Streitgegenstand, ist daher eine Wiederaufnahmeklage nach § 580 Nr. 7a ZPO statthaft. Nur im Fall zweier Leistungsurteile gelten die §§ 582, 586 Abs. 1, Abs. 2 ZPO nicht.

C. Mißachtung einer präjudiziellen Urteilswirkung eines ersten Urteils in einem zweiten Verfahren Urteile sind nicht nur unvereinbar, wenn sie zu demselben Streitgegenstand ergehen, sondern auch wenn in einem zweiten Prozeß die materielle Rechtskraft eines früheren Urteils für eine vorgreifliche Frage präjudiziell wirkt und nicht berücksichtigt wird. Das Gericht des zweiten Verfahrens hat die materielle Rechtskraft, an die es gebunden war, mißachtet und deshalb eine Vorfrage für seine Entscheidung abweichend von der im ersten Urteil konkretisierten Rechtslage beurteilt.

3,9

Vgl oben Teil 1 Β VII 3.

C. Mißachtung einer präjudiziellen Urteilswirkung

85

Beispiel·. Der Klage des Ε gegen den Β auf Feststellung, daß der Ε Eigentümer einer Sache sei, wird stattgegeben. Nach Rechtskraft dieses Urteils klagt Ε gegen den Β auf Leistung von Schadenersatz wegen Beschädigung der ihm, E, gehörenden Sache, zu einem Zeitpunkt, für den das erste Urteil die Eigentümerstellung des Ε festgestellt hat. Die Klage wird mit der Begründung abgewiesen, Ε sei nicht Eigentümer der Sache. Das Feststellungsurteil wurde übersehen.

I. Bisher vertretene Ansichten Die Autoren, die diesen Fall der Urteilsunvereinbarkeit behandeln, lösen ihn wie die Urteilskollision, ohne auf die Unterschiede zur Urteilskollision einzugehen320.

II. Eigene Lösung Zunächst läßt sich festhalten, daß die Mißachtung eines präjudiziell wirkenden rechtskräftigen Urteils keinen Fehler darstellt, der zur Unwirksamkeit des zweiten Urteils führt. Keiner der anerkannten Unwirksamkeitsgründe liegt vor 321 . Weshalb die Nichtbeachtung der materiellen Rechtskraft stärkere Fehlerfolgen auslösen soll als die Nichtbeachtung anderer rechtlicher oder tatsächlicher Umstände, ist nicht ersichtlich.

1. Keine Zweckverfehlung

durch das zweite Urteil

Wie sieht es mit einer die Unwirksamkeit des zweiten Urteils begründenden Zweckverfehlung aus? Bei der Urteilskollision ist das zweite Urteil zweckwidrig, da es Unfrieden stiftet und erneut eine ungewisse Rechtslage schafft. Es bestehen zwei Hoheitsakte mit entgegengesetzter Aussage, da zu demselben Streitgegenstand zwei sich widersprechende Entscheidungen ergangen sind. Das Typische der Urteilskollision ist der Geltungskonflikt der Richtersprüche. Berücksichtigt ein Gericht ein für sein Verfahren vorgreifliches rechtskräftiges Urteil nicht, tritt es mit dem mißachteten früheren Judikat nicht in einen Geltungskonflikt. Beide Urteile ergehen über verschiedene Streitgegenstände. Da das zweite Urteil die in der früheren Entscheidung entschiedene Frage nur in den Entscheidungsgründen abweichend beurteilt, die Entscheidungsgründe selbst aber

320 321

Koussoulis, Rechtskraftlehre, S. 82 f.; Simon,, Diss., S. 159 ff.

Da dies offensichtlich ist, wird auf eine Aufzählung der Unwirksamkeitsgründe verzichtet und auf oben Teil 1 Β IV 1 verwiesen.

86

Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

nicht in Rechtskraft erwachsen, treten Urteilswirkungen nicht in Widerstreit zueinander. Die Nichtberücksichtigung der materiellen Rechtskraft ist ein Verfahrensfehler oder ein Fehler bei der Urteilsfindung des zweiten Urteils. Nicht zu bestreiten ist allerdings, daß zwischen den beiden Entscheidungen ein faktisches Spannungsverhältnis besteht. Ihre Zwecke kann die materielle Rechtskraft des zweiten Urteils aber auch erfüllen, wenn sie die materielle Rechtskraft einer früheren Entscheidung mißachtet. Die Rechtskraftszwecke beziehen sich auf den jeweiligen Urteilsgegenstand. Das erste Urteil schützt die Rechte der Parteien hinsichtlich des von ihm entschiedenen Rechtsstreits, auch wenn seine materielle Rechtskraft in einem zweiten Verfahren mißachtet wurde. Denn bei künftigen Prozessen oder bei Rechtsgeschäften zwischen den Parteien des ersten Verfahrens gilt die Rechtslage zwischen den Parteien so, wie sie in der ersten Entscheidung festgestellt wurde. Die Rechtsverhältnisse sind, soweit die beiden Urteile über sie entschieden haben, verbindlich festgestellt, so daß Rechtsgewißheit und Rechtsklarheit besteht. Der faktische Unfriede, den die Mißachtung der materiellen Rechtskraft des ersten Verfahrens unter Umständen stiftet, ändert nichts daran, daß die beiden Urteile generell ihre Zwecke erfüllen.

2. Die Mißachtung der materiellen Rechtskraft des ersten Urteils als von der materiellen Rechtskraft des zweiten Urteils geheilter Fehler Die materielle Rechtskraft bewirkt, daß die im Urteil festgestellte Rechtslage als unangreifbar richtig gilt 3 2 2 . Von den Ausnahmefällen der Unwirksamkeit der Entscheidung oder der Wiederaufnahme des Verfahrens (§§ 578 ff. ZPO) abgesehen, können Zweifel an der Richtigkeit des Urteil mit in der Rechtsordnung zu beachtender Erheblichkeit nicht mehr geltend gemacht werden 323 . Fehler, die dem Gericht bei der rechtskräftig gewordenen Entscheidung unterlaufen sind, gleich ob sie in einer ungenügenden Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhaltes oder in der unrichtigen Anwendung des Rechts liegen, können der Entscheidung mit Erfolg nicht mehr entgegengehalten werden. Die besondere Kraft des rechtskräftigen Urteils besteht eben gerade darin, daß die

322 Dies gilt nach allen Rechtskrafttheorien. Streitig ist nur, ob diese Unangreifbarkeit eintritt, weil die Rechtskraft - nur - die Gerichte bindet (so Gaul, Festschrift für Flume, S. 443, S. 524) oder weil die Rechtskraft eine die Parteien bindende Norm darstellt (Stein/Jonas/Leipold 20, § 322 RN 34 ff.; l5 Rosenberg/Schwab/Gottwald , § 151 II 3 b, S. 916 f.). 323 Stein/Jonas/Leipold 20, § 322 RN 38/262f.'Stein/Jonas/Grunsy Festschrift für Bötticher, S. 289, S. 307/311/319.

10

, vor § 578 RN 15f.; Schumann,

C. Mißachtung einer präjudiziellen Urteilswirkung

87

zur Entscheidung gestellte Rechtslage zwischen den Parteien letztverbindlich konkretisiert ist, das heißt unter Ausschluß jeglicher Möglichkeit, die Richtigkeit in Frage zu stellen. Nur wenn der Richterspruch unabhängig von in dem ihm vorausgehenden Verfahren gemachten Fehlern gilt, kann er seinen Zweck erfüllen, Rechtsfrieden und Rechtsgewißheit zwischen den Parteien herzustellen. Soweit bei der Urteilsfmdung gemachte Fehler nicht mehr geltend gemacht werden können, kann man davon sprechen, daß die materielle Rechtskraft diese Fehler heilt. Entscheidet ein Gericht eine für seine Entscheidung erheblich Vorfrage abweichend von einem diese Vorfrage rechtskräftig feststellenden Urteil, kann nach dem Zeitpunkt, zu dem die zweite Entscheidung in Rechtskraft erwächst, der Fehler der Mißachtung der materiellen Rechtskraft des füheren Urteils grundsätzlich nicht mehr geltend gemacht werden. Die Nichtbeachtung der materiellen Rechtskraft stellt einen Fehler bei der Urteilsfmdung dar, der ebenso wie andere Fehler durch die materielle Rechtskraft des zweiten Urteils geheilt wird. Mißachtet ein Gericht die materielle Rechtskraft eines früheren Urteils, geht daher das zweite Urteil vor. Damit ist aber nur gesagt, daß das zweite Judikat grundsätzlich nicht mehr mit der Behauptung angegriffen werden kann, es habe die materielle Rechtskraft des ersten Urteils nicht berücksichtigt. Wird die materielle Rechtskraft der ersten Entscheidung dagegen außerhalb des Urteilsgegenstandes des zweiten Urteils relevant, gilt auch künftig allein die erste Entscheidung.

3. Mißachtung anderer Urteilswirkungen

in einem zweiten Verfahren

Ebenso ist die Rechtslage, wenn in einem späteren Verfahren die von einem früheren Urteil ausgehende Gestaltungs-, Interventions- oder Tatbestandswirkung nicht beachtet wird. Dieser Fehler bei der Urteilsfmdung wird mit Rechtskraft des zweiten Urteils geheilt.

4. Wiederaufnahme

des zweiten Verfahrens

nach § 580 Nr. la ZPO

Der Satz, die zweite Entscheidung könne nicht mit der Behauptung angegriffen werden, sie habe die von dem ersten Urteil ausgehenden Wirkungen mißachtet, gilt nur, soweit nicht die Interessenlage und allgemeine Grundsätze des Rechts eine Ausnahme von der fehlerheilenden Kraft der materiellen Rechtskraft erfordern. Das von dem ersten Urteil geschützte Vertrauen des Prozeßsiegers des ersten Prozesses, die Urteilswirkungen werden allen künftig zwischen den Parteien ausgetragenen Streitigkeiten zugrunde gelegt, streitet für die Beachtlich-

88

Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

keit des Fehlers der Mißachtung einer Urteilswirkung auch nach Rechtskraft der zweiten Entscheidung. Fehler bei der Urteilsfmdung können nach Rechtskraft ausnahmsweise im Wege der Wiederaufnahme des Verfahrens geltend gemacht werden. Grunsky 324 und Schneider 325 vertreten die Ansicht, bei einem für ein zweites Verfahren präjudiziell wirkenden ersten Urteil gelte nicht § 580 Nr. 7a ZPO, da diese Norm nach ihrem Wortlaut Urteile zum gleichen Streitgegenstand erfordere. Grunsky 326 wendet auf diesen Fall § 580 Nr. 6 ZPO an. § 580 Nr. 6 ZPO setzt voraus, daß ein Urteil auf ein früheres gegründet ist und das präjudizielle Urteil durch ein drittes Urteil rechtskräftig aufgehoben wird. Der hier interessierende Fall berechtigt daher aus zwei Gründen nicht zur Wiederaufnahme nach § 580 Nr. 6 ZPO: zum einen gründet das zweite Urteil gerade nicht auf der ersten Entscheidung, wenn es sie mißachtet, zum anderen gibt es keine dritte Entscheidung, die die erste aufhebt. Eine andere Auffassung sieht sowohl die Urteilskollision als auch den Fall der Mißachtung der präjudiziell wirkenden materiellen Rechtskraft als von § 580 Nr. 7a ZPO erfaßt an 327 . Diese Auffassung ist konsequent, wenn man § 580 Nr. 7a ZPO nach heutigem prozessualem Verständnis als Fall der Nichtigkeitsklage ansieht, die dazu dient, den Verfahrensfehler der Nichtbeachtung der materiellen Rechtskraft zu beheben328. Denn dann leidet das zweite Urteil in beiden Fällen an dem Verfahrensfehler der Nichtbeachtung der materiellen Rechtskraft des ersten Urteils. Letztere Ansicht erscheint folgerichtig. Ihr ist aber entgegenzuhalten, daß sie sich nicht mit dem Wortlaut des § 580 Nr. 7a ZPO auseinandersetzt, der ausdrücklich fordert, daß "die Partei ein in derselben Sache erlassenes, früher rechtskräftig gewordenes Urteil auffindet". Dieser klare Wortlaut scheint einer Anwendung des § 580 Nr. 7a ZPO auf den Fall der Nichtberücksichtigung eines präjudiziellen früheren Urteils entgegenzustehen. Die Beschränkung der Wiederaufnahme nach § 580 Nr. 7a ZPO auf den Fall zum gleichen Streitgegenstand ergangener Entscheidungen war schon auf der Grundlage des Rechtskraftverständnisses des Gesetzgebers wenig konsequent, da für ihn § 580

324

Stein/Jonas/Grunsky

325

Zöller/Schneider,

326

Stein/Jonas/Grunsky

20

, § 580 RN 22.

§ 580 RN 14. 10

, § 580 RN 22.

327

Blomeyer, ZPR, § 106 III 2 b, S. 616; Müko/Braun, Gottwald* 5, § 160 II 3 c, S. 969. 328

Müko/Braun, § 580 RN 41.

§ 580 RN 40; Rosenberg/Schwab/

C. Mißachtung einer präjudiziellen Urteilswirkung

89

Nr. 7a ZPO die Möglichkeit gab, die unverschuldet versäumte Einrede der Rechtskraft nachzuholen329. Die Einrede der Rechtskraft konnte sowohl dann erhoben werden, wenn ein Urteil über den gleichen Streitgegenstand gefällt wurde, als auch, wenn in einem späteren Verfahren die Rechtskraft des früheren Urteils präjudiziell wirkte. Es verwundert daher nicht, wenn schon bald nach Erlaß der ZPO die Anwendbarkeit des § 580 Nr. 7a ZPO auch für den Fall bejaht wurde, daß die Einrede der Rechtskraft in einem späteren Verfahen nicht erhoben wurde, in dem das frühere Urteil nur präjudiziell wirkte 330 . Die Vorstellungen, die der Gesetzgeber mit § 580 Nr. 7a ZPO verband, können, wie schon ausgeführt 331, heute für die Auslegung dieser Norm nicht herangezogen werden. Denn zum einen sah der Gesetzgeber in § 580 Nr. 7a ZPO die Möglichkeit, die versäumte Einrede der Rechtskraft nachträglich geltend zu machen. Zum anderen ging er gemäß dem bei Schaffung der ZPO geltenden prozessualen Verständnis davon aus, daß die materielle Rechtskraft die einzige Urteilswirkung sei. Die sonstigen Urteilswirkungen waren ihm unbekannt 332 . Ändern sich die rechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Vorgaben, die der Gesetzgeber bei Normerlaß regeln wollte, wirkt sich dieser Wandel nicht stets auf Geltung und Auslegung der Norm aus. Sonst würde man dem Gesetzgeber den hypothetischen Willen unterstellen, daß jede Änderung der rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnisse, die den Normzweck berührt, zur Einschränkung oder Ausdehnung der Norm berechtigt. Die Reaktion auf einen Wandel im tatsächlichen oder rechtlichen Bereich ist aber grundsätzlich Sache des Gesetzgebers selbst. Eine andere Sichtweise hätte eine nicht tragbare Rechtsunsicherheit zur Folge 333 und würde die Kompetenzen zwischen Richter und Gesetzgeber in einer dem Gewaltenteilungsprinzip widersprechenden Weise zugunsten des Richters verschieben 334. Wenn aber die Beibehaltung der bisherigen Auslegung der Norm im heutigen Kontext zu auffallenden Wertungswidersprüchen führt, ist es geboten, eine wertungsfreie Auslegung zu finden. Die Erkenntnis, daß eine Änderung der sozialen, wirtschaftlichen und rechtlichen Verhältnisse, Entwicklungen in der Gesamtrechtsordnung, Tendenzen in der neueren

329

Vgl. oben Teil 1 Β II 3.

330

Förster \ § 543, 8a (die dort gewählte Formulierung spricht flir die Einbeziehung des Falles der Präjudizialität); Förster/Kann \ § 580, 2 g aa (h. M. sei, daß auch der Fall der Präjudizialität unter § 580 Nr. 7a ZPO falle); Planck, CPR, § 161 II A 2, S. 583. 331

Vgl. oben Teil 1 Β VIII.

332

Zum prozessaulen Verständnis des Gesetzgebers oben Teil 1 Β II 1/Teil 1 Β II 2/Teil 1 Β VIII.

333

Bydlinski,

334

Löwer, Cessante, S. 11.

Methodenlehre, S. 580; Canaris , Lücken, S. 189 ff.

90

Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

Gesetzgebung oder neue Rechtsauffassungen eine geänderte Auslegung einer Norm oder auch eine Fortbildung einer Norm veranlassen können, wird allgemein anerkannt 335. Schwieriger ist es, allgemeine Kriterien zu finden, die angeben, ab welchem Grad einer Änderung Auswirkungen auf die betroffene Norm eintreten beziehungsweise wann der Richter oder Gesetzesinterpret berechtigt oder verpflichtet ist, die Norm im Lichte der gewandelten Verhältnisse neu auszulegen. Larenz 336 erlaubt eine Neuinterpretation einer Norm, wenn die Norm auf die gegebenen Verhältnisse nicht mehr passe, wobei nicht jeder Wandel eine Änderung des Norminhaltes nach sich ziehe, sondern erst dann, wenn die Unzulänglichkeiten des bisherigen Gesetzesverständnisses evident geworden seien. Nach Bydlinski 337 ist der Funktionswandel einer Norm als bewegliches System zu behandeln. Je störender die Wertungswidersprüche und Erwartungsenttäuschungen der von der Regelung Betroffenen seien, je eher sei es geboten, eine vom historischen Gesetzesverständnis abweichende, sich am geltungszeitlichen Kontext orientierende neue Auslegung der Norm anzubieten. Aus diesen Ausführungen geht hervor, daß der Wandel der Normsituation zu erheblichen Wertungswidersprüchen führen muß, die zudem evident sein müssen, und daß nur unwesentliche Friktionen, die die Änderung der Verhältnisse zur Folge hat, nicht ausreichen 338. Auch der Wortlaut einer Norm steht der Fortbildung einer dann nicht entgegen, wenn er zu nicht zu rechtfertigenden Wertungswidersprüchen führt. Diejenigen Autoren, die sich mit der Auswirkung des gewandelten Rechtskraftverständnisses auf die Auslegung des § 580 Nr. 7a ZPO beschäftigen 339, sehen in § 580 Nr. 7a ZPO einen Fall der Nichtigkeitsklage, die dazu dient, den Verfahrensfehler der Nichtbeachtung der materiellen Rechtskraft zu beheben. Diese Auffassung liegt auch der vorliegenden Untersuchung zugrunde 340. Geht man von dieser Interpretation des § 580 Nr. 7a ZPO aus, gebietet es eine am Gleichheitssatz des Grundgesetzes (Art. 3 Abs. 1 GG) orientierte Auslegung, eine Wiederaufnahmeklage in allen Fällen zuzulassen, in denen eine Urteilswirkung

335

Bydlinski, Methodenlehre, S. 572 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 350 ff.; Löwer, Cessante; BVerfGE 34, S. 269, S. 289 (Soraya: Schmerzensgeld auch für Verletzung des Persönlichkeitsrechts wegen der seit Erlaß des BGB's gestiegenen Bedeutung der Grundrechte); BGHZ 50, S. 325 (Gewerkschaften entgegen § 50 Abs. 2 ZPO als nichtrechtsfähige Vereine im Zivilprozeß allgemein aktiv parteifähig). 336

Larenz, Methodenlehre, S. 350.

337

Bydlinski,

338

Ähnlich auch Gaul, Wiederaufnahmerecht, S. 98 f.

Methodenlehre, S. 580 f.

339

Braun, Restitution II, S. 393 f.; Müko/Braun, § 580 RN 41; Gaul, Festschrift für Kralik, S. 157, S. 165. 340

Vgl. oben Teil 1 Β VII 3.

C. Mißachtung einer präjudiziellen Urteilswirkung

91

nicht beachtet wurde, die von Amts wegen zu berücksichtigen war, vorausgesetzt der Wiederaufnahmekläger hat ein beachtliches Interesse an der Aufhebung des fehlerhaften Urteils. Es läßt sich nämlich nicht erklären, was den Fall der Nichtbeachtung eines früheren Urteil über den gleichen Streitgegenstand wesentlich von den Fällen der Nichtbeachtung anderer von dem Urteil ausgehender Wirkungen unterscheiden sollte. In allen Fällen ist die Schwere des Verfahrensverstoßes gleich: Eine von Amts wegen zu beachtende Urteilswirkung wurde nicht berücksichtigt. Und auch die Betroffenheit des Verlierers des zweiten Prozesses ist dieselbe. Wäre das erste Urteil beachtet worden, wäre ein ihm günstigeres Urteil erlassen worden. Eine Wiederaufiiahmeklage nach § 580 Nr. 7a ZPO ist daher stets zulässig, wenn eine von Amts wegen zu beachtende Urteilswirkungin einem späteren Verfahren nicht berücksichtigt wurde. Damit werden von § 580 Nr. 7a ZPO die Fälle der übersehenen Gestaltungs- und Interventionswirkung ebenso erfaßt, wie der Fall der nicht beachteten präjudiziell wirkenden materiellen Rechtskraft. Die §§ 582, 586 Abs. 1, Abs. 2 ZPO gelten im Falle einer Wiederaufnahmeklage wegen einer Urteilskollision nicht, da der Grundsatz der Rechtssicherheit eine stets zulässige Wiederaufnahme gebietet 341 . Ergeht ein zweites Urteil, das eine präjudiziell wirkende erste Entscheidung nicht berücksichtigt, besteht nach Rechtskraft des zweiten Urteils kein Zustand der Rechtsunsicherheit, da kein Geltungskonflikt zwischen den beiden Entscheidungen auftritt. Es gilt sowohl die erste wie die zweite Entscheidung. Der Fehler bei der Urteilsfmdung des zweiten Urteils wird durch seine Rechtskraft geheilt. Es besteht daher kein Grund, die §§ 582, 586 Abs. 1, Abs. 2 ZPO nicht anzuwenden.

5. Mißachtung der Tatbestandswirkung

in einem späteren Verfahren

Wird in einem zweiten Verfahren die von einem früheren Urteil ausgehende Tatbestandswirkung mißachtet, begründet dieser Fehler nicht die Restitutionsklage nach § 580 Nr. 7a ZPO, da mit dieser Norm nur von Amts wegen zu berücksichtigende Urteilswirkungen nach Rechtskraft geltend gemacht werden können. Die Tatbestandswirkung ist aber keine derartige Urteilswirkung, sondern eine Nebenfolge des Urteils. Von Tatbestandswirkung spricht man, wenn das Vorliegen eines Urteils Tatbestandsmerkmal einer Norm ist 342 . Das Urteil ist daher eine ein Tatbestandsmerkmal ausfüllende Tatsache wie jede andere Tat-

341 342

Vgl. oben Teil 1 Β VII 3.

Stein/Jonas/Leipold 20, § 322 RN 16; grundlegend zur Tatbestandswirkung Kuttner, Nebenwirkungen, 1908. - Das Gesetz macht den Erlaß (§ 717 Abs. 2 ZPO) oder die Rechtskraft des Urteils (§218 Abs. 1 BGB) zum Tatbestandsmerkmal einer Norm.

92

Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

sache auch. Es ist daher wie jede sonstige Tatsache nicht von Amts wegen, sondern nur auf Vorbringen der Parteien zu berücksichtigen. Das Urteil stellt aber eine Urkunde i.S.v. § 580 Nr. 7b ZPO dar, soweit es eine urkundliche Erklärung enthält. Der urkundliche Erklärungswert des Urteils besteht in der Erklärung des Gerichts, eine Entscheidung diesen Inhaltes gefällt zu haben (§417 ZPO) 343 . Das Urteil beweist daher als Urkunde, daß es eine Entscheidung mit dem Tenor wie ausgesprochen erlassen hat und damit die Tatsache "Erlaß eines Urteils", die Tatbestandsmerkmal zum Beispiel von § 717 Abs. 2 ZPO ist. Der Eintritt der formellen Rechtskraft läßt sich urkundlich (§ 418 ZPO) mit Hilfe eines Rechtskraftzeugnisses (§ 706 Abs. 1 ZPO) nachweisen. Eine nichtbeachtete Tatbestandswirkung kann daher mit der Restitutionsklage nach § 580 Nr. 7b ZPO geltend gemacht werden.

D. Zweites, den Geltungsanspruch eines früheren Urteils in Frage stellendes Urteil Die zweite Gruppe von Unvereinbarkeiten zeichnet sich dadurch aus, daß nach einem ersten Urteil ein zweites Judikat ergeht, das zum Streitgegenstand ein Rechtsverhältnis hat, das im ersten Verfahren eine entscheidungserhebliche Vorfrage darstellte. Das zweite Urteil entscheidet über das Bestehen oder Nichtbestehen des Rechtsverhältnisses entgegengesetzt zu der Beurteilung in den Entscheidungsgründen des ersten Urteils. Damit stellt die zweite Entscheidung nachträglich den Geltungsanspruch der ersten in Frage, da sie ausspricht, daß die erste Entscheidung das Rechtsverhältnis falsch beurteilt hat.

I. Früheres Leistungsurteil und ex tunc wirkendes Gestaltungsurteil Ein derartiger Fall ist gegeben, wenn in einem Leistungsurteil vom Bestehen eines Rechtsverhältnisses ausgegangen wird und dieses Rechtsverhältnis später mit Wirkung ex tunc durch ein Gestaltungsurteil beseitigt wird. BeispieP 44: Auf Klage des Patentinhabers wird ein Patentverletzter zur Leistung von Schadensersatz verurteilt. Nachträglich wird auf Klage des verurteilten Patentverletzers oder eines Dritten hin das Patent für nichtig erklärt.

343

KG OLGZ 1969, S. 114, S. 122.

344

Nach Schlosser, Gestaltungsklagen, S. 253, Beispielsfall 2.

D. Beeinträchtigung des Geltungsanspruchs eines früheren Urteils

93

/. Bisher vertretene Ansichten Im Widerstreit zwischen Leistungs- und Gestaltungsurteil wird einem die materielle Rechtslage mit Wirkung ex tunc gestaltenden Urteil die prozessuale Wirkung zugesprochen, das Leistungsurteil rückwirkend aufzuheben 345. Gaul 3 4 6 ist dieser Auffassung zurecht entgegengetreten. Ein die materielle Rechtslage ex tunc gestaltendes Urteil gestalte nur die materielle Rechtslage. Diese Gestaltung kann auf zwei denkbaren Wegen gegen ein vor dem Gestaltungsurteil ergehendes Urteil prozessual vorgebracht werden. Entweder sieht man das Gestaltungsurteil als neue Tatsache nach § 767 ZPO an, die eine Einwendung gegen den im Urteil festgestellten Anspruch begründet. Oder man stellt sich auf den Standpunkt, durch das Gestaltungsurteil werde die Rechtslage rückwirkend geändert und diese Situation sei die gleiche, als wenn die Rechtslage schon im Zeitpunkt der letzten Tatsachenverhandlung des Leistungsprozesses geändert worden wäre und das Gericht die geänderte Rechtslage nicht beachtet hätte. Das Leistungsurteil sei dann unrichtig und diese Fehlerhaftigkeit wird durch das Gestaltungsurteil offensichtlich. Das unrichtige Urteil wäre dann mit einer Restitutionsklage zu berichtigen. Diese Möglichkeiten biete unser Recht an, um wegen der Gestaltung der materiellen Rechtslage das Leistungsurteil anzugreifen. Eine Gestaltungsklage, die nicht nur die materielle Rechtslage ändere, sondern auch noch ein früheres Urteil aufhebe, kenne das deutsche Recht nicht. Schlosser 347 spricht sich für eine analoge Anwendung des § 580 Nr. 6 ZPO aus, um den Konflikt zwischen Leistungs- und Gestaltungsurteil zu lösen. Der innere Grund dieser Vorschrift liege darin, daß der Richter des zweiten Verfahrens an das erste Urteil gebunden gewesen sei. Er sei daher gezwungen gewesen, auf einer Entscheidungsgrundlage zu judizieren, die sich nach Rechtskraft des dritten Urteils als evident falsch erwiesen habe. Es sei aber gleich, ob der Richter des zweiten Verfahrens an ein Urteil oder an einen sonstigen Staatsakt gebunden sei. Daher sei die Interessenlage, die § 580 Nr. 6 ZPO unmittelbar zugrundeliegt mit der identisch, die besteht, wenn eine den Richter bindende Rechtslage in einem Gesetz bestehe und diese Rechtslage durch Gestaltungsklage rückwirkend beseitigt werde. Schlosser ist zu entgegnen, daß er den Anwendungsbereich des § 580 Nr. 6 ZPO durch die von ihm vorgenommene analoge Anwendung überdehnt. § 580

345

Büttner , ΖΖΡ 71 (1958), S. 1, S. 65; Pothoff, 2100, S. 2103 f.

JR 1950, S. 237, S. 239; Roquette , DR 1941, S.

346

Gaul, Wiederaufnahmerecht, S. 174 ff.; Gaul, FamRZ 1959, S. 334, S. 335 f.

347

Schlosser, Gestaltungsklagen, S. 258 ff.; zustimmend Legier, Diss., S. 139 ff.

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Teil 1: Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

Nr. 6 ZPO soll nicht alle Widersprüche beheben, die dadurch entstehen, daß ein späteres Urteil die Entscheidungsgrundlage einer früheren Entscheidung anders beurteilt oder in diese eingreift. Nach § 580 Nr. 6 ZPO findet die Restitution statt, wenn das erste Urteil, auf welches ein späteres Urteil gegründet ist, durch ein drittes rechtskräftiges Urteil aufgehoben wird. Um den Zweck des § 580 Nr. 6 ZPO zu erschließen, ist es hilfreich, sich den Ablauf der drei in dieser Vorschrift genannten Gerichtsverfahren vor Augen führen. Der Richter des zweiten Verfahrens vertraut auf die Richtigkeit der ersten Entscheidung. Deshalb übernimmt er aus dieser einzelne Teile in sein Urteil oder stützt die Begründung seiner eigenen Entscheidung durch Bezugnahme auf Teile des früheren Urteils. Diese Vorgehensweise ist berechtigt, da die rechtliche oder tatsächliche Frage, die den Richter beschäftigt, von einem Gericht schon beantwortet wurde und zwar in einem Verfahren, das dieselbe Richtigkeitsgewähr bietet, wie das vom entscheidenden Gericht durchgeführte Verfahren. Das Gericht des zweiten Verfahrens übernimmt die Beurteilung einer für sein Verfahren entscheidungserheblichen Frage so, wie das erste Urteil diese Frage beantwortete oder stützt seine eigene Beurteilung mit einem Hinweis auf die frühere Entscheidung. Das Gericht des Zweitverfahrens prüft und beantwortet diese vorgreif!iche Frage daher entweder nicht selbst, sondern ersetzt die eigene Entscheidung durch die des ersten Urteils. Oder die erste Entscheidung, deren Tenor oder Entscheidungsgründe, werden zur Begründung des eigenen Urteils angeführt. Wird das erste präjudizielle Urteil durch ein drittes Urteil rechtskräftig aufgehoben, entsteht in der zweiten Entscheidung ein Begründungsdefizit. Hebt die dritte Entscheidung das präjudizielle Urteil nur auf, ohne eine neue Entscheidung zu treffen, ist dies besonders augenfällig. Hatte das Gericht die Beurteilung einer Frage ohne eigene verbindliche Entscheidung aus dem früheren Urteil einfach übernommen, ist diese Frage niemals von einem Gericht beurteilt worden: das erste Urteil, das sich mit der Frage auseinandersetzte, wurde aufgehoben, das zweite Urteil hat die Frage selbst nicht entschieden. Hatte das Gericht die frühere Entscheidung zur Bestärkung seiner Begründung herangezogen, fällt mit deren Aufhebung ein Teil der Begründung seiner Entscheidung nachträglich weg, da das Gericht etwas zur Begründung anführt, was es nicht mehr gibt. Hebt die dritte Entscheidung das erste präjudizielle Urteil auf und trifft eine neue Entscheidung, wird gleichfalls ein Begründungsmangel des zweiten Urteils offenbar. Denn das Gericht des zweiten Verfahrens hat sein Urteil auf die aufgehobene erste Entscheidung gegründet. Die neue dritte Entscheidung ergeht nach der zweiten Entscheidung und konnte daher von dem Gericht des zweiten Verfahrens bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt werden. In dem zweiten Urteil wird daher zu seiner Begründung auf eine Entscheidung Bezug genommen, die es nicht mehr gibt. Dieses nachträglich entstandene Begründungsdefizit zu beheben, ist der Zweck des § 580 Nr. 6 ZPO. Diese Norm gibt dem Gericht die Möglichkeit, die Teile seiner Entscheidungsgründe, die auf der aufgehobenen Entscheidung

D. Beeinträchtigung des Geltungsanspruchs einesfrüheren Urteils

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beruhen, neu zu überdenken und dient damit dazu, eine nachträglich entstandene Lücke in der Begründung zu schließen. Ein Leistungsurteil, dem ein ex tunc wirkendes Gestaltungsurteil nachfolgt, hat aber alle für seine Entscheidung entscheidungserheblichen Fragen selbst beurteilt. Durch das nachfolgende Gestaltungsurteil entsteht in dem Leistungsurteil kein Begründungsmangel. Daher begründet das Gestaltungsurteil nicht die Restitution nach § 580 Nr. 6 ZPO. Dölle 3 4 8 hält eine Klage auf Rückzahlung von auf ein rechtskräftiges Unterhaltsurteil hin geleisteten Zahlungen für zulässig, wenn die Ehe nach dem Unterhaltsurteil rechtskräftig für nichtig erklärt wird. In dem Nichtigkeitsurteil sei ein Umstand zu sehen, der erst nach der letzten mündlichen Verhandlung des Unterhaltsprozesses entstanden sei. Daher sei das Rückzahlungsbegehren kein Angriff auf die rechtskräftige Feststellung der Zahlungsverpflichtung im Unterhaltsurteil, denn der die Rückzahlung Begehrende behaupte mit Recht, daß sich die materielle Rechtslage seit Erlaß des Unterhaltsurteils durch das rückwirkende Gestaltungsurteil geändert habe. Legier 349 knüpft bei seine Untersuchung des Falles, daß nach einem rechtskräftigen Unterhaltsurteil gegen den Scheinvater das Vaterschaftsanerkenntnis erfolgreich rechtskräftig angefochten wird und der Scheinvater Klage auf Rückzahlung des Unterhalts erhebt, an die Überlegungen Dölles an. Er vertritt die Auffassung, die Rückzahlungsklage stelle nicht das kontradiktorische Gegenteil des Unterhaltsurteils dar, da beide Klagen verschiedene Streitgegenstände hätten. Der Streitgegenstand bestimme sich nach Klageantrag und Lebenssachverhalt. Identität des vorgetragenen Sachverhalts sei dann nicht gegeben, wenn der Scheinvater im Rückzahlungsprozeß gegen das Kind sein Klagebegehren auf Tatsachen stütze, die zur Zeit des Unterhaltsprozesses noch nicht vorhanden gewesen seien, sich vielmehr erst später ereignet hätten und die den der früheren Unterhaltsklage zugrunde liegenden Sachverhalt in einem für die rechtliche Beurteilung möglicherweise erheblichen Umfang geändert hätten. In dem rückwirkenden Gestaltungsurteil sei ein Umstand zu sehen, der nach Rechtskraft des Unterhaltsurteils entstanden sei und der die Rechtslage hinsichtlich der Unterhaltsfrage rückwirkend ändere. Somit sei der Lebenssachverhalt, der der Unterhaltsklage zugrunde liegt, von dem Lebenssachverhalt, der der Rückzahlungsklage zugrunde liege, verschieden und führe auch zu einer anderen rechtlichen Beurteilung der Unterhaltsfrage für die Vergangenheit. Die Streitgegenstände beider Klagen seien daher verschieden. Die Überlegungen Leglers lassen sich auf alle Fallgestaltungen übertragen, in denen einem Leistungsurteil ein ex tunc wirkendes Gestaltungsurteil nachfolgt. Sie führen zur folgenden Lösung des Konflikts. Wurde eine Leistungsklage abge-

348

Dölle, DR 1943, S. 825, S. 827.

349

Legier, Diss., S. 72 ff.

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Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

wiesen, weil ein Rechtsverhältnis nicht bestand, das die Gestaltungsklage zum Entstehen bringt, kann erneut Klage auf Leistung ab dem Zeitpunkt des Entstehens des Rechtsverhältnisses erhoben werden. Leistungen, die auf ein Leistungsurteil hin erfolgten, können nach einem Gestaltungsurteil, das ein für den Leistungsprozeß entscheidungserhebliches Rechtsverhältnis rückwirkend vernichtet, zurückgefordert werden.

2. Ablehnung der Auffassung Leglers und eigene Ansicht Legier unterscheidet nicht genügend zwischen zwei eng zusammenhängenden Problemen, die Tatsachen aufwerfen, die nach der letzten Tatsachenverhandlung eines Zivilprozesses entstehen und die mit dem Klagegrund des schon rechtskräftig entschiedenen Prozesses im engen sachlichen Zusammenhang stehen. Aufgrund dieser Tatsachen kann eine erneute Klage mit demselben Klagebegehren, wie es Gegenstand des füheren Verfahrens war, einen von dem früheren Verfahren verschiedenen Streitgegenstand haben, da durch die veränderte Tatsachenbasis ein wesentlich neuer Lebenssachverhalt entsteht. Denkbar ist auch, daß die neuen Tatsachen keinen neuen Streitgegenstand begründen, sie aber außerhalb der zeitlichen Grenzen der materiellen Rechtskraft des früheren Urteils liegen und daher eine erneute und abweichende Beurteilung des früheren Klagebegehrens erlauben 350. Um herauszufinden, ob die neuen Tatsachen einen zum Vorprozeß neuen Streitgegenstand begründen, ist zu fragen, ob die später eintretenden Tatsachen zu dem Streitgegenstand des Vorprozesses gehört hätten, wenn sie zum Zeitpunkt des Vorprozesses vorgelegen hätten 351 . Bezogen auf die hier untersuchte Problematik ist daher der Streitgegenstand einer Leistungsklage, für die ein Rechtsverhältnis entscheidungserheblich ist und bei der das Rechtsverhältnis besteht, mit dem Streitgegenstand einer Leistungsklage zu vergleichen, bei der das Rechtsverhältnis nicht besteht. Geht man vom zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff aus 352 , sind die Streitgegenstände zweier Klagen identisch, wenn Klagebegehren und Klagegrund (= Lebenssachverhalt) identisch sind 353 . Da die Klagebegehren beider Klagen gleich sind, kommt es auf

350 Auf die Notwendigkeit die Frage, ob ein neuer Streitgegenstand durch neue Tatsachen begründet wird, von der Frage zu trennen, ob die Tatsachen außerhalb der zeitlichen Grenzen der Rechtskraft eines Urteils über denselben Streitgegenstand stehen, weisen hin: Grunsky, ZZP 76 (1963), S. 165, S. 167 f.; Stein/Jonas/Leipold 20, § 322 RN 238; Leipold, KLR 1990, S. 277, S. 283 ff.; Zeuner, Grenzen, S. 35. 351

Stein/Jonas/Leipold

20

, § 322 RN 238.

352

Ausführlich zu den verschiedenen Streitgegenstandsbegriffen: Habscheid, Schwab, S. 181. 353

Habscheid, Festschrift für Schwab, S. 181, S. 182 f.

Festschrift für

D. Beeinträchtigung des Geltungsanspruchs eines früheren Urteils

97

die Identität der Lebenssachverhalte an. Diese besteht, wenn die Tatsachen, auf die das Klagebegehren gestützt wird, bei lebensmäßiger, natürlicher Sicht im Hinblick auf das inhaltlich festgelegte Rechtsbegehren eine Einheit bilden 354 , wenn der im neuen Prozeß vorgebrachte Sachverhalt seinem Wesen nach sich von dem des Vorprozesses nicht unterscheidet. Die beiden Leistungsklagen stützen sich maßgeblich auf ein Rechtsverhältnis, aus dem sich die Leistungspflicht ergeben soll. Ob dieses Rechtsverhältnis besteht oder nicht besteht, kann die prozeßentscheidende Frage sein; der Lebenssachverhalt ist aber bei Bestehen und Nichtbestehen des Rechtsverhältnisses derselbe. Andernfalls hätte ein der Klage stattgebendes Urteil und ein die Klage abweisendes Urteil einen anderen Streitgegenstand, was ein offensichtlich unhaltbares Ergebnis ist. Beide Klagen, Leistungs- und Rückforderungsklage, haben daher denselben Streitgegenstand 355. Legier wäre aber im Ergebnis zuzustimmen, wenn die rückwirkende Änderung der Rechtslage durch Gestaltungsurteil von der materiellen Rechtskraft des Leistungsurteils nicht erfaßt ist. Wenn man trotz neu eingetretener, den alten Sachverhalt ergänzender Tatsachen die Übereinstimmung der Streitgegenstände bejaht, so gewinnt man die Möglichkeit, die Rechtskraft des Ersturteils nur insoweit durch die neuen Tatsachen zu begrenzen, als diese Tatsachen in Verbindung mit der rechtskräftigen Entscheidung zu einer Veränderung der Rechtslage führen. Nur soweit die neu eingetretenen Tatsachen die in der rechtskräftigen Entscheidung bejahten oder verneinten Tatbestandsmerkmale beeinflussen, ist eine erneute sachliche Prüfung und eine abweichende Entscheidung gestattet, während im übrigen die rechtskräftige Entscheidung ihre Verbindlichkeit behält 356 . Ändert sich die Rechtslage aufgrund neuer Tatsachen, bedeutet dies in der Regel, daß die Rechtslage vom Zeitpunkt der neuen Tatsachen an eine andere ist, daß aber das rechtskräftige Urteil für die Vergangenheit seine Verbindlichkeit behält. Anders ist dies, wenn an die neuen Tatsachen die Wirkung geknüpft ist, daß sie die Rechtslage rückwirkend auch für die Vergangenheit abändern. Der Berücksichtigung solcher Tatsachen scheint die materielle Rechtskraft entgegenzustehen, da ihre Beachtlichkeit zur Folge hätte, daß die Rechtslage eine andere wäre, als sie das rechtskräftige Urteil feststellte und zwar bezogen auf einen Zeitpunkt, der für die rechtskräftige Entscheidung maßgeblich war. Ruft man sich aber den inneren Grund für die zeitliche Begrenzung der materiellen Rechtskraft vor Augen, wird deutlich, daß in die

354

Habscheid, Festschrift für Schwab, S. 181, S. 188.

355

Ebenso Stein/Jonas/Leipold 20, § 322 RN 246; Leipold, KLR 1990, S. 277, S. 290 ff., der den Fall der nachträglichen Ausübung eines Gestaltungsrechts unter dem Gesichtspunkt der zeitlichen Grenzen der Rechtskraft behandelt. 356 Leipold, KLR 1990, S. 277, S. 284 f.; Stein/Jonas/Leipold 20, § 322 RN 247 ff.; ebenso: Grunsky, ZZP 76 (1963), S. 165, S. 167 f.; Zeuner, Grenzen, S. 35; BGH NJW 1984, S. 126, S. 127.

7 Lenenbach

98

Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

Rechtskraft des Urteils gar nicht eingegriffen wird. Das Gericht entscheidet mit Letztverbindlichkeit über den Prozeßstoff, der ihm zu einem bestimmten Zeitpunkt vorgelegt werden kann. Die Entscheidung des Gerichts kann sich aber nur auf objektiv gegebene Umstände beziehen. Spätere Änderungen der Rechtslage, auch wenn das materielle Recht die Änderung rückwirken läßt, lagen zur Zeit der Entscheidung des Gerichts objektiv nicht vor und werden daher von der Rechtskraft nicht erfaßt 357 . Die Rückwirkung der Änderung ist eine Fiktion des materiellen Rechts, die aber nichts daran ändert, daß die Rechtslage im Zeitpunkt der Urteilsfmdung eine andere war. Als Ergebnis bleibt festzuhalten, daß die durch das Gestaltungsurteil erfolgte rückwirkende Änderung der Rechtslage nicht durch die materielle Rechtskraft des früheren Leistungsurteils erfaßt wird. Der Streit, ob ein Gestaltungsrecht, das dem Beklagten zum Zeitpunkt des Vorprozesses schon objektiv zustand, das er aber dort noch nicht ausübte, nach der letzten Tatsachenverhandlung des Vorprozesses noch ausgeübt werden kann 358 oder ob die Ausübung präkludiert ist 359 , berührt die vorliegende Untersuchung nicht. Denn der Grund für die Annahme der Präklusion von durch private Willenserklärung auszuübende Gestaltungsrechte ist die Furcht vor Prozeßverschleppung: Ein Gestaltungsrecht, das der Beklagte im Vorprozeß ausüben kann, muß er auch ausüben. Dieser Gesichtspunkt trifft aber auf die durch Klage geltend zu machenden Gestaltungsrechte nicht zu, da diese nicht einfach durch Erklärung ausgeübt werden können 360 . Ergeht auf eine Leistungsklage ein ex tunc wirkendes Gestaltungsurteil, kann die Leistungsklage wiederholt werden, wenn sie abgewiesen wurde, weil das durch das Gestaltungsurteil gestaltete Rechtsverhältnis bestanden oder nicht bestanden habe. Das auf ein Leistungsurteil hin Geleistete kann zurückgefordert werden, da die Rechtsänderung durch das Gestaltungsurteil eine neue Tatsache ist, die die Rechtskraft des Leistungsurteil nicht erfaßt und die im Vorprozeß zu einer anderen Entscheidung geführt hätte, wenn sie damals vorgelegen hätte.

357

Leipold, KLR 1990, S. 277, S. 287 f.; Lent , DR 1942, S. 868, S. 869.

358

So Lent , DR 1942, S. 868 ff.; Leipold, KLR 1990, S. 277, S. 290 ff.; Stein/Jonas/Leipold § 322 RN 246; Stein/Jonas/Münzberg 20, § 767 RN 32 ff. 359 360

20

,

So BGHZ 24, S. 97, S. 98; 34, S. 274; 42, S. 37; NJW 1987, S. 1691.

Lent, OK 1942, S. 868, S. 872; Stein/Jonas/Münzberg klagen, S. 255 f.

20

, § 767 RN 34; Schlosser, Gestaltungs-

D. Beeinträchtigung des Geltungsanspruchs einesfrüheren Urteils

99

Gauls 361 Argumentation, § 79 BVerfGG enthalte einen allgemeinen Rechtsgedanken, der eine Restitution mit der Begründung ausschließe, ein Gestaltungsurteil habe einem Leistungsurteil mit Wirkung ex tunc den Rechtsboden entzogen, geht nach der hier gefundenen Lösung ins Leere, da eine Restitutionsklage nicht erforderlich ist, um den Konflikt beider Urteile zu lösen.

II. Früheres Leistungsurteil und späteres Feststellungsurteil Der Geltungsanspruch eines früheren Urteils kann auch durch ein späteres Feststellungsurteil angegriffen werden. Dies ist der Fall, wenn nach einer erster Entscheidung ein zweites Feststellungsurteil ergeht, das zum Streitgegenstand ein Rechtsverhältnis hat, das im ersten Verfahren eine entscheidungserhebliche Vorfrage darstellte. Das zweite Urteil entscheidet über das Bestehen oder Nichtbestehen des Rechtsverhältnisses entgegengesetzt zu der Beurteilung in den Entscheidungsgründen des ersten Urteils. Damit stellt die zweite Entscheidung nachträglich den Geltungsanspruch der ersten in Frage, da sie ausspricht, daß die erste Entscheidung das Rechtsverhältnis falsch beurteilt hat 362 . Wäre das Feststellungsurteil zuerst ergangen, hätten es wegen seiner materiellen Rechtskraft dazu geführt, daß in dem Leistungprozeß anders entschieden worden wäre. Es liegt in den Beispielsfällen zwar kein unmittelbarer Geltungskonflikt vor, da die Streitgegenstände der Klagen verschieden sind und die Entscheidungsgründe nicht in Rechtskraft erwachsen 363. Gaul 3 6 4 spricht deshalb richtigerweise davon; daß nicht Rechtskraft gegen Rechtskraft stehe, sondern Rechtskraft neben Rechtskraft. Das Spannungsverhältnis zwischen Leistungs- und Feststellungsurteil liegt aber auf der Hand. Das Problem, wie dieses Spannungsverhältnis zu lösen ist, hat Rechtsprechung und Lehre für den Fall beschäftigt, daß ein Unterhaltsurteil gegen einen Scheinvater erging und später im Statusprozeß mit Rechtskraftwirkung für und gegen alle festgestellt wurde, daß dieser nicht der Erzeuger des Kindes sei. Die Diskussion verstummte mit der Einfügung des § 644 ZPO a. F. 3 6 5 , der den Konflikt zwischen Unterhalts- und Vaterschaftsfeststellungsurteil zugunsten des letzteren löste. Das NEhelG 366 hob den § 644 ZPO a. F. zwar auf. Der dort geregelte Konflikt beschäftigte aber die Rechtswissenschaft deshalb nicht mehr, da nach § 1600 a S. 2 BGB vom

361

Gaul, Wiederaufnahmerecht, S. 214 f.

362

Zur Veranschaulichung dieser Problematik wird auf Teil 1 A II, Beispiele 3 und 4 verwiesen.

363

Daraufweisen hin: Dölle, DR 1943, S. 825, S. 826; Gaul, FamRZ 1959, S. 334, S. 335.

364

Gaul, FamRZ 1959, S. 334, S. 335.

365

In die ZPO eingefügt durch FamRÄndG von 1961, BGBl. I 1961, S. 1221.

366

NEhelG vom 19. 08. 1969, BGBl. I 1969, S. 1243.

100

Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

nichtehelichen Vater Unterhalt erst verlangt werden kann, wenn die Vaterschaft durch Anerkennung oder gerichtliche Entscheidung mit Wirkung für und gegen jedermann festgestellt wurde. Zur Lösung des Spannungsverhältnisses zwischen Leistungs- und Feststellungsurteil kann auf die vor Erlaß der § 644 ZPO a. F. gewonnenen Erkenntnisse zurückgegriffen werden, da das Verhältnis beider Urteile damals grundlegend untersucht wurde.

/. Urteil über eine Leistungsklage und Statusurteil mit Wirkung für und gegen jedermann Der Große Senat des RG 3 6 7 hat den Konflikt zwischen einem Unterhaltsurteil, das die Klage des Kindes gegen den Vater abwies, und einem Feststellungsurteil, das die Vaterschaft feststellte, zugunsten des Statusurteils gelöst; das Unterhaltsurteil trete mit Rechtskraft des Statusurteils außer Kraft. Das RG 3 6 8 führt zur Begründung aus: Die Lösung des Konflikts "läßt sich nicht aus positiven Gesetzesbestimmungen herleiten. [...] Die dem Statusurteil gesetzlich beigelegte Wirkung für und gegen alle hat ein grundsätzlich anderes Wesen [ergänze: als die Rechtskraft ernes gewöhnlichen, inter partes wirkenden Urteils]. Sie enthält nicht nur die Bindung des später erneut mit derselben Frage befaßten Richters, sondern greift unmittelbar in die sachliche Ordnung der Gemeinschaftsverhältnisse ein. Wenn auch den feststellenden Statusurteilen [...] nicht die Wirkung zukommt, daß sie bestehende sachlichrechtliche Verhältnisse unmittelbar rechtsgestaltend ändern, so haben doch auch sie eine gewisse rechtsgestaltende Wirkung insofern, als durch sie ein Zustand der Ungewißheit, der es gestattete, das Statusverhältnis jeweils im Verhältnis zweier streitender Parteien in dem einen oder anderen Sinne zu entscheiden, nunmehr endgültig behoben und durch eine von niemandem mehr angreifbare Gewißheit abgelöst wird. Vom Zeitpunkt der Rechtskraft des Statusurteils an ist eine abweichende Beurteilung des Statusverhältnisses somit schlechthin ausgeschlossen [... ergänze: und ein früheres Unterhaltsurteil] wird durch die stärkere Wirkung der Entscheidung im Statusverfahren außer Kraft gesetzt." Das RG stützt die derogierende Kraft des Statusurteils auf zwei Gründe: die gewisse rechtsgestaltende Wirkung des Statusurteils und die stärkere Wirkung einer inter omnes wirkenden Entscheidung gegenüber einer nur zwischen den Parteien

367

RGZ 169, S. 129; bestätigt in RGZ 170, S. 252, S. 254.

368

RGZ 169, S. 129, S. 130 f.

D. Beeinträchtigung des Geltungsanspruchs eines früheren Urteils

101

wirkenden Entscheidung. Der ersten These des RG hat Dölle 3 6 9 zutreffend entgegnet, das Statusurteil sei ein Feststellungsurteil, dessen Wirkung sich in der rechtskräftigen Feststellung eines Rechtsverhältnisses erschöpfe, das aber nicht wie Gestaltungsurteile die Rechtslage ändere. Das RG verwische damit die Grenzen zwischen Feststellungs- und Gestaltungsurteilen. Auch sei die Umschreibung, die das RG 3 7 0 für die gewisse rechtsgestaltende Wirkung des Statusurteils gibt, nichts anderes als die Beschreibung des Wesens der materiellen Rechtskraft. Denn die materielle Rechtskraft behebe endgültig den Zustand der Ungewißheit und löse ihn durch eine nicht angreifbare Gewißheit ab. Ein Statusurteil wirkt zwar Rechtskraft für und gegen alle. Daraus folgt aber keine ihrem Wesen nach andersartige, insbesondere keine rechtsgestaltende Wirkung 371 . Aber selbst wenn man einem Statusurteil eine die materielle Rechtslage gestaltende Wirkung geben würde, entsprechend einem ex tunc wirkenden Gestaltungsurteil, führt diese Gestaltungswirkung nicht zur Außerkraftsetzung des Leistungsurteils 372 . Ein rechtskräftiges, rückwirkendes Gestaltungsurteil ist ein neuer Umstand, der außerhalb der zeitlichen Grenzen liegt, die die materielle Rechtskraft des Leistungsurteils erfaßt. Ein Gestaltungsurteil macht daher ein früheres Leistungsurteil nicht rückwirkend falsch, sondern läßt es völlig unberührt. Zudem ändert ein Gestaltungsurteil nur die materielle Rechtslage und hebt nicht ein früheres Leistungsurteil auf. Auch die zweite These des RG - stärkere Wirkung des Statusurteils - läßt sich nicht halten. Statusurteile wirken nach den §§ 636a, 638 S. 2,640h, 641k ZPO für und gegen alle. Damit ist aber keine stärkere Wirkung im Vergleich zu inter partes Rechtskraft wirkenden Urteilen gemeint. Mit der Wirkung für und gegen alle ordnen die entsprechenden Normen die Erstreckung der Rechtskraft für und gegen jedermann an 373 . Die Vorschriften regeln lediglich die subjektiven Grenzen der materiellen Rechtskraft und nicht eine andersartige und stärkere Rechtskraftwirkung 374 . Die Rechtskraftwirkung von inter omnes wirkenden Urteilen ist daher breiter und nicht stärker als die von inter partes wirkenden Entscheidungen.

369

Dölle, DR 1943, S. 825, S. 827; ebenso: Gaul, FamRZ 1959, S. 334, S. 335; BGH NJW 1953, S. 1545. 370

RGZ 169, S. 129, S. 131.

371

Dölle, DR 1943, S. 825, S. 827.

372

So aber Pothoff,

373

Stein/Jonas/Leipold

374

JR 1950, S. 237, S. 239. 20

, § 325 RN 66.

Dölle, DR 1943, S. 825, S. 826 f.; Gaul, Wiederaufnahmerecht, S. 178 ff.; Gaul, FamRZ 1959, S. 334, S. 337 f.

Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

102

Im Konflikt eines Urteils, das zur Herausgabe eines Kindes verurteilte, und einem Statusurteil, das eine Ehelichkeitserklärung für nichtig erklärte, von dessen Gültigkeit das Herausgabeurteil ausging, geht nach dem RG 3 7 5 das Statusurteil vor. Das im Familienstandsprozeß ergangene Urteil wirke gemäß § 643 ZPO a. F., heute § 640h ZPO, für und gegen alle und auch für und gegen die Parteien des Herausgabeprozesses. § 643 ZPO a. F. erstrecke nicht nur die Rechtskraftwirkung über die Parteien des Familienstandsprozesses hinaus auf jedermann. Eine solch enge Auslegung werde der Bedeutung der Worte "für und gegen alle" nicht gerecht und verkenne die Tragweite, die das Gesetz im öffentlichen Interesse einem im Familienstandsprozeß unter Ausschluß des Verhandlungsgrundsatzes und unter Mitwirkung des Staatsanwaltes, also unter besonderen Schutzmaßnahmen für die Wahrheitsermittlung ergehenden Urteil beilege. Schwab376 stimmt dieser reichsgerichtlichen Entscheidung zu. Roquette 377 folgert den Vorrang des Statusurteils aus dessen allgemeinverbindlicher Kraft, die die Rechtskraft eines nur zwischen Parteien wirkenden Urteils verdränge. Potthof 378 schließt aus der in § 643 ZPO a. F. verorteten Wirkung eines Statusurteils für und gegen alle, die etwas anderes sei als bloße Rechtskrafterstreckung, daß das Statusurteil einem Leistungsurteil vorgehe. Es wurde gerade dargelegt, daß das Gesetz, wenn es die Formulierung "für und gegen alle" gebraucht, lediglich die Rechtskraft auf jedermann erstreckt und Urteilen mit Rechtskraftwirkung inter omnes keine Aufhebungswirkung für ihnen widersprechende inter partes wirkende Urteile zukommt 379 . Der Hinweis der RG, diese Auslegung werde den Worten "für und gegen alle" nicht gerecht, ist eine bloße Behauptung, die zudem dem Wortsinn widerspricht, da in den Worten "für und gegen alle" auch philologisch der personale Bezug zum Ausdruck kommt 3 8 0 . Der Ausschluß der Verhandlungsmaxime und die Mitwirkung des Staatsanwaltes im Statusverfahren bilden den Legitimationsgrund für die Rechtskrafterstreckung. Sie können daher nicht als Argument für eine verdrängende Wirkung des Statusurteils herangezogen werden 381 .

375

RGZ 122, S. 24; angedeutet schon in JW 1916, S. 1337; bestätigt durch RGZ 125, S. 265, S. 266.

376

Schwab, JZ 1954, S. 273, S. 276; ders., NJW 1956, S. 649, S. 651 f.

377

Roquette, DR 1941, S. 2100, S. 2103 f.

378

Pothoff,

JR 1950, S. 237, S. 238 f.

379

Dölle, DR 1943, S. 825, S. 826 f.; Gaul, Wiederaufnahmerecht, S. 178ff.; Gaul, FamRZ 1959, S. 334, S. 337 f.; Pohle, FamRZ 1957, S. 436. 380

Gaul, FamRZ 1959, S. 334, S. 337.

381

Büttner, ZZP 71 (1958), S. 1, S. 61; Gaul, FamRZ 1959, S. 334, S. 337.

D. Beeinträchtigung des Geltungsanspruchs eines früheren Urteils

103

Büttner 382 sieht den Schlüssel zur Lösung des Widerstreits zwischen Leistungsund Statusurteil in der Ordnungsaufgabe, die der Status erfülle, und in § 643 ZPO a. F.. Als Ordnungsmittel solle der Status einen Komplex personenrechtlicher Beziehungen zusammenhalten. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, müsse der Status mit Wirkung für und gegen alle festgestellt werden, denn es würde Unordnung herrschen, wenn dasselbe Statusverhältnis im Verhältnis zu verschiedenen Personen unterschiedlich festgestellt würde. Dies wolle § 643 ZPO a. F. verhindern. Auch die Rechtskraft sei ein Ordnungsmittel. Gerate die Rechtskraftordnung und die Statusordnung in Konflikt, müsse die Statusordnung vorgehen, denn die Rechtskraft würde ihrer Ordnungsaufgabe widerstreben, wenn sich die Feststellung einer einzelnen Folge aus dem Statusverhältnis gegenüber der entgegengesetzten Feststellung des alle Rechtsfolgen umfassenden Statusverhältnisses durchsetzen könnte. Gaul 383 entgegnet Büttner zurecht, wenn er gegen das Leistungsurteil vorbringe, es widerspreche der materiell-rechtlichen Statusordnung, bedeute dies nichts anderes, als das Urteil deshalb für ungültig zu erklären, weil es gegen das materielle Recht verstoße. Der bloße Widerspruch zum materiellen Recht erschüttere aber niemals die materielle Rechtskraft eines Urteils, vielmehr sei die Rechtskraft gerade dazu da, auch den Bestand unrichtiger Urteile zu schützen. Richtig ist an Büttners Argumentation, daß § 643 ZPO a. F. die unterschiedliche Beurteilung des Statusverhältnisses im Verhältnis zwischen verschiedenen Personen verhindern will. Deshalb ordnet § 643 ZPO a. F. eine Rechtskrafterstreckung für und gegen alle an. § 643 ZPO a. F. ist damit eine Rechtskraftnorm, deren Geltungskraft nicht über die Wirkungen hinausgeht, die der materiellen Rechtskraft auch sonst zukommen 384 , die insbesondere nicht ein früheres Leistungsurteil verdrängt. Wenn Büttner ausführt, die Rechtskraft widerstreite ihrer Ordnungsaufgabe, wenn sich die Feststellung einer einzelnen Folge aus dem Statusverhältnis gegenüber der Feststellung des alle Folgen umfassenden Statusverhältnisses durchsetzen würde, ist dies nichts anderes als eine petitio principii 385 : Die Rechtskraft des Leistungsurteils widerspricht ihrer Ordnungsaufgabe, weil sie dem Statusurteil widerspricht oder anders ausgedrückt, das Statusurteil gehe dem Leistungsurteil vor, weil das Leistungsurteil dem Statusurteil widerspreche.

382

Büttner, ZZP 71 (1958), S. 1, S. 62 ff.

383

Gaul, FamRZ 1959, S. 334, S. 338.

384

Gaul, FamRZ 1959, S. 334, S. 338.

385

Gaul, FamRZ 1959, S. 334, S. 339.

104

1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

Lewald 386 sieht in dem späteren Statusurteil einen Restitutionsgrund nach § 580 Nr. 7b ZPO analog gegen das Leistungsurteil, also eine Urkunde, die nachweist, daß der Status schon zur Zeit des Leistungsprozesses so bestanden habe, wie im Statusurteil festgestellt. Der Grund, warum das Auffinden einer Urkunde die Restitution eröffnet, ist die den Urkunden typischerweise zukommende formelle Beweiskraft 387 . Andere Beweismittel haben zwar im Einzelfall besondere Beweiskraft, aber keine generell gesteigerte Beweisqualität. Feststellungen im Urteil stellen daher nur insoweit einen Restitutionsgrund gemäß § 580 Nr. 7b ZPO dar, als als sie von der formellen Beweiskraft des Urteils erfaßt werden. Sonstige Feststellungen von Tatsachen in den Entscheidungsgründen oder im Tatbestand bilden keinen Restitutionsgrund gemäß § 580 Nr. 7b ZPO. Denn die dort enthaltenen Ausführungen zum tatsächlichen Geschehen sind die Wiedergabe von Parteivorbringen, Zeugenaussagen, Sachverständigengutachten und Augenscheinseinnahmen. Würde man das Urteil als Restitutionsgrund für alle in ihm angeführten Tatsachen gelten lassen, würden alle ihm zugrunde liegenden Beweismittel zum Restitutionsgrund erhoben. Dies widerspricht aber der Begrenzung der Beweismittelrestitution nach § 580 Nr. 7b ZPO auf den Urkundenbeweis 388. Daher scheidet auch eine analoge Anwendung des § 580 Nr. 7b ZPO hinsichtlich im Urteil festgestellter Tatsachen aus. Da das Statusurteil urkundlich nur beweist, daß das Gericht ausgesprochen hat, daß der Status besteht oder nicht besteht, nicht aber, daß der Status zur Zeit des Leistungsprozesses bestand oder nicht bestand, bildet das Statusurteil keinen Restitutionsgrund nach § 580 Nr. 7b ZPO 3 8 9 .

2. Eigene Lösung: Fortbestehen des Konfliktes Da alle bisherigen Lösungsvorschläge nicht überzeugen, scheint die Ansicht des BGH 3 9 0 die richtige zu sein: der Konflikt zwischen Leistungs- und Statusurteil beziehungsweise zwischen Leistungs- und Feststellungsurteil bleibt unauflösbar fortbestehen. Der Grund für das Bestreben der Lehre und des RG dem Statusurteil den Vorrang einzuräumen, ist das Streben nach Gerechtigkeit im Einzelfall und Billigkeitserwägungen. Denn "nicht nur die Laien, sondern auch die meisten Juristen mißbilligen es, wenn ein zur Unterhaltsleistung verurteilter Mann

386

Lewald, NJW 1952, S. 935; Stein/Jonas/Schönke

18

, § 644 Anm. V 7.

387

Gaul, Wiederaufnahmerecht, S. 81 f.; Johannsen, Festschrift für 45. DJT, S. 81, S. 98; BGHZ 65, S. 300, S. 301; 80, S. 389, S. 395. 388

BGH NJW 1953, S. 1545, S. 1545 f.

389

Gaul, FamRZ 1959, S. 334, S. 341; Legier, Diss., S. 108 ff./l 12.

390

BGH NJW 1953, S. 1545; FamRZ 1958, S. 455.

D. Beeinträchtigung des Geltungsanspruchs eines früheren Urteils

105

weiterzahlen muß, obwohl ihm ein Statusurteil bescheinigt, daß er nicht der Vater ist, oder wenn umgekehrt ein im Unterhaltsprozeß unterlegenes Kind, das im nachfolgenden Statusstreit obsiegt, gleichwohl keinen Unterhalt erlangen kann". 391 Was aber bei allen dargestellten Auffassungen stört, ist nicht so sehr das Ergebnis 392 , sondern die Begründungen, die zu seiner Rechtfertigung gegeben werden. Dölle 3 9 3 kann daher nur zugestimmt werden, wenn er ausführt: "Es soll also nicht bestritten werden, daß auch im Bereich der Rechtskraftproblematik die Spannung zwischen der Bindung durch die Norm und dem Drang nach Verwirklichung der Rechtsidee zu groß werden kann. Und man darf hinzufügen, daß in solchen Fällen die Befolgung der Regel mit ihrer Erschütterung des Rechtsgefühls dem Gemeinwohl abträglicher sein würde als ihre Außerachtlassung. Die Frage, wann im konkreten Fall die Grenze der Normtreue erreicht ist, gehört zu den ewigen Problemen des Rechts, für deren Lösung eine rationale Formel nicht gefunden ist und nicht gefunden werden wird. Wichtig ist aber, daß das Entscheidungsorgan, das den Entschluß faßt, sich von der Regel freizumachen, dies klar bekennt und nicht den Schein erweckt, als sei ihr Urteil das Ergebnis rechtslogischer Deduktion aus geltenden Rechtssätzen." Hält man es aus Billigkeitsgründen für angebracht, ausnahmsweise die Rechtskraft eines Leistungsurteils zugunsten des Ergebnisses eines Status- oder Feststellungsprozesses zu durchbrechen, sollte man dies im Geiste Dölles klar bekennen und nicht durch Scheinargumente zu begründen versuchen, das Ergebnis lasse sich aus positiven Rechtssätzen ableiten. Es gilt somit zu klären, ob und in welchem Umfang die Rechtskraft des früheren Urteils zurücktritt, wenn ein späteres Feststellungsurteil ein im Leistungsprozeß vorgreifliches Rechtsverhältnis vom Urteil des Leistungsprozesses abweichend beurteilt. Dabei ist zu beachten, daß die Rechtskraft das Rechtsinstitut ist, das primär die privaten Rechte der Parteien schützt und Rechtsgewißheit zwischen den Parteien schafft. In zweiter Linie verhindert die Rechtskraft die wiederholte Inanspruchnahme der Gerichte und schafft Rechtsfriede in der Gemeinschaft 394. Ergeht ein rechtskräftiges Urteil und stellt sich nachher heraus, daß es fehlerhaft ist, verhindert die Rechtskraft einen Angriff auf das Urteil mit der Begründung, es sei falsch. Fehler des Urteils können nach Rechtskraft in der Rechtsordnung mit Beachtlichkeit nicht mehr geltend gemacht

391 So zurecht Büttner, ZZP 71 (1958), S. 1, S. 54 f.; ähnlich Schwab, JZ 1954, S. 273 und LG Deggendorf ¥amRZ 1957, S. 178, S. 180. 392 Auch Dölle, DR 1943, S. 825, S. 829 FN 12a betont ausdrücklich, daß er das Ergebnis von RGZ 169, S. 129 gutheißt. 393

Dölle, DR 1943, S. 825, S. 828.

394

Stein/Jonas/Leipold

20

, § 322 RN 30 ff.; vgl. auch oben Teil 1 Β VII 1 a.

106

Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

werden, sie werden von der Rechtskraft geheilt. Im Widerstreit zwischen der zeitlich unbegrenzten Suche nach dem richtigen Urteil und der Notwendigkeit, daß jeder Rechtsstreit einmal zu Ende sein muß, ist die Rechtskraft das Institut, das den Zeitpunkt bestimmt, ab dem die Werte der Rechtsgewißheit und Rechtsklarheit dem Streben nach Gerechtigkeit im Einzelfall vorgehen 395 . Diese gesetzgeberische Entscheidung muß man sich vor Augen halten, wenn man in Fällen, die als extreme Ungerechtigkeit empfunden werden, die Rechtskraft aus Gründen der Einzelfallgerechtigkeit für außer Kraft gesetzt erklären will. Im Falle eines Unterhaltsurteils und eines späteren Urteils, das entgegen dem Unterhaltsurteil die Abstammung feststellt, ist das Empfinden, die Rechtskraft führe zu unhaltbaren Ergebnissen, besonders stark. Daß der zu Unterhalt Verurteilte weiterzahlen soll beziehungsweise das mit seiner Unterhaltsklage abgewiesene Kind nicht erneut klagen können soll, obwohl rechtskräftig festgestellt wurde, daß der Verurteilte nicht der Erzeuger des Kindes ist beziehungsweise daß das Kind von ihm abstammt, ist schwer mit dem Gerechtigkeitsempfinden zu vereinbaren. Daher wurde auch nur im Konflikt zwischen Leistungs- und Statusurteil die Auffassung vertreten, das Leistungsurteil müsse zurücktreten. Ein Grund für diese Ansicht ist in der Dauerverpflichtung zu sehen, die ein Leistungsurteil ausspricht, das einen Status zur Voraussetzung der Leistungspflicht hat. Es berührt den Gerechtigkeitssinn mehr, wenn jemand Monat ftir Monat Kindesunterhalt zahlen soll, obwohl feststeht, daß er nicht der Vater ist, als wenn er zu einer einmaligen Leistung verurteilt wurde. Geht man aber mit der vorliegend vertretenen Ansicht davon aus, daß einem inter omnes wirkenden Statusurteil keine stärkere Wirkung zukommt als einem sonstigen Feststellungsurteil, ist der Konflikt in beiden Fallgruppen der gleiche. Es ergeht ein Urteil auf eine Leistungsklage hin und danach ein Feststellungsurteil, das ein für den Leistungsprozeß vorgreifliches Rechtsverhältnis rechtskräftig anders beurteilt, als die Entscheidungsgründe des Urteils im Leistungsprozeß 396. Daher ist der Widerstreit zwischen einem Urteil auf eine Leistungsklage hin und einem Feststellungsurteil in allen Fallgestaltungen nach den gleichen Grundsätzen zu lösen. Zur Auflösung dieses Konfliktes gibt es zwei verschiedene Begründungsansätze. Man kann versuchen, den Konflikt beider Urteile mit Hilfe allgemeiner, an Objekte Grundsätze anknüpfende Überlegungen zu beheben. Dieser Weg wird

395 396

Rosenberg/Schwab/Gottwald

15

, § 1511, S. 915; Stein/Jonas/Leipold

10

, § 322 RN 31 f.

Auf die Gleichartigkeit des Spannungsverhältnisses weisen hin: Dölle, DR 1943, S. 825, S. 826/ 828; Schwab, JZ 1954, S. 273, S. 275.

D. Beeinträchtigung des Geltungsanspruchs einesfrüheren Urteils

107

überwiegend beschritten, ist aber nicht überzeugend 397. Wenn man den Konflikt zwischen Leistungs- und späterem Feststellungsurteil mittels eines Rückgriffs auf allgemeine Grundsätze lösen will, sollte man im Geiste Dölles klar bekennen, daß man in diesem Sonderfall der Einzelfallgerechtigkeit Vorrang vor den Werten einräumt, die die materielle Rechtskraft verkörpert. Dies überzeugt mehr, als auf die stärkere Wirkung des Statusurteils oder seine Wirkung für und gegen alle, die das Leistungsurteil verdrängen soll, abzustellen. Zwar sind auch die Rechtsordnung und öffentliche Interessen von dem Spannungsverhältnis zwischen Leistungs- und Feststellungsurteil betroffen. In erster Linie spüren aber die Parteien der beiden Prozesse die widersprüchliche Rechtslage. Für den im Leistungsprozeß Unterlegenen ist es ebenso unverständlich, daß er nicht erneut klagen darf, wenn rechtskräftig feststeht, daß das streitige Rechtsverhältnis im Leistungsprozeß falsch beurteilt wurde, wie für den zur Leistung Verurteilten, daß er trotz des Feststellungsurteils leisten soll. Daher kommt als zweiter Ansatzpunkt, nach einer Lösung des Konfliktes zu suchen, das Verhältnis zwischen den Parteien in Betracht. In Situationen, "in denen die Spannung zwischen der Bindung an eine Norm und dem Drang nach Verwirklichung der Rechtsidee"398 im Rechtsverhältnis zweier Personen zu groß wird, bietet sich ein Rückgriff auf den Grundsatz von Treu und Glauben an. Es gilt daher die Frage zu beantworten, ob es in solchem Maße treuwidrig ist, sich nach Rechtskraft des Feststellungsurteils auf die materielle Rechtskraft des Leistungsurteils zu berufen, daß die Rechtskraft des Leistungsurteils zurücktreten muß. Es ließe sich vertreten, daß es dem Sieger des Leistungsprozesses nach Treu und Glauben verwehrt sei, sich nach der Rechtskraft des rechtskräftigen Feststellungsurteil auf das Leistungsurteil zu berufen. Mit dem Feststellungsurteil würde eine Einwendung aus § 242 BGB entstehen, die von der Rechtskraft des Urteils im Leistungsprozeß nicht erfaßt wäre 399 . Der im Leistungsprozeß Unterlegene könnte dann erneut klagen. Auf die materielle Rechtskraft eines die Leistung zusprechenden Urteils kann sich der Sieger nicht mehr berufen und eine Vollstreckung aus dem Urteil ist mit Rechtskraft des Feststellungsurteils nicht mehr zulässig. Die Einwendung gegen den rechtskräftig festgestellten Anspruch gemäß § 767 ZPO wäre, wie Gaul 400 zu Recht betont, nicht das Feststellungsurteil selbst401, da dieses den Anspruch unberührt läßt, sondern der Einwand aus § 242 BGB.

397

Zu den vertretenen Auffassungen und ihrer Ablehnung vergleiche oben Teil 1 D II 1.

398

Dölle, DR 1943, S. 825, S. 828.

399

Ebenso mit leicht abweichender Begründung: LG Deggendorf FamRZ 1957, S. 178.

400

Gaul, Wiederaufnahmerecht, S. 185.

401

So aber: Rosenberg. ZPR 7 , § 162 I 1 d , S. 789; Jauernig, NJW 1957, S. 1391, S. 1392.

108

Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

Gleichgültig, ob man versucht, den Konflikt zwischen dem Urteil im Leistungsprozeß und dem Feststellungsurteil mit Hilfe objektiver Erwägungen oder im Verhältnis der Parteien zueinander zu lösen, die entscheidende Frage ist dieselbe: Warum soll die Rechtskraft des Leistungsurteils aus Gründen der Einzelfallgerechtigkeit ausnahmsweise zurücktreten, wenn ein späteres Feststellungsurteil ein Rechtsverhältnis anders feststellt, als es in den Entscheidungsgründen des Leistungsurteils beurteilt wurde? Allein der Umstand, daß das Feststellungsurteil die Fehlerhaftigkeit des Urteils im Leistungsprozeß aufzeigt, reicht als Begründung nicht aus. Denn zum einen hat die Rechtskraft gerade die Wirkung, Fehler bei der Entscheidungsfindung zu heilen. Zum anderen enthält die ZPO mit der Nichtigkeits- und Restitutionsklage Rechtsbehelfe, die grundsätzlich abschließend402 die Fälle aufzählen, in denen nach Rechtskraft entdeckte Fehler eines Urteils gegen das Urteil ausnahmsweise noch vorgebracht werden können 403 . Einer der Fälle der §§ 579, 580 ZPO liegt aber nicht vor. Man könnte argumentieren, der Angriff auf die Rechtskraft des Urteils im Leistungsprozeß erlange eine andere Qualität, wenn ein zweites rechtskräftiges Urteil den Angriff bestätigt. Der Sieger des Feststellungsprozesses behaupte dann nicht nur, das Urteil im Leistungsprozeß sei falsch. Sein Angriff gegen die Richtigkeit sei vielmehr mit der Stoßkraft der Letztverbindlichkeit des rechtskräftigen Feststellungsurteils ausgestattet. Aber auch diese Sichtweise überzeugt nicht so recht. Denn die für die Beurteilung des Rechtsverhältnisses maßgeblichen Tatsachen bestanden zur Zeit des Leistungsprozesses in derselben Art und Weise wie im Zeitpunkt des Feststellungsprozesses. Das Feststellungsurteil stellt keine neue Tatsache dar, die außerhalb der zeitlichen Grenzen der Rechtskraft des Urteils im Leistungsprozeß liegt, sondern nur eine andere rechtliche Beurteilung des vorgreiflichen Rechtsverhältnisses. Die fehlerheilende Kraft der materiellen Rechtskraft muß aber gerade dann eingreifen, wenn die Richtigkeit des fehlerhaften Judikats nach Rechtskraft angegriffen wird. Grundsätzlich ist dieser Angriff unbeachtlich, gleich welche Beweise zum Nachweis der Unrichtigkeit des angegriffenen Urteils dargeboten werden. Nur wenn ein Wiederaufnahmegrund vorliegt, sieht die Zivilprozeßordnung eine Durchbrechung der Rechtskraft wegen nachträglicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils vor. Das Feststellungsurteil ist aber kein Wiederaufnahmegrund. Will man das Feststellungsurteil als Grund ansehen, dem Urteil im Leistungsprozeß eine Grenze zu setzen, bleibt nach der vorliegend vertretenen Ansicht nur die Möglichkeit, sich auf den Ausnahmecharakter dieses Konfliktes zu berufen

402 Die Frage, ob eine Rechtskrafdurchbrechung mittels einer Klage nach § 826 BGB neben einer Wiederaufnahmeklage zulässig ist, ist vorliegend nicht von Interesse. 405

Stein/Jonas/Leipold

10

, § 322 RN 277 ff.

D. Beeinträchtigung des Geltungsanspruchs eines früheren Urteils

109

und zu bekennen, daß man aus Gründen der Einzelfallgerechtigkeit dem Feststellungsurteil den Vorrang einräumt. Geht man so vor, sollte man mit Dölle 404 klar feststellen, daß man sich in einem Grenzbereich befindet, in dem die Frage, wann die Grenze der Normtreue erreicht ist, nicht mittels rechtslogischer Deduktion aus geltenden Rechtssätzen beantwortet werden kann, sondern der einzelne Rechtsanwender für sich entscheiden muß, ob sein Gerechtigkeitsgefühl ein Durchbrechen der Norm fordert. Allein die von den Entscheidungsgründen des Urteils im Leistungsprozeß abweichende rechtskräftige Feststellung des Rechtsverhältnisses rechtfertigt keine im Gesetz nicht vorgesehene Durchbrechung der Rechtskraft. Der Konflikt läßt sich mit den in der ZPO vorhandenen Möglichkeiten interessengerecht lösen. Beruht die abweichende Beurteilung des Rechtsverhältnisses auf verschiedenen Rechtsauffassungen der Gerichte, realisiert sich eine Gefahr, der jeder Rechtssuchende ausgesetzt ist und die keine Besonderheit der vorliegend untersuchten Fallgestaltung darstellt. Ob diese unterschiedlichen Meinungen der Gerichte in den Entscheidungsgründen zweier Entscheidungen oder im Tenor ausgesprochen werden, kann nur dann einen Unterschied machen, wenn der materiellen Rechtskraft des späteren Urteils eine das frühere Urteil verdrängende Kraft zukäme. Dies ist aber gerade nicht der Fall 405 . Kommt das Feststellungsurteil zu einem anderen Ergebnis, weil ihm andere Tatsachen oder Beweismittel hinsichtlich des Rechtsverhältnisses vorgelegen haben, als dies im Leistungsprozeß der Fall war, ist danach zu unterscheiden, ob es sich um alte oder neue Tatsachen handelt. Treten Tatsachen auf, die im Leistungsprozeß noch nicht bestanden, liegen diese außerhalb der Rechtskraft des Leistungsurteils und sind daher durch dessen Rechtskraft nicht präkludiert. Der im Leistungsprozeß Verurteilte kann daher eine Vollstreckungsgegenklage (§ 767 ZPO) auf diese Tatsachen stützen, der mit seiner Klage abgewiesene Kläger kann erneut klagen. War im Zeitpunkt des Urteils im Leistungsprozeß und des Urteils im Feststellungsprozeß das gleiche Tatsachenmaterial objektiv vorhanden, bleibt der Konflikt zwischen beiden Urteilen bestehen; auch wenn die Tatsachen dem im Leistungsprozeß Unterlegenen unverschuldet unbekannt waren. Denn die Wirkung der materiellen Rechtskraft besteht gerade darin, daß das Urteil nicht mit der Begründung angegriffen werden kann, eine Partei habe ihr günstige Tatsachen nicht gekannt, wenn diese Tatsachen vor der letzten mündlichen Verhandlung schon vorlagen 406 . Dies mag ungerecht erscheinen, ist aber als gesetzgeberische Entscheidung hinzunehmen. Nur mit Hilfe der Restitutionsklage kann das Urteil

404

Dölle, DR 1943, S. 825, S. 828.

405

Vgl. oben Teil 1 DU 1.

406

Rosenberg/Schwab/Gottwald

15

, § 155 II 1, S. 932 ff.

110

Teil 1 : Unvereinbarkeiten zwischen deutschen Zivilurteilen

im Leistungsprozeß mit der Behauptung angegriffen werden, eine Partei möchte ein Versäumnis nachholen. Aber auch das ist nur in sehr begrenztem Maße möglich. Eine Durchbrechung der Rechtskraft kommt nach § 580 Nr. 7b ZPO nur in Betracht, wenn neue Urkunden aufgefunden wurden, die zum Zeitpunkt des Leistungsprozesses schon vorhanden waren, der Partei aber nicht vorlagen. Die Restitutionsklage ist aber nur zulässig, wenn es der Partei im Leistungsprozeß unverschuldet unmöglich war, die Urkunde vorzulegen (§ 582 ZPO). Das Auffinden sonstiger Beweismittel und das verschuldete Nichtvorlegen von Urkunden rechtfertigen dagegen keine Wiederaufnahme des rechtskräftig beendeten Leistungsprozesses. Der das Gerechtigkeitsempfinden am schwersten berührende Konflikt zwischen einem Unterhaltsurteil und einem Abstammungsurteil ist nach der heutigen Rechtslage gelöst. Da nach § 1600a S. 2 BGB die Rechtswirkungen der nichtehelichen Vaterschaft erst geltend gemacht werden können, wenn die Vaterschaft anerkannt oder durch Urteil festgestellt ist, kann kein Unterhaltsurteil gegen den nichtehelichen Vater ergehen, wenn nicht dessen Vaterschaft festgestellt ist. Ein Konflikt zwischen Abstammungs- und Unterhaltsurteil kann nur auftreten, wenn das Vaterschaftsurteil in einem Wiederaufnahmeverfahren aufgehoben wird. Beruht die Aufhebung auf einer Restitutionsklage nach § 64 I i ZPO, da ein neues Abstammungsgutachten vorgelegt wurde, ist eine Restitution nach § 64Ii ZPO analog auch gegen das Unterhaltsurteil möglich. § 64Ii ZPO ist nicht direkt anwendbar, da diese Norm nur für Entscheidungen gilt, die in der Sache über die Abstammung eines Kindes entscheiden407. Nach Aufhebung des für das Unterhaltsurteil präjudiziellen Feststellungsurteils kann der im Unterhaltsstreit Unterlegene Restitutionsklage nach § 580 Nr. 6 ZPO erheben. Bis zur rechtskräftigen Aufhebung des Feststellungsurteils bleibt der zu Unterhalt Verurteilte zur Zahlung verplichtet. Um dies zu verhindern, ist eine Restitutionsklage gemäß § 64Ii ZPO analog gegen das Unterhaltsurteil statthaft, aber nur wenn gegen das Abstammungsurteil und gegen das Unterhaltsurteil gleichzeitig Restitutionsklage erhoben wird 4 0 8 .

407

Zöller/Schneider,

408

Braun, FamRZ 1989, S. 1129, S. 1133; Gaul, Festschrift für Bosch, S. 241, S. 273 f.

§ 580 RN 2; Müko/Braun, § 580 RN 4 ff.

Teil 2

Die Behandlung von Unvereinbarkeiten zwischen rechtskräftigen Urteilen nach dem EuGVÜ, dem Luganer Anerkennungs- und Vollstreckungsübereinkommen und nach § 328 Abs. 1 Nr. 3 ZPO A. Einführung in die Problemstellung Die große und noch wachsende Zahl von Urlaubsreisen in fremde Länder, die sich verstärkenden internationalen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen und die in anderen Bereichen zunehmenden Auslandskontakte Privater ziehen Zivilprozesse nach sich, die, wegen der Berührungspunkte der ihnen zugrunde liegenden Sachverhalte zu mehreren Rechtsordnungen, internationalprozeßrechtliche Fragestellungen aufwerfen. Beispiel l\ Ein deutscher Urlauber mietet von einem französischen Vermieter in Frankreich ein Ferienhaus. Wegen mehrerer, nach Auffassung des Mieters erheblicher Mängel der Wohnung weigert er sich, 50% des vereinbarten Mietpreises zu zahlen.Ein französisches Gericht verurteilt den Mieter rechtskräftig, an den Vermieter den gesamten Mietzins zu zahlen. Eine vom Mieter eingewendete Anfechtung wegen arglistiger Täuschung hält das Gericht für nicht gegeben.

Da der verurteilte Mieter in Frankreich kein Vermögen hat, will der französische Vermieter sein Urteil in Deutschland vollstrecken. Da im Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zu Frankreich das EuGVÜ anwendbar ist und ein Urteil, das zur Zahlung von Mietzins verurteilt, in den Anwendungsbereich des Übereinkommens fällt (Art. 1 EuGVÜ), wird das französische Urteil nach den Art. 25 ff. EuGVÜ anerkannt und vollstreckt. Der Vermieter müßte beim Vorsitzenden einer Kammer des Landgerichtes, in dessen Bezirk der Mieter seinen Wohnsitz hat, die Vollstreckbarerklärung beantragen (Art. 31 Abs. 1, 32 Abs. 1, 2 EuGVÜ).

112

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

Fortsetzung Beispiel 1 : Noch bevor der französische Vermieter in Deutschland den Antrag auf Vollstreckbarerklärung des Zahlungsurteils stellt, ergeht in Deutschland ein rechtskräftiges Urteil zwischen den Parteien des in Frankreich geführten Prozesses, das feststellt, der Mieter habe den Mietvertrag wirksam wegen arglistiger Täuschung angefochten.

Dasfranzösische Zahlungsurteil und das deutsche Feststellungsurteil stehen in einem nicht zu leugnenden Spannungsverhältnis. Denn während das französische Urteil eine arglistige Täuschung in seinen Entscheidungsgründen verneint, stellt das deutsche Gericht die wirksame Anfechtung des Vertrages wegen arglistiger Täuschung fest. Stellt der Vermieter in dieser Situation den Antrag auf Vollstreckbarerklärung des französischen Urteils, gilt es zu klären, ob sich die abweichende Beurteilung der arglistigen Täuschung auf die Anerkennung und Vollstreckbarkeit des französischen Urteils in Deutschland auswirkt. Der Antrag des Vollstreckungsgläubigers auf Vollstreckbarerklärung der ausländischen Entscheidung darf vom Vorsitzenden der Kammer des Landgerichtes nur aus den in Art. 27 und 28 EuGVÜ genannten Gründen abgelehnt werden (Art. 34 Abs. 2 EuGVÜ). Nach Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ wird eine Entscheidung nicht anerkannt, wenn die Entscheidung mit einer Entscheidung unvereinbar ist, die zwischen denselben Parteien in dem Staat, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird, ergangen ist. Sieht man das französische Zahlungsurteil und das deutsche Feststellungsurteil als miteinander unvereinbar an, wird das französische Urteil in Deutschland weder anerkannt, noch für vollstreckbar erklärt. Die Unvereinbarkeit einer anzuerkennden Entscheidung mit einer Entscheidung des Anerkennungsstaates (Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ) stellt nämlich ebenso wie die Unvereinbarkeit zweier ausländischer Entscheidungen, die in einem Drittstaat anerkannt werden sollen (Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ), ein Anerkennungs- und Vollstreckungshindernis dar. Der fanzösische Vermieter müßte in Deutschland erneut gegen den deutschen Mieter auf Zahlung von Mietzins klagen, um einen in Deutschland vollstreckbaren Titel zu erhalten, wobei seine Aussichten, den Prozeß zu gewinnen, wegen des deutschen Feststellungsurteils denkbar ungünstig wären. Der zweite Teil dieser Arbeit untersucht, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit die Anerkennungs- und Vollstreckungshindernisse des Art. 27 Nr. 3 und 5 EuGVÜ, des Art. 27 Nr. 3 und 5 LugÜbk, sowie des § 328 Abs. 1 Nr. 3 ZPO eingreifen. Sonstige Anerkennungs- und Vollstreckungsabkommen, die die Unvereinbarkeit regeln, werden nachfolgend aufgelistet:

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

113

- Multilaterale Übereinkommen: - Art. 5 Nr. 4 Haager Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung von Unterhaltsentscheidungen1 - Art. 9 Abs. 2 lit. c und Art. 10 Abs. 1 lit. d Luxemburger Europ. Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen über das Sorgerecht für Kinder und die Wiederherstellung des Sorgverhältnisses 2 - Art. 4 Luxemburger CIEC-Übereinkommen über die Anerkennung von Entscheidungen in Ehesachen3 - Art. 9 Haager Übereinkommen über die Anerkennung von Ehescheidungen und Ehetrennungen4 - Bilaterale Übereinkommen: - Art. 29 Abs. 1 Nr. 5 deutsch-tunesischer Vertrag 5 - Art. 5 Abs. 1 Nr. 6 deutsch-israelischer Vertrag 6

B. Die Behandlung von Unvereinbarkeiten nach dem EuGVÜ I. Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ Von allen Normen, die den Fall regeln, daß zwei nicht von demselben Staat erlassene Entscheidungen unvereinbar miteinander sind, hat Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ die größte Bedeutung erlangt. Seit dem Inkrafttreten des EuGVÜ sind sechs Entscheidungen nationaler Obergerichte 7 und zwei Entscheidungen des EuGH 8

1 BGBl 1986 II, S. 826; fllr Deutschland in Kraft getreten am 01. 04. 1987, BGBl. 1987 II, 404 und 1988 II, S. 98. 2

BGBl 1990 II, S. 220; für Deutschland in Kraft seit 01. 02. 1991, BGBl. 1991 11,392 und 1991 II, S. 1076. 3

Öster. BGBl. 1978, S. 464; von Deutschland gezeichnet, aber noch nicht ratifitziert.

4

Schweizer Übersetzung in AS 1976, S. 1546; von Deutschland bisher nicht gezeichnet.

5

BGBl. 1969 II, S. 890; in Kraft seit 13. 03. 1970, BGBl. 1970 II, S. 125.

Λ

BGBl. 1980 II, S. 926; in Kraft seit 01. 01. 1981, BGBl. 1980 II, S. 1531.

7

BGHZ 75, S. 167; 88, S. 17; Cour de Cassation Nachschlagewerk des EuGH C 1-27.3.-Bl; Tribunal de grande instance Rev. crit. int. priv. 1990, S. 550; OLG Hamm MDR 1982, S. 504; RIW 1988, S. 131. K

Rs. Hoffmann/Krieg EuGH Slg 1988, S. 645; Rs. Gubisch/Palumbo EuGH Slg 1987, S. 4861: in dieser Entscheidung setzt sich der EuGH in erster Linie mit der Rechtshängigkeit nach Art. 21 EuGVÜ auseinander, geht aber auch auf die Unvereinbarkeit ein (S. 4876). 8 Lenenbach

114

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

ergangen, die sich mit dem Problem der Unvereinbarkeit nach Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ auseinandersetzen. Nach Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ wird eine Entscheidung nicht anerkannt, wenn die Entscheidung mit einer Entscheidung unvereinbar ist, die zwischen denselben Parteien in dem Staat, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird, ergangen ist.

1. Der Begriff der Unvereinbarkeit Durch die Entscheidung des EuGH 9 in der Rechtssache Hoffmann/ Krieg ist die Diskussion über die Auslegung des Begriffs "Unvereinbarkeit" entfacht worden 10 . Versucht man unbefangen an die Auslegung heranzugehen, zeigt sich sogleich der Grund für die Uneinigkeit. Als unvereinbar kann man Entscheidungen schon dann ansehen, wenn sie sich nur in einer Feststellung der Urteilsgründe widersprechen. Eine sehr restriktive Auslegung würde Unvereinbarkeit nur annehmen, wenn über denselben Streitgegenstand sich widersprechende Judikate ergehen. Zwischen diesen beiden Extrempositionen ließe sich eine Auffassung denken, die unvereinbare Entscheidungen annimmt, wenn ein Widerspruch zwischen den Urteilsgründen, auf denen die Entscheidungen beruhen, besteht.

a) Vertagsautonome Auslegung Bei der Auslegung einer Norm oder eines einzelnen Begriffes des EuGVÜ ist zu klären, ob der Begriff von den nationalen Gerichten nach ihren nationalen Rechtsordnungen oder aus dem EuGVÜ selbst heraus - vertragsautonom auszulegen ist. Vertragsautonom meint eine Auslegung, die am Sinn und Zweck und an der Systematik des EuGVÜ orientiert ist und die einen Begriff unabhängig von den einzelstaatlichen Rechtsordnungen für alle Mitgliedsstaaten einheitlich bestimmt 11 . Der EuGH 12 geht bei der Auslegung des EuGVÜ davon aus, daß weder der vertragsautonomen, noch der Auslegung nach den Rechtsordnungen der angerufenen Gerichte der Vorrang gebührt. Die Frage der Methode der Auslegung sei vielmehr für jede Bestimmung des EuGVÜ gesondert zu beantworten. Diese methodische Grundaussage des EuGH verdient Zustimmung,

9

EuGH Slg. 1988, S. 645.

10

Linke, RIW 1 988, S. 822 (Anm. zu EuGH Hoffmann/Krieg ) ; Schock, IPrax 1989, S. 139 (Anm. zu EuGH Hoffmann/Krieg); Wolf, Festschrift für Schwab, S. 561. 11 12

Martiny, RabelZ 45 (1981), S. 427, S. 436f./446.

Rs. Tissili/Dunlop EuGH Slg 1976, S. 1473, S. 1485; Rs. Gubisch/Palumbo EuGH Slg 1987, S. 4861, S. 4873.

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

115

denn sie berücksichtigt, daß Auslegung die Erschließung des Sinnes einer Norm oder eines Normbestandteiles bedeutet und stets für jede auszulegende Vorschrift nach deren eigenem Sinngehalt zu erfolgen hat 13 . Dazu gehört auch zu klären, ob die Vorschrift nach ihrer ratio entsprechend der nationalen Rechtsordnung des angerufenen Gerichts oder vertragsautonom zu interpretieren ist. Es erscheint daher bedenklich, wenn aus dem Vertragszweck des EuGVÜ, die Zivilprozeßsysteme der EG-Staaten zu vereinheitlichen 14, oder aus dem Gebot integrationsfreundlicher Lösungen15 der grundsätzliche Vorrang der vertragsautonomen Auslegung hergeleitet wird. Welche Auslegungsart 16 im Einzelfall vorzugswürdig ist, muß nach dem Sinn und Zweck der konkreten Norm und nicht mit Hilfe allgemeingültiger methodischer Formeln bestimmt werden. Neben der Aussage, daß keiner Auslegungsart der Vorrang gebühre, betont der EuGH 17 , bei der Bestimmung der Auslegungsart sei die volle Wirksamkeit des EuGVÜ unter Beachtung der Ziele des Art. 220 EWGV und der in der Präambel zum EuGVÜ genannten Zielsetzungen sicherzustellen. Diese Ziele seien die Vereinfachung und Beschleunigung der Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen und die Verstärkung des Rechtsschutzes der in den Vertragsstaaten ansässigen Personen. Diese Sätze, die der EuGH lehrbuchartig in seinen Entscheidungen anführt, treffen sicherlich zu. Weder die Wahl der Auslegungsart, noch die Auslegung in der Sache selbst dürfen die Ziele des EuGVÜ gefährden. Es läßt sich aber schwerlich erkennen, wie im konkreten Einzelfall die Entscheidung, welche Auslegungsart anzuwenden ist, durch den Hinweis auf die Sicherstellung der vollen Wirksamkeit des EuGVÜ gefordert werden soll. Bezeichnenderweise begründet der EuGH 18 in denjenigen Urteilen, in denen er obige Lehrsätze verwendet, seine Entscheidung mit dem Zweck der einzelnen Norm oder der Systematik des EuGVÜ, nicht aber mit der vollen Wirksamkeit des EuGVÜ.

13

Spellenberg, EuR 1980, S. 329, S. 340 f.

14

Stellungsnahme der Regierung der Bundesrepublik Deutschland in der Rechtssaache Duijnstee/ Goderbauer, EuGH Slg. 1983, S. 3663, S. 3667. 15

Kropholler, EuGVÜ, Einl. RN 43.

16

Es wird bewußt nicht der Ausdruck "Auslegungsmethode" gewählt, um die Problematik, ob vertragsautonom auszulegen ist, begrifflich von der Frage nach den Methoden der Auslegung zu trennen. 17 18

Rs. Gubisch/Palumbo EuGH Slg 1987, S. 4861, S. 4874 f.

Rs. Tessili/Dunlop EuGH Slg 1976, S. 1473, S. 1486 zur Auslegung von "Erfüllungsort" i.S.v. Art. 5 Ziff. 1; Rs. Gubisch/Palumbo EuGH Slg 1987, S. 4861, S. 4873 f. zur Auslegung von "Rechtshängigkeit" i.S.v. Art. 21.

116

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

Weiterhin stellt der EuGH 19 , um die vertragsautonome Auslegung eines Begriffs herzuleiten, in ständiger Rechtsprechung darauf ab, daß es sichergestellt werden müsse, daß sich aus dem Übereinkommen für die Vertragstaaten und die betroffenen Personen soweit wie möglich gleiche und einheitliche Rechte und Pflichten ergäben. Zurecht polemisiert Schlosser 20 gegen diese vom EuGH formelhaft verwendeten Ausführungen, sie seien "forttradierte Formel-Prämissen [...], die als Kraftformeln Diplomaten aus ihren Nöten helfen, einem Gericht aber nicht anstehen würden". Denn würde der EuGH mit dieser Aussage ernst machen, müßte er stets vertragsautonom auslegen, da eine nichtautonome Auslegung die Gefahr in sich birgt, die in den Anwendungsbereich des EuGVÜ fallenden Personen ungleich zu behandeln. Trotzdem hat der EuGH 21 in einigen Entscheidungen angenommen, daß ein Normbestandteil einer Regelung des EuGVÜ von den angerufenen Gerichten nach ihren Rechtsordnungen auzulegen sei. Vom Einzelfall losgelöste "Leerformeln" helfen nicht weiter, wenn es darum geht, festzustellen, ob ein Begriff der EuGVÜ nach den nationalen Rechtsordnungen des angerufenen Gerichts oder vertragsautonom auszulegen ist. Die Beantwortung dieser Frage ist Teil der Auslegung der Norm. Diesen Satz, der selbstverständlich klingen mag, gilt es besonders zu betonen. Der EuGH 22 und Teile der Literatur 23 legen nämlich den Eindruck nahe, sie behandelten die Frage nach der Auslegungsart als eine von der Auslegung der Norm in der Sache losgelöste Vorfrage, deren Beantwortung anhand eigener Maßstäbe erfolge. Die Bestimmung der Auslegungsart ist aber eine von der Auslegung der Norm nicht zu trennende Problematik, sie ist Teil derselben. Methoden der Auslegung des EuGVÜ sind die grammatikalische, die historische, die systematische und die teleologische. In der Auslegung der Vorschriften des EuGVÜ haben die Ziele des EuGVÜ eine wichtige Bedeutung. Die Frage nach

19 Rs. Kalfelis/Schröder EuGH Slg 1988, S. 5565, S. 5585; Rs. Reichert/Dresdner Bank EuGH Slg 1990, S. 27, S. 41. 20 Schlosser, RIW 1988, S. 987, S. 989 (Anm. zu Rs. Kalfelis/Schröder EuGH RIW 1988, S. 987 = Slg 1988, S. 5565). 21

Rs . Tessili/Dunlop EuGH Slg 1976, S. 1473, S. 1486; Rs. Zelger/Sabinitri EuGH Slg 1984, S. 2397, S. 2408: Zeitpunkt, ab dem der Anspruch i.S.v. Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ "anhängig" ist - Der EuGH betont zwar, der Zeitpunkt sei nach den einzelnen nationalen Rechtsordnungen zu bestimmen. Jedoch legt der EuGH den Begriff der Anhängigkeit vertragsautonom aus, da er festlegt, daß Anhängigkeit erst eintrete, wenn eine Klage endgültig erhoben worden sei. Wann dies der Fall ist, bestimme sich nach den nationalen Rechtsordnungen. Der EuGH bildet damit einen vertragsautonomen Obersatz, der den einzelstaatlichen Gerichten vorgegeben ist. 22

Rs. Kalfelis/Schröder EUGH Slg. 1988, S. 5565, S. 5584 f.

73

Kropholler, EuGVÜ, Einl. RN 43.

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

117

der Auslegungsart ist keine "Vorfrage" zur Auslegung in der Sache. Beide Problembereiche sind bei der Auslegung einer Norm des EuGVÜ im Blick zu behalten. Ihre Lösung erfolgt nicht unabhängig voneinander, sondern als gegenseitiges Wechselspiel. So ist zum Beispiel der Zweck der in Art. 5 Nr. 1 EuGVÜ erfolgten Zuständigkeitsanknüpfung an den Erfüllungsort, daß der Schuldner dort gerichtspflichtig ist, wo er nach materiellem Recht leisten muß 24 . Wo er nach materiellem Recht leisten muß, bestimmt sich aber nach dem auf den Fall anwendbaren materiellen Recht; welches Recht anwendbar ist, ergibt sich aus dem internationalen Privatrecht. Da das EuGVÜ keine internationalprivatrechtlichen Regeln enthält, ist das internationale Privatrecht des angerufenen Gerichtes entscheidend, beziehungsweise das von diesem berufene Sachrecht. Der Zweck des Art. 5 Nr. 1 EuGVÜ weist daher den Weg zur richtigen Auslegungsart 25.

b) Die richtige Auslegungsart bei Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ Ein Blick in den von Jenard 26 verfaßten Sachverständigenbericht zum EuGVÜ von 1968 erweist sich als aufschlußreich zur Bestimmung der richtigen Auslegungsart hinsichtlich Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ. Eine mit einer inländischen Entscheidung unvereinbare Entscheidung eines anderen EuGVÜ-Staates soll deshalb nicht anerkannt werden, da sie das Rechtsleben im Anerkennungsstaat stören würde 27 . Um eine Regelung zu finden, die diesen Fall sachgerecht löst, betrachtete die Sachverständigenkommission die bestehenden Übereinkommen und stellte fest, daß der Fall der widersprechenden Entscheidungen dort sehr unterschiedlich normiert war 28 . Zum Teil wird er von der ordre-public Klausel erfaßt 29 , zum Teil gibt es eigene Vorschriften, die auf den Widerspruch einer Entscheidung des Anerkennungsstaates mit der anzuerkennenden Entscheidung abstellen30. Da die Berufung auf den ordre-public im Fall sich widersprechender Urteile die Gefahr beinhaltet, daß der ordre-public weit ausgelegt wird, sah es die Sachverständigenkommission als interessengerechter an, eine eigene Vorschrift,

24

Geimer, EuR 1977, S. 341, S. 356.

25

Rs Tessili/Dunlop EuGH Slg. 1976, S. 1473, S. 1485 f.; Kropholler, EuGVÜ, Art. 5 RN 12 f.; Stein/Jonas/Schumann 2I, § 29 RN 53. - Kritisch: Lüderitz, Festschrift für Zweigert, S. 233, S. 250. - a. Α.: Schack, Erfüllungsort, S. 230 ff.: Schack lehnt eine Qualifikation lege causae ab und gibt einer vertragsautonomen Bestimmung des Erfüllungsortes den Vorrang. 26

Jenard-Bericht, EG-ABI 1979 Nr. C 59/1.

27

Jenard-Bericht, EG-ABI. 1979 Nr. C 59/45.

28

Jenard-Bericht, EG-ABI. 1979 Nr. C 59/45.

29

Französisch-belgischer Vertrag und Art. 2 Abs. 1 Ziff. 1 belgisch-deutscher Vertrag.

30

Jenard-Bericht, EG-Abi. 1979 Nr. C 59/45.

118

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

die diesen Fall regelt, zu schaffen. Weil man mit diesem Anerkennungshindernis nicht nur eine Norm für die Behandlung sich widersprechender, zu demselben Streitgegenstand ergehender Entscheidungen setzen wollte, sondern auch andere Urteilsdivergenzen erfassen wollte, schuf man den neuen Begriff der "unvereinbaren Entscheidungen"31, der bisher in keinem Abkommen verwendet worden war. Erst in den dem EuGVÜ nachfolgenden Übereinkommen taucht der Begriff "unvereinbar" auf: Art. 9 Haager-Übereinkommen über die Anerkennung von Ehescheidungen und Ehetrennungen 32 und Art. 9 Abs. 2 lit. c und Art. 10 Abs. 1 lit. d Luxemburger Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen über das Sorgerecht für Kinder 33 . Die bei Schaffung des EuGVÜ bestehenden nationalen Anerkennungsregeln der EuGVÜMitgliedsstaaten enthielten für den Fall des Widerspruchs einer inländischen mit einer anzuerkennenden ausländischen Entscheidung keine eigene Regelung, sondern behandelten diesen Sachverhalt als Unterfall eines ordre-public Verstosses34. Nur Italien hatte in den Art. 796, 797 C. proc. civ. Vorschrften, die diesen Fall gesondert regelten. Wenn es in den nationalen Rechtsordnungen den Begriff der "unvereinbaren Entscheidungen" nicht gab, ist eine Auslegung dieses Begriffs nach der Rechtsordnung des Gerichts des Anerkennungsstaates nur schwer möglich. Allerdings wäre es denkbar, daß auf die lex fori des Anerkennungsstaates verwiesen wird und die Beurteilung von dem angerufenen Gericht nach seiner Rechtsordnung vorgenommen wird. Diese Auffassung vertritt der BGH 3 5 . In der Entscheidung

31

Jenard-Bericht, wie FN 30.

32

Vergleiche FN 4.

33

Vergleiche FN 2.

34

Die nachfolgende Darstellung der nationalen Regelungen ist dem Jenard-Bericht, EG-ABI. Nr. C 59/3 ff. entnommen: - Belgien: Art. 10 Nr. 1 des Titel I des Einleitenden Buches der Zivilprozeßordnung von 1876; die Vorschrift wurde von Art. 570 Nr. 1 des Code judiciaire, der am 31. 10. 1970 in Kraft trat, abgelöst. - Deutschland. § 328 Abs. 1 Nr. 1 ZPO a.F. - Frankreich: Art. 546 ancien Code de procédure i.V.m. Art. 2123,2128 ancien Code civile und den von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien. - Luxemburg: Rechtslage wie in Frankreich. - Niederlande: ausländische Entscheidungen sind nach Art. 431 der niederländischen Zivilprozeßordnung nicht vollstreckbar, die Rechtssache ist neu vor den niederländischen Gerichten zu verhandeln. 35

BGHZ 75, S. 167, S. 170 f.; auch das OLG Hamm M DR 1982, S. 504 und RIW 1988, S. 131 sowie die Cour de Cassation Nachschlagewerk des EuGH C 1-27.3.-B1 dürften die Auffassung des BGH teilen, denn sie beantworten die Frage, ob zwei Entscheidungen unvereinbar sind, ohne eine Vorlage zum EuGH gemäß Art. 1,3 Abs. 1 u. Abs. 2 S. 2 Ziff. 2 Protokoll zur Auslegung des EuGVÜ (BGBl. II 1972, S. 846) zu erwägen, obwohl bis zu diesem Zeitpunkt keine EuGH-Entscheidung zur Auslegung vorlag, so daß sie von BGH nicht abweichen wollten.

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

119

zur Rechtssache Tessili/Dunlop, in der sich der EuGH 36 erstmals zur Frage der richtigen Auslegungsart bei der Auslegung des EuGVÜ äußerte, stellte er fest, daß das EuGVÜ häufig Begriffe verwendet, die auch die Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten kennen, die aber in den verschiedenen Rechtsordnungen verschiedene Bedeutung haben. Aus diesem Umstand ergebe sich die Frage, ob diese Begriffe autonom oder nach den Rechtsordnungen der einzelnen Mitgliedsstaaten auszulegen seien. Der EuGH betont zurecht, daß sich das Problem der richtigen Auslegungsart nur stellt, wenn das EuGVÜ Begriffe verwendet, die auch die Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten kennen. Wenn es wie beim Begriff der "unvereinbaren Entscheidungen" der Wille der Vertragsstaaten war, einen völlig neuen Rechtsbegriff zu schaffen, entspricht es diesem Willen am besten, den Begriff aus dem EuGVÜ selbst heraus zu bestimmen. Würde man einen den nationalen Rechtsordnungen neuen Begriff den einzelstaatlichen Gerichten zur Auslegung nach ihrer Rechtstradition überlassen, würde dies zu erheblicher Rechtsunsicherheit führen. Denn die Interpretation neuer Rechtsbegriffe bereitet Schwierigkeiten, die durch die Vielzahl der Rechtsordnungen multipliziert würden. Man wüßte dann erst, nachdem alle nationalen Obergerichte entschieden hätten, wie der Begriff je nach Anerkennungsland auszulegen ist. Zudem bestünde die Gefahr, daß der Begriff "Unvereinbarkeit" je nach Rechtsordnung unterschiedlich weit ausgelegt würde, was der Absicht des EuGVÜ, einheitliche Anerkennungsvoraussetzungen zu schaffen, zuwiderliefe. Der Sachverständigenausschuß37 hat für Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ eine Fassung gewählt, nach der die Beantwortung der Frage, ob die Entscheidung des Anerkennungsstaates rechtskräftig sein muß oder ob eine die Instanz abschließende Entscheidung genügt, um die Sperrwirkung des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ auszulösen, der Beurteilung des Gerichts des Anerkennungsstaates obliegt. Die Auslegung des Begriffs "Entscheidung ergangen" ist also dem Gericht des Anerkennungsstaates überlassen. Wäre Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ insgesamt nach der lex fori des Gerichts des Anerkennungsstaates auszulegen, hätte es der besonderen Hervorhebung dieses Umstandes nicht bedurft. Der BGH 3 8 entschied, die Frage, ob eine deutsche Entscheidung mit einer Vertragsstaatsentscheidung im Sinne von Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ unvereinbar sei, sei dem EuGH nicht nach Art. 1 des Protokolls betreffend die Auslegung des EuGVÜ zur Vorabentscheidung 39 vorzulegen. Denn diese Frage sei keine Frage

36

EuGH Slg. 1976, S. 1473, S. 1485.

37

Jenard-Bericht,

38

BGHZ 75, S. 167, S. 170 f.

39

BGBl. 1972 II, S. 846.

EG-ABI. 1979 Nr.C 59/45.

120

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

nach der Auslegung des EuGVÜ und der EuGH habe nach Art. 1 des Protokolls nur über die Auslegung des EuGVÜ zu entscheiden. Der BGH nimmt zwar nicht unmittelbar zum Streit über die richtige Auslegungsart für die Auslegung von Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ Stellung. Durch seine Aussage, die Frage der Auslegung des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ sei keine Frage nach der Auslegung des EuGVÜ, läßt er aber erkennen, daß er davon ausgeht, daß das angerufene Gericht diese Frage nach seiner lex fori entscheiden könne. Denn wenn ein Begriff oder eine Norm des EuGVÜ vertragsautonom auszulegen ist, ist die Auslegung eine Frage der Auslegung des EuGVÜ im Sinne von Art. 1 des Protokolls betreffend die Auslegung des EuGVÜ 40 . Dieser Eindruck bestätigt sich, wenn der BGH 4 1 unmittelbar nach seinen Ausführungen zu Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ fortfährt, daß das gleiche [Ergänzung des Verfassers: keine Vorlage zum EuGH, da die Frage keine nach der Auslegung des EuGVÜ sei] für die Frage gelte, ob die Anerkennung einer ausländischen Entscheidung der öffentlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland widerspreche (Art. 27 Nr. 1 EuGVÜ). Denn diese Frage berühre allein nationales Recht und der EuGH sei nicht dazu berufen, den Begriff der öffentlichen Ordnung für einzelne Mitgliedsstaaten zu definieren. Außer diesem Hinweis, für Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ gelte das gleiche wie für Art. 27 Nr. 1 EuGVÜ, bleibt der BGH eine Begründung für seine Ansicht, der Begriff der "Unvereinbarkeit" in Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ sei nach der lex fori des angerufenen Gerichts zu bestimmen, schuldig. Der Wortlaut des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ enthält jedoch im Unterschied zu dem des Art. 27 Nr. 1 EuGVÜ keine Verweisung auf die nationalen Rechtsordnungen. Der Wille der Vertragsstaaten und der mit Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ verfolgte Zweck gebieten eine vertragsautonome Auslegung 42 .

c) Die mit dem EuGVÜ verfolgten Ziele Für das Verständnis des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ und damit auch für die Auslegung dieser Norm sind die Ziele, die die Vertragsstaaten mit dem EuGVÜ und insbesondere mit der Regelung der Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen verfolgten, von wesentlicher Bedeutung. Das EuGVÜ wurde in Ausführung von

40

Kropholler,

41

BGHZ 75, S. 167, S. 171.

42

EuGVÜ, Einl. RN 21.

Koch, Unvereinbare Entscheidungen, S. 21 f.; Kropholler, EuGVÜ, Art. 27 RN 41; Mauro, Gaz. Pal. 1980.1, Doctrine S. 144, S. 145; Wolf, Festschrift für Schwab, S. 561, S. 567; Rs. Hoffmann/ Krieg EuGH Slg. 1988, S. 645, S. 668 f. (Der EuGH spricht sich zwar nicht ausdrücklich für eine vertragautonome Auslegung aus, bestimmt den Begriff der "Unvereinbarkeit" aber tatsächlich vertragsautonom).

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

121

Art. 220 EWGV erarbeitet, der die Mitgliedsstaaten der europäischen Wirtschaftsgemeinschft verpflichtet, die Vereinfachung der Förmlichkeiten der gegenseitigen Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen Belange zur Abwehr ausländischer Entscheidungen sollte durch das EuGVÜ gerade vermieden werden. Für ein Anerkennungshindernis, das wie Art. 27 Nr. 2 EuGVÜ die Wahrung der Rechte des Beklagten bezweckt, gelten diese Erwägungen nicht. Die gerade aufgestellte Forderung nach einer engen Auslegung der Anerkennungshindernisse wird durch die Materialien 43 zu Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ gestützt: Für den Fall, daß ein ausländisches Urteil mit einem inländischen unvereinbar ist, wurde eine eigene, dem allgemeinen ordre-public Vorbehalt des Art. 27 Nr. 1 EuGVÜ vorgehende Norm geschaffen. Damit wollte der Gesetzgeber der Gefahr vorbeugen, daß der Terminus der "öffentlichen Ordnung" in Art. 27 Nr. 1 EuGVÜ bei widersprechenden Entscheidungen zu weit ausgelegt und eine Anerkennung erschwert wird. Dieser gesetzgeberischen Absicht entspricht eine restriktive, die Anerkennung fördernde Interpretation von Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ eher, als eine Auslegung, die diese Norm sehr weit faßt. Zudem sollte den Parteien durch eine enge Auslegung des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ jeglicher Anreiz genommen werden, ein Urteil gegen das andere auszuspielen44. In der Rechtssache Hoffmann/Krieg gelangt der EuGH 45 zu einer recht weiten Auslegung des in Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ verwendeten Begriffs der Unvereinbarkeit 46 . Danach ist eine Unvereinbarkeit schon anzunehmen, wenn die beiden widerstreitenden Entscheidungen sich ausschließende Rechtsfolgen haben. Dies nahm der EuGH an bei einem deutschen Urteil, das zur Zahlung von Getrenntlebendunterhalt verurteilt, und einem später ergehenden niederländischen Scheidungsurteil. Dieses Urteil des EuGH steht zwar in der Sache im Widerspruch zu der Aussage, Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ sei restriktiv auszulegen. Es erlaubt aber keine kritische Auseinandersetzung mit der vorliegend vertretenen Ansicht, da der EuGH den Gesichtspunkt, daß der Gesetzgeber eine enge Auslegung des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ befürwortet, nicht anspricht. Dieser Mangel ist dem EuGH als Kritik entgegenzuhalten. Damit der Rechtsschutz effektiv ist und eine Anerkennung schnell und einfach erfolgen kann, reicht es nicht aus, die Anerkennungshindernisse eng auszulegen. Die Auslegung sollte so erfolgen, daß der Normadressat weiß, ob die Norm eingreift oder nicht. Um diesem Interesse an Rechtsklarheit zu genügen, muß die

43

Jenard-Bericht,

44

Schack, IPrax 1989, S. 139, S. 141; Are., IZVR, RN 858.

45

EuGH Slg. 1988, S. 645, S. 668 f.

46

EG-ABI. 1979 Nr.C 59/45.

Ausführlich zu dieser Entscheidung und ihrer kritischen Würdigung: unten Teil 2 Β 11 f aa)/Teil 2 Β I 1 f bb.

122

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

Auslegung eine Norm oder einen Rechtsbegriff möglichst klar und eindeutig definieren. Derjenige, der einen ersten Prozeß geführt hat, muß voraussehen können, ob das Urteil in einem anderen EuGVÜ-Staat anerkannt und vollstreckt wird oder die Anerkennung an einem der Tatbestände des Art. 27 EuGVÜ scheitert und er daher im Vollstreckungsstaat einen Zweitprozeß führen muß. Die Versuchung für die einzelstaatlichen Gerichte, ausländische Urteile, die einem inländischen Gericht ungerecht oder unbillig erscheinen, mit der Begründung abzulehnen, sie verstießen gegen den ordre public oder seien mit einer inländischen Entscheidung unvereinbar, dürfte nicht gering sein. Durch eine enge, klare und vertragsautonome Auslegung der Anerkennungshindernisse kann dieser Gefahr vorgebeugt werden. Mit Recht weist Wolf 4 7 daraufhin, daß auch und gerade eine vertragsautonome Auslegung darauf achten muß, möglichst mit den nationalen Zivilprozeßrechtssystemen zu harmonisieren. Für die Schaffung eines einheitlichen europäischen Zivilprozeßrechts ist mit dem EuGVÜ zwar ein erster Schritt getan. Vereinheitlichung bedeutet aber nicht, daß durch Auslegung und Fortentwicklung des EuGVÜ ein europäisches Zivilprozeßrecht zu entwickeln sei, das die Grundlagen der nationalen Zivilprozeßrechtssysteme unbeachtet lassen kann. Vielmehr sollte von mehreren vertretbaren Auslegungsmöglichkeiten diejenige gewählt weden, die mit den nationalen Rechten am ehesten harmonisiert. Eine von den nationalen Zivilprozeßrechten gelöste Auslegung des EuGVÜ mag man als sehr europafreundlich ansehen, nach der Formel "europafreundlich gleich nicht-national". Eine solche Sichtweise wäre jedoch mehr ideologisch verbrämt als der Sache dienlich. Denn wenn eine Auslegung des EuGVÜ von der nationalen Rechtspraxis deshalb nicht akzeptiert wird, weil sie deren prozessuale Grundlagen mißachtet, entsteht die Gefahr, daß das EuGVÜ umgangen oder nicht beachtet wird.

d) Der Zusammenhang zwischen den Artikeln 21, 22, 26 Abs. 1 und Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ und seine Bedeutung für die Interpretation von Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ Tritt der Fall der unvereinbarer Entscheidungen auf, hat das für die Parteien die mißliche Konsequenz, daß sie einen Prozeß, nämlich denjenigen, dessen Ergebnis - das Urteil - nicht anerkannt wird, umsonst geführt haben. Die Nichtanerkennung eines Urteils ist eine unerwünschte Ausnahme vom Regelfall der automatischen

47

Wolf,; Festschrift für Schwab, S. 561, S. 563 f.

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

123

Anerkennung des Art. 26 Abs. 1 EuGVÜ. Sie widerspricht sowohl der Absicht des EuGVÜ, Freizügigkeit für alle Vertragsstaatenurteile zu erreichen und den Rechtsschutz innerhalb der Gemeinschaft zu verstärken, als auch den Parteiinteressen. Außer einer Auslegung, die diese unerwünschte Folge auf wenige Fälle beschränkt, muß es das Bestreben der erkennenden Gerichte und der streitenden Parteien sein, es erst gar nicht zu unvereinbaren Entscheidungen kommen zu lassen. Dieses Ziel läßt sich mit dem rechtlichen Instrumentarium des EuGVÜ auf zwei Wegen erreichen, den Regeln über die Rechtshängigkeit und über im Zusammenhang stehende Verfahren (Artt. 21 und 22 EuGVÜ) einerseits48 sowie der Anerkennung der materiellen Rechtskraft nach Art. 26 Abs. 1 EuGVÜ 49 anderseits. Der Einwand der Rechtshängigkeit nach Art. 21 EuGVÜ greift ein, wenn zwei Klagen über denselben Anspruch vor Gerichten verschiedener Vertragsstaaten erhoben werden. Das Gericht des zweiten Verfahrens hat sich dann für unzuständig zu erklären 50. Art. 22 Abs. 1 EuGVÜ bestimmt, daß das später angerufene Gericht das Verfahren aussetzen kann, solange beide Klagen im ersten Rechtszug anhängig sind, wenn bei Gerichten verschiedener Vertragsstaaten Klagen erhoben werden, die im Zusammenhang stehen. Die Artt. 21 und 22 EuGVÜ können somit sich widersprechende Entscheidungen nur bei zeitlich parallelen Verfahren verhindern. Ergeht dagegen ein erstes rechtskräftiges Urteil und folgt dann ein zweiter Prozeß, an dessen Ende eine mit dem Urteil unvereinbare Entscheidung steht, sind die Artt. 21 und 22 EuGVÜ nicht einschlägig. Einander widersprechende Urteile können nach Abschluß des ersten Verfahrens nur durch die materielle Rechtskraft des ersten Urteils und deren Anerkennung nach Art. 26 Abs. 1 EuGVÜ vermieden werden. Es besteht daher ein enger systematischer Zusammenhang zwischen den Artt. 21,

48 Der EuGH weist in dem Urteil in der Rechtssache Owners of the cargo of the ship Tatry gegen Owners of the ship Rataj Urt. vom 06. Dez. 1994, Rs C-406/92, EWS 1995, S. 90 ff. RN 32 (in der Folge: Rs Tatry/Rataj) darauf hin, daß es der Zweck der Artt. 21 und 22 EuGVÜ sei, die Situation, die in Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ geregelt ist, auszuschließen. Das Urteil wird in der Folge mit Randnummern (RN) zitiert. 49 50

So zurecht Koch, Unvereinbare Entscheidungen, S. 89.

Das Verfahren der Unzuständigerklärung hat sich durch die Neufassung des EuGVÜ durch das dritte Beitrittsübereinkommen von 1989 (EG ABl. 1989 Nr. L 285, S. 1) geändert. Nach der ursprünglichen Fassung des EuGVÜ von 1968 (BGBl. 1972 II, S. 774) hat sich das später angerufene Gericht gemäß Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ zugunsten des zuerst angerufenen Gerichts von Amts wegen für unzuständig zu erklären. Nach Art. 21 Abs. 2 EuGVÜ kann das später angerufene Gericht das Verfahren aussetzen, wenn geltend gemacht wird, das zuerst angerufene Gericht sei unzuständig. Nach Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ neue Fassung hat das Gericht des Zweitverfahrens sein Verfahren solange auszusetzen, bis die Zuständigkeit des Gerichts des ersten Verfahrens feststeht. Steht die Zuständigkeit fest, erklärt sich das Gericht des zweiten Verfahrens nach Art. 21 Abs. 2 EuGVÜ zugunsten des zuerst angerufenen Gerichts für unzuständig. Die Gründe für die Änderung des Art. 21 EuGVÜ erläutert Isenburg-Epple, S. 71 ff.

124

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

22, 26 Abs. 1 und 27 Nr. 3 EuGVÜ, dessen Bedeutung für die Auslegung von Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ es zu klären gilt. Mit dem Zusammenhang zwischen der Rechtshängigkeit des Art. 21 und dem Anerkennungshindernis des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ befaßte sich der EuGH 51 in der Rechtssache Gubisch gegen Palumbo. Er hatte zu entscheiden, ob der Begriff desselben Anspruch in Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ den Fall erfaßt, daß eine Partei in einem Vertragsstaat auf Zahlung von Kaufpreis klagt und die andere Partei in einem anderen Staat auf Feststellung der Unwirksamkeit oder Auflösung des Kaufvertrages. Bei der Auslegung von Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ stellt der EuGH 52 entscheidend auf den Zusammenhang zwischen Art. 21 und Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ ab. Er gelangt zu der Ansicht, der vorliegende Fall werde deshalb von der Rechtshängigkeitssperre erfaßt, da ein den Kaufpreis zusprechendes Urteil und eine die Unwirksamkeit oder Auflösung des Kaufvertrages feststellende Entscheidung nach Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ unvereinbar seien. Ob diese Aussage zutrifft, wird sogleich untersucht 53. An dieser Stelle interessiert nur, welcher Sinnzusammenhang zwischen Art. 21 und Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ besteht und welche Schlüsse sich daraus für die Interpretation von Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ ergeben. Zunächst ist dem EuGH darin zuzustimmen, daß die Rechtshängigkeitssperre der Vermeidung unvereinbarer Entscheidungen dient 54 . Das Institut der Rechtshängigkeit verfolgt aber zusätzlich den Zweck, den Parteien die Führung unnötiger, Zeit und Kosten raubender Doppelprozesse zu ersparen, und das öffentliche Interesse, die Gerichte vor mehrfacher Inanspruchnahme in derselben Sache zu schützen55. Aus diesen Zwecken ergibt sich, daß die Rechtshängigkeit mindestens alle Verfahren erfassen muß, an deren Ende nach Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ unvereinbare Entscheidungen stehen56. Eine engere Auslegung des Art. 21 EuGVÜ als des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ 5 7 ist mit dem

51

Rs. Gubisch/Palumbo, EuGH Slg. 1987, S. 4861.

52

Rs. Gubisch/Palumbo EuGH Slg. 1987, S. 4861, 4875/4876.

53

Vgl. unten Teil 2 B 11 e aa) (1).

54

Isenburg-Epple, S. 47; Leipold, Gedächtnisschrift für Arens, S. 227, 236f.; Schütze , ΖΖΡ 104 (1991), S. 136; Wolf, Festschrift für Schwab, 1990, S. 561, 569 f. 55 ,5 Für das deutsche Zivilprozeßecht: Rosenberg/Schwab/Gottwald , § 100 III 1, S. 568 f. Zu Art. 21 EuGVÜ: Leipold, Gedächtnisschrift für Arens, S. 227, 236 f.; Schack, IZVR RN 747 f.; Schumann, Festschrift für Kralik, 1986, S. 301, S. 302; Wolf Festschrift für Schwab, 1990, S. 561, 569 f. 56 Kropholler, EuGVÜ, Art. 21 RN 5: Art. 21 EuGVÜ soll nach Möglichkeit die Situation des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ verhindern. 57 Diese vertreten Bülow/Böckenstiel/Linke, Bd. 1, Β I 1 e, Art. 27 IV 1 (Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ erfordere im Gegensatz zu Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ keine Identität der Streitgegenstände) und Mauro, Gaz. Pal. 1980.1. Doctrine, S. 144, S. 145 (der Begriff der Unvereinbarkeit sei weiter als der desselben Anspruch in Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ).

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

125

Zweck der Rechtshängigkeitssperre kaum zu vereinbaren. Der ratio des Art. 21 EuGVÜ entspricht aber sowohl eine Interpretation dieser Norm, die Art. 21 EuGVÜ ebenso wie Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ auslegt58, als auch eine Auslegung, die den Begriff desselben Anspruch in Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ weiter als den der Unvereinbarkeit in Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ faßt 59. Der zwischen den Artt. 21 und 27 Nr. 3 EuGVÜ bestehende Zusammenhang bedeutet methodisch, daß bei der Frage, ob zwei Klagen im Sinne von Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ über denselben Anspruch erhoben wurde, zuerst zu prüfen ist, ob ein Fall der Unvereinbarkeit vorliegt. 60 Ist dies zu bejahen, sind auch zwei im Sinne von Art. 21 EuGVÜ identische Klagen rechtshängig. Sind dagegen die auf die beiden rechtshängigen Verfahren hin ergehenden Entscheidungen voraussichtlich miteinander vereinbar, bedeutet dies noch nicht zwingend, daß die Rechtshängigkeitssperre nicht eingreift. Bedenkt man, daß die Rechtshängigkeit auch unnötige Doppelprozesse verhindern soll, lassen sich auch weitere Interpretationen vertreten. So wäre zum Beispiel eine Ansicht denkbar, nach der identische Klagen im Sinne von Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ schon dann anzunehmen sind, wenn im zuerst rechtshängigen Prozeß rechtliche oder tatsächliche Fragen eine Rolle spielen, die auch im Zweitverfahren entscheidungserheblich sind. Selbst wenn die Rechtskraft der im Erstverfahren ergehenden Entscheidung die rechtlichen und tatsächlichen Vorfragen nicht erfaßt und daher diese Fragen nicht verbindlich geklärt werden, kann es prozeßökonomisch sinnvoll sein, einen zweiten Prozeß, in dem diese Fragen entscheidungserheblich sind, auch von dem Gericht des Erstverfahrens entscheiden zu lassen. Art. 21 EuGVÜ würde dann eine Konzentrationslast für die Parteien des Zweitverfahrens begründen, sie müßten das zweite Verfahren auch vor dem Gericht des Erstverfahrens führen, wenn dieses Gericht nach einer Zuständigkeitsnorm des EuGVÜ oder des nationalen Rechts zur Entscheidung des Rechtsstreit berufen wäre. Nur wenn für das Gericht hinsichtlich des zweiten Klagebegehrens kein Gerichtsstand gegeben ist, würde eine so interpretierte Rechtshängigkeit an ihre Grenzen stoßen61. Der Frage, wie Art. 21 EuGVÜ

58

So wohl Koch, S. 73 ff.

59

Wolf Festschrift für Schwab, S. 561, S. 569 ff.; Schack, IPrax 1989, S. 139, S. 140 f. spricht sich für eine weite Auslegung von Art. 21 und eine enge Auslegung von Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ aus. 60 Insoweit bedarf es auch bei der Prüfung der internationalen Rechtshängigkeit im Rahmen des EuGVÜs einer Annerkennungsprognose. - Kropholler, EuGVÜ, Art. 21 RN 12 lehnt es ab, bei Art. 21 EuGVÜ zu prüfen, ob das im ersten Verfahren ergehende Urteil im Staat des Zweitverfahrens nach Artt. 26 ff. EuGVÜ anerkennungsfähig wäre. Als einzige Ausnahme läßt er den Fall zu, daß das später angerufene Gericht nach Art. 16 EuGVÜ ausschließlich zuständig ist. 61 Leipold, Gedächtnisschrift für Arens, S. 227, S. 242 f. lehnt eine aus der Rechtshängigkeit folgende Konzentrationslast zurecht ab, da das EuGVÜ in großem Umfang Zuständigkeiten gerade zur Verfügung stelle und nicht zu erkennen sei, daß Art. 21 EuGVÜ bestehende Zuständigkeiten beschränken solle. Auch sei dann die Regelung des Art. 6 Nr. 3 EuGVÜ, der bei Klagen aus

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

auszulegen ist, soll hier nicht weiter nachgegangen werden. Für die vorliegende Untersuchung reicht die Erkenntnis, daß aus dem Zweck des Art. 21 EuGVÜ lediglich folgt, daß Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ eine Auslegungshilfe für Art. 21 EuGVÜ ist, nicht aber umgekehrt. Man könnte allerdings daran denken, den Begriff der "Unvereinbarkeit" in Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ wie oder mit Hilfe des Begriffs "desselben Anspruchs" in Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ zu interpretieren. Dieser Gedankengang liegt auch deshalb nahe, da auch in Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ von "demselben Anspruch" die Rede ist. Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ wurde erst durch das EuGVÜ 1978, also zeitlich nach Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ 6 2 in das Übereinkommen aufgenommen. Die Norm bestimmt, daß eine Entscheidung aus einem Vertragsstaat des EuGVÜ dann nicht in einem anderen Vertragsstaat anzuerkennen ist, wenn in dem Anerkennungsstaat eine früher über denselben Anspruch ergangene Entscheidung aus einem Nichtvertragsstaat anzuerkennen ist. Die Begriffe "unvereinbare Entscheidung über denselben Anspruch" in Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ und "unvereinbare Entscheidung" in Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ sind gleich auszulegen, da beide Normen dieselbe ratio verfolgen, nämlich die Rechtsordnung des Anerkennungsstaates vor schweren, durch miteinander in Widerspruch stehende Entscheidungen verursachte Störungen zu schützen63. Der Begriff "desselben Anspruchs" in Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ kann jedoch nicht zur Interpretation des Art. 27 Nr. 3 oder Nr. 5 EuGVÜ herangezogen werden 64. Die Vorschriften dienen verschiedenen Zwecken. Während Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ die Störung der Rechtsordnung des Anerkennungsstaates durch eine einem inländischen Urteil widersprechende ausländische Entscheidungen verhindern soll 65 , hat die Rechtshängigkeit die oben beschriebenen Zwecke, unvereinbaren Urteilen sowie unnötigen Doppelprozessen im Partei- und Allgemeininteresse vorzubeugen. Es bleibt festzuhalten, daß sich

demselben Sachverhalt und aus demselben Vertrag die internationale Zuständigkeit für Widerklagen begründe, weitgehend überflüssig. Art. 22 EuGVÜ spricht ebenfalls gegen eine solch weite Auslegung des Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ, da ein Zusammenhang zwischen zwei Klagen, der das später angerufene Gericht zur Aussetzung berechtigt, nach der Legal definition des Art. 22 Abs. 3 EuGVÜ dann besteht, wenn zwischen den Klagen eine so enge Beziehung gegeben ist, daß eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um zu vermeiden, daß in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen. Dies dürfte aber gerade dann der Fall sein, wenn in den beiden Verfahren dieselben präjudiziellen rechtlichen und tatsächlichen Fragen entscheidungserheblich sind. Legt man aber Art. 21 EuGVÜ weit aus, verengt man den Anwendungsbereich von Art. 22 EuGVÜ bedenklich. 62

Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ ist seit Anfang an Bestandteil des Übereinkommens, also seit 1968.

63

Zu Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ vgl. unten Teil 2 Β II 3.

64 Schack, IPrax 1989, S. 139, S. 140 FN 38 (Der Begriff "desselben Anspruchs" sei in Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ im Gegensatz zu Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ eng auszulegen); ders., IZVR RN 859. 65

Jenard-Bericht,

EG-ABI. 1979, Nr. C 59/45.

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

127

aus Art. 21 EuGVÜ keine Schlüsse für die Auslegung von Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ herleiten lassen. In der Rechtssache Tatry gegen Rataj hatte der EuGH 66 die Frage zu entscheiden, ob eine Schadensersatzklage einer Gruppe von Eigentümern wegen der Beschädigung eines Teiles des Ladeguts während eines Schifftransportes gegen die Eigner des Schiffes und eine Schadensersatzklage einer anderen Gruppe von Eigentümern wegen der Beschädigung eines anderen Teiles des Ladeguts gegen dieselben Eigner im Zusammenhang stehende Klagen im Sinne des Art. 22 Abs. 3 EuGVÜ sind. Die Ladung befand sich zur selben Zeit auf demselben Schiff. Die Transporte erfolgten aufgrund getrennt abgeschlossener Verträge. Die Verträge waren jedoch inhaltsgleich. Die Kommission der Europäischen Gemeinschaft vertrat in dem Verfahren die Auffassung 67, der in der englischen Fassung des Übereinkommens sowohl in Art. 27 Nr. 3 als auch in Art. 22 Abs. 3 EuGVÜ enthaltene Begriff "irreconcilable" sei inhaltsgleich in dem Sinne auszulegen, daß alle Entscheidungen erfaßt würden, deren Rechtsfolgen sich gegenseitig ausschließen. Dem widerspricht der EuGH 68 mit der zutreffenden Erwägung, einer gleichen Auslegung des Begriffs "irreconcilable" in beiden Normen stünden die verschiedenen Zwecke entgegen. Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ diene dazu, in Abweichung von den Grundsätzen des Übereinkommens einer ausländischen Entscheidung die Anerkennung zu versagen. Art. 22 EuGVÜ bezwecke dagegen eine bessere Koordinierung der Rechtsprechungstätigkeit innerhalb der Gemeinschaft und diene dem Ziel, die Zusammenhangslosigkeit von Entscheidungen und den Widerspruch zwischen Entscheidungen auch dann zu vermeiden, wenn sie getrennt vollstreckt werden könnten. Auch der Umstand, daß die deutsche und die italienische Fassung in den Artt. 27 Nr. 3 und 22 Abs. 3 EuGVÜ verschiedene Begriffe verwenden 69, spreche für eine unterschiedliche Interpretation. Art. 22 EuGVÜ hilft daher bei der Auslegung von Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ auch nicht weiter. Die Rechtshängigkeitssperre allein kann unvereinbare Entscheidungen nicht verhindern. Es sind mehrere Fälle denkbar, in denen es trotz Art. 21 EuGVÜ zu unvereinbaren Urteilen kommen kann. Das Gericht des zweiten Verfahrens übersieht, daß eine früher erhobene Klage über denselben Anspruch in einem anderen Vertragsstaat rechtshängig ist. Dazu kann es kommen, wenn die Parteien

66

Rs Tatry/Rataj EuGH Urt. vom 06. Dez. 1994 Rs C 406/92, RN 49 ff.

67

Rs Tatry/Rataj EuGH Urt. v. 06. Dez. 1994, RN 54.

68

Rs. Tatry/Radaj EuGH Urt. v. 06. Dez. 1994, RN 55.

69 Die deutsche Fassung spricht in Art. 22 Abs. 3 EuGVÜ von "widersprechenden Entscheidungen" und in Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ von "unvereinbaren Entscheidungen".

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

nicht auf ein ausländisches Parallelverfahren hinweisen. Denn obwohl die Rechtshängigkeit des Art. 21 EuGVÜ im Anwendungsbereich des EuGVÜ von Amts wegen zu beachten ist, besteht keine Verpflichtung eines Gerichts, selbst Nachforschungen darüber anzustellen, ob ein ausländisches Verfahren rechtshängig ist. Nur wenn konkrete Anhaltspunkte für ein ausländisches Verfahren bestehen, hat es zu prüfen, ob es nach Art. 21 EuGVÜ vorgehen muß 70 . Denkbar ist auch, daß einem Gericht Anhaltspunkte für einen ausländischen Prozeß bekannt sind, es aber fälschlicherweise annimmt, die Voraussetzungen des Art. 21 EuGVÜ lägen nicht vor oder sich bewußt über Art. 21 EuGVÜ hinwegsetzt. Art. 21 EuGVÜ greift auch dann nicht ein, wenn das erste Verfahren rechtskräftig abgeschlossen wurde und erst dann ein zweiter Prozeß folgt, da Art. 21 EuGVÜ gleichzeitige Verfahren voraussetzt. In prozessualen Situationen wie den gerade beschriebenen kann die Rechtshängigkeit unvereinbare Entscheidungen nicht verhindern. Der Entstehung einander widersprechender Urteile kann dann nur durch die Anerkennung der ersten rechtskräftigen Entscheidung nach Art. 26 Abs. 1 EuGVÜ vorgebeugt werden. Nach der von der h. M. vertretenen Wirkungserstreckungstheorie, die auch dieser Arbeit zugrunde liegt 71 , bedeutet Anerkennung, daß sich Art und Umfang der Wirkungen einer Entscheidung auch im Anerkennungsstaat nach der Rechtsordnung des Urteilsstaates richten. Ein Urteil hat also überall im Anwendungsbereich des EuGVÜ diesselben Wirkungen. Eine zweite, einer ersten widersprechende Entscheidung wird durch die in allen Vertragsstaaten anzuerkennende und damit wirkende materielle Rechtskraft verhindert. Die materielle Rechtskraft untersagt nämlich im Rahmen ihrer objektiven und subjektiven Grenzen den Erlaß einer zweiten Entscheidung über denselben Streitgegenstand72. Damit ist die materielle Rechtskraft neben Art. 21 EuGVÜ das Institut, das miteinander unvereinbaren Urteilen vorbeugen kann. Welche Schlüsse lassen sich daraus für Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ ziehen? Man muß davon ausgehen, daß weder die Parteien, noch die Gerichte nach Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ unvereinbare Entscheidungen produzieren wollen. Da diese Urteile in dem jeweils anderen Urteilsstaat weder anerkennungs- noch vollstreckungsfähig

70

Isenburg-Epple, Rechtshängigkeit, S. 69.

71

Vgl. zur Anerkennung unten Teil B I 1 f aa).

72 Dieses Rechtsinstitut ist allen Rechtsordnungen der EuGVÜ-Vertragsstaaten eigen (Zur materiellen Rechtskraft in der englischen und französischen Rechtsordnung vgl. unten Teil Β I 1 g aa, bb. Zu den sonstigen Mitgliedsstaaten Koch, Unvereinbare Entscheidungen, S. 90 ff.) und hat die Wirkung, daß in einem zweiten Verfahren über denselben Streitgegenstand nicht oder nicht mehr l5 abweichend entschieden werden darf (Rosenberg/Schwab/Gottwald , § 151 II 1, II 2, II 3, III 1, III 2, S. 915 ff).

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

129

sind, sind sie zumindest teilweise wertlos. Einen der beiden Prozesse hätten sich die Parteien und die Gerichte sparen können. Die negative Folge der Nichtanerkennung ist eher akzeptabel, wenn sie bei prozeßordnungsgemäßem Verhalten nicht eingetreten wäre. Es ist für die Parteien nur schwer einzusehen, wenn sie beide Prozesse ordnungsgemäß und sorgfältig führen und am Ende nicht anerkennungsfähige Entscheidungen erhalten. Dem EuGVÜ würde die innere Geschlossenheit und damit die Überzeugungskraft als europäische Prozeßordnung fehlen, wenn es sehenden Auges unvereinbare Entscheidungen zuließe, ohne ein Instrument zu ihrer Verhinderung bereitzuhalten. Dieses Instrument ist die Anerkennung der materiellen Rechtskraft eines Urteils. Diese Interessenlage hat Auswirkungen auf die Interpretation von Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ. Soweit möglich ist diese Norm so auszulegen, daß unvereinbare Entscheidungen bei prozeßordnungsgemäßem Verhalten durch die materielle Rechtskraft der ersten Entscheidung verhindert werden können.

e) Zur Auslegung des Begriffs der "Unvereinbarkeit" vertretene Auffassungen aa) EuGH Der EuGH 73 hat sich in der Rechtssache Hoffmann/Krieg mit der Frage auseinandergesetzt, wann eine anzuerkennende ausländische Entscheidung mit einer Entscheidung des Anerkennungsstaates unvereinbar i.S.v. Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ ist. Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Ein deutscher Mann verließ seine in Deutschland verbleibende Ehefrau und zog in die Niederlande. Der Mann war gemäß einem Beschluß des Amtsgerichts Heidelberg vom August 1979 verpflichtet, an die Frau eine monatliche Unterhaltsrente zu bezahlen (Getrenntlebendunterhalt nach § 1361 BGB). Auf Antrag des Mannes wurde die Ehe durch Versäumnisurteil eines niederländischen Gerichts geschieden und galt durch die Eintragung des Urteils in das Personenstandsregister im August 1980 als aufgelöst. Auf Antrag der Frau erklärte ein niederländisches Gericht im Juli 1981 den Beschluß des Amtsgerichts Heidelberg gemäß Art. 34 EuGVÜ für vollstreckbar. Diese Vollstreckbarerklärung wurde dem Mann im April 1982 zugestellt. Er legte gegen sie in den Niederlanden keine Rechtsbehelfe ein. Stattdessen beantragte er beim Amtsgericht Heidelberg, festzustellen, daß eine Vollstreckung aus dessen Beschluß, ab dem Wirksamwerden der Scheidung in den Niederlanden, nicht mehr zulässig sei. Diesen

73

Rs. Hoffmann/Krieg EuGH Slg. 1988, S. 645.

9 Lenenbach

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

Antrag lehnte das Amtsgericht im Januar 1983 mit der Begründung ab, das Scheidungsurteil sei in Deutschland noch nicht gemäß Art. 7 § 1 FamRÄndG anerkannt worden. Im Februar 1983 erwirkte die Frau in den Niederlanden aufgrund des vollstreckbar erklärten Beschlusses des Amtsgerichts Heidelberg die Pfändung der Lohnforderung ihres geschiedenen Ehemannes gegen seinen Arbeitgeber. Nunmehr beantragte der Mann, die Pfändung aufzuheben oder auszusetzen. In der ersten Instanz wurde seinem Antrag entsprochen; in der Berufungsinstanz wurde sein Antrag zurückgewiesen. Gegen das Berufungsurteil legte der Mann Kassationsbeschwerde beim Höge Raad ein. Dieser legte dem EuGH unter anderem die Frage vor, ob das niederländische Scheidungsurteil und das deutsche Unterhaltsurteil miteinander unvereinbar seien. Nach Ansicht des EuGH 74 ist eine Unvereinbarkeit gemäß Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ anzunehmen, wenn die Entscheidungen Rechtsfolgen haben, die sich gegenseitig ausschließen. Die in den Niederlanden mit einer Vollstreckungsklausel versehene deutsche Unterhaltsentscheidung und das niederländiche Scheidungurteil haben sich gegenseitig ausschließende Rechtsfolgen, da das deutsche Urteil, das Unterhalt für die Zeit des Getrenntlebens zuspreche, notwendigerweise das Bestehen des ehelichen Bandes voraussetze und dieses Band durch das Scheidungsurteil gelöst worden sei 75 . Im Urteil zur Rechtssache Gubisch/Palumbo76 war zwar die Auslegung des Begriffs "Klagen wegen desselben Anspruchs" i.S.v. Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ die vom EuGH zu beantwortende Frage. Der EuGH ging in den Entscheidungsgründen aber auch auf die Unvereinbarkeit ein 77 . In dem vom Corte suprema vorgelegten Fall klagte der Italiener Palumbo vor dem Tribunale Rom auf Feststellung, daß ein zwischem ihm und der deutschen Maschinenfabrik Gubisch geschlossener Kaufvertrag unwirksam oder aufgelöst sei. Die Maschinenfabrik Gubisch hatte aber schon vor dieser Feststellungsklage vor dem Landgericht Flensburg eine Klage auf Zahlung von Kaufpreis erhoben. Es stellte sich daher die Frage, ob sich das Tribunale Rom nach Art. 21 EuGVÜ für unzuständig erklären mußte, da beide Klagen denselben Anspruch betrafen. Der EuGH 78 stellte fest, daß alle

74

Rs. Hoffmann/Krieg EuGH Slg. 1988, S. 645, S. 668 f.

75

Dem EuGH zustimmend : Gaudemet-Tallon, Rev. crit. int. priv. 1988,S. 605, S. 606 f., soweit der EuGH eine Unvereinbarkeit für die Zeit nach der Scheidung annimmt; Kropholler, EuGVÜ, Art. 27 RN 41 f., jedoch versteht Kropholler, unter Rechtsfolgen einer Entscheidung deren Urteilswirkungen, die sich nach dem Recht des Urteilsstaats bestimmen, Kropholler, EuGVÜ, Art. 27 RN 41. 76

Rs. Gubisch/Palumbo EuGH Slg. 1987, S. 4861.

77

Rs. Gubisch/Palumbo EuGH Slg. 1987, S. 4861, S. 4876.

78

Rs. Gubisch/Palumbo EuGH Slg. 1987, S. 4861, S. 4875 f.

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

131

Fassungen außer der deutschen von "demselben Gegenstand" und "derselben Grundlage" der Klagen sprechen und daher auch der deutsche Text in dem Sinne der anderen Fassungen zu verstehen sei. Die Feststellungsklage und die Zahlungsklage hätten diesselbe Grundlage, nämlich dasselbe Vertragsverhältnis. Der Kernpunkt beider Rechtsstreitigkeiten und damit derselbe Gegenstand sei die Wirksamkeit des Vertrages, denn auch die Kaufpreisklage habe den Zweck, den Vertrag wirksam werden zu lassen. Desweiteren begründet der EuGH 79 seine Interpretation des Art. 21 EuGVÜ damit, daß eine ausländische Entscheidung, die zur Erfüllung des Vertrages verurteilt, zweifellos mit einer inländischen Entscheidung nach Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ unvereinbar sei, die die Unwirksamkeit oder die Auflösung des Vertrages ausspreche, und die Rechtshängigkeitseinrede dies verhindern solle. Es bleibt offen, ob der EuGH davon ausgeht, daß stets dann, wenn "Klagen wegen desselben Gegenstandes und derselben Grundlage" gemäß Art. 21 EuGVÜ vorliegen, eine Unvereinbarkeit nach Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ anzunehmen ist.

(1) Kritik Der EuGH macht in der Rechtssache Hoffmann/Krieg die Aussage, eine Unvereinbarkeit sei anzunehmen, wenn sich die Rechtsfolgen der Entscheidungen ausschließen. Seine daraus gezogene Schlußfolgerung, ein Scheidungsurteil und ein Unterhaltsurteil seien unvereinbar, da letzteres das Bestehen der Ehe notwendigerweise voraussetze, ist materiellrechtlich richtig. Denn nach § 1361 BGB besteht ein Anspruch auf Zahlung von Unterhalt während der Zeit des Getrenntlebens nur, solange die Ehe nicht aufgelöst ist. Die materiell-rechtliche Rechtslage spielt im Anerkennungsverfahren jedoch keine Rolle, da nach Art. 29 EuGVÜ eine "revision au fond" unzulässig ist. Ein deutsches Urteil, das zur Zahlung von Getrenntlebendunterhalt verurteilt und in Rechtskraft erwächst, hat aber prozessual nicht das Bestehen der Ehe zur notwendigen Voraussetzung. Nach deutschem Zivilprozeßrecht wird dieses Urteil nicht mit dem rechtskräftigen Ausspruch der Scheidung unwirksam oder verliert sonst ispe iure seine Wirkung. Die Scheidung eröffnet dem Unterhaltsschuldner die Möglichkeit, mit prozessualen Behelfen die Vollstreckung aus dem Unterhaltsurteil abzuwenden, insbesondere mit einer Vollstreckungsgegenklage (§ 767 ZPO) die Vollstreckung für unzulässig erklären zu lassen80. Das Unterhaltsurteil hat daher nach deutschem Recht das Bestehen der Ehe nicht zur notwendigen Voraussetzung.

79 80

Rs. Gubisch/Palumbo EuGH Slg. 1987, S. 4861, S. 4876.

BGH FamRZ 1981, S. 242, S. 244. - Eine Präklusion des Einwandes, die Ehe sei geschieden, nach § 767 Abs. 2 ZPO scheidet aus, da das Unterhaltsurteil zum Getrenntlebendunterhalt für die Zeit nach Scheidung keine Rechtskraft wirkt, BGH FamRZ 1981, S. 242, S. 243 f.

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

Die Argumentation des EuGH krankt zudem an Selbstwidersprüchen. Da der EuGH als Voraussetzung einer Unvereinbarkeit annimmt, daß sich die Rechtsfolgen der Entscheidungen gegenseitig ausschließen und das Unterhaltsurteil und das Scheidungsurteil für miteinander unvereinbar erklärt, müßten beide Entscheidungen sich gegenseitig ausschließende Rechtsfolgen haben81. Zwar stellt der EuGH fest, daß eine anerkannte ausländische Entscheidung im Anerkennungsstaat dieselben Wirkungen entfalte wie im Urteilsstaat 82. Unter der Prämisse, daß die Rechtsfolgen einer Entscheidung ihren Urteilswirkungen entsprechen, würde das bedeuten, daß das Unterhaltsurteil und das Scheidungsurteil Wirkungen haben, die sich gegenseitig ausschließen. Das deutsche Unterhaltsurteil hat aber bezüglich der Frage des Bestehens der Ehe ebensowenig Urteilswirkungen wie das Scheidungsurteil hinsichtlich der Unterhaltsverpflichtung. Der EuGH 83 folgt der Wirkungserstreckungstheorie, das heißt, nach seiner Ansicht bestimmen sich Art und Umfang der Wirkungen eines Urteils in allen Vertragsstaaten des EuGVÜs nach der Rechtsordnung des Staates, der das anzuerkennende Urteil erlassen hat. Seine Interpretation des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ hat daher zur Folge, daß unvereinbare Entscheidungen auch bei ordnungsgemäßer und sorgfältiger Prozeßführung nicht zu vermeiden sind. Wird zum Beispiel in Deutschland einer Kaufpreisklage stattgegeben und in den Gründen das Bestehen des Kaufvertrages bejaht und wird nach rechtskräftigem Abschluß dieses Verfahren vor einem ausländischen Gericht eine Klage auf Wandelung des Kaufvertrages erhoben, kann das Gericht diese zweite Klage mit der Begründung abweisen, der Kaufvertrag sei nichtig. An die Feststellungen in den Entscheidungsgründen des deutschen Urteils ist das ausländische Gericht nicht gebunden, da diese nicht in materieller Rechtskraft erwachsen 84. Versteht man den EuGH so, daß schon der Widerspruch zwischen in den Entscheidungsgründen festgestellten Rechtsverhältnissen eine Unvereinbarkeit begründet, besteht in dem Beispiel das Anerkennungshindernis des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ. Eine Auslegung, die unvereinbare Entscheidungen auch bei ordnungsgemäßer Prozeßführung zuläßt, läuft aber den Parteiinteressen zuwider und läßt das EuGVÜ als Prozeßordnung an Überzeugungskraft verlieren 85.

81

So ausdrücklich: Rs. Hoffmann/Krieg EuGH Slg. 1988, S. 645, S. 669.

82

Rs. Hoffmann/Krieg EuGH Slg. 1988, S. 645, S. 666.

83

Rs. Hoffmann/Krieg EuGH Slg. 1988, S. 645, S. 666.

84

Stein/Jonas/Leipold

85

20

, § 322 RN 89 ff./180.

Vgl. zu dem Zusammenhang zwischen Art. 26 Abs. 1 EuGVÜ und Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ oben Teil 2 B 11 d).

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

133

Der EuGH muß sich entgegenhalten lassen, daß er den Begriff der Unvereinbarkeit weit ausdehnt und damit die Freizügigkeit der Entscheidungen einschränkt. Nach der Argumentation des EuGH wäre es konsequent, eine Unvereinbarkeit immer schon dann anzunehmen, wenn ein Urteil ein Tatbestandsmerkmal einer Norm, auf die ein anderes Urteil seine Entscheidung gründet, von diesem abweichend beurteilt. Die Anerkennung wird durch eine eine solche Auslegung nicht gerade gefördert. Das unerträglich erscheinende Ergebnis, daß eine in Deutschland zur Zahlung von Getrenntlebendunterhalt verurteilende Entscheidung in den Niederlanden für vollstreckbar erklärt und vollstreckt werden muß, obwohl die Ehe in den Niederlanden rechtskräftig geschieden wurde, hätte sich auch abwenden lassen, ohne Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ heranzuziehen. Der zur Zahlung verurteilte Ehemann hätte das niederländische Scheidungsurteil in Deutschland gemäß Art. 7 § 1 FamRÄndG anerkennen lassen müssen. Danach hätte er nach § 15 A V A G 8 6 i.V.m. § 767 ZPO gegen das Unterhaltsurteil Vollstreckungsgegenklage erheben müssen. Das nach § 767 ZPO ergehende Urteil wäre in den Niederlanden anerkannt worden 87. Es ging in dem vom EuGH entschiedenen Fall nicht um nach Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ unvereinbare Entscheidungen, sondern um eine unstimmige Rechtslage in den Niederlanden, die aufgrund der Versäumnisse des Ehemannes entstanden war. Das dabei betroffene niederländische Ordnungsinteresse schützt Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ aber nicht 88 . In der Entscheidung zur Rechtssache Gubisch/Palumbo erklärt der EuGH 89 , daß zweifellos eine deutsche gerichtliche Entscheidung, die die Verurteilung zur Erfüllung eines Vertrages ausspricht, mit einer italienischen Entscheidung unvereinbar sei, die die Unwirksamkeit des Vertrages feststellt. Warum die Entscheidungen zweifellos unvereinbar sind, läßt der EuGH unbegründet. Zunächst läßt sich feststellen, daß sich die Urteilswirkungen der beiden Entscheidungen nicht ausschließen90. Auch wenn das deutsche Zahlungsurteil zur Frage, ob ein wirksamer Vertrag besteht, in den Gründen Stellung genommen haben sollte, erwächst diese Feststellung nicht in Rechtskraft. Die Rechtskraft des italienischen Feststellungsurteils umfaßt nur die Feststellung, daß ein Vertrag

86

AVAG: BGBl. I 1988, S. 662 und S. 672.

87

Müko/Gottwald, Art. 27 EuGVÜ RN 32; Schack, IPRax 1989, S. 139, S. 141 (Anm. zu EuGH Slg. 1988, S. 645); Wolf, Festschrift für Schwab, S. 561, S. 568. 88

Schack me FN 91.

89

Rs. Gubisch/Palumbo EuGHS\g. 1987,4861,4876.

90

Leipold, Gedächtnisschrift für Arens, S. 227, S. 235.

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

nicht zustande kam 91 . Über die Frage, ob ein Vertrag wirksam geschlossen wurde, ist für die deutsche Rechtsordnung ebensowenig entschieden wie für die italienische über die Pflicht des Käufers, den Kaufpreis zu zahlen, da die zu diesen Fragen rechtskräftig entscheidenden ausländischen Urteile - folgt man dem EuGH - wegen ihrer Unvereinbarkeit nicht anerkannt werden und damit im Anerkennungsstaat hinsichtlich ihrer Urteilswirkungen rechtlich unbeachtlich sind 92 . In Deutschland müßte der schon in Italien rechtskräftig entschiedene Prozeß nocheinmal geführt werden, wenn die Parteien die Frage des Bestehens des Kaufvertrages verbindlich klären wollten. Weder die dadurch anfallenden zusätzlichen Kosten noch die erneut für die deutsche Rechtsordnung entstehende Rechtsungewißheit entsprechen den Zielen des EuGVÜ, den Rechtsschutz zu verstärken und eine einheitliche Geltung von Entscheidungen herzustellen. Dem EuGH ist zugute zu halten, daß er durch seine weite Auslegung des Begriffs "desselben Anspruchs" in Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ gerade verhindern will, daß es zu der beschriebenen Rechtslage kommt 93 . Richtig ist an dieser Zielsetzung des EuGH, daß Art. 21 EuGVÜ auch der Verhinderung von nach Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ unvereinbaren Entscheidungen dient94. Daher müssen alle Fälle, die eine Unvereinbarkeit darstellen würden, auch von der Rechtshängigkeitssperre des Art. 21 EuGVÜ erfaßt werden. Dieser Zweck des Art. 21 EuGVÜ erfordert es aber nicht, den Begriff der "Unvereinbarkeit" in Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ so weit wie der EuGH auszulegen. Die Fälle der Unvereinbarkeit müssem vielmehr durch eine restriktive Auslegung des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ begrenzt werden, um die ungewollte Folge der Nichtanerkennung möglichst zu vermeiden. Will man den Umfang der Rechtshängigkeitssperre des Art. 21 EuGVÜ derart bestimmen, daß unvereinbare Entscheidungen verhindert werden, sollte man zuerst Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ nach seiner ratio interpretieren und danach überlegen, wie sich das zu Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ gefundene Ergebnis auf Art. 21 EuGVÜ auswirkt 95 . Der EuGH 96 stellt zu Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ nur fest, daß ein Urteil, das zur Erfüllung eines Vertrages verpflichtet zweifellos mit einer Entscheidung des Anerkennungsstaates unvereinbar sei, die die Unwirksamkeit desselben Vertrages

91

Habscheid, Festschrift für Fragistas, S. 529, S. 542ff.; Ritter, ZZP 87 (1974) S. 138, S. 149 ff.

92

Schack, IZVR RN 1027.

93

Rs. Gubisch/Palumbo EuGH Slg. 1987, S. 4861, S. 4875 f.

94

Wolf Festschrift für Schwab, S. 561, S. 569 f.; Vgl. auch oben Teil B i l d .

95

Kritisch zur Argumentation des EuGH auch Leipold, Gedächtnisschrift für Arens, S. 227, S. 234 f.; Schack, IPrax 1989, S. 139, S. 140 f. und IZVR, RN 859 plädiert für eine weite Auslegung des Art. 21 EuGVÜ und eine enge Interpretation von Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ. 96

Rs. Gubisch/Palumbo EuGH Slg. 1987, S. 4861, S. 4876.

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

135

ausspreche. Eine überzeugende Auslegung des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ kann in diesen Ausführungen nicht gesehen werden. Die Annahme einer Unvereinbarkeit zwischen dem italienischen und dem deutschen Urteil führt dazu, daß das italienische Feststellungsurteil in Deutschland mangels Anerkennung keinerlei Urteilswirkungen hat. Wenn zwei deutsche Urteile ergehen, von denen eines zur Zahlung von Kaufpreis verurteilt und das andere das Nichtbestehen des Vertrages feststellt, würden diese sicherlich die deutsche Rechtsordnung stören. Trotzdem sind beide Urteile wirksam. Ergeht das Zahlungsurteil unter Mißachtung der Rechtskraft des Feststellungsurteils, könnte das Verfahren über die Zahlungsverpflichtung gemäß § 580 Nr. 7a ZPO wiederaufgenommen werden 97. Ergeht das Feststellungsurteil nach dem rechtskräftigen Zahlungsurteil, bleibt das dadurch hervorgerufene Spannungsverhältnis bestehen, ohne daß eines der beiden Urteile vorgehen würde 98 . Sieht man den Zweck des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ darin, eine Störung der Rechtsordnung des Anerkennungsstaates durch eine mit einer Entscheidung des Anerkennungsstaates unvereinbare ausländische Entscheidung zu verhindern 99, fragt es sich, ob ein italienisches Feststellungsurteil einem deutschen Zahlungsurteil mehr widerspricht als ein deutsches Feststellungsurteil, da die Störung der deutschen Rechtsordnung durch das italienische Judikat stärker sanktioniert wird. Da die Rechtskraft eines italienischen Feststellungsurteils der eines deutschen Urteils entspricht 100 , kann der Grund für die stärkere Störung der deutschen Rechtsordnung nur darin gesehen werden, daß es sich um ein ausländisches Urteil handelt. Diese Diskriminierung der ausländischen Entscheidung, die dem Zweck der einheitlichen Entscheidungsgeltung und damit dem Gebot der Gleichbehandlung der in den Mitgliedsstaaten des EuGVÜ ergehenden Entscheidungen zuwiderläuft, ließe sich nur rechtfertigen, wenn sich die Störung der Rechtsordnung des Anerkennungsstaates nicht durch eine anerkennungsfreundlichere Auslegung des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ beseitigen ließe. Dies ist jedoch der Fall 101 .

97

Vgl. oben Teil 1 C II 4.

98

Vgl. oben Teil 1 D II 2.

99

Jenard-Bericht,

EG-ABI. 1979 Nr.C 59/45.

100

Habscheid, Festschrift für Fragistas, S. 529, S. 542ff.; Ritter, ZZP 87 (1974) S. 138, S. 149 ff.

101

Vgl. unten Teil 2 Β I 1 f.

Teil

Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

(2) Die Annahme eines autonomen europäischen Streitgegenstandsbegriffes als Grundlage der Auslegung des Begriffs der Unvereinbarkeit - Kritik an der Auffassung von Isenburg-Epple und der des EuGH Die Ansicht des EuGH ließe sich halten, wenn man den Streitgegenstand und - von diesem ausgehend - die Urteilswirkungen eines Urteils eines nationalen Gerichts nicht nach der Prozeßordnung des Urteilsstaates bestimmt, sondern von einem autonom bestimmten europäischen Streitgegenstand ableitet. Die Begriffe "desselben Anspruchs" in Art. 21 Abs. 1 und Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ sowie der der "unvereinbaren Enscheidungen" in Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ könnten mit Hilfe dieses europäischen Streitgegenstandsbegriffes ausgelegt werden. Eine Unvereinbarkeit wäre dann anzunehmen, wenn sich die nach dem europäischen Streitgegenstand ergebenden Rechtsfolgen der Entscheidungen (=europäisch-autonome Urteilswirkungen) gegenseitig ausschließen. Der EuGH scheint in der Entscheidung zur Rechtssache Gubisch/Palumbo diesen Weg zu gehen 102 . Die Frage, ob zwei Klagen nach Art. 21 EuGVÜ zu demselben Anspruch rechtshängig sind, sei autonom zu beantworten 103. Der EuGH untersucht ebenso wie Isenburg-Epple 104 die Frage, ob es einen autonomen Streitgegenstandsbegriff gibt, nur für Art. 21 EuGVÜ. Da mit Hilfe eines solchen Streitgegenstandsbegriffes auch Art. 27 Nr. 3 u. 5 EuGVÜ interpretiert werden könnten, werden die zu Art. 21 EuGVÜ entwickelten Gedanken auf Art. 27 Nr. 3 u. 5 EuGVÜ übertragen. Der EuGH 105 führt zur Auslegung desselben Anspruchs i.S.v. Art. 21 EuGVÜ aus, auch wenn die deutsche Fassung des EuGVÜ nur von "demselben Anspruch" spreche, sei zur Bestimmung der Identität der Klagen auf denselben Gegenstand und dieselbe Grundlage abzustellen, da alle anderen Texte von Klagen, die denselben Gegenstand und dieselbe Grundlage haben, redeten. Nach Isenburg-Epple 106 wird der autonome Streitgegenstand durch den Klageantrag und den Klagegrund bestimmt, wobei sie den Klagegrund in dem der Klage zugrunde liegenden Lebenssachverhalt sieht. Die von Isenburg-Epple

102 Auch Wolf, Festschrift für Schwab, S. 561. S. 563 und Isenburg-Ipple, Rechtshängigkeit, S. 143 f./201 ff. interpretieren den EuGH in diese Richtung. - Zweifelnd, ob der EuGH einen europäischen Streitgegenstandsbegriff entwickeln will: Leipold, Gedächtnisschrift für Arens, S. 227, S. 240 f. 103

Rs. Gubisch/Palumbo EuGH Slg. 1987, S. 4861, S. 4874.

104

Isenburg-Ipple, Rechtshängigkeit, S. 212 ff.

105

Rs. Gubisch/Palumbo EuGH Slg. 1987, S. 4861, S. 4875.

106

Isenburg-Epple, Rechtshängigkeit, S. 212 ff.

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

137

aufgestellte Streitgegenstandsdefiniton entspricht derjenigen, den die h.M. in Deutschland zum nationalen Streitgegenstandsbegriff vertritt 107 . Nach dem im deutschen Zivilprozeßrecht herrschenden zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff 108 ist zur Bestimmung des Streitgegenstandes auf den vom Kläger begehrten Rechtsfolgenausspruch und den diesem zugrundeliegenden Lebenssachverhalt abzustellen. Streitgegenstand einer deutschen Kaufpreisklage ist daher die vom Kläger begehrte Verurteilung des Beklagten zur Zahlung von Kaufpreis aus dem Lebenssachverhalt "Kaufvertrag". Die Frage, ob die Streitgegenstände zweier Klagen identisch sind, beantwortet sich somit nach deutschem Zivilprozeßrecht nach anderen Kriterien als denjenigen, die der EuGH seiner Auslegung der Art. 21 und Art. 27 Nr. 3 u. 5 EuGVÜ zugrundelegt. Geht man davon aus, daß für alle Klagen und Urteile, gleich vor welchem einzelstaatlichen Gericht sie erhoben beziehungsweise erlassen werden, im Rahmen des EuGVÜ der vom EuGH vertretene europäische Streitgegenstandsbegriff gilt, haben alle Urteile unabhängig von ihrer Herkunft diesselben Urteilswirkungen, vorausgesetzt, man bestimmt die Urteilswirkungen anhand des europäischen Streitgegenstandes. Erne deutsche Zahlungsklage würde daher hinsichtlich ihres Gegenstandes, der Wirksamkeit des Kaufvertrages, Urteilswirkungen entfalten; es dürfte sich bei dieser Wirkung um die Rechtskraft handeln. Legt man diese Ansicht zugrunde, schließen sich die Rechtsfolgen (=Urteilswirkungen) eines deutschen Zahlungsurteils und eines italienischen Judikats, das die Unwirksamkeit des Vertrages feststellt, aus, da beide mit Rechtskraft über die Frage der Wirksamkeit des Vertrages entgegengesetzt entscheiden. Nach Art. 26 Abs. 1 EuGVÜ werden die in einem Vertragsstaat ergangenen Entscheidungen in den anderen Vertragsstaaten automatisch anerkannt. Nach der herrschenden Wirkungserstreckungstheorie 109, die auch der EuGH 1 1 0 vertritt, ist Anerkennung im Anwendungsbereich des EuGVÜ dahingehend zu verstehen, daß eine Entscheidung im Anerkennungsstaat dieselben Wirkungen entfaltet wie im Urteilsstaat. Somit hat ein Urteil in allen Vertragsstaaten des EuGVÜ die

107 Arens, Zivilprozeßrecht, RN 162 ff:; Habscheid, Festschrift für Schwab, S. 181, S. 183; BGH NJW 1983, S. 388, S. 389; 1991, S. 1046, S. 1047 f. 108

Nachweise wie FN 111.

109

Zöller/Geimer,§ 328RN21 -Kropholler, EuGVÜ, vor Art. 26 RN 9; Martiny, Handbuch, Bd. III/l, Kap 2 RN 69 f. - Die anderen Anerkennungstheorien erstrecken die Wirkungen einer ausländischen Entscheidung in geringerem Maße auf den Urteilsstaat und geraten daher mit dem europäischen Streitgegenstandsbegriff ebenso in Spannung wie die Wirkungserstreckungstheorie. Daher wird an dieser Stelle die Wirkungserstreckungstheorie zugrunde gelegt. 110

Rs. Hoffmann/Krieg EuGH Slg. 1988, S. 645, S. 666.

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

Wirkungen, die ihm nach der Rechtsordnung des Urteilsstaates zukommen. Die einheitliche Geltung der Entscheidungen und die Herstellung der Freizügigkeit der Urteile ist dadurch gewahrt. Stellt sich für ein nationales Gericht die Frage, ob eine bei ihm erhobene Klage mit einer in einem anderen Vertragsstaat erhobenen i.S.v. Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ identisch ist oder ob ein ausländisches Urteil mit einem des Anerkennungsstaates nach Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ unvereinbar ist, müßte es bei Zugrundelegung des europäischen Streitgegenstandsbegriffes von anderen Urteilswirkungen ausgehen als von den nach Art. 26 EuGVÜ anerkannten. Für Art. 21 Abs. 1 und Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ würden die Entscheidungen ihren Streitgegenstand und ihre Urteilswirkungen wechseln. Diese "Transformation der Urteilswirkungen auf europäischer Ebene" zerreißt ein Urteil in Bruchstücke unterschiedlicher Wirkungen, je nachdem in welchem Teilbereich des EuGVÜ das Urteil Bedeutung erlangt. Dies widerspricht dem Ziel des EuGVÜ, eine einheitliche Geltung von Entscheidungen zu erreichen und es erschwert den internationalen Rechtsverkehr, da ein Urteil keine einheitlichen Wirkungen hat. Zudem steht der europäische Streitgegenstands- und Urteilswirkungsbegriff in einem Spannungsverhältnis zu Art. 26 EuGVÜ. Die Urteile haben in allen Vertragsstaaten die Wirkungen wie im Urteilsstaat und keine je nach Rechtsgebiet oder anzuwendender Norm wechselnden Wirkungen. Mit dem EuGVÜ wurde eine den nationalen Prozeßordnungen vorgehende Zuständigkeitsordnung geschaffen und die Anerkennung von gerichtlichen Entscheidungen geregelt. Beide Regelungsbereiche beinhalten einen Souveränitätsverzicht der Vertragsstaaten, da sie sich bereit finden, eine staatsvertragliche Regelung ihren nationalen Rechten vorgehen zu lassen. Anerkennung meint die Erstreckung der Wirkungen des ausländischen Hoheitsaktes "Urteil" auf die inländische Rechtsordnung. Mit der Annahme eines europäischen Streitgegenstandsbegriffes werden sowohl ausländischen Entscheidungen vom Anerkennungsstaat anzuerkennende Wirkungen gegeben, die sie nach ihrer eigenen Rechtsordnung nicht haben, als auch den eigenen inländischen Urteilen Wirkungen zugesprochen, die die inländische Rechtsordnung nicht kennt. Der damit verbundene Souveränitätsverlust ist von den Vertragsstaaten des EuGVÜ nicht gewollt 111 und bedarf zu seiner Rechtfertigung einer Änderung des EuGVÜ. Die Geltung eines europäischen Streitgegenstandes und mit ihm einheitlicher europäischer Urteilswirkungen mag wünschenswert erscheinen. Aus dem derzeit geltenden EuGVÜ läßt sich ein solcher Streitgegenstand jedoch nicht entwickeln.

1,1

Wolf Festschrift für Schwab, S. 561, S. 572.

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

139

Zu einem ähnlichen Ergebnis wie Isenburg-Epple gelangt Koch 1 1 2 mit Hilfe einer vertragsautonomen Auslegung von Art. 26 Abs. 1 EuGVÜ. Nach Koch führt die Anerkennung nicht zu einer Erstreckung der Wirkungen des Urteils auf die Rechtsordnung des Anerkennungsstaates, sondern zu einer europäischen Wirkungsangleichung. Im Anwendungsbereich des EuGVÜ sei der Umfang der materiellen Rechtskraft für alle Urteile gleich zu bestimmen, unabhängig davon, wie die Rechtsordnung des Urteilsstaates die materielle Rechtskraft ausforme. Durch die Anerkennung nach Art. 26 Abs. 1 EuGVÜ würden von der Rechtskraft neben der Entscheidung über den Streitgegenstand auch die in den Entscheidungsgründen festgestellten präjudiziellen Rechtsverhältnisse erfaßt. Das bedeute, daß der Umfang der materiellen Rechtskraft sämtlicher in den Vertragsstaaten des EuGVÜ ergehender Entscheidungen identisch sei. Koch meint diesen Weg gehen zu müssen, um nach Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ unvereinbare Entscheidungen verhindern zu können. Denn semer Ansicht nach sind Entscheidungen schon dann im Sinne von Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ unvereinbar, wenn sie zwar über verschiedene Streitgegenstände ergehen, sich aber hinsichtlich der Feststellungen zu den präjudiziellen Rechtsverhältnissen widersprechen 113. Koch ist ebenso wie den Anhängern eines europäischen Streitgegenstandsbegriffes zu erwidern, daß der in der Abwandlung der Urteilswirkungen zu sehende Souveränitätsverzicht vom EuGVÜ nicht gedeckt ist. Davon abgesehen widerspricht es elementaren Grundsätzen eines fairen Zivilverfahrens, einem Urteil im Anerkennungsstaat weitergehende Wirkungen zu geben, als ihm nach der Rechtsordnung des Urteilsstaates zukommen. So müssen die Parteien in Deutschland nicht damit rechnen, daß rechtskräftig auch über die präjudiziellen Rechtsverhältnisse entschieden wird. Nur die Entscheidung über den Streitgegenstand erwächst nach deutschem Zivilprozeßrecht in Rechtskraft. Der beschränkte Umfang der materiellen Rechtskraft ist Ausfluß der Gestaltung des deutschen Zivilverfahrens und bestimmt das Prozeßverhalten der Parteien 114. Sie mit weitergehenden Wirkungen zu überraschen, als sie sie nach dem Recht des Urteilsstaates zu erwarten haben, verstößt gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit und gegen das Recht auf rechtliches Gehör. Zudem ist Kochs Vorgehen methodisch angreifbar. Denn er legt die allgemeine Norm des Art. 26 Abs. 1 EuGVÜ allein nach dem von ihm zu Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ gefundenen Ergebnis aus. Daran ist richtig, daß zwischen Art. 26 Abs. 1 EuGVÜ und Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ ein enger Sachzusammenhang besteht115. Das Regel-Ausnahme-

112

Koch, Unvereinbare Entscheidungen, S. 161 f.

113

Koch, Unvereinbare Entscheidungen, S. 44, Beispiel 11.

1,4

Müller, ZZP 70 (1966), S. 199, S. 204 f.

115

Vgl. oben Teil 2 Β I 1 d).

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

Verhältnis beider Normen legt es aber nahe, zuerst allgemein zu bestimmen, was unter Anerkennung nach Art. 26 Abs. 1 EuGVÜ zu verstehen ist, und die Interpretation der Ausnahmebestimmung des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ darauf abzustimmen.

bb) Wolf W o l f 1 6 geht bei seiner Betrachtung des Problems der Unvereinbarkeit von den Zielen des EuGVÜ aus, die er in der gegenseitigen Anerkennung und einheitlichen Geltung von Entscheidungen sieht. Da sich widersprechende Entscheidungen ein Anerkennungshindernis darstellen, sei der Umfang der durch die Urteilsanerkennung zu erreichenden prozessualen Rechtseinheit von der Auslegung des Begriffs der Unvereinbarkeit i.S.v. Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ abhängig 117 . Bei der Interpretation des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ dürften die Vorstellungen der Mitgliedsstaaten nicht völlig außer Betracht gelassen werden, denn der Vertrag basiere auf den Vorstellungen der Staaten und eine Harmonisierung des europäischen Zivilprozeßrechts sei nur möglich, wenn man die nationalen Prozeßrechtsgrundlagen in das europäische Zivilprozeßrecht miteinbringe 118 . Gegen diese Grundsätze verstoße der EuGH, wenn er in den Entscheidungen zu den Rechtssachen Gubisch/Palumbo und Hoffmann/Krieg nicht nur die Lösung von Zuständigkeitsfragen in autonomer Auslegung entwickle, sondern erste Schritte dahin mache, eine autonome europäische Streitgegenstandslehre aufzustellen 119. Es liefe dem Ziel der erleichterten Anerkennung zuwider, wenn durch die autonome Bestimmung des Streitgegenstandes und der Rechtskraftwirkung Unvereinbarkeiten nach dem EuGVÜ konstruiert würden, die es nach internem deutschem Zivilprozeßrecht nicht gebe 120 . Aus den Zwecken des EuGVÜ, die Anerkennung zu erleichtern und den Rechtsschutz zu verstärken, folge, daß die Unvereinbarkeit nicht nach strengeren Maßstäben beurteilt werden könne, als sie die nationalen Rechtsordnungen enthielten121. So könne nach deutschem Recht nicht generell von einer Unvereinbarkeit ausgegangen werden, wenn zwischen den Entscheidungsgründen eines Urteils und der Feststellung eines präjudiziellen Rechtsverhältnisses in einem

116

Wolf, Festschrift für Schwab, S. 561.

1,7

Wolf, Festschrift für Schwab, S. 561, S. 562.

118

Wolf Festschrift für Schwab, S. 561, S. 564.

1,9

Wolf Festschrift für Schwab, S. 561, S. 563 f.

120

Wolf Festschrift für Schwab, S. 561, S. 566.

121

Wolf Festschrift für Schwab, S. 561, S. 567.

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

141

anderen Urteil ein Widerspruch bestehe. In autonomer Auslegung sei Unvereinbarkeit im Sinne einer Meistbegünstigung zu verstehen, d. h. die Rechtsordnung mit den großzügigsten Anerkennungsbedingungen setze den Maßstab der Unvereinbarkeit für alle Mitgliedsstaaten. Diese Auslegung führe die bezweckte Vereinheitlichung und Erleichterung herbei. Berücksichtige man das deutsche Zivilprozeßrecht, ergebe sich, daß zur Bestimmung der Unvereinbarkeit grundsätzlich nicht auf die Entscheidungsgründe zurückgegriffen werden dürfe [ergänze: da diese nicht in Rechtskraft erwachsen]. Nach Wolfs "Meistbegünstigungstheorie" bestimmt sich die Rechtskraft der sich widersprechenden Urteile nach der Rechtsordnung desjenigen der beiden Urteilsstaaten, der seinen Entscheidungen die geringsten Rechtskraftwirkungen gibt 122 . Nach W o l f 2 3 ist es denkbar, daß in Fällen, in denen eine inhaltliche Unvereinbarkeit der Entscheidungsgründe besteht, die nicht von Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ erfaßt wird, die Anerkennung wegen eines Verstoßes gegen den ordre public des Anerkennungsstaates scheitere. Unvereinbarkeit gemäß Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ sei aber nicht so auszulegen, daß auch eine gegen den ordre public verstoßende inhaltliche Unvereinbarkeit der Entscheidungen von ihr erfaßt werde. Vielmehr seien Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ und Art. 27 Nr. 1 EuGVÜ zwei getrennt zu behandelnde Anerkennungshindernisse 124. Wolfs Theorie der "Meistbegünstigung" führt wie die Annahme eines europäischen Streitgegenstandsbegriffes zu einem Wechsel der Urteilswirkungen je nach zu beurteilender Rechtslage. Die Konsequenzen der Wolfschen Ansicht soll ein Beispiel verdeutlichen: Ein französisches Urteil verurteilt zur Zahlung von Mietzins für die Monate Mai bis Oktober 1993. In dem Prozeß war umstritten, ob ein wirksamer Mietvertrag besteht, was von dem französischen Gericht bejaht wurde, so daß nach französischem Verständnis das Bestehen des Mietvertrages rechtskräftig feststeht 125. In Deutschland verklagt der Beklagte des französischen Mietprozesses den damaligen Kläger auf Feststellung, daß der Mietvertrag von Anfang unwirksam gewesen sei. Der Klage wird stattgegeben.

Das deutsche Feststellungsurteil wird grundsätzlich in Frankreich anerkannt. Es stellt sich aber die Frage seiner Unvereinbarkeit mit dem französischen Zah-

122

Wolf, Festschrift für Schwab, S. 561, S. 567 f./571/574.

123

Wolf, Festschrift für Schwab, S. 561, S. 568.

124

Wolf, Festschrift für Schwab, S. 561, S. 569.

125

Zeuner, Festschrift für Zweigert, S. 603, S. 610 f.; unten Teil 2 Β I 1 g aa).

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

lungsurteil stellt. Denn es steht Rechtskraft gegen Rechtskraft. Nach Wolf muß für Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ der Umfang der Rechtskraftwirkung zweier, möglicherweise unvereinbarer Entscheidungen stets nach derjenigen der beteiligten Rechtsordnungen bestimmt werden, die die Grenzen der Rechtskraft am engsten zieht. Dies ist die deutsche Rechtsordnung. Für Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ wäre daher die Rechtskraft des französischen Urteils auf die Verurteilung zur Zahlung von Mietzins beschränkt. Die Feststellungen zur Wirksamkeit des Mietvertrags erwüchsen nicht in Rechtskraft, da nach deutschem Prozeßrecht in den Entscheidungsgründen festgestellte bedingende Rechtsverhältnisse an der Rechtskraft nicht teilnehmen 126 . Die beiden Urteile wären nach Wolf nicht unvereinbar, da ihre "transformierten" Urteilswirkungen sich nicht widersprechen. Da W o l f 2 7 der Theorie der Wirkungserstreckung folgt, wird das deutsche Urteil, da kein Anerkennungshindernis vorliegt, in Frankreich mit allen Urteilswirkungen anerkannt. Für die französische Rechtsordnung steht daher rechtskräftig sowohl fest, daß der Mietvertrag besteht (französisches Urteil) als auch, daß der Mietvertrag nicht besteht (deutsches Urteil). Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ dient dem Zweck, die Störung der Rechtsordnung des Anerkennungsstaates durch eine ausländische Entscheidung, die einer inländischen widerspricht, zu verhindern 128 . Eine stärkere Störung als durch Urteile, die sich hinsichtlich ihrer rechtskräftigen Feststellungen widersprechen, kann von widersprechenden Judikaten nicht ausgehen. Eine Auslegung von Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ, die wie die Wolfsche nicht einmal diesen schwersten Fall des Urteilswiderspruches als von Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ erfaßt ansieht, ist mit dem Zweck dieser Norm kaum in Einklang zu bringen. Die Auffassung Wolfs steht zudem in einem Spannungsverhältnis zu Art. 26 Abs. 1 EuGVÜ. Dieser legt für das EuGVÜ fest, wenn man die Theorie der Wirkungserstreckung zugrundelegt, daß die Wirkungen eines Urteils im Anwendungsbereich des EuGVÜ stets diejenigen sind, die das Urteil nach der Rechtsordnung des Urteilsstaates hat. Eine Modifizierung der Urteilswirkungen für einzelne Vorschriften des EuGVÜ sieht Art. 26 Abs. 1 EuGVÜ nicht vor. Die Vertragsstaaten des EuGVÜ haben mit dem Übereinkommen auf ihre Souveränität, soweit es um die Anerkennung ausländischer Entscheidungen geht, nur nach Maßgabe der Art. 25 ff. EuGVÜ verzichtet. Die Modifizierung der Urteils-

126

Stein/Jonas/Leipold

127

20

Wolf, Festschrift für Schwab, S. 561, S. 570.

128

Jenard-Bericht,

, § 322 RN 89 ff/180.

EG-ABI. 1979 Nr.C 59/45.

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

143

Wirkungen ihrer eigenen Urteile stellt einen vom Willen der Vertragsstaaten nicht gedeckten Souveränitätsverzicht dar 129 . Die Ansicht Wolfs 130 , inhaltliche Unvereinbarkeiten, die nicht von Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ erfaßt würden, könnten unter Art. 27 Nr. 1 EuGVÜ fallen, widerspricht dem von den Vertragsstaaten mit Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ verfolgten Ziel. Die Fälle der Unvereinbarkeiten von Entscheidungen sollten gerade aus dem Begriff des ordre public herausgenommen werden, um der Gefahr einer weiten Auslegung des Begriffs der ordre public zu begegnen131. Deshalb wurde ein eigenes Anerkennungshindernis der Urteilsunvereinbarkeit geschaffen. Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ bildet daher für die Fälle unvereinbarer Entscheidungen eine Art. 27 Nr. 1 EuGVÜ vorgehende Spezialregelung 132.

cc) Mauro Mauro 133 vergleicht die Regelung des Art. 605 der neuen französischen Zivilprozeßordnung (=NCPr) mit der des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ. Beide Normen behandeln den Fall sich widersprechender Urteile. Art. 605 NCPr eröffne gegen das spätere zweier letztinstanzlicher Urteile die Möglichkeit der Revision. Diese Möglichkeit sei dann gegeben, wenn ein Widerspruch (= contrariété) zwischen zwei Urteilen bestehe, die zwischen denselben Parteien und über denselben Streitgegenstand (= sur la même objet) ergangen seien. Dagegen spreche Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ nur davon, daß eine ausländische Entscheidung mit einer Entscheidung des Anerkennungsstaates unvereinbar (= inconciliable) sei, die zwischen denselben Parteien ergangen sei. Der Begriff der Unvereinbarkeit sei weiter auszulegen als der des Widerspruchs nach Art. 605 NCPr. Beziehe man Art. 21 EuGVÜ, der drei Bedingungen enthalte - dieselben Parteien, denselben Streitgegenstand und dieselbe Streitgrundlage - mit in den Vergleich ein, ließen sich drei Abstufungen von Erfordernissen aufstellen 134: Die Unvereinbarkeit des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ zwischen denselben Parteien, der Widerspruch nach Art. 605 NCPr zwischen denselben Parteien und mit demselben Streitgegenstand

129 Den Einwand eines vom EuGVÜ nicht gedeckten Souveränitätsverzichtes macht Wolfi$>. 572) dem EuGH bei dessen Auslegung des Begriffs "desselben Anspruch" i.S.v. Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ. 130

Wolf Festschrift für Schwab, S. 561, S. 568 f.

131

Jenard-Bericht,

132

Kropholler,

133

Mauro, Gaz. Pal. 1980. 1., Doctrine, S. 144.

134

Mauro, Gaz. Pal. 1980.1., Doctrine, S. 144, S. 145.

EG-ABI. 1979 Nr.C 59/45.

EuGVÜ, Art. 27 RN 8; Rs. Hoffmann/Krieg £wG//Slg. 1988, S. 645, S. 668.

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

sowie die Rechtshängigkeit des Art. 21 EuGVÜ zwischen denselben Parteien, mit demselben Streitgegenstand und derselben Streitgrundlage. Unter Unvereinbarkeit falle zunächst der direkte Widerspruch 135 . Für einen solchen führt Mauro den Fall an, daß ein niederländisches Gericht im Rechtsstreit zwischen A und Β feststellt, daß A alleinverantwortlich sei, und ein französisches Gericht, daß Β alleinverantwortlich sei. Der Vergleich der Gründe (= motifs) der beiden Entscheidungen ergebe objektiv den Widerspruch. Mauro 136 gibt schließlich eine allgemeine Definition der seiner Ansicht nach autonom zu bestimmenden Unvereinbarkeit. Man könne Entscheidungen zwischen denselben Parteien als unvereinbar ansehen, die eine eindeutige Verschiedenheit der gerichtlichen Würdigung der tatsächlichen Verhältnisse und der Rechtsverhältnisse erkennen ließen, ohne daß ein Widerspruch im eigentlichen Sinne zwischen den Entscheidungen bestehe. Mit einer derartigen Auslegung würde man den inneren "ordre juridique" respektieren, so wie dies das EuGVÜ in einigen Artikeln mache, ohne in den engen Grenzen der Rechtshängigkeit i.S.v. Art. 21 EuGVÜ oder des Widerspruchs nach Art. 605 NCPr eingesperrt zu bleiben. Mauro vertritt die denkbar weiteste Auslegung des Begriffs der Unvereinbarkeit, da er unvereinbare Entscheidungen immer schon dann annimmt, wenn die entscheidungserheblichen Tatsachen oder Rechtsverhältnisse erkennbar unterschiedlich gewürdigt wurden. Seine Begründung verrät den Grund der anerkennungsfeindlichen Interpretation von Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ: der innere "ordre juridique" fordere eine solch weite Auslegung. Die eigene Gerichtsbarkeit soll stets den Vorrang genießen, wenn ein Konflikt zwischen einer ausländischen und einer inländischen Entscheidung auftritt; auch wenn der Widerspruch nur in einer unterschiedlichen Tatsachenwürdigung oder einer verschiedenen Beurteilung von Rechtsverhältnissen besteht. Diese Interpretation der Unvereinbarkeit fördert nicht gerade das Ziel des EuGVÜ, eine weitgehende Freizügigkeit von Entscheidungen durch eine möglichst uneingeschränkte Anerkennung zu erreichen. Sie führt zu einer Erschwerung der Anerkennung und scheint von nationalen, gegen das EuGVÜ gerichteten Überlegungen getragen zu sein. Eine derart weite Auslegung beinhaltet zudem die Gefahr, daß einzelstaatliche Gerichte das Anerkennungshindernis des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ in nicht unbeachtlichem Umfang zur Abwehr ausländischer Urteile verwenden. Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ wurde aber gerade geschaffen, um der Gefahr vorzubeugen, daß inländische Gerichte die Anerkennung unter Berufung auf den ordre public-Vorbehalt des

135 m

Mauro, Gaz. Pal. 1980.1., Doctrine, S. 144. Mauro, Gaz. Pal. 1980.1., Doctrine, S. 144, S. 145.

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

145

Art. 27 Nr. 1 EuGVÜ mit der Begründung verweigern, das ausländische Urteil widerspreche einer inländischen Entscheidung137. Eine nach Mauro zur Unvereinbarkeit führende, unterschiedliche Beurteilung des Sachverhalts liegt beispielsweise vor, wenn eine Vertragsklausel ernes umfangreichen Vertrages von einen inländischen und einem ausländischen Gericht unterschiedlich ausgelegt wird; selbst die abweichende Bewertung derselben Zeugenaussage in verschiedenen Prozessen könnte nach Mauro ein Fall der Unvereinbarkeit sein, wenn es auf die Zeugenaussage entscheidend ankommt. Da Mauro 138 die Anerkennung gänzlich versagen will, wenn nur ein Teil eines Urteils von einem Anerkennungshindernis betroffen ist und eine Teilanerkennung ablehnt, müßte in den Beispielen die Anerkennung des ausländischen Urteils abgelehnt werden. Die anerkennungsfeindliche Tendenz der Ansicht Mauros wird damit noch verstärkt. Mauros Abgrenzung des Art. 21 EuGVÜ von Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ ist mit dem Zweck des Art. 21 EuGVÜ, unvereinbare Entscheidungen zu verhindern, nicht in Einklang zu bringen. Denn wenn man wie Mauro Art. 21 EuGVÜ deutlich restriktiver interpretiert als Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ, greift die Rechtshängigkeitssperre des Art. 21 EuGVÜ in vielen Fällen, in denen eine Unvereinbarkeit nach Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ vorliegt, nicht ein. Man könnte zur Unterstützung von Mauro anführen, es sei für die Parteien nur schwer einsichtig, daß zwei Entscheidungen dieselbe tatsächliche oder rechtliche Frage abweichend voneinander beurteilten und beide Entscheidungen durch die Anerkennung des ausländischen Urteils im Anerkennungsstaat Geltung erlangten. Um dies zu verhindern, sei ein Fall der Unvereinbarkeit anzunehmen. Die Schwäche dieser Argumentation zeigt sich, wenn man die Konsequenzen der Nichtanerkennung bedenkt. Sie läßt die nicht anerkannte Entscheidung nicht für alle Rechtsordnungen außer Kraft treten, sondern hat nur zur Folge, daß der ausländischen Entscheidung in der Rechtsordnung des Anerkennungsstaates keine Urteilswirkungen zukommen 139 . Die Parteien bekommen daher durch die Nichtanerkennung keine völlige Rechtsgewißheit. In dem Anerkennungsstaat gilt nämlich allein die Beurteilung des inländischen Gerichts, in dem ausländischen Urteilsstaat die Entscheidung seines Gerichts. In Drittstaaten, in denen beide Entscheidungen anerkannt werden sollen, entscheidet das dort geltende Anerkennungsrecht, ob beide Entscheidungen gelten oder nur eine von beiden. Da der Widerspruch in den Entscheidungsgründen durch die Nichtanerkennung nicht beseitigt wird, wird die Rechtslage für die Parteien weder erträglicher noch einsichtiger.

137

Jenard-Bericht,

138

Mauro, Gaz. Pal. 1980.1., Doctrine, S. 144, S. 145.

139

Schack, IZVR, RN 1027.

10 Lenenbach

EG-ABI. 1979 Nr. C 59/45.

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

dd) Koch Koch 1 4 0 bildet zwölf Beispielsfälle, in denen Entscheidungen aus verschiedenen EuGVÜ-Vertragsstaaten in einem Spannungsverhältnis stehen. Diese Beispiele untersucht er daraufhin, ob die Entscheidungen im Sinne von Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ unvereinbar sind 141 . Eine Unvereinbarkeit nach Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ nimmt er in drei Fallgruppen an. Nach einer ersten Fallgruppe sind Entscheidungen unvereinbar, die zu identischen oder teilweise identischen Streitgegenständen ergehen, sowohl wenn die Entscheidungen übereinstimmen als auch wenn sie sich widersprechen 142. Die zweite Gruppe bilden Fälle, bei denen eine inländische Entscheidung ein präjudizielles Rechtsverhältnis abweichend von der anzuerkennenden ausländischen Entscheidung beurteilt 143 . Als ein Beispiel für diese Fallgruppe nennt Koch 1 4 4 den Fall des EuGH 1 4 5 in der Rechtssache Gubisch/Palumbo, in der zunächst der deutsche Verkäufer vor einem deutschen Gericht den Kaufpreis gegen den italienischen Käufer einklagt und danach der Käufer vor einem italienischen Gericht auf Feststellung der Unwirksamkeit des Kaufvertrages klagt. Wenn sich Feststellungen zu präjudiziellen Rechtsverhältnissen widersprächen und der Streit um diese Rechtsverhältnisse im Mittelpunkt des inländischen und ausländischen Verfahrens stehe, könne die Rechtsordnung des Anerkennungsstaates keine andere Feststellungen dulden, als diejenigen, die sein Gericht getroffen habe. Im Falle der Anerkennung des ausländischen Urteils bestünde keine Rechtssicherheit zwischen den Parteien und das inländische Urteil sei wirtschaftlich wertlos. Wolle man diese Gefahr leugnen, wenn keine Identität der Streitgegenstände bestehe, so genüge man den praktischen Bedürfnissen einer geordneten Rechtspflege nicht und vertrete eine dogmatisch unhaltbare Ansicht 146 . Worin die mißachteten praktischen Bedürfnisse der Rechtspflege bestehen und gegen welche dogmatischen Grundsätze eine Auffassung verstößt, die Entscheidungen, die präjudizielle Rechtsverhältnisse abweichend beurteilen, für miteinander vereinbar hält, sagt Koch allerdings nicht. In einer dritten Fallgruppe faßt Koch 1 4 7

140

Koch, Unvereinbare Entscheidunge, S. 22 ff.

141

Koch, Unvereinbare Entscheidungen, S. 28 ff.

142

Koch, Unvereinbare Entscheidungen, S. 27 ff., 45.

143

Koch, Unvereinbare Entscheidungen, Beispiele 1 (S. 34 ff.), 7 (S. 42), 8 (S. 42 f.), 10 (S. 43) und 11 (S. 44). 144

Koch, Unvereinbare Entscheidungen, S. 34 ff.

145

Rs. Gubisch/Palumbo EuGHS\g. 1987, 4861.

146

Koch, Unvereinbare Entscheidungen, S. 36 f.

147 Koch Unvereinbare Entscheidungen,Beispiele 2 (S. 38), 3 (S. 38 ff.), 4 (S. 40 f.) und wohl auch Beispiel 9 (S. 43).

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

147

prozessuale Situationen zusammen, bei denen eine ausländische Entscheidung, der im Inland obsiegenden Partei die Vermögensposition wieder entzieht, die ihr die inländische Entscheidung zugesprochen hat, die also das inländische Urteil wertlos macht. Diese Fallgruppe ist nach Koch 1 4 8 gegeben, wenn ein Käufer in Deutschland zur Kaufpreiszahlung verurteilt wird, obwohl er sich auf die Ausübung eines Gestaltungsrechts (Wandelung oder Anfechtung) berufen hat und derselbe Käufer in England ein Urteil erstreitet, in dem ihm wegen der Ausübung des Gestaltungsrechts der Kaufpreis zurückgewährt wird. Der Käufer erlange mit der englischen Entscheidung die völlige Umkehrung des Ergebnisses des deutschen Urteils, weshalb sich beide Urteile gegenseitig evident ausschlössen und in keinem Fall gegenseitig Anerkennung beanspruchen könnten. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Koch den Begriff der Unvereinbarkeit eher materiell-wirtschaftlich versteht, da er ein ausländisches Urteil dann nicht anerkennen will, wenn es der im Anerkennungsstaat obsiegenden Partei den Vorteil wieder nimmt, der ihr durch das inländische Urteil gewährt wurde. Koch geht, nachdem er Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ in der beschriebenen Weise interpretiert hat, der Frage nach, wie unvereinbare Entscheidungen zu vermeiden seien. Zunächst untersucht er zu diesem Zweck die Rechtshängigkeitssperre des Art. 21 EuGVÜ. Um sich widersprechenden Urteilen vorzubeugen, sei der Begriff desselben Anspruch in Art. 21 EuGVÜ grundsätzlich wie der Begriff der Unvereinbarkeit zu interpretieren 149. Als zweiten Weg, unvereinbare Entscheidungen zu verhindern, sieht Koch 1 5 0 die Anerkennung der materiellen Rechtskraft der zuerst ergehenden Entscheidung im Anerkennungsstaat an. Dabei stellt sich für Koch das Problem, daß nach den meisten europäischen Rechtsordnungen nur die Entscheidung über den Steitgegenstand in Rechtskraft erwächst, nicht dagegen die Feststellungen zu präjudiziellen Rechtsverhältnissen in den Entscheidungsgründen 151. Da keine der bisher vertretenen Anerkennungstheorien einer Entscheidung weitergehende Urteilswirkungen zuspricht, als sie sie im Urteilsstaat hat, lassen sich nach diesen Anerkennungstheorien nicht sämtliche Fälle von Unvereinbarkeiten, die nach Koch von Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ erfaßt werden, vermeiden. Denn Koch sieht auch Entscheidungen als unvereinbar an,

148

Koch, Unvereinbare Entscheidungen, S. 38.

149

Koch, Unvereinbare Entscheidungen, S. 73 ff.

150

Koch, Unvereinbare Entscheidungen, S. 89 ff.

151

Koch, Unvereinbare Entscheidungen, S. 146 ff. kommt aufgrund einer rechtsvergleichenden Untersuchung der Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten des EuGVÜ und der skandinavischen Rechtsordnungen zu dem Ergebnis, daß im deutschsprachigen, ibro-portugiesischen, italienischen und skandinavischen Rechtskreis nur die Entscheidung über den Streitgegenstand und nicht die Feststellungen zu präjudiziellen Rechtsverhältnissen in den Entscheidungsgründen in materieller Rechtskraft erwachsen.

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

die zu verschiedenen Streitgegenständen ergehen, wenn sie in den Entscheidungsgründen ein präjudizielles Rechtsverhältnis abweichend voneinander beurteilen. Ergehen diese Urteile in Rechtsordnungen, nach denen nur die Entscheidung über den Streitgegenstand selbst in Rechtskraft erwächst, wird nach den bisher vertretenen Anerkennungstheorien nur diese Rechtskraftwirkung nach Art. 26 Abs. 1 EuGVÜ auf den Anerkennungsstaat erstreckt. Eine Bindung an die Feststellung des präjudiziellen Rechtsverhältnisses in den Entscheidungsgründen besteht für die Gerichte des Anerkennungsstaates dagegen nicht. Sie können daher ohne Verstoß gegen die materielle Rechtskraft des ausländischen Urteils das Rechtsverhältnis anders beurteilen und dadurch nach der Auffassung Kochs unvereinbare Entscheidungen erlassen. Um dieses Ergebnis zu vermeiden, entwickelt Koch 152 eine eigene Anerkennungstheorie. Was Anerkennung im Sinne von Art. 26 Abs. 1 EuGVÜ bedeute, sei vertragsautonom zu interpretieren. Die Anerkennung der materiellen Rechtskraft sei vertragsautonom und einheitlich gemeinschaftsweit dahingehend auszulegen, daß von ihr stets - auch wenn die Rechtsordnung interpretieren. Die Anerkennung der materiellen Rechtskraft sei vertragsautonom und einheitlich gemeinschaftsweit dahingehend auszulegen, daß von ihr stets - auch wenn die Rechtsordnung des Urteilsstaates eine solch weitgehende Rechtskraftwirkung nicht vorsehe - auch präjudizielle Rechtsverhältnisse erfaßt würden. Denn nur so könnten unvereinbare Entscheidungen vermieden werden. Koch ist zugute zu halten, daß seine vertragsautonome und geimeinschaftseinheitliche Interpretation der Unvereinbarkeit keinen Rückgriff auf die Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten erfordert. Möglicherweise erleichert eine solche Auslegung die Anwendung des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ für das Gericht, das über die Frage zu entscheiden hat, ob eine ausländische mit einer inländischen Entscheidung unvereinbar ist. Denn das inländische Gericht muß nicht auf eine ihm unbekannte ausländische Rechtsordnung zurückgreifen, sondern hat nur zu prüfen, ob dem im inländischen Verfahren Obsiegenden durch das ausländische Urteil das wieder genommen wird, was ihm das inländische Gericht zugesprochen hat. Diese Frage dürfte leichter zu beantworten sein, als zu prüfen, ob die Streitgegenstände einer deutschen und einer englischen Entscheidung identisch sind und eine Unvereinbarkeit wegen einer Entscheidung über den gleichen Streitgegenstand vorliegt 153 .

152 153

Koch, Unvereinbare Entscheidungen, S. 153 f.

Grunsky, JZ 1973, S. 646 will eine Unvereinbarkeit im Sinn von Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ nur bei Streitgegenstandsidentität von in- und ausländischer Entscheidung annehmen.

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

149

Koch muß sich entgegenhalten lassen, daß er in sehr weitem Umfang unvereinbare Entscheidungen annimmt und damit nicht eben dem Ziel der Anerkennungsvorschriften des EuGVÜ, die Freizügigkeit der Entscheidungen zu fördern, dient. Diesen Einwand glaubt Koch 1 5 4 entkräften zu können. Eine zu enge Auslegung des Begriffs der Unvereinbarkeit berge die Gefahr in sich, daß die Freizügigkeit auf Kosten der Rechtssicherheit verwirklicht werde. Weshalb die großzügige Annahme von unvereinbaren Entscheidungen der Rechtssicherheit zuträglich sein sollte, ist nicht einzusehen. Man könnte zwar auf den Gedanken kommen, daß es für die Parteien einsichtiger sei und zwischen ihnen Rechtssicherheit und Rechtsgewißheit geschaffen würde, wenn im jeweiligen Urteilsstaat alle ausländischen Entscheidungen, die der des Anerkennungsstaates irgendwie widersprechen, nicht anerkannt würden. Dieser Sichtweise ist oben schon entgegengetreten worden 155 . Der Widerspruch der Urteile besteht zwar im Anerkennungsstaat nicht, da dort wegen Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ nur die inländische Entscheidung Geltung beanspruchen kann. Er bleibt aber in den Mitgliedsstaaten des EuGVÜ fortbestehen, denn in beiden Urteilsstaaten gilt nach Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ nur die inländische Entscheidung. Und in den übrigen Mitgliedsstaaten entscheidet nach der vorliegend vertretenen Ansicht 156 das autonome Anerkennungsrecht darüber, welche der beiden ausländischen Entscheidungen anerkannt wird. Im Anwendungsbereich des EuGVÜ wird der Widerspruch zwischen zwei Urteilen durch die Nichtanerkennung also keineswegs beseitigt. Gerade wenn man in europäischen Dimensionen denkt und die Mitgliedsstaaten des EuGVÜ als einen einheitlichen prozessualen Raum ansieht, kann nicht davon gesprochen werden, daß die Nichtanerkennung einer von zwei sich widersprechenden Entscheidungen in einem Staat Rechtssicherheit und Rechtsgewißheit produziere. Denn innerhalb des Rechtsraumes des EuGVÜ gelten beide unvereinbare Entscheidungen. Koch nimmt eine Unvereinbarkeit in Fällen an, in denen durch das ausländische Urteil die Vermögensposition wieder genommen wird, die die inländische gewährt hat. Koch will damit das Ziel erreichen, daß sich nur die inländische Entscheidung auf das Vermögen des Obsiegenden auswirkt, die ausländische Entscheidung sein Vermögen dagegen nicht beeinträchtigt. Hat die im Inland obsiegende Partei auch in dem ausländischen Staat, dessen Gerichte das andere Urteil erlassen haben, Vermögen, kann Koch seine Absicht nicht erreichen. Denn da Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ die Wirksamkeit der ausländischen Entscheidung im Urteilsstaat unbeeinträchtigt läßt, kann sie dort auch vollstreckt werden. Die

154

Koch, Unvereinbare Entscheidungen, S. 11 f.

155

Vgl. oben Teil 2 Β I 1 e) cc).

156

Vgl. unten Teil 2 Β I 1 f) bb, Teil 2 Β I 1 g) cc).

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

negativen wirtschaftlichen Auswirkungen des ausländischen Urteils treffen die Partei aber gleich stark, ob sie nun ihr inländisches oder ihr ausländisches Vermögen verliert. Gegen die Ansicht Kochs spricht auch die Absicht des Gesetzgebers, das Anerkennungshindernis der Unvereinbarkeit aus dem Anwendungsbereich des ordre public-Vorbehaltes herauszunehmen. Denn dadurch soll gerade verhindert werden, daß die Gerichte des Anerkennungsstaates schon bei weniger schweren Widersprüchen zwischen ihren eigenen und den ausländischen Urteilen unter Berufung auf einen Verstoß gegen den ordre public die Anerkennung verweigern 157 . Legt man den Begriff der Unvereinbarkeit aber so extensiv aus, wie Koch dies tut, wird diese Intention der Verfasser des EuGVÜ nicht unterstützt. Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ muß so ausgelegt werden, daß bei prozeßordnungsgemäßem Verhalten des die zweite Entscheidung fällenden Gerichts eine Unvereinbarkeit vermieden wird 1 5 8 . Dieses Ziel kann nur dadurch erreicht werden, daß durch die Anerkennung der Urteilswirkungen der ausländischen Entscheidung der Erlaß einer mit dieser unvereinbaren inländischen Entscheidung verhindert wird. Dies erkennt auch Koch 159 , weshalb er Art. 26 Abs. 1 EuGVÜ in der dargestellten Weise auslegt. Kochs Ansicht wurde insoweit schon oben entgegengetreten160. Legt man Art. 26 Abs. 1 EuGVÜ im Sinne der zutreffenden Wirkungserstreckungstheorie aus, bestimmen sich Art und Umfang der Urteilswirkungen des anzuerkennenden Urteils ausschießlich nach der Rechtsordnung des Urteilsstaates, das heißt das Urteil hat im Anerkennungsstaat diesselben Wirkungen wie im Urteilsstaat. Geht man von der Wirkungserstreckungstheorie und nicht von Kochs Anerkennungsverständnis aus, legt aber Kochs Interpretation von Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ zugrunde, lassen sich nicht alle Fälle, in denen Koch eine Unvereinbarkeit annimmt, vermeiden. Widersprechen sich zum Beispiel die Entscheidungen nur hinsichtlich der Feststellungen zu einem präjudiziellen Rechtsverhältnis und erwächst nach den Rechtsordnungen beider Urteilsstaaten nur die Entscheidung über den Streitgegenstand in Rechtskraft, liegen nach Koch 1 6 1 unvereinbare Entscheidungen vor. Geht man davon aus, daß sich der Umfang der materiellen Rechtskraft auch im Anerkennungsstaat nach der Rechtsordnung des Urteilsstaates richtet, war das im zweiten Verfahren entscheidende Gericht an die Feststellungen zu den

157

Vgl. oben Teil 2 B I 1 c); Jenard-Bericht,

158

Vgl. oben Teil 2 Β I 1 d).

159

Koch, Unvereinbare Entscheidungen, S. 148 ff.

160

Vgl. oben Teil 2 Β I 1 f) aa) (2).

161

Koch, Unvereinbare Entscheidungen, S. 34 f.

EG-ABI. 1979 Nr. C 59/45.

151

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

präjudiziellen Rechtsverhältnissen nicht gebunden. Es konnte daher - legt man die Ansicht Kochs zum Begriff der Unvereinbarkeit und die Wirkungserstreckungstheorie zugrunde - selbst dann zu unvereinbaren Entscheidungen kommen, wenn sich das Gerichts des Zweitverfahrens prozessual richtig verhielt. Dies ist ein wenig befriedigendes Ergebnis.

f) Eigene Auffassung zur Auslegung des Begriffs der Unvereinbarkeit: Unvereinbarkeit als Widerspruch der Urteilswirkungen Eine klare, enge und berechenbare Bestimmung des Begriffs der Unvereinbarkeit wird erreicht, wenn man auf den Widerspruch der Urteilswirkungen abstellt. Eine inländische und eine ausländische Entscheidung sind miteinander unvereinbar, wenn sich ihre Urteilswirkungen gegenseitig ausschließen. Eine Unvereinbarkeit liegt nur vor, wenn die anerkennungsfähigen Urteilswirkungen, also Rechtskraft, Interventions- und Gestaltungswirkung 162, in direktem Geltungswiderspruch stehen. Außerhalb dieses Wirkungswiderspruchs stehende inhaltliche Widersprüche in den Enscheidungsgründen und den tatsächlichen Feststellungen begründen keine Unvereinbarkeit nach Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ. Sie können aber mit den im Anerkennungsstaat zur Auflösung von Urteilsdivergenzen vorgesehenen prozessualen Mitteln beseitigt werden. In Deutschland ist dabei insbesondere an die Restitutionsklage nach § 580 Nr. 7a ZPO zu denken. Legt man Unvereinbarkeit als gegenseitigen Ausschluß der Urteilswirkungen aus, hängt die Annahme unvereinbarer Entscheidungen davon ab, welche Urteilswirkungen einer Entscheidung anerkannt werden.

aa) Anerkennung im Sinne des EuGVÜ Die Notwendigkeit der Anerkennung folgt aus der Beschränkung der Wirkungen eines Hoheitsaktes auf das Hoheitsgebiet des ihn erlassenden Staates. Damit eine gerichtliche Entscheidung auch in anderen Staaten als dem Urteilsstaat ihre prozessualen Wirkungen entfalten kann, bedarf es eines Hoheitsaktes des Anerkennungsstaates, der dem ausländischen Urteil in der inländischen Rechtsordnung Geltung verschafft. Einen solchen geltungsvermittelnden Hoheitsakt stellt das deutsche Zustimmungsgesetz zum EuGVÜ und zur die Anerkennung regelnden Norm des Art. 26 EuGVÜ dar. In Art. 26 Abs. 1 EuGVÜ ist aber nur geregelt, daß ausländische Entscheidungen anerkannt werden. Eine nähe-

162

Schack, IZVR, RN 777/779/785; Bülow/Böckstiegel/Linke,

Art. 26 II 3/4.

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

re Bestimmung dessen, was für das EuGVÜ unter Anerkennung zu verstehen ist, enthält das Übereinkommen nicht. Auch innerhalb des Anwendungsbereichs des EuGVÜ ist umstritten, wie man sich den Akt der Anerkennung vorzustellen hat. Droz 163 und Schack 164 sind der Ansicht, daß zwar ein ausländisches Urteil durch die Anerkennung einem inländischen Urteil nicht dadurch gleichgestellt werde, daß mit der Anerkennung dem ausländischen Hoheitsakt die Wirkungen eines inländischen Urteils gleicher Art verliehen würden 165 . Es gelte aber auch keine uneingeschränkte Wirkungserstreckung der Wirkungen einer ausländischen Entscheidung auf den Anerkennungsstaat, sondern eine Kumulationstheorie. Habe die ausländische Entscheidung geringere Wirkungen als eine entsprechende inländische, würden diese Wirkungen auf das Inland erstreckt; habe sie dagegen weitergehende, dem Anerkennungsstaat unbekannte Urteilswirkungen, würden ihre Wirkungen nur insoweit auf den Anerkennungsstaat erstreckt, als sie auch dessen Urteilen zukämen. Die wohl h. M. nimmt zu Art. 26 Abs. 1 EuGVÜ eine uneingeschränkte Wirkungserstreckung sämtlicher Wirkungen der anzuerkennenden ausländischen Entscheidung auf die Rechtsordnung des Anerkennungsstaates an, auch solcher Wirkungen, die dieser unbekannt sind. Nur wenn die Grundlagen der Rechtsordnung des Anerkennungsstaates durch die Anerkennung beeinträchtigt würden, werde die beeinträchtigende Urteilswirkung nicht anerkannt, weil insoweit ein Verstoß gegen den ordre public (Art. 27 Nr. 1 EuGVÜ) vorliege 166 . Die Ausdehnung der Wirkungen einer ausländischen Entscheidung auf die Rechtsordnung des Anerkennungsstaates wirft eine Vielzahl von Fragen auf. Es sollten drei Problemkreise unterschieden werden. Die Frage, ob der ausländische Hoheitsakt auch nach der Anerkennung ein ausländischer Akt bleibt oder in einen inländischen umgewandelt wird. Es gilt zu klären, welche Wirkungen des ausländischen Urteils in welchem Umfang in der Rechtsordnung des Anerkennungsstaat gelten. Und schließlich die Frage, nach welchen Regeln die anerkannte Entscheidung in einem Verfahren vor einem Gericht des Anerkennungsstaates zu behandeln ist.

163

Droz, Compétence, Nr. 448, S. 281 f.

164

Schock, IZVR, RN 795 f.

165

So die Gleichstellungstheorie, die insbesondere von Matscher, Festschrift für Schima, S. 265, S. 277 ff. vertreten wird. Die Theorie hat aber für das EuGVÜ keine Anhänger. 166

Zöller/Geimer, § 328 RN 21 ; Bülow/Böckstiegel/Linke, Art. 26 II 1; Kropholler, Art. 26 RN 9; Martiny, Hdb. IZVR, Bd. III/2, Kap 2 RN 69 f.; Rs. Hoffmann/Krieg EuGH Slg. 1988, S. 645, S. 666.

EuGVÜ,

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

153

(1) Die anerkannte Entscheidung bleibt ausländischer Hoheitsakt Die Antwort auf die erste Frage verdeutlicht ein Vergleich mit einem "Urteilszoll". Die ausländische Entscheidung reist in die inländische Rechtsordnung ein, bleibt aber eine ausländische Entscheidung, das heißt, trotz Anerkennung bleibt das Urteil ein ausländischer Akt. Eine Umwandlung des ausländischen Urteils in ein Urteil des Anerkennungsstaates, also eine "Einbürgerung" des Urteils, ist nicht anzunehmen. Der ausländische Akt wird durch die Anerkennung nicht zu einem Staatsakt des Anerkennungsstaates, nur seine Wirkungen reichen bis in den Anerkennungsstaat.

(2) Umfang der Wirkungen des ausländischen Urteils im Anerkennungsstaat Von der Frage, ob der ausländische Hoheitsakt "Urteil" durch die Anerkennung wie ein inländischer Hoheitsakt behandelt wird, ist die von den Anerkennungstheorien diskutierte Problematik zu unterscheiden, wie die Wirkungen der anerkannten Entscheidung nach Art und Umfang zu bestimmen sind. Im Anwendungsbereich des EuGVÜ ist der Wirkungserstreckungstheorie zu folgen, das heißt, die ausländische Entscheidung hat in der Rechtsordnung des Anerkennungsstaates dieselben Wirkungen wie in der Rechtsordnung des Urteilsstaates beziehungsweise die Entscheidung wirkt in allen Vertragsstaaten so wie im Urteilsstaat 167. Den Umfang der Urteilswirkungen bestimmt also die lex fori des Urteilsstaates. Die Materialien zum EuGVÜ sind in ihren Stellungsnahmen zur der Frage, welcher Anerkennungstheorie der Vorzug zu geben ist, widersprüchlich und helfen daher nicht weiter. Während sich die Materialien zum EuGVÜ 1968 für eine uneingeschränkte Wirkungserstreckung aussprechen 168, wird im Bericht zum EuGVÜ 1978 169 festgestellt, daß die Kommission es nicht als ihre Aufgabe ansehe, die durch die Verschiedenartigkeit der nationalen Rechtsordnungen und insbesondere durch die verschiedenen Urteilswirkungen bei der Anerkennung auftretenden Probleme in allgemeiner Weise zu lösen. Das EuGVÜ geht von der Geichwertigkeit der Rechtsordnungen

167 Zöller/Geimer, § 328 RN 21; Bülow/Böckstie gel/Linke, Art. 26 II 1; Kropholler EuGVÜ, vo Art. 26 RN 9; Martiny, Hdb. IZVR, Bd. III/2, Kap 2 RN 69 f.; Rs. Hoffmann/Krieg EuGH Slg. 1988, S. 645, S. 666. 168

Jenard-Bericht,

169

Schlosser-Bericht,

EG-ABI. 1979 Nr. C 59/43. BT-Drs. 10/61, Nr. 191.

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

und der gerichtlichen Entscheidungen aller Vertragsstaaten aus 170 und will die Freizügigkeit der Urteile herstellen. Diesen Zielen entspricht die Wirkungserstreckung ebenso am besten wie der Absicht des EuGVÜ, den Rechtsschutz der Parteien zu verstärken. Denn zum effektiven Rechtsschutz gehört auch der Schutz des Vertrauens des Prozeßsiegers in die Geltung des erstrittenen Urteils mit seinen sämtlichen Wirkungen. Die Beschränkung der Wirkungen des anzuerkennenden Urteils mag für das autonome Recht und für solche multilateralen Verträge gerechtfertigt sein, bei denen nicht von vornherein feststeht, welche Art Wirkungen die anzuerkennenden Entscheidungen haben. Den Vertragsstaaten des EuGVÜ waren aber die Wirkungen der Urteile der anderen Mitgliedsstaaten bekannt und das EuGVÜ ist getragen vom Vertrauen in die Rechtsordnungen der anderen Vertragsstaaten, so daß eine Begrenzung der Wirkungserstreckung nicht erforderlich ist 171 . Auch Art. V Abs. 2 des Zusatzprotokolls zum EuGVÜ zeigt, daß nach dem EuGVÜ eine umfassende Wirkungserstreckung auch von Urteilswirkungen, die dem Recht des Urteilsstaates unbekannt sind, gewollt ist. Nach Art. V Abs. 2 S. 1 des Zusatzprotokolls 172 werden in der Bundesrepublik Deutschland Urteile anerkannt, die auf eine Garantie- oder Interventionsklage hin ergangen sind. Mit dieser, dem deutschen Zivilprozeßrecht unbekannten Klage kann in einigen Vertragsstaaten 173 ein Beklagter eines Hauptsacheverfahrens einen Dritten, gegen den er einen Regreßanspruch hat, vor dem Gericht des Hauptsache Verfahrens verklagen. Eine den Dritten verurteilende Entscheidung ist ein Leistungsurteil, dem Rechtskraft zukommt und das vollstreckbar ist. Umgekehrt wird gemäß Art. V Abs. 2 S. 2 des Zusatzprotokolls die Interventionswirkung nach den §§ 68, 74 deutscher ZPO anerkannt, auch wenn sie dem Recht des Anerkennungsstaates fremd ist.

170

Isenburg-Epple, Diss., S. 255.

171

Bülow/Böckstiegel/Linke, Art. 26 I I I ; Bungert, IPrax 1992, S. 225, S. 226 f. (bei staatsvertraglichen Anerkennungsregelungen gelte die Theorie der uneingeschränkten Wirkungserstreckung, da durch den Staatsvertrag bereits eine enge Beziehung zwischen den Rechtssystemen bestehe und man sich bei Ausarbeitung des Staatsvertrages Klarheit über die prozessualen Systeme des Partners verschafft habe). 176

Protokoll vom 27. September 1968 (BGBl. 1972 II, S. 808) in der Fassung des 2. Beitrittsübereinkommens vom 25. Oktober 1982 (BGBl. 1988 II, S. 453). 173 Geimer, WM 1979, S. 350, S. 359 ff. behandelt Verfahren und Wirkungen der Interventionsklagen in Frankreich, Belgien, Luxenburg und den Niederlanden. Milleker , ΖΖΡ 84 (1971), S. 91 ff. stellt die Garantieklage nach französischem Recht dar.

155

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

Anerkannt wird die materielle Rechtskraft 174. Ihre objektiven 175 und subjektiven Grenzen 176 richten sich nach dem Recht des Urteilsstaates. Auch der Zeitpunkt des Eintritts der materiellen Rechtskraft bestimmt sich nach dem Recht des Urteilsstaates 177. Dasselbe gilt für die zeitliche Grenze der Rechtskraft, die die Frage beantwortet, welcher Tatsachenvortrag durch die materielle Rechtskraft präkludiert ist. Nach deutschem Zivilprozeßrecht ist der Ausschluß eines Vorbringens, das schon in einem früheren Verfahren zum gleichen Streitgegenstand hätte vorgebracht werden können, eine Wirkung der materiellen Rechtskraft 178. Soweit in anderen Rechtsordnungen der Ausschluß eines Tatsachenvorbringens auf eine von der Rechtskraft getrennte Präklusionswirkung gegründet wird, wird auch diese anerkannt. Ob man den Ausschluß als Wirkung der Rechtskraft oder als Präklusionswirkung bezeichnet, ist eine Frage der Begrifflichkeit, die an der grundsätzlichen Übereinstimmung dieser Urteilswirkung nichts ändert 179 . Außer der Rechtskraft wird die Gestaltungswirkung anerkannt 180. Der Anerkennung nicht fähig sind die innerprozessuale Bindungswirkung, da sie nur das Verfahren vor dem Gericht des Erststaates betrifft 181 , sowie die von einem rechtskräftigen Urteil ausgehende Beweiswirkung. Welche beweisrechtliche Relevanz einem Urteil zukommt, richtet sich nach den Regeln über die Bedeutung öffentlicher Urkunden im Anerkennungsstaat 182. Auch die Tatbestandswirkung wird nicht nach Art. 26 Abs. 1 EuGVÜ als Urteilswirkung anerkannt. Bei ihr geht es nicht um ein internationalprozessuales Problem, sondern um die Frage, ob gemäß dem nach dem internationalen Privatrecht des entscheidenden Gerichts anwendbaren Sachrecht das Urteil Tatbestandsvoraussetzung einer Norm ist 183 . Lediglich dann, wenn die Wirkungserstreckung die Grundlagen der Rechtsordnung des Anerkennungsstaates beeinträchtigt, sind die Wirkungen der Entscheidung, soweit sie beeinträchtigend sind, wegen eines Verstoßes gegen den

174

Schack, IZVR, RN 777; Bülow/Böckstiegel/Linke,

175

Martiny, Hdb. IZVR, Bd. III/2, Kap. 2 RN 72; Stein/Jonas/Schumann

176

Martiny, Hdb. IZVR, Bd. III/2, Kap. 2 RN 72; Stein/Jonas/Schumann™,

Art. 26 II 3.

177

Geimer, IZPR RN 2804; Martiny, Hdb. IZVR, Bd. III/2, Kap. 2 RN 73.

178

Stein/Jonas/Leipold

, § 328 RN 3a, 3b. § 328 RN 4.

20

, § 322 RN 228 ff.

179

Geimer, IZPR RN 2812; Stein/Jonas/Schumann/Leipold EuGVÜ, vor Art. 26 RN 14. 180

20

Kropholler, EuGVÜ, vor Art. 26 RN 15; Martiny, Stein/Jonas/Schumann 2Ü , § 328 RN 11.

19

, § 328 Anm. I 2 c; Kropholler,

Hdb. IZVR, Bd. III/2, Kap. 2 RN 79;

181

Geimer, RIW 1976, S. 139, S. 142; Martiny, Hdb. IZVR, Bd. III/2, Kap. 2 RN 71.

182

Gothot/Holleaux,

Convention, Nr. 252, S. 143; Martiny, Hdb. IZVR, Bd. III/2, Kap. 2 RN 81.

183

Gothot/Holleaux,

Convention, Nr. 253, S. 143 f.; Kropholler,

EuGVÜ, vor Art. 26 RN 17.

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

ordre public (Art. 27 Nr. 1 EuGVÜ) nicht anzuerkennen 184. Ein Verstoß gegen den ordre public ist erst bei einer unerträglichen Verletzung wesentlicher Grundsätze des inländischen Rechts anzunehmen185. Von einer rechtskräftigen Feststellung bedingender Rechtsverhältnisse geht keine derartige verletzende Beeinträchtigung der deutschen Rechtsordnung aus, da das deutsche Zivilprozeßrecht die rechtskräftige Feststellung bedingender Rechtsverhältnisse durch Zwischenfeststellungsklage gemäß § 256 Abs. 2 ZPO kennt. Aber auch die verbindliche Feststellung von Tatsachen in einem ausländischen Urteil verstößt nicht gegen die Grundlagen der deutschen Rechtsordnung, obwohl das deutsche Zivilprozeßrecht eine rechtskräftige Feststellung von Tatsachen nicht kennt 186 . Die deutsche Rechtsordnung erkennt aber mit dem Schiedsgutachten ein Rechtsinstitut an, mit dessen Hilfe nach h. M. 1 8 7 in einem Rechtsstreit streitige Tatsachen zwischen den Parteien einer Rechtsstreitigkeit in den Grenzen der analog anzuwendenden §§ 317 bis 319 BGB für die Parteien und das Gericht verbindlich festgestellt werden können, wenn die Parteien vertraglich einem Schiedsgutachter die Klärung der streitigen Tatsachen übertragen. Nach Schlosser 188 erfüllt das Schiedsgutachten schiedsrichterliche Teilfunktionen, so daß die Vorschriften über die Schiedsgerichtsbarkeit grundsätzlich analog anwendbar seien. § 1040 ZPO sei mit der Maßgabe analog anwendbar, daß das Schiedsgutachten die Wirkungen hat, die ein staatliches Urteil hätte, wenn im deutschen Zivilprozeß selbständige Entscheidungen über Inzidentpunkte möglich wären 189 . Folgt man Schlosser, gibt es im deutschen Zivilprozeßrecht eine verbindliche Feststellung von Tatsachen durch ein urteilsähnliches Rechtsinstitut. Auch kennt das deutsche Recht mit der Interventionswirkung (§ 68 ZPO) eine Urteilswirkung, mit der zwischen bestimmten Beteiligten eines Zivilprozesses, Hauptpartei und Nebeninterventient, entscheidungserhebliche Feststellungen über Tatsachen in den Entscheidungsgründen eines Urteils verbindlich festgestellt werden können 190 . Da das deutsche Zivilprozeßrecht die Möglichkeit kennt, entscheidungserhebliche Tatsachen verbindlich festzustellen, kann die rechtskräftige Feststellung entscheidungserheblicher Tatsachen in einem ausländischen Urteil nicht als untragbare

184

Kropholler,

EuGVÜ, vor Art. 26 RN 9; Martiny, Hdb. IZVR, Bd. III/2, Kap 2 RN 69 f.

185

Kropholler,

EuGVÜ, Art. 27 RN 8.

186

Stein/Jonas/Leipold

20

, § 322 RN 84.

187

Zöller/Geimer,

188

Stein/Jonas/Schlosser

20

Stein/Jonas/Schlosser

20

189 190

§ 1025 RN 61; 5G//NJW-RR 1988, S. 506, S. 506 f. , Vor § 1025 RN 28.

, Vor § 1025 RN 31.

Stein/Jonas/Leipold 20 , § 68 RN 5; BGHZ 85,S. 252,S. 255. - Umstritten ist, ob die Interventionswirkung nur zugunsten der Hauptpartei (BGHZ 100, S. 257) oder auch zugunsten des Nebeninterventienten (,Stein/Jonas/Leipold 10, § 68 RN 12) wirkt.

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

157

Verletzung wesentlicher Grundsätze der deutschen Rechtsordnung angesehen werden und ist anzuerkennen. Anerkennung i.S.v. Art. 26 EuGVÜ meint also die Erstreckung der nach dem Recht des Urteilsstaates zu bestimmenden Urteilswirkungen auf die Rechtsordnung des Anerkennungsstaates.

(3) Gleichbehandlung des anerkannten Urteils mit Urteilen des Anerkennungsstaates Allein die Erkenntnis, daß das ausländische Urteil auch nach der Anerkennung ein ausländischer Akt bleibt, gibt noch keinen hinreichenden Aufschluß darüber, welchen Regeln es im Urteilsstaat unterliegt. Möglich ist sowohl, daß die anerkannte Entscheidung auch weiterhin nach dem Prozeßrecht des Urteilsstaates zu behandeln ist, als auch, daß für sie im Anerkennungsstaat die gleichen Regeln gelten wie für inländische Entscheidungen. Die letztere Erklärung der Anerkennung hat den Vorteil, daß mit dem anerkannten ausländischen Urteil im Anerkennungsstaat praktikabler umgegangen werden kann. In den nationalen Prozeßrechten gibt es nämlich keine eigenen Regeln für die Behandlung ausländischer Entscheidungen, sondern nur solche, die auf inländische Entscheidungen zugeschnitten sind. Daher werden ausländische Entscheidungen nach ihrer Anerkennung nach denselben Regeln wie inländische Urteile behandelt191. Völkerrechtliche Bedenken gegen diese Interpretation der Anerkennung bestehen nicht 192 . Der ausländische Akt "Gerichtsurteil" wirkt erst und nur im Anerkennungsstaat, da dieser ihn durch Hoheitsakt (= Anerkennung) in seinem Hoheitsgebiet wirken läßt. Der Anerkennungsstaat bestimmt daher auch, wie der ausländische Akt im Inland zu behandeln ist. Da weder das EuGVÜ noch das autonome deutsche Recht eigene Regeln für die Behandlung ausländischer Ur-

191 BGH NJW 1983, S. 1976, S. 1977: Mit der Anerkennung, die kraft inländischer Staatsgewalt erfolge, werde der ausländische einem deutschen Titel gleichgestellt und in die hiesige Rechtsordnung übernommen. - Diese Entscheidung wird als Beleg dafür interpretiert, daß der BGH der "Gleichstellungstheorie" folge, nach der die Anerkennung die Wirkung hat, daß das ausländische Urteil einem inländischen hinsichtlich der Art und des Umfangs der ihm zukommenden Wirkungen gleichgestellt wird (so Geimer, IZPR RN 2778). Der BGH leitet aber aus seiner Aussage nur ab, daß auch ein ausländischer Titel nach § 323 ZPO abänderbar ist. Er nimmt also nur zu der Frage Stellung, wie eine anerkannte Entscheidung vor den Gerichten des Anerkennungsstaates zu behandeln ist. Auf den Streit, um den die Anerkennungstheorien kreisen, geht der BGH dagegen nicht ein. 192

Für die Abänderbarkeit ausländischer Entscheidungen nach § 323 ZPO ist dies heute allgemeine Auffassung: Kropholler, ZBIJugR 64 (1977), S. 105, S. 107; Leipold, Festschrift für Nagel, S. 189, S. 189 f.; Siehr, Festschrift für Bosch, S. 927, S. 937 ff.; BGH NJW 1983, S. 1976.

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

teile aufweisen, spricht alles dafür, daß das anerkannte ausländische Urteil wie ein inländischer Hoheitsakt behandelt wird. Diese rechtstheoretische Ansicht der Anerkennung ist die anerkennungs- und integrationsfreundlichste und entspricht daher auch am besten den Parteiinteressen. Denn eine stärkere Annäherung an ein inländisches Urteil als die Gleichbehandlung mit diesem ist nicht möglich. Die entscheidende Auswirkung des Verständnisses der Anerkennung als Gleichbehandlung des anerkannten ausländischen Aktes mit einem inländischen Hoheitsakt stellt die Anwendung der für rechtskräftige Entscheidungen geltenden prozessualen Regeln des Anerkennungsstaates auf die anerkannte Entscheidung dar, von der auch das EuGVÜ ausgeht: Es regelt die Behandlung anerkannter Entscheidungen nur, soweit es um die Zwangsvollstreckung von vollstreckbar erklärten Entscheidungen geht und auch dies nur bruchstückhaft. Die Art. 36 bis 39 EuGVÜ - ergänzt durch die §§ 11 bis 14 A V A G - enthalten Normen über Rechtsbehelfe des Schuldners gegen die Zulassung der Zwangsvollstreckung. Die Durchführung der Zwangsvollstreckung richtet sich nach dem Recht des Vollstreckungsstaates 193, so daß in Deutschland zum Beispiel mit der Vollstreckungsgegenklage (§ 767 ZPO) gegen die Vollstreckung vorgegangen werden kann, wobei § 15 A V A G zu beachten ist. Die Art. 40 f. EuGVÜ - ergänzt durch § 16 A V A G - normieren Rechtsbehelfe des Vollstreckungsgläubigers gegen die Ablehnung des Antrags auf Vollstreckbarerklärung. Soweit das EuGVÜ für die Behandlung anerkannter Entscheidungen keine Regeln aufstellt, gilt das Recht das Anerkennungsstaates. Eine in Deutschland anerkannte Entscheidung kann somit grundsätzlich nach § 323 ZPO abgeändert werden. Zu beachten sind aber die Gerichtsstände des EuGVÜ, da für die Abänderungsklage die allgemeinen Zuständigkeitsregeln gelten. Weder besteht eine Zuständigkeit für das Gericht, das die abzuändernde Entscheidung fällt, unabhängig von den Gerichtsstandsregeln des EuGVÜ; noch ist der Anerkennungsstaat ohne Rücksicht auf die Zuständigkeitsnormen des EuGVÜ zuständig 194 . Die hier vertretene Ansicht könnte es erlauben, gegen eine anerkannte Entscheidung nach dem Recht des Anerkennungsstaates Wiederaufnahmeklage zu erheben. Droz 1 9 5 wendet dagegen ein, der französische Cour de Cassation dürfe eine anerkannte ausländische Entscheidung nicht nach französischem Prozeßrecht - §§617, 618 NCPr - aufheben, da es französischen Gerichten nicht erlaubt sei, die Autorität ausländischer Urteile zu zerstören. Allein der Gesichtspunkt des Souveränitätseingriffs überzeugt als Argument gegen die Zulässigkeit einer Wiederaufnahmeklage ebensowenig wie als Argument gegen eine Abände-

193

Kropholler,

EuGVÜ, Art. 36 RN 1 ff.

194

Kropholler,

EuGVÜ, Art. 5 RN 28 ff.; Schlosser, BT-Drs. 10/61 Nr. 105 ff.

195

Droz, rev. crit. int. priv., 1990, S. 553, S. 557; Beraudo, Nr. 46.

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

159

rungsklage, deren Zulässigkeit allgemein anerkannt ist 196 . Im Ergebnis ist Droz aber zuzustimmen. Das Wiederaufnahmeverfahren ist die Fortführung des ursprünglichen Verfahrens aus besonderen Gründen. Nach deutschem Prozeßrecht wird im Falle einer begründeten Wiederaufnahmeklage das angegriffene Urteil aufgehoben und das ursprüngliche Hauptverfahren erneut durchgeführt (590 Abs. 1 ZPO). Würde man eine Wiederaufnahme durch die Gerichte des Anerkennungsstaates zulassen, würden die Gerichtsstandsregeln des EuGVÜ unterlaufen, da in der Hauptsache die Gerichte des Urteilsstaates nach rechtskräftiger Entscheidung endgültig zuständig sind. Diese Regel ist zwar im EuGVÜ nicht ausdrücklich normiert; sie läßt sich aber mit einem Erst-Recht-Schluß aus Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ und aus Art. 28 Abs. 3 EuGVÜ herleiten 197 . Wenn schon die Rechtshängigkeit die ausschließliche Zuständigkeit eines Gerichts begründet (Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ), muß erst recht die Rechtskraft zuständigkeitsbegründende Wirkung haben. Art. 28 Abs. 3 EuGVÜ enthält den Grundsatz, daß bei der Anerkennung die Zuständigkeit des Gerichts des Ureilsstaates nicht nachgeprüft werden darf. Das heißt aber auch, daß die Zuständigkeit des urteilenden Gerichts feststeht. Solange das ausländische Wiederaufnahmeverfahren andauert, kann in Deutschland auf Antrag des Vollstreckungsschuldners nach § 707 Abs. 1 ZPO analog die Zwangsvollstreckung aus dem ausländischen Titel einstweilen eingestellt werden. Sollte die anerkannte Entscheidung in einem Verfahren des Anerkennungsstaates Bedeutung erlangen, ist dieses Verfahren für die Dauer des Wiederaufnahmeverfahrens auszusetzen, nach deutschem Recht analog § 148 ZPO. Wird der ausländische Titel aufgehoben, nachdem die Zwangsvollstreckung aus ihm zugelassen wurde und die Tatsache seiner Aufhebung im Zulassungsverfahren nicht mehr geltend gemacht werden konnte, kann die Aufhebung der Zulassung vor dem Landgericht beantragt werden, das über den Antrag auf Erteilung der Vollstreckungsklausel entschieden hat (§ 29 Abs. 1, Abs. 2 AVAG). Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß Art. 26 Abs. 1 EuGVÜ nur regelt, daß und in welchem Umfang die Urteilswirkungen auf die Rechtsordnung des Anerkennungsstaates erstreckt werden. Die lex fori des Anerkennungsstaates normiert dagegen, wie das anerkannte Urteil im Verfahren des Zweitstaates behandelt wird, nämlich grundsätzlich nach denselben Regeln wie ein inländisches Urteil. Im Einzelfall kann es Schwierigkeiten bereiten, einen mit der Anerkennung zusammenhängenden Aspekt einem dieser beiden Bereiche zuzuordnen. In manchen

196

Nachweise wie FN 192.

197

§ 584 ZPO enthält diese Regel für das deutsche Recht.

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

Rechtsordnungen, wie zum Beispiel in Frankreich 198 , wird die materielle Rechtskraft nur auf die Einrede einer Partei hin berücksichtigt und es wird von der h. M. die materiell-rechtliche Rechtskrafttheorie vertreten. In anderen Rechtsordnungen dagegen ist die Rechtskraft von Amts wegen zu beachten und die prozessuale Rechtskrafttheorie ist herrschend 199. Nach einigen Rechtsordnungen hat die Rechtskraft die Wirkung, daß eine zweite Entscheidung über denselben Streitgegenstand unzulässig ist, nach anderen darf zwar eine neue Entscheidung ergehen, sie muß aber mit der ersten inhaltlich übereinstimmen. Weichen die Auffassungen im Urteils- und im Anerkennungsstaat voneinander ab, fragt es sich, welche Rechtsordnung maßgeblich ist. Sieht man diese mit der Rechtskraft zusammenhängenden Fragestellungen als für den Inhalt und den Umfang der materiellen Rechtskraft bestimmend an, gilt Art. 26 Abs. 1 EuGVÜ und die im Urteilsstaat vertretenen Ansichten werden auf die Rechtsordnung des Anerkennungsstaates erstreckt 200. Betont man dagegen, es handle sich um das Problem, wie ein rechtskräftiges Urteil - gleich ob inländisches oder ein ausländisches - in einem späteren Verfahren prozessual zu behandeln sei, gilt das Verfahrensrecht des Anerkennungsstaates auch für das anerkannte Urteil 201 . Ob in einem Zivilverfahren hinsichtlich der Beibringung einer Tatsache der Untersuchungsgrundsatz, der Grundsatz der Berücksichtigung von Amts wegen gilt oder ob die Parteien eine Tatsache in den Prozeß einzuführen haben, ist eine Frage des Verfahrens des erkennenden Gerichts. Wie die materielle Rechtskraft eines anerkannten Urteils in einem Prozeß im Anerkennungsstaat zu berücksichtigen ist, entscheidet sich daher nach dem Recht des Anerkennungsstaates. Welche Wirkung der materiellen Rechtskraft in einem

198

Habscheid, Festschrift für Fragistas, S. 529, S. 532 (in Frankreich gilt materiell-rechtliche Rechtskrafttheorie), S. 540 (Berücksichtigung der Rechtskraft nur auf Einrede hin). 199 Dies ist in Deutschland der Fall, vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald prozessualen Theorie, § 151 II 4, S. 918 zur Beachtung von Amts wegen.

ZPR15, § 151 II, S. 915 f. zur

200 Geimer, IZPR RN 2807: Ein Urteil dürfe im Ausland keine stärkere Wirkung als im Erststaat haben, so daß die Rechtskraft wie im Erststaat nur auf Einrede hin zu beachten sei. - Hoyer, JB1 1982, S. 634, S. 638 f. (zur österreichischen ZPO): Falls das Recht des Urteilsstaates nur eine Bindung des Richter eines zweiten Verfahrens durch die materielle Rechtskraft vorsehe, gelte dies durch die Anerkennung auch für die Rechtsordnung des Anerkennungsstaates, der Richter des Anerkennungsstaates dürfe einen zweiten Rechtsstreit über denselben Streitgegenstand nicht als unzulässig abweisen. Die Unzulässsigkeit des zweiten Verfahrens könne höchstens bei einem ordre public Verstoß angenommen werden. 201 Martiny, Hdb. IZVR, Bd. III/l, Kap I RN 392; Schütze, DB 1967, S. 497: In einem deutschen Verfahren werde die Rechtskraft stets von Amts wegen berücksichtigt, auch wenn sie nach dem Recht des Urteilsstaates nur auf Parteirüge hin zu beachten ist. - Bungert, IPrax 1992, S. 225, S. 227; Geimer, IZPR RN 2808: Die Rechtskraft einer anerkannten Entscheidung führe in einem deutschen Verfahren stets zur Abweisung einer zweiten Klage über denselben Streitgegenstand als unzulässig, auch wenn nach dem Recht des Urteilsstaates die materielle Rechtskraft das Gericht nur bindet und eine zweite, inhaltsgleiche Entscheidung zu ergehen hat.

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

161

zweiten Prozeß zukommt, ist in erster Linie in dem Verfahren von Interesse, in dem die materielle Rechtskraft entscheidungserheblich ist. Das spricht dafür, auch insoweit die lex fori des Anerkennungsstaates auf die ausländische Entscheidung anzuwenden. Das Problem, wie die Rechtskraft wirkt und wie sie rechtstheoretisch zu erklären ist, ist aber auch die Frage nach dem Wesen und dem Inhalt der materiellen Rechtskraft, beides Materien, die im Recht des Urteilsstaates wurzeln und am besten nach diesem zu beurteilen sind. Eine wirklich überzeugende Begründung für die Einordnung dieser Probleme zum Verfahren des Gerichts des zweiten Verfahrens oder zum Inhalt der materiellen Rechtskraft erscheint nicht möglich. Es sollte auf pragmatische Überlegungen abgestellt werden. Die schwierigen Fragen nach dem Wesen und der Wirkung der materiellen Rechtskraft, die im Recht des Urteilsstaates häufig streitig sind, sollten nicht auch noch in das Verfahren vor einem Gericht des Anerkennungsstaates hineingetragen werden. Das Gericht hat daher nach seinem Verfahrensrecht zu entscheiden, ob es die materielle Rechtskraft als prozessuales oder materiell-rechtliches Institut ansieht und wie sich die materielle Rechtskraft in seinem Verfahren auswirkt.

bb) Übereinstimmung der eigenen Auffassung mit den Zielen des EuGVÜ und dem Zweck des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ Die Auslegung des Begriffs der Unvereinbarkeit als Geltungswiderspruch zwischen den Urteilswirkungen der inländischen und der ausländischen Entscheidung ist restriktiv und ermöglicht deshalb eine weitgehende Anerkennung und die Freizügigkeit der Urteile innerhalb des Anwendungsbereichs des EuGVÜ. Sie entspricht der Absicht der Verfasser des EuGVÜ 2 0 2 , durch die Herausnahme der Unvereinbarkeit aus dem ordre public nur wenige, besonders krasse Fälle des Widerspruchs zwischen Urteilen zum Anerkennungshindernis zu erheben. Der Gesichtspunkt des Wirkungswiderspruchs ist zudem eindeutig und klar. Die Parteien können abschätzen, ob die Wirkungen eines Urteils des Urteilsstaates zu denen einer Entscheidung des Anerkennungsstaates in Widerspruch stehen. Ist für sie die Anerkennung eines Urteils in einem bestimmten Staat, in dem schon ein Urteil existiert oder ein Zweitprozeß geführt werden soll 203 , von Bedeutung, wissen sie, ob das Urteil des Urteilsstaates mit dem schon erlassenen oder noch zu erlassenden des Anerkennungsstaates vereinbar ist und sich das Führen eines zweiten Prozesses lohnt. Durch die enge Auslegung wird den Parteien zudem

202

Jenard-Bericht,

203

EG-ABI. Nr.C 59/ 45.

Nach Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ hindert ein Urteil des Anerkennungsstaates die Anerkennung, gleich ob es vor oder nach dem anzuerkennenden Urteil ergeht. Dazu näher unten Teil 2 Β 14. 11 Lenenbach

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

weitgehend der Anreiz genommen, gleichzeitig zwei Verfahren durchzuführen, um die dann ergehenden Entscheidungen gegeneinander auszuspielen204. Die enge und klare Auslegung beugt der Gefahr vor, daß die einzelstaatlichen Gerichte in weitem Umfang ausländischen Entscheidungen die Anerkennung mit der Begründung versagen, es liege eine Unvereinbarkeit mit einem inländischen Urteil vor. Damit läßt sich der hier vertretenen Lösung nicht entgegnen, sie sei integrationsunfreundlich und widerspreche dem Geist des EuGVÜ, da sie die europäische Norm des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ unter Verweis auf die nationalen Prozeßrechte auslege und bei Widersprüchen außerhalb des Geltungskonfliktes auf das nationale Zivilprozeßrecht verweise. Die vorgenommene Interpretation des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ harmoniert mit den nationalen Prozeßrechten. Die Rechtsfolgen ihrer Urteile - wie die der anzuerkennenden Entscheidungen - werden bei Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ ebenso bestimmt wie für sonstige Bereiche des Prozeßrechts. Rechtsfolgen des Urteils sind seine prozessualen Wirkungen. Der Streit- und Urteilsgegenstand ist im nationalen Recht derselbe wie bei der Bestimmung der Unvereinbarkeit. Die Spannungen, die ein für Art. 21 Abs. 1, Art. 27 Ziff. 3, 5 EuGVÜ geltender europäischer Streitgegenstand hervorruft, werden vermieden. Nach Art. 26 Abs. 1 EuGVÜ werden die einem Urteil nach der Rechtsordnung des Urteilsstaates zukommenden Wirkungen auf alle Vertragsstaaten erstreckt. Anerkannt werden nur die Urteilswirkungen. Mit Art. 26 Abs. 1 EuGVÜ steht eine Auslegung des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ in Einklang, die auf den Widerspruch der Urteilswirkungen abstellt. Den prozeßordnungsgemäß handelnden Parteien ist es nach der hier vertretenen Auffassung möglich, unvereinbare Urteile zu vermeiden. Sie müssen dem Gericht des Zweitverfahrens das Urteils des Erstverfahrens vorlegen. Das Gericht des Zweitverfahrens hat die von der früheren Entscheidung ausgehenden und anerkannten Urteilswirkungen zu beachten. Legt es diese Urteilswirkungen seiner Entscheidung zugrunde, kann es nicht zu unvereinbaren Entscheidungen kommen, da es dann zu einem Widerspruch von Urteilswirkungen gerade nicht kommt. Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ soll verhindern, daß durch eine ausländische Entscheidung, die mit einer inländischen unvereinbar ist, die Rechtsordnung des Anerkennungsstaates beeinträchtigt wird 2 0 5 . Die stärkste Beeinträchtigung geht von kollidierenden Urteilswirkungen aus, da diese einen Umstand verbindlich festlegen, und sich widersprechende verbindliche Aussagen eine unauflösbare Ungewißheit hervorrufen. Diese Interessenlage rechtfertigt die Nichtanerkennung

204

Schack, IZVR, RN 858.

205

Jenard-Bericht,

EG-ABI. Nr.C 59/ 45.

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

163

einer Entscheidung. Widersprüche außerhalb dieses Bereichs hindern nicht die Anerkennung des ausländischen Urteils. Sie sind vielmehr mit den prozessualen Mitteln zu lösen, die das Zivilprozeßrecht des Anerkennungsstaates zur Behebung von Urteilswidersprüchen bietet. Dadurch wird dem Grundsatz der Gleichwertigkeit aller gerichtlichen Entscheidungen der Vertragsstaaten genügt. Würde man nämlich in Fällen außerhalb des Geltungswiderspruchs dem ausländischen Urteil in Deutschland die Anerkennung versagen und es dadurch für die Rechtsordnung des Anerkennungsstaates zu einem rechtlichen nullum herabstufen, würde es im Vergleich zu einem inländischen Urteil, das einem anderen inländischen Urteil in gleicher Weise wie das ausländische widerspricht, schlechter behandelt. Denn das inländische Judikat ist trotz des Widerspruchs wirksam und nur unter Umständen mit prozessualen Rechtsbehelfen angreifbar. Inländische wie ausländische Entscheidungen stören die Rechtsordnung aber gleichermaßen. Die Schlechterstellung des ausländischen Urteils wäre nur mit dem Umstand zu erklären, daß es ein ausländischer Hoheitsakt ist. Diese Diskriminierung wird durch die hier vertretene Auslegung vermieden. Ein möglicher Einwand gegen die vorliegende Interpretation von Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ könnte der Vorwurf von Schwierigkeiten bei der praktischen Anwendung durch die Gerichte sein. Das Gericht des Anerkennungsstaates muß die Urteilswirkungen des ausländischen Urteils und deren Grenzen bestimmen, um feststellen zu können, ob unvereinbare Entscheidungen vorliegen. Die Anwendung ausländischen Rechts ist stets mit großen Mühen und Schwierigkeiten verbunden. Eine autonome, von den nationalen Rechten völlig unabhängige Bestimmung des Begriffs der Unvereinbarkeit, zudem wenn er weit und unklar ist, wäre sicherlich einfacher zu handhaben. Die Probleme der Anwendung ausländischen Rechts sind aber kein Spezifikum von Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ. So hat ein Gericht ausländisches materielles Recht anzuwenden, wenn sein internationales Privatrecht auf ein ausländisches Sachstatut verweist. Im Rahmen des EuGVÜ ist bei Art. 5 Nr. 1 nach der h. M. zur Bestimmung "des Ortes, an dem die Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre" auf das nach dem internationalen Privatrecht des entscheidenden Gericht anwendbare materielle Recht abzustellen206. Auch der Zeitpunkt, zu dem eine Entscheidung im Sinne von Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ rechtshängig wird, bestimmt sich nach dem EuGH 2 0 7 nach dem nationalen Recht des Gerichts, bei dem das Verfahren anhängig ist. Soweit die Urteilswirkungen eines nach Art. 26 Abs. 1 EuGVÜ anerkannten Urteils in einem Verfahren des Anerkennungsstaates eine Rolle

206 Rs. Tessili/Dunlop EuGH Slg. 1976, S. 1473, S. 1485 f.; Kropholler, EuGVÜ, Art. 5 RN 12 f. a. A. Schack, Erfüllungsort, S. 230ff.: der Erfüllungsort sei vertragsautonom zu bestimmen. 207

Rs. Zelger/Sabinitri EuGH Slg. 1984, S. 2397, S. 2408.

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

spielen, sind, wenn man der Theorie der Wirkungserstreckung folgt 208 , Art und Umfang der Urteilswirkungen nach dem Recht des Urteilsstaates zu bestimmen. Die Anwendung ausländischen Rechts dürfte mit zunehmender Internationalisierung der Wirtschaft eher zu- als abnehmen. Sind die Probleme bei der Ermittlung des fremden Rechts zu groß, besteht für das Gericht die Möglichkeit, ein Rechtsgutachten einzuholen. Diese praktischen Unannehmlichkeiten sollten aber kein Grund sein, die Vorteile der vorliegend gefundenen Lösung beiseite zu schieben und die einfache Handhabbarkeit zum obersten Maßstab der Auslegung zu erklären.

g) Die Lösung von Widersprüchen zwischen Entscheidungen der EuGVÜ-Staaten nach dem vorliegend entwickelten Konzept dargestellt anhand von Fallbeispielen Die oben entwickelte Konzeption zur Lösung von Widersprüchen zwischen gerichtlichen Entscheidungen aus verschiedenen Mitgliedsstaaten des EuGVÜ wird anhand von Fallbeispielen nachfolgend veranschaulicht. Da die Beispielsfälle solche zu den objektiven Grenzen der Rechtskraft sind, ist es erforderlich, den Umfang der Rechtskraftwirkung in ausgewählten Rechtsordnungen - Frankreich und England - darzustellen.

aa) Die objektiven Grenzen der Rechtskraft

im französischen Recht

Nach französischem Recht hat die Rechtskraft zum einen die Wirkung, daß eine Klage mit gleichem Streitgegenstand wie eine schon rechtskräftige entschiedene Klage unzulässig ist, zum anderen führt die Rechtskraft zu einer Bindung an die von der Rechtskraft umfaßten Elemente eines Urteils 209 . Die Rechtskraft eines französischen Zivilurteils bezieht sich nach Art. 1351 S. 1 CC 2 1 0 auf das objet du jugement. Nach Satz 2 dieser Vorschrift bestimmt sich der Gegenstand der Rechtskraft nach der "chose demandeé" (= Klagebegehren) und der "cause" (= Klagegrund). Damit scheint dasfranzösische Recht wie das deutsche Prozeßrecht auf das Klagebegehren und den Klagegrund abzustellen, wenn es um die Bestimmung der objektiven Grenzen der Rechtskraft geht. Dieser Eindruck bestätigt sich, wenn allgemein ausgeführt wird, nur das "dispositif' (= Tenor)

208

Zur den Anerkennungstheorien vgl. oben Teil B I 1 f) aa) (2).

209

Croze/Morel, , Nr. 66, S. 75.

2,0

Dieser lautet: "L'autorité de la chose jugeé n'a lieu qu'à l'égard de ce qui a fait l'objet du jugement.

165

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

erwachse in Rechtskraft, nicht dagegen die "motifs" (= Entscheidungsgründe) 211. Der Eindruck täuscht. An der Rechtskraft nehmen nach französischer Doktrin auch diejenigen Elemente der Entscheidungsgründe teil, die die notwendige Basis des Tenors bilden, die mit dem Tenor in einem untrennbaren Sinnzusammenhang stehen212. Überträgt man diese Aussage in die deutsche prozessuale Begriffswelt, läßt sich sagen, daß nach französischem Recht auch die bedingenden Rechtsverhältnisse in Rechtskraft erwachsen 213. Die Identität des dispositif und der in Rechtskraft erwachsenden Teile der motifs zweier Klagen richtet sich nach der Identität von Gegenstand (objet de la demande) und Grund der Klagen (cause de la demande)214. Unter "objet" einer Klage wird das geltend gemachte materielle Recht im Prozeß (= le droit réclamé en justice) verstanden 215. "Cause" meint den Entstehungstatbestand des geltend gemachten Rechts (=le principe générateur) 216. Die Lehre versteht darunter die tatsächliche Basis des erhobenen materiellen Rechts im Sinne eines klagebegründenden Sachverhalts 217, die Rechtsprechung setzt "cause" mit der von den Parteien zur Stützung ihres Vorbringens geltend gemachten Gesetzesbestimmungen gleich 218 . So kann nach französischer Auffassung eine Partei bei rechtskräftiger Verneinung eines Eigentumserwerbsgrundes in einem Prozeß, einen weiteren Prozeß anstrengen, in dem sie ihre Klage mit dem gleichen Klageantrag auf einen anderen Erwerbsgrund stützt 219 . Verschiedene Unwirksamkeitsgründe eines Vertrages - Geschäftsunfähigkeit, Formmängel, Irrtümer - bilden jeweils eine eigene "cause" für eine Klage zur Geltendmachung der Unwirksamkeit desselben Vertrages, so daß verschiedene Klagen, gestützt auf einen anderen Vertragsmangel, erhoben werden können, auch wenn alle Unwirksamkeitsgründe zum Zeitpunkt des ersten Prozesses vorlagen und der Partei, die sich auf sie beruft, bekannt waren 220 . Die beiden Beispiele zeigen nicht nur, daß der Umfang der Rechtskraft sich im französischen Recht nach der "cause" der Klage bestimmt, sondern auch, daß eine Bindungswirkung nur insoweit eintritt, als die Parteien zur Begründung oder zum

211

Perrot, Chose jugeé, Nr. 76; Zeuner Festschrift für Zweigert, S. 603, S. 608.

2,2

Perrot, Chose jugeé, Nr. 82; Zeuner, Festschrift für Zweigert, S. 603, S. 610; Cour de Cassation 17. 11. 1971, Gaz. Pal. 1972.1., S. 259. 213

Habscheid, Festschrift für Fragistas, S. 529, S. 545.

214

Habscheid, Festschrift für Fragistas, S. 529, S. 545; Perrot, Chose jugeé, Nr. 146 f.; Cour de Cassation 29. 01. 1940, Gaz. Pal. 1940.1., S. 430. 215

Habscheid, Festschrift für Fragistas, S. 529, S. 545; Perrot. Chose jugeé, Nr. 190.

216

Habscheid, Festschrift für Fragistas, S. 529, S. 545; Perrot, Chose jugeé, Nr. 190.

217

Perrot, Chose jugeé, Nr. 171/177 ff.

2.8

Habscheid, Festschrift für Fragistas, S. 529, S. 546. Croze/Morel, ziehen beide Kriterien heran.

Nr. 67/146, S. 76 f./150 f.

2.9

Perrot, Chose jugeé, Nr. 190.

220

Perrot, Chose jugeé, Nr. 183 ff.; Zeuner, Festschrift für Zweigert, S. 603, S. 609.

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

Bekämpfen eines Begehrens in den prozeßeinleitenden Schriftsätzen (= conclusions) oder vor Gericht tatsächlich etwas vortragen 221 . Mit späterem Vorbringen sind sie nicht präkludiert, auch wenn es im Zeitpunkt des ersten Prozesses bekannt war. Die bedingenden Rechtsverhältnisse erwachsen nur in Rechtskraft, wenn sie zwischen den Parteien im Prozeß tatsächlich streitig waren und wenn über sie im Urteil tatsächlich entschieden wurde 222 . Beispielsfall 1: Ein französisches Gericht verurteilt den Mieter M rechtskräftig zur Zahlung von Miete an den Vermieter V für die Monate Mai bis Oktober 1993. In diesem Prozeß war umstritten, ob ein wirksamer Mietvertrag besteht, was vom Gericht bejaht wurde.

Da der Mietvertrag ein den Tenor bedingendes Rechtsverhältnis darstellt, das im Prozeß streitig war und über das vom Gericht entschieden wurde, erwächst die Feststellung, daß der Mietvertrag besteht, in Rechtskraft.

bb) Die objektiven Grenzen der Rechtskraft

im englischen Recht

Nach englischem Verständnis gehört die Lehre von der Rechtskraft in das Beweisrecht. Sie wird dort als ein Fall der Doktrin vom "estoppel" behandelt 223 . Diese Lehre vom "estoppel" erfaßt Fallgruppen von tatsächlichen Behauptungen, die im Prozeß nicht bewiesen werden dürfen 224. Wie Cohn 225 überzeugend darlegt, bedeutet der Ausschluß des Beweises in einem Verfahren, das von der strengen Verhandlungsmaxime beherrscht wird, auch den Ausschluß des zu beweisenden Vortrags. Wer "estopped" ist, ist schon daran gehindert, eine ihm günstige Tatsache in das Verfahren einzuführen. Dogmatisch läßt sich die Lehre von der Rechtskraft als Fall der prozessualen Verwirkung begreifen: die Parteien sollen sich zu ihrem Verhalten im Vorprozeß nicht in Widerspruch setzen226. In Rechtskraft erwachsen nur Sachentscheidungen, Prozeßurteile sind der Rechtskraft nicht fähig 227 . Für die Bestimmung der objektiven Grenzen der Rechtskraft im englischen Recht ist es wichtig, zwischen Anspruchsestoppel (= cause of action estoppel) und Streitpunktestoppel (= issue estoppel) zu

221

Perrot, Chose jugeé, Nr. 86 ff.; Zeuner, Festschrift für Zweigert, S. 603, S. 608.

221

Habscheid, Festschrift für Fragistas, S. 529, S. 545; Zeuner, Festschrift für Zweigert, S. 603, S. 610. 223

Cohn, Festschrift für Nipperdey, S. 875, S. 876 ff.; Ritter, ZZP 87 (1974), S. 138, S. 166.

224

Cohn, Festschrift für Nipperdey, S. 875, S. 876.

225

Cohn, Festschrift für Nipperdey, S. 875, S. 877 f.

226

Bunge, ZZP 92 (1979), S. 351, S. 360; Cohn, Festschrift für Nipperdey, S. 875, S. 878.

227

Cohn, Festschrift ftlr Nipperdey, S. 875, S. 884 m.w.N.

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

167

unterscheiden. Ähnlich dem deutschen Zivilprozeßrecht ist nach englischem Recht eine zweite Klage über dieselbe "cause of action" - der Begriff steht dem deutschen Begriff des Streitgegenstandes nahe 228 - unzulässig, wenn über diese "cause of action" vom zuständigen Gericht schon rechtskräftig entschieden wurde. Da die englische Rechtskraftlehre in die "estoppel-Doktrin" eingegliedert ist, wird dieses Ergebnis dadurch erreicht, daß es prozessual verboten ist, zu behaupten, ein prozessualer Anspruch bestehe oder bestehe nicht, wenn dessen Bestehen oder Nichtbestehen bereits rechtskräftig festgestellt wurde 229 . Dieser Ausschluß mit prozessualem Vorbringen aufgrund der Rechtskraft wird als "cause of action estoppel" bezeichnet. Der objektive Umfang des Anspruchsestoppel richtet sich danach, ob die "cause of action" des Erst- und Zweitprozesses dieselbe oder eine andere ist. Nur bei Identität der causes greift die Ausschlußwirkung des Anspruchsestoppels 230. Anhand welcher Kriterien sich die Identität der causes zweier Klagen bestimmt, ist im einzelfallorientierten common law kaum exakt zu sagen. Als eine "cause of action" wird ein "breach of contract" hinsichtlich desselben Vertrages oder einzelner Vertragsbestimmungen angesehen231; oder das einem anderen zugefügte Unrecht 232 . Hat ein Kläger bei einem Unfall dagegen sowohl einen Sach- als auch eine Körperschaden erlitten, stellen die beiden Schadenspositionen zwei "causes of action" dar 233 . Allgemein läßt sich mit Zeuner 234 sagen, daß sich die Identität zweier "causes of action" nach einem sachverhaltsbezogenen und einem rechtlichen Element bestimmt. Der Begriff der "cause of action" wird nicht wie der deutsche Streitgegenstandsbegriff von dem mit der Klage geltend gemachten prozessualen Begehren konkretisiert und begrenzt. Es ist darauf abzustellen, welcher als einheitlich empfundener Sachverhaltskomplex dem Gericht mit der Klage unterbreitet wird. Neben der Einheitlichkeit des Sachverhalts ist eine rechtliche Einheitlichkeit zweier Klagen erforderlich, um eine "cause of action" annehmen zu können 235 . Vom Anspruchsestoppel ist die Rechtskraftwirkung eines englischen Urteils zu unterscheiden, die mit Streitpunktestoppel bezeichnet wird. Aufgrund des

228

Zeuner, Festschrift für Zweigert, S. 603, S. 603 f.

229

Ritter, ZZP 87 (1974), S. 138, S. 168/S. 172; Zeuner, Festschrift für Zweigert, S. 603, S. 603 f.; Thoday v. Thoday, 1964, 2 W.L.R., S. 371, Diploch, S. 384. 230

Ritter, ZZP 87 (1974), S. 138, S. 169; Zeuner, Festschrift für Zweigert, S. 603.

231

Conquer v. Boot , (1928), 2 Κ.Β., S. 336, S. 342.

232

King v. Hoare, (1844), 13 M.&W., S. 494, S. 504: zitiert nach Zeuner , Festschrift für Zweigert, S. 603, S. 606 FN 9. 233

Spencer Bower/Turner

234

Zeuner, Festschrift für Zweigert, S. 603, S. 604 ff.

235

Zeuner, Festschrift für Zweigert, S. 603, S. 605 f.

, Doctrine of Res Judicata, Nr. 457 FN 3.

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

Streitpunktestoppels tritt eine Bindungswirkung hinsichtlich der im Urteil festgestellten präjudiziellen Rechtsverhältnisse und auch bezüglich rechtlich gewürdigter Tatsachen ein, soweit diese Elemente der Entscheidungsgründe notwendige Stützen des zum Urteil führenden Subsumtionsschlusses sind 236 . Von der Rechtskraft werden also auch solche tatsächliche und rechtliche Elemente des Urteils erfaßt, die notwendige Voraussetzung des ergangenen Urteils sind, wenn über sie entschieden wurde. Aber auch, wenn es sich um Umstände handelt, die bei der von der Prozeßpartei zu erwartenden Sorgfalt hätten vorgebracht werden können, aber tatsächlich nicht wurden, greift die Wirkung des Streitpunktestoppels ein 237 . Diese Bindungswirkung erstreckt sich aber nur auf solches Vorbringen im Zweitprozeß, das dem Vorbringen der im Erstprozeß erfolgreichen Partei widerspricht und für das diese die Beweislast trägt 238 . Beispielsfall 2: Der Kläger des französischen Mietzinsprozesses von Beispielsfall 1 verklagt den damaligen Beklagten auf Leistung von Schadensersatz wegen Beschädigung der Mietsache. Das englische Gericht weist die Klage rechtskräftig mit der Begründung ab, es habe nie ein wirksamer Mietvertrag bestanden.

Die Feststellung des Nichtbestehens des Mietvertrages ist eine Feststellung eines das Urteil bedingenden Rechtsverhältnisses. Sie wird von der Wirkung des Streitpunktestoppels umfaßt mit der Folge, daß nach englischem Recht das Nichtbestehen des Mietvertrages rechtskräftig feststeht. Von der Rechtskraft erfaßt ist auch die "cause of action" des Prozesses. Als solche ist im Beispielsfall 2 der Lebenssachverhalt "Beschädigung der Mietsache" und alle auf Ersatz des durch diese Beschädigung entstandenen Schadens gerichteten materiellrechtlichen Ansprüche zu betrachten. Der Kläger ist daher in künftigen Prozessen mit der Behauptung ausgeschlossen, ihm stünden wegen der Beschädigung der Mietsache Ansprüche gegen den Beklagten zu.

cc) Behandlung von Widersprüchen zwischen Urteilen nach Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ Beispielsfall 3: Der Schadenersatzprozeß von Beispielsfall 2 findet vor einem deutschen Gericht statt. Das deutsche Gericht verurteilt den Beklagten rechtskräftig zur Zahlung

236

Bunge, ZZP 92 (1979), S. 351, S. 361; Ritter, ZZP 87 (1974), S. 138, S. 172; Thoday v. Thoday, 1964, 2 W.L.R., S. 371, Diploch, S. 384. 237 Cohn, Festschrift für Nipperdey, S. 875, S. 887; Zeuner, Festschrift für Zweigert, S. 603, S. 607; Spencer Bower/Turner , Doctrine of Res Judicata, Nr. 193 f./Nr. 197 ff. 238 Zeuner , Festschrift für Zweigert, S. 603, S. 607; Humphries v. Humphries , 1908 - 1910, All. E. R., S. 733.

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

169

von Schadenersatz, wobei es in den Entscheidungsgründen vom Bestehen des Mietvertrages ausgeht.

Dieses deutsche Urteil wirkt Rechtskraft nur hinsichtlich des Urteilsgegenstandes, das heißt, rechtskräftig festgestellt ist nur, daß der Kläger gegen den Beklagten einen Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz wegen Beschädigung der Mietsache hat. Die Feststellungen zum Bestehen des Mietvertrages erwachsen dagegen nicht in Rechtskraft, da nach deutschem Prozeßrecht die festgestellten bedingenden Rechtsverhältnisse nicht von der Rechtskraft umfaßt sind 239 . Die in den drei Beispielsfällen dargestellten Urteile sollen auf ihre Unvereinbarkeit nach Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ hin untersucht werden. Das englische und das deutsche Urteil sind unvereinbar, da sie die Frage, ob ein Anspruch des Klägers gegen den Beklagten wegen der Beschädigung der Mietsache besteht, genau entgegensetzt beantworten. Die rechtskräftigen Feststellungen beider Urteile und damit ihre Urteilswirkungen stehen in einem Geltungswiderspruch. Auch das französische und das englische Urteil sind unvereinbar, obwohl ihre Streitgegenstände verschieden sind. Denn in ihren Gründen beantworten sie die Frage des Bestehens des Mietvertrages unterschiedlich. Da die Feststellungen zum Bestehen des Vertrages in Rechtskraft erwachsen, steht Rechtskraft gegen Rechtskraft. Die deutsche und die französische Entscheidung sind dagegen miteinander vereinbar. Denn sie haben keine Urteilswirkungen, die sich widersprechen. Selbst wenn man den Beispielsfall 3 insoweit abwandelt, daß das deutsche Urteil genau wie das englische die Schadenersatzklage abweist, weil ein Mietvertrag nicht besteht, sind die deutsche und die französische Entscheidung miteinander vereinbar; insbesondere wirkt das deutsche Urteil, soweit es vom Nichtbestehen des Vertrages in den Entscheidungsgründen ausgeht, keine Rechtskraft, so daß es zu der rechtskräftigen Feststellung des französischen Urteils, der Mietvertrag bestehe, nicht in Geltungskonflikt gerät. Damit ist aber nur gesagt, daß die unterschiedliche Beurteilung des Bestehens des Mietvertrages nicht zur Nichtanerkennung des deutschen Urteils in Frankreich beziehungsweise des französischen Judikats in Deutschland führt. Hat das deutsche Gericht in seinem Verfahren das anerkanntefranzösische Urteil übersehen, besteht die Möglichkeit, die übersehene Urteilswirkung - rechtskräftige Feststellung des Bestehens des Mietvertrages - auch nach Rechtskraft des deutschen Urteils mit den prozessualen Mitteln des deutschen Prozeßrechts geltend zu machen. In dem Verfahren vor dem deutschen Gericht wurde ein Urteil übersehen, das eine für den deutschen

239

Stein/Jonas/Leipold

20

, § 322 RN 89 ff.

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

Schadenersatzprozeß vorgreifliche Frage rechtskräftig festgestellt hatte. Die Mißachtung eines für eine Frage des Zweitprozesses präjudiziellen rechtskräftigen Urteils ist ein Problem, das sich im Verhältnis zweier deutscher Entscheidungen auch stellt. Das übersehene Urteil eröffnet die Möglichkeit, das zweite Verfahren gemäß § 580 Nr. 7a ZPO wiederaufzunehmen 240. Das gleiche Vorgehen ist in anderen Fällen geboten, in denen zwischen anzuerkennender ausländischer Entscheidung und einer Entscheidung des Anerkennungsstaates ein Widerspruch besteht, der keine Unvereinbarkeit nach Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ darstellt. Der Konflikt ist grundsätzlich nach den prozessualen Regeln des Anerkennungsstaates zu lösen. Grundsätzlich ist es zulässig, eine anerkannte Entscheidung, die mit der Anerkennung wie ein Hoheitsakt des Anerkennungsstaates behandelt wird, nach dem Prozeßrecht des Anerkennungsstaates zu ändern oder aufzuheben 241. Soweit es zur Auflösung des Konfliktes erforderlich ist, gegen die anerkannte ausländische Entscheidung mittels einer Wiederaufnahmeklage oder ernes vergleichbaren Rechtsinstituts vorzugehen, muß diese im Urteilsstaat erhoben werden. Sollte dieser Staat bei der Behandlung von Urteilskollisionen ausländische Urteile gegenüber den eigenen diskriminieren, indem er den inländischen Judikaten stets den Vorrang einräumt, liegt darin ein grober Verstoß gegen das das EuGVÜ beherrschende Ziel der Gleichbehandlung aller in den Anwendungsbereich des EuGVÜ fallender Entscheidungen. Die Diskriminierung stellt daher einen Verstoß gegen den ordre public (Art. 27 Nr. 1 EuGVÜ) dar und hat zur Folge, daß das im Wiederaufnahmeverfahren ergehende Urteil nicht anerkannt wird. Läßt sich der Konflikt der Entscheidungen auch nach diesen Regeln nicht beheben, bleibt er fortbestehen. Dem kann nicht entgegenhalten werden, die mit der inländischen Entscheidung in Widerspruch stehende ausländische Entscheidung führe zu einer unerträglichen Störung der Rechtsordnung des Anerkennungsstaates. Die anerkannte ausländische wird wie eine inländische Entscheidung behandelt. Dies gilt auch, soweit sie zu einer inländischen in einem Widerspruch steht, der nach dem Recht des Anerkennungsstaates bestehen bleibt. Auch ist diese Lösung integrationsfreundlich, da sie das anerkannte Urteil und die von ihm ausgehenden Spannungen für die Rechtsordnung des Anerkennungsstaates ebenso behandelt, wie das Spannungsverhältnis zweier von inländischen Gerichten erlassener Entscheidungen.

240

Vgl. oben Teil 1 C II 4.

241

Vgl. oben Teil 2 B I 1 0 aa) (3).

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

171

2. "Entscheidung" i.S.v. Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ Eine ausländische Entscheidung wird nach Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ dann nicht anerkannt, wenn sie mit einer Entscheidung des Anerkennungsstaates unvereinbar ist. Damit das Anerkennungshindernis des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ eingreift, bedarf es also zweier "Entscheidungen". Was eine Entscheidung im Sinne des Titel I I I des EuGVÜ, der die Anerkennung und Vollstreckung regelt, ist, definiert Art. 25 EuGVÜ. Danach ist eine Entscheidung jede von einem Gericht eines Vertragsstaates erlassene Entscheidung, ohne Rücksicht auf ihre Bezeichnung wie Urteil, Beschluß oder Vollstreckungsbefehl, einschließlich des Kostenfeststellungsbeschlusses des Urkundsbeamten. Der Begriff der "Entscheidung" so wie er in Art. 25 EuGVÜ bestimmt wird, gilt für das gesamte Abkommen, also auch für Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ 242 . Erne Entscheidung zeichnet aus, daß ein Rechtssprechungsorgan eines Vertragsstaates in seiner Funktion als Gericht selbst über die zwischen den Parteien bestehenden Streitpunkte entscheidet243. In der Rechtssache Solo Kleinmotoren GmbH/Boch legte der BGH dem EuGH 2 4 4 die Frage vor, ob ein vollstreckungsfähiger Prozeßvergleich, der vor einem Gericht des Anerkennungsstaates abgeschlossen wurde, eine Entscheidung im Sinne des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ ist, die in dem Staat, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird, ergangen ist. Ein Herr Boch erlangte 1986 gegen die Solo Kleinmotoren GmbH ein Schadensersatzurteil des Tribunale Civile Bologna, dessen Vollstreckbarerklärung nach dem EuGVÜ er in Deutschland beantragte. In diesem Vollstreckbarerklärungsverfahren wendete die Solo Kleinmotoren GmbH ein, die Anerkennung und Vollstreckung des italienischen Urteils scheitere an Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ, da ein früherer, vor dem OLG Stuttgart abgeschlossener Prozeßvergleich mit der späteren italienischen Entscheidung unvereinbar sei. Der BGH, der als Rechtsbeschwerdeinstanz mit dem Verfahren befaßte war, legte dem EuGH die Frage vor, ob ein Prozeßvergleich eine Entscheidung des Anerkennungsstaates im Sinne des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ sei. Der EuGH 2 4 5 verneint dies mit überzeugender Argumentation. Was eine Entscheidung sei, bestimme sich auch für Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ nach der Definition des Art. 25 EuGVÜ. Eine "Entscheidung" im Sinne des Art. 25 EüGVÜ liege aber nur vor, wenn eine Entscheidung von einem Rechtsprechungsorgan eines

242

Rs. Solo Kleinmotoren GmbH/Boch, EuGH NJW 1995, S. 38, S. 39.

243

Rs. Solo Kleinmotoren GmbH/Boch, £wG//NJW 1995, S. 38, S. 39; Jenard-Bericht, 1979, Nr. C 59/1, 42. 244

Rs. Solo Kleinmotoren GmbH/Boch, EuGHWW

245

Rs. Solo Kleinmotoren GmbH/Boch, £wG//NJW 1995, S. 38, S. 39.

1995, S. 38.

EG-ABI.

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

Vertragsstaates erlassen worden sei, das selbst über den Rechtsstreit entscheide. Ein Prozeßvergleich sei dagegen im wesentlichen ein von den Parteien geschlossener Vertrag, dessen Inhalt vom ihrem Willen bestimmt werde. Auch erfordere es der Zweck des als Ausnahmebestimmung eng auszulegenden Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ nicht, einen Prozeßvergleich als "Entscheidung" anzusehen. Die ratio der Norm sei es, eine Störung des Rechtslebens des Anerkennungsstaates durch widersprechende Urteile zu verhindern. Eine die Anerkennung hindernde Störung sei aber nur gegeben, wenn ein Gericht selbst eine Entscheidung über einen Streitpunkt fälle. Zudem sei die Vollstreckung eines Vergleiches in den Artt. 50 und 51 EuGVÜ als Ausnahme von den Regeln über die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidung gesondert geregelt. Dieser Hinweis auf die Artt. 50 f. EuGVÜ ist der einzige Schwachpunkt in der Argumentation des EuGH. Im Titel IV des EuGVÜ werden Regeln über die Vollstreckbarerklärung ausländischer öffentlicher Urkunden und Prozeßvergleiche in einem Anerkennungsstaat aufgestellt. Geregelt ist also die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen ein vor einem ausländischen Gericht geschlossener Vergleich in einem anderen Vertragsstaat für vollstreckbar erklärt werden kann. Darum ging es aber in dem Verfahren der Vollstreckbarerklärung in Deutschland gar nicht. Es sollte nicht ein italienischer Prozeßvergleich in Deutschland für vollstreckbar erklärt werden, sondern ein italienisches Zivilurteil. Die Voraussetzungen der Vollstreckbarerklärung eines Urteils sind aber in den Artt. 31 ff. EuGVÜ normiert. Eine Frage, die dem EuGH vom BGH nicht vorgelegt wurde und die er daher nicht behandelte, ist die, ob es nicht der deutschen öffentlichen Ordnung widerspricht, wenn ein italienisches Urteil einer Partei Ansprüche zuspricht, die durch einen deutschen Prozeßvergleich schon erledigt sind. Bestehen zwischen einem ausländischen und einem Urteil des Anerkennungsstaates Widersprüche, die keine Unvereinbarkeit darstellen und deshalb die Anerkennung nicht nach Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ hindern, liegt auch kern Verstoß gegen die öffentliche Ordnung des Anerkennungsstaates vor. Denn durch die Einführung des Anerkennungshindernisses des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ soll der Fall der widersprechenden Urteile gerade abschließend geregelt werden und ein Rückgriff auf Art. 27 Nr. 1 EuGVÜ ausgeschlossen werden. Ein Prozeßvergleich fällt unter anderem deshalb nicht unter Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ, weil durch den Widerspruch zwischen ausländischem Urteil und inländischem Vergleich die Rechtsordnung nicht so stark gestört wird, daß es geboten erscheint, das Urteil nicht anzuerkennen. Dann wäre es aber widersprüchlich den Prozeßvergleich als Teil der öffentlichen Ordnung des Anerkennungsstaates anzusehen, der der Anerkennung der ausländischen Entscheidung entgegensteht, da dann Widersprüche zwischen Vergleich und ausländischem Urteil die Anerkennung in größerem Maße hindern könnten als Widersprüche zwischen in- und ausländischer Entscheidung. Daher entfaltet Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ auch bei einem

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

173

Prozeßvergleich, der mit einem ausländischen Urteil in Widerspruch steht, gegenüber Art. 27 Nr. 1 EuGVÜ ein Sperrwirkung.

3. "Dieselben Parteien" i.S.v. Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ Nach Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ müssen die unvereinbaren Entscheidungen zwischen denselben Parteien ergehen. Zweifelsfrei sind beide Urteile zwischen denselben Parteien ergangen, wenn die Parteien der Prozesse, die zu unvereinbaren Entscheidungen führen, personenidentisch sind. Sind die Parteien auch "dieselben" i.S.v. Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ, wenn sie zwar am Rechtsstreit, der zu einer der unvereinbaren Entscheidungen führte, nicht als Parteien beteiligt waren, die Urteilswirkungen aber auf sie erstreckt werden? Umfang und Grenzen der Urteilswirkungen richten sich nach der Rechtsordnung des Urteilsstaates, so daß sich auch die subjektiven Grenzen der Urteilswirkungen nach dem Recht des Urteilsstaates bestimmen 246 . Erstreckt zum Beispiel das deutsche Recht die Rechtskraft eines Urteils auf den Rechtsnachfolger (§ 325 Abs. 1, 2 ZPO) oder auf den materiell-rechtlichen Inhaber eines Rechts, wenn das Recht in zulässiger gesetzlicher oder gewillkürter Prozeßstandschaft vom Prozeßstandschafter eingeklagt wird 2 4 7 , wirkt die Rechtskraft dieser Urteile in allen Vertragsstaaten für und/oder gegen die Person, auf die die Rechtskraft nach deutschem Recht erstreckt worden ist. Der Zweck des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ ist es, Störungen in der Rechtsordnung des Anerkennungsstaates zu vermeiden, die dadurch entstehen, daß ein Urteil des Anerkennungs-staates mit einem anzuerkennenden ausländischen Urteil unvereinbar ist 248 . Nach der hier vertretenen Auffassung bedeutet Unvereinbarkeit einen Geltungskonflikt der Urteilswirkungen der Entscheidungen. Daher führt eine Rechtskrafterstreckung in zwei Fallgruppen dazu, daß unter "denselben Parteien" auch diejenigen Personen zu verstehen sind, auf die nach dem Recht des Urteilsstaates die Rechtskraft erstreckt wird. Diese Situation ist zum einen gegeben, wenn die Rechtskraft beider unvereinbarer Entscheidungen auf dieselbe Person erstreckt wird, was zum Beispiel nach deutschem Recht der Fall ist, wenn eine Partei beerbt wird (§ 325 Abs. 1 ZPO). Zum anderen sind auch Fälle denkbar, in denen die Rechtskraft nur eines der unvereinbaren Urteile auf eine nicht am Prozeß beteiligte Person erstreckt wird. Führt diese Person dann selbst

246 Martiny, Hdb. IZVR, Bd. III/l, Kap. 1 RN 375/378; ders., Bd. III/2, Kap. 2 RN 72 ff.; Stein! Jonas/Schumann 20, § 328 RN 4. 247

Stein/Jonas/Leipold

248

Jenard-Bericht,

20

, § 325 RN 62.

EG-ABI. Nr.C 59/45.

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

einen Rechtsstreit, dessen Urteilswirkungen zu der Entscheidung in Widerspruch stehen, deren Urteilswirkungen auf die Person erstreckt wurde, ist eine Unvereinbarkeit zwischen beiden Entscheidungen gegeben. Wenn die Rechtskraft eines ersten Urteils nach § 325 Abs. 1 ZPO auf den Erben erstreckt wird und der Erbe danach selbst einen Prozeß führt, dessen Urteil mit dem ersten Urteil unvereinbar ist, liegt ein solcher Fall vor. Die weite Auslegung des Begriffs derselben Parteien auf die beiden Fallgruppen ergibt sich aus dem Zweck des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ. Die Störung für die Rechtsordnung des Anerkennungsstaates, die von der anzuerkennenden Entscheidung ausgeht, ist bei einer Rechtskrafterstreckung, die zu einer Unvereinbarkeit führt, ebenso erheblich, als wenn die Entscheidungen nur zwischen den Personen Urteilswirkungen zeitigen, die die Prozesse selbst geführt haben. Es läßt sich daher festhalten, daß unter denselben Parteien gemäß Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ auch Personen anzusehen sind, auf die die Urteilswirkungen einer Entscheidung ersteckt werden, wenn diese "erstreckten Urteilswirkungen" zu den Urteilswirkungen einer anderen Entscheidung in Widerspruch treten und eine Kollision von Urteilswirkungen entsteht. Das Tribunal de grande instance de Paris 249 setzte sich mit der Frage auseinander, wann Entscheidungen zwischen denselben Parteien ergangen sind. In dem Rechtsstreit zwischen einer französischen Gesellschaft C und einer italienischen Gesellschaft A hatte das Zivilgericht Padua einen zwischen den Parteien geschlossenen Vertrag wegen Nichterfüllung des Vertrages, die nach Ansicht des Gerichtes von der französischen Gesellschaft verschuldet worden war, für aufgelöst erklärt und die französische Gesellschaft zur Zahlung von Schadensersatz verurteilt. Mit einer später erhobenen Klage vor dem Handelsgericht von Paris klagte die französische Gesellschaft C gegen die italienische Gesellschaft A und eine zweite italienische Gesellschaft Ζ auf Auflösung des Vertrages wegen von den italienischen Gesellschaften alleinverschuldeter Nichterfüllung des Vertrages und auf Zahlung von Schadenersatz. Den Einwand, dieser Klage stehe nach Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ die Rechtshängigkeit des italienischen Verfahrens entgegen, wies die Cour d'appel de Paris mit der Begründung zurück, der künftigen Anerkennung des italienischen Urteils stehe nicht Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ entgegen, da in dem französischen Verfahren eine weitere italienische Gesellschaft, die Z, Beklagte sei und daher nicht dieselben Parteien an den Rechtsstreiten beteiligt seien. Die beiden italienischen Gesellschaften wurden vom Handelsgericht Paris, dessen Urteil von der Cour d'appel bestätigt wurde, antragsgemäß verurteilt.

249

Tribunal de grande instance de Paris, rev. crit. int. priv., 1990, S. 550.

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

175

Die italienische Gesellschaft beantragte beim Tribunal de grande instance de Paris gemäß den Art. 31 ff. EuGVÜ die Vollstreckbarerklärung des Urteils des Zivilgerichts Padua. Das Tribunal sah das Vollstreckungshindernis der Art. 34 Abs. 2,27 Nr. 3 EuGVÜ als nicht gegeben an und berief sich auf die Begründung der Cour d'appel, die Urteile des Zivilgerichts Padua und der Cour d'appel seien nicht zwischen denselben Parteien ergangen. Die Cour d'appel und das Tribunal de grande instance de Paris verstehen unter denselben Parteien i.S.v. Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ nur personenidentische Parteien. Im Falle mehrerer Kläger oder Beklagter sind die Parteien nach dieser Auffassung nur dann dieselben, wenn genau dieselben Kläger und Beklagten in beiden Prozessen Parteien sind. Kommt in dem zweiten Verfahren auch nur eine Partei hinzu oder scheidet aus, fehlt es schon an der Identität der Parteien. Diese Interpretation des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ erscheint nicht recht überzeugend. Das Urteil des Zivilgerichts Padua verurteilte die französische Gesellschaft zur Zahlung von Schadensersatz an die italienische Gesellschaft A wegen von ihr verschuldeter Nichterfüllung des Vertrages. Das französische Gericht dagegen verurteilte - auch - die italienische Gesellschaft A zur Zahlung von Schadensersatz an die französische Gesellschaft wegen von der italienischen Gesellschaft A verschuldeter Nichterfüllung desselben Vertrages. Beide Entscheidungen betreffen denselben Streitgegenstand und entscheiden über diesen genau entgegengesetzt, sind also nach Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ unvereinbar. Das italienische Urteil wirkt Rechtskraft zwischen der italienischen Gesellschaft A und der französischen Gesellschaft C, das französische Urteil ebenfalls. Daran ändert auch der Umstand nichts, daß das französische Urteil auch Rechtskraft zwischen der französischen Gesellschaft C und der am italienischen Verfahren nicht beteiligten Gesellschaft Ζ wirkt. Im Verhältnis zwischen A und C stehen zwei rechtskräftige Entscheidungen in einem Geltungskonflikt. Es besteht damit genau die Situation, die Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ regeln will. Daher sind die Urteile des Zivilgerichts Padua und der Cour d'appel, soweit sie zwischen A und C ergangen sind, miteinander unvereinbar, aber insoweit miteinander vereinbar, als das französische Urteil zwischen C und Ζ ergangen ist. Entscheidungen ergehen gemäß Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ auch dann und insoweit zwischen denselben Parteien, als die Parteien des Erst- und Zweitprozesses teilweise identisch sind. Der vom Tribunal de grande instance de Paris entschiedene Fall enthält außer der Frage, wann Entscheidungen zwischen denselben Parteien ergehen, als weiteres internationalprozessuales Problem das der Teilanerkennung. Ergeht ein Urteil gegen mehrere Streitgenossen, ist es nach allgemeiner Auffassung zulässig,

\ 76

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

daß das Urteil nur gegenüber einem Streitgenossen anerkannt wird beziehungsweise nicht anerkannt wird. Eine Ausnahme wird nur bei notwendiger Streitgenossenschaft angenommen250. In der Rechtssache der Eigentümer der Ladung des Schiffs Tatry gegen die Eigner des Schiffs Rataj 251 entschied der EuGH 2 5 2 die Frage, wann im Sinne von Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ Klagen zwischen "denselben Parteien" anhängig gemacht werden. In dem Rechtsstreit klagten die Eigner der Schiffe Tatry und Rataj in mehreren Verfahren gegen die Eigentümer der Ladung des Schiffes Tatry sowie umgekehrt die Eigentümer der Ladung gegen die Eigner der Schiffe. Die Eigner traten dabei stets geschlossen als Kläger oder Beklagte auf, während die Eigentümer der Ladung sich in drei Gruppen aufteilten, die an den verschiedenen Verfahren nur teilweise beteiligt waren. Unter anderem erhoben die Schiffseigner in den Niederlanden im November 1988 gegen die Gruppe 1 und 3 der Eigentümer der Ladung Klage auf Feststellung, daß sie für eine während des Transports der Ladung erfolgten Verunreinigung der Ladung nicht haftbar seien. Im September 1989 erhoben die Eigentümer der Gruppe 3 und der Gruppe 2 in zwei getrennten Verfahren vor einem englischen Gericht eine dingliche Klage gegen die Eigner, die schließlich als Schadensersatzklage gegen die Eigner fortgeführt wurde. Die Eigner beantragten daraufhin, die englischen Gericht für beide Verfahren nach Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ für unzuständig zu erklären. Der EuGH befaßte sich daher mit der Frage, ob Art. 21 EuGVÜ anwendbar ist, obwohl die Gruppe 2 der Eigentümer an dem niederländischen Verfahren nicht beteiligt war, ob es also für die Anwendbarkeit des Art. 21 EuGVÜ ausreicht, wenn die Parteien nur teilweise identisch sind. Er stellt zunächst fest, daß die Identität der Parteien unabhängig von ihrer Stellung als Kläger oder Beklagter in den beiden Verfahren gegeben ist 253 . Wegen des Wortlaut von Art. 21 EuGVÜ und dem Zweck dieser Vorschrift, von vornherein eine Situation des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ auszuschließen, in der es zu einer Nichtanerkennung einer Entscheidung wegen Unvereinbarkeit mit einer Entscheidung, die zwischen denselben Parteien im Anerkennungsstaat ergangen ist, komme, sei Art. 21 EuGVÜ nur dann einschlägig, wenn und soweit die Parteien beider Verfahren identisch seien 254 . Seien die Parteien beider Verfahren nur teilweise identisch, habe sich das später angerufene Gericht nur insoweit für unzuständig zu erklären,

250 Matscher, Festschrift für Reimer, S. 33, S. 36 f. - Ausführlich zur Teilanerkennung unten Teil 2 Β I 5 b). 251

Im folgenden als Rs. Tatry/Rataj bezeichnet.

252

Rs. Tatry/Rataj, EuGH Urt. vom 06. Dez. 1994, Rs. C-406/92, EWS 1995, S. 90 ff. RN 29 ff.

253

Rs. Tatry/Rataj, EuGH Ότι. vom 06. Dez. 1994, Rs. C-406/92, EWS 1995, S. 90 ff, RN 31.

254

Rs. Tatry/Rataj, EuGH Ort. vom 06. Dez. 1994, Rs. C-406/92, EWS 1995, S. 90 ff, RN 32 f.

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

177

als die Parteien der Gerichte des Erst- und des Zweitverfahrens identisch seien. Zwischen den übrigen Parteien könne der Rechtsstreit vor dem später angerufenen Gericht fortgesetzt werden, auch wenn dadurch unter Umständen der Rechtsstreit aufgespalten werde 255 . Der EuGH entschied zwar nicht die Frage, wie der Begriff "derselben Parteien" in Art. 27 Nr. 3 auszulegen sei. Er stellt bei der Auslegung des Art. 21 EuGVÜ aber entscheidend darauf ab, daß Art. 21 EuGVÜ eine Situation verhindern soll, in der es zur Nichtanerkennung wegen unvereinbarer Entscheidungen nach Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ kommt. Es spricht daher vieles dafür, daß der EuGH den Begriff "derselben Parteien" in den Artt. 27 Nr. 3 und Art. 21 EuGVÜ gleich auslegt. Geht man davon aus, entspricht die vorliegend vertretene Auslegung der des EuGH.

4. Probleme, die sich aus der unterschiedlichen Bestandskraft der unvereinbaren Entscheidungen ergeben - Auslegung des Begriffs "Ergangen" i.S.v. Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ regelt ausdrücklich nur, daß eine Entscheidung nicht anerkannt wird, wenn sie mit einer Entscheidung unvereinbar ist, die in dem Staat, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird, ergangen ist. Weder ist expressis verbis normiert, wann die Entscheidung des Anerkennungsstaates in diesem Sinne "ergangen ist", noch welchen Grad an prozessualer Bestandskraft die anzuerkennende Entscheidung haben muß. Schwierigkeiten ergeben sich aus der Offenheit des Gesetzestextes, wenn eine vorläufige Entscheidung mit einer endgültigen kollidiert oder wenn zwei vorläufige Entscheidungen zueinander in Widerspruch stehen.

a) Bisherige Auffassungen Grunsky 256 fordert ausgehend von der Ansicht, daß unvereinbare Entscheidungen nur im Falle eines Rechtskraftkonfliktes vorliegen, daß beide Entscheidungen rechtskräftig sein müssen. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt das Tribunal de grande instance de Paris 257 in der gerade angeführten Entscheidung. In dem Berufungsverfahren der italienischen Beklagten gegen das Urteil des

255

Rs. Tatry/Rataj, EuGH Urt. vom 06. Dez. 1994, Rs. C-406/92, EWS 1995, S. 90ff., RN 34 f.

256

Grunsky, JZ 1973, S. 641, S. 646.

257

Tribunal de grande instance de Paris, rev. crit. int. priv. 1990, S. 550, S. 553.

12 Lenenbach

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

Handelsgerichts Paris wies die Cour d'appel eine von der Beklagten A geltend gemachte Aufrechung zurück, mit der diese die ihr vom Gericht in Padua zuerkannte Summe gegen die Klagesumme des französischen Verfahrens aufrechnen wollte. Gegen diese Entscheidung hatte die italienische Gesellschaft Revision zur Cour de Cassation eingelegt, über welche noch nicht entschieden war. Im Verfahren auf Vollstreckbarerklärung des Urteils des Zivilgerichts Padua verneinte das Tribunal de grande instance de Paris das Vollstreckungshindernis der Art. 34 Abs. 2, Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ auch mit dem Argument, eine Unvereinbarkeit zwischen dem italienischen und dem französischen Urteil liege nicht vor, da das französische Urteil wegen des noch rechtshängigen Revisionsverfahrens noch nicht endgültig sei. Nach Droz 2 5 8 und Kropholler 259 wurde vom Gesetzgeber des EuGVÜ bewußt offengelassen, ob die im Anerkennungsstaat erlassene Entscheidung rechtskräftig sein muß oder ob eine die Instanz abschießende Entscheidung genügt 260 . Diese Frage habe der Richter des Anerkennungsstaates zu beantworten, dem dabei ein großer Beurteilungsspielraum zustehe. Die h. M. in der Literatur 261 unterscheidet nach der Bestandskraft der unvereinbaren Entscheidungen. Eine rechtskräftige inländische Entscheidung hindere nach Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ die Anerkennung jeder ausländischen Entscheidung. Wenn die inländische Entscheidung nur vorläufig sei, hindere sie zwar die Anerkennung einer vorläufigen ausländischen Entscheidung, nicht aber die Anerkennung einer rechtskräftigen ausländischen Entscheidung. Eine rechtskräftige ausländische Entscheidung werde von einer inländischen nur verdrängt, wenn die inländische soweit unanfechtbar geworden sei, daß keine Instanz mehr offen stehe, in der die Rechtskraft des Auslandsurteils berücksichtigt werden könne.

b) Eigene Auffassung Der kontroverse Meinungsstand ist die Folge aus der Unklarheit, die hinsichtlich der Auslegung des Begriffs der Unvereinbarkeit besteht. Nach der vorliegend vertretenen Ansicht sind zwei Entscheidungen unvereinbar, wenn sich ihre

258 Droz, Compétence, 1972, Nr. 514, S. 324; ders., rev. crit. int. priv. 1990, S. 553, S. 556 (Anm. zu Tribunal de grande instance, rev. crit. int. priv. 1990, S. 550). 259

Kropholler,

EuGVÜ, Art. 27 RN 44.

260

Droz, Compétence, 1972, Nr. 514, S. 324 spricht von autorité de la chose jugeé, die nach französischem Recht jeder die Instanz beendende Entscheidung zukommt und von force de la chose jugeé, die nur unanfechtbare Entscheidungen haben. 261 Beraudo, Nr. 44; Bülow/Böckstiegel/Linke, 2 RN 134.

Art. 27 IV 3; Martiny, Hdb. IZVR, Bd. III/2, Kap.

179

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

Urteilswirkungen gegenseitig ausschließen. Daraus ergibt sich, welchen Grad an Bestandskraft die in- und die ausländische Entscheidung haben müssen, damit die inländische Entscheidung die Anerkennung nach Art. 27 N r . 3 E u G V Ü hindert. Anerkannt werden nach Art. 26 Abs. 1 E u G V Ü nur die anerkennungsfähigen Urteilswirkungen, also Rechtskraft, Gestaltungs- und Interventionswirkung 2 6 2 .

263

D i e ausländische Entscheidung muß daher ein prozessuales Stadium erreicht haben, in dem sie anerkennungsfähige Wirkungen äußert, die m i t den Wirkungen des inländischen Urteils kollidieren können. Dies ist grundsätzlich nur bei rechtskräftigen Urteilen der Fall. D e m steht nicht die zum E u G V Ü vertretene A n s i c h t 2 6 4 entgegen, auch vorläufige Maßnahmen könnten nach dem E u G V Ü anerkannt und vollstreckt werden. Denn es können nur

Urteilswirkungen

anerkannt werden, was für den Fall der vorläufigen Entscheidung bedeutet, daß ihre Anerkennung

nur

insoweit möglich

ist, als sie

anerkennungsfähige

Wirkungen äußert. Die m i t der ausländischen Entscheidung

unvereinbare

inländische Entscheidung ist daher i.S.v. Art. 27 Nr. 3 E u G V Ü "ergangen", wenn ihr Urteilswirkungen zukommen, die m i t einer anzuerkennenden Entscheidung kollidieren können. Für deutsche Urteile bedeutet dies, daß sie

formell

rechtskräftig (§ 705 S. 1 ZPO) sein müssen, da sie Wirkungen, die m i t denen der

262

Kropholler,

EuGVÜ, vor Art. 26 RN 12 ff.

263

Die Vollstreckbarkeit wird weder nach Art. 26 Abs. 1 EuGVÜ anerkannt, noch wird sie wie die sonstigen Urteilswirkungen automatisch auf den Vollstreckungsstaat erstreckt. Die ausländische Entscheidung ist im Vollstreckungsstaat erst vollstreckbar, wenn sie auf Antrag des Gläubigers von einem Gericht mit einer Vollsteckungsklausel versehen worden ist (Art. 31 Abs. 1 EuGVÜ). Ihr wird daher die Vollstreckbarkeit von einem Gerich des Vollstreckungsstaates originär verliehen. Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ und damit auch das Problem, wie der Begriff "ergangen" auszulegen ist, bezieht sich aber nur auf die Anerkennung und daher nur auf die anerkennungsfähigen Urteilswirkungen. Die Vollstreckbarkeit und insbesondere die mit der vorläufigen Vollstreckbarkeit zusammenhängenden Fragen, sind daher im Rahmen von Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ nicht von Interesse. Sie werden aber wegen des engen Zusammenhang zwischen Anerkennung und Vollstreckbarkeit kurz dargestellt. Wird beantragt, eine vorläufig vollstreckbare ausländische Entscheidung für vollstreckbar zu erklären - was nach Art. 31 Abs. 1 EuGVÜ möglich ist (Kropholler, EuGVÜ, Art. 31 RN 10)-, kann das über die Erteilung der Vollstreckungsklausel entscheidende Gericht das Verfahren entweder solange aussetzen, bis die Entscheidung rechtskräftig ist (Art. 38 Abs. 1 EuGVÜ). Oder das Gericht kann die Zwangsvollstreckung nach den Art. 38 Abs. 3 EuGVÜ, Art. 37 AVAG von einer Sicherheitsleistung abhängig machen. Wurde eine vorläufig vollstreckbare ausländische Entscheidung im Vollstreckungsstaat mit einer Vollstreckungsklausel versehen und wird die Entscheidung im Urteilsstaat später aufgehoben, entfällt nicht automatisch ihre Vollstreckbarkeit im Vollstreckungsstaat. Der Schuldner muß vielmehr soweit Deutschland Vollstreckungsstaat ist - Vollstreckungsgegenklage nach § 767 ZPO erheben (Geimer, IZPR, RN 3101 f.). Hat der Gläubiger schon vollstreckt, kann der Schuldner nach Art. 30 AVAG, § 717 Abs. 2 ZPO Schadensersatz verlangen. 264

Kropholler,

EuGVÜ, Art. 25 RN 22.

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

ausländischen Urteile in Widerspruch treten können, erst mit formeller Rechtskraft haben 265 . Gerechter wäre es, auf den Zeitpunkt der Verfahrenseinleitung abzustellen, weil die Parteien im Unterschied zu dem Zeitpunkt des Urteilserlasses und des Eintritts der Rechtskraft allein darüber bestimmen, wann ein Zivilverfahren eingeleitet wird. Da aber das EuGVü kein Anerkennungshindernis der Rechtshängigkeit kennt, verbietet es sich, ein solches durch ein Abstellen auf den Zeitpunkt der Verfahrenseinleitung bei Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ durch die "Hintertür" einzuführen 266. Besondere Probleme treten auf, wenn nach ausländischem Recht auch einer vorläufigen Entscheidung anerkennungsfähige Urteilswirkungen zukommen. Nach französischem Recht wirkt jede eine Instanz abschließende Entscheidung, auch wenn sie noch mit ordentlichen Rechtsmitteln anfechtbar ist, materielle Rechtskraft. Diese "vorläufige Rechtskraft" wird mit "autorité de la chose jugeé" bezeichnet267. Wird eine solche Entscheidung mit einem zulässigen Rechtsmittel angegriffen, wird die "autorité de la chose jugeé" suspendiert. Im Falle der Einlegung eines ordentlichen Rechtsmittels wird nur die positive Wirkung der materiellen Rechtskraft - die Bindung anderer Gerichte an die Entscheidung -, nicht aber die negative Wirkung - das Verbot, eine neue Klage mit gleichem Streitgegenstand bei einem anderen Gericht rechtshängig zu machen aufgehoben 268. Die Wirkung einer angefochtenen französischen Entscheidung entspricht damit der einer rechtshängigen Klage nach deutschem Zivilprozeßrecht (§ 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO). Eine unanfechtbare Entscheidung wirkt materielle Rechtskraft, wobei diese "endgültige Rechtskraft" nach französischer Terminologie "force de la chose jugeé" heißt 269 . Denkbar wäre der Fall, daß eine französische Entscheidung, die vorläufige Rechtskraft wirkt und gegen die kein Rechtsmittel eingelegt wurde, mit einem rechtskräftigen deutschen Urteil unvereinbar ist, weil die rechtskräftigen Aussagen beider Entscheidungen sich gegenseitig ausschießen. Tritt dieser Konflikt in einem deutschen Prozeß auf, geht das rechtskräftige deutsche Urteil nach Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ stets vor. Eine

265 Für die materielle Rechtskraft: Stein/Jonas/Leipold 20, § 322 RN 9; für die Gestaltungswirkung: Stein/Jonas/Leipold 10, § 322 RN 14; fllr die Interventionswirkung: Zöller/Vollkommer, § 68 RN 4. 266

Martiny, Hdb. IZVR, Bd. III/2, Kap. 2 RN 145/149.

267

Art. 480 NCPr; Perrot, Chose jugeé, Nr. 46 ff.

268

Perrot, Chose jugeé, Nr. 49.

269

Perrot, Chose jugeé, Nr. 47.

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

181

Aussetzung eines deutschen Verfahrens 270, in dem der Konflikt relevant wird, bis zum Erlaß der ausländischen Rechtsmittelentscheidung ist den Parteien nicht zuzumuten. Einer Urteilsunvereinbarkeit wird schon durch Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ vorgebeugt. Die Aussetzung würde daher widersprechende Urteile nicht verhindern, sondern nur das inländische Verfahren verzögern. Kollidiert eine rechtskräfige ausländische Entscheidung mit einer vorläufigen Entscheidung des Anerkennungsstaates, der schon Urteilswirkungen zukommen, kann die ausländische Entscheidung nicht anerkannt werden, da eine Kollision von Urteilswirkungen vorliegt und damit ein Fall des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ 2 7 1 . Sollte die vorläufige Entscheidung im Instanzenzug in der Weise abgeändert werden, daß keine Unvereinbarkeit mehr gegeben ist, wäre die ausländische Entscheidung ab dem Zeitpunkt der Rechtsmittelentscheidung anerkannt. Sind zwei vorläufige Entscheidungen miteinander unvereinbar, geht stets die des Anerkennungsstaates vor. Erst wenn eine der beiden Entscheidungen im Instanzenzug derart abgeändert wird, daß keine Unvereinbarkeit mehr vorliegt, wird die ausländische Entscheidung anerkannt.

5. Rechtsfolgen der Unvereinbarkeit a) Gänzlich unvereinbare Entscheidungen Ergeht von den beiden unvereinbaren Entscheidungen die des Anerkennungsstaates zuerst, wird die ausländische Entscheidung nicht anerkannt und erlangt somit niemals Geltung im Anerkennungsstaat 272. Ist dagegen die ausländische Entscheidung schon anerkannt und ergeht später eine mit ihr unvereinbare Entscheidung des Anerkennungsstaates, soll der dann auftretende Konflikt nach Beraudo 273 nicht unter Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ fallen, sondern nach den prozessualen Regeln des Anerkennungsstaates zu lösen sein, die im Falle des Widerspruch zweier Entscheidungen des Anerkennungsstaates gelten. Denn Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ verlange von der Entscheidung des Anerkennungsstaates, daß sie "erlassen ist" (= "rendue" im französischen und "given" im englischen Text),

270 Nach Art. 26 Abs. 3,30 Abs. 1 EuGVÜ für den Fall der Inzidentfeststellung, nach Art. 26 Abs. 2,38 Abs. 1 EuGVÜ, wenn die gerichtliche Feststellung der Anerkennung begehrt wird, oder nach § 148 ZPO analog für im EuGVÜ nicht geregelte Fälle. 27 1

Α. Α.: Tribunal de grande instance de Paris, rev. crit. int. priv. 1990, S. 550, S. 553: "Erlassen" nach Art. 27 Ziff. 3 EuGVÜ ist eine Entscheidung erst, wenn sie endgültig ist. 272

Allgemeine Auffassung: Martiny, Hdb. IZVR, Bd. III/2, Kap. 2 RN 131/142.

27 3

Beraudo, Nr. 46.

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

was bedeute, daß sie zeitlich vor der anzuerkennenden Entscheidung in Geltung sein müsse.

ausländischen

Das Wortlautargument ist nicht zwingend. Wenn Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ verlangt, daß die Entscheidung des Anerkennungsstaates "ergangen ist", kommt damit lediglich zum Ausdruck, daß die Entscheidung des Anerkennungsstaates einen bestimmten Grad an Bestandskraft haben muß, um die Anerkennung der ausländischen Entscheidung zu verhindern. Der Zweck des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ, eine Störung der Rechtsordnung des Anerkennungsstaates durch eine ausländische Entscheidung zu verhindern, streitet für den Vorrang der Entscheidung des Anerkennungsstaates, gleich ob diese vor oder nach dem ausländischen Urteil ergeht. Denn die inländische Rechtsordnung wird durch die ausländische Entscheidung in gleichem Maße beeinträchtigt, wenn diese mit einem nach ihr ergangenem Urteil des Anerkennungsstaates unvereinbar ist, wie wenn die Entscheidung des Anerkennungsstaates zuerst ergeht 274 . Im Falle der nach Anerkennung eines ausländischen Urteils ergehenden Entscheidung des Anerkennungsstaates wird die Anerkennung ab dem Zeitpunkt, zu dem die inländische Entscheidung i.S.v. Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ ergangen ist, mit Wirkung ex nunc suspendiert. Eine rückwirkende Beseitigung der Anerkennung ist wegen der automatischen Anerkennung (Art. 26 Abs. 1 EuGVÜ), der Vermeidung von Schwierigkeiten bei der Ermittlung des maßgeblichen Zeitpunktes und wegen des Schutzes von auf die Anerkennung vertrauenden Dritten abzulehnen275. Der zuerst ergangenen ausländischen Entscheidung kann auch nicht durch eine gegen die spätere inländische Entscheidung gerichtete Restitutionsklage Geltung verschafft werden 276 . Denn mit dem Eintritt des Anerkennungshindernisses des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ verliert die ausländische Entscheidung ihre Urteilswirkungen in der Rechtsordnung des Anerkennungsstaates, sie ist für diese nicht mehr existent und daher auch als Restitutionsgrund ungeeignet. Wird die Entscheidung des Anerkennungsstaates aufgehoben oder so abgeändert, daß sie mit der ausländischen Entscheidung nicht mehr unvereinbar ist, fällt das Anerkennungshindernis des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ weg und die Entscheidung wird ab diesem Zeitpunkt wieder anerkannt 277.

27 4 Droz, Compétence, 1972, Nr. 516, S. 326; Kropholler, IZVR, Bd. III/2, Kap. 2 RN 131/142.

EuGVÜ, Art. 27 RN 45; Martiny, Hdb.

27 5

Bülow/Böckstiegel/Linke,

276

So aber Müko/Gottwald,

27 7

Martiny, Hdb. IZVR, Bd. III/2, Kap. 2 RN 131; OLG Hamm MDR 1982, S. 504.

Art. 27 IV 2; Martiny, Hdb. IZVR, Bd. III/2, Kap. 2 RN 131. § 328 RN 81/Art. 27 EuGVÜ RN 28.

183

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

b) Rechtsfolgen teilweiser Unvereinbarkeit Die Wirkungen von Entscheidungen können sich vollständig ausschließen. Denkbar ist auch ein Geltungskonflikt, der nur Teile der miteinander unvereinbaren Entscheidungen betrifft. Dies wäre zum Beispiel der Fall, wenn ein ausländisches Urteil den A zur Zahlung von D M 5.000,- an den X aus einem Kaufvertrag verurteilt und im Anerkennungsstaat in einem Prozeß zwischen denselben Parteien die Kaufpreisklage abgewiesen und A zur Unterlassung weiterer beleidigender Äußerungen gegenüber X verurteilt wird. Es fragt sich, ob in solchen oder ähnlichen Fällen teilweiser Unvereinbarkeit die Anerkennung des Urteils zur Gänze oder nur insoweit scheitert, als eine Unvereinbarkeit besteht. Damit ist die Problematik der Teilanerkennung angesprochen. Grundsätzlich sind ausländische Entscheidungen, die aus selbständigen Teilen bestehen, hinsichtlich der selbständigen Entscheidungsteile auch getrennt anerkennungsfähig 278. Jeder selbständige Teil wird gesondert auf das Vorliegen der Anerkennungsvoraussetzungen untersucht und anerkannt. Aus Art. 42 EuGVÜ ergibt sich, daß das EuGVÜ grundsätzlich eine Teilanerkennung erlaubt. Besteht eine Entscheidung aus getrennt anerkennungsfähigen Teilen und beschränkt sich die Unvereinbarkeit auf einzelne Teile, werden daher die miteinander vereinbaren Teile anerkannt. Die Schwierigkeiten beginnen, wenn es zu klären gilt, ob die ausländische Entscheidung aus eine Teilanerkennung zulassenden selbständigen Teilen besteht oder anders ausgedrückt, ob sie teilbar ist. Ob dies der Fall ist, beantwortet das Recht des Urteilsstaates 279. Ergeht eine Entscheidung über mehrere prozessuale Ansprüche, steht einer Teilanerkennung nichts im Wege, da die Ansprüche nur zufällig in einem Zivilverfahren verbunden sind 280 . Gleiches gilt bei subjektiver Klagenhäufung, da die Prozesse der Streitgenossen im Regelfall aus prozeßökonomischen und nicht aus zwingenden rechtlichen Gründen in einem Verfahren zusammengefaßt worden sind 281 . Daher hätte das Tribunal de grande instance de Paris in seiner oben dargestellten Entscheidung282 die Anerkennung und Vollstreckung des italienischen Urteils gegenüber der italienischen Gesellschaft A wegen Unvereinbarkeit mit dem französischen Urteil ablehnen

27 8

Matscher, RN 323 f.

Festschrift für Reimer, S. 33, S. 35 f.; Martiny,

Hdb . IZVR, Bd. III/l, Kap. 1

27 9

Matscher, Festschrift für Reimer, S. 33, S. 34; Martiny, Hdb. IZVR, Bd. III/l, Kap. 1 RN 326.

280

Matscher, Festschrift für Reimer, S. 33, S. 35 f.; Martiny, Hdb. IZVR, Bd. III/l, Kap. 1 RN 325.

281

Matscher, Festschrift für Reimer, S. 33, S. 36.

282

Vgl. oben Teil 2 Β I 3; Tribunal de grande instance de Paris, rev. crit. int. priv. 1990, S. 550.

\

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

müssen. Nur bei notwendiger Streitgenossenschaft ist eine Anerkennung gegenüber einzelnen Streitgenossen ausgeschlossen, da die Entscheidung notwendig gegenüber allen Streitgenossen einheitlich ergehen muß 283 . Ist einer Entscheidung über den Hauptanspruch erne Nebenentscheidung beigefügt, die nur wegen der Hauptentscheidung ergangen ist, wie zum Beispiel bei Kostenentscheidungen, führt die starke Abhängigkeit der Nebenentscheidung dazu, daß diese nur zusammen mit der Hauptentscheidung anerkannt werden kann 284 . Eine vergleichbare Situation besteht bei Statusentscheidungen in Ehesachen, die zusammen mit einer Folgeentscheidung, insbesondere mit einer Unterhaltsentscheidung, ergehen. Die Unterhaltsentscheidung ergeht nur, weil vorher die Statusfrage gerichtlich geklärt wurde. Sie hängt daher rechtlich und nach dem Willen des entscheidenden Gerichts unmittelbar von der Statusentscheidung ab. Wegen dieses engen Zusammenhanges kann die Unterhaltsentscheidung nicht ohne die Statusentscheidung anerkannt werden. Eine Anerkennung der Statusentscheidung ohne die Unterhaltsentscheidung ist dagegen zulässig285. Dem OLG Hamm 2 8 6 ist daher im Ergebnis, nicht aber in der Begründung zuzustimmen, als es folgenden Fall entschied: Ein niederländisches Urteil sprach die Scheidung der Ehe aus und verurteilte den Ehemann zur Zahlung von Scheidungsunterhalt an die Ehefrau. Die Anerkennung des Scheidungsurteil lehnte die Landesjustizverwaltung im Verfahren nach Art. 7 § 1 FamRÄndG ab. Das OLG Hamm versagte die Anerkennung des Unterhaltsurteils, da es mit der Nichtanerkennungsentscheidung der Landesjustizverwaltung unvereinbar sei. Dies trifft nicht zu, da sich die Urteilswirkungen der beiden Entscheidungen nicht ausschließen. Das Unterhaltsurteil war aber nicht anzuerkennen, solange das Scheidungsurteil nicht anerkannt war, da es in einem engen Abhängigkeitsverhältnis zum Scheidungsurteil stand. Es gibt Fälle teilweiser Unvereinbarkeit, die zu sonst nicht auftretenden Problemen der Teilanerkennung führen. Wenn nur einzelne Urteilswirkungen in Geltungskonflikt stehen, die sonstigen Urteilswirkungen dagegen miteinander vereinbar sind, ließe es sich denken, das ausländische Urteil mit den Wirkungen anzuerkennen, die mit dem Urteil des Anerkennungsstaates vereinbar sind 287 .

283

Matscher, Festschrift für Reimer, S. 33, S. 36 f.

284

Martiny, Hdb. IZVR, Bd. III/l, Kap. 1 RN 329 f.

285

Matscher, Festschrift für Reimer, S. 33, S. 39 f.; Martiny, 1 RN331 ff. 286 287

Hdb. IZVR, Bd. III/l, Kap.

OLG Hamm MDR 1982, S. 504.

Das Problem der Teilanerkennung von Urteilswirkungen wird diskutiert, wenn nur für die Anerkennung, nicht aber für Vollstreckbarkeit die Gegenseitigkeit garantiert ist: Milleker, NJW 1971, S. 303, S. 307 ff. nimmt an, daß in diesem Fall das ausländische Urteil anerkannt wird, aber

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

185

Kollidieren Entscheidungen zum gleichen Streitgegenstand, scheidet eine Anerkennung der in Rechtskraft erwachsenden Entscheidungsgründe aus, da die Feststellungen in den Gründen nur in Rechtskraft erwachsen, da sie mit der Entscheidung über den eingeklagten Anspruch in einem untrennbaren logischen Zusammenhang stehen288. Anders könnte sich die Rechtslage darstellen, wenn Urteile über verschiedene Streitgegenstände ergehen, das inländische Urteil aber nur mit den in Rechtskraft erwachsenden Feststellungen in den Entscheidungsgründen des ausländischen Urteils unvereinbar ist oder nur die Interventionswirkungen kollidieren. Beispiel: Ein deutsches Urteil stellt das Bestehen eines Kaufvertrages rechtskräftig fest. Ein französisches oder englisches Urteil weist eine Zahlungsklage aus dem Kaufvertrag ab und stellt in den Entscheidungsgründen rechtskräftig das Nichtbestehen des Kaufvertrages fest.

Man könnte in dieser Situation überlegen, ob man dem ausländischen Urteil die Anerkennung nur insoweit versagt, als seine Urteilswirkungen mit denen des Urteils des Anerkennungsstaates in direktem Geltungswiderspruch stehen. Das würde im Beispielsfall bedeuten, daß in Deutschland nur die in Rechtskraft erwachsenden Entscheidungsgründe des französischen Zahlungsurteils nicht anerkannt würden, das Urteil im übrigen aber anerkannt würde. Für die Parteien hätte eine derartige Teilanerkennung die folgenden Vorteile: Zu dem nicht anerkannten Teil existiert eine inländische Entscheidung. Durch die Teilanerkennung würde das Ergebnis des im Ausland geführten Prozesses soweit wie möglich gesichert und damit würden Kosten und Zeit gespart, die ein neuer inländischer Prozeß produzieren würde. Das bestehenbleibende, außerhalb der Unvereinbarkeit liegende Spannungsverhältnis wäre nach den dargestellten Grundsätzen aufzulösen 289. Gegen eine derartige Teilanerkennung spricht aber, daß damit der nach der Rechtsordnung des Urteilsstaates und nach dem Willen des erlassenden Gerichts gewollte innere Zusammenhang der Entscheidung zerrissen wird. Nach französischem Recht nehmen die Feststellungen zu den bedingenden Rechtsverhältnissen an der materiellen Rechtskraft teil. Und das französische Gericht wollte ein Urteil erlassen, mit dem auch das Nichtbestehen des Kauf-

nicht vollstreckbar ist; a. Α.: Schütze, NJW 1973, S. 2143, S. 2144 f. und Martiny, Hdb. IZVR, Bd. III/l, Kap. 1 RN 1285. - Diese Diskussion läßt sich aber für das Problem der teilweisen Unvereinbarkeit nicht fruchtbar machen. 288 Vgl. zum französischen Recht oben Teil 2 Β I 1 g) aa) und zum englischen Recht oben Teil 2 Β I 1 g) bb). 289

Vgl. oben Teil 2 Β I 1 0 aa) (1), Teil 2 Β I 1 g) cc).

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

Vertrages rechtskräftig festgestellt wird. Würde man das Urteil ohne die Rechtskraft hinsichtlich der Entscheidungsgründe anerkennen, würde man ein Urteil anerkennen, das das französische Gericht gar nicht erlassen hat. Die Rechtslage ist mit deijenigen vergleichbar, die besteht, wenn ein Statusurteil und ein Unterhaltsurteil in einer Entscheidung ergehen. Nur ist der innere Zusammenhang zwischen der Rechtskraft bezüglich des Tenors und bezüglich der Entscheidungsgründe noch stärker als derjenige zwischen Status- und Unterhaltsentscheidung. Eine Teilanerkennung nur einzelner Urteilswirkungen scheidet daher aus. Der BGH 2 9 0 hat in seiner Entscheidung zur Anerkennung von amerikanischen punitive damages-Urteilen eine Teilanerkennung in der Weise vorgenommen, daß er die Höhe der dem Kläger zugesprochen Summe auf ein Maß reduziert hat, das mit dem deutschen ordre public (§ 328 Abs. 1 Nr. 4 ZPO) vereinbar ist. Der BGH hat damit das anzuerkennende Urteil geteilt und nur den mit § 328 Abs. 1 Nr. 1 ZPO vereinbaren Teil anerkannt. Der BGH hat nicht einen einheitlichen prozessualen Anspruch teilweise anerkannt, sondern von mehreren prozessualen Ansprüchen einem die Anerkennung versagt 291. Die in dem Urteil des BGH offengelassene Frage, ob ein prozessualer Anspruch teilweise anerkannt werden kann, kann sich aber im Zusammenhang mit Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ stellen. Beispiel: Der Β wird von einem deutschen Gericht verurteilt, D M 3.000,- aus Schadensersatz wegen Nichterfüllung an A zu zahlen. Danach wird der A von einem französischen Gericht verurteilt, D M 5.000,- aus Schadensersatz wegen Nichterfüllung an Β zu zahlen. In beiden Urteilen ging es um denselben Vertrag und um die Verletzung derselben Pflicht. Die Gerichte beurteilten nur die Frage des Verschuldens genau entgegengesetzt.

Versteht man unter Unvereinbarkeit gemäß Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ mit der vorliegend vertretenen Auffassung den Widerspruch der Urteilswirkungen, könnte man im Beispielsfall argumentieren, die Rechtskraft der beiden Entscheidungen widerspreche sich nur insoweit, als sich die Verurteilungen decken, also in Höhe von D M 3.000,-. Im übrigen seien die Entscheidungen

290 291

BGH NJW 1992, S. 3096.

Der BGH (NJW 1992, S. 3096, S. 3105) betont ausdrücklich, daß er die Frage, ob ein einheitlicher prozessualer Anspruch teilweise anerkannt werden kann, offen läßt. Er erklärt von mehreren prozessualen Ansprüchen - Heilbehandlungskosten, Kosten künftiger medizinischer Versorgung, Schadensersatz für erlittene Ängste, Schmerzen und sonstige Leiden sowie Strafschadensersatz (punitive damages) nur den Anspruch auf punitive damages für mit § 328 Abs. 1 Nr. 4 ZPO nicht vereinbar (aaO., S. 3103 ff.). Eine Teilanerkennung und eine teilsweise Vollstreckbarerklärung des Urteils hinsichtlich der über prozessualen Ansprüche hält der BGH (aaO., S. 3104 f.) für zulässig.

187

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

miteinander vereinbar, so daß das französische Urteil in Höhe von D M 2.000,anzuerkennen sei. Das deutsche Urteil stellt rechtskräftig fest, daß Β zur Zahlung von D M 3.000,- an A verpflichtet ist. Die Rechtskraft dieses Urteils umfaßt auch das kontradiktorische Gegenteil. Dieses liegt vor, wenn im Folgeprozeß das unmittelbare Gegenteil der rechtskräftigen Feststellung des früheren Urteils begehrt wird 2 9 2 . Im Beispielsfall wäre das hinsichtlich der deutschen Entscheidung die Feststellung, daß Β nicht verpflichtet ist, an A D M 3.000,- zu zahlen. Ist die Rechtslage so, daß aus einem Sachverhalt entweder nur A oder nur Β etwas schuldet und wird in einem ersten Urteil Β zur Zahlung an A verurteilt, steht die Feststellung, daß A an Β zu zahlen habe, mit dem ersten Urteil in unmittelbaren Widerspruch 293 . Das erste Urteil - im Beispielsfall das deutsche Urteil - enthält daher auch die rechtskräftige Feststellung, daß A nicht verpflichtet ist, Schadensersatz an Β wegen Nichterfüllung des Vertrages zu leisten. Die Urteilswirkungen der beiden Urteile widersprechen sich vollständig. Eine Teilanerkennung ist daher nicht möglich. In dem Beispielsfall vergleichbaren Fällen wird in der Regel die eine Entscheidung das kontradiktorische Gegenteil der anderen darstellen und daher eine Unvereinbarkeit nach Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ vorliegen. Sollte es Fallgestaltungen geben, in denen sich die Urteilswirkungen nur insoweit ausschließen, als die Tenöre der Urteile sich summenmäßig decken - im Beispielsfall wäre dies bis D M 3.000,- -, liegt eine Unvereinbarkeit nur hinsichtlich der sich ausschließenden Wirkungen vor. Eine Teilanerkennung des darüberhinausgehenden Teils ist dann möglich.

6. Übereinstimmende Entscheidungen zum gleichen Streitgegenstand Der Fall einer ausländischen und einer Entscheidung des Anerkennungstaates, die zum gleichen Streitgegenstand ergehen und übereinstimmen, wird von Art. 27

292 293

Rosenberg/Schwab/Gottwald

,5

, § 154 II 1, S. 927; Stein/Jonas/Leipold

20

, § 322 RN 197.

Der BGH (BGHZ 35, S. 165, S. 171) nahm an, daß eine Verurteilung des Beklagten zur Einwilligung in die Auszahlung des hinterlegten Betrages eine Klage des Beklagten des ersten Verfahrens auf Einwilligung in die Auszahlung gegen den Kläger des ersten Prozesses hindert, da der Beklagte des Erstprozesses damit das kontradiktorische Gegenteil des mit dem Urteil rechtskräftig Zugesprochenen fordere. Dieser Fall ist mit dem vorliegend gebildeten Beispiel insofern vergleichbar, als in beiden Fällen eine Leistung entweder nur von der einen oder nur von der anderen Partei erbracht werden kann. Dieses zwischen den beiden Leistungen bestehende Ausschließlichkeitsverhältnis ist der Grund dafür, daß das zweite Urteil im Beispielsfail das kontradiktorische Gegenteil des ersten darstellt.

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

Nr. 3 EuGVÜ nicht erfaßt 294 . Die Urteilswirkungen beider Entscheidungen schließen sich nämlich nicht aus, sondern stimmen überein, so daß die Entscheidungen vereinbar sind. Ergeht die ausländische Entscheidung nach der inländischen, hat sie deren Rechtskraft mißachtet295. Die Rechtskraft eines Urteils hat auch die Wirkung, daß ein zweites Verfahren über denselben Streitgegenstand unzulässig ist. Diese negative Wirkung der materiellen Rechtskraft wird nach Art. 26 Abs. 1 EuGVÜ anerkannt 296. Daher war der zweite Prozeß unzulässig und das ausländische Urteil erging unter Verstoß gegen die anerkannte materielle Rechtskraft des Urteils des Anerkennungsstaates. Die Mißachtung der Rechtskraft stellt aber keinen Verstoß gegen den verfahrensrechtlichen ordre public dar und begründet daher kein Anerkennungshindernis nach Art. 27 Nr. 1 EuGVÜ. Was unter den ordre public fällt, bestimmt sich nach der Rechtsordnung des Anerkennungsstaates und nicht nach vertragsautonomer Auslegung 297 . Für Deutschland hat der BGH 2 9 8 eine Verletzung des verfahrensrechtlichen ordre publics abgelehnt, wenn das ausländische Urteil in einem Verfahren ergangen ist, das lediglich von zwingenden Vorschriften des deutschen Prozeßrechts abweicht. Einen Verstoß könne man erst annehmen, wenn die Anerkennung des ausländischen Urteils zu einem Ergebnis führen würde, das mit den Grundrechten oder sonst offensichtlich mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts unvereinbare wäre. Davon kann bei einem Verfahrensverstoß erst ausgegangen werden, wenn das ausländische Verfahren von Grundprinzipien des deutschen Prozeßrechts in einem solchen Maße abweicht, daß nach der deutschen Rechtsordnung das ausländische Urteil nicht als in einem geordneten rechtsstaatlichen Verfahren ergangen angesehen werden kann. Übersieht das ausländische Gericht die negative Prozeßvoraussetzung der materiellen Rechtskraft eines deutschen

294

Die Problematik wird bisher nicht diskutiert. Behandelt wird nur der Fall, daß in einem Erststaat ein Leistungsurteil ergeht und dann der Kläger und Sieger des ersten Verfahrens in einem anderen Vertragsstaat eine Leistungsklage mit demselben Streitgegenstand erhebt. Es stellt sich dann die Frage, ob diese zweite Klage unzulässig ist und der Kläger darauf verwiesen werden kann, das erste Urteil nach den Art. 31 ff. EuGVÜ mit einer Vollstreckungsklausel versehen zu lassen. Dies hat der EuGH in der Rechtssache De Wolf/Cox, Slg. 1976, S. 1759, S. 1766 f. mit der Begründung bejaht, die von einem zweiten Rechtsstreit ausgehende Gefahr sich widersprechender Entscheidungen und der Doppelvollstreckung müsse vermieden werden. Geimer, NJW 1976, S. 2023 stimmt den EuGH im Ergebnis zu, begründet die Unzulässigkeit des zweiten Verfahrens aber mit der materiellen Rechtskraft des ersten Urteils. 295 So die h. M. zum deutschen Recht, die in der materiellen Rechtskraft auch eine negative l5 Prozeßvoraussetzung sieht. Vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald , § 151 III 1, S. 917 m.w.N. 296

Martiny, Hdb. IZVR, Bd. III/2, Kap. 2 RN 75.

297

Kropholler,

298

BGH NJW 1990, S. 2201, S. 2202 f.; BGH NJW 1992, S. 3096, S. 3098.

EuGVÜ, Art. 27 RN 4.

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

189

Urteils, leidet es zwar an einem schweren Verfahrensfehler, rechtsstaatswidrig ist die Mißachtung der Rechtskraft aber nicht. Mangels eines nach dem EuGVÜ bestehenden Anerkennungshindernisses wird die ausländische Entscheidung anerkannt. Sie kann auf Antrag des Vollstreckungsgläubigers nach Art. 31 ff. EuGVÜ fur vollstreckbar erklärt werden. Kommt es dazu, entsteht die Gefahr der Doppelvollstreckung. Der Konflikt der beiden übereinstimmenden Urteile und die Abwendung der Gefahr der Doppelvollstreckung ist nach der Rechtsordnung des Anerkennungsstaates zu lösen. Denn soweit das EuGVÜ keine Sonderregeln enthält, ist die anerkannte Entscheidung nach den gleichen prozessualen Regeln zu behandeln wie eine Entscheidung des Anerkennungsstaates. Ein Wiederaufnahmeverfahren ist jedoch stets vor den Gerichten des Staates zuführen, vor denen das wiederaufzunehmende Verfahren durchgeführt wurde 299 . Das Vollstreckungsverfahren richtet sich dagegen stets nach den Regeln des Vollstreckungsstaates 300. Für die deutsche Rechtsordnung bedeutet dies, daß einer später rechtskräftig gewordenen deutschen Entscheidung die materielle Rechtskraft fehlt und daß gegen diese Entscheidung eine Wiederaufnahmeklage nach § 580 Nr. 7a ZPO statthaft ist 301 . Eine Aussetzung des Verfahrens auf Vollstreckbarerklärung nach Art. 38 EuGVÜ kommt nicht in Betracht, da eine Wiederaufnahmeklage kein ordentlicher Rechtsbehelf im Sinne dieser Norm ist 302 . Während des Wiederaufnahmeverfahrens kann die Zwangsvollstreckung nach § 707 Abs. 1 ZPO einstweilen eingestellt werden. Hat die Wiederaufnahmeklage Erfolg, ist die Zwangsvollstreckung aus dem Urteil nach § 775 Nr. 1 ZPO für unzulässig zu erklären. Wurde auf eines der beiden gleichlautenden Urteile geleistet, kann gegen das andere Vollstreckungsgegenklage nach Art. 15 AVAG, § 767 ZPO - wenn es sich um das für vollstreckbar erklärte ausländische Urteil handelt - oder nach § 767 ZPO wenn es sich um das deutsche Urteil handelt - mit der Begründung erhoben werden, der titulierte materielle Anspruch sei durch Erfüllung erloschen 303.

299

Vgl. oben Teil 2 Β I 1 f) aa) (3), Teil 2 Β I 1 g) cc).

300

Schack, IZVR, RN 957.

301

Vgl. oben Teil 1 Β VIII.

302

Kropholler,

303

Vgl. oben Teil 1 Β VIII.

EuGVÜ, Art. 38 RN 2, Art. 30 RN 3; OLG Karlsruhe RIW 1986, S. 467, S. 468.

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

II. Unvereinbarkeit einer Entscheidung aus einem Nichtvertragsstaat mit einer Entscheidung aus einem Mitgliedsstaat des EuGVÜ, die in einem dritten Mitgliedsstaat anerkannt werden sollen 7. Problemstellung Einen anderen Fall von Unvereinbarkeiten als den von Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ erfaßten, an dem ausländische Entscheidungen beteiligt sind, regelt der durch das EuGVÜ 1978 neu ins EuGVÜ aufgenommene, Art. 5 Nr. 3 lit. c Haager Übereinkommen über Anerkennung und Vollstreckung von Zivilurteilen 304 wörtlich nachgebildete Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ. Ergeht zuerst in einem Nichtvertragsstaat ein Urteil, das mit einem in einem Mitgliedsstaat des EuGVÜ später ergehenden Urteil unvereinbar ist, und sind beide Urteile in einem weiteren Mitgliedsstaat des EuGVÜ grundsätzlich anerkennungsfähig, geht das zuerst erlassene Urteil des Nichtvertragsstaates vor, Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ. Die Vorschrift wurde ins EuGVÜ aufgenommen, um diplomatische Verwicklungen derjenigen Vertragsstaaten zu verhindern, die aufgrund bilateraler Verträge oder aufgrund ihres autonomen Rechts verpflichtet sind, Entscheidungen aus Nichtvertragsstaaten anzuerkennen 305. Denn ohne die Regelung des Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ sähen sich diese Staaten zwei gleichwertigen Verpflichtungen gegenüber den beiden Urteilsstaaten zur Anerkennung deren Entscheidungen ausgesetzt: gegenüber dem Mitgliedsstaat des EuGVÜ nach Art. 26 Abs. 1 EuGVÜ und gegenüber dem Nichtvertragsstaat aus einem Staatsvertrag oder nach autonomem Recht. Ein von Schlosser 306 zu Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ gebildetes Beispiel soll der Veranschaulichung dienen: Beispiel·. In einem Drittstaat ergeht zugunsten einer Person mit Wohnsitz in der Gemeinschaft ein die Klage abweisendes Urteil. Aufgrund eines bilateralen Vertrages ist der Gemeinschaftsstaat A zur Anerkennung der Entscheidung verpflichtet. Der Kläger erhebt im Gemeinschaftsstaat B, der zur Anerkennung des Urteils aus dem Drittstaat nicht verpflichtet ist, eine neue Klage. Obsiegt er dort, so ist durch Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ klargestellt, daß dieses Urteil im Staat A nicht anerkennungspflichtig ist.

Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ regelt aber ausdrücklich nur den Fall, daß das Urteil des Nichtvertragsstaates früher als das des Vertragsstaates ergeht. Der umgekehrte Fall der zuerst ergehenden Entscheidung eines Vertragsstaates ist in Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ nicht geregelt.

304

Haager Übereinkommen von 1971, abgedruckt bei Geimer/Schütze,

305

Schlosser-Bericht,

BT-Drs. 10/61, Nr. 205.

306

Schlosser-Bericht,

BT-Drs. 10/61, Nr. 205.

Bd. 1/2, S. 1931 ff.

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

2. Grundsätzliche Anerkennungsfähigkeit

191

beider Entscheidungen

Damit die Kollisionsregel des Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ eingreift, bedarf es zweier, im Anerkennungsstaat - bis auf die Unvereinbarkeit - anerkennungsfähiger Entscheidungen. Ist eine der beiden Entscheidungen nicht anerkennungsfähig, kommt es erst gar nicht zu einem Konflikt, den Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ lösen müßte. Die Anerkennung der Entscheidung des Vertragsstaates richtet sich nach den Artt. 25 ff. EuGVÜ. Ob und unter welchen Voraussetzungen das Urteil des Nichtvertragsstaates anzuerkennen ist, ergibt sich allein aus dem Anerkennungsrecht des Anerkennungsstaates 307. Dabei ist zu beachten, daß unter Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ sowohl Entscheidungen fallen, die aufgrund von Staatsverträgen als auch solche, die nach nationalem Recht des Anerkennungsstaates anzuerkennen sind. Denkbar wäre zum Beispiel, daß die Entscheidung des Nichtvertragsstaates erst anerkannt wird, wenn sie formell rechtskräftig ist, oder daß sie erst nach einem Exequatur des Anerkennungsstaates als anerkannt gilt 3 0 8 . Das staatsvertragliche Recht oder das autonome Recht des Anerkennungsstaates entscheiden auch über den Umfang der Anerkennung der Entscheidung des Nichtvertragsstaates. Möglich wäre es daher, daß nach dem Recht des Anerkennungsstaates nur solche Urteilswirkungen anerkannt werden, die dem Recht des Anerkennungsstaates bekannt sind oder daß die ausländische Entscheidung eher inländischen gleichgestellt wird. Erst wenn die erforderlichen Anerkennungsvoraussetzungen erfüllt sind und die Entscheidung aus dem Nichtvertragsstaat anerkannt ist, stellt sich die Frage, welche der kollidierenden Entscheidungen vorgeht.

3. Unvereinbarkeit

im Sinne des Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ

Die früher ergehende Entscheidung eines Nichtvertragsstaates hindert nach Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ die Anerkennung einer Entscheidung ernes Vertragsstaates, wenn beide Entscheidungen unvereinbar sind. Insoweit stimmen der Wortlaut von Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ und Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ überein. Während Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ aber nur fordert, daß die unvereinbaren Entscheidungen zwischen denselben Parteien ergehen, verlangt Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ, daß "die Entscheidungen zwischen denselben Parteien in einem Rechtsstreit wegen desselben Anspruchs ergangen sind" (englischer Text: involving the same cause of action; französischer Text: un litige ayant le même objet et la même cause).

307 308

Martiny, Hdb. IZVR, Bd. III/2, Kap. 2 RN 147.

Das ist nach autonomem italienischem Recht der Fall, das in Art. 796 Abs. 1 C. proc. civ. ein Delibationsverfahren zur Anerkennung vorsieht.

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

Daraus wird gefolgert, daß der Begriff der Unvereinbarkeit in Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ grundsätzlich derselbe wie in Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ sei, daß aber Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ insofern enger sei, als er nur bei Identität der Streitgegenstände der Urteile eingreife 309 . Art. 21 Abs. 1 und Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ stellen beide dieselben Voraussetzungen für die Anspruchsidentität auf: derselbe Anspruch zwischen denselben Parteien. Es scheint deshalb nahe zu liegen, eine Anspruchsidentität bei beiden Normen unter denselben Voraussetzungen anzunehmen. Eine Übernahme von zu Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ gefundenen Ergebnissen bei der Auslegung des Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ ist aber trotz des gleichen Wortlautes nicht möglich, da die Regelungszwecke beider Normen verschieden sind. Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ will unvereinbare Entscheidungen nach Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ verhindern und unnötigen Doppelprozessen vorbeugen 310. Da Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ für Entscheidungen aus Nichtvertragstaaten nicht gilt, kann er die Konfliktsituation, die Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ regeln will, nicht verhindern. Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ dient dagegen der Abwendung diplomatischer Verwicklungen, denen ein Vertragsstaat bei den Fällen des Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ ausgesetzt sein könnte. Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ ist daher selbständig auszulegen, ohne daß eine Wechselwirkung zu Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ besteht. Insbesondere kann der Begriff "desselben Anspruchs" in Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ nicht mit Hilfe eines autonom bestimmten europäischen Streitgegenstandsbegriffes ausgelegt werden. Es gelten die gleichen Bedenken, die schon bei der Auslegung des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ geäußert wurden 311 . Nach Wortlaut und Zweck erfaßt Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ den Fall, daß die Entscheidungen aus dem Vertragsstaat und dem Nichtvertragsstaat über denselben Streitgegenstand ergehen, aber mit widersprechenden Ergebnissen. Ob Entscheidungen über den gleichen Streitgegenstand vorliegen, bestimmt sich nach der hier vertretenen Auffassung 312 nach den Rechtsordnungen der Urteilsstaaten. Nach seinem Wortlaut erfaßt Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ Entscheidungen nicht, die nicht über den gleichen Streitgegenstand ergehen, deren Urteilswirkungen sich aber gegenseitig ausschließen. Es gilt daher die Frage zu klären, ob Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ auf diese Fällen analog anwendbar ist. Insbesondere ist an Fälle zu denken, in denen nach den Rechten beider Urteilsstaaten die in den Entschei-

309

Beraudo, Nr. 49; Kropholler, RN 148. 3.0

EuGVÜ, Art. 27 RN 54; Martiny, Hdb. IZVR, Bd. III/2, Kap. 2

Kropholler, EuGVÜ, vor Art. 21 RN 1; Leipold, Gedächtnisschrift für Arens, S. 227, S. 236f.; Wolf, Festschrift für Schwab, S. 561, S. 569 f. 3.1

Vgl. oben Teil 2 B I 1 e) aa) (2).

3.2

Vgl. oben Teil 2 Β I 1 e) aa) (2).

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

193

dungsgründen festgestellten präjudiziellen Rechtsverhältnisse in Rechtskraft erwachsen und diese Feststellungen sich widersprechen. Die Interessenlage bei der Kollision von Entscheidungen außerhalb des Falles der über denselben Streitgegenstand ergehenden Entscheidungen entspricht der des Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ. Wurde in den Entscheidungsgründen der beiden Urteile ein Rechtsverhältnis rechtskräftig, aber genau entgegengesetzt festgestellt und ist der Anerkennungsstaat verpflichtet, beide Urteile anzuerkennen, besteht ebenfalls die Gefahr diplomatischer Verwicklungen, da zur Lösung der Urteilskollision ein Urteil zurücktreten muß. Der Fall der über denselben Streitgegenstand ergehenden, sich widersprechenden Urteile und der Fall der sich widersprechenden rechtskräftigen Feststellungen in den Entscheidungsgründen betrifft den Anerkennungsstaat auch insofern gleich, als in beiden Fällen eine Störung seiner Rechtsordnung durch einander widersprechende, anzuerkennende ausländische Urteile besteht. Wegen der Gleichheit der Interessenlage gilt Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ analog für den Fall, daß sich Urteilswirkungen gegenseitig ausschließen und beide Entscheidungen nicht über dengleichen Streitgegenstand ergehen. Klarstellende Bemerkungen scheinen wegen des im Schlosser-Bericht gewählten Beispielsfalles 313 erforderlich, da dieser zu Mißverständnissen Anlaß geben könnte. Schlosser geht in dem Beispiel davon aus, daß der Vertragsstaat, dessen Gerichte die zweite Entscheidung erlassen, nicht zur Anerkennung der Entscheidung des Nichtvertragsstaates verpflichtet war. Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ erfaßt aber auch den Fall, daß der Vertragsstaat zur Anerkennung der Entscheidung des Nichtvertragsstaates verpflichtet war, letztere aber in dem Verfahren vor seinen Gerichten nicht beachtet wurde. Der Begriff "derselben Parteien" ist in Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ genauso auszulegen wie in Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ 3 1 4 .

4. Früher ergangene Entscheidung des Nichtvertragsstaates Die Entscheidung des Nichtvertragsstaates geht der des Vertragsstaates nach Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ nur vor, wenn sie früher ergangen ist. Es ist daher zu klären, zu welchem Zeitpunkt die Entscheidungen i.S.v. Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ "ergangen sind". Nicht abzustellen ist auf den Zeitpunkt der Verfahrenseinleitung, da das EuGVÜ ein Anerkennungshindernis der Rechtshängigkeit nicht kennt. Die

3,3

Schlosser-Bericht,

314

Vgl. die zu Art. 27 Ziff. 3 EuGVÜ gemachten Ausführungen oben Teil 2 Β I 3.

13 Lenenbach

BT-Drs. 10/61, Nr. 205.

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

h. L. 3 1 5 stellt auf den Zeitpunkt ab, zu dem die Entscheidung nach dem Recht des Urteilsstaates erlassen ist, das heißt der Zeitpunkt des Wirksamwerdens im Urteilsstaat ist entscheidend, auch wenn die Entscheidung dann noch keine anerkennungsfähigen Urteilswirkungen hat. Dies folge aus dem Wortlaut des Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ. Das Wortlautargument überzeugt nicht, da der Wortlaut - erlassen, rendue, given - nicht eindeutig ist. Die h. L. führt zudem zu unerfreulichen Konsequenzen, wenn der Zeitpunkt, zu dem eine Entscheidung in ihrem Sinne ergangen ist, und der Zeitpunkt, zu dem die Entscheidung anerkannt wird, auseinanderfallen, weil sie erst zu einem späteren Zeitpunkt als zu dem ihres Erlasses anerkennungsfähige Urteilswirkungen äußert. Ergeht zum Beispiel in einem Nichtvertragsstaat am 10. 05. ein Urteil, das erst am 10. 07. rechtskräftig wird und Urteilswirkungen äußert und ergeht in einem Vertragsstaat am 11. 05. eine Entscheidung, der am 11. 06. Urteilswirkungen zukommen, ergibt sich im anerkennenden Drittstaat folgende Situation. In der Zeit vom 11. 06. bis zum 10. 07. gilt die Entscheidung des Vertragsstaates, da nur sie anerkennungsfähige Urteilswirkungen hat. Ab dem 10. 07. geht das dann anzuerkennende Urteil des Nichtvertragsstaates gemäß Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ vor, denn erst jetzt stehen sich zwei unvereinbare Entscheidungen im Anerkennungsstaat gegenüber. Diese Schwierigkeiten lassen sich vermeiden, wenn man eine Entscheidung erst ab dem Zeitpunkt i.S.v. Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ als erlassen ansieht, zu dem ihr anerkennungsfähige Urteilswirkungen zukommen, also in der Regel ab formeller Rechtskraft. Diese Auslegung folgt wie bei Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ aus dem Begriff der Unvereinbarkeit. Denn eine Unvereinbarkeit liegt erst ab dem Zeitpunkt vor, zu dem die Urteile in einem Geltungskonflikt stehen und damit erst wenn sie anerkennungsfähige Urteilswirkungen haben. Sowohl Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ als auch Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ benutzen den Begriff "ergangen", so daß eine einheitliche Auslegung desselben Begriffs in den beiden Normen systemkonform ist. Da der Begriff "ergangen" in Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ ebenso wie in Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ zu interpretieren ist, kann wegen der Einzelheiten der Auslegung auf die Ausfuhrungen bei Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ verwiesen werden 316 .

3.5 Beraudo, Nr. 51; Droz, Compétence, 1972, Nr. 524, S. 333 f.; Kropholler, 55; Martiny, Hdb. IZVR, Bd. III/2, Kap. 2 RN 149. 3.6

Vgl. oben Teil 2 Β I 4.

EuGVÜ, Art. 27 RN

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

195

5. Rechtsfolgen der Unvereinbarkeit Ist eine Unvereinbarkeit nach Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ gegeben, sind die Rechtsfolgen diegleichen wie bei Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ 3 1 7 .

6. Zuerst ergangene Entscheidung des Vertragsstaates und später ergangene Entscheidung des Nichtvertragsstaates Nach seinem Wortlaut erfaßt Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ nur den Fall, daß zuerst eine Entscheidung des Nichtvertragsstaates ergeht. Der umgekehrte Fall der zuerst ergehenden Vertragsstaatsentscheidung ist in Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ nicht geregelt zu sein. Möglicherweise will diese Norm dennoch den Konflikt zwischen Vertragsstaats und Nichtvertragsstaatsentscheidung allgemein nach dem Prioritätsprinzip regeln 318 . Bedenklich erscheint die Anwendung der Kollisionsnorm des Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ auf den Fall der zuerst ergehenden Entscheidung des Vertragsstaates, da damit die Anordnung des Zurücktretens der Nichtvertragsstaatsentscheidung verbunden ist. Und diese Anordnung erfolgt aufgrund eines Staatsvertrages, an dem der Nichtvertragsstaat, in dessen Souveränität dadurch eingegriffen wird, nicht beteiligt war. Ein solch "völkerrechtlicher Vertrag zu Lasten Dritter" ist unzulässig und von den Mitgliedsstaaten des EuGVÜ auch nicht gewollt, da diplomatische Verwicklungen mit Hilfe des Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ gerade vermieden werden sollten. Art. 27 Nr.5 EuGVÜ erfaßt daher den Fall der zuerst ergehenden Entscheidung eines Vertragsstaates weder unmittelbar noch analog. An der Schaffung des Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ waren die Nichtvertragsstaaten zwar auch nicht beteiligt. Jedoch ordnet Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ den Vorrang eines Hoheitsaktes der Nichtvertragsstaaten an und stellt deshalb eine die Souveränität dieser Staaten erweiternde und damit unbedenkliche Norm dar. Da der Konflikt nicht im EuGVÜ oder anderen Staatsverträgen geregelt ist, bestimmt sich seine Behandlung nach dem autonomen Recht des Anerkennungsstaates. Der Vorschlag von Droz 319 , die Kollision von Vertragsstaats- und Nichtvertragsstaatsentscheidung nach dem für Entscheidungskollisionen gelten-

3.7

Vgl. daher die Ausführungen zu Art. 27 Ziff. 3 EuGVÜ oben Teil 2 Β I 5.

3.8

Martiny, Hdb. IZVR, Bd. III/2, Kap. 2 RN 144; Geimer/Schütze, Bd. 1/1, § 117 VI 2, S. 999 könnten so verstanden werden. Beide gehen zwar auf die hier angesprochene Problematik nicht ein. Sie führen aber allgemein aus, daß Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ den Konflikt zwischen Vertragsstaatsund Nichtvertragsstaatsentscheidung nach dem Prioritätsprinzip löse, ohne diese Aussage ausdrücklich auf den Fall der zuerst ergehenden Nichtvertragsstaatsentscheidung zu beschränken. 3.9

Droz, Compétence, 1972, Nr. 524, S. 333 f.

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

den allgemeinen Grundsatz der Priorität zu lösen, überzeugt nicht. Der Prioritätsgrundsatz dürfte der gerechteste und prozessualen Prinzipien am ehesten entsprechende Grundsatz zur Lösung eines Entscheidungskonfliktes sein, da er die Mißachtung der früher ergangenen Entscheidung sanktioniert. Droz bleibt aber den Nachweis für die universelle Geltung des Prioritätsgrundsatzes schuldig. Schlosser 320 weist zu Recht daraufhin, daß die Lösung des Konfliktes zweier ausländischer Urteile zugunsten der früher ergangenen keineswegs eine weltweit anerkannte Regel ist. Auch kann ein Rückgriff auf einen allgemeinen, nicht ausdrücklich normierten Grundsatz erst erfolgen, wenn sich keine Norm findet, die den zu regelnden Sachverhalt erfaßt. Das EuGVÜ stellt ein staatsvertragliches Regelwerk dar, das den nationalen Gesetzen vorgeht. Enthält das EuGVÜ keine Regelung und kann die Regelungslücke auch nicht durch eine Analogie zum EuGVÜ geschlossen werden, kommt das nationale Recht der Vertragsstaaten zur Anwendung. Erst wenn sich auch im nationalen Recht keine Regelung findet, ist auf allgemeine, nicht ausdrücklich normierte Grundsätze zurückzugreifen. Daher ist der Konflikt zwischen zuerst ergehender Entscheidung eines Vertragsstaates und nachfolgender Entscheidung eines Nichtvertragsstaates nach den Normen des nationalen Rechts des jeweiligen Anerkennungsstaates zu lösen. Ist Deutschland Anerkennungsstaat gilt § 328 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 2 ZPO, der die Kollision zweier anerkennungsfähiger ausländischer Entscheidungen regelt. Danach geht die zuerst erlassene Entscheidung vor.

I I I . Unvereinbarkeiten zwischen zwei von verschiedenen EuGVÜ-Vertragsstaaten erlassenen Entscheidungen, die in einem dritten EuGVÜ-Vertragsstaat anerkannt werden sollen Der Fall, daß in zwei verschiedenen Vertragsstaaten unvereinbare Entscheidungen ergehen, die in einem dritten Vertragsstaat anerkannt werden sollen, ist im EuGVÜ nicht mit einer eigenen Regelung normiert worden. Es besteht Einigkeit, daß der zuerst ergangenen Entscheidung der Vorrang einzuräumen ist. Dies ergebe sich aus einer analogen Anwendung des Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ 3 2 1 . Nach anderer Auffassung 322 gilt im EuGVÜ der Grundsatz der zeitlichen Priorität, was auch aus dem Umkehrschluß aus Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ folge, der von dieser

320 Schlosser, rev. arb. 1981, S. 371, S. 387: er nennt Art. 5 Haager Konvention und weitere Verträge in FN 35; vgl. auch Habscheid, Festschrift für Fragistas, S. 529, S. 553. 321 322

Martiny, Hdb. IZVR, Bd. III/2, Kap. 2 RN 145.

Müko/Gottwald, Art. 27 RN 34; ders., Freizügigkeit von Entscheidungen, S. 155, S. 165; Kropholler, EuGVÜ, Art. 27 RN 46.

Β. Behandlung nach dem EuGVÜ

197

allgemeinen Regel aus Gründen des nationalen Interesses des Anerkennungsstaates eine Ausnahme normiere 323 . Eine Analogie oder ein Rückgriff auf einen allgemeinen Grundsatz sind aber nur dann erforderlich, wenn es keine Norm gibt, in deren unmittelbaren Anwendungsbereich der zu regelnde Fall fällt. Der Konflikt zweier Vertragsstaatsentscheidungen, die in Deutschland anerkannt werden sollen, wird nicht von Art. 27 Nr. 1 EuGVÜ erfaßt, da in der Mißachtung der Rechtskraft der ersten Entscheidung durch das Gericht des zweiten Verfahrens kein Verstoß gegen den ordre public des Anerkennungsstaates zu sehen ist 324 . Eine Analogie zu Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ ist nicht möglich. Diese Vorschrift regelt nämlich nach der hier vertretenen Ansicht nur den Widerspruch zwischen der zuerst ergehenden Nichtvertragsstaatsentscheidung und der später ergehenden Vertragsstaatsentscheidung. Die Lösung des umgekehrten Falles der zuerst ergehenden Vertragsstaatsentscheidung ist dagegen im nationalen Recht der Anerkennnungsstaaten zu suchen. Eine Analogie zu dieser Rechtslage scheitert schon daran, daß man im Falle des Konfliktes zweier Vertragsstaatsentscheidungen festlegen müßte, welche bei einer analogen Anwendung des Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ als Nichtvertragsstaatsentscheidung anzusehen wäre. Dies ist aber unmöglich. Ein Rückgriff auf allgemeine, nicht ausdrücklich normierte Prinzipien, wie ihn Gottwald 325 vorschlägt, ist erst möglich, wenn sich auch im nationalen Recht der Anerkennungsstaaten keine ausdrücklichen Regelungen finden. Gibt es für den im EuGVÜ nicht geregelten Fall dagegen in den nationalen Rechten ausdrückliche Regelungen, sind diese anzuwenden. Der Konflikt zweier Vertragsstaatsentscheidungen, die in einem dritten Vertragsstaat anerkannt werden sollen, ist daher nach den Normen zu lösen, die das nationale Recht des Anerkennungsstaates bereithält. Im deutschen Recht enthält § 328 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 2 ZPO erne solche Regelung. Das zuerst ergangene ausländische Urteil geht vor und hindert die Anerkennung des später ergehenden.

323

Beraudo, Nr. 47 f.

324

Vgl. oben Teil 2 Β I 6.

325

Müko/Gottwald,

Art. 27 RN 34.

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

C. Die Behandlung von Unvereinbarkeiten nach dem Luganer Übereinkommen Am 16. September 1988 ist zwischen den Staaten der EG und denen der EFTA das Luganer Übereinkommen, auch Parallelübereinkommen genannt 326 , unterzeichnet worden. Das Übereinkommen ist am Ol. Januar 1992 für die Schweiz, Frankreich und die Niederlande, am Ol. Mai 1992 für Großbritanien, am Ol. Juli 1992 für Portugal und am 15. Oktober 1994 für Deutschland in Kraft getreten 327 . Es gilt im Verhältnis der EFTA-Staaten zueinander sowie im Verhältnis der EFTA-Staaten zu den EG-Staaten. Das LugÜbk entspricht in Zielsetzung, Aufbau, Inhalt und Wortlaut fast völlig 3 2 8 dem EuGVÜ 3 2 9 . Die Übereinstimmung geht soweit, daß Jenard und Möller in ihrem Bericht für die mit dem EuGVÜ übereinstimmenden Normen auf die Berichte zum EuGVÜ verweisen 330 und nur abweichende Stellen kommentieren. Die Vertragsstaaten des LugÜbk verfolgten mit dem Übereinkommen das Ziel, das System des EuGVÜ auf die EFTA auszudehnen. Ein anderer naheliegender Weg zur Verwirklichung dieser Zielsetzung, der Beitritt der EFTA-Staaten zum EuGVÜ, wurde nicht gewählt, da das EuGVÜ auf Art. 220 EWGV zurückgeht und dem EuGH als einem Gemeinschaftsorgan die Auslegungszuständigkeit für das EuGVÜ zusteht 331 . Den darin liegenden Souveränitätsverlust wollten die EFTA-Staaten nicht hinnehmen 332 . Die Schaffung eines einheitlichen internationalen Zivilprozeßrechts in einem Rechtsraum, der die EG und die EFTA umfaßt, ist auf Dauer nur gewährleistet, wenn eine einheitliche Auslegung des EuGVÜ und des LugÜbk gesichert ist 333 . Einigkeit bestand, daß die mit dem EuGVÜ übereinstimmenden Normen des LugÜbk wie die entsprechenden Vorschriften des EuGVÜ zu interpretieren sind und zwar in der Auslegung, die ihnen der EuGH gegeben hat 334 . Da eine Auslegungskompetenz des EuGH für die EFTA-Staaten

326

Jenard/Möller,

327

Volken, SZIER 1992, S. 223 und BGBl. 1994 II, S. 2658.

328

Bericht zum LugÜbk, EG-ABI. 1990 Nr. C 189 RN 1.

Abweichungen sind bei Jenard/Möller, RN 18ff. aufgelistet.

Bericht zum LugÜbk, EG-ABI. 1990 Nr. C 189

329 Vgl. die Präambeln zum EuGVÜ 1968 und 1982 mit der zum Lugübk; Droz, rev. crit. int. priv. 1989, S. 1, S. 5ff.; Gottwald, Freizügigkeit der Entscheidungen, S. 155, S. 169; Kropholler, EuGVÜ, Einl. RN 49. 330

Jenard/Möller,

Bericht zum LugÜbk, EG-ABI. 1990 Nr. C 189 RN 2.

331

Nach Art. 1 Luxemburger Protokoll betreffend die Auslegung des EuGVÜ, BGBl. II 1972, S. 846. 332

Jenard/Möller,

333

Jenard/Möller, S. 91 ff. 334

Jenard/Möller,

Bericht zum LugÜbk, EG-ABI. 1990 Nr. C 189 RN 11/110. Bericht zum LugÜbk, EG-ABI. 1990 Nr.C 189 RN 110 f.; Trunk, Diss., Bericht zum LugÜbk, EG-ABI. 1990 Nr. C 189 RN 115.

D. Behandlung nach § 328 Abs. 1 Nr. 3 ZPO

199

nicht in Betracht kam, hat man im Protokoll Nr. 2 zum LugÜbk das Problem der Gewährleistung der einheitlichen Auslegung anders gelöst. Der EuGH soll die Rechtsprechung der Gerichte der EFTA-Staaten ebenso berücksichtigen wie die Gerichte der Vertragstaaten des LugÜbk die Entscheidungen der Gerichte der anderen Vertragsstaaten zum LugÜbk und zum EuGVÜ 3 3 5 . Um eine einheitliche Auslegung des LugÜbk zu erreichen, haben die Gerichte jedes Vertragsstaates nach Art. 1 des Protokolls Nr. 2 zum LugÜbk bei der Anwendung und Auslegung des LugÜbk den Grundsätzen genügend Rechnung zu tragen, die in maßgeblichen Entscheidungen anderer Vertragsstaaten zum LugÜbk entwickelt worden sind. Gemäß Art. 2 des Protokolls Nr. 2 wird ein Informations- und Übermittlungssystem geschaffen, mit dessen Hifle die allseitige Information über die zum EuGVÜ und zum LugÜbk ergangenen maßgeblichen Entscheidungen sichergestellt werden soll. Die weitgehende Übereinstimmung des LugÜbk mit dem EuGVÜ und der Wille der Vertragsstaaten, beide Übereinkommen einheitlich auszulegen, machen es notwendig, EuGVÜ und LugÜbk, soweit sie sich entsprechen, gleich zu interpretieren 336 . Da Art. 27 Nr. 3 u. Nr. 5 EuGVÜ und Art. 27 Nr. 3 u. Nr. 5 LugÜbk identisch sind und sich auch sonst aus dem System und der Zielsetzung des LugÜbk keine Anhaltspunkte für eine abweichende Behandlung von Unvereinbarkeiten zwischen Zivilurteilen ergeben, gelten die zum EuGVÜ entwickelten Lösungen auch für das LugÜbk.

D. Die Behandlung von Unvereinbarkeiten nach § 328 Abs. 1 Nr. 3 ZPO und nach Art. 7 § 1 FamRÄndG Außerhalb staatsvertraglicher Regelungen bestimmt sich die Anerkennung ausländischer Entscheidungen in Deutschland nach § 328 ZPO. Urteile aus den USA und aus Japan, also aus Ländern, die zu den bedeutendsten Handelspartnern Deutschlands zählen, werden nach § 328 ZPO anerkannt. § 328 ZPO folgt wie Art. 26 EuGVÜ dem Prinzip der automatischen Anerkennung, das heißt, die ausländischen Entscheidungen gelten ipso iure im Zeitpunkt ihrer Anerkennungsfähigkeit in der deutschen Rechtsordnung, ohne daß es eines besonderen Verfahrens bedarf 337 . Die Anerkennung ist nur ausgeschlossen, wenn eines der in § 328 Abs. 1 Nr. 1 - 5 ZPO genannten Anerkennungshindernisse

335

So die zum LugÜbk abgegebenen einseitigen Erklärungen der Staaten der EFTA und der EG: EG-ABI. 1988 Nr. L 319, S. 37 (EG-Staaten), S. 40 (EFTA-Staaten). 336

Kropholler,

337

Stein/Jonas/Schumann

EuGVÜ, Einl. RN 49. 2Ü

, § 328 RN 25.

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

vorliegt. Nach § 328 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 1 und 2 ZPO ist die Anerkennung ausgeschlossen, wenn das ausländische Urteil mit einem hier erlassenen oder einem anzuerkennenden früheren ausländischen Urteil unvereinbar ist.

I. Auslegungsmaßstab § 328 ZPO wurde 1986 durch die IPR-Novelle neu gefaßt. Der Entwurf der Bundesregierung, der ohne Änderungen vom Gesetzgeber verabschiedet wurde, begründet die Revision der Norm mit der Notwendigkeit der Anpassung der Anerkennungsvoraussetzungen des § 328 Abs. 1 ZPO an die des Art. 27 EuGVÜ 3 3 8 . Ausdrücklich betont der Entwurf der Bundesregierung, daß die Versagungsgründe des Art. 27 Nr. 3 und Nr. 5 EuGVÜ durch den neugefaßten § 328 Abs. 1 Nr. 3 ZPO ins deutsche Recht übernommen werden sollen 339 . Es fragt sich, ob sich diese bewußte Anpassung des § 328 Abs. 1 Nr. 3 ZPO an das EuGVÜ auf die Auslegung dieser Vorschrift auswirkt. Die stärkste Form des Gleichslaufs mit dem EuGVÜ ließe sich erzielen, wenn eine Bindung an die Rechtsprechung des EuGH zu Art. 27 Nr. 3 und Nr. 5 EuGVÜ bei der Interpretation von § 328 Abs. 1 Nr. 3 ZPO bestehen würde. Eine solche Bindungswirkung geht von EuGH-Urteilen für alle einzelstaatlichen Gerichte innerhalb der EG und nicht nur für die Prozeßparteien aus, die der EuGH in einem Vorlageverfahren nach Art. 177 EWGV erlassen hat 340 . Da die IPR-Novelle nicht in Ausführung einer EG-Richtlinie erging und auch sonst keinen gemeinschaftsrechtlichen Ursprung hat, kommt eine Vorlage zum EuGH nicht in Betracht, da der EuGH nach Art. 177 Abs. 1 EWGV nur über Gemeinschaftsrecht betreffende Fragen entscheidet. Auch eine Vorlage nach Art. 1 Luxemburger Protokoll betreffend die Auslegung des EuGVÜ ist nicht statthaft, da der EuGH in diesem Verfahren nur für die Auslegung des EuGVÜ selbst zuständig ist. Dem nationalen Gesetzgeber bleibt es unbenommen, seine staatlichen Organe an die Rechtsprechung des EuGH zu einer gemeinschaftsrechtlichen Norm für die Auslegung einer dieser Norm entsprechenden deutschen Vorschrift zu binden. Die Frage ist nur, ob der deutsche Gesetzgeber bei der Anpassung des § 328 Abs. 1 Nr. 3 ZPO an Art. 27 Nr. 3 und Nr. 5 EuGVÜ so weit gehen wollte. Die Antwort lautet nein. Eine derart weitgehende Bindung an eine gemeinschaftsrechtliche Rechtslage kann nur angenommen werden, wenn der

338

BT-Drs. 10/504, S. 87.

339

BT-Drs. 10/504, S. 88.

340

Bleckmann, RN 686 ff.; Rs. S.p.A. International Chemical Corporation/Administrazione delle Finanze EuGH Slg. 1981, S. 1191, S. 1214 ff.

D. Behandlung nach § 328 Abs. 1 Nr. 3 ZPO

201

Gesetzgeber diese - zumindest in den Gesetzesmaterialien - ausdrücklich und eindeutig erklärt. Mit der Änderung des § 328 ZPO ist die Übernahme einer bewährten multilateralen Norm ins nationale Recht gewollt. Und auch dies nur soweit, als der Gesetzgeber Art. 27 EuGVÜ für eine dem autonomen deutschen Recht angemessene Regelung hielt. Abweichend von Art. 27 EuGVÜ enthält § 328 Abs. 1 ZPO die Anerkennungshindernisse der inländischen Rechtshängigkeit (§ 328 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 3 ZPO), der Nichtverbürgung der Gegenseitigkeit (§ 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO) und der internationalen Unzuständigkeit des ausländischen Gerichts (§ 328 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Der Zielsetzung des Gesetzgebers, § 328 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 1 und 2 ZPO an Art. 27 Nr. 3 und Nr. 5 EuGVÜ anzugleichen, entspricht am besten eine Auslegung von § 328 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 1 und 2 ZPO, die die für Art. 27 Nr. 3 und Nr. 5 EuGVÜ gefundene übernimmt, soweit Systematik und Zweck des § 328 ZPO nicht eine andere Auslegung gebieten. Es läßt sich sagen, daß eine Vermutung für eine einheitliche Auslegung von § 328 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 1 und 2 ZPO und Art. 27 Nr. 3 und Nr. 5 EuGVÜ streitet.

II. Das Anerkennungshindernis des § 328 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 1 u. 2 ZPO /. Urteil eines ausländischen Gerichtes Das Problem, ob das Anerkennungshindernis des § 328 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 1 u. 2 ZPO vorliegt, stellt sich überhaupt erst, wenn "ein Urteil eines ausländischen Gerichtes" i.S.v. § 328 Abs. 1 ZPO anerkannt werden soll. Ein Urteil in diesem Sinne ist nicht nur ein Urteil im technischen Sinne, sondern jede gerichtliche Entscheidung, die einen Rechtsstreit zwischen Parteien aufgrund eines beiden Parteien Gehör gewährenden, ordentlichen oder summarischen Verfahrens in der Hauptsache endgültig erledigt 341. Dieses Urteil muß von einem "Gericht" erlassen werden. Als Gericht gilt jede mit staatlicher Autorität bekleidete Stelle, die nach dem ausländischen Recht zur Entscheidung zivilrechtlicher Streitigkeiten in einem prozeßförmigen Verfahren berufen ist 342 . Nach § 328 ZPO werden nur Urteile, die über zivilrechtliche Ansprüche ergehen, anerkannt; für Akte der freiwilligen Gerichtsbarkeit steht mit § 16 a FGG eine besondere Anerkennungsnorm zur Verfügung.

341

Stein/Jonas/Leipold 20, § 328 RN 102; Rosenberg/Schwab/Gottwald ZPR15, § 157 I 3 a, S. 9 BGHZ 20, S. 323, S. 329. - a. Α.: Zöller/Geimer, § 328 RN 68: das Erfordernis des geordneten Verfahrens sei eine Anerkennungsvoraussetzung nach § 328 Abs. 1 Ziff. 4 ZPO, gehöre aber nicht zu den Wesensmerkmalen des Urteils. 342

Stein/Jonas/Schumann

20

, § 328 RN 107; Geimer, IZPR, RN 2870.

Teil 2: Unvereinbarkeiten im europäischen Zivilprozeßrecht

2. Anerkennung i.S.v. § 328 ZPO Um bestimmen zu können, ob und in welchem Umfang Urteile unvereinbar sind, bedarf zunächst die Frage einer Klärung, was das autonome deutsche Zivilprozeßrecht unter Anerkennung versteht. Ebenso wie für das EuGVÜ gilt es, zwei Problemkreise voneinander zu trennen. Zum einen das rechtstheoretische Problem, ob das ausländische Urteil mit der Anerkennung wie ein deutscher Hoheitsakt behandelt wird, zum anderen die Frage, in welchem Umfang die Wirkungen des ausländischen Urteils in die deutsche Rechtsordnung übernommen werden.

a) Gleichbehandlung des anerkannten Urteils mit deutschen Urteilen Durch die Anerkennung wird die ausländische Entscheidung einer inländischen Entscheidung insoweit gleichgestellt, als sie grundsätzlich nach den gleichen prozessualen Regeln behandelt wird wie die Entscheidung des Anerkennungsstaates. Diese Betrachtungsweise entspricht am besten den Parteiinteressen, da sie die umfassendste Art der Eingliederung der ausländischen Entscheidung in die deutsche Rechtsordnung darstellt. Für dieses rechtstheoretische Verständnis spricht zudem, daß das deutsche Zivilprozeßrecht für die Behandlung einer anerkannten Entscheidung kerne eigenen Regeln enthält, so daß sie nach den gleichen Regeln zu behandeln ist, wie ein von einem deutschen Gericht erlassenes Urteil 343 . Als Konsequenz dieser Auffassung gelten für das anerkannte Urteil grundsätzlich die Normen, die auf ein deutsches Urteil anzuwenden sind, das sich im gleichen Verfahrensstadium wie das anerkannte Urteil befindet. Jedoch ist das die Entscheidung erlassende Gericht nach Rechtskraft des Urteils international endgültig zuständig für den Rechtsstreit, weshalb auch ein Wiederaufnahmeverfahren vor ihm nach den prozessualen Regeln des Urteilsstaates durchzuführen ist 344 .

b) Umfang der Erstreckung der Wirkungen des ausländischen Urteils Seit jeher ist streitig, in welchem Umfang die Wirkungen eines ausländischen Urteils in die deutsche Rechtsordnung übernommen werden. Die Gleichbehandlungs- oder Nostrifizierungstheorie begreift Anerkennung als Verleihung der

343

Vgl. zur ausführlichen Begründung dieses Verständnisses der Anerkennung oben Teil 2 B I 1 f) aa) (3). 344

Vgl. oben Teil 2 Β I 1 f) aa) (1), Teil 2 Β I 1 g) (2).

D. Behandlung nach § 328 Abs. 1 Nr. 3 ZPO

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prozeßrechtlichen Wirkungen an das ausländische Urteil, die einer inländischen Entscheidung gleicher Art zukommen 345 , die ausländische Entscheidung werde einer inländischen gleichgestellt. Gegen diese Theorie werden zurecht die mit ihrer praktischen Umsetzung verbundenen Schwierigkeiten ins Feld geführt 346 . Wie soll eine ausländische Entscheidung, die andere oder Wirkungen anderen Umfanges hat als eine inländische, dieser gleichgestellt werden? Insbesondere wenn die ausländische Entscheidung geringere Wirkungen hat als eine vergleichbare deutsche, können den Parteien keine Urteilswirkungen aufgedrängt werden, mit denen sie im ausländischen Verfahren nicht rechnen mußten 347 . Daher ist unter Anerkennung nach § 328 ZPO die Erstreckung der Wirkungen des ausländischen Urteils in die deutsche Rechtsordnung zu verstehen. Die Art und der Umfang der Urteilswirkungen bestimmen sich also nach der Rechtsordnung des Urteilsstaates 348. Die Entscheidung hat somit in allen Rechtsordnungen dieselben Wirkungen. Die Wirkungserstreckung erfolgt aber nicht unbegrenzt. Erstreckt werden nur diejenigen Wirkungen des ausländischen Judikats, die ihrer Art nach, wenn auch nicht im einzelnen, dem deutschen Recht bekannt sind und nicht dem ordre public widersprechen 349. Diese Formulierung des Umfangs der Wirkungserstreckung weicht bewußt von derjenigen ab, die für die Anerkennung nach dem EuGVÜ verwendet wurde. Die Grenzen der Wirkungserstreckung sind bei § 328 ZPO enger gezogen als bei Art. 26 EuGVÜ, da nach dem EuGVÜ nur solche Entscheidungswirkungen nicht anerkannt werden, die die Grundlagen der Rechtsordnung des Anerkennungsstaates beeinträchtigen 350. Wenn dagegen nach § 328 ZPO Wirkungen eines ausländischen Urteils schon dann nicht anerkannt werden, wenn sie dem deutschen Recht ihrer Art nach nicht bekannt sind, ist damit gemeint, daß die anzuerkennende Wirkung einem deutschen Zivilurteil nach deutschem Recht überhaupt zukommen kann. Entgegen Gottwald 351 ist dies gerechtfertigt. Denn staatsvertragliche Anerkennungsregelungen sind stets ein Ausdruck des Vertrauens, das dem Vertragsstaat entgegen gebracht wird. Zudem hat Deutschland bei Anerkennungsübereinkommen die Möglichkeit, der deutschen Rechtsordnung völlig fremde Urteilswirkungen von der Anerkennung

345

Matscher, Festschrift für Schima, S. 265, S. 276 ff.; ders., ZZP 103 (1990), S. 294, S. 307 ff.

346

Zöller/Geimer,

§ 328 RN 18; Gottwald, ZZP 103 (1990), S. 257, S. 260 f.

347

Gottwald, ZZP 103 (1990), S. 257, S. 261: eine gerichtliche Suspendierung von Gesellschafterrechten nach ausländischem Recht kann nicht in einen endgültigen Ausschluß des Gesellschafter nach § 140 HGB umgewandelt werden; Leipold, Festschrift für Nagel, S. 189, S. 192. 348

Zöller/Geimer, Schumann/Leipold

§ 328 RN 18; Gottwald, ZZP 103 (1990), S. 257, S. 261 ff. ; Stein/Jonas/ , § 328 I 1 a; Stein/Jonas/Schumann 20 , § 328 RN 2.

V)

349

Zöller/Geimer, Schumann/Leipold

§ 328 RN 19; Gottwald, ZZP 103 (1990), S. 257, S. 263; Stein/Jonas/ , § 328 I 1 a; Stein/Jonas/Schumann 20 , § 328 RN 3b.

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